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TRIBUN
Inhaltsübersicht
Rhotert, H., u. a.: Bericht über das Linden-Museum .
Zwernemann, JSpiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im
Linden-Museum.....................................................
Haselberger, H.: Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
Brunner, HÄgyptische Altertümer des Linden-Museums II .
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums mit Miniaturen
I. Janert, K. L.: Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
II. Rau, H.: Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des
Linden-Museums......................................................
Fischer, HDas Tonbandgerät in der völkerkundlichen Feldforschung
Lobsiger-Dellenhach, M. et G.: Les bambous graves de Nouvelle-Caledonie du
Linden-Museum de Stuttgart................................................
Barthel, Th. S.: Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel .
Zerries, O.: Eine seltene Keule von den Otschukayana (Ostbrasilien) im Staat-
lichen Museum für Völkerkunde in München...........................................
Z.erries, O.: Eine seltene Keule aus Guayana im Besitz des Linden-Museums
Stuttgart ......................................................
N
Buchbesprechungen
Bericht über das Linden-Museum
Da das letzte Tribus-Heft ausschließlich den auf der Tagung der Deutschen Ge-
sellschaft für Völkerkunde in Stuttgart (Herbst 1959) gehaltenen Referaten und dem
Bericht über den Verlauf dieser Veranstaltung Vorbehalten war, muß hier über zwei
Jahre Museumsarbeit, nämlich von Herbst 1959 bis Herbst 1961, Rechenschaft gege-
ben werden.
Es ist natürlich, wenn nach den Aufgaben, die das Jahr 1959 dem kleinen Mit-
arbeiterstab durch die Hinzugewinnung von 4 bis dahin vom Pädagogischen Institut
belegten großen Ausstellungsräumen und den völlig neuen Aufbau der Schausamm-
lungen, ebenso wie durch die Organisation und Durchführung der Tagung brachte,
nach außen hin eine gewisse Beruhigung eintrat, die notwendig war, um all das nach-
zuholen, was inzwischen im inneren Betrieb liegengeblieben war.
Besondere Sorgfalt wurde zunächst der Pflege und guten Aufbewahrung der Tex-
tilien gewidmet, die in Fräulein Ingeborg Seeger eine geduldige und liebevolle Be-
treuerin fanden. Auch das Entsalzen von altperuanischer Keramik war eine umfäng-
liche Arbeit, zumal mit primitiven Hilfsmitteln gearbeitet werden mußte. Es ist vor-
gesehen, die zu engen Präparationsräume durch Hinzunahme eines Teiles des Südsee-
Magazines zu erweitern und dadurch diese Magazine zwar etwas zu verkleinern, da-
für aber staubärmer zu gestalten.
Umfängliche Arbeiten waren im Afrika-Magazin, mit seinen ca. 35 000 Stücken
der größten Abteilung des Museums, zu leisten. Es gelang, hierfür einen jüngeren
Ethnologen, Herrn Dr. Zwernemann, einen Schüler Prof. Friedrichs und Prof. Bau-
manns, zu verpflichten, der sich mit großer Sachkenntnis, Umsicht und Energie an die
umfassende Arbeit machte, die im wesentlichen schon Ende 1961 abgeschlossen sein
dürfte. Nach Beendigung dieser Neuordnung, die eine Kontrolle aller Inventarnum-
mern einschließt, dürfte dann der Umfang der zum Glück bescheidenen Kriegsverluste
feststellbar sein.
Auch in der Inventarisierung und Katalogisierung der stetig anwachsenden Biblio-
thek waren durch Frau Grischy beträchtliche Nachholarbeiten zu leisten. Trotz dieser
und vieler weiterer Aufgaben der inneren Ordnung gab es aber auch bei den Schau-
sammlungen eine Reihe von Veränderungen und Erweiterungen:
Im Vestibül des Hauses wurde eine Wand gezogen und dadurch ein neuer Aus-
stellungsraum gewonnen, in dem Dr. Kussmaul seit Januar 1961 die wichtigsten und
schönsten Neuerwerbungen der letzten Jahre aus Asien zeigte, darunter eine Buddha-
figur aus der Ming-Zeit, die von Stadt und Staat in einer gemeinsamen Sonderaktion
erworben wurde. Um die Besucher auch mit der frühen Vorzeit der Naturvölker ver-
traut zu machen, wurde die neue Trennwand außen mit Motiven von Felsmalereien
aus Nord- und Südafrika geschmückt, die Frau Grischy in natürlicher Größe und
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Hans Rhotert
Farbe nach Veröffentlichungen der Expeditionen Frobenius und Lhote in mühevoller
Arbeit und in einer sehr geglückten Zusammenstellung auf die Wand übertrug. Diese
Malereien bilden heute für jeden Besucher des Fiauses einen erfreulichen Anziehungs-
punkt und sind häufig von jung und alt umlagert.
Inmitten der Flauptausstellung; „Jäger, Pflanzer, Wanderhirten“ befand sich ein
kleiner Raum, der ursprünglich als Ruhe- und Raucherzimmer eingerichtet war. Da
er diesem Zweck nur unvollkommen diente, vielmehr hauptsächlich bei Klassenbesu-
chen von Schülerinnen und Schülern als Rückzugs- und Fluchtgebiet aus der Obhut
der Aufsicht, wie auch zur Pflege des Kartenspiels benutzt wurde, haben wir ihn in
eine kleine Schatzkammer verwandelt. Schreinermeister Weiß zog eine Holzdecke ein
und baute nach gemeinsamen Entwürfen Vitrinen, die dem Raum den Charakter
schlichter Gediegenheit verliehen. Da über 90°/o der Sammlungen in den Magazinen
lagern, bietet diese Schatzkammer nun die Möglichkeit, besonders kostbare Stücke
unabhängig von den laufenden Ausstellungen in beliebigem Wechsel vorzuführen,
Stücke, die sonst vielleicht auf Jahre hinaus dem Besucher nicht hätten zugänglich
gemacht werden können. Als ersten Versuch zeigte hier Herr Kustos Jäger altperuani-
sche Keramik-, Metall-, zumal Goldarbeiten und Textilien, unter denen ein großes
Totentuch besonders hervorgehoben werden muß. Ursprünglich sollte der Wechsel in
kurzen Intervallen von 1 bis 2 Monaten erfolgen. Es hat sich jedoch herausgestellt,
daß die Wirkung dieser Schatzkammer so intensiv ist, daß wir uns entschließen muß-
ten, Altperu wenigstens für ein halbes Jahr stehenzulassen. Die Art der Aufstellung
und das diskrete Zurücktreten der Beschriftung sollen den Besucher dazu veranlassen,
ohne alle Gelehrsamkeit Freude und Wohlgefallen am einzelnen Stück zu haben und
sich die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge erst in zweiter Linie zu vergegenwär-
tigen. Diese Absicht wurde von den meisten Besuchern positiv und dankbar aufge-
nommen.
Am 28. Mai 1961 beging das Linden-Museum in einer schlichten Feier das 50jäh-
rige Bestehen seines Hauses, wozu eine ganze Reihe von Fachvertretern und Freunden
erschienen war. Am gleichen Tage wurde die von Dr. Zwernemann unter Assistenz
von Frl. Seeger im kleinen Lichthof (wo bis dahin „Schmuck der Naturvölker“ ge-
zeigt wurde) aufgebaute Ausstellung „Kongo und Benin, Höhepunkte afrikanischer
Kunst“ eröffnet. Holzplastiken aus verschiedenen Gebieten des Kongobeckens stehen
hier in einem wirkungsvollen Gegensatz zu den hochwertigen Gelbgüssen des alten
Benin, die im wesentlichen durch eine Stiftung von Kommerzienrat Knorr, Heilbronn,
Anfang des Jahrhunderts in das Museum gekommen sind und heute eine der wert-
vollsten Sammlungen des Hauses bilden. Mit Bewußtsein wurde in dieser Ausstellung
die Aktualität des Kongogebietes als Anziehungspunkt benutzt.
Aus Anlaß der 50-Jahr-Feier hat die Städt. Girokasse Stuttgart dem Linden-
Museum ein besonders prächtiges japanisches Wandschirmpaar aus der Zeit um 1700
gestiftet, das in einem eigenen Raum, dem bisherigen Sitzungszimmer, zusammen mit
anderen ostasiatischen Stücken gezeigt wird.
So sind gegenwärtig zu den vier neuen Räumen des Jahres 1959 drei weitere in die
Ausstellungen einbezogen worden, was sich offenbar auch anregend auf den Besuch
ausgewirkt hat, der erfreulich zugenommen hat. Zwar kann ein Museum für Völker-
kunde in dieser Hinsicht nicht mit den Galerien konkurrieren und mit Massenbesu-
Bericht über das Linden-Museum
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eben aufwarten, doch kamen im Jahre 1960 immerhin gegen 28 000 Besucher, wäh-
rend in den ersten 7 Monaten des Jahres 1961 bereits 23 000 Besucher gezählt wurden,
so daß bis Ende des Jahres mit einem Gesamtbesuch der seit Oktober 1959 stehenden
Hauptausstellung von über 70 000 Menschen gerechnet werden kann. Es scheint daher
erst dann angezeigt, diesen Grundstock abzubauen und durch ein neues Thema zu
ersetzen, wenn die Zahlen nicht mehr ansteigen, sondern sichtbar fallen. Bei zahl-
reichen Führungen, insbesondere von Schulklassen verschiedener Altersstufen, haben
sich unsere Ausstellungen in ihrem jetzigen Aufbau und ihrer Mannigfaltigkeit als
außerordentlich glücklich erwiesen. Neuerdings wurde auch versucht, durch Tonbänder
mit Originalmusik und Zwischentexten das Sehen durch das Hören zu bereichern.
Studienrat Wolf-Dieter Meyer, der ehrenamtliche Betreuer des Tonarchivs, konnte
die herfür erforderliche Platten- und Bandsammlung ganz bedeutend ausbauen.
Dia-Serien werden vorbereitet und sollen, mit Tonbändern gekoppelt, der Verleben-
digung der Ausstellungen dienen.
Wieder ging das Linden-Museum mit Teilen seiner Bestände nach auswärts zu
befreundeten Institutionen. So wanderte das in München, Zürich, Köln und Berlin
gezeigte Mexico-Material weiter nach Wien, Frankfurt und Rom. Im Tübinger Kunst-
verein wurde Anfang 1960 ozeanische Kunst und Ende des Jahres eine Peru-Ausstel-
lung gezeigt. Die Fähre in Saulgau verband mit einer Willi-Baumeister-Ausstellung
die Demonstration von Kunst aus Afrika und der Südsee. Leipzig erhielt Material
der Jakuten für eine Ausstellung aus Anlaß der Schacholympiade im Herbst 1960.
Das Badische Landesgewerbeamt zeigte zu Fotografien aus Museen von Dozent Dr.
Albiker ergänzend Stücke des Linden-Museums. Prof. Gabus übernahm unsere
Schmuck-Ausstellung in seine große Ausstellung „Parures et bijoux dans le monde“,
die von Juni bis Dezember 1961 im Musee d’Ethnographie in Neuchâtel gezeigt wird.
An Basel wurde Material zur dortigen Ausstellung „Geldformen und Zierperlen der
Naturvölker“ verliehen. Rotterdam will die Kulturen Altperus zur Darstellung brin-
gen und greift dabei unter anderem auch auf einen größeren Komplex unserer kost-
baren Sammlung zurück. Die Münchner Städt. Galerie endlich eröffnet im September
1961 eine Nigeria-Ausstellung, zu der das Linden-Museum eine ganze Reihe von
wertvollen Stücken beigesteuert hat.
Dauerleihgaben gingen erneut an das Institut für Völkerkunde der Universität
München und an das Augustinermuseum in Freiburg, dem durch die Herren Kustoden
Jäger und Kussmaul bei der Neuaufstellung seiner völkerkundlichen Sammlungen
maßgeblich geholfen wurde.
Die Vorträge des Württ. Vereins für Handelsgeographie im Wanner-Saal des Lin-
den-Museums waren wie in früheren Jahren glänzend besucht. Im Winterhalbjahr
1959/60 kamen zu 7 Matineen und 13 Abendvorträgen 7885 Personen; 1960/61 wa-
ren es bei 7 Matineen und 12 Abendvorträgen 8051 Personen. Die Mitgliederzahl des
Vereins liegt bei etwas über 600.
Über personelle Änderungen und Ergänzungen ist einiges zu berichten: Die Neu-
besetzung der Afrika-Abteilung mit Dr. Zwernemann wurde schon erwähnt. Für die
Präparation konnte Herr Haberer gewonnen werden, der schon früher im Hause bei
Ausstellungen mitgearbeitet hatte. Endlich ließ sich auch ein alter Plan verwirklichen,
eine Fotomeisterin für die in Menge anfallenden Aufgaben anzustellen. Frl. Didoni
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Hans Rhotert
hat sich darüber hinaus auch für Arbeiten in den Magazinen — ebenso wie unsere
Sekretärin Frl. Stang — als verwendbar und interessiert erwiesen, so daß man sagen
darf, daß sich die personellen Verhältnisse glücklich entwickelt haben. Für Dunkel-
kammer und Aufnahmeatelier wurde im Eingangstrakt durch den Einbau zweier
Wände bisher brach liegender Raum gewonnen.
Die Einrichtung eines Fotolabors gewinnt besondere Aktualität durch Expeditions-
pläne, die seit längerem gehegt werden, nun aber unmittelbar vor der Verwirklichung
stehen. Dr. Kussmaul wird mit einer kleinen Gruppe im Frühjahr 1962 zu Berg-
völkern des Hindukusch reisen. Außerdem steht ein kürzeres Unternehmen in die
Felsbildtäler des südlichen Libyen auf dem Programm. Aus diesen Anlässen wurde
in Verbindung mit dem 50jährigen Bestehen des Hauses eine Sammelaktion durch-
geführt, die bisher den Betrag von DM 27 500 erbrachte. Allen Spendern sei an dieser
Stelle herzlich gedankt, auch den Sachgebern oder jenen, die eine Stiftung von Teilen
der Expeditionsausrüstung in Aussicht gestellt haben.
Wir danken aber auch denen, die unserem Museum Sammlungen oder einzelne
Stücke als Geschenk überlassen haben. Es sind dies — außer der schon erwähnten
Städt. Spar- und Girokasse Stuttgart — Herr L. Bretschneider, München; Herr F. Frick,
Stuttgart; Frau I. Jennc, Stuttgart; Herr J. J. C. van Leeuwen, Amsterdam; Frau Dr.
M. Leisse, Bremen; Frau Luz, Stuttgart; Frau Noethling, Mengebostel; Herr W. Reit-
terle, Stuttgart; Frau R. v. Scholley, Stuttgart; Herr Dr. H. Straube, Frankfurt;
Stuttgarter Nachrichten; Herr Dr. C. Velder, Bangkok. Ferner wurden wir testamen-
tarisch durch die Verstorbenen Frau Herrmann, Ludwigsburg, und Herrn Dr. Max
Mayer, Eßlingen, mit Sammlungsobjekten bedacht.
Zu den ganz wichtigen Aufgaben eines Museums gehört der Ausbau der Samm-
lungen, ihre Ergänzung und Abrundung, ja auch die Einbeziehung neuer Gebiete,
wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt, sei es nun durch Kauf, durch Stiftung, durch
eigene Expeditionen oder auch den geschickten Tausch von Dubletten. Es ist erfreu-
lich, daß sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren die Verhältnisse im Linden-
Museum wesentlich gebessert haben und manche schöne Sammlung oder viele Einzel-
stücke erworben worden konnten, wenn wir auch noch hinter den meisten staatlichen
und städtischen Museen für Völkerkunde weit zurückstehen. Die Abteilungsleiter wer-
den im Anschluß an diesen Bericht kurz die Mehrung ihrer Bestände charakterisieren.
Es sei aber vorher erlaubt, einige allgemeine Bemerkungen zur gegenwärtigen Lage
der Völkerkunde-Museen zu machen:
Wie ein Präriebrand greift das Feuer der abendländischen Zivilisation gerade in
dem Augenblick um sich, in dem die Naturvölker sich von der kolonialen Herrschaft
des Abendlandes befreien, und der Gedanke der Entwicklungshilfe bläst mit Macht
in dieses Feuer hinein, das alles vernichtet, was an kulturellen Gütern auf dem Boden
jener Völker gewachsen ist, die „entwickelt“ werden wollen. Man kann mit Sicherheit
Voraussagen, daß in wenigen Jahren ihr überkommenes Erbe an materiellen und
ideellen Werten ausgelöscht ist und daß damit ein Reichtum an Dokumenten mensch-
lichen Verhaltens vernichtet wird, dessen Verlust die Menschheit ärmer machen muß.
In dieser wohl unabänderlichen Entwicklung ist es die Aufgabe abendländischen Wir-
kens, zu retten, was noch zu retten ist, durch Expeditionen zu den Naturvölkern
ebenso wie durch Bergung der Werke ihres Geistes und ihrer schöpferischen Phantasie
und durch deren Hortung in eben jenen Museen, die einmal die Kulturarchive
einer großartigen, dann aber untergegangenen Welt sein werden. Wenn diese
augenblickliche, wohl nicht lange währende Lage von den Verantwortlichen erkannt
wird, sollten die Museen für Völkerkunde vor allen anderen so reichlich mit Mitteln
ausgestattet werden, daß sie wirkliche Bergungsarbeit zu leisten vermögen. Es würde
sich unter anderem auch finanziell auszahlen, da die Ankaufspreise in raschem An-
steigen begriffen sind und die Werte der Sammlungen schnell wachsen. Dankbar er-
kennen wir an, daß in einem Sonderfall, der sich gerade jetzt geboten hat, die Stadt
Stuttgart helfend eingesprungen ist, so daß wir hoffen dürfen, eine bedeutende Neu-
guinea-Sammlung in unsere Scheuer einfahren zu können.
Abschließend sei aber auch denen gedankt, die durch ihre Mitarbeit in den letzten
zwei Jahren geholfen haben, das Linden-Museum einen bedeutenden Schritt vorwärts
zu bringen. Es ist beglückend zu erleben, daß alle, die Alten ebenso wie die jüngst
Hinzugekommenen, zu einer lebendigen, sich vielfältig verschlingenden und ergänzen-
den Gemeinschaft zusammengewachsen sind. Danken wollen wir auch denen, die uns
als Aufsicht vorgesetzt sind, dem Vorstand und Ausschuß des Württ. Vereins für Han-
delsgeographie und insbesondere deren Vorsitzendem, Herrn Präsident Goetz, ohne
deren Vertrauen und Zuversicht unsere Anstrengungen unvollkommen bleiben müßten.
H. Rhotert
Neuzugänge für die Sammlungen
a) Amerika
Der Amerika-Abteilung standen für Neuerwerbungen nur sehr wenige Mittel zur
Verfügung. Manches verlockende Angebot mußte deshalb ausgeschlagen werden, und
der Zuwachs hielt sich infolgedessen in sehr bescheidenen Grenzen.
Von den Einzelstücken seien erwähnt eine alte Vierkantkeule mit figürlichen Ritz-
mustern aus Guyana sowie ein altperuanisches Tongefäß des späten Nazca-Stils, das
eine typologische Bereicherung unserer Per«-Bestände darstellt. Dazu kommen aus
dem Bereich der südamerikanischen Hochkulturen noch einige altperuanische Textilien
(darunter ein Zeremonialmützchen in Simlli-Velours-Technik) sowie drei columbiani-
sche Goldschmuck-Stücke. Unsere Bestände aus Amazonien sind durch einen Feder-
ohrschmuck sowie durch einige wenige Stücke aus der ehemaligen Privatsammlung
Koch-Grünbergs ergänzt worden. Die Feuerland-Sammlung wurde durch einige Waf-
fen bereichert, unter anderem einen Fellköcher mit Pfeilen, einen Bogen und eine Bola.
Von privater Hand wurde eine 15 Stück umfassende Es&wm-Sammlung ange-
kauft, die unsere etwas dürftigen Eskimo-Bestände gut ergänzt; das wertvollste Stück
dieser Kollektion ist ein altes Schneemesser aus Bein. Abgerundet wurde diese Erwer-
bung durch einige aus gleicher Quelle stammende, aber eingetauschte Waffen der
Eskimo (Harpune, große Stoßlanze).
Fr. Jäger
Bericht über das Linden-Museum
b) Afrika
Die Afrika-Abteilung hat eine Reihe sehr wichtiger Zugänge zu verzeichnen. Die
bisher sehr kleine Sahara-Sammlung konnte stark ausgebaut werden. Eine 22 Stücke
umfassende Sammlung Tuareg-Waffen und Sahara-Schmuck brachte einige bisher
Hans Rhotert
nicht vorhandenen Typen ins Haus. Einen neuen Schwerpunkt bildet eine Sammlung
von 192 Stücken aus der Südost-Sahara (Teda, Borku und Ennedi), in der alle Be-
reiche der materiellen Kultur vertreten sind.
Das nordwestafrikanische Material wurde durch 4 Keramiken von den Kabylen
und 3 Kleidungsstücke aus Tunesien bereichert. Besonders hervorzuheben ist ein reich
besticktes und mit Metallstreifen bzw. -plättchen besetztes Hochzeitsgewand.
Unsere Sammlung aus dem Schwarzen Afrika erfuhr ebenfalls für zwei Gebiete
bedeutsame Ergänzungen. Aus dem westatlantischen Raum, der bereits durch Liberia-
und Guinea-Material recht gut vertreten war, konnte erneut eine Guinea-Sammlung
erworben werden. Die 77 Stücke (vorwiegend von Baga und Nalu) sind eine glück-
liche Ergänzung. Die Neuerwerbung umfaßt neben Gegenständen des täglichen Ge-
brauchs einige Kunstobjekte (Vogelkopfstelen, Vogelkopf-Aufsatzmasken, Nimba-
Masken).
Der Westsudan war — abgesehen von Nord-Togo — in unserem Hause nur
schwach vertreten. Eine größere Dogon-Sammlung, 124 Stücke umfassend, ist daher
eine große Bereicherung. Vorwiegend handelt es sich um Gebrauchsgegenstände, jedoch
sind auch einige Plastiken und Masken in dieser Neuerwerbung. Die Stücke sind
durchweg von guter, alter Qualität. Besonders zu erwähnen sind ein dreiteiliges Eß-
geschirr, dessen Deckel von einer Figur gekrönt ist, und eine Zeremonialhacke, deren
Schaft mit zwei kleinen Relieffiguren verziert ist. Außerdem wurden drei Masken
aus dem (nördlichen?) Bobo-Gebiet und eine Komo-Maske der Bambara erworben.
Die reiche Goldgewicht-Sammlung konnte durch 17 Gewichte mit figürlichen und
geometrisch-abstrakten Darstellungen ausgebaut werden. Eine exakte Lokalisierung
der Goldgewichte ist nicht angegeben. Die Herkunft muß daher allgemein mit „Akan“
bezeichnet werden.
Sehr wichtige Stücke sind ein Veranda-Pfosten von den Yoruha, eine Holzmaske
der Bini und eine Bronzefigur aus Benin. Der sehr kunstvoll gearbeitete Veranda-
Pfosten zeigt die Darstellung eines Reiters. Die Bronzefigur aus Benin ist die Dar-
stellung eines Kriegers. Es ist ein Bruchstück einer Gruppe (wahrscheinlich der Dar-
stellung einer Königin-Mutter oder eines Königs mit Gefolge). Das Stück ist — ob-
wohl es sich offenbar um ein Fragment eines mißlungenen Gusses handelt — ein schö-
nes Beispiel alter Benin-Kunst. Eine weitere Erwerbung aus dem westafrikanischen
Raum ist eine Tobe von den Hausa.
Aus Südangola und aus dem Zwischenseengebiet sind einige Gebrauchsgegen-
stände, aus Äthiopien ein mit Erdfarben gefärbtes Baumwolltuch der Burdji als Zu-
gang zu erwähnen.
J. Zwernemann
c) Asien und Ozeanien
Anders als die Neuerwerbungen der Afrika-Abteilung bestehen die der Asien-
Abteilung aus einer größeren Zahl kleiner Sammlungen und aus Einzelobjekten. Aus
dem Vorderen Orient kamen neben einer Sammlung von Metallarbeiten neueren
Datums vor allem einige Keramiken aus dem frühislamischen Persien, einige Luristan-
Bronzen, eine Sammlung alter, in Persien ergrabener Fayence-Perlen und zwei afghani-
sche Frauentrachten herein. Vor allem aber müssen zwei Stücke herausgehoben werden,
Bericht über das Linden-Museum
einmal eine schöne Tonschale mit Steinbock-Darstellungen aus dem Tepe Sialk (vom
Ende des 4. vorchristlichen Jahrtausends) und zwei Beschlägstücke von einem türki-
schen Prunksattel (um 1700).
VOrderindien ist in unseren Beständen so schwach vertreten, daß jede Neuerwer-
bung aus diesem Gebiet besonders zu begrüßen ist. Hier können nun einige Relief-
plastiken von Tempelwagen und drei kleine Holzplastiken, alle aus dem 17./18. Jahr-
hundert, genannt werden, dazu ein feines Steinköpfchen, wahrscheinlich aus der
Gupta-Zeit. Die hohe Qualität all dieser Stücke ist besonders erfreulich.
Aus den Himalaya-Ländern und Tibet kam eine größere Anzahl guter Objekte
herein, die vor allem unsere große Tibet-Sammlung in glücklicher Weise ergänzen.
Hier konnten erworben werden: Eine große Silberampel, einige Bronzebehälter, ein
Dokumenten-Behälter, Räuchergefäße (darunter eine Räuchermaske), Weihwasser-
kannen und -fläschchen, Amulettkästchen, ein Reisealtärchen und Ohrschmuck. Beson-
ders zu erwähnen sind aber zwei Garnituren tantrischen Knochenschmucks, sogenannte
Knochenschürzen, deren eine in ihrer Art und Vollständigkeit zu den Seltenheiten
gehört. Aus Nepal stammt eine große Tempellampe und eine Elfenbeinplastik (Ava-
lokatishavara), wahrscheinlich um 1600 entstanden. Aus dem westlichen Himalaya-
Gebiet stammt eine Sammlung ethnographischer Objekte, aus Kaschmir schließlich
konnten wir drei gute Tücher erwerben.
Hinterindien ist unter den Neuerwerbungen nur mit wenigen Stücken vertreten:
Ein burmanisches Schwert mit figürlich eingelegter Klinge, einige siamesische Tempel-
behänge und eine Anzahl von Lontar-Manuskripten aus demselben Gebiet fanden
den Weg zu uns.
Reicher war die Ausbeute an indonesischem Material. Hier ist vor allem erfreulich,
daß unsere im Krieg dezimierte Batak-Sammlung wieder ergänzt werden konnte, vor
allem durch vier sogenannte Zauberstäbe. Aber auch Manuskripte, mit Schrift ver-
sehene Knochenplättchen und Plastiken dieses Volkes konnten erworben werden. Aus
Java stammt eine rechteckige Steinbeilklinge aus Achat, aus der hindu-javanischen Zeit
eine Opferschale, zwei Öllampen und eine schöne Steinplastik. Ein Metallophon er-
gänzt unsere Gamelan-Instrumente. Aus Nias stammt eine kleine Sammlung mit Waf-
fen, Musikinstrumenten und Ahnenfiguren. Eine Anzahl schöner Tücher verschiedener
Herkunft kommt der bisher etwas einseitigen Sammlung zustatten.
Aus China stammt eine der imposantesten Neuerwerbungen dieser Zelt, eine
Buddha-Plastik der späten Ming-Zeit, die durch Vermittlung von Ministerialrat
Donndorf nach Stuttgart kam. Aus demselben Gebiet erwarben wir eine steinerne
Rehefplastik (Sung), eine Elfenbeinplastik (frühes Ming), eine Reiterfigur aus Ton
(Tang) und ein lamaistisches Kultgerät, ein in Kupfer getriebenes großes Medaillon
aus Peking. Dazu kommen einige Gewänder und bestickte Seiden.
Auch japanisches Material fehlt unter den Neuerwerbungen nicht. Zu nennen sind
eine Bronzeplastik in koreanischem Stil, eine zum Teegeschirr gehörende Schale mit
Pferdcdarstellungen, ein feiner Seidenbrokat aus der Zeit um 1500 und vor allem
ein Wandschirmpaar aus der Zeit um 1700, das eine großartige Darstellung der
Schlacht von Dan no ura zeigt und wegen seiner reichen folkloristischen Details gerade
für ein Völkerkunde-Museum von höchstem Reiz ist.
14 Hans Rhotert
Aus Nordost-Asien erwarben wir einige Ainu-Stücke (Altarstelen, Bartheber und
Dolchgriff) und vor allem eine Sammlung goldischer Amulettfiguren in Tier- und
Menschengestalt. Vom nämlichen Volk stammen einige hübsche Knochenschnitzereien
und ein Gewand aus Lachshaut.
Ozeanien. Viel schwerer als an gutes Asien-Material zu gelangen ist es heute, Lük-
ken in den Ozeanien-Beständen aufzufüllen. Die Ausbeute war hier im Laufe der
letzten zwei Jahre relativ gering, doch steht zu hoffen, daß es uns gelingen wird, eine
qualitativ und quantitativ gleich bemerkenswerte Sammlung vom mittleren Sepik zu
erwerben, über die hoffentlich das nächste Mal berichtet werden kann. Aus dem Sepik-
Gebiet stammt übrigens eine kleine Sammlung, die bereits in unseren Besitz über-
gegangen ist: eine Anzahl von Masken, Haken und Figuren, daneben einige Stein-
beile, Sagoklopfer und sehr schöne Rührlöffel. Vom Sentani-See stammt ein Baum-
bast-Tuch mit feiner Bemalung, aus dem Asmat-Gebiet eine Reihe von Ethnographica,
darunter Trommel, Schüsseln und Dolche; von den Marind-Anim eine große Dema-
Figur. Sonst ist wenig Melanesien-Material zu vermelden (lediglich einige Waffen),
wie auch Polynesien-Material unter den Neuzugängen selten ist (Heitiki der Maori,
Angelhaken von Tonga, Brustschmuck von Hawaii). Etwas reicher ist Mikronesien-
Material angefallen, wo vor allen Dingen Schmuck aus mehreren kleinen Teilgebieten
zu nennen ist.
F. Kussmaul
Jürgen Zwernemann
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum
Das Linden-Museum besitzt 42 Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo.
Fast alle diese Plastiken sind nach Ausweis der Bücher und Angabe der Sammler von
den Yombe. Die ersten Spiegel- und Nagelplastiken kamen im Mai 1903 ins Linden-
Museum und wurden von Robert Visser gestiftet, von dem weitere Sammlungen in die
Völkerkundemuseen von Berlin und Leipzig gekommen sind. Graf Karl von Linden
wurde durch einen Oberleutnant zur See Müller-Palm, der damals auf S.M.S. „Ha-
bicht“ diente, Anfang 1902 auf Visser aufmerksam gemacht. Visser war, wie Müller-
Palm schrieb, in Banana „sous-chef im dortigen holländischen Hause“. Zwischen dem
Grafen Linden und Visser, der bald darauf nach Chiloango übersiedelte, entwickelte
sich eine Korrespondenz, die bis Ende 1907 im Linden-Museum belegt ist. Zwischen
Mai 1903 und Januar 1905 kamen 5 von R. Visser gestiftete Sammlungen ins Linden-
Museum. Weitere Spiegel- und Nagelplastiken wurden im Dezember 1908 von Regie-
rungsrat Dorbritz dem Museum gestiftet. Dorbritz erwarb diese Figuren alle in
Loanda. Ihre Herkunft ist in den Unterlagen des Linden-Museums mit „Chiloango,
Majombe“ angegeben. Die Richtigkeit dieser Herkunftsangabe besitzt aus stilistischen
Gründen große Wahrscheinlichkeit, ist aber nicht einwandfrei zu belegen, weil der
Spender die Stücke nicht im Stammesgebiet der Yombe erwarb. Die Herkunftsangabe
habe ich für die Stücke dieser Sammlung mit einem Fragezeichen gekennzeichnet. Zu
den von Visser und Dorbritz gestifteten Plastiken sind im Laufe der Jahre noch drei
weitere Stücke gekommen. Das eine Stück wurde von Graf Linden gestiftet, die ande-
ren Stücke stammen von C. Scharf bzw. A. Speyer.
Über die Funktion der einzelnen im Linden-Museum befindlichen Spiegel- und
Nagelplastiken finden sich in den Unterlagen nur wenige Angaben von R. Visser, der
1907 an anderer Stelle einen Aufsatz über die Nkisi-Figuren veröffentlicht hat
(Visser 1907).
Eine Einteilung der Figuren nach verschiedenen Typen hat J. Maes (1930, 347 ff.
und 1935, 6 ff.) versucht. Maes unterscheidet Figuren des Konde-Typs, des Mpezo-
Typs, der Na-Moganga-Typs und des Mbula-Typs.
Die Figuren des Konde-Typs sind die eigentlichen „Nagelfetische“. Maes unter-
scheidet sie weiter nach Figuren in Tiergestalt und Figuren in Menschengestalt. Bei den
Figuren in Menschengestalt unterscheidet er zwischen solchen mit erhobenem rechtem
Arm und anderen, deren Hände auf den Hüften ruhen. Letztere tragen nach Maes
(1935, 15) “in het algemeen meer kenteekens en zinnebeeide van het neger leven“
(Armschmuck, Schamschurze usw.) als der erstgenannte Typ. Maes (1935, 16 f.) folgert
daraus, daß es sich bei diesem Typ um Abbildungen von Verstorbenen („geestenbeel-
den“) handelt. Die Konde-Figuren sind Sitz böser Geister, der ndoki. Sie verursachen
ausschließlich schwere oder tödliche Krankheiten (Maes, 1930, 349).
16
Jürgen Zwernemann
Die Mpezo-Figuren sind ebenfalls Nagelplastiken in Tier- oder Menschengestalt.
Sie zeichnen sich durch einen besonderen Kopfputz aus: eine Feder- oder Dornen-
krone ist mit Hilfe eines Tuches am Kopf befestigt. Hauptcharakteristikum der Mpezo-
Figuren ist offenbar, daß der auf dem Bauch befindliche Kasten, der die magische
Substanz enthält, mit weißer Erde bedeckt ist. Die Mpezo-Figuren verursachen zahl-
reiche Krankheiten, töten aber nur selten (Maes, 1930, 349; 1935, 22). Zur Mpezo-
Figur gehört fast stets ein geflochtener Korb mit diversen magischen Ingredienzien.
Dieser Figuren-Typ dient ebenfalls bösen Geistern (ndoki) als Sitz.
Der dritte Typ, Na-Moganga genannt, soll Sitz guter Geister (nkisi) sein. Die
Figuren dieses Typs haben die Heilung von Kranken zur Aufgabe. Das Vorhanden-
sein von Zahndeformationen, Benarbung und bestimmten Kopfputzen läßt nach Maes
daran denken, daß diese Figuren ursprünglich Ahnenbilder darstellen. Bei vielen
Figuren dieses Typs sind die Arme nur etwa zur Hälfte dargestellt. Sie sind stets
unbenagelt (Maes, 1930, 351 ff.; 1935, 25).
Die Mbula-Figuren beschützen ihren Besitzer vor allem vor Zauberern. Sie sollen
stets im Besitz von Häuptlingen sein. Ihr Charakteristikum ist, daß sie kleine Röhr-
chen aus Holz oder auch aus Eisen tragen, in denen sich Pulver und kleine Eisen-
teilchen befinden. Sie strafen die Widersacher ihres Schützlings durch Flintenschuß
(Maes, 1930, 354; 1935, 31). Nur selten sind Nägel in Mbula-Figuren geschlagen.
Nach den Funktionsangaben, die sich für wenige Figuren in den Unterlagen des
Linden-Museums finden, erscheint es mir nicht möglich, die von Maes aurgezeigte Ein-
teilung in allen Fällen anzuwenden. Ich bin nicht davon überzeugt, daß daran aus-
schließlich die dürftige Dokumentation der Funktion unserer im Folgenden dargestell-
ten Sammlungsgegenstände schuld ist. Auch typologische Erwägungen bringen mich
zu diesem Schluß.
Bei vielen Figuren sind die oberen Schneidezähne im geöffneten Mund sichtbar.
Die Zähne sind fast immer deformiert. Sieben verschiedene Typen von Zahndefor-
mationen lassen sich bei den untersuchten Plastiken feststellen (siehe Abb. 1). Am häu-
figsten ist der Typ a vertreten.
Alle Figuren haben (oder sollten ihn wenigstens haben) vor dem Bauch einen
Kasten, der magisch aktive Dinge enthält. Als Material für diese Kästen gibt Maes
(1935, 15) ein harziges Gemisch von bulungu, schwarzer Erde, weißem Lehm und
rotem Pulver an. Bulungu wird an anderen Stellen (zum Beispiel Maes, 1935, 10)
d e f g
Abb. 1. Schematische Darstellung von Zahndeformationen der Spiegel- und Nagel-
plastiken des Linden-Museums.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 17
direkt als Harz bezeichnet. Das gleiche Material wird für den Aufbau des Kopfputzes,
der ebenfalls magische Substanz enthält oder enthalten kann, für die Darstellung von
Pupillen auf Porzellan- oder Steingutstücken, die als Augen eingesetzt sind, und zur
Befestigung der als Augen eingesetzten Glas-, Spiegel-, Porzellan- oder Steingutstücke
benutzt. Die Spiegelkästen usw. sind oft schwarz, können aber auch grau oder mit
Lehm beschmiert sein.
1. Nagelplastiken in Tier gestalt
29 634. Männliches, vierbeiniges Tier. Der Kopf ist vorgestreckt, die Schnauze
leicht gehoben und geöffnet. Im Maul sind die Zahnreihen sichtbar. Auf jeder Seite
sind unten ein, oben zwei Reißzähne. Zwei Glasstücke sind als Augen eingesetzt. Um
den Hals trägt die Figur einen Eisenring. Der nach hinten gestreckte Schwanz ist
spiralig eingerollt. Auf dem Rücken der Plastik ist ein Spiegelkasten befestigt. In
Rücken und Seiten sind Eisenstücke und Nägel eingeschlagen. Auch Spuren entfernter
bzw. abgebrochener Eisenstücke sind sichtbar (siehe Abb. 2).
Höhe: 17,5 cm; Länge: 57 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
29 635. Männliches, vierbeiniges Tier. Der Kopf ist nach unten vorgestreckt. Im
geöffneten Maul sind beiderseits oben und unten je zwei Reißzähne und dahinter
Reihen kleinerer Zähne sichtbar. Zwei Glasstücke sind als Augen in den Kopf ein-
18
Jürgen Zwernemann
gelassen. Auf dem Rücken des Tieres fehlt der Spiegelkasten. Einige Eisenstücke stecken
im Rücken des Tieres, an anderen Stellen sind die Löcher entfernter Eisenstücke zu
sehen. Der Schwanz ist kreisförmig gerollt.
Höhe: 17,5 cm; Länge: 52 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
57 766. Vierfüßer mit zwei Köpfen. Die Köpfe sind waagerecht ausgestreckt. In
den geöffneten Mäulern sind je vier Reißzähne sichtbar. Spiegelstückchen sind als
Augen eingesetzt. Um die Hälse sind Eisenringe geschlungen. Auf Bauch und Rücken
ist je ein Spiegelkästchen befestigt. Im Rücken der Figur stecken mehrere Nägel und
Eisenstücke1).
Höhe: 12 cm; Länge; 33,5 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
2. Nagelplastiken in Menschengestalt
a) Stehende Figuren, Hände auf den Hüften oder herabhängend
38 019. Die großen Füße ruhen auf zwei klobigen Holzsockeln. Die Beine sind
kurz und kaum ausgearbeitet. Der Oberkörper ist leicht vorgebeugt. Eine flache Rille
deutet das Rückgrat an. Von den Schulterblättern zum Rückgrat verläuft ein V-för-
miges Ritzornament, an das sich nach unten je zwei kleine, rechteckige Figuren an-
schließen. An der Spitze des Ornaments befindet sich eine Raute. Die Arme sind seit-
lich gewinkelt, die Hände ruhen auf den Hüften. An Fußgelenken, Handgelenken und
Oberarmen sind Bein- bzw. Armringe im Relief dargestellt. Hals und Kinn sind vor-
gestreckt. Der Kopf hat etwa eiförmige Gestalt. Der Mund ist leicht geöffnet und
zeigt weiße Zahnreihen. Die oberen Schneidezähne zeigen die Deformation des Typs a.
Die Nase ist breit und hat betonte Nasenflügel. Weiße Steingut-(?)scherben sind als
Augen eingesetzt. Schwarze Kügelchen stellen die Pupillen dar. Wangen und Augen-
bögen sind mit weißen und roten Streifen bemalt. Ein weiß-roter Zierstreifen verläuft
senkrecht über die Stirn. Die Ohren sind rotgefärbt und am Läppchen durchbohrt. Auf
dem Bauch trägt die Figur einen ovalen Kasten, der vorne mit einem großen Stück
Schnecken- oder Muschelschale verschlossen ist. Um die Hüften hängt ein Schamschurz
aus Raphia-Tüchern. Auf Bauch, Brust und am Kinn der Figur sind zahlreiche Nägel
und andere Eisenstücke eingeschlagen. An einigen Nägeln sind Schnüre aus pflanz-
lichen Materialien oder Stoff, an zwei Stellen Kalebassenstücke befestigt (siehe Abb. 5).
Yombe-Bezeichnung; Mangaka. Höhe: 107 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung
R, Visser.
29 623. Die grobgearbeiteten Füße stehen auf zwei klobigen Holzsockeln. Die
Beine sind sehr kurz und kaum ausgearbeitet. Der Oberkörper ist aufgerichtet. Die
Hände ruhen auf den Hüften, die Arme sind leicht angewinkelt. Das Rückgrat ist
durch eine Rille angedeutet, die Schulterblätter sind durch einen schwachen Absatz
hervorgehoben. Auf Schulterblättern und Rückgrat ist eine rot-weiße Bemalung T-för-
mig angebracht. Auf einem langen Hals sitzt der große Kopf der Figur. Das Kinn ist
!) Abbildungen von benagelten Tierplastiken siehe bei Maes, 1935, Tafel 1. Jedoch
ist lediglich im Typ eine Ähnlichkeit zwischen dort abgebildeten Stücken und den
entsprechenden Plastiken des Linden-Museums festzustellen.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 19
vorgestreckt und mit einem Bart umgeben, der aus dem Material hergestellt ist, das
für dis Spiegelkästen verwendet wird. Der Mund ist geöffnet. Die Zahnreihen weisen
Spuren weißer Bemalung auf. Die mittleren, oberen Schneidezähne sind deformiert
(Typ e). Die Nase ist kurz und hat mächtige Nasenflügel. Weiße Steingut(?)stücke
mit aufgesetzten schwarzen Kügelchen sind als Augen in den Kopf eingelassen. Spuren
rot-weißer Bemalung (Streifen) sind auf Wangen und Schläfen. Durch die Läppchen
der abstehenden Ohren sind Eisenringe gezogen. Der Hinterkopf der Figur ist eiför-
mig gearbeitet. Auf dem Bauch befindet sich ein Kasten, der vorne durch ein Stück
Schnecken- oder Muschelschale geschlossen ist. In Bauch, Brust, Hals und Rücken der
Figur sind Eisenstücke und Nägel geschlagen. An einigen Eisenstücken hängen Schnüre
und Kalebassenstücke. Um den Hals ist eine gedrehte Bastschnur gebunden, um die
Hüften ein Schurz aus Raphiastücken2).
Yombe-Bezeichnung: Mangaka. Höhe: 108,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung
R. Visser.
35 642. Die klobigen Füße ruhen auf einem annähernd quadratischen Sockel, der
großenteils durch Insektenfraß zerstört ist. Die Beine sind kurz und säulenartig. Der
linke Arm ruht auf der Hüfte, der rechte hängt herab und ist mit Unterarm (oder
Hand?) nach vorne abgewinkelt. Kurz vor dem Gelenk ist er abgebrochen. Der Kopf
sitzt mit vorgestrecktem Kinn auf dem leicht vorgebeugten Hals. Der Mund ist ge-
öffnet; in ihn sind oben Knochenstückchen als Zähne eingesetzt. Diese Zähne sind
deformiert (Typ g). Neben der kleinen Nase sind Glasstücke als Augen eingelassen.
Die Ohren sind abstehende, seitliche Fortsätze. Die Figur ist mit einem Kopfputz ver-
sehen, in den Eberhauer eingelassen sind. Die obere Gesichtshälfte und das entspre-
chende Teil des Hinterkopfes sind weiß bemalt. Der Körper der Figur ist in Tücher
gehüllt und mit Eisenstücken und Nägeln bedeckt. Auf dem Bauch fehlt der Kasten.
Yombe-Bezeichnung: Ngundu. Höhe: 83 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung
R. Visser.
35 627. Die Füße ruhen auf zwei klobigen Holzsockeln, deren Außenkanten orna-
mentiert sind: Kreise und Halbkreise in Rechtecken. Die Ornamente sind eingeritzt
und mit weißer Farbe ausgemalt. Die Figur ist fast völlig mit Bündeln von Schnüren,
Stoffstücken und Fransen aus Stoff behängt. Unter dem Behang ist das männliche
Geschlechtsorgan verborgen. Die Hände liegen auf dem Bauch unter einem Kasten, in
dessen Mitte ein kleines Stück Schnecken- oder Muschelschale eingelassen ist. Über dem
Kasten sitzt ein großer Nagel in der Figur. Auf dem Rücken hängen unter dem Tuch
die Panzer von drei Schildkröten und eine Röhre mit einem daran befestigten Behäl-
ter, der aus der gleichen Masse gearbeitet ist wie der Kasten. Unter dem Behang ist der
Leib der Figur dick mit rotem Farbpulver bedeckt. Die Figur hat Oberkörper und
Hals nach vorne gebeugt. Der Kopf ist etwa eiförmig. Das Kinn ist vorgestreckt. Der
leicht geöffnete Mund läßt oben eine Zahnreihe sehen. Die Schneidezähne sind defor-
miert (Typ d). Die Nase ist flach und breit. Die Augen sind erhaben aus dem Holz
2) Eine Entsprechung zu 38 019 und 29 623 ist bei Maes, 1935, Tafel V, Abb. 1 und 2
wiedergegeben.
20
Jürgen Xwernemann
herausgearbeitet. In den Ohrläppchen hängen kleine Eisenringe. Das Gesicht weist
Reste weißer und roter Bemalung auf.
Yombe-Bezeichnung: Chambo. Höhe: 68 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung
R. Visser.
57 755. Die Figur steht auf einem annähernd quadratischen, flachen Sockel. Füße,
Beine, Leib und Arme sind nur grob gearbeitet. Die Hände liegen an den Hüften, die
Arme stehen henkelartig seitlich ab. Der Leib ist vorgebeugt. Der Kopf ist fast in
gerader Haltung. Das Kinn ist kaum vorgeschoben. Ein schmaler Schlitz zwischen den
wulstigen Lippen deutet an, daß der Mund leicht geöffnet ist. Die oberen Zähne sind
deformiert (wahrscheinlich Typ c). Die Nase ist flach und breit. Zwei Glasstückchen
sind als Augen eingesetzt. Die Ohren stehen seitlich etwas ab. Der Schädel hat einen
kegelartigen Fortsatz. Vor dem Bauch sitzt ein kleiner Spiegelkasten, um den wenige
Nägel in die Figur geschlagen sind.
Höhe: 28,5 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
32 394. Auf einem rechteckigen Sockel steht die etwas vorgebeugte Figur, deren
Leib, Arme und Beine nur grob ausgearbeitet sind. Die Hände ruhen auf den Hüften,
die Arme stehen henkelartig seitlich ab. Das Kinn ist vorgestreckt. Im geöffneten
Mund ist die obere Zahnreihe sichtbar, deren Zähne rechteckige Deformationen
(Typ a) aufweisen. Die breite Nase steht klobig aus dem Gesicht hervor. Zwei Spiegel-
scherben sind als Augen eingesetzt. Vor dem Bauch hat die Figur einen Spiegelkasten,
um den einzelne Nägel eingeschlagen sind. Aus dem gleichen Material wie der Spiegel-
kasten ist ein Kopfputz modelliert, in den vorne eine Reihe kleiner roter Glasperlen,
hinten ein Bündel Federn eingelassen ist. Um den Hals trägt die Figur an einem Bind-
faden ein Stück einer kleinen Fruchtschale.
Höhe: 27,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
34 581. Die Figur steht auf einem annähernd quadratischen Sockel. Füße, Beine,
Arme und Körper sind nur grob ausgearbeitet. Die Hände ruhen auf den Hüften.
Der Kopf hat ovaloide Gesamtform. Das Kinn ist vorgestreckt, der Mund geöffnet.
Die Lippen sind wulstig. Neben der breiten und platten Nase sind Glasscherben als
Augen eingesetzt. Unter den Glasstücken liegt Zinnfolie, die in der Mitte ausgeschnit-
ten und mit rotem Stoff unterlegt ist. In die Stirn ist ein Nagel bis an seinen großen
Kopf eingeschlagen. Auf dem Bauch trägt die Figur einen Spiegelkasten, in den oben
ein kleines Horn trichterartig eingelassen ist. In einen Kopfputz, der aus dem gleichen
Material gefertigt ist wie der Spiegelkasten, sind spitze Holzstäbchen, ein Eberhauer
und ein Büschel rote, weiße und schwarze Federn eingelassen. Einige Federn sind der
Länge nach gespalten und spiralig geformt worden. In die Figur sind mehrere Nägel
und Eisenstücke geschlagen. Um den Hals hängen eine Pflanzenfaserschnur mit lan-
gem, zopfartig geflochtenem Ende und an einer Stoffschnur ein Ledersäckchen von
6,5 cm Länge und 3 cm Breite, ein Rasiermesser und zwei miteinander verbundene
Hörnchen. Ein Bastbüschel ist mit Hilfe eines roten Stoffstückes als Vorderschurz an
der Figur befestigt. Das Stück ist bei Himmelheber (1960, Abb. 247) abgebildet.
Höhe: 42,5 cm (ohne Federn: 39 cm). Herkunft: Yombe. Sammlung v. Linden.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 21
h) Stehende Figuren mit erhobener rechter Hand
32 380. Die Füße sind nicht erhalten. Die Beine sind kurz und säulenartig. Die
linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte ist zum Speerwurf erhoben. Der Kopf
befindet sich in gerader Haltung. Der Mund ist geöffnet. Die Nase ist flach und hat
kräftige Nasenflügel. Glasstücke sind als Augen unter den betonten Brauen eingesetzt.
Die Ohren stehen ab. Auf Stirn und Schläfen sind erhabene Ornamente in Rauten-
form angebracht. Auf dem Bauch sind übereinander zwei Kästen angebracht, deren
unterer vorne mit einem Spiegel geschlossen ist. Aus dem gleichen Material, aus dem
die Kästen hergestellt sind, ist ein Kopfputz gearbeitet, in den Leoparden- und Eber-
zähne eingelassen sind. Große Teile des Kopfputzes sind ergänzt. Auf dem Rücken
zeichnet sich eine kastenartige Vertiefung durch den Stoff ab, mit dem die Figur
bekleidet ist. Die Plastik ist dicht mit Nägeln und Eisenstücken bedeckt.
Höhe: 72 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
32 382. Die großen Füße stehen auf zwei Holzsockeln. Der linke Fuß ist direkt
vor dem Bein abgebrochen. Die Beine sind kurz und grob geformt. Der Leib ist fast
zylindrisch zu nennen. Auf dem Rücken deutet eine Kerbe das Rückgrat an. Zwischen
den schwach gezeichneten Schulterblättern und auf der rechten Schulter sitzen flache,
rechteckige bzw. ovale Erhebungen aus schwarz-grauer Masse. Die linke Hand ruht
auf der Hüfte, die rechte ist wie zum Speerwurf erhoben. Am rechten Handgelenk
und am linken Oberarm sind Armringe erhaben angedeutet. Körper und Hals der
Plastik sind leicht vorgeneigt. Am Kopf ist das Kinn vorgeschoben. Am Kinn war
ein Fellstück als Bart angenagelt. Die Haare des Fellstückes sind nicht erhalten. Die
wulstigen Lippen sind etwas geöffnet. Neben der breiten, flachen Nase sind Glas-
stücke als Augen eingesetzt. Das Kästchen fehlt ebenso wie der Kopfputz. An einer
Lendenschnur ist eine Durchzugbinde befestigt. Die Figur ist mit Nägeln und Eisen-
stücken bedeckt. An einem Nagel hängt ein Bündel mit magischen Objekten: Miniatur-
hacke, -beil, -löffel, kleine Rassel, altes Vorhängeschloß und einige nicht eindeutig
definierbare Gegenstände.
Höhe: 83 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
57 753. Auf einem annähernd quadratischen Sockel ruhen die großen Füße der
Figur. Die Beine sind säulenartig und nur auf der Rückseite stärker ausgearbeitet. Der
Leib ist leicht vorgebeugt. Rückgrat und Schulterblätter sind durch leichte Erhebungen
bzw. Rillen angedeutet. Der linke Arm ruht auf der Hüfte, der rechte ist zum Speer-
wurf erhoben. Am linken Oberarm und am rechten Handgelenk deuten wulstartige
Erhebungen Armringe an. Der Hals ist lang und stark. Das Kinn ist vorgeschoben, die
Mundöffnung durch eine Kerbe angedeutet. Die Nase ist schmal. Steingutstückchen
sind als Augen eingesetzt. In den durchbohrten Ohren hängen dünne Eisenringe. Die
Darstellung von Kopfputz oder Frisur fehlt. In Brust und Leib der Figur sind einige
Nägel oder Eisenstücke geschlagen. Auf dem Bauch sitzt ein Kästchen, das vorne durch
eine Glasscheibe verschlossen ist.
Höhe: 64 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
22 Jürgen Zwernemann
35 625. Die großen Füße ruhen auf zwei klobigen Sockeln. Beine und Leib der
Figur sind grob gearbeitet. Die linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte ist zum
Speerwurf erhoben. Der Hals ist leicht vorgeneigt, das Kinn vorgestreckt. In dem leicht
geöffneten Mund sind die Zahnreihen sichtbar. Die oberen Schneidezähne sind defor-
miert (Typ a). Neben der gebogenen Nase sind Glasscherben als Augen eingesetzt. Die
Augenbrauen sind durch schräggestellte, einander kreuzende Kerbenreihen dargestellt.
In den Kopf der Figur ist oben ein Loch zur Aufnahme magischer Substanz gearbeitet.
Auf dem Bauch fehlt der Kasten, jedoch ist in einer Vertiefung des Bauches ein Rest
der magischen Substanz sichtbar. An verschiedenen Stellen der Brust und des Bauches
sind Spuren von Nägeln bzw. vollständig eingeschlagene Nägel zu sehen. An einer
rot-weißen Stoffschnur hängt ein mit blauem und rotem Stoff bedecktes Bündel um
den Hals. Unten schauen Pflanzenteile, eine eiserne Glocke und ein Fellstück aus dem
Bündel hervor.
Funktion: „Reisefetisch“, Yombe-Bezeichnung: Nbongo. Höhe: 60 cm. Herkunft:
Yombe. Sammlung R. Visser.
35 621. Auf einem Holzsockel ruhen die großen, platten Füße der Figur. Beine
und Leib sind nur sehr grob bearbeitet. Das männliche Geschlechtsorgan ist dargestellt.
Die linke Hand der Figur liegt am Scrotum, die rechte ist zum Speerwurf erhoben.
Die Figur steht leicht vorgebeugt, das Kinn ist vorgestreckt. Im geöffneten Mund sind
die Zunge und die obere Zahnreihe sichtbar. Die Zähne weisen rechteckige Deforma-
tionen (Typ a) auf. Ober der geschwungenen Oberlippe sitzt eine breite, flache Nase.
Seitlich davon ist rechts ein altes Spiegelstück als Auge eingesetzt. Das linke Auge ist
nur als Höhle vorhanden. Reihen erhabener, kleiner Quadrate stellen die Augen-
brauen dar. Auf dem Kopf ist ein Ansatzstück für den Kopfputz. Die Figur war nicht
in Funktion und hat offenbar auch noch nicht als Träger magischer Substanz gedient.
Höhe: 60,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
29 624. Auf einem klobigen Sockel stehen die großen Füße der Plastik. Beine und
Leib wirken kubistisch. Der linke Arm ruht auf der Hüfte, der rechte ist mit geballter
Faust erhoben. Der Kopf ist in gerader Haltung. Er kann als eiförmig bezeichnet wer-
den. Der Mund ist geöffnet. Die oberen Zähne sind dargestellt, jedoch nur schlecht
erhalten. Rechteckige Zahndeformationen (Typ a) sind zu erkennen. Neben der klei-
nen und schmalen Nase sind Spiegelstückchen als Augen eingesetzt. Vor dem Bauch
sitzt ein flacher, runder Kasten, der vorne durch ein Spiegelstück verschlossen ist. In
den Leib der Figur sind einige Eisenstücke und Holznägel geschlagen. Eine größere
Anzahl abgebrochener Holznägel ist zu sehen. Um den Hals der Plastik ist ein Tuch-
fetzen geschlungen. Kleinere Tuchfetzen sind auch an den linken Arm gebunden.
Höhe: 55,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
57 759. Die Plastik steht auf einem annähernd quadratischen Sockel. Die großen
Füße, die Beine und der Leib sind grob gearbeitet. Die linke Hand ruht auf der Hüfte,
die rechte ist zum Speerwurf erhoben. Körper und Hals sind etwas vorgebeugt. Der
Kopf wirkt eckig, obgleich seine ovaloide Grundform im Profil noch deutlich erkenn-
bar ist. Das Kinn ist vorgeschoben, der Mund leicht geöffnet. Als Augen sind zwei
Glasstücke eingesetzt. Auf dem Bauch sitzt ein Kasten, der vorne einen Spiegel trägt.
Um den Kasten sind verschiedene Eisenstücke und Nägel in die Figur geschlagen. Ein
Kopfputz ist mit drei Kauri verziert und mit spitzen Holzstäbchen gespickt. Der
Figur ist ein rotes Tuchstück um den Hals gebunden.
Höhe: 49,5 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
57 754. Auf flachem, annähernd quadratischem Sockel steht die leicht vorgebeugte
Figur. Die großen, platten Füße, die Beine und der Feib sind sehr grob gearbeitet.
Die linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte hält einen zum Wurf erhobenen Speer.
Der Kopf ist eiförmig. Das Kinn ist etwas vorgestreckt, der Mund geöffnet. Die Nase
ist schmal, flach und leicht gebogen. Auf der Rückseite weiß und schwarz (Pupillen!)
bemalte Glasscherben sind als Augen eingesetzt. Die Ohren stehen etwas ab. Auf dem
Bauch sitzt ein Spiegelkasten. Um den Kasten sind mehrere Nägel in die Figur ge-
schlagen. In einen helmartigen Kopfputz sind zwei Kauri und mehrere Holzstäbchen
eingelassen. Kopfputz und Spiegelkasten sind rot gefärbt. Eine Fruchtschale ist an
einer Baumwollschnur um den Hals gebunden. Um die Hüften ist ein blaues Stoffstück
geschlungen.
Höhe: 39 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
57 762. Auf zwei flachen, annähernd rechteckigen Sockeln ruhen die großen, plat-
ten Füße der Plastik, die ebenso wie Beine und Feib nur wenig durchgearbeitet sind.
Die linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte ist zum Speerwurf erhoben. Der linke
Arm ist dünn, der rechte sehr kräftig. Am rechten Handgelenk ist ein Armring im
Relief dargestellt. Außerdem ist um den rechten Unterarm ein Metallring gelegt. Die
Figur ist leicht vorgebeugt. Der Kopf wirkt recht lang. Dieser Eindruck wird durch
das vorgeschobene Kinn verstärkt. Der Mund ist weit geöffnet. Neben der hohen Nase
sind Glasstückchen als Augen eingesetzt. Die Glasstückchen sind auf der Rückseite
weiß und schwarz bemalt. Die Ohren liegen fast am Hinterkopf. Vor dem Bauch hat
die Figur einen Spiegelkasten, der Reste rötlicher und weißer Bemalung aufweist. In
einen helmartigen Kopfputz sind eine Kauri, zwei blaue Perlen, mehrere Holzstäb-
chen und ein Bündel Federn eingelassen. Die Federn sind gespalten und spiralig ge-
dreht. In den Bauch der Plastik sind einige Nägel und Elsenstückchen geschlagen. An
einer Pflanzenfaserschnur hängen ein Schneckenhäuschen und ein Stückchen Holz um
den Hals der Figur (siehe Abb. 3).
Höhe; 32 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
29 625. Auf einem klobigen Sockel steht die Plastik, deren Beine und Feib nur
grob ausgearbeitet sind. Die linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte hält einen zum
Wurf erhobenen Speer. Hals und Kinn verschwinden hinter einem dicken stoffum-
wickelten Wulst, unter dem zwei kleine Hörner hervorschauen. Die wulstigen Tippen
sind leicht geöffnet. Neben der breiten und flachen Nase sind zwei Glasstückchen als
Augen eingesetzt. Direkt über den Augen setzt ein fast kugeliger, rotgefärbter Kopf-
putz an, in dem einige spitze Holzstückchen stecken. Auf dem Bauch trägt die Figur
24
Jürgen Zwernemann
einen Spiegelkasten mit Spuren rot-weißer Bemalung. Um den Spiegelkasten sind
einige Eisenstücke und Nägel in die Figur geschlagen. Ein blau-weißes Tuch ist der
Figur um die Lenden geschlungen.
Funktion: „Haus- und Reisefetisch“, Höhe: 32,5 cm. Herkunft: Yombe. Samm-
lung R. Visser.
35 619. Die Figur steht auf einer kleinen Sockelplatte. Beine und Leib sind in den
wesentlichsten Zügen ausgearbeitet. Die linke Hand ist auf die Hüfte gestützt, die
rechte zum Speerwurf erhoben. Am rechten Handgelenk sind vier Armringe ange-
deutet. Die Figur ist leicht vorgebeugt. Der Kopf ist in gerader Haltung mit nur
schwach vorgeschobenem Kinn gearbeitet. Der Mund ist geöffnet, und an der oberen
Zahnreihe sind Deformationen (Typ a) zu erkennen. Über der vorgeschürzten, ge-
schwungenen Oberlippe sitzt eine flache, breite Nase. Seitlich davon sind Spiegelstück-
chen als Augen eingesetzt. In einem helmartigen Kopfputz stecken mehrere spitze
Holzstückchen. Auf den Bauch ist ein Spiegelkasten gesetzt. Daneben sind mehrere
Eisenstücke in die Plastik geschlagen. Um den Hals hängen an einem Fellstreifen eine
Gelbgußglocke, eine Eisenglocke, ein doppelkegelförmiges Amulett in Schlangenhaut.
Funktion: „Wird bei Schwerkranken unter das Bett gesetzt, hält böse Geister fern“
(Visser). Yombe-Bezeichnung: Makande. Höhe: 31 cm. Herkunft: Yombe. Samm-
lung R. Visser.
Abb. 3: 57 762. Yombe (?). Slg. Dorbritz.
Höhe: 32 cm.
Abb. 4. 38 021. Yombe. Slg. Visser.
Höhe: 81 cm.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 25
57 756. Auf einem annähernd quadratischen Sockel steht die Figur, deren Füße,
Beine und Leib nur grob ausgearbeitet sind. Die linke Fiand liegt auf der Hüfte, die
rechte ist zum Speerwurf erhoben. Der Körper ist leicht vorgebeugt. Das Kinn ist vor-
geschoben, der geschlossene Mund steht vor. Die Nase ist leicht gebogen. Spiegelscher-
ben sind als Augen eingesetzt. Auf dem Kopf ist ein helmartiger Aufbau. Vor dem
Bauch befindet sich ein Spiegelkästchen, das von einigen Nägeln umgeben ist. Um den
Hals ist eine gedrehte Pflanzenfaserschnur gebunden. Ein rotes Tuchstück ist um die
Hüfte geschlungen.
Höhe: 25 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
57 760. Auf zwei klobigen, rechteckigen Sockeln ruhen die platten, großen Füße
der Figur, die ebenso wie die Beine und der Leib nur sehr grob ausgearbeitet sind.
Die linke Hand ruht auf der Hüfte, die rechte ist zum Speerwurf erhoben. Der Hals
ist etwas vorgebeugt. Die ovaloids Gesamtform des Kopfes ist erkennbar, obgleich das
Gesicht etwas eckig wirkt. Das Kinn ist vorgeschoben, der Mund geöffnet, die Nase
platt und breit. Zwei Glasstücke sind als Augen eingesetzt; sie sind auf der Rückseite
weiß und schwarz bemalt. Auf dem Bauch sitzt ein Spiegelkasten, der ebenso wie der
Kopfputz weiß oder grauweiß bemalt war. Im Kopfputz stecken rote Federn und
Reste einer größeren, dunklen Feder. Im Leib der Figur stecken mehrere Eisenstücke
und Nägel. Löcher weisen darauf hin, daß noch mehr Eisenstücke in der Figur geses-
sen haben. Um den Hals trägt die Plastik an roten Stoffetzen eine etwa 3 cm hohe,
zylindrische Lederkapsel. Ein rotes Stoffstück ist um die Hüfte geschlungen.
Höhe: 42 cm (ohne Federn: ca. 38,5 cm). Herkunft: Yombe (?). Sammlung
Dorbritz.
3. Plastiken mit Holzröhrchen,
a) ln Menschengestalt
38 021. Auf einer runden Bodenplatte steht die Figur mit großen, platten Füßen.
Beine, Leib und Arme sind sehr grob gearbeitet. Die linke Hand ruht auf der Hüfte,
der rechte Arm hängt herunter, jedoch ist der Unterarm angewinkelt, so daß er
waagerecht steht. Die Hand ist ringförmig geschlossen, als ob sie einen Gegenstand
(Speer oder dgl.) hielte. Die Figur streckt das Kinn vor. Der Mund ist geöffnet. Neben
der relativ kleinen Nase sind Glasstücke als Augen eingesetzt. Die Glasstücke sind auf
der Rückseite weiß bemalt. In den Kopfputz sind Federn eingelassen. Auf dem Bauch
trägt die Figur einen großen, rechteckigen Kasten. In die Brust sind einige Nägel ein-
geschlagen. Augenpartie, Brust und Arme der Figur sind mit roter und weißer Farbe
bemalt, der Kopfputz lediglich mit roter Farbe. Um den Hals ist ein Fellstück wulst-
artig gebunden. Die Figur ist mit einer Durchzugbinde bekleidet. Unter den Armen
trägt sie je zwei Röhrchen aus Holz, die hinten in Klumpen stecken, die aus der glei-
chen Masse bestehen wie Kasten und Kopfputz. Vorne sind die Röhrchen mit Tuch-
fetzen verstopft (siehe Abb. 4).
Höhe: 81 cm (ohne Federn: 69 cm). Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
26
Jürgen ¿wernemann
32 384. Die Figur hat große Füße und säulenartige Beine. Eine Rille auf dem
Rücken deutet das Rückgrat an. Beide Hände ruhen auf den Hüften, die Arme sind
angewinkelt. Auf einem starken, geraden Hals steht der Kopf mit vorgestrecktem
Kinn. Der Mund ist geöffnet, die deformierten (Typ b) Zähne des Oberkiefers und
die Zunge sind dargestellt. Neben der breitflügeligen Nase sind Spiegelscherben als
Augen eingelassen. In den seitlich abstehenden Ohren hängen kleine Eisenringe. Der
Kopf trägt eine Mitra-artige Kopfbedeckung oder Frisur, die an die Figur geschnitzt
ist. Auf Bauch und Rücken befindet sich je ein Spiegelkasten. Fünf Holzröhrchen bzw.
geflochtene Röhrchen hängen an der Figur, in deren Leib wenige Nägel eingeschla-
gen sind.
Höhe: 45,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
Ahh. 5. 38 019. Yombe. Slg. Visser.
Höhe: 107 cm.
35 616. Die Figur steht auf einem quadratischen Sockel. Der Leib ist von einem
mächtigen Spiegelkasten verdeckt, an dem seitlich Röhrchen und kugelige Ansätze
befestigt sind. Auch zwischen den Beinen befinden sich Holzröhrchen. Um den Hals
ist ein Stoffwulst gehängt, an dem hinten die Pfote eines Vogels, eine kleine, mumi-
fizierte Affenhand und ein nicht definierbarer Gegenstand hängen. Die Figur hat in
der erhobenen rechten Hand einen Speer. Das Kinn ist vorgeschoben, der Mund leicht
geöffnet. Neben der breiten, platten Nase sind Spiegelscherben als Augen eingesetzt.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 17
In einen Kopfputz sind drei Kauri und an der Spitze ein Bündel Federn eingelassen.
Die Figur ist mit roter Farbe bedeckt (siehe Abb. 6).
Funktion: „Zum Bewachen des Hauses“. Yombe-Bezeichnung: Nbudi. Höhe;
36,5 cm (ohne Federn: 28 cm). Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
32 388. Auf einem annähernd quadratischen Sockel, dessen hinterer Teil stark zer-
stört ist, steht die ziemlich roh gearbeitete Figur. Herabhängende, handlose Arme
enden in Höhe der Hüften. Der Kopf ist mit vorgeschobenem Kinn gearbeitet. Von
Schläfe zu Schläfe verläuft um das Kinn ein ornamentierter Streifen: mehrere Reihen
kleiner Quadrate sind durch Einkerben der Zwischenräume entstanden. Im geöffneten
Mund ist die obere Zahnreihe sichtbar. Die Zähne weisen rechteckige Deformationen
(Typ a) auf. Die Lippen sind aufgeworfen. Neben der breiten, spitzen Nase sind
Glasscherben als Augen eingesetzt. Ein Kopfputz ist nicht vorhanden. Um die Stirn
ist ein schmaler Tuchstreifen gebunden, um den Hals ein Wulst aus Raphiatuch. Ein
weiterer Wulst aus Raphiatuch hängt von Oberarm zu Oberarm unter dem auf dem
Bauch sitzenden Spiegelkasten durch. Am linken Arm sind mehrere Röhrchen (aus
Holz oder geflochten) zusammen mit dem Raphiatuch festgebunden. Am rechten Arm
fehlen entsprechende Röhrchen. Der Rücken der Figur ist mit Lehm bedeckt. Am Gesäß
sind Reste eines blauen Stoffschurzes zu sehen. Die Schultern und ein Teil des Rückens
sind mit roter Farbe bedeckt. In die Figur sind einige Nägel und Eisenstücke geschla-
gen. Quer durch den Kopf ist ein starker Draht gezogen, der beiderseits des Kopfes
hochgebogen ist. Die spitzen Enden des Drahtes sind ösenartig umgebogen.
Höhe: 38 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
b) In Tier gestalt
32 391. Dargestellt ist ein vierfüßiges Tier. Schultern und Beckenknochen sind
durch Verlängerung der Beine angedeutet. Diese Verlängerungen ragen etwras über
den Rücken empor. Der Kopf ist nach vorn gestreckt, die Schnauze etwas gehoben.
Eine tiefe und breite Kerbe deutet die Öffnung des Maules an. Kleine Glasstücke sind
als Augen eingesetzt. Die Ohren erscheinen leicht aufgerichtet. Der Schwanz ist so zu-
sammengerollt, daß er ein Oval bildet. Auf dem Rücken trägt die Figur einen Spiegel-
kasten, an dessen linker Seite ein Holzröhrchen schräg nach hinten steht. Rechts war
ebenfalls ein Röhrchen befestigt. Spiegelkästchen und Rücken der Figur weisen weiße
Farbreste auf. Zwischen den Beinen des Tieres ist ein Stück Stoff durchgezogen. Um
den Hals ist ein weiteres Stoffstück geschlungen.
Höhe: 14 cm; Länge: 31,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
4. Spiegelplastiken (ohne Benagelung) in Menschengestalt
a) Stehende Figuren, Arme vollständig dargestellt
35 628. Die Figur steht auf einem annähernd quadratischen, klobigen Sockel. Füße,
Beine, Leib und Arme sind nur grob ausgearbeitet. Die Hände ruhen auf den Hüften,
der rechte Arm ist zu einem guten Drittel abgebrochen. Die Plastik steht leicht vor-
gebeugt. Das Kinn ist etwas vorgeschoben, der Mund leicht geöffnet. Die deformierten
(Typ a) oberen Schneidezähne sind zu sehen. Seitlich der breiten, flachen Nase sind
28
Jürgen Zwernemann
Spiegelstückchen als Augen eingesetzt. Auf dem Kopf ist ein Ansatz sichtbar, mit des-
sen Hilfe ein Kopfputz befestigt werden kann. Vor dem Bauch hat die Figur einen
großen Kasten, in den vorne eine Glasscherbe eingesetzt ist. Auf dem Rücken befand
sich ein kleinerer Kasten, von dem nur wenige Reste erhalten sind. An verschiedenen
Stellen der Figur sind Spuren roter Bemalung zu sehen.
Yombe-Bezeichnung: Chimbuke. Höhe: 38 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung
R. Visser.
35 620. Die Figur steht mit leicht vorgebeugtem Oberkörper. Sockelplatte und
Füße sind zerstört. Am Leib sind weibliche Brüste gut ausgearbeitet. Die Hände liegen
an den Handgelenken gekreuzt auf dem Rücken3). Der Kopf steht aufrecht. Das Kinn
steht nur leicht vor. Zwischen den etwas geöffneten, wulstigen Lippen schaut die
obere Zahnreihe hervor. Die Zähne weisen rechteckige Deformationen (Typ a) auf.
Die Nase ist breit und leicht gebogen. Zwei Porzellan- oder Steingutstücke sind als
Augen eingesetzt. Die Ohren liegen am Kopf; die Ohrläppchen sind durchbohrt. Der
Kopf wird von einem Aufbau gekrönt, der die Form einer vierseitigen Pyramide hat.
Vor dem Bauch sitzt ein Spiegelkasten. Um den Hals hängen an einem Messingring
befestigte Stoffetzen, die fransenartig angeordnet sind.
Funktion; „Frauenfetisch für regelmäßige Menstruation“. Yombe-Bezeichnung:
Chambo. Höhe: 23,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
57 757. Die Figur steht auf einer annähernd quadratischen Platte. Die Füße sind
großenteils mit Lehm und roter Farbe bedeckt. Unterleib und Beine sind mit einem
Tuch bedeckt, das zwischen den Beinen hosenartig zusammengenäht ist. Das Tuch
ist teilweise mit Lehm beschmiert. Der Bauch der Figur verschwindet hinter einem
großen Spiegelkasten. Die Hände liegen auf den Hüften. Um den Hals trägt die
Figur an einem Eisenring 5 kleine Plastiken von 6,5—8 cm Größe, ein Stück einer
geknüpften Tasche und auf dem Rücken ein weißkariertes, hellblaues Tuch. Der Hals
ist etwas vorgebeugt, der Kopf in gerader Haltung. Im geöffneten Mund sind die
oberen Schneidezähne sichtbar, die deformiert sind (Typ c). Über der geschwungenen
Oberlippe liegt die breite, platte Nase. Glasscherben sind als Augen eingesetzt; sie
sind auf der Rückseite weiß und schwarz bemalt. Die abstehenden Ohren sind an den
Läppchen durchbohrt. Auf dem Kopf ist ein helmartiger Aufbau befestigt.
Höhe: 40,5 cm. Herkunft: Yombe (?). Sammlung Dorbritz.
38 023. Die Figur, deren Körper sehr grob gearbeitet ist, steht auf einem annä-
hernd quadratischen Sockel. Die Hände ruhen auf den Hüften. Vor dem Bauch trägt
die Figur einen Kasten, in den vorne eine Muschelschale eingesetzt ist. Die vorgeneigte
Plastik trägt um den Hals einen Wulst aus Sackstoff. Auch der Kopf ist sehr roh
gearbeitet. Der Mund ist leicht geöffnet. Die breite Nase tritt stark aus dem Gesicht
hervor. Zwei Spiegelstücke sind als Augen eingesetzt. Auf dem Kopf sitzt ein helm-
artiger Aufbau, in den ein Stück eines Knochens oder Eberhauers eingelassen ist. Die
3) Maes (1935, Taf. X, Abb. 13 und 14) bildet eine Spiegelplastik von den Teke ab,
bei der die Hände in gleicher Weise auf dem Rücken gekreuzt sind.
29 630. Auf einer quadratischen Platte steht die weibliche Figur. Der Körper ist
weitgehend ausgearbeitet. Um die Fiüften ist ein Lendentuch geschlungen. Über dem
kleinen Spiegelkasten befinden sich weibliche Brüste. Die Hände ruhen auf den Hüf-
ten. An den Handgelenken hängen aus Pflanzenfasern gedrehte Armringe. Um den
Hals hängt ein geflochtener Ring und ein Stoffband, an dem Stoffetzen befestigt sind.
