BAESSLER ARCH IV
BEITRAGE ZUR VÖLKERKUNDE
HERAUSGEGEBEN
AUS DEN MITTELN DES BAE SS LE R-INSTITUTS
UNTER MITWIRKUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN DIREK-
TORIALBEAMTEN DER ETHNOLOGISCHEN ABTEILUNGEN
DES STAATLICHEN MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE IN
BERLIN REDIGIERT VON
ALFRED MAASS
BAND XIV
MIT 223 ABBILDUNGEN, 8 FIGUREN, 39 ZEICHEN, 1 KARTE, 1 PLAN
BERLIN 1930—1931
VERLAG VON DIETRICH REIMER (ERNST VOHSEN)
INHALTSVERZEICHNIS
Dr. Hans Findeisen: Viehzüchter- und Jägervölker am Baikalsee im Flußgebiet der Bureja und im Amur-
lande (mit 15 Abbildungen im Text).......................................................... I—29
Stephan Lehner: Märchen und Sagen des Melanesierstammes der Bukawac (Deutsch-Neuguinea, Hüongolf-
Nordküste)............................................................................... 35—72
Dr. E. Heinrich Snethlage: Form und Ornamentik altperuanischer Spindeln (mit 142 Abbildungen)..... 77—95
Nata Findeisen: Beobachtungen auf einer Krymtatarischen FTochzeit. Mit 5 Abbildungen.............. 97—102
Stephan Lehner: Die Naturanschauungen der Eingeborenen im N0. Neu-Guineas ........................ 105—122
Rolf Müller: Der Sonnentempel in den Ruinen von Tihuanacu. Versuch einer astronomischen Altersbestim-
mung mit 6 Abbildungen, 8 Figuren und 1 Plan...................................................... 123—142
Alfred Maaß: Ein Kalender (tika) aus Bali (mit 10 Abbildungen, 25 Zeichen a—z, 8 Zeichen A—FI und
außerdem noch 6 Zeichen)....................•............................................ 143—166
Franz Termer: Zur Archäologie von Guatemala (43 Abbildungen und 1 Karte).......................... 167—191
BESPRECHUNGEN UND BÜCHEREINGÄNGE;
30—34
73—75
103—104
192—195
Ffeft 1
„ 2
» 3
- 4
Alle Rechte einschließlich des Übersetzungsrechtes Vorbehalten.
Druck von J. J. Augustin in Glückstadt und Flamburg.
w.
•J N l 'v'rB f B L-
QF^uiN.
19 DEC 30
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
HERAUSGEGEBEN
AUS DEN MITTELN DES BAE SS LE R-INSTITUTS
UNTER MITWIRKUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN DIREK-
TORIALBEAMTEN DER ETHNOLOGISCHEN ABTEILUNGEN
DES STAATLICHEN MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE IN
BERLIN REDIGIERT VON
ALFRED MAASS
BAND XIV / HEFT i
HANS FINDEISEN: VIEHZÜCHTER UND JÄGER VÖLKER AM
BAIKALSEE, IM FLUSSGEBIET DER BU-
REJA UND IM AMURLANDE. Mit 15 Abbil-
dungen im Text
BESPRECHUNGEN UND BÜCHEREINGÄNGE
BERLIN 1930
VERLAG VON DIETRICH REIMER (ERNST'VOHSEN)
o ¿2 / Vf*
\
• >jv 1V.- c- 1Q L
E E n L. 1 M.
19 OEC. 30
Wi
KK
-4;.
Mr/-
1 'ACiC Ss '•'•
"v/ : j
■
s
DAS BAESSLER-ARCHIV FÜR VÖLKERKUNDE
erscheint in jährlich 4 Heften von ca. 24 Druckbogen zum Preise von 30.— RM, Einzeln
sind die Hefte zu einem je nach dem Umfang bemessenen etwas höheren Preise käuflich.
Das Baessler-Archiv ist bestimmt für Arbeiten aus allen Gebieten der Völkerkunde mit
Ausnahme der reinen Linguistik und physischen Anthropologie. Seine Hauptaufgabe ist
die wissenschaftliche Beschreibung und Verwertung des in den deutschen Museen aufge-
speicherten Materials nach seiner kulturgeschichtlichen und technolpgischen Bedeutung,
doch werden auch soziologische, mythologische, kunst- und religionsgeschichtliche Themata
berücksichtigt, soweit sie zur Erklärung von Museumssammlungen beizutragen geeignet sind.
Die Mitarbeiter erhalten 25 Sonderabzüge.
Redaktionelle Sendungen, Zuschriften und Anfragen sind zu richten an den Redakteur
Prof. Dr. Alfred Maaß, Berlin sw. n, Stresemannstr. 110
Staatl- Museum für Völkerkunde-
1. Beiheft
2. Beiheft
3. Beiheft
4. Beiheft
5. Beiheft
6. Beiheft
7. Beiheft
8. Beiheft
BEIHEFTE
die besonderen Vereinbarungen unterliegen und Abonnenten zu einem
Vorzugspreise geliefert werden.
: Sprichwörter und Lieder aus der Gegend von Turfan. Mit einer dort aufge-
nommenen Wörterliste von Albert von Le Coq. Mit 1 Tafel. [100 S.] 1911.
: Die Wagogo. Ethnographische Skizze eines ostafrikanischen Bantustammes von
Heinrich Claus, Stabsarzt im Infanterie-Regiment Nr. 48, früher in der Kaiser-
lichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Mit 103 Abb [IV u. 72 S.] 1911.
: Die Goldgewichte von Asante (Westafrika). Eine ethnologische Studie von
Rudolf Zeller. Mit 21 Tafeln. [IV u. 77 S.] 1912.
; Mitteilungen über die Besiedelung des Kilimandscharo durch die Dschagga
und deren Geschichte. Von Joh. Schanz. [IV u. 56 S]. 1912.
: Original Odzibwe-Texts. With English Translation, Notes and Vocabulary
collected and published by J. P. B. de Josselin de Jong, Conservator at the
State Museum of Ethnography. Leiden. [IV u. 54 S.] 1912.
; Ein Beitrag zur Ethnologie von Bougainville und Buka mit spezieller Be-
rücksichtigung der Nasioi. Von Ernst Frizzi. [56 S.] 1912.
: Ein Beitrag zur Kenntnis der Trutzwaffen der Indonesier, Südseevölker und
Indianer. Von Haugtmann a D. Dr. G. Friederici. [78 S.] 1915.
: Die Banjangi. Von F. Stasche wski. Überarbeitet und herausgegeben von
Prof. B. Ankermann. [66 S.] 1917.
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten.
Druck von J, Ji Augustin in Glückstadt und Hamburg.
__ -.’—VT
VIEHZÜCHTER- UND JÄGERVÖLKER
AM BAIKALSEE, IM FLUSSGEBIET DER BUREJA
UND IM AMURLANDE1
AUF GRUNDLAGE DER PHOTOGRAPHISCHEN AUFNAHMEN
DES RUSSISCHEN ETHNOGRAPHEN PJOTR SCHIMKJEWITSCH (f) AUS DEM
BESITZ DES BERLINER MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE DARGESTELLT
VON
DR. HANS FINDEISEN.
INHALT
Einleitung: Schimkjewitschs Arbeiten und Reisen in Ostsibirien l__ ^
1. Burjaten...................................................... ^__________
2. Jakuten .................................................................. ^
Tungusische Stämme ............................................... _^g
3. Solonen................................................................. _I5
4. Die Renntiertungusen der sibirischen Urwälder (eigentliche Tungusen) 15—18
5. Orotschonen......................................................... 19—22
6-Nesda ............................................................V 22-24
7. Golden ......................................... „ o
' ^ _ . ...................... 24—28
Benutzte Literatur............................
..................... 2Q
EINLEITUNG
Wenn im fo genden der Versuch gemacht wird, ostsibirisches Volkerleben zu zeichnen
so muß natürlich von vornherein gesagt werden, daß an dieser Stelle keine erschöpfende
Auskunft über alle die Erscheinungen gegeben werden soll, die das Leben der Burjaten
Jakuten, Tungusen, Orotschonen, Negda und Golden ausmachen. Die Aufgabe vielmehr'
die sich der Verfasser mit der vorliegenden Veröffentlichung gestellt hat, ist die, in erster
Linie unbekanntes Bildermaterial aus den Schätzen des Berliner Museums für Völkerkunde
der Fachwelt und den weiteren Freunden der Wissenschaft von den Völkern und Kulturen
Sibiriens vorzulegen. Weiterhin leitete den Verfasser auch das Gefühl der Dankbarkeit der
russischen ethnographischen Wissenschaft gegenüber, der alle irgendwie an den Problemen
der Völker- und Kulturkunde des Ostens interessierten Kreise so unendlich viel verdanken
Ohne die in dem weiten Riesenreich des Ostens arbeitenden russischen Ethnographen wüßten
wir verschwindend wenig über die dort beheimateten vielgestaltigen Völker und Kulturen
und Reisen aus Europa dorthin sind doch immer mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft’
wobei die Mittelfrage eine nicht untergeordnete Rolle spielt. Trotz der schwierigen Ver’
Die Arbeit war im November 1928 abgeschlossen und
sollte als Buch im Verlag von Strecker & Schröder
Stuttgart, erscheinen, dessen finanzielle Lage jedoch
eine Veröffentlichung in absehbarer Zeit nicht er-
möglicht haben würde. Ich bin deshalb der Redaktion
des „Baessler-Archivs“, Herrn Prof. A. M a a ß zu
großem Dank für die Ermöglichung der Veröffent-
lichung verpflichtet, wenn auch nur etwa der 6. Teil
des zur Drucklegung bestimmten Bildmaterials im
Rahmen dieses Beitrages reproduziert werden konnte.
I Baessler-Archiv.
2
HANS FINDEISEN
hältnisse, unter denen die russischen Wissenschaftler zumeist und besonders in der Gegen-
wart arbeiten, sind die Möglichkeiten für sie, neue Materialien zu erlangen, doch bei weitem
größer als für uns, denn von den Zentren, auch des sibirischen Landes, gehen jährlich eine
Reihe von Expeditionen aus, die der Erforschung der Eingeborenenverhältnisse gewidmet
sind. Nicht immer aber ist es bei der ^schwierigen Wirtschaftslage der Sowjetunion möglich,
die neuen Materialien durch den Druck zugänglich zu machen, wodurch der wissenschaft-
liche Fortschritt natürlich verlangsamt wird. — Unveröffentlichte Materialien, sogar noch
Abb. i. Gruppe von goldischen Familien im Dorfe Sapchiki mit dem russischen Reisenden
Schimkjewitsch.
aus der Vorkriegszeit stammend, fand der Verfasser bei seinen Arbeiten im Berliner Museum
für Wikerkunde vor. Es handelt sich dabei um eine große Sammlung beschrifteter Photo-
graphien, die von dem russischen Ethnographen Schimkjewitsch stammen, dessen Haupt-
werk die im Jahre 1896 zu Chabarowsk erschienenen „Materialien zum Studium des Scha-
manismus bei den Golden“ (Materialy po Izuceniju Samanstva u Goldov: Zapiski Pria-
murskago Otdela Imp. R. G. O. = Schriften der Amurabteilung der Kaiserlichen Geogra-
phischen Gesellschaft, Bd. II, Heft 1) sind, worin auf 133 Seiten und 23 Tafeln reiche und
wichtige Ergebnisse vorgelegt wurden. Uber seine Reisen hat Schimkjewitsch eine große
Reihe von Arbeiten in der ostsibirischen Presse veröffentlicht, die hier jedoch leider nicht zu-
gänglich sind. Andererseits finden wir im „Globus“, Bd. 74, Braunschweig 1898, S. 251—256
und S, 267—273 aus unbekannter Feder einen längeren Aufsatz „Schimkjewitschs Reisen
bei den Amurvölkern“, der auch als authentisch angesehen werden muß, und zu dem
Schimkjewitsch selbst gewiß die literarischen Unterlagen geliefert hat. — Die Photographien
des russischen Reisenden gelangten im Jahre 1897 in den Besitz des Berliner Museums für
Völkerkunde, und ein Jahr darauf erschien die mit Bildern versehene Reiseschilderung im
„Globus“. Es ist deshalb vielleicht anzunehmen, daß der Verfasser des Aufsatzes die Bilder
schon nach ihrem Übergang in den Besitz des Berliner Museums für Völkerkunde benutzt
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
3
hat. Als Verfasser ist vielleicht der damalige Leiter der Ostasiatischen Abteilung des Mu-
seums, Professor Grube, anzusehen. In einem Brief an das Museum, datiert ,,Paris den
24. Februar 1897“ schreibt nämlich der Reisende: „Hiermit sende ich auch Ihnen meinen
gedruckten rapport über diese Gegend wo Sie die Verbreitung dieser Völker, so wie auch
meinen Weg und die Ziffern der Bewohner und der Strecken finden. Ich werde auch sorgen
Ihnen eine gute (shematische) Karte vor meiner Abreise zu senden“. Es ist wohl anzunehmen,
daß dem Verfasser des deutschen Aufsatzes dieser anscheinend russische Bericht Vorgelegen
hat. Möglicherweise ist aber auch Richard Andree als Verfasser des Aufsatzes anzusehen,
der sich ja ebenfalls mit dem Amurgebiet eingehend beschäftigt hatte. Eine weitere Möglich-
keit ist noch die, daß Schimkjewitsch den Aufsatz selbst in deutscher Sprache niedergeschrie-
ben und ihn dann stilistisch hat verbessern lassen. Eine Anfrage bei der Verlagsbuchhand-
lung Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig, die den „Globus“ verlegt hat, führte leider
zu keinem Resultat, da die Geschäftsbücher, aus denen gewiß der Verfasser des genannten
Aufsatzes zu ermitteln gewesen wäre, nicht mehr vorhanden sind.
Was das mit dieser Veröffentlichung vorgelegte Bildmaterial betrifft, so stellt es leider
nur eine verschwindend kleine Auswahl aus den von Schimkjewitsch aufgenommenen Bildern
dar. Die ursprüngliche Auswahl enthielt jedoch alle wichtigen und typischen Aufnahmen
und bot ein von der Ethnographie Ostsibiriens noch nicht ausgewertetes Material, das um
so wichtiger ist, als die Kulturen der Eingeborenenvölker der hier in Frage stehenden Ge-
biete sich seit Schimkjewitschs Reisen gewiß weiter der russischen Kultur angeglichen
und manche zu seiner Zeit noch vorhandenen Eigenarten gewiß schon verloren haben.
Wegen der jetzt ganz besonders schwierigen Publikationsverhältnisse mußten die über
neunzig ausgewählten Photos so stark eingeschränkt werden, daß von jedem behandeltem
Volk schließlich nur zwei Abbildungen übrigblieben. Die Zukunft wird hoffentlich auch hier
weitere Bildveröffentlichungen ermöglichen. Wenigstens seien nunmehr die Ergebnisse der
Beschäftigung des Verfassers mit dieser wundervollen Aufnahmensammlung (abgesehen
von den über den burjatischen Lamaismus vorhandenen umfangreichen Beständen) in
kürzester Form der Öffentlichkeit übergeben.
Im folgenden sei zunächst eine Übersicht über die von Schimkjewitsch in Südost-
sibirien ausgeführten Reisen gegeben, bevor die einzelnen Völker kurz monographisch be-
handelt werden sollen.
Die erste Reise führte Schimkjewitsch im Jahre 1893 aus. Er lebte damals in Tschita,
der Residenz des Gouverneurs des ehemaligen Transbaikalgebietes. Als erstes der dortigen
Eingeborenenvölker besuchte der Forscher die Burjaten in den Steppen am Oberlaufe der
Ingoda. Die dortigen Burjaten waren schon zu Schimkjewitschs Zeit Lamaisten, hatten also
ihren alten Götterglauben unter dem Einfluß der buddhistischen Missionare, die von Jurte
zu Jurte ziehen, aufgegeben. Aus dem Leben dieser Burjaten waren 33 Aufnahmen ausge-
wählt, die zunächst eine Vorstellung von den dortigen Typen und der Tracht vermitteln
sollten und dann Bilder aus dem Wirtschaftsleben, Hausbau, Wiesenwirtschaft usw. sowie
aus Sport und Hochzeitsgebräuchen boten.
Die zweite Reise führte Schimkjewitsch vom Juni 1894 an aus; diesmal war sein Aus-
gangsort Blagoweschtschensk. Er fuhr den Burejafluß zu den Goldwäschereien der Niman-
Kompagnie hinauf. Wegen der damaligen durch die Goldsucher hervorgerufenen Unsicher-
heit in seinem Reisegebiet nahm er zwei Kosaken mit. Die Reise wurde auf einem kleinen
der Niman-Kompagnie gehörigen Dampfer ausgeführt, der jedoch bei dem Frühjahrshoch-
wasser oft in Gefahr war, zerschmettert zu werden. Zuletzt konnte man nicht mehr gegen den
Strom andampfen, und es mußte mit Stricken vom Ufer aus nachgeholfen werden. In dieser
ganzen Gegend trifft man auf Stellen, die von ewigem Eise bedeckt sind. Sie finden sich
in Transbaikalien, und selbst bis nach Urga hin. Die Dicke dieser Eisschicht ist so ver-
4
HANS FINDEISEN
schieden, daß "sie im Süden im Sommer in offenen Gegenden schmilzt und eine Bebauung
des Bodens zuläßt, während im Norden, wo die Wälder und die Torfschicht vor den Strahlen
der Sonne schützen, die Dicke des Eises zunimmt. So findet man z. B. an dem Ufer des
kleinen Flüßchens Olga, einem Nebenfluß des Niman, ganz in der Nähe der Goldwäschereien
der Niman-Kompagnie, wirkliche Eisberge unter dem Torf begraben, die eine Höhe von
20 Metern erreichen und sich über eine Strecke von 100 km ausdehnen. Sie bestehen aus
reinem, durchsichtigen Eis. Da sich nun Goldklumpen im Boden gefunden hatten, ließ die
Niman-Kompagnie diese Eismasse vermittels eines Kanals, der Wasser darüberführte und
mit Hilfe von Sonne und Regen schmelzen. Die Folge davon war nach Schimkjewitsch eine
Besserung des Klimas.
Wegen des Charakters der Bureja, die innerhalb eines Tages bis zu sechs Metern
steigen und fallen kann, konnte Schimkjewitsch auf seinem kleinen Dampfer nur bis Tschi-
kunda, einer Station der Amurgesellschaft, gelangen. Die Weiterreise ging auf zwei Ruder-
booten vor sich, was sehr langwierig war. Dazu behinderten die unzähligen Mücken die
Reisenden erheblich. Wie sehr unangenehm diese Mücken an den Ufern der sibirischen
Ströme werden, das hat der Schreiber dieser Zeilen ebenfalls auf «einer Bootsreise die
Steinige Tunguska hinauf, im Herbst 1927 erfahren, wo bei teilweise noch warmen Nach-
mittagstagen das Rudern oder Steuern des Bootes ohne Handschuhe einfach nicht möglich
war. Das Rauchfeuer aber, durch das diese Quälgeister sich etwas abhalten lassen und das
man ja bei bepacktem Boot auch nur am Ufer selbst anzünden kann, ist teilweise unangeneh-
mer als die Mücken, denn man muß sich möglichst dicht an das Feuer setzen und räuchert
sich wirklich bei lebendigem Leibe, was besonders den Augen wenig zuträglich ist. — Auf
dieser Reise kam Schimkjewitsch verschiedentlich mit Tungusen zusammen. Sechzehn
Tage ging es so die Bureja aufwärts, bis endlich die Station Umalta erreicht wurde, an der
Mündung des gleichnamigen Flusses in die Bureja gelegen. Am 1. Juli erreichte Schimkje-
witsch die Goldwäschereien vom Niman und kam dort auch mit jakutischen Kaufleuten
zusammen, die vom Norden her in dieses Gebiet eingewandert waren.
Uber die Weiterreise heißt es in dem angeführten deutschen Bericht: Von den Gold-
minen wandte sich Schimkjewitsch nach Osten, um das Hingangebirge zu überschreiten,
welches die Täler der Bureja und des Amgunj voneinander trennt. Starke Regengüsse, die
alle Flüsse und Bäche aus den Ufern treten ließen, erschwerten die Reise. Nach zweieinhalb
Tagen befand man sich erst am Fuße des Gebirges, nur 20 Werst (etwa 20 km) von den
Minen entfernt. Dann begann die Besteigung des oben von jeder Vegetation entblößten Ge-
birgsstockes, auf dem die großen Zuflüsse des Amurs als wilde Bergströme ihren Anfang
nehmen. Federwild, besonders Haselhühner, waren so wenig furchtsam, daß man sie mit
Steinen töten konnte. Der Gipfel des Gebirges wurde zu 1890 m Höhe über dem Meere er-
mittelt. Der Abstieg wrar schwieriger als der Aufstieg. An einem Nebenflüsse des Amgunj
wurde Halt gemacht. Man traf daselbst auf ein Lager von Tungusen, deren Renntiere fern
vom Lager auf der Weide waren. Sie jagten hier Bären, die von den Bergen herabkommen,
um sich von Moosbeeren zu nähren, oder fingen Lachse, die, um zu laichen, den Fluß Kerbi
hinaufstiegen. Im Winter vermitteln diese Tungusen den Verkehr zwischen den Goldminen
der Gebiete vom Amgunj und der Silindja. Begleitet von zwei Tungusen mit ihrem Jagd-
hunde brach man nach Kerbi auf.
Die Fahrt ging weiter das Tal des Kerbi abwärts, zu den Goldminen am Amgunj, immer
durch recht dünn besiedelte Gebiete, und auch am Amgunj nahm der Reisende nur wenige
Fischer und Jäger, Eingeborene aus den Stämmen der Tungusen, Negdas, Orotschonen und
Jakuten wahr.
Schließlich besuchte Schimkjewitsch auch das Fischervolk der Golden, deren Wohn-
plätze am Sungari, Ussuri und Amur gelegen sind, und bei denen er reiche Materialien
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE 5
sammeln konnte. Uber seine Beschäftigung mit den Golden meldet er in der Einleitung
zu seinen „Materialien zum Studium des Schamanismus bei den Golden“ folgendes: „Im
Jahre 1892 erschienen in den Arbeiten der Kaiserlichen Gesellschaft von Liebhabern der Na-
turgeschichte, Anthropologie und Ethnographie die Untersuchungen des Vorsitzenden dieser
Gesellschaft, W. K. Michailowskij ,Uber den Schamanismush — Eine nähere Beschäftigung
mit der Arbeit Herrn Michailowskijs brachte mich auf den Gedanken, mich mit dem Stu-
dium des Schamanismus bei einem der tungusischen Stämme des mittleren Amurs, den
Golden, zu beschäftigen, die gleich anderen um den Amur wohnenden Eingeborenenstämmen
ihre Ursprünglichkeit in beträchtlichem Maße bewahrt hatten. Meine Auswahl fiel auf die
Golden, weil dieser in der Umgebung von Chabarowsk lebende Stamm mir die Möglichkeit
bot, ständig mit ihm in Verbindung zu bleiben und auch in ihre am Amur verstreuten Dörfer
Exkursionen auszuführen. Nachdem die Golden bemerkt hatten, daß ich nicht zur Zahl
der Verfolger ihres Glaubens und ihrer Schamanen gehörte, begannen sie mich mit beson-
derem Vergnügen in die Geheimnisse ihrer Weltanschauung einzuführen; sie schafften mir
Götterbilder herbei, stellten solche bei mir in der Wohnung her, teilten mir Legenden,
Märchen uswr. mit. Aus den dreien von mir im Winter 1895—96 ausgeführten Exkursionen
waren am erfolgreichsten zwei zum Flüßchen Tunguska (14 Werst von Chabarowsk amur-
abwärts) und eine in das Dorf Septschiki (50 Werst unterhalb von Chabarowsk zu einem
der Amurarme). Auf diesen Exkursionen erwarb ich das wertvolle Kostüm eines goldischen
Schamanen, über hundert verschiedene Götterbilder und, am wichtigsten, veranlaßte den
Schamanen Odzal, nach Chabarowsk zu reisen, wo er nach einigen Sitzungen in den Woh-
nungen der Herren Mitglieder der Amurabteilung der Geographischen Gesellschaft voi der
allgemeinen Versammlung schamanisierte und einige Legenden über die Herkunft der
Schamanen selbst wie auch verschiedener höherer Wesen des schamanistischen Kultus
sang.
Was die Quellen zu der folgenden Darstellung betrifft, so ist, wo es möglich war, der
Reisebericht aus dem „Globus“, dessen Text ja auf den Reisenden selbst zurückgehen wird,
herangezogen worden; sonst ist das große russische Werk von Patkanow über Geographie
und Statistik der tungusischen Stämme oft zu Rate gezogen worden. Uber das Begräbnis
bei den Tungusen konnte ich einen Aufsatz benutzen, den der Verfasser, Herr Lew Iwano-
witsch Gejnen, in Podkamennaja Tunguska im Frühling des Jahres 1928 auf meine Bitte
bereitwilligst niedergeschrieben hatte, wofür ich Herrn Gejnen auch an dieser Stelle meinen
herzlichsten Dank aussprechen möchte. Was sich aus den Bildern des russischen Reisenden
herauslesen läßt, hat natürlich ebenfalls im Text seine Darstellung gefunden, und schließlich
konnte ich, wie bei den Burjaten und bei den nördlichen Tungusen, auch Ergebnisse meiner
eigenen Sibirienexpedition 1927/28 verwerten.
1. DIE BURJATEN.
Mit dem Namen Burjaten wird eine mongolische Völkerschaft bezeichnet, die ihre
Sitze im früheren Gouvernement Irkutsk und Transbaikalien, von der chinesischen Grenze
bis zum Flußgebiet der oberen Lena nordwärts und vom Onon bis zur Oka, dem Neben-
flüsse der Angara, westwärts und noch weiter westlich bis in die Gegend von Niznje-Udinsk
(Unter-Udinsk) hat. Nach der Volkszählung vom Jahre 1831 betrug ihre Zahl 72 000 Männer
und 80 000 Frauen = 152 000 Seelen, während sie um das Jahr 1858 190 000 Seelen stark
waren. Nach den Ergebnissen der Volkszählung vom Jahre 1897 besaßen die Burjaten eine
Stärke von 288599 Seelen, wovon 145 717 Männer waren1. In der Hauptsache sind bei den
1 Das 1928 erschienene Buch von A. R. Schnejder u. krajizdat, gibt für die Burjaten etwa 300000 Seelen
L. N. Dobrowa-Jadrincewa: Naselenie Sibirskogo an (S. 19 u. S. 23).
Kraja (Die Bevölkerung des Sibirienlandes), Sib-
Abb. 2. Zaraktujewa, eine reiche Aginische Burjatin im
Festkleid.
1 Vgl. den Abschnitt „Burjaten und Ostmongolen“ in
meinem im Sommer 1929 geschriebenen Beitrag: Kunst-
gewerbe nordasiatischer Grenzlande, in „Geschichte
Burjaten zwei Gruppen zu unterscheiden, die
diesseits und jenseits des Baikalsees wohnen-
den. Die Transbaikalburjaten, die im Jahre
1897 177638 Seelen stark waren, unterscheiden
sich sowohl wirtschaftlich, nach ihrer Geistes-
kultur und auch sprachlich von den Irkutski-
schen Burjaten. Sie stehen den eigentlichen
Mongolen sehr viel näher als ihre Stammes-
genossen aus dem Norden.
Was die Geschichte der Burjaten betrifft,
so verfügen wir nur über recht magere Nach-
richten.1 Schon Castren, der als erster eine
Sprachlehre des Burjatischengeschrieben hatte
(herausgegeben von Schiefner 1857), sagt in
seinen „Ethnologischen Vorlesungen“ vom
Jahre 1851: „Was endlich die Burjaten be-
trifft, so haben sie, soviel bekannt, nie eine
Rolle in der Geschichte gespielt. Ihre Wohn-
sitze haben sie seit uralten Zeiten, wenigstens
schon vor dem Auftreten Tschingis-Chans,
am Baikal-See gehabt. Seit dem Jahre 1644
gehorchen sie alle der russischen Herrschaft.“
In der „Geschichte der Ostmongolen und ihres
Fürstenhauses“ von dem mongolischen Ge-
schichtsschreiber Ssanang Ssetsen, im Jahre 1662 verfaßt, erscheinen die Burjaten eben-
falls, und zwar als ein Stamm, der sich Tschingis-Chan unterwirft. Diese Begebenheit soll
im Jahre 1207 stattgefunden haben. Die Stelle lautet bei Ssanang Ssetsen: „Zu derselben
Zeit unterwarfen sich auch die Oirad Burjäd und schickten von dem großen Gewässer Bai-
ghal den Ordscho Schiguschi mit einem Adler zum Geschenk an den Bogda-Herrscher,
zum Zeichen ihrer Anerkennung seiner Oberherrschaft.“ Isaac Jacob Schmidt, der be-
rühmte Herausgeber und Erklärer des Ssanang Ssetsen, sagt zu dieser Stelle, daß nach
chinesischen und mohammedanischen Geschichtsschreibern es die Kirgis waren, die sich da-
mals unterwarfen und folgert daraus, daß die Kirgisen und die Burjaten zu dieser Zeit nur
eine Nation gebildet hätten. Ob sich diese Annahme halten läßt, scheint mir fraglich. Immer-
hin befanden sich Burjaten und Kirgisen damals in der gleichen Situation dem mächtigen
Tschingis-Chan gegenüber. 244 Jahre später, im Jahre 1451 nämlich, hören wir wieder
von Kämpfen zwischen Mongolen und den „Oirad Burjäd“, diesmal aber im Land der Vier,
der Oirad, „Turufanu Chara“. Schmidt setzt diesen Namen mit Turfan, Turpan, gleich. Daß
eine Schlacht zwischen den Mongolen und den Oirad zu Anfang der fünfziger Jahre des
fünfzehnten Jahrhunderts stattgefunden hat, ist auch sonst überliefert und demnach
wohl als gewiß anzunehmen. Bemerkenswert an dieser Nachricht ist es, daß wir hier die
Burjaten in den zentralasiatischen Oasengebieten finden. Daß sie inzwischen aber auch
im Norden existiert haben müssen, können wir aus der Tatsache schließen, daß schon für
das dreizehnte Jahrhundert als ihr Wohngebiet das Land am Baikalsee angegeben war und
daß die Russen sie im siebzehnten Jahrhundert ebendaselbst antrafen, wo sie auch heute
noch wohnen. — Es geht an dieser Stelle nicht an, die Geschichte der Burjaten ausführ-
des Kunstgewerbes aller Zeiten und Völker“, heraus-
gegeben von H. Th. Bessert, Bd. IV, S. 38 h (Berlin,
E. Wasmuth 1930),
*4
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
7
lieber zu behandeln, zumal noch viele Probleme gar nicht gelöst und andere überhaupt
noch nicht als solche erkannt worden sind.
Die russischen Verwaltungsbehörden haben die diesseits des Baikals wohnenden
Burjaten in kudinsche (an den Flüssen Kuda, Dsan-Muran und Kujada) in wercholensche
und Lena-Burjaten eingeteilt, wozu noch die olchonschen, idinschen, balaganschen,
alarschen und tunkinschen kommen. Bei den Transbaikalburjaten unterschied man die
chorinschen, die selenginschen, die bargusinischen und die kudarinischen, die von den
kudinischen Burjaten abstammen.
Schimkjewitsch war bei den Transbaikalburjaten, die eine ziemlich einheitliche
Kultur besitzen, während die Irkutskischen Burjaten sich recht stark von ihnen unter-
scheiden. Hier ist nun der interessante Fall eingetreten, daß die Transbaikalburjaten die
alte Viehzüchterwirtschaft beibehalten, dafür aber ihre ursprüngliche Religion verloren
haben und Lamaisten geworden sind, während die Irkutskischen Burjaten zwar noch zum
größten Teil Schamanisten sind, dafür jedoch ein Ackerbauvolk wurden, bei dem sich der
Viehbestand immer mehr und mehr verringert1.
Was die Tracht der Burjaten anlangt, so kann man wohl sagen, daß sie nicht ganz
ohne einen Einfluß vonseiten der chinesischen und tibetischen2 Kultur geblieben ist. Beim
Material, besonders der Festgewänder, wozu chinesische Seiden-
stoffe verwendet wurden, ist dieser Einfluß klar zu erkennen.
Aber auch Formen von Schmuckstücken, wie wir sie z. B. an
dem Festgewand von Frau Zaraktujewa (Abb. 2) sehen, sind
gewiß mongolisch-tibetischer Herkunft. Bei den Transbaikal-
burjaten ist dieser Einfluß ja auch ohne weiteres zu verstehen,
da sie schon seit langer Zeit Buddhisten sind und diese Lehre
von der Mongolei her erhalten haben.
Unter dem langen Überkleid tragen die Frauen, ebenso wie
die Männer, Hosen. Schmuck wird von den Frauen sehr geliebt
und hat oft großen Wert. Große Stücke Bernstein, Korallen
von Lapis Lazuli, goldene und silberne Münzen werden auf dem
Kopf, auf Brust und Rücken getragen. Zwei epaulettenartige,
mit Korallen geschmückte Stücke an den Schultern fallen be-
sonders auf. Vollständige Festkostüme sind sehr schön, und
der Preis kann über 8000 Mark betragen. Wie wir aus weiteren
Aufnahmen erkennen, sind nicht alle Festkleidungen so kostbar
wie die von Frau Zaraktujewa. So stellt ein Bild der Samm-
lung eine kudarinische Burjatin dar, bei der auch die Epau-
letten nicht vorhanden sind. Andererseits trägt sie aber Ringe
und Ketten, wie auch die auf der Brust ruhenden Schmuck-
platten. Abb. 3, ein selenginisches Mädchen in Festtracht, trägt
wieder einen sehr reichen und kunstvoll gearbeiteten Schmuck,
bei dem besonders die über die Schulter hängenden mit großen
stembesetzten Ringen und anscheinend mit durchbrochenen
Kugeln versehenen Hängeketten auffallen. — Die Pelzmütze
ist nicht direkt auf die Haare gesetzt, sondern ruht auf einer
Abb. 3 Selenginisches Mädchen
im Festkleid.
1 B. Baradin, N. Busmakin und N. Kozmin, der hervor-
ragende Erforscher der Geschichte sibirischer Völker-
schaften, erklärten in ihrem Beitrag „Burjaty“ in
der „Sibirskaja Enciklopedija“, Sp. 421, daß die nörd-
lichen Burjaten schon vor dem Eindringen der Russen
Ackerbau getrieben hätten.
Vgl. meine Schrift „Die Kunstkreise Nordasiens“
(Schriften der Vereinigung für Völkerkunde und ver-
wandte Wissenschaften, Berlin. Heft 1. (1930), und
besonders Abschnitt VII. Mongolo-tibetischer Kunst-
kreis und seine Ausläufer (S. 16) und die angeführte
Arbeit über,Kunstgewerbe nordasiatischer Grenzlande4.
¿® I
8 HANS FINDEISEN
besonderen .Vorrichtung. Damit die Mütze nicht herabfällt, scheint sie mit einer Schnur
oder einem dünnen Riemen unter dem Kinn befestigt zu sein.
Die Tracht der Männer besteht in der Hauptsache ebenfalls aus einem langen und bis
zur Erde reichenden Rock, einem Stoffgürtel, worin ein mongolisches Messer steckt. Als
Kopfbedeckung dient gewöhnlich ein flacher kegelförmiger Hut mit hohen Rändern, von
dessen Spitze ein kleines Bündel roter Seide herabhängt. Es treten daneben aber auch Hüte
russischer Herkunft auf. Im Winter werden von den Burjaten Pelze getragen, und zwar
Schafpelze, auf der Brust stufenförmig abgeteilt. Der noch über den Schafpelz geworfene
Pelz eines aginischen Burjaten scheint von dem Winterfell eines hirschartigen Tieres zu
stammen. Als Kopfbedeckung dienen im Winter Pelzmützen mit Ohrenklappen. Schuhe
mit Absätzen, die manchmal getragen werden, sind russischer Herkunft, während andere
die ursprüngliche absatzlose Fußbekleidung tragen. Als Kopfbedeckung kommt bei jungen
Mädchen auch ein Kopftuch vor, dessen Verwendung aber russischem Einfluß zuzuschreiben ist.
Dem Hirtenleben der Burjaten sind die Zelte in vorzüglichster Weise angepaßt. Sie
bestehen, wie aus den trefflichen Aufnahmen Schimkjewitschs hervorgeht, aus einem zu-
sammenschiebbaren Wandteil, einem Stabdach mit kreisförmigem Rauchloch und werden
mit Filzdecken belegt. Das ganze wird nachher wie ein Paket verschnürt, nachdem noch
eine Holztür eingesetzt worden ist. Schimkjewitsch versichert, daß die Zelte im Winter
sehr warm wären. Die Öffnung des Zeltes wird stets nach Süden gerichtet. In der Mitte be-
findet sich auch der Herd, auf dem, von großen Steinen getragen, ein sehr großer Metall-
kessel ruht, der zum Kochen der Mahlzeiten dient. Die linke Seite des Zeltes gehört den
Männern, die rechte den Frauen. Neben dem Eingang befindet sich der Hausaltar, ein Tisch
mit Idolen, heiligen Büchern, Musikinstrumenten und parfümierten Kerzen.
Neben den Filzzelten treten als Vorratsräume Holzbaracken auf. Mit größerer Seßhaftig-
keit der Burjaten tritt auch das russische Blockhaus als Wohnung immer mehr in den Vor-
dergrund, wobei das mit Erde belegte Dach auch noch einen mit Steinen beschwerten
Rindenbelag trägt. Das rauhe Winterklima macht es auch begreiflich, daß manchmal
die Hütten ganz in die Erde versenkt werden.
Als Transportmittel treten zweirädrige Karren und für den Winter verschiedene
Schlittenformen auf, wobei als Zugtiere Pferde, Ochsen und Kamele benutzt werden.
Schlitten werden auch im Sommer in den Steppen benutzt, um darin Kuhmist einzusam-
meln, der bei den Nomaden nicht als Ackerdung, sondern als Heizmittel Verwendung fin-
det. Ackerbau wird bei den Transbaikalburjaten nur in der Nähe der Wälder betrieben, wo
die Fruchtbarkeit es erlaubt, und der Wald Holz zum Hausbau bietet. Bei großer Vieh-
haltung liegt ihnen Heuwirtschaft ja besonders nahe, und einige Aufnahmen zeigen die
großen Wiesenflächen, die zu diesem Zwecke bewirtschaftet werden. Bei größerer Seß-
haftigkeit kann natürlich auch die Einführung größerer Maschinen in den Wirtschafts-
betrieb erfolgen, wie es eine große Gerbevorrichtung zeigt. Ein Burjat ist gerade dabei,
Rindsleder zu gerben.
Bis zum siebenten Jahr wird den jungen Mädchen der Kopf rasiert, und erst dann läßt
man das Haar wachsen und ordnet es in Flechten. Wenn die Mädchen 17 Jahre alt werden,
können sie von den Eltern verheiratet werden. Die sieben Zöpfe eines Mädchens werden bis
zur Heirat auf zweiundzwanzig vermehrt und nach der Heirat in zwei Flechten zusammen-
gebunden, Uber die Eheschließung bei den Nordburjaten sind wir besonders gut durch die
Arbeit Petris ,,Ehenormen bei den Nordburjaten“ unterrichtet, worin es heißt, daß Ehe-
schließungen innerhalb einer Sippe und auch zwischen Sippen gleicher Herkunft sowie bei
territorieller Verwandtschaft nicht möglich wären. Die Burjaten stellen also ein Volk dar,
das aus exogamen Sippen besteht. Es kann hier bei dem beschränkten Raum nicht weiter
auf die Hochzeitsgebräuche der Burjaten eingegangen werden, da noch einige Worte über
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
9
ihre religiösen Vorstellungen gesagt werden sollen. Nur soviel mag noch angeführt werden,
daß die Eheschließung nicht eine persönliche Angelegenheit der beiden jungen Leute ist,
sondern eine solche der nun in ein nahes Verhältnis kommenden Sippen. Diese Tatsache
findet ihren Ausdruck auch in Gruppenessen der Braut mit den jungen Mädchen sowie des
Bräutigams mit den jungen Männern, dann aber auch darin, daß das Kaufgeld für die
Braut nicht von dem Bräutigam selbst, sondern von seiner Sippe bezahlt wird.
Die ursprünglichen religiösen Vorstellungen der Burjaten haben sich in Transbaikalien
nicht mehr erhalten. Um sie zu finden, müssen wir uns zu den nördlichen Burjaten in den
Irkutskischen Gebieten wenden, bei denen der Schamanismus auch heutzutage noch im
Vordergrund steht, wenngleich er in der Gegenwart in dem Sowjetstaat seinen größten Ver-
folger gefunden hat. Die kulturelle Autonomie, die man den Völkerschaften Rußlands ge-
schenkt hat, ist eben auch nur eine begrenzte. In Wirklichkeit gewinnt der russische Ein-
fluß überall mehr an Boden, und rascher denn je verschwinden die alten einheimischen
Kulturen. Bei meiner Sibirienexpedition 1927/28 hatte ich auch Gelegenheit, den burja-
tischen Schamanismus zu studieren. Danach gibt es in der Welt drei höchste Kräfte, drei
Brüder: der erste, selbst ein Mensch, ist Tschingis-Chan. Die beiden anderen sind Geistes-
wesen und leben in den Himmeln. Der im Süden wohnende ist Zajän sexan baba, der weiße
Schöpferherr mit seiner Frau. Er ist der Schöpfer von Mensch und Herde. Der dritte Bruder
lebte nicht verträglich mit den beiden ersten. Sein Name ist Irlimman Chan. Er ist der
Vernichter von Mensch und Vieh. Sein Wohnort ist in dem letzten der vierundvierzig nörd-
lichen Himmel, während es im Süden fünfundfünfzig Himmel gibt. Als Reformator des
burjatischen Schamanismus lebt in der Überlieferung Tunxe fort. Er war es, der den nörd-
lichen Burjaten ein bestimmtes religiöses System gab und damit der Schöpfer der noch
heute bestehenden Schamanenschule geworden ist. Er war es auch, der die Schamanen
der nördlichen Burjaten weihte, und zwar im ganzen neunzig, Männer und Frauen, denn
Frauen können bei den Burjaten auch Schamanen sein. Die Aufgabe der Schamanen ist die
der Vermittlung zwischen den nördlichen Geistern und den Menschen und zwischen den
südlichen Geistern und den Menschen. Im Alter von neunzig Jahren starb Tuiixe- Sein Grab
befindet sich etwa drei Kilometer östlich von den Zadinischen Sommerhütten (Zadinskije
Ljetniki), am Flusse Xudä. Der Ort heißt Büxönöhüii.
2. DIE JAKUTEN.
Noch weniger als über die burjatische Geschichte ist über die Geschichte der Jakuten
bekannt geworden. Wir wissen nur ganz allgemein, daß die Jakuten ursprünglich in süd-
licheren Gebieten gesessen haben, doch fehlt es an allen Anhaltspunkten, wo dieses Gebiet
gelegen haben kann und wann etwa die jakutische Nordwanderung anzusetzen ist. Die all-
gemeine Annahme ist die, die Jakuten wären zur Mongolenzeit, also im 13. Jahrhundert,
nach Norden abgezogen, und zwar aus dem Gebiet des Baikalsees. Immerhin sprechen auch
Gründe gegen diese Annahme, besonders, daß im ganzen Jakutengebiet nirgendwo eine
Überlieferung über Tschingis-Chan angetroffen worden ist, der bei den Nordburjaten z. B.
gut bekannt ist. Daß die Jakuten überhaupt aus südlicheren Gebieten stammen, ist nicht
anzuzweifeln. Ganz abgesehen von den zahlreichen jakutischen Sagen über die Nordwan-
derung spricht auch die jakutische Ornamentik eine deutliche Sprache. Bisher ist haupt-
sächlich das als „Widderhorn“ bekannte Ornament bei den diesbezüglichen zufälligen No-
tizen einzelner Forscher behandelt worden. Die jakutische Kunst enthält aber viel über-
raschendere Elemente, deren eingehende Erörterung eine demnächst vorzulegende Arbeit
des Verfassers enthalten soll. Hier soll auf diese Frage nicht näher eingegangen werden. — Daß
die Jakuten als ein Mischvolk anzusehen sind, geht schon aus dem Wortbestand ihrer
2 Baessler-Archiv.
IO
HANS FINDEISEN
Sprache hervor, die zu 32,5 Prozent aus türkischen Elemen-
ten, zu 25,9 Prozent aus mongolischen und zu 41,6 Prozent
aus Elementen nichttürkischer und nichtmongolischer Zu-
gehörigkeit besteht. Wir haben es bei den Jakuten wohl mit
einem teilweise mongolisierten Türkstamm zu tun, der schon
früh nach Norden abgedrängt worden ist.
Was die Volkszahl der Jakuten anlangt, so lauten die
letzten Nachrichten auf 230000 Seelen. Neben den Kirgisen
(3 Millionen) und den Burjaten (300000) sind die Jakuten die
drittstärkste der sibirischen Völkerschaften, und eine der
lebensfähigsten und vielseitigsten: Rindvieh- und Pferdezüch-
ter, Jäger, z. T. Ackerbauer, auch Renntierhalter und som-
merliche Fischer. Früher blühte auch der jakutische Handel
in gewissen Gegenden, dem jedoch nunmehr wahrscheinlich
der Boden entzogen worden ist. Schimkjewitsch nennt die
Jakuten wahre Parasiten der Tungusen. Es heißt in dem
deutschen Reisebericht: „Sie halten zweimal im Jahre, um
Weihnachten und Ostern herum, Märkte in den Wäldern ab,
auf denen die tungusischen Jäger alles finden, was sie nötig
haben: Renntiere, Pulver, Flinten, Kleider, Zucker, Butter.
Meistens werden sie Schuldner der Jakuten, aus deren
Händen sie sich nicht mehr retten können. Er folgt ihnen und
verkauft die Waren zu einem fürchterlich hohen Preise. Zur
Zeit Middendorffs, im Jahre 1844, gab es dort 26 jakutische Reisekaufleute; heute sind es
mehr als 60. Bei einem solchen, in jüngster Zeit in der Nähe der Goldwäschereien der
Niman-Kompagnie abgehaltenen Markte kauften 20 Kaufleute den 100 erschienenen ein-
geborenen Familien für 124000 Mark Pelzwaren ab und verkauften ihnen dafür Waren im
Werte von 80000 Mark; die Tungusen blieben den Händlern aber noch etwa 160000 Mark
schuldig. Die Handelswaren bestanden in 3000 Zobelfellen zum Durchschnittspreise von
36 Mark das Stück, 1300 Moschusratten-, Eichhörnchen-, Fuchs- und Bärenfellen uswr.
Gekauft wurden von den Tungusen 1086 Renntiere, davon 684 Lastrenntiere zu dem Durch-
schnittspreise von 80 bis 120 Mark und 250 bis 300 Reitrenntiere zu 200 bis 240 Mark das
Stück; 24000 Pfund Kuhbutter, welche die Jakuten mit ihren Renntieren herbeigeschafft,
wurden mit 1 Mark das Pfund, 400 Pfund anderes Fett mit 80 Pfennigen bezahlt, und ver-
schiedene andere Waren für 4000 Mark erstanden.
An einer anderen Stelle heißt es noch ergänzend: Der Markt, der jährlich bei den Gold-
wäschereien vom Niman abgehalten wird, hat alle anderen, die früher abgehalten wurden,
verdrängt. Von allen Seiten strömen dann die
Eingeborenen aus weiter Entfernung herbei,
und die jakutischen Händler machen gute Ge-
schäfte. Die Jakuten sind übrigens außer guten
Kaufleuten auch selbst gute Jäger. Sie besu-
chen in Begleitung der Tungusen die höheren
Gebirge, um dort nach Pelztieren zu jagen,
wobei die Winterkleidung eines praktischen
Jägers der eines Tungusen fast gleich ist. —
Im Sommer und Herbst trägt er eine lange
Weste, Hosen und Stiefel von Elenhaut. Der
Arbeitsanzug der Frauen besteht aus einer
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE 1 j
bis zur Erde reichenden Bluse und einer langen Weste mit Taschen und mit Silberschmuck
verziert. Ein Tuch und eine einfache russische Filzhaube dienen als Kopfbedeckung. An
Festtagen aber ziehen die Frauen ein Kleid mit hellfarbigen Stickereien an. Ein Silbergürtel
mit daranhängender großer Schere, sauber mit Silberstickereien versehene Bänder, die an
der Schulter befestigt sind, und ein großes Kreuz auf der Brust vervollständigen das Fest-
kleid. Als Kopfbedeckung dient eine konische Mütze, die mit Silberstückchen und Bändern
verziert ist.
Da über die Jakuten ein ziemlich reiches Beobachtungsmaterial vorliegt, sei noch etwas
näher auf das Leben der Kinder eingegangen, ein Gebiet, über das wir sonst nur sehr dürftig
unterrichtet sind. Im folgenden sei deshalb kurz der typische Verlauf des jakutischen
Kinderlebens dargestellt, ohne dabei allzu sehr auf Einzelheiten einzugehen. — Wir können
sechs verschiedene Stufen des jakutischen Kinderlebens unterscheiden. Die erste Stufe
wird durch das frühe Säuglingsalter gebildet, wo das Kind noch ganz hilflos und unselb-
ständig ist; eine zweite Stufe kann man schon etwa mit dem dritten Monat ansetzen, wo das
Kind zu sitzen anfängt und auch schon einige Worte versteht; der dritte Abschnitt beginnt
etwa im Alter von einem halben Jahr, wo die Kinder umherzukriechen beginnen. Diese
Periode findet ihr Ende gegen das dritte Lebensjahr, von welcher Zeit an ihre Selbständig-
keit immer mehr zunimmt, bis die Kinder mit etwa zehn Jahren als halberwachsen an-
gesehen werden und schon lebhaften Anteil an dem Leben der Erwachsenen nehmen. Als
sechstes Stadium tritt dann die Pubertätszeit hinzu, in deren Verlauf die Jugendlichen wenig
gut von den Erwachsenen behandelt, und die Mädchen trotz ihres Aufbegehrens in die nicht
immer beneidenswerte Stellung der Frauen hineingezwungen werden.
Beginnen wir mit der ersten der Lebensperioden, mit dem frühen Säuglingsalter.
Die Hauptbeschäftigungen der Neugeborenen bestehen selbstverständlich, wie überall,
im Schlafen und in der Nahrungsaufnahme. Die Nahrung besteht in der Muttermilch und,
wenn diese nicht ausreicht, in Kuhmilch, die dem Kind mit einem Saughorn zugeführt
wird. Dieses Saughorn wird aus dem abgesägten Ende eines Kuhhorns hergestellt, an dem
unten eine Zitze von einem Kuheuter befestigt wird. Will das Kind trinken, so legt es sich
auf den Rücken, während die Mutter das Horn hält und aus dem Mund Milch hineinfließen
läßt. Da die jakutischen Mütter im allgemeinen nicht reich an Milch sind, so kann man wohl
sagen, daß kaum ein jakutisches Kind ohne ein solches Saughorn groß geworden ist.
Die Schlafstelle für das Kind ist eine längliche Bastwiege, die am Kopfende mit einem
Schutzdach versehen ist. Als Bettdecke wird ein Stück Pelz verwendet, und um das Kind
am Herausfallen zu hindern, sind am Rande der Wiege Riemen befestigt, aus denen man ein
Gitter macht, um den kleinen Erdenbürger in der Wiege zu halten. Unter das Kind legt man
irgendeinen alten Lappen, Hobelspäne oder zerkleinertes und getrocknetes vermodertes
Holz; zwischen den Füßen findet auch noch ein Röhrchen Platz, das den Urin nach außen
leiten soll.
In der ersten Zeit wird das Kind gewöhnlich nur von der Mutter beachtet, während die
Läter in den allermeisten Fällen dem Kind eine offensichtliche Abneigung entgegenbringen.
Die Mütter natürlich lieben die Kinder mit Leidenschaftlichkeit und Zärtlichkeit, küssen,
liebkosen sie, geben ihnen Schmeichelnamen, betragen sich also nicht anders als die Mütter
bei uns auch. Das Interesse der Väter erwacht erst, wenn das Kind selbständig zu sitzen
und sich zu bewegen beginnt. Dann nimmt er es in seiner Freizeit auf das Knie, plaudert
und spielt mit ihm; ja, es kann verkommen, daß das Kind zu dieser Zeit das Streitobjekt
zwischen den beiden Eltern wird, da jeder von ihnen es während der Nacht zu sich legen will.
Mit einem halben Jahr fängt dann das Kleine an, in der Hütte herumzukriechen, für
welche Reisen es mit einem kurzen Hemdchen bekleidet wird. Bei ärmeren Jakuten fehlt
auch dieses Bekleidungsstück, und die Kinder laufen Sommer und Winter nackt umher.
2*
HANS FINDEISEN
I 2
Die Erlebnisse, die die Kinder in diesem Stadium mit Kohlen, Nägeln, Riemen und Holz-
stücken haben, laufen nicht immer glücklich aus, denn der Magen, in den diese Dinge viel-
fach gelangen, weiß auch bei den Jakuten nicht viel damit anzufangen und versucht, sie
wieder loszuwerden. Abgesehen von diesen nicht sehr angenehmen Maßnahmen des beleidig-
ten Magens bekommt der kleine Nimmersatt obendrein noch Schläge von seiner erschreckten
Mutter, ein Vorgang, den zu beobachten man ja auch in unserem Kulturkreis wohl Gelegen-
heit hat. Jetzt hat das Kind aber auch schon allerlei Freunde, besonders in den Hunden,
während die Katze weniger zutraulich ist. Die größte Anziehungskraft übt jedoch das Feuer
auf das Kind aus, das außer seinem sicht- und hörbaren lebendigen Wesen, dem Flackern
und Knistern, auch noch eine Menge Wärme ausstrahlt, die notwendig ist, damit sich das
Kind wohlfühlt; ist es doch während der kälteren Jahreszeit in der Jurte genügend trocken
und warm nur in der Nähe des Feuers. Dieses Alter gehört zu dem glücklichsten für die
kleinen Jakuten und Jakutinnen.
In dieser Zeit werden sie auch besonders gut ernährt. Wenn sie größer werden, so
ändert sich das etwas, sie werden zu kleinen Arbeitsleistungen herangezogen, haben aber
noch immer Zeit zum Spielen, eine Beschäftigung, der sie besonders im Sommer mit größter
Anteilnahme obliegen. Auf den Feldern oder auf Waldwiesen spielen sie Herde, veranstalten
Jagden, Volksfeste und Hochzeiten, geben Gastmähler von Beeren, Wurzeln und was sich
sonst findet. Dort tanzen sie, spielen Schaman, machen Ringkämpfe, fangen Fische und
andere Tiere, stellen den Vögeln nach, verfolgen die gestreiften kleinen Eichhörnchen. Dort
spielen sie auch ,,Falke und Ente“, das einzige ihrer Kinderspiele mit einer Gruppenbildung
und geregelter Handlung, das man bei ihnen hat entdecken können. Das Spiel geht folgender-
maßen vor sich. Zwei Stöcke von etwa zehn Metern Länge werden in einer Entfernung von
vier bis fünf Metern auf piner ebenen und für das Spiel geeigneten Lichtung auf den Boden
gelegt. Die Stöcke stellen „Ufer“ dar. LIinter den Stöcken ist „Wasser“ und zwischen ihnen
der „Weg“. Bei der Mitte eines Stabes wird ein schon etwas größerer Mitspieler aufgestellt,
der den „Falken“ darstellt. Die übrigen Kinder versuchen, auf dem „Wege“ in Entenart
an dem „Falken“ vorbeizugelangen. Derjenige, der von dem „Falken“ gefangen wird, gilt
als „tot“ und muß austreten, wie auch derjenige, der bei der Verfolgung durch den „Falken“
über einen der Stöcke ins „Wasser“ gesprungen ist. Der „Falke“ darf die Entenverfolgung
bis weit über die Grenzen des „Weges“ hinaus ausdehnen.
Sind die Kinder in das zehnte Lebensjahr gekommen, so haben sie nur noch wenig
Zeit zum Spielen, da der größte Teil davon durch Arbeit ausgefüllt ist. Die Knaben sehen
nun auch lieber zu, wie die Erwachsenen Karten spielen, auch üben sie sich darin selbst-
tätig mit ihren Altersgenossen. Verächter von Wodka, den man auf Hochzeiten erhalten
kann, sind sie auch nicht, und Klatschereien über Verwandte, Nachbarn und Gäste finden
bei ihnen lebhafte Anteilnahme; kurz und gut, sie werden mehr und mehr nützliche Mit-
glieder des Jakutenvolkes.
Am Schluß seien noch einige Worte über die jakutischen religiösen Vorstellungen ge-
sagt, wie sie sich der neuesten Forschung darstellen. Nach den Feststellungen des russischen
Forschers Jonow entspricht die geistige Welt der Jakuten vollkommen der Erdenwelt.
Die Naturerscheinungen, Wasser- und Landgebiete, Tiere und Pflanzen und auch die Schick-
sale der Menschen stehen in Beziehung zu einzelnen Geisteswesen, die in ihren Beziehungen
zueinander als unabhängige Besitzergeister oder Geisterherren dastehen. In dem jakutischen
Pantheon sind in der Hauptsache vier verschiedene Gruppen von Geistern zu unterscheiden.
Erstens die Ajy, Geister, die Bezug haben auf das Schaffen und Hervorbringen, zweitens
die Icci, Besitzergeister, drittens die Abäsy, vielleicht als Schling- oder Freßgeister zu be-
zeichnen, und viertens die Uör, die jenseitige Lebensform der menschlichen Seele. Dazu
kommen noch Himmel, Fluß usw. Von Bedeutung im Leben der Jakuten sind eigentlich
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE j 3
nur die vier erstgenannten Geisterarten. Die Aufenthaltsorte der Geister sind eine obere,
mittlere und untere Welt. In der oberen Welt lebt der Urünj Ajy Tojon, der weiße Schöpfer-
herr und Ulütujar Ulü Tojon, der sich rühmende furchtbare Herr. In der unteren Welt
lebt der grausame Arsan Duolai. Die Icci bewohnen mit wenigen Ausnahmen die mittlere
Welt, halten sich aber gewöhnlich etwas unterhalb derselben auf, ebenso wie die Ajy.
Die Uör leben entweder auf der Erde oder den Wolken und gehören der mittleren Welt an.
Der Ürünj Ajy Tojon hat seinen Wohnplatz nach einigen im Zenith, nach anderen in einer
nordwestlichen Gegend; der Ulütujar Ulü Tojon im Westen und Arsan Duolai entweder
im Südwesten oder Nordwesten. Die Ajy und Icci leben im Osten, während die Abäsy meist
im Westen hausen sollen. Alle diese in verschiedenen Welten und Ländern lebenden Geister
stehen in keinerlei Beziehung zueinander, sondern jeder ist ein selbständiger Herrscher in
seinem Gebiet, hat seinen eigenen Wirtschaftsbetrieb und auch teilweise seine Herden. —
Vorstellungen über ein Paradies oder etwa eine Hölle existieren bei den Jakuten nicht,
ebensowenig wie Vorstellungen etwa einer Vergeltung von „Gut “ und „Böse“ in unserm
Sinne. Krankheiten und Unglück haben ihren Grund in Pflichtversäumnissen gegenüber den
Geistern; diese Versäumnisse zu erforschen und Mittel zur Beruhigung der Geister zu finden,
ist Aufgabe der verschiedensten Arten von machtvollen und kenntnisreichen Männern.
Da gibt es besondere Geisterbeschwörer (algäccy), „Hysterische“ (mänärik), Propheten
(körbüöccy), Zauberer (icän), Schamanen (ojün) und Schamaninnen (udagan). Mythen über
eine Schöpfung der Welt oder der Menschen mangeln bei den Jakuten vollkommen, und es
wird immer vernünftigerweise davon ausgegangen, daß Welt und Menschen eben vorhanden
sind.
DIE TUNGUSISCHEN STÄMME.
Der erste Forscher, der vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus eine Gruppierung
der tungusischen Stämme unternommen hatte, war Leopold von Schrenck, der hervor-
ragende Amurlandforscher, dessen diesbezügliche Aufstellung im Jahre 1883 erschien.
Im Jahre 1915 wurde durch P. Schmidt in einer in Wladiwostok erschienen Arbeit das von
Schrenck aufgestellte Schema verbessert, und neuerdings ist der Tungusenforscher Koschkin
mit einer Übersicht aufgetreten, die auch hier wiedergegeben werden soll. Demnach ist die
schon von Schrenck durchgeführte Trennung in 1. eigentlich tungusische und 2. mandschu-
rische Sprachen richtig gewesen. Nach Koschkin sind die tungusischen Sprachen folgender-
maßen zu ordnen:
I. Tungusische Sprachen.
a) Eigentlich tungusische Sprachen.
1. Tungusen.
2. Orotschenen.
3. Manjegren.
4. Biraren.
5. Solonen.
b) Lamutische Sprachen.
1. La muten.
2. Kamtschatkisch-ochotskische Orotschenen, bei denen sich ein Anfangs-m
anstelle des tungusischen w erhalten hat und in denen zum Unterschied
vom Tungusischen ein Suffix der Gegenwart ra in der ersten Person Ein-
zahl gebraucht wird.
c) Die negidalische Sprache.
1. Negidalen-Amguner.
HANS FINDEISEN
14
II. Mandschurische Sprachen.
a) Eigentliches Mandschurisch.
1. Mandschuren.
b) Goldisch.
1. Golden am Amur, Ussuri und Sungari,
2. Oltschen.
3. Oroken.
4. Samagiren.
5. Kilen.
c) Orotschisch.
1. Orotsche.
2. Kjakaren.
3. Udehe.
Was die Zahlen der tungusischen Stämme anlangt, so erschloß die Volkszählung vom
Jahre 1897 im ganzen 76429 Seelen, die sich jedoch nach Patkanow auf etwa 793°° erhöhten.
Ihre wirtschaftliche Lage war im allgemeinen immer schlechter geworden, und auch heut-
zutage befinden sie sich zumeist in wenig guten Verhältnissen, da besonders der Reichtum
an Renntieren immer mehr zurückgeht.
3. DIE SOLONEN.
Von den Solonen befinden sich unter den Materialien Schimkjewitschs nur einige wenige
Bilder, von denen zwei Typen hier wiedergegeben sind. Auch in dem Reisebericht sind die
Solonen nicht erwähnt. Wenn wir nun bei Patkanow die Ergebnisse der russischen Volks-
zählung vom Jahre 1897 betrachten, so finden wir Solonen nur an einer einzigen Stelle, und
zwar im östlichen Küstengebiet angegeben, wo sieben Männer und acht Frauen dieses
Stammes notiert worden sind. Das wären also in ganz Sibirien nicht mehr als fünfzehn
Solonen. Diese Solonen lebten dazu noch an zwei Stellen, und zwar am Flusse Ima oder
Iman, einem rechten Nebenfluß des Ussuri. Ein russischer Forscher, der sie im Jahre
1883 besucht hatte, schilderte sie als kulturell vollkommen den Golden gleich. Anderer-
seits gibt es aber Solonen in der nördlichen Mandschurei,
am Flusse Nonni, besonders zahlreich am rechten Ufer,
und auch oberhalb der Stadt Tsitsikar. Dann aber haben
sie noch Wohnplätze in der nordöstlichen Mongolei, im Kreise
Chailar, an den Flüssen Oroschun, Chui-gol, Emin und Chai-
lar, weiterhin auch noch im Gebiete des Dalai-nor und des
Buir-nor. — Radloff schildert ausführlich die Solonen im
Ili-Tal, die er in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts als zum Schutz des Tales von der chinesischen Regie-
rung angesiedelt vorfand (II, 346—351). Die Hauptbe-
schäftigung der Solonen war Getreidebau. Nach der An-
gabe eines dortigen Solonen stammten sie vom Amur her
(S. 381). Dort im Amurgebiet sind sie auch schon den alten
Jesuitenmissionaren bekannt, die sie als kühne und ge-
schickte Jäger, besonders auf Zobel, schilderten (Schrenck,
Völker, S. 148). Nach ihrer eigenen Angabe sind sie Nach-
kommen derjenigen Njutschi, die sich nach der Niederlage,
die ihr unter dem Namen Kin über Nordchina herrschender
i $5*4- ’w Tv .rnmrnimfß. •»«■wmpcv •- ~ -fw- >'
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
15
Stamm im Jahre 1204 durch die Mongolen erlitt, im Amur-
gebiet festsetzten. — Auf jeden Fall haben wir es bei den
Solonen als mit einem einstmals mächtigen Volksstamm
zu tun, der aber anderen kulturellen Einflüssen erlegen ist.
Dieses sehen wir auch auf den beiden Aufnahmen Schimk-
jewitschs, die aus dem Onon-Tale stammen1. Der Onon ge-
hört dem früheren Kreise Tschitinsk an, in dem auch nach
Patkanow tungusische Dörfer vorhanden sind (S. 115)- Da-
bei wird von ihm auch der Onon selbst sowie dessen linke
Nebenflüsse als Siedlungsgebiet der Tungusen angegeben,
wo sie in der Hauptsache als mit russischen Kosaken in den-
selben Dörfern wohnend erscheinen. In der Kleidung der
Frau auf Abb. 7 ist jedoch der burjatische Einfluß unver-
kennbar. Sowohl die Kopfbedeckung wie auch der Ketten-
schmuck und der Schnitt des Mantels lassen darüber nicht
den geringsten Zweifel entstehen. Der Mann trägt, wie
zu sehen, ein russisches Hemd, während der Pelz oben
einen Schnitt aufweist, der nicht burjatisch ist, wie man
hätte erwarten können.
Abb. 7. Solon-Tungusin vom Onon-Fluß
in Festkleidung.
4. DIE RENNTIERTUNGUSEN DER SIBIRISCHEN URWÄLDER.
Während die Solonen überall den Einflüssen wirtschaftlich mächtigerer Völker unter-
legen sind, haben die nördlicher lebenden Tungusen ihre Eigenart noch recht rein erhalten,
wenn auch überall in den abgelegensten Urwaldgegenden Nordsibiriens der russische Ein-
fluß von Jahr zu Jahr stärker wird, und alle einheimischen Kulturen diesem Einfluß zu
unterliegen drohen. Ich war im Jahre 1927—28 im polaren Turuchansker Lande und erinnere
mich noch aufs lebhafteste der Freude, als es mir gelang, ein fast vollständiges Festgewand
von den Symtungusen zu erwerben, der am weitesten nach Westen vorgeschobenen tun-
gusischen Stammesgruppe. Hier ist der Prozeß der Russifizierung, besonders in den letzten
Jahren, so schnell und gründlich vor sich gegangen, daß nach Aussage russischer Handels-
angestellter die Jugend schon über die religiösen Gebräuche der Alten lache und kaum noch
etwas davon wissen wollte. Und gerade über die Tungusen ist bisher letzten Endes nur
verschwindend wenig bekannt geworden, so daß es noch nicht einmal möglich ist, genau
ihre einzelnen Kulturgebiete abzugrenzen. Die Feststellung habe ich wenigstens machen
können, daß bei den westlichen Tungusen folgende Gruppen zu unterscheiden sind: Sym-
tungusen, Tungusen zwischen der Unteren und der Steinigen Tunguska und Tungusen
zwischen Steiniger Tunguska und Angara. Diese bezeichnen sich auch untereinander als
nicht zusammengehörig und erklären, die Angehörigen der anderen Gruppen wären nicht
„die ihrigen“. Wir haben hier gewiß drei verschiedene Sippengemeinschaften vor uns,
die man vielleicht mit dem Namen Stämme, als der Vereinigung mehrerer verwandter
Sippen, bezeichnen kann.
1 Von den Tungusen am Onon schreibt auch schon
Johann Gottlieb Georgi in seiner „Beschreibung aller
Nationen des Russischen Reichs“ 3-Teil, St. Peters-
burg 1777, S. 316: „Steppentungusen sind fast nur
in Daurien, am Onon, Argun, Bargusin usw. Sie be-
sitzen Pferde, die den vorzüglichen Reichtum aus-
machen, Rinder, Schafe, Ziegen und Kamele. In ihrer
ganzen Haushaltung und Lebensart, Jurten usw. glei-
chen sie den Burätten, welchen sie nachahmten und
schon zur Zeit der russischen Eroberungen neben
denselben als Hirtenleute angetroffen wurden. Sie
werden indessen nie so reich als die Burätten, ein
Tunguse mit 1000 Pferden, 500 Rindern, bis 2000
Schafen, etwa 100 Ziegen und bis 50 Kamelen ist
schon eine seltene Erscheinung, unter den Burätten
aber würde er noch keine große Rolle spielen.“
HANS FINDEISEN
I 6
Trotz der "Vermischung mit anderen sibirischen Völkern (Türken, Mongolen undRussen),
könnte der Tunguse doch sehr leicht erkannt werden, heißt es in dem Bericht über Schimk-
jewitschs Reisen. „Er ist von mittlerer Größe, hat einen großen Kopf, breite Schultern,
kurze Gliedmaßen, kleine Hände und Füße. Er ist mager, aber muskulös, von graugelber
Hautfarbe. Der längliche Kopf zeigt stark hervortretende Augenbrauen, breite Backen und
niedrige Stirn. Die Nase ist breit und flach; die Lippen sind dünn, die Oberlippe größer
wie die Unterlippe. Das Kinn ist gerundet. Der Blick ist liebenswürdig, aber träge und
gleichgültig.“ Uber die Augen sagt der oben schon angeführte Johann Gottlieb Georgi
jedoch das Gegenteil von Schimkjewitsch, nämlich, daß ihre Augen klein und lebhaft wären
(S. 309). Er fügt noch hinzu; „Gesicht und Gehör sind fast unglaublich scharf, Gefühl
und Geruch aber auch desto mehr abgehärtet und stumpf.“ Wie weit letzteres zutrifft,
soll hier nicht näher erörtert werden.
Schimkjewitschs Mitteilungen über die von ihm besuchten Tungusen sind leider nur recht
spärlich. Von der Bären jagenden Tungusengruppe auf dem Hingan-Gebirge war schon
in der Einleitung die Rede. Weiter teilt er noch mit, daß die Jagdhunde im Lager immer
durch eine Fessel in Form eines schweren Holsztückes festgehalten würden, damit sie nicht
zwischen die Renntiere liefen und diese anfielen. — Daß bei den Tungusen auch besondere
Zeremonien beim Erlegen eines Bären vollführt werden, ist zwar aus einer Notiz Schimkje-
witschs ebenfalls zu ersehen, jedoch gibt er leider keine nähere Schilderung. Es heißt nur:
„Den Schädel stellten sie als Opfer für ,mafa‘ (d. h. der Greis), einen Geist auf, den sie sich
in Bärengestalt vorstellen.“ Der Bärenkult ist ja überall in Nordasien verbreitet, jedoch
fehlt es noch immer an näheren Nachrichten über ihn aus den Gebieten der nördlichen
Tungusen. Bei den Tungusen an der Steinigen Tunguska ist ein Bärenfest von der Leiterin
der Faktorei Baikit (500 km von der Mündung der Tunguska in den Jenissej) beobachtet
und beschrieben worden. Diese und auch noch andere Materialien über die Tungusen sind
von ihr dem besten Kenner der dortigen Tungusen, Innokentij Suslow, übergeben worden,
der sie gewiß demnächst veröffentlichen wird.
Aus den Aufnahmen Schimkjewitschs können wir nun aber doch noch verschiedene
Einzelheiten aus dem tungusischen Leben ersehen. — Was zunächst einmal den Hausbau
betrifft, so kennen die Tungusen auch ein mit Birkenrinde bedecktes Zelt. Unter russi-
schem Einfluß ist man aber
auch dazu übergegangen, an-
stelle der Birkenrindebeda-
chung Leinen zu nehmen, wie
Abb. 8 erweist. Die Abbildung
zeigt auch, wie weit und wie
schnell hier die Anpassungs-
fähigkeit der Tungusen geht.
Auf diesem Bilde sehen wir
nämlich eine in Nordsibirien
ganz neue unter dem Einfluß
der Goldwäscher entstandene
Zeitform, für deren Vorhan-
densein ich sonst nirgendwo
weitere Belege habe entdecken
können. Wir haben es hier an-
scheinend mit einer örtlich
Abb. 8. Tal des Goldbaches Olgakon, der in die Olga, einen Nebenfluß des uncj wopj auch zeitlich eng
Niman, mündet, mit Tungusenniederlassungen. Die Tungusen wollen das
von den Goldsuchern zurückgelassene Gold waschen. begrenzten neuen Form des
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
Doppelzeltes zu tun, indem
einfach das alte Kegelzelt
der Eingeborenen mit den
Hauszelten der russischen
Goldwäscher zu einem neuen
Typ verschmolzen worden
ist, wodurch natürlich eine
sehr bedeutende Vergröße-
rung der Wohnfläche einge-
treten ist, zumal die neuen
Anbauten an zwei Seiten er-
richtet werden konnten. Daß
es sich dabei um ganz neue
Kulturerrungenschaften han-
delt, zeigt auch die Farbe des
Leinens an; die Bedachung
der Kegelzelte ist schon alt
und schmutzig, während die
Hauszelte noch in ihrer neuen
Weiße prangen. Eine eigent-
liche Tür fehlt den Zelten.
Man schlägt die Leinwand nur
zurück, um sich eine Türöff-
nung zu schaffen. Bemerkens-
wert ist noch die Tatsache, daß die Zeltstäbe fast alle oben übereinander greifen, ersichtlich
ohne eine bestimmte Ordnung. Das Herdgestell entspricht dem von mir auch bei den
Jenissejern Vorgefundenen, nur ist die Stange, an der die Kesselhaken hängen, bei den
Tungusen höher angebracht als bei den ersteren. Das Herdgestell, über der Feuerstelle be-
findlich, besteht nur aus zwei besonderen Teilen, von denen der eine, die Seitenstange,
fast senkrecht in dem Zelt steht. Die Querstange ist an dieser sowie an einem der Wand-
stäbe festgebunden. Als Kochgeräte dienen russische Kupferkessel. Russische Tassen und
Untertassen stehen auf einem kleinen Zelttisch, um den die Familienangehörigen gelagert
sind. Die kleine runde Schale auf einer der Aufnahmen vorn rechts ist russischer Herkunft,
wie auch die Kleidung sämtlicher Anwesenden. — Neben den Zelten treffen wir bei den
Tungusen auch Rindenhütten an, die mit einer Brettertür versehen sind.
Von den Renntiertungusen sagt schon Georgi, daß sie, gleich den Lappen und Samo-
jeden vom Renntier alle ihre Notwendigkeiten erhielten, „Fleisch, Milch und Käse zur
Speise, Häute zu Kleidern, Bettmatratzen und Jurtdecken, Hörner und Knochen zu Ge-
rätschaften, Sehnen zu Zwirn usw., auf demselben reiten sie und spannen sie vor die Schlit-
ten. Kurz, die Renntiere sind ihre Felder, Wiesen, Vermögen und Reichtum“. Sonst sind
die Tungusen auch noch tüchtige Jäger, wie schon oben von den Solonen bemerkt wurde.
Das trifft auch auf die westlichen Tungusen im Jenissejgebiet zu, wo die besten Jäger
jedoch die Jenissejer sind.
Abb. 9 zeigt eine tungusische Grabstelle. Nach einer Angabe Schimkjewitschs handelt
es sich bei dem Toten um ein Kind, das in seiner Wiege an zusammengestellten Baumstäm-
men aufgehängt worden ist, wie auf dem Bild ersichtlich, — Uber das Begräbnis bei den
Tungusen an der Steinigen Tunguska, deren Gebiet an 200 km von der Mündung
dieses Flusses in den Jenissej beginnt, bin ich in der Lage, Beobachtungen mitzuteilen, die
1927 bis 1928 Lew Iwanowitsch Gejnen anstellen konnte, ein Sowjetbürger deutscher Herkunft,
Abb. 9. Grabstelle eines Tungusenkindes, das in seiner Wiege an zusammen-
gestellten Baumästen aufgehängt worden ist.
3 Baessler-Archiv.
HANS FINDEISEN
der als technischer Gehilfe an einer medizinischen Expedition des Roten Kreuzes über neun
Monate in ihren Gebieten gearbeitet hat. Herr Gejnen teilte mir neben einem kleinen tun-
gusischen Wörterverzeichnis folgenden Aufsatz mit, den ich mit seiner freundlichen Erlaub-
nis wiedergebe:
Ist jemand bei den Tungusen gestorben, so suchen sie für die Beisetzung des Verstor-
benen und die dazu erforderlichen Arbeiten einen Russen zu gewinnen, da sie selber vor der
Berührung eines Toten zurückschrecken. Wenn dieses aber nicht möglich ist, so machen sie
das Erforderliche selber, aber mit großer Angst.
Der Tote wird ganz gewaschen. Dann wird ihm die Totenkleidung angezogen. Diese
besteht aus dem Schönsten und Besten, was der Verstorbene an Kleidungsstücken besaß.
Für gewöhnlich hat jeder Tunguse diese Kleidung für den Fall seines Ablebens stets fertig
liegen und führt sie meist in einer besonderen Satteltasche mit sich. Die Kleidung ist
je nach dem Reichtum des Besitzers aufs prächtigste mit Perlen und glänzenden Knöpfen
verziert und mit bunten Bändern abgenäht. Die Kleidung besteht aus einem langen Gewand,
einer kurzen Hose, welche größte Ähnlichkeit mit einer europäischen Männerschwimmhose
hat. An dieser Hose schließen sich eine Art langer Kniestrümpfe an, die aus rotem, gelbem
oder grünem Tuch gemacht sind, und die sowohl Ober- und Unterschenkel als auch das
Knie bedecken. An die Füße zieht man dem Toten die langen Renntierfellstiefel. Über dem
Gewand trägt der Tote eine Art Rock aus Tuch. Liber den Rock wird dann noch eine Art
Mantel aus Renntierfell mit den Haaren nach außen gezogen. Die Hände bedecken Faust-
handschuhe aus Renntierfell. Über die Augen wird dem Toten ein weißes Tuch gebunden,
wie auch über Mund und Nase. Um die Haare trägt er ein Kopftuch. Außerdem wird der
ganze Kopf noch in ein großes warmes Umschlagetuch eingehüllt, denn der Tote darf nicht
frieren. So unterhält der Tunguse auch neben der Leiche beständig ein Feuer, damit dem
Toten warm sei. In das Feuer legt er Stücke von Renntierfett, die darin verrauchen. Dieser
Rauch ist nach dem Glauben der Tungusen der Seele des Verstorbenen behilflich, ihr den
Weg ins Jenseits zu erleichtern. Alle Schnüre an der Kleidung werden nur einmal geknotet,
damit es dem Toten bei der Auferstehung ( ?) nicht schwer sei, sich seiner Bekleidung zu
entledigen (?). In den Sarg kommt unten noch eine Decke aus Renntierfell, und an die
Stelle, wo der Kopf zu liegen kommt, ein Kissen. Darauf legt man den bekleideten Toten
und deckt ihn nochmals warm zu. Als Beigaben legt man dem Toten in den Sarg Tabak,
Zigaretten, Streichhölzer, Zucker, Tee, Brot, Teekanne und Trinkgefäß. Hat der Tote ge-
schnupft, so kommt noch Schnupftabak hinzu. Auch gibt man dem Toten seine Schmuck-
sachen, Ringe, Ketten usw. mit. Sein Messer, das durch Abbrechen der Spitze unbrauchbar
gemacht wird, kommt auch in den Sarg. Bei etwaigen Metallgefäßen wird der Boden durch-
stoßen. Von den Kleidungsstücken schneidet man überall ein Stückchen ab, auch von den in
den Sarg gelegten Fellen, jedoch werden diese Stückchen nicht auf bewahrt, sondern weg-
geworfen. Ist alles fertig, so darf der Tote nicht mehr berührt werden, damit sein Schlaf
nicht gestört wird. Auch der Sarg wird mit der größten Sorgfalt getragen, damit der Tote
ja nicht gerüttelt werde. Der Sargdeckel wird sehr fest und dicht gemacht, damit kein
Wasser in das Innere dringt.
Gewöhnlich begraben die Tungusen ihre Toten in steinigem Boden, damit das Grab
nicht von Tieren aufgewühlt wird. Am Kopfende unterhält der Tunguse noch längere Zeit
in einem kleinen Eimer ein Holzkohlenfeuer und bringt Renntierfett zum Verrauchen,
um der Seele weiterzuhelfen. Neben dem Grabe stellt er einen hohen Querbalken auf. Auf
diesen hängt er das Sattelzeug des Verstorbenen sowie seine Satteltaschen. Die alten Kleider
des Verstorbenen werden an nebenstehenden Bäumen aufgehängt. Das Reittier des Ver-
storbenen wird getötet und das Fleisch an andere verteilt, der Kopf des Tieres aber auf
einem hohen spitzen Pfahl so aufgespießt, daß der Kopf dem Grabe zugewandt ist. — Zum
Grab geht der Tunguse dann nicht mehr zurück, er läßt es so stehen und verfallen.
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
19
5. DIE OROTSCHONEN.
Uber die Orotschonen heißt es in dem Reisebericht Schimkjewitsch’s: „Mit dem
Namen Tungusen pflegt man diejenigen Stämme zu bezeichnen, die von den Bergen herab-
wanderten, in denen Allan, Uda und Tugur entspringen; Orotschonen nennt man dagegen
die, welche aus dem Gebiet des Witim und der Lena stammen. Zu dieser letzteren Gruppe
gehören auch alle Völker des unteren Amurgebietes, in deren Namen dieselbe Wurzel
„oro“ vorkommt, wie die Orotschi, Oroki und Ortschi (Oltschi). Die Etymologie dieser
Worte ist leicht aus dem oro = Renntier abzuleiten; die Namen bezeichnen alle Nomaden,
die das Renntier als Haustier benutzen.“ Von den nomadisierenden Orotschonen heißt es
dann, daß sie die Zuflüsse des oberen Amurs bewohnten. Später sagt er noch einmal: „An
den Ufern des Amgunj wohnen nur wenige Fischer aus den Stämmen der Tungusen, Negdas,
Orotschonen und Jakuten.“ Das ist alles, was er uns über die Orotschonen mitteilt. Da
Schimkjewitsch schweigt, müssen wir versuchen, vielleicht in anderen Quellen Nachrichten
über die Bevölkerung der Amur-Oblastj und des Flusses Amgunj zu finden. In erster Linie
bietet sich uns natürlich das große und unentbehrliche Werk S. Patkanows über die Geo-
graphie und Statistik der tungusischen Stämme Sibiriens dar, wo es im ersten Bande
auf S. 36L heißt: „Im Gebiet des Flusses Amgunj sind als zu den bekannteren Flüßchen
gehörig 367 (209 Männer) Tungusen registriert worden. Von diesen nomadisierten am
Amgunj selbst oder in der Nähe 233 Seelen (135 Männer), am Bach Weli 54 Seelen (25 Männer)
am Nemilen 23 Seelen (14 Männer), am Kerbi 15 Seelen (10 Männer), an der Mündung
des Baches Duk 16 Seelen (10 Männer), am Amal 14 Seelen (9 Männer), am Tschejluk 12
Seelen (8 Männer) und auf den Bergwerken befanden sich 14 Seelen (7 Männer). — Die
Hauptbevölkerung des Amgunj gebiet es besteht aus Russen, die aber dazu auch nur wenige
Punkte bewohnen, und zwar die Goldgruben am Amgunj, Kerbi, Nemilen u. a. sowie die
Stellen, an denen sich Warenlager, Poststationen usw. befinden. Überall im Amgunj gebiet
nehmen die Tungusen den zweiten Platz ein, wenn man aber das Goldgrubengebiet und die
negidalischen Dörfer ausnimmt, so steht das ganze übrige Gebiet, besonders nördlich vom
Amgunj, fast ausschließlich den Tungusen zur Verfügung, die darin mit ihren Renntierherden
und auch als Jäger umherziehen.“ Auf S. 52 wird noch einmal der Amgunj erwähnt, der am
linken oder nördlicheren Teil das Wandergebiet ziemlich zahlreicher Tungusen böte. Das
Wort Orotschonen ist bisher noch nicht vorgekommen! Im dritten Bande trägt das fünfte
Kapitel die Überschrift „Orotschi“. Möglicherweise ist dort etwas über die nun schon rätsel-
haft werdenden „Orotschonen“ des Amgunj zu erfahren. Hier können wir dann lesen (S. 74),
daß der Name „Orotschonen“ neben seiner Spezialbedeutung (Teil der eigentlichen Tun-
gusen in der Amur-Oblastj) auch noch als Sammelname erscheint, um viele tungusische
Stämme, die Renntierzucht betreiben oder betrieben (Oroken, Orotschen, Oltschen), zu
bezeichnen. — Wenn wir weitersuchen, so finden wir in Band II von Patkanows Werk
auf S. 174 noch einmal den Namen Orotschonen, mit dem die Renntiertungusen der Amur-
Oblastj ganz allgemein bezeichnet würden. —- Vollkommen zufriedengestellt werden wir
jedoch, wenn wir nun endlich die erste Seite von Band I auf schlagen, wo wnr gar nicht über
die Orotschonen Aufklärung zu finden hofften. Dort werden die Orotschonen einfach als
identisch mit den eigentlichen Tungusen bezeichnet. Die Seiten 2 bis 22 werden dann von
einer ausführlichen Darstellung der Orotschonen (Orontschonen, Orontschenen oder Oro-
tschenen) eingenommen, auf die ich mich im folgenden stützen werde.
Nach den Mitteilungen Orlows, der das genannte Gebiet in den fünfziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts besucht hatte, bezeichnet der Name „Tungusen“ und „Orotschonen“
ein und dasselbe Nomadenvolk, mit dem Unterschied, daß sie im Gebiet von Bargusin
nach Osten, bis zum Witim und überhaupt am ganzen linken Ufer dieses Flusses wie auch
3*
20
HANS FINDEISEN
im System deroberen Angara und Kitschera mit dem Namen Tungusen bezeichnet werden,
aber die hinter dem Witim und an den Flüssen Olekma, Tungir, Njukza, Oldoj und am
Amur nomadisierenden Gruppen „Orotschonen“ genannt werden. — In dem Worte „Oron-
tschon“, „Orotschon“ und „Orotschen“ finden wir das mandschurische Wort „Oruntschun“
wieder, das etwa Renntiervolk, Renntierhalter bedeutet. Oron heißt auch auf Tungusisch
das zahme Renntier. Leider gibt auch Patkanow nicht an, wie sich die Orotschonen selbst
bezeichnen. Erschwert ist eine genaue Erforschung der Orotschonen dadurch worden, daß
sie auf ständigen Wanderungen begriffen sind. Bei ihnen sind besonders Wanderungen nach
Süden festgestellt worden, und zwar vom Kreise Jakutsk aus, bis in die Mandschurei
hinein. Immerhin ist ihr Wandergebiet seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts doch ziem-
lich das gleiche geblieben. Dieses Gebiet ist im Süden vom Amur begrenzt, im Westen
von der Grenze der Transbaikaloblastj, im Norden vom Stanowoj-Gebirge und im Osten,
im Norden beginnend, mit dem Berge Tukuringra bis zum Oberlauf des Flusses Ur, an diesem
Fluß weiter bis zur Mündung des Flusses Dzalinda, dann diesen Fluß entlang bis zum Amur.
Die östlichen Nachbarn der Orotschonen waren früher die Manegren, die hinter Oldoj
und Niwer nomadisierten. Jetzt aber, wo sie an Zahl sehr zurückgegangen sind, sind sie
weiter nach Süden und Osten abgezogen, und zwischen beiden Stämmen liegt nunmehr
ein unbewohntes Gebiet, das nur selten von einzelnen Jägern verschiedener Nationalitäten
aufgesucht wird.
Was nun die Zahl der Orotschonen betrifft, so ist es bei den durcheinandergehenden
Benennungen bei den einzelnen Forschern nicht ganz leicht gewesen, sie festzustellen,
wie Patkanow mitteilt. Die Ergebnisse seiner Bemühungen sind die, daß zu den Orotschonen
erstens alle Tungusen der Sippen Belöt oder Beldet, dann auch die Sippen Bajagir, Sologon
(Schologon), Nikagir, Ninagan und Kindygir gehören, die zwar in dem statistischen Ur-
material teilweise als zu den Tungusen gehörig erscheinen, jedoch als im Orotschonengebiet
lebend, zweifellos diesen zugerechnet werden können. Zweitens rechnete Patkanow auch die
zum Ignaschinischen Kosakenkreise gehörigen drei Sippen Agdarim, Iglagir und Balatar
hinzu, sowie auch die Tungusen und Orotschonen des Orotschonengebietes, bei denen die
Sippenzugehörigkeit nicht angegeben war. Im ganzen wurden in der Amur-Oblastj 118
orotschonische Wirtschaften mit 677 Seelen registriert, von denen 364 Männer waren. Es
geht hier nicht an, den Nachrichten Patkanows bis ins Einzelne folgen zu wollen, da uns
das an diesem Orte zu weit führen würde. Aus diesem Grunde sei nur noch die Gesamtzahl
der Orotschonen aus der Trans-
baikal- und der Amuroblastj mit-
geteilt, die 1629 Seelen betrug,
darunter 848 Männer.
Was die von den Orotschonen
gesprochene Sprache betrifft, so
gibt es unter ihnen einen kleinen
Teil, der die Heimatsprache schon
vergessen hat und nur noch Rus-
sisch kann. Das waren im Jahre
1893 im ganzen 99 Personen, oder
6,1 Prozent aller Orotschonen.
45 von ihnen lebten angesiedelt
in dem kleinen Dorf Owsjanskij
(Owsjanskij poselok) im Ober-
Amur-Polizeibergkreis. Diese
Abb. 10. Orotschonenfrauen von Unterangarsk. Orotschonen trugen schon da-
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
mals rein russische Familien-
namen, andererseits lebten sie,
wie auch die anderen Orotscho-
nen in mit Häuten bedeckten
Stangenzelten. Der Hauptteil
(42 Seelen) der übrigen russi-
fizierten Orotschonen lebte im
Dorfe Zjul’zikansk in der Trans-
baikaloblast j, Interessant ist
noch die Tatsache daß 17 Amur-
Orotschonen als Heimatsprache
bei der Volkszählung das Jaku-
tische angegeben hatten.
Die Hauptbeschäftigung
der Orotschonen sind Jagd und
Fischerei, daneben auch Renn-
tierzucht und in der Amurob-
lastj teilweise Frachtentransport zu den ßergwerxen. — JJie Jagd wird zumeist aut Eich-
hörnchen, aber auch auf Zobel ausgeübt, wozu noch Elch, Renntier und Kabarga kommen.
Die wichtigste Jagdzeit ist der Herbst.
Im Sommer beschäftigen sich die Orotschonen mit dem Fang von Taimenen, Bjeluga
und Stören, die vom Boot aus mit Fischgabeln gestochen werden. Auch Selbstfangapparate
werden dazu verwendet. Schuppenfische werden mit Netzen gefangen, die man bei den
Kosaken kauft. Die Boote der Orotschonen (omuroci) bestehen aus einem hölzernen Stangen-
gerüst, das mit zusammengenähten und verpichten Birkenrindenstreifen überzogen ist.
Man rudert mit nur einem Ruder.
Renntiere werden von ihnen in nicht großer Anzahl gehalten und als Nahrung nur in
den allerseltensten Fällen oder zu großen Feiertagen verwendet. Im Jahre 1882 kamen auf
176 Orotschonenfamilien der Amur-Oblastj 1540 Renntiere, oder 8,6 Prozent auf die Fa-
milie. Das orotschonische Renntier ist dabei groß und kräftig und wird von den Orotschonen
auch zur Lastenbeförderung gebraucht. Bemerkt sei noch, daß einige Orotschonen seiner-
zeit auch Teilnehmer an Goldsuchervereinigungen waren.
Die Frauentracht bei den Orotschonen ist nicht sehr viel von der Männertracht unter-
schieden. Das Uberkleid besteht aus Leder, mit dem Fell nach innen gekehrt, worunter
noch ein leichtes Tuchkleid getragen wird. Auffällig ist bei den Frauen ein unten mit Me-
tallanhängseln geschmückter Behang, der über den Leib fällt. Dieser Latz ist ein Kennzeichen
der einheimischen alttungusischen Tracht, die sich also bei den Orotschonen der Oberen
Angara noch gut erhalten hat, von wo die Aufnahmen Schimkjewitschs stammen. Fell-
stiefel sind zwei Sorten vorhanden, solche, die bis über den Oberschenkel reichen und nicht
besonders verziert zu werden scheinen; daneben niedrigere, wie auf Abb. 10, die mit typisch
tungusischen Mustern benäht sind, wie ich sie auch bei den Tungusen zwischen der Stei-
nigen und Unteren Tunguska im Turuchansker Land habe feststellen können. Die langen
weißen Haare an dem Pelz des Mädchens auf einem anderen Bild stammen wohl von Ziegen-
fell, das von den Tungusen gern benutzt wird. Kopftücher werden sowohl von Frauen als
auch von Männern getragen. Eine Aufnahme zeigt Orotschonen]äger auf dem Anstand im
Wald. Hunde scheinen zur Jagd nicht benutzt zu werden. Gut zu erkennen ist die Pulver-
flasche an dem quer über die Schulter aufgehängten breiten Riemen. Das Gewehr ist eine
Feuersteinflinte mit Standbeinen. Der Lauf ist noch des öfteren mit, wie ich annehme,
Kupferbändern gesichert, damit der Jäger bei möglicherweise eintretender Explosion des
Abb. 11. Orotschonische Bärenjäger in voller Ausrüstung.
HANS FINDEISEN
2 2
Laufes nicht zu Schaden kommt. Der Jäger rechts hält in der linken Hand einen wohl als
Rufhorn anzusprechenden Gegenstand, der zum Anlocken von Elchen benutzt werden
kann. Abb. ii zeigt zwei orotschonische Bärenjäger in voller Ausrüstung. Bemerkenswert
ist der typisch tungusische Bärenspieß, der aber auch zum Wegbahnen im sibirischen Ur-
wald benutzt wird.
Die Zelte sind nicht sehr breite Stangenzelte, die, mit Birkenrinde, aber auch mit
borkiger Nadelholzrinde gedeckt werden. Die Tür besteht aus einer doppelten Schicht
Birkenrinde und hat unten, in der Mitte und auch oben Querleisten.
Daß die Orotschonen die Renntiere auch milchen, ist eine wichtige Tatsache, die viel-
fach übersehen worden ist. Sogar ein so unterrichteter Kenner der sibirischen Völkerwelt
wie U. T. Sirelius schrieb noch vor wenigen Jahren in seinem Buch ,,Die Herkunft der
Finnen. Die finnisch-ugrischen Völker“, Helsinki 1924, S. 60: „Eine interessante Tatsache
ist, daß die Lappen nach dem Beispiel ihrer skandinavischen Nachbarn das Renntier auch
zum Milchtier entwickelten, eine Errungenschaft, die den sibirischen Renntiernomaden
fremd geblieben ist.“ —Daß nun dieTungusen das Renntier nicht erst seit kurzem, sondern
schon immer als Melktier benutzt haben, geht aus den alten Nachrichten hervor, die wir
über sie besitzen. Schon in dem 1777 zu St. Petersburg erschienenen dritten Teil von Johann
Gottlieb Georgis „Beschreibung aller Nationen des Russischen Reichs“, S. 312, lesen wir,
daß die Tungusen, den Lappen und Samojeden gleich, alle ihre Notwendigkeiten von den
Renntieren erhalten, u. a. auch Milch und Käse zur Speise. Auch Hiekisch, „Die Tungusen“,
St. Petersburg 1879, S. 78, erwähnt die Wichtigkeit des Renntieres als Milchgeber in der
tungusischen Wirtschaft. Sehr wahrscheinlich haben sowohl Lappen als auch Tungusen
unabhängig voneinander diese hohe Stufe der Renntierwirtschaft erreicht, jedoch kann hier
auf eine nähere Untersuchung dieses Problems nicht eingegangen werden.
6. DIE NEGDA.
Was die Angaben über die Negda in der bisherigen Literatur betrifft, so sind sie leider
recht dürftig. Middendorff hat sie besucht, auch Schrenck kennt sie, aber im allgemeinen
ist doch recht wenig über sie bekannt geworden. Eine Grammatik des Negidalischen ist
bisher ebenfalls noch nicht erschienen, wenn auch L. Sternberg eine Handschrift „Kurzes
negidalisches Wörterbuch mit grammatischer Bemerkung“ hinterlassen hat. Ein großes
Wörterbuch ist im Jahre 1923 er-
schienen (P. Schmidt, “The Lan-
guage of the Negidals”, Acta Uni-
versitatis Latviensis Bd. V, Riga).
nicht allzu schwer zugänglich ist,
will ich hier lieber das den Negda
gewidmete Kapitel aus Patkanows
schon oft zitiertem Werke benutzen.
Danach bildeten sie in den fünfziger
Jahren des vergangenen Jahrhun-
derts fast die ausschließliche Be-
völkerung des Amgunj, eines lin-
ken Nebenflusses des Amurs, Im
Norden grenzten sie an die Tungu-
sen; im Süden verlief ihre Grenze
gegen die Samagiren die Wasser-
Da ja Middendorffs Schilderung
Abb. 12. Negda-Familie.
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
scheide zwischen Amgunj und Gorin ent-
lang; im Osten grenzten sie an den Amur.
Schon an den Nebenflüssen des Am-
gunj waren sie selten. So lebten an dem
linken großen Nebenfluß, dem Nemilen,
in den vierziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts nur fünf Negdafamilien, die dort-
hin in den dreißiger Jahren gezogen waren.
Nach der Volkszählung vom Jahre 1897
gab es am Amgunj überhaupt keine Negda
mehr, sondern nur ,,Orotschonen und ,,Gil-
jaken“, die früher von dort nicht bekannt
gewesen waren. Danach lebten „Orotscho-
nen“ am Unterlauf, teilweise aber auch am
Mittellauf des Amgunj, in den Dörfern
Ustj-Amgunj, Kande (Bakazi), Daldzja (bei
dem gleichnamigen See), Keurka (am Am-
gunj und Gedama (bei einem gleichnami-
gen See), und zwar beträgt ihre Gesamt-
zahl 149 Seelen (78 Männer). Weiter den
Amgunj hinauf erscheinen „Giljaken“ in
einer Anzahl von 219 Seelen (124 Männer). Dazu kommen dann auch noch Tungusen. Immerhin
gibt es auch noch einige Quellen, in denen die Siedlung Koschkan (Kotschekan) als von
Negda bewohnt bezeichnet wird, und bei den Dörfern Ustj-Amgunj, Daldzja sowie Keurka
findet sich die Angabe, daß ihre Bewohner zu den Sippen Topkalskij, Tschumykascheskij,
Ajumkanskij und Njutschikalschskij gehören, nicht genau geschriebene Namen von Sippen
die auch Middendorff anführt. Patkanow nimmt für die Negda auch in Anspruch die Dörfer
Gedama oder Gedoma und Konde, deren Bewohner zwar als „Orotschonen“ bezeichnet
worden waren, die aber so weit von den wirklichen und bekannten Wohnplätzen der Oro-
tschonen entfernt sind, daß sie wohl bestimmt nicht zu ihnen gerechnet werden können.
Auch die Bezeichnung „Giljaken“ für die Bewohner einer ganzen Reihe anderer Ortschaften
am Angunj ist als nicht richtig abzulehnen. Hier ist die Bezeichnung „Giljaken“ gewiß
nur ein von der ortsangesessenen russischen Bevölkerung gebrauchter Terminus, der nichts
weiter als „Eingeborene“ bedeutet, und zudem haben die verschiedensten Forscher, wie
Schrenck, Middendorff und Batzewitsch zu ihrer Zeit als fast ausschließliche Bewohner
des Amgunjs Negda festgestellt. Es soll hier nicht näher auf die Frage eingegangen werden,
wo sonst noch vielleicht Negda anzutreffen wären. Diese Frage ist ziemlich schwer zu beant-
worten, da literarische Materialien über jenes Gebiet recht wenig zahlreich sind. Nach den
Ergebnissen der Volkszählung von 1897 stellte Patkanow 423 (232 Männer) Negda fest,
eine Zahl, die er jedoch als Minimum bezeichnet.
Als Hauptbeschäftigung der Negda wird Fischfang und in zweiter Linie Jagd angege-
ben. Daß der Fischfang bei ihnen eine große Rolle spielen muß, ist deutlich aus den Auf-
nahmen Schimkjewitschs zu erkennen, der u. a. große Gerüste zum Trocknen des Laiches
von Lachsen aufgenommen hat. Auf den Gerüsten sehen wir in der Hauptsache Gefäße aus
Birkenrinde liegen, aber auch einen Holzeimer, der russischer Herkunft ist. Weiterhin ist
den Aufnahmen Schimkjewitschs zu entnehmen, daß die Negda Hundezüchter sind. Renn-
tiere besitzen sie anscheinend überhaupt nicht mehr, wenn man wohl auch annehmen kann,
daß sie früher welche besessen haben. Die Frauentracht besteht aus einem Uberkleid und
einem darunter getragenen anderen (Abb. 12). Die Beine sind mit unten zugebundenen
24
HANS FINDEISEN
Hosen bedeckt. Der Kopf ist meist mit einem Kopftuch bekleidet. Die Männer tragen
teilweise russische Kleidung, es kommen aber auch chinesische Kleidungsstücke (vor,
und auch die Pfeife, die der dritte Mann von links auf einem Bilde in der Hand hält, ist
sicher chinesischer Herkunft. Als ursprüngliche Behausung haben wir bei den Negda, wie
auch bei den sonstigen Völkerschaften Südostsibiriens, Kegelzelte anzunehmen, die heut-
zutage bei den Negda anscheinend nicht mehr anzutreffen sind. Immerhin, das alte Material
(Birkenrinde) hat sich auch noch bei der von Schimkjewitsch aufgenommenen Sommer-
hütte erhalten, bei der auch die Wände noch mit Stangen, ganz in der alten Art, bedeckt
sind. Die Winterhütte dagegen besteht ganz aus Holz, ist aber kaum als unter russischem
Einfluß entstanden zu bezeichnen, sondern ähnelt der chinesischen Fanse, wie auch Batze-
witsch mitteilt, der die Negda in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besucht hat.
Das Vorhandensein von Sommer- und Winterhütten läßt darauf schließen, daß sich diese
Hütten auch an verschiedenen Stellen befinden und daß wir bei den Negda wohl auch mit
dem Vorhandensein von Sommer und Winterdörfern zu rechnen haben, die ja auch sonst
bei Völkern des Amurlandes bezeugt sind. —- Von ihren religiösen Vorstellungen sei erwähnt,
daß bei ihnen der Bär eine besondere Rolle spielt, was ja ebenfalls den uns sonst bekannten
Tatsachen aus dem Amurvölkerkreis entspricht.
7. DIE GOLDEN.
Das Gebiet der Golden, die sich selbst Nanai (nani)1 nennen, grenzt im Osten an das
der Orotschen und bildet einen nicht breiten Streifen an beiden Seiten des Amurs vom
5i°3o' an, sowie weiterhin zu beiden Seiten des Ussuri bis zur Grenze des Südussurikreises,
in dem sie schon nur noch sporadisch auftreten. Auch am Sungari sind sie anzutreffen.
Daselbst sind sie, ebenso wie die am linken Ussuri- und rechten Amurufer oberhalb der
Ussurimündung wohnenden, Angehörige des chinesischen Staatswesens, während die
übrigen zu Rußland gehören. Ihre Zahl betrug nach der Volkszählung vom Jahre 1897
5300 Seelen, während die auf chinesischem Boden am Amur und Sungari im Jahre 1888
wohnenden Golden 2025 Seelen stark waren. Im ganzen leben aber nach Patkanow nicht
mehr als 8 bis 10000 Golden in China, so daß der gesamte Stamm vielleicht gegen 15000
Seelen stark sein wird.
Was die geschichtlichen Schicksale der Golden betrifft, so sind die Goldengruppen vom
Ussuri und Amur unterhalb vom Dondon immer auf ihrem alten Boden geblieben, während
die andern, zwischen den Mündungen des Ussuri und Sungari und den Amur abwärts bis
zum Flusse Dondon (Onjuj), ihr Gebiet zeitweilig anderen Stämmen haben räumen müssen,
und zwar den Djutscheren und Goguljen, die sich nach dem Sturz des Djurtschenreiches
hier festgesetzt hatten. Und als die Russen im 17. Jahrhundert das erste Mal zum Amur
gelangten, lebten zwischen den Mündungen des Ussuri und Sungari keine Golden, sondern
Djutscheren, die jedoch ziemlich bald in die Mandschurei abzogen und das Land den Golden
freimachten. Immerhin sind ihre Sprache, sind Sitten und Gebräuche vielfach durch die
Mandschu, Djutscheren und auch Giljaken beeinflußt worden.
Die fast ausschließliche Beschäftigung der Golden sind Fischfang, Jagd und Tierfang.
Sonst werden noch vom Amur gemeldet: Holzfällen und grobe Arbeit, die aber als Neben-
beschäftigungen anzusehen sind. Ackerbau wird nur von den Südussurigolden getrieben.
Gewöhnlich wird aber auch von den südlichen Golden der Fischfang nicht aufgegeben,
und daneben spielt die Zobeljagd im Winter eine wichtige Rolle. Am Onjuj und an einzelnen
Stellen des unteren Amurs ist von den Golden noch Hundezucht als besondere Beschäftigung
1 Die Golden an den Unterlaufen der Flüsse nennen am Oberlauf ansässigen Golden Solo-nai — „Obere
sich Chodze-nai = „Untere Leute“, während sich die Leute“ nennen (Zarubin),
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
2 5
bezeichnet worden.— Auch auf
chinesischem Boden sind die
Golden in der Hauptsache Fi-
scher und Jäger geblieben, die
ihre Fangergebnisse entweder
am Amur oder in der Stadt
Sang-Sing absetzen. Im Jahre
1906 schrieb Patkanow, daß sie
vor nicht langer Zeit alle dem
Soldatenstande eingeordnet wä-
ren und ihr Kontingent offiziell
auszoooMann bestände, inWirk-
lichkeit jedoch nur von 50 Mann
Kriegsdienste geleistet würden.
Bis zum Jahre 1880 wären die
Golden von den Chinesen auch Abb. 14. Auf Ständern erbautes Vorratshaus der Golden.
als Halbwilde betrachtet wor-
den, während man ihnen von dem genannten Jahre an Mandschurechte eingeräumt hätte
und sich auch um ihre Bildung zu kümmern begänne.
Bei dem Abschnitt über die Golden haben wir auch die Möglichkeit, Schimkjewitschs
eigene Materialien über dieses Volk zu benutzen, was gewiß ein Vorteil ist, denn der Reisende
selbst kann uns natürlich die besten Aufklärungen über seine Aufnahmen geben. Die Golden
sind auch neben den Burjaten das Volk, das sich in dem angeführten deutschen Reisebericht
am eingehendsten behandelt worden ist. Man sieht sofort, daß er mit diesem Volk, seinen
Sitten und Gebräuchen, am besten bekannt ist, und wir wollen uns seiner Führung eben-
falls ruhig anvertrauen.
Von den Häusern sagt er, daß sie nach Mandschuart gebaut wären und Fensteröff-
nungen besäßen, die mit chinesischem Papier beklebt wären. Die Häuser sind in zwei oder
drei Räume geteilt. Der mittelste Raum dient als Vorzimmer und Küche. Von hier aus
werden auch die Zimmer erwärmt. Die Rauchfänge führen nämlich längs den Wänden und
bilden zugleich das Bett, auf dem die Golden trotz fürchterlicher Hitze zu schlafen ver-
mögen. — Für ihre Vorräte an Fischen usw. errichten sie Vorratshäuser auf Pfählen, wodurch
die Vorräte vor Überschwemmungen und dem Besuch der Hunde gesichert sind. Häuser und
Vorratshäuser werden mit getrockneten Sumpfkräutern eingedeckt. Unter dem Dache ist
eine Menschenfigur angebracht,
die als Beschützer des Hauses an-
gesehen wird.
Ein anderer Geist lebt nach
Ansicht der Golden in dem Pfo-
sten, der die Firste des Daches
trägt. Man nennt ihn Gusti Tora,
und er spielt eine große Rolle im Le-
ben der Eingeborenen. Man bringt
ihmOpf ervon chinesischemBrannt-
wein dar, neigt sich vor ihm bis
zur Erde und bittet ihn um Schutz,
wenn man zur Jagd oder zum Fisch-
Abb. 15. Frau und Knabe bearbeiten Fischhaut mit Holzhämmern. fangaasgeht. Auch bei jeder Heirat
(Golden). und j eder Geburt wird ihm geopfert.
4 Baessler-Archiv.
2 6
HANS FINDEISEN
Die Hundezucht spielt eine große Rolle im Leben der Golden, und auch die ärmste
Familie besitzt neben ihrem Boote mindestens ein Dutzend Hunde, die im Sommer das Boot
gegen den Strom ziehen müssen und im Winter den Schlitten. Reiche Golden besitzen oft
hundert Hunde, die im Dorfe oft wahre Kämpfe gegeneinander ausfechten, denen, wie
Schimkjewitsch sagt, die Golden solange mit Vergnügen zuschauen, bis ein wertvoller Hund
in wirkliche Gefahr gerät.
Die Golden verstehen es, die Fischhäute in so vorzüglicher Weise zu präparieren, daß
sie sich Kleider aus ihnen bereiten. Besonders viel wird Lachshaut benutzt, die getrocknet
und dann vermittels eines Holzhammers weich geklopft wird. Die Häute werden anein-
andergenäht, bis sie große Stücke bilden und dann von den Frauen zu allen möglichen
Gegenständen verarbeitet. Die Fischhautgewänder werden auch mit schönen Stickereien
oder Malereien verziert, wozu die Farben aus verschiedenen vegetabilischen Stoffen her-
gestellt werden. — Die Männer tragen nur kurze bis zum Knie reichende Hosen und Stiefel
aus Fischhaut, und nur die Frauen tragen ganze Gewänder aus diesem Stoff.
Das ganze Leben der Golden ist von Sitten und Gebräuchen begleitet, die auf religiöser
Grundlage erwachsen sind. Wenn z. B. eine Frau Mutter werden soll, so fragt sie zunächst
den Schamanen über die Zukunft ihres Kindes aus; nur damit dieses ein gutes Aussehen
bekomme, verschluckt sie die Iris eines Bärenauges, sagt aber, sie hätte es versteckt, denn
es wäre Sünde, zu sagen, sie hätte es verschluckt. Die Niederkunft muß sie außerhalb des
Dorfes, im Sommer irgendwo im Dickicht, im Winter in einer für sie errichteten Hütte
abwarten; eine Hebamme steht ihr in der schweren Stunde zur Seite. Hat die Familie noch
keinen männlichen Nachkommen, so opfert man dem Gott der Sonne ein Schwein, um einen
Sohn zu bekommen. Ein Kind muß dreimal die Wiege wechseln, und es gilt als große
Sünde, die leere Wiege zu schaukeln. Die Wahl des Namens ist auch von abergläubischen
Gebräuchen begleitet. Wenn ein Knabe stirbt, verheimlicht man den Nachbarn das Ge-
schlecht des Kindes. Man ändert einen Namen sofort, wenn man hört, daß einer Person,
die den gleichen Namen trägt, ein Unglück zugestoßen ist. — Die Erziehung der Kinder
überlassen die Eltern der Natur; die Töchter werden bis zu ihrer Verheiratung zu keiner
Arbeit angehalten, die Söhne arbeiten, lernen die Wirtschaft führen und jagen.
Eltern geben für ihre Kinder schon in jungen Jahren das Heiratsversprechen. Die
Heirat ist bei den Golden sehr umständlich und große Zeremonien finden wiederholt statt,
bevor der Mann endlich seine Frau erhält. Je reicher der Mann ist, um so schneller geht die
Heirat vonstatten, denn der Mann muß, der Sitte gemäß, seine Frau den Eltern abkaufen.
Schimkjewitsch wohnte der Ankunft einer Braut bei, für die der Mann 24 Mark in Geld und
400 Mark in Kleidern, Pelzwerk, chinesischen Gewändern, Bettbezügen usw. bezahlt hatte.
Da er arm war, hatte er sechs Jahre daran zu zahlen gehabt, und seine Frau wertete so
lange bei ihren Eltern. Endlich hatte die Hochzeit im Dorfe der Braut stattgefunden, und der
junge Ehemann war nach einigen Tagen heimgekehrt, um sein Haus für den Empfang der
Frau vorzubereiten. Er mußte aber noch einen Monat warten, denn es sind mehrere Zere-
monien nötig, um die Frau einzuladen, zum Manne zu kommen und ihr Wort zu halten, —
Eines Tages, gegen vier Uhr nachmittags, bemerkten die Leute fünf Boote, welche das Ge-
folge der jungen Frau bildeten. Alles stürzte an das Flußufer, um das Holzboot instand zu
setzen, in welchem der junge Mann seiner Frau entgegenfahren muß. Vier Ruderer nahmen
ihre Plätze ein, und der Ehemann, an das Steuerruder gestützt, sah ins Weite, in Jagd-
stellung, in ein reiches Jagdkostüm gekleidet. Als sich das Boot mit der jungen Frau näherte,
sprang der Mann schnell in sein Boot, das wie ein Pfeil dem anderen entgegenfuhr, während
die Boote der Begleitung etwas zurückblieben. Galt es doch, der Sitte gemäß, die Frau den
Eltern scheinbar noch zu rauben. — Der Kampf dauerte etwa eine halbe Stunde, bis man
Frieden schloß. Die beiden Kähne näherten sich, begleitet vom Gefolge, dem Ufer, wo eine
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
27
große Menschenmenge wartete. — Die junge Ehefrau, sehr furchtsam, in reichgestickte
Fischhautgewänder gekleidet, blieb in der Nähe des Bootes, von ihrer Mutter und den
nächsten Verwandten umgeben, während der Ehemann mit dem Schwiegervater seinem
Haus zuschritt. Bald kamen die Mutter und die Schwestern des Ehemannes aus dem Hause
und näherten sich der Gruppe, um die junge Frau einzuladen, näherzutreten. Zwei junge
Golden breiteten einen Teppich vom Boote bis zum Hause aus. Nach langen Einladungen
begab sich die junge Frau ins Haus, begleitet von den Frauen, welche die Aussteuer trugen.
Diese bestand aus einem Dutzend verschiedener Kleider, 20 reichornamentierten Birken-
rindenflaschen, 50 Holzlöffeln, einem großen Kochkessel, einer Axt und verschiedenen
Schmuckgegenständen.
Beim Hause angelangt, machte die junge Frau einen kurzen Halt und begab sich
dann von niemand begrüßt, zum Ehrenplätze, der für sie freigehalten wurde. Nun folgte
die Zeremonie der Aufnahme in das Haus. Der Vater legte einen neuen Teppich in die
Mitte des Zimmers, die beiden jungen Eheleute knieten darauf nieder, die Frau nach der
Tür zu, der Mann ihr gegenüber. Der Vater reichte seinem Sohne ein Glas Branntwein,
und dieser, seine Frau begrüßend, bietet ihr dasselbe an. Nachdem das Glas bei allen Ein-
geladenen die Runde gemacht, begrüßte die junge Frau ehrfurchtsvoll den verehrten Haus-
geist Gussi Tora. Dann beschenkten die Anwesenden die junge Frau, und diese bot ihnen,
jeden einzelnen begrüßend, Tabak an. Dann begann das Hochzeitsmahl, wobei der Brannt-
wein in Strömen floß. Die junge Frau wechselte ihren Hochzeitsanzug und ging Wasser
holen. Damit war die Hochzeit endgültig geschlossen.
Eine große Rolle im Leben der Golden spielen die Schamanen als Vermittler zwischen
den Menschen und den guten und bösen Geistern. — Nach dem Glauben der Golden lebt
die menschliche Seele vor ihrer Geburt in einem Menschen im Himmel; sie hat die Gestalt
eines kleinen Vogels und wohnt in dem großen heiligen Baume. Die Seele bildet sich, wenn
sie zur Erde herabsteigt, im Leibe einer Frau zum Menschen um. Bis zu einem Jahre nach
seiner Geburt gilt das Kind nur als ein ideeller Gegenstand; stirbt es während dieser Zeit,
so kehrt die Seele zum Himmel zurück und behält die Fähigkeit, zum zweiten Male Mensch
zu werden. — Der Sarg mit dem Körper des Kindes wird nach besonderen Feierlichkeiten
an einen Baum gehängt, um vor dem Angriff von Tieren sicher zu sein, und ein kleines,
an dem Sarge befestigtes Nest von Moos soll dazu dienen, daß die von der Krankheit er-
müdete Seele darin ausruhe, bevor sie zum Himmel zurückkehrt.
Nach dem Tode führt der Schamane die Seelen in das Seelenland „Buni“, zu dem er
nicht allein den Weg kennt, sondern auch die Namen der Orte, welche die Seele zu passieren
hat, nebst ihrem Aussehen usw.
Der Schamane ist auch zugleich Arzt. Zu jedem Kranken wird er gerufen und seine
beim Kranken vorgenommenen Beschwörungen usw. machen auf die Menge einen gewal-
tigen Eindruck. Verstärkt wird derselbe durch das überaus phantastische Kostüm, in dem
der Schamane auftritt. Auf einer großen Trommel begleitet er seine Gesänge und gibt den
Text zu seinen Tänzen an.
Eines Abends wohnte Schimkjewitsch der Arbeit eines Schamanen bei einem Kranken
bei, dessen Seele von einem bösen Geiste geraubt war. Der Schamane wollte diesen Geist
erkennen, ihm die Seele wieder abnehmen und dem kranken Körper zuführen. Er sang neben
dem Kranken sitzend und rief einen Geist namens Ajami herbei, um diesem den Namen des
bösen Geistes zu nennen, der die Seele geraubt hatte. Dann begann er auch zu tanzen,
immer schneller wurden seine Schritte, immer erregter sein Gesang; endlich schrie er den
Namen eines bösen Geistes und fiel in Zuckungen, von den Armen seiner Gehilfen auf-
gefangen. Nachdem er sich erholt hatte, ordnete er an, daß man eine Figur des bösen Geistes
anfertige, in der Gestalt eines sitzenden Bären, dessen Vorderbeine gebrochen wären. —
4*
HANS FINDEISEN
Als das Idol neben den Kranken gestellt war, begann der Schaman wieder zu trommeln,
zu tanzen und zu schreien, fiel wieder in Zuckungen und verlor für kurze Zeit das Bewußt-
sein. Der Kampf mit dem bösen Geist war beendet, der Schamane war nicht Sieger geblieben;
er hatte die Seele des Kranken nicht zurückbringen können; derselbe starb in der Nacht.
Der Leichnam wurde auf eine Art von Tisch links vom Eingänge aufgestellt. Die Frauen
bekleideten ihn mit seinen alten Kleidern und legten die für das zukünftige Leben not-
wendigsten Dinge neben ihn hin. Die Frau des Verstorbenen weinte heiße Tränen um ihren
Mann und bedeckte sein Gesicht mit Stücken Tuch, Tier- und Fischhäuten. Auf dem Kopfe
befestigte sie eine Pelzmütze. Die Fischöllampe brannte neben dem Toten, solange er sich
in dem Zimmer befand.
Die Männer fertigten inzwischen einen Sarg aus Zedernholz an, den sie auf der Straße
vor dem Hause niedersetzten. — Am Abend legte sich die Frau des Verstorbenen, gemäß
dem Gebrauche, neben ihn und bedeckte sich auch mit derselben Decke, die ihn bedeckte.
Sie wird dabei von der Idee geleitet, daß die Seele des Mannes nicht tot sei, sondern so lange
in dem Hause umherfliegt, bis der Schamane sie in das Land der Seelen führt. — Auch
nach dem Begräbnis begibt sich die Frau von Zeit zu Zeit an das Grab und legt sich dort
nieder.
Am nächsten Tage wurde die Leiche zum Fenster hinausgehoben und in den Sarg ge-
legt. Unter den Kopf des Toten legten dann die Frauen aus Papier geschnittene Tierbilder
und unter die Füße einen Stein; ohne einen solchen kann die Seele des Verstorbenen nicht
nach dem Seelenlande gelangen.
Der Körper wurde gut bedeckt, der Sarg dann geschlossen und langsam zum Dorfe
hinausgetragen, wo man eine Grube gemacht hatte. Trotz des kurzen Weges wurde dreimal
Halt gemacht, man goß Branntwein auf den Sarg und rief dem Toten zu: ,,Trinke! Gute
Reise in das Land der Seelen. Komme nicht mehr wieder und nimm keines deiner Kinder
mit dir.“ Bei der Grube angekommen, wird der Sarg hineingestellt und eine Hütte darüber
errichtet, in welche man die Jagdgeräte und Lieblingsgegenstände des Toten hineinlegte.
Während die Hütte errichtet wurde, machten die Weiber ein großes Feuer neben dem Grabe
an, und sich zum Grabe wendend, riefen sie: „Wir haben dir ein schönes Haus gebaut,
lebe wohl, nimm deine Frau und deine Kinder nicht zu dir, wenn sie kommen, um dich zu
besuchen.“ — Darauf wird ein Hund neben dem Grabe getötet, an einem Baume aufgehängt
und sodann mit Hirschhaut bedeckt.
Gegen Mittag, als die Zeremonien beendet waren, begab man sich in das Haus des Ver-
storbenen, wo die Witwe den Teilnehmern Wasser anbot, um sich die Hände und das Ge-
sicht zu waschen. Dann wurden wohlriechende Kräuter verbrannt, und die Eltern mußten
die Vorratskammern wieder öffnen, die solange geschlossen gehalten wurde, als der Tote
im Hause lag. — Dann folgte eine Bewirtung, an der alle Helfer teilnahmen. Auch der Scha-
mane nahm nur wie ein gewöhnlicher Sterblicher daran teil. Seine Arbeit beginnt erst
wieder nach einigen Monaten, wenn die Seele des Verstorbenen in das Land der Seelen ge-
führt werden soll. Bis dahin hält sich die Seele in einem kleinen viereckigen Kissen, „Fanja“
genannt, auf, das die Golden zu diesem Zweck anfertigen. Das Fanja wird von Zeit zu Zeit
mit den neuen Kleidern des Toten bedeckt, man spricht mit dem Fanja, gibt ihm zu essen,
als ob es lebte. Sobald aber die Seele in das Land der Seelen geführt worden ist, wird das
Kissen zerrissen und ins Feuer geworfen; alle Beziehungen zwischen dem Toten und seinen
Angehörigen sind zerrissen und die Witwe kann sich wieder verheiraten.
VIEHZÜCHTER UND JÄGERVÖLKER AM BAIKALSEE
29
Benutzte Literatur.
[Anonymus] Schimkjewitschs Reisen bei den Amur-
völkern. Globus, Bd. 74, Braunschweig 1896. S. 151
bis 256 u. S. 267—273.
Castren, M. A., Ethnologische Vorlesungen über die
altaischen Völker usw. Hrsg. v. A. Schiefner, St.
Petersburg 1857.
Georgi, Johann Gottlieb, Beschreibung aller Nationen
des Russischen Reichs usw., St. Petersburg 1776 bis
1780.
Hiekisch, C., Die Tungusen. Eine ethnologische Mono-
graphie. St. Petersburg 1879.
Koschkin, Ja. P., Kastren-Tungusoved (Castren als
Tungusenforscher) Pamjati M. A. Kastrena k 75 -
letiju dnja smerti (dem Gedächtnis M. A. Castrens
zum 75. Todestage), Leningrad, Akademie d. Wissen-
schaften, I927j S. 109 129.
Middendorff, A. v., Dr. A. v. M.’s Sibirische Reise,
Bd. IV, Theil 2, Dritte Lieferung: Die Eingeborenen
Sibiriens. St. Petersburg 1875.
Patkanov, S., Opyt Geografii i Statistiki tungusskiy
plemen Sibiri (Versuch einer Geographie und Sta-
tistik der tungusischen Stämme Sibiriens). St. Pe-
tersburg 1906.
Radloff, W., Aus Sibirien. Lose Blätter aus meinem
Reisetagebuche, 2 Bände. 2. Aufl. Leipzig 1893.
Ssanang-Ssetsen, Geschichte der Ost-Mongolen und
ihres Fürstenhauses. Aus dem Mongolischen von
Isaac Jacob Schmidt, St. Petersburg 1829.
Sirelius, U. T., Die Herkunft der Finnen. Die finnisch-
ugrischen Völker, Helsinki 1924.
Schimkjewitsch, P., Materialy dlja isucenija saman-
stva u goldov (Materialien zum Studium des Scha-
manismus bei den Golden), Chabarowsk 1896.
Zarubin, J. J., Spisok Narodnostej SS SR (Verzeichnis
der Völkerschaften der U. d. S. S. R.) Leningrad,
Akademie d. Wissenschaften 1927.
Besprechungen.
Danzel, Theodor, Wilhelm: Gefüge und Fundamente der
Kultur vom Standpunkte der Ethnologie (Prolego-
mena). Hamburg (Friederichsen, de Gruyter & Co.)
1930.
Wie alle W7erke, die methodische und systematische
Fragen und Problemstellungen behandeln, ist die vor-
liegende Arbeit Danzels sehr schwierig zu besprechen.
Wenn Verfasser S. 8 z. B. das Gleichbleibende und Ver-
änderliche behandelt und unter ersterem die Konstanz der
Umwelt, die Konstanz der politischen Form, die Konstanz
des biologischen Substrates (Rasse) aufführt, so weiß der
Leser vielleicht, was Verf. meint. Aber ist die Umwelt
denn konstant ? Lebt ein Volk immer unter der gleichen
politischen Form ? Wird die Rasse nicht durch gelegent-
liche Heiraten stammesfremder Elemente verändert ?
Trotz des vielen wertvollen Materials, das Danzel bringt,
sind wie bei jedem derartigen Werk so viele Einwendun-
gen zu machen, die der persönlichen Anschauung des
Lesers entspringen, daß ich es vorziehe, nur eine Inhalts-
angabe des Werkes zu bringen.
In der Einleitung begrenzt Verf. seine Aufgabe auf
die „Systematik und die Charakteristik der kulturellen
Werkleistungen und Betätigungsgebilde nach ihrer funk-
tioneilen Seite“. Er schließt ausdrücklich aus: „1. die
historischen und die mit diesen eng verknüpften kultur-
geographischen, 2. die spezifisch soziologischen und 3. die
technologischen Probleme.“ Die Einteilung erfolgt in
2 Kapitel: 1. Grundstoffe. 2. Funktionstheoretische
Skizze. Paragraphen mit knapper Überschrift vermitteln
einen schnellen Überblick über die vom Verf. verlangten
Grundbegriffe. Die sind: 1. Erkenntnistiefe und Erkennt-
nisweite. Diese behandeln die Gewinnung neuer Gesichts-
punkte und Ausarbeitung neuer Methoden, die Beschaf-
fung neuen Materials und dessen Nutzbarmachung und
vor allem die Frage nach der Erkenntnistiefe; Was
leistet die Wissenschaft für die Vertiefung unserer Vor-
stellungen von Welt und Leben, von Kultur und Natur ?
2. Die Konstanten im Bereich des kulturellen Lebens.
Über die drei vom Verfasser angenommenen, hauptsäch-
lichen Konstanten habe ich schon berichtet. Eine Auf-
gabe der Kulturgeschichte ist es, „das im Veränderlichen
Gleichbleibende“ und „das im Gleichbleibenden Ver-
änderliche nach dem zeitlichen Ausmaße festzustellen
und einsichtig zu machen“.
3. Kulturelle Entwicklung und Entwicklungsstufen.
Eine Auseinandersetzung mit der herrschenden An-
schauung über Entwicklung und Erklärung der vom
Verf. aufgestellten Entwicklungsstufen: einer im An-
fänge der Entwicklung stehenden „stark magisch ten-
dierenden Stufe (Homo divinans)“ und einer am Ende
befindlichen „vorwiegend technisch tendierenden Stufe
(Homo faber)“.
4. Die Kulturgemeinschaft als Gesamtheit und ihre
Struktur. Die „Bestandteile“ einer Kulturgemeinschaft
stehen in einer „Art GliedlichkeitsVerhältnis zum Ganzen
und empfangen ihren Sinn und ihre spezifische Bedeutung
aus dessen Funktion“. Sie ist also keine „Summe der
Individuen“. Die Glieder haben verschiedene Stärke und
Kulturwichtigkeit, so daß auch der Persönlichkeitswert
zu seinem Rechte kommt. Alle diese Elemente: Umwelt-
liche Faktoren, menschliche Träger, ihre Werke usw„
bilden ein sinnvolles Gefüge, die Struktur der Kultur-
gemeinschaft. Übereinstimmen in der Struktur zweier
Kulturgemeinschaften läßt sich erklären durch Über-
einstimmung 1. der Maße, 2. der Umwelt, 3. der Stufe.
So können verschiedene Rassen, verschiedene Stufen oder
Bewohner verschiedener Lebensbezirke doch gemein-
same Züge haben.
3. Das Anpassungsverhältnis. Der Mensch ist von der
Umgebung nicht abhängig, sondern er paßt sich an.
6. Die endogene und exogene Seite der Kultur. Die
„Werkleistungen und Betätigungsformen“ finden ihre
Vorbedingungen nicht nur in der Umwelt (exogen), son-
dern auch in dem Innern Erleben der Anregungen der
Umwelt (endogen).
7. Die Schichtung der Kulturäußerungen. Sie ergibt
sich durch verschiedene geistige Einstellung bedingte
Fähigkeit, eine Kultur mit technischen, literarischen,
künstlerischen Werken, mit religiösen und ethischen
Überlieferungen usw., den sogenannten Werktradi-
tionen, anzureichern.
8. Gehalt und Bestand der Kultur, die Entlehnbarkeit
der Kulturgüter und Werktraditionen. Der Gehalt einer
Kultur ist die Eigenart, die „Klangfarbe“ des Volkes, die
„stark von rassischen Momenten mitbestimmt“ ist und
sich besonders in Kunst, Religion und Mythos offenbart.
Wirtschaft, Technik usw. haben mehr „bestandlichen
Charakter“. Der Kulturbestand ist jedem Forscher zu-
gänglich, indem er einfach die Kulturgüter zusammen-
zählt, der Kulturgehalt ist nie ganz zu fassen. Bei Ent-
lehnungen und Kulturübertragungen bestimmt Gehalt
und Struktur, was angenommen, was umgestaltet, vom
Eigenen neu geschaffen wird. Die Kulturgemeinschaften
sind „Aktivitätszentren“, die jedes aufgenommene Gut
umformen, sich anpassen.
9. Der kulturkundliche Gegenstand. Symbol und
Gerät. Der kulturkundliche Gegenstand ist nicht dem
physikalischen gleichzusetzen, da er in Beziehung zu
Menschengemeinschaften steht. Sie können eingeteilt
werden in solche „mit dinglich greifbarem Bestände (Ge-
räte) und in solche, die in den Vorstellungen der Menschen
existieren (Symbole). Zwischen beiden gibt es zahlreiche
Übergänge. Durch die Verbindung mit der in § 6 gegebe-
nen Einteilung erhält man folgende systematische Über-
sicht der Kulturäußerungen nach ihrem vorwiegenden,
nicht nach ihrem ausschließlichen Charakter: Endogene
Symbole: Mythos, Religiöses, Dichtung; Endogenes Ge-
rät: Rechtliches; Exogene Symbole; Kunst, Kultus;
exogenes Gerät: Technik, Wirtschaft, Verwaltung. Die
Sprache ist schwer einzuordnen, da in Schrift exogen,
in Mitteilung gerätlich und in Dichtung symbolisch. „Die
Musik steht auf der Grenze zwischen endogen und exogen“.
10. Die Hauptgebiete der Kulturtätigkeit. Sie sind;
Mythisch Religiöses, Rechtliches, Künstlerisches und
BESPRECHUNGEN
Technisch-Wirtschaftliches. Ihre Grenzen sind exogen
(Bedingungen der Außenwelt, politischer Widerstand)
und endogen (Vorstellungswelt).
11. Die hauptsächlichen in der Kulturtätigkeit wirk-
samen Funktionen sind in der Religion und Magie ein
heiligen (weihen), beschwichtigen, deuten; in der Kunst
ein gestalten, darstellen, mitteilen; in der Technik und
Wirtschaft ein produzieren, benutzen, tauschen, konsu-
mieren; im Sozialen ein sichern, ordnen, abhängig machen
vergemeinschaften. Diese „Übermächtigungen“ bewirken
eine „Befriedigung von Trieben“ oder eine „Steigerung
von Eigenschaften“. Es sind „wesentliche Züge für alle
Kulturgemeinscahften“, sogenannte „Strebungskonstan-
ten“. „Die Strebungen als solche sind in einer Kultur-
gemeinschaft immer da“, nur ihre „Form und Gestalt*
kann entlehnt und Wandlungen unterworfen werden.
12. Die Materialien in Beziehung zu den Funktionen.
Durch die Einteilung der in der Kulturtätigkeit haupt-
sächlich wirksamen Funktionen mit der Einteilung der
ethnologischen Gegenstände nach ihrer organischen,
chemisch-physikalischen oder geographisch-astronomi-
schen Herkunft kommt Verf. zu einer aus 12 Fragen be-
stehenden Problemübersicht, die das „System der ethno-
logischen Kulturkunde“ bilden.
13. Exogenistische und endogenistische, statische und
dynamische Deutung der Kultur. Ursprungsprobleme.
Nach der Stellung des Forschers zur ethnologischen Kul-
turkunde unterscheidet Verf. vier Betrachtungsweisen:
die statisch-endogenistische oder Soziologie, die statisch-
exogenistische oder Museumsethnographie, die dyna-
misch-endogenistische oder Geistesgeschichte und Völker-
psychologie, die dynamisch-exogenistische oder Kultur-
güter- und politische Geschichte. Die Ursprungsprobleme
stehen mit den Wanderungsproblemen in enger Bezie-
hung.
14. Die Aufgabe der ethnologischen Kulturkunde.
Neben historischer und geographischer Völkerkunde
steht die ethnologische Kulturkunde. Sie „ist die Wissen-
schaft von dem Kulturbestande frühstuflicher Kultur-
gemeinschaften“. Ihr Gegenstand sind also die für die
Frühstufe typischen Werkleistungen, Betätigungsgebilde
und Kulturgüter hinsichtlich ihrer spezifischen Funktion
im Rahmen der Kulturgemeinschaft.
Im § 1 des zweiten Kapitels werden die Unterschiede
des primitiven Menschen (Homo divinans) und des Kul-
turmenschen (Homo faber) dargelegt. Der Entwicklungs-
gang ist folgender: Zunehmende Differenzierung, zu-
nehmende Intellektualität, zunehmende Objektivität,
abnehmende Komplextheit, abnehmender emotialer Cha-
rakter, abnehmende Subjektivität. Auf allen primitiven
Stufen finden wir: „erhöhte Empfänglichkeit für Sugge-
stionen** und „besondere Bedeutung subliminaler Zu-
stände wie Traum oder Ekstase usw.“. Die folgenden §§
behandeln die unscharfe Grenze zwischen Objektivem
und Subjektivem bei den Primitiven, denen das Seelische
verstofflicht, das Gegenständliche vergeistigt erscheint.
Wenn auch durch Beschwichtigung, Heiligung, Deutung
die Lebensbedingungen der Außenwelt nicht geändert
werden, wird doch das Sicherheitsgefühl, die Zuversicht
die Impulsivität, die Bereitwilligkeit des Homo divinans
gehoben; während die objektiven Bedingungen sich nicht
ändern, werden die subjektiven günstiger. Ferner sucht er
sich die Gefühle, die stärker sein können als das ich, vor-
zustellen ; er gestaltet sie, macht sich Bilder von ihnen.
31
Der Kulturmensch sieht in ihnen, die vom Homo divi-
nans als eine untrennbare Einheit erlebt sind, eine Zwei-
heit, Subjektives und Objektives. Der primitive Mensch
findet sich zu Gemeinschaften zusammen, durch die ihr
Bestand gewährleistet wird, der Homo faber bildet
Zweckorganisationen und Interessenverbände. Und im
Schlußparagraphen weist Verf. darauf hin, daß beim
Homo divinans die Produktionsleistung nicht objektiv,
sondern mit religiösen und andern Vorstellungen eng
verbunden ist.
Es ist natürlich unmöglich, die vielen Gedankengänge,
denen Danzel in seinem Werk nachgeht, in einem kurzen
Referat vollständig wiederzugeben. Wer sich für metho-
dische und systematische Fragen interessiert, der muß
unbedingt selber das Buch lesen.
Snethlage.
Dr. Alfons Gabriel: Im weltfernen Orient. Ein Reisebe-
richt. XVI, 365 S. Mit 116 Abbildungen, 5 Teilkarten
und einer Übersichtskarte. München und Berlin
1929. RM. 30,—. (geb.)
Das Buch ist vorzüglich gedruckt und mit zahlreichen
Photographien und einigen Karten des Verfassers aus-
gestattet. Es ist ein Reisebericht, der auf den Tagebüchern
Dr. A. Gabriels und seiner ihn begleitenden Gattin,
Agnes Gabriel-Kummer, beruht. Aus dem Vorwort ist
zu entnehmen, daß Frau Gabriel mit als Verfasser zu
gelten hat. Syrien, Mesopotamien, Oman, vor allem aber
Persien sind der „weltferne Orient“, in den uns die Ver-
fasser führen. Die Länder selbst sind nach heutigen Be-
griffen ja nicht übermäßig weit entfernt, doch die Ge-
biete, denen die Verf. ihre Hauptaufmerksamkeit wid-
meten und die sie ausführlich beschreiben (vorzüglich
die großen Wüsten im östl. Persien), sind noch wenig oder
gar nicht bekannt. „Begangenere Strecken sind nur
flüchtig behandelt“. Aus eigenen Mitteln und mit be-
scheidenen Aufwendungen wurde die Reise unternom-
men. Trotzdem konnten botanisch-zoologische Samm-
lungen und viele Gesteinsproben mit in die Heimat ge-
bracht und Fachleuten zur Untersuchung übergeben
werden.
Die Schilderung der Erlebnisse ist genau und sachlich.
Trotz der oft gefährlichen Situation fehlt jede Sensations-
mache. Der Bericht ist von zahlreichen guten Beobach-
tungen durchsetzt. Charakteristisch für das Buch ist der
heute beherzigenswerte Satz des Vorworts: „Von dem
Grundsatz ausgehend, daß eine Reise meist desto weniger
Erfolge zeitigt, je mehr sie angekündigt und besprochen
wurde, haben wir die unsere still vorbereitet und still
durchgeführt“.
Die Reise begann Herbst 1927 in Damaskus und führte
durch die syrische Wüste nach Baghdäd. Nicht der heute
für Europäer übliche Kraftwagen wurde für diese Strecke
benutzt, sondern nach alter Landessitte mit dem Kamel
gereist. Mit einem kleinen Frachtdampfer ging es dann
den Tigris hinunter; eine Seefahrt führte weiter, an der
persischen Küste entlang, durch den persischen Golf und
die Straße von ‘Oman nach Maskat. Von hier aus sollte
eigentlich ins Innere von ‘Oman und weiter ins innere
Arabien vorgestoßen werden. Die Genehmigung des zu-
ständigen englischen Residenten war dazu aber nicht zu
erlangen. Als neues Ziel wurden nun die wenig erforschten
abflußlosen Gebiete Irans auserkoren. Von Bandar
‘Abbäs begaben sich Verf., im Bogen der Küste folgend,
32
BESPRECHUNGEN
hinein ins von Europäern wenig betretene Bashäkird.
Gute Beziehungen zu eingeborenen Machthabern erleich-
terten hier und an anderen Stellen den Reisenden das
Vordringen. Trotzdem nahm die mißtrauische primitive
Bevölkerung von Bashäkird mehrfach drohende Haltung
an; bange Stunden wurden verlebt. Ähnlich ging es bei
der Erforschung des Djäz Müriän, eines zeitweiligen Sees
südöstlich von Bxzhenäbäd. Besonders die Entnahme von
Bodenproben machte die Reisenden verdächtig. Der Weg
führte weiter über den Gudär-e-Zurnäkh (2091 m) nach
Bam und von dort in den Sand der Lüt (XIII. Kap.:
„Tagebuch einer Wüstenreise“). Kirmän und seine Um-
gebung im „kühlen Lande“ sind die nächste, eine Auf-
frischung bringende Station. An dieser Stelle unterbricht
eine lebendige Schilderung des Kirmäner Lebens und des
schrecklichen Trauerfestes, das von den Schiiten im Monat
Muharram zur Erinnerung an den Tod Husains gefeiert
wird, abwechslungsvoll den Reisebericht. Von Kirmän
aus ging es auf alten Karawanenwegen nach der Oasen-
stadt Tabbas, die Sven Hedin eine Perle unter den
Städten Iräns genannt hat. Wieder führte der Weg ein
Stück durch die Lüt. Damit sind der Wüstenreisen aber
noch nicht genug. Nach der Lüt kommt die Salzwüste.
Die große Kawir und die „neue“ Kawir mit ihren Salz-
schollen und -feldern wurden zwischen Halwän und Sem-
nän an zwei Stellen durchquert und dabei der Küh Dom-
där, ein Bergzug, der sich in die Kawir hineinzieht, seiner
Ausdehnung nach untersucht. In Semnän erreichten
die Reisenden die große Straße Meshhed-Teheran, und
von dort aus wurde im Oktober 1928 die Rückreise über
Teheran, Hamadhän und Baghdäd angetreten.
Aus dem inhaltsreichen Bericht (dem leider ein Litera-
turverzeichnis fehlt) sei hier, als für den Ethnologen be-
sonders wichtig, das Kap. IX „Im Herzen von Bashä-
kird II“ hervorgehoben. Darin wird in zusammenfassen-
der Darstellung über die Bevölkerung von Bashäkird und
ihre Lebensweise gehandelt. Bemerkenswert ist das Vor-
kommen eines Negritotyps, der den Australiern verwandt
erscheint und vielleicht die Urbevölkerung Bashäkirds
darstellt.
Waldschmidt.
Ethnologische Studien, herausgeg. von Fritz Krause,
Leipzig, Verlag der Asia Major 1929. 134 S. mit
13 Tafeln und Abb. im Text.
Das Heft ist als erstes einer neuen völkerkundlichen
Zeitschrift gedacht, wie der Herausg. auf S. 106 bekundet,
und enthält 7 kürzere Abhandlungen, die durch die
Mannigfaltigkeit ihres Inhaltes und ihren wissenschaft-
lichen Charakter der Zeitschrift eine gute Einführung
sichern.
Eingeleitet wird der Band durch eine allgemeine Be-
trachtung von S. Rudolf Steinmetz: Anleitung zu einer
systematischen Ermittlung des Individuums bei den
Naturvölkern. Darin werden 24 Gruppen von Tatsachen
aufgezeigt, aus denen die Bedeutung des Individuums
bei den Naturvölkern etwa in demselben Umfang wie
bei uns hervorgehen soll. Das ist zweifellos richtig, aber
ob daneben das sog. kollektive Denken infolge der ma-
gisch-religiösen Gebundenheit der Naturvölker nicht
doch stärker ist als bei uns, wird dadurch nicht entschie-
den.
Einen erfreulichen Gegensatz gegenüber der heute all-
zuleicht angenommenen geschichtlichen Abhängigkeit
von Erfindungen stellt Erland Nordenskiöld dar durch
seinen Aufsatz: Ist die sogenannte Schlitztrommel in
der neuen sowohl wie in der alten Welt selbständig er-
funden worden ? Wie in andern Fällen von Erfindungen
geht er hier die verschiedenen Formen der Schlitztrom-
meln von rohen dazu eventuell führenden Anfängen bis
zu den ausgebildetsten Formen in Amerika durch und
kommt zu dem Schluß, daß sie sowohl unter sich äußerst
mannigfaltig sind als auch im einzelnen in keiner Weise
mit den ozeanischen übereinstimmen, also als Ganzes
wie in der verschiedenartigen Ausgestaltung, die in Ame-
rika vorkommt, selbstständige Erfindungen sein müssen.
Ein Verbreitungskärtchen mit genauer Tabelle des Vor-
kommens der Schlitztrommel schließt die Abhandlung.
Schwieriger ist es, der Meinung von Kaj Birket-Smith
zu folgen, die er in dem Artikel „Drinking Tube and
Tobaco Pipe in North America“ darlegt. Zwar kann man
es wohl glauben, daß ein Tubus zum Trinken, der auch
zum Heraussaugen von Krankheiten dient, die Idee ge-
weckt habe, auf dieselbe Weise Tabaksrauch aus der
Röhre auf die kranke Stelle zu blasen und abwechselnd
den Rauch aufzuziehen, wie es beides in einer Quelle
über die Bewohner der Halbinsel Kalifornien berichtet
wird. So könnte in der Tat die als älteste angesprochene
Form der Tabakspfeife einmalig erfunden werden sein,
denn die Anwendung des Tabaks erscheint immerhin
als außergewöhnlich. Dagegen ist der Tubus zum Trinken
zu einfach, als daß man ihn durchaus als von einer ein-
zigen Stelle entlehnt betrachten muß. Weiter muß man
es sich aber gegenwärtig halten, daß mit dieser Übertra-
gung des Rauchens auf den Tubus eigentlich zugleich die
Erfindung des Rauchens auf diesem Wege ausgesprochen
ist, was das Problem und den Glauben an die Lösung
erschwert.
Ein geschichtliches Thema aus seiner indischen Reise
behandelt Egon von Eickstedt, „Die historische Stellung
der Weddas und die Frühbesiedlung Ceylons“. Entgegen
der Meinung Parkers, daß die Ureinwohner von Ceylon,
mit denen es die arischen Einwanderer zu tun hatten,
Wedda waren, hält der Verf. sie zwar für fremdsprachige,
aber rassenverwandte südindische Elemente, die auch
auf der Malabar-Küste wohnten. Damit würde sich der
höhere Kulturzustand, der ihnen in der Mahavamsa, der
großen Chronik, zugewiesen wird, und das vollständige
Verschwinden und Aufgehen in der vordringenden sin-
ghalesischen Bevölkerung erklären. Es würde ferner die
unhaltbare Hypothese fortfallen, daß die Wedda dege-
nerierte Kulturwedda seien. Gewöhnlich würden diese
frühesten Bewohner als Nagas, als Schlangendämonen,
oder auch mit anderen Dämonennamen bezeichnet, wie
es mehrfach in Indien geschehe, um die Feinde zu kenn-
zeichnen. Man müsse darunter Leute mit Schlangenkult
verstehen. Was das für Völker gewesen sind, kann wohl
nur auf Grund sprachlicher Untersuchungen an Namen
u. dergl. festgestellt werden. Jedenfalls wird es richtig
sein, daß es nicht Wedda waren, deren Einwanderung
nach E. einige Jahrhunderte vor dem buddhistischen
Vordringen in Ceylon, etwa um 600 v. Chr. von Süd-
indien aus anzunehmen sei. Die spätere Symbiose der
Wedda mit den Singhalesen in den Grenzgebieten wird
dann an einzelnen Beispielen geschildert.
Paul Germann berichtet über die Entstehung und den
Inhalt der Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen
aus dem Waldlande von Nord-Liberia, die er auf 10 Tafeln
BÜCHEREINGÄNGE
33
z. T. buntfarbig wiedergibt. Diese dankenswerterweise
von seiner Reise mitgebrachten Zeichnungen Germanns
sind dann von Erich Franke nach „Form und Psycholo-
gie“ untersucht worden, wobei er das Stadium des primi-
tiven, des detaillierenden und des charakterisierenden
Schemas zur Unterscheidung zu gründe legt. Schließlich
sind auch Ansätze zur „erscheinungsgemäßen Darstel-
lung“ vorhanden.
Da dieses Heft gerade in die Zeit der Eröffnung des
neuen Grassi Museums in Leipzig fällt, so sind auch Be-
richte von Otto Reche über Das Staatliche Sächsische
Forschungsinstitut für Völkerkunde an der Universität
Leipzig und von Fritz Krause über das Museum für
Völkerkunde zu Leipzig beigegeben worden. Hierin wird
die Geschichte beider Institute ausführlich behandelt
und von Krause auch die Aufgaben skizziert, denen das
Museum vorzugsweise dienen soll.
K. Th. Preuß.
Büchereingänge.
Alvarez-Ossorio, Francisco: Amuletos ? Madiid 1929-
Tip. de Arch. x 5 S. 40.
__Ensena Romana de bronce, procedente de Pollentia.
Madrid 1929. Tip. de Arch. 8 S. 40.
Anales de la sociedad de geografia e historia, d. 5* Guate-
mala 1928. Tip. Nac. 8°.
(Russ.) Arbeiten der anthropologischen und ethnologi-
schen Abteilung der Kola-Expedition. Leningrad.
Akademie d. Wiss. 1930- J79 ^°-
Archives Museo Etnografico. Buenos Aires 193°- ^ •
1. Vignati, M. A.: Los craneos trofeo 1930.
2. L’Art vivant au Mexique, hrsg. von J. Guenne et
M. M. du Gard Paris: Laronne 1930. 40.
Balodis, Fr.: Letten und lettische Kultur in vorgeschicht-
licher Zeit. Stockholm 1929. Aus: Geografiska An-
naler 1929. H. 3/4.
Basauri, Carlos: Monografia de los Tarahumaras. Mexico
1929. Talk Graf, de la Nac. 85 S. 40.
Baskirov, A. S.: Denkmäler d. bulgarisch-tatarischen
Kultur an der Wolga. Kasan: Akad. Zentrum d.
tatar. Komm. f. Volksbildung ... 1929. 117 S. 8°.
Bernatzik, Hugo Adolf: Zwischen Weißem Nil und Bel-
gisch-Kongo. Wien. Seidel 1929. 139 S. 140 Taf. 40.
Bibliotheca Javanica uitg. door het Kon. Bataviaasch
Genootschap van Künsten en Wetenschappen. 1
Weltevreden 1930. Albrecht 8°. ...I. Berg, C. C.:
Rangga Lawe 1930.
(Polnisch) Bibljoteka „Ludu Slowianskiego“ pod red. St.
Bystronia. Nr. 1.
Birkeli, Emil: Marques de boeufs et traditions de race.
Oslo: Etnogr. Mus. 1926. 58 S. 4°.
Bodas de plata missionales de la compana de Maria en
Colombia. 1904—1929. Villavicencio 1929: Impr.
San Jose-N. 203 S. 8°.
Brandsch, G., G. Jungbauer, V. Schirmunski, u. E. v.
Schwartz: Deutsche Volkskunde im außerdeutschen
Osten. Berlin; de Gruyter 1930. 81 S. 8°.
Bulletin The Museums of Far Eastern Antiquities. Bulle-
tin Nr. X. Stockholm 1929: Hasse 40.
Castaneda, Francisco: Las Razas Precolombinas en Cen-
tro_America. Aus; Castaneda, F.; Nuevos Estudios
Bd. 2. 1919.
Chanda, R.: Bhanja Dynasty of Mayurbhanj . .. Mayur-
bhanj: Acharya 1929. 44 S. 40.
Communications Oriental Institute Nr. 1. Chicago 1927:
Univ. Press.
Costumes Nationaux Yogoslaves. Beograd: Musée Eth-
nogr. de Beograd 1930. 40.
Debenedetti, Salvador: Buenos Restauración del Pucara.
Buenos Aires 1929; Impr. de la Univ. Aus: Arch.
d. Mus. Etnogr.
Gabriel, Alfons: Im weltfernen Orient. München: Olden-
bourg 1929. XV, 365 S. 8°.
Graul, Rieh.: Das Kunstgewerbe-Museum zu Leipzig.
Leipzig 1929.
Heimatpflege, pommersche. Stettin 1930. Jgl, H. 1. Volks-
druck.
Hoffmann, Fr. L.: Cancer in Hawaii. Honolulu 1929: Pru-
dential Press 41 S. 8°. jq.o_
Honigsheim, Paul: Kulturkreislehre ... Aus „Ipek“ 1929.
Fahrenfort, J, J.: Wie der Urmonotheismus am Leben
erhalten wird. Groningen: Wolters 1930. 63 S. 8°.
Fincke, H.: Die Entwicklung d. Technik d. Kakaover-
arbeitung. Aus: Technik u. Wirtschaftswesen. 1930.
H. 2—5.
Findeisen, H.: Bericht über eine Reise nach Finnisch-
Lappland. Aus: Baeßler-Archiv, Bd. 13. 1929.
Jijón y Caamano, J.: Notas de arqueología Cuzquena.
Aus: „Dios y Patria“ Nr. 22—23 1929.
Jacobi, H.: Die Saalburg. 12. Aufl. Homburg 1930:
Taunusbote Dr. 107 S. 8°.
Kaarsberg, Helge: Mein Sumatrabuch. Berechtigte Über-
tragung v. Erwin Magnus. Berlin: Scherl 1925.
139 S. 8°.
(Russ.) Korbut, M. K.: Wasilij Konstantinowitsch Mag-
nizkij u. seine Arbeiten. 1939—1901. Tschebohsary
1929. 97 S. 8°.
(Russ.) Krackovskaja, V. A.: Arabische Grabinschriften
d. Mus. f. Paläographie d. Akademie d. Wiss, Lenin-
grad; Akad. d. Wiss. 1929. 123 S. 40.
(Russ.) Krackovskij, J. Ju.: Sejx Tantavi Professor S.
Peterburgskago Universiteta. 1810—1861. — Lenin-
grad. Akad. d. Wiss. 1929. 134 S. 8°.
(Polnisch.) Lega, L.: La Civilisation de la Poméranie à
l’époque du haut moyen-âge reconstruite d’anrès
les fouilles. Torun 1930: Buzcynskie 2 Bde. 8°.
La Baume, W.: Die Zukunft d. Vorgeschichtswissenschaft
in Ostdeutschland. Aus: Ostdeutsche Monatshefte,
Jg. 10, H. ix. 1930.
Läufer, B., W. D. Hambly and R. Linton: Tobacco and
its use in Africa. Chicago: Field Museum of Nat.
His. 1930. 45 S. 8°.
Lindblom, K. G.: String Figures in Africa. Stockholm
1930: Lagerström 12 S. 8°.
Linné, S.: Darien in the past. Göteborg 1929; Eiander
VIII, 318 S. 8°.
5 Baessler-Archiv.
34
BÜCHEREINGÄNGE
Ludendorff, H.: Über die Entstehung der Tzolkin-Periode
im Kalender der Maya. Berlin: de Gruyter 1930.
23 S. 40.
— Über die Reduktion der Maya-Datierung auf unsere
Zeitrechnung: Berlin: de Gruyter 1930. 16 S. 40.
Maass, Alfred: Astrologische Kalender der Balinesen.
Weltevreden; Kolff 1930. 157 S. 40.
Macias, Valentin: Memorias ... de Armenia. 1921. 92 S.8°.
(Russ.) Marr, N.: Inscription de Sardour II . . . Petrograd
1919; Impr. d. Sciences de Russie. 38 S. 40.
(Russ.) Marti, Ju. Ju.: Die Ruinen des Bosporanischen
Kaiserreichs südl. v. Kertsch . . . Kertsch: Staatl.
His. Arch. Museum 1928. 24 S. 8°.
(Russ.) Mistectvoznavstvo, (Kunstwissenschaft) Sammel-
band 1. Charkow 1928—-29. 8°.
Moebius, Paul: Astrologie als angewandte Metaphysik.
Aus: „Saturn-Gnosis“, Nr. 5. 12 S. 40.
— Sunamitismus-Lebensvampyrismus. Aus: Die Medi-
zinische Welt. Nr. 38. 1929.
— Über den Zusammenhang der kritischen Tage mit
dem Stande des Mondes. Aus; Die Medizinische
Welt, Nr. 47. 1929. 8°.
Museum f. Leibesübungen bearb. v. A. Mallwitz u. E.
Mindt. Berlin: Selbstverlag 1930. 95 S. 40.
(Russ.) Museum f. Anthropologie u. Ethnographie. Le-
ningrad 1929. 8°.
(Georgisch) Nioradze, Georg: Das Gräberfeld von Karss-
nis Chewi Tiflis 1926. 54 S. 40.
O’Connell, J. F.: Elf Jahre in Australien u. auf der Insel
Ponape. Aus d. Engl, übers, u. hrsg. v. Paul Ham-
bruch. Berlin: Scherl 1929. 239 S. 8°.
Oprescu, George: Peasant Art in Roumanie, London:
„The Studio“ 1929. 182 S. 8°.
(Russ.) Ostrovskich, P. E.: Das Leben d. Basilius v. Man-
gasey. . . St. Petersburg: Kobycev 1910. VH, 48 S. 8°.
Pensiero Missionario periodico trim, dell’unione missio-
naria del clero in Italia, voi. 2. Roma: Unione miss.
1930. 8°.
Pond, Alonzo W.: Primitive methods of working stome
based on experiments of Halvor L. Skavlem. Beloit:
The Logan Museum 1930. 40.
Preuß, K. Th.: Monumentale vorgeschichtliche Kunst.
Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht X929. 2 Bde. 40.
Reinecke, W.: Von alten Siedehütten. Lüneburg 1929:
Tagebl. Dr. 48 S. 8°.
Rivet, P.: Sumérien et océanien. Paris: Champion 1929.
59 S. 8°.
Rosen, E.: Did prehistoric egyptian culture spring from
a marshdwelling people? Stockholm 1929: Lager-
ström 1929. 20 S. 8°.
Rydh, Hanna: On symbolism in mortuary ceramics.
Stockholm 1929. Tullberg. Aus: The Bulletin of the
Museum of Far Eastern Antiquities Nr. 1.
(Russ.) Rykov, P.: Kultura drevnyy finnov v rajone r
Uzy. Saratow: Nizne-Volzskij 1930. 62 S. 8°.
Schlösser, Rich,: Das Münzwesen Chinas. Aus: Mittei-
lungen f. Münzsammler 1928. 8°.
Schmidt, R. P.: Distinction et réparation des cercles cul-
turels. Paris: Geutner 1926. Sep.
(Russ.) Lebedeva, N. J.: Wohnung u. Wirtschaftsgebäude
d. weißruss. S. S. R. Moskau 1929. 81 S. 40.
Serrano, A.: Los primitives habitantes del territorio Ar-
gentine. Buenos Aires: „La Facultad“ 1930. 215 S.
8°.
Seydlitzsche Geographie f. höhere Lehranstalten. Breslau:
Hirt 1930. 3. Ostfeste, Westfeste u. Weltmeere. 5. Die
Erde als Ganzes u. als Lebensraum.
Skriîter Universitets Oldsaksamlings utg. ved A. W.
Brogger. Bd. 2. Oslo 1929: Brogger 40.
Studien ethnologische hrsg. v. Fritz Krause. Leipzig:
Asia Major 1929. 133 S. 8°.
(Tschech.) Stech, V. V.: Zur Frage der altslavischen
Kunst. Aus: Pekarova Sbornik 1. Prag 1930. 8°.
(Russ.) Sternberg, S. A,: Führer durch d. Museum f.
Anthropologie u. Ethnographie. Leningrad: Verl,
d. Akademie d. Wiss. 1929. 102 S. 8°.
(Russ.) Sternberg, L.: The Ainu problem. Aus: Bericht d.
Anthropolog. Ethnolog. Museums Bd. 8.
Suarez, J. M.: Reminiscencias de exploracion de terrenos
y datos de la fundacion de Armenia. Armenia 1910.
49 • 8°-
Suder, H.: Vom Einbaum und Floß zum Schiff. Berlin;
Mittler 1930. 143 S. 40. Berlin, Phil. Diss. 4. Juni
1930.
(Polnisch) Sulimirski, T.: Bronzy malopolski srodkowej
napisal F. S. Lowie 1929: Filipowskiego. 67 S. 8°.
Suolahti, G.: L’étuve Finnoise. Helsingfors 1930. Aus:
Arctos vol. 1, fase. 1—2 1930.
Sydow, E. von: Ahnenfiguren aus Französisch-Äquatorial-
Afrika. Aus; Der Cicerone, Jg. 22, H. 8. 1930. 40.
-—Handbuch der westafrikanischen Plastik Bd. 1. Berlin
Reimer 1930. 1. Handbuch der westafrikanischen
Plastik.
Tessmann, G.: Die Indianer Nordost-Perus. Hamburg:
Friederichsen 1930. VII, 856 S. 40.
Uhle, M.: Estado actual de la prehistoria Ecuatoriana
Quito 1929: Talk Tip. Nac. 48 S. 8°.
Vignati, M. A.: Instrumental oseo aborigen proc. de
Cabo Blanco. Buenos Aires 1930: Impr. de la Univ.
25 S. 8°.
Waldschmidt, E.: Die Legende des Buddha. Berlin:
Volksverb. d. Bücherfreunde 1929. 247 S. 8°.
Wawrzeniecki, M.: Znamiona orjentalne w kamiennym
slupie t. z. Swantowita. Aus; Wiadomosci Archeolo-
gicznych Bd. 10. 1928. (Polnisch.)
Weiß, F.: Shu Pi. Aus d. Chinesischen übertr. v. F. Weiß.
Berlin: Heymann 1929. VII, 105 S. 8°.
Weule, Karl in memoriam hrsg. v. Otto Reche. Leipzig:
Voigtländer 1929. 437 S. 8°.
Wintzer, H. M.: Das Recht Altmexikos. Aus: Zeitschr.
f. vergleich. Rechtswiss. Bd. 45.
(Russ.) Zolotarev, D. A,: Die Karelen der USSR. Lenin-
grad: Akademie d. Wiss. 1930. 124 S. 8°.
MÄRCHEN UND SAGEN
DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
(DEUTSCH-NEUGUINEA, HÜONGOLF-NORDKÜSTE)
GESAMMELT UND BEARBEITET VON
STEPHAN LEHNER, LUTH.MISSIONAR,
NEUENDETTELSAUER MISSION 1930
Vorbemerkung: ng, das sonst mit dem diakritischen Zeichen „y“ geschrieben wird,
schrieb ich stets ,,ng“.
In den Eingeborenenwörtern wird:
ä als Laut zwischen a und o
e als Laut zwischen e und i
6 als Laut zwischen o und u
ie nie als Diphthong
c als Kehlverschluß (also nicht hörbarer Mitlauter) gesprochen.
Hiermit übergebe ich der Öffentlichkeit einen Teil der Märchen und Sagen des Bukawac-
stammes, bei dem ich sie im Laufe von 18 Jahren gesammelt habe. Es ist von besonderem
Reiz, die Poesie eines Naturvolkes vor dem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen; sie
eröffnet Blicke in viele Gebiete des Lebens der Eingeborenen. Denn die Poesie der Natur-
völker umschließt Sagen, die nicht bloß Phantasie sind, sondern das ganze geistige Besitz-
tum des Volkes in sich fassen, also Geschichte, Sitten, Gesetz und Religion; deshalb geben
sie auch für alle diese Gebiete Belege ab. Viele Sagen sind mythologische Fragmente; viele
Mythen sind nichts anderes als in Bilder gefaßte Beschreibungen von Naturereignissen und
Veranschaulichungen von Naturkräften. Tritt der Zweck zurück und die Bilder werden zu
selbständigen Figuren, deren Zwiste und Listen usw. interessieren, so haben wir das Märchen.
Um die Märchen wissen auch Frauen und Kinder, während die Sagen mehr geistiges Eigen-
tum der Männer sind.
Bei Vergleichung dieser Bukawac-Märchen und -Sagen mit denen anderer Stämme in
Neuguinea wird man des völkerpsychologischen Gesetzes inne, daß ein Volk seine Sagen und
Überlieferungen immer wieder in nächster Nähe zu lokalisieren sucht, und daß sich im
Wechsel der Siedlungen und Geschlechter nur diejenigen erhalten, die diesem Verlangen
nach Lokalisierung entgegenkommen. — (Eine Ziffer hinter einem Wort verweist auf die
Anmerkungen am Schluß der Nummer.)
I. die folgen einer lüge.
Eine Frau gebar Kinder, bis sie eine Familie hatte. Dann gebar sie eine Schildkröte.
Das geschah, während alle Leute im Felde waren und sie allein zu Hause saß. Als sie die
Schildkröte geboren hatte, meinte sie irrtümlicherweise1, es sei ein Mädchen. Als sie aber
erkannte, daß es nur eine Schildkröte war, setzte sie diese ins Wasser. Als die Leute vom
6 Baessler-Arcliiv.
STEPHAN LEHNER
36
Felde heimkamen, fragten sie das Weib: „Du hast doch ein Mädchen geboren, wo ist es denn ?
An welchem Feuer hast du es denn gewärmt2 ?“ Sie sprach zu ihnen: ,,Ich habe ein Kind
geboren, aber ich sah, daß es ein schlechtes Ding3 war und habe es begraben.“ Da sprachen
sie zu ihr; „Wenn es ein gebrechliches Mädchen war, hättest du es liegen lassen sollen, bis
wir gekommen wären, um es dann erst zu begraben.“
Die Schildkröte, welche die Mutter ins Wasser gesetzt hatte, lebte darin und ihre
Mutter versorgte sie. Wenn nämlich die Mutter Taro kochte und alle gegessen hatten, so
packte sie die Überreste zusammen und bängte sie auf. Darauf gingen sie alle ins Feld.
Dann stieg die Schildkröte herauf, aß von den übrigen Taro und sprach zu sich selbst:
Meine Mutter hat Taro gekocht; bis auf eine einzige Knolle haben sie sie alle aufgegessen;
nur die einzige haben sie hingelegt, daß sie für mich sei, daß ich sie esse. Sie aß die Taro
vollständig auf und ging wieder ins Wasser hinein. Sie verblieb im Wasser einen Tag, dann
kam sie wieder herauf, um Taro zu essen.
Einmal hatte sie wieder alles aufgezehrt und wollte ins Wasser zurück. Sie griff mit der
Hand nach der Türe, um sie zu öffnen. Da verursachte diese ein Geräusch. Infolgedessen
schrie die kleine Schwester, die geschlafen hatte und nun erschrak, laut auf: ,,0 Mutter,
ein Geist4 will mich fressen!“ Da rief ihr die alte Großmutter im Hause nebenan zu: „Komm
zu mir! Wir beide wollen hier sitzen. Mag das Haus dort für sich stehen!“ Die Schildkröte
ging wieder ins Wasser, aber die Großmutter und die kleine Schwester saßen so bis an den
Abend, bis die Mutter der Schildkröte vom Felde heimkam. Da sagte ihre Schwiegermutter
zu ihr: „Wenn du in das Feld gehst, so bring das kleine Mädchen zu mir, daß wir beide hier
sitzen. Das Haus dort laß leer stehen!“ Da dachte die Mutter der Schildkröte bei sich:
Ich habe den Leuten gegenüber Unrecht getan. Sie werden die Schildkröte noch erschlagen.
Am nächsten Morgen ging die Mutter wieder in das Feld. Ihr Sohn aber ging nicht mit.
Er belog sie, denn er gab vor, er sei krank, und blieb im Dorfe liegen, während alle Leute im
Felde arbeiteten. Abermals kam nun die Schildkröte, und während sie Taro aß, sprach sie
zu sich selbst: Meine Mutter hat Taro gekocht, ihre Leute haben sie alle bis auf eine gegessen,
die haben sie mir übrig gelassen. Indem sie so redete, ging der Bruder zur Türe, um sie zu
schließen, und sagte: „Gestern hast du die kleine Schwester gejagt; weshalb denn?“ Die
Schildkröte antwortete: „Ich habe sie nicht gejagt. Ich kam herauf, Taro zu essen, die die
Mutter an den Platz hingelegt hatte. Als ich gegessen hatte, wollte ich wieder in das Wasser
gehen. Da fürchtete sich die kleine Schwester und schrie.“ Nachdem sie das gesagt hatte,
wollte sie vom Hause auf die Erde hinunter. Der Bruder lief ihr aber vor und verstellte
an der Treppe den Weg. Die Schwester stieg auch vom Hause herunter und ging vorneweg.
Der Bruder folgte hinter der Schildkröte. So kamen sie beide zum Wasser, woselbst der
Bruder sie zu Tode speerte5. Da trieb sie in ihrem Schmuck auf dem Wasser. Nachdem er
seinen Fischspeer wieder herausgezogen hatte, ging er ins Dorf zurück, begab sich in das
Versammlungshaus und schlief.
Die Mutter war im Felde fertig. Sie kehrte heim in das Dorf, ging zum Wasser hinab
und rief der Schildkröte. Die aberhörte kein Rufen mehr. Da dachte sie bei sich; „Ach, ich
habe schlecht gegen die Leute gehandelt; nun haben sie sie totgeschlagen!“ Sie kehrte wieder
ins Dorf zurück; dort kochte sie Taro, bis sie gar waren. Dann bereitete sie einen Netzsack,
hing sich ihn um, ging in den Wald und hängte dort alles auf, worauf sie6 eine Grube aus-
warf, in die sie ihre Schildkrötentochter versenkte. Nachdem sie sie begraben hatte, hängte
sie sich den Netzsack wieder um und ging weiter. Als sie eine kurze Strecke des Weges
dahingegangen war, nahm der Sohn die kleine Schwester auf den Rücken und ging der
Mutter denselben Weg nach. Als er sie erreicht hatte, gab er ihr das kleine Mädchen hin
und sagte zu ihr: „Nimm deine kleine Tochter hier auf und laß uns zurückkehren!“ Die
Mutter sagte: „Nein, geht ihr beide zurück! Ich gehe nach Kela7 und hole unsre Töpfe,
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
37
die dort stehen.“ Der Knabe mit seiner Schwester kehrten zurück, die Mutter aber ging
hinauf8 weiter.
Der Junge kam heim, hing sich eine Netztasche mit Hundezahnbesatz9 um und lief
seiner Mutter wieder nach, um sie ihr zu geben, weil er ihren Zorn beschwichtigen wollte.
Die Mutter aber sprach; „Ich habe doch gesagt, du sollst umkehren, und ich gehe nach
Kela und hole die Töpfe.“ Die Mutter ging weiter. Der Sohn folgte ihr nach, bis sie an die
Mündung des Butu kamen. Sie schritt in das Wasser hinein, um es zu durchqueren. Sie ging
hinein, bis sie zu kurz wurde. Da kehrte sie wieder zurück und kam herauf. Nachdem sie ihr
Tragnetz geordnet hatte, suchte sie das Wasser wieder zu durchqueren. Sie ging, bis sie den
Grund unter den Füßen verlor und ganz ins Wasser hinuntersank. Der Sohn tauchte nach
ihr, um sie zu heben, aber er sah sie nicht mehr. Sie war zu einem Saguo10 = Stein, einsam
im Wasser drunten geworden. Der Sohn versuchte fortwährend den Stein zu lüften, aber der
lag zu fest. Da ging er ans Ufer hinaus und legte sich ermattet nieder. Auch die Mutter
wälzte sich nun an das Ufer hinauf und sagte zu ihm: „Du weißt es wohl nicht, daß ich
euch geboren habe ? Darnach gebar ich eine Schildkröte und meinte einen Menschen zu
haben, denn sie war mit euch. Aber ich erkannte bald, es war eine Schildkröte. Deshalb
setzte ich sie ins Wasser hinein, dort lebte sie und du hast sie totgeschlagen. Du hast dir
mit mir zu schaffen gemacht, nun handle ich mit dir.“ Nachdem sie das gesagt hatte, zog
sie sich wieder ins Wasser hinein. Der Sohn ging ihr in das Wasser nach und tauchte nach ihr,
um sie zu heben. Aber er sah sie nicht mehr. Da kam er wieder herauf und wärmte sich an der
Sonne.
Da kam sein Vater des Weges. Er fragte seinen Sohn: „Wo ist deine Mutter?“ Der
Sohn zeigte auf das Wasser und sagte; „Meine Mutter ist dorthin gegangen.“ Der Vater
stieg ins Wasser hinein und tauchte nach seiner Frau. Er arbeitete sehr, um sie zu heben,
aber umsonst. Während er suchte, fürchtete sich der Sohn, weil sein Vater bei dem Tauchen
die Mutter sehen könnte und ihn infolgedessen beim Herauskommen schlagen würde. Darum
lief er weg. Doch der Vater tauchte vergeblich. Da sprach die Frau zu ihrem Mann; „Dein
Sohn hat alles verursacht! Er hat die Schildkröte totgeschlagen; deshalb zog ich hierher.“
Und weiter sprach sie: „Wenn die Leute Bootsfahrten machen, so sollen sie sich nur bei
Tieking11 ans Land begeben. Wenn sie hierher an die Butumündung kommen, werde ich
ihren Bootstrog durchlöchern, damit alle umkommen!“
Der Knabe lief, bis er zu einer Grasfläche kam. Dort setzte er sich nieder. Sein Vater
tauchte indessen nach seiner Frau immerzu, doch vergeblich. Da sprach er: „Den schlechten
Menschen sollte ich umbringen, er hat dieses verschuldet, während ich meiner Arbeit nach-
ging, die mich schwer drückte.“ Nachdem er so gesprochen, kehrte er in sein Dorf zurück.
Der Knabe aber blieb zunächst noch in der Grasfläche. Dann ging er wieder zum Wasser
und versuchte es zu durchqueren. Und weil es wenig geworden war, so gelangte er auf die
andere Seite.
Da sah er eine Saguo nebst ihrer jüngeren Schwester kommen, die Meerwasser schöpfen12
wollten. Von diesen beiden Frauen kehrte die ältere Schwester zurück ins Dorf hinauf; die
jüngere Schwester blieb noch. Da ging er hin und pfiff dem Mädchen. Als sie ihm ihr Auge
zuwandte, fragte er sie nach Nahrungsmitteln: „Ihr beide, habt ihr irgendetwas mitgebracht,
oder nicht ?“ Sie sprach „Nein“. Da fragte er weiter: „Ihr beide, wohnen Leute mit euch
in dem Dorfe, da ihr wohnt, oder nicht ?“ Das Mädchen erwiderte: „Wir zwei, unser Vater
und Mutter und unsere große Familie, wir nur wohnen in einem Dorfe. Andere Leute leben
nicht mit uns.“ Der Knabe sagte: „Schlagt ihr mich tot, oder nicht ?“ Das Mädchen ant-
wortete: „Weshalb sollen wir dich erschlagen? Wollen wir doch gehen!“ Während das
Mädchen noch stand, kam die Saguo, ihre Schwester, wieder. Da sprach die jüngere zu ihr;
„Wende deine Augen nach rückwärts und schaue!“ Die Augen der Saguo richteten sich nun
38
STEPHAN LEHNER
auf ihn. Da redete er dieselben Worte zu ihr, wie er sie zu ihrer jüngeren Schwester bereits
geredet hatte. Nachdem sie Meerwasser geschöpft hatten, nahmen sie ihn mit sich und
gingen miteinander, bis sie das Dorf erreichten. Die Saguo ermahnte die jüngere Schwester
ordentlich, daß sie nichts verraten solle. Dann nehmen sie den Knaben mit ins Haus hinauf,
und beide saßen in einem Raume miteinander. Die jüngere Schwester kochte reife Bananen,
bis sie gar waren, und gab sie der Saguo, die nahm sie, und beide aßen, bis sie gesättigt
waren. Der Knabe stieg nicht gleich wieder vom Hause auf den Dorfplatz hinab, vielmehr
blieben sie beide sehr lange im Hause drinnen sitzen.
Der Bruder der Saguo jedoch ahnte etwas. Während sie im Hause verweilten, log er,
er sei krank, und legte sich ins Männerhaus13. Sie aber saß, und der Duft ihrer kleinen Zier-
strauchbüsche] kam allenthalben aus. Der Bruder fragte: „Wo kommt wohl der Wohlgeruch
her, der so stark duftet ?“ Die Schwester antwortete von ihrem Hause aus: „Ich habe meine
alten, schon welk gewordenen Riechsträußlein aufgebunden, die riechen so stark. Komm nur
herauf und siehe!“ Er aber sagte: „Du lügst mich an. Alte Zierpflanzen riechen nicht mehr
so. Es sind wohl frische. Wozu denn ?“ Und er stieg in das Haus hinauf und sah bei ihr die
Saguo mit dem Jungen. Da fragte er: „Von woher hast du den da geholt ?“ Die Schwester
erwiderte ihm: „Er war nicht so groß, wie er jetzt ist. Ein gebrechliches Ding war er. Da
habe ich ihn hierhergebracht. Und hier habe ich ihn genährt, bis er jetzt so groß geworden
ist.“ Der Bruder sagte: „Ein Mann ist dieses Ding14 nicht. Du kannst dein Eigentum
behalten.“ Nachdem der Bruder so alles gesehen hatte, stieg er von Hause hinab zur Erde,
ging in das Männerhaus und setzte sich auf die untere Plattform. Als die Mutter und die
Schwestern mit Taro vom Felde kamen, rief er ihnen zu: „Was macht ihr denn so lange ?
Die Saguo ist hungrig und wartet!“ Da kochten sie gleich in der Nacht noch Taro. Und nach-
dem sie fertig gekocht waren, brachten sie sie zur Saguo. Die gab sie dem Knaben, der aß sie.
Während sie so beisammen saßen, erzählte der Bruder der Saguo alles, was er erfahren hatte,
seiner Mutter nebst dem Vater. Darauf sagten beide: „Die Sache ist kein Mann; mag sie sie
behalten!“ So lange das Zusammenwohnen noch dauerte, flochten sie Schmuckbänder für
die Beine wie für die Arme und sandten Botschaft nach Kela hinauf und in die Gegend
weiter abwärts, daß sie kommen sollten, um ein geschlechtsreifes Mädchen der Öffentlich-
keit zu übergeben. Jams und alle Sachen (was an Eßwaren vorhanden sei) seien schon
gerichtet. Alle Leute sollten kommen, um die Saguo, die schon sehr lange gesessen sei,
schnell der Öffentlichkeit zu übergeben, damit sie sich wieder frei bewegen könne.
Die Leute kamen denn auch und das Fest begann. Das Feuer war erloschen15, und sie
beide miteinander stiegen vom Hause hernieder, gingen zu der errichteten Plattform und
setzten sich. Die zwei Schwestern des Knaben, die auch dort saßen, sprachen zueinander:
„Es ist etwas wie ein Beschneidungsjunge auf die Plattform getreten und steht dort.“ Noch
während sie dastanden, trat des Knaben Vater hervor und wollte ihn wegreißen. Doch da
betrat schon der Vater der Saguo die Plattform und erzählte die Geschichte des Knaben,
den er als Schwiegersohn anerkannt hatte. Er sagte zu dem Vater des Knaben: „Deine Frau
gebar Kinder. Und späterhin gebar sie eine Schildkröte. Die tötete der Junge, Die Mutter
ging dann in den Butu, wo sie noch liegt. Der Junge ging weiter und begegnete zwei Frauen,
mit denen er hierherkam. Hier wurde er beschützt und genährt, bis er so groß geworden
ist.“ So erzählte er, daß sein Sohn das Mädchen geheiratet hatte.
Nachdem die Leute alle weggegangen waren, verließen auch die Schwestern des Knaben
den Platz, um sich am Wege zu verbergen. Ihr Bruder dagegen saß noch am Eestplatz im
Dorfe. Bedrüfnishalber trat er vor das Dorf hinaus. Da sprangen seine beiden Schwestern
hervor und umklammerten ihn, zunächst, um miteinander zu weinen. Dann sprachen sie zu
ihm: „Die Leute haben ihre Taro gepflanzt und haben sie auch zu ihren Schweinen gegessen.
Wir aber sind hungrig geblieben.“ Während sie so zusammen weinten, sprach der Bruder:
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
39
„Wir wollen beisammen bleiben, wenn die Leute fortgegangen sind.“ Indem er sich aber so
mit seinen Schwestern unterhielt, wartete seine Frau im Dorfe auf ihn; doch umsonst. Da
kam sie angelaufen und sagte zu ihrem Gatten: „Was ist denn mit dir ? Im Dorfe saß ich
und erwartete dich. Aber es war umsonst. Deshalb bin ich gekommen.“ Da erzählte er ihr,
was seine Schwestern ihm gesagt haben. Darüber beschämt nahm sie gleich ihre Hilfe-
spenderinnen16 auf. Miteinander gingen sie ins Dorf, wo sie Taro und Schweine zu essen
bekamen. Dort lebten sie, wurden groß und heirateten, und blieben für immer.
1 tanam kaue: eine der seltenen Formen, die abweichend
von sonstigen derartigen Zusammensetzungen nicht
positiven, sondern negativen Sinn haben: nicht wissen
irrtümlich meinen.
2 Nach der Geburt eines Kindes ist es eine der ersten
Handlungen, daß man es mit am Feuer erwärmten
Händen vom Kopf bis zu den Füßen betastet, um ihm
dadurch Wärme zuzuführen.
3 geng sec: schlechtesDing. sec wird sowohl in physischer
Bedeutung von körperlichen Gebrechen und Leibes-
schäden als auch im ethischen Sinn für Bosheit,
Schlechtigkeit usw. gebraucht.
4 Ganz bezeichnend, denn Geisterfurcht knechtete das
Volk von Kindesbeinen an bei Tag und Nacht.
5 geding eng endu: er speerte sie tot. Bedeutsam ist hier
die Genauigkeit der Ausdrucksweise. Denn es heißt
nicht gegong eng endu, welcher Ausdruck das Töten
mit dem Speer im allgemeinen bezeichnet, sondern
geding eng endu, d. h.: er zielte mit dem Speer in aller-
nächster Nähe, setzte ihn an die zu verwundende Stelle
an und stieß ihn hinein.
H Die Mutter selbst grub das Grab: deutet auf die hier
herrschende Sitte hin, daß die letzten Dienste von
nahen Verwandten geleistet werden.
' Kela ist eine Dorfschaft bei Samoahafen, quer von
Bukawac über denHüongolf hinüber. Es ist der Handels-
markt der Golfleute für Tontöpfe, die unweit Kela
selbst, in Laukano, gefertigt werden.
8 kepi gemeng: ist hinaufgekommen. Der Bukawac fährt
und geht nach Süden „hinauf“; auch der N. W.-Monsun
weht seiner Meinung nach den Hüongolf „hinauf“.
Der Eingeborene orientiert sich nämlich an der Meeres-
strömung, und die zieht vom Süden des Hüongolfs
nach Bukawac her, also: herab.
9 Die Fangzähne des hier heimischen Hundes bildeten
ehedem das Kleingeld unsrer Leute, neben den wohl-
geformten Eberhauern, die die Hauptwertstücke
waren und gewissermaßen das Großgeld vertraten.
Eine Hundezahntasche ist ein ganz bedeutendes Wert-
stück.
10 Saguo: mannbares Mädchen. Das wurde man mit dem
ersten Eintritt der Periode, im 14. bis 15. Jahr. Es war
ein wichtiges Ereignis, das unter Beobachtung von
vielerlei Riten festlich begangen wurde. Die Mädchen
wurden eine Reihe von Wochen isoliert gehalten.
Näheres s. Neuhauss, Deutsch-Neuguinea. Bd. 3.
11 Tieking: die erste Landspitze nach der Busomündung
westwärts, ein noch heute beliebter Anlegeplatz für
Boote und Kanu. Der Zusammenhang offenbart die
rachesüchtige Gesinnung der in Geistwesen verwandel-
ten Toten.
12 Täglich mit den ausgehöhlten, zu Wasserbehältern
dienlichen Kokosnüssen zum Kochen Meerwasser zu
schöpfen, gehört mit zu den Obliegenheiten der Frauen
und Mädchen in den Stranddörfern.
13 16m: Männer- und Versammlungshaus. Das sind größer
gebaute, meist mit einer unteren Plattform versehene
Häuser, deren jede Dorf Schaft je nach Bevölkerungs-
zahl eines oder mehrere besitzt. Darin schläft die er-
wachsene männliche Jugend, zeitenweise auch die
Ehemänner und etwaige männliche Gäste, die im
Dorf sind. Im unteren, offenen Raume, wo man auf der
Plattform sitzt, pflegen sich die Männer zu versammeln,
sei es zu gemütlicher Unterhaltung oder zu ernster
Besprechung.
14 geng nec: dieses Ding da. Das drückt die Verachtung
der Dorfeingesessenen gegenüber den Fremden aus.
10 Ja gemac; das Feuer starb. D. h.: es war erloschen.
Bevor nämlich ein mannbares Mädchen wieder in die
Öffentlichkeit trat, oder wie in diesem Falle hier gleich
zur Heirat schritt, wurde es samt dem ihm versproche-
nen Manne gewissermaßen geräuchert. Das geschah
einmal, um die Konstitution des Mädchens zu stärken,
sodann, um die Ausdünstung beider zu beseitigen, die ein
Anlaß zu gegenseitiger Abneigung hätte werden können.
16jao: Hilfespenderin, Freundin. Es ist das Fern, zu
ngaeja (Feuermann, d. h.) Wohltäter, der Mensch, der
stets ein gastliches Feuer unterhält, um damit andren
dienstbereit zu sein, sie zu beherbergen, ihnen wohlzu-
tun, im Gegensatz zu ngaewee (ein ungastlicher Mann).
2. HOCGOB LU AGUWE
Wiedervergeltung im Guten und im Bösen. — Es ist das Märchen vom Bast-
klopfstein (hoegob), der eigentlich ein verwandelter Nebenbuhler aus der Geisterwelt war,
und vom Jungmädchen (Aguwe).
Ein Mann nebst seiner Frau wohnten in einem Dorfe. Von ihren beiden Töchtern wurde
Aguwe mannbar und saß deshalb daheim. Ihr Vater und ihre Mutter gingen in das Feld.
Während sie arbeiteten, so gegen Mittag, sah Aguwe, daß der Platz still und leer war. Darum
stieg sie bedürfnishalber vom Hause hinunter. Hocgobs Auge schaute durch die Spalten der
Hausbretter hinaus und sah das Mädchen herabsteigen. Da dachte er bei sich selbst in seinem
40
STEPHAN LEHNER
Inneren ; Zunächst will ich bleiben bis morgen, und wenn ihr Vater und ihre Mutter abwesend
sind, werde ich das Mädchen dort belügen und hinwegnehmen. Am Abend besprach sich die
Aguwe mit einem andern geschlechtsreifen Mädchen, daß sie Fackeln zum Fischfang holen
solle.
Am frühen Morgen sah der Flocgob, daß alles noch ruhig war. Da stand er auf, kam und
schmückte sich und richtete sich ordentlich zusammen. Dann ging er hinunter zur Aguwe,
nahm das Aussehen ihrer Freundin an1 und log, indem er sprach: ,,Freundin, willst du nicht
gehen ? Es wird hell.“ Die Aguwe bejahte und erhob sich. Er nahm den Kescher und stieg
wieder hinunter vom Haus, auch sie kam herunter, dann nahmen sie die Fackeln von der
einen Hausseite (wo man die zerschlissenen trockenen Bambusstäbe aufzuheben pflegt,
die zu Fackeln gebraucht werden) und Fackeln tragend gingen beide dahin, legten die
Fackeln auf das Boot und ruderten weg. Als sie so wegruderten, sahen sie Fische; aber beide
ruderten vorüber zu einem anderen Ort. Während sie ruderten, sahen sie Treibholz von
einem großen Baum namens Kilim. Das Treibholz, das einer Insel glich, war gabwalo
(ineinander verschlungenes Treibholz). Sie ruderten darauf zu, bis sie es erreicht hatten.
Da sahen sie, daß es ein großer Kilimstamm mit Ästen war, unter denen sich noch viel
andres Zeug befand. Beide sahen vier2 trockene Kokosnüsse3 inmitten des Treibholzes.
Und Hocgob sagte: ,,0 Aguwe, gehe doch und hole unsre trockenen Kokosnüsse von dort;
bringe sie doch her, daß wir sie mitnehmen!“ Das Mädchen stimmte zu. Aber als sie sich
anschickte hinzukriechen, wurde es hell und sie erkannte den Hocgob und sprach: ,,0, wer
ist denn der da ?!“ Und als sie seine Haartroddeln sah, rief sie: „0, der Hocgob hat mich
belogen! Wir beide, ich und meine Freundin, haben uns gegenseitig eingeladen — und der
Hocgob ist heruntergekommen vom Gerüst (im Innern des Hauses; es dient zurAufbewahrung
von Töpfen usw.) und hat es gehört, und in der Nacht hat er mich dann getäuscht“. Der
Hocgob aber veranlaßte sie durch Vorspiegelung falscher Tatsachen4 auf die treibende Insel
hinauszukriechen, wo er sie dann sitzen ließ. Er aber ruderte das Boot weg, ruderte und
ruderte, bis er fern war; dann schrie er ihr die höhnende Rede zu: ,,0 Aguwe, dies dort ist
dein Platz!“ Das Mädchen sah das Boot sich immer mehr entfernen, da rief sie: „Kehre doch
zurück, ich habe die Sache (die Kokosnüsse), daß ich wieder auf steige.“ Der Hocgob aber
ruderte das Boot nur immer weiter weg. Sie schrie wieder: „Laß doch das Boot kommen,
daß ich aufsteige!“ Aber Hocgob hörte ihre Stimme nicht mehr. Er ruderte dem Lande zu,
zog das Boot auf den Strand und ging ins Dorf. Da weinte die Aguwe so sehr, daß ihre Augen
verschwollen, und noch ließ sie nicht ab. Die Arme weinte vom Morgen bis in die Nacht
immerzu. Sie dachte darüber nach, wie sie herauskomme aus dem Treibholze und der See,
hin zu ihrer Mutter und zu ihrem Vater, sie zu sehen. Deshalb weinte sie so sehr. Vom Morgen
bis zum Abend aß sie nichts; infolgedessen war sie sehr hungrig den ganzen Tag. Von woher
sollte sie auch ihre Taro haben, um zu essen ? Nachdem sie mehrere Tage weinend zugebracht
hatte, zerbiß sie eine Kokosnuß, eine von denen, die sie geholt hatte. Mit den Zähnen biß
sie die glatte und die faserige Schale ab, stach die Nuß auf (mittels eines Hölzchens öffnete
sie die Trieblöcher der Frucht) und trank sie. Dann schlug sie die Frucht (die ja noch von
der harten Holzschale umschlossen war) auf das Treibholz auf, bis sie zerbrach, und aß sie.
In ihrem Dorfe wurde sie unterdessen von ihren Brüdern und Schwestern, von ihrer
Mutter und ihrem Vater gesucht. Sie suchten sie überall, auch im Walde; aber es war ver-
geblich. Da weinten sie alle sehr.
Die Aguwe weinte und kroch auf einen Teil des äußeren Holzes hinaus, dann zur Spitze
empor und wieder zurück in den Mittelpunkt. So tat sie, bis sie ein Seeadlerei fand, das
auf einem großen Holze lag, das haufenweise in der See herumtrieb. Das Ei hob sie auf und
bewahrte es meist in der geschlossenen Hand, bis es auf ging und zerbrach und ein junger
Vogel herauskam. Den nahm sie und fütterte ihn als ihr Eigentum sorgfältig und gab ihm
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC 4I
von den kleinen Fischen, die sie fing, und er fraß sie. Seine Federstoppeln wuchsen empor,
und weiter fütterte sie ihn mit allem Übrigen, das gleich dem Treibholz getrieben wurde:
von trockenen Kokosnüssen nebst anderen Sachen, die sie nahm und aß, gab sie immer auch
dem kleinen Seeadler, der mit ihr aß. So fütterte sie den jungen Vogel, bis er groß geworden
war und schon schwere Dinge aufzuheben vermochte. Dann fing er an Fische zu fangen, von
denen er auch seiner Mutter Aguwe brachte, die sie roh aß. Da sprach die Mutter zu ihm:
„0, mein Söhnchen, du bringst zwar Fische; wo aber ist Feuer, daß ich es anfache und die
Fische brate ? Gehe und heb Treibholz empor und bring mir!“ Und er ging (flog) und brachte
es hergetragen. So schickte sie ihn immer fort, daß er ihr etwas hertrug. Sie tat es und setzte
es solange fort, bis sie sah, daß er wirklich schwere Sachen verrichten konnte.
Eines Tages sagte sie zu ihm: „0 Söhnchen, ich sehe Rauch aufsteigen von dem Berge
dort. Wenn du heute umherfliegst, so fliege doch hinein in dieses Dorf! Du wirst einen großen
Soc-baum (Baum mit wilden Feigen, die in reifem Zustand gegessen werden) und einen
großen Ndoc-baum5 sehen. Beide stehen für sich an der Seite eines Hauses. Da schau, ob schon
ein Teil reife Früchte daranhängt, fliege hin, iß und bringe mir auch einen Teil, daß ich auch
esse! Schaue auch nach den Leuten, die Feld machen, und bringe Feuer mit!“ Der Seeadler
flog hin zur Küste und sah reife Ndoc-und Soc-Früchte in großer Menge, und er gedachte bei
sich selbst: 0, das ist die Sache, von der meine Mutter mir sagte. Dann flog er hinauf auf die
Bäume und aß. Während er damit beschäftigt war, fiel ein großer Teil der Früchte hinunter.
Die Großmutter (Mutter der Aguwe) sah das und brach in laute Rede aus: „Ja, ja, mein
Mädchen ist verschwunden. Nun soll wohl ihre Sache nicht stehen bleiben, daß ihr schlechtes
Zeug6 (vagabundierende Geister) kommt und solche Sache treibt ?!“ So rief die alte Groß-
mutter. Als der Enkel7 dies gehört hatte, flog er geschwind weg, hin ins Feld, um einen
Feuerbrand zu holen, und dann zu seiner Mutter zurück. Der Mutter erzählte er folgendes:
„Ich kam und stieg auf die bezeichnete Sache hinauf und aß reife Früchte. Während ich das
tat, fielen etliche ab, und eine alte Frau sagte: Ja, ja mein Mädchen ist verschwunden, des-
halb soll wohl ihre Sache da auch nicht stehen bleiben, daß ihr schlechtes Zeug kommt und
droben auf den Bäumen also handelt und nicht wegzieht ?!“
Als die Aguwe das gehört hatte, jubelte sie vor Freude, nahm das Feuer, holte Holz und
entfachte eine Flamme, der Seeadler aber flog weg und brachte Fische, die sie röstete, und
beide aßen. Dann sprach die Mutter: „Du hast Feuer gebracht und wir rösten Fische, aber
wie komme ich zum Lande zurück ?“ Der Seeadler sagte: „Ich trage dich“. Sie antwortete:
„Wenn du mich trügest, so würde ich ins Meer stürzen.“ Wieder sprach der Vogel: „Ich
trage dich.“ Sie aber fürchtete sich. Da nahm der Seeadler ein Holz auf seine Flügel und flog
weg, brachte das Holz zum Lande hin und kam wieder zurück und sprach: „Du bist nur
eine kleine Frau, das Holz war groß. Ich trage dich zum Ufer hin!“ Da stimmte sie zu; der
Vogel huckte dieAguwe auf und trug sie an das Land. Dort angekommen ging sie den Dorf-
weg entlang, und als ihre Geschwister sie sahen, brachen sie in Jubel aus und führten sie in
das Dorf. Die Mutter stieg schnell vom Haus herab, umarmte sie und weinte. Dann brachte
sie sie in das Haus. Der Seeadler aber saß auf dem Baum daneben. DieAguwe sagte: „Hebt
eure Augen auf und seht den Vogel, der dort sitzt!“ Dann schickte sie hin zu ihm und der
Seeadler flog herunter, kam und setzte sich auf das Haus. DieAguwe erzählte nun alles: auf
welche Weise er ihr Gutes getan hatte, wie er ihr Fische brachte und Feuer holte, dann sie
hertrug von der Treibholzinsel an die Küste. Nachdem sie das gehört hatten, lobten sie ihn
und holten Taro von den Feldern, kochten sie und gaben sie ihm, daß er sie nehme. Eine
Weile saß der Vogel da, dann sprach er: „Ich habe dich hergetragen, nun will ich wieder
fortziehen.“ Da weinte die Aguwe und er flog weg, zurück auf das Treibholz.
Nun erzählte dieAguwe ihrem Vater die ganze Geschichte und sprach: „DerHocgob hat
mich belogen. Er hat mich hingebracht auf die Treibholzinsel und ließ mich dort sitzen.
STEPHAN LEHNER
während er zurückkehrte.“ Da wurde dem Vater der Leib heiß (er wurde zornig). Er nahm
Holz und Fackeln (dürre Kokosnußwedel oder trockene Bambußstäbe) und zog denHocgob
(der wieder auf dem Gerüst im Innern des Hauses lag) herunter ins Feuer. Der Hocgob
brüllte und schrie: „Ich werde das Mädchen fressen, denn es lügt und bringt mich ins Feuer.
0, das Feuer brennt, o, mein Körper schmerzt!“
1 Hier tritt die heidnische Anschauung zutage, daß ein
Geist, um jemand zu betören, irgend eine Gestalt an-
nehmen kann.
2 Merkwürdig ist, daß, obwohl unsre Eingeborenen das
quinäre Zahlensystem haben, insofern als nach 5 wie
nach einem Ruhepunkt die nächstfolgende Zahl durch
bloße adhibitive Zusammensetzung gebildet wird
(6 ist 5 -j- 1), doch ein besonderer Begriff für die
Zahl 4 vorhanden ist: bu tang (eine Vier, d.h. 4 Stück
auf einmal), mit dem auch weiter multipliziert wird,
z. B. bu toc janggom (3mal 4 Maiskolben; toc ist:
drei).
3 Die trockenen Kokosnüsse schwimmen eine ziemliche
Zeit infolge ihrer geschützten Faserhülle, die sich nur
langsam vollsaugt.
4 tim jom: lockende, täuschende Rede, die auf das Ver-
derben oder den Fall des Nächsten abzielt, also Vor-
spiegelung falscher Tatsachen.
