BAE SS LE R - ARCHIV
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
Herausgegeben im Aufträge des
Museums für Völkerkunde Berlin
von
H. D. DISSEL1IOFF UND K. KRIEGER
NEUE FOLGE BAND VIII
(XXXIII. BAND)
HEFT l
Ausgegeben am 1. August
BERLIN 1960
VERLAG VON DIETRICH REIMER
INHALT
Walter Krickeberg, Berlin:
Xochipiili und Chalchiuhtlicue
Mit 13 Abbildungen .................................................. ]
Günther Hartmann, Berlin;
Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Mit 8 Karten ........................................................ 31
Heinz Walter, Berlin:
Eine wenig bekannte Fischfangmethode in Südost-Bolivien
Mit 3 Abbildungen ................................................... 79
Dieter Eisleb, Berlin:
Bemerkungen zu einem Recuay-Gefäß
Mit 2 Abbildungen ................................................... 83
Sigrid Westphal-Hellbusdh, Berlin;
Die Barbara
Mit 7 Abbildungen ................................................... 89
Susanne Haas, Lucknow:
Der Baanta-Brauch der Dschaunsari .................................. 111
Kurt Reinhard, Berlin:
Ein türkischer Tanzlied-Typ
Mit zahlreichen Notenbeispielen ..................................... J3]
Hans Fischer, Tübingen:
Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River (Ost-Neuguinea)
Mit 10 Figuren und 74 Zeichnungen ................................... 171
M. L. J. Lemaire, Amsterdam;
Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeite.n
Mit 19 Bildern und 28 Figuren ....................................... 215
Herbert Beeile, Kiel:
Das Wachs ausschmelz verfahren
Mit 3 Abbildungen ................................................... 235
Wolfgang H. Lindig, Mainz;
Recht und Sitte...................................................... 247
Bücherbesprech ungen:
Uhle, Wesen und Ordnung der altperuanischen Kulturen 78 — Thompson,
Modern Yucatecan Maya pottery making 88 — Kooijman, The art of Lake
Sentaui 170 — Zwettler Codex 420 von P. Florian Paucke, S. J. 214 —
Lehmann, Les Ceramnjucs Precolombiennes 234 — Röder, Felsbilder und
Vorgeschichte des MacGluer-Golfes 256 Hütteroth, Bergnomaden und
Yaylabauern im mittleren kurdischen Taurus 257 Herzog, Die Nubier
260 Bose, Die Musik der Chibcha 261 -— Ryden, Andean Excavations
262 — Coccola und King, Ayorama 264 Ritos, Sacerdotes y Atavios de
los Dioses und Veiute Himnos Sacros de los Nahuas 266 — Dark, Mixtec
Ethnohistory 268
Band VIII des „Baessler-Archiv“ erscheint im Jahre 1960 in 2 Heften. Der Preis
des Bandes von etwa 23 Bogen beträgt DM 28,—. Bestellungen sind zu richten an:
DIETRICH REIMER, Berlin-Steglitz, Wulffstr. 7, oder an jede Buchhandlung.
Manuskripte und Besprechungsexemplare werden erbeten an: Reduktion des
„Bacssler-Archiv“, Museum für Völkerkunde, Berlin-Dahlem, Arnim-Allee 23.
Für unverlangt eingehende Beiträge kann keine Haftung übernommen werden. Die
Mitarbeiter erhalten unberechnet 23 Sonderdrucke. Für den Inhalt ihrer
Beiträge sind die Autoren allein verantwortlich.
Alle Rechte Vorbehalten
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
1
XOCHIPILLI UND CHALCHIUHTLICUE
Zwei aztekische Steinfiguren in der völkerkundlichen Sammlung
der Stadt Mannheim
WALTER KRICKEBERG, Berlin
Die vorjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in
Stuttgart (25. bis 30. Oktober 1959) brachte den Teilnehmern neben vielen
neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch eine Überraschung, als sie bei
einem Ausflug nach der gastlichen Stadt Mannheim eine völkerkundliche
Sammlung kennen lernten, deren Schätze in Deutschland bisher noch wenig
beachtet wurden und im Ausland wahrscheinlich ganz unbekannt blieben.
Herr Dr. Robert Pfaff-Giesberg, der Organisator und Leiter des
Museums, das einstweilen noch in einem Obergeschoß des Zeughauses unter-
gebracht, aber trotz der Raumknappheit recht übersichtlich aufgestellt ist,
hatte die große Liebenswürdigkeit, dem Verfasser dieses Aufsatzes, der an
dem Ausflug teilnahm, die Veröffentlichung zweier Hauptstücke der Samm-
lung zu gestatten und darüber hinaus diese dankbar angenommene Erlaubnis
noch durch eine Anzahl vortrefflicher Photos zu unterstützen (Abb. 1 u. 2).
Es handelt sich um zwei Steinfiguren aus der besten Zeit aztekischer Plastik
kurz vor oder nach 1500 n. Chr., die um 1880 mit anderen wertvollen
Stücken von dem Münchener Maler und Akademieprofessor Gabriel v. Max
(1840—1916) erworben wurden — die genaue Herkunft ist nicht bekannt —
und nach seinem Tode in das Eigentum der Stadt Mannheim übergingen.
Beide Figuren sind, was den Typus anlangt, dem Kenner aztekischer
Kunst und Religion wohlvertraut; ja sie gehören sogar zu jenen aztekischen
Götterbildern, die man am häufigsten in den archäologischen Sammlungen
aus Mexico findet. Man wird aber in den Museen der Alten und Neuen
Welt nur wenigen Exemplaren begegnen, bei denen der Meißel des azteki-
schen Bildhauers eine ähnliche Perfektion in der Darstellung wohlproportio-
nierter Körperformen und einer natürlichen Körperhaltung
erlangt hat. Selbst die Gesichter, die sonst in der aztekischen Rundplastik
wegen ihrer Starrheit wenig ansprechen, sind voller Leben; der alte Künstler
hat es sogar bis zu einem gewissen Grade vermocht — was selten der Fall
ist —, dem Gotte männlich härtere und der Göttin weichere Züge zu geben.
Deutlicher noch tritt die Unterscheidung der Geschlechter in der Körperhal-
tung hervor. Gott und Göttin, die bei den Azteken „Der Blumen-
f ü r s t“ (Xochipilli) und „Die mit dem Edelsteinrock“ (Chalchi-
uhtlicue) hießen, sind sitzend bzw. hockend dargestellt. Xochipilli hat sich
1 Baessler-Archiv VIII
2
Krickeberg, Xochipilli und Chaldiiuhtlicue
a b
Abb. 1. Steinfigur Xochipillis: a vordere, b Rückseite. Höhe 74,8 cm.
Völkerkundliches Museum Mannheim, Slg. Gabriel von Max
nach europäischer Art auf einem niedrigen rechteckigen Block oder Schemel
niedergelassen, der, wie aus aztekischen Bilderhandschriften zu schließen ist,
aus Holz oder Geflecht bestand und ein so typisches Sitzmöbel von Göttern
und Fürsten war, daß man ihn, wie viele andere Gebrauchsgeräte, auch
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
3
c d
Abb. 1. Steinfigur Xochipillis: c rechte, d linke Seite. Höhe 74,8 cm.
Völkerkundliches Museum Mannheim, Slg. Gabriel von Max
einzeln in Stein nachbildete und als Kultobjekt betrachtete, das stellver-
tretend für bestimmte Gottheiten eintrat, auf die sich dann seine symbolischen
Verzierungen bezogen. Chalchiuhtlicue dagegen hockt nach Art japanischer
Frauen auf den Knien und läßt das Gesäß auf den Hacken der hochgestellten
Füße ruhen1. Der Gott stützt dabei die übereinander gelegten Arme auf
die dicht an den Körper gezogenen Knie, während die Göttin den rechten
1 Der Gegensatz der beiden Sitzweisen tritt besonders deutlich auf Blättern des
aztekischen Codex Mendoza (57—61, 70 und 71) hervor, die beide Ge-
schlechter nebeneinander zeigen. — Rechteckige Steinsitze als Kultobjekte bei
E. S e 1 e r „Gesammelte Abhandlungen“ II (Berlin 1904), S. 752 (Abb. 36), 861
(Abb. 62), 874/5 (Abb. 74 und 75) und 881 (Abb. 80).
1»
4
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
a b
Abb. 2. Steinfigur der Chalchiuhtlicue: a vordere, b Rückseite. Höhe 52,5 cm.
Völkerkundliches Museum Mannheim, Slg. Gabriel von Max
Arm mit der ausgebreiteten Hand leicht auf dem rechten Oberschenkel ruhen
läßt, den linken, vom Körper gelösten aber beugt. Ihre linke Hand bildet
einen Ring, als wollte sie etwas umfassen (was, werden wir noch sehen).
Die Figur der Göttin ist also asymmetrisch und gewinnt gerade dadurch eine
natürliche, ungezwungene Grazie, wie sie anderen rundplastischen Götter-
figuren der aztekischen Kunst nur selten eignet; bei gewöhnlichen Menschen-
und bei Tierfiguren ist dagegen die ungezwungene Haltung weit häufiger.
Vergleicht man die Figur mit anderen Darstellungen derselben Göttin, bei
denen Körper und Gliedmaßen einen einzigen geschlossenen Block bilden,
Arme und Beine sich nur reliefartig vom Körper abheben und die unmög-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
5
c d
Abb. 2. Steinfigur der Chalchiuhtlicue: c rechte, d linke Seite. Höhe 52,5 cm.
Völkerkundliches Museum Mannheim, Slg. Gabriel von Max
liehe Stellung der Füße überdies beweist, daß der Künstler mit der Wieder-
gabe des Rockens nicht fertig wurde, so zeigt sich erst, wie weit die Mann-
heimer Figur über die konventionelle Wiedergabe der Chalchiuhtlicue fort-
geschritten war'2.
Götter und Menschen unterschied die aztekische Kunst weniger durch die
2 Vgl. die sitzenden Chalchiuhtlicue-Figuren in London und Berlin bei S e 1 e r
„Ges. Abh.“ II, S. 906 und 907 (Abb. 1—4) und Th. A. Joyce „A short guide
io the American antiquities in the British Museum“ (London 1912) Taf. III b
und d, in Paris und Hamburg bei Basler-Brummer „L’art précolombien,“
(Paris 1928) Taf. 108, und Th. W. Danzel „Mexiko“ II (Plagen i. W. 1922),
Taf. I.
6
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Tracht voneinander, als durch Abzeichen und Attribute, die ausschließlich be-
stimmten Göttern zukamen. Auch die beiden Mannheimer Götterfiguren
erscheinen in der Tracht, die in der aztekischen Zeit für Menschen all-
gemein üblich war. Xochipilli hat lediglich eine schmale Schambinde (max-
tlatl) um die Hüften geschlungen und zwischen den Beinen hindurch nach
vorn gezogen, wo das breitere Ende über die Gürtung herabfällt; Chalchiuh-
tlicue ist wesentlich vollständiger bekleidet, denn sie trägt einen Hüftrock
(cueitl) und ein Obergewand. Wie bei allen anderen Figuren der Göttin hat
das Obergewand die Form eines Ponchos (quechquemitl), d. h. es war ein
ungenähtes, viereckiges Stück Tuch mit einem diagonal verlaufenden Schlitz
in der Mitte; wenn man den Kopf hindurchsteckte, hing das Tuch vorn und
hinten dreieckig herab. Ursprünglich war das Quechquemitl ein Trachtstück
huaxtekischer Frauen im nördlichen Teil der mexikanischen Golfküste; es
wurde aber später von den Azteken und ihren Kulturverwandten im Raum
von Puebla adoptiert und zum Oberkleid der vornehmen Damen und der
Göttinnen erhoben, weil die Hochlandsstämme ihre schönen, reichgemusterten
Baumwollstoffe im wesentlichen von der nördlichen Golfküste bezogen, die
in alter Zeit ein Zentrum der Baumwollindustrie bildete. Die einfachen
Frauen blieben dagegen den altgewohnten Stoffen aus Agavefasern und dem
rechteckigen, seitlich genähten Hemd als Obergewand treu. Das Quechquemitl
der Chalchiuhtlicue zeichnet sich vor anderen durch dicke Quasten oder
Troddeln längs des ganzen Saumes aus. An ihrem Hüftrock findet sich da-
gegen keine Verzierung, die den Namen „Edelsteinrock“ rechtfertigen würde;
es ist daher anzunehmen, daß sich dieser Name nicht auf die Beschaffenheit
des Gewandes bezog, sondern rein symbolisch war und das Wasser bedeutete,
das die Göttin verkörperte und das für die Hochlandsindianer das Kost-
barste im irdischen Feben war; die langen Zeiten der Dürre bildeten ja ihre
ständige Sorge, und ihre Flauptverehrung galt daher seit alters Wasser- und
Regengottheiten.
Bei einem Vergleich mit anderen Chalchiuhtlicue-Figuren fällt es auf,
daß die Mannheimer Göttin Sandalen trägt, die bei den Azteken mehr ein
Reservat der männlichen Kleidung waren. Aber auch im Göttertrachten-
kapitel Sahagüns hat Chalchiuhtlicue als Wassergöttin an den Füßen San-
dalen; diese hießen bei ihr und den verwandten Göttern des Regens und
des Windes — der dem Regen „die Bahn fegt“, wenn er als Passatwind die
Regenzeit auf dem mexikanischen Hochland einleitet — pozolcactli „Schaum-
sandale“, weil sie einen Randbesatz aus weißen Federchen hatten, der den
Wasserschaum symbolisieren sollte’’. An dieser Einzelheit zeigt es sich, daß
3 Sei er „Ges. Abli.“ II, S. 444/5 zu den Textstellen S. 435, 443 und 473. Eine
Schaumsandale trägt auch Chicorne coatl (S. 446), weil sie als Maisgöttin der
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
7
der Künstler, der die Mannheimer Chalchiuhtlicue-Figur schuf, den Über-
lieferungen der aztekischen Ikonographie getreuer folgte, als es bei anderen
Steinflguren der gleichen Göttin geschah, die sämtlich barfüßig dargestellt
sind. Die Hackenkappen aus steifem Leder und die Befestigungsschnüre, die
zwischen je zwei Zehenpaaren hindurchlaufen, sind noch besser als hier an
den Sandalen des Mannheimer Xochipillis zu erkennen4.
Zu den in aztekischer Zeit allgemein verbreiteten Schmuck sacken
gehörten die breiten Lederstulpen, die diese Xochipilli-Figur über Unter-
arme und Unterschenkel gezogen hat. Sie waren bei Vornehmen bunt bemalt
oder vergoldet und hatten am unteren Rande einen Besatz aus grünen Edel-
steinscheiben oder kurzen Federn sowie einen Behang aus Goldschellen. In
aztekischen Texten werden sie „Handriemen“ (macuextli) bzw. „Wadenleder“
(cotzehuatl) genannt und auf bekannten aztekischen Denkmälern fast stets
in der gleichen konventionellen Weise wiedergegeben5. Ein weiteres, sehr
charakteristisches Schmuckstück des Mannheimer Xochipillis ist der dünne, an
beiden Enden in eine Art Perle auslaufende Stab, der in der durchbohrten
Nasenscheidewand steckt. Er bestand in Wirklichkeit ganz aus einem Halb-
edelstein und hieß je nach dem Material, das man dazu verwandte, chal-
chiuh-yacamitl („Nasenpfeil aus grünem Edelstein“) oder yacaxihuitl
(„Nasentürkis“). Dieser Schmuck gehörte aber bereits zu den spezielleren
göttlichen Abzeichen. Er kam in erster Linie dem aztekischen Sonnen-
gott (Tonatiuh) zu, der ihn in allen Bilderhandschriften trägt und zu-
sammen mit macuextli und cotzehuatl auch auf dem schönen Relief des
„Humboldtsteins“, einer kleinen runden Serpentinscheibe, die Alexander von
Humboldt aus Mexico nach Berlin mitbrachte, wo sie am Ende des 2. Welt-
krieges vernichtet wurde. Wenn der Mannheimer Xochipilli alle drei Schmuck-
stücke trägt, so deutet das schon darauf hin, daß Xochipilli in die Verwandt-
schaft des Sonnengottes gehört, wie wir noch sehen werden.
Wassergöttin besonders nahesteht, wie wir noch sehen werden. Bei allen übrigen
Göttinen werden nur „Sandalen“ bzw. „weiße Sandalen“ erwähnt, vielleicht
lediglich in schematischer Anlehnung an die Tracht der männlichen Gottheiten,
bei denen Sandalen ein selbstverständlicher Bestandteil der Tracht waren.
4 Genau so wird die Befestigung der Sandale auf den Fürstenbildern eines azte-
kischen oder mit der aztekischen Tracht genau vertrauten Malers im Atlas zu
E. Bobans „Documents pour servir ä l’histoire du Mexique“ (Paris 1891, Taf.
66, 68—70) wiedergegeben.
5 Ich erwähne nur die Götter auf dem Boden der Schale des „Jaguar-Quauhxicallis“
und auf den Seitenwänden des „Teocalli de la Guerra Sagrada“, die Figur auf
einem aztekischen Relieftorso aus Tetzcoco (H. Beyer „El llamado Calendario
Azteca“, Mexico 1921, Fig. 186) und den kopflosen Standartenträger einer
aztekischen Tempelpyramide (E. N o g u e r a „Guide book to the National
Museum“. Mexico 1938, Fig. 13). Auch die mixtekische Tonflgur von Teotitlan
(Abb. 3) trägt ein macuextli der gleichen Art.
8
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Damit kommen wir nun zu der Frage, welche Abzeichen die Bestimmung
unserer beiden Götter ermöglichen und welche Funktionen sie im aztekischen
Pantheon ausübten.
I.
Die einwandfreie Identifizierung von Xochipilli- Figuren in der
großen Zahl aztekischer Steinplastiken ist ziemlich jungen Datums. Sie gelang
erst, nachdem Eduard S e 1 e r auf seiner ersten mexikanischen Forschungs-
reise, Anfang Juli 1888, in dem an der Straße Oaxaca—Tehuacan liegenden
Orte Teotitlan del Camino (Oaxaca) ein bunt bemaltes, 35 cm hohes Tonidol
mixtekischen Stils erworben hatte, das einen Gott in sitzender Stellung
wiedergab (Abb, 3)6. Es ist seitdem berühmt geworden und bildete als Leih-
gabe des Berliner Museums für Völkerkunde eines der Fiauptstücke auf der
großen Mexico-Ausstellung in Berlin (Oktober/November 1959).
Der Gott trägt hier, abgesehen von Trachtformen, die ihn mit dem Sonnen-
gott verknüpften (neben dem Nasenstab aus Türkis gehört auch seine gelb-
rote Körper- und Gesichtsbemalung dazu), drei für seine Identifizierung
ausschlaggebende Abzeichen: 1. einen kleinen rechteckigen, aus verschiedenen
Farbstreifen bestehenden Fleck auf jeder Backe, 2. einen stilisierten weißen
Schmetterling als Bemalung rings um den Mund, 3. einen stilisierten Vogel-
kopf als Fdelmmaske, aus dessen weitaufgesperrtem Schnabel sein Gesicht
hervorsieht. Der Farbfleck, der gewöhnlich aus vier Farben besteht und
im Aztekischen tlapapalli hieß, kennzeichnete ganz allgemein Götter, die
mit Sonne und Mais verbunden waren. Zu ihnen sind außer Sonnengott und
Maisgöttin auch das Höchste Wesen (Tonacatecutli) und die Erdgöttin
(Tlazolteotl) zu zählen. Alle trugen, wie Xochipilli, dies Abzeichen, das
wahrscheinlich ein Symbol der vier Weltgegenden war, auf ihrem Körper
oder ihrem Gewand, manchmal auch auf ihren Tempeln oder ihren Geräten.
Enger mit Xochipilli hing der weiße Schmetterling zusammen, denn
der Schmetterling, der honigsaugend von Blüte zu Blüte fliegt, ist ein natür-
liches Korrelat der Blumen, nach denen der Gott heißt. Den weißen Schmet-
terling finden wir in der gleichen Form und an der gleichen Stelle auf sämt-
lichen Bildern des Gottes im Codex Borgia7, woraus Seler schon in
6 Die Abbildung zeigt den ursprünglichen Zustand der Bemalung. Vom gegen-
wärtigen Aussehen des Tonidols gibt die farbige Reproduktion des Verlages
Bruckmann in einem Aufsatz von O. Zerries („Die Kunst und das schöne
Heim“ 1959, Heft 12) eine bessere Vorstellung.
7 Codex Borgia 13 (oben), 15 (Mitte), 16 (unten), 26 (links), 57 (oben). Der
dem Xochipilli nahe verwandte Gott Macuilxochitl und seine Genossen, deren
Namen alle mit macuilli „fünf“ beginnen, tragen auf den Blättern desselben
Codex statt eines Schmetterlings das Bild einer ausgebreiteten weißen Menschen-
hand als Malerei rings um den Mund, weil macuilli wörtlich „die (beim Zählen
zu Hilfe) genommene Hand“ bedeutet.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
9
Abb. 3. Bemalte Tonfigur Xochipillis. Höhe 35 cm.
Museum für Völkerkunde, Berlin (IV C a 10957).
Teotitlan del Camino (Oaxaca), Slg. Eduard Seler
einer seiner frühesten Abhandlungen den Schluß zog, daß diese Bilderhand-
schrift — eine der schönsten und inhaltsreichsten, die uns aus dem alten
Mexico erhalten blieb — aus Teotitlan del Camino im nördlichen Oaxaca
stammen müsse. Heute wissen wir, daß ihre Heimat nördlicher lag, im
Gebiet von Tlaxcala und Cholula, wo man noch Aztekisch oder einen nahe
verwandten Nahua-Dialekt sprach, daß aber beide, die Handschrift sowohl
wie das Tonidol, neben zahlreichen Werken eines hochentwickelten Kunst-
handwerkes der trotz aller Sprachverschiedenheiten und lokalen Varianten
ursprünglich einheitlichen „Puebla-Mixteca-Kultur“ angehörten. In diesem
großen Kulturkreis, der die Azteken aufs stärkste beeinflußte, hatte dem-
10
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
nach auch der Gott seine Heimat, der als wichtigstes Abzeichen einen
Vogelkopf als Helmmaske trug.
Am deutlichsten zeigt ihn das Tonidol. Man erkennt den weit geöffneten
Schnabel, dessen oberem Teil auf der Innenseite drei farbige Rosetten als
Ornament aufgesetzt sind, und einen hochaufgerichteten, an der Spitze blau
gefärbten Federstutz auf dem Scheitel. Das zoologische Vorbild war der Kopf
des Hokkohuhns (Crax spec.), eines in den Wäldern der mexikanischen Tierra
Caliente lebenden Vogels, der bei den Azteken coxcoxtli oder quetzalcox-
coxtli hieß und auf dem Kopf einen Federstutz oder besser Federkamm
trägt. Naturgetreuer als auf dem Tonidol ist der Federkamm auf einigen
Bildern des Gottes Xochipilli wiedergegeben, die Seler schon vor langen
Jahren auf mixtekischen Fresken in den Palästen von Mitla nachwies und
auf mixtekischen Reliefen in einem anderen Orte Teotitlan, der im Tal von
Oaxaca liegt und daher Teotitlan del Valle heißt*. Wider Erwarten trägt
nun gerade der Xochipilli des Codex Borgia (ebenso wie der ihm nahe ver-
wandte Macuilxochitl) keinen Vogelkopf als Helmmaske, sondern eine Stirn-
binde, die vorn mit einem gewöhnlichen kleinen Vogelkopf geschmückt ist.
In den aztekischen Codices sieht das Gesicht des Gottes zwar aus dem ge-
öffneten Schnabel eines Vogels heraus, doch hat der Scheitelkamm desselben
nur noch wenig mit seinem Naturvorbilde gemein, denn er ragt viel zu hoch
empor, besteht aus ganz steifen Federn und ist zudem mit Steinmessern
gespickt9. Sahagün endlich spricht bei der Schilderung der Tracht Xochipillis
nicht ausdrücklich von einem Vogelkopf als Helm, sondern von einer dem
Kopf dicht anliegenden Haube (tzoncalli) aus roten Löffelreiherfedern und
nur bei dem Gott Macuilxochitl noch von einem Federkamm (quachichiquilli).
Die seinem Text beigegebenen Bilder lassen ebenfalls kaum noch etwas von
einem Vogelkopf als Ausgangspunkt dieses Kopfschmuckes ahnen10.
Eine interessante Variante des gleichen Göttertyps bilden die Stein- und
Tonbilder Xochipillis auf der Mesa Central, dem mexikanischen Hochland,
die in der Mehrzahl aztekischer Herkunft sein dürften. Man kennt ihrer
eine erhebliche Zahl in den Museen der Alten und Neuen Welt. Stellt man
die besten Stücke nebeneinander, so ergibt sich eine Entwicklungsreihe des
Vogelkopfhelms, die von einem relativ naturnahen Ausgangspunkt zu einem
s Seler „Wandmalereien von Mitla“ (Berlin 1895) S. 35. In beiden Fällen ist
nicht ein isolierter, hoher Federbusch dargestellt, wie auf fast allen Xochipilli-
Bildern des aztekischen Gebietes, sondern ein über den ganzen Vogelkopf laufen-
der kurzer Federkamm. Er findet sich sonst nur noch an einer Steinfigur aus der
Gegend des im nördlichen Veracruz gelegenen Castillo de Teayo (Seler „Ges.
Abh.“ III, 1908, S. 439, Abb. 36). Die Skulpturen dieses Fundortes werden heute
gewöhnlich in die spättoltekische Epoche versetzt, stehen also chronologisch mix-
tekischen Funden näher als aztekischen Skulpturen.
9 Cod. Magliabecchi (Ed. Loubat, 1904) 35 und 47.
10 Seler „Ges. Abh.“ II, S. 490, 491 (Abb. 38) und S. 492, 499.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
11
Abb. 4. Steinfigur Xochipillis. Flöhe 63 cm. Museum für Völkerkunde,
Leipzig (MAm 6050), Fundort und Sammler unbekannt
Endstadium führt, bei dem die wesentlichen Elemente des Yogelkopfes völlig
schematisch geworden sind und von den Künstlern wahrscheinlich auch gar
nicht mehr als solche erkannt wurden. Die Mannheimer Figur (Abb. 1 a bis d)
gehört unstreitig zu denen, die an der Spitze der ganzen Reihe stehen. Sie
ist eine der wenigen, bei denen der Vogelkopf noch vollständig, d. h. mit
Ober- und Unterschnabel wiedergegeben wurde, wie bei dem Tonidol von
Teotitlan del Camino. Unter den größeren, bisher publizierten Stücken zeigt
nur noch ein stark beschädigter Steinkopf der Sammlung Bilimek im Wiener
Museum für Völkerkunde den Unterschnabel, der sonst immer fortgelassen
11 Seiet „Ges. Abh.“ II, S. 613 (Abb. 178) und Katalog der Züricher
Ausstellung („Kunst der Mexikaner“, 1959) S. 86, Nr. 719 und Abb. 97.
12
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
wurde11. Beim Mannheimer und Wiener Exemplar sind am Helm auch noch
die Augen des Vogelkopfes markiert und die Federn auf dem Scheitel und
im Nacken in naturalistischer Weise wiedergegeben; unter den Nackenfedern
sieht beim Mannheimer Xochipilli das zopfartig zusammengenommene Haar
des Gottes selbst hervor, dagegen fehlt ihm eine Andeutung des Schwanzes
und der Flügel des Coxcoxtli, die das Tonidol von Teotitlan del Camino
noch deutlich erkennen läßt. Mit den naturgegebenen Elementen verbindet
sich ein keinem Steinbild Xochipillis fehlendes unrealistisches: zwei an bei-
den Schläfen des Vogelkopfes symmetrisch angebrachte Scheiben oder Ro-
setten, aus deren Mitte ein, zwei oder drei Schmuckbänder herabhängen.
Seler nahm an, daß diese Rosetten aus den großen Vogelaugen und die
Schmuckbänder aus den Vogelflügeln entstanden seien, was aber nicht möglich
ist, da, wie gesagt, der Vogelkopf des Mannheimer und Wiener Xochipillis
noch seine Augen besitzt; vielmehr sind die Rosetten Ohrschmucke, mit denen
mexikanische Bilderhandschriften manchmal auch Vogelköpfe ausstatteten12.
Beim Mannheimer und Wiener Xochipilli trägt übrigens der aus dem Vogel-
schnabel herausblickende Menschenkopf noch seine eigenen Ohrschmucke, die
zwar kleiner, sonst aber den Rosetten ganz ähnlich sind.
Die weitere Entwicklung des Vogelkopfhelms läßt sich an zwei einander
ähnlichen Xochipilli-Figuren im mexikanischen Nationalmuseum und im
Leipziger Museum für Völkerkunde (Abb. 4) verfolgen. Bei beiden ist der
Vogelkopf mit dem Oberschnabel zu einer eng anliegenden Kopfhaube ge-
worden; der Unterschnabel fehlt, und von den Federn sieht man auf dem
viel zu hohen und eher einer kleinen Stufenpyramide als einem Federbusch
ähnelnden Scheitelkamm nur noch die Spitzen13. Die beiden seitlichen Ro-
setten werden durch eine ganz ähnliche dritte am Hinterkopf ergänzt, die
wohl kaum eine Andeutung des Schwanzes sein soll, wie Seiet meinte, son-
Adlerköpfe als Helmmasken aztekischer Kriegerfiguren besitzen gewöhnlich noch
den Unterschnabel; vgl. den. berühmten steinernen Kriegerkopf des mexikanischen
Nationalmuseums (Krickeberg „Altmexikanische Kulturen“, Berlin 1956,
S. 177). Doch kommt es auch hier vor, daß der Unterschnabel fehlt (Lienzo
de Tlaxcala 48). Die Schlangenhelmmaske der Chalchiuhtlicue im Codex
Borgia (vgl. Anm. 27) wird ebenfalls stets ohne Unterkiefer dargestellt.
12 Seler „Ges. Abh.“ II, S. 492 und 887; IV (1923), S. 553 (Big. 325: Arara),
S. 599 (Fig. 476 ff.: Geier), S. 618 und 619 (Fig. 582, 583 und 586: Truthahn).
13 Der Xochipilli im mexikanischen Nationalmuseum, der aus einer Ausgrabung im
Zentrum von Mexico C. stammt (siehe unten), wurde erstmalig von Seler be-
schrieben und abgebildet („Ges. Abh.“ II, S. 885/6), dann von A. Peñafiel
(„Destrucción del Templo Mayor de México antiguo“, Mexico 1910). Vom Leip-
ziger Xochipilli hat bereits R. Gronau einen Holzschnitt in seinem populären
Buch „Amerika“ (Leipzig 1892, I. S. 462) veröffentlicht; das hier wiedergegebene
Photo (Abb. 4) verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Direktors Dr.
Damm. Beide Figuren stimmen nicht nur ixt ihrer Form weitgehend überein, son-
denx auch darin, daß sie auf ihrer Brust eine Vertiefung für das „Herz“ (einen
grünen Edelstein) besitzen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
13
Abb. 5. Steinfigur Xochipillis. Höhe 43,5 cm. Museum für Völker-
kunde, Berlin (IV Ca 3747), Fundort unbekannt, Slg. Uhdc
dem rein ornamental aufzufassen ist und dazu beiträgt, die Kopfhaube
immer weiter von ihrem Naturvorbild zu entfernen. Auf der gleichen Ent-
wicklungsstufe steht eine Xochipilli-Figur des Britischen Museums, deren
Scheitelkamm abgebrochen ist. Ihre gedrungene Gestalt und ihr brutales
Gesicht bilden einen merkwürdigen Gegensatz zu der schlanken Figur und
den feinen, fast „edlen“ Zügen des Mannheimer Xochipillis14. An das Ende
der Reihe kann man zwei plumpe Xochipilli-Figuren des Berliner Museums
für Völkerkunde stellen; bei der einen ist der Scheitelkamm zu einem ein-
fachen pyramidalen Zapfen geworden, und das Ohrgehänge fällt ohne jede
Gliederung von der Schläfenrosette herab (Abb. 5). Auch zwei Xochipillis
x4 Th A. Joyce „Mexican Archaeology“ (London 1914) Taf. 5, 1.
14
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
der Sammlung Philipp Becker in Wien sind schwache und unvollkommene
Kopien des Urbildes15.
Es bleibt nur noch übrig, die Frage nach der Bedeutung des Gottes
im Rahmen des aztekischen Pantheons zu erörtern. Die erwähnte Steinfigur
des mexikanischen Nationalmuseums ist die einzige, deren Fundort genau
feststeht: sie wurde im Dezember 1900 mitten im historischen Zentrum der
Stadt Mexico unter dem Pflaster der Calle de las Escalerillas (heute Calle
Tacuba) nahe der Nordwestecke der Kathedrale ausgegraben. Diese Straße,
einst der Beginn des Westdammes der aztekischen Metropole, läuft genau
auf die nach Westen gekehrte Treppe der großen Pyramide zu, deren Über-
reste im Jahre 1933 unweit der Fundstelle der Figur unter einer Straßen-
kreuzung zum Vorschein kamen. Zweifellos gehörte also die Figur zu einer
der zahlreichen Kultstätten des Haupttempelbezirkes und wahrscheinlich zu
einer, die Xochipilli als dem Gott der Musik geweiht war, denn sie war
von zahlreichen steinernen Miniaturnachbildungen von Musikinstrumenten
sowie von kleinen Tongefäßen umgeben, die auf der Vorderseite den plasti-
schen Kopf des Gottes mit seiner typischen Helmmaske zeigen; vielleicht
stammte sie aber auch vom „Götterballspielplatz“, der ebenfalls vor dem
Aufgang der Hauptpyramide lag und wie alle aztekischen B a 1 1 Spiel-
plätze unter dem Patronat Xochipillis stand, dessen Statuen man daher
auf diesen Plätzen errichtete. Auch der dem Xochipilli nahe verwandte und
daher oft mit ihm identifizierte Gott Macuilxochitl war ein Patron von Spiel
und Tanz16. Musik, Spiel und Tanz erschöpfen aber weder den Wirkungskreis
Xochipillis, noch geben sie uns Aufschluß über seine ursprüngliche Bedeu-
tung. Schon sein Name „Blumenfürst“ weist darauf hin, daß er mit der
aufblühenden Vegetation im allgemeinen und mit dem jungen Mais
im besonderen verknüpft war. Daher erscheint er im aztekischen Codex
Magliabecchi sowohl als Herr des „Blumenfestes“ (xochilhuitl), das alle
200 Tage (also ein- bis zweimal jährlich) stattfand, als auch des „Großen
Herrenfestes“ (huei tecuilhuitl) in jedem achten “Monat“ von 20 Tagen, bei
dem sein Bild von jugendlichen Festteilnehmern auf einer mit Maisblättern
und -kolben verkleideten Bahre in Prozession mitgeführt wurde. Maisgötter
waren im alten Mexico häufig nur Sonderformen des Sonnengottes,
denn der junge Gott der aufblühenden Vegetation ist zugleich der Gott der
aufgehenden Sonne. Daher wurde Xochipilli in Hymnen bald als Cinteotl
■l5 Sei er „Ges. Abh.“ II, S. 887/8, Abb. 86 und 87. Die zweite Berliner Xochipilli-
Figur (IV Ca 44158) wurde erst neuerdings erworben und ist noch nicht publi-
ziert.
16 Er ist im C o d. Magliabecchi (60) als Patron des Brettspiels patolli dar-
gestellt und trägt auf einem bekannten Steinbild des mexikanischen National-
museums die Maske eines Tänzers oder Schauspielers vor dem Gesicht (Kricke-
berg op. cit. S. 212).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
15
(„Gott des reifen Maises“), bald als Piltzintecutli (der Sonnengott als „Flerr
der Fürsten“) gefeiert. Hierin liegt auch der Schlüssel zum Verständnis seiner
Vogelverkleidung. Das Hokkohuhn (coxcoxtli), dessen Kopf er als Maske
trägt, erhebt in den tropischen Wäldern des südlichen Mexico seine Stimme
als erster von allen Vögeln schon am frühen Morgen; es verscheuchte nach
der Vorstellung der Indianer das Dunkel und führte den Tag herbei. Wahr-
scheinlich lernten also die Stämme der Mesa Central, des mexikanischen
Hochlandes, bei ihren Kriegszügen nach dem Süden Xochipilli zuerst als den
jungen Sonnengott in Vogelgestalt kennen, oder sie übernahmen ihn in dieser
Form von den Mixteken, in deren Land er besonders an zwei oben er-
wähnten Orten verehrt wurde, deren gleichlautende Namen Teotitlan
(„Gottesort“) schon darauf hindeuten, daß hier der Sonnengott — als der Gott
an sich17 — seine Hauptkultstätten besaß. Die Azteken gaben ihm dann,
da sie seit alters selbst einen Sonnengott verehrten, die untergeordnete Funk-
tion eines Gottes der Musik und der Spiele und vergaßen allmählich, worauf
sich seine Vogelmaske bezog; in seiner alten Heimat aber blieb Xochipilli
weiterhin der Sonnengott. Noch im Jahre 1674 spricht Burgoa, der Chronist
Oaxacas, davon, daß in Teotitlan del Valle auf hoher Felsklippe ein uraltes
Heiligtum lag, dessen Idol einst in Vogelgestalt „in einer leuchtenden Kon-
stellation“, d. h. von Strahlen umglänzt wie die Sonne, vom Himmel her-
abgekommen sei18. Die Einwohner des Ortes dachten dabei zweifellos an
eine Parallelgestalt Xochipillis, da der Name Macuilxochitls, seines nahen
Verwandten, noch heute im Namen eines Teotitlan del Valle benachbarten
Dorfes fortlebt und sein Bild sich, wie wir schon sahen, auf mehreren
Reliefen des gleichen Gebietes gefunden hat.
Auch in anderen Teilen Mexicos stellte man sich den Sonnengott in Vogel-
gestalt vor. Die jüngeren Maya verehrten in Izamal, einer Stadt Yucatans,
den Sonnengott als einen A r a r a (kin-ich kakmo „Sonnengesicht, Feuer-
Arara“), der um die Mittagsstunde herabkommt, um das Opferfeuer auf
dem Altar zu entzünden19; und selbst die Azteken, deren Sonnengott
Tonatiuh menschliche Gestalt und Züge hatte, verglichen ihn gern mit einem
Adler, der zum Himmel aufsteigt (quauhtlehuanitl) und vom Himmel
herabschwebt (quauhtemoc).
II.
Die erste typische C h a 1 c h i u h 11 i c u e - Figur wurde bereits 1816
durch Alexander v. Humboldt bekannt, der sie in seinen „Vues des Cordi-
37 Teotl „Gott“ wurde im Aztekischen oft geradezu als Synonym für „Sonnengott“
gebraucht.
18 Burgoa „Geográfica descripción“ (Neuausgabe Mexico 1934) II, S. 119.
19 Lizana bei Sei er „Wandmalereien von Mitla“ (1895) S. 35.
16
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Hères“ als „Prêtresse aztèque“ beschrieb, es aber bereits für möglich hielt, daß
sie keinen Menschen, sondern eine Gottheit darstellte“0. Sie gehört heute der
Christy Collection des Britischen Museums. Ein ähnliches Stück der alten
Sammlung Uhde im Berliner Museum für Völkerkunde regte Eduard Seler
im Jahre 1901 dazu an, die charakteristischen Züge der Göttin festzustellen,
was in der Tat notwendig war, weil inzwischen in manchen Werken
Reliefbilder der gleichen Göttin mit den unsinnigsten Unterschriften ver-
öffentlicht worden waren20 21. Seitdem sind noch viele andere Steinfiguren und
einige kleine Tonidole bekannt geworden, die Chalchiuhtlicue teils stehend,
teils kniend oder hockend (wie die Mannheimer Figur) darstellen und alle
Merkmale, die für ihre Identifizierung wichtig sind, ziemlich gleichbleibend
wiedergeben. Dasselbe gilt auch von den Bildern der Chalchiuhtlicue in den
aztekischen Codices, dagegen nicht von Sahagün, dessen Göttertrachtenkapitel
eine Beschreibung und ein Bild der Göttin enthält, die besser auf die Mais-
göttin Chicome coati passen als auf Chalchiuhtlicue22.
Vom Poncho (quechquemitl) der Chalchiuhtlicue war bereits die Rede.
Zu erwähnen wäre noch ihr Halsband aus grünen oder blaugrünen Halb-
edelsteinen (chalchihuitl), das sie mit den Maisgöttinnen teilt, weil die
Chalchihuitl-Perlen nicht nur das Wasser symbolisierten, wie ich schon er-
wähnte, sondern auch den Mais als die kostbarste Frucht der Erde. Der
Mannheimer Figur fehlt dieser Schmuck wie vielen anderen Steinfiguren der
Göttin; dagegen trägt ihn eine Pariser Figur der Chalchiuhtlicue in ver-
schwenderischer Fülle (Abb. 6). Das Hauptmerkmal, das Chalchiuhtlicue von
anderen Göttinnen unterscheidet, ist ihr Kopfschmuck, der aus drei
Teilen besteht, von denen zwei unumgänglich sind und der dritte fehlen
20 Oktavausgabe Paris 1816, I, S. 51—56 zu Taf. I.
21 Seler „Ges. Abh.“ II, S. 905—910. In seiner höchst unkritischen „Historia
antigua y de la conquista“ (Mexico a través de los siglos I, Mexico 1887) be-
zeichnete A. Chavero die Göttin auf dem unten (Abb. 8) wiedergegebenen
Relief des mexikanischen Nationalmuseums als „Huitzilopochtli“ (S. 589), worin
ihm R. Gronau (op. cit. I, S. 426) folgte; an anderer Stelle (S. 796} wird
die gleiche Göttin auf einem zweiten Relief des Nationalmuseums von Chavero
sogar als eine „Gottheit der Musik“ vorgestellt, weil er in einem Detail ihrer
Tracht eine Schlitztrommel (teponaztli) zu erkennen glaubte.
22 Bilderhandschriften: Cod. Borbonicus 5 und Tonalamatl Aubin 5,
wo die Göttin als Repräsentantin des fünften der zwanzig dreizehntägigen
Tonalpohualli-Abschnitte dargestellt ist. Auf dem entsprechenden Blatt des eben-
falls aztekischen Cod. Telle riano-Remensis (11 verso) trägt Chal-
chiuhtlicue eine Kopfbinde von abweichender Form, wird aber durch das blaue
Kostüm und die Wassertropfen, die sie umgeben, unzweideutig als diese Göttin
charakterisiert, ebenso im Cod. Vaticanus 3738 (4 verso), wo sie das erste
Weltzeitalter verkörpert. Außer Chalchiuhtlicue tragen noch verschiedene Formen
der Maisgöttin den bezeichnenden Kopfschmuck: im Cod. Borbonicus (7)
Chicome coati und im Cod. Magliabecchi (31, 36 und 41) Cinteotl,
Xilonen und Xochiquetzal (über die Beziehungen Chalchiuhtlicues zu den Mais-
göttinnen siehe weiter unten). — Sahagün; Seler „Ges. Abh.“ II, S. 472/3.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
17
Abb. 6. Steinfigur der Chalchiuhtlicue. Höhe 45 cm.
Musee de l’Homme, Paris, Fundort unbekannt, Slg. Allard
kann; die Steinfiguren stellen ihn so genau dar, daß er sich mit Leichtigkeit
rekonstruieren ließe und offenbar einer wirklichen Frauentracht entsprach,
die bei irgendeinem Stamm zu irgendeiner Zeit im aktuellen Gebrauch war,
ehe er zum Abzeichen einer Göttin wurde:
1. Das Haar fällt hinten glatt herab und ist an beiden Schläfen in
einen dicken Knoten geschlungen, von dem es wieder gelöst in starken
Büscheln herabhängt. Nur bei der Mannheimer Figur (Abb. 2 a bis e) sind
an den Schläfen statt des einen je zwei Haarbüschel übereinander vor-
handen, ein kürzeres und ein längeres.
2. Die Stirn umgibt eine breite Binde, die aus mehreren, parallel neben-
einander geordneten Strängen oder Riemen besteht. Diese laufen nicht ein-
2 Baessler-Archiv VIII
18
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
zehr um den Kopf herum, sondern müssen vorher durch Nähen, Knüpfen
oder Weben fest miteinander verbunden worden sein, so daß man sie am
Hinterkopf als Ganzes herabfallen lassen konnte, wie es die Rückseite der
Mannheimer Figur ganz deutlich zeigt. Wenn die Stränge den Kopf in ein-
zelnen Touren umgäben, dann wäre die Binde nicht nur an den Außenrän-
dern mit großen Perlen oder Scheiben garniert, sondern jeder einzelne Strang
würde diese Garnierung tragen. Eine ähnliche Stirnbinde gab es in
alter Zeit an der Südküste Perus; hier ging sie auf Steinschleudern zurück,
die sich im Laufe der Entwicklung aus einem praktischen Gerät in ein
Schmuckstück verwandelt hatten23. Aus einem Bild der Chalchiuhtlicue im
Codex Borbonicus (5) geht hervor, daß die Stränge der Kopfbinde mehrfarbig
waren, also nicht aus Leder, sondern Gewebe oder Geflecht verfertigt wurden.
Die Garnierung bestand an beiden Rändern entweder aus runden oder aus
flachen Perlen und erinnert etwas an die Pailletten aus Muschelschale, mit
denen die alten Bewohner der peruanischen Küste und die modernen In-
dianer des Gran Ghaco ihre gewebten Stirnbinden an den Rändern säumten24.
3. Auf dem hinteren Knoten der Stirnbinde oder etwas höher (auf dem
Haar darüber) ist in den meisten Fällen eine große, in Falten gelegte
Schleife befestigt, die in der Mitte durch ein Geflecht eingeschnürt wird,
so daß sie wie ein Flügelpaar rechts und links weit vom Hinterkopf absteht
und daher bei Steinfiguren meist abgebrochen oder (wie bei der Mannheimer
Figur) stark beschädigt ist. Aus aztekischen Quellen wissen wir, daß sie im
Original aus Bastpapier verfertigt wurde, tlaquechpanyotl hieß und männ-
lichen sowohl wie weiblichen Berg-, Wasser- und Regengottheiten als Nacken-
zierrat diente25.
In dieser stereotypen Form hat man Chalchiuhtlicue schon auf Denkmälern
der spättoltekischen Epoche dargestellt. Schläfenhaarknoten, Stirnbinde
mit Perlbesatz, Nackenschleife, dreieckigen Poncho und Halskette aus Edel-
steinperlen trägt sie bereits auf einem Felsbild am Cerro de la Malinche
bei Tula (Abb. 7), auf einer steinernen Stele vom Castillo de Teayo im
nördlichen Veracruz und auf einem Steinrelief unbekannter Herkunft, aber
toltekischen Stils im mexikanischen Nationalmuseum (Abb. 8)26. Dagegen
23 M. Schmidt „Kunst und Kultur von Peru“ (Berlin 1929) Abb. S. 523 links
und Mitte.
24 E. Nordenskiöld „Eine geographische und ethnographische Analyse der
materiellen Kultur zweier Indianerstämme in El Gran Chaco“ (Göteborg 1918)
S. 132, Ab. 38, und S. 136/7.
25 S c 1 e r „Ges. Abh.“ II, S. 850 zu Abb. 51—53, III, S. 433 zu Abb. 29. Bis-
weilen trägt sie auch der Pulquegott (III, S. 544 zu Abb. 2).
20 Krickeberg op. cit. S. 323. S e 1 e r „Ges. Abh.“ III, S. 429, Abb. 24.
Ghavero op. cit. S. 589. Auf den beiden Reliefen ist Chalchiuhtlicue in Vorder-
ansicht dargestellt, wie viele toltekische Figuren. In der aztekischen Kunst treten
Frontalbilder bei Reliefen viel seltener auf.
ßaessler-Arckiv, Neue Folge, Baud VIII
19
Abb. 7. Chalchiuhtlicue als Maisgöttin.
Felsbild am Cerro de la Malinche bei
Tula (Hidalgo). Nach Enrique Meyer
(Mexico 1939)
Abb. 8. Chalchiuhtlicue als Maisgöttin.
Stcinrelief im mexikanischen National-
museum, Mexico C. Fundort unbekannt
erscheint sie im Codex Borgia und in verwandten Bilderhandschriften der
Puebla-Mixteca-Kultur in völlig anderer Auffassung. Ihr Gesicht
sieht aus einem aufgesperrten Schlangenrachen hervor; ihr Haar ist zuweilen
von einer schmalen Stirnbinde umgeben, die aus Muschel- oder Edelstein-
scheibchen besteht und vorn einen Vogelkopf trägt, und von ihrer Nasen-
scheidewand hängt ein Schmuck herab, der die Gestalt einer gekrümmten
Schlange mit Köpfen an beiden Körperenden hat. Das einzige Merkmal, das
diese Chalchiuhtlicue mit der aztekischen Göttin gleichen Namens und mit
einigen aztekischen Maisgöttinnnen verbindet, sind ein paar kurze, senkrechte
Striche in schwarzer Farbe auf jeder Backe, die regelmäßig auf allen ihren
Bildern im Codex Borgia erscheinen, während sie in aztekischen Bilderhand-
schriften und auf aztekischen Skulpturen nur gelegentlich und manchmal auch
nur in Einzahl auftreten27. Andererseits ist die auf eine Serpentinplatte des
27 Schlangenhelmmaske: Cod. Borgia 11, 14, 17, 24, 26, 41, 57, 65. Schwarze
Backenstriche bei aztekischen Göttinnen: Cod. Borbonicus 5 und 7,
Tonalamatl Aubin 7 und 8, S e 1 e r „Ges. Abh.“ II, S. 907 (Abb. 4).
Eine von H. Beyer publizierte rohe Figur der Chalchiuhtlicue aus Feldspat
trägt neben dem hier vollständigen (d. h. mit Unterkiefer versehenen) Schlangen-
helm, den Beyer als Kopf einer Federschlange auffaßt, ebenfalls die Backen-
2
20
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Wiener Museums geritzte Chalchiuhtlicue-Figur sowohl mit dem Schlangen-
helm, wie im Codex Borgia, als auch mit der perlengesäumten Stirnbinde,
dem typischen Kopfschmuck der aztekischen Chalchiuhtlicue, ausgestattet“8.
Und wie die aztekische Chalchiuhtlicue ihre Trachtmerkmale mit aztekischen
Maisgöttinnen teilt, so tritt der Schlangenhelm im Codex Borgia (62) auch bei
Xochiquetzal auf, die als Blumengöttin das weibliche Gegenstück zum männ-
lichen Maisgott Xochipilli bildete und als Gemahlin des Sonnengottes den
jungen Maisgott Cinteotl gebar. Es kann also kein Zweifel daran bestehen,
daß die beiden verschiedenen Formen der Göttin die gleiche Gestalt ver-
körperten; doch waren sich vielleicht schon die Azteken dessen bewußt, daß
sie zu ihrer Zeit auf dem Hochland von Puebla nicht nebeneinander verehrt
wurden, sondern daß man die eine durch die andere ersetzt hatte. Darauf
deuten zwei alte Nachrichten in spanischen Quellen hin. Die eine erwähnt,
daß es einst auf dem Hochland von Puebla, in Tlaxcala, zwei Wassergöttin-
nen gegeben habe, Xochiquetzal und Matlalcueye. Die andere,
direkt atts Tlaxcala stammende Überlieferung berichtet, daß Xochiquetzal einst
Tlalocs, des Regengottes, Gemahlin gewesen sei, bis sie Tezcatlipoca entführt
und zur Liebesgöttin im Himmel gemacht habe; darauf sei Matlalcueye von
Tlaloc zur zweiten Gemahlin erkoren worden29. Da Xochiquetzal im Codex
Borgia den Schlangenhelm der Chalchiuhtlicue trägt und Matlalcueye das in
Tlaxcala verehrte Gegenstück der aztekischen Chalchiuhtlicue war, wie sich
schon aus ihrem ähnlichen Namen („Die mit dem blauen Gewand“) ergibt, lassen
sich beide Göttinnen mit den beiden Formen der Chalchiuhtlicue identifizieren,
von denen die Chalchiuhtlicue des Codex Borgia auf dem Hochland von
Puebla die ältere war, was ja dem Altersverhältnis der Puebla-Mixteca- und
der aztekischen Kultur entspricht, während die aztekische Chalchiuhtlicue
wahrscheinlich aus jener älteren religiösen Schicht des Hochtals von Mexico
stammte, die auch den Quetzalcoatl von Tula zu ihren Gottheiten zählte;
denn er ist auf dem Felsbild von Tula neben Chalchiuhtlicue dargestellt.
Trotz der engen Beziehungen zu den Maisgöttern war Chalchiuhtlicue
für die Azteken in erster Linie eine Göttin der Quellen, Bäche
und sonstigen fließendenden Gewässer. Als im Jahre
1499 das Trinkwasser, das bis dahin durch Tonröhren vom Berge
Chapultepec am Westufer des Salzsees nach der mitten im See
gelegenen aztekischen Hauptstadt geleitet worden war, für ihren Be-
darf nicht mehr genügte, ließ der aztekische König Ahuitzotl wasser-
striche („Una pequeña colección . . .“, El Mexico Antiguo I 6, 1920, S. 159 f.
und Lám 11). Sie wurden auf Skulpturen vertieft wiedergegeben und mit schwar-
zer Masse ausgefüllt.
28 H. B e y e r op. cit. S. 163 zu Fig. 10.
29 Tor quemada „Monarchia Indiana“ (Madrid 1723) II, S. 291. Muñoz
Cantar go „Historia de Tlaxcala“ (Neuausgabe Mexico 1892) S. 155.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
21
reichere Quellen in einem südlich Chapultepecs liegenden Berge erschließen.
Die feierliche Eröffnung der neuen Wasserleitung geschah unter Leitung eines
Oberpriesters, der in der Tracht der Chalchiuhtlicue (einem blauen Gewand
rriit blauen Sandalen und einem Schmuck aus blau-grünen Perlen) die Quelle
gleichsam in die Stadt geleitete und der Göttin unter Menschenopfern und
anderen Spenden weihte30. Dementsprechend thront Chalchiuhtlicue denn auch
auf allen Bildern, die sie als Patronin des fünften Kalenderabschnittes dar-
stellen, nicht nur in den aztekischen Codices, sondern auch im Codex Borgia
über einem Wasserstrom, der unter ihrem Stuhl hervortritt. Auch in vor-
aztekischer Zeit stand ihre Beziehung zum Wasser im Vordergrund; sie ist
daher auf dem toltekischen Felsbild am Cerro de la Malinche vor einer
Wasserfläche dargestellt, die aus Wellenlinien, Wirbeln, Schneckengehäusen
und Edelsteinscheiben besteht. Die Beziehung Chalchiuhtlicues zum Wasser
ist zweifellos das Primäre; Hermann Beyer ging daher zu weit, wenn er sie
in erster Linie als Maisgöttin betrachtete, zu der sie erst sekundär wurde31.
Die Brücke zum Verständnis dieser Entwicklung bildet die Tatsache, daß
alle aztekischen Wasser- und Regengötter ihren Sitz auf Bergen hatten und
mit den Bergen, die das mexikanische Hochland auf allen Seiten umgeben,
identifiziert wurden. Nicht nur Popocatepetl und Iztaccihuatl, die Vulkan-
riesen im Osten des Tals von Mexico, waren personifizierte Götter, sondern
auch niedrigere Berge, die bei Sahagim die Namen bekannter Gestalten des
aztekischen Pantheons tragen, vor allem des Regengottes Tlaloc und der
Wassergöttinnen Chalchiuhtlicue und Matlalcueye, von denen die letztere,
wie schon erwähnt, das auf dem Hochland von Puebla verehrte Gegenstück
zur aztekischen Chalchiuhtlicue im Tal von Mexico war. Die beiden mit
Tlaloc und Matlalcueye identifizierten Berge sind bekannt, dagegen wissen
wir noch nicht, wo derjenige lag, der in alter Zeit den Namen Chalchiuhtlicue
führte. Gerade diese mittelhohen Berge waren es nun, die dem trockenen
Hochlande nicht nur durch die Quellen, die auf ihnen entsprangen, sondern
auch durch den Regen Feuchtigkeit zuführten und es dadurch fruchtbar
machten. „Da die wolkensammelnden Berge als die Erzeuger des Regens ge-
dacht wurden, so verkörperte sich in ihnen wohl auch der Begriff des auf-
sprossenden Lebens, des Sprossens in der Natur, der aufkeimenden Vegeta-
tion, — die wohltätigen und mit Freuden begrüßten Folgen der nach langer
Dürre wieder einsetzenden Regengüsse32.“ Daher galten die Regengötter
als Besitzer aller Feldfrüchte, die sie einst aus dem „Lebensmittelberge“ geraubt
30 Duran „Historia de las Indias de Nueva-Espana“ (Neuausgabe Mexico 1867
und 1880) I, S. 382—395 und Tal. 17 oben.
31 Beyer op. cit. und schon früher in der Memoria Científica Humboldt (Mexico
1910, S. 97 f.: „El ídolo azteca de Alejandro de Humboldt“).
32 S e 1 e r „Ges. Abh.“ II, S. 506 zu dem vorausgehenden aztekischen Text Saha-
giins über die Berggötter.
22
Krickeberg, Xodiipilli und Chalchiuhtlicue
hatten und eifersüchtig vor den Menschen verborgen hielten; sie entschieden
darüber, ob die Maisernte je nach dem Regen, den sie aus ihren Krügen
auf die Erde gossen, gut oder schlecht ausfiel, und konnten von den Menschen
nur durch Opfer dazu bewogen werden, die Lebensmittel herauszugeben'5'5.
Auch die Wassergöttin Chalchiuhtlicue erscheint in aztekischen Bilder-
handschriften und auf aztekischen Skulpturen oft als Besitzerin und Spenderin
des Maises, so daß es verständlich ist, wenn die speziellen aztekischen Mais-
götti n n e n (Cinteotl, Chicome coatl, Xilonen und Xochiquetzal) in den
Bilderhandschriften statt in ihrer herkömmlichen Tracht auch einmal im Ge-
wand der Chalchiuhtlicue erscheinen (vgl. Anm. 22). Ebenso wie die Tracht
waren die Attribute zwischen Wassergöttin und Maisgöttinnen austauschbar.
Das gebräuchlichste unter ihnen stellt ein Mais kolben paar (cemmaiti)
dar, das von einem Opferpapier (tetehuitl) wie von einer Manschette umhüllt
ist und von Chalchiuhtlicue in beiden Händen oder in einem Tuch auf dem
Rücken getragen wird (Abb. 9)33 34. Ferner gehörte die Rassellanze
(chicahuaztli) zu den Dingen, die Chalchiuhtlicue mit den Maisgöttinnen (und
den männlichen Maisgöttern) gemein hatte; es war ein Zaubergerät, das
„stark machte“, wie der Name sagt, und diente nicht nur zum Befruchten
der Erde, sondern auch zur Öffnung von Quellen. Daher trägt es auf dem
Bilde Duräns, das zu dem schon zitierten Bericht gehört, der Priester, der zur
Zeit Ahuitzotls die neue Wasserleitung einweihte. Auf dem wiederholt er-
wähnten Felsrelief am Cerro de la Malinche bei Tula hält Chalchiuhtlicue
in der Rechten eine blühende Maisstaude, in der Linken neben einer
Tasche mit Räucherwerk einen blühenden Binsen stab ; genau so ist der
Regengott Tlaloc auf einem Bilde im Codex Magliabecchi (34) und auf einem
Felsrelief beim Castillo de Teayo ausgestattet35. Der Binsenstab kommt in
diesem Falle beiden Göttern zu, weil sie zugleich Wasser- und Maisgötter
waren. Da die Mannheimer Chalchiuhtlicue mit keinem dieser Attribute aus-
gestattet ist, dürfen wir wohl annehmen, daß man ihr eines davon in natura
in die geöffnete linke Hand steckte, wenn die Figur im Mittelpunkt einer
religiösen Zeremonie stand, und haben die Wahl zwischen dem Maiskolben-
paar, der Maisstaude, dem Binsenstab und der Rassellanze. Auch eine stehende
Chalchiuhtlicue des Berliner Museums für Völkerkunde hält ihre Hand wie
33 Quellenbelege bei Krickeberg „Märchen der Azteken und Inkaperuaner“
(Jena 1928) S. 12, 30, 34/5, 72.
34 Beispiele bei Beyer op. cit. (1910 und 1920) und in anderen archäologischen
Publikationen. Eine geöffnete Blüte, das Abzeichen der Xochiquetzal, trägt eines
der kleinen Tonidole der Chalchiuhtlicue bei S e 1 e r „Ges. Abh.“ II, S. 309
(Abb. 31) vorn auf ihrem Quechquemitl.
35 S e 1 e r „Ges. Abh.“ III, S. 437/8 zu Abb. 33 und 34. In seiner Beschreibung
des Felsbildes von Tula hielt E. Meyer den Binsenstab fälschlich für ein
chicahuaztli von spezieller Form (Revista Mexicana de Est. Antrop. III, 2, 1939,
S. 124/5).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
23
Abb. 9. Steinfigur der Chalchiuhtlicue als Maisgöttin. Höbe 51cm.
Museum für Völkerkunde, Berlin, Fundort unbekannt, Slg. Uhde
zum Greifen geöffnet, trägt aber bereits zwei Maiskolbenpaare auf dem
Stücken (Abb. 9).
Damit ist die Beschreibung der beiden Mannheimer Steinfiguren eigent-
lich beendet. Die Erörterung der Beziehungen zwischen den mexikanischen
Maisgöttinnnen und der Wassergöttin bedarf jedoch noch einer Er-
gänzung durch den Elinweis, daß es auch archäologische Belege für die enge
Verbindung der Maisgöttinnen mit dem Regengott gibt.
In der mexikanischen Ausstellung, die 1958/59 die Runde durch euro-
päische Städte machte, fiel dem Besucher unter den größeren Tonplastiken
ein 1,16 m hohes, vorher noch nicht bekanntes Figurengefäß des mexika-
nischen Nationalmuseums ins Auge, das aus Azcapotzalco, der bekannten
Stadt auf dem Westufer des ehemaligen Sees von Mexico stammt (Abb. 10)36
Es gehört zu einer Gruppe großer „braseros“ (Feuerbecken oder Räucher-
gefäße), deren Vorderseite durch den stark vorspringenden, aus Kopf und
Oberkörper bestehenden Torso einer Maisgottheit verdeckt wird, so daß sie
3(> Es wird in den Ausstellungskatalogen nur kurz beschrieben: im Züricher Katalog
unter Nr. 722 (Abb. 94), im Berliner unter Nr. 1098 (Abb. 122).
24
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Abb. 10. Tönernes Räuchergefäß mit der Büste der Maisgöttin.
Höhe 1,16 cm. Mexikanisches Nationalmuseum, Mexico C. Azcapot-
zalco, Sammler unbekannt
auf den ersten Blick nicht wie Gefäße, sondern wie große Büsten wirken.
Diese Dekoration ist bei allen annähernd gleich; die Gefäße selbst aber treten
in zwei verschiedenen Formen (Typus I und II) auf. Entweder haben sie, wie
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
25
Abb. 11. Tönernes Räuchergefäß mit der Büste der Maisgöttin.
Höhe 73 cm. Museum für Völkerkunde, Berlin (IV C a 2639),
Fundort unbekannt, Slg. Uhde
das ausgestellte Exemplar, einen konischen Fuß mit dem Herd für die Kohlen,
deren Rauch nur durch einen hohen, senkrechten „Schornstein“ von zylindri-
scher Form entweichen konnte; oder sie sind sanduhrförmig und bedürfen
daher keines Schornsteins, weil der obere, offene Teil das Kohlenbecken
bildete (Abb. 12). Nach den vier bisher bekannt gewordenen Stücken zu
schließen, stammt Typus I, zu dem auch ein leider ziemlich beschädigtes Stück
des Berliner Museums für Völkerkunde gehört (Abb. 11), aus Azcapo-
t z a 1 c o , Typus II aus T 1 a t e 1 o 1 c o , der ursprünglich auf Inseln mitten
im See von Mexico gelegenen Nachbarstadt des aztekischen Tenochtitlan37.
37 Das Berliner Exemplar (IV Ca 2639) gehört schon zum ältesten Bestand der
Sammlung, ist aber noch niemals veröffentlicht worden. Die beiden sanduhr-
förmigen (doppelkonischen) Räuchergefäße des mexikanischen Nationalmuseums
wurden in einem von A. P e n a f i e 1 herausgegebenen Lichtdruckalbum (Taf. 1
und 32) nach Photos abgebildet, eines auch bei C h a v e r o op. cit. S. 405 als
Holzschnitt. Nach einem Fundbericht enthielten sie, als man sie auf dem Haupt-
platz von Santiago Tlatelolco ausgrub, menschliche Skelettreste; doch sind sie
wohl nur sekundär zu einer Bestattung benutzt worden. Bei Kohlenbecken und
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Abb. 12. Tönernes Riiuchergefäß mit der Büste der Maisgöttin.
Mexikanisches Nationalmuseum, Mexico C. Santiago Tlatelolco,
Sammler unbekannt. Nach Antonio Penaflel (Lichtdruckalbum)
Daß die Götterbüsten auf den Vorderseiten von Typus I und II eine
Maisgöttin wiedergeben, ist offensichtlich, wenn sie auch manche Züge
aufweisen, die den Bildern der Maisgöttin in der aztekischen Kunst fehlten.
Alle vier tragen einen großen Schulterkragen, der ähnlich dem Quechquemitl
die ganze Brust verhüllt, und darüber eine Halskette aus einer oder mehreren
Räuchergefäßen war die doppelkonische Form schon in der Teotihuacan-Epoche
üblich (Ff. Beyer bei M. Garn io „Población del Valle de Teotihuacán“ I,
Mexico 1922, S. 288).
ßaessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
27
Abb. 13. cincozcatl, der Halsschmuck der aztekischen Maisgöttin, a Hieroglyphe von
Cincozcatlan. Matricula de Tributes 12. b Tonfiguren der Maisgöttin. Museum für
Völkerkunde, Berlin, Slg. Uhde (nach Preuss). c Maisgöttin. Durän „Hist, de las
Indias“ Trat. 2, Taf. 9
28
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Schnüren mit einzelnen Knoten oder aufgereihten Perlen, zwischen denen
Maiskolben herabhängen (cincozcatl); wir kennen sie aus vielen Darstellungen
(Abb. 13) und aus einer Beschreibung Duräns38. Auf den beiden Gefäßen des
Typus II sieht man außerdem auf dem Kragen noch einen Randbesatz, der aus
großen Rosetten besteht (Abb. 12), in denen ich die Blüte der gelben „Wasser-
blume“ (axochiatl) oder „Sommerblume“ (tonalxochiatl) der Sahagün-Texte er-
blicke; ihr Aufblühen verkündete den Beginn der Regenzeit und des Sommers,
so daß sie zum Emblem der aztekischen Maisgöttinnen Chicome coatl und Xilo-
nen sowie der Erdgöttin Cihuacoatl wurde39. Vom Kragenrand der beiden Mais-
göttinnen des Typus I hängen statt dessen gebuckelte und gestielte Scheib-
chen herab, die vielleicht ebenfalls stilisierte Blumen darstellen sollten
(Abb. 10). Der Kopfputz gleicht bei der Mehrzahl der Figuren der Stirnbinde,
die zu der viereckigen Papierkrone (amacalli) der aztekischen Maisgöttin
Chicome coatl gehörte und aus einer Reihe von (Edelstein-)Scheiben und
einer Agraffe als Mittelstück zwischen einer Einfassung aus zwei zusammen-
gedrehten Schnüren bestand; nur eine der vier Figuren (Abb. 12) trägt Schlä-
fenhaarknoten und die parallelen Stränge, aber ohne den Perlenbesatz, die
wir bereits von der Stirnbinde der Chalchiuhtlicue kennen. Auch die Nacken-
schleife aus Bastpapier (tlaquechpanyotl) ist bei diesen Maisgöttinnen in mehr
oder weniger stilisierter Form vorhanden, obwohl sie in aztekischer Zeit mehr
für Wasser-, Regen- und Berggötter charakteristisch war. Die
Zackenkrone der Berliner Figur (Typus I, Abb. 11) gehörte aber schon bei
den Azteken sowohl zu den Abzeichen der Chicome coatl, als auch des
Regengottes. Allen vier Figuren ist ferner ein typisches Abzeichen des azte-
kischen Sonnengottes gemein: die große runde Scheibe auf der Brust,
die wohl aus Gold zu denken ist; dagegen tragen nur die beiden Figuren des
Typus I die rechteckigen Ohrplatten des aztekischen Pulquegottes. Es
ergibt sich also, daß Abzeichen und Embleme, die sich im aztekischen Pan-
theon auf eine ganze Reihe von Gottheiten verteilten, hier noch bei einer
einzigen vereinigt sind, die offenbar eine zentrale Stellung in der älteren
Religion einnahm.
Mit diesen Abzeichen verbinden nun aber die Maisgöttinnen auf den vier
Figurengefäßen noch andere, die sie mit dem Regengott Tlaloc ver-
knüpfen, ja geradezu mit ihm identifizieren. Die Zackenkrone der
Göttin auf dem einen Gefäß wurde schon erwähnt. Alle vier trugen ursprüng-
38 Dur an op. cit. II, S. 180: Al cuello tenia un collar de magorcas de oro labradas
a manera de magorcas de mail atadas en una cinta azul (vgl. Abb. 13 d).
39 S e 1 e r „Ges. Abh.“ II, S. 445—447. Seler bezog das axochiatl in den Worten
axochia-huipilli und axochia-qucchquemitl der Sahagun-Texte irrtümlich auf die
Farbe, statt auf das Muster des Obergewandes und bezeichnete axochiatl als
Frühlings-, statt als Sommerblume, was schon H. Beyer (op. cit. 1910, S. 103
Anm. 8) berichtigte.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
29
lieh an den Seiten ornamental gestaltete Wolkensymbole (bei zweien
sind sie abgebrochen), die wir sonst nur an kleinen Tonkrügen finden, die auf
ihrer Vorderseite das Antlitz des Regengottes zeigen; nach Berichten, Denk-
mälern und bilderschriftlichen Darstellungen gießt er daraus den Regen auf
die Erde40. Auch der aus Tonwülsten geflochtene Griff auf der Rückseite
und die türkisblaue Bemalung ist unseren Figurengefäßen und den
Tlaloc-Krügen gemein; mindestens sind sie bei dem Exemplar des mexika-
nischen Nationalmuseums (Abb. 10) vorhanden. Vor allem aber hat die Mais-
göttin des zuletzt genannten Gefäßes vor ihrem Gesicht eine Maske mit den
bekannten Zügen Tlalocs. Ein derart gehäuftes Auftreten von Elementen der
Tlaloc-Darstellung kann nur bedeuten, daß die Maisgöttin sich in den Regen-
gott verwandeln oder sich ihm angleichen mußte, wenn sie den Menschen
eine gute Maisernte bescheren wollte.
Diese Vorstellung lag wahrscheinlich auch anderen Völkern des mexika-
nischen Flochlandes nicht fern, hat sich aber bisher auf aztekischen Denk-
mälern im engeren Sinne noch nicht nachweisen lassen. Als aztekisch können
die vier Figurengefäße mit der Maisgöttin jedenfalls nicht betrachtet wer-
den; man hat vielmehr bei ihnen und anderen, die ihnen an Größe, Gestalt
und Dekoration ähneln, wenn sie auch andere Götter (Tlaloc und Tezcatli-
poca) darstellen, den Eindruck, daß sie eine Form der Nahua-Kunst und
Nahua-Ikonographie verkörpern, die älter als die aztekische war. Sie
stammen auch nicht von aztekischen Fundplätzen im engeren Sinne, sondern
aus Azcapotzalco, einer Hauptstadt der Tepaneken, die erst 1430
nach schweren Kämpfen Itzcoatl und Nezahualcoyotl, den Königen Tenoch-
titlans und Tetzcocos, erlag, und aus T 1 a t e 1 о 1 с о , einer tepanekischen
Pflanzstadt, die ihre Selbständigkeit sogar erst 1473 an die Azteken verlor.
Als Tozzer und Gamio vor vierzig Jahren in und um Azcapotzalco gruben,
entdeckten sie, daß die Teotihuacan-Kultur hier eine letzte Nachblüte
(„Teotihuacan IV)“ erlebte, nachdem sie in Teotihuacan selbst erloschen war,,
und in der Keramik sogar noch neue Formen entwickelte, unter ihnen vor
allem merkwürdige Räuchergefäße, die aus einem Herd mit „Schornstein“
bestehen und dadurch und durch die plastischen Verzierungen ihrer Vorder-
seite fast wie Vorläufer der Räuchergefäße unseres Typus I anmuten41.
40 Elistoria de los Mexicanos por sus pinturas bei Krickeberg („Märchen der
Azteken“, Jena 1928) S. 34/5; Codex Magliabecchi 29 und Codex
Borgia 27/8. Auf einem Relief des Britischen Museums trägt der Tlaloc-Krug
auf seiner Fläche statt des Tlaloc-Gesichtes die Hieroglyphe „Edelstein“ (chal-
chihuitl) als Symbol des Himmelswassers (Th. A. Joyce „A short guide“ 1912,
Fig. 9). Tlaloc-Krug mit Wolkensymbolen; H. Beyer op. cit. (1920) Taf. 13.
Über Wolkensymbole ebenda (S. 176) und in anderen Abhandlungen desselben
Verfassers.
41 А. M. Tozzer „Excavations of a site at Santiago Ahuitzotla“ (Bur. of Amer.
Ethnol., Bulletin 74, Washington 1921) S. 43/4 und Taf. 14. M. Gamio „La
30
Krickeberg, Xochipilli und Chalchiuhtlicue
Ebenso wie die einzigen vollständig erhaltenen Räuchergefäße dieser späten
Teotihuacan-Kultur stammen auch die Räuchergefäße unseres Typus I aus Fund-
stätten in und um Azcapotzalco. Die ersteren tragen natürlich auf ihrer Vor-
derseite die Bilder ganz anderer Götter, als die letzteren. Während auf der
Vorderseite der älteren Räuchergefäße ein Götterkopf im typischen Teoti-
huacan-Stil aus einem kleinen Tempel herausblickt, der mit vielen Opfergaben
ausgestattet ist, erscheint auf den Räuchergefäßen unseres Typus I die Büste
einer Maisgöttin der Nahua-Epoche; man behielt sie bei, als sich in Tlatelolco
die Form des Räuchergefäßes unter aztekischem Einfluß zum Typus II gewandelt
und seine Dekoration alle Erinnerungen an die Teotihuacan-Zeit abgestreift
hatte. Dennoch lebte in dieser tepanekischen Keramik noch etwas vom Geiste
der alten Zeit fort, in der die Götter ein universelleres Gepräge und
einen ausgedehnteren Wirkungskreis hatten, als in den historischen Kul-
turen. Die Fresken von Tepantitla und Tetitla, die aus der klassischen
Teotihuacan-Zeit („Teotihuacan III“) stammen, kennen noch den Regengott
als den höchsten Gott und als die Hauptgestalt des Pantheons, und eine ähn-
liche Rolle scheint auch die Maisgöttin auf den Räuchergefäßen der tepane-
kischen Zeit in Azcapotzalco und Tlatelolco gespielt zu haben. In der azte-
kischen Epoche spezialisierten sich die Gottheiten mehr und mehr, nachdem
aus den eroberten Landesteilen viele konkurrierende Kulte ihren Einzug in die
Hauptstadt Tenochtitlan gehalten hatten und die aztekischen Priestergelehrten
zwangen, wie wir am Beispiel Xochipillis sahen, selbst alte Hochgötter auf
untergeordnete Funktionen zu beschränken.
Población del Valle de Teotihuacán“ I (Mexico 1922) S. 196—200 und Taf.
114/5. Das von Tozzer beschriebene Räuchergefäß gehört heute dem Universi-
tätsmuseum von Philadelphia („Altes de Mexico“ III, 17, Mexico 1958, Abb. 60);
von den beiden durch Gamio ausgegrabenen des mexikanischen Nationalmuseums
wurde das eine 1952 in Stockholm ausgestellt und von S. L i n n é („Treasures of
Mexican art“, Stockholm 1956, S. 64) abgebildet.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
31
ALKOHOLISCHE GETRÄNKE BEI DEN
NATURVÖLKERN SÜDAMERIKAS
GÜNTHER HARTMANN, Berlin
Im Anschluß an eine größere Arbeit über „Alkoholische Getränke bei
den Naturvölkern Südamerikas“, die bisher nicht publiziert werden konnte,
sollen im folgenden Auszüge aus ihr und ermittelte Ergebnisse vorgelegt
werden.
Aus fast allen Erdgebieten konnte der Beweis erbracht werden, daß sehr
viele Naturvölker lange vor dem Zusammentreffen mit Europäern be-
rauschende Getränke herzustellen vermochten. Der verderbliche Einfluß ins-
besondere im südamerikanischen Gebiet begann erst mit der Einführung hoch-
prozentiger alkoholischer Getränke durch die Europäer. Erst der ungezügelte
Genuß dieser Getränke führte nicht nur zu Auflösungen von alten sozialen
Formen, sondern brachte ganze Gemeinschaften zum Untergang.
Die Originalarbeit umfaßt alle Naturvölker Südamerikas, soweit Literatur-
angaben bzw. Berichte über fermentierte Getränke vorliegen, von Feuerland
bis zum Panamagebiet. Auch die Berücksichtigung von Westindien war not-
wendig, da von Südamerika her eine Besiedlung dieser Gebiete erfolgte. Un-
berücksichtigt dagegen bleiben die Hochkulturvölker der mittleren und nörd-
lichen Anden.
Bei den zur Verfügung stehenden Quellen und ihrem unterschiedlichen
Alter war eine Auswertung nicht immer in gewünschter Form möglich, zumal
vor allem bei den älteren Berichten genauere Angaben über Getränke oft
fehlen, bzw. keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, ob es sich um fermen-
tierte oder unvergorene Getränke handelt. Es sollte versucht werden, die ver-
schiedenen Formen der Herstellung darzulegen und vor allem auch die Be-
deutung alkoholischer Getränke im Gemeinschaftsleben aufzuzeigen.
Die Bezeichnung „alkoholische Getränke“ ist bewußt gewählt worden, da
sie die Terminologie Bier und Wein einschließt. Weine und Biere sind vor
allem durch die Arbeiten von Hartwich und Weule seinerzeit gegeneinander
abgegrenzt worden.
Unter Bier wird jedes aus stärkehaltiger Substanz durch alkoholische
Gärung gewonnene Getränk verstanden. Im allgemeinen enthalten Biere neben
Gärungsalkohol und etwas Kohlensäure kleinere oder größere Mengen von
unvergorenen Stoffen (Mineralstoffen, Extraktivstoffen). Diese letzteren be-
dingen z. T. den hohen Nährwert der hier in Rede stehenden südamerika-
nischen Biere. Die vorhandene Stärke muß zunächst in vergärbaren Zucker
32
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
übergeführt werden, eine Maßnahme, die entsprechende Kenntnisse vor-
aussetzt.
Weine werden hergestellt aus zuckerhaltigen Rohstoffen pflanzlichen oder
auch tierischen Ursprungs.
Destillierte Getränke (Branntweine) dürften kaum als autochthon bei den
Naturvölkern Südamerikas angesehen werden können.
Zu der Bezeichnung „Getränk“ ist zu bemerken, daß wir es — vor allem
bei den Bieren — meist nicht mit üblichen dünnen Flüssigkeiten zu tun haben,
sondern mit recht dickflüssiger Materie.
Weine und Biere sind vor allem im südamerikanischen Raum beheimatet
und werden auf verschiedenste Weise hergestellt. Alkoholische Getränke sind
keineswegs an eine bestimmte Wirtschaftsform gebunden; wir finden sie in
Südamerika sowohl bei den Jägervölkern als auch bei den feldbautreibenden
Stämmen. Die Bereitung von Bier erfordert längere Zeit und ist meist mit
größerem Arbeitsaufwand verbunden als die Weinherstellung.
Die Rohstoffe
a) Palmen
Von den zur Herstellung gegorener Getränke dienenden Palmen haben
sich in der Untersuchung als besonders wichtig herausgestellt: die „Bataua-
Palme“ (Oenocarpus bataua Mart.), Assai-Palme (Euterpe edulis Mart.), ver-
schiedene Mauritia-Palmenarten (flexuosa, vinifera L. und setigera Grisb. et
Wendl.), Guilielma-(Pupunha-)Palmen, Chonta-Palmen (Bactris ciliata Mart.),
„Bussü-Palme“ (Manicaria saccifera Gaertn.) und „Tucuma-Palmen“ (verschie-
dene Astrocary um-Arten).
b) Knollenfrüchte
Die wichtigste stärkehaltige Knollenfrucht ist die Maniokwurzel, die im
gesamten südamerikanischen Waldgebiet eine überragende Bedeutung sowohl
als Nahrungslieferant als auch für die Herstellung gegorener Getränke besitzt.
Daneben werden gelegentlich Bataten (Süßkartoffel), Yams (Cara, Igname)
und Mangareto (Xanthosoma sagittifolium Schott) mitverwendet.
c) Körnerfrüchte
An Körnerfrüchten stehen für die Bereitung alkoholischer Getränke ver-
schiedene Arten Mais, seltener Quinoa und Bromus mango zur Verfügung.
d) Andere pflanzliche Rohstoffe
Als Rohstoffe für die Herstellung alkoholischer Getränke konnten er-
mittelt werden; Agaven, Algarroba-Früchte, Ananas, verschiedene Anone-
Arten, Äpfel, Araukarienfrüchte, verschiedene Bananenarten, Chanar-Früchte,
Erdnuß, Genipapo-Früchte, Jabuticaba-Früchte, Kaschubaum-Früchte, Kürbis,
Lumastrauch-Beeren, Mangabeira-Beeren, Maquistrauch-Beeren, Mistol-Beeren,
Molle-Beeren, Tusca-Beeren, Wassermelone und verschiedene Zuckerrohrsorten.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
33
e) Honig
An tierischen Rohstoffen für die Herstellung fermentierter Getränke steht
Honig zur Verfügung.
Die Voraussetzungen der alkoholischen Gärung
Die Voraussetzung jeder alkoholischen Gärung ist das Vorhandensein
direkt gärungsfähiger oder indirekt gärungsfähiger Substanzen.
Unter alkoholischer Gärung versteht man die Umwandlung von Stoffen
durch Hefezellen oder Bakterien. Die Gärung selbst ist ein noch nicht lücken-
los geklärter Ablauf von Umwandlungen, bei dem vor allem die Gärenzyme
oder Fermente der Hefe die Veratmung des vorhandenen Zuckers in Alkohol
und Kohlensäure bzw. Kohlendioxyd bewirken.
Fermente oder Enzyme sind Stoffe, welche in tierischen wie pflanzlichen
Organismen vorhanden sind, und ohne die ein Leben undenkbar wäre. Sie
sind in der Lage, andere Stoffe oder Stoifgruppen umzuwandeln, ohne sich
selbst dabei wesentlich zu verändern. Sie können Abbau und Aufbau von
Substanzen verursachen und sind damit unmittelbar an jedem Stoffwechsel
beteiligt. Nach heutiger Ansicht wird jede alkoholische Gärung durch einen
ganzen Komplex von Lermenten verursacht, den man mit dem Sammel-
begriff der „Zymase“ charakterisiert.
Dieser Zymase-Komplex ist in der Lage, Lrucht- und Traubenzucker,
Galaktose und Mannose direkt zu vergären, während alle anderen Zucker-
arten (Malzzucker, Milchzucker, Rohr- oder Rübenzucker) zunächst durch be-
stimmte Enzyme der Hefe in einfachere Zuckerarten umgewandelt werden
müssen.
Bei der Mehrzahl der hier in Lrage kommenden Ausgangsmaterialien
handelt es sich um pflanzliche Stoffe, welche ihre Energiereserven in Form
von Stärke oder Zucker aufstapeln. Diese teilweise recht erheblichen Stärke-
vorräte der Pflanzen oder Pflanzenteile werden z. T. durch die Pflanze in
Zucker umgewandelt, teils zum Aufbau von Zellulose oder aber zur Ernäh-
rung der Pflanze benötigt.
Für das Ausgangsmaterial Stärke ist eine direkte Vergärung unter nor-
malen Umständen nicht möglich; vielmehr bedarf es dazu bestimmter Bak-
terien bzw. Pilze, die durch Fermentbildung die Stärke in Zucker umzu-
wandeln vermögen.
Bei einem Teil der pflanzlichen Rohstoffe, die von den Naturvölkern
Südamerikas zur Herstellung alkoholischer Getränke benutzt werden, ist
direkt gärungsfähiger Zucker enthalten, so z. B. in den Palmensäften, Ananas,
Bananen, Melonen, Kürbis, Zuckerrohr, Agave, Anone, Chahar, Wassermelone.
Bei der Vergärung des Agavensaftes, bei Honiggetränken wie bei den
frisch in Gärung kommenden Palmensäften spielen vor allem die Gärungs-
3 Baessler-Archiv VIII
34 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
bakterien und insbesondere das sogenannte Thermobacterium mobile (Pseudo-
monas Lindneri Kluyver) eine Hauptrolle. Nach den Untersuchungen von
Prof. Kluyver (Delft) und von Prof. Neuberg (Berlin-Dahlem) gibt das
Thermobacterium mobile eine rein alkoholische Gärung und eine nur sehr
schwache Milchsäuregärung in Lösungen von Frucht-, Trauben- oder Rohr-
zucker, welche es allein vergären kann. Das Thermobacterium mobile ergibt
bei einer Gärung weder kräftigen Schaum noch eine merkbare Bodensatz-
bildung. Durch die Abwesenheit von höheren Alkoholen oder Fuselölen ist
die Bekömmlichkeit der unter Anwendung von Thermobacterium mobile er-
zeugten alkoholischen Getränke bedingt. Dieses Bacterium dürfte heute als
eines der wichtigsten natürlichen Gärungserreger der Tropen anzusehen sein.
Soweit bei den Rohstoffen Stärke überwiegt oder ausschließlich vor-
handen ist, bedient man sich zweier Methoden, um diese Stärke in gärungs-
fähigen Zucker umzuwandcln: Entweder man vermischt stärkehaltige Roh-
stoffe mit zuckerhaltigen Rohstoffen, so daß durch die Tätigkeit der Fer-
mente die Stärke in Zucker abgebaut wird, oder man kaut die stärkehaltigen
Materialien oder einen Teil von ihnen. — Im menschlichen wie im tierischen
Speichel ist ein biologisch wichtiges Ferment enthalten, das Ptyalin. Dieses
Ferment dient zur Verflüssigung und Verzuckerung vorhandener Stärke. Das
Ptyalin spaltet vorhandene Stärke über verschiedene Zwischenstufen zu dem
vergärbaren Malzzucker (Maltose) ab.
Die verschiedenen Gärungstechniken
Alkoholische Gemische können sich überall da in der Natur bilden, wo
feuchte, zucker- oder stärkehaltige Stoffe durch die überall vorhandenen
wilden Hefezellen vergoren werden.
Die Alkoholbildung ist besonders vereinfacht in den Fällen, in denen es
sich um zuckerhaltiges Ausgangsmaterial handelt. Die zuckerhaltigen Mate-
rialien bedürfen im allgemeinen keiner besonderen Vorbehandlung.
Soweit es sich um Palmwein-Gewinnung handelt, kommen zwei Ver-
fahren in Betracht:
a) die Vergärung des Saftes gepreßter Palmenfrüchte,
b) die Vergärung des eigentlichen Palmensaftes.
Bei der Verarbeitung von Zuckerrohrsaft und Ananas bedarf es ebenfalls
keiner besonderen Vorbereitung.
Honig muß, um gärfähig zu sein, im Verhältnis von 1:3 bis 1:13 mit
Wasser verdünnt werden, oder aber es müssen besondere gärungsbeschleuni-
gende Stoffe zugesetzt werden. Im allgemeinen verläuft die Vergärung von
Flonigwasser relativ langsam und unsicher. Der Grund dürfte im Mangel
an Natrium- und Phosphorverbindungen zu suchen sein.
ßaessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
35
Bei der Masse der hier in Rede stehenden Ausgangsstoffe für die Be-
reitung alkoholischer Getränke handelt es sich jedoch um stärkemehlhaltige
Substanzen, auch wenn sie z. T. über einen gewissen eigenen Zuckergehalt
verfügen.
Es gibt verschiedene Methoden, um vorhandene Stärke zu verzuckern.
Das Mälzen
Die Benutzung von Malz dürfte die jüngste Verzuckerungsmethode sein
und ist auf die Gebiete beschränkt, welche Getreideanbau besitzen, d. h. in
diesem Fall Mais und Quinoa. Diese Methode ist vor allem in den Hoch-
ländern Boliviens und jenen Gebieten zu finden, die unter unmittelbarem
Einfluß der Hochkulturen lagen. Gelegentlich wird in diesen Gebieten auch
mit gemälzter, d. h. mit angekeimter Quinoa gearbeitet.
Die Maiskörner werden über Nacht in einem irdenen Gefäß mit Wasser
eingeweicht und am nächsten Tag auf Blätter gestreut und zugedeckt. Nach
der Keimung, und wenn die Schößlinge fast so lang sind wie die Körner,
trocknet man sie an der Sonne. Die Körner werden sodann in Holzmörsern
oder mit Steinwiegen zermahlen, mit Wasser vermischt und erhitzt. Bei
einigen Stämmen wird nun eingespeichelte Maismasse zu dem gekochten Mais
zugesetzt und mehrere Stunden lang gekocht. Nach Erkalten der Flüssigkeit
wird sie über ein Pflanzensieb oder Baumwolltuch geseiht, in Töpfe gefüllt
und vergoren.
Das Kochen
Durch längeres Kochen von stärkemehlhaltigem, zerkleinertem Material
kann ebenfalls bei natürlichem Säuregehalt bzw. Fermenteinwirkung eine
Umwandlung in Zucker erzielt werden. Dieses Verfahren nimmt jedoch län-
gere Zeit in Anspruch und liefert auch nur schwächere alkoholische Getränke,
die alsbald nach der Gärung verbraucht werden müssen. Ein Kauen wird
hierbei überflüssig. Die Gärung kann beschleunigt werden durch Zuführung
zuckerhaltiger Substanz oder durch teilweises Kauen.
Benutzung von Schimmelbroten (Bierbroten)
Als Ausgangsmaterial dient vor allem Maniok, seltener Mais. Aus dem
zerkleinerten Maniok- bzw. Maismehl wird ein Fladenbrot gebacken, das
mehr oder weniger stark angefeuchtet oder vorübergehend in Wasser gelegt
wird. Sodann wird das feuchte Brot geschichtet und in Bananen- oder Palmen-
hlätter gewickelt. Nach mehreren Tagen bis Wochen, und nachdem sich eine
dicke Schimmelschicht auf der Masse gebildet hat, werden die Brote zer-
brochen, in Wasser gelegt und vergoren.
Es ist zuweilen üblich, gewisse pulverisierte Blätter oder Rinden vor dem
Einwickeln in Bananen- und Palmenblätter der Masse zuzugeben. Manchmal
erfolgt ein Ausmischen der Mais- oder Maniokmasse mit gekochter und ge-
mahlener Manioksubstanz oder mit zerkleinerten Bananen oder Süßkartoffeln.
3*
36
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Nach den mir vorliegenden Unterlagen möchte ich annehmen, daß es sich
bei diesem Verfahren, der Benutzung von Schimmelbrot zur Herstellung
alkoholischer Getränke, um eine karaibische Technik handelt.
Die Röstung
Bei einigen Stämmen erfolgt ein sehr starkes Rösten der Fladenbrote vor
der weiteren Verarbeitung. Ein vorangehendes Rösten des Brotes gestattet be-
reits einen weitgehenden Aufschluß der vorhandenen Stärke. Das scharfe
Rösten von Maniokbroten, die zur Herstellung alkoholischer Getränke dienen,
ist sporadisch vorhanden.
Ptyalin-V erzuckerung
Südamerika war neben Mittelamerika das Hauptgebiet der sog. Speichel-
biere. Die Verzuckerung vorhandener Stärke durch das im menschlichen
Speichel enthaltene Enzym Ptyalin dürfte als eine der ursprünglichsten Me-
thoden anzusehen sein. Der Speichel dient hier als Hilfsmittel der Gärungs-
vorbereitung.
Bei der Ptyalin-Verzuckerung wird entweder die gesamte zu vergärende
Masse intensiv eingespeichelt oder aber ein Teil von ihr.
Die Herstellung von Pasten
Neben Getränken aus stärkemehlhaltigen Materialien hat die Herstellung
von dickflüssigen, breiigen Pasten wegen der leichten Beförderung eine ge-
wisse Wichtigkeit. Sofern diese Pasten gekaut wurden und in geschlossenen
Behältern gelagert werden, hält sich die Masse relativ lange. Bei Benutzung
braucht die gegorene Masse lediglich mit Wasser ausgemischt zu werden, um
ein nahrhaftes, erfrischendes, leicht säuerliches und leicht anregendes Getränk
zu ergeben.
Einer der bekanntesten Stämme für die Pastcn-Herstellung sind die Agua-
runa. Die Zubereitungsform ist folgende: Geschälter und gewaschener Maniok
wird zusammen mit Wasser in einem verschlossenen Behälter gar gekocht. Das
Kochwasser wird weggegossen. Nach dem Erkalten des Maniok wird ein Teil
davon intensiv eingespeichelt und wieder in den Behälter gespuckt. Gekochte
und gekaute Masse wird gut durchmischt und alles zu Mus gedrückt. Diese
Masse stellt die Paste „Nijamantsi“ dar. Um ein Getränk herzustellen, wird
eine Handvoll der Masse zusammen mit Verdünnungswasser über eine durch-
löcherte Fruchtschale gegeben und mit der Hand umgerührt. Durch das Sieben
bleiben evtl. Maniok-Fasern zurück3.
Die gleiche Bereitung der Paste wird auch von den Jivaro und Canelo
(Ñapo) angegeben1 2. In Bananenblätter eingewickelt, wird die Paste oft auf
längere Reisen mitgenommen.
1 Brüning 1928, S. 67.
2 Karsten 1935, S. 121 ff. — Simsen 1886.
ßaessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
37
Über die Getränke-Pasten der Taulipäng und Macushi schreibt Koch-Grün-
berg: „Gärende Kaschirimasse (sakura) wird, in Blättern wohlverpackt, auf
die Reise mitgenommen, damit man am Rastplatz etwas davon in einer Kale-
basse mit Wasser anrühren kann und auf diese Weise jederzeit ein er-
frischendes Getränk zur Hand hat. Selbst bei den Fehdezügen schleppen die
Frauen die Sakura den Kriegern nach, damit diese sich vor dem Überfall
auf die feindliche Niederlassung Mut antrinken können'5.“
Wenn die Mojo auf eine längere Reise gingen, stellten sie ebenfalls ge-
gorene Maniokpaste her, die sie mitnahmen, um sie bei Bedarf mit Wasser
auszumischen4.
Auch für die Karaiben-Stämme an der Nord- und Nordostküste Süd-
amerikas war die Pastenherstellung charakteristisch. Bei keiner Seereise durfte
das Mus, das aus gekautem Cassavebrot, gekochter und zerriebener Yams
bestand, fehlen'’.
Die Bereitung der Paste ist darüber hinaus von folgenden Stämmen be-
legt: Palikur, Galibi, Rucuyen (Oyana), Caua, Siusi, Nambicuara, Saliva,
Achual-Jivaro, Maina (Kandoshi), Zaparo, Quijo-Yumbo6.
Hauptrohstoif für diese Pastenherstellungen scheint nach den mir vor-
liegenden Unterlagen Maniok bzw. Maniokfladen zu sein. Seltenere Zusätze
bestanden in Yams, Bataten und Zuckerrohrsaft.
Im nördlichen Südamerika und südlichen Mittelamerika dient zur Pasten-
herstellung als Rohmaterial der Mais.
Pasten aus Mais werden angegeben von den Boruca, Bribri, Cabecar.
Changuena, Chake, Goajiro, Macoa, Mape (Motilon) und Terraba.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Pasten nicht nur die Funktion
eines Reise-Getränkes besaßen, sondern auch auf Grund ihrer Zusammen-
setzung in der Lage waren, für längere Zeit andere Nahrungsmittel zu er-
setzen. Beispiele dafür, daß der Indianer tagelang ohne Nahrungsmittel aus-
kommt, wenn er nur seine Pasten zur Verfügung hat, lassen sich aus vor-
liegenden Berichten in großer Zahl anführen.
Die verschiedenen Arten der alkoholischen Getränke
Die Bezeichnung Chicha, die vielfach für alkoholische Getränke benutzt
wird, ist keineswegs eindeutig und allein auf fermentierte Getränke zu be-
ziehen. Vielmehr muß zwischen der Alltags-Chicha und der Fest-Chicha
unterschieden werden. Wenn auch gelegentlich in bestimmten Berichten auf
diese beiden Arten der Getränke hingewiesen wurde, so fehlte doch bisher
" Koch-Grünberg 1923 a, S. 55.
4 Metraux 1948, HSAI, Vo!. IIP S. 421.
5 Käppi er 1887, S. 233. — Roth 1924, Nr. 262.
6 Hartmann 1958, S. 96.
38
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
eine klare Trennung. In den meisten Berichten — vor allem aus früheren
Jahrhunderten — fehlen überhaupt jegliche differenzierten Angaben.
Die Alltags-Chicha dient als Morgengetränk, Erfrischungsgetränk und ist
ein typisches „Getränk für den Hausgebrauch“. Sie besitzt meist nur eine
kurze Haltbarkeit. Bei einigen Stämmen hat sie eine musartige Konsistenz,
in anderen Fällen ist sie suppig, selten wirklich flüssig. Auf Grund ihrer
Zusammensetzung dient sie oft als wichtiges Nahrungsmittel. Die Alltags-
Chicha wird in einigen Fällen leicht angegoren, entbehrt in vielen Fällen
jedoch jeder Gärung. Die Fest-Chicha wird nur zu bestimmten Gelegenheiten
hergestellt, ist also nicht zu jeder Zeit verfügbar. Das mehr oder weniger
alkoholreiche Getränk wird manchmal auch nur an besondere Personen aus-
gegeben, da es nur in kleineren Mengen zur Verfügung steht.
Während die Bedeutung der Alltags-Chicha vor allem in der Erfrischung
und im Wert als Nährmittel liegt, ist die Fest-Chicha in erster Finie Rausch-
mittel für Feste und sportliche Veranstaltungen. Die Funktionen beider Ge-
tränke sind also sehr verschieden.
Alltags-Chicha
Aus dem Pomeroon-Gebiet in Britisch-Guayana wird berichtet, daß der
getrocknete oder frisch zermahlene Mais in warmes Wasser gegeben und
gekocht wurde7. Dieses Alltagsgetränk war dann trinkfertig.
Die Indianer Guayanas stellten ihr Alltagsgetränk, Beltiri genannt, aus
Cassavebrot her. Das gekaute Cassavebrot wurde mit warmem, nicht kochen-
dem Wasser in eine Kalebasse gegeben. Außerdem fügte man den Saft von
gekochter Yams und von Maniokwurzeln hinzu8.
Als morgendliche Erfrischung diente den Barama-Caribs ein unfermen-
tieres süßes Getränk, das leider nicht näher beschrieben wird9.
Für das Gebiet Nordwest-Brasiliens werden vor allem zwei Alltags-
getränke angegeben10: Das geröstete Maniokmehl wird entweder zu einer
warmen Suppe gekocht (Mingaü), oder warme Maniokfladen werden in
Wasser fein mit der Hand zerdrückt. Gelegentlich wird es mit Pfeffer, kleinen
Fischen oder mit Ananas-Saft zu einer gallertartigen Masse eingekocht. Ist
man auf Reisen, wird das geröstete Maniokmehl mit kühlem Wasser vermischt
und ergibt ein erfrischendes Getränk (Schipe).
Auch für das brasilianische Waldgebiet ist die Maniokmehlsuppe (Mingaü)
charakteristisch.
Bei den Zentral-Karaiben wurden verschiedene Erfrischungsgetränke her-
gestellt11. Neben der Vermischung von zerkleinerter Ananas mit Wasser
7 Roth 1924, S. 264.
8 Roth 1924, S. 259.
9 Gill in 1936, S. 61.
10 Koch-Grünberg 1923 b, S. 336.
11 Farabee 1924, S. 39.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
39
wurden auch zerkleinerte Bananen und verschiedene Pahnengetränke als
Alltags-Getränke benutzt. Aus gekautem Cassavebrot, in Wasser aufgemischt,
wurde ein sehr erfrischendes, stets vorhandenes, leicht säuerliches Getränk
(Yaposa) hergestellt. Dieses Getränk hielt sich jedoch maximal nur vier Tage,
dann wurde es sauer.
Aus dem gleichen Material war das tägliche Getränk Sauraura der Zen-
tral-Arawak hergestellt: gewöhnliches Cassavebrot, z. T. gekaut, wurde mit
Wasser vermischt. Am zweiten Tag war es trinkfertig; länger als drei Tage
wurde es im allgemeinen nicht aufbewahrt12. Dann stellte man noch aus
Mais ein Alltagsgetränk her (Mariki). Der Mais wurde zermahlen und mit
Wasser vermischt. Daraus wurden Maiskugeln geformt, die man kochte und
kaute. Die gekochte Maismasse wurde dann mit Wasser ausgemischt und war
nach drei Tagen gebrauchsfertig. Dieses Getränk wurde allgemein verwendet,
bevor eine Gärung eintrat, da der Anteil des Gekauten verhältnismäßig
gering war.
Außerdem kannten die Zentral-Arawak eine Reihe von Palmengetränken
(Mauritia, Oenocarpus, Astrocaryum, Euterpe) und solche aus Ananas, Kaschu
und Honig. Hierbei fand stets nur ein einfaches Vermischen mit Wasser statt.
Zwischen den Mahlzeiten trank man eine Ausmischung aus Maniokmehl
und Wasser (Schipe). Über die Timote heißt es: „Maize was used by the
Timotean tribes to prepare an unfermented drink (masato) and a fermented
drink (Chicha). Only the latter is mentioned among the Chake13.“
Die Pflanzungsarbeiten der Guahibo werden in gemeinsamer Arbeit ver-
richtet. Außer der Bewirtung der Mitarbeiter wird durch die Frau des Be-
sitzers der Pflanzung ein ungegorenes Getränk aus Maniok und Wasser her-
gestellt (Yucuta), das dem Mingau der Waldindianer vergleichbar ist14.
Bei den Chama kennt man im Haushalt neben ungegorenen Erdnuß-,
Zuckerrohrsaft-, Planten- und Palmengetränken (Oenocarpus, Mauritia,
Guilielma) auch gegorene Maniok- und Maisgetränke15.
Der zerriebene Mais wird unter Zusatz von reifen Planten und Maniok
in kaltem Wasser durchgeknetet und mit Wasser eine Stunde lang gekocht.
In Asche geröstete Maiskörner werden nach Beendigung des Kochens einge-
speichelt und in die gekochte Masse gespuckt, die dann erneut kurz gekocht
wird. Anschließend erfolgt die Zugabe gekauter Süßkartoffeln und noch-
maliges kurzes Auf kochen. Nach dem Erkalten wird die Mischung einige
Zeit gegoren.
12 Farabee 1918, S. 44.
ia Metraux-Kirchhof f 1948, HSAI, Vol. IV, S. 356.
14 Zer ries 1956, S. 228.
15 Tessmann 1928, S. 168 ff.
40 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Bei der Bereitung des Maniokgetränkes wird die zerstückelte, gekochte
und zerstampfte breiartige Maniokmasse mit gekauten Süßkartoffeln ver-
setzt und gut durchgemischt. Kleinere Breimengen werden erneut einge-
speichelt. Am nächsten Tag wird die Mischung gekocht, mit den Händen
durchgeknetet, gesiebt und getrunken. Mitunter läßt man die Mischung auch
drei bis vier Tage gären.
Von den Mojo wird berichtet16: „De la Yuca hacen ... su bebida, la
ordinaria no muy fuerte; de aqui sale que fuera de sus borracheras de
comunidad no se ve un indio embriagado, es para la embriaguez un bäl-
samo como si bebiran agua (häcenlo de yuca mascada y asi es muy ordinario
ejercicio de las mujeres esta) . . .“ Dieses alltägliche Getränk wurde „batze-
como“ genannt.
Bei den Chiriguano und ihrem täglichen Leben spielte das „kleine kawi“
eine erhebliche Rolle17. Es handelte sich um eine Art Brei, hergestellt aus
eingeweichten, zerstoßenen und mit Wasser gekochten Maiskörnern. Man ver-
speiste die Mischung kalt. Mitunter wurde der Brei auch einige Tage ver-
goren, so daß man ihm dann die Bezeichnung „kleines Maisbier“ (kleiner
Kawi) gab. Der „große kawi“ war das Festgetränk.
Die Tupari benutzten bei der Alltags-Chicha hauptsächlich Yams, Mais,
Knollenfrüchte, Erdnüsse und Bananen als Rohstoffe und trinken sie unver-
goren18. Diese Alltags-Chicha soll stets nur in kleineren Mengen hergestellt
werden.
Bezüglich der Alltags-Chicha bei anderen Stämmen und ihren Rohstoffen
sei auf die Original-Arbeit verwiesen.
Fest-Chicha
Die Bedeutung der Fest-Chicha ist vor allem in der Rauschwirkung zu
sehen. Spezielle Angaben über eine besondere Fest-Chicha werden in den
Berichten sehr selten gemacht, und es darf erklärend dazu gesagt werden,
daß der Begriff „vergorenes Getränk“ in den meisten Fällen mit einem Fest-
getränk identifiziert werden kann.
So werden von den Guayana-Stämmen besondere Festgetränke erwähnt,
die nur zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Zwecke hergestellt werden19:
so vor allem ein fermentiertes bierähnliches Getränk aus Cassave zur Be-
rauschung (Cashiri) und ein schwärzliches fermentiertes Cassavegetränk für
lestliche und sportliche Anlässe (Paiwari).
Auch die am R. Barama sitzenden Karaiben unterschieden hauptsächlich
diese beiden Festgetränke20. Bei der Cashiri-Herstellung wurde die Cassave
1(i Gas tili o 1906, S. 327.
17 Metraux 1929 a, S. 357.
18 Caspar 1953.
19 Roth 1915, Glossarv.
20 Gill in 1936, S. 61.'
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
41
(Maniok)-Wurzel geraspelt, ausgedrückt und in einen Behälter mit Wasser
gegeben. Zwischenzeitlich wurden einige Cassavekuchen gebacken, gekaut und
in den mit Wasser und Cassavemehl gefüllten Behälter ausgespuckt. Ge-
legentlich wurde auch Zuckerrohrsaft hinzugefügt. Nach zwei bis drei Tagen
kam es zu einer leichten Schaumbildung, und die Mischung besaß den Alko-
holgehalt eines Bieres.
Bei der Paiwari-Herstellung der Barama-Karaiben wurden aus Cassave-
mehl dünne, beidseitig sehr braune Fladenbrote gebacken. Einige von ihnen
wurden in einem mit Wasser gefüllten Topf zerbröckelt, andere speichelte
man gut ein und spuckte sie in den gleichen Behälter. Auch hier setzte man
gelegentlich Zuckerrohrsaft zu. Nach zwei bis drei Tagen war dieses Fest-
getränk trinkfertig. Beide Getränke wurden durch Zusatz rötlicher, gerie-
bener Bataten gefärbt.
Die beiden wichtigsten Festgetränke der Zentral-Arawak wurden Parikari
und Sabuer genannt21. Das Parikari-Getränk der Arawak scheint dabei offen-
sichtlich mit dem Paiwari-Getränk der Küsten-Karaiben übereinzustimmen.
Für die Parikari-Herstellung werden gewöhnliche Cassavebrote verwen-
det, solange sie noch frisch und heiß sind. Die Brote werden mit Hilfe von
Körben kurze Zeit in Wasser getaucht und dann auf Bananen- oder Palmen-
blätter an der dunkelsten Stelle der Behausung ausgebreitet. Die Brotschicht
wird mit den pulverisierten Blättern einer Feldstaude bestrichen und mit
Palmenblättern bedeckt. Nach vier bis fünf Tagen der Gärung ist aus der
ursprünglich etwa 5 cm dicken Brotschicht eine solche von etwa 10 cm ge-
worden, und das Brot ist mit schwerem weißem Schimmel bedeckt, ln diesem
Stadium ist es weich, süßlich und eßbar. Das gegorene Brot wird in große
Töpfe zerkleinert, Wasser zugesetzt und weiter vergoren. Bei der Herstellung
des Rauschgetränks Sabuer wird das Brot doppelt so dick als gewöhnlich
und auf beiden Seiten schwarz gebacken. Die Brote werden dann im Wasser
zerbrochen, ein Teil von ihnen eingespeichelt und wieder in den Krug ge-
spuckt. Die Flüssigkeit wird kurz zum Sieden gebracht, wobei ständig um-
gerührt wird, damit evtl. Brotstücke sich völlig auflösen.
Nach dem Kochen wird mit etwas Wasser auf gefüllt und die Mischung
vier bis fünf Tage stehen gelassen, bis sie genügend vergoren ist.
Durch die Benutzung von fast verkohlten Broten soll das Endprodukt
ein besonders angenehmes Aroma erhalten.
Bei den Zentral-Karaiben existierten ebenfalls zwei wichtige Festgetränke:
Parikari (bzw. Pariwari) und Pawai. Parikari wurde vor allem zu dem
gleichnamigen wichtigsten Fest, Pawai für den gleichnamigen Tanz her-
gestellt22.