An einem Stoffetzen hängen Pflanzenteile. Das Kinn ist vorgeschoben, der Mund
geöffnet. Die dargestellte obere Zahnreihe weist rechteckige Deformationen (Typ a)
auf. Die Nase ist breit und platt. Zwei Spiegelstücke sind als Augen eingesetzt. Das
linke Ohr steht ab, das rechte fehlt. Direkt über der Nasenwurzel sitzt der Kopf eines
großen Messingnagels. In einen Kopfputz ist ein Büschel gespaltener und spiralig
gedrehter, weißer und schwarzer Federn eingelassen.
Funktion; „Haus- und Reisefetisch“. Höhe: 31 cm (ohne Federn: 22,5 cm). Her-
kunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
118 714 a. Die fein gearbeitete Figur steht auf einem flachen Sockel, dessen Rand
ornamentiert ist. Die linke Hand der Figur ruht auf der Hüfte, die rechte hält einen
kleinen Gegenstand (möglicherweise ein Stück Zuckerrohr) an den rechten Mund-
winkel. An beiden Handgelenken sind Armringe dargestellt. Das Kinn ist vorgescho-
ben, der Mund leicht geöffnet. Die Nase ist breit. Glasstücke, die von hinten weiß und
schwarz bemalt sind, stellen die Augen dar. Die Ohren sind relativ groß. Auf dem
Kopf befindet sich ein helmartiger Aufbau, in den ein Stück Knochen (?) eingelassen
ist. Vor dem Bauch trägt die Figur einen Kasten, in den von oben ein kleines Horn
trichterartig eingesetzt ist. Um den Hais hängt ein Eisenring, und um die Hüften ist
ein Stück Stoff als Lendentuch geschlungen.
Höhe: 13 cm. Herkunft: Kongo (Stamm). Sammlung A. Speyer.
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum
rechte Hälfte des Gesichts ist orangerot gefärbt, die linke ist —
allen übrigen Stellen — geschwärzt.
Höhe: 38 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
wie auch die Figur an
h) Stehende Figuren, Unterarme und Hände nicht dargestellt
38 020. Auf einem Sockel steht die vorgebeugte Figur. Füße und Beine sind grob
ausgearbeitet. Leib und Arme gehen direkt ineinander über. Lediglich auf dem Rücken
deuten senkrechte Rillen die Trennung von Armen und Leib an. Vor dem Bauch sitzt
ein mächtiger Spiegelkasten, der von vier Eisenstücken umgeben ist. Das spitze Kinn
ist vorgeschoben. Im leicht geöffneten Mund ist die obere Zahnreihe sichtbar. Die
Zähne haben rechteckige Deformationen. Über der stark geschwungenen Oberlippe
sitzt die breite und hohe Nase. Zwei Spiegelstücke sind als Augen eingesetzt. Die
Augenbrauen sind als Wülste hervorgehoben. Die Ohren stehen ab. Im rechten Ohr
hängt ein kleiner Eisenring. Auf dem Kopf sitzt ein Kopfputz, an dessen Rand rings-
um Federn stehen. An einer Pflanzenfaserschnur ist ein rotes Stoffbündel um den Hals
gehängt. Um die Fiüften der Figur ist ein roter Stoffetzen geschlungen.
Höhe: 48 cm (ohne Federn: 35 cm). Herkunft Yombe. Sammlung R. Visser.
Jürgen Zwernemann
29 626. Die Figur steht auf einem annähernd quadratischen Sockel. Der Leib und
die Arme verschwinden hinter zwei mächtigen Spiegelkästen, die auf Bauch und Rük-
ken sitzen. Aus dem gleichen Material, aus dem die Spiegelkästen gearbeitet sind, ist
ein Wulst um den Hals gelegt, der vorne in eine Kugel übergeht, die mit dem Spiegel-
kasten verschmilzt. Um die Hüften ist ein Lendentuch geschlungen, das zusätzlich mit
einem Geflecht umgeben ist. Das Kinn ist etwas vorgeschoben, die wulstigen Lippen
sind geschlossen. Die Nase ist breit und hoch. Zwei Spiegelscherben sind als Augen
eingesetzt. In der Mitte der Stirn sitzt ein erhabenes, rautenförmiges Ornament. In
einem Kopfputz sind rote und grünschillernde Federn befestigt. Kopfputz und Spie-
gelkästen weisen Spuren roter Bemalung auf.
Funktion: „Haus- und Reisefetisch“. Höhe: 43 cm (ohne Federn; 30 cm). Her-
kunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
32 390. Die Figur steht auf einer Bodenplatte, deren vorderer Teil weggebrochen
ist. Die vordere Hälfte des linken Fußes und ein Teil der Zehen des rechten Fußes
fehlen. Die Beine sind grob gearbeitet. Leib und Arme gehen ineinander über. Sie sind
durch leichte Einkerbungen gegeneinander abgesetzt. Die Unterarme sind nicht dar-
gestellt. Vor dem Bauch sitzt ein ovaler Spiegelkasten. Um den langen Hals ist ein
blaues Stoffstück mehrfach geschlungen. Das Kinn ist vorgeschoben. Im geöffneten
Mund sind die oberen Schneidezähne sichtbar, die rechteckige Deformationen (Typ a)
aufweisen. Der Rücken der breiten Nase bildet mit der Stirn eine fast gerade Linie.
Porzellan- oder Steingutstückchen sind als Augen eingesetzt. Auf der Stirn sind zwei
teilweise verdeckte Ornamente in Dreiecksform eingeritzt. Die Ohren stehen seitlich
ab. Auf dem Kopf ist ein Aufbau befestigt, der mit einem Stück Stoff umwickelt und
mit mehreren Nägeln besetzt ist. In diesem Aufbau stecken mehrere Federn (siehe
Abb. 7).
Höhe: 35 cm (ohne Federn: 26,5 cm). Herkunft; Yombe. Sammlung R. Visser.
38 024. Auf einem annähernd quadratischen Sockel steht die Figur, deren große
Füße und säulenartige Beine kaum ausgearbeitet sind. Die Arme liegen am Leib. Sie
werden wie der Leib vorne und hinten von zwei mächtigen Spiegelkästen verdeckt.
Um den Hals liegt ein blauer Stoffwulst. Direkt neben diesem Stoffwulst ist auf der
rechten Seite ein Nagel in den Oberkörper der Figur geschlagen. Das Kinn ist vor-
geschoben, die wulstigen Lippen sind geöffnet. In der oberen Zahnreihe sind recht-
eckige Deformationen (Typ a) zu sehen. Die breite, gebogene Nase steht weit aus dem
Gesicht hervor. Beide Nasenflügel sind beschädigt. Spiegelstücke sind als Augen ein-
gesetzt. Vom Kopf hängt ein Fellstreifen über den Rücken bis auf den Boden herab.
Der Fellstreifen ist mit schwarzer Masse über der Stirn befestigt. Quer über den Kopf
ist in dieser Masse eine Reihe roter, blauer, grüner, gelber und weißer Perlen befestigt.
Höhe: 28,5 cm. Herkunft: Yombe. Sammlung R. Visser.
73 251. Auf einem runden Sockel steht die Figur, deren Füße und Beine nur sehr
grob ausgearbeitet sind. Leib und Arme gehen auf der Vorderseite glatt ineinander
über. Auf der Rückseite werden Arme und Leib durch Kerben gegeneinander abge-
Spiegel- und Nagelplastiken vom unteren Kongo im Linden-Museum 31
grenzt. Die Schulterblätter sind als kleine Absätze hervorgeboben; das Rückgrat ist
durch eine Rille dargestellt. Das Kinn ist vorgeschoben, der Mund weit geöffnet. Die
Zunge ist etwas herausgestreckt. Im Oberkiefer sind zwei deformierte Zähne (Typ f)
sichtbar. Die Nase hat einen schmalen Rücken und breite Flügel. Zwei runde Glas-
stückchen sind als Augen unter der vorstehenden Stirn eingesetzt. Die Ohren liegen an.
Auf dem Kopf befindet sich ein hutartiges Gebilde, das sich aus einem größeren und
vier kleineren, übereinanderliegenden Ringen zusammensetzt. Dieser Kopfputz ist aus
dem Holz herausgearbeitet.
Höhe; 24,5 cm. Herkunft: unterer Kongo. Sammlung Scharf.
Abh. 7. 32 390. Yomhe. Slg. Visser.
Höhe: 35 cm.
Ahb. 8. 32 395. Yombe. Slg. Visser.
Höhe: 18,5 cm.
29 631. Die Figur steht auf einem ovalen Sockel, der an seiner Vorderseite ein
Ritzornament (parallele Zickzacklinien) aufweist. Füße, Beine und Rücken sind grob
gearbeitet. Von den Armen ist nur jeweils die obere Hälfte dargestellt und durch eine
Rille vom Leib abgesetzt. Vor dem Bauch sitzt ein mächtiger Spiegelkasten, der auch
einen blauen Schamschurz fast völlig verdeckt. An einem Rohrstreifen hängen um den
Hals drei Kalebassenstücke und ein zylindrisches Tonstück. Die Figur hat das Kinn
vorgeschoben. Zwischen den geöffneten, wulstigen Lippen ist die obere Zahnreihe
sichtbar, die rechteckige Deformationen (Typ a) aufweist. Neben der sehr breiten,
leicht gebogenen Nase sind Spiegelstücke als Augen eingesetzt. Die Augenbrauen sind
durch fischgrätenartig angeordnete Kerbmuster dargestellt. Auf jeder Wange sind vier
32
Jürgen Zwernemann
senkrechte Einschnitte paarweise übereinander angeordnet. Die Ohren stehen leicht ab.
Auf dem Kopf sitzt ein mächtiger, am Ende abgerundeter Aufbau.
Funktion; „Haus- und Reisefetisch“. Höhe: 18,5 cm. Herkunft: Yombe. Samm-
lung R. Visser.
32 395. Die Figur steht auf einem starken Sockel. Leib, Beine und Füße sind sehr
grob gearbeitet. Die Arme sind nur durch schwache Einkerbungen gegen den Leib ab-
gesetzt. Vor dem Bauch sitzt ein Spiegelkasten, um die Hüfte ist ein rotes Tuch ge-
schlungen. Um den Hals hängt eine kleine Eisenglocke. Das Kinn ist nicht vorgescho-
ben. Zwischen den etwas geöffneten, wulstigen Lippen ist die obere Zahnreihe sichtbar.
Sie weist rechteckige Deformationen (Typ a) auf. Die Nase ist breit und relativ flach.
Augen und Augenlider sind aus dem Holz herausgearbeitet. Die Augenbrauen sind
durch Einkerbungen markiert. Die Ohren stehen als plumpe Blöcke seitlich ab. Auf
dem Kopf ist die Befestigungsmöglichkeit für magische Substanz nicht genützt (siehe
Abb. 8).
Höhe: 18,5 cm. Herkunft; Yombe. Sammlung R. Visser.
29 633. Die Figur steht auf einem rechteckigen Sockel. Um Unterleib und Beine ist
ein blau-weiß gestreiftes Stoffstück geschlungen. Vor dem Leib ist ein Kasten befestigt,
dessen Form annähernd ein Halbovaloid ist. Vorne bildet ein Schneckenhaus den Ab-
schluß des Kastens. Die Arme liegen eng am Leib an. Um den Hals hängt eine Kette
mit kleinen, schwarzen Perlen. Der Kopf ist eiförmig. Das Kinn ist vorgestreckt.
Augen, Mund und die breite, platte Nase verschwinden, wie fast die ganze Figur,
unter einer Kruste von Erde und rotem Farbstoff.
Funktion: „Haus- und Reisefetisch“. Höhe: 12,8 cm. Herkunft: Yombe. Samm-
lung R. Visser.
Literatur
Himmelheber, H., 1960. Negerkunst und Negerkünstler, Braunschweig.
Maes, J., 1930. Les figurines sculptées du Bas-Congo. Africa 3, 347—359. London.
Maes, J., 1935. Fetischen of Tooverbeelden uit Kongo. Annales du Musee Royal du
Congo Belge. Série VI, T. 11,1. Tervuren.
Visser, R., 1907. Über Fetischdienst, Aberglaube und damit zusammenhängende Ge-
bräuche der Kongo-Neger. Naturwissenschaftlicher Verein zu Krefeld, Jahres-
bericht 1906/07, S. 52—63.
Herta Haselberger
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
Ein Stipendium der École Française d’Afrique ermöglichte mir im Jahre 1956 eine
Bereisung der heute unabhängigen Republik Dahomey. Anläßlich dieser Durchquerung
des Landes konnte ich bei altertümlichen Bauernvölkern in Norddahomey, bei den
Nago-Yoruba in Süd- und Ostdahomey sowie bei den Fon, dem Staatsvolk des
Königreiches Dahomey, geschmackvollen Bauschmuck, insbesondere Wandzierate, auf-
nehmen. Die mannigfaltigen Stilvarianten dieser architektonischen Zierkunst sollen
im folgenden besprochen werden.
1. Der Wandschmuck der altertümlichen Bauern
in Norddahomey
Altertümliche Bauernkulturen wie die, von de-
nen in der Folge die Rede sein soll, findet man
nicht nur im Norden von Dahomey, sondern auch
weiter östlich und westlich rund um den 10. nörd-
lichen Breitengrad in Togo, Ghana, Nigérien und
Kamerun. Die Bauern bewohnen ein von niedrigen
Büschen und dazwischengestreuten, hochgewach-
senen Baumgruppen bestandenes Gebiet, in dem
sich einzelne Gebirgsstöcke und zahlreiche steinige
Hügel erheben. Diese Landschaft, die wegen der
geringen Stärke der Humusschicht, unter der sich
weithin sterile Lateritplatten befinden, wenig
fruchtbar ist, und die im Norden an unfruchtbare,
fast unbewohnte Landstriche grenzt, ist ein Zu-
fluchtsgebiet von Altvölkern. In diesem Rückzugs-
gebiet fristen sie ihr Leben durch Brandrodungs-
feldbau. Die Kultur dieser Bauernvölker, zu denen
in Dahomey u. a. die Tamba, die Pila-Plla (= Yo-
wa) und die Somba (= Tamberma) gehören,
weist eine Anzahl altnigritischer Züge auf. Ihre materiellen Grundlagen sind sehr
schlicht. Die Bekleidung fehlt oder ist auf das Notwendigste (Blattbüschel, Leder-
schürze, Penisfutterale) reduziert, wo nicht rezente Kultureinflüsse aus den benach-
barten Gebieten wirksam wurden. Bei der Jagd bedient man sich vielfach noch heute
des Bogens und vergifteter Pfeile.
Die bildende Kunst der altertümlichen Bauernvölker im Hinterland der Guinea-
küste ist nicht sehr reich. Stein- und Metallplastik fehlen weitgehend, die Holzplastik
ist selten und immer sehr schlicht. Es gibt allerdings ausgezeichnet geschnitzte Kaie-
34
Herta Haselberger
hassen, schöne, von den Frauen hergestellte Keramiken und geschmackvolle Flecht-
arbeiten. Die Malerei beschränkt sich auf den Wandschmuck.
Der größte Teil der FFackbauern Norddahomeys und der angrenzenden Gebiete
bewohnt stroh- bzw. grasgedeckte Rundhäuser aus Lehm mit einem Durchmesser von
etwa drei bis vier Metern. Eine Anzahl dieser FFäuser wird jeweils durch niedrige
Verbindungs- und höhere Umfassungsmauern zu Sippengehöften zusammengeschlos-
sen. Bei den Somba in Norddahomey werden ebenso wie bei altertümlichen Völkern in
der Obervolta-Republik und bei einigen Togorestvölkern zweigeschossige Wohnburgen
errichtet, die im Untergeschoß bei Viehzüchtern, wie den Somba, die Stallungen sowie
die Wohnräume der Frauen enthalten. Das Obergeschoß besteht aus einer Terrasse,
auf der sich das tägliche Leben zum großen Teil abspielt (und die mittels einer an der
äußeren FFauswand oder in einem schmalen Durchschlupf in der Decke des Erd-
geschosses angelehnten Astleiter zugänglich ist), aus den kreisrunden, etwa 150 cm im
Durchmesser umfassenden Schlafhäusern der Männer sowie aus Speichern. Für die
Errichtung der FFäuser mit den begehbaren Plattformen war früher vor allem das
Verteidigungsmoment ausschlaggebend, denn die Plattform ermöglicht eine gute Ein-
sicht in das Gelände und eine Bestreichung der näheren Umgebung des FFauses mit
Pfeilen.
Die FFäuser werden von den Männern gebaut. Sie bestehen aus mehreren, in Ab-
ständen von einigen Tagen von FFand aufgeschichteten Lehmlagen, die nach dem
Trocknen von den Frauen mit Mörtel bestrichen werden. Dieser besteht aus dem
zerriebenen Baumaterial der Termitenhügel und aus Schaf- bzw. Kuhdung und
verleiht den Mauern eine gewisse Wetterfestigkeit. Auf diesen Mörtel wird bei vielen
Völkern noch eine zweite Putzschichte aufgetragen. Diesen Putz versetzt man, wenn
eine mehrfarbige Wirkung erzielt werden soll, z. T. mit Laterit, um rote Farbe zu
gewinnen, mit schwarzer Erde bzw. mit FFolzkohle zur Anlage schwarzer Flächen
und mit Kaolin, um weiße Felder auf die Mauern zeichnen zu können. Nach Maßgabe
des beabsichtigten Musters, das zunächst leicht in die Mauer geritzt wird, werden die
verschiedenfarbigen Putzsorten nebeneinander aufgetragen, wobei gewöhnlich die
schwarzen Flächen mit der stärksten Putzschicht bedeckt werden. Während der Putz
noch feucht ist, werden von den Frauen mit Hilfe eines Messers, der Schneide einer
Axt oder mit Steinen die Konturen der Farbflächen nachgezogen. Bei manchen Stäm-
men, z. B. den Ost-Kasena des Obervolta-Gebietes, werden diese Kerben dann weiß,
rot oder schwarz eingefärbt und mit abgeschliffenen Steinen glattpoliert. In die
schwarzen und braunen Farbflächen drückt man in regelmäßigen Abständen das Ende
eines Astes, um ein Punktmuster zu erzielen, oder man ritzt mit einem Messer feine
Rillen — meist in Fischgrätenform — in die Oberfläche des noch feuchten Putzes.
Schließlich wird alles mit runden, handlichen Steinen glattpoliert. Abschließend wird
die Mauer mit einer Schicht lasierender, roter Pflanzenfarbe überzogen. Diese Farbe
gewinnt man, indem man die Rinde des Nerebaumes (Parkia biglobosa) 24 Stunden
in Wasser auf weicht. Der rote Saft hat nicht nur wegen der Farbe Bedeutung, sondern
er dient gleichzeitig der Wand zum Schutz. Will man die FFäuser besonders reich
schmücken, so legt man die Plattformen, auf denen sie sich erheben, die Sitzbänke aus
Lehm, die Bettstellen, die Mauern, die Türschwellen ebenso wie die kegelstumpfför-
migen Ahnengräber in den Höfen mit Kaurischnecken ein. Diese Kaurischnecken haben
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
z. T. sicher rituelle Bedeutung, wenn ich darüber auch nichts Ausführliches und Ein-
deutiges erfahren konnte. Da Kaurischnecken heute schwer aufzutreiben sind, ersetzt
man sie gern durch Scherben von Steingutgefäßen europäischer Herkunft bzw. durch
bunte Steingutteller und Topfdeckel, die man in die feuchte Wand drückt.
Bei meiner Reise nach Norddahomey sah ich bei den Somba, den Pila-Pila und
den Tamba Wandschmuck der angegebenen Art.
a) Die Somba
Das Zentrum des Sombalandes ist der Markt Natitingou in einem schwach bewal-
deten Hügelland. Die Somba (= Tamberma) leben von Ackerbau und Viehzucht. Ihre
malerischen Lehm-„Tata“ sind zweigeschossig. Sie bestehen ebenerdig aus mehreren
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^/////>////^///^^^/^
Abh. 1 a—k. Dahomey, Natitingou und Umgebung. Gravierte Ziermotive an den
Außenmauern der „Tata<e.
zylindrischen Bauteilen mit einem Durchmesser von je 150 bis 250 cm sowie aus Rest-
räumen mit gekrümmten Begrenzungswänden. Alle Räume im Erdgeschoß sind flach
gedeckt. Im Obergeschoß umgeben zylindrische Schlafhäuser mit tiefgezogenem Kegel-
dach und einem Durchmesser von ca. 150 cm sowie ähnlich geformte bzw. urnen-
förmige Getreidespeicher eine Plattform. Die Oberfläche der Mauern dieser Burgen
ist oft fein geriefelt, wie man aus den Abbildungen 1 a, b, d, f, g, h, i, k ersehen kann,
so daß verschiedenartige, meist geradlinige Muster entstehen. Manchmal findet man
auch plastische Auflagen. In seltenen Fällen werden sogar Bilder von Menschen und
Tieren in die Mauer gekerbt. Als Besonderheit ist die in Negerafrika sonst mit wenigen
□ 1 ( □
□ □ □
36
Herta Haselbergcr
Ausnahmen- fehlende Spirale (Abb. 1 c) zu erwähnen, die hier bisweilen in den Wand-
schmuck eingefügt wird. Manchen Sombaburgen, deren Baumaterial aus einem ziemlich
hellen, gelbbraunen Lehm besteht, verleihen Einlagen von rötlichem Lehm in den
Riefelungen eine zarte Farbigkeit. Die Mauern der Getreidespeicher im Obergeschoß
sind bisweilen mit weißen Streifen bedeckt, die rituelle Bedeutung besitzen. Ein roter
Farbstreifen, der gelegentlich um das ganze Tata gezogen wird, hat kultische Bedeu-
tung.
b) Die Tamba und die Pila-Pila
Ich besuchte Stammesgruppen der Tamba und der Pila-Pila ( = Yowa), die im
Kreis Djougou wohnen.
Besonders reich war einst die malerische Ausstattung des Häuptlingsgehöftes von
Djougou, die 1956 allerdings nurmehr aus Spuren zu erkennen war. Aus der erstaun-
lichen Mannigfaltigkeit der verwendeten Ornamentmotive läßt sich schließen, daß die
Frauen der Häuptlingsfamilie aus verschiedenen Völkerschaften und Dörfern kamen,
und jede Frau die ihrer Familie eigenen Ziermotive mitbrachte.
Abb. 2. Dahomey, Djougou. Abrollung des Wandschmucks eines Hauses im Häupt-
lingsgehöft. Schwarz, hellrot, dunkelrot.
Ein Haus war mit schwarzen, hellroten und dunkelroten Farbstreifen von
einzigartiger Leuchtkraft bedeckt. Einige dieser Yertikalbänder waren in quer-
rechteckige rote und schwarze Felder unterteilt (Abb. 2).
An einem anderen Haus sah man als Rest der einstigen Bemalung eine Gazelle
in roter Farbe, deren Formen stark stilisiert waren (Abb. 3). Diese Zeichnung war
von ornamentalen Dreieckmotiven umgeben. Die einzelnen Ornamentfelder waren
durch punktartige, in Reihen angeordnete Vertiefungen gegliedert.
An der Innenmauer eines dritten Hauses hatten sich die Reste eines Steinchen-
mosaiks erhalten. Vertikale Wellenbänder und menschliche Figuren waren mit
kleinen, dunkelroten Steinchen unregelmäßiger Form ausgelegt, während die
lineare Begrenzung der Streifen und Figuren aus größeren, weißen Steinen zusam-
mengesetzt war. Mir ist in Afrika nichts ähnliches bekannt geworden.
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
37
Andere Häuser im Häuptlingsgehöft waren von einem Wanderkünstler aus
Dompago, das 31 km westlich von Djougou liegt, geschmackvoll verziert worden.
Abh. 3. Dahomey, Djou-
gou. Häuptlingsgehöfi.
Darstellung einer Gazelle
an der Innenwand eines
halbverfallenen Hauses.
Man konnte diese Verzierungen allerdings nur durch eine darüber gestrichene
weiße Tünche erkennen. Die von diesem Burschen hergestellten, sehr sorgfältig
ausgeführten Verzierungen bestanden aus Streifen und aus bandartig aneinander-
gefügten Dreiecken, die in roter Farbe und in Braun, der Farbe des Lehms, aus dem
die Häuser in Djougou bestehen, gehalten waren und durch feine Punktmuster
eine reiche Gliederung erhielten. Zwischen diese abstrakten Zierate zeichnete er
gerne ein Krokodil in Draufsicht (Abb. 4). Werke desselben Künstlers konnte ich
— besser erhalten — auch in Parsar (7 km von Djougou) sowie im Häuptlings-
gehöft von Tanneka Beri aufnehmen, Er hatte die Zierkunst von den Frauen ge-
lernt, den überlieferten Motivschatz bereichert und wurde um 1950 zur Aus-
schmückung aller bedeutenderen Bauten in der Umgebung von Dompago heran-
gezogen.
Abb. 4. Dahomey, Parsar
bei Djougou. Wandzierate
im Häuptlingsgehöft.
An den Häusern der Pila-Pila von Djougou, insbesondere an den Torhütten, die
den Zugang zu den Höfen der ausgedehnten Gehöfte vermitteln, und an den Fassaden
der Frauenhäuser sah ich einfache Zierrate. Diese entstanden durch die verschieden-
artige Anordnung breiter schwarzer, durch fischgrätenartige Kerbmuster gegliederter
Streifen. Die solcherart entstehenden Flächenmuster ähnelten den Zieraten der Basari,
die weiter im Westen, in Mitteltogo, wohnen.
38
Herta Haselberger
An den Außenmauern durch Malereien und Gravierungen verzierte Häuser der
Tamba findet man nur in Tanneka Beri. Ein Teil dieser Zierate ähnelt dem Wand-
schmuck der Pila-Pila bzw. dem Wanddekor der in Mitteltogo ansässigen Basari. An
anderen Häusern sieht man jedoch Darstellungen von Tieren und Menschen, nicht nur
den geometrisch-abstrakten, gravierten und gemalten Schmuck. Weiter sieht man ein-
fache Dreieckmuster, dazwischen gegenständliche Darstellungen, die aus roten, weißen
und schwarzen Parkflächen aufgebaut sind und an die Malerei der den Tamba benach-
barten Kotokoli ( = Tem) Mitteltogos erinnern. An einer kleinen Anzahl von Haus-
fassaden sieht man neben dem Eingang rote, schwarze und weiße hochgestellte, farb-
gefüllte Rechtecke.
Ebenso sind, wie schon erwähnt, im Häuptlingsgehöft der Tamba von Tanneka
Beri Zierate des Wanderkünstlers aus Dompago zu sehen, den auch der Häuptling
von Djougou bei der Ausschmückung seines Gehöftes beschäftigt hat.
Daneben stellen die Bewohner von Tanneka Beri als Besonderheit figurale Male-
reien her. Farbig gepunktete Flächen innerhalb dieser Darstellungen weisen auf den
Einfluß hin, den die Wandmalerei der Mahi, einer rund um Savalou ansässigen Ost-
Ewe-Gruppe, auf die Entstehung des figürlichen Zeichenstiles der Tamba hatte. Wie-
dergegeben werden Reiter, Leoparden, Bäume und pfeiferauchende Europäer in sehr
treffsicheren Bildern mit sprechender Kontur (Abb. 5).
Abb. 5.
Dahomey, Tanneka Beri.
Gemalter Wandschmuck
an einem Wohnhaus.
II. Der Wandschmuck der Yoruba
In Dahomey wohnen etwa 150 000 Yoruba. Sie siedeln besonders dicht östlich
und nördlich des Kerngebietes der Fon. Ein Teil von ihnen gehört einer älteren Be-
völkerungsschicht als die Fon an, und ihre Kultur ist derjenigen der Bauernvölker
Norddahomeys ähnlich. Ihnen ist in Gebieten mit einer Mischbevölkerung von Fon
und Nago die Priesterschaft des weiblichen Hochgottes Nana Buku, das Amt des
Bergkönigs und der priesterliche Rang des Erdherren Vorbehalten, wie sich etwa im
Aufbau der Gesellschaft von Dassa Zoume zeigt, wo die Yoruba von Fon überschichtet
sind. Jüngere Schichten der Yorubabevölkerung von Dahomey, deren Zahl ständig
im Steigen ist, beschäftigen sich vorwiegend mit dem Kleinhandel. Bei der Yoruba-
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 39
gruppe, die kulturell altertümlicher ist, findet man einfache Malereien, Gravierungen
und schlichten Lehmzierat an den Frauenhäusern, wie bei den im letzten Abschnitt
besprochenen, altertümlichen Bauernvölker. Bei den erst später aus Nigerien eingewan-
derten Yorubaschichten hingegen gibt es figürliche und individuell gestaltete, geometri-
sche Zierate.
a) Die Sha und Manigri
Diese altertümlichen Yorubagruppen weisen in der Gesamtkultur sowie im Bau-
schmuck viele Beziehungen zu den altertümlichen Völkern in Norddahomey, Nord-
togo, Nordghana, Nordnigerien und Nordkamerun auf. Ihr Wohngebiet beiderseits
der von Savalou nach Djougou führenden Straße ist ein ziemlich trockenes Buschland
mit steinigen Bergzügen. Besonders schöne Wandzierate sah ich in den Sha-Dörfern
Pirah, Agoua, Baute und in den Manigridörfern östlich und südlich von Bassila. Die
Malerei der Manigri gehört dem Stil nach zur Malerei der Sha. Es versteht sich von
Ahh. 6. Dahomey, Agoua. Fas-
sadenschmuck eines Wohnhauses.
Gravierungen; die Parkflächen
sind mit roter und weißer Farbe
angelegt.
selbst, daß auch in den hier nicht angeführten bzw. von mir nicht besuchten Dörfern
der Sha und Manigri die Häuser mit den traditionellen Zieraten geschmückt sind, die
sich einer verhältnismäßig weiten Verbreitung erfreuen, obwohl sie, nach dem Gesehe-
nen zu urteilen, heute nicht mehr hergestellt werden.
Die Häuser der Sha und der Manigri sind meist rechteckig, was auf den von Süden
eingedrungenen Einfluß der Fon zurückzuführen ist. Sie besitzen ein Pyramidendach
aus Gras. Neben den rechteckigen Häusern sieht man bisweilen auch die altertüm-
Abb. 7. Dahomey, Pirah. a und c: Einzelne Ornamentmotive, darunter das Trommel-
motiv (a), dessen Höhe etwa 50 cm beträgt, b: Ornamentierte Fassade eines Frauen-
hauses.
40
Herta Haselberger
lieberen Rundhäuser aus Lehm mit kegelförmigem Dach. Die einzelnen Häuser sind
meist zu größeren Gehöften zusammengestellt. Die ornamentierten Flächen umgeben
den Eingang der einzelnen Häuser an der Außenseite in Form eines großen Rechteckes
(Abb. 6, 7 b) und überziehen gleichmäßig von unten bis oben die Innenwände der
Abb. 8. Dahomey, Bassila. Rei-
terbild an einem Wohnhaus.
Rechts vom Pferd sind Häupt-
lingssandalen dargestellt. Breite
der bemalten Wand: 2 m.
Häuser, die von den jungen Mädchen bewohnt werden. Seltener ist die vollständige
Bemalung der Außenwände (Abb. 8). Der Wandschmuck besteht aus roten, lehmfarbi-
gen bzw. schwarzen Farbstreifen, aus quadratischen, in je vier Dreiecke geteilten Zier-
feldern (Abb. 7 c), aus Vierecken, die durch zwei Segmentbögen und durch 6 kurze
Kerben zu Bildern von Trommeln gemacht werden (Abb. 7 a), aus Vierpässen und
ähnlichen schlichten geometrischen Formen. Die Ornamente sind durch Kerben von-
einander abgesetzt und im Hausinneren in unendlichen Rapport aneinandergereiht.
An gegenständlich deutbaren Darstellungen sieht man außer der schon erwähnten
Trommel gewöhnlich über der Tür das Bild des Mondes (Abb. 9) — oft mit Kauri-
Abb. 9. Dahomey, Bante. An
der Fassade eines Wohnhau-
ses: Darstellung einer Frau,
daneben 4 Fächer; über der
Türe die Mondsichel; schwarz
und grau.
Schnecken eingelegt —, weiter die für die Sha und Manigri charakteristischen Häupt-
lingssandalen (Abb. 8), Wahrsagebretter, Hacken, Stäbe, Strohfächer (Abb. 9), Eidech-
sen (Abb. 10), Vögel, Reiter (Abb. 8), Frauen und Radfahrer. Die Wiedergaben sind
sehr ausdrucksstark und aufs knappste stilisiert. Einzelne Teile der Figuren, wie der
Kopf der Frauen und der Leib der Pferde, sind gehöht und körperhaft gerundet.
„ tt": '
Heute verstehen es nur mehr alte Frauen, diese Malereien herzustellen, so daß diese
Kunstwerke in wenigen Jahren verschwunden sein werden und ihre Verbringung in
Museen ein Gebot der Zeit wäre. Die Herstellungstechnik der Bilder stimmt mit der
der Verzierungen bei den weiter oben beschriebenen Bauernvölkern überein. Die Sha-
frauen und die Frauen der Manigri, die ihr Handwerk, wie sie mir sagten, von den
Göttern gelernt hätten, wurden 1956 für die Verzierung eines Hauses mit 500 bis
1000 CFA bezahlt.
Vereinzelt ziehen in den Shadörfern vertikale, etwa 5 cm breite, reich mit Kerben
und Punktmustern versehene, gehöhte Lehmstreifen über die Außenwände der Häuser.
b) Die H o 11 i
Der Hauptort dieser Yoruba-Gruppe ist Pobe, nahe der Ostgrenze von Dahomey.
Pobe ist ein Zentrum des Shango-Kultes und des Oro-Bundes. Hier gibt es, soviel ich
1956 bei einem kurzen Besuch feststellen konnte, einfache figurale und geometrische
Zierate an den Häusern.
Der Shangotempel im Stadtteil Dogan
An die Außenmauern dieses rechteckigen, grasgedeckten Tempels sind auf gel-
bem Grund mit schwarzer Farbe eine Antilope und zwei heraldisch-symmetrische
Löwen gemalt. Im Inneren des Tempels sieht man einen schwarzen, ornamentalen
Sockelfries.
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
Ahh. 10. Dahomey, Bassila. Das
Bild einer Echse an einemWohn-
haus. 50 X 160 cm.
Das Haus des Oro-Großpriesters
An der Vorderseite dieses Hauses, das 1956 restauriert und mit Wellblech ein-
gedeckt wurde, sieht man in streifenförmiger Anordnung geometrische Strich- und
Punktmuster in Schwarz und Weiß sowie blau-weiß-gelbe figurale Zeichnungen
auf rötlichem Grund. Schlangen, Priester im Kultgewand mit dem Kultgerät, und
Tiere, die wahrscheinlich eine Rolle im Bund spielen, sind wiedergegeben. Alle
Figuren sind unterlebensgroß, frontal und stark schematisiert. Der Kopf besteht aus
einem Kreis, in den Augen, Nase und Mund eingezeichnet sind; der Rumpf hat die
Form eines Rechteckes, das in Farbfelder geteilt ist, abgewinkelte Striche deuten
42
Herta Haselberger
die Arme an, durch weiße Linien begrenzte Vierecke bilden die Beine. Die Füße
sind in Schrittstellung im Profil dargestellt.
Außer Kreidezeichnungen der Kinder — Bäumen, Menschen, Tieren — sah ich an
einigen Wohnhäusern in Pobé Tierbilder und über den rechteckigen Eingängen einiger
größerer, ziemlich neuer Häuser schwarze, gemalte, geometrische Zierate.
c) Savé
In Savé, das von der Yoruba-Gruppe der Sabe bewohnt wird, sind die Malereien
und der sonstige Wandschmuck sehr spärlich. Dieser Ort Ist der Wohnsitz eines der
höchsten Würdenträger der Yoruba, des Kabiesi, dessen Macht, da Savé durch die
willkürliche Grenzziehung zwischen Dahomey und Nigérien von seinem Hinterland
abgeschnitten ist, in den letzten Jahrzehnten stark zurückging.
Der neue Palast des Kabiesi
Da der alte, schöne Lehmpalast des Kabiesi vor einigen Jahrzehnten zerstört
wurde, wurde 1940 ein großes Königsgehöft errichtet, das eine Vorhalle, einen
weiten Hof und das eigentliche langgestreckt-reckteckige, durch ein offenes Vor-
haus der Länge nach unterteilte Wohnhaus umfaßt. Sämtliche Lehmwände und
Pfeiler dieses Gehöftes sind schwarz bemalt, und die schwarzen Flächen sind durch
große hellblaue, orangerote bzw. weiße Farbflächen unterbrochen.
Das Haus einer Priesterin
Die Außenmauern dieses Hauses sind durch gelbe Farbstreifen und durch Lehm-
wülste mit wahrscheinlich kultischer Bedeutung verziert.
III. Der Bauschmuck der Fon, Gun und Mahi
Das etwa 800 000 Menschen zählende, kriegerische und politisch regsame Volk der
Fon gründete im frühen 17. Jahrhundert den Staat Dahomey, der bald große Macht
erlangte. Die Fon breiteten ihre Herrschaft durch systematische Kriegszüge aus, die
der Einverleibung der umliegenden Gebiete dienten. 1724 wurde der Heimatort der
Adja-Herrscher, die Stadt Allada, eingenommen, und im Jahre 1726 eroberte die
Dynastie der Alladahonu Ouidah, wodurch Dahomey den wichtigen Zugang zum
Meer erlangte. Im Westen begrenzte der Kuwofluß das Königreich, im Osten der
Ouèmé, im Norden erstreckte sich der Staat bis zu den Bergen der Mahi. Die Fon,
die heute in den Kreisen Porto Novo, Athémé und Abomey den überwiegenden Be-
standteil der Bevölkerung bilden, besitzen eine bemerkenswerte kulturschöpferische
Kraft. Begünstigt wurde die Entwicklung ihrer Kultur durch die Fruchtbarkeit des
Landes, das gegen eine geringe Mühewaltung im Süden vorzüglich Palmöl, im Norden
Mais und Maniok liefert. In der Kultur von Dahomey lassen sich „barocke“
Züge erkennen, die durch europäisch-portugiesischen Einfluß während des 17. und des
18. Jahrhunderts zu erklären sind. Diesen barocken Einflüssen kam das traditionelle
Gottkönigtum entgegen. Apotheose des absoluten Herrschers und Gottesgnadentum,
ein straff zentralisiertes und gut durchorganisiertes Staatsgebilde, der sinnvolle Auf-
bau und die zielstrebige Handhabung des Staatsapparates erinnern entfernt an die
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 43
europäische Staatsräson des Barockzeitalters, die in Dahomey natürlich den dürftigen
örtlichen Verhältnissen und der eher barbarischen Denkweise der Fon angepaßt ist.
Die etwas grobe Kunst Dahomeys ist wie die europäische Barockkunst eine repräsen-
tative Kunst, deren Themenkreise vor allem Herrscherhaus und Kult verherrlichen,
und zwar z. T. in Formen, die eine direkte Beeinflussung durch die europäische Barock-
kunst überzeugend klarmachen.
Im Wohngebiet der Fon begegnet man heute nebeneinander mehreren verschiede-
nen Hausformen. Rundhäuser sind sehr selten, bezeichnenderweise spielen sie aber im
Königskult eine gewisse Rolle, wie die Gedächtnishütten in den Königsgehöften von
Abomey und Porto Novo zeigen. Impluvialbauten sind sehr selten. Diese mediterrane
Hausform ist wahrscheinlich von den Yoruba zu den Fon gelangt. Am weitesten ist
heute in Dahomey das portugiesisch-brasilianische rechteckige Steilgiebelhaus ver-
breitet, das die nach Afrika zurückgekehrten Nachkommen der Negersklaven, die seit
1865 in der alten Heimat eintrafen, an die Guineaküste brachten, und das hier rasch
Fuß faßte, weil es mit der Tradition des klassischen westafrikanischen Satteldach-
hauses zusammentraf. Die Häuser sind mit Gras oder Wellblech gedeckt. An der Breit-
seite, dort, wo der Eingang liegt, öffnen sie sich oft in Form einer Halle, deren Dach
von ungegliederten, quaderförmigen Stützen getragen wird.
Den Lehm für den Hausbau hebt man aus Löchern, die in der Nähe der Baustelle
gegraben werden. Man besprengt ihn mit Wasser und knetet ihn durch Treten mit den
bloßen Füßen. Dann wartet man, bis sich das überschüssige Wasser abgesondert hat.
Schließlich formt der Maurer aus der feuchten Masse große Kugeln oder preßt den
Lehm in Körbe, die an der Arbeitsstelle entleert werden. Hat man eine Lehmschicht
von etwa 1 m Höhe aufgetragen, so wird sie zuerst mit den Händen und dann mit der
Kelle geglättet, ehe man sie einige Tage trocknen läßt. In der Folge wird dann die
Mauer wieder ein Stück höher geführt. Diese Wartezeit soll verhindern, daß die
unteren Lehmschichten durch den auf sie ausgeübten Druck auseinandergepreßt wer-
den, solange sie noch feucht sind. Die Außenmauern und die Hofmauern des Ge-
höftes werden mit einer Schicht Lehm und Kuhdung bedeckt und die wichtigsten Ge-
bäude geweißt. Königbauten und sakrale Bauten werden oft mit Lehmreliefs verziert
und später bemalt. Manche Tempel und Wohnbauten tragen unmittelbar auf die
Mauer aufgesetzte Malereien.
Es soll, um eine allgemeine Übersicht zu geben, der Bauschmuck in einigen der
wichtigsten Orte der Fon, wie Abomey, Ouidah, Porto Novo, Adjara, Dassa Zoume
und Savalou besprochen werden.
a) Abomey
Die Residenz der Herrscher von Dahomey macht den Eindruck einer „barocken“
Stadt. Die bei vielen Gelegenheiten zur Schau gestellte Würde des Fürsten, der heute
seiner Macht weitestgehend entkleidet ist, das „barocke“ Pathos und das Dekorum im
Hofzeremoniell, das den Machthaber umgibt, die die Augen betörende, prunkvolle
Ausführung der dem König und den Göttern gehörenden Gegenstände, die Prunk-
gewänder, die quasten- und fransenbesetzten Draperien, die bunten Schirme, die
prächtig bestickten Wandbehänge, die bemalten Palastmauern und vieles andere ent-
44
Herta Haselherger
spricht einer „barocken“ Gesinnung. Bis in Einzelheiten lassen sich Parallelen mit dem
barocken Europa aufzeigen. So hat z. B. jeder Beherrscher von Dahomey wie der
europäische Fürst des 17. und 18. Jahrhunderts einen Wahlspruch, dem er in seiner
Politik nachstrebt, und der auf den bildlichen Darstellungen aus seiner Regierungszeit
immer wiederkehrt.
Viele Künste blühten in dieser Königsstadt: die Reliefbildnerei in Ton, die Holz-
schnitzerei, der Metallguß, die Appliquestickerei, die Kalebassenschnitzerei und die
Malerei.
Die inhaltliche und die formale Gestaltung des Bauschmucks, der sich in Abomey
auf die Behausung des Königs und auf die Tempel beschränkt, lassen an den euro-
päischen Barock denken. Als Vorwürfe für die Reliefs und die Appliquestickereien
werden treffende Aussprüche des Königs in aphoristischer Form, auf ihren bildhaften
Gehalt reduzierte Sprichwörter und historische Ereignisse gewählt. Weitere Darstel-
lungsinhalte sind Allegorien und Symbole. Der König ist z. B. als Stier, als Elefant
und als Haifisch abgebildet, weil diese Tiere die Symbole von Stärke, Weisheit und
Unbesiegbarkeit sind. Den Thronfolger, der seinem königlichen Vater Schwierigkeiten
bereitet, gibt man als zappelnden Fisch wieder, weil ein solcher, einmal an Land ge-
spült, nicht mehr ins Wasser zurückgelangen kann.
Nur der Kundige versteht die Sprache dieser Bilder, die z. T. europäischen
Barockikonologien entnommen sind, und die wie ein mythologisch-politisches Gemälde
des europäischen Barocks mehrere Sinnschichten aufweisen.
Die Malerei: Obwohl in Abomey fast alle Reliefs bemalt sind, kommen
Malereien auf dem flachen Mauergrund verhältnismäßig selten vor. Man sieht sie nur
an den Tempeln der Tohosun — mißgestalteter, abnormgeborener Kinder meist
königlichen Geschlechts — sowie an den Kulthäusern der Erd- und Pockengottheit
Sagbata.
Die Tohosun genießen als Wächter des Totenflusses große Verehrung, da sie als
Strafe für Nachlässigkeiten in ihrem Dienst den Verstorbenen den Zutritt zum Toten-
reich verwehren und diese dafür an den Lebenden Rache nehmen. In der Stadt
Abomey hat jede königliche Sib (d. h. Großfamiliengruppe) ihren eigenen Tohosun-
tempel. Derzeit gibt es in Abomey etwa 20 dieser langen, schmalen Gebäude, deren
rechteckiger Binnenraum durch eine Längswand geteilt ist und in deren hinterem Teil,
der den Europäern gewöhnlich unzugänglich ist, die Tohosun regieren. An den Wän-
den des Vorraumes und an den Außenmauern sind Begebenheiten aus dem Leben
dieser abnormen Kinder und ihrer königlichen Eltern zusammen mit Kultobjekten
wiedergegeben. Den Hintergrund dieser Malereien und den Schmuck der Außenwände
des Tempels bilden einfache Farbwischer, Tupfen und Kringel, sowie rote, weiße und
schwarze Farbfelder in schachbrettartiger Anordnung, Kennzeichen der Tohosun. Die
kultische Bedeutung der drei alten, in diesen Malereien verwendeten afrikanischen
Farben Rot-Welß-Schwarz ist in den religiösen Gebräuchen von Abomey noch gut
erkennbar. Es sei etwa auf die Vorschriften für die Begräbnisse der Vodunon, der
Kultdiener, hingewiesen; Die Leichen der Sagbata-Verehrer werden in weiße und in
schwarze Tuche gekleidet, die Diener der Tohosun und des Dan erhalten rot-weiß-
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 45
schwarze Kleidung, Hevieso-Priester werden in Weiß und in Rot gehüllt, Mawu-
Lisa-Verehrer aber haben ein rein weißes Totengewand (Herskovits, 1938).
Da die Malereien z. T. esoterische Phasen des Tohosun-Kultes schildern, ist anzu-
nehmen, daß sie von den Priestern selbst hergestellt werden, was mit den Auskünften
meiner Gewährsleute übereinstimmt. Nur ein einziges Mal wurde mir ein Schmied als
Maler genannt, ich hatte aber keine Gelegenheit, diese Angabe nachzuprüfen.
Der große Zumadunu-Tempel
Zumadunu, abnormes Kind des Königs Akaba (Verger, 1954), ist der oberste
und älteste Tohosun der königlichen Sib. Sein großer Tempel in Abomey war
noch vor wenigen Jahren mit Malereien geschmückt, von denen mir Photos von
Pierre Verger und anderen zur Verfügung stehen. Vor 1956 wurde er aber ge-
weißt, und bei meinem Aufenthalt in Abomey waren die Malereien noch nicht
erneuert worden. In der Vorhalle des Tempels — die Malereien im Inneren
wurden keinem Europäer bekannt — sah man vor 1956 einen fischfressenden,
reiherartigen Vogel, eine der Verwandlungsformen des Zumadunu, weiter einen
Mann, der eine Zwillingslocke, das kultische Musikinstrument, mit einem Stab
schlägt, und als Mittelpunkt der Malereien, wie an allen königlichen Tohosun-
tempeln, den So Bragada, den Beschützer der Könige, der in Gestalt einer ge-
hörnten Maske mit Schnabel und Zähnen und mit einem Gewand aus Fibern
bekleidet wiedergegeben war. Dazu einen Lederbeutel, der regelmäßig im
ikonographischen Zusammenhang der Tohosun-Tempel wiederkehrt, dessen Be-
deutung mir aber unbekannt ist.
Ein kleiner Tohosuntempel beim Museum
Dieser Tempel verlor durch einen Brand während meines Aufenthaltes in Abomey
1956 das Dach, so daß die Bemalung der äußeren und der inneren Wände des ca.
3 m langen, rechteckigen Gebäudes sichtbar wurde. Zur Darstellung gebracht waren
dieselben Gegenstände wie bei dem obengenannten Tohosuntempel, doch waren die
einzelnen Bilder wesentlich schlichter, der geringeren Bedeutung dieses Tempels
angemessen.
Ein dritter Tohosuntempel in Abomey
P. Verger (1954) bildet die Malereien an den Mauern dieses Tempels ab; sie be-
stehen aus streumusterartig an der Wand verteilten Gegenständen, die die Form
scharf konturierter, geschlossener Farbflächen haben.
Ein Sagbatatempel im Stadtteil Gbekon Hunli
Die Sagbatatempel stehen an der Peripherie der Stadt Abomey, da während der
Regierung der Alladahonu-Dynastie der Erd- und Pockenkult in Abomey nicht
geschätzt war; aber aus Angst vor der mächtigen Gottheit verbot man den Kult
nicht, sondern verlegte ihn vor die Stadt. Die in der Stadt befindlichen Tempel
wurden zerstört.
Der Tempel im Stadtteil Gbekon Hunli ist reich mit Reliefs verziert. Dargestellt
sind Symbole der Könige Ghezo und Glele sowie Sonne und Mond (Mawu und
Lisa). Den Reliefschmuck ergänzen schlichte Malereien. Sie geben Musikinstrumente
46 Herta Haselberger
wie die Doppelglocke und die Kastagnetten wieder, weiter die Regenbogenschlange
und die Kalebasse, die das Geheimnis des Sagbatakultes umschließt.
Im Vorraum des Tempels, der an einer Breitseite offen ist, sieht man einen manns-
hohen, gemalten Fries, der in mehrere Zonen geteilt ist. In jeder Reihe wechseln
je zwei Darstellungen in rechteckigen Feldern miteinander ab, darunter der wach-
same Kranich, den man in jeder Barockikonographie findet, der furchtlose Hai-
fisch, Sinnbild einer Königsmutter, ein Trommelschlegel und ein Kreuz, das den
„obersten Gott der Portugiesen“ darstellt, wie meine einheimischen Gewährsleute
sagten.
Abb. 11.
Dahomey, Abomey.
Ein Sagbata-Tempel im
Stadtteil Gbekon Hunli
mit symbolischen Dar-
stellungen.
Die Malereien wurden vom Priester, der den Tempel betreut, gemeinsam mit des-
sen Bruder ausgeführt (Abb. 11).
Die Appliquestickerei: Einen einzigartigen, besonders feinen und
künstlerisch hochwertigen Wandschmuck bilden die Appliquestickereien des Königs-
palastes. Diese Wandbehänge sind die Erzeugnisse einer ehemals straff organisierten,
an den Hof von Abomey gebundenen Familiengilde, die vor allem Mützen, Prunk-
gewänder und Schirmbespannungen für den Nesuhwekult herstellt. Die großen Wand-
behänge sind einheitlich komponiert. Auf schwarzem, gelbem oder rotem Grund werden
rote, blaue, grüne und andersfarbige Stoffstückchen festgenäht, die nach Schablonen,
die der Gildenmeister verwahrt, ausgeschnitten werden und oft auf einer Komposition
mehrmals Verwendung finden. Die Figuren sind streumusterartig verteilt, aber nicht
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 47
selten nimmt die wichtigste Figur die Mitte der Komposition ein, und die kleineren
Nebenfiguren sind ihr spiegelsymmetrisch an die Seite gestellt. Die Darstellungsinhalte
stimmen mit denen der Lehmreliefs überein. Bezüglich weiterer Einzelheiten über die
Appliquestickerei verweise ich auf den Aufsatz von E. Meyerowitz (1944).
Die Lehmreliefs: Die Reliefkunst ist gerade in der Königsstadt Abomey
und in deren unmittelbarer Umgebung sehr reich ausgebildet. Aber auch in Ouidah
und Allada, in den kleineren Orten im Süden des Reiches und in Porto Novo findet
man Reliefschmuck. Nach meinen Gewährsleuten werden die Reliefs an den Außen-
mauern der königlichen Bauten und der Tempel von den Schmieden angefertigt. Oft
beschränkt sich der R.eliefschmuck auf wappensymmetrische Darstellungen zu beiden
Seiten des Gebäudeeinganges. Bisweilen bedecken die Reliefs die Außen- und Hof-
mauern in mehreren Zonen. Diese Bildwände bestehen aus einzelnen rechteckigen,
ungleich großen, versenkten Feldern, auf die die Rundreliefs, die bisweilen die Vorder-
fläche der Wand durchstoßen, aufgetragen sind. Die Felder werden durch Lehmstege,
die mit der Maueroberfläche bündig verlaufen, voneinander getrennt. Die gedrunge-
nen Figuren besitzen natürliche Proportionen. Sie sind immer en face oder en profile
dargestellt. Wiedergegeben werden die gleichen Gegenstände wie in der Malerei. Die
Darstellung beschränkt sich jeweils auf 1—3 Personen und ist auf die knappste Formel
gebracht. Die Figuren füllen das ganze zur Verfügung stehende Feld. Sie sind ohne
Rücksicht auf die natürliche Größe oder auf die Bedeutungsgröße der Dargestellten
angeordnet. Ihre Größenverhältnisse sind einzig dem zur Verfügung stehenden Bild-
raum, den sie immer zur Gänze füllen, angepaßt. Der alleinentscheidende Faktor für
die Figurenanordnung und Gestaltung ist also die Bildwirkung. Die Bemalung der
Reliefs wirkt sehr bunt. Man kennt nur Lokalfarben, die ohne Rücksicht auf die
natürliche Färbung der wiedergegebenen Gegenstände gewählt werden und die vor
allem dazu dienen, den Reliefwänden eine möglichst reiche und prächtige farbige
Wirkung zu geben. Da es über die Reliefkunst in Abomey bereits eine stattliche Litera-
tur gibt, darunter das bedeutende Werk von Waterlot (1926), gehe ich im einzelnen
nicht auf die Denkmäler dieser Kunst ein.
b) Ouidah
Ouidah, das einst für Dahomey den Zugang zum Meer bedeutete und für die
Negerkulturen der neuen Welt eine besondere Rolle als Heimat vieler ihrer Kulte und
Rhythmen spielt, ist vor allem durch seine Schlangenverehrung bekannt geworden.
In den zahlreichen Tempelbezirken der Stadt sah ich 1956 eine große Anzahl gemalter
Wandbilder. Als Farbstoffe hatte man Rotholz, Holzkohlenasche und europäisches
Blau verwendet. Ich beschreibe drei dieser bemalten Gebäude.
Das Haus des Alacara da Silva im Stadtteil Bresil
An der Hofmauer des Gehöftes des Oberpriesters, das nicht nur die Priesterwoh-
nung, sondern auch einen Tempel des weiblichen Himmelgottes Sogbo — wie
Mawu von den Verehrern des Donnergottes genannt wird — umfaßt, waren
kleinfigurige Darstellungen eines französischen Schiffes, das die Ankunft der
Weißen symbolisieren sollte, mehrere Kultobjekte, Sonne, Mond und Macht-
symbole zu sehen.
48
Herta Haselberger
Der Tempel des Tohwijo Adjahuto
Der Tohwijo Adjahuto, gemeinsamer Ahnherr der königlichen Geschlechter von
Abomey, Porto Novo und Allada, besitzt im Stadtviertel Aharandgo einen Tem-
pel, dessen vordere Breitseite kleine Zeichnungen eines Schiffes, eines Sonnen-
schirmes, eines Kreuzes, eines Männerkopfes mit Pfeife und mehrerer Vögel be-
decken. Weiter sind ein Löwe und ein Mann an die Mauern gemalt (Abb. 12).
Abb. 12.
Dahomey, Ouidah.
Zeichnungen am Tempel
des Tohwijo Adjahuto im
Stadtteil Aharandgo.
Das Haus des Donnergottes im Stadtviertel Tove Agbanu
Auch hier sind zahlreiche Malereien zu sehen, die sich auf den Kult beziehen. Eine
Lanze, ein Vogel, ein Sonnenschirm, Sonne und Mond, eine Schlange mit dem
durchlöcherten Gefäß der Pockengottheit Sagbata, ein dem Donnergott heiliger
Widder, ein vom Blitz getroffener Mann, die Regenbogenschlange, deren Kopf
in ein durchlöchertes Gefäß reicht, das die Erde symbolisiert, und weitere Bilder.
Alle diese Malereien sind sehr kleinfigurig und von großen freien Flächen umgeben.
Um den plastischen Bauschmuck in Ouidah zu studieren, mangelte es mir an Zeit.
c) Porto Novo und Umgebung
Die heute über 33 000 Einwohner zählende Stadt liegt an einer langgestreckten
Lagune, die sich zwischen das Festland und den Golf von Guinea schiebt.
Die Besiedlung des Platzes läßt sich bis ins 16. Jahrhundert zurück verfolgen. Als
die Adja im frühen 17. Jahrhundert von den Ufern des Mono aufbrachen und Porto
Novo eroberten, war dieses Gebiet von Yoruba bewohnt, die unterworfen bzw. zur
Auswanderung gezwungen wurden. In einem langdauernden Verschmelzungsprozeß
Gernalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 49
entstand in Porto Novo das Mischvolk der Gun, das heute den Hauptteil der Bevöl-
kerung bildet. Neuerdings verstärkt sich in der Stadt durch den Zuzug von Händlern
das Yorubaelement.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Malerei und der plastische Wandschmuck der
Gun Porto Novos keineswegs älter als 150 Jahre sein können. Wahrscheinlich sind sie
erheblich jünger, da noch 1870 in den Palmpflanzungen, die die Stadt umgeben, die
Hälfte der Häuser nicht aus Lehm, sondern aus vegetabilem Material bestand, was
wohl bis zu einem gewissen Grad auch von der Stadt galt, die bis vor kurzem erheb-
lich kleiner als heute war.
Die Malerei: Königliche Bauten, Tempel und Wohnhäuser tragen in Porto
Novo Malereien.
1. Königliche Bauten
Die Königsgräber
Zum ältesten Kern der Stadt gehört der Königspalast. Hier werden die Yoho, die
Lehmaltäre der verstorbenen Könige, mit den „asanyi“ aus Eisen und Kupfer, die
die Verstorbenen repräsentieren und als tragbare Altäre dienen, in zwei reich-
bemalten Lehmhütten mit Wellblechdächern aufbewahrt. Große Totenfeiern wer-
den für die verstorbenen Könige zwar nur mehr selten abgehalten, doch waren in
den beiden Grabhütten Spuren von Opfern zu sehen. 1956 befanden sich die bei-
den Häuser — eines ein kreisrunder, zweischaliger, zylindrischer Baukörper mit
ziemlich flachem Kegeldach aus Wellblech, das andere ein zylindrischer Baukern
auf einer quadratischen Plattform, die von dem Pyramidendach aus Wellblech, das
Pfeiler stützen, Übergriffen wird — im Zustand fortschreitenden Verfalles. Weitere
bemalte Königsgräber in Porto Novo, die auf Bildern in der Photothek des IFAN
in Dakar zu sehen sind, wurden mir nicht gezeigt. Ihre Wandbemalungen sind im
Stil den Fresken, die ich sah, ganz ähnlich;
Bemalt sind die Verandapfeiler und die Außenmauern der Grabhütten, während
die Innenwände schmucklos belassen wurden.
Über einem Ornamentfries sind an beiden Yohos Ereignisse aus dem Leben der
Könige — der Eigentümer der Yohos — und Symbole dargestellt.
Als Malgrund dient weißer Kaolinbewurf, der sich allerdings nach kurzer Zeit
rötlich färbt, weil der Regen den laterithaltigen, roten Lehm herauswäscht, der in
Porto Novo das Baumaterial bildet. Auf den ersten Blick scheinen die Darstel-
lungen ganz willkürlich verteilt zu sein, doch wird der szenische Zusammenhang
durch das Unter- und Übereinanderstellen der Figuren angedeutet. Überschneidun-
gen sind tunlichst vermieden, Horizontlinie und Raumbühne fehlen. Die Figuren-
größe, die zwischen 5 und 100 cm schwankt, entspricht im allgemeinen dem sozialen
Rang der dargestellten Persönlichkeiten. Die Umrisse der Darstellungen sind
schwarz nachgezogen, die Binnenflächen mit europäischer gelber, brauner, roter,
blauer und grüner Farbe sowie mit vielen Mischtönen gefüllt.
Die Ausdruckskraft dieser Malereien geht vom Kontur aus (Abb. 13). Die Flächen
und Formen innerhalb der Figuren sind durch schwarze Linien oder durch Aus-
sparungen voneinander abgesetzt. Diese dienen innerhalb des Bildzusammenhanges
4
50
Herta Haselberger
nur zur ornamentalen Auflockerung der größeren Flächen und sind recht sparsam
angewendet. Den Figuren fehlt die Körperlichkeit, da Licht-Schattenmodellierung
und Tiefenlinien nach Tunlichkeit vermieden sind. Die Gliedmaßen scheinen kno-
chenlos und wie aus Gummi zu sein. Die Farben heben den dekorativen Charakter
ft
Abb. 13. Dahomey, Porto Novo. Zeichnung an einem Haus, in dem die „Yoho“ auf-
bewahrt werden.
der Malereien hervor und haben keine Beziehung zur Wirklichkeit. Wichtiger als
die realistische Wiedergabe der dargestellten Persönlichkeiten und Ereignisse ist
dem Gun-Maler die teppichartig bunte Wirkung der bemalten Wandfläche. Am
Fuß der Mauer und an deren oberem Rand sind, was diese Wirkung noch ver-
stärkt, kurvilineare Ornamentbänder und schablonierte Blumengirlanden ange-
bracht.
Die 1956 sichtbaren Malereien müssen, da an einer der Hütten die Jahreszahl 1935
in den gemalten Schmuck einbezogen ist, um diese Zeit erneuert worden sein.
2. Die Tempel
Diese Sakralbauten bestehen meist aus einem langgestreckten, breithingelagerten,
quaderförmigen, festen Baukörper und aus einem voll abgewalmten Satteldach mit
einer Dachhaut aus Wellblech. Der Bau ist gewöhnlich der Länge nach geteilt und an
einer Breitseite zugänglich, so daß der Besucher zuerst in eine offene, gedeckte, breit-
gelagerte Veranda kommt, hinter der sich das schlecht beleuchtete Allerheiligste
befindet.
Das Haus des Unse
Ein reichbemalter Voduntempel, das Haus des Unse, steht an der Straße Porto
Novo — Adjara im Quartier Hunbog-Adjara. Die Rückwand der Veranda dieses
Tempels ist ebenso wie ihre zugemauerten Seitenteile von unten bis oben mit figu-
ralen Malereien geschmückt, die 1956 z. T. abgebröckelt und stark verblaßt waren.
Der Maler reihte geschlossene Szenen ohne deutliche Abgrenzung gegeneinander
an der Wand auf. Die Figuren schweben gleichsam in einem Idealraum, der oben
durch eine Borte ornamentaler Verzierungen abgeschlossen wird.
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 51
Unter den Darstellungen fielen mir ein Zug männlicher Schutzgeister mit um-
geschnalltem Säbel auf dem Weg zu einem Feste und eine Reihe weiblicher Gott-
heiten oder Priesterinnen mit Krügen auf dem Kopf besonders auf. An anderer
Stelle ist die Bestrafung einer Ehebrecherin, deren Gatte Vodunsi war, durch den
Akplogan wiedergegeben.
Die Proportionen der Figuren sind normal; Kopf und Rumpf wenden sie dem
Beschauer zu, der Gesichtsausdruck wirkt seltsam belustigend:
Ovale Augen unter erstaunt hochgezogenen, starkgewölbten Brauen sitzen über
dem breiten Mund mit hochgezogenen Mundwinkeln in einem fast kreisrunden,
haarlosen Schädel, an den in Mundhöhe die henkelähnlichen Ohren angesetzt sind.
Den Rumpf bildet ein Rechteck, das durch einen Gürtel und durch eine vielfach
verschlungene, dekorative Flalskette mit großem Anhänger gegliedert ist. Füße
und Arme sind in die Bildebene geklappt. Bei manchen Figuren zeichnet sich eine
Schreitstellung ab. Die langen Finger, die der Maler mit liebenswürdiger Ausfüh-
lichkeit zeichnete, sind sehr ausdrucksstark.
Die Mauer ist rötlichweiß grundiert. Von dieser Fläche heben sich die grellen roten,
blauen, grünen, schwarzen, weißen und gelben Farbtöne der figürlichen Darstel-
lungen ab. Mischtöne sind selten. Die Bildflächen sind entweder einheitlich mit
Farbe überzogen oder mit Farbtupfen bedeckt.
Die Behausung des Vodun Soso (Sogho-Mawu)
Die Behausung des Vodun Soso im Quartier Fiunveho der Stadt Adjara ist ein
rechteckiges Gebäude, in das man durch eine Veranda an der Längsseite gelangt.
Bilder von Menschen findet man hier nicht, aber um so mehr Tierbilder blickten
uns 1956 von den Mauern entgegen. Schweine, Elefanten, Leoparden, Wildkatzen,
Tiger, Affen, Vögel und Schmetterlinge sah man, dazwischen hin und wieder ein
Ahh. 14. Dahomey, Ad-
jara. Bunte Malereien am
Tempel des Vodun Soso
im Stadtviertel Hunveho.
Fabeltier. Zwei mit Ketten an eine überdimensionale Topfpflanze gebundene
Pferde wurden mir gezeigt mit der Erklärung, daß es sich um Panther handle, da
die Bewohner von Süddahomey das Pferd nicht kennen (Abb. 14). An einer ande-
52
Herta Haselberger
ren Wand war eine europäische Pendeluhr zu sehen, was darauf hinweist, daß alle
diese Malereien nach dem Vorbild europäischer Schulbücher angefertigt, aber neu-
artig zusammengestellt wurden. Tiergruppen, die wappensymmetrisch neben einen
Lebensbaum gestellt sind, herrschen vor. Dekorative Blumenvasen, offene Granat-
äpfel, gekreuzte französische Flaggen vervollständigen den gemalten Schmuck.
Auf den rötlichweißen Grund sind die Zeichnungen mit grauer, blauer, schwarzer,
weißer und brauner Farbe gemalt. Für die meisten Tiere wählte der Maler die
Profilansicht, jedoch sind immer alle vier Beine zu sehen. Die Binnenzeichnung
beschränkt sich bei den Tieren auf knappe Andeutungen von Schnauze und Augen
sowie auf kurze ornamentale Farbstriche, die das Fell kennzeichnen sollen. Die
Malereien dieses Tempels, die 1956 in sehr gutem Zustand waren, können noch
nicht lange der Witterung ausgesetzt gewesen sein.
Ein Heiligtum des Himmelsgottes Lisa
Die gemalten Figuren an mehreren kleinen, quaderförmigen Tempelchen (Abb. 15)
in einem Heiligtum des Himmelsgottes Lisa, das sich im Stadtviertel Adjua-Porto
Novo befindet, ähneln in mancher Hinsicht den Bildern an den Grabhütten der
Könige von Porto Novo. Von den letzteren unterscheidet sie die naturalistische
Abb. 15. Dahomey, Porto Novo. Ein Heiligtum des Himmelsgottes Lisa; bunte
Bemalung.
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey 53
Wirkung der Bilder und die ausdrucksstarke Binnenzeichnung der Figuren. Bei-
schriften erläutern Namen und Amt der dargestellten Persönlichkeiten. Wiederholt
sieht man Abbildungen des Panthers, des Totemtieres der Königsfamilie. Der Kopf
ist immer aus der Bildfläche herausgedreht, der Rumpf in Seitenansicht gegeben,
und über dem Rücken schwingt sich der Schweif. Der Körper ist mit Farbtupfen
und die Mähne mit kleinen Farbstrichen bedeckt.
Der Delutempel im Stadtteil Degue
Für den Verfall der traditionellen Malerei im städtischen Zentrum Porto Novo
sind die vergrößerten Abbildungen aus europäischen Schulbüchern an den Tempel-
wänden kennzeichnend. Aus einem solchen Buch hat der Maler des Delutempels,
eines großen Heiligtumes mit Impluvium und mehreren Binnenräumen, seine Vor-
lagen entnommen. Mit schwarzer Farbe sind Tiger und Fdirsche, eine reitende
Europäerin sowie ein mit Pfeil und Bogen bewaffneter schwarzer Jäger an der
Seite eines erlegten Löwen an die Verandamauern gemalt. Der Umriß der Bilder
ist kräftig gezogen, durch kurze Striche ist sogar eine Modellierung der Körper
erreicht, die dem Afrikaner sonst fremd ist. Sie wird der anatomischen Form der
gezeichneten Tiere und Menschen nicht immer gerecht. Die Bilder schweben über
einem dunklen Sockel an der weißen Wand, deren Bemalung gegen das Dach hin
auch hier durch ein schabloniertes Blumenband abgeschlossen ist.
Diesen Beispielen wären noch viele andere anzuschließen.
3. Die Malereien an profanen Gebäuden
Einige Wohnhäuser beim „kleinen Markt“ und verschiedene Trinkhäuser in der
Stadt sind mit Malereien ausgestattet. Sie weisen unmißverständlich auf europäische
Vorlagen hin. Ihre mindere Qualität erübrigt eine Besprechung in diesem Zusammen-
hang.
Die Zierate aus Lehm: An königlichen Bauten, die als erste europäische
Einflüsse aufnehmen, findet man in Porto Novo heute keine solchen Zierate mehr,
wohl aber an den Tempeln.
Der Tempel des Ghzimho Ahonangan
Dieser Tempel nahe beim königlichen Palast wurde um 1931 gebaut. Seinen
Schmuck bilden die Lehmpfeiler, die das Verandadach tragen. Sie bestehen aus
einzelnen Lehmtrommeln. Die unterste Trommel hat die Form eines massiven
Lehmwürfels, die darüberliegenden Trommeln besitzen an der Vorderseite eine
Nase, die an gotische Pfeilerdienste erinnert, und sind jede an einer Stelle durch-
bohrt, wodurch eine sehr eigenartige Stützenform zustandekommt (Abb. 16).
Der Tempel des „Nachtjägers“ Zangbeto
An der Straße Porto Novo — Adjara im Viertel Flunso-Porto Novo sah ich ein
eigenartiges Fetischhaus. Es besteht aus einer hohen, siebeneckigen Plattform aus
gestampftem Lehm und aus sieben Lehmsäulen, die das siebeneckige Pyramiden-
54
Herta Haselberger
dach mit Wellblechhaut tragen. In der Mitte des Gotteshauses steht ein Stroh-
fetisch mit einem holzgeschnitzten Vogel als Bekrönung. Zwei der Tempelsäulen
bestehen aus glattem Fuß und Kopf, zwischen die ein massiger, bauchiger Schaft
eingespannt ist, dessen Oberfläche taustabartig gedrehte Rundwülste bedecken. Ein
Ahb. 16. Dahomey, Porto Novo. Lehmpfeiler am Tempel des Gbzimbo Ahonangan.
anderer Rundpfeiler ist in der Mitte des bauchigen Schaftes durch einen Wulst
geteilt, seine Oberfläche ist mit eng aneinandergereihten, vertikalen Rundstäben
bedeckt. Einem anderen Pfeiler sind Stege mit dem Querschnitt eines gleichseitigen
Dreieckes aufgelegt, dessen eine Spitze man außen schaut. Auch der Schaft dieses
Pfeilers ist an der Stelle der stärksten Bauchung durch eine Verschiebung der
Wülste unterbrochen.
Zwei weitere Pfeiler stimmen weitgehend mit den weiter oben beschriebenen am
Tempel des Gbzimbo Ahonangan in Porto Novo überein.
Das Tempelchen des Kosh in Gbeko
In Gbeko, der bei Porto Novo gelegenen Sommerresidenz des Königs De-Toffa,
wo heute noch die Nachkommen dieses Potentaten wohnen, steht ein kleines, an
der Breitseite sich weit öffnendes Tempelchen über rechteckiger Grundfläche. Seine
Wände sind bedeckt mit den bunt bemalten Reliefs von Vögeln, Schlangen und
gekrönten Löwen, die in wappensymmetrischen Gruppen zusammengefaßt sind.
Die Proportionen der Figuren sind recht plump.
Gemalter, gravierter und modellierter Bauschmuck in Dahomey
55
Das Haus des Oherpriesters Akplogan
Dieses geräumige Impluvialhaus in Porto Novo, nahe dem Palast des Königs, ist
reich mit Reliefs und Malereien geschmückt. Die Reliefs sind hier nicht rund-
plastisch aus der Mauer herausgearbeitet, sondern die Mauer ist in Parallelschichten
aufgespalten, aus deren jeder einzelne Darstellungen ausgeschnitten sind. Man sieht
u. a. Herzen, Vasen und Palmetten. Der Symbolgehalt dieser Bilder, die ohne
Beeinflussung durch die europäische Barockikonographie nicht möglich wären, blieb
mir unbekannt. Alle Lehmschnitte sind mit bunten Farben europäischer Herkunft
bedeckt. Der Grund ist pastellgrün angelegt.
d) Dassa Zoume und Savalou
Dassa Zoume und Savalou sind zwei größere Ansiedlungen an der Nordgrenze
des alten Reiches Dahomey. Hier besteht der Bauschmuck aus Malereien an Tempeln.
Abb. 17. Dahomey, Dassa Zoume. Symbolische Zeichnungen an einem Tempel.
In ihm vermischen sich Züge der Malerei der Mahi, einer Ost-Ewe-Gruppe, die die
hier wohnhafte, zu den Yoruba gehörige Dassabevölkerung überschichtet hat, mit
Elementen der Dassakunst. Wie weit eine dritte, jüngere Bevölkerungsgruppe —
Yoruba, die erst in letzter Zeit aus Nigérien nach Dahomey kamen — auf die Wand-
malerei eingewirkt hat, konnte ich nicht feststellen. Dieses Gebiet ist das Kernland des
Sagbata-Kultes, den die Fon von den Dassa übernommen haben. An allen Tempeln,
die ich 1956 in dieser Landschaft sah, waren zumindest die Außenmauern mit den
charakteristischen Pockennarben, roten, schwarzen bzw. heute vereinzelt auch blauen
Tupfen oder Kringeln bedeckt, wobei es keine Rolle spielt, ob diese Tempel für Nana
Buku, den weiblichen Hochgott der Dassa, für den Tohosunkult oder für die Nesuhwe-
56
Herta Haselberger
Zeremonien der Mahi dienen. Die figürlichen Darstellungen (Abb. 17), die in diese
Tupfenfelder eingeschlossen sind, gehen gegenständlich auf die Mahi bzw. Fon zurück.
Die kleinen, stark schematisierten Figürchen sind aus schlichten Linien zusammen-
gesetzt. Man sieht Könige in Sänften mit ihrem Gefolge, heilige Thronsessel, wie sie in
Dahomey in Verwendung stehen, die Dan-Schlange, die von den Fon verehrt wird,
und ähnliche Motive.
Schwarz-weiß-rot getupfte Flechtmatten verhüllen oft die Tempeleingänge.
Über dem magischen Tor, das den Zutritt zum Tempelbezirk anzeichnet, sind mit
Farbtupfen besprengte Gegenstände aufgehängt. Neben den Tempeltoren werden Rip-
pen von Palmwedeln, die man mit roten, weißen und schwarzen Farbtupfen und mit
den Federn von Hühneropfern bedeckt, in den Boden gesteckt, um dem Bösen den
Zutritt zum heiligen Bezirk zu verwehren. Diese Gebräuche sprechen für eine sakrale
Auffassung der Farben.
In Dahomey heben sich also, wie gezeigt, zwei große Stilgruppen des Bauschmucks
sehr deutlich voneinander ab. Zur ersten Stilgruppe gehören die bei den Somba,
Tamba, Pila-Pila, mehreren altertümlichen Nago-Gruppen wie denSha, Manigriundbei
anderen (von mir nicht besuchten) Völkern in Nord- und Mitteldahomey verbreiteten
Gravierungen und Malereien, die ausschließlich von den Frauen hergestellt werden.
Die Malerinnen verwenden bräunliche, rote, weiße und schwarze Farbtöne. Die Zier-
muster, deren Bedeutung wahrscheinlich weitgehend profan und dekorativ ist, setzten
sich meist aus einfachen, geradlinigen Motiven zusammen, die im „unendlichen Rapport“
rhythmisch wiederholt werden und deren Ausführung nur geringe individuelle Ab-
weichungen gestattet. Heute allerdings werden diesem traditionellen Flächenschmuck
der Frauen bisweilen figurale Darstellungen eingefügt.