5 Ndoc; Owenia, Baum mit runden gelben Früchten,
deren Fruchtkern von wenig Fruchtfleisch und einer
zähen harten Haut umgeben ist. Europäer finden wenig
Geschmack daran.
6 Alles Finerklärliche, Geheimnisvolle wird kurzerhand
bösen Geistwesen zugeschrieben, von denen sich der
Heide auf Schritt und Tritt, allerorts, bei Tag und
Nacht umgeben wähnt.
7 apu saung: Enkel, eigentlich; kleiner Großvater, im
Unterschied von apu ga Großvater; analog dem
deutschen Diminutiv Enkel von Ahne, nur näher
bestimmt durch saung (klein).
3. TA JAM UND TA SAG
„Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ — Ein Kind verlangte
nach lanip (Waldmandeln; Terminalia Kaernbachii). Sein Vater nahm es auf und beide
gingen, bis sie einen Waldmandelbaum sahen. Dort angekommen setzte sich das Kind ins
Gras nieder, während sein Vater auf den Baum stieg. Indem es so dasaß, fielen die Früchte
des Waldmandelbaumes hernieder, sie rieselten nur so, bis der Platz unter dem Baum ganz
voll davon lag. Dann kam sein Vater wieder herab, um die Mandeln aufzuschlagen1. Er
führte einen Schlag und gleich schob das Kind die enthülste Frucht in den Mund; wieder
folgte ein Schlag und wieder schob es eine Mandel in den Mund. Das setzte es ununterbrochen
fort, bis es vollständig gesättigt war. Sein Leib war zum Platzen volP, infolgedessen wurde
sein Bauch groß und schwer.
Nun wollte der Vater, daß sie beide heimgingen. Aber das Kind mit dem schweren
Bauch weinte und sprach: „0, mein Vater, mein Bauch schmerzt mich sehr.“ Sein Vater
sprach: „Komme her, ich hucke dich auf!“ Aber es mochte nicht. Wieder sagte der Vater:
„Ich umschnüre dich wie ein Bündel Holz und trage dich so3.“ Es willigte aber auch da
nicht ein. Abermals sprach der Vater; „Ich flechte einen Korb (aus Kokosblattwedeln)
und stecke dich hinein, um dich so zu befördern.“ Doch auch dies mochte das Kind nicht.
Dann sprach der Vater: „Dann mußt du hier bleiben und ich hebe einen Stein auf und be-
decke dich (zum Schutze) damit.“ (Nach anderer Lesart hob der Vater die Wurzel eines Balob
oder Farnbaumes auf und steckte sein Kind darunter.) Dem stimmte es endlich zu4. Der
Vater hob also den bezeichneten Stein empor und deckte sein Kind damit. So lag es, während
der Vater die Waldmandeln zusammenpackte und ins Dorf ging.
Am Morgen kamen zwei Männer. Der eine war Tajam mit guten Augen, der andere
hieß Tasac und hatte ein schlechtes Gesicht wie ein Blinder. Sie wollten sich Waldmandeln
holen. Tajam sagte zu Tasac: „Du hole die Mandeln!“ Da kletterte der auf den Baum
hinauf und streifte mittels Reißhakens5 die Früchte ab, daß sie hinunterfielen. Tajam
sammelte sie und schlug sie auf dem Steine auf, unter dem das Kind ruhte. Damit klopfte
er natürlich, ohne es zu wissen, jedesmal auch das Kind mit an, das bei jedem Schlag e, e
stöhnte. Tajam wollte dem unerklärlichen Geräusch auf die Spur kommen, ging hin und
suchte. Da fand er eine Eidechse, die erschlug er schnell und aß sie. Wieder machte er sich
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
43
daran Mandeln aufzuschlagen, und abermals stöhnte das Kind e, e. Da lief er wieder weg und
suchte. Als er sich umschaute, fand er einen Leguan (nach anderer Lesart eine Heuschrecke).
Er rannte hin und rief: ,,Du bist die Ursache, die da Lärm machte, während ich meine
Mandeln aufschlug!“, und schnell aß er ihn. Das tat er immerzu, bis er allerhand kleines
Getier (geng lelom lelom) verzehrt hatte. Dann schlug er jedesmal wieder Mandeln auf und
dabei stöhnte dann das Kind wie vordem. Endlich legte er sein Ohr auf den Stein und ver-
nahm nun das Kind. Er hob den Stein auf und sah es nun. Schnell rief er dem Tasac zu:
„Komme doch, ein Kind ist hier!“ Darauf fragte er das Kind: „Du bist wohl das Junge des
Meloc (ein Geist), der Verrücktheit, Epilepsie und dergl. anhext, weil du nicht redest,
während ich auf den Stein aufschlug und dich dabei klopfte?“ Das Kind antwortete;
„Eurer Väter Vetter bin ich.“ So belog es sie. Beide sprachen nun: „Wir hucken dich auf.“
Da schüttelte es verneinend den Kopf. Da sprach Tajam: „Ich werde einen Korb flechten
und dich hineinstecken.“ Dem stimmte es zu. Nachdem beide den Korb geflochten hatten,
steckten sie das Kind hinein, huckten ihn auf und gingen damit fort.
Das Kind überlegte sich indessen, was es tun könnte, um zu entkommen. Es entleerte
sich in den Korb, so daß er bis an den Rand voll wurde. Infolgedessen hatten die beiden
schwer zu schleppen, denn die Last drückte sie sehr. Während sie so den Korb weitertrugen,
wollten sie einmal wechseln. Darum sprach Tajam zu Tasac: „Gehe doch du vor und laß
mich folgen!“ Tasac aber antwortete: „Nein, du gehe voran und ich folge nach!“ Denn
die Augen Tasacs waren nicht gut. So kamen sie an einen Kreuzweg. Da erkannte der
Knabe im Korb seinen und seines Vaters Pfad. Eine Strandlinde (kaopo) mit ellbogen-
förmigem Aste stand hier, auf den schwang er sich schnell hinauf, indem er von beiden
Männern ungesehen aus dem Korb entschlüpfte. Auf den Kot im Korbe hatte er eine Laus6
gesetzt und zu ihr gesagt: „Wenn sie mich rufen, dann antworte immer: e, e!“ Beide trugen
ihr schlechtes Zeug weiter, wobei Tajam und Tasac das Kind beständig fragten: „Bist du
da ?“ Die Laus an Stelle des Kindes bejahte immerzu: ja, ja. So gingen beide, bis sie im
Dorfe anlangten, wo sie den Korb mit Inhalt in ihr Versammlungshaus brachten und dort
aufhängten, so daß die übrigen Leute nichts davon sahen.
Am nächsten Morgen rief Tajam mit lauter Stimme und mit drängender Rede: „Kein
krüppeliger Mensch und kein gesunder Mensch, weder die an Stelle der Mütter noch die an
Stelle der Väter kommenden (Umschreibung für Mädchen und Knaben), sollen im Dorfe
bleiben! Ihr alle zusammen geht in mein Feld und holt meine Taro bis auf die letzten her!
Nur mein Mädchen soll hier sitzen bleiben, bis ihr kommt, damit das Blut es schlage (es
soll bald menstruieren und so heiratsfähig werden)!“ Alle gingen, die Frauen brachten
Netzsäcke voll Feldfrüchte und die Männer Taro mit Blättern in Bündeln gebunden, um sie
mit dem Eingeweide und dem Blut des Wildbrets' zu essen. Dann kochten sie zunächst die
in Bündeln gebrachten Taro. Während sie die aufs Feuer setzten, riefen sie: „Bringt die
Jagdbeute her, daß wir sie zurichten und zunächst die Eingeweide mit Taro zusammen
essen!“ Da trugen sie die Sache her und schlugen, wie sie meinten, den Knaben, der ja im
Korb sein mußte, mit dem Schwert. Sie schlugen aber nur das schlechte Zeug, Als sie das
erkannt hatten, riefen sie dem Tajam zu: „Du hast uns ungemein belogen, schäme dich!“
Er schämte sich wirklich, ging zu seiner Schwester und bat sie: „Gib mir ein kleines
Kind, daß ich es töte und die Leute dort es zu ihrer Taro essen können!“ Die Schwester
sprach zu ihm: „Du meinst wohl ein Schwein oder einen Hund, den du den Leuten zum
Essen geben willst ?“ Tajam stieg vom Haus hinunter und ging zu einer anderen Schwester
hinauf. Zu ihr sagte er: „Gib mir dein kleines Kind, damit ich es töte und die Leute dort
es zu ihrer Taro essen können!“ Doch auch diese Schwester verweigerte ihm sein Begehr.
Darauf nahm er seinen Speer, stellte ihn so, daß er gerade unter einer Kokospalme zu stehen
kam und erkletterte selbst die Palme. Dabei sagte er: „Wenn ich hinunterkomme, dann eßt
7 Baessler-Archiv.
44
STEPHAN LEHNER
mich!“ Also stürzte er sich selbst hinab in den Speer, der ihn durchbohrte8. Die Leute
schrien laut auf. Dann gingen sie hin und zogen den Speer heraus. Den Leichnam zerteilten
sie, brachten ihn herzu, kochten und aßen ihn zusammen mit ihren Taro.
1 Der eßbare Fruchtkern der lanip ist von 2 Schalen um-
schlossen, einer fleischigen roten Hülle und einer stein-
harten Holzschale.
2 Voll bis zum Platzen: ist keine übertriebene Redensart.
Ich bin selbst schon Zeuge gewesen, wie sich anläßlich
eines Festmahles die bewirteten Gäste aus dem Inland
tatsächlich zum Platzen voll angegessen hatten und
sich infolgedessen nach der Mahlzeit nur sehr behutsam
zu bewegen imstande waren.
3 So daß es gleich dem Kinde, das im Hängenetze schläft,
auf den Rücken und also horizontal zu liegen gekommen
wäre.
4 Dieser ganze Passus beleuchtet hiesige Kindererziehung,
bei der im Grunde Vater und Mutter tun müssen — und
leider nur zu häufig tun —, was die kleinen Sprößlinge
wünschen.
5 lenggec: eine lange Stange, mit deren oberem Ende ein
kleines Stäbchen mittels Schlingpflanzen im Winkel
verbunden ist.
6 Es kehrt in mehreren Märchen wieder, daß die Laus an
Stelle der entschwundenen Person gesetzt wird.
7gwada: Beutestück, Jagdbeute, Wildbret; das Wort
umfaßt alles Jagdbare, wozu ehedem auch der Mensch
andren Stammes gehörte.
8 Es war ehedem nichts Seltenes, daß Leute infolge ihnen
angetaner Schmach sich dem Verderben preisgaben
oder sich rasch das Leben nahmen. Mir sind allein
15 Fälle bekannt, in denen namentlich Frauen durch
Erhängen für die ihnen widerfahrene Kränkung quittier-
ten. Ein junger Mann, den seine Dorfgenossen verhöhnt
hatten, setzte sich heimlich in ein kleines Boot und ließ
sich von den Meeresströmungen abtreiben.
4. DIE REDE VOM TIENG (PARADIESVOGEL)
Bestrafte Lüge und verscherztes Glück. — Ein Tieng nebst seiner Mutter
wohnten in ihrem Dorfe. Ihr Haus war die Würgfeige (Baumwürger, Baumtöter). In einem
anderen Dorfe lebte ein Mann mit drei Töchtern, einer großen und zwei kleinen, und einem
Sohne.
Eines Tages nun gingen diese hin, um sich Feld zu schlagen. Als sie das taten und dabei
das Unterholz heraushackten1, kamen sie nahe an die Wohnung des Tieng, Denn der Baum-
würger, auf dem der Tieng wohnte, stand an der Seite ihres Feldes. Als sie so ihr Feld zu-
richteten, war noch ein Rest stehen geblieben, wie sie sich ins Dorf begaben. Der Tieng
wartete ab, bis sie im Dorfe angekommen waren. Dann begab er sich hinunter und entfernte
schnell das noch stehengebliebene Unterholz. Er hackte, bis er fertig war, dann stieg er wieder
zu seinem Wohnplatz hinauf. Als am nächsten Morgen der Mann mit seiner Familie ins
Feld kam, um es fertig zu schlagen, sahen sie, daß jemand bereits die Arbeit getan hatte.
Sie erschraken und sprachen zueinander; ,,0, andre Leute haben unser Feld gemacht. Sie
sind gewiß ins Dorf gegangen. Laßt sie uns doch zunächst einmal bewirten; dann mögen sie
an ihren Wohnort gehen! Weshalb sie nur so schnell weggegangen sind ?!“ Also ging der Mann
mit den Seinen fort und verweilte zunächst zwei Tage daheim. Als sie wieder ins Feld kamen,
sahen sie es ganz sauber gebrannt, auch nicht ein großer Baumstamm lag mehr darin. Als
sie das sahen, machten sie sich daran, das kleine Reisigzeug aufzuräumen. Dann pflanzten
sie etliche Tarosetzlinge; die übrigen ließen sie liegen und gingen heim. Der Tieng wartete
den Spätnachmittag ab und als er sah, daß die Sonne hinter den Bergen zu verschwinden
drohte, stieg er hinab von seiner Baumwohnung, räumte das Feld zunächst schnell auf und
pflanzte hurtig alle Tarosetzlinge. Sodann ging er hin, um Tarosetzlinge aus seinem alten
Feld zu holen, worauf er seinen Platz wieder bestieg. Am Morgen kamen die Menschen ins
Feld und wieder sahen sie die verrichtete Arbeit. Abermals erschraken sie und sprachen zu
einander: „Wer nur die anderen Leute sind, die stets das Feld machen ?!“
Da trat ein ringwurmkranker Mann herzu und sagte: „Ich wollte mitgehen, daß wir
zusammen das Feld machten. Aber weil ich mich vor euch schämte, blieb ich im Dorfe
sitzen, bis ihr auf hörtet zu arbeiten und das Feld verlassen hattet. Dann ging ich hin und
pflanzte diese Setzlinge.“ Hierauf veranlaßte der Feldbesitzer seine Tochter2, daß sie
dablieb, und ermahnte sie: „Bleibe hier und beobachte einmal die Sache. Sieh gut zu, ob
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIER STAMMES DER BUKAWAC
45
der ringwurmbehaftete, schwächliche Mensch wirklich ins Feld kommt oder nicht, oder
ob andere Leute unser Feld hier besuchen und der schlechte Mensch uns nur belog, daß er
es bearbeitet habe. Wenn du viele Leute siehst, dann zeige dich nicht; wenn du aber nur
einen Menschen siehst, dann tritt zu ihm und rede mit ihm!“ Also ließen sie die Tochter im
Felde, während sie selbst ins Dorf gingen. Da saß sie nun, bis die Sonne hinter den Bergen
entweichen wollte — als der Tieng auf einen Baum mitten im Tarofeld geflogen kam und eine
Zeitlang auf den Zweigen umhersprang und tanzte, um endlich auf die Erde herabzu-
kommen, wo er alsbald seinen Federschmuck auszog und ablegte und ein Mensch wurde,
um im Felde zu arbeiten. Er pflanzte die noch übrigen Tarosetzlinge, dann ging er in das
alte Feld, um Früchte zu holen. Auf dem Wege dahin schlug er sich ein Zuckerrohr ab. Nach-
dem er es abgeschlagen hatte und das Zuckerrohr selbst aus dem gebundenen Stock heraus-
ziehen wollte, fand er, daß es sehr fest war. So schnitt er die Schlingpflanze entzwei, mit der
das Zuckerrohr angebunden war. Während er damit beschäftigt war, griff schnell des Mäd-
chens Hand nach ihm. Sie hielt ihn fest und fragte ihn: „Bist du ein Mensch oder ein Geist ?“
Der Tieng, sehr erschrocken, wollte fliehen. Aber die Frau fragte ihn abermals, und so ant-
wortete er: „Ich bin ein Mensch.“ Dann fragte er die Frau: „Und was bist du, ein Mensch
oder ein Geist ?“ Die Frau sprach: „Ich bin auch ein Mensch.“ So standen sie beisammen
und redeten miteinander.
Als sie das Gespräch beendet hatten, nahm die Frau den Mann zu sich, damit sie mit-
einander ins Dorf gingen. Hier setzte sie ihn in den wohlriechenden Zierstrauch ngongwa.
Sie selbst kam dann zum Vorschein. Ihr Vater fragte sie: „Sind Leute gekommen, oder
nicht ?“ Sie sprach: „Nein, sie kamen nicht.“ Der Mutter aber erzählte sie alles und beide,
Mutter und Tochter, kochten Taro. Ihren Bruder' sandte die Schwester auf Kokos- und
Betelpalmen, um Früchte zu holen. Dann sagte die Mutter: „Bringe doch die Sache selbst
her, damit ich sie sehe!“ Da lief sie hin und brachte den Mann selbst herzu. Nachdem ihre
Mutter und ihr Vater ihn bewundert hatten, gaben sie ihm Nahrung. Er aß etwas davon;
das Übrige schob er seinen Wohltätern zu, damit sie es äßen; er aber rauchte (genom daung:
trank Tabak) und kaute Betel4. Die Nacht verbrachten sie beide in einem Hause zusammen,
darin sie schliefen bis zum Morgen.
Dann sandte der Vater Botschaft in alle Dörfer, sie sollten Schweine greifen und die
Frauen sollten Taro bringen, „damit wir meiner Tochter Festmahl essen.“ Die Frauen
brachten Feldfrüchte geschleppt und die Männer trugen boc to ta to ta (Stangen um Stangen
mit Schweinen darangebunden) herbei. Die Anverwandten der Frau (des in Rede stehenden
Mädchens) griffen auch 2 Schweine, von dem einen Dorfe eines und von dem anderen Dorfe
eines, und trugen sie herzu, und die sämtlichen jungen Leute von dem einen wie vom
anderen Dorf brachten Baumzweige (kleines Holz) und ganze Stämme zur Stelle. Sie, die
das Holz gebracht hatten, spalteten es auch, speerten die Schweine und kochten das Essen,
bis es gar war. Der ringwurmkranke Mann aber, der gelogen hatte, als habe er das Feld des
Mädchens und ihres Vaters bearbeitet, war sich nicht klar, wie er das Mädchen heiraten
sollte. Er band alle seine großen Schweine fest und legte sie parat. Dann dachte er bei sich:
Wie stelle ich es nur an, daß ich bei dem Mädchen zu sitzen komme, damit die Leute, wenn
sie uns rufen, uns beide vom Haus heruntersteigen und zusammen auf dem Dorfplatze sitzen
sehen; denn wenn die Leute uns nicht beisammen sehen, dann bleibe ich wieder ledig5.
Nachdem er also seine Sache überdacht hatte, band er sich 2 Eberzähne um den Hals, als
Brustschmuck, und bemalte sich in vollkommener Weise mit Rötel. So blieb er und wartete,
daß sie ihn rufen möchten (kesae gebe semöec eng nga gemoa).
Die kleinen Väter (Onkel) der Mutter, die im Dorfe weilten, gingen zu ihr und forderten
sie auf, doch das Mädchen herabzubringen vom Haus auf den Dorfplatz, damit man es sehe,
und daß sie den Leuten das Festmahl austeilen möchte, daß sie essen und wieder fortgehen
y*
46
STEPHAN LEHNER
könnten. Demzufolge breitete sie eine Matte (eine aus doppeltbelegten Pandanusblättern und
mittels einer besonderen Liane (oti) genähte Unterlage zum Liegen oder Sitzen) auf dem
Dorf platze aus und sprach zu dem Mädchen nebst ihrem Manne Tieng selbst, sie sollten mit
ihrem Schmuck angetan herunterkommen und sich auf die Matte niedersetzen. Beide kamen
herab und setzten sich und alle Versammelten verharrten im Schweigen, verwunderten sich6
und sagten zu einander:,,'Woher nur, woher nur kommt dieser ?“ Sie priesen seinen hochroten
Körper, der dem Feuer ähnlich war, und indem sie ihn immer ansahen, fragten sie, ob es.
wohl gar zwei Mädchen seien, eben weil der Mann in seinem überaus schönen Schmuck dem
geschmückten Mädchen nichts nachgab. Da trat des Mädchens Vater hervor, schlug an seine
Brust und sprach zu den Leuten: „Ihr sagt, ich sei ein schlechter Mensch, und habt mich
gemieden. Nun seht eines meiner kleinen Dinge, das ich auf meinem Stück Feld angetroffen
habe!“7. Die sämtlichen jungen Leute sahen es und wurden durch den schönen Anblick so
beschämt, daß sie alle ihre Eberzähne zerbrachen und ihre Hundezahnstränge zerschnitten
und sich davonmachten. Der ringwurmkranke Mann .aber war über die Massen zornig, denn
er wollte ja das Mädchen heiraten. Er rannte und schnitt die Liane ab, mit der sein Schwein
gefesselt war, ging weg, zog einen Speer aus dem Speerbündel und schrie des Mädchens
Vater an, daß er mit ihm kämpfen solle. Beide kämpften auch miteinander, wobei ihn der
Vater der jungen Frau zu Tode speerte, daß er dahinschwand. Dann teilte des Mädchens
Vater selbst das Festessen aus, die Leute nahmen es mit und gingen heim in ihre Dörfer.
Tieng aber nahm seine Frau zu sich, und sie blieben am Platze daselbst wohnen.
Im Laufe der Zeit gebar die Frau ein Kind. Als es so groß geworden war, daß es kriechen,
aber noch nicht gehen konnte, riefen die Leute einen Tanz aus, den sie in Busamang (bei
Samoahafen im Hüongolf) halten wollten. Tieng und seine Frau verhandelten miteinander.
Der Mann sprach: „Ich will gehen und tanzen“; und die Frau sagte, sie wolle gehen. So
redeten sie hin und her, bis der Mann sagte: „Also gehe du; ich bleibe!“ Der Mann nahm das
Kind zu sich und blieb, die Frau aber zog mit den Leuten hin.
Der zurückgebliebene Mann schälte sich nun eine trockene Kokosnuß und stieg ins Haus
hinauf, dort zerschlug er sie und stach aus einem Teil das Fruchtfleisch heraus. Den übrigen
Teil steckte er sich zwischen die Fußzehen und klemmte ihn so fest. Dann hielt er seinen
Fuß über das Feuer, das den Fuß und das Bein bis zum Sitzfleisch verbrannte. Dann hielt
er den andern Fuß mit der Kokosnuß über das Feuer, dieses verzehrte die Kokosnuß, sprang
dann über auf den Fuß und verbrannte das Bein auch bis zum Sitzfleisch. Auch die linke
Hand, in der er ein Stück Kokosnuß hielt, brachte er über das Feuer. Das Feuer fraß die
Nuß, flammte zugleich auf die Finger über und immer weiter brennend verzehrte es den
einen Arm bis zum Schulterblattrand. In gleicher Weise hielt er auch die noch übrige rechte
Hand mit einem Teil der Kokosnuß ins Feuer hin. Wieder fraß das Feuer die Nuß und
sprang über auf die Hand, die es verzehrte bis hinauf auf den Schulterblattrand. Zuletzt
lag nur noch der bloße Rumpf da.
Unterdessen waren die Leute bis ins Dorf hinaufgekommen und tanzten. Auch die Frau
des Tieng war beim Tanz. Während des Tanzes stach sie eine herumfliegende Bremse in den
Rücken. Darauf ließ die junge Frau vom Tanzen ab und sprach aufgeregt zu ihrer Mutter:
„O Mutter, wir beide sind hierhergegangen, wo mich nun eine Bremse gestochen hat. Ist
wohl das Kind gefallen oder sonst etwas geschehen ? Denn eine Bremse hat mich gestochen“8.
Beide brachen nun auf und gingen heimwärts. Während die Tochter langsam dahinging,
schritt die Mutter voraus, bis sie in das Dorf kam, das ganz stille dalag. Sie stieg ins Haus
hinauf, wo sie den Schwiegersohn tot vorfand. Laut schrie sie: „Da haben wirs jetzt! Ich
habe dirs gesagt und du hast mirs bestritten! Komm nur und siehe deine Sache!“ Die Tochter
ging hin, sah es und weinte. Sie weinten bis zum Morgen, dann begruben sie ihn und trugen
kleine Steine auf die Grabstelle. Die Frau selbst aber nebst ihrem Kinde mit ihrerMutter und
ihrem Vater blieb beständig an diesem Orte. -—
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
47
1 Die erste Arbeit beim Neuschlag eines Feldes ist das
Anhacken und Niedermachen des kleinen und schwäch-
lichen Unterholzes in dem für das Feld bestimmten
Waldteil. Darnach erst werden die größeren Stämme
gefällt, die dann in ihrem Fall alles angehackte Klein-
zeug weit und breit mit niederreißen und zerdrücken.
2 Die Bezeichnung für ein und dieselbe Person kann eine
ganz verschiedene sein, je nach dem Gesichtspunkt, von
dem aus sie betrachtet wird. So heißt das Mädchen hier mal
Tochter, mal Heiratsfähige, auch ganz allgemein Frau.
3 Der Genusname Bruder (lungac) wird nur seitens der
Schwester gebraucht, wie sich gleicherweise der Genus-
name Schwester (luo) nur im Munde der Brüder findet.
Unter gleichgeschlechtigen Geschwistern existiert der
Genusname nicht. Sie bezeichnen sich nur nach ihrer
Geburtsfolge, also; mein älterer, oder: mein jüngerer
Bruder (teo resp. lasi), meine ältere, oder: meine
jüngere Schwester (tewao resp. lasio).
4 Von einer ehrenhalber dargebotenen Speise nur wenig zu
essen und das Übrige den Gastgebern oder auch den Be-
gleitern zu überlassen, ist ein Zeichen edler Gesinnung.
So ist z. B. eine der höchsten Lobeserhebungen die, daß
von einem angesehenen Manne gilt: Apomtau nganö
ngop masenga (ein echter Häuptling, der; denn ihm ist
der Betelkalk angetrocknet). Das besagt; er ist ein Mann,
der zugunsten seiner Leute auf das ihm zu Ehren ge-
schlachtete Schwein gänzlich verzichtet und sich als
Ersatz dafür so an eine Kalkflasche hält, daß der Kalk
schon ganz an seinen Lippen krustiert.
5 Hier wird offenbar, daß Personen mit Ringwurm oder
sonstigen Gebrechen nur schwer einen Ehestand grün-
den können.
6 Die Gebärde des höchsten Erstaunens oder der Ver-
wunderung über eine unverständliche oder ausnehmend
schöne Sache ist es das Oberglied des Zeige- und Mittel-
fingers der linken Hand zwischen die Zähne zu stecken.
Daher ist der wörtliche Ausdruck: in die Hand beißen,
oder: sich der Fingerglieder berauben.
7 Ein bedeutsamer Zug in der Volkspsyche: bei günstiger
Gelegenheit rechnet man mit wirklichen oder auch nur
mutmaßlichen Gegnern ab und streicht seine Ver-
dienste und Werte vor allen Personen heraus.
8 Hier tritt das in der steten Geisterfurcht wurzelnde
Ahnungsvermögen zutage. Jedem Vorkommnis legt
der Eingeborene Bedeutung bei, sei es im guten oder im
Übeln Sinn.
5. BESTRAFTE UNBRÜDERLICHKEIT
Es waren einst zwei Brüder, ein jüngerer und ein älterer. Der jüngere handelte schlecht
an dem älteren und tat ihm nie etwas zuliebe. Wenn er Bonitenfische fing und an das Ufer
zurückgerudert kam, so rief er gewöhnlich seinen Bruder, damit sie beide die Fische heim-
trügen, auf dem Trockenplatz auslegten und zurichteten. Wenn dies geschehen war, sprach
der ältere Bruder: „Gib mir doch einen Teil der Gräten und Flossen, damit ich sie mit-
nehmen, braten und für meinen jungen Hund zerkauen (als Hundefressen zurichten) kann.“
Dann sagte der jüngere Bruder: „Nein, nein; das gesamte Fischzeug bleibe schön liegen!
Denn morgen, wenn die Leute Feld geschlagen haben, will ich das Zeug mit zerstoßenen
Taro kochen und es ihnen zu essen geben. Du aber kannst dort das kleine Fischzeug aus den
Eingeweiden mitnehmen. Das brate und kaue es dem Hund vor, oder iß es gleich selbst
wie er!“ Auf solche Weise verkehrte er mit seinem älteren Bruder.
Da eines Tages dämmten sie Wasser ab, um Fische zu fangen. Der ältere Bruder war
auch zugegen. Nachdem sie das Fischwehr errichtet hatten, nahmen sie die Fische heraus,
um sie ins Dorf zu bringen. Der jüngere Bruder samt seinen Frauen röstete sich Sachen und
aß. Als er gegessen hatte, forderte er seinen älteren Bruder auf: „Komme doch und brate
dir auch etwas und iß, damit wir gehen können!“ Der ältere Bruder erwiderte: „Was soll
ich denn braten ? Ich habe ja keine großen Fische. Wenn du oder deine Frauen aber einen
großen Fisch erspäht, dann bringt ihn mir doch, daß ich ihn brate!“ Der jüngere Bruder
sprach: „Wir fischten wohl an einem besonderen Wasser große Fische und du an einem
andren Wasser nur kleines Fischzeug ? So ist es wohl! Dieses dein Zeug dort brate und iß es,
dann können wir gehen!“ Der ältere Bruder röstete sich nun einen Fisch und schabte dabei
von einer gerösteten Taro den Ruß auf ein Baumblatt ab. Nachdem er fertig gegessen hatte,
sprach der jüngere Bruder wieder: „Vorwärts! Nun wollen wir gehen; mach dich doch
bereit!“ Der ältere Bruder sprach zum jüngeren: „Richte doch deine Augen einmal auf
mich! Sieh her, ich bereite unsre Taro, die geröstet sind nebst anderm. Habe ich sie vom
Ruß fertig gesäubert, dann wollen wir gehen.“ Der jüngere Bruder richtete sein Auge auf
ihn: in dem Augenblick blies der ältere Bruder den Taroruß ab, der Wind trug ihn aufwärts
gerade in die Augen des andern hinein, ja seinen Körper überzog der Ruß ganz und gar, und
48
STEPHAN LEHNER
er wurde zum Raben, der alsbald gleich einem Raben schrie und auf einen Baum hinaufflog.
Der ältere Bruder höhnte ihn jetzt noch dazu und sprach: „Brüderchen, denkst du an die
Fische, die du ganz allein gegessen hast, während ich verlangend dabei weilte ? Jetzt bist du
ein Rabe geworden, und wenn du mit deinem Krächzen ankündigst, daß der Bonitenfisch
sein Maul aufsperrt, um zu fressen (sich in Menge an der Meeresoberfläche zeigt), dann
werde ich hinrudern und an deiner Statt ihn fangen. Auch alle Frauen, die du geheiratet
hattest, werde ich jetzt nehmend4 Nachdem er sich dem jüngeren Bruder gegenüber ordent-
lich ausgesprochen hatte, nahm er alle Frauen mit sich und zog von dannen. -—
6. DAS MÄRCHEN VON DER REIFEN KOKOSNUSS
— die sich in eine Frau verwandelte: bestrafter Ungehorsam und belohnter
Gehorsam. — Eine große Sippe wohnte in einem Dorfe, doch war keine Frau unter ihnen.
Sie waren lauter Männer, die selbst ihre Sachen rösten mußten, um sie zu essen. Das taten
sie alle Tage, bis sie endlich dieses Tuns überdrüssig wurden.
Als sie so dahin lebten, da nahm sich eines Tages ihr Ältester vor, mit den Hunden im
Walde zu jagen, bis er eine alte Frau gewahrte, die sich an ihrer Dorfgrenze aufhielt. Sein
Hund verbellte nämlich eines ihrer Schweine, und der Mann, der irrtümlich meinte, es sei
ein Wildschwein, rannte hin und dabei traf er die alte Frau. Die schrie sehr laut: „Was sind
das für Leute, die sich mit ihrem Hunde herumtreiben ? Er will wohl gar mein Schwein
fressen ?!“ Der hinzugetretene Mann erschrak, als er das hörte, und sprach: „0 Großmutter,
ich bin es; die alte Schlange da (der Hund ist gemeint) wähnte verkehrterweise, es sei ein
Wildschwein; deshalb bellte er so. Sieh nur hin!“ Die alte Frau brüllte ihn an, daß er hervor-
treten solle. Der Mann trat hervor und setzte sich. Nachdem er also dasaß, sprach die Frau
zu ihm: „Enkel, steige einmal auf die Kokospalme, nimm eine Frucht ab und bringe sie her!
Gib acht: wenn du sie abgenommen hast, so halte sie so weit ab, daß sie nicht mit dem Palm-
stamm in Berührung kcmmt! So behandele sie gut und bringe sie herab!“ Nachdem sie also
gesprochen hatte, erhob sich der Mann, ging hin und bestieg die bezeichnete Palme. Oben
angekommen drehte er die Frucht ab, brachte sie hinunter und gab sie der alten Frau. Die
ermahnte ihn nun und sprach: „Enkel, diese reife Kckosnuß da trage hinweg! Aber
während du sie trägst, sei darauf bedacht, sie ja nicht heftig zu Boden zu werfen, falls sich
dein Hund mit einem Leguan oder einem Beuteltier zu schaffen macht; sondern dann reinige
vorerst den Platz ganz sauber und lege sie langsam darauf nieder! Wenn du sie so nieder-
gelegt hast, dann erst renne hin und sieh nach deinem Hunde.“
Nach solcher Aufklärung seitens der alten Frau brach der Mann auf, um in sein Dorf zu
gehen. Als er eine kleine Strecke gegangen war, jagte sein Hund einen Leguan auf. Aber der
Mann handelte durchaus nicht, wie die alte Frau ihm gesagt hatte. Er hatte alles vergessen
und warf die reife Nuß zu Boden. Da lag sie nun, während er dem Hunde nachrannte, bis er
den Leguan erwischt hatte. Dann kehrte er wieder zurück und trat auf den Weg, um die
Nuß, die er dort hingelegt hatte, wieder aufzuheben. Als er hinzutrat und sich nach der Nuß
umsah, stand an deren Stelle ein weibliches Wesen (ngamalaco), in das die Kokosnuß sich
verwandelt hatte. Als er das sah, erschrak er und sprach : „Meine Kokosnuß, hier legte ich sie
nieder. Du aber, wer bist du denn, die du dastehst ?“ Die Frau sagte: „Suche und schaue
dich um, wo du sie niedergelegt hast!“ Der Mann suchte solange, bis sich die Frau selbst ihm
offenbarte, indem sie sagte; „Du meintest eine wirkliche Kokosnuß zu tragen und hast sie
weggeworfen, daß sie hier lag, und bist fortgerannt. Und du wußtest nicht, daß ich die in ein
weibliches Wesen verwandelte Kokosnuß bin, die dir die Großmutter gab. Du meintest, es
sei deine wirkliche Nuß, darum hast du sie weggeworfen und bist davongerannt.44 Der Mann
sah es und freute sich und liebkoste seine Sache, die er jetzt angetroffen hatte, und nahm
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
49
sie zu sich, heiratete sie und sie wurde seine Frau. Nachdem sie ihn geheiratet hatte,
wohnte sie im Dorfe des Mannes. Dort kochte sie als seine Frau die Taro und beide allein
aßen ihre Sache.
Indem sie aber so handelten, taten sie fortwährend Unrecht an den jüngeren Brüdern
des Mannes1. Diese rösteten ihre Sachen und aßen nur Geröstetes. Sie taten das bis zum
Überdruß. Da nahm der dem Ältesten der nächste war (der Zweitgeborene), seinen Hund
und ging in den Wald, um zu jagen. Während er jagte, gelangte auch er an jenes Dorf. Die
alte Frau sah ihn als er nahekam, und als sich sein Hund mit ihren Schweinen zu schaffen
machte, sprach sie: „Wo sind die Leute, die sich mit Hunden herumtreiben ? Er will wohl gar
mein Schwein fressen ?!“ Da sprach der Mann: „Großmutter, ich nur bin gekommen. Aber
die Schlangenbrut da (seinen Hund meinte) weiß nichts von deinem Liebling (nem genglatu).
Sie wähnte es sei ein Ding des Waldes; daher bellte sie. Schaue doch nur!“ Darauf erwiderte
die alte Frau * So ? So ist es ? Dann komme hervor und setze dich zunächst in mein Haus!“
Der Mann traVherzu, bestieg das Haus der alten Frau und setzte sich. So blieb er sitzen, bis
er ausgeruht hatte. Dann sagte die alte Frau dasselbe zu ihm, was sie zu seinem älteren
Bruder gesagt hatte. Sie sprach: „Enkel, steige auf meine Kokospalme hinauf und hole eine
dürre Nuß- die ist genug für dich!“ Der Mann stieg hinauf. Während er hinaufkletterte,
rief ihm die’ alte Frau zu: „Ach, du, höre einmal! Wenn du eine Nuß genommen hast, so wirf
sie ja nicht herunter, sondern halte sie fest, sehr fest, und wenn du herabklimmst, dann halte
sie vom Stamm entfernt, daß sie nicht in Berührung mit ihm kommt!“ Der Mann nahm,
nachdem er hinaufgekommen war, eine reife Nuß ab und indem er sie am Fruchtstiel hielt,
brachte er sie herunter. Unten ließ er sich in der Nähe der alten Frau nieder und verschnaufte.
Die alte Frau klärte ihn nun wegen der Nuß auf und ermahnte ihn ordentlich, insofern sie
sagte- Du Mann du, diese Nuß trage mit hinweg, aber gib gut acht darauf. Wenn du dich
mit ihr auf dem Weg befindest und sich dein Hund etwas mit einem Schwein, Beuteltier
oder Leguan zu schaffen macht, dann kehre vorerst einen Platz ganz sauber, auf den lege
die Frucht hin, darnach laufe weg und siehe nach dem Hunde!
Er hörte sich das an und ging. Während er so dahinschritt, machte sich sein Hund
mit etwas zu schaffen. Alsogleich rannte er los und schmiß die Nuß zu Boden, daß sie sich
überstürzte und wegrollte. Indem er nach dem Hunde sah, verwandelte sich die reife Kokos-
nuß und wurde ein weibliches Wesen. Das erhob sich und stand nun da: seine Augäpfel
waren so groß wie Wasserkalabassen, die Nase kurz, die Haare gleich trockenem Reisig,
die Ohren verkrüppelt, die Hände wie Baumästchen und die Füße so dick wie eine wilde
Taroknolle. So stand sie da, als der Mann zurückkehrte und sie erblickte. Er erschrak und
sagte: „Meine reife Nuß hatte ich da hingelegt. Aber wer bist du denn, die du da stehst ?“
Die Frau sprach: „Schaue dich doch um und suche deine Nuß! Soll ich etwa wissen, wo sie
ist ?!“ Da suchte der Mann. Während er suchte, stand die Frau dabei. Endlich offenbarte
sie ihm, indem sie sagte: „Du wähnst, deine reife Nuß, die du hierhergetragen und weg-
geworfen hast, blieb liegen, als du wegranntest. Du weißt eben nicht, daß ich diese ver-
wandelte Nuß*bin, denn mich gab die Großmutter dir.“ Der Mann liebkoste sie, nachdem
er das gehört hatte, und freute sich, daß er eine Frau getroffen hatte, die ihm die Sachen
kochen und ihm wohltun konnte, und er nahm sie zu sich und sie wurde seine Frau. Nach-
dem er sie geheiratet hatte, kochte die Frau die Nahrungsmittel und sie beide aßen ihre
Sachen allein. Die jüngeren Brüder aber rösteten ihre Sachen und aßen sie.
Da sie immer nur geröstete Sachen aßen, wurden sie ihrer überdrüssig und sprachen
zu einander: „Warum essen wir Geröstetes immerzu ? Die beiden haben wohl zwei Frauen
hergebracht, die uns wohltun könnten. Aber sie tun uns nichts Gutes.“ Und weiterhin
rösteten die jüngeren Brüder ihre eigenen Nahrungsmittel, bis sie endlich solchen Tuns
wirklich überdrüssig waren. Da riß der Bruder, der den zwei Erstgeborenen am nächsten
50
STEPHAN LEHNER
stand, seinen Speer aus dem Speerbündel und ging los, um im Walde zu jagen. Anläßlich
seiner Jagdzüge kam auch er an den Platz, wo die älteren Brüder die Frau getroffen hatten,
und sein Hund verbellte das Schwein der alten Frau. Als das alte Weib das Hundegekläff
hörte, schrie sie; „Welche Leute treiben sich da mit Hunden herum? Er will wohl mein
Schwein dort fressen ?!“ Der Mann antwortete; „Ach, Großmutter, ich nur bin gekommen.
Dieses Schlangenzeug da weiß nicht, daß das dein Schwein ist. Es meint, es sei eine Sache
des Waldes (Wildschwein). Deshalb bellte es. Siehe doch nur hin!“ Die alte Frau sprach zu
ihm: „So ? Dann schaue nur, wie du sie zusammenbringst, und komm ins Dorf!“ Der Mann
samt seinem Hunde traten herzu und setzten sich im Dorfe, um auszuschnaufen, in das Haus
der alten Frau und aßen daselbst. Nachdem sie gegessen hatten, sprach die alte Frau zu
ihm: „Mein Enkelkindchen, steige doch einmal dort auf meine Kokospalme und wenn du
oben bist, so nimm eine reife Nuß und bringe sie hierher! Aber ich sage dir auch; Wenn du
die Kokosnuß abgenommen hast, so wirf sie ja nicht auf die Erde hinunter, sondern bring
sie 'völlig unversehrt in deiner Hand herab und siehe zu, daß sie nicht mit dem Palmstamm
selbst in Berührung kommt, darum halte sie ganz entfernt vom Stamm!“ Er kletterte auf
die Palme hinauf und nahm eine Nuß von demselben Fruchthalter mit reifen Kokosnüssen,
von dem die beiden älteren Brüder bereits genommen hatten und an dem noch ein Teil
hing. Auf diesen Fruchthalter heftete er sein Auge und in der Hand hielt er die Nuß selbst
und brachte sie herunter zur ebenen Erde. Da sprach die sehr alte Frau, die er seine Groß-
mutter nannte, zu ihm: „Die Frucht dieser Palme, die du bestiegen hast, nimm nun hin!
Aber bedenke eines: wenn sich dein Hund mit einem Leguan zu schaffen macht oder sich
sonst irgend einer Sache wegen wild geberdet, dann wirf ja die Nuß nicht ohne weiteres
hin! Wenn der Hund sich wild geberdet irgend eines Dinges wegen, dann kehre erst einen
Platz ganz rein, darauf lege dann die Frucht, hernach magst du laufen, um nach dem Hund
zu sehen. Und gib acht, daß nicht, während du die Nuß trägst, am Wege ein Schößling noch
irgend etwas andres empor wächst, was sie verletzen könnte!“ Als er die ganze Rede angehört
hatte, brach er auf, nahm seinen Hund mit und ging weg.
Nachdem er ein Stück Weges gegangen war, wurde sein Hund unruhig einer Sache
(eines Wildes) wegen, er fürchtete sich und blieb stehen. Da warf der Mann die Nuß zu Boden,
daß sie dahinrollte. Dann sah er nach seinem Hund. Indem er weglief, verwandelte sich die
dahinrollende Nuß und wurde ein weibliches Wesen, das sich erhob und nun auf stand.
Der Körper und das Antlitz der Frau war allerdings nicht schön, weil der Mann sie so heftig
hingeworfen hatte, daß sie auf der Erde entlangrollte und sich auf diese Weise Schaden tat.
Die Nase war plattgedrückt, die Ohren verkümmert, die Augen waren große Glotzaugen,
die Augenwimpern waren lang, der Kopf war ungestalt, die Haare waren ausgefallen, aber
der Schädel war nicht glatt (sauber), die Hände glichen Baumästchen, Waden hatte sie
keine, der Hals war lang, die Lippen waren groß. So stand sie auf dem Platz, als der Mann
zurückkehrte und seine Nuß aufheben wollte. Als er die Frau antraf, die dastand, erschrak
er und sprach zu sich selbst: „Ich habe doch meine Nuß dort hingelegt; wer ist aber das,
was nun dort steht ?“ Im Hinzutreten sagt er; „Du, die du da stehst, hast du meine Nuß
gesehen, die ich hierherbrachte und dahinlegte, oder nicht ?“ Die Frau sprach: „Schaue dich
nur um! Ich weiß nichts davon.“ Da suchte der Mann. Aber während er suchte, eröffnete
ihm die Frau ihre Herkunft, indem sie sagte: „Wo bist du denn gewesen, daß du nicht
wTeißt, daß ich die in ein weibliches Wesen verwandelte reife Nuß bin, die dir die Großmutter
gab ? Du hast mich getragen und dann weggeworfen, daß ich nur so dahinrollte, und bist
davongerannt. Du meintest, ich sei deine wirkliche Kokosnuß; oder meintest du das nicht ?“
Der Mann dachte bei sich selbst: „O, das ist die Sache, die die älteren Brüder hatten, und auf
diese Weise handelten sie!“ Dann freute er sich, liebkoste die Frau und brachte sie hin ins
Dorf. Dort heiratete er sie als seine Frau.
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC 5I
Gleich ihm und vorher den zwei älteren Brüdern handelten nun alle bis auf den jüngsten.
Der jüngste Bruder lebte allein wie bisher weiter, bis er sah, daß seine älteren Brüder
alle ihm immerdar nicht wohlwollten. Er röstete sich seine Sachen und aß sie immer nur
gebraten, bis er des Gerösteten überdrüssig wurde. Dann nahm er eines Tages seine Hunde
zu sich und ging in den Wald. Indem er jagte, näherte er sich jener alten Frau, von der die
älteren Brüder ihre Frauen genommen hatten. Als er ihr begegnete, machten sich seine Hunde
mit ihrem Schwein zu schaffen. Die bewußte alte Frau schrie: ,,He, welche Leute treiben
sich mit Hunden herum? Man will wohl meiner Sache Sohn (kleines Schwein) fressen?!“
Der Knabe sprach: „Großmutter, ich bins nur, und die Schlangenmütter da machten sich
mit deinem Schwein zu tun in der irrtümlichen Meinung, daß sie ein Wildschwein vor sich
hätten.“ Das alte Weib antwortete: „Nimm die deinigen zu dir und komme ins Dorf.“
Nachdem der Knabe seine Hunde zu sich genommen hatte, traten sie hinzu und setzten sich
gleich der alten Frau. Als sie gesessen hatten (ausgeruht waren), sprach das alte Weib zu
ihm: „Du, gehe auf meine Palme dort und besieh dir eine einzelne hängende Nuß! Die nimm
ab, laß sie aber nicht fallen! Halte sie in deiner Hand fest und bringe sie herunter, und
siehe darauf, daß sie nicht den Palmstamm berührt, halte sie also weit davon ab!“ Der
Knabe tat, wie ihm die alte Frau geheißen hatte, und brachte in der Hand jene einzige reife
Nuß herab. Die alte Frau tat noch eine Rede an ihn, nämlich: „Leute haben Früchte von
dieser Palme weggenommen bis auf diese einzige, die du einzeln hängend gefunden hast.
Diese trage du nun weg! Ich sage dir aber vorher: wenn dein Hund irgend etwas vornimmt
auf dem Wege, so wirf die Nuß nicht einfach hin, sondern mache erst den Platz ganz sauber,
dann lege sie nieder, darnach magst du hinrennen und nach deinem Hunde sehen.“ Als die
alte Frau ausgeredet hatte, ging der Knabe fort.
Er ging seines Weges, bis der Hund sich etwas vornahm. Nun säuberte er den Platz
gründlich, dann erst legte er die reife Nuß nieder. Hierauf lief er weg, um nach dem Hund
zu sehen. Als er nach ihm gesehen hatte, kehrte er zurück und sah, daß seine reife Kokosnuß
sich verwandelt hatte. Sie war ein weibliches Wesen geworden, das sich erhob und vor ihm
stand. Der Mann sah sie und fragte sie: „Meine Kokosnuß lag doch da; wer bist du ?“ Das
Weib sprach: „Such doch und schau dich um!“ Während er suchte, verriet sich ihm die
Frau selbst und sagte: „Du meintest wohl, es war deine wirkliche Nuß? Ich bin die aus
der reifen Nuß gewordene Frau, die dir die Großmutter gab und die du genommen hast.“
Die Frau selbst hatte große Waden, eine lange Nase und ganz klare Augen. Der Mann sah
das und liebte sie als seine Sache und nahm sie zu sich. Als sie im Dorfe erschienen, schämten
sich die älteren Brüder, weil sie häßliche Frauen vorweg genommen hatten, während sich
jetzt der jüngste Bruder eine schöne Frau geholt hatte, die die ihrigen weit übertraf.
Die älteren Brüder sahen das und dachten darüber nach, was sie dem jüngsten Bruder
wohl tun sollten. Nach längerem Nachdenken taten sie folgendes: Sie nahmen etwas Be-
sonderes vor, um den jüngsten Bruder an einen andren Platz zu bringen, und sich dann mit
seiner Frau zu schaffen zu machen. Eines Tages nahmen sie ihren jüngeren Bruder mit an
ein Wasser, machten ein Wehr aus Flußsteinen, Holz und Erde, ließen das Wasser ablaufen
und suchten nach Fischen. Während sie fischten, sahen sie, daß der jüngste Bruder unter
das angeschwemmte Holz tauchte, um die Fische darunter hervorzuholen. Da häuften sie
schnell die Masse des Holzes über ihm zusammen, so daß er darunter bleiben mußte.
Seine Frau hatte bereits die Taro gekocht und alles zum Essen bereitet, als sie plötzlich
bei sich dachte, sie wolle sich in ein Taroeßstäbchen (suc; Anspießstäbchen, um Taro aus
dem Kochtopf herauszuholen) verwandeln. Sie tat also und schob sich selbst unter die
Dachlagen hinein, um dort zu warten. Als sie dort lag, sah sie daß die älteren Brüder dem
jüngsten Schlechtes taten, wie er mitten in dem angeschwemmten und aufgetürmten Holze
steckte und wie die Übeltäter in überstürzender Eile davon rannten, um ihr Übels zu tun.
8 Baessler-Arcliiv.
52
STEPHAN LEHNER
In einem Augenblick waren sie auch da und suchten nach dem Haus, bis sie es erreicht
hatten. Die Frau aber, die ein Anspießstäbchen geworden war und im Dache steckte,
lachte ungemein in ihrer Verborgenheit.
Der jüngste Bruder verweilte unterdessen unter dem Holze, als ihn eine fisch-fressende
Wasserratte erblickte, die ihn fragte: „Was ist denn mit dir, daß du dasitzt ?“ Er antwortete:
„Wir dämmten das Wasser ab, dabei haben mir die Leute Schlechtes getan, sie haben den
Damm durchbrochen und der gestauten Wassermenge Abfluß verschafft, so daß mich das
w asser überflutet hat und ich jetzt also hier bleiben muß.“ Als die Wasserratte das ver-
nommen hatte, trank sie das Wasser vollständig aus, so daß sich der Mann selbst aus dem
Holz herauswand. Nachdem er sich befreit hatte, sagte er zu der Wasserratte: „Vetter, laß
uns doch beide ins Dorf gehen!“ Die Wasserratte stimmte zu und also gingen sie ins Dorf.
Die älteren Brüder stießen unterdessen bei ihrem Suchen nach der Frau auf die Mulden,
auf die kleinen und großen Hängegestelle und durchstöberten den inneren Hausraum
derart, daß sie auch die Dachlagen aufhoben und das bewußte Anspießstäbchen hervor-
gezogen, das sie dann wieder in das Dach steckten. Bis zur Ermüdung suchten sie. Dann
stiegen sie herab und setzten sich nieder. Dabei merkten sie, daß der jüngste Bruder (da war
und) schlief. Später stieg er ins Haus hinauf. Seine Frau verwandelte sich wieder in einen
Menschen und kam unter dem Dach hervor und fragte: „Alle Leute kamen; was hast denn
du gemacht, daß du bliebst bis in die sinkende Nacht und jetzt erst kommst ?“ Ihr Gatte
antwortete: „Die Leute behandelten mich furchtbar schlecht, sie durchbrachen den Damm,
so daß das Wasser mich überflutete und ich ausharren mußte, während sie deinetwegen
hierherrannten.“ Die Frau sprach: „Ich war hier und sah sie heraufkommen, mich zu suchen.
Sie haben mich auch hervorgezogen und mich besehen. Aber sie meinten, ich sei nur ein
Anspießstäbchen, und steckten mich wieder hinauf ins Dach und gingen davon.“ Weiter
sprachen der Mann und seine Frau miteinander. Die älteren Brüder hörten es und sprachen:
„Sonderbar, wir suchten sie doch! Wo sie nur gesessen hat ? Nun, da ihr Gatte gekommen
ist, unterhalten sie sich!“ Als sie sie belauschten, sahen sie die Frau selbst mit ihrem Mann
im Gespräch dasitzen und wieder sagten sie: „Wir suchten sie doch! Wo war sie denn nur ?“
Weiterhin lebten sie im Dorfe, bis die älteren Brüder die Sache vergessen hatten. Da
eines Tages forderte der jüngste Bruder seines Feldes wegen die älteren auf, sie sollten ihm
Feld schlagen, und sie taten es auch. Nachdem sie das Feld geschlagen hatten, bewirtete der
jüngere Bruder sie alle. Er röstete Taro und schabte den Ruß in eine Mulde hinein, die er ins
Männerhaus stellte. Dann schüttete er die Taro mit dem Brei samt Kokosnußrahm in den
unteren Raum (die offene Plattform) des Männerhauses, woselbst die Brüder aßen. Während
des Essens stieg er in den Hausraum hinauf und rief von dort aus seinen Brüdern zu: „Hebt
einmal eure Augen auf zu mir!“ Die Brüder schauten empor, da schüttete er den Taroruß
auf sie hinab, der erfüllte ihre Augen, und sie flogen nacheinander davon und riefen: aoc,
aoco (der Ruf des Raben). Der jüngste Bruder aber sagte: „Das dort ist euer Platz. Was
habt ihr denn Verkehrtes bei mir gesehen, daß ihr mich mitten ins Wasser gesetzt habt ?
So, nun bleibt dort auf eurem Platze!“ Ihre Frauen weinten und sprachen: „Ach, dieser
Mann, was hat er denn gemacht? Unsre Männer fliegen ja jeder an seinen Ort?!“ Der
jüngste Bruder aber rief den zu Raben gewordenen Männern höhnend zu: „Das sind die
Frauen, die ihr geheiratet habt!“ Darauf nahm er alle Frauen seiner älteren Brüder zu sich
und heiratete sie alle zusammen2.
1 In treffender Weise ist hier der Egoismus der hiesigen 2 Ein Eingeborener vergißt eine ihm angetane Schmach,
Eingeborenen zum Ausdruck gebracht. Selbstlose eine ihm widerfahrene Ungerechtigkeit nicht; mit still
Taten kennt der Heide nicht. verhaltener Glut paßt er den richtigen Moment ab, um
sich zu rächen.
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIER STAMMES DER BUKAWAC
53
7. DAS SPEER- UND SCHWERTMÄRCHEN
Bescheidenheit wird belohnt, Frechheit dagegen bestraft. — Während ein
Mann im Walde jagte mit seinem Hunde, gelangte er in ein Dorf, dessen Einwohner Schwer-
ter und Speere waren. Der Eindringling wußte aber nichts von ihnen. Er ließ sich auf einer
Hausveranda nieder und sah der Speere so viele liegen, daß das Haus davon voll war, ja ein
Teil steckte noch unter dem Hause. Als er sein Auge auf ein andres Haus richtete, sah er
dort nur Holzschwerter liegen. Da gedachte er bei sich selbst: „Die Eigentümer dieser Häuser
sind wohl im Felde.“ Nachdem er eine kleine Weile dagesessen war, ließen die Speere und
Schwerter ein Geräusch vernehmen wie gogogogo, gagagaga. Der Mann erschrak heftig und
wollte davonspringen. Die Speere und Schwerter aber riefen ihm zu: „Spring nicht fort, wir
sind Menschen.“ Da erkannte er, daß diese Speere die Männerschaft waren, die Schwerter
waren Frauen, und bei sich dachte er: Das also ist der Sache Bedeutung! Die Schwerter
gingen hinab ins Feld und brachten Taro und machten ihm ein Essen. Nachdem sie das
bereitet hatten, gaben sie ihm ein Schwein und legten noch Eberzähne für ihn bei. Der
Mann nahm alles an sich und wollte in sein Dorf zurückgehen. Die Speere meinten: „Es ist
bereits Nacht geworden, schlafe doch erst einmal!“ Also legte er sich mit den Speeren nieder
und schlief bis zum Morgen. Dann stand er auf, nahm das Schwein und die Eberzähne zu
sich und ging weg.
Des Mannes Leute, sein Weib und seine Kinder hatten am Abend fortwährend auf ihn
gewartet und schon sprachen sie: „Ach, ein Schwein hat ihn wohl gebissen und so zugerichtet,
daß er hilflos im Walde liegt!“1. Doch als sie noch so sprachen, sahen sie ihn selbst heran-
kommen, weshalb sie auch riefen: „0, unser Mann ist gekommen!“ Der Mann selbst legte das
Schwein nieder und drängte sie, daß sie aßen. Dann zeigte er ihnen die Eberzähne. Da sie
diese sahen, erschraken sie sehr. Des Mannes einer Vetter aber rief, nachdem er die Eber-
zähne gesehen hatte: „Vetter, ach erzähle doch schnell die Geschichte.“ Er antwortete:
„Eßt erst einmal, dann werde ich euch alles erzählen.“ Nach einer Weile sprach der Mann
also: „Während ich mit meinem Hunde im Walde jagte, traf ich — plötzlich — ein Dorf an,
dessen Besitzer Speere und Schwerter waren. Die Speere sind die Männerschaft, die Schwerter
sind die Frauen.“ Der Vetter aber, der nicht ordentlich zuhörte, sprach: „Vetter, wenn ich
gleicherweise wie du dies sehe, so breche ich Speere und Schwerter entzwei und zünde ein
Feuer an, das alles verzehren wird.“
Obgleich er die Rede nicht recht verstanden hatte (ihren Sinn nicht beherzigte), nahm
er doch seinen Hund und ging2. Er ging solange umher, bis er in das Dorf selbst gelangte,
in dem er Speere und Schwerter liegen sah. Laut rief er: „Ein guter Speer da; ich werde ein
Schwein speeren.“ Die Speere hörten das und sprachen: „O, ein Mann hat uns gesehen und
gerufen, daß er einen von uns nehmen und ein Schwein speeren wird!“ Alsbald schwang sich
der Mann auf eine Hausveranda, um dort zu sitzen. Als er sein Auge auf ein Haus heftete,
sah er nur Speere dort liegen; in einem andren Hause lagen nur Schwerter. Wie er so
dasaß, verursachten die Speere ein leichtes Geräusch. Da rief er: „Was ist das, das da nutzlos
Lärm verursacht ? Ich werde mir welche herausholen aus dem Hause und werde sie zer-
brechen und ins Feuer werfen.“ Die Speere hörten diese Rede und ein großer Lärm erhob sich,
so daß der Mann selbst nun doch heftig erschrak und davonsprang. Aber schnell waren auch
die Speere und speerten ihn; ebenso kamen die Schwerter schnell herab und schlugen ihn tot.
Dann begruben sie ihn.
Des Mannes Leute warteten immerzu auf ihn. Besorgt sprachen sie: „0, unser Mann
kommt nicht!“ Sein Vetter erwiderte; „Ich habe ja alles erzählen wollen. Er hätte doch
wenigstens erst hören sollen. Aber er stürmte blind dahin (kesaec taungeng geja). Gewiß
haben ihn die Leute dort erschlagen. Weil er nun von den Speeren und Schwertern mit einem
8
54
STEPHAN LEHNER
Schwein und Eberzähnen beschenkt worden war, so nahm er nun seinerseits einen Eberzahn
und ein Schwein, um hinzugehen und den andern das als Gegengabe zu bringen. Er ging hin
und erreichte das Dorf. Da vernahm er das Tönen der Trommel wie der Muschel, da sagte
er bei sich; ,,Gewiß, den Mann haben sie erschlagen!“ Er trat hinzu und sah nun, wie die
Speere und Schwerter dort einen Kriegstanz vollführten. Er fürchtete sich und meinte
nicht ins Dorf gehen zu sollen. Dann dachte er wieder: „Sie haben mich doch gesehen, ich
gehe hin.“ Er ging hin und als sie ihn sahen, sprachen sie: „Wir tanzen eben einen Siegestanz.
Es kam nämlich ein Mann, der rief, er wolle uns ins Feuer werfen, den haben wir erschlagen.“
Da gedachte er bei sich; „Ach, diesen meinen Vetter erschlugen sie.“ Er selbst kehrte zurück
und brachte die Kunde seinen Leuten, daß Speere und Schwerter ihn getötet hätten. Darauf-
hin weinte seine Frau und seine Kinder so sehr, daß ihre Augen schwollen wie die Augen des
gekulib3, und seine Frau nahm die Witwentracht und die Trauerschnüre.
1 Solche Verletzungen kommen vor, namentlich, wenn 2 Treffend ist hier die Gier nach Wertsachen geschildert,
es sich um starke Eber handelt, die nicht totsicher die alle Überlegung über den Haufen wirft,
getroffen sind. Diese Tiere kehren sich in ihrer Wut 3 Gekulib: der Krokodil-Skink (Tribolonotus Novae
gegen den Jäger und reißen mit ihren Hauern zolltiefe Guinea); diese Eidechse hat besonders große hervor-
Wunden. tretende Augen.
8. DER MANN UND SEIN VETTER
Bestrafter Diebstahl. — Ein Mann und sein Vetter machten einen Besuch bei den
Kai (Bergbewohner im Hinterland). Sie gingen, bis sie im Dorfe selbst ankamen. Der ältere
Mann von ihnen beiden setzte sich auf die Plattform des Männerhauses, während der jüngere
in das Innere des Hauses hinaufstieg, um Leute daselbst zu suchen1. Es waren aber keine
vorhanden; aber die Brustorgane eines Schweines (ngate; es ist Lunge, Leber und Herz),
die zusammengebunden im Dach steckten, traf er an. Er zog sie heraus und aß. Er selbst
aß und wollte auch seinem großen Vetter einen Teil geben, daß auch er äße; doch der mochte
nicht. Da sprach er; „Ja, ja, mein Vetter, du bist eben schon ein großer Mann geworden,
also esse ich es.“ Und er aß alles allein. Noch saßen beide und warteten auf die Dorfbesitzer,
daß sie kämen, aber sie kamen nicht. Sie warteten und warteten, bis die Sonne klein geworden
war, dann gingen sie fort.
Als sie beide eine kurze Strecke Wegs gegangen waren, -kamen die Kai, die im Feld
gearbeitet hatten, ins Dorf. Da sahen sie, daß die Stücke des Schweines nicht mehr vor-
handen waren. Sie schrien ; „Ba, ba!“ (bei den Bukawac der Lockruf für Schweine2 zur Zeit
der Fütterung), und während sie riefen, schrieen die Teile des Schweines im Innern des
Mannes, der sie gegessen hatte, als Antwort: „Gu, gu, gu, gu“ (das Grunzen der Schweine).
Der ältere Mann fragte ihn; „Vetter, was ist dir denn ?“ Er antwortete: „0 Vetter, ich habe
sehr kurzsichtig und töricht gehandelt!“ Als er dieses gesprochen hatte, wanderten sie wieder
weiter und kamen an einem Graben an. Die Kai riefen abermals: „Ba, ba!“, und das Schwein
selbst rief mit lauter Stimme aus dem Innern des Mannes: „Gu, gu, gu, gu.“ Er aber sprach
kein Wort, sondern grunzte nur fortwährend wie ein Schwein, und wenn sein. Vetter ihn etwas
fragte, so antwortete er nur wie ein Schwein. Wieder gingen sie eine kurze Strecke, da wurden
seine Füße und Hände zu 4 Füßen wie die Füße des Schweines, auch wurde er behaart wie
ein Schwein und ging mit zur Erde gesenktem Kopf gleich einem Schwein. Nachdem er eine
kleine Weile gegangen war, machte er sich ein Schweinelager (ic) zurecht. Sein Vetter stand
unschlüssig dabei und starrte ihn an, bis das Lager fertig war. Dann ferkelte der andre in
seinem Schweinelager.
Nachdem das geschehen war, ging sein Vetter in ihrer beider Dorf. Er ging ununter-
brochen, bis er das Dorf erreicht hatte, sprach aber kein Wort zu ihrer beider Familien,
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
55
sondern stieg ins Männerhaus hinauf und legte sich. Seines Vetters ältester Sohn stieg auch
in das Männerhaus, da sah er seinen „großen Vater“ (der ältere Bruder — hier: Vetter_
seines Vaters, also Onkel) liegen. Gleich stieg er wieder hinab zur Erde und erzählte seiner
Mutter: „Mutter, der ältere Vater ist gekommen und schläft; aber mein Vater ist nicht ge-
kommen.“ Da rief die Frau in das Männerhaus hinauf wie folgt: „O, du Mann dort, du hast
deinen Vetter mitgenommen! Haben ihn die Kai erschlagen, dann offenbare es doch!“ Er
aber antwortete auf die Rede der Frau seines Vetters kein Wort, sondern verhielt sich lautlos
eine kleine Weile. Dann unterhielt er sich ein wenig mit seines Vetters ältestem Sohn, der
wieder zu ihm ins Männerhaus gestiegen war, und sprach zu dem Jungen; „Wir beide, dein
Vater gingen, gingen, gingen, bis1 2 3 wir das Dorf der Kai erreicht hatten. Da setzte ich mich
wartend auf die Plattform des Männerhauses, er aber ging in das Haus selbst hinauf und
suchte darin nach Leuten. Sein Suchen war jedoch vergeblich, wohl aber fand er die Brust-
organe eines Schweines ausgenommen im Dach stecken. Die zog er sich heraus und aß davon.
Auch mir wollte er geben, daß ich esse, doch ich mochte nicht. So aß er alles als seine Sache
und sagte zu mir folgende Worte: „O Vetter, du bist eben schon groß geworden, also esse
ich es allein.“ Ich saß da und er aß. Nachdem er gegessen hatte, warteten wir weiter auf die
Leute, doch umsonst. Als die Sonne klein geworden war, gingen wir wieder fort. Erst als wir
schon eine kleine Strecke Wegs zurückgelegt hatten, betraten die Dorfleute ihr Dorf und sahen
die Organe der Brusthöhle des Schweines nicht mehr im Dach stecken. Da riefen sie: „Ba,
ba!“, und die Teile des Schweines im Innern des Mannes antworteten, und auf diese Weise
kam es dazu, daß er in ein Schwein verwandelt wurde. Seine beiden Füße und seine beiden
Hände wurden einem Schwein gleich. Während wir beide weitergingen, wurde er trächtig
gleich einem Schweine. Ganz ungeheuer groß wurde sein Bauch, als ob er viele Junge werfen
wollte. Und als ich stehen blieb und ihn beobachtete, machte er sich ein Lager zurecht, und
als es fertig war, ferkelte er. Ein Teil der Frischlinge ist bunt, ein andrer Teil hat rote Körper,
eine Anzahl ist weiß, andre sind schwarz, und die übrigen sind schwarz und weiß gefleckt
gleich dem komokom (eine schwarzweißgefleckte Art Stare).
So erzählte der Mann dem Jungen. Nachdem dieser alles gehört hatte, ging er zu seiner
Mutter und berichtete es ihr und der „großen Mutter“ (ältere Schwester der Mutter, also:
Tante). Sie schliefen zunächst4, aber am Morgen gingen sie, bis sie die Stelle erreicht hatten,
und sahen da den Mann liegen, der zum Mutterschwein geworden war. Sie nahmen alle seine
Ferkel, steckten sie in ein Tragnetz und trugen sie dem Dorfe zu. Die Sau selbst lief nebenher.
Im Dorf banden sie das Tier fest und brachten es dann in das Innere einer Umzäunung.
Da fraßen die Ferkel und die Leute gaben ihm (dem Mutterschwein) die Abfälle, die fraß er
wie ein Schwein und lebte mit den übrigen Schweinen.
Mein Gewährsmann fügte, als er mit der Geschichte fertig war, noch bei: „Diese Rede
erzählen sich die Frauen untereinander in der Zeit, wenn ihre Schweine trächtig sind, damit
sie nur gesunde Junge werfen, unter denen kein krüppelhaftes sich finde.“5
1 Das Schickliche ist das Tun des großenVetters, die Hand-
lungsweise des jüngeren Mannes ist Diebstahl, der als
Verbrechen geahndet wird.
2 Der hier übliche Lockruf wird oft noch mit dem Namen
des Tieres verbunden, z. B. malacmoke ba, ba (Dorf-
haupt komme, komme doch!).
3 Ein Beispiel der anschaulichen, malerischen Redeweise:
die mehrfache Widerholung des „gingen“ mit dem
langgezogenen, diese Wiederholung krönenden „bis“
läßt den Hörer gleichsam die lange Wegstrecke sehen.
4 Bezeichnend für die Gesinnung unsres Volkes: keine
Klage ertönt über das tragische Geschick, das den Mann
betroffen hat! Tot ist er ja nicht, also hat man sich
vor seiner zum Geistwesen gewordenen Seele nicht zu
fürchten. Im übrigen findet man sich mit dem nun eben
einmal verhängten Geschick ab.
5 Der Zusatz bestätigt es aufs neue, daß vom Erzählen
eines Märchens bis zu seiner Erhebung zum Zauber-
spruch (in diesem Falle, um viele Ferkel zu erlangen)
oft nur ein Schritt ist. Unverkennbar sind viele Zauber-
sprüche (vgl. Neuhauß, Deutsch-Neuguinea, Bd. 3,
S. 448 f.) ehemalige Märchen oder Verkümmerungen
solcher, allein dem Inhaber des betr. Zaubers noch
bekannt.
56
STEPHAN LEHNER
9. DER TÜCKISCHE GEIST GING ZUGRUNDE
Jede Übeltat rächt sich. — Ein Knabe und seine Schwestern fischten mit dem
Kescher in einem Fluß. Der Knabe befand sich am Uferrand und trug1 das Palmtäschchen,
während die beiden Schwestern die Fischefingen, die sie dann in das (geflochtene) Täschchen
(aus Kokosblattfiedern) steckten. So kamen sie flußaufwärts an einen Wasserarm, an dessen
Quellort ein Mangobaum (Mangifera minor) stand, der reife Früchte abwarf2 ins Wasser
hinein. Denn zwei solche reifen Früchte trieben auf dem Wasser flußabwärts. Die beiden
fischenden Schwestern nahmen die zwei Mango auf, um sie zu essen. Ihr (jüngerer) Bruder
bat, daß sie ihm eine Frucht geben sollten, daß auch er esse. Die beiden Schwestern sprachen
jedoch: „Wo sind denn soviele Früchte, daß wir dir eine zum essen geben könnten ?“ Dabei
aßen sie die Mango auf. Sie fischten nun weiter flußaufwärts und so gelangten sie in die
Mitte desWasserlaufs, wo sie wieder zwei Früchte antrafen. Abermals bat der jüngere Bruder:
s,Ihr beide, gebt mir eine her, daß ich esse!“ Aber sie verweigerten es ihm und aßen die
Früchte als ihre Sache. Da wurde der Knabe zornig und ging immer vorneweg weiter, bis er
den Mangobaum selbst sah. Dann stieg er hinauf und schüttelte dabei den Baum hin und her,
so daß die reifen Früchte in solcher Menge hinabfielen, daß sie den Boden bedeckten.
Während er noch schüttelte, kam die Eigentümerin des Mangobaumes, eine ganz
schlechte3 Frau. Die stellte sich hin und schaute, bis sie den Knaben sah, der den Baum
schüttelte. Dann trat sie heran und brachte Rotz herbei, Korb und Korb, den schleuderte
sie den Mangostamm empor, bis er ganz glatt geworden war, damit der Knabe, wenn er
herabkomme, ausrutschen und zu Tode stürzen solle. Als der Knabe die schlechte Frau
unter dem Mangobaum erblickte, rief er seine alten Leute (die zu Schutzgeistern4 gewordenen
Ahnen) an und sprach; ,,0 Mangobaum, wachse in die Höhe, daß ich emporsteige; o Mango-
baum, gehe empor, daß ich nach oben gelange!“ Darauf hob sich der Mangobaum und wurde
sehr lang und der Knabe kam auf die höchste Spitze zu stehen. Von da rief er seinen beiden
älteren Schwestern. Sie antworteten ihm und liefen, um ihn zu sehen. Der Hund, der sie
begleitete, biß dabei die Frau tot. Nun rief der Knabe wieder seine Ahnen, indem er sprach:
„0 Mangobaum, beuge dich, damit ich heruntersteige; o Mangobaum, beuge dich, daß ich
herunterkomme!“ Darauf beugte sich der Mangobaum bis zur Erde, so daß der Knabe
hinabsteigen konnte und auf dem Boden zu stehen kam. Seine beiden Schwestern aber
hoben die Früchte auf und gingen weg.
Sie gruben saec (wilde Jams, die man in Notzeiten ißt) und brachten diese zum Braten
und Essen. Während sie gruben, stießen sie auf das Seelenbild der schlechten Frau, die mit
in der Erde lag. Die Saecfrucht verwandelte sich schnell und wurde ein neugeborenes Mäd-
chen5, das hoben sie auf und nährten es. Dann wollten sie wieder arbeiten, aber das Mädchen
weinte; es wollte ins Dorf. Also trugen sie es heim. Dann ging der Knabe mit seinen beiden
Schwestern wieder ins Feld, um zu arbeiten. Während sie arbeiteten, hing das Mädchen
ruhig (im Tragnetzsack) im Dorf. Es hing und schaute, bis völlige Ruhe herrschte. Dann
verwandelte es sich wieder in eine alte Frau und stieg vom Hause hinunter und tanzte am
Dorfplatz. Nachdem sie das getan hatte, rief sie die Hunde und Schweine der Leute zusam-
men und stahl sie6. Darauf stieg sie schnell wieder ins Haus hinauf und legte sich wieder in
das Tragnetz hinein und hing so im Hause, wie wenn sie sich gar nicht gerührt hätte und
gar nichts vorgefallen wäre. Als der Knabe nebst seinen beiden Schwestern vom Felde zurück-
kam, war das schlechte Ding bereits wieder zum Kinde geworden und lag im Netzsack.
Wie es sie vom Felde kommen sah, weinte es, daß die beiden Mädchen es aufnehmen sollten.
Da nahmen beide es auf. (Hier fehlt ein Zwischengedanke, etwa: Während der Nacht nahm
das Kind wieder seine vorige Gestalt als Frau an.) Am Morgen forderten die beiden Mädchen
diese schlechte Frau auf, daß sie ins Feld gehen sollte. Aber sie mochte nicht, denn sie wollte
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
57
im Dorfe bleiben, und sie blieb auch. Das tat sie und fraß die Schweine und Hunde der
Leute, bis kein Tier mehr vorhanden war, so daß die Leute ihre Dörfer von Schweinen und
Hunden entblößt sahen. Infolgedessen beschuldigten sie sich nun gegenseitig, weil sie irrtüm-
lich meinten, die Tiere seien selbst von sich aus (nämlich durch irgend eine Machination
irgend welcher Dorfinsassen) zugrunde gegangen. Der Knabe und seine beiden Schwestern,
die dabei waren, als sich die Leute gegenseitig beschuldigten, sprachen zueinander: „Wir
wollen einmal auf die Sache achtgeben und sehen, ob dieses schlechte Ding die Hunde und
Schweine der Leute stiehlt, oder nicht.
Eines Tages wollten die beiden Schwestern ins Feld gehen und sagten deshalb zu der
schlechten Sache (der Frau): „Geh mit, um im Walde zu arbeiten!“ Sie mochte nicht und
sagte: „Ich bleibe im Dorfe.“ Sie blieb sitzen, die beiden Mädchen aber, die ins Feld gingen,
sprachen zu ihrem Bruder; ,,Du, verstecke dich und bleibe hinter dem Hause und beobachte
die Sache siehe einmal zu, weshalb die Hunde und Schweine der Leute so vollständig ver-
schwinden, ob etwa die schlechte Frau dort sie ißt, oder nicht!“ Der Knabe setzte sich also
an einen versteckten Platze und sah von da aus, wie sie vom Hause herabkam und tanzte.
Nachdem sie ausgetanzt hatte, rief sie die Schweine und Hunde der Dorfleute zusammen
und fraß sie. Der Junge, der dasaß und dies sah, sprach zu sich selbst: 0, der Geist des
schlechten Dinges, den wir brachten, frißt den Leuten die Sachen vollständig auf. Darauf
rannte er in das Feld und erzählte seinen beiden Schwestern: „Das schlechte Ding, das
immerzu die Schweine und Hunde der Leute frißt, haben wirklich wir ins Dorf gebracht!
Und daß die Leute ihre Sachen zu suchen haben (und sie nicht mehr finden), hat seinen
Grund in dem Tun, wie ich es eben angetroffen habe.“ Der Knabe selbst und seine beiden
Schwestern machten erst ihre Arbeit fertig und kehrten dann in das Dorf zurück. Da machte
der Junge eine Schaukel (Rotangschlinge) an einem Eisenholzbaum (Afzelia bijuga) fest,
der mit seinen Ästen über das Üfer in die See hinausragte, die Schwestern aber steckten das
schlechte Ding hinein in ein Tragnetz, nahmen dieses auf und trugen7 es zu der Schwinge an
die See hin. Von der Schwinge aus ließen sie es hinabgleiten mitsamt dem Tragnetz hinein
und hinunter in das Meer, wo es ein Flaifisch fraß
1 und 7 danggeng und dawi (fast am Ende des Märchens):
beides Ausdrücke für die Tätigkeit des Tragens, die der
Bukawac (und der Jabem) in 16 bestimmt speziali-
sierten Bezeichnungen wiedergibt: danggeng mit der
Hand einen Gegenstand am Henkel, Bügel oder Zipfel
tragen; daoc in der Hand, den Speer, oder etwas auf der
Achsel tragen; dawi eine Last mit dem Tragband, über
dem Vorderkopf am Rücken tragen; takuc etwas auf
dem Kopf tragen; tambic einen Gegenstand mittels
Henkel über der Schulter seitwärts tragen; taping und
takaping unter der Achsel etwa ein Täschchen ein-
geklemmt tragen; taja sa etwas in aufrechter Stellung
tragen, z. B. einen Schild; tajong etwas Zusammen-
gerafftes in irgend einer Weise tragen; tajamba etwas
an einen andren Ort hintragen; tanong um den Hals,
auf der Brust einen Schmuck tragen; tasip etwas auf
den Armen tragen; tasöp sa mit beiden Händen etwas
an die Brust gepreßt tragen; tatap auf den Oberarmen
tragen, z. B. einBild; tambalang zu zweien eine schwere
Last an einer Stange tragen usw. Es herrscht die schöne
Sitte, daß Mädchen nicht alleine gehen; sie haben immer
eine Person bei sich, die ihnen zugleich Dienste tut.
2 ketoc: selbst abwerfen, im Unterschied von geschüttelt
werden takolong.
3 sec: schlecht, wertlos in ethischer und in physischer
Beziehung; sec ist: Vergehen, Nichtbeachtung der
bestehenden Rechte und Sitten, und Gebrechlichkeit,
Untauglichkeit.
4 Die längstverstorbenen, zu Geistwesen (balom) ge-
wordenen Ahnen werden im Augenblick der Gefahr,
im Moment, der dringende Hilfe erheischt, gewisser-
maßen als aktuelle Götter angesehen, die allenthalben
und immer ihren Nachkommen hilfreich beispringen
können.
5 Hier tritt die Anschauung zutage, daß die abgeschiedene
Seele weiterlebt und irgend einem Gegenstand ein-
wohnen, überhaupt jede beliebige Gestalt annehmen
kann.
6 Der Habitus der Lebenden bleibt auch der abge-
schiedenen, zum Geistwesen gewordenen Seele.
7 s. bei Anm. i.
8 Hier kommt zum Vorschein, daß der Eingeborene eine
Unsterblichkeit im absoluten Sinne nicht kennt.
58
STEPHAN LEHNER
10. DIE SAGE VON DEN BLUTKINDERN
Es war einst eine Frau, die befand sich in andern Umständen, als ihre Männer und An-
verwandten alle zu einemTanze in ein Dorf gingen. DieFrau blieb zu Hause und begab sich
aufs Feld, um die Tarosetzlinge von den Früchten zu trennen. Nachdem sie das getan hatte,
ging sie hin, um ein Stück Zuckerrohr namens belekam (kurzknotige Art) zu biegen, daß es
abbreche und sie es essen könne. Sodann wollte sie ihre Tarofrüchte als Traglast auf den
Rücken aufnehmen und in das Dorf gehen und dabei Zuckerrohr essen. Jedoch wie sie mit
dem Abbrechen beschäftigt war, drang das Zuckerrohr in ihre Hand und verletzte sie.
Infolgedessen blutete die Hand. Gleich grub dis Frau zwei Erdlöcher. Als die fertig waren,
ließ sie ihr Blut in diese 2 Gruben fließen. Nachdem die eine Grube soviel Blut aufgefangen
hatte, daß sie gefüllt war, ließ sie die andre Grube vollaufen, bis auch diese gefüllt war.
Darnach bedeckte sie die Erdlöcher mit Blattzeug, um sie so wie sie waren im Felde zu lassen.
Hierauf nahm sie ihre Taro auf und ging in das Dorf. Die Frauen, welche sie mit geschwun-
denem Leib gewahr wurden, fragten sie: „Dein Leib ist geschwunden. Du hast wohl ein
Kind geboren, oder nicht ?“ Sie verneinte das, offenbarte aber den Sachverhalt, indem sie
sprach: „Ich hatte Setzlinge von den Taro geschnitten und wollte mir Zuckerrohr abbrechen,
um es zu essen. Dabei verletzte mich das Zuckerrohr. Ich grub dann zwei Erdlöcher und ließ
mein Blut hineinfließen, wo es sich noch befindet. Dann ging ich ins Dorf.“ So sprach sie zu
etlichen Frauen, die sie gefragt hatten, und verweilte zunächst im Dorfe.
Als sie wieder ins Feld ging, um nach dem dort zurückgelassenen Blut zu sehen, gewahrte
sie, daß es durcheinander geraten und zu zwei Kindern geworden war. Nachdem beide so
groß geworden waren, daß sie kriechen konnten, nahm sie sie beide in das Dorf und nährte
sie tüchtig, so daß sie bald zu Jünglingen erwuchsen. Sodann schmückte sie beide ordentlich
und brachte sie in das Männerhaus hinauf. Dort blieben sie sitzen, denn die Mutter nahm die
Leiter (Treppe) des Männerhauses weg, so daß beide dort bleiben mußten.
Unterdessen kehrten die Dorfbewohner vom Tanze heim, der Mann der Frau, der auch
mitgekommen war, fragte: „Was ist denn mit der Treppe des Männerhauses ? Man hat sie
weggetragen!“ Seine Frau antwortete: „Die Treppe habe ich weggetragen, der Hunde wegen,
die immer die Schlafplätze im Hause belegen (und sie mit ihren Flöhen und ihrem Gekrätz
verunreinigen).“ Darauf sagte ihr Mann: „Bringe eine Matte her und breite sie auf der untern
Plattform des Männerhauses aus!“ Seine Frau brachte eine Matte herbei und sprach zum
Gatten; „Trage doch die Leiter her und steig hinauf und besieh dir, was für zwei Dinge im
Männerhaus sitzen!“ Nachdem sie in solcher Bildrede mit ihrem Mann gesprochen hatte,
stieg er hinauf und traf die beiden Burschen an. Sogleich kehrte er auf den Dorfplatz zurück
und sagte zu seinen Leuten: „Morgen sollen die Frauen Taro holen und die Männer sollen
Schweine greifen, das wollen wir dann verzehren, weil meine Frau das erste Kind geboren
hat.“ Die Frauen brachten Taro und kochten, ebenso kochten sie die Schweine, die sie
speerten. Als alles gar gekocht war, nahmen sie es aus den Töpfen und teilten es aus. Als
sie alles verteilt hatten, rief der Mann: „O meine beiden Kinder steigt nun herab, damit
auch die Leute euch sehen!“ Beide kamen herunter vom Männerhaus. Die Leute sahen sie
beide. Sie betrachteten sie, sprachen aber kein Wort, sondern zerstreuten sich zunächst.
Als sie wieder zusammentraten, gaben sie zwei Frauen, die heirateten beide und lebten fortan
mit ihnen in ihrem Dorfe.
ii. VON EINER SCHLECHTEN FRAU, DIE LEICHEN ASS
Ein heiratsfähiges Mädchen stand nebst ihrer Mutter in einem Wasser und fing mit dem
Kescher Fische. Da gewahrten sie einen Gemec-Baum (mit feigenartigen Früchten, die man
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC 59
kocht und ißt), der am Flußufer stand. Die Mutter sprach zur Tochter: „Bleibe du unten,
ich steige hinauf.“ Die Tochter stimmte dem zu und sagte ja. Sie blieb unten stehen, während
die Mutter hinaufstieg und aß. Die Mutter warf auch Früchte zur Erde hinab, daß die
Tochter auch essen konnte. Beim Essen stieg die Mutter immer höher. Schließlich gelangte
sie in den Kronenwipfel des Baumes. Da brach eine Gabelung des Gemec entzwei und der
Ast stürzte mitsamt der Mutter hinunter, welche tot liegen blieb. Als die Tochter das sah,
erschrak sie sehr und klagte: „0 meine Mutter, o meine Mutter, nun bist du tot, o meine
Mutter!“ Langsam hob sie sie auf und steckte sie in das Tragnetz, nahm dieses auf den
Rücken und ging weg. So kam sie an eine Wegscheide, da vermied sie nun ihren und ihrer
Mutter Weg zu gehen; sie ließ ihn unbetreten, weil sie fürchtete, die Leute ihres Dorfes
möchten sie beschuldigen. Deshalb betrat sie den Weg der andern Leute.
Während sie dahinschritt, gelangte sie an das Haus einer Frau, die die Leute haufen-
weise roh verzehrte. Die Frau fragte nun das Mädchen: „Saguo (mannbar gewordenes Mäd-
chen), was trägst du denn da ?“ Das Mädchen antwortete unter heftigem Schluchzen: „Ich
trage meine Mutter.“ Die Frau fragte weiter: „Was hat sie denn gemacht, daß du sie trägst ?“
Darauf sagte das Mädchen folgende Worte: „Wir beide fischten im Wasser, bis wir am Ufer-
rand einen Gemec mit reifen Früchten sahen. Ich blieb unten stehen, während sie hinauf-
stieg und aß. Sie warf auch Früchte herab, die ich aß. Indem sie so aß, stieg sie immer höher,
bis eine Astgabel des Baumes abbrach und mitsamt ihr herabstürzte. So hat sie sich zu Tode
gestürzt, deshalb trage ich sie.“ Das schlechte Weib sprach: „Bringe sie her und lege sie
zunächst in mein Haus, später können wir sie ja beerdigen.“ Das Mädchen trug seine Mutter
hin, legte sie in dem Hause nieder und weinte unaufhörlich, wobei sie sich am Dorfplatze auf-
hielt. Die schlechte Frau aber aß schnell die 2 Hände der Mutter des Kindes weg. Als sich
das Kind auf der Erde ausgeweint hatte, stieg sie in das Haus hinauf. Als sie die Hände der
Mutter nicht mehr sah, sprach sie zu sich selbst: Ach, ich habe meine Mutter hergetragen und
dieses schlechte Weib hat sie wohl verzehrt! Die Frau sagte: „0 Saguo, was hast du da ge-
sagt ?“ Darauf antwortete das Mädchen: „Ach, ich habe wohl nur zu mir selbst gesprochen.“
Denn sie fürchtete sich sehr, daß die Frau sie selbst ebenso fressen möchte. Das Mädchen
kehrte auf den Dorfplatz zurück und weinte immer wieder. Schnell fraß indessen das
schlechte Weib ihrer Mutter die zwei Füße weg. Als das Mädchen ins Haus zurückkam, sah
sie, daß die Füße ihrer Mutter nicht mehr vorhanden waren. Deshalb klagte sie wie vorher und
sprach zu sich selbst: Ach, ich habe meine Mutter hergetragen und die Frau da hat einen Teil
von ihr gefressen. Während sie sich wiederum entfernt von ihrer Mutter am Dorfplatz auf-
hielt und weinte, wollte das schlechte Weib sogar den Kopf fressen. Doch der blieb ihr im
Halse stecken. Darum schrie sie dem Mädchen: „0 Saguo, bringe doch schnell einen asa-
Stengel (Costusart) herbei und stoße in meinen Hals hinunter!“ Das Mädchen sprach:
„Ach, ich will dich sehen und dir helfen!“ Damit rannte sie weg, um einen Asastengel zu
holen. Als sie zurückgekommen war, stieß sie ihn der Frau in den Hals hinunter. Dabei
spaltete sie ihr den Kopf, so daß sie tot dalag. Dann erhob sich das Mädchen, raffte die
Güter der Frau zusammen und ging fort.
12. (ZWEITE SAGE MIT LEICHENFRASS)
Eine Frau aß stets Leichname, deshalb wurde sie Ngacmateo (Leichnamsfrau) genannt.
Einst wollten die Leute einen Mann begraben, der einigermaßen ferne lag, in dem Dorfe
Wedeloc, während sie selbst in ihrem Dorfe weilte. Als sie diese Kunde vernahm, ging sie
hin, aber nur, um zu lügen. Immerzu weinte sie, bis in das Dorf hinein. Die Leute sagten zu
ihr: „Steige doch ins Haus hinauf, ruhe und schlafe zunächst! Morgen kannst du dann
wieder zurückkehren.“ Sie aber sprach zu den Leuten: „Habe ich dieses Menschen (des
9 Baessler-Archiv.
6o
STEPHAN LEHNER
Toten) Angesicht schon genügend geschaut ? Wie sprecht ihr denn, ich solle im Hause mit
euch schlafen ? Ich habe mich noch nicht satt gesehen, deshalb will ich auf der Erde (auf dem
Dorfplatz) liegen.“ Das tat sie aber nur, um die Leute zu beobachten, damit sie, wenn erst
alle schliefen, den Leichnam aus dem Grabe holen, in ein Bündel packen und wegtragen
könne, um ihn einstweilen an ihrem Weg aufzuhängen; dann gedachte sie zurückzukommen
und im Dorfe zu schlafen bis zum Morgen. Am nächsten Morgen banden die Leute ein
Schwein und gaben es ihr als Entschädigung für ihre Beileidsbezeugung.1 Sie bestimmten,
daß Jungen ihr Schwein in ihre Dorfschaft tragen sollten, um dann gleich wieder heimzu-
kehren. Sie sprach jedoch; „Ach was, ich selbst trage meine Sache hin!“ Denn sie fürchtete
sich, daß ihre Begleiter ihre Fleischmahlzeit am Wege aufgehängt sehen und alles offenbaren
könnten. Also trug sie selbst ihre Sache und ging damit weg. Dann lud sie sich auch noch den
Leichnam auf und ging so beladen ihrem Dorfe zu. Dort angekommen warf sie das Schwein
der Mombico, ihrer Nachbarin, hin und sprach: „Steige herab, erstich das Schwein und koche
es!“ Mombico stieg hinunter, tötete das Schwein und machte alles zum Kochen fertig.
Währenddessen stieg Ngacmateo in ihr Haus hinauf und kochte ihren Leichnam, um ihn
zu essen. Mombico aber kochte das Schwein. Als es gar gekocht war, rief sie: „0, komme
doch und teile das Schwein!“ Sie kam von ihrem Haus herab, ging hin und gab die eine
Hälfte des Schweines der Mombico, die andre Hälfte aber warf sie den Hunden und Schweinen
zum Fräße hin. Da sagte die Mombico zu ihr: „Die eine Hälfte des Schweines gibst du mir,
die andre sollen Schweine und Hunde fressen, was ißt nun du selbst ?“ Das böse Weib
antwortete: „Ich bin voll Trauer über den Verstorbenen, deshalb esse ich kein Schwein.“
So log sie, nur um ihren Menschen fressen zu können.
In dieser Weise trieb sie es, und so blieb von den Beerdigten in den Dörfern keiner für
immer in der Erde, denn sie fraß alle.
Mit diesem ihrem Tun kam sie aber auch einmal nach Tikeleng am Fluß Bujem, und
hiebei wurde ihr Treiben offenbar. Die Leute von Tikeleng begruben nämlich einen Mann,
während die Frau daheim in ihrem Dorfe saß. Als sie die Kunde empfangen hatte, ging sie
heulend bis ins Dorf. Die Dorfhäupter sprachen zu ihr: „Steige doch in das Haus hinauf und
ruhe! Morgen kannst du dann wieder zurück.“ Sie aber sagte dieselbe Rede, die sie schon
früher gesagt hatte, nämlich: „Wenn ich das Angesicht des Menschen genug gesehen habe,
dann werde ich im Hause schlafen.“ Auf diese Weise belog sie die Leute. Nicht in das Haus
legte sie sich, sondern auf der Erde blieb sie sitzen, bis sie beobachtet hatte, daß alle Leute
schliefen. Dann hob sie den Leichnam empor und brachte ihn fort in den Wald, wo sie ihn
aufhängte, kehrte wieder zurück und legte sich wieder nieder, als ob nichts geschehen wäre.
Am Morgen banden die Leute ein Schwein und 2 Eberzähne zusammen und gaben es ihr als
ihren Anteil für die Bezeugung ihrer Trauer2. Sie nahm es und ging damit weg. Indem sie
so tat und dann auch den eingebündelten Leichnam mit sich schleppte, kam sie in die Dorf-
schaft Talec (eine Stunde von Tikeleng). Dort wurde sie entlarvt und erschlagen.
1 und 2 Klar ist hier veranschaulicht, wie das Gesamttun Gegenleistung. Der Begriff „Geschenk“ liegt ihnen
auf Gegenseitigkeit beruht. Keine Leistung ohne fern.
13. BALOM DING1
D er rohe, lieblose Knabe. — Ein kleiner Knabe mit Vater und Mutter lebten in
ihrem Dorfe. Eines Tages beabsichtigten sein Vater und seine Mutter ins Feld zu gehen.
Da weinte er: er wolle auch mit ins Feld. Sein Vater und seine Mutter sprachen bestimmt,
er solle im Dorf bleiben. Doch das Kind schrie immerzu hinter ihnen her, bis sein Vater,
des Schreiens überdrüssig, hinging, ein Beuteltier erschlug und es ihm gab2 und dabei sagte:
„Hier, nimm das Beuteltier, gehe hin, brate und iß es im Dorfe! Wir beide, ich und deine
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIER STAMMES DER BUKAWAC
6i
Mutter, werden im Felde arbeiten bis in die Nacht, dann kommen wir.“ Das Kind nahm das
Beuteltier und ging hin ins Dorf. Als es sich da aufhielt, kam einer der Geister namens Ding
zum Vorschein, der folgendermaßen zu dem Knaben sprach: ,,0 Vetter, wo hast du denn
dein Beuteltier da her ?“ Der Knabe antwortete: „Mein Beuteltier, das ich da habe, hat mein
Vater erschlagen.“ Wieder sagte der Geist: „0 Vetter, komme, dann braten wir beide es
und essen es gemeinsam!“ Der Junge jedoch weigerte ihm seine Sache und sprach; „Brate
du dir doch selbst eines, das magst du dann verzehren! Mein Vater hat gesagt, daß ich meine
Sache allein essen soll.“ Also röstete der Knabe für sich selbst seine Sache und aß sie bis auf
einen Schenkel, den er aufheben wollte. Dann stand er auf, um Wasser zu trinken. Eben in
dem Moment trat der Geist hinzu und aß schnell den Rest der Mahlzeit weg. Als der Junge
Wasser getrunken hatte und an den Platz zurückgekehrt war, wo er sein Mahl eingenommen
hatte, sah er sein Fleischstück nicht mehr liegen. Darum fragte er; „Mein Beuteltier ist nicht
mehr da; wer hat das wohl gegessen ?“ Der Geist antwortete: „Du hast mir deine Sache ver-
weigert und hast sie selbst gegessen bis auf einen Schenkel, den du liegen ließest. Dann
standest du auf, um Wasser zu trinken. Da hat vielleicht einer der Hunde es gefressen, die
da herumsitzen.“ So leugnete der Geist, daß er es gegessen habe. Der Knabe, der wohl
wußte, wie sichs verhielt, sprach: „0, so ist es. Mags verloren sein! Wenn mein Vater
wieder ein Beuteltier erschlägt, dann wollen wir beide es gemeinsam essen.“3 Weiter sagte
der Junge: „Du Geist, wir beide könnten ja miteinander etwas Kurzweil treiben, wollen wir
doch einander mit gwa (Ccstusstengel) bespeeren! Du brichst dir solche Pfeilrohrstengel ab
und benütze sie als deine Speere und nimm Baumrinde in schiefer (abwehrender) Weise als
deinen Schild!“ Er selbst aber nahm seines Vaters wirklichen Speer und auch seinen Schild.
Dann rief er dem Geist zu: ,,Speere mich! Und er speerte ihn. Wieder sprach der Knabe:
„Du hast nun mich gespeert, also bleib stehen und ich speere dich!“ Der Junge warf seinen
Speer auf des Geistes Rindenschild. Sofort zerbrach die Rinde und der Speer traf den Geist
selbst derart, daß er starb. Darauf nahm der Knabe den Geist, röstete ihn am Feuer und aß
ihn. Nachdem er gegessen hatte, legte er einen Schenkel und ein Schulterstück in einen
Flechtkorb aus Kokosblattfiedern hinein, stieg darauf auf seines Vaters Betelnuß und riß
eine Betelfruchttraube ab, die legte er dazu; weiter holte er noch 4 Kokosnüsse und legte
auch diese mit auf die Veranda des Hauses hin. Ebenso nahm er seines Vaters 2 Eberzähne
und fügte sie den Betel- und Kokosnüssen bei. Er selbst legte sich still auf die Veranda
und wartete auf seinen Vater und seine Mutter, die vom Feld kommen wollten, um sie zu
belügen. Bis seine Mutter und sein Vater kamen, lag er so da. Dann erhob er sich, um sich
zu setzen. Sein Vater und seine Mutter sahen die Sachen, den Korb samt Betel- und Kokos-
nüssen und die Eberzähne, auf der Veranda liegen. Deshalb fragten sie: „Woher stammt
denn diese Sache, die hier auf der Veranda liegt?“ Der Knabe antwortete: „Die Onkel
brachten die Kunde, daß ihr beide hingehen und ihre Tochter einem Mann zur Heirat geben
solltet. Da sie fanden, daß ihr im Felde arbeitet, so gingen sie wieder zurück und gaben selbst
die Frau weg. Uns sandten sie die 2 Eberzähne mit der Betelnußtraube und den Korb.“
Sein Vater und ebenso die Mutter meinten, irrtümlicherweise, das sei die Wahrheit und
glaubten dieser Rede. Die Mutter kochte Taro, die sie sodann mit dem Stück von dem Geist
aßen, den der Knabe getötet und geröstet und einen Teil übrig gelassen hatte. Indem sie also
taten und noch im Essen des schlechten Zeuges, das der Junge erschlagen hatte, begriffen
waren, erkannte sein Vater, daß der Knabe einen Menschen erschlagen hatte, eben den sie
nun aßen. Deshalb sprach der Mann zu seiner Frau: „Was sollen wir nur mit dem Kinde tun ?
Wir hatten es gut ernährt (erzogen) und nun tut es uns so Übles, tötete einen Geist und wir
beide aßen davon eine Weile?!“ Seine Frau antwortete: „Wir ziehen in ein andres Dorf
und verlassen den Knaben; er mag im alten Dorfe bleiben!“ Nachdem beide dieses ver-
abredet hatten, kochte die Frau Taro, jedoch nicht gar. Dann stach sie mittels eines spitzigen
9*
62
STEPHAN LEHNER
Hölzchens4 viele Löcher in die Unterseite der Wassergefäße (ausgehöhlte Kokosnüsse) und
legte diese in einen Netzsack, den sie dem Knaben gab. Dabei sagte sie ihm: „Geh hin und
schöpfe Wasser!“ Während der Knabe hinging, um Wasser zu schöpfen, stach die Frau
geschwind die Taro aus dem Topf heraus, legte den Anteil des Knaben in eine geflochtene
Tasche und hängt sie auf. Dann trugen beide ihre Sachen fort.
1 balom Ding: Geistwesen, die als gefräßig und sehr lang
geschildert werden. Sie sollen auch auf Leichenraub
ausgehen. Zur Erlangung ihres Zweckes können sie
allerlei Verwandlungen vornehmen. Vgl. dazu: R. Neu-
hauss, Deutsch-Neuguinea, Bd. 3, S. 513.
2 Eine feine Darstellung, der melanesischen Kindererzieh-
ung : nicht das Kind hat letzten Endes den Eltern zu fol-
gen, sondern sie beugen sich meist dem Willen des Kindes.
3 Scheinbar mit dem größten Gleichmut geht er über das
ihm angetane Unrecht hinweg, aber nur scheinbar:
denn im innersten Herzen sinnt er auf Rache, die er
auch zu üben weiß, wie der Fortgang der Erzählung
beweist. Auch ein Charakterzug des Volkes!
4 Zum Herausstechen der gekochten Taro benützt man
ein aus festem Holz verfertigtes, gespitztes Stäbchen,
das auch sonst unsre Gabel vertritt.
14. GROSSMUTTERS RAT, IHREM ENKEL ZU EINER FRAU ZU VERHELFEN
Ein Knabe wohnte mit seiner Mutter in ihrem Dorfe. Da sprach einmal der Junge zu
seiner Großmutter; „0 Großmutter, erlaube mir doch, daß ich einmal an einen andren Platz
gehe.“ Die Großmutter fragte: „Willst du segeln oder zu Land gehen?“ Er antwortete:
„0 Großmutter, ich beabsichtige mit dem Boot zu fahren.“ Darauf erwiderte die Groß-
mutter: „Gut so. Bleib noch ein Weilchen hier im Dorf, ich werde ins Feld gehen und Taro
holen. Die koche ich und dann kannst du segeln.“ Am nächsten Morgen ging die Großmutter
ins Feld, brachte Taro und kochte sie, bis sie gar waren. Als der Nordostwind anfing zu
wehen, sagte der Knabe zu seiner Großmutter; „Vorwärts jetzt, tue Taro in meine geflochtene
Tasche, aber achte darauf, daß es eine schöne Tasche ist, nur in eine solche lege meine Taro!“
Die Großmutter zog eine schöne Tasche, eine buntgemusterte, aus den übrigen Binsen-
taschen heraus, in die sie die Taro steckte. Weiter sprach er zu seiner Großmutter: „Bringe
mir auch meinen Netzsack mit der Hundezähneverzierung, daß ich ihn umhänge!“ Die Groß-
mutter zog abermals eine schöne Tasche heraus, diesmal eine Netztasche mit Hundezahn-
besatz. Die gab sie ihm und gleich hängte er sie sich um. Nun sprach die Großmutter:
„Bringe mir vorher, ehe du fortgehst, einmal die Frucht eines Mete-Baumes (Strandschön-
blatt, Callophyllum inophyllum) her!“ Als er sie gebracht hatte, sprach seine Großmutter
einen Spruch darauf (bezauberte die Frucht) und ermahnte ihn folgendermaßen: „Diese
Schönblattfrucht bleibe in deiner Tasche liegen! Und wenn du viele Frauen beisammen
siehst, dann unternimm nichts; siehst du aber nur eine Frau, die vielleicht badet oder beim
Wasserschöpfen ist, dann halte dich versteckt und wirf diese Frucht auf sie!“ Nachdem
die Großmutter ihn also ermahnt hatte, erhob er sich und brachte seinen Sewam (großer
Flaschenkürbis, der von vielen Frauen als Wassergefäß benutzt wird) an die See, dort warf
er ihn hinein und setzte sich selbst darauf. Der hohle Flaschenkürbis diente ihm als Boot.
Seine Großmutter blieb am Ufer stehen und rief ihm zu: „O, siehe dich ordentlich vor!
Wenn dich die Leute erwischen, so erschlagen sie dich!“ Er erwiderte: „0 Großmutter,
warum sollten sie denn so handeln und mich erschlagen?“ Die Großmutter sagte: „Du
selbst wirst es schon erfahren, ich will da nichts weiter sagen; ich bin nur ein unbrauchbares
Ding, eine Feuerplatzhockerin.“ (Eine abgearbeitete Frau, die ihre meiste nunmehrige Zeit
am Feuerplatz im Hause sitzt.)
Nachdem sie ihren Enkel also ermahnt hatte, begann der Südwind zu wehen und er
segelte weg und dahin, bis er an das Ufer eines andren Dorfes kam. Schnell sprang er an das
Land und machte sein Flaschenkürbisboot im Strandwindengewirr mit einer Schling-
pflanze fest. Bald sah er, daß alle Leute des Dorfes bis auf eine Saguo (geschlechtsreifes
Mädchen) ins Feld gegangen waren. Das Mädchen saß allein im Dorfe, denn ihre Onkel
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
63
mütterlicherseits (salangwa) und ihre Onkel väterlicherseits (tama saung; kleiner Vater)
hatten ihr ihre Kinder übergeben, daß sie im Dorf bleibe und sie hüte. Das Mädchen selbst
hatte eben Taro abgeschält und beabsichtigte nun Seewasser zu schöpfen. Sie ging hin
und schöpfte. Da sah sie der Knabe. Darum versteckte er sich inmitten der Gasoc (Bäume
mit kleinen, weißen Blütenstengeln) und warf von da aus die Schönblattfrucht gerade auf
• den Rücken der Frau, die darob sehr erschrak. Sie hob die Frucht auf und suchte nach dem,
der sie geworfen hatte. Unermüdlich suchte sie, bis sie den Mann selbst im Gasoc-Dickicht
stehend fand. Beide unterhielten sich miteinander. Als sie ihr Gespräch beendet hatten,
sagte die Frau; „Du, bleibe zunächst hier im Walde; ich will noch die Taro fertig kochen.“
Sie ging hin und kochte die Taro, bis sie gar waren, dann stach sie sie aus dem Topf heraus
und teilte sie den Jungen und Mädchen ihrer Onkel aus. Als sie gegessen hatten, belog sie sie,
indem sie sprach: „Geht jetzt in das dortige Dorf (einen anderen Dorfteil)! Ich werde hier
bleiben.“ Sie gingen. Nun packte die Frau ihre Sachen alle zusammen und trug sie zu dem
Manne hin, und beide brachten sie dann auf sein Boot. Die Frau sprach: „Wird das Boot
wohl oben liegen bleiben oder sinken?“ Der Mann erwiderte: „O, es sinkt nicht.“ Also
bestiegen sie es beide und segelten weg. Bald erreichten sie den Ort des Mannes, wo sie das
Boot ans Land brachten. Als des Mannes Großmutter das Boot am Bootsplatz anfahren
sah, eilte sie zum Strand hinab, um ihres Enkels und ihrer Schwiegertochter Sachen zu tragen
so gelangten alle in das Dorf. Dort fragte ihn die Großmutter: „Als du die Frau da nahmst,
haben dich dabei die Leute gesehen oder nicht ?“ Er erwiderte: „0 Großmutter, die Leute
haben mich nicht gesehen. Sie waren allesamt im Felde. Nur die Frau da, die ich nahm,
war allein im Dorfe.“ Die Großmutter meinte: „0, die Leute waren wohl da und sahen,
sahen dich gewiß!“
Die Anverwandten der Frau suchten lange nach ihr, in ihren Dörfern. Endlich flog ihr
Onkel namens Malingbong umher und suchte weiter, bis er in das Dorf kam, in dem sich die
Frau befand. Da flog er auf den Dorfplatz hinab, wo er sie sah. Auf einen Gemec-Baum, der
am Dorfplatz stand, ließ er sich nieder, während die Leute schliefen, und verursachte dabei
ziemlich Geräusch im Gemeclaub. Die alte Frau, die dort wohnte, eben die Großmutter,
hörte das und rief: „0, der Gemec meines Kindes und seiner Frau ist unruhig. Welche
schlechten Vögel sitzen wohl dort und fressen die reifen Früchte ?“ Nachdem die alte Frau
so gesprochen hatte, schlief sie wieder. Die Schwiegertochter aber erkannte ihren Onkel,
stand auf, ging hinunter auf den Dorfplatz, stellte sich an den Stamm des Gemec und fragte:
„Onkel, bist du da ?“ Der Onkel bejahte es und sprach: „Ja ich bin es.“ Seine Nichte bat:
„Komm doch herunter!“ Der Onkel kam hernieder und stellte sich neben sie. Dann gingen
beide ins Haus hinauf. Die Frau weckte ihren Mann auf und sagte zu ihm; „Mein Onkel ist
gekommen.“ Der Mann erhob sich, wickelte Tabak zu einer Zigarre1 und gab sie dem Onkel
seiner Frau. Der trank1 2 sie. Nachdem sie geraucht hatten, schliefen sie wieder bis zum
Morgen. Nun sprach der Mann zu seiner Frau: „Schicke doch deinen Onkel hin, daß er deine
Leute und deine Väter herbringe!“ Die Frau sagte darum zu ihrem Onkel: „Gehe und
bringe die Leute her!“ Malingbong lief und holte die Leute herbei, von welchen der Junge
und seine Großmutter die Frau dann loslösten (mittels Wertsachen kauften). Nachdem das
geschehen war, war dieses Mädchen, das der Junge geheiratet hatte, seine Frau3.
1 Eine Zigarre, die man einem andern darreicht, offenbart,
je nachdem sie angenommen oder abgelehnt wird, ob
zwischen Geber und Nehmer Freundschaft oder Arg-
wohn besteht. Sie ist das was die Friedenspfeife bei den
Indianern ist.
2 Trinken (auch essen): den Tabak; diese Anschauung
erklärt der Eingeborene damit, daß er den Rauch ver-
schluckt.
3 Dieser Zug zeigt recht deutlich, welche Stellung das
Weib einnimmt: sie ist eine Sache; sodann was Verheira-
tung ist: sie ist ein Geschäft. Von sittlicher Entrüstung
über Entführung und Entehrung des Mädchens keine
Spur; die Anverwandten erhalten den geforderten
Kaufpreis und damit ist alles erledigt.
64
STEPHAN LEHNER
15. DIE REDE VON EINEM KIND UND SEINER GROSSMUTTER
Der vergessene Pfeil als Glückbringer. — Sie beide wohnten in einem Dorfe für
sich allein. Die Großmutter ging nicht ins Feld, sondern blieb im Dorfe; der Enkel arbeitete
für sie. ZurZeit des Feldschlagens ging er und schlug das Feld; dann pflanzte die Großmutter
und er blieb im Dorfe. Als er wieder einmal bschäftigt war Feld zu schlagen und noch einen
Baumwürger, der einen kalem (Bretterbaum) umklammert hielt, ringsherum gesäubert
hatte, ließ er ihn stehen und kehrte ins Dorf zurück. Am nächsten Morgen kam er wieder,
um die Äste des Baumes abzuschlagen. Als er bei dem Abschlagen der Zweige war, sah er
eine Taube landeinwärts fliegen. Zunächst wollte er sie schießen, dann sagte er sich aber:
Nein, sie soll leben bleiben! Bald darauf sah er einen Kakadu hinter sich fliegen. Da nahm
er seinen Pfeil und schmückte ihn mit Vogelfedern sehr, sehr schön, gleich dem Kakadu
selbst und schoß ihn tot, ließ aber Pfeil samt Vogel liegen.
Zu jener Zeit lebte ein mannbar gewordenes Mädchen, die hatten sie einem alten Manne
gegeben1. Das Mädchen aber mochte ihn nicht und folgte ihm daher nur äußerlich nach.
In solcher Weise gingen sie beide eines Morgens zur Feldarbeit. Der Mann ging voran ins
neue Feld, während die Frau noch mit dem Abschneiden der Taorsetzlinge im alten Feld
beschäftigt war. Da gewahrte sie den verlassenen Kakadu nebst Pfeil. Nachdem sie ihre
Tarosetzlinge abgeschnitten hatte, ging sie hin und hob den Vogel nebst Pfeil auf. Sie
betrachtete ihn und dachte bei sich; Woher mag nur der Vogel mit dem Pfeil stammen ?
Sie zog den Pfeil aus dem Vogelkörper und deutete, um die Richtung seiner Herkunft zu
erforschen, ostwärts. Aber sie sah: der Federschmuck des Pfeiles blieb unbewegt. Dann
zeigte sie mit dem Pfeil in südliche Richtung , aber wieder blieb der Pfeil unbeweglich. Dann
deutete sie landeinwärts; da sah sie, wie sich der Federschmuck des Pfeiles bewegte. Sie
sprach bei sich: Dort liegt also der wirkliche Ursprungsort, dorthin will ich gehen.
Sie ging den Fluß Bungka (zwischen Adler- und Busofluß, fließt in den Hüongolf) hinauf,
bis sie an eine Stelle kam, woselbst sie einen Mann singen hörte. Immer weiter ging sie, bis
sie unter einen Baum zu stehen kam. Auf einem Zweig dieses Baumes stand ein Mann und
schlug Äste ab und bei jedem neuen Ast ließ er laut folgenden Gesang ertönen: ,,Das Kind
eines Inlandbewohners holte sich Frauen von den Laugwe an der Küste (Bewohner eines
Dorfes in der Bayernbucht; Hüongolf). Es holte sich eine, und wieder holte es sich eine,
und abermals holte es sich eine. Drei Frauen holte es sich, ha, ha.“2 Als er den Baum fertig
entästet hatte und herunter kam, sah er die Frau stehen, die zu ihm sagte: „Die Sache da,
auf der dein Auge ruht (gemeint ist das Fied vom Frauenholen), ist das wirklich deine Art
drei oder zwei kommen zu lassen und zu heiraten ? Wenn nicht, warum stehst du dann so
da und singst ?“' Der Mann sagte: „Was geht denn dich die Sache an ? Weshalb bist du denn
gekommen?“ Da zeigte ihm die Frau den Pfeil mit der Bemerkung: „Wem gehört der
wohl ?“ Der Mann antwortete: „Bergbewohner gibt es in allen Dörfern. Ist wohl der Pfeil
von einem von ihnen ? Was weiß ich ?!“ Die Frau aber sagte: „Nein, mit dem Pfeile deutete
ich nach Osten und nichts regte sich und ich deutete nach Süden und wieder regte sich
nichts, aber als ich in die Richtung landeinwärts zeigte, hierher, da sah ich, wie die Federn
auf- und niederwippten. Deshalb bin ich hierher gekommen und begegnete dir.“ Da lachte
der Mann und offenbarte sich, dann nahm er die Frau mit sich.
Als beide das Dorf erreicht hatten, stellte er die Frau unter einen wilden Feigenbaum
(gemec ngamoke), er selbst aber ging ins Dorf hinein, wo eben die Großmutter Taro und
Fleisch kochte. Nachdem sie alles gar gekocht hatte, stellte sie das Essen auf die Veranda
des Hauses hin, daß er esse. Als sie es abgestellt hatte, sandte er die Großmutter hin: „Hole
meine Tasche von dort, wo ich den Baum fällte! Der Baum hat meine Hand verletzt, so daß
sie mich schmerzt, deshalb ließ ich die Tasche am Stamm des wilden Feigenbaumes liegen“3.
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
65
Die Großmutter ging, um sie zu holen; da sah sie gleich den lachenden Mund (beide Zahn-
reihen) der Frau. Gleich nahm sie sie mit sich. Nachdem beide das Dorf betreten hatten,
fragte sie den Mann selbst: „Woher kommt diese ?“ Er antwortete: „Die Frau folgte mir
eben jetzt nach.“ Da sagte die Großmutter: ,
und bleibe bei uns beiden!“
1 Weist auf den oft krassen Egoismus unsrer Ein-
geborenen hin und zugleich auf die Stellung der Frau,
die ehedem gleichsam an den Meistbietenden ver-
schachert wurde.
2 Eine treffende Enthüllung der Gedankenwelt eines
jungen Neuguinea-Eingebornen.
,Du hast gut getan. Hier ist Raum. Sie komme
3 Ein Beispiel konventioneller Lüge. Der Sittenkodex
unsrer Leute schreibt vor, nie „mit der Tür ins Haus zu
fallen“; unliebsame Dinge müssen in verhüllter Rede-
weise zu verstehen, besser zu erraten gegeben werden.
16. WA LEWE
Wa lewe sind reife Mango (Mangifera minor). Besser wäre als Überschrift etwa: Was
es mit der Elerkunft der zwei schönen Papageien Oliom und 016c für eine Be-
wandtnis hat. — Zwei Frauen, die beide ohne Männer waren, fingen einen Aal. Sie hoben
ihn aus dem Wasser und steckten ihn in eine Kalabasse, auch gossen sie Wasser dazu hinein
und sprachen, das sei ihr Mann. Nachdem beide ihre Angelegenheiten richtig angeordnet
hatten, versteckten sie den Kürbis mit seinem Inhalt, damit ihn ihre beiden Kinder nicht
sähen. So hatten sie gehandelt. Nun warteten sie ab.
Eines Tages beobachteten beide ihre beiden Kinder, wie sie zum Wasser hingingen.
Da versteckten sie die Kalabasse auf das Holzgerüst1 im Hause. Dort lag sie nun. Dann
gingen beide ins Feld. Die beiden Kinder kamen vom Wasser auch wieder ans Land, rösteten
ihre Fische, bis sie gar waren, und aßen sie mit Taro zusammen auf. Da dürstete sie, deshalb
suchten sie nach Wasser. Sie schüttelten alle Kalabassen, mußten aber erkennen, daß alle
leer waren. Und einer von beiden fragte den andern: „Ist Wasser hier, oder nicht ?“ Der eine
wie der andre sprach: „Nein.“ Nach dieser gegenseitigen Unterhaltung suchten sie abermals
unverdrossen. Und als einer von ihnen auf das Topfgestell hinaufgestiegen war und alle
dortigen Gefäße schüttelte, gelangte er auch zu dem Kürbiswasserbehälter, in den die Frauen
ihren Mann hineingesteckt hatten. Er hob ihn empor und schüttelte ihn, und als er das Wasser
erkannte, rief er seinen Freund, daß er komme und sie beide das Wasser tränken. Der eine
trank, bis er den Schwanz des Aales fühlte, der seine Zunge berührte. Da erschrak er und
sprach: „Was hat denn meine Zunge berührt ?“ Der andere Knabe sagte: „Gib mir her zu
trinken, daß ich einmal sehe!“ Also nahm er die Kalabasse und trank, bis er das Gleiche
fühlte wie sein Freund. Da sprachen beide zu einander: „O, unsre Mütter taten wohl etwas
da hinein, während wir weg waren. Wollen wir doch den Kürbis zerschlagen, damit wir es
sehen!“ Sie zerschlugen den Kürbis und sahen nun die Sache selbst, die hin- und herschnalzte.
Beide freuten sich darüber und schlugen den Aal tot, dann holten sie den Topf herbei und
steckten ihn hinein, um ihn zu kochen. Zu dem Zweck brachten sie ihn aufs Feuer und als er
nach ihrer Meinung gar gekocht war, stachen sie ihn heraus, daß sie ihn äßen. Da merkten
sie, daß er noch roh war. Sie rösteten ihn nochmals, so daß der Duft des Fettes den ganzen
Platz erfüllte.
Die beiden. Mütter hatten ihre Feldarbeit verrichtet; nun sammelten sie die Taro und
luden sie sich auf, um dem Dorfe zuzugehen. So gelangten sie zu einem Platze Bugaimbam
(an der Südwestseite des Locgaweng). Da rochen sie den Duft des Fettes und sprachen zu
einander: „0, die beiden Kinder haben uns übel getan!“ Beide drängten nun vorwärts, in
das Dorf hinaufzukommen. Eilig rannten sie zum Ort der Sache selbst (zu dem Topf, dem
der Duft entströmte). Als sie aber keine Spur mehr sahen, vermochten sie kein Wort zu
66
STEPHAN LEHNER
reden, sie verharrten in Sprachlosigkeit, denn ihr Inneres schmerzte sie ungemein. Endlich
sagten beide zueinander: „Die Kinder haben eine Tat gegen uns beide vollbracht. Nun
wollen wir beide ihnen einmal etwas tun! Wir kochen jetzt unsre Taro, dann nehmen wir
unsre Netzsäcke mit den Taro auf und ziehen fort, und die Kinder überlassen wir sich selbst.“
Nachdem sie also miteinander gesprochen hatten, kochten sie im beschleunigten Tempo
(seno neng mo sejam andanggeng) ihre Taro. Als sie gar gekocht waren, stachen sie sie mittels
eines (eigens dafür vorhandenen) Stäbchens (das unsre Gabel vertritt) aus dem Topf heraus.
Beide trugen nun ihren Netzsack, in den sie die Taro gelegt hatten. Die eine Frau aber
bemitleidete ihren Sohn; sie legte seine Taro für ihn hin und dämpfte ihr Feuer nur, also daß
es weiterglimmte. Die andre Frau aber bemitleidete ihr Kind nicht; deswegen legte sie keine
Taro hin und goß das Feuer mit Wasser aus. Nachdem sie beide also getan hatten, nahmen
sie ihre Taro in den Netzsäcken und gingen an einen andren Ort. Ihre beiden Kinder über-
ließen sie sich selbst.
Die beiden Kinder hatten sich mit kleinen Pfeilen Fische geschossen und brachten sie
hinauf ins Dorf. Da sahen sie, daß ihre beiden Mütter spurlos verschwunden waren. Beide
weinten und suchten. Während sie suchten, fand der eine Knabe seine Taro und fragte den
andren wegen der seinigen. Der sprach „Ich habe keine, für mich liegen keine da.“ So unter-
hielten sie sich zusammen und ermunterten sich: „Vorwärts, noch einmal wollen wir beide
suchen, ob wir etwas finden!“ Beim Weitersuchen stieß der Junge, der schon die Taro ge-
funden hatte, auch auf das Feuer, das er zur Flamme anblies. Der andre trat zu ihm und
beide rösteten nun ihre Fische, die sie vom Wasser mitgebracht hatten. Als die Fische auf
dem Feuer fertig gebraten waren, aßen sie beide die Fische mit Taro. Nachdem sie gegessen
hatten, nahmen sie die übrigen Taro und gingen den Fußspuren ihrer Mütter nach. Sie
gingen bis in die Nacht hinein, aber noch blieb ein Zwischenraum, sie hatten sie nicht ein-
geholt. Infolgedessen legten sich die beiden Mütter an einen Ort vor ihnen, sie beide lagen
während der Nacht eine Strecke hinter den Frauen. Bis zum Morgen lagen sie, dann gingen
sie wiederum. Die beiden Mütter marschierten vorneweg, sie beide gingen hintennach.
Im Weitergehen kamen sie an einen Platz, an dem ein großer Mangobaum stand. Der
trug viele Früchte, die alle reif waren und zur Erde herabfielen. Deshalb kamen viele
Schweine aus dem Walde, die reifen Mango zu fressen. Beide Jungen sahen das und riefen
dem zweistammigen Baum zu: „0 Großmutter*, neige dich doch zu uns herunter und hebe
uns beide hinauf!“ Als sie so dastanden und riefen, sahen sie, wie sich der Mangobaum
herabneigte und zu ihnen beiden herunterkam; da stiegen beide hinauf und setzten sich
darauf. Als sich der Baum mit ihnen wieder hob, kamen sie in seine Spitze zu sitzen. Dort
beobachteten sie die vielen Schweine, die herauskamen aus dem Walde, und der eine fragte
den andern: „Hast du einen Obsidiansplitter, oder nicht ?“ Beide durchsuchten eifrig ihre
Netztäschchen, bis sie in dem Täschchen des einen den gewünschten Obsidian entdeckten.
Hierauf drückten sie eine reife Frucht aus und steckten den scharfen Splitter in das Innere
der ausgepreßten Frucht hinein. Beide hielten sich nun fest und schüttelten reife Mango
hinunter nach allen Seiten unter die kleinen Schweine. So taten sie, daß diese sich ihnen
wieder zuwandten. Dann warfen beide die reife Frucht mit dem scharfen Splitter auch hin-
unter. Sie warfen sie einem großen Schweine zu, das sah die Frucht und wollte sie fressen.
Doch der Splitter schnitt ihm die Kehle durch. Sie verfolgten mit ihren Augen den Vorgang,
bis es tot dalag. Hierauf sprachen beide zum Mangobaum: „0 Großmutter, hebe uns über
die Bäume (die den Mangobaum überragten) hinauf, wir wollen nach Feuer sehen!“ Die
Großmutter, nämlich der Mangobaum selbst, hob sie beide hinauf.
Da sahen sie das Feuer einer Frau namens Okemo. Sie arbeitete im Feld, während sie
ihr Kind an einen Baumstumpf hingehängt hatte. Der Mangobaum, den sie ihre Großmutter
nannten, hatte beide emporgehoben, so daß sie oben sitzend der Okemo Feuer sahen. Nun
t
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIER STAMMES DER BUKAWAC
67
sprachen sie beide zum Baume selbst: ,,Großmutter, senke dich doch hinunter!“ Da beugte
er sich hinunter zur Erde und beide stiegen ab; der Mangobaum aber streckte sich wieder in
die Höhe. Während der ältere der beiden Jungen mit dem Binden des Schweines beschäftigt
war, lief der andre bis hin in das Feld der Okemo, wo er die Frau selbst antraf, wie sie den
Platz reinigte. Er sah, wie sie eine Eidechse und eine Heuschrecke und einen Regenwurm,
die sie bei der Arbeit erblickte, so schnell und durcheinander aß (jalep jalep), so schnell sie
es nur erhaschen konnte. Als der Junge hinkam und sie solche Sachen treiben sah, fürchtete
er sich und zog sich zurück. Im Zurückweichen trat er auf ein Holz, das brach. Das Geräusch
davon hörte die Frau. Sie erhob ihre Augen und sah den Knaben stehen. Sie fragte ihn:
„Woher kommst du ?“ Der Junge erwiderte ihr: „Ich bin bei meinem älteren Bruder. Der
sitzt und sendet mich, Feuer zu holen, daß wir unser Schwein absengen können.“ Okemo
antwortete: „Ach, ach, Junge, ach Junge, hucke doch deinen Neffen da auf, dann wollen
wir gehen!“ Ihr Kind aber war nicht schön. Es war lauter Knochen, sein Körper war mit
Wunden bedeckt, deren Absonderung ungemein schlecht (übelriechend) war. Okemo selbst
nahm das Feuer und gab ihr Kind dem Jungen zu tragen. Der Junge fürchtete, wenn er sich
weigere, so werde Okemo ihn aufessen. Deshalb trug er der Frau ihr Kind nach, denn sie
selbst leuchtete mit dem Feuer voran.
So gingen sie. Während sie so dahingingen, stachen die Knochen des Kindes der Okemo
den Jungen, der es trug, und er schlug das Kind, daß es weinte. Okemo rief: „O, o, was hast
du denn deinem Neffen getan?“ Der Junge erwiderte: „Er weint nur so.“ Da sagte die
Mutter: „Trage ihn doch ordentlich.“ Er sprach: „Ich trage ihn gut und doch weint er.“
Okemo sagte, daß sie schneller gehen sollten, „um hinzukommen, wo dein Bruder uns
erwartet.“ Der sah sie und sprach kein Wort, sondern verhielt sich schweigend, nur dachte
er bei sich: Wo mag er wohl herkommen ? Das dachte er bei sich selbst.
Nachdem sie das Feuer zur Flamme angefacht hatten, sengten sie das Schwein und
schnell und begierig aß die Frau alles Abgesengte, die Haar- und Borstenreste nebst den Horn-
schalen der Klauen. Beide sahen das, sagten aber nichts, sondern hatten nur ihre Gedanken.
Als sie das Schwein zerteilt hatten, steckten sie das Fleisch in den Topf, die Eingeweide aber
gaben sie der Okemo. Die Frau nahm sie und ging damit zum Wasser hinunter, um sie zu
reinigen. Die beiden aber kochten das Fleisch mit vermehrter Feuerskraft, bis es gar war.
Dann hoben sie es aus dem Topf, um es wegzutragen. Das Kind der Okemo aber erschlugen
sie und steckten es in den Topf, der am Feuer stand. Dann nahmen sie ihr Fleisch auf und
riefen den zwei Mangobäumen zu: „Ihr beiden Großmütter, neigt euch hernieder und hebt
uns beide empor! Wir möchten hinauf.“ Nachdem sie so gerufen hatten, neigten sich die
Bäume herab und beide stiegen hinauf und setzten sich auf sie. So wurden sie emporgehoben.
Als sie so droben saßen, sahen sie Okemo wieder erscheinen und sagten zu ihr; „Dein Fleisch
dort ist im Topf drin. Das iß!“ Okemo hörte diese Rede und erschrak und sprach zornig:
„0, euch Menschen werde ich fressen, fressen will ich euch Menschen!“ Die beiden ent-
gegneten ihr: „Iß dein erjagtes Wildbret!“ Während sie nun aß, entdeckte sie ihres eigenen
Kindes Kopf. Als sie den sah, erschrak sie und brüllte im Zorn: „O, diese beiden Menschen
werde ich fressen!“ Auf solche Weise gebärdete sie sich unten am Mangobaum. Die beiden
Jungen riefen als Antwort der Frau hinunter und sprachen: „Solches hast du uns beiden
getan: als wir beide das Schwein zerteilten, da aßest du mit deinem Mund begierig und alles
durcheinander, mit deinem sonderbar leichtbeweglichen Mund, und uns hast du beide wie
Tölpel behandelt. Nun, hast du etwa dein gutes Wildbret dort schon gegessen ?“ Die Frau
erwiderte und sprach: „O, die beiden Menschen will ich auffressen! 0, ich sollte die beiden
Menschen auffressen!“ Sie entgegneten ihr: „Dort ist dein Platz, dort bleibe!“ Das Weib
sagte: „Ihr beide geht wohl nicht weg ? Ihr bleibt hier und wollt wohl mich essen ?“ Die beiden
antworteten abermals: „Dein Platz ist dort.“ Darauf sprach die Frau wieder: „Ihr, bleibt
IO Baessler-Archiv.
68
STEPHAN LEHNER
doch! Wo wollt ihr auch hin?“ Beide sprachen zu ihr abermals: „Dein Platz ist dort!1"
Darauf nagte das Weib den Stamm des Mangobaumes von allen Seiten ab, um ihn zum
Absterben und Umstürzen zu bringen. Das tat sie unausgesetzt, bis ihre Lippen und ihr
Zahnfleisch bluteten und vor Schmerz brannten. Dann rannte sie in das Dorf, um die Leute
vom Dorfe aufzurufen. Während diese hingingen, lief sie selbst voran, erhob ihre Augen
und sah die Knaben ungemein schön geschmückt. Okemo ging wieder ins Dorf und brachte
den Leute diese Kunde, daß sich die beiden Jungen sehr schön geschmückt hätten. Unter-
dessen verwandelte sich der eine Junge in einen Gliom (kleiner Edelpapagei) und der andere in
einen 016c (ebendfalls kleiner, buntfarbiger Papagei). Nachdem sie sich also verwandelt
hatten, probierten sie ihre Flügel, indem sie auf andre Bäume flogen und dann wieder an
ihren Platz auf den Mangobaum zurückkehrten, um sich auf seinen Zweigen aufzuhalten.
Okemo hatte derweil die Leute vom Dorfe gebracht, die sich nun um den Stamm der
Mangobäume scharten. Okemo sah empor und erkannte ihrer beider Schmuck als sehr schön,
denn ihre Körper sah sie längst glänzen. Sie forderte die Leute auf, den Baum zu fällen.
Aber die Kerben, die das Beil schlug, füllten sich immer wieder schnell. So oft sie auch
schlugen, sie brachten ihn nicht zu Fall, aber unermüdlich schlugen sie. Indem sie so schlugen,
warf ein kleines Kind Späne vom Baum auf das Feuer, und als sie das Feuer verbrannte,
da füllte der Baum die Kerben, die das Beil schlug, nicht mehr aus. Als sie das sahen, hieben
auch andre Leute zu, und trugen die Holzabfälle vom Baum auf das Feuer, daß es sie
verzehre. Nach langer Arbeit geschah es endlich, daß der Baum fiel. Er neigte sich zunächst
auf eine Seite hin, da flohen die Leute und stellten sich auf die andre Seite. Zuletzt stürzte
er aber doch dahin, wo die Leute standen, und erschlug, was dort stand, auch die Okemo
selbst mit. Nur einzelne, die auf der andern Seite gestanden waren, gingen ins Dorf und
erzählten den Dorfleuten das Geschehnis.
Die 2 Vögel aber, die in der Spitze des Baumes saßen, blieben sitzen, bis er fiel. Dann
erst flogen sie weg, um sich auf einen andern Baum niederzulassen. Später flogen sie in die
hintern Berge. Beide halten sich jetzt da auf. Wenn die Trockenzeit herannaht und das
Wetter schön ist, dann fliegen sie heraus und halten sich außen in den Wäldern auf die See
zu auf und rufen. Wenn aber das Wetter schlecht ist, kommen sie nicht heraus, sondern
bleiben in den Bergen und im dichten Wald. Nur wenn das Wetter gut ist, sehen wir die zwei
Vögel; ist aber das Wetter schlecht, so sehen wir sie nicht.
1 deng: kleinere Hänge über dem Feuerplatz im Ein-
gebornenhaus, dienen zum Holztrocknen, Fleisch-
räuchern, ^.ufbewahren von Speisen, als Dörrherde.
Daneben ist kolong das stärkere Gestell für Mulden,
Holz, Töpfe und Matten.
2 Der Mangobaum, eigentlich „doppelstammiger“, wird
bald als einer, bald als zwei angesehen. In dem Baum
sind die Mütter der beiden Knaben, eben verwandelt in
Mangobäume, zu erkennen. Als Großmutter oder Groß-
mütter werden sie angeredet, weil man von Leuten, die
mit Ehrennamen oder Koseworten angeredet werden, er-
warten darf, daß sie die Bitten gewähren. Hätten sie sie
als Mutter angeredet, mußten sie fürchten, daß ihre Übel-
taten neu erwachten und sie keine Hilfe erhalten hätten.
17. DIE SCHLANGE KEMOC
Rätselhaftes Verschwinden und Wiederfinden. — Es lebte eine Schlange mit
zwei Enkelkindern in ihrer hohlen Speerpalme. Zu der Zeit zog eine Dorfschaft zum Meere
hin, eben als sie eine Einladung von Kela zum Tanzfest erhielt. Da sandten die Leute, die
auf dem Weg zur Küste waren, einen Jungen in ihr Dorf zurück, um die Tanzbotschaft auch
den übrigen Leuten zu sagen, die noch im Dorfe weilten.
Aber der Junge verirrte sich. Da kamen die Enkelinnen der Schlange Kemoc aus ihrer
Höhlung hervor und sahen den Knaben daherkommen und sprachen zu ihrer Großmutter,
der Schlange Kemoc: „O Großmutter, bringe uns doch unsern Mann dort her, daß wir ihn
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIERSTAMMES DER BUKAWAC
69
als unsre Sache heiraten!“ Die Großmutter stimmte zu und sprach zur Speerpalme: „Spalte
dich!“ Die Palme spaltete sich voneinander derart, daß sie den Weg verstellte, und so
brachten die beiden Mädchen den Jungen in die Höhlung der Palme hinein, die dann den
Knaben umschloß.
Die Leute aber, die den Jungen geschickt hatten, warteten auf ihn, daß er zurück-
komme, bis die Sonne in der Mitte stand. Dann sandten sie einen andren Knaben. Aber auch
der verirrte sich, und wieder sahen die zwei Enkelinnen, die hervorgekommen waren, den
verirrten Jungen und sprachen abermals zu ihrer Großmutter; „O Großmutter, dort kommt
unser Mann her!“ Die Großmutter bejahte wiederum und sagte zur Speerpalme: „Spalte
dich!“ und die Palme spaltete sich und nahm den ganzen Weg ein, und abermals nahmen sie
den Burschen zu sich in das Innere der Palme, die ihn umschloß. Nach einiger Zeit wurde
die Frau des einen Jungen schwanger. Die Leute an der See aber warteten und warteten
immerzu auf die Rückkehr der Knaben, doch vergeblich.
Schließlich ging ein alter Mann ins Dorf zurück. Als er hinkam, fragte er, ob die zwei
Jungen, die sie gesandt hätten, gekommen seien, oder nicht ? Die Dorfleute erwogen die
Rede und antworteten: „Nein, sie kamen nicht zu uns.“ Diese Kunde brachten sie den
Leuten an der See. Die ließen das Tanzen sein und begaben sich auf die Suche nach den
Jungen, doch vergeblich, und so ließen sie es sein. Sie ließen die Sachen ruhen, bis die Väter
und Mütter der beiden Knaben den Trauerschmuck, den sie ihretwegen angelegt hatten,
wieder ablegten, nachdem die Trauerzeichen zerrissen waren1. So ließ man die Sache auf
sich beruhen und lebte lange Zeit dahin, als einmal ein Mann von der andern Meeresseite
herüberkam, um Kaseselio, die Enkelin der Kaseselio (eine Nahrungspflanze) zu begleiten,
weil sie verheiratet werden sollte. Er ging aber fehl. Da sah er die Schlange Kemoc mit einer
geschmückten Trommel und selbst mit zwei Hahnenfedern geputzt hervorkommen. Sie
betrat eine Plattform, tanzte und sang folgendes Lied: „Ich bin die Frau, die Schlange
Kemoc. Ich bin die Frau, die Schlange Kemoc. Mein Antlitz stand zu Männern, zu Män-
nern.“ So singend stand sie da, und der Mann, der irrgegangen war, blieb stehen, als er sie
hörte, und lauschte, bis er es ordentlich gehört hatte. Dann sprach er zu sich selbst: O, das
ist nun die Sache, die wir finden wollten, als wir nach den zwei Jungen auf der Suche
waren! Der Mann eilte zurück; die Enkelin der Kaseselio ließ er stehen, rasch eilte er rück-
wärts, ununterbrochen, bis er das Dorf erreicht hatte. Dort sprach er zu den Müttern und
Vätern der beiden Knaben; „Mit den bewußten Kindern, nach denen wir solange gesucht
haben, verhält sichs folgendermaßen; Ich ging, um Kaseselio zu begleiten, verirrte mich
aber; da hörte ich eine Frau, die mit einer Trommel und mit zwei Hahnenfedern geschmückt
auf einer Plattform stand. Dort trommelte und tanzte sie und sang dabei das Lied: Ich bin
die Frau, die Schlange Kemoc, die Schlange Kemoc bin ich, und mein Antlitz ging nach
Männern, ja nach Männern ging mein Antlitz. So sang sie, ich habe es gehört und bin nun
gekommen.“ Nach dieser Erzählung schliefen sie bis zum Morgen.
Dann machten sich die Mütter und die Väter der beiden Knaben auf den Weg. Sie
gingen ins Dickicht hinein. Da hörten sie die Frau selbst, die mit einer Trommel und mit zwei
Hahnenfedern geschmückt herauskam und abermals sang: „Ich bin die Frau, die Schlange
Kemoc, mein Antlitz steht nach Männern, nach meiner Sache steht mein Antlitz!“ So sang
sie. Das hatten sie gehört und gingen nun wieder fort und sandten Kunde nach beiden Seiten
die See hinunter und hinauf in die Berge. Sie versammelten sich und kochten ein Festessen
und aßen. So verweilten sie bis zum Morgen. Dann brachen sie auf, und als sie dahingingen,
gelangten sie zu der Speerpalme, der Höhle der Schlange Kemoc nebst ihren zwei Enkelinnen
und den beiden Knaben. Sie umzogen die Höhle und begannen die Speerpalme zu fällen,
aber alle ihre Beile zerbrachen. Nun bestiegen sie sie, um sie zu brechen, aber kaum gebogen,
streckte sie sich wieder in die Höhe. Dann gruben sie die Erde auf, um das Wurzelwerk zu
70
STEPHAN LEHNER
zerstören, aber sie mußten sehen, wie sie trotzdem immer tiefer wurzelte. In dieser Weise
arbeiteten sie immerzu, aber weil erfolglos, zogen sie zuletzt ab.
Ihre beiden Jungen “aber wohnten dort bei ihren Frauen. Die größere Frau hatte schon
ein Kind geboren, die kleinere war schwanger. Da sprach die Schlange Kemoc zu den zwei
Männern: „Ihr beide, geht doch hin und holt eure Leute her! Ich werde ein Essen für sie
kochen.“ Beide Männer stimmten zu und gingen hin, immerzu liefen sie, bis sie endlich das
Dorf erreichten. Da saßen ihre Mütter und Väter. Als sie die zwei Knaben erblickt hatten,
rannten sie hin, umarmten beide und weinten lange, ehe sie aufhörten. Die beiden Jungen
sagten nun: „Wir beide sind gekommen, euch zu holen, denn die Schlange Kemoc will euch
ein Essen kochen.“ Zunächst schliefen sie. Am nächsten Morgen zogen sie hin. Sie gingen,
bis sie an den Platz hinkamen. Die zwei Frauen gingen ihnen entgegen, dann kochten sie eine
Mahlzeit für sie, zu essen. Die alte Großmutter, die Schlange Kemoc selbst, wollte auch
herabkommen aus ihrer Behausung. Aber sie fürchtete, ihre Knochen möchten die Leute
stechen, deshalb blieb sie sitzen. Lange, lange saß sie, bis alles gekocht war und die Leute
gegessen hatten. Dann rief sie: „Weicht, weicht, alle zurück, ich will hinabkommen!“ Die
Leute wichen zurück und sie stieg herab und sprach; „Ihr beiden Männer, ich habe euch
nicht geholt, ihr seid die Sache, auf die die schönen Frauen ihr Angesicht gerichtet hatten
als auf ihre Sache.“ Da riefen die beiden Väter ihr zu: „Warum taten sie denn dieses ?“
1 Hier wird offenbar, daß eine festbegrenzte Zeit für säcke in Trümmer, so ließ die Sippe die Trauerzeit zu
Trauer nicht existierte. Gingen die Trauerzeichen wie Ende sein.
Rindenhut, bestimmte Armbänder, besondere Netz-
18. WARUM MÜSSEN WIR UNS BEIM BONITENFANG SO PLAGEN?
Ein älterer Bruder nebst seinem jüngeren hielten sich am Meeresstrand auf und schliffen
ihre Angeln für den Fang der Bonitenfische. Dabei sahen sie drei grüne Papageien (eclectus
polychlorus) herbeifliegen, die über ihnen beiden schwebten, wobei eine ihrer Federn herab-
fiel. Beide sahen das, deshalb liefen sie hin, um sie aufzuheben. Der größere Bruder sprach;
„Ich nehme sie!“, und nachdem er sie sich angeeignet hatte, band er sie an das untere Ende
seiner Angel und sagte: „Dieses (nämlich die Feder) wird den Bonitenfisch selbst jagen, bis
erstirbt und oben auf die Wellen zu liegen kommt.“ Da erwiderte der jüngere Bruder; „Ich
möchte auch eine Feder haben.“ Und sie sahen die genannten Vögel zu einer Insel fliegen,
deshalb sprachen selbander: „Wollen wir beide doch hinrudern und einmal nachsehen!“
Gesagt, getan! Sie ruderten hin. Da sahen sie die Vögel auf dem Dach eines Hauses sitzen.
Sie betraten das Haus, und als sie niemand gewahrten, sprachen sie: „Wer ist wohl der
Eigentümer des Hauses ? Sind die Eigentümer wohl ins Feld gegangen ?“ Beide gewahrten
nun bei näherem Zusehen eine alte Frau, die lag da und war blind, taub und stumm. Sie
betrachteten sie und sagten: „Was sollen wir denn machen mit dieser Frau hier?“ Dann
sprachen sie: „Ob wohl Ameisen am Platz hier sind ?“ Noch während sie so redeten, fanden
sie welche. Gleich setzten sie die Ameisen auf die Frau, die bissen sie und bissen sie solange,
bis sie laut aufschrie und ihre Augen aufschlug. Als sie die beiden Männer stehen sah, sagte
sie: „Ei, ei, ihr beiden Männer, ihr habt mir eine große Wohltat erwiesen!“ Beide sprachen:
„Wir sahen drei Vögel fliegen, und als sie sich über uns befanden, fiel eine Feder von ihnen
herab, die wir aufhoben. Das gefiel uns, und hinter den Vögeln her sind wir hierhergekom-
men.“ Die alte Frau erwiderte: „Ihr Männer, diese Sache ist unsre Sache.“ Dann lief die
alte Frau ins Feld und brachte eine Tarofrucht. Als sie die gebrachte hatte und die beiden
sie sahen, sagten sie: „Sie hat keine weitere Taro mitgebracht, außer dieser einen; wie sollen
wir da essen ?“ Sie setzte sich, um die gebrachte Taro zu schälen: da nahmen sie wahr, wie
diese groß wurde. Sie brach sie in Stücke, immer brach sie, bis zwei Eßmulden gefüllt waren.
MÄRCHEN UND SAGEN DES MELANESIER STAMMES DER BUKAWAC
71
Dann kochte sie sie und speerte noch ein großes Schwein für das Brüderpaar. Nachdem sie
den beiden Männern ein solches Mahl bereitet hatte, sahen deren Augen die ungemein vielen
Kokospalmen der alten Frau, deren Blätter gleich den Baumblättern waren, die aufrecht
standen (sie hingen also nicht als Wedel abwärts). Einen Teil davon gab sie ihnen mit und
sagte: „Rudert nun hin, ihr beide, und wenn die Boniten springen, so geht ihnen nach!
Wird dabei das Leckwasser viel, so schöpft es ja nicht aus! Wenn ihr doch schöpft, so werdet
ihr sinken.“
Sie ruderten weg, und als sie einen Fisch erblickten, der kleine sam (Fischchen) fraß,
ruderten sie darauf zu und angelten. Während sie angelten, schauten des jüngeren Bruders
Augen in den Bootstrog hinein. Als er da den Wasserschaum sah (den die gefangenen Fische
im Boot durch ihr Schnalzen erzeugten), da rief er: „Ach, wir werden jetzt sinken.“ Der
ältere sprach: „Hast du gehört, was die alte Frau sagte? Du hast es wohl nicht vernom-
men! ?“ Der jüngere aber fürchtete sich, in der Meinung, daß sie beide sinken müßten, und
schöpfte Leckwasser. Infolgedessen sanken beide in einem Augenblick.
Da rief der ältere: „Jetzt hast du etwas getan! Ich werde ein großer Seevogel“ (saom).
Als er ausgeredet hatte, entnahm er seiner Netztasche den Brustschmuck aus weißen
Porzellanschnecken und hing ihn sich um1. Dabei sagte er: „Wenn du etwas auf das Riff
niederkommen siehst, dann sprich; Ach, da ist er ja selbst herniedergekommen! Dann
rudere, bis dir die Hüftbinde abrutscht! Dann wirst du die Fische wohl erreichen.“ Nach
dieser Rede stieg er empor in Kraft, der jüngere Bruder aber schwamm weinend dem Strande
zu. Am nächsten Morgen nahm er die Angel, um sie am Strand in Ordnung zu bringen. Da,
als er die Augen erhob, sah er ihn (seinen in den Seevogel verwandelten Bruder) auf die
Fläche des Riffes herunterkommen. Schnell rannte er da hinauf ins Haus, um sein Angel-
täschchen (in dem sich alle Angelutensilien befinden) zu holen. Dann ruderte und ruderte er,
bis seine Hüftbinde abgerutscht und verloren gegangen war, gemäß der Rede seines älteren
Bruders.
1 Die weiße Brustzeichnung des Saom wird von den Alten seiner Verwandlung seinem Täschchen entnahm und
als der Brustschmuck gedeutet, den der Bruder vor sich umhängte.
19. ISOMWE
Das Märchen von den Fischfrauen. — In der Tiefe eines Gewässers befanden sich
viele Isom (Meeräsche; zur Stachelflossergattung gehörig). Die Fische wTaren jedoch nicht
wirkliche Fische, sondern verwandelte weibliche Wesen, die sich da in ihrem Wasser auf-
hielten. Eines Tages sprachen zwei Männer zueinander, nachdem sie ihre Feldarbeit beendet
hatten: „Wir wollen doch fischen gehen und dann die gefangenen Fische braten und essen!“
Wie gesagt, so getan. Sie fischten einen Wasserlauf hinauf, immer weiter, bis sie zu dem
tiefen Gewässer kamen, in dem sich die Isom befanden. Als sie diese bemerkten, sagten sie
zueinander: „Ach, hier gibt es ungemein viele Isom! Wie machen wir es nur, daß wir einen
fangen, um ihn zu braten und zu essen ?“ Beide bemühten sich um die Fische, erwischten
aber keinen; immer huschten sie an ihren Keschern vorüber.
Endlich nach vieler Bemühung erlangten sie zwei Fische. Trotz aller weiteren Arbeit
fingen sie dann nichts mehr. Deshalb ließen sie ab vom Fischen, nahmen ihre beiden Fische
mit und gingen weg. Während des Gehens sagten sie zueinander; „Einen Fisch könnten wir
gleich braten und essen, den andern tragen wir dann ins Dorf. Dann wollen wir Zusehen,
und wenn die Frauen die Taro fertig gekocht haben, dann nehmen wir unsre Taro in das
Männerhaus mit hinauf und braten unsern Fisch dazu und essen ihn mit der Taro.“ So
sprachen beide miteinander. Dann rösteten sie den einen Fisch. Sie brieten immerzu, doch
der Fisch wollte nicht gar werden, immerwährend floß rotes Blut aufs Feuer. Da sprachen
MMMI
72
STEPHAN LEHNER
sie: „Was ist denn eigentlich mit dem Fisch ? Das Feuer kann ihn nicht fertig rösten, immer
noch ist er roh. Sei es denn: essen wir ihn roh! Dann wollen wir ins Dorf gehen!“ So aßen sie
ihn; den andern nahmen sie auf und gingen dem Dorfe zu. Der eine Mann trug den Fisch,
der andre ging leer. Sie machten aus; „Den Fisch legen wir an der Seite der Bretterwand des
Männerhauses nieder und warten dann, bis die Frauen die Taro gekocht haben; dann nehmen
wir ihn mit der Taro hinauf ins Männerhaus, um ihn dort zu braten und zu essen.“ Nachdem
sie diese Verabredung miteinander getroffen hatten, erreichten sie das Dorf, legten den
Fisch an die Seitenwand des Männerhauses und warteten, bis die Frauen Taro fertig gekocht
hatten; sie nahmen dann die ihrigen und gingen zum Männerhaus, um den Fisch zu braten
und mit den Taro zu essen.
Während sie aber warteten, verwandelte sich der Fisch in ein weibliches Wesen, das in
das Haus hinaufstieg und dort wartete. Als nun die Wartezeit für die zwei Männer zu Ende
und die Taro gekocht waren, nahmen die beiden die ihrigen und gingen, um nach dem
Fisch zu sehen, den sie an der Seitenwand aufbewahrt hatten. Doch sie fanden ihn nicht.
Eifrig suchten beide darnach — da, als sie in das Haus selbst traten, begegneten sie der
Frau, die im Hause verweilte. Sie fragten sie, wo sie herkomme. Die Frau gab nun über sich
selbst Aufschluß und sagte zu den beiden: „Ihr beide meintet, ihr hättet wirkliche Fische
gefangen; aber wir sind keine wirklichen Fische, wir sind verwandelte weibliche Wesen und
unser Name ist Isomo.“ Nach dieser Aufklärung heiratete einer der beiden Männer die Frau,
die dadurch seine Frau wurde.
Besprechungen.
L. Levy-Brühl, Die Seele der Primitiven, Wilhelm Brau-
müller, Universitäts-Verlagsbuchhandlung, Wien-
Leipzig. XI und 367 S. 8°.
Diese Übersetzung der französischen Ausgabe, die
unter dem Titel l’âme primitive erschienen ist, bringt uns
ein Buch näher, das gleich den beiden früheren ethno-
logischen Werken des Verf. einen Siegeszug über die Welt
angetreten hat. Der Grund dafür liegt in der sorgfältigen
Auswahl eindrucksvoller Beispiele und in der anschau-
lichen Darstellung einer überzeugten Auffassung, wie sie
zu beurteilen sind. In diesem Falle hat der Verf. mit be-
sonderer Liebe gearbeitet, weil das Buch gewissermaßen
eine Krönung seiner bisher geäußerten Anschauungen
darstellt, indem es Kollektivanschauungen, Partizipa-
tionen und prälogisches Denken — ein Wort, das in
diesem Buche nicht mehr angewandt wird, aber dem
Sinne nach auch hier als Unterlage dient — zur Be-
urteilung des Individuums als Persönlichkeit zusammen-
faßt. Man kann sich denken, daß alle die widerspruchs-
vollen Vorstellungen, die sich die Naturvölker von den
wirkenden Dingen im lebenden Menschen und von dem
Zustand des Toten machen, ein dankbares Thema für
einen scharf denkenden Philosophen ist, zumal kaum
irgend ein Forscher sich der unzulänglichen Ausdrücke
,, Seele“ und dgl. im Sinne unserer Begriffe enthalten hat.
Der Verf. betrachtet es aber nicht als seine Aufgabe, hier
möglichste Klarheit z. B. in der Scheidung zwischen dem
oder den lebendigen Doppelgängern usw. und dem weiter
lebenden Toten eintreten zu lassen, sondern er begnügt
sich, die Vorstellungen als Ganzes vorzuführen, und hat
dabei stets sein Ziel im Auge, den sog. Primitiven nicht
als einheitliche Persönlichkeit, wie uns jeder Mensch
nach modernen Begriffen erscheint, sondern als ein in
magischem Zusammenhang mit der Gruppe befindliches
und über die Grenzen der Persönlichkeit hinaus er-
weitertes Wesen hinzustellen. Zu dieser Erweiterung ge-
hört z. B. die Tatsache, daß die ihm irgendwie zuge-
hörigen, mit seinem Wesen durchtränkten Abfälle,
Geräte usw. als in dauerndem Zusammenhang mit ihm
befindlich angesehen werden.
Während die hier vorgebrachten Tatsachen, freilich
nicht in der sorgfältigen Auswahl, den Ethnologen nicht
unbekannt waren und auch ihre Beurteilung sie seit
langem beschäftigen, hat die Zuspitzung der Beweis-
führung hier und da Widerspruch hervorgerufen. Dieser
richtet sich besonders gegen die Auswertung der magisch-
religiösen Tatsachen als allgemein gültige Beweise für
kollektives, gewissermaßen die Persönlichkeit auf-
lösendes Denken der Naturvölker. Steinmetz z. B. (in
Ethnologische Studien I Leipzig 1929) hält ihr Tun und
Denken in allen Beziehungen für ebenso persönlich und
der Initiative einzelner führender Individuen anheim-
gegeben wie unser eigenes. Daß sie einheitlicher denken,
weil sie nicht so mannigfaltigen Weltanschauungen aus-
gesetzt sind und deshalb weit mehr jeder Änderung abhold
sind, wird natürlich überall zugegeben. Man muß auch
sagen, daß das Magisch-Religiöse — und darum handelt
es sich doch bei allen Betrachtungen des Verf. — eine
Sache für sich bildet und nicht immer wie ein Blei-
gewicht dem natürlichen Verhalten anhängt. Es gab eine
Zeit, in der die Naturvölker als durchaus rationale
Denker galten, die mit unbeirrbaren Instinkten ihr
Wohlergehen verfolgten und alles Magische nur nebenbei
betrieben. So schildert sie z. B. K. von den Steinen.
Meistens suchte man das Letztere auch gern flach ratio-
nalistisch zu deuten und dadurch aus der Welt zu
schaffen. Dann kam die emsige Beschäftigung mit dem
Magisch-Religiösen, das maßlose Erstaunen über die
„Leichtgläubigkeit“ der „Wilden“, die daraus folgende
Minderbewertung als Menschen und die Auslegung
dieser Erscheinungen als Ergebnisse des „Denkens“,
während es doch nicht gewöhnliches Denken, sondern die
Beschäftigung mit dem Metaphysischen, Übernatür-
lichen ist. Diese Verwechslung zwischen religiös-ma-
gischem Erkennen und vernunftgemäßem Denken
herrscht heute noch ziemlich allgemein in der Völker-
kunde und hat äuch beim Verf. Paten gestanden. Der
gewöhnliche und der metaphysische Mensch stehen sicher
in Wechselbeziehungen zu einander, aber genaue Unter-
suchungen darüber sind bisher noch nicht vorgenommen
worden. Sie einfach zu identifizieren, ist sicher nicht an-
gängig. Insbesondere dürfte es zweifelhaft sein, ob
mangelhafte metaphysische Begriffe das praktische
Leben derart beeinflussen können, daß sich die Natur-
völker als etwas anderes ansehen als wir uns selbst. Das
Problem aber besteht, und wir müssen es dem Verf.
danken, daß er mit allem Nachdruck, wenn auch ein-
seitig, die Hand darauf gelegt hat, und um so mehr,
als er sich dieser ethnologischen Fragen als Philosoph '
angenommen hat.
Die Übersetzung, die Else, Baronin Werkmann ange-
fertigt hat, läßt nicht vergessen, daß es eine Übersetzung
ist. So finden sich Ausdrücke wie virtuell, Karibou. Auch
die „Pluraletanta“ S. 72!. haben der Übersetzerin einen
Streich gespielt.
K. Th. Preuß.
William Thalbitzer, Légendes et chants esquimaux du
Groenland, ouvrage traduit du danois par Mme
Hollatz-Bretagne, Paris, Librairie Ernest Leroux
(1929) 188 S. kl. 8°.
Der größere Teil des Büchleins enthält Gesänge und
Erzählungen nebst magischen Sprüchen von den noch
ursprünglichen Bewohnern der Ostküste, die erst vor
etwa 50 Jahren aufgefunden worden sind. Der Verf. hat
diese vor 25 Jahren in einheimischer Sprache zu sammeln
angefangen und bietet hier aus seinen wissenschaftlich
ausführlich veröffentlichten Schätzen einen allseitigen
Ausschnitt dar, der geeignet ist, dieses nicht mehr als
500 Individuen umfassende Völkchen allgemeiner bekannt
und dem Leser sympathisch zu machen. Ihr ganzes Leben,
ihre Leiden und Freuden, wie es die tägliche Beschäfti-
gung inmitten einer großartigen, ernsten Natur mit sich
bringt, zieht an uns vorüber, sowohl das profane, was
»
am
74
BESPRECHUNGEN
sich in den Gesängen anderer primitiver Völker weniger
findet, wie das religiöse. Kajak-Gesänge und solche, wie
sie im Sommer im Gebirge beim Beerensammeln ge-
sungen werden, Poesien, die sich mit den Kleinsten der
Kleinen beschäftigen, und andere, die zum Lernen für die
Kinder bestimmt sind, sind ebenso vertreten, wie die zur
Trommel vorgetragenen Gesänge von Rivalen in ihren
Sangeswettkämpfen und die Schamanengesänge. Für
alles versteht der Verf. durch kurze Erläuterungen, die
das ganze Bild hübsch umrahmen und abrunden, unser
Interesse zu erwecken. Westgrönland, das gegenwärtig
mit Ausnahme des äußersten Nordens bereits der euro-
päischen Kultur zugeführt worden ist, ist in einigen
Gesängen, die meist von Einsiedlern handeln, besonders
in einer Reihe hervorragender ätiologischer Verwand-
lungserzählungen und in Stücken moderner Poesie vor-
geführt, die verschiedenen Quellen entnommen sind.
Auch hier erfahren wir in Kürze alles zum Verständnis
der geschichtlichen Entwicklung Notwendige.
K. Th. Preuß.
Prof. Dr. H. Schauinsland: Fragen und Rätsel. Bio-
logisch-philosophische Erörterungen zur Weltan-
schauungsfrage. Bremen 1931, G. Winters Verlags-
buchhandlung, Fr. Quelle Nachf.
Mit der eigentlichen Ethnologie hat dies Büchlein
nichts zu tun. Wie der Untertitel schon vermuten läßt,
gehört es zu den naturphilosophischen Arbeiten. Es will
uns ein wenig zum Agnosticismus zurückführen. Rätsel
zählt es auf, deren Lösung dem erdengebundenen
Menschen schwerlich gelingen wird. Vielleicht aber will
Verf. nur vor Zersplitterung der Kräfte warnen. Von
Einzelheiten interessieren uns nur die „Feststellungen“,
daß unsere Kultur keinen Fortschritt aufweist gegenüber
einer primitiven, daß die Entwicklung und Vervoll-
kommnung der Kulturgüter lediglich eine Anpassung
an die veränderte Umwelt darstellt (S. 45/46), und daß
Religion und der Sinn für Kunst in der primitiven und
höchsten Form dem Menschen von der Natur mit-
gegebene Anlagen seien (S. 30). Ferner vielleicht die
Descendenz des Menschen (S. 43—45) und das Problem
der Willensfreiheit (S. 33/34), die aber nichts Neues be-
sagen.
Viel Widerspruch wird Schauinsland im Einzelnen
finden. Immerhin ist sein Büchlein ganz gut zu lesen und
Anregungen gibt es wohl auch, wenn auch vielleicht
gerade in einer vom Verf. nicht beabsichtigten Richtung.
Snethlage.
Lehmann, Dr. F. Rudolf, „Die polynesischen Tabusitten;
eine ethnosoziologische und religionswissenschaft-
liche Untersuchung“ R. Voigtländers Verlag, Leipzig,
1930.
Der Begriff „tabu“ war bei den Europäern nicht
immer ein feststehender und konnte es auch nicht sein.
Die Berichte der Reisenden waren oft sehr voneinander
abweichend, z. T. einseitig, weil sie meist nur einen Ein-
blick in einen ganz geringen Bereich der mit dem tabu
zusammenhängenden Handlungen, und diesen oft auch
nur auf einer oder wenigen Inseln Océaniens gewonnen
hatten. Soweit solche Berichte von Missionaren stamm-
ten, waren sie einseitig nach der religiösen Seite hin ge-
färbt, und das Wort „tabu“ wurde von ihnen fast
immer unserem Begriff „heilig“ gleichgesetzt, obwohl,
wie der Verfasser in seinem umfassenden Werke aus-
führt, diese Übersetzung in den meisten Fällen nicht zu-
trifft. Etwas näher kommt schon E. S. Arnes der Er-
kenntnis der Bedeutung des tabu, wenn er sagt (S. 286):
„Alle Abweichungen von der Sitte sind tabu. Tabu ist
genau die negative Seite der Sitte.“ Der Verfasser stellt
(S. 285) als Ordnungsprinzipien für die Tabusitten die
drei Begriffe „Verbot“ (öffentlich und privat), „Mel-
dung“ („vorsichtiges Verhalten“ wegen gefährlich ge-
dachter Zusammenhänge) und „Enthaltung“ (des Kör-
pers von bestimmten Betätigungen) auf. Tabu kann
bedeuten: es ist „verboten“ etwas zu tun, zu berühren,
zu betreten, zu essen, zu benutzen, mit Frauen zu ver-
kehren usw. Es kann dabei natürlich auch eine Bedeutung
erhalten, die der unserer Worte „heilig“ oder „geheiligt“
gleichgesetzt werden kann. Die Umstände, unter denen
ein „tabu“ eintreten kann oder auferlegt wird, sind jedoch
so verschiedenartig und so zahlreich, daß eine eindeutige
Erklärung oder eine Übersetzung mit einem Worte oder
auch mit einzelnen Wörtern unmöglich ist. Der Ver-
fasser hat sich deshalb ein großes Verdienst dadurch
erworben, daß er eine möglichst umfassende Sammlung
der Berichte aus den Quellen veranstaltet und die Tabu-
handlungen nach ihren verschiedenen Anwendungen zu-
sammengestellt hat. Nach der „Quellenkunde“ im
I, Teil geht der Verfasser im II. Teil auf „die sprach-
liche Untersuchung“ ein, um sich im HL, dem
Hauptteil, der „Untersuchung der Berichte“ zu-
zuwenden. Hierbei geht er nicht regional vor, sondern
nach dem von ihm aufgestellten System, in dem die
tabus nach ihren jeweiligen politischen, soziologischen,
religiösen etc. Beziehungen geordnet sind. Dieser Weg
ist einerseits zu Vergleichszwecken zu befürworten, hat
jedoch den Nachteil, daß der Leser dauernd von einer
Inselgruppe zur anderen geführt wird. Hierbei fällt auch
die Möglichkeit fort, alle Tabuhandlungen einer Insel-
gruppe bequem unter einem einheitlichen Gesichtspunkte
zu betrachten. Der IV. Teil behandelt „die Ab-
schaffung und Christianisierung von Tabu-
sitten.“ Wir ersehen übrigens daraus, daß die fast
gänzliche Abschaffung des tabu nicht immer zum Vorteil
der Eingeborenen war. Die sehr wichtige „Psychologie
und Philosophie der Tabusitten“ wird im V. Teil
besprochen. U. a. hat wohl Raymond Firth, den der
Verfasser (S. 295) mit Recht hervorhebt, die beste und
natürlichste Erklärung über die ursprüngliche Ent-
stehung und Bedeutung des tabu gegeben, wenn er auf
die praktische Bedeutung der Tabuhandlungen im
sozialen Leben der Eingeborenen hinweist. Der VI. Teil
beschließt mit den „Tabellen zur Verbreitung des Wortes
tabu und seiner Analoga in Océanien und Indonesien“
dieses inhaltreiche und fleißige Werk.
Dr. E. W. Schmidt.
BÜCHEREINGÄNGE
Büchereingänge.
Berichte über d. Tagungen d. deutschen Verbände f.
Altertumsforschung i. J. 1929. Aus: Praehist. Zeit-
schr. Bd. 20, H. 3/4. 1929. 4°.
Bernatzik, Hugo, Adolf: Der dunkle Erdteil Afrika. Land-
schaft, Volksleben. Berlin: Atlantis 1930. 45 S.
256 Taf. 40.
Brandstätter, Renward: Die Kunst des Erzählens bei d.
Dayaken. Zürich: Selbstverl. 1930. 21 S. 8°.
Debenedetli, Salvador: Las ruinas del Pucará. Buenos
Aires 1930: Impr. de la Univ. 142 S. 8°.
Findeisen, Hans: Kunstgewerbe nordasiatischer Grenz-
lande. Aus: Bossert; Geschichte d. Kunstgewerbes
Bd. 4.
Hough, Walter; Exploration of ruins in the White
Mountain Apache Indian reservation, Arizona.
Washington; Smiths. Inst. 1930. 20 S. 10 Taf. 8°.
Judd, Neil Merton: The excavation and repair of Betata-
kin. Washington: Smith. Inst. 1930. 76 S. 46 Taf. 8°.
Krause, Kurt: Geographische Kausalprofile. Breslau:
Hirt 1930. 48 S. 8°.
Lehmann, Walter: Ergebnisse einer i. d. Jahren 1925
bis 1926 ausgeführten Forschungsreise nach Mexiko
und Guatemala. Aus: Anthropos, T. 23. 1928. 40.
Ludendorff, H.: Die astronomische Bedeutung der Seiten
51 u. 52 des Dresdner Maya-Kodex. Berlin: Akad.
d. Wiss. 1931. 14 S. 40.
Means, Philip, Ainsworth: Peruvian cultures examples
of pre-Incaic period. New York: Metrop. Mus. of Art
1930. 27 S. 24 Taf. 40.
Nécrologie: Charles Endes Bonin u. a. par Paul Pelliot.
Aus: T’oung Pao. [1930].
Neumann, Gotthard: Die Entwicklung der Aunjetitzer
Keramik in Mitteldeutschland. Aus: Praehist. Zeit-
schr. Bd. 20, H. 1/2. 1929.
— Die Gliederung d. Glockenbecherkultur in Mittel-
deutschland. Aus: Praehist. Zeitschr., Bd. 20, H. 1/2.
1929. 40.
Neumann Gotthard: Das große Grab von Gävernitz.
Dresden; Landesverein Sächs. Heimatschutz 1030.
39 S. 8°.
Noguera, Eduardo; Ruinas arqueológicas del norte de
Mexico... Mexico 1930; Talk Graf, de la Nación.
107 S. 8o.
Palacios, Enrique, Juan: Huaxtepec. Mexico 1930. Tall.
Graf. „El Bufete“. 43 S. 8o.
Revista del Instituto Etnología de la Universidad Nac.
de Tucumán dirigida por el A. Métraux. Tucum-
mán: Univ. Nac. T. 1, entrega la 1930. 40.
Rosen, Eric von: Eran Kap tili Alexandria. Stockholm:
Bonnier 1912. 219 S. 8o.
Rydbeck, Otto: Meddelanden frân Lunds Universitets
Hist. Museum. Lund: Gleerup 1930. 90 S. 8°.
Schauinsland, H.: Fragen und Rätsel. Bremen: Winter
1931. 63 S. 8°.
Scholz, Oskar: China. Berlin: Heymann 1928. XI, 371 S.
8°.
— Japan. Berlin: Heymann 1928. VIII, 415 S. 8°.
Seyffert, Karl: Biene und Honig im Volksleben d. Afri-
kaner. Leipzig: Voigtländer 1930. 209 S. 40.
Stahl, Günther: Vorkolumbische Entdeckungen Amerikas.
Aus: Der Weltkreis. Jg. 2, H. 1—2. 1931. 8°.
Steffen, Albert: Mani. Dörnach: Verl. f. Schöne Wiss.
1930. 81 S. 8°.
Strebei, Hermann: Lebenserinnerungen, hrsg. v. Otto
Strebei. Hemmoor: Selbstverl. 1930. 58 S. 8°.
Termer, Franz: Zur Ethnologie und Ethnographie des
nördlichen Mittelamerika. Berlin: Dümmler 1930. 40.
Vignati: Milciades, A. : Restors del traje ceremonial de
un „Medico“ Patagón. Buenos Aires 1930. Impr.
de la Univ. 52 S. 8o.
Vorträge zur Geschichte des Dramas. Berlin : Teubner
1930. IX, 341 S. 42 Taf. 8°.
ï I Baessler-Archiv .
FORM UND ORNAMENTIK
ALTPERUANISCHER SPINDELN
VON
DR. E. HEINRICH SNETHLAGE
Unter den Funden in den Gräbern von Ancon, Pachacamac, Ica und an anderen Orten
der Küste Perus sind in besonders reichem Maße Spindeln vertreten. Meist waren sie mit
anderen Geräten und Materialien der Spinnerei und Weberei, als da sind: Spulen, Nadeln,
Baumwollkegel, Fadensträhnen aus Wolle, Stoffproben usw.1 in Arbeitskörbchen vereint;
doch wurden sie auch in Holzkästchen, in Tücher verpackt oder lose dem Mumienballen
beigelegt gefunden. Durch planloses Ausgraben, Zerstörung der Behälter und Umhüllungen
sind sie allerdings sehr häufig aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen worden.
Bewundert worden ist schon sehr früh ihre große Mannigfaltigkeit. Ohne Überlegung
dürfen wir daher der Bemerkung Uhle’s (2, S. 34) Glauben schenken, daß sie in der Be-
urteilung der zeitlichen Einordnung der aufgefundenen Gräber eine große Rolle spielen.
Aus diesem Grunde dürfte es angebracht sein, das reiche, in unserem Museum liegende
Material in systematischer Anordnung zu veröffentlichen. Sind auch die Angaben, die mir
zur Verfügung stehen, sehr mangelhaft und zu einem großen Teil nicht einmal einwandfrei,
mag doch die Übersicht über den Formenreichtum ■— wenn er auch noch ergänzt werden
muß — weiteren Forschungen dienlich sein. Außerdem geben die Resultate der Unter-
suchungen Uhles und Kroebers wenigstens einigen Anhalt, den Verlauf der Entwicklungs-
reihen, die sich durch meine Zusammenstellung ergeben, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu
bestimmen. Irgend welcher Schlüsse auf die Geschichte der einzelnen Kulturen, wie
sie durch die systematischen Ausgrabungen jenes Forschers gezogen werden konnten,
muß ich mich selbstverständlich enthalten. Nur die regionale Verbreitung der Typen
vermag ich anzugeben, so, wie sie sich aus den Angaben, die die Stücke der Sammlungen
des Staatl. Museums für Völkerkunde begleiten, ergibt.
Crawford hat den meisten im Küstengebiet Perus gefundenen Stäben mit der in der
Mitte angebrachten ,,Rolle“ aus Ton, Rohr, Metall usw. die Eigenschaft als eigentliche
Spindel abgesprochen (S. 76). Die geringe Schwere der Wirtel, ihr Platz und das nach beiden
Seiten gleichmäßige Abnehmen der Dicke des aufgerollten Fadens seien genügender Be-
weis, daß sie nur als eine Art Spulen gebraucht werden konnten, um den Schuß be-
quem durch die Kette zu führen. Der Faden sei daher wohl zwischen Daumen und Finger
gesponnen und dann erst auf das Stäbchen gebracht worden.
Frödin und Nordenskiöld wenden hiergegen ein (S. 32/33)? daß Crawford die perua-
nischen Geräte nur vom Standpunkt der modernen Spinnerei aus betrachtet habe. Aller-
dings sei es nicht gut möglich, mit ihnen vertikal nach der sogenannten Bakairi-Methode
zu arbeiten; der Faden kann also nicht durch das Rotieren der hängenden Spindel gebildet
werden. Doch sei ein Spinnen auf die Weise der Bororo durch Drehen der Spindel auf einer
1 In mehreren Körbchen fand ich ganz enge Kämme allein mehr, wie es Crawford schon vermutete (S. 89), zum
in Gemeinschaft mit Spinn- und Web-Geräten und Eindrücken des Schusses in das bereits fertige Gewebe
-Materialien. Der Gebrauch als Toilettegegenstand ist gedient haben,
in diesen Fällen wenig wahrscheinlich; sie dürften viel-
12 Baessler-Archiv.
78
HEINRICH SNETHLAGE
Unterlage — sehr wohl möglich, ja wahrscheinlich. Die Itonama zum Beispiel erzielten mit
dieser Methode einen Faden von besonderer Glätte und Feinheit. Auch sei deren Spindel-
stäbchen, wie das der Peruaner, im Küstengebiet spulförmig. Ein in unserer Sammlung be-
findlicher Baumwollkegel mit ausgezogenen und auf eine Spindel gebrachten Faden, sowie
die Abbildung bei Kroeber (i, Tafel 18), zeigen meiner Ansicht nach, daß diese Auffassung
die richtige ist; denn erst auf dem Stäbchen hat der Faden die ihm zukommende Stärke
und Festigkeit.
Wir können hiernach also die peruanischen Spindeln einteilen in solche, die bei der
Bororo-Methode verwandt werden und in solche, die das Bakairi-Spinnen wahrschein-
lich machen. Erstere sind an beiden Enden zugespitzt (Abb. i), letztere in der Regel auf einer
Seite etwas abgestumpft (Abb. 2). Die Wirtel der beim Bakairi-Spinnen benutzten Spin-
deln sind größer und schwerer, gewöhnlich abgeflacht und mehr oder weniger abgestumpft
kegelförmig; die der andern sind von mannigfacher Gestalt. Betonen möchte ich ausdrück-
lich, daß die aufgeführten Unterschiede nur für die hier behandelten peruanischen Spindeln
stichhaltig sind.
Die für das Bororo-Spinnen benötigten Spindeln können aus ein, zwei, drei oder mehr
Teilen bestehen, für die Bakairi-Methode kommen immer nur Spindelstab und Wirtel
in Frage.
Das Material der Wirtel ist Stein, Ton, Knochen, Muschel, Metall, Holz und Rohr.
Ganz primitive Spindeln sind mit der Spitze einfach in Früchte gesteckt. Diese sind manch-
mal so klein (Abb. 3), daß ich eine Verwendung dieses Gerätes nur beim Bororo-Spinnen
für möglich halte.
Hiernach ergibt sich zunächst folgende bibersicht;
A. Spindeln für Spinnen auf Unterlage (Bororo-Spinnen).
1. Spindel besteht aus einem einzigen Teil, der in der Mitte entweder
a) allmählich verdickt (Abb. 4) oder
b) scharf abgesetzt ist.
2. Spindel besteht aus zwei Teilen, einem an beiden Enden zugespitzten Stäb-
chen aus Palm- oder anderm kräftigen Holzsplitter, selten aus weichem Holz-
und einem mannigfaltig gestalteten Ring aus verschiedenem Material.
a) Wirtel aus Ton;
b) Wirtel aus Stein;
c) Wirtel aus Knochen;
d) Wirtel aus Muschelschale;
e) Wirtel aus Metall;
f) Wirtel aus Holz;
g) Wirtel aus Rohr;
h) ( ?) Als Wirtel dient eine einem Ende des Spindelstabes aufgesetzte Frucht.
3. Spindel besteht aus drei Teilen; einem Mittelstück aus Rohr und zwei hinein
gesteckten, beiderseits zugespitzten harten Holzsplittern.
Diesen dreiteiligen Spindeln ist bisweilen, ebenso wie den unter 1. genann-
ten ein weiterer Rohr-, Ton- oder Steinwirtel aufgesetzt. Auch kommt es vor,
daß zwei oder mehrere Wirtel nebeneinander am gleichen Stabe befestigt
sind (Abb. 5).
B. In hängender Lage rotierende Spindeln (Bakairi-Spinnen).
a) Spindelstab mit Steinwirtel.
b) Spindelstab mit Tonwirtel.
c) Spindelstab mit Knochenwirtel.
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN
79
Die Aufstellung ist noch sehr roh. Denn wie der verwendete Stein sehr verschieden
sein kann, aus Gneis bestehen, Sandstein, Bergkristall, Steatit oder irgend einem anderen
Mineral, lassen sich am Ton mindestens drei Verschiedene Qualitäten auseinander halten:
ein sehr gut gebrannter rötlicher, ein dunkelgrauer, polierter und ein kaum durchbackener,
hellgrauer, unpolierter Ton. Eine gewissermaßen vermittelnde Stellung zwischen der roten
und grauen Art nehmen viele der mit rötlicher oder weißlicher Oberfläche versehenen,
in Chimbote und Umgebung, in geringerer Abwandlung gelegentlich auch bis Ancon ge-
fundenen Wirtel ein. Sie sind im Innern rötlichgrau, haben jedenfalls einen grauen Schimmer;
an Festigkeit geben sie jedoch den durch und durch roten Wirteln wenig nach. Der Unter-
schied zwischen besser und sehr schlecht gebrannten grauen Wirteln ist, wie Uhle (2, S. 34)
durch seine Grabungen festgestellt hat, wichtig für die Datierung.
In der Tabelle, die rein nach äußerlichen Merkmalen von mir aufgestellt ist, stehen
an erster Stelle die aus einem Stück bestehenden, allmählich zur Mitte hin verdickten
Spindeln. Es ist nun sehr schwer, die Grenze zu ziehen, an der sie aufhören, selbständige
Spinngeräte zu sein. Der Wirtel ist mit wenigen Ausnahmen nicht fest mit seinem Stab
verbunden, sondern ihm nur — bei den beim Spinnen auf Unterlage verwendeten meist
unter Zuhilfenahme von Baumwolle — aufgezwängt worden. Es ist also nicht verwunder-
lich, daß wir so häufig Spindelstäbe ohne Wirtel finden, die sicherlich einst mit einem
solchen versehen waren. Ob alle, ist allerdings sehr die irage! Wenn auch einige der sehr
bauchigen Stäbe vereinzelt mit einem Tonwirtel vereint gefunden worden sind, will dies
an und für sich nicht besagen, daß dies immer der Fall sein muß! Auch die aus einem Stück
bestehenden Spindeln mit scharf abgesetzter Mitte und die dreiteiligen Spinngeräte be-
sitzen bisweilen einen weiteren Wirtel, um als Widerlager des aufgerollten Fadens zu dienen.
Auf jeden Fall wird die in Abb. 6 dargestellte Spindel ohne Wirtel gebraucht worden sein,
da sonst der Spalt in der Mitte sich erübrigte. Ich erwähne sie jetzt nur zur Rechtfertigung
des ersten Punktes meiner Tabelle. Die Ornamentierung sämtlicher Spindelstäbe ist so
eng miteinander verbunden, daß sie nur im Zusammenhang behandelt werden kann.
Als Urform müssen wir die gänzlich schmucklosen Spindelstäbe ansehen, zu denen
auch diejenigen aus weichem Holz gehören. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß
sie in später Zeit immer ornamentiert wurden; die dickbäuchigen Spindelstäbe aus Ica
und Pisco sprechen schon dagegen. Sie befanden sich zusammen mit solchen in einem Ar-
beitskörbchen vereint, die von Kroeber und Strong in Chincha ausdrücklich als nur in
Inca-Gräbern vorkommend, angegeben werden (1, S. 83).
Die für Spindelstäbe angewandte Schmucktechnik ist: Bemalen, Ritzen und Brennen.
Weitaus am häufigsten ist die farbige Musterung. Man glaubt, den Entwicklungsgang
verfolgen zu können. Schüchtern wurde wohl mit schwarzer oder weißer Farbe angefangen.
Einfache, sehr breite Ringe mit unscharfen Begrenzungslinien kommen vor. Auch schwarz
und weiß in diesem nicht sehr sicheren Stil nebeneinander. Rot und gelb folgen; das Ver-
mehren der Farben bedingt an sich schon ein Schmälerwerden der Ringe; gesteigert wird
diese Tendenz durch Wiederholen der gleichen Töne in regelmäßigen Abständen. Die Rän-
der werden schärfer abgesetzt. Schließlich sind sie ganz sicher. Lila, rosa, grün, blau und
Farbabstufungen treten auf. Die Breite der Ringe wechselt; die Aufeinanderfolge in Fläche
und Farbe wird willkürlicher; statt Ringen erscheinen auch kurze schräge Linien und An-
dreaskreuze. Erst ganz zuletzt, meist mit einem Stärkerwerden der Stäbe verbunden,
entstehen Figuren; der Beschränktheit des verfügbaren Raumes angepaßt, gewöhnlich
Linien und Punkte in verschiedener Anordnung (Abb. 7, 8, 9), mitunter Buchstaben
gleichend (Abb. 10); doch sieht man auch das „Wogenband“ (Abb. 11) oder gar stilisierte
fierfiguren, einen Vogel oder einen Fisch (Abb. 12). Diese entwickelten Formen wurden
insbesondere in Gräbern bei Ica, Pisco und Chincha gefunden; doch kommen sie auch
in Pachacamac und an anderen Orten vor.
12
8o
HEINRICH SNETHLAGE
In der Längsrichtung der Stäbe verlaufende Wellen- oder Zickzack-Linien sind sehr
selten.
Unter den eingeritzten Ornamenten sind ebenfalls die Ringe weitaus am häufigsten.
Hin und wieder entdeckt man Wellen- oder Zickzack-Linien, auch wohl das Wogenband.
Eine sehr unsicher wohl mit freier Hand in einen Spindelstab eingeritzte Figur spreche ich
für ein Stufenkreuz oder einen Fisch an.
Eingebrannt werden in der Regel nur Ringe. Außer diesen habe ich in einem farbigen
Stab, passend eingefügt in das Muster, Augenmotive eingebrannt gefunden.
Leicht zu verwechseln mit Einbrennungen sind Ritzungen oder Einschnitte, die
schwarz ausgemalt worden sind. Diese Art der Ornamentierung spielt aber erst eine Rolle
bei den später zu besprechenden Rohrwirteln und dreiteiligen Spindeln.
Auffallend ist ein zierlich bemalter Spindelstab aus Ancon, der in der Mitte einen Schlitz
besitzt (Abb. 6). In ihm laufen drei kleine Leguminosensamen, deren Durchmesser so groß
ist, daß sie die Öffnung nicht passieren können. Sie sind also wohl durch Erhitzen des Holzes
hineingebracht worden. Ihr Zweck ist mir nicht ganz klar; wahrscheinlich sollen sie den An-
fang des aufgespulten Fadens festhalten. Das rasselnde Geräusch, das mit ihnen hervor-
gebracht werden könnte, ist so gering, daß die in unseren Katalogen eingetragene Bezeich-
nung ,,rasselnder Spindelstab“ abwegig ist. Da es sich um eine einmalige Erscheinung
handelt, nehmen wir zunächst wohl besser an, daß sie postkolumbisch ist. Wie mir Herr
Ryden aus Göteborg mitteilte, wird bisweilen an schwedischen Geräten ein Spalt mit
darin laufenden Holzkugeln angebracht und ist bisher ein ähnlicher Gegenstand in Nord-
amerika nur an einer Stelle gefunden worden, an der eine schwedische Kolonie nachgewiesen
werden konnte.
Spindeln mit deutlich abgesetzter Mitte gibt es nur sehr wenige. In der Regel gleichen
sie den dreiteiligen, sind wie diese gern mit einer schwarzen, in der Längsrichtung ver-
laufenden geraden oder Zickzack- bzw. Wellenlinie versehen. In andern Fällen sind sie un-
ornamentiert, mit schwarzen Ringen bemalt oder im Stufenmotiv eingeschnitten.
Einzigartig ist die in Abb. 13 dargestellte Spindel. Auch sie ist aus einem Stück ge-
schnitzt; doch ist der Mittelteil sehr kurz, ähnlich einem der noch zu besprechenden Ton-
wirtel von der Gestalt zweier mit der Basis zusammenhängender abgestumpfter Kegel,
in die allerdings eine breite Rille eingeschnitten ist. Die Bemalung des Stabes ist verhält-
nismäßig kompliziert, die Spindel also periodisch ans Ende der oben erwähnten hypo-
thetischen Entwicklungsreihe zu setzen.
In der Gruppe 2 ist die der Spindeln mit Tonwirteln die umfangreichste. Aus praktischen
Gründen setze ich sie daher an den Anfang. Auf diese Weise ist es mir nämlich möglich,
den Reichtum der Wirtelformen im Zusammenhang zu besprechen und brauche dann später
nur zurück zu verweisen.
Die einfachsten, vornehmlich in der Umgebung von Chimbote gefundenen Tonwirtel
nehme ich voraus. Sie sind auf der Oberfläche geglättet und augenscheinlich mit den für
die Rot-weiß-Keramik charakteristischen Farben bemalt. Zum größten Teil sind sie mit
einem Ritzmuster versehen. Merkwürdig ist, daß es sich meist nur im oberen Teile befindet,
der gewöhnlich auch durch größeren Flächeninhalt dem unteren überlegen ist. Die Form
ist in der Regel die eines auf eine Halbkugel gestülpten Kegels mit gleichem Durchmesser
(besonders deutlich in Abb. 16 und 20). Die Wirtel können aber auch wie zwei abgestumpfte
Kegel mit gemeinschaftlicher Basis aussehen (Abb. 14), sphärisch sein (Abb. 21) oder an
einem Ende eine Aufwölbung haben (Abb. 18 und 19). Die Ritzungen sind z. T. sehr fein;
sie bilden Linien, die aus lauter Punkten zusammengesetzt sind (Abb. 14). Andere sind
kräftiger ausgefallen; es sind durchgehende Striche oder Kreise (Abb. 15—18), die bisweilen
in Stärke und Tiefe den Einschnitten gleichen, durch die die hiernach zu besprechende
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN
Gruppe ausgezeichnet ist. Niemals aber ist diese Vertiefung gefärbt. Auch sind die Zusam-
mensetzungen sehr einfach, kommen in der Regel nicht über gerade und gekreuzte Linien,
Kreise, Augenmotive, Mondsicheln mit Netzfüllung oder dergleichen hinaus. Immerhin
ist auf einem eine Schnecke, auf einem andern ein s-förmig gestalteter Wurm zu erkennen
(Abb. 21).
In den Sammlungen am häufigsten vertreten sind Wirtel von mannigfacher Gestalt,
deren Ritzungen so breit und tief sind, daß ich sie lieber als Einschnitte bezeichnen möchte.
Fast durchgängig sind diese mit einer Farbe versehen, die sich von der meist schwarzen
Oberfläche kräftig abhebt. Einige dieser Wirtel haben eine ganz ähnliche Form wie die-
jenigen von Chimbote. Im allgemeinen sind sie jedoch mehr oder weniger zylindrisch
(Abb. 25, 26, 28, 29, 31 usw.) oder fast kugelig, mit abgestumpften Polen (Abb. 22), selten
jedoch fast scheibenförmig (Abb. 36). Vielfach haben sie eine Einbuchtung in der Mitte
(Abb. 55, 76, 79), so daß es aussieht, als seien zwei von ihnen aneinander gekittet. Auch
kann durch zwei Einbuchtungen der sonst zylindrische Wirtel in drei Abschnitte zerlegt
werden, von denen die beiden äußeren in der Regel an Größe ziemlich gleich, der mittlere
kleiner (Abb. 24) oder größer (Abb. 81) ist. Im Extrem zeigen die beiden Enden nur noch
eine kurze Aufwölbung (Abb. 33, 35, 41? 4^ usw.). Diese Aufwölbungen können verdoppelt
(Abb. 27, 87), verdreifacht und dann wieder auf einer Seite ganz fortgelassen werden (Abb.
23, 43, 46, 69, 74). Durchaus nicht immer ist der obere Durchmesser gleich dem unteren;
der Wirtel kann kegelförmig sein (Abb. 66). Ebensowenig brauchen die durch eine Ein-
buchtung gesonderten Teile des Wirtels sich im Querdurchmesser oder überhaupt zu
gleichen. Im Gegenteil! Wir finden die verschiedensten Zusammenstellungen (Abb. 37,
39, 55, 56). Nur so ist es zu erklären, daß schließlich sogar plastische Darstellungen ge-
schaffen wurden (Abb, 59—64),
In der Ausgestaltung der Wirtelformen war der Kunstsinn der alten Peruaner noch
lange nicht erschöpft; es reizte sie vielmehr, deren Oberfläche, so klein sie war, auf viel-
fache Weise auszuschmücken. Während in Chimbote sie nur durch die Ritzungen variiert
wurde, gab die Verwendung verschiedener Farben, von denen zunächst wohl schwarz,
weiß, goldgelb und ein warmes Rot hervortreten, der gestaltenden Phantasie der Bewohner
des übrigen Küstengebietes zahlreiche Möglichkeiten der Ornamentierung. Zumal die Ein-
schnitte nicht immer gerade verlaufen, sondern gern die Gestalt einer langen, feinen Mond-
sichel annehmen, d. h. sanft gebogen sind und an den Enden sich zuspitzen.
Die einfachsten Ornamente dieser Art sind wohl das Augenmotiv (Abb. 22), einfache
und kommaartige Linien (Abb. 25). Sie werden mit außerordentlicher Korrektheit zusam-
mengestellt — ich möchte sagen, in einem bestimmten Rhythmus. Auch die Farben wechseln
ab; rot kann für gelb, gelb für weiß und umgekehrt eintreten. Zickzacklinien (Abb. 26, 30)
folgen, das in Peru so ungemein häufige Stufenmotiv macht sich geltend (Abb. 30, 32, 39,
40). Linien überkreuzen sich (Abb. 28) oder werden miteinander verbunden (Abb. 29ff.);
aus der Oberfläche werden Zacken herausgeschnitten (Abb. 34 und 35). Drei- oder viereckige
Felder mit einer farbigen Vertiefung oder einem Augenmotiv werden umrahmt (Abb. 36
bis 38). Es gehört bald nicht mehr all zu viel Einbildungskraft dazu, in den entstandenen
Figuren Abbilder lebender Wesen zu sehen. Anfangs ist noch wenig Bestimmtes zu erkennen
(Abb. 40, 41); später verwandeln sie sich in allerlei Tiere, in Fische (Abb. 42—44), Vögel
(Abb. 45—48), in eine Spinne oder einen Krebs (Abb. 49), in Katzen- (Abb. 50 und 51)
oder Menschengesichter (Abb. 52^—56). Die wahrscheinlich in den Geweben entstandene
Stilisierung kommt dabei zum Ausdruck, da der spärliche Raum eine Vereinfachung der
Linien begünstigt. Eine weitere Folge dieser Beschränkung scheint zu sein, daß Körperteile
übereinander gezeichnet werden; anders kann ich mir die Darstellung in Abb. 57 nicht er-
klären. Sie sieht aus wie ein Fisch, der zusammengerollt ist und dessen Schwanz zugleich
HEINRICH SNETHLAGE
als Kiemen hinter den Augen durchschimmert. Und wiederum finden ganze Szenen, ein
Vogel mit einem Fisch im Schnabel oder vollständige menschliche Figuren mit ausgear-
beiteten Einzelheiten Platz-(Abb. 58).
Mit der Verwandlung des Tons — statt der noch ziemlich festen, auf der Oberfläche
polierten, tritt eine unpolierte schlecht durchbackene Masse auf — erscheinen auch neue
Farben — blau, grünlich, lila und Farbabstufungen, die z. T. wohl örtlich bedingt sind.
Dreieckige, viereckige, runde und kommaähnliche besonders starke Vertiefungen werden
gegraben, die im Gegensatz zu den Einschnitten nicht gefärbt sind, aber infolge der kräftigen
Schattenwirkung in die selten mehr schwarze Oberfläche eine besondere Note bringen.
Abb. 65 bis 70 veranschaulichen, wie harmonisch sie sich dem Ganzen einfügen. Ich glaube,
daß in ihnen der Übergang zu den plastischen Wirteln zu suchen ist.
Es besteht wohl kaum ein Zweifel darüber, daß in dieser Gruppe die eingeschnittenen
Punkte und Linien das Primäre waren; daß aus ihnen erst die gezeigten geometrischen und
figürlichen Darstellungen entstanden sind. Andere Wirtel unterscheiden sich von ihnen,
weil ihre Ornamente sicherlich gleich als ganze Figur eingeschnitten sind. Oder sind die
Vögel in Abb. 71 bis 73 aus Linien entstanden zu denken? Sie heben sich als stehen ge-
bliebene Oberfläche deutlich von dem weiß oder gelb (auch wohl rot) gefärbten Grund ab.
Die Abbildungen 74 bis 78 scheinen eine weitergehende Stilisierung der Vogelfiguren zu
beweisen; doch ist sie sicherlich wieder von den Geweben übernommen worden. Aber sie
sind als fertige Figuren eingeschnitten und nicht aus dem ,, Spiel“ mit Linien und Punkten
entstanden. So möchte ich sie — im Gegensatz zu den andern — als primär naturalistische
Figuren bezeichnen, obwohl ja das Stufenkreuz, das in gleicher Weise in die Wirtel ein-
geschnitten ist (Abb. 79 bis 81) nach Max Schmidt (1,8.24/25) aus der Flechterei mit zwei
verschiedenen Bastfasern zwangsläufig entstanden zu denken ist. Und möglicherweise hängt
das Fischmotiv wieder eng mit dem Stufenkreuz zusammen, wie Abb. 82 und 83 zu be-
weisen scheinen. Aus einem in Figur 81 dargestellten Stufenkreuz kann sich durch An-
bringung zweier gerader Linien statt der Stufen leicht das Fischmotiv entwickelt haben.
Der umgekehrte Weg ist schon deshalb schwer denkbar, weil naturalistische Fischdar-
stellungen fehlen.
Einige Abbildungen haben schon gezeigt, daß nicht immer die stehen gebliebene Ober-
fläche den Körper der Figur bildet, sondern daß auch durch den Ausschnitt das gewünschte
Muster hervorgebracht werden kann. Besonders deutlich ist dies an dem Papagei (Abb. 85)
und an dem Affen (Abb. 86) zu sehen. Letzterer ist — wie auch Stufenkreuze, Fische und
Vögel von Linien und Punkten eingerahmt. Es sollen in diesen Fällen wohl nur die größeren
freibleibenden Flächen unterbrochen und dadurch lebendiger gestaltet werden. Einige
merkwürdige Muster, die aber gar nicht so sehr selten sind, veranschaulichen Abb. 87 und
88. Erstere sieht wie ein Embryo aus; vielleicht soll sie auch einen Tintenfisch darstellen.
Letztere scheint mir ein Schädel zu sein, möglicherweise der eines Affen. Das in Abb. 89
wiedergegebene Tier ist schwer zu erkennen.
Wie ich schon erwähnte, haben sich wohl aus den Zusammenstellungen verschiedener
Wirtelformen schließlich die plastischen gebildet. Abb. 55 stellt meiner Ansicht nach einen
solchen Ausgangspunkt dar. Der Wirtel ist durch eine Mittelfurche in zwei Peile geteilt,
von denen der obere, für die Kopfbedeckung verwendete, einen etwas kleineren Durchmesser
hat. Augen, Mund, Nase und der Schmuck der Mütze sind durch farbige Einschnitte ge-
bildet. In Abb. 59 ist der untere Teil modelliert; der Hut zeigt aber ein Gesicht in den
charakteristischen Vertiefungen, das ganz ähnlich dem auf dem in Abb. 54 gezeichneten
Wirtel befindlichen ist. Abb. 61 zeigt manche Übereinstimmung mit den vielfarbigen
Wirteln mit besonders starken Vertiefungen (z. B. Abb. 69), ein Treppenornament, das
von Posnansky als Sinnbild der Erde angesehen wurde. Zu beiden Seiten sind menschliche
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN
83
Profile geformt. Diese Anordnung, die auch auf einigen Tongefäßen zu finden ist (im Ber-
liner Museum befindet sich ein solches Exemplar aus Cuzco) ist wohl hier von den Wirteln
mit eingeschnittenen Gesichtern übernommen, bei denen sie die Regel ist. Auch das
Material und die darauf angebrachten Farben beider Wirteltypen stimmen vielfach über-
ein. Es ist danach wohl anzunehmen, daß Grabungen, wie ich die besonders starken Ver-
tiefungen nennen möchte, den Gedanken haben entstehen lassen, die irdenen Wirtel zu
modellieren. Die Nase wurde ein wenig hervorgezogen, Gesicht und Glieder durch Weg-
nehmen von Material gebildet. Später sind dann höchstwahrscheinlich für diese Wirtel
Formen gebraucht worden; anders läßt sich die große Regelmäßigkeit der vorkommenden
Wiederholungen der gleichen Figuren gar nicht erklären. Die Wirtel von den verschiedenen
Fundorten weichen in der Farbentönung etwas voneinander ab; die von Ancon und Chu-
quitanta zeigen außerdem statt des runden Augenmotivs ein winkliges. Ich möchte anneh-
men, daß dieses ein fortgeschrittenes Stadium der Entwicklung ist.