21 Farabec 1918, S. 43 ff.
22 Farabec 1924, S. 39 ff.
42
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Beide Festgetränke sind auch bei den Macushi vorhanden23.
Die Ticuna benutzten für ihre Zeremonien drei Hauptgetränke: ein Mais-
getränk (Chicha), das Maniokgetränk Paisuarú und ein fermentiertes Getränk
aus gekochtem Maniok (Caifuma)24.
Die Mojo besaßen neben ihrem „batzecomo“ (s. Alltags-Chicha) bei Festen
den „itico“ „y en sus convites y borracheras el iticó que es fuerte destilán-
dola“25 * 27. Leider fehlen Angaben über die nähere Herstellung.
Das Festgetränk der Chiriguano, „kawi“, wurde nach kompliziertem
Verfahren hergestellt20. Die Maiskörner wurden zunächst in tage- und nächte-
langer Arbeit zermahlen. Anschließend kochte man das Maismehl in Wasser
auf. Währenddessen wurde anderer Mais zerstoßen, an der Luft gesiebt und in
einer großen Scherbe geröstet. Ein Teil dieser gerösteten Maismasse wurde in-
tensiv durch die Frauen eingespeichelt. Diese mit Speichel durchtränkte Masse
(temisu) wurde mit dem gekochten Mais vermischt und gemeinsam gekocht. Um
ein Anbrennen zu verhüten, mußte die Mischung dauernd umgerührt und Wasser
nachgefüllt werden. Am folgenden Nachmittag, d. h. also nach stundenlangei
Erhitzung, wurde abgekühlt, auf kleinere Behälter umgefüllt und die Masse
erneut intensiv gekaut. Nach Zuführung von Wasser wurde der Kawi ge-
siebt, auf andere Behälter verteilt und zwei bis drei Tage vergoren.
Das fertige stark berauschende Festgetränk ist meist mit einer dicken,
öligen Schicht bedeckt, die jedoch von den Frauen entfernt wird.
Die Chane stellen in ähnlicher Weise ihr Festgetränk aus Bataten her2'.
Bei den Tupari wurden zur Herstellung der Fest-Chicha vor allem süßer
Maniok, Mais, Yams und Erdnüsse benutzt. Die Rohstoffe wurden erst
gekocht und anschließend zermahlen und vergoren28.
Ein für Festgetränke besonders wichtiger Stamm sind die Jivaro. Wir
finden hier durchaus Elemente, die stark an Zentral-Karaiben und Aruak
erinnern. Es werden vor allem Maniok-Bier (nihamanchi) und Maniok-Wein
(sangucha shiki) unterschieden29. Die Bereitung beider Getränke hat zeremoni-
ellen Charakter.
Bei der Maniok-Bier-Fderstellung wird der Maniok gewaschen, geschält
und gekocht. Etwa die Hälfte der gekochten Masse wird stundenlang gekaut
und auf verschiedene Gefäße verteilt. Nach Zugabe von Wasser und von
weiterem zerkleinertem Maniok erfolgt die Vergärung. Um das Bier stärker
23 parabee 1924, S. 39 ff.
24 Nimuenda j ú 1952, S. 33 ff.
25 Castillo 1906, S. 310.
20 Métraux 1929, S. 365 ff.
27 Métraux 1929, S. 369.
28 Caspar 1953, S. 136.
29 Karsten 1935, S. 191 ff.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
43
zu machen, pflegte man für große Feste eine Mischung, bestehend aus bereits
gekautem und vergorenem Maniok, zuzusetzen.
Die Maniok-Wein-Bereitung war durch die Benutzung von geröstetem
Maniok charakterisiert. Die Röstung soll dem Getränk eine ganz besondere
Kraft verleihen. Der Maniok wurde durch Männer geröstet und zeremoniell
in Körbe gelegt. Nach drei Tagen wurden die gerösteten Maniokfrüchte
intensiv eingespeichelt und daraus am folgenden Tag der Maniokwein her-
gestellt. In einen Topf wurden zeremoniell die Zweignadeln eines Baumes
eingelegt, der schwärzliche, süße, weintraubenähnliche Früchte besitzt. Ob
es sich bei diesem Baum um den „wilden Weinbaum“ handelt, den die
Missionare als „uvilla del monte“ bezeichnen, konnte ich aus den dürftigen
botanischen Angaben nicht eindeutig ermitteln. Auf diese langen Zweignadeln
wurden die siebartig mit einer hölzernen Nadel durchlöcherten Blätter eines
„apai“ genannten Baumes gelegt. Die intensiv eingespeichelte Maniokmasse
wurde darauf gegeben und tropfte im Laufe der nächsten zwei Tage und
Nächte über das Blattsieb und durch die Zweignadeln in den unteren Leer-
raum des Behälters.
Wenn Karsten verschiedentlich davon spricht, daß die gekaute Maniok-
substanz „destilliert“ wurde, bzw. die Herstellung des Maniok-Weins durch
„Destillation“ vor sich gegangen sei, so sind die Bezeichnungen dem Wort-
sinn nach falsch. Jede Destillation ist stets mit einer vorübergehenden Zu-
standsveränderung verbunden. Hier haben wir es aber einwandfrei nicht
mit einem vorübergehend veränderten Aggregatzustand zu tun. Vielmehr
handelt es sich hierbei um einen einfachen Auszug, dem man lediglich die
Zusatzbezeichnung Essenz beifügen könnte. Diese Essenz ist der Wein.
Bei der besonderen Langwierigkeit und Schwierigkeit der Herstellung
dieses Getränkes ist es nur verständlich, daß der Maniok-Wein relativ selten
und nur in kleinen Mengen hergestellt wurde. Eine andere Eigenart dürfte
damit in Zusammenhang stehen: Bei allen großen Festen der Jivaro — so
wird berichtet — war das Maniok-Wein-Trinken charakteristisch. Während
zuerst die älteren Männer tranken, taten die jüngeren Männer nur so. Bei
dem Hochzeitsfest der Jivaro (Tabakfest, Noatsangu) führte der Bräutigam
die Frauen einzeln zu seiner Braut, die den Maniokwein in einem Kürbis
hielt. Auch diese Frauen stellten sich nur so, als ob sie trinken würden.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß auch die Sabela und Zaparo
einen besonderen „Maniokwein“ kannten, der aus geröstetem Maniok und
gekauter Maniokmasse hergestellt wurde30. Es hat den Anschein, als ob sich
das Ausbreitungsgebiet dieses Rauschgetränkes allein über das subandine Ge-
biet erstreckt.
ö0 Tessman n 1930, S. 300, 539.
44 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Hinsichtlich der sonstigen fermentierten Festgetränke, ihrer Rohstoffe und
ihrer Verbreitung sei auf die Original-Arbeit verwiesen.
Trinksitten
Das Studium der Trinksitten zeigt bei allen zur Untersuchung heran-
gezogenen Stämmen der Naturvölker Südamerikas weitgehende Gleichheit.
Nicht nur, daß im allgemeinen der Häuptling oder der Älteste einer Gemein-
schaft die Verteilung der Getränke regelt und auch das Trinken beginnt,
sondern auch die Tatsache, daß eine Selbstbedienung im Anfangsstadium der
Feste in den meisten Fällen als ungehörig gilt, ist bemerkenswert. Das Her-
umreichen der vergorenen Getränke zu Beginn größerer Feste ist oft ganz
bestimmten Vorschriften unterworfen.
Am R. Issana und im R. Caiary-Uaupes-Gebiet werden fermentierte Ge-
tränke durch die jeweilige Festgeberin oder ihren Gatten angeboren31.
Bei den Guayana-Indianern setzten sich bei Trinkfesten ältere Familien-
väter und auch die angesehensten Geladenen auf rohgeschnitzte Zedernholz-
bänke und wurden durch Frauen oder junge Mädchen mit fermentierten
Getränken versorgt32.
Von anderer Seite wird über die Trinkgewohnheiten der Indianer
Guayanas berichtet, daß zunächst das Oberhaupt der Gäste zu trinken erhält,
das seine Kalebasse an den nächsten Gast weiterreicht. Jeder trinkt nur einen
kleinen Schluck. Vom letzten wird die Kalebasse dann den gleichen Weg
zurückgereicht, und der Angesehenste gibt sie dann dem Veranstalter des
Trinkfestes zurück. Vielfach war es auch üblich, daß junge Frauen das Ge-
tränk verteilten33. Wenn das der Fall war, tranken die Männer, ohne die
Kalebassen zu berühren, die ihnen von den jungen Mädchen gehalten wurden.
Dabei hielten die Mädchen drei bis vier Finger in die Kalebasse und den
Daumen nach außen. Die Männer berührten die Kalebasse nur, wenn sie
genug hatten und damit anzeigen wollten, daß sie weitergereicht werden
könne.
Erbrechen
Das Erbrechen während der Trinkfeste ist für viele Stämme der süd-
amerikanischen Naturvölker charakteristisch. Diese Eigentümlichkeit ist bisher
in der südamerikanischen Ethnographie noch nicht gebührend gewürdigt wor-
den, und auch eingehende Untersuchungen über diese Erscheinung fehlen
bisher.
Die Indianer Guayanas pflegten das, was sie zuviel an Getränken zu
sich genommen hatten, wieder von sich zu geben, und fingen dann von neuem
31 Koch-Grünberg 1908, S. 7.
32 Kapp ler 1881, S. 114.
33 Roth 1924, S. 237.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
45
zu trinken an34. Die Männer leerten die Kalebassen oft in einem Zuge, eilten
dann zu einem Baum und drückten sich den Unterleib zusammen, um sich
des Genossenen zu entledigen35 *.
Auch Thurn berichtet von Paiwari-Festen, bei denen durch laufendes Er-
brechen der Teilnehmer eine ganz erhebliche Flüssigkeitsmenge aufgebracht
wurde30.
Im Gegensatz zu obigen Berichten stehen die Angaben von Kappler37.
Danach erbrachen sich die Indianer nicht heimlich oder abseits, sondern —
da es zum Trinkfest gehörte — erhoben sich die Betreffenden nicht einmal
von ihren Plätzen, so daß der Boden bald einer großen Pfütze glich, in der
man watete.
Auch die Zentral-Arawak hatten stets bei ihren Festen einen großen
Verbrauch an fermentierten Getränken, und die Männer übergaben sich sehr
bald38.
Die Arawak Guayanas erbrachen sich bei ihren jährlichen Toten-Gedenk-
feiern, um dadurch zu zeigen, daß sie vor Betrübnis krank seien39.
Getränke im allgemeinen Lebenslauf
Auch im allgemeinen Lebenslauf, bei Geburt, Initiation, Hochzeit und
Tod spielen alkoholische Getränke bei vielen Naturvölkern Südamerikas eine
wichtige Rolle.
Von manchen Stämmen wird darüber berichtet, daß bestimmte Teile der
Leiche gekocht, verkohlt, pulverisiert und in Verbindung mit Rauschgetränken
getrunken wurden.
Das Trinken dieser Teile soll dazu führen, daß der Tote wieder auflebt
und dem Lebenden seine Eigenschaften zukommen läßt. Sofern es sich um
Feinde handelt, soll durch das Trinken der Knochenasche die Persönlichkeit
des anderen vernichtet werden. Da nun die Übertragung der Seele eines
Toten an die Lebenden gefahrvoll ist, wird meist das Knochenpulver in den
geheiligten alkoholischen Getränken vermischt, die das „tabu“ des Todes
und mögliche gefährliche Wirkungen aufheben.
Einflüsse auf die Herstellung und Verwendung
alkoholischer Getränke
Es konnte nicht ausbleiben, daß sich im Verlauf der Besiedelung der
Neuen Welt durch die Bewohner anderer Kontinente wie auch durch die
Einführung neuer Nutzpflanzen und anders gearteter Herstellungsmethoden
34 Barrere 1743, S. 150. — Roth 1924, S. 237.
35 R. Schomburgk 1847, S. 207.
30 Thurn 1883, S. 323.
Kappler 1881, S. 114 und 1887, S. 229.
38 Farabce 1918, S. 48.
39 Hartsink 1784, S. 39/40.
46
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
von alkoholischen Getränken bei manchen Stämmen tiefgreifende Wand-
lungen und Veränderungen ergaben. Diese Wandlungen bezogen sich sowohl
auf Trinkgewohnheiten als auch auf Veränderungen von sozialen Formen.
Erscheint es auch aus vielerlei Gründen nicht möglich, diese Veränderun-
gen im einzelnen aufzudecken, so soll doch im folgenden versucht werden,
gewisse Grundzüge von Veränderungen und Beeinflussungen aufzuzeigen.
Einflüsse durch südamerikanische Hochkulturen
Für mögliche Beeinflussungen kommen als Ausstrahlungszentren das Inka-
reich und das Gebiet der Chibcha in Frage.
Daß gekaute Getränke im Inkareich alteinheimisch waren, läßt sich aus
dem abgeschliffenen Zustand der Zähne vieler weiblicher Mumien aus vor-
kolumbischen peruanischen Grabstätten ableiten. Die Bereitung scheint dabei,
durch lokale Verhältnisse bedingt, im Gebiet der Inka uneinheitlich gewesen
zu sein.
Von allen Stämmen, die mit dem Inkareich Berührungspunkte besaßen,
sind vor allem die westlichen Chaco-Stämme zu nennen. Sowohl bei den
Chane als auch bei den Chiriguano befinden sich wesentlich kompliziertere
ßereitungsformen der fermentierten Chicha als im gesamten Waldgebier.
Auch in Bolivien finden wir bei den Herstellungstechniken fermentierter
Getränke bei den Mosetene und Mojo schwierigere Verfahren als weiter
östlich.
Ebenfalls bei den Tacana-Stämmen sind die Herstellungs-Methoden ge-
gorener Getränke z. T. recht kompliziert, und es dürfte auch hier ein andiner
Einfluß kaum von der Hand zu weisen sein.
Bereits von Garcilaso de la Vega wird das Mälzen von stärkemehlhaltigem
Material in den Hochländern Südamerikas erwähnt, um das stärkever-
zuckernde Enzym Diastase stark zu entwickeln. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß dieses Mälzen vorkolumbisch ist und daß es sich aus den Hochländern
Perus und Boliviens ost- und nordwärts verbreitet hat. In Frage für das
Mälzen kommen nur Mais und Quinoa. Dort, wo die Maniokwurzel für die
Herstellung fermentierter Getränke vorherrscht, ist ein Mälzen auf Grund
ihrer Zusammensetzung nicht möglich. Die Einspeichelung ist hier die ge-
eignetste Methode. Auch für Algarroba-Schoten und andere unkultivierte
Rohstoffe kommt nur die Kaumethode in Frage.
Bei den Montana-Stämmen ist ebenfalls eine Beeinflussung aus dem
Andengebiet feststellbar. Wenn dieser Einfluß auch nicht sehr weit über die
Vorberge hinausgekommen ist, so hat er doch Spuren vor allem bei Stämmen
im nordöstlichen Teil Perus und im südlichen Ecuador hinterlassen.
Als Einfluß aus dem südamerikanischen Andengebiet kann das Bespritzen
von Hauswänden und Dächern mit fermentierten Getränken bei der Haus-
einweihe oder vor Beziehen eines neuen Hauses gelten (Baure). Auch das
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
47
Darbringen von Tieropfern nach Fertigstellung eines Hauses (Araucaner)
dürfte mit den Tier- und Blutopfern der Aymara gleichzusetzen sein, zumal
die Araucaner durch die Erwerbungen unter dem Inka Tupac (1471 bis 1493)
innerhalb der Südgrenze dieses Reiches lebten.
Ebenfalls aus nördlicheren Gegenden scheint der Molle-Baum zu stammen,
der im Verlauf der Ausbreitung des Inka-Reiches nach Nordwestpatagonien
kam, so daß die hier ansässigen Völker es dann lernten, aus den Molle-
Beeren fermentierte Getränke herzustellen.
Von den Peruanern wird berichtet, daß sie bei Begräbnissen dem Toten
mittels einer Röhre fermentiertes Getränk in sein unterirdisches Grab hinab-
40
gossen .
Durch die Erwerbungen des Inka Huayna Capac (1493 bis 1525) wurden
Teile des nördlichen Ecuador dem Reich einverleibt, und wir finden die eben
erwähnte Sitte auch bei den Manta (Esmeralda). Auch sie legten ihren Toten
Schilfrohren in den Mund, und die Verwandten hatten nach Schließung des
Grabes dafür zu sorgen, in bestimmten Zeitabständen Chicha in das
Rohr zu gießen, um den Durst des Verstorbenen zu löschen40 41.
Der Brauch des lebendigen Begrabens von Frauen und Sklaven beim Tode
eines Herrschers war ebenfalls verbreitet. Diese aus dem alten Peru über-
lieferte Sitte wurde bei den Manta42 43, Pancaleo44, Moguex, Paéz44, Quimbaya,
Garrapa, Pozo4'*, Urabá und Gemí40 festgestellt. Manta und Panzaleo haben
offenbar auch später diese Sitte beibehalten.
Bei den Moguex, Paéz und den eben genannten anderen Stämmen handelt
es sich um Völker, die zu keiner Zeit dem unmittelbaren Einfluß der Inka
unterlagen. Es besteht bei ihnen durchaus die Möglichkeit, daß sie diese
Sitte von den Chibcha übernommen haben. Denn auch die Chibcha kannten
Menschenopfer. Beim Tode eines Herrschers wurden verschiedene Frauen und
Sklaven mitbegraben, die man zuvor mit fermentierten Getränken, die einen
Giftstoff enthielten (Datura), betäubte47.
Recht isoliert steht diese Sitte bei den im nördlichen kolumbianischen Tief-
land wohnenden Genu und Urabá.
Karsten hat in seinen „Beiträgen“ ausführlich die zeremoniellen Spiele
im Verlaufe eines Totenfestes erläutert und schon darauf hingewiesen, daß
diese huayra-Spiele, wie auch das gleichzeitige Trinkgelage (mindu) Teile
40 Preuss 1894, S. 250.
41 Verneau-Ri vet, S. 51.
42 Verneau-Rivet, S. 50.
43 Murra 1946, S. 796.
44 Hernández de Alba 1946, S. 949.
4r’ Hernández de Alba 1948, S. 311.
46 Hernández de Alba 1948, S. 336.
47 Kroeber 1946, S. 907.
48 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
eines Totenkultes darstellen, den die hinterbliebenen Verwandten dem Toten
widmen. An anderer Stelle43 vertritt er die Ansicht, daß es sich hierbei um
mögliche Überbleibsel der Inkareligion handeln könne. Diese zeremoniellen
Spiele finden sich nach den mir vorliegenden Unterlagen tatsächlich nur inner-
halb des Einflußgebietes der Inka, bei den Cayapa, Colorado, Kichos und
Puruhaes.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Einflüsse aus den südameri-
kanischen Hochländern in keinem nachweisbaren Fall erhebliche Verände-
rungen für die betroffenen Stämme mit sich brachten. Soweit andersartige
Formen der Herstellung fermentierter Getränke übernommen wurden (Mäl-
zen), behielt man daneben die alten Formen (Kauen) bei.
Wichtige Ausstrahlungsstellen scheinen das Chaco-Gebiet im Süden, das
nordbolivianische Llanos-Tiefland (Beni-Tiefland) im Zentrum und das Mon-
tana-Gebiet im Norden gewesen zu sein.
Mögliche Ausstrahlungen der Chibcha reichen nach Süden, Westen und
Norden.
Einflüsse auf das amazonische Waldgebiet sind nicht festgestellt worden.
Einflüsse durch Afrikaner
Durch den Sklavenhandel wurden 1502 erste Negersklaven von Spanien
aus in die Neue Welt gebracht. In den folgenden Jahrhunderten gelangte
eine mehrfache Millionenzahl afrikanischer Neger vor allem nach Westindien,
an die Küstengebiete Venezuelas, Kolumbiens und Guayanas wie auch vor
allem an die Ostküste Brasiliens.
Die von den Afrikanern mitgebrachten Kulturen konnten, von einer
Ausnahme abgesehen, nicht rein erhalten werden. Zuführungen von Menschen
aus sehr unterschiedlichen afrikanischen Kulturen, Binnenwanderungen der
Neger in Südamerika, kulturelle Angleichungen u id vor allem die Sklaverei
als solche waren die Ursachen dafür.
Die einzige Gruppe der Afrikaner, die sich hn südamerikanischen Raum
in ihrer ursprünglichen Kultur erhalten konnte, sind die Buschneger Hollän-
disch-Guayanas. Diese Buschneger sind die Nachkommen der dort im 17. Jahr-
hundert eingeführten Sklaven, die Anfang des 1 h Jahrhunderts gegen ihr
joch zu revoltieren begannen, in die Wälder flüchteten, dort ansässige In-
dianerstämme vertrieben und sich seit dieser Zeit isoliert als rein afrikanische
Kulturgruppe halten. Man unterscheidet den Saramacca-, Auka- und Boni-
Stamm. Diese Negerstämme besitzen vor allem Kulturelemente der afrika-
nischen Goldküste (Fanti-Aschanti); daneben finden sich solche der Joruba
und Dahome. Es liegt deshalb nahe, bei der Betrachtung von Einflüssen der
Afrikaner auf südamerikanische Naturvölker hinsichtlich der Herstellung 48
48 Rarsten 1939.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
49
alkoholischer Getränke vor allem in diesem Gebiet Guayanas mögliche Aus-
strahlungen zu suchen.
Die Küstengebiete Brasiliens erhielten vor allem Negersklaven von der
Guinea- und Sierra-Leone-Küste, aus Senegambien und dem zentralen Sudan.
Sie wurden vor allem als Ersatz für Indianersklaven eingeführt, die sich als
körperlich zu schwach für schwere Arbeit erwiesen. Insbesondere zur Weiter-
entwicklung der Zuckerrohrkultur in der Neuen Welt wurden Negersklaven
herangezogen. Auch in die Küstentäler des westlichen Südamerika wurden
Negersklaven im 16. Jahrhundert von den Antillen überführt und hatten
sich dort vor allem dem Zuckerrohranbau zu widmen.
Die Möglichkeit, daß neben Europäern auch die in Guayana eingebür-
gerten Neger mit dazu beigetragen haben, den Zuckerrohranbau und damit
auch die Herstellung fermentierter Getränke aus diesem Material bei den
Eingeborenen bekannt zu machen, liegt nahe. Eine ähnliche Entwicklung kann
von der Westküste Südamerikas ausgegangen sein.
Hinsichtlich der Gerätschaften sei bemerkt, daß hier eine Beeinflussung
von seiten der Neger kaum vorhanden sein kann. Es ist vielmehr anzunehmen,
daß die Buschneger den gesamten Cassave-Komplex von den Indianern
übernommen haben. Während sie zum Backen des Cassavebrotes große Holz-
teller benutzen49, pflegten die Indianer flache Steinfliesen oder Tonplatten
zu verwenden50. Erst durch europäischen Einfluß lernten die Indianer runde
Eisenplatten kennen, die heute oft benutzt werden.
Sowohl die Maniokreiber, die einfachen Siebformen wie auch die Maniok-
presse dürften indianische Erfindungen sein, deren Ursprung nach den Unter-
suchungen von Metraux im Guayana-Gebiet liegt. Die großen Wanderungen
der Guarani-Völker waren sicherlich für die Ausbreitung dieser Gerätschaften
von großer Wichtigkeit.
Als spezifisch negerisch kann eine Backform für die Cassave-Herstellung
gelten, die bei einem Stamm der Buschneger festgestellt wurde (Auka). Es
handelt sich hier um die Imitation einer europäischen Backform mit einfachen
Mitteln. Diese Form besteht aus einem schmalen Rohr der Rotangpalme (Ca-
lamus rotang), das zu einer ovalen Form zusammengebunden ist, und das als
Umschließung für den zu backenden Cassave-Kuchen dient.
Auf Grund der kulturellen Isolierung der Buschneger auch gegenüber in-
dianischen Nachbarn konnte diese Backform bei keinem Indianerstamm er-
mittelt werden.
Bemerkenswert ist, daß die Buschneger nicht jene ausgeprägten, relativ
häufigen Trinkfeste kennen, wie sie von den benachbarten Eingeborenen be-
richtet werden. Das ist um so merkwürdiger, als die Völker des westlichen,
49 Lindblom 1924, S. 28.
50 Thurn 1883, S. 261. — Joest 1893, S. 86.
4 Baessler-Archiv VIII
50 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
zentralen und östlichen Sudan wie auch der Guinea-Küste bekannt sind für
ihren großen Verbrauch alkoholischer Biere aus verschiedenen Getreidearten,
Palmen und Bananen.
Hinsichtlich der Einflüsse auf anderen Gebieten sei bemerkt, daß die
Guayana-Stämme von den Negern (Buschneger?) eine besondere Form des
Schlagens gelernt haben sollen, die sie angeblich gelegentlich ihrer Trinkfeste
anwenden: das Schlagen mit ausgestrecktem Arm und mittels der Hand-
fläche, nicht mit der Faust51. Diese milde Schlagform kann ich jedoch aus den
mir zur Verfügung stehenden Quellen für keinen Stamm belegen.
In Holländisch-Guayana wird von den Eingeborenen die Erdnuß mit dem
Namen „pinda“ bezeichnet. Es handelt sich hierbei um einen Ausdruck aus
der Bakongo-Sprache (Mushi-Kongo) Afrikas. Es wäre möglich, daß die Erd-
nuß, die mit Beginn des Sklavenhandels sich aus ihrer Heimat Brasilien zu-
nächst nach Afrika verbreitete, durch Negersklaven aus dem unteren Kongo-
Gebiet nach Guayana gebracht und von den Indianern dieses Gebietes als
neuartige Pflanze mit ihrem afrikanischen Namen übernommen worden ist.
Im eigentlichen brasilianischen Gebiet sind Einflüsse in beiden Richtungen
festzustellen; Bei den religiösen Candomblé- oder Macumba-Feiern (Joruba-
Kultur Afrikas) der Afrikaner in Brasilien sind wichtige Gottheiten von den
alten Tupinamba assimiliert, und bei den Zeremonien werden unter anderem
Tupi-Worte benutzt. Auch gewisse indianische Kulturelemente sind in die
Ritualien übernommen worden.
Andererseits finden sich bei gewissen Tänzen der Eingeborenen typisch
afrikanische Einflüsse. So wird von dem französischen Forscher Douville ein
derart beeinflußter Tanz von den Kutaso (Camacan-Gruppe) beschrieben’2.
Einflüsse durch Europäer
Wenn mögliche Beeinflussungen südamerikanischer Naturvölker durch
Europäer in Grundzügen aufgezeigt werden sollen, muß gleichzeitig der Ein-
führung neuer Kulturpflanzen nach Amerika gedacht werden, da das eine
nicht vom anderen zu trennen ist. Beginnen wir mit den Nutzpflanzen, die
zu Änderungen auch hinsichtlich der Herstellung fermentierter Getränke bei
den Eingeborenen führten.
Die Banane wurde für viele Stämme eine wichtige Ernährungsgrundlage.
Sic breitete sich, da ein wirklicher Bedarf vorhanden war, überall dort aus
— mit Ausnahme des oberen R. Xingu —, wo eine Kultivierung überhaupt
nur möglich war. Wenn sie auch in erster Linie als Gemüse oder in Breiform
als Nahrungsmittel diente, so wurde sie doch auch daneben von einigen
Stämmen für die Bereitung fermentierter Getränke benutzt. Auch hat man es
61 Th um 1883, S. 325.
62 Métraux 1929 b, S. 290.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
51
bei manchen Stämmen gelernt, den Bananensaft zur Festigung der Pflanzen-
farbstoffe (Genipa, Roucou) heranzuziehen53.
Das Zuckerrohr ist für die Herstellungsmethoden fermentierter Getränke
am bedeutungsvollsten geworden: Während in alten Berichten über die Her-
stellungen vergorener Getränke aus stärkemehlhaltigen Materialien fast immer
davon berichtet wurde, daß die gesamte Masse oder ein wesentlicher Teil
davon gekaut werden mußte, wurde dieses Verfahren mehr und mehr ab-
gekürzt bzw. überhaupt gänzlich aufgehoben durch den Zusatz von Zucker-
rohrsaft.
Eine Ausnahme hierbei machte die Chicha aus Mais. Der Mais als Ge-
treide wurde entweder leicht geröstet, oder man ließ ihn keimen. Während
ursprünglich die alkoholische Mais-Chicha hauptsächlich aus gequollenem und
dann zerstampftem Mais und Wasser gegoren wurde, kannte man noch eine
zweite Chicha-Art, die durch teilweise vorangehendes Kauen des Maises be-
sonders stark wurde. Auch hierbei wurde aber mehr und mehr das teilweise
Kauen ersetzt durch Hinzufügung von Zuckerrohrsaft. Daraus ergibt sich
zwangsläufig eine strukturelle Lockerung und mögliche Verschiebung in der
Herstellung, da die Frauen oft nicht mehr die enge Verbindung mit der Fer-
tigung besitzen, wie sich das beim früheren stunden- und tagelangen Arbeiten
am Getränk von selbst ergab. Daß damit auch die Möglichkeit besteht, daß
altüberlieferte Sitten durchbrochen werden, indem z. B. der Mann faktisch
die ehemals weibliche Funktion übernimmt und den ausgepreßten Saft als
Gärungserreger oder Gärungsbeschleuniger einfach zusetzt, ist offensichtlich.
Die Verbreitung des Zusatzes von Zuckerrohrsaft einerseits bei allen
stärkemehlhaltigen Rohstoffen und die Häufigkeit des nur teilweisen Kauens
andererseits kann aus den Tabellen entnommen werden, die der Original-
arbeit beigefügt sind.
Auch das gelegentliche Vermischen einheimischer Getränke mit Rum oder
anderen hochprozentigen alkoholischen Flüssigkeiten ist neueren Datums.
Hinsichtlich des möglichen Einflusses und der Ausbreitung der Zucker-
rohrpressen und Zuckerrohrmühlen konnte etwas Eindeutiges nicht ermittelt
werden. Die Möglichkeit, daß die Zuckerrohrmühlen, die in fast gleicher Form
in Indonesien Vorkommen54, durch Asiaten (Chinesen) in das Küstengebiet
Ecuadors und Kolumbiens und von dort weiter nach Osten gelangten, ist
gegeben. Diese Zuckerrohrmühlen finden sich in Kolumbien"0, bei den Ar-
huaco-Cagaba56, bei den Paez57, Cayapa58, Lamista51’ und in dem sehr iso-
lierten R. Uaupes-Gebiet'’0.
03 Castelnau 1851, V, S. 29.
54 Moszkowski 1909, S. 191 f.
55 Bürger 1923, II, S. 7.
56 Brettes 1903, S. 348.
57 Nachtigall 1955, S. 331
58 Barret 1925, S. 81 ff.
r'9 Tessmann 1930, S. 225.
00 Rice 1910, S. 700.
4*
52 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Bei den Cayapa und Lamista trägt die Mühle einen echt spanischen Na-
men; auch die Möglichkeit, daß Spanier an der weiteren Verbreitung be-
teiligt waren, besteht.
Zuckerrohrpressen wurden berichtet von Stämmen des westlichen Guayana-
Berglandes (Taulipang, Yecuana, Guinäu)61 und von nordostperuanischen
Völkern62. Bei einigen dieser Stämme hat die Rohrpresse einen spanischen
Namen und soll auch nach Angaben der Berichterstatter eingeführt worden
sein (Omagua, Lamista, Aguano).
Die Zuckerrohrpressen im Guayana-Bergland dürften aus dem Küsten-
gebiet (Neger?) stammen.
Es kann als sicher gelten, daß der Apfelbaum in Südamerika nachkolum-
bisch ist. Es ist infolgedessen sehr wahrscheinlich, daß die im Gebiet der
Araucaner und Manzanero vorhandenen Apfelwälder durch Jesuiten ange-
pflanzt wurden. Nach der Vertreibung der Jesuiten im Jahre 1777 dürften die
ehemals sehr gepflegten Plantagen dann verwildert sein, da sich niemand
mehr um sie kümmerte. Das würde bedeuten, daß die Herstellung der fer-
mentierten Getränke aus Äpfeln nachkolumbisch wäre.
Da auch die Wassermelone erst durch Europäer nach Südamerika gelangte,
sind auch die aus diesem Material hergestellten gegorenen Getränke nach-
kolumbisch.
Auch der Kakaoanbau, ein aus den nördlichen Gebieten stammendes, echt
indianisches Element, wurde unter dem Einfluß der Europäer in verschiedene
Gebiete Südamerikas gebracht, die eine Kakaokultivierung ursprünglich nicht
kannten. Die Benutzung des Kakaos ist dabei unterschiedlich. So pflegten
die Oyana (Rucuyen) aus dem Kakao ein Getränk herzustellen; die Chimane
haben die Kultivierung des Kakaos auch gelernt, benutzten ihn aber als Han-
delsartikel, nicht jedoch für den eigenen Gebrauch.
Soweit für die Herstellung fermentierter Getränke Materialien aus Eisen
benutzt werden (Backformen für Cassavebrot), handelt es sich um einge-
tauschte europäische Ware. Dasselbe gilt für Maniokmühlen (Radmühlen) und
Metallschaber jeder Art.
Durch im wesentlichen europäische Beeinflussung sind heute vielerorts alte
Feste der Eingeborenen zu reinen karnevalähnlichen Vergnügungen geworden.
Einflüsse durch Asiaten
Asiatische Einflüsse auf die Herstellung alkoholischer Getränke bei den
Naturvölkern Südamerikas lassen sich nicht nachweisen. Es ist möglich, daß
durch chinesische Händler oder Zwischenhändler im Gebiet Ecuadors in be-
61 Koch-Grünberg 1923 a.
6- Tessmann 1930.
ßaessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
53
schränkten! Maße einfachere Destillationsmethoden und -gerate eingeführt
und verbreitet wurden und daß auch Zuckerrohrmühlen aus Südasien auf die-
sem Wege nach Südamerika gelangten.
Ergebnisse der Untersuchung
1. Rohstoffe
Bei der zusammenfassenden Betrachtung der Rohstoffe, die für die Her-
stellung fermentierter Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas ver-
wendet werden, ergeben sich bestimmte Zentren ihrer Benutzung. Eine Gleich-
setzung der jeweiligen Getränkezentren mit dem Vorkommen der Rohstoffe
ist nicht möglich, da in vielen Fällen zwar das Material als Nahrungsmittel,
jedoch nicht für die Herstellung vergorener Getränke benutzt wird. Nur der
Gesichtspunkt der Verwertung für fermentierte Getränke ist jedoch bei dieser
Untersuchung und Betrachtung ihrer Ergebnisse zugrundegelegt.
A. DIE PFLANZLICHEN ROHSTOFFE
a) Palmen
Trotz weitgehender Verbreitung der Palmen im untersuchten Gebiet, vor
allem im zentralen Amazonas-Tiefland, ließen sich zwei Zentren ermitteln,
in denen vergorene Palmengetränke eine Rolle spielen.
1. Mündungsgebiet des R. Orinoco und nordwestlich anschließendes Kari-
bisches Gebiet.
2. Westliches Amazonas-Tiefland (einschließlich Nordwest-Peru und Ost-
Ecuador).
Sporadisch kommen fermentierte Palmengetränke vor im
nordöstlichen Chaco-Gebiet,
südbrasilianischen Raum,
westlichen Bergland von Brasilien,
Bergland von Guayana,
Orinoco-Amazonas-Gebiet.
Die Hauptgebiete vergorener Palmengetränke sind demnach das westliche und
nördliche Tiefland Südamerikas, während im gesamten Ost- und Nordost-Teil
sowie in zentralen Gebieten Brasiliens fermentierte Palmengetränke nicht fest-
gestellt wurden.
Im wesentlichen dominieren Guilielma- und Mauritia-Palmenarten, aus
deren Früchten bzw. Säften gegorene Getränke hergestellt werden.
b) Knollenfrüchte
Maniok
Der Maniok als wichtige Nahrungspflanze des Waldgebietes ist auch als
Rohstoff für fermentierte Getränke weit verbreitet.
54
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Folgende Zentren mit vergorenen Maniokgetränken wurden ermittelt;
1. östliches und westliches Bergland von Guayana,
2. Llanos-Gebiete des R. Orinoco,
3. Westliches Amazonas-Tiefland (einschl. Nordost-Peru und Ost-Ecuador),
4. Llanos-Gebiete des R. Mamore-Guapore.
Sporadisch kommen fermentierte Getränke aus Maniok vor auf den Kleinen
Antillen, dem nördlichen kolumbianischen Tiefland und dem nordwestlichen
Venezuela, in Zentral-Brasilien, an der Ostküste Brasiliens und in Süd-
brasilien.
Die Hauptgebiete der Maniokgetränke liegen im westlichen und nörd-
lichen Südamerika. Dabei scheint der bittere Maniok als wichtigstes Ausgangs-
material hauptsächlich im tropischen Tiefland, der süße Maniok vor allem
in mittleren Höhenlagen angebaut zu werden. Beide Arten finden sich auch
oft nebeneinander.
Völlig frei von vergorenen Maniokgetränken ist das östliche und nord-
östliche Bergland von Brasilien, das Hochland von Mato-Grosso und das
nördliche Venezuela.
Quinoa und Bromus mango
Beide Ausgangsstoffe sind für die Herstellung von Gärungsgetränken un-
bedeutend und finden sich — abgesehen vom Hochland — im chilenischen
Längstal an der Westküste des Kontinents.
Bataten
Die Benutzung der Bataten für die Herstellung fermentierter Getränke ist
nur sporadisch ermittelt, eigentliche Zentren konnten nicht festgestellt wer-
den. Etwas häufiger wird der Rohstoff benutzt in Südbrasilien und im west-
lichen Bergland von Zentralbrasilien.
Sporadisch tritt die Bataten-Verwendung auf entlang der Ostküste Bra-
siliens, in der Küstenebene von Guayana, im westlichen Bergland von Gua-
yana, im Orinoco-Delta, auf den Kleinen Antillen und im westlichen Ama-
zonas-Tiefland.
Yams
Die Verarbeitung von Yams findet sich vereinzelt in der Küstenebene von
Guayana, dem westlichen Bergland von Guayana, der Orinoco-Amazonas-
Schwelle und dem westlichen Bergland von Zentralbrasilien.
M angareto
Auch die Verwendung dieser Frucht wurde nur sporadisch im westlichen
Bergland von Zentralbrasilien festgestellt,
c) Körnerfrüchte
Mais
Bei den Naturvölkern Südamerikas stehen fermentierte Getränke aus Mais
an zweiter Stelle. Sie finden sich vor allem in höhergelegenen Gebieten und
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
55
sind — im Gegensatz zu Maniok — bis in den zentralen Chaco und an der
Westküste bis zum chilenischen Längstal verbreitet. Während im zentralen
Amazonas-Tiefland Maniokgetränke dominieren, überwiegen gegorene Mais-
getränke im südbrasilianischen Raum.
Folgende Zentren mit vergorenen Maisgetränken konnten ermittelt werden:
1. südliches Mittelamerika,
2. nordwestliches Südamerika,
3. westliches Amazonas-Tiefland (einschl. Ost-Ecuador und Nordost-Peru),
4. Llanosgebiete des R. Mamoré-Guaporé,
5. zentrales Chaco-Gebiet,
6. Südbrasilien.
Sporadisch kommen fermentierte Maisgetränke vor in den Llanosgebieten des
R. Orinoco, dem Bergland von Guayana, in Zentralbrasilien, an der Ostküste
Brasiliens und in Mittel- und Südchile (chilenisches Längstal).
Völlig frei von gegorenen Maisgetränken sind das nördliche und zentrale
Bergland von Brasilien, das Hochland von Mato-Grosso, das zentrale und
östliche Amazonas-Tiefland.
d) Andere pflanzliche Rohstoffe
Algarroba
Algarrobafrüchte werden nur südlich des 20° südl. Breite für fermentierte
Getränke verwendet. Das Rohstoff- und Verarbeitungs-Zentrum liegt im
Chaco-Gebiet.
Vereinzelt findet sich der Rohstoff noch für die Bereitung gegorener Ge-
tränke in Südwestbrasilien, Nordwestpatagonien und im chilenischen Längstal.
Ananas
Vergorene Getränke aus Ananas sind relativ selten und so wenig fest-
gestellt, daß von einem Zentrum nicht gesprochen werden kann.
Stellenweise vorhanden sind fermentierte Ananasgetränke an der Ostküste
Brasiliens, in Südbrasilien und dem westlichen Bergland von Zentralbrasilien.
Ganz vereinzelt kommen sie vor im westlichen Amazonas-Tiefland, in der
Küstenebene von Guayana und in Nordkolumbien.
Banane
Gegorene Bananengetränke sind ebenfalls sehr sporadisch verbreitet. Eine
gewisse Häufigkeit dieser Getränke findet sich im westlichen Amazonas-Tief-
land, und zwar zwischen dem R. Yapura und R. Ucayali beiderseits des
Solimöes.
Vereinzeltes Vorkommen: Ostküste von Brasilien, südwestliche Llanos des
R. Mamoré-Guaporé, Mittel- und Nordwestecuador, Maracaibo-Senke, Berg-
land von Westguayana, Orinoco-Delta und südliches Mittelamerika.
56
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Zuckerrohr
Die Benutzung von Zuckerrohr zur Herstellung vergorener Getränke ist
sehr uneinheitlich, und eine gewisse Häufigkeit in der Verwendung dieses
Rohstoffs findet sich lediglich im westlichen Amazonas-Tiefland.
Sonst wird das Zuckerrohr sporadisch benutzt im Hügelland von Uruguay,
in Südbrasilien, in Nordbrasilien, in der Küstenebene von Guayana, in Süd-
guayana, in Nord- und Südkolumbien und im südlichen Mittelamerika.
Auffallend ist, daß sich, abgesehen vom Oberlauf des Amazonas, gegorene
Zuckerrohrgetränke nur an der Peripherie des Untersuchungsgebietes finden,
das zentrale Gebiet jedoch völlig meiden.
Sonstige pflanzliche Rohstoffe
Nur ganz geringe lokale Bedeutung für die Herstellung gegorener Ge-
tränke ergaben sich für die folgenden pflanzlichen Rohstoffe:
Agaven (Nordwestküste von Venezuela), Anone-Arten (Guayana-Gebiet),
Äpfel (Nordwest-Patagonien, chilenisches Längstal), Araukarie (Nordwest-
Patagonien), Chanar-Frucht (Chaco-Gebiet), Erdnuß (Nordwest-Bolivien),
Genipapo (bei den Parintintin), Jabuticaba-Frucht (Ostküste Brasiliens bei
den Tupinamba), Kaschubaumfrüchte (Nord- und Ostküste Südamerikas bei
Arawak und Tupinamba), Kürbis (westliches Bergland von Guayana bei
Taulipäng), Lumastrauchfrüchte (chilenisches Längstal), Früchte des Maqui-
strauches (Nordwest-Patagonien und chilenisches Längstal), Mangabeirafrucht
(Tupinamba), Mistol- und Tusca-Früchte (Chaco-Gebiet), Mollebaumfrüchte
(Nordwest-Patagonien), Wassermelone (Chacogebiet, Nordwest-Venezuela).
E. TIERISCHE STOFFE
Honig
Dieser Rohstoff ist für die Herstellung fermentierter Getränke im wesent-
lichen beschränkt auf die Gebiete zwischen 15 und 30' südl. Breite.
Wichtigste Gebiete, in denen das Vorkommen fermentierter Honiggetränke
nachgewiesen werden konnte, sind;
1. Südbrasilien,
2. Chaco-Gebiet,
3. Llanos des R. Mamorë.
Vereinzelt kommen gegorene Honiggetränke vor im Orinoco-Delta, in Nord-
ostbrasilien, im Hügelland von Uruguay und im Yungagebiet Perus.
Fermentierte Honiggetränke fehlen, abgesehen vom Orinoco-Delta, un
gesamten nördlichen und zentralen Südamerika.
Bei einer vergleichenden Betrachtung der für die Getränkeherstellung die-
nenden Rohstoffe ist festzustellen, daß fermentierte Maniok- und Mais-
getränke in dem untersuchten Gebiet die wichtigste Rolle spielen. Bei sehr
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
57
vielen Stämmen finden sich Getränke aus beiden Rohstoffen, so vor allem
in den Llanos des R. Orinoco, im westlichen Amazonas-Tiefland, in Nordost-
peru und im Llanosgebiet der R. Beni-Mamoré.
Ein stärkeres Vorkommen von fermentierten Maisgetränken im Verhält-
nis zu Maniok konnte im äußersten Nordwesten des Gebietes und in Süd-
brasilien ermittelt werden, während im zentralen Amazonas-Tiefland ge-
gorene Maniokgetränke dominieren. Im zentralen und nördlichen Chaco
fehlen Maniokgetränke völlig, fermentierte Maisgetränke sind hier jedoch
vorhanden. Die Maisgetränke reichen am weitesten nach Süden (chilenisches
Längstal), während Manjokgetränke über Südbrasilien hinaus nicht fest-
gestellt wurden.
Der Wichtigkeit nach folgen gegorene Palmengetränke, fermentierte Ge-
tränke aus Honig, Bananen, Algarroba, Zuckerrohr, Bataten und Ananas.
Wegen der Verbreitung sei auf die im Anhang befindlichen Karten ver-
wiesen.
2. Technik
In der Originalarbeit konnte nachgewiesen werden, daß als Gärbehälter
überwiegend solche aus Holz in Anwendung sind bzw. waren. Als Trink-
schalen sind solche aus der Kalebassenfrucht am verbreitetsten.
Die Bereitung der fermentierten Getränke erfolgt meist durch Frauen oder
aber von beiden Geschlechtern. Daß bei den Araucanern die Getränke nur
von Männern hergestellt werden, könnte dadurch begründet sein, daß die
Araucaner die Bereitung von den Jesuiten übernommen haben.
Besondere Bedeutung als Reisegetränk und als Nahrungsmittel besitzen die
„Pasten“. Pastenherstellungen aus Mais konnten als Charakteristikum des
südlichen Mittelamerika und nordwestlichen Venezuela nachgewiesen werden,
während im karibischen Gebiet, im östlichen Bergland von Guayana, in Ost-
ecuador, im westlichen Bergland von Zentralbrasdien und in den Llanos des
R. Mamoré sporadisch Pastenherstellungen aus Maniok belegt werden konnten.
Die Benutzung von Schimmelbroten ist im wesentlichen auf den Nordteil
Südamerikas beschränkt.
Die Bedeutung von Alltags-Chicha und Fest-Chicha und ihre unterschied-
lichen Funktionen konnten herausgearbeitet werden.
3. Alkoholische Getränke im Gemeinschaftsleben
Die bei manchen Stämmen festgestellte Bemalung während der Chicha-
Bereitung dürfte als Schutz und Vorbeugungsmittel gegen übelgesinnte Geister
dienen. Andererseits soll die Bemalung — insbesondere bei Totenfesten —
58
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
die Überlebenden für den rachsüchtigen Totengeist unkenntlich machen und
sie dadurch schützen.
Die vergorenen Getränke werden meistens an einer bestimmten Stelle der
Maloka aufbewahrt; nur in seltenen Fällen gibt es besondere Hütten für
die Aufbewahrung.
Trinkverbote der Frauen konnten in einem Zentrum nachgewiesen werden,
das durch das Chaco-Gebiet dargestellt wird. Sporadisch kommen Trink-
verbote der Frauen im Hügelland von Uruguay, in Südbrasilien, im südwest-
lichen Zentralbrasilien, in den Llanos des Orinoco und im nordwestlichen
Venezuela vor.
Die Trinksitten sind von weitgehender Ähnlichkeit. Das Anbieten der fer-
mentierten Getränke ist begleitet von bestimmten Riten, die wohl im wesent-
lichen darauf abzielen, den Gast zu beruhigen und ihm damit zu zeigen, daß
keine bösen Absichten gegen ihn vorliegen.
Das Erbrechen als eine zum Trinkfest gehörende Sitte konnte bei vielen
Stämmen nachgewiesen werden, ohne daß ein eigentliches Zentrum dieser Sitte
erkennbar ist.
Offensichtlich liegen bei manchen Stämmen Tendenzen zugrunde, sich mög-
lichst viel des Getränkes einzuverleiben — wenn auch nur für kurze Zeit —
um dadurch die magische Kraft des Körpers zu steigern oder ihn für beson-
dere Zeremonien vorzubereiten.
Die Anlässe für den Genuß fermentierter Getränke konnten in dieser Zu-
sammenfassung nur angedeutet werden. Aus der Originalarbeit ergab sich, daß
bei allen kritischen Lagen, in denen sich der Indianer übernatürlichen Ge-
fahren ausgesetzt sieht, gegorene Getränke eine wichtige Rolle spielen. Sie
können nicht nur die Zauberkraft des Körpers erhöhen, sondern auch gegen
Dämonen und Geister schützen.
Alkoholische Getränke sind darüber hinaus ein Zeichen der Freundschaft,
der Wertschätzung und ein Zeichen der Gemeinsamkeit.
Trinkfeste vereinigen periodisch die Sippen, Dorfgemeinschaften und
Stämme. Oft werden auch benachbarte Stämme eingeladen. Die Trinkfeste
dienen nicht nur der ständigen Erneuerung des Zusammengehörigkeitsgefühls,
sondern auch oft dazu, in friedlichem Wettstreit die Kräfte und auch die Ge-
schicklichkeit zu messen. — Die Trink- und oft damit verbundenen Tanz-
feste bieten Gelegenheit zum Austausch von Neuigkeiten, zum Überliefern
alter Sitten an die junge Generation, zu Heiraten und nicht zuletzt auch
zum Tauschhandel.
So kann gesagt werden, daß einheimische alkoholische Getränke bei den
Naturvölkern Südamerikas sowohl im religiösen als auch im sozialen Leben
eine bedeutende Rolle gespielt haben und noch spielen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
59
AfA
AGW-M
BA
BAE-R
GJ
HSAI
IAE
IET-R
INM
PM-P
SAP-BM
UC-PAE
UP-AP
LITERATURVERZEICHNIS
Abkürzungen
- Ardiiv für Anthropologie, Braunschweig
= Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft, Wien
= Baessler Archiv
= Bureau of American Ethnology, Annual Reports, Washington
= Geographical Journal, London
= Handbook of South American Indians. Bureau of American Ethnology,
Bulletin 143, Washington
= Internationales Archiv für Ethnographie, Leiden
= Instituto de Etnología de la Universidad de Tucumán, Revista, Tucumán
= Indian Notes and Monographs, Museum of the American Indian, Heye
Foundation, New York
= Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, Papers,
Cambridge, Mass.
= Socicté d’Anthropologie de Paris, Bulletins et Memoires, Paris
= University of California, Publications on American Archaeology and
Ethnology, Berkeley
= University of Pennsylvania, Anthropological Publications, Philadelphia
Barrcre, Pierre
1743 Nouvelle relation de la France equinotiale . . ., Paris.
Barr et, S. A.
1925 The Cayapa Indians of Ecuador, INM, ser. 2, Vol. XL.
Brettes, C. ]. de
1903 Les Indiens Arhouaques-Kaggabas, SAP-BM.
Brüning, Hans
1928 Reisen im Gebiet der Aguaruna, BA, XII.
Bürger, Otto
1923 Reisen eines Naturforschers im tropischen Amerika, I, II, Leipzig.
Caspar, Franz
1953 Ein Kulturareal im Hinterland der Flüsse Guapore un d Machado,
dargestellt nach unveröffentlichten und anderen wenig bekannten
Quellen, mit besonderer Berücksichtigung der Nahrungs- und Genuß-
mittel. Diss., Hamburg.
Castelnau, Francis de
1850/51 Expedition dans les parties centrales de l’Amerique du sud, t. I—VI,
Paris.
Castillo, Joseph del
1906 Relacion de la provincia de mojos, La Paz.
Farahee, William Curtis
1918 The Central Arawaks, UP-AP, Vol. IX.
1924 The Central Caribs. Philadelphia (Penns.).
Gillin, John
1936 The Barama River Caribs of British Guiana. PM-P, XIV, Nr. 2.
Hartmann, Günther
1958 Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas. Berliner
Phil.-Dissertation, Freie Universität.
60
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Hartsink, Joh. Jakob
1784 Beschreibung von Guiana oder der wilden Küste in Südamerika, Berlin.
Hernandez de Alba, Gregorio
1946 The Highland tribes of southern Colombia, HSAI, Vol. 11.
1948 Sub-Andean tribes of the Cauca Valley. HSAI, Vol. IV.
1948 Tribes of the North Colombia Lowlands. HSAI, Vol. II.
Joest, W.
1893 Ethnographisches und Verwandtes aus Guayana. IAE.
Kuppler, August
1881 Holländisch-Guiana, Stuttgart.
1887 Surinam, sein Land, seine Natur, Bevölkerung und seine Kultur-Ver-
hältnisse, Stuttgart.
Karsten, Rafael
1935 The Head-Hunters of Western Amazonas, Helsingfors.
1939 Überbleibsel der Incareligion im heutigen Peru und Bolivien, AfA, XXV.
Koch-Grünberg, Theodor*
1908 Frauenarbeit bei den Indianern Nordwest-Boliviens. AGW-M,
1923 a Vom Roroima zum Orinoko, Bd. III, Stuttgart.
1923 b 2 Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens, 2. Aufl., Stuttgart.
Kroeber, A. L.
1946 The Chibcha, HSAI, Vol. II.
Lindblom, Gerhard
1924 Afrikanische Relikte und indianische Entlehnungen in der Kultur der
Buschneger Surinams, Göteborg.
Métraux, Alfred
1929 a Études sur la civilisation des indiens chiriguano. IET-R, Vol. I.
1929 b Les indiens Kamakan, Pataso et Kutaso, IET-R, Vol. I.
1948 Tribes of eastern Bolivia and the Madeira Headwaters, HSAI, Vol. III.
M étraux-Kirchhoff
1948 The northeastern extension of Andean culture, HSAI, Vol. IV.
Moszkowski, Max
1909 Auf neuen Wegen durch Sumatra, Berlin.
Murra, John
1946 The Historie Tribes of Ecuador. HSAI, Vol. 11.
Nachtigall, Horst
1955 Die Paez-Indianer und ihre Geschichte. Atlantis, XXVII, Heft 7.
Nimuendajü, Gurt
1952 The Tucuna, UC-PAE, Vol. 45.
Preuss, Konrad Theodor
1894 Die Begräbnisarten der Amerikaner und Nordostasiaten, Königsberg
Rice, Hamilton
1910 The River Uaupés. GJ XXXV.
Roth, W. E.
1915 An Inquiry into the Animism and Folk-Lore of the Guiana Indians,
BAE-R, Washington.
1924 An Introductory Study of the Arts, Graffs, and Customs of the Guiana
Indians. BAE-R, 38.
Schomburgk, Richard
1847 Reisen in British-Guiana in den Jahren 1840—1844, I. Theil, Leipzig.
Sirnson, Alfred
1886 Travels in the Wilds of Ecuador and the exploration of the Putumayo
River, London.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
61
Tessmann, Günter
1928 Menschen ohne Gott, Stuttgart.
1930 Die Indianer Nordost-Perus, Hamburg.
Thurn, E. im
1883 Among the Indians of Guiana, London.
Ve.rneau-Rivet
o. J. Ethnographie ancienne de l’Équateur.
Zerries, Otto
1956 Beiträge zur Ethnographie der Guahibo-Indianer des Territorio Ama-
zonas, Venezuela. Paideuma, Wiesbaden, VI, Heft 4.
62
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: PALMEN
6 Chocó
22 Tama (Tunebo)
32 Guahibo
33 Chiricoa-Guahibo
35 Guayaveros
48 Pioje
52 Coreguaje
54 Zapato
57 Roamaina (Omurana)
58 Ahuishiri
59 Canelos
60 Jivaro
72 Maina (Kandoshi)
73 Lamiste
74 Ssimacu
75 Yameo
76 Ikito
78 Aguano
79 Chebero
80 Chamicura
81 Chayahuita
82 Panobo
85 Campa
100 Cañamar!
101 Cañamar!
102 Canamari
115 Cocaína
116 Peba
117 Jawa
118 Coto
119 Yagua
121 Omagua
131 Tucano
132 Tuyuka
141 Papuri
150 Palenque
151 Core
152 Tumuza
153 Cumanagoto
154 Chaima
155 Pariagoto
158 Warrau
179 Taulipáng
187 Macushi
194 Ojana (Roucouyenne)
245 Bororo
247 Guato
252 Parintintin
267 Tupari
316 Caingang
327 Mbaya
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
63
So
so
Vorkommen fermentierter Getränke aus
64 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: MANIOK
3 Centi 99 Cashinaua 191
4 Uraba 100 Canamari 193
9 Amani 101 Canamari 194
10 Pantagoro 102 Canamari 195
15 Arhuaco 106 Pacaguara 196
16 Goajiro 107 Sinabo 197
17 Chaké 108 Capuibo 199
20 Calamari 113 Tawari 200
21 Beto i 114 Mayoruna 201
25 Guayupé 115 Cocaína 202
26 Sae 116 Peba 204
29 Achagua 117 J awa 213
30 Saliva 118 Coto 209
31 Piapoco 119 Yagua 227
32 Guahibo 120 Tucuna 228
35 Guayaveros 121 Omagua 249
36 Puinave 123 Passé 252
48 Pioje 125 Juri 256
54 Zapato 129 Siusi 257
56 Andoa 130 Kobéua 258
57 Roamaina 133 Baniwa 259
58 Ahuishiri 134 Tatu-Papuyu 260
59 Canelos 135 Arekena 261
60 Jivaro 136 Bara 262
62 Huambisa 143 Piaroa 264
63 Aguaruna 144 Yaruro 265
68 Colorado 157 Insel-Karaiben 267
71 Ssabela 158 Warrau 268
72 Maina 159 Aruacay 269
73 Lamisto 161 Otomac 270
74 Ssimacu 164 Makiritare 271
75 Yameo 165 Mayongong 272
76 Ikito (Waiomgomos) 274
77 Quito 166 Yecuana 277
78 Aguano 167 Guinau 278
79 Chebero 171 Shiriana 279
80 Chamicura 173 Crichanas 282
81 Chayahuita 174 Wapishanas 287
82 Panobo 175 A rebato 289
84 Cashibo 178 Arécuna 291
85 Campa 179 Taulipáng 293
86 Chama 180 Camaracoto 294
89 Conebo 182 Panare 297
90 Cholon 183 Barama Caribs 306
91 Macheyenga 186 Accawai 308
93 Nokaman 187 Macushi 310
94 Amahuaca 189 Panishana 313
Waiwai
Aparai
Ojana
Trio (Diati)
Oyaricoulet
Oyampi
Calibi
Emcrillon
Palikur
Uaça
Tupinamba
Amanayé
Capiecran
Yuruna
Chipaya
Mura
Parintintin
Cayabi
Apiaca
Nambicuara
Paressi-Kabisi
Chiquito
Guarayu
Siriono
Siberi
Pauserna
Tupari
Yabuti
Wayoro
Guaratägaja
Macurap
Moré
Amniapä
Itoreauhip
Caripuna
Chacobo
Yamiaca
Tacana
Chapacura
Mojo
Chimane
Mosetene
Yuracare
Camacan
Guaitaca
Puri
Coroado
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
65
5 Baessler-Archiv VIII
66
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: MAIS
I Terraba
Il Bribri
III Cabecar
IV Boruca
V Changuería
VI Guaymi
1 Cuna
2 San Blas Cuna
3 Centi
4 Uraba
5 Catio
6 Chocó
9 Amami
10 Pantagoro
11 Panche
14 Yupa
15 Arhuaco
16 Goajiro
17 Chaké
18 Motilón
19 Macoas
20 Calamari
22 Tama
23 Uncasia
25 Guayupé
26 Sae
27 Paez
28 Moguez
29 Achagua
30 Saliva
31 Piapoco
34 Churruyes
36 Puinave
48 Pioje
54 Zaparo
57 Roamaina
67 Cayapa
68 Colorado
69 Manta
71 Ssabela
72 Maina
73 Lamisto
74 Ssimacu
75 Yameo
76 Ikito
7í Aguano
79 Chebero
80 Chamicura
81 Chayahuita
82 Panobo
85 Campa
86 Chama
88 Kakatáibo
93 Nokaman
99 Cashinaua
100 Canamari
101 Canamari
102 Canamari
109 Ipurina
115 Cocaína
116 Peba
118 Coto
119 Yagua
120 Tucuna
121 Omagua
124 Caishanas
141 Papuri
143 Piaroa
144 Yaruro
146 Timóte
153 Cumanagoto
158 Warrau
161 Otomac
174 Wapishanas
179 Taulipáng
180 Camaracoto
188 Atoraí
194 Ojana
204 Tupinamba
252 Parintintin
253 Tupi-Cawahib
257 Apiaca
258 Nambicuara
259 Paressi-Kabisi
260 Chiquito
261 Guarayu
262 Siriono
263 Paunaca
265 Pauscrna
267 Tupari
268 Yabuti
269 Wayoro
270 Guaratágaja
271 Macurap
272 Moré
274 Amniapá
276 Huari
287 Tacana
288 Huanyam
289 Chapacura
291 Mojo
292 Batiré
293 Chimane
294 Mosetene
306 Camacan
310 Puri
313 Coreado
316 Caingang
318 Cayuás
320 Mbwihas
322 Cainguá
323 Apapocuva
324 Guaraní
325 Tereno
331 Ashluslay
332 Chorotl
340 Toba
341 Mataco
343 Samuko
345 Chañé
346 Chiriguano
347 Chulupi
359 Araukaner
360 Mapuche
369 Chorno
68
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: BATATEN
VIII Karaiben Westindiens 204 Tupinamba
31 Piapoco 268 Yabuti
115 Cocama 269 Wayoro
121 Omagua 270 Guaratägaja
141 Papuri 274 Amniapä
157 Insel-Karaiben 306 Camacan
158 Warrau 313 Coroado
179 Taulipáng 316 Jaingang
180 Camaracoto 324 Suarani
185 Locono 345 Chañé
199 Galibi 346 Chiriguano
Stammesverzeichnis zur Karte: ALGARROBA
318 Cayuás
324 Guarani
329 Chamacoco
330 Lengua
331 Ashluslay
332 Choroti
338 Kaiotogui
340 Toba
341 Mataco
346 Chiriguano
348 Vilela
349 Pilaga
350 Mocovi
351 Abiponer
357 Puelche
359 Araukaner
361 Pehuenche
363 Ranqueles
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
69
1000
□ o
70
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur
1 Cuna
2 San Blas Cuna
6 Choco
15 Arhuaco
22 Tama (Tunibo)
27 Paez
48 Piojé
52 Coreguaje
53 Tama (Tucano)
68 Colorado
78 Aguano
79 Chebero
Stammesverzeichnis
15 Arhuaco
42 Bora
120 Tucuna
125 Juri
199 Galibi
Karte: ZUCKERROHR
81 Chayahuita
86 Chaîna
93 Nokaman
114 Mayoruna
120 Tucuna
121 Omagua
184 Pomeroon
194 Oyana
199 Galibi
209 Capiecran
324 Guarani
354 Charrua
zur Karte: ANANAS
204 Tupinamba
258 Nambicuara
259 Paressi-Kabisi
291 Mo jo
324 Guarani
7 2 Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: BANANEN
2 San Blas Cuna 121 Omagua
22 Tama 125 Juri
23 Uncasia 158 Warrau
34 Churruyes 179 Taulipáng
59 Canelos 204 Tupinamba
66 Yumbos 267 Tupari
68 Colorado 268 Yabuti
77 Quito 282 Yamiaca
115 Cocama 287 Tacana
119 Yagua 293 Chimane
120 Tucuna 294 Mosetene
Stammesverzeichnis zur Karte: HONIG
158 Warrau 317 Schokléng
262 Siriono 319 Guayaki
276 Huari 320 Mbwihas
281 Atsahuaca 322 Cainguá
298 Neoze 325 Tereno
299 Qurungu’á 326 Caduveo
303 Tapuya 340 Toba
304 Fulnio 341 Mataco
312 Guayana 346 Chiriguano
313 Coroado 351 Abiponer
314 Bugre 354 Charrúa
315 Aweikoma
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band Vili
73
74
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: PASTENHERSTELLUNG
aus M a n i o k aus M a is
30 Saliva 152 Tumuza I Terraba
54 Zaparo 153 Cumanagoto II Bribri
59 Canelos 155 Pariagoto III Cabecar
61 Achual 179 Taulipáng IV Boruca
60 J ivaro 187 Macushi V Changuena
63 Aguaruna 194 Oyana 16 Goajiro
66 Yumbos 199 Galibi 17 Chaké
77 Quito 201 Palikur 18 Motilón
128 Cana 258 Nambicuara 19 Macoas
1 50 Palenque 291 Mojo
151 Core
Stammes Verzeichnis zur Karte: SCHIMMELBROTE AUS MANIOK
32 Guahibo
66 Yumbos
77 Quito
120 Tucuna
157 Insel-Karaiben
165 Mayongong
166 Yecuana
167 Guiñan
178 Arécuna
179 Taulipáng
180 Camaracoto
187 Macushi
199 Galibi
76
Hartmann, Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas
Stammesverzeichnis zur Karte: TRINKVERBOTE DER FRAUEN
17 Chaké 331 Ashluslay
29 Achagua 332 Choroti
30 Saliva 337 Payagua
259 Paressi-Kabisi 338 Kaiotogui
313 Coroado 340 Toba
317 Schokléng 341 Mataco
318 Cayuás 351 Abiponer
329 Chamacoco 354 Charrúa
330 Lehgua
Stammesverzeichnis zur Karte: ERBRECHEN
64 Canaris
120 Tucuna
143 Piaroa
150 Palenque
151 Core
152 Tumuza
153 Cumanagoto
154 Chaima
155 Pariagoto
187 Macushi
194 Oyana
200 Emerillon
259 Paressi-Kabisi
267 Tupari
279 Chacobo
303 Tapuya
313 Coroado
317 Schokléng
327 Mb aya
iooo
Ч
78 Bücherbesprechungen
Uhle, Max: Wesen und Ordnung der altperuanischen Kulturen. Colloquium Verlag.
Berlin 1959. 131 S.
Es handelt sich um eine Abhandlung des Altmeisters peruanischer Archäologie
aus dem Jahre 1918. Das Manuskript stammt aus dem in der Ibero-Amcrikanischen
Bibliothek zu Berlin-Lankwitz befindlichen Nachlaß Max Uhles, und seine Heraus-
gabe ist das Verdienst Gerdt Kutschers und des Direktors der Bibliothek Hans-
Joachim Bock. Der Druck wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemein-
schaft.
Kutscher weist in seinem Vorwort darauf hin, daß das handschriftliche Original
keinen eigentlichen Titel besitzt. Das Begriffspaar „Wesen und Ordnung“ stammt
aus der Einleitung des Autors selbst (S. 11) und wurde vom Herausgeber für die
Drucklegung gewählt.
Uhles Gesamtwerk ist in vielen kleineren, z. T. schwer zugänglichen Aufsätzen
In Zeitschriften verschiedener Länder verstreut. Nur einmal, auf dem 26. Internatio-
nalen Amerikanischen-Kongreß im Jahre 1935 hat er versucht, die Summe der Re-
sultate seiner archäologischen Pionierarbeit in einer Veröffentlichung zusammenzu-
fassen. Diese krankt aber an Unklarheiten, die wohl Uhles damals schon hohem
Alter zuzuschreiben sind. Es existiert also nur ein einziges Manuskript, das die
Grundlagen von Uhles Lebenswerk umfaßt, nämlich das vorliegende. Allein wissen-
schaftsgeschichtlich ist die Veröffentlichung dieser Synthese von hohem Wert; denn
kein Amerikanist kann an Uhles grundlegender Pionierarbeit Vorbeigehen.
Sicher ist cs richtig, daß sich das Material der Andenarchäologie in den letzten
Jahren und Jahrzehnten erheblich erweitert hat und daß viele Theorien Uhles des-
halb der Korrektur bedürfen. In Hauptpunkten aber hat er Recht behalten, und eine
Unmenge von Einzelthesen sind bis heute vertretbar. Uhles Deutungen so wich-
tiger archäologischer Denkmäler wie der Raimondi-Stele aus Chavin und dis
Sonnentorfrieses kann von keinem Spezialisten übersehen werden. Seine später oft
bekämpfte Hypothese einer Verbindung alter mittelamerikanischer mit ältesten
andinen Kulturen nimmt heutzutage dank erweiterter Feldforschung immer greif-
barere Gestalt an, wenn auch nicht im Detail in der von Uhle postulierten Weise.
Mit der Veröffentlichung der vorliegenden frühen Synthese-Arbeit aus dem Nach-
laß des großen Forschers wird sein Verdienst um die peruanische Archäologie in das
rechte Licht gerückt. H. D. Disselhoff
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
79
EINE WENIG BEKANNTE FISCHFANGMETHODE
IN SÜDOST-BOLIVIEN
HEINZ WALTER, Berlin
Im Jahre 1958 hatte der Verfasser Gelegenheit, in der Nähe von Mizque
(Dept. Cochabamba) eine Fischfalle zu beobachten, die für diesen Teil Boli-
viens bisher nicht nachgewiesen wurde.
Abb. 1. Das V-förmige Wehr
80 Walter, Eine wenig bekannte Fischfangmethode in Südost-Bolivien
Der Rio Mizque führt in der Trockenzeit nur wenig Wasser. Wenige
Kilometer unterhalb der Ortschaft Mizque wird er durch eine Geröllbank in
zwei Rinnsale geteilt.
Durch zwei V-förmige Wehre aus Geröllsteinen hatte man diese beiden
Rinnsale vollständig abgesperrt, und zwar so, daß die Öffnungen der Wehre
flußaufwärts zeigen. Dort, wo sich die beiden Mauern eines jeden Wehres
treffen, hatte man einen mäßig hohen, kastenartigen Aufbau — ebenfalls aus
Steinen — errichtet, in dem ein einfacher rechteckiger Rost aus Schilfrohr an-
gebracht ist. Die flußaufwärts zeigende Schmalseite dieses Rostes wird durch
einen großen Stein unter Wasser gehalten; die andere Seite ruht etwas erhöht
auf einem quer über den Kasten gelegten Knüppel (siehe Abb. 1 bis 3).
Die Arbeitsweise dieser Falle ist ohne weiteres klar: Durch das Wehr und
besonders den am Einlaß zum Kasten liegenden Stein wird das Wasser etwas
gestaut, ergießt sich durch den Rost und läuft dann zwischen den Steinen ab.
Flußabwärts wandernde Fische bleiben auf dem Rost liegen. Die Wände
des Steinkastens hindern sie am Herausschnellen. —
Über die Erbauer der Wehre konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.
Es kommen aber nur Bewohner der Ortschaft Mizque in Frage, die sich aus
Quechua sprechenden Indianern und Mischlingen zusammensetzen.
Diese Art von Fischfallen soll im Südosten von Bolivien recht verbreitet
sein. Der Quechua-Name für die Falle ist „chapapa“; die spanischsprechende
Bevölkerung bezeichnet sie einfach als „palizadas“1.
J. Wilbert (1955: 302) bezeichnet diese Fischfalle treffend als Fangrost.
Er weist ihn für die Caingang (a.a.O.: 47), die Mosetene und Chimane
(a.a.O.: 99) nach. Diese drei Stämme verwenden das V-förmige Wehr kom-
biniert mit dem Fangrost.
Das Hauptverbreitungsgebiet dieser Fischfalle sieht er jedoch im nörd-
lichen Amazonas-Becken, wo er es bei den Jívaro, Machiguenga, Tucano und
Stämmen des mittleren Baiary nachweist.
Keiner dieser Stämme verwendet jedoch das Wehr; der Fangrost wird
hier häufig über Stromschnellen angebracht.
Wilbert schreibt (a.a.O.: 303); „Vorwiegend kommt das Fangrost unter
Ausnützung von Stromschnellen zur Verwendung, und es scheint damit de-
finitiv ein Fossil der Gebirgsflüsse zu sein.“
1 Für diese Auskunft danke ich Herrn Konsul A. Hauschild und Herrn Weiß,
Cochabamba, herzlich.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
81
Abb. 2. Das untere Ende des V-förmigen Wehrs mit dem Fangrost
Abb. 3. Blick flußaufwärts
6 Baessler-Archiv VIII
82
Walter, Eine wenig bekannte Fischfangmethode in Südost-Bolivien
Meines Erachtens sollte man jedoch eine Unterscheidung zwischen den
beiden Fangmethoden (V-förmiges Wehr + Rost — Rost allein) machen. Sie
stellen eine Anpassung an die Gegebenheiten des Habitats dar.
Die Zuflüsse zum nördlichen Amazonasbecken verbieten wegen ihrer
Wassermenge und Tiefe die Anlage von Wehren. Die Flüsse dagegen, die sich
aus dem südöstlichen Andengebiet in das nördliche und östliche Tiefland er-
gießen, führen während der Trockenzeit nur wenig Wasser. Ihr meist relativ
schmales Flußbett läßt sich durch ein oder mehrere Wehre leicht vollkommen
absperren, so daß praktisch jeder Fisch weggefangen werden kann.
Das Fischen mit Wehr und Fangrost scheint zumindest in Südost-Bolivien
heute von der Quechua-Bevölkerung ausgeübt zu werden. Nach H. Tschopik
(1946: 522) kennen die Aymara weder Fallen noch Wehre.
Wilbert (a.a.O.: 303) ist der Ansicht, daß diese Fischereimethode in Süd-
amerika autochthon ist. Im Gegensatz zu seiner Meinung kommt sie aber
auch bei den nordamerikanischen Sanpoil und Nespelem am Columbia River
(Ray, 1932: 644) und bei den Alsea Californiens (Drucker, 1939: 82) vor.
LITERATUR
Drucker, Philip, 1939, Contributions to Alsea Ethnography. University of California
Publications in American Archaeology and Ethnology, vol. 35, No. 7 : 81—102.
Berkeley.
Ray, Verne F., 1932, The Sanpoil and Nespelem. Salishan peoples of Northeastern
Washington. University of Washington Publications in Anthropology, vol. 5,
Dec. 1932. Seattle, Washington.
Tschopik, Harry, 1946, The Aymara. In: Steward (editor), 1946 : 501 ff.
Steward, Julian H. (Editor), 1946, Handbook of South American Indians. Bulletin
143, Bureau of American Ethnology, Smithonian Institution, vol. 2, The Andean
Civilisations. Washington D. C.
Wilbert, Johannes, 1955, Die Fischerei der Indianer im tropischen Urwald von Süd-
amerika. Inaugural-Dissertation (masch.-geschrieben). Köln.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
83
BEMERKUNGEN ZU EINEM R E C U A Y - G E F Ä S S
AUS DER SAMMLUNG DES BERLINER
VÖLKERKUNDE-MUSEUMS
DIETER EISLEB, Berlin
Das hier zu behandelnde Gefäß (Abb. 1) trägt die Katalognummer
V A 18 605, Slg. Baessler, und stammt nach den Katalogangaben aus Recuay.
Abb. 1. VA 18605, Slg. Baessler, Recuay, 18,5 cm hoch
6*
84
Eisleb, Bemerkungen zu einem Recuay-Gefäß
Der äußeren Form nach entspricht es auch im wesentlichen einem aus
Recuay stammenden bekannten Gefäßtyp. Auf einem kugeligen, unten ab-
geflachten Gefäßkörper sitzt auf einem kurzen Hals ein breitausladender
Rand. An der Vorderseite des Gefäßes ist ein menschlicher Kopf plastisch
ausgearbeitet. Der dazugehörige Körper ist nur im unteren Teil mit Beinen
und Füßen leicht reliefartig hervorgehoben. Die Kleidung des Oberkörpers
und ein Halskragen oder Halsschmuck sind mit einfachen Finien aufgemalt.
Bei den beiden Jaguaren zu beiden Seiten des Gefäßes sind ebenfalls nur
die Körper reliefartig, die Köpfe aber vollplastisch gearbeitet. An der Rück-
seite des Gefäßes befindet sich ein breiter aber dünner Henkel, der die Mitte
des Randes mit dem Gefäßkörper verbindet. Auf der Stirn des Menschen-
kopfes entspringt aus der Kopfbedeckung heraus ein kurzer röhrenförmiger
Ausguß.
Diesem Gefäß sei ein anderes der Berliner Sammlung zum Vergleich
gegenübergestellt (Abb. 2). Es handelt sich um Katalognummer V A 4776,
Slg. Macedo, ebenfals aus Recuay stammend.
Abb. 2. V A 4776, Slg. Macedo, Recuay, 20,5 cm hoch
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
85
Bei der Gegenüberstellung finden sich hier fast alle Details wieder, die
oben am Gefäß V A 18 605 beschrieben wurden. Die Form des Gefäßkörpers,
des Halses, Randes und Henkels ist die gleiche. Auch hier ist an der Vorder-
seite ein Menschenkopf plastisch aufgesetzt mit einem aus dem Kopfschmuck
entspringenden Ausguß. Die zwei Jaguare zu beiden Seiten sind nur in den
Köpfen plastisch ausgearbeitet, während ihre Körper aufgemalt sind.
Soweit in großen Zügen die Gemeinsamkeit beider Gefäße, die der Form
nach unschwer dem Recuay-Stil zuzuordnen sind. Im Folgenden sollen nun
die Unterschiede zwischen beiden aufgezeigt werden sowie die Vermutungen,
die sich daran knüpfen1.
Bei dem Gefäß Abb. 2 ist die Bemalung in der für Recuay typischen
Negativtechnik ausgeführt und weist auch in der Ausarbeitung und den
Farben, schwarz-rot auf weiß, eindeutig dorthin. Bei dem Gefäß Abb. 1
dagegen ist die sehr spärliche Bemalung auf hellbeigem Grunde mit einem
Pinsel in einfachen braunen Linien aufgetragen. Diese Art erinnert an die
Bemalung von Moche-Gefäßen, besonders was die Farbzusammenstellung von
Braun auf Hellbeige betrifft.
Betrachtet man die plastischen Menschen- und Tierköpfe, so treten auch
hier bei gleicher thematischer Behandlung stilistische Unterschiede hervor.
Den Menschenkopf auf Abb. 2 möchte ich als für Recuay typisch an-
sprechen und als charakteristisch dafür den im allgemeinen starren Ausdruck
des Gesichtes, die vorspringende spitze Nase, die Augen mit großen auf-
gemalten Pupillen, den schmalen, nicht hervortretenden Mund anführen. Sind
auch alle Merkmale eines menschlichen Gesichtes vorhanden, so ist die Aus-
arbeitung doch sehr schematisch, stark stilisiert. Das Gleiche kann über die
beiden Jaguarköpfe ausgesagt werden. Ganz anders die Köpfe am Gefäß
Abb. 1. Der Menschenkopf ist hier viel natürlicher, lebensnäher, porträtartig
im Ausdruck gehalten. Besonders beachte man die Augen, die Nase, den gut
ausgearbeiteten Mund und die Kinnpartie. Diese Art der Darstellung erinnert
ebenfalls stark an Kopfdarstellungen auf Gefäßen der Moche-Kultur. Das
Gleiche gilt für die Jaguarköpfe, die in Darstellung und Ausdruck von denen
auf Abb. 2 grundverschieden sind, aber auf Tierdarstellungen im Mochestil
hinweisen. Auch ihre Körper sind hier viel naturalistischer und im Halbrelief
gehalten, während sie auf Abb. 2 nur schematisch aufgemalt sind.
Weiterhin ist am Gefäß Abb. 1 zu bemerken, daß hier versucht wurde,
den ganzen menschlichen Körper darzustellen — teils durch Aufmalen des
Gewandes, teils durch flachreliefartiges Ausarbeiten der unteren Körperpartie,
der Beine und Füße. Auf Abb. 2 dagegen sind nur die Beine durch einfache
1 Zum Material beider Gefäße sei binzugefügt, daß V A 18 605 aus einem festen
ziegelfarbigen Ton, V A 4776 aus einem weißen, leicht zu zerbrechenden Ton
besteht.
86
Eisleb, Bemerkungen zu einem Recuay-Gefäß
Linien angedeutet und die Füße treten nur in Gestalt kleiner plastischer
Spitzen hervor. Anstelle des Körpers sind drei breite schwarz-weiße Friese
aufgemalt, die mit dem Kopf und den aufgemalten Beinen in keinerlei Be-
ziehung zu setzen sind.
Auch bei diesem Vergleichsmoment drängt sich eine Ähnlichkeit der Dar-
stellung des Menschenkörpers von Abb. 1 mit solchen des Moche-Stils auf.
Zwei Punkte möchte ich aber besonders hervorheben. Erstens verlaufen
an dem Menschenkopf auf Abb. 1 zwei braune Streifen von der Stirn, die
Augen halb umschließend, über die Wangen bis zum Unterkiefer herab.
Diese gleiche Gesichtsbemalung findet sich bei den bekannten Porträtkopf-
gefäßen und anderen Gesichtsdarstellungen des Moche-Stiles wieder2. Kutscher3
schreibt dazu: „Bei der Gesichtsbemalung war eine senkrechte Aufteilung in
drei annähernd gleich breite Streifen besonders beliebt.“ Hier läuft noch zu-
sätzlich ein Streifen von der Oberlippe zum Kinn herab. Zweitens möchte
ich bei Abb. 1 auf die beiden Punkte hinweisen, die auf den Knien der
menschlichen Figur aufgemalt sind, sowie auf die aufgemalten „Strümpfe“.
Beides möchte ich nach Kutscher4 als „Knieschutzscheiben“ und „Strümpfe“
deuten, die keine Trachtstücke, sondern eine charakteristische Bemalung der
frühen Chimu sein sollen.
Es sind nun eine Reihe Charakteristika am Gefäß Abb. 1 aufgezeigt wor-
den, die im Stil und in der Ausarbeitung eindeutig auf den Moche-Stil
weisen. Das heißt, der Verfertiger dieses Gefäßes ist vom Moche-Stil zu-
mindest stark beeinflußt worden. Ich bin sogar der Ansicht, daß ein Moche-
Töpfer selbst das Gefäß hergestellt hat und nicht ein Mann aus Recuay. Er
hat dem Gefäß zwar die für Recuay typische Form gegeben, die Einzelheiten
aber in seinem ihm geläufigen Moche-Stil ausgearbeitet. Es kann für einen
Angehörigen eines in der Töpferkunst so erfahrenen Volkes, wie es die
Moche-Leute waren, keine große Schwierigkeit gewesen sein, eine ihm fremde
Gefäßform nachzuarbeiten. Schwieriger scheint mir ein Nacharbeiten der
stilistischen Feinheiten zu sein, z. B. der Negativmalerei von Recuay. Was
die plastische Ausarbeitung der aufgesetzten Menschen- und Tierköpfe be-
trifft, so scheint sich wohl sein ästhetisches Gefühl gesträubt zu haben, die
starren und stilisierten Formen wie auf Abb. 2 nachzubilden. Daß der Moche-
Töpfer dieses Gefäß in Recuay hergestellt hat, was der Katalog auch als
Fundort angibt, scheint mir wahrscheinlich zu sein, denn meines Wissens ist
auf dem Siedlungsgebiet der frühen Chimu zumindest während ihrer Sied-
lungsperiode noch keine derartige Gefäßform gefunden worden.
2 G. Kutscher: „Chimu, eine altindianische Hochkultur“, Berlin 1950; ver-
gleiche Tafeln 1, 2, 3, 7, 13, 19, 20 rechts.
3 Kutscher: Ebenda, Seite 69.
4 Kutscher: Ebenda, Seite 68.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
87
Die Frage ist nun — wie ist der Künstler in das ihm fremde Gebiet von
Recuay gekommen? Kutscher5 schreibt, daß die Chimu des Tales von Moche
zu einem bestimmten Zeitpunkt in erbitterte Kämpfe mit einem fremden
Volke verwickelt gewesen sein müssen. Er schließt das unter anderem aus
den Bilderfriesen auf dem Mochegefäß V A 666 der Berliner Sammlung6.
Dasselbe Gefäß hat Disselhoff7 näher untersucht und eingehende Vergleiche
der Bemalung mit Darstellungen der Recuay-Keramik angestellt. Daraus
folgernd nimmt er eine Gleichzeitigkeit „wenigstens einer Periode von Moche-
mit einer Phase der Recuay-Kultur an“. Das heißt, Moche- und Recuay-
Leute haben zu einem Zeitpunkt Berührung miteinander gehabt, die nach
dem jetzigen Stande der Untersuchungen wohl meist kriegerischer Natur war.
Bei den von beiden Autoren geschilderten Kämpfen könnte der Hersteller
des Gefäßes Abb. 1 als Kriegsgefangener nach Recuay verschlagen worden
sein, was aber nur eine von vielen Möglichkeiten bedeutet. Vielleicht lassen
sich durch weitere Untersuchungen auf diesem Gebiete später einmal auch
friedliche Phasen bei der Berührung beider Kulturen feststellen.
Ich glaube nun durch diese kurze Untersuchung deutlich gemacht zu
haben, daß das Gefäß V A 18 605 ein Glied in der Beweiskette darstellt,
die uns die oben erwähnte zeitweilige Gleichzeitigkeit der Moche- und
Recuay-Kultur als sicher annehmen läßt8.
5 Kutscher: Ebenda, Seite 52.
6 Kutscher: Ebenda, Tafel 73 und Abb. 24.
7 H. D. Disselhoff: „Hand- und Kopftrophäen in plastischen Darstellungen
der Recuay-Keramik.“ Baessler-Archiv, Neue Folge Band IV, Heft 1. Berlin 1956.
8 Bei Donald Collier “Cultural chronology and change as reflectad in the
ceramics of the Viru valey, Peru.“ F i e 1 d i a n a : Anthropology, Vol. 43, Chicago
Natural History Museum, 1955, ist auf Abb. 31 E ein Gefäß abgebildet, das der
äußeren Form nach auf Recuay weist. Bis auf die zwei Jaguare, welche fehlen,
ähnelt es sehr den beiden oben abgebildeten Gefäßen. Es ist negativ im Carmelo-
stil bemalt. Collier weist es der Periode Gallinazo III des Virutales zu. Diese
Periode war nach W. C. Bennett (“The Gallinazo group Viru Valley, Peru“
Yale University publications in Anthropology, Nr. 43, 1950) starken Moche- und
Recuay-Einflüssen unterworfen. Das heißt, für das Virutal sind Recuay-Einflüsse
zeitlich vor dem endgültigen Eindringen des Mochestils nachgewiesen, was aber
andererseits eine Gleichzeitigkeit mit der Moche-Periode vom Chicamatal bedeutet.
88
Bücherbesprechungen
Thompson, Raymond H.: Modern Yucatecan Maya pottery making. American
Antiquity, Yol. XXIII, No. 4, Part 2 (Memoirs of the Society for American
Archaeology, No. 15). Sa.lt Lake City, Utah, 1958. 157 Seiten, 48 Abb., 2,50 |.
In seiner Interessanten Arbeit geht der Autor auf Möglichkeiten und Notwendig-
keit von Schlüssen zur Erhellung archäologischer Fakten ein. Ältere Sammlungen
keramischer Erzeugnisse aus Campeche und Yucatan werden auf angewandte Tech-
niken und ihren Verwendungszweck hin untersucht. Die Ergebnisse dieser Unter-
suchungen werden gestützt durch ethnographische Beobachtungen, die R. H. Thomp-
son in den Orten Lerma, Campeche, Tepacán, Becal (Campeche) und Maxcanú,
Ticul, Mama, Mérida, Izamal, Uayma und Valladolid (Yucatán) im Jahre 1951
machen konnte. In diesen Ortschaften wird heute noch getöpfert, so daß der Autor,
soweit möglich, den ganzen Komplex der Fertigung (eingeschlossen Arbeitsteilung,
Ausbildung des Nachwuchses, Beschaffung des Rohmaterials, Mischung und Vorberei-
tung von Ton, technische Vorgänge, Arbeitsgeräte, Verzierung und Handel) aufneh-
men konnte. Besonders interessant ist die Diskussion des „kabal“, des zylindrischen
Holzsockels, der ohne Verzapfung auf einem Brett liegt und vom Töpfer mit den
Füßen gedreht wird. Verschiedene Autoren hielten den „kabal“ für eine primitive
Töpferscheibe, Thompson weist jedoch nach, daß die Gefäße nicht mit Hilfe der
Zentrifugalkraft geformt, sondern aufgebaut werden. Der „kabal“ dient also nur als
Arbeitshilfe, vor allem während des Nacharbeitens. Ergänzt wird die Arbeit durch
reiches Bildmaterial, die kritische Besprechung von Sammlungen und Literatur, einen
Katalog von Fachausdrücken mit genauer Definition und linguistische Vergleiche
zwischen den heute üblichen Mayawörtern für keramische Techniken und Erzeugnisse
und den im Motul und Wiener Wörterbuch niedergelegten Formen, die durch ihre
weitgehende Übereinstimmung eine ungestörte Tradition dokumentieren.
Die Arbeit von R. H. Thompson ist für Ethnologen und Archäologen wichtig und
wertvoll. B, Menzel
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
89
DIE BARBARA
SIGRID WESTPHAL-HELLBUSCH, Berlin
1955/56 konnten mein Mann und ich mit Unterstützung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft eine ethnologische Untersuchung im Marschengebiet
des Südiraq durchführen. Unser Hauptaugenmerk war damals auf die Ma‘dän
gerichtet, die Sumpfbewohner im engeren Sinne. Ihre Aufgliederung in
Stämme, ihre Lebensgewohnheiten und die Geschichte ihrer Kultur waren
so gut wie unbekannt, was darum merkwürdig ist, weil der Iraq relativ nahe
bei Europa liegt. Aber es ist bekannt, daß die unsicheren politischen Verhält-
nisse im Nahen Orient, vor allem in den arabisch-islamischen Ländern ethno-
logischen Untersuchungen besondere Hindernisse boten, so daß noch heute
dort beinahe alles zu tun ist. Für unser Hauptuntersuchungsobjekt, also die
Ma'dän, konnten wir zufriedenstellende Ergebnisse nach Hause bringen. Da-
für haben sich neue Probleme ergeben, die auf Lösung warten. Neben und
zwischen den Ma‘dän leben noch völlig ununtersuchte Menschengruppen, die
man vorläufig am besten als Berufskasten bezeichnet.
Eine dieser Berufskasten bilden die Silber- und Eisenschmiede, die sog.
Subba, über die Lady Drower1 einige bemerkenswerte Bücher veröffentlichte;
weitere Gruppen bilden die Weber, meist kurdischer Herkunft; die Gemüse-
bauern (Hassäwi), z. T. vermutlich südarabischer Herkunft, und die berufs-
mäßigen Fischer, die sog. Barbara. Über deren ethnische Herkunft läßt sich
bisher überhaupt nichts sagen, obwohl hier ein interessantes Problem vorliegt,
da sie wie alle eben genannten Berufskasten, an — in der Theorie aus-
schließlich — endogame Eheschließungen gebunden sind. Was wir über diese
sehr interessante Fischergruppe in Erfahrung bringen konnten, soll im fol-
genden zusammengestellt werden.
Die Umwelt der Barbara fällt weitgehend mit der der Ma‘dän zusammen;
sie sind für ihren Lebenserwerb an das Vorkommen von Fischen gebunden
und diese kann man zu allen Jahreszeiten zuverlässig im Hör — wie die
Einheimischen die schilfbewachsenen oder offenen Wasserflächen des Delta-
gebietes nennen — finden. Die Lokalkenntnis der Barbara ermöglicht es ihnen,
die jeweils günstigsten Fischereigründe aufzusuchen. Während sich aber die
Ma'dän in ihrer Lebensweise ganz auf die Hör-Umwelt spezialisiert haben
— d. h. Häuser und künstliche Inseln aus Schilf errichten, auch Schilfmatten
zum Verkauf herstellen, und im übrigen halb- oder ganz nomadisch als
Wasserbüffelhirten leben — ist es den Barbara möglich, auch entlang der
-1 E. S. D r o w e r (E. S. Stevens), The Mandaeans of Iraq and Iran, Oxford 1937.
90
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
großen Flüsse und Kanäle außerhalb der Marschen ihrem Beruf nachzugehen.
Über diese Gruppen wissen wir wenig, auch wenig über ihre geographische
Verbreitung. Wir wurden das erste Mal in Nasriye auf diese Berufskaste
aufmerksam und haben sie von da ab am Euphrat, am Tigris, an deren
Nebenflüssen und in sehr vielen Siedlungen im Fiör selbst beobachten können.
Wo immer sie ihrem Beruf nachgehen, erkennt man sie schon von weitem als
Barbara, da sie allein mit Langnetzen fischen.
Die Unterläufe der beiden großen Ströme Euphrat und Tigris, sowie das
System ihrer Nebenflüsse, wie auch das Hör zwischen Euphrat und Tigris,
östlich des Tigris und südlich des Euphrat, sind fischreich. Die dort ansässigen
arabischen Stämme, aber auch die Ma‘dän, kennen alle die Fischerei als einen
oft nicht unbedeutenden Zweig des Nahrungserwerbes. Aber jede dieser
Gruppen besitzt jeweils besondere Geräte und Methoden des Fischfanges und
hat auch ungebrochen die Einstellung, daß ihre Art des Fischens „besser“
sei, als die der anderen. Da nun ohne Zweifel die Barbara mit ihren
Geräten und Methoden den größten Erfolg vorweisen können, darf man
dieses „besser“ nicht so verstehen, als ob mit dem Maßstab der Zweckmäßig-
keit gemessen würde; hier äußern sich ethnisch-historisch-kulturell bedingte
V orurteile.
Die Geräte und die Methoden des Fischfangs lassen sich für die ein-
zelnen Gruppen kurz gegeneinander absetzen. Die halb- oder dauerseßhaften
arabisch sprechenden Stämme — deren ethnische Herkunft in diesem Zu-
sammenhang dahingestellt bleibe — benutzen zum Fischfang das Rundnetz,
außerdem Fischfallen verschiedener Form. Das Rundnetz haben wir von
Baghdad bis Basra in Benutzung gesehen. Meist war es ein einzelner Mann,
der versuchte, damit eine Mahlzeit für seine Familie zu erbeuten. Das Rund-
netz ist ein Wurfnetz, das zunächst schlauchförmig in der Hand des Fischers
hängt, sich beim Schleudern durch die Luft kreisförmig ausbreitet und durch
Senker tief ins Wasser gezogen wird. Innerhalb des Hors haben wir dieses
runde Wurfnetz nie beobachten können. Auf die einzelnen Formen der Fisch-
fallen wollen wir hier nicht näher eingehen, nur auf das Prinzip, das sie von
den Fallen der Barbara unterscheidet. Die Fischfallen der Seßhaften sind
Dauerfallen. Ob nun an einem Schilfzaun entlang die Fische in eine Netz-
falle gelockt oder getrieben werden, ob man tote Fluß- oder Kanalarme durch
Zaunabsperrungen in eine Fischfalle verwandelt, stets soll die gleiche Falle
längere Zeit hindurch Dienste leisten. Man rechnet mit einem bescheidenen
aber stetigen Ertrag, der einkommt, während der Mensch anderen Tätigkeiten
nachgeht.
Auch die Ma‘dän kennen Fischfallen, die sie aber nur dort errichten, wo
sie für einige Zeit seßhaft zu sein gedenken. Diese können dann im Prinzip
und Form den Fischfallen der Seßhaften gleichen — doch läßt sich oft ein
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
91
Abb. 1. Mann mit gesperrtem Fisch
wesentlicher Unterschied beim Einbringen der Fische beobachten. Während die
Seßhaften die Fallen sich selbst überlassen und sie nur von Zeit zu Zeit
inspizieren, betrachtet der Ma‘edi die Fallen meist als Hilfsmittel zur Unter-
stützung seiner üblichen Jagdmethode mit dem drei- oder fünfzinkigen Fisch-
speer, der sog. Fäle (Abb. 1). Die in einem Teil einer Lagune oder eines Fluß-
armes abgesperrten Fische, wie auch die durch ein Loch im Treibzaun hin-
durchschwimmenden Fische werden gespeert und oft errichten die Ma'dän
neben dem Durchgang der Fallen Sitze oder Standplätze, auf denen der Jäger
seiner Beute auflauern kann. Die verbreitetste Fischereimethode der Macdän
ist allerdings das Speeren der Fische von ihren Booten aus, den sog.
Meschhüfs. Es sind das flache Holzboote mit sehr geringem Lreibord, die auch
92
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
leichtem Wellengang schlecht standhalten, aber durch ihren hohen Schnabel
zum Durchdringen des Schilfdickichts geeignet sind. Gewöhnlich gehören
zum Fischspeeren zwei Männer, einer, der im Heck des Bootes steht oder
kniet und es bewegt und lenkt, und einer, der im Bug des Bootes steht und
mit der Fäle arbeitet. Nur nebenbei sei erwähnt, daß der Ertrag des Speerens
unsicher und meist bescheiden ist.
So wichtig die Nahrungsgewinnung aus dem Wasser für die Ma‘dän
jahreszeitlich oder lokal werden kann, sie kommen dabei, wie es ihrer ganzen
Lebensführung entspricht, über Einzelunternehmungen nicht hinaus. Man darf
sich da durch den Augenschein nicht täuschen lassen. Die Insassen von bis
zu 20 Meschhüfs können gemeinsam auf Fischfang gehen und mehrere Tage
anhaltende Expeditionen in die großen Binnenseen der zentralen Marschen
unternehmen. So trafen wir z. B. die Mannschaften einer Gruppe von
16 Meschhüfs in Gubür, die drei Tage zuvor aus dem am Ostrande der Mar-
schen liegenden Arde zum Fischfang aufgebrochen waren. Aber jede Boots-
mannschaft von je zwei Männern arbeitete nur für sich, bzw. wollte sie einen
kleinen Vorrat für die eigene Familie heimbringen. Grobes Salz diente zum
Konservieren des Fanges und Verkaufsabsichten wurden ausdrücklich ver-
neint. Die relative Größe der Gruppe erklärte sich nicht aus der Fischerei-
tätigkeit, sondern aus dem Schutzbedürfnis im fremden Stammesgebiet. Grö-
ßere Gruppen von Bootsmannschaften können sich auch zur Ausnutzung plötz-
lich auftauchender günstiger Fischereibedingungen zusammenfinden, aber stets
arbeitet jede zweiköpfige Bootsmannschaft für sich, in Konkurrenz zu den
anderen. Durch den persönlichen Bedarf bestimmte Einzelunternehmungen
bleiben das Hauptkennzeichen der Fischereitätigkeit bei den Ma'dün.
Die Barbara dagegen arbeiten stets in Gruppengemeinschaft, die durch-
schnittliche Größe einer solchen Arbeitsgruppe beträgt vier bis acht Mann.
Ihr Transport- und Arbeitsmittel ist das sog. Belem, ein großes, stabiles
Plankenboot, ohne Schnabel, mit erheblichem Freibord, das mit Staakstangen,
Paddel oder Segel zu bewegen ist und im Vergleich zu den leicht kenternden
Meschhüfs als seetüchtig bezeichnet werden muß. Auch beim Einholen eines
gewichtigen Fanges besteht kaum die Gefahr des Kenterns.
Ihre Fangmethoden seien kurz skizziert, da man die Barbara beim flüch-
tigen Durchreisen des Gebietes schon allein daran erkennen kann, wobei sie
übrigens nach demselben Prinzip entweder vom Ufer eines Wasserlaufes aus
oder inmitten einer großen Wasserfläche fischen. Das wichtigste Gerät ist das
Langnetz, seine Länge betrug nicht selten über 40 m, die Breite 1 m bis etwa
5 m. Das Netz ist am unteren Rande beschwert, wie uns gesagt wurde, mit
Blei, doch mag es sich manchmal auch um andere Metalle, und wie wir
gesehen zu haben glauben, um Stein oder gebrannte Lehmklumpen handeln.
Der obere Rand des Netzes wird durch Schwimmer aus Holz, behelfsmäßig
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
93
Abb. 2. An Schnüren gehaltenes Netz
Abb. 3. Hereinlassen des Netzes ins Wasser
94
Westphal-FFellbusch, Die Barbara
Abb. 4. Hereinholen des Netzes
auch aus Schilf, gehalten. An beiden Enden des Netzes ist eine lange, dicke
Schnur befestigt (Abb. 2). Fischt man vom Ufer aus mit nur einem Boot, so
bleibt einer der Gruppe am Ufer zurück und hält das eine Ende des Netzes
an der Schnur fest. Das Boot fährt auf den Fluß hinaus, bis die Schnur ab-
gelaufen ist, dann wird das Netz entsprechend der Fortbewegung des Bootes
ins Wasser gelassen (Abb. 3). Das Boot fährt in einem den Umständen ent-
sprechenden großen Bogen ans Ufer zurück, wobei die Schnur am anderen
Ende des Netzes benutzt wird, um den Bogen so groß wie möglich zu halten.
Ein zweites Gruppenmitglied betritt das Ufer und hält das Netz an der
Schnur, ebenso wie der am Ufer zurückgebliebene erste Mann. Je nach der
Länge des Netzes und der Größe der Arbeitsgruppe können auch mehr Männer
zum Fialten und Ziehen an den Schnüren eingesetzt werden. Die beiden
Parteien am Ufer schreiten nun aufeinander zu und ziehen dabei das Netz
langsam ein. Ins Wasser gewatete Männer helfen, indem sie direkt am Netz
ziehen, das durch ein Gruppenmitglied möglichst am Grunde gehalten wird
(Abb. 4). Ist das Ufer hoch, holt man das Netz bis ans Ufer heran und hilft
von dort aus, die gebildete Netztasche ins Boot zu heben, ist das Ufer flach,
watet man dem Boot nach Maßgabe der Umstände entgegen. Genau so ver-
fährt man inmitten der großen Wasserflächen, indem man ein zweites Boot
die Funktion des festen Ausgangspunktes am Ufer übernehmen läßt.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
95
Die Barbara kennen auch Gemeinschaftsarbeit mehrerer Arbeitsgruppen,
wenn große Mengen von Fischen auf einmal eingebracht werden sollen. Das
tritt ein, wenn sich einer der Fischaufkäufer aus Baghdad oder Basra angesagt
hat. In solchen Fällen werden alle vorhandenen Netze der Arbeitsgruppen
benutzt, um gemeinsam ein Fischwehr zu errichten. Die Netze werden in
diesem Falle mit ihren Enden an Schilf- oder Bambusstangen befestigt und
senkrecht ins Wasser gesteckt, eines am anderen, so daß man mit 10 Netzen
etwa 400 m Absperrlänge erreicht. Das größte von uns gesehene Fischwehr
dieser Art war in einer großen Überschwemmungslagune östlich des Haddäm-
sees errichtet und zählte etwa 15 Netze. Bei diesem Netzzaun bleiben tags-
über einige Männer zur Bewachung, öffnen auch im Bedarfsfälle — aller-
dings ungern — die Absperrung am Berührungspunkt zweier Flaltestangen,
um über den See fahrende Boote durchzulassen. Das Einholen der Netze kann
entweder am Tage oder nachts erfolgen. Auch die Ma‘dän ziehen gern nachts
zum Fischspeeren aus, da das dabei benutzte Fackellicht die Fische anlocken
und das Speeren der Tiere erleichtern soll. Die Barbara dagegen scheinen nach
den vorliegenden Beobachtungen und Berichten nachts auf die Hilfe von
Fackeln zu verzichten und arbeiten vorzugsweise mit akustischen Mitteln.
Männer und/oder Boote bilden eine Treiberkette und verursachen dann soviel
Lärm als möglich. Besonders beliebt sind Blechkanister als Trommelgeräte;
sie vor allem sollen bewirken, daß die Fische gewissermaßen betäubt stehen
bleiben und ins Netz geraten. Es wurde gesagt, daß die einzelnen Netze des
Netzzaunes wie üblich von jeder Arbeitsgruppe eingeholt würden, eigene
Beobachtungen haben wir leider nicht durchführen können.
Bisher wurden folgende, die Barbara kennzeichnende Kulturzüge ge-
nannt: 1. daß sie nur von ihnen benutzte Geräte und Methoden des
Fischfanges anwenden; 2. daß der Fischfang die Grundlage ihrer Existenz
ist; 3. daß sie einen diese Lebensweise kennzeichnenden Namen tragen, mit
dem sie sich auch selber bezeichnen. Über die sprachlichen und historischen
Wurzeln des Wortes Barbara war nichts in Erfahrung zu bringen — die Asso-
ziation zu dem Wort Barbaren liegt zwar sehr nahe, hängt aber vollkommen
in der Luft. Da direkte historische Nachrichten über die Barbara fehlen, soll
der Versuch gemacht werden, unsere sehr lückenhaften Beobachtungen über
die Barbara sowie die wenigen Nachrichten aus der Literatur und die allge-
mein bekannten historischen Ereignisse im Iraq in Bezug auf die Kultur der
Barbara auszudeuten. Vielleicht lassen sich dadurch Ansatzpunkte zur Beant-
wortung der Frage gewinnen, ob die Barbara der übrigen Bevölkerung kul-
turell und ethnisch einzuordnende Spezialisten sind, oder eine Berufskaste mit
eigenständigem kulturellem und historischem Hintergrund.
Als erstes muß betont werden, daß die Barbara wirtschaftlich ebensowenig
autark sind, wie die Ma'dän oder die seßhaften, halbnomadischen und noma-
96
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
dischen arabischen Stämme. Für beinahe alle handwerklichen Erzeugnisse
hängen sie von den Märkten der kleineren und größeren Städte am Rande
des Hörs ab, deren Existenzgrundlage wesentlich auf Warenproduktion und
Marktwesen beruht. Die Bedeutung der Städte als wirtschaftliche Zentren wird
dadurch erhöht, daß sie gleichzeitig Verwaltungszentren sind. Araber, Ma'dan
und Barbara sind in gleicher Weise auf die städtischen Märkte angewiesen,
um sich Textilien aller Art, Haushaltungsgegenstände — heute schon oft aus
importierten Industriewaren bestehend — Kleidung, Genußmittel, Metall-
waren u. a. m. einzuhandeln. Tatsächlich beherrschen die Barbara keine Hand-
fertigkeiten außer der Netzherstellung, auf die wir gleich noch einmal zu-
rückkommen müssen. Weder verstehen sie ihre Boote herzustellen, noch die
Messer, die sie zum Ausschlachten der Fische benutzen; sie sind — wie die
Ma‘dän — für den Erwerb dieser lebensnotwendigen Arbeitsmittel auf die
Subba angewiesen, die als Metallschmiede und Holzbearbeiter für die ganze
Bevölkerung des südlichen Iraq größte Bedeutung besitzen. Boote können sie
allerdings auch in Huwer kaufen, wo heute Bootsbauer arabischer Abstam-
mung leben2 3. Diese ungewöhnliche Spezialisierung einer arabischen Gruppe
scheint aber erst vor kurzem erfolgt zu sein und auf jeden Fall bleiben die
Barbara für ihre Metallwerkzeuge von den Subba abhängig.
Die Barbara sind unter den Marschenbewohnern diejenige Gruppe, die
heute noch mit einem Minimum an Kleidung auskommt; bei ihrer Fischerei-
tätigkeit entledigen sie sich verständlicherweise gern ihrer Kleidung und legen
sie nur aus Anstand an, wenn Fremde in der Nähe sind. Genußmittel sind
verhältnismäßig junge Fremderscheinungen auf dem südiraqischen Markt —
so erscheint es vorstellbar, daß die Barbara ihr Leben auch ohne den Besuch
der städtischen Märkte führen könnten, wenn ein Nahrungsaustausch mit den
anbautreibenden Stämmen ihre Existenzgrundlage verbreitern würde. Aller-
dings würde ein Abbruch der Beziehungen zu den Subba ihre Lebensweise
grundlegend in Frage stellen, so daß Kontakt zu Bootsbauern und Metall-
schmieden als Voraussetzung zu der von ihnen vollzogenen Spezialisierung
angenommen werden darf. Daß heute die Subba diese wesentliche Rolle
spielen, muß nicht heißen, daß ohne die Subba Barbara nicht denkbar
wären. Wir wissen bis heute nicht genau, woher die Subba gekommen und
wann sie zugewandert sind. Wir wissen aber, daß es schon im 2. Jahrtausend
v. Chr. im Süd-Iraq einen entwickelten Bootsbau gegeben haben muß, wie
ein kleines Bootsmodell aus Ur beweist-'.
Es wurde oben die den Barbara eigentümliche Handfertigkeit der Netz-
herstellung erwähnt; gewöhnlich gehört die Netzherstellung zum Tätigkeits-
2 S. Westphal-Hellbusch, Huwer, ein Dorf von Bootsbauern im südlichen
Iraq, in: Baessler Archiv, N. F., Bd. IV, Heft 2.
3 C. L. Woolley, Ur Excavation, Vol. II, Plate 169, Plate 20.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
97
Abb. 5. Vogelnetzfalle aus dem Randgebiet des Hors
bereich des Mannes, wie auch am Fischen nur Männer teilnehmen. Der Voll-
ständigkeit halber sei erwähnt, daß eine Frau uns gegenüber behauptete, Netze
herzustellen und statt ihres verstorbenen Mannes zu fischen. Dieser Sachver-
halt würde auf jeden Fall eine Ausnahme bedeuten, wir konnten ihn aller-
dings durch Augenschein nicht bestätigen. Aber Männer sahen wir sowohl
auf dem festen Lande, wie unterwegs im Boot des öfteren Netze herstellen.
