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A. Referate. Ethnologie und Ethnographie.
III. Ethnologie nnd Ethnographie.
Allgemeines.
85. J. G. Frazer: Lectures on tlie early liistory of the kingsliip.
London, Macmillan and Co., 1905.
Das vorliegende Buch kennzeichnet sein Verfasser im Vorwort als einen
Auszug aus der demnächst erscheinenden dritten Auflage seines dreibändigen
Werkes: The golden bough. Es hat deswegen auf besondere Beachtung An
spruch. Es ist Frazer in verkleinertem Maße ergangen wie dem unglück
lichen Mannhardt, der uns heute gleichsam als ein Vorläufer von ihm
erscheint: er hat anfangs eine geringere, erst in den letzten Jahren die ge
bührende Beachtung gefunden. Erst jüngst hat Preuss dadurch, daß er
gewisse Grundgedanken Frazers über die Wichtigkeit der Zauberei völlig
selbständig und originell erweitert und vertieft hat, deren Bedeutung aufs
neue in gebührender Weise bezeugt. Leider wird der Umfang des dick
leibigen „golden bough“ wohl manchen von der Lektüre abschrecken; für
solche ist dieser Auszug besonders wertvoll.
Wir führen kurz die Grundgedanken des neuen Buches an , dessen
Untersuchungen sich in derselben künstlerisch vollendeten Form wie die des
älteren dreibändigen um den merkwürdigen Priesterkönig von Nemi grup
pieren, der, ein ehemaliger entlaufener Sklave, jeden Augenblick von der
Gefahr bedroht war, daß ein Schicksalsgenosse im Zweikampf ihn tötete und
ersetzte.
Ein erster Gedankenkreis dreht sich um Wesen und Bedeutung der
Zauberei (Kap. 2 bis 5). Auf primitiven Stufen befähigt fast ausschließlich
die magische Kraft zur Häuptlingswürde; auch später bleiben Königtum
und oberstes Priestertum noch lange gern miteinander verbunden, wobei
freilich das erstere zum bloßen Schein herabzusinken droht. Frazer unter
scheidet zwischen positiver und negativer Zauberei; die letztere umfaßt die
Schutzmaßregeln des Tabus; die erstere zerfällt in homöopathischen und Be
rührungszauber, entsprechend den beiden Verfahren der Nachbildung und
der Benutzung von Teilen oder Abfällen. Treffende Bemerkungen über die
psychologischen Grundlagen der Zauberei sind hier wie auch am Ende des
Ganzen mehrfach eingestreut (S. 74, 83, 86, 91, 270, 278). Der Glaube an
den Zauber ist älter als derjenige an Götter (S. 35 vgl. S. 74 und 97); oder
in der Form ausgedrückt, in der es auch Preuss nachdrücklich geltend ge
macht hat: die Zauberei ist älter als die (übrige) Religion. Die hier von
Frazer getroffene Unterscheidung von Zauberei und Religion scheint sich,
beiläufig bemerkt, erfreulicherweise in der Literatur einzubürgern. Auch die
modernen religionsgeschichtlichen Untersuchungen der Philologen und Theo
logen, die sich namentlich um die Genesis und die Grundlagen des Christentums
drehen, drängen eben darauf hin, indem sie die außerordentliche Bedeutung
magischer Vorstellungskreise auch auf höheren Stufen immer deutlicher
machen.
Ein zweiter Gedankenkreis bezieht sich auf gewisse Erscheinungen des
Fruchtbarkeitszaubers, die mit dem geschilderten Königtum verbunden sind
(Kap. 5 bis 9). Sie gehören dem Typus der von Mannhardt zuerst er
forschten „Maihochzeit“ an, hei der die Vegetationsgeister in menschlicher
Gestalt sich vermischen oder auch wohl Jungfrauen durch Tötung den Geistern
vermählt werden (S. 184). So nahen sich wohl auch König und Königin, die
zugleich als Götter in menschlicher Gestalt gelten, in entsprechender Ge
wandung einander (S. 170). Von besonderer Bedeutung wird diese Stelle