Auch Tiere wurden plastisch ausgearbeitet. Ich bringe nur einige Beispiele: in Abb. 63
einen Jaguar, in Abb. 64 einen Rochen oder etwas ähnliches (wenn nicht ein fliegender
Vogel auf diese Weise wiedergegeben werden sollte, wogegen der fehlende Schnabel spricht).
Aus dem gleichen, schlecht durchbackenen Material bestehen die meisten der aus-
schließlich bemalten Wirtel, weshalb ich sie erst an dieser Stelle bringe. Eine ganze Reihe
von ihnen ist einfach gelblich, weißlich, bräunlich, lila gefärbt. Andere sind auf weißlichem
oder gelblichem Grunde mit lila, violetten, bläulichen oder andersfarbigenPunkten, Flecken
oder Strichen (Abb. 91—97) bedeckt. Manche von ihnen zeigen eine ziemlich willkürliche
Anordnung, lassen den üblichen Rhythmus fast vermissen (Abb. 93—95). Selten kommt
es zu geometrischen Figuren, wie sie Abb. 98 zeigt. Auch die in Abb. 100 wiedergegebene
Zeichnung, die an die der Spindelstäbe der Inka-Gräber von Chincha erinnert, ist
nicht allzu häufig. Die schwefelgelbe Farbe im unteren Teile fällt hier besonders auf.
Unter den Tausenden von Wirteln der Berliner Sammlungen ist mir nur einer mit reiner figür-
licher Bemalung in die Hände gefallen, mit einer Vogelfigur, die an das alte Ica erinnert
(Abb. 101). Eine Einordnung ist wegen ihres einzigartigen Vorkommens nicht möglich. Der
Wirtel ist ohne Stab mit den verschiedensten anderen Typen auf eine Schnur aufgereiht.
Bemerken muß ich noch, daß bemalte Wirtel des in Abb. 100 dargestellten Typs
besonders häufig den dickbäuchigen, reichlich bemalten Stäben aus Ica etc. aufsitzen. Ihre
Formen sind, wie die wenigen Proben beweisen, im großen und ganzen die gleichen wie die
der eingeschnittenen Wirtel. Neu sind lediglich die sehr flachen Ellipsoiden (Abb. 96).
Eine Anzahl der in den Gräbern um Ica und Pisco gefundenen Wirtel weichen ganz
bedeutend von den bisher behandelten ab. Sie sind mehr oder weniger abgestumpft kegel-
förmig und weisen sehr feine Treppenstufen auf, die allmählich zum Gipfel führen (Abb.
102). Diese konzentrischen Ringe sind so regelmäßig, daß ihre Herstellung mittelst einer
Art Drehscheibe erfolgt sein muß. Um so mehr ist diese Annahme berechtigt, weil an den
Einschnitten oder, besser gesagt, Ritzungen, die in der Richtung von der Spitze des ab-
gestumpften Kegels zu seiner Basis als Ornament angebracht sind, deutliche, wenn auch sehr
geringe Unregelmäßigkeiten festzustellen sind, die die Arbeit mit der Hand erkennen lassen.
Durch sie erhalten diese Wirtel einfache Muster, die sich gewöhnlich auf eine Einteilung
in verschieden gefärbte Abschnitte beschränken (Abb. 103). Im Höchstfall kommt es zur
Entwicklung eines Stufenmusters (Abb. 104) oder eines Sternes (Abb. 105 ab). Die Abstu-
fungen durch die konzentrischen Ringe sind bisweilen so unbedeutend, daß ich sie in den
Zeichnungen als gerade Linien habe darstellen können.
Eine gewisse Übereinstimmung der Ornamentformen liegt vor mit von Saville abge-
bildeten Wirteln aus Equador.
War ein mechanisches Hilfsmittel bei der Verfertigung dieser Wirtel im Gebrauch, so
84
HEINRICH SNETHLAGE
liegt kein Grund dagegen vor, anzunehmen, daß ein ähnliches Gerät auch zur Herstellung der
in der gleichen Gegend vorkommenden sphärischen Wirtel mit konzentrischen Rillen ver-
wendet worden ist (Abb.‘ 106). Diese sind dem Typ der eingeschnittenen Wirtel be-
deutend ähnlicher. Die Vertiefungen sind wieder abweichend von der Oberfläche bemalt.
Um kurz zu rekapitulieren! Wir können dem Ornament und seiner Technik nach unter
den Tonwirteln der bei der Bororo-Spinn-Methode verwendeten Spindeln folgende Typen
unterscheiden:
A. Einfach geritzte, weißliche oder rötliche Tonwirtel.
B. Tonwirtel mit farbigen Einschnitten.
1. Primärlineare Muster.
a) Geometrische Zeichnungen.
b) Figürliche Zeichnungen.
2. Als Einheit übertragene Muster („primärnaturalistisch“).
a) Körper der Figur durch die Oberfläche gebildet.
b) Körper der Figur durch den Einschnitt gebildet.
C. Plastische Tonwirtel.
D. Tonwirtel mit reiner Bemalung.
a) Geometrische Zeichnungen.
b) Figürliche Zeichnungen.
E. Augenscheinlich mit mechanischen Hilfsmitteln hergestellte Tonwirtel.
Zu beachten ist fernerhin die Anzahl und Beschaffenheit der aufgetragenen Farben:
A. Verwendung von bis zu vier Farben und zwar: Schwarz, weiß, goldgelb und
leuchtend rot.
B. Verwendung von Farbabstufungen und lila, violett, grün, blau etc.
Auch die Beschaffenheit des Tones spielt eine Rolle bei der zeitlichen und regionalen
Einordnung der aufgefundenen Tonwirtel. Zum mindesten unterscheiden wir:
A. Gut durchbackenen, roten oder bräunlichen Ton.
B. Ziemlich festen grauen Ton mit Polierung.
C. Schlecht durchbackenen, hellgrauen Ton ohne Polierung.
Die Tonwirtel der Bakairi-Spinnmethode sind im allgemeinen größer und schwerer.
Sie haben gewöhnlich abgestumpft kegelförmige oder mehr scheibenartige Gestalt. Auch
Aufwölbungen kommen vor, und stufenförmiger Aufbau (Abb, 107—109). Fetzterer ist
bei den in Pisco gefundenen Wirteln üblich und wohl auf den Einfluß der kleineren Wirtel
mit den konzentrischen Ringen zurückzuführen (Oder ist es vielleicht umgekehrt ?). Jeden-
falls befinden sich in einem Arbeitskörbchen, in dem diese Spindeln der Bakairi-Spinn-
methode Vorkommen, neben den abgebildeten auch solche mit den bekannten konzentrischen
Ringen; hier allerdings nicht als Abstufung, sondern als feine Rillen. Auch die zarten Farben
und die sie abgrenzenden Querritzungen sind vorhanden. Das Muster auf Abb. 108 ist
durchaus diesem Typ einzureihen.
Die Steinwirtel zerfallen ebenfalls in solche für Spindeln der Bororö- und in solche
der Bakairi-Spinnmethode. Erstere sind im Küstengebiet zahlreich, wenn auch nicht im
entferntesten an die Menge der Tonwirtel heranreichend, gefunden worden. In der Form
sehen sie ihnen ähnlich, sind häufig noch flacher und kleiner. In den weitaus meisten Fällen
fehlt jede Ornamentierung. Hin und wieder sind feine Ritzungen zu erkennen, Striche in
verschiedener Anordnung (Abb. 110, in), die in Abb. 112 zu einem dreieckigen Netz ver-
bunden werden. Auch das Augenmuster tritt auf (Abb. 113). Ein Wirtel aus Pachacamac
war mit zahlreichen, rundlichen Vertiefungen versehen. In einem andern aus grauem
Stein sind dunkelgrüne Mineral-Splitter so genau eingelegt, daß sie wie eingegossen aus-
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN
sehen (Abb. 114). Zwei Stückchen sind leider verloren gegangen; am Grunde der Ver-
tiefungen, in denen sie saßen, befinden sich Reste einer schwärzlichen Masse, die vermutlich
Wachs war. Die kleinen Steinwirtel sind auch bildhauerisch bearbeitet worden, wie aus
Abb. 115 hervorgeht.
Die in Tihuanaco gefundenen Steinwirtel sind wohl bei der Bakairi-Spinnmethode
verwandt worden, wie aus ihrer Größe und Schwere hervorzugehen scheint. Sie sind scheiben-
(Abb. 116) oder kegelförmig, nicht selten auf der Oberfläche vorsichtig mit einem Meißel
bearbeitet worden, so daß reliefartig feine Wülste oder Vorsprünge, die wie Pfeilspitzen
aussehen (Abb. 117 und 118), hervorragen. Der in Abb. 118 dargestellte Wirtel hat eine
Form, die an den der Spindeln der Bororo-Spinnmethode erinnert.
Die Steinwirtel aus Cuzco gleichen in der Regel einem abgestumpften Kegel (Abb.
119). Sie sind unornamentiert.
Die Knochenwirtel haben meist zylindrische Gestalt. Ihre ganze Ornamentik besteht
aus einer einfachen Ritzung von Zickzacklinien, Augenmotiven, Kreuzen, Andreaskreuzen
(Abb. 120, 121) und allenfalls Mäandern (Abb. 122). Abb. 123, ein kegelförmiger Knochen-
wirtel aus Cuzco ohne Ornamentierung, dürfte beweisen, daß Wirtel aus diesem Material
auch beim Bakairi-Spinnen Verwendung fanden.
Wirtel aus Muschelschale sind im allgemeinen unornamentiert. Inden Berliner Sammlun-
gen hatten nur der durch seinen natürlichen Anflug von rot schon ausgezeichnete, wahrschein-
lich aus Spondylusschale hergestellte, in Abb. 124 wiedergegebene Wirtel einige wenige
strichartige Ritzungen, Doch ist bei Uhle (2, S. 34) ein solcher mit Augenmotiv und An-
dreaskreuz, ähnlich den dargestellten Knochenwirteln, abgebildet. Die Form dieser Wirtel
ist selten zylindrisch, meist sind sie fast scheibenförmig (Abb. 125).
Die Metallwirtel bestehen aus Gold, Silber oder Kupfer oder deren Legierungen. Sie
haben meist nur einen sehr geringen Umfang. Sind sie bauchig oder plastisch ausgearbeitet,
handelt es sich fast immer nur um Bleche. So ist auch der einzige Goldwirtel, den wir be-
sitzen, aus zwei hohlen Halbkugeln zusammengesetzt. Alle Metallwirtel sind entweder
unornamentiert, graviert oder plastisch. Von ersteren, soweit sie aus Chimbote stammen,
hat Baessler (S. 52-—54? Taf. I][) eine ganze Anzahl in seinem Werke über peruanische
Metallgeräte abgebildet, so daß ich mich begnügen kann, als Beispiele nur einen einzigen
gravierten Silberblechwirtel (Abb, 126) und einen massiven Kupferwirtel zu bringen (Abb.
127), Plastisch werden sowohl Menschenköpfe (Abb. 128) als auch Tiere dargestellt. Häufiger
als bei Tonwirteln sind hier mehrere verschieden geformte Wirtel an einem Stabe ver-
einigt. Abgebrochene, restliche Stücke scheinen darzutun, daß in Pachacamac bisweilen
auch die Spindelstäbe oder wenigstens ein Teil von ihnen aus Silberblech gefertigt worden
waren.
Wirtel aus Holz sind mir nur aus Casabinda in Bolivien bekannt. Es ist möglich, daß
sie im Hochlande weitere Verbreitung besaßen; im Küstengebiet kamen sie augenschein-
lich nicht vor. Die wenigen Stücke der Berliner Sammlungen sind scheiben- oder pyramiden-
förmig und immer unornamentiert (Abb. 130).
Sehr häufig ist dagegen ein Stück Rohr dem Spindelstab als Wirtel aufgezwängt.
Seine Größe und Stärke wechselt. In Pachacamac sind nicht 2 cm lange, meist unornamen-
tierte Rohrwirtel mit geringem Durchmesser typisch, während in Ancon und andern
Gräberfundstellen ausschließlich stärkere und etwas längere Stücke gesammelt wurden.
Ihre Ornamentik zeigt große Übereinstimmung mit den dreiteiligen Spindeln, deren
Mittelteil ja immer aus Rohr besteht. Nur ist dieses bedeutend länger als die Rohrwirtel,
8 bis 10 cm und mehr. Sie werden aber durch Ringe gern in mehrere Abschnitte zerlegt,
so daß figürliche Darstellungen gewöhnlich nicht mehr Platz beanspruchen als auf den
Rohrwirteln. In der Regel bleibt dann links und rechts ein Feld leer. Aus diesem Grunde
13 Baessler-Archiv.
86
HEINRICH SNETHLAGE
wiederholt sich das gleiche Motiv in der Regel nicht mehr als höchstens dreimal in der Längs-
richtung. Die in das Rohrmittelstück beiderseits hineingesteckten Nadeln aus Palmholz-
splitter sind bisweilen geritzt (Ringe, schräge Linien, Punktreihen, gebrannt, seltener bunt
bemalt. Weitaus die meisten sind jedoch unornamentiert.
Die Rohrmittelstücke und Rohrwirtel können also gemeinsam in Bezug auf ihre
Ornamente betrachtet werden. Viele von ihnen zeigen nicht den geringsten Schmuck, andere
sind geritzt, eingeschnitten, schwarz oder bunt (schwarz, lila, hellrot, weiß oder gelblich)
bemalt oder eingeschnitten und schwarz ausgemalt und zwar in einer Weise, daß man wieder-
holt im Zweifel ist, ob es sich nicht um Einbrennungen handelt. Doch kommen diese nur
auf hartem Holze vor.
Weitaus am häufigsten tritt als Ornament in den aufgeführten Techniken eine Kom-
bination von geraden und Zickzack- bzw. Wellenlinien auf (Abb. 131). Sie verlaufen immer
in der Längsrichtung des Wirtels. Meist wird eine der gebrochenen Linien von zwei geraden
gewissermaßen eingerahmt; doch kommen sie auch für sich vor, namentlich, wenn sie ver-
schiedenfarbig sind (Abb. 132). Farbige und geritzte Ringe sind augenscheinlich nur an-
gebracht, um den Wirtel in Felder zu teilen oder Figuren einzurahmen. Das geschieht auch
mit Dreiecken, deren Innenfläche durch einen Punkt unterbrochen wird, wie sie z. B. auf
den wenigen, schwarz-weiß gemusterten Wirtelchen von Pachacamac häufig angebracht
sind (Abb, 133). Ebenso werden andere geometrische Figuren (Wogenband z. B.) und tie-
rische Motive behandelt. Merkwürdigerweise kommen auf Rohrstücken nur Vögel und Affen
vor; z. T. ziemlich naturalistisch, wie die kletternden Affen (Abb. 134) oder der Vogel
in Abb. 135. Auf andern sind sie stilisiert wie auf den Geweben (Abb. 136) oder rein orna-
mental geworden (Abb. 137). Abb. 136 ist besonders interessant, weil aus ihr hervorgeht,
wie die Peruaner sich halfen, wenn sie mit dem Platz nicht auskamen. Eine Lücke wird nicht
gelassen, sondern der Hals des Vogels einfach nach hinten verlagert und der schon rudi-
mentäre Körper fortgelassen. Etwas anders ist die Sache in Abb. 134. Auf andern Wirteln
klettert jeder der gezeichneten Affen an einer wohl als Baum gedachten Linie empor. Auf
dem Rohstück, das der erwähnten Zeichnung als Vorlage gedient hat, würde der Raum nicht
ausreichen. Deshalb ist die Senkrechte beim zweiten Affen fortgelassen und dessen Pfoten
in die Lücken gebracht, die sich oberhalb und unterhalb des gewölbten Rückens befinden
Vielleicht verfolgte der peruanische Maler auch den Zweck, dieses Segment möglichst aus-
zufüllen, damit es einen größeren Kontrast zu den benachbarten freien Feldern bildete.
Bei einem weiteren Wirtel langt der Platz nicht einmal für einen ganzen Affen; statt seiner
erscheint ein S-förmiges Zeichen (Abb. 138).
Menschliche Figuren, Katzen und Fische fand ich auf keinem der Rohrstücke. Es ist
dies immerhin auffallend, da sie doch auf den Tonwirteln nicht selten sind. Bei der großen
Menge des vorhandenen Materials ist kaum anzunehmen, daß ein Zufall keine solche Bilder
in meine Hände gelangen ließ.
Auf den geschnitzten und eingeschnittenen und dann schwarz bemalten Rohrstücken
treten keine Zeichnungen lebender Wesen auf. Häufig sind dafür gerade in der Längs-
richtung verlaufende Linien, die von Ringen eingefaßt sind (Abb. 139)- Doch können auch
sehr komplizierte Figuren verkommen (Abb. 140), so daß nicht einzusehen ist, aus welchem
Grunde Abbildungen von Menschen und Tieren fehlen. Die Austuschung der Einschnitte
brachte das Schachbrettmuster (Abb. 141). Es ist von Treppenornamenten begleitet, die
in dieser Technik eine große Rolle spielen. Auch Mäander sind nicht selten (Abb. 142).
Der Versuch, die verschiedenen Wirteltypen zeitlich und regional einzuordnen, stößt
wie ich eingangs erwähnte, auf zahlreiche Schwierigkeiten. Den einzigen Anhalt geben mir
die Ausgrabungen Uhle’s, so wie sie mir in seinen Veröffentlichungen und in den Arbeiten
Kroebers, Strongs, Gaytons in “University of California Publications in American Archeo-
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN
87
logy and Ethnology”, Bd. XXI, zur Verfügung stehen. Tello hat in seinem ,,Antiguo Peru“
auf Spindeln leider keinen Bezug genommen.
Gayton bildet (S. 325) einige Wirtel aus Niveria ab, die, der größeren Menge der von
Uhle dort gefundenen Gefäße nach, vielleicht dem Proto-Lima-Stil zugerechnet werden
können. Ihr Material ist Stein (Steatit, kristalline Schiefer, Kalzit), Muschelschale, Knochen
und „bei niedriger Temperatur“ (unter 1000 Grad Fahrenheit) gebrannter Ton. Die Formen
sind: 1. Niedrig, mit rundem oder linsenförmigen Rand; 2. bimförmig; 3.rhomben-, linsen-
oder eiförmig. Bei einigen war der obere Rand aufgewölbt, was Gayton mit “bottle neck
schaped” bezeichnet. Nur Steatit- und ein Muschelwirtel waren ornamentiert und zwar mit
narbenähnlichen Einschnitten und Augenmotiv (dotcircle).
Uhle selber weist auf die Wichtigkeit der Gestaltung der Wirtel für die Datierung hin
(P, S. 34). Er bildet aber nur einige Formen aus Seifenstein, Knochen, Muschel und Ton
des sogenannten epigonalen Stils von Pachacamac ab. Sie haben die Gestalt von Ringen,
Kugeln und Kegeln und gelegentlich gleichen sie „ornamented disks“. Aus der Art der
Zeichnung geht hervor, daß sie geritzt oder eingeschnitten sind. Ob die Vertiefungen der
Tonwirtel farbig ausgemalt, wird weder im Text gesagt noch ist es aus der Zeichnung er-
sichtlich.
Den besten Aufschluß gibt noch die Arbeit von Kroeber und Strong (S. 32—33, 46,
Taf. 16—18). Wir erfahren aus ihr, daß die Spindeln der „Late Chincha P’-Periode sehr
fein, fast wie Holznadeln, hart, wenig oder gar nicht gemustert sind, die der „Late Chincha II“
und Inca-Zeit dagegen größere Länge und Dicke und in der Mitte eine schon komplizierte
Bemalung in meist fünf Farben, darunter bläulich oder grünlich, aufweisen. Die abgebil-
deten, für die späte Periode charakteristischen Typen zeigen große Übereinstimmung mit
den Abb. 8, 10 und 12.
Die Wirtel aus „LateChincha I“-Gräbern bestehen „gewöhnlich“ aus poliertem, schwar-
zen (dunkelgrauen ?) Ton, sind in der Form mehr oder weniger rundlich und „bisweilen mit
eingeschnittenen weißen oder roten Mustern versehen“.
Dagegen sind die Inca-Wirtel aus sehr schlecht gebackenem (hellgrauem) Ton gefertigt,
unpoliert und nicht eingeschnitten, sondern nur mit einer oder mehreren Farben bemalt
(das letztere geht aus den Abbildungen hervor). Die Formen sind mannigfachig, kegel-
förmig, halbzylindrisch, linsenförmig, selten kugelig. Die Abbildungen zeigen z. T. Auf-
wölbungen am unteren oder oberen Rand.
Das ist alles, was ich in der Literatur über zeitliche Einordnung der Spindeln finden
konnte. Zunächst glaubte ich, durch Vergleich des in Arbeitskörbchen und anderen Spinn-
und Webmaterialbehältern vorhandenen Materials diesem Mangel ein wenig abhelfen zu
können. Leider wurde ich arg enttäuscht. Denn sehr viele von ihnen enthalten die verschie-
densten Typen nebeneinander, so daß angenommen werden muß; entweder wurde beim
Sammeln nicht genügende Sorgfalt beobachtet, oder die betreffenden Sachen stammen aus
späterer Zeit. In letzterem Falle wären die alten Typen weiterhin neben den neuen beibe-
halten worden. Das ist durchaus möglich, denn auch in Chincha sind ja Gräber gefunden
worden, die Spindeln aus allen Perioden enthielten.
Verknüpfe ich nun mein Material mit den Feststellungen der erwähnten Forscher,
so ergibt sich Folgendes:
Es lassen sich im Küstengebiet Perus zum mindesten drei Regionen erkennen, die
besondere, leicht voneinander unterscheidbare Wirbeltypen ausgebildet haben. Dies sind
das Gebiet der Chimu im Norden, das mittlere Küstengebiet Perus und die Gegend um
Ica und Pisco. Von ihnen umfaßt das zentrale sicherlich mehrere, auch wohl regional ver-
schiedene Kulturen, wie einmal der verschiedene Ursprung der Ornamente, dann aber die
Farbennuancen, durch die z. B. Ancon von Pachacamac abweicht (besonders deutlich
13*
88
HEINRICH SNETHLAGE
im Grün). Eine Festlegung kann aber zur Zeit mangels systematischer Ausgrabungen noch
nicht erfolgen.
D as Gebiet der Chimu im Norden. Die Wirtel lassen, soweit sie aus Ton ge-
fertigt sind, deutlich Material, Farbe und Folierung der Rotweiß-Keramik erkennen. Sie
sind schwach oder tief geritzt, ganz ähnlich den in gleicher Gegend gefundenen Steinwirteln.
Niemals sind die Vertiefungen mit einer von der Oberfläche abweichenden Farbe ausgemalt.
Die Form der Wirtel ist noch ziemlich gleichmäßig, vielfach einem auf einer Halbkugel
stehenden Kegel gleichend. Die Ornamente sind einfach: Punkte, Punktreihen, gerade
oder gebogene Finien, Kreise, Augenmotiv, sehr selten mit geritzter Innenfläche versehene
Mondsicheln, Kreise oder gar ein S-förmiger Wurm. Sie erscheinen mir primitiv, erinnern
an gewisse Motive im Calchaqui-Gebiet.
Einige in Ancon gefundene Wirtel zeigen große Übereinstimmung mit ihnen; aller-
dings fehlt häufig die Farbe der Oberfläche. Vereinzelt sind auch Wirtel aus dem Material
der im mittleren Küstengebiet mit Ritzungen versehenen, die denen der Chimuwirtel ähnlich
sind. Wirtelstäbe habe ich nicht gesehen.
Ohne mich auf ihr Alter festlegen zu wollen, möchte ich sie jedenfalls als prae-inkaisch
betrachten; ihre Entwicklung vor die Zeit legen, bevor im schwarzen Ton die alte Chimu-
Töpferei wieder auflebte.
Die Metallwirtel sind, soweit ornamentiert, graviert.
Das mittlere Küstengebiet Perus. Ihm gehört die Hauptmasse der gezeichneten
Wirte] an. Gayton’s Untersuchungen von Niveria scheinen darzutun, daß Stein-, Knochen-
und Muschelwirtel den Tonwirteln vorausgingen. Möglicherweise wurden diese zuerst in
ähnlicher Weise geritzt wie die Wirtel desChimu-Gebietes. Das könnte wenigstens aus den er-
wähnten Funden geritzter Wirtel bei Ancon herausgedeutet werden. In den Perioden, die
der Inka-Zeit unmittelbar vorausgingen, waren die Einschnitte weiß, gelb oder rot gefärbt.
Wann die übrigen Farben hinzugetreten sind, läßt sich nur vermuten. Ich glaube, daß
ein Teil von ihnen aus dem Süden übertragen worden ist. Andere werden von Cuzco mit-
gebracht worden sein.
Durch Vergleich mit den Funden in Ica, Pisco und Chincha erscheint es als sicher,
daß die polierten, härteren Wirtel den sehr schlecht durchbackenen, unpolierten voraus-
gingen. Damit wäre aber auch bewiesen, daß die plastischen und nur bemalten Tonwirtel
der späten Zeit angehören, also erst kurz vor der Eroberung des Fandes durch die Inka
sich entwickelt haben können.
Die Spindelstäbe sind aber sicher nicht im ganzen Gebiet in der früheren Zeit so
zierlich gewesen, wie sie nach Kroeber und Strong’s Untersuchungen in Chincha und
damit in Ica und Pisco waren. Ganz primitiv bemalte Stäbe hatten beträchtliche Länge,
z. T. gingen sie über das Durchschnittsmaß hinaus. Vielleicht ist also das Längerwerden
der Spindelstäbe in Ica und Pisco auf den Einfluß des zentralen Küstengebietes zurück-
zuführen.
Neben Wirteln aus Ton haben solche aus Stein weiterhin Verwendung gefunden, wie
das plastische Ausarbeiten und das Einlegen von Mineralien beweisen dürfte. Letzteres
ist wohl aus dem Hochland überkommen; jedenfalls geschieht es im Küstengebiet erst
in der Inkazeit, wie der zugehörige Spindelstab bezeugt. Er weist nämlich eine Bemalung
auf, die derjenigen von in Inkagräbern gefundenen Spindeln aus Chincha sehr ähnlich ist.
Die Metallwirtel unterscheiden sich von denen Chimbotes einmal dadurch, daß sie
noch bauchiger sind und zweitens, daß Figuren gestaltet werden. Zeitlich einzuordnen
wage ich sie nicht.
Die Rohrwirtel und dreiteiligen Spindel dürften ganz auf das zentrale Küstengebiet
FORM UND ORNAMENTIK ALTPERUANISCHER SPINDELN gg
Perus beschränkt geblieben sein. Zum Teil stammen sie wohl, wie das verwendete Rot,
Lila und Gelb zeigen, aus der späten Zeit.
Die Gegend um Ica und Pisco. Charakterisiert ist dieses Gebiet insbesondere
durch die mit mechanischen Hilfsmitteln hergestellten, mehr oder weniger rundlich, kegel-
oder scheibenförmig gefertigten Tonwirtel. Sie kommen bis Chincha vor. Ihre zeitliche
Einordnung ist durch Kroeber und Strongs Arbeiten leicht möglich. Die mit zahlreichen
konzentrischen Kreisen versehenen kegel- oder scheibenförmigen Wirtelchen haben Ein-
fluß auf die erst in Inka-Gräbern gefundenen Wirtel der bei der Bakairi-Spinnmethode
verwendeten Spindeln gehabt. Rot, Gelb und Weiß sind in diesem Gebiet bedeutend zarter
als im zentralen Küstengebiet — wenigstens zur Zeit der polierten Tonwirtel.
Aus dem Hochland sind uns verhältnismäßig sehr wenige Spindeln erhalten geblieben.
Sie dürften durchweg der Bakairi-Spinnmethode gedient haben. Das beweisen Größe, Form
und Lage derWirtel von Cuzco. Die Tiuhanaco-Wirtel sind in dieser Beziehung ihnen ähnlich.
Meine Arbeit hat einige Mängel aufzuweisen. Sie litt besonders darunter, daß es mir
nicht möglich war, farbige Tafeln zu bringen. Auf diese Weise konnten die Unterschiede im
Farbton nicht zur Geltung gebracht werden. Ich muß auf die Abbildungen bei Reiß und
Stübel verweisen, durch die die Mannigfaltigkeit aber nicht im geringsten erschöpfend dar-
gestellt ist.
Immerhin hoffe ich, einen Überblick über die vorhandenen Wirteltypen und ihre Or-
namentik gegeben zu haben. Das war der Hauptzweck meiner Arbeit. Der Hinweis Uhle’s,
daß die Spindeln und Wirtel eine wichtige Rolle bei der Lösung der Probleme der prä-
kolumbischen Geschichte Perus zu spielen berufen sind, ist wohl durch sie noch einmal un-
terstrichen worden.
Wichtigste Literatur
Baessler, Arthur: Altperuanische Metallgeräte. Berlin
I9°4-
Crawford, M. D. C.: Peruvian Textiles. Anthropological
Papers of the American Museum of Natural History.
Vol. XII, New York 1915, S. 54—104.
Frödin, Otto und Nordenskiöld, Erland: Über
Zwirnen und Spinnen bei den Indianern Südameri-
kas. Göteborg 1918.
Gayton, A. H.: The Uhle-Collections from Niveria.
Univers. of California Public. Amer. Archeol. and
Ethnology. Vol. XXL, Berkeley, California, 1924/1927
S. 3°3—329-
Götze, A.: Das Spinnen mit Spindel und Wirtel. Verh.
d. Berl. Ges. f. Anthrop., Ethn. und Urgeschichte,
Berlin 1896.
Holmes, William, H.: Textile Fabrics of Ancient Peru.
Smithonian Inst. Bureau of Ethnology. Bull. 7.
Washington 1889.
Kroeber, A. L.: and Strong, William Duncan:
(1) The Uhle Collections from Chincha. Univ. of
California Public. Amer. Archaeol.. and Ethnology.
Vol. XXI, Berkeley, California 1924/27, S. 1—54.
— (2) The Uhle Pottery Collections from Ica. Ibidem,
S. 93—133-
Erklärung der nebenstehenden Abbil-
dungen. Da farbige Tafeln zu teuer kommen würden,
mußte ich mich damit begnügen, eine Auswahl von
Wirteln zeichnen zu lassen. Leider waren dadurch zwei
große Mängel nicht zu umgehen: Ich konnte weder Farb-
Mead, Charles, W.: Conventionalized Figures in An-
cient Peruvian Art. Anthropol. Papers of the Americ.
Mus. of Natural History, New York 1916, S.195—217.
Posnansky, Arthur: Das Treppenzeichen in den
amerikanischen Ideographien, mit besonderer Rück-
sicht auf Tihuanacu. Berlin 1913.
Reiss, W. und Stübel, A.: Das Todtenfeldt von Ancon.
Berlin 1880/87.
Saville, Marshall H.: The Antiquities of Manabi,
Equador. 2 Bde. New York 1907 und 1910.
Schmidt, Max: (1) Über altperuanische Ornamentik.
Archiv f. Anthropologie, N. F. 7, Berlin 1908,
S. 22—36.
— (2) Die technischen Voraussetzungen in der Ornamentik
der Eingeborenen Südamerikas. Ipek 1926, Leipzig,
S. 142—174.
— (3) Kunst und Kultur von Peru. Berlin 1929.
Tello, Julio C.: Antiguo Peru. Lima 1929.
Uhle, Max: (1) Types of Culture in Peru. Amer. Anthro-
pologist (N. S.) Vol. 4. 1902, S. 753—759.
— (2) Pachacamac. Philadelphia 1903.
— (3) Die Muschelhügel von Ancon. XVIII. Intern.
Americ. Kongr. S. 22—45.
abstufungen, die für Regionen und Perioden von Wich-
tigkeit sind, noch die Vertiefungen zum Ausdruck bringen.
Der Text muß hier, so gut es geht, aushelfen. In Bezug
auf die Wirtel des zentralen Küstengebietes (Ancon) kann
ich auf die farbigen Abbildungen der Tafeln des Werkes
HEINRICH SNETHLAGE
□
EH] gelb — yoi J
mm rot
BB bUu
— lila llnoi.tj
l|i !',j . HKwa^
üü 9-un
mm brsuf\ (purpu
von Reiss & Stübel verweisen; aus
den übrigen Gebieten kenne ich nur
Photographien von Spindeln und
Wirteln.
Auf Rat von Herrn Professor
Dr. Krickeberg wählte ich die heral-
dische Schattierung. Gezeichnet wur-
den die Wirtel dank des liebenswür-
digen Entgegenkommens von Herrn
Professor Dr. Lehmann im Ethnologi-
schen Forschungsinstitut durch Fräulein Seidel, doch hat
mich auch Herr Rubbert darin unterstützt. Bezeichnungen
der Abbildungen: I. Spulförmige Spindel mit Tonwirtel
und aufgerolltem Faden. 2. Spindel der Bakairi-Spinn-
methode mit Tonwirtel. 3. Spindelstab mit Fruchtwirtel.
4. Dickbauchiger, unornamentierter Spindelstab. 5. Stück
eines Spindelstabes mit 1 Stein- und 2 Tonwirteln.
6. Spindelstab mit durchbrochener Mitte, („Rasselnder
Spinnstab“). 7-—12. Reichbemalte Spindelstäbe mit
Wirtel aus schlecht durchbackenem Ton. 13. Spindel und
Wirtel aus einem Stück Holz geschnitzt, bemalt.
14—21 Tonwirtel mit einfachen Ritzungen. 22—57. Ton-
wirtel mit farbigen Einschnitten. 58. Abrollung eines Ton-
wirtels mit farbigen Einschnitten. 59—64. Plastische
Tonwirtel. 65—70. Tonwirtel mit farbigen Einschnitten
und besonders starker unbemalter Vertiefung. 71—77p
79, 83, 84, 89. Tonwirtel mit als Ganzes herausgeschnitte-
nen Figuren, deren Körper durch die Oberfläche gebildet
sind. 78, 80—82, 85—88. Tonwirtel mit Figuren, deren
Körper durch denAusschnitt gebildet werden.90—101 Ton-
wirtel mit reiner Bemalung. 102—105. Durch mechanische
Hilfsmittel hergestellte Tonwirtel mit Ritzung und Be-
malung. 106. Spindel mit sphärischen Tonwirtel (Kon-
zentrische Rillen). 107'—109. Tonwirtel mit Ritzung, Ein-
schnitten oder Bemalung an Spindeln der Bakairi Spinn-
Methode. 110. Spindel (spulförmig) mit Steinwirtel,
in—113. Geritzte Steinwirtel. 114. Spindelteil (bemalt)
mit eingelegtem Steinwirtel. 115. Plastischer Steinwirtel.
116—118. Steinwirtel für Spindeln der Bakairi-Spinn-
Methode; die beiden letzteren mit reliefartigen Vor-
sprüngen. 119. Spindel mit Steinwirtel für die Bakairi-
Spinnmethode. 120—122. Knochenwirtel mit Ritzungen.
123. Spindel mit Knochenwirtel für die Bakairi-Spinn-
methode. 124 u. 125. Wirtel aus Muschelschale. 126. Gra-
vierter Wirtel aus Silberblech. 127. Massiver Kupferwirtel.
128. Plastischer Wirtel aus Silberblech. 129. Spindelspitze
mit 3 Silberblechwirteln. 130. Spindel mit Holzwirtel.
131—133. Bemalte Rohrwirtel. 134. Bemaltes Rohrmittel-
stück. 135. Abrollung der Mitte eines Rohrwirtels.
136. Abrollung eines bemalten Rohrmittelstückes.
137. Abrollung eines bemalten Rohrwirtels. 138. Ab-
rollung eines Teiles eines Rohrmittelstückes. 139. Ge-
ritztes Rohrmittelstück einer dreiteiligen Spindel.
140—141. Rohrmittelstücke mit ausgeschnittenen und
schwarz ausgemalten Mustern. 142. Bemaltes Rohrmittel-
stück. Nat. Größe sind Abb. 21—61, 63—105, 105—107,
109—in, 119, 120, 122—127. 1/.J nat. Größe Abb. 5,
7—20, 62, 114—116, 131—142. V3 nat. Größe Abb. 3, 6,
119, 123, 130. 4/9 nat. Größe Abb. 1, 2, 4, 106 und 110.
Es stammen aus Chimbote die Gegenstände, die dar-
gestellt sind auf Abb. 14, 15, 17, 18, 20, 21, 112, 113,
126; 16 ist wohl fälschlich mit Ica als Herkunftsort
bezeichnet; aus Ancon: 1, 5, 6, 19, 22, 24, 26, 29, 31—37,
39, 44, 48, 51, 53, 55, 62, 64—70, 72, 75, 76, 79, 81, 82, 84,
86, 88, 91—95, 101, 110, 125, 131, 132, 139 und HB
Cobacabana bei Lima: 27, 38, 41, 57, 78; bei Lima; 23,
45, 50, 52, 54, 58, 87, 90, Hi, 124, 135, 140; aus Marquez;
47, 136; aus Chuquitanta 3, II, 61; aus Pachacamac:
13, 42, 56, 59, 60, 63, 73, 83, 114, 115,120—122,127—129,
133 und 142; aus Pisco; 2, 4, 102, 107—109; aus Ica;
7—10, 12, 100, 106, St. Ramon: 103—105, Cuzco: 119,
121, Tihuanaco: 116—118, Casabinda in Bolivien: 130.
Ohne nähere Fundortsangabe sind folgende Stücke: 25,
28, 30, 40, 43, 46, 49, 71, 74, 77, 8°, 85, 89, 96—99, 134,
136, 137-
шшшяш
BEOBACHTUNGEN
AUF EINER KRYMTATARISCHEN HOCHZEIT.1
Mit 5 Abbildungen.
(Dorf Bijuk-Jaschlaw, 7 km von Bachtschissaraj.)
VON NATA FINDEISEN, BERLIN
Der Abend brach herein, als ich mit dem jungen Tataren Dshemaleddin, einem Lenin-
grader Studenten, zum Bahnhof von Bachtschissaraj ging, um dort ein Fuhrwerk zu finden,
das uns zu einem Hochzeitsfest nach Bijuk-Jaschlaw bringen sollte. Es war jedoch keins
zu sehen, und wir wollten schon enttäuscht umkehren, als endlich eine Droschke um die
Ecke rasselte. Es war bereits 7 Uhr abends, und der Kutscher verlangte 10 Rubel, von denen
er sich durch langes Feilschen nur vier abhandeln ließ. Obwohl 6 Rubel das Doppelte des
üblichen Preises für diese Fahrt bedeutete, zögerten wir nicht länger Platz zu nehmen, denn
mein Wunsch, einer Tatarenhochzeit beizuwohnen, besiegte den Unwillen über die un-
verschämte Forderung. Zunächst ging es zum Dorf Sakaw, wo die Braut wohnte.
Es dunkelte bereits; der Himmel, ein dunkelblauer Samtbaldachin, war mit Milliarden
hellglitzernder Sterne besät. Der Mond beleuchtete unseren Weg und bewahrte uns vor
der Gefahr, den Seitenweg nach Sakaw zu verfehlen. Uns entgegen blies ein so kalter
Wind, daß ich fröstelnd dem Kutscher den Rücken kehrte. Die Nacht war so schön, daß
ich keine Lust zu einer Unterhaltung verspürte und mich schweigend dem Zauber der
nächtlichen Krymlandschaft hingab. Der Weg war anfangs glatt und eben, wurde jedoch
später schwieriger und sehr steinig, so daß unser Wagen zu mei-
nem Leidwesen schrecklich stieß und schwankte. Allmählich
erschien mir die Fahrt recht lang, und ich äußerte die Besorg-
nis, ob wir nicht den Weg verfehlt hätten. Mein Begleiter er-
klärte mir jedoch, daß das Dorf in einer Senkung liege und in-
folgedessen nicht eher sichtbar werde, bis man dicht davor sei.
Kurz darauf zeigten sich vor uns, wie es mir schien, die
schwarzen Schatten kleiner Häuschen, die sich jedoch beim
Näherkommen als die Denksteine auf dem Tatarenfriedhof er-
wiesen. Bald danach aber bogen wir scharf nach rechts und
fuhren auch schon in das Dorf ein. Hier wohnte die Braut, eine
Base meines Begleiters Dshemaleddin.
Der Lärm von Musikinstrumenten, unter denen die Trom-
mel alle anderen übertönte, kam uns entgegen. Vor dem Hause
der Braut fiel uns mit wildem Gekläff eine Anzahl Hunde
an, die mich nicht von der Stelle ließen, bis sie mein Begleiter _ t . , _ . ,
’ i i r j m j Abb- I- Tatansche Frau in der
mit einigen tatarischen Zurufen verscheuchte. In der lür des Tracht der Vorrevolutions-Zeit
1 Im Anschluß an die im „Baessler-Archiv“, Bd. XIII,
S. 121—135, geschilderte Reise nach Finnisch-Lapp-
land, unternahm ich eine Reise nach Südrußland und
dem Kaukasus, auf der meine Frau bei den Krym-
tataren zumeist selbständig für das Berliner Museum
für Völkerkunde tätig war. Der hier mitgeteilte Auf-
satz ist freundlichst von Herrn W. Imiela aus der
russischen Handschrift ins Deutsche übertragen
worden. H. Findeisen.
98
NATA FINDEISEN
Hauses empfing uns der Onkel der Braut mit größter Liebenswürdigkeit. Als ich die
Treppe hinaufging, faßte mich eine Frau unter den Arm und führte mich in ein Zimmer
unter lauter Frauen und Mädchen bis in eine Ecke auf der linken Seite des Zimmers, wo
sie mich bat, auf einer Filzdecke Platz zu nehmen. Kaum hatte sie mich verlassen, als sich
alle anderen Tatarinnen in einem Halbkreis um mich herumhockten, wobei sie eifrig mit-
einander tatarisch schwatzten, so daß ich nichts verstehen konnte. Ich ließ mich jedoch
nicht aus der Fassung bringen, sondern schaute sie mir ebenfalls sehr genau an. Sie trugen
sämtlich europäische Kleidung und unterschieden sich in nichts von russischen Frauen.
Vergebens suchte ich unter ihnen nach der Braut. Da aber alle europäisch und fast gleich
gekleidet waren, nahm ich an, die Braut sei nicht dabei. Zwei oder drei der Mädchen ver-
standen etwas russisch, und so fragte ich, wann denn die Braut
käme. Da zeigten sie lachend auf ein unter den anderen sitzen-
des Mädchen und sagten, das sei die Braut. Diese trug einen
braunen Rock, eine Bluse von englischem Schnitt und ein drei-
eckiges, wollenes Halstuch, Sie kam auf mich zu und begrüßte
mich; ich erwiderte: ,,Allah razy olssun!“ (Allah sei Dank!)
— Dieser tatarische Ausdruck versetzte die Mädchen in unbe-
schreibliches Entzücken, sie erdrückten mich fast mit Umarmun-
gen. Ich fragte sodann, warum sich die Braut in der Kleidung
gar nicht von den Übrigen unterschiede, worauf man mir
sagte, daß die alten Trachten nicht mehr getragen würden. Das
war für mich eine große Enttäuschung, denn ich hatte gerade
gehofft, bei diesem Fest die Nationaltrachten der Krymtataren
sehen und ihre alten Gebräuche beobachten zu können. Gleich
darauf belehrte mich ein bezeichnender Vorfall, daß die alten
Trachten und Gebräuche von der jungen Generation nicht ver-
gessen sind, sondern bewußt abgelehnt werden.
Lautes, allgemeines Gelächter der Anwesenden veranlaßte
mich aufzustehen, und ich sah eine schon bejahrte Tatarin, die
das Nationalkostüm angelegt hatte. Sie trug ein himmelblaues
Seidenkleid und darüber ein mit Goldbrokattressen verziertes rotes Samtjäckchen. Auf
dem Kopfe einen goldverzierten Fes, von dem ein rotes Seidentuch mit Fransen über
den Rücken fiel. Eine feine Tschadrä (Gesichtsschleier) verhüllte ihre Züge. Die An-
wesenden drängten sich um sie herum, drehten sie hin und her, hoben ihr Kleid auf, um die
weiten Pumphosen anzuschauen und lachten dabei laut. Die Alte aber ließ ruhig alles mit
sich geschehen, als ginge es sie gar nichts an. Dann raffte sie vorsichtig ihr Kleid und ließ
sich auf den Boden nieder. Alle setzten sich um sie herum, genau wie sie kurz vorher um
mich herumgesessen hatten und machten sich offensichtlich in zuweilen recht grober Weise
über die Alte lustig. Die aber verharrte unbeweglich in tiefem Schweigen. Mir tat die alte
Frau herzlich leid, und so fragte ich eines der Mädchen, warum man sie derart verspottete.
Das Mädchen gab zur Antwort: „Sie ist nicht ganz richtig im Kopf, darüber lachen wir,
und außerdem hat sie die alte Tracht angelegt, das ist jetzt gar nicht mehr modern.“ —■
Diese Antwort läßt recht betrübliche Schlüsse in Bezug auf den Charakter und die Ehr-
furcht vor der Tradition bei der jungen, „europäisierten“ Generation der Krymtataren zu.
Jetzt kam der Bruder der Braut ins Zimmer —(andere junge Männer dürfen das Zim-
mer der Frauen nicht betreten) — und forderte die Mädchen auf zu tanzen. Alle sprangen
schnell empor und bildeten einen Kreis. Der Bruder der Braut forderte auch mich auf,
am Tanze teilzunehmen, und obwohl ich erklärte, daß ich nicht tanzen könne, ließ er nicht
nach zu drängen, bis auch ich mich in den Kreis stellte. Der Tanz war keineswegs kompli-
Abb. 2. Tatarisches junges
Mädchen zur Zeit der Selb-
ständigkeitsbewegung der Krym-
tataren (1917—1920).
BEOBACHTUNGEN AUF EINER KRYMTATARISCHEN HOCHZEIT
99
ziert; er heißt ,,Koran“ und besteht darin, daß alle unter dem Gesang eines Liedes zwei
Schritte nach der einen Seite machen, dann knicksen und das Manöver nach der anderen
Seite hin wiederholen. Ich hatte Melodie und Tanz bald heraus und erntete für meine Mit-
wirkung großen Beifall.
Nach dem Tanz führte man mich in ein anderes Zimmer, wo die Mitgift der Braut zur
Besichtigung ausgestellt war. Das Zimmer war viereckig, die Wände mit Brokatstoff be-
kleidet und auf dieser Verkleidung Handtücher, Taschentücher, Ledergürtel, Tabaks-
beutel und andere Gegenstände befestigt. In einer Vertiefung der Wand stand ein großer
Kasten, darauf lagen drei Daunenbetten, auf einer Seite mit Zitz, auf der anderen mit Brokat
überzogen. Ferner gewirkte Decken und drei Kissen, die ebenfalls auf einer Seite mit Brokat
überzogen waren. Darüber hatte man
Kleider ausgebreitet. Am Fenster stand
ein kleiner Tisch, darauf Kupfergeschirr
und einige Teetassen. Unter der Zimmer-
decke waren sternförmig Schnüre befestigt,
von denen Halstücher, Schleier und Hand-
tücher herabhingen. — Die Frauen und
Mädchen beschauten alles mit großer Auf-
merksamkeit, nahmen die Sachen in die
Hand, prüften sie bei Lampenlicht und
schwatzten dabei eifrig. Mich hatte man
wieder in eine Ecke gesetzt und bot mir
nun ein Schüsselchen mit Konfitüre und
eine kleine Tasse Kaffee an. Die Konfitüre
schmeckte mir nicht besonders, zumal ich
im Munde ein Haar verspürte, wovon mir
fast übel wurde; doch mußte ich ziemlich
viel davon nehmen und sie natürlich für
ausgezeichnet erklären. Danach mußte ich
die Mitgift besichtigen. Die Braut bemerkte mit Genugtuung mein Interesse für die Sachen
und schenkte mir ein gesticktes Taschentuch,
Nun begab man sich wieder in das erste Zimmer, um zu tanzen, und da ich mich be-
reits einmal beteiligt hatte, konnte ich auch jetzt nicht nein sagen. Während des Tanzes
hielt eine Tatarin meine Handtasche und öffnete sie aus Neugier. Als sie darin ein Fläschchen
Eau de Cologne entdeckte, kam sie zu mir und bat mich, sie zu besprengen. Kaum hatte
ich das getan, als alle Frauen und Mädchen mit großem Geschrei auf mich eindrangen
und ebenfalls besprengt werden wollten. Das machte mir anfangs Spaß, als sie aber gar
nicht von mir abließen und nur noch wenig Eau de Cologne übrig geblieben war, wurde ich
ein wenig nervös, denn ich hatte das Fläschchen eigentlich für die Braut mitgebracht.
Deshalb steckte ich es weg. Da rieb eine der Frauen ihre Hände an den meinigen und danach
ihr Gesicht, Erst begriff ich nicht, was das bedeuten sollte, dann aber wurde mir klar,
daß sie sich auf diese Weise ein wenig zu parfümieren versuchte. Nun beeilte ich mich,
die Braut aufzusuchen und ihr den Rest des Eau de Cologne zu geben. Obwohl das Ge-
schenk durchaus nicht mehr intakt war, bereitete es ihr doch offensichtlich große Freude.
Es war bereits zwei Uhr nachts, als mich der Bruder der Braut und seine Frau zu sich
ins Haus zu einer Mahlzeit baten. Dshemaleddin und ich folgten der Einladung. Im Hause
unserer Gastfreunde störten wir ein junges Mädchen und einen jungen Mann aus dem Schlaf;
das Mädchen erschien barfuß und im Unterrock. Sie zogen sich jedoch schnell an und setzten
sich mit uns an einen kleinen Tisch. Wir saßen alle auf dem Boden auf Kissen. Auf dem
Abb. 3. Junge Tatarin in Nationaltracht.
Phot. Nata Findeisen.
IOO
NATA FINDEISEN
Tisch stand Rotwein und Wodka, Brot in großen Scheiben und zwei Schüsseln mit Käse
und heißem Hammelfleisch. Da ich Wodka ablehnte, schenkte man mir Rotwein ein. Den
Tataren verbietet das Religiönsgesetz Wein zu trinken, da aber der Koran Wodka nicht er-
wähnt, so trinkt ihn alles, alt und jung. Während wir aßen, kam Dshemaleddins Mutter
ins Zimmer. Man bot ihr Rotwein an, den sie jedoch entrüstet ausschlug. Wodka aber
trank sie ohne weiteres. Heutzutage trinken die jungen Leute alle Wein, nur die Alten
scheuen diese Gesetzesübertretung. Als Dshemaleddin Wein trank, schüttelte seine Mutter
mißbilligend den Kopf, wagte aber offenbar nicht, es ihm zu verbieten. Nach dem Mahle
gingen wir in ein anderes Haus zu einem Onkel Dshemaleddins,
wo man uns auf dem Fußboden Lagerstätten bereitet hatte. Da
die Gäste sehr zahlreich waren, schlief alles durcheinander.
Als ich am Morgen erwachte, waren bereits alle Gäste auf-
gestanden. Während ich mich rasch anzog, kam eine Frau herein,
die mein Lager wegräumte, einen kleinen Tisch hereinbrachte
and Tee zu bereiten begann. Als der Tee fertig war, erschien
Dshemaleddin mit seiner Mutter und Großmutter. Die Groß-
mutter war eine sehr kluge und interessante Frau. Sie rauchte
eine Pfeife mit sehr langem Stiel, von der sie sich niemals
trennte. Dennoch hat sie mir diese Pfeife vor meiner Abfahrt
verkauft. Sie wollte sich gern mit mir unterhalten, da sie aber
nur etwa zehn Worte Russisch konnte und ich nur fünf Worte
Tatarisch, so war die Unterhaltung sehr einsilbig, bis uns Dshe-
maleddin durch Dolmetschen aus der Verlegenheit half. Nach-
dem wir Tee getrunken hatten, begaben wir uns in das Haus
der Braut. Dort rüstete man schon zur Abfahrt nach Bijuk-
Jaschlaw, wo der Bräutigam wohnte. Im Hofe brannte ein Feuer,
über welchem ein großer, eiserner Kessel mit Grütze kochte.
Die Gäste stärkten sich noch einmal und fuhren dann der Braut
voraus. Ich fuhr mit, weil ich den Einzug der Braut ins Dorf
ständigkeitsbewegung (i917— 1920). sepen wollte.
Als wir in Bijuk-Jaschlaw ankamen, war bereits das ganze Dorf in festlicher Stimmung.
Etwa drei Stunden warteten wir im Hause Dshemaleddins, bis wir endlich Musik hörten
und hinauseilend den Brautzug ins Dorf einfahren sahen. Ich trat näher hinzu. Im ersten
und zweiten Wagen saßen die Verwandten der Braut. Im dritten und vierten Bekannte
und Freunde, im fünften aber die Braut mit einer Freundin, beide das Gesicht verhüllt,
damit die Verwandten des Bräutigams die Braut nicht unterscheiden können. Der Bräuti-
gam muß sich währenddessen verstecken und darf sich weder der Braut noch den Gästen
zeigen. Die ersten vier Wagen wurden ins Dorf gelassen, der Brautwagen aber angehalten
und ein Zoll gefordert. Er bestand in einem Taschentuch und wurde für ausreichend befunden.
Etwa zwanzig Schritte vor dem Hause des Bräutigams wurde der Brautwagen von dem
Bruder des Bräutigams erneut angehalten, der ebenfalls einen Zoll forderte. Es wurde
lange gefeilscht. Ein, zwei Taschentücher wurden als ungenügend zurückgewiesen, bis sich
der Fordernde endlich nach Empfang von etwa anderthalb Metern Kattun nebst zwei
Taschentüchern zufrieden und die Braut freigab. Sofort aber erschien die Schwester des
Bräutigams, um auch ein Geschenk zu fordern. Man reichte ihr ein Taschentuch, sie nahm
es zwar, machte aber ein sehr unzufriedenes Gesicht. -—Nun fuhr der Wagen vor, und die
Verwandten des Bräutigams begrüßten die Braut. Die aber wurde von ihrem Bruder ge-
führt, der nun seinerseits ein Geschenk für die Auslieferung verlangte. Etwa eine halbe
Stunde wurde verhandelt. Man bot ihm Tücher, er wies sie jedoch zurück und verlangte
Abb. 4. Unter den Krymtataren
der Gebirgslandschaften und des
Küstengebietes findet man häufig
Typen von überraschender Fein-
heit und alter, festgefügter Kultur
im Ausdruck. — Alte Tatarin aus
der Zeit der tatarischen Selb-
BEOBACHTUNGEN AUF EINER KRYMTATARISCHEN HOCHZEIT
lOi
mehr. Endlich brachte man aus dem Hause etwa zwei Meter Kattun und eine halbe Flasche
Schnaps. Ein Verwandter des Bräutigams trank ein wenig aus der Flasche und gab sie dann
dem Bruder der Braut, der dasselbe tat, und nachdem er festgestellt hatte, daß es tatsäch-
lich Schnaps und kein Wasser sei, die Braut freigab, die nun mit ihrer Freundin von den
Verwandten des Bräutigams ins Haus geführt wurde. Und nun begann das Hochzeitsmahl.
Die Braut aber führte man in ein benachbartes Zimmer, wohin man ihre Aussteuer ge-
bracht hatte, und sie begann sogleich alle diese Sachen genau, wie bei sich zu Hause, anzu-
ordnen. Im andern Zimmer wurde sodann getanzt, die Braut nahm jedoch keinen Teil
Abb. 5. Zimmer eines jungvermählten krymtatarischen Paares. Die Hochzeitsgeschenke
sind rings an den Wänden als Schmuck aufgehängt und ergeben ein sehr intimes
und freundliches Aussehen. Dieser Schmuck bleibt etwa ein Jahr lang hängen.
daran. Ich erkundigte mich, wann der Bräutigam käme; man sagte mir um zwölf Uhr nachts,
wenn es Zeit sei, schlafen zu gehen. Da ich außerdem erfuhr, daß keine weiteren Zeremonien
stattfänden, begab ich mich in das Haus Dshemaleddins, um Mittag zu essen.
Um zehn Uhr abends begaben wir uns wieder in das Hochzeitshaus. Dort spielte Musik,
und die Mädchen tanzten tatarische Tänze und sogar Krakowiak. Die alten Frauen saßen
auf Kissen am Boden und rauchten Pfeife. Ich ging in das Zimmer der Braut, wo bereits
die ganze Aussteuer aufgehängt und ausgebreitet war. Die Tür war verschlossen, und außer
mir durfte niemand hinein. Der Bruder der Braut forderte mich auf, mit ihnen zu essen.
Es gab Hammelfleisch mit Reis, und mir blieb nichts übrig, als mitzuhalten. Ich fragte den
Bruder der Braut, wo sich denn jetzt der Bräutigam befände. Er erwiderte mir, der Bräuti-
gam sei in der Scheune, wo er sich mit den Männern belustige. Ich fragte weiter, ob es mir
wohl erlaubt sei, zu den Männern in die Scheune zu gehen. Darauf erhielt ich die Antwort:
„Unseren Frauen ist es verboten, Du aber kannst ruhig hingehen und Dir alles ansehen.“.—
Daraufhin bat ich einen bekannten Tataren, den Vorsteher der Kooperative von Bujuk-
Jaschlaw, mit mir zu den Männern zu gehen. Als wir zur Scheune kamen, hörte ich russische
Musik. Wir traten ein und sahen, daß einer der Tataren den „Kamarinskij“ tanzte. Als
der Tanz beendet war, begrüßten mich die Männer und baten mich, ebenfalls einen russischen
Tanz zu tanzen; ich erklärte jedoch, daß ich das nicht könne. Man wies mir einen Platz
mitten in der Scheune an, wo der große runde Hochzeitstisch stand. Die Scheune war
15 Baessler-Archiv.
102
NATA FINDEISEN
JV
sehr groß, an den Wänden standen aus Brettern zusammengeschlagene Bänke, auf denön
die Männer saßen. Die Musikanten spielten Stücke, die man von ihnen verlangte ufic^ er-
hielten dafür von verschiedenen Männern zwei, drei, auch fünf Rubel. Es wurden nicht nur
tatarische Melodien, sondern auch russische, darunter der Budjonnyj-Marsch gespielt. Der
gelang aber so herzlich schlecht, daß ich froh war, als sie damit aufhörten und wieder zu
tatarischen Weisen übergingen. Dann erschien ein Mann mit einem Korbe voller Holz-
löffel, die er auf den Tisch legte, ein zweiter brachte einen großen Kessel mit Kraut und
Hammelfleisch, das wie russische Schtschi, nur dicker eingekocht war. Da der Gäste viele
waren, reichten Plätze und Löffel nicht aus, so daß abteilungsweise gegessen werden mußte.
Auch mich lud man wieder ein mitzuessen und gab mir einen Löffel in die Hand; und trotz-
dem ich erklärte, daß ich eben erst gegessen hätte, mußte ich doch wieder mein Möglichstes
tun. Man bot mir auch Wodka an, den ich jedoch ablehnte. Es wurde sehr viel Wein ge-
trunken und mein Bekannter meinte, es würde bald nicht mehr angenehm sein zu verweilen,
weil binnen kurzem alle betrunken sein würden. — Als der Bräutigam zu mir kam, fragte
ich ihn, wann und wie man ihn zum Brautlager geleiten werde. Er erwiderte: „Gar nicht.
Ich gehe dahin, wenn es niemand sieht.“ Darauf fragte ich, ob man ihn denn nicht, wie
üblich, scheren und in das Hochzeitsgewand kleiden werden. Er sagte, das sei früher üblich
gewesen, jetzt aber würden keinerlei Zeremonien mehr beobachtet. Als ich hierauf bedauerte,
nicht fünf Jahre früher einer Hochzeit beigewohnt zu haben, als alles noch beim alten war,
da lachte der Bräutigam und meinte, man müsse das Alte vergessen und ein neues Leben
beginnen.
Nun aber drängte mein Bekannter Jljass zu schleunigem Aufbruch, da es keineswegs
ratsam wäre, länger dazubleiben. Wir nahmen also von allen Abschied und brachen auf.
Als wir schon schliefen, kam es in der Tat zu einer Schlägerei und zwar zu einer sehr aus-
giebigen. Man sagte mir, daß jede anständige und fröhliche Hochzeit mit einer Schlägerei
abschließen müsse.
Als am anderen Morgen Dshemaleddin und ich nach Bachtschissaraj zurückfuhren,
lag das ganze Dorf wie ausgestorben. Alles schlief oder kämpfte mit den Folgen des Alkohols.
An diesem Tage wurde noch nicht gearbeitet, sondern weiter gefeiert.....
Ich persönlich bedauere es sehr, daß die Tataren ihre Religionsvorschriften und Ge-
bräuche nicht mehr beachten. Alle ihre eigenartigen, jahrhundertealten Zeremonien werden
vergessen und vielleicht nie mehr zum Leben erwachen.
Besprechungen
Preuß, K. Th.: Tod und Unsterblichkeit im Glauben der
Naturvölker. (Sammlung gemeinverständlicher Vor-
träge u. Schriften aus dem Gebiet der Theologie und
Religionsgeschichte, No. 146). Tübingen: J. C. B.
Mohr (Paul Siebeck). 1930. 8°. 36 S.
Seinen früheren Untersuchungen über den primitiven
Gottesbegriff („Die höchste Gottheit bei den kulturarmen
Völkern“, 1926) und primitive Zauberkulte dramatischen
Charakters („Der Unterbau des Dramas“, 1930) läßt der
Verf. nunmehr eine weitere Abhandlung über ein reli-
gionsgeschichtliches Thema folgen, das bereits in der 1926
erschienenen Arbeit in großen Linien Umrissen war. Auch
um den Todes- und Jenseitsglauben primitiver Völker zu
verstehen, muß der Schutt vieler veralteter Anschau-
ungen fortgeräumt werden. Das Wesentliche an der vor-
liegenden Arbeit scheint mir zu sein, daß sie das früher
zugunsten der Erfahrung vernachlässigteGlaubenserlebnis
wieder in seine Rechte einsetzt. Nicht der Tod, der doch
durch dauernde Erfahrung dem Menschen vertraut ge-
worden ist, sondern dasWeiterleben nach dem Tode ist dem
Primitiven das Natürliche, weil es in dem lebendigen,
d. h. zum Glaubenserlebnis gewordenen Urvatermythos
verankert ist. Auch der Tod wird, um seine Unfaßbarkeit
zu verlieren, durch ein solches in die Urzeit verlegtes Er-
eignis begründet, wie es z. B. bei den kalifornischen
Indianern geschieht, zu deren Todesursprungsmythos der
biblische Sintflutbericht eine merkwürdige Parallele
bildet, mit dem Unterschied allerdings, daß der Tod bei
den Kaliforniern u. a. Primitiven nicht als Strafe auf-
gefaßt wird. Beiden ist vor allem gemeinsam, daß sie die
Einführung des Todes mit der Entstehung des Ge-
schlechtstriebes verknüpfen (Gen. 3, 7; und sie
wurden gewahr, daß sie nackend waren“), wahrscheinlich
infolge der Idee, daß durch den Tod Raum für den Nach-
wuchs geschaffen werden soll. Das ist wichtig, weil es
uns das Verständnis der Initiationsfeiern erschließt, die
fast immer aus zwei Gruppen von Riten bestehen —
solchen, die Beziehung zum Geschlechtsleben haben
(Beschneidung usw.), und solchen, die Tod und Wieder-
erweckung darstellen. Preuß faßt daher die Initiations-
feier als eine magische Veranstaltung auf, die den Auf-
schub des Todes trotz der Geburt der Nachkommen
bewirken soll. Das Lebenverlängernde der Initiations-
und der nach ihrem Vorbild gestalteten Geheimbund-
riten tritt oft deutlich hervor, z. B. in der Mide der Ojibwa,
bei der die lebensspendende Migis-Muschel dem Novizen
in den Körper „geschossen“ wird.
Der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode wurde
früher unter dem Banne Tylor’scher Anschauungen von
dem angeblichen Seelenbegriff der Primitiven abgeleitet,
d. h. der Vorstellung eines vom Körper unabhängigen,
schon im Lebenden vorhandenen und nach dem Tode vom
Körper gelösten immateriellen Etwas. Wir wissen heute
durch Walter F. Otto’s Arbeit „Die Manen“ (1923) u. a.,
15*
daß der Tote im primitiven Glauben nur als Ganzes
fortlebt, mit allen Eigenschaften und Bedürfnissen des
Lebenden, nur in weniger substanzieller (schatten- oder
rauchartiger) Form und meist in der Gestalt, in der man
ihn zuletzt im Leben sah („lebender Leichnam“). Einen
besonderen Seelenbegriff gibt es ursprünglich nicht, da-
gegen entwickelt sich frühzeitig die Vorstellung von einem
im Atem, Blutkreislauf u. a. wirksamen Lebensprinzip
(Homers -D-upZi; im Gegensatz zu (Juyy)). Dies hat aber
gerade keine Fortdauer nach dem Tode, sondern stirbt
mit dem Körper oder wird von Überlebenden zur Stei-
gerung der eigenen Zauberkraft inkorporiert (Essen von
Leichenteilen, Einsaugen des letzten Hauches Sterben-
der usw.). Eine merkwürdige Ausnahme, bei der das
Lebensprinzip nach dem Tode eine selbständige (vom
Toten unabhängige) Existenz erlangt, bildet der sog.
Fananyglaube der Madegassen u. a.
Das Leben im Jenseits der Primitiven ist kein
„ewiges“ Leben in unserem Sinn. Es ydrd, ganz wie die
Vorstellung vom Toten, nach dem Muster des irdischen
Lebens gestaltet, hat also auch einmal sein Ende, wenn
auch nach längerer Dauer als das irdische Dasein. Die
Zahl der Wiedergeburten ist begrenzt, mögen sie ins
Diesseits, wie bei den Winnebago, oder ins Jenseits, wie
bei den Dayak, verlegt werden: nach den vielen „vor-
läufigen“ kommt der „endgültige“ Tod. Auch im Toten-
kult spiegelt sich diese Überzeugung wider: er erstreckt
sich meist nur bis zur 3. Generation, außer natürlich,
wenn die Toten zu Naturgeistern (Regendämonen usw.)
werden. Aus Bestattungsgebräuchen läßt sich nicht immer
ohne weiteres auf Jenseitsvorstellungen schließen. Wenn
die ersteren z. B. Meidung des Toten und seines Besitzes
ausdrücken, so spricht sich darin zunächst nur das Be-
streben aus, die besonders von den nächsten Verwandten
des Toten gefürchtete magische „Ansteckung“ zu ver-
meiden. Der Tote muß unter allen Umständen vom
Lebenden abgetrennt (Trauerverstümmlung), irregeführt
(Trauerfarbe und -kleidung) oder verscheucht werden;
diese Grundeinstellung hat nun zweifellos bei der Aus-
gestaltung mancher sozusagen geographischer Züge des
Jenseitsglaubens (ferne Lage, schwieriger Zugang) mit-
gewirkt. Hier war also, wie so oft, der Gebrauch primär,
die Vorstellung sekundär. — Die Verschiedenheit des
Totenschicksals scheint ursprünglich mehr soziale als
ethische Wertung auszudrücken. Da aber die eines
besseren Schicksals teilhaftig werdenden „guten“ Toten
— Schamanen, Priester, Häuptlinge, erfolgreiche Jäger, im
Kampf gefallene Krieger — zugleich diejenigen sind, die
höhere magische Kräfte, also bessere Beziehungen zur
Geisterwelt besitzen, kündet sich hier bereits leise die
ethische Auffassung späterer Kulturstufen an. Eine
eigentliche Vergeltung nach dem Tode gibt es indessen für
die Primitiven noch nicht, auch wenn von Strafen für
bestimmte Vergehen die Rede ist. Das Jenseits ist eben
■H\
104
BÜCHEREINGÄNGE
einfach eine Fortsetzung des Diesseits, in dem man ja
auch jene Vergehen betraft und den Missetäter von der
Gemeinschaft der Guten ausschließt. .
W. Krickeberg.
Dr. C. Seyffert: Biene und Honig im Volksleben der
Afrikaner. Veröffentlichungen des staatlich-säch-
sischen Forschungsinstitutes für Völkerkunde in
Leipzig. Erste Reihe; Dritter Band. m. 14 Karten
u. 15 Textabb. Leipzig 1930.
Diese vorzügliche Bearbeitung eines bis jetzt sehr ver-
nachlässigten Teilgebietes der afrikanischen Völkerkunde
ist wohl die beste Spezialarbeit über ein wirtschaftliches
Phänomen Afrikas. Alles ist hier ausgereift und kritisch
gewürdigt. Es ist nicht nur eine fast lückenlose Material-
sammlung, sondern gibt immer wieder neue Problem-
stellungen und stellenweise verblüffende Lösungen.
Wie bei jeder echten ethnologischen Arbeit wird das
afrikanische Spezialgebiet übersprungen und den Wurzeln
der Kulturerscheinungen auch in anderen Gebieten nach-
geforscht. Hier ist der Kaukasus der Angelpunkt. Zwei
Probleme, die S. klarstellt, scheinen m. E. die wichtigsten.
Da ist zuerst die Vermutung, daß die Bienenzucht viel-
leicht den Anlaß zur Mumifizierung gegeben habe.
Bei den Abchasen beziehen die Bienen den im durch-
löcherten Sarg liegenden Leichnam ganz und gar mit
Honig; der Sarg selbst steckt in den Baumzweigen, und
eine Mumifizierung kann erfolgen. Gleichzeitig ist die
Verbindung der Biene zum Totenkult deutlich. Gerade
im östlichen Mittelmeergebiet waren die kultischen Be-
ziehungen zu Honig und Biene so lebendig, daß sie S. als
„Aristaeos“-Element einer bestimmten Kultur zuschreibt.
S. weist nach, daß Elemente dieser Kultur in Ritus,
Glaube und Mythe aus diesem Kulturkreis durch den
Osten Afrikas bis zu den Hottentotten gelangt sind. Er
glaubt an eine ältere Hamitenschicht als Vermittlerin.
Diese ältere ,,Hamiten“schicht hat Ref. anläßlich einer
Betrachtung des Vaterrechts und Mutterrechts in Afrika
schon als mutterrechtliche mit den alten Mittelmeer-
kulturen Bachofens in Verbindung stehende Völkerwelle
nachzuweisen versucht. Auch die Berber gehörten ur-
sprünglich in diesen Kreis. Diese südeurasische Kultur
kannte Viehzucht und Feldbau und wie S. jetzt wahr-
scheinlich machte, einen Bienenkult. Es ist unmöglich,
alle die interessanten neuen Gesichtspunkte der Arbeit
hier zu erwähnen. Es seien hier nur noch einige Ergän-
zungen, die bezeichnend erscheinen, beigebracht. Die
Buschmänner (nach Bleek-Lloyd : The Mantis S. 10)
erzählen, „wie die Mantis den Böcken ihre Farben gab“;
sie verteilt unter den Gems- und Springböcken, den Eland,
Hartebeest und Quagga die Farben nach den verschie-
denen Bienen und ihrem Honig. Das ist bezeichnend für
dieses Jägervolk, das dem Jagdwild ähnlich wie der
Viehzüchter seinem Vieh gegenübersteht. Bei den Kalu-
imbi am Kwanza (Angola) fand Ref. ein kleineres Modell
eines zylindrischen Bienenhauses aus Rinde, wie es in
ganz Ostangola in der Bienenzucht, aber im größerem
Maßstab gebraucht wird, auf einem Pfahl am Kreuzweg
vor dem Dorfe stehend. Dieses Bienenhaus dient als
Wohnsitz für den Bienen-Geist „Kayongo“, dem Opfer
dargebracht werden, um viel Honig zu erhalten. Das ist
nur ein Hinweis auf die große Bedeutung der Bienenzucht
in Ostangola. Besonders bei den Tschokwe (Kioko) sind
die Wälder voll mit Bienenkörben. Interessant ist, daß
auch hier Völker, die passionierte Jäger sind, der Bienen-
zucht diese Bedeutung beilegen. Eine wichtige Arbeit über
die Bienenzucht im Uellegebiet (Congo illustré 1895
S. 16) ist dem Verfasser offenbar entgangen. Die ein-
gehenden Betrachtungen über die verschiedenen Formen
des Bienenhauses sind eine notwendige Ergänzung zu
L. Armbrusters Arbeit. Die Karten sind klar und deut-
lich. Die „Tontöpfe“ sind eindeutig ein Merkmal der
sudanischen Lehmkultur (Frobenius: syrtische Kultur!)
H. Baumann, Berlin.
Büchereingänge
Deursen, Arie van: Der Heilbringer. Groningen: Wolters
1931. 395» XII S. Amsterdam: Phil Diss. v. 18. März
I93I-
Lehmann, Walter: Ergebnisse einer mit Unterstützung
der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in
den Jahren 1925/1926 ausgeführten Forschungsreise
nach Mexiko und Guatemala. Aus: Anthropos,
T. 23. 1928. 40
Lévy-Bruhl, L.: Die Seele der Primitiven. Wien: Brau-
müller 1930. XI, 367 s.
Ludendorff, H.: Das Mondalter in den Schriften der Maya
Berlin: Akad. d. Wiss. 1931. 25 S. 40
— : Die Venustafel des Dresdener Kodex. Berlin; Akad.
d. Wiss. 1931. 11 S. 40
[Russ.] Materialien zum Schutz von Denkmälern der
Tatarischen S. S. R. H. 4. Kasan 1930.
Moreno, Manuel, M.: La organizaccion, politica y social
de las Aztecas. Mexico: Secc. Edit. 1931. 87 S.
Preuss, K. Th.: Tod und Unsterblichkeit im Glauben der
Naturvölker. Tübingen: Mohr 1930. 36 S.
[Ukrainisch] Recueil ethnologique. Acad, des Sciences de
1’ Ukraine. Musée d’Anthropologie et d’Ethnologie
Th. Vook. T. 1. 2. Kiev 1929. 40
Thalbitzer, William: Légendes et chants esquimaux du
Groenland. Trad. du danois par Hollatz-Bretagne.
Paris: Leroux 1929. 1885.
Thumm, K.: Zur Geschichte der Wasser-, Boden- und
Lufthygiene nach Bibel und Talmud. Mitteilung 1.
Berlin-Dahlem; Selbstverl. 1929. 60 S.
Museum, Antiquities: The Museum of the far eastern
antiquities (östasiatiska samlingarna) Stockholm
Bulletin Nr. 2. Stockholm 1930. 40
Krause, Fritz: Ethnologische Studien herausgegeben von
Prof. Dr. Fritz Krause. Heft 3. Leipzig: Gebauer-
Schwetschke 1931. 8°.
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORNEN
IM N.O. NEU-GUINEAS
VON ST. LEHNER, LUTH. MISSIONAR.
Unsere Eingebornen sind seltsame Leutchen, rechte Diesseitigkeitsmenschen. Sie sind
ungemein bewandert in all den Dingen, die des Leibes Nahrung und Notdurft betreffen,
aber für ideelle Güter, wie für ein Interesse, das unabhängig vom praktischen Bedürfnis ist,
offenbaren sie wenig Sinn. Wenn sie aber nun doch sich Gedanken machten über den Himmel
und Mond, die Sonne und Sterne, über Tag und Nacht, so hängt das damit zusammen,
daß sie sich von den Himmelskörpern in irgend einer Weise abhängig wähnten, oder Ge-
fahren, die ihnen von den für sie unverstandenen Größen drohen konnten, abwenden
wollten, oder auch weil sie dank ihrer Beobachtungsgabe und dem Angewiesensein auf die
sie umgebende Natur, manche Vorteile mit dem Erscheinen und manche Nachteile mit dem
Verschwinden von Himmelskörpern auf Grund langer Erfahrung in Verbindung bringen
zu können meinten. Daß sie dabei über die Ursachen der ihnen unter Augen tretenden Er-
scheinung nicht allzu streng nachdachten, hängt einerseits mit dem Fehlen eines Kausalitäts-
bedürfnisses, wurzelnd in der ihnen eignenden mangelhaften Reflexion und andererseits
mit dem sie beherrschenden Fatalismus zusammen. Unverstandene Dinge schreibt er einfach
den Geistwesen zu, denen zu widerstreben den Menschen unmöglich ist, also läßt man am
liebsten alles auf sich beruhen und wenn es nicht anders sein soll, über sich ergehen. Daß
infolgedessen der Eingeborne sich auch mit einander sich widersprechenden Vorstellungen
zufrieden gibt, demgemäß von einer einheitlichen Naturanschauung unserer Leute keine
Rede sein kann, wird unter anderem auch aus diesem Aufsatz zur Genüge hervorgehen.
ERDE — nom.
Nach Meinung der Bukawac ist die Erde eine breite, nach der Mitte zu sich erhöhende
pilzförmig gebildete, gebirgige Masse, rings vom Meer umgeben, das nach Meinung der
alten Bukawac, die gleich ihren Nachkommen im Huongolf wohnten, bei Stationskap c.
ioo Seemeilen von hier, schon ihre Welt begrenzte. Gleich dem Schild, der sich über die im
Meer schwimmende Schildkröte wölbt, so spannt sich der Himmel darüber aus, der am
Horizont auf der Erde aufliegt. Nach unten zu verdünnt sich die Erde und schrumpft bis
auf einen Stiel zusammen. Wird letzterer irgendwie bewegt, so wackelt alles.
ERDBEBEN — öjö.
Das ist eine der mancherlei Erklärungen des Erdbebens, die in vielen Variationen sich
hier finden. So muß bei den Inlandbewohnern, wie Missionar Keyszer schreibt, der Geist
Saiong helfen, Erdbeben zu machen. Man nimmt eine Hand voll Asche, wickelt sie in be-
stimmte Blätter und sagt auf das Päckchen folgenden Spruch: ,,Saiong, du Mann, wirf
alles, was vorhanden ist, Häuser, Dörfer, Wege, Felder, Gebüsch und Hochwald, Jam und
Taro, wirf alles hin und her, zerbrich und zerstöre alles, aber laß mich in Ruhe!“ Während
des Hersagens dieses Spruches fängt der Zauberer an zu zittern und zu beben, immer stärker,
16 B aessler- Archiv.
STEPHAN LEHNER
106
immer heftiger, bis seine Hütte ächzt und kracht und ihm die Kraft ausgeht, dann wirft
er das Aschenpäckchen zum Haus hinaus. Bald darauf soll das Erdbeben stattfinden.
Sonst ist es ein das Erdbeben verursachendes, unheimliches und den Lebenden feindlich
gesinntes Wesen, das unter der Erde am Stiel derselben lehnt, auch einen, kurzen und einen
langen Fuß haben soll. Erhebt es sich oder tritt es von Zeit zu Zeit von einem auf den andern
Fuß, so stößt es dabei an den Stiel, infolgedessen schwankt die Erde, d. h. die auf dem Stiel
ruhende Last hin und her. Ich war einmal Zeuge, wie ein Bursche während eines Erdbebens
in zornmütiger Angriffsstellung Steine um Steine auf den Boden schleuderte, dabei in
Grimm und Unmut rief; „Ketöm, ketöm — genug, genug.“ Auf meine Frage nach dem
Grund seines tollen Gebahrens antwortete er „Der da unten soll sich setzen und das Wackeln
genug sein lassen.“
Nach anderer Version war der große Jabemhäuptling namens Mäkele auf der kleinen
Madanginsel im Finschhafen wohnend, der Erdbebenmacher. War er zornig, dann ging er
auf und ab mit festen Schritten auf seinem Inselchen und die Erde begann zu wanken,
sprang er aber in wilden Sprüngen umher, dann bebte der Wohnplatz der Menschen in furcht-
erregender Weise.
Wieder nach einer anderen Lesung werden als Ursachen des Erdbebens ein gewisser
Bahgo oder Pahgo lahgwa, d. h, der alte Panggo und sein Sohn Kapimolo angesehen.
Offenbar bergen diese 2 Namen die Erinnerung an Walfischfahrer früherer Zeiten, die als
erste Weiße an hiesigen Gestaden Furcht und Grauen verbreitet haben, cf. Sagen der
Tamiinsulaner, von denen aus sich die Fama unter den am nächsten wohnenden Jabem-
leuten und von dort zu den Inlandstämmen im Sattelberggebiet verbreitete. Neuhauß,
Neu-Guinea, Bd. III. Wenn man unter Pango lahgwa einen alten, ergrauten Mann gleichen
oder ähnlichen Namens und unter Kapimolo eine Verstümmelung von Kapitän molo,
d. h. den in ihren Augen Unsinniges tuenden Kapitän verstehen will, wird man nicht fehl-
gehen. Ojö gejam ma lau semöe pale sic oh ma siu dauc ma tan mbe bu Pahgo lahgwa lu latu
Kapimolo ken aehac amboa — Erdbeben rüttelte und die alten Leute riefen Jungen,
schlagt Trommel und blast Muscheln, es soll tönen, damit Pango, der Alte nebst seinem
Sohn Kapimolo, die uns erschaffen haben, uns auch erhalten.“
Wie man sich nun einerseits fürchtete, besonders vor dem „öjö kesaicha“, dem ruckweise
reißenden, im Gegensatz zu dem in ruhigen Schwankungen verlaufenden Erdbeben, so
gewannen die Eingeborenen den Erschütterungen doch wieder eine gute Seite ab. Das
bezeugt der Ausdruck; „Ojö mbe enam ma u embacne ma oc sa ma te haguh atu ma gou
handö atu mboale — das Erdbeben wenn es rüttelt, dann hört der Regen auf und die Sonne
kommt hervor, — diese Anschauung beruht auf der Wahrnehmung, daß ausgangs der
Regenzeit, öfter wie sonst Erdbeben spürbar werden — auch wird die Pfahlwurzel des
Zuckerrohrs groß, ebenso die Taroknollen.“ Die Meinung für letztere Aussage ist, daß infolge
des Erdbebens das Erdreich durch das Schütteln gelockert wird, wovon alles Gepflanzte
Nutzen hat.
RAUM UNTER DER ERDE — lamboam.
Den Raum unter der Erde, „lamboam, Seelenort der abgeschiedenen zu balöm ge-
wordenen Geistwesen“ genannt, zu dem auch die Meeresgründe gehören, denken sie sich
bewohnt von ihren Verstorbenen, die bereits ihre Ahnenplätze, Geisterorte, die sogenannten
„mu“ wo sie sich nach Abscheiden zunächst aufhalten, um ihren Überlebenden, die es ihnen
gegenüber nicht an der geforderten Ehre haben fehlen lassen, Wohltaten zu erweisen, ver-
lassen haben, um tiefer zu sinken, eben in den lamboam einzugehen'. Dort machen sie aber-
mals eine Wandlung durch und werden zu Ziersträuchern, weißen Ameisen, Haifischen und
dergleichen.
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
107
FIRMAMENT, HIMMEL — un, ufibon, undambè.
Das Firmament, un oder ufibon das Bedeckende durch einen Knoten oder Stufe Ge-
haltene, undambè, das am Stiel Aufliegende, wird nach einer Sage von einem am fernen
Horizont sitzenden Mann namens Nöctac gehalten. Er erklärte den ihn treffenden Menschen:
,,Ich allein sitze hier und halte dieses große Firmament fest über euch, wenn ich nicht wäre,
würde das große Gewölbe herniederkommen, euch erdrücken, daß ihr alle zu Grunde ginget.“
Auch dieses Firmament, den Himmel, denken sie sich als bewohnten Raum, daher glaubten
sie, die ersten Weißen, die sie als die wieder erstandenen Seelen ihrer abgeschiedenen Vor-
fahren ansahen, hätten am Horizont den Himmel durchbrochen, um zu ihnen zu kommen.
STERNE — utitata.
Infolgedessen hielten sie auch die Sterne, die gleich den Meersternen utitata genannt
werden, für Baumwurzeln der oberen Regionen, die nur in der Nacht sichtbar werden.
Auf letztere Vorstellung mögen sie durch die Wahrnehmung geführt worden sein, daß es in
ihren Wäldern in dunklen Nächten allerorts leuchtet infolge des vielen faulenden Holzes
und der mancherlei phosphoreszierenden Wesen, abgesehen von den vielen leuchtenden
Moossorten. Daher hatten sie für den starken
ASCHENREGEN — nom undambèna
der vor c. 50 Jahren die hiesige Gegend heimsuchte keine andere Erklärung, als daß es
,,Erde vom Himmel“ war, die alles bedeckte. Was Wunder, daß sie die von solcher Himmels-
erde überdeckten Feldfrüchte sich nicht mehr zu essen getrauten. Ihr Bericht über dies
Ereignis lautet wie folgt : „Es war zur Zeit der Brotfruchtreife, in den Monaten Dezember
bis März, in der Zeit des Südwinds. Da verdüsterte sich der Himmel, als ob ein schweres
Gewitter losbrechen wollte. Statt Wasser fiel aber Asche, weiße Asche in solcher Menge und
Dichtigkeit, daß alsbald alles davon bedeckt war. Dürre Zweige brachen von den Bäumen,
alte Hüttendächer wurden eingedrückt, namentlich die vorstehenden Verandadächer
krachten ab, selbst Vögeln wurde das Fliegen unmöglich, auf dem Boden suchten sie sich
laufend und hüpfend fortzubewegen. Die Bewohner verharrten während des Schüttens
der „Erde vom Himmel“ angstvoll in ihren Häusern.“ Der Aschenregen soll ununterbrochen
von etwa 8 Uhr früh bis mittags gedauert haben, danach habe die Sonne brennend heiß
geschienen. Ob der Aschenregen vom Ausbruch des feuerspeienden Berges auf der Vulkan-
insel an der Südspitze Neupommerns 1888 herrührte, konnte ich nicht feststellen, ist
aber sehr wahrscheinlich, denn in den Nachrichten der Neu-Guinea Comp, aus diesem Jahr
wird erwähnt, daß auch in Finschhafen ein leichter Aschenregen fiel.
WOLKENMASSEN — tao namajan.
Für die Tatsache, daß die großen geballten Wolkenmassen nicht auf die Erde stürzen
und alles verderben, haben sie als Erklärung eine Fabel; ,,Der tiefblaue Himmel und die
Wolken stritten miteinander. Die Wolken sagten, wir steigen zur Erde hinab und hüllen alle
Menschen ein. Darauf erwiderte das Firmament: „Geht nur, ich wälze euch einen mächtigen
Obsidianstein nach, der euch erschlägt.“ Die Wolken fürchteten sich, stiegen in die Höhe
und der tiefblaue Himmel steht nun allein über uns.
STURMWINDE — mu gébuc.
Bezüglich der Sturmwinde, murèna, mu gébuc naténa, und betrifft es Wirbelwinde,
ilai genannt, die mitunter Bäume entwurzelnd, Kokos- und Betelpalmen brechend, sowie
io8
STEPHAN LEHNER
Hütten zerstörend daherbrausen, hatten sie die Meinung, daß böse Geister dabei ihre Hand
im Spiele hätten. Ihrer Ansicht nach erhob sich ein verheerender Sturmwind nur dann,
wenn ein Dorfalter, den sie mit geheimnisvoller Macht ausgerüstet glaubten, gestorben war.
Diese bösen Geister sollen in solchen Sturmesgetöse zackige Steinkeulen schwingend alles
zertrümmern, auch Menschen töten. Daher war hier eine sogenannte Ananas-, Höcker- oder
Sternkeule, wie sie imCromwellgebirge hinter Sialum-Kalasa und am Waria Oberlauf zuhause
sind, ein Gegenstand ehrwürdiger Scheu. Missionar Keyßer berichtet von seinen Inlandleuten,
daß sie, um den Sturm zu beruhigen, eine Art Besänftigungsopfer darbrachten, insofern sie
einen Wildkinnbacken, wie sie im allgemeinen an Schnüren aufgereiht in den Häusern oder
auf Dorfplätzen aufbewahrt werden, ins Feuer legten und den Sturmgeist baten, den Seelen-
stoff des Wildes anzunehmen und das Haus zu verschonen.
Meine Bukawac nahmen einen spitzigen Pfahl oder Speer und befestigten den auf der
Windseite vor dem Hause so, daß er seine Spitze dem Winde zukehrte, um den Sturmwind
,,in den Bauch zu stechen“ und ihn dadurch zu veranlassen, die Hütte in Ruhe zu lassen.
Sonst schlug man auch bei jedem Windstoß mit einem Knüppel, Steinbeil oder dergleichen
auf den Randbalken des Fußbodens mit dem Rufe: „Trittst du mir auf mein Haus, so
schlage ich dir die Füße breit.“ Anderen Winden, die sie als ,,mula = SW-Wind“,
musalö = SO-Wind“, „musangu = NO-Wind und „taUm = Land- oder Nachtwind“
bezeichnen, legen sie solch böse Bedeutung, wie dem Sturm- und Wirbelwind nicht bei.
Merkwürdig ist, daß „mula“, der sich im Huongolf in den Monaten Januar-Februar
zum starkem Südwest entwickelt „hinuntersteigt“ Siasi zu, weil dorthin die Strömung
geht, während der „musangu“ den Huongolf „hinaufsteigt“, weil von dort die Strömung
herunter kommt.
Der das Meer aufwühlende, in der Regenzeit tosende „musalö“, weht ins Land hinein,
während der „talem“ aus den Flußtälern „hinausspringt“.
Für Kanufahrten kommt hauptsächlich „mula“ und „musangu“ in Betracht. Da
können sie auf einer Fahrt mit gutem „mula“, der vor Erreichung des Zieles abzuflauen
droht, insofern er dem „musangu“ weicht, ganz beweglich singen: „0 mulao ödam ao, o
mulao ödam ao, o mulao ödam aoe e kasep gamen, o mulao ödam aoe e kasep gamen,
sangu gejöc o kapuc töntön, mulao o ödam ao: „0 Südwest treibe mich::, ich bin herab-
gekommen:; der Nordostwind ist aufgekommen, ach ich will mich zusammennehmen,
d. h. wohl tüchtig rudern, o Südwest treibe mich.“
Außer diesen Hauptwinden kennen unsere Küstenleute noch viele andere Winde,
z. B. den vor Sonnenuntergang wehenden „mulilic, der an der Küste sanft dahinstreicht
oder den die Meeresfläche kräuselnden „muali oder rialeli“.—
REGEN, DONNER, BLITZ — körn oder u, wapap, osic.
Bei anhaltendem Regen, „der Baumwürger-Luftwurzeln hinunter bis aufs Meer gibt,
daß sie dort aufstoßen, der uns also gewaltig schlägt“, solchem Regen, der, wie wir sagen,
bindfadenmäßig herunterprasselt, die ganze Natur in Grau einhüllt, der die Feldfrüchte
faulen macht, es zu keinem Feldbrennen kommen läßt, die Flüsse fortwährend hoch und
reißend hält, desgleichen bei Wolkenbrüchen, die zu viel Erdrutschen führen, haben sie
keine andere Erklärung, als daß Zauberei im Werk sein müsse. Hier im Bukawacdistrikt
war der alte Malom dieser Wetterkünstler. Zu seinem Zauber benötigte er 2 ausgehöhlte
Kokosnußschalen, 2 Lianen, wamo und ga und viele kleine Steine. Mit diesen Utensilien
begab er sich in den Wald auf abgelegenen Platz, dort preßte er aus obengenannten
2 Schlingpflanzen soviel Saft in eine der Schalen, daß sie halb voll wurde, dann warf er Steine
hinein. Der Saft stieg höher und höher, schließlich lief die Schale über. Dann nahm er
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
109
Stücke vom steinharten Kiefer des kuaku Fisches — Steinstoßer und rieb sie aneinander.
Das dadurch erzeugte Geräusch sollte den Regen herbeiziehen. Sollte es dabei tüchtig
donnern, so schüttelte er die Knochenstücke des Fisches mit den Steinen innerhalb der
einen Schale, bestrich mit gelber Schwefelerde == telao ein Rindenstück des großblätterigen
asukabaumes und schlug dann mit letzterem gegen den Stamm einer Nipapalme, was einen
hohlen, dumpfen Ton hervorrief. Dann zerriß er den Streifen eines Pandanusblattes — san,
wodurch der Blitz dargestellt war. Nach diesen Machinationen ließ er seine Schalen im
Walde wohlverwahrt stehen. Zu Hause angekommen, hatte er sich mancher Dinge zu
enthalten, um seinen Zauber ,,scharf“ zu erhalten. Er durfte nicht arbeiten, nicht Betel
kauen, sich nicht einrötein, wohl aber mußte er sein Haar schwarz färben, Stirn und Nase
betupfen und alltäglich im Morgengrauen im Meere baden, wobei er die Hände über das
Meer hin ausbreitete und den Regen rief. Unfehlbar mußte sich nun das Firmament mit
Wolken überziehen, der Regen in Strömen fließen, Blitze die Luft durchzucken und dröhnen-
der Donner die Leute schrecken.
Schien es demnach als ob der Donner unpersönlich gedacht sei, so geht aus der Gesamt-
anschauung über das Donnern unzweifelhaft hervor, daß er als Person aufzufassen ist.
Das wird nicht nur durch die Ausdrucksweise gerechtfertigt ,,Wapap gejac“ —der Donnerer
schlägt“. Es klingt auch aus den Märchen und Berichten, daß das donnernde Geräusch
hervorgerufen wird durch das Rollen von großen Steinen in den oberen Welten. Ja, der
Donnerer wird geradezu als ein den Menschen feindlich gesinntes Wesen, gegen das man sich
wohl schützen muß, dargestellt. Manche wissen sogar dieses Wesen mit Namen zu benennen,
nämlich ,,Jemsu“.
Darum erschracken die Eingeborenen bei starkem Gewitter, löschten ihre Feuer aus in
den Hütten, soweit das tunlich war. Wo sie aber meinten, ein Feuer erhalten zu müssen
aus irgend einem Grunde, da legten sie Schweineknochen hinein, um durch den Wohlgeruch
den Donner zu beruhigen. Wie sie es vermieden, den Donnerer nicht durch behagliches
Feuer anzuziehen, ,,wapap kekalap — der Donnerer kriecht ans Feuer“, was eine Ver-
tilgung ihrerseits bedeutet hätte, vermieden sie es auch, ihn einzuladen ins Haus durch
ihre dort sich befindlichen Schlafmatten, die hier in Bukawac aus den Schutzhüllen des
Fruchtstandes der Nipapalme — jawren — bestanden. Weil diese Schutzhüllen sich bei
Fruchtreife mit einem Knall öffnen, glaubten sie in den hagwa etwas dem Donner Ver-
wandtes zu sehen und zu haben.
Zum Schluß stellten sie noch Speere auf den Dorfplätzen auf oder lehnten sie über den
Haussteigen, sodaß die Spitzen über das Dach der Hütte emporragten. Auch verschiedene
Grassorten hart und scharfkantig wie rauher Art z. B. o igeja nagonen warfen sie aufs Dach,
damit der Donnerer beim Herabfahren auf das Haus sich verletzen und beschädigen sollte.
Beruhigen konnte den Donnerer nur der Ruf eines mit geheimnisvoller Macht um-
kleideten Dorfalten, vor allem der Ruf des Regen-, Blitz- und Donnerzauberers, auf das
Schreien anderer würde er nicht hören.
BLITZ — 6sic.
Der Blitz ist nicht als Begleiter des Donnerers gedacht, sondern als sein Auge — 6sic
gebe wapap matanö d. h. der Blitz ist des Donners Auge.“ Daher rufen die Kinder angst-
erfüllt bei schweren Gewittern mit grellen Blitzen: „0 wapap tan ma gelaih matanö oc
wanin aehac su — ach der Donnerer brüllt und reißt sein Auge weit auf, er wird uns noch
auffressen“.
1 IO
STEPHAN LEHNER
WETTERLEUCHTEN —Matanö nawe.
Ist nur entferntes Donnern zu vernehmen, so heißt es: „Wapap kelendin gembo ma
ajön matac esuc lu ibamo suc wih — der Donnerer ist klopfend, damit ankündigend den
neuenMond und die Ibamofische, daß sie zur Küste hin durchbrechen sollen“. Dann ziehen
die Leute mit Fischspeer, Angelrute und allem Fanggerät ausgerüstet dem Strand und den
Flußmündungen zu, Beute erwartend.
Ist aber kein Donner zu hören, nur fernes Wetterleuchten zu beobachten, so sagen sie:
,,Wapap gec ne bec ma ne tanö nawe — der Donnerer liegt seinen Schlaf, er schläft, aber
sein Auge ist hell, d. h. er schläft mit offenen Augen“.
Während der gewaltige Donnerer gefürchtet wird, sieht man in dem schwachenDonnerer,
der als sein Sohn geachtet wird, gewissermaßen einen Wohltäter. Das spricht auch eine
hiesige Sage aus, der zufolge es zwei Donnerer gibt, einen großen und einen kleinen. Der
große ist zornig auf die Menschen und wollte sie verderben, aber der kleine Donnerer wollte,
daß die Menschen am Leben bleiben, deshalb widersprach er dem großen aufs heftigste.
Zuletzt drohte er ihm, wenn er die Menschen zu Grunde richten wollte, würde er ihm mit
seinem scharf geschliffenen Beil den Nacken durchschlagen. Ob der großen Wohltat des
kleinen Donnerers waren die Alten erfreut und brachten von ihren Festmahlzeiten beiden,
dem alten Vater und seinem Sohn Opfergaben, die sie auf einen bestimmten Stein nieder-
legten und dabei riefen: ,,0 Jemsu und dein Sohn, euer Anteil ist dies“.
Auch die Sialumleute stellen sich unter dem Donner ein männliches Geistwesen,
Quilap genannt, vor. Für ihn legen sie Zähne und tote Heuschrecken in den 1 opf. Aus Wut,
daß man ihm nichts Besseres bringt, reißt er Zykaspalmen aus, schlägt damit auf Steine
los und bringt dadurch das Donnern hervor.
REGENBOGEN — kasipep.
Über den Regenbogen herrsch en manch erlei Ansichten, nicht über sein Wesen, denn was er
eigentlich ist, wissen sie ja nicht zu sagen, sondern über seinen Ursprungs- und Ausgangs-
punkt und über seine Farben. So glaubten die Inländer, daß der Bogen an einem Ende auf
einem Schmetterling oder einer Riesenschlange mit schillender Haut ruhe; während die
Bukawac wähnten, daß es das Blut der Erschlagenen, sei, das vom Wald oder Strand aus
gen Himmel steigt, oder auch, daß in der Gegend, in der der Bogen von der Erde aufsteigt,
eines Mannes Galle geplatzt sei, deren Inhalt beim Aufspritzen die Luft färbte. — nac tan
ne naikisi kepoa“. Streng war es ehedem untersagt, lang auf den Regenbogen hinzusehen
oder gar mit Fingern hinzudeuten. Die Nichtbeachtung solcher Vorschrift hatte Vergehen
der Sehkraft und Geschwürbildung in der Achselhöhle — gasiabutata — zur Folge.
SONNE UND MOND — Oc to ajön.
Was die astronomischen Anschauungen unserer Leute anlangt, so ist darüber nicht
allzuviel, aber doch manches Interessante zu berichten. Selbstverständlich kommt ihrer
Anschauung gemäß, ihrem Wohnsitz, der Erde, kosmologische Bedeutung zu, denn sie
ist ihnen der physische Mittelpunkt des ganzen Weltgebäudes. Ihr sind zwar Sonne und
Mond gleichbedeutend, aber alle übrigen Himmelskörper untergeordnet. Gleichbedeutend
will natürlich nicht sagen, daß sie Sonne und Mond ihrem Volumen oder Gewicht nach der
Erde gleichstellen. Das eine wie das andere ist ihnen von jedem Himmelskörper ja unbe-
kannt, sondern insofern achten sie Sonne und Mond mehr als alle übrigen Sterne, weil sie
die Wirkungen derselben auf die Erde zu ihrem Sein auf ihr erfahrungsgemäß nötig haben.
Die Sonne wie der Mond wurden als zwei zu fürchtende und deshalb zu verehrende
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
I I I
personifizierte Wesen gedacht und darum auch „Apömtau — Herr und Gebieter“ und
„erster Vater“ genannt. „Die Sonne und der Mond haben uns erschaffen“ erklärten sie, daß
sie von beiden auch erhalten werden, erwarteten sie. Den Mond, weil kleiner wie die Sonne,
hielten viele für der Sonne Sohn. Der Sonne selbst gab man eine Großmutter bei. All-
abendlich, wenn die Sonne sank und hinter den Bergen verschwand, hieß es: „Seine Groß-
mutter hat ihn geholt“. Nach Ansicht der Inländer hat die Sonne eine Schwester, die ihr
mittäglich zur Zeit des kürzesten Schattens, wenn sie ruht, Taro bringt. Nach Meinung der
Sialumleute seien ehedem Sonne und Mond gemeinschaftlich ihre Bahn gezogen. Eines
Tages jedoch gerieten sie in Streit und schlugen auf einander los. Der ältere Bruder, die
Sonne —sie sahen demnach die beiden als Brüder an —verprügelte den jüngeren, den Mond,
derart, daß dessen Augen ganz klein wurden, daher sein schwächeres Licht. Des Zornes voll,
verbot die Sonne dem Mond fürderhin mit ihr zu wandeln. Daher komme es, daß die Sonne
am Tage am Himmel stehe, während der Mond des Nachts seine Bahn zieht. Beiden Ge-
stirnen wurde früher anläßlich aller Festmahlzeiten z. B. nach Feldbestellung, Kanuferti-
gung, Zaunbinden usw. geopfert, indem man kurz vor Sonnenuntergang eine mit Tarobrei
gefüllte, halbe Kokosschale an einen Baumast längs des Dorfweges hängte. Dabei wurde
gesagt: „Herr und Vater hier hast du etwas“. Der Inhalt der Schale, welche nach Sonnen-
untergang geholt wurde, wurde dann wohl, weil meist der Inhalt von Ameisen durchsetzt
war — den Schweinen gegeben. Die Sonne und was merkwürdig ist, auch zugleich der Mond,
begnügten sich ja mit der Speiseseele.
SONNEN- UND MONDFINSTERNIS — Oc to ajön ti kanduc.
Sonnenfinsternis brachte man mit dem Sterben eines Dorfalten in Verbindung. Man
äußerte bei solchem Ereignis: „Ach ein Häuptling ist gestorben, die Sonne schämt sich“,
vielleicht deshalb, weil sie ihn nicht vor dem Tode retten konnte. Sonst herrschte anläßlich
der Sonnen- wie Mondfinsternis große Bestürzung und Trauer. Nahm man doch an, daß
die mächtigen Wesen gestorben oder doch in schwerer Krankheit ohnmächtig geworden
seien. Würden sie nicht mehr zum Leben erweckt werden, dann müßten alle Menschen zu
Grunde gehen, denn die Bukawac sind überzeugt, daß nur so lange, als die beiden Gestirne
rot und gelb bleiben, sie, als namalac — Menschen — zu existieren vermögen. Auch die
Inländer schreien bei solchen Anlässen: „Mond werde lebendig, Mond werde lebendig!
Sie klagen: „O der Mond ist tot, nun wird der Himmel einfallen, wir werden alle verderben“.
Trauerweisen werden angestimmt, die Trommeln werden bearbeitet, die Muschelhörner
geblasen. Das Quiecken der Schweine, wenn sie dem Tod überliefert werden, das Heulen der
Hunde, wenn sie erschlagen werden, wird nachgeahmt, damit die Tötung der Tiere vor-
täuschend, die man als Opfer darzubringen vorgibt. In Jabem soll sogar eine ältere Frau
stets ein Witwengewand angetan haben und gleich einer solchen im Verein mit den anderen
geheult haben, um so den totgeglaubten Himmelskörpern ihren Schmerz auszudrücken
und sie zu bewegen, ins Leben zurückzukehren. Die alten Tamiinsulaner sagten sich bei
einer Mondfinsternis: „Nun ist unser großer Herr gekommen, sah aber keine Wertsachen,
darum zürnt er uns und verbirgt vor uns sein Gesicht, o er wird uns verderben“. Schnell
brachten sie Eber- und Hundezähne neben anderen Opfergaben, steckten alles in einen
Netzsack und legten ihn in eine große Muschel—analec, Tridacna gigas—.An diese klopften
sie mit Steinen, daß es dröhnte und riefen: „0 Herr nimm deine Wertsachen weg, lasse
deine Augen wieder über uns offen sein und tue uns nichts Böses.“ Sie schlugen dabei die
Muschel solange, bis der Mond wieder zum Vorschein kam, dann nahmen sie wieder ihre
Wertsachen und verteilten sie wieder unter sich.
Sonne und Mond gehen nach ihrer Meinung unter der Erde durch. Tagtäglich entsteigt
I I 2
STEPHAN LEHNER
die Sonne dem Meere, in das auch der Mond untertaucht. Wenn die Sonne blutrot empor-
steigt, so sagen sie hier: „Der Sonne Augapfel blutet.“
Es ist den Kindern eingeschärft, sich ja nicht von den Strahlen der aufgehenden Sonne
bescheinen zu lassen. Denn wenn die Strahlen durch die Spalten und Ritzen der Hütte
gleich Speeren dringen und die Kinderhände treffen, werden sie untüchtig zur Ausübung der
Jagd, des Fischfangs wie überhaupt für jede ertragreiche Beschäftigung.
Bei Sagobereitung und sonstigen Arbeiten, die lange Zeit benötigen, um sie zu be-
wältigen, suchte man der Sonne Lauf zu verlangsamen und ihren Untergang zu verzögern,
indem man sie durch einen Grasknoten, auf den man ihren Namen genannt hat, bindet.
Sonst wissen sie von der Sonne und ihrem Glanze in poetischer Weise zu reden, wenn
sie z. B. sagen angesichts der vom Sonnenglanz geblendeten See: ,,Oc gewe naboa tilo
gengic — die Sonne mit einer Tarofrucht verglichen, die ihr Blätterbündel auf dem Blatt-
ansatz ruhend, gleich einer Masse leichten Treibholzes in der See auf und nieder schaukeln
läßt, eben durch das Zerreißen ihrer über der Meeresfläche lagernden Glühreflexe. Oder wenn
sie im Anblick der Abendröte sprechen: „Möecdenan waö ketun tau — die in Reihe stehenden
Flammen entzünden sich selbst.“
MOND — ajön.
Wie schon erwähnt, soll früher der Mond der Gefährte der Sonne gewesen sein und
gleich hell wie diese, „Doch eines Tages belog die Sonne den Mond, sie wolle sich baden im
Meere. Der Mond stieg voraus ins Meer hinab wo sein Licht dem Verlöschen nahe kam.
Währenddessen machte sich die Sonne schleunigst aus dem Staube und überließ ihn seinem
Schicksal.“ Das ist die Erzählung der Inländer im Unterschied von der obenerwähnten der
Sialumleute, weshalb der Mond so blaß sei und hinter der Sonne herlaufe.
VOLLMOND — ajön ketu samuc.
Bei Vollmond soll das Gestirn einen Topf bei sich tragen und deshalb rund aussehen,
meinen die Inländer, während die Küstenstämme von einem Wachstum des Mondes reden
und demnach den Vollmond als den „ganz großgewordenen“ ansehen. Wenn man in dieser
Zeit das Feld brennt und Taro pflanzt, sollen sie gut gedeihen. Alle blaßfarbigen Gräser,
Baumblätter, auch eine fahle Kokospalmenart, werden in Verbindung mit dem Mond
gebracht. Ajön gejam — der Mond hat sie durch seinen Einfluß also gestaltet.“
Zeigt der Mond einen Hof, so hat er ein Grab umzäunt oder eine Grabhütte gebaut,
weil er in diesem Dunstkreis gleichsam eingeschlossen ist, ähnlich wie die Witwe nach dem
Tode ihres Mannes in der Grab- oder Trauerecke oder auch wie ein mannbar gewordenes
Mädchen von anderen abgeschlossen in ihrem Hauswinkel. Darum deuten sie die Bildung
eines Mondhofes so, daß entweder bald jemand sterben oder ein Mädchen geschlechtsreif
werden wird.
NEUMOND — ajön kesep gwec.
Der Neumond ist ihrer Meinung nach in großer Gefahr, denn sie wähnen ihn bei seinem
Durchgang durchs Meer, in das sie ihn hinabsinken sahen, von Meeresungeheuern, Haifischen
usw. bedrängt. Da suchten sie ihm zu Hilfe zu kommen. Um die Dränger von ihm abzulenken,
warfen die Frauen der am Strand wohnenden Dorfschaften alle Taro-Bananen- und Kokos-
nußschalen, kurz gesagt, alle Abfälle in die See; auch die Männer warfen in diesen Tagen
Holz und Steine beim Entlangschreiten am Meeresufer in die Wellen. Entferntes Donnern,
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS i j ^
ist wie schon erwähnt, für die Eingeborenen ein Zeichen, daß dem bedrängten Mond nichts
zugestoßen ist, daß er bald wieder erscheint.
ERSTES VIERTEL — ajön mengeölase.
Zeigt sich sodann das erste Viertel wieder, so wird es noch heute mit dem Freuden-
trillerlaut lililililili begrüßt. Jungen, die ehedem bei Europäern im Dienst standen, suchten
oft den neu erschienenen Mond durch Steinwürfe zu bewegen, daß er schneller laufe, ihre
Monate also rasch verstreichen lasse, damit sie wieder in ihre Heimat kämen.
STERNE — utitata,
Uber eine Anzahl von Sternen haben sie ihre eigenen Gedanken, obwohl, wie schon
erwähnt, die Sterne insgesamt als phosphoreszierende Baumwurzeln am Ort der Himmels-
bewohner, wo letztere sein sollen, darüber herrscht völlige Unwissenheit, angesehen werden,
denken sie sich gleicherweise eben diese Gestirne zum Teil als Lebewesen. Dergleichen
einander widersprechende und doch zugleich parallel laufende Anschauuungen, sind, wie
schon eingangs erwähnt, animistischen Völkern eigen.
STERN „jalio“.
Ein leuchtender Stern, ob „Spica“ im Bild der Jungfrau, da er vor den Plejaden her-
läuft und wenn diese im Zenith stehen, längst verschwunden ist, konnte ich noch nicht
feststellen, wird „jalio“ genannt. Der Name deutet auf ein gedachtes weibliches Wesen.
Es erscheint mitten in der Regenzeit, deshalb wird bei seinem Erscheinen noch kein neues,
frisches Feld geschlagen, sondern im vorjährig geschlagenen und wieder leicht benarbten
Feld gepflanzt, indem es vom leichten Busch gesäubert wird.“ „senin gen katin — sie essen
vom Buschfeld.“
Auch zeigt ihnen dieser Stern die Fruchtreife verschiedener Baumfrüchte, die inmitten
des Blätterschmuckes bereits heranreifen, wie z. B. die lanip — Strandmandel (Terminalia
Kaernbachii). Daher ist die Antwort auf die Frage: „Ob wohl die Früchte schon reif sind ?
Birmano, ae galic jalio ne ja, jalio menkepi ma lanip ketu lewe —Wirklich ich sah den Schein
der Jalio, die Jalio ist emporgekommen und darum sind die Strandmandeln reif.“ Wenn die
Jamreife eintritt, so lange der Stern jalio noch sichtbar ist, gibt es viele Frucht. Wenn aber
das Siebengestirn schon vor der Jamreife in Erscheinung kommt, werden die Jam trocken,
holzig und ohne Schößlinge.
PLEJADEN — damo to lasioi.
Eine Gruppe von Sternen, wie Schubert (Weltgeb. pag, 21) so treffend sagt, „einzig
in ihrer Art, zeigt sich uns in der Nähe des Punktes der Frühlingsgleiche am Sternenhimmel,
welche schon die Aufmerksamkeit der ältesten Völker — ich setze hinzu auch der primi-
tivsten Stämme — der Erde in vorzüglichem Maße auf sich zog. Es ist dies das Siebenge-
stirn, der Sternhaufen der Plejaden. Ein Stern von verhältnismäßig vorwaltender Größe,
Alcyone, steht dort mit 5 anderen für das bloße Auge unterscheidbaren Sternen nachbarlich
beisammen. Der eigentümliche, einem Lichtgewölke gleichende Glanz der Plejadengruppe
rührt aber nicht bloß von den 6 für das unbewaffnete Auge erkennbaren Sternen, sondern
von einem ganzen Gehäuse derselben her.“ In der Tat die Inländer wie die Küstenbewohner
befaßten sich auch hier mit der bedeuteten Sterngruppe von der Astronom Mädler schreibt
17 Baessler-Archiv.
(Zentralsonne pag. 44): „Ich bezeichne demnach die Plejadengruppe als die Zentralgruppe
des ganzen Fixsternsystems bis in seine äußersten durch die Milchstraße bezeichneten
Grenzen hin und Alcyone als denjenigen Stern dieser Gruppe, der unter allen übrigen die
meiste Wahrscheinlichkeit für sich hat, die eigentliche Zentralsonne zu sein.“ Freilich
kommt für sie diesem Sternbild nur praktische Bedeutung zu.
Nach Ansicht der Inländer sollen die Plejaden eine Art Vogel sein. Nach Meinung der
Küstenbewohner, die das Sternbild eigentlich „damo to lasioi“ — ältere Schwester mit
jüngeren“ bezeichnen, insofern sie den Hauptstern Alcyone als Älteste ansehen, um die die
anderen als jüngere sich gruppieren sind die Plejaden ein im allgemeinen zu scheuendes
und darum verehrungswürdiges Wesen, dem sie bei Leistung gebührender Ehre viel
verdanken und dementsprechend sich ihm gegenüber auch verpflichtet wissen. So müssen
bei seinem Erscheinen sämtliche kleine Kinder, Hunde und Schweine ihm als Webeopfer
entgegengehalten werden, wobei gesprochen wird: „0 du damo, die du erschienen bist, siehe
unsere Jungen und Mädchen, unsere Hündchen und Ferkel gut an, daß sie nicht mit Wunden
behaftet werden und elend zu Grunde gehen.“ Darauf folgte Freudengeschrei. Ihre alten
Schweine stupften sie mit stumpfen Holz, das einen Pfeil darstellen sollte, ohne natürlich
den Tieren Schaden zu tun. Auf diese Weise kamen sie der Schädigung seitens der Plejaden
zuvor, denn diese würden die Tiere mit Pfeilen schießen und ihnen Wunden beibringen,
daher jedes kümmerlich gewachsene, wunde Schwein, auch wundbehaftete Hunde als
von damo getroffene Geschöpfe betrachtet werden, Bananen, die gerade in der Zeit des
aufgehenden Gestirns sich erdwärts neigen, wachsen nicht mehr aus, denn ,,damo hat sie
gesehen“.
Gleicherweise ruft man dem Sternbild zu: „Bringe doch die Wildschweine aus ihren Ver-
stecken hervor, damit sie mein Hund schnell fasse und wir mit Netzen viele fangen.“ Und
wirklich, wenn das Gestirn in vollster Klarheit in der Mitte steht, gibt es erfolgreiche Jagd
wie auch sein Emporsteigen und Verweilen die Fruchtreife der Felder bringt und das An-
legen neuer Felder fordert. Insofern ist das Sternbild wirklich ihnen die „Vergiliae“, dessen
jeweiliger Stand bestimmend ist für das Schlagen neuen Buschlandes und für das Brennen
und Bepflanzen desselben.
Einem säumigen Burschen wird deshalb auch zugerufen: „Ojomténa gólic dam atom
me ?“ — Du Faulpelz siehst wohl die Plejaden nicht, denkst wohl nicht daran, daß ein
neues Feld anzulegen ist, damit du wieder etwas zu essen hast ?
Bevor das Sternbild in Erscheinung tritt, also in der dicksten Regenzeit ,wenn Winde
brausen und Wellen tosen, dann heißt es: „tébéla kétuc gwéc ma kétu sec andib dam acgom
— die Stirne (des dam) drückt gegen die See, um hervorzubrechen, deshalb ist sie so wild,
haltet Ausschau nach dem dam, ob er wohl bald kommt.“ Steigt dann das Gestirn empor,
so beruhigt sich Wind und Meer. Nachdem es gesichtet ist, erfolgt nach etlichen Wochen
die uhö atu — große Regenzeit — während derselben steigt es höher und wird ihnen wieder
sichtbar ausgangs der Regenzeit, wo es nur mehr durch u ñadauñ — Sprühregen verschleiert
ist. In dieser Zeit, Oktober—November beginnen sie auch wieder Reisen über See zu machen,
bis der starke Südwind im Dezember bis Februar wieder eine Pause verursacht, Segeln
Eingeborene in der Zeit, wenn das Gestirn noch nicht hoch steht und es passiert etwas, dann
heißt es: „Matemanö masi me, amac tec alac ma dam géjaña ma gaméñ sec — Ihr habt wohl
keine Augen, daß ihr segelt in der Zeit, in der die Plejaden verschwunden sind und das
Wetter schlecht ist ?“ Solange die Plejaden im Zenith stehen, ist bei den Jabémleuten aus-
gesprochene Pflanzzeit. Verschwindet das Gestirn, anfangs der Regenzeit, April—Mai und
es pflanzt einer noch, dann begründet er sein Tun mit den Worten: ,,Aé jasé e endeñ lagasañ
to itotili: „Ich pflanze bis zum Erscheinen des Sternbildes Lagasañ und des Jakobstabes.“
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
II5
Lagasan—-ob Kanopus? —Mann mit dem Fischnetz
Der Stern „Lagasan, der gleich dem Orion den Plejaden folgt, zeigt den hiesigen Leuten,
daß sie sich mit Feldschlagen tummeln müssen, denn er meldet den Beginn der Trockenzeit,
in der neue Felder gebrannt werden müssen.
Jakobstab im Orion •—I totili.
Uber dieses Gestirn, das sie „an einer Schlingpflanze aufgereihte Fische“ nennen, das
schon einem Hiob neben dem Sternbild der Plejaden und des großen Bären, Bewunderung
abnötigte(Hiob 9, 9; 38, 31) und das sonderlich in klaren Nächten mit seinen beiden Sternen
erster Größe, Beteigeuze und Rigel als beherrschendes Gestirn jedem Beobachter sich
repräsentiert, haben unsere Leute eine kindlich naive Anschauung; „Der älteste Bruder
Beteigeuze schießt mit Pfeil und Bogen Fische; der zweitgeborene Bellatrix nimmt sie
und gibt sie dem jüngsten Rigel; dieser reiht sie an einer Liane auf. Die Schlingpflanze
wird durch die Kiemenspalten gezogen, dabei kommen drei Sterne — Jakobstab — weil
große Fische zu unterst der Liane zu hängen, aber ein kleiner Fisch, baleba genannt, bleibt,
weil seine Kiemenöffnungen für die Schlingpflanze zu klein, oben an ihr hängen. Das ist
der Stern zwischen Rigel und Jakobstab.
Großer Bär — momboan-Seeadler.
Ein weiteres wichtiges Sternbild, nach dem sie sich mit ihrer Schiffahrt richten, ist
der große Bär, von ihnen Seeadler genannt, mit seinen 7 Sternen zweiter Größe und Mizar,
dem dreifachen Stern. Nach ihrer Anschauung hält er einen Fisch in seinen Krallen. Wenn
er seinen langen Flügel noch gesenkt hat, also noch nicht in volle Erscheinung getreten ist,
dann ist schlechte Zeit für Reisen. Nur bei gutem Wetter kreist nämlich der Seeadler, bei
wilder See hält er sich zurück. Darum wenn sich sein gwade, d. h. Vetter, am Firmament
noch zurückhält, soll auch niemand Seereisen machen; wenn er aber voll ausgebreitet am
Himmel steht, seinen kurzen Flügel abwärts neigt, also im Verschwinden begriffen ist,
dann: Oc epac momboan nadec — trocknet die Sonne des Seeadlers Blut, d. h. die wilde,
schmutzige See, die morastigen Plätze, was als des Seeadlers Blut bezeichnet wird, beruhigt
sich, resp. werden aufgetrocknet, es wird gutes Reisewetter.
Nac ti söb. — Mann mit Pfeilen
Welches Sternbild dies also genannte ist, konnte ich noch nicht erfahren. Von ihm
sagen sie, daß, wenn bei seinem Erscheinen die Feldfrüchte bereits gepflanzt sind, er sie
schnell zur Reife bringt, denn er schießt mittelst der Pfeile die Blätter an, daß sie welken
und dadurch die Frucht schnell ausreift.
Nac lu gwade sebalan boc.
„Mann mit Vetter tragen ein Schwein“, so nennen sie die drei Sterne mit „Antares“
in der Mitte im Skorpion. Das an die Stange gebundene Schwein, das zwischen den zwei
Männern zu hängen kommt, ist eben durch Antares dargestellt. Praktische Bedeutung, wenn
das Sternbild einmal eine solche gehabt hat, kommt ihm heute nicht mehr zu.
Venus — utitena.
Die glänzende Venus, schon von Homer als der schönste der Sterne bezeichnet, ist
ihnen als Morgenstern „utitena jamoa“ — großer Maststern“ bekannt. Wenn er klar zum
Vorschein kommt, verspricht er einen guten Tag für Seefahrer. Schnell setzen sie ihren
17*
STEPHAN LEHNER
116
Mast — jamoa — ins Boot und richten alles für beabsichtigte Seereise zu, um alsbald
loszusegeln.
Als Abendstern freilich spielt er eine böse Rolle. Da muß nämlich die Venus wegen ihres
kurzen Aufleuchtens und baldigen Verschwindens das Abbild eines Frauenverführers sein,
darum haben sie ihm den Namen ,,hackejatu — Aufforderer ■— beigelegt. Wie ein solcher,
der zu böser Tat auffordert, von anderen ungesehen plötzlich erscheint, seinen bösen Rat
gibt, um dann schleunigst wieder zu verschwinden, so handelt ihrer Meinung nach der Abend-
stern.
Doppelsterne — mitingu.
Mit den Doppelsternen, die in ihrer rotbläulichen oder grünlichen iärbung der Ein-
geborenen Aufmerksamkeit von jeher erregten, verbanden sie Freundestreue, insofern bei
gleichzeitigem Sehen eines solchen Doppelsterns, ob optischer oder physischer Natur, spielt
dabei keine Rolle, etwa zwei Verwandte den Namen ausriefen. Von da an wußten sie sich
einander verpflichtet in Feldarbeit oder Zubereitung von Mahlzeiten usw. Dabei riefen sie
sich gegenseitig nur mit dem Sternnamen, z. B. mitingu, waren es zwei Mädchen, so riefen
sie sich mitinguo. Wollten sie dem also gewordenen Verhältnis ein Ende machen, dann
tauschten sie gegenseitig Geschenke aus und redeten sich mit dem alten Namen wieder an.
Auch wenn ein Mann vielleicht bei Betrachtung seinerselbst, z. B. nach dem Bade,
von einem, anderen beobachtet wurde, verlegen wurde und sich schämte, suchte er sich aus
seiner Verlegenheit also zu helfen, daß er auf einen Doppelstern wies und dem Beobachter
zurief: ,,sala nec — betrachte diesen.“ Gewöhnlich ging der darauf ein und so war jede
weitere Beschämung abgewandt.
Im allgemeinen nennen sie jeden bedeutsamen Stern, bedeutsam insofern, als er sich
durch seinen Glanz irgendwie auszeichnet, sei es Sirius, Kentauren, Wega usw. „utitena —
Sternmutter, Hauptstern.“Sie glauben auch, daß diese der Sonne und auch dem Monde den
Weg zeigen.
Milchstraße •— gaoctae.
Die Milchstraße selbst, die mit ihren zahllosen Sternen und Sternhaufen sich so wunder-
bar vom klaren nächtlichen Firmament abhebt, bezeichnen die Bukawac mit dem profanen
Namen: ,,Gaoctae — Bohrmehl der Bockkäferlarven“, wohl weil diese Mulm neben den
alten Stämmen, in denen die Bockkäfer sich eingenistet haben, in vielfach gewundenen
Linien, sich von der schwarzen Erde schön abhebend zu sehen ist.
Die Jabemleute sehen dagegen in der Milchstraße den Grenzstrich zwischen Abschluß
der Regen- und Beginn der Trockenzeit, heißen sie deshalb ockesa ma komö namadih.
Merkwürdig ist, daß unsere Leute der Himmelstiefe, dem sogenannten Kohlensack
in der Milchstraße in der Nähe des südlichen Kreuzes, Beachtung schenkten und mit ,,soh-
galuc — Kugelfisch“ benennen. Allerdings kann in klaren Nächten der grelle Kontrast der
Sternarmut dieses dunkelschwarzen Grundes mit dem prachtvollen Lichtschein der nahen
leuchtenden Gestirne einem Beobachter schwerlich entgehen.
Sternschnuppen — uti kepöp.
Jene kleinen planetarischen Körper, die aus dem Weltenraum mit großer Geschwindig-
keit in die Erdatmosphäre eindringen und durch den Widerstand derselben zum Glühen und
Verbrennen kommen, haben sonderbare Bedeutung für sie. Fällt eine sehr große Stern-
schnuppe, eine sogenannte Feuerkugel, so heißt es; „utitena sep gec ma gemba ndu gec
gwec halelöm — eine Sternmutter ist herabgestürzt und liegt nun tot im Meer.“
Im übrigen spucken Inländer und Küstenleute beim Anblick des Falles einer Stern-
schnuppe aus. Die Inländer, damit der durch den Anblick des fallenden Sternes aufge-
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
II 7
fangenen Seelenstoff nicht das Ausfallen eines Zahnes bewirke, wobei sie rufen: ,,0 Stern!
Die Küstenleute deshalb, um Unglück abzuwenden von ihren Feldern und Nutzen durch
solche Schnuppe zu erlangen. Sie glauben nämlich, weil sie die Sternschnuppe für Ausge-
spieenes der oberen Weltenbewohner halten — hac ne kasöp — eines Mannes Speichel“
sagen sie, daß alle Taropflanzen, die davon betroffen werden, zu Grunde gehen; „tipöp göm
gou ti sa — die Sternschnuppe macht die Taro schlecht, vernichtet sie.“ Sobald eine Stern-
schnuppe in ein Feld gefallen ist, so behaupten sie, überzieht der alles vernichtende Schim-
melpilz die Frucht —köc we gou.
Gleicherweise besteht aber auch die Ansicht, wie schon erwähnt, daß man Nutzen
haben kann beim Anblick einer Sternschnuppe. Daher rufen sie: ,,0 hebe heraus im Feld
die Knollen wie Nadeln so dünn (Wurzelfasern) und bringe mir dünnhalsige, langgestreckte
wie Trommeln — haböc oh — trommelähnliche Ansätze.“ Das ist eine verdeckte Rede, ein
Bitten in Bescheidenheit und meint: Bringe mir an Stelle meiner kleinen recht große
Früchte.“ — köc sa pi so sa pi öndi ma keh haböc oh tan ao min.
Über Meteore, deren Fall sie dann und wann unter furchtbarem Getöse wahrnehmen,
so z. B. 1920 am Burgberg, Huongolf, wissen sie nichts zu sagen. Nach Meinung der Inländer
sollen sie allerdings den Tod eines Menschen anzeigen. Auch über Kometen haben sie noch
nicht nachgedacht. Sie sehen sie selten und wenn sie gesehen haben, suchen sie sie alsbald
wieder zu vergessen, es ist ihnen eine unheimliche Sache.
Zeiten — Zeitabschnitt — tèm.
Wie weit sie nun die Gestirne als Zeitenmesser direkt und indirekt in ihrem Leben
praktisch gelten ließen, möge noch in Kürze dargelegt sein. Es ist nicht zu verkennen,
unsere Eingeborenen kennen ,,Nacht und Tag“, Monatsabschnitte und bestimmte Zeit-
perioden, als Regen- und Trockenzeit umschrieben. Der Begriff „Jahr“ wie „Monat“ im
astronomischen Sinn ist ihnen fremd, denn ihre „Zeiten“ waren nicht von berechneten
Erdumdrehungen abhängig, sondern wurden von der Volksgemeinschaft als solche nach
praktischen Erwägungen, zu denen sie gewisse Sterne und Vorkomnisse, wie bereits dar-
gelegt ist, seit altersher anleiteten, bestimmt.
Der Tag — bée.
Besser wäre es wohl „die Nacht“ zu schreiben, denn „bèc“ das allgemein für unser
„Tag“ genommen wird, heißt eigentlich „Schlaf, Nacht“, „bée göm ao — Schlaf macht
sich mit mir zu schaffen, Schlaf überfällt mich, ich bin schläfrig“, „tanéc bèc —wir liegen
einen Schlaf, wir schlafen.“ „nabéc totonec — davon Schlaf dieser“ aber allgemein ge-
braucht „das ist der bestimmte Tag“, „lahsi bée tan — morgens davon Schlaf einer“ d. h.
an einem anderen Tag, ein andermal, „nabéc mahgi mba — Schlaf davon Einkerbung
nicht“ oder „bée tan nasawa mba — Schlaf, Nacht eine ohne Unterbrechung d. h. fort-
während“. ,,béc tan gen kèsi — Schlaf einer befindet sich dazwischen — mit Ausnahmen
eines Tages“.
„bèbéc“ — morgens, früh; „bèbèckanucgen oder wie die Bukawac sagen; „hubèbèc —
der 7'ag vor Sonnenaufgang; „alahsi — der Tagesanbruch. Vom Erwachen daselbst bis
zum Aufstehen ist die Zeit des Zurichtens und Wärmens. Man muß sich erst langsam vom
nächtlichen Feuer entwöhnen und auch das vom Abendessen Übergebliebene anwärmen.
Eine Gewohnheit, die kein Europäer für seine bei ihm in Dienst Stehenden anerkennen
will.
„lahsi bèc kanduc — morgen früh vor Sonnenaufgang“. Wenn die ersten goldenen
Streifen der Morgenröte sichtbar werden, das unsere Leute mit dem schönen Bild wieder-
mtSSi
l r 8 STEPHAN LEHNER
geben: „Die Sonne hat eben aus der See herausgetragen Dachlatten — die langen horizon-
talen Streifen der Morgenröte — und sie abgeworfen, hingelegt, nämlich um ihr Haus zu
bauen.
„bec to geleh — Schlaf nebst Morgen, nachts und tags, tagtäglich.“ Der Vormittag
auch „ocsalö tonec — dieser angebrochene Tag“ genannt, wird als Tag im allgemeinen der
Hauptsache nach in „bebec —Morgen, ca. 6—8 Uhr, ,,katun etu dambe —Vormittag“;
,,oc kekö haluh — die Sonne steht in der Mitte, Mittag“, das ist der Fall, wenn man auf
seinen Schatten tritt und „etula — Nachmittag“, etwa von 2 Uhr an bis Sonnenuntergang,
wenn die Schatten länger werden, eingeteilt. Außer dieser Einteilung unterscheidet der
Eingeborene nach dem Stand der Sonne noch manche Stufen. Da heißt es etwa 8 Uhr
vormittags: ,,Oc gec auh sa — die Sonne hat sich hochgezogen“. Um 9 Uhr etwa sagen sie:
,,Oc gewe sa — die Sonne hat sich durchgerissen.“ Gegen nachmittags 3 Uhr, wenn man
unbewehrten Auges in die Sonne hineinsehen kann, sprechen sie von ,,Oc mata“. Etwas
später, um 5 Uhr etwa, sagt man wohl auch: ,,Oc geben kwalam — die Sonne neigt ihren
Kakaduschmuck“, d. h. sie neigt sich, geht bald unter. ,,Oc kalauh geöc su —die Sonne ist
über das Baumlaub weg“, ,,Oc gese löc —die Sonne liegt auf dem Berg“, bezeichnet gleicher-
weise den Spätnachmittag bis es heißt: ,,Oc geja su nec — die Sonne ging weg, ist unter-
gegangen“. Nun tritt embec — Nacht“ ein, die auch wieder in V ormitternacht und Nach-
mitternacht „embec enac lu —Nacht schlägt 2 Hälften“ eingeteilt ist .
Bei dringlichen Arbeiten wie Sagomachen, Schweinejagd, Fischfang usw. machen sie
sich zur Feldarbeit auf, wenn die Sonne noch nicht „hoch“ ist. Müssen sie aber zu ihrem
Feld taunasses Gras passieren, so warten sie gern mit dem Arbeitsbeginn, bis der Tau etwas
abgetrocknet ist. Zwischen 2 und 4 Uhr kehren sie meist nach Hause zurück. Während sie
morgens die „wenigen Überreste“ der gestrigen Mahlzeit verzehren, nehmen sie ihre einzige
Hauptmahlzeit gegen 5 bis 6 Uhr nachmittags ein. Wenn man eine Zeit lang mit ihnen
gleich ihnen gelebt hat, weiß man, daß diese Lebensweise die Leute den ganzen Tag hungrig
sein läßt.
Zeitspanne — nasawa.
Solche Zeitspannen sind ihnen in erweitertem Sinne im Unterschied von „ocsalö tonec
oder nabec totonec — heutiger Tag“, die „lang entschwundene Zeit“ wird mit langwa su —
sehr lange her“ bezeichnet. Daher auch : „hac langwa — der seit langem Lebende, also
„alter Mann“ ist.
„Wanigen“ meint bei ihnen eine ca. zweiwöchige, verstrichene Frist, während „waligen“
oder wie die Bukawac sagen: „labec tan —vorgestern“ bedeutet.
Das einfache „labec “ oder „nögen“ aber „gestern“ d. h. die kürzest verstrichene Zeit
meint.
Will man von „morgen“ im allgemeinen reden, dann sagt man „eien aegom“, soll aber
„morgen früh“ oder „morgen nachmittags“ aus gedrückt werden, dann fügt man dement-
sprechend „eien bebec“ oder „eleh etula“ dazu. Meint man erst „übermorgen“ kommen zu
können, dann heißt es „haelenacgom.“ Ist die zu erledigende Sache aber nicht allzu eilig,
dann gebraucht man das bei unseren Eingeborenen b eliebte Wort; „Malögen —später.“
Termin — noc.
Um eine ganz bestimmte Zeit festzusetzen, heißt es „tanac noc — wir setzen einen
Termin fest“. Das ist besonders notwendig, wenn es Grasflächen zu brennen, Handelsleute
aus den Bergen zu erwarten, Festfeiern abzuhalten gibt oder Besprechungen mit anderen
Sippen- und Stammesgenossen vereinbart sind. Um nun den bestimmten Zeitpunkt zu
ermitteln, teilen sie mit Knoten versehene Schlingpflanzen unter sich aus. Jede der beiden
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
I 19
Parteien zugehörige Liane ist gleichlang und hat gleichviel Knoten. Durch Nebeneinander-
legen der beiden Schlingpflanzen wird das ersichtlich und festgestellt. Jeden Tag bei Sonnen-
untergang wird nun von den beiden Parteien ein Knoten gelöst. Ist der letzte aufgelöst, so ist
der folgende Tag der Tag der Zusammenkunft.
Monat d. h. Mond — ajön.
Monat als solchen kannten sie nicht, wohl aber beobachteten sie den Mond ajön und
verschiedene mit dem Mondwechsel zusammenhängende Zeiten. Kommt der Mond wieder
als schmale Sichel, die gleichsam hier wagrecht am Firmament schwimmt, so ist großer
Jubel. Und wenn „ajön ketu samuc —wenn er voll wird“, dann herrscht munteres Leben.
Die Kinder vergnügen sich mit allerhand Spielen, unter denen die Schattenspiele eine große
Rolle einnehmen und bei den Alten hört die Unterhaltung nicht auf, Tanz war an der Tages-
ordnung im Gegensatz zu den Nächten, in denen der Mond „namakehgeh, d. h. nur ein Teil,
erstes oder letztes Viertel geworden war oder gar „geja kesep — hinabgestiegen, unter-
gegangen ist.
Bis zum Untergang erklärten sie sich sein immer späteres Erscheinen damit, daß er
sich unterwegs verhält. Daher lautet auf die Frage ob der Mond noch nicht da sei, die Ant-
wort: „ajön gejam tön — er hält sich an einem Platz auf.“ Während seines Aufenthalts
macht er sich mit allerlei zu tun. An einem Ort „ajön gejam gegwaii — beeinflußt das
Gras, daß es blaßfarbig wird. An einem anderen Ort macht er sich mit Palmen zu schaffen,
daher die „nip ajön nawe — die Palmen mit weißgrünen, fahl aussehenden Wedeln“.
Wenn die hiesigen Eingeborenen mit den erscheinenden Monden auch nicht als mit
streng umgrenzten Zeitbegriffen, wie wir rechneten, so konnten sie doch Bestimmungen
treffen wie „ajön ten ma naseku teh — einen Mond und von dem anderen ein Stück“,
ca. U/g Monde.
Genaue Angaben bezüglich langfristiger Perioden vor Abhaltung von Festen mußten
sie infolge mangelnder Zeitkenntnis und unzureichender Ausdrucksweise lassen. Halfen sich
aber dabei in der Art, daß sie erst eine „Jaen balin -—lange vor dem Ereignis hergehende
Botschaft“ sandten und wenn alle Vorbereitungen getroffen waren und sie die Sache so
ziemlich überschauen konnten, dann sandten sie die „Jaen dambe ■— die dringliche Ein-
ladung zum bestimmten Termin, den sie mittelst geknoteter Lianen nun angeben konnten.
Wie für die Wochentage hatten sie auch für die Monde und den dadurch bestimmten
Zeitabschnitt keinen Namen. Nur die Sialeute bei Kap König Wilhelm machten eine Aus-
nahme. Diese wissen, laut Aufzeichnung des Herrn Missionar Stolz von 12 Monaten, im
Gegensatz zu den übrigen Eingeborenen, die 1 3 zählen und haben sie auch mit Namen
versehen. Cf. Neuhauß, Neu-Guinea, Bd. III, pag. 260.
Wenn auch heute nicht mehr alle Stämme reguläre Monatsbezeichnungen haben,
machen die Jabemleute, um Finschhafen herum wohnend, neben den Siasileuten, bei Kap
König Wilhelm, eine Ausnahme. Die Monde sind bei ihnen in ajön komha — Regenzeit-
monde“ und in „ajön ockesana — Trockenzeitmonde“ eingeteilt. Dabei darf man sich aber
nicht festumgrenzte Regen- oder Trockenperioden hier vorstellen. Es ist gar nicht selten,
daß es in einem sogenannten Trockenzeitmond, etwa Januar 461,4 mm, im März gar
608,7 mm, dagegen im Juli, gewöhnlich der regenreichste Mond, nur 104,2 mm regnete.
Wiederum regnete es z. B. im Jahre 1914 im März nur 149,8 mm im Juni und Juli zusammen
aber 1161,7 mm. Die jährliche Regenmenge, 1914: 4980 mm, 1908: 5122,5 mm, 1913:
3207,5 mm verteilt sich eben jedes Jahr anders.
Als M onde der Trockenzeit nannte mir mein Jabem Gewährsmann folgende
Namen: 1. Kömsin, 2. Pehgocawaandan, auch Laniplauhkwandalan, 3. Silimdewic, 4. Ma-
I 20
STEPHAN LEHNER
tagèc oder Niplèma, auch Lapkammalenden, 5. Dabucbénòn, auch Lapséga, 6. Sonsaun
oder Goöna, auch Séliawensa oder Damsanin.
Als Monde der Regenzeit nannte er; 7. Sonsèga, 8. Buani, 9. Agécsèpó, io. Igeati
namóp, il. Igean nawaló, 12. Tanacnaan.
Die Erklärung der Monatsnamen ist wie folgt: 1. „Kömsin“ dem November ent-
sprechend. Während dieses Monats arbeiten die Leute im Feld und zwar benützten sie
dabei ehedem, vor Vertrautheit mit europäischen Werkzeugen, wie Messer und Beile,
Sagostammschwarten, die holzschwertartig — sin — geformt waren: labi nasin“. Damit
schlugen sie die hohen Grasarten —asi d. m. Elefantengras und momo —Erdschlingpflanzen
das niedere Buschgewirr, ab. So bereiteten sie die Klärung des Bodens vor für künftiges
Feld. Entsprechend ihrer Beschäftigung mit dem nasin nannten sie den Mond ,,Kömsin“,
2. „Pengocawaandan“, auch „Laniplaunkwandalan“, entsprechend dem Dezem-
ber. In diesem Mond welken die Blätter der Lanip -—Waldmandelbaum, Terminalia Kaern-
bachii catappa, darum nennen sie den Mond ,,der die Lanipblätter Dörrende“.
Weil in dem sehr heißen Monat, wo vielfach Feldbrennen statthat, die Erwachsenen
fleißig im Feld beschäftigt sind, die Kinder im Dorf sich selbst überlassen, bekommen sie
die Mahnung, ja alle Speisereste sorgfältig zu hüten, damit nichts in die Hände der Zauberer
fällt, die besonders in diesem Mond, die Abwesenheit der Alten ausnützend, ihrem finstern
Treiben nachgingen. Eingedenk dieser Mahnung heißt also der Monat auch „Pengocawaan-
dan ■— der vor Zauberei gewarnt habende“.
3. „Silimdèwie “ entsprechend dem Januar. Wenn in diesem Monde die Leute ihren
geschlagenen Waldgrund, der Feld werden soll, anstecken, so brennt er, ihrer Erfahrung
gemäß, völlig ab; ja das Feuer frißt gewöhnlich in den noch ungeschlagenen Wald hinein.
„Silimdéwic“ meint: das abgeschlagene, dichtgelagerte zum Brennen bereite Rankenzeug.
4. „Matagèc, Niplèma, Lapkammalenden“, gleich dem Februar. In diesem Mond
weht der „musanguc — Nordwind“ kräftig in den Finschhafen hinein, dort dreht er sich
nach der unbewohnten Tamiinsel Bugwèclabu genannt. Aus dem Grund nennen sie den
Monat „Matagèc — er beginnt kräftig zu wehen.“
„Niplèma — Kokospalmwedel“ heißt er deshalb, weil die Frauen beim Kochen der
Speisen, was gewöhnlich am Dorfplatz statthat, infolge des starken Windes gezwungen sind,
ihr Feuer mittelst Kokospalmblättern vor dem Verwehen zu schützen. „Lapkammadenden“
bezeichnen sie den Mond auch, weil in dem Monat, da die Feldflächen eben gebrannt sind,
die alten Felder nichts mehr an Nahrung bieten, die Leute erst ihre Bananen- und Zucker-
rohrpflänzlinge dem neuangelegten Felde zutragen, Schmalhans Küchenmeister ist. Füße
und Hände „ersterben“ — sind schlapp, darum wird ihnen das Steigen über Baumstämme
schwer. Weil zugleich in dem Mond auch besondere Ebbe einsetzt und infolge kärglicher
Kost Schwäche sich bemerkbar macht, heißt es also: In der Zeit der Ebbe — Lap — er-
fassen die Leute beim Übersteigen von Stämmen das Holz und zittern — kam ma denden.
Die alten Leute meinten auch eine Ursache der körperlichen Schwäche in dem Monat in
demUmstand sehen zu können, daß die genannte Ebbe, die gewissermaßen alles vom Strand
ins Meer hineinzieht, auch all das, was sie infolge ihres Essens sich einverleibt haben, ihnen
entzieht, daher das Hungergefühl fortwährend.
5. „Dab ucbènón — Rohrgewächshalmfrucht — Windstille auch Lapséga — große
Ebbe.“ In diesem Monat, unserem März entsprechend, segeln die Siasi Insulaner nach Jabém,
denn der Nordwind weht nun nicht mehr so stark. Doch reicht es noch aus, um die Hüllen-
blätter der großen Rohrgewächshalmfrucht, dabuc sanalua genannt, abzureißen. Diese
Dabucart wird eigentlich nur von den Pocmleuten in der Sialum und Kalasagegend ge-
pflanzt.
Weil die Ebbe in diesem Monat am tiefsten ist, darum auch der zweite Name Lapséga.
DIE NATURANSCHAUUNG DER EINGEBORENEN IM NO NEU-GUINEAS
1 2 I
Nun legen die Leute den Feldgrabstock auf die Seite, das Pflanzen ist zu Ende. Dem Fisch-
fang wird nun eifrig obgelegen. Im allgemeinen beginnt es etwas kühler zu werden.
6. „Sonsaun, auch Goöna, auch Seliawensa und Damsanin“ gemäß dem April. Dieser
Mond wird seinen vielen Namen zufolge unter den verschiedensten Gesichtspunkten betrachtet.
Der Stern „Jalio“ wird sichtbar, Fruchtreife ist noch keine vorhanden, seöc kakatuc —-
also müssen sie noch Nahrungsmangel ertragen. Darum kann man auch Dorfbesucher
eben nur ansehen in dieser Zeit, aber nichts oder nicht viel zu essen geben, son saunn,
die kleine, braune Früchte tragende Pandanusart, die in dem Monat trägt, ist nur Beutel-
tierfutter, also ruft man wohl den Gästen zu: Bleibt nur etwas sitzen, ruht euch etwas aus,
dann geht halt wieder fort -— on Go 6na.“
Jede Frau ist bemüht in den alten abgeernteten Feldern doch noch irgend etwas zu
erlangen, darum stehlen sie, was immer sie finden, infolgedessen sind die Abendunterhaltun-
gen gegenseitige Vorwürfe; seliawensa — sie erheben ihre Stimmen, machen sich Vor-
würfe.
Eifrig befragen sie sich während dieses Mondes, ob denn die Plejaden —Dam — schon
verschwunden seien oder noch sichtbar stehen ? D amsanin. Sonne und Mond kreuzen sich;
der Südwind weht hinunter und die Siasi Insulaner fahren wieder zurück. Der Regen fängt
an einzusetzen.
Regenzeit — aj 6n komöna,
7. ,, Sonsega“ — Fruchtzeit der Pandanusart mit großen weißen Körnern, entspricht
dem Mai. Dieser Mond trifft mit dem Zeitpunkt der Plejaden zusammen. Der Regen macht
sich schon unangenehm bemerkbar. Die Leute suchen sich Sago als Nahrung zu bereiten.
8. ,,Buani — Wasser in Überfülle“. Dieser Mond entspricht dem Juni, da regnet es
gewöhnlich hier in Strömen, alles versumpft. Darum geht niemand auf die Jagd oder zu
Besuch. Das Sternbild momboan — Seeadler, Großer Bär, ,,stürzt sich hinab“, d. h.
verschwindet aus dem Sternenkreis. Die Wasser, Flüsse und Bäche treten aus ihren Ufern
und stehen in dem angrenzenden Wald.
9. „Agecsesö — die Sonne und Mond haben die Tage entzweigebrochen“. Die Alten
bezeichneten diese Tatsache mit der Deckrede: ,,Lewem agec Sin sepö —Mond und Sonne
brechen.“ In diesem Monat, dem Juli entsprechend, ist der Regen nicht mehr so dick, wie im
vorhergehenden, es wechseln Regen mit Sonnentagen ab, an einem Tage regnet es, an
einem anderen ist Sonnenschein.
10. ,,Igean namöp— das von Seewürmern, Igean, wimmelnde, deshalb vom Schlamm
getrübte Wasser.“ In dem Monat — August — gibt es nur mehr Sprühregen. Die Leute
decken ihre Wertsachen mittelst Blättermatten zu und rüsten sich in Menge zu Kanufahrten.
Die Blüten der Mangobäume kommen zum Vorschein.
11. „Igean nawalö — die nunmehr in Partien, Streifen lagernden Seewürmer.“
In diesem Mond — September — entlaubt sich der kalelon, d. i. die Käsepappel, Malve.
Die Leute pflanzen ihre Jam in längs gebrannte, aber teilweise wieder benarbte Feldstücke
und arbeiten im Hauptfeld, das mit Taro bestanden ist.
12. „Tanacnaan — Schlagen eines neuen Feldes bei erster Gelegenheit“, wenn sich
die Sonne ankündet. In dem Monat — Oktober — ist noch ein wenig Regen zu spüren.
Die Leute, die die Wettergrenze nicht ordentlich wahrnehmen, werden Fehlschläge erleiden,
es büßen müssen. Diejenigen aber, die diese Zeitspanne erkennen, schlagen sofort, auch
unter dem noch teilweise fallenden Regen ihr neues Feld, damit, wenn die Sonne heraus-
kommt — an — sie Feuer in das Geschlagene werfen, legen können, d. h. das Feld brennen
können. Solch ein Feld nennen sie: das vom Wasser bedeckte. Derart nasser Boden ist
sonderlich der Taroart „modam“ genannt, sehr günstig.
18 Baessler-Archiv.
I 2 2
STEPHAN LEHNER
Jahr — komö to ockesa.
Wie aus dem bisherigen ersichtlich ist, konnten die Eingeborenen auch nicht von einem
„Jahr“ in unserem Sinne reden. Der alles bestimmende Zeitraum, in dem sich im allge-
meinen ihr Leben bewegte, war „Trockenzeit — ockesa“ — die Sonne ist herausgetreten
und „komö oder uhö — Regenzeit“, die hier im Huongolf, im Gegensatz zu allen anderen
Gegenden, von Mai bis September währt. Die Regenzeit ist in eine „große — uhö atu“, die
in Zwischenräumen und namentlich des Nachts ihre Regenmassen spendet, und in eine
kleine“, zu unterst liegende — halabuha“ eingeteilt. Während der kleinen, besser, kürzeren
Spanne regnet es ununterbrochen und die Flüsse sind in der Zeit alle hoch und treibend.
Diese Regenzeit — kesep — setzt ein, wenn der kalelon, ein schöner Laubbaum (Malava)
seine Blätter verliert und der SO die Wogen zu peitschen beginnt. Wenn aber die kalelon
ausschlagen und die Brotfruchtbäume ihre Früchte, weil der Reife nahend, emporrichten,
dann hebt die schöne Zeit an, wo auch die Kanu die Seefläche wieder beleben. Uhö ma
Ockesa — Regen- und Trockenzeit bildeten für sie etwa das, was wir mit Jahr umschreiben.
Merkmale, rudimentäre Kalender, um sich zurecht zu finden, kamen erst auf in Form
von Hölzern mit Kerbschnitten oder auch, indem man Kerben in die Kokospalmstämme
schlug, als die Anwerbung durch die Neu-Guinea Comp, einsetzte. Um zu wissen, wann die
bestimmte Dienstzeit ihrer angeworbenen jungen Leute zu Ende sei, schnitten die Väter
oder Dorfalten bei jedem neu erscheinenden Mond eine Kerbe in das Holz.
Welch bittere Enttäuschungen sie dabei anfangs zu machen hatten, insofern sie oft
3 Tage für 3 Monate oder 2T/2 Monde für 3 Jahre hielten, erzählen die Alten heute mit
Vergnügen.
Nun infolge des Schulunterrichts haben sie auch über Zeit und Welt andere Anschau-
ungen, sie wissen nun Bescheid in ihrem Kalender; trotzdem ist die Klage nicht verstummt,
daß der Dienstvertrag gar manches Jungen bei auswärtigen Firmen oder Pflanzern nie zu
Ende kommt.
Betreffs Orthographie der Eingeborenenwörter sei bemerkt, daß n der Nasallaut
„ng“ ist. Das e und ö ist dunkles, geschlossenes e und o. Der Kehllaut „c“ in Wörtern
wie dauc usw. wird nicht gesprochen. —
Missionsstation: Kap-Arkona
5. Januar 1931.
DER SONNENTEMPEL
IN DEN RUINEN VON TIHUANACU. VERSUCH
EINER ASTRONOMISCHEN ALTERSBESTIMMUNG
VON
ROLF MÜLLER, POTSDAM
EINLEITUNG.
In La Paz, der Hauptstadt Boliviens, wurde einige Jahre hindurch (1926—29) mit
Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft von den Sternwarten
Potsdam und Bonn eine astronomische Beobachtungsstation unterhalten. Während meines
Aufenthaltes (1928—29) daselbst als Leiter dieser Station hatte ich Gelegenheit, die Ruinen-
stätte Tihuanacu kennenzulernen und eingehend zu studieren.
Das Alter dieser Ruinen wird im allgemeinen hoch veranschlagt, doch schwanken diese
Altersangaben in sehr weiten Grenzen. Während manche Autoren glauben, daß die Ruinen
aus einer viele Jahrtausende vor Christi Geburt gelegenen Zeit stammen, verlegen andere
ihre Entstehung in das erste Jahrtausend nach Christi Geburt und betrachten Tihuanacu als
mehr oder minder unmittelbaren Vorläufer der Inka-Kultur.
Auf die Möglichkeit einer astronomischen Altersbestimmung des großen sogenannten
„Sonnentempels“ von Tihuanacu, der im indianischen Volksmund den Namen Kalasasaya
führt1, hat schon Posnansky im Jahre 1912 hingewiesen (1), Weitere Arbeiten desselben Ver-
fassers über die astronomische Bedeutung des Sonnentempels sind im Boletin der geogra-
phischen Gesellschaft La Paz (1918) und in den im Literatur-Anhang zitierten Zeitschriften
erschienen (2).
V iele mehrtägige Studienreisen, die der Verfasser in Gemeinschaft mit Prof. Posnansky
aus La Paz nach den Ruinenstätten unternahm, lieferten eine Fülle von neuen Beobach-
tungen und Vermessungen.2 Die Ergebnisse unserer Arbeiten im Ruinenfeld sollen nunmehr
dazu dienen, erneut die Berechtigung und Möglichkeit einer astronomischen Altersbe-
stimmung des großen Sonnentempels Kalasasaya zu prüfen und kritisch zu diskutieren.
Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle Herrn Prof. Posnansky Dank zu sagen, durch
dessen Fürsorge und Unterstützung meine Arbeiten ermöglicht wurden. Der größte Teil
der Originale für die Bildwiedergaben wurde mir von ihm zur Verfügung gestellt. Ganz
besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Ludendorff; sein Rat und seine Anregung sind für
den Fortgang meiner Arbeit von größtem Wert gewesen.
1. BESCHREIBUNG DER RUINEN VON TIHUANACU.
Tihuanacu liegt in einem breiten Tal, etwa 70 km von der Landeshauptstadt La Paz
entfernt. Die wichtigsten Ruinen sind auf
zeichnet.
1 Aymarawort = „Aufrecht stehende Steine“. Die
Schreibweise der überlieferten Eigennamen lehnt sich
an die in den Schriften Posnanskys gegebene an.
2 Messungen und Meßresultate der Herren Prof. Kohl-
18*
dem beigefügten Orientierungsplan einge-
schütter und Dr. Becker aus den Jahren 1926/27
wurden mir freundlichst zur Verfügung gestellt und
konnten mitverwertet werden.
124
ROLF MÜLLER
D
m
Orientierungsplan vom Ruinenfeld
von Tihuanacu.
Ein in die Erde eingelassenes Gebäude von etwa
30X26 m Ausdehnung ist mit A bezeichnet. Es ist eins der
ältesten Bauwerke der Tihuanacukultur, das im Vergleich zu
den späteren Kulturen eine weit primitivere Bautechnik
zeigt. Posnansky schreibt die Reste dieser Kultur einer
,,I. Periode“ zu. Eine eingehende Beschreibung der Bau-
technik dieses und der späteren Gebäude und der aus
den verschiedenen Bauperioden herrührenden Skulpturen
gibt Posnansky in der im Verlag von Reimer (Ernst Vohsen)
erschienenen Monographie (3).
Anschließend an A, im Westen, Hegt der große Sonnen-
tempel Kalasasaya (Orientierungsplan B), dessen Steinum-
zäunungen einen Flächenraum von mehr als 15000 Quadrat-
meter einschließen. Die Umfriedigung des Tempels bilden
riesige, zum Teil sehr sorgfältig behauene Steinpfeiler, die in der West- und Ostwand
aus harter andesitischer Lava, in der Nord- und Südwand aus rotem Sandsteinmaterial
bestehen. Wahrscheinlich bestanden ehemals zwischen den großen Steinmonolithen Ver-
bindungsmauern aus fein behauenen Steinen; im Laufe der Jahrhunderte ist dieses „fertige
Baumaterial“ verschwunden, so daß heute Kalasasaya den Anblick eines Stonehenge
bietet. Ein Rundgang durch den heutigen Ort Tihuanacu zeigt, welche Fülle von Bau-
material das Ruinenfeld hergeben mußte; Höfe und Straßen sind mit Tihuanacusteinen
gepflastert, fast alle Häuser und vor allen Dingen die große Kirche, mit ihren meterdicken
Wänden, entstanden unter Verwendung alter Bausteine.
Der Tempel Kalasasaya gehört einer weit fortgeschrittenen Kulturperiode (II. Periode)
an. Die Architektur und die Technik der Steinbearbeitung weisen auf eine gegenüber der
I. Periode höhere Entwicklung hin. Bild 1 zeigt die südliche Pfeilerreihe des Tempels.
Die Ausmaße des Gebäudes sind Ii8x 129 m; auf der Westseite befindet sich, um mehr als
6 m nach außen gerückt, eine
aus loPf eilern bestehendeWand,
so daß hier eine Art von Erker
entstanden ist. Diese'aussprin-
gendeWand gehörtwieder einer
späteren Kultur an (III. Peri-
ode) . Ihre aus andesitisch er Lava
bestehenden gewaltigen Pfeiler
zeigen keineswegs derartige Ver-
witterungen wie die Steine glei-
chen Materials in den anderen
Umfassungsmauern. Die Abbil-
dungen 2 und 3 zeigen den gros-
sen Unterschied der Verwitte-
rung. Die sorgfältige Verarbei-
tung des Steinmaterials deutet
auf weiteren Fortschritt. Eine
gewaltige Freitreppe führt auf
der Ostseite zum Tempel hinan.
Die wuchtige Plattform, mit der
letzten Stufe aus einem Stück
gehauen, läßt heute noch er- Bild 1. Südliche Pfeilerreihe von Kalasasaya.
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
1 2 5
kennen, daß sie als Träger vielleicht
einer torartigen Konstruktion dienen
sollte. (Bild 4). Fast in der Mitte des
Tempels (nach Westen verschoben)
liegt ein in zwei Hälften gespaltener
Block, auf dessen Bedeutung bei den
folgenden Untersuchungen noch hin-
gewiesen werden soll. In der NW-
Ecke des Tempels steht das berühmte
Sonnentor (Bild 5), dessen Relief-
figuren Zeugnis von der hohen Ent-
wicklung der Steinbearbeitung ab-
legen. Das Tor, ungefähr 3,5 m lang,
3 m hoch, 0,5 m dick, ist aus einem
Stück gearbeitet (Material: harter
Andesit).
Aus den Befunden der Stein-
mauern und vor allen Dingen aus dem
großen Unterschied der Verwitterung
muß man, wie ich schon erwähnte,
für Kalasasaya zwangsläufig auf zwei
Zeitepochen schließen (II. und III.
Periode), die zeitlich sehr wesentlich
Bild 2. Vorspringende Erkerwand.
Bild 3. Andesitpfeiler in der Ostwand des Tempels.
differieren. (Die unterirdische Kon-
struktion des Gebäudes A, das Pos-
nansky als der I. Periode angehörig
bezeichnet, soll außerhalb der Betrach-
tung bleiben.) Ehe nicht systematische,
gründliche Ausgrabungen in den Rui-
nen ausgeführt sind, muß meiner Mei-
nung nach die Frage offen bleiben,
welcher Periode die gefundenen Skulp-
turen, Idole und vor allen Dingen die
so hoch entwickelten Keramiken zuzu-
schreiben sind. Ich neige zu der An-
sicht, daß die GlanzperiodeTihuanacus
und auch die Entstehung des Sonnen-
tores mit der Zeit der Errichtung der
Erkerwand, also mit der III. Periode
zusammenfällt. Allen Anzeichen nach
lag das Sonnentor lange Zeiten hin-
durch mit der Reliefseite im Boden, so
daß es der Zersetzungsarbeit der Zeit
und der Zerstörungswut der eindrin-
genden Eroberer wenig preisgegeben
war. Aber auch die Rückseite, die
Seitenflächen und die Kanten des
Tores zeigen im Vergleich zu den
ROLF MÜLLER
1 26
Bild 4. Die Freitreppe.
Andesitpfeilern des eigentlichen Tempels der II. Periode kaum Spuren der Verwitterung,
so daß obige Ansicht über das Alter des Tores eine wesentliche Stütze erhält.
Westlich von Kalasasaya, im Ubersichtsplan mit C bezeichnet, findet man Mauerreste
eines größeren Gebäudes. Die Grundpfeiler aus hartem Andesit, die nur etwa 0.5—1.0 m aus
der Erde ragen, sind sehr sorgfältig behauen und poliert. Die schnurgerade Ausrichtung
der Pfeiler in den Umgrenzungswänden, deren Seitenlängen 40X49 m sind, ist erstaunlich.
Bild 5. Das Sonnentor
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
I 2 7
Eine besondere Anlage ist der künstliche Berg Akapana (Plan D), der durch gewaltige
Mauern befestigt und gestützt ist.
Nicht ganz einen Kilometer südwestlich von den eigentlichen Ruinen Tihuanacus
befinden sich die Reste der Stätte Puma Puncu.
Es sei hier nochmals auf die eingehende Beschreibung der Ruinen in Posnanskys
Monographie (3) hingewiesen.
2. ASTRONOMISCHE PROBLEME UND MESSRESULTATE.
Die geographische Ortsbestimmung ergab folgende Werte:
Geographische Breite = — 160 34.9'
Geographische Länge = 40 35.3' westlich Greenwich
Meereshöhe = 3845 m
0
/30
0°
Die Untersuchungen in dieser Arbeit beziehen sich hauptsächlich auf den Sonnentempel
Kalasasaya.
Das eigentliche Gebäude der II. Periode (ohne
den vorgeschobenen Erker) ist fast genau nach den
vier Himmelsrichtungen orientiert, also derart, daß
die West- und die Ostwand sehr nahe im Meridian,
die Süd- und die Nordwand sehr nahe in der West-.,
Ostrichtung verlaufen. Ost- und Westwand resp.Nord-/»
und Südwand sind innerhalb der Grenzen der Meß-
genauigkeit parallel zueinander, da aber die Eckwinkel
nicht genau 90° betragen, so sind die Abweichungen
gegen die Haupthimmelsrichtungen für Ost- und West-
wand größer als für Süd- und Nordwand. Die Skizze in
Figur 1 zeigt, zur besseren Anschauung sehr weit über-
zeichnet, die Winkelabweichungen, deren Bestimmung
folgende Werte ergab:
(
S
W
Figur 1.
Die Eckwinkel in Kalasasaya weichen von
Rechten ab. Übertriebene Darstellung.
Eckwinkel.
SW SO NO NW Beobachter
90o 19' 89» 37' 90o 21' 89o 43' Posnansky
90o 29' 90o 19' 89° 29' 90o 27' 89o 36' Kohlschütter Müller
90o 22' 89o 33' 90o 24' 89o 40' Mittelwerte
Daraus ergibt sich für die Eckwinkel im Mittel: 90° ± 23'.
Die Bestimmung der Azimute der vier Tempelwände mit Hilfe der Sonne gab folgende
Werte;
Sü dwand
89o 24'
89o 12'
Westwand
358° 55'
358“ 52'
Nordwand
89o 20'
Ostwand
358° 53'
359° 4'
Beobachter
Kohlschütter-Becker
Müller
Aus der in Figur 1 eingezeichneten Windrose, die die wahren Himmelsrichtungen gibt,
ist der Sinn der Abweichung sogleich ersichtlich. Für die West- und Ostwand ergibt sich im
Mittel eine Abweichung von:
i° 4' (Abweichung nach Osten bei Blickrichtung nach Süd).
ROLF MÜLLER
I 28
Wie bei allen hier abgeleiteten Resultaten unterliegt die genaue Festlegung der Rich-
tungen dieser über 100 m langen Pfeilerwände und auch die Festlegung der Ecken einer
gewissen Unsicherheit, die ihren Grund in der mehr oder weniger starken Verwitterung und
auch in der nicht mehr ganz lotrechten Lage einiger Pfeiler hat. Diese Umstände bedingen
also im Wesentlichen die Fehlergrenzen, während die Instrumentalfehler dagegen verschwin-
dend klein bleiben.
Die von Posnansky durchgeführte große Triangulation von Kalasasaya (1, 2) ergab fol-
gende Seitenlängen: Ostwand = 118,30 m; Westwand = 118,22m; Südwand = 128, 91 m;
Nordwand = 128,58 m. Von mir ausgeführte Triangulationen führten zu neuen Bestim-
mungen der Seitenlängen (in folgender Tabelle in Klammern gesetzt) die, mit Posnanskys
Werten gemittelt, die endgültigen Längen ergeben:
Ostwand =
West wand =
Südwand =
Nordwand ==
118.39 m (118.48)
118.23 m (118.23)
128.76 m (128.61)
128.5 7 m (128.56)
Es ist erstaunlich, mit welcher Genauigkeit man, trotz
der großen Ausmaße, die Längen gegenü berliegender
Seiten nahezu gleich machte, und es ist wohl anzu-
nehmen, daß in Wirklichkeit die Übereinstimmung noch
besser war, denn in Folge der Verwitterungen hängt
Süd grade die Bestimmung der Ecken sehr von der persön-
lichen Auffassung ab. Hier sei noch bemerkt, daß der
Eckpfeiler in der SW-Ecke vor einigen Jahren gesprengt
worden ist, so daß man diese Ecke nur durch Projektion
festlegen kann.
Die Figur 2 gibt einen Aufriß des Tempels (ohne den
Erker) wieder. Denke ich mir im Punkt M, der Mitte der
Der Winkelwert, der sich trigonometrisch ^Vestwand, also vor Ausbau des Erkers dei III. Periode,
aus dem Verhältnis der Tempelseiten er- einen Beobachter, der zu den abgrenzenden Eckpfeilern
gibt, ist annähernd gleich dem Winkel- a g in 4er gegenüberliegenden Ostwand schaut, so wird
wert der Amplitude der Sonnenauf- ,, , , . T..
gänge zwischen den beiden Solstitien. die Bhckaogrenzung durch den Winkel a gemessen. Die
Größe dieses Öffnungswinkels kann durch elementare
trigonometrische Rechnung aus dem Längenverhältnis der Tempelseiten errechnet werden.
Allgemein hat man für den halben Winkel die Beziehung;
Tangente
a
2
a b
oder =
c c
Rechne ich mit den oben gegebenen Seitenlängen die Größe des Sehwinkels a aus, so erhalte
ich:
a/2 = 24° 4145' und damit
a = 490 22.9' 1
Von den zahlreichen direkten Theodolitmessungen dieses Winkels führe ich nur die neueren
an:
1 Streng genommen muß die Schiefstellung der Wände um 23' bei dieser Rechnung berücksichtigt werden, der
Winkelwert wird dann a = 490 22.8k
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
129
Winkel oc Beobachter
49o 28' Kohlschütter-Becker 1927
49° 1S' Posnansky l927
49° 26-3' Müller 1928
49° 27-3' Müller 1928
49° 19.6' Mü Iler J929
49o 20.1' Müller J929
Der Mittelwert aus diesen 6 Bestimmungen wird = 49° 22.7'. Aus den Abweichungen
der einzelnen Beobachtungen gegen diesen Mittelwert erhält man für die Unsicherheit
folgende Übersicht. Es ist:
Der mittlere Fehler einer Beobachtung
Der mittlere Fehler des Resultates
Der wahrscheinliche Fehler einer Beobachtung
Der wahrscheinliche Fehler des Resultates
= ± 5-2'
= ± 2.1'
= ± 3-5'
= ± 14'
Der Aufgangspunkt der Sonne, dessen Richtung (Azimut) zur Zeit der Tag- und Nacht-
gleichen (Aequinoktien) am 21. März und 23. September genau im Osten liegt, verschiebt
sich bis zum Tage der Sonnenwenden (Solstitien) im Juni resp. Dezember um einen größten
Betrag nach Norden resp. Süden. Die Größe dieses Winkelausschlages (Amplitude) von
Solstitium zu Solstitium hängt von der Schiefe der Erdbahn (Ekliptik) gegen den Erd-
äquator und von der geographischen Breite des Beobachtungsortes ab. Die im Junisolstitium
im wahren Horizont in Tihuanacu halb auf gegangene Sonne hat 1930 eine Abweichung
von 240 32.1' nördlich der Ostrichtung; um den gleichen Betrag geht sie im Dezembersol-
stitium südlich der Ostrichtung auf. Die Amplitude zwischen den beiden Daten der Sonnen-
wenden beträgt also 490 4'. Der in dem Tempel enthaltene Winkel a = 490 22.8', dessen
Bedeutung durch die Figur 2 erklärt war, ist also nahezu ebenso groß. Wenn man bedenkt,
daß eine Verkürzung oder Verlängerung eines der Seitenpaare um nur 2% die Größe des
Winkels oc um fast einen Grad (0.90) ändert, so ist es wenig wahrscheinlich, daß es sich hier
um eine zufällige Gleichheit handelt.
Die Orientierung des Gebäudes nahezu im Meridian und das Seitenverhältnis der
Tempelumgrenzung, das dem scheinbaren jährlichen Sonnenlauf angepaßt ist, lassen daher
kaum einen Zweifel zu, daß wir es hier mit einer antiken Sonnenwarte zu tun haben.
Es hat danach fast den Anschein, als hätten die Priesterastronomen von Tihuanacu
schon Mittel und Wege gekannt, um eine geographische Richtungsbestimmung vorzunehmen,
oder als wären sie gar über die Neigung der Ekliptik gegen die Ebene des Erdäquators
orientiert gewesen. Ich werde indessen im Folgenden einen Weg zeigen können, der, ohne
große astronomische Kenntnisse vorauszusetzen, fast zwangsläufig zur Konstruktion einer
Anlage wie Kalasasaya führt; dabei wird sich zeigen, daß die mehr oder weniger genaue
Orientierung des Gebäudes nach den Haupthimmelsrichtungen fast von selbst zustande
kommen mußte.
Es soll damit freilich keineswegs gesagt sein, daß die Erbauer des großen Sonnen-
tempels eine direkte Meridianbestimmung nicht hätten vornehmen können; denn wer als
aufmerksamer Beobachter die Ruinen besucht, wird auch heute noch der genauen Bear-
beitung des Materials und der Bautechnik ganze Bewunderung zollen und eine hohe Meinung
von jener alten Kultur gewinnen. So brauchte es nicht Wunder zu nehmen, wenn die Träger
dieser Kultur etwa aus Kulminationen heller Fixsterne die Nord-Südrichtung hätten er-
mitteln können.
Uns heutige Kulturmenschen führen Kalender und Uhren durch Jahre, Tage und
Stunden, und es ist uns daher oft schwer verständlich, welch zwingende Notwendigkeit die
IQ Baessler-Archiv.
130
ROLF MÜLLER
Gestirnsbeobachtung den in der Vorzeit lebenden Menschen war. Wie die heutigen, so waren
auch die früheren Bewohner des Andenhochlandes ein Agrikulturvolk, das für die Erzielung
guter Ernteerträgnisse dringend einer genauen Zeiteinteilung bedurfte. Es ist daher durchaus
verständlich, daß sie sich eine Anlage zur Beobachtung der jährlichen Wanderung des
Tagesgestirns schufen.1
Zum Verständnis der nachfolgenden Betrachtungen seien vorerst einige Messungs- und
Rechnungsergebnisse besprochen:
Bei der Festlegung der Lage eines Sonnenaufganges mit bloßem Auge wird meiner
Meinung nach der Moment bestimmend sein, zu dem etwa % bis 1/2 der Sonnenscheibe
über dem Horizont erschienen ist. Die Unterschiede der Richtungen zwischen den beiden
Extremen: ,,Oberer Sonnenrand erscheint im Horizont“, oder ,,unterer Sonnenrand berührt
den Horizont“, sind klein. Figur 3 zeigt die Verschiebung am Horizont für das Dezember-
solstitium in Tihuanacu, die also für die beiden Extreme nur 10' beträgt.2
Bei allen Rechnungen ist der Einfluß der Strahlenbrechung (Refraktion) berücksichtigt.
Herr Prof. Harzer in Kiel war so freundlich, die für die Höhe von 3850 m geltenden mittleren
Refraktionswerte mitzuteilen.
Figur 3.
Bewegung der Sonne von der ersten Randberührung (I) bis zur letzten Randberührung (III) mit dem Horizont.
Mittelpunkt der Sonne steht im Horizont (II). Azimut südlich der Ostrichtung. Die Abbildung der Sonnenscheiben
ist der besseren Anschauung wegen nicht maßstabgetreu.
Refraktionswerte für Tihuancu : z = Zenitdistanz; R = Wert der zugehörigen Strahlen-
brechung (Refraktion).
z R
83" 4' 55"
§4° 5' 37"
85° 6' 34”
86° 7'48"
Derartige Bestimmungen von Jahresdaten mit hülfe
von Horizontazimuten der auf- oder untergehenden
Sonne finden wir vielfach bei den Naturvölkern. So
stellten z. B. die Priester der Stämme am Mahakam-
Fluß (Borneo) zwei Steine so hintereinander auf, daß die
Gesichtslinie über diese Steine hinweg nach dem Unter-
gangspunkt zeigte, der den Beginn der Saatzeit angab.
Bei den Labrador-Eskimo bildet das Wintersolstitium
den Jahresanfang. Beide Solstitien wurden nach dem
Azimut der Sonne mit Hilfe fester Landmarken be-
stimmt. Die Hopi-Indianer (Nordamerika) legen noch
heute die Daten ihrer Feste und die Zeiten der Sol-
stitien durch Beobachten von Horizontazimuten fest
(d. h. durch Festlegen mittels irdischer Marken). Die
Sonnenpriester der Zuni (westl. Neumexiko) können das
Wintersolstitium (den Haupttag ihres Sonneujahres)
auf Tage genau angeben, indem sie von einem Beo-
bachtungsplatz aus täglich den Ort der Sonnenauf-
gänge verfolgen. Ähnliche Horizont- und Azimut-
z R
87° 9'35'
88° 12' 14'
89° 16' 2 6'
90° 23'43'
beobachtungen sind auch von den Inkas angestellt
worden (Ginzel. Bd. II) (4).
Wenn ich den Beobachtungsfehler so ansetze, daß er
die Grenzen der Azimute einer gerade aufgehenden
und ganz aufgegangenen Sonne einschließt, also rund
± 5' beträgt, so ist er, auch bei Beobachtung mit
bloßem Auge, reichlich bemessen. Die Erbauer von
Tihuanacu haben sich bei der Konstruktion ihrer
Gebäude und sicherlich auch bei Gestirnsbeobachtungen
technischer Hilfsmittel bedient. Verschiedene derartige
Instrumente hat man gefunden und es ist möglich,
daß mit der Deutung der Funde ihre Zweckbe-
stimmung erklärt wird. So z. B. Visiervorrichtungen
bis zu 70 cm Höhe, die mit einem schweren sich
unten verbreiternden Fuß auf bestimmte Punkte auf-
gestellt werden konnten. Ich sah auch Steinquadern,
die kreisrund durchbohrt waren und über derem Bohr-
loch Riefen eingemeißelt waren, die sicherlich zur
Aufnahme eines Visiers nach Art eines „Fadenkreuz-
visieres“ dienten.
s
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
*3*
Bei der Berechnung der Azimute muß eine etwaige Erhöhung des Horizontes durch nahe
hegende Berge berücksichtigt werden. In Kalasasaya sind z. B. von der Mitte der Westwand
aus (s. Fig. 2) die Horizontverhältnisse in südlicher Richtung (über B) andere wie nördlich
über A. Man erhält für das Azimut der in Kalasasaya im Dezembersolstitium (1950) halb-
aufgegangenen Sonne den Wert:
H“ 33-9' (I)
südlich der Ostrichtung, auf Grund der Rechnungsdaten:
Geogr. Breite = —160 34.9'
Deklination = —23° 27.0'
Refraktion = o° 21.8'
Horizonthöhe = o° 16'
Für das Junisolstitium liegt der Aufgangspunkt des Sonnenmittelpunktes:
250 25.2' (II)
nördlich der Ostrichtung, auf Grund der Rechnungsdaten:
Geogr. Breite
Deklination
Refraktion
Horizonthöhe
= —160 34.9'
= + 23° 27.0'
= o° 10.2'
2° 47'
Die Gesamtamplitude der heute (1930) in Tihuanacu aufgehenden Sonne wird daher gleich
(i) + di) =
49« 59.1' (ui)
Die wirklich im Tempel gemessene Amplitude, also der Winkel a in Fig. 2, ist gleich:
a = 490 22.8' (IV)
Die Differenz (III) —(IV), die zwischen der wahren heutigen Sonnenamplitude und dem
gemessenen Winkel a besteht, beträgt 36'. Wir wollen annehmen, daß diese Differenz
durch die Änderung der Schiefe der Ekliptik in der Zeit von der Anlage Kalasasayas bis
zur Gegenwart zu erklären ist, indem wir die nähere Diskussion dieser Frage auf später
verschieben. Wir haben dann also für die Zeit der Erbauung von Kalasasaya statt der
Azimute (I) und (II) Winkelwerte von:
24° 16' (la)
und 250 7' (Ha)
zu nehmen, deren Summe = a und deren Differenz =
(II)-(I) ist.
Von der Entstehung der Sonnenwarte kann man
sich nun folgende Vorstellung machen, die zwar natür-
lich hypothetisch ist, aus der sich aber Folgerungen
ergeben, die mit den Meßresultaten in Einklang stehen: ^oro[ Sud
Jahrelange Beobachtungen der auf- oder unter-
gehenden Sonne lehrten die Priesterastronomen Tihu-
anacus die Wendepunkte der Sonne kennen. Von ir-
gendeinem Beobachtungsplatz P aus fixierten sie z. B.
die Richtungen der Sonnenaufgänge zur Zeit der Sonnen-
wenden und markierten sie schließlich durch monumen-
tale Pfeiler A und B( Figur 4). lugur 4.
. p ... -1 . . ... Die Sonnenaufgangspunkte in den Solstitien
Aus Symmetnegrunden wird man sich bemüht liegen für einen Beobachter im Punkt P in
haben, die Entfernungen AP und BP annähernd gleich
Richtung der Pfeile A resp. B.
19"
132
ROLF MÜLLER
abzustecken, doch liegt meiner Meinung nach kein Grund vor, daß man darauf besonderes
Gewicht legte, da man zunächst vielleicht noch gar nicht die Absicht hatte, dieser rein
astronomischen Anlage einen monumentalen Charakter zu verleihen. Dazu entschloß man
sich vielleicht erst später, und die Entstehung des Tempelbaues war dann durch die drei
Festpunkte P, A, B in folgender Form gegeben:
Zwischen den Eckpfeilern A und B zog man die östliche Wand und legte parallel dazu
durch P die Westwand fest. Dazu senkrechte Wände durch die Ecken A und B vollendeten
den Bau, Wie bei der Besprechung der Tempelausmaße (S. 127) gezeigt wurde, ist diese
Senkrechtstellung nicht ganz gelungen.
Wie lang man auch immer die Entfernungen PA und PB wählt, stets bleibt das Ver-
hältnis der Tempelseiten das gleiche, es entspricht immer dem Spielraum der Sonnen-
aufgangspunkte von Solstitium zu Solstitium. Sind die Horizontverhältnisse in Richtung A
und B die gleichen, und sind die Entfernungen PA und PB genau gleich lang, so ist auch der
Tempel im Meridian orientiert.1 Diese beiden Bedingungen sind indessen nicht streng
erfüllt, so daß man auf Grund der gegebenen Verhältnisse eine Meridianabweichung zu
erwarten hat, die im vorliegenden Falle i° 4' beträgt. Die Verschiedenheit der Horizont-
verhältnisse (die Horizonterhöhung in A beträgt 2° 47', die in B o° 16') allein bedingt eine
Meridianabweichung für Ost- und Westwand von 0.430, der restlich bleibende Fehler:
1.070 —0.430 = 0.640 findet seine Erklärung, wenn man annimmt, daß die Entfernungen
PA und PB (Figur 4) nicht gleich lang abgesteckt wurden; und zwar muß PB etwa um
1.5 Meter länger gewählt sein als PA. Nach Aufbau des Tempels in der angegebenen Weise
kam dann der Punkt P nicht mehr in die Mitte der Westwand zu liegen, sondern lag zwangs-
mäßig um rund 1 m nach Norden verschoben. Hätte man übrigens die Senkrechtstellung
der Wände genau durchgeführt, so wäre diese Verschiebung des Beobachtungsplatzes P
gegen die Mitte fast doppelt so groß geworden. Es ist daher gut denkbar, daß ganz bewußt
diese kleine Abweichung der Eckwinkel von 90° durchgeführt wurde.
Die Sachlage ist demnach so: Der Beobachter in der Westwand mußte, wenn er die
Sonne in den beiden Solstitien über den Eckpfeilern aufgehend beobachten wollte, um rund
1 m von der Mitte der Westwand nach Norden gehen, dann werden die Entfernungen vom
Beobachtungsplatz zu den fraglichen Ecken ungleich lang.2
Infolge der Exzentrizität der Erdbahn wird das Jahr durch die beiden Solstitien und
die beiden Aequinoktien nicht in 4 gleiche Teile von 91.3 Tagen geteilt, sondern die Zwischen-
zeiten sind:
Dezembersolstitium
Märzäquinoktium
Junisolstitium
Septemberäquinoktium
Dezembersolstitium
In der Figur 5 soll der Kreisbogen einen Teil des wahren östlichen Horizontes darstellen.
Die Punkte Wn und Ws sind die Wendepunkte; zur Zeit des Aequinoktiums (Tag- und
Nachtgleiche) geht die Sonne im Osten auf. Infolge der Exzentrizität der Erdbahn durch-
wandert die Sonne die gleichen Strecken Wn, Ae = Ae, Ws in 93,2 resp. 89.4 Tagen (Mittel-
zeiten).
Der Tag des Aequinoktiums hat in der geographischen Breite von Tihuanacu keine
ausgeprägte Bedeutung, da die Tageslängen dort viel weniger variieren als etwa in unserer
Breite. Als Kalenderdaten viel wichtiger sind daher die Tage, die in der Mitte zwischen den
1 Abgesehen von einer sehr kleinen Abweichung, die 2 DieÄnderung, die dadurch der Winkel a (vgl. Figur 2)
durch die Refraktion bedingt wird. erfährt, kann vernachlässigt werden, siebeträgtnuro.I,.
j 89.0 Tage
j 92.8 Tage
| 93-6 Tage
| 89.8 Tage
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
133
Ost
Nord ___ Sud
Figur 5.
In ihrer Jahresbahn braucht die Sonne vom nördlichen Wendepunkt (Wn) bis zum Tag des Aequinoktiums (Ae)
93 Tage, zum gleichen Weg von (Ae) bis zum südlichen Wendepunkt (Ws) nur 89 Tage.
Solstitien liegen; es ist dies der 24. März und der 21. September. In den Aequinoktien, also
am 21. März und 23. September, geht die Sonne genau im Ostpunkt des wahren Horizontes
auf, an beiden genannten Tagen offenbar etwas nördlich davon. Wenn man daher den Sonnen-
aufgangspunkt an diesen Tagen des Jahres von unserem Beobachtungsstand P in der
Westwand festlegen wollte, so mußte man ein Markierungsmal jedenfalls (von der Ost-
richtung) nach Norden zu verschieben. Rechnerisch ergibt sich unter Berücksichtigung der
Horizonterhöhung über dem Ostpunkt (i° 34') und der wirklichen Tempelorientierung diese
Verschiebung zu 1.1 Meter gegen die wahre Mitte der östlichen Tempelwand.
Einleitend erwähnte ich, daß sich in der Ostwand die monumentale Freitreppe, ein-
gerahmt von .zwei gewaltigen Pfeilern, befindet. Der Mittelpunkt der Freitreppe liegt nach
meinen Messungen 1.2 m nördlich der Mitte der Wand. Zweifellos ist dies kein Fehlerspiel-
raum, denn jene gewissenhaften Baumeister verlegten ein solches imposantes Bauwerk
sicherlich nicht über 1 m unsymmetrisch. Die obigen Ausführungen zeigen vielmehr be-
weisend genug, daß wir in der verschobenen Freitreppe das Kalendermal für die Mittelzeit
zwischen den beiden Solstitien haben.
Meine hier skizzierten Anschauungen über den Aufbau des Tempels erhalten also durch
die Meßergebnisse Stütze auf Stütze, und man erklärt so, ohne große astronomische Kennt-
nisse vorauszusetzen, zwangsläufig den Aufbau desTempels. Lediglich aus dem Gedanken der
Kalendernotwendigkeit heraus haben die Sonnenpriester von Kalasasaya Erfahrungen und
Beobachtungskenntnisse gesammelt, die dann schließlich zur Anlage des steinernen Sonnen-
kalenders führten.
Bevor ich im folgenden Kapitel Berechtigung und Möglichkeit einer astronomischen
Altersbestimmung behandle, will ich ausdrücklich betonen, daß diesen Betrachtungen die
Voraussetzung zu Grunde liegt, daß wirklich Kalasasaya die Stätte eines alten Sonnen-
observatoriums war. Ich denke, die vorangehenden Ausführungen lassen hierüber kaum
Zweifel zu. Sollten aber, was schwer glaublich ist, die Orientierung oder die Ausmaße des
Tempels rein zufällige sein, so ist auch der Zusammenhang mit dem Jahreslauf der Sonne
ein zufälliger, und die Untersuchungen entbehren dann jeder Grundlage.
3. DIE ASTRONOMISCHE ALTERSBESTIMMUNG.
DieNeigung der Erdbahn (Ekliptik) gegen den Erdäquator (Schiefstellung der Ekliptik),
ist gewissen Schwankungen unterworfen, über deren Größenordnung wir jedenfalls für die
letzte Vergangenheit unterrichtet sind. Mit dieser Variation der Ekliptikschiefe ändert sich
natürlich auch die Größe der Sonnenamplitude in den Solstitien. Es ist also durch Vergleich
der in dem Tempel gegebenen und der heutigen Amplitude der Sonnenaufgangspunkte
zwischen den Solstitien ein Weg gegeben, das Alter des Gebäudes abzuleiten.
Wie bereits erwähnt, hat Posnansky in vielen Arbeiten sich mit dieser Frage beschäftigt.
Im Jahre 1926 erschien ein größeres Werk von Imbelloni ,,La Esfinge Indiana“ (Die Indianer-
Sphinx)^), in dem der Verfasser auch Stellung nimmtzur astronomischen Altersbestimmung
Kalasasayas. Imbelloni übt scharfe Kritik an den Ansichten Posnanskys und kommt zu
‘34
ROLF MULLER
dem Schluß, daß nicht nur dessen ganze Rechnungen unsinnig und unhaltbar wären,
sondern daß wohl überhaupt eine Altersbestimmung auf astronomischer Basis unmöglich sei.
Gewiß ist an den frühesten Arbeiten Posnanskys (1912) manche Kritik berechtigt und
Imbelloni zeigt mit Recht, daß auf solcher Grundlage einer astronomischen Altersbestim-
mung keine Berechtigung zukommt. Posnansky hat hier, ich möchte sagen, erste Arbeits-
hypothesen gegeben, die in seinen späteren Veröffentlichungen aus dem Jahre 1924 (siehe
Literaturübersicht) modifiziert und berichtigt wurden. Diese Arbeiten Posnanskys übergeht
Imbelloni in seiner ,,Esfinge Indiana“.
Wenn man schon diese astronomischen Fragen und Probleme, die Imbelloni auffallend
oft elementar, einfach und bekannt nennt, diskutiert, dann soll man sie vorerst einmal
gründlich studieren. Manche Mißverständnisse und falsche Vorstellungen z. B. über das
Vorrücken der Aequinoktialpunkte und die Variation der Schiefe der Ekliptik wären dem
Autor dann nicht unterlaufen. Wenn man, wie es Imbelloni tut, Fragen, die das Wesentliche
nicht treffen, an eine astronomische Autorität stellt, so ist deren richtige Beantwortung
keineswegs beweisend! Wie wenig zutreffend Imbellonis Ausführungen sind, geht aus
folgendem hervor: Er errechnet das Winkelmaß, das aus dem Seitenverhältnis der Tempel-
seiten folgt (Winkel a Fig. 2). Hierbei setzt er die längere Seite nicht gleich 129 m, sondern
gleich 135 m, das ist also das Maß der längeren Tempelseite einschließlich des Erkervor-
sprunges der Westwand der III. Periode; der so erhaltene Winkelwert, der natürlich kleiner
ausfällt, wird dann von Imbelloni mit der heutigen Schiefe der Ekliptik verglichen und es
wird bei dieser Überlegung dann noch vergessen, den Polhöheneinfluß zu berücksichtigen,
der um 2.20 beträgt!
Eine solche Kritik an den ersten Versuchen Posnanskys, bei denen noch die nötigen
Beobachtungsdaten fehlten und die Problemstellung noch nicht gründlich durchdacht war,
ist an sich natürlich völlig belanglos, da aber meines Wissens diese Arbeit Imbellonis die
einzige ist, die sich neben Posnanskys Veröffentlichungen mit dem Fragenkomplex der
Altersbestimmung beschäftigt, sollte sie hier nicht unerwähnt bleiben.
S
2ï° 20'
?y 101
2‘1° 00'
23° SO1
23° W
23° 30'
23*20'
23° 10'
23°00 '
1i> IS 1t 13 12 11 10 9 8 7 6 5 t 3 2 1 0 1 2 Jahrtausende
Figur 6.
Wie schon eingehend erörtert, ist die Schiefe der Ekliptik nicht konstant, sondern sie
ändert sich zur Zeit um einen jährlichen Betrag von etwa 0.5” (Bogensekunden). Die
neuesten Untersuchungen zeigen, daß sich die Änderung der Schiefe der Ekliptik am besten
durch folgende Formel darstellen läßt:
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
1 35
e = 23°27' 8.26" — 468.44" t — 0.60" t2 + 1.83" t3 1
(Formel der internationalen Ephemeridenkonferenz in Paris 1911). Es ist t in Tausenden
von Jahren gerechnet, t = o im Jahre 1930 n. Chr.
Wenn man mit dieser Formel die Schiefstellung der Ekliptik für die vergangenen Jahr-
tausende berechnet, so kann man die erhaltenen Werte in einer Kurve darstellen wie sie
Figur 6 zeigt (ausgezogene Kurve). Danach hat mit einem Wert s — 24°i5' um 7000 vor
Chr. die Schiefe der Ekliptik ihren größten Wert erreicht. Es ist interessant, einmal die
geschichtlich einigermaßen verbürgten Daten früherer Bestimmungen der Ekliptikschiefe s
zu betrachten, die ich aus dem Handbuch der Astronomie von R. Wolf entnahm. (6) Die
Schiefe der Ekliptik war danach:
Autor Ort Zeit 0
Tschou-Kung China um 2100 v. Chr. 230 54.0'
Eratostenes Alexandrien um 220 v. Chr, 23° 45-1'
Albategnius Damaskus 879 n. Chr. 23° 357'
Ulugbegh Samarkand 1437 n. Chr. 23° 3d8'
Bradley Greenwich 1750 n. Chr. 230 28.3'
Diese Werte sind in dem gegebenen Diagramm Figur 6 eingezeichnet (o); man sieht, daß
die Abweichungen gegen die Kurve nicht unbeträchtlich sind. Man muß aber auch bedenken,
daß besonders die ältesten Überlieferungen und Wertangaben für die Schiefe der Ekliptik
als recht unsicher zu werten sind. Die dargestellte Variationskurve hat also strenge Gültig-
keit nur für ein zeitlich kleines Intervall, als Extrapolationskurve für große Zeiträume
kommt ihr nur bedingt Geltung zu.
Ändert man in der Variationsformel den Faktor von t3 in 4.2 um, so verläuft die so
errechnete Kurve (gestrichelt) durch das älteste chinesiche Datum.2
Vergleicht man die in dem Tempel enthaltene Amplitude (s. S. 128) von
49° 23'
mit dem für 1930 gültigen Werte von
49° 59'
so ergibt sich eine Differenz von 36', deren Hälfte 18' beträgt. Die mittlere Schiefe der Eklip-
tik ist
s (1930) = 230 27',
so daß wir für die Zeit der Erbauung von Kalasasaya einen Wert von
anzunehmen hätten.
e (Tih) = 230 9'
Wir wollen zunächst rein formell den Gedankengang der Altersbestimmung weiterver-
folgen, haben also den Schnittpunkt der beiden Kurven mit dem Wert s (Tih.) = 230 9'
aufzusuchen; es ergeben sich dann für das Alter von Kalasasaya die beiden Werte:
Aus Kurve 1: Rund 15000 v. Chr.
Aus Kurve 2: Rund 9500 v. Chr.
Diese Zahlenangaben haben, wie ich nochmals betonen möchte, nur formelle rech-
nerische Bedeutung, ich möchte aber ganz allgemein die Aufmerksamkeit auf folgende
Tatsachen lenken;
Diese Formel gibt die mittlere Schiefe der Ekliptik. Die
wahre Schiefe der Ekliptik berücksichtigt noch den
Nutationsbetrag, dessen Größe von der Länge des
aufsteigenden Mondknotens und der Sonnenlänge
abhängt. Es ergeben sich daraus kurzperiodische
Schwankungen, deren Wert heute nicht größer als
= 0.2' wird und für die folgenden Überlegungen daher
nicht in Betracht kommt.
Diese Änderung des kubischen Faktors von t ist
natürlich sehr willkürlich, und die neue Kurve erhält,
wegen der Unzulänglichkeit der Überlieferung, durch
das chinesische Datum keineswegs feste Stütze.
136
ROLF MÜLLER
1. Unsere Arbeitshypothese ergibt, daß um die Zeit der Entstehung des Tempels
Kalasasaya die Schiefe der Ekliptik kleiner war als die heutige. Der Unterschied
beträgt rund 20'.
2. Die Schiefe der Ekliptik, deren Wert heute (1930) 230 27' beträgt hat in historischer
Vergangenheit größere Werte gehabt. Sicher verbürgt können wir aussagen, daß
um 2000—3000 v. dir. die Schiefe der Ekliptik eine Winkelgröße zwischen 230 50'
bis 240 o' hatte. Mit den Werten s zwischen 240 o' und 240 3' wird der Winkel
zwischen der Ebene der Erdbahn und dem Erdäquator seinen größten Wert
erreicht haben und in praehistorischer Vergangenheit kleiner gewesen sein.
Wenn man die sehr wenig wahrscheinliche Annahme macht, daß etwa vor 4000 v, Chr.
die Schiefe der Ekliptik aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen rapide zunahm, d. h.
also die Kurve damals viel steiler anstieg als in unserer Figur angegeben, so wird der Schnitt-
punkt einer solchen sehr hypothetischen Kurve mit dem s Tih. = 230 9' immerhin als untere
Grenze für Kalasasaya einen Wert zwischen 5000—6000 v. Chr. geben.
Bevor ich im folgenden Abschnitt noch weitere Bedenken kritisch diskutiere, möchte ich
zusammenfassend das Ergebnis folgendermaßen formulieren:
,,Die heutigen Kenntnisse über dieÄnderung der Schiefe der Ekliptik,
die extrapolatorisch auf einen großen Zeitraum angewandt werden,
geben unter gewissen eingehend diskutierten Arbeitshypothesen für den
Sonnentempel ein ungeheures Alter.“
,,Es muß angenommen werden, daß die Epoche von Kalasasaya spätestens um 6000
vor Christi Geburt liegt, ein noch größeres Alter ist wahrscheinlicher.“
Ein Einwand, welcher sich gegen dieAltersbestimmung erheben läßt, ist der, daß der Be-
obachter nicht genau in der Westwand selbst seinen Beobachtungsplatz gehabt zu haben
braucht. Wir führen damit natürlich eine gewisse Willkür ein, denn die Erbauer hätten dann
nicht mehr die Umgrenzung des Tempels dem Sonnenlauf angepaßt.
Die Frage ist insofern von Bedeutung, als etwa 5 m von der Mitte der Westwand der
IE Periode entfernt ein größerer Steinblock liegt, der in Bild 6 wiedergegeben ist. Die Lage
Bild 6. Der Steinblock.
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
I37
des Steines, dessen Dimensionen 2.75 X 2.05 m betragen, ist aus dem im Anhang gegebenen
Plan ersichtlich. Die Entfernung von der Mitte des Steines zur Westwand der II. Periode
beträgt 5.4 m. Es muß in Erwägung gezogen werden, ob nicht dieser Stein ehemals die
Beobachtungsplattform für die Sonnenbeobachtungen war. Es ist möglich, daß der Block,
der durch Ausgrabungen freigelegt wurde, verschoben worden ist, jedoch kann es sich wohl
nur um geringfügige Beträge handeln.
Steht der Beobachter nicht in der Westwand, sondern innerhalb des Tempels, so wird
der Winkel a, dessen Wert für die Altersbestimmung maßgebend ist, größer (Figur 7).
Jedem Wert a ist nach den vorangehenden Ausführungen ein Wert s (Schiefe der Ekliptik)
zugeordnet. In der folgenden Übersicht sind nun für drei verschiedene Beobachtungspunkte
die Werte von oc, s und das aus der Variationsformel der Schiefstellung folgende Alter
zusammengestellt:
Beobachter a £ Alter um
1. In der Westwand 49° 23' 23° 9' 15000 v. Chr,
2. Innerhalb des Tem-
pels, Entfernung 49° 59' 230 27' 1930 n. Chr.
a = 1.8 m
3. Innerhalb des Tem-
pels, Entfernung a = 51° 10' 24o 6' 4000 und 10000
5.4 m (Steinblock) v. Chr,
für 1. s kleiner und für 3. £ größer Ost
ist als zur Jetztzeit 2., mit s = 240 6' ergeben sich
zwei Schnittpunkte mit der Variationskurve (2 Zei-
ten). Die in der Größenordnung naheliegenden hohen
Alterswerte von 15000 resp. 10000 dürfen natür-
lich nicht beweisend in Zusammenhang gebracht
werden; jede der beiden entsprechenden Hypothesen
schließt unbedingt die andere aus.
Ich selbst glaube nicht, daß der Steinblock der
Beobachtungsplatz war, und ich meine, daß die im
vorangehenden Abschnitt dargelegte Erklärung und
Nord
Süd
Figur 7.