Es handelt sich stets um die gleiche Filettechnik. Um ein im Durchmesser etwa
3 cm dickes Fiolz werden die Maschen geschlungen, mit Garnen, die man
heute auf dem städtischen Markt kauft. Welches Material dazu früher be-
nutzt wurde, war nicht mehr zu erfragen, daß aber in Mesopotamien schon
vor Jahrtausenden Fischnetze hergestellt wurden, läßt sich aus der archäolo-
gischen Literatur nachweisen4. Die Verwendung von Netzen ist auch den
arabischen Stämmen und den Ma‘dän bekannt, beide kennen eine Vogelfalle,
die aus einem durch Stückchen gespannten Netz besteht, das durch eine Zug-
schlinge geschlossen wird (Abb. 5). Die Netze der Vogelfallen sind in der-
selben Technik hergestellt wie die Fischnetze der Barbara, nur sind die
Maschen selbst und die Netze im ganzen kleiner. Wir können nicht mit ab-
soluter Gewißtheit sagen, daß solche Netze nicht von Frauen hergestellt wer-
den — nach unseren Beobachtungen wurden die Knüpfarbeiten stets durch
Männer ausgeführt, doch haben wir es leider versäumt, uns zu vergewissern,
4 J. Jordan, Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften,
Jhg. 1932, philosophisch-historische Klasse, Nr. 2. „Dritter vorläufiger Bericht
über die von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaften in Uruk unter-
nommenen Ausgrabungen.“ S. 30—31; Tafel 20 d.
7 Baessler-Archiv VIII
98
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
ob Frauen nur üblicherweise keine Netze herstellen, oder ob es ihnen unter-
sagt ist. Wie sich nach unserer Rückkehr bei der Bearbeitung des Materials
herausstellte, wäre diese Frage insofern von Bedeutung gewesen, als die
Frauen der Ma'dän eine ihnen eigene Methode des Fischfangs besitzen, zu
der ein kleines, etwa quadratisches Handnetz benutzt wird. Dieses Netz mißt
etwa 1 bis 2 m2, zwei gegenüberliegende Seiten sind auf entsprechend lange
Schilfstengel aufgezogen, die zum Festhalten und Betätigen des Netzes dienen.
Die Frauen breiten das Netz aus, fassen es an den beiden Schilfstengeln und
durchschaufeln damit das flache Wasser an den Ufern von Flüssen und La-
gunen. Ist ihnen der Zufall nicht günstig, so ist der Ertrag ihrer Tätigkeit
gering. Mit einem gewissen Affekt lehnten es die Männer ab, solche Netze
auch nur anzufassen und jeder Bursche, der mit der Fäle umgehen kann,
schließt sich dieser Haltung an. Aber Knaben bis zu etwa 10 Jahren haben
wir vergnügt mit dem Handnetz hantieren sehen, ob mit ernsthaften oder
spielerischen Absichten, war schwer zu entscheiden. Da solche Handnetze auch
nur selten vorkamen, kann man ihnen im Rahmen der gesamten Nahrungs-
gewinnung keine Bedeutung beimessen, aber kulturgeschichtlich geben sie ein
interessantes Problem auf.
Wir arbeiten in der Ethnologie mit der durch immer wiederholte Erfah-
rung gestützten Theorie, daß sich in den Händen von Frauen und Kindern
oft Kulturgüter halten, die in früheren Zeiten in der gleichen oder in einer
anderen Kultur keine Nebenrolle, sondern eine Hauptrolle spielten. Auch
wenn wir dabei den im einzelnen nicht zu rekonstruierenden Prozeß des
Funktionswandels in Rechnung setzen, gestattet diese Theorie folgende Über-
legung: Zwar lehnen die Männer der Ma‘dün und auch die arabischen Männer
das Benutzen von Netzen zum Fischfang ab, sofern es sich nicht um das runde
Wurfnetz handelt. Die Benutzung von Netzen zum Vogelfang aber ist im
ganzen Hörgebiet üblich, das Netz als solches ist also kein der Hörumwelt
fremdes Kulturgut; man darf also die Vermutung wagen, daß es in früheren
Zeiten auch beim Fischfang eine größere Rolle gespielt hat, wenn man die
Theorie des „Absinkens“ von Kulturgütern in die Flände von Frauen und
Kindern gelten läßt.
Nun unterscheiden sich die Barbara noch in einigen anderen Punkten von
den Ma‘dän und den arabischen Stämmen. Sprachlich und somatisch kann man
zwar keine dieser drei Gruppen von den anderen trennen, aber es gibt einige
Kulturzüge, die für die eine oder andere Gruppe typisch sind und nur bei
ihr Vorkommen. Es wurde vorher erwähnt, daß man die Barbara schon von
weitem an der Methode ihres Fischens erkennt, aber noch ein anderes weithin
sichtbares Zeichen weist eine Gruppe unfehlbar als Barbara aus. Es sind das
die weißen Tücher, die den Menschen als Sonnendach dienen (Abb. 6). Wo
die Barbara für längere Zeit im Hör seßhaft werden, errichten sie die gleichen
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
99
Abb. 6. Sonnendächer einer Gruppe von Barbara
Schilfhütten, wie die Macdän. Während diese aber auch jedes Sonnendach
und jede Behelfshütte aus Schilf herstellen, bevorzugen die Barbara Sonnen-
dächer aus Tuch. Man sieht diese oft neben den dauerhafteren Hütten aus
Schilf; meist sind es überdachte Gestelle zum Trocknen für die Netze, hat
man diese aus irgendeinem Grunde nicht errichtet, so fällt es nicht schwer,
einige Schilfstangen in die Erde zu rammen und darüber das Tuch zu
spannen. Lange Zeit waren wir der Meinung, daß die weißen Tücher die
Segel der Boote seien und es stimmt, daß die Segel Sonnendächer abgeben
können, aber das ist nicht die Regel, auch eigens für diesen Zweck gekaufte
weiße Tücher finden Verwendung. Heute sind die Sonnendächer aus weißem
Tuch den Barbara eigentümlich — soweit wir sie im Hör angetroffen haben.
Die Gruppe, die wir im Euphrat bei Nasriye trafen, lebte in importierten
Zelten, doch standen wir damals noch zu sehr am Anfang unserer Unter-
suchungen, um darin etwas Besonderes zu sehen. Zu dem Sonnendach aus
weißem Tuch läßt sich in der Kultur der Ma‘dän und der Araber keine
Parallele finden. Die Zelte der Araber aus schwarzem Ziegenhaar sind im
Material und in der Konstruktion völlig anders, und die Ma‘dan benutzen
niemals Stoff beim Hausbau. Dagegen kann man beobachten, daß die Fahr-
gäste der großen Beierns mit Segel, die vor allem Euphrat und Tigris be-
fahren, sich in den Schatten des Segels setzen, wenn die Sonne vom Himmel
brennt. Hier mag eine Beziehung zu den Sonnendächern der Barbara be-
stehen, doch läßt sich diese Vermutung nicht weiter erhärten.
Bei allen Gemeinschaftsunternehmungen der Ma‘dän konnten wir be-
obachten, daß man das gemeinsame Ziel nur durch Addition individueller
Leistungen zu erreichen suchte. Beim Fischfang wurde schon geschildert, wie
jede Bootsmannschaft neben der anderen für sich allein arbeitet. Ähnlich
verhalten sich die Ma'dän, wenn etwa ein Graben vom Hauptkanal zum
7*
100
Westplial-Hellbusch, Die Barbara
Dorf gestochen werden soll. Eine Gruppe von Männern verteilt sich entlang
des zukünftigen Grabens und jeder beginnt, wo es ihm gut dünkt, den Boden
mit dem Spaten auszuheben. Wenn die Energie überhaupt bis zum Erreichen
des Zieles durchhält, so ist das Endergebnis ein keineswegs gerade verlaufen-
der Graben, dessen einzelne Abschnitte sehr verschieden breit und tief sind.
Auch beim gemeinsamen Hausbau gibt es keine Leitung, Planung und Ar-
beitseinteilung, sondern jeder hilft nach bestem Wissen und eigenem Dafür-
halten. Im Unterschied dazu sind die Unternehmungen der Barbara gut vor-
ausgeplant und der Erfolg beruht auf einem arbeitsteiligen Hand-in-Hand-
Arbeiten aller Gruppenmitglieder. Wir selbst konnten nur kurzfristige Unter-
nehmungen beobachten, aber Dr. Shakir Mustafa Salim, ein iraqischer
Schüler von Daryll Forde, hat seine Doktorarbeit über die am SW-Rande
der zentralen Marschen liegende Siedlung Tschubaisch verfaßt, und schildert
darin die Vorbereitung eines mehrmonatigen Fischzuges. Ich danke ihm für
die liebenswürdige Erlaubnis, von seinem Material auch vor dessen Publi-
kation Gebrauch zu machen und stütze mich im folgenden auf seine Schil-
derung5.
In den Monaten Februar bis April werden dreimonatige Fischexpeditio-
nen im nördlich von Tschubaisch liegenden Hör el-Abid durchgeführt. Etwa
150 Männer nehmen daran teil, doch gliedern sie sich in Gruppen von je
IC bis 18 Mann, von denen jede für sich arbeitet. Jede Gruppe untersteht
einem Leiter. Diese Gruppen bilden sich einige Zeit, bevor man den Heimat-
ort verläßt, wobei die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe der Wahl
der Einzelnen überlassen bleibt. Der Kristallisationspunkt der sich bildenden
Gruppe ist der zukünftige Leiter, der aus Eigenem oder durch Kreditauf-
nahme das zur Vorbereitung der Expedition notwendige Geld stellen muß.
Etwa 1800 bis 2700 Mark sind zur Ausrüstung erforderlich. Es muß ein
Spezialnetz, etwa von den Ausmaßen 400 X 6 m gekauft werden, das
zwischen 400 bis 500 Mark kostet, außerdem müssen ein bis zwei Beierns
gemietet werden. Jedes Gruppenmitglied hat Anspruch auf den gleichen
Gewinnanteil, dabei werden allerdings Sonderleistungen in Anrechnung ge-
bracht. So braucht jede Gruppe zwei besonders kräftige und geschickte Leute
für das Auslegen und Einholen des Netzes und für diese Sonderdienste
werden ihnen nicht nur ein, sondern eineinhalb Anteile zugesprochen. Je
drei oder vier Mann tun sich vor dem Aufbruch der Gruppen zusammen, um
ihre Verpflegung zu organisieren, und bilden während der ganzen Zeit eine
Eßgemeinschaft. Die ganze Gruppe sorgt für genügend Schilf, um sich am
Bestimmungsort eine Hütte und darüber hinaus im Verein mit den anderen
5 S a lim, Shakir Mustafa, Economic and Political Organisation of Echbzych,
a Marsh Village Community in s. Iraq. Abstract of Thesis for Ph. D. Degree in
the faculty of Arts. University College, London 1954.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
101
Gruppen eine Plattform zum Trocknen und Flicken der Netze errichten zu
können. Die Gruppen arbeiten ohne Ruhetag während der ganzen Dauer der
Expedition, jeweils ein Mann wird umschichtig zum Bewachen der Hütten
und des Eigentums aller Gruppen bestimmt. Die Leiter der einzelnen Gruppen
nehmen an den Arbeiten keinen tätigen Anteil, sondern beaufsichtigen die
Vorgänge vom Boot aus. Den Anweisungen des eigenen Leiters leisten die
Mitglieder der Gruppe unbedingten Gehorsam. Von der Vorbereitung bis
zum Ende der Unternehmung übernimmt der Leiter die Buchführung für
seine Gruppe als Ganzes und für jedes einzelne Mitglied. Der Reingewinn
eines gewöhnlichen Gruppenmitgliedes schwankt zwischen 10 und 60 Mark,
gelegentlich kann sich auch eine Verschuldung beim Gruppenleiter ergeben,
die dann nach persönlicher Vereinbarung getilgt werden muß. Ganz ähnliche
Auskünfte bekamen wir von zwei Geldverleihern in Amara, einer Stadt
im Norden der zentralen Marschen, nur waren hier die Geldverleiher auch
gleichzeitig Aufkäufer, die sich einen Lastwagen zugelegt hatten, mit dem der
tägliche Fang der Barbara nächtlicherweise auf Eis nach der Hauptstadt
Baghdad transportiert wurde. Über ihren Gewinn gaben sie, natürlich, keine
klaren Auskünfte, aber ihre Wohlhabenheit war augenfällig.
Besonders widersprüchlich und problemreich sind die Nachrichten und
unsere eigenen Aufzeichnungen über die Stammeszugehörigkeit der Barbara.
Auf diesen Punkt soll etwas näher eingegangen werden, weil er uns vielleicht
im Verein mit den obigen Angaben erlaubt, eine Hypothese über die ethnisch-
kulturelle Herkunft der Barbara aufzustellen. Über die Barbara gibt es an-
scheinend nur zwei Nachrichten in der Literatur. Die eine stammt von dem
englischen Reisenden Thesiger, der immerhin die Marschen über fünfmal für
jeweils mehrere Monate aufsuchte6. Er sagt folgendes: Die gewerbsmäßigen
Fischer, die Barbara, werden von den Stämmen verachtet, da aber verarmte
Stammesmitglieder den Barbara bei ihrer Arbeit zu helfen beginnen, ist das
Vorurteil gegen sie im Schwinden begriffen. Bei den Al Azeridj, am Medjer
al Kebir und in Tschubaisch leben viele Barbara, einige Dörfer sind ausschließ-
lich von Barbara bewohnt, doch sind die meisten nicht sehr seßhaft und
wechseln häufig den Wohnplatz. Wir selbst haben keine Dörfer gesehen, die
ausschließlich von Barbara bewohnt waren, sollte es solche Dörfer wirklich
geben, müßten in ihnen natürlich die weiteren Untersuchungen ansetzen.
Die zweite Literaturnachricht stammt von Sch. Mustafa Salim7, er berichtet
über die Stammeszugehörigkeit der Barbara in Tschubaisch folgendes. Der
dort herrschende Stamm sind die BenI Asad, die stolz auf ihre Beduinen-
abstammung sind, obwohl sie zur Anbautätigkeit übergehen mußten und
c W. Thesiger, The Marsh Arabs of the Iraq, The Geographical Magazine,
London 1954, S. 141 ff.
7 a.a.O., S. 135.
102
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
Schilfmatten für den Verkauf Herstellen. Sie lehnen aufs strengste Heirats-
verbindungen mit den Barbara, den Subba, den Ma'dän, den Webern und
den Gemüsebauern ab. Unter den verschiedenen Unterstämmen der BenI Asad
nehmen die al Gheridj eine Sonderstellung ein. Sie werden zu den BenI Asad
gerechnet und Heiratsbeziehungen zu ihnen sind möglich, wenn auch nicht
besonders erwünscht. Diesem Stamm sagt man Ma‘dän-Herkunft nach, was
die Al Gheridj uns gegenüber allerdings abstritten. Die Grundlage ihrer
Existenz ist heute Wanderarbeit, im Spätsommer ziehen sie als Erntehelfer
westlich in der Landschaft am Gharröf, im Herbst östlich in die Dattelgärten
um Basra. Salim behauptet nun, daß die Barbara und die Weber von den
Al Gheridj „herkämen“. Es bestünden Heiratsbeziehungen zwischen diesen
drei Gruppen, dagegen würden Heiraten mit dem Subba und den Gemüse-
bauern sowohl von den Al Gheridj selbst, wie von den Barbara und den
Webern abgelehnt. Er begründet die tolerante Haltung der Al Gheridj mit
deren angeblicher Ma'dän-Abstammung, so als ob Ma‘dän sonst keine Hem-
mungen zeigten, mit Barbara in Heiratsbeziehungen zu treten. Nun sind
aber die Al Gheridj heute keine Ma'dän, und die Beni Asad sind es nie
gewesen; ich möchte darum einige Auskünfte wiedergeben, die uns Ma'dän
in strengem Sinne gaben, die wir nach ihrer Einstellung zu den Barbara
fragten. Ein Schech der Albü Mohammed, von denen zumindest einige Unter-
stämme Ma'dän sind, äußerte bestimmt, daß Subba, Barbara, Weber und
Gemüsebauer verachtete Leute sind, zu denen man nicht in Heiratsbeziehun-
gen treten darf. Ein junger Fredjät aus leitender Familie behauptete: „Die
Barbara ,kommen' von den Al Azeridj, den Albü Mohammed und den Beni
Asad her, sie kommen nicht von den Fredjät. Unter ,wirklichen4 Ma'dän
(das sind die Fredjät, Fartüs und Schaghänba) gebe es keine Barbara.“ Diese
Auskunft stimmt zu unseren eigenen Beobachtungen, allerdings mit der Ein-
schränkung, daß einige Unterstämme der Albü Mohammed „wirkliche“
Ma'dän sind, und dennoch nicht wenige Barbara, nach ihrer Abstammung
befragt, die Albü Mohammed angeben. Die Fredjät in Gubäb behaupteten
von den Barbara, daß sie Räuber und Mörder seien, was als ein Ausdruck
für vollkommene Fremdheit zwischen beiden Gruppen angesehen werden
darf. Die Al Isä, ein dominierender Stamm im Westen der zentralen Mar-
schen, sagten, daß sowohl die Barbara, die ständig bei ihnen wohnten, wie
auch die, die gelegentlich zu ihnen kämen, Al Azeridj seien und zum Unter-
stamm der Tschebena gehörten.
Unsere eigenen Erhebungen enthalten kein Material über die südlichen
Barbara in Tschubaisch, aber einiges über die nördlichen, die von sich selber
behaupteten, von den Al Azeridj oder den Albü Mohammed zu „kommen“.
Wir lebten zwei Monate lang in einer der großen Siedlungen im westlichen
Teil der zentralen Marschen mit dem Namen Segal. Der Ort bestand aus
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
103
473 künstlichen Inseln, gleich 473 Wohnplätzen, von denen 427 bewohnt
waren. Seine zum überwiegenden Teil aus Ma'dün bestehende Bevölkerung
wird von den arabischen Al Isä beherrscht. Von den dort lebenden 427 Fa-
milien gehören insgesamt 44 zu den gewerbsmäßigen Fischern, also den Bar-
bara, 30 davon behaupteten, dem Stamme der Al Azeridj anzugehören, 3 zu
den Albü Mohammed, 2 zu den Fartüs und 9 zu kleinen Splitterstämmen.
Zu den Schaghünba, die mit 112 Familien etwa ein Viertel der Gesamt-
bevölkerung ausmachten, und Ma'dan nach Herkunft und Lebensweise sind,
gehörten keine Barbara; eine zweite Gruppe der Ma‘dan, die Fartüs,
bildete mit 86 Familien ein Fünftel der Bevölkerung und stellte nur zwei
Barbara-Familien. Die Fredjät, der dritte große Ma‘dänstamm der zentralen
Marschen, waren in Segal nicht vertreten. Die Al Azeridj bildeten mit
111 Familien ebenfalls etwa ein Viertel der Bevölkerung Segals — aber von
ihnen waren 27 °/o (30 Familien) Barbara, 67 '°/o Reisbauern, die restlichen
6 °/o lebten entweder als Ma‘dän oder waren vorübergehend erwerbsunfähig.
Die Stammesgebiete der Albü Mohammed lagen so weit von Segal entfernt,
daß insgesamt nur 38 Familien ihren Weg dahin gefunden hatten, von ihnen
betätigten sich mehrere Familien als Kaufleute, und immerhin drei Familien
als Barbara. Bedauerlicherweise haben wir kaum Angaben über die Unter-
stämme, zu denen die als Barbara lebenden Al Azeridj gehörten, zum über-
wiegenden Teil begnügten sich die Familien damit, den Schech zu nennen, aus
dessen Gebiet sie nach Segal zugewandert waren. Nur vereinzelt konnte
außerdem noch der Unterstamm erfragt werden, und da fällt es auf, daß
vier dieser mitteilungsbereiten Gewährsleute Bet Chede nennen. Für weitere
Nachforschungen ist das ein sehr magerer Ansatzpunkt, aber der einzige,
den wir zu geben imstande sind.
Aus den, wie gesagt, widersprüchlichen Nachrichten und unserem eigenen
Material läßt sich folgendes Bild gewinnen: Die Wohnsitze der Barbara
liegen am Süd- und Nordrande des Hörs; haben sie temporäre Siedlungen
im Hör, so nennen sie doch die Randzonen als Herkunftsgebiet und Dauer-
wohnsitz. Damit leben sie außerhalb der Stammesgebiete der Ma‘dän im
strengen Sinne, auch zu den für die Ma‘dan typischen Kulturzügen bestehen
keine Beziehungen. Man kann das rational dadurch zu erklären suchen, daß
Netzfischen nur dort möglich ist, wo keine Wasserpflanzen wachsen, die
Barbara sich also auf die fließenden Ströme, die tiefen Lagunen und Über-
schwemmungslagunen beschränken müssen. Der Fischspeer ist dagegen speziell
für die Hörumwelt geeignet; so könnte man unter Einräumung einer Über-
gangszone die Bereiche der Verbreitung von Netz- und Speerfischerei nach
Art und Menge der vorhandenen Unterwasserpflanzen geographisch trennen.
Für die Wahl des Tätigkeitsbereiches darf man diesen Gesichtspunkt sicher
nicht vernachlässigen, aber die Wahl des Stammesgebietes erklärt er nicht.
104
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
Wenn auch eben gesagt wurde, daß die typischen Kulturzüge der Barbara
zu denen der Ma‘dän keine Beziehung haben, so wurde doch vorher aus-
geführt, daß ihre Kulturen in einigen Zügen übereinstimmen, die auf frühere
Zeiten zurückgehen. Sie seien in Stichworten wiederholt: Die Abhängigkeit
der MaTlän und der Barbara von Bootsbauern und Eisenschmieden der
Subba; das Netz als Vogelfalle und als Fischereigerät der Frauen und Kin-
der, gleiche Sprache und gleiches Aussehen. Wir wissen einiges über die
historischen Ereignisse in diesem Gebiet und können daraus manches für die
Kulturgeschichte erschließen. Die Grundzüge der Fiörkultur sind Jahrtausende
alt, in ihrer heutigen Form ist aber die Fiörkultur, oder die Kultur der
Ma‘dän nicht älter als 1300 Jahre. Ein kurzer Abriß der rekonstruierten
Kulturgeschichte des Südiraq soll abschließend die Beziehungen zwischen Bar-
bara und Ma‘dän beleuchten. Die diesem Abriß zugrundeliegenden Belege
sind an anderer Stelle zusammengetragen8.
Früher sah es im Iraq vermutlich nicht anders aus als heute: Abseits der
Flüsse bleibt das Land Wüste, nur bei künstlicher Bewässerung erweist der
Lehmboden seine große Fruchtbarkeit. Wenn es auch nicht möglich ist, die
jeweilige Lage und Ausdehnung der Hörs in früheren Jahrtausenden fest-
zulegen, so scheint doch festzustehen, daß es im unteren Iraq, solange dort
Menschen leben, Fiörs mit reichlichem Schilfvorkommen gegeben hat. Erst
vom 7. Jh. n. Chr. an finden sich genauere Nachrichten über die Sümpfe.
Der „große Sumpf“ bildet sich infolge Verfalls des Bewässerungssystems
zwischen Euphrat und Tigris am Unterlauf der beiden Ströme. Der Verfall
des Bewässerungssystems bedeutete nicht nur einen technischen Rückschritt,
sondern auch ein Zurücksinken der Bevölkerung in Lebensweisen mit exten-
siven Wirtschaftsmethoden, die nur einer vergleichsweise geringen Zahl von
Menschen Existenzmöglichkeiten boten. Kulturgüter, die heute für die Hör-
umwelt typisch sind und sich durch Jahrtausende hindurch nachweisen lassen,
sind die Schilfmatten und die der Hörumwelt entsprechenden Schnabelboote,
beide gehören heute zu der an das Schilfdickicht angepaßten Lebensweise der
Ma'dan. Ob allerdings auch das für sie typische Fischspeeren die älteste Jagd-
methode des Hörbewohners ist, ist zumindest fraglich. Woolley scheint nach
seinen Funden in Ur die Angel als das älteste Fischereigerät anzusehen. Der
Angelhaken ist aber heute in den Marschen nicht mehr in Benutzung, die
Subba stellen keine Angelhaken her und die aus Europa importierten finden
keinen Anklang. Nur Kinder sahen wir gelegentlich mit angelhakenähnlichen
Geräten hantieren — was nach der schon einmal diskutierten Theorie des
Absinkens von Kulturgütern in die Hände von Frauen und Kindern zu den
Angelhakenfunden aus Ur stimmen würde. Daß Angelhaken und Netze im
8 S. Westphal-Hellbusch, Die Macdan (im Druck).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
105
eigentlichen Hör unpraktische Fanggeräte sind, erweist sich immer wieder bei
dichterem Unterwasserbewuchs. Beide Geräte sind eigentlich nur in Flüssen
und bewuchsfreiem Wasser brauchbar; vorzugsweise findet man dieses am
Rande des Hörs. Der Fischspeer dagegen ist auf das Hör beschränkt und so
typisch für die dort lebenden Menschen, daß, wo immer man einem Mann
mit einer Fäle begegnet, geschlossen werden darf, daß er im Hör lebt. Zu-
nächst scheint die Fäle voreisenzeitlich nicht nachweisbar zu sein, ob sie den-
noch ältere Vorfahren besitzt, ist eine Frage der archäologischen Forschung,
Es spricht wenig dafür, daß die ältesten Hörbewohner als Spezialisten für
Schilfmattenherstellung nur von ihrem Handwerk lebten. Die reichlichen
Schilfvorkommen, also die Hörs, müssen in einiger Entfernung von den da-
maligen Kulturzentren, den Städten mit Königspalästen und Tempeln an-
genommen werden. Dort bestand Bedarf an den Erzeugnissen des Hörs,
aber vermutlich kein so großer und stetiger, daß sich die Hörbewohner auf
daher gegebene Erwerbsmöglichkeiten allein verlassen konnten. Das führt
zu der Annahme, daß die Schilfmattenhersteller auf der Grundlage einer
selbstgenügsamen Ernährungswirtschaft ihr Gewerbe zusätzlich betrieben.
Durch den Verkauf der Schilfmatten konnten sie an den Gütern der Hoch-
kultur teilhaben, deren Herstellung ihnen auf Grund des Fehlens der be-
nötigten Rohmaterialien in ihrer Umwelt nicht möglich war — d. h. aber,
daß die Lage der Hörbewohner in früheren Zeiten nicht viel anders gewesen
ist als heute. Das Hör bietet seinen Bewohnern besondere und nicht un-
günstige Ernährungsmöglichkeiten, die Fische sind an erster Stelle zu er-
wähnen, hinzu kommt aber in den Marschen der zu allen Zeiten mögliche
Vogelfang. Im Winter sind die Hörs der Aufenthaltsort großer Mengen von
Zugvögeln, aber auch im Sommer mangelt es nicht an eßbaren Vögeln. Es
ist zulässig, so lange Hörs bestehen, die Vogelwelt als eine Ernährungsquelle
seiner Bewohner anzunehmen, wenn auch ihre technische Ausrüstung mangel-
haft gewesen sein mag. Diese die Hilfsquellen der Umwelt ausbeutende Nah-
rungsgewinnung konnte durch Sammeltätigkeit ergänzt werden, wie auch
heute noch die Ma'dän die Wurzelstöcke des Schilfs und des Rohrkolbens,
den Blütenstaub des Rohrkolbens usw. zur Ernährung nutzen. Es spricht
aber vieles dafür, daß die iraqischen Hörbewohner die Grundlage ihrer Er-
nährung nicht durch Wildbeuterei, sondern durch Anbau gewannen, der ja
bekanntlich in Mesopotamien eine erste und hohe Blüte erlebte. Im Hör
gedeiht heute noch eine Idhra genannte Hirseart, die überall dort angebaut
wird, wo Reis überhaupt nicht gedeiht oder wo man ihn in Jahren niedrigen
Wasserstandes nicht anpflanzen kann. Idhra scheint in früherer Zeit im Hör
eine Kulturpflanze von großer Bedeutung gewesen zu sein und mag für die
früheren Hörbewohner die Ernährungsgrundlage abgegeben haben.
106
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
Die Annahme eines sehr hohen Alters der Hörkultur erfordert aber nicht
die Annahme einer besonderen Bevölkerungsgruppe als Träger dieser Kultur.
In lokaler Spezialisierung konnte jeder altiraqische Fellach sich der durch die
Schilfsumwelt gebotenen Nahrungs- und Erwerbsmöglichkeiten bedienen,
wozu manche Gruppen im Laufe der Geschichte gezwungen gewesen sein
mögen, wenn sie bei einer der großen Verlagerungen der Hörs ihre bis-
herigen Wohnsitz nicht aufgeben wollten.
Man kann die Frage aufwerfen, ob es wahrscheinlich ist, daß sich in der
so geschilderten Hörkultur auch ursprünglich wildbeuterische Komponenten
erhalten haben. Für die Sammeltätigkeit möchte man das bejahen; bei den
anderen Methoden der Nahrungsgewinnung wären der Fischfang, das Fisch-
Abb. 7. Floß aus Schilf hergestellt
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
107
speeren und der Vogelfang zu erwägen. Bei Fisch- und Vogelfang spricht
nichts gegen die Möglichkeit, daß sie aus wildbeuterischer Zeit überliefert
wurden. Beim Fischspeeren dagegen ist in Rechnung zu setzen, daß ein tieferes
Eindringen in die Schilfwälder nicht mit den umwelteigenen Schilfflößen
möglich war (Abb. 7), sondern erst mit dem von städtischen Spezialisten
hergestellten Schnabelboot, außerdem ist ein voreisenzeitliches Vorkommen
des Fischspeeres nicht erwiesen; so ist es vielleicht vorsichtiger, den Fischspeer
nicht ohne weiteres als alte wildbeuterische Jagdwaffe anzusehen.
Die heutige Kultur der Ma‘dän wird entscheidend durch das Halten von
Wasserbüffeln bestimmt, die Büffelhaltung liefert etwa 50% der Ma‘dän
die Existenzgrundlage. Man kann es wohl als gesichert ansehen, daß der
Büffel als Herdentier erst im 7. Jh. n. Chr., und zwar durch die Zott in
die südlichen Marschengebiete eingeführt wurde. Ethnologisch liegen über die
Zott keine Nachrichten vor, aber die Quellen erwähnen die aus Indien
stammenden Zott als die Zigeuner der Sümpfe, was darauf hindeutet, daß
durch die Zott die Kenntnis der auf Büffelhaltung beruhenden nomadischen
oder halbnomadischen Lebensweise verbreitet wurde. Man kann aber nicht
annehmen, daß den Hörbewohnern die Kenntnis der nomadischen Lebens-
weise als solcher im 7. Jh. n. Chr. abgegangen sein sollte, denn sie hatten
ständigen Kontakt mit wandernden Schaf-, Ziegen- und Kamelhirten und
stammten vermutlich selbst zu einem nicht geringen Prozentsatz von diesen
ab. Nur erwies es sich als unmöglich, Tiere des trockenen Landes, wie Kamele,
Schafe und Ziegen in größerer Zahl ins Hör mitzunehmen. Mit der An-
siedlung der Zott im Hör wurde wahrscheinlich ein Verschmelzungsprozeß
mit der Hörbevölkerung eingeleitet, der ebenso schnell vonstatten ging, wie
die Zott ihre anfängliche politische Macht verloren und aufgesplittert wurden.
Sie wurden durch den Verlust ihrer politischen Selbständigkeit zu einem
Rückzugsvolk, das für ein Leben in dem als Rückzugsgebiet anzusehenden
Hör mit den Wasserbüffeln besonders günstige Voraussetzungen mitbrachte.
Welche anderen Rückzugsgruppen sich der Hörbevölkerung vor den Zott
beigemischt hatten, läßt sich auf Grund fehlender Quellen nicht einmal ver-
muten. Es ist aber anzunehmen, daß die Zot somatisch und ökonomisch einen
wesentlichen Beitrag zur Bildung der heutigen Ma‘dänkultur geleistet haben.
Historische Nachrichten über als Ma‘dän bezeichnete Stämme sind spär-
lich. Die älteste Nachricht geht auf das 13. Jh. zurück; die ausdrücklich als
Ma'dän bezeichneten Menschen erscheinen hier als Gefolgsleute eines ara-
bischen Stammes. Dadurch zeichnen sich Verhältnisse ab, wie sie heute
für die Beziehungen zwischen allen älteren Bevölkerungsbestandteilen und
den arabischen Herren kennzeichnend sind; alle Bewohner des Südiraq haben
die Sprache der arabischen Eroberer übernommen oder können sie zumindest
108
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
sprechen; sie bekennen sich zur Religion ihrer Herren, zur Schia; sie sind
alle Gefolgsleute arabischer Stämme, bis auf die jüngste Zeit, in der sich
einige Stämme der Ma‘dän mit Hilfe der Türken und Engländer politische
Selbständigkeit erkämpften. Die Arabisierung der iraqischen Bevölkerung,
ob Ma‘dän oder Aramäer, ging teils freiwillig, teils unter Zwang vor sich,
doch als Gefolgsleute sind sie alle von der arabischen Stammesorganisation
beeinflußt worden, und teilen sich nach deren Vorbild in Aschiras ein. Wo
sie frei von arabischer Oberaufsicht siedeln, haben sie eine ältere dörfliche
Familienorganisation bewahrt, die der Leitung eines gewählten Headman
untersteht.
Wie für den ganzen Iraq brach auch für die Hörbewohner eine neue
Epoche an, als die Engländer im ersten Weltkrieg im Kampf gegen die
Türken den Iraq besetzten und ihn für 40 Jahre nicht wieder verließen. Da
vermutlich die Kultur der Barbara durch die Engländer weder geschaffen
noch wesentlich beeinflußt wurde, wollen wir im vorliegenden Zusammen-
hang die modernen Entwicklungen außer Betracht lassen. Dem eben ge-
gebenen historischen Abriß dagegen lassen sich einige Hinweise auf Ent-
stehung und Entwicklung der Kultur der Barbara entnehmen.
Zunächst einmal muß man unterscheiden, ob mit dem Wort Barbara,
wie bei den Ma‘dän, Abstammung oder Lebensweise gekennzeichnet werden
sollen. Es gibt im Hör nicht wenige Menschen, die ihrer Abstammung nach
Araber sind, aber als Ma‘dän leben, d. h. Büffel halten und Schilfmatten
hersteilen. Für sie gelten die üblichen Heiratsbeschränkungen zwischen Ma'dän
und Araber nicht, obwohl ihnen ein leiser Makel auf Grund ihrer Lebens-
weise anhaftet. Die äußeren Umstände, also Not, können aber auch ab-
stammungsbewußte Araber zu einer Umstellung auf die Lebensweise im Hör
zwingen. Ähnliches scheint für das Verhältnis der Araber zu den Barbara
zuzutreffen. In Segal trafen wir auf neun Barbara-Familien mit unterschied-
licher Stammesabkunft, von denen einige angaben, Araber zu sein, auch von
den 30 Barbara-Familien, die zu den Al Azeridj gehören wollten, betonten
einige ihre arabische (!) Herkunft. Andererseits haben wir keine einzige
Barbarafamilie getroffen, die von sich selbst angab, zu den Ma‘dän zu ge-
hören. In beiden Gruppen, Barbara und Ma‘dan, ist das Bewußtsein ver-
ankert, voneinander verschieden zu sein. Greifbar ist allerdings nur eine
kulturelle Verschiedenheit. Eine enge Verbindung zur Hörumwelt scheint bei
den Barbara gegeben, doch dringen sie im Interesse ihres Berufes meist nur
zeitweilig in das Hör ein, während ihre Dauerwohnplätze an den das Hör
begrenzenden Flüssen liegen. Abwanderungen einzelner Barbara-Familien in
höreinwärts gelegene Siedlungen kommen vor, wenn die Siedlungen groß
genug sind, um einem gewerbsmäßigen Fischer das ganze Jahr hindurch
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
109
einen Verdienst zu sichern. In solchen Fällen treffen wir dann auch Familien-
wanderung, während die Berufsunternehmungen ohne Frauen durchgeführt
werden. In Segal konnte man bei der Dauerzuwanderung von Barbara-
Familien beobachten, daß die sonst nur mit Haushaltspflichten belasteten
Frauen freiwillig zum Halten von Kühen übergingen. Es hätte ihnen auch
offen gestanden, die sehr viel rentableren Büffel zu übernehmen, ihre Ab-
lehnung einer solchen Idee zeigt, daß sie dem typischen Leben im Hör fremd
gegenüber stehen und ein Leben nach dem Muster der Menschen auf dem
trockenen Lande erstrebenswert finden. Da das Gewerbe der Barbara bis zu
einem gewissen Umfange auf die Hörumwelt angewiesen ist, möchte man
annehmen, daß sie bis zu einem unsicher bleibenden Zeitpunkt die allgemeine
Entwicklung der Hörkultur mit durchlaufen haben. In dem Augenblick, wo
der Lischspeer und das Meschhüf ein tiefes Eindringen in das Schilfdickicht
ermöglichten, muß die Absonderung der Kultur der Barbara von der spe-
zieller werdenden Hörkultur begonnen haben. Mit ihren Fischnetzen konnten
und wollten sie nicht ins Schilfdickicht, und die zeitweise durchaus ertrag-
reichen Fischgründe der großen Flüsse aufzugeben, lag kein zwingender Grund
vor. Aus dieser frühen Zeit müssen die Übereinstimmungen der Kultur der
Barbara sowohl mit der spezialisierten Hörkultur, wie mit der Kultur der
am Rande des Hörs wohnenden arabisierten Stämme herrühren. Wann, und
aus welchen Gründen die Barbara dazu gekommen sind, ausschließlich von
ihrem Gewerbe zu leben, keinen Anbau, keine Viehzucht und keinerlei Hand-
fertigkeiten außer der Netzherstellung zu betreiben, bleibt im Dunkel der
Zeit verborgen. Daß sie auf dieser Grundlage ihre Existenz sichern können,
erweist sich heute und wird auch für frühere Zeiten gelten; wann aber zum
ersten Male die Möglichkeit geboten war, eine wirtschaftlich autarke Existenz
für eine vielfältig abhängige einzutauschen, bleibt eine offene Frage.
Man darf nicht von der Hand weisen, daß die Barbara als Berufskaste
aus einem anderen Land zugewandert sein könnten. Wir haben aber keinerlei
Anhaltspunkte für eine solche Vermutung. Dagegen ist es möglich, die Bar-
bara an die frühe Hörkultur anzuschließen, in der die Menschen am Rande
des Schilfdickichts lebend die Sonderbedingungen des Hörs vielfältig aus-
nutzten. Daß sich evtl, im Fischfang eine uralte wildbeuterische Komponente
erhalten haben kann, wurde vorher erwähnt. Ob aber die Barbara Nach-
kommen ältester Wildbeuter sind, ob sich bei ihnen, wie bei den Ma‘dän, auch
ein besonderes ethnisches Element vermuten läßt, bleibt ein Problem der
zukünftigen Forschung. Eines sollte abschließend noch erwähnt werden:
Während die Ma'dön äußerlich die Stammesorganisation der Araber nach-
ahmen, und für sich selbst die vor-arabische dörfliche Organisationsform be-
wahrten, scheint den Barbara jede größere dauerhafte soziale Organisation
zu fehlen. Dagegen sind ihre zeitweiligen Arbeitsgruppen besser organisiert,
110
Westphal-Hellbusch, Die Barbara
als wir es je bei Arabern oder Ma‘dün getroffen haben. Die freiwillige und er-
zwungene Endogamie der Barbara läßt es als eine lockende und lohnende
Aufgabe erscheinen, ihren ethnischen und kulturellen Wurzeln nachzuspüren,
die allerdings bei einem ersten Bekanntwerden mit ihnen vollkommen ab-
gestorben zu sein scheinen. Sollte es gelingen, ihre Geschichte und Kultur
aufzuhellen, so wäre damit auch viel für unsere Kenntnis von der Geschichte
und Kultur des Süd-Iraq gewonnen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
111
DER BAANTA-B RAUCH DER DSCHAUNSARI
SUSANNE HAAS, M. A., Lucknow
EINFÜHRUNG
Die indische Regierung ermöglichte mir, vom 1. August 1958 bis Ende
März 1959 die Kultur der Dschaunsari, der Bewohner von Dschaunsar Bawar,
zu studieren. Dschaunsar Bawar umfaßt den gebirgigen, unwegsamen Teil des
Dehradun-Distriktes, der zum nordindischen Staat Uttar Pradesch gehört.
Die Sprache der Dschaunsari wird als Dialekt des West-Paharischen be-
zeichnet (Grierson). Da sie Ähnlichkeiten aufweist mit dem mir geläufigen
Hindi, vermochte ich ohne Dolmetscher zu arbeiten.
Meine Informationen stammen zum größten Teil aus dem Dorf Dasau,
das im Innern des Gebietes gelegen ist. Dasau ist etwas mehr als 10 km vom
Verwaltungs- und Marktzentrum Tschakrata entfernt, und kann nur zu Fuß
oder Pferd erreicht werden. Ich wohnte mehrere Monate in diesem Dorf.
Die Bevölkerung von Dschaunsar Bawar ist kastenmäßig geschichtet. Die
Einwohner von Dasau verteilten sich am 1. Januar 1959 auf die fünf fol-
genden, in ritueller Rangfolge aufgezählten Kasten:
1. die Braah man-Kaste: Priesterkaste, 5 Personen (alles Ehefrauen
von Radschpuut),
2. die Ra dschpuut - Kaste: Kriegerkaste (heute Landwirte), 173 Per-
sonen,
3. die Badhü-Kaste: Kaste der Schreiner und Zimmerleute, 6 Per-
sonen,
4. die Baadschgii-Kaste ; Kaste der Musikanten, Schneider, Bar-
biere und Boten, 23 Personen,
5. die Koltaa-Kaste : Kaste der Landarbeiter und Schuldsklaven,
36 Personen.
Heirat zwischen Braahman und Radschpuut, Badhii und Baadschgii ist
möglich; im übrigen sind Kasten endogame Einheiten.
Die normale Dschaunsari-Familie ist als patrilinear ausgedehnte Groß-
familie zu bezeichnen. Die folgenden Traditionen sind von grundlegender Be-
deutung für sie:
1. patrilineare Deszendenz,
2. patrilokale Residenz der Männer,
3. patrilokale Residenz unverheirateter Frauen,
4. Heirat im Kindesalter: Zur Zeit der ersten Eheschließung ist der Mann
selten mehr als 11 Jahre alt, die Frau selten mehr als 6,
112
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
5. Patrilokale Residenz der Frau nach der Eheschließung bis zum Alter
von 14 bis 16 Jahren: Aufenthalte im schwiegerelterlichen Elaus be-
sitzen während dieser Periode Besuchscharakter,
6. Residenz der über 16-jährigen Frauen im schwiegerelterlichen Haus:
Aufenthalte im Elternhaus sind häufig, besitzen aber Besuchscharakter,
7. fraternale Polyandrie, wobei die Ehe zwar formell nur vom ältesten
Bruder eingegangen wird, nach der Eheschließung aber zwischen den
Rechten und Pflichten des formellen Ehemannes und denjenigen seiner
Brüder nur ein gradueller Unterschied besteht,
8. die Möglichkeit zu Polygynie („Polyandrogynie“): zur ersten Ehefrau
wird oft nach einiger Zeit eine zweite geheiratet usw.,
9. hierarchische Organisation: das älteste männliche Mitglied einer Familien-
generation wird als Generationsvorsteher geachtet, der Vorsteher der
ältesten Generation als Familienoberhaupt; die langjährigste Ehefrau des
Familienoberhauptes steht den eingeheirateten Frauen vor,
10. einheitliche Benennung von a) abstammungsmäßig zur gleichen Familie
und Generation gehörigen gleichgeschlechtigen Personen, b) in die gleiche
Generation eingeheirateten Frauen.
Jede Familie gehört einer Aal an, jede Aal einem Daaii-Tscharaa. Die Aal
entspricht, laut Überlieferung, einer Patrilinie, wobei der genealogische Nach-
weis in Dasau aber nur für die letzten vier bis sieben Generationen erbracht
werden konnte. Der Daaii-Tscharaa gilt als die Gemeinschaft aller Mitglieder
von Patrilinien, die auf einen fernen gemeinsamen Ahnen, oder vielleicht auf
zur gleichen Kaste gehörige Mitglieder der Gemeinschaft der Dorfgründer,
zurückgehen.
Der Daaii-Tscharaa ist eine exogame Einheit. Alle in Dasau geborenen
Radschpuut gehören zum gleichen Daaii-Tscharaa, und ebenso verhält es sich
mit den Badhii und den Baadschgii; die Koke verteilen sich auf drei Daaii-
Tschare. Auf Grund der Exogamievorschriften sind die Radschpuut, Badhii
und Baadschgii daher genötigt, ihre Ehepartner in andern Dörfern zu suchen.
Wechsel des Wohnortes und Verehelichung bedeuten nicht Verlust der
Aal- und der Daaii-Tscharaa-Mitgliedschaft.
Der Haushalt der Stammfamilie heißt in der Sprache der Dschaunsari
Mait, derjenige der Schwiegerfamilie Sassuraal. Eine Frau ist für ihre Mait-
Verwandten eine Dhanti, für ihre Sassuraal-Verwandten eine Rhanti. An eine
Dhanti werden andere Verhaltenserwartungen abgesandt als an eine Rhanti:
Eine Dhanti braucht nicht zu arbeiten, und darf außereheliche Geschlechts-
beziehungen unterhalten, eine Rhanti ist ihren Ehemännern gegenüber zu
Loyalität und Einsatz der vollen Arbeitskraft verpflichtet. In der Mait wird
eine Frau, selbst wenn sie nur auf Besuch weilt, immer als Dhanti betrachtet.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
113
Das Arbeitsjahr ist von jährlich wiederkehrenden Festen unterbrochen.
Als große Feste gelten;
1 B i s s u ; zu Beginn des Monats Baisakh (Mitte April)1,
2. Dschagraa : zu Beginn des Monats Asodsch (Mitte Sept.),
3. P u r a a n i i D e w a a 1 1 i : zu Beginn des Monats Mangsiir (Mitte Nov.),
■L Maagh : Festmonat (Mitte Jan. bis Mitte Feb.).
Die indische Regierung betrachtet Dschaunsar Bawar als unterentwickeltes
Gebiet, und beschäftigt seit 1953 Fachleute, die den Dschaunsari in Fragen
der Gemeindeorganisation, der Wirtschaft, des Erziehungs- und des Gesund-
heitswesens an die Hand gehen.
Sind die Dschaunsari Hindu? — Die Tatsache, daß polyandrische Ehen
eingegangen werden, und einige andere eigenartige Traditionen gepflegt wer-
den, verleitet viele Hindu dazu, die deutlich hinduistischen Züge der Kultur
dieser Leute zu übersehen. Die indische Regierung aber, beraten von Kultur-
Anthropologen, bejahte die Frage, und erklärte damit den „Hindu Code“
als verbindlich für die Dschaunsari. Sie erwartet, daß sich diese Kultur in den
nächsten Jahren so verändert, daß Gesetz und Brauchtum miteinander in
Einklang zu stehen kommen.
DER B A ANTA-BRAUCH
In den Tagen vor den großen Festen und im Monat Maagh fällt in den
Gesprächen der Leute von Dasau häufig das Wort Baanta. Eine Frau sagt
etwa: „Heute ist meine Sassu-Baanta gebracht worden“, oder „Sobald mein
Bruder meine Mait-Baanta bringt, gehe ich in die Mait“. Ein Mann sagt etwa;
„Morgen bringe ich dem Schwester’s Sohn die Makki-Baanta“, oder „Die
Paap-Baanta ist noch nicht gebracht worden“.
Was ist eine Baanta?
I. BESCHREIBUNG DES BAANTA-BRAUCHES
1. Die Mait-Baanta:
Befindet sich eine Frau in ihrer Sassuraal, so wird ihr einmal im Laufe
des Monats Maagh, und daneben wann immer sonst sie eingeladen wird,
d. h. vor allem auf die großen Feste hin, aus der Mait eine Baanta — in
praxi eine Lebensmittelgabe — überbracht. Im Idealfalle erhält sie diese
„Mait“-Banta viermal jährlich.
Der Überbringer der Mait-Baanta wird von den Sassuraal-Verwandten
der Empfängerin bewirtet und zum Übernachten eingeladen. Am folgenden
Tag geleitet er die Empfängerin in ihre Mait.
1 In Dschaunsar Bawar wird nach dem Sonnenstand gerechnet; Ein Monatswechsel
findet statt, wenn die Sonne in ein neues Tierkreiszeichen tritt.
8 Baessler-Archiv VIII
114
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
Eine Frau begibt sich nicht in ihre Mait, bevor ihre Mait-Baanta über-
bracht worden ist.
Als Sender gilt das Oberhaupt — das älteste Mitglied männlichen Ge-
schlechts — der Maitfamilie.
Ist bekannt, daß sich eine Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft
im Monat Maagh nicht in die Mait begeben kann, so besteht ihre Mait-
Baanta, vorausgesetzt sie kann ihr am Zubereitungstag überbracht werden, aus
gesottenem Fleisch und in öl gebackenen Fladenbroten; in allen anderen
Fällen besteht sie aus Rohmaterialien; im Monat Maagh aus zwei Patherr
Weizenmehl, einer Patha Reis und einem Stück Fleisch; bei den übrigen
Anlässen aus Mehl und Reis allein.
Es genügt, wenn eine aus gekochten Nahrungsmitteln bestehende Baanta
der Empfängerin eine Abendmahlzeit versieht.
2. Die Makki-Baanta und die Budhmakki-Baanta:
Die Mait einer Frau ist die Makki der Kinder und die Budhmakki der
Enkelkinder dieser Frau.
Nach dem Tod einer Frau kann ihr ältester leiblicher Sohn, ihren ältesten
Bruder, oder, falls dieser verstorben ist, einfach den Vorsteher ihrer Stamm-
linie, zu einem Besuch, und damit gleichzeitig zum Fortsetzen des Baanta-
Verkehrs auffordern. Findet der Besuch statt, so wird der Gast mit dem
Fleisch eines Kleintieres, das „in seinem Namen“ zu seinen Ehren geschlachtet
worden ist, bewirtet. Unbedingt muß ihm das Herz des Tieres zum Genuß
dargereicht werden. In der Folge sendet er im Monat Maagh, bis zum Tod
des letzten leiblichen Sohnes der verstorbenen Verwandten die Makki-Baanta.
Hat eine Frau nur Töchter hinterlassen, so könnten auch diese Makki-
Baanten fordern, doch wird von dieser Möglichkeit selten Gebrauch gemacht.
Nach dem Tod des ursprünglichen Senders geht die Verpflichtung, Baanten
zu senden, automatisch auf den nächsten Vorsteher der Stammlinie über.
Nach dem Tod des letzten Empfängers kann die Aufforderung erneut er-
lassen werden; Es resultieren die Budhmakki-Baanten, und nach diesen wie-
derum Budhmakki-Baanten. Wird die Aufforderung von allen aufeinander-
folgenden Generationen erlassen, so lösen die Makki-Baanten die Mait-
Baanten ab, die Budhmakki-Baanten (I) die Makki-Baanten, die Budhmakki-
Baanten (II) die Budhmakki-Baanten (I) usw.
Wird nicht zum Senden der Makki- oder Budhmakki-Baanten aufgefor-
dert, so bedeutet dies den vorläufigen Verzicht auf die Rechte, die sonst
gegenüber Makki- und Budhmakki-Verwandten geltend gemacht werden
können. Die Aufforderung kann aber zu jedem beliebigen Zeitpunkt nach
2 Die Patha ist ein Hohlmaß, etwa 1% Liter.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
115
dem Tod des letzten Empfängers erlassen werden, selbst nach Jahrzehnten
und nach Überspringung von Generationen.
FFin und wieder fordern auch Stiefsöhne einer Verstorbenen die Makki-
Baanta an. In diesem Fall ist der Makki-Vorsteher nicht verpflichtet, der Auf-
forderung Folge zu leisten.
Makki-Baanten und Budhmakki-Baanten bestehen aus zwei Pathen Wei-
zenmehl, einer Patha Reis und einem Stück Fleisch.
3. Die Dschoru-Baanta:
Das Wort Dschoru bedeutet Ehefrau (Beziehungswort).
Es kommt vor, daß eine Frau verheiratet wird, bevor sie von der Mutter-
brust entwöhnt ist. Bis sie etwa 6 Jahre alt ist, wird sie aber noch nicht ein-
mal auf kurze Besuche in die Sassuraal geholt. Dafür wird ihr im Monat
Maagh aus der Sassuraal die Dschoru-Baanta geschickt.
Als Sender der Dschoru-Baanta gilt der älteste Ehemann der Empfängerin.
Im Fall einer polygynen („polyandrogynen“) Ehe wird je eine Dschoru-
Baanta jeder noch nicht in der Sassuraal verkehrenden Ehefrau geschickt.
Eine Dschoru-Baanta besteht aus gesottetem Fleisch und in öl gebackenen
Fladenbroten. Nur wenn sie nicht am Zubereitungstag an ihren Bestimmungs-
ort gebracht werden kann, werden Rohmaterialien (s. Mait-Baanta) geschickt.
Eine aus gekochten Nahrungsmitteln bestehende Dschoru-Baanta sollte
so bemessen sein, daß sie, ergänzt mit etwas gedämpftem Reis, der Empfän-
gerin und ihren Mait-Verwandten ein Abendessen versieht.
4. Die Sassu-Baanta :
Das Wort Sassu bedeutet Mutter der Ehefrau (Beziehungswort).
Verkehrt oder wohnt eine Frau in ihrer Sassuraal, so sendet ihr ältester
Ehemann ihrer ältesten Mutter im Monat Maagh die Sassu-Baanta.
Die Sassu-Baanta wird solange gesandt, als sich noch mindestens eine
Schwiegermutter am Leben befindet; Es wird kein Unterschied gemacht zwi-
schen der leiblichen Mutter und den Stiefmüttern der Ehefrau.
Sie besteht aus zwei Pathen Weizenmehl, einer Patha Reis und einem
Stück Fleisch.
5. Die Paap-Baanta:
Das Wort Paap stammt aus dem Sanskrit, wo es als Neutrum Übel,
Sünde, als Maskulinum Übeltäter, Sünder bedeutet. Die Dschaunsari benützen
es zur Bezeichnung von Seelen, die nach dem Tod keine Ruhe gefunden haben
und ihre Familien dafür verantwortlich machen. Um sich zu rächen, suchen
solche Seelen ihre Familien zum Aussterben zu bringen, indem sie die Frucht-
barkeit beeinträchtigen: „Sie fressen den Frauen die Saaten aus dem Leib.“
Sie stellen ihr böses Treiben meist ein, wenn ein Paap-Idol hergestellt und
116
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
regelmäßig beopfert wird. Wird eine Familie vom Paap einer eingeheirateten
Frau belästigt, so fordern ihre Mitglieder die Mait-Familie dieser Frau zur
Teilnahme am Beschwichtigungsversuch auf (dies hängt damit zusammen,
daß eine Frau immer gleichzeitig als Mitglied ihrer Sassuraal und ihrer Mait
gilt). In der Folge hat die Mait-Familie das Idol jeweils im Monat Maagh
zu sich zu nehmen, zu beopfern und aufzubewahren, bis es, gegen Bissu (im
April), wieder in die Sassuraal geholt wird. Es wird aber von den Sassuraal-
Verwandten nur herausgegeben, wenn der Bote aus der Mait eine Baanta,
die Paap-Baanta, gebracht hat.
Die Aufforderung zur Aufnahme eines Paap-Baanta-Verkehrs kann ge-
stellt werden, auch wenn die Frau, von der die Paap stammt, keine leiblichen
Nachkommen hinterlassen hatte.
Paap-Baanten müssen nicht wie die früher beschriebenen Makki-Baanten
jedesmal neu angefordert werden, wenn eine Sohn’s oder Sohn’s Sohn’s Ge-
neration der zur Paap gewordenen Frau ausgestorben ist; sie werden auto-
matisch weiterhin gesandt. Der Paap-Baanta-Verkehr wird erst abgebrochen,
wenn die Seele beschwichtigt ist.
Niemand wird innerhalb der Familie als Sender oder Empfänger einer
Paap-Baanta hervorgehoben; Niemand sagt je: „Meine Paap-Baanta ist ge-
bracht worden“. Dies steht im Gegensatz zu den übrigen Baanten.
Inhaltlich unterscheidet sich die Paap-Baanta nicht von einer aus Roh-
materialien bestehenden Mait-Baanta oder einer Makki-Banta.
6. Zusätze:
Der Sender wählt den Sendetermin, innerhalb der traditionellen Fristen;
Eine Ankündigung ist nicht notwendig, denn über die Feste ist man immer
auf Besuch gefaßt.
Im Fall von Sororat oder Kreuzvetternehe genügt es, wenn eine einzige
Baanta gesandt wird. Es muß auch nur eine einzige Sassu-Baanta gesandt
werden, gleichgültig wie viele Schwiegermütter vorhanden sind. Wird ein
Paap-Baanta-Verkehr aufgenommen, so ersetzt die Paap-Baanta Makki- oder
Budhmakki-Baanten.
Sind von einer Familie nur noch weibliche Mitglieder am Leben, so er-
füllen diese, sofern sie zur Nutzung des Familienbesitzes berechtigt sind, all-
fällige Mait-Baanta-Pflichten der Familie.
Sind Nutznießer nicht fähig, zum Familienbesitz gehöriges Land selber
zu bewirtschaften, so übergeben sie es meist einem „Pächter“ (normalerweise
ein Aal-Verwandter). Dieser hat ihnen soviel vom Ertrag zu überlassen,
daß sie ihr Leben fristen können, und gleichzeitig hat er ihre Baanta-Pflichten
zu erfüllen. Auch nachkommenlose alte oder kranke Landbesitzer schließen
bisweilen einen solchen Vertrag. Wird Land aber gegen Bargeld verpachtet
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
117
oder verkauft, so gehen die Baanta-Pflichten nicht auf den Pächter oder
Käufer über.
Nach einer mit Teilung des Familienbesitzes verbundenen Familien-
trennung bildet jede neue Familie eine Einheit in bezug auf Baanta-Pflichten:
Eine vor der Trennung geborene Tochter erhält aus allen durch die Trennung
entstandenen Familien Mait-Baanten.
Alle Baanten schließen in sich die Einladung, den Sender über die Fest-
tage zu besuchen. Im Fall der Sassu-Baanta ist die Einladung aber bloße
Formsache: Keine Schwiegermutter besucht einen Schwiegersohn, wenn sie
nicht ohnehin in seinem Dorf zu tun hat.
Ein männlicher Sender überbringt Baanten entweder selbst, oder er läßt
sie durch ein anderes männliches Familienmitglied überbringen. Mit Baanta-
Verpflichtungen überlastete Braahman oder Radschpuut beanspruchen auch
etwa die Dienste eines Baadschgii-Boten, aber nur, falls ihnen an der Be-
ziehung zum Empfänger nicht viel gelegen ist. Weibliche Sender (Nutznieße-
rinnen) lassen sie immer durch einen Boten überbringen.
Die großen Feste fallen in die ruhigen Zeiten des Landwirtschaftsjahres.
Trotzdem gibt es immer noch soviel Arbeit, daß selten mehr als zwei Fami-
lienmitglieder zum Überbringen von Baanten freigemacht werden können. Die
Baanten werden somit nacheinander verschickt. Für die Reihenfolge gilt;
a) Baanta-Empfänger, von denen man weiß, daß sie den Sender innerhalb
der üblichen Frist nicht besuchen werden — eine Schwiegermutter, eine
schwangere oder durch Mutterschaft behinderte Tochter, eine Ehefrau, die sich
noch in der Mait befindet — werden zuletzt bedient, b) Sassu-Baanten wer-
den erst nach dem Eintreffen der Mait-Baanta der Ehefrau geschickt, und,
falls sich die Ehefrau über die Festtage in die Mait begeben kann, erst nach-
dem sie dort angelangt ist, evtl, wenn sie zurückgeholt wird, c) von den
Empfängern, die zu Besuch erwartet sind, werden die zuerst bedient, von
welchen man weiß, daß sie am ungeduldigsten darauf warten, den Besuch
abzustatten: die jüngsten der Dhanti.
Die Baanten werden in den in Dasau und Umgebung zum Transport von
Waren gebräuchlichen Ledersäcken überbracht. Der Empfänger, oder ein be-
liebiges Mitglied seiner Familie, leert den Sack, füllt als Gegengabe eine Hand-
voll Getreide oder einige Nüsse hinein, und gibt ihn dem Überbringer zurück.
Die Gegengabe ist für den Sender bestimmt.
Wird ein Baanta-Verkehr verfrüht — zu Lebzeiten des Empfängers, und
ohne daß sich dieser irgendwie gegen den Sender vergangen hätte — vom
Sender eingestellt, oder weigert sich jemand der Aufforderung, Baanten zu
senden, nachzukommen, so steht es dem Geschädigten frei, sich mit der Lage
ruhig abzufinden, oder dem Verweigerer Tschhinga zu erklären. Tschhinga
bedeutet den formellen Abbruch einer sozialen Beziehung: Eine Gottheit wird
118
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
gebeten, einen Wahrspruch zu fällen und den Schuldigen — wer immer es
sei — zu bestrafen (Krankheit, Tod). Nach Erklären von Tschhinga wird mit
dem „Partner“ weder gesprochen, noch aus seinen Händen Nahrung oder
Tabak angenommen, noch mit ihm unter dem gleichen Dach geweilt.
Hat jemand einen anderen vergeblich zum Senden von Paap-Baanten
— und somit zur Teilnahme an der Beschwichtigung des Paap einer Ver-
wandten — aufgefordert, so sollte er ihm Tschhinga erklären, und den Be-
schwichtigungsversuch allein durchführen, da sich sonst der Zorn des Paap
auch ihm gegenüber verstärkt.
Setzt sich eine Baanta aus Rohmaterialien zusammen, so werden sie vom
Empfänger den gewöhnlichen Vorräten zugesellt: Es wird daraus keine be-
sondere Mahlzeit zubereitet.
Fleisch ist ein Bestandteil aller Baanten, die im Monat Maagh zum Ver-
sand gelangen. Lebt der Empfänger in einer Braahman-Familie, so sollte das
Fleisch von einer Ziege oder einem Ziegenbock (kastriert oder nicht) stammen;
im Falle einer Radschpuut-Familie darf es auch von einem Widder (kastriert
oder nicht), im Fall einer Badhii- oder Baadschgii-Familie von einem Schaf,
im Falle einer Koltaa-Familie von einem Schwein stammen. Übertretung
dieser Regeln würde als Mangel an Verstand ausgelegt.
Ursprünglich enthielt eine Baanta im Monat Maagh immer eine Laffe.
Dies bedeutete eine große Belastung für das Budget mancher Familie. 1956
wurde daher in Dasau und in mehreren Dörfern der Umgebung beschlossen,
anstatt einer Laffe dürfe ein anderes Stück Fleisch, ausgenommen Innereien,
Haxen oder Fleisch vom Schädel, geschickt werden. Von dieser Erlaubnis
wird Gebrauch gemacht, sofern die Baanta nicht für eine Schwester des Sen-
ders bestimmt ist.
11. BEISPIELE
Aus den folgenden Tabellen läßt sich ersehen, wie viele Baanten jedes
Typus’ im Monat Maagh 1958/59 (Dezember 1958 bis Januar 1959) von der
Bevölkerung von Dasau auf Grund der Regeln hätten versandt oder empfan-
gen werden sollen, und wie viele davon tatsächlich versandt oder empfangen
wurden.
Pro Haushalt wurden durchschnittlich 3,9 Baanten versandt und 4
empfangen.
Am meisten Baanten (12) versandte der Sarpantsch (Präsident des Kreis-
gerichts), der auch am meisten (12) empfing. An zweiter Stelle in bezug auf
Versand (8) und Empfang (10) stand der Pradhaan (Dorfpräsident).
Die Angehörigen aller Kasten pflegten den Mait-, Makki- und Dschoru-
Baanta-B rauch; Budhmakki-Baanta-Beziehungen wurden nur von zwei
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band YIII
119
Tabelle 1 :
Baanta-Typus Potentielle Sendungen Tatsächliche Sendungen
1. Braahm. Radsch. 2. Hand- werker 8. Koke 4. Braahm. Radsch. 5. Hand- werker 6. Koke
I. Mait- II. Makki- III. Budhmakki (I)- IV. Budhmakki(IIx) V. Dschoru- VI. Sassu- VII. Paap-Baanta 59 21 ? ? p 8 24 2 14 p ? p 8 9 p p p 5 57 19 1 8 21 2 14 1 3 9 5 5
Tabe He 2:
Baanta-Typus Potentielle Empfänge Tatsächliche Empfänge
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Braahm. Hand- Braahm. Hand-
Radsch. werker Koke Radsch. werker Koke
I. Malt- 68 6 10 67 5 10
II. Makki- 23 5 4 21 5 4
III. Budhmakki (I)- p p p 1 — —
IV. Budhmakki (11-x) P p p — — —
V. Dschoru- 2 — — 2 — —
VI. Sassu- 27 5 4 21 5 4
VII.Paap-Baanta 1 — 1
Radschpuut gepflegt; einige Radschpuut vernachlässigten den Sassu-Baanta-
Brauch; Paap-Baanta-Pflichten wurden zuverlässig erfüllt.
Einige ausgewählte Fälle aus dem Dorf Dasau
(Zeitpunkt Maagh 1959)
a) Seltene, aber regel hafte Fälle;
1. Eine Radschpuut-Frau, die sich seit 1955 geweigert hatte, in ihre Sassu-
raal zurückzukehren, erhielt eine Dschoru-Baanta; ihr Ehemann dokumentierte
damit, daß er seine Pflichten in keiner Weise vernachlässige. Damit vermied er,
seiner pflichtvergessenen Ehefrau einen für ihren Geliebten günstigen Schei-
dungsgrund in die Hand zu geben: im Fall einer Scheidung muß der zu-
künftige Ehemann dem alten Ehemann eine Abfindungssumme bezahlen, falls
sich dieser der Frau gegenüber immer korrekt verhalten hatte (Scheidung ohne
Wiederverheiratung der Frau gibt es nicht).
120
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
2. Ein Radschpuut lebte in sororaler Ehe. Seine beiden Ehefrauen er-
hielten zusammen nur eine Mait-Baanta, und auch er sandte nur eine Sassu-
Baanta.
3. In zwei Fällen war eine mit einer Teilung des Landbesitzes verbun-
dene Familientrennung vorgenommen worden. In der Folge bildete jede Fa-
milie eine Einheit in bezug auf Baanta-Pflichten und -Rechte. In einem
anderen Fall war keine Teilung des Landbesitzes vorgenommen worden: alle
durch die Trennung entstandenen neuen Familien zusammen bildeten eine
Einheit.
4. Eine Radschpuut-Frau hatte alle ihre Mait-Verwandten, mit Ausnahme
einer Mutter, durch den Tod verloren. Die Witwe hatte den Landbesitz, von
dem sie die Nutznießung hatte, einem Aal-Verwandten ihres verstorbenen
Ehemannes übergeben, der dafür ihren Lebensunterhalt bestritt und auch all
ihre Baanta-Pflichten erfüllte: Die Frau erhielt ihre Mait-Baanta von ihm.
5. Eine Baadschgii-Frau erhielt ihre Mait-Baanta von ihrer Schwester, die
mit dem Ehemann den Haushalt ihrer verstorbenen Väter weiterführte. Die
Väter waren ohne männliche Nachkommen geblieben, und hatten deshalb
einen Schwiegersohn in den Haushalt aufgenommen.
6. Ein Radschpuut sandte einem Vater’s Schwester’s Sohn’s Sohn eine
Budhmakki-Baanta. Ein anderer Radschpuut erhielt eine Budhmakki-Baanta
von einem Vater’s Mutter’s Bruder’s Sohn.
7. Von den Vorstehern der Familien, die an einem Paap-Baanta-Verkehr
teilhatten, war einer in bezug auf den Vorsteher der andern am Paap-Baanta-
Verkehr beteiligten Familie ein Sohn’s Sohn’s Sohn des leiblichen Sohnes einer
Vater’s Vater’s Schwester, einer ein Sohn’s Sohn des leiblichen Sohnes einer
Vater’s Vater’s Schwester, einer ein Stiefsohn einer Schwester.
b) Ausnahmen aus dem Dorf Dasau (Maagh 1959);
1. Eine Radschpuut-Frau war heimgeholt worden, ohne daß ihr vorher
eine Mait-Baanta gebracht worden wäre. Es wurde mir erklärt, ihr Ehemann
nehme sich auch nie die Mühe, die Sassu-Baanta zu senden. Ihr Vater habe
sich gesagt, durch eine Baanta würde nicht nur seine Beziehung zu ihr, son-
dern auch die zum Schwiegersohn bekräftigt. An der Beziehung zum Schwie-
gersohn war ihm aber nichts gelegen; Die Tochter hatte bereits eine bessere
Heirat in Aussicht.
2. Ein Radschpuut von Dasau hatte zur Zeit der Verheiratung seines
Sohnes (um 1955) mit den Mait-Verwandten der Schwiegertochter vereinbart,
es sollten weder Mait- noch Sassu-Baanten gesandt werden. Der Vereinbarung
lag die Überlegung zugrunde, es sei sinnlos, gleichartige und gleichwertige
Nahrungsmittel auszutauschen. In der Folge wurden die traditionellen
Baanten durch Wein oder Tabak ersetzt.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
121
3. Eine Baadschgii-Frau erhielt keine Mait-Baanten mehr: Sie war alt und
die Mait-Verwandten kümmerten sich nicht mehr um sie. Sie schimpfte über
die nachlässigen Verwandten, hatte aber nicht im Sinn, ihnen Tschhinga zu
erklären; „Was hülfe mir dies? Ich mag nicht Unglück über die eigenen Ver-
wandten bringen.“
4. Eine Koltaa-Frau erhielt keine Mait-Baanten, weil ihr Ehemann ihren
Mait-Verwandten Tschhinga erklärt hate: Er war der Ansicht, seine Frau sei
von ihren Mait-Verwandten magisch geschädigt worden.
5. Ein Radschpuut hatte so lange eine Makki-Baanta erhalten, bis er dem
Mutter’s Bruder’s Sohn, im Zusammenhang mit einem Streit um ein Dar-
lehen, Tschhinga erklärt hatte.
6. Ein Radschpuut sandte die Makki-Baanta auch an einen Stiefsohn seiner
verstorbenen Schwester.
Vier Radschpuut erhielten die Makki-Baanta von seiten der Mait-Familie
einer Stiefmutter. Einer von ihnen erklärte mir, er habe die Makki-Baanta
angefordert, um dem Abbruch der wirtschaftlich wertvollen Beziehung ent-
gegenzuwirken: die verwandtschaftlich-freundschaftliche Beziehung hatte die
Grundlage abgegeben zu Tauschhandel.
(Diese Fälle sind in den Tabellen nicht eingetragen, denn Stiefsöhne einer
Schwester gelten nicht als potentielle Makki-Baanta-Empfänger.)
7. Alle Radschpuut, die keine Sassu-Baanten versandten, erklärten, der
Sassu-Baanta-Brauch sei veraltet, sinnlos. Sie sprachen sich aber mehrheitlich
für die Weiterführung des Mait-Baanta-Brauches aus: „Eine Dhanti steht
uns näher als eine Schwiegermutter.“
Einige Fälle aus dem Dorf Fladscha (Zeitpunkt: Maagh 1959):
(Während einiger Zeit hatte ich in Hadscha, 2 km von Dasau entfernt,
gewohnt.)
1. Ein Braahman sandte seiner Schwester’s Tochter eine Makki-Baanta:
Sic war mit 10 Jahren Waise geworden, und ihr Vater’s Vater hatte ihren
Mutter’s Bruder gebeten, sich um sie zu kümmern.
2. Ein in sororaler Ehe lebender Braahman hatte den Bruder seiner Ehe-
frauen im Scherz ermahnt, zwei Mait-Baanten zu senden. Der Bruder hatte
gelacht und in der Folge wirklich so getan. Daß die Ermahnung als Scherz
aufgefaßt wurde, hängt damit zusammen, daß Scherzen für Schwäger zum
guten Ton gehört („joking relationship“).
III. DEUTUNG UND BEDEUTUNG
Die Dschaunsari betrachten Dschoru-, Mait-, Makki- und Budhmakki-
Baanten als Mittel, um symbolisch für den Lebensunterhalt des Empfängers
aufzukommen, und gleichzeitig der Bereitschaft Ausdruck zu geben, bei Ein-
122
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
tritt bestimmter Umstände tatsächlich für den Empfänger zu sorgen: Auf
Grund der Gewohnheitsrechte sollten Sassuraal-Verwandte für den Lebens-
unterhalt einer Frau aufkommen, wenn sie bei ihnen lebt; Mait-Verwandte
sollten ihr jederzeit Aufnahme gewähren, wenn sie in die Mait zurückzu-
kehren wünscht; Makki-Verwandte sollten für verwaiste oder sonstwie in
Not geratene Verwandte sorgen, und dasselbe gilt für Budhmakki-Ver-
wandte, sofern keine Makki-Verwandte vorhanden oder zur Hilfeleistung be-
reit sind. Die Verpflichtungen bestehen, wenigstens formell, solange, als sich
noch mindestens ein männliches, oder ein zur Nutzung des Familienbesitzes
berechtigtes weibliches Familienmitglied am Leben befindet. Ist kein solches
Mitglied mehr vorhanden, so gehen sie, zusammen mit dem Familienbesitz,
an die Aal-Verwandten der Familie über. Ist ein Landbesitzer oder Nutz-
nießer zur Betreuung der Landwirtschaft nicht fähig, so überläßt er seine
Felder meist einem „Pächter“ (normalerweise ein Aal-Verwandter), der ihm
dafür die Mittel zum Leben zur Verfügung stellt, und gleichzeitig alle ver-
wandtschaftlichen Pflichten abnimmt: Besitzt der „Pachtherr“ eine Frau, so
hat der „Pächter“ für ihren Lebensunterhalt aufzukommen; besitzt er eine
Tochter, der es in der Sassuraal nicht mehr behagt, so hat der „Pächter“
auch für sie zu sorgen usw. Aus einer Familientrennung hervorgegangene Fa-
milien sind gemeinsamen Verwandten gegenüber gesondert verpflichtet. Die
komplizierten Mechanismen der Zuschreibung der erwähnten Baanta-Pflichten
und der Zuschreibung der Unterstützungspflichten harmonieren miteinander.
Paap-Baanten gelten als Symbole der Bereitschaft, bei der Beschwichtigung
des Paap einer Verwandten mitzuwirken.
Sassu-Baanten gelten als Mittel, um Respekt auszudrücken und die Schwie-
germütter symbolisch für die Mühe zu entschädigen, die sie sich bei der
Pflege und Erziehung der Ehefrau gegeben hatten.
Die Gegengabe — die Handvoll Getreide, die in den leeren Sack des
Überbringers einer Baanta gefüllt wird — gilt als Zeugnis der Dankbarkeit
und freundschaftlichen Gesinnung des Empfängers; der asymmetrische, aber
doch reziproke Charakter der Beziehung zwischen Sender und Empfänger ist
deutlich nachgezeichnet.
Auf Grund dieser Deutungen läßt sich leicht verstehen, a) daß eine so
scharfe Reaktion, wie sie das Erklären von Tschhinga darstellt, erfolgen
kann, wenn jemand seine Baanta-Pflichten nicht erfüllt, b) daß Budhmakki-
Baanten selten angefordert werden: Es kommt kaum vor, daß Budhmakki-
Verwandte um Hilfe angegangen werden müssen, c) daß der Sassu-Baanta-
Brauch den Leuten am wenigsten am Herzen liegt; Die Sassu-Baanta allein
schließt kein Versprechen in sich, sondern ist kaum mehr als ein billiges Kom-
pensationsmittel.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
123
Es stellen sich aber einige Fragen: Weshalb sind Mait-, Makki- und Budh-
makki-Verwandten Unterstützungspflichten auferlegt? Weshalb sind Aal-Ver-
wandten solche Pflichten nur auferlegt, wenn der Besitz der Mait-Verwandten
in ihre Hände übergegangen ist? Weshalb muß die Bereitschaft zur Pflicht-
erfüllung immer wieder bestätigt werden? Weshalb genügt es nicht, daß
Schwiegersöhne beim ersten Besuch den Schwiegermüttern ein Geldstück in
die Hand drücken als Bezahlung für die „Muttermilch“?
Ein Vergleich der Baanta-Sendungen mit anderen Transaktionen läßt ihre
Ähnlichkeit mit Zinszahlungen erkennen: sie finden wie diese periodisch statt.
Was für einen Besitz könnte die verheiratete Frau ihren Mait-Verwandten
zur Bewirtschaftung überlassen haben? Und wie steht es mit den Empfängern
anderer Baanten?
Ein Sprachvergleich liefert einen ähnlichen Hinweis: Im Standard-Hindi
bedeutet Baanta „Teil, Anteil, Verteilung“. Da die Sprache der Dschaunsari
mit Hindi eng verwandt ist, läßt sich vermuten, daß diese Bedeutungen dem
dschaunsarischen Baanta-Begriff nahestehen: „Meine Baanta ist gebracht wor-
den“ bedeutet vielleicht „mein Anteil ist gebracht worden“.
Die Nahrungsmittel, aus denen sich die Baanten zusammensetzen, sind
Teile der landwirtschaftlichen Erträge, der Erträge aus Ackerbau und Vieh-
zucht. Es drängt sich eine Untersuchung des Landbesitz- und Erbrechtes auf;
Landwirtschaft ist das Rückgrat der Wirtschaft von Dschaunsar Bawar.
Landbesitz war aber bis vor wenigen Jahren ein Privileg der Braahman und
Radschpuut. Noch zur Zeit meines Aufenthaltes verfügte in Dasau kein ein-
ziger Angehöriger einer niederen Kaste über eigenes Land.
Praktisch jede Braahman- oder Radschpuut-Familie besitzt Land, wobei
unter „Besitz“ das Nutzungsrecht, verbunden mit einem beschränkten Recht
zu Verkauf und Verpachtung zu verstehen ist: Das Verkaufs- und Verpach-
tungsrecht ist dadurch eingeschränkt, daß der Besitzer sein Land immer zu-
erst seinen Aal-Verwandten anzubieten hat, und es nur einem Außenseiter
überlassen darf, wenn dieser ein höheres Angebot macht als die Aal-Ver-
wandten.
Der Landbesitz, wie das übrige Familieneigentum, liegt in den Händen
des Familienoberhauptes und seiner Brüder. Normalerweise wird Familien-
besitz von den Vätern auf die Söhne, also patrilinear, vererbt. Hat ein Vater
aber nur weibliche Nachkommen, so kann er einen Schwiegersohn in den
Haushalt aufnehmen: Tochter’s Söhne werden Sohn’s Söhnen rechtlich gleich-
gestellt, sofern sie, gleichgültig ob zu Lebzeiten oder nach dem Tod ihres
Mutter’s Vaters, in ihrer Makki geboren und aufgewachsen sind. Der ein-
geheiratete Schwiegersohn erhält kein Erbrecht.
Sind keine männlichen Familienmitglieder mehr am Leben, so verfügen
Witwen, sofern sie keine neue Ehe eingehen, und Töchter, sofern ihre Ehe-
124
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
männer ins schwiegerelterliche Haus eingeheiratet haben, über die Nutz-
nießung. Nach dem Tod der letzten Nutznießerin fällt der Familienbesitz
gleichmäßig an die Familien der Aal-Verwandten der ausgestorbenen Familie.
Kommt es innerhalb der Besitzergeneration zu einer Trennung, so darf sich
zuerst der älteste, und dann der jüngste der Brüder ein Feld zum voraus
nehmen; die übrigen Felder werden gleichmäßig unter alle aufgeteilt. Nach
diesem Muster wird auch alles weitere Familieneigentum verteilt: Der älteste
Bruder nimmt eine Kuh, eine Ziege, ein Schaf zum voraus, der jüngste eben-
falls, und der Rest wird an alle verteilt; das beste Haus (die landbesitzenden
Familien verfügen meist über mehrere Häuser: eines dient als Wohnhaus, die
übrigen als Scheunen) fällt dem ältesten Bruder zu, das zweitbeste dem jüng-
sten usw.; Geld wird in n + 1,5 Teile aufgeteilt, wobei n der Zahl der Brüder
entspricht: der älteste Bruder erhält 2 Teile, der jüngste 1,5, die übrigen je
einen Teil.
Wünscht ein Mitglied einer jüngeren Generation einen selbständigen Haus-
halt zu gründen, so steht es den Angehörigen der Besitzergeneration frei, ihm
einige Felder und ein Haus zu überlassen oder nicht.
Dieses Landbesitz- und Erbrecht ist vom Gesichtspunkt der indischen Re-
gierung aus gesehen ungültig. In Dschaunsar Bawar wird es aber immer noch
von den traditionell gesinnten Leuten anerkannt.
Die Ausführungen lassen erkennen, daß Landbesitz letzten Endes Sache
der Aal ist, daß aber weibliche Aal-Mitglieder, obschon sie auch nach der
Verheiratung, wenigstens dem Namen nach, Mitglieder sind, beim Erben und
Teilen nicht berücksichtigt werden. Wird die Frau wirklich vollständig über-
gangen? Hat sie kein Anrecht auf den Besitz ihrer Väter? Nun, sie besitzt
einen Ersatz für das Erbrecht: das Recht auf Unterstützung — tatsächliche
oder symbolische Unterstützung, je nach F mständen —.
Wie kommt es aber, daß Makki- und Budhmakki-Verwandten ähnliche
Unterstützungspflichten auferlegt sind, wie Mait-Verwandten?
Der Gedanke, daß Rechte durch eine Frau vererbt werden könnten, steht
den Dschaunsari, wie wir gesehen haben, nicht fern. Es läßt sich daher ver-
muten, daß gegenüber Makki- (bzw. Budhmakki-)Verwandten von der Mutter
(bzw. Vater’s Mutter) her ererbte Landrechte geltend gemacht werden, wenn
Baanten oder wirkliche Unterstützung gefordert wird.
Diese Deutung widerspricht der vorhergehenden nicht; sie stellt vielmehr
eine Vertiefung dar. Sie erst läßt als sinnvoll erscheinen:
1. daß Mait-, Makki- und Budhmakki-Verwandten Unterstützungs-
pflichten (und entsprechende Baanta-Pfliehten) auferlegt sind,
2. daß diese Pflichten zusammen mit Landrechten übertragen werden,
3. daß die Baanta-Sendungen periodisch erfolgen: In den Tagen un-
mittelbar vor den Festen und während den Festtagen werden den Dienst-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
123
leuten Erntegaben als Lohn überreicht, werden Schulden abgezahlt und Zinse
entrichtet,
4. daß (im Monat Maagh) nur der Schwester eine Laffe, also ein be-
sonders gutes Stück Fleisch, gebracht wird: Ein Bruder ist zu Großzügigkeit
verpflichtet, weil er am unmittelbarsten davon profitiert, daß die Schwester
nicht erbberechtigt ist.
Weshalb wird aber eigentlich kein substantiellerer Ernteanteil gesandt,
ein Anteil wie ihn das von Malinowski (1922 und 1934) beschriebene Urigubu
der Trobriander darstellt?
Leider ist die Geschichte der Ahnen der heutigen Bevölkerung von
Dschaunsar Bawar weitgehend unbekannt. Es scheinen aber mehrmals Träger
verschiedener Kulturen zusammengestoßen zu sein; 1. die Nachkommen der
in der Sanskrit-Literatur mehrfach erwähnten Khasa (die Radschpuut von
Dschaunsar Bawar nennen sich ,Khosch‘), 2. Radschpuut die sich vor den
Moghul-Herrschern in die Berge geflüchtet und möglicherweise mit den Khasa
vermischt hatten, 3. Braahman aus Kaschmir (zwischen den Namen Khasa,
Khosch und Khaschmir dürfte eine Beziehung bestehen), 4. die Vorfahren
der Kolte, die vielleicht noch vor den Khasa in Dschaunsar Bawar eingezogen
waren, 5. die Gurkha aus Nepal, die das Gebiet vor der englischen Fierr-
schaft eine zeitlang in der Gewalt hatten. Es ist nicht unmöglich, daß eine
der Kulturen ausgeprägt mutterrechtliche Züge aufgewiesen hatte, und daß
der Baanta-Brauch durch Reduktion und Umdeutung aus einem solchen Zug
geschaffen worden ist: Vor allem ist daran zu denken, daß bei den Khasi
von Assam, die vielleicht — über die Khasa — mit den Khosch verwandt
sind, eine ausgeprägt mutterrechtliche Ordnung festgestellt worden ist. Es ist
aber auch durchaus denkbar, daß er immer schon nur eine Art Gegengewicht
zu ausgeprägt vaterrechtlichen Zügen dargestellt hat: In vielen vorwiegend
vaterrechtlichen Kulturen erhalten verheiratete Töchter regelmäßig kleinere
Gaben aus dem Elternhaus.
Die Badhii, Baadschgii und Kolte verfügen nicht über Landbesitz. Da in
ihren Kreisen die Verwandtenpflichten gleich verteilt sind wie in den Kreisen
der Radschpuut und Braahman, ist es aber nicht erstaunlich, daß auch sie den
Baanta-Brauch pflegen (durch Eroberer aufgezwungener Kulturwandel, Über-
nahme von Kulturgut der Prestigeschichten; vielleicht waren aber auch gerade
ihre Vorfahren Träger einer vorwiegend mutterrechtlichen Kultur).
Zur Deutung der Dschoru-Baanta als Symbol der Bereitschaft des Ehe-
mannes (und der übrigen Sassuraal-Verwandten), für den Unterhalt der Ehe-
frau aufzukommen, ist kaum etwas beizufügen. Aufschlußreich ist Fall 1,
Seite 119, wo der Ehemann mittels Dschoru-Baanten dokumentiert, daß er es
nicht an der Erfüllung der ehelichen Pflichten fehlen läßt, und damit ver-
126
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
meidet, der Ehefrau einen für sie und ihren Geliebten vorteilhaften Schei-
dungsgrund in die Hand zu geben.
Die Paap-Baanten fügen sich in das bisher entworfene Bild, sobald er-
kannt wurde, daß sie, je nach Herkunft, mit Dschoru- oder Mait-Baanten
identisch sind: Der Paap selbst, als ein in der Paapla gegenwärtiges Wesen,
ist Empfänger der Paap-Baanten. Jetzt wird auch verständlich, daß sie
nicht von jeder neuen Familiengeneration neu angefordert werden müssen,
und daß nie gesagt wird „meine Paap-Baanta ist gebracht worden“.
Nachdem die Paap-Baanta auf die Mait- und Dschoru-Baanta zurück-
geführt worden ist, scheint nur die Sassu-Baanta nicht mit Unterstützungs-
pflichten in Zusammenhang zu stehen. War die Sassu-Baanta früher vielleicht
ein Symbol, mit dem Schwiegersöhne ihre Bereitschaft zur Unterstützung ver-
witweter Schwiegermütter ausdrückten? Sicher ist, daß Schwiegersöhnen heute
keine solche Pflicht auferlegt ist: Witwen leben entweder in ihrer Sassuraal
auf Kosten ihrer Söhne, oder sie begeben sich in die Mait und lassen sich
von den Mait-Verwandtcn erhalten.
Zum Verständnis einiger Einzelheiten des Baanta-Brauches sind weitere
Kenntnisse der in Dschaunsar Bawar geläufigen Überlieferungen notwendig;
1. Daß die Hauptsender und -empfänger immer Generationsälteste sind,
hängt mit der hierarchischen Familienorganisation, die Generationsälteste zu
Repräsentanten der Generationen macht, zusammen.
2. Der Monat Maagh fällt in die kälteste und arbeitsärmste Jahreszeit.
Jeder Tag ist ein Fest mit Tanz und Gelagen: Jede Familie lädt einmal im
Taufe der Monates Vertreter aller andern Familien des Dorfes zu einem
Essen ein. Dies ist die gegebene Zeit, den Verwandten Besuche abzustatten.
Während der übrigen Monate wird nur selten geschlachtet.
3. Aus Gründen der rituellen Reinheit essen die Braahman ausschließlich
Fleisch von Ziegen und Ziegenböcken, und für die Angehörigen der übrigen
Kasten gelten ähnliche Vorschriften. Auf solche Vorschriften muß beim Sen-
den von Baanten geachtet werden, zumal es vorkommt, daß eine Radschpuut-
Fmpfängerin einer Mait-Baanta in einer Braahman-Familie lebt (Zwischen-
heirat) und dort Hammelfleisch nicht zubereiten dürfte.
4. Keine Baanta enthält je das Herz eines Schlachttieres; das Herz ist
der Sitz geheimnisvoller magischer Kräfte, die auf den der es verzehrt über-
gehen. Das Herz wird nur Respektspersonen angeboren; einem Dorfobmann,
einem Mutters Bruder, einem Aal-Obmann. Von diesen Personen kann er-
wartet werden, daß sie ihre Macht zum Wohl ihrer Untergebenen benützen.
Nie wird einer Frau Herz angeboten: sie würde zur Hexe.
5. Über Nacht gestandene Nahrungsmittel dürfen zwar noch verzehrt
werden, gelten aber doch nicht mehr als ganz einwandfrei. Eine aus ge-
kochten Nahrungsmitteln bestehende Baanta wird daher nur gesandt, wenn
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
127
die Aussicht besteht, daß sie am Zubereitungstag verzehrt werden kann. Die
Ankunft der Baanta sollte erfolgen, bevor im FFaus des Empfängers bereits
eine Abendmahlzeit gerüstet ist, d. h. vor dem Abend.
6. Wie überall im hinduistischen Indien, gilt das Anbieten und Annehmen
gekochter Nahrungsmittel in Dschaunsar Bawar als Zeichen einer engen ver-
wandtschaftlichen Beziehung: Durch die gekochten Nahrungsmittel, aus denen
sich die Dschoru-Baanta zusammensetzt, wird der Ehefrau vor Augen ge-
führt, daß sie zum Ehemann gehört. Ist es einer Frau infolge von Schwan-
gerschaft oder Mutterschaft — beides sozial freudig begrüßte Zustände —
unmöglich die Festtage in der Mait zu verbringen, so wird ihr mittels ge-
kochter Nahrungsmittel versichert, daß sich die Verwandtschaftsbande zwi-
schen ihr und den Mait-Verwandten nicht lockern.
7. Eine zu knappe Bemessung der Dschoru-Baanta würde den Eindruck
erwecken, in der Sassuraal der Empfängerin herrsche Geiz oder Armut:
Schlechte Aussichten für eine Frau. Die Dschoru-Baanta wird daher immer
so bemessen, daß sie der ganzen Mait-Familie der Ehefrau eine Mahlzeit
versieht.
Die Empfänger von Mait-, Makki- oder Budhmakki-Baanten wissen, wo
sie in der Not Hilfe fordern dürfen; Auf einzelne Personen oder Familien
beschränkte Notlagen können rasch behoben werden, führen nicht zu Tra-
gödien; die Empfänger von Dschoru-Baanten wissen, daß ihre Ehemänner
bereit sind für sie zu sorgen, und werden gleichzeitig an ihre zukünftige
Zugehörigkeit zur Sassuraal erinnert; die Empfänger von Paap-Baanten
wissen, daß sie im Kampf gegen die Paapen nicht allein stehen. Von den
vielen verwandtschaftlichen Beziehungen gehalten, darf sich das Individuum
sicher fühlen. Der Baanta-Brauch besitzt aber noch weitere Bedeutungen:
In den meisten Dörfern die ich kennen lernte, gehören die Bevölkerungen
der verschiedenen Kasten zu je einem Daaii-Tscharaa. Da ein Daaii-Tscharaa
eine exogame Einheit darstellt, leben alle Baanta-Sender und -Empfänger
der Mitglieder dieser Dorfgemeinschaften in andern Dörfern. Die Erfüllung
der Baanta-Pflichten garantiert daher häufige Kontakte zwischen Angehörigen
verschiedener Dorfgemeinschaften. Kontakte aber stellen eine Grundbedin-
gung zur Errichtung von Fiandelsbeziehungen, politischen Beziehungen, zur
Wahl von Ehepartnern, die aus andern Dörfern stammen und zur Verbrei-
tung von neuen Ideen und ansteckenden Krankheiten dar.
Dasau ist kein Absatzgebiet für Ackerbauprodukte: die Wirtschaft ist in
dieser Beziehung autonom. Auch der Viehhandel ist nicht erwähnenswert.
Die Leute von Dasau tauschen nur etwa ihren Überschuß an Tabak gegen
Wolle aus höhergelegenen und daher zur Schafzucht besser geeigneten Ge-
bieten ein.
128
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
Wer Bargeld braucht, zögert nicht einen begüterten Verwandten um ein
Darlehen anzugehen. Laut Aussagen waren in Dasau am 1. Oktober 1958
nur drei Familien (alles Radschpuut) nicht verschuldet. Als Geldgeber sollen
sich in erster Linie Aal-Verwandte, in zweiter Linie Makki-Verwandte be-
tätigen.
Die Tatsache, daß 1958 in Dasau der Sarpantsch (Präsident des Kreis-
gerichts) und der Pradhaan (Dorfpräsident), beides vom Volk gewählte Be-
amte, am meisten Baanten versandten und empfingen, spricht für die poli-
tische Bedeutung der Baanta-Beziehungen.
Eine Untersuchung der Vorbereitungen zur Verehelichung von Söhnen
ergab, daß zu Beginn der Brautsuche Sender und Empfänger von Baanten
angefragt werden, ob sich in ihrem Dorf eine passende heiratsfähige Frau
befinde.
Mein Haus in Hadscha bildete abends einen Treffpunkt der Einheimischen.
Am Feuer versammelt, pflegten sie die Tagesereignisse zu besprechen. Einmal,
im Maagh 1959, wurde ein Mann, der gerade vom Überbringen einer Baanta
zurückgekehrt war, gefragt, was es am Wohnort seiner Verwandten an
,Neuemc gebe. Gespannt hörten alle Anwesenden seiner Beschreibung einer
neuartigen Getreidemühle, die sich der reichste Mann des Dorfes gebaut
batte, zu. Sie stellten viele ernsthafte Fragen, und einer bemerkte; „Diese
Mühle will ich mir auch ansehen. Gulab Singh ist ein geschickter Mann;
was er sich anschafft bringt Geld ein.“
Es wird geduldet, daß Frauen während ihren Mait-Aufenthalten, d. h.
als Dhanti, Liebschaften pflegen. Der Überbringer einer Baanta hat häufig
Gelegenheit zu Geschlechtsverkehr. Der Baanta-Brauch ist daher geeignet, zur
Verbreitung von Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Gonorrhöe), die in
Dschaunsar Bawar beängstigende Ausmaße erreicht hat (90 °/oiger Befall der
Bevölkerung), beizutragen.
Größere Epidemien sind in Dschaunsar Bawar weniger häufig als in den
indischen Ebenen. Seit Beginn des Jahrhunderts hat eine einzige Cholera-
Epidemie die Gegend von Dasau und Hadscha heimgesucht (um 1930, in
Hadscha etwa 50 Tote).
IV. DIE VERHÄLTNISSE IN DEN NACHBARGEBIETEN
Dschaunsar Bawar grenzt im Norden und Osten an Tehri Garhwal, im
Westen an Himatschal Pradesch, im Süden an die Ebene von Dehra. Ich
hatte keine Gelegenheit, die Verhältnisse in diesen Gebieten selber in Augen-
schein zu nehmen.
Tehri Garhwal kann von Dasau aus nur in mindestens zwei Tages-
märschen erreicht werden. Niemand in Dasau wußte Bescheid über dieses
Gebiet. Die folgenden Auskünfte erhielt ich von meinem Diener, der aus
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
129
Tehri Garhwal, aus dem 4 km von Dschaunsar Bawar entfernten Dorf
Khansi stammt:
In Khansi und Umgebung sind Baanten bekannt. Sie bestehen aber aus-
schließlich aus gekochtem Fleisch und in öl gebackenen Fladenbroten. Es
werden nur Mait- und Makki-Baanten unterschieden. Mait-Baanten werden
an dieselben Verwandten gesandt wie in Dasau; Makki-Baanten ausschließlich
an leibliche Töchter verstorbener Schwestern (konsequente matrilineare Ver-
erbung der Baanta-Rechte!).
Die Grenze zwischen Dschaunsar Bawar und Himatschal Pradesch ver-
läuft 7 km westlich von Dasau. Am 1. Januar 1959 waren drei aus Dasau
stammende Frauen in Himatschal Pradesch, nicht mehr als einen Tagesmarsch
von Dasau entfernt, verheiratet. Allen wurde die Mait-Baanta gesandt, zum
mindesten im Monat Maagh. Ein Radschpuut sandte auch eine Makki-Baanta.
Es wurde mir von den Sendern versichert, der Baanta-Brauch sei in Himat-
schal Pradesch so bekannt wie in Dschaunsar Bawar. In diesem Zusammen-
hang ist zu erwähnen, daß die Radschpuut von Dasau und die Braahrnan
von Hadscha behaupten, ihre Vorfahren seien von Himatschal Pradesch her
eingewandert.
Die Ebene von Dehra ist von der großen Stadt Dehradun dominiert. Ob
in den umliegenden Dörfern der Baanta-Brauch bekannt ist, konnte ich nicht
ermitteln.
V. DIE ZUKUNFT DES BAANTA-BRAUCHES
Zur Zeit der englischen Herrschaft blieben die Bewohner von Dschaunsar
Bawar weitgehend sich selbst überlassen: Die Engländer verlangten die Ent-
richtung einer bescheidenen Steuer und kümmerten sich im übrigen weder
um die sozialen noch um die wirtschaftlichen Verhältnisse. Damals erlaubte
die wirtschaftliche Produktion gerade die Deckung des Eigenbedarfes an Nah-
rung und die Bezahlung der Steuern.
1953 nahm die indische Regierung die soziale und wirtschaftliche Er-
schließung von Dschaunsar Bawar im Rahmen des ,Community Development
Project (C.D.P.) in Angriff. 1958 bemühten sich zahlreiche Regierungsbeamte,
die Bevölkerung in bezug auf Landwirtschaft, Hygiene, Erziehung, Zusam-
menarbeit und Dorfverwaltung zu beraten. Es wurde eine Konsum- und
Kreditgenossenschaft gegründet. Es wurde kostenlos ärztliche Hilfe geboten.
Es wurden Schulen errichtet. Der Bau einer Fahrstraße ist geplant: die
Kontakte mit der Außenwelt und die Entwicklung auf den Wohlfahrtsstaat
hin lassen die verwandtschaftlichen Beziehungen in den Hintergrund rücken.
Es kommt die neue Gesetzgebung hinzu: Der „Hindu Succession Act“ von
1956 erklärt Brüder und Schwestern als erbtechnisch gleichberechtigt (II, 10),
9 Baessler-Archiv VIII
130
Haas, Der Baanta-Brauch der Dschaunsari
der „Hindu Adoption and Maintenance Act“ von 1956 erklärt Söhne und
Töchter mittellosen Eltern (Stiefmütter eingeschlossen) gegenüber, und Eltern
minderjährigen Kindern gegenüber unterstützungspflichtig (III, 20). Der In-
haber dieser Rechte braucht keine periodische Bestätigung von seiten des
Partners der Rechtsbeziehung: Verweigert der Partner die Erfüllung seiner
Pflicht, so kann er gerichtlich belangt werden.
All dies schafft die Grundlage zum Erlöschen des Baanta-Brauches. War
davon 1958 bereits etwas zu spüren? Die Aussagen über die Sassu-Baanta
und der im Jahr 1956 gefällte Entschluß zur Modifizierung des Inhaltes der
Baanten sprechen für eine solche Entwicklung.
Literatur:
Grierson: „Linguistic Survey of India“, vol. IX.
Majumdar, D. N.: „Family and Marriage in a Polyandrous Society". Eastern
Anthropologist, vol. 10, 1955.
— „Races and Cultures of India“, Bombay, 1958.
Malinowski, B.: „Argonauts of the Western Pacific“, London, 1922.
— „Coral Gardens and Their Magic“, London 1935.
Meyer Fortes: „Malinowski and The Study of Kinship“ in: Man and Culture,
ed. by Raymond Firth, London 1957.
Saxena, R. N.: „Social Economy of a Polyandrous People“, Agra University
Institut of Social Science, 1956.
Walton, H. G.: „The District Gazetteers of The United Provinces of Agra and
Oudh“, vol. II, Allahabad, 1929.
Baessler-Archlv, Neue Folge, Band VIIt
131
EIN TÜRKISCHER TANZLIED-TYP
UND SEINE AUSSERTÜRKISCHEN PARALLELEN
KURT REINHARD, Berlin
Textinterpretation und Übersetzungen von Ursula Reinhard
Einleitung. Unter meinen auf zwei Reisen (1955 und 1956) ge-
sammelten südtürkischen Volksmusik-Aufnahmen fallen einige Tanzlieder
durch ihren eigenartigen Stil ganz besonders auf. Sie zeigen in der rhyth-
misch-metrischen Straffung sowie in der syllabischen Melodiebildung noch
einen Zusammenhang mit anderen Tanzmelodien der gleichen Gegend, wes-
halb ich einen Teil von ihnen bereits neben diesen veröffentlichen konnte1,
sie ähneln aber ebenso stark Liedtypen benachbarter und weiter entfernter
nichttürkischer Gebiete, so daß es sinnvoll erscheint, einmal auf solche Pa-
rallelen hinzuweisen. Ob diese auf tatsächliche ethnische und kulturelle
Beziehungen zurückzuführen sind, und wo möglicherweise der Ausgangspunkt
zu suchen ist, kann auf Grund des bisher vorliegenden, keineswegs aus-
reichenden Materials und erst recht nicht in dieser knappen Darstellung ge-
klärt werden.
Am deutlichsten sind die Charakteristika der hier zu besprechenden Bei-
spiele in den Chortanzliedern des Barak-asiret (Süd-Türkei), aus Ali Guebr
(Süd-Irak) und bei den Kurden in der Südost-Türkei2 ausgeprägt, doch er-
innern gerade diese Stücke an Gemeinschaftstänze solcher Völkerschaften, zu
denen gar keine Beziehungen bestanden haben können, so daß auch die Frage
naheliegt, ob nicht die überall gleiche soziologische Funktion des Chortanz-
hedes für solche Übereinstimmungen verantwortlich zu machen ist. So stieß ich
durch das unmittelbare Klangerlebnis nicht allein auf die süd-irakischen und
auf andere arabische Lieder, ich wurde vielmehr sogar auch an Stampftänze
von den Färöer-Inseln erinnert.
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit werden zwölf meiner Aufnahmen
aus der Türkei3 in extenso vorgelegt, der zweite Teil bringt dann die Publi-
1 Beisp. 3, 4 und 5 (Aufn. 537, 538 und 576) in „Tanzlieder der Turkmenen in
der Süd-Türkei“ („Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kon-
greß Hamburg 1956“, Kassel und Basel 1957, S. 189). Beisp. 3 wurde auch noch
publiziert in „Types of Turkmenian Songs in Turkey“ („Journal of the Inter-
national Folk Music Council“ IX, 1957, S. 49).
2 Diese von Dieter Christensen 1958 auf genommenen Stücke wurden von dem
Sammler an anderer Stelle selbst publiziert und brauchen deshalb hier weder
zitiert noch näher besprochen zu werden. „Jahrbuch für musikalische Volks- und
Völkerkunde“ 1960.
3 Zu diesen Aufnahmen benutzte ich fast ausschließlich das Batterie-Tonbandgerät
132
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
kation der zu vergleichenden süd-irakischen Lieder von Sigrid Westphal-
Hcllbusch4, und schließlich folgen Beispiele aus dem Jemen, aus Ägypten
und aus Syrien5.
DIE TÜRKISCHEN BEISPIELE
Vier L e y 1 i m aus Karacurun. Die ersten vier Beispiele, die text-
lich und melodisch zum Teil Varianten des gleichen Liedes sind, wurden
während meiner zweiten, im Frühjahr 1956 zusammen mit meiner Frau
durchgeführten Reise am gleichen Ort aufgenommen. Wir erreichten Kara-
curun am Nachmittag des 11. April. Dieses Dorf liegt in der Provinz
Gaziantep, 18 km südöstlich von Nizip und 11 km westlich des Euphrat,
und ist 7 km von der syrischen Grenze entfernt. Seine Häuser sind wie in
vielen Dörfern der Gegend in arabischer, fast fensterloser Lehmbauweise
errichtet. Auch die Bevölkerung zeigt schon bei oberflächlicher Betrachtung
vor allem im Gesichtsschnitt arabisches Aussehen. Auch der bei vielen vorder-
orientalischen Nomaden üblichen blauen Tatauierung von Kinn und Stirn der
Frauen waren wir bisher nicht begegnet. Obwohl die Leute angaben, zum
Barak a§iret6 zu gehören, und die Bezeichnung asiret (Stamm) vor allem von
den kriegerisch-nomadischen Gruppen der Kurden verwendet wird, ver-
muteten wir dahinter noch keinerlei Beziehung, zumal ja auch eindeutig
turkmenische Stämme die gleiche ursprünglich arabische Bezeichnung verwen-
den. Dagegen erklärte die Bemerkung unseres Begleiters Halil Üstün', daß
die Bevölkerung dieses Dorfes aus Arabern und Kurden gemischt sei, die
Sonderstellung des hier angetroffenen Musikstiles. Vollends deutlich wurden
aber dann gewisse Parallelen, als Dieter Christensens Aufnahmen rein kur-
discher Musik zum Vergleich zur Verfügung standen.
Die Bevölkerung Karacuruns verhielt sich bei unserer Begegnung auch
völlig anders als wir es bei türkischen Hirten und Bauern erlebt hatten. Die
„Butoba“, nur zu einem Stück (Nr. 10, Aufn. 530) konnte ich ein Netzgerät
verwenden. Beide Apparate laufen mit einer Geschwindigkeit von 9,5 cm/sec.
Die Originale zu ersteren Aufnahmen und eine Kopie zu Nr. 530 befinden sich
im Phonogramm-Archiv des Museums für Völkerkunde Berlin.
4 Diese Aufnahmen führte Sigrid Westphal-Hellbusch während ihrer ethnologischen
Studienreise in die Schilfwüste des Euphrat-Tigris-Deltas 1955/56 mit einem
Batterie-Tonbandgerät (9,5 cm/sec) durch. Kopien davon liegen ebenfalls im
Phonogramm-Archiv.
5 Nähere Angaben zu den Quellen der letztgenannten Beispiele finden sich auf
den S. 159, 160 und 163 sowie in den Anm. 46 bis 49.
Barak ist ein südöstlich von Karacurun unmittelbar an der Grenze gelegener Ort.
7 Herr Halil Üstün, der mich auch auf meiner ersten Reise 1955 begleitet hatte,
ist Hethitologe und war 1956 Zweiter Direktor des Archäologischen Museum
zu Ankara. Obwohl kein Musikologe, war er ein großartiger Mitarbeiter. Für
seine Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung sowie vor allem für
seine Textniederschriften bin ich ihm zu größtem Danke verpflichtet.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
133
erste Scheu war hier sehr schnell überwunden, die gänzlich unverschleierten
Frauen waren sofort zum Singen bereift. Ihre anfängliche Forderung, wäh-
rend ihres Gesanges sollten ihre eigenen Männer den Schulraum, in dem die
Aufnahmen stattfanden, verlassen, wurde bald fallengelassen, und kurz dar-
auf sahen wir uns inmitten einer lustigen, munter und ungehemmt plaudern-
den Dorfgemeinschaft aus Frauen, Männern und Kindern. Ja, beide Ge-
schlechter sangen und tanzten nun gemeinsam. Und dabei konnten wir die
vier Chortanzlieder aufnehmen.
Sie alle trugen den Titel Leylim bzw. Leylim türküsü (= Leylim-Lied).
Dies erklärt aber nicht die textliche und melodische Verwandtschaft der vor-
liegenden Lieder, denn die gleiche Überschrift taucht auch in anderen Stücken
auf9. Sie muß also eine ganze Gruppe von Tanzliedern bezeichnen und ist
daher wohl mehr eine Form- oder Typenbezeichnung, vielleicht sogar speziell
für die hier zusammengefaßten Tanzgesänge, zumal sieben von elf eben diese
Bezeichnung tragen30.
Zum ersten Lied (Aufnahme 536) tanzten sieben Frauen und drei Männer,
während die Sänger der übrigen Lieder wegen der Aufnahme nicht mit-
tanzten. Zum Tanze faßten die Beteiligten sich an den erhobenen Fländen
s Die Tatsache, daß uns Frau Sabahat, die Direktorin des Archäologischen Museums
in Gaziantep, hierher geführt hatte, weil sie die Leute von Grabungen her kannte,
ist für das ungewohnt spontane Zutrauen sicher nur zum kleineren Teil verant-
wortlich zu machen. Wir wurden ja auch anderenorts oftmals durch irgend einen
Bekannten eingeführt, ohne daraufhin ein ähnliches Verhalten zu erleben. Trotz-
dem darf ich Frau Sabahat für ihre auch bei anderen Gelegenheiten geleistete
Unterstützung an dieser Stelle herzlich danken.
9 Aufm 530, 556 und 572 (Bcisp. 10, 7, 5).
10 Welche Bedeutung das Wort Leylim hier hat, ließ sich bisher nicht eindeutig
klären, auch nicht durch Einheimische. Leyl ist arabisch und bedeutet die Nacht.
Die Wortableitung Leyli heißt „nächtlich, auf die Nacht bezüglich“. Diese Be-
deutung begegnet in mehreren anderen Aufnahmen der Sammlung (451, 486,
498 und 511), wo vom „nächtlichen Hirten“ (Leyli coban), die Rede ist. Anderer-
seits kann Leyli ebenso wie Leyla ein Frauenname sein, so in den Aufnahmen 50,
549c und 553. Leylim heißt „meine Nacht“, steht aber nach Angabe von Muvaf-
fak Uyanik (in einem Brief an Dieter Christensen vom 8. 7. 1959) auch für „meine
Geliebte“ und soll in diesem Sinne in Liedern öfters Vorkommen. Ali Erkmen
sagt in einem Briefe an D. Christensen (1. 10. 1959) noch Genaueres. Nach ihm
soll Leylim „Meine geliebte Leyla“ bedeuten, Leyla aber war eine „wunder-
hübsche braune Ägypterin“ und gilt in der Türkei als „eine mythische Geliebte“.