Im Gegensatz zu dem sehr einheitlichen Stilgebiet der von den Frauen hergestellten
architektonischen Zierkunst findet man bei den Yoruba-Völkern der Dassa, Holli und
Sabe sowie bei den Fon und Gun modellierten, textilen oder in bunten Farben gemal-
ten, von den Männern hergestellten Bauschmuck. Dieser Zierstil, der vor allem in den
küstennäheren Gebieten der Republik Dahomey zu finden ist, beschränkt sich im
Gegensatz zur weiter oben besprochenen Wandzierkunst der Frauen, die hauptsäch-
lich an Wohnhäusern zu finden ist, auf Kultbauten oder Gebäude, die für den König
und seinen Hof bestimmt sind. Die Linienführung der Zeichnungen, Reliefs bzw.
Stickereien ist bemerkenswert freizügig, und der Erfindungsgabe sind durch die Tra-
dition nur wenige Schranken gesetzt. Jeder Künstler erfindet selbst neue Ziermotive,
meist gegenständlich-figuraler Art, die z. T. symbolisch-allegorische Bedeutung be-
sitzen.
Literatur
Herskovits, M. /., 1938. Dahomey, an Ancient West African Kingdom, 2. Vols. New
York.
Meyerowitz, E. L. R., 1944. The Museum in the Royal Palaces at Abomey, Dahomey;
in: Burlington Magacine 1944/11, 147 ff.
Verger, P., 1954. Dieux d’Afrique, Paris.
Waterlot, E. G., 1926. Les Bas-reliefs des bâtiments royaux d’ Abomey. Travaux et
Mémoires de l’Institut d’Ethnologie, VH. 1. Paris.
Hellmut Brunner
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums II
In diesem zweiten Bericht1) über die ägyptischen Altertümer des Linden-Museums,
die die Freundlichkeit der Direktion dem ägyptologischen Institut der Universität
Tübingen zur Verfügung gestellt hat und die dort wertvolle Dienste bei der Fachaus-
bildung der Studenten leisten, seien fünf Denkmäler aus dem Totendienst bekannt-
gemacht. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten und unterscheiden sich auch in ihrer
künstlerischen oder religionsgeschichtlichen Aussage voneinander.
Es ist bekannt, daß die Ägypter der vorchristlichen Zeit einen erheblichen Teil
ihrer Gedanken, aber auch ihrer Arbeit und ihres Vermögens der Fürsorge für Begräb-
nis und Jenseits widmeten. Ja, fast alles, was unsere Museen an Flinterlassenschaft der
Pharaonenzeit bergen, hat sich in Gräbern gefunden, und auch im Niltal selbst ist von
den Wohnstätten, den Palästen und Flütten, den Verwaltungsbauten und Festungen
nur ganz Weniges erhalten geblieben, so daß der Reisende außer den Ruinen der
prächtigen Tempel vor allem Gräber besucht. Im flachen Unterägypten wurden über
unterirdischen Grabkammern große Grabhügel aus Stein oder Ziegeln errichtet, oft
von vielen Räumen durchlöcherte Massive. Im felsigen Oberägypten, in dem die
Wüstenberge von jeder Stelle des bewohnten Flußtales aus leicht zu erreichen sind,
bestehen die Grabanlagen der bessergestellten Kreise, also vor allem der Beamten,
Offiziere und Priester, aus Felsgängen und -kammern, großenteils mit Wandbildern
reich geschmückt, einstmals noch dazu gefüllt mit Geräten, Waffen und Schmuck, Klei-
dern und Büchern, die den Toten mitgegeben wurden. Die trockene Wüstenluft hat
diese Dinge bewahrt, doch ist das meiste Grabräubern zum Opfer gefallen.
Aber nicht von dieser Ausstattung soll heute die Rede sein, sondern von Dingen,
die unmittelbar mit der Bestattung und dem Jenseitsglauben Zusammenhängen. Die
Ägypter bewahrten die Leichen ihrer Toten vor dem Verfall, indem sie sie mumifizier-
ten, das heißt der Haut und dem Fleisch durch ein Bad in einer Natronlauge (mit
Zusatz anderer Chemikalien) die Feuchtigkeit entzogen2). Eine solche Mumie befindet
sich ebenfalls unter den Aegyptiaca des Linden-Museums, und zwar insofern eine be-
sondere, als sie auf der Brust und im Gesicht deutlich Reste einer Vergoldung trägt.
Da die Mumie ihrer Binden entkleidet ist, läßt sich nicht sagen, wer der Mann war
und wann er gelebt hat. Bel der Vergoldung, zu der mir keine Parallele bekannt ist,
besteht der Verdacht, daß sie in der Neuzeit aufgelegt worden ist, um den Handels-
wert des „Stückes“ zu erhöhen.
s. Tribus 7, S. 169—178.
-) Zur Mumifizierung in Ägypten s. G. E. Smith und W. R. Dawson, Egyptian Mum-
mies, London 1924, und W. R. Dawson, Making a Mummy: Journal of Egyptian
Archaeology 13, 1927, S. 40—49.
58
Hellmut Brunner
1.
Bei der Mumifizierung waren die Eingeweide, da sie sich nicht entwässern ließen
wie die übrigen Fleischteile, aus dem Körper zu entfernen. Das geschah durch einen
Schnitt in der unteren linken Bauchseite. Aber auch sie wurden, in einer Natronlösung
schwimmend, der Bestattung mitgegeben, und zwar in vier Eingeweidekrügen, die die
ältere Ägyptologie „Kanopen“ genannt hat. Der Name beruht auf einer Ähnlichkeit
dieser Krüge mit einem bestimmten Bild des Gottes Osiris, wie es in der Küstenstadt
Kanopos in hellenistisch-römischer Zeit verehrt wurde und wie es die antiken Autoren
beschreiben. In beiden Fällen, bei dem Osiris von Kanopos wie bei den Eingeweide-
krügen, sitzt ein Kopf auf einem vasenartigen Gefäß. Freilich wechselt in der langen
ägyptischen Geschichte die Form dieser Kanopendeckel: In der Pyramidenzeit sind sie
glatt, ohne figürliche Ausgestaltung, in der ersten Zeit des Imperiums haben alle vier
Krüge gleichermaßen Menschenköpfe, dann aber werden die vier Krüge entsprechend
den vier Genien, die den Schutz der Eingeweide übernehmen, differenziert, was sich in
Abb. 1. Eingeweidegefäß
des Huti, um 1300 v. Chr.
Alabaster. Inv. 33 048.
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums II
59
den Köpfen auf den Deckeln bildlich ausdrückt: neben den Menschenkopf treten jetzt
noch Affen-, Schakal- und Falkenkopf3).
Dem Linden-Museum gehört der Gefäßkörper einer solchen „Kanope“ (Abb. 1).
Das dickwandige Gefäß, 29,2 cm hoch und mit dem größten Durchmesser 17,5 cm,
besteht aus hellgelbem Alabaster; es ist sorgfältig geglättet, aber nicht ganz exakt ge-
rundet. Die vier Zeilen der Inschrift auf der Vorderseite sind voneinander und von
der übrigen Fläche durch Linien getrennt; oben begrenzt sie eine stärkere Linie, die
vielleicht die Form der Hieroglyphe für Himmel hat. Der Text bietet den formel-
haften Segensspruch; „Ich schlinge meine Arme um das, was darin ist und schütze den
Hapi, der darin ist; den Osiris, den Vertreter des Schlosses im Ptahtempel Huti.“
Huti ist also der Name des Mannes, zu dessen Bestattung das Gefäß einst gehörte.
Aus dem Vierersatz ist das dem Genius Hapi anvertraute Gefäß übriggeblieben, dem
der Affenkopf zugehört — rechts neben dem Inschriftblock sehen wir seine Gestalt.
Während einer bestimmten kurzen Epoche wurde jedem der vier Eingeweidegötter
auch noch eine Gottheit des großen Pantheons zugeordnet, dem Hapi die Göttin Neith,
die links neben der Inschrift, ihr Schriftzeichen auf dem Kopf, abgebildet ist und die
die oben angeführten Worte spricht. Nach dieser Doppelung der Schutzgottheiten und
nach dem Typus der Inschriften läßt sich unser Gefäß recht gut datieren, auch wenn
die Form des Gefäßkörpers keinen Anhalt bietet, da er sich durch Jahrhunderte gleich-
bleibt. Das Stück muß aus dem Ende der 18. Dynastie oder der ersten Zeit der
19. Dynastie stammen, also aus der Zeit zwischen 1320 und 12904).
2.
Der Menschenkopf von Tafel I stammt unzweifelhaft von einem solchen
Eingeweidekrug, wie der untere Abschluß lehrt. Nach seiner Größe (Höhe
13,9 cm) könnte man an eine Zugehörigkeit zum Unterteil des Huti denken. Dagegen
spricht höchstens der ungleiche Stein: Der Alabaster des Kopfes ist wesentlich heller
und spröder. Doch trifft man gelegentlich verschiedene Steintönungen für Gefäß und
Deckel, so daß dieses Argument gegen die Zugehörigkeit nicht zwingend ist.
Das Köpfchen ist von hohem Kunstwert. Es ist bis auf eine fast unsichtbare Ver-
letzung an der Nase, wo der überaus spröde Stein etwas gesplittert ist, tadellos er-
halten, wenn es auch die Farbe völlig verloren hat. Wir müssen uns die Lippen rot,
die Augäpfel und die Brauen mit den sie verlängernden Schminkstrichen schwarz
gemalt denken. Der Mann trägt eine Perücke, deren Löckchenreihen — durch einfache
parallele Rillen angegeben — das Gesicht scheitellos umrahmen, indem sie über der
Stirn waagerecht ansteigen. Hinten dagegen fallen diese Reihen senkrecht ab, indem
sie ineinanderstehende Bögen bilden, deren innerster nur noch aus zwei senkrechten
Parallelen besteht, die oben mir einem kleinen Halbkreis verbunden sind. Die Ohren
3) Die vier Genien, mumienförmig mit den entsprechenden Köpfen, zeigt auch unser
Totenpapyrus, und zwar auf der Lotosblüte vor Osiris; Abb. 4.
4) Zu den Typen der Gefäße und Inschriften vgl. K. Sethe, Zur Geschichte der Ein-
balsamierung bei den Ägyptern: Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1934,
S. 211—239.
60
Hellmut Brunner
sind groß und zeigen im Läppchen ein nicht durchführendes Bohrloch. Nicht etwa
unser Köpfchen sollte hier durch einen Ohrring geschmückt werden, sondern der Mann,
den es darstellt, trug — zumindest gelegentlich — solchen Schmuck5). Mit sparsamen
bildhauerischen Mitteln sind die Züge angegeben: Weiche Lippen, eine schmale Nase
mit kräftigem Ansatz der Flügel, schmale, mandelförmige Augen, deren feiner
Schwung betont wird durch die mehrfache Wiederholung der oberen Begrenzungs-
linie: zunächst als oberer Abschluß des Wimpernrandes, dann durch die Lidfalte und
schließlich, oberhalb des Jochbeins, durch die beiden Linien der Brauen, von denen die
untere mit der Kante des Knochens zusammenfällt. Die hochgezogenen Brauen geben
dem Köpfchen durch den Gegensatz zu den schmalen Augen einen besonderen Reiz.
Erhöht wird die Kraft der Aussage noch durch die starke Asymmetrie des ganzen
Gesichtes, besonders der Augen und des Mundes — wobei die Frage offen bleiben mag,
ob es sich um Absicht oder um Nachlässigkeit des Bildners handelt.
Aus stilistischen Gründen kann unser Kopf nur aus der frühen 19. Dynastie stam-
men. Das Gesicht ist in manchem noch etwas „amarnahaltig“, das heißt es zeigt noch
Spuren jener Kunstepoche, in der Amenophis IV. — Echnaton Gefühl und Ausdruck
in die Kunst einströmen ließ, die ältere Zeiten wohlweislich daraus verbannt hatten.
Nach der Liquidierung des Reformversuches dieses Ketzerkönigs hielten sich die neu-
erworbenen Kunstmerkmale länger als alle anderen Spuren seines Gedankengutes, ver-
schwanden dann aber auch unter Ramses II. Augenschnitt wie Lippen aber scheinen
mir noch letzte Reste der ausdrucksstarken Sinnlichkeit der Amarnazeit zu verraten,
so daß ich den Kopf in die Zeit zwischen dem Tode Echnatons und dem Beginn der
Regierung Ramses’ II., also zwischen 1340 und 1290, ansetzen möchte. Die Haartracht
würde dem nicht widersprechen.
3.
Dem Sarg von Abb. 2 würde man zunächst die sehr späte Zeit, aus der er stammt,
nicht ansehen. Der Typus des mumienförmigen Sarges reicht bis ins Neue Reich zurück
und hält sich bis zum Ende des Heldentums im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Die
Mumie ist mit einem gestreiften Kopftuch geschmückt. Zwischen ihren Strähnen wird
vorne ein eng anliegendes breites Halsband sichtbar, über dem der — vorne hoch-
gebogene — Götterbart liegt; in älterer Zeit kommt er nur Göttern und verstorbenen
Königen zu, später allen Toten. Der Oberkörper der Mumie wird von einem breiten,
bunt gemalten Brustkragen bedeckt, unter dem eine Göttin ihre Flügel spreizt. Die
Beischrift lehrt, daß hier nicht, wie in klassischer Zeit, die Himmelsgöttin Nut gemeint
ist, sondern Isis. Der untere Teil des Körpers ist von senkrechten Schriftbändern be-
deckt, die abwechselnd auf hellem und dunklem Grund gemalt sind. Und diese Schrift
tilgt bei dem Kundigen die letzten Zweifel an der sehr späten Datierung: Sie ist un-
gelenk und voller Mißverständnisse, sowohl was die Form der Zeichen als auch was
den Inhalt des Textes angeht. Auch die Rechtschreibung der Wörter schwankt stark.
Es kommt nur die römische Kaiserzeit in Frage als Epoche, in der der Besitzer, ein
5) Ohrgehänge gehören nicht zum alten Bestand ägyptischen Schmuckes, kommen
vielmehr erst gegen 1400 v. Chr. in Mode, wohl unter kleinasiatischem Einfluß.
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums II
61
gewisser Pedehor, Sohn des Hör und
der Hausfrau Nes-Bastet, gelebt hat.
Alle drei Namen sind häufig, so daß ich
den Eigentümer dieses Sarges nicht an-
derweit nachweisen kann; dabei muß es
ein ungewöhnlich wohlhabender Mann
gewesen sein, der sich in dieser für
Ägypter so armen Zeit ein solch präch-
tiges Stück leisten konnte. Daß keiner-
lei Titel angegeben sind, fällt besonders
auf — man möchte in unserem Pedehor
gerne einen hochstehenden Priester sehen.
Freilich, wenn man den Sarg genauer
untersucht, wird man bald gewahr, daß
der Schein des Reichtums oberflächlich
ist: weder sind die Ornamente, so gut
sie auf Entfernung wirken, sehr sorg-
fältig gemalt, noch ist der Deckel oder
das Unterteil — wie in älterer Zeit —
aus je einem Stück oder wenigstens aus
größeren Brettern gefertigt. Vielmehr
hat der Tischler unzählige kleine Holz-
stückchen unregelmäßiger Form in müh-
samer Arbeit aneinandergepaßt und mit
Holzstiften vernagelt. Beim Schrumpfen
des Holzes hat sich nun die Bindung ge-
lockert, es sind Risse entstanden, und bei
unsorgfältiger Handhabung droht das
Ganze, oft nur noch durch eine dünne
Stuckschicht für den Farbauftrag zu-
sammengehalten, auseinander zu brök-
keln. Der ganze Kasten ist dickwan-
dig und schwer. Zur Beurteilung dieses
Sachverhaltes muß man wissen, daß
Ägypten ausgesprochen arm an verwert-
baren Hölzern war und ist, so daß der
Aufwand für unseren Sarg auch dann
noch erheblich war, wenn der Tischler
kleine Stücke genommen hat.
Ahb. 2. M umienförmiger Holzsarg, reich
bemalt. Römische Kaiserzeit. Inv. 31 505.
Die Gesichtszüge sind unpersönlich und dulden keine genauere Interpretation;
wenn auch für die römische Zeit hochwertiges Kunsthandwerk, steht dieser Sarg doch
unter dem Niveau eines Kunstwerkes, das allein eine solche Betrachtung erlaubt. Im
Unterschied zu früheren Zeiten sind die Augen nicht aus Glasfluß in Bronzerahmen
eingelegt, sondern nur aufgemalt, wobei die genannten Materialien imitiert werden.
62
Hellmut Brunner
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Ahh. 3. Die Szene des Totengerichts. Malerei aus einem Totenhuch-Papyrus römischer
Zeit.
4.
Etwa derselben Zeit mag der Papyrus entstammen, von dem unsere Abb. 3 einen
Ausschnitt zeigt6). Dargestellt ist die Szene des berühmten Totengerichtes. Links thront
der Richtergott Osiris, hinter ihm (vorzustellen als zu seiner Seite) steht seine Schwe-
stergemahlin Isis. Von rechts wird der Tote von dem Bestattungsgott Anubis bei der
Hand in die Richthalle geführt. Er hat ein Bekenntnis zur rechten, von Gott auf
Erden eingesetzten Ordnung abzulegen in der negativen Form: „Ich habe nicht ge-
stohlen, ich habe nicht weinen gemacht, ich habe keinem Kinde die Milch fortgenom-
men, ich habe das Vieh nicht von seiner Weide vertrieben“ usw. Nun fehlt auf unserem
späten Bilde die Waage, auf der das Herz des Toten, das ja seine Taten kennt, gegen
das Schriftzeichen für die göttliche Ordnung, eine Feder, gewogen wird. Diese Waage
bleibt im Gleichgewicht, wenn das Bekenntnis des Toten, stets in gleichem Wortlaut
nach einem feststehenden Formular gesprochen, seinem Leben entspricht, wenn also
Wirklichkeit und Aussage zusammenfallen. Tun sie das nicht, so macht die Waage
einen Ausschlag, und der Schreibergott Thot mit dem Ibiskopf notiert die jeweilige
Reaktion der Waage. Bei unserem Bild schreibt er — sinnwidrig — ohne Waage in
die Luft, statt auf einen Papyrus. Die vier „Horussöhne“ auf der Lotosblume kennen
wir schon als Genien der Eingeweide — hier stehen sie vielleicht an Stelle der Bei-
sitzer des Osiris bei diesem Gerichtsakt. Beischriften geben Namen und Titel der
Götter und des vor Gericht tretenden Menschen, des Toten, für den dieser Papyrus
geschrieben und farbig ausgemalt ist: Es ist ein Priester des Gottes Amun, hier Amon-
rasonther, d. i. Amun, König der Götter, genannt, sowie des „Chons, Plänemachers in
Theben“, namens Djed-Chons-iuf-anch7), zu deutsch: „Es spricht Chons, daß er leben
6) Die Sammlung besitzt noch weitere Bruchstücke des gleichen Papyrus, doch ist die-
ses das interessanteste und am besten erhaltene. Seine Höhe beträgt 32 cm, seine
Länge 74 cm.
7) Das Zeichen der Gottheit ist undeutlich; man könnte auch Re lesen, doch ist dieser
Name, soweit ich sehe, sonst nicht belegt.
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums 11
63
wird“ oder auch: „Chons hat gesagt, daß er leben wird“. Namen dieser Bildung
(wobei statt des Gottes Chons, der als Sohn Amuns in Theben beheimatet ist, andere
Götternamen eintreten können) spielen offenbar auf ein Zeichen an, mit dem der
Gott der Mutter während der Erwartung oder auch bei oder gleich nach der Geburt
das Leben des Kindes verheißen hat8). Chons erfreute sich großer Beliebtheit als
Orakelgott der Spätzeit. — Zwischen dem Seelenführer Anubis und dem Schreibergott
Thot hockt auf einem Postament ein Ungeheuer, Mischwesen aus Löwe, Nilpferd und
Krokodil. Das ist der „Fresser“, der die im Totengericht Verurteilten völlig vernichtet,
indem er sie verschlingt — das unmittelbare ikonographische wie theologische Vor-
bild des mittelalterlichen Höllenrachens, wie wir ihn oft auf Darstellungen des Jüng-
sten Gerichts sehen. Die christliche Gerichtsvorstcllung wäre nicht denkbar ohne die
Jahrtausende alte ägyptische Tradition.
Die Entstehungszeit unseres Papyrus verrät u. a. die Kleidung des Mannes (die
Gottheiten tragen uralte, traditionelle Gewänder), ebenso aber auch die Zeichnung
der Brust der Isis und der links anschließende Text, der in hieratisch-kursiven Schrift-
zeichen geschrieben ist, wie sie erst in später Zeit für Totenbücher Verwendung findet.
Dem Zeichenstil nach möchte man die frühe Kaiserzeit annehmen. Als Ort, an dem
Djed-Chons-iuf-anch gelebt hat und begraben wurde, darf Theben gelten, da sein
Name mit dem des Chons gebildet ist und er Priesterämter bei den nur dort verehrten
Gottheiten Amonrasonther und Chons ausgeübt hat.
5.
In die interessante, wenn auch unharmonische und daher unbefriedigende Misch-
welt der römischen Kaiserzeit Ägyptens führt uns ein kleiner und noch dazu künst-
lerisch tiefstehender Grabstein ohne Inschrift (Abb. 4). Sein Material ist der weiche
ägyptische Kalkstein, der sich leicht bearbeiten läßt, seine Höhe beträgt 46, seine
Breite 42 cm. Die rechte untere Ecke ist abgebrochen, doch ist der Verlust an Relief
ganz gering.
Da dieser Stein einiges wissenschaftliche Interesse bietet und zu einer in letzter
Zeit mehrfach behandelten Gruppe gehört, sei er etwas ausführlicher besprochen.
Der architektonische Rahmen des erhabenen Reliefs, ein Giebeldach auf zwei
ägyptischen Pflanzensäulen, stellt ein Wohnhaus oder auch ein Grabgebäude dar. In
ihm liegt der Tote auf einem Bett mit gedrechselten9) Beinen. Das ägyptischen Betten
eigentümliche Gefälle zum Fußende hin ist hier besonders stark, so daß die liegende
Gestalt des Mannes sich der Diagonale annähert. Fuß- und Kopfbrett sind lyraförmig
hochgezogen, so hoch, daß sie, wenn wir den oberen Querstrich zwischen ihren Enden
ernst nehmen sollen, eine Art Baldachin tragen können. Der Tote, mit Chiton und
Mantel bekleidet, liegt auf der Seite, den linken Ellenbogen bequem auf einige Kissen
gestützt; das Bettgestell ist mit einer Matratze gepolstert. Daß die Beine übereinander-
8) Vgl. zu dieser Namensbildung H. Ranke; Orientalist. Literaturzeitung 29, 1926,
Sp. 733 ff.
9) Die Drehbank taucht in Ägypten erstmals zur Zeit Alexanders d. Gr. auf:
G. Lefebvre, Le Tombeau de Petosiris, Taf. 10; vgl. jedoch auch das Berliner He-
not-Relief: R. Anthes; Zeitschr. f. äg. Sprache 75, 1939, S. 23 f.
• IV >f T W srr m
Abb. 4. Grabstein eines Mannes aus dem westlichen Delta. 3. Jahrh. n. Chr.
geschlagen sind, könnten wir unserer ungeschickten Darstellung kaum entnehmen, be-
säßen wir nicht viele Parallelen, bei denen die Haltung deutlich wird. Mit der Rechten
hält er eine lotosförmige Schale, offenbar an einem Henkel (der aber nicht gezeichnet
ist), einem frei in der Luft hockenden Hunde mit spitzen Ohren hin. Dieser Gestus
meint eine Trankspende an den altägyptischen Gräber- und Bestattungsgott Anubis,
denselben, der auf dem vorher besprochenen Papyrus den Toten zur Gerichtsverhand-
lung geleitet. Hat man die würdige Art vor Augen, in der die Ägypter der Pharaonen-
zeit diese Gottheit abbildeten, auch wenn sie ganz tiergestaltig vorgestellt wird, so
Hellmut Brunner
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums II
65
kann man sich eines Lächelns über diese unfreiwillige Karikatur nicht erwehren.
In der linken Hand hält unser Mann einen gekrümmten Stab, vielleicht einen Hirten-
stock, vielleicht auch ein Amtsabzeichen. Unter dem Bett sind allerlei Gaben gestapelt,
Reste der seit Jahrtausenden am Nil üblichen Grabbeigaben. Wir erkennen ganz rechts
einen Blumen- oder Ährenstrauß, daneben eine Schale auf einem Dreifuß, dann, links
von der geritzten Figur, einen Krug mit spitzem Boden. Zwischen diesen beiden letz-
teren Geräten aber sehen wir eine kleine Gestalt, deren Umrisse nur eingeritzt sind.
Ihre Deutung ist nicht klar: Es kann sich entweder um einen Diener handeln, der den
Herrn mit den Speisen und Getränken bedient10), oder aber um einen Adoranten, wie
er oft auf solchen Steinen erscheint, allerdings nie unter dem Bett, sondern links oben
in der Nähe des Anubis-Hundes oder an seiner Stelle. Wie diese, meist kindlichen, Ado-
ranten hat die kleine Gestalt den linken Arm gehoben, den rechten aber hält sie, wie
ein Diener, an einem Gerät. Offenbar ist die Zufügung dieser zweiten Person, viel-
leicht eines Sohnes des Verstorbenen, nachträglich beschlossen und dann in dieser
ungeschickten Weise ausgeführt worden.
Wir haben eben schon auf Seitenstücke zu unserem Stein hingewiesen: Es gibt
deren eine große Anzahl. Soweit ihre Herkunft bekannt ist, stammen sie aus Korn Abu
Billu am westlichen Deltarand11), einige wenige aus Teil Basta oder Alexandrien12).
Köm Abu Billu, heute ein bescheidenes Dörfchen, blühte in hellenistisch-römischer Zeit
unter dem Namen Terenuthis; seine Bedeutung verdankte es seiner günstigen Lage als
Durchgangsort für die Natronprodukte, die vom Wadi Natrun ins Niltal kamen13).
Schon früh sind hier Stelen unseres Typus entdeckt worden, und 1934 hat eine Ex-
pedition der Universität Michigan den ausgedehnten Friedhof teilweise untersucht und
dabei 125 Grabsteine geborgen, die zum großen Teil unserem Typus des Totenmahls
angehören, teils auch den Toten in Bethaltung zeigen (in dieser Geste meist Kinder),
in einzelnen Fällen ihn aber auch auf einem Schiff darstellen14). In den vierziger Jah-
ren fanden sich dann nochmals viele solcher Steine; sie sind ins Kairener Museum
gekommen und von Zaki Aly — ohne Fundumstände — veröffentlicht15). Lediglich
10) Wie auf dem Reliefstein bel J. M. Eisenberg, A Catalog of Egyptian Antiquities,
1959, S. 21 links unten = ders., A Catalog of late Egyptian and Coptic Sculpture,
1960, S. 33, No. 51.
n) C. C. Edgar, Greek Sculpture, Cat. gén. Cairo, Taf. 20—24; H. Gauthier: Annales
du Service des Antiqu. de l’Égypte 21, 1921, S. 203—207; M. Mogensen, La
Glyptothéque Ny Carlsberg, La Coll. Égyptienne, Taf. 119; auch in Berlin be-
finden sich zwei unveröffentlichte Stücke: Inv. 14 081/82.
12) Teil Basta: Kairo 27 545 (bei Edgar a. a. O.); Alexandrien: E. Pfuhl; Mitt. d.
Deutschen Archäol. Inst., Athen. Abt. 26, 1901, S. 297 ff.
13) Vgl. zur Bedeutung des Ortes und seiner Prosopographie J. Yoyotte: Bull. Inst.
Franç. d’Archéol. Orient, du Caire 55, 1956, S. 125 ff.
14) C. Bonner, The Ship of the Soul on a Group of Grave-Stelae from Terenuthis:
Proc. of the Americ. Philosophical Society 85, 1941, S. 84—91.
15) Bull, de la Société Royale d’Archéologie, Alexandrie, No. 38, 1949, S. 55—88 und
No. 40, 1953, S. 101—150.
66
Hellmut Brunner
der Aufsatz von Bonner gibt einen Hinweis auf den Fundzusammenhang, wenn auch
leider recht allgemein. Aus diesen Bemerkungen und einer Abbildung1'1) lernen wir,
daß der Oberbau der Gräber die Form eines großen Hügels, offenbar teilweise mit
dem Aussehen eines Tonnengewölbes, hatte und daß in die eine senkrechte Schmal-
seiten-Wand eine Art Scheintür eingetieft war, als deren hinterer Abschluß solche
Steine dienten. Für nähere Angaben wird man den lange überfälligen Grabungsbericht
von Michigan abwarten müssen. — Neuerdings scheinen wieder Raubgrabungen dort
stattgefunden zu haben, denn auf dem Altertümermarkt sind viele Steine unseres
Typus zutage getreten, von denen manche ausdrücklich als aus Korn Abu Billu stam-
mend bezeichnet werden* 17).
Die meisten Steine mit der Mahlszene zeigen einen einzelnen Mann, gelegentlich
auch eine Frau, aber auch zwei oder drei Personen zusammen auf der Kline liegen;
andere fügen Trauernde oder Mitverstorbene hinzu, meist Kinder. Bessere Stücke
tragen griechische Inschriften, die aber nur den Namen des Verstorbenen und sein
Alter angeben, gelegentlich auch noch das Regierungsjahr, in keinem Fall aber den
Namen des betreffenden Kaisers. Dennoch konnte man18) einige Stücke den Regierun-
gen des Caracalla, Alexander Severus und Maximinus, also den ersten Jahrzehnten
des dritten Jahrhunderts, zuweisen. Die Haartracht mancher Personen spricht für eine
Ansetzung in das 2. bis 4. Jahrhundert19). Unser Stück einzureihen ist einstweilen, das
heißt vor der Veröffentlichung der Michigan-Stelen, unmöglich, da jede Inschrift fehlt,
der Mann gar keine Haare hat und die geringe Qualität eine Datierung nach dem Stil
nicht erlaubt.
Wenn wir die Stele des Linden-Museums, deren Herkunft aus Köm Abu Billu nicht
beweisbar, aber wahrscheinlich ist, mit den übrigen vergleichen, soweit sie veröffent-
licht sind, so gehört sie ihrer Technik nach zu den besseren: Bei den einfachen sind die
Umrisse der Figuren und Gegenstände nur flach in den Stein geritzt, während das
Hochrelief den qualitätvolleren Stücken Vorbehalten bleibt. Allerdings werden wir
zögern, den Begriff Qualität auf unseren Stein anzuwenden, so nachlässig und wind-
schief ist der Rahmen, so unbeholfen ist der Körper, sind die übergeschlagenen Beine,
so unfreiwillig komisch ist das Hundetier gezeichnet. Bei keinem anderen Stück kenne
ich solch hochgezogene Kopf- und Fußteile des Bettes oder den oberen abschließenden
Strich zwischen diesen Brettern. Einmalig ist auch der Stab in der Linken des Mannes,
der doch wohl seine gehobene Stellung bezeichnen soll. Kein Zweifel, daß der Stifter
unseres Grabsteines Ansprüche hatte und auch die nötigen Mittel, daß aber der lokale
Künstler nichts Besseres leisten konnte. Vollends versagt hat er bei der ihm vielleicht
7«) Abb. 1, S. 84.
17) Vgl. z. B. die Kataloge der Firma Jerome B. Eisenberg in New York, die in den
letzten Jahren eine Anzahl solcher Stelen anbietet; ferner Ars Antiqua, Auktion II,
Luzern 14. 5. 1960, No. 30.
18) J. Schwartz: Chronique d’Egypte 30, 1955, S. 124—126.
19) Auf Grund welcher Anhalte Bonner (s. o. Anm. 14) den von der Universität
Michigan ausgegrabenen Friedhof dem späten 4. und frühen 5. Jahrhundert zu-
weist, entzieht sich meiner Kenntnis. Nichts von dem veröffentlichten Material
spricht dafür.
Ägyptische Altertümer des Linden-Museums II
nachträglich gestellten Aufgabe, unten noch eine kleine Figur anzubringen: Nicht nur,
daß die Haltung dieses Dieners oder Adoranten unklar bleibt, auch die Technik
schwankt zwischen dem Hochrelief des übrigen Steines und dem einfachen Einritzen
der Umrisse.
Das Stück hat seinen Wert als Zeugnis für die kulturelle Mischung bei weitgehend
sinnentleerten Formen, als Zeichen der Spätzeit, die reif war, von einem jungen, die
aufgeworfenen religiösen Fragen wirklich beantwortenden Glauben überrannt zu
werden. Nur wenige Generationen trennen unseren Grabstein von den ersten christ-
lichen Begräbnissen, wenn nicht sogar schon gleichzeitig mit diesem spätesten Zeugen
des Heidentums die christliche Verkündigung am Nil laut wurde.
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TAFEL II (Beitrag Janert)
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Abhinavagupta: Bhairavastotra (T.19 der Hs.)- Darüber der Kolophon von Teil 22.
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums mit Miniaturen
I.
Klaus Ludwig Janert
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums (Stuttgart)
Beschreibung des Äußeren — Die Teile — Register — Zu den zitierten Katalogen — Zu
den Aufnahmen — Tafel 11: Kolophon von Teil 22 und der Teil 19.
Inventarnummer: 119 399. 1956. — Die H(and)s<’chrift) enthält 28 T(eile)
in modernem orientalischem Ledereinband (mit Blindprägung) in derber Leder-
schatulle. — 733 Bl(ätter) (getrennte Originalzählungen, z. T. auch fehlend, s. u.),
gelegentlich leer1. — Papier (in Lagen): sehr fein, hellgrau, mit Glanz; Benutzungs-
spuren; ca. 7 X 10,5 cm. — Schrift: Sär(adä) (s. Taf. II); Kol(ophone) rot und
schwarz, (Text)A(nfänge) gelegentlich schw., r. und golden; ca. 3,5 X 6,5; 5 Zeilen.
2.H(an)d: T.8, 18, 24; 3.Hd: T.9; 4.Hd: T.28 (Nachschrift). Mit feiner Umran-
dung (Hauptlinie golden — nur T.8, 18, 24; 9; und 26 orange) und Randmarken
(s. u.). — Ursprünglich mit 55 Miniaturen (nur v<erso>; r*ecto> leer; meist mit leerem
Deckbl.) meist am E(nde) von T. oder Textabschnitten; davon 7 in der Hs., 38 lose
(im Museum)1 [Beschreibung s. unten S. 89ff.]. — Ohne Schreiber, Ort, Jahr. —
Der Vorbesitzer erwarb die Hs. 1954 in Srlnagar (Kasmir); sie ist seit 1956 im Lin-
den-M. (vgl. Tribus 7. 1959, S. 190 f.: aus der Sammlung Markert).
Allgemeines; In der Hs. sind bei vorhandener Str(ophen)-Zählung die Zahlen
meist ausgelassen, wenn die Str. an der Textumrandung (s. o.) enden; entspr. fehlen
') Leerbl. und M[iniaturen] <[M+(la) 17v] = M. Nr. la auf Bl. 17verso in der Hs.,
[M~ ] = M. lose im Museum, [M~ ~ ] = M. fehlt. — Bl.-Zahlen ohne Klammern:
leer>: 1 — 12r; 14v—16; [M+(la)17v, M+(lb)18v, M“(0), M-(l),] 19 — 20r;
[M-(2),] 34; [M+(2a)70v,] 71; [M'(3),] 79; [M-(4),]81; [M --(5),] 90; [M"(6),]
94; [M~(7),] 100; [M~(8),] 116; [M"(9),] 134; [M"(10),] 138; 166v; [M"(ll),] 175;
[M-(12—13),] 186; [M"(14),] 203; [M“(15),] 208; [M‘-(16),] 213; [M‘(17),] 234;
[M"(18),] 251; [M+(l8a)262v;] [M“(19),] 275; [M“(20),] 296; [M"(21),] 301;
[M-(22),] 313; [M-(23),] 329; [M”,] 342; [M"(24),] 356; 360, [M+(24a)361v,]
362; [M”(25),] 387; [M-(26),] 416; 423v; [M“(27),] 424; [M“(28),] 429; 444^—
445, [M+(28a)446v,] 447; [M"(29),] 473; [M--,] 487; [M+(29a)495v,] <B1.-Zah-
len 496—500 übersprungen,> 501; [M“,] 550; [M“(30),] 566; [M“(31),] 583;
[M"(32),j 593; [M--,] 604; [M--(33)s] 621; [M--(34),] 629; [M“(35),] 636; [M~
(36),] 644; [M",] 655; [M"(37),] 670; [M"(38),] 675; [M~(39),] 684; [M"(40),]
691; [M“(41),] 697; [M“(42),] 703; 727v; 728v—738.
70
Klaus Ludwig Janert
dann die (roten) Dandaka (s. Taf. 11). Das führte zu irrigen Zählungen. — Auf [728]
ein Inhaltsverzeichnis der 1. Hd; diese wechselt in den Kol. oft zw. sampürna- und
samäpta-; sie zeigt lacunae der Vorlage an (z. B. auf [713]v). — Unvollständig ist
T.9. — Die Bl.-Zählung der Teile (s. u.) bezeichnet jeweils das A.- und E.-Bl. des
Textes. — Zu den in Kasmlr heimischen Namen usw. s. u.a. M. A. Stein zu seiner
Übersetzung von Kalhana’s Räjatarahginl (1900); S. Ch. Ray (s. unten zu T.19).
1) Bl. 1[ = 20]v — 14[ = 33]v;
Snänavidbi.
A.: ~ ^ om namo ’stv anantäya sahasramürtaye sahasrapädäksisirorubähave
sahasranämne purusäya säsvate sahasrakotlyugadhärinif .... (1)]
namah kamalanäbhäya namas te jalasäyin(e)
namas te kesavänanta väsudeva namo ’stu te (2)
om gahgäprayägagayanaimisapuskaräni
tirthäni yäni bhuvi santi hari-prasädät
äyantu täni karapadmapute madiye
praksälayanti vadanasya nisäkalahkam [3] . . .
£.: y(u)vä s(u)väsä[h] parivita ägät sa u sr(e)yän bhavati jäyamänah
t(am) dhir(ä)sah kavaya(h) unnayanti s[v]ädhyo manas(ä) devayantah.
yat tvagasthigatam päpam janmäntarakrtam ca yat
tan me harasi kalyä(n)i mürdhni sparsena vaisnavi.
iti snänavidhih sampürnam.
Randmarke: snä. Mit Str. u. a. aus RV, aAV, (kKS). — 3,62,10 — k4,13,l —
(mrdabhimantrah) 8,47,11, 1,22,16 — 8,61,13 — 10,152,2f. — 10,28,4 — (mrttikä —)
(1,114,8 ~) k23,12. (gomayam —). (apämärgah —). (dürvä —). 3,62,10, (gahgä-
snänam) — 10,9,1-3, al,33,1-3, 10,9,4, k2,l,lf., 10,9,8 [s. T.2], (jalam pravisya;)
l,22,20f. (upavitam —). (sirasi märjanam — jalänjalim utksipya:) 1,50,1, 4,40,5,
3,8,4 (s. o., Hs.; yo°, so°, sri°, tän, °ra°, °sah; °ni; in 2: ni). (Zu Str. [3] vgl. Pari-
sistas of the AV, ed, Bölling and Negelein, LX1I,4.)
2) Bl. 14[= 33]^ — 49[-69]v:
Samdhyopäsanamanträh.
A.: atha sandhyopäsanamantrah.
~ om pranavasya rsir brahmä gäyatram<(s) chanda eva ca
daivo ’gnir vyährtisu ca viniyogah prakirtitah.
prajäpater vyährtayah pürvasya paramesthinah
vyastäs caiva samastäs ca brähmam aksaram om iti. . . .
E.: om namo vivasvate brahman bhäsvate visnutejase
jagatpavitre sucaye namas te karmasäksine.
om ksäntifh] pustis tathä tustih sattvam me tvatprasädatah
sarvapäpaprasäntis ca tlrtharäja namo ’stu te. om.
iti sandhyopäsanamantrah samäptäh. ~
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
71
Randmarke: sam. Mit Str. u. a. aus RV, aAV, (kKS). Bl.lZff.: a2,17,l-3 — 3,62,10
— (camanatrayam) — 10,9,1-3 (= abdaivatyam süktam) — al,33,l-4b — 10,9,4 —
k2,l,lf — 10,9,8 — 10,97,16, a 16,7,10 — 4,39,6 — a6,115,3, 10,190,1-3 — 1,50,10 —
a13,2,16 — 1,115,1 — 7,66,16 — 4,40,5 — 10,170,1, (purusasüktam:) 10,90,1-16 —
(karanyäsah) — (gäyatrlnyäsah) — (g.-japavidhänam) . . .
3) Bl.lr'v [s. u.], 2[ = 72]r—9[ = SO]«";
M ahäganapatistotra.
A.: — [A] om bibhran daksinahastapadmayugale dantäksasütre subhe
väme modakapürnapätraparasü nägopaviti tridrk
srimän simhayugäsanah srutiyuge sañkhau vahan maulimän
disyädlsvaraputra esa bhagaväm lambodarah sarmalah.
[ß] sumukhas caikadantas ca kapilo gajakarnakah
lambodaras ca vikato vighnaräjo ganädhipah
dhümraketur ganädhyakso bälacandro gajänanah.
dvädasaitäni nämäni yah pa[Bl. 2:]thec chrnuyäd api . . .
sángrame sañkate caiva vighnas tasya na jäyate.
[C] om suklämbaradharam visnum sasivarnam caturbhujam
prasannavadanam dhyäyet sarvavighnopasäntaye . . .
E.: nityam prabhätakäle tu cintayed gananäyakam
etat stotram pavitram ca mahgalyam päpanäsanam .. .
trisandhyam yah pathed etat sa bhavet sarvasiddhibhäk
ganesvara-prasädena labhate sahkaram padam.
iti ädyapuräne sri-mahäganapateh stotram sampürnam. ~ ~ ~
Bl.l in Passepartout lose im Museum. — Nach Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.6399,
Nr.8811 (mit S.6250,Nr.8621 — f.) ist [B] der Hs. auch selbständig: Vighnesvara-
dvädasanämastotra. — Randmarke: ga = [Ganapati-,] Ganesa-stotra, vgl. T.27 und
Descr.Cat.Skt.Ms.As.Soc.Bengal 5,S.485,Nr.3813 (läksäsindüra0 = Str.4 ist die 2.Str.
von [C] der Hs.). Phalasruti oben um 3 Z. gekürzt, ädya- im Kol. für ädi-. Hs. ohne
Str.-Zählung.
4) Bl.9[ = 80]v—57[= 133]r:
Bhavänisahasranämastotra.
A.: — om sahkhatrisülasaracäpakaräm trineträm
tigmetarämsukalayä vikasatkirltäm
simhästhitäm asurasiddhanutäm ca durgärn
dhürvä-nibhäm duritaduhkhaharlm namämi [1]
om akulakulapatantl cakramadhye sphurantl. .. [2] ..
om namo bhavänyai.
kailäsasikhare ramye devadevam mahesvaram ... [6]
(. . . sri-bhavänlnämasahasrastavaräjah . . . :)
om mahävidyä jaganmätä mahälaksmih sivapriyä
visnumäyä subhä säntä siddhä siddhasarasvati. . . .
[5]
..[15].
72
Klaus Ludwig Janert
sarvatirthamayl murtih sarvadevamayi prabha
sarvasiddhi<h)pradä saktih sarvamangalamangalä. ora. . . .
E.: devatänäm devatä yä brahmädyair yä ca püjitä
bhüyät sä varadä loke sädhünäm visvamahgalä.
etäm eva purärädhya vidyäm tripurabhairavlm
trailokyamohanam rüpam akärsld bhagavän harih.
iti sri-rudrayämale tantre nandikesvarasamväde sri-mahäprabhävo bhaväni-
nämasahasrastavaräjah samäptah. om. — ~
om japtam päpaharam nutam balakaram sampöjitam srlkaram
dhyätam mänakaram stutam dhanakaram sambhäsitam siddhidam
gitam sundari vänchitam pratanute te pädapadmadvayam
bhaktänäm bhavabhltibhanjanakaram siddhyastadam pätu nah.
[Buchstäblich:]
anena mantrapäthena ätmano väh manah käyo durgä bhagavati santosanärtham
amäyah kämäyah sahasranämne devyah priyantäm prltau me bhaventäm. ~ ~
Randmarke: bha. Zur ids. vgl. Westdt.Bibl. Ms.or.oct. 588,1, 746,1. Titel u. a.
nach Verz.Skt.-Hs.Berlin S.326,Nr.l330ff. und: Cat.Skt.Ms.1.0.1,5.1494,Nr.3934
(Str.[6]-[ 15] dort 1-10). Die 2. und vorl. Str. (devatänäm) wie Kat.Skt.-Hs.Leipzig
S.394,Nr.l244: 2. und Schluß-Str.265 (’BhavänlsahasranämaiT, vgl. in T.27: Bhavänl-
nämasahasra). Str.[3]-[5] der Hs. beginnen mit caturbhujäm, pretasamsthäm, jaga-
tsthitikarim. Die 1000 Namen (mahävidyä bis sarvamangalamangalä) auf 17r-45v.
5) Bl.57[ = 133]v—60[= 137]v:
Särikästotra.
A.: om bijaih saptabhir ujjvaläkrtir asau yä saptasapt(i)dyutih
saptarsipranatähghripahkajayugä yä saptalokäsrayä
käsmira-pravaresa-madhyanagare pradyumna-pithe sthitä
devl saptakasamyutä bhagavati srl-särikä pätu nah.
om jaya bhagavati vindhya-väsini kailäsa-väsini smasänaväsini humkärini käläyani
kätyäyani himagiritanaye kumäramätar govindabhagini . . .
E.: käle kälägnisikhe kälarätri aje nitye samhare yogesvara-nute bhaktajanavatsale
surapriyakärini durge durjaye hiranye saranye — kuru me jayam.
pradyumnasikharasinäm mätrcakropasobhitäm
plthesvarlm silä<m)röpäm särikäm pranamämy aham.
amä kämä ca cärvahgi tathä ca tahkadhärinl
tärä ca pärvatl caiva yaksinl särikastaml.
iti sri-särikästotram sampürnam. ~
Randmarke: sä. l.Str.: °pta°. (Vgl. Cat.Skt.Ms.1.0.2,5.539,Nr.5755: Särikäsaha-
sranäman.) Ed. s. Cat.I.O.Skt.Books S. 2385.
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
73
6) B1.60O 137]v—65[ = 143]v:
Laksmlstotra.
A.: — mahälaksmyai namah.
om athätah sampravaksyämi sannidhänäya mantrinäm
pavitram sarvadä siddham mahäsaubhägyadäygkam,
sarvakämapradam punyam smaranädäntinäsanam
yenaiva smrtimätrena hy apamrtyur vinasyati. . . .
om nam(o ’stu) te sriye nitye mahäbhairava-sekhari
jagadählädini klinne jlvaväni namo ’stu te. . . .
räjyaprade räjyalaksmi bhairaväntahpuresvari
nityänande trikonasthe bhairavesi namo ’stu te. ...
E.: ekatra sarvamanträms ca vidyäs caikatra yojayet
bandhayed värthalesäni sarvamudräganam mahat,
istvä vä mandalam sarvam kulänandasamudbhavam
tatphalam stotrapäthena bhavatlti na samsayah.
iti srl-laksmlstotram.
Randmarke: la. Das Stotra auf 61v (Hs.: namas te te °) bis 64r,
7) Bl.65[= 143]v—88[ = 166]r:
K r s n a k a P a n d i t a : Mahäräjnistava.
A.; ~~~ om yäm dvädasärkapanmanditamürti(m) ekä[m]
simhäsanasthitimatim urag(ä)vrtäm ca
devlm anaksagatim (ai)svaratäm prapannäm
täm n<V)aumi bhärgavapuslm paramärtharäjnim [1] ...
E.: no yasmin pathite mano ’rhati nrnäm ätankasankänkanam
guptäd guptataräm ihäsa yadi sam no dosaräsih sprset
yuktih sindhusutä-vasikrtividhau hetur vacodevatä-
präptau pandita-krsnakena sa mahäräjn[y]äh stavo ’ninditah (59)
iti sri-pandita-krsnakena viracito sn-mahäräjnlstavah sampürnam. — —
Str.[ 1 ]: °tir, °ga°, °tim e°. Randmarke: rä; vgl. Cat.Cat.3; Räjnistava von Krsria
Pandita. (Cat.Cat.l verweist von Krsna = Krsnaka Pandita auf Ävantyakrsna.)
8) Bl.l[= 167]r—4[= 170]v;
Jvälämukhl stotra.
A.: ^ ~ ~ om jväläparvatasamsthitäm trinayanäm plthatrayäm drsti(d)äm
jvälä(d)ambarabhüsitäm suvadanäm nityäm ad(ar)sär(c)anaih
satcakrämbujamadhyagä[m] varagadämbhojäm bhayäm bibhratlni
cidrüpäm sakalärthadlpanakarlm jvälämukhlm naumy aham (1)
om natä stutiparä sarve yasyäh sarge divaukasah
tamo hatvä sankarasya bhütyai bhüyät sadäsivä(h) (2) . . .
74 Klaus Ludwig Janert
E.: ratnapancakanämänäm srl-sundaryäh stavam param avyäkulam yah pathati so ’bhlstäm siddhim äpnuyät (9) jvälämukhi mahäjväll jväläpihgalalocanl jvälätejo mahätejo jvälämukhi namo 5stu te (10) y
iti sn-jvalastotram subham. ~ ~
Papier, Hd wie T.24. Str.l: °täm, °dha°, adr°ja°. Randmarke: jvä° sto°. Titel:
Cat.Skt.Ms.1.0.1,5.862,Nr.2549(11,Mitte); Kat.Skt.-Hs.Leipzig S.90,Nr.310,2, Sam-
karäcärya als Verf. (Str.2f. wie die Hs.). Cat.Cat.1: Kälidäsa als Verf., 2: Jvälä-
mukhistotra Ratnapancaka.
9) Bl.[ 171 ]r—[ 174]v:
(Jvälapästava.)
A.: ~ om bhaväbhävini bhänavl bhävagamyä
savä saiikarl sambhupatni girisä
harisä vidhesä vadhesä [......]
sadä pätu mäm jvälapä visvaröpä (1) . . .
E.; kuläcärallnä kulinäkulagnä
ratl revati rohi(n)I rogahartri
samä säntidä sabdakä sabdavidyä
sadä ° [9]
(i)dam jvälapäyä stavam bhart(r)yuktä
pathet prätar utthäya nityam manusyä
sama[... (10)]
In Str.[9]a wohl a-ku-lagnä. Ferner °nl; ya°, °rti°. Flüchtige, 3.Hd. Titel nach
Str.[10]. Rand leer.
10) Bl.l[= 176]r—[357]r:
Märkandeya pu räna, Adhyäya 81—93: Devimähätmya (Adhyäya
1 —13). Davor: Devlkavaca, Argalä- und Kllakastotra, usw.
A.: ~ ~ ~ om jätavedase sunaväma soma(mma)m .. .
näveva sindhun duritäty agnih [1+] iti mülam.
om jäta sikhäyäm vedase laläte sunaväma karnayo somam näsikäyäm... ati
jahghayoh agni[h] pädayoh. iti [ahga]nyäsah.
om srlmatsuräsurärädhyacaranämbhoruhadvaylm
caräcarajagaddhätrlm candikäm pranamämy aham [2+]
siro raksatu brahmänl mukham m(a)hisvarl tathä
grlväm raksatu kaumärl vakso raksatu vaisnavl [3+] .. . [7+ (wie [2+])]
srl-satämka uväca:
yad guhyam paramam loke sarvaraksäkararp n(r)näm
yan na kasyacid äkhyätam tan me bröhi pitämaha [1] ...
E.: evam devyä varam labdhvä surathah sa narädhipah
süryäj janma samäsä(d)ya sävarnir bhavitä manu[h].
Eine Sanskril-Sammelhandschrift des Linden-Museums
75
iti sn-markandeyapurane savarnike manvanrare devxmahatmye devivarapradanam
näma trayodaso ’dhyäyah (13).
Randmarke: de. Str.[3+]: mä°, [1]: nr°, Schluß-Str.: °dhya. Blattzählung nur bis
82[ = 274] (=Adhy.4,Ende). Str.[l+] ist Rgveda 1,99. A.) Auf Bl.[178J —[185] und
[197] — [204]; Devlkavaca (incipit: yad guhyam, s. o.), oder Brahmakavaca nach
Kat.Skt.-Hs.Leipzig S.84,Nr.300 (Nr.309,Str.l—7 entspr. der Hs.). B.) Auf [204] —
[209]: Argalästotra (inc.: jayantl mahgalä, entspr. op.cit. Nr.300,Str.2, Cat.Skt.Ms.
I.O,2,S.976,Nr.6766 oder Nr.6768:) Bhagavatyargalästotra. C.) Auf [209] — [212];
Kilakastotra (inc.: visuddhajnäna0, entspr. Cat.Skt.Ms.I.O. Nr.6783), oder Bhaga-
vatyutkllana (vgl. Kat.Skt.-Hs.Leipzig Nr.300). D.) Auf [212] — [214]: asya sri-
saptasatikä-mantrasya prathamacaritasya . . . , dhyänam; und; (khadgam) cakragade0
[1] (entspr. Cat.Skt.Ms.I.O. Nr.6758). — E.) Endlich der Haupttext auf [214] (E. auf
[357]): tapasyantam ... (1) ... (3) sävarnih süryatanayo . . . (4) . . . Diese Str.4 ist
oft der A. des Werkes; vgl. Ed. Bibl.Ind. (1862): Märcandeyapuräna, S.424—485
(s. obige Adhy.-Angaben) = Devlmähätmya (Hs. teilw. ausführlicher). Titelvarian-
ten nach Cat.Cat.: Candl, Candl-, Durgä-mähätmya, Durgä-saptasatI, Saptasatl.
Vgl. ferner Cat.I.O.Skt. Books S.736ff. Die Adhy.-Namen der Hs. entspr. Descr.Cat.
Skt.Ms.Madras S.1727f.,Nr.2444, Adhyäya 1 —13 (11 dort Devatä-, hier Näräyani-
stuti [inc.: devyä hate tatra]). Adhy. 8 der Hs. ist verbunden: Beginn (cande ca°),
Bl.[187] — [196] (= Str.44), gehört vor [308] — [311], d. h. er liegt im Devlkavaca
(s. o.).
11) Bl.[357]r—[359]v:
Indräkslstotramantra.
A.: ~~ ora sahkham carma dhanus ca cäru dadhatlm rjväyatim tarjanlm
vämais cakram asim mahesum itarais tiksnam trisölam bhujaih
sannaddhäm vividhäyudhaih parivrtäm mantrlkumärljanaih
dhyäyed Ipsitasädhanim trinayanäm simhädhirüdhäm siväm [1+]
om asya sri-indräksTstotramantrasyanustup chandah hrlm bljam purandara rsih
. . . jape vä päthe viniyogah.
sri-indra uväca:
indräksl näma sä devi daivatl samudährtä
gaurl säkambharl devi durgänämmti visrutä [1] ...
E.: bhaväni pärvatl devi haimavatyäm prakäsinl
etair nämapadair devyaih stutä sakrena dhlmatä [6]
satam ävartayed yas tu mucyate vyädhibandhanät
ävartayet sahasram yo labhate vänchitam phalam,
räjävasyam aväpnoti satyam eva na samsayah.
iti srl-skandapuräne indräkslstavah sampürnah. — ~ ~
Randmarke: i. Str.[l]—[4] und nach [6] entspr. Kat.Skt.-Hs.Leipzig S. 414,
Nr.1284:5 — 8 (in 1285:15 ante muktim aväpnoti), Cat.Skt.Ms.I.O.2,S. 1002,Nr.6839:
4 u. 10f.: Indräkslstotra. Für Ed. s. Cat.I.O.Skt.Books S.1089f.
76
Klaus Ludwig Janert
12) Bl.l[= 363]r—24[= 386]r:
Käthaka-Samhitä, 17,11 —16: Rudrädhyäya [KS], nebst Beifügungen.
A.: om devam svadhäkalasasomakaram trinetram
padmäsanam ca varada(m) bhayadam susubhram
sahkhäbhayäbjavarabhüsitayä ca devyä
väme ’nkitam samanabhahgaharam namämi [1A]
suddhasphatikasahkäsam trinetram paikavaktrakam . . . [2A]
kamandalv...[3A] amrte...[4A] digdeva...[5A] sarvavyä...[6A] mrtyun...[7A]
iti vijnäpya devesam japen mamtram ca tryambakam
om ä tvä vahantu . . . [8A] devänärp ca . . . [9Aj
om ävähayämy aham devam isvaram pärvatlpatim . . . [10A]
prlyatäm yajamänasya tusto bhüyäj jagatpat(ih) ... [11A]
balim puspam carum caiva dhüpo ’yam pratigrhyatäm [12A]
yo rudro agnau [°] om tat purusäya vidmahe . . . [ 13A]
satarudriyan devänäm . . . tristup chandah . . . rudramantrapäthe viniyogah.
om ~ om namas te rudra manyave bähubhyäm uta te namah
uto ta isave namah [1] ...
E.: yesäm annam isavas . . . tebhyo namo astu te no mrdayantu. te yan dvismo
yas ca no dvesti ta{n)m esäm jambhe dadhämi3.
madyani pltvä gurudäräms ca gatvä . . .
rudrädhyäyl mucyate sarvapäpaih [1E]
nityam dandl nityayajnopavlti nityam dhyätä bhasmanäkarmabandhl(h)
rudram drstvädhi(s)am isänam ugram yäti sthänam tena säkam tadiyam [2E]
anena rudramantrapäthena ätmano vän manah käyo pä[pava]rjita päpanivära-
närtham [!]
aghor(a)h purusah . . . satarudresvarah sänucarah. prlyantäm prltäh santu.
iti rudramanträh samäptäh. om
Randmarke: ru. ' dab, °te, °vam. Zu Str.[2A] (bis [8A]) s. Cat.Skt.Ms.I.0.1,S.581b,
Nr.1784. — [8A]f., [13A] ist Maiträyanl Samhitä 2,9,1,A. = Ed. v. Schroeder,
2(1883),S.119 (anders: Tryambakamantra im Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.4792,Nr.
6351 —ff.; vgl. aber zu T.20: RV 7,59,12?). Haupttext auf [367] —[385] ([1]-
jambhe dadhämi3): Käthakam, Ed. v. Schroeder, 1(1900),S.254—260. Endlich [1E]
(s. Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.183,Nr.l40,Str.[l]) und 14 Rudra-Namen (Hs.: agho-
räh pu°). — Vgl.: MS 2,9,2—9: Rudrädhyäya (A). TS 4,5: Rudrädhyäya (B,D),
Satarudriya (A,D,H), „Namaka, properly called Satarudriya, Rudrädhyäya, Rudra-
prasna, Rudra-Upanisad [!], <4,7,1 —11: Camaka“ (E), 4,5 + 4,7,1 —11: Namaka-
Camaka (F), Namakacamaka, Rudrasükta (C), Rudrajapa (G), Rudra (A), Mahäru-
dra (E)>. VS 16,1—66: Rudrädhyäya (A,G), Satarudriya (D); Satädhyäya (A),
Rudrajapa (= Sadangarudra), 5. Teil: Satarudriya (G). <Außerdem; RV: Rudrä-
dhyäya, Rudrajapa, Satarudriya; SV: Rudrajapa; Mbh: Satarudriya; Skanda-P.:
Rudrädhyäya; so nach A,G,H, s. u.> — Diese Angaben nach: A) Cat.Cat. 1.2.3., B)
In: Descr.Cat.Skt.Ms.As.Soc.Bengal 2,S.640f.,Nr.771 [u. a. hiernach unser Titel, Hs.
ohne ,,Camaka“], C) Skt.-Hs.München, D) Verz.Skt.+ Pkt.Hs.,Berlin 1, E) Descr.
TAFEL III (Beitrag Rau)
Miniatur Nr. 5
Alle Miniaturen sind im
Maßstab 11:10 wiedergegeben
Miniatur
Nr. 2
Miniatur Nr. 1
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
77
Cat.Skt.Ms.Adyar Libr. Vol.l, F) Descr.Cat.Skt.Ms.Madras Vol.l, G) Kat.Skt.-Hs.
Leipzig, H) Cat.Skt.Ms. 1.0.1.2. — Vgl. auch Cat.I.O.Skt.Books S.2206, E. Rose, Bei-
träge zur Kenntnis des sivaitischen Namensglaubens nach den Puränen, Phil. Diss.
Bonn 1934.
13) Bl.24[ = 386]v—40[ = 403Jv:
Puspadanta: Mahimnahstava.
A.: ~ ora mahimnah päram te param aviduso yady asadrsi
stutir brahmadlnäm api tad avasannäs tvayi girah
athäväcyah sarvah svamatiparinämävadhi grnan
mamäpy esa stotre hara nirapavädah parikarah (1) . . .
E.; ahar-ahar anavadyam dhürjateh stotram etat
pathati paramabhaktyä suddhacittah pumän yah
sa bhavati sivaloke rudratulyas tathätra
pracurataradhanäyuh klrtimän putraväms ca (37)
iti srl-puspadanta-viracito mahimnahpärastavah sampürnah. ~
Randmarke: ma. Textschluß oft mit Str.32 (asitagiri0). Als Verf. auch Kumärila
Bhatta, Bhattapädäcärya, s. Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.7510,Nr.11103 — ff., und
Cat.Skt.Ms.I.0.2,S.l 105,Nr.7115 — ff.; Cat.I.O.Skt.Books S.1006ff.: Haramahimnah-
stava, -stotra, Sivamahimnahstotra; Mahimnäkhyastotra, Sivastava, Mahädevastava.
14) Bl.40[ = 403]v—42[= 405]‘:
Sivasadaksarastotra.
A.: ~ omkäram bindusamyuktam nityam dhyäyanti yoginah
kämadam moksadam caiva om-käram tarn namämy aham (1)
na jato na mrto yasya [!] ksayo yasya na vidyate
namanti devatäh sarv(ä) na-käram tarn namämy aham (2) . . .
E.: yatra-yatra sthito devah sarvavyäpl mahesvarah
yo guruh sarvadevänäm ya-käram tarn namämy aham (6)
evam sadaksarastotram yah pathec chiva-sannidhau
sivalokam aväpnoti sivena saha modate (7)
iti srl-sivastotram samäptam.
Randmarke: si. Str.2:°ve. Die 6 Aksara: om na ma sa va ya (= °mah sivä°).
Titel nach Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.7566,Nr.11218 — f.
15) Bl.42[= 405]r—44[= 407]v;
Lingästaka.
A.: ~ om brahm(a)-muräri-surarcitalihgam
nirmalabhäskarasobhitalingam
janmani duhkhaniväranalihgam
tväm pranato ’smi sadäsiva-Iihgam (1) . . .
78
Klaus Ludwig Janert
E.: siddhasuräsuravanditalihgam
suddhasugandhasulepitalihgam
buddhivivar[dh]anakäranalihgam
tväm pranato ’smi sadäsiva-lihgam (8)
lingästakam idam punyam yah pathec chiva-sannidhau
sivaloke vasen nityam yävad indräfs] caturdasa (9)
iti lingästakam samäptam.
Randmarke: li. Str.l :°hmä°; 8: varanaJ. Zu Str.lf. der Hs. s. Kat.Skt.-Hs.Leip-
zig S.454,Nr.1365,1, zu Str.9 s. Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.7537,Nr.lll48 — ff. Für
Ed. s. Cat.I.O.Skt.Books S.1476.
16) Bl.44[= 407]v—50[ = 413]v:
Samkaräcärya: Siväparädhaksamäpanastotra.
A.: om ädau karmaprasahgät kalayati kalusam mätrkuksau sthitasya
tan müträmedhyamadhye (kv)athayati nitar(ä)m jätharo jätavedäh
yad-yad vä tatra duhkham vyathayatl nitar(ä)m sakyate kena vaktum
ksantavyo me ’parädhah siva siva sivabho sri-mahädeva sambbo (1)...
E.: äyur nasyati pasyatäm pratidinam yäti ksayam yauvanam
pr(a)tyäyänti gatäh punar na divasäh kälo jagadbhaksakah
laksmls toyatarangabhangacapalä vidyuccalam jlvitam
tasmän mäm saranägatam saranada tvam raksa raksädh(u)nä (13)
iti sri-sambhostotram samäptam.
Randmarke: si, danach der Titel (s. o.); vgl. Cat.I.O.Skt.Books S. 138(ff.) und
Cat.Cat., wo auch die Varianten: Aparädha, -stotra, -ksamä, -ksamä-, -ksamäpana-,
-bhanjana-, -mocana-stotra; Devyaparädhaksamäpanastotra [?]. Außerdem Cat.Cat.,
Cat.Skt.Ms.1.0.2,5.1478,Nr.7982, Kat.Skt.-Hs.Leipzig S.131,Nr.437,S.279,Nr.874[!];
Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.7422,Nr.l0913 — ff.: Aparädhasundarastotra; Aparädha-
dasaka (auch unsere Hs. wiederholt d von Str.l [s. o.] bis 10[dhyä°]). Werk oft ohne
Verf.-Angabe. Hs. in: 1 vya°, °ram; 13 prätyäyä0, °dhva°.
17) Bl.50[ = 413]v—52[ = 415]v, 53[= 425]1:
Sivästaka.
A.: — om adya me saphalam janma adya me saphalam japah
adya me saphalam jnänam sambho tvatpädadarsanät (1) . . .
sivah sambhuh sivah sambhuh sambhuh sambhuh sivah sivah
iti vyäh(ä)rato nityam dinäny äyäntu yäntu me (4) . ..
E.: hara sambho mahädeva visve(s)ämaravallabha
siva sahkara sarvätman nllakantha namo ’stu te (8)
jätasya jäyamänasya garbhasthasyäpi dehin(a)h
mä bhüt tatra kule janma yatra sambhur na daivatam (9)
sahkarasya ca ye bhaktäh säntäs tadgatamänas(ä)h
tesäm däsasya däso ’ham bhüyäm [!] janmani-janmani (10)
iti afgajstyamuni-viracito sivastotram samäptam.
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
79
Str.4: ha°, 8:°sa , 9:^nah. 9f. auch Abschluß von Teil 18 (s. u.); auch dort: °sah,
aber °nah, bhüyäj. 9 ist Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.7514,Nr.l 1112, Add. — Rand-
marke: si, zu Sivästaka ergänzt u. a. nach der Titelvariante Agastyästaka, s. op.cit.
S.7416,Nr.10899 — ff. (Str.lf. wie die Hs.). Vgl. auch Alph.Index,Skt.Ms.,Adyar
Libr. S,l,Nr.*15: Agastisvarästaka.
18) Bl.l[= 417]r—7[ = 423]r:
Lanke's vara: Gaurisvarastotra.
A.: ~ ora gaurlsvaräya bhuvanatrayakäranäya
bhaktipriyäya bhavabhitibhide bhaväya
sarväya duhkhasamanäya vrsadhvajäya
rudräya käladahanäya namah siväya (1) ...
E.: äpanno ’smi saranyo ’smi sarvävastho ’smi sarvadä
bhagavams tväm prapanno ’smi raksa mäm saranägatam (22)
(23) (24)
iti srl-lahkesvarena krtam dmakranda[na]stotram subham.
Papier und Hd wie T.24; die Lage wurde in den T.17 gebunden (s. o.). Titel nach
der Randmarke gau° sto°, dem Textbeginn und Cat.Cat.l,S.172a [s. „BP“ (Sär.-Hs.).
wo L. als Verf. genannt!]. (Sivastuti des L. anderes Werk, s. Cat.Cat. 1(—2), wo auch
versch. Dinäkrandanastotras.) Str.-Beginn der Hs.: 1 s. o., 2 sarvesvaratve, 3 ornkä-
rena, 4 käyaposana0, 5 visayo0, 6 trsnä, 7 bhatair, 8 samsärapäsa0, 9 dlno ’smi,
10 bhito ’smi, 11 janmätavl0, ... 18 bhlto 'smi, 19 ä sikhäntam, 20 srutvä, 21 sa-
maya°, 22 s. o., 23f. wie T.17 Str.9f.
19) Bl.53[ = 425]r—56[— 428]r:
Ahhinavagupta: Bhairavastotra.
A.: —■ ora vyäptacaräcarabhävavisesam
cinmayam ekam anantam anädyam
bhairavanätham anäthasaranyam
tvanmayacittatayä hrdi vande (1) ...
E.: vasurasa(= 68)pause krsnadasamyäm
abhinavagupt(a)h stavam imam akarot
yena vibhur bh(a)vamarusantäpam
samayati jhaditi [!] janasya dayäluh (10)
iti srl-abhinavagupta-viracito bhairavastotram samäptam. ~
Randmarke: bhai. Textfaksimile auf Taf. II. Cat.Cat.l,S.25: zum Verf., S.417:
das Werk („Report“ S.CLXII: im Kol. Bhairava-stotra; S.XXXI: -stava, wohl nach
der Zusatzstr.10, deren Datierung Bühler auf S.80 gab; Laukika 4068 = A.D.993;
s. auch Sunil Chandra Ray, Early History and Culture of Kashmir, 1957, S.177,73).
Vgl. Florentine Skt.Ms. S.151f.,Nr.430,206b; Bhairavadasaka, Descr.Cat.Skt.Ms.As.
Soc.Bengal 8,S.568,Nr.400,2: Bhairavanäthastotra.
80
Klaus Ludwig Jancrt
20) B1.56[= 428]1— 68[= 441]*:
Sivanirvänastotra.
A.: ~ ~ ora jayaty ananyasämänyaprakrstagunavaibhavah
samsäranätakärambhanirvähanakavih [!] sivah [1A]
om namah siväya bhötabhavyabhüvibhävabhävine
om namah siväya mätrmänameyakalpanäjuse . . .
E.: om namah siväya sarvathä ora namah siväya sarvadä
om namah siväya sarvatah om namah siväya sarvasah.
om siva bhava rudra hara sahkara bhütapate
girisa(giri)(y)a bharga sasisekhara nllagala
trinayana väma(deva) girijä dhava märaripo
jaya jayadeva bhagavan bhavate ’stu namah [1E]
etäm astottarasatanamaskärasamskärapütäm
bhötärthavyährtinuti [!] sadährtya mrtyuhjayasya
kascid vidvän yad iha kusalam samcinoti sma kimcit
tenänyesäm bhavatu pathanädlpsitärthasya siddhih [2E]
iti srl-vyäsamuni-viracitam sivanirvänastotram. ~ ~
Randmarke: si. Kol. entspr. Cat.Cat.l,S.649b(= Sär.-Hs.). In Str.[lE]b ist das
irrige girisa girisa bha° zu girisa(y)a bha° zu korr.; fürs ~ y in Kasmir vgl.
Scheftelowitz: Khiläni (Ind.Forschg.l) 1906,5-174. Zw. [1A] und [lE]f. durch (om)
namah siväya eingeleitete 108 (unnumerierte) Siva-Namen (vgl. Titel wie Pancäksa-
rästottarasata-, Sivästottarasata-nämastotra; Namahsiväyapahcacämaraf-stotra],
Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.6628, S.6663ff.; S.7462; dazu unten in T.27; Omnamah-
siväyastotra). Zu [2E]b vgl. Florentine Skt.Ms. S.143, in Nr.401: Mrtyumjayavidhäna
(mit: . . . om bhör bhuvah svah tryambakam °[s. RV 7,59,12] . . . ’’for the revival of
the dead“). Vyäsa des Kol. wohl der Rsi aus der (fehlenden) Rsicchandodevatä.
21) Bl.68[ = 441 ]r—71[= 444]r:
Rudrakavaca.
A.: ~ oni pranamya sirasä rudram sambhunr tribhuvanesvaram
savam sarvagatam devam sarvadevamayam prabhum (1)
athäto rudrakavacam pravaksyämi samantatah
rahasyam sarvadevänänt raksärtham nirmitam purah (2)
om rudro mamägratah pätu prstham pätu ca sahkarah
kapardi daksinam pätu vämapärsvam tathä harah (3) . . .
E.: . . . ity etad rudrakavacam pavitram päpanäsanam (10) ...
manasä sudhyate päpam bhayam tasya na vidyate
präpnoti paramam yogam brahmalokanr sa gacchati (12)
Line Sanskrit-Sammelhandscbrift des Linden-Museums
81
pancäsyam varadam vrsendragamanam digbähukam bhäsvaram
nägendräbharanam sadäsasikaläbhräjatkiritasthalam
gahgä-lihgitam ürvajam suranatam samyakkapälesvaram
hrtkosäntaragam namämi manasä svetam mahäbhairavam (13)
iti srl-mahämuni-vyäsena krtam rudrakavacam sampürnam. ~ ~ ~
Randmarke: ru ka°. Str.13 Zusatz nach Descr.Cat.Skt.Ms.Madras S.5184,Nr.
7083 — ff. Zu Vyäsa des Kol. s. u. zu T.20; zu sava- in Str.lc s. T.9,Str.lb; dig° = 8-.
22) Bl.l[= 448]r—26[= 474]r:
Näräyana B h a 11 a : Stavacintämani.
A.: ~ ~ om sugirä cittahärinyä pasyantyädrsyamänayä
jayaty ulläsitänandamahimä paramesvarah (1)
yah sphitah sridayä bodhaparamänandasampadä
vidyoddyotitamähätmyah sa jayaty aparäjitah (2) . , .
E.: om vacas cetas ca käryam ca sarlram mama yat prabho(h)
tvatprasädena tad bhüyäd bhavadbhävaikabhüsanam ([ 1 ] 21)
stavacintämanim bhürimanorathaphalapradam
bhaktilaksmyälayam sambhor bhatta-näräyano vyadhät.
iti sri-mahämähesvara( + )batta-näräyanena krtam mahesvarastotram sampürnam. ~
Titel mit Cat.Cat.l,S.743b (s. ferner „BP“ S.79; „Report“ S.81f.: zum Verf.
,Bhattanäräyanac, CLXIIIff.: Schluß-Str. wie die Hs.). Randmarke: nä, wohl zu
Näräyanastava o. ä. zu ergänzen (R. zur bloßen Verf.-Angabe ungewöhnlich). Str.-
Zählung fehlerhaft. Im Kol. (wo sri- erwartet:) Rosette vor batta (s. T.27); vgl.
Taf. II. Dazu Schubring u. Janert zu Ms.or.fol.2078 in: Indische Handschriften 1.1962.
23) Bl.26[ = 474]'— 38[= 486]v:
Kulasekhara: Mukundamälä.
A.: ~ ~ ont vande mukundam aravindadaläyatäksam
kundendusahkhadasanam sisugopave(s)am
indradidevaganavanditapädapltham
vrndävanälayam aham vasudevasünum (1) . . .
E.: yasya priyau srutidharau ravilokagitau
mitre dvijanmaparivärasiväv abhütäm
tenämbujäksacaranämbujasatpadena
räjnä krtä krtir iyam kulisekharena (37)
iti srl-kavisekhara-krtam mukundamälah samäptah. —
Str.la später zu °ksyam; b; °sam. 37a sonst kavilo0. Randmarke: mu (Bl.28—30:
nä; s. T.22). Str.-Zählung fehlerhaft. Verlängerter Textschluß entspr. Kävyamälä 1
(1886), S.(ll,l [Version der Ed. wie die Hs.],)16; Triennial Cat.Ms.1910/11 —1912/
13, Gov.Or.Ms.Libr.Madras l,l,A,S.298f.,R.Nr.l74d. Für Ed. s. ferner Cat.I.O.Skt.
Books S.1660ff.: Verf. auch Kulesvara. Verf.-Angaben am E. der Hs. ungewöhnlich.
e
82
Klaus Ludwig Janert
24) Bl.l[= 488]r—7[= 494]v:
Narakottäranastotra.
A.: ~ ~ om näräyanam namaskrtya naram caiva narottamam
devim sarasvatim vyäsam tato jayam udlrayet (1)
näräyanam jagadbijam puränam purusottamam
par(i)prcchati dharmätmä pänduputro yudhisthirah (2)
yudhisthira uväca:
kirn japan puruso mucyed yamalokaikasäsanät
tan me kathaya tattvena bhaktasya tava kesava (3) . . .
E.: äyur ärogyam aisvaryam präpnoti ca paräm sriyam
ante säyujyam äpnoti tad visnoh paramam padam (32)
narakottäranam stotram ye pathisyanti mänav(ä)h
gacchanti paramam sthänam yatra devo ’pi kesavah (33)
iti srl-krsna-viracitam narakottäranam stotram subham.
Papier und Hd wie T.8 und 18. Randmarke na° ko°. Str.2: °rya°, 33: °vah.
Vgl. Cat.Skt.Ms.1.0.2,5.1096,Nr.7092 (Sär.-Hs., s. auch Cat.Cat.2—3). Kol. meint
,,°krsn6ktam °“.