Deutung der Meßdaten recht sehr für die erste Der winkel * Sr8ß“. wen" ei" Beobachter
0 . innerhalb des Tempels steht.
Hypothese spricht.
Es sei hier erwähnt, daß Posnansky (I. c.) auf Grund seiner geologischen und paläon-
tologischen Studien glaubt, ein sehr hohes Alter für die Erbauung des Sonnentempels
annehmen zu müssen. Uhle tritt den Ansichten Posnanskys keineswegs bei. (7)
Mauerreste innerhalb Kalasasayas lassen erkennen, daß man hier terassenförmig
absteigend ein „Sanktissimum“ schuf. Für dieses Sanktissimum ist vermutlich der schon
in der Einleitung erwähnte zweifach geteilte Block (wohl zu unterscheiden von dem früher
besprochenen Beobachtungspunkt), den ich im Folgenden ,,Beobachtungsstein“ nennen
möchte, von Bedeutung gewesen. Er liegt an der höchsten Stelle des Tempels, etwas außer-
halb der Mitte, seine Südkante liegt in der Mittellinie des Gebäudes; es ist denkbar, daß
nach Süden noch eine Fortsetzung des Steines gelegt werden sollte oder auch vorhanden
war.1
1 Es ist kaum glaublich, wieviel kostbares bearbeitetes
Steinmaterial zur Zeit und nach der Zeit der Konquista
von den spanischen Eroberern zum Bau von Kirchen
und Dörfern entwendet wurde. Auch die heutige
20 Baessler-Archiv.
ROLF MÜLLER
138
Die NO-Ecke des Sanktissimum wird durch einen großen Eckpfeiler gebildet, der heute
das einzige noch erhaltene Monument dieses Baues ist. (Bild 7.) Vom Beobachtungsstein
sollte sicher auch dieser Eckpfeiler ein bedeutsamer Punkt für Sonnenbeobachtungen
darstellen. Dieser Eckpunkt hat von der Mitte des Beobachtungssteines aus ein Azimut von;
24° 38' 0)
nördlich der Ostrichtung. Die Höhe des Horizontes ist hier i.6°, das ergibt für die im Juni-
solstitium 1930 auf gehende Sonne (Mittelpunkt) ein Azimut von:
24° 59-3' (b)
nördlich der Ostrichtung. Der heutige Wert der Schiefstellung der Ekliptik s (1930) ist;
230 27.0' (c)
Der Einfluß der Polhöhe, der Refraktion und der Horizonterhöhung auf dieses Rechen-
datum ist also gleich der Differenz A — (b) — (c).
A = i° 32'
Ziehen wir diese DifferenzA von (a) ab, so erhalten wir für das s (Sanktissimum) den
Wert:
e(S) = 2f 6'.
Dieser Wert stimmt fast genau mit dem früher gefundenen überein (230 9') und gibt
also auch für das Alter den so beträchtlich hohen Wert,
- Sit
Eir-
90
4. DIE ERKERWAND AUF DER WESTSEITE DES SONNENTEMPELS.
Sorgfältig, fast schnurgerade ausgerichtet, stehen in sehr regelmäßigen Abständen im
Westen des Sonnentempels 10 große Pfeiler, welche die Erkerwand der III. Periode bilden
(Vgl. auch Bild 2). Die Figur 8 zeigt die Lage dieser Steine und ihre Orientierung zum Beob-
achtungsstein B. Der Pfeiler 9 liegt am Boden, er sollte noch errichtet werden oder ist
später umgestürzt worden. Zwischen dem gewaltigen Mittelpfeiler 5 und Pfeiler 4 fehlt ein
Block; entweder hatte man ihn noch nicht fertiggestellt, oder er ist, wie so Vieles, später
n zum Bau von Kirchen, Brücken
X^rCW-T tiJn----9.75-9.80-T t.80 *r HO---»i m r i . j tv
| 11 U 1 usw. verschleppt worden. Die
^ E2T uia-----~"W&-^^m . 1 •
7 S 9 90 Erkerwand ist, wie man aus
Mauerresten erkennt, auf der
Südseite über den Pfeiler 1 hin-
aus noch fortgesetzt worden.
Die Ecken Ex und E2 lassen
sich durch Proj ektion noch recht
genau festlegen. (E2 ist der Eck-
punkt der vor springenden Wand
mit der Westwand der II. Pe-
riode). Es scheint mir wahr-
scheinlich, daß man in Ex einen
Pfeiler errichtet hat oder errich-
ten wollte. Da die in Figur 8
gegebenen Abstände von Mitte
zu Mitte der Pfeiler rechnen,
stimmt auch die gemessene Di-
/7 Periode
B
Figur 8.
Lage und Orientierung der 10 Pfeiler der Erkerwand im Westen des
Sonnentempels.
Kultur hat diesem Rauben keinen Einhalt geboten,
rollt doch die neueste Errungenschaft unserer Kultur,
die Eisenbahn La Paz—Guaqui durch Bahnhöfe, über
Brücken und Bahnübergänge, die fast ausschließlich
aus Steinen und Monolithen Tihuanacus gebaut wurden.
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
1 39
stanz von 5.14 m zwischen Pfeiler 1 und Ex in die Regelmäßigkeit der Pfeilerabstände,
wenn man nur annimmt, daß dieser Eckpfeiler Ex 60 bis 70 cm Breite hatte. Die Breiten-
dimensionen der 10 Pfeiler schwanken etwa zwischen 40 und 200 cm.
Man hätte meinen können, daß aus Symmetriegründen auch über den Pfeiler 10 hinaus
nach Norden ein weiterer Ausbau vorhanden war. Ausgrabungen, die ich zur Entdeckung
von alten Fundamenten hier vornahm, führten zu keinem Resultat.
Für einen Beobachter in der Mitte des Beobachtungssteines B bietet daher der Aufbau
der Pfeilerreihe einen durchaus unsymmetrischen Anblick. Merkwürdig ist dabei, daß die
Amplitude des Winkel zwischen Pfeiler Ex und 10, gemessen vom Beobachtungsstein B aus,
49» 18' (i)
beträgt, ein Wert, der fast genau mit dem für das Kalasasaya der II. Periode gefundenen
von 490 22.8' übereinstimmt vgl. (S. 131). Da von B aus die Richtung nach Westen hart an
der Nordkante des großen Mittelpfeilers vorbeiweist, und demnach Ej^ und Pfeiler 10 ganz
unsymmetrisch zu dieser Richtung liegen, kann der Beobachtungsstein nicht etwa der Ort
für Beobachtungen des Sonnenunterganges gewesen sein. Dagegen ist es sehr plausibel, daß
man von B aus Mondbeobachtungen anstellte, und das ist folgendermaßen zu erklären:
Die Mondbahn ist um 50 8.2' gegen die Erdbahn (Ekliptik) geneigt, so daß also die
Neigung der Mondbahn gegen den Erdäquator zwischen den Grenzen z (Schiefe der
Ekliptik) ± 5° 8.2' schwanken kann.1 Um die Jetztzeit [£(1930) = 23° 27'] sind diese Grenzen:
a) 28° 35'
b) 180 19'
Der Zyklus, in dem sich diese Variation der Mondbahnneigung gegen den Erdäquator,
vom größten Neigungswert a) über den kleinsten b) bis wieder zum größten a), abspielt,
beträgt 18 Jahre. Jnnerhalb von 9 Jahren verschiebt sich also der extreme Auf- oder Unter-
gangsort des Mondes um beträchtliche Weiten am Horizont (mehr als io°).
Den alten Beobachtern in Tihuanacu sind natürlich die Maximal- und Minimalampli-
tuden der Monduntergänge nicht unbekannt geblieben, und es ist denkbar, daß man den
untergehenden Mond bei der größten Bahnneigung a) über der Ecke Ej beobachtete, im
Norden aber durch den Pfeiler 10 die Untergangsrichtung bei der kleinsten Bahnneigung b)
markiert war. Unter Berücksichtigung der Horizonterhöhung und der Refraktion sind vom
Beobachtungsstein B aus die Azimute des heute (1930) untergehenden Mondes:
a) Richtung über Ex
(größte Bahnneigung)
b) Richtung über Pfeiler 10
(kleinste Bahnneigung)
(ii)
(ui)
Die Amplitude für die beiden betrachteten Momente, also Winkel (11) ff- (HI), wird
gleich; 48° 25' (IV)
Im Sinne einer Altersbestimmung wäre dieser Wert mit der gemessenen Amplitude
(I) von 490 18' (I)
zu vergleichen: Die Werte (I) — (IV) ergeben eine Differenz von 53', deren Hälfte 26.5'
beträgt. Die Größe der Neigung der Ekliptik würde sich damit aus der Erkerwand ergeben zu
s (III. Per.) = 230 53'.
Die Epoche würde also im ersten bis zweiten Jahrtausend v. Chr. liegen. Hervorzu-
heben ist aber, daß jedenfalls von der Mitte des Beobachtungssteines aus die Mondazimute
(II) und (HI) nur in grober Annäherung mit den wirklich vorhandenen (gemessenen) über-
1 Diese Neigung der Mondbahn ist geringfügigen kurz- 40 59' bis 50 18', aber keinen säkularen Veränderungen
periodischen Schwankungen innerhalb der Grenzen unterworfen.
ROLF MULLER
1 40
einstimmen (vgl. Fig. 8). Ich betone ausdrücklich, daß bei Annahme unserer Hypothese
der oben durchgeführten Altersbestimmung daher nur wenig Gewicht zukommt.
Das Wesentliche, was uns obige Betrachtung lehrt, ist, daß im Gegensatz zu den Re-
sultaten für den eigentlichen Sonnentempel (II. Periode), hier, für die weit besser erhaltene
Erkerwand (III. Periode), sich ein Wert für die Schiefe der Ekliptik ergibt, der größer ist
als der gegenwärtige, woraus also ein jüngeres Alter für diese Bauperiode resultiert.
Die merkwürdige Asymmetrie der vorspringenden Wand im Westen zum eigentlichen
Tempelbau findet durch die vorstehende Betrachtung eine gute Erklärung. Die nicht so
genaue Übereinstimmung von Rechnung und Beobachtung mag durch die Schwierigkeit
der Beobachtungen des Mondes in seinen verschiedenen Phasen und auch durch die kurz-
periodische Variation der Neigung bedingt sein. Als ganz besonders erschwerend kommt noch
der Umstand hinzu, daß der Mond seine extremen Untergangspunkte nur in Intervallen von
18 Jahren erreicht.
Die Erkerwand der III. Periode zeigt eine Meridianabweichung von 0.70, sie verläuft
ebenso wie die Seiten des Haupttempels, östlich des Meridians, wenn der Beobachter
nach Süden blickt.
4. MESSRESULTATE FÜR ANDERE GEBÄUDE TIHUANACUS.
Das Gebäude der ersten Periode (Übersichtsplan A) zeigt eine Meridianabweichung
von: 2° 50',
und zwar weicht dieser Palast um diesen Betrag bei Blickrichtung nach Süd westlich ab.
In derselben Richtung sind auch die Stützmauern des künstlichen Berges Akapana (D)
orientiert. Verwunderlich ist, daß auch die Ruinen von Puma-Puncu, die etwa 1 km süd-
westlich von Kalasasaya liegen, dieselbe Orientierung aufweisen. Für Puma-Puncu ergab
sich eine westliche Meridianabweichung von 2.70. (Wert ungenau, aus Sonnenbeobachtungen
bei ungünstiger Witterung). Die gleiche Orientierung der drei Bauwerke kann eine zufällige
sein; vielleicht hat hier aber eine Absicht Vorgelegen, diese Gebäude gleich zu orientieren,
deren rätselhafter Zweck heute wohl kaum mehr aufzuklären sein wird. Jedenfalls muß
bei solcher Annahme die Feldmeßkunst hoch ausgebildet gewesen sein.
Wie schon erwähnt, läuft die Erkerwand der III. Periode 0,7° östlich des Meridians;
der noch ganz unvollendete Palast westlich des Sonnentempels (Ubersichtsplan C) zeigt
etwa dieselbe Abweichung von 0.70 im gleichen Sinne.
LITERATURÜBERSICHT.
1. Posnansky: Guia general ilustrada, Tihuanacu é
Islas del Sol y la Luna. La Paz, 1912. — El gran
templo del Sol en los Andes. •—: La edad de Tihua-
nacu. — Astronomía prehistórica. Boíl. Soc. geogr.
de La Paz. Nr. 45, S. 36-—46, 1918.
2. Posnansky; Kulturvorgeschichtliches und die astro-
nomische Bedeutung des großen Sonnentempels von
Tihuanacu in Bolivien. ,,Das Weltall“. Jahrgang 24,
Heft 2, 1924.
Desgl. Conférence faite au Congrès intern, des
Américanistes, Session de la Playe 12—16 août
1924.
3. Posnansky: Eine praehistorischeMetropole in Süd-
amerika. (Una Metrópoli prehistórica en la América
del Sud). Bd. 1. Verlag von Dietrich Reimer (Ernst
Vohsen). Berlin 1914.
4. Ginzel: Handbuch der mathematischen und tech-
nischen Chronologie. Das Zeitrechnungswesen der
Völker. Bd. 2. Leipzig 1911. J. C. Hinrichs’sche
Buchhandlung.
3. Imbelloni: La Esfinge Indiana. Buenos Aires 1926.
El Ateneo, Libreria cientifica y literaria.
6. Wolf, R.: Handbuch der Astronomie, ihrer Geschichte
und Litteratur. Zürich 1890. Verlag F. Schulthess.
7. Stübel u. Uhle: Die Ruinenstätte von Tihuanacu.
Leipzig. W. Hirsemann. 1892. Siehe auch Posnansky:
„Ein paar Worte der Kritik über Stübel und Uhles
Tiahuanaco. Berlin 1913. Dietrich Reimer (Ernst
Vohsen).
DER SONNENTEMPEL IN DEN RUINEN VON TIHUANACU
141
W
Plan i: 1000 vom Sonnentempel Kalasasaya.
ANHANG.
(Erläuterung zum Plan 1:1000 vom Sonnentempel Kalasasaya).
El5 10: Erkerwand auf der Westseite mit den 10 großen Pfeilern; m: Mittelpfeiler.
MM; Mittellinie durch den Tempel.
B: Beobachtungsstein in der Westwand des „Sanktissimums“. Die Mitte des Beobach-
tungssteines liegt um etwa 0.8 m nördlich der Mittellinie.
W: Westrichtung von der Mitte des Beobachtungssteines aus.
0: Ostrichtung von der Mitte des Beobachtungssteines aus.
So; Platz, an dem man das umgestürzte Sonnentor fand. (Das Sonnentor steht an der-
selben Stelle heute auf gerichtet).
F: Freitreppe. Die exzentrische Lage des Mittelpunktes der Freitreppe beträgt 1,18 m
nördlich M.
Heutige Anzahl der Pfeiler, die die Umgrenzung des eigentlichen Sonnentempels Kalasasaya
bilden;
Südseite; 27 Pfeiler.
Ostseite: 22 Pfeiler
Nordseite: 32 Pfeiler.
Westseite: Etwa 10 Pfeiler.
Sanktissimum: Die eingezeichneten Pfeiler a bis d und der Eckpfeiler E3 sind trigono-
metrisch genau festgelegt und entsprechend eingezeichnet, sie bilden die höchste Außen-
umwandung des Sanktissimums. Nach der Mitte zu abfallend sind noch sehr spärliche
Reste zweier weiterer Mauerumgrenzungen zu finden.
ROLF MÜLLER
SCHLUSSWORT.
Während der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschien in den Annalen der „Socie-
dad científica de Bolivia“. Tomo I. Año I. (1930) eine Arbeit: „El Concepto Astronómico del
gran Observatorio solar Kalasasaya de Tihuanacu.“ von Dr. Rolf Müller. Die Arbeit ist
eine Übersetzung eines ersten Manuskriptes, das ich noch vor Abschluß meiner Arbeiten
in Tihuanacu schrieb. Die Veröffentlichung dieses Manuskriptes geschah ohne mein Wissen
und Wollen. Die dort mitgeteilten Resultate stehen in Übereinstimmung mit den hier
veröffentlichten, jedoch war damals die Problemstellung noch nicht so klar gezeichnet,
so daß ich durch die vorliegende sehr viel umfangreichere Studie nicht eine Wiederholung,
sondern eine wesentliche Erweiterung in der Behandlung der fraglichen Materie gebe.
INHALT.
Einleitung..................................................................... 123
1.. Beschreibung der Ruinen von Tihuanacu ..................................... 123
2. Astronomische Probleme und Meßresultate..................................... 127
3. Die astronomische Altersbestimmung.......................................... 133
4. Die Erkerwand auf der Westseite des Sonnentempels.......................... 138
5. Meßresultate für andere Gebäude Tihuanacus ................................ 140
Literaturübersicht............................................................. 140
Anhang (Erläuterung zum Plan 1:1000 vom Sonnentempel Kalasasaya)............... 141
Schlußwort..................................................................... 142
EIN KALENDER AUS BALI
(TIKA)
VON ALFRED MAASS.
Die grundlegenden Bedingungen, welche den Menschen die Möglichkeit gaben, die Zeit
in Abschnitte zu teilen, finden wir bereits in jenen Zeiten, welche uns bis auf die ersten
Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft zurückführen. Schon damals machte
sich das Bedürfnis nach einem Zeitmaß und für die nacheinander folgenden Erscheinungen
geltend. Diese beiden Tatsachen führen uns zu dem Ergebnis, daß es in früheren Zeiten
bereits primitive Völker gegeben hat, welche die natürlichen Zeitmaße zu regeln oder mit
einander zu vereinen wußten. Die nach diesen Richtungen hin angestrebten Bemühungen
ergaben wiederum eine neue Phase in der Entstehung des Kalenders, nämlich die verschiedene
Ausgestaltung in der Bildung des Jahres.
Betrachten wir als Fundamentalgedanken allen Kalenderwesens die Bewegung als den
Maßstab der Zeit, und zwar die gleichbleibenden Bewegungen der Gestirne oder vielleicht
besser gesagt, die aus ihnen sich ergebenden Erscheinungen, dann gelangen wir zu dem
Schluß, daß diese es waren, die geradezu die Menschen prädestinierten, sie als Wegweiser
für das Zeitmaß zu benutzen.
Drei Bewegungen mit ihren Folgeerscheinungen sind es, die sich bei der Entstehung des
Kalenders uns von selbst aufdrängen, ohne sie wäre sein Dasein nicht gut möglich :
1. Die Rotation der Erde um ihre Achse, sie bedingt den Wechsel von Tag und Nacht,
2. Die Bewegung des unserer Erde am nächsten stehenden großen Himmelskörpers,
des Mondes, um die Erde, mit seiner immer wechselnden Scheibe, einmal sehen
wir sie als feine Sichel, einmal zeigt sie uns den ganzen keuschen Glanz ihres
Lichtes. Er schuf die Einteilung in Mondmonate und Jahre.
3. Den Lauf der Erde um die Sonne, ihm verdanken wir den Wechsel der Jahres-
zeiten.
Wie wir bereits oben angedeutet haben, war seit den frühesten Zeiten der Kultur das
Bestreben vorhanden, diese drei Maßeinheiten untereinander auszugleichen. Sie schufen das
Mondsonnenjahr. Eine andere Richtung, nämlich den Tag durch den Lauf der Sonne und
des Mondes zu regeln, brachte den Menschen das Sonnen- und Mondjahr. Diese lapidaren
Bemerkungen vorausgeschickt, mögen ein Hinweis für die Anfänge des Kalenders in seinem
Urzustand sein.
Seit Jahrhunderten bestehen kulturhistorische Beziehungen zwischen Java und Bali,
die auch auf die Kalenderkunde nicht ohne Wirkungen geblieben sind, da die Chronologie
der Insel Bali Verwandtschaftliches zur altjavanischen Zeitrechnung hat.
Gehen wir jetzt auf die Entstehung des balinesischen Tages- und Wochen-Kalenders,
tika, näher ein, wie er sich seit den ältesten Zeiten bis heute entwickelt hat. Die Urbevölke-
rung der Insel Bali, die Bali-Aga, von denen sich noch heute geringe Reste auf der Insel
befinden, dürfen wir nach ihren Sitten und Gebräuchen zu den Stammesgenossen der Malayo-
Polynesier oder wie Pater W. Schmidt es für richtiger hält, zu den Austronesiern zählen,
während die Mehrzahl der heutigen Bewohner von Einwanderern aus Madjapahit, d. h.
Leuten, die aus diesem einst berühmten Hindureich auf Java stammen, oder ihre Abkunft
144
ALFRED MAASS
Von dort herleiten. Diese Abkömmlinge aus Madjapahit sind aus einer Vermischung der
autochthonen Bevölkerung Javas mit indischen Elementen vom Festlande, die ursprünglich
im Hochlande von Dekkan saßen, entstanden. Sie brachten den Hinduismus mit und die hohe
Kultur Indiens, die sich namentlich im 8.—9. Jahrhundert auf Java so glänzend zu ent-
wickeln wußte. Für das Kalenderwesen führten diese neuen Ankömmlinge aus Mittel-Java,
als geistiges Eigentum ihrer Urheimat, das Lunisolarjahr und das Rechnen nach Cakajahren
mit sich, doch finden beide nur wenig Anwendung.
Zur Zeit als der Islam auf Java Ende des 15. Jahrhunderts immer weitere Strecken
unter das Wort des Propheten zu zwingen wußte, und als dann Anfang des 16. Jahrhunderts
der Fall von Madjapahit sich ereignete, drängten Flüchtlinge dieses großen Hindureiches
nach Bali hinüber. Aus diesem Grunde finden wir also auf der Insel Bali die bereits oben
bezeichneten zwei Rassen. Der Zusammenstoß dieser beiden Völkerschaften führte natur-
gemäß nach zwei Richtungen hin Einflüsse mit sich, die wesentlich bei der Entstehung des
Kalenders mitwirkten und die hier zu berücksichtigen sind. Ich meine das malayo-poly-
nesische und hindujavanische Element, das sich in dem Kalender widerspiegelt.
Von den Malaie Polynesiern wissen wir, daß bei ihnen seit alten Zeiten nach Nächten
gezählt wurde, wie dies Wilken, G. A., (i) 1886 in seiner Abhandlung: ,,Het teilen bij nachten
bij de volken van het Maleisch-Polynesische ras“, mitteilte.
Auch in Tacitus Germania können wir bereits im XI. Kapitel lesen: ,,Die Germanen
zählen nicht nach Tagen, sondern nach Nächten; so wird verabredet, so anberaumt; erst
kommen die Nächte, dann der Tag.“
Dieses ursprüngliche Zählen nach Nächten bemerken wir natürlich auch bei anderen
Völkern der malaiischen Inselwelt. Aus ihm ist seit alters her allein auf Java eine rein
einheimische Zeitrechnung hervorgegangen, deren deutliche Kennzeichen noch heute auf
Java und Bali in der fünftägigen Woche, pantjawara, der sogenannten Markt- oder pasar-
Woche wiedergefunden werden.
Diese Verbindung der pantjawara mit der indischen Woche von sieben Tagen, saptewara,
bildet die Grundlage des balinesischen Kalenderwesens. Sie ist von dem Mutterlande Indien
über Java durch die Abkömmlinge von Madjapahit, die Hindujavanen in Bali eingeführt
worden.
Der Balinese von heute benutzt mehrere Arten von Kalendern von denen hier der
Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreskalender, tika, einer eingehenden Beleuchtung ge-
würdigt werden soll. Außer diesem finden wir auf Bali noch einen astrologischen Kalender,
palalintangan und den palubangan, auf welchen mich Herr Assistentresident a. D. H. J.
E. F. Schwartz in Buitenzorg liebenswürdigerweise aufmerksam machte. Auch dieser
Kalender findet namentlich für Wahrsagezwecke Anwendung.
Lassen wir jetzt die Namen derer folgen, welche sich um die Entzifferung des bali-
nesischen Kalenders im allgemeinen und besonderen verdient gemacht haben: R. Friederich
(2), R. van Eck (3) und W. 0. J. Nieuwenkamp (4).
Der hier in Abbildung 1 wiedergegebene Kalender stammt aus Singaradja, Bezirk
Buleleng, der Residentschaft Bali. Ich verdanke dies Stück der Liebenswürdigkeit des
damaligen Kontrolleurs in Singaradja Herrn J. H. W. J. Re. Loogeman, der es mir
1907 anfertigen ließ, als ich Bali bis zum Heiligen Berge Batur besuchte. Seitdem bildet
dieser Kalender ein Stück meiner Sammlung. Erst jetzt wird es mir möglich, mit Hilfe
der schönen ausführlichen Arbeit des Herrn Kunstmalers W. 0. J. Nieuwenkamp in Edam
und der freundlichen Unterstützung des Herrn Direktors Dr. H. H. Juynboll vom Ethno-
graphischen Reichsmuseum in Leiden den Schleier seines Geheimnisses zu lüften. Eine
wertvolle Zusammenstellung über Zeitrechnung bietet auch die tiefschürfende, eingehende
Abhandlung von Dr. G. P. Rouffaer (5), welche bei der Bearbeitung auf dem Gebiete des
EIN KALENDER AUS BALI
T45
Abb. i.
Kalenderwesens nicht unerwähnt bleiben darf, da in ihr das Fundament alles Wissenswerten
für diese Materie niedergelegt ist.
Derartige Kalender, wie der hier zu beschreibende, werden von den Balinesen tika
genannt. Dieses Wort stammt aus dem Sanskrit, wo wir es als ghatikä, einen bestimmten
Tagesteil und der Nacht also als Zeitpunkt wiederfinden, und zwar als den 60. Teil eines
Tages und der Nacht gleich 24 Minuten.
Bevor ich auf die eigentliche Benutzung des Kalenders eingehe, möchte ich von ihm
eine allgemeine Beschreibung vorausschicken. Betrachten wir zu diesem Zweck die an
dieser Stelle beigegebene Abbildung 1.
Der Kalender ist aus einem weißen harten Holz gefertigt, dessen Vorderseite braun
getönt ist. Er wird von einem polychrom behandelten Vogel mit ausgebreiteten Flügeln
bekrönt. Beschauen wir diesen näher, rosafarbige Brustfedern, die schwarz gestrichelt sind,
Kopf mit goldenem Schnabel und Hals grau, auch hier finden wir eine schwarze Strichelung
der Befiederung angedeutet. Die Augen sind schwarz mit rotgeränderter Pupille, die Flügel
in brauner Tönung gehalten, dazwischen Goldtupfen und schwarze Strichelung. Die roten
Ständer dieses Vogels ruhen auf zwei in der Mitte des Kalenders sich vereinigenden goldenen
Blumenranken, welche sich längs der oberen Kante eines vergoldeten Rahmens hinziehen,
in dem die eigentliche Kalendertafel angebracht ist.
Ich bin der Meinung, daß wir es hier dem Aussehen nach mit einer Taube, und zwar
mit einer Feldtaubenart, titiran, zu tun haben, von der R. Friederich (6) in der Usana
Bali sagt :
,,Unter die Verehrung kommen zwei Vögel, mredangga (im Balinesischen titiran)
genannt, eine kleine Taubenart, die auf Bäumen sitzt, die Kulputih vor dem Tempel ge-
pflanzt hat und mit blumenreichen Schlingpflanzen umgab; sie geben einen allerliebsten
Laut von sich. Nachdem diese Vögel, die in der Tat Maha Deva und Dewi Danuh sind, ein
21 Baessler-Archiv.
146
ALFRED MAASS
Wunder hervorgebracht haben, welches Kulputih in große Verlegenheit bringt und ihn auf
seine Frau, die den Tempel.schönhalten muß, böse macht, gehen sie in ihrer wahren Gestalt
als ein Jüngling und eine Jungfrau, in den Tempel sitzen. Jetzt werden sie von Kulputih
gesehen . . . “
Eingeschlossen zwischen zwei Blütenornamenten gelangen wir zu einer Reihe von
30 Fächern, in denen wir einige mit schwarzen und weißen Flornstiften, mit Tieren und
vergoldeten Flächen abwechselnd sehen, auf die ich erst später bei der speziellen Besprechung
des Kalenders eingehen kann. Unter diesen Fächern befindet sich wieder eine vergoldete
Rahmenleiste, welche uns zur Zähltafel des Kalenders führt und sie umrandet. An den
beiden Schmalseiten dieser Tafel sind Blätterornamente zur Verzierung angebracht. Die
Maße des Kalenders sind: die mittlere Höhe 21 ]/2 cm, die Breite 41 cm; die Taube hat eine
Höhe von 7J2 cm und eine Flügelbreite von 24 cm. Die Höhe der Ranken, auf welchen sie
ruht, ist 1 ]/2 cm. Die eigentliche Kalendertafel hat eine Höhe von 12% cm und eine Breite
von 41 cm, ihre Stärke ist 1 ]/2 cm. Vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, ist die
Farbenharmonie in dem ganzen Stück von wohltuender Wirkung auf das Auge des Be-
schauers, auch in der Ausführung sieht man dem Kalender an, daß er mit Lust und Liebe
gearbeitet ist und einen guten balinesischen Eindruck hinterläßt.
Der wichtigste Teil natürlich eines jeden Kalenders von Bali, welcher nach diesem Vor-
bild, wie unser Kalender eingerichtet ist, bildet die Zähltafel, mit der wir uns jetzt aus-
führlich zu beschäftigen haben; sie ist die Seele des Ganzen, aus der Fülle von Gedanken,
Mystik und anmutige Phantasie hervorsprudelt.
Unsere Kalendertafel besteht aus einer größeren Anzahl gleichmäßiger Vierecke oder
Fächer. Bei ihrer Betrachtung finden wir, daß sie in dreißig Kolumnen zu je sieben Fächern
geteilt ist, ebenso wie bei den Bewohnern des Tengger-Gebirges auf Java, welche noch Reste
der damaligen Bevölkerung des alten Reiches Madjapahit bilden. Überhaupt bietet der
Kalender der Tenggeresen einige Zusammenhänge mit demjenigen auf Bali, auf die ich im
Laufe dieser Arbeit noch zurückkommen werde. Diese dreißig Kolumnen bilden die dreißig
Wochen ä sieben Tage des bürgerlichen balinesischen Jahres, das zu zioTagen gerechnet wird.
Eine besondere Eigentümlichkeit im Kalenderwesen der Balinesen ist der Umstand, daß
sie nicht wie wir, nur eine Woche von siebenTagen kennen, sondern mit einer ganzen Anzahl
von Wochen zu rechnen haben.
Um diese Entwicklung der einzelnen Wochen mit ihren Zeichen besser zu verdeutlichen,
habe ich den Kalender in eine Anzahl Abbildungen aufgelöst, die sofort jedem Beschauer ein
klares Bild geben, in welcher Art sich die Anzahl der Wochen auf dem Kalenderbrettchen
auswirkt.
Die verschiedenen Wochen oder wara’s, welche wir bei den Balinesen antreffen, setzen
sich nach der Anzahl ihrer Tage zusammen, so finden wir die:
ekawära von 1 Tag
dwiwära von 2 Tagen
triwära von 3 Tagen
tjaturwära von 4 Tagen
pantjawära von 5 Tagen
sadwära von 6 Tagen
saptewära von 7 Tagen
astewära von 8 Tagen
sangewära von 9 Tagen
dasawära von 10 Tagen
Von diesen Wochen spielen die ekwära und dwiwära bei der Wahrsagerei eine Rolle im
Leben der Balinesen. Die dasawära scheint weniger im Gebrauch zu sein. Ich habe diese drei
Wochen hier nur der Vollständigkeit halber angeführt. Auf dem hier zu beschreibenden
Kalender finden sie keine Berücksichtigung, zumal weder dieses noch jenes Zeichen eine
Andeutung davon gibt.
EIN KALENDER AUS BALI
'47
Die Namen der Wochentage dieser einzelnen Wochen sind folgende:
Ekawära Dwiwära Tri war a Tjaturwära Pantjawära Sadwara Saptëwâra|Astewâra jSangewâra Dasawâra
Luwang Menga Pepet Dora Waja Bjantera^ Sri Laba Djaja 11 Mendala9 Paing Pon Wage Klijon1 Umanis10 Tungleh Arj ang Urukung2 Paniron Was Mawulu3 Redite Tj orna4 Anggara Buda Wrëspati5 Sukra Sanistjara Sri Indra Guru Jama Ludra® Brahma Kala Uma Dangu Dj angur Gigis Nohan Ogan7 Erangan Urungan Tulus Dadi Pandita Pati Suka Duka Sri Manosa R ad ja Dcwa Raksasa Dewata
1 auch Klion oder Kliwon. 2 auch Wurukung. 2 auch Maulu. 4 besser Soma.
5 auch Wrehaspati. 6 besser Rudra. 7 auch Wogau. 8 auch Bjantara.
<J auch mandala. 10 oder Manis. 11 auch daja.
Dagegen sind all die anderen oben angeführten Wochen mit ihren Tagen von Bedeutung
für uns, da sie auf dem Kalender in Erscheinung treten.
Wie bei anderen Völkern, so spielt auch bei den Balinesen die Zahlenmystik eine Rolle.
Aus den in dem Kalender vorkommenden Wochen ist bereits bekannt, daß wir diese in 3,
4, 5, 6, 7 und 9 Tagen antreffen und der Kalender selbst 30 Wochen zählt.
Das eigentlich grundlegende Werk für Zahlenmystik haben die Juden in der Kabbala
geschaffen. Dort findet sich eine fast unerschöpfliche Fülle von Beispielen, inwieweit es
möglich war, den Zahlenaberglauben auszubauen.
Bezüglich der Balinesen liegt dieses Gebiet einfacher und hat namentlich Dr. G. P.
Rouffaer (7) bereits Untersuchungen in seiner „tijdrekening“ angestellt, die ich hier den
Lesern kurz in Erinnerung bringen möchte:
„Die wuku’s, 30 an der Zahl, sind urjavanisch, wie ihre Namen andeuten, wobei „kein
Wort hindostanisch“ ist. . . Davon wird die letzte Watu Gunung, als Papa geehrt, mit den
beiden ersten, den Dewis (Göttinnen) Sintä und Landep, als Frauen, bei denen die erste
Gemahlin, die 27 anderen Nr. 3—29 ... als 27 Söhne geboren werden ... In dieser wuku-
Rechnung erkennt man übrigens die heilige Zahl 3, gerade wie in der pasar-Rechnung die
heilige Zahl 5 in den Vordergrund tritt. Weil aus der 3 nämlich Fürst Watu Gunung mit
seinen 2 Gemahlinnen 27 Söhne geboren werden, d. i. 3 X 3 X 3 !Die abergläubig-astrologische
Neigung der Javanen denkt solche Zahlenzusammentreffen mit wahrer Wollust aus. Daß
die erste 3 seit alten Zeiten die 3 Sterne des „Pfluges“, Orions-Gürtel . . . vorstellen, scheint
so gut als sicher.
Ebenfalls urjavanisch muß die ötägige Woche sein, jav. paringkelan (von ringkel ==
ungünstig), also der Horoskopzyklus. Hier finden wir die heilige Zahl 6 als doppelte Drei,
wahrscheinlich die größten 6 Sterne vom Orion, nämlich die bereits genannten-3 des Gürtels
oder jav. „Pflug“ plus Beteigeuze und Bellatrix (oc, ß und y Orionis), in denen der strahlende
weiße Rigel der gute, der flackernde rote Beteigeuze der böse Geist war . . . Auch in den
offenbar sehr alten Namen der Tage dieser 6tägigen Woche ist „kein Wort hindostanisch“. . .
Aus der Kombination der pasar mit der paringkelan, des 5 tägigen Kreises mit dem Kreis
von 6 Tagen, entstand der urjav. Monat von 30 Tagen. . .
Auch die ptägige Woche muß urjavanisch sein, jav. padangan, eine Art Woche für
den Landmann, bei den Tenggeresen noch wesentlich im Gebrauch, bei den Balinesen
bekannt; es ist die heilige 3X3. In den Namen der Tage ist wiederum „kein Wort hindo-
stanisch“ . . .
„Mit diesem urjav. Sonnenjahr oder Landbaukalender, bei dem 3, 5, 6 und 10 die heiligen
Zahlen waren, verschmolz der Hindu-Kalender, auch in der Hauptsache auf das Sonnenjahr
basiert. Die Hindus brachten die Heiligkeit von 7 und 8 mit. Neben der bereits bestehenden
21
148
ALFRED MAASS
Marktwoche von 5 Tagen entstand die wuku-Woclie von 7 Tagen, der Sonne, dem Mond
und den 5 Planeten geweiht, aus der Kombination der pasar-mit der wuku-Woche entstand
dann wieder der Monat ... von 5X7=35 Tagen, die selapan dinä (,,35 Tage“) der heutigen
Javanen, der heilige Mondkreis ist auch auf Bali noch allzeit in Ehren.“
Machen wir hier den Versuch, soweit es möglich ist, all diese Tagesnamen im Deutschen
zu erklären und bemühen wir uns zu erforschen, in welcher Sprache wir ihren Ursprung zu
suchen haben oder wie sie in einer verwandten Sprache lauten. Ehe ich darauf eingehen kann,
möchte ich an dieser Stelle Herrn Geheimrat Prof. Dr. Grünwedel, Herrn Dr. H. H. Juynboll
und Herrn Prof. Dr. Stönner bestens danken für die mir bei diesen Untersuchungen gewährte
liebenswürdige Unterstützung.
Die eintägige Woche mit dem Tag:
Luwang jav., was jemand anfängt.
Die zweitägige Woche mit den Tagen:
Menga jav. Präsens von pangah, abgebrochen
Pepei ,, , versperren, abschließen
Die dreitägige Woche mit den Tagen:
' Dora, (Kawi, dura), weit weg
Waja jav. bah, bestimmte Stunde des Tages
Bjantera (Bjantara)
Die viertägige Woche mit den Tagen:
Sri sanskr. Sri, Glück
Laba ,, Läbha, Gewinn, Vorteil
Dja ba ,, Jaya, Sieg
Mendala ,, Mandala, Zauberkreis
D ie fünftägige Woche mit den Tagen;
Paing (Pahing) jav., Name einer der fünf Tage der pasar-Woche
P'-’ti ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,,
55
Klijon (Klion, Kliwon), im Jav. der 5. Tag
Umanis (Manis), im Jav. legi = süß, Name für den 1. Tag der
pasar-Woche
Die sechs tägige Woche mit den Tagen:
Tungleh alt jav. etymologisch nicht zu erklären
Arjang ,, ,, ,, ,, ,,
Urukung (Wurukung) ,, „ „ „
Paniron (Wurzel tiru — nachahmen) altjav.
Was, altjav., klar, hell
Mawulu (Maulu), altjav., mahulu, mit einem Kopf
D ie siebentägige Woche mit den Tagen:
Redite (Dite) sanskr.
Tjoma (Soma) ,,
Anggara „
Buda ,,
Wrespati (Wrehaspati) ,,
ditya, Sonne
Soma, Mond
Angara, Mars
Budha, Merkur
Brhaspati, Jupiter
EIN KALENDER AUS BALI
149
Sukra (Cukra)
Sanistjara
sanskr. Sukra, Venus
,, Sàndiscara, Saturn
ige Woche mit den Tagen:
Sri (Cri) ,, Sri, Glück
Indra ,, Indra, Name eines Gottes
Guru ,, Guru, Lehrer (Siva)
Jama ,, Yama, Name eines Gottes
Ludra (Rudra) ,, Rudra, ,, „ ,,
Brahma ,, Brahma, ,, ,, ,,
Kala ,, Kala, ,, ,, ,,
Uma ,, Umä, Name einer Göttin; Gattin Siva
ige Woche mit den Tagen:
Dangu j av. padangon, winursita
Djangur ,, djangur, mal.-pol. djangur, Tiger
Gigis » gigis
Nohan ,, nohan, mal.-pol. nohan, Vogel
Ogan (Wogan) ,, wogan
Erangan ,, Kerangan, mal.-pol. wurnug, Eber
Urungan ,, wurung, ,, wurung, keinen Erfol:
Tulus ,, tulus, tulus, Erfolg haben
Da di ,, dadi, ,, dadi
ge Woche mit den Tagen;
Pandita sanskr . Pandita, Gelehrter
Pati ,, Pati, Herr
Suka ,, Sukha, Heil
Duka ,, Duhkha, Unheil
Sri Sri, Glück
Manusa ,, Manusya, Mensch
Radja ,, Raja, König
Dewa ,, Dewa, Gott
Raksasa ,, Räksasa, Dämon
Dewata ,, Dewata, Gottheit
Um die abgebildete Kalendertafel richtig zu benutzen, beginnen wir im obersten Fache
der am meisten nach links liegenden Kolumne, sie bildet auf dieser Tafel die erste Woche
von den dreißig auf ihr angegebenen Wochen. Wir haben von diesem ersten Fache oben
links nach unten zu zählen, bis die Kolumne beendet ist, dann zählen wir ebenso weiter
von oben in der zweiten Kolumne wieder nach unten und machen es solange, bis wir das
unterste Fach der dreißigsten Kolumne erreicht haben. Beim Zählen haben wir natürlich
darauf zu achten, daß je 3 Fächer für die dreitägige Woche in Betracht kommen, 4 Fächer
für die viertägige Woche usw., aber stets muß mit jeder der verschiedentägigen Wochen in
dem ersten Fach der ersten Kolumne oben links zu zählen begonnen werden, daraus ergibt
sich, daß wir in jedem Fach je einen Tag der sieben verschiedenen Wochen antreffen.
I 8 *5 22 29 36 43 5° 57
Dora Waja Bj antera Dora Waja Bj antera Dora Waj a Bjantera
Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba
Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon
Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung
Redite Redite Rëdite Rëdite Rëdite Rëdite Rëdite Rëdite Rëdite
Sri Urna Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri
Dangu Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi
2 9 l6 23 30 37 44 51 58
Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora
Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja
Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage
Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Ar j ang Urukung Paniron
Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma
Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra
Dangu Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu
3 IO '7 24 31 38 45 S2 59
Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Mëndala °jaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala
Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon
Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was
Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara
Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru
Dangu Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur
4 I I 18 25 32 39 46 53 60
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri
Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis
Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu
Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda
[ ama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama
Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis
5 12 19 26 33 40 47 54 61
Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora
Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba
Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing
Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh
Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wrëspati
Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra
Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan
6 13 20 27 34 41 48 55 62
Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja
Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon
Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang
Sukra Sukra Sukra Sukra ' Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra
Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma
Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan
n H 21 28 35 42 49 56 63
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala Djaja Laba Sri Mëndala
Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage
Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung
Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara
Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala
Nohan Dj angur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan
64 ?! 78 85 92 99
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Sri Mëndala Sri Méndala Djaja Laba
Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon
Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung
Rëdite Rëdite Rëdite Rédite Rédite Rëdite
Uma Kala J ama Guru Indra Sri
Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan
65 72 79 86 93 IOO
Waja Bjantera Dora Waja Bj antera Dora
Laba Sri Laba Sri Méndala Djaja
Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis
Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron
Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma
Sri Kala Ludra Jama Guru Indra
Tulus Erangan Nohan Dj angur Dadi Urungan
66 73 80 87 94 roí
Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Djaja Laba Djaja Laba Sri Mëndala
Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing
Mawulu Tungleh Ar j ang Urukung Paniron Was
Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara
Indra Kala Brahma Ludra Jama Guru
Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus
67 74 81 88 95 102
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Mëndala Djaja Mëndala Djaja Laba Sri
Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon
Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu
Buda Buda Buda ~ Buda Buda Buda
Guru Uma Kala Brahma Ludra Jama
Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi
68 75 82 89 96 103
Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora
Sri Mëndala Sri Méndala Djaja Laba
Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage
Ar j ang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh
Wrëspati Wrëspati Wrëspati Wréspati Wréspati Wrëspati
Jama Sri Uma Kala Brahma Ludra
Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu
69 76 83 90 97 IO4
Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Laba Sri Laba Sri Méndala Djaja
Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon
Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang
Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra
Ludra Indra Sri Uma Kala Brahma
Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur
70 77 84 91 98 io5
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Djaja Sri Djaja Laba Sri Mëndala
Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis
Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung
Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara
Brahma Guru Indra Sri Uma Kala
Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis
Cn
O
>
ir
r
r
r
Ö
S
>
>
rj
CT,
106 "3 120 127 L3+ Hi 148 US 162 169 176 183 I9O 197 204
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja
Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon
Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu
Redite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite Rèdite
Urna Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Urna Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra
Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan D j angur Dadi Urungan Ogan Gigis
IO7 114 121 128 *35 I42 149 156 163 170 177 184 191 198 205
Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bj antera Dora Waja Bjantera Dora
Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala
Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis
Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh
Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma Tjoma
Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru
Ogan Gigis Dangu T ulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan
108 1 r5 122 129 136 *43 150 U7 164 171 178 J75 192 i99 206
Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Dj aja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri
Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing
Mawulu Tungleh Arj ang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Ar j ang
Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara Anggara
Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama
Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan
IO9 116 123 130 *37 144 U1 158 l65 172 179 186 193 200 207
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
Mèn dal a Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba
Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon
Tungleh Ar j ang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung
Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda Buda
Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra fama Guru Indra Sri Urna Kala Brahma Ludra
Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan
I IO ”7 124 131 HS 152 U9 166 *73 180 187 194 201 208
Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bj antera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora
Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja
Umanls Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Kliion Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage
Ar j ang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Pamiron
Wrèspati Wrespati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati Wrèspati
fama Guru Indra Sri Urna Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Urna Kala Brahma
tulus Erangan Nohan Dj angar Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan
111 118 125 132 l39 146 *53 160 167 J74 181 188 W5 202 209
Bj antera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja
Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala
Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon
Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was
Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra Sukra
Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala
Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus
112 119 126 J33 140 I47 U4 161 168 175 182 189 196 203 210
Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera Dora Waja Bjantera
L> j aj a Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri Mèndala Djaja Laba Sri
Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis Pon Klijon Paing Wage Umanis
Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu Tungleh Arjang Urukung Paniron Was Mawulu
Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara Sanistjara
Brahma Ludra Jama Guru Indra Sri Uma Kala Brahma Ludra fama Guru Indra Sri Uma
Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi Urungan Ogan Gigis Dangu Tulus Erangan Nohan Djangur Dadi
EIN KALENDER AUS BALI
15 2
ALFRED MAASS
Unsere Kalendertafel mit ihren 210 Fächern gibt uns nun Raum für:
70 Wochen von drei Tagen
52 99 99 vier 99 -f- zwei Tag.
42 99 99 fünf 99
35 99 99 sechs 99
30 99 99 sieben 99
26 99 99 acht 99 —b zwei Tag.
23 99 99 neun 99 -) drei Tag.
Wenn wir, wie oben angegeben, mit dem Zählen beginnen, also wie ich nochmals
ausdrücklich bemerken möchte, bei diesem Kalender im ersten obersten Fache der ersten
Kolumne, die am meisten nach links liegt, dann ergibt sich für uns das Resultat, daß die
3, 5 und 7tägigen Wochen in dem letzten untersten Fach der am meisten nach rechts liegen-
den Kolumne immer enden müssen. Da diese Wochen alle, ohne einen Bruchteil bei 210 Tagen
zu hinterlassen, glatt in dieser Summe der Tage aufgehen, so kann man stets von neuem mit
dem ersten Tag einer jeden von diesen Wochen also im ersten Fach der ersten Kolumne
am meisten nach links beginnen. Somit bieten also diese Wochenkreise keine weiteren
Bedenken.
Die Hauptschwierigkeiten bei der Berechnung eines derartigen balinesischen
Kalenders liegen nach meinen Erfahrungen einmal darin, zunächst festzustellen, an welcher
Stelle man mit dem Zählen der einzelnen Tage zu beginnen hat, z. B. wie bei diesem Kalender
oben links oder wie bei dem Kalender von Nieuwenkamp, bei dem unten rechts angefangen
werden muß, also gerade entgegengesetzt, wie es unser Kalender zeigt. Ein Merkzeichen für
den richtigen Anfang scheint mir das Zeichen für den Tag Dangu zu sein, das immer die
neuntägige Woche mit drei Schalttagen einführt. Ein anderer wesentlicher Faktor ist es,
der zur sachgemäßen Lösung des Kalenders beiträgt, die richtigen Kolumnen für die Schalt-
tage der 4, 8 und 9 tägigen Woche auf der Kalendertafel zu finden. Wie wir aus der vor-
stehenden Tabelle erkennen, bestehen sie bei der 4 und 8 tägigen Woche in je zwei Tagen
und bei der ptägigen Woche in je drei Tagen.
Diese Schalttage sind es, welche dem Kalendermacher die Möglichkeit geben, daß auch
der letzte Tag der 4, 8 und 9 tägigen Woche in das unterste, d. h. 210. Fach der 30. Kolumne
hier bei uns unten rechts fällt. Rechnerisch betrachtet bilden die Schalttage die Bruchteile
dieser drei Wochenkreise, welche an einer Stelle eingefügt werden müssen, damit der
Kalender am Schluß stimmt. Um dies zu erreichen, haben die Balinesen einzelnen Tagen,
wie wir gleich sehen werden, hintereinander denselben Namen gegeben.
Wo sind nun für den hier vorliegenden Kalender diese Schalttage einzufügen ? Für die
Woche von vier Tagen müssen die untersten beiden Fächer der Kolumne 11 und das oberste
erste Fach der Kolumne 12, immer von links nach rechts gezählt, sri heißen. Für die Woche
von acht Tagen müssen wiederum in Kolumne 11 die ersten drei Fächer kala sein. Später
werden wir noch sehen, daß die Kolumne 11 auch zur Bestimmung des Neujahrs derBalinesen
eine wichtige Rolle spielt. Um nun auch der neuntägigen Woche zu ermöglichen, daß sie im
210. Fache mit ihrem letzten Tag auskommt, ist es notwendig, daß in der ersten Kolumne
der linken Seite die vier ersten Tage dieser Woche dangu werden.
Bei der Zeitrechnung der Tenggeresen finden wir in der bereits früher erwähnten
Arbeit von Kolonel de Jongh (8) herausgegeben von Prof. Meinsma pag. 140, daß bei der
neuntägigen Woche die drei ersten Tage „Dadi“ genannt werden, dieser Tag aber ist bei den
Balinesen nicht der erste Tag, sondern gerade der letzte Tag in der Woche von neuen Tagen
und beginnt man im 4. Fach mit ,,Dangu“, ist dies der erste Tag. Bei der 8 tägigen Woche
werden dort auf pag. 137 und 143 die untersten Fächer in der Kolumne 11 „Kala“
EIN KALENDER AUS BALI
1 53
genannt, genau so wie auf Bali nach dem Kalender von Nieuwenkamp; dem entgegen wird
auf pag. 136 „Kala“ als 5. Tag der 8tägigen Woche genannt, nicht also als 7., wie auf Bali.
Wie schon erwähnt, vereinigen sich in jedem Fache des Kalenders einer der sieben
Tage der sieben auf der Kalendertafel zum Ausdruck gebrachten Wochen, dementsprechend
würde unser Kalender nach den Wochentagen der einzelnen Wochen folgende Abbildung
(siehe Tabelle) für uns ergeben. Ich bemerke hierbei im voraus, daß die oben erwähnten
Schalttage kursiv abgesetzt sind und die noch besonders auf der Kalendertafel durch gewisse
Zeichen angegebener Tage fettgedruckt wurden. Am leichtesten sind aus der Tabelle zu
ersehen, naturgemäß der Einteilung der Kalendertafel, die Tage der 7 tägigen Woche,
welche, wie wir wissen, aus Indien stammt. Sie werden auch durch keine besonderen Zeichen
angedeutet. Redite beginnt immer im obersten Fach bei uns oben links, dementsprechend
muß Sanistjara, der siebente Tag dieser Woche, natürlich immer im untersten Fach der
gleichen Kolumne wiederkehren. Wie ich schon in wenigen Zeilen vorher bemerkte, werden
gewisse Tage durch gewisse Zeichen auf dem Kalender angedeutet, um sie leichter finden zu
können. Damit dies für den Leser noch markanter in Erscheinung tritt, habe ich den Kalen-
der in seine einzelnen Bestandteile bis zu einem gewissen Grade aufgelöst. Daraus wird
sichtbar, in welcher Anordnung die auf der Kalendertafel besonders bezeichneten Tage
gewisser Wochen sich bemerkbar machen und wie sie sich rein schematisch wiederholen.
Zeigt die Abbildung 1 den Gesamteindruck des Kalenders in der in den einzelnenFächern
wir uns immer 7 Tage zu denken haben, so bringen die Abbildungen 2—9 das folgende
Ergebnis: In unserem Kalender werden wir vier Zeichen in bestimmten Zwischenräumen
wiederkehren sehen, außerdem sind noch bestimmte Tage durch weiße und schwarze
Hornstiftchen kenntlich gemacht. Neben diesen Tageszeichen gibt es noch sechs, astro-
logische Zeichen, die für den Balinesen hauptsächlich dazu dienen, um die glücklichen und
unglücklichen Tage, welche eine große Rolle im Leben der Menschen spielen, anzudeuten.
Ich habe mich über diese Horoskop- oder katika-Zeichen bereits früher einmal in meiner
Arbeit „Wahrsagekalender (kutika) im Leben der Malaien Zentral-Sumatras“ (9) ausge-
sprochen.
Ich werde jetzt alle diese Zeichen hier einzeln abbilden und beschreiben. Außerdem
soll der Kalender in die einzelnen Tageszeichen durch eine Abbildung aufgelöst werden.
O
a b c d e f g
Am häufigsten begegnen wir auf Kalendertafeln einem Fach mit einer kleinen ver-
goldeten Scheibe, nämlich 42 mal. Dieses Zeichen ist für den vierten Tag der fünftägigen
Woche, Klijon, bestimmt. Dieser Tag würde sich also im Bilde, wie Abbildung a zeigt,
darstellen.
An zweiter Stelle, nämlich 28 mal, finden wir ein Fach mit einem Kreuz, welches uns
den 7. Tag der 8 tägigen Woche, Kala, kenntlich machen soll. Die Abbildung b zeigt uns
den Tag als Einzeldarstellung aus dem Kalender; ebenso sollen die übrigen Tageszeichen als
besondere Darstellung vor den Erklärungen erscheinen. 26 mal finden wir —Abbildung c —
ein Fach mit einer großen braunen kreisrunden Scheibe. Sie gibt uns den 3-Tag der 8 tägigen
Woche, Guru, an. 26 mal ist auch der 1, Tag der ptägigen Woche, Dangu, durch einen
goldenen Fleck in der linken Ecke unten vom Fach hervorgehoben. Abb. d, 26 mal wird
der 8. Tag der ptägigen Woche, Tulus, durch einen vergoldeten Punkt in der Mitte eines
Faches gezeigt. Abb. e.
□
22 Baessler-Archiv.
T 54
ALFRED MAASS
Abb. 4. Die 8 tägige Woche mit dem Tageszeichen für Kala.
r ^ k^ k J k i
L i k i k i k i
r 1 k J
r^ k^i r—1 L i k i k i
m _ f 1 k^ r 1 k à r-^ k i
k i k 4
.... k^ k. J f^
Abb. 5. Die Stägige Woche mit dem Tageszeichen für Guru.
■■ mm*
Pi
EIN KALENDER AIS BALI 155
0 0 #
0 # 1# 0
0 # #
# M.
f tè
0 0
... # 1È*
Abb. 6. Die gtägige Woche mit dem Tageszeichen für Dangu.
Abb. 8. Die 6 tägige Woche mit dem Tageszeichen für Urukung.
Abb. 9. Die ötägige Woche mit dem Tageszeichen für Mawulu.
35 weiße Hornstifte machen den 3. Tag der 6tägigen Woche, Urukung, kenntlich
Abb. f. 35 schwarze Hornstifte bezeichnen den 6. Tag der 6tägigen Woche, Mawulu. Abb. g.
Auf Seite 152 hatte ich bereits der 11. Kolumne unseres Kalenders gedacht. Hier möchte
ich nochmals auf sie zurückkommen. Herrn Resident H. W. Veenhyzen in Singaradja
auf Bali hatte ich schriftlich gebeten, mir über einige noch fragliche Punkte in dem
Kalender Auskunft zu geben, wofür ich an dieser Stelle Herrn Veenhuyzen ganz be-
sonders danken möchte. Er machte mich unter anderem noch auf das Zeichen für Neujahr,
,,slamatan galungan“, aufmerksam. Herr Veenhyzen schreibt: „Vielleicht verdient das
Zeichen in der 11. Kolumne einiger Verdeutlichung, Die n. Kolumne in der Reihe der
11. Uku (Woche), also von „dungalan“. In dieser Uku fällt stets der „slamatan galungan“
(Neujahr). Und beigefügte Zeichen = 3kala’s mit dem Kliwonzeichen darunter, gibt uns den
galungan-Tag an, der, welcher zweimal im Jahre gefeiert wird.“
156
ALFRED MAASS
Auch bei Nieuwenkamp (io) finden wir ihn in der n. Kolumne von rechts, siehe
dort Tafel II, pag. 119 in den wiederholt angeführten „Bijdragen tot de Taal-, Land-
en Volkenkunde van Ned. Indie“ Deel 69, 1914.
Dementsprechend kämen wir auf Grund dieser beiden Kalender und auch nach Ver-
gleich mit einer tika in dem Ethnographischen Reichsmuseum zu Leiden, Serie 993 Nr. 14,
zu dem Schluß, daß wir Neujahr, galungan, immer in der 11. Kolonne zu suchen haben
werden, entweder von links nach rechts oder umgekehrt, je nachdem wir den Anfang auf
einem Kalenderbrettchen gefunden haben.
Eine besondere Schwierigkeit bei der Bearbeitung eines Kalenders bereiten die astro-
logischen Zeichen, da wir bis heute über zu wenig literarisches Vergleichsmaterial verfügen.
Wie diese Zeichen auf unserem Kalender verteilt sind, gibt Abb. 10. Um sie einzeln zu erklären,
werde ich in der gleichen Art und Weise wieder verfahren, wie ich es bei den Zeichen für die
Tage der Wochen getan habe, nämlich besondere Darstellungen von ihnen geben.
A37
II
Das männliche Zeichen Pamatjekan lanang erscheint 3mal Abbild, h. Ein anderes
Zeichen finden wir 13 mal in unserem Kalender, es heißt Wadon oder die Frau. Nieuwen-
kamp (11) sagt von ihm: ,,Eins oder mehrere dieser weiblichen Zeichen zeigen die Tage an,
welche nicht geeignet sind, Waffen zu schmieden, doch sind sie günstig, um an ihnen nütz-
liche Gewächse zu pflanzen. Hieraus geht deutlich hervor, daß der Balier vor allem Land-
mann und kein Krieger ist, als auch, daß der Ackerbau auf Bali unter dem Schutze einer
Frau, dewi £ri, steht so wie auf Java.“ Abbild, i.
Pamatjekan wadon ,,das weibliche Zeichen“ Abbild, k erscheint 4 mal in unserem
Kalender. Nieuwenkamp sagt von ihm an gleicher Stelle, wie oben: ,,. . .auch an diesen. . .
Tagen darf kein Fest gefeiert werden, wohl eignen sich diese Tage ausgezeichnet zum
Graben von Löchern, um wilde Tiere zu fangen.“ Semut sedulur „die in einer Reihe lau-
fende Ameise“ (12) treffen wir in unserem Kalender nicht an. Bei unserem Gewährsmann
Nieuwenkamp lesen wir an gleicher Stelle, wie bereits angegeben: „..deutet die Tage
an, an denen keine Feste gefeiert werden dürfen und kein Begräbnis stattfinden soll;
diese Tage sind jedoch günstig zum Schlingen auslegen.“
Außerdem befinden sich noch drei ungelöste astrologische Zeichen Abbild. 1—-n auf
meinem Kalender, von denen ich die Bezeichnung ihrer Bedeutung nicht erfahren konnte.
Diese Zeichen sind folgende: Ein Viereck 1. mit einem kleinen Bogen unten in der rechten
Ecke, 2. mit einem kleinen Bogen unten in der linken Ecke und 3. mit einem kleinen Bogen
an der oberen Seite des Vierecks.
Herr Resident H. W. Veenhyzen, dessen Hilfe ich namentlich in diesem Punkt der
3 ungelöst gebliebenen astrologischen Zeichen bat, schrieb mir leider;
„Uber die Bezeichnung der astrologischen Zeichen konnten keine Erklärungen gegeben
werden. Alle pedanda’s (Priester) behaupteten, daß diese nicht gebraucht werden.“
Sollte einer der Leser mir über diese astrologischen Zeichen etwas Näheres mitteilen
können, so wäre ich sehr dankbar, um die letzten Rätsel meines Kalenders gelöst zu sehen.
Das erste dieser Zeichen kommt 11 mal, die beiden anderen je 2 mal vor.
Es liegt auch die Vermutung nahe, daß es sich hier um Fehlerquellen des Kalender-
machers bei der Herstellung des Kalenders handeln kann, da diese häufiger verkommen,
z. B. in dem Leidener Exemplar Ser. 933, Nr. 14.
Ehe ich weiter in der Beschreibung meines Kalenders fortfahre, möchte ich für alle die,
EIN KALENDER AUS BALI
iS?
welche sich einmal später mit der Lösung eines balinesischen Kalenders in der Art, wie
der gegebene, beschäftigen, zum Vergleich die Tages- und astrologischen Zeichen, wie sie
bei van Eck und Nieuwenkamp abgebildet werden und sich auf einem Kalenderbrettchen
in der Sammlung des Ethnographischen Reichsmuseums in Leiden Serie 933, Nr. 14 befinden,
zur Darstellung bringen.
Tageszeichen
nach van Eck (13)
A
o Dangu
p Guru
q Kala
r Tumpek
s Djaja
Tageszeichen
nach Nieuwenkamp (14) :
Klion durch 42 Eisenstifte
Mawulu durch 35 weiße Elornstifte
Dadi durch 23 schwarze Elornstifte
A Sri
B Urukung
Astrolog. Zeichen nach van Eck: Astrolog. Zeichen nach Nieuwenkamp:
= Pamatjekan lanang
= Pamatjekan wadon
= Semut sedulur
= Gotangan
= Tali wangke
= Wadon
Tageszeichen des Kalenders im Leidener Museum (15):
TT X • A O O
D angu Kala Urukung Guru Klijon Mawulu
banju — hurung
karnä — sulä
titi buhuk
sungang pati
A
4
H
Klijon 42 eiserne Stifte, Urukung 35 schwarze Hornstifte.
Astrologische Zeichen desselben Kalenders;
52 mal in regelmäßigen Abständen von 4 Fächern
35 mal in regelmäßigen Abständen von 6 Fächern.
158 ALFRED MAASS
Leider gibt uns van Eck keine genügende Erklärung der astrologischen Zeichen, wir
erfahren von ihm nur, daß die kukul (Alarmglocke) an einem karnä-sulä-Tag gemacht,
von selbst,,heller von Klang, dauerhaft und stets sofort Gehör finden soll.“ Uber die anderen
Zeichen schweigt er sich aus.
Bei der bis jetzt äußerst geringen Kenntnis, die wir von dem balinesischen Kalender
besitzen, ist es desto erfreulicher, bei Nieuwenkamp (16) folgende Erklärungen für die
astrologischen Zeichen zu finden:
„Pamatjekan lanang“, d. i. „das männliche Zeichen“... bezeichnet die Tage, an
denen es nicht gut ist, Feste zu feiern; dagegen sind sie sehr geeignet zum Opfern in den
Tempeln.“
„Pamatjekan wadon“, d. i. „das weibliche Zeichen“ ... an diesen Tagen darf kein
Fest gefeiert werden, wohl eignen sich diese Tage ausgezeichnet zum Graben von Löchern,
um wilde Tiere zu fangen.“
„Semut sedulur“, d. h. „die in einer Reihe laufende Ameise“ deutet auch die Tage an,
an denen keine Feste gefeiert werden dürfen und auch kein Begräbnis stattfinden soll; diese
Tage sind jedoch günstig, um Schlingen auszulegen.“ Wie ich bereits erwähnte.
„Gotongan“, d. h. „Zeichen zum Wegholen“ . . . zeigt die Tage an, welche für Be-
gräbnisse nicht geeignet sind, wohl eignen sie sich, Zwietracht zu säen, um dadurch im
Trüben fischen zu können. Es ist demnach eine Art Diebeszeichen!“
„Tali-wangke“, d. h. „das Tau des Todes.“ An den Tagen, hiermit gezeichnet, . . .ist
es besser, keine Taue anzufertigen, woran man Vieh führen will, da es sich später zeigen
würde, daß diese sehr wenig stark sind; günstig sind diese Tage, um Schlingen anzufertigen.“
„Wadon oder die Frau.“ Über dieses Zeichen habe ich mich bereits auf Seite 156
ausgesprochen und kann somit an dieser Stelle darüber hinweggehen.
Bei Nieuwenkamp finden sich dann noch auf einem Kalender eine Anzahl Stifte aus
Blei und Kupfer. Jene aus Blei hergestellt deuten die Tage an, an denen es nicht gut ist,
mit dem Bau eines Hauses zu beginnen oder ein Dach mit Atap zu decken; wohl sind diese
Tage günstig, um Wasserleitungen anzulegen oder Holz zu fällen. Die kupfernen Stifte
haben den Zweck, die Tage anzudeuten, an denen man keine Feste feiern soll, jedoch eignen
sie sich, um Versammlungen abzuhalten.
Da für denjenigen, der gern einen balinesischen Kalender entziffern möchte, es leichter
ist, die Tageszeichen zu finden, sobald er den richtigen Anfang gefunden hat, der nur durch
die Schalttage der 9tägigen Woche, durch Dangu, angedeutet zu sein scheint, so darf ich an
dieser Stelle auf eine Abbildung der Tageszeichen wie sie sich auf der Kalendertafel von
Nieuwenkamp darstellen, verzichten, jedoch möchte ich eine Abbildung aller astrologischen
Zeichen, wie sie sich auf meinem Kalender verteilen, bringen. Ich halte die Verbreitung dieser
Abbildung 10 für unsere jetzigen Kenntnisse als Vergleichsmaterial um so wichtiger, als die
astrologischen Zeichen der Balinesen bis heute, wie ich bereits erwähnte, noch wenig bekannt
sind.
Zur Vervollständigung der astrologischen Kenntnisse der Balinesen möchte ich hier
nur beiläufig anführen, daß sie auch einen astrologischen Kalender besitzen, der unter dem
Einfluß von 35 Sternbildern steht und in dem Götter, Göttinnen, Bäume, Sträucher und
Tiere außerdem mitwirken.
Unser Kalender, wie wir mit einem Blick aus der Abb. 1 ersehen, ist in 30 Kolumnen
geteilt, welche zur Aufnahme der einzelnen Wochen dienen. Jede dieser Wara’s führt einen
besonderen Namen. Auf Java werden sie wuku’s genannt und sind mit den balinesischen
Wochen identisch.
In der folgenden Tabelle bringe ich eine Zusammenstellung dieser Wuku’s, Wara’s oder
Wochen, wie wir sie bei Raffles (17), Friederich (18), van Eck (19) und Nieuwenkamp (20)
EIN KALENDER ATS BALI
159
mit Erweiterungen nach van der Tuuk (21) in den verschiedenartigen Formen der Schreib-
weise finden. Jede dieser einzelnen Wara’s oder Wochen steht unter dem Schutze eines
Gottes oder einer Göttin. Die jetzt folgende Tabelle soll uns noch einmal die 30 Wara’s mit
den in ihnen stattfindenden Festen und Festtagen zeigen, sowie die einzelnen Götter und
Göttinnen, welche die Woche regieren. Eine Erklärung für die Gottheiten finden wir in
Kolumne 4 unserer Tabelle, während die letzte Spalte uns zur besseren Übersicht hier gleich
die Literaturquellen angibt.
Die Namen der dreißig balinesischen Wochen, wara’s.
Raffles in Java F r i e d e r i c h van E c k Nieuwenkamp van der Tuuk
1. Sinta Sinta Sinta Sinta Sinta
2. Landap Landep Landep Landep Landep
3. Wukir Wukir Hukir Ukir Wukir
4. Kurantil Kurantil Kurantil gewöhnl. Ku- lanlir Karuntil Kurantil
5. Talu Tolu Tolu Tawulu besser Tolu
6. Gumbreg Gümreg Gumbreg Gumbreg Gumrög
7. Wariga Wariga Wariga Wariga Wariga
8. Warigajan Warigadian od. Wari- ganing Wariga Warigadijan Warigadian Warigaddyan
9. Julung Wang’i Djulung Wangi Djulung Wangi Djulung Djulung wangi
10. Sung Sang Djulung Sungsang Djulung Sungsang gewöhnl. Sungsang Sungsang Djulung sungsang
11. Galung’an Neu- jahrswoche Dunghulan Dungulan (oder Ga- lungan) Galungan Dunghulan, Dungu- lan
12. Kuning’an Kuningan Kuningan Kuningan Kuningan
13. Langkir Langkir Langkir Langkir Langkir
14. Mandasia Madang Siha Medan gsijä Medangsija Madäsiha
15. Julung-pujud Djulung Pudjut Pudjut oder Medang Pudjut Pudjut Djulung pudjut
16. Pahang Pahang Pahang Pahang Pahang
17. Kuru Welut Kurw’lut Kurw’lut oder KTu- lut Merakih Kruwelut Kruwlut
18. Marake Marakih M’ rakih Marakih
19. Tambir Tambir 'I'ambir Tambir Tambir
20. Manda kung’an Madangkungan Medangkungan Medangkungan Madangkungan
21. Maktal Mahatal Mahatal oder Matal Matal Mahatal
22. Woye Hu je Hu je Uje Wuje
23. Manahil Menahil Menahil Manail Manahil
24. Prang-bakat Prang Bakat Pranghakat Prangbakat Prang bakat
23. Bala Bala Muki Balamuki oder Bala Bala Balamuki
Sakra
mit dem Jahresfest für Bäume Smara
und Pflanzen
Warigaddyan Pantja-resi
Djulung wangi Samba
Djulung sungsang Gana Kumära
nach Friederich ist Sugihan das Kàmà-Djàgà
Neujahrsfest der von Java
stammenden balinesischen
Sudräs, 6 Tage vor dem Neu-
jahrstage Galungan; nach van
Eckist es ein Opferfest 6 Tage
nach Galungan. Das Bojakala-
Fest in der Mitte des leuch-
tenden Tages, wie die Usuna
Bali pag. 323 besagt.
mit einer Art Allerheiligenfest Bàtarà Endrà
der Gott des Windes, Vater C. St. p. 266
von Bima
= Indra
= Kama- = Anangga, auch F. p. 42
Manobu, der Gott der Liebe
die fünf Heiligen (Weisen) C. St. p.
ein Sohn des Kresna C. St. p.
= Ganesa, der Gott der Weis-
heit
jav. Gott der Liebe C. St. p. 239
254
255
Kuningan
14. Madäsiha
15. Djulung pud-
lut
16. Pahang
17. Kruwlut
18. Marakih
19. Tambir
auf Serangan im Tempel Sake-
nuan für Indra am Tage Re-
dite-Manis in der Woche
Langkir am 12. Tage des
neuen balinesischen Jahres1
in Badong ist der Festtag im Brahma
großen Heiligtum von Ulu-
watu am 21. Tage des neuen
balinesischen Jahres auf Ang-
gara-Kaliwon in der Woche
Madang Siha2
einer der vornehmsten Götter , C. St. p. 236
der König des Himmels;
ein Sohn von Bätarä Guru
= Siva
= Siva, als schwarzer, düste- F. p. 35
rer, schrecklicher Gott
eine andere Form für Siva F. p. 38
nach van Eck mit dem Opfer-
fest für die Toten (eine Art
Allerseelen)
Päncha Rasmi die fünf Strahlen
Tantra die Beschwörungsformel
Wisjnu auf Bali andere Form für F. p. 38
Siva; auch Gott des Wassers
Ganesa gew. Gott der Weisheit und Schlech- F. p. 41
Gana tigkeit, auch der Diebe;
untergeordneter Gott zur
Familie Siva’s, der mit den
Raksasa’s übereinkommt
Siva der höchste Gott auf Bali F. p. 34
EIN KALENDER AUS BALI
I 6 I
20. Madangkun- Basuki der indische Schlangenkönig F. p. 42
gan Vasuki
21. Mahätal Tjandràsà Ravana’s Schwert; der Mond- C. St. p. 264
gott
22. Wujé mit dem Fest der Haustiere3, Kubera der Gott des Reichtums F. p. 41
wie Kühe, Pferde, Schweine, Eiühner usw.
23. Manahil Tjitrà Gadà jav. der Vater von Desta- C. St. p. 263
rätä oder von Pandu ?
24. Prang bakat Bimà Beiname Rudra — -Siwa’s
25. Balamucki Durga die Gattin Siva’s
26. Wugu Ludra = Rudra, ein anderer Name C. St. p. 251
für Siva
27. Wajang mit dem Jahresfest der ein- S’ri die Frau von Wisjnu = Siva, F. p. 38
heimischen Schauspiele die Göttin der Fruchtbar- keit und der Reisfelder
28. Kulawu Sewandana4
29. Dukut Kanéka
30. Watu gunung das Saraswati-Fest auf Sanes- Bàtarà Guru jav. gewöhnlich der höchste C. St. p. 233
tjara-Manis in der Woche Gott — Siva; Vater von
Watugunung. An diesem Tage Brahma, Indra, Wisjnu, Ba-
werden die sämtlichen Bücher der Fürsten in den Tempel gebracht und durch das Ve- dalesen der Priester für das kommende Jahr gereinigt ju usw.
1-2 Pag- 55- 5 F. = Friederich, R.: Voorloopig Verslag van het
3 Pag- 57- eiland Bali. Verhandl. Bat. Genootsch. Dl. XXII. Ba-
4 Crawford: History of the Indian Archipelago Voh I,
pag. 294, erwähnt für diesen Gott Daharma radja =
Yama.
tavia 1848.
C. St. = Cohen Stuart, A. B.: Bräta-Joeda. Verhandl.
Bat. Genootsch. Dl. XXVI1. Batavia i860.
Zu den Festen wären noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Der Balinese unter-
scheidet zwei Gruppen von Festen, solche, welche zu Ehren der verschiedenen milden, sanften
freigebigen Götter in den Tempeln gefeiert werden und solche, die Versöhnungsfeste bilden;
diese werden größtenteils nicht in den Tempeln, sondern im Innern der Häuser (natar)
begangen, oder an besonderen dazu eingerichteten Plätzen gefeiert. Sie sind den Butas
und Raksasa’s, den bösen Geistern und Dämonen geweiht.
„In dem Tempel von Basukih, am Fuße des Gunung Agung findet in jedem Mondjahr
beim Vollmond (purnama) und Neumond des Monats Kapat oder Karttika ein Festtag statt,
der für alle Balinesen gilt (cfr. Usana Bali pag. 273 usw. und 339 (22). In Basukih wird an
[diesem Tage] Mahadewa oder sang Putra Djaja (Siwa) verehrt, dessen Sitz der Gunung
Agung (auch Meru) ist.“
Besonders große und ansehnliche Feste finden in den 6 heiligen Tempeln statt.
Jeder Tempel begeht auch festlich den Tag seiner Stiftung, man nennt dieses wedalon,
gewöhnlich odalan ausgesprochen, oder Geburtstagsfest. In der Usana Bali (23) pag. 263
lesen wir über dieZeitbestimmung eines Opfers, „daß die allein in derZeit des abnehmenden
Mondes geschehen kann, weil in der Zeit des zunehmenden Mondes die Götter in Kling oder
Djambudiepa (Indien) angewiesen werden zu wohnen. Die höchste Gottheit ist Guru (Siva).
Hierbei ist auch ein Fest, daß der Fürst von Mali, sang hadji Bali, dessen Residenz in
Pudjungan ist, in jedem balinesischen Jahre von 210 Tagen zu feiern hat.“
Die Usana Bali (24), das Buch, welches uns über die Institutionen des Hindugottes-
dienstes in populärer Weise aufklärt, besagt pag. 264: „Ein größeres Opfer fällt im Monat
Kapitu, dem neunten des Hindu-balinesischen Jahres“, unserem Januar bis Februar
entsprechend.
Auf pag. 270—271 wird berichtet: „Wenn jedoch diese Götter (batära Siva, Sada-
23 Baessler-Archiy.
I 6 2
ALFRED MAASS
Siva, batära Prama Siwa) zu dem Verbleib der Sterblichen (der Erde) niedersteigen, um
einen Bund mit ihnen zu machen, in dieser Zeit ist das Fest beim Vollmond des Monats
Karttika; und wenn der Neumond kommt, ist das Fest von batära Triguna, dieser nämlich
ist der im Weltall Lebende, er ist Trisakti; er ist die (übernatürliche) Kraft der Welt; dieser
batära Guru hat die Eigenschaften der neun Götter.“ Ein Versöhnungsfest ist das Ekadasa
Rudra. Der allgemeine Name dieser Versöhnungsfeste ist prajas-tjitta, zu ihnen gehört auch
das Pantjawalikrama, welches nicht an einem bestimmten Tage des Jahres gefeiert wird,
sondern bei großen Gelegenheiten. Zu den Festen gehört auch der Hahnenkampf, und zwar
in doppelter Beziehung, einmal als Volksbelustigung und ein andermal als eine reli-
giöse Einrichtung.
Derjenige, welcher sich näher über die Feste informieren will, lese die wiederholt von
mir angegebene Arbeit von Friederich (25) „Voorloopig verslag van het eiland Bali“ im
XXII. deel der „Verhandelingen der Bat. Genootschap“, pag. 55—58 nach.
Lenken wir unsere Aufmerksamkeit jetzt wieder auf die beigefügte Abbildung 1, so
bemerken wir unter dem Rankenornament, auf welchem die Taube thront, eine Rahmen-
leiste, die den oberen Abschluß zur Kalendertafel bildet. Unter ihr, zwischen zwei Blüten-
ornamenten eingeschlossen, finden wir eine Reihe von 30 Fächern mit verschiedenen Zeichen
und figürlichen Darstellungen, auf die ich bereits auf Seite 146 aufmerksam machte, hier
möchte ich darauf eingehender zurückkommen.
Von links nach rechts gehend, finden wir in der ersten Kolumne einen schwarzen Horn-
stift, die folgenden Kolumnen führen uns ein vierfüßiges Tier, dann einen Fisch, einen Vogel,
ein Feld mit einem weißen Hornstift und endlich ein leeres vergoldetes Feld vor Augen;
hiermit schließt dieser Cyklus ab, um sich noch viermal in dieser Reihe zu wiederholen. Die
schwarzen Hornstifte bezeichnen jedesmal den neuen Anfang eines Cyklus. Diese 5 Gruppen
mit je 6 Kolumnen (der 7tägigen Woche) beherrschen die 30 Wara’s in dem Sinne, daß ein
jedes der oben angeführten Zeichen für die einzelne Woche, worüber das Zeichen angebracht
ist, seine besondere Bedeutung hat. Siehe auch S. 159 die oberste Reihe von Abb. 10.
Die Namen dieser Wochenzeichen für jeden dieser fünf Cyklen sind:
Ingkel oder Peringkelan Ong (Wong) Ingkel Manuk
Ingkel Sato Ingkel Taru
Ingkel Minä Ingkel Buku
Die Bedeutung dieser Namen finden wir bei van der Tuuk (26); dort lesen wir: „Ingkel
jav. (ringkel), es gibt sechs ingkels. . . (wie oben angegeben). Die Ingkel ong (wong) fällt in
die Woche Sinta, die Ingkel Sato in die Woche Landep usw. Die Ingkel ong oder wong am Tage
Sukra-Manis, an dem einige Dinge nicht geschehen dürfen; sie dauert 7 Tage Das
javanische Wörterbuch gibt von Ingkel nur 5 an, wie uwong, sato, manuk, iwak und godong,
aber eine malaiische Handschrift der Royal Asiatic Society gibt in Übereinstimmung mit
demjenigen, was unter Ingkel gesagt ist, davon 6 an, nämlich djelma, sato, peksi, ulam,
wukir, und godong.“
In der Übersetzung könnte man diese Wochenzeichen als die für Mensch, Vieh, Fisch,
Baum und Bambus oder Staude, unglückliche oder ungüstige Zeitperiode bezeichnen.
Eine nähere Erklärung dieser Wochenzeichen gibt uns Nieuwenkamp (27) an und lasse ich
sie hier folgen:
„Peringkelan Wong [Ong]: Diese Woche der ersten Kolonne hat zu dem Schick-
sal des Menschen Beziehung. In dieser Woche ist es besser, nicht zu arbeiten. Der fünfte
Tag, Wrespati, ist jedoch besonders günstig, um Diebe und Mörder aufzuspüren, und
gefangenzunehmen.
Peringkelan Sato: Diese Woche der zweiten Kolonne hat zu den Vierfüßlern Be-
EIN KALENDER AUS BALI
163
Ziehung und ist nicht günstig für den Transport von Vieh; der fünfte Tag, Wrespati, ist
besonders günstig, wilde Tiere zu fangen.
Peringkelan Minä: Diese Woche der dritten Kolonne hat zu den Fischen Beziehung
und es ist eine schlechte Woche, um diese zu fangen; nur der fünfte Tag macht davon eine
Ausnahme,
Peringkelan Manuk; Diese Woche der vierten Kolonne hat Beziehung zu den Vögeln,
es ist nicht günstig darin Geflügel zu transportieren, besonders nicht Hühner. Der fünfte
Tag ist jedoch wieder gut, um Vögel zu fangen.
Peringkelan Taru: Diese Woche der fünften Kolonne hat zu den Bäumen Beziehung,
und es ist eine schlechte Woche, um Bäume zu pflanzen. Der fünfte Tag aber ist wieder gut,
um Bäume niederzuschlagen oder Holz zu zerkleinern.
Peringkelan Buku: Diese Woche hat zu den Pflanzen mit Gliedern wie Bambus,
Padi (Reis), Zuckerrohr usw. Beziehung. Während dieser Woche soll man diese Gewächse
nicht säen oder pflanzen. Der fünfte Tag ist sehr gut, um diese Gewächse zu schneiden.“
Wie wir aus diesen Erklärungen ersehen, spielt der fünfte Tag, unser Donnerstag, eine
besonders günstige Rolle, insofern er eine gute Ausnahme von den ungünstig beeinflußten
Tagen der Woche macht.
Weiter wäre noch darauf aufmerksam zu machen, daß außer diesen besonders oben
angeführten Eigenschaften noch ein jeder Tag dem Schicksal nach dieser oder jener Richtung
hin unterworfen ist, er demzufolge günstig oder ungünstig beeinflußt werden kann. Es ist
deshalb Sache eines jeden Balinesen, der sich vor Schaden bewahren möchte, seine tika
oder den Priester bei seinen Unternehmungen um Rat zu fragen.
Der hier beschriebene Kalender gehört noch keineswegs zu denen, die durch Lieb-
haberei des Kalendermachers in besonders vielseitiger Weise ausgebildet wurde, im Vergleich
zu jenen, wie ihn uns Nieuwenkamp beschreibt. Bei ihm haben wir es, wie aus den Abbil-
dungen Seite 157 hervorgeht, mit 8 Tageszeichen und 6 astrologischen Zeichen zu tun,
während unser Exemplar nur 7 Tageszeichen und 3 astrologische Zeichen aufweist, wie wir
bereits früher ersehen konnten und 3 für die keine Erklärung gegeben wurde.
Daß der Mann aus dem Volke mit einem derartigen Kalender, wie wir ihn hier be-
schreiben, nicht umzugehen versteht, ergibt sich von selbst aus Mangel an Verständnis. Will
er seinen Kalender, tika, zu Rate ziehen, so wird er sich meistens an einen gelehrten Priester,
pedanda, wenden, der ihm für ein kleines Opfer Rat und Hilfe erteilen wird.
Die Geheimnisse des Kalenders finden wir in einem Werk, welches Wariga genannt
wird. Leider besitzen wir von diesem altjavanischen astrologischen Prosawerk noch keine
vollständige Übersetzung, um hier näher darauf eingehen zu können. Die mir bekannten
Auszüge stammen von Friederich, der sie für die Beschreibung seiner Zeitrechnung auf
Bali und für den astrologischen Kalender, palalintangan, daselbst benutzte; des gleichen
beschäftigte sich van Eck (28) mit der wariga; auch Brandes (29) erwähnt dies Werk in
seiner Abhandlung ,,Omina et portenta“; ebenso wäre Dr. H. H. Juynbolls (30) Ergänzungs-
katalog der javanischen und maduresischen Handschriften in der Universitätsbibliothek
Leiden zu nennen. In meiner Abhandlung: „Astrologische Kalender der Balinesen“ (31)
habe ich eine ausführliche Zusammenstellung von den Autoren gegeben, deren Interessen-
sphäre mit diesem Werk in Berührung kam.
Zum Schluß möchte ich noch die Teile des Kalenders berühren, welche nicht auf der
Tafel und den hier beigefügten Abbildungen zum Ausdruck kommen konnten. Ich meine
die Einteilung des Tages und der Monate, die doch auch einen wesentlichen Bestandteil
der Chronologie bilden. Wir lesen darüber bei Friederich (32): „Der Tag wird, den astro-
logischen Begriffen gemäß, in 5 Teile eingeteilt, die jeder einen besonderen Namen,
jedoch an verschiedenen Tagen verschiedene Reihenfolge haben.... Der wichtigste Teil
23
ALFRED MAASS
1 64
wird Mreta (Amreta) genannt; wer bei diesem Zeitpunkte des Tages geboren wird, ist der
Gunst des Glückes sicher. Die fünf Teile des Tages erfahren 12 Änderungen; um zu wissen,
welche Ordnung sie an einem bestimmten Tage haben, fügt man die Nummer des Tages der
indischen Woche zu der des Tages der polynesischen Woche hinzu und erhält so eine der
12 Umkehrungen als Reihenfolge der 3 Teile des Tages (und ebenso der Nacht). Die übrigen
Teile außer Mreta sind sunja (leer, arm), kala (heftig; vom Gotte Kala), pati (er, bzw. sie
muß sterben), linjok (wird schlecht und diebisch). Ferner wird der Tag in bürgerlicher
Hinsicht in 8 Stunden, dadauhan, eingeteilt, die von Sonnenaufgang bis zum Untergang
gerechnet werden (also gleich 1 y2 Stunde bei uns]; sie heißen dauh pisan, 1 Uhr (bzw. erste
Stunde), dauh ro, dauh tiga oder telu, usw. [dauh pat, d. lima oder henem, d. pitu, ci. kutus
oder hulu]. Ebenso wird die Nacht in 8 gleiche Teile eingeteilt. Um die Stunde zu bestimmen,
bedient man sich einer Art Wasser-Uhr (clepsydra), sie besteht aus einer auf dem Wasser
schwimmenden Kokosnuß, die unten ein kleines Löchelchen hat; sobald die Kokosnuß gefüllt
ist, wird sie von dem Aufseher entleert und zugleich wird auf einer dabeistehenden Trommel
die betreffende Zahl von Schlägen gegeben. Einrichtungen für diese Stundenberechnung
finden sich in den vornehmsten Palästen, z. B. zu Den Pasar (in Badong), in Mengui usw.“
Da sich Friederich bis heute noch am eingehendsten mit dem balinesischen Kalender
beschäftigt hat, infolge seines längeren Aufenthaltes auf Bali und als Kenner des Alt-
javanischen (Kawi) ihm ein gründlicheres Studium möglich war, als mir, dem gewisse
Dinge, wie z. B. die vorhin erwähnte Einteilung des Tages, die Berücksichtigung der Monate
nur aus der Literatur bekannt sein können, so möchte ich mich bei der jetzt kommenden
Betrachtung des Monats an diesen hervorragenden Kenner Bali’s weiter anlehnen.
Die Vereinigung der polynesischen Woche von 5 Tagen mit der indischen Woche von
7 Tagen als die Grundlage des balinesischen Kalenders haben wir bereits beim Beginn dieser
Studie kennen gelernt. Diese echt balinesische Zeitrechnung gibt uns einen Cyklus von
35 Tagen, wofür aber bei den Balinesen kein besonderer Name existiert. Demselben Kreis-
lauf von 35 Tagen begegnen wir auch in dem astrologischen balinesischen Kalender, palalin-
tangan genannt, der namentlich dazu dient, die günstigen und ungünstigen Tage im Jahre
kennen zu lernen. Wir gehen aber wohl nicht fehl, bei der Annahme, daß diese Verbindung
von 35 Tagen oder 5 indischen Wochen in gewissem Sinne der Länge eines Monats entspricht,
da die ursprünglichen 10 Monate dieser Inselbewohner uns bei 10 X 35 Tagen annähernd die
Dauer des reinen Mondjahres von 354 Tagen geben würden.
Dem Balinesen ist auch eine Zeiteinteilung, wie sie in Indien, namentlich im Dekkan
und im größten Teil Hindostans bekannt ist, nach Mondmonaten geläufig, um diese mit dem
Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bringen, werden diese Mondmonate in jenes einge-
schaltet. Friederich sagt (33): ,,Obwohl auf Bali, infolge der unwissenschaftlichen Be-
rechnungen, die Weise der Bestimmung des Sonnenjahres unklar und kaum einigen gelehrten
Priestern (die selber die Gründe nicht gut auseinandersetzen können, bekannt ist, so ver-
stehen wir doch, aus den „Pengalihan wulan“ (,,Das Suchen des Mondes“) genannten
Tabellen, wie sie die Zeit der balinesischen Rechnung und Mondmonate in Übereinstimmung
bringen: 64 Mondmonate, wovon 30 zu 29 Tagen und 34 zu 30 Tagen, geben uns die Zahl
von 1890 Tagen, die mit 9 balinesischen Jahren zu 210 Tagen übereinstimmen.“
Der Beginn dieser Sonnenjahre wird von Caka an gerechnet, nach unserer Zeitrechnung
beginnt diese Periode am 14. März 78 v. Chr. Friederich sagt (34): „Jedoch ist diese Rech-
nung auf Bali wenig in Gebrauch und die geringen astronomischen Kenntnisse machen sie
sehr schwierig, doch muß sie des Landbaus und einiger Feste wegen beibehalten werden.
Die Einschaltung geschieht nicht gleichmäßig. In Indien werden in 5 Jahren 2 Monate
eingefügt, auf Bali kann teils der Monat Kartika 2 Monate umfassen, teils der Monat Asada
so lange dauern, bis das Sternbild der Plejaden (Krettika oder Kertika oder sanskr. Kritti-
EIN KALENDER AUS BALI
165
käh) sich beim Sonnenuntergänge zeigt. Die einzigen Sternbilder, die die Balinesen zu
solchen Berechnungen benutzen, sind die Plejaden und der Orion. Der letztere heißt Waluku,
der Pflug, auch mit dem indischen Namen langgala (im Malaiischen tengala) [im Bali-
nesischen auch tenggalä für das der Hofsprache angehörende walugu]; sie verstehen darunter
jedoch bloß die drei mittleren Sterne des Orion“ (den Gürtel des Orion oder den sogen.
Jakobsstab).
Zum Schluß darf nicht unerwähnt bleiben die Art, wie die Balinesen das Datum eines
Tages feststellen, auch hier hat Friederich (35) wieder die Grundlage für unsere Kenntnisse
geschaffen, folgen wir diesem trefflichen und gründlichen Gelehrten;
„Der Mondmonat wird in die weiße und die schwarze Hälfte eingeteilt: s’ukla-pak’sa
und kres’na-paUsa (eigentlich: „Der weiße Flügel“, „der schwarze Flügel“) gerade so wie
in Indien (s5ukla paksa, krsna-p.). Die Tage der weißen Hälfte heißen tanggal (Sichtbar-
werden des Mondes) und werden vom neuen bis zum vollen Monde gerechnet; die Tage der
schwarzen Hälfte heißen pangluang (nach van Eck „pängelong“ = Abnahme, Verminderung).
Um ein Datum anzugeben, nennt man den Tag der Woche, sowohl der indischen von 7 als
der polynesischen von 5 Tagen, den Namen der Woche (nach der balinesischen Einteilung
von 30 Wochen), ferner den Namen und die Hälfte des Mondmonats (die weiße oder die
schwarze), den Tag dieser Hälfte und endlich das Jahr, von Saka an gerechnet. Anstatt
des Saka-Jahres gibt man auch bloß das Jahr des Jahrhunderts an, in dem man das be-
treffende Jahrhundert als bekannt voraussetzt. Das Jahrhundert wird in 10 Abteilungen
von 10 Jahren eingeteilt; jede solche Abteilung heißt tenggek (Jahrzehnt), jedes einzelne
Jahr rah.
Versuchen wir auf Grund dieser Angaben den 18. Februar 1863 für die Balinesen
festzustellen:
legi-Buda Mittwoch (bei uns war es der Aschermittwoch)
wara; Djulung wangi Woche 9
Kahulu = Monat 8
sukla paksa pingkasa in der leuchtenden Hälfte des Mondes am 1. Tage
rah lima Jahr 5 also 85
tenggek kahulu Jahrzehnt 8 + 1700
= 1785 Saka + 78 = 1863 n. Ohr.
LITERATUR QUELLEN.
1. Wilken, G. A.: Het teilen bij nachten bij de volken
van het Maleisch-Polynesische ras, Batavia: Nijhoff
1886. Bijdr. v. h. Kon. Inst. v. d. T.-, L.- en Vk. v.
Ned. Indie V. R., I, pag. 378—392.
2. Friederich, R.: Voorloopig verslag van het eiland
Bali. Batavia: Lange & Co 1850. Verband. Bat. Gen.
deel 23, N0. 13, pag. 49—57-
3. Eck, R. van: Missive d. d. 1 Mai 1873. Batavia:
Bruining & Wijt 1873, pag. 79 Not. XI und 11 April
1874, pag. 62—69 Not. XII.
4. Nieuwenkam p, W. O. J. : Een ßalineesch kalender.
’s Gravenhage: Nijhoff 19x4. Bijdr. t. d. T.-, L.- en
Vk. v. Ned. Indie. Deel 69, pag. 112—126.
5. Rouffaer, G. P.: Encyclopaedie v. Ned. Indie. Deel
4, tijdrekening. ’s Gravenhage-Leiden: Nijhoff —
Brill o. J. pag. 445—459.
6. Friederich, R.: Oesana Bali. Batavia 1847. Tijdsch.
v. Ned. Indie. Deel 3, pag. 274.
7. Rouffaer, G. P.: 1. c. 5 pag. 453.
8. Meinsma, J. J.: Over de Tijdrekening der Teng-
gerezen. s’ Gravenhage: Nijhoff 1879. Bijdr. t. d.
T.-, L.- en Vk. v. Ned. Indie IV R., deel III, pag. 140.
9. Maaß, Alfred: Wahrsagekalender (Kutika) im
Leben der Malaien Zentral-Sumatras. Berlin: Beh-
rend & Co 1910. Zeitschr. f. Ethnol. Jhrg. 42,
pag. 750—775.
10. Nieuwenkamp, W. 0. J.: 1. c. 4, pag. 119.
ix. Nieuwenkamp, W. O. J.: 1. c. 4, pag. 121.
12. Nieuwenkamp, W. O. J.: 1. c. 4, pag. 121.
13. Eck, R. van: 1. c. 3, Not. XII (1874), Pag 67—-68.
14. Nieuwenkamp, W. O. J.: 1. c. 4, pag. 120—121.
15. Juynboll, H. Ff.; Katalog des Ethnogr. Reichs-
museums. Leiden; Brill 1912. Bd.VII Bali-Lombok,
pag. 112 nebst Anmerk. 5—6.
16. Nieuwenkamp, W. O. J.: 1. c. 4, pag. 120—121.
17. Raffles, Thomas Stamford: The history of
Java London: Black, Parbury ... 1817.Vol. 1, pag. 476.
18. Friederich, R.: 1. c. 2, pag. 52.
166 ALFRED MAASS
19. Eck, R. van: 1. c. 3, Not. XII, pag. 63.
20. Nieuwenkamp, W. 0. J.: 1. c. 4, pag. 122-—123.
21. Tuuk, Ef. N. van der: Kawi-Balineesch-Neder-
landsch woordenboek. Batavia 1912: Landsdrukkerij.
Deel IV, pag. 27.
22. Usana Bali: cfr. Tijdschr. v. Ned. Indie. Batavia
1847. ge j., Deel 3, pag. 273«. u. 339.
23. Usana Bali; 1. c. 22, pag. 263.
24. Usana Bali: 1. c. 22, pag. 264, 270—271.
25. Friederich, R. : I. c. 2, pag. 55—58.
26. Tuuk, H. N. van der: 1. c. 21. Deel 1 (1897), pag.
478 u. 823.
27. Nieuwenkamp, W. 0. J.: 1. c. 4, pag. 124.
28. Eck, R. van; 1. c. 3, Not. XI (1873), pag. 78—79 u.
Not. XII (1874), Pag- 62—63.
29. Brandes, J.: Omina et portenta. Batavia: Albrecht
& Co., ’s Hage: M. Nijhoff 1900. Tijdschr. Ind. T.-,
L.- e. Vk. deel XLII, pag. 323—343.
30. Juyn boli, H. H. : Supplement op den Catalogus van
de Javaansche en Madoereesche handschriften der
Leidsche Universiteits-Bibliotheek. Leiden : Brill
1911, deel 2, pag. 225—235.
31. Maaß, Alfred: Astrologische Kalender der Baline-
sen. Weltevreden; G. Kolff & Co 1929. Feestbundel
B. G. v. K. en W. II, pag. 126—157.
32. Friederich, R. : 1. c. 2, pag. 54—55.
33. Friederich, R. : 1. c. 2, pag. 50—51.
34. Friederich, R. ; 1. c. 2, pag. 49.
35. Friederich, R. : 1. c. 2, pag. 55.
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
VON FRANZ TERMER
Die Altertumsforschung in Mexiko und Mittelamerika ist seit den letzten 20 Jahren
in ein neues Stadium getreten. Neben den früher so eifrig getriebenen archivalischen, lin-
guistischen und quellenkundlichen Forschungen werden jetzt die Probleme der systematischen
Feldarbeit mehr in den Vordergrund gestellt, die vordem in weiten Gebieten dieser Länder
überhaupt fehlten oder nur auf enger umgrenzte Gegenden beschränkt waren. Man begnügte
sich damit, Ruinenplätze aufzuspüren und ihre sichtbaren Überreste durch Bild, Ab-
klatsch und Beschreibung für die Nachwelt zu erhalten. Aber an Grabungen größeren Um-
fangs war so lange nicht zu denken, als die technischen Schwierigkeiten des Verkehrs-
wesens, namentlich in Nordguatemala, bestanden. Heute, wo beispielsweise das Peten mit
Flugzeugen leicht von Guatemala-Stadt zu erreichen ist, sind solche Behinderungen schon
wesentlich verringert worden. Und wo noch vor 40 Jahren wegelose Urwälder die Ruinen
verbargen, führen heute schmale Pfade durch die Wildnis, in die in den letzten Jahren
immer häufiger Chidesammler vorgedrungen sind. Die vielfachen Entdeckungen bisher
unbekannter Ruinenstätten haben denn auch hinsichtlich ihrer prachtvollen Denkmäler die
i68
FRANZ TERMER
Frage nach ihrer Erhaltung nachdrücklich aufleben lassen, ohne daß gerade in jenen Wald-
gebieten mit wenigen auf nordamerikanischen Einfluß zurückzuführenden Ausnahmen bis
jetzt greifbare Erfolge erreicht worden wären. Die reichen Sammlungen vorkolumbischer
Altertümer in den Museen der Alten und Neuen Welt werden seit langen Jahren bearbeitet.
Aber die Art und Weise, wie dieses Material ursprünglich zusammengetragen wurde, die
Tatsache, daß es sich aus privaten, mehr durch Zufall erhaltenen Stücken zusammensetzte,
hat die volle Auswertung dieser Funde auf die Erkenntnis der alten Bevölkerungsverhältnisse
gehemmt.
Es wäre verkehrt, der amerikanischen Altertumskunde hieraus einen Vorwurf zu
machen, wie es hin und wieder von Seiten benachbarter Disziplinen geschieht. Vielmehr
spricht sich darin die Unkenntnis mit den vorwaltenden Einflüssen der Landesnatur, der
psychologischen Einstellung und der politisch-völkischen Tendenz der betreffenden Länder
und ihrer Bewohner aus, die von dem nicht bodenständigen Forscher zu berücksichtigen
sind und von ihm eine genaue Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse erfordern. Gerade
auch in diesen Fragen hat sich die Lage seit dem Weltkriege zugunsten nationaler Be-
strebungen in den einzelnen lateinamerikanischen Staaten verschärft. Ihre Folge ist bisher
gewesen, daß recht beachtliche Leistungen von landeseinheimischen Forschern zu ver-
zeichnen sind und daß das Streben der größeren Staaten, wie Mexikos und Perus, nach
eigenen Museen vortreffliche Einrichtungen dieser Art hat entstehen lassen.
Hierin spricht auch die nunmehr in verstärktem Maße auf genommene Feldarbeit
sich aus, mit der gegenwärtig in Mexiko und Yucatan großzügige Unternehmungen zur Er-
haltung bezw. Rekonstruktion alter Bauwerke verbunden sind. Die dankenswerte Über-
sicht, die Frans Blom vor kurzem über die in den Jahren 1929 und 193° geleistete archäo-
logische Arbeit in Mexiko und Mittelamerika gegeben hat1, beweist, wie emsig mexikanische
und vereinsstaatliche Forscher dort am Werke sind. Dabei zeigt sich zweierlei: daß die
deutsche Feldarbeit so gut wie völlig ausgeschaltet worden ist und daß sich die nordamerika-
nische Forschung auf das Hochland von Mexiko sowie das Mayagebiet von Yucatan und
Nordguatemala spezialisiert hat, während in Britisch Honduras von englischer Seite sehr
beachtenswerte Untersuchungen eingeleitet worden sind. So bedauerlich für die deutsche
Amerikanistik die Tatsache ihrer Fernhaltung gerade auf dem jetzt so vielversprechenden
Gebiete der Maya-Archäologie sein muß, auf dem sie früher grundlegende Forschungen
geleistet hat, so muß sie sich vorläufig damit abfinden, daß in Zukunft diese Lage sich nicht
zu ihren Gunsten verbessern wird. Die Entfernung der Arbeitsstätte von der heimatlichen
Basis und die hohen Kosten aller systematischen Grabungen, noch dazu in jenen tropischen
Tieflandsgegenden, können die deutschen und überhaupt die europäischen Fachleute den
von den Nordamerikanern erreichten Vorsprung nicht einholen lassen.
So müssen sich die deutschen Amerikanisten damit begnügen, weiterhin die museale
Arbeit, die Quellen- und Sprachforschung zu pflegen. Aber sie dürfen keine auch noch so
beschränkte Gelegenheit vorübergehen lassen, eigene Feldarbeit zu leisten oder eine eigene
Sammlertätigkeit in den mittelamerikanischen Gebieten zu entfalten. Ich selbst habe daher
auf meinen von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und der geographischen
Gesellschaft in Hamburg sowie von dem Hamburger Hause Schiubach, Thiemer & Co. unter-
stützten mehrjährigen Reisen im nördlichen Mittelamerika, die an sich geographischen und
völkerkundlichen Studien gewidmet waren, es nicht unterlassen, auch hier und dort archäo-
logische Beobachtungen anzustellen und Sammlungen anzulegen, die gerade deshalb, weil
in den Hochländern und an der pazifischen Abdachung von Guatemala erfolgt (neben
1 Frans Blom in; Summary of archaeological work in Union, American Archaeology Series, no. 5, Washington
the Americas during 1929 and 1930. (The Panamerican 1931. S. I—15).
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA 169
einigen Teilen der Republik El Salvador), vielleicht nicht ganz nutzlos für weitere For-
schungen in der Zukunft sein dürften.
Die Untersuchungen lassen sich in zwei Gruppen sondern: Beobachtungen über Ruinen-
plätze und Sammeln von Altertümern. Die folgenden Mitteilungen beschränken sich nur
auf die zweite Gruppe. Sie verfolgen den Zweck, die rein tatsächlichen Feststellungen der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von weitergehenden Schlußfolgerungen auf Grund
des Materials ist absichtlich noch Abstand genommen worden. Denn dazu ist dieses ent-
weder noch nicht vollständig genug oder würde ein so umfangreiches Studium anderer
Sammlungen erfordern, wie es mir gegenwärtig anderweitige, dringendere Arbeiten nicht
ermöglichen.
Nordwest-Guatemala.
Seitdem Eduard Seler seine grundlegenden Untersuchungen über die Altertümer von
Chaculä veröffentlicht hatte, waren keine bedeutenderen Funde aus jener Gegend bekannt
geworden. Überhaupt wurde der Nordwesten der Republik Guatemala ganz allgemein in
wissenschaftlicher Hinsicht stiefmütterlich behandelt. Die entlegenen, unwirtlichen Gebirgs-
züge der Altos Cuchumatanes, geographisch kaum näher bekannt, hatten erst recht keinen
Anlaß geboten, nach Spuren der vorspanischen Bevölkerungen zu suchen. Da Ruinen dort
nicht fehlen, mußte erwartet werden, daß einmal auch aus diesem Gebiete Altertümer ein-
gebracht werden würden.
Als ich daher auf meiner Reise im Jahre 1926 die Cuchumatanes zum ersten Male
durchwanderte, fahndete ich nach solchen und erhielt zunächst einige Bruchstücke von
Tongefäßen sowie die Schale eines Räucherlöffels aus den Hügeln von Quisil, einem
Weiler südlich des Dorfes San Juan Ixcoy. Die Scherben zeigen auf rötlichem Untergründe
ein Muster von geometrischen Figuren, Kreisen und Punkten, in dunkelroter und weißer
Farbe. Ein großer Räucherlöffel aus Ton trägt ein mit Stempel eingeprägtes geometrisches
Reliefmuster, in dem der Wickelmäander auftritt. Der Löffel ähnelt den aus Mexiko be-
kannten Stücken, ist aber einfacher als diese gehalten, weil er weder Bemalung noch das
durchbrochene Gittermuster besitzt, wie es die schönen Stücke im Nationalmuseum der
Stadt Mexiko zeigen. Die groben Tonscherben müssen dickwandigen, großen Gefäßen an-
gehört haben. Ihre Bemalung ist bisher ohne Parallele. Auch zu den Stücken aus Chaculä
oder vom südlichen Vorgelände der Cuchumatanes bei Huehuetenango bestehen anschei-
nend keine Beziehungen.
In Chaculä selbst, wo ich mich mit dem jüngsten Mitglied der Familie Kanter einige
Tage aufhielt, ist die schöne von E. Seler beschriebene Sammlung der Familie Kanter
heute nur noch zum Teil erhalten geblieben, worauf schon an anderem Orte hingewiesen
wurde1. Besonders schlimm ist unter den Tongefäßen gehaust worden. Die auf Befehl des
damaligen Landespräsidenten die Hacienda besetzt haltenden Truppen wählten viele
kostbare Gefäße und Figuren zur Zielscheibe für ihre Feuerwaffen, andere zerschlugen
sie, noch mehr wurde fortgeschleppt. Um so dankbarer muß man daher dem Schwieger-
sohn des Herrn Kanter, Herrn Gustavo Kaehler, sein, der einige Jahre vor der Plünderung
den größten Teil der Sammlung photographierte. Sie enthielt viele Funde, die erst nach dem
Besuch des Ehepaares Seler in den Jahren 1895/96 entdeckt worden waren. Die betreffenden
Aufnahmen sind inzwischen, wenn auch technisch mangelhaft, veröffentlicht worden1 2.
1 Franz Termer, Berichte über Reisen in Mittelamerika.’
Mitteilungen der geogr. Gesellsch. in Hamburg, Bd. 38,
1927. S. 19h).
2 Anales de la Sociedad de Geografia e Historia de Gua-
24 Baessler-Archiv.
temala, Tomo IV, 1927/28, S. 254—264. — Antonio
Villacorta C., Arqueologia Guatemalteca, Guatemala
1930. S. 144—155-
Abb. i. Chaculä. Departamento
Huehuetenango. ca. V? n- Gr.
Eine erneute Herausgabe dieser Bilder in technisch einwandfreier Wiedergabe wäre außer-
ordentlich wünschenswert. Platzmangel verbietet sie hier zu reproduzieren.
Wir fanden 1926 in den halbverfallenen Zimmern des Wohngebäudes unter einem
Trümmerhaufen zum Glück noch ein vollständig erhaltenes Räuchergefäß, das von Herrn
Gustavo Kanter mir freundlichst geschenkt wurde und das zusammen mit anderen Bruch-
stücken auch nachher abtransportiert werden konnte.
Dieses Gefäß (Abb. 1) gehört zu den besten Arbeiten der alten Chaculä-Künstler.
Es läßt sich durchaus neben die schönen großen durchbrochenen Räuchergefäße stellen,
wie sie von Seler beschrieben worden sind und von
denen das Berliner Museum einige Exemplare besitzt.
In unserem Falle weicht das Gefäß von den übrigen in
Form und Stil ab. Der imDurchmesser (180 : 200 mm)
ovale Zylinder des Beckens trägt zwar an den Seiten
die aus Chaculä bekannten flügelartigen Ansätze mit
bandartiger Leiste und den wulstartig gekrümmten
Ornamenten. Aber anstelle des phantastischen Gesich-
tes der Gottheit des Westens (nach Seler) ist hier die
kauernde Figur eines anderen Gottes angebracht, dessen
Unterarme auf den Knieen aufgestützt ruhen, eine
Haltung, die man heute noch oft bei rastenden In-
dianern beobachten kann. Der lebendig und ausdrucks-
voll modellierte Kopf sieht aus einem großen, halb-
kreisförmigen Kopfputz heraus, auf dessen muschel-
artig gewölbter Innenseite ein Rautenmuster angebracht ist. Bruchstücke ähnlicher Gebilde
besitzt die Berliner Sammlung1. Der Schädel ist nach hinten abgeplattet, was auf eine künst-
liche Deformierung hinweist, wie sie bei den alten Maya üblich war. Die schlitzförmigen
Lidspalten erinnern an die Darstellungen der Figuren auf den Mayamonumenten in Nord-
guatemala. Wie bei ihnen sind auch in unserm Falle die Pupillen nicht angegeben. Die stark
vorspringende, gewölbte Nase trägt als Schmuck zwei perlförmige Knöpfe, die als Endver-
zierung eines durch das Septum gesteckten Nasenstabes gedacht sind. Auf den Wangen
sind ebenfalls Schmuckknöpfe angebracht. Es könnten aber auch einfache Wangenflecke
sein, wie sie als Kennzeichen des mexikanischen Regengottes Tlaloc auftreten. Die Ohren,
durch rechteckige Platten markiert, tragen große runde Ohrpflöcke mit einem Rosetten-
muster, wie es Bruchstücke von Tonfiguren aus der Alta Verapaz zeigen2. Das Kinn ist
durch ein Band mit Steinperlen geschmückt. Die Figur ist mit einem Brustschmuck aus-
gestattet, der als gedrehte Schnur um den Nacken gelegt ist und dessen Enden, vom Sternum
abstehend, durch ein Stäbchen oder einen länglichen Stein zusammengehalten werden.
Hand- und Fußgelenke umgeben je zwei Ringe. Der Künstler hat auf die Herausmodel-
lierung der Extremitäten kein großes Gewicht gelegt. Hände und Füße sind daher nur
roh angedeutet. Bemerkenswert ist, daß offenbar mit Absicht der rechte Fuß rudimentär
gearbeitet ist. Spuren von weißer Bemalung sind an verschiedenen Stellen der Figur wie
auf den Flügelansätzen vorhanden. Ursprünglich wird auch dieses Gefäß noch mit blauer
Farbe bemalt gewesen sein3.
Zur Identifizierung der Götterfigur wäre zu bemerken, daß nach dem von E. P. Diesel-
dorff vertretenen Schema des alten und jungen Gottes (Mam und Tzultacä) unsere Figur
als Tzultacä einwandfrei zu deuten wäre. Wichtig erscheint mir aber vor allem, neben
1 Eduard Seler, Die alten Ansiedlungen von Chaculä,
Berlin 1901. S. 139. Abb. 198, 199.
2 Ed. Seler, Altertümer aus Guatemala. (Mitt. Mus.
f. Völkerk. Berlin, Bd. IV, Eleft 1 (1895), S. 36, Abb. 36.)
Ed. Seler, Die alten Ansiedlungen von Chaculä, S. 172,
Fig. 247.
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
171
der Kennzeichnung der Figur als der eines jugendlichen Gottes, die Andeutung zu sein,
daß sie als einfüßig dargestellt wird. Man könnte an eine Parallele zu dem mexikanischen
Tetzcatlipoca denken, dem Mondgotte, dem ein so weitreichender Einfluß auf das Gedeihen
von Saat und Ernte zugeschrieben wurde, der als jugendlicher Vegetationsgott oft in den
Codices begegnet und als solcher auch in den Kulten Altmexicos eine bedeutende Rolle
spielte. Das Mayagebiet Guatemalas kennt als einfüßigen oder einbeinigen Gott den Hura-
can, den Gott des Sturmes und Gewitters, der in Beziehung zu Witterungsvorgängen, zur
Vegetation, aber auch zum Feuer stand. Er wird in dem Sagenbuche der Quiche-Indianer,
dem Popol Vuh, geradezu als ,,u K’ux cah“, als ,,Herz des Himmels“ bezeichnet.
Ein aus grobem Ton bestehendes Bruchstück von einem anderen Räuchergefäß zeigt
die Gottheit des Westens (nach Seler) mit dem charakteristischen unter den Augen und über
der Nasenwurzel verlaufenden Wulst nebst den hauerartigen Eckzähnen, die aus den
Mundwinkeln hervorragen. Als Nasenschmuck wird ein Pflock in der durchbohrten Nasen-
scheidewand getragen.
In den nördlichen Tälern der Cuchumatanes finden sich an verschiedenen Stellen
Ruinenplätze. Unter ihnen sind am bedeutendsten die Anlagen von San Mateo Ixtatän.
Es handelt sich dort um zwei getrennte Plätze, deren einer, unmittelbar östlich des heutigen
Dorfes auf schmalem Talsporn gelegen, den Namen Uaxaclajün (,,die Achtzehn“) trägt,
aber auch von den Indianern „Cat ec pan“ (am Palast) genannt wird. Langgestreckte, in
Terrassen aufsteigende, rechteckige Erdwerke umgeben zwei Höfe, in deren Mitte eine
niedrige Pyramide errichtet ist, ein Grundrißschema, das sich bei vielen Ruinenplätzen der
Hochländer Guatemalas, besonders im Quichegebiet, findet und das ich versucht bin, auf
mexikanische Einwanderer zurückzuführen. Deren Anwesenheit wird nicht nur durch die in
dem Popol Vuh und den Cakchiquel-Annalen erhaltenen Nachrichten dokumentiert, sondern,
wie wir unten sehen werden, auch durch direkte Funde bewiesen.
Der andere Platz liegt nördlich des Dorfes am Talgehänge und heißt „Yolchunab“
(im Dorfe). Der Hang ist künstlich terrassiert, und auf dem breitesten Terrassenabsatz ist
eine einstufige Pyramide errichtet, zu der an den vier Seiten Treppen zur Plattform hinauf-
führen. Auf ihr erheben sich die Reste eines Tempels mit einem einzigen rechteckigen Ge-
mach. Hangaufwärts sieht man noch weitere, stark zerstörte Reste von altem Mauerwerk,
das als Versteifung des terrassierten Gehänges diente.1
Von Altertümern ist mir aus den beiden Orten nichts bekannt geworden. Sollten solche
ans Tageslicht gekommen sein, so dürften sie von den heutigen Indianern verborgen gehalten
werden, die noch in der Gegenwart die Ruinen mit argwöhnischem Verhalten vor der Zu-
dringlichkeit fremder Forscher schützen.
Kleine verlassene Tempelanlagen trafen die Spanier in den Urwäldern der nördlichen
Cuchumatanes an, als ihre Erkundungszüge im 17. Jahrhundert sie zur Aufsuchung der
Lacandonen von Santa Eulalia aus in die Gegend des heutigen Barilias führten. Ich selbst
hörte nur von alten Hügeln bei dem Weiler Chujzunil, ferner im Osten von San Pedro
Soloma und sah solche bei der Mühle von Quisil sowie bei San Juan Ixcoy.
Während also aus dieser Gegend bisher nur sehr wenig oder nichts über Altertümer be-
kannt geworden ist, bieten die östlichen Cuchumatanes bei dem Weiler Horn eine sehr be-
achtenswerte Stelle, die hier mit dem Namen „Xacbal“ nach dem gleichnamigen Fluß in
der Nähe bezeichnet werden soll.
Eine Stunde östlich von Ilom finden sich auf einer Flußterrasse des linken Ufers mindestens
acht alte Grabhügel. Das Gelände wird heute von einem Maisfeld bedeckt, aus dem die
2—3 m hohen Tumuli herrausragen. Sie liegen entweder auf der Flußterrasse selbst oder
1 Fr. Termer, Archäologische Studien und Beobachtungen berichte der Gesellschaft für Völkerkunde. Leipzig 1929.
in Guatemala in den Jahren 1925—1929. (Tagungs- S. 92h).
24:
^ ■ t*
t 7 2
FRANZ TERMER
sind an dem flach geböschten Hang über derselben aufgeführt worden. Soweit sich über-
blicken ließ, waren sie regellos im Gelände zerstreut. Diese Tumuli, sofern sie bis jetzt von
dem Inhaber einer benachbarten Plantage angegraben wurden, weichen in ihrer Konstruk-
tion von sämtlichen mir bekannten ähnlichen Bauwerken im Hochlande von Guatemala ab.
Denn sie bestehen aus einem teils in dem gewachsenen Erdboden teils auf ihm angelegten
rechteckigen Grabgewölbe von fast quadratischem Grundriß. Wände und Decke sind aus
Kalksteinen aufgemauert, wogegen der Boden aus festgestampfter Erde besteht. Die Decke
ist in der bekannten Art des Mayagewölbes konstruiert und ragt über das Niveau des ge-
wachsenen Bodens auch in den Fällen empor, wo das Gewölbe zum Teil in diesem aus-
geschachtet wurde. Uber dem Gewölbe ist aus lockerem Erdreich der kuppelförmige Tu-
mulus aufgeschichtet, dessen Außenseite mit behauenen Steinquadern belegt ist. Von außen
führt ein niedriger, schmaler Gang in das Gewölbe. Man muß ihn auf allen Vieren kriechend
passieren, um in das Innere zu gelangen. Als Verschluß diente eine größere Steinplatte.
Diese Konstruktion findet ihre Parallele in den Grabgewölben von Palenque, wie sie
Frans Blom dort freigelegt hat.1 Ferner ist ihr Vorkommen im Mayagebiet von Britisch
Honduras bedeutsam, wie die soeben erschienene Arbeit von EricThompson zeigt.1 2 Zwischen
beiden Arten der Grabkammern besteht eine solche Übereinstimmung, daß man sie für die
Werke eines und desselben Volkes odereiner und derselben Kulturperiode halten möchte.
Wir müssen daher annehmen, daß als Erbauer der Gräber von Xacbal ebenfalls Maya-
stämme in Frage kamen. Damit hätten wir hier den am weitesten nach Süden in die Ketten-
gebirge von Guatemala vorgeschobenen Punkt jener typischen Architektur, der sicher in eine
weit zurückreichende Vergangenheit zu setzen ist, wie die geborgenen Altertümer beweisen.
Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts war ein schön bemaltes Figurengefäß von
echtem Mayastil mit der Herkunftsbezeichnung aus Nebaj bekannt geworden, das Herr
C. L. Fleischmann von den indianischen Behörden jenes großen Dorfes erhalten hatte.3
In den folgenden Jahren gelangten noch weitere Stücke aus jenem Gebiet in seinen Besitz
nach London, die zum Teil dem Britischen Museum überwiesen wurden.4 Ich glaube nicht,
daß diese Stücke aus Nebaj selbst stammen. Tatsächlich liegen nun in unmittelbarer Nach-
barschaft des Dorfes einige Erdhügel, und einen Tagesritt entfernt im Nordwesten trifft
man auf den größeren Ruinenplatz von Salquil Grande. Von beiden Stellen sollen aber,
wie mir in Nebaj versichert wurde, nur unbedeutende Überreste geborgen worden sein.
Anlage und Baustil dieser Ruinen stellen sie in die Reihe der für das zentrale Guatemala
charakteristischen Bauten einer verhältnißmäßig jungen Zeit mit mexikanischem Ein-
schlag. Ich möchte sogar annehmen, daß wir es hier mit dem Zentrum jenes Teilreiches zu
tun haben, über das uns vage Nachrichten in dem Tanzschauspiel des Rabinal Achi über-
liefert sind und das dort geradezu mit den „Yaqui“, den mexikanischen Einwanderern, in
Verbindung gebracht wird. Ließe man also die Herkunftsangabe „Nebaj“ bei diesen früher
bekannt gewordenen Stücken als zu Recht bestehen, so müßte man bei diesen Gefäßen an
dorthin durch Handel oder als Beutestücke verschleppte Gegenstände denken.
Der Besuch der Ruinen von Xacbal hat mir gezeigt, daß aller Wahrscheinlichkeit nach
das Hieroglyphengefäß und die anderen Stücke der Sammlung Fleischmann ebenfalls aus
dieser Gegend stammen dürften. Das Gleiche ist mit dem Zackengefäß der Fall, das Seler
aus „Nebaj“ beschrieben hat und das, wie wir sehen werden, ebenfalls auf die Gegend von
Ilom hinweist.5 Dieses Dorf gehört in der Verwaltungseinteilung des Landes zum Distrikt
1 Tribes and Temples. New Orleans 1926. Vol. 1. S. 180 bis
188.
2 J. Eric Thompson, Archaeological Investigations in the
Southern Cayo District British Honduras. (Field Mu-
seum of Natural Flistory. Publication 301. Anthro-
pological Series, vol. 17, no. 3.) Chicago 1931. — Vgl.
besonders Fig. 3, 8 b und 10a.
Ed. Seler, Gesamm. Abhandl. Bd. III. S. 717ff.
Vgl. Th. A. Joyce, Mexican Archaeology, 2. A. (1920),
Fig. 71 (S. 314) u. Fig. 72 (S. 316).
Ed. Seler, Gesamm. Abhandl. Bd. III. S. 626.
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
1 73
von Chajul und Nebaj. Letzteres ist der Hauptort der östlichen Cuchumatanes und bildet
heute die Ausgangsstation für den Verkehr in jenes entlegene Gebiet. Es ist daher wohl zu
denken, daß man die Stücke damals ganz allgemein als aus der „Gegend“ von Nebaj
stammend bezeichnen wollte.
Als drittes Argument, das für die Herkunft des Hieroglyphengefäßes, des Zacken-
gefäßes und der übrigen Objekte ausllom spricht, möchte ich anführen, daß Herr Fleisch-
mann später noch ähnliche Stücke durch Herrn Lisandro Gordillo Galán erhielt, der seit
30 Jahren einige Plantagen bei Ilom besitzt und dort noch heute ansässig ist. Wie er mir
selbst mitteilte, hatte er vor nicht allzu langer Zeit noch mehrere mit Figuren bemalte
Vasen, ähnlich den früheren, an Herrn Fleischmann abgegeben, die dann nach England
gekommen wären. Es wird sich zeigen, daß darüber hinaus die zu besprechenden Altertümer
aus Ilom unsere Vermutung stützen werden.
Als ich im Jahre 1927 auf die Plantage „Santa Delfina“ des Herrn Lisandro Gordillo
Galán gelangte, war dort gerade eine größere Anzahl von Altertümern aus zwei vor kurzem
geöffneten Grabhügeln bei Xacbal aufgestellt worden. Es gelang mir, die besten Stücke zu
erwerben, deren Beschreibung hier folgt.
Ein Prachtstück ist das große Räuchergefäß mit dem Antlitz des Sonnengottes der
Maya, Kinich Ahau (Abb. 2). Die Höhe beträgt 41 cm, der Durchmesser 36 cm, die Tiefe
des Beckens 32,3 cm. Der hohle Fuß ist leicht nach außen gebogen. Der obere Rand des
Abb. 2. Ilóm. Departamento Quiche.
Gefäßes ist mit einem einfachen Kerbmuster verziert, das durch Fingereindrücke in den
noch plastischen Ton hervorgerufen wurde. Von Bemalung sind keinerlei Spuren wahrnehm-
bar. Daß der Sonnengott dargestellt ist, wird kenntlich an den großen Eckzähnen, die aus
den Mundwinkeln hervorragen, und durch die in dem geöffnetem Munde sichtbaren Schneide-
zähne. Während aber sonst bei dem Sonnengott nur die beiden oberen Schneidezähne, und
zwar winklig ausgefeilt, abgebildet werden, hat hier der Künstler sie durch eine einfache
Platte stilisiert, ohne aber dabei zu unterlassen, die Feilung durch je eine Kerbe an beiden
Seiten hervorzuheben. Die Ohren tragen große runde Ohrpflöcke, ähnlich denen der Chaculá-
Figuren. Auffallend ist das Fehlen des für den Gott charakteristischen Bartes am Kinn.
Dafür besitzt unsere Figur eine Halsschleife, die in der Mitte verknotet ist.
Wie bei fast allen Räuchergefäßen des Mayagebietes in Nordguatemala und Britisch
Honduras zeigt auch das unsrige zwei mächtige seitliche Ansätze, die flügelartig geschweift
sind. Vielleicht soll damit eine Nackenschleife angedeutet sein, die durch ein Band in der
Mitte gerafft ist.
Abb. 4. Ilóm. Departamento Quiche.
Für die Altertümer von Ilom ist charakteristisch, daß sich zwei verschiedene Stilarten
unterscheiden lassen. Der einen, der auch das eben beschriebene Stück angehört, sind künst-
lerisch hochstehende Tongefäße zuzurechnen, die andere umfaßt roh gearbeitete Gefäße,
die eher auf eine späte Entstehungszeit hinweisen, als die alte Mayakunst schon in Verfall
geraten war.
In die erstere Gruppe sind schöne bunt bemalte Tonschalen einzureihen (Abb. 3). Die
eine zeigt in der Schalenfläche eine nur in Resten erhaltene Figur (Abb. 4), deren Umrisse
ähnlich den Blütenmustern zu sein scheinen, wie sie in den Fresken von Palenque auftreten
und vonSeler beschrieben worden sind2. Diese ist von einem Kranz von Dreiecken umgeben,
deren Flächen mit parallelen Finien bedeckt sind. Dreieckmuster dieser Art habe ich als
Ritzzeichnungen auf Tonscherben aus San Andres Osuna an der pazifischen Küste von
Guatemala gefunden.
Die Schalenfläche wird durch einen erhöhten, nach außen gebogenen Rand begrenzt,
der auf orangefarbigem Grunde ein aus gekreuzten Bändern bestehendes Muster zeigt Die
weißen Bänder sind mit dunklen Punkten besetzt. In den Zwickeln zwischen ihnen ist der
freie Raum durch helle rhombische Figuren erfüllt, die in der Mitte der Rhombenfläche je
einen dunklen Fleck tragen. Diese Randzeichnung ist nach oben und unten durch dunkle
Finien abgesetzt. Der nach außen gebogene Teil des Randes trägt wiederum Dreiecke mit
Strichzeichnung.
Auffällig ist die äußere Verzierung der Schale. Sie wird durch einen Kranz abstehender,
durchbohrter Zapfen gebildet, wie sie aus anderen Gegenden das Mayagebietes oder Mexicos
m. W. noch nicht bekannt geworden sind. Eine Vorstufe dazu sind die Tonschalen, die Eric
1 Thomas Gann, Mystery Cities, London 1925, Titelbild.
2 Ed. Selen Beobachtungen u. Studien in den Ruinen
von Palenque. (Abh. d. Preuß. Akademie d. Wiss.
Phil.-histor. Klasse, Berlin 1915, S. 1x5).
1
FRANZ TERMER
I 76
Nb
i iX
Thompson in Britisch Honduras ausgegraben und soeben veröffentlicht hat1; wiederum
eine auffällige Übereinstimmung zwischen Ilom und dem entfernten Gebiet, wie wir sie oben
bei den Grabkammern kennen lernten. Die stufenförmig abgesetzten Füße dagegen er-
innern an Gefäßfüße, wie sie die Berliner Sammlung Jimeno besitzt. Leider sind in dieser
sämtliche Stücke nur mit der Herkunftsbezeichnung „Yucatan“ versehen, so daß es fraglich
bleibt, ob nicht auch diese mehr aus den südlichen Teilen der Halbinsel bzw. aus Nord-
guatemala stammen.
Ein anderes prächtiges Stück ist eine Tonschale mit außen vorspringender glatter
Kante (Abb. 5). Sie ruht nicht auf Füßen, sondern auf einem nach unten sich verjüngenden
Absatz, wie ihn andere Schalen von Ilom zeigen (Abb. p)2. Der Rand ist glatt und außen
auf hellem Grunde mit zwei roten um die Schale laufenden Linien verziert.
Eigenartig ist die Bemalung deslnne-
;;; ren der Schale (Abb. 5 a). Auf rotbraunem
Grunde sind zwei größere Tierfiguren in
roter Farbe mit schwarzen Konturen auf-
getragen, deren in den Gelenken gebeugte
Beine den Eindruck hervorrufen sollen, als
wenn die Tiere in laufender oder sprin-
gender Bewegung begriffen sind. Deutlich
sind an den Vorder- und Hinterbeinen
paarige Zehen von hufartiger Beschaffen-
heit in schwarzer Farbe angegeben. Der
lang vorgestreckte Kopf trägt ein großes
schlitzförmiges Auge, die dunkle Nasen-
spitze ist deutlich abgesetzt. Aus dem leicht
geöffneten Rachen windet sich eine Volute, wie sie bei Figuren wiedergegeben zu werden
pflegt, die als redend, singend oder allgemein als Laute von sich gebend bezeichnet werden
sollen. In unserem Falle denkt man an ein schreiendes oder brüllendes Tier. Am Kopfe
sind zwei lange, nach hinten übergelegte Ohren gezeichnet. Der Schwanz ist mittellang, dick
und liegt dem Hinterteil fest an.
Ein Vergleich mit den Tierfiguren in den mexikanischen und Maya-Handschriften
lehrt, daß es sich hier um eine Hirschkuh oder ein Hirschkalb handelt. Es ist der Virginia-
hirsch (Odontocoelus sp.), der sich durch seinen ziemlich langen Wedel auszeichnet. Uber
die mythologische Bedeutung des Tieres hat Seler bereits gehandelt3.
Auf unserer Schale werden die beiden Tierfiguren voneinander getrennt durch ein ver-
schlungenes Band von schwarzer Farbe, in dessen Zwischenräumen sich als Füllsel rote
Netzgitter ausbreiten. Mit diesem Bande verschlungen ist ein anderes, das rings um die
Fläche der Schüssel verläuft. Auf dieses folgt nach außen ein rotes Band. Am Rande selbst
sind dunkle Dreiecke angegeben.
Derartige Tonschalen sind aus dem Mayagebiet auch sonst bekannt geworden. Sie
scheinen besonders typisch für das Gebiet des „Älteren Reiches“ zu sein, treten aber auch
in Britisch Honduras auf. Die Berliner Sammlung besitzt einige ähnliche Schüsseln ohne
nähere Herkunftsangabe. Durch die treffend wiedergegebene charakteristische Bewegung
und Körperhaltung der beiden Tierfiguren sowie die feine Bemalung der anderen mit Zapfen-
rand versehenen Schale reihen sich beide Stücke aus Xacbal unter die besten Erzeugnisse
des Mayagebietes ein.
Eine Anzahl von anderen Tonschalen aus Xacbal (Abb. 6—7) besitzt teils drei hohle,
Abb. 5. Ilóm. Departamento Quiche.
1 E. Thompson, a. a. 0. Taf. 45, no. I u. 3.
2 Vgl. E. P. Dieseldorff, Kunst und Religion der Maya-
völker. Berlin 1926, Taf. 19. Fig. 93, 94, 100.
Ed. Seler, Gesamm. Abhandl. Bd. IV. S. 539ff.
«
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA i 7 7
mit rasselnden Tonkngeln versehene Füße, teils drei rudimentäre Fußansätze; andere sind
fußlos und haben einen Wulst oder Ring als Basis. Sie sind entweder einfach rot bemalt
und zeigen ein Dellenmuster oder tragen eine Bemalung mit roten Linien. Bei dem Stück
Abb. 6 tritt an der Außenseite eine Leiste hervor, wie sie auch an der Schale Abb. 5 zu
bemerken ist. Ausgezeichnete Stücke sind die Tongefäße in der Abb. 13, 14. Das eine
davon (Abb. 13) besteht aus einer nur 1 mm dicken Wandung aus dunklem Ton. An der
Außenseite ist durch drei schmale Leisten eine Gliederung in zwei Bänder hervorgerufen,
6 7 8
Q IO II
Abb. 6, 7, 9—11. 116m. Departamento Quiche.
Abb. 8. San Andres Osuna. Departamento Escuintla.
die mit senkrechten Rillen bedeckt sind, wie sie ebenfalls das Gefäß in der Abb. 14 zeigt.
Um den oberen Rand läuft ein Dellenornament, während auf den drei Leisten Buckel an-
gegeben sind. Auf den beiden oberen Leisten sind es ihrer acht, die sich kreuzweise gegen-
über stehen. Auf der unteren Leiste finden sich nur sechs Buckel, die nicht symmetrisch
zu den oberen angeordnet sind.
Von gleich feiner Arbeit ist das Gefäß in der Abb. 14. Auch bei ihm findet sich der ein-
gedellte obere Rand, ein mit Riefeln bedecktes Band und eine mit sechs Buckeln besetzte
Leiste. Der gewölbte untere Teil des Gefäßes zeigt ein Ritzornament. Sechsfach wiederholt
erscheint ein von konzentrischen Ringen eingefaßter Kreis, der von vier Voluten außen
geschmückt ist. Nach unten hängen zwei lange Voluten herab, die durch eine Kerblinie
mit dem Kreise verbunden sind. Seine Fläche wird von einem seltenen Ornament eingenom-
men, für das mir keine Parallelen aus der Mayakunst bisher bekannt geworden sind. An-
klänge daran weist ein Tongefäß aus der mexikanischen Golfregion auf, das Hermann Strebei
abgebildet hat1. Eigenartig ist das dunkle Tongefäß (Abb. 12), das mit der rohen Andeutung
eines Tieres verziert ist.
Aus einem sehr fein gebrannten Ton besteht das Gefäß in der Abb. 20, das mit einem
Muster von Rillen geschmückt ist. Am oberen Rande wechseln jeweils sechs vertiefte Rillen
mit fünf nach oben zugespitzten ovalen Gebilden ab, die aufgemalt sind. Die erhabenen
Ränder zwischen den Rillen sind mit roter Farbe bemalt. Das ganze Gefäß ist mit einer
feinen Stuckschicht überzogen, auf die eine glänzende, orangegelbe Farbe auf getragen ist.
Rillenmuster weist auch die Sammlung Jimeno im Berliner Museum unter ihren Stücken
1 Hermann Strebei, Über Ornamente auf Tongefäßen aus Alt-Mexico, Hamburg u. Leipzig 1904, Taf. 3 no. 49.
25 Baessler-Archiv.
i78
FRANZ TERMER
i2 13
Abb. 12 —14. Ilóm. Departamento Quiché.
14
auf, ohne daß sich diese an Feinheit der Ausführung mit den Gefäßen aus Xacbal messen
können.
In die Gruppe der feinen Keramik gehören schließlich mit Stucküberzug bedeckte und
bemalte oder unbemalte zylindrische und bauchige Tongefäße (Abb. 9—11). Die Bemalung
beschränkt sich auf einfache Linienornamente (Abb. 11) oder figürliche Darstellungen.
Hierzu rechnet das Hieroglyphengefäß (Abb. 10), das eine nicht näher bestimmbare Hiero-
glyphe in wiederholter gleicher Form zeigt. Wie bei gleichartigen Vorkommnissen im Maya-
gebiet ist die Hieroglyphe nichts weiter als ein Schmuckzierat. Hieroglyphen scheinen
auch auf dem Rande eines anderen Gefäßes (Abb. 9) dargestellt gewesen zu sein, wo sie mit
gekreuzten Balken abwechselten. Sie sind schon soweit zerstört, daß ihre Deutung nicht
mehr möglich ist. Auf einem anderen Stück scheint eine in weißem Felde angebrachte Volute
den Schmuck des Gefäßrandes gebildet zu haben. Ein Tonbecher mit drei niedrigen Füßen
zeigt die aus dem Mayagebiet bekannte Form. Von seiner ursprünglichen Bemalung sind
nur noch undeutliche Reste vorhanden.
Die zweite Gruppe typischer Gefäße von Xac-
bal umfaßt Zackengefäße, die in größerer Anzahl
in den Gräbern gefunden wurden. Im Gegensatz zu
den vorher beschriebenen Stücken handelt es sich
um eine roher gearbeitete Ware, die auch schlech-
ter gebrannt ist und mit Ausnahme des großen
Räucherbeckens (Abb. 15) keinerlei Bemalung
zeigt. Dieses Becken bildet unter der Gruppe das
Glanzstück; schon wegen seiner Größe fällt es
auf (Höhe 244 mm, Durchmesser 294 mm). Diese
wie die übrigen Räucherschalen (Abb. 16,17) haben
drei oder vier Füße, die entweder schräg oder senkrecht an die Schale angesetzt sind. Ihr
Rand ist glatt oder umgebogen und bisweilen mit einer Kerb- bzw. Dellenverzierung ver-
sehen. Sie bedeckt auch die Füße einiger Schalen. Die Dellen sind dort auf Leisten angeord-
net, wobei die Zahl der einzelnen Dellen auf ihnen nicht immer gleichmäßig angebracht ist,
so daß man den Eindruck einer flüchtigen Arbeit gewinnt. Die Schale (Abb. 16) trägt
außerdem noch Zackenornamente, die mit Dellen abwechseln. Auf dem großen Gefäß in
der Abb. 15 finden sich die Zacken zu je 16 in Reihen angeordnet. Es sind drei solcher
Felder vorhanden. Die Füße sind mit je sechs Zackenreihen besetzt, von denen die äuße-
ren je 4, die inneren Reihen je 3 Zacken aufweisen. Die weiße Bemalung überzieht auch die
Füße und den unteren Rand des Beckens. Fast alle Gefäße weisen im Inneren Brandspuren
auf. Die Form solcher Schalen ist aus Nordguatemala bekannt. Lothrop hat sie geradezu
als „Petenstil“ bezeichnet und sie in die letzten Zeiten des ,,Alten Reiches“ datiert1.
1 S. K. Lothrop, Pottery of Costa Rica and Nicaragua, New York 1926, Bd. I. S. 195. Fig. 94; Bd. II. S. 396.
Abb. 15. Ilóm. Departamento Quiché.
Abb. 16—17. Ilóm. Departamento Quiché.
Mit Zacken besetzt ist endlich auch ein zylindrisches Räucherbecken mit umgebogenem
Rande und einem Dellenornament. Es gehört in die Gruppe der mit Zacken ausgestatteten
Zylindergefäße, die Seler aus ,,Nebaju angemerkt hat1 und die ebenfalls aus der Alta
Verapaz nicht unbekannt sind. In welcher Beziehung die Zackengefäße des Amatitlansees
zu denen des nördlichen Guatemala stehen, ist noch immer nicht näher festgestellt. Es sei
bemerkt, daß ich mit Zacken besetzte Tonscherben in einem Tumulus bei der Finca Con-
cepción in der Nähe der Stadt Escuintla fand, also noch südlich des Amatitlansees.
Höchst merkwürdig ist unter der Sammlung vonXacbal ein mit einem Gesicht versehenes
Räuchergefäß. Die seitlichen Flügelansätze verschmelzen hier mit den Ohren, die Ohr-
pflöcke tragen. Die Augen sind von großen Rosetten mit Strahlen umgeben. Der Mund
ist geöffnet, die Unterlippe zu einer Leiste verbreitert, die dazu diente, Opfergaben auf-
zunehmen. Eine mit Dellen versehene Leiste umzieht den unteren Teil des Gefäßes.
EÍ
iS 19 20
Abb. 18, ig. San Andres Osuna. Departamento Escuintla.
Abb. 20. Ilöm. Departamento Quiche.
Von den oben erwähnten Räuchergefäßen mit figürlichen Darstellungen unterscheidet
sich dieses Gefäß durch den ganz abweichenden Typus der Figur, der fast wie ein Über-
gang zu den bekannten Lacandonenvasen anmutet1 2. Ich möchte sogar das Gefäß in eine
Zeit versetzen, als die Mayakunst von ihrer alten Höhe herabgeglitten war und nicht mehr
1 s. Anm. 5, S. 172.
2 Ed. Seler, Altert, aus Guatemala (s. Anm. 2, S. 170) S. 27,
Fig. 7—9 und A. M. Tozzer, A comparativo study of
25*
the Mayas and Lacandones, New York 1907, Taf. 16
u. 17, Fig. 5.
i
FRANZ TERMER
I 8o
die künstlerische Gestaltungskraft noch die sorgfältige Technik der Tonplastik wie früher
kannte. Es könnte sich sogar um eine sehr späte Arbeit handeln, die vielleicht kurz vor
oder schon in die spanische Kolonialzeit fällt und den Lacandonen angehört. Gegenstände
von Lacandonen sollten überhaupt bei Xacbal zu erwarten sein. Denn, wie überliefert ist,
unternahm noch im 17. Jahrhundert dieses Waldvolk Vorstöße aus dem Tieflande des
Lacantun-Flusses bis in die Nachbarschaft des Dorfes Chajul, wobei man dem Tal des
Xacbalflusses aufwärts folgte1. Lacandonen könnten sich auch an diesem Fluß selbst zeit-
weise niedergelassen haben, wo sie dann genau wie im Usumacintagebiet die alten Bauten
ihrer Vorfahren in den Wäldern für ihre religiösen Kulte benutzten. Um die interessante
Frage zu entscheiden, wie weit einst diese Indianer aus dem Tieflande in die Gebirge Nord-
guatemalas eingedrungen waren, wäre es wichtig, die Täler der Flüsse Ixcan und Xacbal
nach ihren Spuren zu erforschen und dabei besonders bei Ilom weitere Grabungen vorzu-
nehmen.
Von Tonfiguren aus Xacbal besitzt die Sammlung nur einen Totenkopf und das
Figürchen eines Jaguars. Es sollen früher viel mehr derartige Erzeugnisse geborgen worden
sein, die dann an Herrn Fleischmann abgegeben wurden. Aus Xacbal stammt endlich auch
eine große Muscheltrompete mit den Resten eines Stuckbelages und Spuren von Bemalung
auf demselben. In einer Privatsammlung der Stadt Guatemala sah ich ein ähnliches Stück,
in dessen Stucküberzug mehrere Hieroglyphen eingepreßt waren. Als Herkunftsbezeich-
nung war „Peten“ angegeben.
Betrachten wir zusammenfassend die
Ilomfunde, so zeigen sie uns trotz man-
cher Anklänge an die Stilarten des Maya-
uebietes im nördlichen Guatemala auch
o
recht auffallende Sonderheiten. Tierfiguren
wie die Hirsche auf dem Tonteller oder
die graziös entworfene Affenfigur (Abb. 21)
leiten den Blick auf mögliche Zusammen-
hänge mit der Golfregion von Tabasco
und Veracruz; die Räucherschalen weisen
nach dem Peten, andere Stücke zeigen
den echten Charakter der älteren Maya-
kunst. Alles das deutet doch darauf hin,
daß hier ein Ort vorhanden war, der in
Abb. 21. Ilöm. Departamento Quiche, ca. V2 n. Gr. Tr . . , , ,
regen Verkehrsbeziehungen sowohl zum
Mündungsgebiet des Usumacintaflusses wie zum Peten. und zur Region vonHonduras stand,
ein Beweis mehr dafür, welche Rolle einstmals der große Handelsweg quer durch die Ur-
wälder Nordguatemalas besessen haben muß, der vielleicht auch das Rückgrat des ganzen
„Alten Reiches“ der Maya gewesen ist. Mit Recht kann in dem Fall von Xacbal die Frage
aufgeworfen werden, ob es sich um eine späte Niederlassung handelt, nachdem die Städte
des „Alten Reiches“ schon verfallen waren und ihre Bevölkerungen sich nach Norden und
Süden bzw. Südwesten zerstreut hatten. Wenn überhaupt eine Abwanderung nach Süden,
also auf die Hochländer Guatemalas stattgefunden haben sollte, was fraglich erscheint,
dann wären die Täler in den nördlichen Cuchumatanes wie das Tal des Chixoyflusses
die brauchbarsten Wege gewesen. Über ein bloßes Raten kommen wir jedoch heute in
diesen schwierigen Fragen noch nicht hinaus, und daher ist es besser, sie solange zurückzu-
stellen, bis wir über die Archäologie des nordwestlichen Teiles von Guatemala eingehender
auf Grund von Grabungen unterrichtet sind.
1 Fr. 'Fermer, Zur Ethnologie u. Ethnographie des nördl. kongreß 1930. Iberoamerik. Archiv Bd. IV (1930).
Mittelamerika. Festschrift zum 24. Int. Amerikanisten- S. 311.
Nord- und Zentralguatemala.
Von den zu meiner Kenntnis gelangten Stücken aus der Alta Verapaz mögen hier
folgende erwähnt sein. Aus einem Tumulus bei der Finca Samac (westlich von Coban)
stammt das kugelige Tongefäß (Abb. 22),
das ein mit Stempel eingeprägtes Relief der
stilisierten Federschlange zeigt und an me-
xikanische Vorkommnisse erinnert. Es dürfte
sich um ein auf Flandelswegen verschlepptes
Stück handeln. Das kleine Räuchergefäß
(Abb. 23) ist auf der Figur wie auf der übri-
gen Wandung mit weißer, roter und schwar-
zer Farbe bemalt. Es ähnelt den kleinen
Räucherschalen aus demLacandonengebiet1,
ist aber feiner als diese gearbeitet. Abb. 22—23. Samac. Depart. Alta Verapaz. ca. 1/i n. Gr.
Eine größere, hauptsächlich aus Bruchstücken bestehende Sammlung von Altertümern
war auf der Finca Mayucvuä zusammengetragen worden. Sie stammten aus Höhlen des
im Norden von Panzös sich erhebenden Kalkgebirges. Bedeutsam darunter sind zwei
größere Räuchergefäße. Bei dem einen von 400 mm Höhe und 195 mm Durchmesser ist
an der Vorderseite das Gesicht eines Gottes angebracht, umrahmt von einer Steinperlen-
kette. Aus dem Munde hängt die Zunge heraus, auf die das Blut der geopferten Tiere oder
Menschen gestrichen oder an der andere Opfergaben befestigt wurden. Runde Scheiben
bilden den Ohrschmuck. Als Halsschmuck dienen riemenartige, in runden Perlen endende
Streifen. Als Kopfputz trägt der Gott einen runden Aufsatz, der an beiden Seiten von
zwei Volutenornamenten, wie Feuerzungen, flankiert wird. In der Mitte des Aufsatzes
blickt aus einem geöffneten Tierrachen ein menschliches Gesicht, das mit seinem geöffneten
Munde, den runden Ohrpflöcken und dem Perlenkranz ein kleineres Abbild des großen
Götterantlitzes sein soll. Es fehlt nur die hervorgestreckte Zunge. Während der Rumpf
nicht angedeutet ist, sind die beiden Füße modelliert. Um welchen Gott es sich handelt,
wage ich nicht zu entscheiden. Nach dem Schema von E. P. Dieseldorff würde ein Tzultacä
dargestellt sein.
Aus Mayucvuä stammt ferner ein schönes mit Zacken besetztes Deckelgefäß. Ebenso
zeigten eine Menge von Tonscherben Zackenornamente. Andere waren bemalt oder trugen
Ritzmuster.
Zentralguatemala, d. h. das Gebiet zwischen den Gebirgsketten des Quiche und die Baja
Verapaz mit umfassend, ist reich an Ruinenplätzen, die vorwiegend nach Art von befestigten
oder zumindest strategisch günstig gelegenen Tempelbezirken angelegt waren. Es war für
jene alten Bevölkerungen charakteristisch, daß sie innerhalb ihrer Stammesterritorien eine
größere Ansiedlung gründeten, die in sich eine Priester- und Königsstadt vereinigte, zu-
gleich aber auch als Burg in Kriegszeiten diente. Während diese Plätze, von den erobernden
Spaniern „Städte“ genannt und meistens in ihrer Ausdehnung wie Bewohnerzahl über-
trieben geschildert, im Mayagebiet des Tieflandes fehlen, wo sie nach allem, was von
ihnen erhalten ist, als Kultstätten anzusprechen sind, tragen sie im Hochlande den Charak-
ter von Burgen. Wenn man ihre erhebliche Menge allein von einer westlichen Grenze längs
einer Linie Huehuetenango—Quezaltenango bis nach Osten zu einer Linie von Salamä
nach Guatemala-Stadt berücksichtigt, — eine Umgrenzung, die zeigt, daß dieser Typus sich
hauptsächlich auf die Reiche der Quiche und Cakchiquel-Indianer beschränkte—, so ist es eini-
germaßen auffällig, daß wir verhältnismäßig wenig Altertümer aus diesem Gebiet erhalten
1 Tozzer, a. a. O. Taf. 15, Fig. 2.
I 82
FRANZ TERMER
haben. Die monumentale Kunst tritt zurück, die Kleinkunst überwiegt, ohne daß es bisher
möglich gewesen wäre, besondere lokale Typen auszusondern und sie bestimmten Stämmen
innerhalb jenes Gebietes Zuzuschreiben. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß gerade
in jenen Gegenden die spanische Invasion besonders nachhaltig gewesen ist und daß sich
dort mit Vorliebe die weißen Eroberer niederließen. Daher dürfte doch in den seither ver-
flossenen 400 Jahren vieles von der alten Kultur vernichtet sein, während es sich in den
oben besprochenen abgelegenen Gegenden viel länger erhalten hat.
So findet man denn nur selten noch Stücke monumentaler Beschaffenheit, wie etwa
den prächtigen großen Federschlangenkopf mit dem Antlitz des Gottes K’ukumatz, der
heute auf dem Hofe der Mühle „La Sierra“
am Wege von Patzizia nach Patzüm aufgestellt
ist (Abb. 24). Er stammt aus einer nicht weit ent-
fernten Ruinenstätte, Santa Teresa, und wurde
von dort unter erheblichen Schwierigkeiten zur
Mühle hinabgeschafft. Die Maße des aus Andesit
gefertigten Stückes sind: Höhe 1,26 m, Länge
2,35 m, Breite 0,90 m. Das ergäbe nach einer
rohen Berechnung ein Gewicht von 5 t. Der am
hinteren Ende befindliche Zapfen läßt erkennen,
daß dieses Bildwerk in eine Mauer oder ein Ge-
bäude eingelassen gewesen sein muß. Es dürfte
sich nach Analogie ähnlicher bekannter Stücke
um eine Treppenwange handeln, wie wir sie an
manchen Pyramiden in Mexico und im nördlichen
Yucatan kennen. Der Stil unseres Stückes deutet auf mexikanischen Einschlag hin. Einen
ebenso großen, aber viel stärker zerstörten Federschlangenkopf fand ich im Gebüsch am
Fuß der großen Pyramide von Sajcabajä versteckt. Auch dieser diente ursprünglich als
Treppenwange.
Ein 25 cm hoher, aus Andesit gefertigter Kopf befand sich im Besitz eines Ein-
wohners des kleinen Dorfes San Andres Semetabäj oberhalb des Atitlansees und sollte
aus dem benachbarten Ruinenkomplex stammen. Er gehört demnach in das Gebiet der
Cakchiquel-Indianer. Merkwürdig sind die niedrige Stirn und der massige Unterkiefer.
Was ich an Sammlungen im zentralen Guatemala sah, beschränkte sich fast nur auf
Quezaltenango und Umgebung. Darunter ist besonders die schöne Sammlung des Herrn
Paulino Hernandez in Quezaltenango zu erwähnen, deren Stücke entweder aus der Um-
gebung von Totonicapän oder von dem weiten Llano de Urbina stammen, der sich
zwischen den Dörfern Cantel und Salcajä ausdehnt und seit langen Jahren eine Fülle von
Altertümern geliefert haben soll. Unter den Stücken fallen Schuhvasen auf. Die mit Orna-
menten versehenen Gefäße sind gleich der Keramik, die wir auch sonst aus dem Hochlande
von Guatemala kennen und denen wir auch an der pazifischen Abdachung des Landes
begegnen.
In dem Gebiet zwischen dem Hochbecken von Quezaltenango und dem Südabfall
der Cuchumatanes bei Huehuetenango sind Altertümer äußerst spärlich vertreten. Die
rauhen Hochebenen und Gebirgsketten waren in alter Zeit kaum besiedelt und trugen da-
mals durchweg Wald, der heute längst stark abgeholzt worden ist. Dagegen treffen wir auf
eine alte Siedlungszone, die sich am Fuße der Cuchumatanes von Huehuetenango bis an
den Chixoyfluß nach Osten verfolgen läßt und die durch eine Anzahl von Ruinenplätzen
ausgezeichnet ist. Altertümer sind namentlich in der Umgebung von Huehuetenango
selbst und bei Aguacatän gefunden worden.
Abb. 24. La Sierra (Patzum). Departamento
Chimaltenango. ca. Vso n. Gr.
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
^3
Zu den bekanntesten Plätzen gehören die Ruinen von Zaculeu, aus denen schon
Stephens am Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts Altertümer beschrieben hat.
Einige Tonfiguren von dort besitzt das Museum of American Indian in New York, andere
Stücke, teils Tonschalen, teils Kupferschmuckstücke, wurden 1926 und 1927 bei Wieder-
herstellungsarbeiten an der Hauptpyramide gefunden, die noch im Jahre 1929 im Cabildo
(Rathaus) von Huehuetenango aufbewahrt wurden, darunter auch einige Zackengefäße,
Ich selbst nahm im Jahre 1926 eine Probegrabung an einer der niedrigen Altarpyramiden
in der Mitte des südlichen Hofes vor. Unter der Erdbedeckung fand sich in etwa 0,80 m
Tiefe eine dünne zementartige Decke von mehreren übereinandergebreiteten Kalkschichten,
wie man sie auch auf den Höfen der Ruinen von Utatlän sehen kann. Als diese durch-
stoßen waren, kamen, in Erde eingebettet, unverzierte grobe Tonscherben und mensch-
liche Knochenreste zum Vorschein, unter denen ein Oberschenkelknochen am besten er-
halten war. Leider war dieses Material so brüchig, daß es nicht in brauchbarem Zustande
abtransportiert werden konnte. Immerhin ist es bedeutungsvoll, daß an jener Stelle eine
Abb. 25. Aguacatan. Departamento Huehuetenango. ca. Vs n. Gr.
Bestattung vorgenommen wurde, und der Schluß liegt nahe, daß auch die übrigen immer
wieder in jenen Ruinenplätzen in der Mitte von Höfen begegnenden Altarpyramiden
von 2 bis 4 m Höhe mit Bestattungen in Zusammenhang stehen.
Etwa 4 km westlich von Huehuetenango liegen hart am Abfall eines steilen Flußufers
drei mächtige Erdhügel in einer ostwestlich orientierten Linie, als Cerritos de Cambote
dort bekannt. Ich konnte dort keine Grabung vornehmen, fand aber bei oberflächlichem
Absuchen eine Menge von Tonscherben und Obsidiansplittern.
Eine interessante Sammlung von Altertümern sah
ich in dem Hause des Herrn Francisco Diaz in Chi-
antla, die aus den Ruinen von Chalchitän bei
Aguacatan stammen und die ich zum größten Teil er-
werben konnte. Ein Teil dieser Stücke ist in der
Abb. 25 wiedergegeben. Neben Stielenden von Räucher-
löffeln mit Menschen- oder Tierköpfen sind die Ton-
figuren sehr merkwürdig, die von dem gewöhnlichen
Hochlandstypus abweichen. Es sei besonders auf die
beiden kauernden weiblichen Figuren hingewiesen
(Abb. 26) und auf den Hals eines Tongefäßes mit
strichförmigen Augen und Mund (auf der linken Seite in Abb. 25). Ein gutes Stück, von
dem sich der Besitzer nicht trennen konnte, ist eine Tonschüssel mit prächtig modellier-
tem Kopf, auf dessen Stirn ein kammartiger Schmuck von Steinperlen herabhängt. Die
südlich von Chalchitän gelegene Ruinenstätte von Xolchün, deren auf Regierungsbefehl
1926 angeordnete Ausgrabung wegen der feindlichen Haltung der Indianer wieder auf-
Abb. 26. Aguacatan. Dep. Huehuetenango.
ca. V4 n. Gr.
184
FRANZ TERMER
gegeben werden mußte, hat bisher keine Altertümer geliefert. Nach den vorliegenden
Funden zu urteilen, dürfte es sich bei Aguacatan um eine spezifisch lokal entwickelte
Kunst handeln.
Eine dichte Besiedlung in alter Zeit muß das Becken von Rabinäl aufgewiesen haben.
Die großartigen Ruinenanlagen im Norden und Nordwesten des heutigen Dorfes deuten
darauf hin. Was ich an Kleinkunst von dort sah oder erwerben konnte, zeigt deutlich mexi-
kanischen Einschlag, so besonders ein aus Ton gefertigter Kopf des mexikanischen Regen-
gottes Tlaloc, der aus einem Tumulus in der Nachbarschaft des modernen Dorfes in der
Talebene stammt. Gelegentlich sieht man in den einzelnen Hütten der Indianer im Umkreis
um alte Ruinenplätze neben dem Hausaltar aufgestellt kleine Tonfiguren, die in der Quiche-
sprache als „camahuiles“ bezeichnet werden. Doch ist es meist unmöglich, die Leute zum
Her geben dieser Dinge zu bewegen.
Südguatemala.
Die pazifische Abdachung Guatemalas muß archäologisch als eine besondere Provinz
betrachtet werden, wenn auch Einflüsse des zentralen Hochlandes vorhanden sind. Das
ist schon aus dem Grunde zu erwarten, weil stets die Stämme der Quiche, Cakchiquel
und Tz’utujil das Bestreben hatten, sich an die Abdachung zum Stillen Ozean auszudehnen.
Boten sich dort doch genügend Ländereien zur Ergänzung ihrer landwirtschaftlichen
Produktion und mithin zur Ernährung der zahlreichen Volksmenge auf dem kühlen Hoch-
lande. In vorspanischer Zeit muß die pazifische Küste dicht besiedelt gewesen sein. Darauf
deuten die äußerst reichhaltigen Überreste hin, die sich von der Gegend bei lapachula
bis nach Escuintla und von der salvadorehischen Grenze nach Osten in der Republik El
Salvador selbst finden. Wie es in dieser Hinsicht mit dem Zwischenstück von Escuintla
bis zum Rio Paz bestellt ist, bleibt noch ungewiß, da wir von dorther noch sehr wenig von
der Archäologie kennen. Nicht ausgeschlossen ist, daß sich dort spärlichere Reste finden,
weil jene Gegend von kulturell tiefer stehenden Stämmen bevölkert wurde, die wir den
Xinca zurechnen dürfen. Uber die Besiedlung der pazifischen Abdachung ist bereits an
anderer Stelle gesprochen worden1.
Besonders viele Altertümer wurden anläßlich des Baus der Eisenbahnlinie von Es-
cuintla nach Ayutla geborgen. Sie gelangten fast nur in private Hände, wurden verschleppt
und gingen der Wissenschaft verloren1 2. Kleinere Sammlungen trifft man in zahlreichen
Plantagen, die jene Zone heute in weitestem Umfange im Besitz haben. Das Charakte-
ristische in der Archäologie der Küste ist das deutliche Hervortreten mexikanischer Elemente,
die stellenweise eine Beeinflussung vom Mayagebiet her zeigen oder mit diesen sich zu
Mischformen entwickelt haben. Der Zukunft bleibt Vorbehalten, nachzuweisen, auf welche
Wurzeln sich die beiden Komponenten jener Kultur im einzelnen zurückführen lassen.
Schon in den Departamentos San Marcos und Quezaltenango tritt das mexikanische
Element in Tonfiguren und Steinskulpturen hervor, so etwa in einer runden Steinplatte
aus Rosario Bola de Oro, die ich erwerben konnte. In einer Umrandung ist auf ihr
der Kopf eines Gottes im Profil eingemeißelt, der als Kopfputz einen Vogelkopf mit krummem
Schnabel trägt. Das Auge des Vogels wird von einem großen Kreise umgeben, während da-
rüber sich ein Federkamm erhebt. Hinten fällt vom Kopf des Gottes eine Nackenschleife
herab. Die durchbohrte Nasenscheidewand wird durch einen Nasenstab mit einer Stein-
perle am Ende geschmückt. Auf der Wange ist ein Fleck oder Knopf sichtbar. Als Hals-
1 Fr. Termer, s. S. 180 Anm. 1. (S. 322ff). Continental Railway Commission Report“ (1898). Vol. E
2 Verschiedentlich findet man Angaben über Ruinen und Part. II.
Altertümer von der pazifischen Küste in dem “Inter-
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
1 85
schmuck trägt der Gott eine Steinperlenkette, als Ohrschmuck dient ein großer runder
Pflock. Die Vogelmaske möchte ich als den Coxcoxtlivogel deuten. Demnach hätten wir es
bei dieser Gottheit mit Xochipilli, dem jungen Gott des Maises und der Zeugung, zu tun.
Ein anderes Götterbild mit einem papageiartigen Vogel als Helmmaske steht auf der Finca
,,Los Tarros“ oberhalb von Santa Lucia Cotzumalhuapa. Vielleicht soll dort der Gua-
camayo als Verkleidung des Feuergottes dargestellt sein.
Einer der am tiefsten gelegenen Ruinenplätze findet sich auf dem Gelände der Finca
Caballo Blanco, südwestlich von Retalhuleu. Erdhügel, die zum Teil rechteckige Höfe
umfriedigen, einzelne Tumuli sind östlich der Hacienda im Gebüsch verstreut. Oberfläch-
lich ist die Bodendecke mit Tonscherben und Obsidiansplittern übersät, und einige Probe-
grabungen im Umkreis der Hügel förderten zahlreiche unverzierte und einige bemalte
Tonscherben zutage. Auch Tonköpfchen wurden gefunden, die ihrem Stil nach der Pipil-
kultur zuzuweisen sind. Unterhalb der Hacienda, da, wo der Rio Ocositos einen scharfen
Bogen nach Süden bildet, und von einem Nebenfluß getroffen wird, liegen an der Kon-
fluens einige Erdhügel, die ich angraben ließ. Linter einer dünnen äußeren Erdbedeckung
folgte ein Belag von unbehauenen Steinen, dann Erdreich, das außer Tonscherben und
Obsidiansplittern keine weiteren Funde lieferte.
Ähnliche Hügel liegen auf dem Gebiet der Finca Tiquisate-ConcepciónLa Grande
bei Rio Bravo. Bei Anlage einer Feldbahn mußten diese abgetragen werden, wobei 1926/27
viele Altertümer geborgen wurden, darunter auch größere Tonfiguren und bemalte Ton-
vasen, die verschleppt worden sind.
Wichtige Funde wurden 1928 bei Palo Gordo, unterhalb der Finca Chocolá gesam-
melt, von denen die Abb. 27 und 28 einige wiedergeben. Die Stücke lagen nicht in Erd-
hügeln, sondern im Gelände, vielleicht im Bereiche einer alten Ansiedlung, analog den Ver-
hältnissen, wie sie unten von San Andres
Osuna erwähnt werden. Daß bei Chocolá
einst eine Ansiedlung bzw. ein Tempelheilig-
tum gelegen haben muß, beweisen die großen
Tumuli dort, in deren Nähe vor längerer
Zeit schon der mächtige Monolith eines
Totenkopfes entdeckt wurde. Die Hügel
wurden sorgfältig von Robert Burkitt ange-
graben, ohne Altertümer zu liefern1. Auch
Walter Lehmann hatte 1925/26 bei einer
kleinen Grabung dort ein negatives Ergebnis.
Häufig sind alte Anlagen von Tempel-
burgen auf den spornartigen Ausläufern, die
von den Vulkanen oder dem vulkanischen Küstengebirge in
die pazifische Abdachung vorspringen. Eine bedeutende Stelle
muß nördlich der Plantage San Jorge, nordwestlich von Pochuta liegen, die ich aber
nicht besuchen konnte. Dagegen sah ich einen ähnlichen Platz bei der Finca El Potosi
nördlich von Patulul. Eine genaue Übersicht ließ sich jedoch nicht verschaffen, weil die
Ruinen inmitten von Kaffeehainen liegen und die Hügel selbst mit Kaffeebäumen besetzt
waren. Wir gruben trotzdem an einigen Stellen nach und konnten Tonköpfchen, bemalte und
unbemalte Scherben bergen, die Pipilstil zeigen.
Wohl die wichtigste und bedeutendste alte Ruinenanlage an der pazifischen Küste
Guatemalas bildet der Komplex von El Baúl. Die zentrale Hügelanlage liegt etwas östlich
der Hacienda, Altertümer dagegen finden sich in weitem Umkreis verbreitet bis zum
1 Robert Burkitt, Explorations at Chocolá. (The Museum Journal, vol. 21. [1930]. S. 5—24.).
26 Baessler-Archiv.
Abb. 28. Chocolá.
Dep. Suchitepequez.
Abb. 27. Chocolá.
Dep. Suchitepequez.
186
FRANZ TERMER
Dorfe Santa Lucía Cotzumalhuapa, zur Finca Pantaleon und Aguná. In diesem ganzen
Gebiet wimmelt der Boden von Altertümern. In der Regel ist das Gelände besonders bei
Pantaleon und El Baúl von Zuckerrohrfeldern bedeckt. Alle drei Jahre pflegt man das Rohr
neu zu pflanzen und vorher den Boden mit Pflügen verhältnismäßig tief aufzulockern.
Bei solchen Gelegenheiten werden eine Unmenge von Scherben ans Tageslicht gefördert,
die achtlos liegen bleiben. In diesem Zustande fand ich El Baúl bei meinem ersten Besuch
im November 1925. In neuerer Zeit sind die Monumente durch T. T. Waterman bearbeitet
und photographiert worden, dessen Originalfilme sich im Besitz des Photographen Le
Grand in Guatemala-Stadt befinden. Er stellt sie bereitwilligst Interessenten zur Anfertigung
von Kopien zur Verfügung. Da noch zur Zeit von Waterman’s Besuch die Reliefe recht
deutlich erhalten waren, was seit 1926 nicht mehr der Fall ist, so sind seine Aufnahmen
heute wertvolle Urkunden geworden1.
Die Monumente von El Baúl
lehnen sich an eine zentrale An-
lage von Bauwerken an, die im
Osten der Landstraße von Santa
Lucia nach Yepocapa liegen.
Einen genauen Ubersichts-
plan konnte ich bei meinen wie-
derholten Besuchen nicht auf-
nehmen, weil das dortige Gelände
ständig mit Zuckerrohr bepflanzt,
die Hügel selbst aber mit dich-
tem Gestrüppdickicht überwach-
sen waren. Eine Erlaubnis zum
Freilegen derselben war von dem
Eigentümer der Plantage nicht zu
erhalten.
Wir sind heute noch immer nicht in der Lage, den Stil dieser Altertümer mit Sicherheit
zu klassifizieren, sondern müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß es sich um eine
Mischkultur von mexikanischen und fremdartigen Formen handelt, bei denen tzapotekische
Einflüsse nicht ausgeschlossen sind. Diese Mischkultur tritt besonders in der monumentalen
Kunst hervor, weniger in der Kleinkunst, in der sich mannigfache Anklänge an die Stil-
arten des mexikanischen Hochlandes wie der Golfküste finden lassen.
Während die bekannten Monumente des Kolossalkopfes und der mit Figuren und Hiero-
glyphen bedeckten Steinplatten an der zentralen Anlage in situ belassen worden sind, —
nur den Kolossalkopf wollte der Verwalter, Herr Julio Salas, nach meiner Abreise 1929
auf den Hof der Zuckerfabrik schaffen lassen, —- hat man eine Reihe von Steinbildwerken,
die seit 1924 gefunden wurden, auf dem Hofe dort zusammengetragen. Ich hebe darunter
besonders eine Steinplatte mit einem Totenschädel en face und den großen Kopf eines
bärtigen Gottes hervor (Abb, 29). Beide Stücke wurden 1928 entdeckt und sind in ihrer
Art höchst eigenartig. Auf der unteren Schmalseite der Platte ist durch Kreise die Zahl
Vier angegeben. Weitere Vermutungen darüber wage ich noch nicht aufzustellen.
1927 entdeckte man bei Bauten eine Reihe jener flachen Steinköpfe, die zum Teil
menschliche, zum Teil phantastische Figuren abbilden, wie sie von der mexikanischen
Golfküste und aus Oaxaca bekannt geworden sind. Prachtstücke darunter sind die in Abb.
30, 31 wiedergegebenen Skulpturen, die sich im Besitz der Familie Herrera befinden. Auch
bei San Andrés Osuna sind ähnliche Stücke gefunden worden.
1 T. T. Watermann, On certain antiquities in western Guatemala. (Bulletin of the Panamerican Union, April 1924).
Wiederholte Aufenthalte auf dieser Finca haben mir
Gelegenheit gegeben, dort mehrfach Grabungen vorzu-
nehmen. Die Plantage liegt am Südabhang des Vulkans
Fuego, etwa eine Reitstunde von Pantaleon entfernt.
Das Arbeiterdorf lehnt sich an eine ältere Siedlung an,
die noch im 16. Jahrhundert bestanden hat. Denn als.
der Franziskanerpater Fray Alonso Ponce am Ende des
16. Jahrhunderts eine Visitationsreise durch Guatemala
unternahm, über die er ein äußerst gewissenhaftes Iti-
nerar mit wertvollen Reisenotizen aufzeichnen ließ1,
schlug er von Antigua den Weg über Alotenango an die
pazifische Küste ein und folgte einer bereits in vorspani-
scher Zeit bestehenden Verbindung von dort nach San
Felipe. Dabei berührte er dieDörfer SanAndres und Asun-
cion, die damals zum Kirchensprengel von Siquinalä ge-
hörten. Es besteht noch heute als Dorf südlich von San
Andres Osuna. Auf die Lage von San Andres, daß es sich
34 35 36
Abb. 32. Ahuachapan (Salvador).
Abb. 33—36. San Andrés Osuna. Dep. Escuintla.
1 Fr. Alonso Ponce, Relación Breve y Verdadera de al-
gunas cosas de las muchas que sucedieron al Padre
Alonso Ponce en las provincias de la Nueva España.
(Documentos inéditos para la Historia de España,
26*
an eine vorspanische Siedlung anlehnte
und auf die Ableitung des Namens Osuna
aus demCakchiquelwort,,Utzunhä“ ist an
anderer Stelle hingewiesen worden2.
Schon seit längerer Zeit waren auf
der Plantage Altertümer bekannt, da-
runter die monumentalen Skulpturen einer
Schildkröte und eines Affenkopfes, fer-
ner durchbohrte Keulenknäufe und pilz-
förmige Steinsessel3, außerdem eine große
Menge von Tonfiguren, Gefäßen und
Scherben. Alles waren Zufallsfunde, die
an verschiedenen Stellen der ausgedehn-
ten Besitzung bei Erdarbeiten geborgen
worden waren.
Da keine Hügel oder andere Erd-
werke auch nur in Spuren dort vorhan-
den sind, war es schwierig, nach einem
bestimmten Plane Grabungen anzusetzen.
Auch dabei kam es mehr oder weniger
auf den Zufall an. Es zeigte sich als Re-
gel, daß in den tiefgründig verwitterten
vulkanischen Lockermassen, Aschen und
Tomo 57 [Madrid 1872], S. 421 f.).
2 Fr. Termer, s. Anm. 1, S. 180 (S. 327 f.).
3 Caecilie Seler-Sachs, Auf alten Wegen in Mexico u.
Guatemala, 2. A., 1925. Abb. auf S. 183.
188
FRANZ TERMER
Sanden zu oberst bis zu einer Tiefe von
0,50 bis 0,60 m zahlreiche unverzierte
Tonscherben und Obsidiansplitter, bis-
weilen auch Bruchstücke von Speer- und
Pfeilspitzen aus diesem Material liegen.
Man trifft gelegentlich damit vermengt
auch moderne Scherben, was bei der ge-
ringen Tiefe und der lange stattgehabten
Besiedlung nicht verwunderlich ist. Von
0,70 bis 1,20 m Tiefe folgt eine Kultur-
schicht, die durch schöne bemalte Ton-
gefäße und solche mit eingepreßten Re-
liefmustern ausgezeichnet ist. Ein Ton-
köpfchen des mexikanischen Windgottes Ehecatl mit seinem rüsselartig vorspringenden
Munde könnte geradezu aus Mexiko stammen. Kleinere Tonfiguren (Abb. 33—39) und
Schalen erinnern an solche aus dem me-
xikanischen Hochlande, wie sie im Um-
kreis der Hauptstadt Mexiko gefunden
werden. Merkwürdig war eine Art Depot-
fund, der bei Ausschachtungsarbeiten im
Jahre 1926 von mir geborgen werden
konnte, sowohl durch die bemalten zylin-
drischen Tonbecher und die mit Gesich-
tern geschmückten Hälse großer bauchi-
ger Tongefäße, als auch durch die ver-
hältnismäßig geringe Tiefe von 0,50 m,
in der die Stücke im Erdboden lagen. Sie
mag darauf zurückzuführen sein, daß an jener Stelle seit langem ein Fahrweg vorüber-
führt, der zeitweise mit Erde aus der Nähe immer wieder aufgeschottert werden muß.
Was die Gesichtsurnen (Abb. 40—-42) anbetrifft, so kenne ich ähnliche bisher nicht
aus Mittelamerika. Anklänge bieten sich an das eine Stück aus Chalchitan (s. Abb. 25 links)
und an eine Schale, die ich in Quelepa (östliches Salvador bei San Miguel) erhielt. Auffällig
ist der zylindrische Tonbecher (Abb. 18) von 260 mm Höhe und 135 mm Durchmesser
am oberen Rande. Oben und unten ladet das Gefäß leicht aus, dessen Wandung 2,5 mm
dick ist. Oben ist der Becher mit einem 12 mm breiten, vertieften, rot bemalten Rande
versehen. Auf dunklem Grunde sind auf ihm in viermaliger Wiederholung Vogelfiguren
mit langen, am Ende hakenförmig gekrümmten Schnäbeln abgebildet. Die Federn sind
stilisiert durch horizontale Streifen mit hellen Punkten angedeutet. Die Haltung der Tiere
weist auf Wasservögel hin. Vergleicht man sie mit den Wasservögeln, die Strebei aus Vera-
cruz abgebildet hat1, so ist eine Ähnlichkeit nicht zu leugnen. Das Hauptornament des
Bechers bildet in viermaliger Wiederholung ein Gesicht mit großen umränderten Augen,
geöffnetem Munde und einem Zacken- oder Strahlenkranz auf dem Haupte. Unter dem
Munde hängen vier streifenartige Gebilde herab, die von zwei am unteren Ende umgebogenen
Streifen flankiert werden. Sie setzen ihrerseits an den runden Ohrpflöcken an. Diese Figur
stellt eine nachlässige Zeichnung des mexikanischen Regengottes Tlaloc vor, wie wir ihn
in besserer Ausführung in den Tonköpfchen aus Rabinal schon kennen lernten. Die trennen-
den Felder zwischen den Tlalocgesichtern werden durch Dreiecke gebildet, die mit ihren
1 Herrn. Strebe], Uber Tierornamente auf Tongefäßen Bd. VI, 1899, vgl. Taf. VIII, Fig. 83.)
aus Alt-Mexico. (Veröff. Mus. f. Völkerk. Berlin,
Abb. 39—40. San Andres Osuna. Dep. Escuintla.
»
4i 42 43
Abb. 41—43. San Andres Osuna. Dep. Escuintla.
Spitzen einander zugekehrt und derenFlächen mit hellen Punkten erfüllt sind. Nach unten
findet das Ornament des Bechers seinen Abschluß durch ein von zwei hellen Streifen
eingefaßtes dunkles Band, auf dem in vierfacher Wiederholung mit Punkten erfüllte Kreise
angegeben sind. Sie erinnern an die Sternaugen der mexikanischen Ornamentik. Ein
kleinerer Becher mit Bemalung zeigt gleichfalls Wasservögel auf dunklem Grunde.
Dem gleichen Depotfund gehört der schöne, mit Rillen versehene rote Tonbecher
Abb. 19 an. Diese Formen sind auch sonst aus dem pazifischen Küstengebiet Guatemalas
Abb. 43 a. Motiv auf einer Tonschale. San Andres Osuna. Dep. Escuintla. ca. 3/4 n. Gr,
wiä
190
FRANZ TERMER
Abb. 44. San Francisco Miramar.
Dep. Quezaltenango.
Länge 45 mm. Höhe 37 mm.
bekannt und haben sich auch in der Umgebung von Antigua gefunden1. Bei unserem Stück
war der obere Rand bemalt, ohne daß sich heute noch die Figuren erkennen ließen. Es
kann sich um Mäander oder hieroglyphenartige Gebilde gehandelt haben.
Häufig finden sich in San Andres Osuna Bruchstücke von feinen, dünnwandigen,
hellen Tongefäßen mit roh gearbeiteten Gesichtern, wie das nachträglich ergänzte Stück
in Abb. 43. Die helle, mit rotem Muster bemalte Schale (Abb. 8) zeigt im Innern einen
stilisierten Federschlangenkopf und erinnert etwas an die Kunst
von Nicoya inCosta Rica (Abb. 43 a). Die figürliche Kleinkunst
zeigt Pipilstil, d. h. mexikanisch beeinflußte Ware, wenn sich
auch nicht die schönen Tonköpfchen finden, die besonders
im Pipilgebiet des westlichen Salvador bei Ahuachapan ge-
borgen werden (Abb. 32) oder wie ich sie aus der Gegend
von Colomba erhielt (Abb. 44). Ein wertvolles Bruchstück
konnte ich schließlich aus 1,20 m Tiefe bergen, das in Abb. 45
wiedergegeben ist. Es gehörte zu einem zylindrischen Tonbecher
dunkelbrauner Farbe, der mit einem Reliefmuster versehen ist.
Dieses ist nicht mit Stempel eingedrückt, sondern mit freier
Hand modelliert. Es zeigt ganz abweichend von den bisheri-
gen Stücken reinen Mayastil und zwar eine
Gottheit mit jugendlichen Zügen und abge-
plattetem Kopfe. Als Ohrschmuck dient ein
röhrenförmiger langer Pflock, wie er bei figür-
lichen Darstellungen aus dem Mayagebiet oft
vorhanden ist. Da es sich bis jetzt um ein ver-
einzeltes derartiges Stück aus jener Gegend
handelt, so ist am ehesten an einem Import aus
dem Mayagebiet zu denken. Es beweist aber
auch so die interessante Tatsache, daß Ver-
kehrsbeziehungen zwischen der pazifischen
Küste und den Gebieten Nordguatemalas be-
standen haben müssen und daß noch zur Zeit,
als schon die Pipiles in Guatemala sich nieder-
gelassen hatten, solche Beziehungen zu den
Mayastämmen im Norden vorhanden waren.
Bei einem Überblick über die Gesamtheit
der Funde von San Andres Osuna fällt die Ver-
schiedenartigkeit der Typen immer wieder auf.
Wenn auch darunter die Pipilkunst überwiegt,
so deuten doch manche andere Stücke darauf
hin, daß entweder vor und neben der Pipil-
kultur eine andere ihr fremde in jener Gegend
bestand oder daß weitreichende Verbindungen
zwischen dieser Pipilbevölkerung und entfernt wohnenden Stämmen aufrecht erhalten
wurden. Noch stehen wir in den Anfängen der archäologischen Erforschung an der pa-
zifischen Abdachung des nördlichen Mittelamerikas. Es wäre ein verdienstvolles Werk,
die Grabungen in größerem Umfange aufzunehmen. Dabei wäre zu prüfen, bis zu welcher
Tiefe die Kulturschicht hinabreicht. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß gerade in San
Abb. 45. San Andres Osuna. Dep. Escuintla.
ca. 2/3 n. Gr.
1 C. Seler-Sachs, s. S. 187, Anm. 3 (Tafel bei S. 169).
ZUR ARCHÄOLOGIE VON GUATEMALA
191
Andres Osuna unter der Pipilschicht nocli eine weitere Kulturschicht sich finden ließe,
die durch vulkanische Lockermassen von der jüngeren getrennt ist.
Die archäologische Forschung im nördlichen Mittelamerika ist an einem Wendepunkte
angelangt. Noch niemals ist so eifrig gearbeitet worden, wie gegenwärtig, wo gerade wieder
eine erfolgreiche Expedition des Museums in Philadelphia unter der rührigen Leitung von
Dr. Aldon T. Mason aus den Urwäldern Nordguatemalas heimgekehrt ist. Dazu tritt das
im Lande selbst erwachte Interesse an der früheren Geschichte der Eingeborenen, das
durch die rege Tätigkeit des Präsidenten der Sociedad de Geografia e Historia de Guatemala,
Herrn Licenciado Antonio Villacorta C., eifrigste Förderung durch Veröffentlichungen,
Vorträge und Ausgrabungen erhalten hat. Nur zu begrüßen ist daher die vor kurzem er-
folgte Gründung eines archäologischen Museums in der Stadt Guatemala, wodurch das
Interesse weiterer Kreise der Bevölkerung nur geweckt werden kann. Daß etwas in Kürze
zur Erhaltung der vielen Schätze aus der alten Zeit geschehen muß, ist mir auf den zahl-
reichen Streifzügen durch Guatemala immer wieder vor Augen getreten, mochte ich die
Höfe der verfallenen Tempelburgen auf dem Hochlande betreten oder in Bewunderung vor
den Monumenten in Quiriguä, Copan und Palenque im feucht-heißen Tiefland stehen.
Aber das Unternehmen ist schwierig, erfordert hohe Kosten und verlangt eine straffe
Organisation, wie sie nur von einer führenden Institution internationalen Ansehens durch-
geführt werden kann. —
Anmerkung: An dieser Stelle .möchte ich Herrn Professor Dr. Thilenius in Hamburg
für die gütige Erlaubnis zur Anfertigung von Zeichnungen und Photographien meinen er-
gebensten Dank aussprechen, ebenso den Herren Prof. Dr. Krickeberg, Berlin, und Dr.
G. Antze, Hamburg, für ihre freundliche und bereitwillige Unterstützung bei der Durch-
sicht der Sammlungen des Berliner und Hamburger Museums für Völkerkunde,
Besprechungen
Dr. Helmut Anger, Die Deutschen in Sibirien. Reise
durch die deutschen Dörfer Westsibiriens. (Deutsche
Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Komitee zur
Pflege der kulturellen Beziehungen zwischen Deutsch-
land und der Republik der Wolgadeutschen). Berlin,
Ost-Europa-Verlag 1930, 103 S., 44 Abb., 7 Karten.
Es war ein guter Gedanke, eine besondere Reise zu
unternehmen, um das in Sibirien zerstreute Deutschtum
einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Mit Hilfe
der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unter-
nahm im Jahre 1926 Dr. H. Anger eine solche Reise, in
deren Ereignisse hiermit in flüssiger und anregender Form
dem Publikum Einblick gewährt wird. Der Verfasser
hielt sich zunächst vier Wochen in Moskau auf und genoß
dabei die Unterstützung sowohl russischer Behörden als
auch der Deutschen Botschaft. Über Nishnij Nowgorod
und Samara (auf der Wolga) begab er sich sodann mit der
Eisenbahn über Ufa, Slatoust und Kurgan nach Omsk,
wo die eigentliche Studienreise in die deutschen Kolo-
nistendörfer südlich von Omsk begann.
In dankenswerter Weise gibt der Verfasser zunächst
im ersten Kapitel eine Übersicht über Geschichte und
Verbreitung des sibirischen Deutschtums im allgemeinen.
Wir ersehen daraus, daß etwa seit dem Jahre 1890 aus
den deutschen Wolgakolonien in Sibirien ein kräftiger
Ableger des deutschen Volkstums hervorgegangen ist.
Die vor dem Kriege immer weiter anwachsende Bewe-
gung wurde natürlich durch den Weltkrieg unterbrochen,
und auch die Wirrnisse des Bürgerkrieges, Hungersnot
und Seuchen verminderten den Bestand der Deutschen
und ihre wirtschaftliche Expansionskraft. Nach der
Volkszählung vom 17. Dezember 1926 gibt es jetzt in
Nordasien 503 deutsche Siedlungen. Der Gesamtbestand
des Deutschtums in Sibirien beträgt 114000 Seelen, mit
den Kreisen Omsk und Slawgorod als Hauptverbreitungs-
gebieten. Mit 45°/o der Gesamtbevölkerung stehen die
Deutschen im Rayon von Sosnowka (Schilling) an der
Spitze aller übrigen Völkerschaften.
Ebenso, wie wir es etwa von den deutschen Kolonien
in Siebenbürgen wissen, und wie es Professor Adler
neuerdings auch in den beiden deutschen Kolonien
Neudorf und Gnadenberg bei Suchum im Südwest-
kaukasus beobachten konnte (vgl. Zeitschr. f. Ethnologie,
Jg. 1930, S. 325!.), war es auch in Sibirien vor allem das
religiöse Band, dem die Kolonisten die Erhaltung ihrer
Nationalität verdanken. Als zweites erhaltendes Moment
führt Anger das höhere Kulturniveau der Deutschen an,
eine Erscheinung, die einem auch in den deutschen Sied-
lungen in der allernächsten Nähe Leningrads in die Augen
fällt (vgl. H. Findeisen, Als Ethnograph in Leningrad und
Umgebung, Völkerkunde,Wien, Jg. 1929. S. 78!.). Vielfach
leben die Deutschen auch zerstreut zwischen den Russen,
aber auch in wohl allen sibirischen Städten sind sie
vereinzelt in mancherlei Berufen anzutreffen.
Was den kulturellen Gesamtcharakter des bäuerlichen
sibirischen Deutschtums betrifft, so scheint mir die
Beobachtung Angers sehr treffend, wenn er sagt, daß
man unsere Landsleute in Sibirien mehr mit den Deut-
schen vergangener Jahrhunderte als mit den heutigen
vergleichen könne. Die Wandlungen der deutschen
Kultur- und Wirtschaftsstruktur innerhalb der Reichs-
grenzen haben keinen Einfluß auf die deutschen Bauern
Sibiriens ausgeübt: „Der Lebensstil der heutigen deut-
schen Generation in Sibirien ist nicht anders als der ihrer
Vorfahren an der Wolga am Ende des 18. Jahrhunderts.“
Im 2. Kapitel schildert der Verfasser ausführlich seine
Reise durch deutsche lutherische Dörfer bei Omsk. Wir
erfahren, daß es mit dem Schulwesen der Deutschen
nicht zum Besten bestellt ist, daß man zwar Schulhäuser
gebaut hatte, die Lehrer dagegen fehlten. Im Dorfe
Schilling traf der Verfasser auch auf zwei deutsche nicht
in ihre Heimat zurückgekehrte Kriegsgefangene. Auch
ich habe auf meinen Reisen sowohl in Krasnojarsk als
auch in Jenissejsk seßhaft gewordene deutsche Soldaten
kennengelernt, von denen einer in Krasnojarsk Apotheker
war, während der andere, der als der „schönste Mann“
von ganz Jenissejsk galt, in einer Handelsbehörde tätig
war. Anhänger der Sowjetherrschaft fand Anger unter
den deutschen Bauern nur sehr wenig, aber sie sind es
ja auch unter den russischen Kommunisten vielfach nur
formell. Der Verfasser beschäftigte sich flüchtig auch
mit den seßhaft gewordenen Kirgisen, die von den
dortigen Deutschen mit dem Namen „Tratter“ bezeichnet
werden, der wohl von A. richtig mit der Bezeichnung
Tatar zusammengebracht wird.
Das dritte Kapitel schildert die Fahrt auf dem Irtysch
nach Pawlodar, einer fast ausschließlich aus Holzhäusern
bestehenden Stadt, ohne jegliche Pflasterung und viel
von Kirgisen besucht. Am auffälligsten waren jedoch die
vielen Windmühlen, mit denen der ganze östliche Teil
der Stadt durchsetzt ist.
Das vierte Kapitel behandelt die Dörfer zwischen
Pawlodar und Slawgorod, die meist von Mennoniten
bewohnt sind, deren Sprache ein mit wenigen russischen
Worten vermischtes Plattdeutsch ist. Im Gegensatz zu
den Lutheranern und Katholiken bemerkte A. bei ihnen
vielfach starke Auswanderungslust, besonders durch die
antireligiöse Propaganda der Sowjetregierung verursacht,
die ja auch sonst überall in der US SR zu tiefgreifender
Erregung und besonders im Süden zu großen Aufstands-
bewegungen geführt hat. Sogar bei dem harmlosen Wald-
volk der Jenissejer, die ich in den Jahren 1927/28 be-
suchte, hatte diese Propaganda zu dem Vorschlag ge-
führt, ich sollte doch in Deutschland für sie um gute
Gewehre und überhaupt um Hilfe bitten, damit sie Krieg
gegen die von ihnen sehr gefürchteten Gottlosen führen
könnten, nach dessen Ausgang man ja sehen würde,
wessen Sache gerechter wäre, Gottes, oder die seiner
Feinde. Die mennonitischen Siedlungen zeichneten sich
durch Gemüse- und Gartenbau aus, vielleicht noch ein
Erbe aus ihrer teilweise holländischen Heimat, jedoch
fühlen sie sich ebenso wie die von Adler (a. a. 0„ S. 321)
beobachteten Elolländer im Südwestkaukasus als Deut-
sche. Das im Jahre 1912 gegründete Slawgorod hat jetzt
eine Einwohnerzahl von 19686 Seelen und nach Anger
eine bedeutende Zukunft vor sich als Zentrum eines
sehr großen fruchtbaren Gebietes.
Das nächste Kapitel bringt recht instruktive Einzel-
heiten über die deutschen Dörfer nördlich und südlich
des Kulunda-Sees. Auffallend ist die große Anzahl von
Bewohnern eines Hauses, die ich in ganz derselben er-
schreckenden Weise auf meinen Winterreisen am Jenissej
angetroffen habe. Wenn man nachts in ein solches
Bauernhaus kommt, um Schlittenpferde zu wechseln,
BESPRECHUNGEN
r 93
so stolpert man jedesmal über die auf dem Boden dicht
nebeneinander gepackten Familienmitglieder. Da bei den
bäuerlichen Russen Lüftung während der Winterzeit
mehr oder minder verpönt ist, auch Hühner und sonstige
kleine Haustiere in der Stube ihre Unterkunft finden,
dazu der russische Ofen tüchtig geheizt wird, so kann man
sich bei dem reichlichen Kindersegen eine gewisse Vor-
stellung von der zumindestens wenig lieblichen Atmo-
sphäre bilden. Überraschend für mich war die Angabe,
daß Melonen und Wassermelonen in diesen doch schon
reichlich unter den Unbilden des sibirischen Klimas
leidenden Gegenden anscheinand gut gedeihen. Ob sich
nicht ein in größerem Maßstab durchgeführter Anbau
dieser schmackhaften Früchte auch in Deutschland
lohnen würde ? — Die Bauern der Kulundasteppe haben
auch gewisse künstlerische Betätigungen entwickelt und
bemalen ihre Hauswände und Fensterläden; sogar
manchen Schornstein fand Anger bunt verziert. Der
Verfasser möchte in dieser Erscheinung ein Überbleibsel
aus der bayrischen Heimat jener Leute sehen.
Der übrige Teil des Buches bringt nur noch im 8. Kapi-
tel eine kurze Schilderung deutscher Dörfer bei Rubzowka
und Semipalatinsk. Sonst finden wir noch die Schilderung
seines Aufenthaltes in Nowo Sibirsk, Beobachtungen über
die Altaier, sowie die Beschreibung einer Reise zum
Baikalsee. In einem Anhang wird eine Übersicht über die
deutschen Siedlungen in Sibirien zur Zeit der Volks-
zählung vom 17. Dezember 1926 gegeben, kurze Nach-
weise der benutzten Literatur und verschiedene genau
ausgeführte Kartenskizzen, unter anderem auch eine
von deutschen mennonitischen Bauern gezeichnete Karte.
Das Buch des Verfassers wird gewiß dazu beitragen,
das Interesse an einer gründlichen Durchforschung der
deutschen sibirischen Bauern zu beleben. Es wäre aller-
dings von Nutzen, wenn der Verfasser die von ihm in
dem vorliegenden Buch mitgeteilten Materialien und die
auch sonst noch von ihm gesammelten Beobachtungen
systematisch-monographisch verarbeiten würde. Durch
die von ihm gewählte Erzählungsform konnte er nicht zu
einer nach sachlichen Gesichtspunkten vorgenommenen
Disposition gelangen. Anhand des von Völkerkunde und
Volkskunde ausgearbeiteten Systems wird die Lücken-
haftigkeit der von ihm geschilderten Tatsachenkom-
plexe deutlich fühlbar. Allerdings ist es selbstverständlich
nicht möglich, bei einem so kurzen Aufenthalt, wie er dem
Verfasser zur Verfügung stand, grundlegende Materialien
für die Kulturkunde eines so weit zerstreuten Volkstums
zu sammeln. Als Geograph fehlte ihm wohl auch die
notwendige gründliche theoretische Ausbildung in den
Fragen der volkskundlich-ethnographischen Fachgebiete.
Es wäre sehr wünschenswert, wenn der Orientierungs-
reise Dr. Angers Spezialuntersuchungen über die Anthro-
pologie, Wirtschaft, das Geistesleben und die soziologische
Struktur der sibirischen Deutschen folgen würden.
Hans Findeisen, Berlin.
Dr. J. Winthuis, Innsbruck: Einführung in die Vor-
stellungswelt primitiver Völker. Neue Wege der
Ethnologie. Mit 4 Bildtafeln, IX und 364 Seiten,
Index und Bibliographie. Leipzig: C. L. Hirschfeld
I93I-
Wie Winthuis selbst im Vortwort zu seinem neuen,
umfangreichen Buche sagt, soll es außer einer Fort-
setzung des „Zweigeschlechterwesens“ und der „Wahr-
heit über das Zweigeschlechterwesen durch drei Gegner
bestätigt“ eine positive Studie zur primitiven Denk-
Psychologie sein.
Der Verfasser stellt daher bei seinen Untersuchungen
psychologisch Erwägungen — mit besonderer Berück-
sichtigung der Sprache — an den Anfang, der Ansicht
seiend, daß nur dann kulturgeographische, geopolitische,
sowie Unterscheidungen nach Völker- und Elementar-
gedanken erfolgreich durchgeführt werden können, wenn
zuvor der esoterische Kern der gesamten Kulturäußerun-
gen eines Primitivvolkes klargestellt wurde. Immer
wieder weist er auf die Notwendigkeit exakter Unter-
scheidung der verschiedenen Wortbedeutungen in den
Sakral- und Profansprachen hin, der er selber z. T. seine
Erkenntnisse vom Wesen des Zweigeschlechterwesens zu
danken hat. Diese Verschiedenartigkeit der Wort-
bedeutungen beruht im wesentlichen auf dem „irratio-
nalen“ Denken des Primitiven, für das die Form und
immer wieder die Form das letztendig für die Sinn-
gebung und Sinndeutung Entscheidende ist (p. 42).
Sie ist ihm etwas Lebenerfülltes, Eigenwertiges, kein
bloß bewußt oder unbewußt gesetzter Vertreter eines
anderen (Symbol), sondern ein realer, dem Original an
Substanz- und Sinnhaftigkeit ebenbürtiger Ersatz.
Gleich Lévy-Bruhl zeigt Winthuis für die geforderten
psychologischen Voruntersuchungen des gegebenen ethno-
logischen Materials eine Reihe von Grundeinstellungen
auf, mit denen man bei jedem Primitivvolk zu rechnen
hat, und die keinesfalls bei den Allgemeinuntersuchungen
übersehen werden dürfen. Dies sind: 1. die vorwiegend
sexuelle Einstellung, 2. das identifizierend-personifi-
zierende Prinzip, 3. die magisch-animistisch gefärbte
Religiosität, 4. die partizipativ eingestellte Umwelt-
reaktion und 5. die kollektiv soziologischen Bedingt-
heiten (p. 294, 296).
Daß diese neue psychologische Forschungsmethode
nicht nur gewisse einseitige Elemente primitiver Kulturen
verständlich zu machen weiß, sondern auch die Kulturen
als Ganzes in ihrem Werden zu erfassen vermag, versucht
Winthuis am Beispiel des Totemismus klar zu machen,
der allein durch die Kenntnis des Zweigeschlechterwesens
ganz von selbst in 4 historische Schichten zerfällt (p. 6).
1. Die vortotemistische, 2. die reintotemistische, 3. die
exogamtotemistische und 4. die exogame z. T. ohne
Totemismus.
Die Realität dieses Zweigeschlechterwesens im Rahmen
der primitiven Kulturen wird von Winthuis auch in
diesem neuen Werke mit einem bewundernswerten Auf-
wand von einwandfreiem, wissenschaftlich anerkanntem
Forschungsmaterial bezeugt. Unter der Überschrift
„Darstellungsformen des Zweigeschlechterwesens ... “
(p. 189 seq.) wird in 64 Punkten an vornehmlich
australischem und Südseematerial die Konzeption des
Zweigeschlechterwesens in den denkbar verschiedensten
Situationen des primitiven Lebens aufgezeigt. Nimmt
man dazu auch noch die Einzelbelege, die Winthuis in
großer Zahl als Antwort auf die Angriffe seiner ver-
schiedenen Gegner zusammengetragen hat, und die
beinah die Hälfte seines neuen Buches anfüllen, so muß
man wohl sagen, daß diese für die Ethnologie und ihre
Forschungsmethoden so umgestaltende Erkenntnis vom
Zweigeschlechterwesen als eine nicht mehr bestreitbare
Tatsache angenommen werden muß.