Da aber in keinem unserer sieben Beispiele das Wort im Text selbst auch nur
einmal auftaucht, ist es unwahrscheinlich, daß hier allgemein „meine Geliebte“
gemeint ist. Es bleiben also nur zwei Deutungsmöglichkeiten: entweder ist Leylim
hier die Gattungsbezeichnung für bestimmte Lieder, die nachts gesungen bzw.
getanzt werden, oder alle diese Stücke gehören zu einem Epos, wenn auch wohl
nicht zu der im Orient berühmten Liebesgeschichte „Leyla und Mecnun“, auf die
Uyanik in dem genannten Briefe aufmerksam macht und auf die offenbar auch
Erkmen mit der „mythischen Geliebten“ anspielt. Für die zweite Auslegung
spricht die von den Sängern gemachte Angabe zum Titel der Aufnahme 556
(Beisp. 7): „Aus Leylim: Hamm Kizlar“.
134
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
an, wobei sie eine zum Kreis tendierende Reihe bildeten. Die Bezeichnung
als Halay, ein in der Türkei weitverbreiteter Tanz, die zur Aufnahme 539
angegeben wurde, dürfte sicher für alle Stücke zutreffen11 12. Man singt und
tanzt diese Lieder zu Hochzeiten und anderen Festen. Der Vortrag ist rhyth-
misch straff, fast abgehackt, man bezorzugt eine mittlere bis volle Lautstärke
ohne dabei völlig auf die im vorderen Orient übliche gepreßte Stimmgebung
zu verzichten. Auffällig ist die Gleichförmigkeit der Lautstärke, die Spitzen-
töne werden, wenn überhaupt, nur wenig akzentuiert. Männer und Frauen
singen nach Möglichkeit in der gleichen absoluten Stimmlage. Gelegentlich
wird auf die Viertel zum Tanze geklatscht, in den auf jeden Tanz folgenden
akklamatorischen Beifall wurden während unserer Aufnahmen Weibertriller
gesungen, eine Sitte, der wir hier auch zum ersten Male begegneten.
Offenbar gehört der Wechselgesang zum Wesen dieser Lieder. Gelegentlich
mag es sich dabei, wie in Nr. 3, sogar um einen Dialog zwischen einem Mann
und einem Mädchen handeln. In jedem Falle ist es aber sicher reizvoll, daß
es immer offen bleibt, ob Mann oder Frau gemeint sind, da im Türkischen
die Artikel und auch Geschlechtsbestimmungen fehlen. In unseren drei ersten,
im Wechsel gesungenen Liedern haben wir aber die übliche, nicht dialogartige
Form vor uns. Hier steht jeweils ein Solist einem Chor gegenüber und dieser
wiederholt den vorgesungenen Text wörtlich. Die Wiederholung setzt nicht
erst nach der vollen Strophe, sondern meist schon nach der halben Strophe ein.
Charakteristisch für den Rhythmus ist die fast unprohlierte Gleichförmig-
keit der Werte. Während Beispiel 2 jeweils nach drei aus acht Achteln be-
stehenden Zeilen erst in der Schlußzeile den Rhythmus: sechs Achtel plus ein
Viertel aufnimmt, ist letztere Formel als einzige in Beispiel 1 vertreten1". Sie
paßt sich mit ihren sieben Tönen der Silbenzahl ebenso an wie die noch
häufigere Folge: vier Achtel, ein Viertel, zwei Achtel (Beispiel 3 u. 4). Die
rhythmischen Figuren bestimmen das Metrum, indem sie jeweils einen Vier-
Viertel-Takt füllen. Das Tempo ist durchweg schnell, schwankt aber zwischen
11 Allerdings bleibt zu bedenken, daß Halay sonst immer mit Begleitung von Trom-
mel und Oboe getanzt wird. Hier in Karacurun fehlte auch der sonst übliche
Anführer. In einem Folklore-Wörterbuch findet sich folgende Erklärung zu
Halay: (Übersetzung) „Allgemeiner Name für die Volkstänze, bei denen man
sich an den Händen hält oder sich unterhakt. Es gibt verschiedene Arten. Bei
allen wird Davul-Zurna gespielt. Einer der Tänzer ist Anführer, der in seiner
freien Hand ein Tuch hält und ständig in der Luft, hin- und herbewegt. Er leitet
den Tanz und wechselt die Figuren. Die anderen tanzen seine Bewegungen nach.
Mädchen und junge Frauen tanzen den ITalay in Hochzeitshäusern mit der
Schellentrommel Tef.“ (Türkiyede Halk Agzmdan, Söz Derleme Dergisi, Band 6:
Folklor Sözlcri. Ankara 1952.)
12 Die Notenniederschriften finden sich weder unmittelbar hier beigefügt noch am
Schluß zusammengefaßt, sie stehen vielmehr sinngemäß bei den später zu be-
sprechenden Texten.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band Vili
135
Viertel = 100 (Beispiel 2 u. 4) und 126 (Beispiel 3). Alle Melodien haben
einen engen Ambitus. Das ist eine der wichtigsten Eigenarten der hier be-
handelten Lieder. Eine der vorkommenden Skalen ist ein Ausschnitt aus einer
pentatonischen Reihe13 (Beispiel 3), die anderen Leitern sind drei- bzw. vier-
teilig diatonisch, wobei zu berücksichtigen bleibt, daß das Motiv Beispiel 4
eine Variante von Beispiel 3 darstellt und nur durch Einfügung eines Piän
die Sekund-Terz-Zelle zu einem Tetrachord erweitert hat. Beispiel 1 ist zwar
auch viertönig, sein bevorzugtes Motiv besteht aber nur aus zwei Tönen. Be-
liebt sind Tonwiederholungen, was sich in dem gegenüber dem „Tempo der
häufigsten Notenwerte“ viel geringeren „Melischen Tempo“14 ausdrückt, und
der schaukelnde Wechsel zweier meist halbstufiger Nachbartöne. Beide Er-
scheinungen sind nicht nur Symptome kleinräumigen, betont rhythmischen
Singens, sie können auch direkt von einander abhängig sein, wie in den ersten
beiden Beispielen. Das Kopfmotiv von Beispiel 2 erscheint nämlich wie eine
stärker melodische Modifizierung von Beispiel 1. Während in diesen beiden
Stücken eine wenn auch schwach wellen- bzw. bogenförmige Melodiebewegung
herrscht, zeigen die beiden letzten noch enger verwandten Stücke, ein trotz
seiner Beschränkung auf den Quartraum recht ausgeprägtes Deszendenzmelos.
Während alle schon erwähnten und noch weitere Einzelheiten der ersten
vier Lieder in der späteren, alle Beispiele umfassenden Tabelle zusammen-
13 Vgl. hierzu die Ausführungen des Verfassers „On the problem of pre-pentatonic
scales: Particulary the third-second nucleus“ im „Journal of the International
Folk Music Council“ Vol. X (1958) S. 15.
11 Zum neueingeführten Begriff des „Tempo der häufigsten Notenwerte vgl. des
Verfassers Aufsatz „Die Musik der Lolo“ („Baessler-Archiv“, Neue Folge Bd. III
1955, S. 195). Die danach von Dieter Christensen vorgeschlagenen termim „Inneres
Tempo“ und „Melisches Tempo“ sind erstmalig in dessen Arbeit über „Die Musik
der Kate und Sialum“ (Diss. Berlin 1957) angewandt worden. Zu den damit
gegebenen insgesamt vier Tempokriterien vgl. Kurt Reinhard „Eine von der
rhythmischen Belebung abhängige Tempobezeichnung“ im „Bericht über den
siebenten Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Köln 1958“, Kassel
1959, S. 229. Diese vier termini werden im folgenden so abgekürzt:
Z. T.: Tempo der Zählzeilen, d. i. die normale Tempoangabe In M, M.
Fl. T.: Tempo der häufigsten Notenwerte, ebenfalls in M. M. ausgedrückt.
I. T.: Inneres Tempo. Das sind die in einem Stück bzw. in einer Strophe tat-
sächlich vorkommenden Töne, umgerechnet auf eine Minute, nach der
Formel: Zahl der Töne mal 60 geteilt durch Dauer in sec.
M.T.: Melisches Tempo, die in gleicher Weise angegebenen Tonhöhen Verände-
rungen, nach der Formel: Zahl der Fortschreitungen mal 60 geteilt durch
Dauer in sec.
1 '* Obwohl die Texte an Ort und Stelle aufgeschrieben wurden, ¡nacht ihre end-
gültige Niederschrift doch deshalb besondere Mühe, weil die Schrift oft unleserlich
ist und wegen allzu schlechter Aussprache der Sänger vielfach auch nicht durch
Abhören der Aufnahmen ergänzt werden kann, ganz davon abgesehen, daß ge-
sungener und aufgeschriebener Text mehrfach überhaupt nicht übereinstimmen.
Die Übersetzung ist auch nicht ganz einfach, da die Sänger im Dialekt sangen
136
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
gestellt werden, mögen hier schon die zugehörigen, von meiner Frau kritisch
bearbeiteten Texte, ihre Übersetzungen15 und ihr Verhältnis zur musikalischen
Form mitgeteilt sein. Hier erscheinen dann auch die ersten Notennieder-
schriften.
Die Grundstrophen der ersten vier Gesänge sind vierzeilig, die Zeilen
siebensilbig, das Reimschema ist x, x, y, x3<>. Es handelt sich also um die
Volksdichtungsform der m a n i. Wo die Melodiezeile aus acht Noten besteht
und nicht zwei Noten zu einer Ligatur zusammengefaßt werden, wird, wie
in türkischen Volksliedern sehr häufig, eine Füllsilbe eingeschoben. Diese ver-
ändert die Textform ebenso wenig wie ganze Refrainzeilen. Wo letztere ein-
gefügt werden, unterliegt keiner Regel, sie können ebenso auf jede Zeile
folgen (Beispiel 2), wie erst nach jeder Strophe (Beispiel 4). Lose ist auch das
Verhältnis von Text- bzw. Refrainzeilen und Melodiezeilen. Da gibt es Lie-
der, in denen zu jeder der vier Zeilen einer Strophe die gleiche Melodie
gesungen wird. (Beispiel 1), während in anderen Fällen fast jeder Text- und
Refrainzeile ein eigenes Motiv entspricht (Beispiel 2). Nur in einem Falle
decken sich Text- und Melodiestrophen (Beispiel 4). Sonst haben letztere
höchstens die Länge der halben Textstrophe.
Beispiel 1 (Aufnahme 536) „Leylim türküsü“, Vorsängerin und Chor
von Frauen und Männern des Barak-a§iret. Karacurun 11. April 1956.
Zu diesem Chortanzlied wurde kein Text notiert, da er angeblich mit dem
der Aufnahme 537 identisch ist. Jetzt stellt sich aber heraus, daß dies nicht der
Fall ist. Es taucht lediglich die vierte Strophe der Aufnahme 538 auf, und
zwar sind deren beide Hälften auf den Anfang einer und das Ende der
folgenden Strophe verteilt. Um der Notenniederschrift aber wenigstens eine
vollständige Textstrophe unterlegen zu können, wurden die beiden Halb-
strophen zusammengezogen. Wenngleich der übrige Text nicht vollständig
durch Abhören rekonstruiert werden konnte, ist die Reimfolge x — x — y — x
deutlich. Text- und Melodiestrophe sowie Wiederholung durch Wechselgesang
verhalten sich folgendermaßen:
und weil die auch für die türkische Volksdichtung typische Mehrdeutigkeit und
Symholhaltigkeit der Begriffe von Landschaft zu Landschaft wechseln können, und
nur zum geringsten Teil selbst in Folklore-Lexika erfaßt sind. Viele fragliche Stel-
len konnten aber durch die Hilfe von Frau Dr. Tahsin-Bruchlos, der Lektorin
für Türkisch an der Freien Universität Berlin, geklärt werden, der die Verfasser
für diese Unterstützung zu großem Danke verpflichtet sind.
16 Hier und im folgenden werden, im Gegensatz zu den melodischen Motivbezeich-
nungen a, b, c usw., kleine Buchstaben aus der zweiten Hälfte des Alphabets an-
gewandt, und zwar so, daß n, o, p usw. mit folgender Zahl eine Zeile mit
eigenem Text und ihre Silbenzahl bezeichnen und daß x, y, z die Reimfolge
wiedergeben. R bedeutet Refrain,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
137
vtzeilen einer Strophe Musikalische
Solo Chor Motive
n7x a
o7x a oder a’
n7x a
o7x a oder a’
p7y a oder a’
q7x a
p7y a oder a’
q7x a oder a"
Jede Strophe einschließlich der Wiederholungen durch den Chor bringt
also achtmal das gleiche Motiv. Der Gefahr allzu großer Monotonie begegnet
man aber durch die wahlweise Verwendung von insgesamt sechs verschie-
denen Varianten des schlichten Motivs. Die einfachste Version, der sich auch
die hier vollständig notierte, mit dem rekonstruierten Text unterlegte erste
Strophe bedient, weicht allmählich immer abwechslungsreicheren Varianten-
gruppen, wobei das Ausgangsmotiv immer noch in fast allen ersten und
dritten Zeilen beibehalten wird. Interessant ist ferner, daß die zweite Hälfte
des Motivs mit den Tönen f — f — e niemals verändert wird. Die Impro-
visionsfreude kann sich also nur innerhalb der ersten vier Töne ausleben.
Die sechs Varianten, deren letzte erst in der vierten Strophe auftaucht,
sehen so aus:
i JJJ J J8 J7T3/3J1 JTT3 nnium
Sie werden folgendermaßen kombiniert:
Erste Halbstrophe Zweite Halbstrophe
Solistin Chor Solistin Chor
1. Strophe: I — 1 1 — 1 1—1 1—1
2. Strophe: 2 — 1 3 — 2 (fehlt)
3. Strophe: 1 — 1 1 — 5 1—1 4—5
4. Strophe: 1 — 1 1 — 1 1—6 1—5
5. Strophe: 1 — 6 1 — 5 1—5 1—5
6. Strophe: 1 — 5 1 — 5 1—5 1—5
Yeri Yerislim yeri Geh meine Freundin aus Yerisch,
Sirti gümüslüm yeri du mit deinem Silberrücken geh.
Yüzündeki yar^lar In deinem Gesicht sind Wunden,
öpüs yeri dis yeri küßt euch, geh, beißt euch, geh.
138
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
J = elwQ. 116 . Solistin Chor
yz - ri /z - ris - lim ye- ri Sir' - ti gü- müs-lüm ye- ri : Jl J) J) J J> J Y<z- ri yz- ri$- lim ye - r i Sir- H gu - mus- ¡um ye-ri
A Solis tin Chor
J> J>_J> ji yiP j ; -Jl J> j J yü - zun- dz- l<i ya-ra-lar o - pus ye-ri dis ye-ri ■ } J J * J't yü - zur-dz- kl ya - ra - lar Dj Ay) J !l o - pus yz - ri dis ye - ri
Beispiel 2 (Aufnahme 539) „Leylim“, Halay-Tanz, Vorsänger und
Chor von sechs bis acht Männern der Karakozak- und Adikh-Gruppe des
Barak-Asiret. Karacurun 11. April 1956.
Hier wird nach jeder Strophenzeile eine Refrainzeile eingeschoben. Ins-
gesamt tauchen zwei Refrainzeilen auf. Bis auf die letzte Melodiezeile der
musikalischen Strophe, die zur zweiten Refrainzeile gehört, bestehen alle
Motive aus acht Tönen. Dem passen sich die siebensilbigen Textzeilen durch
Einfügung der Füllsilbe „öy“, die Refrainzeilen durch Vokalverdoppelung
m der Schlußsilbe an. Das Formschema sieht so aus;
S o
Textzeilen einer Strophe
Cho
Musikalische
Motive
n7 + lx
R r7z
o7 + lx
Rs7z
n7 + lx
Rr7z
o7 + Ix
Rs7z
P7 + Iy
Rr7z
q7 + Ix
Rs7z
P7 + ly
Rr7z
q7 + Ix
Rs7z
dj
a]
b
C
d
Die Motivverwandlungen sollen hier nicht so eingehend besprochen wer-
den wie im vorigen Beispiel, es sei aber lediglich darauf hingewiesen, daß
die Motive a und b stets unverändert bleiben, während c und d öfters leicht
abgewandelt werden. Dabei erhalten sie gelegentlich fast das gleiche Aus-
sehen. Fläufig singt der Chor gleichzeitig verschiedene Varianten, so daß an
den betreffenden Stellen Sekundklänge entstehen.
Die Wortwiederholung innerhalb der ersten Refrainzeile verdeutlicht be-
sonders anschaulich, daß Wortakzent und musikalische Betonung keineswegs
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
139
immer zusammenfallen. Ja, schon der richtig gesprochene Vortrag eines Ge-
dichtes erfordert diese der Prosa zuwiderlaufende Akzentuierung. So wird
die genannte Zeile normal s o betont: tas dönmiyor dönmiyor, musikalisch
aber mit diesen Akzenten versehen: tas dönmiyor dönmiyor. Und da ent-
steht eben dieses, die Diskrepanz hervorhebende, aber zugleich reizvolle
Wechselspiel einer unterschiedlichen Betonung des gleichen Wortes.
J = 98
1. Sirophz
CruL bii - mis ye - ri - sin - den öy Gz - Un cl - tu bin - mi - yor
A Chor a b
—G—E—E E IT ? 7----IT—NVg l- -ö—r V- ■ g ß -I
De - gir - men a - ra - sin - dan öy Tas don - mi - yor dön - mi - yo - (o)r
Beginnen arasmdan (öy) (Refrain 1:) tas dönmiyor dönmiyor
Gül bitmis yeresinden (öy) (Refrain 2:) gelin ata binmiyor
Basima bir is geldi (öy) (Refrain 1:) tas dönmiyor dönmiyor
Ergenlik arasinda (öy) (Refrain 2:) gelin ata binmiyor
In der Mühle drinnen
(R. 2:) dreht sich nicht der Stein,
Aufgegangen ist die Rose,
(R. 1:) Die Braut steigt nicht zu Pferde1',
r‘ Wie in fast allen Liedern steht hier zu Anfang ein Bild. Die Mühle, deren Mühl-
stein sich nicht dreht, symbolisiert die Einsamkeit des Jünglings. Das geliebte
140
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Ich habe eine Sorge,
(R. 1:) Es dreht sich nicht der Stein,
In meiner Jugendzeit18,
(R. 2:) Die Braut steigt nicht zu Pferde.
Kebabpda sisim var (R. 1) . . . Beim Koch ist mein Platz111, (R. 1) . . .,
Olacak da a§im var (R. 2) . . . Dort hab’ ich mein Essen, (R. 2) . . .,
Tiren yolu düz gider (R. 1). . . Des Zuges Weg ist eben20, (R. 1) . . .,
On dokuz oynasin var (R. 2) . . . Du hast neunzehn Liebhaber, (R. 2) . . . .
Tiren yolu düz gider (R. 1) . . . Des Zuges Weg ist eben, (R. 1) . . .,
Bir $akah ktz gider (R. 2) . . . Ein lustiges Mädchen geht, (R. 2) . . .,
O kiz yolun §a§irmis (R. 1) . . . Das Mädchen hat sich verirrt, (R. 1) . . .,
Insallah bize gider (R. 2) . . . Ich hoffe, es kommt zu uns, (R. 2) . . . .
Kara posulu ?oban (R. 1) . . . Der Hirt mit schwarzen Stiefeln, (R. 2) . . .
Nereye gam dolanan (R. 2) . . . Wo drückt ihn der Kummer?, (R. 2) . . .,
Yedi dünürcü saldim (R. 1) . . . Sieben Verwandte schickte ich aus, (R. I) . . ,
Vermiyor deyyus babasi (R. 2) . . .Das Scheusal21 von Vater gibt sie nicht her, (R. 2) .
Beispiel 3 (Aufnahme 537) „Leylim türküsü“, Vorsängerin und Chor
von acht bis zehn Männern der Karakozak-Gruppe des Barak-asiret. Kara-
curun 11. April 1956.
Das Wiederholungsprinzip ist das gleiche wie in Beispiel 1. In der musi-
kalischen Gestalt ist die Zweizeiligkeit von vornherein deutlich.
Textzeilen einer Strophe Musikalische
Solo Chor Motive
n7x a |
o7x b 1
n7x a 1
o7x b!
p7y a j
q7x b 1
p7y a 1
q7x b 1
Mädchen, das er nicht bekommt, besteigt das Pferd nicht, um, wie es oft üblich
ist, zu ihrem Bräutigam zu reiten.
18 Wörtlich: „Junggesellentum“.
10 Wörtlich: „Beim Bratenkoch ist mein Bratspieß“. Gemeint ist, daß der Unver-
heiratete nicht zu Hause ißt.
20 Das Bild besagt, daß ebenso glatt wie die Schienen der Eisenbahn das Leben des
Mädchens verläuft.
21 Wörtlich: „Hahnrei“, als grobes Schimpfwort gebraucht.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
141
Die Vorsängerin bringt zunächst die Texte dieses und des Liedes 538
durcheinander, indem sie auf jede der ersten beiden Zeilen „Hele Meyremo
Meyremo“ folgen läßt. Der Chor greift diese neu geschaffene Variante auch
wirklich auf, doch dann folgt nach einer Diskussion, in der die Bemerkung
„ich habe vergessen“ fällt, die zweite Hälfte der Strophe in normaler Form.
Nach den insgesamt sechs Strophen wird diese zunächst verstümmelte erste
Strophe noch einmal gebracht. An diesem Beispiel wird besonders klar, wie
großzügig man mit den Texten der türkischen Volkslieder umzugehen ge-
wohnt ist. Man tauscht einzelne Zeilen, ja ganze Strophen verschiedener
Lieder aus und macht damit allerdings den Inhalt keineswegs noch unklarer
als er an sich schon ist. Die Texte sind nämlich voller Gedankensprünge, ein
Zusammenhang ist innerhalb eines ganzen Liedes oft gar nicht erkennbar.
Die häufigen dialektischen Vokalumfärbungen sind hier nicht nur beson-
ders deutlich, sie wurden z. T. sogar in die Textniederschrift übernommen. So
wird beispielsweise aus dem Suffix „yim“ ein „yam“, Sivas heißt Suvaz und
Kaie: Kala.
J = e fvva 117
1. Strophe
¡¿a - le - // - yam /¿«yz - // - yam A - na ben Su - \/az - ft - yam
Su - 1/0z - dem bir yar sei/ • dim 0 - nun i - ein naz - h - yam
Kaleliyam Kazhyam
Ana ben Suvazhyam
Suvazdan bir yar sevdim
Onun ifin nazliyam
Ich wohne in der Festung Kaz,
Mutter und ich sind aus Sivas,
Mein Schatz, den ich liebte, war aus Sivas,
Darum bin ich so stolz22.
Kaladan kovdum kurdu
Atim terledi durdu
O yara göymüs derler
Ziyaret olsun yurdu
Aus der Festung ging ich auf Wolfsjagd,
Mein Pferd schwitzte und blieb stehen,
Es heißt, er sei zur Geliebten gewandert
Und besuche die Heimat.
Ben kalada ki§lanm Im Winter bleibe ich in der Festung2',
Agir mendil islerim Schwer arbeite ich an dem Tuch24,
24
nazh heißt wörtlidi kokett und kommt in vielen Volksliedern vor.
Wenn hier und auch an anderen Stellen gegenüber früheren Publikationen (vgl.
Anm. 1) abweichende Übersetzungen vorgelegt werden, so liegt das einmal an
der Mehrdeutigkeit der Texte und zum anderen am Wechsel des Übersetzers.
Gemeint ist vermutlich das Brauttaschentuch.
142 Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Senin gibi kötügü Für eine Schlechte wie dich
Mangir deyi harflanm Bezahle ich nur einen Heller.
Kaladan indim ancak
Basimda yesil sancak
Ne kiz oldun ne gelin
Ata§a yandim ancak
Aus der Festung ging ich hinab,
Über mir weht die grüne Fahne,
Du warst nicht mein Schatz noch meine Braut,
Ich brannte nur für Atasch.
Kalenin burcu benim
Dil bilmez Gürcü benim
Boyunda bo^azinda
Sallanan inci benim
Der Turm der Festung ist mein eigen25 26 27 28,
Mein ist die Georgierin, die meine Sprache nicht
An ihrem Hals, an ihrer Brust [kennt,
Wiegt sich die Perle, die mein eigen ist.
Kalenin alti bu yan
Altm te§ti don yuyan
Elime gejmez iken
Koynuna girdim uyan
Unten in der Festung, an dieser Stelle
Ein goldner Krug mit Reif gefüllt2'1,
Du kamst nicht auf mich zu,
Doch ich umarmte dich. Wach auf!
Beispiel 4 (Aufnahme 538) „Leylim“, Sologesang eines Mannes der
Adikh-Gruppe des Barak-a$iret. Karacurun 11. April 1956.
Die ersten drei Textstrophen dieses Liedes stimmen wörtlich mit den
Strophen 6, 1 und 5 des vorigen Tanzgesanges überein, nur daß hier der
Refrain offenbar zum festen Bestandteil gehört. Die vierte Strophe, der
natürlich der gleiche Refrain folgt, ist mit dem zu Beispiel 1 gegebenen Text
identisch. Der Refrain lautet:
Hele Meyremo Meyremo2' He! Meyremo, Meyremo,
Aymya bakar Meyremo In den Spiegel schaut Meyremo
Der sehr gut singende 45-jährige Mann weiß sehr bald den Text nicht
mehr und wird dann von einem äußerst unsauber intonierenden, um fünf
Jahre älteren Turkmenen des Karasikh-Stammes abgelöst. Nach Angabe von
Orhan Acipayamh2* handelt es sich auch bei diesem Text um den Dialog
zwischen einem Mann (Strophen 1, 2, 4) und einem Mädchen (Strophe 3).
Da bei der Aufnahme aber nicht im Wechsel gesungen wurde, zeigt dieses
Beispiel die geschlossenste Form. Die Strophe ist durch keine Wiederholung
unterbrochen, und auch die beiden Refrainzeilen erscheinen erst am Schluß.
25 Turm steht hier symbolisch für die Geliebte.
26 Dieses Bild bezeichnet das schöne Mädchen, das kühl war.
27 Meyremo ist vermutlich eine Abwandlung von Meryem, dem türkischen Wort
für Maria, und gleichzeitig möglicherweise — einer Auskunft Dieter Christensens
zufolge — die Vokativ-Form des unter Kurden häufigen Frauennamens Meyrem.
28 Dr. Acipayamli hatte meine Frau in Berlin beim Abhören einiger Lieder
in dankenswerter Weise unterstützt.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
143
Textzeilen einer Strophe
Musikalisches Motiv
n7x
o7x
a
b
p7y
q7x
Rr8z
RsBz
b
b’ 1
c
c
J « 102 Vz Ton tiefer
l^Strcphe
8
Ha - Le - nin ai - ft
C
bu yan Al - tin tes - ti don yu - yan
b' _______
Von der zweiten Strophe an ist die vierte Melodiezelle (b’) völlig gleich
der zweiten und sechsten Zeile (b).
Zwei Tanzlieder von der syrischen Grenze. Die beiden
folgenden Lieder wurden in zwei benachbarten, in Sichtweite der syrischen
Grenze gelegenen Orten aufgenommen, die man von Gaziantep in südöst-
licher Richtung über Yona fahrend erreicht. In L^kubbe, wo sich nur die
Männer in einer Art Versammlungshaus eingefunden hatten, konnten wir nur
drei Stücke aufnehmen. Der Dorfvorsteher untersagte nämlich, als auf Zu-
reden unserer Begleiterin die Frauen hereinkommen wollten und bereits in
der Tür standen, jede weitere Aufnahme. Es war das einzige Mal, daß wir
in der Türkei eine derartige Ungastlichkeit erlebten. In aller Eile mußten
wir diesen Ort verlassen, um der beinahe bedrohlich werdenden Situation zu
entgehen. Wie wir dann in Kügük Karaceviran, dessen Einwohner ebenfalls
dem Elbeylio|lu-asiret angehören, erfuhren, ist der Muhtar des Nachbar-
dorfes als unfreundlich und unberechenbar bekannt. Hier allerdings blieben
die Frauen auch abseits. Die Verhaltensweise war in beiden Ortschaften über-
haupt anders als in Karacurun, obwohl es sich, was man aus Kleidung,
Aussehen, Hausbau und -einrichtung schließen konnte, um die gleiche Grenz-
bzw. Mischbevölkerung handelt.
Beide Beispiele werden aus verschiedenen Gründen hier herangezogen.
Beispiel 5 gehört seinem ganzen musikalischen Duktus nach zu der bisher
besprochenen Gattung, obwohl es nicht chorisch oder im Wechsel gesungen
wurde. Beispiel 6 weicht dagegen melodisch stärker ab, trägt aber den Titel
„Leylim“. Im übrigen sind beide Stücke Tanzlieder und gehören textlich zu
144
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
den mani. Sie rücken also schon darum in unmittelbare Nähe des übrigen
hier vorgelegten Materials.
Beispiel 5 (Aufnahme 576) „Livanda yörü“, Tanzlied, Solo eines
Mannes des Elbeylio^lu-asiret. KiRük Karaceviran 15. April 1956.
Das Lied ist wieder besonders engräumig. Der Gesamtambitus beträgt zwar
eine Quarte, allerdings nur durch die sequenzartige Veränderung des Mo-
tivs b; tatsächlich bewegen sich die Phrasen a-b aber jeweils nur im Terz-
raum. Von den beiden unterschiedlich gelagerten Tonräumen h — c — d
und a— h — c hat der tiefer liegende charakteristischerweise den zweiten
Platz inne. Der pendelnd ausgenutzte Halbtonschritt h — c bildet das zen-
trale Glied. Das aus ihm gebildete Kopfmotiv aller Zeilen ist mit dem
Motiv a des Beispiels 2 fast identisch. Obwohl beide Stücke auch in der
Finalis aller Zeilen übereinstimmen — sie ist der untere Ton des kleinen
Sekundintervalls — zeigen sie sonst doch wenig Übereinstimmung, außer daß
sie eben innerhalb der ganzen Liedgruppe verwandt sind.
Abgesehen von den beiden kleinen Ligaturen in der 2. und 4. Zeile
herrscht im vorliegenden Beispiel dieselbe gleichförmige Bewegung wie in den
bisherigen Liedern. Die rhythmische Gliederung der siebentönigen 1. und
3. Zeile entspricht der des Beispiels 1. Obwohl die jedem Vers folgende
Refrainzeile nur fünfsilbig ist, wird sie musikalisch doch zu einem vollen
Vier-Viertel-Takt gedehnt.
Die erste Strophe wurde aus technischen Gründen unvollständig aufge-
nommen. Deshalb liegt unserer Notation die zweite Strophe zugrunde. Im
Refrain werden die Worte Livan, civan und sallan anscheinend willkürlich
ausgetauscht, weshalb das hier mitgeteilte Formschema nicht genau auf alle
Strophen anwendbar ist. Das Finalwort yörü heißt im Hochtürkischen yürü.
Textzeiien einer Strophe
n7x
Rr5z
o7x
Rs5z
P 7y
Rr5z
q7x
Rs5z
Musikalisches Motiv
a
b
a’
b’
a
b
a’
b’
J = 94 V Ton höher
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
145
....................ere (Refrain 2:) civanda yörü
Sana halhal alayim (da) (Refrain 3:) sallanda yörü
............., (Refrain 2:) geh zum Jüngling
Ich möchte dir einen Armreif kaufen, (Refrain 3:) geh wiegend
Kalenin altx tandtr (R. 1:) Lxvanda yörü
Yandir Allahiim yandir (da) (R. 2:) civanda yörü
Beni bir güzel kus et (R. 1:) Livanda yörü
Yanm göksüne kondur (da) (R. 2;) civanda yörü
Drunten in der Festung ist ein Ofen, (R. 1:) geh nach Livan
Laß ihn brennen, mein Gott, laß ihn brennen, (R. 2:) geh zum Jünglmg,
Mach mich zu einem schönen Vogel, (R. 1:) geh nach Livan,
Leg mich an die Brust der Liebsten, (R. 2;) geh zum Jüngling.
Ay gidiyor gidiyor (R. 1)
Gözüm seni güdüyor (R. 1)
A§ik sürmeli kizlar (R. 2)
Ata timar ediyor (R. 1)
Der Mond geht und geht, (R. 1),
Meine Augen folgen dir, (R. 1),
Verliebte Mädchen malen ihre Augen-
Er pflegt das Pferd, (R. 1). [brauen, (R. 2),
Dama ^ikma söz olur (R. 1)
Kemha tuman toz olur (R. 3)
Gece gelme gündüz gel (R. 3)
Kom§u duyor söz olur (R. 3)
Geh nicht aufs Dachr!>, es wird geredet
werden, (R. 1),
Die Hose aus Brokat wird staubig werden,
(R. 3),
Komm nicht bei Nacht, doch komm bei
Tag, (R. 3),
Der Nachbar hört’s, es wird geredet
werden, (R. 3).
Beispiel 6 (Aufnahme 572) „Leylim sarki“, Tanzlied, Solo eines
Mannes des Elbeylioglu-a^iret. Ügkubbe 15. April 1956.
Dieses Lied läuft fast durchwegs ebenso gleichförmig ab wie die anderer
Tänze. Vielfach erhalten die Achtel überhaupt keine Akzente, so daß erst
der Motivvergleich eine Gliederung der Aufzeichnung gestattet. Es ergibt sich
dabei, daß die zweitaktigen Zeilen durch fünf oder sechs Füllworte um die
Hälfte gedehnt sind. Solche Gebilde von je drei Takten sind uns bisher nicht
begegnet. Auch tauscht der Sänger die Motive mit so viel Freizügigkeit aus.
2n Wenn ein Mädchen auf’s Dach geht, sucht es einen Freund.
10 Baessler-Archiv VIII
146
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
daß jede Strophe wesentlich anders aussieht. Dagegen ist die vorliegende
Version noch ziemlich ebenmäßig. Und doch stehen auch hier verwandte
Motive nicht immer an korrespondierenden Stellen des Textes; so z. B. die
Takte 3 und 10. Das Motiv b wird am stärksten am Anfang, dem die Text-
zeile unterliegt, verändert und nicht da, wo die Füllsilben stehen. Überhaupt
ist die Deutung der Motive als zusammengehörig oder nicht gerade in diesem
Beispiel besonders schwierig. Auf alle Fälle aber ist der Refrain mit der
eigentlichen Strophe eng verknüpft. Reizvoll wirkt auch hier wieder die
wechselnde Betonung des gleichen Wortes. Im Refrain erhält güzel zunächst
mehrfach einen, dem Sprachgebrauch zuwiderlaufenden Akzent auf der ersten
Silbe, dann wird die zweite Silbe auf zwei Achtel gedehnt, so daß die Be-
tonung jetzt mit dem schweren Taktteil zusammenfällt. Dieser Vorgang
wiederholt sich in allen Strophen.
Da eine Niederschrift der ersten Strophe an Ort und Stelle offenbar ver-
gessen wurde, wird hier die zweite Strophe wiedergegeben. Und auch da
weichen gesungener und notierter Text vereinzelt voneinander ab, ohne daß
dies durch Abhören korrigiert werden könnte. Im übrigen fehlen vollends
die Füllworte und der an Wortwiederholungen reiche Refrain. Zumal der
Sänger eine besonders undeutliche Aussprache hat, nutzte auch hier das Ab-
hören nicht viel. Es konnten an den betreffenden Stellen lediglich einzelne
erkennbare Worte aufgeschrieben werden.
Textzeilen einer Strophe Musikalische Motive
(je 3 Takte)
n7xT6 a
o7x + 5 b
p7y + 6 c
q7x + 5 b’
J = 106
li q L - ler
la [ .
1
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
147
AJ deve dir Arvana
Ulasmiyor kervana
Cahil agir degilmi
Ni^anh eller ala
Das Kamel Arvana30 ist weiß,
Es folgt nicht der Karawane,
Unwissenheit ist schwer,
Die Hände deiner Braut sind rot.
Gitme giden dayan dur
Sirim sana ayandxr
Kes etim kebap eyle
Kernigim uda yandir
Kapidtr kom§u durlar
Qa|irsam e$i dirler
Yara yagim gelir31
Sahur sutasi dirler
Gehe nicht, bleibe, halte aus,
Mein Geheimnis kennst du,
Schneide mein Fleisch, mach daraus Braten,
Das Feuer verbrennt meine Knochen.
An der Tür stehen die Nachbarn,
Wenn ich rufe, sind es die Frauen,
Mein öl kommt zur Fiebsten,
Sie ist das Gefäß der Mahlzeit nach dem Fasten.
Kalede kanm yerler
Bende gitsem ne derlei-
Otursam bile yesem
Bu bunu sever derler
In der Festung beschimpft man meine Frau,
Wenn ich gehe, was sagen sie dann,
Wenn ich bleibe und auch schimpfe,
Werden sie sagen, er liebt sie.
Drei kurdische Tanzlieder. Nachdem ich einmal auf die starke
Ähnlichkeit der Chortanzlieder aus Karacurun, denen noch zwei Gesänge
eines Nachbarstammes angefügt werden konnten, mit kurdischer Musik ge-
stoßen war32, lag es nahe, auch in der eigenen Sammlung Vergleichsbeispiele
zu suchen. Dabei fanden sich drei kurdische Tanzlieder. Allen ist wiederum
die gleichförmige Bewegung gleicher bzw. zweier Notenwerte und der rhyth-
misch straffe Vortrag gemeinsam. Weitere bisher konstatierte Eigenarten, wie
enger Ambitus, Beschränkung auf wenige prägnante Motive sind zwar nur
noch teilweise vorhanden, und trotzdem gehören auch diese Tänze in den
Kreis der hier besprochenen Fieder. Der Gehörseindruck macht die schon aus
dem Notenbild abzulesende Verwandtschaft vollends deutlich.
Beispiel 7 (Aufnahme 556) „Aus Feylim: Hamm kizlar“, Tanzlied,
Vorsänger (15-jähriger Kurde) und Chor. Turin 13. April 1956.
Hier begegnet uns wieder der Wechselgesang. Nur durch das deszendente
Kopfmotiv erhält der Tonraum Tritonusumfang. Alle weiteren Motive, die
30 Arvana ist ein weibliches Kamel.
31 In dieser Zeile fehlt eine Silbe.
32 Vgl. Seite 131 und Anm. 2.
10*
148
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
stereotyp aus einem Viertel plus zwei Achteln bestehen, bewegen sich in viel
kleinerem Rahmen. Da auch das letzte Motiv aus der gleichen Figur besteht,
kommt es zu keinerlei Schlußbildung, der Partner im Wechselgesang fällt also
ein, ehe die Bewegung des anderen beendet zu sein scheint. An dieser Naht-
stelle erscheint dann auch der in unseren einfach strukturierten Liedern un-
gewöhnliche Tritonussprung. Da das Lied während einer Hochzeit aufgenom-
men wurde, konnte der Text nicht niedergeschrieben werden. Durch Abhören
ließ sich jedoch die erste Strophe rekonstruieren. Dadurch wird auch die
Form klar. Das schon genannte Kopfmotiv enthält allein jeweils eine
Textzeile. Ihr folgt ein zweiteiliger Refrain. Er besteht aus zwei zweisilbigen
Worten, und auf jedes von diesen folgt kizlar kizlar in wechselnder Betonung.
Die beiden Worte werden, offenbar scherzhaften Eingebungen folgend, ge-
legentlich durch andere ersetzt. Einmal erfreut man sich beispielsweise am
e$ek (Esel). Im eigentlichen Text tauchen viele Worte anderer Leylim-Lieder
auf, ohne daß irgendwo eine völlige Identität feststellbar wäre. Es handelt
sich im übrigen wieder um ein mani.
Erste Textzeile
Musikalische
Motive
Solo
Chor
n7x
a
b
b’
n7x
a
b
b’
Die anderen Textzeilen haben das Schema o7x, p7y, q7x; die Refrains,
die Art der Wiederholung und die musikalischen Motive bleiben in jeder
Zeile gleich. — Der Notenniederschrift wird deshalb die zweite Textzeile
unterlegt, weil alle Sänger zu Anfang so unsauber intonieren, daß die genaue
Transkription ein falsches Bild ergeben würde.
. = 105
Z-Zeile der 1. Strophe
òphst, rviedzrholung durch Chor
Men - di - li - ne koy ge - tir Ha mm ki z - /ar k/z- lar ca - hil /</z - lar laz - Lar
Git kalada kär getir (Refrain) hanim kizlar kizlar cahil kizlar kizlar
Mendiline koy getir hanim kizlar kizlar cahil kizlar kizlar
Mendilin bet bet kokar hanim kizlar kizlar cahil kizlar kizlar
Altin testi koy getir hanim kizlar kizlar cahil kizlar kizlar
Geh in die Burg und hole dir Arbeit, (Refrain) Gnädige Fräulein,
unwissende Mädchen,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
149
Leg dein Taschentuch hin und hole, (Refrain)
Dein Taschentuch riecht sehr schlecht, (Refrain)
Leg den goldnen Krug hin und hole, (Refrain)
Beispiel 8 (Aufnahme 201) „Mus Havasi“33, Kurdisches Tanzlied,
Solo eines alten Kurden. Haruniye 31. März 1955.
Der Sänger singt recht unsauber. Obwohl außerdem die Melodie anfangs
ein wenig abweicht und auch später noch einmal ein einzelner Ton verändert
und ein anderer in zwei Sechszehntel aufgeteilt wird, ist leicht zu erkennen,
daß die gleiche Zweitaktgruppe ständig wiederkehrt. Sie besteht aus zweimal
sieben Tönen im Rhythmus sechs Achtel plus ein Viertel. — Der Text ist
kaum richtig zu verstehen, und da das Lied unglücklicherweise zu den
wenigen Stücken gehört, deren Worte aus irgendwelchen Gründen nicht
notiert werden konnten, bleibt es unklar, ob eine Strophe aus vier Takten
besteht oder ob sich dazwischen Refrains befinden. Jedenfalls zählen aber
alle Zeilen offenbar sieben Silben, sehr wahrscheinlich wird es also ein mani
sein. Dafür spricht die ganze musikalische Struktur. Wenn man von dem c
absieht, das als Unterquarte eine auftaktähnliche Funktion hat, wird das
Hauptbewegungsfeld doch durch eine Quarte verhältnismäßig eng begrenzt.
Die Pendelmelodik im Sekundintervall läßt das Lied den Beispielen 2 und 5
sehr ähnlich erscheinen.
J = ctw* 3Z
|r£ j, i } i J> J Fulr^—-J j j^|
fl
Beispiel 9 (Aufnahme 168) „Altin yüzük var benim“, Tanzlied, Solo
eines Kurden. Bahfeköy 23. März 1955.
Das Pendeln in einem Sekundintervall ist auch in diesem Tanz der we-
sentliche melodische Impuls. Ganz im Gegensatz zum vorigen Beispiel wird
dieses Motiv hier aber durch Sequenzieren und andere Abwandlungen zu
einer recht umfangreichen Strophe fortgesponnen. Gerade weil die Verände-
rungen sukzessiv angebracht werden, muß man entweder überall das gleiche
Grundmotiv annehmen oder jede Zeile als eine selbständige Phrase be-
trachten. Wirklich neu ist dagegen trotz des beibehaltenen Anfangsrhythmus
das Motiv des Refrains. Interessant ist ferner die zunehmende Differenzie-
rung dieser rhythmischen Figur und die bei der Wiederholung der ersten
zwei Zeilen veränderten Werte der beiden Eingangstöne. Im übrigen dürfte
trotz aller Modifikationen der Grundrhythmus der eigentlichen Textzeilen
sechs Achtel plus ein Viertel sein. Die hier wegen der auftaktigen Wirkung
der ersten Töne notgedrungen abweichende Setzung der Taktstriche, die in
Mus ist ein Vilayet (Provinz) in der Osttürkei, hava heißt Melodie.
150
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
allen Beispielen, ja ohnehin mehr nur Orientierungsmarken sind, ändert daran
nichts. Das Wiederholungsschema, das in allen Strophen gleich ist, über-
rascht: 1., 2., 1., 2., 3., 4., 4. Zeile; dem folgt ein zweiteiliger Refrain. Die
häufigen Reprisen deuten sehr wahrscheinlich dahin, daß auch dieses Lied
gewöhnlich im Wechsel gesungen wird.
Das folgende Formschema ist bezüglich der Motivzuordnungen mit dem
genannten Vorbehalt aufzunehmen.
Textzeilen einer Drei mögliche Deutungen der musikalischen Motive
Strophe 1 2 3
n7x a a a
o7x a’ a’ b
nZx a a a
oZx a’ a’ b
pZy a” b b’
qZx a’;’ b’ b’
qZx a”” c c
) rlOz b d d
R slOz b’ d’ d’
J = 66 K Ton Hefer A 1.Strophe ^ ^ A. ' ■_
e Al-t/n yu-2.uk vor be - m m Bar- na. - gi - mcx. dor be - niw A-i- bin Su - koy -
8 yün-de i - ein - de A ~ la. goz- !u yor be - nim A - hx goz - Lu yar be-nim (Sei og - . . . . . r\
J- g —. J !l p m 1 1 J J) J a
lan - (cl) ar - di ye ders sev- da -lim Sev~ di yu - rek da bu- bar he - La - Um
Akin yüzük var benim Barna^ima dar benim Su köyünde ifinde Ala gözlü yar benim Ein goldner Ring ist mein, Ein kleines Liebesnest34 ist mein In diesem Dorf Die braunäugige Liebste ist mein.
(Refrain:)
Gel oglan ardiye ders sevdalim Komm, Knabe, laß den Kummer sein,
Sevdi yürek da tütar belahm Das Herz, das liebt, hat immer Kummer.
34 Wörtlich; Schlupfwinkel.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
151
Giderim Sivasa ben
Dayanaman naza ben
Alinizim duramam
Gerdam beyaza ben
(Refrain)
Penceresi gözemek
Güzele güzel gerek
Senin gibi kizlara
Benim gibi oglan gerek3-’
(Refrain)
Adanin yah idi
Fsmer etme bu nazi
Yatirayim dizine
Yediveryim kirazi
(Refrain)
Karsxda gelenlere
Gaz koydum fenerlere
Annem beni verecek
Askerden gelenlere
(Refrain)
Zwei weitere rein türkische Lieder. Die beiden letzten,
von Türken gesungenen Tänze gehören ebenfalls dem hier besprochenen Lied-
typ an. Sie wurden beide als Oyun havasi bezeichnet. Die zusätzliche Angabe
Halay bei Beispiel 11 unterstreicht aber nur die Unverbindlichkeit der Aus-
sage, weshalb sie auch für unsere Zuordnung in eine Gruppe von Tanzliedern,
zu denen ohnehin offenbar ein Sammelname fehlt, unerheblich ist3'. Wir
fanden die Lieder weder bei einer Mischbevölkerung noch bei Kurden, bei
denen die Gattung besonders gepflegt zu werden scheint, wohl aber in der
Provinz Gaziantep, aus der die ersten sieben Beispiele stammen, und im
südlichsten Vilayet, in Hatay, in einem Ort nahe der syrischen Grenze. Aller-
dings sind es auch aus der Fülle rein türkischer Tanzlieder unserer Sammlung
die einzigen Stücke, die hierher passen.
35 Hiernach bringt der Sänger eine Strophe, die nicht notiert wurde. Dann folgt
die hier stehende letzte Strophe und schließlich erst die zunächst notierte. Die
Reihenfolge hier entspricht dem Diktat des Sängers.
36 Die Mutter übergibt ihren Sohn den Brautführern, den besten Freunden des
Sohnes, die hier vom Militärdienst kommen.
37 Oyun und halay, das schon in Beisp. 2 begegnete, bezeichnen bestimmte Tanz-
typen. Vgl. S. 134 und Anm. 11.
Ich gehe nach Sivas,
Ich kann dein Zielen nicht ertragen,
Ich bin dein Ali und ich kann nicht bleiben,
An deiner weißen Brust.
Zu deinem Fenster zu schauen,
Zu der Schönen, ist schön,
Zu einem Mädchen wie dir
Paßt wohl ein Jüngling wie ich.
Es gab ein Schloß auf der Insel,
Du Braune reize mich nicht,
Auf deinem Schoß möcht ich schlafen,
Laß mich Kirschen dir geben.
Denen, die drüben kommen,
Stellte ich öl zur Laterne,
Meine Mutter wird mich übergeben,
Denen, die von den Soldaten kommen35 36 37.
152
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Beispiel 10 (Aufnahme 530) „Leylim“, Oyun havasi, Wechselgesang
zweier Jünglinge aus der Provinz Gaziantep. Haruniye 9. April 1956.
Trotz der Schlichtheit (Terzumfang, Tonwiederholungen) und engen Ver-
wandtschaft der Motive, hat dieses Lied ebenso wie Beispiel 9 eine größere
Strophenlänge und auch eine kompliziertere Form. Die starre, fast maschi
nelle Tonreihung ist hier aber nach wie vor vorhanden. Zwei Sänger teilen
sich jeweils in eine Strophe, ohne gegenseitig den Fiaupttext zu wiederholen
Das Vorhandensein von fünf Zeilen ergibt dabei ungleiche Längen der Par-
tien, die man nur in der zweiten Strophe — wohl mehr aus Versehen —
durch Kürzung des ersten Refrains ausgleicht. Die jungen Leute tauschen in
jeder folgenden Strophe ihre Rollen, so daß diese Reihe entsteht:
Strophe: 12 3
Sänger: 1+2 2 + 1 1 + 2
Dies reizvolle Wechselspiel wird noch übertroffen durch die verschie-
denen Kombinationen von Text- und Melodiezeilen, sowie durch den zweimal
asymmetrisch eingeschobenen Refrain. All das weicht vom Stil der anderen
Leylim-Lieder ab, obwohl hier der gleiche Titel angegeben wurde. Die Text-
gattung ist nicht ganz ersichtlich, doch legt die Fünfzeiligkeit es nahe, an den
Typ der türkü zu denken, die ja auch siebensilbig sein können und gerne
Zusätze mit hay usw. haben. Auffällig ist aber, daß in jeder Strophe jeweils
nur die ersten beiden Zeilen neu sind, während die letzten drei Verse sich —
wenn auch stets in anderer Reihenfolge — wiederholen. Sie bilden ebenfalls
so etwas wie einen Refrain. Die Reimfolge, die im fünfzeiligen türkü ver-
gleichsweise meist t — t — t — t — x — x ist, lautet hier in den drei Stro-
phen38: t — t — x — y — x;u — u — x — y — x; v — w — x — y — x.
Textzeilen der ersten Strophe Musikalische
1. Sänger 2. Sänger Motive
n7z a
Rsl2z d
o7t b
p7x c
Rsl2z d
q7y b
p7x c
38 Hier wird, da zahlreiche Reime angegeben werden sollen, mit dem Buchstaben
„t“ begonnen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
153
J= etwa
(ru - Z&L- Li Ue - mal sur-sun of OL-dum, der- din - den ge-Len
Su tasi kaldirsalar (Refrain) Hay gelin huy gelin can gelin mal gelin
Yilani öldürseler (of)
Saf bagi telli gelin (Refrain) Flay gelin huy gelin can gelin mal gelin
öldüm senin derdinden (of)
Sac bagi telli gelin
Schafft foH diesen Stein, hei Braut, hui Braut, liebste Braut, meine Braut,
Bringt um diese Schlange,
Du Braut mit dem golddurchwirkten Haarband, hei Braut, usw.
Ich sterbe aus Kummer um dich,
Du Braut mit dem golddurchwirkten Haarband.
Dama fikma isirsin (R.)
Güzelli kemal sursun (of)
öldüm derdinden gelin (R.)
Öldüm senin derdinden (of)
Saj bagi telli gelin
Geh nicht aufs Dach, du bist die Spur auf der
Du bist vollkommen schön, [Fährte (Refrain)
Ich sterbe aus Kummer, Braut (Refrain),
Ich sterbe aus Kummer um dich,
Du Braut mit dem golddurchwirkten Haarband.
Küfükten yar severim (R.)
Cennete gönderseler (of)
Sa9 bagi telli gelin (R.)
öldüm senin derdinden (of)
Top top zülüflü gelin
Ich liebe meinen Schatz seit der Kindheit, (R.),
Schickt mich ins Paradies,
Du Braut mit dem golddurchwirkten Haarband
Ich sterbe aus Kummer um dich, [(Refrain),
Du Braut mit den vielen Locken.
Beispiel 11 (Aufnahme 601) „Tek binin iji^egine“, Oyun havasi,
Halay, Solo eines Mannes. Senköy 20. April 1956.
Hier haben wir die kürzeste Melodie unserer Beispielreihe. E i n musika-
lisches Motiv wird stereotyp nicht allein für die Text-, sondern auch für die
beiden Refrainzeilen angewendet. Es füllt bogenförmig ein Tetrachord. Der
längere Wert steht diesmal an dritter Stelle, dafür ist das sechste Achtel durch
154
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
eine untere Nebennote in zwei Sechzehntel unterteilt. Trotzdem läßt sich
auch diese Phrase in der üblichen stampfenden Weise vortragen. Es ist ein
echt distanzhaftes Musizieren, bei dem die genaue Größe der ausschließlich
angewandten Sekundschritte nicht immer getroffen zu werden braucht. Das
ist hier besonders typisch ausgeprägt, denn der Sänger treibt im Verlaufe des
ganzen Liedes nicht nur die absolute Höhe um einen Ganzton hinauf, es
wandelt sich vor allem — etwa in der dritten Strophe — das Motiv selbst,
und zwar so, daß schließlich der Halbton nicht mehr an oberster, sondern
an unterster Stelle der Skala liegt. Beide Versionen sind hier notiert. Nicht
wie sonst durch wechselnde Wortbetonungen, sondern eigentlich durch melo-
dische Qualitäten kommt diesmal eine asymmetrische Akzentuierung zu-
stande. Der Viertelwert erhält ganz natürlich ein gewisses Gewicht, zumal
er schrittweise von unten erreicht wird. Ihm folgt unmittelbar der Spitzen-
ton, der ebenfalls ganz automatisch betont wird. Die Akzente des Vier-
Viertel-Taktgebildes liegen also nicht auf 1 und 3, sondern auf 1 und 2,
während 4 und 3 unbetont bleiben. Bereits vor der ersten Strophe erklingt
der Refrain, der auch das Lied — wieder ein mani — beschließt. Ein und
eine halbe Strophe wurden nicht aufgeschrieben, die zuletzt notierte Elalb-
strophe wurde beim Singen durch eine andere ersetzt.
Textzeilen einer Strophe Musikalisches Motiv
n7x a
o7x a
i*7z a
R<
s7z a
p7y a
q7x a
r7z a
R
s7z a
Js 83
l.Zeiie des fZefrains
Tek bi - nin ci - ce - gi - ne
Die Ton Lag e wird
allmählich höher
4b 3 . Strophe :
(R.) Tek hinin jijegine Zur Blume, der Einzigen von Tausenden,
Gejeydim kulagina Zu ihrem Ohre möcht ich kommen.
Yüce dag derin olur Eiohe Berge werden tief,
Engini serin olur Ihre Höhen werden kühl,
(R.) Tek binin jifegine Zur Blume, der Einzigen von Tausenden,
Ge9eydim kulagma Zu ihrem Ohre möcht ich kommen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
155
Karanfilem ek beni Ich bin eine Nelke, säe mich,
Omuzuna dik beni39 Pflanze mich auf deine Schulter,
(R.) Tek binin fije^ine Zur Blume, der Einzigen von Tausenden,
Gefeydim kula^ina Zu ihrem Ohre möcht ich kommen.
Kara tas boyanirmi Kann man den schwarzen Stein denn färben?
öpsem yar uyamrmi Wenn ich die Liebste küsse, wird sie erwachen?
(Refrain)
Yar orada ben burda Die Liebste ist dort, ich bin hier,
Buna can dayamrmi Kann die Seele das ertragen?
(Refrain)
Gedikten yol afmazmi Kann man einen Paß nicht begehbar machen?
Kayan kazan tasmazmi Kann ein kochender Kessel nicht überkochen?
(Refrain)
Merak ettme sevdigim Sorge dich nicht, meine Liebste,
Aynlan konu^mazmi Können Getrennte sich nicht wiederfinden?
(Refrain)
DIE ARABISCHEN BEISPIELE
Neun Hessen aus dem Süd-Irak. Auf nichttürkische Musik-
beispiele, die eine große Ähnlichkeit mit dem hier besprochenen Tanzlied-Typ
aufweisen, wurde ich zuerst durch einige der süd-irakischen Aufnahmen von
Sigrid Westphal-Hellbusch40 aufmerksam. Der Gehörseindruck macht diese
Verwandtschaft fast noch deutlicher als der Vergleich einzelner Stilmerkmale.
Hessen sind Tanzlieder, die man auf Hochzeiten und auch zu anderen
Ereignissen wie Krieg und Tod singt'41. Sie sind auch bei den seßhaften Reis-
bauern aus Ali Guebr am unteren Euphrat eine der wichtigsten Musizier-
formen. Während der Festversammlung tritt einer, der sich inspiriert fühlt,
vor und spricht einige pathetisch vorgetragene Worte zu Ehren der beiden
Hochzeitsfamilien, oder er preist den Staat, den Dorfältesten oder sonst wen.
Er schließt mit einer gesungenen Zeile, der oft noch ein auf einem festen Ton
gesprochenes Wort und der Ausruf „ha“ vorausgehen (vgl. 13, 19 u. 20) und
die dann die übrigen Festteilnehmer im Chor viele Male wiederholen, wobei
39 Hier fehlt der Reim.
40 Vgl. S. 132 und Anm. 4. Originalband Nr. 3 rot (Phonogramm-Archiv Sign.: B 142
rot b—k).
41 Max Freiherr von Oppenheim vermerkt, als er einen berühmten irakischen
Improvisator der „kurzen, schlagfertigen Verse hösa“ erwähnt, daß diese „von
den Beduinen bei ihren Kriegstänzen und anderen Gelegenheiten angestimmt
werden“. („Die Beduinen“, Bd. III, bearb. u. hrsg. von Werner Caskel, Teil 2,
Wiesbaden 1952; S. 259, Anm. 4.)
156
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
der Text offenbar unverändert bleibt und das Tempo oft ganz erheblich ge-
steigert wird. Obwohl auch hier der melodischen Improvisation sicher keine
engen Grenzen gezogen sind, hält man sich doch meist an bekannte Melodie-
formeln, so daß der unbefangene Zuhörer leicht vermeint, es werde immer das
völlig Gleiche gesungen. Zu dem Chorgesang wird stampfend getanzt42, viel-
fach werden während des Gesangs Weibertriller und rhythmische Schreie aus-
gestoßen. Zumal die arabischen Texte zu den Aufnahmen nicht vorliegen, soll
hier nur auf die Melodien der Hossen eingegangen werden, die im April 1955
hintereinander aufgenommen wurden.
Der Ambitus schwankt zwischen kleiner bzw. neutraler Terz (drei Bei-
spiele) und Quinte (ein Beispiel), bevorzugt wird ein Motiv mit Quart-
umfang. Tonwiederholungen sind häufig. Gelegentliche Mehrklänge, die gar
nicht alle notiert wurden, sind entweder auf unsaubere Intonation zurückzu-
führen (Beispiel 18, Takt 2 des Chores) oder im Sinne heterophonen Musi-
zierens auf die gleichzeitige Verwendung einer Variante (ebenda, Takt 6 des
Chores). Im allgemeinen werden nur Viertel und Achtel verwendet und
rhythmisch straff, ja fast hämmernd vorgetragen. Wo Sechzehntelunterteilung
oder Triolen auftreten, sind sie ebenso durch den Text bedingt, wie die Er-
weiterungen des genannten Motivs mit Quartumfang. Daß die Tendenz aber
auf eine viel gleichförmigere Bewegung zielt, zeigt u. a. Beispiel 14, in dem
der Chor die rhythmisch kompliziertere Melodie des Vorsängers zu einer ein-
fachen Achtelfolge vereinfacht. Dieser Gleichförmigkeit stehen zwei belebende
Elemente gegenüber: die häufig auftauchenden Gegenakzente durch Hände-
klatschen (vgl. Beispiel 13 u. 20), und die asymmetrischen Takte; so be-
gegnet unter den neun Stücken dreimal ein Fünf-Viertel- und zweimal
ein Sieben-Viertel-Takt. Wenn man die gewissermaßen abgeschliffenen Chor-
wiederholungen als die gültigen Formulierungen ansieht, so ergibt sich, daß
alle Hossen einteilig sind, ja eigentlich, trotz gelegentlicher Unterteilungs-
möglichkeit, jeweils nur aus einem Motiv bestehen. Von der Form bzw. der
Gestalt her lassen sich einzelne zusammengehörige Gruppen bilden. So ge-
hören beispielsweise die Hossen 1 und 6 (Beispiele 16 u. 12), sowie 2 und 8
(Beispiel 13 u. 17) eng zueinander. Allen Stücken sind rhythmische Figuren
gemeinsam, die meist in der Mitte eine — einmal auch zwei (Beispiel 16) —
Viertelnoten als Bewegungsstauung haben. Sinnvoller ist aber wohl eine Glie-
derung nach dem Tonmaterial bzw. nach melodischen Motiven. Dabei ergeben
sich drei Gruppen.
Beispiele 12, 13 und 14 (Hossen 6, 2 u. 7). Diesen Fiedern ist
der Terzraum gemeinsam, von dem die ersten beiden Melodien nur die
42 All diese Angaben verdanke ich Frau Prof. Dr. Sigrid Westphal-Hell-
busc h.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
15?
Außentöne benutzen. Nach mehrmaligen Wiederholungen des oberen Tones
wird ein- oder zweimal die Unterterz eingeschoben, auf der auch das Motiv
endet. Im Fünf-Viertel- wie im Sieben-Viertel-Takt erhält der genau in der
Mitte liegende Ruheton einen Akzent. Während im ersten Beispiel eindeutig
die große Terz gewählt wird, intoniert der Vorsänger im nächsten Lied zu-
nächst eine kleine Terz, während der Chor diese über die neutrale Terz
hinaus vergrößert. Hier bestätigt sich die allgemein gültige Erscheinung, daß
die Terz in ihrer Größe dann durchaus labil sein kann, wenn sie nicht Be-
standteil einer auf konsonantischer Basis entwickelten Skala ist, oder gar
wie hier isoliert auftritt. Die selbst innerhalb des gleichen Stückes wechselnde
Größe des Intervalls verändert nicht die melodische Substanz. Ähnlich wie
hier spielt auch im dritten Beispiel das Distanzprinzip eine gewisse Rolle.
Dort ist der Terzraum ausgefüllt, indem er schrittweise von unten nach oben
durchmessen wird.
Beispiel 74
iS ma.1
Beispiele 15 bis 18 (Rossen 5, 1, 8 u. 4). Die beiden weiteren moti-
visch verwandten Gruppen sind dadurch gekennzeichnet, daß ihr Tonmaterial
teilpentatonisch ist. Bei den Beispielen 15 bis 19 ist es genau die von
mir als Terz-Sekund-Kernzelle bezeichnete Tonfolge43 44 45 cis — e — fis bzw.
h — d — e, die in aller Welt verbreitet ist und aus der durch Quinttranspo-
sition die Pentatonik viel wahrscheinlicher entstanden sein dürfte als durch
die — nur theoretisch denkbare — Reihung und mehrfache Oktavversetzung
von vier Quinten. Außer in den Beispielen 16 u. 18 wird das aus der Kern-
zelle gebildete Motiv erst vom Chor richtig formuliert. Aus der von dem
43 Vgl. Anm. 13.
44 Die Aufnahme setzte erst ein, als bereits der Chor sang.
45 Bei der fünften Wiederholung werden hier zwei cis gesungen.
158
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Vorsänger in Beispiel 15 intonierten Quarte wird erst allmählich die kleine
Terz entwickelt, während der Spitzenton (fis) erst zögernd hinzutritt. In der
siebenten Wiederholung ist dann die endgültige Figur erreicht. Ähnlich wird
auch in Beispiel 17 die Terz zunächst zu groß genommen. Die viele Male
wiederholten Motive dieser Beispielgruppe (15 bis 18) hängen ganz eng zu-
sammen. Die Phrasen 16 und 17 sind gegenüber Beispiel 15 um zwei davor-
gesetzte Achtel erweitert, und im Beispiel 18 ist vor dieses Fünf-Viertel-
Motiv noch eine vierfache Tonwiederholung auf e getreten. Dies letzte Stück
wurde nur der Übersichtlichkeit halber mit wechselndem Takt notiert. Ebenso
( 2 _|- 3 -j- 2 \
‘ i geschrieben werden können, oder, um die Verwandtschaft
3 5
zu den vorhergehenden Beispielen zu unterstreichen: + -
Beispiel 15
Chor J - 124 - 15 8
4 ma L
Beispiel 17
l/orsänger J = 110
Beispiel 16 ^
1 Chor J *
133- 146
5=F=S=?=f=
28 Trial
15 mal
I Chor J = 124 - 1 SO
-E~-Ü-..g - IV
27 mal
Beispiel IS
3 'mal
Beispiele 19 und 20 (Hossen 3 u. 9). Eigentlich gehört Beispiel 19
wegen des völlig gleichen Tonmaterials noch zur vorigen Gruppe, es hängt
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
159
aber bezüglich der Motivbildung enger mit dem folgenden Stück zusammen.
Die Tonfigur heißt nicht wie in den Beispielen 15 bis 18 (transponiert:)
d — e — d — h, sondern d — e — d — e — h, besitzt also einen das Motiv
völlig verändernden Quartsprung. Ähnlich endet auch die Melodie von Bei-
spiel 20, das im übrigen die Kernzelle oben noch um eine Sekunde er-
weitert (a — c — d + e), womit bereits vier Töne einer vollständigen pen-
tatonischen Reihe Verwendung finden.
Beispiel 19
Chor J = 124 - 148
8
1h~ä Jl~.P P
A
ZZ mal
BßispieL ZO
l/orsSnqer J = 118 Chor J = 130 - 13Z
Nachdem einmal die Spur zu arabischen Vergleichsbeispielen aufgenom-
men war, lag es nahe, unter dem außerordentlich spärlichen Klangmaterial
zur Volksmusik islamischer Länder weitere Ausschau zu halten. Was sich
dabei an stilverwandten Stücken fand, wird im folgenden ohne ausgedehntere
Analysen vorgelegt.
Drei Gesänge aus Jemen46. Das Versammlungslied der Awlaqi
läuft in völlig gleichen Werten ab. Nachdem der Chor die Melodie des Vor-
sängers einige Male wiederholt hat, erhält die viertaktige Phrase die hier
notierte schlichte Gestalt. Die quintbegrenzte Skala ist teilpentatonisch wie das
vorhergehende Beispiel, nur wird hier der Tonraum fast ausschließlich schritt-
weise durchmessen. Die Angabe der Anzahl der Wiederholungen hat natür-
lich nur relativen Wert, da die Platte möglicherweise nur einen Ausschnitt des
vollständigen Stückes enthält.
46 Schallplatte „Ethnie Folkways Library“ P421, Stücke Al, 3 u. 4. Zu seinen
1950 durchgeführten Aufnahmen gibt Wolf Leslau folgende Erläuterungen:
(Beisp. 21) “Gathering Song of the Tribe of Awlaqi; The men start singing before
they appear at the gathering place and continue with the song when they have
arrived at the tribal convocation. They repeat the same words over and over;
‘The leghtning has appeared, and the thunder is still stronger. Between you and
me a counsel is possible. Don’t think that I am like this. I am a strong sea and
the fish is caught in the plaites ropes' (drum and chorus)“. — (Beisp. 22)
“Gathering Song of the Tribe of Awdali; ‘Show me the goverment and the
heads of the tribes. Indeed, when I see them a new thought comes to me. There
is no peace between the wood and the fire‘ (drum and chorus)“. — (Beisp. 23)
“War Song: T don’t like the shurf (a type of gun), I take the weapon of mauser‘
(chorus)“.
160
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Für die Notierung des zweiten, bei einem anderen Stamm aufgenomme-
nen Versammlungsliedes (Beispiel 22) wurde lediglich der Übersichtlichkeit
halber ein Drei-Viertel-Takt gewählt, richtiger wäre, analog zu Beispiel 23,
der allerdings ungewöhnliche Zwei-Achtel-Takt. Dieses Stück ist wie das erste
zweiteilig, der Tonraum ist auf eine große Terz beschränkt. Während hier
die Achtel- und Sechzehntel werte ungleichgewichtig verteilt sind, wird in dem
folgenden Kriegslied ständig zwischen einem Viertel und zwei Achtel ge-
wechselt. Hier ist das Tonmaterial noch weiter reduziert, neben dem Haupt-
ton erscheint nur eine oft unbestimmbare, meist etwa eine Quinte tiefer
liegende Finalis.
In die beiden letzten Lieder werden besonders laute Weibertriller hinein-
gesungen. Erstaunlich ist die Präzision, mit der in allen drei Gesängen ein
gleichförmiges Tempo durchgehalten wird.
Beispiel. ZI
Chor J = HZ Toh hohe>
f—! U fj-
iS
0
>-y
Beispiel 22
Thor J = 95 VZ Ton liefen
il mal
e
ar ( : J [111/ -11 e_c_r •> ut-J J c_c—r—
Beispiel 23
TFör J = 126
f Î (> T F Î ■
E... ;-f j
8
Sechs ägyptische Lieder. Die ägyptischen Aufnahmen stam-
men zwar aus verschiedenen Quellen, sind sich untereinander aber doch sehr
ähnlich. Außerdem wird ihre Verwandtschaft nicht nur zu den Liedern aus
dem Jemen und dem Irak, sondern auch zu den türkischen Tänzen deutlich.
Beispiel 24 und 25 wurden als einzige in der vorliegenden Arbeit der
Literatur entnommen47 und nicht von mir selber transskribiert. Zumal das
47 Elans Elickmann, Charles Grégoire Duc de Mecklembourg: Catalogue
d’Enregistrements de Musique Folklorique Egyptienne. Verlag Eleitz, Baden-
Baden 1958; dazu eine Langspielplatte „Teldec“ LP 57953/54 (T 72049). Nr. 27
(Beisp. 24) ist dort bezeichnet als „Chant: Sarbât (Haute Egypte)“; Särbat
(„cherbet“) ist ein süßes Getränk. — Unter Nr. 104 (Beisp. 25) steht vermerkt
„Pièce humoristique; Histoire du chat“. Dieses berühmte Lied hat ein Instrumen-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
161
zweite von Hickmann in Noten vorgelegte Stück auf die dem Katalog bei-
gefügte Platte aufgenommen wurde, bestätigt sich die entfernte Verwandt-
schaft mit dem hier besprochenen Liedtyp auch vom klanglichen Eindruck
her. Für das nubische Lied (Beispiel 24) müssen als Vergleichsmomente vor
allem die Engräumigkeit und die mit dem Tonmaterial der Beispiele 20 u. 21
vergleichbare teilpentatonische Skala herangezogen werden.
Die „Geschichte von der Katze“ wird rhythmisch außerordentlich straff
vorgetragen. Da fast nur Achtel verwendet werden, verstärkt sich noch der
Eindruck einer nahezu maschinellen Bewegung. Nur die als Ausdrucksmittel
wirkenden Pausen und die Instrumentaleinwürfe mit ihren Gegenakzenten
bringen Abwechslung in den gleichförmigen Ablauf. Beide, auch hier wieder-
gegebenen Motive des Stückes benutzen einen Terzraum. Daß durch dessen
spätere Verlagerung um einen Ton nach unten insgesamt ein Quart-Ambitus
zustandekommt, ändert nichts an der ausgesprochenen Engräumigkeit. Viel
wichtiger erscheint dagegen, daß bei der in beiden Phrasen auftauchenden
Kombination von Ganz- und Halbton ein Lagenwechsel eintritt, indem der
Halbtonschritt zunächst unter, und dann über dem Ganzton liegt.
Beispiel 2A
( Uherlrnm mn rlr )
etc.
Beispiel ZS
Crt/lC /
J- 94, ersi am Schluß gesleigert bis HO
Solisi
A! - Iah ye -l(hnb
etc.
Während diese beiden ägyptischen Stücke nur noch wenige Merkmale mit
den türkischen und irakischen Liedern gemeinsam haben, rücken die drei fol-
genden Beispiele aus der Nähe von Kairo48 wieder dichter an jene heran.
Es sind Wechselgesänge zwischen Solisten und einem Chor. Das begleitende
Händeklatschen fördert den rhythmisch straffen und gleichförmigen Ab-
lauf. Die einzelnen Strophen weichen teilweise stark voneinander ab, vor
allem die Partien der Vorsänger. Die Sechzehntelfiguren nehmen den Stücken
talvorspiel, dem ein Gesangssolo folgt. Schließlich singen, von Schlägen des
Orchesters unterbrochen, Solist und Chor abwechselnd. Das vollständige Stück
befindet sich als letzter Schnitt auf der Schallplatte.
48 Diese Lieder wurden einer Sammlung von Tonbandaufnahmen entnommen, diu
die Roxy-Filmgesellschaft zu dem Film „El Hakim“ 1957 durchführte und von
denen Kopien im Phonogramm-Archiv lagern (Sign. B 288 grün a, c und f).
11 Baessler-Archiv Vili
162 Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
ein wenig von der Starre, die an sich — wie bei Leylim und Hessen — aus
dem stereotypen Wechsel von nur zwei Notenwerten resultiert. Beispiel 27
hat im wesentlichen nur Terzumfang, der Chor des nächsten Stückes be-
nötigt nur eine verminderte Quarte, während die Phrasen des Solisten sich
im Rahmen einer verminderten Quinte bewegen. Im übrigen ist die gehäufte
Einbeziehung von Halbtönen in eine an sich schon enge Skala und dazu noch
deren Exponierung als Begrenzungstöne eine wohl mehr arabische Eigenart
(fis — g — a — b). In den türkischen Beispielen begegneten solche Reihen
nicht. Die im Notenbild dieses Beispiels erscheinenden Zweiklänge werden
tatsächlich kaum als solche wirksam, da der Vorsänger meist etwas später
einsetzt, ohne daß dadurch der gleichförmige Ablauf gestört würde.
Beispiel. Z6
Chor J / a 36 - 96 a,' r—- a" a.' C'/TUX t
B k/a ¿sehen J J J J J j J j . j j i L J J i 1 L
Beispiel ZI J * 6A -78 Ton tiefer
Der folgende Beduinen-Gesang aus der Provinz El Fayum im nördlichen
Ober-Ägypten49 kommt unseren allerersten Beispielen noch wesentlich näher.
Trotz gelegentlicher Punktierungen bleibt die schlichte Achtelfolge ausschlag-
gebend. Sehr ähnlich ist auch die rhythmische Stauung auf den Viertelnoten
jedes zweiten Taktes. Während anfangs vier Varianten des gleichen von einer
kleinen Terz begrenzten Motivs zusammen eine größere, viertaktige Einheit
bilden, reduziert der Chor später die ganze Phrase auf nur noch eine, ständig
wiederholte Variante, der ein neues Schlußmotiv folgt.
49
Langspielplatte „His Masters Voice“ HEP 2, „The History of Music in Sound“,
hg. von Egon Wellesz, Vol. I „Ancient and Oriental Music“, Side 4, Cut 6;
„Arab el-Faiyum.“
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
163
Beispiel. Z9 J - 94 - 102 Mehrere vy qt t SO £/ ähnlich 4 mal
Einzelne a a b k -f, _ b w
s
Kl at- J J -J J— -Ui- -J— —J- J 1J J J - -j—U- J J
4-
ähnlich E rnai
J---------<
Ein syrisches Lied mit Trommel. Obwohl schon dies letzte
Beispiel besonders deutlich aufzeigte, daß die arabische Volksmusik auch
außerhalb des Irak tatsächlich Liedtypen kennt, die den südtürkischen Chor-
tanzliedern eng verwandt zu sein scheinen, folge noch ein weiteres Beispiel,
das nahezu ebenso überzeugend sein dürfte. Es ist meiner eigenen Sammlung
entnommen (Nr. 586) und wurde am 18. April 1956 in einem arabischen Dorf
der türkischen Provinz FFatay aufgenommen. Es stellt also schon äußerlich
ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Landschaften dar, aus denen
unsere Beispiele stammen.
Hier ist es eine in einem festen rhythmischen Muster geschlagene Trommel,
die für die gleichförmige Bewegung sorgt. Viertelnoten verursachen wiederum
Stauungen, der Ambitus ist, wie in Beispiel 28, eine verminderte Quarte.
Beispiel 30 J - 10A - 108 1. Strophe A 1 aSo/ist -w b a. »
■ |* » f. -J Ü % E F k-fb-Cd ^ ~ i? i? i? IT-1 '"~y ff p ~
8
AJ ■ J L_T J J L_td b' J J f r f * J L a‘ * * (■ i i J !—T
W-11 -ff ff ff m p» ff Jt ¿ lT~i» —f—f*—1^ H
Ob- V V V í> I---J K [Ì ^ r 1 ....—t— T Ul
8 —J=^ -Crf r- ^ f-w rr C—T •!
'/ariierle Wiederholung durch Chor usw.
Vergleich der Beispiele und Zusammenfassung
Die große Tabelle (S. 168) ergänzt unsere Analysen durch Darlegung einiger
bisher nicht berücksichtigter Gestaltmerkmale. Sie verfolgt vornehmlich aber
den Zweck, über alle entscheidenden Eigenschaften der einzelnen Stücke noch
einmal Auskunft zu geben, und zwar auf so engem Raum, daß unmittelbare
Vergleiche mühelos angestellt werden können.
Es zeigt sich, daß von den 30 Liedern 21 Tänze sind und 2 weitere (Bei-
spiele 21 u. 22) eine andere Körperbewegung begleiten. In 20 Fällen handelt
es sich um Wechselgesänge, meist um Vorsänger und Chor (19 Lieder). Zehn-
\\*
164 Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
mal begegnet eine Terz als Ambitus, die Quinte ist viermal vertreten. Die
beiden noch größeren Umfänge finden sich unter den türkischen Aufnahmen,
und nicht — wie man vielleicht erwartet — unter den arabischen Stücken.
Die Quarte ist nicht nur am häufigsten (zwöl final) vertreten, sie entspricht
auch etwa dem errechneten Durchschnitt der Umfänge. Die gesonderte Be-
trachtung der einzelnen Gruppen ergibt bezüglich des Ambitus überall das
etwa gleiche Bild, Wesensunterschiede sind hier also nicht zu finden. Unter
den Skalen gibt es Zweitongebilde ebenso wie siebenstufige Reihen. Neben
sieben Stücken mit einem sozusagen neutralen Tonvorrat basieren neun Melo-
dien auf Ausschnitten pentatonischer Leitern, während vierzehn Lieder dia-
tonisch sind. Vergleicht man die Zusammenstellung der in den Raum zwischen
g und f transponierten Skalen aller Stücke, so zeigt sich, daß die Rossen
ausschließlich teilpentatonisch sind und dabei zumeist die Kernzelle (vgl.
Anm. 13) verwenden, bzw. einen ebenso deutbaren „neutralen“ Tonvorrat
besitzen. Von den türkischen Liedern ist — ebenfalls vielleicht wieder un-
erwartet — nur eines eindeutig teilpentatonisch. Die übrigen Melodien ver-
teilen sich fast gleichmäßig auf alle drei Leitern-Gruppen.
Neutrale Skalen Pentatonische Skalen.
-0 1» ii-j j—« -h—4——> |» -
Beisp■ 1Z, 73 II * 1-— II fl 1 -4 23 10, 74, ZZ, Z7 IS, 16, 17, IB, 19 3 1 T Ü J rill 20, ZI, 24
Diatonische Skalen
Beisp■ 1, ZSt 29
25*
-r—■-dM-r r P
2. 5, 6
~J J r t*~ l~'f r~=i=
4, //9, 26 111
ze, 30
W- r r r r r II J J. r r l^r r II J r =r=f=f^
Beisp■ 7 9 a
Eine Tonika läßt sich keineswegs in allen Stücken eindeutig bestimmen.
Daß dies in außereuropäischer Musik meist schwierig ist, bedarf keines
besonderen Hinweises. Vielleicht wäre hier eine andere Fragestellung ohne-
hin sinnvoller. Nicht immer wird die Finalis gleich der Tonika sein, sicher
auch nicht der am häufigsten vorkommende Ton. Genaue Kriterien für den
— unverbindlich ausgedrückt — wichtigsten Ton eines Stückes müssen erst
noch erarbeitet werden. Wo sich die Tonika nicht klar heraushebt, sind in
unserer Tabelle Fragezeichen gesetzt. In den Rossen sind tiefster Ton und
Grundton identisch, während die Tonika in den türkischen und übrigen
arabischen Stücken vereinzelt auch höher liegt. Daß die Kernzelle und ihre
Erweiterung in den Beispielen 15 bis 21 und 24 als Hauptton stets den
unteren Ton des Terz-Intervalls, also transponiert a, haben, spricht für die
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
165
Richtigkeit der andernorts vom Verfasser ausgesprochenen These (vgl. An-
merkung 13).
Gerüsttöne und bevorzugte melodische Intervalle sind in so eng be-
grenzten Melodien kaum ausgeprägt. Sie werden darum hier auch nicht er-
faßt. Da die Melodiebewegung bevorzugt stufenweise erfolgt, dominieren
Sekunden und Terzen. Ausnahmen bilden die Beispiele 8, 9, 19, 20 u. 30,
die Quartsprünge enthalten. Nur in einem Falle (Beispiel 23) taucht eine
Quinte auf. Der Melodieverlauf ist in den engen Tonräumen naturgemäß
meist wellenförmig. Mehr bogenartige Gebilde finden sich in den türkischen
Liedern 1 und 5, sowie in den Beispielen 17, 29 und 30 aus Ägypten. Aus-
gesprochen deszendente Phrasen sind unter den türkischen Stücken Bei-
spiele 3, 4, 6, 7 u. 9) wesentlich häufiger als unter den Vergleichsbeispielen
(22, 23 u. 28).
Die nächste Frage nach typischen Motiven ist ein wenig prekär. Auch
hier ist noch keine wirklich brauchbare Untersuchungsmethode erarbeitet wor-
den. Die in der Tabelle vermerkten Stichworte genügen aber vollauf, die
starke Verwandtschaft aller Stücke deutlich werden zu lassen. Tonwieder-
holungen finden sich in sämtlichen, Häufungen von Wechselnoten und deren
Übersteigerung zu Sekundpendeln50 in allen Liedgruppen außer in den
lemenitischen Beispielen.
Ein ebenso einheitliches Bild vermittelt die Liste der typischen Rhythmen.
Die gleichförmige Achtelbewegung dominiert hier neben dem Stauungsrhyth-
mus, bei dem auf eine Reihe von Achteln ein Ruhepunkt auf einem Viertel
folgt. Obwohl diese Struktur bei den türkischen Liedern eng mit der Sieben-
silbigkeit der Textzeilen zusammenhängt, sind zahlreiche andere Melodien
nach dem gleichen Prinzip rhythmisiert. Die Anzahl der Achtelwerte, ver-
einzelte Unterteilungen oder Verschmelzungen und die Gruppierung der
Noten um den längeren Wert wechseln offenbar unter dem Zwang der text-
lichen Erfordernisse (siehe S. 166).
Die Angabe des Taktes, der vielfach nur einfach der Länge der Melodie-
zeilen entspricht, ist insofern aufschlußreich, als in fast allen Beispielen der
einem Schreittanz am ehesten gemäße gerade Takt herrscht und die Aus-
nahmen davon — von Beispiel 22 abgesehen — nur unter den Hossen zu
finden sind. Hier gibt es dreimal Phrasen von Fünf-Viertel-Längen und zwei-
mal Sieben-Viertel-Folgen.
Die meist nach Strophen gegliederten Lieder schwanken zwischen Zwei-
und Achtteiligkeit, wobei unter Teilen jeweils nur Zeilen, d. h. meistens ein-
zelne Takte zu verstehen sind. Gelegentlich geht, wie in Beispiel 29, die
1j0 Dieser Begriff ist von dem musikethnologischen terminus „Pendelmelodik“ ab-
geleitet.
166
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Rhythmisches Muster Beispiel
J u 23, 27
nj 10, 26
nj JT J J 15
77 J nTH 11
J7T7J 77 3, 4, 7, 30
/7T7 J J n 12, 16
/7777 J JT ~n 17
jninj 1, 2, 5, 8, 10, 29
jTmnj 9
JT JJJ JJ J J 7771 13, 20
JJJJ J J J—D J n 14
JTT3 im j n J7T“J7 19
jtji j rm j JT J J 18
j n JTTTJ 28
Tendenz dahin, eine zunächst größere Form auf ein einziges Motiv zu redu-
zieren. Echte Einteiligkeit findet sich nur in zwei türkischen, einem jemeni-
tischen und vor allem in sechs irakischen Liedern. Soweit es untersucht wer-
den konnte, d. h. nur bei 10 Stücken aus der Türkei, decken sich musikalische
und textliche Strophe lediglich in vier Fällen. Dreimal wird auf eine Text-
strophe die Melodie zweimal gebracht, ja es gibt sogar drei Lieder, deren
Weisen einer Viertel- oder Achtelstrophe entsprechen. Die Kürze des „musi-
kalischen Atems“, die schon aus den vielen einteiligen Gebilden ersichtlich
wurde, läßt sich noch deutlicher aus den Zahlen zur Lormlänge ablesen.
Ejennoch erscheinen hier erhebliche Unterschiede sowohl innerhalb der Grup-
pen wie unter diesen. Die Durchschnittswerte sind:
Zahl der Töne Sekunden
Irak 11 2,7
Jemen 20 5,1
Türkei 35 11,3
Ägypten 36 13,5
Syrien 46 14
Gesamtdurchschnitt 26 8,5
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
167
Die Hossen haben, wie zu vermuten war, die geringste Ausdehnung, wäh-
rend die türkischen Lieder mittlere Längen besitzen.
Bei den Zählzeitentempi51 ergeben sich keine ausgesprochenen Schwer-
punkte. Die einzelnen Metronomzahlen verteilen sich innerhalb der Gruppen
einigermaßen gleichmäßig52 53. Auch sind die prozentualen Spannen zwischen
den Extremen nicht allzu unterschiedlich. Dagegen zeigen die Durchschnitts-
werte der einzelnen Gruppen ein ganz anderes Bild. Während die türkischen,
jemenitischen und syrischen Beispiele in der Nähe des Gesamtmittels von 111
liegen, bilden Ägypten mit 87 und der Irak mit 137 Zählzeiten pro Minute
sehr starke Gegensätze. Die Zahlen für die „häufigsten Notenwerte“ sind fast
durchwegs Verdoppelungen des Zählzeitentempos. Darin spiegelt sich die Be-
vorzugung einer Achtelbewegung.
Zählzeitentempo Durch- Extreme schnitt Tempo der häu- figsten Noten- werte „ Durch - Extreme schnitt Inneres Tempo _ Durch- Extreme schnitt Melisches Tempo Durch- Extreme schnitt 1
Türkei 86-118 102 172 -236 204 164-217 186 67-174 113
Irak 83) 118-158 137 236—316 274 231-295 263 72—127 105
Jemen 95—126 111 126-380 243 189—284 232 42-205 138
Ägypten 64—130 87 128—260 173 124-186 161 115—154 127
Syrien 104-108 106 208—216 212 - 197 — 141
Alle Beileide 64-158 111 126 380 225 124 295 211 42 205 117
Das Innere Tempo liegt naturgemäß immer nur wenig unter H.T., da diese
Achtelbewegung nicht allzu oft in dem oben besprochenen Sinne gestaut
wird. Inneres und Zählzeiten-Tempo ergeben die gleiche progressive Reihen-
folge der Musiklandschaftcn. Dagegen haben die Hossen, die das rascheste
Tempo aufweisen, die geringste indische Bewegung. Sie ist nicht einmal halb
so schnell wie das Innere Tempo und liegt sogar auch noch unter dem Zähl-
zeitentempo. Der Grund dafür ist eindeutig: die irakischen Chorlieder weisen
die meisten Tonwiederholungen auf.
51 Zu den verschiedenen Tempoqualitäten vgl. Anm. 14.
52 Wie gleichmäßig diese Streuung ist, zeigt die letzte Zeile der nächsten Tabelle.
Dort liegen die Extreme bei 64 und 158. Die genaue Mitte davon ist 111, und
diese Zahl ergibt sich auch auf dem zwangsläufig ganz anderen Weg für die
Berechnung des Durchschnittstempos.
53 Bei den Hossen wurden nur die Tempi der Chorpartien berücksichtigt.
168
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Ergebnisse
Einer größeren Zusammenfassung der hier vorgeiegten Gedanken bedarf
es nach so ausführlichen Analysen und insbesondere angesichts der kommen-
tierten Übersichtstabelle sicherlich nicht. Die allen türkischen und arabischen
Liedern oder zumindest einem Teil von ihnen gemeinsamen Stileigentümlich-
keiten seien hier nur noch einmal aufgezählt:
1. Verbindung mit Gruppentanz54.
2. Stampfen und Klatschen der Tanzenden54.
3. Weibertriller.
4. Wechselgesang zwischen Vorsänger und Chor54.
5. Allmähliche Formulierung eines abgeschliffenen Motivs durch den Chor.
6. Kleiner Ambitus.
7. Teilpentatonik54.
8. Kurze, prägnante Motive und Phrasen.
9. Ton Wiederholungen54.
10. Wechselnoten54 und Sekundpendel.
11. Gleichförmige Achtelbewegung54.
12. Rhythmische Stauung durch regelmäßig eingeschobenen längeren Wert.
54 Die zu Anfang erwähnte, zunächst nur auf dem Gehörseindruck basierende Er-
innerung an Tänze von den Färöer-Inseln wird tatsächlich durch einige leicht
aufzeigbare Parallelen legitimiert. Es gehören dazu Gruppentanz, Stampfen,
Chor-Wechselgesang, tedpentatonische Motive, Tonwiederholungen, Wechselnoten,
Akzentverlagerung, ungleiche Motivlängen (vgl. auch Hossen Beisp. 19), gleich-
förmige Bewegung, asymmetrische Strophengliederung, Taklwechsel, vereinzelte
Tonschwankungen des Chores. Drei Beispiele mögen diese Zusammenhänge
verdeutlichen. Sie wurden durch den Verfasser am 1. 7. 55 in Oslo (1. u. 2. Beisp.)
bzw. am 24. 8. 57 in Kopenhagen (3. Beisp.) von Tanzgruppen der Färöer auf-
genommen (Phonogramm-Archiv Sign. B 129 rot y, B 13C grün a und B 264 c).
Selbstverständlich sollen mit diesem Flinweis keineswegs irgendwelche Beziehungen
auch nur angedeutet sein. Die vielen parallelen Erscheinungen lassen vielmehr
den Schluß zu, daß getanzte Chorwechselgesänge einfach durch die Ähnlichkeit
der Aufführungssituation sich auch im Musikstil ähneln können.
Mztrer
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
;nde Formlänge Tempo Besonder-
m Zahl d. Töne Sekunden Z.T. H. T. LT. M. T. heiten
sphe 7 2 118 236 210 71 1
phe tins 31 9,8 98 196 191 128 In den Pausen \ Weiber- triller
phe 14 4,1 117 234 210 75
ohe 43 14,1 102 204 184 90
ain
she 28 10 94 188 168 126
.ins
ohe 76 20,4 106 212 217 131
ain
spire 19 6,8 106 212 166 122
ain
Üertel- lefrain 14 5,2 92 184 164 127
phe 80 30,7 86 172 166 137
ain
61 18,9 114 228 194 67
rphe 8 2,7 89 178 174 174
9 2 -2,4 112 224 240 120
124-150 248-300
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
Bei- spiel Land Gattung Besetzung
1 Türkei Tanz Vorsänger und Chor
2 ” » -
3 ” « ”
4 » ” Sologesang
5 ” ” ”
6 « »
7 « » Vorsänger und Chor
8 » » Sologesang
9 ” » »
10 « ” Wechselgesang
11 » « Sologesang
Umfang
Skala (transpo-
niert, Tonika
unterstrichen)
Typische Motive
Typischer Rhythmus
kl. Terz a—h—c—(d)
Quarte j a—h—c—d
„ i g-a---c
» g—a—h-c
„ a—h -c—d
„ a- h—c—d
verm. Quinte (?) h—c—d-e—f
gr. Sexte i g--h—c—d—e (?)
kl. Septime | g—a—h—c—d-e—f
gr. Terz j c—d—e
Quarte
g—a—h— c
h-c-d-e (?)
Tonwiederholungen
Wechselnoten
Sekundpendel
Tonwiederholungen
Wechselnoten
Sekundpendel
Tonwiederholungen
Wechselnoten
Sekundpendel
Sekundpendel, Tonwieder-
holung, Sequenzen
Tonwiederholungen
Л73Л
Gleichförmige r-i-r-i r-1
Achtel und J J J J
JTT3J
JTTJJ
ЛПЛЛ
Gleichförmige Achtel
ATT3J Л
Л~ЛГ3 J
лэлгл j
.ТТЛ Л J und
n J ЛТЛ
Reinhard, Türkischer Tanzlied-Typ und seine außertürk. Parallelen
Taktbzw. Phrasen- länge Form Entsprechende Textform Formlänge Sekunden Tone Z. T. Tempo H. T. I. T. M. T. Besonder- heiten
J 4/4 1-teilig (=1 Motiv) Viertelstrophe 7 2 118 236 210 71 1
J 4/4 Strophe (a, b, c, d) Halbstrophe mit Refrains 31 9,8 98 196 191 128 In den Pausen \ Weiber- triller
Л 4/4 >. (a, b) Halbstrophe 14 4,1 117 234 210 75
Л 4/4 Strophe (a, b, c, b', c, b) Vollstrophe mit Refrain 43 14,1 102 204 184 90
J 4/4 Strophe (a, b, a', b') Halbstrophe mit Refrains 28 10 94 188 168 126
2/4 Strophe Vollstrophe 76 20,4 106 212 217 131
(a, b, c, b , a , b ) mit Refrain
4/4 Strophe (a, b, b') Viertelstrophe 19 6,8 106 212 166 122
mit Refrain
4/4 » (a, b) Halb- od. Viertel- strophe m. Refrain 14 5,2 92 184 164 127
4/4 Strophe Vollstrophe 80 30,7 86 172 166 137
(a, a , b, b , c, d,d ) mit Refrain
П J 4/4 Strophe (a, d, b, c, d, b, c) « 61 18,9 114 228 194 67
4/4 1-teilig (= 1 Motiv) Achtelstrophe 8 2,7 89 178 174 174
12 Irak Tanz Vorsänger und Chor gr. Terz c——e Tonwiederholungen Terzpendel jm-öJ л 5/4 1-teilig (=1 Motiv) 9 2 -2,4 112 124-150 224 248-300 240 120
13 „ „ „ Terz c e » JJJ j J Л JJJJJJ 7/4 ,, ,, 13 2,7-3,6 118-155 236-310 284 88
14 . gr. Terz c—d—e Tonwiederholungen rsjj-nm л 6/4 >> 11 2,4-3,1 114 118-148 228 236-296 264 72
15 ,, ,, „ Quarte a c—d Tonwiederholungen, Terzpendel, Wechselnoten Л J ЛТЗ 4/4 ” 7 1,6-1,9 HO 124-158 220 248-316 231 127
16 a c—d JTT1J J л 5/4 .. 8 2,1-2,3 133-146 266-292 240 120
17 a c—d . J77T3 J ЛГЛ 5/4 » 10 2 -2,4 HO 124-150 220 248-300 295 118
18 a c—d fj-j-jj ЛГЛ J JTJ1 8/4 „ (2 Figuren) 14 3,4-3,9 124-140 248-280 262 77
19 » ” ” » a c-d Tonwiederholungen Wechselnoten J771JJ J JlJ ЛЛЛ 4/4 7/4 „ 15 3,2-3,9 HO 124-148 118 220 248-296 236 275 92
20 „ ,, Quinte a c—d—e Tonwiederholungen fJJTJ 'JJ JJJJJJ ” ” 13 2,8-3,2 130-152 260-304 276 127
21 Jemen Marsch- lied Vors. u. Chor Rhythm. Instr. Quinte a c—d—e Fallende Figuren Gleichförmige Achtel 4/4 Strophe (a, b) 32 8,6 112 224 223 167
22 „ ,, Chor Rhythm. Instr. gr. Terz c—d—e — Ji 1 n fTT3 ЛТ73) 3/4 ,, (a, a') 18 3,8 95 380 284 205 Weibertriller
23 Kriegs- lied Chor Quinte a— e Tonwiederholungen Al J А 41 2/4 1-teilig (= 1 Motiv) 9 1 2,9 126 126 189 42 Weibertriller
24 Ägypten Liebes- lied Sologesang Quinte a c—d—e Schrittbewegung 4/4 — I ~ - - - - -
25 .. Ballade Vors. u. Chor Instr. kl. Terz h—c-d a—h—c Fallende Figuren Sekundpendel | J-3 J> ••II 2/4 Mehrere Abschnitte 41 14 94 (130) 188 (260) 176 186 141 154
26 » - Chor und Klatschen Quarte g—a—h—c Sekundpendel 4/4 Strophe (a, a', a", a') 29 11 86-96 172-192 157 124
27 « - Vorsänger und Chor gr. Terz c—d—e » >U Л J А -II 4/4 Strophe (a, a') ! 14 6,8 64-78 128-156 124 115
28 >> - » kl. Terz verm. Quinte h—c—d h—c—d—es—f Wechselnoten kleine rhythm. г—и m Steigerungen J JJ J J~J Jj 4/4 Strophe (a, a, a',a,b,b,b,c) 68 26 64-82 128-164 157 120
29 ” Beduinen- lied Vors. u. Chor Klatschen kl. Terz a—h—c Tonwiederholungen Sekundpendel Gleichförmige , Achtel und J J J J Jj J 4/4 Strophe (a, b, a, b) 30 _ 9,8 i 94-102 188-204 184 129
30 Syrien Tanz Vors. u. Chor Trommel verm. Quarte h—c—d—es Tonwiederholungen ЛЛШ А I 4/4 Strophe (a, b, a, b, b', a') 1 46 14 104-108 208-216 197 141
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
169
13. Akzentverlagerungen und Gegenakzente54.
14. Temposteigerungen (nur in einem Teil der arabischen Beispiele).
Die wichtigste Frage kann — das wurde schon oben ausgesprochen — nicht
beantwortet werden. Zweifellos sind die Lieder miteinander verwandt. Ob
aber unmittelbare Beziehungen vorliegen, und wer wen beeinflußt hat, ist
noch unklar. Vielleicht sollte man auch an eine andere gemeinsame Herkunft
denken, die wir nur noch nicht kennen. Welche Rolle in diesem Zusammen-
hang den Kurden zukommt, ob sie die Zwischenträger oder gar Urheber
unseres Liedtyps sind, auch das müßte noch untersucht werden.
Das aber kann nur geschehen, wenn sich die Musikethnologie endlich in-
tensiver mit der bisher vernachlässigten Volksmusik der außereuropäischen
Hochkulturen, insbesondere des Vorderen Orients, beschäftigt. Dazu einen
kleinen Beitrag zu leisten, ist der Sinn dieses Aufsatzes
170
Bücherbesprechungen
Kooijman, S.: The art of Lake Sentani. Hg. v. Museum of Primitive Art. Univer-
sity Publishers, Inc. New York 1959. 64 Seiten, 101 Fotos, 2 Kartenskizzen,
Bibliographie. 3.50 $.
Als General MacArthur im Jahre 1944 sein Hauptquartier am Sentani-See nahe
der Nordküsre von Niederländisch-Neuguinea einrichtete, begann zwangsläufig der
letzte und der intensivste Zersetzungsprozeß für die Kultur der in diesem Gebiet
lebenden Voraustronesier, die schon in den Jahrzehnten zuvor starke europäische
Einflüsse erfahren hatten
Es ist ein bemerkenswertes Verdienst des Museum of Primitive Art in New York,
durch eine Ausstellung „The art of Lake Sentani“ die Vergangenheit jener Kultur
wieder aufleben zu lassen, und besonders Dr. S. Kooijman vom Rijksmuseum voor
Volkenkunde in Leiden gebührt Dank für die aus diesem Anlaß geschaffene Ver-
öffentlichung.
Nach einer Einführung in die Ethnologie der großen Insel Neuguinea gibt
Kooijman einen Überblick der Geographie und Kultur des Sentani-Gebietes und
kommt dann zur Beschreibung der Sentani-Kunst.
Kooijmans Darstellung ist sehr sauber, klar und vorsichtig; er vermeidet die (oft
so naheliegenden) entstellenden Verallgemeinerungen. Die Art und die Gestaltung
der zahlreichen Objekte werden von dem Autor nicht nur beschrieben, sondern er
sucht sie aus den allgemeinen Lebensbedingungen und der kulturellen Situation jener
Menschen zu erklären, und bei der Betrachtung dieser Arbeiten, welche die Weißen
beute gern unter dem Begriff „Kunst“ einordnen, kommt er zu dem Schluß: „The
art of the area as a whole gives an Impression of equability and repose. . . .“ (S. 24).
So gibt uns Kooijman die erste ausführlichere Würdigung der Sentani-Kunst, be-
zogen auf 81 ausgestellte und 15 zum Vergleich hinzugezogene Objekte. Bescheiden
nennt er seine Arbeit einen „sketch of Lake Sentani culture and the attempt to
interpret the art in the setting of that culture. ... (S. 7). Eine Monographie (wie in
dem Begleittext geschrieben steht) liegt hier jedoch noch nicht vor; denn dazu ist der
Raum von knapp acht Seiten für die Untersuchung der Kunst nicht ausreichend
genug. Es bleibt der Wunsch, daß S. Kooijman, der sich hier als ein exakter Kenner
der Sentani-Objekte erweist und dessen Ausführungen recht gedankenreich sind, uns
einmal ein umfangreicheres Werk zu diesem Thema schenken möge.
Der vorliegende Katalogband ist mustergültig gestaltet, übersichtlich in der An-
ordnung des Satzes, der klaren Zeichnungen und der zahlreichen Fotos, die einwand-
frei die Objekte zeigen, ohne sie um des Effektes willen zu verzerrten. Gerd Koch
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
171
FADENSPIELE VOM UNTEREN WATUT UND
BANIR RIVER (OST-NEUGUINEA)
HANS FISCHER, Tübingen
Nachdem 1902 Rivers und Haddon ihre „Method of recording string
hgures and tricks“ veröffentlicht hatten, wurden in den folgenden Jahren
Fadenspiele in Ozeanien, Afrika und Amerika gesammelt und veröffentlicht,
und die Arbeiten von Cunnington, Parkinson, Haddon, Compton, Rösser,
Horneil und vielen anderen beziehen sich ausdrücklich darauf. Auch in den
„Notes and Queries on Anthropology“ (6th edition, 1954, p. 335—339) wird
der Aufsatz verkürzt zitiert. Die zusammenfassenden Arbeiten über Faden-
spiele von Kathleen Haddon und Caroline Jayne, auf die sich mehrere Auf-
sätze beziehen, waren mir leider nicht zugänglich. In Ozeanien war und
ist das Sammeln von Fadenspielen im wesentlichen auf Polynesien und Süd-
Melanesien beschränkt (Andersen, Compton, Dickey, Handy, Horneil), be-
sonders für Neu-Guinea fehlen Veröffentlichungen.
Wie auch auf anderen Gebieten, nahm erst nach der Aufstellung einer
Terminologie und Methode der Beschreibung die Untersuchung großen Auf-
schwung. Ohne eine solche ist die Beschreibung der Herstellungsstadien eines
Fadenspiels kaum möglich, bzw. allgemeinverständlich. Damit ist aber auch
eine Forderung in den erwähnten Aufsätzen verbunden: Fadenspiele sollen
nicht als fertige Figuren, sondern es soll die Methode der Herstellung be-
schrieben werden. Als Begründung dafür wird angegeben, daß die gleiche
Figur auf ganz unterschiedliche Weise hergestellt werden könne und deshalb
eben diese Herstellung beschrieben werden solle, um später für Vergleiche
zu dienen. Dies führte aber auf der anderen Seite dazu, daß offensichtlich
nur noch Fadenspiele veröffentlicht wurden, deren Herstellungsgang man
aufgenommen hatte. Es scheint, daß damit jedoch über das Ziel hinaus-
gegangen wird. Trotz der Terminologie von Rivers und Haddon ist es eine
äußerst mühselige und langwierige Arbeit, Fadenspiele in allen Stadien auf-
zunehmen. Eine ziemliche Übung ist dafür nötig, der Beobachter muß selbst
eine Anzahl von Spielen beherrschen, um neue aufnehmen (oder lernen) zu
können. Eine fertige Figur dagegen ist schnell entweder zu fotografieren
oder zu zeichnen. Die vergleichende Arbeit ist nicht die einzige völkerkund-
liche Methode und historische Fragestellungen sind nicht die einzig möglichen.
Die Untersuchung der Fadenspiele an sich, auch der bloßen Figuren, kann
das kulturelle Bild einer Gruppe vervollständigen. Schließlich bleibt auch
für Fadenspiele, die nur im Endstadium, als fertige Figur bekannt sind, der
Vergleich mit anderen Gebieten aufgrund des Namens.
172
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
Die schnellste Art der Aufnahme fertiger Figuren ist naturgemäß das
Fotografieren. Wie man jedoch an Fotos vieler Arbeiten erkennen kann, ist
dies zweifellos die ungenaueste Methode. Abgesehen davon, daß der Faden-
verlauf bei den dünnen Schnüren schon im Mittelfeld der Figur oft nicht zu
erkennen ist, läßt er sich an oder zwischen den Fingern meist äußerst schlecht
feststellen. Wesentlich genauer wird das Zeichnen. Hierbei sollte die Figur
zuerst nicht von den Händen gelöst werden. Bei der vorliegenden Unter-
suchung wurden die Figuren jeweils fotografiert, gezeichnet und bei Bedarf
nachher noch von den Händen gelöst, um den Verlauf zwischen den Fingern
nochmals schematisch aufzunehmen. Zu genaues Zeichnen erschwert oft das
Erkennen der Figur (siehe etwa Zeichnungen bei Raymund), der Fadenverlauf
sollte klar schematisch dargestellt werden, wobei auf Zufälligkeiten (Doppe-
lung der gesamten Schnur, Knoten usw.) keine Rücksicht genommen zu
werden braucht.
Zur Aufnahme der Herstellungsstadien könnte man sich des Films, der
Fotoserie, des stufenweisen Zeichnens oder der Beschreibung bedienen. Für
die Veröffentlichung wird man die ersten drei Methoden jedoch kaum ver-
wenden können. Allerdings ist es möglich, zumindest einzelne Stadien foto-
grafisch (Andersen) und zeichnerisch (Hambruch, Abb. 91 bis 94) darzu-
stellen, da die reine Beschreibung trotz der Terminologie sehr kompliziert ist.
Hambruch (1914, p. 343 ff.) hat mit gutem Erfolg schematische Darstellungen
verwendet. Müller (p. 206) und nach ihm Krämer (p. 288) haben für die
Veröffentlichungen der Ergebnisse der Hamburgischen Südsee-Expedition
Rivers’ und Haddon’s Terminologie, jedoch mit Abkürzungen, übernommen.
Ob die fertigen Figuren von der Ansichtseite des Spielers oder des Beobachters
dargestellt werden, ist ohne Bedeutung.
Die Termini nach Rivers und Haddon (p. 147 f.) seien kurz den deutschen
nach Krämer, der Abkürzungen verwendet, gegenübergestellt:
loop = Sch(leife)
radial = v(orn) : : Daumenseite
ulnar — h (inten) : : Kleinfingerseite
palmar = p(almar) : Flachhand(seite)
dorsal = d(orsal) : Handrücken(seite)
proximal = u(nten) : ; Fingerwurzelseite
distal = o(ben) ; : Fingerspitzenseite
position I = Stellung I
opening A = Eröffnung A
Außerdem: D(aumen), Z(eigefinger), M(ittelfinger), R(ingfinger), Kl(einer
Finger), r(echts), l(inks), Fa(den),
Fi(nger).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
173
Die hier vorgelegten Fadenspiele stammen zum überwiegenden Teil vom
unteren Watut River, Ost-Neuguinea, dem großen südlichen Nebenfluß des
Markham, der bei Lae in den ITuon-Golf mündet. Die hier ansässige Bevöl-
kerung mit melanesischer Sprache ist eng mit der Bevölkerung des Markham-
Tales (Laewomba und Azera) verwandt. Infolge des nur sehr kurzen Aufent-
haltes konnten zwar alle hier bekannten Fadenspiele als fertige Figuren foto-
grafiert und gezeichnet werden, doch reichte die Zeit nicht aus, um alle Spiele
zu erlernen. Dadurch kann auch nur für einen Teil von ihnen die Her-
stellung beschrieben werden. Alle hier veröffentlichten Spiele der Watut
wurden im Dorf Bentsep aufgenommen, in dem heute zwei Gruppen
miteinander siedeln, die sich selbst „pa n tsarjg“ und „ga borar“ (pa =
Mensch, tsarjg = eine Grasfläche, borar = Krabbe) nennen. Durch Missions-
einfluß kamen diese zwei Gruppen mit leicht unterschiedlichen Dialekten
vor etwa 25 Jahren in ein gemeinsames Dorf. Während beide Gruppen
genau die gleichen Fadenspiele hersteilen, ist es interessant zu beobachten,
wie bereits auf so kurze Entfernung die Bezeichnungen wechseln. Genau
übereinstimmend mit den Bezeichnungen der pa n tsarjg sind die der Leute
von Mararena und Madgim, die der gleichen Dialektgruppe angehören. Unter-
schiede konnten wieder gegenüber den Bezeichnungen im Dorf Kumots (Süd-
gruppe der Watut) festgestellt werden.
