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K. TH. PREUSS
sonstigen Geräte berücksichtigt werden. Auch die Formen der bildenden Kunst treten sehr
zurück. Es ist also gerade das eigentliche Museumsmaterial, das er weniger in den Kreis
seiner Betrachtungen zieht. Und doch hat er für deren Beschaffung, weil es die an Stelle der
Schrift tretenden Dokumente der Menschheit seien, stets wie ein Löwe gekämpft. Wir dürfen
daraus schließen, daß er von einer Lieblingsidee ausgegangen ist. Ihm schwebte als Ziel
seiner Wissenschaft eine solche umfassende Erkenntnis des Entwicklungsganges der Mensch
heit vor, daß die Kulturvölker durch Unterscheidung von Richtigem und Unrichtigem in
allen Fragen des Lebens auf eine höhere Stufe gebracht werden könnten. Ganz unvermittelt
bricht der Gedanke oft z. B. bei der leidvollen Betrachtung des Tiefstandes unserer Groß
stadtmoral hervor 1 . Selbst in der Religion, die er öfters durch die Naturwissenschaft
gewissermaßen als aufgehoben erklärt, spricht er von einer Unterscheidung des Richtigen
und Unrichtigen. Er war eben trotz allem ein im Innersten religiös fühlender Mensch, der
zwar gegen die deduktiv arbeitende Metaphysik wetterte, aber durch eine Statistik von dem,
was in dem Menschen, dem Gesellschaftswesen, denkt, zu ethischen Höhen gelangen wollte.
Was in andern vielleicht die überwältigende Harmonie des Naturgeschehens zu Wege
brachte, das bewirkte in ihm das Staunen über die Gedankenwelten, die der Mensch sich
geschaffen. Man merkt ihm die Seligkeit an, wenn er gerades Weges, ohne nur vorher zu
sagen, wo und wie er ein Dokument aufgefunden, in ein solches neues Gedankenlabyrinth
einführen konnte. Für ihn war es eben kein Labyrinth, sondern ein neuer Baustein, dessen
Lage innerhalb des ganzen Gedankengebäudes der Menschheit er zu ahnen glaubte. Das
trieb ihn, neue Quellen des Buddhismus und Jainismus oder neue Kosmogonieen der Poly
nesier zu entdecken, in fieberhafter Hast abzuschreiben, schnell trotz aller sprachlichen
Schwierigkeiten zu übersetzen oder übersetzen zu lassen und eben so hurtig zu veröffentlichen
wähnend, daß ein solcher neuer Schatz keinen Augenblick der Menschheit vorenthalten
werden dürfe. Aus vollem Herzen quellen auch seine sich überstürzenden Vergleiche hervor,
in denen Gedanken von Wildstämmen oft unmittelbar neben denen der höchsten Denker
aller Zeiten stehen. Ihm geben sie unendlich viel mehr als dem Leser, der dazu noch mit
seinem schwer verständlichen Stil zu kämpfen hat und zum genaueren Verständnis vergebens
die nur flüchtig mit dem Namen des Autors versehene kurze Stelle nachlesen möchte. Der
oft hohe Flug seiner Gedanken und der poetische Schwung der Rede läßt in dem Leser immer
das Gefühl zurück, daß die von B. gewünschte Seelenberührung nicht erreicht ist.
Bastian trägt also überall bei den dürren Tatsachen, die er vorbringt, sein Endziel, die
induktive Erfassung der Psychologie und Philosophie der ganzen Menschheit im Herzen,
und das ist geeignet, den nüchtern vorwärts schreitenden kritischen Leser zurückzustoßen.
Wäre er in dieser einseitigen Liebhaberei, die schon in seinem ersten größeren dreibändigen
Werke ,,Der Mensch in der Geschichte“ 1859—60 hervortrat, stecken geblieben, hätte er
seine damals auf achtjährigen ununterbrochenen Reisen erworbenen Anschauungen etwa
durch Verarbeitung der gesamten vorhandenen Reiseliteratur in Verfolgung derselben Ge
sichtspunkte in aller Breite belegt, so wäre er wahrlich nicht der Begründer der Völkerkunde
geworden, ja er hätte sich mit dem systematischen Waitz und seiner zwischen Naturwissen
schaft und Kulturgeschichte in der Mitte schwebenden „Anthropologie der Naturvölker“
keineswegs messen können. Das Große in ihm ist vielmehr der Plan, das Material für seine
Ideen neu zu schaffen, es aus den entferntesten Winkeln der Erde herbeizuschleppen und
zwar nicht nur in Gestalt von Beobachtungen und Überlieferungen, sondern in Realien, in
Museumsobjekten. Die Einsicht in den untrennbaren Zusammenhang aller Äußerungen des
Menschengeistes im Denken, Schaffen und Handeln führt ihn zur Gründung der Völkerkunde,
zu einer deutlich begrenzten, gleichmäßig das Große wie das Kleine berücksichtigenden Wissen
schaft, obwohl er sich durch ihre Definition als eine Psychologie im Grunde immer z;u dem ur-
1 Wie das Volk denkt, Berlin i8c)2, S. 21^ ff,