Anders steht es dagegen mit einer Reihe von Einzel-
27 Baessler-Archiv.
194
BÜCHEREINGÄNGE
tatsachen, die dem Kritiker wohl hier und da Anlaß zu
einigen Einwänden geben mögen, die jedoch den Rahmen
einer Allgemeinbesprechung überschreiten würden.
Es soll daher nur probeweise auf einiges hingewiesen
werden, wie z. B. auf S. 165, wo es unter d) heißt: „das
Begräbnis des männlichen Toten (Batak, Sumatra) im
weiblichen Sarg“ und ferner unter f) „die Frauen, die den
Toten mit ihren Köpfen bedecken“ sind Merkmale für
die zweigeschlechtliche Vorstellung des Toten. Wie ließe
sich nun aber wohl das Zweigeschlechterwesen „kon-
struieren“, wenn es sich unglücklicherweise um eine
Frau handelt, die im weiblichen Sarg liegt und von
weiblichen Angehörigen mit dem Kopf bedeckt wird ?!
Wenn Winthuis ferner (p. 287) ohne weiteres'die
übermäßig große Darstellung z. B. von Auge, Nase,
Kopf, Schwanz etc. auf sexuelle, ja zweigeschlechtliche
Tendenzen des primitiven Künstlers zurückführen will,
so ist die Berechtigung dazu nicht ganz einzusehen für die,
die nach der bekannten Britsch-Kornmannschen Theorie
wissen, daß für den noch völlig affektiv umwelt-einge-
stellten Primitiven die Gegenstände nicht in ihrem
Zusammenhang mit der Umgebung, sondern einzeln für
sich je nach subjektiver Wichtigkeit beurteilt und
künstlerisch dargestellt werden und infolgedessen in
ihren Proportionen in keinerlei Verhältnis zueinander
stehen. So finden wir ja auch in der Kinderzeichnung
gemäß der affektiven Bedeutung und des kindlichen
Einzelerlebnis von für uns zusammenhängenden Dingen
fast immer eine übergroße Darstellung von Auge, Nase,
Kopf etc., ohne dabei im mindesten berechtigt zu sein,
zweigeschlechtige Darstellungstendenzen des Kindes
anzunehmen. Dr. H. Hedenus.
Harald Weber, „Das chinesische Horoskop“, Astra-
Verlag, Leipzig.
Verfasser, der zweieinhalb Jahrzehnte in China lebte,
hat sich zwar als Laie, aber mit unendlicher Liebe, Aus-
dauer und Gründlichkeit in ein System versenkt, das mit
gigantischer Geschlossenheit Zeit, Charakter und Schick-
sal zueinander in Beziehung setzt. Die Grundlagen kennen
wir durch Eitels Bericht über das Föng-Shoei-System:
2 mal 5 Himmels- und 2 mal 6 Erdzeichen (d. h. jeweils
in Ying-, bzw. Yang-Bedeutung), die sich im Sechziger-
Zyklus der Stunden, Tage, Monate und Jahre wechselnd
miteinander verbinden. Wie beim Tattwa-System wird
hier nicht mit Gestirnsbahnen innerhalb der Tierkreis-
zeichen, sondern mit dem Rhythmus von Schwingungs-
phasen gerechnet, deren älteste Beobachtung den Tag
in zwölf Doppelstunden eingeteilt haben mag. Eine groß
angelegte Ähnlichkeits- oder Entsprechungslehre. Höchste
Skepsis muß zugeben: ,,wär’ es auch Wahnsinn, hätt’
es doch Methode“, und zwar dieselbe, die mehr oder
weniger auch in der tibetischen, indischen und insul-
indischen Astrologie z. T. nur noch rudimentär oder mit
westlichen astrologischen Systemen vermengt, zu er-
kennen ist. Wäre es aber kein Aberglauben, der dies
System schuf, dann müßten Zusammenhänge bestehen,
z. B. zwischen den liturgischen Farben der katholischen
Kirche bzw. des Lamaismus und denen der Tattwafünf-
heit oder denen der chinesischen astrologischen Elemente
Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Denn diese fünf
Farben sind überall dieselben: schwarz, weiß, rot, grün
und gelb. Webers Buch ist ein Schlüsselwerk. Es bringt
die bisher bekannt gewordenen astromantischen Systeme
Ostasiens dem europäischen Verständnis einen großen
Schritt näher. Und während er mit kritischer Zurück-
haltung zu berichten sucht, regt er ununterbrochen zu
vergleichendem Betrachten an. Moebius.
Büchereingänge.
Bierbaum, Georg: Der erste Fund sächsischer Keramik
aus dem Freistaat Sachsen. Aus: Markramstädter
Heimatblatt Jg. 2, Nr. 20, 1930. 40.
—, Zwei langobardische Gräber von Dresden-Nickern.
Aus; Schumacher F'estschrift, Mainz 1930.
Caso, Alfonso: Las estelas Zapotecas. Mexico: Talk Graf,
de la Nac. 1928. 204 S.
Catellanos, Alfredo: Nuevas restos el hombre fosil. Aus:
Physis, t. 10. 1930. 40.
Congressus secundus archaelogorum Balticorum. Rigae
19.—23. 8. 1930. Rigae 1931. 494 S. 40. Nebst
Katalog d. Ausstellung zur Konferenz baltischer
Archäologen in Riga 1930 hrsg. v. Organisations-
komitee. Riga 1931. 176 S., 56 Taf.
Dieseldorff, Erwin, P.: Kunst und Religion der Maya-
völker. 2. Mit 38 Abb. im Text u. auf 24 Taf. Berlin:
Springer 1931. 44 S. 40.
[Russ.] Dul’skij: Oformlemie tatarskoj knigi za revol-
jucionnyj period. [Die Bildung des tatarischen
Buches in der Revolutionsperiode.] Kasan: Tatar,
wiss. Ökonom. Forschungsinst. 1930. 24 S.
Engelbrecht, Th. H.: Das Pferd und die Indogermanen.
Aus: Niederdeutsche Monatshefte Jg. 1931. H. 7.
Hoffmann, Ernst: Vom Spartopf zur Sparkasse. Ein
Kapitel vom Sparen und Verwahren. Berlin: Verl,
f. bargeldlosen Zahlungsverkehr. 1928. 71 S.
Jahresbericht des Museums für Mineralogie, Geologie
und Vorgeschichte zu Dresden. Dresden 1929. 40.
Jenny, Wilhelm, A. von: Die Übergangszone zwischen
Asien und Europa. Berlin: Wasmuth 1930, 20 S. 40.
Aus: Bossert: Geschichte d. Kunstgewerbes Bd. 4.
Jijony, Caamano, J.: Una gran marea cultural en el n. o.
de sud America. Aus: Journal de la Soc. des Ameri-
canistes de Paris. N. S. t. 22. 1930. 40.
Lauban, rund um. Lauban: Goldammer 1930. 2°. 2. Hei-
matbilder aus Vergangenheit und Gegenwart.
Lindblom, Karl Gerhard: The use of oxen as pack and
riding animals in Africa. Stockholm 1931: Lager-
ström. 77 S.
Propyläen-Weltgeschichte, hersg. v. Walter Goetz.
Berlin: Propyläenverlag 1931. 40 1. Das Erwachen
der Menschheit.
[Russ.] Schibaev, V. P.: Etniceskij sostav naselenija
Evropejskoj casti Sojuza S. S. R. [Die ethnische
Zusammensetzung d. Bevölkerung des europäischen
Teiles des Bundes d. S. S. R.] Leningrad: Akad. d.
Wiss. 1930. 298 S.
Winthuis, J.: Einführung in die Vorstellungswelt primi-
tiver Völker. Neue Wege der Ethnologie. Mit 4
Bildtaf. Leipzig: Flirschfeld 1931. IX, 364 S.
BAESSLER-ARCH IV
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
HERAUSGEGEBEN
AUS DEN MITTELN DES BAESSLER-INSTITUTS
UNTER MITWIRKUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN DIREK-
TORIALBEAMTEN DER ETHNOLOGISCHEN ABTEILUNGEN
DES STAATLICHEN MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE IN
BERLIN REDIGIERT VON
ALFRED MAASS
BAND XV
MIT 87 ABBILDUNGEN, 2 KARTEN
BERLIN 1932
VERLAG VON DIETRICH REIMER (ERNST VOHSEN)
' ____________________
Bachmann, Kurt Wilhelm: Die Besiedelung des alten Neuseeland. Eine anthropogeographische Studie. —
Studien zur Völkerkunde, 4. Band. Leipzig 1931. m S. mit 7 Skizzen und 1 Karte. H. Nevermann 53
Grau, Rudolf: Die Gruppenehe ein völkerkundliches Problem. — Studien zur Völkerkunde. 5. Band. Leipzig
1931. 151 S. H. Nevermann................................................................ 55
König-Beyer, Walter: Völkerkunde im Lichte vergleichender Musikwissenschaft. Reichenberg (Sudeten-
deutscher Verlag Franz Kraus) 1931. 16 S. E. M. von Hornbostel............................... 54—56
Balz, Toku: Erwin Bälz. Das Leben eines deutschen Arztes im erwachenden Japan. J. Engelhorns Nachf.
Stuttgart 1931. 454 S. 28 Bilder, P. Staudinger.......................................... 56—57
Leser, Paul: Entstehung und Verbreitung des Pfluges. Anthropos-Bibliothek Band III, Heft 3. Heraus-
gegeben von P. P. Wilhelm Schmidt und Wilhelm Köppers, S. V. D., Münster i. W. (Aschendorff)
1931. Mit 351 Abbildungen im Text und 42 Abbildungen auf 22 Tafeln und 676 Seiten. 8°. Laden-
preis geh. 36,80 RM., geb. 39 RM. Günther Stahl.......................................... 145—147
Lentz, Wolfgang: Auf dem Dach der Welt. Mit Phonograph und Kamera bei vergessenen Völkern des
Pamir. Berlin (1931) Deutsche Buch-Gemeinschaft. Gelpke ................................. 147—148
Mayo, Katharine: Mutter Indien. (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Dr. Dora Mitzky.) Frankfurter
Sozietäts-Druckerei G. m. b. H. Abtlg. Buchverlag. Frankfurt a. M. 1928. Gelpke.......... \i
Peßler, Wilhelm: „Deutsche Volkstums'geographie“. Braunschweig: Westermann 1931. 108 Seiten, 23 Ktn.
O. Bramm................................................................................. 181
Schmiedet, Otto: The settlements of Tzapotec and Mije Indians, State of Oaxaca, Mexico. University of
California Publications in Geography, Bd. 4. VIII n. 184 S., 47 Taf. 7 Text-Abb., 8 Karten.
University of California Preß, Berkeley, Cat. 1930 ............................................... 181—182
Heft 1.................................... 57
„ 2—3.................................. 148
„ 4.................................... 183
BAESSLER-ARCH IV
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
HERAUSGEGEBEN
AUS DEN MITTELN DES BAESSLER-INSTITUTS
UNTER MITWIRKUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN DIREK-
TORIALBEAMTEN DER ETHNOLOGISCHEN ABTEILUNGEN
DES STAATLICHEN MUSEUMS FÜ|R VÖLKERKUNDE IN
BERLIN REDIGIERT VON
ALFRED MAASS
BAND XV / HEFT i
HERMANN BAUMANN ; DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN
TSOKWE (N. O. ANGOLA; WEST-
AFRIKA) UND IHREN NACHBARN
BESPRECHUNGEN UND BÜCHEREINGANGE
VERLAG VON DIETRICH REIMER (ERNST VOHSEN)
DAS BAESSLER-ARCHIV FÜR VÖLKERKUNDE
erscheint in jährlich 4 Heften von ca. 24 Druckbogen zum Preise von 30.— RM. Einzeln
sind die Hefte zu einem je nach dem Umfang bemessenen etwas höheren Preise käuflich.
Das Baessler-Archiv ist bestimmt für Arbeiten aus allen Gebieten der Völkerkunde mit
Ausnahme der reinen Linguistik und physischen Anthropologie. Seine Hauptaufgabe ist
die wissenschaftliche Beschreibung und Verwertung des in den deutschen Museen aufge-
speicherten Materials nach seiner kulturgeschichtlichen und technologischen Bedeutung,
doch werden auch soziologische, mythologische, kunst- und religionsgeschichtliche Themata
berücksichtigt, soweit sie zur Erklärung von Museumssammlungen beizutragen geeignet sind.
Die Mitarbeiter erhalten 25 Sonderabzüge.
Redaktionelle Sendungen, Zuschriften und Anfragen sind zu richten an den Redakteur
Prof. Dr. Alfred Maaß, Berlin sw. 11, Stresemannstr. 110
Staatl. Museum für Völkerkunde.
BEIHEFTE
die besonderen Vereinbarungen unterliegen und Abonnenten zu einem
Vorzugspreise geliefert werden.
1. Beiheft: Sprichwörter und Lieder aus der Gegend von Turfan. Mit einer dort aufge-
nommenen Wörterliste von Albert von Le Coq. Mit 1 Tafel. [100 S.] 1911.
2. Beiheft: Die WagOgO. Ethnographische Skizze eines ostafrikanischen Bantustammes von
Heinrich Claus, Stabsarzt im Infanterie-Regiment Nr. 48, früher in der Kaiser-
lichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Mit 103 Abb [IV u. 72 S.] 1911.
3. Beiheft: Die Goldgewichte von Asante (Westafrika). Eine ethnologische Studie von
Rudolf Zeller. Mit 21 Tafeln. [IV u. 77 S.] 1912.
4. Beiheft: Mitteilungen über die Besiedelung des Kilimandscharo durch die Dschagga
und deren Geschichte. Von Joh. Schanz. [IV u. 56 S]. 1912.
5. Beiheft: Original Odzibwe-Texts. With English Translation, Notes and Vocabulary
collected and published byJ-P. B, dejosselin dejong, Conservator at the
State Museum of Ethnography. Leiden. [IV u. 54 S.] 1912.
6. Beiheft: Ein Beitrag zur Ethnologie von Bougainville und Buka mit spezieller Be-
rücksichtigung der Nasioi. Von Ernst Frizzi. [56 S.j 1912.
7. Beiheft: Ein Beitrag zur Kenntnis der Trutzwaffen der Indonesier, Südseevölker und
Indianer. Von Hauptmann a. D. Dr. G. Friederici. [78 S.j 19x5.
8. Beiheft: Die Banjangi. Von F- Stasche wski. Überarbeitet und herausgegeben von
Prof. B. Ankermann. [66 S.] 1917.
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten.
Druck von J.J. Augustin in Gliickstadt und Hamburg.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
(N. O. ANGOLA; WEST AFRIKA)
UND IHREN NACHBARN'
VON DR. HERMANN BAUMANN, BERLIN
Das wichtigste Geschehnis im Leben eines Tschokwe-Mannes ist fraglos die Beschnei-
dung und die sich daran anknüpfende Heil- und Lehrzeit im Buschlager. Hier werden die
yilima (sing, tsi-), die Unbeschnittenen, zu Männern. Dieser Brauch ist ein echter Uber-
gangsritus mit dem symbolischen Tod und Auferstehen zum bedeutsamen Mitglied des
Stammes. Auch die Luimbi, Luena und Lunda besitzen ganz ähnliche Sitten. Was darüber
zu sagen ist, soll im Anschluß an die Tatsachen, die ich im Tschokweland erfahren konnte,
angeführt werden. Die Bedeutung des Beschneidungslagers für das Gemeinschaftsleben vor
allem der Tsokwe ist so bedeutsam, daß sie auch von denMissionaren im Lande in Rechnung
gestellt werden muß. Man versucht dort in sehr vernünftiger Weise die Beschneidung durch
fachkundige Hand auf der Mission selbst auszuführen; man gewinnt dadurch die Missions-
zöglinge leichter dafür, das Buschlager zu meiden, denn in diesem wird ja der Eingeborene
in den Stammesgebräuchen erzogen, die den Lehren der Missionare Schwierigkeiten in den
Weg legen. Man hat erkannt, daß ein einfaches Verbot von Operation und Buschlager an der
tiefeingewurzelten Beschneidungssitte scheitern muß; ein Unbeschnittener wird — wie die
im Lande reisenden Mbunduhändler — gründlich verachtet und von den Frauen als Partner
einfach abgelehnt. Diese Erkenntnis hat die Missionare von einem Gesamtverbot abgehalten.
Durch die Selbstausführung der Beschneidung haben sie erreicht, daß vielfach auf das
Buschlager freiwillig verzichtet wurde. Immerhin ist auffallend, daß viele der selbst von
Kindheit an mit den Missionaren verbundenen Knaben die Beschneidung im Busch durch-
gemacht haben, wie etwa mein erster Dolmetscher Punali,
In folgendem soll an Hand der beigefügten Texte, die ich mit Hilfe dieses Punali,
des Manuel und des schon etwas bejahrten ,,nganga-mukandaa (Beschneider) Sauenota auf-
genommen habe, sowie nach meinen Beobachtungen und Erkundigungen ein Versuch der
Darstellung der Beschneidungsriten gegeben werden. Ich bin mir der großen Lücken voll
bewußt; in der relativ kurzen Zeit meiner Feldarbeit war nicht viel mehr herauszuholen,
zumal andere Arbeiten sich einem tieferen Eindringen in den Weg stellten. Vor allem ist es
mir trotz eifrigsten Umfragen nicht geglückt, den Beschneidungsakt selbst persönlich mit-
zuerleben. Da die Operation gewöhnlich schon am zweiten Tag der ganzen mehrmonatigen
Zeit im entlegenen und nicht markierten Busch stattfindet, ist es natürlich recht schwer,
frühzeitig genug auf den Kreuz- und Quermärschen davon Kenntnis zu erhalten, während
1 Der nachfolgende Beitrag stellt einen Ausschnitt aus
Reiseergebnissen der vom Verfasser geleiteten „Angola-
Expedition des Museums für Völkerkunde“ (1930) dar.
Die beifolgenden Abbildungen sind teilweise nach
Photos, die von seinem Reisekameraden Dr. Meinhard,
Berlin in Angola selbst hergestellt wurden, teilweise
nach Aufnahmen von Objekten der Sammlung der Ex-
pedition, angefertigt.
Die Tsokwe bewohnen fast den ganzen Nordosten
Angolas an den Flüssen Tsikapa, Luembe, Täihumbe
und Kasai.
Lautschriftliche Bemerkung; Ts = Tsch;
s = sch; Dz wie engl, g in George; z wie französ.
j in jour.
I Baessler-Archiv.
HERMANN BAUMANN
man die anderen Stadien bis zum öffentlich vor sich gehenden Entlassungsfest leichter zu
sehen bekommt.
Ich muß mich also in Bezug auf die Operation selbst mit den Angaben meiner Gewährs-
männer begnügen. Wir sind aber in der glücklichen Lage, durch die Arbeit zweier Amerikaner
(Holdredge und Young, s.u.), die durch Zufall gerade diese Phase bei den Tsokwe beobachten
konnten, ein geschlossenes Bild von dem ganzen Initiationskomplex zu bekommen.
Die Tsokwe bezeichnen mit ,,mukandaa heute das ganze komplizierte Gebilde der
Einweihung eines Knaben in den Stammesverband als vollgültiges Mitglied im Anschluß an
seine Beschneidung. Ein Überblick über die Literatur stellt die Verbreitung dieser Vokabel
vom Stanley-Pool bis zum oberen Sambesi fest. Büttner fand „mukanda“ als Ausdruck für
„Legitimation, Vertrag oder dgk“, schon zu seiner Zeit am Stanley-Pool (Reisen im Congo-
lande S. 213). Schütt meldete die Bezeichnung „audanda“-Beschneidung damals bei den
Masongo (Reisen im SW-Becken des Kongo S. 106). Man trifft „mukanda“ bei den
Baluba-Samba im SO und den Mambunda im S am Sambesi, bei den Bayaka, Musuco,
Lutsaze, Luena, Lunda und vor allem bei denTsokwe. Hier nun habe ich auch die Erklärung
für die Bemerkung Büttners erhalten. Die Missionare haben seit Ankunft im Land — es war
die Zeit Arnots — alle geschriebenen und gedruckten Schriften mit dem Wort „mukanda“
bezeichnet, z. B. „mukanda wa miaso“, das Liederbuch, „mikanda ya masamu“, die Bücher
der Psalmen, usw. Sie haben den Ausdruck für die ungeschriebene Belehrung des Busch-
lagers für ihre Zwecke als Mittel zur Bezeichnung aller geschriebenen Belehrung oder Nach-
richt verwendet. Daß nicht umgekehrt „mukanda“, das Buch, von den Eingeborenen für
ihre Buschlehre übernommen wurde, beweist der echte Sinn des Wortes. „Kukanda“ heißt
nämlich „verbieten“ im Tsokwe. „Mu“ könnte das Lokativ „im“ sein und mit dem Verb
verbunden „im Verbotenen“ bedeuten. Abgesehen aber von der unwahrscheinlichen Kon-
struktion dieser Substantivierung haben wir einen Beweis, daß hier „mu“ das Präfix der
mu-mi-Klasse tatsächlich ist, da auch ein Plural „mikanda“ für viele Bücher, resp. Busch-
lager vorhanden ist. Außerdem ist dieses Präfix der Holz-Baum-Klasse wieder ein Hinweis
auf das Buschlager, das aus einer kraalartigen Einfriedigung aus Baumstämmen und
Zweigen besteht. Plancquaert gibt1 auch die Lubaform „Kanda“ und die Kikongoform
„Kandika“, beides = „verbieten“, als Erklärung des „mukanda, mkanda oder nkanda“
der Bayaka. Im Kilunda soll nach ihm „mukanda“ bedeuten: „un abri, un refuge“. Die
Jünglingsweihe (ohne Cirkumcisio) der Bakuba heißt ebenfalls „nkanda“ (Torday S. 27,
Szff.). Die „nkanda“-Gesetze sind soziale Gebote und unterscheiden sich von den „ikina“
oder Speiseverboten. Die Bedeutung von „Verbotenes, Verschwiegenes“ steht nach all dem
wohl für „mukanda“ außer Frage.
Vielfach wird nun nur das umfriedete Buschlager, das erst nach der Operation erbaut
wird, „mukanda“ genannt, wodurch die Beziehung des Wortes zu dem strengen Abschluß
geboten und dem Lehrcharakter des Lagers deutlicher wird als jene zur Operation. Tat-
sächlich finden wir ja vielfach Jünglingsweihe und Beschneidung getrennt vor, besonders
in Gebieten, in denen die Operation eine junge Einführung ist und dann meist im Kindes-
alter erfolgt. Bei den Tsokwe, Luena, Lutsaze u. a. ist die Verknüpfung besonders eng und
offenbar alten Datums.
Die Dauer der gesamten Zeremonien hängt ganz davon ab, ob die Jünglinge langsam
oder schnell lernen. Im Durchschnitt dürfen fünf bis sieben Monate angenommen werden.
Früher war die Buschzeit viel länger; heute fordert die Sorge um Beischaffung der Hütten-
taxe und um die immer intensiver betriebene Feldwirtschaft eine möglichst schnelle Be-
endigung, wenigstens insofern ältere Volksgenossen oder im Produktionsprozeß tätige
Knaben mitarbeiten. 95% dieser Zeit fällt auf das eigentliche Buschlager; sie zerfällt
1 Plancquaert, M. : Les sociétés secrètes chez les Bayaka Louvain 1930. S. 56.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TgOKWE
J
wieder in eine etwa zweimonatige Genesungs- und die eigentliche Lehrzeit. Die Einleitung
und die Operation sowie die Entlassung am Schluß nehmen zusammen kaum mehr als
zehn bis vierzehn Tage in Anspruch. Meist endet die Buschzeit im August und September.
Das Alter der Kandidaten wurde mir verschieden angegeben. In Savulu waren
die am Entlassungsfest beobachteten Knaben etwa acht bis vierzehn Jahre alt. Dieses Alter
hatten fast alle Knaben der zahlreichen Lager, die wir besuchten. Es kann aber verkommen,
daß einige erst sechs, andere wieder fünfzehn Jahre zählen, wenn sie zur Beschneidung
kommen. (Siehe die beigefügte Tabelle.) Jenseits dieser Altersgrenze dürften nur vereinzelte
Teilnehmer aufgenommen werden. Die Auswahl der Teilnehmer schwankt zwischen sieben
und zwanzig; selten sind es mehr.
Der Name für die Beschneidungskandidaten ist tundanzi,,“ (pl. kandanzi).
In Abwandlungen (tundansi, tundanta, atwindanzi) ist diese Vokabel beinahe so weit
verbreitet wie „mukanda“. Dem beschnittenen Mann „ngalami“ steht der „tsilima“ (pl.
yi-), der Unbeschnittene, gegenüber. Der Ruf ,,Weg! Ihr yilima!“ ertönte stets, wenn eine
Maske angeboten wurde, und mit Sorge achtete man darauf, daß keiner dieser Unfertigen
die Maske ohne ihren Träger zu sehen bekam.
Die Kleidung der Novizen war gewöhnlich nur ihre braune Nacktheit, zumal in
der Zeit der Heilung. Vor fremden Eindringlingen — wie wir es waren — beeilten sie sich
stets, die kleinen Balettröckchen aus Rindenstoff-
fasern (zombo) um die Hüfte zu winden (Abb. i).
Sonst trug man diese Schürze nur nach der Hei-
lung bei den Tanzübungen und vor allem beim
Entlassungsfest. (Über den Penishalter s. u.).
Gewöhnlich geht die Einberufung der im
fälligen Alter stehenden Unbeschnittenen vom
Häuptling eines größeren Dorf es aus. Benachbarte
Dörfer können sich, wenn sie für die Einrichtung
eines eigenen Mukanda zu klein sind, an dem be-
treffenden Buschlager beteiligen. Wichtig ist die
Einladung der Gäste für die einleitenden Tänze,
die einige Tage und Nächte dauern, sodann die
Bereitstellung von viel Bier und Brei, dann aber auch die Berufung eines gewandten
Operateurs (nganga-mukanda), der mit dem Wahrsager (tahi), Hexenfinder (tsiyembwoka)
oder Medizinmann (mbuki) nichts zu tun hat. Ein gewandter Operateur hat einen großen
Ruf und kann von weither geholt werden. Das Auftreten von Masken am ersten Tag
erwähnt nur Punalis und Manuels Bericht. Mir ist diese Angabe sonst nicht bestätigt
worden. Immerhin ist nach Analogie der Sitten benachbarter Völker (Luena, Lunda u, a.)
das Auftreten von Masken, welche die Kandidaten in den Busch holen, sehr wahrscheinlich.
Der nganga-mukanda macht Medizinen (yitumbo ya mukanda) und reibt damit die Kan-
didaten ein, um sie stark und gefeit gegen böse Zauberkräfte („wanga“) zu machen. Man er-
richtet zuerst die Küche (tsifwa), wie weiter unten geschildert ist, daneben stellt man den
„mwima“, den Pfahl des Doktors (s. u.). Dieser geht auf Jagd, tötet eine Antilope, nimmt
deren Kopf und den eines Hahns — seinem Wappentier — und steckt beide an den Pfahl.
Nach tagelangen Tänzen erfolgt die erste wichtige Zeremonie. An einem Nach-
mittag rasieren sich alle Novizen das Kopfhaar und lassen nur ein kleines Büschel Haare
auf dem Vorderkopfe stehen. Die ganze Nacht dauert der Tanz, der nun folgt. Am anderen
Morgen geht alles recht früh an den „fwilo“ (Pl. mafwilo) genannten ausgerodeten Platz im
Busch, wo die Beschneidung stattfinden soll. Etwa um 7 Uhr kommt der nganga-mukanda
und schneidet das „tsiselele“ (eigentlich Name einer Habichtart), jenes stehengebliebene
Abb. 1. Faserröckchen „zombo“ der Frisch-
beschnittenen. Gebraucht von T§okwe, Lunda,
Luena, Luimbi.
4
HERMANN BAUMANN
Haarbüschel, ab; er vermischt das Haar mit etwas Wasser, das er auf den Körper des No-
vizen gießt. Dieser Vorgang heißt ,,erster Regen“ (vula wa muzäza). Diese Bezeichnung
und vor allem auch die des Haarbüschels deuten auf einen Fruchtbarkeitsritus; man muß
dabei die Stellung der Raubvögel (vor allem der Adler) als Fruchtbarkeitstiere der Tsokwe
und Luimbi berücksichtigen und den ungeheuren Jubel über den ersten Regenfall, der eine
neue fruchtbare Periode einleitet, erlebt haben, um den tieferen Sinn des Ritus zu verstehen.
Nach Manuels Bericht sollen erst jetzt, wie schon erwähnt, Masken auf treten, die den
Knaben die Kleider wegnehmen und die Novizen nach dem ,,fwilo“ zur Operation bringen.
Uber Wesen und Charakter der Masken soll aber erst später die Rede
sein, denn eine genaue Beschreibung der zahlreichen Maskentypen ist
notwendig, und die Tatsachen, die mit den Masken in Verbindung
stehen, sind vorteilhafter im Zusammenhang zu schildern. Nur daß die
Masken „atsisi“ (Einzahl „mutsisi“) heißen, daß einige Typen eng mit
dem Buschlager, andere nur lose mit ihm verbunden sind, daß ferner
alle eng mit dem Ahnenkult verbunden sind, sei hier vorausgeschickt.
Die Operation selbst findet also auf dem „fwilo“ genannten
Platz statt, meist am dritten, manchmal erst am io. oder 12. Tag nach
Einberufung der Zeremonie. Die Beschneidung führt der ,,nganga-mu-
kanda“ an jedem Novizen in rascher Folge aus. In Sakamona erhielt
ich über die Technik der Operation folgenden Bescheid: Die Vorhaut
wird vorgezogen, ein schneller Schnitt wird ausgeführt, die Teile werden
auseinandergeklappt und dann abgetrennt. Wenn der Doktor nicht
schnell genug abschneidet, wird er als schlecht weggejagt. Es kommt
vor, daß die Kandidaten dem Doktor die arbeitende Hand vor Angst
Abb. 2. Operationsmesser mit Kot besudeln. Sie singen in größter Furcht vor den sich in langer
desBeschneidungsdoktors. äer Nähe auf stellenden Masken und vor der Operation ein
Angstlied. Eine andere Auskunft beschreibt den Vorgang so: Der Dok-
tor zieht die Vorhaut in der Richtung zu sich und trennt durch einen Rundschnitt die
äußere Präputialhaut; ein blitzschnell geführter zweiter Schnitt durchschneidet die mulemba
genannte innere Haut. Der Beschneidungsakt heißt „Kusiha“ (= töten) oder „Kwenga“
(„musosia“ ist die Vorhaut). Das Operationsgerät ist ein kleines Messerchen mit Metallklinge
und zeitweise hübsch verziertem Griff (s. Abb. 2). Der Doktor trägt es in seiner Tasche
,,kumba“ mit sich herum. Während der Operation werden Trommeln geschlagen, und ein
infernalisches Lärmen übertönt die Schreie der Novizen, denn die Mütter sollen nichts
von dem Jammern ihrer Kinder hören. Das Blut fängt man in einem porösen Termitenstein
auf. Das Präputium wird von einem Familienmitglied oder von dem Gehilfen (tsilombola),
von dem unten noch die Rede sein wird, in einem Stückchen Stoff eingewickelt, an einem
versteckten Platz im Busch gebracht und dort in den Wurzeln eines Baumes bestattet.
Kommt dann der Kandanzi aus dem „mukanda“ und stellt sich heraus, daß er schlecht und
böse ist, so geht sein Oheim oder der Doktor und holt die versteckte und getrocknete Vor-
haut und gibt sie dem Jungen in die Speise gemischt zu essen. Er wird jetzt gebessert, ver-
liert aber durch dieses Gewaltmittel die Zeugungskraft und wird nie heiraten können. An-
dere erzählten mir, daß die Vorhaut in einem Termitenstein (Ahnensitz!) aufbewahrt wird.
Siehe auch S. 38 (Luimbi).
Der Beschneidungsdoktor ist stets ein älterer Mann. Wenn die Knaben beschnitten
und in den Kraal eingeführt sind, darf er sie nicht wieder sehen bis sie entlassen werden.
Er muß das Kamp bis dahin meiden. Er darf während der ganzen Buschzeit keiner Frau —
auch der eigenen nicht — beiliegen. Der Hahn ist sein Spezialtier und seine Spezialspeise,
Schon während der Operation beginnen die Gefährten und zukünftigen Lehrer der
Abb. 3. Grundriß des Mukanda von
Sakamona. (Erläuterung s. Text.)
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
Novizen die kreisrunde Einzäunung aus Baumstämmen
aufzuführen. Etwas abseits vom Dorf, mit diesem durch
einen Pfad verbunden, wird im Busch ein Platz gerodet
und gereinigt. Auf einem Kreis — sein Durchmesser
variiert je nach der Anzahl der tundanzi zwischen 10
und 30 m — werden Baumstämme mitsamt ihrenÄsten
und ihrem Laub aufgepflanzt, so daß sie eine dichte,
drei bis vier Meter hohe, kreisrunde oder schwachovale
Wand bilden.
In Sakamona, einem Dorf der Tsokwe, nahe dem
Loze an der Westgrenze des Lundavolkes war das Lager
etwa 30 bis 40 Schritte vom Dorf entfernt. In dem
Kreisrund der oben erwähnten Einfriedung (s. Abb. 3
u. Abb, 4) standen Unterkunftshütten für die Regentage der Schlußzeit. Sie bestanden
lediglich aus Knüppeln, die in einem Kreis von etwa drei Metern Durchmesser in die Erde
geschlagen wurden. Grob gearbeitete Strohdächer bedeckten diese Schuppen (4). Vor den
Hütten stehen die „yikalakala“ (5), das sind Gitter aus Holzknüppeln, die als trennende
Wände an den Schlaf- und Feuerstellen der ,,tundanzi“ und ihrer Gehilfen dienen. Hier
liegen die Novizen in der ersten Heilungsperiode mit an diese Gitter festgebundenen Beinen
(s. u.), falls sie aus der Wunde stark bluten. Unter ihnen liegt ein Fell oder eine Matte.
Neben sie lagert sich der Gefährte (tsilombola) der jedem Kandanzi zugeteilt ist. Hinter
dem eigentlichen Platz mit den Regenschuppen und Schlafgattern führt eine Pforte ähnlich
dem Eingang (6) durch die Einfriedung zu einem zweiten Raum, der durch eine ähnliche
Baumpallisade, die der anderen parallel und an den Enden in diese übergeht, ebenfalls
von der Außenwelt abgeschlossen ist. Hier befinden sich die aus Stroh gefertigten, mitein-
ander verbundenen Hüttchen, wo die Masken der Beschnittenen aufbewahrt werden (3).
Uber beiden Eingängen hängen die ineinander verketteten beiden Strohringe, ein Abwehr-
zauber gegen böse Einflüsse der Hexen. Kurz hinter der Türe (7) steht ein aus zwei senk-
recht stehenden und einem quer darüber gelegten Knüppel bestehendes Gestell, „mboma“
Abb. 4. Ausschnitt aus dem Mukanda von Sakamona. Tgokwe. Im Vordergrund
die „yikalakala“, dahinter die Regenschuppen.
I
6
HERMANN BAUMANN
Abb. 5. Buschlager von Sambangu von außen gesehen.
genannt, daneben der „mwima wa nganga-mukanda“, der Pfahl mit dem aufgespießten
Hahnenkopf, das Abzeichen des Operateurs. An anderen Orten kann die Anordnung etwas
verschieden sein, so sind z. B. in Kaposa (Tsokwe) und Kapamba (Lunda) die Maskenställe,
die „mboma“ und alles andere innerhalb einer einzigen Einfriedung.
Sakamonas Mukanda ist vielleicht ein Beispiel für die durchschnittlichen Anlagen eines
Buschlagers. Wohl das schönste und größte Mukanda trafen wir jedoch in Sambangu,
nahe Alt-Ndala am oberen Tsihumbe. Es waren hier allerdings keine Regenschuppen vor-
handen, dagegen etwa 17 yikalakala. Sie bestanden alle aus einem gitterartigen, halbkreis-
förmigen Käfig mit einer Trennwand im Innern (s. Abb. 7); der Gehilfe schläft in einem
Abteil, der kandanzi in einem anderen. Die Maskenschuppen aus Stroh standen in einer
langen, ununterbrochenen Reihe an die Palisaden angebaut. In der Mitte des sehr großen
Freiplatzes vor den Schlafkäfigen stand der „mwivu“ (= Zeichen, Pfeil), ein großer Baum,
wie er in fast allen mikanda als eine Art Wahrzeichen auf tritt. Am Fuß dieses Baumes liegt
ein Haufen Asche. Hier ist das Pissoir der Mukandaknaben; die sonstigen Bedürfnisse
werden außerhalb im Busch verrichtet. An den Palisaden sieht man aufgehängt zum Trock-
nen die gewaschenen Rindenfaserschurze. Da und dort liegen richtige kleine Berge der gelb-
roten ,.,Makolo“-früchte mit ihrer harten, kugelrunden Schale.
Abb. 6. Das Buschlager von Sambangu. Rechts die Maskenhütten, davor die
Schlafplätze. Links der „mwivu“-Baum.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
7
Abb. 7. Ausschnitt aus dem Buschlager von Sambangu. Schlafkäfige und
Maskenställe.
Vor dem Mukanda ist stets ein sauber gereinigter Platz, auf dem die tundanzi ihre
Tanzübungen ausführen.
Wenn dasMukanda selbst erbautwird, ist die Küche(s. Abb. 8)für das Buschlager ge-
wöhnlich schon fertiggestellt. In den meisten Fällen ist das eine einfache Strohhütte, die von
einem ähnlichen Zweig und Baumstamm umgeben ist wie das Lager der Beschnittenen selbst.
In Samayisi, wo wir Zeugen eines besonders interessanten Entlassungsfestes waren, stand
die Küche am Rande des Dorfes; es war eine einfache Strohhütte ohne Einfriedung. In
diesen Küchen (yifwa; sing, tsifwa) wohnt die natsifwa, die Köchin des Mukanda, eine
bejahrte Matrone, die den tundanzi die Nahrung bereitet. Die Speisen werden dann hier
Abb. 8. Die „täifwa“, d. h. Küche des Buschlagers von Kapoza (Tsokvve).
8
HERMANN BAUMANN
Abb. 9. Teilansicht aus dem Buschlager von Sambangu. In der Mitte das hlg. Ge-
rüst „mboma“ und der ,,mwima“-Pfahl. T§okwe.
von den Gefährten abgeholt. Die „natsifwa“ ist gewöhnlich eine zeugungsunfähige Alte,
da sie nie den Beischlaf ausüben darf.
Um einige Heiligtümer und Wahrzeichen kristallisiert sich das sakrale Leben des
Lagers. Leider stellen sich dem Verstehen dieser Dinge beim kurzen Durchreisen erhebliche
Schwierigkeiten entgegen. Der symbolische Wert wird oft selbst von den Eingeborenen
verkannt. Jene Heiligtümer sind:
a) der erwähnte „mwivu“ oder Pißbaum.
b) das torartige Gestell „mboma“, das fast überall dieselbe, schon beschriebene
Form besitzt. Auf dem Querbalken liegen stets Brocken des von den Jünglingen
morgens und abends verzehrten sima (Maniokbrei) als Opfergaben. Vielfach hängen
die Abwehrringe (s. beif.), die Penishalter und Beinspreizer (s. u.) an dem Gerüst,
und man kann öfter am Fuß des „mboma“ auch den aus einem gegabelten Zweig
bestehenden, kultischen Doppelbogen sehen, über dessen Bedeutung ich nie eine
befriedigende Antwort erhielt. Diese
Bogen trifft man häufig auf Busch-
wegen und in den Ahnenkulttempeln
der Familien (z. B. bei Nakapamba).
c) das Wahrzeichen des Operateurs, der
„mwimawa nganga-mukanda“.
Es ist meist ein gegabelter Pfahl, der
auf einem Gabelteil an der Spitze
den Kopf eines Hahns („ndemba“),
des hlg. Tieres des Mukanda, trägt.
Dieses Abzeichen kann man häufig
auch vor dem Haus des Doktors im
Dorfe selbst als eine Art Firmen-
schild entdecken. Der Pfahl trägt an
einer Stelle eine Umwicklung aus
Rindenbast, eine sicher magische Be-
tonung, die wir an den „miombo“,
Pfählen und vielen anderen Pfählen
den Ahnenbäumen, den ngombo-
a b
Abb. io; a) Tasche des Beschneidungsdoktors mit Inhalt.
(Operationsmesser, Medizinbeutel, rote Federn), b) künst-
licher Phallus aus Holz für die Tsiheu-Maske. Siehe S. 22.
Täokwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
9
und Pfosten wiederfinden. In der Umwick-
lung steckt eine Feder, die ebenfalls im Kult
der Ahnenbilder eine große Rolle spielt. In
Samayisi stand ein ,,mwima“ auch vor der
Küche, und an seinem Fuß steckten die höl-
zernen Opfermesser in der Erde.
d) „Kumba ya nganga-mukanda“ ist die
Tasche des Doktors aus Rohrgeflecht in der
Form der Stulptaschen für den Rattenfang.
Dieser Behälter ist gewissermaßen das Herz
des Mukanda und heißt oft schlechthin ledig-
lich „mukanda“. Zu beiden Seiten des Deckels Abb. n. Reisig-Eßteller für die Beschneidungs-
hängen zwei kleine Kalebassen mit Stöpseln kandidaten. Tsokwe.
aus Federn. In diesen befinden sich die Stär-
kungs- und Heilmedizinen des Doktors, in der Tasche selbst die Operationsmesser-
chen, Medizinen, pulverisierte rote und weiße Erde. Auch ein paar rote Federn
des ,,ndua“-Vogels sind dabei. Nur zufällig gelang uns der Ankauf dieses wohl am
schwierigsten erwerbbaren Geräts in zwei Exemplaren (s. Abb. 10 a).
e) Verschiedene Medizinen. Eine Unsumme von Heilkräutern werden verwendet.
ImTextePunalis sind die einheimischen Namen einiger Pflanzen, Bäume und Früchte,
die als yitumbo verwendet oder als Abwehr-, Stärkungs- und Heilmittel gebraucht
werden, angeführt.
f) Charakteristisch sind die ineinandergeketteten beiden Strohringe, die an den
Toren und Zugängen zum Mukanda hängen. Sie wurden mir stets als Mittel gegen
eindringende Hexen („nganga“), die dem Heilungsprozeß schaden wollen, bezeichnet.
Eine besonders wichtige Institution ist die der Gefährten der Beschnittenen.
Man nennt sie ,,yilombolaa (sing, tsi-) oder yikolokolo (tsikolo = Eingang, Pforte). Jeder
kandanzi wählt aus den in den letzten Jahren beschnittenen jungen Männern meist einen
Verwandten aus, und dieser hat ihm gegen kleinere Geschenke und Bezahlung während seiner
Buschzeit als Gehilfe und Lehrer beiseite zu stehen. Der tsilombola schläft neben ihm im
Käfig, holt ihm das Essen aus der Küche, verknüpft den von der Außenwelt streng ab-
geschlossenen Knaben mit den
anderen, lehrt ihn Tänze und
Gesänge, erneuert die vom Dok-
tor gereichten Heilmittel und
überwacht die handwerklichen
Arbeiten des Beschnittenen im
Kamp. Die tundanzi haben ihre
Gefährten zu achten und zu
ehren. EinGesetzverbietetihnen,
,,schlecht über sie zu sprechen.“
EineAnzahl strenger Ge-
bote sind den Novizen auf erlegt.
Sie müssen sich von allen Frauen
fernhalten, ja dürfen von solchen
nicht gesehen werden. Wenn sie
auf ihrem Wege zur Verrichtung
ihrer Bedürfnisse oder zum Ba-
Abb. 12. Frischbeschnittene beim Verzehren des Maniokbreies. Täokwe. den im nahegelegenen Bach das
2 Baessler-Archiv.
ro
HERMANN BAUMANN
Lager verlassen müssen, trillern und pfeifen sie laut, oder sie singen ein den Tod
androhendes Lied, das die Frauen in die Flucht schlägt. Selbstverständlich ist jede
Berührung mit dem weiblichen Geschlecht untersagt, denn sie hätte einen verderb-
lichen Einfluß auf das zwischen Leben und Tod stehende Ent-
wicklungsstadium der Novizen. Die Masken haben den Zweck,
diesen destruktiven, schwächenden Einfluß der Weiber fernzu-
halten. Es besteht eine Bestimmung der Unreinlichkeit; außer
wenigen hygienischen Bädern zu Beginn der Buschzeit, ist den
Knaben vor allem später jedes Waschen verboten. Tatsächlich
ist die Unsauberkeit der Knaben oft erstaunlich. Wenn man
noch bedenkt, daß sie stets im Freien, meist auf der Erde ruhend,
nächtigen und eines der vielen Eßgebote fordert, daß sie nur auf
der nackten Erde, höchstens auf Blättern oder in aus Reisig
geflochtenen Tellern (s. Abb. n) ihren sima verzehren dürfen,
wundert man sich nicht mehr darüber.
Bedeutsam sind vor allem einige Opfersitten beim Essen
des Breies morgens und abends. Die Knaben sitzen alle vor dem
„mboma“-Gerüst und legen nach dem Essen — jeder einzeln —
etwas Brei auf die Querstange. Sie haben sich einen Strohhalm
ins Haar gesteckt; nach Beendigung der Mahlzeit und nach Dar-
n
Abb. 13. Frischbeschnittener.
Er trägt die Schnur mit dem
Penishalter; als Fliegenwedel
hält er in der Rechten ein
Zweigbüschel, in der Linken
ein Stäbchen mit aufge-
spießten Heuschrecken.
Täokwe von Kapoza.
LJ
bringung des Bissens, spuckt
jeder auf seinen Strohhalm, wirft
ihn weg und ruft laut ,,ha’, ha’.“
Sie dürfen nur mit dem Gesicht
nach W. gewendet essen; dabei
hocken sie stets in charakteri-
stischer Haltung, das eine Bein als
Sitz benutzend. Die Nahrung ist
außer dem sima im allgemeinen
nur das, was die Jungen sich an
Kleintieren (Ratten, Raupen, Heuschrecken) und Waldfrüchten (vor allem ,,makolo“ und
„tundu“) einsammeln.
Wie schon gesagt, wird die Genesung durch verschiedene Heilmittel aus Pflanzen und
Bäumen und ein Pulver aus einer bestimmten Erde gefördert. Die erste Hilfe gibt der Doktor
selbst, dann aber beginnt das Amt des tsilombola. Er bindet den Penis des Knaben mit
Abb. 14. Eingang zum Buschlager von Sakamona; an den Torpfosten
hängen die Schenkelspreizstäbe (a) „yihango“ mit den Penishaltern
„ngo“ (b). T§okwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
I I
Hilfe eines ,,ngo“ genannten und aus dem mundengo-Baum hergestellten Gabelhölzchen
hoch. Das Hölzchen wird durch eine Hüftschnur an seinem Platz gehalten und verhindert
gefährliche Reibungen der Wunde am Skrotum. Wenn sich der Rekonvaleszent nachts in
den'Gitterkäfigen schlafen legt, dann bindet ihm der tsilombola
die Beine an die Gitterwände, um die Ruhelage des Penis sicher
zu stellen, oder aber der Jüngling legt sich einen „tschihango“
(pl. yi-) genannten Spreizstab zwischen die Schenkel; er muß
aus dem Holz des ,,mulima“- oder „mutou-Baum gefertigt
sein. Als drittes Gerät tritt der mufuka wa mwanzi(pl. mifuka
ya mianzi) hinzu; das ist ein Wedel aus einem Holzstab, an
dessen Ende bearbeitete Rindenbaststreifen befestigt werden.
Mit diesem Wedel verjagen die Burschen aufdringliche Fliegen
von der Wunde. Dann können auch noch die waschbaren
„zombo“ genannten Schürzchen aus Rindenbaststreifen,
die der Beschnittene zeitweise trägt, als hygienisches Mittel
erwähnt werden. Es ist meinem Kollegen Dr. H. Mein-
hard gelungen, ein paar der Jungen — allerdings nur durch
Zuspruch des alten Operateurs Sauenota ermuntert —
ohne Schürzchen zu photographieren. An einigen Knaben
ist auf dem Photo die Wundschwellung deutlich erkennbar.
Die Heilung dauert vielleicht einen Monat. Ein Bad am
Fluß schließt sie ab, dann beginnt die Periode der Be-
lehrung.
Über die Lehren des Buschlagers, falls überhaupt solche
in feststehenden Formen den Jünglingen gegeben werden,
habe ich leider nichts weiter in Erfahrung bringen können,
... „ . .. . . als daß es sich vor allem um Aufklärungen über soziale Ge-
Abb. 15. r risch beschnittener aus
Mwalukanga. Täokwe. Er trägt den
Penishalter „ngo“.
setze handelt. Schon die vereinzelte
Angabe, daß eine sexuelle Auf-
klärung damit verbunden sei, wurde
mir von verschiedenen Seiten ab-
gestritten; aber ich gestehe, daß ich
nicht davon überzeugt bin. Züchti-
gungen und Mannbarkeitsproben
finden offenbar nicht statt, im
Gegensatz zu dem „zemba“, das
im Anschluß an das Mukanda er-
wähnt werden soll. Das „zemba“
ist eine nur lose mit dem Mukanda
verbundene Institution und inner-
lich nicht mit diesem verbunden.
Den Befehlen der Lehrer ist auf jeden Fall nachzukommen, und eine Art Drill besteht
fraglos. Die Novizen lernen allerlei nützliche Beschäftigungen, vor allem die Herstellung
der knotenlos genetzten Maskenanzüge aus Rindenschnüren (ngozi). In Kanema, nördlich
des Tsihumbe, sahen wir einen kandanzi bei der Anfertigung eines solchen Anzuges. Er
verband zwei in die Erde gerammte Pfosten mit einer Rindenschnur und begann auf ihr
Abb. 16. Ein Frischbeschnittener verfertigt vor dem Buschlager
das Netzgewand für das Maskenkostüm. Zwischen zwei in die Erde
gerammten Stöcken wird die gedrehte Rindenfaserschnur in knoten-
loser Technik verarbeitet. Mwalukanga. Tgokwe.
2
HERMANN BAUMANN
I 2
die erste Schlingenreihe, in diese flocht er dann die nächste usw. Er bediente sich dabei
einer eisernen Flechtnadel. In Kapiasa am Luatsimo sah ich der Herstellung einer mutsisi
(Masken-) -Mütze zu; sie erfolgte ohne Nadel, nur mit der Hand. Die yilombola sehen streng
auf schnelle, sachgemäße Durchführung der Arbeiten. Die Maskenköpfe werden von der
Familie des Beschnittenen, falls in ihr ein Künstler ist, verfertigt und nicht von ihm selbst.
Gemeinsame Jagden werden erst nach der Heilung
auf allerlei Kleintier ausgeführt. Große Heuschrecken
sammelt man auf kleinen Holzspießen, indem man sie
wie kandierte Nüsse aufreiht; gefangene Ratten und
Mäuse kommen in die Stulptaschen.
Die wichtigste Belehrung liegt aber fraglos in den
Tänzen. Diese „wino“ werden täglich geübt, oftmals
auch durch ganze Nächte; die drei Trommeln, die stets
im Lager bleiben, werden dann von yilombolas bedient;
man tanzt stets auf dem Freiplatz vor dem Lager. Da
fast alle Tänze, die nach meinen Erfahrungen vorzüg-
lich klappen, am Entlassungsfest vorgeführt werden,
sollen sie im Zusammenhang mit jenem Fest erwähnt
und beschrieben werden.
Besonders auffallend sind die zahlreichen solaren
Züge im Ritual des Buschlagers. Oben sahen wir schon,
daß die Knaben mit dem Gesicht nach Westen gewendet
ihren Brei verzehren müssen. Viel wichtiger ist aber die
Tatsache, daß morgens die Sonne besungen wird in
Liedern, die ich in meinen Texten festzuhalten ver-
mochte. Manuel erwähnt dabei, daß die Lieder an die
Sonne beim Krähen des Hahns gesungen werden. Gerade
Abb. 17. Kandangi
(Frischbeschnittener) mit der Rinden-
faserschürze. Dorf Sambangu.
Tsokwe.
der Hahn spielt eine große
Rolle im Mukanda. Es ist
das Abzeichen des Mukanda-
opera teurs, an dessen Firmen-
und Kultpfahl der Kopf des
geopferten Hahnes hängt;
der Hahn ist seine Spezial-
speise, und vielfach wird ein
Hahn von den Novizen im
Mukanda gehalten.
Man könnte im Hinblick
auf andere Auf er steh ungs-
kulte in Afrika, die fraglos
meist mit dem Mond ver-
bunden sind, im Zweifel sein, Abb. 18. Frischbeschnittene mit den Tanzröckchen. Dorf Kapoza.
ob die mit dem Mukanda und Tsokwe.
der Beschneidung zusammen-
hängenden Vorstellungen vom Sterben und Auf erstehen bei den Tsokwe eine lunare oder
eine solare Grundlage haben. Ich möchte im Hinblick auf das eben über den Sonnenkult
Gesagte doch hier für eine solare Auffassung des Sterbens und Auferstehens (Versinken
und Hervorkommen des Taggestirns) plädieren.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
J3
Sind die Knaben zur Beschneidung in den Busch gegangen, dann raunen die Mütter
und andere Frauen: „man weiß nicht, ob sie wiederkommen“, denn die Meinung ist außer-
halb des männlichen Kreises wissender Auguren verbreitet, daß die Beschneidung ein
Sterben ist, dem bei guter Behandlung ein Auferstehen folgt. Die Mutter hat große Angst
um das Leben ihres Kindes, vor allem vor dem Operateur, dem es ganz überantwortet wird.
Bei der Entlassung herrscht großer Jubel und Lobsingen, denn die Ungewißheit ist vorbei.
„Kusiha“ heißt nicht nur „beschneiden“, sondern auch „töten“. Ganz deutlich wird das
rituelle Sterben und Auferstehen aber in einer pantomimisch glänzend durchgeführten Szene
bei der Entlassung, wo die rot-weiß-bemalten Jünglinge das Sterben und Auf erweckt-
werden erstaunlich ausdrucksvoll demonstrieren (s. weiter unten). Auch der Gebrauch der
weißen und roten Farbe (Erden) ist symbolisch. Bei der Entlassung sind die beiden Leben
und Tod symbolisierenden Farben auf den Körpern in phantastischen Mustern vereinigt;
erst nach der Waschung und Entfernung der Zeichen ihres zwischen Leben und Tod stehen-
den Seins werden sie normale Menschen.
Ob früher einmal der rituelle Tod mit der Vorstellung von einem, die Novizen ver-
schl ingenden Buschwesen, wie bei denLuba oder den Sambesivölkern usw., verbunden
war, istfraglich. Meine dauernde Nachfrage
nach Schwirrhölzern hatte lange Zeit ab-
solut kein Resultat, bis eines Tages bei der
Erfragung von Spiel und Spielgerät ein
Mann mit einer Art Schwirrholz erschien
(s. Abb. 19) und es als Kinderspielzeug
demonstrierte. Das flache, ovale Brett Abb. 19. Schwirrholz als Kinderspielzeug „ndumba-mwela“
hatte ein Loch in der Mitte und wurde = Löwenbrüllen”. Tsokwe.
mit einer Rindenschnur um den Kopf
geschwungen. Er nannte es „ndumbamwela“, d. h. Löwenbrüllen. Diese Bezeichnung
läßt nun doch den Verdacht auf kommen, daß zumindestens früher einmal eine ähnliche
Vorstellung wie bei den Baluba vorhanden war, wo der Operateur des Mukanda „ntambo“
( = Löwe; auch im Tsokwe ist ein Wort „tambwe“ für Löwe vorhanden) heißt und die
Beschneidung mit Löwengebrüll einleitet (s. a. unten); hier herrscht deutlich ausgeprägt
die Anschauung, daß nun der Löwe die Kinder fresse.
Den Charakter einer Fruchtbarkeitszeremonie trägt nicht nur die Operation
selbst — überall wurde als Grund die Erhöhung der Zeugefähigkeit und das Gefallen der
Weiber angegeben — sondern auch die Buschriten. Schon die Flaarschur mit dem über
die Jungen gegossenen „ersten Regen“ ist deutlich ein Fruchtbarkeitszauber. Ganz klar
geht aber der Charakter aus dem „nangele“ genannten Tanz hervor, wo die zur Entlassung
kommenden tundanzi den Weibern eine Flolzpuppe überreichen (s. unten).
An weiteren charakteristischen Momenten in dem Mukandasittenkreis sei noch erwähnt,
daß die meisten Blutsfreundschaften im Mukanda geschlossen werden und daß die
Gleichaltrigen desselben Mukanda für das ganze Leben eng verbunden bleiben; weiter soll
es eine eigene Beschnittenensprache geben, die allerdings nur noch in wenigen Lagern
üblich sein soll; ich selbst habe diese Tatsache nicht nachprüfen können. Betont sei noch,
daß die tundanzi sich beim Schlachten der Hühner und bei den Tanzvorführungen als eine
Art Tanzzepter der hölzernen Messer (mafumu) bedienen; sie werden, wie die tundanzi
selbst, rot und weiß bemalt.
Das glänzendste Ereignis ist unbedingt das öffentliche Entlassungsfest. Schon
tagelang vor der Entlassung wird viel Bier im Dorf gebraut und der Platz um die Küche
gereinigt. Man sucht geeignete Trommler für die Kapelle, und die Knaben beginnen mit
der Herstellung ihrer Tanzanzüge. Sie verfertigen aus den „mitundu“-Gräsern und aus
H
HERMANN BAUMANN
Rindenstoff die „mikuku“ (sing, mu-) genannten Hüte, die sie mit einer rot-weißen Mischung
von Erdfarben hellrot bemalen. Diesen mikuku wird vor den Vorführungen eine Art
Augenschirm aus Geflecht (mit rot-weißen Mustern bemalt) zugefügt, ebenso eine rote
Feder des ndua-Vogels. Dann machen sie sich frische ,,zombo“-Schürzchen und Opfer-
holzschwerter. Zwei Tage vor dem Fest verlassen sie das Mukanda und gehen — vom
Abb. 20. Die Beschnittenen beim Entlassungsfest in Sawulu am Kasai
während einer Tanzpause. Die Körper sind mit roter und weißer Erde
bemalt. Tsokwe.
Doktor geleitet ■— in großem Bogen um das Dorf auf die andere Seite der Siedlung, wo sie
bis zum Festmorgen verbleiben. Sie werden jetzt mit „ngula“ rot und mit „mpemba“
weiß in den verschiedensten Mustern auf dem ganzen Körper bemalt; das Gesicht ist zur
Hälfte rot, zur Hälfte weiß. Wenn sie auf dem Platze ankommen, beginnt nach der Schlach-
tung eines Huhnes mit den Holzmessern die öffentliche Vorführung der erlernten Tänze.
Abb. 2i a, b. Helme der Beschnittenen, beim Entlassungsfest getragen. Tsokwe.
Ich gebe anschließend die Schilderung eines Entlassungsfestes der Tsokwe von Samayisi,
das wir in wesentlichen Phasen im Film aufnehmen konnten. (Der Ort Samayisi liegt
zwischen den Flüssen Mombo und Luatsimo).
Unser Lager stand etwa zweieinhalb Stunden von dem Dorf, dessen Knaben zur Ent-
lassung kamen, entfernt. Nachdem wir schon die ganze Nacht hindurch das Trommeln von
weither hörten, entschlossen wir uns am folgenden Morgen, die drei Wegstunden bis Sama-
yisi möglichst schnell zurückzulegen. Noch vor Mittag erreichten wir das Dorf und sahen
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TgOKWE T 5
die Jünglinge auf einem freien Platz nahe der Siedlung und vor der Hütte der alten Köchin
(natsifwa) zum Tanz bereitstehen. Das Mukanda lag etwas abseits und für uns nicht sicht-
bar im Busch. Eine dichtgedrängte, frisch geölte Schar von plappernden Frauen mit neuen
Perücken, die von — mit roter Erde vermischtem — Rizinusöl trieften, umstanden das
eine Halbrund des Platzes; das andere wurde von den Männern eingenommen.
Die Honoratioren saßen auf einer „mu“, der Raphiabank, oder auf kleinen Hockern.
Einer von ihnen hatte sich zur Feier des Tages eine grüne Brille, allerdings verkehrt, auf
die Nase gesetzt. Die tundanzi stehen in der Mitte, am ganzen Körper bemalt, mit dem
zombo und einer Schärpe aus mitundu-Gras um die Brust, auf dem Kopf den ,,mukukua,
eine Art Helm (s. Abb. 2ia,b). Drei verschiedene Typen dieser letzteren waren ver-
treten: mit einfacher Raupe, mit zwrei gekreuzten Raupen und eine dritte Form, die Nach-
ahmung der Frauenperrücke ,,wdembe“. An den Unterschenkeln hatten sie die Frucht-
rasseln, die an Schnüren aufgereiht waren. Die Kapelle stand im Kreis der Zuschauer
Abb. 22. „Wangombo“-Tanz der Beschnittenen während des Entlassungs-
festes in Sawulu. Täohwe.
und bestand aus drei auf Stühlen stehenden Trommlern, die sich ihre ,,ngomaas (Becher-
trommeln) — eine kleine und eine große :— vor den Leib gebunden hatten. Die Torgerüste
mit den unheilwehrenden Strohringen habe ich schon oben erwähnt.
Die tundanfi tanzen nun die ,,wino wahembe“, die im Mukanda erlernten Tänze. Zur
Vorführung kamen unter anderem:
1. ,,utaha“ (—Wahrsagung): die Jünglinge rutschten auf den Knien am Boden;
2. „wangombo“ (= des Ngornbo): sie rutschen am Boden wie Frösche.
3. ,,wrakuteta“ (kuteta = schreien, schneiden). Der Oberkörper wird leicht nach
vorn gebeugt; die Arme machen wiegende Bewegungen; die Hüften mit dem zombo
werden heftig in die Höhe geworfen und vollführen rotierende Bewegungen. Man
geht einzeln oder zu zweien vor; stellenweise sich gegenüberstehend.
4- ,.wakuhunga“ (kuhunga = den Kopf wiegen). Die tundanzi gehen im Kreis.
Man wiegt die Köpfe; sonst die gleichen Bewegungen wie oben.
Vielfach beteiligen sich auch die Mütter an den Übungen; oft tanzen sie ihren Söhnen
regelrecht gegenüber. Sie oder andere weibliche Verwandte legen den tundanzi ihrer
Familienein Geschenk symbolisch eine Sekunde lang auf denKopf — einenTeller, einMesser,
HERMANN BAUMANN
I 6
einen Armring, ein Huhn oder dgl. Dieses „Auf-den-Kopf-legen“ ist die öffentliche An-
erkennung des Geschenkes als Eigentum des betreffenden Jungen. Die Verwandte legt
dann sofort das Geschenk auf den Haufen weiterer Geschenke, die schon zusammen ge-
kommen sind, oder aber eine Verwandte des tsilombola des betreffenden kandanzi nimmt
es für jenen an sich, denn ein Teil dieser Geschenke geht sofort an den Doktor und die
yilombola als Bezahlung für gute Operation oder treue Pflege, Der nganga-mukanda saß
während der gesamten Vorführungen auf seinem Eiocker, die rote ,,ndua“-Feder im Haar.
Später erhielt er dann von den Familien die Bezahlung; eine Ziege, ein Schwein und ein
Hahn sind der übliche Preis, wenn er gut operiert hat. Bei schlechter Operation ist der
Doktor zu einer Zahlung verpflichtet.
Unter den Tänzen fielen besonders zwei sehr aufschlußreiche mimische Vorführungen
auf. Die erste war eine „kalielie“ genannte Pantomime. Alle tundanzi nehmen — hinter-
Abb. 23. Szene aus dem Entlassungsfest der Beschnittenen. Samayisi.
Der „nangele“-Tanz mit der Holzpuppe. Links im Vordergrund der Be-
schneidungsdoktor. Im Hintergrund die Kapelle. Tsokwe.
einanderstehend — eine lange Stange auf ihre Schultern, und ihr anfangs fröhlicher
Gesang geht langsam in ein weinerliches Seufzen über. Alle halten den linken Arm
hoch und neigen sich langsam mit dem ganzen Körper nach der rechten Seite; dann
schultern sie wie auf ein Kommando die Stange auf die rechte Seite und neigen sich nach
links, wieder jammert jetzt ihr Gesang und erstirbt auf einmal gänzlich, als sich die
Knaben alle überraschend geschickt zur Erde fallen lassen. Durch das wehmütige Singen
hat das Ganze dramatische Wucht. Eine zeitlang bleiben sie wie tot auf der Erde liegen;
dann kommt aus der Richtung des Mukanda ein kandanzi und schlägt mit einem Laub-
zweig den ersten Novizen; dieser erhebt sich langsam und beginnt zu singen; dann wieder-
holt der „Erwecker“ dieses Berühren mit dem Zweig an den nächsten, und einer nach dem
anderen steht auf und singt von neuem. Diese Pantomime war so eindeutig eine Dar-
stellung des geglaubten Sterbens und Auferstehens der Beschnittenen, daß ich auch ohne
Erläuterungen der Tsokwe den Sinn des Vofganges richtig gedeutet hätte.
Die zweite Vorführung war das „nangele“ genannte Darbringen einer hölzernen Puppe
(mwana wa tundanzi = Kind der Beschnittenen) durch die tundanzi an die umstehenden
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
I 7
Weiber der Verwandtschaft. Die Novizen hocken auf den Knien in einer Reihe und hüpfen
jeder einzeln zu ihren Verwandten und reichen ihnen die Puppe zu. Die Frauen nehmen
sie entgegen, wiegen sie im Arm und geben sie mit Geschenken dem schweigenden, hockenden
Knaben zurück. Ganz ohne Frage ist dieser Tanz ein Symbol der Übergabe der erneuerten,
jetzt fruchtbaren Kraft des Jünglings an die Weiber.
Was wir ein anderes Mal in Savulu südl. Luma am Kasai auf einem Entlassungsfest
sahen, war wesentlich dürftiger, obwohl ich vermute, daß wir zu spät kamen und dieses
oder jenes versäumt haben. Auch hier als charakteristischer Moment der Tänze das lang-
sam ,,In-die-Kniebeuge-gehen“, die mahlenden Bewegungen des Hinterteils und die
Zuckungen der Muskulatur auf Brust und Rücken. Hier tanzten abwechselnd mit den
Beschnittenen auch die reifere Jugend und die Erwachsenen auf dem Tanzplatz des Dorfes
selbst.
Das Fest nimmt seinen Abschluß, wenn am anderen Tag die tundanzi zum Fluß
ziehen und dort die mikuku, mafumu und zombo ins Wasser werfen. Sie werden dann von
oben bis unten mit der roten Erde „ngula“ bemalt.
Zu bemerken ist, daß beim ganzen Schlußfest weder in Samayisi noch in Savulu
eine Maske in Erscheinung trat.
In Mahatsifungu hörte ich auch die eigenartige Legende von der Entstehung
der Paviane in Verbindung mit dem Mukanda: Früher waren die tundanzi
einmal ohne yilombola; sie waren von ihnen verlassen worden, und die Wärter vergnügten
sich im Dorf. Dieser in der Auffassung der Tsokwe besonders schwere Pflichtverstoß hatte
die Folge, daß sich die tundanzi plötzlich in „mahundu“, d. h. Paviane, verwandelten.
Seitdem gibt es Paviane, und seitdem verlassen die yilombola nie mehr das Buschlager für
längere Zeit. Der Mann, der diese Geschichte erzählte, sagte erklärend: „die mahundu sind
nämlich „yisanguka“ der tundanzi aus alter Zeit“, wobei tsisanguka (pl. yi-) eine gemein-
same Bezeichnung für alle Verwandlungsformen eines Menschen ist.
In der Folge sei das bei den Tsokwe in ungewöhnlichem Maße entwickelte Masken-
wesen einer näheren Betrachtung gewürdigt. Nur in Verbindung mit dem Beschneidungs-
lager wurden die Masken in alter Zeit verwendet. Heute — und wie die Berichte der ersten
Entdecker zeigen, schon in den 8oer Jahren — sind aber manche Masken zum mehr oder
weniger profanen Mummenschanz herabgesunken. Immerhin unterscheidet man noch
streng zwischen öffentlichen Masken der Vergnügung und den eigentlichen, vor Frauen
besonders streng geheimgehaltenen, Beschneidungsmasken.
Nur in Mboma hörte ich von dem Missionar Griffith, daß die Masken am Entlassungs-
fest auftreten und danach verbrannt werden. Meine persönlichen Erhebungen wissen nichts
dergleichen. Nach ihnen treten die Masken lediglich in der ersten Zeit des Lagers auf.
Sie holen die Beschnittenen ab und zeigen sich während der Operation (s. a. unten). Die
„yilima“, die noch nie eine Maske gesehen haben, erschrecken sehr. Ihre Angst wurde
schon vorher durch eine Stärkungsmedizin vom Doktor gedämpft. Kurz nach der Be-
schneidung sehen die tundanzi die schreckhaften Masken, und sie glauben, daß sie jetzt
getötet würden (kusiha = beschneiden und töten). Sie hörten ja stets, daß die akisi
(Maskenträger) verstorbene Verwandte seien, und ihre Furcht ist groß. Aber irgend ein
Mutiger wagt sich jetzt an sie heran und entdeckt, daß der Träger sich von seiner Maske
befreit und als einfacher tsilombola oder Mitbürger zu verstehen gibt. Da ist ein Kinder-
glaube geschwunden. Jetzt beginnt er selbst Maskenanzüge herzustellen und erschreckt
Frauen und yilima. Geschickte Verwandte verfertigen ihm das Kopfteil. Frauen durften
ursprünglich die Masken überhaupt nicht sehen. In Mwandanzi erzählte mir ein Alter,
daß in früherer Zeit der Soba jeden Mann hinrichten ließ, der eine Maske — vor allem
die tsikusa — den Frauen zeigte. Heute ist das strenge Gesetz natürlich gemildert. Die
3 Baessler-Archiv.
HERMANN BAUMANN
Frauen können die Masken in Bewegung und mit dem Träger sehen; sie dürfen aber nicht
wissen, wer der Träger ist, und selbst bei Profanmasken wurde mir beim Ankauf ans Herz
gelegt, die moralgefährdenden Objekte zu verstecken.
Die mehr kultischen Beschneidungsmasken (tsikusa, kalelwa, ngondo) treiben aber
noch heute bei ihrem Auftreten die Weiber in eine angemessene Entfernung.
Die Masken heißen „akisi“ (sing, mukisi) oder kurz akis, in einzelnen, mehr west-
lichen Gegenden (vor allem am oberen Kasai) hört man auch atsisi, denn hier werden viele
„k“ zu „ts“ umgewTandelt. Dieses Wort ist in den verschiedensten Formen und Bedeu-
tungen vom unteren Kongo bis zum oberen Sambesi verbreitet. Eine Auswahl der wich-
tigsten Varianten ist für unsere Zwecke vielleicht nützlich.
nkisi (nsi): Fiote = die mystische, aus der Erde kommende Kraft in
allen Dingen (Pflanzen, Tieren, Giften usw) nach
Dennet.
Bayaka = Masken des Beschneidungslagers; gleichzeitig Aus-
druck alles Mystischen und Okkulten, nach Planc-
quaert.
Westluba = Geister, Ahnen, Schatten (nach De Clercq)
Ostluba = Geschnitzte, die Toten darstellende oder Zauber-
kraft besitzende Figuren (nach Colle)
Holoholo = Toter, Geist der Verstorbenen (nach Schmitz)
Lunda = Ahnen, Totengeister (nach Melland)
= Bild, Zeichnung (nach Melland)
= tanzender, maskierter Mann (nach Melland)
Bakaonde = Ahnen, Totengeister (nach Melland)
Ovambo = die in der Unterwelt (uusi uukambi) lebenden Toten.
Bei den Tsokwe ist aber die Bedeutung des Wortes ,,mukisi“ nicht aus ihm selbst zu
erfassen, denn es besagt nichts mehr als ,,Maske“. Wir finden hier nicht die Doppelbedeutung
von ,,Toter, Verstorbener, Ahnengeist“ oder dgl. Aber um so klarer ist die Vorstellung der
Tsokwe, daß die Masken Repräsentationen der Verstorbenen sind, obwohl die Vokabel für
Ahnen- oder Totengeist muzimo und nicht mukisi ist. Ich muß es mir hier leider versagen,
auf die interessanten Zusammenhänge zwischen Erde, Unterwelt, Ahnengeistern und
Masken, die schon aus obiger Zusammenstellung aufleuchten, näher einzugehen.
Die Tatsache aber, daß der Stamm „kisi“ von den Tsokwe für ,,Maske“ benutzt wird,
ohne daß ihm auch die Bedeutung „Verstorbener“ entspricht, ist ein Beweis dafür, daß den
Tsokwe die Vokabel „mukisi“ ursprünglich fremd war; sie übernahmen sie vielleicht zu-
sammen mit den Masken von den Lunda, bei denen derselbe Wortstamm beides zugleich
besagt. Die Tsokwe brachten ihr bis an die Ostküste Afrikas bekanntes Wort „muzimo“
für den Ahnengeist mit sich und übernahmen „akisi“ lediglich als Ausdruck für „Mas-
kierter, Maskentänzer“, dagegen vermischten sich die Bedeutungsgehalte.
Ich gebe nun einen kleinen Text, der das klar machen wird mit den Worten des Ein-
geborenen :
Umwe katsi matunga mutsisi wenyi mamuluka zina lia yoze wafwile, hanzi natu,
hanzi tato; mba maluka zina ku mutsisi wenyi, hanga mapwo evwewoma; ngwo kumanyi
mutsisi-tsisanguke; yoze wafwile hahinduka nawa, hanzi tsikusa, hanzi kalelwa, hanzi
ngondo, hanzi tsiheu, hanzi mwana-pwo, hanzi katwa, Nawa eswe akwo kakulinga hali
usoko wo, waze afwile, mba mamuluka zina kuli mutsisi wenyi nawa.
Wörtliche Übersetzung:
Irgendeiner wird seinen eigenen mutsisi machen (schaffen), dann er wird ihn rufen
(nennen) [mit dem] Namen jenes, der starb, vielleicht Onkel, vielleicht Vater; dann er wird
nkisi:
bakisi (sing mu-):
mikisi (sing, mu-)
muki:
akisi (sing, mu-):
nyikisi (sing, mu-)
makisi (sing, i-)
wakisi (sing, mu-);
aasisi:
19
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN T§OKWE
den Namen der mutsisi rufen, damit die Frauen Furcht haben (fühlen); sie [die Frauen]
sagen: es ist wirklich ein mutsisi-tsisanguke [ein verwandelter mutsisi]; jener, der starb, ist
auch auferstanden, vielleicht [als] tsikusa, vielleicht [als] kalelwa, vielleicht [als] ngondo,
vielleicht [als] tsiheu, vielleicht [als] mwana-pwo, vielleicht [als] katwa. Auch alle anderen
machten [Masken] für ihre Familien, jene [die] starben, dann wird man Zurufen seinem
mutsisi den Namen.
Der Text besagt klipp und klar, daß man der angefertigten Maske den Namen eines
verstorbenen Verwandten gibt, daß die Frauen wirklich voller Furcht glauben, es seien
vom Tod auferstandene, in eben die Masken verwandelte Tote. Das Wort mutsisi ist sogar
ausdrücklich mit „tsisanguke“, dem Ausdruck für alle Verwandlungsformen des Ver-
storbenen verbunden. Immer wieder wurde mir bestätigt, daß die Masken direkt die Ver-
storbenen seien, daß aber nur die Frauen wirklich daran glauben und die yilima (Un-
beschnittene). Daß aber in den Maskenkult auch noch andere Vorstellungen hineinspielen
wird aus den Unterredungen klar, die ich mit meinen Boys und Dorfleuten hatte. Ich halte
es für richtig, die sich teilweise, vielleicht — wegen mangelnder Kenntnis — nur scheinbar,
widersprechenden Ergebnisse solcher Unterhaltungen so wiederzugeben, wie ich sie in
meiner Niederschrift im Lager desselben Tages festgehalten habe. Es wäre durchaus falsch,
hier zu kombinieren, wo das Material so schwach und lückenhaft ist. Uber die einzelnen
Masken wäre dann im Anschluß daran zu berichten.
In Peso erfuhr ich Folgendes: Die atsisi sind die inMasken erscheinenden azimu (Toten-
geisterh Nur in Masken erscheinen diese den Lebenden leiblich. Es gibt eine große Zahl von
atsisi, die die Knaben im Mukanda gelehrt werden: tsikusa, ngondo, katw'a, kalelwaü. a.
Jeder Mann weiß, daß er mit einer bestimmten Maskenart verbunden ist, und der Novize
fertigt im Mukanda nur den Mutsisitypus seiner Familie an. Nimmt er statt seiner ihm
etwa zustehenden tsikusa“-Maske die kalelwa-Maske des So-und-So, so sagte er: ,,ich bin
jetzt der verstorbene So-und-so“. Alle Masken sind die Totengeister im Moment des Ge-
tragenwerdens und stellen nicht etwa nur deren zeitweilige Wohnung dar. Die Masken
sprechen mit den Stimmen der Verstorbenen durch das Mirliton aus einem zylindrischen
Kalebassenstück mit Öffnung in der Seitenwand und Spinneiermembran; es ist hinter der
Mundöffnung verborgen.
In Kalunga bei Peso wurde ich auf den Unterschied zwischen den profanen und kul-
tischen Masken hingewiesen. Kalelwa, tsikusa, ngondo und katwa sind stets im Mukanda;
sie treten in derÖffentlichkeit nur auf, wenn sie, von einem Buschlager zum anderen ziehend,
Dörfer berühren müssen. Man begegnet ihnen dann mit einer gewissen Achtung. Diese
Masken geben sich auch niemals zu Schautänzen her, wie die profanen tsihongo, mwana-
pwe, tsiheu, sumba u. a. Diese letzteren vier Typen, vor allem die tsiheu-Maske mit ihrem
künstlichen Phallus, tanzen mit Vorliebe vor Frauen. Es sind die ,,mit den Frauen spielen-
den“ Masken, wie man sich ausdrückt. Aber auch ihnen haftet noch die ehemals reli-
giöse, ahnenkultliche Bedeutung an. Man sagt zu den Frauen: ,,alle atsisi kamen aus den
Gräbern“.
Eine merkwürdige Angabe erhielt ich in Tsipukungu. Wenn eine Person stirbt, die
zeitlebens eine Tsikusamaske trug, so kann deren „tsizulie“ (Schatten, Bildseele) nach dem
Tod in eine andere Person eingehen und aus ihr sprechen. Der auf diese Art „krank“, d. h.
besessen, Gewordene versucht nun den mächtigen Dämon tsikusa aus seinem Körper zu
treiben, indem er ein Bild von ihm verfertigt, es vor die Türe stellt und Opfer an Brei,
Fleisch und Bier an diesem Bild niederlegt. Hier ist also das Phänomen „Besessenheit“,
das eine große Rolle bei den Tsokwe spielt, hinzugetreten. Gerade tsikusa“ ist als bedeut-
samste der Masken die Darstellung eines Dämons (s. u.), der von dem Körper eines Menschen
Besitz ergreifen und besessen machen kann.
3'
20
HERMANN BAUMANN
Betrachten wir jetzt die einzelnen Masken der Tsokwe im Zusammenhang, so müssen
wir immer wieder über den unglaublichen Reichtum der Formen staunen. Nur bei ganz
wenigen Völkern Afrikas finden wir zu gleicher Zeit und am gleichen Ort eine derartige Fülle
und Differenzierung der Masken. Von einer ganzen Anzahl konnte ich die Verbindung
mit dem Kult feststellen; von anderen wurde mir ihre derzeitig profane Eigenart bestimmt
versichert, und wieder von anderen gelang es mir leider nicht, eine nähere Erklärung zu er-
halten. Während das Kopfteil im Material und in der Form stark variiert, ist die Be-
kleidung überall einförmig das aus Oberteil und Hose bestehende knotenlos gewirkte
Maschenkleid aus Rindenstoff- oder Baumwollschnüren. Eine Gliederung erfolgt am prak-
tischsten nach Gesichtspunkten des Materials des Kopfstückes. Wir hätten dann folgende
Gruppierung:
I. Masken, deren Kopfstück aus über einem Gerüst aus Astwerk gespanntem Rinden-
stoff besteht; das Gesicht ist mit Baumharz ausmodelliert.
II. Masken, die wie bei I konstruiert sind, aber keine Gesichtsmodellierung aufweisen.
III. Masken aus Fell.
IV. Masken, deren Kopfstück aus demselben Maschenmaterial wie die Körperbedeckung
besteht.
V. Masken mit hölzernem Gesichtsteil.
Bemerkt sei noch, daß ich weder Kopfaufsätze noch Handmasken gefunden habe.
L Masken aus Rinden st off; Gesicht mit Harz modelliert.
Außer tsikusa, kalelwa und tsihongo, die in erster Linie durch den phantastischen
Kopfaufsatz wirken sollen, soll der Beschauer hier
sein Interesse auf das Gesicht wenden; das Gesicht
ist hier der Hauptteil der Maske. Bei allen diesen
Masken verwendet man den mit Hämmern geklopften
Rindenbast; heute wird dieses Stoffmaterial außer
für Mehlsäcke fast nur noch dem Zwecke der Masken-
herstellung zugeführt. Der Rindenbast wird aus dem
Musamba- oder Mukwebaum gewonnen. 4 Tage
trocknet er in der Sonne und 5 Tage liegt er im Fluß-
schlamm, bis er eine schmutziggraue Färbung an-*
nimmt. Noch feucht, wird er geklopft und dann ge-
trocknet. Man spannt den Stoff über ein Gerüst aus
Ruten, die in die gewünschte Form zusammengebogen
werden, und bemalt ihn schließlich mit weißer und
roter Erde in den beliebten Mustern (Tupfen, Drei-
ecke, Rauten, Zickzacklinien u. a.). Stets gehört
zur Maske ein Brustteil mit angenähten Armen;
beide Teile bestehen aus knotenlos genetzten Schnüren
aus Rindenfasern (ngozi) oder Baumwolle; dazu tritt
dann noch die Hose, die aus den zwei losen Hosen-
beinen oder aus einem geschlossenen Stück mit
Gesäßteil bestehen kann und meist aus demselben Material wie das Oberteil besteht.
Die Schnüre können gefärbt sein oder Naturfarbe besitzen; im ersteren Fall werden sie
dann so im Netzwerk eingefügt, daß sie Streifen oder geometrische Muster verschiedener
Art bilden. Die gelbe Farbe wird dann aus der Rinde des mweya-Baumes gewonnen. Der
Lendenschurz ist bei den einzelnen Masken etwas verschieden (s. u.). Mit dem Kopfteil
sind die Masken in den meisten Fällen — außer tsikusa —• durch ein dem Gesichtsrand an-
genähtes Halsteil aus gleichartigem Maschenwerk verbunden. Die Hände werden in vielen
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
Fällen durch angehäkelte Fingerglieder, seltener durch einen Fäustling bedeckt, die iüße
meist durch einen ebenfalls angenähten Strumpf. Das Gesichtsteil all dieser Masken ist
durch Auflage von mit Ruß geschwärztem Harz meist gut ausmodelliert. Stellenweise hat
europäischer roter Stoff und leider auch Zeitungspapier, in Streifen geschnitten, an Stelle
der roten und weißen Streifenmalerei Aufnahme gefunden. Bei den Masken ohne Kopf-
aufsatz treten Affen- und Genettenfelle, sowie Federn als Haar und Kopfschmuck auf;
der Bart wird vielfach aus Ziegenhaaren eingesetzt.
1. „tsikusa“ (Abb.24) ist, wie man mir wiederholt angab, „der Vater des mukanda“.
Ich halte diese Maske für die typischste, vielleicht sogar älteste bei den Tsokwe. Man trifft
sie nur in Verbindung mit dem Mukanda, aller-
dings ist der Kult des Dämons ,,tsikusa“ auch
außerhalb des Buschlagers weit verbreitet. Wir
erfuhren schon, daß er besessen machen kann.
Das Holzbild dieser Maske fungiert als Jagd- und
Fruchtbarkeitsamulett am Bogen der Männer und
an der Brust der Frauen, es steht roh geschnitzt
vor vielen Häusern der von ihm Besessenen; man
findet die tsikusa-Maske als plastische Verzierung
an Rührlöffeln, auf Stühlen u, a. mehr. ,,Tsikusa“
ist besonders verantwortlich für Jagdglück und
Kindersegen; gerade aus letzterem Grunde wird er
wohl auch im Mukanda diese bedeutsame Rolle
spielen. Ein von tsikusa Besessener ist der Groß-
vater oder Onkel eines Novizen, der sich die Maske
dieses Dämons angefertigt und aus der dann der
Großvater oder Onkel spricht. Jeder Novize, der
sich eine tsikusa-Maske anfertigen läßt, hatte einen
Verwandten, Großvater oder Onkel, der irgend-
wann einmal von ,,tsikusa“ besessen war, und
dessen Stimme nun aus der Maske spricht.
Das Auffallendste an dieser Maske ist der
hohe, spitz zulaufende, tütenförmige Hut. Auf der
Vorderseite verläuft von der Spitze bis meist in die
Mitte des anschließenden Gesichtsteiles ein sich
nach unten verdickender Wulst. Der geschweifte Kegelaufbau ist durch andere ringartige
Wülste, die sich nach oben naturgemäß verkleinern, in 5 bis 8 Teile geteilt. Diese Wülste
bestehen aus getrocknetem Gras, das von dem bemaltem Rindenstoff umwickelt wird.
Das mit Harz modellierte Gesicht zeigt meist Tupfen von roter und weißer Erdfarbe, der
Kopfaufsatz dreieckige und chevron-artige Muster in gleichem Material. An der Spitze hängt
meist eine gedrehte dicke Faserschnur mit einer Troddel. (Die Sammlung zählt 5 Masken
vom tsikusa-Typus von denTsokwe und eine von den ,,Minungo-“ Lunda). An das Gesicht
ist eine Krause aus zerfaserten Rindenbaststreifen geknüpft, ein Schurz aus gleichem
Material (zombo), ähnlich dem, den die tundanzi tragen, bedeckt die Lendengegend.
2. „Kalelwa“ (Abb. 25 u. 28 a, b) ist ebenfalls eine streng nur für das Mukanda reservierte
Maske. Es ist die am häufigsten anzutreffende Maske der Tsokwe. Der eigentlich religiöse
Hintergrund dieser Type ist mir verborgen geblieben. Aber die Verbindung mit dem Ge-
witter ist wahrscheinlich; „lelwa“ ist „die Wolke“, kalelwa = die kleine Wolke. Man hat
mir auch direkt die an den Masken stets zu zwei oder drei Exemplaren auftretenden Flügel
als „Wolken“ bezeichnet. Bedenken wir dann noch, daß von den Beschnittenen das Ge-
Abb. 25. Maskenanzüge der Täokwe,
links „tsizaluke“ (s. S. 25), rechts
„Kalelwa“ (s. S. 21).
Abb. 26 a und b. Maske „tsihongo“ Mwat§ikwata. Lunda (s. S. 23).
Kalelwa ist stets sehr ein-
drucksvoll durch die
Pracht der weißroten
Farbenornamentik auf
dem schwarzglänzenden
Harzgrund des breit-
flächigen Gesichtsteils;
dann aber auch zieht der
kühne Bau des Aufsatzes
alle Augen auf sich. Kern-
stück dieser Konstruktion
ist ein turmartiges, schlan-
kes Gebilde (natürlich
wieder Astwerk mit
Rindenstoffbezug, wie alle
Teile) um das drei bis vier
Flügel aus demselben
Rindenbastmaterial hoch-
ragen. Nicht selten ver-
einigen sich die vier Flügel
oben mit einer kreisrunden Scheibe, die auf
dem Ende des Turmes liegt, und bilden so mit
ihm ein einheitliches, durchbrochen scheinen-
des Gebilde. Etwas verschieden ist der Auf-
satz einiger weniger Kalelwa-Masken. N0. 61
(Luma; s. Abb. 28a) ist durch das Fehlen der
Flügel und die ballonartige Erweiterung des
Stirnteils der Maske ausgezeichnet; die Rauten-
und Dreiecksmuster sind hier besonders schön
geordnet. N0. 588 (Peso) verzichtet ebenfalls
auf die seitlich abstehenden Flügel oder besser
gesagt fügt sie radial dem turmartigen Zentral-
bau an. Die großen Flächen sind das gegebene
Feld für die Lust zur farbigen Ornamentik,
die alle Tsokwe auszeichnet. Das Gesicht ist
bei der einen Maskengruppe diesem Aufsatz
unten angefügt, als ob es von diesem wie von
einem Hut bedeckt wäre; bei einer Reihe an-
derer Masken ist die Stirn des Gesichtsteiles
so in die Breite und Höhe gezogen, daß sie
wie ein Schild den Aufbau auf der Vorderseite
halb bedeckt. Dann ist das schwarzglänzende
Harz, das dem Rindenstoff des Gesichtes auf-
geschmiert ist, um Lippen, Kinn und Augen-
gegend zu modellieren, auch auf diesen Stirnschild geschmiert. Das Gesicht aller Kalelwa-
masken wächst in der Kinngegend zu einem gewaltigen Bart aus. Zumeist ist die schöne,
Abb. 27: Maske „tsiheu“ Mwalilu. Täokwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
23
aber sehr vergängliche rote und weiße Erdfarbe durch Streifen roten Stoffs oder Zeitungs-
papiers, das von den Trägern in die Dörfer geschleppt wurde, ersetzt. Die beste Illustration
sind die Bilder, nicht die Worte.
3. tsihongo (s. Abb. 26a, b). Diese Maske wirkt vor allem durch die Bewegung. Bei den
Tänzen, die sie in grotesken Sprüngen und größter Lebendigkeit ausführt, wird der Kopf
neben dem gewaltigen aus Palmfasern bestehende Reifrock fast unwesentlich. Das Gesicht
ähnelt mit der gewaltigen überhöhten Stirn, dem vorstehenden Bartkranz und der orna-
mentierenden Harzfläche etwas dem der Kalelwamaske. Statt des Flügelaufbaus besitzt
a b cd
Abb. 28. a) „Kalelwa“ — b) „Kalelwa“ — c) „angolali“ — d) „tsipupu“
Masken der Tsokwe (a—c) und Luem (d).
tsihongo aber einen Kranz Federn am Rande der Stirnscheibe und runde Büschel gestutzten
Grases, oder kurzgeschnittene Federn umgeben den Hinterkopf. Die Stirnscheibe
trägt einen Besatz aus breitem, rotem Tuch europäischer Herkunft, das zu beiden
Seiten des Gesichtes frei herabfällt. Viel wichtiger ist aber der „tsikapa tsa mawundu“
genannte Rock. Um die Hüfte trägt der Maskentänzer ein steifes ovales Gestell aus Ruten,
das oben mit Rindenstoff umgeben ist; an diesem Gestell sind zerschlissene Palmblatt-
streifen (Raphia vinifera ?) befestigt, die einen dichten, raschelnden Schurz bilden, der bei
heftiger Bewegung oft über der Gesichtsmaske zusammenschlägt. In der Hand trägt
tsihongo stets eine kleine europäische Messingglocke (ngezo) und an den Beinen die auf-
gezogenen Fruchtrasseln. Die einzige ganz vollständige Maske dieser Art habe ich nicht
von den Tsokwe erworben, sondern von einem Lundamann in Mwatsikwata im Osten.
Die Maske soll beiden Völkern gemeinsam sein, jedoch fand ich sie bei den Tsokwe besonders
häufig. Der Tsihongo tanzte für uns in Mwatsikwata nachts vor den lohenden Holzbränden,
auf einem freien Platz, den Männer und Frauen rythmisch stampfend und klatschend um-
standen; sie besangen die Maske, und diese redete die Zuschauer singend an. Eigenartig
ist das schon erwähnte Hochwerfen der Bastschürze und das urplötzliche Stillstehen am
Schluß einer Tanzphase, wobei der hochgeworfene Schurz rasch mit den Armen umschlungen
wird. Die auch beim Wahrsagen gebrauchten rituellen Redewendungen ,,mwalwaa-,,putu“
24
HERMANN BAUMANN
werden auch zwischen Tsihongo und Zuschauern gewechselt. Die „tsihongo“ ist eine durch-
aus profane, für die öffentliche Vorführung gedachte Maske. Jedoch war auch der Besitzer
der Maske in Mwatsikwata mit großer Angst darauf bedacht, daß keine Frau den Verkauf
der Maske bemerke, wie er mir auch immer wieder ans Herz legte, die Maske nur ja ordent-
lich zu verdecken. Beim Ausziehen spuckte er auf jedes einzelne Stück, konnte sich nur
schwer von der Maske trennen und nannte sie schmeichlerisch „mwatsisenge“, also mit
dem Namen eines Königs der Tsokwe. Ein Tanz der ,,tsihongo“ konnte von Dr. Meinhard
in allen Phasen in Tsikunga am Luasimo gefilmt werden.
4. „tsiheu“ (s.Abb. 27, 29a). Die tsiheu-Maske ist ebenfalls heute eine typische Spaß-
c d e
Abb. 29. Verschiedene Masken der Täokwe. a) „täiheu“ (s. S.24). b) „kaäinakaäi“ (S. S. 26).
c) „täizaluke“ (s. S. 25). d) „sambu“ (S. S. 25). e) „tsileya“. (S. S. 28).
macherfigur. Der ernstere, religiöseCharakter, den sie früher, wie die meistenMasken, sicher
besaß, kommt aber noch in ihrem durchaus sexuellen Charakter zum Ausdruck. Die ,,tsiheu“
bedient sich beim Tanz vor den Weibern — ihnen vor allem gelten die drastischen Vor-
führungen— eines künstlichen Phallus’(s.Abb. 10 b). Der Phallus ist aus Holz gearbeitet und
mit einem Überzug aus Maskennetzwerk versehen — bei freibleibender Eichel; er heißt:
„lukutu“ (= Penis). Den Phallus hält der Tänzer vor sich und führt unter lautem Lachen und
Gekicher der Frauen stoßartige Bewegungen mit dem Becken vor ihnen aus, immer von ihrem
Gesang und rhythmischen Tanzen begleitet. Manchmal tanzt ,,tsiheu“ auch mit einem in
Maskennetzwerk eingehüllten Holzbild, das „mwana wa tsiheu, das „Kind des Tsiheu“.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
25
Wenn wir uns an den Puppentanz der tundanzi in Samayisi erinnern (s. S. l6f.), dann wird
uns im Zusammenhang mit dem Phallustanz klar, daß die „tsiheu“ irgendwie mit dem
Fruchtbarkeitskult des Beschneidungslagers verbunden ist. Tatsächlich gehört auch heute
noch die tsiheu-Maske zu den Mukanda-Masken, ähnlich wie „tsizaluke“ (s. unten) oder
„katwa“ (s. S. 27!.) u. a,, obwohl sie sich öfter außerhalb des Lagers in den Dörfern sehen
läßt und dort vor den Weibern tanzt. In diesen Masken gehen vor allem die yilombola
(Wärter) in die Ansiedlungen, um allerlei zu erbetteln. Äußerlich ist die ,,tsiheu“-Maske
wohl die unscheinbarste und am wenigsten künstlerisch ausgebildete. Sie hat nie einen
Kopfaufsatz wie die vorgenannten Masken, meist nur einen Besatz vom Fell des Nacht-
affen, das Kopfhaar markierend. Der Rindenstoff des Gesichtsteils ist nicht immer mit
Harz modelliert, auch nicht immer mit roten Stoffteilen oder weißen Baststreifen, bzw.
Baumwollschnüren verziert. Die Augen- und Mundöffnungen sind in der Mehrzahl der
Fälle einfach roh in den Stoff geschnitten, und die kleine Nase ist lieblos angefügt. Die
Abb. 29a (Orig. Nr. 795) wiedergegebene Maske ist wohl noch eine der schönsten, von
mir gesehenen. Das ganz besonders schlecht gearbeitete Exemplar (Abb. 32 g, Orig. Nr. 1000)
.stammt von denLunda-,,Minungo“ aus Muyengu und hat als Bezeichnung ,,tsiheu kapwipwi“
(der schwarze tsiheu).
5. „tsizaluke“ (Abb. 25; 29c), wörtlich „ein verrückter Mensch, ein Narr.“ Das Ge-
sichtsteil ist klein und hat ein dürftig ausgestaltetes, dreieckiges Gesicht mit roten Quer-
streifen aus Stoff und einen Bartkranz aus Ziegenhaar. Das Schädelteil trägt drei bis vier
beulenartige Auswüchse. Wildkatzenfelle bedecken den Hinterkopf; als besonders charak-
teristisch gelten noch der rechteckige, über die Mitte des Gesichts geklebte rote Stofflecken mit
den schmalschlitzigen Augen, und dann vor allem derfarbenprächtige Anzug. Die ngozi- Schnüre
werden schwarz und rot gefärbt und in schönen, meist dreieckigen Ornamentkombinationen
verflochten. Joyce bildet im „Man“ (1903, Nr. 38) eine „chizaluke, the fool“ genannte, fast
wesensgleiche Maske von den Valovale (Luena) am oberen Sambesi ab. Er
gibt an, daß sie in Beschneidungslagern von den Wärtern der Knaben ge-
tragen wird und einen Verstorbenen, der auferstanden ist, darstelle. Das
deckt sich also gut mit meinen Vermutungen bezüglich der tsiheu-Maske, der
„tsizaluke“ sehr nahe steht, denn auch er hat einen Tanzphallus „zum
Spielen mit den Frauen“, wie sich die Tsokwe ausdrücken. Er ist aber viel
primitiver und besteht aus einer Astgabel, deren beide freie Enden mit Bast
zusammen- gepreßt werden; in die Bastwicklung sind eine große Zahl
Lederstreifen eingeklemmt. Dieser Tanzphallus ähnelt etwas dem der
,,ngazi“-Maske („fui-fui“).
6. „ngazi“ ist eine Maske, ganz ähnlich der „tsizaluke“. Der auch
hier vorhandene breite, rote Gesichtsstreifen gilt als typischstes Kenn-
zeichen. Die Haare sind bei einem „Minungo“-Lunda-Exemplar durch
schwarz gefärbte, bürstenartig in die Höhe stehende Pflanzenfasern er-
setzt; ein Tsokweexemplar ist kaum von der „tsizaluke“ zu unterscheiden fui_fui‘
(drei Kopfwülste, Bartkranz aus Ziegenhaar, Fell auf Hinterkopf usw.). Der Tanzphallus für
als Tanzphallus dienende Lederwedel „fui-fui“ ist auf Abb. 30 dargestellt, die ngagi-Maske.
Wird die „tsikusa“ und „tsihongo“ mit Vorliebe plastisch als Holzschnitz-
schmuck verwendet, so trifft man die ,,ngazi“-Maske immer wieder unter den Wand-
malereien der Tsokwehäuser. „ngazi“ ist der Name für den Richter in den Gerichts-
sitzungen.
7. „sumbu“ und „sambu“, zwei wenig charakteristische Masken. Die erstere ähnelt
dem „tsiheu“; ein Exemplar aus Luma ist durch die groteske, schiefe Gesichtsbildung (eine
dicke, schiefe Backe) ausgezeichnet. Die Sambu-Maske ist besser modelliert, ähnelt der
4 Baessler-Archiv.
26
HERMANN BAUMANN
„tsihongo“, hat die für diese Maske bezeichnende Stirn- und Kinnbildung und ist in der
Gesichtsmodellierung gut durchgearbeitet.
8. „angolali“ (s.Abb.28c), ein besonders hübsches Maskenexemplar, das ich nur ein-
mal — in Mahakaholo zwischen Luembe und Tsihumbe — antraf. Auffallend ist die Glatze
und das aus Affenfell bestehende, kranzartig den Hinterkopf umgebende Haar. Unter-
kiefer und Bartplatte sind in eine rote und eine weiße Hälfte geteilt. Die Benennung rührt
wohl von der Kolonialwährung ,,angolara her.
9. „tsipupu“; eine von den Tsokwe durch Vermittlung der „Minungo“-Lunda von
den Luena, deren beliebteste Maske es ist, übernommene Vermummung. (S. Abb. 28 d).
Besonderes Kennzeichen ist der schildartige Aufsatz, mit roten und weißen Tupfen bemalt
und die dicken, runden Backen in dem aus Harz modellierten Gesicht. ,,tsipupu“ (pl. yi-)
ist im Tsokweglauben eine Gattung von Waldgeistern. Eine Maske dieser Art ist auch bei
Campbell (In the heart of Bantuland S. I) abgebildet.
10. „K asinakasi“ (d. h. der oder die „Alte“); eine
ngazi-tsizaluke ähnliche, kleine Maske mit erstaunlich hoher
Stirn; die Kahlköpfigkeit kommt bei den Tsokwe vor, wenn
auch nicht allzu häufig, ist stets ein Zeichen hohen Alters.
„Kasinakasi“ spielt als mythenhafter, uralter Mensch eine
Rolle im Märchenschatz des Tsokwe. (S. Abb. 29b).
Dieser Gruppe ist noch eine andere Maske anzufügen, die
innerlich in die Reihe der Holzmasken, „mwana-pwo“ =
„Mädchen“ genannt, gehört, aber der Technik und dem
Material (Harzmodellierung auf einem Rohrgestell) gemäß
jetzt behandelt werden muß. Diese Maske stammt aus
Muyengu, also einem Ort mit ,,Minungo“-Lunda-Bevölkerung.
Auch sie wurde mir mit „mwana-pwo“ bezeichnet, und die Be-
nennung wurde auch aufrecht erhalten, als ich auf den kleinen
Bart aus Ziegenhaaren, der das Kinn schmückt, hinwies. Diese
Vermischung von männlichen und weiblichen Charakterzügen
ist ja für alle Tsokwebildnerei typisch und hat sicher einen
tieferen Grund (Zweigeschlechtlichkeit der Ahnen ?). Diese
Maske zeigt schon in der Wiedergabe (Abb. 33 b) eine große
Formvollendung. Der Ausdruck eines Toten wird durch die
eingesetzten langen Wimperhaare und den leicht geöffneten
Mund, der den Blick auf eine Reihe aus Holz geschnitzter, die
Zahnfeilung zeigender Zähne, frei gibt, gesteigert. Die Täto-
wierung ist durch aufgeklebte Baumwollschnüre markiert. Den
Kopf schmückt die Nachahmung der „wiembe“ genannten
Frauenhaarfrisur aus Schnurwerk. Die Maske soll genau wie
die weiter unten zu besprechenden eigentlichen „Mwanapwo“
getragen und verwendet werden.
II. Masken, die aus Rindenstoff ohne Harzmodellierung hergestellt werden.
1. „ngulu“ (= Schwein). Abb. 32h ist eine Maske wieder gegeben, die nur aus
einem Rutengeflecht und darüber gespanntem, dunkel gefärbten Baumrindenstoff besteht
und den Kopf eines Schweines darstellt. Es ist die einzige Tiermaske, die mir bekannt
geworden ist. Ihre Bedeutung und Verwendung blieb mir dunkel.
2. „ngondo“ (Abb. 32 a—c). Die Mehrzahl dieser Masken besteht aus einer Kappe aus
Astgerüst und Rindenstoff mit einem raupenartigen, hohen Kamm, Besonders bemerkens-
Abb. 31. Ngondo-Maske.
Luena-Tsokwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
2 7
wert sind die aus getrockneten Kürbissen hergestellten, halbkugligen Schalen, von denen
die eine rot, die andere weiß bemalt ist; sie sollen die Augen der Maske darstellen. Etwas
abweichend ist eine Maske aus Namusamba (Orig. Nr. 703), die eigentlich nur aus den
riesigen Augenschalen und der gewaltigen, gebogenen Nase aus einem Graswulst zwischen
beiden besteht. Auch 0. Nr. 590 (Abb. 32b) ist ein wenig verschieden; hier ist nur ein Auge
vorhanden, und es ist an der wulstartigen, gebogenen Raupe vorn befestigt.
Die ,,ngondo“-Maske heißt auch „Katotola“ (Lutsaze: litotola). Ihr Attribut sind
a b cd
Abb. 32. Verschiedene Masken der Tsokwe, Lunda und Luimbi. a—c: ngondo-Masken der Täokwe
(s. S. 26). d) „ngulu“ = Schweinemaske von Mahakaholo. Tsokwe. (s. S. 26). e, f) „mpundu“-Masken
der Luimbi. (s. S. 39). g) rohe Maske der Lunda-Minungo von Muyengu. „tsiheu-Kapwipwi“.
(s. S. 25).
zwei kurze Holzknüppel, die sie zusammen schlägt. Man erzählt den ,,yilima“, den Un-
beschnittenen, daß die „ngondo“ mit diesen Klötzen auf die Schädeldecke schlägt, ihr ein
Loch beibringt und das Gehirn herausholt. Die Furcht vor dieser Maske ist deshalb besonders
groß. Dazu kommt, daß „ngondo“, ebenso wie „katwa“, ein Geist ist, der von den Zauber-
doktoren als Hexenfinder, von den Hexen (ngangas) als Mörder eines Mißliebigen benutzt
werden kann. Zu diesem Behuf läßt der Doktor ein kleines Holzbild der ,,ngondo“-Maske
h erstellen; es wird mit dem gewirkten Maskenstoff bezogen und erhält zwei Kalebassen-
augen ,,en miniature“. Diese Figur wird vom Doktor oder nganga nachts ausgeschickt und
4*
28
HERMANN BAUMANN
ist imstande einen Menschen mit magischen Mitteln zu erledigen. Wir sehen auch hier
wie bei „tsikusa“, daß Dämonen und Geister außerhalb des Kreises der Ahnenvorstellungen
in dasMukanda übernommen werden und dort im Maskengewand eine Verbindung mit dem
Kult der Verstorbenen finden.
III. M asken aus Fell gearbeitet.
In diese Gruppe fällt nur ein einziges mir bekanntes Exemplar „tsileya“, der
Schwätzer. Es ist die Maske eines Mannes, „der stets spielt und spricht, nie arbeitet.“
Das Gesichtsteil besteht aus einem Ziegenfell; die stark überhöhte Stirn trägt einen Belag
aus europäischem ,,tin“-Blech, ein Kranz von Nachtaffenfell umgibt den Schädel. Nase
und dick gewulstete Lippen bestehen aus Harz, in das echte Zähne eingepreßt sind. Der
Unterkiefer ist beweglich gemacht, eine sonst bei den Tsokwemasken nie wiederkehrende
technische Besonderheit. Schnurr- und Kinnbart sind aus Ziegenhaar.
IV. Masken, bei denen auch das Kopfstück aus gewirktem Netzwerk
besteht,
1. „ngäzi“, wie die Maske 1,6 genannt, ein Maskenanzug, dessen Kopfteil aus dem-
selben maschenartigen Material (aus ngozi-Schnüren) besteht. Es ist sackartig und trägt
als Kopfschmuck einen Reifen, der mit einer Reihe von Fäden übersponnen ist; in dieses
Netzwerk werden Federn geknüpft. Der Rand dieser kreisrunden Scheibe ist mit einer
Anzahl Bogen aus Gerten besetzt; das Ganze ähnelt völlig dem Kopfputz der Tsisazi-
spieler.
2. „katwa“. In Satsitambwila kauften wir ein Maskengewand für Kinder (?) Es
bestand aus einem sehr kurzen Brustteil mit angehäkeltem Kopfteil, alles aus Baumwoll-
schnüren genetzt. Braunschwarz und gelb gefärbte Streifen wechselten ab. Obwohl wir
keinerlei Erklärung für die Verwendung dieses Gewandes erhielten, halte ich ihre Bedeutung
für ähnlich dem der ,,ngondo“-Maske, denn „ngondo“ ist vielfach identisch mit „katwa“,
der mir auch als ein „Mordgeist“ geschildert wurde, „katwa“ soll von „kutwa“ = „im
Mörser stampfen“ abgeleitet sein, denn eine Hauptaufgabe dieser Maske imMukanda besteht
darin, daß der mit ihr Bekleidete in die Dörfer geht und Nahrung für die Novizen erbettelt,
oder besser erpreßt. Die Frauen fliehen vor katwa in wilder Flucht.
Eine etwas abweichend gehäkelte Mütze aus Baumwollfäden wurde mir als „mutwe
wa katwa“ (Kopf des katwa) bezeichnet.
3. „ngalumuke lukata“ hieß eine vollständig aus dem Maschenwerk von Rinden-
stoffschnüren bestehende Maske; das Kopfteil war lediglich durch angeknüpfte Zöpfchen
aus Rindenbast, die Haare markierend, ausgezeichnet.
4. „nakazimo“. In Namusamba bekamen wir vor unserem Zelt plötzlichen Besuch,
der ebenso rasch verschwand, wie er kam. Es war eine Maske, bestehend aus einem kom-
pletten, den ganzen Körper bedeckenden Netzanzug. Auf dem Kopf saß ein Federbusch.
Der Leib war dick ausgestopft und vorstehend; vorn hing ihm ein Antilopenfell, hinten eine
Matte, gehalten von einem Hüftgürtel herab. Die Maske machte mahlende Bewegungen mit
dem großen Leib. „Nakazimo“ heißt wörtlich „Frau großer Leib“ und ist ein Geistwesen,
das Fruchtbarkeit verleiht. Man stellt es als schwangere Frau dar. Lehmbilder von naka-
zimo stehen in den „isola“, den Bildertempeln unfruchtbarer Frauen. Wir sehen auch hier
wieder, wie geistige Agenzien — eigentliche Geister sind weder nakazimu, noch tsikusa,
noch katwa-ngondo im tatsächlichen Auffassen des Katsokwe — der magisch-kultischen
Sphäre in Masken ihre Darstellung finden können.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
V. Masken, deren Gesichtsteil aus H olz besteht.
Bis jetzt haben wir zum größten Teil nur Masken aus dem für die afrikanische Masken-
kunst etwas ungewöhnlichen Rindenstoff kennen gelernt; die grotesken Formen und der
Abb. 33. a) Maske „mwana-pwo“ der Täokwe (s. S. 30). b) Maske „mwana-pwo“ der Lunda
(s. S. 26). c) Maske „tsiheu“ der Tsokwe (s. S. 31).
Farbenreichtum stehen den — im Übrigen auch
recht ähnlichen — melanesischen Masken nicht
nach. Die westafrikanische Holzmaske fehlt aber
auch nicht ganz, sie ist sogar in künstlerisch hoch-
wertigen Exemplaren vertreten, und bezeichnender-
weise ist es die Darstellung des Gesichtes einer
Frau, besser eines Mädchens; das ganze in Holz
arbeitende Kunstgewerbe bevorzugt ja die Gestalt
der Frau in jeder Weise. Es ist also auch nicht
verwunderlich, daß mit einer Ausnahme (Abb. 33 b)
alle Holzmasken die Gesichter und die „wiembe“-
Perücke der Frauen zeigen. „Mwana-pwo“, das
Mädchen, ist eine überaus beliebte Profanmaske,
welche die Männer benutzen, um vor Frauen zu
tanzen, und um diese mit unnachahmlicher Ironie
und viel Witz in Haltung und Tanzbewegungen
nachzuahmen.
Die Maske ,,mwana-pwo“ besteht aus einem
Gesichtsteil aus Holz mit einer angefügten, echten
Perücke, einem angefügten Halsteil aus dem
Maschenwerk — meist Baumwollschnüre —, dem.
Brustteil mit den Armen (muzimba), den Hosenbeinen (molo), einem wulstartigen,
mit Rindenstoff oder Leder bezogenen, mit Perlen besetzten oder bemalten Hüftgürtel
und einem geflochtenen Hinterschürzchen (tsibökolo). Dieses Hinterschürzchen besteht
vor allem aus gedrehten Faserschnüren und ist dem Wulstgürtel, der in der Kreuzgegend
Abb. 34. Maske „mwana-pwo“ .Täokwe.
(s. S. 30).
30
HERMANN BAUMANN
über dem Gesäß liegt, angefügt. Das Brustteil trägt zwei „mele“, Brüste, aus koni-
schen Kalebassenstücken, die mit dem Maschenwerk bezogen sind und deren Warzen
aus Harz geformt werden. Ein eingenähter Stein oder dgl. markiert den Nabel. Das
ganze Gewand ist zebraartig gestreift. Von den sehr
interessanten, stets individuell gesehenen Gesichtsteilen aus
Holz sind einige auf unseren Tafeln abgebildet. Fast jede
einzelne Maske, die mir zu Gesicht kam, war etwas Be-
sonderes. Die für die Tsokwe charakteristischen Täto-
wierungen sind naturgetreu mit einer Nadel eingepunktet
oder mit eingravierten Linien ausgeführt. Besonders beliebt
ist das [^j oder <=fy=> Ornament auf der Stirnmitte oder die
„masozi“, die Tränen, unter den Augen. In der Perücke,
die sich in nichts von der der Frauen unterscheidet, hängen
a b
oft geschmackvollerweise euro-
päische Sicherheitsnadeln als
Schmuck. Die Maske Abb. 36b
(Orig. Nr. 542) zeigt eine ältere
Frau mit breiter Nase; ihre
Augenränder sind mit Harz
verschmiert; man gab mir diese
Besonderheit als Triefäugen“
an; auch die Perücke weicht
etwas vom gewöhnlichen Typus
ab. Sehr schöne Exemplare
zeigen Abb. 33a, 34, 36c und d.
(Orig. Nr. 796. Mahakaholo;
Nr. 541 Peso mit 3 Zöpfen und
einem Haarschopf statt einer
Perücke und Nr. 732, Mwan-
dumbe am Lungwe, die wohl
Schönste Maske unserer Samm- Abb. 36. „Mwrana-Pwo“, d. h. „Mädchen“-Masken der Tsokwe aus
lung). Auch die auf Abb. 35 Holz, a) „mwana-pwo“ (s. S. 30). b) ältere Frau. (s. S. 30).
wiedergegebene Photographie c’ »mwana-pwo (s. S. 30).
eines „mwana-pwo“-Tänzers
vor unserem Lager zeigt einen Anzug, der vollständig in unseren Besitz überging (Orig.
Nr. 1030a—f. Namwambu).
Die ,,mwana-pwo“-Maske gehört als Profanmaske nicht ins Mukanda; die Stelle in
Abb. 35. Maskentänzer mit der
Maske „mwana-pwo“ — Mädchen.
Namwambu. Tsokwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
31
dem auf S. 18 gegebenen Text kann unmöglich genau sein. Ob ein kultischer Hintergrund
besteht, konnte ich nicht eruieren. Aber es bleibt bestehen, daß eine Frauenmaske von
Männern getragen wird, um die Frauen, wenn auch heute nur ganz ersichtlich zum Spaß,
nachzuahmen. Diese Tatsache bringt uns ins Gedächtnis zurück, was wir schon anläßlich
der Lundamaske(S. B 25) aussprachen: die Möglichkeit eines zweigeschlechtlich kultischen
Charakters der ,,mwana-pwo“-Masken.
Abschließend sei noch die Fig. 33c abgebildete ,,tsiheu“-Maske aus FIolz er-
wähnt. Die sonstigen Masken dieses Namens sind alle aus Rindenstoff verfertigt, diese
hier macht eine Ausnahme. Ein Federbusch, ein eingesetzter künstlicher Bart und Blech-
auflagen in der Augengegend — eine auch bei ,,Mädchenmasken“ beliebte Verzierung —
zeichnen sie aus. Sie ähnelt auffallend hölzernen Maskenköpfen der Masupia am Sambesi,
die das Berliner Museum besitzt, wie ja tatsächlich die engen verwandtschaftlichen Be-
ziehungen des Tsokwevolkes zu Völkern am oberen Sambesi (vor allem Mambunda)
nicht zu leugnen sind.
Wenn wir uns nun nach einer Behandlung des Maskenwesens wieder dem Gesamtkomplex
der Beschneidungsriten zuwenden, um vor allem das zu überprüfen, was darüber schon
bekannt war, so sehen wir nur bei einigen Beobachtern neuester Zeit tieferes Verständnis für
die in Frage stehenden Dinge. Die älteren Reisenden kamen selten hinter den Sinn
des Maskentragens, das ihnen meist als Possenreißerei erschien.
Cameron (deutsche Ausgabe II. S. 162L) traf um Mona Peho (etwa da, wo heute die
Stadt Vila-Luzo liegt) einen Maskierten, den er als alten
Mann beschrieb mit einem Glöckchen in der Hand; es
muß sich hier um eine ,,tsiheu“-Maske handeln. Er
schreibt darüber: es sei ein „Scheinteufel“, und als
solcher habe er das Amt, die in den Wäldern hausenden
Teufel zu verscheuchen, sie werden dafür von den Dorf-
bewohnern bezahlt. S. 164 bildet Cameron eine „tsi-
hongo“-Maske ab. Capello-1vens (engl. Ausg. Bd. I.
S. 294ff.) haben einen „Muquischi“ unter den Chiboko
(Tsokwe) angetroffen, der offenbar ebenfalls ein tsi-
hongo war. Einer ging auf Stelzen (Abb. S. 295); dazu
wäre das zu vergleichen, was später über das zemba (S. 41)
zu sagen sein wird. Ein Irrtum ist sicher ihre Angabe,
daß der Netzanzug aus Borassusblättern bestehe und
daß der Maskentänzer der Wahrsager sein soll. Inte-
ressant ist die Angabe, daß es sich bei den Masken in
erster Linie um kriminalistische Absichten, besonders
gegen untreue Frauen handele. Schütt (Reisen im
S. W. Becken des Kongo S. 116) schildert das An-
kommen von zwei Maskentänzern ,,M’ Quichi“, die gegen
Gaben etwas vortanzten in Mona Quimbundo (recte Mwatsimbundu), dem damaligen
Sitz des Königs der heute ganz verschwundenen, d. h. von den Tsokwe aufgesogenen,
„Makosa“. Einer der Tänzer hielt sich fern von den Leuten am Rande der Lichtung
auf, wo er im Rücken ein kleines Gebüsch hatte, und warf mit grotesken Gebärden
Blätter vor sich auf den Boden. „Plötzlich“ lag dort ein nackter „Leichnam“, der natür-
lich schon geraume Zeit im Grase gelegen hat; dieser — bei 600 m Entfernung war er
nicht genau zu erkennen — richtet sich auf und legt sich wieder. Alle Zuschauer fühlten
sich durch dieses wunderbare Experiment auf das tiefste bewegt und juchzen, mit der
Hand auf den Mund schlagend. Der eine M’ Quichi tanzt nun wieder vor, kehrt dann um,
Abb. 37. „mwana-pwo “-Maske
im Buschlager von Sambangu.
Täokwe.
32
HERMANN BAUMANN
und nachdem er Blätter auf den angeblichen Toten gestreut, erhebt sich dieser als
Schaf und kriecht ... in den Wald. . . Später setzte der M’Quichi seine Zaubereien fort,
indem er in dem Gebüsch „Tote“ storchartig auf Stelzen herumsteigen ließ und auch
das Schaffell noch einige Male zum Vorschein brachte. Bei dieser Schilderung sei an den
Auferweckungstanz der tundanzi, den ich oben (S. 16) schilderte, erinnert. Hier scheint
es sich aber doch eher um eine Szene des „zemba“ genannten zweiten Buschlagers der Be-
schnittenen zu handeln (s. weiter unten S. 41), wo ebenfalls Stelzen verwendet werden;
die Schilderung Plancquaerts (s. S. 43) vom ,,ngongi“-Kult, der dem „zemba“ der Tsokv«e
entspricht, weist viele wichtige, verwandte Züge zu dem geschilderten Ritus auf.
Eine weitere Stelle bezieht sich allerdings auf das Songo-Volk an der Westgrenze des
Tsokwelandes (S. 106). Er traf eine Maske mit braun und gelb gefärbtem Trikot; die
Maske war aus „Binda“ geschnitzt, rot und braun angestrichen. Der Kopfputz war aus
Federn, und an einem Gestell von Asten, reifartig getragen, hing eine Bastschürze, „Es
wurde dem Reisenden gesagt, es sei ein Divindada, der bei der Audanda, der Beschneidung,
präsidiere, nach welcher die etwa zehnjährigen Knaben drei Monate, die sogenannte „Ca-
cibo-Dauer“ in dem Wald der Operation verbringen müssen.“ Auch am Schluß der Feier
tritt die Maske wieder auf. Hier spricht Schütt vom Buschlager und von den Masken als
einem Teil von diesem. Auch der Lunda bereisende Büchner gibt (in Schorers Familien-
blatt V. S. i68ff. nach Frobenius: Masken und Geheimbünde Afrikas, S. 36F) eine Schil-
derung ähnlicher Art, Er bildet S. 69 eine Maske der Tsokwe ab, die eine „tsikusa“ ist;
„das betreffende Individuum war Vorsteher einer Einsiedelei, in welcher die Knaben des
Gaues sich auf gewisse Zeremonien vorbereiten, welche ihre Aufnahme in die Schar der
Jünglinge bezwecken, wobei sie sich die Zeit mit Singen und Trommeln vertreiben.“ Zu
Büchners Zeit war also schon „tsikusa“ der Vorsteher des Mukanda, während die „tsihongo“,
von der er sehr typische Abbildungen in verschiedenen Tanzphasen gibt, schon damals eine
bettelnde Profanmaske war (bei Frobenius S. 65). Von den Minungo (östl. des Kwango)
erwähnt er ebenfalls „akisch“ und sagt, es seien „Waldteufel“: „um die Schreckgespenster
imaginärer Natur zu bannen, nehmen die „ganga“ dieses Stammes selber Schreckgestalten
an.“ Hier deckt sich seine Auffassung mit der Camerons, aber die ganga agieren auch als
Spaßmacher und verleihen ihre Kostüme an andere. Wie in Büchners Zeltlager kamen ja
auch in das unsere stets einige der heute profanen „tsiheu“, „tsihongo“ oder „mwana-
pwo“-Masken. Pogge schließlich (bei Frobenius, op. cit. S. 41) ist der „mukischi“ ein
gewerbsmäßiger Tänzer, der nichts mit dem Kultus zu tun hat. Er konstatiert richtig, daß
die Kioko den Maskenkopf „mutue ua mukischi“ und das Brustteil „muschimba ua mu-
kischi“ nennen. Mit der ersten Bemerkung Pogges steht aber die andere im Widerspruch:
„Mukischtänze finden überall da statt, wo die Beschneidung mit Festlichkeiten verbunden
ist. Wo dies nicht der Fall ist, wie bei den Bena-Riamba (Baschi-Fange) findet man auch
keine solche Tänze.“ .... „Der Meister und Führer der Mukischi ist der Kakongo, er übt
die Beschneidung aus. Die Lehrlinge und Assistenten heißen Mukisch. Aus ihnen geht der
Kakongo hervor. Im Gegensatz zum ganga kann der Mukisch nie ein Weib sein.“ Pogges
Bericht bezieht sich auf die Tsokwe.
Solche widerspruchsvollen Berichte finden sich in der neueren Literatur nicht mehr.
Hier kennt man profane und kultische Masken, wobei die letzteren stets mit dem Busch-
lager verbunden sind. Allerdings existieren ausführliche Berichte über die Verhältnisse
bei den Tsokwe nicht. Wir haben aber von Nachbarvölkern teilweise recht instruktive
Nachrichten, die eine überraschende Ähnlichkeit der betreffenden Sitten im ganzen Gebiet
des südwestlichen Kongobeckens erweisen.
Ich erwähnte oben schon, daß es mir leider nicht vergönnt war, Augenzeuge einer
Operation selbst zu sein.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
33
Es ist aber ein günstiger Umstand, daß wir gerade von diesem Teil der Beschneidungs-
riten, einen, wenn auch leider noch etwas lückenhaften Bericht von C. P. Holdesredge und
K. Young im American Anthropologist. Bd. 29. Heft 4 1927, S. 661—669 besitzen. In
manchen Einzelheiten weicht die Schilderung dieser Augenzeugen etwas von meinen Er-
kundigungen ab, aber andererseits sind alle beigebrachten Tatsachen nach meinen Er-
fahrungen so charakteristisch, daß sie volles Vertrauen verdienen. Es muß sich hier um
leichte Spezialisierungen handeln. H. und Y. bemerken, daß sie lediglich der Beschnei-
dung zweier Enkel eines Häuptlings beiwohnten; sie geben dabei selbst (S. 669) an, daß
die Beschneidungsriten der ,,unteren Klasse“ wichtige Abweichungen zeigen. Da ich per-
sönlich die Instruktionsstunden vieler Buschschulen in allen Gegenden des zentralen
Tschokwelandes besucht habe und zwei große Beschneidungsschlußfeiern als Augen-
zeuge miterlebt habe — mein Kollege Dr. Meinhard hat die interessantesten Tanzphasen
und mimischen Darstellungen ja im Film festhalten können — so ergänzen sich unsere
Arbeiten mit denen von H. u. Y. in erfreulicher Weise. Eine Diskussion des Berichtes von
H. u. Y. erfolgt weiter unten.
H. u. Y. nennen die Tschokwe mit der im N. üblichen Bezeichnung Bajok. Sie geben
aber selbst an, daß „Batchokwe“ die allgemeinere Benennung ist. Das Verbreitungsgebiet
geben die Autoren als viel zu klein an. Die fraglichen Ritualien beobachten sie in einem
Dorf an einem kleinen Zufluß des (unteren ?) Tschihumbe, also wohl im nordöstl. Ver-
breitungsgebiet der Tschokwe (S. 662).
Zuerst erscheint der „Magish“ (natürlich ein Maskentänzer: „Mukisch(i)“), der die
Zeremonie ankündet, die Weiber und Kinder vertreibt und die Initianden nach der Be-
schneidung allerlei lehrt. Die Novizen selbst erlernen das Amt der ,,magish“; alle Initiierten
wissen Bescheid über den wahren Charakter der ,,magish“.
Einen Monat vor der Operation wurden für die zwei Kandidaten Vorbereitungen zum
Fest begonnen (Einladungen, Bereitstellung des Honigs für die Getränke). Am Vorabend
des Festes waren 150 Personen versammelt (S. 663). In dieser Nacht wurde getanzt und
getrunken bis 10 Uhr am anderen Morgen. Dann werden den Novizen sämtliche Körper-
haare (auch vom Pubes) entfernt, Palmöl und rot-weiße Ornamente von Lehm bedecken
den Körper. Sie erhalten den Grasschurz. Etwas abseits wird ein Kraal aus Zweigen und
Ästen (40 Fuß Durchmesser) erbaut. Zwischen den zwei gegenüberliegenden Ein- resp.
Ausgängen steht eine Hütte. Die Jungen werden in den Kraal getrieben und entkleiden
sich. Eine Alte kommt aus der Hütte und gießt über die gebeugten Rücken der Knaben
einen Blätterabsud (S. 664). Dann werden sie von den Männern weit weg auf einen gerodeten
Platz gejagt. Dort werden sie von starken Männern umfaßt und umgeworfen, von anderen
an Händen und Armen festgehalten und so bewegungslos gemacht. Jeder Knabe hat einen
Doktor, der vor den Genitalien Platz nimmt und mit einem 7,5 cm langen Messerchen die
Operation vornimmt.
„Pulling out the prepuce with his thumb and forefinger the operator severed it as
dose as possible to the point of the glans penis with one sharp flash of the knife. The re-
maining prepuce was then pulled back to its normal position. The remaining portion which
was attached just behind the neck of the glans penis and which formed a sort of roll there
was next split in the center on top of the glans penis and each half severed by cutting around
to right and left respectively.“ Hier haben wir also eine Bestätigung des Berichtes, den
ich von einem Eingeborenen über die Technik der Operation erhielt, obwohl der zweifache
Schnitt hier etwas anders ausgeführt zu sein scheint. Die abgetrennten Vorhautstücke
nimmt der Vater sorgfältig an sich (S. 665). Er verbirgt sie an einem geheim gehaltenen
Platz, damit nicht ein Übelwollender in ihren Besitz käme; dieser könnte in solchem Falle
mit dem betreffenden Jungen machen, was er wollte. Nach der Operation werden folgende
5 Baessler-Archiv.
34
HERMANN BAUMANN
Maßnahmen durchgeführt: „A small stick about twelve inches long and three-eigths of an
inch in diameter was split for three or four inches at one end and placed astride of the
Glans penis of each just behind the wound. The boys were required to hold the other end
of the stick on a spot of clay placed at the end of the Sternum. Some other boys who had,
of course, gone through the ritual, approached with manioc flour which they sprinkled
freely on the wounds which were bleeding rather profusely by this time. This manioc flour
was applied until the bleeding ceased.“
Dann wird eine Hütte für die Jungen erbaut. Der Vater, Großvater und die beiden
Doktoren geben Solotänze. Dann werden zwei Baumstämme zu einem Bogen zusammen-
gebunden. Zwei ineinanderhängende Grasringe werden oben am Scheitel des Bogens
befestigt (S. 666). Unter Trommelbegleitung hüpfen alle Jünglinge des Dorfes unter den
Bogen und zeigen den Ringen einmal ihre Bäuche, dann ihre Rücken. Durch die Ringe
spuckten alte Männer gekaute Blätter auf die Jünglinge. Darauf beginnt die Gesundungs-
periode — 2 bis 4 Monate — die ausgefüllt ist mit Instruktionen über Stammessitten,
sexuelles Leben und dgl. Die Tänze beginnen früh am Morgen und dauern alle Tage bis
abends. Keine Frau darf die Initianden sehen; diese müssen ihrerseits das Dorf meiden.
Sie erlernen eine besondere Sprache in der Lehrzeit (S. 667). Sie wechseln ihre Namen.
Mittlerweile wurde ein Kraal ähnlich dem genannten erbaut. Viele Maskenteile liegen
umher. Am Eingang hängen die zwei geflochtenen Ringe herab, die beim Passieren von den
Jungen berührt werden müssen.
Uber das Schlußfest geben Y. und H. nur einen kurzen Bericht ihrer Gewährsmänner.
Danach war das Fest nicht so bedeutend wie das Eröffnungsfest, Der Tanz ging vom
Abend bis zum anderen Morgen. Am späten Nachmittag zeigen die Jünglinge die erlernten
Tänze (S. 668). Sie erhalten die vom Vater verwahrten Gaben, die ihnen am Eröffnungsfest
von den Verwandten geschenkt wurden. Spät am Abend wird ihnen vom Vater der Ort
bezeichnet, wo eine Freundin des Vaters auf sie wartet und sie in der Technik des Ge-
schlechtsverkehrs unterrichtet, ohne daß diese ,,Vergnügen dabei empfindet.“ Eine ähnliche
Sitte soll bei der Initiation der Mädchen (gleichzeitig mit Menstruation) bestehen, über die
uns die Autoren aber nichts mitteilen. Die Mädchen verkehren mit einem Freund des
Vaters, der „kein Vergnügen dabei empfindet“, sondern dies als seine Pflicht betrachtet
(S. 669).
Wir haben einen sehr eindrucksvollen Bericht des Franziskanermissionars Delille über
die Beschneidungsgebräuche bei den Aluunda und Aluena (AnthroposXXV, 1930, S.851
bis 858 mit 10 Abbildungen). Er studierte diese Dinge in der Südwestecke der belgischen
Kongokolonie in dem Dorf Katota nahe bei dem Posten Luashi (östl. von Dilolo). Die Be-
völkerung muß hier sehr gemischt sein nach meinen Erkundigungen. Die Lunda und Luena
wohnen vielfach durcheinander. Es müssen hier ähnliche Verhältnisse herrschen wie im
Gebiet der sogenannten „Minungo“, wie ich am oberen Luembe und umKasaje feststellen
konnte. Und tatsächlich gab mir mein Manuel die bestimmte Auskunft, daß in seinem
Geburtsort bei Portugiesisch-Dilolo sowohl Tsokwe, als auch Luena und Lunda durch-
einandersitzen und von ihm als „Minungo“ bezeichnet wurden. Daß Delille Luunda schreibt,
ist insofern von Bedeutung, als auch die englischen Missionare mich immer wieder darauf
hinweisen, das die Luundaspräche vom Kasai, von Kapanga und am Lulua von der
Lunda spräche in Rhodesia grundverschieden sei.
Dieser Bericht, den ich wegen seiner Bedeutung für eine Vergleichung ausführlicher
behandeln möchte, zeigt deutlich die Übereinstimmung der meisten Details mit meinen
Erhebungen. Nach dem, was ich von der Luenasprache weiß, handelt es sich bei allen
Vokabeln, die der Verfasser beibringt, um Luena, jedenfalls nicht um das Lunda, das ich
kennengelernt habe. Die Tatsachen Debiles sind folgende:
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
35
I. Tanz mit Trommelbegleitung im Dorf als Auftakt. 2. Ein Maskentänzer mit einer
,,yipupu“-ähnlichen Maske (s. S. 26) tritt auf. Er spielt später eine, wenn auch gering-
fügige Rolle. 3. 12 Jungen stehen kahl geschoren, ängstlich, auf dem Dorfplatz. Eine alte
Frau ruft sie und bringt sie an eine kleine, dachlose Hütte („nfunda“). Sie tritt hinein
und kniet vor zwei weiß gestreiften Pfählen („akishi“ = goede geesten) ,,nyiombua ge-
nannt, nieder. Sie bestreicht sie mit neuer ,,pemba“-Erde. Sie bittet diese „akishi“ dann,
daß sie den Jungen bei der Beschneidung beistehen... ,,dat ze niet vermageren, doch
sterk en dik staan...“ Dann bläst sie Pemba (pulverisiert!) auf die Köpfe der Jungen.
4. Während die Frauen im Dorf bleiben, ziehen der Maskierte und die Mbimbi, d. h. die
Beschneidungsdoktoren, jeder mit der roten Feder des ndua-Vogels im Haar (nduwa
der Tsokwe), und zwölf Mann, der Zahl der Novizen entsprechend, an einen abseits
gelegenen Platz. Die Doktoren haben einen Anführer, den geschicktesten Operateur
(nkarawanda), der die Pflege auch nach dem Fest übernimmt (nganga-mukanda der Tso-
kwe). Er hat während der ganzen Buschzeit sich strengen Geboten zu unterwerfen: er darf
keiner Frau beiliegen, sich nicht waschen oder ölen, sich nicht die Fingernägel, noch die
Haare abschneiden und muß bestimmte Speisen meiden. 5. Nun wird jener Maskierte von
dem,,mbimbi“ eingeweiht in sein eigentliches Amt. Er wird von jetzt an „katotoji“ genannt.
Der Nkarawanda bringt einen Beutel mit „yitombo“, Heilmittel des Häuptlings des be-
nachbarten Dorfes Lukonkesha und ist ein berühmter Kraftstoff eines Geistes. ,,Zonder
dat het vel dat den verkleede van voor bedeckt, werde opgeheven, verbergt daaronder de
Nkarawanda vermeld krachtmiddel. Hij bezigde daartoe twee outschorste stokjes. Midde-
lerwyl werden er door den Nkarawanda en de omstoonders körte beurtzangen. . . Dan
staken even al de Mbimbis haast gezamelijk een hand ouder het vel waarna de vermomde
rechtsprong: hij was nu gewijd tot katotoji van dit Besnijdenisfeest.“ Jetzt wohnt der
starke Geist von Lukonkesha in ihm, und seine Gegenwart ist stets von Wichtigkeit. 6. Jetzt
wird das ,,yitombo ya mukanda“, das Abwehrmittel gegen die Alozi (Hexen) verabfolgt. Die
Mbimbi graben eine kleine Grube,, daar wordt eerst een laag versehe modder in gelegd;op dien
modder vloeibare vetstof gegoten en midden in geplaatst een klein kalabasje met een soort
olie... zoodra het kalabasje te midden van den modder vaststoud, begonnen en hur-
kenden en omstoonders zieh met den duim vinger olie daaruit op den buik te strijken en
op het hart.“ Das alles ist um ,,atwesi kusema“, um Kinder in Fülle zu zeugen. Dann wird
die Grube mit Inhalt sorgfältig verdeckt und verborgen. Jetzt können die Alozi die No-
vizen nicht mehr krank machen und sterben lassen. 7. Ein aus zwei Pfosten und einem
Querbalken bestehendes Gerüst ,,mbungu“ („mboma“ der Ts.) wird errichtet und ein
ineinanderhängendes Paar von Grasringen daran befestigt. Es schützt den Platz der Be-
schneidung vor den Alozi. 8. Jetzt geht der Katotoji in das Dorf und ruft die Jungen, die
dort blieben. 9. Die 3 ,,ngoma“ werden auf den Platz gebracht und ebenso auf den Rücken
von Männern die Jungen. Sie werden festgehalten und von den Mbimbi beschnitten.
Das Präputium wird vorgezogen und dann schnell mit einem Schnitt abgetrennt. „Koortsig
zoekt hij naar de overblijvende deeltjes en rondt ze af stukje voor stukje tot aan den Wortei.
De laatste vezeltjes worden in het bloed opgespoord.“ Das Schreien der Jungen wird mit
Geschrei und Trommelspiel übertönt. 10. Dann sitzen die Jungen auf einem Stock, vor sich
eine Schale aus Termitenhaufen („ifanfa“), wohinein Blut und Abspülwasser fließt. 11. Die
Vorhautteile (muvundu) werden sorgfältig gesammelt. Nach der Heilung sollen sie sie ans
Herz drücken und damit bestrichen werden, damit sie nichts von allem den Frauen und
Kindern erzählten. 12. Heilmethoden: zuerst Abspülen mit Wasser, Blutstillen mit Pflanzen-
saft, Einwickeln des Penis in Blatt und Hochbinden des Gliedes mit Hüftschnur. 13. Jetzt
heißen die Novizen ,,atwindanji“. Sie bleiben nackt bis zum Schlußfest. Die erste Nacht
schlafen sie noch im Freien; dann wird das ,,Mukanda“ erbaut. 14. Das Wort Mukanda
5
HERMANN BAUMANN
36
leitet Delille ab von ,,knkanda anyana“; die Kinder bestrafen, lehren, drillen; Mukanda
ist demgemäß der Lehrplatz oder kurz der ,,Drill“. Die Beschreibung deckt sich völlig
mit den a. a. 0. über die Tsokwe-mikanda gegebenen Tatsachen. Auch hier gibt es die
„yikangala“ (Ts. = yikalakala) genannten Käfige für die Novizen (s. S. 5 f). Gegenüber
dem Eingang ist eine Öffnung in der Wand („ndambi“), durch die übriggebliebene Breireste
hinausgeworfen werden müssen. 15. Jeder Novize hat einen „Chilombola“, einen schon
Beschnittenen, der für ihn Essen, Brennholz, Wasser holt, ihm die Tänze, Regeln und Ge-
sänge des Mukanda beibringt, ihm die Wunden verbindet. Er unterliegt denselben Ver-
boten wie der Nkarawanda. Einige Verbote (nsangu ya mukanda) sind: Keine Frau an-
sehen; nicht auf die untergehende Sonne sehen, noch auf den Vogel „ndua“ (s. oben),
bei dessen Schrei die Ohren zuzustopfen sind; nicht Sprechen beim Essen; nicht auf das
,,Chilunda (Zeichen) cha Mukanda“ treten, das an Kreuzwegen aufgestellt als Stock oder
Stein allen Männern bekannt ist; nicht über den Aschenhaufen „wutu“ des Mukanda —
vor dem Kraal liegend — gehen. Übertreten dieser Verbote hat Tod zur Folge. 16. Neuer
Verband nach Bestreichen mit einer Salbe aus den Pflanzen ,,mafalabela“, ,,katuna“ und
,,ikondi“ (Banane!) 17. Zweimal täglich erhalten die Atwindanji Essen; vor dem „Wutu“
stehend singen sie, die Arme schwenkend; „kayi nkongolo, nvula yanokanga, kotwiyanga“
d. h. „weg ist der Regenbogen, der Regen fällt, laß uns gehen“, „voor en na het eten wordt
elk kind bespogen van voren en van achter met een knausei van groene blaren,“ damit sie
später viele Kinder erhielten. 18. Die Atw. singen bei Sonnenaufgang mit dem Gesicht
nach Osten gekehrt, ein Stöckchen hinter dem Ohr. Auf ein Zeichen des Chilombola werfen
alle das Stöckchen nach rückwärts und rufen: „i venoooö“, d. h. Hört, die Sonne ist da.
Abends stehen sie am „wutu“ und, stets das Gesicht nach Osten, werfen sie das Stäbchen
zurück und rufen: „dinayi we daya“, d. h. „die Sonne ist weg, oh.“ 19. Die Atw. gehen
stets nackt. Jeder sitzt nur auf einem „mwenda“, einem Holzklotz, der beim Verlassen
des Mukanda unter dem Aschenhaufen versteckt wird. 20. Dauer des Mukanda je nach der
Heilung 2 bis 3 Monate. Sie lernen einen Tanz, der am Schlußfest vorgeführt wird (es sind
offenbar die beschriebenen Bauchtänze der Ts.) und tragen dabei den Bastfransenschurz
„nkambi“. 21. Diesen tragen sie besonders beim Wiedereintritt in das Dorf (an einem
Neumondabend). Die ganze Nacht dauert das Gelage. 22. Andern Tags werden die Bast-
schürzen im Fluß versenkt.
Von den beiden Hälften des Lundavolkes haben wir zwei nicht ganz gleichwertige
Berichte über Initiationsriten. Der erste stammt aus dem Hauptsitz der Herrscherdynastie,
aus dem jetzigen belgischen Kongo(Luluadistrikt) und ist vonCarvalho niedergeschrieben1,
der zweite Bericht wurde von Melland2 beigesteuert und ist weitaus au schlußreicher; er hat
das auch hier „mukanda“ genannte Beschneidungslager der Lunda Nordwestrhodesias
beschrieben. Da ich selbst auf meiner Reise durch die Lundagebiete zwischen Luhembe
und Tschihumbe leider keine Gelegenheit hatte, ein Lunda-Mukanda zu besuchen und dem-
entsprechend nur auf einige — dazu auch noch unkontrollierbare Nachrichten — an-
gewiesen war, möchte ich den beiden verdienten Forschern, der Wichtigkeit der Sache
entsprechend, möglichst ausführlich das Wort geben.
Carvalho erzählt Folgendes: Die Knaben werden mit sieben bis acht Jahren, die
Mädchen kurz vor der Pubertät beschnitten. Sie nehmen einen neuen Namen an, den sie
an Stelle ihres ersten (Milch-)Namens tragen oder neben ihm. Die Väter übergeben die Knaben
dem Anganga, der sie abseits in eine Hütte führt, die „Mucanda“ heißt, wo sie abgesperrt
von der Außenwelt mit ihren Gefährten leben. Die Nahrung wird vom anganga besorgt,
ebenso das Wasser. Die Knaben eines Mucanda werden, als gleichzeitig beschnitten, als
1 Carvalho: Ethnographia e Historia tradicional dos Povos da Lunda. Lisboa. 1890. S. 447!.
2 Melland: In Witchbound Africa. London 1923. S. 54!!.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
37
Altersklasse aufgefaßt. Die Buschzeit dauert von einem Monat zum anderen. Sie endet
mit dem Abschneiden des Präputiums. Die Sitte heißt ,,cata mugongue“. „Em toda a
regiäo da Lunda ninguem pode ser senhor de Estado sem ter passado por essa operagäo.“
Die Frauenbeschneidung heißt ,,cata quiuila“ und besteht in der Abtragung (ablagäo) der
großen ( ?!) Labien „que nas mulheres brancas säo menos salientes“. „Quiuila“ heißt ein
Idol „a quem sedevem offerecer os despojos da operagäo, para näo obstar ä geragäo.“ Sie
wohnen ebenfalls bis zur Vernarbung in Hütten abseits. Eine alte Frau beschneidet sie
und erklärt ihnen, ,,o que se cortou e entregue ao idolo para Ihes näo mandar doengas e
permittir-lhes que sejam fecundas“. Auffallend ist an diesem Bericht, daß die Knaben-
beschneidung die Buschzeit beendigen soll, und daß die Lunda eine Mädchenbeschneidung
kennen, was bei ihrer Kulturstruktur verwunderlich erscheint. Bemerkenswert ist die
Ähnlichkeit der Bezeichnungen mit solchen, der durch die Lunda stark beeinflußten Ba-
yaka (s. u., S. 43!.); dem ,,mugongue“ entspricht der ,,ngongi“-Bund (der seinerseits die
vollkommene Parallele zu der „zemba“-Sitte der Tsokwe ist), dem „quiuila“ entspricht
die Mädcheninitiation „kiwila“.
Mellands Schilderung von dem „mukanda“ — so heißt das Buschlager auch hier —
der Alunda östlich des oberen Sambesi gehört auch in den Tatsachen ganz in die Nachbar-
schaft des Tsokwe — und Luena-Mukanda. Während bei den angrenzenden Bakaonde —
einem Lubavolk — die Beschneidung fehlt, steht sie bei den Alunda mit dem Buschlager
in Verbindung, ähnlich wie bei den Tsokwe. Die einzelnen Phasen der Riten seien hier
nur in Stichworten angeführt.
Alte Wächter der Blatteinfriedigungen werden ernannt. — Die Makishi (sing, ikishi)
ziehen ihre Kostüme an. Viele kommen aus Angola. — Makishi gehen ins Dorf als Zeichen
der Eröffnung des Lagers. — Alle Frauen verstecken sich; alle Dinge um das mukanda sind
„nsonyi“ = Scham für sie. — Kandidaten(io—13 Jahre alt) gehen mit Masken in den Busch.
— Mukanda steht unter der Aufsicht der ,,Familiengeister“, und die Makishi nehmen die
Namen von mehreren verstorbenen Alten an, die gute Operateure waren. Die Tänze
werden zum Geneigtmachen der Geister ausgeführt. — 2 Monate Heilungszeit; danach
Tanzübungen. — Von Frauen hergestellte Nahrung wird an einen Ort vor das Lager gestellt
und abgeholt. — Assistenten heißen ,,ilomboshi“. —Operation mit kleinem Spezialmesser,
ähnlich dem gewöhnlichen. — Bei Entlassung werden die Novizen auf den Schultern
herausgetragen, — Bemalung mit weißer Erde (mpemba) und Schmücken mit Blättern. —
Der erste Knabe, der im Jahr beschnitten wird, heißt „kambanzhi“, der zweite „kasalant-
anda“. Jener erhält von aller Speise zuerst. — Jeden Morgen spart der Novize etwas vom
Brei auf und wirft den Brocken mit etwas Herdasche vermischt und ,,kangere weze“ sagend
nach 0; am Abend ebenfalls, aber ,,kangere waye“ rufend, und nach W werfend. Das ist,
um die Lepra abzuwehren! —
Interessante Entstehungslegenden führen die Beschneidung darauf zurück, daß das
Kind einer Frau Nyachimbanda zur Mutter zu kriechen versuchte und sich dabei im Grase
schnitt. Der König fand das gut und ließ seitdem die Männer beschneiden; ein anderes
Mal soll ein Häuptlingssohn zum erstenmal auf einer Jagd von einem Dorn beschnitten
worden sein.
Die Frauen und Kinder glauben, daß die makishi (Maskentänzer) auch zugleich akishi
(Geister, Ahnen) sind und aus einer Höhle in der Erde kommen. Im ngongi-Ahnenkult der
Bayaka kommen die Ahnengeister nach Plancquaert (s. u.) ebenfalls aus einem Erdloch! Die
Makishi der Alunda sind auch fraglos religiös, da man zu den Verstorbenen betet, von deren
gutem Willen aller Erfolg im ,,mukanda“ abhängt.
Vor Eintritt in die Diskussion über die beigefügte, vergleichende Tabelle der Buschriten
bei den Nachbarvölkern sollen noch die leider recht spärlichen Notizen, die ich über die
38
HERMANN BAUMANN
Beschneidung der Luimbi nach dem Diktat eines Mannes aus dem Dorf Litenga am
Kwivafluß gesammelt habe, im Zusammenhang wiedergegeben werden.
Eingangs braut man" viel Bier aus Maniok (mwansa wakateta) und Mais. Dann beruft
man alle Verwandten ins Dorf (limbo) und tanzt die ganze Nacht. Dieses Fest heißt ,,li-
wenga“ (Tsokwe: tsisela). Am anderen Morgen werden die Knaben (io bis 12jährig) in
den Wald gebracht zum Platze „halusumba“. Der Schnitt der Operation soll etwas anders
als bei den Tsokwe sein, wie mir ein zuhörender Tsokwe zu erläutern versuchte. Zuerst
wird mugundu, d. h. rote Erde (Tsokwe: ngula) auf die Haut geschmiert und dann die
Haut zurückgestreift. Dann erfolgt ein rascher Rundschnitt, darauf ein Längsschnitt oben
und dann ein Schnitt unten. (Wie ?) Die Operation selbst heißt „kuteta“. Sie soll viel
mehr Schmerzen hervorrufen, als die der Tsokwe. Die Vorhaut wird einfach in den
Fluß geworfen, denn man hat Angst, daß ein Zauberer damit seine Praktiken ausübt.
Es gibt eine Figur, „kahunga“ genannt (in der Bedeutung so viel wie Kandanta — Be-
schneidungsnovize), die als Jagdzauber verwendet wird und unbedingt erfordert, daß
die Vorhaut eines Beschnittenen daran befestigt
wird. Der Jüngling aber, dem zu diesem Zwecke
die Vorhaut gestohlen wurde, magert ab und
stirbt. Auch die Tsokwe haben diese Figuren zum
gleichen Zweck, „kanyungi“ genannt. Eine Küche
wird nicht errichtet. Das Buschlager entspricht
dem der Tsokwe völlig, aber es heißt wie bei den
Mbundu „mwamba“, während die Lutsaze, ihr
Brudervolk, wie die Tsokwe und Luena, „mukanda“
sagen. Drei bis vier Monate bleiben die Knaben
im Lager. Der Doktor, der die Operation ausführt,
heißt „tsiluwe“; dem „mwima“ entspricht der
„telo“, ein musöle-Baum. „Milingi“ heißen die
Kalebassen des tsiluwe; sie entsprechen der ,,kumba ya nganga-mukanda“, Während die
Spreizstäbe für die Genesenden (yihango) fehlen, kennen die Luimbi die „ngo“, die Penis-
halter ebenfalls; sie heißen hier „tsikondo“. Die Lagergefährten sind die vilomböla (sing,
tsi—). Das Herauskommen aus dem Lager vollzieht sich wie bei den Tsokwe. Die Bast-
schürze wird ,,dzombo ya tundanda“ und der Hut der Entlassenen (s. Abb, 38) „tsikuko
tsa tundanta“ genannt. Auch ein Sonnengesang wie bei den Tsokwe ist vorhanden; man
singt ihn jeden Morgen:
tsikwekwe, e ya — ye we yoliye; yoliye
Vogel, mein Bruder (Die Sonne) geht jetzt (fort)
tangwa hinahiti kwakwo kangombe;1 yoliye
Sonne geht auf die andere Seite Nach Westen geht sie.
Abb. 38. „täikuko täa tundanta“. Hut der
Beschnittenen. Luimbi.
Eine ganze Reihe von Masken „makisi“ (sing, likisi) finden bei den Beschneidungs-
feiern Verwendung. Es wurden mir folgende Namen genannt:
1. lihuita: die erste und bedeutsamste Maske; er ist der ,,liwene lia mukanda“,
der ,,Herr des Mukanda“. Ihm entspricht etwa der Ngondo der Tsokwe.
2. mulawa: ,,der sehr Schwarze.“
3. nyawaya:: eine alte Frau. Im Tsokweland soll dieser Maske die von mir nie an-
getroffene „nayozwa“ entsprechen.
4. kwali: eine junge Frau. Entspricht der „mwana-pwo“.
1 „Kangombe“ ist ein Ausdruck für Bihemann (Mbundu).
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TgOKWE
39
5. ngombe: eine Hörnermaske mit rhombischem Gesicht; ein Ochse. Das Bild dieser
Maske sieht man auf vielen Hauswänden gemalt. Sie
soll auch den Mbundu bekannt sein; sie stammt vielleicht
aus Bihe.
6. lipumpu: ein für die Fruchtbarkeit der Frauen bedeutsamer
Dämon, wohl dem Tsikusa der Tsokwe entsprechend. Sein
Idol, ein Pfahl mit einem eingeschnitzten Parallelogramm-
gesicht (weiß-rot bemalt), befindet sich in der Sammlung.
7. ntenda: diese Maske zeichnet sich durch ihr großflächiges Ge-
sicht aus und entspricht der tsipupu-Maske der.,,Minungo“ ngombe,“ einer”„Ochsen-
und Luena. Zu den JLuimbi kam sie von den Lutsaze. maske“ anderWandeines
Außerdem befinden sich in unserer Sammlung noch drei Masken, Hauses von Kambongo.
j . , w, 1 Luimbi.
von denen zwei demselben Typus angehören.
8. tsiliata: mit dem für die Luimbimasken typischen Gesicht, y
Das Material ist ebenfalls Rindenstoff über einem Rutengestell wie bei den
Tsokwe. Das Schädelteil ist mit einer Anzahl kleiner Felle bedeckt. Die
Tätowierung ist durch aufgeklebte Stoffstreifen markiert. Das Anzugsstück
ist aus demselben Material und in derselben Technik gearbeitet.
9. mpundu: ähnlich dem „tsiheu“ der Tsokwe und verwandt mit der tsiliata“. Ein
Fellkranz umgibt als Bart die Maske oder bildet das Kopfhaar (s. Abb. 32 e, f).
Anzug wie bei 8.
Bemerkungen zur „vergleichenden Tabelle“ S. 4off.
Zu 1: Als Mittel der Buschzeit bei allen zum Vergleich herangezogenen Völkern können
vier Monate angesehen werden. Die Bezeichnung „mukanda“, sowohl für den ganzen
Komplex der Beschneidungsfeiern, als auch für das Buschlager allein ist verbreitet bei:
Tsokwe, Lutsaze, Luena, Lunda, Mambunda, Bayaka, Musuku, Baluba-Samba. Das
„nkanda“ der Bakuba1 ist eine Jünglingsweihe ohne die — verlorengegangene — Be-
schneidung. Mbundu, Luimbi, Ngangela — also der ältere Feldbauerblock im S. W. —
verwenden mwamba oder mawamba.
Zu 2: Im ganzen S. W. Becken des Kongo werden die Knaben in den Jahren kurz vor
Erreichung der Pubertät im Busch beschnitten. Das Durchschnittsalter ist 10 Jahre.
Die Einheitlichkeit der Bezeichnung „tundanzi, tundansi, atwindanji usw. über das ganze
Gebiet — ausgenommen die Lubavölker—, ist erwiesen; auch die Sitte des Nacktgehens
im Buschlager und das Tragen eines Tanzröckchens (zombo, nkambi, camba, mafuti) aus
Bast- oder Blattfasern ist allgemein verbreitet.
Zu 3 : Überall leitet ein Tanzfest die eigentliche Beschneidung ein; bei Tsokwe, Lunda
und Luena kündigt die Maske das Fest an oder holt die Beschnittenen zum Operationsplatz.
Symbolische Riten, die Winthuis2 sexualsymbolisch erklären will.
Zu 4: Die magische Stärkung der Novizen durch Blätterabsud (Tsokwe-Bayaka)
oder weiße Erde (Luena), die Anbringung von Schutzmitteln und Medizinen gegen böse
Zauberer (nganga, ndoki), sowie die Haarschur sind wichtige vorbeugende Handlungen.
Auch das ,,Auf-den-Schultern-Tragen“ der Novizen zum und vom Mukanda ist sicher
eine magische Vorsichtsmaßregel, um den Hexen die iußspuren der Novizen zu ver-
bergen. (Lunda, Baluba-Samba, Luena). Mit dem Ahnenkult stehen besonders die
Luenazeremonien in Verbindung.
1 Torday: Les Bushongo. Brüssel 1911. S. 27, 33, 82 ff. 2 Winthuis; Einführung in die Vorstellungswelt primitiver
Völker. Leipzig 1931. S. 51 ff.
40
HERMANN BAUMANN
I
2
Tschokwe
Dauer und Name der
Buschweihe
4—12 Monate; mukanda 8
(Kukanda = verbieten)
auch Lutsaze u. Luena.
Anfangsfest: „tsisela“
a) Alter, b) Name
—14 Jahre; tsilima
beschn. )
tundandzi (beschn.)
Novizen
(un-
a)
b)
a) Kleidung,
b) Entstehungs-Mythe
meist nackt. Nur bei
Tanz Faserrock (zombo)
Tundandzi in der Urzeit
in Paviane verwandelt.
Lunda.
I. Melland1 2
II. Carvalho3
Luena4
(u. Luunda)
In Trockenzeit; mukanda
1 Monat; cata mugongue
Busehhütte: mukanda
2—8 Monate; mukanda
(Buschlager) (Kukanda
= lehren, drillen, strafen)
10—13; erster Knabe heißt:
kambanzhi; 2. heißt:
kasalantanda.
7-8;
atwindanji
b) Rationale Erklärungen
d. Beschneidung; Kind
durch Gras, Jäger durch
Dorn beschnitten
a) nackt bis Schlußfest, nur
bei Tanz Faserrock
„nkambi“
Luimbi5
Ngangola6
3—4 Monate; mwamba: tundanta (sg. ka-)
Buschlager (Auch
Mbundu) Anfangsfest :
„liwenga“
mawamba (sg. liwamba) 6—12; tundanda (ka-)
= Buschhütten
a) meist nackt. Faserröck-
chcn aus Rindenstreifen.
Mambunda7
mukanda
Bakongo8
I. v. San Salvador
II. v. Ngombe-lutete
III. v. Zombo
5 Monate (Trockenzeit) vela 8—12;
(je nach dem Doktor
vela eseka od. v. lubwiku)
Die Sitte ist verfallen. Nicht allgemein und wenn, dann manchmal im Kindesalter
sind bemerkenswert. Masken treten im Lager auf.
1 Jahr.
Bayaka9
1—3 Jahre; mukanda
(nkanda)
a) 12—15;
b) kandansi (tu-)
kandanti (tu-)
a) meist nackt; zum Tanz
die ,,mafuti“-Röckchen
aus einer Liane, aus
Palmblättern oder Kaut-
schukwurzeln.
Musuku10
3—4 Monate;
„mukunda“
a)
7—16;
a) nackt.
Baluba- Samba11
einige Monate; mungula
u. mukanda
4—7; selten älter, dann bis
16; tuwiko
a) Palmblattgürtel ,,camba‘‘
Baluba-Hemba12
7—8; bakilombwe.
1 In der Hauptsache nach eigenen Beobachtungen (s. Text). Die eingeklammerten Stellen [] nach Holdredge
und Young. American Anthropologist Bd. 29. Heft 4. 1927. S. 661—669.
2 Melland: In Witchbound-Afrika. London 1923 S. 54—56.
3 Carvalho: Ethnographia e historia tradicional dos povos da Lunda. Lisboa 1890. S. 447 f.
4 Delille: Anthropos XXV. 1930. S. 851—858.
5 Nach eigenen Beobachtungen.
6 Mit der freundlichen Genehmigung Prof. Dr. A. Schachtzabels dessen handschriftlichen Aufzeichnungen
entnommen.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
4r
3 4 ( 5
Vorbereitung zur Weihe Riten vor Bcschncidung Masken a) Verfertiger, b) Träger c) Name, d) Material
[Einladen des Besuches. Honigbierbereitung. Mu- kisch kündet au] [Alte Frau gießt Blätter- absnd auf Kandidaten.] Haarschur. Rituelles Ab- schneiden eines Haar- büschels. a) Netzgewand: Tundandzi Masken-Köpfe: männ- liche Verwandte b) Schon Beschnittene. c) mnkisi (pl. a-) d) Maske aus Holz oder Harz u. Rindenstoff; Ge- wand : Rindenstoffschnur od. Baumwollschnur.
Mehrere Dörfer wählen ei- nen Alten als Wächter des Mukanda. Makischi künden an; siebe- gleiten Novizen in Busch. Viele Masken aus Angola importiert. c) ikishi (pl. ma-)
Tanz mit Trommelbeglei- tung. Maske tritt auf. Sie geht dann mit den Dok- toren in Busch und wird dort als „Katotoji“ ge- weiht. Erst dann holt sie Knaben in Busch; diese werden auf Rücken getra- gen (s.4: Baluba-Samba) Alte Frau nimmt Kandi- daten zu Ahnenpfählen (nyombu oder akisi) Bittet dort zu Ahnen für Knaben. Bläst Pemba tiberKnaben; Einweihung der Maske und Übergabe der Zaubermittel an sie. b) Mann, der eingeweiht wird. c) „Katotoji“ (von Dorf- namen abgeleitet) d) Nach Photo offenbar aus Rindenstoff u. Harz (wie „yipupa“ der Slg.)
Bereiten Mais-Maniokbier. Einladung. Das Fest li- wrenga dauert ganze Nacht. c) likisi (pl. ma-) d) ansllarz undRindenstoff.
Soba bestimmt Fest Kandidaten nehmen in sei- nem Gehöft die Wünsche für gute Operation durch Hauptfrau des Soba ent- gegen. a) Die früher Beschnittenen b) In früheren Jahren Be- schnittene c) Kangandhi (tu-) d) Baumrindenstoff.
c) makischi
manchmal mit 8'—12, manchmal erst mit 20 Jahren. Einige Heilmethoden (Dampfbad über heiße Bohnen)
Besuche in anderen Dörfern. Erpressen von Frauen
1) Novizen pflanzen 8 Tage
vorher hl. Baum des
Mukanda (,,mvuma“)im
Dorf.
2) Sie wählen einen Baum
durch Einschießen eines
Pfeils, bringen ihn vor
Haus der Köchin und be-
nutzen ihn als Trommel.
3) Abends Tanz u. obseöne
Gesänge.
4) Morgens: Anbringung d.
Zaubermittel.
1) Doktor bestreicht Novize
mit Blattabsud.
2) Neue Kleider. Kopf ra-
siert.
3) Speise (aus Maniok) mit
Zaubermitteln vermischt
4) Ermahnungen.
5) Zwischen Beinen der Ge-
fährten durchkriechen.
a) der nkalaweni, ein be-
zahlter Maskenkünstler.
b) die tundansi tragen vor
allem die typischen
Spitzmasken aus Gewebe
im Westen, im Osten
auch einige Holzmasken;
der isidika-Zauberer
trägt nur Holzmaske,
1. nkisi. Einzelne Arten:
, ans Gcwc-
„ndemba“ beteil mit
„mbala“ ' Holzaufsatz
„mbawa“ oder Holz-
' gesicht.
2. Doktormasken:
kakunga = çf
kazeba = Q
schwarz
rot, weiß
bemalt ;
nur aus
Holz.
Eltern setzen Zeit fest.
Vorbereitungen für das
Essen. Benachrichtigung
d. Nachbarn. Tanz u. Ge-
sang während Nacht un-
ter Leitung des kaimba
(s. 15e.)
Hintragen der Kinder zum
Beschneidcplatz auf den
Schultern (s. 3 : Luena)
b) nach Beschneidung kann
jeder Novize gegen Ende
der Buschzeit mit der
Katotoshi-Maske ins
Dorf gehen.
„katotoshi“. Kopfmaske;
am Körper Blätter u.
Rindenbast.
7 Frobenius: Erythraa. Berlin 1931.
8 Weeks: Among the primitive Bakongo. London 1914. S. 172ff.
9 Plancc|uaert : Les sociétées secrètes des Bayaka. Louvain. 1930. S. 56ff.
10 Diniz: Populaçôes indigenas de Angola. Coimbra 1918. S. 193f.
11 O. Nennen: La circoncision chez les Samba. „Congo“. 1927. II. S. 368ff.
12 Vandermeiren in Revue Congolaise. II. S. 70—72.
6 Baessler-Archiv.
42
HERMANN BAUMANN
5 Masken e) Aufbewahrung f) Kult. Bedeutung 6 Operation a) Zeit und Ort , ™ n ... b)Verhaltend.Kandidaten) c) Chirurgie, d) Gerat
Tschokwe e) in besonderen Masken- galcrien f) verkörperte Ahnen; 4—5 Mukandamasken; andere profan; teilweise phallisch a) 2.—8. Tag; gerodeter Buschplatz ,,mufwilo“ b) Angstlied; Lärm zum Üb ertönen des Schreiens. Große Angst vor Masken. c) Bfacher Schnitt: ILängs- u. 2 Querschnitte. d) Kleines Messerchen mit geschnitztem Griff.
Lunda I. Melland II. Carvalho Luena (u. Luunda) f) I. Für Frauen u. Kinder sind makisi zugleich akisi, d. h. Geister der Toten, die aus einer Erdhöhle kommen. a) I. zu Anfang der Busch- zeit II. zu Ende der Buschzeit(!) a) zu Anfang der Buschzeit. b) Schreien durch Trom- meln übertönt. d) I. kleines Spczialmesser ähnl. gewöhnl. II. Abschneiden des Präpu- tiums. c) Stückchen um Stückchen des Restes nach erster Abtrennung wird abge- tragen.
Luimbi a) zu Anfang d. Buschzeit (2. Tag). Buschplatz: „halusumba“ c) Nach Beschmieren mit ngula. Rundschnitt, oben Längsschnitt dann unten ebenfalls; schmerzhafter als bei den Tsokwe
Ngangela f) Die kangandhi kommen in Lager. (Ritus s. unter 13)” Abnehmen der Mas- ken, sodaßN ovizen sehen, daß es Menschen, nicht Totengeister, wie allge- mein geglaubt wird, sind. b) Frischbeschnittene tan- zen sofort nach Opera- tion. Werfen Huhn in die Luft.
Mambnnda f) phallische Bedeutung.
Bakongo I. v. San Saldavor a) im vela.
Bayaka f) Kult. Bedeutung ver- loren gegangen, werden nur hei Schautänzen von Novizen gebraucht. a) zu Beginn. Vor einem „ndembi“-Vorhang am Platz des Fetischs ,,sin- du“, beim ersten Kandi- daten. Andere Knaben hinter Hütte. b) Furcht wird durch Er- zählung, daß der zuerst Beschnittene gestorben sei, gesteigert. c) Vorziehen der Vorhaut; Abschneiden mit mehre- ren Schnitten. d) Messer heißt „samba“ oder „yemba“.
Musuku b) während Operation regt die Alte die Knaben durch zotige Lieder auf.
Balnba- Samba Baluba-Hemba f) Die Maske wird von den respektvoll entfernt stehenden Frauen als „cambo kikundula“ = ,, Großvater kikundula“ bezeichnet. a) Abseits im Busch-Lager. Zu Anfang. b) Sänger übertönen Ge- schrei. d) mit Messer.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
43
6 7 8
Operation Operateur Buschschule (Lehrplatz)
e) Blut, f) Präputium a) Wer ? b) Gebote a) Anlage, b) Schlafstelle c) Ort, d) Verschiedene
e) in Teriniicnstein auf- gefangen. Gestillt mit Mehl. f) versteckt im Busch. Un- geratener Junge erhält Vorhaut zu essen; dann Verlust der Zeugungs- kraft. a) Ein „nganga mnkanda“ (nicht offiz. Doktor) b) Hahn als Speise. Nach Beschneidung Verbot des Betretens des Lagers. Kein Geschlechtsverkehr während ganzer Busch- zeit. a) Runde Einfriedigung aus Astwerk. Maskenställe. Regenschuppen. b) yikalakala-Käfige für Novizen und ihre Be- gleiter. a) I. Blatteinfriedigungen c) etwas abseits vom Dorf im Busch. d) Pißbaum, Tanzplatz vor Kraal. c) I. im Busch
a) II. Der Anganga a) II. „Hütte abseits“ c) II. Abseits.
e) in Termitenstein auf- gefangen. Novizen sitzen auf Klotz. f) sorgfältig gesammelt. Nach Operation bestrei- chen die Novizen sich da- mit Brust, damit sie Ge- heimnis vor Frauen hüten. f) Vorhaut in Fluß geworfen Man kann sie als Jagd- zauber stehlen; Jüngling magert dann ab. a) „Mbimbi“-Doktoren so- viel wie Novizen. Mit ihrem Oberhaupt „nka- rawanda“ b) Kein Geschlechtsverkehr; Verbot des Waschens, Nägelschneidens, be- stimmter Speisen, Haare- schneidens für das Ober- haupt nkarawanda a) tsilüwe = nganga-Muk. der Tsokwe a) Runde Einfriedigung aus Astwerk b) yikangala-Käfige wie Tsokwe c) Erste Nacht nach Be- schneidung im Freien. Dann Bau der Hütte im Busch. d) Öffnung „ndambi“, durch die Breireste ge- worfen werden.
e) in Grube vor ihnen f) Vorhaut in die Grube a) tsilue a) Lager mit kegelförmigen, laubgedeckten Hütten (mawamba). In jeder wohnen 2—3 Kandidaten. ca. 400—500 m vom Dorf entfernt, im Busch.
„nganga“ sucht Platz aus; Beschneidungspriester selbst heißt „chifumba“ a) viereckige Pfahleinfrie- digung; in der Mitte Wohnhütte d. Novizen (Nordtor für Besucher) c) im Busch
f) Vorhäute einfach be- stattet. Doktor vom lubwiku und eseka-Grad. a) großes Hans oder Lager c) Zwischen einer Dörfer- gruppe auf einem Hügel, nahe Fluß.
e) Blätter, „nkula“ oder heißer Sand zum Auf- fangen. f) Isidika verwendet Vor- haut zu Zaubermitteln oder begräbt sie hinter ,,nzofo“. Dann ein Holz- bündel „Kongolo“ (= Re- genbogen) daraufgelegt. a) isidika: Medizinmann des mukanda. itapa: Operateur. a) zwei Giebeldachhäuser ,,nzofo“ u. „katoto“. Weg mit drei Trennwän- den aus Fransenbehang führt zu beiden. b) Schlafstellen in den Häu- sern c) Busch.
Hütte im Wald.
„ngongo“ b) Schlafen im Freien. Bei Regen kleine Hütten. c) im Busch d) am Zugang stehen soviel Pfähle als Novizen im Lager sind.
„ntambo“ = Löwe, hat eigene Hütte Sein Gehilfe: „Kimungu“ = Hyäne; dieser holt Novizen ab a) Strohhütte „kutiba mi- tanda“ b) nicht auf Matten, nur auf Blättern Abseits am Fluß.
6*
Küche u. Koch
Tschokwe
Lunda
I. Melland
II. Carvalho
Luena
(u. Luanda)
Luimbi
Ngangela
Mambunda
Bakongo
I. v. San Salda vol-
li. v. Zombo
Bayaka
Musuku
Baluba- Samba
Küche: tsifwa. Zwischen
Dorf u. Mukanda. Ähnl.
Kraal wie Mukanda
Köchin: alte unfruchtbare
Frau kocht hier für
Beschnittene. Yilombola
bringen das Essen von
Küche nach Lager
Nahrung von Frauen ge-
kocht stellen sie an Platz,
wo (f sie abholen
II. Der anganga besorgt
Nahrung
10
Heiligtümer
a) Abwehrzauber I b) Medizin, c) Abzeichen
a) OO Ringe aus Stroh, Ab-1 b) ,,kumba“; Tasche mit
wehr gegen böse Geister Medizinen für Novizen
j und Beschneidungsgerät
c) „mwima“; Gabelast mit Hahnenkopf. (Zeichen des
Operateurs.) „mboma“: Torbogen mit den geopferten
Breibrocken und der Medizintasche.
b) Ein Lokalheilmittel, das
die Maske trägt.
Keine Küche errichtet
Gehilfen besorgen Essen
Mütter u. Verwandte sorgen
für Nahrung.
ifika: Köchin.
Nahrung von Wärtern ab-
geholt.
a) Yitombo ya mukanda.
Ein Öl zum Bestreichen
gegen die Alozi (böse
Geister)
c) ,,mbungu“: Torbogen u. daran die Grasringe, gegen
die,,alozi“. „chilunducha mukanda“ ist ein „Zeichen“,
das als Stock oder Stein an Kreuzweg steht. Man
darf nicht darauf treten. Ebenfalls darf man nicht
über ,,wutu“ Aschenhaufen treten.
b) „milingi“ = Kalebassen
des Doktors.
c) dem mwima der Tsokwe entspricht „telo“, der
mnsole-Banm.
c) In der Hütte steht ein dem mujombo (Ahnenbaum)
der Könige entsprechender Pfahl „mudjongoro“ ge-
nannt.
Der ,,eseka“-Doktor hat keinerlei Fetische im Lager.
Nur Operation. Beim ,,lubwiku“-Doktor viel Zauberei.
a) „sindu“-Fetisch und b) Hauptmedizin des mu-
Sandstein gegen die ban- kanda ist „iknbu“. Ent-
doki auf den Zugang hält rote und weiße Erde,
gestellt. sowie die ungebrochenen
Knochen vom Opferhuhn
des vorigen Mukanda.
c) hlg. Baum „mwuma“ im Dorf. ,,Katunga“: ein
Pfahl mit Strohbekleidung als Abwehrzauber. Kro-
kodilbilder aus Sand.
2 Frauen u. deren Töchter
sorgen für Nahrung. Sie
bringen sie bis an die
Grenze des Camps.
b) ,,ngongo“ ; 2 Kalebassen
mit Stärkungsmedizin
und mit dem Beschnei-
dungsmesser.
Baluba-Hemba
11
Gehilfen
Riten und Gebote
a) Essen, b) Schlafen u. a. c) Waschen, d) Frauen
tsiloinbola (yi-)
Jeder kandandzi hat seinen
tsil. der ihn betreut.
ilombosi
chilombola
Jeder hat seinen chih, der
Nahrung bringt, heilt,
lehrt. Er hat dieselben
Verbote, wie der Nkara-
wanda
a) in Sitzstellung. Nur auf
Blättern od. Zweigtellern.
Zurückwerfen von Halm
bei Essen u. Aufbewahren
von Breibrocken, (s. 16c)
b) in den Käfigen angebun-
den
c) Gebot der Unreinlichkeit Züchtigungen,
d) Frauen dürfen nicht
Nähe der Lager kommen.
Warnlied.
s. 15a.
d) Frauen streng ferngehal-
ten
tsiloinbola (pi. vi-)
Ein männl. Verwandter, der
Essen bringt u. dauernd
hilft. Er darf nicht in
Dorf zurück (geschlechtl.
Enthaltsamkeit); ist
auch Lehrer.
tulombusi (ka-); die schon
initiierten Gefährten.
a) nicht sprechen bei Essen.
Hinauswerfen von Brei
ans Mukanda.
b) in Käfigen schlafen.
Nicht untergehende
Sonne ansehen, nicht
, ,ndua “ - V ogel ansehen u.
hören (Ohren zustopfen),
nicht auf ,,wutu“ und
„chilundu“ treten (s. 10)
b) Anbinden von Händen u.
Füßen an je einen Pfahl,
Rückenlage.
d) Nicht Frauen ansehen.
d) Warnpfeifen bei Aus-
gang. Frauen dürfen
Lager nicht betreten. Des-
gleichen keine Männer,
die geschlechtlich Um-
gang mit Frauen haben.
b) Feuer darf nie ausgehen,
kein Streit, keine Flinte,
kein Messer im Lager.
d) Frauen ferngehalten
d) Keinerlei Frauen sehen.
a) nicht essen außerhalb des |c^) Keine Frauen sehen.
Lagers
b) nicht sprechen außerhalb i
Die Maskenträger ,,tun-
gandhi“ stehen in einer
Reihe mit gespreizten
Beinen, durch die die
Novizen kriechen müssen.
Sie werden mit Ruten
geschlagen(kurz vor Ent-
lassung).
►
Auferlegung von Geboten
(„bizila“)
Nur die Alte, die bei Opera-
tion u. Heilung hilft.
„Kijika“ hilft bis zur Hei-
lung, holt Nahrung ab.
Jeder hat schon beschnitte-
ne Helfer.
d) Strenges Geheimhalte-
gebot, sonst Impotenz
als Strafe. Keine Frauen
dürfen Novizen sehen,
sonst Lepra und Impo-
tenz
d) Dürfen nicht gesehen
werden
c) Nach Heilung Verbot des
Waschens
d) Schweigegebot gegenüber
Frauen
Grausame Proben; z. Bei-
spiel Pfeffer in die Augen
46
HERMANN BAUMANN
>14 15
Genesung- Lehren und Pflichten
median, u. pflanzl. Hilfsm. Verlauf u. Dauer a) Opfer, b) Sprache
Tschokwe Beinspreizer: tsihango Penisgabel: ngo Mückenwedel: mafuka Heilmittel vom mulengo — musakalala — mukolo — mbowelia — mitomato- ma mufungo. (Bäume, Sträucher). Aufenthalt im tsikalakala (1 Monat) Gefährte be- traut ihn. Dann Selbst- behandlung. a) Hühner (mit Holzmes- sern getötet) Breibrocken bei Essen b) Geheimsprache vorhan- den ; aber nur noch selten. Namenwechsel
Lunda I. Melland Zwei Monate Heilung; dann erst Tanz. a) Morgens werfen Novizen Breibrocken mit Herd- asche nach 0., abends nach W. Um Lepra ab- zuwehren.
II. Carvalho b) II. Namenwechsel
Luena (u. Luanda) Abwaschen; Ein wickeln in Blatt; Hochbinden des Penis neuer Verband u. Bestrei- chen mit Salbe aus ,,mafalabela“ „katuna“ „ikondi“ (Banane)
Luimbi Keine Beinspreizer, aber Pcnishalter: „tsikondo“
Ngangela Kein Verband. Wenn Blu- tung nicht aufhört, wird pulverisierte Wurzel auf- gestreut. 2—8 Monate
Mambunda
Bakongo I. v. San Salvador Tägliches Waschen. Namenwechsel
Bayaka Holzstäbchcn als Suspen- sorium. Abwaschen der Schmutzkruste auf Wun- de im Bad. Dann Ein- reiben mit „tsengo“- Blätterabsud und weißer Erde. 10 Tage bis 1 Monat a) Isidika opfert Hahn. Un- gebrochene Knochen werden gesammelt b) Geheimsprache; Namens- wechsel
Musuku Baluba-Samba Baluba-Hemba Wunde mit warmemWasser gewaschen, dann Heil- kräuter darauf. Heilwur- zeln: „lumanji und lupo- po“ Paste aus Wespenerde „ndoba“ auf Wunde; 3 X täglich im Fluß ge- waschen u. mit dem roten Baumsaft „mu- tumba“ beschmiert. Zwischen 14 Tagen u. 2 Monaten.
Lehren und Pflichten
c) Belehrungen
d) Arbeiten
e) Tanz, f) Kapelle
c) Sexuelle Aufklärung und
gesellschaftliche Regeln.
Tanz.
d) Jagd, Anfertigung der
Netzanzüge f. Masken
e) Tänze (wino) und mi
mische Vorführung, er
lernt für Schlußfest.
f) Bechertrommeln. Rasseln
Vor Mukanda.
e) Tänze „um Geister sich
geneigt zu machen“.
e) Tanz (Bauch- u. Hüft-
drehungen) erlernt, wird
dann beim Schlußfest
vorgeführt.
Keine Arbeit. Nur Klein-
tierjagd.
e) Tänze erlernt.
f) Schlitztrommeln (min-
gonke), die nur für
tundanda Verwendung
finden.
c) Erlernen der Tänze
d) Jagd, Arbeiten für andere
c) Zotenlieder, von alter
Frau gelehrt.
Arbeit u. Jagden erst nach
Heilung. Übersendung
des ersten Jagderfolgs an
„ngongo“
Ein Sangesmeister: kaimba
Ein Trommlermeister:
ngomba
a) Darbringung der Frucht
barkeitspuppc beim
Schlußfesttanz.
b) Masken = Verkörpcrun
von Ahnen, die mit Stim-
men der Toten sprechen
undderenNamentragen.
b) Makishi (Masken) =
Akisi (Geister). Die Mas-
ken kamen aus Erdloch,
tragen Namen verstorbe-
ner guter Operateure
Mukanda steht unter
Aufsicht der ,,family-
spirits “
a) Bestreichen mit einem
Fett für Fruchtbarkeit
(Doktoren). Bespucken
der atwindanji vor und
nach Essen mit Blatt-
absud, damit sie Kinder
erhalten.
b) Masken=Geister der Ver-
storbenen (imGlauben der
Nichteingeweihten)
a) Darstellung des Ge-
schlechtsaktes mit
Phallustanz am Schluß-
fest.
b) Ahnen treten hier zu-
rück, da ,,ngongi“-Kult
alles Ahnenkultliche ab-
sorbiert. Man glaubt an
Zusammenhang m. höch-
stem Gott,
a) Beschneidung stets als
Mittel zur Erhöhung der
Fruchtbarkeit erkannt.
a) Zotige Lieder der Alten
bei der Operation. Singt
von kommender Ge-
schlechtslust.
b) Maske wird als „Groß-
vater kikundula“ be-
zeichnet.
c) Anrufe und Brei-Opfer
an Sonne, morgens gen O.
abends gen W. (kangere
weze u. kangere waye)
„umLepra abzuwehren“.
c) Die Doktoren tragen die
roten Federn des ndua-
Vogels. Morgens Sonnen-
anruf mit Gesicht nach
W.; abends mit Gesicht
nach O. Stäbchen rück-
wärtswerfen.
d) Lied von Regenbogen
und Regen tägl. 2x vor
Aschenhaufen.
c) Sonnengesänge
c) Novizen dürfen während
3 Tagen oder auch wäh-
rend ganzer Zeit Abend-
stern (gongonosi) nicht
ansehn.
c) Hahn opfer. Wartung
eines Paars von Hahn u.
Huhn, die von aller Nah-
rung der Kandidaten zu-
erst erhalten.
Sonnenaufgangsgesang in
einbeiniger Stellung.
c) Jeden Morgen und Abend
Besingen der Sonne im
Chor durch Novizen.
c) Sonnenlieder beim Auf-
u. Untergang. Beginn
des Tages mit erstem
Hahnenschrei.
48
HERMANN BAUMANN
16 Religiöse Bedeutung e) Buschgeist f) ritueller Tod a) Entlassungsfest 17 Schlußfeiern b) Bezahlung c) Reinigung d) Erneuerung
Tschokwe e) ndumba-mwela, das Schwirrholz( ?) (Löwe) f) Kusiha = töten, beschnei- den Mimus von den sterben- den und wiederanfer- stehenden Knaben a) Ritueller Umgang um Dorf. Eine Nacht im Freien. Rot-weiß bemalt. Strohhüte. Vorführung von Tänzen, Liedern u. Pantomimen. b) Bezahlung an Doktor u. Gefährten. Rituelles Auf- legen von Geschenken auf Kopf des Knaben c) Wegwerfen der Fest- tracht in Fluß. Verbren- nen der Masken. d) Neu salben; neue Kleider, Koitusprobe mit einer Verwandten des Vaters
Lunda Holland f) Bei Herauskommen mit „mpemba“ weiß bemalt. a) Auf Schultern getragen; mit ,,mpemba“ weiß be- malt und mit Blättern geschmückt. Großes Fest. d) Nie mehr mit weiblichen Verwandten zusammen wohnen in besonderen Hütten
Luena (u. Luunda) e) Maske Katotoji mit Me- dizin ist offenbar Rest der Buschgeistvorstellung. a) An Neumondabend mit Faserrock. Großes Gelage nachts. c) Bastschürzen in Fluß ver- senkt
Luimbi ,,Herauskomm en“ bei den Luimbi wie be i den Tsokwe
Ngangela a) Maßnehmen an Kopf für den tschiknko(Bast-Hut), der bei den Feiern ge- tragen wird. Dazu Rin- denstoffschurz (hina) mit weißer Erde bemalt ge- schnitzter Stock. Aber erst nach 6 Monaten Tanz. b) Bezahlung auf eigentl. Schlußfest (Nach 6 Mo- naten) u. Geschenke an Knaben Schlußfest nach 6 Monaten im Dorf mit Maskentanz. Weiber sehen aus der Ferne zu. e) Verbrennen der Masken. Nächstes Mal darf Novize Maske tragen
Mambunda Bakongo I. v. San Salvador a) Stägige Schlußfeicr mit Auftreten der Makischi: IMann- u. 1 Frauenmaske Die männliche Maske tanzt mit großem, künstl. Phallus. Alle verlassen ,,vela“ zu- sammen. Im Dorf großes Fest. Tanz. 5 Perlenstränge für Opera- tion. Wenn Hütte verbrennt, wird lubwiku-Doktor an Pfo- sten gebunden. Aber mit Hilfe seiner Medizin ent- kommt er.
Bayaka Nach den Schautänzen mit Masken in anderen Dör- fern: Auftreten des Dok- tors mit Maske. Tanz während ganzer Nacht. An die beiden Doktoren u. Köchin hohe Bezahlung in Kauris. Abbrennen des Buschlagers. Bad u. Reinigung. Ab- werfen derBaströckchen. Neu geölt u. rot bemalt. Bei einem Tanz mit Tiermasken werden Ge- bote gelöst. Aufgabe des Mukanda-Namens zu- gunsten des Erwachse- nen Namens.
Musuku Baluba-Samba a) Wegjagen der Frauen mit Pfeifen. Rückkehr in einer „especie de dominos com capuz“ aus Pflanzen- fasern. Dann Tänze und Gesänge. a) Novizen bleiben 1 Tag im Wald; erhalten dort Me- dizinen. „Kutomboka“- tanz der Novizen (mit Füßen stampfen). Nach Tanz erhält Doktor seine Bezahlung. Bei Tod eines Knaben fällt diese weg. c) Waschen; neugeschmückt reiten sie auf Schultern in Dorf. d) Verbrennen von Mukanda u. Palmblattgttrtcln
Baluba-Hemba e) Doktor heißt „ntambo“ = Löwe. Er brüllt vor Beschneidung wie ein Löwe „ruuu”. Man sagt: der Löwe frißt die Kinder, wenn er sie beschneidet. d) Verbrennen von Hütte u. von gebrauchten Stoffen.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BET DEN T§OKWE 49
Zu 5: Masken werden in den allermeisten Fällen in Verbindung mit dem Buschlager
verwendet. Die ahnenkultliche Bedeutung ist erwiesen bei Tsokwe, Lunda, Ngangela,
Baluba-Samba; phallische Elemente treten bei den Tsokwe und Mambunda zu Tage (Tanz-
pkalli!) Das Material der Maskenköpfe ist fast durchweg Rindenstoff und darauf geklebtes
Baumharz als modellierfähige Masse. Die Bemalung des Rindenstoffs — schwarz, rot, weiß
— wird vielfach durch Aufkleben oder Aufnähen von Papier- oder Stoffstreifen ersetzt,
bzw. ergänzt. Holzmasken verfertigen nur die Tsokwe (profan!) und Bayaka (religiös!
nur im Besitz des Doktors!); den größten Formenreichtum weisen die Tsokwe auf, danach
folgen die Bayaka, Luimbi und Ngangela, Weiter im Osten und am unteren Kongo werden
Masken schon vielfach für andere als Initiationszwecke verwendet. Die Herstellung der
Masken ist im allgemeinen Volkskunst und eine Angelegenheit der begabten Familien-
mitglieder; bei den Bayaka werden sie von einem speziellen Künstler „nkalaweni“ an-
gefertigt. Die Maskenanzüge aus dem Maschenwerk stellen sich, wenigstens bei den Tsokwe,
die Novizen selbst her. Hier gibt es auch die erwähnten Maskenhäuser, von denen sonst
nie die Rede ist. Wo Geheimbünde mit ahnenkultlicher Grundlage bestehen, verlieren die
Beschneidungsmasken schnell die manistische Bedeutung (z. B. bei den Bayaka und Ba-
luba). Uber die Bezeichnung wurde schon oben (S. 18) das Nötigste gesagt.
Zu 6: Die Operation wird überall gleich zu Beginn der Buschzeit ausgeführt. Die
Angst wird vielfach künstlich gesteigert durch Erzählungen vom Tod des Erstbeschnittenen
(Bayaka) oder durch die Masken (Tsokwe). Das Geschrei wird durch die Kapelle übertönt.
Bei den Musuku tritt eine geschlechtliche Erregung durch zotige Lieder einer Buschalten
hinzu. Das Operationsgerät ist überall ein kleines Messer vom gewöhnlichen Typ. Die
magischen Kräfte der abgetragenen Vorhaut werden durch Verstecken, In-den-Fluß-
werfen oder Begraben vor bösen Zauberern bewahrt und stellenweise als Zaubermittel
verwendet.
Zu 10; Die meisten Buschlager kennen ein Spezialzaubermittel zur Abwehr der bösen
Zauberkräfte von Hexen, das als ,,Zeichen“ oder als „Medizin“ auftreten kann. Der immer
wiederkehrende Pfahl als Abzeichen des Buschlagers („mwima“ der Tsokwe; „telo“ der
Luimbi; „mudjongoro“ der Mambunda; „mwuma“ der Bayaka) ist vielleicht nicht nur
der „Ahnenbaum“, wie der „muyombo“ auf den Ahnenkultplätzen, sondern auch ein
phallisches Symbol. Der aufgespießte Hahnenkopf unterstreicht diese Bedeutung.
Zu 11: Unter ganz ähnlichen Bezeichnungen treten überall schon beschnittene Jüng-
linge als Helfer auf. Das Wort „kilombola“ kehrt in diesem Zusammenhang sogar im S
bei den Mundombe (Magyar I, S. 23f, „Reisen in Südafrika“) wieder.
Zu 12: Unter den Geboten ist besonders der Zwang zur Unreinlichkeit und zur Meidung
weiblichen Einflusses erwähnenswert. Stellenweise übertragen sich diese Tabus auch auf
den Doktor und die Gefährten, wie bei den Luena und Tsokwe. Bei den ersteren ist das
Gebot, den Anblick der unter gehenden Sonne zu meiden, ein deutlich solares Moment,
denn weit über die Erde verbreitet ist der Glaube an die Verbindung der jungen Morgen-
sonne mit den Novizen der Beschneidung und Männerweihe. Auch der Ndu(w)a-Vogel,
dessen rote Federn, die im Buschlager eine große Rolle spielen, und den die Kandidaten bei
den Luena nicht sehen, noch hören dürfen, ist sicher ein Sonnentier.
Zu 13; Eigentliche Züchtigungen und Proben erfolgen nur bei den Ngangela und
Bayaka.
Zu 14, 15: Die Genesung dauert meist nur 1 bis 2 Monate. Hühneropfer und das
morgendliche und abendliche Opfern von Breiresten ist für Tsokwe und Lunda typisch.
Das Letztere ist klar und deutlich ein Opfer an die Sonne. Die Luena sagen, es wäre im
Gebrauch, um die Lepra abzuwehren. Die Sonne als Krankheitsbringer ist ja eine bekannte
mythologische Erscheinung. Hauptzweck der Buschschule ist das Erlernen der Tänze
7 Baessler-Archiv.
5o
HERMANN BAUMANN
und Gesänge, weniger der Umgangsformen und Lebensweisheiten. Ein Namenswechsel
zur Unterstreichung der Neugeburt wird überall vorgenommen.
Zu 16: Der Charakter der Beschneidungslager als Teil des Ahnenkults wird bei Tsokwe,
Lunda, Ngangela und Baluba-Hemba deutlich. Auch die sexuelle, phallische Bedeutung
einiger Riten (Phallustänze bei Tsokwe und Mambunda, magisches Fruchtbarmachen der
Novizen durch Bespucken mit Blättermedizin und Einfetten bei denLuena, und erotische
Gesänge bei den Musuku) steht vielleicht mit den den Kindersegen bestimmenden Ahnen
in Verbindung.
Ganz besonders wichtig erscheinen mir die überraschend weit verbreiteten solaren
Züge einiger Zeremonien. Ihre weite Verbreitung im SW Kongoland von den Bayaka über
Tsokwe, Lunda, Luena, Musuku, Luimbi bis zu den Baluba-Samba lassen die Vermutung
aufkommen, daß sie unbedingt mit dem Wesen des Buschlagers und der Beschneidung
Zusammenhängen. Wir hätten hier also wieder einen schönen Beweis für die enge Ver-
bindung von Solarkult und Beschneidung, die ja von Gräbner schon lange nachgewiesen
worden ist. Der Hahn als Verkünder der jungen Morgensonne spielt eine große Rolle,
desgl. der rotgefiederte ,,nduaa-Vogel. Deutliche Beziehungen zum Regenbogen sind bei
den Luena (Lied zweimal täglich) und Bayaka (Bedeckung der vergrabenen Vorhaut mit
einem kleinen Bündel Raphiarippen, deren jede einzelne einen Novizen darstellt, und
„kongolo“, d. i. ,,Regenbogen“, heißt, Plancquaert S. 81) fühlbar. Fraglos spielt hier die
Vorstellung von der Phallusschlange (= Regenbogen) hinein. Nur bei den Mambunda hat
Jensen-Frobenius die Beziehung zum Abendstern festgestellt als letzte Ausstrahlung des
südrhodesischen Venus-Komplex.
Zu 17: Die Schlußfeste ähneln sich sehr. Sie enden mit dem Verbrennen und Ver-
nichten des Gewandes der Buschzeit und mit der auch äußerlichen Erneuerung.
Die Tabelle soll nur die engen inneren Bezüge aller dieser westäquatorialen Männer-
weihen untereinander beweisen.
Das „zemba“.
Das ,,zemba“ ist eine Institution, die mir stets als mit den Knabenweihen in Zu-
sammenhang stehend geschildert wurde, dessen wahren und innerlichsten Sinn ich aber
trotz eifrigster Nachfragen nicht ergründen konnte. Vielleicht liegt hier tatsächlich nur
ein Sittenrelikt, der Rest einer ehemals vollständig lebendigen Einrichtung vor.
Auf dem Zugangsweg zum Dorf Makumbi, nördlich
des oberen Kasai, stieß ich zum erstenmal auf eine lange
Wand aus Knüppeln mit dichtem Strohbelag. Sie bildete
den Abschluß einer vom Weg abzweigenden, in den Hoch-
wald gerodeten Sackgasse. Etwa in der Mitte der Wand
befindet sich eine Öffnung, ein Tor, und links von diesem
ein kreisrundes, etwa 10 cm im Durchschnitt messendes
Loch in der Strohpallisade. Hinter dieser waren die
Spuren zweier Feuerbrände zu sehen. Die ganze Anlage
wurde mir als ,,zemba“ bezeichnet. Auf meine Frage nach
der Bedeutung, erhielt ich die Antwort, daß das ,,zemba“
eine besonders wichtige Nachweihe der Beschnittenen
wäre. Man war übereinstimmend der Meinung, daß erst
dann ein Mann wirklich voll und ganz Stammesgenosse
würde, wenn er die Riten des ,,zemba“ durchgemacht habe. Leider konnte ich nicht sehr
viel darüber erfahren. Die Jünglinge werden vor die Pforte geführt. Hinter der Wand
stehen viele Menschen. Die Novizen müssen ihre Hand durch das Loch in der Wand
Abb. 39. Bart der Knaben im Zemba
der Täokwe.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
51
stecken. Hinter der Wand — zu beiden Seiten der Türe — kauern zwei Männer. Der eine
von diesen erfaßt die durchgesteckten Arme der Novizen und zieht sie so lange, bis der
Knabe draußen zu jammern beginnt. Dann müssen die Novizen durch das Tor gehen
und werden von den dort sitzenden Männern mit Nadelstichen und Feuerbränden ge-
peinigt. Zwei große Feuer brennen hinter der Wand. Man nennt sie „kalunga“ (d. h.
„Gott“); „sie reichen bis zum Himmel.“ Streng untersagt ist das Hinüberschreiten von
einem Feuerplatz zum anderen.
Später traf ich noch einige Male diese Gestelle. Im Lundadorf Mwatsikwata im Osten
stand diese Strohwand mitten im Dorf. Es dürfte demnach erwiesen sein, daß auch die
Lunda die „zemba“- Sitte kennen.
Ein drittes Mal, schon am Ende unseres Aufenthaltes im Tsokweland, trafen wir in
Mwalilu amMombo ein anderes „zemba“. Es war ein ähnlicher, gerodeter, länglicher Platz,
Abb. 40. Zemba von Mwalilu. Tgokwe.
nahe dem Dorf. Ich erhielt einige weitere Nachrichten, allerdings auch von meinem der-
zeitigen Dolmetscher die Angabe, daß das „zemba“ nicht unbedingt mit der Mannbar-
keitsweihe zusammenhinge und lediglich „brincadeira“ (Spielzeug) für die Jungens sei.
Sie verbringen hier zwei Tage, um die letzten Weihezeremonien nach der Beschneidung
durchzumachen. Die Strohwand war ähnlich wie die am Kasai, hatte aber noch eine recht-
winklig angebaute Trennwand zwischen den beiden Feuerplätzen, die hier ebenfalls „ka-
lunga“ genannt wurden. Die Peinigungen wurden wir genau wie in Makumbi geschildert.