Bei der Untersuchung der Kuku-kuku-Gruppen am Banir River, einem
linken Nebenfluß des unteren Watut River, erwies es sich, daß alle Gruppen
am Oberlauf, wie auch jenseits der Wasserscheide am Tauri-Oberlauf, Faden-
spiele nicht kannten. Am Banir-Mittellauf, der bereits seit etwa 10 Jahren
unter Missions-Einfluß steht, sind Fadenspiele in den Dörfern Katsiong und
Seseli bekannt. Alle in Katsiong aufgenommenen Spiele entsprachen völlig
denen der Watut-Bevölkerung. Die Namen waren genaue Übersetzungen der
Bezeichnungen von Bentser) (pa n tsapg) und Mararena, woher auch die
Missionsgehilfen von Katsiong stammen. Die heutige Bevölkerung von Kat-
siong setzt sich aus Angehörigen verschiedener Kuku-kuku-Gruppen zusam-
men, die alle aus Süden, vom oberen Tauri (Jeruje, Kavotsio) bzw. Langimar
(Natsa, Kwatala) stammen. Es kann mit Sicherheit angenommen werden,
daß die Katsiong-Leute (auffallenderweise überwiegend Kinder und be-
sonders junge Männer) die Fadenspiele von den Watut-Missionsgehilfen
übernommen haben. Die Bevölkerung des Dorfes Seseli, etwas flußauf ge-
legen, stammt vom Banir-Oberlauf. Da die Watut-Leute bis vor etwa drei
Generationen bis zum Banir-Mittellauf siedelten, waren diese Gruppen also
schon immer ihre Nachbarn, wenn auch erbitterte Feinde. Auch in Seseli
befinden sich zwei Missionsgehilfen vom Watut (von Maralanko und Mara-
rena) mit ihren Familien. Beide Missionsgehilfen mit ihren Frauen behaupten,
früher hier keine Fadenspiele gesehen zu haben. Doch kommt hier zweifellos
174
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
auch das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Kuku-kuku zum Ausdruck. Wie
die Frau des einen Gehilfen angab (und wie auch von den Dorfbewohnern
bestätigt wurde), brachte sie den Kindern, besonders Mädchen, Fadenspiele bei.
So ist auch eine ganze Anzahl von Spielen festzustellen, deren Namen,
wie in Katsiong, einfache Übersetzungen der Watut-Bezeichnungen sind. Da-
neben aber finden sich mit Watut-Spielen übereinstimmende Figuren mit nicht
übereinstimmenden Bezeichnungen. (No. 27: ein Baum — Salzbambus,
No. 35: Schildkröte — ßeutelratte, No. 44: Liane — eßbares Blatt, No. 61:
Last, Gepäck — ein Baum, No. 63; koitierende Hunde — Schmetterling).
Schließlich gibt es auch einige Spiele, die am Watut unbekannt sind (No. 70,
72 bis 74).
Nur zwei Männer der Jeruje am Banir- und Tauri-Oberlauf waren in
der Lage, insgesamt drei Fadenspiele herzustellen. Beide waren jedoch von
Katsiong gekommen, wo sie mehrere Jahre gelebt hatten. Zwei der Spiele
sind am Watut bekannt (No. 63 und 26) das dritte ist offensichtlich nur eine
kleine Abwandlung von No. 63 (No. 71).
Es ist also anzunehmen, daß die Banir-Gruppen der Kuku-kuku im
Gegensatz zu den südlichen Gruppen einige Fadenspiele vor dem rezenten
Kontakt mit der Watut-Bevölkerung kannten. Möglicherweise ist dies auf
früheren Kontakt mit ihr zurückzuführen, wonach dann auch eigene Spiele
entwickelt wurden.
Am Watut werden Fadenspiele1 heute in der Hauptsache von jungen
Mädchen und Frauen zu jeder Zeit zum Vergnügen ausgeführt. Der dazu
benutzte Faden wird von den Frauen aus Bast hergestellt und ist der gleiche,
der auch für die Netztaschen Verwendung findet (eki oder wik). Er wird
rund aneinander gezwirnt. Angeblich waren es früher überwiegend Männer,
die Fadenspiele herstellten. Es sollen von zwei Männern zu manchen Zeiten
sehr große Figuren gemacht worden sein, doch konnte darüber nichts Näheres
in Erfahrung gebracht werden. Die älteren Männer beherrschen auch heute
noch eine ganze Anzahl von Spielen, während die jüngeren sie nur noch
selten lernen. Doch gibt es hier, wie auch auf anderen Gebieten, starke in-
dividuelle Unterschiede, je nach Interesse.
Im untersuchten Gebiet wurden die Namen jeweils den fertigen Figuren
zugeschrieben, gleichgültig, in welcher Weise sie hergestellt wurden. Es kommt
oft vor, daß man die Herstellungsweise einer Figur vergessen hat und dann
mit großer Ausdauer probiert. Die Spieler sind dann manchmal ganz er-
staunt, wenn eine ganz andere bekannte Figur plötzlich entstanden ist. In
mehreren Fällen wurde direkt darauf hingewiesen, daß es mehrere Möglich-
keiten gäbe, zu einer Figur zu kommen. Dabei ändert sich der Name jedoch
1 Bentset), Mararena: fufi, Wampan, Madeira: fefa, Uruf: biha, Kumots: fifir.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
175
nicht. Es scheint also, daß man der Herstellungsmethode kein so ausschließ-
liches Gewicht beilegen sollte, daß eine Figur ohne Beschreibung der Her-
stellung gar nicht mehr beschrieben wird. Verschiedentlich entstanden beim
Probieren auch Figuren, die in anderen Gebieten benannt sind und zum
testen Bestand gehören. Obwohl den Eingeborenen oft auffiel, daß sie eine
ansprechende Figur hergestellt hatten, wurde diese doch nie, auch auf An-
regungen hin, benannt oder später nochmals probiert.
Das Erlernen von Fadenspielen geschieht durch Beobachtung und viele
eigene Versuche unter Hilfe derjenigen, die die betreffende Figur beherrschen.
Die Kenntnisse werden dabei von der Mutter auf die Tochter, bzw. von
älteren Frauen auf jüngere oder von einem Mädchen zum anderen weiter-
gegeben. Die Jungen lernen heute meist ebenfalls von den Frauen und
Mädchen, da die älteren Männer kaum noch Fadenspiele ausführen. Doch
wurde auch hier als Ausnahme beobachtet, daß ein Vater seiner Tochter einige
Figuren beibrachte. Interessanterweise gibt es eine ganze Anzahl feststehender
Termini, mit denen man den Lernenden anweist, bestimmte Bewegungen aus-
zuführen. Oft gibt es mehrere Ausdrücke für eine Bewegung, doch gelingt
es mit Hilfe dieser Bezeichnungen erstaunlich schnell, jemandem eine ihm un-
bekannte oder vergessene Figur hersteilen zu helfen. Diese Termini seien
hier kurz dargestellt (Dialekt 13a n tsarjg):
a) Körperteile b) Orts- und Zeitbestimmungen
berjki lena : Daumen fanta : oben
ber)ki wofu : Zeigefinger lago : unten
berjki ked3ene : Kleiner Finger nofo : Mitte
berjki dsampa : Unterarm fai : Seite, Hälfte
13a gogoro : Knie gotsetse : alles, ganz
faga lena : große Zehe moi) : zuerst
13a no : Stirn utsuk : wieder, nochmals
rjo mu : Mund
130 ku ; Hals
c) Bewegungen
Hier werden die Angaben gewöhnlich in der 1. oder 2. Pers. Sing. (= Im-
perativ) gegeben (z. B. lapente, opente = ich hebe auf, du hebst auf, bzw.
hebe auf!). Doch kann der Stamm des Verbs auch mit dem Suffic — jiq ver-
sehen werden, was eine Substantivierung, scheinbar auch Infinitiv bezeichnet
(pentejip = aufheben). In dieser Form sind alle Bezeichnungen hier gegeben,
tsekijiq : in Ordnung bringen, Ausgangsstellung
lilujip ; anziehen, gradeziehen
neqgiggoru : anziehen
fererejirjegen : anziehen, gradeziehen
176
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
kafajip lufijir) pentejir) wakojir) pesijirj munijip banojir) sapepijir) poaromijirj sajirj samajip sawakojir) lokijip lokwakojirj lasopegen sujip takipegen marorjegen tsukufijir] teretejir) 1 ulujirj sapajir] garijip kikits berejig bigiwarerjegen halten hineingehen (in eine Schleife) aufheben, aufnehmen, hochheben nehmen, aufnehmen legen, hinlegen doppeln, Schlinge machen doppeln der Schnur herumlegen, festlegen über den Finger streifen (eine Schleife) nach oben gehen heraufkommen nach oben gehen und aufnehmen heruntergehen heruntergehen und aufnehmen herunterbiegen, herunterbringen herunterdrücken lösen lösen, loslassen lösen (Schlinge vom Finger) lösen (ganze Figur) fallen, herunterfallen zwischen die Zähne nehmen beißen, zwischen Zähne nehmen drehen (um Finger) Zeigefinger nach vorn unten drehen, Faden hochholen, indem Fiand ganz herumgedreht wird, bis wieder in Ausgangsstellung
forjijir) ««ijirj tsetsapijir) lofijir] tompijir) sarujig kunijir] blasen wechseln (von einem Finger auf den anderen) im Bambus kochen einfüllen Kochbambus aufbrechen Armband auf Arm streifen junge Betelnuß mit dem Kalkspatel auskratzen
Die Mehrzahl der Termini bezeichnet Bewegungen, die nicht nur auf
Fadenspiele beschränkt sind. Einige jedoch, wie etwa tsetsapijiq, werden nur
bei einer bestimmten Figur verwendet und sind bei anderen Fadenspielen
unverständlich. Sie erklären sich aus dem Namen der Figur. So ist lofijir) etwa
eine Bezeichnung aus dem Fadenspiel jatsetsap puk = ich fülle Schweine-
fleisch in die Kochröhre. Gewöhnlich wird als Flinweis auf die auszuführende
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
177
Bewegung nur das Verb gesagt, etwa: wako (nimm auf), erst wenn der Ler-
nende nicht begreift, wird der Faden oder die Schleife gezeigt oder genauer
erklärt: wako nofo (nimm die Mitte der Figur auf), oder auch der Finger
bestimmt: wako nofo na berjki wofu (nimm die Mitte der Figur mit den
Zeigefinger auf).
Zwei Beispielfälle zeigen die Anwendung der Termini. Es sind die Watut-
Termini in einem Falle der Beschreibung eines Fadenspiels bei Rivers und
Haddon gegenübergestellt (p. 109, Fig. 2, von Torres Straits, Methode der
Herstellung wie am Watut) im anderen Falle der eigenen Beschreibung und
Fotos.
Beispiel „kompum“
Watut
sarjerjijir)
lufijirj
bigiwarepegen
takegen ked3ene
lasorjegen
takegen lena
utsuk wako
wako nofo
Beispiel „boromak“
kafajig
lufijir)
sapajir)
its poaromijir)
fogijir)
(Holzschale, No. 29):
Rivers und Haddon
position I
opening A
Insert each index into the little finger loop from the
distal side and pass it on proximal side of radial little
finger string and bring it back to its previous position
by passing it between the ulnar thumb string and the
radial index string.
Let go little fingers.
Insert the little fingers from the distal side into the
index loops and pull down the two ulnar index strings.
Let go both thumbs gently and insert them into the
same loop in the opposite direction to which they had
been previously.
With the dorsal aspect of the thumbs take up from
the palmar side the strings passing obliquely from the
radial side of the index fingers to the ulnar little finger
strings and extend the figure.
(Stechfliege, No. 75):
Stellung I
Eröffnung A
die ganze Figur in der Mitte zwischen die
Zähne nehmen
Die Schleifen der Finger der einen Hand
mit Schl, der Fi. der anderen Hand aus-
wechseln (also; r. Kl. Schl, auf 1. Kl. Schl.,
1. Kl. Schl, auf r. Kl. Schl, usw.)
Fäden aus dem Munde blasen
(Fig- 1)
(Fig- 2)
(Fig. 3)
(Fig. 4)
(Fig. 5, 6)
12 Baessler-Archiv VIII
178
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
Die Spiele im Einzelnen
No. 1 „lampok“ = pitpit (Pidgin-Englisch, eine Pflanze2).
„lampok“ ist sowohl die Bezeichnung für diese einzelne Figur, als
auch für das ganze Spiel, bestehend aus fünf Figuren, die ausein-
ander entwickelt werden. Dazu sitzen sich zwei Spieler gegenüber
und nehmen sich jeweils eine fertige Figur ab, um die nächste
daraus herzustellen. Zur Unterscheidung gegenüber den folgenden
wird diese erste Figur auch als „lampok binipip“ = gutes (nicht ver-
dorbenes) pitpit bezeichnet.
Die Schnur wird um die Unterarme (Ellenbogen) gehängt. Eine
doppelte Schlinge oben machen und mit D. und Z. beider Pfände
halten (munijip). Die herabhängende Schnur wird in der Mitte
hochgenommen und mit der Schlinge gehalten (wako osakafalu).
Mit Kl. von innen in Schlinge gehen. D. und Z. loslassen (uruforu
bepkim kedsenena). Schl, von Ellenbogen lösen, über Hände streifen
und auf D. hängen (wako bepkim dgampajek), Figur ausgleichen.
D. geht von unten in Kl. Schl., hebt vorderen Kl. Fa. auf (lufijip),
Z. heben von hinten unten hinteren D. Fa. auf (pentejip), Figur
ausgleichen, indem Z. an D. gepreßt wird.
No. la „gompu“ = Armband
aus No. 1 entwickelt (wakojip — lufijip — pentejip).
No. 1b „foran kunijip“ = junge Betelnuß mit dem Kalkspatel auskratzen.
Aus No. 1 a entwickelt (sarujip — pentejip).
No. 1c „lampok limut“ ;= pitpit stinkt (ist verdorben).
Aus No. 1 b entwickelt (kunijip — wakojip lago — lufijip —
pentejip).
No. Id „lampok mutip“ = stinkendes pitpit.
Aus No. 1 c entwickelt (wakojip — lufijir) — pentejip).
Aus 1 d wird wieder No. 1 entwickelt (wakojip — berejip —
wakojip lago — lilujir) — lufijir) — pentejip).
Wie dieses Spiel und besonders No. 1 das am häufigsten beobachtete Faden-
spiel am Watut war, scheint es ganz allgemein eine außerordentlich weite
Verbreitung zu haben (Queensland, Ellice, Tokelau, Nauru, Fidji, Palau,
D’Entrecasteaux-Gruppe, Waropen-Küste, Neu-Caledonien).
No. 2 „edgindj“ = eine gepflanzte Gemüse-Art3.
No. 2 a Die sich überkreuzenden Fäden aus der Mitte werden von der
rechten Hand gelöst, die Figur heißt dann „empats“ = trocken
(getrocknete Blätter des ed3ind3). Indem man die Figur neigt und
2 Wahrscheinlich saccharum arundinaceum.
3 Wahrscheinlich Abelmoschus Manihot.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
179
No. 2b
No. 3
No. 4
No. 5
No. 5 a
No. 6
No. 6a
No. 7
No. 8
No. 9
No. 10
No. 11
No. 12
senkrecht hält, rutschen die sich überkreuzenden Fäden nach einer
Seite zusammen. Der Vorgang wird „kwane“ = ausschütten ge-
nannt. Es ist damit das Ausschütten der in einem Bambus-Abschnitt
gekochten Blätter gemeint.
In anderen Fällen wurde beobachtet, daß die rechte Schleife um
das rechte Knie gelegt wurde. Die rechte Hand greift wie dargestellt
in die Figur, indem mit Daumen und kleinem Finger die beiden
äußeren Fäden angehoben werden. Gleichzeitig löst man die Schleife
vom Knie und legt die neu entstehende Schleife um dieses. Der
Vorgang wird wiederholt, bis die ganze Figur aufgelöst ist.
„kefi benam“ = junges (unverheiratetes) Mädchen. Bei dieser Figur
stellen die beiden äußeren Rhomben die Brüste des Mädchens dar,
„buimb“ = eine Schlingpflanze.
„kosok“ = Zauber.
Zu dieser Figur wird erklärt: ein Mann ist gesund und wohlgenährt.
Die Schleife vom Zeigefinger der einen Hand wird gelöst und um
den Daumen der anderen Hand gelegt, das Gleiche auf der Gegen-
seite. Dazu wird erklärt: ein anderer Mann übt Zauber aus und
sein Opfer magert ab. Indem der Wechsel mehrfach durchgeführt
wird, magert er immer weiter ab, bis der Zauber wieder gelöst wird,
„kose“ = Sterne.
wird aus No. 6 entwickelt. Hierzu wird erklärt, nur auf einer Seite
des Himmels seien Sterne, auf der anderen kämen Regenwolken auf.
„wodsu ono“ = Hausdach.
(ga borar: „fone“ = Asche). Der erste Name erklärt sich aus den
von der Mitte ausgehenden, nach den Seiten verlaufenden doppelten
Fäden. Für den zweiten ist eine Erklärung nicht möglich.
„kitik“ = Bambusmesser.
„mos“ = Kokosnuß.
(Von den r|a borar „kak oru lits“ = Baumstämme, die einen Feld-
weg zu beiden Seiten begrenzen, genannt.)
„mos wig serok“ = Zwei Stränge mit Kokosnüssen.
(r]a borar: „nenantsarjg“ = Feld mit Yams und Mami4 auf je
einer Seite.)
Die Figur wird aus No. 9 entwickelt, hieraus No. 19.
„borar“ = Krabbe.
Die zwei Schlingen in der Mitte stellen die Beine des Tieres dar.
„tur)g oru nigint“ = Bambusgabel und Rührlöffel.
Die beiden senkrechten Figuren in der Mitte stellen die einzinkige
4 dioscorea spp.
180
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
kurze Gabel aus Bambus zum Aufspießen von Knollenfrüchten und
einen hölzernen Löffel zum Umrühren beim Kochen im Topf dar.
No. 13 „boramb“ = Mond.
(pa borar: „terik“ = Hahn, s. a. No. 46.)
No. 14 „faga mampents“ = ein Mann mit verkrüppeltem Fuß.
In den Watut-Dörfern findet sich eine erschreckend hohe Zahl von
Jungen und Männern (merkwürdigerweise keine Frauen) mit einem
verkürzten oder verkrüppelten Bein. Im Dorf Bentsep (pa n tsapg)
sind es ein Mann und ein Junge.
No. 15 „wik a lol“ = eine Schlingpflanzenart.
No. 16 „sarak“ = eine Beuteltierart (Pidgin: momot) mit langem Schwanz.
Die senkrecht verlaufenden Schleifen stellen die Beine dar.
No. 17 „pa kuntso“ = Kehlkopf.
Aus No. 23 entwickelt.
No. 18 „apar d3ugund3“ = eine Made (in Bäumen).
(pa borar: „kitik“ = Bambusmesser.)
No. 19 „bagawipg“ = Spinne.
Diese Figur wird aus No. 9 und No. 10 nacheinander entwickelt.
Die Figur stellt nicht das Tier, sondern das Spinnen-Netz dar.
No. 20 „patsakijip“ = Großmaul, Angeber.
Hierzu wird erklärt: Die zwei waagerechten Fäden stellen die
Leibschnur dar, die die Männer früher um die Hüfte banden. Die
Vorhaut wurde darunter geklemmt und so festgehalten. Indem man
die Schlinge vom Daumen löst, fällt der „Penis“ herunter: Ein An-
geber redet zu lange und bewegt sich dabei zuviel hin und her,
so daß sein Penis unter der Leibschnur hervorrutscht.
No. 21 „suwik“ = Sonne.
(pa borar; „terik lena“ = Huhn. Aus dieser Figur wird No. 1 als
„terik kologets“ = Hühnereier, entwickelt.)
No. 22 „mimin“ = wilde Betelnuß (Pidgin; kawiwi).
No. 23 „namb lafef“ = vom Winde bewegtes Blatt.
Aus dieser Figur werden nacheinander auch No. 17 und No. 1 ent-
wickelt.
No. 24 „nipinip“ = Glühwürmchen.
Faden um Z. und Kl. gelegt, so daß er dorsal um Z., palmar vor
M. und R., dorsal um Kl. verläuft. Mit D. über Z. Fa. unter Kl. Fa.
D. kehrt in Ausgangsposition zurück (jetzt liegt Schl, um D.) D.
von unten in Fa., der palmar vor M. und R. verläuft. In Ausgangs-
position zurückkehren, zwischen den beiden um D. liegenden Fäden
hindurch. Bisher vorn verlaufenden D. Fa. dabei (über Daumen-
spitze) fallen lassen. Durch Auseinander- und Zusammenbiegen von
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
181
D., Z. und Kl. vergrößert und verkleinert sich die entstandene Figur,
„wie ein Glühwürmchen stärker und schwächer glüht“.
No. 25 „karjg“ = ein rabengroßer schwarzer Vogel.
Die herabhängenden Schleifen stellen den Schwanz des Tieres dar.
No. 25 a Aus vorigem entwickelt, stellt die zwei Eier des Vogels im Nest dar.
No. 26 „tarn“ = Rotang-Hängebrücke.
No. 27 „nefir“ = ein Baum.
(Kumots: „ndam“ = Hängebrücke.)
Die Figur wird auch so gearbeitet, daß die Öffnung der Mittel-
finger nach unten weist.
No. 28 „modzurj“ = Trommel.
Es ist hier die kurze, sanduhrförmige Handtrommel gemeint, die
Schlitztrommel ist unbekannt.
No. 29 „kompum“ = Holzschale.
Die ovalen Holzschalen mit kurzen Griffen an beiden Enden wer-
den besonders bei der Bewirtung von Gästen zum Vorlegen von
gekochten Knollenfrüchten benutzt.
Die Herstellung dieser Figur entspricht genau der Herstellung
der übereinstimmenden Figur von Torres Straits (Rivers und Had-
don, p. 109, Fig. 2). Eine nochmalige Beschreibung erübrigt sich
deshalb (s. a. oben p. 177).
No. 30 „wampok“ = Ovula-Schnecke.
Aus No. 29 entwickelt.
No. 31 „petsek“ = ein kleiner Vogel.
Die Figur wird auch so gearbeitet, daß der „Schwanz“ von dem
unteren waagerechten Faden herabhängt.
No. 32 „tsakakar“ = Echo, auch; ein Mann, der eine Rede nachäfft.
No. 33 „tsakakar ono serok“ = wie voriges, „mit zwei Köpfen“.
Mit „zwei Köpfe“ ist lediglich die doppelte Ausbildung des Mittel-
teils der Figur gemeint.
No. 34 „menar)g oru bugumb“ = Stichling und Aal.
Die Figur wird auch mit mehreren herabhängenden „Fischen“ her-
gestellt. Man hält die „Fische“ einer anderen Person hin, die sie
zu greifen versucht. Der Spieler zieht schnell die Hände ausein-
ander, so daß die Figur sich auflöst.
No. 35 „semimpuk“ = Schildkröte.
Es findet sich selten eine Figur, die einem Tier so ähnlich sieht, wie
diese, besonders wenn sie mit etwas kürzerem Faden etwas breiter
gearbeitet wird.
No. 36 „r)alu läse lisug“ — zwei Brüder schwimmen.
182
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 36 a Die Schleifen werden von Daumen und kleinem Finger der rechten
Hand gelöst und als „zwei Brüder“ auf den verbleibenden zwei
Fäden entlang zur anderen Seite gezogen.
No. 37 „pa bantser kekeb“ = Schurz der Kuku-kuku.
Die zwei doppelten Schleifen in der Mitte der Figur (der „Schurz“)
werden hochgehoben und man erklärt, der Kuku-Kuku uriniere. Eine
Verspottung der Kuku-kuku, gegenüber denen die Watut-Bevölke-
rung sich sehr fortschrittlich fühlt.
No. 38 „ga kakop“ = Brust.
(rja borar: „siqu“ — Feuer, Kumots: „fiarj“ = Schild).
No. 39 „qa borokwarok“ = Wirbelsäule.
No. 40 „gufigg“ — Längsflöte.
Der oberste waagerechte Faden wird auf und ab bewegt, womit das
„Blasen“ der Flöte dargestellt wird.
No. 41 „puk a sogorumb“ = Schweineschnauze.
Zu dieser Figur wird geredet: „Was, du hast das ganze Schwein
gegessen und bringst mir nur die Schnauze? Ich mag sie nicht!“
Damit schlägt man mit der Hand zwischen den Fäden der Figur
nach unten und löst sie damit auf. Herstellung der Figur wie No. 53,
doch werden die Schleifen von D. und Kl. gelöst und die ganze
Figur nur in einer Hand gehalten.
No. 42 „gum“ = Eidechse.
Durch Anziehen der jeweils inneren Fäden auf beiden Seiten kann
das Tier bewegt werden.
No. 43 „kwafe“ = Krebs.
No. 44 „sesos“ = Früchte einer Lianen-Art.
No. 45 „qa gontu“ = Zähne.
Die Figur wird in der Mitte (bei der Zeichnung unten) zwischen
die Zähne genommen (Figur 7) und alle Finger gelöst (Figur 8), so
daß die „Zähne“ aus dem Munde herabhängen. Die Anweisungen
zur Herstellung mit den Watut-Termini lauten; itseki mop — wofu
lufijir) fai — lena iluf — pentejig — takirjegen lena — lufijirj
wofu — takipegen kedsene — wako nofo — pentejip — takigegen
lena — lufijirj wofu — takirjegen kedsene — nerjguru (öffnen,
Figur ausgleichen) — saqajig — takiqegen gotsetse — rja gontu
lulurj (Die Zähne hängen herab).
No. 46 „boramb“ = Mond.
(Abart von No. 13.)
No. 47 „gunti“ = Steinerner Tapaschlägel.
Das 8-förmige Gebilde in der Mitte der Figur stellt den Schlägel
dar. Man bewegt den „Tapaschlägel“ auf und nieder und sagt dazu
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
183
„toroq-toroq“, was manchmal als Name der Figur angegeben wird.
Stellung I, Eröffnung A. Mit rechtem Ellenbogen von unten zwischen
hinteren Kl. Fa. und vordere Kl. Fä. gehen, hinteren Kl. Fa. auf-
nehmen, auf Ellenbogen halten (wie bei endgültiger Figur). Mit
1. D. nach unten gehen (indem D. Schl, einmal gedreht wird),
hinteren Kl. Fa. von unten aufnehmen und zwischen D. Schl, nach
oben bringen, dabei bisherige Schl, fallen lassen (der aufgenommene
Faden liegt jetzt als Schl, um D.). r. Z. Schl, fallen lassen, mit r. Z.
Kl. Fa. und hinteren D. Fa. von hinten aufnehmen, einmal um Z.
drehen. 1. Kl. Schl, und r. D. Schl, fallen lassen.
No. 48 „elalewik“ = (zwei Leute) begegnen sich.
Ein Bewegungsspiel, bei dem die beiden Knoten sich aneinander
vorbei bewegen.
No. 49 „kijim oru puk“ = Hund und Schwein.
Die Schnur wird um die Knie gelegt und schnell rundherum ge-
zogen. „Der Hund“ (eine der beiden Schleifen) jagt „das Schwein“
(die andere Schleife).
No. 50 „bjampant“ = Fliegende Hunde.
Die „Fliegenden Hunde“ hängen nebeneinander an einem Ast. Wenn
man an beiden Enden zieht, „fliegen sie weg“, die Figur löst sich
auf.
Faden um linken Daumen gelegt. Vorderer Faden quer über Hand-
fläche, dorsal um Kl. gelegt. Jetziger vorderer Fa. über palmaren
Faden zurückgebogen, um D. gelegt, so daß Fa. jetzt an vorderer
Seite des D. nach unten läuft. Hinterer Fa. über vorderen nach
oben geholt, über ihn geführt, um Kl. gelegt. Jetziger vorderer Fa.
um Daumen gelegt. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt, bis
Faden zu Ende. Von Fingern abgenommen, Endschleifen jeweils
zwischen Daumen und Zeigefinger (beider Hände) genommen und
auseinandergezogen.
No. 51 „sagaf“ = Fischpfeil (mit mehreren Spitzen).
No. 52 „po leie“ = Wasserlache, Tränke für Kasuar.
Gedoppelte Schnur unter Oberschenkel hindurchgeführt. Zwei Fäden
jeweils handbreit auseinander gehalten. Rechte Schleife von unten
durch linke gezogen, angezogen. Verbleibende Schleife nach vorn
(vom Körper weg) und hinten (auf Körper zu) auseinandergezogen.
Bild zur Hälfte wie fertige Figur. Schleife auf der Körperseite
unter dem näheren (quer über Oberschenkel laufenden) Faden durch-
gezogen und wieder zurückgeführt. Andere Schleife ebenfalls unter
dem ihr näheren Faden durchgezogen und zurückgeführt. Das ent-
standene Viereck in der Mitte stellt die Wasserlache dar.
184
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 53 „lomporjg impip“ = Großvater defäziert.
Bei dieser Figur wird ganz drastisch das „After“ auf- und zu-
gezogen und Steine oder kleine Stöckchen als Kot hindurchgesteckt.
Faden dorsal um D., palmar vor Z., M. und R., dorsal um Kl. (der
linken Hand) gelegt. Große Schleife in rechter Hand gehalten.
Große Schl. von unten durch den Faden gezogen, der palmar
zwischen D. und Kl. verläuft, und halb zurückgezogen. Durch diese
Schleife werden die verbleibenden beiden Schl, nach oben gezogen,
die weiterhin mit der rechten Hand gehalten und angezogen werden.
In der jetzt fertigen Figur kann das mittlere Dreieck („After“)
geöffnet oder geschlossen werden, indem jeweils die zwei oberen
oder unteren zur rechten Hand verlaufenden Fäden angezogen
werden.
No. 54 Abart von No. 53.
Von einem Mädchen, das diese Figur herstellte (ga borar) wurde
als Name angegeben: „bobo jampipenipg“ = Großvater, ich muß
mal . . .
No. 55 „rja bela“ = Geist.
No. 56 „gern ono“ = Schneckenring als Oberende der Kalk-Kalebasse.
No. 57 „fugu“ = Krokodil.
No. 57a Abwandlung von No. 57, ein Krokodil mit mehreren Zähnen.
No. 58 „ga kumbijig“ = Tanzender Mann.
Die Schleife unten wird um eine große Zehe gelegt, die zwei Schlei-
fen oben stellen den Kopfputz des Tänzers dar. Die Figur wird
bewegt, als ob sie tanze, so daß der „Kopfputz“ wippt.
No. 59 „boain“ = Taro-Art.
Von zwei Personen hergestellt.
No. 60 „dorjkul* = Nashornvogel.
Von zwei Personen hergestellt. Entspricht scheinbar der Figur bei
Raymund (Taf. IV, Abb. 2); wie dort wird zuerst die Schnur
um die Köpfe der beiden Spieler gelegt (Abb. 1).
No. 61 „bampamb“ = Gepäck, Last.
Mit zwei Fäden von zwei Spielern hergestellt.
No. 62 „go“ = Topf.
Von mindestens drei Spielern hergestellt, meist nehmen jedoch noch
mehr Personen teil.
No. 63 „kijim lesanarau“ = Koitierende Hunde.
Durch Auseinanderziehen der Schleifen um die beiden Daumen wird
das mittlere Dreieck auf und nieder bewegt.
No. 64 „jatsetsap puk“ = ich fülle Schweinefleisch in die Bambus — Koch-
röhre.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
185
Gedoppelter Faden um große Zehe gelegt, zwei Schleifen oben mit
Händen gehalten. Rechte Schleife etwas vergrößert, linke Schleife
unter ihr hindurchgeführt und verbreitert, mit beiden Händen ge-
halten. An beiden äußeren Fäden gezogen, so daß sich die kleinere
Schl, zusammenzieht. Jetzt hält man wieder in jeder Hand eine
Schleife, der Vorgang wird mehrfach wiederholt.
No. 65 „minur“ = Eine Pandanus-Art (Pidgin-Englisch: Karuka).
Jede der entstehenden oberen Schleifen kann weiter auf geteilt wer-
den, wozu dann jeweils weitere Mitspieler benötigt werden.
No. 66 „tsakafar“ = Leiter.
Die Figur wird auch mit mehreren „Sprossen“ gearbeitet (Fig. 9).
No. 67 „farapak“ = Floß oder Plattform.
Manchmal setzt man ein kleines Kind in die Figur, so daß es „auf
dem Floß“ sitzt.
No. 68 „tekib“ = Netztasche.
Schnur unten um große Zehe gelegt, oben um Z. und M. der linken
Hand. Der dorsal um Z. u. M. verlaufende Faden wird zwischen
Z. und M. auf die palmare Seite hindurchgezogen, die Schleife eben-
falls um große Zehe gelegt. Es liegt jetzt je eine Schleife um Z.
und M. Die vier zur Zehe verlaufenden Fäden werden jetzt der
Einfachheit halber vom vorderen Z. Fa. an mit Faden 1 bis 4
bezeichnet. Faden 2 unter 1 nach vorn gezogen, über diesen und
den folgenden nach hinten, letzteren über diesen und 4. nach hinten
gezogen. Faden 4 gefaßt, unter ihm nach vorn und über ihn nach
hinten gezogen. Verbleibende Schleife um Kl. gelegt. Am Unterende
(große Zehe) den am weitesten nach vorn liegenden Faden gefaßt
und hochgezogen, als Schleife um D. gelegt. Der Vorgang wird
mehrfach wiederholt, so daß sich mehrere Maschenreihen bilden.
No. 69 „ku katek“ = den Hals brechen.
Dies ist kein eigentliches Fadenspiel, sondern ein Trick: Schleife um
Nacken gelegt, noch einmal darum gewickelt. Mit den herabhän-
genden Fäden Stellung I, Eröffnung A (mit Z., wie bei allen Fi-
guren, niemals M.!). Kopf von unten durch Öffnung zwischen Über-
kreuzungen der Eröffnung A (Rivers und Haddon, p. 148: crosses
of opening A). Faden von D. lösen. Die Schnur läßt sich jetzt glatt
vom Hals abziehen.
Die folgenden Figuren wurden nur am Banir River, bei Kuku-kuku-
Gruppen, festgestellt;
No. 70 „buat)e“ = ein Baum (Seseli).
Von zwei Personen ausgeführt.
186
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 71 „katje“ — Netztasche (Jeruje).
Die Figur ist offensichtlich nur eine Abwandlung von No. 63.
No. 72 „nuana“ = Geist (Seseli).
No. 73 „tsüja“ = Paradiesvogel (Seseli).
No. 74 „kapsambe“ = Schild (Seseli).
Einige der Watut-Figuren lassen sich zeichnerisch nicht darstellen:
No. 75 „boromak“ = Stechfliege; siehe Beschreibung der Herstellung und
endgültige Figur oben p. 177 und Fig. 1 bis 6.
No. 76 „puk feni“ = Ein Schwein schießen.
Bei diesem Fadenspiel ist überhaupt keine feste Figur erkennbar.
Es wird durch verschiedene Verschlingungen ein Knäuel gebildet.
Man zieht zwei Schleifen schnell auseinander, so daß sich der Knäuel
auflöst.
No. 77 Diese Figur wurde erst nachträglich auf einem Foto festgestellt, der
Name ist unbekannt. Sie stimmt anscheinend mit der „lalakai“
genannten Figur von Fidji überein. (Horneil, p. 48. Fig. 34.)
(Fig. 10)
D i e Na men
Es bleibt festzustellen, in welcher Beziehung die Namen zu den Figuren
stehen. Hier spielen teils die Form, teils die Bewegung die entscheidende Rolle.
Es lassen sich solche Figuren zusammenfassen, die nach einem Objekt be-
zeichnet sind, das ganz in der Figur abgebildet, oder jedenfalls darin gesehen
wird. So wird die Sonne (No. 21) in einem runden Gebilde gesehen, dei
Mond (No. 13) in einer halbmondförmigen Figur, Betelnüsse (No. 22) in
rautenförmigen Formen. Sehr leicht lassen sich Figuren jeweils als „Schling-
pflanzen“ (No. 4) erklären. Teils stellt die ganze Fadenspiel-Figur das Objekt
dar (No. 26), teils wird das (ganze) Objekt auch nur in einem Teil der Figur
erkannt (No. 12). Zu dieser Gruppe gehören die Nummern 4, 6, 7, 12 bis 19,
21, 25, 26, 28, 29, 30 (?), 35, 37, 39, 41 bis 47, 50 bis 52, 60 (?), 62, 65 bis 69,
73 bis 75.
Bei einer zweiten Gruppe ist das Prinzip „pars pro toto“ für die Be-
nennung entscheidend. Das „junge Mädchen“ (No. 3) wird an zwei rauten-
förmigen Gebilden erkannt, die die Brüste darstellen, die „Krabbe“ (No. 11)
wird durch zwei Beine dargestellt, der Vogel „petsek“ (No. 31) durch seinen
herabhängenden Schwanz. (Nummer 3, 11, 31, 57, 58).
Für eine dritte Gruppe ist nicht die Form, sondern eine Bewegung für
die Namengebung ausschlaggebend. Die Figur „Zauber“ (No. 5) ist erst ver-
ständlich, wenn erklärt wird, daß ein Mann im Laufe verschiedener Be-
wegungen abmagert. Noch deutlicher ist die Figur „Koitierende Hunde“
(No. 63), in der Hunde keinesfalls zu erkennen sind, oder „lompogg impip“,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
187
wo das öffnen und Schließen eines Dreiecks das After bezeichnet und durch-
gesteckte Stöckchen oder Steine den Kot. (No. 5, 20, 24, 36, 48, 49, 53, 54,
63, 64, 77.)
Naturgemäß sind es oft mehrere Elemente gleichzeitig, die den Anlaß
zur Namengebung bilden. Der „tanzende Mann“ etwa (No. 58) ist an seinem
„Kopfputz“ und an der Bewegung, mit der man ihn zum Tanzen bringt,
zu erkennen.
Zweifellos spielt auch die Zahl bestimmter Formen in einer Fadenspiel-
Figur eine Rolle bei der Benennung. „Löffel und Gabel“ (No. 12) gehören
logisch zusammen, „Flund und Schwein“, die sich jagen (No. 49), „zwei
Brüder“ (No. 36).
Bei den Figuren „Brust“ (No. 38) und „Flöte“ (No. 40) scheint die Hal-
tung der Figur vor der Brust ausschlaggebend für die Benennung zu sein.
Einige Namen konnten nicht geklärt werden, man sah in ihnen nichts, was
den Namen rechtfertigte (No. 1, 2, 8, 9, 23, 27, 55, 56, 59, 61).
Die Fadenspiele am unteren Watut beschäftigen sich mit Elementen der
Materiellen Kultur (Schale, Trommel, Floß, Leiter, usw.), mit Menschen
(junges Mädchen, tanzender Mann, Mann mit verkrüppeltem Fuß), Körper-
teilen (Brust, Wirbelsäule, Zähne), Tieren (Vögel, Krokodil, Hund, Schwein,
usw.), Pflanzen (Betelnüsse, Lianen, Kokosnüsse, usw.), Himmelskörpern
(Sonne, Mond, Sterne) und mit bestimmten Handlungen (Kochen, Zauber,
Jagen, Tanzen).
Vergleicht man die Namen mit Bezeichnungen gleichartiger Figuren, wie
sie für andere Gebiete belegt sind, so lassen sich erstaunlich wenige Überein-
stimmungen feststellen. Es ist nicht das Ziel dieser Untersuchung, sämtliche
über alle Erdteile belegten Fadenspiele mit den hier aufgenommenen zu ver-
gleichen. Immerhin wurde eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen zum
Vergleich herangezogen. Es wurde dabei mehr Gewicht auf die fertige Figur
als auf die Herstellung gelegt, da auch von den vorliegenden Spielen nur
ein Teil mit der Herstellungsmethode beschrieben wurde. Für 21 Figuren
fanden sich Entsprechungen in anderen Gebieten, z. T. mehrfach. Jedoch ist
nur in einem einzigen Falle eine Übereinstimmung von Form und Name
festzustellen: No. 21 heißt auch auf Nauru „Sonne“. Eine nur sehr ähnliche
Figur von Matupit heißt ebenfalls so. (Hambruch, Taf. 17, Fig. 1; Bögers-
hausen, p. 911, Fig. 13.)
Nur ganz wenige Figuren scheinen in verschiedenen Gebieten von der
Form her auf eine klar bestimmte Namengebung zu führen. Die Figur
„Eidechse“ (No. 42), wird zwar in anderen Gebieten ebenfalls als vierfüßiges
Tier aufgefaßt, jedoch als Schwein (Compton, p. 231, Fig. XIX) und
Känguruh (Jenness, 318, Fig. 28). Figuren, die ähnlich No. 51 aussehen (auch
188
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
wenn sie formal nicht völlig übereinstimmen) werden auch sonst als Fischpfeil
oder -speer bezeichnet (Rivers und Haddon, p. 109, Fig. 1).
Für eine vergleichende Untersuchung mit historischen Fragestellungen
fehlen vorläufig noch die Vorarbeiten für andere Gebiete (Ost-)Neuguineas.
in bisherigen Arbeiten erstrecken sich die Vergleiche immer über räumlich
zu weit auseinanderliegende Gebiete. Nur bei der Untersuchung benachbarter
Gruppen kann festgestellt werden, welche Rolle die Form, die Fierstellung
und die Namengebung bei Übertragungen, Entlehnungen und gegenseitiger
Beeinflussung spielen.
Die Formen
Es lassen sich verschiedene Arten von Spielen zu Gruppen zusammen-
fassen, die vielleicht, wenn man von der fertigen Figur ausgeht, eine Ein-
teilungsmöglichkeit der Fadenspiele ergeben. Die Einteilungsmöglichkeiten
sind; Anzahl der benutzten Fäden, Anzahl der (gleichzeitig) beteiligten Spie-
ler, Beteiligung verschiedener Körperteile (Hände, Füße, Mund, usw.) und
die Stellung und Haltung der Figur, zwei- und dreidimensionale Figuren,
stehende und Bewegungsfiguren. Bei letzteren liegt noch ein Unterschied vor
zwischen solchen Figuren, die im Ganzen bewegt werden, sich selbst aber
dabei nicht verändern (kijim oru puk) und solchen, die sich verändern, und
zwar entweder durch eine Bewegung, die die Figur verändert und wieder in
ursprüngliche Form bringt (nirpniq) oder eine, die die ganze Figur verändert
(kosok) oder auflöst (menarjg oru bugumb). Außerdem lassen sich wirkliche
Spiele, Figuren-Reihen, feststellen (lampok), bei denen jeweils eine Figur aus
der anderen entwickelt wird. Die Erscheinung, daß etwa die ersten Stadien
der Herstellung einer Figur eine andere ergeben und erst durch Weiterführen
die gewünschte entsteht, findet sich häufiger. Ein wirkliches „Reihenspiel“
liegt jedoch erst dann vor, wenn das ganze Spiel einen gemeinsamen Namen
hat und als Gesamtheit aufgefaßt wird.
Am Watut sind Fadenspiele heute reines Spiel. Neben der Freude am
Herstellen einer Figur sind Spottlust (No. 37), Komik (No. 53) und Freude
am Sexuellen ausschlaggebende Spiel-Elemente. In keinem Falle konnte eine
Verbindung zur Mythologie oder zu Magie (auch No. 5, „Zauber“, ist nur
eine Darstellung, nicht selbst ein Zauber) festgestellt werden.
Belege für übereinstimmende Fadenspiel-Figuren in anderen Gebieten:
No. 1: Compton, p. 207, 212, Fig. IV; Hornell, p. 34, Fig. 20, 69; Jenness, p. 305,
Fig. 8; Raymund, p. 42, Fig. 1; Held, p. 362.
No. 2: Hornell, p. 33, Fig. 19; Raymund, p. 51, Fig. 48.
No. 12: Bögershausen, p. 908, Fig. 1.
No. 13: Jenness, p. 308, Fig. 14.
No. 17: Hornell, p. 24, Fig. 11.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
189
No. 21: Raymund, p. 48, Fig. 25; Neuhauss, p. 380, Fig. 301, Hambruch, Taf. 17,
Fig. 1.
No. 22: Hornell, p. 51, Fig. 38.
No. 23: Landtman, p. 225, Fig. 6.
No. 24: Andersen, p. 35, Fig. 1.
No. 26: Compton, p. 212, 207; Landtman, p. 229, Fig. 14 a; Jenness, p. 314, Fig. 24;
Andersen, p. 45, Fig. 2.
No. 29: Rivers und Haddon, p. 109, Fig. 2; Hornell, p. 21, Fig. 90; Raymund,
p. 50, Fig. 42; Jenness, p. 304, Fig. 5.
No. 35: Hornell, p. 40, Fig. 27.
No. 40: Raymund, p. 48, Fig. 31; Neuhauss, p. 378, Fig. 296; Jenness, p. 319, Fig. 30.
No. 41: Jenness, p. 315, Fig. 25.
No. 42: Compton, p. 231, Fig. XIX.
No. 44: Neuhauss, p. 379, Fig. 299; Compton, p. 207, 218, Fig. X; Hornell, p. 45,
68, Fig. 31, 59; Andersen, Fig. 3.
No. 58: Landtman, p. 228, Fig. 8.
No. 59: Neuhauss, p. 378, Fig. 8.
No. 60: Raymund, Taf. IV, Fig. 2.
No. 61: Bögershausen, p. 912, Fig. 15; Andersen, p. 139, Fig. 3.
No. 63: Hornell, p. 15, Fig. 4; Raymund, Taf. X, Fig. 1.
Literatur
Andersen, J. C.: Maori String figures. Memoirs of the Board of Maori Ethnological
Research, Vol. 2. Wellington, 1927.
Boegershausen, G.: Fadenspiele in Matupit, Neupommern. Anthropos, 10—11,
1915—16, p. 908—12.
Cunnington, W. A.: String figures and tricks from Central Africa. J.R.A.I., XXXVI,
1906, p. 121.
Compton, R. H.: String figures from New Caledonia and the Loyalty Islands.
J.R.A.I., 49, 1919, p. 204.
Dickey, L. A.: String figures from Hawaii, including some from New Hebrides and
Gilbert Islands. Bishop Mus. Bull. 54, Honolulu 1928.
Gray, John: Some Scottish String figures. Man, 3, 1903, p. 66.
Haddon, A. C.: String figures from South Africa. J.R.A.I., XXXVI, 1906, p. 142.
Haddon, Kathleen: Artists in string. London 1930.
Hamhruch, P.: Nauru. 1. Halbband. Ergehn. Hamb. Südsee-Exped. II, B, 1,
Hamburg 1914.
Handy, W.C.: String figures from the Marquesas and Society Islands. B. P. Bishop
Museum Bulletin 18, Honolulu 1925.
Held, G. J.: The Papuas of Waropen. The Hague 1957.
Hoeltker, G.: Zum Problem der Fadenspiele, speziell in Neuguinea. Schweiz. Ges.
f. Anthrop. u. Ethnol. Ziirich, Bull. 19, 1942—43, p. 23.
Hornell, J.: String figures from Fidji and Western Polynesia. B. P. Bishop Museum
Bull. 39, Honolulu 1927.
Jayne, C.: String figures: A study of cat’s cradle in many lands. New York 1906.
Jenness, D.: Papuan cat’s cradles. J.R.A.I., 50, 1920, p. 299.
Krämer, A.: Truk. Erg. Hamb. Südsee-Exp., II, B, 5, Hamburg 1932
Landtman, G.: Cat’s cradles of the Kiwai Papuans, British New Guinea. An-
thropos, 9, 1914, p. 221.
190
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
Müller, W.: Yap, 1. Halbband. Erg. Hamb. Südsee-Exped., II, B, 2. Hamburg 1917.
Neuhauss, R.: Deutsch-Neu-Guinea, Bd. I. Berlin 1911.
Parkinson, JYöruba String Figures. J.R.A.I., XXXVI, 1906, p. 132.
Raymund, P.: Die Faden- und Abnehme-Spiele auf Palau. Anthropos, 6, 1911,
p. 40.
Rivers, W. H. R., and Haddon, A. C.: A method of recording string figures and
tricks. Man, 2, 1902, p. 146.
Rosser, W.E., and Hornell, JString figures from British New Guinea. J.R.A.I.,
62, 1932, p. 39.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
191
Fig. 1, 2, 3.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
193
Fig- 7,
13 Baessler-Archiv VIII
194
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
Fig. 9, 10.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
195
13»
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
197
No. 5 a
No. 6
No. 6 a
No. 7
No. 8
No. 9
198
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 14
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
199
No. 19
200
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 23
No. 24
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
201
202
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 28
No. 31
No. 32
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band YIII
203
No. 36 a
204
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
206
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 47
No. 48
No. 51
208
Fischer, Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River
No. 57 a
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
209
No. 59
No. 62
14 tg Baessler-Archiv VIJ1
210
Fischer, Fadenspiele
vom unteren Watut und Banir River
No. 63
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
211
14*
214
Bücherbesprechuiigen
Zwettler Codex 420 von P. Florian Paucke, S. ]. Herausgegeben von Etta Becker-
Donner und Gustav Otruba. Veröffentlichungen zum Archiv für Völkerkunde,
Bd. IV, Teil 1, Wien 1959. 444 Seiten, 29 z. T. farbige Abb.. 40,— DM.
Zur Freude von Amerikanisten und Elistorikern Hegt der 1. Teil der ersten
deutschen Gesamtausgabe des Werkes von P. Florian Paucke vor, das als Zwettler
Codex 420 bekannt ist und im Stift Zwettl in Österreich aufbewahrt wird.
Das Manuskript entstand 1770 und enthält außer Schilderungen der Reisen des
Paters zahlreiche Beobachtungen und Bemerkungen über das Leben in den sogenann-
ten Indianer-Reduktionen in Paraguay. Bisher brachte nur die Universität Tucuman
(1942—44) eine vollständige, ins Spanische übersetzte Ausgabe der wichtigen Arbeit
heraus. In deutscher Sprache lagen bisher nur Bearbeitungen vor (1829: P. Johann
Fräst; 1870: P. Anton Köhler; 1908: P. Augustin Bringmann).
Die ursprüngliche Anordnung der Kapitel wurde von den Herausgebern zu-
gunsten größerer Übersichtlichkeit geändert, so daß nun Teil 1 den zusammenhän-
genden Bericht über die Erlebnisse des Paters Paucke in der Zeit von 1748 (Auf-
bruch, Reise nach Paraguay, Wirken in der Reduktion S. Xavier, später in der von
ihm gegründeten Reduktion S. Peter) bis 1767 (Auflösung der Reduktionen und Ver-
treibung der Jesuiten aus Paraguay, Heimreise) enthält. Die vorwiegend ethno-
graphischen und naturwissenschaftlichen Kapitel wurden zum 2. Teil zusammen-
gestellt. Der schön gedruckte Text soll bis auf leider nicht markierte Änderungen
(vgl. S. 9) dem Original entsprechen. Vielleicht wäre es vorzuziehen gewesen, den Text
unangetastet zu lassen und die Auflösung schwerer verständlicher Passagen in Fuß-
noten zu bringen.
Eine wesentliche Bereicherung sind die zahlreichen Bilder, die zum Teil farbig
die Zeichnungen des Paters wiedergeben.
Eingeleitet und ergänzt wird der Bericht durch die Ausführungen von G. Otruba,
die in kurzgefaßter klarer Form biographische Notizen und einen Überblick über
das Wirken der Gesellschaft Jesu in der Weltmission, speziell in Südamerika, geben.
Nach dem gelungenen ersten Teil darf der zweite, für Ethnologen noch wichtigere
Band mit großem Interesse erwartet werden. B. Menzel
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
215
TECHNIKEN BEI DER HERSTELLUNG
VON PERLENARBEITEN
M. L. J. L E M A I R E , Amsterdam
Die allen Ethnologen wohlbekannte und für die ganze Welt verbreitete
Perlenarbeit zeigt eine Anzahl von verschiedenen Techniken, deren nähere
Untersuchung und Beschreibung Zweck dieses Artikels ist. Es hat sich her-
ausgestellt, daß manche Völker (z. B. die Zulu) verschiedene Systeme der
Verbindung von Perlen kennen, während sich andere Völker auf eine einzige
Technik zu beschränken scheinen. Auch wird die gleiche Technik von weit
auseinanderwohnenden Völkern angewandt. Die unten erwähnte Perlenweb-
arbeit z. B. findet man sowohl bei den Surinamindianern wie bei den Prärie-
völkern Nordamerikas.
Es wurde nicht versucht, die verschiedenen Techniken bei bestimmten
Völkern zu lokalisieren. Dazu war das untersuchte Material nicht umfang-
reich genug. Aus dem gleichen Grund wird nicht behauptet, daß diese
Übersicht vollständig ist. Es besteht die Möglichkeit, daß bei näherer For-
schung noch weitere, hier nicht erwähnte Techniken zu Tage treten werden.
Die Methoden lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen:
1 Diejenige, bei der zur Verbindung der Perlen nur ein oder mehrere
Reihfäden angewandt werden;
2. diejenige, bei der die Perlen an eine feste Unterlage geheftet werden.
Diese Unterlage kann aus einem gewebten oder geflochtenen Stoff, aber
auch aus Leder, Palmblatt oder sonstigem Material bestehen. Zu dieser Gruppe
gehören jedoch nicht diejenigen Gegenstände, die mit einer Perlenarbeit
bezogen werden (wie etwa Kalebassen und Bambusbehälter), ohne daß die
Perlen tatsächlich an die zu beziehenden Gegenstände geheftet sind (siehe
Bild Nr. 7).
Beschreibung der Techniken
Gruppe I
Die einfache Schnur (Fig. 1)
Dies ist die schlichteste Art von Perlenreihung. Die Bohrlöcher der Perlen
liegen nebeneinander oder übereinander und bilden gleichsam ein Rohr. Wir
nennen dies: liegende Perlen.
Auch läßt sich eine Schnur stehender Perlen herstellen (Fig. 2), wozu
zwei sich im Bohrloch kreuzende Reihfäden benutzt werden. Bild Nr. 1 zeigt
als Beispiel eine Schnur aus Neu-Irland.
216
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Die zweifache Schnur (Fig. 3)
Die beiden nebeneinander laufenden Schnüre werden in regelmäßigem
Abstand von Perlen, die von beiden Schnüren durchzogen sind, zusammen-
gehalten. Die verbindenden Perlen können sowohl liegen )Fig. 3) als auch
stehen (Fig. 4). Letzteres erreicht man, indem man die beiden Reihfäden
kreuzweise durch die Verbindungsperlen führt (s. auch Bild Nr. 2).
Die mehrfache Schnur (Fig. Nr. 5)
Hierbei sind mehrere Schnüre durch Zwischenstege aus Holz, Schildpatt
oder sonstigem Material miteinander verbunden (s. auch Bild Nr. 3).
Verbundene Schnüre (Fig. 6, 7 u. 8)
An dem Arbeitsband a werden mehrere Reihfäden befestigt. Die an diese
Fäden gereihten Perlen werden durch den horizontalen Reihfaden c mitein-
ander verbunden. In unserem Schema ist dieser horizontale Reihfaden (Fig.
Nr. 7), sofern es die vier Perlen an der rechten Seite betrifft, von oben nach
unten und diese an der linken Seite von unten nach oben hindurchgeführt
worden. Dies ist wichtig, weil nach Anziehen des Reihfadens die Perlen
schrägliegen. Dadurch, daß man bestimmte Perlengruppen aufwärts und an-
dere abwärts durchsticht, kann man eine Art von Fischgrätenmuster erreichen
(s. auch Bild Nr. 4).
Perlenarbeit in Kreuzverbindung (Fig. Nr. 9, 10 u. 11)
An das Arbeitsband a wird eine beliebige Anzahl doppelter Reihfäden b
geheftet, auf die die Perlen gereiht werden. Die zweite Reihe Perlen wird
nach der auf Fig. 10 gezeigten Methode angebracht. Wichtig hierbei ist, daß
die Fäden sich im Bohrloch kreuzen, so daß die Perlen eine stehende Haltung
annehmen.
Diese Technik geht logisch aus der zweifachen Schnur (vgl. Fig. Nr. 4)
hervor.
Perlenarbeit in Bausteinverbindung (Fig. Nr. 12, 13 u. 14)
Auch hierzu ist das Arbeitsband a erforderlich. Der Reihfaden c wird
in losen Schlingen um dieses Band geschlagen. Bei jeder Schlinge wird eine
Perle eingefügt. Die zweite Reihe Perlen wird in entgegengesetzter Richtung
verarbeitet. Wenn dann der Reihfaden angezogen wird, verschwinden die
Schlingen e im Bohrloch der Perlen (Fig. Nr. 14, s. auch Bild Nr. 6 u. 7).
Geschlossene Netzverbindung (Fig. Nr. 15)
Wie die oben beschriebene Kreuzverbindung eigentlich eine Ausweitung
der zweifachen Schnur bedeutet, so ist die Netzverbindung nichts anderes
als eine wiederholte zweifache Schnur (vgl. Fig. Nr. 3). Der Unterschied
zur Kreuzverbindung besteht nur darin, daß die Reihfäden sich in den
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
217
ungeraden Perlenreihen nicht kreuzen, sondern parallel laufen (s. auch
Bild Nr. 8).
Offene Netzverbindung. Verfahren in vertikaler
Richtung (Fig. Nr. 16)
Der Unterschied zur vorhergehenden (geschlossenen) Netzverbindung be-
steht darin, daß zwischen zwei Reihen horizontal liegender Perlen jeweils
eine einfach aufgereihte und mithin schräg liegende Perle angebracht wurde
(s. auch Bild Nr. 9).
Offene Netzverbindung. Verfahren in horizontaler
Richtung (Fig. Nr. 17)
Der Lauf der Reihfäden, der beim vorerwähnten System vertikal war,
ist hier horizontal, wie Figur Nr. 17 deutlich zeigt. Jede Arbeitsreihe ist
hier eine abgeschlossene Einheit, an die die nächste Reihe angehängt wird.
Doppelte offene Netzverbindung. Verfahren in hori-
zontaler Richtung (Fig. Nr. 18)
Diese Methode geht logisch aus der vorherigen hervor. Die horizontalen
Reihfäden sind hier verdoppelt worden. Mit einer kleinen Variante ließen
sich natürlich auch die mit c bezeichneten Perlen der Figur 17 zum Auf-
hängen der nächsten Reihe verwenden (s. auch Bild Nr. 10).
Diagonalverbindung (Fig. Nr. 19)
Das Arbeitsband, das bei den vorhergehenden Systemen unerläßlich war,
fehlt hier und wird von zwei Begrenzungsfäden (Salleisten) a ersetzt. Die
Reihfäden sind in zwei Gruppen geteilt, von denen die linke Gruppe schräg
nach rechts, die rechte Gruppe schräg nach links geht. Wo sich die Fäden
kreuzen, wird eine Perle eingefügt, die die Verbindung des Ganzen zustande
bringt. Daß die Salleisten notwendig sind, geht aus Bild Nr. 11 hervor.
Perlen webarbeit (Fig. Nr. 20)
Diese Technik erfordert einen einfachen Webrahmen (Bild Nr. 12). Das
System ähnelt der einer einfachen Webart. Zwischen zwei Kettfäden wird
jedesmal eine Perle eingefügt (s. auch Bild Nr. 13). Clark Wissler beschreibt
vier verschiedene Arten von Perlenwebarbeiten, die bei den nordamerika-
nischen Indianern angewandt werden (Fig. Nr. 21 bis 24).
Umschlingungstechnik (Fig. Nr. 25)
Dieses Verfahren wird von E. Rohrer anhand eines Hüftschurzes aus
Südabessinien beschrieben. Fig. Nr. 25 zeigt das Schema. Es wird in hori-
zontaler Richtung abwechselnd von links nach rechts und umgekehrt ge-
arbeitet (s. auch Bild Nr. 14).
218
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Ein gezwirnte Perlen (Bild Nr. 15)
Hierbei werden die Perlen nicht gereiht, sondern während des Zwirnens
der Garne in den Fäden aufgenommen.
Gruppe II
Perlenarbeit auf fester Unterlage. Perlen Stickarbeit
(Bild Nr. 16)
Hierbei sind die Perlen auf der Unterlage befestigt, ohne untereinander
verbunden zu sein.
Aufgenähte Schnüre (Bild 17)
Die Perlen sind erst zu Schnüren gereiht und dann auf die Unterlage
geheftet worden.
Befestigung der Perlen auf gleichlaufenden oder
spiraligen Bändern (Fig. Nr. 26)
Die Perlen werden auf Bändern befestigt, wie Fig. Nr. 26 zeigt. Perlen
und Bänder haben die gleiche Breite. Wie es scheint, wird dieses Verfahren
besonders bei der Herstellung zylindrischer Schmucksachen, wie etwa Arm-
bänder angewandt. Bild Nr. 18 zeigt einen solchen Gegenstand, wobei die
Perlen auf dem spiral laufenden Band befestigt worden sind. Die Innenseite
zeigt die Stiche, mit denen die Perlen auf der Unterlage befestigt worden
sind. Bdd Nr. 19 zeigt den ganzen Schmuck.
Von diesem Arbeitsgang gibt es noch zwei Varianten (Fig. 27 und 28).
Bei Fig. 26 werden die Reihfäden gleichzeitig zur Verbindung der verschie-
denen Bänder benutzt, während bei dem Arbeitsgang von Fig. 27 dafür
eine besonderer Faden (schwarz) gebraucht wird. Beide Arbeitsgänge gehen
in horizontaler Richtung; Fig. 28 zeigt dagegen einen Arbeitsgang in ver-
tikaler Richtung. Die Techniken von Fig. 27 und 28 wurden an äußerlich
ganz gleichen Coi'x-Armbändern aus Neu-Guinea beobachtet.
Literatur:
Wissler, Clark. Indian Beadwork. American Museum of Natural History Guide
Leaflct No. 50. New York 1927.
Rohrer, E. Lendenschürzen, Hüte und Wurfhölzer aus West- und Südabessinien.
Jahrbuch des Bernischen Historischen Museums in Bern. XXIX. Jahrgang 1919.
3. Mehrfache Schnur mit Zwischcnst
Nach einem Gürtel aus Melanesien
Bild
Bild 2. Zweifache Schnur mit ste-
llenden Verbindungsperlen. Nach
einer Halsschnur der Zulu
en.
Bild 1. Einfache Schnur. Stehende
Perlen. Nach einer Muschel schnür.
Neu Irland
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII __________219
Bild 4. Verbundene Schnüre.
Nach einem Schurz aus Britisch Guyana
Bild 8. Geschlossene Netzverbindung.
Nach einem Perlenband aus Sumba, Indonesien
Bild 9. Offene Netzverbindung.
Nach einem Schmuck der To-Radjah, Celebes
Bild 11. Diagonalverbindung.
Bild 10. Doppelte offene Netzverbindung. Verfahren in
horizontaler Richtung. Nach einem Halskragen der Zulu Nach einem Hauptband der Apo-Kayan-Dayak, Ost-Borneo
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII 223
224
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Bild. 12. Gerät zur Herstellung einer Perlenwebarbeit. Surinam.
Aufnahme: Koninklijk Instituut voor de Tropen, Amsterdam
15 Baessler-Archiv Vili
mmtl-.ciai.r
:: iaaS »W-
-ft«**’
iÄtean»»
Bild 15. Eingezwirnte Perlen.
Nach einem Mandau-Schmuck der rj
Apo-Kayan-E)ayak, Ost-Borneo ^
Bild 14. Umschlingungstechnil
Probe, hergestellt als Muster
Bild 13. Perlenwebarbeit.
Nach einem Tanzschurz aus Surinam
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
226
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
227
Bild 18, 19. Befestigung der
Perlen auf spiraligen Bändern.
Nach einem Armband aus
Neu-Kaledonien
15'
228
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Fig. 1. Einfache Schnur. Liegende Perlen. — Fig. 2. Einfache Schnur. Stehende Perlen.
— Fig. 3. Zweifache Schnur. Liegende Verbindungsperlen. — Fig. 4. Zweifache Schnur.
Stehende Verbindungsperlen
Fig. 5. Mehrfache Schnur mit Zwischenstegen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
229
Fig. 7. Verbundene Schnüre. Zweite Arbeitsstufe
230
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten
Fig. 10, 11. Kreuz Verbindung. Zweite
Arbeitsstufe und dritte Arbeitsstufe
72 34 56 ?& 9 70
Fig. 15, Geschlossene Netzverbindunj
Fig. 12, 13, 14. Bausteinverbindung. Fig. 16. Offene Netzverbindung. Vcri
Zweite und dritte Arbeitsstufe vertikaler Richtung
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band Vili
231
Fig. 17. Offene Netzverbindung
Verfahren in horizontaler Ridi tun |
Fig. 18. Doppelte offene Netz Ver-
bindung. Verfahren in horizon- c
taler Richtung
Fig. 19. Diagonalverbindung
a CLCLa.cLacLa.cta.cL
4)
jJ\ db 4Ì jTV 41 41. dV 41 41,
Fig. 20. Perlenwebarbeit
232
Lemaire, Techniken bei der Herstellung von Perienarbeiten
4
4
iß <0®
(O
CO
ß
m
ife
i®
dfe
4®
@r
®k
4®
%
<0
-0
dr
4®
>N
Tn
Fig. 21. Perlenwebarbeit mit einfacher Fig. 22. Perlenwebarbeit mit zweifacher
Kette und einfachem Einschlag
(nach Clark Wissler)
Kette und einfachem Einschlag
Fig. 23. Perlenwebarbeit mit einfacher
Kette und zweifachem Ei nschlag
Fig. 24. Perlenwebarbeit mit diagonal
laufenden Fäden (nach Clark Wissler)
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
233
Fig. 27.
Fig. 28.
Bücherbesprechungen
2 34
Lehmann, Henri: Les Céramiques Précolombiennes. — „L’Oeil du Connaisseur."
Presses Universitaires de France. Paris 1959. 124 S. mit 60 Abb., 2 Karten, einer
Zeittabelle, 32 Tafeln.
ln steigendem Maße werden auch die Werke der altamerikanischen Töpferkunst
zu begehrten Sammelobjekten, für die eine entsprechende Literatur bisher noch kaum
vorhanden war. Nach dem vor vier Jahren erschienenen Band von G. H. S. Bushnell
und A. Digby (vgl. die Besprechung im „Baessler-Archiv“, N.F., Bd. IV, S. 127—128)
liegt nun eine allgemeine Einführung in dieses große Gebiet aus der Feder des
stellvertretenden Direktors des Musée de l’Homme vor. Sic erscheint innerhalb
einer Reihe, die den Kunstfreund und Antiquitätensammler in kurzgefaßter, aber
verläßlicher Weise orientieren will, — für den gewissenhaften Bearbeiter bei dem
nur sehr geringen zur Verfügung stehenden Raum (rund 100 Seiten) gewiß keine
leichte Aufgabe!
Henri Lehmann hat seine Übersicht in drei Teile gegliedert, von denen der zweite
(Übersicht über die Hauptgebiete) etwa die Hälfte des Bandes füllt. Einleitend
wird der Leser kurz über die Technologie und Typologie der vorkolumbischen Ge-
fäßkunst orientiert. Sechs Hauptgebiete der keramischen Produktion werden unter-
schieden, deren zeitlich oft weit auseinanderliegende Stile unter Hinweis auf die
abgebildeten Beispiele behandelt werden; an die mesoamerikanische Zone (Mexiko
und Guatemala) und Zentralamerika (Honduras bis Panama) schließt sich das Anden-
gebiet an, dessen einzelne Provinzen einander von Norden nach Süden folgen.
Verständlicherweise liegt das Schwergewicht des Bandes bei diesen drei Gebieten,
denen gegenüber die drei anderen Regionen, die karaibische Zone (Antillen und
nördliches Südamerika), Amazonien sowie der Südwesten und Südosten der Ver-
einigten Staaten nur knapp bedacht werden. Dem Charakter der Reihe entsprechend
werden im dritten Teil einige Fragen behandelt, die für den Sammler und Kunst-
freund von besonderem Interesse sind, so das Vorkommen von Fälschungen und die
Entwicklung des Kunstmarktes, wobei freilich — etwas einseitig — nur der Pariser
Markt während der letzten dreißig Jahre berücksichtigt worden ist. Tn der nütz-
lichen Liste der wichtigsten öffentlichen und privaten Sammlungen sollte dem
Museum in Leyden der von ihm geführte Name gegeben werden.
Eine übersichtlich gegliederte Bibliographie und ein Index erhöhen den Wert
des kleinen Bandes, dessen Bildmaterial reicher ist, als aus den bibliographischen
Angaben zu erkennen wäre, denn auf den 60 Textabbildungen werden rund 120 Ge-
fäße oder Dekormotive vorgeführt, während auf den 32 Tafeln rund 70 Werke
erscheinen. Der Tafelteil bringt mehr als ein bisher unveröffentlichtes Stück vor
allem aus der vom Verfasser betreuten Amerika-Abteilung des Pariser Museums.
Auf den acht Farbtafeln freilich ist das starke, für die altindianische Töpferkunst
so charakteristische Rotbraun zu einem matten Rosa abgeblaßt, während das nicht
weniger intensive Dunkelbraun ins Bläuliche abgleitct. In den Bilderläuterungen sind
offensichtlich sowohl bei Tafel XXI/1 als auch bei Tafel XXII/1—2 die Texte ver-
tauscht worden, was sich bei einer hoffentlich bald vorliegenden zweiten Auflage
leicht verbessern ließe. G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
235
DAS WACHSAUSSCHMELZVERFAHREN
(Eine Determination)
HERBERT BEELTE, Kiel
Täglich werden in aller Welt von halb- und vollautomatischen Wachs-
pressen ungezählte Ausschmelzmodelle für den Präzisionsguß ausgestoßen.
Der Metallgießer stellt mit ihrer Hilfe Apparateteile her, die infolge ihrer
komplizierten Form oder der Härte der Legierung nicht mehr spanabhebend
behandelt werden können.
Der seit dem letzten Krieg entwickelte „Präzisionsguß mit Hilfe von
Ausschmelzmodellen“ wird heute in der Gießereiindustrie als das modernste
Gießverfahren angesehen. Doch bevor es dort eingeführt wurde, praktizierte
man es bereits seit einigen Jahrzehnten in der Zahntechnik. Dort werden
mit seiner Hilfe täglich in aller Welt Kronen und Brücken für die Zahn-
medizin hergestellt.
Das Verfahren, nach Ausschmelzmodellen zu gießen, wurde erst nach
viertausendjähriger, meisterlicher Ausübung, vor wenig mehr als hundert
Jahren durch die Anwendung der Sandteilform abgelöst. Kurz vor der Jahr-
hundertwende gelangte es jedoch erneut zu großer Blüte, um durch die
Auswirkungen des ersten Weltkrieges fast ganz in Vergessenheit zu geraten.
Der Historiker bezeichnet das Verfahren, nach Ausschmelzmodellen
Metallobjekte zu gießen, „Wachsausschmelzverfahren“. Hier spricht man
gemeinhin vom „Guß in verlorener Form“, weil zur Gewinnung des Gieß-
lings die Form zerschlagen werden muß und somit verlorengeht. Obwohl
ein zweiter Guß aus der Form nicht möglich ist, möchte ich diese Bezeich-
nung als irreführend ablehnen, denn auch die in der Industrie übliche Sand-
form muß nach jedem Guß zerschlagen werden, um den Gießling freizu-
geben.
Das Prinzip und der Vorteil der Sandform beruhen also nicht darauf,
daß die Form erhalten bleibt, sondern daß mit Hilfe eines Modelles aus
Holz, Metall oder anderen festen Stoffen, das unter Berücksichtigung des
zu erwartenden Schwundes dem späteren Gießling genau gleicht, zahlreiche
Formen hergestellt werden können. Ihre jeweilige Zerstörung nach dem
Guß schließt also die Gewinnung weiterer gleicher Teile nicht aus.
Im Ausschmelzverfahren dagegen ist das Modell aus Wachs oder ähn-
lichem schmelzbarem Stoff hergestellt und wird im Gegensatz zum Sand-
formverfahren fest in die Form eingeschlossen und durch eine belassene
Öffnung ausgeschmolzen. Dadurch geht das Modell verloren. Wir müssen
236
Beelte, Das Wachsausschmelzverfahren
also richtiger vom verlorenen Modell sprechen, oder, was sich längst ein-
gebürgert hat, vom verlorenen Wachs.
Im französischen und englischem Sprachgebiet wird dem seit langem
Rechnung getragen, indem man dort vom cire perdue bzw. lost w a x
spricht.
Allerdings, so wird noch ausgeführt werden, ist auch im Wachsausschmclz-
verfahren, mit Unterbrechungen bereits seit der Antike, die Gewinnung
weiterer Gießlinge möglich, und zwar durch die Gewinnung weiterer Wachs-
modelle aus Mutterformen, die nach Urmodellen angefertigt werden.
Sehen wir zunächst von der Mutterform ab, dann ist das Wachsaus-
schmelzverfahren mit einfachen Worten wie folgt zu definieren; Ein Modell
wird aus Wachs geformt und in eine feuerfeste Masse eingebettet, die durch
Trocknen und Brennen fest wird. Im Brand schmilzt das Wachs aus und
läßt einen Hohlraum zurück: die Form. In sie wird das geschmolzene
Metall eingefüllt. Ist dieses erstarrt, wird die Form zerschlagen. Der daraus
gewonnene Metallgießling ist eine sehr getreue Kopie des Wachsmodelles.
Trotz dieser einfachen Begriffsbestimmung herrscht allenthalben eine un-
faßbare Begriffsverwirrung, die auch heute noch in zahlreichen wissenschaft-
lichen Werken ihren Niederschlag findet. Wenn z. B. in einer kulturhisto-
rischen Abhandlung über ein bedeutsames Bronzedenkmal der Renaissance zu
lesen steht, man sähe der Oberfläche des Erzdenkmales an, wie das Wachs
vom einströmenden Metall aufgezehrt worden sei, dann vermittelt sich
dem Leser doch eine vollkommen falsche Vorstellung. Fände das einströ-
mende Metall in der Form das Wachsmodell noch vor, dann würde die Form
gründlich zerstört1. Es soll hier nicht mit den elementarsten Lehrsätzen von
Boyle/Mariotte und Gay-Lussac aufgewartet werden, aber wer eine einiger-
maßen klare Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit der Gasvolumina hat,
wird sich über die Folgen des Zusammentreffens von Wachs und Metall in
der Form im klaren sein.
Neben der hier erörterten falschen Anschauung gibt es noch eine ganze
Reihe weiterer unklarer Vorstellungen über das Wachsausschmelzverfahren.
Und so darf es uns nicht verwundern, daß im Jahre 1958 ein großes Kunst-
lexikon unter dem Stichwort „G ußverfahr en“ eine Definition für das
Wachsausschmelzverfahren gibt, die eine zum Teil unklare, um nicht sagen
zu müssen, unrichtige Vorstellung entstehen läßt.
Es soll das Anliegen dieser Arbeit sein, eine klare Begriffsbestimmung
des Wachsausschmelzverfahrens zu vermitteln und auch andere Verfahren
1 Eine vor kurzem an mich herangetragene Frage ließ erkennen, daß ein Archäologe
eben mit dieser falschen Vorstellung vor einem exklusiven Kreis von Gießerei-
fachleuten über ägyptische Metallgießerei zu referieren gedachte,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
237
kurz zu streifen. Vorausgeschickt wird eine kurze Aufzählung und Beschrei-
bung der zur Anwendung kommenden Materialien.
Die Ausschmelzmasse
Ihr Ausgangsmaterial und ihre Zusammensetzung sind im Laufe von
4000 Jahren unterschiedlich gewesen. Das ursprüngliche Material ist reines
Bienenwachs, das aber schon früh zur Erzielung größerer Geschmeidigkeit
fettige Zuschläge erhielt.
Hier zwei überlieferte Rezepte des 18. und 19. Jahrhunderts:
1. 4 Teile Bienenwachs, 1 Teil Terpentinharz und etwas fettes öl.
2. 6 Teile Bienenwachs, 1 Teil weißes Pech, 3 Teile Fett und 2 Teile
Mohnöl.
Bienenwachs läßt sich nicht ohne Einschränkung beschaffen, ist also sehr
kostbar. Gewichtsmäßig steht es zum Metall im Verhältnis 1 : 8. Zum Guß
der Bernwardstüren im Dom zu Hildesheim (1015) zum Beispiel, wären je
Türflügel etwa zehn Zentner Bienenwachs erforderlich gewesen, wenn nicht
der eigentliche Türflügel im Modell aus einer Holzbohle hergestellt worden
wäre, auf der lediglich die vollplastischen Reliefs, aus Wachs modelliert,
angebracht worden waren. Hier ersetzte also Holz einen Teil des Ausschmelz-
modelles, was natürlich voraussetzt, daß es sich aus der starren Form heraus
lösen ließ, ohne diese zu beschädigen.
In der gleichen Zeit etwa griff man auch aut Tal^; als Ausschmelzmaterial
zurück. Das geschah besonders bei der Herstellung des „Glockenhemdes“, das
Ausschmelzmodell für die Glocke.
Bereits im 12. bis 13. Jahrhundert ging man dann dazu über, das
Glockenhemd nicht mehr aus Wachs oder Talg, sondern aus Ton herzustellen,
dem lediglich eine Fett-Wachshaut zur Befestigung der Applikationen, die
ebenfalls aus Fett-Wachsgemischen hergestellt wurden, zu geben war. Die
Glockenform wurde somit also eine Kombination zwischen Ausschmelz- und
Teilform.
Die modernen Ausschmelzmodelle werden aus technischen Wachsen her-
gestellt. Zum Teil sind sie auch aus Kunstharz gefertigt. Bei ihrer Anwen-
dung kann man dann natürlich nicht ausschmelzen, sondern muß man die
Modelle ausbrennen.
Das Formmaterial
Es besteht im wesentlichen aus Ton, dem Zuschläge wie etwa Ziegelmehl
zum Abfangen der Schrumpfung beim Trocknen und Brennen beigegeben
werden.
Vegetabilien, wie zerschnittenes Stroh, Schefe oder gehackte Kuhhaare,
sollen zur besseren Bindung des Formmateriales beitragen. Gleichzeitig wird
2 38 Beeke, Das Wachsausschmelzverfahren
erreicht, daß durch ihre Verbrennung Hohlräume als Entlüftungskanäle
entstehen.
Das Gießmetall
Das erste Gießmetall war reines Kupfer (Cu), das seiner Zähflüssigkeit
wegen nur begrenzt anzuwenden ist.
Seit der Bronzezeit werden Kupferlegierungen verarbeitet, bei denen
Kupfer immer die größten Anteile hält. Die Legierungen können zweck-
gebunden in ihren Anteilen schwanken.
Bronze, auch Rotguß genannt, besteht aus Kupfer (Cu) und Zinn (Sn),
Messing, auch Gelbguß genannt, besteht aus Kupfer (Cu) und Zink (Zn).
Neben Zinn bzw. Zink ist in den Legierungen immer eine Reihe weiterer
Zuschläge bzw. Verunreinigungen mit geringen Anteilen wie Blei (Pb), Eisen
(Le), Arsen (As), Nickel (Ni) usw. zu finden.
Cu ist immer zwischen 75 bis 90'% vertreten, Sn bzw. Zn entsprechend
mit 10 bis 25%. Alle anderen Zuschläge treten in der Regel nur mit Bruch-
teilen von Prozenten auf, mit Ausnahme von Blei, das bereits im Mittelalter
von Pall zu Pall bis zu 10'°/o, zugeschlagen wurde.
Die heutige Bildgußbronze weist folgende Zusammensetzung auf:
Cu 86 %, Sn 7%, Zn 4%, Pb 3%.
Natürlich sind auch weitere Metalle wie Gold, Silber, zumeist mit Kupfer
legiert, und Eisen als Gießmetalle zu verwenden
Tiegel und Schmelzöfen
Zum Gießen kleinerer Objekte werden heute, wie in der Bronzezeit,
Tiegel aus feuerfestem Material auf der Ton-Schamotte-Basis verwendet.
Vielleicht schon in römischer Zeit wird man dazu übergegangen sein,
große Gießpfannen stationär anzuordnen und mit einem Abfluß zu ver-
sehen. Der Schmelzofen war damit geschaffen. Wir müssen uns einen Schacht-
ofen vorstellen, der nach dem Prinzip des Kupol-Ofens arbeitete. Die
früheste Beschreibung eines solchen Schmelzofens ist etwa 1000 Jahre alt
und stammt von dem Presbyter Theophilus.
Die Größe dieser Schmelzöfen war begrenzt, was sich auf die Größe der
zu gießenden Objekte auswirken mußte. Deshalb wurden alle größeren
Bronzewerke der Antike im Detail gegossen. Die einzelnen Stücke wurden
anschließend mechanisch durch Überfangguß oder Hartlötung zusammen-
gefügt.
Die ersten wirklichen Monumentalgüsse entstanden um 1000 in den deut-
schen Gießhütten.
In mehreren Beschreibungen des 16. Jahrhunderts finden wir Flammöfen
mit erheblichem Fassungsvermögen dargestellt. In ihnen ließen sich die für
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
239
8, & H
Abb. 1. Gießhütte des 17. Jahrh., Schnitt durch den Flammofen und die Dammgrube.
A Schmelzofen mit seitlichem Metallbeschickungsloch; B = regulierbare Kamine;
C Feuerungsroste; D = Stichloch; E = Dammgrube; F = Sockel für Modell
bzw. Form; G = Tunnel mit Verbindungsgängen zur Dammgrube. Von hier aus
wurde das Feuer zum Brennen der Form entfacht und das ausschmelzende Wachs
aufgefangen; H ■— Beschickungsloch für Feuerung.
die damals üblichen Riesengüsse erforderlichen Mengen an Metall schmelzen
(Abb. 1). Die Flammöfen waren in den Gießhütten seitlich über der Damm-
grube angebracht, von wo das flüssige Metall in natürlichem Gefälle in die
Form geleitet werden konnte. Das Prinzip des Flammofens beruht darauf,
daß die Feuerung nicht unter der Schmelzpfanne liegt, sondern daß die
Flammen durch einen Kanal von der Feuerung her über das Schmelzgut
geleitet werden. Die Richtung der Flammen und damit das gleichmäßige
Schmelzen des Metalles wird durch wechselseitiges öffnen bzw. Schließen der
über dem Schmelzgut befindlichen Abzugskamine gesteuert. Seitlich, an der
tiefsten Stelle der Pfanne, befindet sich die Abflußöffnung für das Metall,
das sog. Stichloch. Es ist vor dem Guß mit einem Lehmstopfen verschlossen.
Das Stichloch mündet in den Kanal, der schließlich das Metall zum Einguß-
trichter der Form leitet.
Der Kern und die Fierstellung des Wachs modelles
In Negerafrika, im Gebiet von Togo bis Kamerun etwa, finden wir das
Wachsausschmelzverfahren noch heute in seiner ursprünglichen Weise prakti-
ziert. Kleinere Gießlinge werden massiv hergestellt. Dazu muß das Modell
auch massiv aus Wachs modelliert werden. Schon bei Stücken von acht bis
zehn Zentimeter Größe finden wir, wennn die Stärke des Modelles es zu-
läßt, den Einbau eines Kernes. (Abb. 2).
240
Beelte, Das Wachsausschmelz verfahren
Abb. 2. Eine Modellreihe als Ergebnis eines von mir durchgeführten Rekonstruktions-
Versuches zu einer Bronzestatuette aus Dahome/Afrika.
1. Tonkern mit Kernstütze; 2. Feitiges Wachsmodell über den Kern modelliert;
3. Form mit dem eingebetteten Ausschmelzmodell; 4. Schnitt durch die Form mit
dem Modell; 5. Gesamtschnitt, deutlich sind Kern-, Kernstütze und Wachshaut zu
erkennen; 6. Form nach dem Ausschmelzen des Wachses. Der Kern schwebt, durch
die Kernstützen gehalten, fest in der Form. Der Metalleingußtrichter sitzt an den
Fersen der Figur; 7. Schnitt durch die Form nach dem Metalleinguß; 8. Ausgeformter
Metallgießling.
Der Kern wird aus Formmasse hergestellt und in groben Zügen der
zukünftigen Gestalt des gewünschten Objektes angepaßt. Dann wird, nur
wenige Millimeter dick, die Wachshaut aufgetragen, die in allen Feinheiten
durchgebildet wird. Das Modell ist fertig. Vor der Einformung werden noch
dünne Metallstäbchen so durch die Wachsschicht in den Kern gesteckt, daß
sie an den Enden herausstehen. Sie dienen als Kernstützen und haben nach
der Einformung und dem Ausschmelzen des Wachses den Kern unverrückbar
in der Form festzuhalten.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
241
Je größer das Gußstück sein soll, desto stärker müssen die Wachshaut und
die Kernstützen sein.
Herstellen des Wachs modelles mit Hilfe einer Mutter-
form
Der Vorteil der „verlorenen Form“ (richtiger Wachsausschmelzverfahren),
gegenüber der Sandform, so kann man immer wieder hören, liege in erster
Linie darin, daß kein weiteres, dem ersten gleiches Stück gegossen werden
kann. Diese Feststellung trifft nur bedingt zu. Sie trifft auf keinen Fall dann
zu, wenn das Wachsmodell aus einer Mutterform gewonnen wurde. Die
Mutterform ist also immer dann erforderlich, wenn von einem Modell
mehrere Abgüsse hergestellt werden sollen, oder aber die Möglichkeit dazu
bestehen muß. Ein Bildhauer des Barock z. B. modellierte ein Reitermonu-
ment, das in einem Stück gegossen werden sollte, in Ton. Von diesem Modell
nahmen Former eine Mutterform aus Gips ab, die aus einigen hundert
Stückchen bestehen konnte. Mit Nudelhölzern wurden Wachsplatten ent-
sprechend der berechneten Metallwandstärke ausgewalzt und in die einzelnen
Gips-Formteile eingeknetet. In der Dammgrube wurde dann um das vor-
bereitete eiserne Kerngerüst herum die Mutterform mit der einliegenden
Wachsschicht zusammengesetzt und die Kernmasse eingefüllt. Wenn sie er-
starrt war, wurde die Mutterform wieder Stück für Stück auseinander ge-
baut, wobei die Wachsschicht am Kern haftend zurückblieb. Von einem
Ürmodell war also über die Mutterform das eigentliche Gießmodell ent-
standen. Es glich absolut dem Tonmodell und konnte, wenn es ratsam
erschien, noch überarbeitet werden.
Die Mutterform hatte ihren sehr realen Wert, denn es wäre dem Künstler
kaum möglich gewesen, in der Enge der Dammgrube riesige Modelle zu
gestalten. Weiter war die Möglichkeit geboten, bei mißglücktem Guß ein
weiteres Wachsmodell herzustellen und somit auch wirklich die Schöpfung
des Künstlers zu garantieren. Das wird erst richtig verständlich, wenn wir
hören, daß sich die Gießarbeiten häufig über Jahrzehnte erstrecken konnten.
Die hier geschilderte Mutterform wurde seit der Renaissance verwandt,
und alle Plastiken des Maximiliangrabes in Innsbruck z. B. sind auf dem
Wege über die Mutterform entstanden. Cellini, der Schöpfer des Perseus in
Florenz (1500—1571), wähnt sich Erfinder der Mutterform. In Wirklichkeit
ist er jedoch nur als Wiederentdecker anzusehen, denn die Mutterform aus
Gips wurde bereits in der Antike, im 1. vorchr. Jahrtausend in Ägypten
erfunden. Sie fand dann im gesamten Mittelmeerraum Anwendung.
M. E. sind auch die Stein- und Metallformen, wie sie in der Bronzezeit
sowohl in unserem, wie auch im Mittelmeerraum Vorkommen, in den selten-
sten Fällen Metallgießformen, sondern ebenfalls Mutterformen zur Her-
16 Baessler-Archiv VIII
242
Beelte, Das Wachsausschmelzverfahren
Abb. 3. Das System der Einguß- (schwarz) und Entlüftungskanäle (weiß),
vereinfacht gezeichnet an einem Pferdemodell nach Kluge dargestellt.
Stellung der Ausschmelzmodelle. Nach wie vor ist ihre Anwendung um-
stritten.
Die heute in der Industrie gebräuchlichen Mutterformen sind vorwiegend
aus Metall hergestellt.
Die Guß - und Entlüftungskanäle
Bevor das Wachsmodell eingeformt wird, müssen Vorkehrungen getroffen
werden, die während des Gießprozesses die restlose Entlüftung der Form
und die gleichmäßige Verteilung des Metalles garantieren. Beim Guß in einer
offenen Form ergibt sich die Notwendigkeit natürlich nicht. Bei geschlossener,
kleiner Form mit dünner Wandung, deren Porosität in der Fage ist, Fuft
und Gase abzuführen, ist lediglich ein Eingußtrichter erforderlich. Ein ihm
entsprechendes aus Wachs geknetetes Stück wird an der für den Einguß
günstigsten Stelle des Modelles befestigt.
Bei großen und komplizierten Objekten (Bild 3) müssen zwei weit ver-
zweigte Kanalsysteme das Modell umgeben. Das eine System hat vom Ein-
guß aus für die gleichmäßige Verteilung des einströmenden Metalles und
die vollständige Füllung der Form zu sorgen und das andere für rechtzeitige
und restlose Entlüftung derselben (Entlüftungskanäle, Luftpfeifen, Wind-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
243
pfeifen). Dabei müssen die Anschlüsse an das Modell die jeweils richtigen
Neigungswinkel aufweisen, um jede Stockung auszuschließen.
Die Folge schlechter Entlüftung können sog. Lunker, das sind Fehlstellen
im Metall, oder aber die Zerstörung der Form sein.
Die Kanalsysteme werden durch Wachsstränge gewährleistet, die vor dem
Einformen an dem Modell angebracht werden. Dafür wird in der Regel
etwa ein Drittel der für das Modell verwendeten Materialmenge benötigt,
was vor allen Dingen bei der zum Guß zu schmelzenden Metallmenge be-
dacht sein will.
Die Gießform
Das Formmaterial wird in verschiedenen Feinheiten mit Wasser ange-
rührt und verarbeitet. Direkt auf das Wachsmodell kommt eine feinge-
schlämmte Schicht. Sie wird nur hauchdünn mit weichen Pinseln aufgetragen.
Nach dem Trocknen erfolgt ein weiterer Auftrag gleicher Feinheit, der alle
Haarrisse der ersten Schicht ausfüllt. Etwa 20 Schichten mit einer Stärke von
insgesamt 15 bis 20 Millimeter werden aufgetragen und müssen jeweils
trocken sein, bevor die nächste Schicht zum Auftrag kommt. Damit ist die
eigentliche Form fertig. Es folgen gröbere und dickere Schichten, von denen
die durch die Wachshaut aus dem Kern herausragenden Kernstützen fest
eingeschlossen werden. Bei großen Formen ist zum Schluß eine Einklamme-
rung mit Eisenbändern zur Erhöhung der Festigkeit erforderlich. Schließlich
erfolgt der Brand, wobei auch gleichzeitig das Wachs ausgeschmolzen wird.
Handliche Formen werden zum Guß in Kästen eingestampft oder frei
aufgestellt. Große Formen befinden sich von vornherein in der Dammgrube,
die nach dem Brand mit Erde aufgefüllt und fest eingestampft wird.
Der Metallguß
Im Tiegel oder Schmelzofen wird das Metall geschmolzen und die Legie-
rung durchgeführt, wenn nicht, wie z. B. in Negerafrika, das Gußmetall
fertig legiert erworben wird.
Zum Einguß wird der Tiegel zur Form transportiert, bzw. das Stichloch
des Schmelzofens geöffnet und das Metall in die Form geleitet. Wie schon
erwähnt, muß die Menge des Metalles so berechnet sein, daß sowohl die
Eingußkanäle, als auch die Luftpfeifen ganz gefüllt werden. Aus der damit
erreichten Gewichtserhöhung ergibt sich eine bessere Metalldichte. Von nicht
minderem Einfluß auf die Metalldichte ist auch die Wandstärke des Gießlings.
Einer der Gründe, weshalb auch in kleinen Plastiken Kerne angetroffen
werden; denn je dünner die Wandung, desto größer ist die Dichte des
Metalls.
Bei sehr kleinen Güssen werden die einwandfreie Füllung der Form und
die gewünschte Metalldichte im Schleuderguß erreicht. Dazu wird die ganze
16*
244
Beelte, Das Wachsausschmelzverfahren
Form nach dem Metalleinguß mittels eines entsprechenden Gerätes hori-
zontal bzw. vertikal geschleudert. (Die Industrie ist natürlich in der Lage,
auch größere Objekte im Schleuderguß zu gießen, wobei auch immer mehr
eine Zentrilfugalschleuder in Anwendung gelangt.)
Ausformen und Putzen des Gießlings
Nach dem Erstarren und Auskühlen des Metalles wird die Form zer-
schlagen. Die Einguß- und Entlüftungskanäle, falls vorhanden, sind an Stelle
der Wachsstränge nun kräftige Metallstangen. Sie werden abgesägt und die
Schnittstellen durch Befeilen und Schaben der Umgebung angepaßt. Ist eine
saubere Formarbeit geliefert worden, benötigt der Gießling keine weitere
Oberflächenbearbeitung.
Überfangguß
Führte unzureichende Metallmenge oder schlechte Entlüftung der Form
dazu, daß der Guß unvollkommen blieb, oder war die Form der Belastung
durch das einströmende Metall nicht gewachsen und wurde zum Teil zer-
stört, kann der fehlende Teil im Überfangguß angesetzt werden. Dazu
müssen die Fehlstellen entsprechend präpariert werden: Schwalbenschwanz-
tcrmige Einschnitte, schräge Bohrungen oder Nuten werden angebracht. Dann
modelliert man das fehlende Stück in Wachs nach und setzt es entsprechend
an, evtl, unter Zuhilfenahme der Mutterform. Anschließend erfolgen Ein-
formung und Guß wie schon beschrieben.
Der Überfangguß wurde auch dann angewendet, wenn es galt, mehrere
Metallteile miteinander zu verbinden, gleichgültig, ob es sich dabei um ein
zerbrochenes Gußteil handelte, das zu reparieren war, oder um getrennt
gegossene Teile eines Ganzen.
Der so beschriebene Überfangguß stellt nur eine mechanische, aber keine
metallische Verbindung her. Will man diese erreichen, dann muß die sog.
„Kaltschweiße“ zur Anwendung kommen. In diesem Fall braucht die Flick-
stelle nicht, wie oben beschrieben, vorbereitet zu werden. Das Wachs wird
anmodelliert und eingeformt. Nach dem Ausschmelzen läßt der Gießer das
Wachsabgußloch offen, damit das von oben her einströmende Metall unten
wieder abfließen kann. Er schließt das Abflußloch in dem Moment, in dem
das feste Metall an der Flickstelle breiig zu werden beginnt, also nahezu
den Schmelzpunkt erreicht hat. Im gemeinsamen Erstarren geht das Metall
beider Güsse eine innige Verbindung ein.
Die Sandteilform
Diese Arbeit bliebe unvollständig, wenn nicht kurz weitere Formver-
fahren erläutert würden.
Baessler-Archiy, Neue Folge, Band VIII
245
Die Sandform fand in einfacher Ausführung als offene Herdform wohl
schon in den römischen Gießhütten Verwendung. So blieb es bis in die ersten
Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts ohne wesentliche Änderung. Dann trat
von Frankreich aus die Sandteilform ihren Siegeszug um die Welt an. Ent-
scheidend für diesen grundlegenden Wandel, der eine Revolution in der Form-
technik darstellte, war zunächst einmal die sehr viel preiswertere Anwendung
und weiter die Tatsache, daß die Sandteilform der Industrie mit ihren Er-
fordernissen weitgehendst entgegenkommt.
Sehr bald wurde sie auch im Bildnisguß dominierend und wird dazu auch
heute noch verwandt“.
Voraussetzung für die Herstellung der Sandteilform ist ein Modell aus
festem Material (von einem Tonmodell z. B. muß ein Gipsabguß hergestellt
werden). Von dem Modell werden je nach Kompliziertheit mehr oder weniger
viele Formstücke, aus Sand gestampft, abgenommen. Diese Teilformstücke
werden mit Hilfe von zwei großen Eisenkästen zusammengefaßt, in denen
sie wiederum mit Sand eingestampft werden. Die beiden Eisenkästen werden
zum Guß zusammengefügt. Natürlich dürfen Guß- und Entlüftungskanäle
auch hier nicht fehlen.
Zum Ausformen des Gießlings wird der Sand aus den Kästen heraus-
geschlagen. Er kann wieder verwandt werden. Die Form ist in jedem Falle,
um auf die eingangs durchgeführte Erklärung zurückzukommen, verloren.
Der Nachteil dieses Gießverfahrens besteht darin, daß komplizierte Ob-
jekte in Details zerlegt, eingeformt und gegossen werden müssen2 3.
Ein weiterer Nachteil liegt in der Notwendigkeit, die gesamte Oberfläche
des Gießlinges nach dem Ausformen zu überarbeiten. Das setzt beim Metall-
arbeiter, wenn er ein Bildnis ziselieren muß, künstlerisches Einfühlungsver-
mögen voraus. Dem Künstler selbst ist es nicht gegeben, letzte Hand anzu-
legen, wie er es beim Wachsausschmelzverfahren kann. Es ist also einleuchtend,
wenn vor allem in der ersten Zeit immer wieder Klagen darüber laut wur-
den, daß nach dem „Überschruppen“ und „Aufscheuern“ des Gußstückes durch
die Ziseleure keine Identität mit dem Entwurf des Künstlers mehr zu
finden war.
2 Vor einigen Jahren gelang mir die Entwicklung einer elastischen Kunststofform
als Mutterform für das Wachsausschmelzverfahren. Mit ihrer Hilfe lassen sich
beliebig viele Wachsmodelle von sehr komplizierten Originalen gewinnen. — Vgl.
meine Aufsätze: Elastische Mutterform für das Wachsausschmelzverfahren aus
Kunststoff, „Gold und Silber“, 1958, Heft 4 und 7. Als Zweitdruck erschienet!
in „Der Präparator-Zeitschrift für Museumstechnik“, 1959, Heft 1 und 4.
3 Mir sind wertvolle antike Bronzestatuetten und Geräte mit modernen Lötstellen
bekannt geworden. Sie wurden zur Anfertigung von Sandteilformen zersägt (!),
mit deren Hilfe für ein kunstfreudiges Publikum Metallkopien hergestelit werden
sollten.
246
Beelte, Das Wachsausschmelzverfahren
Der Kokillenguß
Schließlich soll noch auf den Kokillenguß hingewiesen werden. Mit seiner
Hilfe wußte man bereits in der Antike auf rentable Weise einfache Gieß-
körper herzustellen. Die Form war aus feuerfestem Material hergestellt, z. B.
Keramik. Sie hatte in ihren Abmessungen etwas größer zu sein, als das zu
gießende Objekt. Vor dem Guß wurde die Form, und das mußte aus wärme-
technischen Gründen vor jedem weiteren Guß wiederholt werden, mit einer
fein geschlämmten Formmasse ausgekleidet, wodurch auch die dem Gießling
entsprechenden Abmessungen erreicht wurden. Trotz dieser Vorsichtsmaß-
nahme, die Form „auszufuttern“, blieb die Lebensdauer der Kokille begrenzt.
Moderne Kokillen sind aus Stahl gefertigt.
Die in dieser Abhandlung besprochenen Materialien und Verfahren sind
natürlich orts- und zeitgebundenen Abweichungen unterworfen, die jedoch
am Prinzip nichts ändern. Ihre Betrachtung und Erforschung sind aber nur
dann vom Erfolg gekrönt, wenn sie umfassend betrieben werden.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
247
RECHT UND SITTE
Einige Bemerkungen zu einem rechtsethnologischen Problem
WOLFGANG H. FINDIG, Mainz
Die Schwierigkeiten für den Rechtsethnologen im Unterschied zum Rechts-
soziologen, dessen Forschungsgegenstand entweder in seiner eigenen oder in
einer anderen Hochkultur liegt, sind vor allem darin begründet, daß bei
Naturvölkern keine formalisierten Rechtssysteme in schriftlich fixierter Form
existieren. Wohl kennen manche naturvolklichen Gesellschaften Systeme von
Rechtsregeln, die in den Gedächtnissen der Leute fortleben und die von Ge-
neration zu Generation weitertradiert werden, aber es gibt auch viele Gesell-
schaften, in denen solche verbalisierten abstrakten Regelungssysteme nicht Vor-
kommen. Juristen, die nur da von Recht sprechen zu können glauben, wo
entweder ein Rechtskodex vorliegt oder wo es jene verbalisierten abstrakten
Regelungssysteme gibt, sprechen damit vielen naturvolklichen Gesellschaften
das ab, was wir in unserer eigenen Kultur mit „Recht“ bezeichnen, nämlich
„die auf einen Sanktionsapparat gestützte soziale Ordnung eines zentral
organisierten politischen Gebildes“1. Wir müssen deshalb die grundsätz-
liche Frage stellen, ob eine solche Einstellung berechtigt ist. Gibt es mensch-
liche Gesellschaften, in denen die Gestaltung der sozialen Kontrolle nur durch
Brauch und Sitte entschieden wird? Damit aber erhebt sich die Frage nach
einer terminologischen Abgrenzung von „Brauch“ und „Sitte“ einerseits und
„Recht“ andererseits.
Wenden wir uns zunächst der letzten Frage zu. Das Problem der Ab-
grenzung zwischen diesen beiden Begriftskomplexen — (im anglo-amerikani-
schen Sprachgebiet werden sie mit „custom“ und „law“ bezeichnet2) — ist
wichtig für die gesamte rechtsethnologische Forschung. Es ist zugleich das
schwierigste Problem, denn die Übergänge zwischen den beiden Komplexen
sind fließend. Die Rechtsethnologen haben bisher noch keine Übereinkunft
für eine Abgrenzung erreicht. Die Schwierigkeit einer solchen Abgrenzung
(= Definition) scheint vor allem darin zu liegen, daß wir von unseren
eigenen vorbelasteten Termini ausgehen müssen, die alle aus der Sphäre
unseres kodifizierten Rechtssystems stammen. Die anglo-amerikanischen
Rechtsethnologen sind auf Grund ihres nicht kodifizierten Rechtssystems in
1 Hirsch, E. E.: Recht, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg, von W. Bernsdorf
und F. Bülow (Stuttgart 1955), p. 411.
2 Die englischen Termini entsprechen im Sinngehalt nicht genau den deutschen
Termini. Auf diesen Bedeutungsunterschied hat vor allem auch R. P o u n d (im
Vorwort zu G. Gurvitch „Sociology of Law“) hingewiesen.
248
Lindig, Recht und Sitte
einer weitaus günstigeren Lage. Die Forschung ist denn auch weitgehend von
englischen — und in neuerer Zeit amerikanischen — Gelehrten getragen wor-
den. Ihre Beiträge zu unserem Problem müssen vor allem auch deshalb be-
rücksichtigt werden, weil sie die gesamte neuere Rechtsforschung maßgeblich
beeinflußt haben. Die verschiedenen Ansätze der deutschen Rechtsethnologie,
vor allem die einschlägigen Arbeiten von Max Weber, werden dabei meist
nicht in dem Maße gewürdigt, wie sie es verdienten. Den folgenden Betrach-
tungen soll die Definition des „Rechts“ von Max Weber zugrunde liegen; an-
schließend soll sie auf eine naturvolkliche Gruppe angewendet werden.
Wenn wir uns nun der Definition von „Recht“ zuwenden wollen, so
müssen wir zunächst einmal unterscheiden zwischen den beiden „außer“- oder
„vorrechtlichen“ Komplexen des Brauches und der Sitte. Max Weber trifft
die folgende Unterscheidung zwischen Brauch und Sitte:
„Es lassen sich innerhalb des sozialen Handelns tatsächliche Regelmäßig-
keiten beobachten, d. h. in einem typisch gleichartig gemeinten Sinn beim
gleichen Handelnden sich wiederholende oder (eventuell auch: zugleich) bei
zahlreichen Handelnden verbreitete Abläufe von Handeln. . . . Eine tatsäch-
lich bestehende Chance einer Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Han-
delns soll heißen Brauch, wenn und soweit die Chance ihres Bestehens
innerhalb eines Kreises von Menschen lediglich durch tatsächliche Übung
gegeben ist. Brauch soll heißen Sitte, wenn die tatsächliche Übung auf
langer Eingelebtheit beruht'5.“
An anderer Stelle erläutert Weber das Wesen der Sitte ausführlicher:
Er sagt:
„Sitte soll uns eine im Gegensatz zur ,Konvention“ und ,Recht“ nicht
äußerlich garantierte Regel heißen, an welche sich der Handelnde frei-
willig, sei es einfach ,gedankenlos“ oder aus ,Bequemlichkeit“ oder aus
welchen Gründen immer, tatsächlich hält und deren wahrscheinliche Inne-
haltung er von anderen diesem Menschenkreis Angehörigen aus diesen
Gründen gewärtigen kann. Sitte in diesem Sinne wäre also nichts ,Gel-
tendes“: es wird von niemandem verlangt, daß er sie mitmache. Der Über-
gang von da zur geltenden Konvention und zum Recht ist natürlich ab-
solut flüssig. Überall ist das tatsächlich Fiergebrachte der Vater des Gel-
tenden gewesen. Es ist heute ,Sitte“, daß wir am Morgen ein Frühstück
ungefähr angebbarer Art zu uns nehmen; aber irgendeine ,Verbindlichkeit“
dazu besteht nicht; und es war nicht immer Sitte3 4.“
„Die Stabilität der (bloßen) Sitte beruht wesentlich darauf, daß der-
jenige, welcher sein Handeln nicht an ihr orientiert, ,unangepaßt“ handelt,
3 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe, in: Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre (Tübingen 1951), pp. 556—557.
4 ibid.; vgl. auch Sumner, W. G.: Folkways (1906).
ßaessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
249
d. h. kleine und große Unbequemlichkeiten und Unzuträglichkeiten mit in
den Kauf nehmen muß, solange das Fiandeln der Mehrzahl seiner Umwelt
nun einmal mit dem Bestehen der Sitte rechnet und darauf eingestellt ist5 6.“
Wenn wir für diese Definition die in der anglo-amerikanischen Rechts-
ethnologie gebräuchliche Terminologie verwenden, so kann man sagen: Das
Verhalten der Menschen nach Brauch und Sitte ist ein Verhalten, das nach den
Maßstäben sozialer Normen geregelt wird. Das nicht normative Verhalten
zieht (soziale) Sanktionen nach sich. (Es gibt auch „positive“ soziale Sank-
tionen; Belobigung, Ordensverleihung usw.). Während die sozialen Normen
dieser beiden Typen sozialen FFandelns, d. h. von Brauch und Sitte, nirgend-
wo schriftlich fixiert sind (mit Ausnahme vom Knigge), liegen die legalen
Normen, d. h. die Normen, die sich auf das Verhalten der Menschen be-
ziehen, das vom rechtlichen Regelungssystem der Gesellschaft vorgeschrieben
wird, und auch die damit verbundenen legalen Sanktionen in unserer eigenen
Gesellschaft in den Gesetzbüchern schriftlich fixiert vor.
Wir sehen sogleich, worin die Problematik der Abgrenzung zwischen Sitte
und Recht bei der Auswertung des ethnographischen Materials liegt. Die
Naturvölker sind schriftlose Völker. Besitzen sie verbalisierte abstrakte Rege-
lungen, z. B. in Form von Sprichwörtern oder in den sog. Buschlehren, so
lassen sich diese nicht in soziale und legale Normen scheiden. Dafür besitzen
wir bis jetzt noch keine Kriterien. Es wäre eine wichtige Aufgabe für den
Rechtsethnologen, etwa die Stammeslehren der Dschagga nach diesen Gesichts-
punkten zu analysieren und Kriterien für eine solche Unterscheidung zu er-
arbeiten. In diesem Zusammenhang sei auf eine neuere rechtsethnologische
Arbeit von L. Pospisil von der Yale-University hingewiesen: „Kapauku Pa-
puans and their law“ (1958). Der Verfasser stellt bei den Kapauku Papua in
Holländisch-Neuguinea ein ganzes System von normativen Regeln fest, die
jedoch in fast jedem einzelnen Rechtsfalle, in dem sie Anwendung finden
müßten, weitgehend ignoriert werden. Diese verbalisierten abstrakten Regeln
der Kapauku Papua bezeichnet Pospisil als tote Regeln (dead rules), weil sie
in der lebendigen Rechtsprechung dieser Eingeborenen bedeutungslos geworden
seien0. Er schließt sie bei seiner „funktionalen“ Betrachtungsweise aus dem
Rechtssystem der Kapauku Papua aus. Damit geht er völlig an der Erkennt-
nis vorbei, daß diese „dead rules“ ganz und gar nicht „tote“ Regeln sind,
sondern daß sie das im Hintergrund jeder Rechtshandlung stehende Gerüst
bilden, auf dem sich die „lebendige“ Rechtsprechung gründet. Die „dead
rules“ sind nichts anderes als das, was Max Weber als Idealtypen bezeichnet
hat. Unter diesem Terminus ist folgendes zu verstehen: Im Interesse der Her-
5 Weber, a.a.O., pp. 558.
6 Pospisil, Leopold: Kapauku Papuans and their law, in: Yale Univer-
sity Publications in Anthropology, No. 54 (New Haven 1958), p. 250.