25) BLl[ = 502]r—48[= 549]v:
Y ogaväsisthasära. Prakarana 1 —10.
A.: — — om dikkälädyanavacchinnänantacinmätramürtaye
svänubhütyekamänäya namah säntäya tejase [1]
aham baddho vimuktah syäm iti yasyästi niscayah
nätyantam ajiro no ta[j]jnah so ’smin sästre ’dhikäravän (2) . . .
E.: yathä na putrikäsünyah stambho ’nutklrnaputrik(a)h
tathä bhät(i) jagad brabma tena sünyam na tatpadam (33)
saumyämbhasi yathä vlcir na cästi na ca nästi ca
tathä jagad brahmanldam sünyäsünyapadam gatam (34)
iti srl-yogaväsisthasäre dasamam prakaranam sampörnam (10) ~ ~
Str.33: °käh, °tam. (Kol. so!) Randmarke; yo. Cat.EO.Skt.Books S.3143JF. trennt
Ed.-Angaben nicht vom Y. des Gauda Abhinanda. Titel auch Jnänasära, Väsisthasära
(Cat.Cat.1). — Nirvänasthiti in Raj.Mitra: Notices 9,S.283,Nr.3208, wohl nur Titel
des Prak.10, nicht des Werks, — s. Descr.Cat.Skt.Ms.As.Soc.Bengal 5,S.40,Nr.3190
(s. auch Nr.3204); dort Titelansatz: Yogaväsistharämäyana (eher für Yogaväsistha =
Väsistharämäyana [u. a.]!, s. Cat.Cat.1).
26) Bl.l[= 551 ]r—[727]r:
Mahähhärata, Parvan6,Adhyäya 25—42; Bhagavadgltä (Adhy. 1—18),
nebst Mälämantra (mit Rsicchandodevatä, Karanyäsa, Hrdayädinyäsa).
A.: ~ ~ om asya sri-bhagavadgitämälämantrasya srl-bhagavän vedavyäsa rsih . . .
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
83
nainam(s) Ghindanti... ity ahgusthäbhyäm namah ... . nänävidhäni divyänity
asträya phat. sri-krsna-prityarthe gitäpäthe viniyogah. atha dhyänam:
om pärthäya pratibodhitäm bhagavatä näräyanena svayam
vyäsena grathitäm puränamuninä madhyemahäbhärat(am)
advaitämrtavarsinim bhagavatim astädasädhyäyimm
amba tväm manasä dadhämi bhagavadgite bhavadvesinlm (1)+ . . .
yam brahmä-varunendra-rudra-maruta stunvanti divyai stavair
vedai sähgapadakramopanisa(d)air gäyanti yam sämagäh
dhyänävasthitatadgatena manasä pasyanti yam yogino
yasyäntam na viduh suräsuraganä deväya tasmai namah (9)+
iti dhyänam.
srl-dhrtarästra uväca:
om dharmaksetre kuruksetre samavetä yuyutsavah
mämakäh pändaväs caiva kirn akurvata sahjaya (1) ...
E.: yatra yogesvarah krsno yatra pärtho dhanurdharah
tatra srir vijayo bhütir dhruvä nltir matir marna (78)
iti srl-mahäbhärate satasahasryäm sanihitäyäm vaiyyäsikyäm bhlsmaparvani srl-bha-
gavadgltäsupanisatsu brahmavidyäyäm yogasästre srikrsnärjunasamväde moksa-
sannyäsayogo nämam astädaso ’dhyäyah (18).
Übliche Bl.-Zählung nur bis 56[= 610](5.Adhy., einschk); versch. andere, neben-
oder nacheinander einsetzende und abbrechende Zählungen (in arab. [!] Ziffern u. a.
Lagenz. 1—10 [bis 654]), z.T. weggeschnitten. Hs. in Str.l+: °te, 9+: °dhai°. (Kol. so!)
Randmarke: gl = Gitä; als Titel auch Srimadbhagavadgltä; Anantagltä; Tsvaragltä,
s. A. Holtzmann; Das Mahäbhärata und seine Teile 2(1883),S.161. Für Ed. s. auch
Cat.I.O.Skt.Books S.295ff.
27) Bl.[728]r:
[Süclpattra.J
[Buchstäblich:]
~ om snänavidhl [siehe Teil 1]. sandhyopäsanam [T.2]. ganesastotram [T.3]. bha-
vänlnämasahasra [T.4]. särikästotram [T.5]. laksmlstotram [T.6]. räjnästotram [T.7 J.
om devlmahätmye [T.10]. rudramantram [T.12]. mahimnäpärastotram [T.13]. om-
käram bindusam [T.14]. brahmamurärisurärcitalihgam [T.15]. ädau karmaprasa
[T.16]. adya me saphalam [T.17J. bhairavastotram [T.19]. omnamahsiväyastotram
[T.20]. rudrakavacam [T.21J. näräna-batta [T.22]. mukundamälä [T.23]. yoga-
väsisthasär [T.25]. sarvam päthah 20. — [Am Rande;] varakam gl tä ya ha nde 18
[Adhyäya] [T.26].
Seinen T.ll übergehend verzeichnet der 1. Schreiber seine Kopien (in rot); die der
2. (T.8, 18, 24) und 3.Hd (T.9) bleiben unerwähnt.
84
Klaus Ludwig Janert
28) Bl.[12]v—[ 14]r [!]:
Devaklnandanästaka.
A.: — — om ahganäm-ahganäm antare mädhavo
mädhavam-mädhavam cäntare (s)ähganä
ittham äkalpite mandale madhyagah
sanjagau venunä devakinandanah (1) . . .
E.: pärijätam samuddhrtya rädhävaro
gopayämäsa bhämäbhayäd ahgane
vallavlvrndavrndärikäkämukah
sanjagau venunä devakinandanah (8)
iti sri-devaklnandanästakam samäptam. ~
Nachschrift von sehr flüchtiger 4.Hd, ohne Randlinie und -marke. Titel mit
Alph.Index,Skt.Ms.,Adyar Libr. S.57,Nr.2838. (Vgl. Descr.Cat.Skt.Ms.As.Soc.Bengal
7,S.589,Nr.5744: DevakTsutastuti aus der Änandavrndävanacampü.)
REGISTER
A
(Abdaivatasükta) (= RV 10,9,1—3)
s. zu Samdhyopäsanamanträh, T.2.
Abhinavagupta: Bhairavastotra, T.19.
Ädipuräna
s. Mahäganapatistotra, T.3.
Agastlsvarästaka,
Agastya-muni,
Agastyästaka
s. zu Sivästaka, T.17.
Anantagltä
s. zu Mahäbhärata 6,25—42: Bhaga-
vadgltä, usw., L.26.
Aparädha,
Aparädhabhanjanastotra,
Aparädhadasaka,
Aparädhaksamä,
Aparädhaksamäpanastotra,
Aparädhaksamästotra,
Aparädhamocanastotra,
Aparädhastotra,
Aparädhasundarastotra
s. zu Samkaräcärya: Siväparädhaksa-
mäpanastotra, T.16.
Argalästotra
s. zu Märkandeyapuräna 81—93:
Devlmähätmya, T.10.
Atharvaveda 1,33,1—3
s. zu Snänavidhi, T.l.
Atharvaveda 1,33,1—4b. 2,17,1—3. 6,
115,3. 13,2,16. 16,7,10
s. zu Samdhyopäsanamanträh, T.2.
Ävantyakrsria.
s. zu Krsnaka Pandita: Mahäräjnlsta-
va, T.7.
B
Bhagavadgltä, nebst Mälämantra
s. Mahäbhärata 6,25—42, T.26.
Bhagavadgltämälämantra
s. Mahäbhärata 6,25—42: Bhaga-
vadgitä, usw., 7.26.
Bhagavatyargalästotra,
Bhagavatyutkilana
s. zu Märkandeyapuräna 81—93: De-
vimähätmya, 7.10.
Bhairava-dasaka, -näthastotra,
Bhairava-stava, -stotra
s. (zu) Abhinavagupta, 7.19.
Bhattanäräyana
s. zu Näräyana Bhatta: Stavacintä-
mani, 7.22.
Bhattapädäcärya
s. zu Puspadanta; Mahimnahstava,
7.13. '
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
85
Bhaváninámasahasra,
Bhavánínámasahasrastavarája,
Bhavánisahasranáman
s. (zu) Bhavanlsahasranamastotra
(Rudrayamalatantra), T.4.
Bhavanlsahasranamastotra (Rudrayama-
latantra), T.4.
Bhütárthavyáhrtinuti
s. in Sivanirvánastotra, T.20.
Brahmakavaca,
C
Candí,
Candímáhátmya
s. zu Márkandeyapurána 81—93:
Devimáhátmya, usw., T.10.
D
Devakinandanastaka, T.28.
Devatástuti,
Devikavaca
s. zu Márkandeyapurána 81—93:
Devimáhátmya, usw., T.10.
Devimáhátmya, usw.
s. Markandeyapurana 81—93, T.10.
Devyaparadhaksamapanastotra
s. zu Samkaracárya: Sivaparádhaksa-
mápanastotra, T.16.
Dlnakrandanastotra
s. Lahkesvara:GaurIsvarastotra,TJ£.
Durgamahatmya,
Durgasaptasati
s. zu Markandeyapurana 81—93:
Devimahatmya, T.10.
G
(Ganapatistotra),
Ganesastotra
s. zu Mahaganapatistotra, T.3.
Gaurlsvarastotra
s. Lañkesvara, T.18.
Gita
s. zu Mahabharata 6,25—42: Bhaga-
vadgíta, usw., T.26.
H
Haramahimnah-stava, -stotra
s. zu Puspadanta: Mahimnahstava,
T.13.
I
Indraksi-stava, -stotra
s. zu Indráksistotramantra (Skanda-
purána), E.ll.
Indraksistotramantra (Skandapurana),
7.11.
Isvaragita
s. zu Mahabharata 6,25—42: Bhaga-
vadgita, usw., T.26.
J
Jñanasára
s. zu Yogavásisthasara, T.23.
Jvalámukhistotra, T.8.
(Jvalapastava), T.9.
Jválástotra,
K
Kalidasa
s. (zu) Jvalámukhistotra, T.8.
(Káthaka-Samhitá 2,1,If.)
s. zu Samdhyopásanamantráh, T.2.
(Káthaka-Samhitá 2,1,If. 4,13,1.23,12,E.)
s. zu Snánavidhi, T.l.
Káthaka-Samhitá 17,11 —16: Rudrá-
dhyáya [KS],nebstBeifügungen, T.12.
Kavisekhara
s. Kulasekhara: Mukundamálá, T.23.
Kllakastotra
s. zu Márkandeyapurána 81—93: De-
vimáhátmya, T.10.
Krsna (Pandita)
s. zu Krsnaka Pandita: Mahárájñi-
stava, T.7.
Krsnaka Pandita: Mahárájñístava, T.7.
Kulasekhara: Mukundamálá, T.23.
Kulesvara,
Kulisekhara
s. Kulasekhara: Mukundamálá, T.23.
Kumárila Bhatta
s. zu Puspadanta: Mahimnahstava
T.13. '
L
Laksmistotra, T.6.
Lañkesvara: Gaurlsvarastotra, T.18.
Liñgástaka, T.l5.
86
Klaus Ludwig Janen
M
Mahäbhärata 6,25—42: Bhagavadgitä,
nebst Mälämantra, T.26.
Mahädevastava
s. zu Puspadanta: Mabimnahstava,
7.13. '
Mahäganapatistotra, T.3.
Mahälaksml-
s. Laksmi-
Mahesvarastotra
s. Näräyana Bhatta: Stavacintämani,
7.22.
Mahimnahpärastava
s. Puspadanta: Mabimnahstava, 7.13.
Mabimnahstava
s. Puspadanta, 7.13.
Mahimnäkhyastotra
s. zu Puspadanta: Mabimnahstava,
7.13. '
Maiträyanl Samhitä 2,9,1,A.
s. zu Käthaka-Samhitä 17,11 —16:
Rudrädbyäya [KS], usw., 7.12.
Mälämantra
s. Mahäbhärata 6,25—42: Bhaga-
vadgitä, usw., 7.26.
Märkandeyapuräna 81—93; Devlmähä-
tmya, nebst Devlkavaca, Argalä- und
Kilakastotra, usw., 7.10.
(Mrtyumjayavidhäna)
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
Mukundamälä
s. Kulasekhara, 7.23.
N
(Namahsiväyapancacämarastotra)
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
Namaka
s. zu Käthaka-Samhitä 17,11—16:
Rudrädbyäya [KS], usw., 7.12.
Narakottäranastotra, 7.24.
Näräna Batta [T.22], in 7.27.
Näräyana Bhatta; Stavacintämani, 7.22.
(Näräyanastava)
s. zu Näräyana Bhatta: Stavacintä-
mani, 7.22.
NäräyanTstuti
s. zu Märkandeyapuräna 81—93; De-
vlmähätmya (Adhy.ll), 7.10.
Nirvänasthiti
s. zu Yogaväsisthasära, 7.25.
O
Omnamahsiväyastotra
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
P
(Pahcäksarästottarasatanämastotra)
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
Purusasükta (= RV 10,90,1—16)
s. zu Samdhyopäsanamanträh, 7.2.
Puspadanta; Mabimnahstava, 7.13.
R
Räjnistava
s. zu Krsnaka Pandita: Mahäräjhl-
stava, 7.7.
Ratnapancaka, Jvälämukhistotra
s. zu Jvälämukhistotra, 7.8.
Rgveda 1,22,16. 20f. 50,1. (114,8.) 3,8,4.
62,10. 4,40,5. 8,47,11. 61,13. 10,9,
1—4. 8. 28,4. 152,2f.
s. zu Snänavidhi, 7.1.
Rgveda 1,50,10. 115,1. 3,62,10. 4,39,6.
40,5. 7,66,16. 10,9,1—4. 8. 90,1—16.
97,16. 170,1. 190,1—3
s. zu Samdhyopäsanamanträh, 7.2.
Rgveda 1,99
s. zu Märkandeyapuräna 81—93: De-
vlmähätmya, usw., 7.10.
Rgveda 7,59,12 (= Tryambakamantra ?)
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
Rudrädbyäya [KS], nebst Beifügungen
s. Käthaka-Samhitä 17,11—16, usw.,
7.12.
Rudrakavaca, 7.21.
Rudramanträh
s. Käthaka-Samhitä 17,11 —16; Ru-
drädhyäya [KS], usw., 7.12.
Rudraprasna,
,Rudra-Upanisadc
s. zu Käthaka-Samhitä 17,11—16:
Rudrädbyäya [KS], usw., 7.12.
Rudrayämalatantra
s. Bhavänlsahasranämastotra, 7.4.
S
(Sadäsivalihgästaka)
s. Lihgästaka, 7.15.
Eine Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
87
Sambhostotra
s. Samkaräcärya: Siväparädhaksamä-
panastotra, T.16,
Samdhyopäsanamanträh, T.2.
Samkaräcärya
s. zu Jvälämukhistotra, T.8.
Samkaräcärya: Siväparädhaksamäpana-
stotra, T.16.
SaptasatI
s. zu Märkandeyapuräna 81—93: De-
vimähätmya, T.10.
Särikäsahasranäman
s. zu Särikästotra, 7.5.
Särikästotra, 7.5.
Satädhyäya,
Satarudriya
s. zu Käthaka-Samhitä 17,11 —16:
Rudrädhyäya [KS], usw., 7.12.
(Sivalihga-)
s. Lingästaka, 7.15.
Sivamahimnahstotra
s. zu Puspadanta: Mahimnahstava,
7.13.
Sivanirvänastotra, 7.20.
Siväparädhaksamäpanastotra
s. Samkaräcärya, 7.16.
Sivasadaksarastotra, 7.14.
Sivästaka, 7.17.
Sivastava
s. zu Puspadanta: Mahimnahstava,
7.13. '
Sivastotra
s. Sivästaka, 7.17.
Sivastotra
s. Sivasadaksarastotra, 7.14.
(Sivästottarasatanämastotra)
s. zu Sivanirvänastotra, 7.20.
Skandapuräna
s. Indräksistotramantra, 7.11.
Snänavidhi, 7.1.
Srlmadbhagavadgltä
s. zu Mahäbhärata 6,25—42: Bhaga-
vadgltä, usw., 7.26.
Stavacintämani
s. Näräyana Bhatta, 7.22.
[Sücipattra], 7.27.
(Sundaristava)
s. Jvälämukhistotra (Str.9), 7.8.
T
(Tryambakamantra = RV 7,59,12 ?)
s. zu Käthaka-Samhitä 17,11—16:
Rudrädhyäya [KS], usw., 7.12.
V
Väsisthasära
s. zu Yogaväsisthasära, 7.25.
Vighnesvaradvädasanämastotra
s. zu Mahäganapatistotra, 7.3.
Vyäsa
s. Rudrakavaca, 7.21.
Vyäsa
s. Sivanirvänastotra, 7.20.
Y
Yogaväsistharämäyana
s. zu Yogaväsisthasära, 7.25.
Yogaväsisthasära, 7.25.
Zu den zitierten Katalogen
Für die Kataloghinweise wurden (statt Siglen) leicht auflösbare Abkürzungen der
Stücktitel (gemäß den Ordnungswörtern) benutzt. Dazu die Ergänzungen:
Adyar Library s. (Madras). — Bengal: Descr.Cat.Skt.Ms.(Gov.Coll.R.)As.Soc.
Bengal, by Fiaraprasad Shastri, 1.1917ff. — (Bengal): Rajendralala Mitra(, Harapra-
sad Shastri), Notices of Skt.Ms., publ. under Order of the Gov. of Bengal, 1.187Iff. —
Berlin: A. Weber, 1.1853f. — Cat.Cat.: Th. Aufrecht, Catalogus Catalogorum, 1.1891
ff. — Florenz: Th. Aufrecht, 1892. — 7.0. (= Library of the India Office) s. Lon-
don. — Leipzig: Th. Aufrecht, 1901. — London: I.O., ... Ms. ed. by J. Eggeling,
88
Klaus Ludwig Jancrt
E. Windisch; A. B. Keith, F. W. Thomas, Vol.l—2.1887—1935; ... Books by P.
Natha, J. B. Chaudhuri; C. J. Napier, 1938—57. — Madras: (Gov.Or.Ms.Library)
Descr.Cat. . . ., by M. Seshagiri Sastri, M. Rangacharya; S. Kuppuswami Sastri,
1.1901 ff.; Triennial Cat., by M. Rangacharya, S. Kuppuswami Sastri, 1,1 ,A. 1913ff.
— (Madras): Adyar Library, Descr.Cat. . . ., by . . ., under the supervision of C. Kun-
han Raja, 1.1942ff.,; Alph.Index . . ., by V. Krishnamacharya, u. the s. of C. Kunhan
Raja, 1944. — [Marburg-Lahn: Westdeutsche Bibliothek (Sammlungen der ehern.
Preuß. Staatsbibi.).] — München: Th. Aufrecht, J. Jolly, 1909—12. — Ra].Mitra:
Notices s. (Bengal). — Tübingen: Verz.(d.)ind.Hs.d.Kgl.Univ.Bibl., von; R. Roth,
R. Garbe, 1865—99. — [Westdt.Bibl. s. Marburg-Lahn.]
Zu den Aufnahmen
Vgl. W. Schubring: Die Jama-Handschriften der Preußischen Staatsbiblio-
thek ('Verzeichnis der Handschriften im Deutschen Reich, 3,1,1), 1944,S.V—IX(ff.);
W. Voigt : Katalogisierung der orientalischen Handschriften in Deutschland, in:
Jahresbericht 1957/58, Westdeutsche Bibliothek (ehern. Preußische Staatsbibliothek),
S. 67—76 (S.71 ff.: Merkblatt für die Katalogisierung). — Die vorliegende Arbeit folgt
grundsätzlich den in diesen Veröffentlichungen niedergelegten Katalogisierungs-
prinzipien.
Klammern: (Korrektur), [Ergänzung], (Überflüssiges). Schreiberwidmungen usw.
(namah siväya o. ä.): ~ . Die Umschrift der Nasale sowie der Kolophone ist buch-
stabengetreu; Visarga vor Sibilanten nach Befund.
<Vgl. 2 ähnliche Sär.-Hs.: Univ.Bibi.Tübingen Nr.l82-M.a.I.399-F.; Istituto di
Studi Superiori, Florenz 430(14) = „India Museum 2024“. Beide sind in den Kata-
logen nach den Angaben der Kol. verzeichnet ! >
TAFEL VI (Beitrag Rau)
Miniatur Nr. 22
Miniatur
Nr. 33
Miniatur Nr. 32
Alle Miniaturen sind im
Maßstab 11:10 wiedergegeben
//.
Heimo Rau
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums
Die Sanskrit-Sammelhandschrift 119 399 des Linden-Museums enthielt 55 Minia-
turen. Der Vorbesitzer, der die Handschrift in Srinagar erwarb, numerierte 50 davon,
5 scheinen also schon beim Kauf gefehlt zu haben. Bis auf 7 Blätter, die im Verband
der Handschrift blieben, löste er die Miniaturen heraus. Von diesen 43 herausgenom-
menen Miniaturen befinden sich aber nur 38 im Linden-Museum, 5 müssen also ander-
weitig veräußert oder in der Hand des Vorbesitzers verblieben sein. Die Seitenzählung
wurde erst nach Herauslösung der Miniaturen durchgeführt; daher tragen die in der
Handschrift gebliebenen Miniaturen eine laufende Seitenzahl, die herausgeschnittenen
mußten für die Zwecke dieser Bearbeitung mit eingeschalteten Nummern versehen
werden (z. B. Bl. 18 av, Bl. 18 bvh um ihre Stellung innerhalb der Sammelhandschrift
fr T’y9t *r-wr
90
Heimo Rau
Die Rahmenhorten
In bezug auf die ornamentale Umrandung des Bildfeldes ergeben sich schon bei
der ersten Durchsicht zwei Gruppen von ungleicher Zahl (I und II). Beiden Gruppen
gemeinsam ist die äußerste Umrandung mit einer schwarzen, dann einer roten, dann
wieder schwarzen Linie. Weiter innen folgt dann eine rote Punktleiste auf gelbem
Grund. Der sich daran anschließende ornamentale Rahmen ist bei beiden Gruppen
verschieden breit und verschieden in der Ausgestaltung. Er wird aber bei beiden, ehe
das eigentliche querrechteckige Bildfeld beginnt, von der gleichen roten Punktleiste auf
Gelb wieder abgeschlossen.
Gruppe I führt auf Goldgrund eine einfache, schwarz gezeichnete Wellenlinie
durch. Jedes Biegungsfeld wird mit einem grünen Blatt und einer Blüte gefüllt, die im
Wechsel ziegelrot und violett gefärbt ist. Für die Form der Blüten finden sich vier
Varianten, die von Miniatur zu Miniatur verschieden sein können. Auf einer Miniatur
wird aber stets nur dieselbe Spielart angewendet. Die vier Varianten zeigen
a) einen zweiblättrigen Kelch von der Seite,
b) einen dreiblättrigen Kelch von der Seite,
c) eine buschige Dolde von der Seite,
d) eine strahlige Blüte von oben.
Die Breite der Rahmenborte beträgt 7,5—9 mm. Nur bei 6 findet sich eine reichere
und breitere Ausführung derselben Borte. Von den vorliegenden Miniaturen gehören
40 dieser Gruppe an.
Gruppe II zeigt auf rotem oder gelbgrünem Grund eine goldene Wellenranke,
die verschiedentlich größere und kleinere Blätter ansetzt und die freien Beider mit
großen, von oben gesehenen Blüten füllt, die sechs runde Blumenblätter aufweisen.
Dies wird alles einheitlich in Gold ausgeführt. Der Rahmen wirkt daher nicht so bunt
wie bei I, sondern tritt dezent gegenüber der Bildwirkung zurück. Die lebendig flie-
ßenden Ornamente sind mit sicherer Biand vielgestaltiger und feiner ausgeführt als
bei I. Bei 2 verzichtet die Wellenranke auf die Entwicklung von Blüten und beschränkt
sich auf eine um so reichere Blattentfaltung der Arabeske. Dieselbe Arabeske erscheint
verkleinert als Teppichumrandung bei 55 auf der Miniatur selbst, deren Rahmenborte
zu I gehört. Die Breite der Borte beträgt bei Gruppe II etwas über 10 mm. Nur vier
Miniaturen zählen zu dieser Gruppe (2, 3, 16, 33).
Die Miniatur 1, von der schon bei der Besprechung der Technik die Rede war, läßt
sich als einzige keiner von beiden Gruppen zuordnen. Ihre nur in Rot vorgezeichnete
und nicht farbig ausgeführte Rahmenborte zeigt eine Wellenranke mit ausschwingen-
den lanzettförmigen Blättern, ein Motiv, das sich weder für I noch für II als Vor-
zeichnung erkennen läßt. Die Breite beträgt rund 5 mm.
Aufteilung der Bildfläche
Die Miniaturen zeigen eine regelmäßige, in wenigen Varianten stereotyp wieder-
kehrende Aufteilung des querrechteckigen Bildfeldes innerhalb der Rahmenborte. Bei
den meisten zog der Maler zunächst eine horizontale Mittellinie, und zwar genau in
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 91
der Mitte, bei Gruppe I, wo die Bildhöhe durchschnittlich 30 mm beträgt, in 15 mm
Höhe, bei Gruppe II, wo die Bildhöhe durchschnittlich 35 mm beträgt, entsprechend
höher. Die Fläche unter der Mittellinie gibt den Boden an, die Fläche darüber enthält
die Andeutungen alles dessen, was sich über der Erde erhebt, wie Gebäude, Berge u. ä.
Diese Horizontallinie wird bei der Ausführung hervorgehoben, indem unter ihr ein
gelbgrüner Streifen über das Bild gezogen wird, dessen Breite ein Zehntel der Gesamt-
höhe des Bildfeldes beträgt.
Bildgrund A: Die einfachste Bildaufteilung sieht dementsprechend so aus,
daß sich unterhalb und oberhalb des Mittelstreifens einheitliche breite Farbflächen hin-
ziehen. Sie empfiehlt sich dem Maler, wenn er auf diesem Grunde mehrere Figuren
darzustellen hat und die Einheitlichkeit des Bildgrundes zusammenfassend wirken soll.
Die untere querrechteckige Fläche ist dann meist karminrot mit golden gezeichneten
Rauten und Blumen ausgefüllt, bei Gruppe II ohne diesen teppichartig wirkenden
Schmuck. Das obere Rechteck hat dann meist die Komplementärfarbe, ein sattes Grün.
So findet sich diese Aufteilung bei den Miniaturen 12, 13, 15, 18, 19, 24, 25, 30, 31,
36, 39, bei 47 und 48 mit leichten Varianten und bei 11 mit dem Unterschied, daß die
untere Fläche von Wasser mit Lotusblumen statt des Teppichs ausgefüllt ist.
Bildgrund B unterscheidet sich von A nur dadurch, daß an beiden Enden der
oberen querrechteckigen Fläche ein hochrechteckiges Architekturversatzstück mit ein-
gezeichnetem Nischenmuster steht, meist in violetter Farbe. Die Notwendigkeit für
solchen seitlichen Abschluß ergab sich, wenn nur eine Figur in der Mitte des Bildes zur
Darstellung kam. So bei 2, 4, 6, 7, 8, 27, 28, 32. Bei 34 sind die Farben rot unten, grün
oben vertauscht, damit das Blau der Mittelfigur besser vor dem Hintergrund steht. Bei
10 und 43 wird die untere Bildhälfte wieder von Wasser, das durch Silberfolie wieder-
gegeben wird, und Lotusblumen eingenommen. Aus dem Inhalt der Darstellung ergibt
sich gewöhnlich keine Notwendigkeit zur Anbringung solcher Architekturnischen.
Maßgebend ist die formale Forderung einer befriedigenden Flächenaufteilung.
Bildgrund C unterscheidet sich von A dadurch, daß die obere Fläche durch
verschiedenfarbige Berge ausgefüllt wird. Wieder erklärt sich die Gestaltung des Bild-
grundes in erster Linie aus der formalen Notwendigkeit, daß die Farben verschiedener
Gestalten verschiedenfarbige Hintergründe brauchten, um zur Wirkung zu kommen.
So bei 1, 14, 33, 37, 50, 51, 52, 54, 55. Bei 21 und 26 werden die Berge an einer Seite
bis zur Fußleiste des Bildes heruntergezogen. Bei 41 und 42 ist die untere Bildhälfte
mit Wasser und Lotusblumen ausgefüllt. Bei 16 ergibt sich eine Verbindung von B
und C (Architektur und Berglandschaft), weil das Bild ohne Hinzufügung der Nischen
zu leer gewesen wäre.
Dieser stereotypen Bildaufteilung mit drei Variationsmöglichkeiten entziehen sich
nur sechs der vorliegenden Miniaturen. Vier davon (3, 5, 17, 23) bilden eine Gruppe
für sich. Es sind Darstellungen der auf dem Löwen reitenden Durgä, wobei die Göttin
wie in einem Tal zwischen rechts und links ansteigenden Hügeln dahinreitet. Bei 22,
dem Kampf der Durgä gegen den Büffeldämon Mahisa, sind Elemente der beschrie-
benen Bildaufteilungen bunt gemischt. Bei 35 ergibt die geforderte Palastdarstellung
eine etwas andere Zusammensetzung der bekannten Bausteine.
92
Heimo Rau
1. M+ (1 a) 17v Visnu verehrt von Hanuman (Tafel III)
45 : 81 / 35 : 72 mm. (Die erste Maßangabe bezieht sich auf die ganze Miniatur, die
zweite auf das Bildfeld ohne Rand.) Das Blatt ist als einziges der Handschrift ein-
geklebt. Der ornamentale Rahmen mit Wellenranke und lanzettförmigen Blättern
wurde nur in Rot vorgezeichnet und offensichtlich nicht vollendet. Links sitzt Visnu
über einem violetten Teppich auf goldenem Thron, blau von Körperfarbe, gekrönt
und bekleidet mit gelber dhotl. Seine vier Arme halten die üblichen Attribute: Mu-
schel, Keule, Lotus, Diskus. Rechts kniet Hanuman, der Affenkönig des Rämäyana,
Repräsentant des ergeben dienenden, treuen Gläubigen schlechthin, auf karminrotem
Teppich, Hände in anjali, mit Krone und Goldschmuck und hochgeschwungenem
Schwanz. Schnauze und Hände sind wie die dhoti ziegelrot, der übrige Körper violett
gefärbt. Bildgrund C: Die beiden über einem weißen Mittelstreifen nach den Seiten zu
ansteigenden Berge sind im Kontrast zu den Körperfarben hinter Visnu ziegelrot,
hinter Hanuman grün gemalt und an den Kanten mit kleinen schwarzen Büschen besetzt.
2. M+ (1 b) 18v Das Haupt des Rahn (Tafel III)
57 : 99 / 36,5 : 76,5 mm. Randborte II. Großes blaues Haupt mit dreizackiger
Goldkrone, die den Rahmen überschneidet, ruht auf dem roten Polster eines gold-
füßigen Thrones. Um den Hals ringelt sich eine nach links züngelnde weißgraue
Schlange. Die ringgeschmückten Ohren stehen breit ab. Ein kleiner Schnurrbart ziert
die Oberlippe, auf der Stirn kreuzt ein senkrechter roter einen waagerechten gelben
Strich. Bildgrund B. Der Asura Rähu schlich sich in die Versammlung der Götter, um
in ihrer Runde den Unsterblichkeitstrank zu genießen. Als er gerade einen Schluck
genommen hatte, erkannte ihn Visnu und schlug ihm das Haupt ab. Dieses war aber
bereits unsterblich geworden. Seitdem jagt es hinter dem Mond her und verursacht,
indem es ihn verschlingt, die Mondfinsternisse. Aus der durchschnittenen Kehle tritt
das Gestirn aber immer wieder unversehrt hervor. (Vgl. Zimmer, Heinrich, Mythen
und Symbole in indischer Kunst und Kultur, Zürich 1951, S. 195 f. sowie die dort
angeführte Literatur.)
3. M~ (o) 18 av Durgä auf dem Löwen (Tafel IV)
56,5 : 96,5 / 35 : 75 mm. Randborte II. Zweiarmige Durgä mit Rosenkranz ohne
weitere Attribute, geschmückt mit Perlenketten und einer Goldkrone, die in die Rah-
menleiste hineinragt, reitet auf ihrem gelben Löwen (Simhini). Die weiblichen Formen
werden nicht betont. Natürliche rötliche Körperfarbe, ziegelrote, goldgepunktete
dhotl. Der Löwe ist mit sicherer Hand gezeichnet, besonders der lange, schön geschwun-
gene Schwanz. Mähne und Bauch sind weiß, das gelbe Fell wird durch schwarze Striche
belebt, so daß der „Löwe der Devi“ hier wie auf anderen Blättern einem Tiger
ähnelt. Die Göttin sitzt auf violetter, mit Goldranken gezierter Satteldecke. Sie er-
scheint auf grünem Hintergrund wie im Tal zwischen zwei Hügeln, die in violetter
Farbe aus unregelmäßigen schematischen Bergformen zusammengesetzt und an den
beiderseits ansteigenden Kanten mit kleinen schwarzen Büschen bewachsen sind. Zur
Ikonographie der Devi vgl. Zimmer a. a. O. S. 210 ff.
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 93
4. M~ (1) 18 bv Brahma
47 ; 76 / 32 : 60 mm. Randborte I b. Brahma, bartlos, vierköpfig mit vierzackiger
Krone, vierarmig mit Opferkelle und zwei Codices als Attributen, thront auf
violettem Lotus über dem weißgrauen, rotgeschnäbelten Hamsa. Rosa Körperfarbe,
ziegelrote goldgepunktete dhotl. Rechts kniet eine Frau, Hände in ahjali, mit ziegel-
roter dhotl und goldenem Kopftuch, das den Oberkörper teilweise bedeckt und den
Rücken herunterhängt. Bildgrund B, unten karmin mit Goldrauten, oben grünes Mit-
telfeld mit schwarzen Büschen, flankiert von violetten Rechtecken mit goldenen Ni-
schenmustern.
5. M~ (2) 33 av Fiinfköpfiger Sadasiva auf Hamsa (Tafel 111)
48 : 76 / 32 : 60 mm. Randborte I c. Die Gottheit thront in roter goldgepunkteter
dhotl auf violettem Lotus über dem weißgrauen Hamsa. Sie zeigt fünf Köpfe, jeden
mit Stirnauge, in den Farben weiß, rot, golden, blau weiß (von links nach rechts) durch
achtzackige Krone zusammengefaßt, die zehn Arme halten als Attribute eine goldene
Blume (?), Elefantenstachel, Dreizack, Schlinge, Muschel und violette Lotusblüten. Der
fünfköpfige Siva (pancamukha) wird seltener dargestellt als der drei- und vierköp-
fige. Ein Beispiel befindet sich unter den Skulpturen von Elephanta (vgl. Coomaras-
wamy, A. K,, Visvakarmä, London 1914, Taf. XLIII; Diez, Ernst, Die Kunst Indiens,
Potsdam s. a., Abb. 152). In der Fünfköpfigkeit spiegeln sich wohl die Fünf Tätig-
keiten (paheakrtya) Sivas: Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung, Fleischwerdung, Erlö-
sung (vgl. Coomaraswamy, A. K., Geschichte der indischen und indonesischen Kunst,
Leipzig 1927, S. 142, und die dort angegebene Literatur). Hamsa als vähana kommt
sonst Brahma zu. Zwei Verehrer knien zu den Seiten, links in roter, rechts in gelber
dhotl, beide mit ziegelroten Kappen und jeweils durch ein Tuch verhüllter rechter
Hand. Bildgrund C mit beiderseits aufsteigenden Hügeln, links hellgelb, rechts dun-
kelgelb, an den Kanten mit schwarzen Büschen besetzt.
6. M+ (2 a) 70v Gane'sa (Tafel V)
57,5 : 87 / 32 : 60 mm. Auffallend reich ausgeführte Randborte der Gruppe I:
Das Goldband mit grünen Blättern und abwechselnd ziegelroten und violetten Blüten
ist wellenförmig geschwungen, so daß Ein- und Ausbuchtungen entstehen; außen zie-
gelrot mit je drei grünen Blättern (drei an den Schmal-, vier an den Langseiten);
innen blau mit weißen Wellenmustern und je einer ziegelroten dreizipfeligen Kelch-
blüte und drei grünen Blättern (an den Schmalseiten je zwei, an den Langseiten je
drei). Das Bild in der Mitte erscheint so wie auf einer von Wasser umgebenen Insel.
Ganesa thront auf zwei Tigern (anstatt Ratten), einer von ihnen hebt den Schweif,
der andere läßt ihn schleifen. Er trägt goldene dhotl und violetten Schal, um den Hals
eine Schlange und am ziegelroten Elefantenkopf (auf grünem Grund) einen weißen
Zahn, Stirnauge und dreizackige Krone. In den vier Armen hält er als Attribute den
Rosenkranz, den anderen (abgebrochenen) Zahn, Axt und reisgefüllte Schale. Links
kniet eine Frau, Hände in ahjali mit ziegelroter dhotl und goldenem Schal. Bild-
grund B. Auf diese Miniatur folgt im Text das Ganesastotra.
94
Heimo Rau
7. M (3) 78 av Durga auf dem Löwen (Bhavani)
47 : 78 / 30 : 61 mm. Randborte I a. Durgä sitzt auf der karminroten Satteldecke
ihres Löwen (Simhini), der mit hochgeschwungenem Schweife nach links schreitet. Die
Farben des I ieres sind orange und weiß, mit schwarzen Streifen. Die Göttin trägt eine
ziegelrote dhoti und lang herabfallendes schwarzes Haar unter der dreizackigen
Krone. Die vier Arme halten Schwert, Schlinge (? verwischt), einen goldenen Topf
und eine Schale. Bildgrund B. Auf die Miniatur folgt im Text Bhavänisahasranä-
mastotra, das die „Herrin“ mit ihren „tausend Namen“ anruft. Bhavänl ist einer der
vielen Namen der Durgä.
8. M (4) 80 av Durga
46:78 / 29:60 mm. Rahmenborte I b. Durgä mit Stirnauge und dreizackiger
Krone, den schmalen weißen Sichelmond vor der Stirn, thront in ziegelroter dhoti auf
violettem Lotus. Darunter liegt ein Mann mit schwarzem Haarknoten und ziegelroter
dhoti, die Hände in anjali zur Göttin erhoben. Ihre vier Arme tragen Schwert, Speer
und zwei andere Attribute, die verwischt oder übermalt sind. Bildgrund B, unten
karminrot mit Goldblumenreihen, oben grünes Mittelfeld mit schwarzen Büschen,
flankiert von lachsroten Nischen.
9. M~~ (5) 89 a fehlt
10. M~ (6) 93 av Die Flußgöttin Gahgä (Tafel IV)
48 : 76 / 32 : 60 mm. Randborte I d. Gahgä thront in ziegelroter dhoti auf violet-
tem Lotus, vor dem Kopf mit der dreizackigen Krone der schmale weiße Halbmond.
In ihren vier Armen hält sie Rosenkranz, Lotusblüte, den goldenen Beutel, da
sie Glück und Segensfülle spendet wie Laksmi, und ein kleines goldenes Kästchen.
Ihr Lotussitz schwimmt auf dem Wasser, das durch Silberfolie wiedergegeben ist.
Darunter schwimmt ein großer weißgrauer Fisch, sonst wird ihr meist das krokodil-
köpfige Fabeltier makara beigegeben. Auf dem Wasser grüne Blätter und violette
Blütentupfen von Lotosblumen. Bildgrund B.
11. M (7) 99 av Die Flußgöttin Yamuna
49 : 76 / 32 : 60 mm. Randborte I c. Yamunä in ziegelroter dhoti thront auf violet-
tem Lotus wie Gahgä als Flußgöttin über dem Wasser, das durch Silberfolie matt-
glänzend wiedergegeben wird und von Lotusblumen bedeckt ist. Unter ihr hockt ein
krötenartiges, aber geschwänztes Wasserungeheuer in schmutzigem Gelb (eine Art
makara), das als Schildkröte auf 42 wiederkehrt. Sie trägt eine dreizackige Goldkrone,
darunter das Stirnauge und davor der schmale weiße Sichelmond. In den vier
Händen sind als Attribute zu erkennen eine violette Lotusblume und goldene Schlin-
gen (?). Bildgrund A, oben durchgehend grün mit spitzen schwarzen Bäumchen am
unteren Rand, sozusagen am Ufer des Flusses. Der Gesamteindruck ist durch braune
Stockflecken gestört.
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 95
12. M~ (8) 115 av Sarasvati (Tafel IV)
48 ; 78 / 32 : 62 mm. Randborte I a. Auf die beiden Flußgöttinnen Gangä und
Yamunä folgt die dritte im Bunde der üblichen Flußgöttinnentrinität: Sarasvati.
Da sie aber zugleich Göttin der Beredsamkeit und Weisheit ist, tritt der
Flußgöttinnencharakter zurück. Sie wird nicht über dem Wasser thronend dar-
gestellt wie die beiden anderen. Weiß von Körperfarbe und mit goldener Krone sitzt
sie mit ihrem violetten Lotus auf dem Rücken eines Hamsa. In der Regel ist ihr ein
Pfau als vähana zugeordnet. Vielleicht hatte der Maler, der ja mit vorgezeichneten
Mustern arbeitete (vgl. den Fisch der Gangä und das Krötenungeheuer der Yamunä),
nur den einen Vogeltyp zur Verfügung, jedenfalls wird durch den Hamsa die Ver-
wandtschaft der Göttin mit Brahmä unterstrichen. Die vier Hände der Göttin halten
einen Codex (wie Brahmä), den Stachel und eine violette Lotusblume. Sie trägt eine
weiße, goldgepunktete dhoti und langes schwarzes Haar. Rechts steht ein König,
Hände in anjali mit ziegelroter dhoti und dreizackiger Goldkrone. Bildgrund A,
unten karminrot mit Goldrauten, oben grün mit schwarzer Buschreihe.
13. M~ (9) 133 av Achtzehnarmige Durgä auf dem Löwen
48 : 78 / 33 : 62 mm. Randborte I a. Da sie mit ihren Kräften der Dämonen nicht
mehr Herr wurden, gaben die Götter der Durgä ihre Waffen, Visnu seine Keule, Siva
seinen Dreizack, Brahmä den Veda-Codex usw. In der achtzehnarmigen Devi Simhinl
verkörpert sich die vereinigte Kraft der gesamten Götterwelt. Außer den genannten
Attributen trägt sie das Schwert, den Stachel, die Lotusblüte, die Muschel, den Rosen-
kranz, Bogen und Trommel. So reitet sie auf dem orangefarbenen Löwen, der eine
violette Satteldecke trägt, gekrönt und mit dem Stirnauge und der, um den Hals geleg-
ten, Schlange Sivas versehen, den Dämonen entgegen, um die Welt vor dem Verderben
zu retten. Zwei Götterkönige in anjali stehen ihr zu Seiten, stellvertretend für das
Götterpantheon, das sie bei anderen Miniaturen desselben Themas umgibt, links in
ziegelroter, rechts in violetter dhoti. Bildgrund A.
14. M~ (10) 137 av Durgä
46 : 77 / 30 : 61 mm. Randborte I c. Durgä thront auf violettem Lotussitz mit
dreizackiger Krone, Stirnauge, ziegelroter dhoti und den Attributen Dreizack, Muschel,
Stachel und violetter Lotusblüte in den vier Händen. Vor ihr steht rechts eine ge-
krönte Gottheit mit ziegelroter dhoti, Hände in anjali. Bildgrund C, links ein grüner,
rechts ein gelber Hügel, dazwischen ziegelroter Zwickel.
15. M~(ll) 174 av Durgä verehrt von Brahmä (Tafel V)
47 : 77 /30,5 : 61 mm. Randborte I b. Durgä thront auf violettem Lotussitz mit
dreizackiger Krone, ziegelroter dhoti, undeutlich gezeichnetem Stirnauge und den
Attributen Dreizack, Muschel, Schwert, violettem Lotus in den vier Händen. Rechts
steht Brahmä in ziegelroter dhoti, vierköpfig ohne Bart, vierarmig, in anjali (zwei
Hände zusammengelegt) und mit dem Codex. Bildgrund A.
Nach dieser Miniatur beginnt im Text das Devimähätmya des Märkandeya-
Puräna (81—93), das der Länge und Bedeutung nach ein Hauptstück der Sammel-
96
Heimo Rau
Handschrift darstellt, dem nur noch die Bhagavadgitä am Ende des Manuskriptes
gleichkommt. So setzt sich in den Miniaturen die schon begonnene Reihe der Durgä-
Darstellungen fort. Sie illustrieren die Allmacht der Devi, die von den anderen Göt-
tern verehrt wird, und ihre Taten, die Vernichtung der Dämonen.
16. M~(12) 185 av Durgä verehrt von kniender Gottheit
58:99 / 37:78 mm. Randborte II, Goldarabesken auf gelbgrünem Grunde.
Durgä thront, die dreigezackte Goldkrone auf langem schwarzem Haar, in ziegelroter
dhotl und mit den Attributen Schwert, Dreizack, violetter Lotusblüte und Muschel in
den vier Händen auf violettem Lotussitz. Hinter ihr erhebt sich ein dunkelvioletter
Fels (? Kissenlehne). Eine Gottheit mit dreizackiger Goldkrone kniet rechts vor ihr in
goldgepunkteter dhoti und lang nach hinten schwingendem goldenem Schal, die Hände
in anjali zusammengelegt. Bildgrund B und C kombiniert: unten karmin, oben rechts
und links violette Nischenarchitektur, dazwischen rechts brauner Berg mit Büschen,
links grüner Himmel. Die Gestalten sind flott und sicher gezeichnet, wie es der
Gruppe II eigentümlich ist.
17. M~ (13) 185 hv Durgä Simhint besiegt Sumbha und Nisumhha (Tafel V)
47 : 77 / 30 : 59 mm. Randborte I. Durgä reitet in ziegelroter dhotl auf ihrem
Löwen wie in einem Tal auf dunkelgrünem Grund, links ein roter, rechts ein gelb-
grüner Berg mit Büschen. Vor ihrem Haupt mit langem schwarzem Haar und drei-
gezackter Goldkrone der schmale Sichelmond. Ihre vier Hände halten Lotusblume,
Schlinge, Dreizack und Schwert. Der orangefarbene Löwe mit weißer Mähne
und weißem Bauch trägt eine karminrote Satteldecke. Vor dem roten Berg steht mit
erhobenem Schwanz ein gelbgrüner Dämon in ziegelroter dhoti, sein gehörnter Kopf
liegt abgeschlagen vor ihm, zwischen seinen Füßen der schwarze (Moghul-) Schild.
Hinter der Göttin vor dem gelbgrünen Berg stürzt ein hellhäutiger Dämon kopfüber
zu Boden. Sein schwarzer Schild liegt unten. Auch er ist gehörnt und mit ziegelroter
dhoti bekleidet.
18. M~(14) 202 av Durgä verehrt von Visnu
46 : 77 / 30 : 60 mm. Randborte I b. Durgä thront auf violettem Lotussitz mit
langem schwarzem Haar, dreizackiger Krone, Stirnauge, ziegelroter dhoti und den
Attributen Muschel, Dreizack, Stachel, Lotusblume in den vier Händen. Rechts steht
Visnu, von blauer Hautfarbe, mit dreizackiger Krone und gelber dhoti, zwei Hände
in anjali zusammengelegt, in den beiden anderen Lotusblume und Muschel. Bildgrund
A wie üblich, unten karminrot, oben einheitlich dunkelgrün.
19. M~ (15) 207 av Durgä verehrt von Siva
47 : 77 / 31 : 61 mm. Randborte I c. Durgä wie auf 18 mit den Attributen Stachel,
Dreizack, Goldblume (?), Lotus. Rechts steht Siva, weißhäutig mit dem Haarknoten
der Asketen, Sichelmond, Schlangenhalsband und Stirnauge in gelber dhoti, zwei
Hände in anjali zusammengelegt, in der anderen linken Dreizack mit langer weißer
Schärpe. Bildgrund A.
>•*
TAFEL Vili (Beitrag Rau)
Miniatur Nr. 42
Miniatur Nr. 47
Miniatur Nr. 50
Alle Miniaturen sind im
Maßstab 11 ; 10 wiedergegeben
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Muse ums 97
20. M—(16) 212 av fehlt
21. M~ (17) 233 av Durgä besiegt einen Dämon
48 : 77 / 31 : 61 mm. Randborte I c. Durgä thront auf violettem Lotus mit drei-
zackiger Krone, langem schwarzem Haar, Stirnauge, ziegelroter dhotl und den Attri-
buten Muschel, Stachel, Lotusblume. Von rechts stürzt gehörnter und geschwänzter
braunhäutiger Asura in ziegelroter Hose mit ausgebreiteten Armen der Göttin zu
Füßen. Bildgrund C: Karminroter Teppich mit Goldblumen nur für die DevI, hinter
ihr ziegelroter Berg mit Büschen; hinter dem Asura grüner buschbesetzter Berg, der
bis zum unteren Bildrand reicht; im Zwickel dazwischen gelber Himmel.
22. M~ (18) 250 av Durgä Mahisäsuramardinl (Tafel VI)
47 : 79 / 32 : 68 mm. Randborte I a. Von rechts reitet Durgä auf dem Löwen ein-
her auf violettem Felsboden vor einem grünen Berg, unten Büsche, ganz rechts gelb-
grüner Boden. Gekrönt und in ziegelroter dhotl, vierarmig, trägt sie Lotus, Dreizack
und Muschel. Von links stürmt Mahisa, der Büffeldämon, herein mit graublauem
Stierkörper, Stierschwanz, Stierhufen und ziegelroter, gelbumrandeter Satteldecke.
Es ist die Phase des Kampfes wiedergegeben, in der Durgä den büffelgestaltigen
Dämon enthauptet hat und aus seinem Rumpf als neue Verwandlung des gefährlichen
Gegners seine menschengestaltige Erscheinung auftaucht. Merkwürdigerweise ist der
Vorgang der Enthauptung und Verwandlung auf der Miniatur so verschliffen, daß
der Dämon wie ein stierleibiger Zentaur aussieht, der mit Schwert und Schild auf die
Göttin eindringt. Den Bildgrund hinter Mahisa bildet unten goldgeblumtes Karmin-
rot, oben gelber Himmel.
23. M+ (18 a) 262v Durgä auf dem Löwen
47 : 79 / 31 : 62 mm. Randborte I a. Durgä reitet auf grünem Grund zwischen
buschbesetzten Hügeln, die beiderseits aufsteigen, links gelbgrün, rechts ziegelrot.
Gekleidet in Krone und ziegelrote dhotl, thront sie auf ihrem Löwen mit Schwert,
Lotusblume, Geldbeutel und Schale in ihren vier Händen. Das Besondere des Bildes
liegt darin, daß in den Ecken rechts und links unten die Scharen der besiegten Asuras
dargestellt werden durch übereinandergehäufte Tier- und Dämonenköpfe, die schwarz
auf rosa Grund gezeichnet sind.
24. M~(19) 274av Durgä verehrt von einer Gottheit
48 : 77 / 34 : 61 mm. Randborte I c. Durgä thront, gekleidet wie immer, auf dem
Lotus, ihre Attribute sind hier Muschel, Dreizack, Stachel, Lotusblume. Vor ihr steht
eine gekrönte Gottheit in ziegelroter dhotl, die Hände in anjali zusammengelegt.
Bildgrund A.
25. M~ (20) 295 av Durgä verehrt von einem knienden Krieger
46 : 78 / 30 : 61 mm. Randborte I b. Links thront Durgä auf violettem Lotussitz,
mit dreizackiger Krone, Stirnauge und langem schwarzem Haar, ein schattenhafter
weißer Sichelmond vor ihrem Gesicht. Sie ist sechsarmig und mit Schwert, Muschel,
8
98
Heimo Rau
Dreizack, Stachel, violetter Lotusblume und Schlinge ausgestattet. Rechts kniet ein
Krieger in Tracht und Bewaffnung der Moghulzeit, die Hände in anjali zusammen-
gelegt: Schnurrbärtiges Gesicht im Profil, goldener Helm, ziegelroter langer Mantel
(jäma), mit Goldborten, Oberarmborten und goldener Gürtelschärpe, nach links über-
geschlagen. Der schwarze Schild ist umgehängt, der pfeilgefüllte Köcher ragt rückwärts
hervor. Das große Schwert steckt in violetter Scheide. Bildgrund A.
26. M~ (21) 300 av Durgä mit weihrauchspendendem Asura
47 : 78 / 32 : 63 mm. Randborte I a. Links thront Durgä auf violettem Lotussitz,
mit langem schwarzem Haar, dreizackiger Goldkrone und ziegelroter dhoti. Anstatt
Stirnauge ein gelber Punkt. Die vier Hände halten Muschel, Dreizack, Schwert, violette
Lotusblume. Hinter ihr erhebt sich ein grüner Berg mit schwarzen Büschen. Der
Asura kniet rechts auf ziegelrotem Boden vor einem dunkelbraunen Berg. Der Zwickel
zwischen beiden Bergen ziegelrot. Er hat einen ziegelroten Oberkörper und eine
goldene dhoti, auch goldene Hörner auf dem schnurrbärtigen Kopf. Seine rechte Hand
umfaßt eine kleine Schale, aus der Weihrauch aufsteigt. Die mit Deckweiß aufgetrage-
nen Wölkchen werden erst über dem Dämon sichtbar, so daß es aussieht, als rauchte es
aus seinem Kopf. Die beiden Rauchfahnen steigen in die Höhe und über den Rand des
Bildes hinaus.
27. M~ (22) 312 av Durgä Simhirii verfolgt einen Asura
48 -.77 /31 : 60 mm. Randborte I c. Durgä auf dem Löwen wie 23, mit Schwert,
Schlinge, Lotusblüte, verfolgt einen dunkelbraunen Asura mit Goldhörnern und
ziegelroter dhoti. Bildgrund B.
28. M~ (23) 328 av Durgä besiegt zwei Asuras
47 : 78 / 30,5 : 61 mm. Rand I a. Durgä thront auf violettem Lotussitz vierarmig
mit den Attributen Schwert, Lotus, Dreizack, Muschel. Ihr zu Füßen liegt rechts und
links je ein Asura, dunkelbraun mit ziegelroter dhoti, geschwänzt und goldgehörnt.
Bildgrund B.
29. M~-(—) 341 av fehlt
30. M" (24) 355 av Durgä verehrt von stehendem Krieger
49 : 78 / 34 : 61,5 mm. Randborte I c. Links thront Durgä, gekleidet wie üblich,
vierarmig mit Lotusblume, Stachel und Dreizack. Rechts steht ein Krieger in Tracht
und Bewaffnung der Moghulzeit: Goldener Helm, fußlanges ziegelrotes Kleid (jäma)
mit Goldborten, auch am Oberarm, nach links geschlossen, mit goldener Schärpe als
Gürtel. Schwarzer Schild hängt über dem Rücken, die Pfeile des Köchers ragen hinten
hervor, das lange Schwert steckt in schwarzer Scheide. Seine Hände sind in anjali zu-
sammengelegt. Bildgrund A. Auf diese Miniatur folgt das Indräksistotramantra des
Skanda-Puräna, in dem Indra die Devi verehrt. So mag der Krieger mit Indra zu
identifizieren sein.
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 99
31. Mr (24 a) 361v Siva mit seinem Stier Nandi
48 : 77 / 32 : 61 mm. Randborte I c. Siva thront in der Mitte auf violettem Lotus-
sitz. Er ist weißhäutig, trägt gelbe dhotl und den Haarknoten der Büßer, um den Hals
die nach links züngelnde Schlange und auf der Stirn das dritte Auge. In den vier Hän-
den hält er eine violette Lotusblume, den Dreizack und die Schlinge. Die untere Linke
ist in abhayamudrä erhoben. Rechts liegt der weiße Stier Nandi mit goldenen Hör-
nern und goldenem Halsband, auf dem Rücken eine ziegelrote, gelbgrün und golden
umrandete Decke. Links kniet eine Lrau in der Zeittracht mit ziegelrotem Rock und
goldenem Kopf- und Brusttuch, die Hände in anjali. Bildgrund A. Auf diese Miniatur
folgt der dem Rudra (Siva) gewidmete Abschnitt der Käthaka-Samhitä (17, 11—16).
32. M~ (25) 386 av Siva auf dem Tigerfell (Tafel VI)
47 : 77/31 : 60 mm. Randborte I a. Siva thront blauhäutig mit gelber dhotl auf
violettem Lotussitz über einem ausgebreiteten Tigerfell. Das braune Haar fällt lang
den Rücken hinunter, das Stirnauge, die nach links züngelnde Schlange um den Hals,
der schmale weiße Sichelmond vor der Stirn kennzeichnen ihn. In den vier Armen hält
er Rosenkranz, Stachel, Dreizack und Schlinge. Bildgrund B. Auf diese Miniatur fol-
gen mehrere an Siva gerichtete Hymnen.
33. M~ (26) 415 av Ardhanänsvara (Tafel VI)
56 : 102 / 35 : 81 mm. Randborte II. Lür das im Text folgende Gaurlsvarastotra
des Lahkesvara bringt die Miniatur die mannweibliche Erscheinung des Siva, auf
dem Lotussitze thronend, zur Darstellung. Die rechte Körperhälfte zeigt den weiß-
häutigen, mit gelber dhotl bekleideten Siva, den braunen Büßerhaarknoten auf dem
Haupt, Schlinge und Dreizack in den beiden Händen. Die linke Körperhälfte zeigt
PärvatI (Durgä, Devi, Gaurl) mit rosa Körperfarbe, Goldkrone, langem schwarzem
Haar und ziegelroter dhotl, Lotusblume und ein goldenes Kästchen in den Händen.
Weibliche Körpermerkmale treten nicht in Erscheinung. Vgl. dagegen u. a. die Skulptur
in Elephanta (Rau, Heimo, Die Kunst Indiens, Stuttgart 1958, Taf. 95). Das Stirnauge
ist beiden Aspekten der Gottheit, die hier in einem Körper vereinigt sind, gemeinsam.
Links und rechts kniet je eine gekrönte Gottheit in ziegelroter dhotl mit goldenem
Schal, die Hände in anjali zusammengelegt. Bildgrund C, aber ohne Teppichmuster
auf dem Karminrot der unteren Hälfte, auf der oberen drei Berge, braun, grün, blau,
von links nach rechts. Die Buschreihe zieht nur unten über dem Mittelstreifen entlang,
nicht an den Bergkanten hinauf.
34. M~(27)423av Käll (Bhairavi) (Tafel VII)
48 : 76 / 32 : 60 mm. Randborte I d. Die blauhäutige Kali sitzt in ziegelroter dhotl
auf einem Toten mit gelbem Lendentuch. Sie trägt eine dreizackige Goldkrone auf
dem Kopf, eine Schlange und eine Kette aus fleischfarbenen Menschenschädeln um den
Hals. Stirnauge, tief herabgezogene Hakennase und tierartige Ohren kennzeichnen ihr
Gesicht, und das Grauenerregende dieses Aspektes der DevT. Sie ist sechsarmig, trägt
aber nur vier Attribute: Schwert, Dreizack, das Musikinstrument Vinä und einen Men-
100
Heimo Rau
schenschädel. Bildgrund B mit vertauschten Farben: unten grün mit Buschrand am
unteren Bildrand, über dem gelbgrünen Mittelstreifen ziegelrotes Mittelfeld zwischen
den beiden violetten Niscbenfassaden. Es folgt im Text das Bhairavastotra des
Abhinavagupta.
35. M~ (28) 428 av Visnu als Brahmanenknahe vor Indras Palast (?) (Tafel VII)
48 ¡78/31 : 61 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. nachgedunkelt. Randborte I a. Durch zwei rote Kuppeln, die den Bild-
rand übersebneiden, und durch ein Vordach nach links und zwei rechteckige Nischen-
felder, ziegelrot und violett übereinander, wird ein Palast im Moghulstile angedeutet.
Im Mittelfelde unter den beiden roten Kuppeln stehen Indra, schnurrbärtig, mit Gold-
helm und ziegelroter dhotl, und seine Gemahlin (?) mit dreizackiger Goldkrone
und gelber dhotl und weißer Haut. Indra hält eine goldene Kanne, aus deren Schna-
bel er Wasser gießt, um den Gast zu bewillkommnen, der vor hellgelbem Hintergrund
unter dem Vordach steht, ein blauhäutiger Knabe mit goldener Kappe und gelber
dhotl, in dem sich Visnu verkörpert. Vielleicht handelt es sich um die Erzählung des
Brahmavavarta-Puräna von Indras Palast (Krsna-jamna Khanda 47, 50—161).
36. Mv (28 a) 446v siva
46 ; 78 / 30 : 60 mm. Randborte I a. Links thront Siva auf violettem Lotussitz,
weißhäutig mit gelber dhotl, braunem Flaarknoten, Stirnauge, nach rechts züngelnder
Schlange um den Hals und vier Armen. Die beiden linken Hände halten Dreizack und
Lotusblume. Was die rechte obere hielt, ist nicht mehr zu erkennen. Die rechte untere
ist in abhayamudrä erhoben. Rechts kniet ein Mann in goldener Kappe und ziegel-
roter dhotl, die Hände in anjali. Bildgrund A.
37. M~ (29) 472 av Krsna spielt Ball mit zwei Gopls
45 ; 77 / 29 : 60 mm. Randborte I c. Krsna kniet in der Mitte auf einem vierfüßi-
gen goldenen Thron. Er ist blauhäutig und trägt eine gelbe dhotl, dreizackige Krone
und gelbes Stirnzeichen. In der Hand hält er einen weißen Ball. Zu beiden Seiten kniet
je eine Frau, links in ziegelroter dhotl, rechts in violetter, beide mit goldenen Kopf-
und Brusttüchern. Sie halten die Hände in anjali, was als Anbetung oder als Bereit-
schaft, den Ball zu fangen, gedeutet werden kann. Bildgrund C: Der Berg links ist
grün, der mittlere hinter dem blauen Krsna hellgelb, der Himmel ziegelrot. Es folgt
im Text die Mukundamälä des Kulasekhara, die auf das Leben Väsudevas (Krsnas)
in Vrndävana Bezug nimmt, wo er sich mit den Hirtinnen (Gopls) vergnügte.
38. M~~ (—) 486 av fehlt
39. Mv (29 a) 495V Guru lehrt den Krsna
46 ; 78 / 29 : 61 mm. Randborte I d. Links sitzt ein weißbärtiger Mann mit golde-
ner Kappe und gelber dhotl und lehrt mit ausgestrecktem Zeigefinger den rechts
knienden Krsna, der blauhäutig mit goldener Krone und goldener dhotl wiedergege-
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 101
ben ist und, die Hände in ahjali zusammengelegt, ein goldenes Gestell mit weißem
Codex vor sich hat. Bildgrund A. Im Text folgt das berühmte Yogalehrgedicht Yoga-
väsisthasära.
40. M~~ (—) 549 av fehlt
Im Text folgt nun die Bhagavadgltä. Die begleitenden Miniaturen sind Visnu ge-
widmet. Die Reihe beginnt mit den Avatäras Visnus, seinen Verkörperungen in den
verschiedenen Weltzeitaltern. Die ersten drei folgen in der üblichen Reihenfolge auf-
einander: Fisch, Schildkröte, Eber. Dann fehlen leider drei Miniaturen, auf denen
wohl weitere Avatäras dargestellt waren. So gelangt der Miniator in der Bilderfolge
vom Anfang der Welt zu Krsna, dem Helden der Bhagavadgltä, und zu Arjuna, der
von ihm belehrt wird.
41. M~ (30) 565 av Matsya-Avatära des Visnu (Tafel VII)
47 :76 / 31 ; 60 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I d. Visnu, der sich in Gestalt eines Riesenfisches
verkörperte (vgl. besonders Matsya-Puräna, Bhägavata-Puräna), um die Welt von
den Dämonen zu befreien, steigt siegreich in seiner göttlichen Gestalt aus dem Maule
des weißen Fisches auf: blauhäutig mit gelber dhoti, dreizackiger Krone und gelbem
Stirnzeichen, mit Diskus, Lotusblume, Keule und Muschel in den vier Händen. Ihm
gegenüber erhebt sich links ein weißhäutiger, goldgehörnter Asura mit ziegelroter
dhoti aus dem Rücken eines anderen weißen Fisches, schwingt sein Schwert über dem
schnurrbärtigen Kopf und deckt sich mit dem schwarzen Schild, den die Linke hält.
Die Überwindungskraft Visnus wird durch die Dynamik der überraschend senkrecht
emporschießenden göttlichen Erscheinung eindrucksvoll sichtbar gemacht. Die untere
Hälfte des Bildgrundes nimmt wie bei den Flußgöttinnen eine mit Silberfolie belegte
Wasserfläche ein, die mit den grünen Blättern und violetten Blüten des Lotus bedeckt
ist. Über dem gelbgrünen Mittelstreifen eine Buschreihe, dann links ein grüner Berg
(Hintergrund für den weißen Dämon) und rechts ein karminroter Berg (Hintergrund
für das Blau des Visnu), auf dem unten sogar einige Goldblumen wachsen. Der Him-
mel im Zwickel zwischen den Bergen ist ziegelrot. Eine ähnliche Miniatur aus Kasmir
zeigte die Ausstellung indischer Kunst in Zürich (aus Privatbesitz, Katalog Nr. 979).
42. M~ (31) 582 av Kürma-Avatära des Visnu (Tafel VIII)
48 : 76 / 32 :60 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I c. Wie bei der vorhergehenden Miniatur aus dem
Fisch, steigt Visnu hier bei seiner Verkörperung als Schildkröte (vgl. besonders
Kürma-Puräna, Bhägavata-Puräna) aus einem dicken gelbgrünen krötenähnlichen
Ungeheuer auf: blauhäutig in gelber dhoti mit dreizackiger Krone und gelbem Stirn-
mal. Seine Attribute sind Diskus (undeutlich), Lotusblume, Keule und Muschel. Von
links kommt ein Asura herbeigeeilt, hellhäutig, mit Schwanz, goldenen Hörnern und
ziegelroten Hosen, seine Rechte schwingt eine Keule über dem Kopf, die Linke hält
den Schild vorgestreckt. Bildgrund wie bei 41. Die Schildkröte findet sich auf Ab-
102
Heimo Rau
schnitt 24 der illuminierten Schriftrolle des Münchener Völkerkundemuseums wieder
(vgl. Nowotny, Fausta, Eine durch Miniaturen erläuterte Doctrina mystica aus
Srinagar = Indo-Iranian Monographs vol. III 1958).
43. M~ (32) 392 av Varäha-Avatära des Visnu
47 : 79 / 31 : 62,5 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I d. Die Erde war in den Fluten des Weltenozeans
versunken, als Visnu in Gestalt eines Ebers hinabstieg, um sie wieder emporzuheben
(vgl. besonders Bhägavata-Puräna). Er steht in der Mitte, blauhäutig in gelber dhotl,
und trägt über dem goldgekrönten Eberkopf mit gelber Stirnmarke die dunkle Erd-
scholle. Attribute wie auf 42. Der hellhäutige Asura liegt überwunden unter seinen
Füßen. Bildgrund ist wieder die Wasserlandschaft. Der Mittelstreifen ist ausnahms-
weise grün und senkrecht gestrichelt, als ob dort hohes Gras stünde, goldene Blumen
sind hineingezeichnet und in der Mitte goldene Büsche. Darüber erheben sich rechts und
links die violetten Architekturnischen. Das Mittelfeld ist karminrot — Hintergrund
für Visnus blau.
44. M~~ (—) 603 av fehlt
45. M—(33) 620 av fehlt
46. M—(34) 628 a” fehlt
47. M~ (35) 635 av Krsnas Geburt im Gefängnis (Tafel VIII)
44 : 77 / 28 : 61 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I c. Rechts Devakl, Krsnas Mutter, in ziegelroter
dhotl und goldenem Kopf- und Brusttuch, das blauhäutige Kind mit der gelben Stirn-
marke im Arm. Links kniet Vasudeva, der Vater, in goldenem Helm und ziegelrotem
goldgeborteten Rock mit goldener Gürtelschärpe, die Hände in anjali zusammengelegt.
Beide auf hellgelbem Teppich, darunter jeweils zwei Goldblumenreihen auf Karminrot.
In beiden oberen Ecken je ein ziegelroter Halbbogen zur Andeutung des Innenraumes.
Der gelbgrüne Mittelstreifen fehlt nicht, darüber Buschreihe und grüner Mittelgrund.
In der Mitte der unteren Hälfte zwischen dem Elternpaar ist das violette Tor des
Gefängnisses gemalt, an jeder Seite ein schlafender Wächter auf ziegelrotem Grund,
weiß gekleidet mit Goldhelm und schwarzem Schild. Zum Leben Krsnas vgl. besonders
Visnu-Puräna V, Harivamsa Adhy. 57 ff., Bhägavata-Puräna X.
48. M' (36) 643 av Ein Götterkönig im Palast (?)
47 : 76/ 31 : 59 mm. Randborte I c. In der Mitte thront eine hellhäutige Gottheit
mit dreizackiger Goldkrone, gelber Stirnmarke, gelber dhotl auf violettem Lotussitz.
Sie hält die Arme gekreuzt und die Augen wie in Meditation geschlossen. Über ihr
erhebt sich ein Architekturaufbau wie von einem Marmorpalast mit mehreren weißen
gerippten Zwiebelkuppeln. Darunter zieht sich ein ziegelrotes Feld hin, nach unten zu
breiter werdend, als Hintergrund für die meditierende Gottheit, weiter unten Karmin
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Muse ums 103
mit Goldblumen in der üblichen Art. Rechts steht eine gekrönte Gestalt mit ziegelroter
dhotl, Hände in anjali, links eine ebenso gekleidete, die ein weißes Muschelhorn an
den Mund hebt, um zu blasen. Für beide Seiten ist der Bildgrund A angewendet, nur
helles Gelb mit Goldblumen für die untere Hälfte im Kontrast zu der roten Mitte.
Durch zu starken Auftrag des harzigen Bindemittels der Farben sind die Ecken und
Kanten des Bildes gedunkelt.
49. M~~ (—) 654 av fehlt
50. M (37) 669 av Krsna offenbart sich Arjuna (Tafel VIII)
48 : 77 / 31 : 62 mm. Randborte I d. Die Miniatur bezieht sich auf Adhyäya 11
der Bhagavadgltä, den Visvarüpadarsanayoga „Yoga der Vision der Allgestalt“.
Krsna, die Inkarnation des Visnu, erscheint vor Arjuna in seiner göttlichen Allgestalt,
die ganze Weit umfassend. Arjuna steht links im ziegelroten Kleid, zum Kampf ge-
rüstet, mit goldenem Helm und Panzer und schwarzem Schild. Den Bogen und den
Köcher mit den Pfeilen aber hat er von sich geworfen, da ihn Bedenken übermannten,
zu töten. Sie liegen vor und hinter ihm am Boden. Krsna-Visnu thront blauhäutig mit
gelber dhotl, mit dreizackiger Krone und gelber Stirnmarke auf dem violetten Lotus-
sitz. Die vier Hände halten Diskus, Lotus, Keule und Muschel. Um sein Haupt drängen
sich vielfarbige Tierköpfe, übergipfelt vom gekrönten Haupt einer Gottheit und dem
Haupt des vierköpfigen Brahma. Vgl. Vers 11, 15 und 16. Die „strahlende Lichtflut“
scheint durch den hellgelben Berg im Hintergrund angedeutet. Sonst der übliche Bild-
grund C.
51. M~ (38) 674 av Arjuna kniet vor Krsna-Vsnu
48 : 78 /30 : 61 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I c. Links thront Visnu, wie eben beschrieben, nur
ohne die visionäre Allgestalt, mit den gewohnten Attributen, wobei wie immer der
Diskus als eine strahlige Blume mit Stengel erscheint und die Keule in der Form, die
diese Waffe in der Moghulzeit hatte. Arjuna kniet in der ritterlichen Tracht des Mog-
hulhofes, wie eben beschrieben, die Hände in anjali. Bildgrund C: Hinter Krsnas Blau
hellgelber Berg, hinter Arjunas Rot grüner Berg, im Zwickel ziegelroter Himmel.
52. M~ (39) 683 av Arjuna kniet vor Krsna-Visnu
46 : 78 / 30 : 61 mm. Randborte I a. Dieselbe Darstellung wie 51, nur links und
rechts vertauscht.
53. M~ (40) 690 av fehlt
54. M~ (41) 696 av Krsna tanzt flötenspielend zwischen zwei Gopls
41 ; 79 / 29 : 62 mm. Farben infolge des dick aufgetragenen harzhaltigen Binde-
mittels z. T. verschattet. Randborte I a. Krsna blauhäutig mit goldener Krone, gol-
denem Schal, gelber dhotl und gelbem Stirnmal tanzt und spielt dabei die Querflöte.
104
Heimo Rau
Links und rechts steht, Hände in anjali, je eine GopI mit goldenem Kopf- und Brust-
tuch, links in ziegelrotem, rechts in violettem Rock. Bildgrund C, oben von links nach
rechts grün, gelb, rot.
55. M~ (42) 702 av Arjuna kniet vor Krsna-Visnu
47 : 77 / 31 : 61 mm. Randborte I b. Diese Miniatur ist bis auf Kleinigkeiten
identisch mit 51. Arjuna zeigt dort reines Profil, hier Dreiviertelansicht. Der Teppich
wird hier mit einem Granatapfelmuster und Arabeskenumrandung geschmückt. Bild-
grund C.
Text und Bilder
Die Auswahl der Texte für die Sammelhandschrift erfolgte wohl nach den Wün-
schen des Auftraggebers, dasselbe war wahrscheinlich auch bei den Miniaturen der Fall.
Sie folgen keiner Systematik, sind locker in die Textsammlung eingefügt, bald mit Be-
ziehung auf den einen oder anderen Hymnus, bald ohne eine solche. Als Illustrationen
können sie, auch wenn eine Beziehung zum Text festzustellen ist, nicht angesprochen
werden. Die Texte geben höchstens die Stichworte. Dem Ganesastotra geht ein Bild
des elefantenköpfigen Gottes voraus (6). Die der Göttin Durgä gewidmeten Hymnen
werden in vielfältiger Wiederholung von ihren Bildern begleitet, wie sie auf
ihrem Löwen daherreitet, wie sie Dämonen besiegt, wie die anderen Götter ihr
Verehrung zollen (15 ff.). Die Bhagavadgltä hingegen gibt Anlaß, die Avatäras Visnus
zu malen (41 ff.). So illustrieren die Miniaturen nicht einen Handlungsablauf, sondern
vergegenwärtigen Götterbilder, die auch ohne Text verständlich und sich selbst genug
sind, dafür bestimmt, mit dem Auge darauf zu verweilen und die Wirkung der ehrwür-
digen Texte durch die Anschauung zu verstärken und der meditativen Versenkung
auch von visueller Seite her eine Anregung zu vermitteln. Sie sind bildliche Verdich-
tungen der Glaubensvorstellungen und führen über das Auge in dieselbe Welt, welche
die Anrufungen, Erzählungen und Gedankengänge der Dichtungen zu erreichen suchen.
Der bei weitem überwiegende Teil der Miniaturen (wie der Texte) ist sivaitisch (26).
Dabei tritt Siva selbst mit nur fünf Bildern (5, 31, 32, 33, 36) und sein Sohn Ganesa
mit nur einem (6) hinter der Gemahlin zurück, die als Pärvati, Durgä, Gauri, Bhaväni,
Kali oder DevI schlechthin unter vielen Namen verehrt wird. Ihr sind 20 Miniaturen
gewidmet, und ihr hervortretender Aspekt ist der der siegreichen Dämonenbezwin-
gerin. Als solche reitet sie auf dem Löwen, erschlägt die gehörnten Feinde der
Götter und Menschen und verdient die Verehrung selbst der obersten Gottheiten
Brahma (15), Visnu (18), Siva (19). Im Grunde ist sie mit Siva eines, die Darstellung
des mannweiblichen Ardhanärisvara-Aspekts fehlt auch in dieser Handschrift
nicht (33). In ihrem achtzehnarmigen Aspekt vereint sie die Waffen und Kräfte
des gesamten Götterpantheons (22). Als furchtbare Kali mit der Schädelkette verkör-
pert sie die Nachtseite des Daseins (34). Eigentümlich — und vielleicht islamischem
Einfluß zuzuschreiben — ist die Tatsache, daß die weiblichen Körpermerkmale ent-
gegen der indischen Vorliebe nirgends auch nur angedeutet werden. — So beherrschen
die Bilder der DevI die ersten zwei Drittel der Handschrift. Bei der Textsammlung
steht dementsprechend die Verherrlichung der Göttin im Märkandeya-Puräna im
Mittelpunkt.