Sehr wichtig waren mir aber die neuen Berichte. Dem zemba steht der „samuzemba“
(„Vater im zemba“) vor; in Mwalilu war er zugleich Schmied, Drahtzieher und Tahi (Wahr-
sager). Er lehrt vor allem den Stelzenlauf, das Charakteristikum des „zemba“. Die Knaben
führen Tänze auf, mit eigenartigen Kronen aus Astwerk und Bastfransen; sie tanzen mit
künstlichen Bärten aus Baumbastfasern (wevu wa pungulu). Der Schutzdämon des zemba
ist „mbongo“, der Dorfwächter. Die Stelzen sind sein Abzeichen. Sie stehen — rot
und weiß bemalt — vor den Dorfeingängen, wo nicht die langen, pfahlartigen, roh
geschnitzten Figuren des „mbongo“ an ihre Stelle treten. Die Stelzen selbst heißen ebenfalls
„mbongo“. Es sind meist lange Baumstämme, deren eine Hälfte halbiert ist, so daß so
eine Stufe zur Aufnahme des Fußes gewonnen wird. Das Bein wird im übrigen an das
halbierte Stammteil festgebunden. Der „samuzemba“ von Mwalilu war so gönnerhaft, vor
der Filmkamera diesen Stelzenlauf auf den 2,5 m hohen Stelzen zu produzieren. Er mußte
7
52
HERMANN BAUMANN
erst einen Baum besteigen, um die Stelzen anschnallen zu können und ließ sich nach Be-
endigung der Vorführung — an den Asten eines Baumes festgeklammert — langsam zur
Erde sinken. Die Stelzen waren rot-weiß bemalt. Auf dem Kopf trug er einen aus drei-
strähnigem Rohrgeflecht bestehenden, zuckerhutartigen, hohen Hut; er ähnelte stark den
Korbfallen für Ratten und Mäuse und hatte zusammen mit den Stelzen den Zweck, die
ungeheuer große Statur der bis in die Wolken reichenden Dämons „mbongo“ zu ver-
anschaulichen.
Bei Melland: In witch-bound Africa, S. 176 finden wir eine sehr interessante Stelle,
wo ein Stelzentanzfest „mbong’i“ erwähnt wird. Sie bezieht sich auf die Alunda N. W.
Rhodesias. „Die akishi des m’bong’i sind keine wirklichen akishi, sondern „makishi“.
Bei wichtigen Todesfällen bevor der Nachfolger erwählt ist, wird bei Mondlicht eine Trommel
in den Wald getragen und getanzt. Ganz nackte Männer auf hohen Stelzen, weiß bemalt
von Kopf bis zu Fuß mit Kalk, huschen zwischen den Bäumen und Zweigen „wie die Geister
der Toten“ umher. Viele der mehr Abergläubischen und die Kinder fliehen vor Schreck
in das Dorf, trotz der Tatsache, daß die Zeremonie zum Vergnügen der Verstorbenen auf-
geführt wird. Heute werden die m’bong’i nur noch selten abgehalten.
Bei der Schilderung des Stelzenlaufs erinnern wir uns an den Bericht Schütts von
einem Stelzenlauf und einer damit verbundenen eigenartigen Toten-Erweckungsszene
(s. S. 3 if.). Ich habe nun die vielleicht gerechtfertigte Vermutung, daß wir es sowohl in
diesem Schauspiel wie in den ,,zemba“-Riten um einen möglicherweise fast vergessenen
Geheimkult, der mit der Ahnenschaft in Verbindung steht, handelt, denn wir besitzen
einen ausgezeichneten Bericht von dem Missionar Plancquaert über den Geheimbund „ngongi“
der Bayaka (Plancquaert: Les societees secretes des Bayaka Louvain 1930 S. 13ff.), der
geeignet ist, viel Licht auf die oben geschilderten Riten zu werfen. Der „ngongi“ entspricht
etwa dem „khimba“ in Mayombe und dem „kimpasi“ der Bakongo, teilweise auch dem
„ndembo“ desselben Volkes, aber auch den Geheimbünden der Warua-Baluba im südöstl.
Kongo. Bei den Lunda des Carvalho (Ethnographia, S. 448) tritt der „cata mugongue“ —
von ihm lediglich als Beschneidungsritus aufgefaßt — an die Seite des ngongi. (Die Frauen-
weihe der Lunda ,,cata quiwila“ entspricht dem Frauen-,,ngongi“ der Bayaka, „kiwila“
genannt.)
Wir haben gesehen, daß die makishi-akishi (Masken-Ahnen) der Alunda aus einem Erd-
loch kommen. Das Wort „ngongo“ bedeutet „Höhle, Grube“. An einer Grube findet die
Einweihung tatsächlich statt, und aus der Grube kommen die bavumbi oder bakulu, die
Ahnen, und bringen den Novizen Wunden bei. Die ausführliche Schilderung dieser Vor-
gänge muß ich mir sparen. Hier sollen nur noch einige Züge Erwähnung finden, die
eine Parallele zum zemba und mbongi der Tsokwe-Lunda darstellen.
1. Das Oberhaupt der „ngongi“-Weihe ist der „nganga ngongi“ oder „mwini mazembi“,
d. h. Herr des Probeplatzes. Also hier ist sogar das Tsokwewort „zemba“ wieder anzu-
treffen. (S. 26T).
2. Der Eingeweihte heißt „mfwa ngongi“, d. h. der im ngongi Verstorbene“. Also
auch hier ist die Idee der Wiedergeburt, wie in dem mit dem Tsokwezemba verbundenen
Buschlager, lebendig.
3. Die auf tretenden Ahnen werden oft durch die älteren, schon früher Eingeweihten
vertreten, die sich in die Ahnen verwandeln. Wieder wie bei den Alunda (n. Melland)
stehen die Operateure mit den Ahnen in Verbindung. Dort tragen die Masken bei der Be-
schneidung die Namen verstorbener guter Operateure, hier tragen alle vier Männer, welche
den Novizen die Wunden mit ihren „griffes“ beibringen, die Namen allgemein bekannter
Ahnen (s. Plancquaert S. 28).
4. Jeder „ngongi“-Novize erhält einen neuen Namen, wie der Tsokwe-Kandanzi.
DIE MANNBARKEITSFEIERN BEI DEN TSOKWE
53
5. Die ngongi-Zeremonie findet auf einem gerodeten Platz statt. Zwei Feuerplätze,
einer für die Frauen und einer für die Männer, befinden sich hier; desgleichen zwei halb-
kreisartig aufgestellte Strohwände. Unter einer ist eine Erdgrube gegraben, durch welche
der Novize die Hand hindurchstecken muß; sie wird dann von dem mvumbi (Ahnen)
gefaßt und mit der kreuzartigen Narbe versehen.
6. Parallelen zu den Vorgängen des Tsokwe-Lunda-Buschlagers bilden weiter noch
folgende Elemente der ,,ngongi“-Weihe (nach Plancquaert):
Künstliches Ängstlichmachen der Novizen. — Wechselnde Verwendung der roten und
weißen Farbe. — Ein Auferstehungsritus, nach welchem die von den Leopardenkrallen
der Verstorbenen, nach anderen Lesarten von einem Löwen getöteten Novizen von den
Ahnen wiedererweckt werden. — Schweigegebote. — Die fruchtbarkeitsspendende Wirkung
des zembi-Platzes. — Ein Hahnopfer gegen Ende der Zeremonie. —
7. Ganz besonders interessant im Hinblick auf den mysteriösen Bericht von Schütt
ist die Tatsache,daß die Novizen einen künstlichen,,Leichnam“ finden, über den sie schreiten
müssen, und der in der Grube des zembi ,,bestattet“ wird. (Plancquaert S. 42).
Ich glaube, daß diese Gegenüberstellungen einmal beweisen, daß das ,,zemba“ der
Tsokwe mit dem ,,ngongi“ der Bayaka eine und dieselbe Grundlage — den Ahnenkult —
hat, und daß andererseits die überragende Bedeutung des ngongi-Kultes viele Vorstellungen
und Riten — vor allem alles Manistische — aus dem Beschneidungskult der Bayaka fort-
nahm, so daß wir im Buschlager der Tsokwe Elemente beider Kulte vorfinden.
Pubertätsfeier der Mädchen.
Obwohl die Tsokwesippe mutterrechtlich organisiert ist, gibt es keine dem Mukanda
des Knaben entsprechende Einrichtung der Mädchen, weder eine Beschneidung, noch ein
ausgesprochenes Buschlager. Wohl nennen die Frauen das Menstruationsfest ,,mukanda
der Frauen“, aber die Männer wollen davon nichts wissen. Ich gebe hier an Stelle einer
Schilderung den Text eines Tsokwemannes aus Mahakaholo südöstl. des Tsihumbe wieder.
(Dolmetscher war mein erster Boy Punali).
Kukula tsa pwo.
Mwanapwo, muze hapwa ni miaka hanji 14, mba himakula; muze hakula, mamu-
twala kuzuwo lieka; mapomba ko matangwa; ndo hasana mamukwita ngula. Lunga maya
mafupa atu anji, hanga ahängane; muze mahangana, lunga mafweta yuma yinji, ndo pwo
maya kuzuwo lienyi. Mba malia kasumbi ufuku ni lunga ni pwo lienyi, eswe ali. [Muze pwo
maya kuyambu ketsi kupomba ni lunga lienyi, lunga ukawenyi, pwo ukawenyi nawa; ni
muze lunga mapomba ni pwo lienyi, ketsikuta.] Ni muze pwo hakula, lunga kesi tatsi,
pwo hikumutambula, e ngwo: ,,yena kwahasile kulia kasumbi“; hikumuhana kuli lunga
mweka, yoze masema, mba matwama ko. Ni lunga kasemene mamutambula. Kasika
mukanda wa mapwo; kuwapwile ngwe mukanda wa malunga, wamalunga weka, wamapwo
weka nawa,
Übersetzung: Ein Mädchen, wenn es ist mit 14 Jahren vielleicht, dann blutet es
(zum erstenmal); wenn es blutet (zum erstenmal), wird man es zu einem anderen Haus
führen; es wird da schlafen (einige) Tage; wenn es gebadet hat werden sie es mit ,,ngula“
bemalen. Der Mann wird gehen (und) viele Leute suchen, damit sie tanzen mögen; wenn
sie tanzen werden, wird der Mann (ihnen) viele Sachen bezahlen, bis die Frau zu ihrem
Haus (zurück) gehen wird. Dann werden sie ein Huhn essen des Nachts sowohl der Mann
als seine Frau, alle Beide. [Wenn die Frau zur Menstruationshütte gehen wird, wird sie
nicht mit ihrem Mann schlafen, der Mann (schläft) allein, die i rau (schläft) auch allein, und
54
HERMANN BAUMANN
wenn der Mann mit seiner Frau schlafen will, wird sie nicht einwilligen]. Und wenn die
Frau geblutet hat (und) der Mann nicht (die erforderliche) Kraft hat, (so) nehmen (die Ver-
wandten) die Frau weg, diese sagen: „Du kannst (darfst) das Huhn nicht essen“; (und)
sie geben sie (die Frau) an einen anderen Mann; jener wird zeugen (mit ihr), so dann (die
Frau) wird bleiben dort. Und (wenn) Mann nicht zeugen konnte, werden sie sie (weg-)nehmen.
Deshalb (sagen sie): Mukanda der Frauen; es ist nicht wie Mukanda der Männer,
(das Mukanda) der Männer (ist) anders, das der Frauen ist ebenfalls anders.
Hierzu ist noch folgendes zu bemerken. Das Essen des Huhns erfolgt so, daß das Huhn
in zwei Teile geteilt wird. Die eine Hälfte erhält die Frau für sich und ihre Dienerin, die
ihr während der Menstruation zugeteilt wird; der Mann ißt mit seinem Diener, der ihm
sein Essen bereitet die andere Hälfte. Alle vier essen zusammen, aber nicht nachts wie im
Text angegeben, sondern tagsüber. Wie aus dem Text hervorgeht, kann ein Mädchen noch
vor der ersten Menstruation geehelicht werden; ein Beischlaf darf aber bis zum „kukula“
nicht erfolgen. Erst nach dem Bad, das der ersten Blutung folgt, darf der Mann seiner
jungen Frau beiliegen. Erweist er sich als impotent, so wird das Mädchen sofort von der
Verwandtschaft einem anderen Mann angetraut.
Die Bezeichnung „yambu“ oder auch ,,kazuwo ka musenge“ (d. h. Häuschen des
Busches) gilt nur für die Hütte, die anläßlich der ersten Menstruation erbaut wird. Die
üblichen Strohhäuser, die am Rand aller größeren Dörfer zu finden sind und als Aufent-
haltsort für die Frauen des Dorfes dienen, wenn sie die gewöhnliche Regel haben, heißen
,,samahenga“. Den menstruierten Frauen ist das Kochen für Mann und Kind streng
untersagt. Gewöhnlich übernimmt eine Frau der Verwandtschaft dieses Amt während der
Zeit der Trennung.
Besprechungen
Bachmann, Kurt Wilhelm: Die Besiedlung des alten Neu-
seeland. Eine anthropogeographische Studie. •—
Studien zur Völkerkunde, 4. Band. Leipzig 1931.
in S. mit 7 Skizzen und 1 Karte.
Das Buch beschäftigt sich in einem Kapitel eingehend
mit der Urbevölkerung Neuseelands, im übrigen aber mit
der Einwanderung und Siedlung der Maori. Die von den
Wohngebieten der übrigen Polynesier stark abweichenden
Siedlungsbedingungen Neuseelands sind in ihrer Wirkung
auf die Sonderentwicklung der Maori-Kultur (Wirtschafts-
formen, befestigte und offene Siedlungen usw.) deutlich
hervorgehoben. Einzelnes, wie die von Best übernommene
Ableitung des Pa aus melanesischer Kultur, mag nicht
allgemeine Zustimmung finden, doch soll damit nicht das
melanesische Element in der Maori-Kultur geleugnet
werden. Sehr übersichtlich ist die Darstellung der Eigenart
der einzelnen Siedlungsprovinzen geraten, die ebenso wie
die übrigen Teile des Buches demjenigen, der sich mit
der Kultur der Maori beschäftigt, viel Suchen in der heute
schon recht ansehnlich gewordenen Maori-Literatur er-
sparen wird.
H. Nevermann.
Grau, Rudolf: Die Gruppenehe ein völkerkundliches
Problem. — Studien zur Völkerkunde. 5. Band.
Leipzig 1931. 151 S.
Die Gruppenehe definiert Grau als „eine aus mindestens
je zwei Personen jedes Geschlechts bestehende Gruppe,
von der weder die gleichgeschlechtlichen Hälften für sich,
noch beide zusammen den Stamm oder eine Stammesab-
teilung ausmachen und die Einzelpersonen so miteinander
ehelich verbunden sind, daß jeder Mann zu jeder Frau
eheliche Pflichten und Rechte hat“. Er faßt den Begriff
also enger als L. H. Morgan und scheidet alle spekulativ
gefundenen Formen aus seiner Betrachtung aus. Gruppen-
ehe in seinem Sinn war oder ist bei den Toda, den
Tschuktschen, den Dieri, Urabuna und anderen Zentral-
australiern, den Banaro, Massim und Herero, im Kululand
in Nordindien und vielleicht auf Hawaii vorhanden. Für
Hawaii genügt das vorhandene Material jedoch nicht,
um zu einem sicheren Ergebnis zu kommen, und Zweifel
sind durchaus berechtigt. Mit der Punaluaehe, der Pirauru-
ehe der Dieri usw. ist die Gruppenehe nicht gleichzu-
setzen. Die Untersuchung erstreckt sich auf weit mehr
Völker, als hier angeführt sind, kommt aber in den meisten
Fällen zu einem negativen Ergebnis. Auch dort, wo die
Gruppenehe festgestellt werden konnte, zeigt sie sich in
so verschiedener Form, daß sie außer dem Zug, daß sie
überall nebenehelich ist, in ihren Erscheinungsformen nur
recht geringe Übereinstimmungen zeigt.
H. Nevermann.
König-Beyer, Walter: Völkerkunde im Lichte vergleichen-
der Musikwissenschaft. Reichenberg (Sudetendeut-
scher Verlag Franz Kraus) 1931. 16 S.
Es ist peinlich, für ein wissenschaftliches Organ eine
Schrift anzeigen zu sollen, die sich so leichtfertig über die
einfachsten Grundsätze wissenschaftlicher Arbeitsweise
hinwegsetzt, daß sie nicht ernst genommen werden kann.
Der Verf. scheut sich nicht, den Wortlaut von Stellen,
die er unter Anführungszeichen zitiert, eingreifend und
oft zum Schaden des Sinns und des Ausdrucks zu ändern.
(Nur ein Beispiel: „eventuell korrespondierend“ wird
in „allenfalsig dementsprechend“ verundeutscht.) Er
schreibt mir Ansichten und Äußerungen zu — zum Teil
wieder unter Mißbrauch von Anführungszeichen — die
man in meinen Arbeiten vergeblich suchen wird, weil sie
aus einer Abhandlung R. Lachs (Wiener Ak. Ber. 200,
Bd. 5) stammen! Daß er die Literatur nur aus zweiter
Hand kennt, beweisen die wenigen, bibliographisch un-
genauen, mitsamt den Fehlern (Karl statt Richard Walla-
schek, Karl statt Carl Stumpf, Georg statt Robert Lach-
mann) abgeschriebenen Angaben. Das Mißtrauen, das
solche Flüchtigkeit von vornherein erweckt, wird durch
den Inhalt der Abhandlung gerechtfertigt. Was der Verf.
wollte, drückt er selbst so aus (Parenthesen vom Ref.):
„Es ist der Versuch angestellt worden, auf Grund genau
gepflogener Untersuchungen, Forschungen und Phono-
grammstudien (Andrer!) die Musik der Primitive (sic!)
zu skizzieren und alle (!) musikalischen Erscheinungen in
Art einer neuen kulturgeschichtlich-völkerkundlichen
Musikwissenschaft einzureihen.“ Auf Deutsch; Er wollte
die Gesänge der Naturvölker nach ihren kennzeichnenden
Zügen in Gruppen ordnen in der Hoffnung, daß diese
Gruppen mit den Graebner-Schmidtschen Kulturkreisen
zusammenfallen und sie so bestätigen würden. Was er
macht, ist aber ein Circulus vitiosus: er nimmt die Tafel
der Kulturkreise und trägt in sie die Kennzeichen der Ge-
sänge — oder was er dafür hält — ein. Auch damit wäre
etwas gewonnen, nämlich die Charakteristik der Kultur-
kreise wäre um ein Merkmal bereichert. Aber leider sind
die vom Verf. angegebenen Kennzeichen ganz untauglich.
Nur ein paar Beispiele: Eines der Kennzeichen der „Ur-
kultur“ lautet: „ohne absolute Tonhöhe“. Man fragt sich
vergeblich, was der Verf. mit dieser gänzlich sinnlosen
Aussage gemeint haben könnte. (Die absolute Tonhöhe
ist musikalisch überhaupt belanglos und wird im Gesang
nie und nirgends beachtet. Zentrale Bedeutung gewinnt
sie erst in der Hochkultur durch die Anwendung der Maß-
norm auf Instrumente.) Der 2. Kulturkreis — Tasmanien
und Südostaustralien — wird charakterisiert durch „Vor-
herrschen eines sog. Nachahmungsprinzipes“. Für die
Musik der Tasmanier besitzen wir keine Quellen außer
den dürftigen und meist unzuverlässigen Bemerkungen
in der älteren Literatur, die R. Wallaschek (Anfänge der
Tonkunst, Lpz. 1903) kritiklos gesammelt hat. Hier findet
sich (S. 40) der Satz: „Sehr beliebt war es, nach dem
Gesang mit den Lippen einen Laut hervorzubringen, der
etwa dem Schnauben der Pferde glich.“ (Nach J. Bon-
wick, Dayly Life and Origin of the Tasmanians, London
1870, p. 28.) Auf diesen Lippentriller, der sich auch in
Südneuirland, angehängt an einen Regenzauber, findet
(E. Stephan u. F. Graebner, Neu-Mecklenburg, Berlin
1907, S. 136), gründet Verf. offenbar sein „sog. Nach-
56
BESPRECHUNGEN
ahmungsprinzip“: „Vogelstimmen, das Traben und
Schnaufender Pferde (inTasmanien! Verf.) wurde stimm-
lich-musikalisch verwertet und schlecht und recht mit
den Mitteln der physiologisch und biologisch bedingten
Stimmfähigkeit nachgeahmt...“ Für Leser, die dem
Gebiet ferner stehen, mögen diese Kostproben als War-
nung genügen; der Sachkundige wird ohnedies den Auf-
satz, sobald er nur hineinblickt, weglegen.
Aber vielleicht wird er fragen, warum der Versuch einer
kulturhistorischen Ordnung der Naturvolksgesänge, der
hier an der Untauglichkeit der Mittel gescheitert ist, nicht ‘
schon längst von Fachmännern unternommen wurde ?
Diese Frage möchte ich, um der Kritik wenigstens noch
etwas Positives anzufügen, kurz beantworten. Erstens ist
das — allein zuverlässige — Material an wissenschaftlich
bearbeiteten Phonogramxnen noch zu gering. Zweitens
müßte, wenn es gelungen ist, Typen der Gesänge aufzu-
stellen, erst entschieden werden, was an ihnen durch
Kultur, was durch Rasse und Entwicklungsstufe der
Sänger bedingt ist. Die Schwierigkeit solcher Entschei-
dung wird an ein paar Beispielen von Typen deutlicher
werden, die schon jetzt mit einiger Sicherheit erkannt und
beschrieben werden können.
1. Enge Melodik. Kurze Motive, nur 2—3 Töne, enge
Schritte (höchstens Ganzton), enger Umfang (höchstens
Quart). Ausschließlich diesem Typus gehören an die Ge-
sänge der nicht singhalesisch beeinflußten Wedda, der
Andamaner, der feuerländischen Yamana und Alakaluf,
(wahrscheinlich) der Giljaken auf Sachalin; neben andern
kommt der Typ auch sonst öfters vor, so bei dem Semang-
stamm der Kenta, manchen Papuastämmen in Ost-Neu-
guinea, den südamerikanischen Uitoto usw. Die nahe-
liegende psychologische Erklärung aus der primitiven
„Enge des Bewußtseins“ genügt nicht, denn dann müßte
dieser Typ bei den Primitiven, namentlich den Pygmäen,
allgemein zu finden sein (bei den afrikanischen Pygmäen
scheint er zu fehlen) und bei höherer psychischer Ent-
wicklung verschwinden. Immerhin bleibt die Annahme
möglich, daß alle Menschen ursprünglich so gesungen
hätten und daß die kulturell zurückgebliebenen Völker
des Vorbilds weiter Fortgeschrittener bedürfen, um die
Enge der Melodik zu überwinden. Wahrscheinlicher aber
ist, daß der Typus zu der Kultur gehört, die durch Südost-
australier (Kurnai) — von deren Gesängen wir leider
nichts wissen — repräsentiert ist und die auch in Südasien
(Andamanen), Feuerland und Zentralkalifornien Spuren
hinterlassen hat (W. Köppers, Proc. 22. Congr. of America-
nists 1928, 678).
2. Treppen-Melodik. Die Melodie fällt in gereihten
Schritten stufenweise aus der Höhe herab; sehr großer
Umfang (Oktave und mehr); Quart-Quint-Struktur;
Pulsationen auf einem Ton. Verbreitung: Australien
(außer SO ?), Papua der Torresstraße, amerikanische
Indianer außer Feuerländern (und Zentralkaliforniern ?),
Paläoasiaten (Tschuktschen bis Jenissej-Ostjaken), viel-
leicht auch Tungusen (?). Nach der erwähnten Fest-
stellung von Köppers würde eine uralte Kontaktbeziehung
(in Nordasien ?) zwischen nach Nordosten wandernden
Indianern und nach Südosten ziehenden Australiern (und
Papua) anzunehmen sein (deren am weitesten abgedrängte
Vorläufer dann die Südostaustralier und Feuerländer
wären). Ihnen würde die Treppenmelodik eigentümlich
sein. Die äußerst charakteristische Stimmklangfärbung
und Vortragsweise, die allen Amerikanern und den Paläo-
asiaten gemeinsam ist, aber den Australiern fehlt, möchte
ich dagegen für ein physiologisches Rassenmerkmal halten.
3. Fanfarenmelodik. Große Intervalle (Terzen,
Quarten), „zerlegte Dreiklänge“, oft mit dem Schwer-
punkt in der Mitte, Legato, z. T. textfreie Vokalisen.
Dieser Typ hat sich bisher gefunden bei den klein-
wüchsigen Bergstämmen Zentral-Neuguineas, den Kare-
sau-Papua (NO-Neuguinea), den Bergstämmen Bougain-
villes (Kongara, Oiai) und — den Buschmännern Süd-
afrikas (von denen freilich reicheres Material abzuwarten
bleibt). Bei den Salomoniern ist instrumentaler Ursprung
der Gesang-Melodien — Uberblasen von Panpfeifen —
nachweisbar, an den andern Fundstellen aber nicht, oder
doch nicht sicher. Möglicherweise gehört dieser Stil der
pygmoiden Unterschicht in der Südsee,
4. Kanonische Nachahmung. Das melodisch-
rhythmische Motiv wird von einer zweiten Stimme mit
einer — ursprünglich sehr kleinen — zeitlichen Ver-
schiebung nachgesungen. Verbreitung: Sakai auf Malaka
(von den Semang vermutlich übernommen), Flores, Kiwai
(S-Neuguinea), Bougainville (nur angedeutet), Samoa.
Danach ist diese Form der Mehrstimmigkeit — der afri-
kanische Kanon ist sicher unabhängig aus andern Be-
dingungen entstanden — wohl der Kultur der „Proto-
polynesier“ zuzuschreiben. Die Gesänge der Sakai und
der Polynesier stimmen überdies in einer Fülle von Einzel-
zügen überein, von denen das weiche, runde Hin- und Her-
Wiegen des Melos und der begleitenden Körperbewegung
wieder auf physiologische Rassenverwandtschaft hinweist.
Es ist zu hoffen, daß wenn sich die Lücken der musika-
lischen Weltkarte allmählich füllen, die vergleichende
Musikwissenschaft mehr zur kulturhistorischen Ethno-
logie wird beitragen können, als es bisher möglich war.
Aber dazu wird es noch vieler sorgfältiger und gewissen-
hafter Arbeit bedürfen. Nur ein Schelm gibt mehr als
er hat.
E. M. v. Hornbostel.
Balz, Toku: Erwin Bälz. Das Leben eines deutschen
Arztes im erwachenden Japan. J.Engelhorns Nachf.
Stuttgart 1931. 454 S. 28 Bilder.
Aus Tagebüchern, Briefen und Berichten hat Toku
Bälz, der Sohn des in Japan so geschätzten und ver-
ehrten* früheren Leibarztes des Mikado und bahn-
brechenden Mediziner und Universitätslehrer im Lande
der aufgehenden Sonne ein Buch zusammengebracht,
das nicht nur die Erinnerung an den in der ganzen medi-
zinischen und wissenschaftlichen Welt hochgeschätzten
Arzt und Anthropologen festlegt, sondern gleichsam ein
Stück Geschichte eines so wichtigen und sich so fabelhaft
aus uralten Verhältnissen zur neuen abendländischen
Kultur entwickelnden Reiches im fernen Osten, wie es
Japan gewesen ist, in Einzelheiten gibt. Eine Geschichte,
geschrieben mit Liebe von einem Abendländer, aber
mit vollem Verständnis für die Psyche des Volkes des
Landes, das gewissermaßen seine zweite Heimat ge-
worden war und der, wie wenige geeignet war, Licht und
Schatten klaren Auges zu sehen.
Stolz können wir auf unsern, aus dem Schwabenlande
stammenden, Landsmann sein. Überall hat er sich Ach-
tung und Liebe erworben, er war ein Pionier für
deutsche Wissenschaft, Kultur und Wesen im edelsten
Sinne des Wortes. Und wir gedenken beim Lesen des
Buches wehmutsvoll unseres zu früh geschiedenen Lands-
BÜCHEREINGÄNGE
57
mannes, ganz besonders diejenigen von uns, die ihm in
den letzten Lebensjahren, die er in Deutschland ver-
brachte, wissenschaftlich und freundschaftlich nahe-
standen. Erwin Balz war eine edelgeklärte Erscheinung,
voll tiefen ernsten Wissens und Menschenkenntnis,
ohne jede Überhebung oder Dünkel, milde und freundlich
im Wesen.
Mit Spannung liest man das Buch vom Anfang bis zum
Ende. Wir sehen, was er alles für sein damaliges Adoptiv-
vaterland, wo er wie wenige Europäer vor oder nach ihm
geschätzt und verehrt wurde und auf dessen Rat man
hörte, getan hat. Wie er nicht etwa nur für die geistige
Bildung seiner Studenten sorgte, sondern auch für deren
körperliche Erstarkung und Ertüchtigung durch bessere
Ernährungs- und hygienische Verhältnisse, durch Leibes-
übungen und anderes mehr. Nicht nur für die Studenten,
sondern für ganz Japan. Er brachte das alte Schwert-
kämpfen in Japan wieder zu Ehren, er gab dem damals
vernachlässigten Jiu Jitsu einen neuen Aufschwung, so
daß es wieder Allgemeingut der Japaner wurde und der
alte Meister und Lehrer der Jiu Jitsukunst ihm tränenden
Auges dankte, er sorgte für die Errichtung von zeit-
gemäßen Krankenhäusern und von großen Heilstätten.
Eine hochwichtige, große Zeit hat er in Japan durch-
gemacht. Noch lebten viele der Führer der alten Samurai-
und Daimiopartei. Grundlegend war der Umsturz in
Japan in der Regierungsweise gewesen. Aber mit ver-
blüffender Schnelligkeit hatten die ihr Vaterland lieben-
den Japaner sich in die Neuordnung gefunden und die
staunenswerten Fortschritte in westlicher Bildung ge-
macht ohne ihre Eigenart aufzugeben.
Wir erhalten von Bälz ein anziehendes Bild von
japanischem Wesen, Festen, Kunst und Natur, ohne
daß er blind bei manchem vorbeigegangen wäre. Aber er
war auch, wie wenige im Stande, die Hochgebildeten des
alten Kulturvolkes zu verstehen. Natürlich muß er auch
die Europäer und Vertreter der auswärtigen Mächte in
Tokio erwähnen. Bei allen war er geschätzt. Sein klarer
prophetischer Blick erkannte aber auch Mängel und
Fehler auf deutscher Seite und Irrtümer in unserer
Politik, die Einsichtsvollen auch hier nicht verborgen
gewesen sind und die Schädigungen für uns brachten.
Doch darauf soll hier nicht eingegangen werden. Bälz
war mit einer Japanerin aus bester Familie verheiratet.
Früh verlor er seine Tochter und es gehört mit zu den
anziehenden Stellen, wenn er von der Seelenstärke seiner
Frau schreibt.
Bälz lebte geistig mit den Japanern. Er freut sich ihrer
Fortschritte und Siege, aber er blieb im Wesen ein guter
Deutscher und Deutsche, die ins Ausland gehen wollen
und solche, die sich für Japan tiefer interessieren,
sollten an diesem Tagebuche nicht Vorbeigehen, sondern
es lesen. Wir danken daher seinem Sohne Toku, daß er
uns rein und unverfälscht, ohne fremde Zusätze das
Lebensbild seines Vaters übermittelt hat, ein Lebens-
bild, das ein Vorbild für viele deutsche Wissenschaftler
und namentlich Menschen sein sollte.
P. Staudinger.
Büchereingänge
Alvarez-Ossorio, Francisco: Tesoro de Lebrija. Madrid
1931. Tipogr. de Archivos.
Ausstellung altamerikanischer Kunst veranst. v. d. Staatl.
Museen u. a. Berlin 1931. Schaal. 127 S.
Bachmann, K. W. : Die Besiedlung des alten Neuseeland.
Leipzig 1931. Werkgemeinschaft-Dr. in S.
Baelz, Erwin: Das Leben eines deutschen Arztes im er-
wachenden Japan. Hrsg. v. Toku Baelz. Stuttgart:
Engelhorn 1931. 454 S.
Baldus, Herbert: Indianerstudien im nördlichen Chaco.
Leipzig: Hirschfeld 1931. VII, 230 S.
Barthel, Helene: Der Emmentaler Bauer bei Jeremias
Gotthelf. Münster i. W. : Aschendorff 1931. VII 147 S.
Beninger, Eduard: Der Wandalenfund von Czéke-Cejkow.
Aus: Annalen d. Naturwiss. Museums in Wien 1931 -
Beyer, H. : Mayan hieroglyphs: the variable element of
the introd. glyphs as month indicator. Aus: An-
thropos, t. 26. 1931.
Bodenaltertümer Westfalens. 2. Bericht d. Vorgesch. Abt.
d. Landesmuseums. Aus : Westfalen, Jg. 16, H. 6. 1931.
Bulletin de la société d. recherches congolaises. (Afrique
équatoriale française.) Brazaville 1922 ff.
Exposition Coloniale Internationale, Paris 1931. Indo-
chine-Française: 25 Schriften.
Frobenius, Leo: Indisphe Reise. Berlin: Hobbing 1931.
259 S.
Goeje, C. FL de: Oudheden uit Suriname op zoek naar
de Amazonen. Aus : West-Ind. Gids.d. 13, afl. 10/n.
1932.
Gordon-Mason: Examples of Maya pottery in the muséum
and other collections, vol. 1/2. Philadelphia : Univ.
Mus. 1925/28.
8 Baessler-Archiv.
Grau, Rudolf: Die Gruppenehe ein völkerkundliches
Problem. Leipzig 1931 : Werkgemeinschaft-Dr. 151 S.
Hagemann, Gustav: Bäuerliche Gemeinschaftskultur in
Nordravensberg. Münster i. W. ; Aschendorff 1931.
VIII, 283 s.
Herrmann, A.: Lou-lan. Leipzig: Brockhaus 1931. 160 S.
Jenny, Willi. A. von: Ein latènezeitlicher Grabfund mit
Goldmünze aus Nordböhmen. Aus: Sudeta, Jg. 7,
H. 3/4. 1931.
König-Beyer, W. : Völkerkunde im Lichte vergleichender
Musikwissenschaft. Reichenberg: Kraus 1931. 19 S.
Kunst, J.: Musicologisch Onderzoek, H. 1/2.Leiden 1931.
Pessler, W. : Deutsche Volkstumsgeographie. Braun-
schweig: Westermann 1931. 108 S., 23 Kt.
Le Pittura chinesi della raccolta del Drago. Milano;
Poligono. 1931. 24 S., 25 Tf.
Quiroga, A. : Petrografías y pictografías de Calchaqui.
Buenos Aires 1931 : Impr. d. 1. Univ. X, 150 S.
Marshall, John; Mohenjo-Daro and the Indus civilisation.
London: Probsthain 1931. 3 Bde.
Schuchhardt, C. :Die Römer als Nachahmer im Landwehr-
u. Lagerbau. Berlin 1931. 29 S.
Service archéologique des Indes Néerlandaises: Premier
congrès des préhistoriens d’Extrême-Orient à Hanoi.
1932. Batavia: Albrecht 1932. 54 S., 2. Taf.
Weber, H.: Das chinesische Horoskop. Leipzig: Astra-
Verl. 1930. 103 S.
Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte u. Linguistik.
FIrsg. W. Köppers. Jg. 1. 1930. Wien: Univ.-Inst. f.
Volk. 1930.
Universitetets Oldsaksamling, Forer. Oslo 1932: Brogger
142 S. 32 Taf.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG
DES PEYOTE-KULTES
VON GÜNTER WAGNER, BERLIN.
EINLEITUNG.
i. ALLGEMEINE PROBLEME.
In die Fülle der ethnischen Erscheinungen, die wir über die ganze Erde verstreut sehen,
bringt die ethnologische Forschung eine Gliederung, indem sie eine Anzahl gleicher oder ähn-
licher Erscheinungen, die sich in bestimmten geographischen Gebieten beisammen finden, zu
sogenannten Kulturprovinzen1 2 zusammenfaßt. Solch eine Kulturprovinz hat einen rein
empirischen Charakter, und es kann von ihr zunächst weiter nichts ausgesagt werden, als daß
sie ein Gebiet umfaßt, das sich über eine mehr oder weniger große Anzahl von Stämmen
erstreckt und einen Grad von kultureller Elbereinstimmung aufweist, der groß genug ist, um
es von den Stämmen der Umgebung abzusondern. Zur Erkenntnis der inneren Beschaffen-
heit einer Kulturprovinz führen zwei Wege: Einmal kann man sie in ihrer statischen Form
untersuchen, indem man einen Querschnitt durch die ganze Breite des Kulturbestandes legt
und nach den Beziehungen fragt, die zwischen den verschiedenen Erscheinungen dieses
Kulturbestandes herrschen3. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung werden dann er-
kennen lassen, ob die Kulturprovinz eine innere Einheit (eine Struktur) oder nur eine zu-
fällige Häufung von zueinander völlig beziehungslosen Einzelelementen (ein Aggregat) dar-
stellt4. Zum andern kann man eine Kulturprovinz in ihren dynamischen Verhältnissen
untersuchen, indem man den Blick auf die sich innerhalb einer oder zwischen mehreren Kultur-
provinzen vollziehenden Veränderungen richtet und nun nach den Verhaltungsweisen der
Kultur fragt, die bei einem solchen Veränderungsprozeß oder Kulturwandel zutage treten.
Auch diese Fragestellung führt auf die Struktur der Kulturprovinz, denn die Art, wie eine
Kultur auf Veränderungen innerhalb ihres eigenen Gebietes und der benachbarten Gebiete
reagiert, wie sie auswählt und was sie auswählt aus dem, was von innen und von außen an sie
herantritt, gibt Auskunft über ihre eigene Beschaffenheit.
Diese dynamische Seite, die Erscheinung des Kulturwandels, soll hier untersucht werden.
Bei jedem Kulturwandel können wir nach Vierkandt5 zwei Formen unterscheiden: i. den
endogenen Wandel, der sich innerhalb der empirisch gegebenen Kulturprovinz vollzieht und
2. den exogenen Wandel, der durch Entlehnung kultureller Güter aus benachbarten Kultur-
provinzen entsteht und den man seit Holmes6 als Akkulturation bezeichnet.
1 Diese Abhandlung wurde als Dissertation bei der Philo-
sophischen Fakultät der Hamburgischen Universität an-
genommen.
2 Dieser Begriff deckt sich mit dem des Kulturareals, s. Thi-
lenius, S. 19; über das ‘culture area’ vgl. auch Wissler c,
S. 218, d, S. 17; Kroeber b, S. 335ff.; Dixon, S. 156ff.
3 Vgl. die Wechselwirkungs- und deterministischen Kultur-
theorien: Die materialistische Geschichtsauffassung des
philosophischen Materialismus (Karl Marx) und die Weiter-
entwicklung dieser Theorien bei Richard Hildebrandt,
Ernst Grosse und Herbert Kühn.
4 Vgl. die Unterscheidung zwischen ,logisch1 und ,zufällig1 in
Verbindungen von Kulturelementen bei Dixon, S. 156.
5 s. Vierkandt, S. 112.
6 Holmes, S. 266: “The arts migrate in ways of their own.
They pass from place to place and from people to people
by a process of acculturation, so that peoples of unlike
origin practice like arts while those of like origin are found
practising unlike arts.”
9 Baessler-Archiv.
6o
GÜNTER WAGNER
Der Begriff der Akkultnration, von dem Holmes nur andeutungsweise in seinem Buch
über die Töpferei der prähistorischen Pueblos spricht, wurde von Ehrenreich1 auf die geistige
Kultur ausgedehnt. In seiner Untersuchung über die Mythen und Legenden der südamerika-
nischen Urvölker spricht Ehrenreich von „Akkulturationsgebieten“ und einem „Akkultura-
tionsverhältnis“, in dem sich mehrere Stämme miteinander befinden und versteht darunter
eine kulturelle Angleichung ursprünglich verschiedener Stämme, die durch wechselseitige
Berührung hervorgerufen worden ist. Die Akkultnration braucht jedoch nicht immer wechsel-
seitig zu sein, sondern kann sich auch in einer Richtung vollziehen, indem sich eine Kultur
als die nehmende einer anderen Kultur als der gebenden angleicht. Überwiegend in diesem
Sinne wird der Begriff der Akkultnration von Vierkandt2 verstanden, der ihn in seinem Buch
über die Stetigkeit im Kulturwandel theoretisch ausführlich diskutiert.
Die Gegenüberstellung von endogenem und exogenem Kulturwandel ist jedoch in erster
Linie theoretischer Natur. An jedem realen Kulturwandel werden mehr oder weniger beide
Formen beteiligt sein. So liegt der Anstoß zu einem sogenannten endogenen Wandel häufig in
Veränderungen der umgebenden Kulturen und einer vorangegangenen Entlehnung, während
umgekehrt ein Entlehnungsprozeß oft durch endogene Wandlungen eingeleitet und erst er-
möglicht wird. Es kann also meist nur von einem Uberwiegen der einen oder der anderen
Form des Kulturwandels die Rede sein. Dabei trügt häufig das äußere Erscheinungsbild, und
erst eine eingehende Analyse aller an dem Wandel beteiligten Momente kann darüber ent-
scheiden, ob bei dem Kulturwandel das endogene oder das Entlehnungsmoment überwiegt.
Es sind daher auch bei jedem Akkulturationsprozeß zwei Teilvorgänge zu unterscheiden:
a) die Übertragung3 von Kulturgütern aus einer Kulturprovinz in die andere und b) die
Angleichung, sowohl einzelner, übertragener Güter wie auch ganzer Komplexe, an die
traditionelle Kultur der entlehnenden Kulturprovinz. Während der erste Vorgang ausschließ-
lich exogener Natur ist, sind an dem zweiten meist endogene Wandlungen beteiligt. Über-
tragung und Angleichung sind jedoch nur als psychologisch hintereinander folgende Vor-
gänge zu verstehen, die in dem zeitlichen Verlauf des Prozesses sehr wohl zusammenfallen
können.
Der besondere Akkulturationsprozeß, der hier untersucht werden soll, ist die Entwick-
lung und Verbreitung des Peyote-Kultes der nordamerikanischen Indianer; die jeweiligen
Akkulturationsprodukte sind Ritual und Lehre des Kultes in den verschiedenen Phasen
<ihrer Entwicklung und Verbreitung, „Entwicklung“ und „Verbreitung“ fassen wir dabei
nicht als zwei getrennte Vorgänge auf, sondern als die beiden korrelativen Seiten eines und
desselben Prozesses: Während sich der Kult geographisch verbreitet, entwickelt er sich, und
umgekehrt bedingt die Entwicklung des Kultes wieder die Art und Richtung seiner Ver-
breitung.
Vier Kulturprovinzen sind im wesentlichen an diesem Prozeß beteiligt:
1. Die Provinz der mexikanischen Primitivstämme,
2. Die Provinz der Prärie-Indianer,
3. Die Provinz der östlichen Waldstämme,
4. Die europäisch-amerikanische Kulturprovinz.
Während die ersten drei dieser Provinzen traditionelle Kulturen der Indianer darstellen
und sich bestimmten geographischen Gebieten zuordnen lassen, erstreckt sich die vierte,
europäisch-amerikanische Provinz über das ganze Gebiet und lagert als jüngere Schicht über
den traditionellen Kulturen. Der Akkulturationsprozeß ist nun nicht so vor sich gegangen,
daß alle diese Provinzen sich wechselseitig beeinflußt haben, sondern die Verbreitung des
Kultes ist im wesentlichen nur nach einer Richtung hin erfolgt, so daß wir es hier also mit
1 Ehrenreich, S. 61.
2 Vierkandt, S. 112 ff.
Vgl. Boas a, S. 135.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
6 I
einem einseitigem Akkulturationsprozeß zu tun haben. Der Verbreitungsweg läßt sich in
einem Diagramm veranschaulichen:
4-
Erklärung:
1. Mexikanische Primitivstämme.
2. Prärie-Kultur.
3. Kultur der östl. Waldstämme.
4. Europ.-Amerik.-Kultur.
—s- Richtung der Akkulturation.
^ Akkulturationsprodukte.
Der Ausgangspunkt des Prozesses liegt bei den mexikanischen Primitivstämmen (1),
deren Peyote-Kult ein Produkt aus der traditionellen Kultur dieser Stämme und einigen Ein-
flüssen der europäisch-amerikanischen Kulturprovinz (4) darstellt. Von Mexiko verbreitet
sich der Kult nach den Vereinigten Staaten, zunächst über das Gebiet der Präriestämme (2),
wo er sich mit der traditionellen Kultur dieser Stämme, sowie mit den, auf die Präriestämme
ebenfalls einwirkenden, europäisch-amerikanischen Einflüssen verbindet. Aus dieser Verbin-
dung entwickelt sich ein Akkulturationsprodukt, das dann schließlich in die Provinz der öst-
lichen Waldstämme (3) getragen wird, wo sich derselbe Prozeß wiederholt, indem sich der
übertragene Kult mit der traditionellen Kultur der östlichen Stämme und den auch dort wirk-
samen Einflüssen der europäisch-amerikanischen Kulturprovinz akkulturiert.
Diese so skizzierte Richtung des Entwicklungs- und Verbreitungsprozesses des Peyote-
Kultes ist in ihren wesentlichsten historischen Daten bekannt; sie braucht also nicht erst
durch einen Vergleich der Akkulturationsprodukte rekonstruiert zu werden.
Man kann nun jeden der in diesem Entwicklungs- und Verbreitungsvorgang zutage
tretenden Akkulturationsprozesse von verschiedenen Seiten her untersuchen: Erstens kann
man ihn kausal behandeln, indem man nach dem „Warum“ des Prozesses fragt und die
Ursachen aufzeigt, die zu dem Ergebnis der Akkulturation geführt haben. Zweitens kann man
den Prozeß genetisch behandeln, indem man das „Wie“ des Prozesses von der soziologischen
und psychologischen Seite her untersucht. Man geht dabei von dem Ursprung des Prozesses in
der schöpferischen oder entlehnten Idee eines Einzelwesens aus und verfolgt ihn bis zu seiner
Konkretisierung in einer fest gefügten Kultform1. In diese Problemgruppe gehören die Fragen
nach der Bedeutung des Individuums, sowie der verschiedenen sozialen Gruppen (wie i amilie,
Clan, Gens, Stamm) und der mit ihnen verbundenen Phänomene für die Entwicklung und Ver-
breitung des Kultes. Drittens kann man den Prozeß im engeren Sinne ethnologisch behan-
deln. Elierbei sieht man von dem Einfluß des Individuums und der sozialen Gemeinschaften
ab und untersucht am „Wie“ des Prozesses nur den spezifischen Anteil der überpersonalen,
traditionellen Kultur1 2.
Das erste, kausale Problem werden wir in der vorliegenden Untersuchung nur in seinen
wesentlichsten Punkten behandeln (Teil I des Hauptteiles), da es eine eingehende J atsachen-
kenntnis voraussetzt, die für den Peyote-Kult zur Zeit noch nicht vorhegt. Die Untersuchung
dieses Problems wäre jedoch sehr lohnend, da es bei der geringen historischen Tiefe der moder-
nen Entwicklung des Kultes noch möglich sein sollte, die einzelnen Daten, die zu seiner Ent-
1 Über die Beziehungen zwischen Kulturwandel und Indivi-
duum vgl. Thilenius, S. 24 und Vierkandt, S. 156ff.
2 Freilich ist auch hier das Ziel der Untersuchung die Erkennt-
nis der Genese des Prozesses. Aber die Untersuchungs-
methode ist nicht genetisch: Der Prozeß wird nicht Stufe
für Stufe verfolgt, sondern nur die Anfangs- und Endpro-
dukte werden miteinander verglichen.
9
6 2
GUNTER WAGNER
Wicklung geführt haben, zu ermitteln. Die zweite, genetische und die dritte, ethnologische
Frage sind in dem realen Verlaufe des Prozesses eng miteinander verknüpft. Beide stehen in
Wechselbeziehungen zueinander: Einerseits geht jeder Ubertragungs- und Angleichungsvor-
gang von der Initiative eines Individuums aus und wird in seinem weiteren Verlaufe durch die
mannigfachen Beziehungen dieses Individuums zur Gruppe bestimmt; andererseits aber wird
sowohl die Idee eines Einzelwesens, wie auch die Annahme dieser Idee durch die Gruppe durch
die Beschaffenheit der traditionellen Kultur bedingt. Erst aus dem Zusammenwirken beider
Komponenten ist der Kulturwandel zu erklären. Wenn wir dennoch die dritte, ethnologische
Frage für sich behandeln (Teil II des Hauptteiles), so hat dies seinen Grund darin, daß sich die
vorhandenen Daten mit wenigen Ausnahmen1 auf die Endprodukte des Prozesses, d. h. die
bereits festgefügten Kultformen, beziehen, wmhrend die Genese des Prozesses bei jedem
einzelnen Stamm unbekannt ist. Wir können daher zwar durch einen Vergleich des Akkultura-
tionsproduktes mit den traditionellen Kulturformen den spezifischen Anteil dieser letzteren
untersuchen, nicht aber die modifizierenden soziologischen und psychologischen Einflüsse.
Im Ganzen des Peyote-Kultes finden wir vier Phänomene vor:
1. Einzelne Kultgegenstände und Zeremonien,
2. Gruppen von Kultgegenständen und Zeremonien: Das Ritual,
3. Deutung einzelner Kultgegenstände und Zeremonien,
4. Deutungen des ganzen Rituals: Die Lehre.
Hinsichtlich der historischen Beziehungen zwischen Ritual und Lehre bestehen allgemein
folgende theoretische Möglichkeiten:
Erstens: Das Ritual kann das Primäre sein. In diesem Fall würde etwa das Ritual alsGanz-
heit entlehnt werden und sich dann erst durch sekundäre Interpretation des Rituals die Lehre
entwickeln.
Zweitens: Die Lehre kann das Primäre sein. In einem solchen Falle würde etwa eine
abstrakte Lehre als Produkt einer individuellen Schöpfung von der sozialen Gruppe angenom-
men werden, und erst sekundär würde ein der Lehre adäquates Ritual traditioneller oder neu
erdachter Zeremonien entstehen.
Drittens: Ritual und Lehre können sich in Wechselwirkung entwickeln. Dies wäre so zu
denken, daß den einzelnen Bestandteilen des Rituals von Anfang an Deutungen zugeordnet
werden, die dann wieder als Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung des Rituals dienen und
umgekehrt.
Welche von diesen drei theoretischen Möglichkeiten in der Entwicklung des Peyote-
Kultes realisiert sind, kann erst am Schluß der Untersuchung entschieden werden.
Indem wir nun an Hand von Ritual und Lehre des Peyote-Kultes als dem Gegenstände
unserer Untersuchung die Frage nach den Beziehungen zwischen der jeweiligen traditionellen,
indianischen Kultur, der übergelagerten europäisch-amerikanischen Kultur und dem ent-
lehnten Kult stellen werden, verfolgen wir das Ziel, Abhängigkeiten, Bedingtheiten und
schließlich Tendenzen1 2 festzustellen, die in diesem einmaligen Prozeß zutage treten. Durch
Untersuchung einer Reihe analoger Prozesse3 würde sich aber erst entscheiden lassen, ob sich
die so festgestellten Abhängigkeiten, Bedingtheiten und Tendenzen zu Regelmäßigkeiten
verdichten lassen, oder ob in jedem einzelnen Falle wieder völlig andere Verhältnisse herrschen.
Die Methoden, deren wir uns bedienen, sind: Analyse, Vergleich und Synthese. Die
über den Kult vorliegenden ethnographischen Berichte werden wir einer Analyse unterziehen,
1 Angaben über den soziologischen Prozeß finden sich nur
in Radins Abhandlung über den Peyote-Kult der Winnebago,
s. Radin a, S. 41g—426.
2 Vgl. über diese Begriffe Thurnwald, S. 266.
3 Wir denken dabei z. B. in Nordamerika allein an solche Er-
scheinungen wie die Ceistertanz-Bewegung, den Messiah-
Craze, die Lehre des Propheten “Handsome Lake” und
schließlich an die Katschina-Zeremonien, deren Eigenschaft
als Akkulturationsprodukt erst kürzlich von E. C, Parsons
(Parsons, S. 582 ff.) untersucht worden ist.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
63
um dann einen Vergleich mit den durch die Analyse gewonnenen Einzelmomenten bei den
verschiedenen Stämmen vornehmen zu können. Unter einem Moment1 wollen wir dabei einen
Teil verstehen, der sich aus der Ganzheit des Kultes abheben läßt. Dem in der Ethnologie oft
in ähnlichem Sinne gebrauchten Begriff des Elementes2 gegenüber soll der Begriff des
Momentes deutlicher darauf hinweisen, daß keine letzten, nicht mehr teilbaren Grund-
bestandteile gemeint sind, sondern ein Ausschnitt aus der Ganzheit des Kultes, der nur unter
einem bestimmten Gesichtswinkel eine Einheit darzustellen braucht, während er unter
einem anderen Gesichtswinkel wieder Oberbegriff für weitere Momente sein kann. Der Ge-
sichtswinkel aber, den wir bei der Aufstellung der Momente anwenden, wird nicht von der
Bedeutung der Zeremonien her gewonnen, sondern ergibt sich aus dem zu vergleichenden
Material. Wir gehen daher mit der Einteilung des Kultes in Momente nur so weit, wie die je-
weilige Problemstellung erfordert und die Vollständigkeit der Daten zuläßt. Ein Beispiel mag
dies erläutern: Finden wir in den Kultberichten mehrerer Stämme zeremonielle Rundgänge
um das Kultfeuer erwähnt, so betrachten wir diese Rundgänge als ein Moment des Ritus.
Werden nun diese Berichte detaillierter, enthalten sie etwa Angaben über die Anzahl der
Rundgänge, die Richtung und vielleicht damit verbundene Tänze etc., so können wir diese
Angaben, sobald sie bei mehreren Stämmen auf tauchen, also vergleichbar sind, als weitere
Momente abheben. Wir können so alle Vergleichsmomente auswerten und müssen uns nur
davor hüten, die im Kulte mehrerer Stämme übereinstimmenden Momente rein zahlenmäßig
zu bewerten, da die Anzahl der aufgestellten Momente von der Genauigkeit und Ausführlich-
keit der Kultberichte abhängig ist. Diese ist natürlich für jeden Stamm verschieden, zumal die
Kultberichte von mehreren Beobachtern stammen.
Ihrem Inhalte nach können wir die so gewonnenen Momente in drei Gruppen einteilen,
je nachdem sie sich auf konkrete Dinge und deren Beziehungen, auf die soziologischen Er-
scheinungen des Kultes und schließlich auf die Kulthandlungen erstrecken. Es ergeben sich so:
1. Momente, die den Kultplatz und die im Kult gebrauchten Gegenstände ausmachen
(Zelt, Altar, Feuer, Rasseln, Trommeln etc.).
2. Momente, die sich auf die Organisation des Kultes erstrecken (Stellung des Leiters, der
Kulthelfer, Veranstalter und Teilnehmer etc.).
3. Momente, die zusammen das Kultzeremoniell ausmachen (Gebete, Lieder, Weihe-
zeremonien etc.).
Nachdem wir die Kultmomente der verschiedenen Stämme miteinander verglichen und
auf ihre Beziehungen hin untersucht haben, werden uns die Ergebnisse zu der Synthese führen,
die wir in Form der erwähnten Abhängigkeiten, Bedingtheiten und Tendenzen als Ziel der
Untersuchung erhoffen.
2. SPEZIELLES ZUM PEYOTE-KULT.
a) Der Peyote-Kaktus.
Der Peyote-Kult ist mit dem zeremoniellen Genuß eines ,,Peyote“ genannten Kaktus
verbunden, der sich vor allem durch seine toxischen Wirkungen auszeichnet.
Die botanische Klassifizierung des Peyote-Kaktus und seiner verschiedenen Varietäten,
sowie die Identifizierung der in der Geschichte unter verschiedenen Namen bekannten
Kakteen, die ihren geschilderten Eigenschaften nach Peyote zu sein scheinen, ist noch nicht
abgeschlossen. Die heute allgemein als Peyote bezeichneten Kakteen gehören dem Stamm der
Echinokakteen an, von deren sieben Untergruppen sie die Gattung Lophophora bilden3 * S.. Von
diesen Lophophora kommen zwei Varietäten vor: Lophophora Williamsii und L^ophophora
1 Wir wählen diesen Begriff in teilweiser Anlehnung an Stern, 2 Vgl. z. B. Boas, Gräbner, Spier, Wissler.
S. 13. 3 Rouhier, S. 17; Diguet a, S. 254.
64
GÜNTER WAGNER
einen Peyote-Kaktus
LewiniiJ, beziehungsweise
mit einem dünnen Haar-
kissen mit langen, seidigen
Haaren (Lophophora Wil-
liamsii) versehen ist2. Der
Kaktus erreicht im Höchst-
fälle eine Länge von 15 bis
20 Zentimetern und einen
Durchmesser am Kopf von
2 bis 8 Zentimetern3. Er ist
heimisch im Südosten der
Vereinigten Staaten und in
Mexiko. Im Norden reicht
sein Verbreitungsgebiet
etwa bis El Paso, Texas,
und im Süden bis zum me-
xikanischen Staate Quere-
taro (s. Karte). In diesem
ganzen Gebiet gibt es
wahrscheinlich mehrere,
bisher noch nicht näher
bestimmte Varietäten, die
durch verschiedenartige
Wachstumsumstände be-
dingt zu sein scheinen4.
Der mexikanische (spa-
nische) Name Peyote ist
abgeleitet von dem azte-
kischen Wort
dessen Ethymologie noch
nicht eindeutig festgestellt
ist. Molina5 führt das Wort
Will. var. Lezvinii, deren Verschiedenheit
nach Lewin1 vor allem in der Beschaffen-
heit ihres Haarkissens liegt. Die Kakteen
der Gattung Lophophora sind klein, fleischig
und stachellos und haben ihrer Form nach
gewisse Ähnlichkeit mit einem Rettich
oder einer Rübe (s. Abb.). Wie bei diesen
ragt nur der Kopf aus dem Erdboden
heraus, der nach der Reife mit einem
dichtwolligen, schmutzigweißen, ca. einein-
halb bis zweieinhalb Zentimeter breiten
Haarkissen mit wollig-filziger Beschaffen-
heit der einzelnen Haarbüschel (Lophophora
Verbreitung des Peyote-Kaktus nach Rouhier
zurück auf die Nahuatl Wörter peyutl — Kokon, haarig und peyonia nie = anregen, stimu-
1 Lewin, S. 1 des Aufsatzes.
2 Lewin, S. 1 des Aufsatzes.
3 Rouhier, S. 8 ff.
4 Diguet a, S. 301; näheres über die Verbreitung s. Rouhier,
S. 8-16.
5 Zit. in Rouhier, S. 7; vgl. auch Rouhier S. 7, Anm.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
65
Heren, oder pepeyoni, pepeyon = bewegen, in Bewegung setzen. Diese Namen weisen einmal
auf das Aussehen und das andere Mal auf die Wirkung des Kaktus hin. Der Name Peyote war
jedoch nicht immer identisch mit der Gattung Lophophora, während umgekehrt andere Be-
zeichnungen als Lophophora identifiziert worden sind. So wurde und wird noch heute im
mexikanischen Staate Jalisco der Name Peyote auf verschiedene Arten von Cacalia ange-
wandt1. Andererseits identifiziert Safford die von Sahagun, Hernandez, Simeon, Jacinto de
la Serna und auch nochBancroft für einen Pilz gehaltenen nanacatl und teonanacatl der alten
Azteken als Lophophora, deren Verwechslung mit Pilzen er aus der Ähnlichkeit erklärt, die
Peyote in getrocknetem Zustande mit einem Pilz hat1 2 3. Bei den verschiedenen Indianerstäm-
men hat der Peyote-Kaktus besondere Namen erhalten. So heißt er bei den Huichol und
Tarahumare hikuri oder hikuli, bei den Tepehuanes kamaba, bei den Cora huatari, bei den
Comanche wokozvi, den Mescalero Apache ho oder hush, den Kiowa seni und bei den Omaha
makan3. Unter den Weißen, sowie unter den Englisch sprechenden Indianern der Vereinigten
Staaten haben sich neben der Bezeichnung Peyote noch die Namen ,,mescal buttons“ und
,,mescal beans“ eingebürgert, die aus einer Verwechslung mit der Mescal genannten, amerika-
nischen Agave und dem gleichlautenden Agavenschnaps entstanden sind4.
Die Wirkungen des Peyotegenusses auf den Menschen sind einmal therapeutischer und
zweitens toxischer Natur. Uber die therapeutischen Wirkungen hegen bisher noch keine
zusammenfassenden Untersuchungen vor, obwohl allgemein eine anregende und beruhigende,
sowie schmerzstillende Wirkung anerkannt wird5. In den Vereinigten Staaten wurde sogar ein
therapeutisches Präparat aus den Substanzen des Peyote-Kaktus hergestellt, das aber nach
einiger Zeit wegen ungünstiger Nebenerscheinungen wieder aus dem Handel verschwand. Die
indianischen Berichte weisen jedoch auf sehr kräftige Heilwirkungen hin (s. u. S. 78f), und es
ist anzunehmen, daß die therapeutische Geschichte des Peyote-Kaktus noch nicht abgeschlos-
sen ist.
Die toxischen Wirkungen, denen bisher das Hauptinteresse der meisten Untersuchun-
gen galt, werden von den im Peyote-Kaktus enthaltenen Alkaloiden ausgelöst. Rouhier unter-
scheidet im ganzen sechs solcher Alkaloide: Meskalin, Anhalamin, Anhalonidin, Peyotlin,
Anhalonin und Lophophorin6. Von diesen Alkaloiden scheint die eigentliche Rauschwirkung
von dem Meskalin auszugehen, jedoch bemerkt Diguet, daß je nach der Verteilung der Sub-
stanzen kleine Unterschiede in der Wirkung vorhanden seien7. Die physiologischen und
psychischen Wirkungen des Meskalins und der anderen Alkaloide sind in kleinerem Umfange
von Lewin (Berlin) und Heffter (Leipzig), Kebler, Morgan und Mitchell (Washington) unter-
sucht worden. Eine eingehende, auf Experimenten mit über sechzig Versuchspersonen fußende
Untersuchung des Meskalins hat vor einigen Jahren der Heidelberger Psychiater Beringer vor-
genommen. Experimentelle Untersuchungen an Indianern fehlen bisher noch gänzlich. Wir
sind daher zur Beurteilung der toxischen Wirkungen des Peyote-Kaktus bei den Indianern
auf die vereinzelten Schilderungen von Rauschzuständen angewiesen, die wir in die Berichte
über den Peyote-Kult eingestreut finden. Die Parallelität zwischen diesen Berichten und den
Ergebnissen, die Beringer an europäischen Versuchspersonen erhalten hat, ist jedoch — wie
wir sehen werden —- so groß, daß hypothetisch angenommen werden darf, daß die von Beringer
festgestelltenWirkungen — zum mindesten hinsichtlich ihrer qualitativen Beschaffenheit —
auch auf die Indianer zutreffen.
Als allgemeines Charakteristikum stellt Beringer8 zunächst fest, daß sich die Rausch-
wirkung des Peyote-Kaktus auf alle Sinnesfunktionen, wie auch auf die zentralen seelischen
1 Safford a, S. 297. 5 Rouhier, S. 344 ff.
2 Safford b, S. 398 ff. 6 Rouhier, S. 201 ff.
3 Rouhier, S. 4. 7 Diguet.
4 Mooney a, S. 2 des Aufsatzes. 8 Das Folgende Ist referiert aus Beringer, S. 35ff.
66
GÜNTER WAGNER
Vorgänge, vor allem die Bewußtseinslage, erstreckt. Die Zusammensetzung der Phänomene
ist dabei individuellen Unterschieden unterworfen und auch bei demselben Individuum nicht
immer gleichbleibend. •
An allgemeinen körperlichen Veränderungen hat Beringer beobachtet: Beeinflussung des
vegetativen Nervensystems, Wechsel der Pulsfrequenz, überwiegend mit einer Tendenz zu
größerer Frequenz, Druckgefühl in der Herzgegend, zeitweise Atembeklemmungen, Erhöhung
des Blutdruckes, teilweise starke Schweißsekretion, teilweise Hauttrockenheit, andererseits
starker Speichelfluß, zum Teil Augentränen. In jedem Falle Nausea, teilweise bis zum Er-
brechen. Schließlich starkes Hungergefühl.
Hinsichtlich der Wirkungen auf die einzelnen Sinnesfunktionen machen sich folgende
Erscheinungen bemerkbar:
Die Geruchsempfindungen werden intensiviert und verändern sich dahin, daß alle
Gerüche, obwohl sie ihre Qualität beibehalten, eine ekelerregende Komponente annehmen.
Zum Teil werden auch halluzinatorische Geruchsempfindungen wahrgenommen.
Der Geschmackssinn erleidet sowohl Steigerungen wie Abschwächungen seiner In-
tensität. Gewisse Geschmacksempfindungen treten stärker hervor als andere.
Beim Gehörssinn finden sich ebenfalls Intensitätsschwankungen, bald Uberempfind-
lichkeit, bald Unterempfindlichkeit. Der Gefühlston akustischer Wahrnehmungen wird ver-
ändert, die Geräusche werden „verseltsamt“. Wahrnehmungen gehen über in illusionäre Ver-
kennungen. So klingt das Geräusch eines Autos wie herrliche Orchestermusik.
Der Gesichtssinn wird im Meskalinrausch erheblich stärker als die anderen Sinne
beeinflußt; die Symptome wechseln jedoch nach Qualität und Häufigkeit von Fall zu Fall.
Sowohl die Färb- wie die Formwahrnehmungen werden verändert, wobei diese Veränderung
nach allen Richtungen hin erfolgen kann. Ferner werden Scheinbewegungen von Gegenstän-
den erlebt, sowie Vergrößerungen und Verkleinerungen einzelner Gegenstände. So wird die
ganze Außenwelt umgestaltet. Bei vielen Halluzinationen tritt sogar eine Lokalisations-
unsicherheit ein; es entsteht so ein Schwanken zwischen der Projektion nach außen und dem
Haben im Auge.
Neben diesen Störungen der vier höheren Sinne werden im Meskalinrausch auch die soge-
nannten Allgemeinempfindungen verändert. Häufig sind abnorme Kälteempfindungen,
die vorwiegend an den erogenen Zonen lokalisiert sind. Weiterhin finden sich Veränderungen
des Tastgefühls, sowohl Abstumpfung wie Uberempfindlichkeit des Hautsinnes, Störungen
der Lageempfindungen und Veränderungen des eigenen Körpergefühls.
Schließlich fand Beringer im Meskalinrausch die Erscheinung der Mitempfindungen
(Synästhesien) sehr typisch ausgeprägt, und zwar treten diese so stark auf, daß sie durchaus
Wahrnehmungscharakter haben.
Für unser Problem wesentlicher als die Veränderungen der einzelnen Sinnesfunktionen
sind die Veränderungen des seelischen Gesamtzustandes, die der Peyoterausch hervorruft.
Die Bewußtseinslage verändert sich nach den verschiedensten Richtungen hin und
schwankt zwischen Klarheit und Trübung. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis wird einmal als
abnormer Abstand, das andere Mal als abnorme Verschmelzung erlebt. Dies äußert sich einer-
seits in Erlebnissen der Ichspaltung, bei denen sich das erlebende Ich und das konstatierende,
objektivierende, wissende Ich gegenüberstehen, und andererseits in dem Erlebnis einer Auf-
gabe des Ich als Persönlichkeit, bei dem die Kontinuität mit dem früheren Sein abreist und das
Gefühl einer Einheit zwischen dem Ich und der Welt entsteht. Das ganze Erleben ist von Ver-
änderungen des Zeitbewußtseins begleitet, die sowohl das subjektive zeitliche Erleben betref-
fen als auch den objektiven Zeitablauf, wie er an der Bewegung von Gegenständen wahr-
genommen wird: Der sukzessive Bewegungsablauf wird entweder als simultan erlebt, so daß
alles, was in Wirklichkeit hintereinander erfolgt, als ein Durcheinander erscheint, oder er wird
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
6 7
verlangsamt und erscheint so gleichsam mit der Zeitlupe aufgenommen. Ebenso verändert sich
der Denkablauf, der nicht mehr beherrscht ist. Die Gedanken überstürzen sich, gehen ihre
eigenen Wege und äußern sich mehr in konkreten, anschaulichen Bildern als in logischen Ge-
dankenreihen.
Hinsichtlich der Gefühlslage konstatiert Beringer in der überwiegenden Zahl der Fälle
einen Zustand der Euphorie, der trotz teilweise körperlichen Unbehagens auftritt und be-
ziehungslos zum Ich-Bewußtsein bleibt. Dieses Glücksgefühl scheint das zentrale Erlebnis des
ganzen Rausches zu sein und die nachhaltigste Wirkung zu haben. Beringer sagt darüber:
,,Nicht die Einzelheiten, sondern das Gesamt des Erlebens bleibt als etwas Fremd-
artiges aber Ernsthaftes und die Persönlichkeit zu tiefst Berührendes bestehen. Die noch
so weit gesteckten Grenzen normaler Erlebnismöglichkeiten sind auf kurze Zeit ge-
sprengt und reichen in sonst verschlossene Erlebnisbereiche hinüber. Daher fällt auch
das nachträgliche Bestreben um Einordnung und Einbeziehung in den Kreis des Ge-
wohnten und Bekannten schwer, mehr oder minder behält der Rausch doch als ein
fremdartiges, aber bedeutungsvolles Geschehen eine Sonderstellung zum Ich, eben einen
rational nicht völlig faßbaren Erlebniswert1.“
Das Material, das wir zum Vergleich mit den Ergebnissen Beringers über die Rausch-
erlebnisse der Indianer heranziehen können, ist sehr begrenzt, da sich die meisten Beobachter
darauf beschränkt haben, die Peyotezeremonien zu studieren, ohne einzelne Individuen nach
ihren Erlebnissen zu befragen. In der Literatur über den Peyote-Kult der mexikanischen
Indianer finden wir überhaupt keine direkten Schilderungen der Wirkungen des Peyote-
genusses, sondern nur einige allgemeine Bemerkungen. So schreibt Sahagun im 16. Jahrhun-
dert über eines der teonanacatl-Feste der Azteken:
„Zuerst wurden auf der Versammlung gewisse schwarze Pilze gegessen, die sie nanacatl nennen und die berauschen und
Visionen verursachen. Die Pilze aßen sie mit Syrup (vom Saft der Agave), und sobald sie die Wirkungen zu fühlen begannen,
fingen sie an, zu tanzen; einige sangen, andere weinten, weil sie schon von den Pilzen berauscht waren; andere wiederum wünschten
nicht zu singen, sondern setzten sich in ihre Hütten und blieben dort, als ob sic meditierten. Einige hatten Visionen, daß sie
stürben und verschütteten Tränen, andere bildeten sich ein, daß wilde Tiere sie verschlängen, andere, daß sie im Kriege gefangen
genommen würden, andere, daß sie reich wären und andere wieder, daß sie viele Sklaven hätten; andere, daß sie Ehebruch be-
gangen hätten und daß sie als Strafe ihr Genick brechen müßten; andere, daß sie des Diebstahls schuldig wären, wofür sie hin-
gerichtet werden würden, und noch viele andere Visionen wurden von ihnen gesehen. Nachdem die Rauschwirkung der Pilze
vorüber war, unterhielten sie sich miteinander über die Visionen, die sie gehabt hatten2.“
Uber die Wirkungen des Peyotegenusses bei den Huichol-Indianern Mexikos berichtet
Diguet:
„Die Indianer betrachten die Droge als Nahrung für die Seele und verehren sie auf Grund ihrer wunderbaren Eigenschaften.
Die Offenbarungen der Halluzinationen, die sie kurz nach der Aufnahme des Stoffes hervorruft, werden für eine übernatürliche
Gnade angesehen, die den Menschen gestattet, mit den Göttern in Verbindung zu treten; überdies wird der die Droge mit Mäßig-
keit gebrauchende Benutzer mit einer Energie ausgestattet, die es ihm ermöglicht, große Müdigkeit zu überwinden und Hunger
und Durst fünf Tage lang auszuhalten3.“
Ebenfalls über die Huichol-Indianer schreibt Lumholtz, daß er sie bei ihren nächtlichen
Festen im Zustande der Intoxikation durch Tesvino und Hikuli (Peyote) abwechselnd lachen
und weinen sah. Weiter berichtet er über Visionen, Steigerung der körperlichen Widerstands-
fähigkeit, Verschwinden der sexuellen Bedürfnisse und Schwindelfreiheit trotz fehlender
körperlicher Kontrolle4. Diese und einige allgemeine Bemerkungen bei Brinton5 und anderen
sind alles, was wir über die Wirkung des Peyotegenusses bei den mexikanischen Stämmen
wissen. Uber den Peyoterausch bei den Indianern der Vereinigten Staaten liegen dagegen
eine Anzahl direkter Schilderungen vor. So berichtet Francis P. Morgan von einem Indianer
der Menomini-Reservation in Wisconsin;
1 Beringer, S. 97. 3 Zit. aus Safford a, S. 305 f., übersetzt vom Verfasser.
2 Sahagun, Hist. Nueva España, zit. aus Safford b, S. 404, 4 Lumholtz b, Bd. I. S. 358!.
übersetzt vom Verfasser. 5 Brinton, S. 6 ff.
IO Baessler-Archiv.
68
GÜNTER WAGNER
„Die Zeremonie begann ungefähr um neun Uhr abends. Ein Teilnehmer berichtete, daß er kurze Zeit nach dem Genüsse
von vier Peyote-Pflanzen (buttons) verschiedenartige Bilder sehen konnte, sobald er die Augen schloß. Zuerst sah er Gott mit
einer blutenden Wunde in seiner Seite. Diese Vision verschwand, als er die Augen öffnete, erschien aber von neuem, sobald
er sie wieder schloß. Dann sah er den Teufel mit Hörnern und Schwanz von der Farbe eines Negers. Darauf sah er schlechte
Dinge, die er früher begangen hatte, eine Wassermelone, die er gestohlen hatte und so viele andere Dinge, daß es einen ganzen
Tag dauern würde, sie alle aufzuzählen. Dann sah er ein Kreuz, umgeben von allen denkbaren Farben, weiß, rot, grün und blau.
Fr war nicht hilflos. Er stellte fest, daß er hätte gehen können, wenn er gewollt hätte, aber daß er es vorzog, still zu sitzen und
die Bilder zu betrachten1.“
Einen weiteren, wörtlichen Bericht gibt Safford von Thomas Prescott, einem Menomini-
Indianer aus Wittenberg, Wisconsin:
„Wir Jungen waren regelmäßige Trinker, bevor wir diese Peyote erhielten, und so, wenn ich betrunken war, lag ich irgend-
wo am Wege und hatte kein Heim und nichts anderes. Bevor ich dieses (Peyote) erhielt, tat ich Unrecht und alles andere. Jetzt,
seitdem ich dieses Peyote habe, hält es mich fern vom Trinken, und seit ich es gebrauche, bin ich immer nüchtern gewesen. . . .
Ich sehe das Gute und das Böse, wenn ich Peyote esse. Wenn ich jenes Peyote esse, lehrt es mein Herz; ich weiß alles, was
recht und was unrecht ist. Das ist die Art, wie Peyote für das Gute und für Gott schafft, und das ist die Art und Weise, wie wir
es anbeten. . . . Als ich dieses Peyote nahm, konnte ich mich selbst sehen, wie ich betrunken zu sein pflegte; ich konnte die Fla-
schen, die meinen Whisky und Alkohol zu enthalten pflegten, ich konnte mich selbst betrunken am Wege liegen sehen. Das
ist die Art, wie Peyote uns das Schlechte zeigt und uns das Gute lehrt. Wir könnten unsere Versammlungen ohne jenes
Peyote abhalten, aber wir sehen andere kommen — eine neue Person —, sie wünscht es zu gebrauchen, und wenn sie dieses
Peyote nimmt, dann glaubt sie an Gott. Das ist der Grund, warum wir es gebrauchen. Ohne dies, nun, sie würden an niemanden
glauben2.“
Von einem Omaha-Indianer gibt Safford folgenden Bericht:
„Die Medizin wirkt nicht sofort, aber nachdem die Wirkung beginnt — ungefähr gegen Mitternacht — fangen sie au zu
weinen, singen und beten und stehen und schütteln sich am ganzen Körper; einige von ihnen sitzen nur da und starren in die
Luft. Ich saß gewöhnlich in ihrer Reihe und aß von ihrer Medizin, aber nachdem ich sie das erste Mal gegessen hatte, fürchtete
ich mich davor. Sie machte mich etwas schwindlig, mein Herz schlug, und ich fühlte mich dem Weinen nahe. Einige sagten
mir, daß dies wegen meiner Sünden sei. Peyote macht mich nervös, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich etwras wie ein
Bild oder Visionen, und wenn meine Augen offen sind, kann ich es nicht so klar sehen.... Nachdem ich zwölf Peyote genommen
hatte, sah ich einen Berg mit Wegen, die zu der Spitze führten, und in Weiß gekleidete Leute gingen diese Wege hinauf. Ich
wurde sehr schwindlig und fing an, alle Arten von Farben zu sehen, und Pfeile begannen um mich herumzufliegen. Ich fing an,
stark zu schwitzen und bat, ins Freie genommen zu werden. Es war damals 20° unter Null. Als ich ins Freie kam, fühlte ich
mich besser. Als ich wieder hineinging, hörte ich Stimmen, als ob sie von überall von der Decke kämen. Ich blickte in den an-
deren Raum und dachte, ich hörte dort Frauen singen; aber den Frauen war es gewöhnlich nicht gestattet, bei den Versammlungen
zu singen, und so war dies ziemlich seltsam. Nachdem ich 36 von diesen Peyote gegessen hatte, war ich wie betrunken, nur noch
mehr so, und ich fühlte mich gut, besser als nach dem Genuß von Whisky; danach fing ich an, einen großen Haufen Schlangen
zu sehen, die überall vor mir umherkrochen, und ein Gefühl der Kälte kam über mich. Der Schatzmeister der heiligen Peyote-
Gesellschaft saß in meiner Nähe, und ich fragte ihn, ob er junge Katzen hörte. Es klang als ob sie direkt neben mir wären, und
dann saß ich lange Zeit hindurch still und sah einen großen, schwarzen Kater auf mich zukommen; ich fühlte ihn wie einen Tiger,
der auf meinen Beinen gehend auf mich zukam; als ich seine Klauen fühlte, sprang ich zurück und äußerte einen Laut, als wenn
ich Angst hätte; er (der Schatzmeister) bat mich zu sagen, was los sei, und so erzählte ich es ihm nach einer Weile. Zuerst wollte
ich nicht erzählen; aber dann entschloß ich mich, nach dem, was ich gesehen hatte, nicht einen einzigen von diesen Peyote mehr
zu nehmen, selbst wenn sie mir einen Zehndollarschein dafür geben würden2.“
Einen weiteren, allerdings sehr wenig unmittelbaren Bericht über die Wirkungen des
Peyotegenusses erhielt der Verfasser von einem Shawnee-Indianer, John James, aus Kelley-
ville, Oklahoma;
„Peyote ist gut für alles. Es heilt unser Hirn, Ohren, Gelenke, Zahnschmerzen und auch moralische Krankheiten. Es
macht uns zu einem guten Menschen. Es bewirkt, daß wir jeden lieben. Es macht uns duldsam gegen jeden. Es lebte einmal
ein Medizinmann (Peyote), der ganz makellos war. Gott hatte ihm Macht gegeben. Er konnte ein Kind heilen, ohne ihm weh
zu tun. Er spricht zu uns in unserem Herzen. Er erzählt uns von Gott. Peyote zeigt den Weg zu Gott und zu Christus. Peyote
weiß alles; Peyote ist „chooth“3. Peyote kann alles über die Bibel sagen, aber die Bibel kann nichts über Peyote sagen. Es wird
Dir sagen, wer Du bist. Aus diesem Grunde ist es etwas Gutes. Peyote erfordert Glauben; es wird Dir helfen wie Christus. Peyote
ist der beste Arzt. Es bewirkt, daß wir arbeiten und Korn pflanzen. Peyote ist vollkommen und rein; der Teufel hat keine Macht
darüber.“
Wir kommen nun zu den ausführlicheren Bekehrungsberichten, die uns Radin von den
Winnebago-Indianern mitteilt und die wir hier wenigstens in Auszügen zitieren wollen. John
Rave, ein Winnebago-Indianer, der Peyote bei seinen Stammesgenossen einführte, gibt
folgenden Bericht über seine ersten Peyote-Eindrücke:
1 Safford a, S. 305 L, vom Verf. übersetzt.
2 Safford a, S. 306 L, übersetzt vom Verf.
3 ‘chooth’ ist, soweit Ich dies erfahren konnte, gleichbedeutend
mit ,heilig1, ,mächtig“, ,allwissend1.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
69
„Während der Jahre 1893/94 war ich in Oklahoma mit den Peyotecssern zusammen. — In der Mitte der Nacht sollten wir
Peyote essen. Die anderen aßen davon und ich ebenfalls. Um Mitternacht bekam ich Angst, denn ein lebendes Wesen schien in
mich hineingegangen zu sein. ,Warum tat ich es ?‘ dachte ich bei mir selbst, ,ich sollte es nicht getan haben, denn gleich am Anfang
habe ich mir Schaden zugefügt. Fürwahr, ich sollte es nicht getan haben. Ich bin sicher, es wird mich verletzen. Das Beste wird
für mich sein, es auszubrechen. Nun denn, ich will es versuchen. Nach einigen Versuchen gab ich es auf.“ Ich dachte bei mir:
,Nun hast du es getan! Du bist umhergewandert und hast alles ausprobiert, und nun hast du etwas getan, was dir geschadet hat.
Was ist es ? Es scheint lebendig zu sein und sich in meinem Magen herumzubewegen. Wenn nur einige meiner Angehörigen hier
wären! Das würde besser sein. So wird niemand wissen, was mir geschehen ist. Ich habe mich selbst getötet. In dem Augenblick
war der Gegenstand gerade so weit herauszukommen. Er wrar nahezu heraus, und ich fühlte mit meiner Hand danach, aber
dann ging er wieder zurück. ,0 Gott, ich sollte es von Anfang an nie getan haben. Nie wieder will ich es tun. Ich werde sicher
sterben.“
Während wir die Sitzung fortsetzten, wurde es Tag und wir lachten. Bis dahin war ich unfähig gewesen zu lachen. In der
folgenden Nacht sollten wir wieder Peyote essen. Ich dachte bei mir; ,Letzte Nacht hat es mir beinahe geschadet.“ ,Nun, laßt
es uns wieder tun,“ sagten sie. ,Schön, ich w'erde mitmachen.“ Und so aßen wir jeder sieben Peyote.
Plötzlich sah ich eine große Schlange. Ich war sehr entsetzt. Dann kam eine andere und kroch über mich. ,Mein Gott,
woher kommen diese ?“ An meinem Rücken schien etwas zu sein. So blickte ich herum und sah eine Schlange, die gerade im
Begriffe war, mich gänzlich zu verschlingen. Sie hatte Beine und Arme und einen langen Schwanz. Das Ende dieses Schwanzes
war wie ein Speer, ,0h mein Gott, jetzt werde ich sicher sterben,“ dachte ich. Dann blickte ich wieder in eine andere Richtung
und sah einen Mann mit Hörnern und langen Klauen und einem Speer in der Hand. Er sprang nach mir und ich warf mich auf
den Boden. Er verfehlte mich. Dann blickte ich zurück, und diesmal ging er fort, aber es schien mir, daß er seinen Speer auf
mich richtete. Wieder warf ich mich auf den Boden, und er verfehlte mich. Es schien kein Entkommen für mich möglich zu
sein. Dann kam mir plötzlich der Gedanke: ,Vielleicht ist es das Peyote, das mir diese Dinge antut! Hilf mir, oh Medizin, hilf
mir! Du tust mir dies an, und Du bist heilig! Es sind nicht diese schrecklichen Visionen, die dies verursachen. Ich sollte gewußt
haben, daß Du es tatest. Hilf mir!“ Dann hörte mein Leiden auf. ,Solange die Erde besteht, will ich von Dir Gebrauch machen,
oh Medizin!“
Dies hatte eine Nacht und einen Tag gedauert; eine ganze Nacht hindurch hatte ich überhaupt nicht geschlafen. Dann
frühstückten wir. Als wir fertig waren, sagte ich: ,Laßt uns heut nacht wieder Peyote essen!“ An jenem Abend aß ich acht
Peyote.
In der Mitte der Nacht sah ich Gott. Ich betete zu dem oben lebenden Gott, unserem Vater. ,Hab Gnade für mich! Gib
mir Wissen, damit ich keine schlechten Dinge sagen und tun möge. Zu Dir, oh Gott, versuche ich zu beten Du, Sohn Gottes,
hilf mir auch! Laß mich Deine Religion kennen! Hilf mir, oh Medizin, Großvater, hilf mir! Laß mich diese Religion kennen!“
So sprach ich und saß sehr still. Und dann erblickte ich den Morgenstern, und er war schön anzuschauen. Während der Nacht
war ich voller Furcht gewesen, aber jetzt war ich glücklich. Jetzt, als das Licht erschien, glaubte ich, daß für mich nichts un-
sichtbar sein würde. Ich schien alles klar zu sehen. Dann dachte ich an mein Heim, und als ich umherblickte, sah ich das Haus,
in dem ich weit entfernt unter den Winnebago lebte, ganz in meiner Nähe. Dort am Fenster sah ich meine Kinder spielen. Dann
sah ich einen Mann auf mein Haus zugehen, einen Krug Whisky tragend. Dann gab er ihnen etwas zu trinken, und der, der den
Whisky gebracht hatte, betrank sich und belästigte meine Angehörigen. Schließlich rannte er fort. ,So, das tun sie also,“ dacht
ich bei mir. Dann erblickte ich meine Frau, wie sie kam und draußen vor der Tür stand, in eine rote Decke gehüllt. Sie dachte
daran, zum Flaggenmast zu gehen, und ich überlegte, welchen Weg sie nehmen würde. ,Wenn ich diesen Weg wähle, werde ich
wahrscheinlich einige Leute treffen, gehe ich dagegen den anderen Weg, so werde ich wahrscheinlich niemanden treffen.“
Es ist wirklich gut. Sie sind alle wohlauf, mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter. Ich fühlte mich wirklich sehr
wohl, ,0h, Medizin, Großvater, Du bist ganz bestimmt heilig! Alles, was mit Dir verbunden ist, möchte ich gern kennen und
verstehen. Hilf mir! Ich will mich Dir ganz hingeben!“
Drei Tage und drei Nächte lang hatte ich die Medizin gegessen, und drei Tage und drei Nächte hindurch hatte ich nicht
geschlafen. Ich erkannte jetzt, daß ich während all der Jahre, die ich auf Erden gelebt hatte, nie etwas Heiliges gekannt hatte.
Jetzt wußte ich um das Heilige zum erstenmal. Ich wünschte, daß einige der Winnebago es auch kennen lernen würden1.“
Während John Rave, wie Radin berichtet, in seinen ersten Peyoterausch in einem Zu-
stand geistiger und seelischer Indolenz hineinging, mit einer passiven Bereitschaft, Peyote
auf sich wirken zu lassen, stammen die folgenden Berichte von einem Indianer J. B., der
nüchtern und mit großer Skepsis an den Peyote-Versammlungen teilnahm. Er konnte sich
auch dazu nur entschließen, weil er sich den Peyoteanhängern für Geschenke und Gefällig-
keiten verpflichtet fühlte und so schließlich ihrem Drängen nachgeben mußte. Über seinen
ersten Peyoterausch berichtet er:
„----Dann wurde Peyote herumgereicht. Sie gaben mir fünf Stück. Mein Schwager sagte zu mir; ,Wenn Du zu dieser
Medizin sprichst, wird sie Dir alles geben, wonach Du sie fragst. Dann mußt Du zum Erdschöpfer beten und die Medizin essen.“
Ich aß die Peyote jedoch sofort, denn ich wußte nicht, wonach Ich fragen sollte und was ich in einem Gebet an den Erdschöpfer
sagen sollte. Ich aß daher die Peyote so wie sie waren. Sie waren sehr bitter und hatten einen schwer zu beschreibenden Ge-
schmack. Ich überlegte, was mit mir geschehen würde. Nach einer Weile wurden mir fünf weitere gegeben, und ich aß sie eben-
falls. Sie schmeckten ziemlich bitter. Jetzt war ich sehr still. Die Peyote schwächten mich ziemlich. Dann hörte ich sehr auf-
1 Radin a, S. 389 ff., vom Verfasser übersetzt.
70
GÜNTER WAGNER
merksam dem Gesänge zu. Er gefiel mir sehr gut. Ich fühlte mich wie im Halbschlaf. Ich fühlte mich verschieden von meinem
Normalzustand, aber wenn ich umherblickte und mich prüfte, sah ich an mir nichts Absonderliches. Ich fühlte mich jedoch
anders. Bis dahin pflegte ich die Gesänge zu verabscheuen. Jetzt gefiel mir der Gesang des Leiters sehr gut. Ich hörte ihm
gern zu.
Die Teilnehmer saßen alle sehr still. Sie taten weiter nichts als singen. . . . Nach Mitternacht hörte ich ab und zu jemanden
weinen. In einigen Fällen gingen sie hinauf zum Leiter und sprachen mit ihm. Er stand auf und betete mit ihnen. Man er-
zählte mir, was sie sagten. Man sagte, daß sic die Leute bäten, für sie zu beten, da es ihnen um ihre Sünden leid täte, und daß
sie davor behütet werden möchten, sie wieder zu begehen. Solche Dinge sagten sie. Sie weinten sehr laut. Ich war ziemlich
furchtsam. Ich bemerkte auch, daß ich, sobald ich still saß und die Augen schloß, seltsame Dinge zu sehen begann. Ich war nicht
im geringsten schläfrig. So kam das Tageslicht über mich. Am Morgen, als die Sonne aufging, hörten sie auf. Zum Schluß
standen alle auf und beteten zum Erdschöpfer1.“
Nach dieser Nacht war J. B. jedoch noch nicht bekehrt, sondern betrachtete das Ganze
für sich nur als Spielerei. Immerhin gab er seine Medizinbündel weg und gestattete, daß sie
verbrannt würden. Uber eine seiner späteren Peyotenächte, an der er allerdings auch noch
nicht aus voller Überzeugung teilnahm, berichtet er folgendes:
„Es war spät in der Nacht; ich hatte eine Menge Peyote gegessen und fühlte mich ziemlich müde. Ich litt beträchtlich.
Nach einer Weile blickte ich den Peyote-Fetisch an und sah dort einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln stehen. Es war ein so
schöner Anblick, wie man ihn nur haben konnte. Jede von den Federn schien ein Zeichen zu haben. Der Adler stand dort und
sah mich an. Ich blickte umher in der Annahme, daß vielleicht irgendetwas mit meiner Schfähigkeit in Unordnung sei. Dann
blickte ich wieder hin, und er war wirklich dort. Darauf sah ich in eine andere Richtung, und er verschwand. Nur der kleine
Peyote-Fetisch blieb dort. Ich blickte umher auf die anderen Leute, aber sie hatten alle ihre Köpfe gebeugt und sangen. Ich
war sehr überrascht. Nach einiger Zeit sah ich einen Löwen an derselben Stelle wie den Adler liegen. Ich beobachtete ihn sehr
genau. Er war lebendig und blickte mich an. Ich sah ihn sehr genau an, und als ich meine Augen nur ein klein wenig wegwandte,
verschwand er. Ich dachte: ,Wahrscheinlich kennen sie dies alle, und ich fange erst an, es zu kennen.4 Dann sah ich einen kleinen
Menschen an derselben Stelle. Er trug blaue Kleider und eine leuchtende, umränderte Mütze. Er hatte eine Soldatenuniform an.
Er saß auf dem Arm eines Teilnehmers, der die Trommel schlug, und blickte jeden an. Er war ein kleiner Mann, aber vollkommen
in den Proportionen. Schließlich verlor ich ihn aus den Augen. Ich war wirklich sehr erstaunt. Ich saß sehr still. ,Das ist es
also,4 dachte ich, ,das ist es, was sie alle sehen, und ich fange gerade erst an, es herauszufinden.4
Dann betete ich zum Erdschöpfer: ,Diese, Deine Zeremonie, laß mich von nun an verrichten!4
Als ich wieder hinblickte, sah ich eine Flagge. Ich sah genauer hin und erblickte ein Haus voller Flaggen. Sie waren
mit den schönsten Zeichen bedeckt. In der Mitte des Zimmers war eine große Flagge, die lebendig war und sich bewegte. Am
Eingang war eine andere, die nicht ganz sichtbar.war. Ich hatte bisher nie in meinem Leben so etwas Schönes gesehen.
Dann betete ich wieder zum Erdschöpfer. Ich beugte meinen Kopf, schloß die Augen und begann zu sprechen. Als ich
betete, bemerkte ich etwas über mir, und dort war Er; Erdschöpfer, zu dem ich betete, Er war es. Das, was die Seele genannt
wird, das ist es, was man den Erdschöpfer nennt. Dies war es, was ich fühlte und sah. Alle, die wir dort saßen, wir alle hatten
zusammen einen Geist oder eine Seele; wenigstens war es dieses, was ich erfuhr. Ich wurde im Augenblick der Geist und war ihr
Geist oder ihre Seele. Woran sic auch immer dachten, ich wußte es sofort. Ich hatte es nicht nötig, zu ihnen zu sprechen und
eine Antwort zu erhalten, um zu wissen, was sie gedacht hatten. Dann dachte ich an einen bestimmten Ort, weit entfernt, und
sofort war ich dort; ich war mein Gedanke.
Ich blickte umher und bemerkte, wie alles um mich herum schien( ?), und als ich meine Augen öffnete, war ich wieder ich
selbst in meinem Körper. Von dieser Zeit an dachte ich: ,So soll ich sein. So sind die anderen, und ich fange erst an, so zu sein.
All jene, die Erdschöpfer achten, müssen so sein,4 dachte ich. Ich würde keine Nahrung mehr brauchen, denn war ich nicht
mein Geist ? Noch würde ich meinen Körper weiterhin brauchen; meine körperlichen Angelegenheiten sind vorüber,4 fühlte ich2.“
Nach diesem Erlebnis wurde er ein regelmäßiger Peyote-Anhänger. Über eine seiner
späteren Visionen berichtet er:
„ Jedesmal wenn ich von einer Peyote-Versammlung hörte, ging ich hin. Meine Gedanken waren jedoch immer auf Frauen
gerichtet. ,Wenn ich (legal) verheiratet wäre, würden mich diese Gedanken vielleicht verlassen,4 dachte ich. Jedesmal w'enn ich
zu einer Versammlung ging, versuchte ich, so viele Peyote wie möglich zu essen, denn man erzählte mir, daß es gut sei, sie zu
essen. Deshalb aß ich sie. Wenn ich dort säße, würde ich immer zum Erdschöpfer beten. Nun, dies waren meine Gedanken.
,Wenn ich verheiratet wäre,4 dachte ich, als ich dort saß, ,dann könnte ich alle meine Gedanken auf diese Zeremonie richten.4
Ich saß dort mit geschlossenen Augen und war sehr still.
Plötzlich sah ich etwas. Es war festgebunden. Der Strick, mit dem der Gegenstand gebunden war, war lang. Der Gegen-
stand selbst lief immer im Kreise herum. Dort war ein Weg, auf dem er gehen sollte, aber er war festgebunden und unfähig,
dorthin zu gelangen. Der Weg war ausgezeichnet. Am Rande entlang wuchs Blaugras, und auf jeder Seite wuchsen viele Arten
schöner Blumen. Süßriechendc Blumen sprossen überall am Wege empor. Weit in der Ferne erschien ein helles Licht. Dort war
eine Stadt von unbeschreiblicher Schönheit sichtbar. Ein Kreuz war im Blickfelde. Der angebundene Gegenstand fiel immer
gerade kurz bevor er den Weg erreichte. Ihm schien die nötige Kraft zu fehlen, um sich loszureißen. Nahe bei lag etwas, was ihm
genügend Kraft gegeben hätte, die Fesseln zu brechen, wenn er nur fähig gewesen wäre, es zu erreichen. Ich sah auf den Gegen-
stand, der so unentrinnbar festgebunden war und sah, daß ich es selbst war. Ich dachte immer an Frauen. ,Daran bin ich fest-
1 Radin a, S. 403 ff., vom Verfasser übersetzt.
2 Radin a, S. 406 f., vom Verfasser übersetzt.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
/1
gebunden,“ dachte ich. ,Wäre ich verheiratet, so würde ich Kraft genug haben, um meine Fesseln zu brechen und fähig sein, auf
dem guten Wege zu wandeln.“ Dann kam das Tageslicht über uns, und wir hörten auf1.“
Zum Schluß zitieren wir noch den letzten Bericht J. B.s, der das seiner Taufe als Peyote-
Anhänger voraufgehende Erlebnis schildert;
,,Ich saß dort und bat um immer mehr Peyote. Dies tat ich die ganze Nacht hindurch. Als es Morgen wurde, hörte ich
auf. Gerade dann stand Harry Rave auf, um zu sprechen, und in dem Augenblick, als er aufstand, wußte ich genau, was er
sagen würde. ,Dies muß eine Eigenschaft aller Peyoteesser sein,“ dachte ich. Ich schaute mich um, und plötzlich wurde mir
klar, daß alle im Raume Anwesenden meine Gedanken kannten, und daß ich die Gedanken aller anderen kannte. Harry Rave
sprach und beendete seine Rede, aber ich hatte es alles gewußt, bevor er ein Wort sagte. Dann stand A. Priest, der die Versamm-
lung leitete, auf und bat die andern, aufzustehen, damit sie sich Christus ergeben könnten. Ich erhob mich ebenfalls, aber als
ich aufgestanden war, wurde ich von einem Würggefühl gepackt. Ich konnte nicht atmen. Ich wünschte Bear und Sam zu
fassen, aber ich tat es nicht, da ich auszuhalten gedachte, was immer kommen möge. Als ich mich dazu entschlossen hatte, fühlte
ich mich erleichtert. Dann wußte ich, was das „Sich-Christus-ergeben“ wirklich bedeutet2.“
Dies sind alle Berichte, die bisher über die Peyote-Erlebnisse der Indianer vorliegen. Wenn
die Übereinstimmungen in den zitierten Berichten auch nicht hinreichen, um alle Erlebnisse
der Indianer im Peyoterausch auf eine allgemeingültige Formel zu bringen, so lassen sich doch
einige, immer wiederkehrende Symptome feststellen.
Von einer Zusammenstellung der sinnespsychologischen Symptome sehen wir ab, da die
sich darauf beziehenden Bemerkungen zu vereinzelt sind; soweit sie aber vorhanden sind,
decken sie sich durchaus mit dem, was Beringer an seinen Versuchspersonen festgestellt hat3.
Fassen wir nun das Typische an den höheren seelischen Vorgängen zusammen, so können wir
zunächst als häufige Symptome der Gefühlslage einerseits Angstgefühle (objektlos) und
furchterregende Visionen (Schlange, Mann mit Hörnern, Klauen und Speer, wilde Tiere,
Sklaverei, Strafe für Ehebruch, Diebstahl etc.) feststellen; andererseits dagegen treten Ge-
fühle der Euphorie auf, wie aus dem Bericht des Omaha-Indianers hervorgeht, wenn er sagt,
daß er sich wie nach dem Genüsse von Whisky fühle, nur besser, ferner aus den Berichten
John Raves, wenn er die Schönheit des Morgensternes bewundert und L. B.’s, wenn er seine
Freude an dem sonst verabscheuten Gesänge hervorhebt. Hinsichtlich der Bewußtseinslage
können wir als typische Symptome feststellen: Erstens eine Spaltung des Ichbewußtseins, die
zum Erlebnis der Loslösung des geistigen vom körperlichen Ich und damit zum gleichzeitigen
Erlebnis zweier Ichexistenzen führt, und zweitens eine Bewußtseinssteigerung, die sich in Ver-
bindung mit der Ichspaltung in Erlebnissen der Allwissenheit und Allgegenwart äußert. Wir
finden diese letztere angedeutet schon in dem Bericht Diguets, wenn er von der Gnade der
„Kommunikation mit den Göttern“ spricht. Deutlich hervor tritt sie dann in der Schilderung
des Menomini-Indianers, wenn er sagt, daß Peyote ihn lehre, was recht und unrecht sei, und
daß er im Peyote-Rausch sich selbst sehen könne; ferner in dem Bericht John James’, „Peyote
kann alles über die Bibel sagen“ . . . „es wird Dir sagen, wer Du bist;“ in den Berichten der
Winnebago-Indianer: „Jetzt, als das Licht erschien, glaubte ich, daß für mich nichts mehr
unsichtbar sein würde, ich schien alles klar zu sehen.“ . . . „Das, was man die Seele nennt, das
ist es, was ich fühlte und sah .... alle, die wir dort saßen, wir hatten zusammen einen Geist
oder eine Seele. . . . woran sie auch immer dachten, ich wußte es sofort. . . . ich war mein
Gedanke........ als ich die Augen öffnete, war ich wieder ich selbst in meinem Körper.“
Schließlich begegnet uns das Symptom der Bewußtseinssteigerung in der Vision des ange-
bundenen, sich im Kreise bewegenden Gegenstandes und der Gedankeneinheit aller An-
wesenden. — Freilich ist diese Symptomatik, die wir hier als Euphorie und Angst auf der
Gefühlsseite und als Bewußtseinsspaltung und Bewußtseinssteigerung auf der Gedanken-
seite herausgestellt haben, äußerst roh und unvollständig, obgleich sie als allgemeine Er-
scheinungsform schon eine sehr große Fülle von verschiedenen Erlebnisinhalten in sich ein-
schließen kann.
1 Radin a, S. 406 ff., vom Verfasser übersetzt. 3 Vgl- oben S. 66 ff,
2 Radin a, S. 413 ff., vom Verfasser übersetzt,
72
GÜNTER WAGNER
Vergleichen wir die Symptome, die wir aus den indianischen Berichten gewonnen haben,
mit den von Beringer gefundenen, so erkennen wir eine weitgehende Parallelität. Hier wie dort
die Gefühlslage der Euphorie, der allerdings bei den Indianern meist Angstzustände voran-
gehen, und dieselben Symptome der Ichspaltung und der Bewußtseinserweiterung, die hier
wie dort zu denselben Erlebnissen führen, soweit deren allgemeine Erscheinungsform in Frage
kommt. Nur die speziellen Inhalte der Visionen sind verschieden; hier sind sie dem europäi-
schen Kulturmilieu, dort der indianisch-europäischen Mischkultur entnommen.
Wir haben im Vorangegangenen die mit dem Peyotegenuß verbundenen Rauschzustände
so ausführlich betrachtet, weil sie einmal für das allgemeine Verständnis des Kultes von Be-
deutung sind, und zum andern die geschilderten Halluzinationen als die Ansatzpunkte für die
Auswahl traditioneller und die Entstehung neuer Momente des Peyote-Rituals und besonders
der Lehre zu betrachten sind. Ferner wirft die Übereinstimmung der Rauscherlebnisse ein
Licht auf die Bedingungen, unter denen die Visionen einzelner von der Kultgemeinschaft als
neue Kultmomente akzeptiert werden: Es wird sich zeigen, daß der Einfluß der Individuen da
am stärksten ist, wo auf Grund der allgemeinen Rauschsymptomatik Gleiches oder Ähnliches
von der ganzen Kultgemeinschaft erlebt wird1.“
b) Geschichte des Peyote-Kultes.
Die Verknüpfung des Peyotegenusses mit kultischen Handlungen ist schon sehr alt und
war bereits in vorkolumbischen Zeiten in dem natürlichen Verbreitungsgebiet des Peyote-
Kaktus allgemein, sowohl bei den Völkern der Hochkultur, als auch bei den primitiveren
Stämmen Mexikos. Zusammen mit einer Anzahl anderer narkotischer Pflanzen, dem Ololiuh-
qui2 (Samen einer Datura), dem Picietft (Tabak) etc., reihte sich der Kult des Peyote-Kaktus
in die Religion der alten Mexikaner ein. Nach Sahagun4 haben die Teochichimeken des nörd-
lichen Mexiko den Peyote-Kaktus entdeckt und ,,in Gebrauch gebracht“. Im übrigen sind die
Berichte über Peyote im alten Mexiko nur sehr spärlich und beschränken sich auf kurze Hin-
weise bei Sahagun und Jacinto de la Serna. Sahagun5 schreibt in seiner ,,Historia general de
las cosas de Nueva Espana“ über den Kult bei den Teochichimeken :
„Sie waren die ersten, die die Wurzel, genannt Peyotl, entdeckten und in Gebrauch brachten; sie trat bei ihnen an die
Stelle des Weines. Sie bereiteten die Wurzel mit einer Art Giftchampignon zu, genannt nanacatl, woraus sie ein Getränk machten.
Nachdem sie es getrunken hatten, vereinigten sie sich auf einem Plateau, wo sie sich Tag und Nacht dem Gesänge und Tanze
hingaben, ganz nach ihrem Wohlgefallen, denn am nächsten Tage weinten sie im Überfluß, indem sie sagten, daß diese Tränen
dazu dienten, ihre Augen und ihr Gesicht zu waschen.“
Den zweiten Bericht Sahaguns über die teonanacatl (Peyote)-Feste der Azteken haben wir
schon oben (S. 22) zitiert. Jacinto de la Serna spricht von peyotl als von einer Pflanze, der die
alten Mexikaner göttliche Eigenschaften zuschrieben und mit der sie Aberglauben trieben.
Eine religiöse Versammlung vom Juli 1626 in Tenantzingo schildert er folgendermaßen:
„Zu dieser Versammlung war ein Indianer gekommen, ein Eingeborener des Pueblo Tenango (etwa 25 km von Toluca)
und Großmeister des Aberglaubens, genannt Juan Chichiton (Johann kleiner Hund), der einige der Pilze (d. i. Peyote, vgl. oben
S. 65) mitgebracht hatte, die im Gebirge gesammelt werden, und mit denen er einen großen Götzendienst vollführte. . . . Diese
wurden von Priestern gesammelt, die als „ministères“ für diese Betrügereien bestimmt wurden. Sie begaben sich an den
in geistig hervorragenden Persönlichkeiten jene abnorme
Gesamterregung des seelischen Lebens entstehen lassen, die
dann als eine Begleiterscheinung zugleich die Steigerung der
Sinnesfunktionen mit sich führt, aus der die Wachvision
hervorgeht.“ (Wundt, Band 4, S. 186).
2 Vgl. Urbina, S. 25 ff.
3 Safford b, S. 398.
4 Sahagun, S. 660.
5 Sahagun, S. 660, vom Verfasser übersetzt.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
73
Ort, wo diese (Peyote) wuchsen und verbrachten dort die ganze Nacht im Gebet und in abergläubischen Beschwörungen. Bei
der Morgendämmerung, sobald eine schwache, ihnen bekannte Brise anfing zu wehen, sammelten sie das Narkotikum ein, dem
sie göttlichen Charakter zuschrieben, mit denselben Eigenschaften wie dem Ololiuhqui oder Peyote (vgl. oben): denn, wenn
gegessen oder getrunken, berauschen sie. die, die daran teilnehmen, indem sie sie ihrer Sinne berauben und sie tausend Absurdi-
täten glauben machen. Jener Mann, Juan Ch-ichiton, brachte diese Pilze eines Nachts nach einem Hause, wo eine Versammlung
für die Feier eines Heiligenfestes stattfand. Der Heilige stand auf dem Altar, und unter dem Altar waren die Pilze, mit etwas
Pulque und Feuer. Die ganze Nacht hindurch gaben die teponaztli (aus einem hohlen Baumstamm hergestellte Trommeln) den
Takt an zum Gesang. Nachdem der größere Teil der Nacht vergang-en war, kredenzte der besagte Juan Chichiton, der der Priester
dieser Feierlichkeit war, all denen, die heim Fest versammelt waren, Pilze und Pulque nach Art der Kommunion und schloß
dann die Feier mit einer reichlichen Menge Pulque ab. Die Folge war, daß einerseits die Pilze und andrerseits der Pulque ihnen
den Verstand nahmen, was eine Schande war.... Ich fragte den Lizentiaten Don Pedro Ponce de Léon, in welcher Weise diese
Geschöpfe ihre anderen Leuten Schaden zufügenden Zauberhandlungen ausübten, und er erzählte mir, daß sie sich bei ihren
Drohungen und Beschwörungen auf die Brust schlügen und mit ihren Fingerspitzen die Heiligenfigur berührten und dann, indem
sie ihre Hand öffneten, eine Geste machten, als wenn sie etwas in der Richtung der Person fortschleuderten, die sie bedrohten
oder zu bezaubern wünschten. Sie sagten dabei: ,Du sollst mir dafür bezahlen, wie Du sehen wirst1!'“
Dieser Bericht de la Sernas schildert schon die Form des Peyote-Kultes, die für die fol-
genden Jahrhunderte der christlich-indianischen Mischkultur Mexikos typisch zu sein scheint
und die in die größere Gruppe der als Nagualismus bekannten Gebräuche einzureihen ist.
Über diesen Nagualismus sagt Daniel G. Brinton:
„Der Nagualismus war weder ein Abkömmling der alten Kulte, noch auch eine Ableitung christlicher Lehren und euro-
päischen Aberglaubens. Er war eine seltsame Mischung von beiden, oft in grotesken und absurden Formen1 2 3.“
Daß der Peyote-Kult in diesen nagualistischen Bräuchen eine weitverbreitete und be-
trächtliche Rolle spielte, geht aus folgenden Hinweisen hervor, die wir ebenfalls Brintons Buch
entnehmen. So stellt ein Beichtvater an einen unter dem Verdacht nagualistischer Bräuche
stehenden Indianer unter anderem folgende Fragen:
„Trachtest Du nach dem Blute anderer, oder wanderst Du des Nachts umher, nach dem Dämon suchend, damit er Dir
helfe ? Hast Du peyotl getrunken oder hast Du es andern zu trinken gegeben, um Geheimnisse herauszufinden oder zu ent-
decken, wo gestohlene oder verlorene Dinge sein könnten1.“
An anderer Stelle wird in einer von spanischen Autoritäten herausgegebenen Liste ver-
botener Getränke aus dem Jahre 1784 unter anderem folgendes über Peyote gesagt;
„Sie (die Indianer) verzehren es in dieser Form ... .an ihren heiligsten Festen, obwohl es den Intellekt abstumpft und
düstere und schmerzende Visionen hervorruft4.“
Ähnliche Mischformen mit christlichen Lehren hatte der Peyote-Kult in dieser Zeit auch
bei den Indianern des südlichen Texas angenommen, wie aus einem im Jahre 1760 für den
Gebrauch der Missionare von San Antonio, Texas, von Bartholome Garcia herausgegebenen
religiösen Handbuch5 hervorgeht, in dem folgende Fragen an den Beichtenden gestellt werden:
„Hast Du Menschenfleisch gegessen6 ? Hast Du Peyote gegessen ?"
Ursprünglichere Formen scheint der Peyote-Kult bei den Indianern des nördlichen
Mexiko bewahrt zu haben, von denen aus dem Jahre 1754 ein Bericht des Paters José Ortega
vorliegt. Bei der Schilderung der nächtlichen Tänze der Cora-Indianer schreibt er folgendes:
„Dicht bei dem Musikanten saß der Leiter des Gesanges, dessen Aufgabe es war, den Takt anzugeben. Jeder von diesen
hatte seine Helfer, um seinen Platz einzunehmen, falls er ermüden sollte. In der Nähe stand ein mit Peyote gefüllter Trog, das
eine teuflische Wurzel ist, die zerstampft und von ihnen getrunken wird, damit sie nicht geschwächt werden durch die erschöpfen-
den Wirkungen einer so langen Tätigkeit, die sie damit begannen, einen Kreis von Männern und Frauen zu bilden, der so groß
war wie der Platz, der zu diesem Zwecke freigelegt war. Sie tanzten einer hinter dem anderen im Kreise oder markierten den
Rhythmus mit den Füßen, indem sie den Musikanten und den Ghormeister, die sie eingeladen hatten, in ihrer Mitte hielten und
nach derselben unmusikalischen Melodie sangen, die der Chormeister ihnen angab. Sie tanzten die ganze Nacht hindurch, von
fünf Uhr nachmittags bis fünf Uhr morgens, ohne anzuhalten oder den Kreis zu verlassen. Wenn der Tanz vorbei war, standen
alle, die sich noch auf ihren Füßen halten konnten, denn die Mehrzahl von ihnen war durch Peyote und den Wein, den sie tranken,
unfähig, ihre Beine zu gebrauchen, um sich aufrecht zu halten7.“
1 Zit. in Safford a, S. 308 (v. Verf. übers.).
2 Brinton, S. 50, v. Verf. übers.
3 Brinton, S. 6, v. Verf. übers.
4 Brinton, S. 8, v. Verf. übers.
5 Zit. in Safford b, S. 402, v. Verf. übers.
6 Die Tonkawa-Indianer in Texas waren Kannibalen.
7 Ortega, S. 22f., v. Verf. übers.
74
GÜNTER WAGNER
Dies sind die wesentlichsten Berichte, die über den Peyote-Kult im alten Mexiko und in
den ersten Jahrhunderten der Kolonisierung vorliegen1.
Eine eingehendere Kenntnis des Peyote-Kultes der mexikanischen Primitivstämme (Cora,
Huichol, Tarahumares, Tepecanes und Tepehuanes) vermitteln uns erst die neueren For-
schungsreisen von Lumholtz und Diguet. Mit diesen Berichten beginnt die neuere Entwicklung
des Peyote-Kultes, die ihn nach jahrhundertelanger Beschränkung auf das natürliche Ver-
breitungsgebiet des Peyote-Kaktus weit über diese hinaus bis an die Grenzen Kanadas ge-
führt hat.
Die geschichtlichen Daten dieses Entwicklungs- und Verbreitungsprozesses sind nun die
folgenden: Aus seinem Heimatgebiet in Mexiko und dem südöstlichen Teile von Texas (Ton-
kawa und Lipan) gelangt der Peyote-Kult (um 1880) zunächst zum Stamme der nomadischen
und kriegerischen Mescalero- Apache, die den Kult nach ihren eigenen Angaben1 2 von den Lipan
erhielten. Nach den Berichten Mooneys3 und den Angaben der Mescalero4 haben dann die
Mescalero-Apache den Kult an die Prärie-Indianer weitergegeben (ca. 1880—-1890), vornehm-
lich an die ihnen am nächsten wohnenden Comanche- und Kiowa-Indianer. Die Erinnerung an
diese Übertragung, die etwa in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stattgefunden
haben muß, ist bei den Kiowa noch sehr lebendig, und sie bezeichnen noch heute die Mescalero
als die „Lehrmeister“ und „Hohepriester“ des Peyote-Kultes. Es ist jedoch wahrscheinlich,
daß außer diesem Verbreitungsweg noch andere, direkte Wege zwischen den mexikanischen
Stämmen und den Mescalero, sowie den Präriestämmen bestanden haben, da sowohl die
Mescalero als auch die Kiowa im Laufe des 19. Jahrhunderts Raubzüge bis weit nach Mexiko
hinein unternommen haben und so in Berührung mit den Tarahumare- und Huichol-India-
nern gekommen sind.
Bei den Mescalero ist der Peyote-Kult später wieder in Vergessenheit geraten und lebt
heute nur noch in den Erinnerungen einiger alter Leute fort5. Von den Kiowa- und Comanche-
Indianern aus verbreitete sich der Kult schnell über die ganze Prärie, über einen Teil des Ge-
bietes der Plateau-Indianer und sogar vereinzelt nach dem Südwesten (Pueblo Taos) und nach
dem Osten (Winnebago und Menomini). Von diesem Verbreitungsprozeß sind in großen
Zügen die Richtung und zum Teil auch die Verbreitungswege und Daten bekannt, die Ruth
Shonle6 auf einer Verbreitungskarte und Tabelle dargestellt hat. Diese Wege und Daten
beruhen allerdings auf Angaben, die sich in den verschiedenen Peyoteberichten jeweils auf den
Anfang der Entlehnung und den Stamm, von dem die Entlehnung ausging, beziehen. Nun ist
aber der Entwicklungsprozeß meist so vor sich gegangen, daß einzelne Indianer bei dem Be-
suche7 anderer Reservationen von dem Peyote-Kult erfuhren, an den Versammlungen teil-
nahmen und den Kult dann ihrem eigenen Stamme vermittelten8, oder daß umgekehrt
besuchende Indianer einem fremden Stamme das Ritual lehrten9. Da diese Besuche aber kreuz
und quer durch die ganze Prärie erfolgten und ein Stamm häufig erst nach mehreren Besuchen
und von verschiedenen Seiten her Einzelheiten über den Kult erfuhr, ist es ohne vorher-
gehende, genaue Untersuchung des Prozesses bei jedem einzelnen Stamme unmöglich, die
bisher bekannten Verbreitungswege und Daten einer ethnologischen Untersuchung zugrunde
zu legen. Zur Illustrierung dieses Sachverhaltes sei hier nur ein Beispiel angeführt: Ruth
1 Für eine Zusammenstellung einiger anderer Berichte, die je-
doch nur allgemeine Hinweise enthalten, s. Rouhier a, S. 96 f.
2 Frank, S. 4.
3 Mooney d, S. 239.
4 Frank, S. 5.
6 Nach brieflicher Mitteilung von Prof. Ruth Fulton Benedict
aus der Mescalero Reservation, Neu-Mexiko, August 1931.
Vgl. auch die statistischen Angaben von Newberne und
Burke, S. 34.
6 Shonle, S. 58/59.
7 Diese Besuche wurden teils aus Abenteuerlust vorgenommen,
teils um Verwandte aus anderen Stämmen zu besuchen.
Gegenseitige Stammesbesuche (wie etwa zwischen den
Creek und Sac und Fox) fallen in eine frühere Zeit (Feld-
informationen des Verfassers).
8 Nach dem sog. “transfer pattem”, vgl. Wissler b, S. 49;
9 Vgl. Murie, S. 636.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
75
Shonle gibt auf ihrer Verbreitungstabelle an, daß die Pawnee den Kult im Jahre 1890 von den
Quapaw übernahmen. Die Belegstelle hierfür lautet:
„Ungefähr 1890 besuchten zwei junge Pawnee-Indianer die Quapaw, bei denen sie einiges über den Peyote-Kult erfuhren
(learnt). Sie brachten einige der „buttons“ (— Peyote, so genannt wegen des knopfähnlichen Aussehens getrockneter Peyote)
zurück in die Heimat, aber nur eine sehr dürftige Kenntnis des Rituals. Nichtsdestoweniger pflegten sie davon zu essen, und es
gelang ihnen auch, einige Indianer zu bekehren. Später lehrte sie ein besuchender Arapaho-Tndianer das Ritual. Weitere In-
dianer wurden bekehrt, und der Kult wurde einige Jahre hindurch fortgesetzt, bis einem Mitglied unter dem Einfluß der Droge
ein neues Ritual und neue Gesänge offenbart wurden. Sogleich wurde dieses Mitglied Leiter und entwickelte langsam ein Ritual,
in das er viele christliche Ideen einführte, da er in den herbeigeführten Visionen oftmals Christus sah und mit ihm sprach1.“
Wir haben hier also zwei verschiedene Entlehnungsvorgänge und einen endogenen Wan-
del vor uns, die alle zusammen zum Peyote-Kult der Pawnee-Indianer geführt haben. Es wäre
daher trotz der an sich richtigen Angabe Ruth Shonles zur Kennzeichnung des ethnologischen
Prozesses falsch, wenn wir sagen würden: Die Pawnee haben 1890 den Peyote-Kult von den
Quapaw übernommen. Vielmehr ist von den Quapaw aus nur der erste Anstoß erfolgt,
während der ganze Entlehnungsprozeß erheblich komplizierter verlaufen ist. Da aber solche
Angaben, wie in diesem Falle über die Pawnee, in den meisten Fällen fehlen, können wir bei der
Untersuchung des Akkulturationsprozesses den bisher bekannten Verbreitungswegen und
Daten nur eine beschränkte Bedeutung zumessen und müssen in den meisten Fällen diese
beiden Faktoren als unbekannt annehmen.
Gegeben sind uns nur die Namen der Stämme, die um 1920 herum den Peyote-Kult
besaßen und von einigen dieser Stämme Berichte über den Kult, die jedoch auch nicht immer
nach Jahreszahlen festgelegt sind. Nach den Zusammenstellungen von Newberne und Burke1 2 3
war der Peyote-Kult um 1920 in den Vereinigten Staaten über folgende Reservationen
verbreitet:
1. Oklahoma:
Cantonment (Arapaho, Cheyenne)........................................................... 90.0 °/0
Cheyenne, Arapaho (Arapaho, Cheyenne) .................................................... 75.0 °/0
Fünf zivilisierte Stämme (nur bei Creek und Yuchi)........................................ 0.04%
Kiowa (Apache, Comanche, Delaware, Kiowa) ................................................. ycj.o %
Osage (Great Osage, Little Osage) ....................................................... 50.0 %
Otoe (Otoe und Missouri) ................................................................. 50.0 %
Pawnee (Pawnee) .......................................................................... 20.0 %
Ponca (Kaw, Ponca, Tonkawa)............................................................... 60.0 %
Seger (Arapaho, Cheyenne) ................................................................ 80.0 %
Seneca3 ................................................................................. 2.0 %
Shawnee (Absentee Shawnee, Mexikan. Kickapoo) ............................................ 10.0 °/0
Sac und Fox (Iowa, Sac und Fox) ............................................................ 3°-° %
2. Kansas:
Kickapoo (Iowa, Kickapoo, Sac und Fox).................................................... 40.0 °/0
Potawatomi (Präriegruppe der Potawatomi) ................................................. 16.0 0/o
3. Iowa: ,
Sac und Fox (Sac und Fox [Mesquakie]) .................................................... 30.0 %
4. Nebraska:
Omaha (Omaha) .............................................................................. 90.0 %
5. Süd-Dakota:
Pine Ridge (Nördl. Cheyenne, Brule Sioux, Oglala)...........-............................. 5.0 °/Q
Rosebud (Rosebud Sioux) ................................................................... 7-° %
Yankton (Ponca, Santee, Yankton Sioux) ..................................................... 20.0 %
6. Nord-Dakota:
Fort Totton (Assiniboin, Cuthead, Santee, Sisseton, Yankton, Wahpeton Sioux) ............. 1.0%
7. Utah:
Uintah und Ouray (Uintah, Uncompahgre, White River Utes) ................................. 50.0 %
8. Wyoming:
Shoshone (Nördl. Arapaho, östl. Gruppe der Shoshone)...................................... 7-5 %
1 Murie, S. 636!., übers, v. Verf. Ottawa, Quapaw, Seneca und Wyandotte, von denen nur
2 Newberne und Burke, S. 33 ff. die Quapaw den Peyote-Kult übernommen haben, vgl.
3 In der Seneca-Reservation leben die östlichen Shawnee, Lindquist, S. 172.
11 Baessler-ArcViiv.
Erklärungen zu der
Karte: Verbreitung
des Peyote-Kultes.
1. Huichol.
2. Tarahumare.
3. Arapaho, Comanche, Chey-
enne, Kiowa, Lenape (Dela-
ware).
4. Osage, Pawnee, Ponca, Otoe,
Missouri, Mex. Kickapoo,
fünf zivilisierte Stämme.
5. Quapaw.
6. Taos.
7. Potawatomi.
8. Kickapoo.
9. Omaha.
10. Sac und Fox (Iowa).
11. Pine Ridge Reservation.
12. Rosebud, Yankton Reser-
vationen.
13. Fort Totton.
14. Leech Lake.
15. Keshena.
16. Grand Rapids.
17. Crow.
18. Tongue River Reservation.
19. Shoshone.
20. Uintah und Ouray.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
77
9. Montana:
Crow (Mountain Crow, River Crow) ........................................................ 2.0 %
Tongue River (Nördliche Cheyenne) ...................................................... 35-o %
10. Wisconsin:
Keshena (Menomini)....................................................................... 3-° %
Grand Rapids (Potawatomi, Winnebago).................................................... 35-° %
11. Minnesota:
Leech Lake (Cass Lake, Pillager, Lake Winibigoshish Gruppe der Chippewa) ... 5-° %
12. Neu-Mexiko;
Pueblo Agentur (Taos) ...................................................... 0.4 %
In Mexiko ist der Peyote-Kult heute nur noch bei den von der mexikanischen Zivilisa-
tion noch weniger erfaßten Stämmen der Sierra Madre und Sierra del Nayarit, bei den Tara-
humare- und Huichol-Indianern, sowie dem kleineren Stamme der Tepecanos verbreitet. Die
Cora-Indianer kennen zwar auch heute noch den Genuß des Peyote-Kaktus, haben aber keinen
Kult mehr in Verbindung mit ihm1. Aus dem oben (S. 73) zitierten Bericht Ortegas geht jedoch
hervor, daß sie ihn früher in einer ihren Nachbarn, den Huichol, sehr ähnlichen Form aus-
geübt haben müssen. Wann und aus welchen Gründen sie ihn aufgegeben haben, ist ungewiß.
Wahrscheinlich hat jedoch die Christianisierung einen wesentlichen Anteil daran, worauf
sowohl Leon Diguet1 2 wie auch Pater Ribas3 hinweisen.
Von den zweiunddreißig angeführten Stämmen beziehungsweise Reservationen sind
nähere Angaben über Ritual und Lehre des Peyote-Kultes nur für zwölf Stämme vorhanden.
Dies sind in Mexiko:
1. Huichol4 2. Tarahumare5
und in den Vereinigten Staaten:
3. Mescalero-Apache6
4. Kiowa7
5. Comanche8
6. Arapaho9
7. Pawnee10
8. Iowa11
9- Omaha12
10. Lenape (Delaware)13
11. Sac und Fox (in Oklahoma)14
12. Winnebago15.
Aber auch für diese zwölf Stämme ist das Material nicht gleichwertig, und es darf daher
eine größere oder geringere Anzahl von Kultmomenten nicht ohne weiteres als Zeichen eines
reicheren oder ärmeren Rituals gedeutet werden. Der Nachteil der Unvollständigkeit des
Materials wird jedoch dadurch etwas gemildert, daß die Stämme, von denen wir eine nähere
Kenntnis des Kultes besitzen, eine günstige Auswahl darstellcn. Ihrer geographischen Lage
nach verteilen sie sich nahezu über das ganze Verbreitungsgebiet des Kultes, vom Staate
Jalisco in Mexiko bis Wisconsin und Nebraska in den Vereinigten Staaten. Ebenso sind die
Entlehnungsdaten dieser Stämme über die größte Zeit der modernen Entwicklung des Kultes
verteilt; Von den Huichol und Tarahumare, bei denen der Kult bis weit in die Vergangenheit
zurückreicht, bis zu den Winnebago, die im Jahre 1908 das Erste über den Peyote-Kult er-
fuhren. Schließlich gehören diese Stämme drei verschiedenen Kulturprovinzen an16: Die
1 PreuB, Bd. I, S. 39.
2 Diguet b, S. 24.
3 s. Lumholtz b, Bd. I, S. 119.
4 Lumholtz b, Bd. II, S. 126!!., S. 268—281; Lumholtz c,
S. 8 ff.; Lumholtz d, S. 7 ff.; Diguet a, S. 295; Diguet b,
S. 24H.; Diguet c, S. 621 ff.
5 Lumholtz b, Bd. I, S. 356—379; Lumholtz a.
6 Benedict b, Frank a.
7 Mooney a—c, f, h.
8 Mooney c.
9 Kroeber a, S. 398ff.; Radin a, S. 415ff.
10 Murie, S. 636ff. 11 Skinner a, S. 724!!.
12 Gilmore, S. 104 ff.; Safford b, S. 403 f.; Fortune, S. 159L
13 Harrington a, S. 185 ff.
14 Feldinformationen des Verfassers.
15 Radin a, S. 388ff.; Radin b, S. 1—22.
16 Die Mescalero-Apache würden eine vierte Kulturprovinz
repräsentieren: Das Übergangsgebiet zwischen Prärie- und
südwestlicher Kultur. Da sic aber den Peyote-Kult, mit
Ausnahme ganz weniger Momente, ihrer traditionellen
Kultur nicht angeglichen haben und somit auch auf die
weitere Entwicklung des Kultes keinen Einfluß gehabt
haben, brauchen wir sie nicht als Repräsentanten einer be-
sonderen Phase des Kultes zu betrachten.
78
GÜNTER WAGNER
Huichol und Tarahumare der nordmexikanischen Kulturprovinz, die Kiowa, Comanche,
Arapaho, Pawnee, Iowa und Omaha der Kulturprovinz der Prärie und schließlich die Lenape,
Sac und Fox und Wirinebago der Kulturprovinz des östlichen Waldlandes beziehungsweise
dem Ubergangsbereich dazu.
Unsere Untersuchung des Akkulturationsprozesses wird demnach, dieser Verteilung der
Stämme und des Materials folgend, mit der Beschreibung des Kultes in der ersten Provinz,
der nordmexikanischen, beginnen, in der sich die erste Phase1 in der Entwicklung des Peyote-
Kultes vollzogen hat. Dann werden wir die Übertragung des mexikanischen Kultes auf die
Kulturprovinz der Präriestämme und seine Assimilierung an diese Kultur untersuchen und
damit die zweite Phase in der Entwicklung des Peyote-Kultes behandeln. Schließlich werden
wir die weitere Übertragung auf die Kulturprovinz des östlichen Waldlandes und die Assimi-
lierung an diese Kultur untersuchen, in der sich der Kult in seiner dritten Phase befindet. Daß
es sich dabei tatsächlich um verschiedene Phasen und nicht um eine kontinuierliche Entwick-
lung handelt, wird in dem weiteren Verlaufe der Arbeit noch klar hervortreten.
HAUPTTEIL.
I. TEIL: URSACHEN DER ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG
DES PEYOTE-KULTES.
i. DIE HEILWIRKUNGEN DES PEYOTE-KAKTUS.
Der Überblick über die Geschichte des Peyote-Kultes hat gezeigt, daß sich der Kult im
Laufe der letzten fünfzig Jahre, von seinem Ursprungsgebiet in Mexiko ausgehend, über einen
großen Teil Nordamerikas verbreitet hat. Als Ursachen, die zur Entwicklung des Kultes
gerade zu dieser Zeit und zu seiner Verbreitung gerade über dieses Gebiet geführt haben
können, kommen im wesentlichen vier Faktoren in Frage. Zwei davon beruhen auf den Eigen-
schaften des Peyote-Kaktus und bilden daher gleichzeitig die allgemeinsten Entstehungs-
ursachen des Peyote-Kultes. Dies sind;
1. Die Heilwirkungen des Peyote-Kaktus,
2. Die Rauschwirkungen des Peyote-Kaktus.
Die beiden anderen Faktoren sind historischer Natur und beruhen auf der besonderen
kulturellen Lage, in die die nordamerikanischen Indianer im Laufe der letzten fünfzig
Jahre hineingekommen sind. Es ergeben sich so:
3. Wirtschaftliche Veränderungen und
4. Gesellschaftliche Veränderungen
als Ursachen für den besonderen historischen Entwicklungs- und Verbreitungsprozeß des
Peyote-Kultes. In welchem Verhältnis diese vier Faktoren zueinander stehen, ob alle in
gleichem Maße den Prozeß bedingt haben, oder ob einem von ihnen der Hauptanteil zukommt,
wird sich erst entscheiden lassen, wenn die historischen Daten des Prozesses bei jedem
Stamme bis in alle Einzelheiten hinein bekannt sind. Bis dahin müssen wir uns damit begnü-
gen, den Anteil jedes dieser vier Faktoren an Hand des vorhandenen Materials darzustellen.
1 Eine Untersuchung des altmexikanischen Kultes bei den
Azteken, dessen Kenntnis sich nur auf die angegebenen
Zitate erstreckt, sowie der nagualistischen Peyotebräuche
dieser ersten Stufe voranzuschicken, halten wir bei der
Dürftigkeit der Angaben für ergebnislos. Der zitierte Be-
richt von Jacinto de la Serna aus dem südlichen Mexiko
zeigt jedoch, daß die allgemeinsten Momente des Kultes
dieser Indianer mit dem von Lumholtz berichteten Kult der
Huichol und Tarahumare übereinstimmen.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
79
Schon im alten Mexiko waren die kräftigenden Wirkungen des Peyotegenusses bekannt,
die — so schreiben die oben zitierten Berichterstatter — die Indianer in den Stand setzten,
Hunger, Durst und Ermüdung tagelang auszuhalten (s. o. S. 67). Aber auch eigentliche Heil-
wirkungen wurden schon zu jener Zeit vom Genüsse des Peyote-Kaktus erwartet, wie eine
Stelle bei Pater Arlegui andeutet, in der es heißt:
„Die Wurzel, die sie (die Indianer) am meisten verehren, heißt peyot; sie zermahlen und trinken sie bei all ihren Krank-
heiten1.“
Die Berichte über die Heilwirkungen des Peyote-Kaktus häufen sich jedoch erst in den
neueren Quellen, in denen auch ihre Bedeutung für die Verbreitung des Kultes erwähnt wird.
So schreibt Mooney von den Kiowa:
„Um es kurz zusammenzufassen, so läßt sich sagen, daß die Indianer das Mescal (Peyote) als eine medizinische Panazee
betrachten, als eine Quelle der Inspiration und als den Schlüsse], der ihnen alle Herrlichkeiten (glories) einer anderen Welt er-
schließt. Sie halten es für besonders wirksam bei Blutsturz- und Lungenschwindsuchtserkrankungen. Aus diesem Grunde sind
die aus dem Osten (der Staaten) zurückgekehrten indianischen Studenten, die sich in dem feuchten östlichen Klima fast unver-
meidlich Tuberkulosis zuziehen, gewöhnlich die stärksten Verteidiger des Kultes, da sie durch Erfahrung ausfindig gemacht
haben, daß die Pflanze ihnen Erleichterung (relief) bringt“.“
Mooney führt dann weiterhin einige Fälle an, in denen Indianer durch den Peyotegenuß
offensichtlich von Krankheiten geheilt und daraufhin sehr aktive Mitglieder der Peyote-
Gemeinschaft geworden sind. Dasselbe erwähnt Radin von den Winnebago. Wir erkennen
hier aber noch als eine weitere, indirekte Folge der Heilwirkungen die „Bekehrung“ anderer
Indianer zum Peyotegenuß. So schreibt Radin:
„Rave (der erste Peyote-Leiter der Winnebago) behauptet, daß Peyote ihn von einer Krankheit geheilt hat, mit der er
lange Zeit hindurch behaftet war. Nach wiederholten Aufforderungen willigte seine Frau ebenfalls ein, behandelt zu werden.
Er bemalt also ihr Gesicht, und indem er die Rassel ergreift, singt er Peyote Lieder, während sic Peyote ißt. Seine Haltung dabei,
sowohl nach seinem eigenen Zeugnis, wie auch dem anderer, scheint praktisch dieselbe wie die eines Winnebago-Schamanen ge-
wesen zu sein. Er weihte dem Peyote sogar Tabak1 2 3 4.“
Von wie weitgehender Bedeutung der Heilerfolg für die Werbung neuer Anhänger ge-
wesen ist, zeigt folgende Stelle bei Radin:
„Die erste und wichtigste Tugend, die Rave für Peyote voraussagte, war seine Heilwirkung. Er (Rave) gibt dann eine
Anzahl von Beispielen, in denen hoffnungslose Fälle von Geschlechtskrankheiten und Tuberkulose durch seinen Gebrauch geheilt
wurden, und dies war das Erste, was man selbst 1913 noch über Peyote hörte. Es scheint, daß Rave in der Anfangszeit des
Peyote-Kultes sich bei der Werbung um neue Anhänger in erster Linie auf die Kenntnis dieser großen Heiltugend des Peyote
verließ. Das Wesentlichste war anscheinend, die Leute dahin zu führen, es zu versuchen. Noch so viele Predigten über seine
unmittelbaren Wirkungen, wie die herbeigeführte übermäßige Anregung, die herrlichen Visionen und das folgende Gefühl der
Entspannung, hätten niemals die hervorragenden Mitglieder der alten, religiösen Bünde der Winnebago dazu verleitet, Peyote zu
versuchen. Aus diesem Grunde ist es sehr bedeutsam, daß all diese alten Mitglieder des Peyote-Kultes von den Krankheiten
sprechen, von denen Peyote sie geheilt hat1.“
Wir haben Radin so ausführlich zitiert, weil uns diese Stellen deutlich zeigen, wie die
Heilwirkungen die prinzipielle Abneigung vieler Indianer gegen den fremden Kult verringert
und damit den Weg für seine Verbreitung geebnet haben. Dies wird wahrscheinlich in noch
stärkerem Maße dort der Fall gewesen sein, wo es sich um Heilerfolge bei akuten Krankheiten
handelte, als dort, wo der Peyotegenuß ein Nachlassen der Alkohol- und Nikotinsucht, sowie
sexueller Ausschweifungen zur Folge hatte5, denn diese neutralisierenden Wirkungen können
sich erst nach längerem Genuß des Narkotikums bemerkbar machen und werden für einen
Süchtigen kaum den ersten Anreiz zu einer „Entziehungskur“ dargestellt haben.
So groß aber auch die Bedeutung der Heilwirkungen des Peyote-Kaktus für die Ver-
breitung des Kultes war, so kann sie doch nicht als einzige Ursache angenommen werden,
denn sie erklärt nicht hinreichend, warum sich nicht nur Peyote, sondern auch der Kult ver-
breitet hat. Daß beide nicht untrennbar miteinander verbunden waren, und daß nicht jede
1 P. Arlegui, S. 154L
2 Mooney a, S. 5 des Aufsatzes, übers, v. Verf.
3 Radin a, S. 419L, übers, v. Verf.
4 Radin a, S. 423, v. Verf. übers.
5 Diese Wirkung wird erwähnt von den Iowa, Omaha und
Mcnomini. S. Skinner a, S. 724ff.; Gilmore, S. 104; Saf-
ford a, S. 306,
8o
GÜNTER WAGNER
Medizin von einem besonderen Kult begleitet ist, sondern daß auch Peyote zu allein medi-
zinischen Zwecken verwandt wurde, berichtet Mooney von den Kiowa Indianern1. Wo aber
zusammen mit der Verbreitung des Peyote-Kaktus sich auch der Peyote-Kult verbreitet und
entwickelt hat, müssen wir die Ursache hierfür noch in den anderen Faktoren suchen, auf die
wir eingangs hingewiesen haben.
2. DIE RAUSCHWIRKUNGEN DES PEYOTE-KAKTUS.
Als zweite Ursache für die Verbreitung des Kultes erscheinen die Rauschwirkungen des
Peyotegenusses. Ähnlich den Heilwirkungen bieten auch sie einen starken Anreiz, allerdings
nicht so sehr zum erstmaligen Peyotegenuß, als vielmehr, wie die meisten Narkotika, zu dessen
Wiederholung. Trotz der Bedeutung dieses Faktors für die Verbreitung des Kultes fehlen
doch, von einigen Stellen bei Radin abgesehen, nähere Hinweise in den Peyoteberichten, die
uns als Belegstellen für diesen Sachverhalt dienen könnte. Wir glauben aber, die Berichte
Radins als wesentlich ansghen zu dürfen. So faßt der schon oben zitierte John Rave seine
Rauscherlebnisse mit folgenden Worten zusammen:
„Drei Tage und drei Nächte hindurch hatte ich die Medizin gegessen. Während all der Jahre, die ich auf Erden gelebt
hatte, war es mir jetzt zum ersten Male klar, daß ich nie etwas Heiliges gekannt hatte. Jetzt wußte ich zum erstenmal,
was es war. Ich wünschte, daß einige der Winnebago es auch kennen lernen würden2.“
Ein ähnliches Erlebnis wird in dem Bericht über Little Red Bird geschildert:
„Kurz hiernach — es war von einer Zirkusreise nach Europa die Rede gewesen — reiste er wieder und kam zu einer Gruppe
von Indianern, die Peyote aßen. Es war eine Angewohnheit von ihm, alles zu versuchen, wenn er irgendwo zu Besuch war.
Ihm war nicht klar, was er tat, als er diese Medizin aß, aber er aß sie dennoch. Nach einiger Zeit begann er über seine Lebens-
weise nachzudenken, und er fühlte, daß er Unrecht tat. Er entsann sich all des Schlechten, das er getan hatte. Dann betete er
zu Gott. . . . Nicht lange danach kam er nach Haus und hatte etwas von dieser Medizin mit sich genommen. Er wußte, daß
sie heilig war. Zu Haus weihte er ihr Tabak und aß weiterhin von ihr3“.
In den anderen Berichten, die Radin anführt, kehrt dieses selbe Erlebnis immer wieder.
Da, wo nicht der Heilerfolg das treibende Motiv ist, sind es fast immer die Rauscherlebnisse,
die einerseits zur Wiederholung des Peyotegenusses und andererseits zur aktiven Bekehrung
neuer Anhänger führen. Die besondere Eigenart dieser Rauscherlebnisse aber, die Erfahrung
des Heiligen und das Erlebnis der moralischen Selbstbesinnung, tragen zweifellos in noch
größerem Maße als die Heilwirkungen dazu bei, daß diese „Medizin“ nun auch in kultischen
Formen verehrt wurde.
Als fördernd für die Entwicklung des Kultes bei den Präriestämmen tritt in diesem
Zusammenhänge noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, auf den schon Ruth Shonle4 hin-
gewiesen hat, nämlich die besondere Bedeutung, welche Rauscherlebnisse in Form von
Visionen in den traditionellen Kulten der Präriestämme besitzen. Im Gegensatz zu den Stäm-
men des Ostens und Westens bleibt sie nicht auf Pubertätsriten beschränkt, sondern spielt
auch im Leben der Erwachsenen eine beträchtliche Rolle5, und es mußte daher nahe liegen,
auch den Visionserlebnissen im Peyote-Rausch eine religiös-kultische Bedeutung zu geben.
Die Heil- und Rauschwirkungen des Peyote-Kaktus erklären also schon zu einem großen
Teil die Verbreitung und Entwicklung des Kultes. Die zitierten Berichte6 zeigen uns jedoch,
daß die „Pioniere“ des Kultes fast ausschließlich Indianer waren, die nicht mehr in dem
traditionellen Gleichgewicht ihrer Stammeskultur lebten, keine festen Bindungen mehr
hatten und nun allem Neuen und Fremden eine erhöhte Bereitschaft entgegenbrachten, die
4 Mooney a, S. 7 des Aufsatzes: “The Indians frequently
use the Mescal in decoction, without any ritual, for fever,
headaches, and breast pains, and it is sometimes used in the
same way by the Mexicans of the Lower Rio Grande River.
I have also seen an Indian eat one between meals as a sort
of tonic appetizer.”
2 Radin a, S. 391, v. Verf. übers, und gesperrt.
3 Radin a, S. 397, v. Verf. übers, und gesperrt.
4 Shonle, S. 59.
5 Vgl. Benedict a, S. 1 — 23.
6 Vgl. die Berichte von Albert Hensley und Little Red Bird,
Radin a, S. 397 und 398.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
im Gegensatz zu dem starren Festhalten am Althergebrachten und der grundsätzlichen Ab-
lehnung alles Fremden stand, wie es noch für die alte Generation charakteristisch war. Diese
Bereitschaft muß aber ein weiterer, notwendiger Faktor für die Verbreitung des Peyote-
Kultes gewesen sein, denn nur sie erklärt, warum der schon seit Jahrhunderten bestehende
Kult erst im Laufe der letzten fünfzig Jahre weitere Verbreitung gefunden hat. Es müssen
also neben den Eigenschaften des Peyote-Kaktus noch besondere, historische Bedingungen
hinzugetreten sein, die die Bereitschaft zur Annahme gerade in dieser Zeit schufen.
3. WIRTSCHAFTLICHE VERÄNDERUNGEN.
Die moderne Entwicklung des Peyote-Kultes fällt in eine Zeit, in der bereits alle india-
nischen Stämme im sogenannten Reservationszustande lebten. Ihre Ansiedlung in Reserva-
tionen hatte eine grundlegende Änderung ihrer Lebensbedingungen und damit auch ihrer
gesamten Lebensweise zur Folge. An Stelle der Jahrhunderte alten, traditionellen Formen
ihrer geistigen und materiellen Kultur, die im Verhältnis zum Ganzen nur unwesentliche
Änderungen durchgemacht hatte, traten durch das Reservationsleben bedingte, neue Formen
der Wirtschaft und Gesellschaft, die dann auch das religiöse Leben in starkem Maße beein-
flußten.
Wirtschaftlich wurde den Prärie-Indianern durch das Vordringen der weißen
Zivilisation und die damit verbundene Ausrottung des Büffels die Grundlage ihrer Existenz
genommen und ihrem Dasein als Jägervölker ein Ende gesetzt. Sie mußten ihr nomadisches
Leben aufgeben und in den ihnen angewiesenen Landstrichen ein neues Dasein als seßhafte
Ackerbauer und Viehzüchter beginnen. Dieser Umwandlungsprozeß hatte sich bis zum Jahre
1890, dem Beginn der modernen Entwicklung des Peyote-Kultes zum größten Teile voll-
zogen1.
In erheblich geringerem Maße wurde die Wirtschaftsform der Stämme des Ostens und
Südostens durch die Verpflanzung in die Reservationen verändert. Die sogenannten ,,Fünf
zivilisierten Stämme“, die Creek, Choktaw, Chickassaw, Cherokee und Seminole, die bereits
1832 aus ihrer Heimat in den atlantischen Staaten in das heutige Oklahoma verpflanzt wur-
den, waren schon Jahrhunderte lang seßhafte Ackerbauer gewesen. Nachdem sie die Strapazen
der Wanderung überwunden hatten, konnten sie in der neuen Heimat, die mit wenigen Aus-
nahmen dieselbe Tier- und Pflanzenwelt bot2, ihre gewohnte Lebensweise wenigstens in wirt-
schaftlicher Beziehung fortsetzen. Sie hatten Zeit, bei der zwar stetigen, aber nie zu drücken-
1 Die Kiowa-Indianer wurden 1868 auf ihrer gegenwärtigen
Reservation angesiedelt, die Comanche 1875, die Wichita
Caddo 1872. Die südlichen Arapaho und südlichen Cheyenne
kamen durch den Vertrag von Medicine Lodge 1867 nach
Oklahoma auf ihre Reservation nordwestlich von den Kiowa.
Die Präriestämme der Reservationen Zentral- und Nord-
Oklahomas wurden alle zwischen 1870 und 1890 angesiedelt:
Die Osage 1870, Kaw 1873, Pawnee 1876, Ponca 1877, die
Quapaw ebenfalls 1877, die Otoe und Missouri 1882 und die
lowa-Indianer, die schon vorher in Oklahoma gelebt hatten,
erhielten feste Landzuteilungen im Jahre 1880. Ähnlich
liegen die Verhältnisse in den nördlichen Reservationen. Die
Omaha-Indianer gaben einen Teil ihres Landes 1865 an die
Wmnebago ab, und auf dem Rest ihres Landes wurden sie
1882 fest angesiedelt. In den großen Reservationen Süd-
Dakotas behielten die Indianer zwar noch etwas mehr von
ihrer ursprünglichen Lebensweise bei, aber auch dort be-
gannen die festen Landzuteilungen 1899 der Rosebud-
Reservation und nach Beendigung des letzten Aufstandes
von 1890 auch in der Pine Ridge- und Yankton-Reservation.
Die Agentur von Fort Totton in der Devil’s Lake-Reser-
vation In Nord-Dakota wurde 1867 gegründet, und im
Laufe der folgenden Jahre erfolgte dort die Landaufteilung.
Die Wind-River-Reservation in Wyoming wurde 1868 für die
Shoshonen und 1876 für die nördlichen Arapaho festgelegt.
1868 wurden die ersten Verträge geschlossen, die zur Be-
gründung der Crow-Reservation in Montana führten. Die
heute ebenfalls in dieser Reservation lebenden, nördlichen
Cheyenne wurden 1876 von der amerikanischen Regierung
gemeinsam mit ihren südlichen Stammesbrüdern in Okla-
homa angesiedelt. Sie hielten jedoch das südliche Klima
nicht aus, sondern zogen unter großen Verlusten wieder
in ihre nördliche Heimat, wo sie schließlich im Jahre 1900
Land in der Crow-Reservation zugewiesen erhielten. — Die
nomadischen Plateaustämme Utahs, die Uintah, White
River Ute und Uncompahgre Indianer begannen eine seß-
hafte Lebensweise in den achtziger Jahren. (Zusammen-
gestellt aus Lindquist und Grinnell b).
2 Vgl. Speck, S. 13.
82
GÜNTER WAGNER
den Berührung mit der weißen Zivilisation ihre Methoden der Landwirtschaft zu verbessern1
und konnten sich so, unterstützt durch ihre bis zu einem gewissen Gerade selbständige
politische Stellung, ohne plötzliche kulturelle Umwälzung der Zivilisation ihrer Nachbarn
annähern. Wie die „Fünf zivilisierten Stämme“ sind auch die Stämme des Ostens, soweit sie
heute in dem Verbreitungsgebiet des Peyote-Kultes leben, bereits vor ihrer Verpflanzung in
Reservationen seßhafte Ackerbauer gewesen. Sie sind aber zum größeren Teil erst nach langen,
unruhigen Zeiten der Wanderung wieder zur Seßhaftigkeit gelangt und daher in ihrem Stam-
mesleben mehr erschüttert worden als die „Fünf zivilisierten Stämme“1 2.
Diese verschiedenartigen Auswirkungen des Reservationslebens auf die Wirtschafts-
formen der Prärie-Indianer und der östlichen und südöstlichen Ackerbauer haben auch die ,
übrigen Seiten der Kultur dieser Stämme in verschiedenartiger Weise verändert: Während die
sogenannten „Fünf zivilisierten Stämme“ zum Teil ihre traditionellen Kulte bis heute be-
wahrt haben3 und zum anderen Teil langsam und stetig zum Christentum bekehrt wurden, und
während die östlichen Stämme sich zwar einer neuen Umgebung, aber nicht einer neuen Wirt-
schaftsform anpassen mußten, wurde der wirtschaftliche Umwandlungsprozeß bei den Prärie-
stämmen von einer Krise ihrer ganzen Kultur begleitet. Ihre traditionellen religiösen Kulte,
vor allem der Sonnentanz, sowie die religiöse Komponente ihrer Altersgenossenschaften, Tanz-
bünde usw., standen in engem Zusammenhang mit dem nomadischen Leben und der Büffel-
jagd, wie der Jagd überhaupt und mußten mit dem Aussterben des Büffels und dem Übergang
zum'Ackerbau ihre Funktionen verlieren. So fand bei den Kiowa-Indianern im Sommer 1886
zum ersten Male kein Sonnentanz statt, „da kein Büffel aufzutreiben war4“, und.im folgenden
Sommer gestattete die Agentur unter besonderen Bedingungen zum letzten Mal den Sonnen-
tanz, der dann aber nicht mehr unter der Beteiligung des ganzen Stammes abgehalten wurde5.
Mit diesem Aussterben der traditionellen, religiösen Lebensformen war aber keineswegs
das Bedürfnis nach Religion überhaupt ausgestorben. Im Gegenteil schuf die seelische Not
der Indianer, die sich als Angehörige eines unterlegenen Volkes dem Ansturm einer über-
legenen Zivilisation gegenüber sahen, die sie nicht verstanden und in der sie keinen Platz für
sich sahen6, eine erhöhte Bereitschaft und Empfänglichkeit für eine neue Lehre, die einen
neuen Lebensinhalt versprach und die dem neuen Weltbilde mehr entsprach, als die traditio-
nellen Kulte und die christliche Kirche.
1 Lindqulst, S. 150 ff.
2 So sind die ursprünglich in Pennsylvania und Ohio lebenden
Shawnee erst nach langen Kämpfen westwärts gewandert:
sie haben sich dann geteilt, und eine Hälfte von ihnen, die
Absentee Shawnee, kam 1845 ins Indianer-Territorium,
während die andere Hälfte in der Seneca-Reservation lebt.
Ein kleiner Teil der Delaware lebt heute in der Kiowa-
Reservation, und die Sac und Fox, Kickapoo und Potawa-
tomi Indianer haben sich während ihrer Wanderungen in
kleinere Gruppen gespalten und leben heute In Reserva-
tionen in den vier Staaten Wisconsin, Iowa, Kansas und
Oklahoma. Die ursprünglich im Gebiet der Green Bay
lebenden Sac und Fox wurden zuerst nach Iowa gedrängt,
dann nach Kansas, von wo 1859 Gn Teil nach Iowa zurück-
kehrte, während ein anderer Teil 1867 ins Indianer-Terri-
torium weiterwanderte. Die Kickapoo, ursprünglich eben-
falls ein Stamm Wisconsins, wurden nach Illinois, Missouri
und schließlich nach Kansas gedrängt. 1852 wanderte ein
Teil des Stammes nach Mexiko, kehrte aber 1873 zurück
und wurde im Indianer-Territorium angesiedelt. Von den
Potawatomi-Indianern blieb auf der Wanderung nach
Westen ein Teil in Wisconsin zurück, während der größere
Teil nach Kansas wanderte und dort im Jahre 1846 in der
Nemaha-Reservation angesiedelt wurde. Von diesen wurde
wiederum ein Teil, die sogenannten „Citizen Potawatoml“
1868 ins Indianer-Territorium verpflanzt, so daß der Stamm
heute über drei Staaten verteilt ist. — Verhältnismäßig am
längsten haben die Winebago-Indianer Wisconsins ihre no-
madische Lebensweise aufrechterhalten; noch 1920 lebten
vierzig Prozent dieses Stammes In Tipis und Zelten, obwohl
allerdings durch die Bemühungen der Regierung die seß-
hafte Lebensweise und der Ackerbau auch dort Fortschritte
gemacht haben. (Zusammengestellt aus Lindquist und
Grinnell b).
3 Vgl. Speck a, S. 116.
4 Mooney d, S. 354.
5 Mooney d, S. 355.
6 Dies kommt z. B. ln der Selbstmordepidemie zum Ausdruck,
die während der ersten Reservationsepoche unter den
Indianern der jüngeren Generation auftrat (Wissler a,
S. 869).
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
«3
4. SOZIOLOGISCHE VERÄNDERUNGEN.
Neben den wirtschaftlichen Veränderungen und ihren Rückwirkungen auf die religiösen
Kulte der Prärie-Indianer sind es schließlich die ebenfalls durch das Reservationsleben beding-
ten soziologischen Veränderungen in den Kulturen der nordamerikanischen Indianer, die
wir als Ursache für die Entwicklung und Verbreitung des Peyote-Kultes anzusehen haben.
Die politische Einheit war in früheren Zeiten der Stamm, wenn auch vereinzelt und meist
schon unter dem Druck des europäischen Vordringens, ein Zusammenschluß mehrerer Stämme
zu einer Föderation vorkam, wie sie sie Stammesbünde der Irokesen oder der „Fünf zivilisier-
ten Stämme1“ darstellten. Aber selbst dort, wo diese Bünde eine größere Anzahl von Stämmen
umfaßten, blieb das Stammesbewußtsein lebendig, und die Solidarität erstreckte sich höch-
stens auf die Mitglieder des Stammesbundes, nie aber auf die ganze indianische Rasse. Schon
die häufigen Kriege, die die einzelnen Stämme untereinander führten, sorgten dafür, daß die
Bedeutung der Stammesunterschiede nicht verwischt wurde. Auch in kultureller Hinsicht
war der Stamm die (bewußte!) Einheit, zwar nicht vom Standpunkt des Ethnologen aus ge-
sehen, der Kulturprovinzen aufstellen kann, die viele und politisch sich entgegenstehende
Stämme umfassen, wohl aber für das kulturelle Bewußtsein der Indianer selbst. Für sie gab
es Stammesreligionen und Stammestraditionen, aber keine schlechthin indianischen Religio-
nen. Jeder Stamm hatte seine heiligen Stammessymbole, so die Kiowa ihr Taimay, die
Arapaho ihre Tabakspfeife, Kornähre und Steinschildkröte, die südlichen Arapaho das
„heilige Rad“ und die südöstlichen Stämme schließlich ihren „square-ground“, der gleich-
zeitig der soziale und religiöse Mittelpunkt ihres Stammeslebens war2. Dies änderte sich in
grundlegender Weise mit dem Reservationsleben. Das enge Beieinanderwohnen der Stämme,
die politische Unselbständigkeit, die Dezimierung und die damit gegebene, innere Zerrüttung
der Stämme, das Aufwachsen eines Teiles der jungen Generation verschiedener Stämme in
indianischen Schul-Internaten, sowie die durch Wege, Post, Eisenbahn und in den letzten
zwanzig Jahren auch Automobile gesteigerten Beziehungen zwischen den Stämmen und ihren
gemeinsamen kulturellen Gegnern: den Weißen, untergruben das Fundament, auf dem die
Stammeseinheit geruht hatte3. Mit wenigen Ausnahmen hatte der Stamm in der Folgezeit
nur noch eine nominelle Bedeutung. An die Stelle des Stammesbewußtseins trat so allmählich
das Rassenbewußtsein. Dieses konnte erst entstehen, als die Indianer aus der lokalen Enge
ihrer Weltanschauung heraustraten, ihre gemeinsame Lage erkannten, und sich durch den
Unterschied und Gegensatz zu den Weißen ihrer gemeinsamen Abstammung bewußt wurden.
Das war aber erst der Fall, als sie nach ihrem Verzweiflungskampf gegen die weiße Rasse auf
den Reservationen wieder zur Ruhe und Besinnung kamen.
Welche Bedeutung hat nun aber das Schwinden der Stammesgegensätze und die Ent-
stehung eines Rassenbewußtseins für den Peyote-Kult ? Es wurde für ihn in dreifacher Hin-
sicht bestimmend:
Einmal förderte das Rassenbewußtsein die Bereitschaft, einen Kult anzunehmen, der
seiner Entstehung und Geschichte nach rein indianisch war und nicht von der weißen Zivilisa-
tion dargeboten wurde.
Zweitens bewirkte das Rassenbewußtsein, daß der Peyote-Kult auch im weiteren Ver-
laufe seiner Entwicklung in den Vereinigten Staaten nirgends den Charakter einer Stammes-
religion angenommen, sondern überall ein „intertribales“ Gepräge bewahrt hat. Der Kult
wurde so eine Manifestation des neuen, die ganze indianische Rasse erfüllenden Lebensgefühls,
und darin liegt gleichzeitig auch seine politische und soziologische Bedeutung. Selbst da, wo
der Peyote-Kult sich mit christlichen Momenten verbunden hat und die Forderung der
1 Swanton c, S. 259ff.
2 Vgl. Swanton c, S. 205 ff.
3 Vgl. im einzelnen die statistischen Angaben bei Lindquist.
84
GÜNTER WAGNER
Toleranz und der Anerkennung der Weißen als gleichwertig erhebt, besteht er doch darauf,
als indianische Religion auch nur den Indianern zugänglich zu sein, gleichzeitig aber den
Indianern ein Äquivalent für die christlichen Sekten der Weißen zu geben. In dieser Richtung
liegt auch der Sinn der sogenannten „American Indian Church Brother Association,“ unter
welchem Namen der Kult in Oklahoma als staatlich anerkannte Kirche eingetragen ist1.
Das dritte Moment schließlich, in dem sich das Rassenbewußtsein der Indianer auf den
Peyote-Kult ausgewirkt hat, liegt in der Art der Verbreitung des Kultes, die zum ersten Mal
in einer Form erfolgt ist, die man als „indianische Mission“ bezeichnen kann. Während früher
Stammeszeremonien vorwiegend auf dem Wege über die Gastfreundschaft1 2 von Stamm zu
Stamm getragen wurden, sind die Anhänger des Peyote-Kultes in aktiver Weise bestrebt,
den Kult unter alle Indianer zu verbreiten und scheuen sowohl innerhalb wie außerhalb des
Stammes keine Mühe, wenn es gilt, um neue Anhänger zu werben3.
Wir haben gesehen, daß das Reservationsleben die Beziehungen zwischen den Stämmen
änderte und an die Stelle der Stammeseinheit das Gefühl der Rasseneinheit treten ließ. Aber
auch innerhalb des einzelnen Stammes bewirkte das Reservationsleben Änderungen in
soziologischer Beziehung, die ebenfalls für den Peyote-Kult von Bedeutung wurden: Die seß-
hafte und friedliche Natur des Reservationslebens hatte zur Folge, daß die auf Krieg, Jagd
und Wanderleben begründete soziale Organisation der Prärie-Indianer ihre Funktion ver-
lor und innerlich zerfiel. Die Häuptlinge, bzw. Stammesräte (tribal councils) wurden über-
flüssig, da, besonders nach den individuellen Landzuteilungen, keine Repräsentation des
Stammes mehr erforderlich war. Ebenso verloren die Clane, Gentes und Bünde ihre Bedeu-
tung, und die Familie blieb die einzige, noch sinnerfüllte Einheit innerhalb des Stammes. Mit
diesem Verfall verkümmerte aber auch das soziale Leben. Solange die ältere Generation
lebte, wurde zwar ein Teil der traditionellen Feste und Zeremonien noch fortgesetzt, aber die
Beteiligung an diesen Veranstaltungen wurde immer geringer, und an die Stelle der früheren
Disziplin traten alkoholische und sexuelle Ausschweifungen4. Bei den östlichen Stämmen
wirkte sich der Verfall der sozialen Organisation weniger schroff aus als bei den Präriestäm-
men, da sich dort wenigstens die Stammeskulte und Feste in stärkerem Maße erhalten konn-
ten5. Am langsamsten vollzog sich der Verfall bei den „Fünf zivilisierten Stämmen“.
Sie konnten nach ihrer Verpflanzung in das Indianer-Territorium (s. o. S. 81) ihre Lebensweise
fortsetzen und an ihrer sozialen Organisation festhalten. Durch ihre Selbstverwaltung — sie
hatten ein eigenes, nach amerikanischem Muster gebildetes Parlament6 — hatten sie auch
gewisse politische Aufgaben. So überstanden sie die ersten sechzig Jahre des Reservations-
lebens ohne stärkeren, inneren Zerfall und führten teilweise sogar ein sehr reges soziales
Leben7, Erst durch dieVerkleinerung ihrerTerritorien und die Besiedlung des Landes durch
die Weißen in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde auch bei
ihnen der Verfall des sozialen Stammeslebens beschleunigt. Bis dahin war aber die Bekehrung
zum Christentum8 und die allgemeine Angleichung an die Zivilisation der Weißen bereits so
weit fortgeschritten, daß der Verfall nicht von einer Krise begleitet wurde, die sich mit der
der Prärie-Indianer auch nur annähernd vergleichen ließe.
1 Nach Feldinformationen des Verfassers.
2 Vgl. über dieses sog. “transfer-pattern”: Wissler a, S. 49f.
3 Während meines Aufenthaltes in Oklahoma besuchte ich
einen Shawnee-Indianer, der eine führende Rolle im Peyote-
Kult spielte. Als er hörte, daß ich bei einem indianischen
Methodistenprediger wohnte, versprach er, mich dort zu be-
suchen, um mir noch Näheres über den Peyote-Kult zu
erzählen. Er kam auch zur verabredeten Zeit dorthin,
obwohl er über zwanzig Kilometer zu fahren hatte, aller-
dings weniger meinetwegen, als vielmehr, um einen, wenn
auch erfolglosen, Bekehrungsversuch bei dem Yuchi-Pre-
diger zu unternehmen.
4 Speck, S. 116; Wagner, S. 179 ff., und S. 273 ff.
5 Vgl. Lindquist, S. 149 f., ferner Radin, Skinner, Harrington.
0 Vgl. Lindquist, S. 165!.
7 Vgl. Lindquist, S. 165!.
8 Vgl. Feldinformation des Verf.: “Creek, Choctaw, Chickasaw
do not take Peyote. They yield more to the missionaries.
They have bible reading in their own language.”
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
85
Ebensowenig wie der Verfall der traditionellen Formen des religiösen Lebens das Bedürf-
nis nach Religion abtötete, so wenig verschwand mit dem Untergang der sozialen Organisation
das Bedürfnis nach sozialem Leben. Zu einem Teil wurde dieses Bedürfnis durch die christ-
lichen Missionen erfüllt, die sowohl durch ihre Gottesdienste, wie auch durch Einrichtung von
indianischen Frauenvereinen und christlichen Vereinen junger Indianer und Indianerinnen1
(Y. M. C. A. und Y. W. C. A.) einen Ersatz für das frühere soziale Stammesleben zu bieten
suchten. Wie weit diese Einflüsse der christlichen Missionen hemmend oder fördernd auf die
Entwicklung des Peyote-Kultes eingewirkt haben, wird sich erst durch eine genaue Unter-
suchung bei jedem einzelnen Stamme ermitteln lassen. Wir müssen uns hier mit der Fest-
stellung begnügen, daß das Bedürfnis nach neuen Formen sozialen Lebens von den christ-
lichen Missionen allein nicht in hinreichender und den Verhältnissen angemessener Weise er-
füllt worden ist. So mußte der Peyote-Kult auch diesem Bedürfnis in starkem Maße entgegen-
kommen, da er einerseits den Indianern, besonders der jüngeren Generation, Gelegenheit bot,
in ihrem Stamme zu Rang und Ansehen zu gelangen1 2, und zwar ohne das Protektorat einer
von Weißen geleiteten, christlichen Kirche. Andererseits bot er Möglichkeiten zu einem ge-
selligen Leben, das in seiner ganzen Aufmachung den indianischen Traditionen mehr entsprach
als die Einrichtungen der christlichen Missionen und dennoch ein Ausdruck des neuen Welt-
bildes war.
Wir hatten gesehen, daß sich die wirtschaftlichen und soziologischen Veränderungen am
geringsten bei den „Fünf zivilisierten Stämmen“ (den Stämmen des Südostens), in stärkerem
Maße schon bei den Stämmen des Ostens (den Delaware, Sac und Fox, Kickapoo, Potawatomi,
Winnebago und Menomini usw.) und weitaus am meisten bei den Präriestämmen ausgewirkt
haben. Dasselbe Verhältnis spiegelt sich nun auch in der Verbreitung des Peyote-Kultes
wieder: Die „Fünf zivilisierten Stämme“, die zahlenmäßig mit einer Bevölkerung von
1010003 Köpfen weitaus an erster Stelle stehen, haben, obwohl sie mitten in seinem geogra-
phischen Verbreitungsgebiet leben, den Peyote-Kult nicht angenommen, von einer kleinen
Gemeinde der Creek und Yuchi Indianer abgesehen, die sich erst in neuester Zeit (seit 1915)
durch unmittelbaren Kontakt mit den benachbarten Sac und Fox gebildet hat, aber über ein
Dutzend Anhänger nicht hinausgekommen ist und überdies von einem Shawnee Indianer ge-
leitet wird4. Unter den östlichen Stämmen, die heute im Verbreitungsgebiet des Peyote-
Kultes leben, finden wir den Kult schon häufiger, obwohl nicht mit derselben Häufigkeit wie
bei den Präriestämmen. So ist der Kult in der Seneca-Reservation auf den Sioux-Stamm der
Quapaw beschränkt geblieben, während ihn die ebenfalls dort lebenden, östlichen Stämme
der Shawnee, Ottawa, Seneca und Wyandotte nicht angenommen haben5. Die eigentlichen
Präriestämme dagegen sind ausnahmslos Anhänger des Kultes, und soweit sich in den Reser-
vationen der nördlichen Präriestaaten noch Lücken finden6, sind sie darauf zurückzuführen,
daß der Verbreitungsprozeß dort noch im Vordringen begriffen ist. Die westliche Grenze der
Ausdehnung des Kultes ist noch nicht vom ethnologischen Standpunkte aus zu beurteilen, da
dort das Felsengebirge eine natürliche Schranke bildet, die erst langsam durchbrochen wird.
Die verschieden hohen Prozentzahlen der Anhängerschaft (s. o. S. 75/77) bei den einzelnen
Stämmen dürften auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruhen7, deren Beschaffenheit
erst durch eine Untersuchung jedes einzelnen Falles aufgedeckt werden kann.
1 Lindquist, S. 434.
2 Lindquist, S. 74; vgl. auch Mooney e, S. 4x8; über die all-
gemeine Bedeutung der Generation für den Kulturwandel
vgl. Mannheim und Scheidt.
3 Vgl. Lindquist, S. 150.
4 Nach Feldinformationen des Verfassers.
5 Newberne und Burke, S. 35.
6 Z. B. die Cheyenne River, Crow, Flandreau, Lower Brulc,
Pipestone, Sisseton und Standing Rock Agenturen.
7 In erster Linie dem verschieden starken Einfluß der christ-
lichen Sekten.
86
GÜNTER WAGNER
Wir haben damit die Diskussion der vier Faktoren, die wir für die Entwicklung und Ver-
breitung des Peyote-Kultes für wesentlich halten, beendet und können uns nun der Unter-
suchung des Prozesses selber zuwenden, indem wir zunächst seine Ausgangsphase, den Kult
bei den mexikanischen Stämmen, betrachten1.
II. TEIL: DER PROZESS DER ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG
DES PEYOTE-KULTES.
I. PHASE: DER KULT BEI DEN MEXIKANISCHEN STÄMMEN,
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Die verschiedenen Berichte über den Peyote-Kult der Huichol- und Tarahumare-
Indianer zeigen zwar weitgehende Übereinstimmungen, welche die Verwandtschaft der Kult-
formen beider Stämme außer Frage stellen, aber auch so große Unterschiede, daß wir keine,
für beide Stämme gültige, typische Form herausarbeiten können. Die Übereinstimmungen
erstrecken sich mehr auf den allgemeinen Kultverlauf, während die einzelnen Momente des
Rituals weitgehend voneinander abweichen.
Bei beiden Stämmen finden wir an allgemeinsten Fibereinstimmungen den Namen Hikuli
für Peyote, eine längere Zeit (zwölf bis vierzig Tage) in Anspruch nehmende Wallfahrt in das
Heimatgebiet des Peyote-Kaktus2 und ein nächtliches Fest auf einem offenen Platze mit aus-
gedehnten Tänzen der Teilnehmer um ein Feuer unter Leitung eines Schamanen. Wir wollen
nun die Kultform beider Stämme im einzelnen darstellen, um so einerseits die Übereinstim-
mungen und Unterschiede herauszustellen und andererseits die Grundlage für den Vergleich
der mexikanischen Kulte mit den Kultformen der Indianer der Vereinigten Staaten zu schaf-
fen. Die natürliche Gliederung des Kultes ergibt drei Gruppen:
1. Kultplatz und Kultgegenstände,
2. Kultorganisation,
3. Kultzeremoniell.
Bei den Huichol Indianern finden wir folgende Momente:
Kultgegenstände der Wallfahrt3:
1. Tabakskalebasse, zur Aufbewahrung von Tabak von den Peyote-Pilgern wäh-
rend der Wallfahrt getragen,
2. Schwänze des grauen Eichhörnchens, von manchen Pilgern an die Kopf-
bedeckung angefügt.
3. Hirschschwänze, von den Pilgern der ,,Hikuli-Wallfahrt“ zum Besprengen mit
Weihwasser gebraucht, später beim Tanz, an kurzen Stöcken befestigt, von
den Männern getragen.
4. Knotenkalender aus Rindenfaser; die einzelnen Knoten bezeichnen die Tage
der Hikuli-Wallfahrt.
5. Knotenschnur aus Palmblätterstreifen; von den Männern und Frauen als Hilfs-
mittel zur Beichte gebraucht, die während der Hikuli-Wallfahrt stattfindet.
Jeder Knoten bedeutet einen Liebhaber.
1 Neben den mexikanischen Stämmen sind auch die Stämme
des südöstlichen Texas (Tonkawa, Lipan) als Ausgangspunkt
für die moderne Entwicklung des Peyote-Kultes anzusehen
(vgl. oben S. 74). Einmal ist jedoch über den Peyote-Kult
dieser heute nahezu ausgestorbenen Stämme nichts bekannt,
und zum andern geht aus dem, von den Lipan übernommenen
Kult der Mescalero-Apache (vgl. o. S. 74) hervor, daß er in
seinen wesentlichen Zügen mit dem Kult der mexikanischen
Stämme übereingestimmt haben muß.
3 Der Peyote-Kaktus wächst weder in dem Wohngebiete der
Huichol, noch in dem der Tarahumare-Indianer.
3 Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. II, S. 126 ff.
IS
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES 87
6. Yd kzvai, eine Kugel aus Tabak, die zur späteren Verteilung von dem Anführer
auf die Wallfahrt mitgenommen wird.
7. Zeremonialpfeife, die man während der ’Wallfahrt und später beim Tanz ver-
wendet.
8. „Tortillas“, die einzige Fastenspeise während der Wallfahrt.
Erklärung zu A,:
Kultplatz der HuichoL
1. Kultleiter.
2. Kulthelfer.
3. Feuer zur Beleuchtung der Tänzer.
4. Feuer im Tempel.
5. te’pali, Scheibe aus erhärteter vulkanischer
Asche, auf der der Schamane seine Trommel
usw. niederlegt.
6. Platz des Schamanen bei Veranstaltungen im
Tempelinncrn.
7. Feuer für die Leute in der Unterwelt.
8. Eichhörnchen.
9. Stinktier.
10. Krüge mit Tesvino.
11. Peyote-Aufguß.
Kultplatz und Kultgegenstände des Peyote-Festes1:
9. Kulthaus2 (FIuichol-Tempel) aus Lehm, mit Stroh gedeckt; runder Grundriß und
Eingang nach Osten.
10. „Patio“, offener Platz vor dem Kulthaus.
11. Kulthütten, von denen jede einer besonderen Gottheit geweiht ist; sie umgeben
den offenen Platz in einem Fialbkreis.
12. Altar, eine auf vier gegabelten Stöcken ruhende Matte.
13. Feuer im Mittelpunkt des Kulthauses.
14. Feuer am äußersten, östlichen Ende des Patio (zum Schutz und zur Beleuchtung
der Tänzer).
15. Feuer am nördlichen Ende des Patio (für die Leute in der Unterwelt, damit sie
beim Tanze zuschauen können).
16. Kurzes Stück Grünholz (greenwood) als zeremonielle Unterlage für das Feuer;
es stellt das Kissen für den Feuergott „Großvater Feuer“ dar.
17. Feuerhölzer, mit den Enden nach Osten und Westen weisend.
18. Ausgestopftes Eichhörnchen, am nordwestlichen feil des Patio aufgestellt.
19. Ausgestopftes Stinktier, ebenfalls am nordwestlichen Teil des Patio aufgestellt.
20. Metall-Kruzifix, vom Elalse des Eichhörnchens herabhängend.
21. Kleines Feuer vor den beiden ausgestopften Tieren.
Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. II, S. 268 ff.
An Stelle des festen Kulthauses tritt in Ausnahmefällen der
„Corral“ (Pferdepferch), eine ebenfalls runde Hütte aus
Gestrüpp.
88
GÜNTER WAGNER
Neben den beiden Tieren:
22. Krug mit „Tesvino“1,
23. Krug mit Wasser vom Hikuli-Lande.
24. Opferstab in dem Krug (23).
25. Krug mit Hikuli (Peyote)-Aufguß, während des Festes vor den Schamanen hin-
gestellt.
26. Taschen, während des Festes von den Männern um den Leib getragen.
27. Kopfschmuck der Männer aus Makao- und Habichtfedern.
28. Federbänder aus roten und gelben Federn; von den Frauen über dem Rücken
getragen.
29. Geschnitzte Bambusstäbe, von den Männern und Frauen während des Tanzes
in den Händen gehalten und an die Schultern gelehnt; die Stäbe stellen Schlan-
gen dar.
30. Kämme aus Ginsterborsten, die jedes Jahr aus dem Hikuli-Lande mitgebracht
werden; sie hängen von den Gürteln der Tänzer herab.
31. Gesichtsbemalung der Tänzer in gelber Farbe.
32. Strohbündel zum Umrühren des Maises bei der Zeremonie des Kornröstens ver-
wandt.
33. „Comal“1 2 zum Rösten des Maises.
34. Gerösteter Mais, „esquite“, als Kultspeise.
35. Hirschfleisch und Brühe als Kultspeisen.
36. Tamales3 als Kultspeise.
Die von Lumholtz angegebenen Momente der ersten Gruppe bei den Tarahumare-
Indianern ist erheblich geringer4:
Kultgegenstände der Wallfahrt:
1. Kopalharz, zu Reinigungs- und Weihezeremonien verwandt.
2. Taschen zur Aufbewahrung der Hikuli.
3. Holzkreuz (f), am Hikuli-Orte und später auf dem Kultplatz errichtet.
4. Pinole5, als einzige Nahrung während der Wallfahrt.
Erklärung zu B. :
Kultplatz der Tarahumare:
1. Kultleiter.
2. Männliche Kulthelfer.
3. Weibliche Kulthelfer.
4. Pep ote-Fetisch.
5. Spucknapf.
6. Feuer.
7. Peyote-Aufguß.
8. Kreuz.
\
\
/ X
\
Vi
/
\
s
Kultplatz und Kultgegenstände des Peyote-Festes:
5. Patio als Kultplatz; ebener, geglätteter und sorgfältig gefegter Platz vor dem
Hause des Veranstalters des Festes.
6. Feuer auf der westlichen Seite des Patio.
7. Feuerhölzer, mit den Enden nach Osten und Westen weisend.
1 Maisbier, über die Herstellung s. Lumholtz b, Bd. I, S. 253 f. 3 Mit Fleisch oder Bohnen gefüllte Maisklöße, röhrenförmig
2 flacher Tonteller, auf dem auch die Tortillas gebacken in Maisblätter eingewickelt.
werden.
4 Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. I, S. 362ff.
5 Gerösteter Mais, in Wasser angerührt.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES 89
8. Kalebasse, zur Aufbewahrung des Hikuli-Aufgusses dienend.
9. Eine als Spucknapf dienende Aushöhlung rechts vom Platze des Schamanen.
10. Besonderes Peyote-Exemplar als Fetisch vor das Feuer gelegt.
11. Halsband aus Samen der ,,Coix Lachryma Jobi“ (Hiobstränen), während der
Zeremonien vom Schamanen getragen.
12. Schüssel mit Wasser.
13. Agaven-Aufguß.
14. Schaf oder Ziege, zu Ehren der zurückkehrenden Pilger geopfert.
15. Tesvino.
16. Kalebasse oder Holzschale, als Resonator für das Musikinstrument dienend.
17. Kerbstock aus Brasilholz als Musikinstrument.
18. Schabestock aus Brasilholz als Musikinstrument.
19. Rasseln aus Hirschhufen, mit Riedgras an Lederstreifen befestigt.
20. Glocke (vorwiegend als Ersatz für fehlende Rasseln).
Gemeinsam sind beiden Stämmen also nur sechs Momente:
1. Der offene Kultplatz (Patio), auf dem das Peyote-Fest abgehalten wird. (Moment
10, bzw. 5).
2. Das Feuer, um das die Tänzer im Kreise herumtanzen. (Moment 14, bzw. 6).
3. Die Anordnung der Feuerhölzer von Osten nach Westen (Moment 17, bzw. 7).
4. Der Krug mit Tesvino (Moment 22, bzw. 15).
5. Der Krug mit Wasser aus dem Hikuli-Lande (Moment 23, bzw. 12).
6. Der Krug mit dem Peyote-Aufguß (Moment 25, bzw. 8).
Neben diesen gemeinsamen Momenten finden wir noch drei weitere, die Ähnlichkeit mit-
einander aufweisen und möglicherweise verwandt sind:
1. Den Tortillas der Huichol entsprechen die Pinole als einzige Speise während der
Wallfahrt.
2. Dem Opferstab im Hikuli-Krug der Huichol entspricht in einigen seiner Funk-
tionen der Schabestab im Kult der Tarahumare.
3. Den Taschen der Huichol entsprechen die während der Wallfahrt getragenen
Hikuli-Taschen der Tarahumare.
Alle anderen Momente der ersten Gruppe sind bei beiden Stämmen verschieden und
gehören in den Rahmen der beiderseitigen Stammesreligionen hinein1.
b) Kultorganisation.
Bei den Huichol- Indianern2 liegt die Organisation der Peyote-Wallfahrt und des Festes
in der Hand des Schamanen jedes Tempelbezirkes. Der ganze Stamm hat neunzehn Tempel,
und jeder Tempelbezirk veranstaltet jährlich eine eigene Peyote-Wallfahrt. Die Teilnehmer,
sowohl der Wallfahrt wie auch des Festes, bilden keinen besonderen Bund, sondern rekrutieren
sich aus der ganzen Bevölkerung des Bezirkes. Die Beteiligung an der Wallfahrt ist freiwillig
und von keinen besonderen Bedingungen abhängig; die Anzahl der Pilger beträgt acht bis
zwölf, von denen vier die Führung innehaben. Die Pilger sind stets nur Männer, was teils durch
den Jagdcharakter, teils durch die mit der Wallfahrt verbundenen Strapazen bedingt sein
mag. Die Zeit der Zeremonien ist immer dieselbe: Die Wallfahrt wird im Oktober — zur
Reifezeit des Peyote-Kaktus — angetreten und dauert 43 Tage; das Hikuli-Fest findet in den
verschiedenen Tempelbezirken erst im Frühjahr statt, nachdem die Zeit der Hirschjagd vor-
1 Von einer Untersuchung der Herkunft dieser Momente und den Peyote-Kult der mexikanischen Stämme als g ege b e n e n
einem Vergleich mit den anderen religiösen Kulten der Huichol Ausgangspunkt unserer Untersuchung betrachten,
und Tarahumare sehen wir in vorliegender Arbeit ab, da wir 2 Referiert aus Lumholtz b, Bd. II, S. 268 ff.
90
GÜNTER WAGNER
über ist und die Tempelfelder für die nächste Aussaat gesäubert sind. Im Laufe des übrigen
Jahres finden dann noch kleinere Feste zu beliebiger Zeit und ohne das volle Zeremoniell
statt. Die Leitung des Festes liegt in der Hand des Oberschamanen (s. o.); er hat zwei Helfer,
die ihn ablösen und beim Gesänge unterstützen. Den Tanz, an dem beide Geschlechter teil-
nehmen, leiten vier Tanzführer, zwei männliche und zwei weibliche. Ferner lassen sich noch die
Posten eines Tempelwächters und einer Kulthelferin bei der Zeremonie des Kornröstens unter-
scheiden. Im einzelnen haben wir also folgende Momente:
1. Kultleitung in Händen des Schamanen jedes Tempelbezirkes.
2. Peyote-Wallfahrt jedes Tempelbezirkes.
3. Beteiligung des ganzen Stammes am Peyote-Kult.
4. Teilnahme an der Wallfahrt freiwillig.
5. Anzahl der Pilger acht bis zwölf.
6. Teilnehmer an der Wallfahrt nur Männer.
7. Dauer der Wallfahrt 43 Tage (Oktober bis November).
8. Hikuli-Fest im Frühjahr.
9. Zwei männliche Kulthelfer.
10. Vier Tanzführer (zwei männliche, zwei weibliche).
11. Teilnehmer am Tanz: Männer und Frauen.
12. Tempelwächter.
13. Kulthelferin.
Die Kultorganisation der Tarahumare-Indianer weist folgende allgemeine Züge auf1:
Jedes Dorf hat sein eigenes Hikuli-Fest und sendet seine eigene Peyote-Abordnung auf die
Wallfahrt. Das Fest findet unter der Oberleitung eines (mitunter auch zweier) Schamanen
statt, die unter den Schamanen des Dorfes das höchste Ansehen genießen. Da das Fest jedoch
nicht auf einem öffentlichen Kultplatz, sondern auf dem privaten Patio eines Indianers abge-
halten wird, hat auch der Gastgeber des Festes eine leitende Rolle inne. Der Kult bildet einen
Teil der Religion der Tarahumare-Indianer; er wird zwar für sich, aber im Anschluß an die
beiden anderen bedeutendsten Stammestänze, den Rutuburi und den Tumari, abgehalten.
Im einzelnen können wir folgende Momente unterscheiden:
1. Eingliederung des Kultes in die anderen religiösen Stammeszeremonien.
2. Oberleitung des Kultes in Händen eines Schamanen.
3. Organisatorische Kulteinheit: Der Dorfbezirk.
4. Beteiligung des ganzen Dorfes am Peyote-Kult.
5. Teilnehmer der Wallfahrt nur Männer.
6. Teilnehmer des Tanzes: Männer und Frauen; beide tanzen jedoch nachein-
ander.
7. Veranstaltung des Hikuli-Festes auf dem privaten Tanzplatz eines Indianers.
8. Zwei oder mehr männliche Kulthelfer des Schamanen.
9. Zwei bis drei weibliche Kulthelfer.
Ein Vergleich der Kultorganisation der Huichol mit der der Tarahumare zeigt folgende
Übereinstimmungen:
1. Beteiligung der ganzen Bevölkerung am Kult (Moment 3, bzw. 4).
2. Zwei männliche Kulthelfer (Moment 9, bzw. 8).
3. Teilnehmer der Wallfahrt nur Männer (Moment 6, bzw. 5).
Die anderen Momente gleichen sich zwar nicht völlig, korrespondieren aber zum 'Teil eng
miteinander. So liegt in beiden Fällen die Oberleitung des Kultes in Händen von Schamanen;
diese sind jedoch bei den Huichol offizielle Tempelschamanen, bei den Tarahumare dagegen
private Schamanen. Dem Tempelbezirk der Huichol entspricht das Dorf der Tarahumare als
1 Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. I, S. 362ff.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYGTE-KULTES
91
organisatorische Kulteinheit. Bei beiden Stämmen finden wir die Beteiligung beider Ge-
schlechter am Tanze; während sie aber bei den Huichol gleichzeitig tanzen, finden bei den
Tarahumare die Tänze der Frauen nach den Tänzen der Männer statt. Schließlich entspricht
dem öffentlichen Tempelvorplatz der Huichol der private Tanzplatz der Tarahumare.
c) Kultzer emonieli.
In der dritten Gruppe von Kultmomenten, dem Zeremoniell, müssen wir, wie bei der
Betrachtung der Kultgegenstände, zwischen der Wallfahrt und dem späteren Fest unter-
scheiden. Bei den Huichol finden wir folgende Momente der Wallfahrt1:
1. Die Pilger nehmen vor Antritt der Wallfahrt ein Bad.
2. Die Pilger und ihre Frauen schlafen die letzte Nacht vor dem Aufbruch im
Tempel.
3. Am Morgen des Aufbruches verrichten die Männer ein Gebet. Während des
Gebetes stehen sie mit ihren Bündeln, Bögen und Pfeilen um das Feuer herum.
4. Die Pilger opfern dem Feuer fünf Tortillas.
5. Die Pilger besprengen ihre Häupter mittels eines Hirschschwanzes mit Wasser,
in das vorher gewisse Kräuter eingetaucht worden sind.
6. Jeder Pilger nimmt in zeremonieller Weise Abschied von seiner Frau.
7. Vier Anführer werden gewählt.
8. Zwei Anführer gehen am Anfang und zwei am Ende der Prozession.
9. Der Hauptanführer repräsentiert „Großvater Feuer“ und wird auch bei diesem
Namen genannt. Er trägt die Geräte zum Feueranzünden in seiner Tasche und
hat als Einziger die Berechtigung, während der Wallfahrt Feuer anzuzünden.
10. Die Pilger gehen während der Wallfahrt in einer Reihe hintereinander.
11. Ein Mann bleibt im Tempel zurück und verfolgt zum Zwecke der magischen
Beeinflussung die Wallfahrt Tag für Tag in Gedanken.
12. Er löst zu diesem Zweck jeden Tag einen Knoten in seinem Knotenkalender.
13. Die Pilger übernachten Jahr für Jahr an denselben Plätzen2; sie ermöglichen so
den Zurückgebliebenen, die Wallfahrt in Gedanken zu verfolgen und ihnen
gleichzeitig mit ihrem magischen Schutz beizustehen.
14. Der Hauptführer der Pilger löst jeden Tag einen Knoten in seinem Kalender.
15. Vom Tage des Aufbruches an bis zum Hikuli-Fcst vier Monate später waschen
sich Männer und Frauen nur bei gewissen Gelegenheiten und auch dann nur mit
Wasser aus dem Hikuli-Lande.
16. Während dieser Zeit fasten die Pilger häufig und dürfen kein Salz essen.
17. Vom Beginn der Wallfahrt bis zum Ende des Festes müssen die Pilger enthalt-
sam leben.
18. Am Nachmittag des vierten Tages nach dem Aufbruch der Pilger findet eine
Beichte der Frauen vor „Großvater Feuer“ statt, in der sie die Liebschaften
ihres ganzen Lebens bekennen müssen. Die Beichte wird im Tempel mit Hilfe
einer Knotenschnur (vgl. Moment a 5) abgelegt.
19. Nach Beendigung der Beichte werfen die Frauen ihre Knotenschnüre ms Feuer
und sind gereinigt.
20. Ebenso legen die Pilger am Nachmittag des vierten Tages nach dem Aufbruch
eine Beichte ab.
21. Vor der Beichte wenden sich die Männer an die fünf Winde.
22. Nach der Beichte reichen sie die Knotenschnüre dem Leiter, der sie verbrennt.
Darauf gelten die Pilger als Gottheiten.
1 Zusammengestellt aus Lumholtz b. Band II, S. izyff. 2 Vgl. Diguet b, S. 27.
I 3 Baessler-Archiv.
GÜNTER WAGNER
23. Nach der Beichte fasten die vier Anführer bis zur Ankunft im Hikuli-Lande. Sie
dürfen während dieser Zeit nur vereinzelte Peyote essen, die sie am Wege finden.
24. Am fünften Tage der Wallfahrt erfolgt die Zeremonie der Tabakverteilung.
25. Zu Beginn der Zeremonie werden Pfeile nach den vier Weltrichtungen hin nieder-
gelegt.
26. Die Pilger sitzen dann bis nach Mitternacht um das Feuer herum, dem der
Tabak geweiht ist.
27. Während dieser Zeit erfolgen häufige Gebete des ersten Anführers.
28. Der Anführer legt den Tabak auf den Boden, berührt ihn mit seinen Federn und
betet dabei laut.
29. Darauf wickelt er kleine Mengen Tabaks in Maishülsen und reicht jedem Teil-
nehmer der Zeremonie solch ein Bündel.
30. Die Pilger bewahren diese Bündel in besonderen Tabakskalebassen auf; die ganze
Zeremonie gilt als Symbol für die Geburt des Tabaks, und der Besitz eines solchen
Tabaksbündels bringt die Verpflichtung mit sich, es sorgfältig zu bewachen.
31. Nach der Tabakzeremonie müssen die Pilger eine strenge Marschordnung inne-
halten : Niemand darf einen anderen überholen oder für sich gehen.
32. Vor dem Kampieren nehmen die Pilger ihre Tabakskalebassen ab und legen sie
sorgfältig auf eine Grasunterlage. Danach legen sie die Kalebassen in die Pack-
körbe der Maulesel.
33. Trifft eine Gruppe von Wallfahrern eine andere Gruppe, so unterbrechen beide
die Reise einen halben Tag lang, um Begrüßungen auszutauschen.
34. Nach Ankunft am Hikuli-Orte stellen sich die Pilger in einer Reihe auf; jeder Mann
macht seinen Pfeil und Bogen schußfertig und richtet den Pfeil gegen die sechs
Flimmelsrichtungen; zuerst nach Osten gegen die Sonne, dann nach rechts, links,
hinten, oben und zuletzt nach unten. Der Pfeil wird dabei nicht abgeschossen.
35. Darauf weist der Anführer auf ein hohes Plateau (das als der Flauptaltar gilt)
und sagt; „Drüben am ersten Altar steht der Hirsch“.
36. Die Teilnehmer marschieren sodann vorwärts, mit ihren gespannten Bögen nach
vorn zielend.
37. Sieht jemand auf dem Wege ein Hikuli,, so schießt er danach, vermeidet aber,
es zu treffen, da die Hikuli-Pflanzen „lebend“ eingesammelt werden müssen.
Die Pfeile werden deshalb so abgeschossen, daß einer rechts und einer links von
der Pflanze niedergeht, so daß beide sich über der Pflanze kreuzen.
Jeder Pilger schießt in dieser Weise während des Marsches auf fünf Hikuli, sam-
melt sie jedoch nicht auf.
38. Nach Besteigen des Hochplateaus (vgl. Moment 35) machen die Pilger einen
zeremoniellen Rundgang um das Plateau.
39. Darauf erscheint dem Anführer der Hirsch in Form eines Wirbelwindes, ver-
schwindet aber wieder und hinterläßt in seiner Spur zwei Hikuli, eines im Norden
und eines im Süden.
40. An dieser Stelle bringen die Pilger Opfer dar: Votivschalen, Pfeile, Rücken-
schilde, Papierblumen, Münzen und Glasperlen.
41. Sie wenden sich an die fünf Winde der Welt und beten für ihre Gesundheit (sie
bitten Hikuli, sie nicht wahnsinnig werden zu lassen).
42. Nach dieser Zeremonie erfolgt der Abstieg und das Einsammeln der Hikuli.
43. Darauf besteigen die Pilger wieder das Plateau und essen einige Hikuli.
44. Unter dem Einfluß der Hikuli erscheint jetzt allen Pilgern der Hirsch, den vor-
her nur der Anführer gesehen hat.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES 93
45. An verschiedenen heiligen Quellen werden weitere Opfer niedergelegt.
46. Darauf sammeln die Männer drei Tage lang Hikuli; sie achten dabei darauf, die
Pflanzen nicht zu verletzen. Das Einsammeln der Hikuli ist eine Nachahmung
der Hirschjagd: Der erste Tag bedeutet die Hetze des Pfeiles von „Großvater
Feuer“, der zweite die Hetze des Pfeiles von „Urgroßvater Hirschschwanz“,
und der dritte Tag die Hetze für alle Götter.
47. Am fünften Tag nach der Ankunft treten die Pilger die Rückkehr an.
48. Vor dem Aufbruch legt jeder Pilger ein Hikuli vor sich hin und bittet es um
Glück für die Reise.
49. Bis zur Rückkehr werden die Lagerfeuer so gebaut, daß die Feuerhölzer von
Osten nach Westen (in der Richtung der Reise) liegen. Während der Rückreise
liegen die Feuerhölzer umgekehrt von Westen nach Osten1.
50. Auf der Hinreise schlafen die Pilger mit dem Gesicht nach Osten, auf der Rück-
reise mit dem Gesicht nach Westen gewandt.
51. Vor dem Aufbruch machen alle Teilnehmer einen zeremoniellen Rundgang um
den Feuerplatz.
52. Die Hikuli werden zum Transport teilweise in Krüge getan, teilweise auf Schnüre
aufgereiht.
53. Fünf Tage vor der Heimkehr werden die Pilger von ihren, ihnen entgegenkom-
menden Angehörigen mit einem frischen Vorrat von Tortillas versehen.
54. Vor der Rückkehr zum 1 empel veranstalten die Pilger eine zwei- bis dreitägige
Hirschjagd.
55. Nach der Rückkehr wohnen sie bis zum Hikuli-Fest im Tempel.
56. Im Tempel legen die Pilger und der heimgebliebene Tempelwächter ihre Kalen-
derschnüre in zeremonieller Weise zweimal über den Rücken, einmal um den
Fuß, einmal um den Körper und dann herunter bis zu jedem Knie,
57. Nach dieser Zeremonie werden die Knotenschnüre verbrannt.
Momente des Peyote-Festes :2
58. Vor dem Fest nehmen die Hikuli-Pilger und ihre Frauen ein Zeremonialbad
(erstes Bad seit dem Aufbruch zur Peyote-Wallfahrt, vgl. Moment c 1).
59. Gegen Abend betreten die Männer den Kultplatz mit Taschen über ihren Schul-
tern, die Tamales enthalten.
60. Darauf folgen zeremonielle Rundgänge um das Feuer.
61. Einige Tamales werden dem Feuer geopfert.
62. Die Tamales werden auf einer Decke vor dem Altar ausgebreitet.
63. Die Tamales werden unter die Anwesenden verteilt.
64. Der Schamane weiht in einer Schale befindliches Wasser aus dem Hikuli-Lande,
indem er einen Stab in das Wasser taucht und mit ihm nach den sechs Himmels-
richtungen weist.
65. Die Teilnehmer (einschließlich der Kinder) trinken von dem aus dem Hikuli-
Lande mitgebrachten Wasser.
66. Vor und während der ersten Zeremonien zerstampfen die Frauen die Hikuli-
Pflanzen auf dem Patio.
67. Am Südende des Platzes werden zwanzig große Krüge lesvino am Kochen ge-
halten.
68. Nach der Zeremonie des Wassertrinkens erscheint auf dem Kultplatz eine
Prozession von fünf Männern, die Feuerholz herbeitragen.
D. h. das Feuer brennt einmal am östlichen und das andere 2 Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. II, S. 268 ff.
Mal am westlichen Ende der Stäbe,
13'
94
GÜNTER WAGNER
69. Der die Prozession anführende Schamane trägt in seinen offenen Handflächen
mit großer Sorgfalt ein Stück Grünholz.
70. Am Feuerplatz im Innern des Tempels angelangt, erhebt der Schamane das Holz
gegen die fünf Himmelsrichtungen und weiht es der sechsten Himmelsrichtung,
der Erde, indem er es auf den Boden legt.
71. Darauf bauen die fünf Männer über dem Grünholz ein Feuer.
72. Dann begeben sich die Schamanen und die Pilger in die Kulthütte der Sonne,
wo sie laut beten. Sie berichten über die Hikuli-Wallfahrt und bitten als Be-
lohnung dafür um langes Leben und einen glücklichen Verlauf des Festes.
73. In der Zwischenzeit werden die beiden ausgestopften Tiere, das Eichhörnchen
und das Stinktier, auf dem nordwestlichen Teil des Patio aufgestellt, das Feuer
vor den Tieren errichtet und die beiden Krüge mit Tesvino und Wasser daneben
gesetzt.
74. Früh am Morgen des zweitenTages (nachdem die Männer aus der Kulthütte des
Sonnengottes zurückgekehrt sind) beginnt der 24 Stunden dauernde Tanz auf
dem Patio.
75. Der Schamane nimmt seinen Platz vor dem Feuer am östlichen Ende des Patio
ein, mit dem Gesicht nach Osten und dem Rücken zum Tanzplatz gewandt.
76. Zu beiden Seiten des Schamanen nehmen die Kulthelfer Platz, um ihn beim
Gesang zu unterstützen.