250
Lindig, Recht und Sitte
ausarbeitung des Typischen, d. h. Wesentlichen, wird von allem Atypischen
methodisch abgesehen. Idealtypen sind also letzte Verdichtungen des jeweils
Wesensbestimmenden. Sie werden gewonnen, indem Tendenzen, die in der
Erscheinungsweit vorfindbar sind, bewußt (methodisch) gesteigert werden bis
zu ihrem denkmöglichen Maximum, also bis in ihre letzte theoretische Kon-
sequenz. Solche Idealtypen darf man nicht mit „Realtypen“ gleichstellen, was
Pospisil hier tut. Man kann, wenn man mit dem Begriff des Idealtypus
arbeitet, immer nur das im jedesmaligen Einzelfalle vorliegende Maß von
Annäherung an oder Entfernung von einem solchen Typus feststellen, oder
auch das Mischungsverhältnis verschiedener Typen.
Doch kehren wir zunächst zu der Definition zurück, die uns Max Weber
von „Recht“ gibt. Er sagt da:
„Eine Ordnung soll Recht heißen, wenn sie äußerlich garantiert ist
durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges durch ein auf Er-
zwingung der Innehaltung oder auf Ahndung der Verletzung gerichtetes
Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen7.“
An einer späteren Stelle stellt Max Weber noch einmal heraus, daß für ihn
unter allen Umständen die Existenz eines Erzwingungsstabes entscheidend ist.
Dieser braucht natürlich in seiner Art durchaus nicht dem zu gleichen, was
wir darunter zu verstehen gewohnt sind. Insbesondere ist es für Max Weber
nicht erforderlich, daß eine richterliche Instanz vorhanden ist. Für ihn ist
auch die Sippe (z. B. bei der Blutrache) ein solcher Erzwingungsstab, wenn für
die Art ihres Reagierens Ordnungen irgendwelcher Art tatsächlich gelten8.
Wenn wir uns nun der Definition von Bronislaw Malinowski zuwenden,
so müssen wir zunächst rekapitulieren, daß die Normen des Rechts, die legalen
Normen, auf außerrechtlichen, d. h. sozialen Normen allgemeinster Art, auf-
bauen. Die Abgrenzung der legalen Normen von den unterlagernden Sitten-
normen sieht Max Weber in dem Vorhandensein eines Erzwingungsstabes.
Malinowski geht ganz ähnlich vor, indem er eine soziale Norm dann als legale
Norm bezeichnet, wenn sie durch eine „direkte, organisierte und definitive
soziale Aktion erzwungen wird“9. Eine organisierte Erzwingung verlangt aber
das Vorhandensein eines — um mit den Worten Max Webers zu sprechen —
Erzwingungsstabes. Es ist also im Prinzip die gleiche Forderung, wie sie
Weber aufstellt: Eine legale Norm wird mit Hilfe eines Etzwingungsstabes,
der die legalen Sanktionen durchführt, erzwungen. A. R. Radcliffe-Brown
dagegen verlangt, daß der Erzwingungsstab institutionalisiert sei10. Da dies
7 W eher, a.a.O., pp. 562—563.
8 Weber, a.a.O., pp. 563—564.
9 Malinowski, Bronislaw: The family among the Australian aborigines
(London 1913), pp. 11 u. 15.
10 Radcliffe-Brown, A. A.: Sanction, social, in; Encyclopedia of Social
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
251
nicht in allen Gesellschaften der Fall ist, würden einzelne Naturvölker kein
„Recht“ besitzen, sie hätten nur „customs“, d. h. Sitten und Bräuche. Mit
dieser Forderung nach Institutionalisierung wird die Bedeutsamkeit bestimmter
Typen normativer Regeln, wie Schutz von Leben und Eigentum, Inzestverbot,
Verurteilung von Ehebruch und anderer sexueller Vergehen, herabgemindert.
Solche Regeln gibt es mutatis mutandis in allen menschlichen Gesellschaften,
und sie werden alle durch Sanktionen ganz ähnlicher Art durchgesetzt: z. B.
durch Angst vor dem Tod, durch Verstümmelung, durch Zufügung physischen
Schmerzes, durch Verbannung oder Verächtlichmachung. Solche Sanktionen
brauchen nicht von einem institutionalisierten Erzwingungsstab durchgeführt
werden; sie können von jedem Einzelnen oder jeder sozialen Einheit — in
manchen Fällen sogar durch übernatürliche Kräfte — erzwungen werden.
Radcliffe-Browns Forderung bedeutet eine Überbetonung der formalistischen
Aspekte der Rechtsprozesse, und damit verbunden ist die Übertragung be-
stimmter für das Recht in einigen Gesellschaften charakteristischer Merkmale
auf andere Gesellschaften. Dieser Übertragung liegt gedanklich das Postulat
zugrunde, daß diese Charakteristika zur alleinigen Definition von Recht
genügen.
Die Forderung Radcliffe-Browns, daß der Erzwingungsstab institutionali-
siert sein muß, beruht auf einer Verkennung der Dynamik der Kultur. Das
ethnographische Material, das uns heute zur Verfügung steht, erlaubt den
Schluß, daß die Institutionalisierung eines legalen Erzwingungsstabes im Sinne
von Max Weber abhängig ist von dem kulturellen Standort der betreffenden
Kultur. Da alle Kulturen Wachstumsprozessen unterworfen sind, die durchaus
nicht immer zyklisch zu verlaufen brauchen, andererseits aber auch nicht
evolutionistisch aufzufassen sind, ändert sich der kulturelle Standort einer
jeden Kultur ständig. Es hängt von den einwirkenden exogenen oder endo-
genen Umgestaltungskräften ab, inwieweit sich einzelne Aspekte der betref-
fenden Kultur in Richtung auf eine Institutionalisierung hin verlagern, in
unserem Falle also auf eine Institutionalisierung eines rechtlichen Erzwin-
gungsstabes. Es ist durchaus nicht allein eine Seßhaftwerdung eines ehedem
nomadischen Stammes, der eine solche Verlagerung mit sich bringen kann;
es können genau so gut andere Faktoren sein, die aber von Fall zu Fall ver-
schieden sind und erst durch historische Einzeluntersuchungen erarbeitet wer-
den müssen. Das Beispiel einer nordamerikanischen Indianerkultur, deren Um-
gestaltungsprozeß uns in seinem ganzen historischen Ablauf bekannt ist, soll
uns Gelegenheit geben, einen solchen Fall aufzuzeigen.
Sciences (London 1930—34); ders.: Structure and function in primitive society
(Glencoe, 111. 1952), p. 216.
252
Lindig, Recht und Sitte
Zur Zeit der Ankunft der Spanier in der Neuen Welt waren die in Neu-
mexiko und Arizona lebenden südathapaskischen Stämme der Apachen und
Navaho einfache Jäger und Sammler. Die Sammeltätigkeit der Frau stand
im Vordergrund der Nahrungsbeschaffung, die Jagd des Mannes spielte be-
sonders bei den östlichen an die Prärie angrenzenden Gruppen eine größere
Rolle. Als diese athapaskischen Stämme etwa im 15. Jahrhundert vom Ost-
rand des Felsengebirges aus in das Plateau- und Wüstengebiet des heutigen
nordamerikanischen Südwestens eindrangen, stießen sie auf eine seßhafte
Pflanzerbevölkerung, deren Kultur man zusammenfassend als Pueblo-Kultur
zu bezeichnen pflegt. Diese Pueblo-Indianer lebten von Mais, Bohnen, Kür-
bissen und anderen Gemüsepflanzen, die sie teilweise mit Flilfe künstlicher
Bewässerung, teilweise aber ohne solche in den höheren Lagen der Berge an-
bauten. Ihr Wohngebiet befand sich zu jenem Zeitpunkt weiter nördlich und
nordwestlich. Man ist heute der Ansicht, daß das Eindringen jener athapas-
kischen Stämme in das Pueblo-Gebiet, das damals etwa mit dem Einzugs-
gebiet des San Juan-Flusses identifiziert werden kann, einer der Anlässe war,
daß die großen Wohnanlagen in den Wänden der Canyons dieses Gebietes
(Cliffdwellings) verlassen wurden. Seit jener Zeit bestand ein meist wenig
friedlicher Kontakt zwischen der Pueblo-Bevölkerung und den eingedrun-
genen Wildbeutern. Gelegentliche Handelsexpeditionen der Nomaden zu den
Siedlungen der Puebloindianer führten zu gegenseitigem Austausch von Gü-
tern und zur Kenntnis von Nutzpflanzen und ihres Anbaues für die Atha-
pasken. Dieser gelegentliche Kontakt wurde intensiviert, als nach dem Aus-
bruch der Puebloindianer-Revolte im Jahre 1680 gegen die Vorherrschaft der
Spanier viele Puebloindianer, vor allem aus dem Pueblo Zuni und den ver-
schiedenen FFopi Pueblos zu den benachbarten Navaho und Westlichen
Apache-Gruppen flüchteten. Zu diesem Zeitpunkt übernahmen die meisten
Gruppen der Westlichen Apache (Tonto, Cibecue, Coyotero, Pinaleno) den
Anbau von Mais. Als sich diese Apache-Stämme später weiter im Süden, be-
sonders aber im zentralen und südlichen Teil von Arizona, festsetzten, nahmen
sic die Kenntnis des Maisanbaus mit. Ihr vollnomadisches Leben wurde nun
von einer seßhaften Periode im Jahr — die Zeit des Anbaus von Mais —
abgelöst. Man sammelte zwar die alten Wildfrüchte, vor allem Mescal, weiter
und ging auch im Herbst und Winter auf die Jagd, aber durch die Anlage
von Bewässerungsanlagen für die Maisfelder und ihre Instandhaltung blieb
man doch jetzt mehrere Monate im Jahr an einem Ort wohnen. Diese semi-
nomadische Lebensweise wurde von den südöstlich von den Westlichen Apache
wohnenden Gruppen der Chiricahua Apache nicht geteilt. Bis zu Beginn der
Reservationsperiode (1873), blieben die Chiricahua Jäger und Sammler bzw.
Räuber. Seit der Ankunft der Spanier in der Neuen Welt, besonders aber seit
der Anlage von spanischen Siedlungen im Gebiet des heutigen Sonora und
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
2 53
Chihuahua, hatten die schweifenden Apache-Stämme, die inzwischen von den
Prärie-Indianern das Pferd übernommen und dadurch ihre Mobilität ge-
steigert hatten, einen Wandel durchgemacht; sie wurden zu Räubern. Die
Überfälle auf spanische — und später mexikanische — Siedlungen bildeten
bald die hauptsächliche Subsistenzgrundlage der meisten Apache-Gruppen. Es
war ja auch viel leichter, sich die Lebensmittel auf diesem Wege zu ver-
schaffen, als sie mühselig zusammenzusuchen. Seit jener Zeit wurden die
Apache zur Geißel der spanischen Gebiete des nördlichen Mexiko; erst in der
zweiten Flälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie mit Hilfe der US-amerika-
nischen Regierung endgültig besiegt. Dieser Unterwerfung, mit der das Re-
servationsleben dieser Indianer ihren Anfang nahm, waren schwere Kämpfe
vorausgegangen, in denen nicht immer die Europäer siegreich geblieben waren.
Besonders zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges, als die Union ihre
Truppen aus Arizona abziehen mußte, herrschte völlige Anarchie in den
Staaten Arizona und Neumexiko. Keine Siedlung war vor den Apache sicher,
und die Namen der berühmt gewordenen Anführer zahlreicher Apache-
Gruppen, wie Geronimo, Yictorio, Cochise, Nana u. a. wurden zum Schreck-
gespenst der wenigen in diesen Gebieten bleibenden europäischen Kolonisten.
Historische Nachrichten lassen erkennen, daß bei den Westlichen Apache,
wie man die Gruppen der Tonto, San Carlos, White Mountain und Cibecue
zusammenfassend bezeichnet, mit der Seßhaftwerdung auf Grund des Anbaus
von Mais eine Stärkung der Autorität des Lokalgruppenführers, des Häupt-
lings, vor sich geht. Während in der Zeit vor dem Seßhaftwerden die Fa-
miliengruppe die funktionsstärkste Einheit war, wird mit einer entstehenden
Klanbildung und dem Zusammenwohnen an einem Ort die Lokalgruppe zur
größten integrierten sozialen Einheit. Die relative Seßhaftigkeit bringt auch
insofern eine Voraussetzung zu größeren Zusammenschlüssen mit sich, als
während der Anbauzeit nun mehrere Familiengruppen in einem Gebiet, mei-
stens in einem Tal, beisammenwohnen. Der jeweils tüchtigste Familiengruppen-
führer, oder Unterhäuptling, wie wir ihn nennen wollen, wird zum Sprecher
der ganzen Lokalgruppe. Bei den Westlichen Apache ist diese Stärkung der
Autorität eines solchen Lokalgruppenhäuptlings darin deutlich sichtbar, daß
die Häuptlingswürde vererbt wird. Die Chiricahua Apache dagegen kennen
nicht die vererbbare Häuptlingswürde. Diese ist vor allem auf die nomadische
Lebensweise zurückzuführen, die einen Zusammenschluß von mehr als einer
Familie nur ganz selten erlaubt. Die Ansätze zu einem erblichen Häuptling-
tum sind aber bereits deutlich zu erkennen. Wenn einerseits von den Chiri-
cahua festgestellt wird, daß die Autorität des Häuptlings weit davon ent-
fernt ist, absolut zu sein, daß seine Stellung nur wenig stärker ist als die
eines Beraters von gutem Ruf, so wird andererseits erkenntlich, daß man
einen Häuptling vorzugsweise aus einer bestimmten Familie nimmt, die eine
254
Lindig, Recht und Sitte
sozial hervorragende Rolle einnimmt. Darin ist bereits eine gewisse soziale
Schichtung erkenntlich, die sich bei den Westlichen Apache sehr viel deutlicher
vorfindet und sich in der Vererbbarkeit der Häuptlingswürde manifestiert.
Morris Opler berichtet von den Chiricahua Apache:
„It is from a group of well-born and politically conscious individuals
that the leaders are drawn. But family origin, while it does confer status
unless there is some grave personal disability, does not determine political
rank: If the son of a leader is qualified, it is easier for him to become
a leader. But it doesn’t have to work that way11.“
Die Funktionen eines Chiricahua-Häuptlings sind entsprechend weniger stark
ausgeprägt als bei dem Häuptling der Westlichen Apache, von dem wir noch
hören werden. Ein Gewährsmann berichtete Opler über die Funktionen des
Häuptlings bei den Chiricahua folgendes:
„In case of war a leader heads the men when they go to battle. In
time of peace he acts as adviser. He has charge of the group as far as
camping, living conditions, and water supply are concerned. He advises
the men about the hunt, where to go and how. Besides being an adviser
and commander in war, the leader is also peacemaker on occasion. If there
should be a murder and the leader finds out, he and some assistants saddle
their horses, ride out among the camps, and work for peace so that there
will not be any trouble12.“
Die Schilderung eines Mordfalles läßt die Stellung des Häuptlings klar er-
kennen:
„If they are not interfered with, the dead man’s relatives take revenge.
Sometimes a battle between the two families take place. More often,
though, the head men use their influence and succeed in preventing the
fighting13.“
Wir sehen hieraus, daß in diesem Falle kein institutionalisierter Erzwingungs-
stab vorhanden ist, der den Mörder fängt und verurteilt. Der Häuptling ist
in erster Linie bestrebt, zu verhindern, daß zwischen der Familie des Er-
mordeten und der Familie des Mörders Streitigkeiten ausbrechen, die das
soziale Gleichgewicht seiner Gruppe gefährden könnten.
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den benachbarten Westlichen
Apache. Goodwin berichtet uns darüber folgendes:
„The function of chiefs in arbitrations of social breaches such as rape,
injury, and murder was important ... in cases of incest and witchcraft
the local chief might call a meeting on his own initiative or upon the
request of his people. Here the culprits were tried and, according to the
11 Opler, Morris: An Apache life-way (Chicago 1941), p. 469.
12 Opler, a.a.O., p. 466.
13 ibid.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
255
merits of the case, freed, banished, or executed by order o f th e
c h i e P4.“ (Gesperrt von mir.)
Ein anderes Beispiel, das die Autorität des Häuptlings erkennen läßt;
„Theft of Irrigation water was the only other cause of agricultural dis-
putes, and, since women did most of the irrigating, this was usually a
woman’s quarrel. If it could not be settled, the chief was called and might
intervene, if he should fail to stop the wrangling he might even break
the conversion dam and turn the water out of the ditch entirely14 15.“
Diese Bemerkungen sollen genügen, um zu zeigen, wie unterschiedlich bei
den Apache-Gruppen die Autorität des Häuptlings ist, und wie davon auch
die Bestrafung von Verbrechen abhängt. Im Falle des institutionalisierten
Häuptlingtums bei den Westlichen Apache ist der Erzwingungsstab im Sinne
Max Webers der Häuptling, dessen Entscheid für die Bestrafung eines Ver-
brechers maßgeblich ist. Bei den Chiricahua wird ein ähnliches Verbrechen
ebenfalls bestraft, hier aber nicht durch die Autorität des Häuptlings, sondern
durch die Zustimmung sowohl der einzelnen Familiengruppenführer als auch
der betroffenen Familien selbst.
Fassen wir zusammen. Beide Gesellschaften haben vor nicht allzu langer
Zeit eine kulturelle Einheit gebildet. Das bezeugt noch heute das Gefühl
der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen ethnischen Gruppe, die gleiche
Sprache und die Heirat untereinander. Durch den Einfluß der seßhaften
Puebloindianer haben die Westlichen Apache ihre Subsistenzgrundlage ge-
ändert und sind zum Anbau von Mais übergegangen. Dies führte zu einer
Stärkung des Häuptlingtums und zu einer Institutionalisierung des in ihm
zu sehenden Erzwingungsstabes in Rechtsfällen. Dieser Wandlungsprozeß hat
bei den Chiricahua Apache erst viel später eingesetzt. Aus Berichten von Ge-
währsleuten geht hervor, daß die Stellung des Häuptlings bei ihnen nicht
vererbt wird und daß in Rechtsfällen der Häuptling nur eine beratende Stel-
lung einnimmt. Die gleichen Verbrechen werden in beiden Gesellschaften
gleichermaßen bestraft: Bei den Westlichen Apache auf Befehl des Häupt-
lings, bei den Chiricahua auf Rat des Häuptlings im Einverständnis mit dem
Familienältesten der jeweils Betroffenen.
14 Goodwin, Grenville: The social organization of the Western Apache
(Chicago 1942), p. 179.
15 Goodwin, a.a.O., p. 388.
Bücherbesprechungen
256
Röder, Josef: Felsbilder und Vorgeschichte des MacCluer-Golfes, West-Neuguinea.
In Zusammenarbeit mit Albert Hahn. Ergebnisse der Frobenius-Expedition
1937/38 in die Molukken und nach Holländisch Neuguinea. Bd. IV. Darmstadt
1959. Verlag L. C. Wittlich. 162 S., 296 Abb., 2 Karten.
Die Kriegs- und Nachkriegsereignisse haben die Herausgabe dieses wichtigen
Materials der Frobenius-Expedition nach Ostindonesien bis jetzt verzögert. Man muß
es dem Verfasser wie auch dem Zeichner hoch anrechnen, daß sie sich nach so vielen
Jahren, in denen ihre Arbeitskraft und ihr Interesse ganz anderen Problemen zu-
gewandt war, noch einmal daran gemacht haben, die Reste ihrer Notizen und Unter-
lagen zusammenzustellen und der Wissenschaft zugänglich zu machen. An der Süd-
küste des MacCluer-Golfes wurden auf einer Strecke von etwa 50 km von Goras Hs
Sekar sowie auf den vorgelagerten Inseln Arguni, Fuum und Ogar 36 Felsbild-
steilen aufgenommen sowie eine Probegrabung auf der Insel Arguni durchgeführt.
Daten zur rezenten Ethnographie sowie ausführliche Beschreibungen der in jüngerer
Zeit nicht mehr benutzten Fluchtburgen (Forts) ergänzen die Darstellungen.
Das größte Interesse erwecken natürlich die Ergebnisse der Grabungen sowie die
Felsbider. Sie befanden sich alle in Höhlen, die in den Brandungshohlkehlen liegen.
Ohne Zweifel waren diese Höhlen früher bewohnt; denn In den meisten war Kul-
turschutt festzustellen. Die Forschungen ergaben, daß diese Höhlen später verlassen
wurden, und die Bevölkerung sich in festen Dörfern mit Fluchtburgen ansiedelte. In
dieser Periode dienten die Höhlen als Bestattungsplätze. Fast jede Höhle war den
heutigen Eingeborenen mit Namen bekannt.
Die Probegrabungen ergaben drei Schichten. Die einzelnen Schichten waren durch
Sinterschichten bzw. Reste von Deckeneinstürzen voneinander getrennt. Das gesamte
Fundmaterial ging während des Krieges verloren, bevor eine Fundbeschreibung an-
gefertigt werden konnte. Und ebenso verbrannten die Feldnotizen. Die in dieser
Veröffentlichung gegebene Beschreibung stützt sich auf zufällige Reste und bereits
publizierte kürzere Beschreibungen.
D ie Keramik aller tonführenden Schichten (A, B 1 und B 2) ist getrieben, und
die Keramik der Schicht A entspricht heute noch hergestellten Typen. In Schicht B 1
taucht ein Feuersteinsplitter auf mit facettierter Schlagfläche, sowie Retuschen am
freien Ende. Die Tonware zeigt glatte Oberfläche und plastische Verzierungen. Unter
einer erhaltenen Matutuo-Figur (Ahnen-Figur) kam in dieser Schicht eine Stein-
platte zutage, die als Opferplatte gedient haben muß. Dieser Fund wird vom Verf.
als Beweis genommen, um die Schicht B 1 mit dem rotfigurigen Stil der Felsmalereien
(s. u.) in Verbindung zu bringen. In der Schicht B 2 fanden sich die meisten und am
besten zugerichteten Steinwerkzeuge aus okrigem, teilweise patiniertem Feuerstein.
Die Keramikreste werden auffallend weniger. Die Schicht C schließlich zeigt über-
haupt keine Keramik mehr, dafür zahlreiche Steingeräte; in ziemlicher Menge treten
atypische Abschläge mit teilweise sehr kleiner Schlagfläche auf.
Das Vorkommen dieser typologisch als palaeolithisch zu bezeichnenden Stein-
werkzeuge am Westrande des alten Sahul-Landes ist von höchster Bedeutung für
die Prähistorie Ozeaniens. Vergleiche mit Funden auf Timor, Java, Celebes und auf
dem südostasiatischen Festland einerseits sowie mit australischem Gerät andererseits
sind leider nur schwer durchzuführen. Das hier veröffentliche Indiz rechtfertigt aber
dringend eine ausgedehnte Grabungstätigkeit in diesem Bereich.
Außerhalb der Höhlen fanden sich Gräber mit Steinsetzungen, welche der Verf.
als alt ansieht. Tn den Höhlen fanden sich die Gräber aus der Zeit, in welcher die
Bevölkerung die Höhlen als Wohnstätten aufgegeben hatte und an die Küste ge-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
257
zogen war. Die Bestattungen dieser Periode treten als Boots-Bestattungen auf. Die
Leiche wird in bootsartigen „Särgen“ in den Höhlen ausgesetzt. Ein Vergleich mit
ähnlichen Bestattungsformen in Ost-Indonesien, Borneo und Celebes ist sicherlich
angebracht. Interessant sind dann natürlich die Grabbeigaben, wie z. B. chin. Teller
und Amulette (etwa 10 cm hoch), die aus Dugong-Zahn geschnitzt wurden. Die Ge-
sichtsdarstellung an diesen Amuletten gliedert sich zwanglos in den Stil der rezenten
ost-indonesischen Holzskulpturen ein.
Auf Grund der verwendeten Farbe unterscheidet der Verf. bei den Felsmalereien
drei Schichten: rot-, schwarz- und weißfigurig. Die Mehrzahl der Dokumente gehört
der rotfigurigen Schicht an; die schwarzen Bilder treten an Zahl stark zur Li,
während es weißfarbige nur sehr selten gibt. An vielen Stellen überlagern die
schwarzen Bilder die roten, so daß sich auf Grund dieses Indizes eine relative Chro-
nologie ergibt. Innerhalb der roten Bilder lassen sich vier Stilgruppen unterscheiden,
die nach den Hauptfundorten bezeichnet werden: Tabulinetin, Manga, Ota I und
Arguni. Auf Grund der Überlagerung einzelner Stile läßt sich der Stil von Tabuline-
tin als der älteste bestimmen. Dieser Stil liebt große, bunte Wände. Eine Fülle von
Zeichen finden sich neben- und übereinander. Vorwiegend tritt das Motiv der Hand-
Silhouette auf. Der Stil von Manga kennt keine zusammenhängenden Flächen. Ein-
zelne, lineare Zeichnungen sind charakteristisch. Der bunte Untergrund tritt nicht
auf. Der Stil von Ota I, dessen Werke zahlenmäßig gering sind, schließt sich im
wesentlichen an Manga an. Die Zeichnungen sind plumper und großformatiger. Der
Stil von Arguni schließlich schließt sich an den von Tabulinetin an, jedoch sind die
Malereien barocker und aufgelöster.
Auch die schwarzen Malereien zeigen mehrere Stilgruppen, wobei sich diejenige
von Ota II offensichtlich als dürftige Fortsetzung der roten Figuren von Tabulinetin
und Arguni erweist. Eine markante Stilgruppe sind dann die Werke in der Höhle
Sosorra mit Schiffsdarstellungen. Die Menschenfiguren in dieser Höhle erinnern aller-
dings wieder an die rotfigurigen Stile. Die wenigen weißen Malereien ließen sich
nicht mit einem Stilmerkmal bestimmen.
Der Verf. wendet sich dann mit aller Vorsicht einer Besprechung der zu erken-
nenden Motive zu. Bei Schattenriß-Darstellungen sind offensichtlich Schablonen aus
Rindenstoff verwandt worden. Bewußt verzichtet der Verf. auf weitreichende Unter-
suchungen, weist aber selbst darauf hin, daß diese Motive und ihre Darstellung im
Zusammenhang mit der Ornamentik Neuguineas gesehen werden müssen. Einige deut-
liche bronzezeitliche Einflüsse sind nicht zu übersehen. Die Publikation schließt
mit einem vollständigen Katalog aller aufgenommenen Felsbildstellen.
Die Fachwissenschaft kann das Erscheinen dieses Materials nur begrüßen. Lang-
sam mehren sich die Berichte über Felsmalereien in Neuguinea. Und bei aller lokal
bedingten Unterschiedlichkeit der einzelnen Stationen treten, im Ganzen gesehen,
so viel überraschende Ähnlichkeiten auf, daß sie ebenso eine Erklärung verlangen wie
die sorgfältig herausgearbeiteten Unterschiede. Das aber ist weiteren Forschungen
überlassen, zu denen diese Veröffentlichung eine wichtige Unterlage bietet.
Carl A. Schmitz
Hütteroth, Wolf-Dieter: Bergnomaden und Yuylabauern im mittleren kurdischen
Taurus. Marburger Geographische Schriften, Heft 11. 190 S.; Abbildungen und
Karten; Beilage: 1 Übersichtskarte. Selbstverlag des Geographischen Instituts der
Universität Marburg, 1959.
Die vorliegende, in die Reihe der „Marburger Geographischen Schriften“ auf-
genommene Dissertation des Grographen Wolf-Dieter Hütteroth sollte auch ethno-
17 Baessler-Archiv VIII
258
Bücherbesprechungen
logisches Interesse erwecken. Einmal stehen bei ihr, wie schon aus dem Titel ersicht-
lich ist, wirtschafts- und anthropogeographische Fragen im Mittelpunkt; zum anderen
ist das behandelte Gebiet — der ostanatolische Teil des sogenannten „Kurdistan“ —
völkerkundlich bisher nur sehr unvollkommen erforscht. Jeder, der daran sowie
allgemein am Problem der Wechselbeziehungen zwischen ethnisch-kulturellen und
geographisch-ökologischen Erscheinungen interessiert ist, sei auf die Arbeit hinge-
wiesen.
Die Schrift zeichnet sich durch logische Gliederung, klare Begriifsdefinitionen und
eine fast lückenlose Eieranziehung der relevanten einschlägigen Literatur aus. Theore-
tische Einseitigkeit ist vermieden; obwohl der Autor z. B. Geograph ist, verfällt er
nicht in geographischen Determinismus, sondern berücksichtigt bei seinen Analysen
ethnische, soziale, kulturelle und historische Gesichtspunkte.
Das Ziel des Verf. war, einen Beitrag zum Problem des Nomadismus, genauer:
des Bergnomadismus und verwandter Lebensformen in der Faltengebirgszone des
Nahen Ostens, zu leisten. Er stützte sich nicht nur auf die vorhandene Literatur,
sondern unternahm selbst im Sommer und Herbst 1957 eine viereinhalbmonatige
Forschungsreise in das Gebiet des Kurdischen Taurus, besonders die Gegend zwischen
dem Van-See und dem Bohtan-Fluß. Angestrebt wurde eine recht weiträumige Er-
fassung der Lebensweise der dortigen Bevölkerungsgruppen. Gewisse, durch die rela-
tiv kurze Beobachtungsdauer oder einseitige Auskünfte mögliche Ungenauigkeiten
suchte H. durch Erkundigungen bei jeweiligen Nachbargruppen, der Polizei und den
Behörden auf ein Minimum zu reduzieren. So entstand u. a. hinsichlich der im be-
treffenden Gebiet nomadisierenden Stämme ein Bild, das an Genauigkeit alle bis-
herigen Untersuchungen übertrifft.
Die Arbeit gliedert sich in folgende Abschnitte: Einleitung mit Erläuterung der
Zielsetzung; allgemeine geographische und topographische Charakterisierung des Un-
tersuchungsgebiets, die auch das heutige Siedlungs- und Wirtschaftsbild berücksich-
tigt; Definition der verwendeten Begriffe, vornehmlich von „Nomadismus“ und den
Termini für damit zusammenhängende Phänomene. Es folgt ein Kapitel über die
Nomadenstämme (Stammesbezeichnungen, Größe, räumliche Verteilung; Technik und
Charakteristika des Nomadisierens; Produktion der nomadischen Wirtschaft) und an-
schließend ein Kapitel über die sogenannten Yaylabauern. Hierbei handelt es sich
um eine Bevölkerungsgruppe, die mindestens im Winter voll ansässig ist, eine Misch-
wirtschaft aus Anbau und Viehzucht betreibt und den Sommerauftrieb der Herden
auf Bergweiden praktiziert (das Wort „yayla“ bedeutet im Türkischen soviel wie
„Sommerfrische“ und zugleich etwa „Alm“). Im letzten Teil der Arbeit untersucht
H. Wandlungstendenzen der Wirtschaft im Untersuchungsgebiet, die er besonders im
Zusammenhang mit den politischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte betrachtet.
Für die gesamte Arbeit ist die Verbindung von scharfer Beobachtungsgabe mit
klaren Analysen hervorzuheben. Beispielhaft dafür ist die vorzügliche Schilderung
der Bergwanderung mit dem Vieh, wo H. „Weidewanderung“ und „Marschwande-
rung“ unterscheidet und davon den „Weidegang“ von den Standquartieren aus ab-
hebt (S. 80—83). Eine sehr nützliche Unterscheidung ist ferner die Herausstellung
des Begriffes „Berieselungshänge“ gegenüber „Bewässerungsterrassen“ (S. 116).
Auch außerhalb der eigentlichen wirtschaftsgeographischen Überlegungen findet
man Beobachtungen und Definitionen, die über das in der Literatur Vorhandene
hinausgehen. Die sogenannte kurdische Adelsschicht, die „Aga’s“, wurden bisher fast
übereinstimmend als „Feudalherren“ bezeichnet. H. stellt an Hand seiner Unter-
suchungen dar, daß dieser ohnehin etwas verschwommene Terminus hier nicht, min-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
259
destens nicht im vollen Sinne, berechtigt ist (S. 90). In den abschließenden Betrach-
tungen über Möglichkeiten der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Gebiets ist
besonders das kurze Eingehen auf die „irrationalen“ Aspekte hervorzuheben, die die
Einbeziehung in den Rahmen moderner Wirtschaftsformen verzögern (S. 162).
Selbstverständlich gibt es in der Arbeit auch einige Punkte, über die man ver-
schiedener Auffassung sein kann. Der Rez. möchte hier die Behandlung des Begrif-
fes „Halbnomadismus“ durch den Autor herausgreifen. H. findet letztere Bezeichnung
— sicherlich nicht ganz zu Unrecht — zu verschwommen. Er schlägt deshalb für sein
Untersuchungsgebiet dafür den Begriff „Yaylabauern“ vor (S. 47), ausgehend von
der Meinung, daß beim kurdischen Halbnomadismus der Feldbau die Hauptwirt-
schaftsgrundlage und die Viehwirtschaft, trotz teilweise großer Herden, nur subsidiär
ist (S. 41). Es ist durchaus möglich, daß dieses Verhältnis für die von H. untersuchten
Gebiete stimmt. Der Rez. hatte jedoch während eines eigenen Aufenthalts in weiter
südöstlich liegenden Gegenden des Kurdischen Taurus im Jahre 1958 den Eindruck,
daß die Übergänge zwischen Anbau und Viehzucht — auch bezüglich ihres jeweiligen
wirtschaftlichen Gewichtes — fließender sind. Es scheint auch Gruppen zu geben, in
denen die Viehzucht dominiert und der Feldbau subsidiär ist, wo infolgedessen das
nomadische Element stärker hervortritt als das seßhafte Element, obwohl man es
nicht mit reinen Nomaden zu tun hat. Hier wäre der Ausdruck „Yaylabauern“
also nicht zutreffend. Daß dem Autor selbst sein Begriff, sozusagen „im Unterbe-
wußtsein“, etwas forciert vorgekommen sein mag, deutet eine Stelle an, wo er trotz
kurz zuvor erfolgter Ablehnung von „Halbnomadismus“ von dem „halbnomadischen
Stamm der Jilia“ (S. 50) spricht. Es scheint, daß dieser ganzen Frage nur bei ge-
nauerer kultureller Bekanntschaft mit den betreffenden Gruppen näherzukom-
men ist, eine Aufgabe, die den Rahmen der Arbeit H.s natürlich überschreitet.
Ferner gibt es, entgegen der Behauptung H.s (S. 147), noch Armenier an einigen
Stellen des Kurdischen Taurus, und zwar sind die von H. nach erhaltenen münd-
lichen Berichten angeführten „Syrjaner“ in Sirnak in Wirklichkeit Armenier. Sie be-
fassen sich auch nicht mit dem Schneiderhandwerk, wie er schreibt (S. 146), sondern
mit der Stoffweberei, für die sie im anatolischen Kurdistan geradezu ein Monopol
besitzen. Die Behauptung, daß außer den Nomaden auch die Bauern des Kurdischen
Taurus so gut wie keine Kelims und Teppiche weben (S, 95), stimmt ebenfalls für
das südöstliche Gebiet nicht, wo der Rez. mindestens in einem Dorf sogar die Tep-
pichweberei für den Verkauf antraf. Möglicherweise nahmen die Bewohner des
von H. besuchten Gebiets keine Webstühle mit auf die Yayla, wie das auch im
Südosten z. T. vorkommt, so daß die Weberei während des Sommers nicht in Er-
scheinung tritt. Jedenfalls ist TI.s Ansicht nicht für das ganze ostanatolisdbe Kur-
distan zutreffend.
Endlich erscheint dem Rez. der Gegensatz von „Asir“ (in der Literatur ge-
wöhnlich „a§Iret“; d. Rez.) für die stammesgebundenen Nomaden und „Kermanci“
für die bäuerlichen Kurden (S. 110/1) fraglich. Mit letzterem Wort bezeichneten
sich die Kurden Südostanatoliens dem Rez. gegenüber durchgehend selbst, und zwar
besonders im Hinblick auf ihre Sprachzugehörigkeit. Auch in der bisherigen Literatur
ist das Wort stets im Sinne einer Sprachgruppe (und zwar der bedeutendsten) der
Gesamtheit der Kurden angeführt, ohne ökonomische und soziale Implikationen.
Wenn H. keine zusätzlichen, bisher unbekannten Gesichtspunkte für sein Schema
anführt, scheint die bisherige Sichtweise berechtigter zu sein.
Zum Schluß noch zwei Kleinigkeiten: im Literaturverzeichnis fiel dem Rez. auf,
daß die beiden einzigen modernen ethnologischen Arbeiten über Kurdistan, nämlich
17’
260
Bücherbesprechungen
E. R. Leach: Social and Economic Organization of the Rowanduz Kurds, London
1940, und F. Barth; Principles of Social Organization in Southern Kurdistan, Oslo
1953, fehlen.
Das türkische Wort „yaylacilik“ heißt nicht „Almgänger“, sondern etwa: „der
Brauch, auf die Alm (yayla) zu gehen“. Unter Weglassung des Suffixes „lik“,
also „yaylaci“, heißt es „Almgänger“.
Die kritischen Anmerkungen sollen die Beurteilung der vorliegenden Arbeit aber
keineswegs beeinträchtigen. Nicht nur im Gesamteindruck, auch hinsichtlich der
überwiegenden Anzahl der behandelten Einzelfragen liegt hier eine Abhandlung
vor, die in der Ausführung vorbildlich genannt werden muß und darüber hinaus
geeignet ist, unsere Kenntnis — nicht zuletzt auch unsere ethnologische Kenntnis —
über das heutige Ostanatolien wesentlich zu fördern.
Wolfgang Rudolph, Freie Universität Berlin
Herzog, Rolf. Die Nubier. Untersuchungen und Beobachtungen zur Gruppengliede-
rung, Gesellschaftsform und Wirtschaftsweise. Berlin: Akademie-Verlag 1957.
218 Seiten, 36 Abb., Karte. Brosch. 34,50 DM.
Auf Grund zweier eigener Forschungsreisen und eines intensiven Literaturstu-
diums, das seinen Niederschlag in einem 795 Nummern umfassenden Literaturver-
zeichnis gefunden hat, behandelt der Verfasser vor allem die historische Entwicklung
der Nubier und die kulturellen Einflüsse, die auf sie gewirkt haben. Nach der Be-
schreibung der Umwelt und einer kritischen Erörterung der Quellen wird die um-
strittene sprachliche Stellung des Nubischen und seiner Dialekte erklärt. Danach gibt
es nur zwei Dialekte, der eine von den Kenuzi und Danagla im Norden und Süden
gesprochen, in der Mitte ein deutlich getrennter Dialekt (Mahasi). Diese Dialekt-
gliederung der Gegenwart erklärt sich aus der dreihundertjährigen türkischen Be-
satzungszeit, in der sich die Grenze des Mahasdialektes genau mit der Verbreitung
der fremden Garnisonen deckte, während die nördlichen und südlichen Gebiete un-
beeinflußt blieben. Erstaunlich ist die Beständigkeit der nubischen Sprache, die die
zahlreichen fremden Zuwanderer sprachlich absorbierte.
Bei einer gründlichen und kritischen Auseinandersetzung mit den Theorien von
Zyhlarz und anderen, die die Bevölkerung der Nuba-Berge und des Jebel Midob
mit der von Nubien in enge Verbindung bringen, wird auf Grund der wechselvollen
Geschichte Nubiens bis in die Neuzeit überzeugend nachgewiesen, daß es sich bei den
Nubiern um eine im Niltal heimische Mischbevölkerung handelt, deren Durchschnitts-
typus rassisch etwa die Mitte zwischen den hellfarbigen Nordafrikanern und den
Negern darstellt.
In den beiden folgenden Kapiteln behandelt der Verfasser die Gesellschaftsform
(Familie, Sippe, Sklaverei, höhere Gesellschaftsordnung) und die Wirtschaftsweise
(Anbau, Viehzucht, Fischfang, Handwerk, Handel). Er legt dabei den Hauptwert
auf die historische Entwicklung und schafft damit in mühsamer Kleinarbeit die Vor-
aussetzungen für weitere ethnologische Arbeit auf diesem Gebiet. Zum Schluß wer-
den die Veränderungen und Störungen der Gesellschaftsordnung und des Bevölke-
rungsbildes durch die Abwanderung, den Islam, den Bau des Assuan-Dammes und
das Seßhaftwerden von Nomaden unter den Nubiern beleuchtet. Es erweist sich, daß
die Nubier nicht nur rassisch, sondern auch kulturell und wirtschaftlich durch die
verschiedenen Einströmungen aus dem dynastischen Ägypten, Napata/Meroe, dem
christlichen Mittelmeerraum, dem Osmanischen Reich, dem Fundjreich und durch den
langen Einfluß des Islam, der die Merkmale der vorhergehenden Kulturen wieder
weitgehend überdeckte und nur noch wenige vorislamische Relikte erkennen läßt,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
261
einen Mischcharaktcr zeigen. Die übernommenen Kulturelemente verschiedener Her-
kunft ergeben zusammen das charakteristisch Nubische: „Es ist genug, um die Nubier
nach beiden Seiten hin abzugrenzen, aber des Eigenen zu wenig, um sie bei den
nördlichen oder südlichen Nachbarn als Fremde erscheinen zu lassen".
Herzogs Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Kenntnis der Nubier und wird als
Grundlage für weitere Forschungen von großer Bedeutung bleiben, zumal die
Existenzgrundlagen der Bevölkerung durch den Bau des neuen Assuan-Staudammes
noch mehr als bisher bedroht sind. K.- Krieger
Bose, Fritz: Die Musik der Chibcha und ihrer heutigen Nachkommen. Ein Beitrag
zur Musikgeschichte Südamerikas. Mit 7 Notenbeispielen und 5 Tafeln. In: Inter-
nationales Archiv für Ethnographie, Vol. XLVIII, No. 2, 1958, pp. 149 198.
Die Musik der alt-amerikanischen Hochkulturen ist ein spröder Untersuchungs-
stoff. Fließen einerseits die schriftlichen Quellen aus der Zeit der Conquista sehr
spärlich und fehlen sie für die präkolumbische Zeit im südamerikanischen Raum
völlig, so müssen andererseits Versuche zunächst problematisch erscheinen, die Tra-
ditionen lebender Indianerstämme über mehr als 400 Jahre hinweg auf alte Hoch-
kulturen zurückzuführen. Das von den Archäologen gesicherte Musikinstrumenta-
rium bietet sich hier als verläßlichstes Untersuchungsmaterial an, ohne jedoch
über das eigentlich Musikalische sehr viel aussagen zu können, denn Spekulationen
über Tonsysteme anhand von Tonhöhenmessungen an Flöten müssen als irrelevant
gelten und daher unberücksichtigt bleiben.
Fritz Bose hat all diese Schwierigkeiten bei dem Versuch nicht gescheut, ein
vielseitiges und wohl auch endgültiges Bild von der Musikkultur der kolumbischen
Chibcha zu entwerfen. Als Quellen dienen dem Verfasser alte und neue Schriften
unterschiedlichen Wertes, Sammlungsgegenstände und eine Anzahl von Phonogram-
men, die K. Th. Preuss 1914 bei den Kagaba in Kolumbien aufgenommen hat. Musik
ist ein integrierender Bestandteil der Kultur eines Volkes. Der in diese These im-
plizierten Forderung an die ethnologische und an die musik-ethnologische Forschung
wird Bose begrüßenswerterweise dadurch gerecht, daß er seine spezielle Untersuchung
vor den Hintergrund einer allgemeinen Skizze der Kulturen der Chibcha und ihrer
heutigen Nachkommen stellt, wobei das Musikleben besondere Berücksichtigung findet.
Verhältnismäßig breiten Raum nimmt die durch fünf Tafeln mit Photographien
und Zeichnungen illustrierte Besprechung der Musikinstrumente ein, die für die
Chibcha und die als deren Nachfahren angesehenen heutigen Stämme systematisch
aufgeführt werden. Dabei sollte an die Stelle der zwar eingebürgerten, aber
dennoch falschen Bezeichnungen „Muschelhorn", „Muscheltrompete“ (z. B. S. 166
beides nacheinander) einheitlich der schon 1914 von v. Hornbostel und Sachs
in Ihrer „Systematik der Musikinstrumente“ verwendete Terminus „Schnecken-
trompete“ treten, handelt es sich doch bei diesem Instrument immer um das Ge-
häuse einer Schnecke, und zwar hier der Spezies strombus (S. 166). Die neuerdings
von Hans Fischer (Schallgeräte in Ozeanien, Strasbourg/Baden-Baden 1958) benutzte
Bezeichnung „Schneckenhorn“ ist zwar formal berechtigt, aber sprachlich wenig glück-
lich gewählt und entbehrlich, zumal auch der systematisch übergeordnete Terminus
„Schneckentrompete“ eindeutig ist.
Aus dem Vergleich der Kultur der Chibcha mit der der heutigen Kagaba und
Ijca (letztere nach den Beschreibungen von Preuss und Boiinder) gewinnt Bose eine
Stütze für seine Arbeitshypothese, man könnte „doch mit einiger Berechtigung die
am Anfang des 20. Jahrhunderts gewonnenen Einblicke in die Musikkultur der
262
Bücherbesprechungen
Kagaba und Ijca, heutiger Naturvölker, als die nur leicht verzerrte Wiedergabe der
Musikkultur der alten Chibcha, einer untergegangenen Hochkultur Amerikas aus der
Zeit vor der Entdeckung, ansehen dürfen“ (S. 14). Schließt man sich diesem Postu-
lat an, so bleibt um so mehr zu bedauern, daß unser Einblick in die Musik-
kultur der Kagaba notwendigerweise sehr sporadisch ist. Von den zwanzig von
Preuss gesammelten Tonaufnahmen kann der Verfasser nur sechs in Transkrip-
tionen vorlegen, da sämtliche Aufnahmen seit Kriegsende nicht mehr zugänglich
gewesen sind. Diese durch den Zerfall der Kagaba-Kultur auch schon wieder
historisch gewordenen Schalldokumente nehmen nun allerdings eine Sonderstellung
im südamerikanischen Raum ein. Die Zeremonialgesänge, von denen drei vorgelegt
werden, ähneln in Vortragsstil und Melodiegestalt stark der Musik nordamerika-
nischer Indianer aus dem Bereich der mexikanischen Einflußsphäre und heben sich
vom Stil der umwohnenden kolumbischen Indianer deutlich ab (S. 192). Bose folgert
daraus, daß die Indianer des südlichen Nordamerika ihren Stil von den Azteken,
die Kagaba den ihren von den Chibcha übernommen hätten (S. 184) und daß zwi-
schen beiden Hochkulturen eine Verwandtschaft im Musikalischen bestanden habe.
Die beiden notierten pentatonischen Flötenstücke fallen besonders durch ihre für
die Indianer ganz ungwöhnliche Mehrstimmigkeitsform auf, und die Annahme, daß
es sich um Reste einer auf eine frühere Hochkultur zurückgehenden Tradition handelt,
erscheint hier hinreichend gerechtfertigt. Allerdings kann die im Zusammenhang
damit vorgetragene Behauptung „Pentatonik im Gebrauch der Naturvölker ist immer
der Entlehnung aus einer Hochkultur verdächtig“ (S. 189) in dieser Form nicht un-
widersprochen bleiben. Die weltweit verbreitete anhemitonische Pentatonik findet sich
in der Vokalmusik zahlreicher niederer Kulturen in Nord- und Südamerika, Mela-
nesien, Afrika — um nur einige Beispiele zu nennen —, ohne daß jeweils an eine
Entstehung aus Quintreihungen und die Anwendung bewußter Maße und Normen
gedacht werden kann, von einem historischen Zusammenhang ganz zu schweigen.
Doch berührt dies nicht den Wert der vorliegenden Untersuchungen. Dem Ver-
fasser ist es zu danken, die Möglichkeiten zur Erforschung der Musik einer ver-
schollenen Hochkultur dargestellt zu haben. Sein Beitrag zur Kenntnis der Kultur
der Chibcha ist von bleibendem Wert. Dieter Christensen
Ryden, Stig: Andean Excavations. I: Ehe Eiahuanaco Era East of Lake Eiticaca. —
The Ethnographical Museum of Sweden, Stockholm (Statens Etnografiska Mu-
seum), Monograph Series, Publication No. 4. Stockholm 1957. 8°. 199 S. mit
147 Fig. $ 10,—.
Ryden, Stig: Andean Excavations. II: Eupuraya and Cayhuasi. Ewo Eiahuanaco
Sites. — The Ethnographical Museum of Sweden, Stockholm (Statens Etnografiska
Museum), Monograph Series, Publication No. 6. Stockholm 1959. 8°. 123 S. mit
71 Fig. und 3 Plänen. $ 10,—.
Die östlich des Titicaca-Sees gelegenen Hochlandsprovinzen von Bolivien sind
archäologisch von nicht geringem Interesse, da sie nicht nur zu der Einflußsphäre
der andinen Hochkulturen gehörten, sondern auch Einwirkungen empfingen, die aus
den Tiefländern des Ostens kamen. Trotz der Forschungen Bandeliers, Nordenskiölds
und anderer ist dieses wichtige Gebiet noch immer weitgehend unerschlossen. Um so
bedeutsamer sind daher die Ergebnisse der Anden-Expedition Stig Rydens (1951
bis 1952), der mit festumrissener Zielsetzung Ostbolivien besuchte: es galt durch
systematische Grabungen die Frage zu beantworten, ob die Tiahuanaco-Kultur sich
bis in diese Gegenden verbreitet hatte, um gegebenenfalls die Spuren und zeitliche
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
263
Stellung dieser Einflüsse näher festzulegen. Während ein Bericht über die von
Rydén besuchte Ruinenstätte Chullpa Pampa bereits im Jahre 1952 erschien, liegen
nun die Resultate der sorgfältigen Grabungen in zwei reich illustrierten Bänden vor.
Im Mollo-Gebiet, dem der größte Teil des ersten Bandes gewidmet ist (S. 15—159),
wurden an fünf Orten (Markopata, Chulpani, Kellikani, Jutaraya und La Isla)
Grabungen durchgeführt, wobei Rydén allein in Markopata nicht weniger als 41 Grä-
ber öffnen konnte. Zu den aus insgesamt über 70 Gräbern stammenden Funden
vor allem keramischer Art tritt noch das nicht weniger wichtige umfangreiche
Material, das bei einer Reihe von Schichtgrabungen gewonnen wurde. In den Stein-
plattengräbern mit viereckigem oder leicht abgerundetem Grundriß fanden sich nach
Osten orientierte Hockerbestattungen. Verrät schon diese Grabform eine Abhängig-
keit von andinen Vorbildern, so zeigt die reiche Keramik sowohl in der Form-
gebung der Gefäße als auch in ihrem Dekor, daß auf das Mollo-Gebiet starke
Tiahuanaco-Einflüsse einwirkten, die freilich nicht in die klassische, sondern in die
spätere, „dekadente“ Phase dieses Stiles zu datieren sind. Zwei Haupttypen — Keros
und niedrigere, mehr napfförmige Gefäße mit nach oben zunehmendem Durchmesser
(„flaring-sided bowl“) — bestimmen weitgehend das Bild. Während die Keros
häufig mit einer seitlich emporragenden Trinkröhre versehen sind, schmückt den
oberen Rand der Näpfe nicht selten ein zierlicher Miniaturnapf. Diese deutlich von
Tiahuanaco abhängige Ware stellt im Mollo-Gebiet die bisher älteste datierbare
Gruppe dar, während die jüngsten Werke die Stileigentümlichkelten inkaischer
Provenienz zeigen. Damit sind die chronologischen Grenzen nach unten und oben
klar markiert. Gräber aus einer der Tiahuanaco-Zeit vorangegangenen Epoche haben
sich bemerkenswerterweise nicht gefunden.
Gegenüber der Keramik treten Grabbeigaben aus anderem Material stark zurück.
Mit Ausnahme eines einfachen Goldzierats sind die Metallobjekte — zumeist Topus —
aus Bronze hergestellt, was mit der von Nordenskiöld bereits vor rund 30 Jahren
ausgesprochenen Ansicht, diese Legierung sei durch die Träger der Tiahuanaco-
Kultur eingeführt worden, in Einklang steht. Wenige Knochenobjekte, Steinmörser
und Bola-Kugeln bildeten das übrige erhaltene Grabinventar. Vergleicht man diese
Funde mit denen Nordenskiölds im weiter östlich gelegenen Pelechuco-Gebiet, so
wird deutlich, daß die Tiahuanaco-Einflüsse dort weit schwächer als im Mollo-
Gebiet gewesen sind, dem vielleicht eine Art Mittlerfunktion zukam. Der vereinzelt
dastehende Fund eiries Doppelgefäßes dagegen deutet auf bis zur peruanischen Küste
reichende Beziehungen, ähnlich denen, wie sie in viel späterer Zeit von den Cal-
lahuayas aufrecht erhalten wurden.
Die archäologische Erkundung des bolivianisch-peruanischen Grenzgebietes (S. 160
bis 195) schloß den freilich nur kurzen Besuch von Mallku Xanalaya, der vielleicht
größten Ruinenstätte Boliviens, und von Turi ein, wo eine Terrasse mit zwei ein-
ander gegenüberliegenden Bauten näher untersucht wurde. Die Grabhäuser von Jara-
millo erwiesen den starken Fortschritt der Zerstörungen seit den Tagen Bandeliers,
während in Ayaya eine Reihe rechteckiger, z. T. mehrstöckiger Grabhäuser auf-
genommen werden konnte.
Der zweite Band des Werkes enthält den Bericht über die beiden Grabungen
Rydéns in Tupuraya, dem nordöstlichen Teil der Stadt Cochabamba, und in dem
40 km nordöstlich der Stadt Oruro gelegenen Cayhuasi. Erneut fanden sich Beweise
für starke Tiahuanaco-Einflüsse. In Tupuraya handelte es sich um einen zu Wohn-
zwecken errichteten Mound, der möglicherweise daneben aber auch zu Bestattungen
gedient hatte. Die einfachen hier gefundenen Urnen enthielten in ihrem Inneren zwar
264
Bücherbesprechungen
kleinere Gefäße, jedoch keine Knochenreste, so daß sie höchstens zu Sekundär-
bestattungen gedient haben können. Unter den zwölf vorkommenden Typen der im
Tiahuanaco-Stil verzierten Gefäße befinden sich zwei verschiedene Kero-Formen,
von denen Scherben auch im Erdreich des Hausmounds gefunden wurden, — ein
Beweis dafür, daß Gefäße dieser Art nicht ausschließlich als Grabbeigaben herge-
stellt wurden. Weitaus am häufigsten ist in Tupuraya der kelchartig gestreckte
Kero-Typ vertreten, der — in Bolivien heute als „challador“ (Aymara: ch’alla, „be-
sprengen“) bekannt — von Ryden als „Cochabamba-Typ“ bezeichnet wird. Die zu
einer Scheibe reduzierte Unterseite dieser Libationsgefäße, die häufig genug in einen
Kero der üblichen Form oder einen Napf hineingestellt gefunden wurden, ist durch-
bohrt. Mehrere Funde deuten darauf hin, daß Tiahuanaco-Einflüsse hier bereits in
spätklassischer Zeit eingesetzt hatten. Von der Tiahuanaco-Ware hebt sich der Einzel-
fund einer Dreifuß-Schale ab, die einem ganz anderen Stil zuzuordnen ist: sie ent-
stammt dem Kreis der dreifarbigen Chuquisaca Mojocoya-Ware, deren Ursprungs-
gebiet im Osten zu suchen ist.
In Cayhuasi konnten die interessanten, aus Adobe errichteten Grabhäuser leider
nicht näher untersucht werden. Bei den Grabungen erwies sich — wie in Tupuraya —
die Wirksamkeit von Tiahuanaco-Einflüssen nicht erst in der dekadenten, sondern
bereits in der klassischen Periode dieses Stils. Einzelfunde der dreifarbigen Chuquisaca
Mojocoya-Ware wurden hier nicht nur in der tiefsten Schicht, sondern auch an der
Oberfläche gemacht.
Läßt sich die fi'üheste Besiedlung von Tupuraya und Cayhuasi in die klassische
Periode des Tiahuanaco-Stils zurückdatieren, so spricht das starke Übergewicht von
Werken des dekadenten Stils entschieden dafür, daß beide Siedlungen ihren Höhe-
punkt erst in jener späteren Zeit erreichten. Zum anderen aber wurde die Tiahua-
naco-Kultur im Cochabamba-Gebiet schon in früher Zeit durch Einwirkungen aus
dem tropischen Tiefland modifiziert. Bereits Nordenskiöld deutete die hier vorkom-
mende Urnenbestattung als ein von Osten her importiertes Element und die dem
Formenkreis Tiahuanacos völlig fremden Dreifuß-Gefäße der Chuquisaca Mojocoya-
Ware bezeugen aufs neue die kulturellen Einflüsse, die vom Tiefland nach Westen
hin ausgingen.
Die sorgfältigen Grabungen Rydens haben mit aller Deutlichkeit gezeigt, in
einem wie hohen Maße Ostbolivien vom Kerngebiet des Tiahuanaco-Stils her beein-
flußt worden ist, doch bleibt noch zu klären, welche Kulturen hier in früherer Zeit
existierten oder auch noch gleichzeitig mit der Einflußnahme Tiahuanacos weiter fort-
bestanden. Hoffentlich ist es Ryden recht bald vergönnt, durch weitere Forschungen
auch diese Frage zu beantworten.
G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
Raymond de Coccola und Paul King: Ayorama. Karl Alber-Verlag, Freiburg/Mün-
chen 1959. Mit einigen Illustrationen und einer Karte, 320 Seiten, Ln. DM 15,80.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß viele gute völkerkundliche Darstellungen aus
der Feder christlicher Missionare stammen. Das gilt für Amerika ebenso wie für
Afrika, Asien und Ozeanien. Wir brauchen nur an die Berichte der Jesuiten aus
beiden Hälften der Neuen Welt oder an die Nachrichten der Herrenhuter von
den Irokesen und einigen anderen Stämmen des nordamerikanischen Ostens zu
denken. Auch auf Grönland arbeiteten bereits im 18. Jahrhundert Missionare, von
denen Hans Egede durch seine Abhandlungen über das Leben der Eskimo die größte
Bedeutung erlangte. Zwei Jahrhunderte später erschien nun wieder ein Buch über
die Eskimo, das auf den Erlebnissen und Forschungen eines Geistlichen basiert. Es
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
265
ist das Werk von Raymond de Coccola, einem katholischen Missionar von der
Mittelmeerinsel Korsika, der zwölf Jahre in der canadischen Zentralarktis ver-
brachte und während dieser Zeit mit den Eingeborenen des Landes einen engeren
Kontakt bekam als die meisten Forscher, Missionare und Händler vor ihm. Pater
Raymond oder „Fala“, wie er von den Eskimo genannt wurde, mußte 1949 aus
Krankheitsgründen seiner zweiten Heimat den Rücken kehren. Er entschloß sich
später, seine Erlebnisse und Erfahrungen einem breiten Leserkreis in populärwissen-
schaftlicher Form vorzulegen. Damit trat er in die Fußtapfen des dänischen Eskimo-
forschers Peter Freuchen, der durch seine — allerdings im Romanstil geschriebenen —
Lebensbilder aus der Arktis weltbekannt geworden ist. Auch zu einigen Schriften
des großen Knud Rasmussen, insbesondere zu „Fra Grönland til Stillehavet“ (Von
Grönland zum Stillen Ozean) und „Den Store Slaederejse“ (Die große Schlitten-
reise), lassen sich Verbindungslinien ziehen. Zu sagen bleibt noch, daß de Coccola
bei der Abfassung des Textes in Englisch von Paul King unterstützt wurde.
An der Bathurst-Bucht südlich des Melville-Sunds liegt die Handels- und
Missionsstation Burnside. Von hier aus unternahm Pater Raymond weite Fahrten
zu den kleinen Eskimo-Gruppen am Prinz Albert-Sund, am Coronation-Golf, auf
der Kent-Halbinsel, am Königin Maud-Golf, auf der Victoria-Insel und an der
Victoria-Straße. Manchmal lenkte er seinen Schlitten auch zu den in der Nähe
des Bathurst Inlet nomadisierenden Eingeborenen. Jede dieser Reisen brachte neue
Erkenntnisse, die sich später wie kleine Bausteinchen zu einem Gesamtbild von der
Eskimokultur des Zentralgebietes zusammensetzen ließen. Die entstandene Über-
sicht unter dem Titel „Ayorama“ schildert das Leben der Inuit, wie sich die Eskimo
selbst nennen, in allen seinen Erscheinungsformen von der Wiege bis zur Bahre.
Wir erfahren viele Einzelheiten über die Wohnbauten, den Hausrat, die Jagd-
methoden, die Ernährung, die Kleidung, das Gesellschaftsleben und die Welt-
anschauung der Kupfer-Eskimo, zu denen die von Pater Raymond besuchten Jagd-
banden gehören. Die einzelnen Zweige dieses Volkes unterscheiden sich kaum von-
einander. „In kleinen Gruppen von Familien waren sie über ein weites, gefrorenes
Land verstreut, auf dem schon Ihre Vorfahren vor Tausenden von Jahren auf die
gleiche Art um ihr nacktes Dasein gekämpft hatten. Mit Ausnahme der modernen
Feuerwaffen und ähnlicher Ausrüstung sowie einiger Nahrungsmittel, die sie an
den Handelsstationen des weißen Mannes erhalten konnten, hatte sich ihre Lebens-
weise seit der Eiszeit nicht verändert. Seit undenklichen Zeiten von der Außenwelt
abgeschlossen und fast gänzlich frei von fremden Einflüssen, blieben sie im wesent-
lichen primitiv. Ihnen gehörte eine Welt flachen Marschlandes im Sommer und ge-
frorener Tundra während des übrigen Jahres; es gab steinige Hügel und ausge-
waschene Berge; Schnee und Eis über zugefrorenen Meeren; schreckliche Stürme
und Blizzards. Es war eine Weit von tiefer Eintönigkeit, von einer Härte und
Unzugänglichkeit, die dem weißen Mann unbegreiflich ist. Nur ein unbeugsamer
Selbsterhaltungstrieb konnte diese Menschen unaufhörlich durch die Jahrhunderte
hindurchgeführt haben — nur 'dies und eine an Hartnäckigkeit grenzende Ent-
schlossenheit, ihre Sitten und ihre Sprache zu bewahren“ (S. 223 f.). Wenn man diese
Zeilen liest, muß man sich wundern, daß Raymond de Coccola physisch in der
Lage war, das unsagbar schwere Leben der Inuit des Barren-Landes länger als zehn
Jahre zu ertragen. Sein Ausharren hat sich aber sicher in vieler Beziehung gelohnt.
Er konnte einen Schatz an Wissen mit in die Zivilisation zurücknehmen. Sein
Buch enthält zahlreiche Stellen, die bestimmt auch von den Fachleuten dankbar
aufgenommen werden. Teils bieten sie etwas Neues, teils bringen sic eine Bestätigung
bereits bekannter Fakten. So kann man beispielsweise nachlesen, wie man Schlitten-
266
Bücherbesprechungen
kufen am besten vereist, Schlittenhunde richtig aufzieht und behandelt, Fallen am
günstigsten aufstellt, einen Seehund schnell und schmerzlos mit der Hand tötet
oder die erlegten Karibus verwertet. Man muß über eine große Erfahrung ver-
fügen, um über solche und ähnliche Dinge so ausführlich berichten zu können, wie
es de Coccola tut. Er ist aber nicht nur ein vorzüglicher Ethnograph, sondern auch
ein guter Beobachter seiner Umgebung. Das geht unter anderem aus folgendem
Absatz hervor: „Bevor wir für die Nacht in unsere Krepiks schlüpften, traten
wir hinaus, um einen letzten Blick auf unsere Hunde zu werfen und etwas frische
Luft zu schöpfen. Selten hatte ich das Nordlicht schöner gesehen. Wie ein glitzerndes
,corps de ballet" glitt es über die unermeßliche Bühne der Natur, einmal steigend,
dann fallend, mit ständig wechselndem Farbenspiel, immer in Bewegung. Der Boden-
wind hatte sich völlig gelegt. Es war so still, daß ich mir einbildete, ich könnte
das himmlische Schauspiel hören. Es klang wie das leise Rascheln von seidenen
Kleidern. Aber als ich mich über den gefrorenen Boden beugte, wußte ich, daß
die zarten Geräusche von den Schneekristallen herrührten, die sich in der Kälte
ausdehnten“ (S. 245). Kann man ein derartiges Naturereignis mit wenigen Worten
schöner beschreiben?
„Ayorama“ heißt wörtlich „weil ich hilflos bin“, und im übertragenden Sinn
„es läßt sich nicht ändern“. An den Titel des Buches muß man denken, wenn
man das letzte Kapitel liest. Eine Grippeepidemie raffte den größten Teil der in
Burnside zusammengekommenen Eskimo dahin. Unter den Verstorbenen befanden
sich auch die besten Freunde von „Fala“, der durch die Schilderung dieser traurigen
Erlebnisse wohl daran erinnern will, daß eines Tages auch die letzten Eskimo
ihr freies und ungebundenes Jägerleben auf den Schnee- und Eiswüsten des hohen
Nordens aufgeben und sich in die Arme der langsam bis in die Polarregionen vor-
schreitenden Zivilisation begeben müssen. Dann wird wieder einmal ein Schluß-
strich unter einen Abschnitt der Menschheitsgeschichte gezogen werden, was sicher-
lich nicht nur von den Ethnologen mit Bedauern zur Kenntnis genommen wird.
Die Textzeichnungen des Buches stammen von James Houston, dem Leiter der
Abteilung „Kunst und Handwerk der Eskimo“ im Department of Northern Affairs
in Ottawa. Hinzuweisen bleibt noch auf die ausgezeichnete Karte auf der Innen-
seite des Einbandes, die das Lesen wirklich erleichtert und zur Vertiefung der
geographischen Kenntnisse wie geschaffen ist. Horst Hartmann
Ritos, Sacerdotes y Atavíos de los Dioses. — Introducción, paleografía, versión y
notas de Miguel León-Portilla. — „Fuentes Indígenas de la Cultura Náhuatl.
Textos de los Informantes de Sahagún“: 1. Universidad Nacional Autónoma de
México. Instituto de Historia: Seminario de Cultura Náhuatl. México 1958. 8o.
173 S. mit zahlr. Textabbildungen, 4 Farbtafeln. Broschiert.
Veinte Himnos Sacros de los Nahuas. — Los recogió de los nativos Fr. BernardAno
de Sahagún, Franciscano. Los publica en su texto, con versión, introducción,
notas de comentario y apéndices de otras fuentes, Angel Ma. Garibay K. —
„Fuentes Indígenas de la Cultura Náhuatl. Informantes de Sahagún“: 2. Uni-
versidad Nacional Autónoma de México. Instituto de Historia: Seminario de
Cultura Náhuatl. México 1958. 8o. 277 S. Broschiert.
Mit den beiden vorliegenden Bänden beginnt das neue, dem „Instituto de
Historia“ der Universität Mexiko angegliederte „Seminario de Cultura Nahuatl“
eine vielversprechende Reihe, in der aztekische Texte mit spanischer Übersetzung
und dem notwendigen Kommentar veröffentlicht werden sollen. Handelt es sich hier
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
267
zunächst um ausgewählte Abschnitte aus dem gewaltigen, von Sahagún gesammelten
Material, so stehen für die folgenden Bände neben weiteren Sahagún-Texten auch
andere Nahuatl-Quellen wie die wichtigen „Huehuetlatolli“, der „Codex Aubin“ und
das „Ms. mex. No. 22“ auf dem Programm. Die Durchführung dieses begrüßenswert
ernsthaften, großangelegten Unternehmens liegt bei Angel María Garibay K. und
Miguel León-Portilla, den Leitern des neugegründeten Seminario, in den besten
Händen.
Der erste der beiden Bände bringt — von León-Portilla übersetzt — die Ab-
schnitte der Madrider Handschrift, in denen Riten, Priestertum und Göttertrachten
beschrieben werden („Códice del Real Palacio“, fol. 254 v. bis 273 r.). Die kurze
Einleitung orientiert nicht nur über die Geschichte der Sahagún-Handschriften sowie
die bereits vorliegenden Arbeiten (Faksimileausgabe und Übersetzungen), sondern
auch über die Ziele, die der große Franziskanermönch mit seiner Sammelarbeit der
indianischen Texte verfolgte. Das dargebotene Material selbst gliedert sich in drei
Teile. Eingangs werden die verschiedenen, in der aztekischen Zeit üblichen Riten und
Opfer kurz beschrieben (S. 46—83), während die zweite Gruppe von Texten, die
bereits im Jahre 1952 von Leonhard Schultze Jena erstmalig übertragen worden ist,
eine Übersicht über die rund vierzig verschiedenen Priesterklassen bringt (S. 86—109).
Für die im dritten Teil gebotene Beschreibung der Göttertrachten (S. 112—159) liegt
die bekannte Übersetzung Eduard Selers vor, auf dessen Kommentar sich auch León-
Portilla weitgehend stützt. Leider entspricht die Zeilenfolge der Übersetzung nicht
immer der des gegenüberstehenden Originals. Bei der Schilderung der Tracht des
Xochipilli ist gar eine ganze Zeile im aztekischen Text ausgefallen (S. 148,. nach der
6. Zeile). Sowohl der Abschnitt über die Riten als auch das Kapitel über die Götter-
trachten sind begrüßenswerterweise von den im Codex enthaltenen Zeichnungen be-
gleitet, zu denen noch vier Farbtafeln von freilich sehr stark verkleinerten Seiten
der Handschrift treten.
Ungleich schwierigeres Textmaterial enthält der zweite Band: die kostbaren Göt-
terhymnen, die in Angel Maria Garibay ihren kompetenten Übersetzer gefunden
haben. Die zwanzig Gesänge, die sich in dem ursprünglich umfangreicheren Manu-
skript erhalten haben, stammen aus verschiedenen Orten; einige von ihnen lassen sich
in der Gegend von Chalco lokalisieren. Die Hymnen sind nicht nur reich an schwer
verständlichen Metaphern, sondern enthalten auch zahlreiche, im klassischen Aztekisch
bereits nicht mehr gebräuchliche Wendungen, die bei der Aufzeichnung der Texte
von zwei indianischen Interpreten kommentiert worden sind. Im Gegensatz zu
Eduard Seler, der bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts eine vollständige, eingehend
kommentierte Übersetzung der „E_eligiösen Gesänge der alten Mexikaner“ vorlegte,
schätzt Garibay den Wert dieser aztekischen Glossen nur sehr gering ein. Wie bei
dem symbolreichen, oft dunklen Charakter der Texte nicht anders zu erwarten,
weicht die neue Übersetzung in vielen Stellen von der Eduard Selers ab, die jedoch
stets herangezogen und kritisch untersucht wird. Auf diese Weise vermag sich der
Leser in jedem Falle zu entscheiden, welcher der beiden Autoritäten er folgen will.
Der von Garibay erhobene Vorwurf, Seler sei „der germanischen Neigung gefolgt,
sich mehr von der eigenen Phantasie als vom Texte leiten zu lassen“ (S. 24), wirkt
einigermaßen befremdend. Im Gegensatz zu Seler verzichtet Garibay darauf, die
zahlreichen Symbole und die Wesensart der in den Hymnen genannten Gottheiten
näher zu analysieren: zwar möchte er diese gewiß nicht leichte Aufgabe ausdrücklich
den Spezialisten überlassen, doch verdienen seine interessanten Hinweise auf den im
Grunde asexuellen Charakter der aztekischen Götter und die in vielen Gestalten
erscheinende, von ihm als zentral angesehene Muttergottheit eingehender diskutiert
268
Bücherbesprechungen
zu werden. Auch bei der bewußten Beschränkung auf philologische Fragen erreichen
die Kommentare zu den einzelnen Liedern eine eindrucksvolle Länge; so füllen die
Anmerkungen zum 14. Gesang nicht weniger als 19 Seiten! Der Anhang enthält noch
einige weitere Proben altmexikanischer Dichtkunst, die der „Historia Tolteca Chichi-
meca“, den „Cantares Mexicanos“, den „Romances de los Señores de la Nueva
España“ und anderen Quellen entstammen. In der Bibliographie vermißt man vor
allem die Übersetzung der „Historia Tolteca-Chichimeca“ durch K. Th. Preuss und
E. Mengin sowie Mengins Übertragung des „Ms. mex. No. 22“, während sich hinter
„Ludexis“ der ehrwürdige H. E. Ludewig verbirgt. Ein eingehendes Verzeichnis der
Götter-, Personen- und Ortsnamen, auf das bei dem ersten Bande leider verzichtet
wurde, erleichtert die Benutzbarkeit.
Nach seinen eigenen Angaben hat Garibay die Übertragung einer Reihe wichtiger
Nahuatl-Textc abgeschlossen, deren baldige Veröffentlichung in Aussicht gestellt wird.
Es handelt sich dabei um die von Ruiz de Alarcon gesammelten „Zauberlieder“, die
bisher nur zur Hälfte übersetzten „Cantares Mexicanos“ und die — bis auf eine
von Garibay gegebene Kostprobe — noch völlig unbekannten „Romances de los
Señores de la Nueva España“, deren Original in der Bibliothek zu Austin ruht:
Dokumente von höchstem Wert, deren philologisch getreue Veröffentlichung durch
einen so hervorragenden Kenner des Nahuatl wie Garibay ein Desiderat allerersten
Ranges darstellt. Die baldige Realisierung dieser Veröffentlichungspläne würde für
die Mexikanistik in der Tat von der größten Bedeutung sein!
G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
Dark, Philip: Mixtee Ethnohistory. A Method of Analysis of the Codical Art. —
Oxford University Press. London, 1958. — 4°. 61 S. Ganzleinen. Preis; 30 s.
Seit den bahnbrechenden Arbeiten Alfonso Casos besteht kein Zweifel mehr
darüber, daß die als mixtekisch bezeichneten Codices nicht, wie lange Zeit angenom-
men worden war, ausschließlich Themen religiöser und mythologischer Art behan-
deln, sondern daß zumindest ein Teil dieser künstlerisch so vollendeten Bilderhand-
schriften weitgehend historisch-genealogischen Inhaltes ist. Geburt und Heirat, Hel-
dentaten und Tod bestimmter, größtenteils sicher historischer Persönlichkeiten werden
— begleitet von Ortshieroglyphen sowie Jahres- und Tagesdaten — in einer kon-
ventionell festgelegten Weise verzeichnet. Damit entsprechen diese Codices voll-
inhaltlich den kostbaren von Burgoa gemachten Angaben, die indianischen Ge-
schichtsschreiber Oaxacas hätten es verstanden, in abgekürzten Zeichen den Ort und
die Provinz, das Jahr, den Monat und den Tag zusammen mit den Namen ihrer
Gottheiten, den Zeremonien und Siegen festzuhalten. Auf Grund der von Jiménez
Moreno erarbeiteten Korrelation, in der ein Jahr „1 Rohr“ mixtekischer Rechnung
dem aztekischen Jahr „2 Rohr“ entspricht, hat Caso die Geburt der Prinzessin
„7 Blume“ in das Jahr 692 n. Chr. verlegen können, das dami| zum gewiß noch
weitgehend mythischen Ausgangspunkt für die Stammesgeschichte der Mixteken wird.
Freilich stößt eine weitere Deutung des verschlüsselten, einst von reicher mündlicher
Tradition begleiteten Inhaltes der Handschriften auf nicht geringe Schwierigkeiten.
Das Verlangen nach einer Methode objektiver Art für eine befriedigendere Analyse
der komplexen Bildinhaltc war daher sehr groß.
Philip Dark versucht nun, diesen Wunsch durch die Kombination zweier Metho-
den zu erfüllen, die er als „ideographisch“ und „ikonographisch“ bezeichnet. Das
erstgenannte Verfahren besteht kurz darin, eine Reihe häufig wiederkehrender
Figuren- und Motivkombinationen durch bestimmte Ideogramme wiederzugeben, die
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
269
dann in einem zweiten Arbeitsgang durch entsprechende Zahlen-, Zeichen- und Buch-
stabenkombinationen ersetzt werden. Die zweite Methode dagegen beruht auf der
Verwendung eines bestimmten Lochkartensystems, das nicht nur innerhalb der betref-
fenden Handschrift selbst, sondern auch bei der vergleichenden Untersuchung meh-
rerer Codices eine schnelle Übersicht gestattet.
In dem vorliegenden Band wird die Anwendbarkeit dieser neuen Doppelmethode
von Dark zunächst an dem genealogischen Teil des „Codex Seiden“ und dann an
der ersten Hälfte des „Codex Bodley“, einer ebenfalls in Oxford befindlichen Hand-
schrift, der Probe unterworfen. Schon Caso hatte bestimmte Darstellungen als die
Wiedergabe von Verwandtschaftsbeziehungen (Ehegatten, Generationsfolge) ange-
sehen. Bei einer systematischen Analyse der genealogischen Teile beider Codices ver-
mag Dark nun in mehreren Fällen das Vorkommen von Geschwisterheirat zumindest
sehr wahrscheinlich zu machen, während eine bestimmte Form der bei der Eheschlie-
ßung wiedergegebenen Matte von ihm als Symbol für „Wiederverheiratung“ gedeutet
wird. Der „Codex Bodley“ verzeichnet nach Dark eine Reihe von nicht weniger als
27 bzw. 28 Generationen. Weist man einer jeden von ihnen 25 Jahre zu, so ergibt
sich ein Zeitraum von 675 bzw. 700 Jahren, was den von Caso für die gleiche Hand-
schrift errechneten 778 Jahren (692—1466 n. Chr.) erstaunlich nahe kommt. Dagegen
fällt das von Dark in der Einleitung angegebene Datum für das Ende von Teotihua-
can (1068 A. D.) vollkommen aus dem Rahmen.
Die Anwendung der hier propagierten ideographischen Methode ist freilich mit
gewissen Schwierigkeiten verbunden. Die von Dark verwendeten Buchstaben-, Zah-
len- und Zeichenkombinationen, die an die Stelle der leicht faßlichen bildlichen Dar-
stellung treten, tragen einen so komplizierten Charakter, daß sich mit ihnen — zum
mindesten anfangs — nur schwer operieren läßt. Für eine Inventaraufnahme und
den Vergleich des Inhalts verschiedener Handschriften vermag die ikonographische
Methode zweifellos von Nutzen zu sein. Wieweit diese neuen Hilfsmittel es aber
ermöglichen, die Frühgeschichte der Mixteken, der Dark auch an anderem Orte nach-
gegangen ist (vgl.: Dark, Philip: Speculations on the Course of Mixtee History
prior to the Conquest. In: Boletín de Estudios Oaxaqueños, Bulletin No. 10. Novem-
ber 15, 1958, p. 1—14), über die rein genealogische Seite hinaus wenigstens in ihren
Grundzügen wieder zu erfassen, werden weitere Arbeiten zu zeigen haben.
G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
Gottfried Hotz
INDIANISCHE LEDERMALEREIEN
Figurenreiche Darstellungen von Grenzkonflikten
zwischen Mexiko und dem Missouri um 1720
384 Seiten im Format von 17X.25 cm mit Kartenskizzen und Zeichnungen im Text
und mit 16 Phototafeln. 1960, broschiert DM 35,—, Leinen DM 42,—
Aus dem frühen 18. Jahrhundert sind in Schweizer Privatbesitz zwei große
Ledermalereien erhalten, die je aus drei großen, aneinandergenähten Büffel- oder
Ochsenhäuten bestehen. Jedes ganze Bild ist von einer Barockbordüre umrahmt,
was einen spanischen Auftraggeber aus dem mexikanischen Gebiet verrät, aus
dem beide Bilder stammen.
Die eine Darstellung zeigt ein bekanntes historisches Ereignis, das Massaker der
im Sommer 1720 ins Hoheitsgebiet der Franzosen an den untern Platte River
vorgestoßenen spanischen Villasur-Expedition, die sich von Santa Fe aus in
die unbekannten Weiten der Hochprärien hinausgewagt hatte. Der Bildbericht
ihres Endkampfes gegen Pawnee- und Otokrieger umfaßt auf einer Breite von
5,80 m allein 192 menschliche Figuren, die in Gruppengefechten innerhalb des
breiten Kampfgeländes stehen, das der primitive Maler großzügig angelegt hat.
Im anderen Bilddokument sehen wir eine Strafaktion roter mexikanischer Miliz
gegen einen räuberischen, in Zelten hausenden Präriestamm, der die Pueblos am
Rio Grande heimzusuchen pflegte. Die Figuren sind hier im Stile altmexika-
nischer Codices gezeichnet. Die vielen lückenfüllenden Wildtiere lassen sich nach
Arten erkennen.
Die Bilder wurden vom Verfasser eingehend untersucht, sowohl was ihre tech-
nische Herstellung, die Bildautoren und Auftraggeber angeht, wie auch bezüglich
ihres ethnographischen und künstlerischen Gehaltes. Die genaue Analyse aller
Details eröffnet dem Feser fruchtbare Einblicke in ein wenig bekanntes Kapitel
europäischer Aktivität im nördlichen Mexiko und den südwestlichen USA, sowie
in die Febensweise der dortigen Urbevölkerung vor zweieinhalb Jahrhunderten.
Dem Ethnologen und speziell dem Amerikanisten wird eine Fülle wertvollen
Materials dargeboten, aus einer Zeit und Fandschafl, deren schriftliche Berichte
nur spärlich auf uns gekommen sind, während bildliche Nachrichten ganz fehlen.
Die Malereien sind vollständig reproduziert, wichtige Einzelheiten sind in
Detailaufnahmen wiedergegeben.
VERLAG VON DIETRICH REIMER IN BERLIN
BAESSLER-ARCHIV — BEITRAGE ZUR VÖLKERKUNDE
NEUE FOLGE
Früher sind erschienen:
Band I: 119 Seiten mit 109 Abbildungen und 2 Karten DM 12,—
Band II: 285 Seiten mit 63 Textabbildungen und 50 Tafeln DM 22,—
Band III: 274 Seiten mit 88 Abbildungen und 18 Tafeln DM 22,—
Band IV: 264 Seiten mit 76 Abbildungen, 1 Tafel, 3 Karten und 8 Notenbeispielen DM 22,—
Band V: 294 Seiten mit 49 Abbildungen, 15 Tafeln und 22 Karten DM 22,—
Band VI; 276 Seiten mit 106 Abbildungen, 1 Diagramm und 1 Karte DM 22,—
Band VII: 372 Seiten mit 175 Abbildungen, 69 Figu- ren und 5 Karten, 1959 DM 28,—
Vor 1945 erschienen:
Band I—XXV und 10 Beihefte
Wesentliche Teile hiervon sind noch lieferbar. Nachfrage beim Verlag.
DIETRICH REIMER VERLAG IN BERLIN-STEGLITZ
Beihefte zum BAESSLER-ARCHIV, Neue Folge
Beiheft 1 erschien 1959.:
KURT KRIEGER
Geschichte von Zamiara
Sokoto-Provinz, Nordnigeria
147 Seiten im Format des Baessler-Archivs mit 12 Tafeln und einer Karte
Berlin 1959, Broschiert DM 14,—
Gelegentlich einer Forschungsreise nach Nordnigeria hatte der Verfasser Ge-
legenheit, Manuskripte von alten Hausa-Chroniken zu studieren und örtliche
Überlieferungen zu sammeln. Hier gibt er neben einer Zusammenfassung eine
mit sämtlichen Quellen belegte Geschichte des nordnigerischen Königreiches
Zamfara und schildert u. a. die Regierungszeiten von 54 Herrschern vom
13. Jahrhundert bis heute.
Soeben erschien Beiheft 2:
HERMANN TRIMRORN
Archäologische Studien
iu den Kordilleren Boliviens
76 Seiten im Format des Baessler-Archivs mit 66 Abbildungen
Berlin 1959, Broschiert DM 12,—
Die alter tumskundliche Forschung steht mit der Freilegung und Auswertung
von Zeugnissen der indianischen Vergangenheit im bolivianischen Anden-
raum noch vor einem ergiebigen Feld. Als Teilergebnisse einer Forschungsreise
(1955/56) legt Hermann Trimborn, der Völkerkundler der Universität Bonn,
Beobachtungen vor, die neben einer kürzeren Würdigung anderer Denkmäler
vor allem um zwei Komplexe kreisen; Der eine ist eine bisher nicht beschrie-
bene Totenstadt auf dem Altiplano, die sogenannten „Chullpas“ von Sica-
Sica. Zum anderen wird eine umfassende Darstellung den rätselhaften Fels-
skupturen von Samaipata gewidmet, dem östlichsten vorgeschobenen Punkte
der Flochlandskultur.
DIETRICH REIMER VERLAG IN BERLIN-STEGLITZ
VERÖFFENTLICHUNGEN ZUM ARCHIV FÜR VÖLKERKUNDE
(Museum für Völkerkunde Wien)
Band 1:
E. R 6 q u e 11 e - P i n t o
RONDONIA
Eine Reise in das Herzstück Südamerikas
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Etta Becker-Donner
312 Seiten mit 23 Abbildungen auf Kunstdrudepapier, 46 Textabbildungen
und einer ethnographischen Karle. Mit anthropologischen Tabellen und einem
Wörterverzeichnis verschiedener Nambicuara-Dialekte
Halbleinen DM 16,80
Band 2:
AUSSTELLUNG BAUERNWERK DER ALTEN WELT
Europa — Asien — Afrika
Katalog, 112 Seiten. Kartoniert DM 2,—
Band 3:
Martin G us i n d e
DIE TWIDEN
Pygmäen und Pygmoide im tropischen Afrika
176 Seiten. Kartoniert DM 12,—
Band 4:
ZWETTLER CODEX 120 DES P. FLORIAN FAUCHE
Jesuitenmission in Paraguay 1748 — 1769
Herausgegeben von Etta Becker-Donner unter Mitarbeit von Gustav Otruha
I. Teil:
444 Seiten mit 29 teilweise mehrfarbigen Tafeln. Ganzleinen DM 40,—
II. Teil: im Drude
Im Herbst 1960 erscheinen:
Band 5:
Annemarie Schweeger- Hefel
GESTALTUNGSPRINZIPIEN DER HOLZPLASTIK IN AFRIKA
ca. 160 Seiten mit zahlreichen Abbildungen auf Kunstdruckpapier
Halbleinen ca. DM 24,—
Band 6:
Pftter Fuchs
DIE VOLKER DER SC DOST-SAHARA
Tibesti — Boiku -— Ennedi
ca. 176 Seiten mit zahlreichen Abbildungen auf Kunstdruckpapier und im Text
Halbleinen ca. DM 34,—
WILHELM BRAUMÜLLER - WIEN - STUTTGART
Uuiversitäts-Veriagskuchhaudlung Ges. in. b. H.
BAESSLER-ARCHIV
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
Herausgegeben im Aufträge des
Museums für Völkerkunde Berlin
von
H. D. DISSELHOFF UND K. KRIEGER
NEUE FOLGE BAND VIII
(XXXIII. BAND)
HEFT 2
Autgegeben am 31. Dezember
BERLIN 1960
VERLAG VON DIETRICH REIMER
INHALT
Peter Fuchs, Wien:
Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan.
Mit 3 Abbildungen...................................................... 271
Dieter Eisleb, Berlin:
Ein trichterförmiges Gefäß im Pucara-Stil.
Mit 3 Abbildungen...................................................... 293
Haus Feriz, Amsterdam:
Zum Problem der Chacmool-Figuren.
Mit 6 Abbildungen...................................................... 299
Axel von Gagern, Hannover:
Don Luys.
Mit 3 Abbildungen...................................................... 307
Horst Nachtigall, Mainz:
Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien).
Mit 25 Abbildungen .................................................... 319
Heinz Keim, Oberkassel:
Zur Frage der ethnographischen Einordnung der Ayore, Moro und Ifanaigua
im ostbolivianischen Tiefland ................................... 335
Bücberbesprechungen:
Lucas, Ceylon-Masken 318 —— Vision de ios Vencidos. Relaciones Indígenas
de la Conquista 334 — Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig
362 — Wirz, Die Ainu 363 — Haberland, Archäologische Untersuchungen
in Südost-Costa Rica 363 — Burland, Man and Art 365.
Band VIII des „Baessler-Archiv“ erscheint im Jahre 1960 in 2 Heften. Der Preis
des Bandes von etwa 23 Bogen beträgt DM 28,—. Bestellungen sind zu richten an:
DIETRICH REIMER, Berlin-Steglitz, Wulffstr. 7, oder an jede Buchhandlung.
Manuskripte und Besprechungsexemplare werden erbeten an: Redaktion des
„Baessler-Archiv“, Museum für Völkerkunde, Berlin-Dahlem, Arnim-Allee 23.
Für unverlangt eingehende Beiträge kann keine Haftung übernommen werden. Die
Mitarbeiter erhalten unberechnet 25 Sonderdrucke. Für den Inhalt ihrer
Beiträge sind die Autoren allein verantwortlich.
Alle Rechte Vorbehalten
■Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
271
FORSCHUNGEN IN DER SÜDOST-SAHARA
UND IM ZENTRALEN SUDAN
PETER FUCHS, Wien
Um einem öfter vorgebrachten Wunsch zu entsprechen, gebe ich im folgen-
den einen zusammenfassenden Überblick über die ethnographischen Forschun-
gen, die ich zwischen 1952—1959 in der Sahara und im Sudan durchführen
konnte.
1. Expedition in das Hoggar-Gebirge
Zeit: Januar bis Juni 1952.
Teilnehmer: Edith Fuchs, Andreas Kronenberg, Peter Fuchs.
Von Wien führte die Reise mit der Bahn bis Marseille, von dort per
Schiff nach Algier, von Algier über Blida mit der Bahn nach Djelfa. Die
folgende Route wurde mit Lastkraftwagen zurückgelegt: Ghardaia, El Golea,
In Salah, Tamanrasset. Mit Kamelen gelangte die Expedition in das Lager
des Amenokal der Hoggar-Tuareg. Es befand sich damals in der Nähe von
Abelessa. Der Rückweg erfolgte auf derselben Strecke.
Ergebnisse; Studien über Mutterrecht und Königtum der Tuareg.
Herstellung ethnographischer Filme und Photos.
2. Tibesti Expedition
Die Expedition wurde in der Zeit von Januar bis Juli 1955 durchgeführt.
Teilnehmer: Edith Fuchs, Alexander Posch (Kameramann), Peter Fuchs.
Mit Bahn und Schiff gelangten die Teilnehmer von Wien über Neapel
nach Tripolis. Mit einem Lkw wurde die Reise über Leptis Magna, Missurata
nach Sebha, der Hauptstadt des Fezzanes fortgesetzt.
Von Sebha aus wurde eine kurze Informationsfahrt nach Murzuk und
Traghen unternommen. Es war vorgesehen, daß die Expeditionsteilnehmer
mit einem Konvoi der TAT nach Tibesti Weiterreisen sollten. Zwischen
Gatrun, dem libyschen Grenzposten und Zuar, dem ersten erreichbaren
Militärposten Tibestis, gibt es keine offiziellen Pisten, keine Tankstellen und
Reparaturwerkstätten, nicht einmal eine Ansiedlung oder einen Brunnen.
Nur in Murizidie und Sarazac existiert je eine Wellblechhütte, die von der
TAT errichtet wurde und in denen sich Wasser- und Treibstoffvorräte für
die Konvois befinden.
Die Konvois der TAT bestehen gewöhnlich aus 5 bis 9 Lastkraftwagen.
Ein oder zwei Konvoiführer, mit leichten Geländefahrzeugen ausgerüstet,
18 Baessler-Archiv VIII
272 Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
leiten den Konvoi durch das „Niemandsland“, in dem die Spuren der Kolonne
Ledere aus dem zweiten Weltkrieg die einzigen Wegweiser darstellen. Die
Konvois der TAT befördern Güter für die Verwaltungsposten Zuar und
Faya (Largeau). Nach dreiwöchiger Wartezeit in Sebha startete schließlich
ein Konvoi von neun Lastkraftwagen unter der Leitung der Konvoiführer
Uitz und Courot nach Tibesti. Er brachte die Mitglieder der Expedition nach
neuntägiger Fahrt über Um-el-Araneb, Gatrun, Murizidie, Kurizo-Paß, nach
Zuar, dem administrativen Zentrum Tibestis.
Während der Wintermonate zerstreut sich der größte Teil der Bevölke-
rung Tibestis über die Flochweiden (Tarso) und die grasreichen Ebenen, die
dem Gebirge im Südosten vorgelagert sind. Vor allem die nomadischen
Gruppen der Tubu sind zu dieser Zeit um die Brunnen bei Sherda und
Suinga konzentriert.
Mit Kamelen, die durch die Vermittlung des Distriktchefs von Zuar,
Leutnant Henry, gemietet werden konnten und unter Führung des Goumiers
Bogar Bogarmi begab sich die Expedition in die südlich von Zuar liegenden
Weidegebiete. Eine Anzahl von Nomadenlagern wurde besucht, darunter je-
nes des Derde (Sultan) von Tibesti, Wadai Kishidemi, der versprach, die
Arbeiten der Expedition in jeder Weise zu fördern. Ein Versprechen, das
sicher gut gemeint, jedoch ohne praktische Auswirkung war, da der Derde von
Tibesti keine wirkliche Autorität über die von ihm beherrschten Tubu hat.
Schon Gustav Nachtigal berichtet von ähnlichen Zuständen, und in dieser
Hinsicht hat sich seither nichts geändert.
Sherda, Suinga und Beurkie sind die wichtigsten, in den Karten einge-
zeichneten Orte, die von der Expedition berührt wurden.
Die Entstehung der Tubu ist ein interessantes und vieldiskutiertes stam-
mesgeschichtliches Problem. Nach den Ergebnissen der neuesten Feldfor-
schungen ergibt sich folgendes Bild von ihrer geschichtlichen Entwicklung:
Das Kernland der Tubu ist Tibesti-Borku. Dieses Gebiet war ursprünglich
von einer mit den So oder Sao von Kanem verwandten Bevölkerung be-
wohnt, die „altnigritische“ Kulturzüge aufwies. Noch vor dem 7. Jahrhundert
kamen aus Osten die äthiopiden Kara, die über Nordennedi nach Tibesti-
Borku, wahrscheinlich weiter bis zum Ahaggar vordrangen. Sie vermischten
sich mit den Ureinwohnern und aus dieser Mischbevölkerung entstanden die
Kara-Doza, die man als direkte Vorfahren der Tubu betrachten muß.
Über diese Kara-Doza ging im 7. bis 8. Jahrhundert die Welle der aus
Norden nach Süden flüchtenden Garamanten hinweg.
Der größte Teil der Kara-Doza folgte den Garamanten nach Süden und
um das Jahr 1000 treten sie in Kanem bereits als Tubu auf. Diese Tubu
standen in enger Verbindung mit den Gründern des Kanem-Bornu-Reiches.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
273
15° 20° 25°
Abb. 1. Kartenskizze zur Tibesti-Expedition 1955 und zur Expedition
nach Borku-Ennedi 1956
Im Norden von Ennedi hielt sich eine Kara-Gruppe bis in das 16. Jahr-
hundert, wanderte dann nach Süden aus und lebt beute im östlichen Kanem.
Die in Tibesti-Borku zurückgebliebenen Tubugruppen wurden durch
Flüchtlinge aus Ennedi, dem Fezzan, Kufra und Kanem verstärkt und um-
gebildet. Die Kriege der Kanem-Bornu-Könige mit den in ihren Gebieten
18*
274
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
lebenden nomadischen Tubu trieben sie zum Teil wieder in ihr Kernland zu-
rück. Die wichtigsten dieser Rückwanderer sind die Tomagra, denen es ge-
lang, die in einer Art Anarchie lebenden Tubuclans bis zu einem gewissen
Grad zu einem Volk zu vereinen. Aus der Verbindung zwischen den von der
Daza-Kultur tiefgehend beeinflußten Kamelnomaden und den seßhaften
Oasenbauern entstand schließlich jener Kulturtypus, den wir bei den heutigen
Tubu feststellen können und in dem sich die ganze Vielfalt seines Ursprungs
und seiner Schichtungen noch deutlich widerspiegelt.
Die Erkrankung des Kameramanns Alexander Posch zwang die Expedition
nach Zuar zurückzukehren. Einen Arzt gibt es in Zuar nicht. Da die Er-
krankung Alexander Poschs einen gefährlichen Verlauf zu nehmen drohte,
fuhr die Expedition mit einem zufällig anwesenden Konvoi der TAT nach
Faya (Largeau), etwa 500 km südöstlich von Zuar, in Borku gelegen. Im
Krankenhaus von Faya wurde eine akute Blinddarmentzündung bei Alexan-
der Posch festgestellt, er mußte sofort die Heimreise nach Europa antreten.
Peter Fuchs übernahm zusätzlich die Aufgaben des Kameramannes. Fol-
gende Stämme wurden in Borku festgestellt:
1. Die Anakaza
Der Name Anakaza bedeutet „gemischte Leute“. Ein Name, der sie gut
charakterisiert, denn die Anakaza entstanden aus einer Vermischung von Bäle,
Daza, Gaeda und Tubu. Wahrscheinlich war es eine starke Daza-Gruppe,
die aus dem Süden kam, und die durch abgesplitterte Clans der umliegen-
den Nomadenvölker verstärkt wurde.
Seit der Befriedung des Landes sind die Anakaza stark zersplittert.
Im Westen nomadisieren sie bis nach Bilma, östlich sind sie in vielen Ge-
bieten Ennedis anzutreffen. Während sie sich gegen Süden bis nach Kanem
verbreiten, überschreiten sie jedoch nur selten die Nordgrenzen Borkus. Ihr
ethnisches Zentrum ist Um Chaluba.
Alle Anakaza sind Nomaden. Sie betrachten sich als Eigentümer der
Oasen von Süd-Borku und die seßhaften Kanadja und Doza als ihre Va-
sallen.
2. Die Doza
Die Doza oder Dongosa besiedeln als Bauern oder Halbnomaden die
Oasen von Borku. Sie stellen ein sehr altes autochthones Bevölkerungselement
dar. Viele Doza sind bestrebt, die Sitten ihrer Nomaden-Herren nachzuahmen,
und sie haben ihre alte Doza-Kultur aufgegeben, sind vom Bodenbau zum
Nomaden- oder Halbnomadentum übergegangen. Es gibt zwei Doza-Stämme:
Kokorda und Gallela.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
275
3. Die Kamadja
Der Ursprung der Kamadja ist nicht geklärt. Anakaza und Tubu bezeich-
nen die Kamadja gewöhnlich als entlassene Sklaven oder als Nachkommen
von Sklaven. Die Kamadja selber wollen Autochthone sein, müssen jedoch zu-
geben, daß sie oft ehemalige Sklaven in ihren Reihen aufgenommen haben.
Alle Kamadja sind Bauern und Vasallen der Anakaza, denen sie einen
Teil ihrer Ernteerträgnisse abliefern müssen.
Mit Kamelen wurde die Reise von Faya nach Norden fortgesetzt. Ein
dreitägiger, von schweren Sandstürmen behinderter Marsch brachte die Expedi-
tion nach Yarda, einer der wichtigsten Oasen Borkus. Die Oase war nur von
wenigen Familien bewohnt. Nur zur Zeit der Dattelernte (September) sind
die Oasen Zentral- und Nordborkus stärker bevölkert. Im Gegensatz zu der
Oasenkette, die sich in Südborku von Faya bis Ain Galakka ausdehnt. In
diesen Oasen gibt es eine seßhafte Bevökerung von Oasenbauern, die dem
Doza- oder Kamadja-Stamm angehören. In Yarda und dem einige Kilo-
meter östlich von Yarda liegenden Kazar-Felsen wurden zahlreiche Felszeich-
nungen (Gravuren) entdeckt und aufgenommen. Weitere Fundorte von Fels-
zeichnungen in Borku; Atchibanna, Digui, Nodi und Duhi.
Auf allen Felsmassiven Borkus findet man noch die Reste alter Flucht-
burgen. Die Oasenbauern verstecken heute noch einen Teil der Dattelernte
in geheimgehaltenen Felsverstecken.
In der Oase Forrom wurde bei Sonnenaufgang das erste Mal der mäch-
tige Vulkankegel des Emi Kussi gesichtet. Die Route führte weiter über Nodi,
Ani und Duhi, menschenleere Oasen, vorbei am Ehi Kurri (675 Meter) und
dem Brunnen Derso, nach Yono. Yono liegt am Fuß des Emi Kussi, es gibt
dort einen Brunnen, um den ein Nomadenlager gruppiert ist. In Yono wur-
den die „Sandkamele“ Borkus gegen die „Felsenkamele“ Tibestis ausge-
tauscht. Den größten Teil des Gepäckes vertrauten wir einigen Tubus zum
Transport in das Wadi (Enneri) Miski an. Mit drei ausgesuchten Kamelen,
zwei Kameltreibern und einem Führer begann die Expedition den Auf-
stieg auf den Emi Kussi. Es sollte erkundet werden, ob der Krater des Emi
Kussi tatsächlich von Menschen bewohnt ist. In 850 Meter Seehöhe trafen
wir auf das Dorf Erra. Es besteht aus einem Dutzend runder Bauten von
etwa 1,60 Meter Höhe, aus aufgeschichteten Steinen, die mit Matten oder
Fellen gedeckt sind. Erra war nur von zwei Familien bewohnt. Die anderen
Einwohner begaben sich, nach den Aussagen der Leute, bereits in verschiedene
Oasen Tibestis und Süd-Borkus, wo die Weizenernte bevorstand. Während
des weiteren Aufstiegs, der von Mensch und Tier größte Anstrengungen er-
forderte, begegneten wir mehreren Tubufamilien, die vom Emi Kussi kamen
276
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
und ebenfalls nach den Oasen unterwegs waren. Sie gehörten zum Clan
der Kussoda und behaupteten, alljährlich mit ihren Ziegenherden 3 bis
4 Monate auf dem Emi Kussi zu hausen, bis die Weide- und Wassermöghch-
keiten erschöpft sind oder die neue Ernte sie in die Oasen zurückruft.
Nach dreitägigem Aufstieg erreichte die Expedition den Krater des Emi
Kussi. Der Krater (Kohor) hat einen Durchmesser von etwa 20 km. In der
Mitte des Kraters befindet sich ein steil abfallendes, etwa 700 Meter tiefes
Loch mit einem Durchmesser von etwa 2 km. An den Hängen des Kohor
fanden wir mehrere kleine Höhlen und Felsüberhänge, die noch vor kurzer
Zeit Menschen als Behausung gedient hatten. Es steht also fest, daß der
Krater des Emi Kussi zeitweise von halbnomadischen Tubu, meistens Ange-
hörigen des Kussoda-Clans, bewohnt wird.
Der bedauernswerte Zustand der Kamele (die nur zum Transport des Ge-
päcks, hauptsächlich von Wasservorräten, und nicht zum Reiten verwendet
wurden), das Fehlen von Wasserstellen und ausreichenden Weiden machte
einen längeren Aufenthalt im Krater unmöglich. Abgestiegen wurde über die
Nord-, bzw. Westseite des Emi Kussi. Der Abstieg nahm drei Tage in An-
spruch und war mit der Ankunft in Enneri Miski beendet. Dort warteten
bereits die Karawanenleute mit dem Expeditionsgepäck, das sie auf einer
weniger schwierigen Strecke um den Emi Kussi herum befördert hatten.
Vom Enneri Miski führte der Weg in das Enneri Modrunga, über den
Tarso Kore, Tarso Yey nach Nema Nemasso, einem Dorf der Tubu-Bauern,
wo es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Begleitern der
Expedition, die ausschließlich Nomaden waren, und den Bauern des Dorfes
kam, die nur mit Mühe geschlichtet werden konnten. Bei Yuntiu wurde das
Zummeri-Tal erreicht, das wichtigste und fruchtbarste Tal Zentral-Tibestis.
Uonofo, Adarke, Ore, Ossum, Tiebero und Zui sind die Orte, die von der
Expedition berührt wurden und wo die Bevölkerung bereits mit der Weizen-
ernte beschäftigt war. Das Zummeri endet in der Oasengruppe von Bardai,
einem Militärposten, der allerdings nur mit einem Unteroffizier besetzt war.
In Bardai konnten zahlreiche Felsbilder photographiert werden. Ein aus-
giebiger Regen, der die Wadis mit Wasser füllte und der von den Tubu
mit großer Freude empfangen wurde, behinderte die Fortsetzung der Reise
nicht unwesentlich. Diese führte, nach wie vor mit Kamelen, über das Enneri
Gonoa zum Natronloch (Trou au natron, 2366 Meter Seehöhe), von dort
über den Brunnen Edimpi nach Zuar.
Mit einem Konvoi der TAT gelangte die Expedition nach Norden, über
Sebha nach Tripolis, von dort mit dem Schiff nach Europa.
Ergebnisse: Systematische ethnographische Aufnahme der Tubu von Tibesti,
der Kamadja und Anakaza von Borku.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
277
Aufnahme von etwa 1000 Felsbildern (Gravuren) an den Fundorten;
Bardal, Yarda, Kazer, Nodi und Duhi.
Ethnographische Sammlungen, die sich im Museum f. Völkerkunde, Wien,
befinden.
Tonaufnahmen von Liedern, Instrumenten und Tänzen der Tubu.
12 000 Meter Filmaufnahmen und zahlreiche Photos.
3. Expedition nach Borku-Ennedi
Die Reise wurde in der Zeit von Januar bis Juli 1956 von Peter Fuchs,
ohne europäische Begleiter, durchgeführt.
Die Reiseroute führte von Wien nach Tripolis (Bahn, Schiff), von dort
nach Sebha (LKW), von Sebha mit einem Konvoi der TAT über Gatrun,
Zuar nach Laya (Largeau).
Zur Weiterreise wurden Kamele verwendet. Die Route führte über die
Brunnen Durku, Musso, Ueita, Um-el-Adam nach Fada, dem Militärposten
im westlichen Teil des Berglandes von Ennedi.
Fada ist der Name eines Wadi, in dem die französische Kolonialarmee
nach der Eroberung Ennedis im Jahre 1914 einen Posten errichtet hat. Zen-
trum von Fada ist das Fort. Daneben befinden sich der Markt und die Lehm-
häuser einer Kolonie fezzanischer Kaufleute, die sich nach der Befriedung
des Landes in Fada niedergelassen und auch einige Gärten angelegt haben.
Etwas entfernt vom Fort haben die „Goumiers“ ihre Mattenzelte errichtet.
In der näheren und weiteren Umgebung von Fada gibt es zahlreiche Fels-
zeichnungen, meistens Malereien.
Mit dem Kamel und einem Führer namens Adigei Bodomi wurde die
Reise nach Archei fortgesetzt. In Archei befinden sich neben einer riesigen
Höhle (dem Ahnenheiligtum des Clans der Archeila) mehrere Teiche in denen
Krokodile festgestellt wurden. In kleinen Höhlen gibt es zahlreiche Fels-
malereien. Eine dicke Schicht von Rußablagerungen auf den Höhlendecken
läßt darauf schließen, daß diese Höhlen längere Zeit von Menschen bewohnt
waren. Auf den Hochflächen bei Archei befinden sich zahlreiche Gräber ver-
schiedener Typen. Nach den Traditionen der Eingeborenen stammen Gräber
und Felszeichnungen von „Weißen“, die Emdia oder Emerdia genannt
werden.
Von Archei ging die Reise nach Breera (Felszeichnungen), Kassalanga
(Felszeichnungen), Toku (Felszeichnungen), Wadi Lifu (Felszeichnungen),
Wadi Sini (Felszeichnungen), Monu, Ito, Kafra, Sokoja und Berdoba weiter.
In Berdoba hat der Häuptling der halbnomadischen Bäle-Bilia (auch Bidejat-
Bilia genannt) seinen Sitz. Die Bäle-Bilia bewohnen die Südgebiete Ennedis
und zeigen gewisse kulturelle Verwandtschaften mit den südlich von Ennedi
278
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
lebenden Zaghaua. Nach den Clantraditionen entstanden sie aus einer Ver-
mischung von Einwanderern aus Wadai, Kanem und Dar Für mit einer hell-
häutigen Urbevölkerung. Obwohl oberflächlich islamisiert, wird der (ur-
sprüngliche) Ahnenkult nach wie vor ausgeübt.
Der derzeitige Häuptling der Bäle-Bilia, Adern Djerbu, ist nicht traditio-
nell. Er gehört dem Clan der Koliada an, während früher der Häuptling
aus dem Clan der (mit den Koliada verwandten) Orala stammte. Die
Änderung ist auf eine Intervention der Kolonialregierung zurückzuführen.
Von Berdoba führte der Weg weiter nach Am Djeress, wo sich das Ahnen-
heiligtum der Koliada (eine alte Fluchtburg) befindet, dann zum Bao Bilia
(einem der wichtigsten Brunnen Südost-Ennedis) und nach Omena. Omena
ist der Sitz Sidi Sogomis, des Derde (Häuptling) der Arna von Ennedi (sie
werden auch Arna-Murdla genannt).
Die Arna stellen eines der interessantesten Völker der Südost-Sahara dar.
Ihr Ursprung ist ungeklärt, rassisch und kulturell entsprechen sie den Tubu.
Vermutlich kamen sie mit den Tomagra nach Tibesti. Alle Arna sind Voll-
nomaden. Aus Tibesti wanderten Arna-Gruppen nach Guro, Ennedi und
Kanem aus, die eigene Stämme mit einem unabhängigen Derde an der Spitze
gebildet haben.