Die Miniaturen einer Sanskrit-Sammelhandschrift des Linden-Museums 105
Daneben behauptet sich nur die Bhagavadgitä, die das letzte Drittel der Sammlung
ausfüllt, begleitet von visnuitischen Bildern (13, die Eingangsminiatur mitgerechnet).
Der blaue, gelbgekleidete Gott erscheint in seinen Avatäras, durch die er in den ver-
schiedensten Gestalten die Welt vor dem Untergang rettete, immer wenn die Dämonen
zu mächtig geworden waren (41, 42, 43). Und auch die mystische Verehrung des Hir-
tenknaben Krsna, seiner populärsten Inkarnation, fand ihren Weg in die Handschrift
(37, 39, 47, 54). Besonderes Interesse verdient der Versuch, die Vision Arjunas von
der Allgestalt Visnus bildlich festzuhalten (50).
Von anderen Gottheiten erhält nur ßrahmä einmal ein Blatt (4), und die Fluß-
göttinnen Gahgä (10), Yamunä (11), Sarasvati (12) werden mit je einer Miniatur
hintereinander bedacht. Dabei ergibt sich thematisch durch den Fisch der Gahgä und
die Schildkröte der Yamunä eine Beziehung zu Matsya- und Kürma-Avatära des
Visnu (41, 42).
Stilistisches
Die Miniatoren der Handschrift verfügen über einen beschränkten Formenschatz.
Sie haben bestimmte Götter- und Menschengestalten, Tier- und Pflanzenformen, be-
stimmte Landschaftsandeutungen und Architekturteile sozusagen auswendig gelernt,
die sie immer wiederholen und wie bei einem Zusammensetzspiel in wechselnder Folge
aneinanderfügen. Die stereotypen Ornamentborten und Bildaufteilungen sind schon
behandelt worden (vgl. S. 89 f.). So stehen auch die Göttertypen fest und unterliegen
nur geringen Abwandlungen. Grundtyp ist die gekrönte, mit der dhoti bekleidete
Gestalt auf dem violetten Lotussitz. Die Zahl der Arme wechselt, die Attribute sind
verschieden. Die Götter erhalten ihre charakteristischen Farben, die DevT Rosa, Visnu
Blau, Siva Weiß usw. Männliche und weibliche Körperformen werden dagegen nicht
differenziert. Alles in allem feststehende Typen mit geringen Varianten. Dieselbe
Gleichförmigkeit zeigen die Anbeter. Auffallend ist die häufig wiederkehrende Hof-
tracht der Moghulzeit bei den Kriegern, ihrer Barttracht, der Form ihrer Schwerter,
Köcher, Schilde, und bei den als Anbeterinnen ä la mode gekleideten Damen. Auch
der Vogel, der Fisch, die Schildkröte sind invariable Formeln.
Es ist der Stil des 18. Jahrh., der uns hier entgegentritt, nicht in der spezifischen
Ausprägung eines schöpferischen Kunstzentrums, sondern in der handwerklichen
Solidität einer peripheren Kunstlandschaft, welche die Ausstrahlungen der Blütezeit
der nordindischen Miniaturmalerei auffängt und getreulich verarbeitet. Die Farbskala
ist gering. Aber ihre Leuchtkraft macht den Hauptreiz der kleinen bunten Bilder aus.
Die Kontrastierung ist geschickt und wirksam, besonders gern wird mit Komplemen-
tärfarben gearbeitet. Der Auftrag bleibt konsequent flächig, Nuancierung innerhalb
der Farbfläche widerspräche der stilistischen Grundhaltung und würde außerdem mehr
farbliche Zwischentönungen fordern.
Abgesehen von der isoliert stehenden eingeklebten Miniatur 1 haben sich zwei
Maler in die Illustrierung der Handschrift geteilt. Die bezüglich der Randborten
unterschiedenen Gruppen I und II sind insgesamt zwei verschiedenen Händen zuzu-
schreiben. Gruppe II ist zügiger und sicherer in der Handschrift. Die Umrisse „sitzen“,
die Ausführung gelingt feiner und wirkt lebendiger. Das Stereotype des verwendeten
106
Heimo Rau
Formenvorrates wird hier überspielt durch eine versierte Künstlerhand, die den Be-
trachter glauben machen kann, es sei im Augenblick erfunden und entstanden, was
doch erlernt und wiederholt ist. Eine solche Wirkung zu erreichen, ist die Hand der
Gruppe I weniger fähig. Sie stockt leicht beim Zeichnen und läßt die Formelhaftigkeit
dieser Kunstsprache stärker spüren. Doch gelingen bei sauberer handwerklicher Aus-
führung und geschickter Zusammensetzung des Formenschatzes auch in dieser Gruppe
recht ansprechende Lösungen, die das Auge besonders durch farbige Brillanz bestechen.
Es ist ohne Bedenken anzunehmen, daß die Handschrift in Kasmir, und wohl in
Srinagar selbst, geschrieben und gemalt worden ist. Aus der Tatsache, daß wir es hier
nicht mit einer Kunstschule eigener Prägung und artikulierter Formensprache zu tun
haben wie anderswo in der nordindischen Nachbarschaft, mag es sich erklären, daß
bisher wenige Blätter dieser Provenienz in europäische Sammlungen eingedrungen und
bekannt geworden sind. Nun tritt diese Handschrift des Linden-Museums als eine
seltene Kostbarkeit neben die durch Miniaturen erläuterte Doctrina mystica aus
Srinagar, die das Museum für Völkerkunde in München besitzt (Signatur 6397-6401).
Diese Schriftrolle, die von den Brüdern Schlagintweit auf ihrer Reise von 1854—1858
erworben und kürzlich von F. Nowotny ediert und übersetzt wurde (Indo-Iranian
Monographs vol. III 1958), enthält eine Reihe beachtenswerter Miniaturen. Der Ver-
gleich der beiden Handschriften untereinander und mit einigen unedierten Einzel-
blättern aus Kasmir muß einer besonderen Untersuchung Vorbehalten bleiben.
Hans Fischer
Das Tonbandgerät in der völkerkundlichen Feldforschung
Wie sich die Hilfsmittel der völkerkundlichen Feldforschung von der Zeichenaus-
rüstung über den unhandlichen Plattenapparat zu Kleinbildkamera und Schmalfilm-
gerät mit Schwarz-Weiß- und Farbfilm entwickelt haben, so folgte im klanglichen
Bereich auf das bloße Niederschreiben von Sprachtexten oder Notieren von Melodien
der Walzen-Phonograph und schließlich das Tonbandgerät. Während jedoch die
Kamera als selbstverständlicher Teil der Ausrüstung betrachtet wird, ist dies beim
Tonbandgerät noch nicht immer der Fall — vor allem wohl deshalb, weil die viel-
seitigen Verwendungsmöglichkeiten nicht ausgenutzt werden, die durchaus nicht nur
auf die Aufnahme von Musik beschränkt sind.
Es sollen hier Erfahrungen vorgelegt werden, die bei Feldforschungen 1958/59 in
Ost-Neuguinea gemacht wurden. Das hierbei verwendete Tonbandgerät wurde mit
Federaufzug und Trockenbatterien betrieben, war mit Transistoren bestückt, hatte
einen Lautsprecher und wog ca. 12 kg. Es wurde in landschaftlich und klimatisch un-
terschiedlichen Gebieten verwendet, einerseits in der feuchtheißen Flußebene des unte-
ren Watut River (ca. 100 m hoch), dann aber auch in den Bergen an den Oberläufen
des Banir und Tauri River (1000—1500 m), einem kühleren, doch sehr feuchten Ge-
biet. Transportiert wurde das Gerät ausschließlich durch Träger. Sehr unterschiedlich
waren auch die untersuchten Gruppen. Von der seit ca. 35 Jahren unter Missions-
einfluß stehenden Bevölkerung des unteren Watut River, die fast zu 100°/o getauft
ist, über Gruppen am mittleren Banir und Namund River, die erst seit einigen Jahren
unter Missions- und Administrationseinfluß geraten sind, bis zu Dörfern im Banir-
und Tauri-Quellgebiet, die bisher noch keine Patrouille besucht hat, wurde bei ver-
schiedenen Gruppen gearbeitet, deren Reaktion auf das Tonbandgerät dann auch un-
terschiedlich war.
a) Die technischen Möglichkeiten
Zur Feldforschung wirklich geeignet wurde das Tonbandgerät erst, als es durch
Federaufzug und Trockenbatterien unabhängig vom Netzstrom wurde. Die Einfüh-
rung von Transistoren machte es dann zum allseitig verwendbaren Hilfsmittel. Es mag
hier noch kurz auf die einzelnen Punkte hingewiesen werden, die von einem Gerät
gefordert werden müssen und in modernen Geräten auch erfüllt sind:
1. Unabhängig vom Netzstrom durch Federaufzug und Trockenbatterien: Es wur-
den je 4 1,5 V Leak Proof-Monozellen deutscher und amerikanischer Herkunft ver-
wendet, die über Monate hinweg auch unter schwierigen klimatischen Bedingungen
durchhielten. Die Reservesätze wurden in Weißblech-Druckdeckeldosen mit SIlikagel
aufbewahrt und waren noch nach 15 Monaten brauchbar.
108
Hans Fischer
2. Widerstandsfähigkeit gegen Temperatureinflüsse, Schmutz und Stoß: Obgleich
der Transport nur durch Träger vor sich ging, traten während der gesamten Zeit
(15 Monate) keinerlei Störungen am Gerät auf. Eine Tasche aus steifem Leder, mit
Schaumgummi gefüttert, erwies sich als sehr brauchbar. Auch das Mikrophon wurde
in einem Plastikbeutel mit Schaumgummi aufbewahrt. Tonbänder sind im Gegensatz
zu den alten Wachswalzen ja faktisch unzerstörbar.
3. Niedriges Gewicht; Das benutzte Gerät war mit ca. 12 kg noch etwas zu schwer,
da auch ein Träger gewöhnlich nicht mehr als 10 kg trug. Doch sind bereits leichtere
Geräte im Handel. Auf jeden Fall war es auch mit diesem Gerät möglich, es während
einer Aufnahme für einige Zeit in der Hand zu tragen, wenn es nötig war, den Stand-
ort zu verändern, ohne die aufzunehmende Handlung zu stören.
4. Aufnahme-Qualität: Mit etwas Erfahrung in der Aufnahmetechnik gibt es mit
der Qualität keine Schwierigkeiten. Der Unterschied gegenüber dem alten Phonogra-
phen braucht nicht erwähnt zu werden. Nur wenn an spätere Rundfunksendungen
gedacht ist, ist besonders auf den Frequenzumfang des Gerätes zu achten, das man
wählt. Für musikalische und sprachliche Untersuchungen sind alle Tonbandgeräte
(nicht Drahtgeräte) völlig ausreichend.
5. Die Aufnahme-Dauer: Hier sprechen drei Faktoren mit, nämlich die Feder,
die Aufnahme-Geschwindigkeit und die Art und damit Länge des Tonbandes. Ein
Federaufzug reichte bei dem verwendeten Gerät für eine Aufnahme-Dauer von 22 Mi-
nuten bei einer Aufnahme-Geschwindigkeit von 9,5 cm/sec. Da jedoch auch während
einer Aufnahme die abgelaufene Feder wieder aufgezogen werden konnte, ohne dabei
die Aufnahme zu stören, spielte diese Frage keine Rolle. Je höher die Aufnahme-
Geschwindigkeit, desto besser ist die Qualität der Aufnahme. Doch wird man Sprach-
aufnahmen im allgemeinen mit niedrigerer Geschwindigkeit machen, besonders, wenn
es sich um Aufnahmen von Texten (Mythen) in einer Verkehrssprache handelt (Pidgin-
Englisch). Im Interesse späterer Auswertung der Aufnahmen, die ja meist mit einem
Netzstrom-Gerät vorgenommen wird, ist daran zu denken, nicht mit zu langsamer
Geschwindigkeit aufzunehmen, die auf den großen Geräten nicht abgespielt werden
kann (zum Beispiel 4,25 cm/sec). Bei Tonbändern hat man zwischen Normal- und
Langspielbändern zu wählen. Die Gewichtsersparnis und Möglichkeit, längere Auf-
nahmen zu machen im zweiten Falle wird dadurch aufgewogen, daß Normalbänder
widerstandsfähiger sind und nicht so leicht reißen. Dies ist besonders dann wesentlich,
wenn ein Band öfter benutzt und vielleicht häufiger abschnittweise vor- und zurück-
gespult wird (beim Abhören oder Übertragen).
Im Ganzen kann gesagt werden, daß durch die Möglichkeit, auf ein einziges Band
sehr lange Aufnahmen zu machen, 1. Vorgänge (zum Beispiel Zeremonien) im Zusam-
menhang aufgenommen werden können, 2. es nicht darauf ankommt, ob man einige
Zeit vor der Aufnahme das Gerät einschaltet, da genügend Bandmaterial mitgenom-
men werden kann. Dadurch aber brauchen Aufnahmen nicht gestellt zu werden, der
Untersuchende braucht nicht in den Ablauf eines aufzunehmenden Vorgangs einzu-
greifen, um etwa den Beginn anzuzeigen.
6. Aufnahme-Entfernung und -Empfindlichkeit sind naturgemäß vor allem von
der Güte des Mikrophons abhängig. Kein Tonbandgerät kann mehr hergeben, als das
Das Tonbandgerät in der völkerkundlichen Feldforschung
109
Mikrophon leistet. Während früher bei Aufnahmen die Sänger oder Sprecher direkt
vor dem Trichter des Phonographen sitzen mußten, kann heute eine Aufnahme völlig
ohne Behinderung des Informanten, ja, ohne sein Wissen vor sich gehen. Einerseits ist
dies durch die hohe Empfindlichkeit der Mikrophone möglich, andererseits dadurch, daß
man ein Mikrophon an langem Kabel in der Nähe der Ausführenden anbringen kann,
ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten.
7. Abspielen und Löschen: Jede Aufnahme kann faktisch unendlich oft ohne Min-
derung der Qualität sofort wieder abgespielt werden (was beim alten Phonographen
nicht möglich war). Das benutzte Gerät hatte einen Lautsprecher, während andere
stromunabhängige Geräte nur mit Kopfhörern ausgerüstet sind. Wie sich gezeigt hat,
ist jedoch gerade die Möglichkeit, Aufnahmen sofort einer ganzen Gruppe von Infor-
manten wieder vorzuspielen, von ungeheurer Wichtigkeit und wiegt das größere Ge-
wicht unbedingt auf. Ohne den Lautsprecher wäre das Gerät nur halb so brauchbar
gewesen. Daß Aufnahmen beliebig oft überspielt werden können, wobei die alte
Aufnahme automatisch gelöscht wird, bietet die Möglichkeit zu verschiedenen Ver-
fahren, die die Anzahl der mitgeführten Bänder herabsetzen, was weiter unten aus-
geführt wird.
Mit dem benutzten Gerät wurde die Erfahrung gemacht, daß Batterien nicht bis
zur völligen Erschöpfung benutzt werden dürfen. Nicht nur wurde naturgemäß die
Aufnahme immer leiser, beim Überspielen alter Aufnahmen mit neuen wurden die
alten nicht mehr völlig gelöscht, so daß dann zwei Aufnahmen übereinander zu hören
waren.
Mit diesen gegebenen Möglichkeiten kann auch ein einzelner Beobachter (was bei
dieser Forschungsreise der Fall war) in landschaftlich und klimatisch sehr schwierigen
Gebieten arbeiten, selbst dann, wenn über ein Jahr kein Kontakt zur Außenwelt be-
stehen sollte und er technisch nicht oder kaum vorgebildet ist. Die auszunutzenden
Vorteile sind; Gute Qualität und Möglichkeit zu langen Aufnahmen; die Möglichkeit,
Aufnahmen nicht zu stellen, sondern ungestörte Vorgänge in ihrem Rahmen aufzu-
nehmen; unbemerkt oder über größere Entfernungen zu arbeiten und die Aufnahmen
beliebig oft wieder abzuspielen oder zu löschen und neu aufzunehmen.
h) Die Anwendungsmöglichkeiten
1. Aufnahmen von Musik
Von jedem Völkerkundler, auch ohne jede musikalische Vorbildung, kann heute
erwartet werden, daß er musikalisches Material zur Bearbeitung durch Musikethnolo-
gen sammelt. Da gerade auf diesem Gebiet der völkerkundlichen Forschung große
Forschungslücken bestehen, sollte dies auch immer getan werden.
Die Tatsache, daß man unbemerkt Aufnahmen machen kann, wirkt sich vor allem
günstig bei Kinderliedern aus, da Kinder, auch bei Gruppen, die bereits Kontakt mit
Europäern hatten, meist schwierig vor das Mikrophon zu bringen sind. Ähnlich ist es
bei Klageliedern in Todesfällen, die häufig nicht gern ohne Anlais gesungen werden
und wo, wie auch bei Krankenheilungen, der Vorgang nicht gestört werden soll. In
einigen Fällen muß man bei Aufnahmen von Musik jedoch etwas arrangiert werden. So
überschrien in Beispielfällen etwa die im Falsett singenden Frauen die Männer bzw.
110
Hans Fischer
waren die Trommeln so stark, daß vom Gesang nichts mehr zu hören war. Wenn es
möglich ist, sollte man in solchen Fällen die Zahl der singenden Frauen bzw. Trom-
meln einschränken. Im allgemeinen sind Choraufnahmen im Freien günstiger als etwa
unter Hausdächern.
Nach der Aufnahme muß dann mit Informanten die Übertragung (in Lautschrift)
und Übersetzung der Texte erfolgen, wozu wieder der eingebaute Lautsprecher un-
ersetzlich ist. Wie die Erfahrung in anderen Fällen gelehrt hat, sind Eingeborene oft
nicht in der Lage, den ganzen Text eines Liedes frei zu sprechen, auch wenn sie ihn
singen können. Dies führt dazu, daß der aufgeschriebene Text sich mit dem im Lied
bei späterer Übertragung nicht korrelieren läßt. Dagegen treten keine Schwierigkeiten
auf, wenn der Informant aus der Aufnahme stückweise den Text heraushört (soweit
wirkliche Texte überhaupt vorliegen und übersetzbar sind).
Bei Aufnahmen von Instrumentalstücken sollte anschließend der Tonumfang des
betreffenden Instruments auf Band genommen werden. Während bisher etwa Pan-
pfeifen gleich in ganzen Bündeln gesammelt und in Museen gebracht wurden, sind sie
doch musikethnologisch kaum verwertbar. Zum einen spalten Bambusrohren beim
Transport sehr oft und sind dann in ihrer Tonhöhe nicht mehr zu messen, zum ande-
ren kann die Tonhöhe eines Rohres je nach Ansatz auch verändert werden. So sollten
besser sämtliche Rohre einer Panflöte vom Spieler nacheinander angeblasen werden.
Das gleiche gilt für Grifflochflöten, wo alle durch verschiedene Fingerstellungen mög-
lichen Töne aufgenommen werden können, wie auch für Saiteninstrumente usw.
Bei Aufnahmen von Orchestern bzw. Instrumentengruppen, deren jedes eine an-
dere Melodie spielt, sollte nach der Gesamtaufnahme außerdem, wenn möglich, jedes
Instrument einzeln mit seiner Melodie aufgenommen werden. Im Beispielfall (vier
Panflöten) war dieses Verfahren durchaus möglich. Es erleichtert die spätere Bearbei-
tung ganz erheblich.
Eine Reihe von Instrumenten, die früher mit dem Phonographen kaum aufgenom-
men werden konnten, wie etwa die Maultrommel, sind jetzt ohne alle Schwierig-
keiten aufzunehmen.
Bei einer Initiationszeremonie konnte ich — mit dem Gerät in der Hand — einer
Gruppe von singend laufenden Initianten folgen, ohne dabei die Aufnahme unter-
brechen zu müssen.
2. Sprache und Mythen
Die ersten Aufnahmen in einer Eingeborenensprache sind am besten reine Wort-
listen von mehreren Informanten, die man benutzen kann, um sich in den phonetischen
Teil der Sprache einzuarbeiten und erste Vokabelkenntnisse zu bekommen, ohne jeder-
zeit Informanten bereit haben zu müssen. Für die Aufnahme von Mythen, die gleich-
zeitig zur Bearbeitung der Sprache verwendet werden können, haben sich drei Metho-
den als praktisch erwiesen:
a) Aufnahme in einer Verkehrssprache (zum Beispiel Pidgin-Englisch). Dieser
Methode wird man nur dann folgen, wenn entweder die Eingeborenensprache völlig
bekannt ist (was sehr selten der Fall ist), dem Untersuchenden nur kurze Zeit zur
Verfügung steht oder nachdem bereits eine genügend große Zahl von Originaltexten
Das Tonbandgerät in der völkerkundlichen Fcldforschung
111
aufgenommen wurde. Die Aufnahme kann dann übertragen und das Band wieder
verwendet werden.
b) Aufnahme abschnittweise abwechselnd in der Eingeborenensprache und über-
setzt in eine Verkehrssprache. Diese Methode kann man anwenden, wenn die Sprache
unbekannt ist und dem Untersuchenden nur kurze Zeit zur Verfügung steht. Oft ist
es auch so, daß der Mythenerzähler ein älterer Mann ist, der die Verkehrssprache nicht
beherrscht, während derjenige, der sie beherrscht, wieder die Mythen nicht kennt.
So hat man sowohl den übersetzten Text der Mythe als auch den Originaltext, was
immerhin auch zu linguistischen Zwecken später verwertbar ist. Die Länge der Ab-
schnitte sollte nicht zu kurz sein, damit man einen möglichst fließenden Text bekommt,
jedoch auch nicht zu lang, damit eine möglichst genaue Übersetzung gewährleistet ist.
c) Aufnahme des Textes nur in der Eingeborenensprache. Selbstverständlich ist
dies die ideale Arbeitsmethode, wenn später Übertragung in Lautschrift und Über-
setzung vorgenommen werden können. Hierbei ergeben sich zuerst Schwierigkeiten
mit dem Informanten, der beim Abhören wörtlich wiederholen soll, was auf dem
Band zu hören ist. Alle Informanten, mit denen gearbeitet wurde, wiederholten den
Text zuerst nicht genau wörtlich, sondern ungefähr, sinngemäß. Am besten erwies es
sich deshalb, sich, wenn es irgend ging, mit einem Informanten einzuarbeiten und mit
ihm über längere Zeit zusammenzuarbeiten, überhaupt ist die Frage des Informanten,
mit dem man den Text überträgt und übersetzt, nicht ganz einfach. Ideal wäre die
Bearbeitung mit dem Erzähler selbst, der sich dann noch an Ergänzungen zur Mythe
erinnert bzw. den man nach unklaren Stellen fragen kann. Aber naturgemäß muß
man einen anderen, meist jüngeren Mann, der die Verkehrssprache beherrscht, zur
Übersetzung heranziehen. Wichtig ist die Frage des Informanten für die Übertragung
in Lautschrift. Wenn der Erzähler selbst als Bearbeiter nicht in Frage kommt, sollte
versucht werden, einen seiner nächsten Verwandten (Bruder, Sohn, Brudersohn) dafür
zu gewinnen. Bei den Untersuchungen in Neuguinea zeigte sich, daß innerhalb eines
Dorfes oft leicht unterschiedliche Dialekte vorkamen, besonders dann, wenn sich unter
Missionseinfluß mehrere ehemalige Weiler zu einem Dorf vereinigt hatten. Die Ange-
hörigen der verschiedenen Patriclans sprachen leicht voneinander abweichende
Dialekte. Überträgt man einen Text mit einem Informanten, der nicht der Dialekt-
gruppe des Sprechers angehört, so wiederholt er lautlich nicht den genauen Text, son-
dern immer seine eigene Dialektversion. Erst wenn man in die Sprache weiter ein-
gedrungen ist, sollte man deshalb mit einem Informanten Texte übertragen, die ein
Angehöriger einer leicht unterschiedlichen Gruppe gesprochen hat.
Die Aufnahme von Mythen und anderen Texten hat ganz klar große Vorteile
gegenüber dem direkten Aufschreiben. Man braucht den Mythenerzähler, der meist
älter ist, nicht allzulange zu bemühen, wodurch er nicht ermüdet und sehr viel mehr
Mythen erzählen kann. Die Bearbeitung kann dann zu beliebiger Zeit mit einem an-
deren Informanten geschehen. In jedem Falle hat man fließende Texte, was beim
direkten Aufschreiben nicht der Fall ist. So wird die Arbeit für beide Teile nicht nur
erleichtert, sie geht auch schneller, das gesammelte Material ist größer und (linguistisch)
viel genauer. Schließlich ist jede Sprachaufnahme auf Tonband von weit höherem
Quellenwert als das bloße Niederschreiben in noch so genauer Lautschrift. Sprach-
112
Hans Fischer
melodie, eventuelle Tonhöhen in der Sprache, Längen, Stimmhaftigkeit usw. sind für
phonetische und linguistische Bearbeitung später genau nachprüfbar und nachzumessen.
Doch darf man nicht in den Fehler verfallen, die Texte dann nur auf Band zu
nehmen und es dabei bewenden zu lassen. Schon im Interesse des Erlernens der Sprache
wird man zumindest einen Teil der Texte mit Hilfe eines Informanten in Lautschrift
übertragen und übersetzen. Im fließend gesprochenen Text kommen nicht nur Fehler
des Sprechers vor, sondern auch Verschiebungen, Auslassungen, Zusammenziehungen,
die bei der Übertragung erkennbar werden. Die Textaufnahme in einer unbekannten
Sprache sollte Anlaß zur weiteren Bearbeitung an Ort und Stelle, nicht Selbstzweck
sein.
Da meist eine genügend große Zahl von Mythen zur Sprachbearbeitung zur Ver-
fügung stehen, vergißt man leicht, auch andere Texte aufzunehmen. Man sollte jedoch
unbedingt auch anderes sprechen lassen, da alle Mythen ja meist in der gleichen Zeit
(Vergangenheit) stehen. Es müssen also auch Texte über Ereignisse der Gegenwart,
bestehende Sitten, Absichten für die Zukunft usw. aufgenommen werden.
Gerade auch zur Untersuchung der Dialektunterschiede innerhalb einer Gruppe
oder verschiedener Gruppen untereinander bietet das Bandgerät große Möglichkeiten.
So wurden in einem Dialekt Texte aufgenommen, übertragen und übersetzt. Einem
Informanten einer leicht unterschiedlichen Dialektgruppe wurde dann die Aufnahme
vorgespielt und abschnittsweise von ihm in seinen Dialekt übertragen, am besten noch
mit Hilfe des ersten Sprechers. Dadurch lassen sich sofort regelmäßige Lautwandel
(z. B. auslautend k zu ’, oder inlautend o zu u) feststellen, bzw. die Wortstämme, die
sich in beiden Gruppen völlig unterscheiden. Es ist klar, daß das Verfahren Gefahren
in sich birgt, da oft der Satzbau des vorgespiegelten Textes beibehalten wird. Es soll-
ten also außerdem Texte frei gesprochen werden.
3. Andere Möglichkeiten
Vor allem die Möglichkeit, das Gerät als eine Art Diktaphon zu benutzen, kann
zu Zeitersparnis und größerer Genauigkeit verhelfen. Bei Musik- und Textaufnahmen
können alle Anmerkungen über Ort, Zeit, Informanten und besondere Umstände
direkt auf das Band gesprochen werden.
Das gleichzeitige Beobachten, Notieren und Fotografieren von Tänzen ist für einen
einzelnen Beobachter oft besonders schwierig. Hier besteht die Möglichkeit, die Ab-
folge der Tanzschritte und -bewegungen in das Mikrophon zu sprechen, das gleich-
zeitig die Musik aufnimmt. Eventuell kann auch gleichzeitig der Zeitpunkt einer foto-
grafischen Aufnahme angemerkt werden. Natürlich ist dieses Verfahren nur ein Ersatz
für das Schmalfilmgerät mit Tonbandaufnahme oder ein Tonfilmgerät. Der gleiche
Vorgang kann jedoch auch bei anderen Erscheinungen, z. B. Fadenspielen, angewandt
werden, wenn Zeit gespart werden soll. Hier können die einzelnen Phasen der Her-
stellung in das Mikrophon gesprochen werden (allerdings ist die Kenntnis der Ter-
minologie hierfür und einige Übung im Aufnehmen von Fadenspielen Voraussetzung),
während man gleichzeitig fotografiert. Nachher kann dann vom Band abgeschrieben
und das Band wieder benutzt werden. Besonders brauchbar ist diese Technik, wenn in
der betreffenden Gruppe eine Terminologie für die einzelnen Phasen der Fadenspiele
Das Tonbandgerät in der völkerkundlichen Feldforschung 113
angewendet wird, wie das etwa bei der Bevölkerung des unteren Watut River der
Fall ist.
Besonders dann, wenn an spätere Rundfunksendungen oder populäre Vorträge
gedacht ist, auch zum Unterlegen von Filmaufnahmen, kann man auch typische Ge-
räusche aufnehmen, z. B. Tapaklopfen, das Schrapen des Spatels an der Kalk-Kale-
basse, gegenseitige Beschimpfungen streitender Frauen, auch Aufnahmen von Tier-
stimmen.
Sehr oft ist es auch möglich, Europäer, etwa Missionare oder Beamte, über ein
Gebiet zu befragen, wobei ebenfalls das Bandgerät eine Hilfe sein kann.
Nicht zuletzt ist daran zu denken, daß die psychologische Situation nicht ganz
einfach für einen Feldforscher ist, der allein monatelang abgeschlossen von der Außen-
welt mit Eingeborenen lebt, besonders, wenn es sich um unkommunikative Gruppen
wie Papua-Gruppen im Innern Neuguineas handelt. Eine gewisse Ablenkung und
Erholung ist unbedingt nötig, um einigermaßen objektiv seinen Informanten gegen-
überzustehen. Hier besteht die Möglichkeit, vor der Ausreise alle Bänder mit euro-
päischer Musik zur Unterhaltung und Ablenkung zu bespielen, die dann einfach
wieder überspielt werden. Diese Aufnahmen europäischer (auch anderer, außereuro-
päischer Musik) lassen sich noch dazu benutzen, die Reaktion einer Gruppe auf ihr
völlig fremdartige Musik zu beobachten. Am Watut River war auch der Wunsch,
europäische Musik zu hören, oft größer, als der Wunsch, die eigenen Gesänge abgespielt
zu bekommen.
c) Die Reaktion der Eingeborenen
Wie bereits beschrieben, wurde im wesentlichen mit drei verschiedenen Gruppen
in Ost-Neuguinea gearbeitet. Die Bevölkerung des unteren Watut River, größtenteils
getauft und seit ca. 35 Jahren unter Missionseinfluß, hatte bereits häufiger Kontakt
mit Europäern, die Männer haben fast alle bei Weißen gearbeitet. In Orten wie Lae,
Mumeng oder Wau hatten sie bereits Radioapparate oder Funkgeräte kennengelernt.
So sangen und sprachen Männer und Frauen nicht nur ohne Schwierigkeiten in das
Mikrophon, es war auch nicht das geringste von der Nervosität zu bemerken, die
Europäer normalerweise vor dem Mikrophon befällt. In diesem Gebiet wurde das
Tonbandgerät zur Grundlage der gesamten Untersuchung. Jeder drängte sich danach,
sprechen oder singen zu dürfen, was größte Freude war und auch bald als eine Ehre
galt. Selbst aus den entferntesten Dörfern erschienen Neugierige bereits wenige Tage
nach meiner Ankunft im ersten Dorf, um in das Gerät zu sprechen, und standen
damit als Informanten zur Verfügung. Die einzigen Schwierigkeiten gab es bei der
Aufnahme von Klagegesängen, die man nicht gerne ohne Anlaß sang (was wohl als
schlechtes Omen gewertet wurde), die gestellt auch ganz anders klangen, als bei der
wirklichen Gelegenheit. Bei Kindern gab es Schwierigkeiten nur bei den kleineren
unter etwa acht Jahren.
Das andere Extrem stellten Gruppen der sogenannten „Kuku-kuku“ am Banir-
Oberlauf dar, die z. T. noch keinen Weißen gesehen hatten. Während das Fotografie-
ren hier größtenteils auf Schwierigkeiten stieß, gab es bei Musikaufnahmen keine.
Erst nach einiger Zeit stellten sich diese bei Mythenaufnahmen ein. Wie sich heraus-
ffyff-srr-yr
Il4
Hans Fischer
stellte, hatte ein Mann verbreitet, das Bandgerät würde die Seele einfangen und der
Betreffende keinen Erfolg mehr bei der Jagd haben. So weigerten sich bis zum Schluß
einige Männer beharrlich, in das Mikrophon zu sprechen, die aber ohne Schwierig-
keiten, besonders in Gruppen, sangen. Die meisten waren jedoch durch größere Ge-
schenke (die sehr begehrten Messer oder Beile) zu bewegen, sich für Textaufnahmen
zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen die Nervosität auch deutlich anzumerken war.
Frauen waren nicht zu Textaufnahmen zu bewegen.
Schluß
So scheint das Tonbandgerät heute, in einer Zeit, in der sich der Schwerpunkt der
Forschung immer stärker von der Untersuchung der materiellen Kultur auf die der
geistigen Kultur verlagert, ein Hilfsmittel, das gleichberechtigt und gleich wichtig
neben die Kamera tritt, wenn alle seine Möglichkeiten ausgenutzt werden. Es hilft
nicht nur, bisher vernachlässigte Gebiete noch aufzufüllen (völkerkundliche Musik-
forschung, Tanzforschung) und größere Genauigkeit auf anderen Gebieten zu erzielen
(Sprache und Mythen), sondern erleichtert ganz allgemein jede Untersuchung. Es sollte
deshalb heute zur selbstverständlichen Ausrüstung jeder Feldforschung gehören.
Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenhach
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie
du Linden-Museum de Stuttgart
Nous remercions très vivement M. F. Kussmaul, conservateur des départements
d’Oceanie et d’Asie du Linden-Museum de Stuttgart qui a mis à notre disposition les
quatre bambous gravés de Nouvelle-Calédonie de ses collections pour leur étude.
Ces quatre spécimens de l’art traditionnel néo-calédonien sont de valeur artistique
inégalé, mais ils répondent aux quatre types généraux déjà reconnus lors de nos
précédentes analyses de nombreux bambous gravés, de plusieurs musées, dont une
vingtaine ne sont pas encore publiées.
Grosso modo nous définissons ces quatre types généraux de la façon suivante:
1) gravures de style canaque pur, c’est-à-dire sans influences européennes, où les
dessins réalistes et les motifs géométriques traduisent l’expression indigène; le bambou
No. 1 (43, SIg. Messner), mis à part un cheval grossièrement traité, répond à cette
définition.
2) gravures mixtes, c’est-à-dire celles où les objets européens s’insèrent entre les
traductions graphiques de la pensée locale — où nous inscrivons l’exemplaire No. 2
(18 613, SIg. Krongut).
3) gravures marquées par le sceau de l’acculturation, même si des vestiges de
„textes“ locaux persistent au milieu de scènes nettement influencées par l’ordre
nouveau; le bambou No. 3 (87 436, SIg. Dr. H. Meyer) est typique de cette modifi-
cation de la vision néo-calédonienne.
4) gravures quelconques, qui n’honorent pas l’art du Néo-Calédonien (bambou
No. 4, 119 666, SIg. Heinrich). 'Tous les musées possèdent un ou plusieurs de ces
échantillons du mauvais goût ou de l’inexpérience: ils sont utiles dans ce sens qu’ils
font apprécier à leur juste valeur — et elle est grande — les gravures incisées sur les
plus beaux bambous gravés, testaments d’une culture mélanésienne disparaissant avec
rapidité depuis 1900.
Depuis 1935, nous étudions ces chroniques et récits après un minutieux décalque
nous permettant le déroulement des scènes gravées. Pour ce travail nous avons, cette
fois, bénéficié de l’aide précieuse et appliquée de notre collaboratrice, Mlle Christiane
Martin. Par ce minutieux travail de décalque nous avons pu discerner les grandes
lignes de la méthode de transcription de la pensée néo-calédonienne. Nous pensons
avoir reconnu plusieurs fois leur démarche intellectuelle, subtilement notée par ces
frustes artistes, disposant de moyens rudimentaires pour exécuter souvent des gravures
d’une rare finesse d’expression et d’exécution. Nous admettons que l’âme canaque
transmet ses espoirs et ses craintes par le truchement de ces bambous gravés qui ne
116
Marguerite et Georges Lobsiger-Dellenbach
sont certainement pas le fruit de loisirs d’hommes sauvages, mais bien l’effort, facile
à reconnaître, de „Néolithiques“ attachés à leur cadre naturel par la peur des esprits
et la protection de leurs morts. Ces bambous furent, sans aucun doute, des aide-mémoi-
res pour les érudits tribaux qui, guidés par les dessins, lisaient la chronique de leur
village et les actes des ancêtres.
Il va sans dire que pour étudier la gravure d’un bambou il faut s’imprégner de la
mentalité du Canaque, connaître ses sources de joie et de peur, attendre anxieusement
avec lui la chute de la pluie féconde et, toujours comme lui, lier les tabous et les rites
agraires aux gestes quotidiens. En un mot, il faut penser et sentir canaque! Mais,
malgré une grande habileté et un large esprit de compréhension, il est impossible de
se mettre complètement dans „la peau“ d’un Néo-Calédonien, agriculteur avant tout,
pêcheur occasionnel, sans rapports suivis avec le reste du monde mélanésien. S’il était
pénétré du mythe de fertilité, celui de fécondité semble avoir été absent de sa
pensée et celui de productivité — si prisé actuellement — ne paraît pas l’avoir
effleuré. Il vit dans un monde soumis à d’autres impératifs que les nôtres. Il a des
craintes et des espoirs matérialisés sous une forme qui ne peut émouvoir une
pensée rationnelle, car, chez lui, le mythe est vivant et non refoulé ou sous-jacent.
De plus, les documents qui décrivent minutieusement la vie quotidienne de ce
peuple aujourd’hui fortement acculturé, sont rares. Ce n’est que grâce aux remar-
quables travaux du professeur Maurice Leenhardt — qui fut longtemps missionnaire
dans la Grande Ile avant d’être professeur à l’Ecole des Hautes Etudes à Paris —
que nous avons pu nous imprégner de la mentalité canaque. Mais Maurice Leenhardt
n’a spécialement analysé que la vie de ses amis Houaïlou. Or, ceux-ci ne peuplent pas
toute l’île. Si on peut admettre un fonds commun à la culture néo-calédonienne, il
faut cependant tenir compte des divers faciès locaux de cette culture. Certes, sur la
surface de bambous gravés provenant sans aucun doute d’autres localités que celles
occupées par les gens de Houaïlou, on trouve des scènes analogues, des personnages
agissant de même sorte que ceux des bambous gravés dans le canton de Houaïlou.
Les gravures seraient alors des „radicaux“ pourrions-nous dire, tandis que le „texte“
proprement dit répond à d’autres préoccupations. L’intention du graveur variant
d’individu à individu, variera d’autant plus de tribu à tribu. Nous ne pouvons donc
nous permettre d’extrapoler les données si précieuses de M. Leenhardt et nous ne
pouvons pas non plus accepter d’être ligotés par ses renseignements, malgré toute notre
admiration pour lui et le souvenir de l’amitié qu’il nous porta jusqu’à sa mort. Nous
ne pouvons que regretter que des études aussi précieuses que les siennes n’aient pas
été faites sur toute l’étendue de l’île, à un moment où l’âme néo-calédonienne n’avait
pas encore cédé à l’envoûtement d’une civilisation dont les produits matériels et
mentaux ne sont pas toujours bons pour l’exportation.
Avançant avec prudence, soutenus par les travaux de Maurice Leenhardt, nous
avons pu dire par exemple qu’une cérémonie gravée a pu avoir lieu dans telle condi-
tion et grâce à son tableau des correspondances des rites, des travaux agricoles, des
proclamations de tabous et des levées des interdits (Leenhardt, 1930, 132), nous avons
pu quelquefois dater approximativement les scènes figurées. La présence presque con-
stante d’allusions agricoles nous a aussi permis d’évoquer un calendrier rural illustré
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Museum de Stuttgart 117
qui nous permet de situer dans l’année, les actions et les gestes, sacrés ou profanes —
puisqu’ils se recouvrent sans cesse — situés près des vignettes précises qu’il est possible
de qualifier de points de repère chronologiques. Si nous insistons avec certitude sur la
puissance des rites agraires, ce n’est pas par une déformation de l’esprit. Il ne s’agit pas
d’une suite aux théories solaires, fulgurantes, stellaires, agraires, chères aux écoles
mythologiques. Nous avons suffisamment de renseignements précis pour savoir qu’ici,
l’attribution des symboles à la végétation domestiquée n’est pas un jeu de l’esprit
ou un parti-pris: l’igname étant le centre des préoccupations des Néo-Calédoniens,
il va de soi que son culte gouverne leur vie.
Si, aidés par des textes gravés comportant presque des traductions graphiques,
nous avons suivi à plusieurs reprises l’itinéraire mental des Néo-Calédoniens, dont la
main légère traduisait des concepts lourds de sens, si nous croyons pouvoir dire que
les rites agraires dominent cette forme de notation de la pensée, si nous avons pu
décrire avec assez de précision, croyons-nous, des scènes entières, nous nous refusons à
établir un dictionnaire des idées émises par les graveurs et à constituer un catalogue
des traductions possibles. Il est saugrenu d’imposer un tracé rectiligne à une pensée
étrangère qui, pour notre entendement, suit un chemin sinueux, tel celui choisi par
le lézard bénéfique et protecteur! Nous ne pouvons pas démonter le mécanisme
mental des Canaques quoique nous ayons pu les surprendre parfois en train de combler
le hiatus qui sépare leur pensée de la nôtre, lorsqu’ils schématisent intelligemment la
rationalisation visible quoique hésitante, de leur pensée jusqu’alors mythique. Maurice
Leenhardt va jusqu’à écrire que, par l’abandon de la simple observation des phéno-
mènes naturels pour la proclamation, par le prêtre, verbalement et manuellement, de
la date des travaux agricoles, qui entraînent automatiquement, tant les tabous que les
levées d’interdits, ,Ja datation est en voie d’être transcendée“ (Leenhardt, 1947, 104).
Nous avons cependant fait une exception à cette règle: l’étude approfondie de leur
méthode nous autorise à parler d’un essai d’idéogramme. Il s’agit d’un signe géo-
métrique presque omniprésent qui, à notre avis et selon notre expérience, signifie à la
fois „plantation d’ignames“, „année alimentaire“, „vie“.
Ce signe semble affecté d’une grande plasticité. Mais le plus souvent c’est un
rectangle aux angles arrondis, cartouche géométrique, orné de décors intérieurs et
extérieurs variables. Son aspect général a un „air de famille“. Cette souplesse gra-
phique prouverait-elle qu’il s’agit d’une tentative encore non définitive, en puissance
donc, de création d’un idéogramme concentrant tous les symboles agricoles, que l’on
retrouve sous forme réaliste ou géométrique, sur presque tous les bambous gravés?
M. Leenhardt, auquel il faut toujours revenir en cas de doute, nous dit que pour
exprimer le temps, le Canaque se borne à „mettre en rapport un sujet et un prédicat,
ou pour être plus simple, moi et mon action“ (Leenhardt, 1947, 108). Au lieu alors
de la somme de toutes les actions pour qualifier son année agricole, il a condensé en
ce cartouche géométrique les gestes agricoles déjà symbolisés par des abréviations
stylisées. On sait que de telles figures, si lourdes de sens, ont tendance à dépasser leur
signification première et à intervenir dans des matières souvent étrangères à leur
fonction initiale, tant est grande la piété qu’elles inspirent. Les différences ornemen-
tales, dues peut-être à la dévotion plus ou moins affinée, plus ou moins récente, pour-
118
Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenbach
rait aussi s’expliquer par l’origine topographique. Nous aurions dans ce cas un exemple
de graphie multiforme interprétée identiquement suivant les lieux et les tribus. Ici,
l’explication strictement agraire de cette contraction gravée ne peut non plus être
mise en doute.
Une sociologue française analysant, dans la langue des sociologues, quelques scènes
gravées sur bambou, a, avec une déconcertante désinvolture, utilisé cette définition
comme s’il allait de soi que ce dessin représente la plantation ou la vie. Nous admi-
rons cette facilité qui a permis à l’auteur de rejoindre nos conclusions. Heureuse con-
vergence du hasard? Mais, quant à nous, nous continuerons à avancer dans le déchif-
frement des bambous néo-calédoniens avec une extrême prudence, car le dossier
n’est pas clos.
Bambou No. 1 (43, SIg. Messner), fig. 1 et 2
Long de 1120 mm, au diamètre de 34 mm, léger, clair, à l’écorce lisse sur le pre-
mier entre-noeud, légèrement striée sur le reste de sa surface, il se compose de 4 entre-
noeuds et présente, vers l’une de ses extrémités (région de la fig. 2), une légère cour-
bure. Il est très fendu. Chaque extrémité se termine par un noeud ouvert à son centre.
Les motifs se subdivisent en quatre registres, chacun séparé de l’autre par un
noeud du bambou.
1er. registre (haut de la fig. 1). — Douze bandes en zig-zag de 375 mm de lon-
gueur, hachurées horizontalement, sont comprises entre deux étroites bandes horizon-
tales hachurées en croisé. Il s’agit sans aucun doute du signe de l’eau, que nous avons
retrouvé ainsi figuré sur de nombreux bambous, quoique le signe représentant la trace
du lézard annonçant des promesses de bonheur, soit également la ligne brisée,
2ème registre (bas de la fig. 1). — Nous sommes au bord de la mer. Trois tortues,
un crabe et deux moules ouvertes placés au bas gauche de ce registre l’attestent visible-
ment. Les deux lignes brisées, hachurées, gravées à gauche, pourraient représenter la
pluie ou la surface de la mer — comme nous l’avons déjà déterminé sur un bambou
des collections de Genève (Dellenbach et Lobsiger, 1942, 27).
A part un cheval, deux poissons et trois personnages sans activité visible, le reste
de ce registre est consacré au bananier, au cocotier et à l’igname. En haut, à gauche,
deux plants de bananiers, à l’envers, partent d’une ligne de base hachurée en croisé,
alors que trois autres plants se trouvent au-dessous, mais en position normale. Puis à
droite, en bas de ce registre, d’abord trois bananiers partant d’une ligne de terre,
hachurée obliquement, et au-dessous une bananeraie composée de sept plants partant
d’une ligne de terre hachurée en croisé. Cette bananeraie reçoit de l’eau marquée par
la ligne vivrée verticale située au milieu du registre. La gravure de ces arbres, surtout
celle du haut à gauche, est traitée suivant la meilleure tradition néo-calédonienne,
feuilles et régimes fort intelligemment notés. Notons encore un bananier situé au som-
met de la ligne brisée au tronc duquel un Canaque, coiffé du haut bonnet tressé,
s’agrippe. Or, on sait qu’il est impossible de grimper au „tronc“ d’un bananier. Le
graveur qui nous montre, placé juste à côté, un Canaque grimpé à un cocotier, a-t-il
voulu, par une sorte de comparaison, nous dire qu’un des siens allait cueillir des
bananes?
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Museum de Stuttgart 119
A gauche de ce registre, au-dessous de trois bananiers,
trois cocotiers sont gravés. Les noix sont indiquées sur les
exemplaires latéraux et sur celui du centre seuls les spa-
dices apparaissent. On voit encore deux cocotiers sur ce
registre; un à l’extrême-droite avec un indigène grimpé
au tronc et cueillant une noix, l’autre en bas à gauche,
à l’extrémité de la bananeraie signalée ci-dessus.
En haut, à droite, on aperçoit la sempiternelle plan-
tation d’ignames, en position normale, avec le sillon en
demi-lune, trois tuteurs et les petits roseaux „ciba“ qui
guident la pousse sortant de la buttée jusqu’au tuteur
(Leenhardt, 1930,120, fig. 25). Faut-il interpréter la bande
hachurée qui entoure le tuteur comme représentant la
masse du feuillage de l’igname arrivant à maturité? Ce
serait alors, pour nous, une nouvelle façon de représenter
cette plante grimpante qui est à la base de la nourriture
matérielle et spirituelle des Néo-Calédoniens.
120
Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenhach
Entre les deux premiers bananiers, à gauche, tête en bas, et la plantation d’ignames
que nous venons de décrire, s’inscrit une seconde plantation d’ignames, avec gros
tuteurs non ébranchés. Côté féminin ou côté masculin du sillon? Là, deux propositions
peuvent être faites. Sillon féminin parce que les tuteurs ne sont pas ébranchés; sillon
masculin, à cause de la proximité de la bananeraie1). Si nous nous référons à une
explication donnée à M. M. Leenhardt par un indigène (Leenhardt, 1930, 120, fig. 25),
nous voyons que le tuteur, le sillon, la buttée et le roseau „ciba“ sont bien notés, qu’un
bouquet „Kao ai“ formé de feuilles de „diro“ (Leenhardt, 1930, 21; 1935, 85) conte-
nant la pierre-igname qui assure la fertilité du planton mis en terre, est attaché au
sommet du mât pour assurer la grimpée de la plante. Nous pouvons encore ajouter
que, si cette adaptation d’un rite local est légitime, nous sommes au mois de décembre
(Leenhardt, 1930, 132, 1ère colonne).
3ème registre (haut de la fig. 2). — Nous sommes en présence de champs labourés.
Nous avons pu lire ce signe tant de fois sur les bambous gravés que nous n’hésitons pas
à dire qu’ici les douze rangées verticales de triangles dont quelques-uns sont opposés
par la pointe, créant ainsi entre eux des losanges non hachurés, figurent la terre retour-
née au pieu aratoire, chaque triangle simulant le dos d’âne dans lequel sera enterré le
planton d’igname ou la semence en général. Cette gravure indique le mois de sep-
tembre, date à laquelle on défonce le sol pour planter l’igname en octobre (Leenhardt,
1930, 132).
En bas de la dernière rangée de droite on aperçoit trois motifs en „papillon“ qui,
suivant une de nos lectures, pourraient figurer la somme des espoirs du village en
rappelant les „trocas“ couvrant les mâts propitiatoires (Lobsiger-Dellenbach, 1958,40).
Nous ne voulons pas prêter au graveur des intentions qu’il n’a sans doute pas eues,
mais nous pouvons nous demander pourquoi le quatrième „papillon“ (en comptant
depuis le bas) comporte une seule aile à gauche et, à droite, un long rectangle hachuré
répété un peu plus haut à gauche et au-dessus dépassant de part et d’autre la ligne
verticale centrale? Si nous voulions à tout prix trouver une explication, nous rappelle-
rions qu’en 1939 (Dellenbach et Lobsiger, 1939, 125) nous avons reconnu dans un de
ces rectangles, placé presque en traduction juxtaposée dans un ensemble d’ignames
réalistes — quoique schématisées — une stylisation de cette même igname réduite à
cette forme géométrique pour manque de place. Dans cette prière graphique que sont
x) Dans ses Notes d’Ethnologle (1930, 108) Maurice Leenhardt note la place in-
férieure occupée par le bananier dans la mystique rurale des Néo-Calédoniens.
M. Leenhardt (1930, 114) décrit la différence entre le côté masculin et le
côté féminin des sillons. Ceux-ci ne sont pas creux mais se présentent sous forme
d’un dos d’âne formé de terre rapportée, donc très meuble, qui assure un rendement
bien connu en ignames. Pous déterminer conventionnellement le sexe du sillon, les
Canaques plantent des rangées de bananiers. Nous renvoyons aux Notes d’Ethnolo-
gie pour les renseignements fournis par M. Leenhardt par les indigènes quant aux
raisons qui leur font planter des bananiers, appel au bon vent dans les cultures, abri
ombré pour le lézard protecteur des plantations ou habitat fixe pour ce précieux
ami.
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Muséum de Stuttgart 121
les „papillons“, la présence de ces ignames stylisées évoquerait-elle le motif de cette
imploration?
4èmc registre (bas de la fig. 2). — Le motif du „papillon“ („trocas“) répété 44 fois
en cinq alignements verticaux rattache ce registre au précédent. Au bas de la deuxième
rangée, depuis la gauche, on note sur 5 cm le signe de l’eau sous forme de la ligne
brisée habituelle et dans la quatrième rangée, toujours depuis la gauche, on voit un
losange hachuré, en troisième position depuis le bas. Dans une précédente étude
(Lobsiger-Dellenbach, 1951 (b), 114 et fig. 3, 115) nous avions pu traduire ce losange,
entouré d’un contexte relativement clair, comme „nuage“ et „pluie“. Il serait étonnant
que dans ce registre consacré à matérialiser la somme des espoirs et des prières des
agriculteurs canaques, le signe de l’eau, sous forme d’aqueduc d’irrigation ou sous
forme de pluie, ainsi que ce symbole de nuage, donc de la pluie, soit intercalé par
hasard. Nous pouvons donc voir, dans ce dernier registre, l’appel à l’eau fécondante
sous ses deux aspects, naturel et artificiel, qui a lieu en janvier (Leenhardt, 1930,
132 et 123—125).
Conclusions. — Une fois de plus nous surprenons le Canaque se déplaçant sans
difficulté dans le monde terrestre qu’il cultive et le monde supranaturel dont il
invoque la protection par des rites et des prières. Le cheval du deuxième registre, mal
dessiné, apparaissant comme une surajouture, la paix relative des champs est percep-
tible. Les prières schématisées en motifs géométriques doivent assurer une bonne
récolte. Toutes les précautions rituelles ont été prises.
Bambou No. 2(18 613, Slg. Krongut), fig. 3 et 4
Long de 1215 mm, au diamètre de 43 mm, léger, de couleur claire, à l’écorce très
légèrement striée, il se compose de deux entre-noeuds, le noeud central situé à peu
près au centre. Chaque extrémité se termine à un noeud dont l’un d’entre eux est
ouvert, l’autre fermé. Il est fendu et faiblement courbé.
1er registre (fig. 3). — Au sommet, au centre du relevé, un navire à deux mâts —
dont la gravure présente semble-t-il un essai de perspective — aux voiles carguées,
haubans et hunes visibles, un marin s’affairant sur le mât de misaine près du petit
hunier, beaupré dessiné en plan, gouvernail et ancre placés à la poupe, est flanqué
à droite de cinq grosses tortues et à gauche d’une case de grand format. La toiture,
sommée d’une grande flèche faîtière est hachurée d’une manière fantaisiste. Devant
la case quatre hommes sont accroupis; deux d’entre eux fument la pipe. Entre les deux
mâts du navire se trouvent deux rangées inversées de quatre fusils à pierre. Au-dessus
d’eux, un sémaphore très simplifié, manoeuvré par un personnage placé à l’intérieur
de la tour. Nous verrons dans le bambou No. 3 des dessins de sémaphores beaucoup
mieux exécutés que celui-ci.
La scène suivante encadrée en haut par la coque du navire que nous venons de
décrire et en bas par une série de poissons dont nous parlerons plus loin comporte:
deux cases classiques dont le paillage de l’une d’entre elles (celle de droite) est en train
d’être terminé par deux hommes; une plantation de taros (à gauche) aux feuilles bien
122
Marguerite et Georges Lobsiger-Dellenbach
Fig. 3
Fig. 4
reconnaissables, située en face — ici, au-dessous2) — de deux bananiers aux régimes
nettement signalés et aux rejets visibles; un sillon d’ignames, classique, avec ses trois
2) Il faut toujours redresser, par notre perspective, les motifs gravés sur les bambous.
Deux gravures placées l’une au-dessus de l’autre sont, dans la réalité, placées l’une
en face de l’autre.
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Museum de Stuttgart 123
tuteurs autour desquels la plante est enroulée, ses tubercules représentés sous la forme
de petits quadrilatères hachurés, sillon situé en face de quatre cocotiers, et onze per-
sonnages de grande taille. Les deux personnages du haut tiennent chacun un bâton,
comme trois autres aussi dans la frise du bas. Ce bâton figurerait-il un bambou dont
les noeuds seraient indiqués par les petits traits horizontaux? Entre les deux cases un
guerrier canaque classique; pagne, aigrette fichée dans la coiffure, hache traditionnelle
et sagaies classiques. Deux personnages, en haut, et cinq personnages de la frise du bas
peuvent être interprétés de deux façons; ou vêtus d’une veste (ou dolman) à boutons
ou porteurs de pagne et de peintures corporelles sur la poitrine comme celles figurées
par M. Leenhardt (1930, 1, fig. 1).
Seize poissons, bien ordonnés en trois groupes horizontaux, sont attaqués par
deux pêcheurs munis chacun d’une foëne. Au-dessous des poissons sont gravés 20 fusils
en deux rangées, s’opposant par la crosse. Dix des onze fusils de la rangée du haut ont
leur crosse hachurée et la crosse des 9 fusils de la rangée du bas est ponctuée.
A gauche, dans une cour située entre deux cases à flèches faîtières ornées de tritons
esquissés sans recherche, deux hommes, aigrette en tête, sont en face de quatre petites
cases latérales. Dans cette cour un certain nombre de petits triangles pourraient figurer
les pierres servant à coter les marmites (Dellenbach et Lobsiger, 1942, 13, note 1, 109,
fig. 21).
Deux personnages asexués sont placés au-dessus des deux premières petites cases.
Entre eux on remarque des pointillés qui, nous le savons pour l’avoir lu à plusieurs
reprises, peuvent se traduire par deuil, cendres, enduit corporel (Dellenbach et Lob-
siger, 1942, 13, note 2). Nous nous demandons si l’on peut établir un rapport entre
ces pointillés et ceux qui remplissent les crosses des fusils dont nous parlions ci-dessus?
Si nous continuons notre lecture en allant vers la droite nous retrouvons deux cases à
longue flèche faîtière ornée des tritons traditionnels et deux personnages dont l’un
porte aigrette à la chevelure et hache à la main gauche.
Nous voyons encore 4 personnages, deux horizontaux, deux verticaux, dont l’un
semble être debout sur un cheval. Nous ne pensons pas que l’artiste ait voulu désigner
un cavalier, car ce personnage a certainement été gravé après le cheval; il est plus
court, plus ramassé que les autres personnages de ce bambou. L’artiste a rempli la place
qui lui restait. Le cheval est gravé avec le manque de soins que l’on trouve assez
souvent sur les bambous archaïques ou sur des bambous provenant de régions où la
colonisation n’est arrivée que tardivement. Cet animal nouveau pour le Néo-Calédo-
nien a été, pour lui, difficile à représenter.
Pour terminer ce premier registre le graveur nous replonge dans une scène agricole:
triangles opposés par la base donnant des „papillons“ comme nous les avons vus sur le
bambou précédent (Lobsiger-Dellenbach, 1951 (a), 321 et 328), symboles des tuteurs
d’ignames entourés de tiges feuillues et, pour terminer cette plantation, une scène
d’accouplement. Le sexe de la femme est figuré sous la forme d’un carré. Peut-être
sommes-nous en février (Leenhardt, 1930, 132) moment de la levée des interdits
sexuels.
2éme registre (fig. 4). — La première partie de ce registre contient une colonne de
13 poissons (à gauche) nageant dans la direction d’une pirogue à voile, avec gouver-
nail, mais pas de balancier, au gréement typiquement néo-calédonien, gravée au-dessus
124
Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenhach
d’une frise de sept fusils à pierre dont six ont la crosse hachurée et un la crosse pointil-
lée. A droite, trois cavaliers dont celui du haut galope, fouet en main. Le corps du
cheval central est recouvert de pointillés. Cette première partie de registre se termine
par une frise de 21 fusils à pierre aux crosses ponctuées. Ce rappel de la frise de fusils
du premier registre doit certainement avoir un sens. Dans chaque cas un des fusils
supérieurs a la crosse ponctuée et les autres hachurées et dans chaque cas également les
crosses des fusils de la rangée inférieure sont ponctuées.
Au-dessous, à gauche, apparaît le motif que nous avons déterminé comme étant le
symbole de la plantation d’ignames, d’année agricole, et peut-être de vie (Dellenbach
et Lobsiger, 1941 (a), 108 note 2 et Leenhardt, 1947, 325). Ici, l’assemblage insolite,
placé au-dessus du rectangle, des signes „tuteurs en janvier, couverts de tiges feuillues“
démontre sans doute que si des tribus néo-calédoniennes avaient des symboles com-
muns, elles pouvaient les transcrire selon des concepts locaux. Peut-on exiger un
synchronisme parfait dans la gravure sur bambou, même en éliminant le génie indivi-
duel du graveur obligé de se tenir plus ou moins aux règles locales?
A droite du relevé deux grandes cases en face l’une de l’autre cernent une cour
bordée latéralement de cocotiers. Dans la cour se trouvent six personnages sans arme
et une plateforme supportée par trois pieds destinée soit à recevoir les offrandes des
champs soit à recueillir un mort. Disséminés autour de ces deux motifs essentiels on
compte plusieurs personnages dont cinq à barbiches et deux portant une canne (ou un
bambou gravé?). Ils sont en vestes à boutons ou au buste orné de peintures thoraciques.
Le plus grand de ces personnages s’accouple à une femme beaucoup plus petite que lui,
placée à ses pieds comme le veut l’imagerie érotique de ce genre artistique. Tout à fait
à gauche, un personnage, tête en bas par rapport aux précédents, épaule un fusil dont
la crosse est ponctuée (Lobsiger-Dellenbach, 1951 (b), 106). Cette arme gravée de
cette façon apparaît pour la troisième fois. Serait-ce celle d’un assassinat?
Une plantation d’ignames, tuteurs en place, petits roseaux qui guideront la plante
nouvelle vers les tuteurs mis en place, nous indique le mois d’octobre (Leenhardt, 1930,
120, fig. 25). Douze fusils en deux rangées de six s’opposant par la crosse, chaque fois
hachurée, fait suite à la plantation.
Une assez jolie scène de pêche est gravée au-dessous de la double frise de fusils et
de la plantation. Deux hommes tendent un filet dont les poids sont indiqués devant un
banc de poissons rabattus par trois aides munis de baguettes (avec lesquels ils frappent
l’eau pour effrayer le poisson). Deux de ces „effrayeurs“ portent un petit sac à main
(Dellenbach et Lobsiger, 1939, 321 et 1941 (a), 105). Dans le voisinage de ce banc de
poissons, une pirogue à balancier est montée par un homme assis près du gouvernail.
Deux mauvaises esquisses de femmes terminent ce registre. A gauche, la femme veut
certainement représenter une Néo-Calédonienne, un bâton à la main, un sac suspendu
à l’épaule, les cheveux ébouriffés et les seins gravés latéralement voulant donner l’im-
pression du gonflement de la blouse. A droite, la femme a la taille cintrée, à son coude
est suspendu un sac à main et elle tient un parapluie fermé. Le graveur a-t-il voulu
nous donner le portrait d’une Néo-Calédonienne évoluée ou celui d’une coloniale?
On ne peut guère retenir, au point de vue de la gravure de ce bambou, que les
deux grandes places de village (1er et2ème registre) et la scène de pêche (2ème registre).
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Museum de Stuttgart 125
Bambou No. 3 (87 436, SIg. Dr. H. Meyer), jig. 5
Long de 790 mm, au diamètre de 52 mm, clair, légèrement strié, fendu, ouvert aux
deux extrémités, il se compose d’un entrenoeud. Il n’est pas complet. Il a été coupé,
après avoir été gravé, à 30 mm au-dessous d’un noeud. Le sciage a eu lieu au-dessous
d’un motif dont on aperçoit la partie supérieure au bas de la fig. 5.
Sous une bande étroite hachurée en croisé, on aperçoit à gauche un sémaphore placé
au sommet d’une tour à deux étages dont l’inférieur est percé de portes et de fenêtres.
Deux échelles partent du plancher du deuxième étage et donnent accès à la plateforme
sur laquelle est fixé le sémaphore manoeuvré par un homme qui certainement
obéit aux instructions d’un compagnon qui examine son secteur d’observation au
moyen d’une longue-vue. A droite, deux motifs peuvent s’interpréter comme des palmes
et un troisième comme un araucaria columnaris.
Entre une des palmes et l’araucaria apparaît un trois-mâts carré (full-rigged ship)3)
dont le gréement classique est dessiné schématiquement. Le graveur a omis les trois
voiles basses, sans doute pour pouvoir présenter les haubans des mâts. Les voiles
carrées sont figurées trop petites et le pavillon de poupe est démesuré. La coque a
curieusement la forme d’une jonque.
Sous le sémaphore apparaît un autre appareil de transmission; il s’agit probable-
ment d’un télégraphe optique qui a inspiré quelquefois la faculté d’observation des
graveurs (Dellenbach et Lobsiger, 1941 (b)). Les deux étages, dont seul le deuxième
est percé de fenêtres, sont surmontés d’une plateforme entourée d’une balustrade. Une
échelle ou un escalier conduit du sol à cette plateforme sur laquelle un homme, coiffé
de ce que l’on peut prendre pour un béret marin, longue-vue dans la main gauche, met
en action, de la main droite, les poulies de manoeuvre schématisées par un seul
élément. On peut croire que l’opérateur fait tourner une manivelle.
A droite de ce sémaphore on note une construction dont la forme et la présence de
trois fusils nous autorisent à la qualifier de poste de garde. La charpente, minutieuse-
ment dessinée en transparence est du type européen. Les trois fusils dressés devant
l’édifice suggèrent le classique faisceau, désarticulé selon les meilleures traditions
canaques, afin de pouvoir exhiber chacun de ses éléments. La perspective étant absente,
l’alignement des parties est indispensable pour signaler le tout.
Quelques traits ébauchés sous le pavillon du trois-mâts carré, de vagues essais
de figuration de coque avec sabords et pavillon sous le poste de garde et sous le
télégraphe optique et un oiseau, tous gravés sans précision, laissent croire à un remplis-
sage ultérieur de vides par un amateur sans talent. Il ne peut être l’auteur des gra-
vures principales qui, lui, au contraire, fait preuve d’une faculté d’observation éton-
nante démontrée dans l’exécution de cet „album“ de divers types de navires français.
Une forêt d’araucarias columnaires nous rappelle la proximité de la mer, si la
présence des navires n’était pas suffisante.
Un brigantin, placé à droite des araucarias, d’une exécution très soignée, très
détaillée, donne la preuve de l’aisance du graveur de ce bambou. La forme de la
3) Nous remercions très vivement Monsieur Louis Favre, de Genève, membre de
l’Académie de marine de Paris, d’avoir bien voulu mettre sa science à notre service
en décrivant les bateaux de type européen et nous assurant ainsi de la précision de
l’observation de l’artiste canaque.
126
Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenhach
coque est parfaite, le gréement est complet, sauf en ce qui concerne les voiles d’étai
et le hunier volant, sans doute omis pour présenter le haubanage. Les laises de la
grand-voile n’ont pas été oubliés. Un pavillon tricolore à la corne et en tête du grand
mât de flèche et une oriflamme en tête du petit mât de cacatois. Le gouvernail et sa
roue sont visibles.
Sous la forêt d’araucarias apparaît une goélette franche (schooner) au gréement
bien reproduit. La misaine et la grand-voile sont dessinées à bordure libre (sans
home). Cependant le palan d’écoute de la grand-voile est gravé à l’emplacement où
il se trouverait si la borne existait. On peut en déduire que l’artiste a oublié de repré-
senter cette borne, alors qu’il note deux traits remplis de hachures à la misaine. Les
laises des deux voiles sont fidèlement notées. La présence de deux seuls focs prouve
qu’il ne s’agit que d’une petite goélette.
A sa droite, et sous le brigantin, apparaît une barque (bark) dont les mâts sont
exactement décalés à l’emplacement de leur assemblage. Les basses voiles ont
cédé le pas aux haubans. Un pavillon démesuré en tête du petit mât de cacatois, une
esquisse de flamme en tête du mât de flèche d’artimon laissent croire à des pavillons du
code de signaux.
Un quadrilatère indéfinissable (aqueduc?) surmonte un personnage coiffé du bon-
net de paille traditionnel mais dépourvu d’aigrette.
Avant d’arriver à une ligne horizontale qui coupe le dessin nous remarquons
encore, à gauche, une maison probablement européenne, à la charpente bien observée,
séparée d’une case indigène à grande flèche faîtière, par deux araucarias columnaires
et le sommet d’une grossière esquisse renversée d’un bateau européen. La flèche faîtière
qui surmonte la case indigène représente un masque sommé d’un ornement carré à
pointes et appendices latéraux orientés vers le bas, analogue à celui mentionné par
F. Sarasin (1929, 42, fig. 11, masque de Canala). A droite de cette case, un araucaria
Rulei a probablement été gravé après le grand quadrilatère qui se trouve à droite de
notre relevé. Ce quadrilatère contient de larges bandes vivrées que nous pourrions
traduire comme le signe de l’eau, peut-être bassin de retenue duquel sort une ligne
sinueuse qui, elle aussi, selon une symbolique universelle, présente aussi en Nouvelle
Calédonie, représenterait l’eau coulant dans les aqueducs indigènes. Vers la base, cette
ligne sinueuse est doublée.
Au-dessous de la ligne horizontale séparant le dessin en deux, nous retrouvons
comme ci-dessus deux habitations l’une à côté de l’autre: une européenne, mal esquis-
sée, avec charpente apparente et partant du toit un motif en ligne brisée (décrit ci-
dessus) que nous avons traduit comme le signe de l’eau; la deuxième, indigène, avec
son haut toit de paille surmonté d’une grande flèche faîtière supportant un masque et
une brochette de tritons schématisés, avec „kataras“ flanquant la porte.
Sous la maison européenne on remarque le symbole des sillons d’ignames, soit un
groupement de chevrons.
Sous un cotre (cutter) de petit tonnage, gravé rudimentairement avec trait en
tête du mât qui pourrait s’interpréter comme une flamme indiquant un cotre armé,
se situe un ensemble de motifs géométriques. Nous y reconnaissons des dessins non-
figuratifs qui, depuis plusieurs années, représentent à nos yeux la pensée canaque plus
128
Marguerite et Georges Lobsiger-Dellenbach
encore que les subtiles vignettes hachurées qui couvrent la surface des bambous
étudiés (Lobsiger-Dellenbach, 1951 (a), 328). Avec cet ensemble nous avons l’impres-
sion de vivre dans la symbolique canaque. Les chevrons sont les sillons d’ignames.
L’opposition entre les chevrons de la première rangée et ceux de la deuxième rangée
marque les sillons masculins et les sillons féminins classiques de l’agriculture indigène.
Huit quadrilatères formés chacun de six triangles hachurés avec soin et chaque fois en
sens contraire, semblent, une fois de plus, représenter la plantation, non une plantation
spécialisée, mais la plantation générique. Les lignes brisées parallèles dont chaque angle
est muni d’un petit rectangle pourraient-elles signifier autre chose que l’eau dont nous
avons parlé plus haut? Ces lignes brisées représenteraient-elles la tige de l’igname
s’enroulant autour d’un tuteur, lequel ici est supprimé — jugé peut-être inutile dans
l’esprit du graveur? Les appendices horizontaux pourraient être les feuilles de l’igname.
Nous nous basons, pour formuler cette interprétation, sur de nombreuses lectures de
bambous. Quant aux triangles opposés par la pointe qui terminent cet ensemble de
motifs géométriques ils sont certainement le symbole de la terre retournée au pieu.
Si l’hypothèse des feuilles d’ignames est acceptable, nous aurions un repère
chronologique: fin décembre, moment où les feuilles de l’igname atteignent le sommet
du tuteur, juste avant d’être rabattues par le planteur, vers la terre (Leenhardt,
1930, 132).
A bien examiner cet ensemble de géométriques nous sommes amenés à considérer
les motifs relevés plus haut comme devant avoir la même signification que ceux-ci.
L’irrigation de toute plantation est indispensable. Elle est marquée ici par une première
ligne brisée verticale partant de la ligne horizontale pour arriver sur la première ligne
de terre des sillons d’ignames et une deuxième, plus large, partant de cette même ligne
de terre et sert de marge, à gauche, à l’ensemble géométrique.
Ces deux complexes géométriques démontrent combien il est difficile sinon im-
possible de donner immédiatement une explication définitive. Celle-ci dépend du sens
de la scène représentée, c’est-à-dire du contexte, en même temps qu’elle dépend de la
qualité de l’esprit et de l’intention de l’artiste. Ce bambou, couvert d’allusions à la
marine et aux moyens de transmission mécanique des idées, peut n’avoir aucun sens en
lui-même, mais pouvait suggérer au lecteur canaque des idées, lui rappeler des faits,
lui fournir des points de repères géographiques et chronologiques, lui permettre de
retrouver le sens d’un récit tout comme les noeuds des quipus permettaient aux spécia-
listes péruviens d’interpréter le „texte“ noué.
A gauche de ce grand cartouche géométrique est placé un brick. Il est situé au-
dessous des deux cases précédemment décrites. Sa coque et ses voiles sont hachurées
en croisé, ce qui peut laisser supposer qu’un troisième artiste a orné ce bambou. La
voile de misaine semble fendue en deux. Peut-être pour mieux exhiber les haubans?
Dans ce cas, la technique diffère d’avec celle utilisée par le dessinateur des trois-mâts
carrés, du brigantin et de la barque. La grand-voile de misaine est omise.
Une pirogue indigène à balanciers et à deux mâts, placée sous le brick, est semblable
à une autre pirogue à balancier et à deux mâts placée à droite de notre relevé. Cette
dernière est manoeuvrée par un personnage placé à sa poupe.
Entre ces deux pirogues se tiennent deux personnages dont celui de gauche vêtu à
l’européenne porte, semble-t-il, une casquette tandis que celui de droite est un sorcier,
-. jfr—r~
Les bambous gravés de Nouvelle-Calédonie du Linden-Museum de Stuttgart 129
couvert de son masque-cagoule. Une écharpe de balassor flotte à son poignet gauche.
Au-dessous de lui on voit une case qui pourrait être une église surmontée d’une croix.
Des ouvertures à la base et dans la partie supérieure de cet édifice pourraient repré-
senter des portes et des fenêtres. Il a plus ou moins l’aspect d’une case indigène et l’on
s’en étonne car le graveur qui a si bien observé les divers types de navires, qui a su
faire la différence entre un télégraphe optique et un sémaphore aurait dû mieux
observer l’église. Est-ce qu’instinctivement le graveur ayant voulu représenter un
bâtiment qui n’est ni une maison européenne ni une case indigène, mais un édifice à
flèche faîtière (la croix) a créé un hybride mental que sa main a traduit d’une
singulière façon?
Au-dessous de la pirogue de gauche, on aperçoit un personnage coiffé du haut
bonnet de paille qui tient à la main les sagaies habituelles. A côté de lui un quadri-
latère enferme de petits dessins qui au premier abord pourraient être pris les uns pour
des cases indigènes surmontées de flèches faîtières en forme de croix et les autres pour
des maisons européennes dont le pignon serait également surmonté de flèches en forme
de croix. La proximité de ce que nous supposons être une église peut-elle nous faire
supposer que ce quadrilatère représente une station missionnaire ou un village dans
lequel vivent côte à côte des Canaques et des Européens? Sous la pirogue placée à
droite de notre relevé on lit trois cases grossièrement esquissées dont les flèches
faîtières, de grandes dimensions, sont rudimentaires. Trois oiseaux et quelques grossiers
motifs parsèment les vides entourant „l’église“.
La gravure de ce bambou se termine par un alignement d’araucarias columnaires
débutant à droite d’un tertre (ou montagne) qui affirme une fois de plus que l’on est
au bord de l’eau. S’agit-il d’une allée des morts? Aucune définition n’est ici autorisée
puisque c’est à cet endroit que le bambou a été scié, coupant une partie qui devait
porter également des gravures puisque nous en voyons le départ.
Ce bambou a été gravé par au moins deux artistes, sinon par trois, ou même par
quatre. Il est un catalogue précis de six types de navires européens. Il contient égale-
ment des scènes agricoles typiquement symbolisées et la représentation de pirogues
indigènes. L’acculturation est visible et fort intelligemment représentée. Une fois de
plus notre attention est attirée par la faculté d’observation des Canaques, par leur
aisance à noter des détails précis. Par exemple, dans le cas du trois-mâts carré et de
la barque l’artiste a peut-être gravé des navires de la compagnie Bordes qui faisaient
le voyage Bordeaux-Australie (blé et laine) aux sabords peints en trompe-l’oeil, détail
qui nous interdit leur traduction en vaisseaux de guerre, ce que le reste de la vignette
d’ailleurs exclut d’emblée4).
Bambou No. 4 (119 666, SIg. Heinrich) fig. 6
Long de 612 mm, au diamètre de 42 mm, à l’écorce claire, légèrement striée, ce
bambou est léger et fendu. Il n’est pas complet. Il a été scié après avoir été gravé car
le dessin est coupé. Il se termine par un noeud, ferme.