77. Der Schamane singt das Eröffnungslied.
78. Darauf beginnt der Tanz, der im Kreise gegen den scheinbaren Lauf der Sonne
um das Feuer des Schamanen herum ausgeführt wird.
79. Während des Tanzes bewegen sich die Tänzer näher zu den ausgestopften Tieren
hin, so daß aus dem Kreise eine Ellipse wird.
80. Die Tänzer gestikulieren beim Tanzen mit Bambusstöcken.
81. Von Zeit zu Zeit wird der Tanz unterbrochen. Die Anfangs- und Endstellungen
der Tanzführer befinden sich stets rechts vom Schamanen.
82. Die Tanzführer drehen sich während des Tanzes häufig um sich selbst.
83. Gegen Mittag des zweiten Tages ruhen die Tänzer aus, und bemalen sich gegen-
seitig die Gesichter.
84. Am dritten (letzten) Tage des Festes endet das Gebot der Abstinenz, und sowohl
Tesvino wie auch Branntwein werden getrunken.
85. Bei Sonnenaufgang des dritten Tages (durch den allgemeinen Rauschzustand im
Falle des vorliegenden Berichtes bis zum Mittag verschoben) findet die Zeremonie
des Kornröstens statt, die das Fest abschließt.
86. Der Schamane befestigt zu Beginn der Zeremonie eine Feder am Kopfe der Frau,
die zur Zeremonie des Kornröstens ausgewählt worden ist.
87. Darauf gibt ihr der Schamane ein Bündel Stroh zum Umrühren des Maises.
88. Die Frau richtet ihren „Comal“ her, indem sie ihn auf drei Steinen über das
Feuer setzt.
89. DieMänner bringen darauf in ihren Taschen besonders große, verschiedenfarbene
Maisähren herbei, mit denen sie zeremonielle Rundgänge um das Feuer machen.
90. Danach legen sie die Ähren auf den Boden, enthülsen sie und opfern fünf Mais-
körner dem Feuer.
91. Der P.est wird der Frau zum Rösten übergeben.
92. Die gerösteten Maiskörner, genannt „esquite“, werden zusammen mit Hirsch-
fleisch und Hirschbrühe allen Teilnehmern des Festes angeboten. Mit dieser
zeremoniellen Mahlzeit endet das Fest.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
95
Bei den Tarahumare- Indianern können wir folgende Momente des Kultverlaufes unter-
scheiden1 :
Momente der Wallfahrt;
1. Vor dem Aufbruch zur Wallfahrt reinigen sich die Pilger mit Kopal.
2. Vom Tage der Ankunft am Hikuli-Orte bis zur Rückkehr fasten die Pilger.
2, Nach Ankunft am Hikuli-Orte wird ein Kreuz errichtet.
4. Die ersten gefundenen Pflanzen werden in zeremonieller Weise vor dem Kreuz
niedergelegt.
5. Darauf werden die nächsten Pflanzen, die gefunden werden, roh gegessen.
6. Während des Aufenthaltes am Hikuli-Orte ist es verboten zu sprechen.
7. An den folgenden zwei Tagen werden die Pflanzen mit Hilfe von Stöcken ein-
gesammelt; die Stöcke sollen verhüten, daß die Pflanzen verletzt werden.
8. Jede Hikuli-Art wird in einen besonderen Beutel getan, ,,da die verschiedenen
Arten sich sonst gegenseitig bekämpfen würden“.
9. Bei der Rückkehr der Pilger in ihr Dorf werden die Pflanzen mit Musik empfangen.
10. Darauf wird ein Schaf oder eine Ziege geopfert; während der Opferzeremonie
legt der Schamane seine Halskette (vgl. a 11) in eine mit Wasser gefüllte Schale.
11. In dieses Wasser wird das „Herz“ einer Agavenpflanze getaucht.
12. Darauf trinken die Anwesenden einen Löffel voll von diesem Wasser.
13. Während dieser Zeremonien singt der Schamane Lieder über Hikuli.
14. In der Nacht beginnen die Hikuli- und Yumari-Tänze (diese sind jedoch noch
nicht der Beginn des großen Peyote-Festes).
15. Eine Anzahl frischer Hikuh-Pflanzen werden unter das Kreuz auf dem Patio
gelegt.
16. Die Pflanzen werden mit Tesvino besprengt.
17. Den Pflanzen wird Nahrung und mitunter auch Geld dargeboten.
Momente des Peyote-Festes:
18. Nach Sonnenuntergang wird auf dem sorgfältig gesäuberten Patio das Feuer
angezündet.
19. Der Besitzer des Hauses, vor dem der Tanz stattfindet, verteilt einige Peyote an
die weiblichen Kulthelfer, die die Pflanzen mit Wasser auf dem Metate zer-
stampfen.
20. Ein neben den Frauen stehender Mann fängt in einer Kalebasse den zur Seite
spritzenden Brei auf und achtet darauf, daß nichts von der Flüssigkeit verloren
geht.
21. Vor Beginn des Tanzes nimmt der Schamane seinen Platz auf dem Boden, etwa
sechs Fuß westlich vom Feuer, ein.
22. Darauf nehmen die männlichen Kulthelfer ihre Plätze zu beiden Seiten des
Schamanen ein.
23. Die weiblichen Kulthelfer nehmen ihre Plätze nördlich vom Feuer ein.
24. Darauf markiert der Schamane mit Hilfe einer runden Trinkschale einen Kreis
im Boden, indem er den Rand der Schale fest auf den Boden setzt und die Schale
dreht.
25. Er zieht dann zwei Durchmesser durch den Kreis, die sich in rechten Winkeln
schneiden. Das Ganze stellte ein Symbol der Welt dar.
26. In die Mitte des Kreises (dort wo sich die beiden Linien schneiden) legt er ein
besonderes Peyote-Exemplar. Manchmal gräbt er an dieser Stelle eine Vertiefung
von fünf bis sechs Zoll und legt die Frucht hinein.
1 Zusammengestellt aus Lumholtz b, Bd. I, S. 362ff.
96
GÜNTER WAGNER
27. Darauf bedeckt er die Peyote-Frucht mit der Schale, so daß sie sich in einem
Hohlraum befindet, der als Resonator für das Musikinstrument, den Kerbstock,
dient.
28. Der Schamane lehnt dabei den Kerbstock gegen das Gefäß und fährt mit einem
zweiten Stab in bestimmter zeremonieller Weise über den Kerbstock.
29. Nach längerem, dreimal wiederholtem Vorspiel singt der Schamane das Er-
öffnungslied.
30. Danach erheben sich die männlichen und weiblichen Kulthelfer und tragen
Rauchgefäße mit brennender Holzkohle und Kopal zum Kreuz, dem sie ein
Weihrauchopfer darbringen.
31. Während dieser Zeremonie knien sie nieder, nach Osten gewandt.
32. Sie bekreuzigen sich.
33. Nach der Rückkehr zum Platze des Schamanen gibt dieser den männlichen
Kulthelfern Rasseln, die sie entweder in der rechten Hand halten oder über die
Schulter werfen.
34. Darauf beginnt der Tanz; die Tänzer bewegen sich im Kreis in einer Reihe
hintereinander mit schnellen, kurzen Bewegungen; die Richtung des Tanzes ist
dem scheinbaren Laufe der Sonne entgegengesetzt.
35. Die ersten sechs bis acht Runden des T anzes finden zwischen dem Feuer und dem
Kreuz statt; bei den folgenden Runden wird der Kreis erweitert, so daß er das
Feuer einschließt (vgl. Grundrißskizze).
36. Befindet sich ein Tänzer zwischen dem Schamanen und dem Feuer, so dreht er
sich schnell einmal um sich selbst.
37. Von Zeit zu Zeit imitieren die Tänzer die Sprache des „Hikuli“, indem sie sich
mit der Hand dreimal schnell gegen den Mund schlagen und rufen: „Hikuli
dort drüben!“
38. Der Schamane unterbricht seine Tätigkeit nur ein- bis zweimal während der
Nacht. Wenn er seinen Platz verläßt, entschuldigt er sich bei „Hikuli“ und
tauscht sowohl bei seinem Weggang wie bei seiner Rückkehr formale Begrüßun-
gen mit Hikuli aus. Er hört zu diesem Zwecke mit dem Gesänge und dem Scha-
ben auf und benachrichtigt „Hikuli“, indem er den Kerbstock mehrere Male
schnell mit dem Schabestock anschlägt und dann mit drei langsamen Schlägen
abschließt.
39. Während der Nacht nimmt ein Mann das Gefäß mit der Hikuli-Flüssigkeit von
seinem Platz am Kreuz (vgl. Moment a 3) und trägt es mit schnellen Schritten
um das Feuer herum, indem er drei Kreise für den Schamanen und einen Kreis
für den Rest der Anwesenden beschreibt,
40. Mitunter trinken nur der Schamane und seine Kulthelfer von der Hikuli-Flüssig-
keit, mitunter dagegen alle Teilnehmer.
41. Jeder Teilnehmer muß sich beim Verlassen des Kultplatzes bei „Hikuli“ ent-
schuldigen.
42. Bei Tagesanbruch gibt der Schamane das Zeichen zum Abbruch des Tanzes,
indem er dreimal in besonderer Weise auf seinem Kerbstock schabt.
43. Darauf versammeln sich die Teilnehmer in der Nähe des Kreuzes am östlichen
Ende des Tanzplatzes.
44. Der Schamane erhebt sich von seinem Platz und, in seinen Händen die Musik-
instrumente tragend und gefolgt von einem Knaben, der eine Schale mit Wasser
trägt, gibt er den Anwesenden den Segen. Vor jedem der Anwesenden stehen
bleibend, taucht er die Spitze des Schabestabes feierlich ins Wasser, und, nach-
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
97
dem er mit dem nassen Ende den Kerbstock unten, in der Mitte und schließlich
oben berührt hat, streicht er dreimal über den Kopf jedes einzelnen Teilnehmers.
45. Darauf legt er das Ende des Kerbstockes gegen den Kopf jedes Teilnehmers und
streicht dreimal über den ganzen Stab, wobei er nach jedem Schlag seine Hände
weit in die Luft ausstreckt.
46. Nach dieser Zeremonie wendet sich der Schamane der aufgehenden Sonne zu,
und, indem er seine Musikinstrumente zur Sonne hin ausstreckt, schabt er
mehrere Male schnell am unteren Ende des Kerbstockes und dann über den
ganzen Stab von einem Ende zum andern.
47. Mit dieser dreimal wiederholten Zeremonie verabschiedet er „Hikuli“. (Nach der
Legende kommt Hikuli am frühen Morgen auf schönen, grünen Tauben reitend,
um am Ende des Festes mit den Tarahumares zu speisen. Der hervorragendste
Hikuli ißt mit dem Schamanen, der allein fähig ist, ihn und seine Begleiter zu
sehen. Nachdem Hikuli seinen Segen ausgeteilt hat, nimmt er die Gestalt einer
Kugel an, und, begleitet von der Eule, fliegt er heim in sein Land).
48. Nach Beendigung der Zeremonie wird der von dem Schamanen durch das
Schaben erzeugte Staub sorgfältig gesammelt und in einem Hirschlederbeutel
als Heilmittel aufbewahrt.
49. Nach dem Fest muß sich jeder Teilnehmer Gesicht und Hände waschen.
Vergleichen wir das Kultzeremoniell der Huichol mit dem der Tarahumare, so ergeben
sich folgende Übereinstimmungen:
1. Die Pilger achten beim Einsammeln der Hikuli-Pflanzen darauf, diese nicht zu
verletzen (Moment c 46, bzw. c 7).
2. Frauen zerstampfen die Peyote-Pflanzen und bereiten den Peyote-Aufguß zu
(Moment c 66, bzw. c 19).
3. Die Kulthelfer sitzen zu beiden Seiten des Schamanen (Moment c 76, bzw. c 22).
4. Der Schamane singt das Eröffnungslied (Moment c 77, bzw. c 29).
5. Der Tanz bewegt sich im Kreise, entgegen dem scheinbaren Lauf der Sonne
(Moment c 78, bzw. c 34).
Folgende Momente weisen Ähnlichkeit miteinander auf:
1. Dem Bad der Eluichol entspricht die Reinigungszeremonie der Tarahumare mit
Kopal.
2. Während die Huichol-Pilger nach der Beichte (vgl. M. c 20) fasten, fasten die
Pilger der Tarahumare nach ihrer Ankunft am Hikuli-Orte.
3. Beide Stämme trinken geweihtes Wasser, das jedoch nur bei den Huichol aus
dem Hikuli-Lande mitgebracht wird,
4. Bei den Huichol sitzt der Schamane an der östlichen Seite des „Patio“, bei den
Tarahumare am westlichen Ende; beide haben ihren Platz aber vor dem Feuer,
mit dem Gesicht nach Osten gewandt.
Der größte Teil des Zeremoniells ist jedoch bei beiden Stämmen verschieden. So ist die
ganze Beichtzeremonie auf die Huichol beschränkt, die Weihezeremonie1 dagegen auf die
Tarahumare; bei den Huichol fehlen jegliche Musikinstrumente, bei den Tarahumare dagegen
spielen Rassel, Kerbstock und Schabestab eine beträchtliche Rolle; schließlich sind — soweit
aus den Berichten Lumholtz’ hervorgeht — die Zeremonien der Wallfahrt bei den Huichol
viel ausgedehnter und zahlreicher als bei den Tarahumare.
Wir haben damit den Überblick über den Peyote-Kult der mexikanischen Stämme been-
det und so die Grundlage gewonnen, von der aus wir den modernen Entwicklungs- und Ver-
1 Vgl. Moment 44 des Kultverlaufes der Tarahumare.
GÜNTER WAGNER
98
breitungsprozeß des Kultes verfolgen können. Bei den Prärie-Indianern werden wir nun
Momente aus den Kultformen beider mexikanischer Stämme wiederfinden, und wir müssen
daher beide Kultformen unserer weiteren Untersuchung zugrundelegen, um dann später zu
sehen, wie weit den bei den Huichol und Tarahumare übereinstimmenden Momenten eine
besondere Bedeutung in der weiteren Entwicklung des Kultes zukommt.
2. PHASE: DER KULT BEI DEN PRÄRIE STÄMMEN.
A. DAS AKKUL T URA TIONSPROD UKT BEI DEN RIO IVA-INDIANERN.
1. DIE ÜBERTRAGUNG MEXIKANISCHER MOMENTE,
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Die Untersuchung der zweiten Phase, des Peyote-Kultes bei den Präriestämmen, führt
zu den eigentlichen Akkulturationsvorgängen und damit zu den engeren Problemen der vor-
liegenden Arbeit. Sie zerfällt in zwei Teilphasen, in denen zwar dieselben ethnologischen
Prozesse, aber in verschiedenem Grade, wirksam sind:
1. Der primäre Akkulturationsprozeß, dessen Ausgangspunkt der Kult bei den mexika-
nischen Stämmen und dessen Ergebnis die Kultform der Kiowa-Indianer ist.
2. Der sekundäre Akkulturationsprozeß, der die Übertragung des Kultes von den
Kiowa auf die übrigen Präriestämme und seine weitere Angleichung an die Präriekultur um-
faßt.
Diese Unterscheidung beruht darauf, daß wir im Verlaufe des ersten Prozesses die grund-
legende Umwandlung des Kultes von der mexikanischen Form bis zur Form der Prärie-
stämme sich vollziehen sehen, während wir in dem zweiten Prozeß im wesentlichen nur eine
Übertragung der bereits an die Prärie angeglichenen Form vor uns haben, zu der nur noch
einige wenige Momente neu hinzutreten.
An dem primären Akkulturationsprozeß sind die Mescalero-Apache, die Comanche und
die Kiowa beteiligt (vgl. o. S. 74!). Von der Entwicklung des Kultes bei diesen drei Stämmen
existieren zeitgenössische Berichte nur für die Kiowa1, während für die Comanche eine Kult-
schilderung aus dem Jahre 19181 2 und für die Mescalero nur Berichte nach den Erinnerungen
einiger alter Indianer aus dem Jahre 19313 vorliegen. Da von diesen Quellen nur der Kiowa-
Bericht mit Sicherheit die anfängliche Kultform der Präriestämme darstellt, legen wir nur ihn
der Untersuchung des primären Akkulturationsprozesses zugrunde, ohne jedoch damit zu sagen,
daß sich der ganze Umwandlungsprozeß, von der Kultform der mexikanischen Stämme bis zu
der in dem Kiowa-Bericht geschilderten Form, ausschließlich bei den Kiowa vollzogen4 hat.
Unsere erste Aufgabe wird es nun sein, die Momente des Kiowa-Kultes mit den Momenten
der ersten, mexikanischen Phase zu vergleichen, um so zunächst festzustellen, in wie weit beide
Kultformen miteinander übereinstimmen. Sodann werden wir die den mexikanischen Stäm-
men und den Kiowa gemeinsamen Momente auf ihre Beziehungen zu der traditionellen
Kultur der Präriestämme hin untersuchen (vgl. Einleitung S. 61). Dabei werden wir nicht nur
die Beziehungen dieser Momente zu der traditionellen Kultur der Kiowa, sondern auch zu den
alten Kulten der anderen Präriestämme berücksichtigen. Wir sind uns der methodischen
Unzulänglichkeit bewußt, die in dieser Heranziehung der Präriekultur als eines Ganzen
liegt; ist sie doch keine Einheit, sondern nur der Sammelbegriff, der selbst wieder mehrere,
voneinander abweichende Untergruppen umfaßt, so daß also nicht ohne weiteres Daten, die
1 Berichte von James Mooney aus den Jahren 1896 und 1897, nur vergleichsweise heran, da nicht feststeht, ob der vor-
s. Mooney a, b. liegende Bericht die Vorstufe des Kiowa-Kultes darstellt,
2 Mooney g. 3 Benedict b, Frank a. oder ob umgekehrt rückwirkende Einflüsse aus der Prärie-
4 Den Bericht über den Kult der Mescalero ziehen wir dabei kultur in ihm wirksam geworden sind.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
99
bei einem Stamme fehlen, durch Daten bei einem anderen Stamme ersetzt werden können.
Da wir jedoch nicht historische Beziehungen zwischen den einzelnen Momenten des Peyote-
Kultes und den alten Präriekulten suchen, sondern nur psychologische Verwandtschaften,
kann die Präriekultur mit gewissen Vorbehalten als zusammenhängende Einheit behandelt
werden. Eine spätere, spezielle Untersuchung jedes einzelnen Momentes wird dann zeigen
können, wie weit die Verwandtschaft des Peyote-Kultes mit den alten Präriekulten historischer
Natur ist und wie weit sie einen Fall ,echter‘ oder ,abhängiger‘ Konvergenz1 darstellt.
In der ersten Gruppe von Momenten, dem Kultplatz und den Kultgegenständen, zeigt
ein Vergleich des Kiowa-Berichtes mit dem Kult der mexikanischen Stämme folgende Über-
einstimmungen2 :
1. Eingang des Kulthauses im Osten (Moment a 9 der Huichol).
2. Feuer im Mittelpunkt des Kultplatzes (Moment a 13, 14 der Huichol, a 6 der
Tarahumare).
3. Ost-westliche Anordnung der Feuerhölzer (Moment a 17 der Huichol, a 7 der
Tarahumare).
4. Federschmuck und Körperbemalung (Moment a 27, 28 und 31 der Huichol).
5. Besonderer Peyote-Fetisch (Moment a 10 der Tarahumare).
6. Platz des Feiters westlich vom Feuer, mit dem Gesicht nach Osten gewandt
(Moment c 75 der Huichol, c 21 der Tarahumare).
7. Platz der Kulthelfer zu beiden Seiten des Kultleiters (Moment c 76 der Huichol,
c 22 der Tarahumare).
8. Rasseln als Musikinstrumente (Moment a 19 der Tarahumare).
Dies sind alle Momente der ersten
Gruppe der mexikanischen Kultform,
die wir bei den Kiowa wiederfinden.
Sie erstrecken sich nur auf das Peyote-
Fest, während die Wallfahrt der mexi-
kanischen Stämme zur Ernte der
Peyote bei den Kiowa — wie auch den
anderen Präriestämmen — durch einen
profanen Handel mit den Peyote-Kak-
teen ersetzt worden ist.
Sehen wir uns nun diese Momente
im einzelnen an und untersuchen wir
ihre Beziehungen zu der traditionellen
Kultur der Kiowa und der Prärie-
stämme im allgemeinen! Dem nach
Osten gerichteten Eingänge des
Huichol-Tempels entspricht die öst-
liche Türöffnung des Kult-Tipis der
Mescalero und Kiowa. E in V er gleich des
Huichol-Tempels mit dem Kult-Tipi
ist allerdings nur in beschränktem Maße möglich, da beide innerhalb des Kultes ganz ver-
schiedene Funktionen erfüllen. Während der ganze Kult bei den Kiowa im Tipi stattfindet,
dient der Huichol-Tempel nur einigen vorbereitenden Zeremonien; der eigentliche Kult wird
dagegen auf dem Tempelvorplatz, dem Patio, abgehalten. Der beiden Kultplätzen gemein-
1 Vgl. über diese Begriffe Goldenweiser a. S. 269. keine besonderen Anmerkungen auf andere Quellen hin-
" Zusammengestellt aus Mooney b; alle weiteren Angaben weisen — auf Mooney b.
über den Peyote-Kult der Kiowa stützen sich — soweit
tV
Grundriß des Peyote-Kultplatzes der Präriestämme.
14 Baessler-Archiv.
IOO
GÜNTER WAGNER
same, östliche Eingang ist nun ein Moment, das in den traditionellen Zeremonien der Mesca-
lero und Kiowa und darüber hinaus auch bei den anderen Präriestämmen, sowie bei den
Stämmen des Südwestens (Apache1, Navaho1 2) weit verbreitet ist. So ist der Lagerkreis der
Kiowa nach Osten geöffnet3 und ebenso die Tanzhütte im Sonnentanz4; dies ist außer bei den
Kiowa auch bei den Ute, Blackfoot, Sarsi, Gros Ventre, Arapaho, südlichen Cheyenne, Oglala,
Ponca und Arikara der Fall5, während bei einigen Stämmen der nördlichen Prärie, den Prärie-
Cree, Prärie-Ojibwa und Hidatsa die Öffnung nach Süden allgemein ist6.
Der östliche Eingang des Peyote-Tipis der Kiowa stellt also keine Entlehnung eines bis
dahin fremden Momentes dar, sondern ist vielmehr ein in die traditionelle Präriekultur
durchaus hineinpassendes Moment, das, für sich betrachtet, ebenso gut aus der alten Kultur,
wie nach dem Vorbild des mexikanischen Kultes entwickelt worden sein kann.
Den drei Kultfeuern der Eluichol (Momente a 13—15) und dem Feuer auf dem Patio
der Tarahumare entspricht das Holzfeuer im Mittelpunkt des Kult-Tipis der Mescalero und
Kiowa. In beiden Gebieten dient das Feuer der Beleuchtung der nächtlichen Zeremonie und
im Winter außerdem der Wärmung der Teilnehmer; es bildet den Mittelpunkt, um den sich
bei den mexikanischen Stämmen die tanzenden und bei den Kiowa die singenden und medi-
tierenden Teilnehmer gruppieren. Wie weit darüber hinaus bei den mexikanischen Stämmen
dem Feuer eine besondere Bedeutung zukommt (abgesehen von dem Feuer für die Leute aus
der Unterwelt, s. o. S. 87), ist ungewiß. Es scheint jedoch bei den Huichol in Beziehung zum
Feuergott zu stehen, worauf die Zeremonie des Feueranzündens (Momente c 68—71 der
Huichol) hinweist. Es gehört dort somit in den Rahmen des allgemeinen Feuerkultes der
mexikanischen und südöstlichen Stämme7. Bei den Tarahumares scheint das Feuer keine
besonderen Beziehungen zu ihren religiösen Vorstellungen zu haben. Sie kennen auch — im
Gegensatz zu den Huichol — keinen Feuergott. Für die Kiowa wird ebenfalls keine kultische
Interpretation des Feuers gegeben, und nur die Zeremonien deuten darauf hin, daß das Feuer
als allgemeines Symbol der Reinheit aufgefaßt wird. Diese Deutung, wie auch die Inter-
pretation des Feuers bei den anderen Präriestämmen, die zum Teil auf christlichen Ein-
flüssen beruhen (vgl. u, S. 198), scheinen jedoch sekundärer Natur zu sein.
Ist das Kultfeuer nun ein neues Moment oder begegnen wir ihm schon in der traditio-
nellen Kultur der Präriestämme ? In Verbindung mit ihrer bedeutendsten Stammeszeremonie,
dem Sonnentanz, kannten die Kiowa nur ein kleines Feuerchen zu einer Seite des Eingangss
in die Tanzhütte, dessen, wie Scott betont, einziger Zweck darin bestand, die Trommelhaut
zu spannen8. Von den anderen Stämmen der Prärie wird ein Feuer in der Tanzhütte erwähnt
für die Oglala Sioux9, Plains Cree10 *, Crow11, Blackfoot12, Wind-River-Shoshoni13, Gros Ventre,
Arapaho und südlichen Cheyenne14. Dieses Feuer brennt meist in der Mitte der Hütte und dient
neben der Beleuchtung einem besonderen Brauch, über den Leslie Spier schreibt: . . es ist
die Funktion der Krieger gewisser Stämme, das Feuer mit einem Stück Holz für jeden „Coup“15
anzufachen, den sie aufzählen können: Der geschätzteste Krieger unter den Blackfoot (und
1 Curtis, S. 48. Dumont writes for the Natchez firekeeper: If it is cold he
2 Curtis, S. 62 ff. may have his fire apart, but he is not allowed to wann hirn-
3 Scott, S. 357. seif at that which burns in honor to the sun.”
4 Spier a, S. 441. 8 Scott, S. 336.
5 Spier b, S. 466. 9 Walker, S. 143.
6 Spier b, S. 470. 10 Goddard a, S. 304.
7 Vgl. MacLeod, S. 225, wo er Penicant über die Natchez 11 Lowie b, S. 43.
zitiert: “In this temple they have a fire which is preserved 12 Wissler d, S. 261.
continually, it is the sun which they say this fire represents 13 Lowie c, S. 402.
and which they adore. That is why every morning, at sun- 14 Spier b, S. 475.
rise, they make a fire before the door cf the temple, and in 15 Erste Berührung eines im Kampfe getöteten Feindes;
the evening, at sunset. — The perpetual fire in the temple diese Berührung bedeutet für den Krieger mehr Ehre, als
was apparently the most sacred or taboo of its contents. der Akt des Tötens.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
IOI
vielleicht auch Gros Ventre und Wind River) ist derjenige, der das Feuer hoch genug baut,
um einen Büffelschwanz zu räuchern, der von dem Mittelpfosten herabhängt1“. Ferner finden
wir eine Feuerstelle in den Tipis der Tanzbünde der Prärie. So erwähnt sie Kroeber für die
Tanzhütte (lodge) der ,,Second Dance Society“ der Arapaho, und zwar zwischen der Mitte
der Hütte und dem Eingang im Osten gelegen1 2. Bei mehreren Stämmen der Prärie gab es einen
sogenannten Feuertanz, der von bestimmten Tanzbünden ausgeführt wurde, so bei den
Cheyenne3 und Arapaho4. Bei dieser Zeremonie handelte es sich jedoch um einen Tanz über
und auf einem Kohlenfeuer, der solange fortgesetzt wurde, bis das Feuer ausgetreten war.
Kroeber erwähnt dann zwar ferner, daß das Feuer zu diesem Tanz nach bestimmten Regeln
angelegt wurde, die von den beiden „Großvätern“ des Bundes gelehrt wurden5, gibt aber lei-
der nicht an, worin diese Regeln bestanden, so daß wir nicht feststellen können, ob sie mit dem
Anlegen des Feuers im Peyote-Kult übereinstimmen (s. u. S. 101).
Abgesehen von seiner Verwendung in Zeremonien war das Holzfeuer in der Mitte des
Tipis auch ein allgemeiner Bestandteil des Wohnplatzes der Präriestämme6.
Zusammenfassend können wir sagen, daß sich das Feuer bei den Präriestämmen in ähn-
licher Form wie im Peyote-Kult sowohl zu kultischen wie zu profanen Zwecken schon vor
dem Peyote-Kult nachweisen läßt. Insoweit ist es also kein neues Moment. Es entsteht daher
die Frage, ob das Feuer im Peyote-Kult auf die Vorbilder im traditionellen Kultwesen der
Präriestämme zurückgeht, oder ob es eine Übertragung aus dem Kult der mexikanischen
Stämme darstellt. Diese Frage wird sich erst nach der Untersuchung aller übereinstimmen-
den Momente entscheiden lassen, da sie eine gemeinsame Betrachtung aller dieser Momente
voraussetzt (s. u. S. ioy£.).
Als nächstes Moment entspricht der ost-westlichen Anordnung der Feuerhölzer im
Kult der mexikanischen Stämme die c-förmige, ebenfalls ost-westlich gerichtete Anordnung
dieser Hölzer im Peyote-Kult der Kiowa. In der traditionellen Kultur der Präriestämme
finden wir, abgesehen von der regellosen Aufschichtung des Feuerholzes, wie sie anscheinend
im Wohntipi üblich war, eine -'.-förmige Anordnung der Feuerhölzer in der Morgenstern-Opfer-
zeremonie der Pawnee7 und den Kultfeuern der Omaha8 erwähnt. Das Feuer brennt in der
Mitte und die vier Hölzer weisen nach den vier Hauptrichtungen: Norden, Osten, Süden und
Westen. Dieselbe Anordnung finden wir beim Kultfeuer auf dem „square ground“ der süd-
östlichen Stämme9, und es ist möglich, daß die Pawnee und Omaha sie von dort übernommen
haben. Leider konnten wir für die anderen Präriestämme keine Angaben ausfindig machen,
so daß die Frage, ob in ihren traditionellen Zeremonien die <-förmige, die -! förmige, oder noch
eine andere Art der Anordnung der Feuerhölzer vorkam, vorerst noch offen bleiben muß.
Ähnlich liegt der Fall bei dem vierten Moment, dem Feder schmuck und der Körper-
bema 1 u n g, die wir im Kult der mexikanischen wie der Präriestämme antreffen. Da wir keine
Angaben über die Art des Schmuckes, sowie über Ornamente und Farben der Körperbemalung
bei den Peyote-Anhängern der Kiowa haben, so können wir weder den Grad der Überein-
stimmung mit dem mexikanischen Kult, noch auch die Beziehungen zu den traditionellen
Schmuckformen der Kiowa näher untersuchen. Die allgemeinen Momente des Federschmuckes
und der Körperbemalung sind aber zu weit verbreitet, um für unser Problem von besonderer
Bedeutung zu sein.
Das folgende Moment dagegen, die Verehrung eines besonderen Peyote-Exemplars als
Fetisch (Moment a io der Tarahumare), das auch bei den Mescalero und Kiowa vorkommt,
1 Spier b, S. 475, übersetzt vom Verfasser; vgl. Clark, S. 7.
2 Kroeber a, S. 161.
3 Mooney e, S. 415.
4 Kroeber a, S. 190, (bei beiden Stämmen gehört der Feuer-
tanz zu den Zeremonien der „Crazy Lodge“).
5 Kroeber a, S. 190.
6 Vgl. Campbell, S. 691.
7 Linton a, S. 10.
8 J. O. Dorsey, S. 381.
9 Speck, S. 118; Swanton c, S. 205.
102
GÜNTER WAGNER
weist auch in den Einzelheiten in beiden Gebieten Übereinstimmungen auf. Sowohl in Mexiko
wie bei den Kiowa wird dieses besondere Peyote-Exemplar vor das Feuer gelegt (bei dendfeibwa
auf den Mittelpunkt des Erdaltars) und ist der Gegenstand weitgehend übereinstimmender
Zeremonien (s. u. S. xo^ff.). Seinem Wesen nach war aber auch dieses Moment in der Prärie-
Kultur bereits heimisch, denn es entspricht in seiner zeremoniellen Behandlung einer „Medi-
zin“, deren traditioneller Platz sich zwischen dem Feuer und dem Platz des Schamanen
befand1. Dies war auch die traditionelle Stelle der Altäre, wie sie in den Medizin-Tipis2 und der
Sonnentanzhütte3 üblich waren.
Als nächstes Moment entspricht dem Platze des Tarahumare- und Huichol-Schamanen
der des Leiters der Kiowa-Peyote-Zeremonie: Beide sitzen westlich vom Feuer, mit dem
Gesicht nach Osten gewandt; ebenso haben «die Kulthelfer in beiden Gebieten ihre Plätze
rechts und links vom Schamanen. Auch diese beiden Momente sind in den Prärie-Zeremonien
nicht neu. Der Platz an der Westseite des Tipis, gegenüber vom Eingang, ist der allgemeine
Ehrenplatz, sowohl im Wohn- wie auch im Kultzelt, und dies aus natürlichen Gründen, da er,
wie Campbell sagt, „am wenigsten dem Zuge ausgesetzt ist und keiner der im Zelt Anwesen-
den zwischen diesem Platz und dem Feuer hindurchzugehen braucht4“. So ist dieser Platz dem
Familienoberhaupt Vorbehalten, falls er nicht an Gäste vergeben wird, in welchem Falle der
Gastgeber auf der Südseite des Zeltes Platz nimmt5. Dieselbe Anordnung finden wir auch in
der Sonnentanzhütte6. Sie scheint ein Teilmoment in dem größeren Komplex der Himmels-
richtungssymbolik der Ost-West Achse zu bilden7, die sich über das Gebiet der Präriekultur
hinaus auch bei den Stämmen des Südwestens8 findet.
Zu der Platzanordnung der Kulthelfer, die als Trommelwart und Zedernwart wichtige
Funktionen im Peyote-Kult der Präriestämme zu erfüllen haben, können wir leider wegen
mangelnder Angaben keine Parallelen9 aus den traditionellen Zeremonien der Präriestämme
zeigen; jedoch ergibt sich die Anordnung zu beiden Seiten des Kultleiters aus der Tätigkeit
der Kulthelfer und der Form des Tipis von selbst, so daß wir diesem Moment keine allzugroße
Bedeutung beizumessen haben.
Als letztes, gemeinsames Moment der ersten Gruppe kommen Rasseln als Musikinstru-
mente sowohl bei den Tarahumare, als auch bei den Mescalero und Kiowa vor, während sie
bei den Huichol fehlen. Beide Rasseln gehören jedoch einem ganz verschiedenen Typ an: Die
der Tarahumare (Moment a 19) bestehen aus Hirschhufen, die mit Riedgras an Lederstreifen
befestigt sind, während die Peyote-Rassel der Kiowa dem Typ der in den Präriezeremonien
weit verbreiteten Kalebassenrassel angehört, wie sie auch im Sonnentanz der Kiowa verwandt
wird10. Beiden Gebieten ist also nur die Idee der Rassel gemeinsam, während die Formen
keine Übereinstimmungen zeigen.
b) Kultorganisation.
Ein erschöpfender Vergleich der Kultorganisation der mexikanischen Stämme mit der
der Kiowa ist wegen des Mangels an Angaben über den Kiowa-Kult noch nicht möglich. Rein
theoretisch läßt sich aber zu dem Problem sagen, daß die Kultorganisation in weit stärkerem
Maße als das Ritual in der soziologischen Struktur eines Stammes verwurzelt ist und, los-
gelöst von dieser, jeden Sinn verliert. Es ist daher anzunehmen, daß sich bei einem Vergleich
zwischen der mexikanischen und der Kiowa-Kultorganisation nur so weit Übereinstimmungen
finden werden, wie sich die soziologische Struktur in beiden Gebieten gleicht. Die Angaben
1 Vgl. Kroeber a, S. 310. 7 Vgl. J. O. Dorsey über Kulte der Sioux, S. 377; “The
2 Vgl. Campbell, S. 691. east appears to symbollze life or the source thereof, but the
3 Spier b, S. 471. west refers to death.”
4 Campbell a, S. 691, übers, v. Verf. 8 Vgl. Curtis, S. 57ff.
5 Campbell, S. 691. 9 Vgl. jedoch Wissler a, S. 863 und Scott, S. 367.
8 Vgl. Kroeber a, S- 289. 10 Scott, S. 350, ferner vgl. Lowie b, S. 847.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
103
über die Organisation des Peyote-Kultes der Kiowa beschränken sich auf die wenigen Mo-
mente, die aus dem Ritual selbst hervorgehen. Dies sind:
1. Das Amt eines obersten Kultleiters, der der ganzen Zeremonie vorsteht. Dieses
Amt entspricht dem des Huichol- und Tarahumare- Schamanen (Moment b 1 der
Huichol, b 2 der Tarahumare).
2. Die Veranstaltung des jeweiligen Peyote-Festes durch ein beliebiges Mitglied der
Peyote-Gemeinschaft auf seinem privaten Grundstück1. Dies entspricht dem
privaten Veranstalter und dem „Patio“ der Tarahumare und steht im Gegen-
satz zu den Huichol, bei denen die Veranstaltung des Kultes in den Händen des
Priesters jedes Tempelbezirkes liegt (Moment b 7 der Tarahumare).
3. Die Teilnahme beider Geschlechter an den Peyote-Zeremonien (Moment b 11
der Huichol, b 6 der Tarahumare).
4. Das Amt eines Kulthelfers, der den Kultleiter in seinen Funktionen unterstützt.
Dieses Amt entspricht dem der Kulthelfer bei den Tarahumare und Huichol
(Moment b 9 der Huichol, b 8 der Tarahumare).
Die Funktionen des Tarahumare-Schamanen und des Kiowa-Kultleiters stimmen weit-
gehend überein. Beide verwahren die heiligen Kultgegenstände, besonders den Peyote-
fetisch, dessen Administration während des ganzen Festes ihnen allein zusteht. Auch im Ver-
lauf der einzelnen Kultzeremonien erfüllen sie ähnliche Funktionen (s. u. S. 104!!.). Leider
fehlen uns über ihre soziale Stellung im Stamme, sowie über die Einzelheiten der Verwaltung
und Aufbewahrung der Kultgegenstände, nähere Angaben. Solche Angaben wären aber eine
notwendige Voraussetzung für die Untersuchung der weiteren Frage, ob die organisatorische
Stellung des Kultleiters der Kiowa ein von den Tarahumare übertragenes Moment darstellt,
oder ob diese Stellung aus der Präriekultur oder sogar aus christlichen Einflüssen heraus ent-
wickelt worden ist. Das Moment der Autorität eines Kultleiters ist so, ohne nähere Angaben,
noch zu allgemein, um die Frage zu entscheiden. Vorerst kann daher nur festgestellt werden,
daß das Amt eines einzigen Kultleiters in der traditionellen Präriekultur nicht neu ist, son-
dern ein allgemeines Charakteristikum der schamanistischen Kulte und ferner der Tanz-
bünde bildet, während im Sonnentanz teils individuelle Leiter Vorkommen (bei den Crow,
Kiowa und Blackfoot die Bewahrer des Stammes-Medizin-Bündels), teils sogenannte
„Fraternity“-(Gruppen)-Leitung2.
Das zweite Moment, die Veranstaltung des jeweiligen Peyote-Festes auf Grund privater
Initiative, begegnet uns ebenfalls schon in den traditionellen Präriekulten, so im Sonnentanz
und in den Bündelzeremonien. Die Veranstaltung auf einem privaten Grundstück ist aller-
dings neu; sie ist aber bedingt durch das Reservationsleben, das bei den Präriestämmen mit der
festen Siedlungsweise die Auflösung des Lagerkreises und damit auch des öffentlichen Kult-
platzes mit sich brachte.
Die Beteiligung beider Geschlechter am Peyote-Kult findet in der Prärie-Kultur nur in
der großen Stammeszeremonie, dem Sonnentanz, und in den Bündelzeremonien ihre Vor-
bilder, während die Zeremonien der Tanzbünde und Altersgenossenschaften auf Männer
beziehungsweise auf Frauen beschränkt waren.
Die Übereinstimmung des vierten Momentes schließlich, des Amtes eines Kulthelfers,
ist wieder so allgemeiner Natur, daß wir ihm keine besondere Bedeutung zumessen können.
Die Frage, wie weit außer diesen vier Momenten noch weitere Übereinstimmungen
zwischen der mexikanischen und der Kiowa-Kultorganisation bestehen, muß vorerst noch
offen bleiben. Das bisherige Ergebnis des Vergleichs zeigt jedoch schon, daß alle übereinstim-
menden Momente bereits in den traditionellen Kultorganisationen der Präriestämme vor-
kamen und somit keine Entlehnungen völlig fremder Momente darstellen.
1 Nach Feldnotizen des Verfassers. ursprünglich die individuelle Führerschaft zugrunde lag;
2 Spier hat aber gezeigt, daß auch der Fraternity Leitung vgl. Spier b, S. 489!.
104
GÜNTER WAGNER
c) Kultzeremoniell.
Wir kommen nun "zu der dritten Gruppe von Kultmomenten, dem Zeremoniell. Verglei-
chen wir auch hier wieder die Momente der Kiowa mit denen der mexikanischen Stämme, so
ergeben sich neun Momente, die in beiden Gebieten übereinstimmen:
1. Nächtliche Veranstaltung des Peyote-Festes (vgl. Moment c 18 der Tarahu-
mare).
2. Betreten des Kultplatzes im Gänsemarsch (vgl. Moment c io und c 59 ( ?) der
Huichol).
3. Zeremonielle Rundgänge um das Feuer, bzw. um das Kultzelt (Momente c 38,
51, 60, 89 der Huichol, c 39 der Tarahumare).
4. Zeremonie der Verteilung von Tabak in Maishülsen durch den Kultleiter (Mo-
mente c 24—30 der Huichol).
5. Eröffnungslied, vom Kultleiter gesungen (Moment c 77 der Huichol, c 29 der
Tarahumare).
6. Zeremonieller Genuß von Wasser (Momente c 65 der Huichol, c 12 der Tarahu-
mare).
7. Taufzeremonie (Momente c 43—45 der Tarahumare).
8. Zeremonial-Frühstück (Moment 92 der Huichol).
9. Speiseopfer (Moment 90 der Huichol).
Die nächtliche Veranstaltung des Peyote-Festes, das bei den Kiowa gegen neun
Uhr abends beginnt und bis neun oder zehn Uhr morgens dauert, findet zwar in den alten
Präriekulten schon ihre Vorbilder in den verschiedensten Zeremonien, aber die Beschränkung
auf eine Nacht, die im Peyote-Kult der Präriestämme allgemein ist und die wir in Mexiko bei
den Tarahumare fanden, scheint in den alten Präriekulten nur selten vorzukommen. Diese
bestanden entweder aus mehrtägigen Zeremonien, wie dem Sonnentanz, oder aus kürzeren,
nur wenige Stunden dauernden Riten, die aut einen Traum oder eine Inspiration hin zu jeder
beliebigen Zeit stattfinden konnten. Ob jedoch die Dauer des Peyote-Kultes bei den Prärie-
stämmen von Anfang an auf eine Nacht beschränkt war, oder ob dies erst eine Folge des
Reservationslebens war, ist noch ungewiß. In dem Bericht über die Mescalero Apache wird
für die erste Zeit nach der Einführung des Peyote-Kultes eine viertägige Dauer erwähnt1, und
es ist möglich, daß er anfänglich auch bei den Comanche und Kiowa mehrere Tage lang
dauerte.
Bei dem zweiten Moment liegt die Übereinstimmung nur in der Tatsache des „Gänse-
marsches“, der bei den Huichol für die Wallfahrt der Pilger und bei den Kiowa für das
Betreten des Kultzeltes erwähnt wird. Hier liegt also nur eine Übereinstimmung der Idee und
nicht der besonderen Zeremonie vor. Bei den Kiowa finden wir dasselbe Moment schon in
Verbindung mit dem Sonnentanz erwähnt, so beim Betreten der Medizinhütte2. In demselben
Zusammenhänge erwähnt es Kroeber für die Arapaho3. Der Gänsemarsch scheint die übliche
Anordnung der kultischen Prozessionen der Präriestämme gewesen zu sein, besonders beim
Betreten der Tanzhütte oder des Tipis, da er sich dort schon aus der schmalen Öffnung des
Zelteinganges und dem engen Raum im Innern des Zeltes ergab4.
Dasselbe gilt hinsichtlich der Art der Übereinstimmung von dem nächsten Moment, den
zeremoniellen Rundgängen um das Feuer, beziehungsweise um das Kultzelt. Auch hier haben
wir zwischen den mexikanischen Stämmen und den Kiowa nicht eine Übereinstimmung einer
besonderen Zeremonie, sondern nur der Idee des zeremoniellen Rundganges um ein sakrales
Objekt, sei es der heilige Peyote-Fetisch, das Kultfeuer oder das ganze Kultzelt, So kommt
1 Frank, S. 5. 4 Wo Platz ist, kommen auch Prozessionen zu zweien neben-
2 Scott, S. 352, 365. einander vor. Vgl. J. O. Dorsey, S. 458.
3 Kroeber a, S. 288.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
!05
diese Zeremonie bei den Huichol an vier verschiedenen Stellen der Wallfahrt und auch des
Festes vor (Momente c 38, 51, 60, 89); bei den Tarahumare wird nur ein viermaliges Herum-
tragen des Peyote-Aufgusses um das Feuer erwähnt (Moment c 39), dagegen keine Rund-
gänge aller Kultteilnehmer. Bei den Kiowa machen alle Teilnehmer unter Anführung des
Kultleiters einen vollständigen Rundgang um das Zelt, bevor sie es betreten. Solche, vor dem
Betreten der Kulthütte stattfindenden Rundgänge sind aber in den Präriezeremonien nicht
neu und kommen in ähnlicher Weise wie im Peyote-Kult schon im Sonnentanz der Kiowa
beim Betreten der Medizinhütte vor1.
In dem nächsten Moment, der Zeremonie des Tabakrauchens, haben wir dagegen
wieder eine Übereinstimmung der Einzelheiten vor uns. Hier ist den Kulten dei Huichol und
Kiowa nicht nur die Idee des zeremoniellen Tabakrauchens gemeinsam, sondern auch die
Verteilung des Tabaks durch den Kultleiter als Auftakt dort des I eyote-Sammelns, hier des
Peyote-Genusses und ferner die Darreichung dieses Tabaks in Zigarettenform, und zwar in
Maishülsen2, die wir in keiner der alten Präriezeremonien antreffen, in denen die Pfeife das
Universalgerät beim Tabakrauchen war3. Der Ersatz der Pfeife durch die Maishülsenzigarette
bildet somit die erste Ausnahme der bisher bei jedem Moment festgestellten Verwandtschaft
mit den traditionellen Momenten der Präriekulte und weist gleichzeitig auch deutlicher als die
anderen Momente auf die Verbindung des Kiowa-Kultes mit dem Peyote-Kult der mexika-
nischen Stämme hin. Als Erklärung für die Annahme der Zigarette durch die Präriestämme
scheinen uns zwei Gesichtspunkte in Frage zu kommen: Einmal gewann die Maishülse nach
dem Übergang zum A.ckerbau eine für die I räne-Indianer bis dahin fremde Funktion und
konnte nun als Symbol ihrer wesentlichsten pflanzlichen Nahrung, des Maises, in lebendige
Beziehung mit dem Kult gebracht werden; zum andern aber stellt die Maishülsenzigarette
gleichzeitig eine Angleichung an die Zigarette der Weißen dar, deren Sitten, wie wir noch
weiter unten sehen werden, auch sonst mehrfach auf den Peyote-Kult übertragen worden
sind. Nähere Belege für diesen Sachverhalt sind in dem Material allerdings nicht vorhanden,
so daß wir diese Erklärung vorläufig nur als Vermutung aussprechen können. Abgesehen von
der Zigarette als Rauchgerät zeigt allerdings die Zeremonie des Tabakrauchens im Peyote-
Kult weitgehende Parallelen zu den traditionellen Rauchsitten der Präriestämme, so das
Herumreichen der brennenden Zigarette4, das Ziehen an der Zigarette nach jedem Satz
eines Gebetes, das Ins-Feuer-werfen des Zigarettenstummels5 usw.
Das folgende Moment, der Gesang des Eröffnungsliedes durch den Kultleiter, ist
wieder so allgemeiner Natur, daß der Übereinstimmung keine große Bedeutung beizumessen
ist. So finden wir dieselbe Reihenfolge wie im Peyote-Kult im Sonnentanz der Oglala Sioux,
weder Schamane erst raucht, dann „Sweetgrass“ als Weihrauch verbrennt, das Eröffnungs-
gebet spricht und schließlich das Eröffnungslied singt6 und ferner in jeder Bündelzeremonie,
in der der Kultleiter bei der Ausstellung des Bündels die ersten Lieder singt7.
Die Übereinstimmung des nächsten Momentes, der Zeremonie des Wasser trinke ns,
erstreckt sich auf die Weihe des in einer Schale befindlichen W assers durch den Kultleiter und
den darauf folgenden, allgemeinen Genuß dieses Wassers. Im übrigen sind bei den Tarahumare
einige weitere Momente mit dieser Zeremonie verbunden (Momente c 10 12), die wir bei den
Kiowa nicht wiederfinden, während sich andererseits bei den Kiowa noch weitere Momente
hinzugesellt haben, die wir erst im nächsten Abschnitt besprechen werden. Der bei den
Huichol erwähnten Weihe des Wassers durch Eintauchen eines Stabes und Bewegen dieses
1 Scott, S. 365: “They stop behind the medicine lodge, then
go around to the left, all the time singing, and stop near the
door, go four times round the lodge and then go in.
2 In dem Bericht über die Mescalero und in dem zweiten
Kiowa-Bericht werden Eichenblätter an Stelle der Mais-
hülsen erwähnt. Vgl. Frank, S. 5; Mooney f, S. 1.
3 Vgl. Linton d und McGuire, S. 623 ff.
4 Vgl. Wissler f, S. 248.
5 Vgl. Walker, S. 147!.
6 Walker, S. 145 f-
7 Wissler f, S. 250.
GÜNTER WAGNER
106
Stabes nach den sechs Weltrichtungen (Moment c 64) entspricht bei den Kiowa das Ein-
tauchen einer Adlerknochenpfeife (s. u. S. 112) in das Wasser. Dabei deutet der Leiter gleich-
zeitig ein Kreuz an, indem er die Pfeife zweimal in rechten Winkeln durch das Wasser zieht.
Der Genuß geweihten Wassers läßt sich schon vor dem Peyote-Kult in mehreren traditionellen
Präriezeremonien nachweisen. So wird er für den Sonnentanz der Kiowa am Ende der
TtAw^y-Zeremonien erwähnt1, und im Sonnentanz der Cheyenne, Ponca und Wind River
wird ein besonderes Getränk f ür die Tänzer zubereitet, das sie am Schluß ihrer Tänze genießen1 2.
In einer ganz ähnlichen Weise wie im Peyote-Kult, nur mit einem noch ausführlicheren
Zeremoniell, kommt das Wassertrinken im Sonnentanz der Arapaho3 vor.
In engem Zusammenhang mit der Wasserzeremonie steht die Taufzeremonie, die wir
bei den Tarahumare (Momente 43—45) und bei den Kiowa antreffen. Während die Zeremonie
bei den Tarahumare gegen Morgen vorgenommen wird, findet sie bei den Kiowa schon kurz
nach Mitternacht im Anschluß an die Weihe des Wassers statt. Dem Kerbstock der Tarahu-
mare entspricht bei den Kiowa ein Adlerfederfächer (s. u. S. 112), den der Kultleiter in das
Wasser taucht und mit dem er die im Kreise herumsitzenden Teilnehmer besprengt. Ob diese
Zeremonie bei beiden Stämmen auf christlichen Einflüssen beruht, läßt sich aus dem vor-
handenen Material nicht erkennen. Für die Kiowa wird jedoch eine Deutung gegeben, die auf
indianische Traditionen hinweist und Ähnlichkeit mit der Wasserzeremonie des Sonnentanzes
der Arapaho zeigt. Das Wasser soll den Regen darstellen und das Besprengen mit der Feder
die Handlung des Vogels nachahmen, der beim Trinken von seinem Schnabel und von seinen
Federn nach allen Seiten hin Wasser sprengt4. In analoger Weise ist die Wasserzeremonie der
Arapaho eine Nachahmung des Wassertrinkens der Gänse5. Wenn es sich hier auch wahr-
scheinlich um eine individuelle, nicht allgemein gültige Deutung der Taufzeremonie handelt,
neben der auch christliche Deutungen Vorkommen dürften, so zeigt sie doch zum mindesten,
daß die Zeremonie traditionellen Bräuchen der Präriestämme entspricht und auch bei den
Kiowa ursprünglich eine der in den Präriekulten häufigen, symbolischen Handlungen gebildet
haben kann, die Vorgänge aus der Natur darstellen6. Ebenso zeigen die einzelnen Bestandteile
der Taufzeremonie Ähnlichkeit mit dem traditionellen Präriezeremoniell. Das Besprengen mit
einer Flüssigkeit ist einer der allgemeinsten Bestandteile aller schamanistischen Heilzere-
monien, und die Vogelfeder findet zu den verschiedensten Zwecken wohl in allen Präriekulten
Verwendung.
Die letzte, den mexikanischen Stämmen und den Kiowa gemeinsame Zeremonie des
Peyote-Kultes ist das Zeremonial-Frühstück am Schluß des Peyote-Festes. Während
dieses Frühstück bei den Huichol nur aus geröstetem Mais und Fleisch bestand, haben sich bei
den Kiowa noch Wasser und gedämpfte Früchte hinzugesellt. Damit ist die für die Prärie-
stämme typische Vierzahl (s. u. S. 115 Anm. 1) erreicht. Diese vier Speisen werden in vier
Schüsseln von einer Frau in das Kult-Tipi gebracht und machen dann die Runde im Zelt, wobei
sich jeder der Teilnehmer etwas von den Speisen nimmt. Entsprechend der bei den Huichol
erwähnten Libation einiger Maiskörner opfert bei den Kiowa jeder der Teilnehmer etwas von
den Speisen der Erde und dem Feuer7. Solch eine Zeremonialmahlzeit ist ihrem Wesen nach
ebenfalls nichts Neues in den Kulten der Präriestämme. So erwähnt sie Lowie für die „Old
1 Scott, S. 367.
2 Spier b, S. 475b
3 G. A. Dorsey b, S. 143 ff.
4 Mooney f, S. 4: “water represents rain and like bird scatters
water from bill and feathers when drinking.”
6 G. A. Dorsey b, S. 146: “The object of drawing the goose
quill through the lips was especially to cleanse the mouth,
thus imitating the habit of the goose. The pooping just
before drinking, represented the noise made by the goose
before drinking, because these birds drink good, clear
water .... The bodies of these geese are white, and hence
the people imitating the acts of the birds make themselves
clean from all badness and free from sickness.”
Vgl. die Trommelschnurzeremonien bei den Arapaho, die
das Anbinden der Pferde symbolisieren (Kroeber a, S. 404)
und ferner das Eintauchen der Adlerknochenpfeife in das
Wasser als Symbol des Wasser trinkenden Adlers (Krocbcr a,
S. 403).
Mooney f, S. 6.
MMM
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES 107
Women Society“ der Kiowa1 und Walker für den Sonnentanz der Oglala, obwohl hier mehr
das Fest als die Zeremonie imVordergrund zu stehen scheinen. Ebenso ist das Speiseopfer ein
häufig vorkommendes Moment in den traditionellen Präriekulten und wird zum Beispiel in
den Sonnentanz-Zeremonien der Arapaho, Cheyenne und Ponca2, sowie in dem Fest der „Old
Women Society“ der Kiowa3 dargebracht.
*
Die Auswahl dieser Momente des Kiowa-Kultes aus den mexikanischen Kulten er-
streckt sich nicht nur auf die den Huichol- und Tarahumare-Indianern gemeinsamen
Momente, sondern auch auf eine Anzahl von Momenten, die entweder bei den Huichol oder
bei den Tarahumare allein Vorkommen, wie etwa die Taufzeremonie oder die Zeremonie der
Tabakverteilung.
Die Untersuchung der zwischen den mexikanischen Stämmen und den Kiowa überein-
stimmenden Momente auf ihre Beziehungen zu den traditionellen Kulten der Präriestämme
hin hat dann ergeben, daß sie fast alle4, sowohl die Momente des Kultplatzes und der Kult-
gegenstände wie auch die der Organisation und des Zeremoniells, in gleicher oder ähnlicher
Form bereits vor dem Peyote-Kult in den verschiedensten Kulten der Präriestämme vor-
kamen. Andererseits sind diejenigen Momente des mexikanischen Kultes, die wir bei den
Kiowa nicht in ähnlicher Form antreffen, auch in den traditionellen Präriekulten nicht nach-
weisbar. Eine bemerkenswerte Ausnahme hiervon bildet allerdings das Moment des kollek-
tiven Tanzes, das wir als eines der wesentlichsten Bestandteile des Peyote-Kultes der mexika-
nischen Stämme erwähnt fanden und das auch in den meisten Kulten der Präriestämme eine
wesentliche Rolle spielt, während es im Peyote-Kult der Kiowa und — wie wir weiter unten
noch sehen werden — auch der anderen Präriestämme völlig fehlt. Es ist möglich, daß sich
diese Tatsache aus einer andersartigen Rauschwirkung des Peyote-Kaktus bei den Huichol
und Tarahumare erklärt, die im Gegensatz zu der von Lumholtz erwähnten Anregung zu
körperlicher Bewegung5 ein Bedürfnis nach ruhiger Meditation und träumerischer Hingabe
an die Halluzinationen erweckt, das für den Peyote-Kult der Präriestämme typisch zu sein
scheint6. Neben dieser physiologischen Ursache sehen wir noch eine weitere Erklärung für
das Fehlen des Tanzes im Peyote-Kult der Präriestämme in der besonderen Art der An-
gleichung des Peyote-Kultes an die Präriekultur, auf die wir am Schluß dieses Teiles noch
näher eingehen werden (s. u. S. 132). Sehen wir jedoch von den Momenten des kollektiven
Tanzes und der Maishülsenzigarette (s. o. S. 105) ab, so können wir zusammenfassend sagen,
daß 1. alle zwischen den mexikanischen Stämmen und den Kiowa übereinstimmenden Einzel-
momente des Peyote-Kultes Ähnlichkeit mit Momenten der traditionellen Kulte der Prärie-
stämme aufweisen und daß 2. die weitaus meisten Momente des mexikanischen Kultes, die
wir bei den Kiowa nicht antreffen, in den traditionellen Kulten der Präriestämme unbekannt
waren7.
Es entsteht nunmehr die Frage, ob wir bei diesem Sachverhalt annehmen dürfen, daß den
in beiden Gebieten übereinstimmenden Momenten eine Übertragung zugrundeliegt, oder
fervent devotee will break out into an earnest prayer,
Stretching his hands out toward the fire and the sacred
mescal the while. For the rest of the time, when not singing
the song and handling the drum or the rattle with all his
strength, he sits quietly with his blanket drawn about him
and his eyes fixed upon the sacred mescal in the centre or
perhaps his eyes shut and apparently dozing.“
7 Ob solche Momente des mexikanischen Kultes wie das
Zeremonialbad und das Fasten im Peyote-Kult der Kiowa
wirklich fehlen oder nur In den Berichten Mooneys ausge-
lassen sind, kann erst auf Grund weiterer Untersuchungen
entschieden werden.
15 Baessler-Archiv.
1 Lowie b, S. 850. 2 Spier b, S. 475.
3 Lowie b, S. 850.
4 Mit Ausnahme der Masihülsenzigarette.
5 Vgl. Lumholtz b, Bd. II, S. 156: „Wo man sie auch trifft,
erkennt man die Hikuli-Sucher leicht an dem glücklichen
Lächeln auf ihren Gesichtern und dem eigentümlichen Glanz
in ihren Augen. Sie sind immer froh und singen viel. Ihr
Gang und ihre Bewegungen sind schneller als gewöhnlich,
doch immer gleichmäßig und ihre Ekstasen sind in keiner
Weise mit den Wirkungen alkoholischer Getränke ver-
gleichbar.“ (Ubers, v. Verf.).
6 Vgl. Mooney a, S. 4 des Aufsatzes: “At intervals some
io8
GÜNTER WAGNER
ob wir es bei den Präriestämmen mit einer von dem Kult der Mexikaner unabhängigen
Entwicklung des Peyote-Rituals zu tun haben, dessen einziges, aus Mexiko übertragenes
Moment der Peyote-Kaktus selbst ist. Bejaht man die Möglichkeit der unabhängigen Ent-
stehung, so würde man entweder annehmen müssen, daß die übereinstimmenden Momente auf
die Eigenschaften des Peyote-Kaktus zurückzuführen sind, dessen Rauschwirkung in beiden
Gebieten ein ähnliches Ritual ausgelöst hat, oder daß die Übereinstimmungen als ein Fall von
Konvergenz auf der allgemeinen kulturellen, historisch weit zurückreichenden Verwandt-
schaft zwischen den Präriestämmen und den nordmexikanischen Stämmen beruhen. Beide
Annahmen haben jedoch wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Versucht man nämlich, die
Rauschsymptomatik für die Entwicklung des Peyote-Rituals verantwortlich zu machen, so
gelingt dies vielleicht für einige der allgemeinsten Momente, wie etwa die Verehrung des
Peyote-Fetisches, den Gesang von Peyote-Liedern und die Zeremonial-Mahlzeit; die Entwick-
lung der spezielleren Momente, wie etwa der einzelnen Kultgegenstände oder der Rauch-
und der Taufzeremonien, wird sich dagegen schwerlich auf den Peyote-Kaktus selbst zurück-
führen lassen. Versucht man andererseits, die allgemeine Verwandtschaft zwischen beiden
Kulturprovinzen als Erklärung für eine selbständige Entstehung eines in beiden Gebieten
ähnlichen Rituals heranzuziehen, so ergibt sich die weitere Frage, wie es zu erklären sei, daß
aus der großen Anzahl der traditionellen Kultmomente gerade die Momente in das Peyote-
Ritual aufgenommen worden sind, denen wir auch in dem mexikanischen Peyote-Kult begeg-
neten. Wir haben allerdings gesehen, daß einige dieser Momente sehr allgemeiner Natur sind
und nahezu in jedem der alten Prärie-Kulte vorkamen (Platz des Kultleiters, zeremonielle
Rundgänge, Eröffnungslied, Kulthelfer usw.). Hier bestünde also die Möglichkeit, daß ihr
Vorhandensein im Peyote-Kult eine Anlehnung an das allgemeine, traditionelle Schema der
Präriekulte darstellt und nicht auf mexikanischen Einflüssen beruht. Andere Momente da-
gegen (die nächtliche Veranstaltung der Zeremonie, das Kultfeuer, der individuelle Kultleiter,
der zeremonielle Genuß von Wasser, die Taufzeremonie und das Zeremonial-Frühstück)
begegnen uns in den alten Zeremonien der Präriestämme nicht so häufig, und es wäre bei ihnen
schon erheblich schwieriger, ihre Übereinstimmung mit dem mexikanischen Kult als Konver-
genz zu deuten, um so mehr als einMoment, die Maishülsenzigarette — wie wir gesehen haben
— eindeutig auf eine Übertragung hinweist. Entscheidend ist dann aber schließlich die
historische Überlieferung, nach der die Präriestämme nicht nur den Peyote-Kaktus, sondern
auch das Peyote-Ritual von den mexikanischen und texanischen Stämmen entlehnt haben.
Wenn wir daher die Möglichkeit einer in beiden Gebieten unabhängigen Entstehung des
Rituals des Peyote-Kultes ablehnen und die Übereinstimmung auf eine Übertragung des
mexikanischen Kultes auf die Kiowa zurückführen, so können wir dies jedoch bei der größeren
Anzahl der Momente nur in dem Sinne tun, daß wir deren Auswahl und Zusammenstel-
lung als aus Mexiko übertragen ansehen, nicht aber die einzelnen Momente selbst, denn was
bereits zu dem Bestände einer Kultur gehört, kann nicht mehr im eigentlichen Sinne des
Wortes dorthin „übertragen“ werden.
Zusammenfassend können wir also als erstes Ergebnis feststellen, daß der Kult bei seiner
Verbreitung von einer Kulturprovinz in die andere nur soweit übertragen worden ist, wie er
in die traditionelle Kultur der ihn übernehmenden Kulturprovinz hineinpaßt, während alle
dieser Kultur fremden Bestandteile abgelehnt worden sind1. In diesem Auswahlprinzip
ist bereits der Strukturcharakter der von uns untersuchten Kulturprovinz angedeutet:
1 Vgl. Thilcnius, S. ii: „Die Dinge, welche diese Welt bilden
und erfüllen, formt er (der Primitive) zu seinem Weltbild.
Aber längst nicht alle Dinge treten in das Weltbild ein,
sondern nur ein Teil davon, nämlich diejenigen, zu denen
er Beziehungen hat. Diese besonderen Dinge reizen seine
Aufmerksamkeit und sind Gegenstand seiner Wirksamkeit.“
(Vgl. auch S. 6). Was hier vom Weltbilde des primitiven
Individuums gesagt wird, gilt im vorliegenden Falle auch
von der Verhaltensweise der überpersonalen Kultur.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
109
Die Momente des mexikanischen Peyote-Kultes werden der traditionellen Kultur der Prärie-
stämme nicht aggregatmäßig hinzugefügt, sondern von dieser nur insoweit übernommenen,
als sie Struktur mäßig ihrer traditionellen Kultur eingefügt werden können1. Ob dabei die
Auswahl in Beziehung auf eine Sinnganzheit getroffen wird, oder ob ihr ein historisches
Schema zugrundeliegt, das — gleichsam als Präzedenzfall — analoge Bildungen bedingt,
möge vorerst noch unentschieden bleiben. In beiden Fällen handelt es sich nicht einfach um
eine Angliederung, sondern um eine strukturhafte Eingliederung der von außen an die
Kulturprovinz herantretenden Einflüsse2.
2. DIE ANGLEICHUNG AN DIE PRÄRIEKULTUR.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Der Peyote-Kult der Kiowa-Indianer ist mit der Übertragung der diskutierten mexika-
nischen Momente nicht erschöpft, sondern weist noch eine beträchtliche Anzahl weiterer
Momente auf, die bei den mexikanischen Stämmen nicht verkommen und deren Unter-
suchung wir uns in diesem Kapitel zuwenden wollen. Auch bei diesen Momenten inter-
essiert uns wieder die Frage, in welcher Beziehung die Einzelmomente zu der traditionellen
Kultur der Präriestämme und zu der europäisch-amerikanischen Kultur stehen. Während wir
aber bei den aus Mexiko übertragenen Momenten fast ausschließlich Beziehungen zu der
traditionellen Präriekultur fanden, können wir bei den neu hinzugetretenen Momenten schon
in stärkerem Maße Beziehungen zu der europäisch-amerikanischen Kulturschicht erwarten.
Kultplatz und Kultgegenstände weisen in dem Peyote-Kult der Kiowa folgende Momente
neu auf3:
1. Tipi als Kultplatz.
2. Halbmondförmiger Erdaltar.
3. Halbmond aus Asche innerhalb des Erdaltars.
4. Platz des Feuerwartes nördlich vom Eingang.
5. Salbei.
6. Trommel als Musikinstrument.
7. Adlerknochenpfeife.
8. Adlerfederfächer.
Schon das erste Moment, das Tipi als Kultplatz an Stelle des mexikanischen Patio, zeigt
eine deutliche Angleichung an die Präriekultur. Während für die Kiowa nähere Beschreibun-
gen des Peyote-Kultzeltes fehlen, wird für die Mescalero und Arapaho ein aus zwölf Stangen
bestehendes Tipigerüst angegeben. Dies entspricht der üblichen Stangenzahl der zu kultischen
Zwecken errichteten Prärietipis, wie sie bei den schamanistischen und Medizinzeremonien ver-
wandt werden. Die Wahl des Tipis als Kultplatz für die Peyote-Zeremonien ist um so be-
merkenswerter, als der Tanzplatz und die Tanzhütte des Sonnentanzes dem Vorbilde des
mexikanischen Patio viel mehr entsprochen hätte als das geschlossene Tipi.
Das zweite Moment, das zu den charakteristischsten Merkmalen des Peyote-Kultes der
Präriestämme gehört, ist der halbmondförmige Erdaltar. Er umgibt das Feuer in einem
Halbkreise, ist nach dem Eingänge zu offen und hat entsprechend seinen Mittelpunkt im
Westen vor dem Platz des Kultleiters (s. Abb. ). Der Altar ist an seiner höchsten Stelle etwa
zwanzig Zentimeter hoch und ist oben abgeplattet; auf seinem Mittelpunkt liegt während der
1 Dieses Ergebnis zeigt eine weitere Übereinstimmung unseres form may become a kaleidoscopic picture of miscellaneous
Momentbegriffes mit dem der Stern’schen Personalistik, traits that, however, are remodelled according to the chan-
nämlich „Bestandstück einer Ganzheit“ zu sein (vgl. Stern, ging spiritual background that pervades the culture and
S. 13).. that transforms the mosaic into an organic whole.”
2 Vgl. Boas c, S. 6: “Some (elements) survive, others die, 3 Zusammengestellt aus Mooney h, vgl. o. S. 99, Anm. 2.
and so far as objective traits are concerned, the cultural
15
I IO
GÜNTER WAGNER
Zeremoniell der heilige Peyote-Fetisch. Die Idee eines festen, dreidimensionalen Altars
scheint sonst in der Präriekultur fremd zu sein. Die Altäre im Sonnentanz der meisten Prärie-
stämme bestehen aus einer nach bestimmten Gesichtspunkten angeordneten Gruppe sakraler
Gegenstände, die meist auf der Westseite der Tanzhütte (dem Platze des Kultleiters im Peyote-
Kult entsprechend) aufgebaut werden, neben einem vertieften oder gesäuberten Feld, das mit
Gestrüpp geschmückt ist1. Die Form dieses Feldes ist bei den Assiniboin viereckig2, bei den
Ponca rund3 und bei den Oglala Sioux oval4 oder auch halbmondartig5, was dem Peyote-
Altar am nächsten kommt. Diese Ähnlichkeit ist jedoch bei der weiten Verbreitung des Halb-
mondornamentes zu allgemeiner Natur, um den Schluß auf eine Verwandtschaft zu ge-
statten. Ein halbmondförmiges Ornament finden wir ferner für den Weihrauchaltar im
Schwitzhaus der Blackfoot erwähnt6, jedoch handelt es sich hier um ein Ornament innerhalb
eines rechteckigen Altars und nicht um den Altar selbst. Wir können daher den Peyote-Altar
nicht unmittelbar aus den traditionellen Kulten der Präriestämme ableiten.
Eine Untersuchung des Momentes in den benachbarten Kulturprovinzen führt ebenfalls
zu keiner endgültigen Lösung der Frage. Von den mexikanischen Stämmen erwähnt Lum-
holtz, daß das Feuer im Huichol-Tempel von einem runden, etwa fünfzehn Zentimeter hohen
Lehmwail umgeben ist, der jedoch den ganzen Feuerplatz einfaßt. Es besteht die Möglichkeit,
daß sich aus diesem kreisförmigen Lehmwall der halbmondförmige Lehmwall des Peyote-
Altars entwickelt hat, indem man zunächst aus technischen Gründen (zur leichteren Er-
neuerung der Feuerhölzer und der besseren Luftzufuhr halber) den Wall an einer Seite (und
zwar an der Seite des Einganges und gleichzeitig des Platzes des Feuerwarts) öffnete, wodurch
der übriggebliebene Teil des Lehmwalles schon der Form eines Halbmondes nahekam7. Bei der
weitreichenden Symbolik des Halbmondes in der Ornamentik der Präriestämme konnte dann
der Gedanke aufkommen, diesem zufällig entstandenen Halbmond kultische Bedeutung zu
verleihen. Die an sich naheliegende Annahme, daß sich der Altar aus der Sonne-Mond-
Symbolik entwickelt habe (Feuer = Sonne, Altar = Mond), hat insofern wenig Wahrschein-
lichkeit für sich, als in der Peyote-Lehre, soweit sie bisher bekannt ist, der Mond überhaupt
keine Rolle spielt. Der Halbmondaltar wird bei den Kiowa vielmehr als symbolische Darstel-
lung des im Südosten Oklahomas gelegenen Wichita-Gebirges oder auch der mexikanischen
Sierra Madre gedeutet8, die auch in der noch weiter unten (S. 152ff.) zu besprechenden Ur-
sprungslegende des Peyote-Kultes erwähnt werden. Da aber weder das Wichita-Gebirge, noch
die Sierra Madre die Form eines Halbmondes zeigen, ist kaum anzunehmen, daß wir in dieser
Deutung das ursprüngliche Motiv für die Entstehung des Halbmondaltars vor uns haben.
Eine Entstehung des Altars bei den Mescalero-Apache ist ebenfalls unwahrscheinlich, da diese
nach Informationen von Prof. Ruth Fulton Benedict9 nur ein Kultfeuer, aber keinen Altar
kannten.
Die erste Hypothese, die Entstehung des Altars aus dem Lehmwall des Huichol-Kult-
feuers, erhält eine Bekräftigung durch das nächsteMoment der Kiowa, den halbmondförmigen,
ebenfalls abgeplatteten Aschenhügel, der vom Feuerwart im Laufe der Nacht aus der
glühenden Asche des Holzfeuers geformt wird und dessen Außenrand an den Innenrand des
Altars anschließt. Dieses Moment, für das jegliche Interpretationen fehlen, findet sich in an-
gedeuteter Form auch schon bei den Huichol, von deren Tempel-Feuerstelle Lumholtz sagt,
daß sie stets bis an den Rand voll Asche sei10. Es besteht also die Möglichkeit, daß auch bei den
Huichol der Asche des Tempelfeuers eine besondere, kultische Bedeutung zukam und sie des-
1 Spier b, S. 471. 7 Der Altar, den der Verfasser bei den Sac und Fox sah, hatte
2 Lowie f, S. 61. etwa folgende Form C, also nahezu die eines Dreiviertelkreises.
3 G. A. Dorsey a, S. 71. 8 Feldinformation des Verfassers, gegeben von Andrew
4 Fletcher, S. 583. Martinez und Max Friddlehead (Kiowa), Anaderko, Okla.
5 J. O. Dorsey, S. 460. 9 in brieflicher Mitteilung.
6 Wissler f, S. 261, 10 Lumholtz c, S. 8.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
I I I
halb nicht von der Feuerstelle entfernt wurde. Die Anordnung der Asche auf der westlichen
Seite des Feuerplatzes ergibt sich dann ohne weiteres aus der ost-westlichen, <-förmigen An-
ordnung der Feuerhölzer, während der ,,Halbmond“ durch den als „Form“ dienenden Altar
bedingt wird. Diese Deutung der beiden Halbmonde ist jedoch hypothetischer Natur, und die
Frage der Entstehung des Peyote-Altars muß bis zur Auffindung weiterer Argumente noch
offen bleiben. Sehen wir aber von der Frage der Entstehung ab und betrachten wir den Altar
nur im Hinblick auf die Frage der Angleichung an die Prärie-Kultur, so können wir sagen,
daß auch er seinem allgemeinen Wesen nach in die traditionellen Präriezeremonien hinein-
paßt; Altäre kommen an nahezu derselben Stelle (auf der Westseite des Kultplatzes) im Son-
nentanz der meisten Präriestämme vor, und der Halbmond ist neben dem Malteserkreuz eines
der verbreitetsten, symbolischen Ornamente der südlichen Präriekultur1.
Das nächste, noch in diesen Zusammenhang hineingehörende Moment ist der Platz des
Feuerwarts (s. u. S. 139) nördlich vom Eingang. Dieser Platz ergibt sich aus der Tätigkeit
des Feuerwarts, der von hier aus das Feuer am leichtesten erneuern und reinigen kann,
ohne die anderen Teilnehmer zu belästigen. So finden wir denselben Platz ebenfalls erwähnt
für die Feuerwarte der Crow-Indianer1 2. Ferner hat der Feuerwart im Peyote-Kult neben
der Wartung des Feuers noch andere Funktionen, z. B. in der Wasserzeremonie (s. u. S. 141),
die seinen Platz an der Tür erklären.
Die übrigen vier Momente gehören alle zu dem allgemeinen Bestand der Präriezeremonien.
So wird das S a 1 b e i k r a u t zu den verschiedensten Zwecken verwandt: Als Sitzunterlage wird
es am Boden der Zeltwand entlang ausgelegt; ferner dient es zum Einreiben von Gesicht und
Körper, und schließlich wird es, wie auch die Zeder und das „Sweetgrass“, als Weihrauch ver-
brannt3. Uber den Sinn dieser Bräuche sagt Scott: „Salbei und Zeder bleiben den ganzen
Winter hindurch grün, und die Heiligkeit dieser beiden beruht wesentlich auf ihrer Verschie-
denheit von der anderen Pflanzenwelt — auf der Tatsache, daß der Vater seine besondere
Liebe für diese beiden bekundet hat, indem er sich ihrer besonders annimmt und sie während
des Winters am Leben erhält, während andere Pflanzen, denen gegenüber er anscheinend
gleichgültig ist, tot sind. Der Rauch der Zeder und des süßen Vanillegrases werden als Weih-
rauch gebraucht, nicht so sehr mit der Idee der Reinigung, als vielmehr, weil der Duft dem
Vater wohlgefällig ist4“. Trotz dieser Angabe Scotts, die er in Verbindung mit dem Sonnen-
tanz der Kiowa gibt, scheint im Peyote-Kult der Kiowa neben der Idee des für den Erdvater
bestimmten Weihrauches die Idee der Reinigung einherzugehen, worauf sowohl das Einreiben
von Gesicht und Händen5 vor dem Peyote-Genuß, als auch das Weihräuchern der einzelnen
Kultgegenstände hinweisen. Das Moment ist jedoch so allgemeiner Natur, daß es an keine
bestimmte Deutung gebunden ist und so, je nach dem Zusammenhang, in dem es vorkommt,
einen anderen Sinn erhält6.
Die Trommel des Peyote-Kultes, die zusammen mit der Rassel als Begleitinstrument
des Gesanges dient, besteht aus einem kleinen Tonkessel, der mit Hirschleder bespannt und
mit etwas Wasser gefüllt ist7. Leider macht Mooney keine näheren Angaben über die Peyote-
Trommel der Kiowa, die Art der Bindung des Trommelfelles, das Vorhandensein von Schmuck
etc. In den traditionellen Zeremonien der Kiowa findet sich die Trommel sowohl im Sonnen-
tanz8, wie auch in fünf der sechs Männertanzbünde9. In dem Tanzbund der ,cTsetanma‘ kom-
men wie im Peyote-Kult Rassel und Trommel als Musikinstrumente vor, so daß wir auch die
Einführung der Trommel in das Peyote-Ritual als eine Angleichung an die traditionellen
1 Vgl. Kroeber a, S. 311, 312, 356, 361; Scott, S. 352.
2 Lowie c, S. 43.
3 Vgl. Scott, S. 350, 354, 367; Kroeber a, S. 164, 296, 310;
Methvin, S. 60; Walker, S. 161.
4 Scott, S. 354, v. Verf. übers.
5 Mooney c, S. 1.
So gibt Walker für die Oglala die Vertreibung böser Geister
an, Walker, S. 161.
Mooney c, S. 12.
Scott, S. 365; v. Verf. übers.
Sie fehlt in der „Berry Society“, s. Lowie b, S. 844ff.
I I 2
GÜNTER WAGNER
Kiowa-Zeremonien und an das allgemeine Präriezeremoniell überhaupt ansehen können, in
dem Trommeln in Verbindung mit den verschiedensten Kulten erwähnt werden1. Leider fehlen
auch in den Berichten über die Kiowa-Tanzbünde alle näheren Angaben über Größe und Art
der Trommeln, so daß hier vorerst noch keine weiteren Vergleiche möglich sind. Daß jedoch
einseitig bespannte Trommeln (Kesselpauken) nicht allein im Peyote-Kult Vorkommen, zeigt
die Beschreibung der Trommeln eines Arapaho-Tanzbundes, von denen Kroeber sagt: „Diese
Trommeln sind die gewöhnlichen, kleinen Trommeln der Präriestämme, einen Fuß oder mehr
im Durchmesser, mit Haut nur auf der einen Seite. Sie werden an den sich unter der Trommel
kreuzenden Schnüren in der Hand gehalten2,“
Schließlich finden wir noch als neu hinzugetretene Momente im Peyote-Kult der Kiowa
die Adler knochenpfeife und den Fächer aus Adlerfedern. Beide sind weitverbreitete
Momente in den traditionellen Präriekulten; sie sind in ähnlicher Weise wie Trommel, Rassel
und Salbei nicht an besondere Zeremonien gebunden, sondern gehören zum allgemeinen Be-
stand des Prärie-Rituals. Im Peyote-Kult der Kiowa ist der Besitz der Adlerknochenpfeife
ein Privileg des Kultleiters, der im Rahmen der Mitternachts- und Tagesanbruchszeremonien
auf ihr bläst. In entsprechender Weise findet sie sich im Sonnentanz der Kiowa im Besitz des
Taimay-Bewahrers3, dessen Funktionen auch in anderer Hinsicht denen des Peyote-Kult-
leiters entsprechen. Sie ist dort jedoch nicht auf den Kultleiter beschränkt, sondern wird von
jedem Tänzer getragen, wenn er zum Tanz in die Medizinhütte geht4. Ferner haben die Tänzer
der ,,chief dog’s society** der Kiowa eine Adlerknochenpfeife5. Bei den anderen Präriestäm-
men kommt sie in Verbindung mit dem Grastanz vor, so bei den Sarsi, Blackfoot, Gros
Ventre, Assiniboine, Teton und Arapaho6, ferner in der ,dog Organisation* der Cheyenne und
Arapaho7 (vgl. die ,dog society* der Kiowa), als Rangabzeichen in den Polizeibünden (okitcita)
der Prärie-Ojibwa8, und schließlich findet sie im Sonnentanz aller Stämme Verwendung, von
denen Berichte vorliegen9.
Nicht ganz so allgemein ist die Verbreitung des Adlerfederfächers (über seine Ver-
wendung in der Taufzeremonie s. o. S. 106), aber auch er begegnet uns im Peyote-Kult nicht
zum ersten Mal, sondern kommt in verschiedenen alten Zeremonien der Präriestämme vor.
Auch hier fehlen leider wieder nähere Angaben über Art und Größe der Federfächer im Peyote-
Kult, so daß nähere Vergleiche nicht möglich sind. Wir müssen uns hier daher mit der allge-
meinen Feststellung begnügen, daß Federschmuck aus Adlerfedern bei den Kiowa bereits vor
dem Peyote-Kult verbreitet war, so als Kopfschmuck der Tänzer des Schafhirten-Tanzbundes10
und als Schmuck der Hasenfellkappe des Taimay-Bewahrers11.
Wir haben damit die Diskussion des Kultplatzes und der Kultgegenstände, die in dem
Kiowa-Bericht neu auftreten, beendet. Sie hat uns gezeigt, daß auch diese Momente, mit Aus-
nahme des Altars und des Aschehalbmondes, bereits in den traditionellen Zeremonien der
Kiowa und der Prärie-Indianer im allgemeinen heimisch waren, während wir zu der europäisch
amerikanischen Schicht in dieser Gruppe noch keine Beziehungen fanden.
Bevor wir jedoch dieses Ergebnis für unsere Problemstellung auswerten, wollen wir zu-
nächst die neuen Momente der beiden anderen Gruppen, der Kultorganisation und des Kult-
zeremoniells, betrachten.
b) Kultorganisation.
Die Untersuchung der mit den mexikanischen Kultformen übereinstimmenden Momente
der Peyote-Kultorganisation der Kiowa erschöpfte nahezu alles, was bisher überhaupt über
1 Vgl. Kroeber a, S. 165, Lowie d, S. 394/95, S. 408, v. Verf.
übers.
2 Kroeber a, S. 165.
3 Scott, S. 352; Spier a, S. 444.
4 Scott, S. 365.
5 Lowie b, S. 849.
6 Wissler a, S. S. 862.
7 Lowie a, S. 613.
8 Wissler a, S. 875.
3 Spier b, S. 476.
10 Lowie b, S. 845.
11 Scott, S. 367.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
diese bekannt ist. Die durch das Reservationsleben bedingten soziologischen Veränderungen
scheinen die Entwicklung einer ausgeprägten Kultorganisation bei den Kiowa wie auch bei
den meisten anderen Stämmen verhindert zu haben. Wir werden daher im allgemeinen nicht
vielmehr zu erwarten haben, als eine lockere Regelung der organisatorischen Momente, ohne
die auf die Dauer keine kultische Gemeinschaft bestehen kann. Die neuerdings von Fortune
veröffentlichten Daten über die Organisation der Peyote-Gemeinschaft der Omaha-Indianer
(s. u. S. 126h) zeigen allerdings trotz des fortgeschrittenen kulturellen Verfalles noch weit-
gehende Angleichungen an das traditionelle Schema. Es wird daher auch bei den anderen
Stämmen noch zu untersuchen sein, wie weit die Ansätze zu einer Organisation Angleichungen
an die alten Kulte und an europäisch-amerikanische Vorbilder, wie die Sekten der christlichen
Kirche und das amerikanische Logenwesen, zeigen. Daß auch Angleichungen der letzten Art
stattgefunden haben, wird durch die Bezeichnungen des Peyote-Kultes als „Loge1“, ferner das
Amt eines Schatzmeisters (s. o. S. 68) bei den Omaha und schließlich die Gründung der
„American Indian Church Brother Association“ (s. o. S. 84) angedeutet.
Die Berichte Mooneys über den Peyote-Kult der Kiowa enthalten jedoch über alle diese
Fragen, wie die Bedingungen der Mitgliedschaft, das Eigentumsrecht von Peyote-Gesängen
und Visionen, die Rangabstufungen der Mitglieder, die Privilegien des Kultleiters und des
Kultveranstalters usw., keinerlei Angaben. Die einzigen neuen Momente, die wir dem Berichte
Mooneys entnehmen können, sind:
1. das Amt des Feuerwartes und
2. die meist wöchentliche, in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag stattfin-
dende Veranstaltung der Peyote-Feste.
Das Amt eines Feuerwartes begegnet uns zwar im Peyote-Kult zum ersten Mal bei den
Kiowa (Lumholtz erwähnt es weder von den Tarahumare noch von den Huichol); es scheint
aber in Verbindung mit dem Kultfeuer sowohl in Mexiko wie auch bei den texanischen Stäm-
men (Tonkawa, Lipan, Natchez) bereits vorhanden gewesen zu sein2. Da sich dieses Moment
zwangsläufig aus dem Kultfeuer ergibt, ist für unser Problem weniger die Tatsache eines
Feuerwartes überhaupt, als seine Stellung zu den anderen Kultbeamten wichtig. Wenn auch
der Bericht Mooneys keine unmittelbaren Angaben hierüber enthält, so weisen doch die
Funktionen des Feuerwartes, die dieser neben der Instandhaltung des Feuers im Zusammen-
hang mit den Mitternachtszeremonien zu erfüllen hat (s. u. S. 116), auf seine dienende
Stellung hin, die wir auch bei den anderen Stämmen bestätigt finden werden. Seine Bezeich-
nung als „Fire-Chief“ zeigt andererseits, daß das Amt als Privileg aufgefaßt wird. Denselben
Eindruck verschaffen auch die wenigen Angaben, die wir über die Stellung des Feuerwartes
in den traditionellen Kulten der Präriestämme ermitteln konnten3. Bevor weitere Daten vor-
liegen, kann jedoch die Frage, ob das Amt des Feuerwartes im Peyote-Kult eine Angleichung
an ältere Vorbilder der Prärie-Kulte darstellt, oder ob es keine näheren Beziehungen zu diesen
aufweist, nicht endgültig entschieden werden.
Das zweite Moment, die Veranstaltung der Peyote-Versammlungen in der Nacht
vom Sonnabend zum Sonntag, zeigt deutlich eine Anpassung an das V orbild des christlichen
Sonntages, da die Teilnehmer und der Kultleiter zum Ausklang der gemeinsamen Erlebnisse
den auf das Fest folgenden Tag noch als Gäste des Veranstalters verbringen. Die Wahl dieses
Zeitpunktes wird auch von den Indianern selbst nicht nur mit praktischen Erwägungen, son-
dern auch mit dem Motiv der „Heilighaltung des Sonntages als des von Gott bestimmten
Feiertages4“ begründet.
4 Fcldinformation des Verfassers, gegeben von John James,
Kelleyville, Okla.
2 Vgl. oben S. 100, Anm. 7.
3 Vgl. Lowie c, S. 43; “In a rectangular space in the centre
of the lodge a fire was built and maintained by the Pretenders,
who were members of the slain Crow’s war party.” Vgl.
ferner J. O. Dorsey, S. 402.
4 Nach Feldinformationen des Verfassers; vgl. auch Mooney a.
ii4
GÜNTER WAGNER
c) Kultzeremoniell.
In der dritten Gruppe von Kultmomenten, denen des Zeremoniells, finden wir eine er-
heblich größere Anzahl neu hinzugetretener Momente als in den ersten beiden Gruppen, was
bereits erkennen läßt, daß das Zeremoniell Neuerungen zugänglicher ist als es Kultplatz und
Kultgegenstände waren. Folgen wir wieder der durch den Kultverlauf gegebenen Reihenfolge,
so können wir bei den Kiowa folgende Momente unterscheiden, die wir bei den mexikanischen
Stämmen noch nicht vorfanden:
1. Der Feuerwart betritt das Tipi als erster.
2. Die Teilnehmer versammeln sich unter Anführung des Leiters vor dem Zelt.
3. Der Leiter reicht jedem Teilnehmer vier Peyote.
4. Die Teilnehmer machen mit dem Peyote weihevolle Bewegungen über dem
Feuer.
5. Der Gesang und die Musikinstrumente gehen — dem Laufe der Sonne folgend —
im Kreise herum.
6. Jeder Teilnehmer singt vier Lieder.
7. Um Mitternacht findet eine Pause statt.
8. Der Feuerwart holt Wasser von einer Quelle.
9. Der Feuerwart richtet im Freien ein Gebet an die vier Flimmelsrichtungen.
10. Bei jeder Himmelsrichtung bläst er viermal auf einer Adlerknochenpfeife1.
11. Kultleiter und Trommelwart singen das Mitternachtslied (viermal).
12. Der Feuerwart reicht das Wasser dem Leiter, der es zwischen sich und den Altar
stellt.
13. Der Kultleiter bläst viermal auf der Adlerknochenpfeife.
14. Der Kultleiter spricht Gebete für kranke Frauen und Kinder.
15. Der Kultleiter nimmt eine Heilungszeremonie mit kranken Kindern vor:
a) Er ahmt den Schrei des Adlers nach,
b) Er hält das Kind viermal über das Feuer,
c) Er besprengt das Kind mit Weihwasser,
d) Er betet für die Heilung des Kindes.
16. Die Teilnehmer beten, indem sie dabei Maishülsenzigaretten rauchen.
17. Kultleiter und Trommelwart singen den Wakaho-Gesang bei Sonnenaufgang.
18. Kultleiter und Trommelwart singen das Schlußlied Gayatina.
19. Der Leiter nimmt die Kultgegcnstände auseinander.
20. Die Kultgegenstände werden im Kreise unter den Teilnehmern herumgereicht.
21. Die Frauen reißen das Tipi ab.
22. Der Veranstalter gibt ein Festmahl am Mittag nach der Veranstaltung der
Zeremonie.
23. Das Peyote-Ritual hat eine Ursprungsmythe.
Das erste dieser Momente, das Betreten des Tipis durch den Feuerwart, scheint keine
besondere kultische Bedeutung zu haben, sondern lediglich durch das Amt des Feuerwarts,
das Feuer anzuzünden, bedingt zu sein. Er verläßt auch nach Erfüllung dieses Amtes das
Tipi, um es dann wieder als letzter in der Prozession zu betreten2 und den Zelteingang zu
schließen.
Das zweite Moment, die Versammlung der Teilnehmer vor dem Zelt, hängt eng mit
dem bereits im vorigen Abschnitt besprochenen Betreten des Zeltes im Gänsemarsch und den
vorangehenden zeremoniellen Rundgängen zusammen. Es ergibt sich zwangsläufig aus diesen
beiden Zeremonien und hat daher ebenfalls keine weitere Bedeutung für unser Problem.
1 Bei Mooney ist nicht angegeben, ob diese Pfeife identisch ist mit der des Leiters. 2 Mooney c, S. 1.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
II5
An dem nächsten Moment, der Verteilung der Peyote durch den Kultleiter ist zweier-
lei von Bedeutung: Einmal werden die Peyote nicht wie bei den mexikanischen Stämmen in
Form eines Aufgusses zubereitet, sondern analog den Inhalten der Prärie-Medizin-Bündel in
frischem oder getrocknetem Zustande bis zum Genüsse in einem vom Kultleiter verwahrten
Beutel aufbewahrt. Zum andern zeigt die Vierzahl der Peyote eine typische Angleichung an
die in der Prärie allgemeine Symbolik der Vier1, die uns, wie schon die aufgeführte liste der
Kultmomente zeigt, in den Peyote-Zeremonien noch an den verschiedensten Stellen begegnet.
Vor dem Verzehren der Peyote-Früchte machen die Peyoteesser mit diesen eine dreifache
Bewegung durch das Feuer und schlucken sie dann mit einer vierten, ähnlichen Bewegung
herunter, wobei sie sich über die Kehle und die Brust streichen, um so gleichsam die Schluck-
bewegung zu unterstützen. Auch dieses Moment entspricht der traditionellen, kultischen Be-
handlung jedes sakralen Objektes2 und wird zum Beispiel im Sonnentanz der Kiowa in Ver-
bindung mit dem Taimay-Kult3 wie auch den Medizin-Bündel-Zeremonien der Blackfoot4
erwähnt.
Im Gegensatz zu dem mexikanischen Kult finden wir dann weiterhin bei den Kiowa nicht
nur den Gesang des Kultleiters, sondern aller Teilnehmer. Nachdem der Kultleiter zu-
sammen mit dem Trommelwart das Eröffnungslied (s. o. S. 105) gesungen und viermal
wiederholt hat, werden die Musikinstrumente an die nächsten beiden Teilnehmer nach links
weitergereicht, von denen dann jeder vier Lieder singt und gleichzeitig die Rassel bedient,
während sein Nachbar in einem eintönigen, sich gleichbleibenden Rhythmus die Trommel
schlägt. So gehen der Gesang und die Bedienung der Musikinstrumente im Kreise herum, bis
die Reihe wieder an den Kultleiter kommt. Auch hier folgt die Vierzahl der Lieder wieder dem
allgemeinen Prärieschema, während die Anordnung der Teilnehmer im Kreise und der Rund-
gesang in dieser ausschließlichen Form, soweit der Verfasser ermitteln konnte, in den traditio-
nellen Präriezeremonien nur selten verkommen5. Dies erklärt sich daraus, daß fast alle Prärie-
zeremonien mit Tänzen verbunden sind, bei denen die Tänzer in der verschiedensten Weise
Aufstellung nehmen (z. T. im Kreise hintereinander gehend, durcheinander oder in parallelen
Reihen). Für die Pausen zwischen den Tänzen finden wir allerdings dieselbe Anordnung der
Teilnehmer wie im Peyote-Kult erwähnt. So sagt Lowie in Verbindung mit dem Sonnentanz
der Wind River Shoshoni: ,,Wenn sie die Sonne aufgehen sehen, blasen sie alle auf ihren
Pfeifen und sobald sie in voller Sicht ist, hören die Sänger und Tänzer auf und alle sitzen im
Kreis um das Feuer herum. Die Tänzer singen religiöse Lieder und am Ende jedes Liedes
blasen sie auf ihren Pfeifen6“.
1 Vgl. Kroeber a, S. 413: “The conception of four with the
conception of the circle is wonderfully deep in the Indian
mind, and finds full expression with the Arapaho. Of course,
this connection is given by the four quarters determined by
the sun, whose manifestations from the greatest visible
phenomenon in the world, and there probably is more or
less causal relation; but the connection extends to human
matters not in any direct relation with nature. The idea
of the circle as such, as we of Old World civilization have it,
is very slightly developed in the Indian mind; but it may
safely be said that the idea of four is almost invariably
inherent in the idea of the circle, at least in the mind of the
Arapaho. A circle is to him a four sided or four ended thing:
it is per se four determined and four containing. The rhom-
bus, the rectangle, the cross, are all equivalents of the circle;
and when, as often, the connection or identification is not
directly made, it is almost always not far away. Where we
think geometrically the Indian thinks symbolically; where
we are realistically visual or spacially abstract, he is picto-
graphic. Whether in North or in South America, this holds
true, of course in varying degrees; and in the Old World,
savages and cultured nations — Europe, Africa, Asia and
Oceania — are in fundamental tendency a unit in this
respect. Of course, the connection of this tendency as
regards the conception of the circle, with the straight lined
character of American art (what we falsely call geometric!
as contrasted with the overwhelming preponderance of the
curve in the Old World, is not far to seek.” — Vgl. Kroeber a,
S. 283, 414; — Scott, S. 357.
2 Vgl. Wissler d, S. 130: “In the manipulations of ceremonial
objects we often observe four movements or three feints
before anything is done. Again, many objects are not put
down directly but moved around in a sunwise direction.
(Vgl. Spier a, S. 446).
3 Spier a, S. 446.
4 Wissler f, S. 247.
Dieselbe Anordnung wie im Peyote-Kult erwähnt Mune von
den Zeremonien des Skidi-Iruska Bundes der Pawnee, s.
Murie, S. 626.
6 Lowie d, S. 395, übers, v. Verf.
16 Baessler- Archiv.
GUNTER WAGNER
I 16
Der wechselseitige Gesang wird bei den Kiowa genau um Mitternacht unterbrochen, wo
eine Reihe von Zeremonien beginnt, die sich bei den Kiowa um die aus Mexiko übertragenen
Wasser-, Weihe- und Taufzeremonien herumgruppiert haben und die wir unter dem Namen
Mitternachtszeremonien zusammenfassen wollen1. Sie beginnen mit einer Unterbrechung
des Gesanges, während der zunächst die Musikinstrumente dem Kultleiter und Trommelwart
gereicht werden, gleichgültig, wo sie sich gerade im Kreise befinden. Die Unterbrechung des
Gesanges gerade um Mitternacht scheint ihren Grund einmal darin zu haben, daß um diese
Zeit die Wirkung des Peyote-Genusses in stärkerem Maße einsetzt und die durch das Singen
hervorgerufene Anstrengung, sowie die Wärme des Feuers ein Bedürfnis nach Wasser her-
vorrufen, das im Anschluß an die Mitternachtszeremonie von allen Teilnehmern getrunken
wird. Ferner hat die Mitternacht als der zeitliche Mittelpunkt der ganzen Peyote-Zeremonie
eine besondere kultische Bedeutung, und gehört in einen größeren Ideenzusammenhang hinein,
der für den Peyote-Kult charakteristisch zu sein scheint: Analog dem räumlichen Erdmittel-
punkt, der durch die Mitte des Tipis repräsentiert wird1 2, in der sich Norden, Süden, Westen,
Osten, Zenith und Nadir vereinigen, ist Mitternacht der zeitliche Ausdruck dieser Vereinigung3.
Dieser Ideengang ist in seiner räumlichen Komponente bereits in den traditionellen Kulten
der Präriestämme zu erkennen und äußert sich in der Anordnung des Lagerkreises, der Welt-
symbolik im Tipi, wie überhaupt der ganzen Himmelsrichtungssymbolik. In seiner zeitlichen
Komponente begegnen wir ihm dagegen seltener. Jedoch ist es möglich, daß zum Beispiel die
Mitt-Sommer Feiertage der Oglala4 in diesen Zusammenhang gehören, oder auch das Ab-
brechen des Tanzes um Mitternacht, das Scott vom Sonnentanz der Kiowa erwähnt5. Im
Peyote-Kult scheint dann das Erlebnis dieser räumlichen und zeitlichen Mittelpunktsidee
durch den Rauschzustand verstärkt worden zu sein, denn das Erlebnis der Verschmelzung
heterogenster Dinge, die alle in einem Punkte zusammenlaufen, ist — wie wir gesehen hatten
— ein typisches Symptom der Peyote-Visionen und kommt auch in der symbolischen Deutung
eines Peyote-Bildes zum Ausdruck, das der Verfasser bei dem Peyote-Priester der Yuchi sah
(s. u. S. 137, Anm. 1).
Während das Moment des zeremoniellen Wassergenusses mit einem entsprechenden Mo-
ment des mexikanischen Kultes übereinstimmt, ist das zeremonielle Herbeischaffen des
Wassers durch den Feuerwart und von einer benachbarten Quelle neu. Leider existieren
keine näheren Angaben über den oben erwähnten zeremoniellen Wassergenuß6, so daß wir
die Frage, wie weit wir es auch hier mit einer Angleichung an einen bestimmten traditionellen
Ritus zu tun haben, vorerst noch offen lassen müssen.
Nachdem der Feuerwart das Wasser geholt hat, richtet er vor seiner Rückkehr ins Tipi
ein Gebet an die vier Himmelsrichtungen, ein Moment, das seinem Wesen nach den
zeremoniellen Bewegungen nach den sechs Himmelsrichtungen im Kult der mexikanischen
Stämme entspricht (s. o. S. 93), aber hier durch die Vierzahl an das Prärieschema angeglichen
worden ist. Die kultische Beachtung der Himmelsrichtungen ist aber ein ganz allgemeines
Moment fast aller Präriekulte und wie Salbei und Zeder nicht auf bestimmte Zeremonien
beschränkt. Es genügt daher, als Parallele etwa auf das Rauchen der Pfeife nach den vier
Himmelsrichtungen hinzuweisen.
Nach jeder der vier Himmelsrichtungen gewandt, bläst dann der Feuerwart je viermal
auf einer Adlerknochenpfeife. Dieses Moment ist ebenfalls von nahezu universaler Ver-
breitung in den traditionellen Präriekulten und kommt nach Gebeten und Gesängen7 und
1 Vgl. Mooney b, S. 332.
2 Das ganze Kultzelt repräsentiert die Erde, vgl. Radin a,
S. 415.
3 Feldinformation des Verfassers: “The midnight whistle
announces that all things meet in the middle: Day, night,
north, south, man, woman etc.” (Geg. von John James,
Kelleyville, Okla).
4 Walker, S. too. 5 Scott, S. 366.
6 Vgl. Scott, S. 356, 367; Kroeber a, S. 294, 306.
7 Lowie d, S. 395.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
117
während kurzer Pausen im Tanze häufig vor1. Während der Feuerwart diese Zeremonie aus-
übt, singen der Kultleiter und der Trommelwart das viermal wiederholte Mitternachtslied,
über dessen Inhalt der Bericht Mooneys jedoch keine Angaben enthält.
Als nächstes Moment reicht der F euerwart dasWasser dem Kultleiter, der es zwischen
sich und den Altar stellt. Dieser Platz liegt auf der schon mehrfach erwähnten Ost-West-Achse
(s. o. S. 102) und ergibt sich im übrigen aus der Anordnung des Altars und des Platzes des
Kultleiters. Der Kultleiter bläst darauf viermal auf der Adlerknochenpfeife und nimmt dann
die Weihe des Wassers und die Taufzeremonie vor, die wir im vorigen Abschnitt als über-
tragene Momente diskutiert haben.
Es folgen dann als weitere, bei den mexikanischen Stämmen nicht erwähnte Momente die
Heil ungszeremonien, die aus drei Gruppen bestehen; Erstens aus allgemeinen Gebeten
des Kultleiters für kranke Teilnehmer, zweitens aus einer besonderen Heilungszeremonie für
einen einzelnen Patienten (Moment 15, a—d) und drittens aus Gebeten anderer Teilnehmer
für ihre Angehörigen.
Das Gebet ist ganz allgemeiner Natur und kann sowohl eine Angleichung an Zeremonien
des Sonnentanzes1 2 und der schamanistischen Bünde wie auch an christliche Vorbilder dar-
stellen.
Von den eigentlichen Heilungszeremonien weisen die Nachahmung des Adlerschreies,
sowie das viermalige Halten des kranken Kindes über das Feuer eindeutig auf schamanistische
Vorbilder hin, während das Besprengen des Kindes mit Weihwasser und das diese Zeremonie
begleitende Gebet sowohl auf indianische Traditionen wie auf christliche Vorbilder zurück-
gehen können. Erst eine genaue Kenntnis dieser Zeremonien kann daher die Frage klären,
ob und in welcher Weise sich hier indianisches Ritual mit christlichen Deutungen verbunden
hat.
Die dritte Zeremonie besteht darin, daß der Mann einer kranken Frau sich eine Zigarette
am Feuer anzündet und sie nach dem ersten Zuge demjenigen reicht, dessen Gebet er wünscht.
Dieser Teilnehmer beginnt dann zu beten und zieht nach jedem Absatz des Gebetes an der
Zigarette; den Rest wirft er als eine Art Opfergabe ins Feuer. Dieser Vorgang entspricht -—von
dem Rauchgerät abgesehen — durchaus den traditionellen Rauchzeremonien der Prärie-
stämme und wird zum Beispiel in derselben Form in Verbindung mit den Bündelzeremonien
und dem Sonnentanz der Blackfoot erwähnt3.
Als die nächsten beiden Momente finden wir bei den Kiowa den Wakaho- Gesang bei
Tagesanbruch und ein Schlußlied, genannt Gayatina. Beide werden wie die Eröffnungs- und
Mitternachtslieder vom Kultleiter und Trommelwart gesungen. Mooney gibt jedoch weder
den Inhalt der Lieder, noch die Bedeutung der Wörter Wakaho und Gayatina an. Wahrschein-
lich bezieht sich jedoch das erste auf den Sonnenaufgang und das zweite auf den Schluß der
Zeremonie. Der Gesang besonderer Lieder bei Sonnenaufgang und ebenso am Schluß einer
Zeremonie kommt auch in den traditionellen Präriekulten vor. Er fehlt allerdings im Sonnen-
tanz der Kiowa, wird aber z. B. im Sonnentanz der Wind River Shoshoni4 erwähnt. Aus-
geprägter scheint diese Zeremonie noch bei den Mescalero Apache zu sein5, wie überhaupt
in den Kulten des Südwestens. Es besteht daher die Möglichkeit, daß die Tagesanbruchs- und
Schlußgesänge auf südwestlichen Einflüssen beruhen, zumal dieselben Gesänge auch von den
Comanche erwähnt werden6, die in noch engerer Verbindung mit den südwestlichen Stämmen
standen als die Kiowa.
1 Vgl. Wissler a, S. 862, 875; Kroeber a, S. 291, 351; Scott,
S- 347) 352) 365; Lowie b, S. 849; Spier a, S. 444.
2 Vgl. Spier b, S. 475.
3 Vgl. Wissler f, S. 248: “In a tipi the host hands the pipe
across to the one opposite or on his left, who after a few
puffs passes it to his left hand neighbor.” Ferner Wissler g,
16*
S. 231: “People also come up to be prayed for. As a rule
the medicine pipes are brought out for these men to bless
and smoke.”
Lowie d, S. 395.
Vgl. Curtis, S. 59!.; Goddard b, S. 175.
Mooney g, S. 9.
GÜNTER WAGNER
Dem Schlußlied folgt als nächstes Moment das Auseinandernehmen und Zusammen-
packen der Kultgegenstände durch den Kultleiter. Diese Zeremonie besteht darin, daß die
Trommelhaut vom Trommelkessel losgebunden, die Rassel auseinandergenommen und das
heilige Peyoteexemplar in einen Beutel getan wird. Wir haben hier anscheinend eine An-
gleichung an die zeremonielle Behandlung der Medizinbündel vor uns, worauf unter anderem
die Ähnlichkeit dieser Zeremonie mit der Behandlung des Stammesheiligtums der Kiowa, des
Taimay, hinweist, das am Schluß der Sonnentanzzeremonien in der Medizinhütte vom
Taimaybewahrer auseinandergenommen, zusammengerollt und in einen Beutel getan wird1.
Ebenso ist das darauf folgende Moment, das Herumreichen des Trommelkessels, der
Rassel und des Fächers im Kreise, eine Zeremonie, die entsprechende Vorbilder in den Medi-
zinbündelzeremonien hat1 2. Die Teilnehmer trinken dabei etwas von dem im Trommel-
kessel befindlichen Wasser und machen weihevolle Bewegungen mit den anderen Gegen-
ständen, um sich gleichsam von deren Eigenschaften etwas anzueignen3.
Ebenfalls dem bei den Präriestämmen allgemeinen Brauch folgend, reißen die Frauen
nach Beendigung der nächtlichen Zeremonie das Tipi ab4. Im Laufe des Tages gibt dann der
Veranstalter des Festes ein besonderes Mahl im Freien oder in seinem Hause, das bei den
Kiowa ohne weiteres Zeremoniell verläuft. Solch ein vom Veranstalter gegebenes Festmahl,
das nicht zu den eigentlichen Zeremonien gehört, hat ebenfalls seine Parallelen in den tradi-
tionellen Kulten. So wird es in Verbindung mit dem Sonnentanz der Oglala5, Gros Ventre,
Blackfoot, Sarsi, Crow und Wind River erwähnt6. Es findet bei diesen Stämmen allerdings
nicht am Schluß, sondern teils vor Beginn (Blackfoot, Sarsi, Oglala), teils zwischen den
Zeremonien (Crow, Wind River) statt.
Schließlich finden wir bei den Kiowa noch eine Peyotelegende, die von dem Ursprung
des Rituals berichtet. In der von Mooney überlieferten Form7 lautet sie folgendermaßen:
,,Zwei junge Männer waren zu einem kriegerischen Abenteuer nach dem fernen
Süden aufgebrochen. Sie kehrten jedoch nicht zu der erwarteten Zeit zurück, und
nach langem Warten zog sich ihre Schwester — nach indianischer Sitte ■— allein
in die Berge zurück, um den Tod ihrer Brüder zu beklagen. Erschöpft von ihrem
Kummer und vielem Weinen, konnte sie bei Anbruch der Nacht nicht in das Lager
zurückgehen und legte sich an der Stelle nieder, an der sie gerade war. In ihren
Träumen kam der Peyote-Geist zu ihr und sagte: ,,Du trauerst um Deine Brüder,
aber sie sind noch am Leben. Sieh am Morgen dorthin, wo Dein Haupt jetzt ruht;
Du wirst dort etwas finden, was Dir Deine Brüder wiederbringen wird.“ Der Geist
gab ihr dann weitere Instruktionen und verschwand. Als das Tageslicht kam,
erhob sie sich, und als sie dorthin blickte, wo sie geschlafen hatte, fand sie eine
1 Scott, S. 367: “Just before sunset on the fourth day the
keeper takes the taimay, takes off its feathers, rolls it up,
and puts it in its sack.”
2 Vgl. Wissler f, S. 248.
,j Vgl. Mooney f, S. 6; “. . . . puts sticks against joints of
arms and hands and press kettle against breast and wish to
be strong and healthy and good drummer and rattler.”
1 Vgl. Campbell, S. 687 f.
5 Walker, S. 62.
6 Spier b, S. 463!.
7 1929 wurde dem Verfasser dieselbe Mythe von Max Friddle-
head (Kiowa), Anadarko, Okla., erzahlt, die war zum Ver-
gleich zitieren woollen: “A girl had two brothers who had
started for a hunting party to the Wichita Mountains.
These young men, however, did not return. The girl cried
much for her lost brothers and then she went all by herself
to the hills to recover them. When she was right in the
middle of the mountains night came, and she lay down to
sleep. During the night a spirit appeared in her dreams and
told her that her brothers were not far away and alive. She
could even see her brothers in a vision. When she aw'oke she
found a Peyote, lying right under her head. She ate it and then
started to seek for her brothers whom she soon found. When
they w'ere home again they gave a feast, and the girl directed
the ritual w'hich she had seen in her dreams. —The crescent
represents the Wichita mountains and the lines on the altar
show the trail which the girl had travelled back and forth
to recover her brothers. She had her vision in the place
where we now put the sacred peyote.” Diese Legende, die
der Verfasser in ähnlicher Form auch bei den Sac und Fox
hörte und die Radin von den Winnebago erwähnt (Radin b,
S. 16), scheint also die allgemein verbreitete Peyote-Legende
zu sein.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES T 19
Peyote-Pflanze, die sie ausgrub und mit ins Lager zurücknahm. Hier rief sie die
Priester des Stammes zusammen, denen sie ihre Visionen erzählte und die Weisungen
mitteilte, die sie von dem Geist erhalten hatte. Unter ihrer Leitung wurde dann
das heilige Tipi aufgestellt mit seinem halbmondförmigen Hügel, und die alten
Männer betraten es, sangen die Lieder und aßen das Peyote, das sich in wunder-
barer Weise vervielfältigt zu haben schien, bis das 1 ageslicht kam. Dann sahen
sie in ihren Visionen das Bild der zwei jungen Krieger, die zu Fuß und vom Hunger
geplagt in den weitabgelegenen Pässen der Sierra Madre umherirrten. Darauf
wurde ein starker Trupp von Kriegern gebildet, um das feindliche Land zu durch-
dringen, und nach vielen Tagen wurden die jungen Männer gefunden und ihrem
Volke wiedergegeben. Seit dieser Zeit wird Peyote von den Indianern gegessen,
begleitet von Gesang und Gebet, damit sie V isionen sehen und Eingebungen haben.
Das junge Mädchen, das es ihnen zuerst gab, wird als die ,Peyote-Frau‘ verehrt1.“
Diese Legende stellt eine typische Angleichung an das allgemeine Schema der Ursprungs-
mythen dar, wie wir sie bei den Präriestämmen in Verbindung mit fast jedem Medizinbündel
antreffen. Im besonderen zeigt sie aber eine enge Anlehnung an die T aimay-Mythe der Kiowa,
und es ist sehr wahrscheinlich, daß sie als Variation dieser Mythe entstanden ist. Scott gibt
die T aimay-Mythe in seiner Arbeit über den Sonnentanz der Kiowa mit folgenden Worten
wieder:
y^Q-Q dem ^]~d'i'tnay rvird angenommen, daß es auch ubei das Schicksal der
Menschen wacht. Dies wird durch die Erzählung Komandys gezeigt, dei allein und
verlassen in IMexiko lag, als er in weiter keine die I feife des Sonnentanzes
hörte und das Taimay zu ihm kam und ihm erzählte, daß er nicht sterben, sondern
wieder genesen und zu seinem Volke zurückkehren würde. Und in der Tat kam er
zurück2.“
Die Peyote-Legende ist gleichzeitig von allgemeinerem Interesse, da sie eines der
wenigen nachweisbaren Beispiele dafür bildet, daß die Ursprungslegende eines Rituals
keineswegs den primären Anlaß zur Ausübung dieses Rituals darzustellen braucht, sondern
in Anlehnung an ein bestehendes Schema erst sekundär entstehen kann. Verwandte Ur-
sprungsmythen weisen daher nicht mit Sicherheit darauf hin, daß die Riten, auf die sie sich
beziehen, gleicher oder ähnlicher Herkunft sind.
Wir sind damit am Ende unserer Untersuchung des Peyote-Kultes der Kiowa-Indianer.
Wenn wir auch einen sehr wesentlichen Teil des Kultes — die Texte und Melodien der Peyote-
Lieder und Gebete — wegen der unzureichenden Quellen nicht berücksichtigen konnten,
so hat uns doch schon der Vergleich der vorhandenen Daten mit den traditionellen Kulten
der Kiowa und der anderen Präriestämme so weitgehende Verwandtschaften gezeigt, daß
wir auch von einer vollständigen, alle vorkommenden Variationen berücksichtigenden Unter-
suchung das Gesamtergebnis einer Angleichung der Momente des 1 eyote-Rituals an die
traditionelle Prärie-Kultur erwarten dürfen.
Bevor wir die Ergebnisse dieser Untersuchung der einzelnen Kultmomente zusammen-
fassend betrachten und den Kult als Ganzes mit den alten Präriekulten vergleichen, wollen
wir jedoch erst den sekundären Akkulturationsprozeß, die Entwicklung des Kultes bei
den anderen Präriestämmen, untersuchen, um so ein Gesamtbild des Kultes in der Kultur-
provinz des Präriestämme zu gewinnen.
1 Mooney b, S. 330, v. Verf. übers.
2 Scott, S. 351, v. Verf. übers.
r20 GÜNTER WAGNER
B. DIE AKKULTURATIONSPRODUKTE BEI DEN ANDEREN
PRÄRIESTÄMMEN.
i. DIE ÜBERTRAGUNG DES KIOWA-KULTES.
In dem sekundären Akkulturationsprozeß haben wir es mit einem wesentlich anderen
Vorgang als dem bisher betrachteten zu tun, da es sich jetzt, bei der weiteren Entwicklung
und Verbreitung des Peyote-Kultes innerhalb der Präriekultur, nicht mehr um Entlehnungen
aus einer fremden indianischen Kulturprovinz handelt, sondern nur noch um Wandlungen
innerhalb derselben Provinz und Beeinflussungen seitens der europäisch-amerikanischen
Kulturschicht. Diesem Unterschiede entsprechend ist auch das Verhältnis zwischen Über-
tragung und Angleichung jetzt ein anderes als bei der Entwicklung des Kiowa-Kultes.
Es werden nicht mehr einzelne Momente übertragen, die auf Grund ihrer Ähnlichkeit oder
Übereinstimmung mit traditionellen Momenten der entlehnenden Kultur ausgewählt werden,
sondern das Ritual wird als Ganzes fast ohne Ausnahmen übertragen, und nur in einzelnen
Punkten finden Angleichungen an die jeweilige Stammeskultur statt. Dies besagt, daß die
Unterschiedsschwelle zwischen den einzelnen Stämmen der Präriekultur klein genug ist,
um eine Übertragung des ganzen Kultes von Stamm zu Stamm zu ermöglichen. Diese
Übertragung hat sich nun zum größten Teile so vollzogen, daß besuchende Indianer
irgendeines Stammes als Gäste der Kiowa an dem Kult teilnahmen, oder daß umgekehrt
reisende Kiowa-Indianer als Gäste eines anderen Stammes diesem das Ritual lehrten (s. o.
S. 74). Bei einem Vergleich der verschiedenen Kultformen zeigt sich nun eine Konstanz
einiger Momente, während andere eine gewisse Spielraumbreite haben. Die Ungleichwertig-
keit der Quellen gestattet allerdings noch keine abschließende Untersuchung des gesamten
Ubertragungsvorganges innerhalb der Prärie. Immerhin deutet aber ein Vergleich des
Materials auf die wesentlichsten Tatsachen hin. Eine Tabelle, auf der die übertragenen
Momente der fünf Präriestämme, für die wir Daten haben, eingetragen sind, zeigt folgendes
Bild:
Kultplatz und Kultgegenstände:
Momente der Kiowa; Comanchi -1 Arapaho2 Pawnee3 Iowa4 Omaha5
1. Tipi X X X X X
2. Eingang des Tipis im Osten X X X X ■X
3. Feuer i. Mitte des Tipis X X X X X
4. <Tförmige, ostwestl. Anordn, der Feuerhölzer X
5. Halbmondförmiger Erdaltar X X X
6. Zweiter Halbm. aus Asche X X
7. Platz des Leiters westlich vom Altar X . X X X
8. Platz des Kulthelfers zu beiden Seiten des Leiters . . . X X X
9. Platz des Feuerwarts nördlich vom Eingang X X (x)6
10. Besonderer Peyote-Fetisch a. d. Mitte des Altars .... X X X X
11. Salbei als Sitzunterlage X X X
12. Trommel X X X X
13. Rassel X X X X X
14. Adlerknochenpfeife X X
15. Adlerfederfächer X X X
16. Weihrauch (Zeder) X X X X X
17. Federschmuck X X
Tabellen zusammengestellt aus: 4 Skinner a, S. 724 ff.
1 Mooney f. 5 Fortune, S. 159 ff.
2 Kroeber a, S. 398 ff.; Radin a, S. 41511. 6 Die Klammer deutet an, daß das Moment in einer Variation
3 Murie, S. 636ff. vorkommt; vgl. die Diskussion der Varianten S. 121 ff.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
I 2 i
Kultzeremoniell1 :
Momenta der Kiowa: Comanche Arapaho Pawnee Iowa Omaha
1. Feuerwart betritt Tipi als Erster X
2. Die Teilnehmer versammeln sich vor dem Zelt X
3. Betreten des Zeltes im Gänsemarsch (X)
4. Zeremonieller Rundg. d. Teiln. um d. Tipi
5. Eröffnungsgebet und Ansprache des Leiters X X X x
6. Leiter reicht jed. Teiln. vier Peyote (x) X (x)
7. Die Teilnehmer machen weihevolle Beweg, m. d. Peyote X
8. Eröffnungslied d. Leit. v. Trommelwart begleitet X X X
9. Rundgehender Gesang X X X X
10. Jeder singt vier Lieder, begleitet von Trommel und Rassel . . . X (X) X
X
X X (X) X
14. Feuerwart bläst viermal auf Adlerknochenpfeife X
15. Kultleiter und Trommelwart singen das Mitternachts-Lied .... X
16. Feuerw. reicht Wasser d. Leiter, der es zwischen sich und den
Altar stellt X X
17. Kultleiter bläst viermal auf Adlerkn.-Pfeife X
18. Leiter zieht Pfeife zweimal durch das Wasser, dabei ein Kreuz be-
zeichnend X
19. Leiter besprengt Teiln. im Kreise herum m. Wasser nach Art der
X
X
21. Leiter vollzieht LIeilzeremonie an einem Kinde
22. Teiln. betet f. Kranken und raucht Zigarette (X)
23. Teiln. trinken das geweihte Wasser, das im Kreise herumgeht . X X X
24. Leiter und Trommelw. singen bei Tagesanbr. das Wakahohed . . (X) (X) (X) (X)
25. Eine Frau bringt vier Schüsseln mit Nahrung ins Zelt (X) (X) X X
26. Leiter und Trommelwart singen ein Schlußlied X X
27. Leiter nimmt die Kultgegenstände auseinander X
28. Die Kultgegenstände werden im Kreis herumgereicht X
29. Zeremonial-Frühstück; Die Schüsseln machen die Runde im Zelt X X X (X) X
31. Teilnehmer verlassen Zelt im „Gänsemarsch“
33. bestmahl, vom Veranstalter des Festes gegeben X X
Diese Tabellen zeigen zunächst mit Bestimmtheit nur, daß der Peyote-Kult der anderen
Präriestämme in einer Anzahl seiner Momente mit dem Peyote-Kult der Kiowa überein-
stimmt. Die Lücken bedeuten keineswegs, daß die Momente bei den betreffenden Stämmen
fehlen, sondern nur, daß Angaben fehlen. Die Berichte sind fast nirgends so beschaffen,
daß wir mit einiger Sicherheit auf das Fehlen der nicht erwähnten Momente schließen können.
Wir müssen daher vorerst die Untersuchung der übertragenen Momente des Kiowa-Peyote-
Kultes in diesem fragmentarischen Stadium belassen und können die Tabellen nur weiterer
Materialsammlung als Ausgangspunkt zugrundelegen. Nach der Sicherung einigermaßen
vollständigen Materials wird dann die Frage zu untersuchen sein, welche Momente an dem
ganzen Verbreitungsvorgang beteiligt sind und weiterhin, wie der Häufigkeitsgrad der ver-
schiedenen Momente abnimmt bis schließlich zu den Momenten hin, die auf den Kult der
Kiowa beschränkt geblieben sind. Eine andere Aufgabe wird darin bestehen, die Varia-
tionsbreite2 der einzelnen Momente, sowohl innerhalb desselben Stammes, als auch bei
verschiedenen Stämmen, und ihre Variabilität im Laufe der Entwicklung des Kultes
festzustellen. Während uns über die Variabilität so gut wie alle Angaben fehlen, können wir
1 Von einem tabellarischen Vergleich der Kultorganisarion
sehen wir ab, da die Angaben zu einem solchen Vergleich
zu vereinzelt sind. Soweit sie vorhanden sind, besprechen
wir sie einzeln im nächsten Kapitel, s. u. S. 126 ff.
2 Unter der Variationsbreite eines Momentes verstehen wir den
Spielraum, innerhalb dessen es zur selben Zeit schwankt;
unter der Variabilität eines Momentes dagegen seine Ver-
änderlichkeit im zeitlichen Verlaufe der Kultentwicklung.
I 22
GÜNTER WAGNER
die Variationsbreite bei den verschiedenen Stämmen in der vorliegenden Arbeit für die in den
Tabellen angekreuzten Momente schon untersuchen1. Wir begegnen dabei zwei verschie-
denen Arten von Variationen: Einmal zeigen die Momente Abweichungen in ihrem Inhalt
und das andere Mal in ihrer Reihenfolge im Kultverlauf.
Was zunächst die inhaltlichen Abweichungen betrifft, so wird das heilige Peyote-
Exemplar bei den Arapaho auf eine Unterlage von zwölf, in der Form eines Sternes ange-
ordneten Salbeiblättern gelegt oder auch auf eine Unterlage von acht kurzen Salbeizweigen,
die in der Form zweier Kreuze übereinandergelegt werden und nach den vier Himmels-
richtungen orientiert sind. Bei den Omaha wird es dagegen auf eine Unterlage von Calico
gelegt, während für die anderen Präriestämme keine Angaben vorliegen. Für die Comanche
wird an Stelle der sonst allgemein verbreiteten Adlerknochenpfeife eine Rohrpfeife erwähnt.
Ferner finden sich Variationen hinsichtlich der Kultbeamten. So haben wir im allgemeinen
einen Feuerwart, bei den Iowa aber vier, von denen je zwei zu jeder Seite des Einganges
ihre Plätze haben. Der Trommelwart sitzt bei den Kiowa und Arapaho links vom Leiter,
bei den Comanche und Iowa dagegen rechts, während für die Pawnee und Omaha Angaben
fehlen. Hinsichtlich der Zeremonien finden wir ebenfalls Variationen bei den verschiedenen
Stämmen: Während bei den Kiowa und Arapaho der Leiter selbst die Peyote verteilt, tut
dies bei den Iowa der oberste Feuerwart im Aufträge des Leiters. Weitere Variationen finden
sich dann in der Art des Rundgesanges. Bei den Kiowa, Iowa und Comanche geht der
Rundgesang vom Platze des Leiters aus über Norden, Osten nach Süden, also dem Laufe der
Sonne folgend, bei den Arapaho dagegen im entgegengesetzten Sinne über Süden, Osten,
Norden zurück zum Leiter. Bei allen Stämmen scheint der Sänger gleichzeitig die Rassel
zu bedienen, während ein anderer Mann trommelt. Dies ist bei den Arapaho stets der rechte
Nachbar des Sängers, während bei den Comanche Rassel und Trommel ausgetauscht werden,
so daß sich der Trommler einmal rechts und das andere Mal links vom Sänger befindet.
Bei den Iowa geht nur die Rassel und der Gesang im Kreise herum, während die Trommel
im Besitze des Trommelwartes bleibt, der herumgeht und jeden Sänger begleitet. Bei den
Comanche scheint auch der Leiter seinen Platz zu wechseln, jedoch ist die darauf bezügliche
Stelle in Mooneys Manuskript nicht klar. Für Pawnee und Omaha liegen keine näheren
Angaben vor. Das nächste, übertragene Moment, das in mehreren Variationen vorkommt,
ist das Amt des Wasserholens. Bei den Kiowa, Iowa und auch in dem Bericht Radins über
die Arapaho verläßt um Mitternacht der Feuerwart das Zelt, um Wasser von einer nahen
Quelle oder einem Bach zu holen oder — wie bei den Iowa — ein bereitgestelltes Gefäß mit
Regenwasser hereinzubringen. Dies geschieht entweder auf ein Zeichen des Leiters hin
(Kiowa, Comanche durch Blasen der Adlerknochenpfeife) oder nach Absingen des ersten
Mitternachtslicdes durch den Kultleiter (Arapaho), bzw, nach der Mitternachtspredigt. In
dem Bericht Kroebers über den Arapaho-Kult ist das Wasserholen ein Amt der Frau des
Kultleiters. Weitere Variationen kommen bei dem Trinken des geweihten Wassers vor. Es
wird bei den Kiowa, Arapaho und Pawnee nach den vorangehenden Mitternachtszeremonien
im Kreise herumgereicht, bei den Arapaho von links nach rechts, bei den anderen Stämmen
allem Anschein nach umgekehrt, in derselben Reihenfolge wie der Gesang. Bei den Comanche
und Iowa dagegen bleibt das Wasser bis zum Morgen vor dem Platze des Leiters stehen, ohne
herumgereicht zu werden. Ein besonderes, vom Leiter und Trommelwart bei Tagesanbruch
gesungenes Lied wird außer bei den Kiowa bei den Comanche und Iowa erwähnt. Dieses
Lied scheint bei den Kiowa und Comanche identisch zu sein, da es in beiden Berichten als
Wakaho-Lied bezeichnet wird; für die anderen Stämme fehlen nähere Angaben. Nach
dem Tagesanbruchslied werden dann vier Schüsseln in das Zelt gebracht, die das Zeremonial-
1 Die folgenden Angaben sind — soweit keine besonderen Anmerkungen auf andere Quellen hinweisen — den oben
Seite 120 Anm. i — 5 angeführten Berichten entnommen.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES 123
Frühstück enthalten (s. o. S. 106). Dies besteht bei den Kiowa, Comanche und Arapaho aus
Wasser, Mais, Fleisch und Früchten, bei den Pawnee und Iowa dagegen nur aus Wasser,
Mais und ,Candy‘ und bei den Omaha sogar nur aus Wasser und Mais. Bei den Kiowa,
Arapaho, Pawnee und Omaha werden die Schüsseln von einer Frau ins Zelt gebracht und
gehen dann nach einigen vorbereitenden Zeremonien im Kreise herum, während bei den Iowa
der Feuerwart die Nahrung verteilt. Für die Arapaho erwähnt Radin als Variante, daß die
Frau die Schüsseln nur vor das Zelt stellt; sie werden dann vom Feuerwart hereingeholt.
Bei den Comanche scheint das Wasser und die übrige Nahrung getrennt hereingebracht zu
werden; allerdings fehlen darüber genaue Angaben.
Neben diesen Variationen, die sich alle auf den Inhalt der Zeremonien erstrecken,
kommen nun noch, wie schon erwähnt, Verschiebungen in der zeitlichen Reihenfolge
der einzelnen Zeremonien vor, besonders im Verlaufe der Mitternachtszeremonien. Diese
Verschiebungen sind jedoch meist durch Hinzufügung neuer Zeremonien entstanden, weshalb
wir sie zusammen mit diesen in den folgenden Kapiteln berücksichtigen werden, in denen wir
die bei den verschiedenen Präriestämmen neu hinzugetretenen Kultmomente untersuchen
wollen.
Diese Diskussion der übertragenen Momente ist zwar noch zu fragmentarisch, um schon
eine ztisammenfassende Charakteristik zuzulassen. Dennoch können wir schon einige all-
gemeine Züge feststellen. Vergleichen wir die Variationen in den drei Hauptgruppen der
Momente miteinander, so sehen wir, daß Kultplatz und Kultgegenstände bei weitem kon-
stanter sind, als das Zeremoniell, während über die Kultorganisation wegen der fehlenden
Daten noch kein Urteil möglich ist. Es scheint aber, daß sie die größte Variationsbreite auf-
weist und die Tendenz zeigt, sich dem jeweiligen traditionellen Stammesschema anzugleichen
(vgl. o. S. 102 und S. 113). Dieses Ergebnis entspricht durchaus dem, was man erwarten
würde; die Momente der ersten Gruppe als die konkretesten sind am vollständigsten und in
meist gleichbleibender Form übertragen worden, während das schon abstraktere Ritual
Lücken in der Verbreitung und besonders eine größere Variationsbreite aufweist. Innerhalb
der Gruppe des Zeremoniells scheinen wieder die Zeremonien die größte Konstanz zu zeigen,
die am engsten mit der Behandlung konkreter Dinge verknüpft sind, wie die Zeremonien
der Peyoteverteilung, des Wassergenusses, des Zeremonialfrühstücks usw.
Am unvollständigsten scheint die Lehre des Peyote-Kultes der Kiowa übertragen
worden zu sein. Wie wir schon oben ausg'eführt haben, sind wir zwar über die Lehre nur in
sehr spärlichem Maße unterrichtet, aber selbst die wenigen Angaben, die wir den Berichten
Mooneys entnehmen können, finden sich bei den anderen Stämmen nicht in derselben Form
wieder, abgesehen von den allgemeinen Eigenschaften, die überall dem Peyote zugeschrieben
werden und die auf den gleichen Rauscherlebnissen zu beruhen scheinen. Die Daten reichen
keineswegs aus, um die Kiowa-Lehre auch nur in großen Zügen zu skizzieren. Wie weit
überhaupt eine zusammenhängende, allen Präriestämmen gemeinsame Lehre existiert, in der
jede Zeremonie ihren bestimmten Sinn hat, ist noch sehr fraglich. Die vorhandenen Daten
beschränken sich vielmehr auf zusammenhanglose Deutungen einzelner Zeremonien, deren
allgemeine Gültigkeit sehr ungewiß ist. So wird Peyote bei den Kiowa als der pflanzliche
Repräsentant der Sonne gedeutet, die in ihrer alten Religion als die höchste Gottheit an-
gesehen wird. Das Blasen der Adlerknochenpfeife soll den Adlerschrei darstellen und für das
Hineintauchen ins Wasser wird in dem zweiten, zusammenfassenden Bericht Mooneys fol-
gende Deutung gegeben: weil der Adler rein ist und nur saubere Dinge frißt, — weil
es ihm nicht gleichgültig ist, was er frißt, wie der Krähe oder dem Bussard, deshalb ist er
Häuptling und deshalb nimmt er das Wasser vor dem Menschen1.“
Die darauffolgende Taufzeremonie wird ebenfalls nicht christlich gedeutet, sondern
1 Mooney f, S. 4, v. Verf. übers.
17 Baessler-Archiv,
GÜNTER WAGNER
I 24
bezieht sich auch auf den Adler. So wird das Besprengen der Teilnehmer mit dem Regen
verglichen und als Darstellung dafür angesehen, wie der Vogel beim Trinken Wasser von
seinem Schnabel und von seinen Federn spritzt1.“ Das Trinken des Wassers aus einem
Eimer und nicht aus einer Tasse wird damit begründet, daß die ersten Menschen auch keine
Tassen gebrauchten, sondern sich zum Wasser niederbeugten, um zu trinken.
Das Berühren des Körpers mit den Kultgegenständen am Schluß des Peyote-Festes
(vgl. oben S. 118, Anm. 3) scheint einen Berührungszauber darzustellen.
Christliche Deutungen finden wir bei den Kiowa nur in einigen Peyote-Liedern und
Gebeten, die sich auf Gott und Jesus1 2 und die Sündenvergebung3 beziehen.
Für das Zeremonial-Frühstück am Schluß des Festes liegt ebenfalls keine zusammen-
fassende Deutung vor. Die Reihenfolge der Schüsseln: Wasser, Fleisch, Mais und Frucht
wird damit begründet, daß ,,die T iere nach dem Wasser kommen4“, was sich wahrscheinlich
auf die Schöpfung beziehen soll. Vielleicht deutet diese Bemerkung an, daß das ganze
Mahl eine symbolische Vereinigung mit der Welt in der Reihenfolge der Schöpfung darstellt.
Von diesen Deutungen findet sich nur die des Blasens der Adlerknochenpfeife als Symbol
des Adlerschreis bei den Arapaho5 wieder, während alle anderen Deutungen auf die Kiowa
beschränkt zu sein scheinen. Bevor aus diesem Ergebnis allgemeine Schlußfolgerungen ge-
zogen werden können, müssen jedoch erst ausführlichere Daten über die Lehre vorliegen.
Wir müssen uns daher hier mit der allgemeinen Feststellung begnügen, daß die Lehre, be-
ziehungsweise die Deutungen der einzelnen Zeremonien in erheblich geringerem Maße als das
Ritual an dem Ubertragungsprozeß beteiligt sind und vielleicht zum größeren Teil nur indi-
viduelle Deutungen darstellen, die noch nicht zu einer allgemeinen Peyote-Lehre verknüpft
werden können.
2. DIE WEITERE ENTWICKLUNG DES PEYOTE-KULTES BEI DEN ANDEREN
PRÄRIE STÄMMEN.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Im Zusammenhang mit der übertragenen Kiowa-Kultform und ihren Varianten haben
sich bei den fünf anderen Präriestämmen noch neue Momente entwickelt, wenn auch in
erheblich geringerem Maße als in dem primären Akkulturationsprozeß. Da aber weder die
genauen Verbreitungswege, noch die Verbreitungsdaten des Peyote-Kultes bekannt sind
(vgl. o. S. 74!.), ist nicht mit Sicherheit festzustellen, bei welchem Stamm diese neuen Mo-
mente zuerst aufgetreten sind, um so weniger, als sie meist nicht nur bei einem, sondern bei
mehreren Stämmen verkommen. Ja, bei einer Reihe dieser Momente ist nicht einmal ge-
wiß, ob ihr Fehlen in dem ersten Kiowa-Bericht von 1897, den wir der Untersuchung des
primären Akkulturationsprozesses zugrunde gelegt haben, auf einem Nicht-Vorhandensein
dieser Momente oder nur auf der Unvollständigkeit der Quellen beruht. Einige dieser „neu
entwickelten“ Momente werden nämlich in dem zweiten Bericht Mooneys über den Peyote-
Kult der Kiowa aus dem Jahre 1918 erwähnt6. Dies zeigt entweder, daß die Verbreitung
der neuen Momente sich rückläufig auch auf die Kiowa erstreckt hat, oder, daß der erste
Bericht Mooneys unvollständig war und die betreffenden Momente bereits während des
ersten Akkulturationsprozesses bei den Kiowa entwickelt worden sind.
1 Mooney f, S. 4.
2 Mooney c, S. 10: “O God, O God------Jesus, Jesus, aka —
Jesus.”
3 Mooney c, S. 11: “We think God has forgiven us.”
4 Mooney f, S. 6.
5 Kroeber a, S. 403: “He (the leader) takes an eaglebone-
whistle with which he imitates the cry of an eagle as it
gradually descends from a great hight to the ground in
search of water. Tire gradual approach of the bird from
a distance is very vividly indicated, ending with a climax
of shrill cries. The end of the whistle is then dipped into the
water.”
8 S. Tabelle.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
1 25
Stellen wir wieder die einzelnen Momente, für welche Daten vorliegen, auf einer labeile
dar, so ergibt sich folgendes Bild:
Momente : Comanche Arapaho Pawnee Iowa Omaha Kiowa
i. Feder als Feuerfächer X X
2. Bes. Unterl. f. d. Peyote-Fetisch X X X
3. Feder neb. d. Pey.-Fetisch X
X
5. Otternfellkappe X
X X X X
X
X
Diese Tabelle zeigt, daß sich die neuen Momente sowohl auf die weitere Ausgestaltung
des Kultplatzes erstrecken (Momente 2, 3), als auch auf eine Reihe neuer Kultgegenstände,
von denen der Zeremonialstab die weiteste Verbreitung gewonnen zu haben scheint. Alle
diese Momente, mit Ausnahme der Otternfellkappe, der Bibel und des Tischtuches kamen
vielleicht schon bei den Kiowa vor. Wie weit andererseits die Lücken in den Tabellen auf
wirkliche Lücken hindeuten, läßt sich aus den vorliegenden Quellen noch nicht ersehen.
Was zunächst das erste Moment betrifft, so erwähnt Kroeber für die Arapaho, daß der
Kultleiter vor dem Betreten des Tipis mit einer Flügelfeder eines Adlers auf einen der
Teilnehmer zeigt und ihn damit zum Feuerwart wählt. Diese Feder wird dann vom Feuer-
wart zum Anfachen des Feuers verwandt. Die Verwendung einer Adlerflügelfeder als Feuer-
fächer entspricht dem herkömmlichen Brauch, und ebenso zeigt die Verteilung dieser Feder
durch den Kultleiter als Symbol für die Verleihung eines Amtes eine deutliche Anlehnung an
die traditionelle Bedeutung der Adlerfeder als Rangabzeichen1 2. Wie weit allerdings dieser
spezielle Brauch auf traditionelle Vorbilder zurückgeht, konnten wir bei der Spärlichkeit der
Angaben über die Stellung des Feuerwartes in den alten Kulten nicht feststellen.
Das zweite Moment, die besondere Unterlage für den Peyote-Fetisch, stellt eine An-
gleichung an die zeremonielle Behandlung eines Medizinbündels dar. Im Peyote-Kult
kommt sie in den beiden Formen der Salbei- und der Calico-Unterlage vor (vgl. o. S. 122L).
Ihr Sinn scheint in beiden Fällen darin zu bestehen, die heilige Medizin, den Peyote-Fetisch,
nicht in unmittelbare Berührung mit der Erde kommen zu lassen. Die Verwendung von
Salbei beziehungsweise Calico zu diesem Zwecke folgt der 1 radition. So finden wir das
heilige Bündel der Arapaho eingewickelt in Calico, das, wie aus der Stelle bei Kroeber her-
vorzugehen scheint, auch nach der Öffnung des Bündels noch den eigentlichen Inhalt
bedeckt3.
Das folgende Moment, die neben dem Peyote Fetisch in die Eide gesteckte Feder,
scheint ebenfalls in den Medizinbündelkomplex hineinzugehöien. Als Gegenstück zu der
Unterlage scheint sie die symbolische Bedeckung des Peyote-Fetisches darzustellen. Diese
Deutung wird dadurch nahegelegt, daß der Kultleiter die Feder beim Betreten des Zeltes
als Kopfschmuck in seinem Haar trägt und dann in solcher Weise neben dem Peyote-Fetisch
in die Erde steckt, daß die Spitze der Feder sich über den Fetisch neigt.
Als nächstes Moment wird bei den Comanche und Arapaho, sowie in dem zweiten Kiowa-
Bericht eine Trinkschale zum Trinken des Wassers erwähnt. Dieses Moment steht im
Gegensatz zu dem ersten Bericht über den Kiowa-Kult, in dem das Trinken des Wassers aus
1 Zusammengestellt aus Mooney c, f.
2 Vgl. Wissler d, S. 55.
3 Kroeber a, S. 310: ‘‘Ceremonial opening of the sacred bag:
‘The disposition of the contents of the bag during the cere-
mony is as follows : The owner of the bag sits at the rear
of the tent. In the middle is a small fire of coals. Directly
before the owner is the outer bag, now only holding the
17*
various gifts of food contained in small bags and pieces
of cloth. 1 he outer bag Itself is still covered, to a large extent,
with the calico with which it is ordinarily kept wrapped, and
which presumably has been given to it. The smaller longi-
tudinal bag is removed from the inside of the large bag,
and put in front of it.’ ’ ’
GUNTER WAGNER
I 26
einem Eimer eine besondere zeremonielle Bedeutung hatte (vgl. o. S. 124). Für die Ein-
führung der Trinkschale wird uns als Grund eine staatliche Verordnung gegeben1, so daß
wir in diesem Moment eine erzwungene Beeinflussung von außen vor uns haben, die nicht
in den uns hier interessierenden Prozeß hineingehört.
Weiter finden wir an neuen Momenten die Otternfellkappe der Arapaho und den
Zeremonialstab, der außer bei den Arapaho auch in dem Peyote-Kult der Iowa und
Omaha vorkommt. Die Otternfellkappe hat während der Nacht ihren zeremoniellen Platz
auf dem Altar, auf den sie so hingelegt wird, daß sie das Ende der Adlerknochenpfeife berührt,
deren Mundstück wiederum an den Peyote-Fetisch angelehnt ist1 2. Das Otternfell gilt bei den
Arapaho als Symbol der Erde, ,,da die Otter auf der Erde und im Wasser lebt3“, und kommt
als Umwicklung einer zeremoniellen Lanze schon in den Zeremonien der ,Second Society‘
der Arapaho vor4. Auch das Tragen einer zeremoniellen Kappe ist kein neues Moment,
sondern wird zum Beispiel in Form einer Hasenfellkappe schon in Verbindung mit dem
Sonnentanz der Kiowa erwähnt5. Ebenso kommt der Zeremonialstab bei den Arapaho sowohl
in dem „Ersten Tanz“6 wie auch im „Krähentanz“7 vor und wird in derselben Funktion als
Abzeichen auch bei anderen Stämmen erwähnt8. Zur Feststellung näherer Verwandt-
schaften sind aber noch eingehendere Angaben über die Ornamentik, den Federschmuck
usw. dieser Zeremonialstäbe erforderlich. Schließlich begegnen wir noch zwei weiteren Kult-
gegenständen, die auf christlichem Einfluß beruhen und bei den Präriestämmen — soweit
bisher bekannt ist — auf die Iowa, beziehungsweise die Omaha beschränkt sind. Das eine
Moment ist die Bibel, die bei den Iowa aufgeschlagen vor den Peyote-Fetisch gelegt wird.
Dies entspricht zwar einerseits dem christlichen Vorbilde, denn der halbmondförmige Hügel
wird nun durch die Bibel auch im christlichen Sinne zum „Altar“. Andererseits bildet aber
die Ausstellung der Bibel „zu Füßen“ des Peyote-Fetisches eine Parallele zu der Adler-
knochenpfeife und der Otternfellkappe der Arapaho, die ebenfalls auf und vor dem Altar
ausgelegt werden, wie überhaupt die Plazierung von Gegenständen verschiedenster Herkunft
vor einer „Medizin“ typisch für jede Bündelzeremonie9 der Präriestämme war. Wir können
daher auch die Ausstellung der Bibel auf dem Peyote-Altar zunächst als Angleichung an das
althergebrachte Schema auffassen. Hier taucht dann die Frage auf, ob die Bibel auf Grund
christlicher Einflüsse die Bedeutung des Peyote-Fetisches verdrängt hat und selbst zum
Mittelpunkt der Anbetung geworden ist. In der Tat scheint dies bei den Iowa der Fall ge-
wesen zu sein, wie die mit der Bibel verbundenen Zeremonien (s. u. S. 129h) andeuten. Aber
selbst nach dieser Umwandlung haben wir es noch mit einer Angleichung an die traditionellen
Zeremonien zu tun, indem nun die Bibel an Stelle der „Medizin“ tritt und wie diese angebetet
wird.
Das zweite, auf christlichen Einflüssen beruhende Moment ist das Tischtuch, das bei
den Omaha in einer Art Abendmahlszeremonie Verwendung findet. Es ist von allen bisher
betrachteten Momenten das einzige, für das sich keine Verwandtschaft mit den traditionellen
Kulten nachweisen läßt. Es bildet jedoch einen Teil der Abendmahlszeremonie, die als
Ganzes wieder, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, Beziehungen zu traditionellen
Bräuchen aufweist.
b) Kultorganisation,
Da die Daten über die Kultorganisation nicht nur für die Kiowa, sondern auch für die
anderen Präriestämme sehr spärlich sind, können wir die mit ihr zusammenhängenden
1 Mooney с, S. 5: “Dipper and cup adopted about a year ago
because of state law against communal drinking cups.”
2 Radin a, S. 415.
3 Kroeber a, S. 176.
4 Kroeber a, S. 176. 5 Scott, S. 367.
6 Kroeber a, S. 184.
7 Z. B. in der Tanzgesellschaft der „Schafhirten“ der Kiowa,
Lowie b, S. 845.
8 Kroeber a, S. 357.
9 Vgl. Kroeber a, S. 310; Walker, S. 69 f.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
I 27
Probleme hier nur in einigen wenigen Punkten anschneiden. Die einzige ausführlichere
Quelle über die Kultorganisation ist der Bericht von Fortune über die Omaha. Dieser Bericht
weist auf eine weitgehende Angleichung des Peyote-Kultes an die traditionellen Kulte hin.
So läßt sich der Kult als Ganzes in die größere Gruppe der „vision societies“ einordnen, da er
nur diejenigen als Mitglieder umfaßt, die Visionen von Engeln gehabt haben. Der Unter-
schied zu den alten Bünden besteht hinsichtlich dieses Punktes nur darin, daß die Vision
nicht durch Fasten, sondern durch den Genuß von Peyote gewonnen wird, so daß ein erst-
maliges Peyoteessen als Gast Vorbedingung für die Aufnahme als Mitglied ist1. Neben
diesen „Aufnahme“-Visionen bzw. Auditionen, die der Betreffende dann, dem alten Prärie-
schema entsprechend, als sein persönliches Eigentum betrachtet, ist die einzige weitere Be-
dingung für die Mitgliedschaft die Bezahlung einer bestimmten Summe an alle früheren Mit-
glieder. Ob außerdem bei den Omaha noch ein besonderer Jahresbeitrag erhoben wird, ist
ungewiß; bei einigen anderen Stämmen ist dies jedoch der Fall, schon zur Deckung der ver-
hältnismäßig hohen Kosten für Peyote. Mährend aber der Einkauf in den Peyote-Bund
durch Zahlungen an die früheren Mitglieder dem traditionellen Brauch entspricht, indem er
gleichsam den Preis für ein mitgeteiltes Geheimnis darstellt, beruht der laufende „Mitglieds-
beitrag“ offensichtlich auf dem Einfluß europäischer Vorbilder.
Innerhalb der Mitgliedschaft gibt es bei den Omaha Rangunterschiede, die im
ganzen drei Gruppen umfassen: Erstens die gewöhnlichen Mitglieder, deren Funktionen
während der Peyote-Versammlung nur im Singen der Peyote-Lieder und in der Bedienung
der Musikinstrumente bestehen; zweitens die Mitglieder mit Dienstprivilegien, die die Ämter
des Tisch-, Feuer-, Zedern- und Trommelwarts umfassen, und drittens Kultleiter, von denen
es bei den Omaha zwölf gibt, deren wesentlichstes Privileg darin besteht, Eigentümer von
Feuerstellen zu sein.
Die Dienstprivilegien sind erblich und bleiben immer in denselben Gentes. Dies ent-
spricht dem Vorbilde der alten Geheimbünde, Die Leiterschaft ist ebenfalls erblich, wobei als
das wesentliche zu vererbende Moment die ,Feuerstelle‘ betrachtet zu werden scheint2. Die
weiteren Privilegien der zwölf Kultleiter bestehen im Besitz von Zeremonialstäben und dem
Platz an der ersten Tafel bei der das Fest einleitenden Mahlzeit. Die Zwölfzahl der Kultleiter
scheint auf christlichen Einflüssen zu beruhen (vgl. u. S. 128), während die Leiterprivilegien
als solche dem Vorbild der traditionellen Kulte folgen.
Diese Daten über die Organisation des Omaha-Peyote-Kultes, die wir der Arbeit For-
tunes entnommen haben, zeigen, wie wir sahen, eine weitgehende Angleichung an die tra-
ditionelle Kultorganisation der Omaha. Wenn wir auch keine vergleichbaren Daten für die
anderen Stämme besitzen, so glauben wir doch, schon auf Giund dieses einen Beispieles ver-
muten zu dürfen, daß die Organisation sich in stärkerem Maße als die Kultgegenstände und
Zeremonien bei den verschiedenen Stämmen gewandelt hat und dem herrschenden Stammes-
schema angeglichen worden ist (vgl. o. S. 102, 113L
c) Kultzeremoniell.
Der Übergang von den im vorigen Abschnitt aufgeführten Varianten zu neuen Momenten
läßt sich in der Gruppe des Zeremoniells schwerer feststellen als bei den Kultgegenständen.
1 Es scheint allerdings, daß jemand auch auf Grund einer
Vision oder Audition ohne vorhergehenden Peyotegenuß
aufgenommen werden kann. Er muß dann vor seiner Auf-
nahme von seiner Vision berichten. So schreibt Fortune:
“The entrant into the society has heard a song sung in the
air and it is generally understood that such audition is al-
ways of angels singing, (as angels do sing in Heaven in
orthodox missionary teachings). , Small Fangs' heard such a
song while he was out fencing one day. He joined the Peyote
Cult and sang the song at his first entrance (Fortune a,S. 159).
2 Fortune, S. 159: And 1 heard some Omaha gossip about
who would inherit x’s fireplace, and who would inherit y’s
fireplace. Es ist nicht ganz klar, was damit gemeint ist;
vielleicht bedeutet aber der Besitz eines Feuerplatzes nur
das Recht zum Amt des Kultleiters.
GÜNTER WAGNER
I 28
Mit zunehmendem Grade ihrer Unabhängigkeit von den übertragenen Momenten gehen die
Varianten allmählich in neue Momente über. Wir wollen nun die wesentlichsten dieser neuen
Momente, die sich bei den fünf Präriestämmen im Anschluß an das übertragene Kultzere-
moniell entwickelt haben, mit den alten Kulten vergleichen, um festzustellen, wie weit wir
in diesen Momenten wirklich neue Zeremonien vor uns haben, und wie weit auch sie wieder
Angleichungen an traditionelle Präriekulte darstellen. Wir folgen dabei wie bisher ihrer
annähernden Reihenfolge im Kultverlauf, soweit dies bei den Abweichungen in den Kulten
der verschiedenen Stämme möglich ist.
Momente: Comanche Arapaho
1. Zerem. Mahlzeit vor dem Betreten des Zeltes......
2. Zeremonialbad der Teilnehmer..................... x
3- Leiter zieht Linie auf dem Erdaltar.............. x
4. Zerem. Rauchen vor dem ersten Peyotegenuß ..... X X
5. Weihe u. Reinigung d. Kultgegenst. in Zedernrauch. X X
6. Teiln. knien während d. Verbrennens d. Zedernnadeln .
7. Leiter liest aus der Bibel vor......................
8. Öffentliche Beichte der Teilnehmer.................
9. Leiter spricht christl. Glaubensbekenntnis..........
10. Eeuerwart zeichnet Kreuz a. d. Boden............... x
11. Leiter verläßt Tipi nach Mitternacht............... X X
12. Bei Tagesanbruch setzt Leiter Otternfellkappe auf ... X
13. Leiter singt Wasserlied viermal ................... x
14. Frau bringt Wasser ins Tipi und gießt etwas davon auf
das Kreuz (vgl. Moment 10)....................... x
15. Frau trinkt Wasser, das ihr Leiter reicht.......... X
16. Zeremonielles Waschen ............................. x
17. Erneutes Zusammensein im Tipi nach d. Festmahlzeit.
Pawnee
X
X
Iowa
X
X
X
X
X
Omaha Kiowa II
X
X
X
X
X
Zu Beginn jeder Peyote-Veranstaltung finden wir bei den Omaha eine zeremonielle
Mahlzeit, die außerhalb des Kultzeltes stattfindet. Die Teilnehmer sitzen bei diesem
Mahle an Tischen zu je zwölf Plätzen. Die Plätze am ersten Tisch sind die Privilegien der
zwölf Kultleiter, die die zwölf Jünger Christi repräsentieren, während das Mahl selbst das
heilige Abendmahl darstellt. Die Frauen sitzen, von den Männern getrennt, an dem letzten
Tisch. Vor der Mahlzeit wird, ebenfalls dem Vorbilde des heiligen Abendmahles folgend, ein
Krug mit Wasser herumgereicht, aus dem jeder Teilnehmer trinkt1.
Wir haben es hier also mit einer weitgehenden Übertragung eines christlichen Vorbildes
zu tun. Betrachten wir jedoch die Zeremonie im einzelnen, so können wir, mit Ausnahme
der dische, des Tischtuches und der Zwölfzahl der Plätze, jedes Moment bereits in den tradi-
tionellen Kulten nach weisen. Die Veranstaltung des Mahles vor Beginn der Zeremonien hat
ihre Vorbilder in den Festen, die wir in Verbindung mit dem Sonnentanz bei den Blackfoot,
Sarsi und Oglala erwähnt fanden (s. o. S. 118), und ebenso folgt die Rangabstufung der Tische,
der besondere Tisch für die Frauen und schließlich der zeremonielle Wassergenuß den alten
Bräuchen. Selbst die Zwölfzahl stellt als Verdreifachung der Vier ein Moment dar, das sich
leicht in das alte Kultschema einfügen ließ. Das wesentlich Neue ist also selbst in dieser,
zunächst rein christlich erscheinenden Zeremonie ihre christliche Interpretation und nicht
die Rite selbst.
Einer weiteren Zeremonie vor dem Betreten des Tipis begegnen wir bei den Arapaho, bei
denen die Teilnehmer mitunter ein Zeremonialbad vornehmen, indem sie in einen Fluß
springen und einmal mit und einmal gegen den Strom tauchen2. Eine entsprechende Zere-
monie fand sich zwar auch bei den Huichol (s, o. S. 91), jedoch ist es kaum wahrscheinlich,
daß hier historische Beziehungen vorliegen. Einmal fehlt nämlich das Zeremonialbad bei den
Kiowa, die das verbindende Glied zwischen den Huichol und den Arapaho darstellen, und
1 Fortune, S, i6of. 2 Krqeber a, S. 399.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
129
zum andern sind Reinigungsbäder in der Präriekultur so weit verbreitet und von so all-
gemeiner Natur, daß ihr Vorkommen im Peyote-Kult ohne weiteres als Angleichung an alte
Bräuche zu erklären ist.
Im Kult-Tipi linden wir dann als neue Zeremonie das „Ziehen einer Linie auf der Ober-
fläche des Erdaltars (s. Abb.).“ Der Kultleiter preßt diese Linie mit dem Daumen ein,
nachdem er den Peyote-Fetisch auf den Altar gelegt hat. Er zieht sie zuerst nach rechts und
dann nach links, soweit er von seinem Platz aus reichen kann. Die Teilnehmer zu beiden
Seiten des Leiters führen sie dann bis an das Ende der „Hörner“ des Altars fort1. Diese Linie
stellt bei den Arapaho den Pfad dar, auf dem die Gedanken der Anbeter zu dem Peyote-
Fetisch wandern1 2, eine Deutung, die ihrem ganzen Wesen nach durchaus in die traditionelle
Denk- und Vorstellungsweise der Präriestämme hineinpaßt, die überall in ihrer symbolischen
Ornamentik abstrakte Vorgänge auf diese Weise konkretisieren3.
Weiterhin wird bei den Arapaho und Comanche, sowie in dem zweiten Kiowa-Bericht
das zeremonielle Rauchen von Maishülsenzigaretten vor dem Genüsse der ersten Peyote
erwähnt. Wir haben dieses Moment schon in Verbindung mit dem Kult der Kiowa diskutiert,
wo es zusammen mit den Heilzeremonien auftrat. Neu ist hier also nur das Rauchen als
Auftakt zu dem Peyote-Genuß. Dies entspricht aber dem traditionellen Brauch der Prärie-
stämme, jede größere, mit einer „Medizin“ verbundene Kulthandlung durch eine gemein-
same Rauchzeremonie einzuleiten4.
In denselben Zusammenhang gehört das nächste Moment, die Weihe und Reinigung
des Peyote-Beutels, der Kultgegenstände (Fächer, Stab usw.), der Musikinstrumente, des
Feuerwarts, der Nahrung usw. in Zedernweihrauch. Abgesehen von dem ersten Kiowa-
Bericht finden wir dieses Moment im Peyote-Kult aller fünf Präriestämme erwähnt. Die
Bedeutung des Zedernweihrauches haben wir schon in Verbindung mit dem Salbei (s. o. S.
111) besprochen, und es mag daher genügen, hier noch einmal darauf hinzuweisen, daß er zu
dem Ritual nahezu jeder Zeremonie der Präriestämme gehört und von so allgemeiner Be-
deutung ist, daß er in jeden Zusammenhang hineingebracht werden kann. Bei den Iowa
scheint die Weihrauchzeremonie eine christliche Interpretation erhalten zu haben, da dort
die Teilnehmer während des Verbrennens der Zedernnadeln knien. Dieses Moment kommt
im Peyote-Kult der Iowa auch an anderer Stelle mehrfach vor, wie überhaupt der Kult der
Iowa in stärkerem Maße als die Kulte der anderen, von uns untersuchten Stämme christliche
Momente aufweist. So liest der Kultleiter der Iowa aus der Bibel vor, hält moralische An-
sprachen und fordert schließlich zur Beichte auf, die ganz im christlichen Sinne als Sünden-
bekenntnis vor Christo aufgefaßt wird5. Am Schluß dieser Zeremonien spricht der Leiter
sogar eine Art christliches Glaubensbekenntnis, indem er sagt: „Wir beten unseren eigenen,
wahren, lebenden Gott an, Jesum Christum. Glaubt an ihn, bereut und seid getauft im
Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Wie weit auch diese Zeremonie
nur eine christliche Neu-Interpretation alter Bräuche darstellt, läßt sich auf Grund der vor-
liegenden Angaben nicht entscheiden. Die öffentliche Beichte ist jedoch den traditionellen
Kulten der Präriestämme nicht fremd; sie ist allerdings als Beichte der Frauen auf einige
nördliche Präriestämme (Crow, Blackfoot) beschränkt6 und hat wie die zitierten Stellen
1 Kroeber a, S. 401.
2 Kroeber a, S. 401.
3 Kroeber d, S. 309, 311.
4 Vgl. Kroeber a, S. 164, 198; Wissler f, S. 248.
Skinner a, S. 724 If. Die Beichtaufforderung lautet: “I want
all of you to rise and confess your sins. You know what
Jesus has done for you; tell us, if you would repent.” So
the members get up, one after another and testify that they
have given up drinking, smoking, chewing, adultery etc.
And all this Jesus has done for me,’ is the conclusion of
each statement.
6 Lowie c, S. 31: “If, in spite of her reputation, she (the woman
who was appointed for the office of a tree notcher) was not
perfectly chaste, she would openly confess her deficiency,
being afraid to deceive the people, for her acceptance bore
the character of an oath, and deception would bring bad
luck to the camp. Ferner: Wissler g, S. 236, Tongue
slicing ceremony; After all the women have the tongues
130
GÜNTER WAGNER
erkennen lassen —■ dort keineswegs den ethischen Charakter, der in der christlichen Beicht-
zeremonie der Iowa zum Ausdruck kommt. Ob wir unter diesen Umständen das Moment der
Beichte bei den Iowa als Angleichungsprodukt zwischen indianischen Zeremonien und einer
christlichen Rite auffassen dürfen, erscheint also noch fraglich. Noch weniger können wir
Beziehungen zu der Beichtzeremonie der Huichol-Indianer (s. o. S. 91) annehmen, da beide
Zeremonien, von der Idee der Beichte abgesehen, weder gemeinsame Züge aufweisen, noch
der kontinuierliche Verbreitungsweg nachgewiesen werden kann, da die Beichte bei den
vermittelnden Kiowa offensichtlich fehlt. Wie unser Diagramm (s. o. S. 61) zeigt, haben die
christlichen (europäisch-amerikanischen) Einflüsse auf jede der Kulturprovinzen eingewirkt,
und es bestehen daher rein theoretisch für die Herkunft der christlichen Momente des Peyote-
Kultes bei jedem Stamme zwei .gleich wahrscheinliche Möglichkeiten; Entweder sind sie zu-
sammen mit dem Akkulturationsprodukt der vorhergehenden Phase übertragen worden,
oder sie beruhen bei jedem Stamme auf unmittelbarem, christlichem Einfluß. Für unser
Problem ist die jeweilige Entscheidung dieser Frage jedoch insofern irrelevant, als wir es in
beiden Fällen mit demselben Problem der Angleichung von Momenten aus anderen Kultur-
provinzen an die traditionelle Kultur der entlehnenden Provinz zu tun haben.
Eine weitere neue Zeremonie der Arapaho besteht darin, daß der Feuerwart nach seiner
Rückkehr vom Wasserholen an derselben Stelle im Tipi, an der er vorher gestanden hat,
die Figur eines Kreuzes zeichnet. Auf diese Figur stellt er das Wasser, bevor er es zum
Kultleiter hinüberträgt. Bei den Tagesanbruchszeremonien tritt dann das Kreuz nochmals
in Erscheinung, indem die Frau des Kultleiters etwas von dem Wasser, das sie ins Zelt
bringt, an derselben Stelle in Kreuzform ausgießt. Da keine Angaben über die Bedeutung
dieser Zeremonie vorliegen, müssen wir die Frage ihrer Herkunft zunächst noch offen lassen.
Das Ornament des Kreuzes als Darstellung des Morgensterns oder auch als Symbol für die
vier Himmelsrichtungen ist in der Symbolik der Arapaho jedoch so weit verbreitet1, daß
auch hier eine Angleichung an traditionelle Vorstellungen anzunehmen ist, mögen sie in
diesem besonderen Falle christlich gedeutet sein oder nicht. Eine Beziehung dieser kreuz-
förmigen Figur zu dem Flolzkreuz im Peyote-Kult der Tarahumare ist ebenso unwahr-
scheinlich wie eine Verbindung der Beichte der Iowa mit der der Huichol, und zwar aus den-
selben Gründen.
Bei den Comanche und Arapaho, sowie in dem zweiten Kiowa-Bericht Mooneys verläßt
der Kultleiter nach Mitternacht das Tipi, betet draußen und bläst, nach jeder der vier
Himmelrichtungen gewandt, auf der Adler knochenpfeife. Diese Zeremonie stellt äußer-
lich eine Variation der oben (S. 116) besprochenen Zeremonie des Feuerwartes dar, da sie
aber nicht mit dem Zwecke des Wasserholens verbunden ist, muß sie einen anderen Sinn
haben. Der Bericht in Radins Buch gibt als Deutung dieser Zeremonie für die Arapaho an,
das Blasen der Pfeife nach den vier Richtungen solle aller Welt die Geburt Christi ankün-
digen, die um Mitternacht stattgefunden habe. Auch hier handelt es sich wieder um eine
christliche Neu-Interpretation einer traditionellen Zeremonie, die — wie wir gesehen haben -—
in ihrer äußeren Form zu dem allgemeinen Bestand vieler Präriekulte gehört und die in
ihrer Deutung als Schrei des Adlers noch in dem Bericht Kroebers über den Peyote-Kult der
Arapaho rein indianischen Charakter hat.
Von den Arapaho werden dann noch eine Reihe weiterer Momente in Verbindung mit
den Tagesanbruchszeremonien berichtet. Diese Zeremonien beginnen damit, daß der Leiter
the woman with the painted tongue makes a confession,
saying, “Sun, I have been true to my husband ever since
I have been with him and all my life. Help me for what I say
is true. I will skin this tongue without cutting a hole in or
cutting my fingers. “The next woman also makes a con-
fession and so on.” — Da die öffentliche Beichte sonst bei
den Präriestämmen nicht vorkam, dafür aber allgemein war
bei den Athapasken (Petitot, S. 435) Irokesen (Morgan,
S. 187) und Eskimo (Boas b, S. 121), besteht die Möglichkeit,
daß die Beichte bei den Crow und Blackfoot auf athapas-
kischen Einflüssen beruht.
Vgl. Kroeber a, S. 429, 433, 439 usav.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
J3i
die Otternfellkappe aufsetzt, die die Nacht hindurch auf dem Altar gelegen hat. Er
bläst dann wieder auf der Adlerknochenpfeife und singt das sogenannte Wasserlied viermal.
Nach dem ersten Lied öffnet der Feuerwart die Tür, und eine Frau betritt das Tipi mit einem
Krug Wasser, von dem sie etwas auf das Kreuz gießt, das der Feuerwart um Mitternacht
gekennzeichnet hat. Die Frau nimmt zwischen dem Eingang und dem Krug mit Wasser
Platz, während der Kultleiter nach Beendigung des Wasserliedes ein Dankgebet spricht und
ein Zedernopfer bringt. Nach dieser Zeremonie reicht der Kultleiter der Frau eine Trink-
schale, mit der sie Wasser aus dem Krug schöpft und davon trinkt. Dann wird das Wasser
im Kreise herumgereicht, und es folgen dieselben Zeremonien, die wir schon oben in Ver-
bindung mit dem Kult der Kiowa besprochen haben.
Eine vollständige Deutung dieser Zeremonien kann noch nicht gegeben werden; vor
allem ist die Bedeutung der Frau noch unklar. Für den ersten feil der Zeremonien gibt
Radin eine christliche Deutung: Das Blasen der Pfeife stellt die Trompete am Tag des
jüngsten Gerichtes dar, an dem Christus erscheinen wird, seine Krone in vollem Glanze
tragend. Die Krone wird durch die Otternfellkappe dargestellt1.
Die Einzelmomente dieser Zeremonie sind alle traditioneller Natur: die Pfeife, die
Otternfellkappe, das Wasser. Der Kern der Zeremonie, der Gesang des Morgenliedes und der
Genuß des Wassers, ist von den Kiowa übertragen worden. Bei dem Fehlen aller näheren
Angaben muß die Frage zunächst noch offen bleiben, ob die christliche Deutung eine Neu-
Interpretation eines aus anderen Motiven heraus entstandenen Zeremomalkomplexes dar-
stellt, oder ob sie von Anfang an, etwa als Vision, den Anlaß zur Einführung dieser Zere-
monien in den Peyote-Kult gebildet hat. In jedem Falle handelt es sich aber nicht um ein
völlig neues Zeremoniell, sondern nur um eine neue Kombination traditioneller Momente.
Als Schlußzeremonie wird dann noch von den Arapaho und Iowa ein zeremonielles
Waschen der Hände und des Gesichtes erwähnt, das unter anderem dazu dient, die zere-
monielle Bemalung zu entfernen. Zu diesem Zwecke machen Wasser, Handtuch, Spiegel
und Kamm die Runde im Zelt. Auch diese Zeremonie scheint eine Angleichung an die
traditionellen Kulte darzustellen, indem ihr die Idee zugrundeliegt, die gesamte Peyote-
zeremonie in der umgekehrten Reihenfolge abzuschließen, in der sie begonnen worden ist.
Es ist daher nicht nur die Bemalung, sondern auch die Entfernung der Bemalung einem be-
stimmten Zeremoniell unterworfen. In denselben Zusammenhang gehört auch das zere-
monielle Verlassen des Zeltes in der umgekehrten Reihenfolge, in der es betreten worden ist,
so daß der Kultleiter das Zelt als Letzter verläßt.
Während bei den Kiowa das Peyote-Zelt unmittelbar nach dem Verlassen abgerissen
wird, findet bei den Pawnee nach der Festmahlzeit ein erneutes Zusammensein im Tipi
statt, das aber mehr geselliger als zeremonieller Natur ist. Dieses Moment scheint eine
Auflösung des strengen Zeremoniells anzudeuten, da es in den traditionellen Kulten all-
gemeiner Brauch war, zeremonielle Stätten rür alles Nicht-Zeremonielle zu tabuieren2, ein
Brauch, der auch noch in dem schnellen Abreißen des Peyote-Zeltes der Kiowa fortwirkt.
Damit sind wir am Ende unserer Diskussion der Einzelmomente der zweiten Phase der
Entwicklung und Verbreitung des Peyote-Kultes. Sie hat gezeigt, daß dieselben Prozesse,
die wir bei der Entwicklung des Kultes der Kiowa festeilen konnten, auch bei den übrigen
Präriestämmen vorherrschten. Auch hier sind es die Erscheinungen der Übertragung und
Angleichung, nur mit dem Unterschied, daß bei der Entwicklung des Kultes innerhalb
der Präriekultur die Übertragung des Kultes von Stamm zu Stamm vollständiger ist, als
bei der Übertragung des Kultes aus Mexiko in die Prärie. Die kulturelle Übereinstimmung
1 “The purpose of blowing the flute just at that time is putting on of the otter-skin cap represents the crown.”
to represent the trumpet of the Day of Judgement, when (Radin a. S. 417).
Christ will appear wearing His crown in all glory. The 2 Vgl. z. B. Fortune, S. 165!.
l8 Baessler-Archiv.
132
GÜNTER WAGNER
zwischen den verschiedenen Präriestämmen ist also so groß, daß eine fast vollständige Über-
tragung des Rituals vön Stamm zu Stamm möglich war. Wie weit Lücken in der Über-
tragung bestehen, wird erst nach einer vollständigeren Materialsammlung zu erkennen sein.
Erst dann wird auch die Frage zu entscheiden sein, ob die Unterschiedsschwellen zwischen
den verschiedenen Stammeskulturen innerhalb der Prärie groß genug sind, um bei den je-
weiligen Übertragungen eine Auswahl der dargebotenen Momente vorzunehmen, die auf
demselben Prinzip beruht, das wir bei der Übertragung des mexikanischen Kultes festgestellt
haben, oder ob die Verschiedenheiten im Hinblick auf den Kulturwandel unterschwellig
sind, d. h. in keinen Beziehungen zu dem Auswahlvorgang der Übertragung stehen.
C. DER AUFBAU DES PEYOTE-KULTES BEI DEN PRÄRIESTÄMMEN.
Mit der Diskussion der Einzelmomente haben wir zwar die Angleichungsvorgänge im
einzelnen aufgezeigt, es bleibt aber noch zu untersuchen, nach welchen Gesichtspunkten
die Angleichung an die alten Kulte erfolgt ist. Sind doch aus der Fülle der traditionellen
Zeremonien der Prärie nur ein kleiner Teil in das Ritual des neuen Kultes übernommen
worden! Ist nun die Auswahl dieser Zeremonien zufällig oder liegt auch ihr — wie der
Auswahl der übertragenen Momente — ein Prinzip zugrunde, das die Aufnahme gerade
dieser Momente in den Peyote-Kult bedingt hat ?
Gehen wir von dem aus Mexiko übertragenen Ritual aus1, so können wir aus diesem
eine Reihe von Momenten herausgreifen (Peyote-Fetisch, Kultleiter, Kultfeuer, nächtliche
Veranstaltung des Festes und Rauchzeremonie), die eine große Ähnlichkeit mit den soge-
nannten Medizinbündel-Zeremonien der Präriestämme aufweisen (s. o. S. lozff.). Diese
übertragenen Momente, die in ihrer Prärieform selbst schon Angleichungen an die Bündel-
zeremonien zeigen, haben nun als Leitmomente für die Annahme einer Reihe weiterer
Zeremonien gedient, die die Angleichung des Rituals an die Bündelzeremonien vervoll-
ständigt haben: So wurden alle Bündelzeremonien in einem Tipi abgehalten, dessen Inneres
dieselbe Anordnung aufwies wie das Peyote-Tipi, mit einem Weihrauchaltar und dem
Platz des Kultleiters an der Westseite. Der Platz, auf dem der Peyote-Fetisch ausgestellt
wird, entspricht dem des Medizinbündels, der Peyote-B eutel der Tuchumwicklung jeder
Medizin. Wie bei dieser ist das Öffnen des Beutels und die Ausstellung des Peyote-Fe-
tisches mit Gebeten und Gesängen, sowie Weihrauchopfern verbunden. Ebenfalls in
Analogie zum Medizinbündel wird der Peyote-Fetisch auf eine besondere Unterlage gelegt,
um seine Berührung mit dem Boden zu vermeiden. Vor jedem Bündelaltar wurden eine
Anzahl sakraler Gegenstände ausgelegt, denen im Peyote-Kult die Bibel, der Stab, der
Fächer, die Otternfellkappe usw. entsprechen. Ferner waren Gesang und Gebet, sowohl des
Kultleiters wie der Teilnehmer, allgemeine Bestandteile der Bündelzeremonien; sie ent-
sprachen auch in ihren Einzelheiten, wie in der Vierzahl2 und den Weihebewegungen,
die Wissler als Empfangszeichen bezeichnet3, dem Peyote-Ritual. Wie jede Medizin hat
schließlich auch der Peyote-Fetisch seine Ursprungslegende4, die Bestandteile des Rituals
erklärt und in ihren Einzelheiten weitgehend den Ursprungmythen der Medizinbündel ent-
spricht5. Neben diesen Übereinstimmungen vorhandener Zeremonien zeigt sich die An-
gleichung des Peyote-Rituals an die Bündelzeremonien auch in dem Fehlen eines Momentes,
nämlich des Gruppentanzes (vgl. o. S. 107), der in keiner Bündelzeremonie vorkam,
wodurch sich diese wesentlich von den Zeremonien der Tanzbünde und auch des Sonnentanzes
unterschieden.
1 Vgl. die Listen auf S. 99, 103, 104.
2 Vgl. Wissler f, S. 247.
3 Vgl. Wissler f, S. 247.
4 Vgl. Lowie a, S. 618.
5 Vgl. im einzelnen die jeweilige Diskussion der hier gesperrt
angeführten Momente.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PE YOTE-KULTES
*33
Wir haben damit schon eine beträchtliche Anzahl der „neuen“ Momente des Peyote-
Rituals zu einer Gruppe zusammenfassen können, für deren Einführung in den Kult das
traditionelle Schema (pattem) der Bündelzeremonien als Vorbild gedient hat. Wie weit diese
Angleichung an die Bündelzeremonien auch in der Organisation und in der Lehre des Kultes
gegangen ist, läßt sich aus dem vorhandenen Material noch nicht erkennen. Da die mit dem
Eigentum und der Übertragung (transfer of ownership) der Bündel verbundenen Bräuche
in engen Beziehungen zu der soziologischen Struktur der Präriestämme standen, sind jedoch
gerade von einer Untersuchung dieses Problems interessante Aufschlüsse über die Art und
Weise der Akkulturation zu erwarten.
In diesem Angleichungsmechanismus glauben wir nun das Prinzip sehen zu dürfen, das
bei den Präriestämmen der Einfügung neuer Zeremonien im Anschluß an die aus Mexiko
übertragenen Momente des Peyote-Kultes zugrundeliegt. Theoretisch ausgedrückt läßt es
sich auf folgende Formel bringen: Ein fremdes, von außen an eine Kulturprovinz heran-
tretendes Moment A weist Ähnlichkeit mit einem Moment B auf, das zu dem Bestände der
Kulturprovinz gehört. Auf Grund dieser Ähnlichkeit wird das Moment A in den Kultur-
bestand aufgenommen und tritt an denselben Platz wie B. Das Moment B ist aber — aus
hier zunächst nicht interessierenden Ursachen — als Bestandsstück eines strukturhaften
Gebildes (eines Schemas = pattem, vgl. Anm. i) mit den anderen Bestandstücken
dieser Struktur verbunden. B existiert also nicht für sich, sondern stets in Verbindung mit
C, D, E, F usw. Das Moment A wird nun auf Grund seiner Ähnlichkeit mit B in diese
Struktur aufgenommen, es wird also mit B identifiziert und verbindet sich ebenfalls mit C,
D, E, F usw. (auf Grund der Strukturbeziehung zwischen B und C, D, E, F usw.), zu denen
es ursprünglich keinerlei Beziehungen hatte. B übernimmt also in diesem Angleichungs-
prozeß die Funktion eines Leitmomentes, es vermittelt die Beziehung zwischen A und C, D,
E, F usw. In dieser Weise können mehrere Momente strukturhaft miteinander verbunden
werden, ohne die geringste direkte Sinnbeziehung zueinander zu haben1.
Es bleiben nun noch eine Reihe von Momenten, die nicht mit den Bündelzeremonien
im Zusammenhang stehen. Dies sind die Mitternachts- und lagesanbruchszeremonien, sowie
das Zeremonial-Frühstück. Über diese Zeremonien läßt sich vorerst weiter nichts sagen, als
daß sie sich um die aus Mexiko übertragenen Momente herumgruppiert haben und, soweit
das Ritual in Frage kommt, überwiegend an traditionelle Präriekulte angeglichen worden
sind, während die Lehre teilweise den traditionellen Wegen folgt, zum größeren Teil aber aus
christlichen Neu-Interpretationen des indianischen Rituals besteht. Diese Tatsache zeigt,
daß auch der Einfluß der christlichen (europäisch-amerikanischen) Kulturschicht demselben
Auswahlprinzip unterworfen ist, das wir bei der Übertragung des mexikanischen Kultes
festgestellt haben: Von den christlichen Einflüssen wird nur das angenommen, was sich zu
den alten Kulten in Beziehungen bringen läßt und was sich in unmittelbarem Anschluß an das
existierende, konkrete Ritual verstehen läßt. Wie weit sich etwa in der Beichtzeremonie und
dem Glaubensbekenntnis der Iowa oder in den von einigen Stämmen angenommenen christ-
lichen Liedern2 schon Loslösungen von der indianischen Denk- und Vorstellungsweise finden,
1 Auf diesen Mechanismus und selbst seine Bedeutung im
Peyote-Kult hat schon Lowie hingewiesen; vgl. Lowie a,
S. 620: “The pattern-principle is also of the greatest
value in illuminating the precise happenings during the
process of diffusion. It has been shown in another section,
that a borrowed ceremony, even when bodily adopted, be-
comes different, because it originally bore definite relations
to other cultural features of the transmitting tribe; and, un-
less these additional features happen to exist in the borro-
wing group, the same unit must assume a different cultural
fringe. What happens in many, perhaps in the majority of,
18*
such cases, is, that the borrowed elements are fitted into
conformity with the pattern of the borrowing tribe .... To
Radin we are indebted for a suggestive investigation of the
mechanism of borrowing with special reference to the
selective and asimi 1 ative influences exerted by the reci-
pient culture on the borrowed features.” (Vom Vcrf. gesperrt).
2 Skinner gibt fur die Iowa folgende Peyotc-Lieder an: “Jesus
way is the only way.” — “Saviour Jesus is the only Sa-
viour.” — Oh Lord, Lord, Lord! It is not everyone who
says that who shall be saved.” — “I know Jesus now.” —
“You must be born again,” (Skinner a, S. 724ff.).
134
GÜNTER WAGNER
läßt sich ohne methodisch komplizierte psychologische Untersuchungen nicht entscheiden,
da die übernommenen christlichen Formeln nichts darüber aussagen, wie ihr Inhalt ver-
standen wird. Soweit jedoch unsere Betrachtungsweise ein Licht auf diese Frage wirft,
deutet die enge Anlehnung der christlichen Lehre an indianisches Ritual darauf hin, daß diese
noch in starkem Maße in indianischen Sinne verstanden wird.
3. PHASE: DER KULT BEI DEN ÖSTLICHEN WALDSTÄMMEN.
Im Unterschied zum Peyote-Kult der Präriestämme weist der Kult in seiner dritten
Phase bei den Stämmen des östlichen Waldlandes keine, sich über das ganze Gebiet er-
streckende, typische Kultform auf. Dies erklärt sich aus der Ungleichartigkeit der geschicht-
lichen Vorgänge, denen die verschiedenen östlichen Stämme während der letzten siebzig Jahre
ausgesetzt waren. Während ein Teil dieser Stämme (z. B. die Winnebago und Menomini) in
seinen alten Wohngebieten blieb, wurde ein anderer Teil (Delaware, Sac und Fox usw.) in Okla-
homa unter den Präriestämmen angesiedelt (vgl. o. S. 82, Anm. 2) und hatte sich zu Beginn
der modernen Entwicklung des Peyote-Kultes schon weitgehend der Kultur ihrer neuen Nach-
barn angeglichen, beziehungsweise die alte Kultur aufgegeben. Im ganzen haben folgende
Stämme der östlichen Kulturprovinz den Peyote-Kult von den Prärie-Indianern entlehnt:
1. Delaware (Lenape)
2. Shawnee
3. Kickapoo
4. Potawatomi
5. Sac und Fox
6. Winnebago
7. Menomini.
Von diesen sieben Stämmen liegen Daten über den Peyote-Kult nur für die Delaware,
Sac und Fox und Winnebago vor. Bei den Menomini scheint der Kult nur vereinzelt in
Familien vorzukommen, die in engeren Beziehungen zu den Winnebago stehen1, so daß anzu-
nehmen ist, daß ihr Kult weitgehende Übereinstimmungen mit dem der Winnebago zeigt.
Betrachten wir zunächst wieder die übertragenen Momente, so ergibt sich für drei Stämme
folgendes Bild:
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Momente: Delaware2
1. Tipi als Kulthaus ..............................,.................... X
2. Östl. Eingang des Tipis ............................................ X
3. Feuer in Mitte des Tipis............................................ X
4. O förmige Anordnung der Feuerhölzer ................................ X
5. Halbmondförmiger Erdaltar .......................................... X
6. Linie auf dem Erdaltar ............................................. X
7. Halbmond aus Asche..................................................
8. Salbei ................................................................... X
9. Trommel................................................................... X
10. Rassel .................................................................... X
11. Adlerknochenpfeife...................................................
12. Federfächer .............................................................. X
13. Zeremonialstab ............................................................ X
14. Peyote-Fetisch auf der Mitte des Erdaltars ................................ X
15. Besondere Unterlage für d. Fetisch ........................................ X
16. Platz des Leiters westlich vom Altar....................................... X
17. Plätze der Kulthelfer zu beiden Seiten des Leiters ........................ X
18. Platz des Feuerwarts nördlich vom Eingang.................................. X
Sac u. Fox3 Winnebago4
X
X
X (X)
X
X (X)
X
X
X
X X
X X
X
X X
X X
X (X)
X
X
X
1 Skinner c, S. 24.
2 Harrington, S. 185 ff.
3 Nach Beobachtungen des Verfassers.
4 Radin a, S. 388 ff.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
1 35
Diese Tabelle zeigt deutlich die unterschiedliche Übertragung des Kultes bei den Dela-
ware und Sac und Fox einerseits und den Winnebago andererseits. Während die beiden ersten
Stämme die Anordnung des Kultplatzes und die Kultgegenstände fast vollständig von den
Präriestämmen übernommen haben, finden wir bei den Winnebago zwei voneinander ab-
weichende Kultformen1: Die erste, im wesentlichen übertragene Form umfaßt alle in der
Tabelle mit einem Kreuz bezeichneten Momente, während die zweite Form nur den Zere-
monialstab, die Trommel, Rassel und den Fächer übernommen hat, im übrigen aber eine
schamanistische Heilzeremonie darstellt, die mit dem Peyote-Kult der Präriestämme nur
noch geringe Ähnlichkeit aufweist.
Ein entsprechendes Bild zeigt eine Tabelle der übertragenen Momente des Kultzere-
monidls2:
b) Kultzeremoniell.
Momente:
1. Teilnehmer betreten Tipi unter Anführung des Kultleiters.........
2. Ansprache und Gebet des Kultleiters..................................
3. Salbei u. andere duftende Kräuter zum Einreiben herumgereicht .......
4. Kultleiter reicht Tabak und Maishülsen herum ........................
5. Peyote wird herumgereicht ...........................................
6. Kultleiter weiht Kultgegenstände usw. in Zedernweihrauch.............
7. Weihebewegungen der Teilnehmer mit den Peyote .......................
8. Kultleiter singt Eröffnungslied, begleitet vom 1 rommelwart..........
9. Rund umgehender Gesang der Teilnehmer ...............................
10. Jeder Teiln. singt vier Lieder, begleitet von fromme] und Rassel .....
11. Kultleiter singt Mitternachtslied, begleitet vom 1 rommelwart ........
12. Der Feuerwart holt Wasser.............................................
13. Feuerwart stellt Wasser vor den Kultleiter ...........................
14. Kultleiter bläst auf der Adlerknochenpfeife ..........................
15. Kultleiter taucht die Pfeife ins Wasser...............................
16. Teilnehmer trinken das geweihte Wasser, das im Kreis herumgereicht wird.
17. Beichte der Teilnehmer ...............................................
18. Frau bringt vier Schüsseln mit Nahrung ins Zelt.......................
19. Kultleiter nimmt die Kultgegenstände auseinander......................
20. Kultgegenstände werden im Kreise herumgereicht .......................
21. Zeremonial-Frühstück; Die Schüsseln machen die Runde .................
22. Speiseopfer ..........................................................
23. Teilnehmer verlassen das Tipi im Gänsemarsch..........................
24. Festmahl im Freien....................................................
Delaware Sac u.
X
X X
X X
X
X X
X
X
X X
X X
(x) X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X X
X X
Winnebago
X
X
X
Die weitestgehende Übertragung des Präriekultes finden wir bei den Sac und Fox,
deren Kultzeremoniell fast vollständig mit dem der Arapaho übereinstimmt. Der Bericht
über die Delaware ist nicht sehr vollständig; es scheint aber, daß die Mitternachtszeremonien
dort tatsächlich fehlen und ebenso die Zeremonialmahlzeit, da der Abbruch der Kultver-
sammlung bei Morgengrauen ausdrücklich erwähnt wird. Die stärksten Abweichungen be-
gegnen uns wieder bei den Winnebago, die in der von Radin übermittelten Form des Kultes
von dem ganzen Zeremoniell der Präriestämme nur die Ansprache und das Eröffnungslied
des Kultleiters, sowie den im Kreise herumgehenden Gesang der Teilnehmer mit Begleitung
von Trommel und Rassel übernommen haben.
Bei allen drei Stämmen zeigen die übertragenen Momente gewisse Abweichungen von
ihren Vorbildern bei den Präriestämmen, die aber nicht groß genug sind, um sie als neue
Momente erscheinen zu lassen. So finden wir bei den Delaware für den Peyote-Fetisch eine
Unterlage von Federn an Stelle der Salbeizweige erwähnt und bei den Winnebago zwei
1 Die von Radin (Radin a, S. 415) mitgeteilte Kultform der
Arapaho lassen wir hier außer acht, da sie, wie ausdrücklich
erwähnt wird, noch nicht von den Winnebago als eigene
Kultform angenommen worden ist.
2 Eine tabellarische Darstellung der Kultorganisation ist
wegen fehlender Daten bei den Delaware und Sac und Fox
nicht möglich.
GUNTER WAGNER
136
Peyote-Exemplare als Fetische, von denen der eine als männlich und der andere als weiblich
angesehen wird. Die‘Peyote werden bei den Delaware in bereits zerstampftem Zustande
herumgereicht, und jeder Teilnehmer nimmt genug von der Masse, um acht Kugeln daraus
zu drehen. Ferner kommen, wie schon bei den Präriestämmen, Variationen in der Art des
Rundgesanges vor. Bei den Delaware reicht der Kultleiter nach dem Eröffnungslied den
Zeremonialstab seinem rechten Nachbarn und begleitet dessen Gesang auf der Pauke, so daß
der Gesang wie bei den Arapaho von links nach rechts herumzugehen scheint, während er bei
den Sac und Fox der entgegengesetzten Richtung folgt. Bei den Winnebago geht der Gesang
wieder von links nach rechts; bei jedem vierten Mann werden aber die Kultgegenstände
(1 rommel, Rassel und Stab) wieder an den Kultleiter zurückgegeben.
Ji.LJ.
Bei den anderen Momenten erstrecken sich die Abweichungen nicht auf das Zeremoniell,
sondern auf die Deutungen. So wird der halbmondförmige Erdaltar bei den Delaware als das
Grab Christi angesehen, während er bei den Sac und Fox das Wichita-Gebirge darstellen soll.
Entsprechend wird bei den Sac und Fox die Linie auf dem Altar als der Weg gedeutet, auf
dem in der Peyote-Legende das Mädchen umherirrt, um ihre verlorenen Brüder zu suchen.
(Vgl. o. S. n8f.). — Das Wasser in der Mitternachtszeremonie soll bei den Sac und Fox die
Wiedergeburt symbolisieren, während das Blasen der Adlerknochenpfeife die Vereinigung
filier Dinge um Mitternacht ankündigen soll, die der Wiedergeburt vorangeht (vgl. o. S. 116).
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
1 37
Das Feuer wird bei den Sac und Fox als Symbol des Lebens und als „Wort“ des Geistes
(spirit) gedeutet und der Feuerwart als symbolischer Vertreter Christi angesehen1.
Dieser kurze Überblick über die übertragenen Momente zeigt, daß die Winnebago als
der einzige, die Kultur der östlichen Stämme noch repräsentierende Stamm das Peyote-
Ritual der Präriestämme nicht als Ganzes übernommen haben. Da der Auswahlprozeß in den
von Radin übermittelten Berichten keinen Abschluß zeigt, sondern noch ein Nebeneinander
mehrerer Formen, ist eine Diskussion des Ergebnisses dieser Auswahl noch nicht möglich.
Die Entwicklung neuer Momente, die — soweit die bisher vorliegenden Daten erkennen
lassen -— in bemerkenswerterem Umfange nur bei den Winnebago stattgefunden hat, hat
ebenfalls noch nicht zu einer konstanten Kultform geführt, so daß wir von einer Unter-
suchung des neuen Akkulturationsproduktes bei den Winnebago noch absehen müssen. Für
unser Problem ist jedoch schon die Tatsache von Bedeutung, daß die Winnebago in der Ent-
wicklung einer neuen Kultform begriffen sind, und es wird das Problem einer späteren Unter-
suchung sein, ob sich bei den Winnebago derselbe Auswahl- und Angleichungsprozeß vollzieht,
den wir bei den Kiowa feststellen konnten. Für einige der neuen Momente hat Radin dieses
Problem bereits angeschnitten und ist dabei in der Tat zu solchen entsprechenden Ergeb-
nissen gekommen2.
SCHLUSS.
Zusammenfassung der Ergebnisse.
Die Untersuchung der Akkulturationsprodukte des Peyote-Kultes hat unsere zunächst
willkürliche Einteilung des modernen Entwicklungsprozesses des Kultes in drei Phasen im
wesentlichen bestätigt. Wir haben gesehen, daß der Kult bei seiner Verbreitung von der
mexikanischen Kulturprovinz in die Provinz der Prarie-Indianer einen weitgehenden Um-
wandlungsprozeß durchmachte, daß er innerhalb der Präriekultur dann ziemlich konstant
blieb, und daß er schließlich bei seiner Verbreitung in die nächste Kulturprovinz, die der
östlichen Stämme, wieder einem erneuten, grundlegenden Wandlungsprozeß unterworfen
wurde. Es besteht also eine Tendenz zu einer Korrelation zwischen den Kulturprovinzen
und den verschiedenen Formen des Peyote-Rituals, mit anderen Worten: jeder Kultur-
provinz entspricht eine besondere Form des Peyote-Kultes3.
Die vergleichende Untersuchung der Einzelmomente hat dann gezeigt, daß der Bildung
dieser Formen zwei Mechanismen zugrunde lagen, die wir — mit Sicherheit vorerst nur für
die Präriekultur — als „Auswahl des Ähnlichen“ (s. o. S. io8f.) und als „Angleichung
an vorhandene Schemata“ (s. o. S. 133L) erkannt haben. Diese beiden Mechanismen
bestimmen also die in unserem Falle vorherrschende Form der Akkulturation, sie bilden die
beiden Reaktionsweisen der entlehnenden Kultur gegenüber den von außen kommenden
Einflüssen.
1 Eine zusammenhängende Deutung einiger Kultgegenstände
die allerdings teilweise individueller Natur zu sein scheint,
erhielt der Verfasser als Erklärung eines von einem Peyote-
Anhänger der Sac und Fox gemalten Bildes (s. Abb.): „Die
Flügel des Adlers stellen den Mond (= Altar) dar, der
Schwanz die hölzernen Stäbe (Feuerhölzer), das Herz das
Feuer. Der waagerechte Teil des Kreuzes repräsentiert die
Mitternachtspfeife, der senkrechte Teil die Zigarette, die
Krone den Heiligen Geist. Das Adlerhaupt ist das Haupt
des Peyote-Kultleiters; er hält die Zigarette in seinem Mund
und betet. Die Klauen des Adlers (der Bart in der Mitte
des Bildes stellt gleichzeitig die Flügel eines zweiten Adlers
dar, dessen Klauen die Fahne halten) stellen den Holzscheit
dar, mit dem die Zigaretten angezündet werden. Die Flagge
bedeutet die Wiedergeburt. Das Gehirn des Adlers ist
Peyote (= Peyote-Fetisch), genau in der Mitte des Halb-
mondes (zwischen den Flügeln). Das Gesicht stellt Christus
dar; das Feuer kommt aus dem Munde Christi. Man betet
durch die Zigarette zum Heiligen Geist und zu Christo. Die
Herzen sind Symbole Gottes und Christi. Die Buchstaben
über dem Kopf des Adlers bedeuten: American Indian
Church Brother Association. Das ganze Bild stellt einen
heiligen Vogel dar; es ist die Grundlage des Lebens.”
2 Radin b, S. 20.
3 Abgesehen von den Verschiebungen bei den Sac und Fox
und Delaware, die durch ihre Wanderungen und den langen
Kontakt mit den Prärlestämmen nicht mehr als typische
Repräsentanten der östlichen Kulturprovinz angesehen
werden können.
GÜNTER WAGNER
U8
Was können nun diese Mechanismen zur Klärung des Begriffes der Kulturprovinz
beitragen, auf den — wie wir in der Einleitung ausführten — das Problem der Akkultu-
ration letzten Endes hinzielt ? Sowohl die Auswahl des Ähnlichen wie auch die Eingliederung
der ausgewählten Momente in vorhandene Schemata zeigen, daß der religiöse Lebenskreis1
der Präriekultur als ganzheitliches Gebilde auf äußere Einflüsse reagiert hat. Wäre er
nämlich nur ein Aggregat, eine Summe zusammenhangloser Elemente, so könnte er nicht
mit einer Auswahl und Assimilierung, sondern nur mit einer Addition der an ihn heran-
tretenden Einflüsse reagieren. Die ganzheitliche Reaktion ist aber ein Merkmal jeder Struk-
tur, und wir können daher als erste Eigenschaft des religiösen Lebenskreises der Prärie-
kultur dessen Strukturcharakter feststellen.
Es bleibt nun noch die Frage nach der Beschaffenheit dieser Struktur zu stellen. liegt
ihr eine Sinneinheit zugrunde, die als gestaltende und zusammenhaltende Kraft fungiert,
vergleichbar mit der Kraft eines magnetischen Feldes, die von Millionen verschiedener Ele-
mente nur die eisernen anzieht (entsprechend der Auswahl) und sie in immer gleich bleibenden
Linien anordnet (entsprechend der Angleichung an Schemata) ? Und weiterhin: Wäre diese
Sinneinheit als Ausdruck der psychischen Eigenart der Völker zu betrachten, die die Träger
dieser Struktur sind? und schließlich; In welchem Verhältnis stünde diese psychische
Eigenart zur biologischen Beschaffenheit und zur Umwelt ihrer Träger1 2?
Oder aber: Ist die Struktur ein historisch-gewordenes Gebilde, dessen Ganzheits-
charakter nicht auf einer Sinneinheit beruht, sondern auf der Wirksamkeit allgemeiner
psychologischer Prinzipien ?