Die Arna von Ennedi leiten sich von einem Mann namens Ui ab, der An-
fang des 19. Jahrhunderts Tibesti verließ und das Gebiet von Murdi in
Nord-Ennedi in Besitz nahm. Er raubte die Tochter eines „heiligen Man-
nes“ (vermutlich eines fezzanesischen „Marabu“) aus Ain Galakka, namens
Yurro. Yurro gilt als die große Ahnin der Arna-Murdia, sie wird mehr
verehrt als irgendein anderer Vorfahre der Arna. Ihr Grab befindet sich in
einer alten Fluchtburg im Wadi Kebeli bei Diona. Nicht nur die Arna, alle
Bewohner Nord-Ennedis verehren die Yurro. Zu ihrem Grab pilgern die
Menschen und erbitten ihre Hilfe bei Trockenheit, Krankheit usw., opfern
Schafe und Rinder für sie. Es scheint, daß Yurro, die Tochter eines islamischen
„Marabu“, den Arna und den Stämmen Nord-Ennedis den Islam predigte.
Ihr Grab im Wadi Kebeli ist ein islamisches Grab, während die meisten
Arna-Gräber der Umgebung heidnische Hügelgräber sind.
Von Omena führte der Weg der Expedition auf das Basso-Plateau, mit
etwa 1550 Meter Höhe die höchste Erhebung Ennedis. Das Basso ist das
Kernland der Taola, die zu den ältesten Einwohnern Ennedis gehören. Heute
bilden die Taola einen Clan der Bäle-Borgat, früher dürfte es jedoch einen
mächtigen Taola-Stamm gegeben haben, der ganz Zentral- und Nord-Ennedi
bewohnte. Auch die Salinen von Demi gehörten ursprünglich den Taola, und
die Unja von Unianga waren ihre Vasallen. Bei einem Raubzug wurde der
Stamm fast völlig ausgerottet und sank zu einem bedeutungslosen Clan
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
279
herab. Interessant ist, daß die Taola von kleinen, hellhäutigen Ahnen abzu-
stammen behaupten. Das religiöse Zentrum der Taola ist die Höhle „Etegeli“.
An den Höhlenwänden befinden sich stark verwitterte Felsmalereien in roter
Farbe, Menschen und Rinder darstellend. Vor der Höhle sind die Reste
einer Ansiedlung noch deutlich zu sehen.
Gegenwärtig leben auf dem Basso neben den Taola auch einige Gaeda-
und Tubu-Clans.
In den nördlichen Ausläufern des Basso, 30 km nördlich des Geltas Kube
befindet sich das Wadi Dishina. Am Westufer des Wadi wurden auf Fels-
platten am Boden etwa 150 Felsgravuren gefunden. Die Gravuren stellen
hauptsächlich Kamele und Rinder dar. An einer Stelle befindet sich eine
helle Felsplatte mit einer spröden schwarzen Auflage. Durch Absplittern
dieser Auflage hat man Gravuren von Männern geschaffen mit einem über-
trieben dargestellten Federschmuck am Kopf und großen Geschlechtsteilen.
Vom Basso ritten wir zum Erdebe-Plateau, das zum größten Teil unbe-
wohnt ist. Der eingeborene Führer verirrte sich und wir gerieten ungewollt
in das kleine Wadi Dirshi, wo eine äußerst interessante Entdeckung gemacht
wurde. Auf einer nach Osten gerichteten Felswand fanden wir die über-
lebensgroßen Darstellungen von vier Menschenfiguren, die am ganzen Körper
eine Tätowierung oder Malerei zeigen. Ich habe sie die „Vier Grazien von
Erdebe“ benannt, bin jedoch nicht sicher, ob es sich dabei tatsächlich um
Frauendarstellungen handelt. Die Art der Körpermuster erinnert an Körper-
bemalung bei ostafrikanischen Stämmen. Zwischen den „Vier Grazien“ be-
finden sich drei kleine Frauengestalten in langen Kleidern und die primitive
Skizze einer menschlichen Gestalt.
Neben dieser Felsplatte eine zweite. Sechs Rinder in verschiedener Größe,
eine tätowierte Gestalt und eine kleine Figur mit Federschmuck und Lanze
sind darauf abgebildet.
Neben den Felsplatten mehrere Höhlen. In zwei Höhlen wurden gut
erhaltene Malereien in roter Farbe gefunden, die Rinder und Menschen dar-
stellen. In den Höhlen Spuren von Feuerstellen, Tonscherben und Feuer-
steinsplitter. In einer Höhle eine Feuersteinspitze als Oberflächenfund.
Vom Wadi Dirshi gelangte die Expedition über Diona, Tebi, Fardiallah
nach Demi, der wichtigsten Saline Ennedis.
Die Saline dürfte auf ein ausgetrocknetes Seenbecken zurückgehen, das
sich bei einem der seltenen Regenfälle wieder mit Wasser füllt, wodurch
tiefer gelegene Salzlager gelöst werden, die in der Trockenperiode auskristalli-
sieren. Die Saline wurde von den Taola entdeckt, die sie schließlich an die
Gaeda verloren. Die Verwaltung der Saline obliegt den Unja, die gegen-
wärtig Vasallen der Gaeda sind. Besondere Vorrechte haben auch die Ana-
280
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
kaza. Das Salz von Demi, das wegen seiner Reinheit sehr gefragt ist, hat
für die Bewohner Ennedis größte wirtschaftliche Bedeutung. Es wird in gro-
ßen Mengen in die Sudanländer ausgeführt und vor allem gegen Hirse ein-
gehandelt.
Von Demi führte die Route über Unianga Kebir, Unianga Serir, N’tegdei
nach Demi zurück.
Die Bewohner der beiden großen Oasen von Unianga nennen sich Unja
(in der älteren Literatur findet man öfter die Bezeichnung Wanja).
Innerhalb der Unja werden „echte“ und „unechte“ Unja unterschieden.
„Echte“ Unja sind jene Clans, die von dem sagenhaften Ahnen Nahar und
seiner Schwiegertochter Mide abstammen, die beide aus dem großen See von
Unianga Kebir gestiegen sind.
Die „echten“ Unja sind vornehmer als die „unechten“, sie stellen den
Häupling von Unianga Kebir, der eine Oberhoheit über den Häuptling von
Unianga Serir ausübt. Die „unechten“ Unja sind Einwohner aus Borku,
Ennedi und Tibesti. Meistens waren es Mörder, die vor der Blutrache nach
Unianga flohen und dort einen neuen Clan gründeten.
Die Unja wurden erst im Jahre 1902 von den Senussi islamisiert. Bis
vor zwanzig Jahren waren sie ausschließlich Oasenbauern, die ihr Land nie
verließen und keine Kamele besaßen. Durch den Einfluß der Gaeda ist ein
Teil zum Halbnomadentum übergegangen. Auch die ursprüngliche Sprache
der Unja haben sie zugunsten des Dazaga aufgegeben.
Ursprünglich wohnten sie in runden Steinbauten, die mit Palmblättern
gedeckt waren. Heute leben sie in Mattenzelten.
Interessant sind die Dattelspeicher der Unja. Sie bestehen aus einem mäch-
tigen Lehmkege], der auf Holzpfählen steht.
Die weitere Route der Expedition: Von Demi über Terkezi, Doinga
(Felszeichnungen) nach Fada. Von Fada nach Monu, Kichinaberi, Ito, Sokoja,
Berdoba, auf demselben Weg wieder zurück nach Fada.
Die ausgedehnte Reise in Ennedi, die ausschließlich mit Kamelen durch-
geführt wurde, ermöglichte es, ein klares Bild über die Bewohner des Lan-
des zu bekommen.
Folgende Stämme leben in Ennedi:
1. Die Bäle foft werden sie mit dem arabischen Namen Bidejat be-
zeichnet).
Die Bäle teilen sich in zwei Abteilungen.
a) Bäle-Borogat
b) Bäle-Bilia.
Die Bäle Borogat wohnen im Westen und in den zentralen Gebieten
Ennedis. Sie sind den westlichen Daza-Einflüssen am stärksten erlegen, sie
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
281
haben das Kegeldachhaus zugunsten des Mattenzeltes aufgegeben. Die meisten
von ihnen beherrschen das Dazaga ebenso gut wie ihre eigene Stammes-
sprache.
Seit der Befriedigung des Landes durch die Franzosen gibt es einen
Häuptling der Borogat. Früher hat ein derartiger Häuptling nicht existiert,
es gab vielmehr eine ganze Anzahl von Borogat-Häuptlingen, die nichts
anderes waren als Häuptlinge eines starken Clans, der die benachbarten
Clans unter seine Oberhoheit gebracht hatte. Diese Herrschaft war jedoch
nie von langer Dauer.
Borogat ist eine arabische Bezeichnung, für die es im Bäleala (der Sprache
der Bäle) kein Synonym gibt, ein Zeichen dafür, daß sich die verschiedenen
Clans nie als „Borogat-Stamm“ betrachteten. Es gab zahlreiche mehr oder
weniger unabhängige Clans, wobei ein mächtiger Clan zeitweise die
schwächeren Nachbarclans beherrschte. Im Kriegsfall verbündeten sich mehrere
Clans miteinander und wählten ein gemeinsames Oberhaupt, dessen Autorität
jedoch zeitlich begrenzt war.
Die Bäle-Bilia bewohnen den Süden Ennedis. Sie fühlen sich mit den
südlich von Ennedi lebenden Korbala, Zaghaua und Woge verwandt, von
denen sie kulturell beeinflußt wurden. Sie sprechen Bäleala, doch bestehen
gewisse Dialektunterschiede zwischen der Sprache der Bilia und jener der
Borogat.
Die Bilia hatten schon vor der französischen Besetzung einen gemein-
samen Häuptling, der früher aus dem Clan der Orala, gegenwärtig aus
jenem der Koliada stammt. Es besteht .ein starkes Zusammengehörigkeits-
gefühl der verschiedenen Bilia-Clans.
2. Die Gaeda: Sie gehören zu den Dazagada oder Goran. Nach ihren
Traditionen stammen sie von den Tundjer ab, sie haben jedoch Sprache und
Kultur der Daza angenommen. Nach der Vertreibung der Tundjer aus Wadai
durch Abd el Kerim ibn Yame, dem Gründer der Wadai-Dynastie, zog ein
Teil von ihnen nach Kanem, eine andere Abteilung flüchtete nach Norden
und ließ sich in Ennedi nieder. Es gelang ihnen, in Ennedi großen Einfluß und
Reichtum zu gewinnen. Sie konnten sich durch die Unterwerfung der Taola
(die zu den Bäle-Borogat gehören) die Weiden am Westrand und Nord-
westen von Ennedi sichern. Ihnen gehört auch die Saline Demi.
Beim Einmarsch der Franzosen spalteten sich die Gaeda in zwei Gruppen.
Ein Teil unterwarf sich sofort, der zweite Teil erst später. Seit dieser Zeit
gibt es zwei Gaeda-Fraktionen:
a) Gaeda-Rami
b) Gaeda-Hadjer.
Jede Fraktion hat einen eigenen Häuptling.
282
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
3. Die Anakaza. In Nord- und Westennedi nomadisieren mehrere Ana-
kaza-Clans, die von den Anakaza von Borku abgesplittert sind.
4. Die Tuba. In Nordwest-Ennedi nomadisiert eine Tubu-Gruppe, die
aus Tibesti ausgewandert ist. Einzelne Tubuclans findet man bei den Bäle.
Es handelt sich dabei um geflüchtete Mörder, die bei den Bäle Zuflucht fanden.
Sie haben die Kultur und Sprache der Bäle zum größten Teil angenommen.
5. Die Arna. Eine Abteilung der Arna nomadisiert in Nord- und Ost-
Ennedi. (Siehe weiter oben.)
6. Die Schmiede. Wie in allen Gebieten der Südost-Sahara findet man
auch in Ennedi einzelne Schmiedfamilien, die ihr Leben als Handwerker und
Jäger fristen.
Die Rückkehr der Expedition erfolgte mit einem Auto der Kolonial-
armee von Fada über Wadi Sala und dem Djurab nach Faya. Von Faya
wurde der Rückweg nach Tripolis über Zuar-Sebha mit einem Konvoi der
TAT angetreten.
Ergebnisse: Systematische ethnographische Aufnahme der Stämme Ennedis,
Ergänzungen zur Ethnographie Borkus.
Entdeckung zahlreicher Felsbilder.
Wissenschaftliche Filme und Photos. Ethnographische Sammlungen für das
Museum für Völkerkunde, Wien, und das Schweizerische Volkskundemuseum,
Basel.
4. Zentralafrika-Expedition
Die Expedition nach Zentralafrika wurde von Peter Fuchs, ohne euro-
päische Begleiter, in der Zeit von Januar bis November 1959 durchgeführt.
Mit dem Flugzeug wurde die Reise in Wien begonnen, sie führte über
Paris nach Fort Lamy, der Hauptstadt der Republik Tschad (ehemalige
französische Kolonie). Von Fort Lamy fuhr ich mit einem Lastkraftwagen
weiter. Die Route führte über Bokoro nach Mongo. Mongo ist das admini-
strative Zentrum des Hadjer-Gebirges (höchster Gipfel; Gera mit 1613 Me-
tern), das aus mehreren größeren und kleineren Massiven besteht, die insel-
artig aus einer weiten Ebene emporragen. In den Gebirgsmassiven lebt eine
„altnigritisch“ (im Sinne Baumanns) anmutende Negerbevölkerung, die nach
dem Gebirge, das sie bewohnt, „Hadjerai“ genannt wird.
Die Ebenen zwischen den Massiven sind von nomadischen und halb-
nomadischen Omar- und Missirie-Arabern bevölkert. Daneben gibt es eine
starke Gruppe seßhafter Dadjo, die aus Dar Für einwanderten und eine
Abteilung der Haddad, der im ganzen Raum Sahara-Sudan verbreiteten
Handwerker-Schmiede-Bevölkerung, die hier stark arabisiert ist. Eine andere
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
283
Fremdbevölkerung stellen die Yalna dar, ein Stamm, der sich aus Bulala-,
Sara-, Bagirmi-, Araber-Elementen zusammensetzt.
Eine ausgedehnte Rundreise zu den verschiedenen Stämmen der Hadjerai
brachte interessante und wichtige Aufschlüsse über diese Bevölkerung, die
in der Literatur nur selten erwähnt wird und bei denen bisher keine nennens-
werten Forschungen durchgeführt wurden. Eine der wichtigsten Aufgaben
der Zentralafrika-Expedition 1959 war daher, diese Lücke in der Völkerkunde
Afrikas nach Möglichkeit zu schließen.
Bei der ersten Kontaktaufnahme mit den Hadjerai stellte sich heraus,
daß der Zeitpunkt für intensive Forschungen augenblicklich ungünstig war.
Mitten in der Trockenzeit (Februar) war der größte Teil der männlichen
Bevölkerung in Wadai, Bagirmi, Kanem und dem Ostsudan unterwegs.
Es ist dies die Zeit der Besuche entfernter Verwandter, der Handelsreisen
und der Arbeitssuche in auswärtigen Bezirken. Viele Dörfer sind leer und
es ist schwierig, in dieser Zeit geeignete Gewährsmänner zu finden. Ich be-
schloß daher, die Reise vorerst fortzusetzen und einige Monate später zu
den Hadjerai zurückzukehren.
Mit dem LKW fuhr ich von Mongo nach Abu-Deia, Am Timane, Haraze.
Haraze ist das administrative Zentrum des Runga-Stammes.
Die Runga behaupten aus Wadai zu stammen. Alle Runga sind gegen-
wärtig islamisiert, doch existieren noch zahlreiche vorislamische Institutionen,
z. B. der „Häuptling der Erde“, der den Ahnen des Clans opfert, und ein
ausgeprägter Totemismus. Jeder Clan hat bis zu fünf Totems, meistens Tiere.
Das Totem geht auf den Clangründer zurück, dem das Totem einen be-
sonderen Dienst erwiesen hat. Bei einigen Clans wird das primäre Totem
als Ahne und Gründer des Clans betrachtet.
Mit Trägerkolonnen wurde die Expedition fortgesetzt, da große Teile
des Runga-Gebietes überschwemmt und für Fahrzeuge unpassierbar waren.
Trag- oder Reittiere können jedoch wegen der Tsetse-Fliegen nicht ver-
wendet werden. Die wichtigsten Orte, die von der Expedition berührt wur-
den, sind: N’Gide, Banang, Malap, Kambol, Kuga, Roya, Am Neema,
Sikikede, Bahr Karner, Meie, Gordil. In Gordil konnte die Reise mit einem
LKW nach Birao (über N’Guru) fortgesetzt werden.
Birao, unweit der sudanesischen Grenze gelegen, gehört zur Zentralafri-
kanischen Republik (früher Ubangi Schari). Es ist das administrative Zen-
trum der Kara, doch leben in dem Verwaltungsbezirk auch Gula, Sara, Ara-
ber und in den Monaten der Trockenzeit zahlreiche Fulbe (Bororo).
Mein Aufenthalt in Birao hatte vor allem den Zweck eindeutig festzu-
stellen, ob die Kara von Birao mit dem gleichnamigen Kara-Stamm von
Kanem verwandt sind, was der spärlichen Literatur über die beiden Völ-
284
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
Abb. 2. Kartenskizze zur Zentralafrika-Expedition 1959
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
285
ker nicht mit Sicherheit zu entnehmen war. Die Untersuchungen in dieser
Richtung hatten das Ergebnis, daß hier nur eine zufällige Gleichheit der
Stammesnamen vorliegt, und beide Völker in keinem direkten oder indirekten
Zusammenhang miteinander stehen. Die Kara von Birao dürften vielmehr
mit den historischen Kera identisch sein, die in der Geschichte Dar Fürs eine
große Rolle spielten. Ihr Kernland ist das Gebiet um Birao, doch lebten sie
bis zur Befriedung Dar-Furs durch die Engländer meistens im Sudan, als
berüchtigte Räuber und Krieger. Die Befriedung hat ihnen das moralische
Rückgrat gebrochen, der einst blühende Stamm erlebte einen raschen Nieder-
gang. Der größte Teil der Kara kehrte in ihr Kernland Birao zurück, man
findet Kara-Gruppen jedoch in vielen sudanesischen Städten, wie Rahad-el-
Berdi, Nyala und Daen.
Die Kara von Birao bieten ein Bild vollkommener Auflösung. Ihre ur-
sprüngliche Sprache haben sie fast völlig zugunsten von Arabisch aufge-
geben. Biologisch ist der Stamm im Verlöschen, da außergewöhnlich viele
Karafrauen unfruchtbar sind, die Familien nur wenige unterernährte und
schwächliche Kinder haben. Es ist dies ein interessantes Beispiel dafür, wie
der politische, wirtschaftliche und kulturelle Niedergang eines Volkes, der
durch ein äußeres Ereignis (eben die Befriedung des Landes) verursacht
wurde, auch ein biologisches Aussterben zur Folge haben kann.
Es wäre eine dringende Forschungsaufgabe, diesen Karastamm ethnogra-
phisch aufzunehmen, ehe er für immer verschwunden ist.
Die nächste Etappe von Birao nach Rahad-el-Berdi mußte mit Tragtieren
(Esel und Pferd) zurückgelegt werden. Das letzte Dorf auf dem Gebiet der
Zentralafrikanischen Republik (Ubangi Schari) ist Am Dafog, interessanter-
weise ein Sara-Dorf. Es gibt in diesem Gebiet mehrere Sara-Dörfer, auch in
Birao konnte eine starke Sara-Kolonie beobachtet werden, die jedoch durch
die Administration dorthin gekommen zu sein scheint, während die Sara-
Dörfer im Grenzgebiet bereits vor der Eroberung des Gebietes durch die
Kolonialmächte existiert haben. Das erste Dorf in der Republik Sudan (frü-
her Anglo-Ägyptischer Sudan) liegt nur einen Kilometer von Am Dafog ent-
fernt. Es ist das Dorf Boboe, das von Sara, Arabern und Leuten aus Bornu (!)
bewohnt wird, die wahrscheinlich durch einen Raubzug hierher verschleppt
wurden.
Das Gebiet zwischen Birao und Rahad-el-Berdi wird von den arabischen
Taaisha beherrscht, die riesige Rinderherden besitzen mit denen sie in der
Trockenzeit bis weit nach Westen über die Staatsgrenze hinaus vorstoßen,
auf der Suche nach Wasser für ihre durstenden Tiere. Bis in die Gegend von
Rahad-el-Berdi konnten auch Gruppen der Fulbe-Bororo beobachtet werden.
286
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
22£
14c
F5C
12‘
11c
10°
25c
24°
2FC
26c
2 7C
28c
29c
c 9 Qertei ÜE7 Basfjcr o t2—
< \ » • ^alin^ei -P y A A (EwJdahud
—7— i i \ V-\ / ► A • -xi • elBerdi JMyala V T)aen 0 °o
I \ Birao 0 k Ay \ ^ \ \ *. \ T2J2 bahr EL^ —- > A
A Dv x % i t i * f A Stifaf a
• Uanäa~ die G i <J A yAweiC ^ A
V t > \ " V dWau dTonj •
14°
iy
12°
IV
10°
7°
22° 25° 24° 2<p° 26° 27° 28c
Abb. 3. Kartenskizze zur Zentralafrika-Expedition 1959
2 9C
Rahad-el-Berdi, ein großer Markt, ist der Sitz des Sultans der Taaisha
(gegenwärtig Sultan Ali Senussi, ein alter Herr, der noch Slatin Pascha ge-
kannt und im Mahdi-Krieg mitgekämpft hatte).
Von Rahad-el-Berdi nach Nyala fuhr ich wieder mit einem Lastkraft-
wagen. Nyala ist der wichtigste Ort im südlichen Dar Für, eine Stadt der
Kaufleute, unter ihnen zahlreiche Griechen, Levantiner und Syrier.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
287
Von Nyala ging die Fahrt weiter nach Südosten. Daen ist auf dieser Piste
die nächste größere Stadt. Ähnlich wie Nyala ist auch Daen hauptsächlich
Handelsstadt (es gibt in der Republik Sudan einen sehr intensiven Binnen-
handel), wenn auch bedeutend kleiner als Nyala. Daen dürfte seine Bedeu-
tung erst in den letzten Jahrzehnten erhalten haben, da es auf den eng-
lischen Karten von 1914 noch nicht eingezeichnet ist. Nach dem Abzug der
Engländer aus Dar Für hat der Sultan der Rizegat-Araber seinen Sitz in
Daen aufgeschlagen.
Von Daen führt die Piste südwärts. Bei Safaha trifft sie auf den Bahr-
el- Arab. Dieser Fluß stellt die ethnische Grenze zwischen Dar Für und der
angrenzenden Provinz Bahr-el-Ghazal dar (die administrative Grenze ver-
läuft etwa 50 km südlich von Safaha). Hier, am Bahr-el-Arab treffen Araber
und Niloten zusammen. Safaha ist kein Ort mit festen Gebäuden sondern
ein Handelsplatz. Hierher kommen alljährlich die nordsudanesischen Händler
mit ihren Waren, bauen am Nordufer des Flusses ihre Buden auf, während
der Fluß selber und das Südufer von den Dinka (Malwal-Dinka) bevölkert
ist, die hier ihre Fisch- und Viehlager aufgcschlagen haben.
Bis zum Beginn der Regenzeit wird in Safaha ein intensiver Handel
zwischen den beiden Gruppen betrieben, dann ziehen die Händler nach
Daen, Nyala und El Obeid zurück, um im nächsten Jahr, sobald die Pisten
wieder befahrbar sind, wiederzukommen.
Streifzüge im Gebiet der Dinka wurden zum Teil mit dem Auto, zum
Teil mit Trägerkolonnen durchgeführt. Bei dieser Gelegenheit wurden vor
allem Tonbandaufnahmen und Studien zum Problem des Totemismus bei
den Niloten gemacht. Die wichtigsten Orte, die dabei berührt worden sind:
Nyamlell, Aweil und Wau.
Nach Abschluß der Studien bei den Dinka wurde die Reise über Daen,
Nyala, Zalingei, El Geneina, Abecher, Ati und Fort Lamy fortgesetzt. In
Fort Lamy wurden Ausrüstung und Vorräte ergänzt, und nach kurzem Auf-
enthalt die Expedition mit einem Lastkraftwagen fortgesetzt. Die Route
führte über Massakori, Mao nach N’Guri in Kanem. N’Guri ist das Zen-
trum des Haddad-Stammes.
„Haddad“ ist ein arabisches Wort und bedeutet „Schmied“, Im ganzen
Raum der zentralen Sahara und des Sudan findet man Gruppen dieser
„Haddad“. Oft sind es nur vereinzelte Familien, die sich als Handwerker,
Spielleute und Heilpraktiker einem Häuptling oder reichen Manne ange-
schlossen haben, der eine Art Patronat über sie ausübt, an den sie jedoch
nicht fest gebunden sind und den sie jederzeit verlassen können. Die soziale
Stellung dieser „Haddad“-Gruppen ist sehr interessant, denn einerseits sind
sie verachtet und werden den Sklaven gleichgestellt, andererseits fürchtet man
19 Baessler-Archiv VIII
288
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
sie als Magier, Spione, Kuppler und Berater einflußreicher Leute. Sie stehen
„außerhalb der Gesellschaft“ und werden für ihre Taten fast nie zur Ver-
antwortung gezogen. Die meisten Schmiedefamilien leben schon seit Genera-
tionen bei einem Stamm, dessen Sprache und Sitten sie vollständig ange-
nommen haben, und es gelingt nur selten, Angaben über ihre Herkunft und
Wanderung zu erhalten.
Nur in der Gegend von N’Guri gibt es einen größeren geschlossenen
Stammesverband von „Haddad“ und der Schluß lag nahe, hier den Ursprung
dieses Volkes zu suchen.
Die Forschungen, die ich in N’Guri unter besonders günstigen Umständen
durchführen konnte, brachten tatsächlich in dieser Richtung einige bemerkens-
werte Ergebnisse.
Die Haddad von Kanem nennen sich selber „Do“. Sie sprechen ausschließ-
lich die Sprache ihrer Kanembu-Nachbarn. Es gibt eine große Anzahl von
Clans, wobei jeder Clan auf ein bestimmtes Handwerk spezialisiert ist. Die
Mitglieder des Darka-Clans (aus dem der gegenwärtige Sultan stammt) sind
z. B. Weber und Schuhmacher, die Adjurubi sind Färber (Indigo), die Kuri
Sattler, die Kokolia vor allem Schmiede, die Sojaseseja Jäger.
Es scheint, daß die Haddad aus einem Steppenjägervolk hervorgegangen
sind, dessen Ursprung vorläufig unbekannt ist. Jagd wurde mit vergifteten
Pfeilen, Netzen und Fallen betrieben. Die im großen Maßstab betriebene
Ausrottung des Wildes (Antilopen und Gazellen) zwang nach und nach
die verschiedenen Clans, die Jagd aufzugeben und den Lebensunterhalt durch
Ausübung eines Handwerkes sicherzustellen. Einige Clans sind jedoch bis zum
heutigen Tag Jäger geblieben.
Die Haddad standen in enger Verbindung mit den früher in Kanem an-
sässigen Bulala, vermutlich stammen einige Haddad-Clans direkt von den
Bulala ab. Jedenfalls ist Kanem das Kernland der Haddad, von wo kleinere
Gruppen abgesplittert sind und sich über die endlosen Weiten der Wüste und
Steppe zerstreut haben.
Mit Kamelen wurde die Expedition von N’Guri nach Digidada, N’Golio,
Bol fortgesetzt.
Bol ist der Verwaltungsposten am Tschad-See. Mit einem Motorboot fuhr
ich von Bol nach Baga Sofia, dem bedeutenden Natronhafen, setzte die Reise
mit Kamelen fort und gelangte über Kaya, Liwa nach Limboi, dem Sitz
des Sultans der Buduma-Maibulua. Mit einem Schilfboot (Kadej genannt)
wurden die Inseln Fodjo, Sudia, Kadulu, Aburam und Fiarom besucht.
Es gibt vier Clans der Buduma, mit je einem Häuptling (Kora) an der
Spitze.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
289
1. Buduma-Maibulua, mit dem Zentrum Limboi.
2. Buduma-Budja, mit dem Zentrum Tatebirom.
3. Buduma-Guria, mit dem Zentrum Bol.
4. Buduma-Kelea, mit dem Zentrum Kangalam.
5. Buduma-Maidjuadja. Sie haben kein Zentrum und keinen Häuptling.
Der Clan ist völlig zersplittert, seine Mitglieder leben unter den anderen
Clans.
Alle diese Clans, mit Ausnahme der Kelea, stammen von den So oder
Sao ab, jenem sagenhaften Volk, das von den Bornu-Königen mehr oder
weniger ausgerottet wurde. Den Buduma ist ihre Abstammung von den Sao
bekannt und bewußt, wenn sie sich auch nicht gerne dazu bekennen, denn
die Sao waren „Heiden“, während die heutigen Buduma strenggläubige
Mohammedaner sind. Die Buduma-Kelea leiten ihre Herkunft von einem
eingewanderten Tubu ab.
Von Limboi wurde die Reise mit Kamelen nach Liwa fortgesetzt, von
dort mit einem Auto nach Bol, Rig Rig, Kiskaua, wieder nach Bol zurück,
dann weiter nach Fort Lamy und Mongo, von dort nach Korbo und Sara.
Von Sara nach Mukulu reiste ich mit Pferd und Kamelen. Mukulu ist
das Zentrum der Djonkor, hier wurden die wichtigsten Forschungen zur
Ethnographie der Hadjerei durchgeführt.
Unter dem Namen Hadjerai werden folgende Volksgruppen zusammen-
gefaßt:
1. Die Djonkor. Ein Teil der Djonkor wohnt im Gera-Massiv (man nennt
sie daher Djonkor-Gera), eine zweite Gruppe im Massiv von Abu Telfan
(Djonkor-Abu Telfan). Ursprünglich lebten beide Gruppen im Gera, doch
kam es infolge von Streitigkeiten zur Auswanderung der Djonkor-Abu Telfan.
Beide Gruppen sind sich ihrer ethnischen Zusammengehörigkeit bewußt. Sie
gelten als die ältesten Einwohner des Hadjer-Gebirges. Bevölkerungszahl:
zirka 22 000.
2. Die Kenga. Ihr Zentrum ist das Massiv von Ab Tujur. Sie sind kul-
turell mit den Djonkor verwandt. Bevölkerungszahl: zirka 22 800.
3. Die Dangaleat. Sie bewohnen das Gebiet um Korbo. Bevölkerungszahl:
zirka 19 000.
4. Die Bidio. Ihr Zentrum ist Niergui. Bevölkerungszahl: zirka 13 300.
5. Die Koffa. Sie leben in den nach ihnen benannten Koffa-Bergen. Ihre
ethnische Zugehörigkeit zu den oben erwähnten Volksgruppen ist nicht ab-
solut gesichert.
Innerhalb der einzelnen Volksgruppen gibt es eine Anzahl von Stämmen,
die man jedoch besser als Dorfverband bezeichnet. Jeder dieser Dorfverbände
19*
290
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
besteht aus mehreren Dörfern, die einem Häuptling unterstehen. Er hat neben
seinen politischen auch kultische Funktionen.
Jedes Dorf wird von einem Clan bewohnt. Oberhaupt des Clans ist das
älteste männliche Clanmitglied.
Die Hadjerai sind Bauern, sie pflanzen hauptsächlich Hirse, Bohnen,
Sesam, Erdnüsse und etwas Baumwolle, gelegentlich auch Mais. Vor der
Befriedung des Landes lebten sie ausschließlich auf den steilen, schwer zu
besteigenden Gebirgsmassiven, wo sie rund um die Dörfer Terrassenfelder
anlegten. Gegenwärtig wohnt ein großer Teil der Bevölkerung am Fuß der
Berge oder in der Ebene. Die Kultplätze befinden sich jedoch fast ausschließ-
lich auf den Bergen.
Das ganze Leben der Hadjerai, jede ihrer Handlungen wird von den
Margai beherrscht.
Die Margai sind Naturgeister, Dämonen, die in allen Dingen leben, die
groß und eindrucksvoll sind (Bäume, Flüsse, Felsen usw.). Der Mensch hat
die Möglichkeit, sich mit einem oder mit mehreren dieser Margai zu verbin-
den, wenn er dem Margai einen Altar errichtet und ihm opfert.
Die Margai können töten, sie sind die Ursache von Krankheiten, Seuchen
und Naturkatastrophen, sie verschaffen aber auch Reichtum und Macht. Es
gibt gute und böse Margai. Wenn man einen Margai erwirbt, weiß man nie,
welche Eigenschaft er nun tatsächlich hat. Es gibt männliche und weibliche
Margai, jeder hat einen Namen, den er durch ein Medium bekanntgibt. Die
Medien sind ausschließlich Frauen, die bei bestimmter Gelegenheit in Trance
geraten. Durch sie spricht der Margai, gibt Auskünfte, Wünsche und Forde-
rungen bekannt. Nicht alle Frauen eignen sich als Medium, doch gibt es in
jedem Dorf verband mehrere. Die Medien sind verheiratet und unterscheiden
sich im Alltag nicht von den anderen Frauen des Dorfes.
Nicht jeder Margai ist gleichmächtig, es gibt vielmehr eine Margai-Hier-
archie. Man unterscheidet:
1. Margai, denen von allen Hadjerai geopfert wird.
2. Margai der Dorfverbände. Jeder Dorfverband hat einen Margai, der
von allen seinen Dörfern anerkannt wird.
3. Margai der Clans.
4. Margai der Sippen.
5. Margai der Familien.
6. Individuelle Margai.
Die Opfer für die Margai des ersten und zweiten Ranges verrichtet der
Häuptling des Dorfverbandes, der gleichzeitig Margai-Priester ist. Den ande-
ren Margai opfert das älteste männliche Mitglied des Clans, der Sippe usw.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
291
Innerhalb des Dorfverbandes spielen die Propheten eine überragende
Rolle. Sie sind die geistigen Führer, ideelle Strömungen gehen stets von
ihnen aus. Die Propheten haben keine Würdezeichen, keine offiziellen Funk-
tionen und unterscheiden sich äußerlich nicht von den anderen Dorfbewoh-
nern. Jeder Erwachsene des Dorfverbandes kennt die Propheten, ihre Iden-
tität wird jedoch vor allen Fremden streng geheimhalten, da man fürchtet,
ein Fremder könnte einen Propheten töten oder entführen. Man ist ängstlich
bemüht, sie vor jeder Gefahr zu schützen, woraus die große Bedeutung er-
sichtlich ist, die man den Propheten beimißt.
Die Fiadjerai stellen ohne Zweifel ein sehr altes Bevölkerungselement dar,
sie sind jedoch nicht die Ureinwohner des Landes. In ihren Überlieferungen
behaupten sie eine Herkunft aus Osten oder Südosten. In den Clantraditionen
finden sich einige Hinweise auf eine vermutlich jägerische Urbevölkerung.
Nach dem Ende der Regenzeit verließ ich Mukulu und setzte zu Pferd
und mit Tragochsen die Reise nach Mongo, Um Hadjcr, Abecher fort. Von
Abecher, der Residenz des Sultans von Wadai, begab ich mich mit einem
Lastkraftwagen nach Arada, Um Chaluba, Fada, wo einige Ergänzungen zur
Soziologie der Bäle aufgenommen wurden. Ebenfalls mit dem Lkw kehrte
ich nach Abecher, von dort über Ati nach Fort Lamy zurück. Der Rückflug
führte über Paris nach Wien.
Ergebnisse:
Systemtaschie ethnographische Aufnahme der Hadjerai, besonders der
Djonkor des Hadjer-Gebirges (Süd-Wadai).
Systematische ethnographische Aufnahme der Haddad von Kanem.
Studien zur Herkunft und Wanderung der Runga.
Studien zum Ursprung der Kara.
Studien zum Totemismus der Dinka.
Studien über die Buduma des Tschad-Sees.
Abschließende und ergänzende Studien zur Soziologie der Bäle von
Ennedi.
3000 Meter wissenschaftliche Filmaufnahmen.
3000 Photos.
Zahlreiche Tonaufnahmen.
Ethnologische Sammlungen für das Museum für Völkerkunde, Wien, und
das Linden-Museum, Stuttgart.
Literatur
Fuchs, P. Über das Königtum der Hoggar-Tuareg. Wiener Völkerkundliche Mit-
teilungen, Jahrg. 1, Nr. 1, Wien 1953.
Fuchs, P. Über die Tubbu von Tibesti. Archiv f. Völkerkunde, Bd. XI, Wien 1956.
292
Fuchs, Forschungen in der Südost-Sahara und im Zentralen Sudan
Fuchs, P. Felsmalereien und Felsgravuren in Tibesti, Borku und Ennedi. Archiv f.
Völkerkunde, Bd. XIII, Wien 1957.
Fuchs, P. Weißer Fleck im schwarzen Erdteil. Stuttgart 1958.
Fuchs, P. Bäle (Südost — Sahara — Ennedi) Narbentätowierung der Mädchen.
Encyclopaedia Cinematographica, Nr. E 180, Göttingen 1958.
Fuchs, P. Unja (Südost — Sahara — Ennedi), Kampfspiel mit Schild und Schwert.
Encyclopaedia Cinematographica Nr. E 181, Göttingen 1958.
Fuchs, P. Forschungen in Wadai. Wiener Völkerkundliche Mitteilungen, VII. Jahrg.
N.F. Bd. II, Nr. 1—4. Wien 1959.
Schiffers, Fi. Neuere Forschungen in der Sahara. Petermanns Geographische Mit-
teilungen, Gotha 1960.
Fuchs, P. Der Margai — Kult der Hadjerai. Mitteilungen der Anthropologischen
Gesellschaft, Bd. 90, Wien 1960.
Fuchs, P. Djonkor (Zentralafrika, Süd-Wadai), Margai — Kult. Encyclopaedia
Cinematographica, Nr. E 352, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Djonkor (Zentralafrika, Süd-Wadai), Begräbnis einer Frau. Encyclopae-
dia Cinematographica, Nr. E 353, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Djonkor (Zentralafrika, Süd-Wadai), Töpfern eines Kruges. Encyclopae-
dia Cinematographica, Nr. E 351, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Haddad (Zentralafrika — Kanem), Silberguß in verlorener Form. Ency-
clopaedia Cinematographica, Nr. E 362, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Haddad (Zentralafrika — Kanem), Weben am Trittwebstuhl. Encyclo-
paedia Cinematographica, Nr. E 361, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Omar — Araber (Zentralafrika, Süd-Wadai), Festtanz. Encyclopaedia
Cinematographica, Nr. 365, Göttingen 1960.
Fuchs, P. Die Völker der Südost-Sahara. Wien 1960.
In Vorbereitung:
Fuchs, P. Die Djonkor und ihr Kult.
Fuchs, P. Die Haddad von Kanem.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
293
EIN TRICHTERFÖRMIGES GEFÄSS IM PUC ARA-STIL
aus der Sammlung des Berliner Museums für Völkerkunde
DIETER EISLEB, Berlin
Das Stück aus der Sammlung Uhle befindet sich seit 1895 im Besitz des
Berliner Museums und trägt die Katalognummer V A 11902. Die Katalog-
angaben lauten: „Tönerne Trompete (Nachtwächterhorn) mit einem von
Strahlen umgebenen Gesicht, auf der Röhre eingeritzt. In einem Subterraneo
in den Pampas zwischen Copacabana und Cusijata (also XU Legua von
Copacabana) gefunden“ (Abb. 1).
Die Länge des Objektes beträgt 27 cm, der Durchmesser der trichter-
förmigen Öffnung 9 cm, der Durchmesser unterhalb des Gesichtes 4,5 cm.
Der Form nach ist es eine Tonröhre, deren Wand sich zum Trichter hin
Abb. 1. VA 11902
294
Eisleb, Ein trichterförmiges Gefäß im Pucara-Stil
gleichmäßig verdickt, während der lichte Durchmesser der Röhre konstant
bei 1,5 cm bleibt. Oben verbreitert sich die Wand becherförmig und schließt
mit einem 2 cm breiten leicht nach innen neigenden Rande ab. Auf der
sogenannten Rückseite befindet sich eine kleine Öse, und am unteren Ende
ist unterhalb der Ritzungen ein schwach und ungleichmäßig ausgearbeiteter
Absatz in der äußeren Röhrenwand festzustellen.
Ein menschliches Gesicht ist flachreliefartig in der Mitte ausgearbeitet.
Augen, Nase und Mund treten hervor, während Stirnschmuck (?), Ohren (?)
und sogenannte Tränenspur eingeritzt sind. Das Gesicht ist von einem Kopf-
Baessler-Archiy, Neue Folge, Band VIII
295
schmuck1 umgeben, der eingeritzt ist und an ähnliche Darstellungen des
Tiahuanacostiles erinnert. Die meisten Teile dieses Schmuckes sollen wohl ein-
deutig Federn darstellen, während zwei mit Ringen abschließen, wie sie
wiederum vom Tiahuanacostil bekannt sind. Das ganze ruht auf einem ein-
geritzten stufenförmigen dreifachen Podest, wofür die gleichen Parallelen
gelten wie oben. Der Vergleich der angeführten Elemente mit denen der
Zentralfigur des Sonnentores ist nicht schwer (Abb. 2).
Der abschließende Rand ist mit einem eingeritzten geometrischen Fries
versehen.
Die Bemalung Ist größtenteils zerstört, doch lassen sich Farbreste von gelb,
rot und schwarz feststellen. Rot scheint die Grundfarbe des ganzen Gefäßes
gewesen zu sein. Teile des Kopfschmuckes waren winkelförmig schwarz-gelb
bemalt, wodurch der Gedanke an Federn verstärkt wird. Unterhalb des
geometrischen Frieses sind auf der Trichterwand schwarze Winkel auf rotem
Grund ohne Ritzungen noch gut zu erkennen. Die Felder des geometrischen
Frieses sind offenbar abwechselnd rot-schwarz, gelb-rot, gelb-schwarz bemalt
gewesen.
Oberhalb der unteren Öffnung der Röhre sind deutliche Reste einer harz-
artigen Masse festzustellen.
Die Ausführung des ganzen Stückes ist sehr unsorgfältig, was die Uneben-
heit der ganzen Form, die unsicheren und ungleichmäßigen Ritzungen und
selbst die Reste der Bemalung zeigen. Dies scheint auf eine „bäuerliche“ oder
provinzielle Fabrikation zu weisen, wenn man auch annehmen darf, daß das
Objekt nur für den kultisch-rituellen Gebrauch bestimmt war und nicht für
den alltäglichen.
Die Zuweisung zum Pucara-Stll ist hauptsächlich durch die Ritzungen
und die Farben gelb, rot, schwarz bei rotem Grundton gerechtfertigt2. Man
vergleiche auch den geometrischen Fries mit dem des Scherbens im Völker-
kundemuseum München3. Trotzdem ist bei dem Berliner Stück ein starker
Tiahuanaco-Einfluß nicht zu verkennen.
Bennett4 bildet das Fragment einer Tonröhre ab, das der äußeren Form
nach, Röhre und Trichter, unserem Stück ähnlich ist, während die Röhren
von Chiripa in der Form und im Dekor ab weichen.
1 M a x U h 1 e : Wesen und Ordnung der altperuanischen Kulturen. Bibliotheca
Ibero-Americana, Band 1, Berlin 1959 S. 60/61.
1 W. C. Bennett: Archeology of central andes. Handbook of south american
indians, Vol. 2, 1946. S. 121.
3 H. Ubbelohde-Doering: Kunst im Reiche der Inka. Tübingen 1952,
Tafel 128.
4 W. C. Bennett: a.a.O. Tafel 37, Nr. c.
296
Eisleb, Ein trichterförmiges Gefäß im Pucara-Stil
Zu beachten ist der Fundort Copacabana, der weit außerhalb des Pucara-
gebietes liegt und eine Verbreitung dieses Stiles auch am Südwestrande des
Titicacasees zeigt.
Dieses Stück stellt das einzige Pucaragefäß der Berliner Sammlungen dar
und wohl eines der wenigen vollständig erhaltenen Pucaragefäße überhaupt.
Über den Verwendungszweck des Berliner Stückes ist mit Sicherheit nichts
auszusagen. Man könnte erstens an eine Trompete denken und dabei die
beiden „Trompeter“ vom Fries des Sonnnentores in Tiahuanaco im Sinn
haben5). Bei der Deutung dieses Frieses durch Uhle6 7 bedeutet der auf dem
Antlitz der Sonne stehende „Trompeter“ „den Sturm, der die Sonne be-
drohte“. Uhle sieht also das Instrument dieser Figur als eine Trompete an'.
Ist es auch in der Form von unserem Stück etwas verschieden, so sind doch
auf der Berliner Röhre einwandfreie trompetenartige Töne hervorzubringen.
Allerdings muß eingewendet werden, daß auch auf Ton- und sonstigen Röh-
ren, die bestimmt keine Trompeten sind, solche Töne erzeugt werden können.
Der oben angeführte Harzrest am unteren Ende legt die Vermutung nahe,
daß mit Harz ein Ansatz als Mundstück an der Röhre befestigt gewesen sein
könnte. Durch diesen besseren Ansatz könnten die Töne reicher variiert wor-
den sein, als es jetzt möglich ist.
Auf der anderen Seite ist jedoch zu beachten, daß das Innere der Röhre
und die untere Hälfte der Innenseite des Trichters verrußt sind. Diese Tat-
sache kann auf die Verwendung als Rauchrohr oder eher als sogenannter
„Zigarrenhalter“ hinweisen. Damit wäre auch die Tatsache erklärt, daß nur
der untere, der an die Röhre anschließende Teil des Trichters verrußt ist,
nämlich dort, wo beim Rauchen der Tabak direkt mit dem Objekt in Berüh-
rung kommt8.
Nordenskiöld9 schreibt, daß das Rauchen im alten Peru nicht vorgekom-
men sei, da man dort Coca kaute. Er weist mit Recht darauf hin, daß das
Rauchen in den Reisebeschreibungen und Berichten der Eroberungszeit nicht
erwähnt wird. Dies ist zu beachten, denn von diesem, dem damaligen Euro-
5 Max Uhle: a.a.O. S. 69, Abb. D.
6 Max Uhle : a.a.O. S. 66.
7 Dr. H. D. Disselhoff teilte mir mit, daß D. E. Ibarra-Grasso der
festen Überzeugung ist, daß es sich hier um keine Trompete, sondern um ein
Rauchrohr handelt.
8 Dr. H. D. Disselhoff und Dr. H. Walter teilten mir freundlicherweise
mit, daß sie während ihrer Bolivien-Expedition 1958 in Huancarani/Dept. La
Paz und Sora Sora/Dept. Oruro an der Oberfläche Fragmente von Tonröhren
fanden, die zum Teil auf der Innenseite verrußt waren. Das bedeutet, daß diese
Erscheinung nicht einmalig ist, wenn auch sichere Schlüsse daraus nicht gezogen
werden können.
9 Erland von Nordenskiöld: Südamerikanische Rauchpfeifen. Globus
1908, Band XCIII,
Baessler-Archiy, Neue Folge, Band VIII
297
Abb. 3. Schematische Darstellung einer Holzröhre nach
G. Stahl, M. f. V. Berlin
päer fremden Genußmittel, wäre bestimmt berichtet worden. Ebenso ist der
Ersatz durch Coca einleuchtend.
G. Stahl10 beschreibt in einem Artikel, der auf dem oben genannten von
Nordenskiöld fußt, Elolzröhren aus dem Besitz des Berliner Museums, die
er als Rauchrohren bezeichnet (Abb. 3). Beim Betrachten eines dieser Stücke11
fanden sich jedoch keine Rußreste im Inneren, ganz abgesehen davon, daß
auch auf dieser Röhre trompetenartige Töne hervorzubringen sind. Fiinzu
kommt, daß das Innere des Mundstückes dem eines normalen Trompeten-
mundstückes entspricht und einen guten Ansatz erlaubt.
Stahl nimmt wegen dieser „Rauchrohren“ an, „daß die Sitte des Rau-
chens jedenfalls zu irgendwelcher vorkolumbischen Zeit in Peru bekannt war.
10 Günther Stahl: Tabakrauchen in Südamerika. 21. Internationaler Amerika-
nistenkongreß, Göteborg 1924.
11 Die anderen Röhren sind durch die Kriegseinwirkungen zur Zeit nicht greifbar.
298
Eisleb, Ein trichterförmiges Gefäß im Pucara-Stil
Es ist möglich, daß sie durch das Cocakauen ersetzt worden ist und daß zur
Zeit der Eroberung dieser Wandlungsprozeß schon lange seinen Abschluß
erreicht hat. Diese Tatsache würde auch das Fehlen jeglicher Bemerkung über
das Rauchen in den alten Quellen erklären“.
Somit steht Aussage gegen Aussage. Nichts läßt sich mit Sicherheit erklä-
ren. Es fehlen auch Vergleichspunkte, die den Verwendungszweck des hier
behandelten Stückes erhellen könnten. Verfasser neigt zu der Ansicht, daß cs
sich um ein Rauchrohr („Zigarrenhalter“) handeln kann. So muß, nachdem
manches Für und Wider 'dargelegt wurde, das Stück in der Diskussion bleiben,
bis einmal sicher geklärt werden kann: Trompete oder Rauchrohr.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
299
Aus der Abteilung für kulturelle und physische Anthropologie
des „Koninklijk Instituut voor de Tropen“ Amsterdam
ZUM PROBLEM DER C H A C M O O L - F I G U R E N
Dr. FI A N S F E R I 2 , Amsterdam
Die Kataloge der Ausstellungen Mexikanischer Kunst, die im vergangenen
Jahr in verschiedenen europäischen Hauptstädten abgehalten wurden, ver-
zeichneten die bekannten Chacmool-Figuren als Standbilder des Regengottes.
Zweifellos ist diese Determination auf die weit verbreitete, in jüngster
Zeit noch durch die Autorität Krickebergs und Disselhoffs ge-
stützte Auffassung zurückzuführen, daß die dargestellte Figur eine Gottheit
repräsentiert — wenn auch nicht überall dieselbe.
Gegen diese Auffassung bestehen jedoch auch schwerwiegende Bedenken.
Wie bekannt, ist der Name C h a c m o o 1 völlig willkürlich von meinem
phantasiereichen, ärztlichen Kollegen Le Plongeon, 1875 (Salisbury), der
das Monument für ein Götterbild hielt, erfunden worden. Aus diesem Namen
kann demnach keine Beziehung zu der Regen-Gottheit der Maya Chac ab-
geleitet werden. Das Fehlen der Chacmool-Figuren in Teotihuacan und im
sogenannten Alten Reich der Maya weist überdies auf den toltekischen Ur-
sprung der Figur, die dann von anderen Kulturen übernommen wurde.
Nach Covarrubias (p. 272) soll die Statue bei den Tarasken den
Feuergott repräsentiert haben und in Tula „perhaps a sort of fire-god or a
deity of fertility“ — jedenfalls keinen Regengott, denn die Maske Tlalocs
wird von einer anderen Figur getragen. Dazu ist zu bemerken, daß die
Stirne der vermutlich taraskischen Chacmool-Skulptur von Ihuatzio
(Michoacan), die von Krickeberg (p. 514) abgebildet wird, mit Blumen
bekränzt zu sein scheint, was wohl eher zu einer opfernden Figur als zu
einer Gottheit paßt. Disselhoff spricht von einer liegenden Gottheit
ohne ihren Charakter zu präzisieren und Krickeberg weist mit Recht
darauf hin, daß die mexikanische Chacmool-Figuren in den verschiedenen
Kulturkreisen verschiedene Abzeichen tragen. Die toltekischen von Tula
und Chichenitza tragen das Zeichen des Schmetterlings, dasselbe Zeichen wie
die Krieger und die Atlanten des Morgensterntempels. Ist es schon unerhört,
daß hohe Gottheiten als Atlanten, also als dienende, tragende Figuren dar*
gestellt werden — so ist das Fehlen göttlicher Regalien an den Chacmool-
Figuren selbst in höchstem Maß signifikant; der rechteckige Ohrschmuck kann
ebensowenig wie die Priesterbinde als charakteristisches Attribut der Gottheit
3oo
Feriz, Zum Problem der Chacmool-Figuren
gelten. Auch die Lokalisation der Skulpturen vor dem Tempel — also nicht
in dem eigentlichen Altarraum — spricht gegen ihre Bedeutung als Abbild
eines Gottes!
Dazu kommt noch, daß die dargestellte Persönlichkeit dort, wo die Statuen
in situ gefunden wurden, stets von dem Heiligtum wegblickt auf die Gläubi-
gen, die sich nähern, um ihre Gaben in der Opferschale zu deponieren. Merk-
würdig ist eine von W i n n i n g beschriebene Chacmool-Figur aus Tlascala,
die an Stelle des Kopfes eine runde Höhlung hat. Von Winning glaubt,
daß der Kopf beweglich war und verloren gegangen ist. Die Vermutung ist
aber nicht zwingend, zumal an den Seiten der Figur kopflose Chacmool-
Figuren in Relief dargestellt sind. Die Statue dürfte demnach ursprünglich
keinen Kapf gehabt haben und die Höhlung am Hals könnte zur Aufnahme
einer besonderen Opfergabe, vielleicht sogar des Herzens eines Geopferten
gedient haben. Die Lokalisation der Skulptur außerhalb des Heiligtums unter
freiem Himmel — im Angesicht der Sonne, könnte so erklärt werden. Aber
dann kann das Bild nicht den Gott selbst personifizieren. Ein typischer
„Quauhxicalli“, eine Herzschale, war der Chacmool im Allgemeinen sicher
nicht. Dazu ist die Höhlung der für das Opfer bestimmten Scheibe meist zu
flach — oft fehlt sie ganz! Bei den vielen genauen Beschreibungen des Herz-
opfers, die uns überliefert sind, spricht die Tatsache, daß die Chacmool-Figu-
ren nirgends erwähnt oder abgebildet wurden, sehr stark gegen die Annahme,
daß sie bei der Darbringung der Herzen eine Rolle gespielt haben.
Daß die aztekischen Chacmool-Statuen stets den Regengott Tlaloc
repräsentieren, wie aus einer diesbezüglichen Bemerkung Krickebergs
(p.317) hervorzugehen scheint, darf ebenfalls bezweifelt werden. Das auf einigen
dieser Statuen gefundene, charakteristische Gesicht Tlaloc’s auf der Oberseite
der Opferschale und auf der Unterseite des Sockels inmitten einer von Schnek-
ken und anderen Seetieren belebten Wasserfläche, ist kein Indicium für
die Annahme, daß der dargestellte Mann selbst der Regengott ist. Diese
Skulpturen dürften Priester Tlalocs in ihrer sakralen Tracht darstellen. Wenig
spricht dafür, daß die Figur, die die Opferschale hält, den Gott selbst per-
sonifizieren soll — und vieles spricht dagegen. Die aztekische Chacmool-
Skulptur des Musee de l’homme (Basler) trägt keinerlei göttliche Abzeichen
und die von Krickeberg (p. 471) abgebildete Statue aus Mörtel von
Cempoala hat schon gar nichts göttliches an sich! Kann man sich ein
Götterbild denken, das sich selbst Opferspenden an-
bietet oder die leere Opferschale — wie den Napf eines Bettelmönches vor
die Brust hält? —, einen Gott, der von der ihm dargebrachten Gabe weg-
blickt?! Die Frage stellen heißt sie beantworten. Meines Erachtens sind alle
Chacmool-Plastiken Opferaltäre, die vor den Heiligtümern verschiedener
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
301
Abb. 1. Chacmool von Tzintzuntzan (nach Jose Corona Nunez)
Gottheiten standen und die formal der uralten, traditionellen Darstellung
eines Opfernden (eines ein Opfer anbietenden Menschen) folgten, die in dem
gesamten altindianischen Kulturraum — ja selbst in Südostasien und Poly-
nesien nachweisbar ist. Auch Acosta schreibt den Chacmool-Figuren eine
dienende Funktion zu. Wenn es Götterbilder gewesen wären, müßte man die
Figuren in einem Codex finden — was nicht der Fall ist.
Wenn aber die Chacmool-Figur die Verkörperung eines Flimmelsboten
wäre, der die Gaben der Menschen den Göttern überbringen sollte (Jose
Corona Nunez, 1952), dann ist seine Rückenlage auf einem flachen
Bett mit Schulterstütze und sein seitlich schräg nach oben abgewendetes Ge-
sicht, in dessen gespanntem Ausdruck Devotion und Erwartung liegen, schwer
zu erklären.
Die von ihm abgebildete Chacmool-Statue von Tzintzuntzan demon-
striert die aufwartende Funktion des dargestellten Mannes überdeutlich
(Abb. 1). Die Figur zeigt, abgesehen von der mehrfachen Knöchelbinde und
der Andeutung von kleinen, runden Ohrpflöcken, keinerlei Schmuck.
K e 1 e m e n (p. 14) kommt meines Erachtens der Bedeutung dieser charak-
teristischen Skulpturen am nächsten, wenn er sie für Altäre hält, die nicht
an den Kult eines bestimmten Gottes gebunden waren: „They seem to have
served as a sort of altar.“
Noch heute gebräuchliche Opferrituale, die in Peru (Huaraz, Chavin,
Fluancayo) sowie in Guatemala (St. Lucia Cozumalhuapa) zu meiner Kennt-
302
Feriz, Zum Problem der Chacmool-Figuren
Abb. 2. Steinerne Opferscbale aus dem Pipilgebiet von El Salvador
(Sammlung Salazar, San Salvador)
nis kamen, gaben mir eine, wie ich meine, annehmbare Erklärung für die
Abwendung des Gesichtes der Opfernden von der Opferschale. Die Opfern-
den scheuen dort nicht nur den Anblick des Opfersteins und des oft erschrek-
kenden oder überlebensgroßen Götterbildes, dem sie sich mit niedergeschla-
genen Augen nähern, sondern vermeiden es sorgfältig, Zeuge
zu sein von dem Aufpicken der gestreuten Maiskörner
durch Vögel und der Konsumation der ausgegossenen Getränke durch
Insekten. Sowohl die Vögel wie die Insekten werden als Boten des Himmels
angesehen, die man bei ihrer Tätigkeit der Sammlung der für die Gottheit
bestimmten Opfergaben nicht durch Beobachtung stören darf.
Bei der bildlichen Darstellung des Opfernden, die in zahllosen Stein-
skulpturen im circumpazifischen Raum zu finden ist, ist dies noch nicht so
deutlich. Die Opferschale wird von einer stehenden oder kauernden Figur
waagrecht vor der Brust oder über dem Haupt gehalten. Es gibt solche Figu-
ren aus dem Archaicum von Java, in Britisch Kolumbien (Fraser-Valley) und
in ganz Mittelamerika (Abb.2). Die Opfernde blickt geradeaus — oder
empor — nie auf die Schale. Die Scheu vor der Beobachtung der Opfergabe
nach ihrer Deponierung in der Schale, scheint sich später allmählich verstärkt
zu haben. Eine Skulptur aus Carchi zeigt eine kauernde, halb menschlich —
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
303
Abb. 3. Steinerne Opferschale aus Carchi (Ecuador)
(Sammlung Olga Fisch-Anhalzer, Quito)
halb affenartig aussehende Figur mit seitlich gewendetem Gesicht, ge-
duckt mit gekrümmtem Rücken (Abb. 3). Ähnliche Steinskulpturen und Zwi-
schenformen sind in ganz Mittelamerika nachweisbar. Eine derartige, leider
stark verwitterte Figur steht im Park von Port Limon (Costa Rica). Klein-
plastiken mit denselben Darstellungen dienten vermutlich als Bestandteile von
Hausaltären. Ein derartiges Stück sah ich in der Sammlung des Collegio
Bolivar in Tukan (Ecuador).
Zwei Steinplastiken aus dem Guetar-Gebiet der „meseta Central“ von
Costa Rica (Abb. 4) demonstrieren geradezu den Übergang von der älteren
Abb. 4. Steinerne Opferschalen aus dem Guetargebiet von Costa Rica
(Sammlung Maximo Acosta Soto, San Jose)
20 Baessler-Ardiiv VIII
304
Feriz, Zum Problem der Chacmool-Figureii
Abb. 5. PipiFChacmool vor dem Museo Nacional in San Salvador
ubiquitären Darstellung des Opfernden zu der späteren auf Zentral- und
Meso-Amerika beschränkten Form, die bei den Tolteken ihre endgültige Prä-
gung bekam. Beide Schalen werden von auf den Rücken liegenden, anthro-
pomorphen Figuren gehalten. Bei der einen Skulptur ist der Leib des Opfern-
den in eine Opferschale transformiert. Der Mensch ist hier nicht der Träger,
Bringer des Opfers, sondern bietet sich gewissermaßen selbst als Opfer an.
Sein Blick ist gerade nach oben gerichtet. Er stützt seinen zur Schale gehöhl-
ten Leib mit zwei Paar Armen. Dieses Detail, das nicht unbeabsichtigt sein
kann, deutet im Zusammenhang mit dem Henkel, der einem Affenschwanz
gleicht, möglicherweise auf die Guetärmythe von dem Zwischenwesen, dessen
Entstehung auf die Schöpfung des Affen folgte und das der Vorläufer des
Menschen auf Erden war. Der andere Opfernde ist ein lang ausgestreckt
liegender Mensch, der die Schale horizontal über seiner Brust hält. Sein Ge-
sicht ist in charakteristischer Weise seitlich abgewendet — als ob er nicht auf
das Opfer zu blicken wage. Diese Figur leitet meines Erachtens direkt zum
Chacmool-Typus über.
Ein weitere Annäherung an diesen Typus sehe ich in der großen, aus dem
Pipilgebiet von El Salvador stammenden Statue, die vor dem Museo Nacional
in San Salvador steht (Abb. 5). Die Plastik scheint in ihrer typischen Hai-
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
305
Abb. 6. Beispiel einer charakteristischen toltekischen Chacmool-Figur
in vollendeter Form
tung die Synthese der kauernden mit der liegenden Figur, die bei den typi-
schen Chacmool-Skulpturen vollendet wurde, vorzubereiten. Hier ist bereits
der monumentale toltekische Kunststil unverkennbar.
Zum Vergleich möge die Abbildung einer typischen, besonders gut erhal-
tenen, toltekischen Chacmool-Figur dienen (Abb. 6). Er trägt das Schmetter-
lingsabzeichen auf der Brust und den merkwürdigen rechteckigen Ohrschmuck,
der Anlaß zu vielen Mißdeutungen gegeben hat. Abschließend sei hier noch
auf die bekannte Chacmool-Statue auf der Plattform des sogenannten
Kriegertempels in Chichenitza hingewiesen, dessen Lokalisation, Haltung und
Blickrichtung besonders deutlich zeigen, daß es sich hier nicht um ein Götter-
bild handeln kann, sondern um einen Opferaltar.
Literatur
Acosta, J. Anales del Inst. Nacional de Antropol. e FÜstoria, Mexico. Vol. VIII,
pg. 37—115 und Estudios Ant. publicad. en homenaye al Dr. Manuel Ganio, 1956.
Acosta, J. Ilevista Mexic. de Estudios Antr. Vol. XIV, part. II, Mexico 1956/57.
Acosta, J. Anales del Inst. Nac. de A. e H. Vol. IX, 1957.
Basler, A., & Brummer, E. L’art Précolombien. Paris 1929. (Abb. 107).
Covarruhias, M. Indian art of Mexico & Central America. New York 1957 (pg. 101,
272).
Disselhof}, H. D. Geschichte der alt-amerikanischen Kulturen. München 1953 (pg.
224, 235).
Kelemen, P. Médiéval American Art. New York 1946 (pg. 144).
Krickeberg, Walter. Altmexican. Kulturen. Berlin, 1956 (pg. 317—318, 471, 514).
Licardi, Ramos C. Proc. XXX Congr. of Americanist. Cambridge 1952.
Lothrop, S. K. Carnegie Inst, of Washington Public. 335, 1924.
20*
306
Ferlz, Zum Problem der Chacmool-Figuren
Nunez, José Corona. Tlatoani Vol. I. Nr. 5, 6. Mexico 1952.
Palacios, E. J. Revisra Mexic. de Estud. Antrop. Vol. IV. 1940.
Salisbury, Stephen. Reise von „Le Plongeon“ (1875) beschrieben. Proceedings Americ.
Antiquar. Society 26.4.1876 en 25.4. 1877.
Selcr, E. Gesamm. Abhandl. Vol. II. Berlin 1904.
Tozzer, A.M. 1957. Menions Peabody Mus. Harvard Univ. Vol. XI & XII.
Cambridge, USA.
Winning, H. v. Masterkey 1960. Nr. 2. Los Angeles.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
307
DON LUYS
Das Bildnis eines Inka-Nachkommen im Niedersächsischen Landesmuseum
Hannover
AXEL VON GAGERN, Hannover
Der amerikanische Gelehrte John Howland Rowe veröffentlichte 1951
mehrere Porträts von männlichen und weiblichen Inka-Nachkommen aus
dem 18. Jahrhundert1. Auf diese in Peru befindlichen lebensgroßen Bilder
war bis dahin kaum geachtet worden. Sie hatten als „Produkt der Kolonial-
zeit“ im Schatten der archäologischen Forschung gestanden. Nur einmal, kurz
vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts, hatte sich der französische Forscher
Graf Castelnau mit ihnen befaßt2. In seinem Auftrag fertigte der Maler
Champin Lithographien von einigen der bereits stark beschädigten Gemälde
an. Abgesehen von der Unzuverlässigkeit dieser wohlerhaltene Werke vor-
spiegelnden Lithographien stiftete Castelnaus Kritiklosigkeit arge Verwirrung.
Ohne Rücksicht auf die ausführlichen Inschriften mit Namen und Daten
bezeichnete er beispielsweise einen dargestellten Don Marcos des 18. Jahr-
hunderts als den Sayri Topa des 16. Jahrhunderts „in der spanischen Tracht
der Eroberungszeit“ und nannte das Bild „das einzige einigermaßen authen-
tische Porträt der gesamten Inka-Geschichte“. In der ganzen späteren Lite-
ratur bis hinein in das 20. Jahrhundert übernahm man seine Ansicht3.
Zur Information sollen die völlig anderen Untersuchungsergebnisse Rowes
hier kurz wiederholt werden.
Die Porträtierten, echte oder angebliche Abkömmlinge der weit verzweig-
ten Inka-Ayllu, waren bei den Vizekönigen als indianische Adlige akkredi-
tiert. Die von ihnen bekleideten Ämter betrafen in der Hauptsache Aufgaben
der Provinzialverwaltung und Repräsentationsdienste unter spanischer Auf-
sicht. Jedoch blieb die Auswahl der Würdenträger, wenigstens in älterer
Zeit, eine Angelegenheit ihrer internen Organisation. Die einzelnen Ayllu
stellten, nach nicht näher bekanntem spanischem Muster, Vertreter für einen
„Rat der Vierundzwanzig“. An jedem 25. Juli, dem Santiago-Fest, wählte
dieser Rat aus seinen Mitgliedern den „Alférez Real de los Incas“, der am
Nachmittag dieses Tages, die königliche Standarte in der Hand, zwei Pro-
zessionen anführte. Später, im 18. Jahrhundert, wurden die Mitglieder vom
Ratsvorsitzenden ernannt und vom Vizekönig bestätigt.
1 Rowe 1951.
2 Castelnau 1854.
3 So noch bei Urteaga und Romero in „Titu Cusi . . .“, Lima 1916.
308
v. Gagern, Don Luys
Zwei der von Rowe veröffentlichten Bildnisse zeigen Angehörige des
Chiguan-Inka-Ayllu im Ornat eines Alférez ReaL Das ältere Gemälde bildet
nach der Inschrift einen „Don Alonso Chiguan Inga“ ab, das jüngere einen
„Don Marcos Chiguan Thopa“. Das zuletzt genannte Werk nun gleicht in
vielfacher Hinsicht, auch in bezug auf die Inschrift, weitgehend einem Bild-
nis, das sich im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover befindet und
erst kürzlich wiedererkannt wurde. Ein detaillierter Vergleich dieser beiden
Bilder beantwortet fast alle Fragen, die sich aus dem Versuch zu einer nähe-
ren Bestimmung ergeben.
Das zu prüfende Bild gehört zu dem nach Hannover gekommenen Teil
der bekannten Perusammlungen Wilhelm Gretzer. Ursprünglich und zwar nach
unten geringfügig länger, mißt cs heute 195mal 130 cm. Grundmaterial ist
ein grobes, ziemlich unregelmäßiges Baumwollgewebe, das aus zwei ver-
schieden breiten Bahnen besteht und in der Längsrichtung zusammengenäht
ist. Der Untergrund ist dubliert, d. h. durch Hinterkleben mit dünner Lein-
wand gefestigt. Vermutlich hat Gretzer das Gemälde In ruinösem Zustand
vorgefunden und noch in Peru restaurieren lassen. Dem verdanken wir zwar
die Erhaltung des Bildes überhaupt, doch ist der Restaurator nicht immer
mit der erforderlichen Sorgfalt zu Werke gegangen. Falsche Einfärbungen
schadhafter Partien und entstellende Zutaten bei Ergänzungsversuchen haben
die ohnehin bescheidene Qualität des Bildes nicht gerade erhöht. Allerdings
trägt jener Restaurator nicht allein die Schuld an so manchen Beeinträchti-
gungen. Beine und Füße der Figur waren einst geschlossener und federnder
gegeben, die Nase endete schmal, das Weiß der Augen war unbetont, wie
es Infrarot-Aufnahmen zum Vorschein brachten. Weshalb man später diese
Veränderungen vornahm und die Füße plump vergrößerte, läßt sich nicht
angeben.
Wir sehen, in Febensgröße, einen vornehmen jungen Mann mit feinen
Gesichtszügen und Gliedmaßen. Gegenüber den häufigsten Darstellungen von
Exoten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist hier das Gesicht nicht,
oder nur geringfügig europäisiert. Augenschnitt, Hautfarbe und das sträh-
nige, auf die Schultern fallende Haar charakterisieren den Indianer. Hinzu
kommen die unbekleideten Unterschenkel und Füße. Einen merkwürdigen
Gegensatz dazu bildet die steife, feierliche Pose der Figur. Sie paßt freilich
gut zu der Gewandung und den umgebenden Attributen. In diesem das Amt
des Alférez Real ausweisenden Kleid erkennen wird die spanische und dar-
über hinaus europäische Hoftracht aus der Mitte des 17. Jahrhunderts wieder:
den Spitzenkragen, die geschlitzten Brokatärmel, die seidenen, spitzenbe-
setzten Hosenrüschchen — letztere, vom Träger oder vom Maler mißver-
standen, allerdings viel zu hoch, nämlich oberhalb statt unterhalb des Knies
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
309
Abb. 1. Bildnis des Don Luys. Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum,
Normalaufnahme
310
v. Gagern, Don Luys
befestigt. Die doppelte, wie eine Schärpe getragene Goldkette stammt noch
von der Festausstattung des 16. Jahrhunderts.
Angesichts dieses modischen, nur aus der streng konservativen Gesinnung
Kolonialspaniens erklärlichen Anachronismus schockieren geradezu die bloßen
Beine und Füße. Ihnen würden, wie auch auf den Vergleichsbildern erkennt-
lich, weitwadige Stiefeichen anstehen! Etwa ursprünglich vorhandene und
später übermalte hat die Infrarot-Aufnahme nicht nachweisen können. Wir
müssen uns also damit abfinden, daß diese hochgestellte Person auf eine Voll-
ständigkeit der spanischen Equipierung keinen Wert gelegt hat.
Die Ausrüstung wird wie folgt beschrieben:
„. . . insignias, cuales son el unco, que es una especie de camiseta;
yacollas, que son unas mantas muy ricas de terciopelo negro ó tafetán;
mascapaycha, que uno círculo á manera de corona, de que hacen descender
cierta insignia de nobleza antigua, significada en una mota ó borla de
lana de alpaca colorada, y cuales quiera otros de esta especie ó signifi-
cación4 5.“
Die goldene und rote Querlinie in der Mitte der Figur ist der untere
Abschluß des „unco“. Übermalung oder Nachdunklung hat die seitliche Ab-
grenzung gegen den „yacollas“ verwischt.
Das angeführte mascapaycha, ein Teil des Kopfschmuckes, wird ver-
wechselt mit dem llawt’u, einem breiten, mehrfach umgeschlungenen und in
späterer Zeit reich mit Juwelen besetztem Stirnband. Über der Mitte des
llawt’u erhob sich das suntur pawqar, in vorspanischer Zeit beilförmig aus
Gold und Silber, später in zierliche Strahlengruppen aufgelöst und mit
Doppeladlern und anderen Symbolen zu einer Art von Trophäenpompom
erweitert. Über der Stirn hing das wohl bekannteste Königssymbol, das
trapezförmige, blutrote mascapaycha.
Der heraldische Aufwand hat nichts zu tun mit dem sogenannten Inka-
Wappen, einem laufenden Fiund in quergestreiftem Feld'’, sondern geht zu-
rück auf eine spanische Verleihung vom 9. Mai 1545 an den Inka-Prinzen
Christobál Paullu Topa für erwiesene Verräterdienste. Gavilán beschreibt
das Wappen:
„. . . vn escudo fecho dos partes, que en la vna dellas este vn aguda
negra rampante en campo de oro, y a los lados dos palmas verdes, y en
la otra parte debaxo un tigre de su color y, ensima del una corda colorada,
que solia tener por corona Atabalipa vuestro hermano, y a los lados del
dicho tigre dos culebras coronadas de oro en campo azul, y por ola unas
letras que digan Ave Maria, y entre medio de las dichas letras ocho Cruces
4 Angelí 1836/37, Yol. V, p. 49.
5 Enciclopedia Universal Illustrada, Madrid 1926, unter dem Stichwort „Inca“,
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
311
de oro de Hierusalem en campo colorado, con perfiles de oro, y por timbre
un hielmo cerrado, y por diuissa vn aguila negra rampante con sus tres
colores y dependendas a follages de oro y azul6.“
Für einen Teil des Aufgezählten finden wir Belege auf unserem Bild:
Krone, Kette und zwei „Tiger“ auf der Standarte; grüne Palmen, gekrönte
Schlangen, aufgerichtete schwarze Doppeladler und der geschlossene Helm auf
der Wappenkartusche rechts. Die goldenen Jerusalem-Kreuze und die Ave
Maria-Schrift fehlen. Dafür erscheinen auf der Standarte Türme. Die Ab-
änderungen, auch teilweise der Farben, wird man der Eigenmächtigkeit der
Chiguan-Inka zuzuschreiben haben. Rowe erwähnt, daß im 18. Jahrhundert
die verschiedenen Inka-Zweige wie die Choquehuanca, die Uchu und die
Chiguan unter Mißachtung der historischen Wirklichkeit in direkter Linie
von Pachacutec oder einem anderen berühmten Inka abzustammen behaupte-
ten, die Cedula von 1545 fälschten und sich die Wappenführung anmaßten.
Die halbwegs ausgesprochene Behauptung, es handele sich bei dem Unter-
suchungsgegenstand um das Bildnis eines Chiguan-Inka, kommt nicht von
ungefähr. Mit Ausnahme der erwähnten Bloßfüßigkeit und einiger neben-
sächlicher Attribute ist die Identität beider Figuren, der des Don Marcos
und des Gesuchten, nahezu vollständig. Selbst die Verzeichnungen — der zu
weit nach rechts gerückte Oberkörper, das Fehlen des Halses, die falschen
Proportionen von Schultern und Armen — finden sich hier wie dort. Man ist
versucht, wenn nicht an eine Kopie, so doch an die Darstellung der gleichen
Person durch den gleichen Künstler zu glauben.
Dieser Annahme scheinen die Besonderheiten der Schrifttafel auf dem
hannoverschen Bild zunächst auch rechtzugeben. Wie oben gesagt, ist die
Schrifttafel ebenso wie das ganze Bild durch Abbröckeln des Malgrundes
stark in Mitleidenschaft gezogen. An vielen Stellen, vor allem unten und
rechts, kommt das nackte Gewebe zum Vorschein. Die Bemühungen des
Restaurators waren auch hier unbedacht. Statt die lockeren Partikel fest-
zulegen, überzog er sie mit einem undurchsichtigen Kitt und tönte das ent-
stehende schmale Rechteck ungeschickt ein.
Zunächst fallen zwei verschiedene Schriftarten auf. Den ersten 13 Zeilen
in tiefschwarzer Antiqua folgen 18 oder 19 sepiabraune, kursiv geschriebene.
Bei näherer Betrachtung meint man Schriftzeichen als schwache Schatten zwi-
schen den Zeilen zu erkennen. Die Infrarot-Aufnahme bestätigt diese Beob-
achtung. Unter den insgesamt 31 oder 32 Zeilen liegen 26 bis 27 eines
älteren Textes. Bezeichnen wir diesen älteren Text mit A, den Antiqua-Text
mit B und den Kursiv-Text mit C, so ergibt sich folgendes.
6 Bei Gavlän 1921, zit. nach Rowe 1951, Anhang.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
313
Abb. 3. Bildnis des Don Luys. Hannover. Ausschnitt Schrifttafel. Infrarotaufnahme
v. Gagern, Don Luys
314
Die ersten zweieinhalb Zeilen des B-Textes enthalten Titel und Namen,
die im verglichenen Don Marcos-Text nicht verkommen. Der weitere Wort-
laut deckt sich bei geringen Abweichungen mit Stellen des Vergleichstextes,
nur ist dort die Reihenfolge der Daten eine andere. Der letzte Satz bzw.
Satzteil des B-Textes geht in den C-Text über. Der sich dem Wort „justicia“
auf der ersten Zeile des C-Textes anschließende Abschnitt bis zum Ende der
Tafel hat nur noch an der Stelle „El Exelentisimo Señor M(arques) .... dio
titulo“ wörtliche Entsprechungen im Don Marcos-Text, weicht im übrigen
ganz ab, so daß sich die fehlenden Stellen von dorther nicht ergänzen lassen.
Vom A-Text, sichtbar gemacht durch die Infrarot-Aufnahme, lassen sich
nur noch wenige Worte und eine größere Anzahl von Buchstaben entziffern.
Doch genügen die Reste um mit einiger Sicherheit sagen zu können, daß die
oberen Schriften nicht als spätere Fälschungen, vielmehr als Erneuerungen
mit einigen Zusätzen anzusprechen sind. Verfasser hielt anfangs die ersten
Worte, d. h. Namen und Titel für eine Fälschung und glaubte das über-
arbeitete Original beginnend mit „D. Marcos . . .“ usw. lesen zu sollen. Sehr
schwache und erst nach längerer Augengewöhnung bemerkbare Schatten mach-
ten diese Annahme grundlos. Die Aufnahme zeigt überdies den Grad der
Zerstörung des älteren Malgrundes — der später dünn überstrichen wurde,
um eine neue Schreibfläche zu schaffen. Danach wird der Nachschreiber mit
der Entzifferung des Textes bereits Mühe gehabt haben.
Die ursprüngliche Schrift war, soweit erkenntlich, der nachgeschriebenen
formal sehr ähnlich. Nach der 13. Zeile, und zwar mitten im Satz, wandelt
sich das Bild. Was kann der Grund dafür gewesen sein? An eine plötzliche
Laune des Auftraggebers zu glauben, wäre schon wegen der wechselnden
Schriftfarbe verfehlt. Außerdem ließ sich feststellen, daß die schwarze Farbe
mit einer chemisch nahezu unlöslichen Kaseintempera gebunden ist, die braune
Farbe dagegen mit spirituslöslichem öl oder Harz. Man wird nicht annehmen
können, der Maler habe mit der Schriftart Farbe und Malmittel gewechselt.
Vielmehr wird die Kursivschrift von anderer Hand und etwas später ge-
schaffen sein. Der Gründe wären mehrere zu erwägen. Mag sein, daß die alte
Schrift an einigen Stellen unleserlich geworden war oder den Ansprüchen
des Besitzers nicht mehr genügte. Wahrscheinlicher jedoch — leider nicht nach-
prüfbar — mußte Platz gewonnen werden, um hinzugekommene Daten mit
aufzuführen. Die Zeilen sind gegenüber der alten Schrift um 3 oder 4 ver-
mehrt. Sparsam beginnt der Schreiber mit „del R? A(cuerdo) . . .“ am äußer-
sten Rand links, während sein Vorgänger mit dem Platz großzügig umging.
Die Gelegenheit der neuen Textabfassung mag dann benutzt worden sein
zu einer dem Zeitgeschmack besser entsprechenden, eleganten Zierschrift.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VILI
315
Nachfolgend der Text des Bildes in Hannover soweit entzifferbar und
Ergänzungen statthaft. Die Ergänzungen sind in Klammern gesetzt; Abkür-
zungen sind ausgeschrieben. Die Schreibweise unleserlicher oder fehlender
Worte ist jener auf dem Don Marcos-Bild angeglichen.
El Maestre de Campo Don
Luys Guamantitu yupa(ngui)
Chig pa Coronilla ynga (caualle)
ro Católico (po)r la gracia de (Dios Alférez)
Real su M(agesta)d y uno de los 24 E(lectos)
Disputados (de) los yngas de l(as 8 parro)
q(uias desta gran) Ciudad d(el Cuzco Casique)
prin(cipal y go)bernador del p(ueblo de San)
Gero(nimo de C)olquepata en la P(rovincia de Pau)
cartam(bo descen)diente de San(gre Real de Cca)
pace L(loque Yupan)gui terser (rey) que(fue de estos)
Reynos (Colegial de)l Real Colegio de(San Francisco)
de Bor(ja) y por u)na Prouision(executoria)
del Real A(cuerdo de J)usticia enle
5 de M ri o e se sin
ampararle ca pa des
za en virtut cédulas
Maetles lav Emp D" Ch
lena del sr unda y lau
ynhiuiendo de las Justicias
El Exelentissimus Señor M(arques) de Yillagarcia(virrey gobernador)
y capitan general deis(tor Reinos y le)dio titulo
de campo del los dicho de
las 8 parroquia(s
Lima en 25 de
de Supero
quepata en
los Reie
el Ex
(Folgen 2 bis 3 Zeilen)
Die Fragmente bedürfen einiger Erläuterungen.
Der wie ein langes .1 aussehende Buchstabe im Namen Luys scheint nicht?
als eine so geformte Verletzung des Malgrundes. Die schattenhaften Zeichen
des Textes A darunter lassen sich als „Luis“ lesen mit einem s wie in „los“
vier Zeilen tiefer. Nicht restlos geklärt werden konnte der Ayllu-Name, das
Wort vor „Coronilla“. Entsprechend dem Don Marcos-Text erwarten wir
v. Gagern, Don Luys
3 16
hier „Chiguan“. Tatsächlich liest man die ersten drei Buchstaben als „Chi .
Die Lupe entdeckt dazu, rechts unter dem i, ein älteres g. Ist „Chig . .“ ge-
sichert, wird man an „Chiguan“ nicht zu zweifeln brauchen. Daran schließt
sich ein kurzes Wort, das auf -a oder -pa endet und analog zu den Don
Marcos-Namen zu einem zusammengedrängten „topa“ ergänzt werden könnte.
Ein Beispiel für Zusammenschreibungen von Namen haben wir bereits mit
„Guamantitu“. Derartige Formen scheinen üblich gewesen zu sein. Bei
Temple7 kommt ein monströses Tupacucigualpauascar vor. Bei Berücksichti-
gung dessen und der Groß- und Kleinschreibung lautet der volle Name des
Dargestellten Luys Guamantituyupangui Chiguantopa, in der geläufigen
Schreibweise Luys Guaman Titu Yupangui Chiguan Topa. Er ist danach An-
gehöriger der Linie, bzw. des Ayllu Chiguan und nicht, wie man nach den
beiden ersten Namen denken könnte, ein Nachkomme des Luis Guaman
Paucar, dessen Familie sich im 18. Jahrhundert ebenfalls das dem Paullu
Topa verliehene Wappen zu führen anmaßte8.
Wären nicht die anderen zahlreichen Parallelen, wiese allein schon der
gleiche Ayllu-Name auf die Verwandtschaft zwischen Don Marcos und Don
Luys. Uns interessiert nun das Generations- und Zeitverhältnis dieser Ver-
wandtschaft.
Don Luys vermerkt — noch vor Erwähnung seiner fürstlichen Abstam-
mung! — das Amt des Ersten Kaziken und Gouverneurs von San Geronimo
de Colquepata, das Don Marcos unter dem Vizekönig Don Diego Mursillo
Rubio de Aunon um das Jahr 1720 innegehabt hatte9. Auf der fünft- bzw.
sechstletzten Zeile unserer Inschrift lesen wir mehr oder minder deutlich die
Worte „(Col)quepata en . .“. Es wird dieses Amt also nochmals erwähnt und
zwar nach dem Dienst als Maestro de Campo unter dem zwischen 1736 und
1745 regierenden Vizekönig Marques de Villagarcia. Wir werden nicht fehl-
gehen anzunehmen, daß Don Luys ebenso wie Don Marcos seine Eigen-
schaften, Ämter und Lizenzen in chronologischer Reihenfolge anführte. Da-
nach wäre sein Dienst in San Geronimo de Colquepata zu einer früheren
Zeit, jedenfalls aber auch nach 1745 anzusetzen, das hieße gut 25 Jahre nach
Don Marcos. Der Marques de Villagarcia ist für Don Marcos der letzte
der sechs von ihm erlebten Vizekönige. Für Don Luys — leider läßt uns hier
wieder die Leserlichkeit des Textes im Stich — ist er etwa der zweite oder
dritte. Daß auf den restlichen 9 oder 10 Zeilen weitere Namen und Titel
folgen, liegt nahe.
7 Temple, Vol. XI, 1937, p. 114.
8 Rowe, p. 263.
9 Vgl. für diese und die folgenden Angaben Rowe 1951, Text des Don Marcos-
Bildes im Anhang.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
317
Aus alledem geht hervor, daß Don Luys ein jüngerer Verwandter des
Don Marcos Chiguan Thopa und dessen Nachfolger in mehreren Eigen-
schaften und Ämtern war. Sein Bild, wohl das einzige dieser Art in Europa,
mag im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts entstanden sein.
Literatur
Angelí, Pedro de: Colección de obras y documentos relativos a la historia antigua
y moderna de las provincias del Río de la Plata. 6 Vol. Buenos Aires 1836—37.
Castelnau, François, Comte de: Antiquités des Incas et autres peuples anciens,
recueillies pendant l’expedition dans les parties centrales de l’Amérique de Sud . . .
pendant les années 1843—1847. Paris 1854.
Means, Philipp Ainsworth: Fall of the Inca Empire and the Spanish Rule in Peru
1530—1780. New York 1932.
Gavilán, Alonso Ramos: Historia del célebre sanctuario de Nuestra Señora de
Copacabana, y sus milagros, e inuención de la cruz de Carabuco. Lima 1621.
Rowe, John Howland: Colonial Portraits of the Inca Nobles. In: The Civilization
of Ancient America. Selected Papers of the XXIX International Congress of
Americanists 1949, Cicago 1951.
Temple, Ella Dunhar: La descendencia de Huayna Capac. Revista Historia (Lima)
Vol.XI, XII, XIII, 1937—1940.
Titu Cusí Yupanquí Inca, Diego de Castro: Relación de la conquista del Perú y
hechos del Inca Mango II. Herausgeg. v. Urteaga und Romero (Colleción de
libros y documentos referentes a la historia del Perú. Ser. I, Vol. III, Lima 1916).
318
Bücherbesprechungen
Lucas, Heinz: Ceylon-Masken. Der Tanz der Krankheitsdämonen. Erich-Röth-Verlag,
Kassel, 234 Seiten.
In der Reihe „Die große Maskenkunde“ ist jetzt als Beitrag von Dr. Heinz
Lucas das vorliegende Buch über Ceylon-Masken erschienen. Da Veröffentlichungen
über ceylonesische Masken in der Literatur bislang nur einen bescheidenen Raum
einnahmen, bot sich dem Verfasser hier ein dankenswertes Thema.
Lucas beschäftigt sich zunächst in einem Überblick mit Themenkreisen und
Formen der Spiele, mit der Gliederung der Theaterstücke und einer Vorstellung
der wichtigsten Personentypen, die immer wieder in den verschiedenen Spielen auf-
treten. Anschließend folgt eine allgemeine Beschreibung der Masken nach Material,
Bemalung, Bedeutung der auftauchenden Symbole und Farben.
Im Hauptteil sind dann katalogartig die Typen der Masken aufgeführt, mit
einer genauen Untersuchung über Herkommen, Bedeutung und Aussehen spezieller
Exemplare, geordnet nach göttlichen Wesen, Menschen, Tieren, Dämonen usw. Ein-
zelne hervorragende Maskenspiele und die Legenden, auf denen die Aufführungen
basieren, werden ausführlich beschrieben. Hier sind nochmals in Katalogform einige
Masken eingefügt, die in diesen bestimmten Spielen regelmäßig erscheinen. Nur
kurz werden dann noch Masken erwähnt, die gelegentlich auf Ceylon Vorkommen,
aber nicht zum Kreis der Theatermasken gehören. Der Verfasser schließt mit einer
Betrachtung über die Verwandtschaft von Masken aus Ceylon und Tibet.
Das Buch ist mit 4 mehrfarbigen und 73 einfarbigen Bildtafeln reich illustriert.
Leider läßt dabei die Qualität der Wiedergabe bei einer Reihe von Stücken etwas
zu wünschen übrig. So handelt es sich bei etwa einem Drittel der Fotos um Re-
produktionen aus anderen Werken. Sollte hier nicht die Möglichkeit bestanden
haben, Neuaufnahmen anfertigen zu lassen? Der Autor hat in erster Linie an den
Objekten der Josefine und Eduard von Portheim-Stiftung in Heidelberg gearbeitet,
die er auch mit ihren etwas über 100 Stücken für die zweitgrößte Sammlung
Europas hält. Es ist ein wenig bedauerlich, daß dabei die große Sammlung von
Ceylon-Masken des Museums für Völkerkunde in Berlin kaum berücksichtigt wurde,
in deren Bestand von mehr als 150 Exemplaren der Verfasser noch manche lohnens-
werte Anregung hätte finden können.
Sieht man jedoch von diesen kleinen Mängeln ab, so ist ein Buch entstanden,
das auch in weiteren Kreisen Interesse und Aufmerksamkeit hervorrufen sollte.
Gerd Hopfner
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
319
DIE RELIEF KUNST DER SAN AGUSTIN-KULTUR
(KOLUMBIEN)
HORST NACHTIGALL, Mainz
Seit der ersten zusammenfassenden, grundlegenden Untersuchung über die
megalithischen Statuen und Konstruktionen der San Agustin-Kultur durch
K. Th. Preuß, in den Jahren 1913/14 (1929), ist der Fundort San Agustín
mehrfach von Wissenschaftlern besucht worden. Ständig gelangten neue Funde
der Wissenschaft zur Kenntnis, so daß Ende 1952 im Bereich der San Agustin-
Kultur von mir insgesamt 283 Statuen und Skulpturen lokalisiert, davon
107 neu aufgenommen werden konnten.
Gegenüber der vollplastischen Kunst der Skulptierung in Großsteinen
tritt die Reliefkunst im Rahmen der San Agustin-Kultur sowohl zahlenmäßig,
als auch der Qualität nach stark zurück. Reliefskulptierungen finden sich vor-
wiegend an drei Fundorten: einmal auf den Mesitas, den Hauptfundplätzen
der San Agustin-Kultur, zum zweiten auf dem an die Mesita C anschließen-
den Fundort Lavapatas und zum dritten auf dem oberhalb des Magdalena-
Tals gelegenen Fundort La Chariquira.
1. Steingravuren der Mesitas
Das Gebiet der Hauptfundplätze der San Agustin-Kultur besteht aus
künstlich planierten Flächen, die von K. Th. Preuß als Mesita A, B und C
benannt worden sind. Hier finden sich innerhalb der künstlich aufgeschütteten
Hügel, der Montículos, dolmen- und ganggrabartige Konstruktionen, außer-
dem über das ganze Gelände verstreut megalithische Steinkistengräber (vgl.
Abb. 1). Sie bestehen in allen Fällen aus unbearbeiteten, vertikal gestellten
Steinplatten, die einstmals durch ebensolche Steinplatten bedeckt gewesen
sind. Zur Zeit meines Aufenthalts in San Agustín hatte ich nur Gelegenheit,
die bereits früher geöffneten Dolmen, Ganggräber und Steinkisten zu unter-
suchen. Die ersteren beiden Konstruktionen enthielten steinerne Statuen und
waren ihrer ganzen Anlage nach eher Tempel als Bestattungsplätze. In den
Steinkisten sind noch keine gesicherten Statuenfunde gemacht worden.
Mehrfach sind aber an der Innenseite der Steinplatten aller drei Konstruk-
tionstypen Gravuren entdeckt worden. Sie sind sehr roh ausgeführt und lassen
auf den ersten Blick künstlerisch und zum Teil auch motivisch keine Be-
ziehungen zu der hochqualifizierten Steinmetzkunst der Rundstatuen des
gleichen Gebietes erkennen.
21 Baessler-Archiv VIII
320
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 1. Megalithgrab, Abb. 2. Skulptierte Steinplatte Nr. 109,
Hesita B, San Agustín Hesita B, San Agustín
Vom Haupteingang des Archäologischen Nationalparks San Agustín aus
betritt man die Mesita B. Ein Steinweg führt zu den Montículos Süd, Nord-
west und Nord (vgl. Übersichtskarte Nr. 4 bei Nachtigall, 1958). Vor dem
Montículo S sind durch José Pérez de Barradas im Jahre 1937 elf Suchgräben
gezogen worden; dahinter findet sich eine Grabungsfläche aus späterer Zeit.
Zwischen beiden Grabungsflächen finden sich vier Steinkistengräber und eine
aufrechtstehende Steinplatte von 1,20 m Höhe, 1,13 m Breite und 28 cm
Dicke. Sie zeigt die Umrisse von vier menschlichen Figuren (Abb. 2), von
denen aber nur zwei durch die eingezeichneten Augen, Mund und Nase mit
einer gewissen Sicherheit zu identifizieren sind. Auffällig sind die knollen-
förmig verdickten Nasen; die Münder sind nur waagerechte Linien.
Eine weitere mit einem Relief versehene Steinplatte findet sich, ebenfalls
auf der linken Seite des Steinweges, etwas näher am Eingangstor. Es ist eine
leider in mehrere Teile zerschlagene Platte von 2,00 X 1,60 m Fläche und
20 cm Dicke, aus deren Oberfläche eine Schlange herausgearbeitet ist.
Der vielfach beschriebene und publizierte Montículo Süd der Mesita B,
eine Ganggrabkonstruktion, die durch die darin und davor gefundenen Sta-
tuen als Tempel interpretiert wird, ist durch seine gelben, schwarzen, weißen
und roten Malereien auf der Innenseite der Steinplatten bemerkenswert (vgl.
Nachtigall, 1958, Abb. 2, 5, 11, 21 und 26). Eine genauere Untersuchung der
Malereien ergab, daß sich darunter bei der Steinplatte Nr. 7 feine Gravuren
finden, die in diesem Falle somit älter, als die Malereien sein müssen. Besser
erkennbare Gravuren finden sich auf der Platte Nr. 21, die durch frühere
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
321
Abb. 3. Gravur
auf dem sog. „Kalenderstein“
Abb. 4. Gravuren des sog. „Kalendersteins“
Mesita B
Raubgrabungen zweifellos bewegt, heute den vorderen Abschluß des Tem-
pels des Montículos S bildet. Mit 2,50 X 1,30 m dürfte sie, ihrer Position
und Größe nach, ehemals als ein Deckstein der Tempelkonstruktion gedient
haben. Zu erkennen ist, neben vielerlei schwer klassifizierbaren, anscheinend
wirren Gravuren, eine Anzahl von kürzeren, radial zulaufenden Linien
(Abb. 3), die frühere Bearbeiter dazu anregten, diese Steinplatte als „Kalen-
derstein“ zu bezeichnen. Die radialen Linien werden durch längere Gravuren
in Gruppen zu 7 bis 15 Strichen unterteilt, ohne daß darin aber ein kalen-
darisches System zu erkennen wäre. Besser zu erkennen ist auf der gleichen
Steinplatte eine menschliche Gravur (Abb. 4), deren Körper in Form eines
Rhombus und deren Gesicht dreieckförmig gebildet ist. Dreieckförmig, in der
Art eines Fächers, ist auch die linke Hand gebildet, während die rechte nicht
angedeutet ist. Die Beine mit den waagerecht abgespreizten Oberschenkeln bil-
den ein Treppenmuster.
Eine stilistisch sehr ähnliche, aber besser gravierte menschliche Figur von
22 cm Höhe und 27 cm größter Breite findet sich — neben mancherlei ande-
ren, meist gitterförmigen Linien — auf einer Steinplatte, die aus den Gra-
bungen am Fuße des Montículos S stammt (Abb. 5). Körper, Hände, Füße
und das dreieckförmige Gesicht sind gleichartig gebildet. Die Einzelheiten des
Gesichts sind aber, im Gegensatz zur vorher beschriebenen Figur, besser zu
322
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 5. Steinplatte Nr. 99,
Mesita A
Abb. 6. Gravur, Steinplatte Nr. 118,
Mesita B
erkennen. Die Augen sind halbkreisförmig, der Mund rechteckig, mit zwei
Reihen von regelmäßigen, annähernd quadratischen Zähnen. Die Stirn wird
von 8 Dreiecken begrenzt, die in einer Reihe angeordnet sind.
Von der südöstlich an die Mesita B anschließenden Mesita A sind eben-
falls gravierte Steinplatten bekannt, die aber sämtlich nicht in Situ gefunden
worden sind. Einige sind durch J. Pérez de Barradas (Dibujos 13—16) in
Strichzeichnungen publiziert. Die Platten mit den besten Gravuren befinden
sich heute im Museum des Archäologischen Nationalparks von San Agustín.
Es handelt sich in allen Fällen um geometrische, recht ungelenke Formen,
unter denen parallele Linien, die von gleichartigen Linien senkrecht geschnit-
ten werden, zahlenmäßig hervorragen. Die vorkommenden menschlichen Ge-
sichter sind eckig und roh in ihrer Ausführung. Bemerkenswert ist die
menschliche, in eine dreieckige, 57 cm hohe und 30 cm breite Steinplatte gra-
vierte Figur der Abb. 6. Ihr Körper ist in der Form eines gleichschenkligen
Kreuzes gebildet. Füße und Hände sind nicht besonders dargestellt. Der an-
nähernd runde Kopf ist größer als der übrige Körper. Die Nase ist nahezu
rechteckig, mit einer breiteren horizontalen Linie als Basis. Der Mund wird
nur durch zwei horizontale Linien angedeutet. Die Augen sind nicht zu er-
kennen. Die konzentrischen Kreise, rechts unterhalb des Kopfes, die von
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
323
Abb. 7. Steinplatte Nr. 100, Mesita A Abb. 8. Steinplatte Nr. 80, Mesita D
drei radialen Linien durchschnitten werden, scheinen einen Ohrschmuck an-
deuten zu sollen.
Eine andere Steinplatte (Abb. 7) enthält weitere gleichschenklige Kreuze,
darunter zwei ineinandergeschachtelte, ohne daß aber zu erkennen wäre, daß
es sich hier um Andeutungen menschlicher Körper handelte.
Von einem anderen Typ sind die menschlichen Gravuren auf der Kalk-
steinplatte Abb. 8, die aus den Grabungen auf der Mesita D, vor dem
Archäologischen Museum, stammt. Hier ist der Körper der größeren, 30 cm
hohen Figur, durch eine rechteckige, von diagonalen Linien gekreuzte Fläche
gebildet, während der Körper der kleineren, 14,5 cm hohen Figur, nur durch
eine Anzahl übereinander angebrachter, schräger Linien gekennzeichnet ist.
Die nasenlosen Gesichter sind in beiden Fällen annähernd rechteckig, die
Augen durch punktförmige Vertiefungen und der Mund durch eine Doppel-
linie gekennzeichnet. Eine dreieckige Fläche mit vertikalen Linien unter dem
Gesicht der größeren Figur soll wohl einen Halsschmuck andeuten. Der Stil
dieser Gravuren weist auf den Typ der Felsbilder des amazonischen und
venezolanischen Tieflandes hin. Auf der gleichen Steinplatte ist eine dritte,
15 cm hohe menschliche Figur eingraviert (Abb. 9). Mit ihrem dreieckförmigen
Kopf, ihren halbkreisförmigen Augen und der Nase mit breiter Basis ent-
spricht sie den üblichen agustinensischen Gravuren. Einmalig ist aber die durch
324
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 9. Steinplatte Nr. 80, Abb. 10. Steinplatte Nr. 72,
Hesita D Museum San Agustín
die erhobene rechte Hand angedeutete Bewegung der Figur, die möglicher-
weise sogar in einer Laufbewegung dargestellt sein soll.
Ganz anders und eindeutig agustinensisch ist die Gravur auf der 26 cm
hohen und 24 cm breiten Kalksteinplatte der Abb. 10. Der Mund zeigt deut-
lich die für die steinernen Statuen typischen agustinensischen Hauzähne, die
Nase mit breiter Basis und einen dreieckförmigen, durch zwei vertikale Linien
begrenzten Stirnschmuck, wie er mehrfach bei agustinensischen Statuen auf-
tritt. Die Gravur dieser Steinplatte erlaubt es uns, die oben zitierten, durch-
weg erheblich roher ausgeführten menschengestaltigen Gravuren, ebenfalls der
Kultur der Statuen von San Agustín einzuordnen.
2. Die Gravuren von Lavapatas
Von der Mesita C aus, die von den Hesitas A und B durch eine Talsenke
getrennt ist, führt ein steiler Abfall zu einem Tal, das von dem kleinen
Bach Lavapatas durchflossen wird. Hier ist 1937 unter der Leitung von José
Pérez de Barradas die bedeutendste Gruppe von Reliefs, die mit einem
Wasserspiel verbunden sind, freigelegt worden. Schon früher, seit K. Th.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
325
Abb. 11. Felsgravuren von Lavapatas (n. Perez de Barradas);
(oben rechts: Becken B)
°0c°ÖCv
326
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 14. Becken B, Lavapatas Abb. 16. Becken B, La\ apatas
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
327
Stöpel, war der Wissenschaft bei dem Ort „Las Moyas“ eine ähnliche, aber
vergleichsweise unbedeutende Stelle mit Felsgravuren bekannt. Sie liegt zwi-
schen dem Ort San Agustín und den Fundstätten der Mesitas und diente der
Bevölkerung von San Agustín als Wasch- und Badeplatz. Es handelt sich um
eine Quelle, unterhalb der der weiche Sandsteinfelsen mit einer Anzahl von
Löchern von etwa 10 cm Durchmesser versehen ist, und die durch schmale
Kanäle in Verbindung stehen, durch die das Wasser abläuft.
Die Gravuren von Lavapates stellen diese Anlage weit in den Schatten.
Die Fundstelle ist unmittelbar am Wasserlauf gelegen und enthält insgesamt
auf einer Fläche von etwa 150 m2 34 Figuren, 3 Becken und eine Anzahl von
Kanälen, mit denen das Wasser des Flusses abgeleitet und durch die Anlage
geleitet werden kann (vgl. Plan 11 und Abb. 12—16). Alle Figuren sind in
Hochrelief gearbeitet. Die Mehrzahl stellt Schlangen und Eidechsen dar. Am
bemerkenswertesten ist das Becken B (Abb. 14). Es ist 3,20 m breit, 1,40 m
lang und 81 cm tief. Von der Mitte der Wand auf der Zuleitungsseite des
Wassers fällt bis zum Grund des Beckens eine Eidechse mit zwei Körpern
herab; ihr Kopf liegt auf dem Boden. Zwischen ihren beiden Körpern ist
am Beckenrand ein menschliches oder Affengesicht herausgemeißelt. Rechts
von der Eidechse, vom Betrachter aus gesehen, sind in Relief eine mensch-
liche Figur in Frontansicht und ein Affe in Seitenansicht herausgearbeitet
(Abb. 15 u. 16). Die menschliche Figur — möglicherweise eine Frau — hat
beide Arme gewinkelt erhoben. Sie ist mit zwei Ohrpflöcken und einer Feder-
krone geschmückt. Die Figur des Affen daneben erscheint wie sitzend. Er hat
die Vorderfüße erhoben und den Schwanz zu einer Spirale eingerollt. Das
Gesicht ist im Halbprofil gegeben. An den seitlichen Schmalseiten dieses Bek-
kens befinden sich eine Eidechse und eine Schlange, ebenfalls im Begriff des
Trinkens dargestellt. Das Becken A und ein drittes Becken C sind unge-
schmückt.
Die Bedeutung dieser Anlage, die bereits von Walter Krickeberg (S. 25 f.)
diskutiert worden ist, ist unsicher. Sie ist hergestellt, um das Wasser des
unmittelbar daran vorbeifließenden Baches hindurchzuleiten. Ob es sich dar-
über hinaus um eine Opferstätte für Blutopfer handelte, ist nicht zu ersehen.
Die skulptierten Tiere weisen eher auf eine ausschließliche Wasseranlage im
Sinne eines Fruchtbarkeitskultes hin.
Die kulturelle Zuordnung der Felsreliefs von Lavapatas in den Bereich
der agustinensischen Skulpturen ist durch eine Anzahl stilistisch ähnlicher
Darstellungen gesichert. K. Th. Preuß publizierte bereits von dem in der
Nähe des Rio Magdalena gelegenen Fundort El Tablón eine Anzahl von
Skulpturen, bei denen wir die gleiche Haltung, wie bei der Relieffigur der
Abb. 15 wiederfinden (vgl. Abb. 17). Auch die Ohrpflöcke sind identisch.
328
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 17. Rclieffigur Nr. 192,
El Tablón
Abb. 18. Blick von La Chaquira
auf das Magdalena-Tal
Bezeichnend und typisch für die „klassische“ Agustin-Plastik sind hier die
N-förmigen Hauzähne. Gleichartige Felsreliefs finden sich auf dem benach-
barten Fundort La Chaquira.
3. La Chaquira
Die Felsreliefs dieses Fundortes würden von Federico Lunardi entdeckt.
Es handelt sich um einen Fundort, der von El Tablón aus nur eine halbe
Reitstunde entfernt liegt, und der früher „Alto de El Tablón“ genannt wurde.
Die Fundstelle befindet sich auf einem Felsgrat, der die Quebrada de
El Tablón vom Tal des Rio Magdalena trennt. An einigen Felsen, die in
der Hauptsache nach Norden, in Richtung zum Rio Magdalena ausgerichtet
sind, findet sich eine Anzahl von menschlichen und tierischen Reliefs. Die am
besten ausgearbeitete Figur (Abb. 19) liegt an der Nordseite eines Felsblocks,
der an seiner Ost- und Westseite ähnliche, aber technisch unvollkommenere
Reliefs aufweist (Abb. 20). Sie ist insgesamt 2,00 m hoch, der unverhältnis-
mäßig große Kopf hat eine Höhe von 93 cm. Trotz einiger Unterschiede
in der Augenform und in der Schambekleidung ist sie doch mit der vorher
erwähnten Figur der Abb. 17 von El Tablón zu parallelisieren. Die Gesamt-
proportionen, die Form des Kopfes, des Überganges der Augenbrauen in die
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
329
Abb. 19. Skulptur Nr. 193, La Chaquira Abb. 20. Skulptur Nr. 194, La Chaquira
Nase mit breiten Nasenflügeln, die herabgeklappten Fußsohlen, sind die
gleichen.
Auf der Westseite des gleichen Felsens ist eine ähnliche, männliche Figur
von 1,44 m Höhe herausgearbeitet (Abb. 20). Ihre Haltung mit gewinkelt
erhobenen Armen entspricht der vorhergehenden Figur. Auf dem Kopf ist
jedoch, ähnlich wie bei der Figur der Abb. 15 von Lavapatas, durch 12 radial
angeordnete Linien von etwa 22 cm Höhe eine Federkrone angedeutet. Auch
die Ausarbeitung des Gesichts mit den vertieften Augen und den runden Ohr-
pflöcken erinnert stark an die genannte Figur von Lavapatas.
Auf der Ostseite des gleichen Felsens findet sich eine dritte Relieffigur
mit erhobenen Armen. Sie ist 1,65 m hoch und hat in ihrer Darstellung
starke Ähnlichkeit mit der Figur der Abb. 19. Der Kopf nimmt hier fast 2/g der
Gesamtfigur ein; er ist fast dreieckförmig. Die Hände der gleichfalls mit
gewinkelt erhobenen Armen 'dargestellten Figur laufen in Krallen aus, eine
Erscheinung, die auch bei den von Preuß publizierten Relieffiguren von El
Tablön auftritt.
Am gleichen Felsen, zwischen der erst- und der letztgenannten Figur, ist
ein schwer erkennbares tierisches Wesen herausgemeißelt, außerdem ein
menschlicher Kopf von 43 cm Höhe und 25 cm Breite. Darunter ist ein
etwas vorspringender Felsblock zu einem Tierkopf ausgearbeitet (Abb. 21).