4) Il serait peut-être possible de vérifier à Bordeaux si les navires de cette compagnie
ont quelquefois touché Nouméa, ce qui nous permettrait de dater exactement la
gravure de ce bambou.
130 Marguerite et Georges Lohsiger-Dellenhach
Les cinquante personnages qui le recouvrent sont gravés avec une négligence que
nous avons rarement rencontrée, sinon jamais. A droite du relevé, vingt et un hom-
mes portent une majestueuse aigrette dans leur chevelure dressée et un bâton dans la
main gauche. A gauche, une file de vingt-neuf hommes n’ont pas d’aigrette dans leur
chevelure et presque tous ont également un bâton à la main droite. Tous ces person-
nages sont traités de la même façon: longilignes, cheveux hérissés, oreilles déformées,
la tête étant la simple prolongation du cou, les doigts et les orteils gravés individuelle-
ment. Une seule chose les distingue: l’aigrette. S’agit-il de la visite d’une tribu à une
autre tribu à l’occasion d’une cérémonie puisqu’on voit, à gauche de notre relevé,
une grande case et quelques personnages s’agitant dans la cour qui la précède? De
petits personnages, au nombre de dix-neuf, ont été intercalés parmi les deux colonnes
de grands personnages.
Il nous est guère possible d’aller plus loin dans l’interprétation de cette gravure,
d’autant plus que le bambou est incomplet.
Bibliographie
Dellenbach, Marg. et Lobsiger, G., 1939. — Essai d’interprétation de gravures néo-
calédoniennes incisées sur bambou. Archives suisses d’anthropologie générale,
T. VIII, No. 2, 105—148. Genève.
Dellenbach, Marg. et Lobsiger, G., 1941 (a). — Les bambous gravés néo-calédoniens
du musée de Bâle (Suisse). Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in
Basel, Vol. LII, 100—126. Bâle.
Dellenbach, Marg. et Lobsiger, G., 1941 (b). — Description d’un bambou gravé néo-
calédonien des collections ethnographiques du Musée de Berne. Archives suisses
d’anthropologie générale. T. IX, No. 3—4, 320—324. Genève.
Dellenbach, Marg. et Lobsiger, G., 1942. — Quelques aspects de l’existence des Néo-
Calédoniens d’après les bambous gravés. Le Globe, 42 p. Genève.
Leenhardt, Maurice, 1930. — Notes d’ethnologie néo-calédonienne. Université de
Paris, Travaux et mémoires de l’Institut d’ethnologie, VIII, Paris.
Leenhardt, Maurice, 1935. — Vocabulaire et grammaire de la langue houailou. Uni-
versité de Paris. Travaux et mémoires de l’Institut d’Ethnologie, X, Paris.
Leenhardt, Maurice, 1947. — Do Kamo, N. R. F. Gallimard, Paris.
Lohsiger-Dellenhach, M. et G., 1951 (a). — Dessins réalistes et motifs symboliques
gravés sur les bambous de Nouvelle-Calédonie. „Etudes sur l’Océanie“, Museum
für Völkerkunde, 318—330. Bâle.
Lobsiger-Dellenbach, M. ex. G., 1951 (b). — Description de trois bambous gravés de
Nouvelle-Calédonie (collection M. Ratton). Journal de la Société des Océanistes,
T. VII, No. 7, 105—121. Paris.
Lohsiger-Dellenhach, M. et G., 1958. — Deux bambous gravés de Nouvelle-Calédonie
(collection de Lausanne). Journal de la Société des Océanistes, T. XIV, 37—50,
Paris.
Sarasin, Fritz, 1929. — Atlas zur Ethnologie der Neu-Caledonier und Loyalty-Insula-
ner. Kreidel’s Verlag, München.
Thomas S. Barthel
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
In einer früheren Studie habe ich die damals bekannten Materialien genealogischer
Art von der Osterinsel zusammengestellt und kritisch gewürdigt1). Inzwischen hat nun
Lanyon-Orgill aus seiner reichen Manuskriptsammlung zwei weitere Listen mit Häupt-
lingsnamen veröffentlicht, die eine willkommene Ergänzung bieten, und deren Unter-
suchung nach der linguistischen und historischen Seite hin angekündigt2). Uns ist an
dieser Stelle vor allem daran gelegen, die bisherige eigene Position zu überprüfen. An-
gesichts gewagter Versuche, wohlbekannte Genealogien für die Deutung von Rongo-
rongo-Texten heranzuziehen und umzudeuten3), erscheint es angebracht, alle tradi-
tionellen Daten sichtend und wägend zu kollationieren.
Für die Nomenklatur der bekannten Listen verweise ich auf meinen früheren Auf-
satz. Dort trägt jede Genealogie einen Kennbuchstaben (nach der Quelle), jeder Name
eine Kennziffer (nach seiner Position innerhalb der Liste). Zum Vergleich stehen die
Listen von Roussel (R 1—R 23), Jaussen (J 1—J 32) und Thomson (T 1—T 57) zur
Verfügung, ferner standardisierte Genealogien aus Quellen des 20. Jahrhunderts, von
denen die Version Metraux (M 1—M 30) stellvertretend herangezogen werden soll.
Die erste der neuen Listen (Slg. Lanyon-Orgill, Ms. Polyn. 623) stammt von
/. L. Palmer, der 1868 als Schiffsarzt der „Topaze“ die Osterinsel besuchte. Sie umfaßt
13 Namen und wird von mir unter dem Kennbuchstaben P (= Palmer) registriert.
Tafel 1 stellt die Parallelen mit dem bekannten Namensgut zusammen. Die Palmer-
Liste reicht vom Führer der Einwanderer, Hotu-matua, aus keineswegs bis zu den
Herrschern des 19. Jahrhunderts, sondern endet schon vorher. Abgesehen von einem
Einschub (P 4—P 5) stimmt sie in der Namensfolge genau überein mit dem Beginn der
modernen Listen. In dieser Hinsicht bereichert sie unser Wissen nicht, läßt aber doch
erkennen, daß dieser „moderne“ Traditionsfundus schon relativ früh festgelegt sein
muß. Die neuen Namen „Mirumiru“ und (korrigiert) „THHtuu-maha“ fehlen in den
bisher veröffentlichten Listen; die Lesart „Ihuhu“ leitet sich durch Reduplikation von
der Normalform „Ihu“ ab. Die Genealogie P läßt unsere früheren Folgerungen prak-
tisch unberührt.
Anders bei der zweiten, neu veröffentlichten Liste (Slg. Lanyon-Orgill, Ms. Polyn.
625). Sie gehört zu den bisher nicht publizierten und für verschollen gehaltenen Feld-
!) Barthel „Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel“, in: Tribus Nr. 8, S. 67—82,
Stuttgart 1959.
2) Lanyon-Orgill „Two Easter Island Genealogies“, in: Journal of Austronesian
Studies Vol. II Part 1, p. 8—10, 1960.
3) Bntinow „Korotkouchie i Dlinnouchie na Ostrowe Paschi“ (= „Kurzohren und
Langohren auf der Osterinsel“), in: Sowjetskaja Etnografija 1960, No. 1, S. 72—82.
Thomas S. Barthel
132
notizen der Routledge-Expedition, deren Entstehung auf die Jahre 1914/15 anzu-
setzen ist. 1920 wurde diese Genealogie, zusammen mit anderem Material, im British
Museum hinterlegt, und 1940 ließ Lanyon-Orgill davon eine photographische Auf-
nahme für sich anfertigen. Darin liegt ein besonders glücklicher Umstand, weil inzwi-
schen die ursprünglichen Unterlagen wieder verlorengegangen zu sein scheinen. Die
Routledge-Liste (nach ihrem Besitzer und Entdecker Lanyon-Orgill von mir mit dem
Kennbuchstaben L versehen) umfaßt nicht weniger als 69 Namen und steht damit
ihrem Umfang nach an der Spitze aller bisher veröffentlichten Genealogien. Tafel 2
gibt die Korrelation zu den Listen T, J, R, L und M; evidente Korrekturen sind in
Parenthese beigefügt.
Ein Vergleich lehrt, daß ein ausgesprochen enges Verhältnis zur Genealogie
Thomson besteht, die 1886 (durch Vermittlung des tahitischen Halbblutes Salmon)
auf der Osterinsel erworben wurde. Nicht weniger als 41 Namen sind beiden Listen
gemein. Zwingend ist die Übereinstimmung in der Reihenfolge: Bis auf eine Umstel-
lung verlaufen die Sequenzen widerspruchsfrei nebeneinander. Der Unterschied zwi-
schen den Listen L und T liegt in dem verschiedenen Ausmaß der Interpolation zusätz-
licher Namen. Das innere Gefüge besonders der ersten beiden Drittel ist nur aus einer
gemeinsamen Traditionsquelle zu verstehen. Die Genealogie ]aussen (mit 21 sicheren
Parallelen) stimmt am Anfang und gegen Ende einigermaßen überein, unterscheidet
sich aber durch die unregelmäßige Namensverwürfelung im mittleren Abschnitt. Zieht
man die Genealogie Roussel zum Vergleich heran, so sind ähnliche Kontakte zu Beginn
und am Schluß gegeben, während eine weitere Passage (L 18—L 44) keinerlei An-
knüpfung bietet. Außerdem treten mehrfach Sequenzänderungen auf, das heißt Ver-
tauschungen in der Reihenfolge von Namen. Die Listen Palmer und Métraux bleiben
ebenfalls für den mittleren Abschnitt ohne Ertrag; andererseits stimmen die modernen
Listen jedoch weitgehend mit dem letzten Drittel der von Routledge aufgenommenen
Genealogie überein. Man erhält nach Art und Ausmaß der Parallelen fast den Ein-
druck, als ob alle überhaupt 1914/15 noch erinnerten Traditionen für Häuptlings-
namen in diesem Dokument zusammenfließen. Zwar waren die im 19. Jahrhundert
aufgenommenen Genealogien zur Zeit der Routledge-Expedition bereits gedruckt,
doch sind die Übereinstimmungen durchaus nicht so, als habe hier nachträglich ein
Rückfluß von Daten zur Osterinsel stattgefunden. Sowohl im Auftreten neuer Namen
bzw. Namensvarianten als auch in ihrer inneren Struktur kann die Liste L als eigen-
ständig und vertrauenswürdig gelten.
In sämtlichen bekannten Genealogien sind rund einhundert Personen enthalten.
Um die Nachprüfung und Orientierung zu erleichtern, stellt ein Index (Tafel 3)
Namen und Vorkommen zusammen.
Die ausführliche Routledge-Genealogie ist eine Quelle von hohem Rang, die durch
den Vergleich mit sämtlichen anderen Listen Relief und Aussagekraft gewinnt. Nach
ihren Parallelen mit den „kurzen“ Genealogien (vom Typ Roussel, Palmer und
Métraux) kann sie zwanglos in drei Abschnitte gegliedert werden: Abschnitt I für das
erste Drittel, mindestens so weit, wie die Namenssequenz der kurzen Listen reicht
(= L 1—L 19), vielleicht aber noch um die sechs Namen L 20—L 25 zu verlängern;
Abschnitt II für das zweite Drittel (bis L 44), in dem keine Namen der Listen R, P
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
133
oder M Vorkommen; Abschnitt III für das letzte Drittel (ab L 45), mit rezenten
Genealogien stark übereinstimmend. Bei dieser Gliederung liegt die wichtigste Zäsur
wohl vor dem Namen „Haumoana“ (L 45).
Die neue Liste übertrifft an Umfang alle Vorgänger: Von Hotu-matua bis zu
Ngaara werden nicht weniger als 61 Namen genannt. Wären damit tatsächlich histo-
rische Personen, in der Sequenz sich ablösender Herrscher, gemeint, so könnte man
daraus (selbst bei niedrigen Mittelwerten für die einzelnen Generationen) eine Zeit-
spanne von ca. 1200 Jahren ableiten und so die Osterinselgeschichte vom 19. Jahr-
hundert zurück bis in das 7. nachchristliche Jahrhundert verfolgen. Die kritische Ana-
lyse beweist jedoch, daß hier wie in den anderen Listen ähnliche Prinzipien befolgt
wurden, um die Anzahl der Namen bewußt oder unabsichtlich zu verlängern. Auf das
Gesamtmaterial der Genealogien von der Osterinsel bezogen, begegnen uns folgende
Verfahren, welche die Aufstellung einer brauchbaren Chronologie erschweren:
a) Im ersten Drittel der Thomson-Genealogie ist ein Ineinanderschieben von zwei
verschiedenen Namensfolgen, von denen eine der sonst überlieferten Herrscher-
sequenz entspricht, zu konstatieren.
b) In der Ao«55e/-Genealogie werden die gemeinsamen Kinder von Hotu-matua
und Vakai so hintereinander aufgeführt, als handele es sich um lineare Abkömmlinge.
Aus anderen Quellen können wir jedoch erschließen, daß hier eine Gruppe von Brü-
dern gemeint ist. Mit anderen Worten; Lateralverwandte, und damit die Begründer
von Junioren-Linien, können ein falsches Bild vorspiegeln.
c) Die Erläuterungen zu den Nachfahren des Herrschers Ngaara zeigen, daß u. U.
Kinder aus verschiedenen Ehen ebenfalls hintereinander, in listenmäßiger Aufzählung,
eingereiht werden.
d) Im zweiten Drittel der T homson-Genealogie sind Namen mythologischer Ge-
stalten enthalten. Gottheiten (atuaj und Urmenschen (tiki) erhöhten fraglos den Wert
der Abstammungsrechnung, sind aber für inselhistorische Überlegungen auszuscheiden.
e) Bezeichnenderweise tauchen im gleichen Kontext auch Namens-Serien auf, wie
sie in Genealogien anderer polynesischer Inseln als „Auffüllungsmittel“ recht beliebt
sind. Sowohl die Serie der „Tuhunga“ (mit maximal vier Gliedern) als auch die Serie
der „Puna“ (mit maximal drei Gliedern) tragen keineswegs zum Verständnis tatsäch-
licher Inselregenten bei.
Was für die T homson-Genealogie gesagt wurde, gilt uneingeschränkt auch für die
Routledge-Genealogie. Die Liste L zeigt darüber hinaus noch eine weitere Gefahr,
Namen mißzuverstehen:
f) L 55 tritt der Name „Te Rahaina“ auf. Er unterscheidet sich von sämtlichen
Namensparallelen durch das Suffix -na. Nun ist die Silbe na aber eine typisch ostpoly-
nesische Partikel, die ein Besitz- oder Zugehörigkeitsverhältnis ausdrückt und dann
zwischen zwei Nomina steht. Daraus ergibt sich eine Verknüpfung der auf zwei
Listenpositionen verteilten Namen zu einer Totalität als
Te Rahai na Morumoru.
„Morumoru“, der Zusatz zu „Te Rahai“, ist überhaupt nur hier belegt; offenbar
genügte der erste Teil des Namens vollständig, um seinen Träger zu identifizieren.
Wir fassen die Sequenz L 55—L 56 also als einen (zusammengehörigen) Namen auf.
134 Thomas S. Barthel
Die Form „Nui-tupahotua“ (L 53) weicht von der Normalform „Nui-tupahotu“
(1 49) durch das Suffix -a ab. Die Partikel a gibt, ähnlich wie na, eine Possessiv- oder
Abstammungsbeziehung an; sie verknüpft damit die scheinbar getrennten Namen von
L 53 und L 54 zu
Nui-tupahotu a Rekanu.
Mit Befriedigung dürfen wir feststellen, daß die „zerlegten“ Namen in Liste L sich
paarweise nahtlos aneinanderreihen.
Nach dieser Einsicht wäre prinzipiell zu untersuchen, wie weit anderswo Namens-
paare als solche zu erkennen und abzugrenzen sind. Aus dem Vergleich der verschie-
denen Listen gelangt man zu möglichen „Zweier-Sequenzen“, die verwürfelt, einge-
schoben, auf einen Namensteil reduziert oder ganz ausgeschaltet werden können. Der
ergänzende Namensteil ist oft erst durch Kenntnisse über die Struktur der Osterinsel-
gesellschaft deutbar. Manche Namenspaare gelten Brüdern, entsprechen also dem Kri-
terium b), so etwa „Honga“ und ,,Te Kena“ in L 59—L 60. Problematisch sind ferner
Namenspaare, die in Liste M eine vollständige Sequenz, in Liste L nur eine flankie-
rende Anlagerung zu der oben diskutierten Folge „zerlegter“ Namen bilden. Es
handelt sich dabei (in korrigierter Schreibweise) um
Toko-te-rangi / Kao-aroaro L 51—L 52 und M 13—M 14
Mata-ivi / Kao-hoto L 57—L 58 und M 15—M 16
Nach Routledge war „Mata-ivi“ der Sohn von „Tuu-ko-ihu“; „Toko-te-rangi“ der
Sohn von „Mata-ivi“; beider Namen bezeichneten später zwei Untergruppen der Miru
an der Westküste. Abgesehen von der Sequenzänderung sind in Liste L die Zusätze
mit kao interessant; „Brustseite“ (kao aroaro) und „Schulterseite“ (kao hoto) differen-
zieren wohl nicht nur räumlich, sondern auch qualitativ: Unter Hinzuziehung anderer
ostpolynesischer Dialekte ließen sich die Ausdrücke nämlich als Gegensatzpaar „bevor-
zugt“ - „abhold“ verstehen. Wie dem auch sei — der Verdacht liegt nahe, daß hier
reale Personen erläuternde Zusätze führen, und daß nur „Toko-te-rangi“ und „Mata-
ivi“ wirklich genealogischer Stellenwert zukommt. Ganz deutlich wird das explikative
Element in dem Namen L 47
Mahaki-tupa-ariki.
„Mahaki“ ist ein Terminus technicus für die jüngeren Geschwister eines Erstgebo-
renen, im weiteren Sinne für die Angehörigen von Junioren-Linien. „Tupa Ariki“ (der
„königliche“ Tupa), in der vorangehenden Position muß demnach als Senior,
„Tuu-kohio“ in der folgenden Position als Junior aufgefaßt werden. Die
Schreibweise L 48 ist eine Metathesis von dem in korrespondierender Stellung T 47
erscheinenden Namen „Tuu-koiho“. Damit aber stoßen wir auf eine Persönlichkeit
von zentraler Bedeutung in der Inselfolklore, die uns bereits in dem früheren Aufsatz
zu beschäftigen hatte. Wenn man genealogische Fragen nach „Tuu-koiho“ (Variante:
„Tuu-koihu“) stellt, so weichen seine heutigen Nachfahren geheimnistuerisch aus. Die
Liste L liefert jetzt dafür eine sehr plausible Erklärung: Da „Tuu-koiho“ kein Erst-
geborener war, handelt es sich hier um einen Bruch von einer Senioren- zu einer Junio-
ren-Linie, also um einen Makel für eine so berühmte und legendenumwobene Gestalt,
den zu verschweigen eine verständliche Prestigefrage geworden ist. Aus welchen Grün-
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
135
den „Tupa Ariki“ von seinem jüngeren Bruder „Tuu-koiho“ abgelöst wurde, ist nicht
bekannt. Für die Aufstellung einer verläßlicheren Chronologie ist jedenfalls damit ein
wertvoller Ansatzpunkt gewonnen. Übrigens zeigt die Schreibweise L 47, daß die ent-
sprechende Verballhornung T 46 („mahiki tapuakiti“) nicht so berichtigt werden
darf, wie ich es in Entsprechung zu dem Namen in modernen Listen früher als
„Mahaki Tapu Vae Iti“ angenommen hatte. Dieser Beleg seinerseits läßt darauf schlie-
ßen, daß bereits einmal zuvor, nämlich im Anschluß an den Herrscher „Tuukanga“
(M6 - T 12), ein Junior in die Reihe aufgenommen wurde. Es ist wohl kein Zufall,
daß auch an diesem Punkt die Listen wieder charakteristisch divergieren.
Das Studium der Routledge-Genealogie führt aber noch weiter. Wenden wir uns
zunächst jener Dreiteilung zu, die sich aus der Gegenüberstellung mit den „kurzen“
Listen ergab:
Der erste Abschnitt wird durch seinen Einsatz mit dem Einwandererführer Hotu-
matua charakterisiert. Zumindest für fünf seiner Nachfolger (Tuu-maheke, Miru,
Ataranga, Ihn und Tuukanga) läßt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung in den
verschiedenen Listen nachweisen. Diese nicht weiter reduzierbare Folge stellt ein Mini-
mum an historischen Häuptlingen dar; wieweit sie sich ausdehnen läßt, indem man
auch seltenere Namensüberlieferungen berücksichtigt, ist schwer abzuschätzen. M. E.
kann man bei Berücksichtigung der oben erwähnten Fehlerquellen kaum mit mehr als
10 Inselherrschern nach Hotu-matua rechnen. Wir dürften nicht allzuweit von der
Wahrheit entfernt sein, wenn wir für das erste Drittel eine reale Zeitspanne von zwei
Jahrhunderten (plus/minus 50 Jahre) ansetzen.
Der dritte Abschnitt beginnt in nahezu allen Listen übereinstimmend mit dem
Namen „Haumoana“, Ich komme später auf die Chronologie von „Haumoana“ bis
„Ngaara“ zurück und bespreche zunächst den mittleren Abschnitt:
Dieser endet nämlich in der Thomson-Geneslogie mit einem Namen „Te Riri-
katea“ (T 43), der — nach Routledge — als Vater des einwandernden Häuptlings
Hotu-matua historisch belegt ist. Wenn nun der letzte Name des Mittelabschnittes dem
letzten Herrscher vor der Einwanderung entspricht, so wird man zu dem Schluß ge-
drängt, daß hier extra-insulares Material, nämlich eine Namensliste aus der Heimat
Hotu-matuas, eingeschoben worden ist. Ansätze zu einer solchen Deutung des Mittel-
abschnittes sind freilich nicht neu; aber erst die Routledge-Genealogie ermöglicht es
nun, diese Einschaltung genau abzugrenzen: Die „Puna“-Serie und der Name
„Havini“ (L 42—L 44 und T 39—T 42) koinzidieren mit halbmythischen Passagen
einer südmarquesanischen Genealogie; die „Tuhunga“-Serie (L 39—L 40 und T 33 bis
T 36) handelt von einer „Meister“-Gruppe und nicht von politischen Häuptlingen; der
Name „Tukuma“ (L 38 und T 32) wiederholt sich in zwei Vor-Einwanderungslisten.
Mit dem Namen „Tiki-te-hatu“ gelangen wir schließlich bis an den Beginn mensch-
licher Wesen zurück. In vormenschlicher Urzeit tauchen dann Götter auf: Atua-ura-
ranga" (L 26) oder „Atua-ure-rangi“ (T 17) sowie „Atua-mata“ (L 27). Mit anderen
Worten: Der Mittelabschnitt (L 26—L 44 bzw. T 17—T 43) schildert die logische Evo-
lution von Gottheiten über Menschwerdung und Ahnen in der Heimat bis hin zum
Vater des einwandernden Häuptlings. Solche Namen sind zwar von hohem Interesse
für die Herkunftsbestimmung der Einwanderer, aber gänzlich ungeeignet für eine
136
Thomas S. Barthel
Rekonstruktion der Inselgeschichte, und müssen daher im folgenden ausgeklammert
werden. Die Nahtstelle zwischen dem ersten (= inselhistorischen) Abschnitt und dem
zweiten (= extrainsularen, mythologisch-semihistorischen) Abschnitt ist genau zu be-
stimmen in der Folge T 16—T 17, wo die letzte (reale) Person von Teil I, ein Häupt-
ling („Mahuta Ariki‘(), mit der ersten (irrealen) Gestalt von Teil II, einem Gott
(Ätna Ure Rangi“), zusammenstößt. Wie die Zweier-Sequenz L 24—L 25 (wegen der
Parallele mit dem Paar J 14—J 15 ist „Ahurihau Nuitepatu“ wohl als Einheit zu ver-
stehen) zu deuten ist, wirft schwierige Fragen auf. Man könnte u. U. darin sogar einen
Hinweis auf einen Krieg (nui-te-patu wörtlich „groß ist das Schlagen“ zu übersetzen)
erblicken.
In Abschnitt III ist für die Einschätzung des zeitlichen Abstandes zwischen „Hau-
moana“ und „Ngaara“ weniger die genaue Abfolge der Herrscher — Vorgänger und
Nachfolger sind in unterschiedlichen Listen gelegentlich vertauschbar — als deren
verläßliche Anzahl ausschlaggebend. Die relative Stellung der Namen zueinander in
den Genealogien kann für die Rekonstruktion ebenso nützlich sein wie kompakte
Namensserien.
Als Minimum hat man von „Haumoana“ bis zu „Ngaara" mit sechs verschiedenen
Inselhäuptlingen zu rechnen, wenn man von dem nüchtern-knappen Material der
RousseTGenealogie ausgeht. Ohne hier alle Schritte des Vergleichens und Abwägens
nachzuvollziehen sei hier das unmittelbare Ergebnis meiner Rekonstruktionsbemühun-
gen vorgelegt. Vertauschbare Namensfolgen habe ich durch () markiert, die von
„Tuu-koiho“ ausgehende Linie der westlichen Miru graphisch angedeutet. Ngaaras
Tod um das Jahr 1860 soll als zeitlicher Festpunkt gelten; davon ausgehend sind
Generationsabstände alternativ als 25 bzw. 20 Jahre eingetragen, um so eine unge-
fähre Vorstellung von den Epochen der jeweiligen Inselhäuptlinge zu gewinnen;
1635 — 1660
1660 — 1685
1685 — 1710
d)
1710— 1735
1735 — 1760
1760 — 1785
1785 — 1810
1810—1835
1835 — 1860
Haumoana
/Anakena
'Tupa-Ariki
Marama Ariki
Nui-tupahotu
/Te Ravarava \
'Te Rahai /
Kai-makoi
Ngaara
Tuu-koiho
/Mata-ivi ^
Hoko-te-rangiJ
1680 — 1700
1700 — 1720
1720 — 1740
1740 — 1760
1760 — 1780
1780 — 1800
1800 — 1820
1820 — 1840
1840 — 1860
Fehler in der Personenzahl und solche in der Herrschaftslänge dürften sich gegenein-
ander einigermaßen auf heben. Wenn man maximal zehn gesicherte Herrscher anneh-
men will, so käme man für den Beginn des Abschnittes III bis in die Mitte des 17.
Jahrhunderts. „Tuu-koiho“ erschiene an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, also
in recht guter Übereinstimmung mit meiner früheren Berechnung (an Hand einer Fa-
miliengenealogie), die seine Existenz jedenfalls nicht später als um 1700 ansetzte. Es
wäre Selbsttäuschung, einen höheren Grad von Genauigkeit anstreben zu wollen;
wenn wir Personen im genealogischen Abschnitt III bis auf 30—50 Jahre genau, solche
im Abschnitt I bis auf 60—100 Jahre Variationsbreite bestimmen können, ist schon
viel erreicht.
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
13 7
Die wiedergefundene Routledge-Genealogie kann also (auf dem Hintergrund der
Г homson-Genealogle) folgendermaßen verstanden werden:
Abschnitt I von Hotu Matua bis Mahuta Ariki etwa zehn tatsächliche Inselhäupt-
linge (ca. 1450 [1400 ?] bis 1650).
Abschnitt II von Atua Ura Ranga bis Те Riri Katea als außerinsulare Namens-
folge von den Göttern bis zum Vater des Einwanderers Hotu Matua
(Zeitspanne von der Urzeit bis zum Verlassen der alten Heimat).
Abschnitt III von Haumoana bis Ngaara etwa zehn tatsächliche Inselhäuptlinge
(Zeitspanne von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis unmittelbar vor
Zusammenbruch der Osterinselkultur).
Schließlich sei noch ein weiterer Gedanke angedeutet: Die Zerschneidung der
Häuptlingsfolge, und damit der Inselhistorie, in zwei Abschnitte, getrennt durch den
Rückgriff auf Überlieferungen vor der Einwanderung, fällt nun bezeichnenderweise
mit einer ausgesprochen kritischen Phase zusammen. Nach genealogischen und archäo-
logischen Daten dürfte nämlich die Mitte des 17. Jahrhunderts den großen Konflikt
zwischen den Hanau-momoko und den Hanau-eepe gesehen haben! Anders ausge-
drückt: Der Strom der Überlieferung von Nachfolgern des Hotu Matua, das heißt von
Häuptlingen der Hanau-momoko, wird etwa dort unterbrochen, wo entscheidende
Kämpfe mit den gefährlichen Widersachern stattfanden; er setzt wieder ein in jener
Ära, in der die Hanau-eepe vernichtet wurden. Hier liegt vielleicht ein Ansatz, um
Osterinselgeschichte aus lapidaren Namenslisten zu verstehen.
138
Thomas S. Barthel
Tafel 1:
Häuptlingsliste Palmer im Verhältnis zu anderen Genealogien
p 1 Hotu Matua R 1 J1 TI L 1 M 1
p 2 Tuo-maheke (— Tuu-maheke) R 2 J2 T 2 L 2 M2
p 3 Miru R 9 J3 T 4 L 4 M3
p 4 Mirumiru — — — L 5 —
p 5 Tuotuo-maha (= Tuutuu-maha) — — — — —
p 6 Ataranga R 10 J 7 T 8 L 10 M 4
p 7 Ihuhu (= Ihu) R 12 — T 10 L 16 M 5
p 8 Tuokanga (= Tuukanga) — — T 12 L 19 M6
p 9 Mahaki — — — — M 7
p 10 Nga-uka — — — — M 8
p 11 Haumoana R 16 — T 44 L 45 M 9
p 12 Anakena — — T 48 L 49 M 10
p 13 Tupa R 17 — T 45 L 46 M 11
Tafel 2:
Häuptlingsliste der Expedition Routledge im Verhältnis zu anderen Genealogien
L 1 Hotu-matua TI J1 R 1 P 1 M 1
L 2 Tuu-maheke T 2 J2 R 2 P 2 M2
L 3 Nuku T3 — — —
L 4 Miru T 4 J3 R 9 P 3 M3
L 5 Mirumiru — — — P 4 —
L 6 Hatamiru — J4 — — —
L 7 Hinararu (= Hinariru) T 5 — — —
L 8 Mirumiruhata (— Miruhata) — J5 — — —
L 9 Mitiaka (= Mitiake) — J6 R 6 — —
L 10 Ataranga T 8 J7 R 10 P 6 M 4
L 11 Raa-raa (= Raa) T 7 — R 5 — —
L 12 Aturaka T6? J8? — — —
L 13 Urakikekina — J9 — — —
L 14 Hotuiti — R 7 — —
L 15 Hakapunga (— Hakapuna) T9 — — — —
L 16 Ihuhu (= Ihu) T 10 — R 12 P 7 M 5
L 17 Tuu — — R 11 — —
L 18 Ruhoi T 11 — — — —
L 19 Tukanga T 12 — R 13? P 8 M 6
L 20 Takahita T 13 — — — —
L 21 Uaraa T 14 — — — —
L 22 Koruaharua (= Koroharua) T 15 J 23 — — —
L 23 Mahuta T16 — — — —
L 24 Ahurihau — J 14 — — —
L 25 Nuitepatu — J 13 — — —
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
139
L 26 Atuauraranga T 17 J8? —
L 27 Atuamata
L 28 Uremata
L 29 Koruaronga (= Koruarongo) T 19 — — — —
L 30 Tiki-tc-Hatu T 20
L 31 Tikitena _
L 32 Urukenu T 21
L 33 Te-rurua T 22
L 34 Te-rikatea T 24 J 24?
L 35 Te-teratera
L 36 Te-riakautahito T 25 J 16
L 37 Te-uruakena T 28
L 38 Tukumakuma (= Tukuma) T 32 —
L 39 Te-tuuhunga-haroa T 35 J 12 —
L 40 Te-tuuhunga-hanui T 34 J 11 —
L 41 Toati-rango T 37 — — —
L 42 Havinivini (= Havini) T 39 J 20 —
L 43 Puna-haka T 40
L 44 Puna-atetuu T 41
L 45 Haumoana T 44 R 16 P 11 M 9
L 46 Tupaariki T 45 — R 17 P 13 M 11
L 47 Mahaki-tupa-ariki T 46 —
L 48 Tuu-kohio (= Tuu-koiho) T 47 — R 15?
L 49 Anakena T 48 — P 12 M 10
L 50 Marama — M 12
L 51 Tokokerangl (= Tokoterangi) — — — — M 13
L 52 Kao-aruaru (= Kao-aroaro) — — — — M 14
L 53 Nui-tupahotua T 49 — — — —
L 54 Rekanu T 50 — — — —
L 55 Te-rahaina T 53 J 22 R 19 — M 17
L 56 Morumoru — — — — —
L 57 Mataivi — — R 18 — M 15
L 58 Kao-hoto — — — — M 16
L 59 Honga — — — — M 22
L 60 Tekena — — — — M 23
L 61 Tuukoihu — — — — M 24
L 62 Nga-araara (= Ngaara) T 55 J 29 R 21 — M 25
L 63 Nga-araara-erua — — — — M 26
L 64 Kai-makoi T 54 J 25 R 20 — M 27
L 65 Rukunga — — — — M 30
L 66 Kaimakoi-ita (= Kaimakoi-Iti) (T 56) (J 28) — — (M 28)
L 67 Punapuna — — — — —
L 68 Kaimakoi-ita (= Kaimakoi-iti) (T 56) (J30) — — (M 28)
L 69 Maurata T 57 J31 — — —
140
Thomas S. Barthel
Tafel 3:
Index der Namen in den Häuptlingsgenealogien
Ahurihau L 24, J 14 (Ahurihao)
Anakena L 49, T 48, P 12, MIO, A/F 10 (.. . a Hau-moana)
Araranga L 10, T 8, J 7 (. .. a Miru), R 10, P 6, M 4, A/F 4 (... a Miru)
Atuamata L 27
Atuauraranga L 26, J 8 (Atuuraranga)
Atua Ure Rangi T 17
Aturaka L 12
Aturangi T 6
Flakapuna T 9, L 15 (Hakapunga)
Hanga Rau (a Anakena) A 11
Hatamiru L 6, J 4 (Hata-miru)
Haumoana L 45, T 44, R 16, P 11, M 9, A 9 (. .. a Nga Uka), F 9 (.. . a Nga Uka te Mahaki)
Havinivini L 42, T 39 (Havini Koro), J 20 (Flavini-koro)
(Te) Fletuke M 19, A 21/F 20 (... a te Ravarava)
(Te) Hetu-tara-kura J 26
Hinariru T 5, L 7 (Hinararu)
Hirakautehito J 16; vgl. Riakautahito
(Ko te) Hiti-rua-nea T 27, J 19 (Hiti-rua-anea)
Honga L 59, M 22, A 24 (... a FlotuitI), F 24 (. .. a Tun)
Hotuiti L 14, R 7, M 21 (. . . ko-te-mata-iti), F 22 (. . . a Miru), A 23 (. . . ko te Mata Nui
a Tuu)
Hotu-matua L 1, T 1, J 1 (Hoatumatua), R 1 (Hotu), P 1, M 1, A/F 1
Huero J 27
Ihu R 12, L 16 (Ihuhu), T 10 (Oihu), P 7 (Ihuhu), M 5, A/F 5 (. . . a Ataranga)
(Te) Kahui tuhunga T 33, J 10 (Kahui tuhunga)
Kai-makoi L 64, T 54 (Kaimokoi), J 28 (Kaimakol I—III), R 20 (Kaimokohi),
M 27 (Kaimakoi), A 28 (Kai Makoi a Ngaara)
Kaimakoi-iti T 56, L 66/L 68 (Kaimakoi-ita)
Kao-aroaro M 14, L 52 (Kao-aruaru), A 16/F 15 (. . . a Tokoterangi)
Kao-hoto L 58, M 16 (Kaohoto), A 18 (Kao Floto a Mata Ivi), F 17 (Kaohoto a Mata-ivi)
(Te) Kena L 60, M 23, A/F 25 (... a Honga)
Koroharua T 15, J 23 (Koro-harua), L 22 (Koruaharua)
Korua-Rongo T 19, L 29 (Koruaronga)
(Ko te) Kura Tahonga T 30, J 18 (Kura-tahonga)
Mahaki P 9
Mahaki Tapu Vae Iti (a Tuukanga) A/F 7, M 7 (Mahaki-tapu-vaeti)
Mahaki-tupa-ariki L 47, T 46 (berichtigt)
Mahuta L 23, T 16 (. . . Ariiki)
Marama L 50, R 4, M 12, A 13/F 12 (... Ariki a Tupa Ariki)
Mataiva L 57, R18
Maurata L 69, T 57, J 31
Miru L 4, T 4, R 9, P 3, J 3 (... a Tumaheke), M 3, A/F 3 (... a Tuumaheke)
Miru-a-Hetuke (a te Ravarava) F 21
Mirumiru L 5, P 4
Miru-o-hata J 5, L 8 (Mirumiruhata)
Mitiake J 6, R 6, L 9 (Mitiaka)
Morumoru L 56
Nau Ta Mahiki T 23
Ngaara T 55, L 62 (Nga-araara), J 29, R 21 (GaLsra), M 25 (Nga-ara), A 27 (. .. a te
Titaanga Henua), F 27 (... a Tuukoihu)
Ngaara-erua M 26, L 63 (Nga-araara-erua), A 27 (erua a Ngaara)
Nga-uka P 10, M/A/F 8 (. . . te-mahaki (a Mahaki))
Nuitepatu L 25, J 15
[O
Nui Tupahotu T 49, L 53 (Nui-tupahotua)
Nuku L 3, T 3
(Te) Pito R 22, J 32 (. . . Gregorio)
(Ko te) Pu-i-te-Toki T 26, vgl. Tupu-i-te-toki
Puna-atetuu L44, T 41
Puna-haka L 43, T 40 (Puna-hako)
Puna-kai-te-vana T 42
Punapuna L 67
Raa T 7, R 5, L 11 (Raa-raa)
(Te) Rahai T 53, L 55 (Te-rahaina), J 22, R 19, M 17, A 19/F 18 (. .. a Kao-hoto)
(Te) Ravarava J 21, M 18, A 20/F 19 (... a Te Rahai)
Rekanu L 54, T 50 („Rikanu“ streichen)
(Te) Riakautahito L 36, T 25, vgl. Hirakautehito
(Te) Rikatea L 34, T 24
(Te) Riri-katea T 43, J 24
(Te) Riri Tuukura T 18
Riu Tupa Fiotu (a Marama Ariki) A 14/F 13
Rokorokohetau M 29, A 29 (Rokoroko he tau iti a Ngaara (he hangupotu)), F 29 (Roko-
roko Hetau a Ngaara)
Ruhoi L 18, T 11
Rukunga L 65, M 30, A 30 (. .. a Kai Makoi), F 28 (. .. a Ngaara)
(Te) Rurua L 33, T 22 (Te Ruru-a-Tiki-te-Hatu)
Takahita L 20, T 13 („Takahiti“ streichen)
Tangaroa Tatarara T 38
Taoraha Kaihahanga T31
(Te) Teratera L 35
Tiki-te-Hatu L 30, T 20
Tikitena L31
(Te) Titaanga Henua (a Tekena) A 26
Toati-rango L41, T 37 (Toati Rangi Hahe)
Tokoterangi M 13, L 51 (Tokokerangi), A 15 (. . . a Riu), F 14 (. . . a Riu Tupa Hotu)
(Te) Tuhunga nui J 11, T 34 (Te tuuhunga nui), L 40 (Te tuuhunga-hanui)
(Te) Tuhunga roa J 12, T 35 (Te tuuhunga roa), L 39 (Te tuuhunga-haroa)
(Te) Tuhunga marakapau J 13, T 36 (Te tuhunga mare kapeau)
Tukuma T 32, L 38 (Tukumakuma)
Tupa Ariki T 45, R 17, L 46, P 13 (Tupa), Mil, A 12 (. . . a Hanga Rau), F 11 (... a
Anakena)
Tupu-i-te-toki J 17, vgl. Pu-i-te-toki
Tu te Rei-manava T 29 (berichtigt)
Tuu L 17, R 11, F 23 (. .. a Fiotu iti)
Tuukanga-te-mamaru M 6, T 12 (Tukanga-te-mamaru), L 19 (Tukanga), P 8 (Tuokanga),
A/F 6 (Tuukanga a Ihu te Mamaru)
Tuu koiho T 47, L 48 (Tuu-kohio), vgl. Tuukoihu
Tuukoihu L61, M 24, F 26 (. . . a te Kena), vgl. Tuu koiho
Tuu-ko-te-mata-nui M 20, A 22 (. .. a Fietuke)
Tuukura R 8
Tuu-maheke L 2, T 2 (Taumaehcke), J 2 (Tumaheke), R 2 (Taumeeke), P 2 (Tuo-maheke),
M 2, A/F 2 (. . . a Fiotu Matua)
Tuutuu-maha P 5 (berichtigt)
Uaraa L21, T 14 (Ouaraa)
Urakikekena J 9, L 13 (Urakikekina)
Uremata L 28
(Te) Uruakena L 37, T 28 (Te Uru-akikena)
Ürukenu L 32, T 21
Vakai R 3
Zwei weitere Häuptlingsgenealogien von der Osterinsel
*
.
Otto Zerries
Eine seltene Keule von den Otschukayana (Ostbrasilien) im Staatlichen
Museum für Völkerkunde in München
Im Jahre 1913 wurde auf einer allgemeinen Auktion in München vom dortigen
Museum für Völkerkunde eine Keule mit der vagen Herkunftsangabe „Südsee“ er-
standen. Ihre wahre Provenienz wurde erst bei der nach dem letzten Weltkrieg not-
wendig gewordenen Durchsicht und Neuordnung der Südseesammlungen des Museums
im Jahre 1959 entdeckt, als sich ihr Typus keinem in der Südsee gebräuchlichen zu-
weisen ließ.
Der Verfasser erkannte in ihr eine typische Keule des längst ausgestorbenen In-
dianerstammes der Otschukayana oder Tarairiu in Nordostbrasilien, wie sie bisher
nur aus der ethnographischen Abteilung des dänischen Nationalmuseums in Kopen-
hagen bekannt war. Ploetz und Métraux bezeichneten noch 1930 (S. 63) das dort stän-
dig ausgestellte Exemplar als „Pièce unique au monde“. Indessen teilte der Kurator
der amerikanischen Sammlungen des Kopenhagener Museums, Herr Jens Yde, münd-
lich mit, daß noch ein zweites Exemplar in den Reserven aufbewahrt werde. Wäh-
rend seines Besuches im Münchener Völkerkundemuseum anläßlich der Eröffnung der
Ausstellung „Indianer vom Amazonas“, in die unser Gegenstand unter Nr. 381 des
gleichnamigen Kataloges (S. 152) eingebaut ist, nahm er die neu aufgefundene Otschu-
kayana-Keule in Augenschein und bestätigte, daß sie ganz offensichtlich das dritte
nunmehr bekanntgewordene Stück ihrer Art sei.
Sie hat die Museumsnummer 13-81-22 und ist aus schwerem, schwarzem Holz
gefertigt. Die Länge beträgt 94,5 cm, die größte Breite 13 cm, die maximale Dicke
1,5 cm. Ein rechteckiger Griff ist angedeutet, zum größten Teil behält der Schaft
gleichmäßige Breite, erweitert sich jedoch gegen das Schlagende zu und knickt dann
an beiden Schmalseiten um zu einem annähernd quadratischen Schlußstück mit ein-
wärts geschweiften Seiten. Auf beiden Seiten des Schlagendes sind in das harte Holz
mit schwarzem Harz je zwei Längsreihen kleiner Muschelringe eingelassen, die leider
teilweise ausgefallen sind. Da der Querschnitt zwar prinzipiell vierkantig ist, die
Breitseiten jedoch leicht gewölbt sind, handelt es sich nach Dietschy (1939, S. 170/71),
der das Kopenhagener Exemplar bespricht, um eine Bastardform zwischen der haupt-
sächlich in Guayana heimischen Vierkantkeule und der ostbrasilianischen schaufelför-
migen Ruder- oder Tellerkopfkeule. Das Schlußstück unserer Keule ähnelt bezeichnen-
derweise auch dem von Tanzkeulen der Oayana, eines Karaibenstammes im östlichen
Guayana (vgl. Roth 1929, Plate 1 b).
Das fast identische Stück im Kopenhagener Museum — der schmale Schaft ist dort
dicht mit Baumwollfasern umwickelt (vgl. Guides to the National Museum: Primitive
Tribes of the Tropics, Copenhagen 1956, Abb. S. 11 rechts) —
gehört zu den Seltenheiten, die bereits im 17. Jahrhundert im Kö-
niglich Dänischen Kuriositätenkabinett nachgewiesen sind. Ein
Ölbild des holländischen Malers A. Eckhout aus dem Jahre 1641,
ebenfalls im Besitz des Kopenhagener Museums, stellt einen Krie-
ger der „Tapuya“ mit einer solchen Keule dar. „Tapuya“ ist eine
Sammelbezeichnung für die linguistisch und ethnographisch höchst
heterogene eingeborene indianische Bevölkerung des nordöstlichen
Brasiliens, die heute bis auf geringe akkulturierte Reste ausgestor-
ben ist, im 16. und 17. Jahrhundert dagegen als Nachbarn und er-
bitterte Feinde der alten Osttupi-Völker — in deren Sprache „ta-
puya“ soviel wie „Feind“ bedeutet — eine wichtige Rolle spielten.
Ein anderes Gemälde von A. Eckhout von 1641 im dänischen
Nationalmuseum gibt eine Gruppe tanzender „Tapuya“-Indianer
vom Stamme der Otschukayana oder Tarairiu, die einst in der
Gegend des heutigen brasilianischen Staates Rio Grande do Norte
lebten, wieder. Alle Tänzer tragen Keulen derselben hier beschrie-
benen Art in den Händen, weshalb die Herkunft nicht nur des
Kopenhagener, sondern auch des Münchener Exemplars von diesem
Stamm kaum zweifelhaft ist. Das Alter der Münchener Keule
dürfte dem der Kopenhagener wenig nachstehen, wurde doch die
Haupthorde der Tarairiu spätestens 1721 vernichtet (Lowie 1946,
S. 563). Das Schicksal des Gegenstandes bleibt jedoch bis 1913 in
Dunkel gehüllt.
Literatur
Dictschy, Hans: Die amerikanischen Keulen und Holzschwerter . . .
Internationales Archiv für Ethnographie, Bd. XXXVI, Leiden
1939.
Guides to the National Museum: Primitive Tribes of the Tropics,
Copenhagen 1956.
Lowie, Robert H.: The Tarairiu — Handbook of the South Ameri-
can Indians, Vol. 1, The Marginal Tribes, Bull. 143, Bur.
Amer. Ethnol., Washington 1946.
Ploetz, Hermann, et Métraux, Alfred: La civilisation materielle et
la vie sociale et religieuse des indiens 2e du Brésil méridional
et oriental. Rev. Inst. Etnol. Univ. Nac. Tucumän, Tomo I,
Entrega 2 a, 1930.
Roth, Walter E.: Additional studies of the arts, crafts, and costu-
mes of the Guiana Indians. Bull. 91, Bur. Amer. Ethnol.,
Washington 1929.
Zerries, Otto: Indianer vom Amazonas, Ausstellungskatalog Mün-
chen 1960.
Otto Zerries
Otto Zerr tes
Eine seltene Keule aus Guayana im Besitz des Linden-Museums Stuttgart
In der 1958 erschienenen Festschrift für Paul Rivet veröffentlichte H. Lehmann
(S. 297 ff.) einen figürlich geschnitzten Zeremonialstab aus dem nordöstlichen Süd-
amerika, der voraussichtlich schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts in den Besitz der
Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris gelangte, wo ich ihn selbst im Frühjahr 1959
eingehend besichtigen konnte.
Es handelt sich um eine Art Zepter von 68 cm Länge, der von einer menschlichen
Figur gekrönt ist, die zwei doppelseitige identische Menschenköpfe in den Händen
hält. Die allgemeine Form des Zepters lehnt sich an die von schaufelförmigen Tanz-
keulen an, wie sie früher häufig, heute nur noch vereinzelt und in schlechter Aus-
führung von Karaiben- und Aruakstämmen in Guayana hergestellt werden. Im Stil
der Schnitzerei am Griffende vermutet H. Lehmann (1. c. p. 304) Einflüsse der Taino-
Plastik Westindiens. In der Ornamentierung des schaufelförmigen Endes erkennt er
Elemente der Malerei von Marajö, der an archäologischen Funden reichen Insel im
Delta des Amazonas. Er schreibt den bislang einzigartigen Gegenstand deshalb wohl
mit Recht einem Aruakstamm im nordöstlichen Südamerika zu.
Aus Gründen der im folgenden notwendig werdenden genauen Kenntnis aller
Einzelheiten sei dieses Gerät — Häuptlingsstab oder Tanzkeule — mit freundlicher
Erlaubnis der Bibliothèque Sainte-Geniève nochmals abgebildet (vgl. Abb. 1, 2), zumal
seine Reproduktion in der Rivet-Festschrift nur mangelhaft ausgefallen ist.
Bei einer anläßlich der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in
Stuttgart im Herbst 1959 eröffneten Ausstellung des Linden-Museums („Jäger, Pflan-
zer, Wanderhirten“) fiel mir die frappante Ähnlichkeit einer dort gezeigten Keule
aus Guayana mit dem eingangs besprochenen Zeremonialstab in Paris auf. Sie war
nach dem Kriege bereits in der Ausstellung des Linden-Museums „Die Welt der
Indianer“ zu sehen und ist in dem dazugehörigen Katalog (Nr. 679, S. 84) erwähnt
und abgebildet (S. 39). Auf meine Anfrage nach der Herkunft und der Art des Er-
werbs dieser Keule teilte mir Herr Gustos Fritz Jäger (Brief vom 2. 12. 1959) freund-
licherweise mit, daß sie im Jahre 1919 von Herrn Patty Frank, dem späteren Gründer
und langjährigen Leiter des Karl-May-Museums in Dresden-Radebeul, der damals
noch in Frankfurt lebte, dem Linden-Museum zum Geschenk gemacht wurde. Nach
Auskunft von F. Jäger hat P. Frank dieses Stück neben anderen möglicherweise aus
dem Museum der Herrnhuter Brüdergemeine erworben, es könnte demnach aus dem
18, Jahrhundert stammen (siehe Abb. 3—5). Nach Grundemann (S. 65 und Karte
gegenüber) begann die Brüdergemeine schon 1738 ihre Tätigkeit am Berbicefluß in
Britisch-Guayana, die sich später weiter östlich bis an den Corentyn ausdehnte und
bis 1812 fortgeführt wurde. Wichtigste Stationen waren Pilgerhut am Berbice und
11
146
Otto Zerries
Abb. 1 Abb. 2
Abb. 1. Zepter aus Guayana, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Paris, Gesamtansicht
von der Rückseite.
Abb. 2. Desgl. Vorderansicht der Figurengruppe am Griffende.
Ephrem und Hope am Corentyn. Die Mission umfaßte Teile der Warrau, Arawak,
Akawai und Galina (Karaiben); letztere besonders am Corentyn, wo sie 1844 ganz
in der Nähe von Ephrem und Hope verzeichnet sind.
Der Gegenstand ist unter der Inv.-Nr. 96 122 registriert und weist als Herkunfts-
bezeichnung lediglich den Vermerk „Guayana“ auf. Th. Koch-Grünberg, der damals
Direktor des Linden-Museums war, hat die Beschreibung im Katalog selbst wie folgt
verfaßt: „Keule, wahrscheinlich Zeremonialkeule, aus schwerem braunem Holz. Blatt
reich mit Ritzmustern verziert, Handgriff mit gepichter Faserschnur und mit Baum-
wollfaden umwickelt, von dem an jeder Seite zwei dicke Baumwollschnüre als Troddel
herabhängen. Zwischen Blatt und Handgriff ein Knauf, mit viereckigen Muschel-
Eine seltene Keule aus Guayana im Besitz des Linden-Museums Stuttgart 147
Scheibchen auf Pech besetzt, an beiden Ecken angeschnitzte Menschengesichter mit
Augen aus Muschelscheibchen (an dem Gesicht der einen Ecke sind die Muschelscheib-
chen heute nicht mehr vorhanden). — Gesamtlänge: 48,5 cm.“
Nicht erwähnt werden von Koch-Grünberg die beiden holzgeschnitzten, doppel-
gesichtigen Menschenköpfe, die dem Griffende aufsitzen und in besonderem Maße zum
Vergleich mit der Figurengruppe an dem Zeremonialstab in Paris herausfordern: ein-
mal das Phänomen der beiden Janusköpfe, zweitens die stilistische Verwandtschaft
der dreieckig zulaufenden Stirnteile mit dem breiten Rand (Haartracht?) und den
blockförmigen Ohren, dem geraden Abschluß der Stirnpartie zum Mittelgesicht hin
mit der in flacher Ebene liegenden rechteckigen bzw. dreieckigen Nase. Allerdings
fehlen an dem Stuttgarter Exemplar die aus Muschelringen gebildeten Augen. Die
beiden hier seitlich am Mittelknauf angebrachten Menschengesichter, die zum Griff-
ende zeigen, sind prinzipiell vom gleichen Typus; dazu kommt noch die vorgewmlbte
Mundpartie mit dem als geraden Strich markierten Mund, wie er sich auch an dem
beiden Köpfen des Pariser Exemplars findet. Die an letzterem dominierende men-
schenähnliche Gestalt zwischen den beiden Köpfen fehlt jedoch an der Keule des Lin-
den-Museums: die 3 cm hohen Köpfe sind auf gut 5 cm Breite eng aneinandergerückt.
Der 17,5 cm lange Griffteil ist in Form und Umwickelung dem des Zepters in Paris
sehr ähnlich. Es folgt der dort in dieser Form nicht vorhandene, teilweise noch mit
weißen Muschelplättchen besetzte Knauf von 4,5 cm Höhe und 6 cm Breite mit den
beiden seitlichen Gesichtern von etwa gleicher Länge und ca. 2 cm Breite. Möglicher-
weise läßt sich in den beiden voneinander abgekehrten, aber identischen Gesichtern
ein dritter Januskopf erblicken, der dann eine dritte Persönlichkeit repräsentieren
würde, ähnlich der Gestalt zwischen den beiden Köpfen an dem Gegenstand der
Bibliothek St. Genevieve.
Das Blatt der Stuttgarter Keule ist 23,8 cm lang und 8,4 cm breit. Es hat eine
langgestreckte rhombische Form, die an den „Dolch-Typus“ bestimmter Kampfkeulen
aus Guayana erinnert, von denen Roth (1924, Fig. 58 i; Tafel 37 b) ein Beispiel von
den karaibischen Akawai abbildet. Sowohl Akawai als auch Karaiben der Guayana-
Küste erzählten Roth (1. c. p. 173), daß ihre Vorfahren gewohnt waren, diese Art
Keule zu benutzen. Dietschy (1939, S. 164) korrigiert Roth (1924, S. 173), der eine
Angabe von Richard Schomburgk über einen Keulentyp, den er zwar bei den Maku-
schi angetroffen habe, der aber für die Maiongkong (= Makiritare) typisch sei, irr-
tümlich auf den „dagger type“ bezieht, während in Wirklichkeit die gewöhnliche
Schaufelkeule gemeint sei.
Dietschy nennt den „Dolch-Typus“ eine seltene Abart der Schaufelkeule; der
durchgehend rhombische Querschnitt spreche gegen eine Abkunft von der Ruderkeule.
Allerdings ist der Querschnitt unseres hier besprochenen Exemplars nicht rhombisch,
sondern flach elliptisch, was damit in Beziehung stehen mag, daß wir es offensichtlich
nicht mit einer Waffe, sondern mit einem Zeremonialgerät zu tun haben.
Der rhombische Umriß des Blattes der Stuttgarter Keule zeigt große Ähnlichkeit
mit dem Zepter in Paris, doch sind dort die beiden Ecken abgerundet, die Spitze lang-
gezogen und der Querschnitt stärker elliptisch. Die eingeritzten und mit weißer Farbe
ausgefüllten geometrischen, auf beiden Seiten identischen Muster des Blattes weichen
Abb. 3. Tanzkeule aus Guayana, Linden-Museum, Stuttgart, Gesamtansicht.
Abb. 4. Desgl. Griffende mit zwei Köpfen.
jedoch nicht nur in der Technik, sondern auch im Stil von der Marajö-Malerei auf dem
Blatt des Zepters in Paris ab. Die S-förmigen Ornamente erinnern vielmehr an ent-
sprechende Muster auf dem sonst anders geformten Blatt von Tanzkeulen der karaibi-
schen Oyana (vergl. Roth 1929, Tafel 1 B).
Ich möchte deshalb annehmen, daß wir es bei dem Stuttgarter Exemplar prinzipiell
mit einer Zeremonialkeule der Karaiben in Guayana zu tun haben, die in Anlehnung
an künstlerisch vollendetere Schnitzereien der Aruak des nordöstlichen Südamerika von
der Art des Zepters in Paris verfertigt wurden.
Bei dieser Schlußfolgerung haben wir ein Motiv der Schnitzerei außer acht gelassen
— die beiden Janusköpfe am Griffende und den möglicherweise dritten beiderseits des'
Mittelknaufs. H. Lehmann (S. 300) interpretiert die zwei Doppelgesichter auf dem
Pariser Zepter entweder als Trophäenköpfe oder als Masken, neigt jedoch offensicht-
Eine seltene Keule aus Guayana im Besitz des Linden-Museums Stuttgart 149
lieh letzterer Auslegung zu, der insofern beizustimmen ist, als die Darstellung von
Trophäen-Köpfen mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, da diese auf keinen
Fall doppelseitig sind. Indes fehlen Masken im nordöstlichen Südamerika, und
janusköpfige Masken sind auch aus dem übrigen indianischen Südamerika meines Wis-
sens nicht überliefert, ebensowenig holzgeschnitzte Idole solcher Art. In West-Indien
sind allerdings doppelgesichtige Steinstößel von Santo Domingo bekanntgeworden
(Fewkes 1907, S. 101, Fig. 6).
Nun fand K. Martin (1886, S. 28/29) bei den Buschnegern von Surinam, insbeson-
dere am oberen Suriname-Fluß am Eingang der Dörfer rohgeschnitzte Holzidole mit
einem Menschengesicht auf jeder Seite, die auf diese Weise beide Richtungen des Weges
unter die Aufsicht eines Wächtergeistes stellten. Es handelt sich hier zweifellos um ein
afrikanisches Erbe, denn der zweigesichtige Januskopf ist in fast allen Ländern der
Guineaküste und des Kongo verbreitet (Leuzinger 1959, S. 42), dem Heimatland der
Negersklaven, die seit 1712 in die Wälder der niederländischen Kolonie Guayana zu
entlaufen und eine selbständige ethnische Einheit zu bilden begannen. Das Motiv des
Abb. 5. Desgl. Gesichts-
darstellung an der Seite
des muschelbelegten Mit-
telknaufs.
150
Otto Zerries
Januskopfes kann daher schon im 18. Jahrhundert von dort auf die Kunst der benach-
barten Karaiben Einfluß genommen haben. Ich verweise dabei auf Lehmanns (1. c. p.
300) Bemerkung vom affenartigen Ausdruck der Hauptfigur des Pariser Zepters, der
auch als Wiedergabe negrider Gesichtszüge gedeutet werden könnte. An dem Exem-
plar des Linden-Museums sind diese Merkmale allerdings weit weniger ausgeprägt.
Im übrigen ist anzumerken, daß die Herrenhuter Brüdergemeine auch unter den
Buschnegern von Surinam seit 1765 das Evangelium verkündete (Grundemann, S. 66).
Über die Bedeutung der Janusköpfe an beiden Zeremonialgeräten aus Guayana in
Paris und in Stuttgart etwas Verbindliches auszusagen, ist außerordentlich schwierig.
Wenn wir daran festhalten, daß diese Gegenstände im wesentlichen doch indianischen
Ursprungs sind, so ergeben sich folgende schwache Anhaltspunkte: Die Darstellung
zweier nebeneinander stehender menschlicher Gestalten ist auf Tanzkeulen sehr häufig
(vergl. Stolpe 1927, Atlas). Ich habe früher einmal versucht, sie mit den Zwillings-
heroen in der Mythologie der Indianer Guayanas in Verbindung zu bringen (Zerries
1940). Bei denKalina werden die entsprechenden GestaltenTamusi und Yolokan tamulu
als Tag- und Nachtaspekt ein- und derselben Wesenheit aufgefaßt (De Goeje 1943,
S. 36/37) — und auch nur durch einen Stein in der Rassel des Medizinmannes reprä-
sentiert (1. c. p. 34). In ihnen ist also das Phänomen der Doppelseitigkeit angelegt,
ohne daß es von sich aus sichtbaren Ausdruck in einer materiellen Darstellung gefun-
den hätte.
Greifen wir das Motiv heraus, daß mit der jeweiligen Blickrichtung der Gottheit
eine besondere Bedeutung verbunden ist, so wären folgende Aussagen bemerkenswert:
Nach dem Glauben der Shipaya (Tupistamm am unteren Xingu) sitzt der Gott
Marusawa mit dem Gesicht nach Norden gewendet (Nimuendaju 1919/20, S. 1022).
Wenn er sich umdreht und heraufsieht, so müssen die Indianer sterben. Der von den
Guahibo am mittleren Orinoco am meisten verehrte Gott, der die heutigen Menschen
schuf, gilt als sehr schön (Zerries 1956, S. 232). Er sitzt mit dem Gesicht nach Westen.
Würde er nach Osten schauen, so wären die Menschen ebenso schön wie er.
Mehr als diese Andeutungen lassen sich im näheren und weiteren Umkreis der
mutmaßlichen Herkunft der beiden Zeremonialkeulen in Südamerika nicht eruieren,
wenn man von einigen janusgesichtigen Goldbechern aus der späten Chimu-Zeit ab-
sieht, die in Lambayeque und Huarmey an der nordperuanischen Küste gefunden
wurden.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß sich die Vorstellung und bildliche Dar-
stellung janusgesichtiger Gottheiten vor allem im östlichen Nordamerika findet, wie
sie jüngst Werner Müller (1956) gewürdigt hat. Vielleicht führt von ihnen eine Brücke
über die Antillen nach Guayana.
Literaturverzeichnis
Dietschy, Hans: Die amerikanischen Keulen und Holzschwerter in ihrer Beziehung
zur Kulturgeschichte der Neuen Welt. Intern. Archiv für Ethnographie, Bd.
XXXVII. Leiden 1939.
Fewkes, Jesse W.: The Aborigines of Porto Rico and Neighboring Islands. 25th Ann.
Rep. Bur. Amer. Ethnol. 1903/4. Washington 1907.
Eine seltene Keule aus Guayana im Besitz des Linden-Museums Stuttgart 151
Goeje, C. H. de: Philosophy, Intiation and Myths of the Indians of Guiana and
adjacent countries. Intern. Archiv f. Ethnographie, Bd. XLIV. Leiden 1943.
Grundemann, R.: Allgemeiner Missions-Atlas, Vierte Abtheilung: Amerika, Gotha
1871.
Lehmann, Henri: Un baton de Cérémonie du XVII6 Siede. Miscellanea Paul Rivet.
Octogenario Dicata II, Mexico. 1958.
Leuzinger, Elsy: Afrika, Kunst der Negervölker. In „Kunst der Welt“. Baden-Baden
1959.
Martin, K.: Bericht über eine Reise ins Gebiet des oberen Surinam. Bijdragen tot de
Taal-Land-en Volkenkunde van Nederlandsch Indie, Deel XXXV. Den Haag
1886.
Müller, Werner: Die Religionen der Waldlandindianer Nordamerikas. Berlin 1956.
Nimuendaju, Gurt: Bruchstücke aus Religion und Überlieferung der Sipaia-Indianer.
Anthropos Bd. XIV/XV. 1919/20.
Roth, Walter E.: An Introductory Study of the Arts, Crafts, and Customs of the
Guiana Indians. 38. Ann. Rep. Bur. of Amer. Ethnol. Smithsonian Institution.
Washington 1916/17.
Roth, Walter E.: Additional Studies of the Arts, Crafts, and Customs of the Guiana
Indians.. Bur. Amer. Ethnol. Bull. 91 Smithsonian Inst. Washington 1929.
Stolpe, Hjalmar: Collected Essays in Ornamental Art. South America, Atlas. Stock-
holm 1927.
Zerries, Otto: Makunaima und Pia. Paideuma Bd. I, Heft 8. Frankfurt 1940.
Zerries, Otto: Beiträge zur Ethnographie der Guahibo-Indianer des Territorio Ama-
zonas, Venezuela. Paideuma Bd. VI, Heft 4. Frankfurt 1936.
Buchbesprechungen
Ethnologica, Neue Folge, Band 2. Im Auf-
trag der Gesellschaft für Völkerkunde (Ver-
ein zur Förderung des Rautenstrauch-]oest-
Museums der Stadt Köln) herausgegeben von
W. Fröhlich. Völkerkundliche Forschun-
gen, Martin H e у d r i c h zum 70. Ge-
burtstag überreicht von Freunden und Schü-
lern, herausgegeben von W. Fröhlich. Köln:
Kommissionsverlag E. J. Brill 1960. XIX +
957 Seiten, 46 Tafeln, 117 Abbildungen.
Der Jubilar und sein Lebenswerk werden
von W. Fröhlich ausführlich gewürdigt. M.
Heydrich war Schüler von K. Weule; er kam,
wie mancher Andere, dessen Ausbildung In die
Jahre vor dem ersten Weltkrieg fiel, von Ge-
schichte, Geographie, Philosophie und Kunst-
geschichte zur Völkerkunde. (Ob die in der
Folgezeit durchgeführte und immer weiter
fortschreitende Isolierung der Völkerkunde
nicht weit mehr Schaden als Nutzen bringt,
wäre ernster Überlegungen wert.)
Die Mitarbeiter des Bandes sind folgende:
Th. S. Barthel (Wer waren die ersten
Siedler auf der Osterinsel), I. Bolz (Die
stilisierte Darstellung des Rochen in der
Moche-Kunst), FI. Damm (Versuch einer
Deutung der sog. Fetische von den Anacho-
reten-Inseln), H. D. Disselhoff (Noti-
zen zur Archäologie Westmexikos), R. Firth
(The Plasticity of Myth: Gases from Tikopia),
W. Fröhlich (Das westafrikanische Elfen-
beinhorn aus dem 16. Jahrhundert im Rauten-
strauch-Joest-Museum), C h. v. Fürer-
Haimendorf (The Role of the Mo-
nastery in Sherpa Society), F. W. Funke
(Betrachtungen zur Kulturgeschichte der Thai
an Hand einer Sammlung siamesischer Bud-
dha-Skulpturen aus 9 Jahrhunderten), J.
H а e к e 1 (Der Hochgottglaube der Dela-
waren im Lichte ihrer Geschichte), R. Heine-
Geldern (Politische Zweiteilung, Exoga-
mie und Kriegsursachen auf der Osterinsel),
F. J. D e H e n (A propos de quelques chants
de Fable Bolia), К. H i s s 1 n к (Notizen zur
Ausbreitung des Ayahuasca-Kultes bei Cha-
ma- und Tacana-Gruppen), H. Himmel-
heber (Einige Eigentümlichkeiten westafri-
kanischer Plastiken), A. E. J e n s e n (Prä-
kuschitische und prä-nilotische Survivals in
Süd-Äthiopien), H. E. Kauffmann (Das
Fadenkreuz, sein Zweck und seine Bedeu-
tung), W. J. K n o o b (Die Rolle des Pro-
pheten in den afrikanisch-christlichen Sekten),
G. Koch (Zum Problem der polynesischen
Fernfahrten), O. Köhler (Sprachakkultu-
ration im Herero), W. Köppers (Zur
Frage der bildnerischen Darstellung des Hoch-
gottes), St. Lagerkrantz (Becher aus
Hörnern des Nashorns), P. Leser (Felder
und Bodenbaugeräte der Nyakyusa), A.
L o m m e 1 (Die Südsee-Sammlung Lamare
Picquot im Staatlichen Museum für Völker-
kunde in München), A. Metraux (Docu-
ments sur la trance mystique dans le Vaudou),
R. Mohr (Beobachtungen und Erkundigun-
gen zur Soziologie und Religion der Naudeba
in Nord-Togo), H. Nevermann (Völker-
kundliches von Aoba), C. N i e s s e n (Vor-
formen der Maske: Daunen und kleine Fe-
dern als Maskierungszutat), H. N i g ge-
rn e y e r (Ritualjagd und Fruchtbarkeitsvor-
stellungen, Gedanken zu einer Zeremonie der
Kuttia Kond), H. Petri (Die Altersklassen
der Vorinitiation bei Eingeborenengruppen
Nordwest-Australlens), H. P 1 i s c h k e (In-
sulaner aus der Südsee in Europa am Ende
des 18. Jahrhunderts), C. A. Schmitz (Die
Ornamentik der Komba auf Neu-Guinea),
M. Schneider (Nochmals asiatische Pa-
rallelen zur Berbermusik), W. S t ö h r (Eine
Skulptur der Dayak von Zentral-Borneo),
H. Tr i m b o r n (Mehrfaltige Götter in den
Mythen von Huarochiri, J. W i 1 b e r t (Nach-
richten über die Curipaco), S. Wolf (Afri-
kanische Elfenbeinlöffel des 16. Jahrhunderts
im Museum für Völkerkunde Dresden), O.
Z e r r i e s (Medizinmannwesen und Geister-
glaube der Waika-Indianer des oberen Ori-
noko).
Der Inhalt des Bandes ist ein ungemein
erfreulicher, da Berichte und Ordnungsarbei-
ten die theoretisierenden Arbeiten an An-
zahl bei weitem übertreffen.
K. A. Nowotny
154
Buchbesprechungen
AM ERIK ANISTISCHE MISZELLEN.
Hamburg: Kommissionsverlag Ludwig Ap-
pel 1959. (Mitteilungen aus dem Hambur-
gischen Museum für Völkerkunde in Ham-
burg, Band XXV.)
Unter der Schriftleitung von Wilhelm Bier-
henke, Wolfgang Haberland, Ulla Johansen
und Günter Zimmermann wurde der Band
XXV der Mitteilungen aus dem Museum für
Völkerkunde in Hamburg als Festband für
den langjährigen Direktor dieses Hauses, Pro-
fessor Dr. Franz Termer, zu dessen 65. Ge-
burtstag herausgegeben.
Gewidmet von Freunden, Kollegen und
Schülern bietet der ca. 200 Seiten starke Band
eine Fülle von Themen aus dem Gebiet der
Amerikanistik, und ein Blick auf die Namen
der Verfasser zeigt die Verehrung, die der
Amerikanist Franz Termer in aller Welt ge-
nießt.
29 Beiträge verteilen sich auf drei Grup-
pen: Varia (3), Mexiko und Mittelamerika
(20), Süd- und Nordamerika (6). Alle auch
nur zu zitieren würde über den Rahmen die-
ser Besprechung hinausgehen, darum soll nur
einiges, dem Arbeitsgebiet des Referenten
Nahestehende, herausgegriffen werden.
Hans Plischke, Gedanken über den
ethnologischen Wert der Indianerforschung.
Ausgehend von der geographischen Isoliert-
heit des amerikanischen Doppelkontinents
zeigt der Verfasser die wenigen Routen, auf
denen der Mensch von der Alten Welt her die
Neue erreichen konnte. Ernsthaft und für
Einwanderungen größeren Umfanges — nur
solche kommen bei der Vorgefundenen relativ
großen Bevölkerungszahl in Frage — ist nur
das Gebiet der Beringstraße in Betracht zu
ziehen. Wohl nur gelegentliche Landungen
von seefahrenden Völkern Nordeuropas über
Grönland an der Nordostküste Nord-Ameri-
kas oder solche aus dem Pazifischen Raum an
der Westküste Südamerikas haben keinerlei
nachhaltigen Einfluß hintcrlassen. Für die
Zeltfrage bedeutsam ist das Fehlen von ge-
sicherten Vorstufen des Homo sapiens sowie
entwicklungsgeschichtlich bedeutsamer An-
thropoiden in der amerikanischen Tierwelt.
Ebensowenig ließen sich bisher altsteinzeit-
liche Funde nachweisen. Die Entwicklung von
der Sammeltätigkeit zum Anbau scheint ohne
altweltlichen Einfluß selbständig vor sich ge-
gangen zu sein. Das Vorhandensein ethno-
graphischer Parallelen gibt der Ethnologie
eine bedeutsame Lehre, und eben darin liegt
der im Thema angedeutete Wert der Indianer-
forschung, daß nämlich die Parallelen hier
in einem mit größter Wahrscheinlichkeit kul-
turell isolierten Gebiet auf gemeinsamer
Grundlage („Menschengeist“) und auf be-
stimmte Zwecke mit beschränkten Lösungs-
möglichkeiten ausgerichtet gewachsen sind
(„zweckbedingte ethnographische Paralle-
len“).
„Eine Parallele zwischen Alt-Peru und Alt-
Mexiko“ beschreibt Heinrich Ubbelohde
D о e r i n g , der bei Ausgrabungen in Pacat-
namü mosaikbedeckte Tonscheibchen fand. Sie
lagen auf einer niedrigen Lehmziegelmauer,
deren zeitliche Einordnung in das umgebende
Gräberfeld (3 Schichten) unsicher ist. Das
Vorkommen dieser Scheiben reicht bis ins
nördliche Neu-Mexiko (Kidder). In Kami-
naljuyu sind solche auf dünner Schieferunter-
lage mit größerem Durchmesser gefunden
worden. Kidder sieht in der Herstellung die-
ser Scheiben eine ganz bestimmte Industrie
mit großer räumlicher Ausdehnung und zeit-
licher Tiefe, deren Ursprungsregion festzu-
stellen eine wichtige Aufgabe ist. Nicht un-
wahrscheinlich ist die Verwendung dieser
Scheibchen als Besatz von Kopfbändern, da
sie vereinzelt auf der Stirn von Bestatteten
gefunden wurden (Quen Santo und Pacatna-
mü). Belege dafür finden sich auch zahlreich
in den mexikanischen Bilderhandschriften.
Unter den weiteren Arbeiten archäologi-
schen Inhalts sei auf die von Carmen Cook
deLeonhard hingewiesen (Archäologisch-
geographische Probleme der Insel Jaina,
Campeche, Mexiko).
Nicht allein die bekannte Qualität der von
Jaina — leider meist aus Schwarzgrabungen
— stammenden Tonfiguren, sondern auch an-
dere während der offiziellen Grabungen 1957
festgestellte Eigenarten unterstreichen die Be-
deutung dieses Platzes. Die Insel scheint
künstlich aufgeschichtet zu sein und trägt
neben sehr zahlreichen Bestattungen (ein
Grab/m2 im Bereich obiger Grabung) eine
Reihe von Bauwerken. Bei der Untersuchung
einer kleineren Pyramide wurde inmitten
einer rituellen Massenbestattung zu ebener
Erde eine künstlich verschlossene salzige
Quelle freigelegt. Der Verschlußpfropfen
sollte das Überfluten der Insel verhindern.
Diese Tatsachen zusammen mit dem landwirt-
schaftlich wenig ergiebigen Küstenstreifen las-
sen das Gebiet als Rückzugsgebiet erscheinen.
(Wie die Frage der Wasserversorgung gelöst
Buchbesprechungen
155
wurde, konnte noch nicht geklärt werden).
Die zahlreiche Bevölkerung ernährte sich
hauptsächlich vom Fischfang, daneben wurde
Landwirtschaft betrieben (Funde von Mahl-
steinen). Nördlich von Jaina liegt auf dem
Festland ein ähnlicher Fundplatz, Uaymil,
der stark geplündert ist. Ein großer Teil der
als „Jaina“ gehandelten Figuren dürfte von
Uaymil stammen. Auch an der Küste ver-
streut finden sich Gräber.
Die Untersuchung der eingebrachten Funde
läßt erkennen, daß ältere Beziehungen nach
Süden (Feten) und in die Yucatanregionen
abgebrochen wurden zugunsten eines Flandels
nach der Golfküste (Tabasco, Vera Cruz).
Es wäre sehr zu begrüßen, wenn diese Ar-
beiten fortgesetzt und auch auf das unmittel-
bare Hinterland ausgedehnt werden könnten.
Die Klärung der Herkunftsfrage der Jaina-
Uaymil-Bevölkerung könnte wichtiges Ma-
terial zur Frage der ethnischen Verschiebun-
gen in der Gesamtregion beisteuern.
Zwei Arbeiten befassen sich mit den als
Quellen außerordentlich ergiebigen und noch
keineswegs ausgeschöpften mexikanischen Bil-
derhandschriften.