Die bei der Entwicklung des Peyote-Kultes festgestellten Akkulturationsmechanismen
weisen uns darauf hin, daß wir es im vorliegenden Falle mit einer Struktur der letzten Art
zu tun haben, mit einem historisch-gewordenen Gebilde, zu dessen Verständnis wir keine
primär vorhandene Idee anzunehmen brauchen. Die psychologischen Prinzipien, die den
Strukturcharakter des religiösen Lebenskreises bestimmen, ergeben sich ohne weiteres aus
den beiden Akkulturationsmechanismen: Der Auswahl bei der Übertragung liegt das Prinzip
der „Ähnlichkeitsassoziation3“ zugrunde, während die Angleichungsvorgänge auf dem
psychologischen Prinzip der „Kontaktassoziation“ beruhen, das vermittels der Leit-
momente die Angleichung der übertragenen Momente an zusammenhängende Komplexe zu-
stande bringt4.
Freilich sind die beiden Prinzipien in dieser Form noch sehr allgemein gefaßt, und sie
müssen erst in ihren verschiedensten Auswirkungsmöglichkeiten untersucht werden, ehe
ihre genauen Funktionen im Kulturwandel erkannt werden können. Die Probleme, die bei
dem Versuche einer näheren Bestimmung dieser Prinzipien auf tauchen, scheinen uns im
wesentlichen die folgenden zu sein:
I. Was bedeutet Ähnlichkeit zwischen zwei Momenten ? Führen nur Ähnlichkeiten des
Ritus zu einem Angleichungsprozeß oder auch Ähnlichkeiten der Lehre, und in welchem Ver-
hältnis stehen Ritus und Lehre in diesem Angleichungsprozeß zueinander ? In der bisher
1 Wir wählen diesen Ausdruck in Anlehnung an F. Krause und
fassen die einzelnen Lebenskreise einer Kulturprovinz als
in ihrer Struktur der Gesamtprovinz entsprechende Teile auf.
2 Unter ,, Sinneinheit“ verstehen wir hier dasselbe, was
Wundt in seinen „Elementen der Völkerpsychologie“ als
„leitende Ideen“ den einzelnen Phasen der Kulturentwick-
lung zugrundegelegt hat.
3 Eine Parallele zu dieser Erscheinung ist in der individuellen
Psychologie die Milieu-Auswahl: Das Individuum zeigt die
Tendenz, überwiegend auf die Umwelteinflüsse zu reagieren,
die dem Milieu entsprechen, in dem es aufgewachsen ist
(vgl. Stern).
4 Beide Prinzipien laufen letzten Endes auf das von Vier-
kandt herausgearbeitete Grundprinzip der Stetigkeit im
Kulturwandel hinaus. — Auf dieses Prinzip weist auch
Goldenweiser hin: vgl. Goldenweiser b, S. 300: “The basic
formative factors of all civilization are these; creativeness of
the individual, which is responsible for the origination of
cultural forms; psychological and sociological inertia,
which determines institutionalism and cultural stability,
and the historic relations between human groups, which
bring stimuli für change and determine the dissemination
and exchange of ideas and commodities.”
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
139
durchgeführten Untersuchung ging die Angleichung überwiegend von Übereinstimmungen
des Ritus aus, jedoch zeigten die wenigen, bisher bekannten Beispiele der Auswahl von Mo-
menten der christlichen Lehre und deren Angleichung an alte Riten, daß auch Überein-
stimmungen der Lehre zu Angleichungen führen können. Das Verhältnis von Ritual und
Lehre zueinander wird dabei davon abhängen, ob die einzelnen Angleichungsvorgänge über-
wiegend vom Ritus oder von der Lehre ausgelöst werden. Im ersten Falle wird sich die
Lehre sekundär entwickeln, im zweiten Falle das Ritual. Diese Alternative beruht jedoch
auf einer theoretischen Abstraktion, der man in Wirklichkeit kaum in so ausgeprägter Form
begegnen wird. So haben wir in unserem Falle gesehen, daß z. B. der Peyote-Kaktus auf
Grund seiner Ähnlichkeit mit einer Medizin der Präriestämme den Angleichungsvorgang an
die Bündelzeremonien auslöste. Diese Ähnlichkeit beruhte aber nicht nur auf dem ähnlichen
Ritus, sondern auch auf der ähnlichen Bedeutung, die der Peyote-Kaktus bei den mexika-
nischen Stämmen und die Medizinbündel bei den Präriestämmen miteinander hatten. Ent-
sprechend wird sich daher auch die Angleichung des Peyote-Kaktus an die Medizinbündel-
zeremonien von Anfang an sowohl im Ritus wie in der Lehre vollzogen haben.
2. ist die Frage zu untersuchen, ob jedes Moment eines Schemas auf Grund seiner Ähn-
lichkeit mit einem von außen hinzutretenden Moment zum Leitmoment werden kann, oder
ob die verschiedenen Momente eines Schemas schon vor dem Kulturwandelprozeß einem
bestimmten Moment fest untergeordnet sind, das allein zum Leitmoment werden kann. Das
jeweilige Ergebnis dieser Frage scheint uns ein mittelbares Kriterium für die Festigkeit und
das Alter der Struktur zu liefern. Zeigt nämlich das Schema durch sehr langen Kontakt der
einzelnen Momente eine sehr feste Struktur, so werden auch scheinbar untergeordnete Mo-
mente bei einem Angleichungsprozeß zu Leitmomenten für das ganze Schema werden können,
während bei einer lockeren Struktur die Tendenz zu einer Sinnauswahl den Angleichungs-
mechanismus beeinflussen wird. Hier zeigen sich auch die Grenzen der Wirkungsfähigkeit des
Mechanismus, der selten den Kulturwandel allein beherrschen dürfte, sondern stets noch
von anderen Auswahl- und Angleichungsprinzipien begleitet sein wird. Es kommt uns hier
aber auch nur darauf an, zu zeigen, daß es einen, auf dem Prinzip des Kontaktes beruhenden
Akkulturationsmechanismus gibt, der verschiedene Momente zu einer Struktur verbinden
kann, ohne daß ihnen eine Sinnverwandtschaft zugrunde liegen muß.
Durch Wiederholung dieses Mechanismus nach rückwärts können wir nun auch die
übrigen Teile eines Schemas entstanden denken. Der Versuch der völligen Auflösung eines
Zeremonialkomplexes und damit der Struktur eines bestimmten Kulturinhaltes wird aller-
dings deshalb nur selten möglich sein, weil in den meisten Fällen die zeitliche liefe fehlt, um
Stufe für Stufe einer solchen Komplexbildung demonstrieren zu können. In der vorauf-
gegangenen Untersuchung konnten wir durch die Kenntnis der alten, traditionellen Zere-
monien und des neuen Kultes zwei solche Stufen aufzeigen. Ähnliches wird aber in allen
Kulturwandelerscheinungen möglich sein, die sich in der Gegenwart als Europäisierung bei
den primitiven Völkern vollziehen. Erst nach der Untersuchung von Akkulturationspro-
zessen in anderen Kulturen wird es möglich sein, zu entscheiden, wie groß die Bedeutung der
hier untersuchten, unschöpferischen Prinzipien im Kulturwandel überhaupt ist.
Die bereitwillige Aufnahme europäischen Kulturgutes, die wir, im Gegensatz zu der
konservativen Prärie-Kultur, in manchen primitiven Kulturen — besonders den afrika-
nischen — beobachten können, zeigt zum mindesten, daß dort neben der Stetigkeit auch
andere Prinzipien den Kulturwandel bestimmen.
i9
Baessler-Archiv.
140
GÜNTER WAGNER
Literaturnachweis.
Abkürzungen;
A.A. = American Anthropologist, Menasha, Wisconsin. B.A.E. == Bureau of American Ethnology, Washington.
A.M.N.H. = American Museum of Natural History, N. Y. F.M.N.H. = Field Museum of Natural History, Chicago.
Arlegui, P. : Crónica de la Provincia de Zacatecas, Teil IL
Benedict, Ruth Fulton: a) Vision in Plains Culture.
A.A. New Series, Bd. 24. 1922. — b) Feldnotizen über
Peyote Kult der Mescalero Apache, Neu Mexiko, August
I93I-
Beringer, Kurt: Der Meskalinrausch, seine Geschichte und
Erscheinungsweise. Monographien aus dem Gesamt-
gebiet der Neurologie und Psychiatrie, Heft 49; Berlin
I927-
Boas, Franz: a) Kultur und Rasse ; Berlin und Leipzig 1922.
— b) The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay.
Bulletin of the A.M.N.H. Bd. XV, 1907. — c) Primitive
Art; New York 1927. Instituttet for sammenlignende
Kulturforskning, Bd. 8.
Brinton, Daniel G.: Nagualism, Philadelphia 1894.
Campbell, Stanley: The Cheyenne Tipi. A.A. Bd. 17, 1915.
Clark, W. P. : Indian Sign Language; Philadelphia 1885.
Curtis, Edward S.: The North American Indian, Bd. 1:
Apache, Jicarilla and Navaho; New York 1907.
Deuchler, Walter: Juan de Cárdenas, ein Beitrag zur
Geschichte der spanischen Naturbetrachtung und Me-
dizin in Mexiko während des 16. Jahrhunderts. Zürich
!93°.
Diguet, Léon: a) Les cactacées utiles du Mexique; hrsg.
von Guillaumet; Paris 1928. — b) „Le Peyote“ et son
usage rituel chez les Indiens du Nayarit. Journal de la
Société des Américanlstes de Paris. Bd. IV. Paris 1907.
— c) La Sierra du Nayarit et ses Indigènes. Nouvelles
Archives des Missions scientifiques et Littéraires. Bd. IX.
Paris 1899.
Dlxon, Roland B.: The building of cultures. New York
1928.
Dorsey, G. A.: The Ponca Sun Dance. F.M.N.H. Anthro-
pological Series, Bd. 7, N0. 2. Chicago 1905. — b) The
Arapaho Sun Dance, the ceremony of the offering lodge.
Field Columbian Museum. Anthropolical Series, Bd. IV.
Chicago 1903.
Dorsey, J. O. : A study of Siouan cults. 11th annual report
of the B.A.E. S. 331—544. Washington 1894.
Ehrenreich, P.: Die Mythen und Legenden der südameri-
kanischen Ürvölker. Supplement zur Zeitschrift für
Ethnologie, Berlin 1905.
Fletcher, Alice C.: The Sun Dance of the Ogalala Sioux.
Proceedings, American Association for the advancement
of Science, 1882, S. 580—584; Salem 1883.
Fortune, R. F.: Omaha Secret Societies. Columbia Univer-
sity Contributions to Anthropology. Bd. XII. New
York 1931.
Frank, Paul: Feldnotizen über den Peyote-Knit der Mes-
calero Apache, Neu Mexiko, August 1931 -
Gilmore, Melvin Randolph: Uses of plants by the In-
dians of the Missouri River Region. 33rd. annual report
of the B.A.E. Washington 1911/12.
Goddard, Pliny Earle: a) Notes on the Sun Dance of the
Cree in Alberta. Anthropological Papers of the A.M.N.H.
Bd. XVI, New York 1921, S. 295—310. — b) Indians of
the Southwest. Handbook Series of the A.M.N.H. New
York 1927.
Goldenweiser, A.A.: a) The principle of limited possibili-
ties in the development of culture. Journal of American
Folklore. Bd. XXVI. 1913. — b) Early Civilization.
New York 1926.
Grinnell, George Bird: a) The Cheyenne Medicine Lodge.
A.A. New Series, Bd. 16. 1914. — b) The Indians of
today. New York 1911.
Harrington, M. R.: Religion and ceremonies of the Lenape.
Indian Notes and Monographs. New York 1921.
Hodge, Frederick W.: Handbook of the Indians North
of Mexico. B.A.E. Bulletin 30.
Holmes, William H.: Pottery of the ancient Pueblos.
4th annual report of the B.A.E. Washington 1892/93.
Kroeber, Alfred L.: a) The Arapaho. Bulletin of the
A.M.N.H. Bd. 18. New York 1907. — b) Anthropology.
New York 1923. — c) Ceremonial Organisation of the
Plains Indians of North America. 15. Internationaler
AmerikanistenkongreC. Quebec 1906. — d) Decorative
Symbolism of the Arapaho. A.A. New Series Bd. 3. 1901.
Lewin, Louis: Uber Anhalonium Lewinii und andere
Cacteen. Zweite Mitteilung. Separatdruck aus dem
Archiv fur experimentelle Pathologic und Pharmakologie.
Bd. XXXIV. Leipzig 1894.
Lindquist, G.E.E.: The Red Man in the United States.
New York 1924.
Linton, Ralph: a) The sacrifice to the Morning Star by
the Skid! Pawnee. F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 6.
Chicago 1922. — b) The Thunder Ceremony of the
Pawnee. F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 5. Chicago
1922. — c) Purification of the Sacred Bundles, a cere-
mony of the Pawnee. F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 7.
Chicago 1923. — d) Use of Tobacco among North-Ameri-
can Indians. F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 15.
Chicago 1925.
Lowie, Robert H.: a) Ceremonialism in North America.
A.A. New Series Bd. 16. 1914. — b) Societies of the
Kiowa. Anthropological Papers of the A.M.N.LI. Bd. XL
1916. — c) The Sun Dance of the Crow Indians. Anthro-
pological Papers of the A.M.N.H. Bd. XVI. 1921. —
d) The Sun Dance of the Wind River Shoshoni and Ute.
Anthropological Papers of the A.M.N.H. Bd. XVI.
Newr York 1921. — e) Plains Indian Age-Societies:
Historical and Comparative Summary. Anthropological
Papers of the A.M.N.H. Bd. XI. New York 1916. —
f) The Assiniboine. Anthropological Papers of the A.M.N.H.
New York 1909.
Lumholtz, Carl: a) Tarahumare Dances and Plant-Worship.
Scribner’s Magazine. Bd. XVI. No. 4. 1894. — b) Un-
known Mexico. 2 Bde. London 1903. — c) Symbolism
of the Huichol Indians. Memoirs of the A.M.N.H. Bd. III.
1900. — d) The Huichol Indians of Mexico. Bulletin of
the A.M.N.H. Bd. X. 1898.
ENTWICKLUNG UND VERBREITUNG DES PEYOTE-KULTES
MacLeod, William Christie: Priests, temples and the
practice of mummification in southeastern North America.
Atti del XXII congress© internazionale degli AmericanistI,
Bd. 2. Rom 1926.
Mason, J. Alden: Use of Tobacco in Mexico and South
America. F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 16. Chicago
T924-
McGuire, Joseph D. : Pipes and smoking customs of
American aborigines based on material in the U. S.
National Museum. Annual Report of the Smithsonian
Institution 1897. Bd. I, Washington 1899.
Methvin,Rev. J. J.: Andele, or the Mexican-Kiowa Captive.
Anadarko, Okla. 1927.
Mooney, James: a) The Mescal Plant and Ceremony.
Therapeutic Gazette, Bd. 20. 1896. — b) The Kiowa
Peyote Rite. Der Urquell, Bd. 1. Leiden 1897. — c) Ma-
nuskript aus seinem Nachlaß, aufbewahrt im Smithsonian
Institution, Washington D.C. : Die Kiowa-Peyote-
Zeremonie von 1918. — d) Calendar History of the Kiowa
Indians. 17th annual report of the B.A.E. Teil I. Wash-
ington 1895/96. — e) The Cheyenne Indians. Memoirs
of the American Anthropological Association. Bd. I,
Teil 6. Lancaster, Pa. 1905—07. — f) Zusammen-
fassung des Kiow'a-Peyote-Kultes. Manuskript aus seinem
Nachlaß (s. Mooney c). — g) Peyote-Kult der Comanche.
Manuskript aus seinem Nachlaß (s. Mooney c). — h) A
Kiowa Mescal Rattle. A.A. Bd. V. S. 64/65. 1892.
Morgan, Lewis H. : League of the Hodénosaunee, or
Iroquois. Rochester, N.Y. 1854.
Mûrie, James R.: Pawnee Indian Societies. Anthropolo-
gical Papers of the A.M.N.H. Bd. XL 1912—1916.
Newberne, Rob. E. und Burke, Chas. H. : Peyote, an
abridged compilation; Washington 1922.
Ortega, Padre José: Historia del Nayarit. Neue Ausgabe
1887.
Parsons, Elsie Clews: Spanish elements in the Cachina
cult of the Pueblos. Proceedings of the 23rd. Internatio-
nal Congress of Americanists, New York 1928, New York
1930.
Petitot, E.: Traditions indiennes du Canada Nord-Ouest.
Paris 1866.
Preuß, Konrad Theodor: Die Nayarit Expedition. Bd. 1:
Die Religion der Cora Indianer. Leipzig 1912.
Radin, Paul: a) The Winnebago Tribe. 37th annual report
of the B.A.E. Washington 1915/16. — b) A sketch of the
Peyote Cult. A study in borrowing. Journal of religious
psychology. Bd. 7, No. 1. Januar 1914.
Rouhier, Alexandre; La plante qui fait les yeux émer-
veillés: Le Peyotl. Paris 1927.
S afford, W. E. : a) An Aztec Narcotic. Journal of Heredity.
Bd. 6. S. 291—31.. Washington 1915. — b) Narcotic
plants and stimulants of the ancient Americans. Annual
Report of the Smithsonian Institution. Washington 19 ¡6.
Sahagun, Bernadino de: Histoire générale des choses
de la Nouvelle Espagne. Ins Französische übersetzt von
D. Jourdanet und R. Siméon. Paris 1880.
Scott, Hugh Lenox: Notes on the Kado or Sun Dance of
the Kiowa. A.A. New Series. Bd. 13. 1911.
Shonle, Ruth: Peyote, the giver of visions. A.A. New
Series. Bd. 27. 1925.
Skinner, Alans on: a) Societies of the Iowa, Anthropologi-
cal papers of the A.M.N.H. Bd. XI, 1915. — b) Kansa
r 41
Organisation. Papers of the A.M.N.H. Bd. XL 1915. —
c) Material Culture of the Menomini. Indian Notes and
Monographs. Museum of the American Indian. New
York 1921. — d) Observations on the ethnology of the
Sauk Indians. Bulletin of the Public Museum of the
City of Milwaukee. Bd. 5. No. 1. Milwaukee 1953.
Speck, Frank G.: Ethnology of the Yuchi Indians. Uni-
versity of Pennsylvania Publications. Bd. 1. N01.
Philadelphia 1909.
Spier, Leslie: a) Notes on the Kiowa Sun Dance. Anthro-
pological Papers of the A.M.N.H. Bd. 16. 1921. S. 437
bis 450- — b) The Sun Dance of the Plains Indians:
its development and diffusion. Anthropological Papers
of the A.M.N.H. Bd. 16. New York 1921.
Stern, William: Studien zur Personwissenschaft. I, Teil:
Personalistik als Wissenschaft. Leipzig 1930.
Strong, W. D.: The Indian tribes of the Chicago region.
F.M.N.H. Anthropology. Leaflet 24. Chicago 1926.
Swanton, John R.: a) Aboriginal culture of the Southeast.
42nd annual report of the B.A.E. Washington 1924/25.—
b) Early history of the Creek Indians and their neigh-
bours. Bulletin 73 of the B.A.E. Washington 1922. —
c) Social organisation and social usages of the Indians
of the Creek Confederacy. 42 nd. annual report of the
B.A.E. Washington 1924/25.
Thilenius, Georg: Museum und Völkerkunde. Festschrift
zum 50jährigen Bestehen des Hamburgischen Museums
für Völkerkunde. Hamburg 1928.
Thurnwald, Richard: Die Probleme einer empirischen
Soziologie. Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sozio-
logie 3. Jahrgang 1927.
Toro, Alfonso: Las plantas sagradas de losÄztecas sobre
el arte precortesiano. Proceedings of the 23rd. Inter-
national Congress of Americanists. New York 1928.
New York 1930.
Urbina, Manuel: El Peyote y el Ololluhqui. Anales del
Museo Nacional de Mexico. Bd. VII. 1900.
Vierkandt, Alfred: Die Stetigkeit im Kulturwandel;
Berlin 1908.
Wagner, Günter: Yuchi Tales. Publications of theAmeri-
can Ethnological Society. Bd. XIII. New York 1931.
Walker, J. R.: The Sun Dance and other ceremonies of the
Oglala division of the Teton Dakota. Anthropological
Papers of the A.M.N.H. Bd. 16. 1917.
Wissler, Clark: a) General discussion of Shamanistic and
Dancing Societies. Anthropological Papers of the
A.M.N.H. Bd. 16. 1916. — b) Diffusion of Culture in
the Plains of North-America. 15. Internationaler Amerika-
nistenkongreß. Quebec 1906. Bd. II. — c) The American
Indian. New York 1922. — d) North American Indians
of the plains. Handbook Series of the A.M.N.H. New
York 1927. — e) Societies and ceremonial associations in
the Oglala division of the Teton Dakota. Anthropolo-
gical Papers of the A.M.N.H. Bd. XL Teil I. New
York 1912. — f) Ceremonial bundles of the Blackfoot
Indians. Anthropological Papers of the A.M.N.H.
Bd. VII. Teil IT. New York 1912. — g) Blackfoot Sun
Dance. Anthropological Papers of the A.M.N.H. Bd. XVI.
New York 1921.
Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie, 9 Bände. Leipzig
1921.
19'
INHALTSVERZEICHNIS.
Einleitung.
r. Allgemeine Probleme.
Kulturprovinz 59. — Kulturwandel: Endogener Wandel und Akkulturation 59. — Übertragung und Angleichung 60. — „Entwick-
lung“ und „Verbreitung“ des Peyote-Kultes 60—Erklärend-historische, genetisch-verstehende und ethnologische Untersuchung
des Akkulturationsprozesses 61. — Ritual und Lehre 62. — Ziel der Untersuchung: Abhängigkeiten, Bedingtheiten und Ten-
denzen 62. — Methoden 62. ,
2. Spezielles zum Peyote-Kult.
a) Der Peyote-Kaktus.
Botanische Klassifizierung 63. — Aussehen 64. — Verbreitung 64. — Ethymologie 64. — Terminologie 65. — Therapeutische
Wirkungen 65. — Toxische Wirkungen : Allgemeines 65. — Wirkungen auf die Sinnesfunktionen 65. — Wirkungen auf die höheren
seelischen Vorgänge 66. — Rauschschilderungen: Bei mexikanischen Indianern 67. — Bei Indianern der Vereinigten Staaten:
Menomini 68. — Omaha 68. — Shawnee 68. — Winnebago 68. — Allgemeine Symptomatik 71. — Bedeutung der toxischen
Wirkungen für den Akkulturationsprozeß 72.
b) Geschichte des Peyote-Kultes.
Der Peyote-Kult im alten Mexiko (Teochichimeken, Azteken) 72. — Nagualismus 73. — Bericht Ortegas über die Cora 73. —
Neuere Entwicklung des Peyote-Kultes: Nordmexikanische Stämme (Huichol, Tarahumare) 74. — Entlehnung des Kultes
durch die Mescalero Apache 74. — Entlehnung durch die Kiowa 74. — Weitere Verbreitung in den Vereinigten Staaten 74. —
Verbreitungswege und Daten 75. — Verbreitung des Kultes um 1920 75- — Sichtung des Materials 77. — Gang der Unter-
suchung 78.
HAUPTTEIL:
I. Teil: Ursachen der Entwicklung und Verbreitung des Peyote-Kultes.
1. Die Heilwirkungen des Peyote-Kaktus.
Vier Ursachen der Entwicklung und Verbreitung 78. — Berichte über Heilwirkungen im alten Mexiko 79. — Bei den Kiowa 79. —
Bei den Winnebago 79. — Bedeutung der Heilwirkungen für die Werbung neuer Anhänger 79. — Grenzen der Bedeutung der
Heilwirkungen 79.
2. Die Rauschwirkungen des Peyote-Kaktus.
Rauschwirkung als Anreiz zur Wiederholung des Peyote-Genusses 80. — Als Anreiz zur Bekehrung neuer Anhänger 80. — Be-
deutung des Visionskomplexes der alten Präriereligionen für die Verbreitung des Peyote-Kultes 80. — Bedeutung der „Bereit-
schaft“ zur Annahme des Kultes 80.
j. Wirtschaftliche Veränderungen.
Allgemeine Auswirkungen des Reservationslebens 81. — Umwandlung der Wirtschaftsform der Prärie-Indianer 81. — Ge-
ringere Umw-andlungen bei den Stämmen des Südostens und Ostens 81. — Verfall der traditionellen Präriekultur als Folge der
wirtschaftlichen Umwälzungen 82. — Bedürfnis nach neuen Formen religiösen Lebens 82.
4. Soziologische Veränderungen.
Auflösung der politischen Stammeseinheit 83. — Entwicklung des Rassenbewußtseins 83. — Dreifache Bedeutung des Rassen-
bew'ußtseins für den Peyote-Kult: 1. Rein indianischer Charakter des Kultes 83. — 2. Intertribales Gepräge des Kultes 83. —
3. Aktive Verbreitung des Kultes 84. — Auflösung der sozialen Organisation innerhalb der politischen Stammeseinheit: Bei den
Prärie-Indianern 84. — Bei den östlichen Stämmen 84. — Bei den Stämmen des Südostens 84. — Bedürfnis nach neuen Formen
sozialen Lebens 85. — Erfüllung dieses Bedürfnisses: Durch die christliche Mission 85. — Durch den Peyote-Kult 85. — Ver-
schieden starke Verbreitung des Kultes bei den Prärie-Indianern, den östlichen und den süd-östlichen Stämmen als Folge der
verschieden starken wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen 85.
INHALTSVERZEICHNIS
43
II. Teil: Der Prozeß der Entwicklung und Verbreitung des Peyote-Kultes.
i. Phase: Der Kult bei den mexikanischen Stämmen.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Momente der Huichol: Bei der Wallfahrt 86. — Beim Fest 87. — Momente der Tarahumare: Bei der Wallfahrt
Fest 88. — Vergleich der Momente 89.
Beim
b) Kultorganisation.
Allgemeiner Charakter der Organisation bei den Huichol 89. — Einzelmomente der Huichol go. Allgemeines über die Or-
ganisation bei den Tarahumare 90. — Einzelmomente der larahumare 90. Vergleich der Momente 90.
c) Kultzeremoniell.
Momente der Wallfahrt der Huichol 91. — Momente des Peyote-Festes der Huichol 93. - Momente der Wallfahrt der Tara-
humare 93. — Momente des Peyote-Festes der larahumare 95. Vergleich der Momente 97.
2. PHASE: DER KLTLT BEI DEN PRÄRIESTÄMMEN.
A) Das Akkulturationsprodukt bei den Kiowa-Indiantrn.
1. Die Übertragung mexikanischer Momente.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Primäre und sekundäre Akkulturation 98. - Stellung der Kiowa-Indianer im Akkulturationsprozeß 98. - Behandlung der
Präriekultur als Einheit 98. - Mit dem mexikanischen Kult übereinstimmende Momente 99. - Beziehungen dieser Momente
zu den alten Präriekulten: Östlicher Eingang des Kultzeltes 99. - Kultfeuer 100.- Ost-westliche Anordnung der Feuerhölzer
101. - Peyote-F'etisch 101. - Platz des Kultleiters 102. - Platzanordnung der Kulthelfer 102. - Rasseln 102.
b) Kultorganisation.
Mit dem mexikanischen Kult übereinstimmende Momente 103. Diskussion dci Momente: Kultleitcr 103.
103. — Kultteilnehmcr 103. — Kulthelfer 103.
Kultveranstalter
c) Kultzeremoniell.
Mit dem mexikanischen Kult übereinstimmende Momente 104. - Diskussion der Momente: Nächtliche Veranstaltung des
Festes 104. — Gänsemarsch 104. — Zeremonielle Rundgänge 104. I abakzeremenie 105. Eröffnungslied 105. Zeremo-
nieller Wassergenuß 105. — Taufzeremonie 106. — Zeremonialfrühstück 106. Speiseopfer 107. Ergebnisse: Beteiligung
beider mexikanischer Kulte an der Übertragung 107. — Der kollektive Tanz nicht übertragen 107. Problem der Übertragung
bzw. unabhängigen Entwicklung des Kultes bei den Präriestämmen 107. Art der Übertragung 108. — Auswahlprinzip 108.
2. Die Angleichung an die Präriekultur.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Bei den Kiowa neu hinzugetretene Momente 10g. — Tipi. 109. Erdaltar 109. Aschenhügel 110.
nördlich vom Eingang m. — Salbe 111. Trommel m. Adlerknochenpfeife 112.
Platz des Feuerwarts
Adlerfederfächer 112.
b) Kultorganisation.
Schwache Ausprägung der Organisation 112. — Angleichung an das traditionelle Schema 113.
Wöchentliche Veranstaltung der Peyote-Feste 113.
Amt des Feuerwarts 113. —
c) Kultzeremoniell.
Neue Momente 114. - Betreten des Tipis durch den Feuerwart 114. - Versammlung der Teilnehmer vor dem Tipi 114. - Ver-
zehren von vier Peyotefrüchten 115. - Weihebewegungen über dem Feuer 115. - Rundgesang 115. - Mitternachtszeremonien:
Zeremonie des Wasserholens 116. - Mitternachtslied 116. - Mitternachtspfeife 116. - Heilungszeremonien 117. - Wakaholied
117. - Schlußlied 117. - Auseinandernehmen und Herumreichen der Kultgegenstände 118. - Abreißen des Tipis 118. - Fest-
mahl 118. — Ursprungsmythe 118. — Ergebnisse 119.
B) Die Akkulturationsprodukte bei den anderen Präriestämmen.
1. Die Übertragung des Kiowa-Kultes.
Unterschied zwischen dem primären und dem sekundären Akkulturationsprozeß 120. — Tabelle der übertragenen Momente:
Kultplatz und Kultgegenstände 120. — Kultzeremoniell 121. — Variationsbreite und Variabilität 121. — Variationsbreite der
übertragenen Momente: Ritual 122. Lehre 123.
2. Die weitere Entwicklung des Peyote-Kultes bei den anderen Präriestämmen.
a) Kultplatz und Kultgegenstände.
Unvollständigkeit der Daten 124. — Tabelle der neuen Momente 125. Feder als Feuerfächer 125. — Unterlage für Peyote-
Fetisch 125. — Feder neben dem Peyote-Fetisch 125. — Trinkschale 125. Otternfellkappe 126. — Zeremonialstab 126. —
Bibel 126. — Tischtuch 126.
r44
INHALTSVERZEICHNIS
b) Kultorganisation.
Neue Momente der Omaha 126. — Angleichung des Kultes an die „vision societies“ 127. — Bedingungen der Mitgliedschaft 127. —
Rangunterschiede 127. — Führer- und Dienstprivilegien 127.
c) Kultzeremoniell.
Langsamer Übergang von Varianten zu neuen Zeremonien 127. — Tabelle der neuen Momente 128. — Einleitende Mahlzeit
außerhalb des Kult-Tipis 128. — Zeremonialbad 128. — Ziehen einer Linie auf dem Altar 129. — Einleitende Rauchzeremonie
129. — Weihe und Reinigung der Kultgegenstände in Zedernrauch 129. — Christliche Zeremonien der Iowa: Knien der Teil-
nehmer 129. — Öffentliche Beichtzeremonie 129. — Glaubensbekenntnis 129. — Ziehen einer kreuzförmigen Figur 130. — Zere-
monie des Kultleiters nach Mitternacht 130. — Tagesanbruchszeremonien: Aufsetzen der Otternfellkappe 131. — Wasserlied
131. — Wasserzeremonie der Frau des Kultleiters 131. — Zeremonielles Waschen 131. — Erneutes Zusammensein im Tipi 131. —
Ergebnisse: Übertragung und Angleichung 131. — Problem der Unterschiedsschwelle innerhalb der Präriekultur 132.
C) Der Aufbau des Peyote-Kultes bei den Präriestämmen.
Problem der Auswahl der ,neuen' Momente 132. — Angleichung an den Medizinbündel-Komplex 132. — Leitmomente 133. —
Angleichung übertragener Zeremonien an das allgemeine Prärieschema 133. — Angleichung christlicher Einflüsse an indianisches
Ritual 133. ,
,7. Phase: Der Kult hei den östlichen Waldstämmen.
Allgemeines 134. — Übertragene Momente: Kultplatz und Kultgegenstände 134. — Kultzeremoniell 133. — Varianten 135. —
Neue Entwicklung des Kultes bei den Winnebago 1 37.
Schluß:
Zusammenfassung der Ergebnisse.
Korrelation zwischen den Kulturprovinzen und den Formen des Peyote-Kultes 137. — Zwei Akkulturationsmechanismen:
Auswahl des Ähnlichen und Angleichung an Schemata 137. — Strukturcharakter der Kulturprovinz 138. — Beschaffenheit der
Struktur: Hypothese der Struktur als Sinnganzheit 138. — Struktur als historisch-gewordenes Gebilde 138. — Ähnlichkeits-
und Kontaktassoziation 138. — Diskussion der Probleme dieser Prinzipien 138. — Entstehung ganzer Schemata durch Wieder-
holung des Angleichungsmechanismus 13g. — Konservativismus der Präriekultur 13g.
Literaturnachweis 140.
Verzeichnis der Abbildungen und Karten:
Schematische Darstellung des Akkulturationsprozesses 61.
Peyote-Kakteen (nach Rouhier) 64.
Verbreitung des Peyote-Kaktus 64.
Verbreitung des Peyote-Kultes 76.
Kultplatz der Huichol 87.
Kultplatz der Tarahumare 88.
Kultplatz der Präriestämme 99.
Peyote-Adler 136.
Besprechungen
Leser, Paul: Entstehung und Verbreitung des Pfluges.
Anthropos-Bibliothek, Band III, Heft 3. Heraus-
gegeben von PP. Wilhelm Schmidt und Wilhelm
Köppers, S. V. D., Münster i. W. (Aschendorff) 1931.
Mit 351 Abbildungen im Text und 42 Abbildungen
auf 22 Tafeln. XV und 676 Seiten. 8°. Ladenpreis;
geh. 36,80 RM., geb. 39,00 RM.
Das vorliegende Werk, des durch seine 1929 erschienene
Inaugural-Dissertation über die „Geschichte der Pflug-
forschung“ (vgl. Rezension von H. Behlen inZeitschr.
f. Ethnologie, Bd. 62 (1930) Berlin 1931, S. 379!.) rühm-
lichst bekannt gewordenen kenntnisreichen jungen Ethno-
logen, war bereits im Frühjahr 1924 abgeschlossen. Aber
erst nach sieben Jahren konnte, nach Aufbringung der
hierzu erforderlichen Mittel, die Drucklegung erfolgen.
Der gewaltigen Arbeitsleistung des Verfassers bezeugen
wir unsere Elochachtung ebenso wie der langmütigen
Geduld, die er bis zum Erscheinen seines Buches auf-
brachte.
In der Einleitung schickt der Verfasser einige dem
Verständnis der Leser dienende technische Vorbemer-
kungen über die Teile des Pfluges, ihre Benennung und
die Arbeitsweise des Pfluges voraus, um daran an-
schließend einen allgemeinen Rückblick auf die Ge-
schichte der Pflugforschung (vgl. Rezension von H.
Behlen, 1. c.) seit 1795 folgen zu lassen, in welchem
neben den wichtigsten bisherigen Arbeiten auch die
hauptsächlichsten Fragestellungen behandelt werden.
Unter Pflugforschung versteht der Verfasser stets nur
die sich mit der Geschichte des Pfluges beschäftigende
Forschung, nicht aber Untersuchungen über seinen Bau,
seine Wirkungsweise usw., eine Einschränkung, die nach
Ansicht des Referenten nicht gerechtfertigt ist, da die
verschiedenen Arbeitsweisen nachweislich auf die Formen
der Geräte nicht ohne Einfluß sind und außerdem zum
Verständnis der Materie sehr beitragen. Leser selbst hat
diese Tatsache ja erkannt und demzufolge in seiner Ein-
leitung auch berücksichtigen müssen.
Als Schüler F. Graebners steht der Verfasser auf dem
Boden der sogenannten historischen Ethnologie, und er
betrachtet seine Arbeit in erster Linie nicht als Sondcr-
untersuchung, „die die Geschichte eines einzelnen Geräts
zu erarbeiten trachtet, sondern hauptsächlich als Vor-
arbeit für die kulturgeschichtliche Durchforschung der
sogenannten Hochkultur“ (S. IX). Diese Einstellung
hat zur Folge, daß Verfasser über seine Vorgänger, die
meistens der sogenannten Entwicklungslehre anhingen
und z. B., im Gegensatz zu ihm, eine mehrfache, von-
einander unabhängige Entstehung des Pfluges an ver-
scheidenen Orten annahmen, vernichtende Kritiken ver-
faßt. Ob sein hartes Urteil über die gewiß nicht fehler-
freien, doch immerhin zu ihrer Zeit recht verdienstvollen
Gelehrten immer gerechtfertigt ist, soll hier nicht ent-
schieden werden. Dagegen scheint es mir angebracht
zu sein, darauf hinzuweisen, daß auch die kulturhisto-
rische Methode in der Ethnologie mit Entwicklungen
rechnet und Leser eine „psychologisch einleuchtende,
weniger lückenhafte Entwicklungsfolge“ als Nebenergeb-
nis seiner Arbeit nicht ableugnet (S. 560). Dieser innere
Widerspruch, den man vielfach bei der historischen
Richtung feststellen kann, scheint mir darin begründet,
daß tatsächlich beide Forschungsmethoden (natur-
wissenschaftliche sowie historische) in der Ethnologie
in einer Hand mit Erfolg angewendet werden können
und auch angewendet werden. Statt sich in überflüssigen
Methodenstreitereien gegenseitig aufzureiben, wie es be-
sonders in letzter Zeit an der Tagesordnung ist, sollten
die Forscher aus beiden Lagern versuchen, sich auf
einer mittleren Linie zu einigen, was doch wirklich keine
so großen Opfer erfordern und der Gesamtwissenschaft
nur zum Segen gereichen würde.
In umgekehrter Reihenfolge des Buchtitels wird im
ersten großen Hauptteil des Buches die Verbreitung des
Pfluges in allen in Frage kommenden Ländern ausnahms-
los aufgezeichnet. Gleich vorweg sei besonders lobend
hervorgehoben, daß Verfasser sein Quellenmaterial sorg-
fältig und kritisch verarbeitet hat, wie es bezüglich
dieses Gegenstandes in gleichem Ausmaße vordem wohl
noch nie geschehen ist. Auf diesen beschreibenden, ledig-
lich der Quellenkritik und Interpretation dienenden Teil,
läßt Verfasser in dem 2. Hauptteil eine Geschichte des
Pfluges, auf Grund der im vorigen gesammelten Mate-
rialien und im Sinne der von Graebner herausgearbeiteten
kulturhistorischen Methode, folgen. Diese berechtigte
Trennung des Stoffes von den an ihn knüpfenden Schlüs-
sen des Verfassers erhöht den Wert des Gesamtwerkes
außerordentlich. Neben anderen nicht zu erwähnenden
Vorteilen ergibt sich aus dieser Einteilung (wie Verfasser
selber hervorhebt), daß durch dieses Verfahren der nicht
auf dem Boden der kulturhistorischen Methode stehende
Forscher aus der im ersten Teil niedergelegten Stoff-
sammlung zur selbständigen Urteilsbildung schreiten
kann.
Der erste größere Hauptteil des Buches, „Übersicht
über die Pflüge der einzelnen Länder“ (S. 51—434),
beginnt mit Deutschland und abhandelt die einzelnen
Länder in einer Reihenfolge, die Verfasser auf Grund
rein praktischer Erwägungen gewählt hat, um „die ein-
zelnen Pflugformen am bequemsten in der getroffenen
Anordnung behandeln zu können“ (S. 51, Anm. 1). Ist
hiergegen durchaus nichts einzuwenden, so kann ich doch
der Tatsache nicht zustimmen, daß Leser allzu einseitig
bei den ihrer Form und ihrer Arbeitsweise nach sehr
verschiedenen Pflügen nur den Formverschiedenheiten
(wegen Anwendung des Formkriteriums, s. Graebner,
Methode, S. 108 ff.) eine größere Bedeutung beizumessen
für richtig hält und zwar „gerade (denjenigen) Form-
verschiedenheiten -----die von der Arbeitsweise mehr
oder weniger unabhängig sind“ (S. 51 f., Anm. 4). Ich
glaube, daß der Verfasser die Abhängigkeit von Form
und Gebrauchszweck hier nicht richtig erkannt hat.
Welche Formen z. B. von der Arbeitsweise mehr oder
weniger unabhängig sein sollen, kann wohl ohne gründ-
liche Untersuchung nicht so schnell beantwortet werden
(vgl. Max Schmidt, „Verhältnis zwischen Form und
Gebrauchszweck bei südamerikanischen Sachgütern,
besonders den keulenförmigen Holzgeräten“. Zeitschr.
f. Ethnologie, Berlin 1918, Heft 1, S. 12—39).
Als in Deutschland gebräuchliche Pflüge werden be-
handelt: 1. die mit dem terminus technicus bezeichneten
„Neueren Pflüge“. Dieses sind alle Pflüge aus neuerer
Zeit (ab Mitte des 19. Jahrh., S. 51—54). Verfasser hält
146
BESPRECHUNGEN
es für wahrscheinlich, daß eine geographische Betrach-
tung ergeben wird, daß in den einzelnen Provinzen die
eine oder die andere Art dieser verschiedenen Pflüge
überwiegend verwendet wird. Selber festgestellt hat er
im Rheinland: Kippflug; in Hessen, der Eifel und der
Pfalz: Beetpflug und Kehrpflug; Hundsrück: Kehr-
pflug; Ostseeküste: Schwingpflug; Umgebung von Lüne-
burg; Neuerer Pflug mit Krümel. Diese Pflüge unter-
scheiden sich von den neueren Kraftpflügen (Dampf-
und Motorpflug) im wesentlichen darin, daß sie von
Pferden gezogen werden.
Weitere Pflugformen in Deutschland sind: 2. Vier-
seitige Pflüge (S. 56—89), genannt nach ihrem von
Sohle-Griessäule-Grindel und Sterze gebildeten vier-
eckigen Gerippe (in Franken, Oberpfalz, Oberbayern,
Schwaben, Württemberg, Baden, Elsaß-Lothringen,
Pfalz, Hunsrück, Eifel, Hessen, Nassau, Westfalen,
Niedersachsen, Rügen, Westpreußen, Ostpreußen, Ober-
lausitz, Sachsen und Thüringen).
3. Der Hunspflug (S. 89—110), fälschlicherweise auch
„Wessel“ genannt. Eine eiserne Nachbildung eines seit
langem im Rheinland heimischen Gerätes. (Herkunft des
Wortes noch ungeklärt.) Sein hauptsächlichstes Unter-
scheidungsmerkmal von den vierseitigen Pflügen besteht
darin, daß der Hunspflug nicht wie diese einen geraden,
waagrechten Grindel, der durch Sterze und Griessäule
mit der Sohle verbunden ist, sondern einen gekrümmten,
vorn auf dem Radvorgestell hochaufliegenden, hinten
tief hinabreichenden Krümel hat (S. 93). Doch kommen
auch Abweichungen vor.
4. Der Mecklenburger Haken (S. 110—117); früher in
Mecklenburg und Nachbargebieten benutzt. Er unter-
scheidet sich von den vierseitigen Pflügen und dem Huns-
pflug hauptsächlich in der besonderen Art des Krümels.
5. Zoche und Stagutte (S. 117—122). Früher allgemein
in Ostpreußen gebräuchlich und als Beet- resp. Kehr-
pflug wirkend.
6. Stichelpflug und Verwandte (S. 122—128) mit
Stagutte ähnlicher Grundform.
7. Ausgestorbene Pflüge (S. 129—143). Zurückreichend
bis in die Spät-La-Tene-Zeit, hingegen nach Ansicht
des Verfassers nicht nachgewiesen aus der Broncezeit
in Deutschland (S. 133, Anm. 324; vgl. jedoch S. 142,
173) und nicht zwingend (obwohl nicht ausgeschlossen)
für die jüngere Steinzeit (im Gegensatz zu vielen an-
deren Forschern!).
Im Anschluß an Deutschland (die Ausführungen über
die deutschen Pflüge sind auch für die folgenden Länder
von grundlegender Bedeutung; da zum Teil dieselben
Formen Vorkommen, soll hier nur eine geographische
Übersicht folgen) werden behandelt: Nordwest-, Nord-
und Osteuropa (nebst Nordasien) und zwar 1. Belgien
und Holland (S. 144—153), 2. Großbritannien (S. 153
bis 161), 3. Skandinavien (S. 162—175), 4- Osteuropa
und Nordasien (S. 175—210). Es folgen die alten Mittel-
meerkulturen; 1. Hellas (S. 211—219), 2. Oberitalien
(S. 219—240), 3. Babylonien und Assyrien (S. 241—249),
4. Altägypten (S. 249—265), 5. Übrige Gebiete (S. 265
bis 268), wie z. B. Karthago, Kreta, Palästina usw.,
worüber jedoch bisher nicht viel ausgesagt werden kann.
Reichere Materialien liefert wieder der nächste größere
Abschnitt über die übrigen europäischen Länder:
1. Südosteuropa (S. 269—282), Peloponnes, Thessalien,
Makedonien, Bosnien, Albanien, Slavonien, Istrien,
Ungarn, Rumänien und Walachei; 2. Tschechoslowakei
(S. 282—294), Böhmen und Mähren; 3. Alpenländer
(S. 294—306), Oberösterreich, Niederösterreich, Steier-
mark, Kärnten, Pustertal, Etschland, Vintschgau, Ober-
inntal, Graubünden, Poschiavo, Wallis, Berner Ober-
land, Berner Jura, Kanton Luzern, Sanntaler-Alpen,
Oberes Gurktal, Katschtal, Oberes Liesertal, Görtschitz-
tal usw.; 4. Italien (S. 306—315); 5. Frankreich (S. 315
bis 326); 6. Spanien und Portugal (S. 326—336). Ab-
schnitt V behandelt: 1. Nord- und nordost-Afrika und
Vorderasien (S. 337—348), Marokko, Algerien, Tunesien,
Ägypten, Abessinien; 2. Vorderasien (S. 349—362),
Arabien, Iraq, Syrien, Cypern, Lycien, Phrygien, Mysien,
Urfa, Kurdistan, Armenien, Kaukasien, Aserbeidjan,
Talysch, Persien. Der VI. Abschnitt ist Inner-, Süd,
und Ostasien gewidmet (S. 363—430), während das
VII. und letzte Kapitel übrige Gebiete (S. 431—434)
behandelt, Südsee, Afrika, Amerika, wohin der Pflug
nach Ansicht des Verfassers aber erst nach der Eroberung
durch die Europäer gelangte.
Der zweite Hauptteil des voluminösen Werkes ist
weniger umfangreich ausgefallen (Untersuchungen über
die Geschichte des Pfluges, S. 438—560). Als ganz junge
Schicht werden die Kraftpflüge erkannt, bei denen der
Zeitpunkt ihrer Entstehung und Ausbreitung bekannt
sind. „Sie sind wohl ausschließlich in Gebieten anzu-
treffen, wo die neuzeitliche europäisch-amerikanische
Kultur Fuß gefaßt hat“ (S. 438). Die „Neueren Pflüge“,
mit weit größerem Verbreitungsgebiet, haben sich dort
über die älteren Formen gelagert, wo die Erfindungen
des 19. Jahrhunderts angetroffen werden; da sie ihren
Entstehungsort in den angelsächsischen Ländern haben,
gehören sie zu den Dingen, die den englisch-amerika-
nischen Einfluß auf unser Leben bezeugen. Eine dritte,
zum Teil viel ältere aber noch deutlich erkennbare Be-
wegung ist die Verbreitung europäischer Pflüge in die
fremden Erdteile seit der Entdeckerzeit. Weitere Be-
wegungen gingen von Belgien aus, von wo der euro-
päische Pflugbau beeinflußt wurde. Ob auf die englischen
und skandinavischen Pflüge belgische Formen einge-
wirkt haben, kann Verfasser nicht nachweisen, wie denn
überhaupt über die dann folgenden resp. vorangegangenen
Bewegungen schon kein sicheres Bild mehr entworfen
werden konnte. Auch über das gewölbte Streichbrett
(S. 442 f.) spricht Leser nur die Vermutung(!) aus, daß es
sich „von einer einzigen, im Nordwesten Europas ge-
legenen Stelle aus in alle diese Länder verbreitet hat“,
nachdem es vorher aus Ostasien dorthin gewandert ist(!).
Die dann folgenden Erörterungen des Verfassers, um
nur das Wichtigste herauszugreifen, beseitigen revolu-
tionierend die bisher geübte Überheblichkeit, mit der
wir auf unsere europäische Kultur im allgemeinen hin-
zuweisen beliebten, denn sie besagen in der Hauptsache
nichts Geringeres, als daß unsere hohe nordeuropäische
Ackerbaukultur, unsere gesamte moderne Technik in
der Landwirtschaft zum größten Teil auf ostasiatische
Einflüsse zurückzuführen sind (der moderne Pflug,
Sämaschinen, Fegemaschinen, mit Göpelwerk betriebene
Dreschmaschine, bestimmte Walzen chinesischer Her-
kunft, Handwalzen, Stachelwalze, Handpflüge, Schwing-
pflüge, Aufgabe der Dreifelderwirtschaft u. a. m.), die
seit dem 18. Jahrhundert stattgefunden haben sollen,
während demgegenüber der in seiner Bedeutung sonst
meist überschätzte römische Einfluß als weniger be-
BESPRECHUNGEN
147
deutungsvoll bezeichnet wird. Leser ergänzt seine auf
dem Formkriterium basierende Hypothese im Sinne
Graebners durch das Quantitätskriterium, indem er sehr
geschickt die im 18. Jahrhundert auf anderen Ge-
bieten stattgehabten ostasiatischen Einflüsse anführt,
wie z. B. in der Philosophie, Wirtschaftslehre, Dichtung,
Malerei, Batikkunst, Gartenanlage, Innenausstattung, im
geselligen und öffentlichen Leben wie im Gefühlsleben,
ja selbst im Geschlechtsverkehr und schließlich auch auf
Gebieten der Erfindungen wie Porzellan, Lack, Papier-
tapete, Umwandlung der Sänften in Droschken, Regen-
schirm usw.
Zum Schluß faßt der Verfasser seine Ergebnisse in
16 Punkten noch einmal ausführlich zusammen, weil
er, inzwischen älter geworden, die Gelehrten nicht so
angetroffen hat, wie seine Jugendbegeisterung es ihm
hat glauben machen wollen, und er insbesondere „die
ein wenig entmutigende Erfahrung gemacht (hat), daß
viele Leute dicke Bücher nicht lesen, selbst wenn sie
in ihr Fach schlagen, sondern nur, wie der hübsche Aus-
druck lautet, „benutzen“, d. h. durchblättern und allen-
falls mit Hilfe des Sachverzeichnisses auf anregende
Stellen hin untersuchen“ (S. 564). Dabei betont Leser
ausdrücklich, daß in dem zweiten Teil seines Werkes
nicht Tatsachen geboten werden, sondern Vermutungen,
über deren Berechtigung jeder selber auf Grund des in
den vorhergehenden Abschnitten des Buches vorgelegten
Stoffes urteilen kann.
Und in der Tat beruht der Wert dieses Standard-
Werkes über den Pflug und seine Entstehung (aus dem
Ziehspaten) und Geschichte (der Pflug mit Krümel gehölt
nichtindogermanischen! Mittelmeerkulturen an), das wir
dem Fleiß und dem großen Wissen des Verfassers vei-
danken, in der fast lückenlosen Zusammentragung und
kritischen Sichtung des reichen Tatsachenmaterials, auf
Grund dessen die weitere Forschung weiter bauen kann,
um schließlich die letzten Fragen zu lösen, falls ein
guter Stern es ihr ermöglicht.
Ausführliche Abbildungs- und Literaturverzeichnisse
sowie ein Vollständigkeit erstrebendes Sachverzeichnis
(von rund 4000 Stichwörtern) erleichtern die „Benutzung
des wertvollen und verständlich geschriebenen sympa-
thischen Werkes. Günther Stahl, Berlin.
Lentz, Wolfgang: Auf dem Dach der Welt. Mit Phono-
graph und Kamera bei vergessenen Völkern des
Pamir. Berlin (1931). Deutsche Buch-Gemeinschaft.
L. hat als iranistisch geschulter Sprachwissenschaftler
an der deutsch-russischen Expedition teilgenommen, die
1928 unter W. R. Rickmers das Hochgebirge des nord-
westlichen Pamir erforschte. „Auf dem Dach der Welt1
überschreibt er seine Reiseerlebnisse im Rahmen dieses
großen Unternehmens. Da die Hauptexpedition meist
in unbewohnten Gegenden arbeitete, ist L. bald allein,
bald mit einem oder dem andern der Expeditionsteil-
nehmer zusammen seine eigenen Wege gegangen, um
die iranische Bevölkerung Turkestans, die Tadschiken,
erst in der Ebene von Fergana kennen zu lernen, dann
vor allem in den Gebirgstälern des Pamir zu erforschen,
und zuletzt der im Westen gelegenen Hauptstadt der
Republik Tadschikistan, Düschambe (heute Stalinabad),
einen Besuch abzustatten.
Seine wissenschaftliche Aufgabe bestand hauptsäch-
lich in der Aufnahme der wenig bekannten Dialekte der
Bergtadschiken. In ihrer schwer zugänglichen Heimat
haben diese Stämme im Ganzen und in einzelnen Tälern
viele sprachliche und ethnographische Eigentümlich-
keiten bewahrt, die in der Ebene, wo das tadschikische
Element ständig von dem türkischen zurückgedrängt
wird, schon verwischt oder verschwunden sind. Der
Untertitel des Werkes deutet diese Spezialaufgabe an,
die Schilderung der Reise aber ist allgemeiner gestaltet.
Denn das Buch wendet sich an einen wesentlich weiteren
Kreis als den der Iranisten oder Ethnologen (wie schon
die Wahl des Verlages andeutet). Es gibt anschaulich
eine Fülle von Eindrücken wieder, wie der Verfasser sie
im Lande der Tadschiken empfangen hat: Landschafts-
und Städtebilder, Expeditionserlebnisse vermischt mit
Berichten früherer Reisender, vor allem aber zahlreiche
Szenen aus dem Leben und Verkehr mit den Landes-
bewohnern, lose aufgereiht an dem Faden, den der Ver-
lauf der Reise bietet von Moskau an in Dörfer und
Städte der westturkistanischen Ebene, dann mit der
Hauptexpedition über Alai und Transalai mitten ins
Pamirgebiet, und weiter in die unwegsamen Täler, die
sich zum Oberlauf des Oxus, dem Pandsch, hinabziehen,
um schließlich in Düschambe wieder in der Ebene und
der Nähe europäischer Zivilisation zu enden.
Die Erlebnisse des Verfassers mit Tadschiken machen
den Kern und den besonderen Reiz des Buches aus. Über
die zahlreichen Berichte von Wohnung und Kleidung,
Beschäftigung, Alltagsleben und Festen der Bewohner
hinaus wird hier der Versuch gemacht, die rein mensch-
lichen Eigenarten, wenn man will: die Seele dieser
Männer zu erfassen, mit denen der Verfasser während
seines Aufenthaltes in Jsfara (Fergana) und in Oroschor
(im mittleren Pamir, nahe dem Oberlauf des Bartang)
in nähere Fühlung zu kommen Gelegenheit hatte. Es
sind sehr verschiedene Charaktere darunter, und L.
hütet sich wohl zu verallgemeinern oder voreilige Schlüsse
zu ziehen. Er läßt die Leute selber handeln und reden,
in zuweilen lebhaft bewegten Szenen, und vielfach über-
setzt er wörtlich auch die Äußerungen seiner Gewährs-
männer über ihre Sitte, Glauben, Dichten und Empfinden.
So legt er gewissermaßen das Material in seiner ursprüng-
lichen horm vor, wie er es mit eigenen Augen gesehen
und mit seinen Ohren gehört hat. Für die psychologische
Beobachtung hängt dabei sehr viel von dem eigenen
Verhalten des Beobachters ab, zumal gegenüber den
allzu anpassungsbedürftigen Orientalen. Aber wenn man
auch zuweilen fragen kann, ob L. sich in allen Einzel-
fällen richtig verhalten habe vom Standpunkt des Euro-
päers und Reisenden, so ist ihm die rechte Einstellung
auf die Menschen als Gegenstand seiner Studien nicht
abzusprechen. Er tritt ihnen lediglich als Mensch den
Menschen gegenüber, und es konnte seinen! Zweck nur
zugute kommen, wenn er etwa einmal zu Unrecht den
Verdacht des Diebstahls aussprach oder einem großen
„Filou“ unter seinen Gewährsmännern eine besonders
große Belohnung gab. Seine Auffassung drückt L. selber
so aus: „wer zu den Menschen reist, muß unbehindert
und frei, ohne die Nebelschleier von Überheblichkeit
und Bildung zu ihnen sprechen können, und sie — sie
müssen auch mit ihrem Wort zu uns dringen können,
bis an unser Herz“ (S. 154)• Dabei bleibt er stets kritisch
gegenüber dem Erreichbaren und sieht dort, wo ein Ver-
stehen unmöglich ist, seine Aufgabe in dem Versuch „auf-
zuspüren, wo solche Reste (des Nichtverstehens) — bei
148
BÜCHEREINGÄNGE
uns und bei den andern — liegen, und letzlich verstehen
zu lehren, warum wir nicht alles verstehen können“ (S. 89).
Von dem Standpunkt aus, den L. mit diesen Sätzen
treffend bezeichnet, ergibt sich für das Kernstück seines
Buches auch die Form: mit besserem Recht als bei
manchem Reisewerk, das diesen Ausdruck im Titel
führt, könnte man sie ethnographische Skizzen nennen.
Eine Form, die zugleich aus der Selbstbeschränkung des
Verfassers entspringt, dem der Aufenthalt auf seiner
Reise von der Dauer eines Halbjahres nicht die Möglich-
keit bot, zu einem irgendwie fertigen Gemälde zu kommen.
36 photographische Aufnahmen und 4 Kartenskizzen,
die dem Text beigefügt sind, spiegeln die Mannigfaltig-
keit des gesamten Inhalts wieder: neben tadschikischen
kirgisische Volkstypen, Männer und Frauen im Fest-
staat, beim Spiel und bei verschiedener Arbeit, Häuser
und Stege des Berglandes, Städtebilder aus der Ebene
und die pamirischen Alpen, in denen die Expedition
den längsten der bis jetzt bekannten Gletscher, den
Fedtschenkogletscher, feststellte. Die äußeren Einband-
deckel zeigen, die im. Text oft hervortretenden histo-
rischen Interessen des Verfassers illustrierend, die Asien-
karte der Reisewege aus Kirchers China illustrata.
Gelpke.
Mayo, Katherine: Mutter Indien. (Übersetzung aus dem
Amerikanischen von Dr. Dora Mitzky.) Frankfurter
Societäts-Druckerei G. m. b. H. Abtlg. Buchverlag,
Frankfurt a. M. 1928.
Über Miß Mayos Buch sind seit dem ersten Erscheinen
im Jahre 1926 so viele Besprechungen, Entgegnungen
und andere Äußerungen jeglicher Art veröffentlicht, daß
sie mehrere Bände vom Umfange des Originalwerkes
füllen würden. Die ganze Skala der Urteile von rück-
haltloser Zustimmung vereinzelter westlicher Leser bis
zur radikalen Ablehnung besonders von indischer Seite,
zum Teil mit gehässigen Vorwürfen gegen die Verfasserin,
kommt darin zu Ausdruck. Allmählich ist der Streit
stiller geworden, durch neue indische Fragen in den
Hintergrund gedrängt. — Die vorliegende deutsche
Übersetzung der Frankfurter Societäts-Druckerei bringt
als Anhang die Äußerungen einiger führender Inder zu
„Mother India“, leider nur in wenigen kurzen Auszügen.
Einmütig sind die indischen Antworten darin, die Ein-
seitigkeit des Buches zurückzuweisen, welche den Blick
ausschließlich auf Mängel lenkt. Im übrigen enthält
aber schon die kleine Auswahl, die hier gegeben wird,
eine Reihe von Zugeständnissen wirklicher Schäden
sozialer und kultur- wie wirtschaftspolitischer Art im
Dasein der indischen Bevölkerung, die erkennen läßt,
daß nicht, wie eine Pressestimme behauptete,, „ein un-
überbrückbarer Gegensatz zwischen amerikanischer und
indischer Lebensauffassung“ klafft1 und Miß Mayo zu
ihrem erschütternden Gemälde geführt hat. Viel mehr
steht in Miß Mayo eine Beobachterin von moderner Er-
ziehung und Verstandesbildung und lebhaftem Tem-
perament den traditionsgebundenen Zuständen einer
ungebildeten, armen und physisch wie moralisch ge-
schwächten Masse gegenüber, und viele Gebildete des-
selben Volkes, dessen Unkultur in breiten Kreisen Miß
Mayo in ihrem Bild so schonungslos darstellt, geben ihr
in wesentlichen Punkten Recht. Zweifellos sind einzelne
Linien zu scharf gezogen und gewisse Farben viel zu
breit aufgetragen — auch von europäischen Kritikern
ist das oft hervorgehoben —, aber kein Leser des Buches
wird sich dem Eindruck entziehen können, den etwa
die Schilderung von der Lage der gewöhnlichen indischen
Frau als Gattin, als Mutter, als Witwe hervorruft. —-
Die deutsche Übersetzung liest sich glatt und gibt den
Ton und die geschickte Darstellungsweise des Originals
gut wieder. Gelpke.
Büchereingänge
Anger, Plelmut: Die Deutschen in Sibirien. Berlin; Ost-
Europa Verl. 1930. 103 S.
Bulletin du Musée d’Ethnographie du Trocadéro. Paris
1931. Nr. I, 2.
Collins, Henry, B. : Excavations at a prehistorie Indian
village site in Mississippi. Aus; Proc, of the U.S.
Nat. Mus. vol. 79, art. 32.
Führer. Dansk Folkemuseums virksomhed 1928-30.
Kobenhavn 1932; Nielsen.
Führer. Rundgang durch die Sammlungen. Deutsches
Museum von Meisterwerken der Naturwiss. u.
Technik in München. 1931. 94 S.
Griaule, Mainel: Le Mariage et la mort au Godjam (Abys-
sinie). Paris; Larose 1931. 12 S.
Griaule, Marcel; Le Travail en Abyssinie. Aus: Revue
Int. du Travail, vol. 23, nr. 2. 1931.
Hoffmann, Frederick, L. ; Cancer among North Am.
Indians. New York 1928: Prudential Press 85 S.
Hough, Walter: The Buffalo Motive in middle Celebes
décorative design. Aus: Proc, of the U.S. Nat. Mus.,
vol. 79, art. 2.
Lam, EI. J.; Miangas (Palmas). Batavia: Kolfi'1932. 66 S.
1 Für die enge Berührung zwischen amerikanischem und
indischem Geist auf einem scheinbar freilich weit ent-
Lentz, Wolfgang: Auf dem Dach der Welt. Mit Phono-
graph und Kamera bei vergessenen Völkern d. Pamir.
Berlin: Deutsche Buch-Gemeinsch. 1931. 353 S.
Leser, Paul: Entstehung und Verbreitung des Pfluges.
Münster i. W. : Aschendorff 1931 : XV, 676 S.
Moebius, Paul: Biologische Rhythmen im Blickwinkel
des Bastianschen Völkergedankens. Aus; Die medi-
zinische Welt, Nr. 2. 1932.
Musées et Monuments. Informations mensuelles. Office
int. d. Musées. Paris: Soc. d. Nat. Inst, de Coopé-
ration. intellect. Nr. iff. 1932.
Pathier-Bonnelle, F. : Alphabets des écritures cunéiformes
Paris: Maisonneuve 1931. 49 S.
Radig, Werner: König Heinrich I. u. d. ostdeutsche
Archäologie. Aus: Mannus, Erg. Bd. 8. 1931.
Radig, Werner: Die Westgermanen im Muldenland. Aus:
Mainzer Zeitschr. Bd. 26. 1931.
Revisla del Museo Nacional, Hrsg. Luis E. Valcarcel.
Lima: Selbstverl. 1932. Nr. 1.
Schmiedet, Oscar: The Settlements of the Tzapotek and
Mije Indians State of Oaxaca, Mexico. Berkeley
1930: Univ. of Cal. Press: 184 S.
fernten Gebiet ist sehr lehrreich das Buch von Wendeil
Thomas: Hinduism invades America. New York 1930.
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS
UND SEINEN WEITEREN AUSBAU1.
VON
GEORG BUSCHAN, STETTIN
Der Phalloskult, d. i. die Verehrung des männlichen Gliedes ist eine über den ganzen
Erdenrund verbreitete Erscheinung. Wir können ihn bereits zur Diluvialzeit feststellen,
begegnen ihm bei den Völkern des alten Orients, und des klassischen Altertums, weiter im
Mittelalter und andeutungsweise auch noch bei verschiedenen Kulturvölkern der Gegenwart.
Wir treffen ihn ferner bei höher stehenden Völkern Asiens und Amerikas an und schließlich
auch bei den primitiven Völkern Afrikas und der Südsee.
Für die Entstehung dieses merkwürdigen Brauches haben zuerst Dulaure und später
Krauß und Reiskel eine Erklärung versucht. Sie führen seinen Ursprung auf den Sternen-
kult der alten Ägypter zurück. Zur Zeit der erwachenden Natur unter der Macht der alles
belebenden Frühlingssonne, so meinen die genannten Autoren, tritt dieses Gestirn bekannt-
lich zur Frühjahrs-Tag- und Nachtgleiche in das Zeichen des Tierkreises am Himmel, das die
Astronomen des alten Orients als das des Stieres bezeichnet haben. Die von diesem Zeit-
punkt an immer höher steigende und die Erde immer mehr erwärmende Sonne lasse die bis
dahin im Winterschlaf verharrende Natur, im besonderen die Pflanzenwelt, wieder er-
wachen und zum neuen Wachstum erstehen. In gleicher Weise belebe sie Menschen und
Tiere, löse bei ihnen u. a. auch ein Wiedererwachen der sexuellen Triebe aus und rege somit
zur Zeugung an.Von jeher wird der Frühlingsanfang als ein Freudentag begrüßt und festlich
begangen. Gleichzeitig empfinde der Mensch für diese Segnungen große Dankbarkeit gegen-
über der Spenderin derselben, der Sonne, und gleichzeitig auch gegenüber dem diese imTier-
kreis darstellenden Bilde, dem Stier. Allmählich habe man diesem letzteren den Haupt-
anteil an der Umwandlung der Natur zu neuem Leben ganz allein zugeschrieben und es zur
Gottheit erhoben. Seiner bildlichen Darstellung im künstlichen Tierkreis am Himmel habe
man fortan göttliche Ehren erwiesen und solche später auf das lebende Tier auf der Erde
übertragen. Das Stierbild wurde somit durch den lebendigen Stier ersetzt. Die alten Ägypter
erwiesen bekanntlich dem Apis göttliche Verehrung. — Im himmlischen Tierkreis gibt es zur
Frühlingszeit noch ein zweites Sternbild, den Widder. Dieser sei auf Grund der vorstehenden
Erwägungen auf die gleiche Weise zum Gegenstand der Anbetung geworden, zunächst auch
wieder nur das himmlische Bild im Tierkreis, später das lebende Tier auf Erden.
Zu dieser Verehrung mag noch beigetragen haben, daß sowohl Stier, wie auch Widder-
Bock sich durch auffallend kräftige Geschlechtsteile und dementsprechend große geschlecht-
liche Fähigkeiten auszeichnen. Hierin drücke sich symbolisch die Fruchtbarkeit aus, die mit
dem Beginne des Frühlings sich wieder einstellt. Mit der Zeit, so folgern Dulaure und seine
Partner nun weiter, sei als Gegenstand der Verehrung anstelle des Ganzen ein Teil getreten,
nämlich der Geschlechtsteil, der die Fruchtbarkeit zustande bringt, das männliche Glied,
der Phallos. Dieser wäre schließlich als Symbol zur Gottheit erhoben worden.
1 Abschnitt aus einem umfangreichen, in der Handschrift bereits fertigen Werke „Beziehungen zwischen Religion
und Geschlechtsleben in der Völkerkunde.“
20 Baessl er-Archiv.
GEORG BUSCHAN
150
Es leuchtet ein, daß der vorstehende Erklärungsversuch für den Ursprung der Phallos-
verehrung ziemlich gekünstelt erscheint und auch für die meisten Völker nicht zutreffen
kann, einfach aus dem Grunde, weil sie nicht über die geringsten atronomischen Kenntnisse
im Sinne der alten Ägypter und Babylonier verfügen. Man kann z. B. solche Überlegungen
für die Menschen der europäischen Urzeit (Neandertaler) oder die Primitiven der Gegenwart
(Australier, Papuas u. a. m.), auf so niedriger Stufe der Gesittung unmöglich voraussetzen.
Ich möchte daher hier eine andere, mir wahrscheinlicher erscheinende Erklärung für
das Zustandekommen der Phallosverehrung versuchen. Wie zuerst wohl v. Reitzenstein
und nach ihm eine ganze Reihe Forschungsreisender, vor allen Nieuwenhuis gezeigt haben,
geht zahlreichen primitiven Völkern der Gegenwart die Kenntnis von dem ursächlichen Zu-
sammenhänge zwischen geschlechtlicher Beiwohnung und Empfängnis ab. Sie halten den
Coitus vielfach nur für ein Vergnügen oder höchstens für eine Vorbereitung (Erweiterung)
des weiblichen Geschlechtsschlauchs für das ihn einmal passierende Kind. Ausführlicher
habeich mich hierüber in einer Arbeit der „Medizinischen Welt“ 1932, Nr. 27 „Die Entstehung
der Menschen im Völkerglauben“ ausgelassen. Zahlreiche Beobachtungen von Forschungs-
reisenden an sogenannten Naturvölkern, eine Menge Sagen und Mythen solcher und auch
höher stehender Völker, Aberglauben und Gebräuche bei den Kulturvölkern der Gegenwart
u.a. m. sprechen dafür, daß der Urmensch unmöglich gewußt haben kann, daß der Beischlaf
nach neun Monaten die Geburt eines neuen, vollentwickelten Menschen hervorgebracht
haben sollte. Außerdem geht bekanntlich dem primitiven Menschen das Verständnis für
zeitlich weiter auseinander liegende Ereignisse, bzw. Dinge ab: er bekundet im allgemeinen
nur Interesse für den Augenblick. Die Entstehung eines neuen Menschen führt er in der
Hauptsache auf eine Verkörperung der Ahnengeister zurück, die in winziger Form durch
eine Körperöffnung in den Leib des Weibes eindringen und hier sich weiter entwickeln.
Mit fortschreitender Kultur mag dem Urmenschen, so folgere ich weiter, das Verständ-
nis gekommen sein, daß die geschlechtliche Beiwohnung doch mit der Entstehung eines
neuen Menschen im ursächlichen Zusammenhänge stehen müsse. Das männliche Glied, das
allein hierfür in Betracht kommen könne, begann durch diese Erkenntnis bei ihm an Ach-
tung zu gewinnen und wurde schließlich, wie alles Außergewöhnliche und Rätselhafte zum
Gegenstand der Verehrung. Der Phallos wurde direkt zur Gottheit erhoben; man erwies ihm
göttliche Verehrung. — Auf diese Weise glaube ich eine ungezwungene Erklärung für den
Ursprung des über die ganze Erde vom Beginne des Menschengeschlechtes an verbreiteten
Phalloskultus gegeben zu haben. Das Gegenstück dazu, der Kteismus, d. i. die Verehrung
der weiblichen Scham, die ungemein viel seltener vorkommt, dürfte sich auf die gleiche
Weise erklären lassen. Allerdings lag hier die Vermutung nahe, daß der weibliche Geschlechts-
teil an dem Zustandekommen des werdenden Menschen weniger beteiligt sein müsse, als
bei dem männlichen: daher kommt sicher auch die geringe Verbreitung der Anbetung der
weiblichen Scham.
Mein Erklärungsversuch des Ursprungs des Phalloskults wird gestützt durch den Um-
stand, daß unter den Funden des paläolithischen (älteren Stein-)Zeitalters verhältnismäßig
viel phallosähnliche Gegenstände verkommen, die bald ganz realistisch wiedergegeben sind,
teils dem Vorbilde weniger ähnlich sehen, aber doch nicht zu verkennen sind, teils auch
wieder ganz stilisiert erscheinen und eine solche Deutung nur vermuten lassen. Ich vermochte
durch Studium der einschlägigen Literatur sowie durch Briefwechsel mit Fachgenossen
gegen 30 solcher Funde aus dem Paläolithikum Europas sowie des Küstenstriches von Nord-
afrika zusammenzutragen. Es sind teilweise größere Stücke, die wohl aufrecht wie ein ste-
hender Penis hingestellt, teilweise kleinere, zum Teil durchbohrt, die wohl als Amulette um
den Hals gehängt oder wenigstens mit herumgetragen worden sein dürften. Die Phalloi sind
aus Stein, Knochen, Renntiergeweih und Zähnen hergestellt. Neben diesen plastischenWieder-
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS UND SEINEN WEITEREN AUSBAU j 5 r
gaben des männlichen Gliedes begegnen uns in dem gleichen Zeitabschnitt auch auf Renn-
tiergeweih oder Knochen eingeritzte Darstellungen desselben, die durchweg ganz natur-
getreu wiedergegeben sind. Einige bezeichnende Stücke sollen hier beschrieben werden. Zu
Burbach im Niederelsaß deckte Forrer in einer der Vor-Chelleszeit angehörigen Nieder-
lassung drei verschiedenen Individuen ungehörige Hippopotamuszähne auf, die der Länge
nach gespalten waren, so daß nur eine einzige Wurzel und die Hälfte der Krone übrig ge-
blieben sind. Die anderen Hälften wurden nicht gefunden, so daß man mit Recht annehmen
kann, die Stücke wurden in voller Absicht so zugerichtet, zumal sich auch Bearbeitungs-
spuren an ihnen erkennen lassen. Alle drei Halbzähne sehen einem Phallos aufs Haar ähn-
lich __p)ie unstreitig gelungenste Wiedergabe eines Penis aus der älteren Steinzeit ist ein
aus Renntiergeweih geschnitztes Stück eines sogenannten ICommandostabes, jetzt richtiger
als paläolithische Gewandnadel (Fibel) bezeichnet, aus der Gorge d Enfers bei Les Eyzies.
Diese, die mit Strichen, Kreisen und Zickzacklinien verziert ist, stellt geradezu eine künst-
lerische Leistung ersten Ranges vor. Gleichfalls ganz realistisch gehalten sind zwei aus
Knochen geschnitzte Phalloi, die aus dem Funde von La IMadeleine selbst stammen. —
Ein merkwürdiges Stück wurde in der Escargohere von /iin Mouhard in der Provinz Con-
stantine (Algerien) zu Tage gefördert. Es ist ein aus einem menschlichen Oberarmknochen
geschnitzter Phallos; an ihm ist die schifförmige Grube (fossa navicularis) an der Eichel
deutlich zur Darstellung gebracht, und von ihr ausgehend und den ganzen Penisschaft der
Länge nach verlaufend eine Rinne, deren Bedeutung nicht recht klar ist. Ob es sich hierbei
um eine Aufschlitzuno- der Harnröhre, ähnlich wie bei der Mikaoperation der Australier
handelt, bleibe dahin gestellt. Ganz ähnlich ist ein auf ein Stück Knochen, aus der genannten
Höhle von La Madeleine stammend, eingeritzter Phallos wiedergegeben; ein kleines Dreieck
an der Spitze der rundlichen Eichel stellt die schifförmige Grube auch hier dar. Der leicht
geschlängelte Schaft weist ebenfalls eine Längsrinne auf und scheint an seinem unteren
Ende zu beiden Seiten je einen Hoden (rundliches Gebilde) zu besitzen. — Auf einem Penis
aus der Grotte du Placard (Charente), der auf Knochen eingeritzt ist, auf der längsovalen
Eichel ebenfalls eine äußere Harnröhrenöffnung erkennen läßt und nach unten ebenfalls in
zwei Hoden zu endigen scheint, zieht sich in der ganzen Länge seines Schaftes eine gratartige
Erhebung entlang, die möglicher Weise die Schwellungskörper des Gliedes wiedergeben soll.
Vereinzelt begegnen wir unter den paläolitischen Funden auch Darstellungen der weiblichen
Geschlechtsorgane. An einem Felsen im Abri Blanchard bei Sergeac (Dordogne) finden sich
neben Phalloi zwei rautenförmige Figuren, mit einem Längsspalt, eingehauen, die offenbar
den Introitus vaginae darstellen sollen, in ähnlicher Weise wie die
Figuren es sind, mit denen Kinder die Häuserwände beschmieren.
Ganz realistisch ist die weibliche Scham auf einem Geweihstück
aus der Grotte du Placard wiedergegeben. Die natürliche Teilung
desselben in zwei Äste kam der Absicht der Künstler zu Hilfe,
An dieser Teilungsstelle hat er eine Längsrille angebracht und
um sie radiär ganz feine Strichelung, wodurch er die Schamhaare
zum Ausdruck bringen wollte. Die Stumpfe der beiden Äste sollen
die Beine vorstellen.
Neben den bisher besprochenen phallosähnlichen Gebilden
kleineren Formates begegnen wir unter den ältesten vorgeschicht-
lichen Funden in Europa noch solchen von großen Dimensionen,
die ebenfalls als Phalloi aufzufassen sind, den Menhirs oder Mono-
lithen (Abb. i). Es sind dies große bald einzeln, bald in Gruppen
stehende aufrechte Steine, die entweder eine ganz rohe Form auf-
weisen, bald mehr oder weniger bearbeitet erscheinen und hier und
152
GEORG BUSCHAN
da einem männlichen Glied recht ähnlich sehen. Ursprünglich mögen es reine Naturgebilde
gewesen sein, in denen der primitive Mensch eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem stehen-
den Gliede erblickte und denen er die gleicheVerehrung zuteil werden ließ, wie den kleineren
mehr oder weniger naturgetreuen Nachbildungen. Später bearbeitete er diese Steine zu
Pfeilern und Säulen, die unter Umständen in ihrem Äußern
die Umrisse des Phallos Wiedergaben. Der Gollenstein von
Blieskastel (Reg. Bezirk Pfalz) z. B. verleugnet nicht diese Ähn-
lichkeit (Abb. 2).
Daß diese Monolithen tatsächlich Gegenstand der Ver-
ehrung waren, und zwar die Zeugungskraft verkörpern sollten,
können wir aus mancherlei Tatsachen schließen. Wir haben
ja zahlreiche Beweise dafür, daß mit der Einführung des
Christentums die Bekehrten sich noch lange nicht von ihren
überlieferten heidnischen Gebräuchen und Sitten abbringen
ließen. Um ihnen bis zu einem gewissen Grade entgegen zu
kommen, machte die Kirche ihnen mancherlei Zugeständnisse.
Sie ließ ihnen u. a. ihre alten Götter, stempelte sie aber zu
christlichen Heiligen, ließ ihnen auch ihre Feste, legte ihnen
aber eine christliche Bedeutung unter; sie gestattete den An-
hängern der neuen Lehre auch die christlichen Gotteshäuser
an den Stätten des alten Kultus zu errichten u. a. m.
In den Fundamenten christlicher Kirchen hat man wieder-
holt Überreste von heidnischen Opferstätten festgestellt; unter
einer Kirche in Geudonhatman sogar einen Monolithen zutage
gefördert. An dem schon erwähnten Gollenstein hat man ein
Tabernakel für den heiligen Sebastian angebracht, was auch
dafür spricht, daß er seit alten Zeiten bei der Bevölkerung im
Rufe großer Heiligkeit gestanden haben muß.
Daß die Menhire Gegenstand der Verehrung vor Einführung des Christentums waren,
und auch noch längere Zeit nachher, können wir aus verschiedenen Edikten der christlichen
Kirche entnehmen, die gegen diesen heidnischen Kult erlassen wurden. Auf dem Konzil zu
Tours im Jahre 567 wurde den Priestern anbefohlen, allen Leuten, die noch aufrecht stehende
Steine anbeteten, den Eintritt in die Kirche zu verbieten. Theodorich, Erzbischof von Can-
terbury im 7. Jahrhundert, ferner Kaiser Karl der Große in seinen Kapitularien vom
Jahre 789, König Edgar im 10. Jahrhundert, König Knut von England im 12. und andere
mehr gaben Erlasse heraus, in denen sie den Kultus der Steinsäulen verboten. Das Konzil
von Nantes erließ im Jahre 658 das Edikt, daß die Menhirs in tiefe Gruben versenkt werden
sollten, um dadurch die immer noch bestehenden Stätten heidnischen Kultus endgültig zu
zerstören. Es kann somit keinem Zweifel unterliegen, daß die aufrecht stehenden Steine in
Mitteleuropa noch vor Einführung des Christentums Gegenstand göttlicher Verehrung ge-
wesen sein müssen.
Und daß diese Verehrung sich auf geschlechtliche Dinge bezogen haben muß, ersehen
wir aus einer großen Anzahl von volkstümlichen Gebräuchen, die sich an diese Monolithen
knüpfen und die auf das Liebes- und Geschlechtsleben Bezug nehmen. Für Frankreich, wo
wohl die meisten Menhirs und Steinpfeiler der Vorzeit vorhanden sind, hat Sebillot eine
Zusammenstellung solcher volkstümlicher Kulthandlungen gegeben. Verschiedene der Men-
hirs stehen noch gegenwärtig in dem Rufe Fruchtbarkeit zu bewirken. Noch 1880 gingen
junge Eheleute, die keine Kinder bekamen, bei Vollmond zu einem Menhir in der Nähe von
Carnac, Beide zogen sich ihre Kleider aus, worauf die Frau sich daran machte um den Stein
Abb. 2. Gollenstein von Blieskastel
(Pfalz).
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS UND SEINEN WEITEREN AUSBAU
1 53
herumzulaufen und der Mann sie zu erhaschen suchte. Wenn er sie schließlich eingeholt hatte,
ergab sie sich ihm. Offenbar kam es dann zum erfolgreichen Beischlaf. Die Eltern hielten
unterdessen Wache, damit kein Unberufener als Störenfried dazwischen käme. Ein anderer
Brauch zur Förderung der ehelichen Fruchtbarkeit fand amMenhir von Plouarzel, einem der
größten Monolithen des Departements Finistère, statt. Dieser weist auf zwei gegenüber-
stehenden Flächen in etwa i Meter Höhe je eine buckelartige Hervorwölbung auf. Jung-
vermählte gingen um den Menhir herum und kleideten sich teilweise aus; jeder von ihnen
rieb darauf seinen Bauch an der Vorwölbung des Steines, der Mann in der Hoffnung mehr
Knaben als Mädchen zu erzeugen, die Frau in der Erwartung, das Regiment in der jungen
Ehe zu führen. Neuerdings beschränken sich die jungen Eheleute darauf, in der zweiten
Nacht nach der Hochzeit den Menhir zu umarmen, der Mann von der einen, die Frau von der
anderen Seite. Wenn sich dabei ihre Lippen gerade begegnen, dann nehmen sie die Hoffnung
mit nach Hause, daß sie bald einen Sohn bekommen werden. In ganz ähnlicher Weise
reiben sich kinderlose Eheleute ihren Bauch an einer rauhen Stelle am Menhir beim Markt-
flecken Moëlan, ferner an einem, der Pierre de Chantecoq im Dep. Eure-et-Loire heißt, an
einem Felsen von Pilzform zu Saint-Etiennes in Cogles (111 e-et-Vilaine), an einem Menhir
in der Nähe von Simandre (Ain) und anderwärts. — Sicherlich beruhte es auch auf einem
Fruchtbarkeitszauber, wenn sich junge Mädchen, die sich einen Mann wünschten, zu Carnac
nackend auszogen und sich an einem der dort stehenden Menhire, der zu diesem Zwecke be-
sonders beliebt war und viel aufgesucht wurde, ihren Nabel rieben, während dessen die
sie begleitenden jungen Burschen auf Wache standen, oder im Dep. Eure-et-Loire ihre
Röcke zurückschlugen und ihren Bauch an dem schon genannten Pierre de Chantecoq
rieben. Im Dep. Aisne war es früher Sitte, daß schwangere Frauen sich von der Spitze
eines stark geneigten flachen Steines herunter gleiten ließen in der Hoffnung dadurch eine
leichte Geburt zu erlangen. Zu Décines (Rhône) hockten früher unfruchtbare Frauen auf
einem Pierre Frite genannten Menhir, der mitten auf einem Felsen stand. In den Basses-
Pyrénés gibt es einen Pierre des Epoux genannten Stein von konischer (phallischer) Form,
zu dem der nächste Verwandte des Bräutigams die Braut nach der Trauung führt. Hier muß
sie mit ihrem rechten Fuß in einen in den Stein gehauenen Einschnitt treten und den linken
Fuß in die Luft halten, während dessen sie die Glückwünsche der sie begleitenden Hoch-
zeitsgäste entgegennimmt. — Auch das Tanzen der Neuvermählten um einen Menhir scheint
zu den Fruchtbarkeitsriten zu gehören, wie es zu Graçay (Dep. Cher) um den Pierre de la
Mariée Sitte ist. Alle diese Gebräuche finden ihre Erklärung in der Voraussetzung, daß die
Menhirs ursprünglich Symbole des Phallos waren, also des zeugenden Prinzips.
Mit der Zeit mag vielfach die Erinnerung an den eigentlichen Grund für die an den Men-
hirs geübten Kultgebräuche verloren gegangen sein. Man ging mit der Zeit dazu über, an
ihnen wohl noch gewisse Handlungen vorzunehmen, die sich aber nicht mehr auf das Ge-
schlechtsleben bezogen, sondern dazu dienen sollten, ganz allgemein Gesundheit und Kraft
zu verleihen, von Krankheit zu befreien u. a. m. Auch suchten heiratslustige junge Mädchen
solche Steine auf, um zu erfahren, ob sie Glück in der Ehe finden würden usw. Es brauchten
dies keineswegs mehr Menhirs zu sein, sondern jeder beliebige Felsen war für die Ausführung
der alt überlieferten Gebräuche geeignet. In Frankreich begegnet man verschiedentlich
solchen Roches écriantes (écrier im Platt = gleiten, rutschen), auf denen die Mädchen zumeist
mit aufgehobenen Röcken herunter rutschten. Im Norden des Dep. Ille-et-Vilaine gibt es
eine ganze Reihe solcher Blöcke, auf denen Mädchen, die gern einen Mann haben wollen,
herab rutschen; manche dieser Steine sollen von diesem, oft genug Generationen hindurch
geübten Brauch eine spiegelglatte Oberfläche bekommen haben, wie der Quarzblock zu
Lesmon (Côte du Nord), der die Form einer abgerundeten Pyramide besitzt. Wenn beim
Herabgleiten von ihm die Mädchen, die sich dabei die Röcke hochheben müssen, unten an-
154
GEORG BUSCHAN
kommen, ohne sich irgendwie die Haut zu verletzen, dann haben sie nach dem Volksglauben
Aussicht, noch im gleichen Jahre in den Hafen der Ehe zu laufen. Von einem großen Menhir
zu Locmariaquer (Dep. Morbihan) erzählt man sich, daß früher jedes Mädchen, das sich im
kommenden Jahre gern verheiraten wollte, in der Nacht nach dem ersten Mai auf ihn herauf-
kletterte, ihre Kleider samt dem Hemd hochhob und sich herunter gleiten ließ, obwohl dieser
Menhir die stattliche Höhe von 12 Metern aufweist. Es ist daher wohl wahrscheinlicher, daß
die Mädchen sich nicht direkt von ihm, sondern von einem der ihn umgebenden vier Blöcke,
die später zerschlagen wurden, herunter ließen. — In dem Dep. Aisne gibt es in mehreren
Dörfern Steine, die Pierre de la Mariée heißen. Ursprünglich mögen sie auch wohl Gegenstand
der beschriebenen Kultgebräuche gewesen sein, später indessen dienten sie jedoch der Be-
lustigung des Volkes. Am Tage ihrer Hochzeit mußten die jungen Eheleute auf sie klettern,
sich oben auf einen Holzschuh setzen und sich auf diesem herabgleiten lassen. Je nachdem
sie glatt oder mit Hindernissen, rechts, links oder in der Mitte unten ankamen, zogen sie
daraus die Folgen für ihr künftiges Eheleben. Wenn beim Herunterrutschen der Holzschuh
zerbrach, dann riefen die Zuschauer der jungen Frau zu: „Sie hat ihren Holzschuh zer-
brochen“, was gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer Jungfrauenschaft sein sollte. In meh-
reren Teilen Frankreichs, die weit von diesen Orten entfernt liegen, bezeichnet man den Ver-
lust der Jungfräulichkeit noch heute mit dem Ausdruck ,,seinen Holzschuh zerbrochen
haben“, was darauf schließen läßt, daß dort ähnliche Gebräuche bestanden haben müssen,
wie bei dem oben genannten Menhir. Von dem Menhir zu Saint-Samson (Côte du Nord) be-
hauptet das Volk, daß derjenige, der das Kunststück fertig bringe auf seine Spitze zu ge-
langen, in dem betreffenden Jahre noch heiraten werde. Der gleiche Erfolg wurde dem
Mädchen zu Saint-Etiennes en Coglès (Ille-et-Vilaine) prophezeit, dem es gelänge auf den
dort befindlichen Näpfchenstedn zu kommen und seine Geschlechtsteile an seiner Spitze
zu reiben.
Das Herunterrutschen und dasReiben an den vorgeschichtlichen Steinen wurde später
hier und da durch den Brauch ersetzt, auf den betreffenden Felsen einfach heraufzuklettern
und hier irgend etwas hinzulegen, was wohl ursprünglich ein Opfer bedeuten sollte. In
Colombiers, sowie in der Umgegend von Bayeux mußten junge Leute, die sich bald ver-
heiraten wollten, auf die Spitze eines stehenden Steines steigen, hier ein Geldstück nieder-
legen und sodann herabspringen. Zu Montault (Ille-et-Vilaine) ließen die Mädchen, wenn sie
den Menhir herunter geglitten waren, auf ihm ein Stückchen Stoff oder Band zurück. In der
ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts legten heiratslustige Dirnen in die Spalten der Men-
hirs zu Long-Boe (Seine-Inférieure) Wollflocken und Amulette hin. Am schon genannten
Menhir Pierre Frite im Tal von Lunain (Dep. Seine-et-Loire) findet sich in jeder Ritze und
in jedem Loch ein Nagel oder eine Nadel hineingesteckt, die von jungen Leuten herrühren,
die dies in der Hoffnung auf Heirat taten.
Auch in Belgien gibt es die beschriebenen Rutschsteine. In der Wallonie z. B. pflegten
junge Mädchen und Burschen, wenn sie am 25. März dem Gottesdienst in der Kirche Notre-
Dame de Ride-Cul beigewohnt haben, auf die Spitze eines ebenso genannten Felsens zu
klettern und sich auf kleinen Reisigbündeln herunter gleiten zu lassen. Aus der Art und
Weise, wie dieses Herabrutschen verläuft, zogen sie ihre Schlüsse für die Zukunft. Wenn es
durch ein Hindernis gestört wurde, mußten sie noch lange auf die Hochzeit warten; wenn
Burschen und Mädchen sich dabei umarmten, so zog man daraus den Schluß, daß sie sich
einander gewogen waren; wenn sie zusammen stießen, schloß man auf das Gegenteil: wenn
sie sich umarmten und gemeinsam sodann herunter rutschten, so war dies ein Beweis, daß
sie gut zu einander passen müßten.
Der Umstand, daß beim Herabgleiten von den Steinen, im besonderen von den Menhirs
oder auch beim Reiben an ihnen die Mädchen verschiedentlich die Röcke hochheben, also
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS UND SEINEN WEITEREN AUSBAU 155
ihre Geschlechtsteile mit dem Felsen in Berührung bringen, ferner daß es fast ausschließlich
Angehörige des weiblichen Geschlechts sind, die sich diesem Brauche unterziehen, oder, falls
Männer es auch tun, nur Eheleute in Betracht kommen, und schließlich der Umstand, daß
es bei diesen an den Menhirs vorgenommenen zeremoniellen Handlungen in der Hauptsache
sich um Fruchtbarkeitsriten handelt, alles dieses spricht deutlich dafür, daß die Menhirs,
wie überhaupt aufrecht stehende Steine bei den Menschen der grauen Vorzeit die Zeugungs-
kraft versinnbildlicht haben, und daß man von einem symbolischen Akt, den die Frauen
und Mädchen an ihnen Vornahmen, einen Einfluß auf ihre Fruchtbarkeit erhoffte, der nach
dem primitiven Glauben der Völker von ihnen ausging. Die vorstehend angeführten Tat-
sachen wurden der Arbeit Sebillots entnommen.
In Frankreich, und vereinzelt auch anderwärts kommen noch Menhirs vor, die nicht
mehr nackte Steine sind, sondern gewisse menschliche Züge an sich tragen, die sogen.
Statues-Menhirs, wie die französischen Forscher sie benannt haben. Wie Octobon jüngst in
einer umfangreichen interessanten Arbeit, die sich mit diesen Menhirformen in Frankreich
beschäftigt, gezeigt hat, lassen eine Anzahl Einzelheiten an ihnen deutlich erkennen, daß
bei ihrer Anfertigung noch unbewußte, aus der Vergangenheit überlieferte phallische Vor-
stellungen den Künstler beseelt haben. Diese Statuen sind stets mit einem um den Rumpf
horizontal verlaufenen Gürtel versehen; durch diesen Pseudogürtel wird dieser wie der Penis
in zwei Hälften abgeteilt, also in die Eichel und den Gliedschaft. Das nur durch ein paar
Striche angedeutete Gesicht dieser Statuen-Menhirs sitzt merkwürdiger Weise ganz oben
an der Spitze und pflegt eine dreieckige Gestalt aufzuweisen, in der man eine Erinnerung an
die schifförmige Grube der Harnröhre erblicken kann. Sie tragen zumeist auch eine Art
Wehrgehänge (Bandelier) über die Schulter, das auf dem Rücken immer einen, auch wohl
zwei Bänder senkrecht nach unten zum Gürtel ausstrahlen läßt. Dieser absteigende Ast des
Schmuckstückes wird von Octobon als das Bändchen (Frenulum) und die Voluten zu seinen
beiden Seiten als die Falten gedeutet, die es an der Unterseite des Schaftes begrenzen. Der
Kopf ist an den Statuen-Menhirs niemals durch eine Abschnürung abgesetzt; ein Hals fehlt
ihnen daher vollständig., desgleichen Schultern. Die Arme sind somit ganz kurz; die etwa
vorhandenen Beine sitzen direkt am Gürtel. Nach alledem kann es keinem Zweifel unter-
liegen, daß sich hier gewisse Anklänge an die Merkmale eines männlichen Gliedes nicht
ableugnen lassen. Somit wird unsere Behauptung, daß die Menhirs ursprünglich phallische
Bedeutung hatte, von neuem bestärkt.
Wie ich schon andeutete, übertrug der Volksglaube die den Menhirs zugeschriebene
und auf das weibliche Geschlecht ausstrahlende Fähigkeit der Fruchtbarkeit auch auf an-
dere Steine, die nicht phallische Formen hatten, sogar auf direkt horizontal liegende. In
den nordischen Ländern knüpfen sich ähnliche Kulthandlungen wie oben geschildert an
solche flache, breite, wagerecht liegenden Steine, die im Volksmunde Braut- oder Hoch-
zeitssteine (brudstenar, broellopsstenar, in Schweden, bruthaddo in Norwegen) auch Braut-
bank und Brautstuhl in Deutschland heißen. In Schweden finden sich solche häufig an den
ältesten Kirchen des Landes, den sogen, Opferkirchen. Auf sie tritt die junge Frau, auch
wohl beide Jungvermählte nach der Trauung, um sich dem versammelten Volk zur Schau
zu stellen und die Glückwünsche entgegenzunehmen. Auch ein Umgehen des Steines von
Seiten der Hochzeitsgäste kommt vor. Aus dem südlichen Norwegen wird von großen
flachen Steinen berichtet, auf denen die Braut bei ihrer Rückkehr aus der Kirche ihr Pferd,
auf dem sie ritt, zum Stehen bringen mußte; brachte sie es fertig, daß das Tier mit seinen
Vieren ruhig stehen blieb, dann erblickte man darin eine gute Vorbedeutung für die Ehe.
Auch in Deutschland bestanden früher ähnliche Sitten, In der Stadt Frankfurt a. M. gab
es früher vor der ältesten Kirche der Stadt, dem Dom, den sogen, heißen Stein. Auf diesen
mußten bis zum Jahre 1807 Braut und Bräutigam unmittelbar nach ihrer Ankunft an der
GEORG BUSCHAN
156
Kirche einander die Hände reichen und sich unverbrüchliche Treue geloben, worauf der
Pfarrer ihnen Wein über die Hände goß und dann erst zur richtigen Trauung und Einseg-
nung des jungen Paares schritt. Der Glaube an die Fruchtbarkeit ausstrahlende Kraft der
Steine wurde schließlich auch auf beliebige Steingebilde übertragen. So ist es nur zu er-
klären, daß der sogen. ,, Stuhl der heiligen Lucie“, ein Steingebilde in der Nähe von Verdun,
das die ungefähren Umrisse eines sitzenden weiblichen Wesens erkennen läßt, von unfrucht-
baren Frauen aufgesucht wird, um Kinder zu bekommen. Es wird von ihm erzählt, daß be-
reits Anna von Österreich vor der Geburt Ludwigs XIV. aus diesem Grunde dort gewesen
sei. In gleicher Weise findet folgende Geschichte ihre Erklärung, die vor kurzem das Neue
Wiener Journal berichtete. Im botanischen Garten von Sarajevo wurde eine Dame beobach-
tet, wie sie sich an einem dort aufgestellten Grabobelisken zu schaffen machte. Als man
näher zusah, stellte sich heraus, daß sie kleine Stücke aus dem Stein herausbrach, und daß
dieser bereits, wohl von ähnlichen Prozeduren, die schon vordem an ihm vorgenommen
waren, bereits so dünn geworden war, daß er umzustürzen drohte. Nach der Ursache dieser
sonderbaren Handlung befragt, erklärte die Dame, daß sie die abgebrochenen Obelisken-
stücke zermalmen und dann herunter schlucken wollte, um dadurch des Kindersegens teil-
haftig zu werden, was eine Freundin aus Belgrad ihr geraten habe, die bereits auf diese
Weise Mutter geworden sei; sie bäte dringend ihr die abgebröckelten Steinstücke zu be-
lassen, damit ihr Eheglück nicht durch die ihr bis dahin versagte Nachkommenschaft gestört
würde.
Die Menhirs finden sich über ganz Westeuropa bis nach England hinauf und über Süd-
europa, sowie über Nordafrika verbreitet; ihr Verbreitungsbezirk erstreckt sich noch weit
darüber hinaus, nämlich über Vorderindien bis nach Südostasien und selbst bis auf die In-
seln der Südsee. Ich habe hier nicht nur die aufrecht stehenden Steine im Sinne, die dem
Shivakultus in Indien dienen, sondern auch große Monolithen, ähnlich den europäischen
Menhirs. Von den Khasi, Naga und Tschin in Assam und Westbirma werden gegenwärtig
noch senkrecht stehende Steine zum Andenken an bestimmte Personen, in denen man sich
die Seele des Abgeschiedenen wohnend denkt, errichtet; an ihrem Fußende wird zumeist noch
eine flache Steinplatte hingelegt. Interessant ist nun, daß man den aufrecht stehenden Stein
als männlichen, den wagerecht liegenden als weiblichen bezeichnet. Es sei auch daran er-
innert, daß bei der Feuererzeugung durch
Quirlen der stehende Stab, der in Bewe-
gung gesetzt wird, als das männliche Holz,
das liegende Brett, in dem er das Feuer
durch Reibung erzeugt, als das weibliche
bezeichnet wird.
Phallosähnliche aufrecht stehende Steine
wurden auf Neukaledonien, Neuseeland, Ha-
waii, den Osterinseln und anderwärts ge-
funden (Abb. 3) Sie genossen bei der Bevöl-
kerung, die ihre Bedeutung oft nicht mehr
kannte, was auf ein hohes Alter schließen
läßt, den Ruf der Heiligkeit. Auch standen
sie in dem Rufe, Fruchtbarkeit durch Be-
rührung herbeizuführen. Ebenso hat man in
Afrika in den verschiedensten Gegenden phallosartige Steine gefunden, häufig mitten im
Urwalde stehend (Abb. 4). Verschiedentlich war auch hier der jetztlebenden Generation
die Erinnerung an ihre ursprüngliche Bedeutung geschwunden. Berühmt sind in dieser Hin-
sicht die Ruinen von Groß-Simbabwe geworden, wo, wie man aus den zahlreichen Phallos-
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS UND SEINEN WEITEREN AUSBAU 157
funden schließt, sich eine Hauptstätte dieses Kultus vor alten Zeiten (Phönizier ?) befunden
haben muß. Zwei noch zum großen Teil erhaltene große Türme von konischer Form werden
als Symbole des Phallos angesprochen (Abb. 5)-
Abb. 4. Steinphallus aus dem
Innern Afrikas.
Abb. 5. Turm aus dem Elliptischen
Tempel von Simbabwe.
In Amerika sind es vor allem der altmexikanische und der altperuanische Kulturkreis,
in deren Religion Phallossteine eine wichtige Rolle spielten. An verschiedenen Stellen von
Yukatan wurden aufrecht stehende Steine aus jener Zeit gefunden, die oft genug einen in
Erektion befindlichen Penis
naturgetreuwiedergeben. Seler
und Maler entdeckten solche
in der Nähe der Tempelruinen
von Uxmal in Yukatan. Der
letztere sah seiner Zeit eine
200 m lange und etwa 10 m
breite Straße zwischen dem
genannten Ort und Ticul, zu
deren beiden Seiten Stein-
phalloi, die ganz realistisch
wiedergegeben waren, standen.
Aus der Eichelöffnung des
einen war ein Baum herausge-
wachsen (Abb. 6). Später war
dieser eingegangen, die Kinder
aber pflegten in Erinnerung
an ihn in sein Orificium exter-
stellungen des männlichen Gliedes von mächtigen Dimensionen.
Neben diesen aufrecht stehenden Steinen, die naturgetreu einen männlichen Penis
wiedergeben, gibt es im Bereiche des altmexikanischen Kulturkreises noch aufrecht stehende
Steine von einfacher Pfeilerform, die auch Phalloi vorstellen sollen, was daraus hervorgeht,
daß sie zum Fruchtbarkeitskultus in Beziehung stehen. Verschiedene Reisende haben solche
Abb. 6. Steinphallus aus Uxmal
(Yukatan).
num noch immer Blumen zu
stecken. Bis zum Jahre 1890
stand vor dem Municipialge-
bäude von Yahualica (Distrikt
Huejutla im Staate Hidalgo)
ein 1,56 m hoher Phallos aus
Stein, den man damals ge-
legentlich von Festen zu um-
tanzen und dabei zu berühren
pflegte, offenbar um fruchtbar
zu werden. Im genannten Jahre
kam er in das Archäolog.
Nationalmuseum von Mexiko,
wo der Besucher eine ganze
Reihe ähnlicher Steinphalloi
erblicken kann. Auch das
Museum von Merida in Yu-
katan besitzt derartige Dar-
21 B aessler- Archiv.
158
GEORG BUSCHAN
gefunden, vor denen die einheimische Bevölkerung noch immer beteten und im besonderen
Frauen den sie vorstehenden Gott um Kindersegen anflehten. Schon aus dem Mittelalter be-
sitzen wir Nachrichten, daß diese Ben-Pfeiler, wie sie hießen, Monolithen von 2% Yard
Höhe von den Eingeborenen angebetet wurden; sie wären vor ihnen niedergekniet, hätten
sie mit Blumen und Blätterguirlanden geschmückt, sich mit den getrockneten Blättern die
Brüste gerieben und hätten die Blätter schließlich zu Hause aufbewahrt. Noch gegenwärtig
tun dies die Frauen in der gleichen, hergebrachten Weise. Es handelt sich also hierbei auch
wieder um einen Fruchtbarkeitsritus. Das Wort Ben erklärt Brinton mit Mensch, Mann. —
Von den Indianern aus Honduras berichtet Palacic 1576, daß das Blut, das bei der Be-
schneidung floß, von den Priestern aufgefangen und einem Idol in Gestalt eines runden
Steines, d. i, einer Säule, Ycelace genannt, dargebracht wurde, das zwei Gesichter, nach
vorn und hinten je eines gerichtet, und viele Augen hatte. Die Säule stellte den Gott des
Lebens dar. Auch die Frühlingsgottheit Xopancale hueg Talloc wurde von den Altmexi-
kanern des öfteren als ein Pfeiler ohne Kopf auf einem Piedestal verehrt. Von dem Bischof
Landa wird etwas ähnliches von den Maya überliefert.
Mit der Ausbreitung der mexikanischen Kultur nach dem Süden verbreitete sich auch
der Phalloskultus dorthin. Daher begegnen wir ihm auch bei den alten Peruanern. Wie von
den zeitgenössischen Schriftstellern berichtet wird, verehrten die Peruaner, als die Spanier
mit ihnen bekannt wurden, aufrechtstehende Steine, die sie in ihren Pflanzungen und auf
ihren Äckern errichtet hatten, als Symbole der Zeugungskraft und Fruchtbarkeit. Girard
de Raille traf später noch eine Menge solcher an, von denen manche innerhalb einer stei-
nernen Umfassungsmauer standen; er erblickt in dieser Anordnung die Symbolisierung der
Vereinigung des männlichen und weiblichen Zeugungsprinzips. Nach Juan de Batanzos stand
in der Mitte des großen Tempelhofes des Sonnengottes zu Cusco eine Säule in Gestalt eines
Zuckerhutes, die ganz mit Gold bedeckt wrar. Sicher stand auch sie zum Fruchtbarkeitskult
in Beziehung,
Die Menhirs der Vergangenheit haben ihre Weiterentwicklung in den himmelanstreben-
den Kultbauten der verschiedensten Religionen erfahren, denen jene Heiligtümer ehrwür-
digen Alters als Vorbilder gedient haben, so den etruskischen Grabdenkmälern (Cippi), den
islamitischen Gebettürmen (Minares), den buddistischen Reliquienschreien (Stupas), den
siamesischen Prangtürmen, und selbst den christlichen Kirchtürmen. Wer
die in den italienischen Museen aufgestellten
Cippi gesehen hat, kann sich des Eindrucks
nicht erwehren, daß hier eine Nachbildung
des Phallos vorliegt. Wer unter mohammeda-
nischen Gebettürmen Umschau hält, der wird
z. B. von den hier abgebildeten Minares vom
Fatshabad bei Buchara (Abb. 7) und Musallah
(Abb. 8), dieselbe Überzeugung gewinnen.
Das gleiche gilt von den Stupas. Bei den
Prangtürmen Siams (Abb. 9) erhält man,
abgesehen von ihrer dem Penis ähnlichen
Form, die Gewißheit für die gleiche Annahme
durch die Tatsache, daß das Volk den aus
ihrem oberen Ende hervortretenden, tannen-
reis ähnlich gegliederten Metallstab als „den
Samenstrahl der Gottheit“ erklärt. Und bei
den Türmen der christlichen Religionen ?
Hier braucht man sich nur die in Süddeutsch-
Abb. 7.
Minare von Fatshabad
(Buchara).
phot. Carmen Hertz.
Abb. 8. Minare
von Mussalah
(Herat).
ÜBER DEN URSPRUNG DES PHALLOSKULTUS UND SEINEN WEITEREN AUSBAU
159
land und darüber hinaus verbreiteten zahlreichen Zwiebeltürme (Abb. 10) anzusehen, um
eine Übereinstimmung mit dem Phallos herauszufinden. Auf Grund der in diesem Aufsatz
mitgeteilten Tatsachen und angestellten Erwägungen besteht für mich nicht der geringste
Zweifel, daß die angeführten Kultgebäude, welcher Religion sie auch angehören mögen,
Abb. 9. Prangturm in einem Tempelbezirk
von Bangkok.
als überlieferte Formen uralter Heiligtümer anzusehen sind, die ursprünglich mit einer
Verehrung des männlichen Gliedes im Zusammenhang standen, dann aber in dieser ihrer
Bedeutung verblichen und nur noch in der Erinnerung weiter lebten. Wir haben es also hier
sozusagen mit einer Art geistigen Atavismus zu tun.
21
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER
GEBRAUCHSKUNST IM GRASLAND VON KAMERUN
VON
ECKART VON SYDOW
Die Kenntnis der Ornamentik des Kameruner Graslandes ist — außer dem ganz all-
gemein gehaltenen Auftakt zur afrikanischen Ornamentforschung durch die Arbeit Heyd-
richs im Internat. Archiv für Ethnographie, XXII. Bd. (1914), Suppk, -—-in beträchtlichem
Maße durch die Monographie Paul Germanns über ,,Das plastisch-figürliche Kunstge-
werbe im Grasland von Kamerun“ (Jahrb. d. Stadt. Mus. f. Völkerk. Leipzig, IV. Bd. [1910],
1911) gefördert worden. Doch beschränkte sich diese Untersuchung auf den figürlichen Mo-
tivschatz; Mensch, Stier, Elefant, Leopard, Hundsaffe, Kaninchen, Chamäleon, Vogel, Ei-
dechse, Krokodil, Schlange, Spinne. Und so lag es nahe, als Gegenstück eine besondere Ar-
beit der abstrakten Ornamentik innerhalb der Gebrauchskunst des Kameruner Graslandes
zu widmen, für deren Motive auch die Abhandlung „Afrikanisches Kunstgewerbe“ von Her-
mann Baumann in H. Th. Bosserts „Geschichte des Kunstgewerbes aller Zeiten und Völ-
ker“, II. Bd, (S. 61, 94ff.) Hinweise gegeben hat.
Der Begriff des „abstrakten“ Ornamentes, im Unterschied zum naturalistischen,
ist zwar in der Theorie sehr einfach zu formulieren, insofern er grundsätzlich mit unnatura-
listischen, speziell geometrischen Motiven ident gesetzt wird. In der Praxis ist die Lage nicht
ganz so eindeutig. Denn es gibt Motive, die nach ihrer Erscheinung und auch nach ihrer
Bezeichnung durch die Eingeborenen als Abkömmlinge von Naturerscheinungen oft noch
deutlich erkennbar sind. Dies gilt, nach Prof. Ankermanns Mitteilung, für das Spinnen- und
Frosch-Motiv. Doch werden unter diese Bezeichnungen auch solche Muster subsumiert, die
— besonders bei schematisierender Reihung — einen absolut dekorativen Charakter zeigen,
wie denn auch z. B. die meisten der relativ naturalistischsten Spinnenfiguren keineswegs
eine Reproduktion der Naturgestalt darstellen. P. Germann (1. c., S. 22 f.) weist mit Recht
darauf hin, daß Eidechse1 und Spinne sehr bald dem Schicksal schematischer Behandlung
verfallen und, ebenso wie die Schlange, in das Gebiet der reinen Ornamentik überleiten. Ange-
sichts solcher Schwankungen zwischen Naturnähe und abstrakt-dekorativem Geschmack
schien es amrichtigsten, den Ausdruck „abstrakt“ in weitherzigem Sinnezu interpretieren. Wir
werden also auch das Spinnen- und Frosch-Motiv im Rahmen unserer Ausführungen behandeln.
Ebenso werden wir das Rosetten-Ornament in den Kreis der Betrachtung ziehen,
da es durchweg einen rein geometrischen Charakter zeigt und überdies vielfach als Derivat
der Froschfigur auftritt.
Im Folgenden geben wir eine Übersicht über Arbeiten der Schnitzkunst (Gefäße,
Bettfüße, Trinkhörner),—Töpfer ei (Gefäße), — Kürbisgefäße, — Flechtarbeiten und
Gewebe (Basttaschen). Nicht in Betracht gezogen sind: Perlen- und Metallarbeiten, Klei-
dung und Pfeifenköpfe usw, — Uber die lokale Herkunft der erwähnten Stücke, die gr.
1 Es erscheint mir am richtigsten schon an dieser Stelle
darauf hinzuweisen, daß die Deutung der Ornamente
auf den Wandungen der Speisebehälter, die Germann
(1. c. Taf. IV, 28 u. 29) abbildet, als Eidechsen (Germann,
1. c. S. 22) nicht zutrifft. Wie mir Prof. Ankermann
(am 7. Mai 1932) schrieb, sind ihm in Bali und Bamum
die Tierfiguren von der Art, wie sie auf den Abbildungen
bei Germann zu sehen sind, „immer als Frösche oder
Kröten“ bezeichnet worden. „Eidechsen, die als Arm-
tätowierung dort sehr häufig sind, haben stets einen
langen Schwanz, wie auch bei Germann auf Abb. 6,
Taf. I, und Abb. 43, Taf. VII. Die Frösche sind schwanz-
los; auf Abb. 28 haben sie dafür an jedem Körperende
einen Kopf, eine ornamentale Verdoppelung, die auch
sonst vorkommt, z. B. bei den Hundefiguren auf den
Strohfriesen der Bamum-Häuser.“
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GEBRAUCHSKUNST IM GRASLAND VON KAMERUN t 6 i
T. der Forschungsreise von Prof. Ankermann (vergl. Zeitschr, f. Ethnol. 42 Bd. (1910),
S. 288ff.) verdankt werden, gibt das Register am Schluß der Arbeit Auskunft.
In dem vorliegendem Aufsatz beschäftige ich mich lediglich mit der Ornamentik als
solcher. Späteren Ausführungen muß es Vorbehalten bleiben, weitere Probleme, wie z. B.
das Verhältnis der jeweiligen Kunstübung zur Technik, oder den Zusammenhang der
Ornamentik Kameruns mit der anderer Gebiete zu studieren.
Das Material entstammt dem Berliner Museum für Völkerkunde, — für die
Genehmigung des Studiums und der Publikation bin ich den Herren Prof. Walther Leh-
mann und Prof. Schachtzabel zu besonderem Dank verpflichtet.
Der allgemeine Charakter der abstrakten Ornamentik des Kameruner Graslandes
ist der Art und Weise analog, an die wir dürch die dortige figürliche Plastik gewöhnt sind.
Wie ich in meinem „Handbuch der afrikanischen Plastik“ (1930, Berlin) I. Bd., S. 245, aus-
geführt habe, ist allen Graslandfiguren ein Überfluß an Lebensfülle zu eigen, aus dem sich
ein Moment der Spannung zwischen Kunstform und Naturgestalt ergibt. Diese Spannung
ist durchweg lebendig und kaum jemals überwunden. Der Glätte und beherrschten Klarheit
der Joruben- und Kongoplastik steht hier eine viel naivere, in formalem Sinne weniger
„gekonnte“ Kunstart gegenüber. Wenn man in H. Baumanns Arbeit (1. c., S. 109) die
Trinkhörner der Bushongo und des Kameruner Graslands, oder (1. c. Taf. IX) die Orna-
mentik auf den Töpfen der Baya und des Graslandes untereinander vergleicht, so kann man
aus dieser Gegenüberstellung recht gut die Eigenart des Kameruner Graslandes in formaler
Beziehung entnehmen: es ist ihr zu eigen eine größere Beweglichkeit und Lebendigkeit, die
aber mit einer gewissen Nonchalance in der Durchführung zusammengeht. Man mag zu-
gunsten des Graslandes geltend machen, daß ihm jede Neigung zur Erstarrung und zur
Routine fehlt, — dafür kommt aber auch die Meisterschaft selten zum Ausdruck, die nur
auf dem Boden wiederholter Durcharbeitung des gleichen Motivs erwachsen kann.
I. SCHNITZEREI1.
HOLZ-GEFÄSSE
Haupt-Motive der Wandung:
1. Eckige Formen.
Es überwiegen in dieser Gruppe weitaus die Dreiecke, und zwar mit Schraffur, zumeist
mit schräggestellten, seltener mit wagerechten oder senkrechten Rillen (20 715/16 (Abb. 1),
Abb. 1. Holzschale, Bamum.
Berlin, M.f. V., IV C 20 7i6a,b. H.: 45 cm, Lge.: 67cm.
Abb. 2. Holzschale, Nyos.
Berlin, M. f. V., III C 24955. H.: 28 cm.
1 Im Folgenden werden die Museumsobjekte ohne Abteilungs-Bezeichnung aufgeführt. Bei evtl. Anfragen wäre
jeweils III C vor die Ziffer zu stellen.
i 6 2
ECKART VON SYDOW
24081, 24084, 24117, 24851, 24907, 24955 (Abb. 2), 25 393/94, 25 396), gelegentlich auch
ohne Schraffur, durch Aussparung (25 393/94, 25 400). — Ungleich seltener werden Vier-
ecke mit Reliefpunkten verwandt (20355, 21 650).
2. Runde Formen.
Hier finden sich Halbrunde: Halbkreise oder
Halbovale, und zwar mit Schraffur, zumeist mit
senkrechten Rillen (21067, 24077, 24116, 25396,
25400, 26508, 29721), seltener mit Reliefpunkten
(24 073/74), ferner Froschmuster (Nr, 25 379,
25382 (Abb. 3), 25401, 25403).
3. Lineare Formen, — linear wird hier in
erweitertem Sinne gebraucht, umfaßt also auch
Bandstreifen.
Am wichtigsten ist die Wagerechte (21 650,
24°73/74 (Abb.4), 24077, 24083, 24116 (Abb. 5),
26 508, 29 721). Weitaus seltener ist das Frosch-
muster in seiner ganz ornamentalisierten Aus-
Abb. 3. Holzschale, Bamum. Fügung (25 384, 25 391).
Berlin, M. f. V., III C 25382. H.: 39 cm. S el t n er e Mo t i v e der Wandungsornamentik
sind unter den eckigen Formen: Quadrate (24633),
Raute (24851), Rosette (25 388), — unter den linearen Formen: Fischgrätenmuster (24084),
Mäander (25 387) und Zickzack (20 704).
Zumeist ist der obere Abschlußrand für sich ornamentiert. Unter den eckigen For-
men finden wir nur Dreiecke (25 391, 25 393), — unter den runden Formen: Ovale (25 379).
Abb. 4. Holzschale, Bafum.
Berlin, M.f. V., 111C 24074
H.: 35 cm.
Sehr viel zahlreicher finden sich Beispiele von linearen Formen, so Mäander (25 391, 25
403/04), parallel laufende Rillen (21256, 24851, 26508), Fischgrätenmuster (24081,
24955, 24084), auch das Froschmuster (25 384).
Abb. 5. Holzschale, Bafum.
Berlin, M.f.V., III C 24116. H.:42 cm.
Die Motive und ihre dekorative Verwendung,
Vielfach überzieht ein und dasselbe Motiv in mehrfacher Wiederholung die ganze Fläche
der Wandung. So Zickzackreihen (20 704), Frosch- und Mäanderfiguren (25 379, 25 382,
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GEBRAUCHSKUNST IM GRASLAND VON KAMERUN x 63
25 384, 25 387, 25 391, 25 401), Dreiecke (20 715/16, 24 907, 25 404) Karos (24 633), Rauten
(24 851), Halbkreise (21 067).
Seltener ist die Kombination verschiedener Motive. Zumeist erfolgt sie in horizontaler
Aufteilung der Wandungsfläche, so wenn wagerechte Rillen die obere Flächenpartie und
Dreiecke (24083) oder Halbrunde die untere Flächenpartie dekorieren (24073/74, 29 721).
Viel seltener erfolgt die vertikale Gliederung, so mit Hilfe von Dreiecken und Halbrunden
(25 400) oder Vierecken und Fischgrätenmuster (20 355) oder schraffierten und glatten
Dreiecksformen (25 393/94). Gelegentlich macht sich hierbei eine Neigung zur Unregelmäßig-
keit geltend, wie bei Nr. 25 393, 25 389, indem leichte Variationen bei den Entsprechungen
angewandt werden.
Eine Serie von Gefäßen, die aus Bafum stammen (24081, 24084, 24 117, 24955
[Abb. 2]) ist durch ihre einfache und wirkungsvolle Ornamentierung mit zwei langgezogenen,
spitzen Dreiecken (auf jeder Seite) ausgezeichnet, die sich mit ihren Spitzen berühren.
Der Deckel der Schale ist gelegentlich anders ornamentiert, als die Schale selbst.
Immerhin so, daß sein Dekor mit dem der Schale harmoniert. So hat z. B. bei Nr. 25 400
die Schale eine aus Halbrunden und Dreiecken gemischte Ornamentik, während der Deckel
Dreiecke zeigt, oder bei Nr. 25 401 hat die Schale ein Froschfigurenornament, während der
Deckel mit Mäander verziert ist. Bei anderen Stücken, wie Nr. 20 716 (Abb. 1), ist die
Ornamentik beider Teile gleichgeartet.
Verhältnis der Ornamentik zur Gefäßform.
Vielfach scheint die Wahl der Ornamentmotive und ihre Anordnung von dem Be-
streben geleitet zu sein, der Struktur des Gefäßes gerecht zu werden. So überzieht man etwa
ganz gleichmäßig gerundete Wölbungen der Schalen mit gleichförmigem Mäander- und
Froschornament, das sich der Wölbung so gut anpaßt, wie ein Netz, in welchem der Gegen-
stand hängt (25 382, 25 384, 25 387, 25 391), — auch bei halbkreisförmiger Ornamentik
(25 401) weiß der Schnitzer den Raum geschickt zu füllen.
Freilich ist es nur dies Doppelmotiv, das dem Künstler so gute Dienste leistet. Bei an-
deren Motiven, wie Karo, Dreieck, Halbrund, ist die ununterbrochene gleichförmige Ver-
wendung an sich eintönig und in Bezug auf den Gegenstand nichtssagend, da diese Motive
der Wölbung nicht gerecht zu werden erlauben.
Bei der Kombination von verschiedenartigen Motiven ist die Einteilung der Wandung
in einen oberen Teil mit wagerechten parallelen Rillen und in einen unteren Teil mit Halb-
runden, deren Bogen sich nach oben öffnet, gelegentlich sehr zweckmäßig, vor allem bei Ge-
fäßen mit ausgesprochenem viereckigen Grundriß (24074 [Abb. 4]),—hier scheint den Halb-
runden an den Ecken die Funktion der Überleitung aus der eckigen oberen Partie zur Wöl-
bung der unteren Partie zuzukommen. Doch tritt diese Kombination auch bei Gefäßen mit
einfacher Rundung auf, bei denen also eine Überführung in so ausgesprochenerWeise nicht
nötig ist (24 083, 26 508, 29 721).
Vortrefflich wirkt die gliedernde Ornamentik bei einigen Schalen (24081, 24084,
24 955), deren oberer, abgeschrägter Rand mit Fischgrätenmuster verziert und scharf von
der Wandung geschieden ist, während die Wandung durch eine großzügige Dreieck-Orna-
mentik eine vielleicht übertriebene Dramatik des Ausdrucks erhält (Abb. 2).
Der Fuß der Gefäße
Unter „Fuß“ verstehe ich das ganze Untergestell der Schale, auf dem sie ruht. — Als
Regel gilt, daß das Untergestell eine gewisse Luftigkeit besitzt, im Unterschied zur Schale,
die immer als festgeschlossene Form gegeben wird. Im allgemeinen werden vier Stützen be-
vorzugt. Selten begnügt man sich mit einem zweiteiligen Gestell. In Ausnahmefällen wird
164
ECKART VON SYDOW
der Fuß in rundumlaufender Form gegeben, dann aber fast ausnahmslos durchbrochen. —
Die untere Tragfläche selbst wird durchweg als runder oder kantiger Wulst in eckiger oder
Kreis-Form gegeben.
Das Untergestell setzt sich von der getragenen Schale scharf und klar ab und besitzt
seine eigene Formstruktur. DasVerhältnis beider zueinander ist also rein tektonischer, nicht
malerischer oder plastischer Art. Es gibt keinerlei Übergänge von der Schale zum Fuß, —
weder in der Struktur als solcher, noch im Ornament, denn der Fuß ist durchweg unverziert.
Und auch dort, wo die Schale von naturalistischen Figurationen getragen wird (mensch-
lichen Figuren, Spinnen), hat die Figur keinen sichtbaren Einfluß auf die Ornamentik der
Schale (Abb. 5).
Der einzige dekorative Einschlag bei der Bildung des Fußes ist mehrfach eine Aus-
beugung, meist mit scharfer Querkante, die das Moment des Fastens und Tragens anzu-
deuten scheint (21 650, 25 382, 25 388, 25 396, 26 508). Gelegentlich findet man auch eine
leichte Biegung zur Schale hin, die dann nicht ohne eine gewisse Grazie ist (24074 [Abb. 4]).
Im allgemeinen aber überwiegt die Tendenz zur Gradlinigkeit und zur Härte.
Der Standwulst ist fast immer ohne Dekoration (aber Kerbschnitte bei Nr, 25 382,
25 388, Schlangenband bei Nr. 25 387). Er bildet mit dem eigentlichen Untergestell eine
Einheit.
BETTFUSSE
Die Bettfüße haben unten einen ornamentierten Teil, oben einen griffartigen Stab, mit
dem sie in die Lagerstatt eingefügt werden. Der ornamentierte Teil hat zumeist drei Formen:
1. Rundform (Abb. 6), 2. oben abgestumpfte oder abgerundete Dreieckform (Glockenform)
(Abb. 7), 3. viereckige Brettform (Abb. 8). Daneben findet sich, in einem Exemplar der
Sammlung vertreten, 4. eine nach oben sich etwas verjüngende Zylinderform. Die Orna-
mentik überzieht bei allen Formen die ganz.- Fläche, ausgenommen die dritte Gruppe: hier
Abb. 6. Bettfuß, Bamum.
Berlin, M. f. V.,
I1IC 25436. L.: 57 cm.
Abb. 7. Bettfuß, Bamum.
Berlin, M.f.V., III C25467.
Lge.; 23,5 cm.
Abb. 8. Bettfuß, Bafum.
Berlin, M. f. V.,
IIIC 24 170. H.:60 cm.
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GE BRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN j 65
bleibt die unterste Partie des Fußes, die in einigen Fällen abgerundet oder zugespitzt ist,
ohne Ornament.
In Bezug auf die Plastizität der Ornamentik zerfallen die Bettfüße in zwei Arten.
Flach- und Hochrelief tritt bei der I., 2. und 4. Gruppe auf, während die viereckige Brett-
form rein zeichnerische Ziermuster trägt. Diese 3. Gruppe hat auch insofern eine Sonder-
stellung, als bei ihr das Ornament die Fläche in ihrer ganzen Breite überzieht, während bei
den ersten Gruppen die Innenfläche zumeist von einem Randmuster umzogen wird, —•
ferner fehlen bei der 3. Gruppe naturalistische Motive fast ganz, die bei den drei anderen
Gruppen eine beträchtliche Rolle spielen: wie Schlange (25465-—466, 25473c), Vogel
(25 435, 25 437), Chamäleon (25 429, 25 458), naturalistische Froschfigur (25 459).
Bei den runden und dreieckigen Bettfüßen sind die Hauptmotive des Innen-
feldes: Frosch (25417, 25421, 25 433, 25 449, 25 452, 25 467, 25 471), Spinne
(25 420, 25 435—436 [Abb. 6], 25 443), ferner rautenartiges Netzmuster (25 431, 25 461).
Als seltene Motive sind zu notieren; Blütenstern im Kreis (25424, 25452), ferner
vier Halbovale um eine leere Mitte gruppiert (25 430), schließlich eine Kombination aus drei
Spitzovalen um ein Rund gruppiert (25 446).
Der Randstreifen ist zumeist mit einem Mäanderstreifen verziert (25420—421,
25 429—431, 25 443, 25 449, 25 458, 25 461, 25 465, 25 471), — in seltneren Fällen mit
einer Reihe von Runden (25 436—437)? gelegentlich mit einer einfachen Rille (25 424,
25 446).
Die Komposition der Motive ist ihrer Einfachheit angemessen. Das Rund des
Mittelfeldes ist ausgefüllt entweder durch eine einzelne große Figur, oder durch eine Figur,
um die sich analoge Figuren kleineren Formates herumlegen, oder durch einen gleichmäßigen
Überzug mit dem betreffenden Grundmotiv: Frosch- und auch Spinnenfigur geben hierfür
Belege. — In seltneren Fällen werden verschiedenartige Motive zusammengefügt: Rosette
mit Froschfiguren, die sie umkreisen (25 452), Rosette mit Rauten (25 421).
Bei den dreieckigen Bettfüßen liegt eine solche Kombination näher: Frosch mit
Doppelglocke (25 467 [Abb. 7]), Frosch mit Rauten (25 471).
Wenden wir uns jetzt zu den viereckigen Bettfüßen, so herrscht der abstrakte Dekor
fast ausnahmslos. Nur in einem Fall scheint die Froschfigur einem sehr ornamentalisierten
Schema zu Grunde zu liegen (21 715)- Das Hauptmotiv bildet das verschobene Malteser-
Kreuz (24 171, 24 174, 24 176, 24 179). — Alle anderen Motive und Kompositionen sind nur
in einzelnen Beispielen vertreten.
Eine Gruppe mit viereckigem Grundcharakter umfaßt Schachbrettmuster von einem
großen Andreaskreuz durchzogen (24 178), Dreiecke und parallele rechte Winkellinien
(21 714, 24180), Rautenreihen (22430c), rautenartiges Netzmuster (22430a). — Eine Gruppe
mit rundlinigem Grundcharakter zeigt konzentrische Halbrunde (24177), Halbrunde, Spitz-
ovale und Pfeile (24 173/oder 5 ?), Halbrunde mit Spitzen und mit schachbrettartig ge-
musterten Runden in ihrer konvexen Mitte (24 170 [Abb. 8]).
BE SCHNITZTE TRINKHÖRNER
Hauptmotive.
Bei den beschnitzten Trinkhörnern überwiegt der naturalistische Motivschatz. Schlan-
gen, Eidechsen, Vogelköpfe, Chamäleons, menschliche Gesichter und Gestalten nehmen
darin einen großen Raum ein. Daher gibt es nur vereinzelte Hörner, die eine rein abstrakte
Dekoration zeigen, auch wenn man das Spinnenmotiv dazu rechnet.
Dies Spinnenmotiv ist nun am häufigsten vertreten, sei es, daß es allein als Deko-
ration dient (25 590, 25 599, 25 604) oder zusammen mit anderen Figurationen (23 754
22 Baessler-Arcliiv.
ECKART VON SYDOW
166
[Abb. 9], 24477, 24480—482, 25582—584, 25586—587, 25589—590, 25593, 25595,
28988).
Unter den rein geometrischen Motiven stehen an erster Stelle Halbkreise (24477, 25 583,
25 589, 30646), rautenartige Netz-Muster (23 754, 24479, 25 584, 25 587, 30646), Spitz-
ovale (23 677, 25 584, 25 587), Halbovale (24 480, 25 584, 25 587), und Querrillen (23 754,
25 583—584- 25 587).
Abb. 9. Trinkhorn, Bamum. Abb. 10. Trinkhorn, Bali.
Berlin, M. f. V., III C 23754. Lge.: 25,5 cm. Berlin, M. f. V., III C 24478. Lge.: 28 cm.
Zu den seltneren Motiven gehören Kreise (23 705), Dreiecke (dito), Rauten (dito),
Fischgräten (28 988), Mäander (24 477), Schrägstriche (24 477)? abwechselnd wagerechte
und senkrechte Striche (25 583)? Punkte (24 478), Oval (24 478)7 Vierpaß (30 646) und Vier-
ecke (24478 [Abb. 10]; 25 582 [mit Griff]).
Verhältnis der Ornamentik zur Horn-Form
Wir unterscheiden zwei Haupttypen.
Bei dem I. Typ bleibt die Hornspitze frei von Ornamentik, — es wird hier also nur
die untere Wandung dekoriert. Hier gibt es zwei Untergruppen. Bei der einen wird der
Dekor in zwei deutlich zu unterscheidende Teile aufgeteilt, die einander gleichwertig sind
(z. B. 24477—480 [Abb. 10], 24482). Bei der anderen Untergruppe wird die Wandung
gleichmäßig überzogen, also ohne scharfe Trennung von Teilen (z. B. 23 677).
Bei dem II. Haupttyp ist die ganze Fläche mit Ornamenten überzogen, so daß die
Hornspitze nicht freibleibt (25 582—584, 28 988, 33 754 [Abb. 9]). Doch kann man auch
hier zwei Untergruppen unterscheiden, je nachdem eine Trennung der Spitzenpartie
durch Verwendung eines andersartigen Dekors mehr oder minder betont eintritt.
II. TONGEFÄSSE
Die Tongefäße des Graslandes von Kamerun, deren Hauptproduktion nach Anker-
manns Bericht (1. c., S. 305) in Babessi, an der Grenze von Banso, ferner in Bameta, Ba-
male und Babanki, vor allem aber in Bamum zu suchen ist, zerfallen in eine Reihe verschie-
dener Gruppen: Tassen, Becher, Schalen, Töpfe, Kannen und Kelche, die jeweils eine be-
sondere Betrachtung ihres Dekors und seines Verhältnisses zur Gefäßform erfordern. Be-
trachtet man sie zusammenfassend im allgemeinen, so ergeben sich in der Dekoration der
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GEBRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN j 67
Wandung die folgenden Hauptmotive: Dreieck (6820, 19203, 24793, 24797, 24902,
25 000, 25 006, 26 937, 26 942, 26 942a), — Reihen flachgewölbter Runde (19 204, 21 651,
24 803, 24 812, 24 866, 26 628, 26 646), —- senkrechte Rillen (10 572, 24 086, 24 999, 25 497,
25 513, 25 515), •— wagerechte Rillen (24 996—998, 25 004, 25 507—508).
Weitaus weniger zahlreich sind die folgenden Motive: schräge Rillen (24434, 24 449’
25 007, 25 474, 26935), — Fischgrätenmuster (6 817, 6 819, 22 539, 22 557), — Zickzack
(6815, 7706, 10 571, 22538) und Schnurmuster (24452, 24454).
Wenden wir uns dem Fußgestell der Tonschalen zu, so stehen hier unter den Motiven
an erster Stelle: Zickzack (21 651, 22 558, 22 560, 24 866, 25 005), — Halbrunde (24812—813,
26 942), — Spinnenmotiv (25 497, 26937) und Raute (25 513, 25 515).
Von einer Reihe seltener auftretender Motive des Wand- und des Fuß-Dekors wird
bei der Betrachtung der verschiedenen Gruppen die Rede sein.
A. Tongefäße ohne Fuß
1. Tassen, und zwar mit eingezogener Wandung. — Die Aufgabe, dieser eingezogenen
Wandung gerecht zu werden, wird durch die Ornamentik etwas nüchtern, aber ansprechend
derart gelöst, daß der obere Rand und die untere Kante durch wagerechte Rillen betont
werden, während die dazwischen liegende eigentliche Wandung verziert
wird mit senkrechten Parallelrillen (24999 [Abb. 11]), obversen Drei-
ecken und senkrechter Riefelung (25 000), wagerechter Riefelung
zwischen Halbkreisen mit Netzwerk-Riefelung (24 998), Netzwerk-
Riefelung zwischen zwei Komplexen aus Andreaskreuz zwischen senk-
rechten Rillen (24996). . Abb. II. Tontasse, Nyos.
Von diesem Kanon gibt es Abweichungen, z. B. derart, daß die Berlin, M. f. V.,
Randpartie weiter ausgebogen wird und daß der Wandstreifen fort- 111 c 24 999- H.: 7 cm.
fällt, so daß sich sogleich an die Randpartie, die dem üblichen Schema
der horizontalen Parallelrillen folgt, die Dekoration der Unterfläche durch zwei Halb-
kreise mit kleinmaschigem Netzwerk anschließt (24 997).
2. Becher. — Bei zwei Olgefäßen in Becherform finden sich senkrechte Streifen mit
Dreiecken, die abwechselnd wagerecht oder mit Netzwerk schraffiert, bezw. glatt gelassen
sind (25 006), — bei dem zweiten Stück (25 007): in der Mitte der Wandung eine Reihe
konzentrischer Spitzovale, oben und unten flankiert von Halbovalen mit Netzwerk.
3. Rund gewölbte Schalen. — Im allgemeinen ist bei ihnen die Dekoration auf den
oberen Teil der Wandung beschränkt. Und zwar handelt es sich in ihrer Ornamentik bei
einer Gruppe von Stücken um Derivate von Vierfüßerfiguren, die stark ornamentalisiert
worden sind, so daß die Körper und Gliedmaßen sich in lange, schmale Wülste verwandelt
haben, die wagerecht oder senkrecht zur Wandung gestellt werden, — bei einigen Exem-
plaren ist der ursprüngliche, körperhafte Zusammenhang verloren gegangen, so daß die Frag-
mente rein dekorativ wirken; zu solchen Motiven treten dann Rosetten oder auch Halboval-
streifen hinzu (22 526, 22 530 [Abb. 12], 22 533, 22 536/37 [Abb. 13], 24 809). Mit solchen
Rosetten treten bei einigen Schalen die Vierfüßer-Derivate in engere Verbindung, so daß
sich dann eine Doppel-Guirlande am Rande hinzieht (22 544) °der daß ein komplizierteres
Zickzack-Muster entsteht (22 538). Am besten wirkt diese Art der Dekoration bei Gefäßen,
deren Rand eingezogen und vom Schalenbauch durch einen Streifen scharf getrennt ist
(22 529/30). (Vergl. Abb. bei H. Baumann, 1. c., Taf. IX, 6 u. 8).
Bei allen diesen Schalen ist die Bodenfläche durch unregelmäßige Stichreihen aufge-
rauht, mit Ausnahme von 24 809, bei der die Standfläche glatt ist. —
Eine abweichende Dekoration zeigen zwei kleine Schalen: abwechselnd Dreieck mit
Netzschraffur und Doppelreihe aufgesetzter Knötchen als Randornament, während die
168
ECKART VON SYDOW
Standfläche glatt bleibt (24 797), — spitze konzentrische Dreiecke abwechselnd mit Netz-
werk, und zwar als Dekoration der ganzen Wand- und Bodenfläche (24 902). Eine größere
Schale (25 475) umzieht die obere Wandungspartie mit drei Reihen plastischer Knoten, —
Abb. 12. Tongefäß, Bamesso.
Berlin, M. f. V., III C 22530. H : 34 cm.
ihr Rand ist wagerecht eingezogen und mit abwechselnd schräge schraffiertem Dreieck-
muster überzogen.
4. Töpfe und Kannen, mit und ohne Henkel. —• Hier läßt die Ornamentik regelmäßig
den hohen oder niederen Rand frei und überzieht Schulter und Bauch. Bei einer Gruppe
haben wir Motive, die auf die Vierfüßerfigur zurück
zu gehen scheinen, wie wir das schon bei den Schalen
gelegentlich antrafen (s. oben S. 162). Doch werden hier
diese Derivate manchmal in noch willkürlicherer Weise,
als dort, rein ornamental verwertet (22 539, 22 541,
22546, 24442), und zwar auf der Schulterpartie der
Wölbung. (Vergl. Abb. in E. v. Sydow: „Kunst d.Natur-
völker u. d. Vorzeit“, II. Aufl. S. 122, Fig. 1, sowie
H. Baumann, 1. c., Taf. IX, 12).
Bei einer anderen Gruppe von Gefäßen wird die
Schulterpartie durch Schrägstrichlagen verschiedener
Richtung (24434, 26935) oder Fischgrätenmuster (6815,
24 209) oder schraffierte Dreiecke (24 793, 25 474
[Abb. 14]) oder durch gezackten Wulststreifen (24 431)
hervorgehoben, während die ganze Bauchfläche bis zur
Schulter herauf durch unregelmäßige Zickzacklinien
(6815, 24434, 24449, 26935) oder andersartige Strich-
und Stichreihen (24209, 24431) überzogen ist.
... „ r..„ „ Es erscheint als eine Ausnahme, wenn die ganze
Abb. 14. Tongefaß, Bamum. , ’ ö
Berlin, M. f. V., III C 25474. H.: 35 cm. Wölbung durch wagerechte Rillen oben und unten vom
w
m
m
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GE BRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN
I 69
Hals und von der Standfläche abgetrennt und durch senkrechte Rillen in schmale Kom-
partimente aufgeteilt wird, die ihrerseits wieder durch schraffierte Dreiecke willkürlich
ausgefüllt werden (24 449).
In seltenen Fällen wird eine Verbindung zwischen Schulter und Rand des Gefäßes her-
gestellt, die dann einen betont dekorativen Charakter erhält. In einem Falle sind es 13 ge-
wölbte Stützen, die der Randpartie ein stark plastisches Aussehen geben (24 793), im anderen
Fall zwei große Spinnenornamente.
Eine Kanne (24 842) mit abweichendem Dekor teilt ihre Wölbung in zwei Hälften auf,
deren untere Partie das übliche, aber hier prononziertere Zickzackmuster zeigt, während die
obere Partie mit Kaurimuschelmotiven überdeckt und von zwei Reihen kleiner menschlicher
Relieffiguren umkränzt ist, von deren oberer Reihe jeweils eine dreifache Kaurireihe senk-
recht am Hals bis zum Rande emporläuft.
B. Tongefäße mit Fuß.
1. Tass en. — Hier ist die Motivwahl und die Anordnung analog den Tassen ohne Stand-
fuß (s.oben S. 167), zeigt also an den Rändern, bezw. auf der Unterfläche eine Reihe von
Parallelrillen, dazwischen senkrechte und wagerechte Rillen und Netzwerk (25 004) oder
ähnliche Motive und außerdem Dreiecke (25 005).
Der Fuß besteht in Zickzackstreifen (25 005) oder in Dreiecken (25 004), — diese letzte
Lösung wirkt in ihrer Einfachheit und Strenge vortrefflich.
2. Becher. — Hier scheint eine Parallele zur fußlosen Becherform (s. oben S. 167) nicht
gegeben. Ein Deckelbecher (ohne Nr.) umzieht die Wandfläche mit flachplastischen Runden;
ein anderer (26937) zeigt auf jeder Seite je eine menschliche Figur, zwischen denen zwei
Dreiecke mit Netzwerk sich mit ihren Spitzen treffen und ein Sanduhr-Muster ergeben.
Den Fuß bilden Dreieck- und Spinnen-Muster.
3. Schalen. — Hier haben wir die verschiedenartigste Ausprägung der Musterung.
Hauptmotive der Wandung sind die fol-
genden :
a. Runde Formen überwiegen gegenüber
den eckigen. Wir finden hier obverse Halb-
ovale mit senkrechter oder netzwerkhafter
Schraffur (25497 [Abb. 15], 25 513, 25 515),
oder vier Doppelstreifen von halbrunden Ein-
drücken (24 901) oder flachreliefierte Runde
auf der oberen Hälfte der Wandung (24 812)
oder Reihen von kleinen, flachreliefierten
Knötchen (24803, 26945) oder wagerechte
Reihe solcher Knötchen unterhalb des Ran-
des und einige senkrecht zum Fuß hin laufende
Reihen (24 866). Oder der obere Teil der
Wandung ist mit einer Doppelwellenlinie aus
Halbkreisen dekoriert (24 813).
b. Eckige Formen beschränken sich auf
netzwerkhaft schraffierte Dreiecke auf dem
oberen Teil der Wandung (19203, 26942
[Abb. 16]), oder die ganze Wandung ist mit
kleinen spitzen kegelförmigen Knötchen be-
setzt (21 651 [Abb. 17]).
c. Lineare Formen. Bei einer Vase ist
Abb. 15. Tonschale, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25497. H.: 21 cm.
%4
ECKART VON SYDOW
I 70
der weitaus größere obere Teil der Wandung mit parallelen Rillen umzogen, über die sich
einige schmale, senkrechte oder auch schräg gestellte Wulststreifen legen (25 507). Bei
einer anderen Schale finden wir dünne, senkrechte Wulststreifen, die seitlich eingekerbt
sind (25521, Abbildung in E. v. Sydow: 1. c., S. 122, Fig. 2).
Abb. 17. Tongefäß, Bafum.
Berlin, M. f. V., III C 21 651. H.: 23 cm.
Der obere Abschluß-Rand ist entweder glatt (21 651, 24864, 24 866, 24901,
25 507) oder mit Reihen von Knötchen (24 803) oder mit Fischgrätenmuster (25 513, 25 515)
oder mit einer Doppelreihe flachreliefierter Karos (25 497) verziert.
Die Armut all dieser Motive, die wir in der Dekoration der Tonschalen auf ihren Wan-
dungen finden, kontrastiert ebenso mit der Holzschnitzkunst, wie der Mangel an kombina-
torischem Vermögen. Denn durchweg beschränkt man sich auf das eine Motiv, das man
wiederholt, ohne es mit anderen zu kombinieren oder zu kontrastieren. Eine erfreuliche Aus-
nahme bilden drei Gefäße aus Bamum (25 497? 25 513, 25 515), die eine gewisse Verwandt-
schaft mit Holzgefäßen haben (24077, 24083, 24 116 [Abb. 5], — s. S, 162), sie aber an
Geschicklichkeit der Aufteilung der Fläche noch übertreffen. —
Die Form der Füße ist sehr variabel; niedrige Kegelform (24 803) und Zylinderform
mit drei schmalen Durchbrechungen (25 5°?) a^s vereinzelte geschlossene Formen, — weitaus
zahlreicher die durchbrochenen Formen: Netzwerk (24 866), Spinnenmuster-Derivate
(25 497, 25 513, 25 515), Dreieckreihen übereinander (21 651), gebogene Stützen in Halb-
ovalform, und zwar einfach gereiht (24 812/13) oder in zwei Reihen übereinander und zugleich
durch je eine große analoge Stütze auf jeder Seite verstärkt (26 942 [Abb. 16]), oder endlich
ähnliche Halbovale mit einer Spitze nach außen in der Mitte ihrer Wölbung (24901).
Vom Verhältnis des Fußes zur Wandung gilt das Gleiche, was bei den Holzgefäßen zu
sagen war (s. oben S. 163 f.).
Hl lüliii 'IliiW Illliüi
\ir.
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GEBRAUCHSKUNST IM GRASLAND VON KAMERUN
i 71
4. Kelch e. — Die Ornamentik beschränkt sich hier auf die schräg, fast wagerecht ein-
gezogene Randfläche: reihenweise plastische Punkte und Schrägstriche (22 558), abwech-
selnd glatte Partien und Partien mit gerippten Wulststreifen (22 560), halbkreisförmige ge-
rippte Wulststreifen usw. (22 559). Der hohe, schlanke Fuß ist kegelförmig gegeben und in-
sofern der Kelchform einheitlich angeglichen. Seine Tendenz zur Höhe wird unterstrichen
durch die. Ornamentik mit flachreliefierten senkrechten (22 559) oder Zickzackstreifen
(22558, 22 560). (Vgl. Abb. bei H. Baumann, 1. c., Taf. IX, 5).
Verhäl tnis der 0 rnamentik zur Tongefäßform
Am rationalsten ist die Ornamentik der Tassen und Becher (mit und ohne Untersatz)
durchgeführt, -— hier unterstreicht sie die Struktur des Gegenstandes auf klare Weise. Bei
den Schalen gelingt es nur in wenigen Fällen, die auch sonst gut durchgearbeitete Stücke be-
treffen (22529/30, 25497, 25 513, 25 515), diese Aufgabe zu lösen. Eine besonders gute
Lösung zeigt eine Schale (25521, Abb. in E. v. Sydow, 1. c., S. 122, Fig. 2), die
schraffierten Rand und glatten Fuß von der Wandung scharf absetzt, die mit senk-
rechten Wulststreifen überzogen ist (s. ob.). Sonst aber wirken die Leistungen auf diesem
Gebiet der Gebrauchskunst oberflächlich dekorativ. Die Vierfüßer-Derivate z. B. umziehen
locker und ohne formale Verfestigung den Rand. Hier ist die Unpräzision besonders auf-
fällig. Aber auch sonst ist der Mangel an kraftvoller Prägung offensichtlich, wie denn auch
die Verkümmerung der Schmucklust gegenüber der Holzschnitzerei in der vielfachen Be-
schränkung des Ornaments auf die obere sichtbare Partie der Wölbung spürbar ist
(22539, 22546, 24793, 24812/813, 24866, 25507, 26942). Und auch dort, wo die Wölbung
ganz oder fast ganz verziert wurde, wie bei den Kannen, ist zumeist die obere Partie betont
(6815,22526,22538,22 541,24209,24 431,24434,24 449,25 507,26 935).
III. KÜRBIS-GEFÄSSE
Kürbis- Schalen.
Die H auptmotive sind Frosch, Rosette, Dreieck.
Das Frosch-Motiv tritt in zwei Arten auf: 1. mit erkennbarem Naturalismus seiner
Grundform, — 2. in dekorativer Fassung. Zahlenmäßig überwiegt die erste Gruppe mit
naturalistischem Einschlag. Man kann hier zwei Unter-
gruppen unterscheiden, je nachdem das Motiv in Gestalt eines
prominenten Exemplars in der Mitte der Wölbung beherrschend
eingeritzt und von anderen Motiven umgeben ist, oder ob es in
gleichmäßigem Dekor die ganze Fläche überzieht. Wenden wir
uns der ersten Kompositionsmethode zu, so finden wir in dem
Zonenfeld um die Mittelfigur herum die folgenden Motive:
Froschfiguren in Kreisen oder Halbkreisen (25 262, 25 264,
25 267—268, 25 273, 25 275), — Mäanderstreifen und Blüten-
sterne (25 286 [Abb. 18]), •— Blütensterne, Zickzackstreifen aus
Ovalen (25263), — Dreiecke (25253, 25285), — rautenartiges
Netzmuster und parallele Rillen (25 272), — Lanzettblätter und
Spitzovale (25 266). — Die zweite Kompositionsart mit ihrem
mehr oder minder gleichmäßigen Dekor der ganzen Fläche tritt in weit weniger Fällen auf
(25 242, 25 245, 25 270, 25 280).
Bei dem Rosetten-Muster überwiegt ebenfalls durchaus diejenige Komposition
bei welcher ein Exemplar dieses Motivs die Mitte der Wölbung beherrscht. Als Motive, von
denen es umkreist wird, treten die folgenden auf: Mäanderrand (25 246, 25 282), — kon-
Abb. 1!
Berlin,
, Kürbisschale, Bamum.
M. f. V., III c 25 286.
H.: 9,5 cm.
ECKART VON SYDOW
l 72
zentrische Dreieckreihen (25 281), — Sternmuster (24650), — konzentrische Rautenreihe
und Spindeln (25248 [Abb. 19]), — Blütenstern und Wirbel, Dreieckrandstreifen (25 292).
— Der gleichmäßige Überzug der Wölbung mit
dem Blütenstern-Muster, übrigens verbunden mit
Mäanderranddekor, tritt seltener auf (25 243,
25 244, 25 255).
Gelegentlich treten hier neue Kompositions-
ideen auf, indem man die Wölbung nicht als
Ganzes behandelt, sondern in Ausschnitte auf-
löst: so in zwei Halbkreise von Rosetten (24908),
— in zwei Abschnitte von Blütensternen, da-
zwischen Spitzoval mit Querrille und Fischgräten-
muster (20718, 24647, 25 269), —in vier Dreiecke
mit je einem eingeschriebenen Blütenstern, als
Gesamtform im Kreis von vier Parallelen(25 265).
Das Dreieck-Muster tritt als selbständiges
Motiv wesentlich seltener auf, als Frosch und Rosette. So auf einer Schale, deren Wölbung
sich in vier Kalotten mit je sechs konzentrischen Streifen mit halbschraffierten Quadraten
zerlegt. Bei anderen Schalen wird die Wölbung in vier Kalotten
aufgeteilt, denen je ein Dreieck eingeschrieben ist (24909, 24 962
[Abb. 20]).
Neben diesen Haupt-Motiven und -Kompositionen treten
andersartige Motive und Kompositionen weit zurück. So zeigt
etwa eine Schale (25 291) die Aufteilung in drei unregelmäßig
geformte Dreiecke mit je einem Oval. Bei anderen Stücken
findet man Spitzwinkel (24416), — Fischgrätenmuster im Kreuz-
streifen, der die Wölbung durchquert (24419), — Dreiecke,
Kreise und Kreuzblumen (24 910), — Sanduhr-Formen (25 257),
— Raute (25 271).
Besonders variabel und interessant ist die Bemusterung
der großen Rundschalen mit langem Griff. Hier kann zwei Arten der Komposition
unterscheiden: eine Rundfläche in der Mitte der Wölbung wird umzogen von breiter Rand-
zone, — die Mitte wird von einem großen, viereckigen
Feld eingenommen,, das von schmalen, spitzovalen
Seitenzonen flankiert ist.
Die erste Gruppe mit rundem Mittelfeld, um-
zogen von breiter Ringfläche zeigt eine große Mannig-
faltigkeit der Motive und besonders ihrer Komposition.
So enthält das Mittelfeld: einen Kreis mit einge-
schriebenen konzentrischen Quadraten mit wiederum
eingeschriebenen Rauten (24642), — zwei konzentrische
Kreise in zwei analogen Zickzackkreisen (25 254), —
drei konzentrische Zickzackkreise (24651 [Abb. 21]),
— ein Oval, umzogen von Halbkreisen mit eingeschrie-
benen Spitzwinkeln (24 65 3),—Strahlenfigur mit einge-
schriebener Froschfigur (24428, 24641),—Oval mit parallelem Fischgrätenmuster, umzogen
von Spitzwinkeln, Fischgräten usw. (24 635), — Oval mit Querstreifen (24 652), — Spitzoval
mit Seitenstreifen (24 430), —• glate, breite Streifen mit rasiermesserartigen Dreieckformen
(mit Griff), flankiert von Kreisformen mit Zickzackparallelen (21 030, 24648), — vier gleiche
Abb. 21. Kürbisschale, Bali-ku-mbad.
Berlin, M. f. V., III C 24651. Lge.: 28 cm.
Abb. 20. Kürbisschale, Nyos.
Berlin, M. f. V., III C 24962.
H. : 11 cm.
Abb. 19. Kürbisschale, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25 248. H.: 10 cm.
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GEBRAUCHSKUNST IM GRASLAND VON KAMERUN
173
Kalotten (24422), — vier breite Längsstreifen mit Zickzacklinien (24636). —• Zu diesen
Mittelfeldern gesellen sich breite Randzonen mit Halbkreisen, in und zwischen denen
Balken mit schräg abwärts geneigten Armen stehen (24 642), — Streifen mit Schrägbalken
und Dreiecken (24 643), — Spitzovale und Rauten (25 290), — Netzmuster und Rauten
(25 289), — konzentrische Zickzackkreise (25 254), — Sanduhr-Figuren, Zickzackstreifen,
Fischgrätenmuster (24 651), — Dreiecke und punktierte Vierecke (24 653), — Vierecke mit
Zickzack-Parallelen und punktierte Dreiecke (24 641), — Dreiecke mit Zickzacklinien und
mit Punkten (24428), — Fischgräten-Parallelen (24635), — Streifen mit Spitzwinkeln
(24 652), — Spitzwinkel mit Zickzacklinien (24 430), — Fischgräten (24 648), — Zickzack-
linien (21 030), — Dreiecke und Spitzwinkel (24422), — Rauten und Dreiecke (24 636).
Die Dekorkonstruktion mit Hilfe eines großen vier eckigen Feldes statt des Kreises
ist sehr viel seltener. Hier haben wir bei dem Mittelfeld: Malteserkreuze (24 423), — schach-
brettartiges Muster (24638), — Oval zwischen Halbrunden auf allen Seiten (24644).
Hierzu gehören die Randflächen mit: Spitzwinkel und Punkten
(24 423, 42 638), — Parallellinien mit schrägen Seitenstreifen
(24 644).
Kürbis-Becher.
Unter den Motiven überwiegen Froschfigur und Rosette.
Froschfiguren treten allein auf (20 720, 25 260, 25 303)
oder zusammen mit Blütenstern und Halbkreisen (25302) oder
mit Blütenstern und Mäander (25 304).
Das Rosetten-Motiv tritt rein (25294, 25296, 25298)
oder mit Vierecken (25 305) oder mit Dreiecken (25 293) auf.
Unter den seltneren Motiven nenne ich Malteserkreuz 22- Kurbisbecher Bamum.
/ tat 1 ns r ^ . , j ü . v Berlin, M. f. V., III C 25295.
(25 295 [Abb. 22]), ferner Dreiecke und Rauten (24722). H . 22 crn.
Kürbis-Flaschen.
Die wenigen Exemplare von Kürbisflaschen, die das Berliner Museum besitzt, zeigen
Rosetten-Muster auf Bauch und Standfläche, und zwar im Übergang zum Frosch-
Muster (25 249), — das Malteserkreuz-Ornament (22426), — konzentrische Vierecke
und Dreiecke abwechselnd, nach unten hin sich verbreiternd, auf dem Bauch, und auf dem
Hals: Dreieckreihen und darüber Sanduhrfiguren und eine Dreieckreihe (25 307).
Ein besonders schön gearbeitetes Exemplar, das aber wohl Import darstellt, zeigt auf
dem Bauch senkrecht geriefelte Vierecke, z. T. auch mit Querriefelung, auf der Schulter:
längs geriefeltes Viereck, umschrieben von parallelen Rillen, auf dem Hals: parallele Rillen
(20 723).
Kürbis-Töpfe.
Hier überwiegt zahlenmäßig das Rose tten - Ornament (25 247, 25 256, 25 279). —
In je einem Beispiel ist belegt die Froschfigur (aufgenäht: Nr. 25 297), Dreieck (28 995),
Mäander (25 276), ferner in Haussaarbeiten (laut Katalog): Viertelrunde, schuppenförmig
aneinander gelegt (25 251), Ovale (22424). Kompliziertere Musterung zeigen Stücke, die nach
dem Katalog ebenfalls als Haussaarbeiten zu gelten haben, und zwar ein Topf mit zwei
Runden (mit senkrechtem hellen Streifen) und zwei großen Spiralen (22 424a), und ein an-
derer Topf mit schraffierter Rautenreihe (zwischen punktierten und glatten Streifen) auf
der Bauchzone, mit Rauten (zwischen punktierten Streifen) auf der Standfläche und mit
punktierten und glatten Streifen um die Öffnung (22 425 a).
23 Baessler-Archiv.
MPA
i'; '-Sri ; ■ ■ " - •'
174
ECKART VON SYDOW
IV. FLECHTARBEITEN
Körbe, Teller, Becher, Hüte.
Haupt-Motive.
Die am häufigsten vorkommenden Motive sind Raute, Dreieck, Zickzack.
Bei der Raute freilich kann man bei einer bestimmten Figuration, die auf zahlreichen
Flechtarbeiten (20 730 [Abb. 23 b], 24 966—67, 25 330, 25 334—36, 25 345—47 [Abb. 24])
Abb. 23 a u. b. Körbe, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25 338 u. 20730. H.; 11 u. 16 cm.
wiederkehrt, zweifeln, ob es sich bei ihr in der Tat um eine Rautenform handelt. Denn
hier sind die Rauten von radial gestellten spindelförmigen Streifen durchschnitten, und so
könnte man sie auch als aus einer Dreieck-
Komposition hervorgegangen ansehen.
Doch sind die Dreiecke, soweit sie sonst
eindeutig erkennbar sind, durchweg keine
bloßen Rahmenformen, sondern überwie-
gend große, transparent ausgefüllte Figu-
rationen; überdies haben die spindelför-
migen Streifen einen durchaus selbstän-
digen Charakter. Ich halte es also für am
richtigsten, auch in diesem Falle von einer
Rauten-Formation zu sprechen.
Die Raute tritt auch selbständig auf
(20 731, 20 733, 21 093, 24 105, 24 150—51,
24 154, 24 526, 24 969, 24 972, 24 981,
25 348), oder ferner zwischen radialen
Streifen (24 528) oder zwischen Zickzack-
streifen (7 193, 24 106, 24658/59).
D r ei ecke treten gewöhnlich in zwei
Arten auf: entweder als großes Motiv
(25 338 [Abb. 23 a]), das in etwa vierfacher
Wiederholung die Fläche des Korbes oder
Tellers gliedert, oder aber in kleinem Maßstab, dann aber in mehreren Reihen übereinander
angeordnet (6799, 7723, 20732, 20735, 23756, 25323—324, 25337, 25 34°> 25 342> 25 344>
25 350, 25 352—54 [Abb. 25]).— Gelegentlich verbindet es sich mit spindelförmigen Strichen
(25 331, 25 341, 25 349, 25 351), oder es fügt sich in den freien Raum zwischen Zickzack-
streifen ein (6 797, 7 192).
Am einheitlichsten und großzügigsten ist das Zickzack-Muster, das gewöhnlich in der
Form von wagerechten parallelen Linien gegeben ist, und zwar akzentuiert durch Dreiecke
oder Spitzwinkel, die vom Rande her die lineare Bewegung unterstreichen (20 706, 25 325,
25 327'—'329). Seltener alliiert sich das Zickzackmuster mit Rauten (24 527, 24 530, 24 658
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GE BRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN j 75
bis 659), oder mit Dreiecken und senkrechten Streifen (24 529). Gelegentlich ist das Zick-
zackmuster senkrecht gestellt und wechselt mit senkrechten Streifen ab (6 798, 6 800, 24 104,
24 965).
Außer diesen Hauptmotiven treten andere Motive in weitaus geringerer Zahl auf: breite
senkrechte Streifen, dazwischen je ein kleines Dreieck (24 968), — nach oben geöffnete
Abb. 25. Teller, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25352. D.: 48,5 cm-
Winkel, denen zwei kleine Winkel ein- und angeschrieben sind (24 971), — einfache schmale
senkrecht laufende Streifen (24 875). Bei diesen drei Exemplaren ist die Ornamentik ebenso
hell gegeben, wie die Grundlage selbst.
Zu den eben behandelten Körben, Tellern, Bechern, Hüten kommen noch einige ge-
flochtene Schilde des Berliner Museums für Völkerkunde hinzu. Hier ist die Musterung
komplizierter, als bei jenen Flechtarbeiten. Und zwar finden wir bei dem einen Exemplar
(23 833) Rauten, flankiert von halben Rauten, zwischen breiten Streifen, die sich an den
Schmalrändern hinziehen; kleine Rautenfiguren sind den großen Flächen inmitten und
zwischen den Rauten eingeschrieben. — Zwei weitere Schilde (21 085, 24936) zeigen im
Ganzen einen unter sich gleichartigen Stil: helle Rauten, Vierecke, Spitzwinkel, Dreiecke
auf dunkler Kreuzform, die ihrerseits wieder auf hellem Grunde steht.
V. BASTTASCHEN
Die meisten Taschen, besonders solche größeren Formates, zeigen eine farbig gemusterte
und eine naturhelle, ungemusterte Seite. Nur bei kleinen laschen gibt es Exemplare, bei
denen beide Seiten eine durchlaufende Musterung haben, da das Webstück für beide Seiten
ausreichte. Die größten Exemplare bestehen aus 4 Teilen, die mit einander verfestigt sind.
Die Verbindung der Grundteile ist künstlerisch von Bedeutung. Denn sie wird in dekora-
tivem Sinne insofern ausgenutzt, als zumeist längs des ganzen oder doch des größten Teils
23*
ECKART VON SYDOW
i 76
des Seitenrandes oder aber an den oberen Außenecken oder aber längs eines großen Teils
des Seitenrandes und auch in dessen Mitte Bastknüpfungen mit Fransen angebracht sind.
Die übrigen Randteile werden zusammengenäht. — Die Tragbänder bestehen aus gefloch-
tenen, hellen, farbigen oder schwarzen Baststreifen, die bei kleinerem Format an den Seiten,
bei größerem Format in der Mitte ansetzen (im letzten Fall bis zu 1/8 der Taschenhöhe), —
vielfach durchaus dekorativ wirksam.
Die gewebten Taschen zeigen eine beträchtliche Variationsfreudigkeit der an sich simp-
len Motive. Ein wesentlich interessanteres Sujet sind die Taschen aus schwarz gefärbtem Bast,
die in mannigfachen Mustern bestickt sind (Plattstickerei), deren Farben: naturhell oder
grün, sich scharf von dem schwarzen Untergrund abheben. Vielfach findet sich hier die Ten-
denz zu einer gewissen Zusammenfassung der Ornamentik der beiden großen Teile, deren
Schmuck gewöhnlich symmetrisch gehalten ist, — man erreicht solche Festigung durch
Verbindungslinien am oberen Rande oder auf den vier Seiten des Innenfeldes.
Eine Gruppe für sich bilden Taschen mit groß durchgenähtem Ornament, Knüpfmuster
und plüschartiger Arbeit. Die Tragbänder dieser sehr dekorativ wirkenden Taschen, die z.T.
in lang herabfallenden Faserbüscheln auslaufen oder an ihrem Ende sich einrollen, sitzen
zumeist in der Mittellinie der Seiten an, ohne Rücksicht auf das Muster der Flächen (Abb. bei
H. Baumann, 1, c. S. 83, Fig. 3).
Die Hauptmotive des Dekors der Taschen sind: grade Streifen, Zickzacklinien,
Rauten.
Bei den graden Streifen unterscheiden wir die senkrechte und die wagerechte Mu-
sterung. Die senkrechteMusterung (Abb. 26) tritt sehr häufig auf, und zwar werden die Streifen
gleichmäßig nebeneinander gestellt oder aber mannigfach
gruppiert: z. B. in drei breiten Bahnen aus fünf Streifen
auf den Seiten, sieben Streifen in der Mitte (24511) oder
in drei breiten Bahnen, dazwischen je einer schmalen
Bahn, fünf Bahnen also, die wieder durch je eine dünne
Linie getrennt werden (24 728). Die Variationen sind zahl-
reich.
Auch die Farbgebung variiert in mannigfacher Weise:
dunkle bezw. braune, bezw. schwarze Streifen, — dunkel
und grün, •— grau und grün, — grau und gelb, — schwarz
und orange, — schwarz und grün, — schwarz und braun,
— schwarz und blau, — schwarz und grau, — schwarz und
rot, — schwarz, rot, orange, — schwarz, rot, grün, —
schwarz, ocker, grau,—'Schwarz, rot, grau,— schwarz, blau
rot, — schwarz, ocker, grau, — grau, braun, rot. Zu diesen
Farben tritt jeweilig bei den einzelnen Gruppen noch die
Notiz des Naturhell hinzu.
Wagerecht verlaufende grade Linien finden sich ganz selten (25 222).
Die Zickzack- Linien verlaufen immer wagerecht, z. T. verbunden mit Querlinien, die
eine Gliederung herbeiführen. (5 515f., 7717—718, 12560, 12567, 24677—679, 25 209, 25 211).
Gelegentlich assoziiert sich das Zickzack mit Rauten- und Dreieckstreifen (6 728), oder
mit Dreieckstreifen (7719, 16 517, 16598), oder mit kurzen senkrechten Balken (19 196,
22474, 25205, 25208, 25214, 25 216/17). Im zuletzt aufgeführten Fall kann man ev. zweifeln,
ob nicht eine andere Definition des Musters empfehlenswerter wäre, da die Zickzackreihe
nicht zusammenhängend verläuft, sondern aus isolierten Schrägstreifen besteht, die in
spitzem Winkel zueinander stehen. Doch scheint eine andere, treffendere Bezeichnung nicht
zu finden zu sein.
Abb. 26. Tasche, Bali.
Berlin, M. f. V, III C 24500.
H.: 26 cm.
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GE BRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN j 7 7
Die Raute tritt als selbständiges Muster nur selten auf (24673). Gewöhnlich geht sie
zusammen mit anderen Motiven, die entweder den freien Platz zwischen großen Rauten-
figuren ausfüllen: Schräglinien (12561, 12565 bis
566, 24 674—676, 25 213), oder analog, aber mit
breiten Querstreifen (7721, 7808, 12562, 12564),
— oder die in die Rauten eingeschrieben sind,
wie z. B. ein längerer Streifen, den zwei kürzere
Streifen flankieren (23 748 [Abb. 27]), — oder
die das Rautenfeld abschließen: wie Zickzack-
streifen (7 720, 24 921), oder es durchschneiden,
bezw. die Rautenstreifen von einander trennen:
langen, senkrechten Linien (24 827). In einem
Fall zeigt eine große Tasche (25 206) auf der
einen Seitenhälfte das Rauten-, auf der anderen,
gegenüberliegenden Seite das Fischgrätenmuster.
Seltene Mot ive sind Dreieck, Viereck und
Fischgrätenmuster.
Viereck-Dekor tritt in reiner Form (25 215
[Abb. 28], 25 232) auf, oder aber als Flan-
kierung eines Mittelstreifens, der in der Haupt-
sache einen senkrechten Balken zwischen Spitz-
giebeln oben und unten als Bekrönung und als Fuß zeigt (25 220—25 221 [Abb. 29]),
An Dreiecken ist wenig zu finden. Eine kleineTasche zeigt eine Anzahl von wage-
rechten Reihen mit Dreiecken (24 733).
Vier Parallelen von Fischgrätenstreifen zeigt eine noch nicht fertige Tasche (25 235).
Abb. 28. Tasche, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25215. H.: 55 cm.
Abb. 29. Tasche, Bamum.
Berlin, M. f. V., III 25220. H.: 54 cm.
Eine Reihe seltener Kombinationen findet man bei den bestickten Taschen. So:
senkrechtes Zickzack-Muster, daneben Raute, Fischgrätenmuster (25 207), — senkrechte
Streifen zwischen Zickzackstreifen, daneben Viereck-Reihen (25 218), — auf der linken Seite,
obere Hälfte: mit drei Malteserkreuz-Reihen, untere Hälfte: mit zwei Frosch-Reihen; auf der
anderen Seite umgekehrt (25 210 [Abb. 30]), — eine ungewöhnlich großzügige Dekoration: auf
beiden Seiten jezwei übereinander stehende Komplexe, dieaus je einem Malteser- Kreuz, dessen
Balken mit ihren vier Enden auf je einViereck treffen und es an der getroffenen Ecke ein-
i;8
ECKART VON SYDOW
drücken (25 212 [Abb. 31]); — im Gegensatz zu all diesen Stücken einein ihrer Struktur unüber-
sichtliche und schwer analysierbare Konstruktion: 8 wagerechte Reihen von Rauten (flan-
kiert von offenen Winkeln), getrennt durch wagerechte Doppelstreifen von Spitzwinkeln,
deren obere und untere Paare gleichartig gerichtet sind (25 219).
Abb. 30. Tasche, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25210. H.: 54 cm.
Abb. 31. Tasche, Bamum.
Berlin, M. f. V., III C 25 212. H.: 54 cm.
Bei den Taschen mit reliefhaft gesticktem Ornament findet sich zweimal das gleiche
Motiv: sanduhrförmig Figuren, oben und unten mit langen Hälsen (25 237, 25 238),
ERGEBNISSE
Wir gruppieren nun die Ergebnisse unserer Untersuchung in zwei Tabellen, von denen
die erste nach Gegenständen, die zweite nach den Motiven geordnet ist.
I. Tabelle nach Gebrauchsgegenständen und ihren Hauptmotiven
A. Schnitzerei:
I. Holzgefäße: Dreieck, Halbrunde, wagerechte Rillen.
II. Bettfüße: Frosch, Spinne, rautenartiges Netzmuster, Malteserkreuz.
III. Trinkhörner: Spinne, Halbkreise, rautenartiges Netzmuster, Ovalformen, wage-
rechte Rillen.
B. Tongefäße:
I. Wandung: Dreieck, flachgewölbtes Rund, senkrechte Rillen, wagerechte Rillen.
II. Fuß: Zickzack, Halbrund, Spinne, Raute.
C. Kürbisgefäße:
I. Kürbis-Schalen: Frosch, Rosette1) Dreieck.
II. Kürbis-Becher: Frosch, Rosette.
III. Kürbis-Töpfe: Rosette.
D. Flechtarbeiten:
Raute, Dreieck, Zickzack.
E. Gewebte (und bestickte) Basttaschen:
Senkrechte Streifen, Zickzack, Raute.
1 Unter Rosette verstehen wir in diesen Tabellen, wie im Text, auch Vierpaß, Blütenstern etc.
i 690: Kameruner Grasland.
5 515—12 766: Bali.
16 517: Bafum.
16 588: Bähung ( ?).
19 196: Bamum (Mbam).
19 203 : Bali.
20 355: Bamenom.
20 704; Fo Menye.
20 706: Bafomissang.
20 715—735: Bamum.
21 030: Kam. Grasland.
21 067: Bansso (Nko).
21 085 ; Bafum (Dun).
21 093 : Bafum.
DIE ABSTRAKTE ORNAMENTIK DER GE BRAUCHS KUNST IM GRASLAND VON KAMERUN T 79
II. Tabelle nach Hauptmotiven
A. Raute, bezw. rautenhaftes Netzmuster:
Bettfüße, Trinkhörner, Tongefäße (Füße!), gewebte Basttaschen.
B. Zickzack:
Tongefäße (Füße!), Flechtarbeiten, Basttaschen.
C. Dreieck:
Holzgefäße, Tongefäße (Wandung!), Flechtarbeiten.
D. Wagerechte Rillen, bzw. Streifen:
Holzgefäße, Tongefäße (Wandung!), Trinkhörner.
E. Rosette;
Kürbis-Schalen, -Becher, -Töpfe.
F. Frosch:
Bettfüße, Kürbis-Schalen, -Becher.
G. Spinne:
Bettfüße, Trinkhörner, Tongefäße (Füße!).
I. Senkrechte Rillen, bezw. Streifen:
Tongefäße (Wandung!), Basttaschen.
H. Halbrunde:
Holzgefäße, Trinkhörner, Tongefäße (Füße!).
K. Oval:
Trinkhörner.
L. Malteserkreuz:
Bettfüße.
M. Flachgewölbte Runde:
Tongefäße (Wandung!).
Provenienz der aufgeführten Objekte
Soweit die Katalogangaben es ermöglichen, wird der Ort der Herstellung angegeben.
Die Ziffernangaben besagen nicht, daß die zwischen der Anfangs- und Endziffer einer
zusammenhängenden Reihe stehenden Ziffern ausnahmslos aufgeführten Gegenständen ent-
sprechen, sondern nur, daß aus dieser Reihe einzelne Stücke zur Besprechung gelangt sind.
Die Aufführung jedes Stückes hätte diese Liste sonst zu umfangreich gemacht.
21 256: Bekom.
21 650/51: Bafum (Kuk).
21 714/15: Mukurru.
22 424/25 ; Bamum (Haussa)
22 426: Bameka.
22 430: Bali.
22 474/75 : Bamum.
22 526: Bamungum.
22 529: Bameka.
22 530: Bamesso.
22 533: Bamungum.
22 536: Bamungum.
22 537: Kam. Grasland.
22 538: Banssa.
22 539—546: Bamungum.
S/ ■ • - /
i8o
ECKART VON SYDOW
23 677: Banssa. 24 981: Nyos.
23 705 : Baham ( ?). 24 983 : Bafum-Bum.
23 748—756: Bamum. 24 984—999: Nyos.
23 833: Bafum (Munken), 24 073—209; Bafum. 25 000—004: Nyos 25 205—604.: Bamum.
24 416—530: Bali. 25 769/70: Bamendzing.
24 633—659: Bali-ku-mbad (Bakembat). 25 77T/72 : Bagam.
24 673-—679: Bameta. 25 988: Mbum.
24 722: Bambui. 24 723 : Bamessing ( ?). 26 508: Bafum.
24 793: Bamale. 26 835 : Bali.
24 797; Bamale. 26 937: Bali.
24 803: Bamunka. 26 942: Babessi.
24 809—813 : Babessi, 24 827; Bansso (Kumbo). 28 987—995 : Bamum.
24 842: Bamale. 24 851—883 : Babanki. 29 721: Babanki.
24 901—922: Babekom. 24 936—971: Nyos. 30 646: Bamum.
24 972; Bafum-Men. 24 975 : Bafum-Men, 33 754: Kunabei.
Besprechungen
Peßler, Wilhelm: „Deutsche Volkstumsgeographie.“
Braunschweig: Westermann 1931. Seiten.
23 Ktn. 8°.
Laßt Karten sprechen!
Man möchte diese Variation des in unseren Tagen so
häufig angewandten, weil zugkräftigen Reklamesatzes
auch vor Wilhelm Feßlers neuestes Werk „Deutsche
Volkstumsgeographie“, setzen, einmal, um für diese
außerordentlich anregende zugleich überzeugende Arbeit
zu werben:
Nur auf Tatsächlichem aufgebaut bringt sie Resultate,
die, wie immer bei Peßler, als verläßliches Baumaterial
in der Erforschung unseres Volkstums gelten dürfen.
Die klare Einteilung des Inhaltes der Volkstumskunde
nach Hauptsammelgebieten, Körper, Geist, Sprache,
Sache ist sehr dankenswert, denn sie ermöglicht ohne
Kompliziertheit — was heute viel bedeutet die un-
mittelbare praktische Nutzanwendung für den wissen-
schaftlichen Arbeiter. Grundbegriffe werden gegeben:
Grenzlinie und Grenzgebiet, das Alter der Grenze unter
Berücksichtigung historischer Verschiebung, Reingebiet
und Vermengungsgebiet als Verbreitungsbegriffe, wohl
zu unterscheiden von Reinform und Mischform, die nur
Typenbezeichnungen sind. — Die Aufgabe, die Feßler
in seiner Volkstumsgeographie stellt, „Sämtliche volk-
haften Erscheinungen innerhalb des gesamten deutschen
Sprachgebietes nach ihrer Verbreitung zu erforschen“
und „gegen die außerdeutschen Nachbargebiete abzu-
grenzen“, nimmt er in dem Kapitel 7 und den folgenden
in Angriff mit dem Erfolg, daß er durch Abgrenzung
nach außen gegen die fremden Kulturen und durch Dar-
legung der inneren Gliederung den Blick öffnet auf die
ganze Fülle deutscher Eigenart und Kultur. — Der
Forscher, der die Sachgüter der Volkskunde betreut und
bearbeitet, nimmt sich besonders Kapitel 12 „Sach-
liche Volksgüter“ vor und findet Anregung und Beispiel
dafür, wie er seinem gegenständlichen Sammlungsmaterial
durch Feßlers kartographische Methode zu der ihm ge-
bärenden Bedeutung verhelfen kann. Denn Feßlers
Methode kartographischer Festlegung, die er ja als
Erster seit 1907 in die Volkskunde eingeführt hat, und
die hier im Sinne einer Volkstumsgeographie breiter
ausgebaut wird, verbürgt den Erfolg. Wenn man erst
einmal alle die mit unendlichem Eifer in langen Registern
zusammengetragenen Karten vergleichend nebenein-
anderlegen kann, werden — und deswegen sei zum
zweiten Male der Reklamesatz zitiert — die Karten
sprechen. Sie sprechen ebenso stark wie jede Darstellung
statistischer Art durch Reihung und Häufung symbo-
lischer Zeichen, durch Farbenkontraste und Bewegungs-
kurven; sie sprechen stärker, weil zu der Wirkung von
immerhin nur abstrakten Zeichen eine viel lebendigere
hinzukommt; eben die, die von den gefühlsmäßig wär-
meren Vorstellungen ausgeht, die sich bei jedem Deut-
schen angesichts des Bildes von der Gestalt seines Vater-
landes einstellen. Selbst wenn nur die Umrißlinien
Deutschlands mit den Hauptflüssen zur Verfügung
stehen, wird es jedem leicht werden, einzuordnen, zu
vergleichen und abzuwägen. Bei alledem stellen sich
meist persönliche Augeneindrücke beim Lesen der Karte
mit ein, Gedankenverbindungen knüpfen sich und helfen
die neuen Verhältnisangaben festhalten. So sprechen
diese Karten zu uns und vermitteln uns das Wissen vom
deutschen Volkstum in seiner ganzen Vitalität.
O. Bramm.
Schmieder, Oscar: The Settlements of the Tzapotec and
Mije Indians, State of Oaxaca, Mexico. University
of California Fublications in Geography, Bd. 4,
VIII u. 184 S., 47 Taf., 7 Text-Abb., 8 Karten.
University of California Freß, Berkeley, Cal. 1930.
Auf Grund ausgedehnter Forschungen an Ort und
Stelle hat der deutsch-amerikanische Geograph Oscar
Schmieder eine anthropogeographische Monographie
der Tzapoteken und Mixe-Indianer des südmexikanischen
Staates Oaxaca geschaffen.
Der Verfasser legt seiner Untersuchung die allgemeinen
topographischen, geologischen und klimatischen Um-
weltverhältnisse zugrunde und zeigt, wie die ursprüng-
lich, vorkolumbische Lebensweise dieser Stämme, die er
unter Zuhilfenahme des archäologischen Befundes, alt-
mexikanischer und frühspanischer Quellen rekonstruiert,
diesen Umweltsverhältnissen angepaßt war. Beide
Stämme hatten sich in vorkolumbischen Zeiten — wenn
auch zu den Tributvölkern der Azteken gehörig — eine
weitgehende politische und zum Teil auch kulturelle
Selbständigkeit bewahrt und sind daher gut zu einer
isolierten Untersuchung geeignet.
Deutlich tritt der Unterschied zwischen der Talkultur
der Tzapoteken des Tlacolula-Längstales einerseits und
den Gebirgskulturen der Serrano-Tzapoteken und Mixe-
indianer andererseits hervor: Bei den ersteren finden
wir einen intensiv betriebenen Ackerbau und eine
ständig fortschreitende Kolonisierung des Landes, die
zur Gründung neuer und allmählich selbständig ge-
wordener Fueblos geführt hat. Das System der Feld-
verteilung bedingte eine Anhäufung der Bevölkerung in
größeren, kompakten Ortschaften, die als Kulturzentren
geistig und technisch über die weitere Umgebung her-
vorragen. In den Gebirgskulturen dagegen herrscht
größere Armut, geringe Intensität der Wirtschaft und in
dem Gebiet der Mixe-Indianer ein allgemeiner kultureller
liefstand, der, abgesehen von der Verwendung des
Pfluges, alle Güter des mexikanischen Kulturkreises ver-
missen läßt.
Weitgehende Unterschiede in der Kultur der Serrano-
24 Baessler-Archiv,
BESPRECHUNGEN
182
Tzapoteken und Mixe trotz nahezu gleicher Naturaus-
stattung weisen jedoch auf die Grenzen der Umwelt-
bedingtheit hin. Während nämlich die Mixe eine ihrer
gebirgigen, reich gegliederten Heimat angepaßte ver-
streute Siedlungsweise haben, wohnen die Gebirgstza-
poteken in kompakten Dörfern beisammen, der Sied-
lungsweise ihrer im Tale lebenden Stammesgenossen
folgend. Der Grund hierfür liegt in ihrer sozialen Or-
ganisation und ihrem System der Feldaufteilung, das,
wie bei den Tzapoteken, dem Einzelnen keinen zu-
sammenhängenden Grundbesitz, sondern weit verstreute
Ackerstreifen zuerteilt und ihn dazu zwingt, seine ringsum
verteilten Äcker vom Pueblo aus zu bewirtschaften.
Dieser Unterschied in der Siedlungsweise zwischen den
Gebirgstzapoteken und den Mixe hat sich auch in den
anderen Seiten ihrer Kultur ausgewirkt und so trotz
weitgehend gleicher Umweltbedingungen zu starker Kul-
turdifferenzierung geführt. Bei den Mixe lebte jede
Familie isoliert inmitten ihrer Rodungen und weit ent-
fernt von der nächsten Siedlung. Die Selbstversorgung
verhinderte die Arbeitsteilung mit ihren kulturfördern-
den Begleiterscheinungen und ließ so die Mixe trotz der
Nachbarschaft höherer Kulturen auf einer primitiven
Stufe stehen.
Nach der Darstellung des Verfassers hätten wir also
in dem auf den ersten Blick nicht allzu bedeutsam er-
scheinenden System der Feldverteilung einen äußerst
konstanten Faktor vor uns, der sich selbst dort erhalten
hat, wo er im Widerspruch zu den Anforderungen der
Umwelt steht. Es muß freilich noch dahingestellt bleiben,
ob die im Vergleich mit den Mixe höhere und reichere
Kultur der Gebirgstzapoteken tatsächlich nur auf der
verschiedenartigen Siedlungsweise beruht, oder ob nicht
vielmehr sie selbst schon das Produkt einer höheren
Kultur der Tzapoteken war, mag diese nun rassisch oder
durch ihre frühere Geschichte bedingt sein.
Von besonderem Interesse für den Ethnologen ist
weiterhin der Versuch des Verfassers, aus dem heutigen
Kulturbild der Tzapoteken und Mixe-Indianer die spa-
nischen Einflüsse herauszuheben und im einzelnen zu
zeigen, wie die spanischen Neuerungen auf die Einge-
borenenkultur gewirkt haben, wie das Alte an das Neue
und wie dieses wiederum an das Bestehende angeglichen
worden ist. Es fällt auf, wie geringfügig und äußerlich
im allgemeinen der spanische Einfluß in diesen Gebieten
bis vor kurzem gewesen ist:
Die vorbildliche demokratische Regierungsform mit
einem stark ausgeprägten Ehrenbeamtentum und dem
System der unvergüteten Mithilfe aller Dorfbewohner bei
allen gemeinnützigen Arbeiten geht in dem ganzen Gebiet
auf vorkolumbische Zeiten zurück und hat sich seit der
Ankunft der Spanier nur in Äußerlichkeiten gewandelt.
Ebenso hat sich das alte System der Feldverteilung er-
halten, das, wie der Verfasser durch einen Vergleich
mit aztekischen Bilderhandschriften festgestellt hat, mit
der vorkolumbischen Flurverteilung der Nahua-Stämme
übereinstimmt. Das ganze zum Ackerbau geeignete Land
eines Pueblos ist in natürliche Fluren ('parajes) auf-
geteilt, die dann wiederum in gleiche Sektionen (milpas)
unterteilt sind und den Privatbesitz der einzelnen Fa-
milien bilden. Die ursprüngliche Gleichheit des Be-
sitzes hat sich zwar durch Vererbung und. Verkauf von
einzelnen Milpas verschoben, ohne daß sich aber ein
Feudalsystem oder etwas ähnliches entwickelt hat.
Die im Laufe der letzten Jahrhunderte besonders im
Tale von Tlacolula angelegten spanischen haciendas sind
in neuerer Zeit durch die movimiento agrarista ■— die
vom mexikanischen Staate zugunsten der indianischen
Bevölkerung durchgeführte Agrarreform — enteignet
und aufgeteilt worden, wodurch zum Teil die früheren
Verhältnisse wiederhergestellt worden sind. Das reduc-
ción System, das im 17. Jahrhundert in rücksichtsloser
Weise in großen Teilen Mexikos eingeführt wurde und
darin bestand, die verstreut lebenden Indianer zur
leichteren Christianisierung und Zivilisierung in kom-
pakten Siedlungen zusammenzuschließen, hat sich nur
in dem Gebiet der Mixe ausgewirkt, da die Tzapoteken
bereits früher in Pueblos lebten. Interessant ist, das
bald nach dem Aufhören des spanischen Druckes bei den
Mixe eine starke Abwanderung aus den neu entstan-
denen Pueblos stattfand und die ursprüngliche, ver-
streute Siedlungsweise wieder Platz griff.
Am stärksten wirkte der spanische Einfluß auf die
materielle Kultur. Abgesehen von den überall das
äußere Bild beherrschenden Kirchenbauten, änderten
sich auch die Hausformen. Die Tzapoteken ersetzten
zum großen Teile ihre Stroh- und grasgedeckten Hütten
durch weißgetünchte Adobe-Häuser mit spanischen
Ziegeldächern und der fensterlosen Front nach der
Straßenseite zu. Die Wirtschaft dagegen ist nur wenig
verändert worden. Viehzucht und europäische Kultur-
pflanzen haben auch heute erst geringe Bedeutung und
die einheimischen Gewerbe sind erst in letzter Zeit und
wohl überwiegend durch nordamerikanischen Einfluß
verdrängt worden.
Der geistigen Kultur hat der Verfasser nur wenig
Raum gewidmet. In dieser Hinsicht könnte der Ethno-
loge die sehr sorgfältige Arbeit des Verfassers ergänzen,
der seiner geographischen Herkunft entsprechend seine
Untersuchung im wesentlichen auf die Siedlungsverhält-
nisse beschränkt hat.
Gerade Mexiko bietet auf Grund seiner weit zurück-
reichenden Geschichtsquellen ein fruchtbares Feld für
das Studium einer Mischkultur, wie auch die neuesten
Untersuchungen von Stuart Chase und Anita Brenner
zeigen. Wagner.
Büchereingänge
Bierbaum, Georg: Dresden—Plauen. (Bienertmühle). Aus:
Sitzungsber. u. Abhdlg. d. naturwiss. Gesellsch. Isis
zu Dresden. Jg. 1931.
— Vorgeschichtliches aus d. Jahnatal. Aus: Landes-
Verein sächs. Heimatschutz, Bd. 21, H. 1—3. 1932.
Bunzel, Ruth, L.; The Pueblo potter. New York 1929:
Columbia Univ. Pr. 134. S. 40.
Cahokia mounds, the: part 1—2. Aus: Univ. of 111. Bull.,
vol. 26, Nr. 4, 1928.
Caiger, G.: Japan; a pictorial Interpretation. Tokyo:
Asahi Shimbun Publ. Co. 1932. 272 S. 40.
Eberhard, Wolf: Sternkunde und Weltbild im alten China.
Aus: Die Sterne, Jg. 12, H. 6. 1932.
Englisch, Paul: Sittengeschichte Europas. Mit 230 Abb.
Berlin; Kiepenheuer 1931. 442 S.
Hadenfeldt, Markus: Schöne vorgeschichtliche Fund-
stücke d. früh. Steinzeit a. d. Geb. d. ob. u. mittl.
Trave. Aus: Die Heimat, Jg. 41, H. II. 1931.
Heine-Geldern, Robert: Urheimat u. früheste Wan-
derungen d. Austronesier. Aus: Anthropos, Bd. 27.
1932.
Honigsheim, Paul: Viehzüchternomadismus. Aus: Kölner
Vierteljahrsh. f. Soz. Jg. n, H. 1. 1932.
Hough, Walter: A cache of basket maker baskets from
New Mexico. Aus: Proc. o. the U. S. Nat. Mus.,
vol. 81, art. 10.
Knoche, Walter: Carneval in Banos. Aus: Deutsche
Monatsschr. f. Chile, Jg. 12, H. 12. 1931.
-— Zur Bedeutung d. Dornen als Wasserkondensatoren
u. a. Aus: Verhdlg. d. deutsch, wiss. V. zu Santiago
de Chile, N. F. Bd. 1. 1931.
— Bemerkung über d. Hauttemperatur. Sep.
-—- Bio- u. med.-geogr. Beobachtungen a. einer Reise
durch Ecuador. Aus: Phoenix, Jg. 1931.
— Zur Bewohnbarkeit tropischer Gebiete. Aus: Forsch.
u. Fortschr., Jg. 8. 1932.
— Binsenbote auf d. Seen v. Ecuador. Aus: Zeitschr.
f. Ethm, Jg. 62.
Krieg, Hans: Die Imkerei im Weichsellande. (Führer d.
staatl. Landesmuseums f. Danziger Gesch., H. 8.)
Krom, N. I. en T. van Erp: Beschrijving van Barabudur,
deel 2. Erp: Bouwkundige Beschrijving. ’s Graven-
hage: Nijhoff 1931 • 1 Bd. Tekst 40, 1 Mappe
Taf. fol.
La Baume, Wolfgang: Gesichtsurnen u. Hausurnen. Aus:
Arch. f. Anthr., N. F. Bd. 23, H. 1. 40.
Lamb, W.: Grey wares from Lesbos. Aus: Journal of Hell,
stud , vol 52 1932. 40.
Lederer, Philipp: Die Staterprägung d. Stadt Nagidos.
Mit 9 Taf. u. 9 Textabb. Berlin: Weidemann 1932.
134 S.
Museum d. Stadt Nordhausen, Die Gesch. u. kulturgesch.
Sammlungen. Nordhausen 1925 : Fheod. Müller. 65 S.
Muraz, Gaston: Vocabulaire du patois arabe tchadien. . .
Paris: Lavanzelle 1926. 322 S.
Neumann, G.: Friedrich Klopffleisch, Begründer d.thüring.
Urgeschichtsforsch. Aus: Mannus, Bd. 24, H. 1—3.
1932.
24*
Neumann, G. : Ein bemerkenswerter Reitersporn v. Festen-
berg b. Badewitz. Sep.
Nolte, Ernst: Aus dem Kloster Lüne. Lüneburg 1932:
Tagebl. Dr. 41 S.
Nooteboom, Christiaan: De boomstamkano in Indonésie.
Leiden: N. V. Boekhandel 1932. VI, 240 S. 40.
Piesker, Hans: Vorneolithische Kulturen d. südl. Lüneb.
Heide. Marburg: Lax 1932. 83 S., 15 Taf. 40. Diss.
Posnansky, Arthur: A. B. C. del racionalismo social. La
Paz: Inst. Tihuanacu de Antr., Etnogr. y Prehis.
1932. 102 S.
Preuss, K. Th.: Grammatik der Cora-Sprache. Aus: Int.
Journal of Am. Linguistics, vol. 7, Nr. 1—2. 1932.
Radig, Werner: Die Burgwalltypen d. Lausitzer Kultur in
Westsachen. Mit 1 K. u. 44 Abb. Aus: Sitzungsber.
u. Abhdlg. d. naturwiss. Gesellsch. Isis zu Dresd.,
Jg- I931-
Schmidt, Hubert: Cucuteni in der oberen Moldau, Rumä-
nien; Berlin: de Gruyter 1932. 131 S. 4°.
Soldai!, W. : Niederlassung a. d. Hallstattzeit b. Neu-
häusel im Westerwald nebst Nachtrag. Aus; Annalen
d V. f. nass. Altertumskde. u. Geschichtsforsch.,
Bd. 32 u. 33, H. 1. 40.
Stahl, Günther: Die Geophagie. Aus Zeitschr. f. Ethn.,
jg_. — Neue Arch. u. ethnogr. Untersuchungen in
Paraguay u. a. Aus: Der Weltkreis, Bd. 3, H. 1. 1932.
Termer, Franz; Zur Archäologie von Guatemala. Aus:
Baeßler-Arch., Bd. 14. 1931.
Tessmann, Günter: Die drei Sprachen d. Bajastammes:
To, Labi, Baja. Aus ; Mittig, d. Sem. f. orient. Sprach,
zu Berlin 1931 •
Was bedeutet Hermann Wirth f. d. Wissenschaft ? unt.
Mitwirk. v. Fehrle, Heberer, Jung u. a. hrsg. von
Alfred Baeumler. Leipzig: Koehler 1932. 94 S.
Ypes, W K. H. : ßijdrage tot de kennis v. d. stamver-
wantschap. • • • d. Toba- en Dairibataks. Leiden:
K N Aardrijkskund. Genootsch. en het Batak. Inst.
1932; XI, 553 S. 4 K-
Russische Publikationen.
Ernst N. L. : Chronik d. arch. Ausgrab. u. Erkundigungs-
arb. wäh. d. zehn Jahre (1921—1930). Aus: Mittig,
d. Gesellsch. f. Gesch., Arch. u. Ethn., Bd. 4. 1930.
Ernst, N. L. : Eski, Kermen u. d. Höhlenstädte d. Krym.
Aus; Izv. Tavricesk. Bd. 3.
Katalog der Veröffentlichungen 1930. Akademie d. Wiss.
USSR. Leningrad 1931: 80 S.
Katalog d. Veröff. d. staatl. Akademie d. Gesch. d. mat.
Kultur u. b. d. Kniga vorrätigen Publikationen.
Leningrad 1932: Ogiz. Knigocentr. 84 S.
Musée d’ Anthropologie et d’Ethnogr. fondé en 1837.
Leningrad 1925: 26 S.
Polkanov, A. L; Geschichte d. Museumsarbeit u. d.
Schutzes d. Kulturdenk., wäh. d. zehn Jahre d.
Besteh, d. Sowjetmacht i. d. Krym. Aus: Mittig,
d. Taur. Gesellsch. f. Arch. u. Ethn., Bd. 4. 1930.
Verzeichnis, systematisches, d. Veröff. d. Akad. d. Wiss.
d. USSR. d. i. d. Zeit v. 1. 1. 1917 bis 1. 9. 1925 er-
schienen sind. Leningrad 1925; Akad. d.Wiss. 127 S.
2.JUÌ1 ,:34
ym'
BAESSLERARCHIV
BEITRÄGE ZUR VÖLKERKUNDE
HERAUSGEGEBEN
AUS DEN MITTELN DES BAE SS LE R-INSTITUTS
UNTER MITWIRKUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN DIREK-
TORIALBEAMTEN DER ETHNOLOGISCHEN ABTEILUNGEN
DES STAATLICHEN MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE IN
BERLIN REDIGIERT VON
ALFRED MAASS
BAND XIV
MIT 223 ABBILDUNGEN, 8 FIGUREN, 39 ZEICHEN, 1 KARTE, 1 PLAN
JO 5 110 |20 |S0
-2 1111 = 3
2 = IIIB'J|i lll = A
3 = lllyS4>!| III = 4
45III rf.sll |||= C
5 = 111 m_ . Hl — O
em, 111=1 „|E6
BERLIN 1930—1931
VERLAG VON DIETRICH REIMER (ERNST VOHSEN)
5 3 1 f of
N
0)
JO
(0
m
</}
o
LU
QQ
X
r- !_•
ü
^ >*
O)
O)
o>
CO
x:
ö)
O
VierFarbSelector Standard * - Euroskala Offset