330
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 21. Skulptur Nr. 196, La Chaquira
Ein ähnlicher Tierkopf, der aber zu einem 1,50 m langen Vierfüßer gehört,
findet sich einige Meter oberhalb des Hauptfelsens. Aus zwei weiteren Fels-
blöcken sind zwei Vierfüßer von 70 cm bzw. 47 cm Länge in Hochrelief
herausskulpiert (Abb. 22), die wegen ihres spiralig eingerollten Schwan-
zes wohl Affen darstellen sollen. Noch weiter oberhalb findet sich auf einem
weiteren Felsblock eine reliefierte männliche Figur von 50 cm Höhe, mit
— unüblich — deutlich dargestellten Geschlechtsmerkmalen, einem halbkreis-
förmigen, an der Stirn waagerecht begrenzten Gesicht und in üblicher Form
gewinkelt erhobenen, sehr dünnen Armen (Abb. 23). Zwischen dem Felsblock
mit dieser Figur und dem Vierfüßer der Abb. 22 ist auf einem anderen Fels-
block ein menschliches Gesicht mit runden Augen und einer Nase mit breiter
Basis und waagerecht begrenzter Stirn herausgearbeitet (Abb. 24). Seitlich des
Gesichts finden sich in Stirnhöhe Spiralen und außerdem angedeutete Ohr-
pflöcke. Die Höhe des Gesichts beträgt 25 cm, die Gesamtbreite der Skluptur
64 cm.
Abb. 22. Skulptur Nr. 199, La Chaquira
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
331
Abb. 23. Skulptur Nr. 203, La Chaqüira
Mit der Vorlage dieser Beispiele einer Reliefkunst der San Agustin-Kultur
ist gleichzeitig die Frage nach ihrer Einordnung innerhalb der San Agustin-
Kunst aufgeworfen. Ich habe mich früher bereits (1958, S. 22) dafür aus-
gesprochen, die Reliefkunst als Spätphase der agustinensischen Kunst an-
zusehen. Im Gegensatz zur älteren Auffassung, beispielsweise bei K. Th. Preuß,
die die Kunstentwicklung von der Zweidimensionalität, also dem Relief, zur
Dreidimensionalität, also zur Rundplastik ansah, möchte Ich das Umgekehrte
annehmen. Danach hätten die älteren Werke aus bearbeiteten Baumstämmen
oder Menhiren bestanden, in die die Künstler die zur Kenntlichmachung
nötigen Details einschnitten. Als die ältesten agustinensischen Kunstwerke
wären danach die Rundstatuen und als jüngste die aus Steinplatten heraus-
gemeißelten Reliefstatuen anzusehen, deren berühmteste der vielpublizierte
„Sonnengott“ ist (u. a. publiziert bei Nachtigall, 1958, Fig. 9; zur gleichen
Stilstufe gehörend auch Fig. 8). Ich möchte hier eine dritte Statue dieses
Spättyps danebenstellen (Abb. 25). Alle drei genannten Statuen sind auf der
Mesita C gefunden worden. Für einen Spätstil sprechen überdies auch die
ornamental verbreiterten und nach oben oder unten gebogenen, teilweise so-
gar treppenförmig ornamentierten Nasenflügel, die bei den „klassischen“
agustinensischen Statuen, zusammen mit den Hauzähnen, ein tierisches Merk-
mal darstellen.
Dürfte so aus stilistischen Gründen die hier beschriebene Reliefkunst als
die letzte Stilphase der agustinensischen Plastik angesehen werden, so scheint
332
Nachtigall, Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien)
Abb. 24. Skulptur Nr. 202, La Chaquira
mir noch ein weiterer Grund für eine spätzeitliche Einordnung zu sprechen.
Die Felsgravuren von Lavapatas lassen sich typologisch unschwer mit den
inka-peruanischen Kenkos und ähnlich skulptierten Felsen, z. B. Cienaga
Grande, Concacha u. a., parallelisieren, womit auch von dieser Seite her eher
ein Fiinweis für eine spätere, als für eine frühere Zeit gegeben ist.
Fotos (außer Abb. 11): Nachtigall. Für die Umzeichnungen der Abb. 2—3, 5—7
und 9—10 möchte ich auch an dieser Stelle Herrn Heiner Rothfuchs herzlich danken.
Abb. 25. Figur Nr. 128, Mesita C, San Agustin
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
333
Literatur
Hernandez de Alba, Gregorio, Guía arqueológica de San Agustín o del Macizo
Central de los Andes. Bogotá 1943.
Krickeberg, Walter, Felsplastik und Felsbilder bei den Kulturvölkern Altamerikas.
Berlin 1949.
Lunardi, Federico, La vida en las tumbas. Rio de Janeiro 1935.
Nachtigall, Horst, Die amerikanischen Megalithkulturen. Vorstudien zu einer Unter-
suchung. Berlin 1958.
— Inventario de estatuas y piedras grabadas con representaciones antropomorfas y
zoomorfas de la cultura de San Agustín. Mskr. Bogotá 1953.
Pérez de Barradas, José, Arqueología agustiniana. Bogotá 1943.
Preuss, K. Th., Monumentale vorgeschichtliche Kunst. Ausgrabungen im Quellgebiet
des Magdalena in Kolumbien und ihre Ausstrahlungen in Amerika. Göttingen 1929.
Stöpel, K. Th., Südamerikanischc prähistorische Tempel und Gottheiten. Ergebnisse
eigener Ausgrabungen in Ecuador und Südkolumbien. Frankfurt 1912.
334
Bücherbesprechungen
Visión de los Vencidos. Relaciones Indígenas de la Conquista — Introducciones,
selección y notas: Miguel León-Portilla. Versión de textos nahuas? Angel Ma.
Garibay K. Illustraciones de los Códices: Alberto Beltrán. — „Biblioteca del
Estudiante Universitario“; 81. Ediciones de la Universidad Nacional Autónoma,
México 1959. 8o. XXVI und 212 Seiten. Broschiert.
Das Dreivierteldutzend indianischer Berichte, das sich über die Eroberung von
Mexiko erhalten hat, schildert dieses dramatische Ereignis naturgemäß mir einer
ganz anderen inneren Beteiligung als die spanischen Quellen. Hier erscheint der
Untergang der aztekischen Kultur „in der Schau der Besiegten“, wie der betreffende
Titel des kleinen Bandes lautet, der Miguel León-Portilla und Angel M. Garibay
zu verdanken ist. Zu dem reichen Material, das dem Historiker in dem zwölften
Buch Sahagúns zur Verfügung steht, treten die weniger bekannten Schilderungen
von Chimalpahin und Tezozomoc, Ixtlilxochitl und Muñoz Camargo sowie die
Angaben der anonymen Verfasser des „Codex Aubin“, „Ms. mex. No. 22“ und
„Codex Ramírez“. Aus allen diesen, zu einem großen Teil in aztekischer Sprache
geschriebenen Quellen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts sind mit ge-
schickter Hand längere oder kürzere Abschnitte ausgewählt worden, um — bunt
miteinander kombiniert — eine in 15 Kapiteln gegliederte Darstellung der Conquista
zu geben, wie sie von den Eingeborenen gesehen wurde. An das Schlußkapitel
reihen sich noch einige jener ergreifenden Hymnen, die den Fall von Tenochtitlan
und die Gefangennahme Quauhtemocs beklagen. Während die Übertragung der
Nahuatl-Texte durch Garibay erfolgte, hat León-Portilla die Auswahl der Be-
richte übernommen; von ihm stammen auch die Einleitungen zu den einzelnen
Kapiteln. In dem bibliographischen Anhang wird die Übersetzung der Alt-azte-
kischen Gesänge“ durch Leonhard Schultze Jena („Quellenwerke zur alten Geschichte
Amerikas“ 6), eine Veröffentlichung der Ibero-Amerikanischen Bibliothek Berlin,
versehentlich einer Hamburger Institution zugeschrieben. Die gefälligen Illustrationen
Alberto Beltráns wurden zwar nach zeitgenössischen Vorlagen geschaffen, doch
ist dabei an die Stelle des hybriden Stils der Originale eine Art idealisierender
Einheits-Stil getreten.
G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
335
ZUR FRAGE DER ETHNOGRAPHISCHEN EINORDNUNG
DER AYORE, MORO UND YANAiGUA IM OSTBOLIVIANISCHEN
TIEFLAND
HEINZ KEIM, Oberkassel
Die seit den Tagen der Missionierung durch die Jesuiten einsetzende und
später besonders im Zusammenhang mit der Ausbeutung des Wildkautschuks
verstärkte zivilisatorische Beeinflussung der Eingeborenen hat zur stammes-
mäßigen Entwurzelung der Indianer, zum teilweisen oder völligen Verfall
ihrer angestammten Kultur und damit zum Verblassen des altüberkommenen
ursprünglichen ethnographischen Bildes des ostbolivianischen Tieflandes ge-
führt.
Dennoch vermochten sich in bestimmten Rückzugsgebieten, d. h. solchen
Regionen, die einerseits kein unmittelbares wirtschaftliches Interesse zu erwek-
ken vermochten, andererseits aber auf Grund ihrer Lage im toten Winkel der
Verkehrsadern und ihrer naturgegebenen schweren Durchdringbarkeit als „ab-
gelegen“ zu bezeichnen sind, Gruppen von Eingeborenen zu behaupten, die
auch heute noch mehr oder minder ihrer ursprünglichen Lebensweise ver-
haftet sind. Diese werden von den zivilisierten Bewohnern des ostboliviani-
schen Wald- und Graslandes — Indianern und Mestizen —, denen die exakte
ethnographische Einordnung und Bennennung kein Anliegen sind, insgesamt
als „Wilde“ (salvajes, barbaros, indios bravos, irrationales) bezeichnet. Aller-
dings hat die im Zusammenhang mit blutigen Auseinandersetzungen und
sonstigen Kontaktaufnahmen immer mögliche Beobachtung bemerkenswerter
somatischer und kultürlicher Eigenheiten mit Notwendigkeit zu der Erkennt-
nis geführt, daß es sich bei diesen „Wilden“ um Angehörige zweier recht
verschiedener ethnischer Gruppen handelt. Diese Feststellung hat dann auch
in der Verwendung der populären Bezeichnungen „Chori“ und „Yanaigua“
ihren Niederschlag gefunden, welche auf die in den mehr nördlichen bzw.
südlichen Regionen streifenden Indianer angewandt werden. Wie ich hier auf
Grund meiner eigenen Beobachtungen vorwegnehmen darf, entspricht diese
Feststellung tatsächlich den ethnischen Gegebenheiten, d. h. dem Vorhan-
densein nicht zivilisierter Indianer, die zwei verschiedenen Stämmen an-
gehören.
Bei den sog. Chori(s) — diese Bezeichnung ist nicht zu übersetzen oder
abzuleiten — handelt es sich ohne Frage stets um die Siriono.
Demgegenüber ist der Name „Yanaigua“, der sich im südlichen Teil des
22 Baessler-Archiv VIII
336
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
ostbolivianischen Tieflandes allgemeinen Gebrauchs erfreut, insofern zweideu-
tig, als er auch Eingang in die Literatur gefunden hat und dabei augenschein-
lich auf verschiedenartige ethnische Gruppen bezogen worden ist. Somit
entsteht die Frage, ob die im Bergland von Chiquitos und in den dieses im
Norden und Süden begrenzenden Regionen schweifenden Indianer mit Recht
als „Yanaigua“ bezeichnet werden können.
Diese Frage wird noch erweitert durch die Tatsache, daß die in den
genannten Gebieten lebenden Indianer, denen seit den vierziger Jahren dieses
Jahrhunderts die Bemühungen zweier amerikanischer protestantischer Mis-
sionsgesellschaften gelten, von den Missionaren als „Ayore“ bezeichnet werden.
Mit der ethnographischen Einordnung dieser Ayore, deren Name in der
Literatur bislang nicht ausgewiesen wird, haben sich bereits Haekel (12,
100) und Zer ries (35, 218) beschäftigt, die sich auf Angaben des im Jahre
1958 am Rio Itenez ermordeten von Horn Fitz Gibbon bzw. der
protestantischen Missionare stützen. Ich selbst habe die Ayore in den Jahren
1955 und 1956 besucht.
Geht man von der Beobachtungstatsache aus, derzufolge außer den Sirionö
mit Angehörigen nur eines noch mehr oder minder im ursprünglichen Zustand
lebenden Stammes in den genannten Gebieten zu rechnen ist, so gilt es, die
Identität der sog. Yanaigua mit den Ayore zu beweisen.
Meinen Untersuchungen zufolge handelt es sich bei den Ayore um
Gruppen, die der Sprachfamilie der Zamuco angehören, wie der nachstehend
wiedergegebene lexikalische Vergleich erhellt, der das moderne Ayore einigen
bisher bekannten Wörtersammlungen der Zamuco-Sprachen gegenüberstellt.
Bei diesen handelt es sich um Angaben von Hervas (14, 37, 42, 180; 15,
97; 16, 163 ff.), der als erster (1784) die Sprachfamilie der Zamuco benannt
hat, und von D’O r b i g n y (27, 115), dessen Wörterverzeichnis Cardus
(6, 327) offenbar übernommen hat. Ferner sind zum Vergleich Aufzeichnun-
gen von Nordenskiöld (25, 324), Baldus (2, 382 f., 401 ff.) und
O e f n e r (28, 100) herangezogen worden, die sich auf die Tsiräkua bzw.
Camakoko (Tumerehä und Ebidoso) und Guaranoca beziehen.
A 1 s weiteres sprachliches Beispiel sollen hier zwei bei H e r v a s1 ab-
gedruckte Gebete angeführt werden, die bereits Loukotka (20, 852) und
Baldus (2, 380) als Beleg für das Zamuco bzw. für die Verwandtschaft
des Camakoko mit dem Zamuco herangezogen haben. Der Vergleich, dem
hier die Ausgabe von Adelung und Vater (1, 555, 557) zugrunde liegt,
zeigt eine weitgehende Übereinstimmung des Zamuco mit dem Ayore. Die
(Fortsetzung Seite 344)
1 H e r v a s , Lorenzo, Sagglo prattico delle lingue. Cesena 1787.
22»
He r v a s Zamuco Keim Ayore D’O r - b i g n y Zamuco Norden- Baldus s k i ö 1 d Tsirdkua Tumereha Ebidoso O e f n e r Guarmoca
alt — choquijnap1 chokinap — — — —
Asche — puchucurui2 — pütchucuru — —
Auge yedo3 yedo yedoi pede4 pele —
yoquedodie dlyöquidodye
Augenbraue yedomit5 yetasi — — peteso peteso —
Bauch chirobite6 ica — — — — —
1 Um den Vergleich nicht unnötig zu erschweren, verwendet
d. Verf. die auch von Hervas, D’Orbigny und
O e f n e r benutzte spanische phonetische Transkription. —
Der Akzent ruht, sofern nicht anders angezeigt, stets auf
der letzten Silbe.
2 Das Ayore zeichnet sich durch den häufigen Gebrauch
gleichlautender Doppelvokale aus, die entweder tremiert
oder als ein, und zwar gedehnter Vokal gesprochen wer-
den. Es herrscht in dieser Hinsicht bei den einzelnen In-
dividuen und bezüglich der verschiedenen Vokabeln keine
Sicherheit oder Einheitlichkeit. Die lautliche Entwicklung
schreitet fort, und zwar mit der Tendenz zur gedehnten
Aussprache. Der Ausgangspunkt dieses bemerkenswerten
Wandels ist in vielen Fällen die Eliminierung des zwischen
zwei gleichlautenden Vokalen eingeschalteten „r-Lautes"
(z. B. guiride — guiide oder guide = Zehe).
3 Bei der Wiedergabe von Vokabeln, die sich auf Körper-
teile beziehen, wird von H e r v a s fast durchgängig die
mit dem Präfix „y-“ gebildete Possessivform der 1. Pers.
Sing, gebraucht. Bereits D’Orbigny (27, 307) erwähnt
den „y-Anlaut“ im genannten Sinne als sprachliche Be-
sonderheit, ohne sich allerdings Rechenschaft darüber zu
geben, daß es sich um die Possessivform der 1. Person
handelt.
4 Die das Camakoko betreffende Rubrik übernimmt der
Verf. — von einigen Ergänzungen abgesehen — von
B a 1 d u s (2), der an Hand des Vokabulars von H e r v a s
usw. bereits den Vergleich mit dem Zamuco durchgeführt
und alle diejenigen Wörter aufgezeigt hat, welche die
Sprachverwandtschaft erhellen. Von einer zusätzlichen Ge-
genüberstellung des Ayore und Camakoko soll hier abge-
sehen werden, zumal der lexikalische Vergleich im Sinne
des Nachweises von Entsprechungen tatsächlich wenig er-
giebig ist.
5 Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine umschrei-
bende Form: yedomito = die zum Auge Gehörende.
6 Es liegt offenbar eine fehlerhafte Wiedergabe vor, zumal
das Wort allein schon durch das Fehlen des Possessiv-
Suffixes aus dem Rahmen fällt. Eine gewisse phonetische
und sinngemäße Entsprechung weisen die Wörter „abito“
(= Leber) und „atirobi“ (= Leibschneiden, Blähung) auf. v»
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
Herv a s Zamuco Keim Ayore D’Or- bigny Zamuco Norden- s k I ö 1 d Tsirákua Bald 'Turner eh a u s Ebidoso O e f n e r Guarañoca
Berg, Stein cucarat cucarat cucanat kukáni — kuxai (k) acarabu7
Bohne — cuguei — — — — juuqueo
Bogen — oji acho8 — — — poca9
brechen petó pero — — — — —
Brust aofoc10 aröbe, -rac — — — — —
Caraguatá — döria11 — gutá — — —
dunkel, schwarz otota utata — — — — —
er, sie, diese(r) — üte, üate uuta — — vuate —
Erde nup, numi12 jnup, jnumi13 — — niep, himi (g) nyimi jumi
essen14 — ägu agu — tago tao agu
Feuer, hell pioc pioc, piói pioc pió pio (Brenn- pió pioque, pioy
holz)
7 Bei der Endung ,,-bu“ handelt es sich offenbar um das
die Vielzahl ausdrückende Suffix ,,-bui“.
8 Die fehlende Entsprechung könnte auf einen Irrtum bei
der Aufnahme zurückgeführt werden (icho = Pfeilschuß).
Andererseits ist an eine Verwechslung bei der Wieder-
gabe zu denken. D’Orbigny führt die Vokabel
„diojic“ für den Pfeil an. Die Wurzel ,,-ojic“ bezieht sich
auf den Bogen und wird mit „(es) ist (ein) Bogen“ über-
setzt. Dementsprechend würde „acho“ die korrumpierte,
auf den Pfeil (ojo) zu beziehende Vokabel darstellen.
9 O e f n e r gibt hier das als Oberbegriff die Waffe schlecht-
hin bezeichnende Wort (pocä) wieder, das sich allerdings
vornehmlich auf die Feuerwaffe bezieht.
10 Die Verwendung des Im Zamuco ungebräuchlichen
„F-Lautes“ und das Fehlen des Possessiv-Suffixes (vgl.
Anmkg. 6) deuten auf einen Druckfehler hin.
11 Der Wortschatz der Ayore kennt eine Vielzahl von Vo-
kabeln, die sich auf die verschiedenen Spezies und Spiel-
arten der für die Wirtschaft bedeutsamen Bromeliaceen
beziehen. Möglicherweise ist das von Nordens kiöld
angeführte Wort nicht allgemein in Gebrauch.
12 Außer der gewöhnlichen Form kennt das Ayore eine
definierende, die von jedem Substantiv gebildet werden
kann; jnumi = Erde, jnup = das (es) ist (eine) Erde.
13 Der „jn-Laut“ wird durch gleichzeitiges Ausatmen durch
Nase und Mund geformt.
14 L o u k o t k a (20, 849) nimmt irrtümlicherweise an, daß
„agu“' „trinken“ und nicht „essen“ bedeutet.
338 Keim, Einordnung der Ayore, Moro und Yanaigua
f
He r v a s Zamuco Keim Ayoré D’Or- bigny Zamuco Norden- s k i ö 1 d Tsiràkua B a 1 d u s Tumereha Ehidoso Oefner Guaranoca
Frau15 chekè cheque — — — — chequey,
capu16
(Ehe)frau — yacote yacotea — — — —
Fuß irie17 guiridäi — — piri — potache18
ganz chuena chejna — — — — —
gib mir azi ome nu asi óme yu asigue — asemeo àsemèo —
Gott tupade düpäde19 — — — — gendo20
Grabkeule — corägäräi — bahäbe21 — — —
groß date -date22 — — lata lata —
Hand yumanai yijmanäi ymanaetio pemä peme pijate
yoquejmanane dlyocomana
Haupthaar — acarai — — — ake(e)ret pacaracho23
15 Loukotka (20, 847) stellt die von H e r v a s und
D’Orbigny angeführten Vokabeln für „Frau“ gegen-
über, was zu keinem Resultat führen kann, da diese
Wörter sich tatsächlich auf die Begriffe „Weib“ bzw.
„Ehefrau“ beziehen.
16 Bei dem nach Oefner (28, 100) synonym mit „chequey“
gebrauchten Wort „capu“ handelt es sich um die Bezeich-
nung „gäpu“ (= es ist ein erwachsenes Mädchen).
17 Auch hier fehlt die Possessiv-Präfigierung (vgl. Anmkg. 6)
der 1. Person. Wahrscheinlich handelt es sich um die
3. Person, und zwar des Wortes „Zehe“ (gui(r)ide): i(r)ide
(= seine Zehe).
18 Diese Vokabel wird im Ayore nicht ausgewiesen.
19 Es handelt sich um eine Entlehnung aus dem Jesuiten-
Guarani.
20 Bei „gendo“ ist an „guedo“ (= Stern) zu denken.
21 Es scheint eine Form der Vokabel „ogue“ ( = Kriegs-
keule) vorzuliegen. Keulen werden bisweilen zum Aus-
graben von Wurzeln und Bromeliaceen benutzt. „Bagabia“
(= deine kleine Keule) ist die Form, die sich hier zum
Vergleich anbieten würde. Die in der Tabelle wieder-
gegebene Vokabel bezieht sich auf die Grabschaufel als
solche.
22 Das Suffix ,,-datei, e“ wird zur Bezeichnung der Größe
benutzt: düpäde idaidatei = Gottes großes Lager =
Himmel (reich). Die ursprüngliche, von B a I d u s auch
für das Camakoko belegte Bedeutung ist „Mutter“ und
findet im Ayore bei der Bildung von Eigennamen Ver-
wendung (z. B. Ijmaidate = Mutter des Ijmai).
23 Es handelt sich offenbar um die definierende Pluralform:
pacaracho = es sind meine Haare.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII 339
He r v a s Zamuco Keim Ayore D’O r - b i g n y Zamuco Norden- s k I ö 1 d Tsirdkua B a 1 d u s Turner eh a Ebidoso O e f n e r Guarinoca
Haus idai, yigueda idai24 — — do déd —
Herz yayuc äyipi(r)e25 — — — — —
hinauf, oben hi-guieatè iji gatei — — — — —
Himmel guieatè gätei — — yetet — —
Honig cuten cutere — — — — —
Hund — tamoco — tomóco — — tomocos
ich, mein, mich nu (u)yu oyu — — — —
ich will — ipota aimese26 — — — —
ich will nicht — caipotä casimese — — — —
jung — jnacari nacar — — — —
Kalabasse — pii (Behältnis) — pitäu — — —
klein ama -abi — — apaub apab —
Körper yogatade yörotade (Schulter) — — — — —
Kopf yatoitae yatoi yatodo — ho hoté —
yatoidie
Mais — guejnai — géshna — — gnèja
Mann nani jnäni, -one vairigue27 — näxerop — anione, adio
24 „Haus“ heißt im Ayore „guiguijnai“. Hier ist offenbar
die Vokabel für „Lagerplatz“ (guidai; idai = sein Lager)
wiedergegeben. Bei „yiguda“ kann es sich um die fehler-
hafte Possessivierung der 1. Person handeln; yiguida = es
ist mein Dorf (richtig: yida). Dem Camakoko-Vokabular
hat der Verfasser das Wort für „Lager“ entnommen.
25 Zur Umschreibung des Begriffs stehen verschiedene Wör-
ter (äyipi(r)e, ajeei, iyobire, agute) zur Verfügung, die
sich auf das Organ als solches oder die bei diesem ver-
muteten Funktionen beziehen. Bei „yayuc“ handelt es
sich vermutlich um eine Bildung, die auf die Verbalform
„yayugu“ (= ich denke, meditiere, überlege, vermisse etc.)
zurückgeht. Für diese Annahme spricht die in dem nach-
stehend wiedergegeben Gebet vorhandene, mit dem Pos-
sessiv-Präfix der 1. Person versehene Pluralform (= meine
Herzen).
26 Die Negation „ca-“ ist typisch für das Ayore, doch läßt
sich ein übereinstimmendes Wort nicht auffinden. Mög-
licherweise hat ein Lehnwort aus dem Guarani (Guarayü:
pota = ich will, beabsichtige, wünsche usw.) die Ayore-
Vokabel ersetzt.
27 Vgl. Anmkg. 18.
340 Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
H( e r v a s Zamuco Keim Ayoré D’O r - b i g n y Zamuco Norden- s k i ö 1 d Tsirákua Bald Tumereha u s Ehidoso Oefner Guariñoca
Monat hetoxei gucdodi — — — —
Mond hetoxei güedoside etosia — — — guiotosile, yedosio
Mutter oté ité, cöde (Großmutter) — — ote ote —
Nacht deac dejac — — délhák délak —
Name (i)reo i(r)i(o) — — — — —
Nase yucunachu yicorächui — — — — —
nieder, unter hi-numitie iji jnumi — — nyimik nimít —
Ohr ~ yagórone yocagoróne yagoroné dlyócongo- roni pari, paro pare
Pfeil — ojo28 diojic — — — erajidie
Rauch — uyújna — — — — unujay
Regen bec bec — — — ebe(k)
schlafen — imo amo — orno omog jamo
See yot-opat29 yot(j)ogat — — — — —
Seele yuhorré yöre — — — — —
Sonne guiedde guede yede géte yetet (Tag- himmel) — guiaute
Stern hedoi guedo — — — — —
Strauß — orojoi — bái30 — — —
28 Vgl. Anmkg. 8. Bei dem von Oefner aufgezeichneten
Wort handelt es sich wahrscheinlich um die Form „oro-
jodie“ (= ihre Pfeile).
29 Das zusammengesetzte, umschreibende Wort ,,„yot-ogat“
— das „p“ in „yot-opat“ ist als Druckfehler zu erach-
ten — steht an Stelle der sonst üblichen Bezeichnung für
„See“ und bedeutet „es ist ein Wasserplatz“.
30 Möglicherweise wurde an Stelle des Gattungsnamens die
zur Bezeichnung der Jagdbeute schlechthin gebrauchte
Vokabel „bei“ genannt.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII 341
H e r v a s Zamuco Keim Ayoré D’O r - b i g n y Zamuco Norden- s k i ö 1 d T sirákua Bald Turner eh a U S Ehidoso O e f n e r Guarañoca
süß dirip iräbei — — — de(i)r —
Tabak — sidöde — sidódu — — —
Tag dire dire — — dei dei —
Teufel ugot, guideda31 — — — — — —
Tier cuchap cüchäp32 — — — — —
Urukü — curudepöria — tasi33 — — —
Vater yai, yebia34 yai — — dei dii —
Wald pit, ogat35 pit(j)°gat — — — pichu (Baum- stamm) —
Wange — yure yudé — püre — —
Wasser yot yot yod mama36 ósohot nio yode
31 Hier liegt bei H e r v a s augenscheinlich ein Irrtum vor,
da in dem nachstehenden Gebet „Teufel“ mit „idaitie“
und „Haus“ mit „guideda“ übersetzt wird, wie in der
Wörterliste (vgl. Anmkg. 24) „yigueda“ als Vokabel für
„Haus“ angeführt ist.
32 „Cuchap“ heißt eigentlich „groß“ und ersetzt gelegent-
lich die Bezeichnung „cuchi(r)isöi (= wildes Tier).
33 Es ist möglich, daß es sich bei „tasi“ um ein heute nicht
mehr verwendetes Wort handelt, da die vom Verf. an-
geführte Vokabel umschreibenden Charakter besitzt und
„Farbbaum“ bedeutet.
34 „Yebia“ stellt nach Hervas den „unser Vater“ und
„mein Vater“ ausdrückenden Vokativ eines Wortes dar,
das nicht mit der allgemein gebräuchlichen Vokabel (Yai
= mein Vater) identisch ist. Evtl, handelt es sich um das
Wort ,,yabi(a)“ (= guter, helfender Freund), das mög-
licherweise von den Jesuiten benutzt worden ist, um die
Neubekehrten nicht durch die Verwendung des sich auf
den blutsmäßigen Vater beziehenden Ausdrucks zu ver-
wirren.
35 Vgl. Anmkg. 29. Es darf unterstellt werden, daß es sich
bei der den synonymen Gebrauch andeutenden Komma-
setzung um einen Druckfehler handelt. Das Wort ent-
spricht in seiner Bildung dem „yot-ogat“ und bedeutet
soviel wie „Holzplatz“.
36 Ohne Frage liegt hier ein Druckfehler vor, da die Gegen-
überstellung von „yot“ und „mama“ sinnlos ist und nicht
die Verwandtschaft des Tsiräkua mit dem Zamuco nach-
zuweisen vermag, wie das bei den übrigen von Nor-
denskiöld ausdrücklich zu diesem Zweck herange-
zogenen Wörtern der Fall ist.
342 Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
He r v a s Zamuco Keim Ayore D’O r - bigny Zamuco Norden- s k i ö 1 d Tsirdkua B a 1 d u s Turner eha Ebidoso O e f n e r Guaranoca
Weg daec däjec — — deheg dahet —
weiß pororo pororo — — pofa pofo —
Wildschwein — Yacöre, töto — posnoni37 — — —
Wind em emi — — — — —
Zapallo — corögöri — ögodieu — — —
zittern aitoddo itödo — — — — —
eins chomara chojmara — — sümara tomhera —-
zwei gar gäre — — — — —
drei gaddioc gadi(r)oc — — — — —
vier gahagani gägajni38 — — äihi sarhi arhisrhi —
37 Möglicherweise handelt es sich um das Wort „posöde1
(= Nahrung).
38 Bezüglich der Zahlwörter ist eine völlige Übereinstim-
mung festzustellen.
344
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
feststellbaren Abweichungen sind vermutlich vornehmlich auf die unterschied-
liche Lautauffassung und -Umschreibung, darüber hinaus aber auf augen-
scheinliche orthographische Irrtümer bei den — wie anzunehmen ist — wie-
derholten Übertragungen sowie auf Druckfehler zurückzuführen2.
2 Wertvolle Hinweise bzgl. der grammatikalischen Eigenheiten des Ayore verdanke
ich den Missionaren der „South American Indian Mission“ und „New Tribes
Mission“.
Sonntagsgebet :
Yebia Jesu-Kito = Vater Jesu Christ, yabia Jesuse-Kito
Tupa-puz = Gott wirklicher, düpäde pis
guà nanl-puz = du Mensch wirklicher, ua jnäni pis
apo guà atoi = und du gestorben apo ua atöi
ahà curucere = am Kreuz ajà curesei
icaitè na noe = einst für uns. i(r)ica(tic) ga yoc
yayugoddoe = Mein Herz yagute1
dozo-puz = bedauert sehr chösori pis2
yipiazup — meine Thaten, yipésudi3
cuchuzodaddoe = Sachen schlechte cüchusijnagone4
ome guà = gegen Dich, óme ua
guiòné guà = wegen Deiner, gu(io) ua
guiozè gomi-puz guà = weil gut sehr du; gu gómi pis ua
ai-macer5 = ich liebe yijnóra
apo guà = auch Dich apo ua
eraponahe = alle alle erämone(Welt)nane
(zusammen)
cuchaddoe nez gai = Sachen alles über; cüchäde jnese gai
docate = nicht daß ca6
acuaz nu = du wirfst mich acu(r)as yu
1 Vgl. Anmerkung 25 des vorangestellten Vokabelverzeichnisses.
2 Möglich ist auch die Form „uröso“ (= es schmerzt).
3 Die von H e r v a s angeführten Formen (yipiazup, -zuboddoe) sind evtl, heute
nicht mehr gebräuchliche Substantivformen, die auf das Verbum „ipesu“
(= machen, tun) zurückgehen.
4 Im Text werden voneinander abweichende Formen angeführt. Alle lassen die
im Fall von Zusammensetzungen benutzte verkürzte Substantiv-Form (cüchu-)
und die üblicherweise vom Adjektiv getragene Pluralendung erkennen.
5 Das Fehlen des die 1. Person kennzeichnenden Präfixes deutet darauf hin, daß es
sich um eine korrumpierte Form handelt. Ebenso ungebräuchlich ist die En-
dung „r“.
6 Die Verneinung „ca“ gibt mit dem nachgestellten Imperativ — dem heutigen
Gebrauch entsprechend — den Sinn in ausreichender Weise wieder.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII 345
guideda idaitié yitoiri nei = Haus Teufels7 = (wenn) ich sterben yitoiñ jne (künftig)
azóre-ñu yebia werde unten; = erbarme Dich meiner, asóre yu yabia
ca yipiazuri Vater, = nicht ich thun werde ca yipesun
ore apo nei = sie auch künftig, ore apo jne
yayauri ore yebia = ich unterlassen yarac rl ore yabia
Tirogoró yebia werde sie Vater. = Nicht mehr, Vater, íjnogapo ri yabia
yipiazuboddoe = von meinen Thaten. yipesudi
agaroita guá = Ich vertraue Dir, agüreta ua
azi orne ñu = gib an mich asi órne yu
agraciare = dein Begnadigen, agraciare8
ega gomi-puz = weil gut sehr éga gómi pis
ñuri nei = ich seyn werde jnurl jne
Yebia guite erigu künftig. Vaterunser: — Unser Vater er yabia üte9
daquchi hi guíate welcher -■ bist in Höhe bagúsi iji gatéi
Nacu puonerac aireo = O! verehrt sei Dein jac(?) pijnóraquei bei10
azogadipuz hi guíate = Höchstes Gutsein bajogadi pis iji gatei11
tennogui gaddó = komme tibagui aja yoc (zu uns)
Nacu piorac = O! gethan werde jac (?) pírora
Ayutigo = Dein Wille bapotigatic
hi numitie idde = auf Erde dieser iji jnumi (ü)te
7 Der Vergleich mit den für „Haus“ und „Teufel“ im vorangestellten Vokabel-
verzeichnis von Hervas angegebenen Wörtern (vgl. Anmerkung 24) zeigt, daß
hier ein Irrtum vorliegt. Zudem ist die Genitivnachstellung nicht üblich, wie
auch die im Text sonst allgemein gesetzte Präposition hier fehlt. Naheliegend
wäre die Form „guidaidatei“ (= großes Lager, Himmelreich).
8 Von den Jesuiten eingeführtes Wort.
9 Möglicherweise handelt es sich bei „erigu“ um die adverbiale Form „rique“
(= was, welcher).
10 Die Grundform „i(r)i(o)‘‘ läßt die Übereinstimmung besser erkennen als die der
Übersetzung entsprechende Form der zweiten Person (bei).
11 Hier liegt offenbar eine fehlerhafte Übersetzung vor. An dieser Stelle müßte es
heißen, da es sich ja um das Vaterunser handelt: „Dein Reich komme.“ Der
Begriff „Reich“ wird demnach hier mit „wahrhaftiger (pis) Ort (jogadi) in der
Höhe (iji gätei)“ umschrieben.
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
346
cho puz piorac = wie auch gethan wird cho pis piroras
hi gufate = in Höhe iji gätei
Azi orne yoc = Gib an uns asi órne yoc
addibozode = unsere Speisen yoquibosóde
diriao gannene = täglich gehörig diri gajnec
hi diritie idde = an Tag diesem iji diri (ü)te
Azore yoc = Verzeih uns asóre yoc
hi addipiazup = bey unseren Thaten iji yoquipesudi
cuch-uzudadoe = Sachen schlechte cüchusijñágone
cho aiyozoco = wie wir verzeihen cho yösoco
hi addichetezeranoe nez = bey unseren Hassern allen iji yoqui(ch) -etaquesördne jni
Aca aur = Nicht lasse a ca äräc
ega chipiaco = daß wir thun èga yipeco
addipiazup = unsere Thaten yoquipesudi
cuchu-zodatie = Sachen schlechte cüchusijñágone
Arota yoc hi = Befreie uns bey arota yoc iji
cuchuzudadoe = Sachen schlechten allen. cüchusijñágone jnese
Der vorstehende Sprachvergleich zeigt — wenn man von Unterschieden
in der Lautauffassung und augenscheinlichen Irrtümern bei der Aufzeichnung,
wie sie immer unterlaufen können, absieht — eine weitgehende Überein-
stimmung des heutigen Ayoré mit den historischen Zamuco-Vokabularen,
während sich in bezug auf das Camakoko allein die Verwandtschaft nach-
weisen läßt. Das Zamuco hat offenbar im Verlauf von 200 Jahren seine
Eigenart in hohem Maße bewahrt. Diese Tatsache ist um so bemerkenswerter,
als die Camakoko-Stämme nach einer B a 1 d u s (2, 375) zufolge nur fünf-
zigjährigen Trennung bereits beachtliche Dialekt-Abweichungen aufzuweisen
hatten, und es scheint geraten zu überprüfen, inwieweit die Auffassung von
der erst in jüngerer Zeit erfolgten Aufgliederung der Camakoko in Unter-
gruppen aufrechtzuerhalten Ist.
Die Ayoré durchstreifen heute ein ausgedehntes Gebiet des südlichen Ost-
bolivien. Dieses wird im Westen und Osten vom Rio Grande (Guapay)
bzw. vom brasilianischen Territorium begrenzt und reicht von den Guarayos-
Missionen im Nordwesten und den Gummiwäldern des mittleren Paraguä im
Nordosten bis weit in den Chaco hinein. Dementsprechend umfaßt dieses
Areal auch die Ketten des Berglandes von Chiquitos (Serranía de Ipias,
Chochii, Santiago, Sunsas usw.) und die Wälder und Salinas des Chaco
Boreal, die in den frühen Berichten als Lebensraum der Zamuco-Stämme
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
347
bezeichnet werden. Tatsächlich gehört die heute zu beobachtende Ausdeh-
nung der Jagd- und Kriegszüge der Ayore auf die mehr nördlichen Regionen
erst den letzten Jahrzehnten an, und man darf vermuten, daß diese Ent-
wicklung durch den Chacokrieg ausgelöst worden ist.
Die praktisch bedeutsame Einheit innerhalb der politischen Organisa-
tion der Ayore ist die Lokalgruppe, deren zahlenmäßige Stärke sich durchaus
im Rahmen der Horde hält und 25 bis 100 Individuen betragen kann. Jede
Horde besitzt einen sie kennzeichnenden Namen, der an Eigenheiten ihres
Standortes anknüpfl und grundsätzlich die männliche Pluralform des Frage-
pronomen „wer“ oder „welcher“ (gösi = masc. sing; gösode — masc. plur.)
zur Umschreibung des Begriffs „Horde“ (oder Lokalgruppe) verwendet. So
handelt es sich z. B. bei der von Horn Fitz Gibbon (12, 100) besuch-
ten und nicht ausdrücklich mit einem Namen belegten Gruppe um die im
Bereich des Cerro Mänomo und von Cabeza de Toro am Alto Paraguä
schweifende, zeitweilig bzw. teilweise an die inzwischen aufgegebene Mission
Bella Vista in der Provinz Nuflo de Chävez angelehnte sog. Jnupedo-
Gösode. Diese Bezeichnung bedeutet „Bewohner der Gegend (= gösode), wo
die Erde (jnup) Löcher (= edo = Auge) aufweist“ und bezieht sich m. E.
nicht auf die heutige Umwelt dieser Ayore, als vielmehr auf bestimmte, durch
charakteristische Erosionsformen ausgezeichnete Landstriche des nördlichen
Chaco, die von dieser Gruppe vor nicht allzulanger Zeit verlassen worden
sind.
Das Erlöschen ganzer Horden, die Vereinigung von Lokalgruppen und
Fälle des Standortwechsels haben beständig zur Aufgabe alter und zur Schaf-
fung neuer Gruppenbezeichnungen geführt, die, wie auch die von den Ayore
aus ernährungstechnischen Gründen geübte Praxis der zeitweiligen Aufspal-
tung der Gesamtgruppe in kleinere Unterabteilungen — ein Vorgang, der
„Jmitimitigai“ genannt wird — die Übersicht sehr erschweren.
In kultureller und linguistischer Hinsicht bilden die Ayore heute weit-
gehend eine Einheit. Gewisse sprachliche Eigenheiten sind bei den einzelnen
Horden gegeben, doch beziehen sie sich auf vereinzelte Vokabeln des Wort-
schatzes (z. B. üyädi, üyäga = Durst) und geringe Unterschiede in der Aus-
sprache (z. B. cojnaric, cojnatic).
So weit sie festzustellen sind, beschränken sich die Fremdeinflüsse im
Ayore auf wenige Wörter, die, wie z. B. „tamocoi“ (= Hund) und „agute“
(= Herz), dem Chiquitano bzw. Guarani entlehnt worden sind. Der vor-
malige Einfluß der jesuitischen Missionierung wird durch die Verwendung der
Wörter „düpade“ (= Gott) und „curesei“ (= Kreuz) verdeutlicht, wie auch
das Kreuzzeichen im Zusammenhang mit magischen Abwehrhandlungen eine
348
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
Rolle spielt. In Anbetracht dieses recht begrenzten Aufscheinens sprachlicher
Fremdbeeinflussung und im Hinblick auf die von den Jesuiten in den Zamuco-
Missionen von Santiago, San Juan und Sto. Corazón angestrebte Einführung
des Chiquitano als Verkehrssprache — ein Bemühen, das nach den Beobach-
tungen von D’O r b i g n y (26, 636) aus dem Jahre 1831 durchaus von Er-
folg gekrönt worden ist und zur Zweisprachigkeit der Zamuco oder gar zum
Erlöschen ihrer angestammten Sprache geführt hat — muß angenommen wer-
den, daß die Vorfahren der heutigen Ayoré oder zahlenmäßig begrenzte
Teile dieser nur vorübergehend oder flüchtig mit den Missionen in Berüh-
rung gekommen sind. Es ist demnach daran zu denken, daß die Ayoré in
erster Linie auf solche Stämme oder Stammesabteilungen zurückzuführen sind,
die sich dem Zugriff der Jesuiten zu entziehen vermochten.
So erwähnt schon Hervas (13, 32) die nicht bekehrten Zamuco-Grup-
pen der Timinabas und Imonos, und D’ O r b i g n y (27, 306) betont die
Missionierung von jeweils nur Teilen der einzelnen Stämme, wie er auch den
Verbleib nicht christianisierter Abteilungen in den ausgedehnten Wäldern
belegt.
Es erhebt sich hier die Frage nach denjenigen Zamuco-Stämmen, die als
Vorfahren der Ayoré aufgefaßt werden können.
Die Indianer selbst vermögen verständlicherweise keine Auskunft zu er-
teilen, zumal ihnen nur die oben bereits erwähnten, nicht sonderlich lang-
lebigen gegenwärtigen Hordenbezeichnungen geläufig sind, ferner der Name
„Ayoré“ (ayoréi = masc. sing., ayoré — fern, sing., ayoréiode = masc. plur.,
ayorédie = fern, plur.)3 4, der soviel wie „Menschen“ oder „wir“ bedeutet1
und somit eine der in der Eingeborenenwelt so häufig zu beobachtenden ego-
zentrischen Selbstbenennungen darstellt. Keiner der in der frühen Literatur
erwähnten Stammesnamen, bei denen es sich ohne Frage z. T. um synonyme
Bezeichnungen oder auch nur um Hordenbenennungen des oben geschilderten
3 D. Verf. wendet hier — dem Vorbild der Missionare folgend — die Bezeichnung
„Ayoré“ an. Es wird jedoch zu entscheiden sein, ob dieser Stamm ausgerechnet
unter der den weiblichen Singular ausdrückenden Form Eingang in die Literatur
bzw. Nomenklatur finden soll. In Anbetracht des Vorhandenseins von vier mög-
lichen Formen wäre in diesem Fall die im allgemeinen nicht zu empfehlende
HIspanisierung anzuraten, um zu einer neutralen Benennung zu gelangen, die
Ayoréo (sing.) oder Ayoréos (plur.) lauten würde.
4 Nach B a 1 d u s (2, 377, 391) bezeichnen die Hório, Ebidoso und Tumereha
sich selbst als „Hório“ (T.; Horio, Orlò; E.: Hórxio, Hório, Ório). Dieses
Wort bedeutet „wir“ (exklusiv gebraucht). Die begriffliche und auch phonetisch
annähernde Übereinstimmung lassen vermuten, daß Hório und (A)yoreio(de)
auf die gleiche Wurzel zurückgehen. Eine grammatikalische Entsprechung ist
allerdings nicht gegeben (Ayoré: wir = yoc; sie = óre).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
349
Typus gehandelt haben mag, ist den Ayoré bekannt. Tatsächlich fällt es
schwer, heute die Identität der Ayoré mit einem bestimmten Stamm der
historischen Zamuco in schlüssiger Form nachweisen zu wollen. Andererseits
bestehen gewisse Argumente, die in eine bestimmte Richtung weisen.
Der an Hand eines nur begrenzten Vokabulars eingangs durchgeführte
Sprachvergleich vermag keinen Aufschluß zu erteilen, da es sich bei den
Wörterlisten von D’ O r b i g n y und H e r v a s in beiden Fällen offenbar
um Aufzeichnungen handelt, die den Zamuco-Stamm im engeren Sinne be-
treffen. Dafür spricht, daß D’ O r b i g n y seine Angaben mit keinem speziel-
len Hinweis auf einen der ihm ja als bestehend bekannten übrigen Dialekte
dieser Sprachgruppe versieht. H e r v a s , der ja selbst auf der Grundlage
von Mitteilungen seiner Gewährsleute als erster eine Einteilung des Zamuco
nach Sprachzweigen oder Dialekten versucht hat, bezieht sich gleichfalls auf
„das Zamuco“. Bal dus (2, 383) vertritt die Ansicht, daß sich Her vas
vermutlich auf die Arbeiten des Pater Chômé stützt, die dieser in der ihrer
Örtlichkeit nach heute nicht mehr auffindbaren Jesuiten-Mission San Ignacio
de Samuco im nordöstlichen Chaco durchgeführt hat. Diese Auffassung
scheint durch das Lob gerechtfertigt, das Her vas (13, 47) Chômé als
linguistischer Kapazität und Verfasser von Vokabularen und Grammatiken
des Zamuco und Chiquitano zollt. Obwohl er ihn nicht ausdrücklich als
Quelle zitiert, mag diese Erwähnung doch auf Chômés Rolle als Ge-
währsmann hindeuten. Andererseits muß aber festgestellt werden, daß die
Art der Abfassung der Wörterliste nicht für die Autorschaft eines langjährig
mit der Sprache vertrauten Gewährsmannes spricht, da sie die für den Be-
ginn jeder Spracherhebung typischen Charakteristika aufweist. Die bevor-
zugte Verwendung der definierenden Form (vgl. Anm. 12) und des Possessivs
der 1. Person des Singular erwecken den Eindruck, daß es sich bei den be-
treffenden Vokabeln — um es ganz einfach auszudrücken — jeweils um die
Antwort auf die Frage: „Was ist das?“, handelt.
Wie es sich tatsächlich mit den sprachlichen Verschiedenheiten innerhalb
der Zamuco verhalten hat, kann heute nicht ermittelt werden. Wörterver-
zeichnisse anderer Zamucosprachen oder -dialekte aus der frühen Epoche,
die einen auf breite Basis gestellten Vergleich ermöglichen könnten, sind
m. W. bislang nicht veröffentlicht oder zugänglich gemacht worden. Die
sprachlichen Unterschiede scheinen tatsächlich nicht sonderlich ausgeprägt ge-
wesen zu sein. Her vas (13, 32) stellt drei bzw. vier Sprachzweige her-
aus. Chômé5 berichtet von den in San Ignacio de Samuco konzentrierten
5 Lettre du P. Ignace Chômé au P. Vanthiennen. A la réduction de Saint-Ignace
de Indiens Zamucos, dans le Paraguay, le 17 Mai 1738. In: Lettres édifiantes
350
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
Stämmen der „Zamucos“, „Cuculados“, „Ugaronos“, „Tapios“ und „Satie-
nos“, daß sie annähernd die gleiche Sprache besitzen. D’ O r b i g n y (27, 305)
sagt bezüglich der vier von ihm festgestellten Unterabteilungen der Zamuco:
„Sie sind die vier großen Sektionen, die noch in Chiquitos bestehen und die
man in regionaler Hinsicht unterscheidet, obwohl sie mit aller Sicherheit eine
identische Sprache sprechen“. Obwohl beide Angaben sich auf die „Sprache“
beziehen, scheinen sie doch anzudeuten, daß die dialektmäßigen Abweichungen
nicht ausgeprägt gewesen sind.
Kann somit vom sprachlichen Material nichts Erhellendes hinsichtlich der
Herkunft der Ayore abgeleitet werden, so mag die Beantwortung der Frage
nach dem Punkt, an dem der Kontakt mit den Jesuiten erfolgt ist, gewisse
Indizien zu liefern.
Bei der Suche nach diesem Ort ist in erster Linie an die Chiquitos-
Missionen der Jesuiten zu denken, die in den die Landschaft des Chaco im
Norden begrenzenden Bergketten angelegt worden sind, und zwar besonders
an die Reduktion von Santiago. Nach D’ O r b i g n y (27, 306) gab es zu
seiner Zeit noch schätzungsweise 1000 Individuen der Zamuco-Gruppe, die,
von der Missionierung nicht erfaßt und der ursprünglichen Lebensweise ver-
haftet, in den Wildnissen im Grenzgebiet des Otuqui und der Salinas hausten.
Die im Raum der Salina von Santiago umherschweifenden und von ihm auf
500 Individuen bezifferten Angehörigen der Zamuco nennt D’Orbigny
„Guaranoca“. Horden der Guaranoca waren es dann auch, die den Haupt-
teil der Bewohnerschaft der Mission von Santiago stellten. Bei ihnen han-
delte es sich um einen außerordentlich kriegerischen Zamuco-Stamm, dessen
Mitglieder in der Mission sehr schwer zu behandeln waren (26, 636) und
fortgesetzt mit der Rückkehr zu ihren im Walde verbliebenen Stammesver-
wandten drohten, die zu befrieden es nach der Austreibung der Jesuiten auch
den weltlichen Nachfolgern der Missionare nicht geglückt war.
Die Benennung „Guaranoca“ wird in den jesuitischen Berichten nicht
ausgewiesen und stellt offenbar eine von D’Orbigny in die Literatur ein-
geführte synonyme Bezeichnung eines vormals vorhandenen Stammes bzw. die
Ablösung eines ehedem gebräuchlichen Stammesnamens dar. Schon auf Grund
des phonetischen Bildes ist die Identität der Guaranoca mit den Ugaranos
(Ugaronos, Ugarenos) anzunehmen. Sie ist um so wahrscheinlicher gegeben,
als D’ O r b i g n y den von den Jesuiten gebrauchten Namen „Ugaranos“ nicht
erwähnt, wohl aber das Vorhandensein der Guaranoca in Santiago feststellt,
als dessen Bewohnerschaft die Aufzeichnungen der Jesuiten u. a. die Ugaranos
etc. Vol. II., pp. 190-92. Paris 1843. D. Verf. zitiert das nicht zugängliche Werk
nach Baldus (2, 366).
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
351
belegen. Ferner kann der Hinweis von Charlevoix (7, 131 f.) angeführt
werden, demzufolge bei der Auflassung der Mission von San Ignacio de
Samuco die kriegerischen und unverträglichen Ugaraños zunächst mit ihren
Stammesverwandten nach San Juan verbracht, sodann aber gesondert in die
neugegründete Mission von San Ignacio, 8 Leguas nördlich von San Miguel,
überführt worden sind. Bei dieser Reduktion hat es sich ohne Frage um die
in dem heutigen Ort San Ignacio de Velasco fortlebende Mission gehandelt,
wo ich selbst die von den Jesuiten errichtete Parcialidad der Guarañoca als
dem Namen nach noch heute existent festzustellen vermocht habe.
Als weitere Entsprechungen sind die betont kriegerische Haltung sowie
der Hang zum Streit und zur Widersätzlichkeit anzuführen, Züge, die als
den Ugaraños und Guarañoca eigen geschildert werden und sich durchaus
mit der Haltung der Ayoré decken, bei denen Kampf und Krieg ihre Ver-
herrlichung finden.
Während den Berichten der Jesuiten nur wenige Einzelheiten zu ent-
nehmen sind, die über das kulturelle Gepräge der Zamuco Aufschluß er-
teilen, deckt sich D’O r b i g n y s (27, 305 ff.) vorzügliche Darstellung im all-
gemeinen mit den heute bei den Ayoré anzutreffenden Tatsachen, obwohl der
Aussagewert seiner grundsätzlichen Feststellung, derzufolge die Zamuco der
Missionen auch im Stadium der Halbzivilisation völlig das Charakteristikum
des primitiven Habitus bewahrt haben, einzuschränken ist. So stellen die
Kenntnis der Webtechnik und die dadurch ermöglichte Herstellung baumwol-
lener Hängematten einen bedeutenden Fortschritt dar; doch handelt es sich
um Errungenschaften, die auf den Einfluß der Missionare zurückgehen. Das
gleiche gilt für die Verwendung von Panflöten und anderen Dingen, von
denen D’ O r b i g n y offenbar annimmt, daß sie seit jeher den Zamuco be-
kannt gewesen sind.
Bemerkenswerterweise bezeichnet C a r d u s (6, 273 f.) in seinem Bericht
aus dem Jahre 1886 die Region der Salinas, mithin das von D’O r b i g n y
als Lebensraum der Guarañoca angegebene Gebiet, als Standort der Zamuco,
die er ausdrücklich der „Nation der Guarañoca“ zuweist, weil sie, wie er be-
merkt, die gleiche Sprache besitzen. Wenn man von seiner den Haarschnitt
betreffenden Aussage absieht, vermittelt C a r d u s völlig das heute von den
Ayoré und ihrer Kultur zu zeichnende Bild.
Oefners (28, 100 f.) Darstellung aus dem Jahre 1944 betrifft ver-
ständlicherweise bereits die modernen Ayoré, und zwar, soweit ich es festzu-
stellen vermag, die teilweise noch heute existente Töbui-Gösode6. O e f n e r
6 T. bedeutet „Bewohner der Gegend, wo es viele To-Sträucher gibt“. Der To-
Strauch ist eine Halophyte, aus der durch Verbrennen und Auslaugen der Asche
23 Baessler-Ardiiv VIII
352
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaiguä
nennt die mit ihm in Kontakt getretenen Indianer „Guarañoca“, ohne dafür
eine Begründung anzugeben. Es ist jedoch ersichtlich, daß er sich auf Car-
d u s bezieht, der sich seinerseits auf D’ O r b i g n y stützt. Alle drei Autoren
führen die Gegend der Salinas von Santiago und San José als Teil des Jagd-
gebietes der Guarañoca an.
Offenbar bestimmt durch den sich aus diesen Mitteilungen ergebenden
Gesichtspunkt der allgemeinen Wahrscheinlichkeit, bezeichnet Métraux (22,
243 f.) die in jüngerer Zeit die Anwesen des südlichen Chiquitos durch Über-
fälle beunruhigenden nicht befriedeten Indianer gleichfalls als „Guarañoca“.
Die vorgenannten Tatsachen machen es wahrscheinlich, daß es sich bei den
Ayoré um die mit den Ugaraños identischen Guarañoca handelt. Wenn man
in Betracht zieht, daß möglicherweise bereits missionierte, d. h. in Santiago
ansässige Guarañoca ihre Drohungen, in den Wald zurückzukehren, verwirk-
licht haben, so würden dadurch die heute bei den Ayoré feststellbaren christ-
lichen Einflüsse ihre naheliegende Begründung finden. Wie bereits erörtert,
kann heute nicht ermittelt werden, in welchem Grade sich die Zamuco-
Dialekte in historischer Zeit unterschieden haben. Nimmt man solche Ab-
weichungen als gegeben an, so ist in diesem Fall die bei der Klassifizierung
der Zamuco-Sprachen — wenn auch mit Vorbehalt — von Her vas (13,
32) getroffene Entscheidung bemerkenswert, da sie das Ugaraño und damit
Guarañoca dem eigentlichen Zamuco zuordnet. Dieser Tatbestand vermag
die auffallende Übereinstimmung des Ayoré mit dem historischen Zamuco
einleuchtend zu erklären.
Der Vergleich der von D’O r b i g n y genannten Zahlen — dieser setzt
für die nichtbekehrten Zamuco insgesamt 1000, für die Guarañoca 500 Seelen
an — mit der heute durch Schätzung zu ermittelnden Stärke der Ayoré,
deren im Bergland von Chiquitos und in den nördlich angrenzenden Regionen
streifende Horden etwa 900 bis 1000 Individuen umfassen, während die
Gesamtkopfzahl ihrer im Nordchaco hausenden Stammesverwandten höher
liegen dürfte, würde auf ein Anwachsen der Bevölkerung hindeuten, was
schon in Anbetracht des von den Indianern selbst geschilderten, durch Kriege
und Seuchen bedingten Erlöschens so mancher Gruppe wenig wahrscheinlich
ist. Selbst wenn man unterstellt, daß die von D’ O r b i g n y übermittelten
und, wie er selbst sagt, wenig exakten Zahlen zu niedrig gegriffen sowie die
im Walde verbliebenen Teile durch Flüchtlinge aus den Missionen verstärkt
worden sind, bleibt anzunehmen, daß auch andere Zamuco-Gruppen, wie
z. B. die von D’ O r b i g n y (27, 305) erwähnten Horden aus dem Grenz-
Salz gewonnen wird. Das Suffix ,,-bui“ drückt die Vielzahl aus. Der Standort
dieser Lokalgruppe befand sich ursprünglich am Rio San Miguel, in dessen Ge-
markung Bestände von Halophyten anzutreffen sind.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
353
gebiet des Otuqui, zur Ausbildung des heutigen „Ayore-Stammes“ beige-
tragen haben. Wie es zu dieser und der augenscheinlichen Einheitlichkeit der
Ayore gekommen ist, kann nur vermutet werden. Die historischen Quellen
sagen wenig über die bei den einzelnen Gruppen der Zamuco obwaltenden
kulturellen Eigenheiten aus, doch darf eine weitgehende, den sprachlichen
Gegebenheiten innerhalb der Zamuco-Gruppe entsprechende kultürliche Über-
einstimmung vorausgesetzt werden. Andererseits mag der Ausgleich evtl, vor-
handener Unterschiede im Laufe der Zeit durch die Verschmelzung dezi-
mierter Horden und auf dem Wege des trotz zeitweiliger kriegerischer Aus-
einandersetzungen nie völlig unterbrochenen friedlichen Kontaktes gefördert
worden sein, der sich in Anbetracht der beobachteten Exogamie bei zahlen-
mäßig begrenzten Lokalgruppen oftmals schon aus Gründen der Suche des
Heiratspartners als notwendig erwiesen haben mag.
Wie eingangs bereits erwähnt, erstreckt sich das von den Ayore durch-
streifte Gebiet bis weit in den Chaco hinein. Hieraus ergibt sich die Frage
nach der südlichen Begrenzung des Territoriums dieser Indianer, deren Beant-
wortung ihrerseits die Erörterung der sich auch heute noch bis zu einem
gewissen Grade als Problem darstellenden ethnographischen Einordnung der
Moro im zentralen Chaco und südlichen Chaco Boreal bedingt.
Das wenige, was über die Moro bekannt ist — sprachliche Unterlagen
stehen bis heute nicht zur Verfügung —, läßt die Moro als Angehörige
der Zamuco-Gruppe erkennen und geht auf vereinzelte Angaben zurück,
wie sie beispielsweise Fric (11, 26) von Gewährsleuten unter den mit den
Moro verfeindeten Tumereha erhalten hat. Diesen entsprechend sind die Moro
durch starken Bartwuchs und auffallende Körpergröße ausgezeichnet. Auch
bei den Ayore trifft man auf bärtige Individuen und Männer, die einen für
indianische Verhältnisse beachtenswerten Größenwuchs aufweisen.
Besonders aufschlußreich sind die von Fric (11, 27) bei den Tumereha
erworbenen, aus dem Besitz der Moro stammenden Gegenstände. Deren Ab-
bildung läßt eine völlige Übereinstimmung mit den von den Ayore gefertigten
Objekten erkennen, die selbst in Einzelheiten gegeben ist, wie z. B. den als
Kinder-Halsschmuck verwendeten Miniatur-Nachbildungen der hölzernen
Signalpfeifen, der Knüpftechnik der Caraguatä-Schurze und der Verschnü-
rungsknotung der für die Ayore so typischen Holzsandalen.
Diese Übereinstimmungen lassen nicht nur erkennen, daß es sich bei den
Moro tatsächlich um einen Zamuco-Stamm handelt, sie stellen auch gute In-
dizien für die Identität mit den Ayore und somit im Sinne der von
Metraux (22, 243 ff.) vermuteten Übereinstimmung mit den Guaranoca
dar. Für diese spricht auch ein anderer Gesichtspunkt. Den Ayore ist das
Gebiet des Chaco Boreal in seiner gesamten Ost-West-Erstreckung, d. h. der
23*
354
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
Bereich zwischen den Bahados des Otuqui und Izozog, bekannt, und zwar
bis weit über die Breite der Salinas von Santiago nach Süden hinaus. Ihnen
zufolge wird diese Region ausschließlich von Ayore bewohnt, und wie ihnen
der Name „Moro“ kein Begriff ist, so geben ihre Schilderungen auch dem
Vorhandensein von Nicht-Ayore keinen Raum. Als solche werden allein die
„unendlich weit im Süden“ beheimateten „Deguyade“7 erwähnt, deren
Namen man offenbar bewußt nicht mit dem bei Stammesverwandten
gebräuchlichen, den Begriff „Horde“ umschreibenden Suffix „gösode“ ver-
sieht. Inwieweit sich die Kenntnis dieser Deguyade bei den nördlich woh-
nenden Ayore auf persönliche Inaugenscheinname stützt, kann nicht exakt
ermittelt werden. Es ist anzunehmen, daß die südlichen Horden sich inner-
halb eines nach Norden zu begrenzten Gebietes bewegen, somit das Wissen
um die Verhältnisse im weit entlegenen Süden durch Berichte dieser zu den
Nordgruppen gelangt sein mag. Andererseits würde aber die Überwindung
beträchtlicher Entfernungen für den Ayore kein Problem darstellen, da es
unter ihnen genügend Leute gibt, denen die Gummiwälder im Norden und
die Salinas im Süden persönlich bekannt sind.
Ungeachtet aller für die Identität der Moro mit den Südgruppen der
Ayore sprechenden Wahrscheinlichkeit vermag den schlüssigen Beweis dieser
allein eine an Ort und Stelle durchgeführte Untersuchung zu erbringen, die
auf Grund der extrem fremdenfeindlichen Haltung der unbefriedeten Indianer
bisher nicht möglich gewesen ist. Als örtlicher Ansatzpunkt für eine Er-
hebung in dieser Hinsicht würden sich in erster Linie die von den Moro
häufiger angegriffenen nördlichen Mennoniten-Kolonien des zentralen Chaco
eignen, während sich ihr im Rahmen der sprachlichen und sonstigen Studien
die Feststellung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins der sieben
totemistischen Clanbezeichnungen der Ayore als gewinnbringendes Kriterium
anbieten.
Metraux (22, 343 ff.) nimmt einerseits die Identität der Moro mit den
Guaranoca an, andererseits zieht er ihre Verwandtschaft mit den historischen
Morotoco der Jesuiten-Mission von San Juan Bautista in Betracht, eine
Ansicht, die ja allein schon auf Grund der annähernden Namensgleichheit
grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen ist. Bisher ist es nicht möglich
gewesen, zugunsten einer der beiden Versionen etwas Gültiges anzuführen,
da angesichts der Dürftigkeit der die Eigenheiten der Guaranoca und Moro-
toco belegenden Quellen und der feststellbaren Einheitlichkeit der Ayore
als Kriterium geeignete kulturelle Merkmale nicht gegeben sind. Besonders
der Vergleich sprachlichen Materials, das sich auf die Moro und Ayore auf
7 Bei den Deguyade — der Ausdruck bezieht sich auf das Vorhandensein großer
Lagerplätze — mag es sich um Teile der Mataco-Gruppe handeln.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
355
der einen, die Morotoco und Guarañoca auf der anderen Seite bezieht, könnte
zur Klärung der Frage führen.
Mit den Moro teilen sich die Tsirákua und Poturero in die Rolle, zu den
im Bereich der von den Zamuco eingenommenen Region lebenden ethni-
schen Gruppen zu gehören, deren Herkunft oder Zugehörigkeit nicht ge-
sichert ist.
Métraux (22, 244) nennt die nur von Norde nskiöld (25, 306 ff.),
und zwar auf Grund von Aussagen der mit ihnen verfeindeten Tapíete und
Gefangenenbefragung belegten Tsirákua „einen mysteriösen Stamm, der nörd-
lich und östlich der Marschen des Isózog haust“, den er als wahrscheinlich
mit den Moro identisch oder verwandt bzw. als Unterabteilung der
Guarañoca erachtet. Für diese Annahme sprechen vor allem die sprachliche
Übereinstimmung mit dem Zamuco — soweit sie an Hand eines nur sehr
begrenzten und zudem nicht fehlerfreien Vokabulars feststellbar ist —, ferner
die materielle Habe8 und den von Nordenskiöld (25, 325) geschilderten
Tanz betreffende Entsprechungen und schließlich die Tatsache, daß noch heute
das als Lebensraum der Tsirákua genannte Gebiet von Horden der Ayoré
durchstreift wird, die der sog. GuTdai-Gösode angehören. Man kann demnach
die Tsirákua als Vorfahren eines Teiles der Ayoré, und zwar der nördlichen
Gruppen (Guarañoca) ansprechen.
Métraux (22, 245) erwähnt in seiner Zusammenstellung der modernen
Zamuco-Stämme die Poturero und stützt sich dabei offenbar auf den von
ihm zitierten Cardus (6, 278), der diese, seiner Auffassung nach auf
Flüchtlinge aus der Chiquitos-Mission von Sto. Corazón zurückgehende
Gruppe als noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existent belegt.
Die Poturero wurden von D’ O r b i g n y (27, 306) in der ehemaligen
Reduktion von Sto. Corazón angetroffen. Demgegenüber werden sie in den
Berichten der Jesuiten nicht ausgewiesen. Es ist daher anzunehmen, daß es
sich bei dem Namen „Poturero“ um eine in späterer Zeit eingeführte syno-
nyme Bezeichnung handelt. Die Klassifizierung der Zamuco-Sprachen durch
H e r v a s (13, 32) läßt sich mit der von D’ O r b i g n y (27, 305) zu einem
späteren Zeitpunkt beobachteten regionalen Verteilung der Zamuco-Gruppen
bezüglich der Morotoco in San Juan, Zamuco in Sto. Corazón und Ugaraños
(Guarañoca) In Santiago völlig In Deckung bringen. Als vierte Gruppe wer-
den von Hervas die Caipotorades in Santiago, von D’ O r b i g n y die
Poturero in Sto. Corazón genannt. Tn Anbetracht der in den Kirchenbüchern
8 Bei den von Nordenskiöld (25, 325) als „Wurfkeulen“ bezeichneten Hölzern
handelt es sich vermutlich um Stößel, die zum Zerkleinern von Salz benutzt
werden,
356
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
der ehemaligen Jesuitenmissionen von Chiquitos festzustellenden Willkür in
der Schreibweise einheimischer Namen erscheint es möglich, daß es sich bei
dem Namen „Poturero“ um eine Korrumption der Bezeichnung „Caipoto-
rades“ handelt. Dementsprechend wäre bei der Erörterung der Frage nach
der Herkunft der Poturero eine in den Berichten nicht belegte Übersiedlung
von Caipotorades nach Sto. Corazön in Betracht zu ziehen. Auch ist an den
Verbleib nicht von der Missionierung erfaßter Caipotorades in den Wäldern
zu denken. In den Franziskanerberichten (10, 11) aus dem Jahre 1933 werden
die in der Gegend von Sto. Corazön schweifenden Potureros erwähnt. Ob-
wohl sich diese Nachricht, was den Namen anbelangt, offenbar auf C a r d u s
stützt, ist sie durch den Hinweis auf die bei den Indianerun beobachtete
Kenntnis des Kreuzzeichens bemerkenswert. Dieses ist auch den heute in
dieser Gegend wohnenden Angehörigen der Pajo-Gösode der Ayore bekannt,
die nach allem als Nachkommen der Poturero aufzufassen sind.
Wie bereits eingangs erwähnt, werden die unbefriedeten Eingeborenen im
südlichen Ostbolivien — soweit es sich nicht um „Chori“ (Sirionö) handelt —
von der zivilisierten Bevölkerung dieser Gegenden als „Yanaigua“ bezeichnet.
Da diese bis weit nach Norden in die Feuchtsavannen vordringenden Indianer
unter dieser Benennung auch Eingang in die ethnographische Literatur (30,
27 ff.; 33, 144; 34, 340) gefunden haben, andererseits aber im Vorfeld der
Kordillere seit langem eine wohldefinierte Chaco-Gruppe gleichen Namens
bekannt ist, wird zu entscheiden sein, ob die Anwendung der Bezeichnung
Yanaigua im obengenannten Sinne berechtigt oder — um es anders auszu-
drücken — eine Identität gegeben Ist.
Die „Ya-naiguas“ sind nach der Mitteilung von C a r d u s (6, 272) aus
dem Jahre 1886 „Wilde guaranitischer Rasse“, die „mit wenig Unterschied
die Sprache der Chiriguanos beherrschen“ und „friedlich und furchtsam“ in
der Gegend östlich des Izözog leben.
Demgegenüber ist es entsprechend der Nachricht De Ninons (23,315)
aus dem Jahre 1912 „nicht wahr, daß die Nanaiguas ihrem Ursprung nach
Chiriguanos sind“, denn, „wenn es so wäre, würden alle etwas diese Sprache
beherrschen. Diejenigen, die sie verstehen, sind selten, außerordentlich selten
aber jene, die sie sprechen . . . Sie sind nicht zahlreich, aber ausreichend in-
offensiv und friedlich“.
Wenn man von der die sprachliche Zuordnung betreffenden Diskrepanz
absieht, stimmen beide Autoren darin überein, daß es sich bei den Yanaigua
um eine zahlenmäßig begrenzte Gruppe auf dem Ostufer des Rio Parapiti
und Izözog handelt, deren Angehörige mit den Mestizen und Chiriguano
Handelsbeziehungen pflegen, sich diesen zeitweise als Arbeitskräfte verdingen
und grundsätzlich eine friedfertig-furchtsame Haltung zur Schau tragen.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
357
N ,i n o s Auffassung bezüglich der sprachlichen Zugehörigkeit der
Yanaigua wird im gleichen Jahre durch Nordenskiöld (25, 304 ff., 24;
vgl. 22, 238; 29) im Sinne C a r d u s’ (6, 269) berichtigt. Er beweist die
schon von diesem angenommene Identität der seiner Meinung (24) nach auf
die Mataco zurückgehenden Yanaigua mit ihren weiter südlich, entlang des
Andenrandes bis zum Rio Pilcomaya lebenden, zivilisatorisch mehr fort-
geschrittenen Stammesverwandten, den Tapíete, und bestätigt ihre Fried-
fertigkeit und Beziehungen zu den Chiriguano, wie er auch über ihre blutigen
Auseinandersetzungen mit den im Norden und Osten lebenden Tsirákua be-
richtet.
Im selben Jahre (1912) meldet Burela (5, 447 f.) Überfälle der
„Yanaigua oder Yana“, als deren Lebensraum er die im Norden von den
Sirionó begrenzte, sich vom Rio Grande ostwärts über den Izózog hinaus
bis zu den Salinas erstreckende Region angibt. Er hält die Yanaigua für einen
„auf der Stufe der Wildheit lebenden Zweig der Chiriguanos“. Dieser Auf-
fassung kann allerdings kein besonderer Wert beigemessen werden, da
Burela im allgemeinen bei der stammesmäßigen Zuordnung ethnischer
Gruppen recht willkürlich verfährt und beispielsweise die ßororo zu den
Chiriguano und die Zamuco zu den Chiquitano rechnet. Seine Mitteilung
ist aber insofern beachtenswert, als sie die erste Nachricht über kriegerische
Äußerungen der Yanaigua darstellt, und zwar innerhalb des von C a r d u s
und Nordenskiöld als Wohngebiet der Zamuco (Guarañoca) bzw.
Tsirákua beschriebenen Areals.
Diese Entsprechung und B u r e 1 a s Hinweise auf bestimmte, im Besitz der
Angreifer festgestellte Kulturelemente, wie viereckige Holzsandalen, Macanas
(Kriegskeulen) und kurze Pfeile, sprechen für die Identität dieser Yanaigua
mit den Tsirákua oder Guarañoca, d. h. letztlich den Ayoré. Ebenso bemer-
kenswert ist die durch eine gleichlautende Mitteilung Herzogs (17, 19, 21,
28) aus demselben Jahre bestätigte Feststellung Burelas, daß die Über-
fälle erst seit einigen Jahren erfolgen. Hieraus kann auf sine im ersten Jahr-
zehnt dieses Jahrhunderts sich verstärkende Tendenz zur vermehrt nord-
wärts gerichteten Ausdehnung der Jagdzüge der sog. Yanaigua geschlossen
werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß es in der Folgezeit in immer
weiter nördlich gelegenen Gebieten zu Übergriffen dieser Indianer gekommen
ist, und so wurde z. B. schon im Jahre 1930 Ascension, der Hauptort der
Guarayos-Niederlassungen, durch einen organisierten Angriff beunruhigt (9,
23 f.). 1952 kam es zu einem Überfall auf die unweit des Rio Tarvo an der
brasilianischen Grenze gelegenen Gummi-Baracke La Fortuna.
358
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
Es liegen nur wenige Stellungnahmen vor, die sich mit der ethnographi-
schen Zugehörigkeit dieser im Übergangsgebiet der Trocken- zu den Feucht-
savannen auftretenden sog. Yanaigua befassen.
Wegner (33, 340; vgl. 34, 144) gibt den ihm vermittelten Nachrichten
zusammenfassend in der Feststellung Ausdruck, daß es „sich bei den Yanaigua
um einen Guarani-Stamm oder ein doch völlig guaranisiertes Völkchen“
handelt. „Jedenfalls sprechen sie einen Guarani-Dialekt“, wie er betont.
Klein und von grazilem, aber kräftigem Körperbau, benutzen sie kurze Pfeile
und Bögen und die aus Chontaholz gefertigte, „curögua“ genannte Schlag-
keule, „eine charakteristische Waffe für die Tupi-Völker“. Ferner sagt er,
daß fälschlich auch die Tapiete am Perapiti und die durch ihre Wurfkeulen
bemerkenswerten Tsirahua als „Yanaigua“ bezeichnet werden.
Fassen diese Ausführungen Wegners im allgemeinen den kritischen
Vorbehalt missen, so ist besonders die zuletzt genannte Behauptung befremd-
lich. Unerfindlich bleibt, aus welche Grunde Wegner, obwohl er sich aus-
drücklich auf die Nachricht des Pater C a r d u s über die Yanaigua und
augenscheinlich auch auf Nordenskiölds Darstellung dieser und der
Tapiete bezieht, die von beiden Autoren vermutete bzw. bewiesene Identität
der (eigentlichen) Yanaigua und Tapiete in Abrede stellt. Eine fälschliche
Gleichsetzung der Tsiräkua mit den Yanaigua kommt schon deshalb nicht in
Betracht, da die Tsiräkua allein von Norde nskiöld belegt werden, der
beide Gruppen als voneinander verschieden und miteinander verfeindet
schildert.
Wie die Angaben Wegners sind auch die Mitteilungen (9, 21 f.) der
die Guarayos-Missionen betreuenden Patres, sofern sie sich mit der Herkunft
der sog. Yanaigua befassen, durch die Bezugnahme auf die ja den eigentlichen
Yanaigua (Tapiete) geltende Notiz des Pater C a r d u s geprägt. Dement-
sprechend werden auch von ihnen die sog. Yanaigua als guarani-sprachiger
Stamm bezeichnet. Als aufschlußreich erweisen sich demgegenüber die von
ihnen übermittelten Beobachtungen der mit den Yanaigua in kriegerische Aus-
einandersetzungen verwickelten Siriono. Diese wissen von Einzelheiten zu
berichten (9, 26), die unschwer in den Angreifern die Ayore erkennen lassen.
So handelt es sich beispielsweise ohne Frage bei den „Hüten“ der Yanaigua
um die hohen Stirnbänder aus Affen- oder Jaguarfell, bei der schwarzen
Brustbekleidung und den, wie von den Patres oder Siriono vermutet, zum
Zwecke der Erregung von Furcht angelegten künstlichen Faserbärten um den
als Halskrause getragenen Schmuck aus Aasgeierfedern bzw. um die üblicher-
weise unter dem Kinn verknoteten ausgefransten Caraguatä-Fäden der Feder-
fassung.
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
359
Wie für die „Yanaigua-Überfälle“, zu denen es, wenn auch weniger
häufig, auch heute noch in den nördlichen Regionen kommt, nachweisbar
stets die Ayoré verantwortlich zu machen sind, darf deren Urheberschaft
auch für die Angriffe der zurückliegenden Jahrzehnte als sicher angenommen
werden, zumal die Indianer selbst von ihren Raubzügen zu berichten wissen.
Diesem Sachverhalt entsprechen zum Teil die Auffassungen von R y d e n
(30,28) und Métraux (21,111). M'etraux zieht außer den Tapíete
auch die Tsirákua als an der Abdrängung der Siriond nach Norden beteiligt
in Betracht. Ryden hält die Identität der als „Yanaigua“ hezeichneten
Gegner der Siriond mit den Tsirákua für möglich.
Eine Beteiligung der schon im Jahre 1908 in friedlichem Kontakt mit der
zivilisierten Umwelt stehenden eigentlichen Yanaigua (Tapieté) an den zu-
meist durch planende Umsicht und militärische Schlagkraft wie auch durch
Grausamkeit ausgezeichneten Angriffen ist wenig wahrscheinlich. Zudem sind
In der in Frage stehenden Region außer den Siriond keine unbefriedeten
guarani-sprachigen Gruppen nachzuweisen.
Die sachlich nicht gerechtfertigte Identifizierung der Ayoré mit den
Yanaigua erklärt sich letztlich aus der Bedeutung des Wortes „Yanaigua“
selbst. Während der etymologische Erklärungsversuch des Namens, den
Eber lein (8,58) anstrengt, als nicht zutreffend abzulehnen ist9, wird
D e N i n o (23, 315) dem Sachverhalt gerecht, wenn er sagt: „Die Chiriguanos
haben diesen Namen den Indianern (Tapieté, d. Verf.) gegeben. Sie nennen
sie Yanaiguas, da sie Buschbewohner sind, und das ist eine abschätzige Be-
merkung, da nach Auffassung der Chiriguanos nur die Tiere im Busch
leben.“ Der Name gleichen Bedeutungsgehalts ist auch den Guarayú geläufig10
und wird von ihnen auf die in ihrem Gebiet schweifenden, nicht mit den
Siriond identischen Horden angewendet.
Es handelt sich somit bei dem Namen „Yanaigua“ um einen Ausdruck
guaranitischen Sprachgebrauchs (vgl. 24), der zur Bezeichnung niedrigstehen-
der Indianer schlechthin benutzt wird und sich auch unter der Mestizen-
bevölkerung in allen Teilen des bolivianischen Südostens allgemeiner An-
wendung erfreut. Seine Übertragung auf die ihrer kultürlichen Eigenheiten
nach kaum bekannten Ayoré hat schließlich zur Gleichsetzung dieser mit
den Yanaigua (Tapieté) geführt.
9 E. bezieht diese Bezeichnung auf „wilde Indianer, die auf den Wegen von
Chiquitos und Izozog die Reisenden angreifen“ und leitet fälschlich aus dem
Guarani ab: yara = Besitzer, igua = Wasserloch, Yanaigua = Herren der
Wasserlöcher.
10 yana = grob, dick, dicht; iguar = herkommen von, zuständig in; yanaiguar
= Bewohner des Dickichts, Waldbewohner (18, 100 f., 277).
360
Keim, Einordnung der Ayoré, Moro und Yanaigua
Des Gebrauchs der Bezeichnung „Yanaigua“ ist zu entraten, da sie in
extremer Weise irreführen kann. So vermerkt Horn (12, 100), um nur ein
Beispiel anzuführen, die synonyme Verwendung der Namen „Siriono“ und
„Yanaigua“ und identifiziert somit unbeabsichtigt oder unbewußt die Siriono
mit den eigentlichen Yanaigua (Tapiete) oder gar mit ihren Todfeinden, den
sog. Yanaigua oder Ayore.
Literatur:
1. Adelung, Joh. Christ., und Vater, Job. Sev.: Mithridates oder allgemeine
Sprachenkunde usw., Bd. 3, Berlin 1813.
2. Baldus, Herbert: Beiträge zur Sprachenkunde der Samuco-Gruppe. Anthropos,
Bd. 27, S. 361-416, St. Gabriel-Mödling 1932.
3. Baldus, Herbert: Indianerstudien im nordöstlichen Chaco. Bd. 11 der For-
schungen zur Völkerpsychologie und Soziologie. Leipzig 1931.
4. Belaieff, Juan: The present-day Indians of the Gran Chaco. Handbook of
South American Indians, Yol. 1, pp. 371-380. Washington 1946.
5. Burela, Benjamin: Contribución al estudio de la etnografía boliviana; distri-
bución geográfica de los Indígenas actuales del Depto. de Sta. Cruz. Congr.
Int. Amer. sess. 17, Buenos Aires 1910, pp. 447-458. Buenos Aires 1912.
6. Cardus, José: Las misiones Franciscanas entre los infieles de Bolivia; descripción
del estado de ellas en 1883 y 1884. Barcelona 1886.
7. Charlevoix, Pedro Fr. Xav.: Historia del Paraguay. Vol. VI. Madrid 1916.
8. Eberlein, Baldomcro: La Onomatología Corográfica del Departamento de Santa
Cruz. Bol. de la Soc. geogr. e hist. de Sta. Cruz, Tomo V, Num. 19. Sta.
Cruz 1915.
9. Franszikanermissionen: 14. Jahresbericht. Hall i. Tirol 1931.
10. Franziskanermissionen: 16. Jahresbericht. Hall i. Tirol 1933.
11. Fric, Voitech A.: Die unbekannten Stämme des Chaco Boreal. Globus, Bd. 96
(1909), S. 24-28.
12. Haekel, Josef: Bericht: Studienreise eines jungen Österreichers in Ostbolivien.
Wiener Völkerkdl. MItt., 3. Jg., Nr. 1. Wien 1955, S. 100-103.
13. Hervas, Lorenzo: Catalogo delle lingue conosciute. Cesena 1784.
14. Hervas, Lorenzo: Origine, formazione, meccanismo, ed armonia degl’ idiomi.
Cesena 1785.
15. Hervas, Lorenzo: Aritmética delle nazione e divisione del tempo fra l’orientali.
Cesena 1786.
16. Hervas, Lorenzo: Vocabulario poligloto con prolegomini sopra piu di CL.
lingue. Cesena 1787.
17. Herzog, Theodor: Vom Urwald zu den Gletschern der Kordillere. Stuttgart
1913.
18. Hoeller, Alfredo: Guarayo-Deutsches Wörterbuch. Guarayos 1932.
19. Kersten, Ludwig: Die Indianerstämme des Gran Chaco bis zum Ausgange des
18. Jahrhunderts. Int. Arch. Ethnogr., Vol. 17 (1905), S. 1-75
Baessler-Arcliiv, Neue Folge, Band VIII
361
20. Loukotka, Cestmir: Die Sprache der Zamuco und die Yerwandtschaftsverhältnisse
der Chacostämme. Anthropos, Bd. 26, S. 843-861, St. Gabriel-Mödling 1931.
21. Métraux, Alfred: The native tribes of Eastern Bolivia and Western Matto
Grosso. Bur. Amer. Ethnogr. Bull. 134. Washington 1942.
22. Métraux, Alfred: Ethnography of the Chaco. Handbook of South Amer. Ind.,
Vol. 1, S. 197-370. Washington 1946.
23. Nino, Bernadino de: Etnografía chiriguana. La Paz 1912.
24. Nordenskiöld, Erland: Sind die Tapieté ein guaranisierter Chacostaram? Globus,
Bd. 98, S. 181-186. Hildburgshausen 1910.
25. Nordenskiöld, Erland: Indianerleben. Leipzig 1912.
26. Orhigny, Alcide D. de.: Voyage dans l’Amérique Méridionale. Vol. IL Paris
1839.
27. Orhigny, Alcide D. de: El hombre americano. Buenos Aires 1944.
28. Oefner, Luis: Apuntes sobre una tribu salvaje que existe en el Oriente de
Bolivia. Anthropos, Bd. 35/36, S. 100-108. St. Gabriel-Mödling 1942.
29. Palavecino, Emique: Observaciones etnográficas y lingüísticas sobre los indios
Tapíete. Apartado de la Rev. de la Soc. „Amigos de Arqueología“, Tomo IV,
S. 1-9. Montevideo 1930.
30. Ryden, Stig: A study of the Siriono Indians. Göteborg 1941.
31. Schermair, Anselmo: Gramática de la lengua Sirionó. La Paz 1949.
32. Schermair, Anselmo: Vocabulario Sirionó-Castellano. Sond.-Heft der Innsbr.
Beitr. z. Kulturwissenschaft. Innsbruck 1957.
33. Wegner, Richard N.: Ostbolivianische Urwaldstämme. Ethnolog. Anz., Bd. 2
(1929-32), S. 321-340.
34. Wegner, Richard N.: Zum Sonnentor durch altes Indianerland. Darmstadt 1931.
35. Zerries, Otto: Die Ayoré in Ostbolivien. Wiener Völkerkdl. Mitt., 3. Jg., Nr. 2,
S. 218-223. Wien 1955.
362
Bücherbesprechungen
BÜCHERBESPRECHUNGEN
Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig. Band XV/1956. Akademie-
Verlag, Berlin 1957. Brosch. DM 9,00.
In den Jahren 1956/57 stand das Leipziger Museum für Völkerkunde unter dem
Zeichen des Aufbaus und der Eröffnung der asiatischen Schauabteilung. Zur gleichen
Zeit wurde eine Sonderschau unter dem Titel „Ostasiatische Kostbarkeiten“ ver-
anstaltet. Unter diesen Umständen erscheint es nur natürlich, daß in dem Jahrbuch
des Museums für 1956 diesem Kontinent mit fünf Abhandlungen breitester Raum
belassen wurde. Je ein Artikel aus Océanien und Afrika, sowie zwei aus dem Bereich
der deutschen Volkskunde schließen sich an. Als Museumsveröffentlichung wurde bei
der Themenwahl weitgehend Museumsbesitz und dessen Publizierung berücksichtigt.
Walter Boettger behandelt „ein chinesisches Glückwunschbild von Ch’i
Pai-Shih“, eine Tuschmalerei auf Seidenpapier. Der Künstler, der von 1861 bis
1957 lebte, war zuletzt Professor am Zentralen Institut der Künste Chinas und Vor-
sitzender der Vereinigung chinesischer Künstler. Vom gleichen Verfasser stammt auch
der Artikel „Einige Bemerkungen zur kultischen Verwendung menschlicher Hirn-
schalen in Zentralasien“. Von der Beschreibung derartiger Stücke aus dem Besitz des
Leipziger Museums ausgehend, wird deren Verwendung, hauptsächlich in Tibet,
untersucht und an Hand alter chinesischer Quellen und archäologischer Befunde
deren Gebrauch auch in China nachzuweisen versucht.
Eduard Erk es stellt „ein chinesisch-katholisches Heiligenbild“ vor, das um
die Jahrhundertwende entstanden ist, von einem Chinesen gemalt, „der in einer
europäischen Malschule alten Stils ausgebildet wurde“. Das Bild, das drei Einzel-
darstellungen mit Begleittexten enthält, dürfte wegen der Verquickung ostasatischer
und christlich-altweltlicher Stilelemente nicht nur für Sinologen interessant sein.
Unter dem Thema „Gedanken über ein Schamanenkostüm“ beschreibt Werner
Hartwig eine solche Neuerwerbung des Leipziger Museums in den einzelnen
Teilen sowie deren kultische Bedeutung. Das Kostüm wurde von J. A. Jewsenin
im Jahre 1929 von einem alten karagassischen Schamanen am Oberlauf des Flusses
Dshuglym erworben. Da der Schamanismus noch immer eines der interessantesten
Themen der Ethnologie bildet und dabei noch viele Fragen der Beantwortung
harren, dürfte hier ein nicht unwesentlicher Beitrag geleistet sein.
Angeregt durch die Frage nach dem Anschluß der Naturvölker an die histo-
rische und prähistorische Welt versucht Wilfried Nölle („Die Sehnsucht
nach Harmonie“) einige Grundgedanken des Shaktismus in der archaischen Kultur-
stufe nachzuweisen bzw. aus ihr abzuleiten.
Thomas Bartel sucht die Frage nach der „Hauptgottheit der Osterinsulaner“
zu klären und kommt zu folgenden Ergebnissen: „Makemake, die bisher ungedeutete
Hauptgottheit der Osterinsel, ist mit Tiki in dessen spezifisch ostpolynesischer Rolle
gleichzusetzen“. Er ist jedoch nicht mit „Tane“ zu identifizieren. „In seinem rekon-
struierten Namen Tiki-Makemake drückt sich die phallische Qualität eines zeugen-
den Gottmenschen aus. — In ihm verbinden sich Fruchtbarkeit und Tod.“
An Hand des Leipziger Photomaterials und der entsprechenden Literatur ver-
sucht Dietrich Drost die Verbreitung der „tönernen Dachaufsätze in Afrika“
darzustellen, sowie die Frage nach deren Zweckbestimmung zu erhellen. Beginnend
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
363
bei den einfachen Dachtöpfen und -ringen zeigt er, nach der Beschreibung der eigent-
lichen Dachaufsätze, die Verbindungen, die zwischen beiden Elementen bestehen.
Werner Hartwig („Eine altertümliche Bodenbearbeitungsmethode im Spree-
wald“) und Christa Kupfer („Bericht über eine Sammelreise im Südwesten
Mecklenburgs [Jabelheide]“) berichten über volkskundliche Exkursionen des Leip-
ziger Museums und beschreiben eingehend die dabei erworbenen Gegenstände der
betreffenden Gebiete.
Abschließend muß erwähnt werden, daß 7 Tafeln und zahlreiche Zeichnungen im
Text die Abhandlungen gut ergänzen. Dieter Eisleb
Wirz, Paul: Die Ainu. Sterbende Menschen im fernen Osten. 40 Seiten und 24 Tafeln.
Ernst Reinhardt Verlag, München/Basel. Kart. DM 1,80.
Aus der Feder Paul Wirz’, im allgemeinen als Erforscher der Kulturen Neu-
guineas bekannt, wird hier eine kleine Studie über die Ainu vorgelegt. Ainu, d. h.
„Menschen“, nennen sie sich selbst, „sterbende Menschen“ werden sie hier genannt.
So nimmt ein Großteil des Büchleins die Beschreibung der Umstände ein, durch
welche die Ainu und noch mehr ihre Kultur zum Aussterben gebracht wurden. Es
begann mit dem Eindringen der Japaner in die Inselwelt, wodurch der Lebensraum
der Ainu mehr und mehr eingeengt wurde und endete mit dem noch heute an-
dauernden Versuch, sie mit Gewalt zu Japanern zu machen. Die gewaltsame Ver-
änderung ihres wirtschaftlichen Horizontes, Übergang von Jagen und Sammeln zum
nie richtig als Erwerbsgrundlage verstandenen Anbau, tat das übrige. So sind die
heute assimilierten Ainu kaum von den umwohnenden Japanern zu unterscheiden.
Doch blieb ihnen die Liebe zu ihrer alten Kultur erhalten, die in den „Privat-
museen“ einzelner Ainu eigenartige Blüten treibt.
Weiterhin wird kurz die Abstammung der Ainu zu klären versucht, wobei Wirz,
die Theorien des Japaners Koya und Leo Sternbergs streifend, an eine Herkunft
von einer Inselgruppe der Südsee oder Indonesiens denkt (Marianen, Karolinen,
Marshallinseln, Philippinen).
Einen breiten Raum nimmt dann die Beschreibung der materiellen Kultur ein,
welche heute kaum noch anzutreffen ist, und hier eine zwar kurze aber gute Zu-
sammenstellung und Würdigung erfährt. Nach den Haustypen, der Kleidung, dem
Schmuck, der Tatauierung (der bekannten Lippentatauierung der Mädchen), dem
Hausrat und den Waffen wird der Bärenkult eingehend beschrieben und seine Ent-
stehung und ursprüngliche Bedeutung behandelt.
Hier ist auf knapp 40 Seiten eine kurze aber informative Untersuchung der
Ainu und ihrer Kultur gegeben, die durch ein relativ reichhaltiges Bildmaterial gut
ergänzt wird. Und, wie immer bei Paul Wirz, schwingt zwischen den Zeilen die
Liebe zu diesen Menschen mit und die Trauer über ihren Untergang.
Dieter Eisleb
Haberland, Wolf gang: Archäologische Untersuchungen in Südost-Costa Rica. XII
und 82 Seiten, mit 3 Textabbildungen und 27 Tafeln, 17 X 24 cm, unbeschn.
Normalbroschur, DM 18,—. Acta Humboldtiana. Series Geographica et Ethno-
graphica Nr. 1, 1959.
Der Südosten Rosta Ricas ist archäologisch noch weitgehend unerforscht und
über die dort vorkommenden Stile und Kulturschichten herrscht im allgemeinen noch
ziemliche Unklarheit. Um so begrüßenswerter ist das Erscheinen der vorliegenden
Arbeit, die, konnten auch die Probleme noch nicht restlos geklärt werden, doch als
gute Ausgangsbasis für folgende Untersuchungen zu gelten hat.
364
Bücherbesprechungen
Die erste archäologische Arbeit in diesem Zusammenhang unternahm der Ver-
fasser am Orte Buenos Aires, am Río Ceiba gelegen, einem nördlichen Nebenflüsse
des Rio General. Hierbei konnten 26 Gräber ausgegraben werden, alle mehr oder
weniger gleicher Art. Sie bestehen fast alle aus einem länglichen Grabschaft, in
dessen Boden das eigentliche Grab eingelassen ist, so daß rundherum eine Erdbank
stehen bleibt. Auf dieser liegen in der Mehrzahl der Gräber große flache Steine,
die das Grab bedecken. Die genaue Beschreibung eines jeden Grabes gibt dessen
Orientierung, Beschaffenheit und die Fundumstände an, was durch genaue Zeich-
nungen ergänzt wird.
Beim Vergleich der gefundenen Tongefäße ergaben sich fünf verschiedene Typen:
1. Polychrome, 2. weiß liniert, 3. braun geritzt, 4. Biskuit und 5. rotbraun. Diese
Typen werden vom Verfasser unter den gegebenen Schwierigkeiten mit anderen des
costaricensischen Hochlandes und der Chiriqui-Provinz verglichen, um Ähnlichkeit
bzw. Verwandtschaft herausfinden zu können. Und sind auch Verbindungen zu den
genannten Gebieten vorhanden, so glaubt der Verfasser doch bei den in Buenos
Aires gefundenen Gefäßen „einen ausgesprochenen eigenen Charakter“ feststellen zu
können, „der die Aufstellung eines besonderen kulturellen Raumes zu rechtfertigen
scheint“.
Die zweite Grabung wurde in der Nähe der Ortschaft Aguas Buenas unter-
nommen, unweit der panamesischen Grenze. Durch den besonderen Umstand, daß
an Keramik fast ausschließlich Gefäßbruchstücke gefunden wurden, gestaltet sich
die Klassifizierung äußerst schwierig. Trotzdem konnten aus dem vorhandenen
Material einzelne Typen herausgeschält werden, die als 1. Rot auf Braun, geritzt,
2. Rot auf Rot, geritzt, 3. Rote Ritzware, 4. Genarbte (scarified) Ware, 5. Rot-
lippige Ware, 6. Rote Ware, 7. Braune Ware eingehend erörtert werden. Daran
schließt sich die Beschreibung der als Bruchstücke gefundenen Gefäßfüße, Henkel,
Griffe und Appliqué-Figuren an sowie der Versuch, diese den oben angeführten
Gefäßtypen zuzuordnen, was wegen der Beschaffenheit des Fundmaterials wieder-
um auf größte Schwierigkeiten stößt. Trotzdem kann der Verfasser über das Ke-
ramikmaterial von Aguas Buenas folgendes aussagen: Zwei- oder mehrfarbige Be-
malung ist selten, einfarbig bemalte Ware herrscht vor. Vor und nach dem Brande
ausgeführte Ritzungen und Appliqué sind die häufigsten Verzierungsarten. Da sich
Ritzungen auch auf den beiden zweifarbigen Typen finden (die bemalten Stellen
sind durch Ritzungen begrenzt), erinnert der Verfasser an die Stile von Pucara
und Paracas und macht darauf aufmerksam, „daß eine solche Technik verschiedent-
lich am Anfänge einer Bemalungsserie steht“.
Beim Vergleich der hier in Aguas Buenas gefundenen Keramiktypen mit solchen
der umliegenden Gebiete glaubt der Verfasser nach gegebenen schwierigen Für
und Wider, den Aguas-Buenas-Komplex „irgendwie in die Tradition des Chiriqui-
Gebietes“ eingliedern zu können. Beim Versuch einer zeitlichen Einordnung soll
dieser Komplex „vorläufig als eine ältere Phase der Entwicklung im südöstlichen
Costa Rica und in Chiriqui aufgefaßt werden, bis neue stratigraphische Unter-
suchungen seine Einordnung sichern“.
Berücksichtigt man, daß in diesem Gebiete archäologische Untersuchungen bisher
fehlten, die sicheres Vergleichsmaterial hätten bieten können, weiterhin die Schwierig-
keiten, welche die Beschaffenheit der Funde bot, so sind um so mehr die Ergebnisse
zu beachten, mögen sie auch manchem unsicher erscheinen. Für folgende Unter-
suchungen ist hier der Anfang gemacht und ein erster stützender Rahmen gegeben.
Dieter Eisleb
Baessler-Archiv, Neue Folge, Band VIII
365
Burland, C. A.: Man and Art. The Studio Publications. London and New York,
1959. 4°. 39 Seiten, 96 teilw. farbige Tafeln. Ganzleinen. Preis: 35 s.
Der neue Bildband C. A. Burlands mit seinem recht weitgespannten Titel gleicht
einem Potpourri der Weltkunst, deren Formenreichtum und Formenwandel dem
Leser in der kurzen Einleitung skizziert werden: Sehr schnell geht es dabei von
den schweifenden Jägern und einfachen Feldbauern zu den Bewohnern nicht nur
der frühen Städte und mediterranen Metropolen, sondern mittelalterlicher Burgen
und alter Bauernhäuser. Der bunte Bilderreigen reicht von der Kunst der Natur-
völker aller Kontinente über die klassische Antike, Indien und China, Gotik und
Renaissance bis zur Volkskunst unserer Tage, um mit einer Mandragola-Figur zu
enden, die in der Symbolwelt moderner Tiefenpsychologie angesiedelt ist. Burland
benutzt mehr als einmal den Kunstgriff, Werke aus ganz verschiedenen Zeiten und
Erdteilen nebeneinanderzustellen. Welche Überraschungseffekte sich auf diese Weise
erreichen lassen, hat Ludwig Goldscheider schon vor mehr als einem Vierteljahr-
hundert in sehr geistreicher Weise demonstriert. Hier wird dieses Verfahren ent-
schieden zaghafter und weniger überzeugend als in der „Zeitlosen Kunst“ und dem
„Bilderbuch des Königs Salomo“ praktiziert.
Trotz der einigermaßen zufälligen Art, in der dieses Bildermaterial zustande-
gekommen zu sein scheint, ist der umfangreiche Tafelteil für den Völkerkundler
doch nicht ohne Interesse, da er viele unveröffentlichte Werke der primitiven Kunst
von nicht geringem Rang enthält. Bedauerlicherweise ist auf die Größen, vielfach
auch auf die Angabe von Museum oder Sammlung verzichtet worden. In mehr als
einem Falle scheint leider auch die Qualität der Vorlagen nicht ausreichend ge-
wesen zu sein. G. Kutscher, Ibero-Amerikanische Bibliothek Berlin
BAESSLER-ARCHI
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
Herausgegeben irn Aufträge des
Museums für Völkerkunde Berlin
von
H. D. DISSELHOFF UND K. KRIEGER
NEUE FOLGE BAND VIII
(XXXIII. BAND)
BERLIN 1960
VERLAG VON DIETRICH REIMER
INHALT
Herbert Beeile, Kiel:
Das Wachsausschmelzverfahren.
Mit 3 Abbildungen..................................................... 235
Dieter Eisleb, Berlin:
Bemerkungen zu einem Recuay-Gefäß.
Mit 2 Abbildungen...................................................... 83
Dieter Eisleb, Berlin:
Ein trichterförmiges Gefäß im Pucara-Stil.
Mit 3 Abbildungen..................................................... 293
Hans Feriz, Amsterdam-
Zum Problem der Cbacmool-Eiguren.
Mit 6 Abbildungen..................................................... 299
Hans Fischer, Tübingen:
Fadenspiele vom unteren Watut und Banir River (Ost-Neuguinea).
Mit 10 Figuren und 74 Zeichnungen....................................... 171
Peter Fuchs, Wien:
Forschungen in der Südost-Sabara und im Zentralen Sudan.
Mit 3 Abbildungen..................................................... 271
Axel von Gagern, Hannover:
Don Luys.
Mit 3 Abbildungen....................................................... 307
Susanne Haas, Lucknow:
Der Baanta-Braucb der Dschaunsari ...................................... 411
Günther Hartmann, Berlin:
Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas.
Mit 8 Karten ............................................................ 31
Heinz Keim, Oberkassel:
Zur Frage der ethnographischen Einordnung der Ayore, Moro und Yanaigua
im ostbolivianischen Tiefland ..................................... 335
Walter Krickeberg, Berlin:
Xocbipilli und Chalchiuhtlicue.
Mit 13 Abbildungen ....................................................... 1
M. L. J. Lemaire, Amsterdam:
Techniken bei der Herstellung von Perlenarbeiten.
Mit 19 Bildern und 28 Figuren........................................... 215
Wolfgang H. Findig, Mainz:
Recht und Sitte ........................................................ 247
Horst Nachtigall, Mainz:
Die Reliefkunst der San Agustin-Kultur (Kolumbien).
Mit 25 Abbildungen .................................
319
131
Kurt Reinhard, Berlin:
Ein türkischer Tanzlied-Typ.
Mit zahlreichen Notenbeispielen ........................
Heinz Walter, Berlin:
Eine wenig bekannte Fischfangmethode in Südost-Bolivien.
Mit 3 Abbildungen.................................................... 79
Sigrid Westphal-Hellbuscb, Berlin:
Die Barbara.
Mit 7 Abbildungen..................................................... 89
Buchbesprechungen :
Bose, Die Musik der Chibcha 261 — Burland, Man and Art 365 — Coccola
und King, Ayorama 264 — Dark, Mixtec Ethnobistory 268 — Haberland,
Archäologische Untersuchungen in Südost-Costa-Rica 363 — Herzog, Die
Nuhier 260 —■ Hütteroth, Bergnomaden und Yaylabauern im mittleren
kurdischen Taurus 257 — Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu
Leipzig (XV/1956) 362 — Kooijman, The art of Lake Sentani 170 — Leh-
mann, Les Céramiques Précolombiennes 234 — Lucas, Ceylon-Masken 318
— Ritos, Sacerdotes y Atavios de los Dioses und Yeinte Himnos Sacros de
los Nahuas 266 — Röder, Felsbilder und Vorgeschichte des MacCluer-Golfes
256 —• Rydén, Andean Excavations 262 — Thompson, Modern Yucatecan
Maya pottery making 88 — Üble, Wesen und Ordnung der altperuanischen
Kulturen 78 -—• Vision de los Vencidos. Relaciones Indigenas de la Con-
quista 334 — Wirz, Die Ainu 363 — Zweifler Codex 420 von P. Florian
Paucke, S.J. 214.
Beihefte zum BAESSLER-ARCHIV, Neue Folge
KURT KRIEGER
Geschichte von. Zamfara
Sokoto-Provinz, Nordnigeria
147 Seiten im Format des Baessler-Archivs mit 12 Tafeln und einer Karte
Beihef t L Berlin 1959, Broschiert DM 14,—
Gelegentlich einer Forschungsreise nach Nordnigeria hatte der Verfasser Ge-
legenheit, Manuskripte von alten Hausa-Chroniken zu studieren und örtliche
Überlieferungen zu sammeln. Hier gibt er neben einer Zusammenfassung eine
mit sämtlichen Quellen belegte Geschichte des nordnigerischen Königreiches
Zamfara und schildert u. a. die Regierungszeiten von 54 Herrschern vom
13. Jahrhundert bis heute.
HERMANN TRINBORN
Archäologische Studien
in den Kordilleren Boliviens
76 Seiten im Format des Baessler-Archivs mit 66 Abbildungen
Beiheft 2, Berlin 1959, Broschiert DM 12,—
Die alter tumskundliche Forschung steht mit der Freilegung und Auswertung
von Zeugnissen der indianischen Vergangenheit im bolivianischen Anden-
raum noch vor einem ergiebigen Feld. Als Teilergebnisse einer Forschungsreise
(1955/56) legt Hermann Trimborn, der Völkerkundler der Universität Bonn,
Beobachtungen vor, die neben einer kürzeren Würdigung anderer Denkmäler
vor allem um zwei Komplexe kreisen: Der eine ist eine bisher nicht beschrie-
bene Totenstadt auf dem Altiplano, die sogenannten „Chullpas“ von Sica-
Sica. Zum anderen wird eine umfassende Darstellung den rätselhaften Fels-
skupturen von Samaipata gewidmet, dem östlichsten vorgeschobenen Punkte
der Hochlandskultur.
DIETRICH REIMER VERLAG IN BERLIN-STEGLITZ
GOTTFRIED HOTZ
Indianische Ledermalereien
Figurenreiche Darstellungen von Grenzkonflikten
zwischen Mexiko und dem Missouri um 1720
384 Seiten im Format von 17X23 cm mit Kartenskizzen und Zeichnungen im Text
und mit 16 Phototafeln. 1960, broschiert DM 35,—, Leinen DM 42,—
Aus dem frühen 18. Jahrhundert sind in Schweizer Privatbesitz zwei große
Ledermalereien erhalten, die je aus drei großen, aneinandergenähten Büffel- oder
Ochsenhäuten bestehen. Jedes ganze Bild ist von einer Barockbordüre umrahmt,
'was einen spanischen Auftraggeber aus dem mexikanischen Gebiet verrät, aus
dem beide Bilder stammen.
Die eine Darstellung zeigt ein bekanntes historisches Ereignis, das Massaker der
im Sommer 1720 ins Hoheitsgebiet der Franzosen an den untern Platte River
vorgestoßenen spanischen Villasur-Expedition, die sich von Santa Fe aus in
die unbekannten Weiten der Hochprärien hinausgewagt hatte. Der Bildbericht
ihres Endkampfes gegen Pawnee- und Otokrieger umfaßt auf einer Breite von
5,80 m allein 192 menschliche Figuren, die in Gruppengefechten innerhalb des
breiten Kampfgeländes stehen, das der primitive Maler großzügig angelegt hat.
Im anderen Bilddokument sehen wir eine Strafaktion roter mexikanischer Miliz
gegen einen räuberischen, in Zelten hausenden Präriestamm, der die Pueblos am
Rio Grande heimzusuchen pflegte. Die Figuren sind hier im Stile altmexika-
nischer Codices gezeichnet. Die vielen lückenfüllenden Wildtiere lassen sich nach
Arten erkennen.
Die Bilder wurden vom Verfasser eingehend untersucht, sowohl was ihre tech-
nische Herstellung, die Bildautoren und Auftraggeber angeht, wie auch bezüglich
ihres ethnographischen und künstlerischen Gehaltes. Die genaue Analyse aller
Details eröffnet dem Leser fruchtbare Einblicke in ein wenig bekanntes Kapitel
europäischer Aktivität im nördlichen Mexiko und den südwestlichen USA, sowie
in die Lebensweise der dortigen Urbevölkerung vor zweieinhalb Jahrhunderten.
Dem Ethnologen und speziell dem Amerikanisten wird eine Fülle wertvollen
Materials dargeboten, aus einer Zeit und Landschaft, deren schriftliche Berichte
nur spärlich auf uns gekommen sind, während bildliche Nachrichten ganz fehlen.
Die Malereien sind vollständig reproduziert, wichtige Einzelheiten sind in
Detailaufnahmen wiedergegeben.
DIETRICH REIMER VERLAG IN BERLIN-STEGLITZ
BAESSLER-ARCHIV
BEITRÄGE ZUR VOI.KERKUNDE
Herausgegeben im Aufträge des
Museums für Völkerkunde Berlin
H. I). DISSELHOFF UND K. KRIEGER
NEUE FOLGE BAND VIII
(XXXIII. BAND)
HEF I I I I I I I
Ausgegeben a
JO 5 MO 120 ISO 140 IsOmm
11= 1
_ III = 2
XZIII 2 -1 III = 3
4 3 = III,.HP3 111 = 4
= ||| «ffi* m = 5
_ III 6SI" 111=1 DIE 6
5 — III ia£fHARTBLEI
III JXßL.®—p09_digitalfoto-trainer.de J
BERLIN 1960
VERLAG VON DIETRICH REIMER
Copyright 4/1999 YxyMaster GmbH www.yxymaster.com VierFarbSelector Standard *-Euroskala Offset