Alfonso Caso (El Dios 1. Muerte) geht
den Trägern des Namens ce miquiztli (eins
Tod) nach. Als Name des Tezcatlipoca er-
scheint er u. a. bei Sahagün. In den mixteki-
schen Codices ist die betreffende Gottheit als
Tonatiuh gekennzeichnet. Diese Gottheit trägt
im Vindobonensis eine Xipe-ähnliche Ge-
sichtsbemalung, den senkrechten Augenstrich,
oder eine weiße Bemalung um die Mundpar-
tie, wie sie kennzeichnend für Xochlpilli ist.
(Dieses Beispiel steht übrigens für viele, die
die außerordentliche Vielschichtigkeit des
mexikanischen Pantheons zeigen.) Im Nuttall
ist ein Priester mit Attributen des Sonnen-
gottes und dem Namen ce miquiztli abgebil-
det auf Blatt 17 oben links. Weitere Beispiele
der Handschrift zeigen einen Fürsten dieses
Namens, wieder mit der Xipe-ähnlichen Ge-
sichtsbemalung, auf Blatt 79 unten. Er kommt
mehrfach mit dem bekannten chicuei mafatl
(acht Hirsch) und naui ocelotl (vier Jaguar)
zusammen vor. Im Bodley ist dieser Fürst ce
miquiztli vor einem Cerro del Sol abgebildet
(33—IV), als Kopfschmuck einen Ausschnitt
der Sonnenscheibe tragend.
Eines der Probleme in den mixtekischen
Codices ist die Klärung der Frage nach der
Residenz dieses Priesterkönigs, der ohne Zwei-
fel eine sehr bedeutende Rolle unter den
mixtekischen Fürsten seiner Zeit spielt. Ver-
schiedene Anzeichen (Nuttall 80 oben) spre-
chen für einen küstennahen Ort, wobei un-
gewiß ist, ob es sich um die pazifische oder
um die Golfküste handelt. Es ist möglich, daß
nach dem 12. Jahrhundert die Abhängigkeit
der mixtekischen Fürsten vom Cerro del Sol
als politischem oder religiösem Zentrum zu
bestehen aufhörte.
Karl Anton Nowotny (Die Hierogly-
phen des Codex Mendoza) behandelt den Bau
einer mittelamerikanischen Wortschrift an-
hand des im Codex Mendoza vorliegenden
Materials. Die zeitgenössischen Interpretatio-
nen der Hieroglyphen dieser Handschrift
werden einmal in alphabetischer Übersicht
zusammen mit einer „orthographischen“ Ana-
lyse vorgestellt, eine zweite Übersicht bringt
in sachlicher Ordnung die hieroglyphischen
Elemente. Die die Schrift darstellenden Hiero-
glyphenkombinationen verwenden zum größ-
ten Teil klare Wortbilder und sind — im
Gegensatz zu der allgemeinen Bezeichnung —
nicht rebusartig zusammengesetzt. Die An-
wendung der Schrift in verschiedenen Berei-
chen zeigt, daß sie den Bedürfnissen der Zeit
vollkommen entsprach und sich daher auch
noch lange in der Kolonialzeit (besonders in
der Verwaltung) halten konnte.
Die Ergebnisse der Analyse der aztekischen
Hieroglyphen haben auch eine gewisse for-
male Bedeutung für die Untersuchung der
Mayahieroglyphen sowohl in Hinsicht auf
(nicht bildliche) Ähnlichkeiten wie auch im
Aufzeigen von Gefahren der Fehlinterpreta-
tion.
Nur einige der zahlreichen Beiträge konn-
ten hier herausgegriffen und kurz besprochen
werden. Sie sagen noch nichts über den Ge-
samtrahmen des Buches, Innerhalb dessen die
verschiedensten Zweige der Amerikanistik zu
Worte kommen. So ist auch, um nur noch ein
Beispiel zu nennen, die moderne ethnogra-
phische Feldforschung vertreten mit folgen-
den Namen: Hans Dietschy (Das Häupt-
lingswesen bei den Karaja), Karin H i s s i n k
(Die Medizinmann-Trommel der Tacana),
Hans Becher (Xelekuhahe. Das Stockduell
der Surära- und Pakidäi-Indianer. Ein Bei-
trag zum Problem der „Nilotenstellung" und
der Tonsur in Südamerika).
Leider vermißt man in dem sonst gut redi-
gierten Band eine Würdigung der Arbeiten
und Forschungsreisen des Jubilars.
B. Spranz
156
Buchbesprechungen
URSULA SCHLENTHER:
Brandbestattung und Seelenglauben. Ver-
breitung und Ursachen der Leichenverbren-
nung bei außereuropäischen Völkern. Ber-
lin: VEB Deutscher Verlag der Wissen-
schaften 1960. XII + 261 S„ 32 Abb.,
XVII Tabellen.
Die vorliegende Arbeit wurde 1957 von der
Philosophischen Fakultät der Humboldt-Uni-
versität Berlin als Habilitationsschrift ange-
nommen. Sie wurde danach zur jetzigen Form
erweitert und durch neue Literatur ergänzt.
Die Verfasserin stellt ihr Material regional
gegliedert dar und bringt in einem Schluß-
kapitel ihre Ergebnisse. Ziel der Unter-
suchung ist es, die Brandbestattung über die
ganze Erde (mit Ausnahme Europas) sowohl
prähistorisch wie völkerkundlich zu erfassen,
die Verbreitung festzustellen und die tieferen
Gründe, die zur Verbrennung des Toten füh-
ren, zu erarbeiten. Dazu werden neben dem
Vergleich mit der sozialökonomischen Struk-
tur die Seelen- und Jenseitsvorstellungen her-
angezogen.
Die Arbeit muß so in drei Stadien gesehen
werden: prähistorisches und rezentes Vorkom-
men der Brandbestattung — Zusammenhang
mit der Sozialstruktur — Begründung des
Verbrennens aus Seelen- und Jenseitsvorstel-
lung.
Es scheint, daß eine solch ungeheure Auf-
gabe, die die ganze Erde umfassen soll, von
vornherein die Möglichkeiten eines Autors
übersteigen muß, wenn er alle Aspekte gleich-
wertig bearbeiten will — dies auch dann,
wenn er für die soziologische Seite schemati-
sche marxistische Begriffe wie „Urmensch“,
„Urgesellschaft“, „Gentilgesellschaft“ etc. be-
nutzt. Die Voraussetzungen wären über all-
gemeine völkerkundliche und prähistorische
Kenntnisse hinaus vor allem religionsethno-
logische Kenntnisse auf dem äußerst schwie-
rigen Gebiet der Seelenvorstellungen, und
dies alles für sämtliche Erdteile. Das scheint
eine Voraussetzung, die heute kaum noch von
einem einzigen Fachwissenschaftler erfüllt
werden kann, so sehr es von Nutzen wäre,
bestimmte völkerkundliche Themen verglei-
chend für die ganze Erde vorzulegen.
Daß man bei dem Umfang des Buches die
Zusammenhänge auch nicht annähernd in
wirklicher Tiefe darstellen kann, wird klar,
wenn man bedenkt, daß für die Behandlung
des Vorderen Orient 4, des Kaukasus 4, Hin-
terindiens 7, Indonesiens 7, Chinas 3, Koreas
und Japans 5, Tibets 2 Seiten zur Verfügung
stehen, daß etwa die Seelenvorstellungen
Australiens auf einer Seite abgehandelt wer-
den. Auf diesem Raum sind gerade die Be-
lege für das Vorkommen der Brandbestattung
anzuführen. Tabellen am Ende jedes Ab-
schnitts (ähnlich Tabelle XV) hätten ein noch
besseres Arbeiten mit dem Buch ermöglicht.
Nach Stichproben der Belege im Abschnitt
„Ozeanien“ ist folgendes zu ergänzen:
Truk: Nach Bollig wird angegeben, daß
Eigentum und selbst die Leiche eines Wurm-
kranken verbrannt wurden. Die sehr wesent-
liche Bemerkung beim gleichen Autor über
den Grund des Verbrennens von Eigentum
(p. 22) ist jedoch nicht beachtet: „Im Rauche
des Feuers soll die Seele ihren Flug nach oben
vollziehen."
Mangaia: Der Beleg für das Verbrennen
Gefallener auf dieser Insel fehlt (Hiroa,
Mangaian Society, 1934, p. 197).
Melanesien: Die wichtige Arbeit von Spei-
ser, „Über Totenbestattungen in Insel-Mela-
nesien“ (IAE 1942) ist nicht erwähnt.
Papua; Abgesehen davon, daß der Autorin
der Begriff „Papua“ nicht geläufig zu sein
scheint, vermutet Wirz durchaus nicht, daß
Leichenverbrennung bei den von ihm unter-
suchten Bergstämmen von Holländisch-Neu-
guinea die einzige Art der Beisetzung sei
(Wirz 1924, p. 81/82, Anm. 1). Für West-
Neuguinea fehlt außerdem der Beleg bei Le
Roux (De Bergpapoea’s van Nieuw-Guinea
en hun Woongebied, II, 1950).
Buin: Hier fehlen zum Verständnis der
Verhältnisse im Hinblick; auf die Seelenvor-
stellungen vor allem die wichtigen Beiträge
von Hilde Thurnwald (z. B. in: Beiträge zur
Gesellungs- und Völkerwissenschaft, 1950).
Zur Frage der Seelenvorstellungen in Insel-
Melanesien stünde außerdem eine Arbeit von
Ivens (JRAI 1934) zur Verfügung, die we-
sentlich ausführlicher ist als die Anmerkun-
gen der Autorin über das Verhältnis von
Seele und Schatten etc.
Keinesfalls ist bei dem Umfang der Kapitel
eine wirkliche Diskussion und klare Bearbei-
tung der Seelen- und Jenseits Vorstellungen
möglich, wie sich auch erweist. Hierzu werden
einzelne Angaben einzelner Autoren kritiklos
angeführt, ohne diese Frage auch nur an-
nähernd erst für sich und dann im Verhältnis
zur Brandbestattung zu klären. Es fällt auf,
daß faktisch die gesamte grundlegende, zu-
sammenfassende und neuere Literatur über
Buchbesprechungen
157
Seelenvorstellungen nicht benutzt worden ist.
Die Arbeiten von Hultkrantz (z. B. „Con-
ceptions of the soul among North American
Indians“, 1953), Paulson (z. B. „Die primi-
tiven Seelenvorstellungen der nordeurasischen
Völker“, 1958, u. frühere Aufsätze in „Eth-
nos“), oder ältere Arbeiten wie: Koch-Grün-
berg („Zum Animismus der südamerikani-
schen Indianer“, 1900), Kruijt (z. B. „Het
animisme in den Indischen Archipel“, 1906),
um nur einige zu nennen, sind nicht benutzt
worden. Wenn aber über die Erscheinungen
der Brandbestattung gesagt wird (XI): „Um
bei einer zukünftigen Erforschung ethnologi-
scher Probleme bis in die letzten Tiefen vor-
stoßen zu können, ist es notwendig, erst ein-
mal genügend Material beizubringen, das
eine exakte Untersuchung einzelner Elemente
gestattet“, so muß dies auch für Fragen der
Seelenvorstellungen gelten.
Zusammenfassend sagt die Autorin (p.216):
„. . . Ob die Brandbestattung oder die Kör-
perbestattung in der Klassengesellschaft geübt
wird, ist ausschließlich abhängig von den Jen-
seitsvorstellungen und dem Seelenglauben ...“
Diese Behauptung kann sie anhand ihrer Ar-
beitsmethode und des Materials jedoch gar
nicht belegen. Die Voraussetzung wäre der
Nachweis, daß unterschiedliche Seelen- und
Jenseitsvorstellungen bei Gruppen mit Brand-
oder Körperbestattung existieren. Da aber
nur Anmerkungen über die Seelenvorstellun-
gen in Zusammenhang mit der Brandbestat-
tung gemacht worden sind, ist dieser Gegen-
satz gar nicht herausgearbeitet worden.
Man wird die Arbeit als eine brauchbare
Materialsammlung zur Frage der Verbreitung
der Brandbestattung ansehen dürfen. Die wei-
tergehenden Folgerungen (soweit sie für die
ganze Erde verallgemeinert werden) im Hin-
blick auf einen Zusammenhang zwischen
Brandbestattung und Seelenglauben können
jedoch nur als Hinweise zu intensiver For-
schung betrachtet werden.
H. Fischer
CURT SACHS:
Vergleichende Musikwissenschaft. Musik der
Fremdkulturen. Heidelberg: Quelle &
Meyer 1959. 76 S. (Musikpädagogische Bib-
liothek Band 2).
Als Gurt Sachs am 5. 2. 1959 in New York
starb, riß der Tod eine Lücke, die sich nur
schwer wird schließen lassen. Mit Sachs ver-
lor die Musikwissenschaft einen ihrer führen-
den Köpfe. Vor allem sein Wirken auf dem
Gebiet der Musikinstrumentenkunde ist bis
heute unübertroffen. Seine Veröffentlichun-
gen — das „Real-Lexikon der Musikinstru-
mente“ (1913), das „Handbuch der Musik-
instrumente“ (1920), „Geist und Werden der
Musikinstrumente“ (1929), um nur einige zu
nennen — weisen ihn als den bedeutendsten
Instrumentenkundler unserer Zeit aus. Auch
seine in der Emigration 1940 geschaffene
„History of Musical Instruments“ gehört zu
den Standardwerken der Literatur und zeigt
den auf Zusammenschau bedachten Forscher.
Man würde Sachs aber kaum gerecht werden,
wollte man ihn einseitig auf ein begrenztes
Gebiet festlegen: von der Weite der Themen-
stellungen geben die über 200 Titel seiner
Arbeiten beredtes Zeugnis (mitgeteilt von
Kurt Hahn in „Acta Musicologica“ II—III,
1957, p. 94—106).
Noch kurz vor seinem Tode konnte Gurt
Sachs das Vorwort zur Neuauflage seiner
„Vergleichenden Musikwissenschaft“ schreiben
(erschienen als 2. Band der „Musikpädagogi-
schen Bibliothek“ bei Quelle & Meyer, Hei-
delberg — Erstauflage 1930). In diesem Vor-
wort weist der Verfasser darauf hin, daß
gerade die letzten Jahrzehnte für die Musik
und die Völkerkunde eine Fülle neuer Er-
kenntnisse gebracht haben. Wenngleich er ver-
sucht habe, diese Erkenntnisse in die Neu-
auflage einzuarbeiten, so konnte ihnen doch
im Rahmen eines kleinen Büchleins von noch
nicht achtzig Seiten kaum voll Rechnung ge-
tragen werden.
So betont Sachs zwar gleich in der Einlei-
tung, daß die Wissenschaft von der Musik der
fremden Völker ihren alten Namen „Verglei-
chende Musikwissenschaft“ als irreführend
aufgegeben habe. Wenn auch durch den Un-
tertitel „Musik der Fremdkulturen“ diese in
den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt
wird, so geschieht dies aber nun doch nicht
um ihrer selbst willen, sondern wegen des
Vergleichs mit unserer europäischen Entwick-
lung. „Denn was uns die Wissenschaft von
der Musik fremder Kulturen zeichnet, ist das
Schicksal, das uns geführt hat und führen
wird, und der Weg, den wir gegangen sind“
(S. 5).
Sachs fußt hier — wie auch in seinen an-
deren Werken — auf dem Entwicklungs-
gedanken. So wertvolle Erkenntnisse aus
einer solchen Betrachtungsweise auch gewon-
158
Buchbesprechungen
nen werden können: die historische kann im-
mer nur unter den möglichen sein!
Diese Einschränkung mindert in keiner
Weise den Wert der Arbeit, die auf knappem
Raum in bewundernswerter Weise eine Fülle
von Material verarbeitet hat und darbietet.
Ein kurzer Überblick über den Inhalt möge
dies zeigen.
Die Darstellung beginnt mit einem einlei-
tenden Kapitel zur „Geschichte, Methode und
Literatur“, in dem auch das Cent-System er-
läutert wird. Sie führt über den Abschnitt
„Anfänge der Musik“ zur Betrachtung der
Systematik der Instrumente (ein kurzer Ab-
riß der Systematik der Musikinstrumente ist
im Anhang zu finden) und geht schließlich auf
die geschichtliche Entwicklung des Instrumen-
tariums ein, wobei eine Tabelle über die Ent-
stehungsfolge der wichtigsten Tonwerkzeuge
eine schnelle Orientierung ermöglicht. Sachs
behandelt dann die Instrumentalmusik und
ihre Entstehung, die Tonsysteme, Tonleitern
und Modi; Bemerkungen zur Entstehung der
Notenschrift schließen an. Größerer Raum ist
den verschiedenen Formen der Mehrstimmig-
keit und den Melodietypen Vorbehalten. Von
besonderem Interesse sind die Kapitel über
die physiologischen und magischen Wirkungen
sowie die Lebensbindungen der Musik. Mit
dem Abschnitt „Die körperlichen Bindungen“
und einem kurzen Literaturhinweis, der vor
allem drei wesentliche Bibliographien zitiert,
schließt die Darstellung, die als ein erster
Überblick gedacht ist.
Diese wenigen Bemerkungen mögen ge-
nügen, um zu zeigen, daß hier ein zwar
schmales, aber inhaltlich gewichtiges Bänd-
chen vorliegt, das nicht nur in jeder Fach-
bücherei zu finden sein sollte, sondern — ent-
sprechend der Aufgabe einer „Musikpädago-
gischen Bibliothek“ — vor allem in die Hand
des Lehrers gehört. Die leichte Lesbarkeit und
der geringe Anschaffungspreis sind günstige
Voraussetzungen hierfür. Leider nimmt ja die
Musik fremder Kulturen innerhalb der all-
gemeinbildenden Schulen (übrigens auch in-
nerhalb der Musikhochschulen) kaum einen
Platz ein, obgleich die Möglichkeit dazu durch
die Vielzahl der Schallplatten mit jener Mu-
sik ohne weiteres gegeben wäre. Man möchte
nur wünschen, daß durch solche Veröffent-
lichungen wie die Sachs’sche das Wissen um
die Musik der Frcmdkulturcn gefördert und
das Interesse geweckt wird!
W. D. Meyer
CARL DIEM:
Weltgeschichte des Sports und der Leibes-
erziehung. Stuttgart: Cotta 1960. XVI +
1224 S. Geb. DM 78.—.
Wer Carl Diems schönes Buch über die
Asiatischen Reiterspiele kennt, nimmt diese
neue Arbeit mit großen Erwartungen zur
Hand — und wird nicht enttäuscht, minde-
stens nicht in den Kapiteln, in denen der
Autor sich wirklich zu Hause fühlt und wo er
aus einem reichen Wissen schöpfen kann. Dies
ist auf ganz erstaunlich breiter Basis der Fall.
Die Arbeit ist in zwei Bücher gegliedert.
Das zweite beschäftigt sich mit der modernen
Entwicklung des Sports seit der Französi-
schen Revolution. Diem handelt die geistigen
Grundlagen ab, die Funktion des Sports, die
einzelnen Sportarten und in einem sehr breit
angelegten Teil den Sport in den einzelnen
„Kulturkreisen“ unserer Zeit; hier zeigt er
die Geschichte, die Schwerpunkte und die
historisch-psychologisch-somatischen Bedingt-
heiten der einzelnen Sportarten auf. Sport-
stätten, Olympische Spiele und eine Zusam-
menfassung schließen dieses Buch ab. Quellen-
hinweise, Literaturverzeichnis und Register
runden das auch äußerlich sehr ansprechende
Werk ab. Dieser Teil soll hier nicht bespro-
chen werden.
Das erste Buch behandelt Sport und Leibes-
erziehung bis 1789, in den außereuropäischen
Gebieten bis heute. Es ist gegliedert in „Kul-
tischer Ursprung und Urvölker“, „Völker der
Antike im Mittelmeerraum“, „Asien“, „Euro-
pa von den Germanen bis zur Französischen
Revolution“. Auch aus diesem Buch soll nur
die Einleitung (kultischer Ursprung) und
Außereuropa (ohne den Alten Orient) be-
sprochen werden, doch sei gesagt, daß die bei-
den anderen Teile — wie das ganze zweite
Buch — große Sachkenntnis und souveräne
Beherrschung des Stoffes verraten und daß
die Darstellung an vielen Stellen den Atem
großer Historiographie hat.
Das ist — mit einigen Einschränkungen —-
auch vom Teil „Asien“ zu sagen, wo der
Autor teilweise auf seiner Arbeit über die
Reiterspiele basiert. Er stellt Asien den übri-
gen Kulturräumen gegenüber und sagt, daß
es durch das weitgehende Fehlen des agonalen
Spiels gekennzeichnet sei. Wenn er dann aber
im Orient, in Zentralasien und in geringerem
Maße auch in Ostasien immer wieder von
Reiterspielen, von Ballspielen überhaupt, von
Buchbesprechungen
159
Ringkämpfen und Laufwettbewerben spricht,
erscheint dieser nicht-agonale Wesenszug des
asiatischen Sports doch recht problematisch.
Hier hat der Autor offensichtlich — um des
einheitlichen Begriffs Asien willen — Kul-
turen mit Kulturidealen heterogenster Art
zusammengebracht. Seine Darstellung zeigt
deutlich, daß zu unterscheiden ist zwischen
dem hinduistisch - buddhistisch - taoistischen
Raum und dem übrigen Asien, wobei selbst-
verständlich in Mischzonen Mischformen ent-
standen sind. Das gilt für China mit seinem
alten iranischen Einfluß (via Sinkiang-Kansu)
ebenso, wie für das shintoistische Japan und
für das iranisch-türkisch beeinflußte Vorder-
indien. Gerade hier wird deutlich, wie stark
sich die einzelnen Religionen und ihre ver-
schiedene Stellung zum Körperlichen auch auf
die Entwicklung der Leibeserziehung ausge-
wirkt haben. Das Training eines Arhat oder
Yogi ist notwendigerweise grundverschieden
von dem eines Polospielers. Aufs Ganze ge-
sehen wird aus Diems Darstellung der Ver-
hältnisse in Asien doch deutlich, daß in allen
dortigen Hochkulturgebieten das Streben nach
der Beherrschung des eigenen Körpers und
das Training hierfür seit alter Zeit viel inten-
siver ist, als etwa in Europa seit der Antike.
Diem bemüht sich, bei der Darstellung der
außereuropäischen Verhältnisse den Sport ein-
zubauen in eine knappe Skizze von Ge-
schichte und Kultur der betreffenden Gebiete.
In seinem Asien-Kapitel sind dabei einige
Fehler unterlaufen, die genannt werden sol-
len: er sagt, daß die Induskultur seit der
Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtau-
sends von Ariern geschaffen worden sei.
Wahrscheinlich ist sie etwa in dieser Zeit oder
etwas später von Ariern zerstört worden. Die
Arier waren keine Nomaden als sie in In-
dien eintrafen, und erst recht keine Reiter.
Eine „Hirtenzeit“ am Anfang der späteren
Hochkulturvölker anzunehmen, ist nicht mehr
gerechtfertigt, und das Reiten dürfte erst um
frühestens 1400 vor Christus angefangen ha-
ben, eine Rolle zu spielen. Auch ist nicht an-
zunehmen, daß die Mitanni ihr Pferdetrai-
ning von den Indern übernommen haben —
es ist in seinen Ansätzen weit wahrschein-
licher iranisch oder indo-iranisch. Schließlich
kann man Tibet nicht als die Brücke bezeich-
nen, auf der der Buddhismus von Indien nach
China kam. Er hat seinen Weg vielmehr nörd-
lich um Tibet herum genommen; das Schnee-
land ist erst viel später missioniert worden.
Von solchen kleinen Mängeln abgesehen
ergibt die Darstellung der Hochkulturen
Asiens, der dortigen Verhältnisse in Leibes-
erziehung und Sport ein rundes, geschlossenes
Bild. Das kann man im Hinblick auf die
Naturvölker Asiens und das übrige Außer-
europa nicht sagen, oder doch nur für die
Schilderung einiger weniger Punkte. Der
Autor hat sich alle Mühe gegeben, Material
zusammenzutragen, aber zu einem einiger-
maßen klaren Bild reicht es nur dort, wo von
völkerkundlicher Seite Vorarbeit geleistet
war. Daß das Kapitel „Urvölker“ so frag-
mentarisch geblieben ist, ist also nicht seine
Schuld, sondern eher die der Ethnologie. Aber
daß diese Abschnitte ein Feld zahlreicher Irr-
tümer, Unstimmigkeiten und kleiner Schön-
heitsfehler sind, kann man andererseits uns
nicht ankreiden: Der Begriff „Eskimo“ kann
nicht für zirkumpolare Völker allgemein ver-
wendet werden, wie dies immer wieder ge-
schieht, und „Indianer“ gibt es nur in Ame-
rika, nicht aber in Ozeanien, wo einmal von
„Papua-Indianern auf Neuguinea“ gespro-
chen wird. Im Ozeanienkapitel ist auch manch
anderer Fehler unterlaufen: Häufiger werden
Inselnamen als Stammesnamen verwendet
oder solche als geographische Begriffe. Druck-
fehler sind gerade in diesen Kapiteln beson-
ders häufig und oft störend. Schade, daß der
Autor offensichtlich diese Manuskriptteile
nicht noch einmal selbst lesen konnte oder
einem Fachmann vorgelegt hat. Dann wären
auch manche andere ungebräuchliche Formu-
lierungen unterblieben: Indonesien ist zu
Ozeanien geschlagen (auch unter diesem Na-
men) und in diesem Ozeanien treten dann als
Ureinwohner u. a. auch die Vietnamesen auf.
In Amerika werden auch die Hochkultur-
völker als „Urvölker“ bezeichnet, was doch
mindestens recht ungebräuchlich ist. Im Kapi-
tel Altamerika sind auch die historischen
Linien, wie sie der Autor darstellt, nicht ohne
Kritik aufzunehmen. Dabei kommt Amerika
im ganzen Urvölkerkapitel allein schon um-
fangmäßig am besten weg (Ballspiel!).
Die Benützung von mehr und vor allem
neuer völkerkundlicher Literatur hätte man
sich auch für das einführende Kapitel „Kul-
tischer Ursprung“ gewünscht. Hier ist so oft
die Rede von den Naturvölkern — als ob
sie eine Einheit wären von den Jägern bis hin
zu den frühen Hochkulturen (die einbezogen
sind). Sicher haben Zauber, Magie im natur-
völkischen Bereich überall eine Rolle gespielt
160
Buchbesprechungen
— aber manch angeblicher Zauber hat sich im
Lauf der letzten Jahrzehnte als etwas anderes
entpuppt. Eine klare Differenzierung der ein-
zelnen naturvölkischen Kulturen hätte den
Autor sicher weitergeführt und ihn vor man-
cher schiefen Darstellung und verallgemei-
nernden Formulierung bewahrt.
Diem kommt in diesem einführenden Ab-
schnitt zu dem Ergebnis, daß der Sport kul-
tischen Ursprungs sei, entstanden als Teil von
Ritualen, z. B. bei Stammesfesten und Toten-
feiern. Seine Formen seien von Anfang an
Einzelleistung, Mannschaftskampf und Tanz
gewesen, seine Ziele Schnelligkeit, Ausdauer,
Kraft und Geschicklichkeit, seine Aufgabe
aber sei es gewesen, anzufeuern, zu erfüllen
und zu bannen. Das ist gewiß richtig, aber es
ist doch sehr die Frage, ob man — gerade
beim anfänglichen Jägerleben des Menschen —
nicht auch an eine Leibeserziehung ohne
sakrale Hintergründe denken muß, wenn man
die Verhältnisse bei rezenten Jägergruppen
berücksichtigt.
Trotz diesen Einschränkungen ist Diem wie
für das ganze Buch, so auch für dessen erste
Kapitel zu danken. Er hat damit nicht nur
sich selbst, sondern jetzt auch uns eine Frage
und eine Aufgabe gestellt. Man möchte seiner
schönen Arbeit nur wünschen, daß in der
nächsten Auflage die kleinen, aber doch stö-
renden Fehler bereinigt sein mögen, die ihr
jetzt noch anhaften.
F. Kussmaul
H. G. BANDI:
Die Steinzeit. Baden-Baden: Holle-Verlag
1960. 256 S., mit zahlreichen Farbbildern,
Zeichnungen und Karten (Kunst der Welt,
die außereuropäischen Kulturen). Preis:
DM 29.80.
Der Verlag läßt in rascher Folge Band auf
Band seiner großen Serie „Kunst der Welt,
die außereuropäischen Kulturen“ erscheinen,
die sich durch eine Fülle farbiger Abbildungen
und einen hierfür ungewöhnlich niedrigen
Preis auszeichnet. Sie ist naturgemäß in erster
Linie für interessierte Laien gedacht, wird
aber sicher auch vom Wissenschaftler zur Hand
genommen, wenn es sich um Randgebiete sei-
nes Faches handelt, oder wenn er Bildmaterial
benötigt, das ihm sonst farbig nicht zugäng-
lich ist. Das großzügige Verlagsunternehmen
ist also gewiß verdienstvoll, zumal namhafte
Gelehrte daran mitarbeiten, und verschafft
Überblicke, die anders schwer zu erlangen
sind.
Daß nun auch die Steinzeit, wenn auch nur
in ihrer Dokumentation durch Felsbilder, be-
handelt wurde, ist zu begrüßen, auch dann,
wenn man sich auf die Hauptgebiete be-
schränkt und Peripheres fortgelassen hat. Al-
lerdings zeigt gerade dieser Band Schwächen,
die vor allem dadurch entstanden sind, daß
6 sehr verschiedene Autoren daran beteiligt
waren, die überdies von so unterschiedlichen
Voraussetzungen an ihre Aufgabe gingen, daß
ein einheitliches und in allen Teilen gleich-
wertiges Bild nicht entstehen konnte. H. G.
Bandi, der auf dem Einband, nicht aber innen
im Titel als Hauptautor oder Herausgeber
erscheint, weist denn auch in seinem kurzen
Vorwort auf diesen Mangel hin, ohne ihn
dadurch beheben zu können.
Die Franko-Kantabrische Kunst wird ge-
meinsam von Henri Breuil und Lilo Berger-
Kirchner behandelt. Vermutlich stammt der
Text von der Schülerin, wurde aber vom Alt-
meister der paläolithischen Forschung in
Europa, Abbe Breuil, gutgeheißen. Die Dar-
stellung ist klar und übersichtlich, berücksich-
tigt auch schon so neue Entdeckungen wie die
Höhle von Rouffignac und gibt im wesent-
lichen das Bild, wie es als Lebensarbeit von
Breuil und Obermaier auf uns gekommen ist.
Die Gefahr, die eine übergroße wissenschaft-
liche Autorität für die Forschung bedeuten
kann, stößt dem Leser auf, wenn fast bei je-
der Fundstelle die Meinung Breuils als der
Weisheit letzter Schluß zitiert wird. Karten
und geographisch geordnete Verzeichnisse der
Fundhöhlen sind neben dem Bildmaterial
nützliche und wesentliche Ergänzungen.
Auch der Beitrag von H. G. Bandi über die
Felsbilder der ostspanischen Levante unter-
richtet in vorbildlicher Weise und gibt im
wesentlichen den Standpunkt wieder, wie er
in der klassischen Arbeit von Bandi und
Maringer, Kunst der Eiszeit, Basel 1955, nie-
dergelegt ist. Die Illustrationen sind auf-
schlußreich, eine Karte und ein Verzeichnis
der Fundplätze ergänzen die Arbeit. In sym-
pathischer Gewissenhaftigkeit sind die Lücken
unseres Wissens nicht verschwiegen, doch wird
mit aller Vorsicht einer weiträumigen, noch
nicht in allen Einzelheiten geklärten Bezie-
hung zwischen der Felsenkunst Südeuropas
und Nord- und Südafrikas das Wort geredet.
Wenn der Autor feststellt (S. 95), daß nur
Nordafrika diese Betrachtung erschwere, weil
Buchbesprechungen
161
vom Stil her keine Beziehungen erkennbar
seien, so muß dem widersprochen werden, da
gerade die Malereien aus dem lybischen Be-
reich (Gilf und Auenat), aber teilweise auch
aus den Bergländern weiter südlich und west-
lich, bis zur Identität den ostspanischen
ähneln.
Lhote, der anschließend Nordafrika be-
handelt, bestreitet allerdings diese Beziehung
und hält ihre Mutmaßung für unwissenschaft-
lich. Befangen in seinen Entdeckungen unge-
wöhnlich reicher Fundplätze in den Tassili-
Bergen, die uns eine Fülle und Vielfalt neuen
Materials geschenkt haben, sieht er diese
Malereien als einen so schwergewichtigen
Mittelpunkt, daß ihm demgegenüber alles
andere verblaßt und unwichtig wird. In sei-
nem Buch „Die Felsbilder der Sahara“, Würz-
burg-Wien 1958, das einen extrem farbigen
Bericht und ersten Versuch der Materialein-
ordnung bringt, schreibt er, daß die Zusam-
menfassung der Unterlagen noch Jahre dauern
wird. Ist es da nicht verfrüht, diese noch ganz
im Fluß befindliche Forschung zum Ausgangs-
punkt einer allgemeinen Betrachtung zu ma-
chen? Kann man die Felsbilder an der tu-
nesisch-lybischen Grenze enden lassen, ohne
so reiche und wichtige Vorkommen wie die
aus Fezzan, aus dem Gilf, dem Auenat oder
der nubischen Wüste nur heranzuziehen?
Schon 1939 hat H. Winkler die nil-nahen
Felsbildfunde zu einem auch heute im ganzen
noch brauchbaren Datierungsversuch benutzt,
weil er sie zur prädynastischen Kultur Ägyp-
tens in Beziehung setzen konnte. Da die Vor-
zeit die heutigen, am Fineal gezogenen Gren-
zen der Wüste nicht kannte, sollte die mo-
derne Wissenschaft — frei von nationalen
und sonstigen Befangenheiten — sie gleichfalls
verleugnen.
Vielleicht am aufregendsten, aber auch am
anfechtbarsten ist der Beitrag von Holm über
die Felskunst im südlichen Afrika. Holm ist
Archäologe und gebürtiger Südafrikaner. Er
hat seine Jugend und einen großen Teil seines
Febens in Südafrika verbracht und häufig
unter Buschmännern gelebt, deren Vorstel-
lungswelten ihm vertraut sind. Kaum jemand
könnte daher geeigneter sein, dieses Thema
erfolgreich anzupacken als er, zumal Ihm
zahllose Felsbilder durch eigene Forschung
bekannt sind. Der Versuch, sie aus der Mytho-
logie der Ureinwohner des Gebietes zu er-
klären und zu deuten, mußte einem so geist-
vollen Manne verführerisch erscheinen, und es
ist zugegeben, daß ein solches Beginnen viele
Möglichkeiten öffnet. Zugleich öffnet sich aber
auch der Weg einer uferlosen Spekulation. Es
sei Holm zugestanden, daß er gründlicher und
tiefer als viele in die Buschmann-Mythologie
eingedrungen ist, und daß ihm deshalb deren
Vorstellungsverbindungen geläufiger sind als
anderen. Es ist ihm selbstverständlich, daß die
Mantis (die Gottesanbeterin = Verkörperung
der Sonne) als Giraffe dargestellt wird, weil
diese beim Trinken die Vorderbeine knickt
und damit der Mantis ähnlich sieht. Eine
wundervolle Elengravierung mit völliger Flä-
chenpunzung und in großartigstem naturali-
stischem Stil deutet er wie folgt: „Auf jeden
Fall wird die besondere Fiebe, mit der das
Fell in unserer Gravierung behandelt wurde,
in der propädeutischen Überlieferung vielfach
und deutlich motiviert. Die Fegende von der
Erschaffung der Elen — durch die Sonne-
Mantis aus einem ins Wasser gelegten Schuh —
betont, wie die Mantis das Fell des wachsen-
den Fieblings mit Honigseim salbt, damit es
schön glänzen möge. Was also der Künstler
durch seine besondere Ausführung betonen
wollte, war vor allem das Gleichnis des zur
Fülle gedeihenden silberleuchtenden Mondes,
und diese Vorstellung läßt sich durch kein
anderes Bild so schön vermitteln wie durch
das des still äsenden, herrlichen Tieres in dem
honigsamtenen Kleide.“
Es ist ihm auch natürlich, daß auf kanta-
brischen Bildern die Mantis durch den Bison
ersetzt wird, und er nimmt weltweite und
zeittiefe Beziehungen zwischen Südafrika und
Europa als selbstverständlich gegeben, wobei
Ihm wohl Südafrika als das ältere erscheint,
wenn es auch manchmal den Eindruck macht,
als ob das Zeitproblem für ihn nicht existiere.
Wie bedauerlich, daß der Archäologe Holm
nicht stärker sich zum Wort meldet! Schade
auch, daß hinter dieser von der Mythologie
ausgehenden Betrachtung jeder andere Ver-
such einer Ordnung, sei er nun stilistischer,
geographischer oder chronologischer Natur,
verschwindet. Betrüblich endlich, daß eine so
faßbare und eindrucksvolle Erscheinung wie
der Sakralstil Südrhodesiens nicht zur Dar-
stellung gekommen ist. Sicher wird die Deu-
tung südafrikanischer Felsbilder aus der
Buschmann-Mythologie viele Aufschlüsse brin-
gen, möglicherweise auch für die Felsbilder
anderen Ortes. Es ist eine legitime Methode,
die Geistigkeit noch lebender Altvölker für
die Erklärung von Phänomenen der Vorzeit
162
Buchbesprechungen
mit aller Vorsicht heranzuziehen. Solche Ver-
suche können aber wohl nur tastend vorge-
nommen werden und haben eigentlich in einer
summarischen Überschau, wie sie die Samm-
lung „Kunst der Welt“ bringt, keinen Platz.
In einem letzten Beitrag berichtet Lommel
über die Felsbilder Australiens, die ja noch
bis in die Gegenwart gemalt wurden und un-
mittelbare Beziehungen zu der Weltbildvor-
stellung ihrer Hersteller zeigen, was an meh-
reren Beispielen eindrucksvoll und einleuch-
tend nachgewiesen wird. Der Autor erweitert
seine eigenen Forschungserfahrungen zu einem
Gesamtbild der heute bekannten australischen
Felsbildkunst. Bei der im Verhältnis zur
Größe des Gebietes geringen Zahl von Fund-
stellen und der Vielfalt der einzelnen Dar-
stellungen scheint die schematische Verbrei-
tungskarte zweier gegensätzlicher Stile nicht
ganz überzeugend.
Insgesamt handelt der Band zwar nur von
Felsbildern der Steinzeit, wobei dieser Be-
griff auch für „steinzeitliche“ Verhältnisse
bis zur Gegenwart angewendet wird, bringt
aber vielerlei zum Teil sich widersprechende
Ergebnisse und einander schroff entgegen-
stehende Betraditungsweisen. Wird er den
Leser dadurch bereichern, oder stärker ent-
mutigen und verwirren? Ist diese Mannigfal-
tigkeit Absicht des Verlages oder Ergebnis
einer allzu forschen Planung?
H. Rhotert
GÜNTER SMOLLA:
Neolithische Kulturerscheinungen. Studien
zur Frage ihrer Herausbildungen. Bonn:
R. Habelt i960. 180 S. (Antiquitas, Reihe
2, Band 3.)
Neolithische Kulturerscheinungen und ihre
Herausbildung werden hier untersucht. Es ist
erfreulich, daß auch ein Prähistoriker darun-
ter nicht nur Keramik, Steinschliff u. a.,
allein archäologisch „interessante“ Phänome-
ne versteht, sondern vor allem das, was das
Neolithikum den früheren Phasen der
Menschheitsgeschichte gegenüber viel kenn-
zeichnender als diese technischen Fortschritte
unterscheidet: die neue Haltung gegenüber
Pflanze und Tier, Nutzpflanze und Haus-
tier. Daß in dieser Umgebung ethnologische
Gedankengänge neben den archäologischen
von Bedeutung sind, hat der Verfasser klar
erkannt und die notwendigen Folgerungen
daraus gezogen: Sein Literaturverzeichnis
nennt fast ebensoviele ethnologische wie ar-
chäologische Arbeiten, daneben geographi-
sche, zoologische und botanische. Ähnliches
geschieht auch sonst gelegentlich. Aber hier
hat man auf jeder Seite der im Umfang so
begrenzten Arbeit den bestimmten Eindruck,
daß ein Autor am Werk ist, der Literatur-
zitate nicht als Beweise seiner Belesenheit be-
nützt, sondern sich mit Methoden, Proble-
men und Ergebnissen der Nachbar Wissen-
schaften sehr kritisch auseinandersetzt, daß
er auch nicht billig sich anbietende Belege
aus Nachbarwissenschaften zusammengesucht
hat, um damit seine eigenen Thesen zu stüt-
zen, sondern daß es ihm darauf ankam,.
Forschungsstand wie Gesamtsituation der
Nachbardisziplinen wirklich kennenzulernen
und deren Ergebnisse und Thesen an seinem
eigenen Material zu messen. Wie er hier in
die Tiefe und auch in die Breite gearbeitet
hat, kennzeichnet seine ganze Denkart eben-
so, wie die kritische Haltung, die er auch den
Methoden und Ergebnissen der eigenen Dis-
ziplin gegenüber zeigt. Nicht umsonst sind
mehr als 10 Jahre Arbeiten und Beobach-
tungen in dieses Werk investiert worden!
Es Ist unmöglich, hier auch nur einen we-
sentlichen Teil all der Fragen und Gedanken
aufzuzeigen, die in dieser ungemein dichten
Arbeit diskutiert werden oder anklingen.
Deshalb sei es erlaubt, Gliederung und Er-
gebnisse in gedrängter Form vorzutragen
und einige Bemerkungen daran anzuknüpfen.
Die Einleitung beschäftigt sich mit dem
Problem „Neolithikum“ als solchem, mit
methodischen Fragen und mit einem Umriß
des Geplanten. Nur zwei Sätze seien daraus
zitiert, die klarer als alle Umschreibungen
zeigen können, was der Autor will und wie
er es zu erreichen beabsichtigt: „Sehr vieles
mußte als bekannt vorausgesetzt werden.
Denn ich habe mir nicht die von vornherein
unlösbare Aufgabe gestellt, den Leser vom
weiteren Studium der angeschnittenen Fra-
gen zu entlasten, sondern möchte dazu an-
regen“ (p. 16). „Hier wird von einer be-
stimmten Fragestellung aus versucht, Einzel-
züge des Materials auf seine Aussagekraft
hin zu interpretieren“ (p. 16).
Das nächste Kapitel ist der Entstehung der
Keramik gewidmet. Smolla kommt dabei
zum Ergebnis, daß es Töpferei bei einigen
relativ Seßhaften — Fischern und Küsten-
sammlern — möglicherweise schon vor deren
Kenntnis von Kulturpflanzen und Haustie-
Buchbesprechungen
163
ren gegeben hat, vielleicht sogar in eigen-
ständiger Entwicklung. Er billigt dieser Ware
(die vor allem in Nordwesteuropa und Süd-
rußland auftritt) aber keine allzu große Be-
deutung für die Geschichte des Neolithikums
zu. — Andererseits gibt es weite Gebiete,
in denen ein präkeramisches Neolithikum
über lange Zeit hinweg existiert haben muß,
nämlich im südlichen Balkan, in Vorder-
asien, Süd- und Ostasien und im westlichen
Amerika. Offenbar liegt die eigentliche
„Neolithisierung“, der Beginn von Pflanzen-
und Tierzucht, vor einer weltweiten Aus-
breitung der Töpferei, die aus dem östlichen
Sudan stammen könnte und wahrscheinlich
erst größere Bedeutung erlangte durdi die
jetzt aufkommende Vorratswirtschaft und
durch das Auftreten neuer Nahrungsmittel
und die Notwendigkeit, diese durch Kochen
für den menschlichen Genuß zu erschließen.
Smolla wendet sich dann dem Steinschliff
und verwandten Techniken zu. Er stellt fest,
daß der Schliff in Ansätzen bereits im Jung-
paläolithikum geübt wurde, wo vor allem
Knochen- und Horngeräte angeschliffen
wurden. Während er für die Keramik die
Frage nach der ein- oder mehrmaligen Er-
findung offen lassen muß, nimmt er für den
Steinschliff die Möglichkeit mehrmaliger Ent-
wicklung mit ziemlicher Sicherheit an. Vor
allem an Hand ethnographischen Materials
untersucht er die Funktionen verschiedener
Beilformen und kommt zum Schluß, daß
Beile schon in der vorneolithischen Zeit vor
allem zum Fällen von Bäumen und zur Holz-
bearbeitung gedient haben müssen, in der
neuen Wirtschaftsform und bei zunehmender
Bewaldung aber eine immer wichtigere Rolle
zu spielen hatten. Es fällt auf, daß alle vom
Autor untersuchten Beilformen (Walzenbeil,
Schuhleistenkeil, Kern- und Scheibenbeil,
Spitzhacke) frühneolithisch sind und außer
dem Walzenbcil alle mesolithische oder jung-
paläolithische Vorgänger in Knochen, Horn
oder Stein haben. Der Autor sagt, daß die
Wurzeln des Steinschliffs weithin unabhängig
seien von der neolithischen Wirtschaftsform,
daß diese aber bessere Voraussetzungen für
die Herstellung von geschliffenen Felsgestcin-
beilen und einen größeren Bedarf an Beilen
überhaupt mit sich bringe: Rodung und Haus-
bau verlangten brauchbare Geräte und ver-
banden so das Beil eng mit dem Neolithikum,
enger noch als die Keramik, die doch viel eher
ein Kind des Neolithikums sei.
Im anschließenden Kapitel beschäftigt sich
Smolla mit der neolithischen Silexindustrie
und der Möglichkeit einer Kontinuität seit
dem Jungpaläolithikum. Er zeigt hier, daß
die oft betonte Übereinstimmung jungpaläo-
lithischen und neolithischen Silexmaterials
sich auch ohne Annahme waghalsiger Hypo-
thesen aus der Funktion der Geräte und den
Gegebenheiten des Werkstoffs erklären läßt,
daß zum anderen ein grobgerätiges Meso-
lithikum mit Kernbeilen als vorneolithische
Schicht wahrscheinlich eine größere Ausdeh-
nung und Bedeutung hatte. Diese Industrie
könnte von Gruppen getragen worden sein,
die den wahrscheinlich hochspezialisierten
Mikrolithikern gegenüber in ihrer Wirtschaft
breiter angelegt gewesen wären (evtl, auch
Fischergruppen).
Im nächsten Kapitel untersucht der Autor
Verbreitung und Geschichte von Frauen-
statuetten, Spiralen und Mäandern. Er glaubt
nicht, daß die Frauenidole des Neolithikums
genetisch mit den Venusstatuetten des Magda-
lenien und des östlichen Aurignacien Zusam-
menhängen, obwohl er die Möglichkeit nicht
ausschließen kann. Seine „neolithische Idol-
region“ deckt sich mit dem „Raum der sich
bildenden Hochkulturen“, die man bisher ge-
meinhin als Dorfkulturen im Alten Orient
bezeichnete. Hier sollen die Idolplastiken zu
den frühesten Ausdruckformen der sich bil-
denden Kultur gehören und könnten ihre un-
bestreitbare Ähnlichkeit mit den „Venus-
statuetten“ im wesentlichen der beidesmali-
gen Betonung der Polarität der Geschlechter
verdanken, wobei sie in den beiden sicher
verschiedenen Kulturgefügen durchaus ver-
schiedene Funktionen gehabt haben können,
wie ja auch Handcar und Narr meinen. Ähn-
lich glaubt Smolla, daß auch die schon im
Paläolithikum aufgetretenen Spiral- und
Mäanderornamente genetisch nicht mit den
frühesten neolithischen Spiralen und Mäan-
dern Zusammenhängen brauchen.
Die Frage der Haustierzucht reiht sich an.
Bei der Diskussion einer Renzucht im
Paläolithikum stellt sich der Autor auf die
Seite Jettmars. Obwohl er das örtliche Vor-
kommen einer Renhaltung im Jungpaläolithi-
kum nicht völlig ausschließen will, glaubt er
dieser doch mit Recht keine Bedeutung für die
spätere Entwicklung zubilligen zu können.
Den Haushund leitet er (mit Boessneck)
von kleinen indischen Wolfsrassen ab, läßt
aber die Frage offen, ob durch Anregung von
164
Buchbesprechungen
Süden her auch im späten östlichen Jung-
paläolithikum eine Hundezucht aufgekommen
sein kann. Daß der Hund primär von Jägern
gezüchtet worden sei, dünkt ihm unwahr-
scheinlich. Das Schwein scheint aus dem-
selben Kulturraum in Südasien zu stammen.
Es braucht als Haustier nicht viel jünger zu
sein als der Hund. Deutliche Hinweise für
seine Herkunft außerhalb der Sphäre des
Pflanzertums liegen nicht vor. Wahrschein-
lich jünger als Hund und Schwein, aber älter
als das gezüchtete Rind sind Ziege und
Schaf als Haustiere. Ihre Heimat in den
Gebirgsräumen des Orients steht fest. Ihre
Zucht ist schon für das frühe Jericho, für
Djarmo und für frühe Schichten der Belthöhle
bezeugt. Ob beide erstmals von Jägern und
Sammlern oder von Bauern gezüchtet wur-
den, kann mit Sicherheit noch nicht gesagt
werden, wahrscheinlicher ist aber, daß Bauern
die ersten Züchter waren. Sicher kann man
dies beim Rind annehmen, dessen Zucht eine
gewisse Erfahrung voraussetzt — und Seß-
haftigkeit. Die ersten gezüchteten Rinder
könnten möglicherweise nicht Steppen-, son-
dern Waldtiere gewesen sein. Der Esel
schließlich wurde in Nordostafrika in Zucht
genommen, wahrscheinlich in den Hochebenen
und Gebirgen südlich und südöstlich vom
oberen Nil. Als letztes der hier genannten
Tiere ist er spätestens im 4. Jahrtausend als
Haustier belegt. Bei den ganzen Zuchtfragen
muß berücksichtigt werden, daß für die ersten
Züchter nicht dieselben Kausalitätsverknüp-
fungen galten wie für uns, und daß wirt-
schaftliche und religiöse Motive für die Zucht
nicht getrennt zu werden brauchen.
Schließlich die Kulturpflanzen! Ausgehend
von den Schwierigkeiten, die die überall im
Fluß befindliche Forschung gerade hier mit
sich bringt, stellt Smolla fest, daß (in dieser
Reihenfolge) Emmer, Zweizeilgerste und Ein-
korn die ältesten Getreide waren, deren
Zucht teilweise mindestens ins 6. Jahrtausend
zurückreiche. Ihre Heimat waren eher die
Bergländer als die Steppen des Alten Orients.
Ob ihr die Zucht von kleinsamigen Getrei-
den, Hirsen, vorausging, ist nicht mit Sicher-
heit zu sagen, weil die Hirsen pollenanalytisch
nicht zu fassen sind. Smolla hält diese Zucht
aber für wahrscheinlich.
Er wendet sich auch der Kultur von
Knollengewächsen zu, deren Hei-
mat er in Südostasien sieht und deren pri-
märe Zucht er annimmt. Aus botanischen
und ethnologischen Gründen glaubt er zum
Beispiel, daß Taro und Banane zum älte-
sten Bestand an Kulturpflanzen überhaupt
gehören und spätestens im 5. Jahrtausend
nach Afrika eingeführt worden sind. Er hält
den Übergang zum Pflanzertum bereits wäh-
rend des Hochstands der letzten Vereisung
für möglich. Freilich hält er auch einen pri-
mären Getreideanbau für durchaus möglich,
glaubt aber, daß die Annahme eines sekun-
dären „Pflanzertums“ höchst unwahrschein-
lich sei. Auf jeden Fall sei schon für den be-
ginnenden Bodenbau eine gewisse Seßhaftig-
keit notwendig gewesen, was ja auch Elps
postuliert hatte, dessen Erntevölkerthese er
nicht ausschließen will, bei der er aber zu be-
denken gibt, daß „Erntevölker“ sowohl bei
Getreide- wie bei Knollensammlern vorstell-
bar seien. Der schon vorher diskutierte Hirse-
anbau könnte — wie für H. v. Wissmann —
das Übergangslied zwischen dem Anbau von
Knollenpflanzen und dem eigentlichen Ge-
treide sein: er wird weithin ebenso betrieben,
wie der von Knollengewächsen.
Nach dieser kritischen Analyse der einzel-
nen neolithischen Erscheinungen versucht der
Autor am Schluß eine neue Zusammenschau.
In diesem Rahmen stellt er fest, daß die neo-
lithischen Kulturerscheinungen durchaus ver-
schiedene Ursprungsherde haben können, die
z. T. voneinander unabhängig gedacht wer-
den und gewesen sein können. Damit ändert
sich die Fragestellung nach dem Beginn des
Neolithikums überhaupt. Smolla weiß, daß
die Bewältigung dieser neuen Situation für
seine eigene Disziplin neue Arbeitsweisen
verlangt, nämlich qualitative Kulturanalysen
anstelle quantitativer Materialgliederung. Er
erkennt auch an, daß die hier aufgeworfenen
Fragen nicht von der Archäologie allein ge-
löst werden können, daß hier vor allem die
Ethnologie einspringen muß, der er eine
ganze Reihe konkreter Fragen stellt. Weiter-
hin zeigt er, daß eine ganze Anzahl von Kul-
turzügen, die auch von der Ethnologie ge-
meinhin als hochkulturlich bezeichnet werden,
bereits lange vor dem seitherigen Epochen-
datum 3000 v. Chr. im Alten Orient vor-
handen gewesen sei, daß also mit einer langen
Anlaufzeit der Hochkultur in diesem Raum
gerechnet werden müsse. Was für die „Urban
Revolution“ (und alle späteren großen ge-
schichtlichen Umwälzungen) gelte, dürfe auch
für das Neolithikum angenommen werden:
eine langsame Entwicklung, die der Autor
Buchbesprechungen
165
— auch aus allgemein-historischen Erwägun-
gen — nicht im Raum der beginnenden Hoch-
kulturen, also im Alten Orient, wurzeln sieht,
sondern in SO-Asien, einem Gebiet, das es
dem Menschen relativ leicht machte, im Pflan-
zertum eine ganz neue Lebensform zu finden.
Smolla sagt, daß sich in diesem Raum lang-
sam habe entfalten können, was andernorts
nur unter Annahme beträchtlicher Sprünge
möglich gewesen wäre und führt für das Pri-
mat dieses tropischen Pflanzenanbaus dem
Getreideanbau gegenüber u. a. folgende Ar-
gumente an: seine Anbaugeräte wurden in
anderer Funktion schon von einfachen Jägern
und Sammlern verwendet. Ein kaum merk-
licher und kaum bewußter Übergang konnte
von der Ernte der wildwachsenden Baum-
und Knollenfrüchte zu der von angebauten
Pflanzen hinüberführen; dabei war es mög-
lich, praktisch das ganze Jahr hindurch zu
„säen“ und zu ernten. Das von Jensen auf-
gezeigte „Weltbild“ spricht — trotz späteren
Einfügungen — für diesen Vorgang; eine
ganze Anzahl von sonst schwer löslichen
Problemen läßt sich bei dieser Annahme leich-
ter lösen. Schließlich hat sich die Mehrzahl
von Kulturgeographen und Ethnologen (in
den letzten Jahren vor allem Dittmer, Sauer
und v. Wissmann) zum Teil unabhängig von-
einander und von verschiedenen Gesichtspunk-
ten ausgehend für diese These ausgesprochen.
Diese sehr summarische und fragmentari-
sche Aneinanderreihung seiner Ergebnisse
könnte den Eindruck erwecken, daß der Autor
— abgesehen von den rein archäologischen
Problemen wie Keramik, Steinschliff u. ä. —
den Ethnologen über die Arbeiten Dittmers,
Sauers, Jettmars, v. Wissmanns u. a. hinaus
nicht allzuviel an Neuem bringe. Aber dieser
Schein trügt.
Einmal ist die vorgelegte Arbeit in erster
Linie ja nicht für uns, sondern für die Ar-
chäologen bestimmt, in deren Reihen sie wahr-
scheinlich einige Unruhe erzeugen wird, be-
deuten Smollas Feststellungen und die darauf
basierenden Forderungen an die Archäologie
doch, daß rein methodisch neue Wege gesucht
und gefunden werden müssen, wenn man in
diesem ganzen Problemkreis weiterkommen
will.
Sodann zeigt die hier besprochene Arbeit
an zahlreichen Einzeluntersuchungen auf, wie
schwierig die Zusammenarbeit verschiedener
benachbarter Disziplinen ist, besonders wenn
bei der Untersuchung kontinent- oder gar
weltweiter Probleme Materialien und Arbei-
ten von Gelehrten verschiedener Länder
herangezogen werden müssen, in denen For-
schungsstand und Methoden ganz verschieden
sind, bzw. gehandhabt werden. Der Autor
steckt die Grenzen der Arbeits- und Erkennt-
nismöglichkeiten der Einzelwissenschaften ab
und macht die „Nachbarn“ darauf aufmerk-
sam, daß man von der Archäologie beileibe
nicht alles erwarten könne, daß vielmehr ge-
rade die Ethnologie mit ihrem eigenen Mate-
rial und mit ihren eigenen Methoden auf
diesem Feld wichtige, geradezu exklusive Auf-
gaben zu bewältigen habe. Seine methodolo-
gischen Abschnitte und Bemerkungen sind für
jeden wichtig, der sich mit kulturhistorischen
Fragen befaßt. Ebenso bemerkenswert ist die
Art, wie er einzelne Probleme angeht. Er
untersucht vor allem Fundplätze, die in der
Diskussion der letzten Jahre und Jahrzehnte
eine Rolle gespielt haben und zeigt an ihnen
teilweise exemplarisch, was der Fundstoff klar
aussagt und was die Interpretation darüber
hinaus erlaubt. Genannt sei hier vor allem
die schöne Darstellung vom Knochenmaterial
der Belthöhle. Diese und andere, ähnliche
Teile der Arbeit sollten manche Ethnologen
(u. a. „Nachbarn“) vor der oft allzu unkriti-
schen Übernahme fremder „Ergebnisse“ künf-
tig bewahren können.
Vom Historischen her schließlich ist —
neben vielem anderem — besonders eine Er-
kenntnis Smollas wichtig: Die kulturgeschicht-
liche Rolle der Fischer- und Küstensammler-
kulturen ist bisher von den Archäologen wie
von uns viel zu wenig beachtet worden. Ge-
wiß ist gelegentlich darauf hingewiesen wor-
den, aber es Ist ein Verdienst dieser Arbeit,
die mit diesen Menschengruppen zusammen-
hängenden Probleme schärfer als bisher her-
ausgearbeitet zu haben. Schade, daß es der
Autor unterlassen hat, auch eine weitere un-
bezweifelbar neolithische Kulturerscheinung,
die natürlich innerhalb der Arbeit immer wie-
der erwähnt wird, noch geschlossen abzuhan-
deln: die Frage der festen Siedlung, der Seß-
haftigkeit. Vielleicht hätte ihre Diskussion die
große entwicklungsgeschichtliche Rolle des
Fischertums noch stärker heraustreten lassen.
Smolla hat eine eigene, dieser Wirtschaftsform
gewidmete Arbeit versprochen. Hoffentlich
kann er sie bald vorlegen — sie wird in man-
chem klärend wirken können und auf jeden
Fall neue Anregungen geben, so, wie es die
166
Buchbesprechungen
hier vorgelegte Arbeit in erstaunlich reichem
Maße tut.
Vom Ethnologischen her soll hier wenig-
stens noch ein, wie mir scheint sehr wichtiger
Gedanke Smollas aufgegriffen werden. Im
Zusammenhang mit Venusstatuetten und neo-
lithisdher Gefäßornamentik nimmt er an (p.
82), die Werke paläolithischer Kunst seien
nach naturvölkischen Analogien von Männern
gechaffen worden, die neolithische Keramik
dagegen sei Frauenarbeit. Dem ist wohl zu-
zustimmen. Hier sei in diesem Zusammenhang
auf einen Sachverhalt hingewiesen, der in der
Diskussion ähnlicher Probleme bisher viel zu
wenig berücksichtigt worden ist: darauf, daß
gar nicht selten der männliche und der weib-
liche Teil einer Population sich völlig ver-
schiedener Ornamente bedienten und Objekte
benützten, die ganz verschieden ornamentiert
sind — es sei nur an die Prairie-Indianer er-
innert. Da nun innerhalb einer bestimmten
Kultur diejenigen Werkstoffe, die normaler-
weise von Frauen bearbeitet werden, sich
meist von denen unterscheiden, die die Män-
ner verwenden (Metalle, Holz, gelegentlich
Ton und Leder; die Frauen dagegen: Tex-
tilien, Flechtarbeiten, gelegentlich Ton und
Leder) kann bei archäologischen Fundkom-
plexen leicht ein falsches oder doch völlig
einseitiges Bild entstehen, weil sich unter glei-
chen Lagerungsbedingungen nicht alle Mate-
rialkategorien gleich gut erhalten. Wenn dann
Fundplätze ergraben werden, bei denen ganz
besonders günstige Erhaltungsbedingungen
vorliegen, wie etwa in Mooren oder Seen,
merkt man gelegentlich, daß das bisherige
Bild dieser Kultur in entscheidenden Punkten
zu korrigieren ist. Das war z. B. beim Be-
kanntwerden der Pfahlbaufunde im ober-
schwäbisch-schweizerischen Raum der Fall.
Ähnlich — so scheint mir — ist es uns aber
auch in einem anderen Gebiet ergangen: seit
Rudenkos Grabung im zweiten Pasyrykkur-
gan wissen wir, daß man im Steppenraum
jener Zeit nicht nur im Tierstil arbeitete. In
jenem Kurgan haben sich dank der ewigen
Gefrörnis auch zahlreiche Arbeiten erhalten,
die größtenteils mit pflanzlichen oder geo-
metrischen Mustern verziert waren. Rudenko
sagt mit Recht (S. I. Rudenko: Der zweite
Kurgan von Pasyryk, Berlin 1951, 90), daß
man seit diesem Fund skythische Kunst und
Tierstil nicht mehr als Synonyme behandeln
dürfe, weil Taschen, Beutel, Kleider, Schuh-
werk und Musikinstrumente ebenso wie
Applikationen in Filz und Leder vorwiegend
mit vegetabilen Mustern verziert waren, Ge-
webe mit geometrischen. Dieser Fund läßt
gewiß erkennen, daß es vorwiegend, wenn
nicht ausschließlich, die Männer waren, die im
Tierstil arbeiteten und die so verzierten Ob-
jekte trugen oder verwendeten, während in
der Sphäre der Frau vegetabile Muster und
geometrische Ornamente daheim waren, wie
es in der Nomadenkunst Zentralasiens und
des Orients bis heute geblieben ist (Teppiche!).
Smolla sagt eingangs, es sei seine Absicht,
eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. Das
hat er sicher getan. Unser gemeinsamer, ver-
ehrter Lehrer Kurt BIttel hat bei der Diskus-
sion einer berühmten Arbeit einmal gesagt, cs
gebe Arbeiten, über die Jeder schimpfe, von
denen aber jeder profitiere. Smollas Unter-
suchung dürfte bald zu ihnen gehören — je
mehr, desto besser! F. Kussmaul
ZOLTAN KODALY:
Die ungarische Volksmusik. Budapest: Cor-
vina 1956. 181 S.
Im Jahre 1905 begannen die als Kompo-
nisten und Forscher gleich bedeutenden unga-
rischen Musiker Zoltän Kodäly und Bela
Bärtok mit Hilfe des Phonographen das Sam-
meln ungarischer Volkslieder. 1906 gaben sie
gemeinsam die Sammlung „Zwanzig ungari-
sche Volkslieder“ als Frucht ihrer ersten Rei-
sen heraus. Was diese frühe Sammlung in
ihren Weisen — noch mit Klavierbegleitung
popularisiert bearbeitet — schon ankündigte,
das bestätigen die in den folgenden Jahren
von beiden Forschern in intensiver Feldarbeit
aufgezeichneten Melodien: was man bislang
für das „ungarische Volkslied“ gehalten hatte,
hat mit diesem wenig oder nichts zu tun.
Diese Erkenntnis wurde 1925 in Bärtoks
Buch „Das ungarische Volkslied“ klar aus-
gesprochen; doch blieb sie auf einen kleinen
Fachkreis beschränkt. Auch heute noch wird
oft genug ungarische Volksmusik und Zigeu-
nermusik gleichgesetzt, werden Volkslied und
volkstümliches Kunstlied nicht auseinander-
gehaltcn. All die Melodien, die in den zahl-
losen ungarischen Tänzen und Rhapsodien, im
Csardas und den Zigeunerweisen des 19. Jahr-
hunderts als Material verwandt worden sind
(auch in den Kompositionen von Liszt oder
Brahms), entstammen dem Bereich der volks-
tümlichen städtischen Kunst- und Tanzmusik,
Bnchbesprechungen
167
mit starkem Einschlag des zentraleuropäischen,
wienerischen Musikstils. Sie sind im wesent-
lichen im vorigen Jahrhundert herausgebildet
worden. Ein einziges Merkmal dieser Melo-
dien weist auf orientalischen Ursprung hin:
die sog. Zigeunerleiter, die vielleicht durch
die Vermittlung der Zigeuner nach Ungarn
gekommen ist. Obgleich häufig angewandt,
ist sie jedoch kein beherrschendes Kennzei-
chen. Die erhöhten Stufen dieser Leiter brin-
gen die Zigeuner auch in den von ihnen hin
und wieder gespielten authentischen Volks-
liedern an. Unter diesen authenischen Volks-
liedern versteht man die Lieder, die das
eigentliche Volk, das noch weitgehend von der
städtischen Zivilisation unberührt geblieben
ist, singt (Bärtok spricht von der Bauern-
musik). Das Volk aber singt seine Lieder
ohne jede Erhöhung! So kann man sagen, daß
die Spielwelse der Zigeuner eigentlich einer
Verfälschung des wahren Volksliedes gleich-
kommt. Im übrigen haben sich die Zigeuner
als Komponisten dem herrschenden Musikstil
angepaßt. Ihre Musik ist keine „ungarische
Volksmusik“, sie ist aber auch keine echte
„Zigeunermusik“. Diese existiert heute fast
nur noch bei den wandernden Zeltzigeunern,
und sie hat weder mit dem volkstümlichen
ungarischen Stil, noch mit dem echten Volks-
lied Ungarns etwas gemeinsam.
Diese grundlegenden Feststellungen hat
Zoltän Kodäly an den Beginn seiner 1956 er-
schienenen Arbeit „Die ungarische Volks-
musik“ gesetzt. Die erste Fassung dieser Ver-
öffentlichung erschien schon 1935 als Beitrag
zum Sammelwerk „A magyarsäg neprajza“
(Ethnographie des Ungartums). Die nunmehr
vorliegende deutsche Fassung, deren Über-
tragung Bence Szabolcsi zu danken ist, hat
die durch eifrige Sammeltätigkeit in den letz-
ten dreißig Jahren vertieften Erkenntnisse
verarbeitet. Die von der Ungarischen Aka-
demie der Wissenschaften bisher herausgege-
benen drei ersten Bände des „Corpus musicae
popularis hungaricae“, der großen Sammlung
der ungarischen Volksmusik, bildet die
Grundlage für Kodälys umfassende und aus-
gezeichnete, mit vielen Notenbeispielen ver-
sehene, reich bebilderte Studie.
Der Autor warnt davor, Volkstraditionen
als etwas Einheitliches aufzufassen. Die Un-
terschiede nach Lebensalter, sozialer Lage,
Religion, Bildung, Geschlecht und Gegend
sind tiefgehend. Unter diesen Gesichtspunkten
prüft der Verfasser zunächst einmal die ge-
sellschaftliche Funktion des Volksliedes, die
Art seiner Verwendung. Er löst dann aus
dem vorliegenden Material eine Urschicht un-
garischer Volksmusik heraus und vergleicht
sie mit der Musikfolklore stamm- und sprach-
verwandter Völker. Hierbei ist erstaunlicher-
weise festzustellen, daß nur wenige Verbin-
dungen zur Volksmusik der Finnen bestehen.
Wohl aber zeigt die ungarische Volksmusik
eine tiefgreifende Ähnlichkeit und Überein-
stimmung in Melodienbau, Phraseologie und
Rhythmus mit der Musik der Tscheremissen,
Wotjaken und Tschuwaschen des Wolga-Ural-
gebiets, den Überresten jener Völkergemein-
schaft also, der einst auch die Ungarn ange-
hörten. Da man gleiche musikalische Elemente
bei jenen Völkern und den Ungarn findet,
müssen sie wohl schon vor dem Ausscheiden
der Ungarn aus der ehemaligen Gemeinschaft
vorhanden gewesen sein. Kodäly zieht dann
den Schluß: „Das Magyarentum ist heute der
äußerste Grenzzweig jener jahrtausendealten
großen asiatischen Musikkultur, deren Stamm
in der Seele verschiedener, von China über
Mittelasien bis zum Schwarzen Meer wohnen-
der Völkerschaften wurzelt“, eine Feststel-
lung, die der Übersetzer des Buches, Bence
Szabolcsi, schon 1935 im Journal of Royal
Asiatic Society getroffen hat. Obgleich das
Ungartum vielen fremden Einflüssen und
Blutmischungen ausgesetzt gewesen ist, hat es
seine musikalische Ursprache in einigen hun-
dert Melodien fast unverändert bewahrt. Ko-
däly zeigt nun weiter, wie jener Melodien-
typus, der das orientalische Erbe am reinsten
bewahrt hat und heute im Aussterben begrif-
fen ist, im neueren Musikstil weiterlebt. Er
betrachtet deshalb im nächsten Kapitel aus-
führlich das neuere ungarische Volkslied, seine
Beeinflussung durch das volkstümliche Kunst-
lied, den Gregorianischen Gesang, die Kir-
chenmusik u. a. Den Inhalt weiterer Ab-
schnitte bilden Kinderlieder und Totenklagen.
Ein besonderes Kapitel ist der Instrumen-
talmusik Vorbehalten. Kodäly betont aller-
dings, daß das ungarische Volk Instrumente
nicht besonders schätzt. Mit der Gesangsmusik
verglichen ist jedenfalls die Instrumentalmusik
von geringerer Bedeutung. Trotzdem ver-
dient sie große Aufmerksamkeit, da in ihr
archaische Reste erhalten geblieben sind. Geige
und Cymbal, vor allem aber die Zither selber,
dann die Grifflochpfeife und der Dudelsack
werden vom Volke gespielt. Mit einer Be-
trachtung zur Frage „Volkstradition und
168
Buchbesprechungen
musikalische Kultur“ schließt Kodäly seine
instruktiven Ausführungen ab. Zum Abschluß
sagt er: „Aus dem Leben des Volkes wird die
Tradition langsam, aber unerbittlich durch
das Leben selbst getilgt. Dies verhindern zu
wollen, einem natürlichen Prozeß der ge-
schichtlichen Entwicklung einen Damm setzen
zu wollen, wäre eitles Bestreben. Nun aber
ist die Reihe an der gebildeten Schicht, sich
der Tradition anzunehmen, sie zu bewahren,
zum wirkenden Teil ihres Lebens zu ma-
chen . .
„Die Formen der Überlieferung mögen sich
wandeln, ihr Wesen jedoch bleibt dasselbe,
solange das Volk lebt, dessen Seele sie ver-
körpert. Und es kommt die Zeit, wo die ge-
bildete Schicht die vom Volke übernommene
Tradition — in eine neue, künstlerische Form
umgestaltet — der nationalen Gemeinschaft,
dem zur Nation gewordenen Volke wieder
überreichen kann.“ Hier spricht nicht mehr
der Forscher, sondern der Tonschöpfer Ko-
däly, dem es gleich Bärtok gelang, diese For-
derung in einem Werk klingend zu erfüllen.
W. D. Meyer
JOHN GÜNTHER:
Afrika von innen. Konstanz und Stuttgart:
Humanitas-Verlag 1957. 880 S., zahlreiche
Karten, geh. DM 25.50.
GEORGES BALANDIER:
Zwielichtiges Afrika. Stuttgart: C. E.
Schwab & Co. 1959. 324 S., 30 Fotos,
55 Zeichn., geh. DM 26.—.
Die Reihe der „Inside“-Bücher des als
journalistisch zupackcnd bekannten Ameri-
kaners J. Günther ist mit dem Afrikaband um
ein gewichtiges Stück erweitert. Die Arbeit
hat fraglos ihre Meriten, wenngleich sie dem
Fachethnologcn weniger dienlich sein kann
als demjenigen Leser, der in Summa infor-
miert sein will. Und auch er wird sich ständig
vor Tatsachen gestellt sehen, die bei dem hek-
tischen Tempo der sozialpolitischen Entwick-
lung Afrikas „längst“ Geschichte geworden
sind, bevor die Lektüre des dickleibigen
Buches beendet ist. Sucht er aber das soeben
Vernommene mit dem aktuellen Afrika zu
vergleichen, dann wird er den Untertitel der
deutschen Ausgabe „Ein dunkler Kontinent
wird hell“ mit einigen Fragezeichen versehen;
denn dem Kenner des bislang als dunkel sig-
nierten Kontinents muß dessen angeblich hel-
lere Zukunft gerechterdings finster erscheinen.
Dennoch — es sollten sich genug Interes-
senten finden, die an J. Günthers schriftstel-
lerischer Art, die Dinge schlaglichtartig zu
beleuchten, ihre Freude haben. Sie bereichern
sich in jedem Falle „um ein gut Stück Welt-
kenntnis“, was auch dann von Nutzen ist,
wenn die gewaltige Komposition weniger auf
Nuancen und mehr Dominanten gestimmt ist.
Ein Werk verwandter Themastellung und
doch wesentlich anderer Art ist Georges Ba-
la n d i e r s Buch, das den Originaltitel
„Afrique ambiguë“ trägt. Regt Günthers
Bericht an, so fasziniert derjenige des fran-
zösischen Ethnosoziologen. Während ersterer
dem Leser eine Unzahl, zum Großteil scharf
erfaßter Bilder Nachdenken heischend vor-
weist, läßt letzterer ihm die überaus sympa-
thische Möglichkeit, beim Entwickeln der vie-
len (geistigen) Aufnahmen zugegen zu sein.
Und es steht sicher nicht zufällig zu Beginn
der Arbeit der insonderheit für die Ethno-
graphen wichtige Satz, daß „fremde Völker
zu erklären, unter denen man gelebt hat, und
die man liebt, sich selber deuten heißt“!
Dem „Spiel der Erinnerungen“ gibt Balan-
dier im 1. Kapitel einen breiten Raum. Nie-
mand — vor allem kein Völkerkundler —
wird die dort notierte Erfahrung bestreiten,
wonach der Zugang zu einer fremden Zivili-
sation, und das Vertrauen, welches durch ge-
duldiges Verstehenlernen erworben wird,
mehr das Resultat einer Askese als eines über-
legenen Spiels oder einer wissenschaftlichen
Methode sind. Balandiers „Erinnerungen“
meinen zum einen das, was er (wir alle!) als
Vorurteil aus Europa nach Afrika trug, zum
andern jenes, was er als Erfahrung helm-
brachte. Daß diese Erfahrung nicht Gepäck im
Sinne der Mitbringsel empfindsamer Reisen
darstellt, ist klar; denn hier erfuhr ein Beob-
achter, dessen Sinne kartesisch geschult und
geschärft sind. (Ich habe den bestimmten Ein-
drude, daß B. so ganz „nebenbei“ ein not-
wendiges und dankenswertes Privatissimum
in feld-praktischer Völkerkunde hält!) Die
Kapitel: Junges Afrika — Traditionen —
Untergegangene Kunst — Sackgassen —
Städte — Gegensätzliche Bewegungen — Ge-
sichter — und vor allem — Wohin? — be-
schreiben in einer selten vorhandenen Distanz
ethnologische Fakten, die bislang vornehmlich
Buchbesprechungen
169
Gegenstände der Zweckforschung waren, nun
aber drängend vordergründige Anliegen der
praktischen Ethnosoziologie sind. (Ich halte
die wie folgt formulierte Feststellung des
Verlages für denkbar unglücklich: „Balan-
diers Buch gehört zu den bahnbrechenden
Werken der modernen Kolonial-Soziologie!“)
Von aktuellem, die völkerkundlichen Fach-
belangeüberschreitendem Interesse dürfte u. a.
die Untersuchung über die „Gegensätzlichen
Bewegungen“ oder die politisch-religiösen Zu-
stände im Kongoraum sein.
Dennoch sind alle Reflexionen auf den
Völkerkundler bezogen, von dem B. unmiß-
verständlich sagt, daß er die Aufgabe habe,
seine Gedanken ohne Zurückhaltung auszu-
sprechen. „Es ist weder sein Beruf, Schmeich-
ler noch bezahlter Rezensent zu sein.“ Balan-
dier hat für seinen Teil in diesem Buch und
durch sein Wirken als Publizist und akade-
mischer Fehrer diesen für alle geltenden Auf-
trag in vorbildlicher Weise erfüllt, und wenn
seiner Arbeit nichts weiter als Nachahmung
in dieser Zielstrebigkeit beschieden wäre,
hätte sie zweifellos Bestand. Sie gibt jedoch
mehr — aber das erschließt sich dem enga-
gierten wie distanzierten Feser nur auf dem
Wege des Nacherlebens des zwielichtigen,
keineswegs hellen Afrika.
W. Konrad
ELSY LEUZINGER:
Afrika, Kunst der Negervölker. Baden-
Baden: Holle-Verlag 1959. 235 S., 64 far-
bige Abb., 144 Zeichnungen, 4 Karten
(Kunst der Welt, die außereuropäischen
Kulturen). Preis: DM 29.80.
Jeder Versuch, einen Überblick der Kunst
Afrikas zu geben, führt dem Feser vor
Augen, wie schwierig solche Aufgabe ist. Die
Fiteratur wird von Jahr zu Jahr umfangrei-
cher, und bei der Beschäftigung mit der
Kunst muß der Verfasser auch über solide
Kenntnisse der Ethnographie schlechthin ver-
fügen. Die Verfasserin demonstriert mit
ihrem Buch, wie notwendig das ist. Im ersten
Viertel des Buches schafft sie allgemeine
Grundlagen zum Verständnis des Haupttei-
les, in dem die Stilregionen abgehandclt wer-
den. In knapper und klarer Form werden
zunächst Fand und Feute, Religion und So-
ziologie beschrieben. Anschließend zeigt die
Verfasserin die In Kunst und Kunsthand-
werk verwendeten Materialien auf und cr-
läutert endlich noch Form und Stil. Die
gründliche Einführung ist im Hinblick auf
den Feserkreis erforderlich und ist gut ge-
lungen.
Der Hauptteil ist in acht Kapitel unter-
teilt, die sich mit den Stilregionen befassen:
Einleitung zu Westsudan und Westafrika;
Westsudan; Westatlantische Küstenländer;
Ostatlantische Küstenländer; Kamerun und
Französisch-Äquatorialafrika; Belgisch-Kon-
go; Ostafrika; Südostafrika und Madagaskar.
Das Material ist klar und übersichtlich dar-
geboten. Unter der Überschrift Ostafrika
wird das Gebiet zwischen dem Südostsudan
und Südwestäthiopien und dem Rovuma-
Gebiet zusammengefaßt. Bei der reichlich
knappen Behandlung, die dieses Gebiet fin-
det, mag das aus praktischen Erwägungen
geschehen sein. Dann hätten aber Südost-
afrika und Madagaskar angeschlossen wer-
den können, die Inhalt eines noch kürzeren
Kapitels sind. Ob Madagaskar überhaupt in
den Zusammenhang afrikanischer Kunst ge-
hört, sei dahingestellt. Da es jedoch einmal
hinzugezogen worden ist, hätte es eine aus-
führlichere Würdigung verdient. In dem sehr
kurzen Abschnitt über Togo vermißt man
die Erwähnung der Plastik Nordtogos (z. B.
Moba). Allgemein sind Fehmplastik und Ma-
lerei (Hausschmuck!) unzureichend darge-
stellt worden. Die etwas unbefriedigende
Ausführung einzelner Abschnitte mag zum
Teil wohl auf Platzgründe zurückzuführen
sein. Im Text sind kleine Unebenheiten zu
beanstanden, die die Verfasserin übersehen
hat.
Das Wort „Poro-Geheimbund“ (S. 74) ist
eine Tautologie. „Poro“ ist in der Fiteratur
in der Bedeutung „Geheimbund“ eingeführt.
Der Gebrauch von „Poro“ in Verbindung mit
den Senufo ist zwar der Fiteratur entnom-
men (vgl. B. Holas, Fes Senoufo, Paris 1957,
S. 129), das Wort ist jedoch in erster FInie
für die Geheimbündc Fiberias und Sierra
Leones anzuwenden.
„Die Baga-Gruppc . . . gehört rassisch und
kulturell noch zu der West-Mandingo-Grup-
pe...“ (S. 80). Infolge des Kontaktes mit
Mandingo ist bei den Baga und ihren Ver-
wandten zweifellos ein Mandingo-Einfluß
festzustellen. Trotzdem erscheint mir eine so
enge Verbindung, wie sie hier ausgedrückt
ist, nicht gerechtfertigt. Die in Guinea, Portu-
giesisch-Guinea usw. lebenden Mandingo sind
übrigens auch nicht ohne Einfluß ihrer Nach-
170
Buchbesprechungen
barn geblieben. Kulturell gehören die Baga,
Nalu, Landuma(n) usw. in die westatlanti-
sche Provinz.
Von den Mende (besser als „Mendi“) heißt
es, sie „sprechen das Mande-fu“ (S. 82). Die
Mende bilden eine Dialektgruppe (Dialect
Cluster) in der Sprachgruppe der Mande-fu.
Sie sprechen „Mende“, ganz exakt „Mende“.
Ebenso unglücklich ist die Formulierung „das
Kwa-sprechende Anyi-Volk der Baule“ (S.
91). Die Kwa-Sprachen bilden eine Sprach-
gruppe, in deren Rahmen das Baule ein Dia-
lekt der Akan-Sprachen ist. Die Bezeichnung
der Baule als Anyi-Stamm oder -Volk ist
wohl nicht zutreffend. Die Anyi sind eine
andere Untergruppe der Akan. Wie die Ver-
fasserin richtig angibt, haben sich die Baule
im frühen 18. Jahrhundert von den Ashanti
abgespalten. Dagegen sind die Anyi schon
länger im Süden der Elfenbeinküste ansässig.
„Goldküste nannten die Portugiesen das
Land, weil ihnen die Ashanti in üppigem
Goldschmuck entgegenkamen“ (S. 96 f.). Die
ersten Kontakte hatten die Portugiesen m.
W. mit den Fante und anderen Küstenstäm-
men, nicht aber mit den Ashanti, die auch
damals im Inland lebten.
Die „Bronzeköpfe mit den Perlenflügeln“
sind nicht alle in der Regierungszeit des Oba
Osemwenede (oder Osemwede) in Benin ent-
standen, wie man nach S. 110 annehmen
muß, sondern seit der Zeit dieses Herr-
schers, der die Perlenflügel der Kopfbedek-
kung des Königs als Attribut hinzufügte.
Das heißt die Köpfe, die Perlenhauben mit
Flügeln tragen, sind nach 1816 entstanden.
Die Yaka werden mit den Jaga (besser
als Djaga) verwechselt (S. 148). Auf den
Unterschied zwischen Yaka und Jaga ist be-
reits verschiedentlich hingewiesen worden (z.
B. von Baumann und Westermann). Die
Yaka sind keine Nachkommen der Jaga, ob-
wohl sie von einem Jaga unterworfen wur-
den. Die Jaga sind in den von ihnen be-
herrschten Stämmen aufgegangen, sofern sie
nicht ausgestorben sind, da sie die Gepflo-
genheit hatten, ihre eigenen Kinder zu töten.
Miniatur- oder Handmasken der Dan (vgl.
S. 88) sind auch aus Gelbguß bekannt.
Strittig erscheint mir der Abschnitt über
die Bobo (S. 74), aus dem zu entnehmen ist,
daß die bemalten Holzmasken vorwiegend
von den Bobo-Fing stammen. Leider ist bis-
her viel zu wenig auf die Unterschiede zwi-
schen Bobo-Fing und Bobo-Ule geachtet wor-
den. Ob und wie weit die bemalten Masken
bei den Bobo-Fing verbreitet sind, vermag
ich nicht zu beurteilen. Aus eigener Anschau-
ung kann ich jedoch die große Bedeutung der
bemalten Holzmasken (besonders der brett-
artigen Masken) bei den südlichen Bobo-Ule
(Gegend von Houndé) hervorheben. Von
dort sind die Masken auch in einige Dörfer
der Nuna gekommen.
Reiches Bildmaterial ergänzt die Ausfüh-
rungen der Verfasserin. Allerdings ist auch
bei den Abbildungen Ostafrika reichlich kurz
gekommen. Literaturverzeichnis, Register und
eine Erläuterung der wichtigsten Fachaus-
drücke befinden sich am Schluß des Buches.
Das Werk ist in der Reihe „Kunst der
Welt“ erschienen, die einen möglichst großen
Leserkreis, das heißt Laien und Fachleute,
ansprechen will. Trotz der kleinen Mängel,
die aufgezeigt wurden, muß die Verfasserin
zu ihrer Arbeit beglückwünscht werden. Das
Buch ist zur raschen Information und als
Einführung für ein großes Publikum glei-
chermaßen geeignet und wird sich seinen
Platz erobern.
J. Zwernemann
ANNEMARIE SCHWEEGER-HEFEL:
Holzplastik in Afrika, Gestaltungsprinzi-
pien. Wien: W. Braumüller 1960. 148 S.,
14 Tafeln, geh. DM 27.—. (Veröffent-
lichungen zum Archiv für Völkerkunde,
Band 5.)
The Author must be credited with a blunt
and honest initial remark, to the effect that
we know little or nothing about the true
nature, meaning and function of African art.
Having thus taken from the very start, as it
were, the bull by the horns, Frau Schweeger-
Hefel proceeds to examine whether and how
some sort of knowledge can be drawn from
the objects themselves. Analysis is strictly
limited to sculpture in wood, and within this
category mostly to Independent figures.
Throughout the book there is no attempt to
philosophical speculation of sorts, no ten-
tative aesthetic appraisal, no conjectural
assumption as to the existence of ’’styles“ on
a regional or ethnic basis. The aims of the
work, as stated on pages 3—4, are mainly
iconographie and distributional, on the whole
directed towards the establishment of typo-
logical groupings of African sculpture, as
Buchbesprechungen
171
based on the actual formal characters, postu-
res and subsidiary elements which may be
observed in known objects. This, in the
author’s opinion, is the indispensable preli-
minary step that must precede classification
and further speculation. We agree that it is
a sound and commendable method, which can
yield positive results — as the late Frans M.
Olbrechts was able to prove in his outstan-
ding book, Plastiek van Kongo — when one
is forced to deal with relatively ’’dumb“
materials, irrespective of whatever conclu-
sions may be drawn from different and more
vital information of iconological character.
The materials on which the present analysis
is based consist of about 700 photographs as
published in current books and articles on
the subject, and — in addition to these — a
series of some 230 objects examined by the
Author In the two main Rome museums and
In the Vienna one. Here, surely, lies a first
serious weakness of the book. Not all the
extant literature has been taken into account,
even though the bibliographical list given on
pp. 146—7 does include most of the standard
works on African art. The choice of the three
museums mentioned above is also unfortunate,
and was no doubt dictated by opportunities
of residential nature rather than by the sig-
nificance of the collections concerned. Ex-
amining specimens of African sculpture the
world over would no doubt be too lengthy
an operation to be expected of any single
scholar, but surely a few weeks devoted to
Tervuren, the Musee de 1’Homme or the
British Museum would have been rewarding.
The statistical validity of any assumption on
the relative frequency of stylistic or other
elements depends largely on the number of
objects considered and on the objective range
of their choice. Both elements could have been
Improved on.
In the first place, Frau Schweeger-Hefel
classifies her 930 pieces according to a sexual
criterion; 399 are female, 178 male, 30 bi-
sexual, 17 double (male and female), 130
sexless (of which 44 in literature, 86 in mu-
seums). This, if I am not mistaken, gives a
total of 754 objects, leaving the remaining
176 unaccounted for. What are they — masks,
animals, groups, or just various carved imple-
ments of would-be artistic quality? We should
like to know, but no word is said about them.
As it is, a subdivision of this type may have
some statistical relevance with regard to the
frequency and distribution of the various
sex-categories, provided the meaning and
function of each can be ascertained as identi-
cal or similar in all cases; it certainly is of
no use whatsoever if one should have a
stylistic study in mind as the next step,
because specimens of any suggested ’’style“
would probably turn out to be represented in
each and all of these classes.
On each group the Author has a number
of sensible remarks to make, and even if the
conclusions (chapters X and XI) are rather
meagre, one does not really experience a
feeling of disappointment, because one has
been duly warned from the start that final
results are not to be expected from an pains-
taking study meant, in a sense, to be pioneer
work.
Nevertheless, points on which the reviewer
has to disagree with the Author are numerous.
For instance, how can she really be sure (p.
29) that in West Africa ’’functional“ sculp-
ture is used for profane uses only? Such
sweeping statements are hard to prove and
at any rate premature. But what is more, I
should challenge the view that we are justified
in distinguishing ’’functional“ („Funktion
ausübende Objekte“, p. 93) from ’’nonfunc-
tional“ art objects In the first place. If I
understand the term ’’function“ correctly, I
know of no examples of the second class.
Again, if the postures of arms are to be taken
as one of the significant features of sculpture,
female or otherwise, then surely the three
types „frei hängend“, „anliegend“, „gehen-
kelt“ (p. 39—40) do not exhaust all possibili-
ties. Some figurines have arms raised above
the head (notably Dogon, but also Rega and
possibly others); not infrequently, arms are
placed asymmetrically, and so on. Evidence
and arguments provided towards the estab-
lishment of a true ’’portrait“ category (p.
68—69) are unconvincing. Such expressions
(borrowed, one feels, from other writers) as
„verhältnismäßig geringes Mutterrecht“ and
„Tendenzen zur Großstaatenbildung“ (p. 85)
are rather vague generalizations to say the
least of it. Matrilineal descent (if this is
meant by „Mutterrecht“) either exists in a
given area or tribe or it does not; and we
cannot judge the ’’tendencies“ towards the
forming of major states, but merely their
existence or their absence in a given area and
period. Again, with all due respect to the
authorities quoted to this effect, the attempt
172
Buchbesprechungen
to connect Bahule with Luba-Ruwa-Kuba art
productions as showing „erstaunliche Ähn-
lichkeit“ and „engste Beziehungen“ (p. 90) is
in my opinion unjustified under a purely
stylistic angle, and quite fantastic from an
ethno-historical point of view.
For all their accuracy and wealth of analy-
tical detail, the „Tabellen“ (pp. 96—144) will
prove of scarce usefulness to the average
reader and, I am afraid, to the scholar.
Distribution maps of the various features
and types examined, of the kind used by the
Swedish school, would have been preferable,
at least in order to give a first visual impres-
sion of the continental diffusion of some of
these ’’themes“. The map (p. 145) is sketchy,
incomplete, and hard to read without the aid
of a magnifying glass; its shortcomings are
bound to elicit a severe frown from both
geographers and African linguists. The plates
are poor.
This list of criticisms might lead to believe
that I disagree with most of what Frau
Schweeger-Hefel has attempted to demon-
strate in her book. This is not the case. Many
of the points she makes are good, and the
general plan of her work is praiseworthy,
especially if compared to the commonplace
sort of comment one usually finds in the
countless ’’flashy“ books on so-called primi-
tive art. Of course, formal classification and
purely iconographical analysis will never
lead us very far towards the true understand-
ing of African sculpture, or of any other art
form, no matter how adequately they are
performed. But within these limits, which the
Author has accepted at the offset, she deser-
ves a final word of appreciation for the
thoroughness and honesty of her attempt in
such a difficult field.
V. L. Grottanelli
HANS HIMMELHEBER:
Negerkunst und Negerkünstler. Braun-
schweig: Klinkhardt & Biermann 1960.
VIII + 436 S., 336 Abb., 1 Karte. Preis:
DM 56.— (Bibliothek für Kunst- und Anti-
quitätenfreunde, Band 40).
In den letzten Jahren sind viele Bücher über
afrikanische Kunst erschienen, die sich an
einen Leserkreis wenden, der über die Fach-
welt hinausgeht. Längst nicht alle diese Bü-
cher können eine wissenschaftliche Bedeutung
beanspruchen. Das vorliegende Werk von
Flans Himmelheber sollte jedoch von Fach-
leuten und Laien gleichermaßen beachtet wer-
den. Der Verfasser bemüht sich nicht nur,
afrikanische Kunst einem breiten Publikum
vorzustellen oder einige wichtige Kunststile
zu erläutern, sondern er versucht, dem Leser
einen Einblick in das Werden und Schaffen
der Künstler zu vermitteln. Dieser Versuch
ist sehr gut gelungen.
Die Betonung der sozialen Seite tritt vom
Beginn des Buches an hervor. Der Autor zeigt
zunächst die Aufgaben auf, denen sich der
Künstler gegenübersieht. Er teilt die Kunst-
werke in 4 Gruppen ein: Masken, Figuren,
Kunstgewerbe und selbständige Kunstwerke.
Es folgen allgemeine Angaben über die
Künstler. U. a. werden Berufswahl, Bega-
bung, Ausbildung, soziale Stellung und Her-
stellungstechniken behandelt. Dieser allge-
meine und einführende Teil des Buches wird
durch Ausführungen über künstlerische Bin-
dung und Freiheit abgeschlossen.
Der Hauptteil des Buches befaßt sich mit
der Kunst verschiedener Gebiete Afrikas. In
5 Kapiteln stellt der Autor das Material grö-
ßerer, zusammengehöriger Gebiete dar. Zwei
Kapitel umfassen das Material zweier Kultur-
provinzen („Westatlantische Provinz“ und
„Staatsvölker von Oberguinea“ = Ostatlan-
tische Provinz), während sonst die Grenzen
der Kulturprovinzen überschritten werden
(„Sudanvölker“, „Vom Niger zum Ogowe“,
„Kongovölker“). Im Kapitel „Sudanvölker“
werden ausschließlich Stämme aus dem Niger-
bogen behandelt. Von den Stämmen, die er
im Laufe der Jahre selbst besuchen konnte,
bringt Himmmelheber zahlreiche interessante
Angaben über die Künstler. Besonders reich
sind hier die Ausführungen über die Dan und
Kran, die Baule, die Guro und die Senufo.
Nicht so umfangreiche, aber nicht minder
interessante Notizen konnte der Autor im
Grasland von Kamerun und bei verschiedenen
Kongostämmen sammeln.
Es würde zu weit führen, in diesem Zu-
sammenhang alle Stämme aufzuzählen, deren
Kunst Himmelheber in seinem Werk behan-
delt. Die Kapiteleinteilung vermittelt einen
Eindruck vom Umfang der behandelten Ge-
biete. Fast ausschließlich wurde westafrikani-
sches Material herangezogen. Der Verfasser
hätte sich vielleicht ganz darauf beschränken
und das im Titel (oder einem Untertitel) des
Buches zum Ausdruck bringen sollen. Hirn-
Buchbesprechungen
173
melheber schließt jedoch ein Kapitel über Ost-
afrika an, das im Umfang nur knapp eine
Seite Drucktext ausmacht. Dort werden Ma-
konde und Yao flüchtig behandelt.
Einige Kleinigkeiten sind zu beanstanden.
In dem Kapitel über die westsudanischen
Stämme vermißt man etwa die Moba-Plastik,
die überhaupt nicht erwähnt wird.
Bei den Maskenkostümen (S. 7) hätten
neben Netzgewand und Bastkostüm auch die
Faserkostüme (Bobo, Dogon) erwähnt wer-
den sollen. Auf S. 11 schreibt der Verfasser:
„Auf keinen Fall dürfen die Frauen abge-
nommene Masken sehen . . .“ Das ist zwar
allgemein richtig, wird aber in der Gegenwart
nicht mehr immer befolgt. Bei den Bobo im
Dorf Boni bei Hounde standen im März 1955
vor Beginn des Frühjahrsfestes die Masken
vor dem im Dorf befindlichen Maskenhaus
und konnten von den Frauen gesehen werden.
Über die Bobo-Masken bringt Himmel-
heber eine Angabe, die offenbar auf eine In-
formation von Storrer zurückgeht (S. 81):
„Sie scheinen zusammenzugehören, und zwar
derart, daß je ein Dorfviertel eine dieser
Masken hat, die dann im eigenen Viertel, ge-
legentlich aber auch zusammen auftreten . . .“
In dem erwähnten Bobo-Dorf Boni war eine
größere Anzahl Masken im Maskenhaus des
Dorfes. Nach meinen Notizen gehören die
Masken nicht den einzelnen Quartieren, son-
dern einem Bund. Von den 7 Quartieren des
Dorfes sollen nur 2 im Maskenbund vertre-
ten sein, während die anderen Quartiere
Blättermasken haben.
Ebenfalls auf S. 81 schreibt Himmelheber:
„Freifigürliche Menschendarstellungen sind
mir von den Bobo nicht bekannt, werden
aber von Frobenius einmal erwähnt.“ Zen-
trale Figur des Frühjahrsfestes in Boni ist die
Plastik einer Fruchtbarkeitsbringerin. Diese
weibliche Plastik wurde von K. Dittmer und
dem Rezensenten mehrfach fotografiert.
Im Zusammenhang mit den Maskenaufsät-
zen der Bambara erwähnt Himmelheber den
Begriff „Tshiwara-Antilopen“ (S. 89) und er-
klärt „tshi“ = dein, „wara“ = wild, stark,
wildes Tier. Der Begriff „tshiwara“ wird
übertragen als „dein starker Gebieter“. Diese
Etymologie kann m. E. nicht akzeptiert wer-
den. „Dein" würde im Bambara i oder ye
heißen. Korrekt muß der Begriff kyi-wara
geschrieben werden und bedeutet wörtlich
„wildes Tier der Feldarbeit“; wara — wildes
Tier, kyi = Arbeit, Feldarbeit etc. (Vgl. M.
Delafosse, La langue Mandingue et ses dia-
lectes, Vol. 2, Dictionnaire Mandingue-
Franfais, Paris 1955, S. 311, 447, 811.)
Von den Senufo beschreibt der Verfasser
eine Antilopen-Maske der Bauernkaste (S.
101; Abb. 88 a): „Außerdem zeigt der Anti-
lopenkopf in höchst seltsamer Weise Eigen-
heiten anderer Tiere: aus den Mundwinkeln
wachsen ihm mächtige Wildschweinhauer, und
auf dem Maul ragen die Zähne eines anderen
reißenden Tieres auf.“ Das Linden-Museum
konnte kürzlich eine Bambara-Maske erwer-
ben, die mit zwei aufgesteckten Antilopen-
hörnern geschmückt ist und auf dem Maul
fünf kleinere Hörner trägt, die in gleicher
Weise gebogen sind, wie die auf dem Maul
der von Himmelheber abgebildeten Maske
befindlichen „Zähne“. Wahrscheinlich handelt
es sich auch dort um die Darstellung von
Hörnern.
Einige Ungenauigkeiten haben sich in den
Abschnitt über die Yoruba eingeschlichen (S.
250 f): „Die Götterwelt der Yoruben hat zu-
erst Frobenius erforscht (Und Afrika sprach,
I. Bd.)“. Vor Frobenius hat A. B. Ellis (The
Yoruba-Speaking Peoples of the Slave Coast
of West Africa, London 1894) wertvolle An-
gaben über die Göttergestalten der Yoruba
geliefert. Die Berichte beider Autoren ergän-
zen einander. Verschiedene Götter der Yoruba
werden auch von A. Bastian (Geographische
und ethnologische Bilder, Jena 1873) beschrie-
ben. Die Bemerkung, daß Olorun „keine Ver-
ehrung genießt“, ist m. E. nicht ganz exakt.
Olorun hat keinen Kult, keine Tempel und
keine Priester, aber man wendet sich trotz-
dem in höchster Not mit Stoßgebeten an ihn,
und sein Name fungiert in manchen Rede-
wendungen, die nicht alle nur als Phrasen
aufgefaßt werden können. Die Göttin der
„feuchten Erde“ heißt Yemaja, nicht Jenaja,
der Name des Pockengottes lautet Shank-
pana = Schankpana) oder Shakpana, nicht
Schankpama.
Bei dem guten Gesamteindruck, der nach
der Lektüre des Buches bleibt, treten die klei-
nen Mängel in den Hintergrund zurück. Das
anschaulich geschriebene Buch, das eine Menge
Material birgt und reich illustriert ist, dürfte
einen großen Leserkreis ansprechen. Für die
Fachwelt sind die Ausführungen über die
Künstler, ihren Werdegang und ihre soziale
Stellung von besonderem Interesse.
J. Zwernemann
174
Buchbesprechungen
MICHAEL GELFAND:
Shona Ritual (with special reference to
the Chaminuka Cult). Cape Lown, Wyn-
berg, Johannesburg: Juta & Co., Ltd. 1959.
X + 217 S., Abb. Preis: s 37/6.
Das Glaubensleben der Shona ist vorwie-
gend durch einen streng hierarchisch aufge-
bauten Geisterkult bestimmt. An der Spitze
der Geisterhierarchie steht der Stammesgeist
Chaminuka; ihm folgen Geister, denen grö-
ßere Gebiete oder Provinzen unterstehen,
ferner Distriktgeister, Schutzgeister der Fa-
milien und schließlich — auf der untersten
Stufe — die direkten Ahnen. Zu den Ah-
nengeistern zählen die Geister aller Verstor-
benen, die verheiratet waren. — Leider ist
nicht angegeben, ob verheiratet, aber kinder-
los Verstorbene hier auszuschließen sind, wie
nach der Darstellung des Materials ange-
nommen werden muß. — Die Ahnengeister
interessieren sich nur für das Ergehen der
Mitglieder ihrer Familie. In sich zeigen sie
eine weitere, hierarchische Gliederung: an
der Spitze steht der Großvater, es folgt die
Großmutter, dann der Vater und schließlich
die Mutter.
Chaminuka, Provinz- und Distriktgeister
werden Mhondoro oder Magombwe genannt.
Der Autor gibt für diese Ausdrücke die
Übersetzung „tribal spirit“. Letzten Endes
sind auch die Stammesgeister Ahnengeister,
denn einst waren sie lebende Shona, die Pro-
pheten oder Regenmacher waren oder Wun-
der bewirkten. Die Hauptaufgabe dieser Gei-
ster ist, in ihrem Einflußbereich für Regen zu
sorgen. Auch die Fruchtbarkeit des Bodens
untersteht ihrer Kontrolle. Mißachtung eines
Geistes, Undankbarkeit ihm gegenüber und
Bruch der Stammesgesetze ziehen Trockenheit
oder anderes Unheil nach sich.
Jeder Geist hat ein Medium, durch das er
den Bewohnern seines Kultbezirkes Anwei-
sungen gibt, sei es von sich aus, sei es auf Be-
fragung hin. Das Medium kann männlich
oder weiblich sein, entspricht aber Im Ge-
schlecht meistens dem Geist. Das einmal ge-
wählte Medium übt seine Funktion auf Le-
benszeit aus. Wenn der Geist, der sich nor-
malerweise im Luftraum oder an einer mar-
kanten Geländestelle (vorzugsweise in Ge-
hölzen) aufhält, es für erforderlich hält, oder
wenn man ihm zu Ehren eine Zeremonie ver-
anstaltet, tritt er in sein Medium ein. Die
Besessenheit wird durch zeremonielles Tan-
zen, an dem das Medium teilnimmt, einge-
leitet. Wird das Medium besessen, eilt sein
Assistent herbei und bekleidet es mit einem
Zeremonialtuch und einem Federkopfschmuck.
Der Assistent hat gleichzeitig die Mittlerrolle
zwischen den Menschen und dem Geist, d. h.
er legt dem besessenen Medium etwaige Fra-
gen vor und interpretiert dessen Antworten.
Das Medium selbst kann sich nach der Seance
an nichts erinnern. Ein großer Teil des Buches
ist der eingehenden Beschreibung verschiede-
ner Seancen aller Stufen der Geisterhierarchie
gewidmet.
Chaminuka ist in der Urzeit als Kultur-
bringer aufgetreten, denn er zeigte den Shona
die Bereitung bestimmter Speisen, die Tech-
niken der Eisengewinnung und -bearbeitung
und des Feldbaus. Auch in dieser Rolle trat
der Geist nicht selbst in Erscheinung, sondern
er belehrte auserwählte Menschen im Traum.
Erst später wählte der Geist sich ständige
Medien.
Alljährlich finden drei Zeremonien zu
Ehren der Stammesgeister statt. Diese Zere-
monien sind auf den Feldbau bezogen: Frei-
gabe der Feldfrüchte zum Genuß, Bitten um
Regen, Segen für die Felder usw. Außer den
festgesetzten Zeremonien finden Befragungen
der Geister bei Trockenheit und daraus resul-
tierender Hungersnot statt. Je nachdem, was
für ein Gebiet betroffen ist, werden in sol-
chem Falle höhere oder niedere Geister be-
fragt.
Mittler zwischen Ahnengeistern und Nach-
kommen ist der Nganga, der als Medizin-
mann (im wahrsten Sinne des Wortes) oder
Kräuterkundiger und als Wahrsager in Er-
scheinung tritt. Als Hilfsgeist fungiert ent-
weder ein Ahne, der ebenfalls Nganga war,
oder ein sog. Shave (Fremdgeist). Bei den
Shave handelt es sich um Geister im Shona-
land verstorbener Fremder, die ruhelos um-
herwandern, weil sie fern ihrer Heimat be-
stattet sind. Sie suchen sich passende Medien
aus, denen sie besondere Fähigkeiten (Heil-
kunst, Tanzkunst, Jagdglück usw.) verleihen
oder die sie zu Hexen machen.
Zwei kürzere Kapitel handeln von Hexen
und den „aggrieved spirits“, d. h. Toten,
denen im Leben Unrecht geschehen ist. Den
Abschnitt über das Hexenproblem hätte man
sich ausführlicher gewünscht. Ebenfalls etwas
kurze Kapitel, in denen die Bräuche bei Hei-
rat und Tod beschrieben werden, beschließen
Buchbesprechungen
175
das Buch. Verschiedene Abbildungen ergänzen
den Text. Der in gewissem Sinne gleichzeitig
als Glossar dienende Index erleichtert den
praktischen Gebrauch des Werkes.
Der Begriff „Shona“ wird in dem vor-
liegenden Buch — wie auch sonst oftmals —
mit einer zu großen Selbstverständlichkeit
verwendet. „Shona“ ist eine Sammelbezeich-
nung für eine Gruppe linguistisch und kul-
turell eng verbundener Stämme (Korekore,
Zezuru, Karanga, Manyika, Ndau, Kalanga),
die ihre Glanzzeit im Zimbabwe-Reich hatte.
Wenn der Begriff „Shona“ von den Ange-
hörigen dieser großen Gruppe selbst und von
ihren Nachbarn als Sammelbezeichnung ver-
wendet wird, so sollte seine Anwendung in
der Literatur möglichst auf die Gruppe als
Ganzes beschränkt bleiben und sonst häufiger
auf die einzelnen Stämme verwiesen werden.
Leider geschieht das auch im vorliegenden
Buch nur gelegentlich. Das Material dieses
Buches wurde in der Gegend von Salisbury
gesammelt, stammt also vorwiegend von
Zezuru und Korekore.
Das Buch ist eine ausgezeichnete Material-
sammlung, vor allem zum Thema der Beses-
senhcitskulte. Der Autor, der als Arzt lange
Jahre in Salisbury wirkte, läßt das Material
für sich sprechen und ist bemüht, es nicht mehr
als zum Verständnis unbedingt erforderlich
zu interpretieren.
J. Zwernemaun
JEAN ROUCH:
La Religion et la Magie Songhay. Paris:
Presses Universitaires de France. 1960.
327 S., 8 Bildtafeln, 1 Karte. Preis: NF 20.
Der Verfasser ist schon durch sein Buch
„Les Songhay“ (Paris 1954) und durch meh-
rere Aufsätze über die Songhay als Spezialist
für diesen westsudanischen Stamm bekannt.
Das vorliegende Buch ist seit dem Erscheinen
des ersten Songhay-Buches von Rouch, in dem
es bereits als Manuskript zitiert wurde, von
der Fachwelt mit Spannung erwartet worden.
Daß die Hoffnung auf ein gutes und interes-
santes Material durchaus berechtigt war, be-
stätigt diese jüngst erschienene Arbeit in vol-
lem Maße.
Frühere Arbeiten von Dupuis-Yakouba,
Ardant du Pic usw. hatten schon gezeigt, daß
die Songhay durchaus nicht völlig islamisiert
sind, wie man nach einigen anderen Quellen
vermuten mußte. Die wenigen Angaben, die
Rouch vor seinem Buch über Religion und
Magie veröffentlichte, hatten das vollauf be-
stätigt. Nun beweist das sehr umfangreiche
Material, daß zwar ein islamischer Einfluß
vorhanden, aber in das alte religiöse System
der Songhay eingebaut worden ist. So beacht-
lich dieser Einfluß auch ist, sowenig hat sich
der Islam bei den Songhay als etwas Selb-
ständiges durchsetzen können.
Drei große Kulte spielen in der Religion
der Songhay eine Rolle: Zin-Kult, Ahnenkult,
Holey-Kult. Die Zin sind Lokaldämonen, die
alten Erd-, Wasser- und Luftgeister, von
denen die ursprünglichen Herren des Landes,
die Gurma und Kurumba, ihre Bodenrechte
erhalten haben. Die Holey sind übernatürliche
Wesen, die heute de facto die Welt beherr-
schen. Ihre Einteilung in Stämme, die den
Stämmen der Menschen entsprechen, ihre
Abenteuer und ihre Verhaltensweisen lassen
sie wie Kopien der Menschen erscheinen. Die
Holey haben überlokale Bedeutung, denn sie
sind im ganzen Songhay-Gebiet bekannt.
Rouch bezeichnet sie zwar als „genies“, zieht
aber vor, den Ausdruck Holey beizubehalten.
Abgesehen davon, daß die Holey verschie-
denen Stämmen zugeordnet werden, sind sie
noch in sieben große Gruppen eingeteilt. Ihre
Macht über die Welt sicherten sie sich durch
Kriege oder Pakte. Sie initiierten persönlich
ihre ersten Anhänger. Die Holey machen be-
sessen. Hochinteressant ist der Beleg der Gei-
sterheirat (Holey — Mensch) und damit ver-
bundenes Transvestitentum. Unter allen Kul-
ten der Songhay ist der Holey-Kult der in-
teressanteste, und die Holey haben von allen
übernatürlichen Wesen auch für die Songhay
selbst wohl die größte Bedeutung. So nimmt
es nicht wunder, daß der größte Teil des
Buches den Holey gewidmet ist.
Der Verfasser gibt zunächst einen allge-
meinen Überblick über die religiöse Struktur
der Songhay. Er behandelt dann eingehend
die Mythen, die Zin, Ahnen und Holey be-
treffen. Ein großes Kapitel befaßt sich mit
den rituellen Texten, die einen bedeutenden
Platz im Kult einnehmen. Eingehend und in-
teressant ist die Beschreibung der Akzessorien
des Kultes. Dabei werden Details ausgeführt,
die meistens nur wenig Beachtung finden, so
etwa die Betrachtung der einzelnen Musik-
instrumente, ihre Herstellung, ihre Weihe und
ihr Einsatz im Kult. Eine eingehende Be-
trachtung der Akteure des Kultes und des
Kultes selbst runden das Bild ab. Sein beson-
176
Buchbesprechungen
deres Augenmerk richtet Rouch dabei auf die
Besessenheitskulte. Schließlich ist noch das
Kapitel über die Magie zu erwähnen, das
trotz der eingehenden Behandlung einzelner
Züge wohl noch die meisten Lücken des Ma-
terials aufweist. Eine Untersuchung dieses
Aspektes der Religion wäre etwa in dem
Umfange wünschenswert, in dem das seiner-
zeit durch Evans-Pritchard für die Zande
geschehen ist.
Das Buch von Rouch birgt eine ungeheure
Materialfülle. Eine Auswertung der älteren
Literatur hat der Verfasser in gewissem Um-
fange vorgenommen. Sie hätte aber vielleicht
noch eingehender erfolgen sollen. So vermißt
man z. B. die Arbeiten von Frobenius („Und
Afrika sprach“ und „Dämonen des Sudan“),
von denen Rouch wenigstens die erstgenannte
gekannt und in ihrer Bedeutung erfaßt hat
(vgl. „Les Songhay“, Paris 1954). Für die
Besessenheitskulte der Holey verweist Rouch
in seinem Schlußwort auf die Parallelen bei
Hausa (Bori) und Yoruba (Orisha) und in
Nordostafrika (Zar). Zweifellos wäre es an
der Zeit, das afrikanische Material über Bc-
sessenheitskulte in einer vergleichenden Studie
zu untersuchen. Ob man allerdings die Be-
sessenheitskulte der Songhay als Schamanis-
mus bezeichnen kann, wie Rouch (S. 301) an-
deutet, erscheint mir vorerst ungewiß.
Man merkt dem Buch an, daß es das Er-
gebnis einer Forschung darstellt, die sich über
mehr als ein Jahrzehnt erstreckt. Es kann als
Musterbeispiel dafür angesehen werden, daß
es gut Ist, immer wieder in demselben Gebiet
zu arbeiten und das Material zu vervollstän-
digen, ehe man es publiziert. Der Verfasser
kann zum Ergebnis dieser Arbeit beglück-
wünscht werden.
J. Zwernemann
EVA L. R. MEYEROWITZ:
The Divine Kingship in Ghana and Ancient
Egypt. London: Faber and Faber Ltd. 1960.
260 S., Abb. Preis 63 s.
Das vierte Werk, das die Verfasserin nach
„The Sacred State of the Akan (1951), „Akan
Traditions of Origin “ (1952) und „The
Akan of Ghana“ (1958) nunmehr vorgelegt
hat, ist dem sakralen Königtum der Akan
gewidmet. Die Verfasserin bemüht sich, Ver-
bindungen zwischen dem sakralen Königtum
der Akan und dem Altägyptens aufzuzeigen.
Deutlich tritt die Absicht zutage, letztlich so-
gar die Herkunft des Akan-Königtums aus
Ägypten zu beweisen. Der Charakter des
sakralen Königtums bringt die Verfasserin
dabei zwangsläufig zu einer Betrachtung reli-
giöser Vorstellungen, die, obgleich mit dem
Königtum verbunden, doch etwas darüber
hinausführen, nämlich zu den Vorstellungen
von den Himmelsgöttern. Mit großem Ge-
schick weiß Eva Meyerowitz teilweise frap-
pante Parallelen anzuführen. Wenn man auch
nicht immer bereit sein kann, die Beweis-
führung zu akzeptieren — besonders der
Vergleich der Göttervorstellungen erscheint
manchmal etwas willkürlich —, so ist sie doch
in zahlreichen anderen Fällen recht einleuch-
tend. Die Verfasserin versucht nicht aus-
schließlich eine Interpretation des Akan-
Materials mit Hilfe des altägyptischen Mate-
rials, sondern sie bemüht sich ebenso, altägyp-
tisches Quellenmaterial mit Hilfe des Akan-
Materials zu interpretieren.
Weitgehend kann die Verfasserin auf ihre
früheren Publikationen zurückverweisen, aber
sie bringt auch in ihrem neusten Buch eine
Menge Feldforschungsmaterial von den Akan
(wieder vorwiegend aus Bono-Takyiman), so
daß das Werk auch in dieser Hinsicht als
wertvolle Bereicherung der Literatur über die
Akan angesehen werden kann.
Bedenklich erscheint, daß die Verfasserin —
trotz m. E. berechtigter Kritik von berufener
Seite — nach wie vor an dem ausschließlich
auf Grund von Traditionen von ihr rekon-
struierten Herkunftszentrum (westlich Tibesti)
und Wanderweg (via Timbuktu) der Akan
festhält. Herkunft und Wanderweg der Akan
werden als historische Tatsachen behandelt,
obwohl der Beweis noch nicht erbracht wurde.
Noch ein zweites Bedenken muß erhoben wer-
den: wenn die Parallelisierung von Akan-
und altägyptischem Material der Verfasserin
in vielen Fällen auch gelungen ist, so steht der
kulturhistorische Beweis für den direkten Zu-
sammenhang noch aus, nämlich der Nachweis
des Wanderweges. Wahrscheinlich liegt viel
daran, daß der Wadai und Darfur völker-
kundlich immer noch recht schlecht erforscht
sind.
Die Versuche, linguistische Interpretationen
zu geben, sind nicht immer gelungen. An
einer Stelle (S. 76) heißt es, das Akan-Wort
für Blitz, „sraman“ (richtiger; osrämeuj) sei
von „sreme“ (richtiger: osreme oder oram’),
Mond, abgeleitet. Phonologisch und tonolo-
gisch ist diese Verbindung nicht herzustellen.
Buchbesprechungen
177
Der Satz „ohene ye awid“ (richtiger: ohene
ye awia) wird übersetzt „the king is [the
manifestation of] the sun“ (S. 85). Später
wird nur zitiert: „the king is the sun“. Die
von der Verfasserin an der ersten Stelle in
Klammern gegebene Interpretation nähert
sich dem tatsächlichen Inhalt des Satzes; dwia
bedeutet im Akan „Sonnenschein“; Sonne
heißt dagegen owia. Es hätte also korrekter
übersetzt werden müssen: „the king is the
sunshine“. Der Begriff „Nyankopon-kurom“
(richtig: Nyaykopoij kurom) wird übersetzt:
„the City of Nyankopon“. Die exakte Über-
setzung ist: „in the City of Nyankopon“.
Frühere Vergleiche von Material aus dem
hochkulturlich beeinflußten Oberguinea mit
altägyptischem Material waren — abgesehen
vielleicht von dem Aufsatz von M. Dela-
fosse, Sur des traces probables de civilisa-
tion égyptienne et d’hommes de race blanche
à la Côte d’ivoire; L’Anthropologie 11, 1900
— meist oberflächlicher, beschränkten sich
mehr auf die Aufstellung von Thesen, ohne
daß umfangreicheres Vergleichsmaterial zu-
sammengestellt wurde. Der Verfasserin bleibt
das Verdienst, einen intensiven Vergleich auf
breiterer Basis durchgeführt zu haben. Es ist
zu hoffen, daß der Beitrag von Eva Meyero-
witz die Diskussion um den kulturhistorisch
bedeutsamen Vergleich von Material der
Stämme Oberguineas mit altägyptischem Ma-
terial anregt. J. Zwernemann
M. J. FIELD:
Search for Security. An ethno-psychiatric
study of Rural Ghana. London: Faber and
Faber. 1960. 478 S.
Bei dieser Monographie handelt es sich, wie
der Untertitel sagt, um eine ethno-psychia-
trische Untersuchung, vorzugsweise von Akan
in Ghana. Erfreulicherweise sind in der letz-
ten Zeit auf diesem bisher etwas vernachläs-
sigten Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und
Ethnologie eine Reihe von Untersuchungen
erschienen, unter denen die vorliegende bean-
spruchen darf, In geradezu außergewöhnlicher
Weise sorgfältig und gelungen zu sein. Frau
Field hat die Besucher von Schreinen in länd-
lichen Bezirken von Ghana, die dorthin ge-
kommen waren, weil sie sich in irgend einer
Weise von Dämonen besessen fühlten, im
Rahmen des Möglichen untersucht. Sie hat
außerdem ihre Untersuchung ergänzt durch
einige andere Fälle von psychischen Erkran-
kungen, die sie während ihres Aufenthaltes
in Ghana beobachtet hatte. Der zweifellos
wichtigste Teil dieses Buches sind nun insge-
samt 146 Krankengeschichten, die sehr sorg-
fältig wiedergegeben werden. Dabei ist zu
berücksichtigen, daß die Verfasserin natürlich
große Schwierigkeiten hatte, das notwendige
Material über die einzelnen Patienten zu sam-
meln, so daß die Krankengeschichten mit-
unter auch etwas unvollständig sind. Wenn
man auch sicherlich nicht allen Schlußfolge-
rungen der Verfasserin immer wird beipflich-
ten können, und wenn sich sicherlidi auch
gelegentlich Zweifel über die diagnostische
Einordnung eines Krankheitsbildes äußern
lassen — derartige Zweifel sind übrigens in
der Psychiatrie überhaupt nicht zu vermei-
den — so ist doch allein diese Aufstellung
von verschiedenen Krankheitsbildern in ihrer
sachlichen und offensichtlich nicht von irgend-
welchen diagnostischen Voreingenommenhei-
ten beeinflußten Schilderung von außer-
ordentlichem Wert.
Es ist nicht möglich, auf alle Einzelheiten
in einer Besprechung einzugehen. Wenn wir
zu einigen Deutungen, die Frau Field gibt,
hier kurz Stellung nehmen, so geschieht das
nicht in der Absicht, etwa an der Gesamt-
konzeption des Buches Kritik zu üben, son-
dern nur, um einige Bedenken gegenüber einer
vielleicht etwas vorschnellen Schlußfolgerung
zu äußern. Frau Field berichtet über Fälle von
„Lilliputanian hallucination“, also nach un-
serem Sprachgebrauch sog. mikroptische Hal-
luzinationen, und wirft die Frage auf, ob
derartige halluzinatorische Erlebnisse nicht
Ursachen sein könnten für die zahlreichen
Zwergengestalten in den verschiedensten My-
thologien. Man wird sich dieser Deutung doch
nur schwer anschließen können, ebenso wie
man Bedenken äußern muß bei der Über-
legung, daß das bei Schizophrenen nicht sel-
ten zu beobachtende Phänomen, daß sie sich
in ein Tier verwandelt glauben, Ursprung des
Totemismus sein könne. Er erscheint doch
etwas fraglich, ob es ratsam ist, derartig weit
verbreitete Phänomene auf psychopatholo-
gisch relevante Erlebnisse zurückzuführen.
Dagegen sind die mehr klinischen Angaben
von Frau Field von großem Interesse und
Wert. Aus der Menge der Beobachtungen sei
nur kurz auf einige eingegangen; so werden
z. B. von Frau Field Fälle einer akuten Angst-
psychose beschrieben und sie führt aus, daß
178
Buchbesprechungen
sich daraus später meist eine Schizophrenie
entwickelt hat. Das läßt an die Befunde von
Conrad denken, die dieser kürzlich in seiner
Monographie über die beginnende Schizo-
phrenie publiziert hat. Sehr wesentlich er-
scheint auch die Beobachtung, daß die Depres-
sionen — im Gegensatz zu dem, was öfter in
der Literatur bemerkt wird — bei Negern
keineswegs selten seien, daß sie aber nicht als
Erkrankung angesehen würden und deswegen
eben selten in psychiatrische Behandlung
kämen. Interessant sind auch die Beobach-
tungen, daß Zwangsneurosen in ihrem Kran-
kengut sehr selten sind. Das ist auch von an-
deren Autoren (z. B. von Carothers, J. C.,
The African Mind in Health and Disease,
1953) bereits berichtet worden und wird von
Carothers auf die Tatsache zurückgeführt,
daß im durchschnittlichen Leben des afrikani-
schen Eingeborenen Irituale ohnedies schon
eine sehr große Rolle spielten, so daß es gar
nicht zum Entstehen von Zwangssymptomatik
komme. Sehr bemerkenswert scheinen noch die
Beobachtungen von Frau Field über die Häu-
figkeit paranoischer Reaktionsweisen bei
ihrem Krankengut und über die Zusammen-
hänge, die zwischen Schizophrenie und Bil-
dung bestehen könnten. Bei der Schilderung
von schizophrenen Patienten fällt auf, daß
bei allen milieubedingten Unterschieden in der
Ausprägung der Symptomatik die Krank-
heitsbilder und die Verläufe im Grunde doch
sehr den bei uns beobachteten gleichen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß
es sich bei der Arbeit von Frau Field um ein
sowohl für den Psychiater wie auch für den
Ethnologen außerordentlich wertvolles Buch
handelt.
W. Korn
EFRAIM ANDERSSON:
Messianic Populär Movements in the Lower
Congo. (Studia Ethnographica Upsaliensia
XIV.) Uppsala: Almqvist & Wikseis 1958.
XIII + 287 S., 4 Tafeln, 14 Zeichnungen.
Preis: Schw. Kr. 75.—.
Die vorliegende Untersuchung befaßt sich
mit prophetischen und messianischen Bewe-
gungen im Gebiete des Kongo-Unterlaufes,
wobei sowohl Gebiete der Republik Kongo
(Bas Congo und Leopoldville) als auch der
Äquator-Union (Südteil von Moyen Congo,
besonders Pool, Niari und Pointe Noire) ein-
bezogen sind. Fast ausschließlich werden jün-
gere messianische Bewegungen behandelt:
Ausgangspunkt der Untersuchung sind Simon
Kimbangu und der von ihm ausgelöste Ngun-
zismus (1921—1924 und in den dreißiger
Jahren). Auf diese Bewegung gehen alle spä-
teren Bewegungen mehr oder weniger zurück.
Das Wort „ngunza“ bedeutet Prophet. Der
„ngunza“ ist das Medium seines Gottes.
Simon Kimbangu fühlte sich von Gott be-
rufen durch eine Reihe von Träumen und
Visionen. Mancherlei persönliches Unglück
bestimmte ihn zur Annahme des Rufes, dem
er sich zunächst widersetzen wollte. Zweiflern
gegenüber berief er sich auf biblische Be-
rufungserlebnisse. Wichtigste Charakteristika
seiner Tätigkeit waren Krankenheilungen und
Predigten. Das Bewußtsein, einen Propheten
zu haben, erweckte nativistische Tendenzen,
obgleich Kimbangu selbst kein Anti-Europäer
war, sondern im Gegenteil Zusammenarbeit
mit den Missionen wünschte. Die Ausbreitung
der Bewegung zwang Kimbangu, sekundäre
Propheten aus den Reihen seiner Schüler zu
ernennen. Die Bewegung brachte den prote-
stantischen Missionen zunächst großen Zulauf;
nach der Verhaftung und danach erfolgter
Flucht des Kimbangu (Juni 1921) erfolgte
jedoch ein Massenabfall. Es entstanden revo-
lutionäre Tendenzen. Einige Propheten pre-
digten die bevorstehende Wiederkehr Christi.
Die Folgeerscheinungen waren ähnlich wie im
Urchristentum bei gleicher Erwartung: man
bestellte keine Felder mehr, meinte, man
brauche nun nicht mehr für die Zukunft zu
sorgen. Im September 1921 wurde Kimbangu
endgültig verhaftet, in einem Prozeß zum
Tode verurteilt, aber zu lebenslänglicher Haft
begnadigt.
Die Bewegung wurde nun zum Kult, dessen
Geheimnisse vor Nichteingeweihten gewahrt
wurden. Die anti-europäischen Tendenzen
verstärkten sich: man lehnte allen Kontakt
mit Europäern und europäischen Gütern ab.
Im Rahmen ngunzistischer Erneuerungen
(1932 und 1935/36) erfolgte eine merkwür-
dige Evangelisationsbewegung, die vor allem
wieder in Einflußgebieten protestantischer
Missionen Boden gewann. Daraus resultierten
z. T. Schwierigkeiten seitens der Verwaltung
für die Mission. In den dreißiger Jahren war
der Ngunzismus eine rein nativistische Be-
wegung mit mehr politischen als religiösen
Zielen. Es traten erneut visionär veranlagte
Buchbesprechungen
179
Gestalten als Propheten auf, die sich von
Gott berufen fühlten. Die Hoffnungen für
die Zukunft wurden auf Könige und Helden
gesetzt. Man erwartete die Rückkehr von
Simon Kimbangu, der die Rolle des Messias
bekam.
Um 1926 gründete Matswa André in Paris
eine Hilfsorganisation für notleidende Mit-
bürger aus seiner Heimat. 1929/30 ließ er im
Kongo durch drei Helfer Geld sammeln. Die
Sammlung wurde — mindestens z. T. —
durch nativistische Propaganda belebt.
Matswa André und seine Helfer wurden ver-
haftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die
Sundi-Ladi, die Stammesgenossen des Matswa
André, sahen in ihm den Befreier, der von
den Europäern durch Verhaftung an der Aus-
führung seiner Pläne gehindert wurde. Die
Sundi-Ladi glaubten noch bis in die jüngste
Zeit, daß Matswa André (er starb 1942) eines
Tages zurückkehren wird, um ihnen ein Leben
voller Freuden zu bescheren.
Als die Heilsarmee in den Kongo kam,
traten ihr alte Ngunzisten bei. Man glaubte,
die Heilsarmee könne von Zauberkraft
(kundu und kindoki) befreien. Später ent-
stand unter Leitung von der Heilsarmee ent-
lassener afrikanischer Offiziere (vielfach alte
Ngunzisten!) eine afrikanische Heilsarmee.
Von der Heilsarmee — mindestens im Auf-
bau — stark beeinflußt, war auch die von
Simon Mpadi begründete sog. Khaki-Bewe-
gung, die allerdings auch Elemente protestan-
tischer und katholischer Mission aufwies. Die
Mitglieder dieser Bewegung trugen eine
Khaki-Uniform. Mpadi versuchte eine Kirche
zu gründen und wurde daher von den Be-
hörden zur Deportation verurteilt. Die Füh-
rung der Bewegung übernahm danach Kufinu
Philippe, der beanspruchte, von Simon Kim-
bangu eingesetzt zu sein. In der Khaki-Be-
wegung erwartete man die Rückkehr des
Simon Kimbangu und/oder des Matswa
André, die das Land befreien, die Europäer
vertreiben und ein Königreich gründen soll-
ten.
Die schon erwähnten Anti-Hexen-Bewe-
gungen fanden 1951/53 einen erneuten, star-
ken Ausdruck in der Munkukusa- oder Mu-
kunguna-Bewegung, in der die Ahnen eine
besonders große Bedeutung haben (z. B. Puri-
fikationsriten mit Hilfe von Graberde!).
Der Verfasser stellt die modernen messia-
nischen Bewegungen als „Kontakt- und Reak-
tionsphänomene“ heraus, die durch den Zu-
sammcnprall zweier Kulturen entstehen (p.
258). Hier hätte vielleicht nochmals heraus-
gestellt werden sollen, daß vor allem das Zu-
sammentreffen von — in diesem Falle —
afrikanischer Kultur und modern-europäischer
Industriekultur solche Bewegungen auslöst.
Wirtschaftliche, soziale, politische, historische
und psychologische Faktoren spielen dabei
eine Rolle. Wenn der Verfasser bei Fertig-
stellung des Manuskriptes noch schreiben
konnte, daß im Kongo keine der Bewegungen
„has so far led to war or revolt“, so können
wir in den ersten Tagen der Republik Kongo
Erscheinungen verfolgen, die mindestens z. T.
ihre Wurzeln in der Lehre messianischer Be-
wegungen haben mögen.
Auf ältere prophetische Bewegungen wird
bedauerlicherweise nur sehr kurz eingegangen,
und zwar auf die sog. Sekte der Antonier
unter der Prophetin Kimpa Vita, die hier
Donna Beatrice genannt wird. Die von An-
dersson hierzu befragten Quellen führen of-
fenbar nicht zu den klaren Schlüssen, die man
sich im Vergleich zu entsprechenden Bewe-
gungen der Gegenwart gewünscht hätte. So
heißt es etwa, die „Religion“ der Donna
Bcatrice „also seems to have contained a
political element“ (p. 245). Dieses politische
(und nativistische!) Element ist jedoch das
wichtigste Anliegen der Kimpa Vita über-
haupt.
Fühlt man schon bei der Einteilung der
Propheten in Schamanen und „ethische Pro-
pheten“, wie sie der Verfasser vornimmt, ein
gewisses Unbehagen, so kann die Feststellung,
daß afrikanische Propheten „should be main-
ly of the former type“ (p. 1) — d. h. Scha-
manen — m. E. nicht akzeptiert werden;
wenigstens gilt das für die Propheten des
Kongo-Gebietes und für einige südafrikani-
sche Propheten. Wohl kann man hier von
Besessenheitskulten reden. Sicherlich ist ein
gewisses Berufungserlebnis vorhanden; sicher-
lich sind Besessenheit des Propheten und
Krankenheilungen durch ihn zu konstatieren.
Es fehlen aber wichtige Elemente, die für
einen berechtigten Gebrauch des Wortes
„Schamane“ — im klassischen Sinne, wenn
man so sagen darf — erforderlich sind: Hilfs-
geistcr, Vorbereitungszeit des Schamanen (mit
Tod, Wiederbelebung usw.), Himmels- oder
Unterweltreise usw.
Recht glücklich sind die kurzen Einführun-
gen in die ethnographischen Verhältnisse des
180
Buchbesprechungen
Unteren Kongo und in die Geschichte der
Missionierung des Gebietes, die in ihrem An-
fang mit der Geschichte der ersten Kontakte
zwischen den Stämmen des Kongo-Unter-
laufes und den Europäern identisch ist. Einen
großen Teil seines Materials schöpft der Ver-
fasser aus den Archiven seiner Mission. Das
umfangreiche Quellenmaterial und die Inter-
pretationen durch einen langjährigen Kenner
der messianischen Bewegungen des behandel-
ten Gebietes empfehlen schon von sich aus
das Werk weitester Beachtung.
J. Zwernemann
MONICA WILSON:
Communal Rituals of the Nyakyusa. Lon-
don, New York, Toronto: Published for
the International African Institute by the
Oxford University Press. 1959. X + 228
S., 18 Abb., 2 Karten, 1 Plan, 3 Diagram-
me. Preis 35 s.
Die Verfasserin ist durch ihre früheren
Publikationen — vor allem: Good Company;
a study of Nyakyusa age-villages (1951) und
Rituals of Kinship among the Nyakyusa
(1957) — als Autorität der Nyakyusa-For-
schung bekannt. Das vorliegende Buch er-
gänzt ihre früheren Studien wesentlich. Ob-
gleich häufig auf die früheren Publikationen
verwiesen wird, ist es nicht unbedingt erfor-
derlich, daß der Leser diese zunächst durch-
sieht, denn die Verfasserin resümiert die
wichtigsten Punkte an den erforderlichen
Stellen.
Der Titel des Buches gibt schon deutlich an,
worauf in der vorliegenden Untersuchung im
wesentlichen eingegangen wird. Der erste Teil
des Buches ist dem sakralen Königtum der
Nyakyusa und Ngonde (alias Konde oder
Nkonde) gewidmet. Drei Kulturheroen wa-
ren die ersten Könige dieser Stämme: Lwembe
und Kyala im Nyakyusa-Gebiet, Kyungu im
Ngonde-Land. Lwembe und Kyungu werden
durch einen ihrer Nachkommen — sakrale
Könige wie ihre Ahnen — verkörpert. Kyala
hat wohl einen Priester, der ihn jedoch nicht
verkörpert, da Kyala ohne Nachkommen
starb. Eng verbunden mit dem Ritual des
sakralen Königtums ist das Häuptlingstum,
das auch als sakral bezeichnet werden muß,
wenngleich das alltägliche Ritual der Häupt-
linge längst nicht so streng ist, wie das der
sakralen Könige. Immerhin durfte auch kein
Häuptling an ernsterer Krankheit leiden oder
eines natürlichen Todes sterben, um nur einen
Punkt zu erwähnen. Sehr eingehend befaßt
die Autorin sich mit den Opfern für die
Häuptlingsahnen und mit der territorialen
Frage, die durch eine von Generation zu
Generation erfolgende Zweiteilung des Lan-
des (vgl, hierzu „Good Company“!) höchst
bedeutsam ist.
Im Rahmen der „Communal Rituals“ sind
Purifikationsriten für das Land, Regenriten
und Fruchtbarkeitsmagie wichtig. Interessant
sind die Ausschnitte aus dem Leben des Prie-
sters Kasitile, eines wichtigen Gewährsmannes
der Verfasserin. Etwas am Rande — wenn
nicht gar außerhalb — des Themas des Buches
steht ein Kapitel über Medizinen. Ein anderes
Kapitel über „Nyakyusa Cosmology“ enthält
eher eine Mischung von Urzeitmythologie
(Wirken der Kulturheroen!) und allgemeinen
religiösen Streiflichtern, z. T. auch Spekula-
tionen, der Nyakyusa. M. E. ist der Begriff
„Kosmologie“ hier nicht ganz angebracht.
Vorstellungen eines umfassenden Weltbildes
oder gar Schöpfungsmythen werden nicht er-
wähnt; ob sie bei den Nyakyusa existieren
oder nicht, wird die Verfasserin des Buches
wissen.
Gut gelungen ist der Versuch, das Neben-
einander der alten Gemeinschaftsriten und
des modernen christlichen Gemeindelebens
darzustellen, bzw. die Frage zu klären, wie
weit das Letztgenannte Ersatz für die Ge-
meinschaftsriten sein kann.
Es wäre sehr schön, wenn die Verfasserin
ihre Studien durch eine Untersuchung der
Wirtschaft (und ihrer Methoden) und der
materiellen Kultur der Nyakyusa abrunden
würde. J. Zwernemann
}. GABUS:
Au Sahara. Arts et Symbols. Neuchâtel:
Edition de la Baconniere 1958. 407 S.
Acht Forschungsreisen, zwischen 1942 und
1954 in der westlichen Hälfte der Sahara
unternommen, lieferten Jean Gabus die
Fakten für sein Werk „AU SAHARA — Arts
er Symbolcs“. Es erschien vor drei Jahren,
und wir Museumsleutc hätten guten Grund
gehabt, schon früher auch an dieser Stelle
darauf hinzuweisen.
Buchbesprechungen
181
Denn diese durch Inhalt und Darbietung
beispielhafte Arbeit setzt der unabdingbaren
Forderung nach solider Sach- und Material-
kenntnis — der praktischen Seite der Völker-
kunde — ein Zeichen. Aus den Antworten auf
die Fragen nach dem was?, woher?, wie? und
warum? resultiert das Verstehen, und wir
sind ketzerisch genug, dem „Begreifen“ einer
Sache noch immer den Vorrang vor allem
Spekulieren einzuräumen. Es kann die Zeit
kommen (wenn sie nicht für viele sogar schon
da ist), da es leichter scheint, über soziologi-
sche Probleme zu theoretisieren, als die Ent-
stehung und Funktion eines Handwerksstük-
kes zu erklären. Man wird einem Kunst- oder
Fland-Werk nur gerecht, wenn man wenig-
stens ahnt, welches die technischen und kultur-
bedingten Voraussetzungen waren. Dann erst
wird man unterscheiden können, was z. B. alt
und traditionsgebunden ist — woraus sich
ergibt, wieviel Zeugnis- und Aussagekraft ein
Objekt für ein Kulturbild hat. Die Ethno-
graphika dem interessierten Laien wie dem
Ethnologen gegenüber zum Sprechen zu brin-
gen, ist doch wohl die eigentliche und schöne
Aufgabe des Museumswissenschaftlers.
Ich lobe also an J. Gabus’ Werk, daß es
sich der Interpretation verschrieben hat. Es
will bei aller Genauigkeit kein Inventar sein,
sondern an Hand ausgewählter, aber typi-
scher Stücke die Hauptzüge der geistigen und
materiellen Welt der Mauren, der Tuareg und
der Fulbe Bororo aufzeigen. Aus Marokko,
Algerien, Lybien, aus Senegal, dem ehern,
französischen Sudan, dem Nigergebiet und
aus dem nördlichen Nigerien sind Belege zu-
sammengetragen, und Walata gilt als Beispiel
einer alten Saharastadt, während Tahua den
klassischen Typ eines Sahcl-Marktes, Treff-
punkt von Nomaden und Seßhaften, abgibt.
Natürlich läßt sich darüber streiten, ob J.
Gabus gut daran getan hat, einen so vagen
Begriff wie „Mauren“ zu benutzen, ob die
Fulbe Bororo eindeutige Wüstennomaden
sind, oder, ob nicht auch die Fezzaner und
die Leute Ennedis notwendig in den Kreis der
Betrachtung gehörten. Ich denke, J. Gabus
hätte sie gerne miteinbezogen, wenn er von
ihnen mit der gleichen Sicherheit und Erfah-
rung, wie von den genannten Gruppen hätte
berichten können. Die zwangsläufige Beschei-
dung ist indirekte Aufforderung an die, wel-
che von der „Kunst und den Symbolen“ der
Ostsahara gleich fundiert zu berichten wissen!
Vielleicht zieht man dann die Lehre aus der
Tatsache, daß einem so vorbildlich Inszenier-
ten Werk religionsgeschichtlich, linguistisch
und kunstgeschichtlich tiefergehende Einlei-
tungskapitel nur förderlich sind. Doch — die
paar Mängel betont herauszustreichen, hieße
am Wesentlichen vorbeizugehen.
Wer je einem Handwerker zugesehen hat
und erlebte, wie das entstand, was dann
„Sammlungsgegenstand“' wurde, wird der Ar-
beit J. Gabus' vorbehaltlos Anerkennung zol-
len. Er wird feststellen, daß es zahlreiche
Möglichkeiten der Wiedergabe eines Objektes
gibt — und Gabus die besten gewählt hat. Er
hat ein gutes Stück Saharakenntnis vermittelt,
wofür man ihm danken muß. Mir spricht er
aus dem Herzen, wenn er sein Buch den
„Handwerkern und Nomaden“ der größten
der Wüsten widmet. Museumsleute erscheinen
oft als Herbarienbetreuer, die vor fahlen,
trocknen Blüten und Blättern von Farben
und dem Biotop der jetzt zerdrückten Pflanze
erzählen. Mir scheint, der Kollege aus Neu-
châtel hat es wie selten einer verstanden, nicht
nur Blüten zu pflücken, sondern die ganze
Pflanze mit dem Wurzelgrund auszuheben.
Nun hegt er sie weiter und ist freundlich ge-
nug, andere daran teilhaben zu lassen.
W. Konrad
Jewish Domestic Architecture in San‘a,
Yemen. With an Introduction and an Ap-
pendix on Seventeenth Century Docu-
ments relating to Jewish Hauses in San‘a
hy S. D. Goitein. Jerusalem 1957. 80 S.
(Oriental Notes and Studies, published by
the Israel Oriental Society. 7).
Der Verfasser dieser Schrift unternahm in
den Jahren 1927/28, 1931, 1934 und 1937/38
vier Reisen nach Südwestarabien, um dort
ethnologische, geographische und archäologi-
sche Studien zu treiben. Dabei befaßte er sich
auch mit den Juden in Jemen. Das ist inso-
fern besonders erfreulich, als dies die letzten
Gelegenheiten gewesen sein dürften, das dor-
tige jüdische Kulturleben, welches durch die
vor einigen Jahren erfolgte Austreibung der
Juden dem Untergang geweiht ist, an Ort
und Stelle noch in allen seinen Lebensäuße-
rungen zu studieren. Dem Verfasser fiel auf,
daß sich die Häuser im Judenviertel in San'a
in der Anlage und Architektur ganz wesent-
CARL RATH JENS:
182
Buchbesprechungen
lieh von den muslimischen Häusern der je-
menitischen Hauptstadt unterscheiden.
In der Einleitung wird kurz die interes-
sante Geschichte des Judenviertels in San‘a
skizziert, dann folgt ein Vergleich der jüdi-
schen mit den arabischen Häusern. Während
sich das arabische Haus als ein einfaches,
rechtwinkliges oder zylindrisches Gebäude
mit einem flachen Dach, oft mit vielen Stock-
werken, und mit einem kleineren, immer
rechtwinkligen, einfachen oder zweigeteilten
Raum auf dem Dach darstellt, besitzen die
jüdischen Häuser einen offenen, auf drei Sei-
ten durch Zimmer und auf der vierten Seite
durch eine einfache Mauer abgeschlossenen
Hof (higräh), der aber nie auf der Höhe
des Erdgeschosses liegt, sondern erst im 2.
oder 3. Stock beginnt. Auf dem Dach der
jüdischen Häuser, die auf Grund von Ver-
boten im allgemeinen nicht mehr als vier
Stockwerke haben, fehlt normalerweise der
für die arabischen Häuser typische Raum.
Bei arabischen Häusern konnte zwar der of-
fene Hof (hosh) auf den oberen Stockwer-
ken in einigen Fällen beobachtet werden,
jedoch nur in den Küstenstädten am Roten
Meer. Ähnliche offene Höfe sind auch bei
den arabischen Häusern an der Ostküste des
Mittelmeeres von Ägypten bis Syrien fest-
zustellen. Dieser dort ebenfalls hosh genannte
Hof beginnt aber immer im Erdgeschoß.
Während bei den arabischen Häusern alle
Räume des gleichen Stockwerkes auf dersel-
ben Höhe liegen, ist die Fußbodenhöhe der
Räume in den jüdischen Häusern verschie-
den. Der Grund hierfür ist, daß die Juden
Handwerker und Kaufleute waren, die La-
gerräume benötigten, deren Decken niedriger
sein konnten als diejenigen der Wohnräume.
Außerdem besitzen die arabischen Häuser
keine Keller, Teile des jüdischen Hauses da-
gegen sind über tiefen Kellern errichtet. Diese
Keller dienten vielleicht zur Gewinnung von
mehr Raum, vor allem aber auch zur Erzeu-
gung und Lagerung von Wein und anderen
alkoholischen Getränken, die den Juden nicht
verboten waren. Durch Verbindung der Kel-
ler der einzelnen Häuser miteinander schu-
fen die Juden ein weitverzweigtes unter-
irdisches Netz von Zufluchtsräumen für Zei-
ten der Verfolgung durch ihre muslimischen
Nachbarn.
Nach einer Beschreibung des Äußeren der
jüdischen Häuser mit Hinweisen auf Bau-
material und Verzierungen folgt der Haupt-
teil mit einer ausführlichen Beschreibung eines
etwa 150 Jahre alten Wohnhauses. Durch zahl-
reich beigegebene Pläne, Zeichnungen und
Bilder wird dem Leser der Gang durch die
einzelnen Stockwerke und Vielfalt der Räume
mit all ihren interessanten Einzelheiten leicht
gemacht. In einem Schlußabschnitt stellt sich
der Verfasser die Frage, ob die eigenartige
Bauweise der jüdischen Häuser und beson-
ders der offene Hof auf den Stockwerken
von den Juden bei ihrer Einwanderung nach
Südarabien als alte Tradition mitgebracht
worden ist oder auf Grund der In der neuen
Heimat Vorgefundenen Lage innerhalb der
jüdischen Gemeinden erst entwickelt wurde.
Der Verfasser neigt zu der Annahme, daß
durch die jüdischen Einwanderer des 1. bis
5. nachchristlichen Jahrhunderts der römisch-
mediterrane Haustyp nach Südarabien ge-
bracht und dort den besonderen Verhältnis-
sen entsprechend abgewandelt wurde. Nach
einem Appendix mit Dokumenten über jü-
dische Häuser in San‘a aus dem 17. Jahr-
hundert von S. D. Goitein und einer Liste
der arabischen Termini technici schließt die
verdienstvolle interessante Schrift, für die
dem Verfasser unser Dank gebührt.
E. Kümmerer
ELIZABETH E. BACON:
Obok. A Study of Social Structure in Eura-
sia. New York: Verlag der Wenner Gren
Foundation for Anthropological Research
1958. 235 S., 2 Karten und 18 Figuren
im Text. (Viking Fund, Publications in
Anthropology No. 25.)
Die Verfasserin hat in den Jahren 1938/39
bei verschiedenen Hazara-Gruppen gearbeitet:
unter Emigranten in Mesched, die sich dort
während der Kämpfe mit Abdur Rahman
niederließen, unter ebensolchen Neusiedlern in
Quctta (Beluchistan), in Kabul, sowie an der
Peripherie des von den sogenannten Timuri
bewohnten Territoriums. Sie ist also nicht wie
etwa Ferdinand1) im Zentrum dieses der Her-
kunft nach mongolischen, aber heute tadschi-
kisch sprechenden Volkes gewesen.
Auf Grund ihrer Studien stellt nun die
Autorin fest, daß sich die Hazara in vor-
wiegend patrilineale Abstammungsgruppen
Ferdinand, K.: Preliminary Notes on
Hazara Culture. Hist. Files. Medd. Dan. Vid.
Selsk., 37, no. 5. 1959.
Buchbesprechungen
183
gliedern, sie haben eine deutliche Tendenz zu
Endogamie. Jedes Individuum gehört gleich-
zeitig in eine ganze Serie von engeren bis
weiteren Ringen, die eigene Namen tragen.
Wahrscheinlich hat es früher Symbole für
diese Einheiten gegeben, aber kein Anzeichen
spricht für Totemismus oder eine betont reli-
giöse Funktion. Sie sind territorial fixiert, so
daß sie leicht die Basis für eine politische
Organisation bilden können.
Ähnliche Ordnungen findet nun die Ver-
fasserin bei mittelalterlichen und modernen
Mongolen, bei den Kazachen, Beduinen, Rö-
mern, Galliern, Germanen, auf den britischen
Inseln und schließlich im slawischen Raum.
Sie glaubt, hier einen Strukturtyp von wahr-
haft eurasiatischer Verbreitung erkennen zu
können. Mit einem dem Mongolischen ent-
nommenen Terminus nennt sie ihn „Obok“.
Bacon führt weiter aus, die Obok-Struktur
sei unter verschiedenen Namen bereits von
anderen Gelehrten beschrieben worden, die
sie jedoch als Sonderform des Klans auffaß-
ten. Dagegen protestiert nun die Autorin. Für
sie ist „Obok“ die flexible, entwicklungs-
fähige Grundform, „Klan“ hingegen starr,
eine Sackgasse der Entwicklung.
Nach Ansicht der Verfasserin hat sich die
Obok-Struktur aus einer simplen Lokalgrup-
penordnung in einer Situation entwickelt, in
der es zur Anhäufung von dauerndem, als
Produktionsmittel wertvollem Eigentum kam.
Schon zur Regelung des nunmehr zentrale
Bedeutung einnehmenden Erbrechts sei da-
mals eine unilaterale, aber flexible Verwandt-
schaftsgliederung notwendig geworden. Auch
ein ständiges Aussenden neuer Kolonien habe
der Erstarrung entgegengewirkt.
Eine derartige Situation sei geradezu bei-
spielhaft während des Neolithikums im Na-
hen Osten vorhanden gewesen. Hier sei denn
auch der Ursprung des Systems zu suchen.
Erst sekundär, durch Kulturdiffusion, hätte
es auf die Hirtennomaden übergegriffen, wo
es ebenfalls manche Vorteile mit sich brachte.
Der Klan hingegen sei dort entstanden, wo
es nur um den Besitz und das Weitervererben
von Symbolen und Ritualen ging. In diesem
Entwicklungsast habe die Tendenz zur Exo-
gamie und die räumliche Verschiebung uni-
linearer Verwandtschaftsgruppen eine .große
Rolle gespielt. Solche Voraussetzungen seien
auch bei einer Jagd- und Sammelwirtschaft
gegeben.
So sei es durchaus plausibel, schließt Bacon,
daß der Obok-Typ seinen Schwerpunkt in der
Alten Welt habe. Die Klan-Organisation hin-
gegen habe aus entsprechenden Gründen ihre
volle Blüte in der Neuen Welt erlebt. Aus-
nahmen von dieser Regel, nämlich Klanorga-
nisationen in Eurasien, erklärt sie als lokale
Weiterentwicklung des Obok-Typs.
Dadurch, daß die Autorin einerseits den
Zusammenhang zwischen Wirtschaftsform und
Sozialstruktur betont2), andererseits der Dif-
fusion große Bedeutung zumißt, nähert sie
sich der Position, die seinerzeit von der Wie-
ner Schule eingenommen wurde. Deshalb
wendet sie sich auch ausdrücklich gegen Mur-
dock, der in beiden Problemen mit seltener
Entschiedenheit die entgegengesetzte Haltung
vertrat. Er bestritt einen direkten Zusammen-
hang zwischen den ökonomischen Aspekten
einer Kultur und ihrer Sozialstruktur und
glaubte nicht an eine Ausbreitung von Sozial-
elementen im üblichen Sinn3), weshalb es auch
diesbezüglich zu keinen klar abgegrenzten
Verbreitungsarealen kommen könne.
Im ersten Punkt kann man Bacon recht
geben. Es ist unbestreitbar, daß der asiatische
Hirtennomadismus bzw. das Reiterkriegertum
in der Regel mit einem bestimmten Typ der
Sozialordnung vergesellschaftet auftritt. Aber
vermutlich ist die Aussage Murdocks bereits
überspitzt und inkonsequent4). Er betont
nämlich fast im gleichen Atem, daß Noma-
dismus, Besitz an Herden und Sklaven sowie
ständige Kriegsführung für eine patrilokale
Niederlassung günstig sind, diese aber wieder
am Anfang einer Entwicklung stehen kann,
die in vielen Fällen auch zur patrilinearen
2) was freilich auch von der offiziellen
sowjetischen Ethnologie leidenschaftlich ver-
fochten wird. Vgl. Ol’derogge, D. A.: Osnov-
nye certy razvitija sistem rodstva. Sov. Etno-
grafija 6/1960, S. 24—30.
3) Murdock, G. P.: Social Structure. New
York 1949. S. 187: „The forms of social or-
ganization, indeed, appear to show a striking
lack of correlation with levels or types of
technology, economy, property rights, class
structure, or political integration.“ und S. 92:
„. . . traits of social organization show prac-
tically no tendency to yield distributions (of
the culture-area type).“
4) Vgl. Murdock, S. 202—208.
184
Buchbesprechungen
Ordnung führt. Das alles aber sind Elemente,
die für das Reiternomadentum der Steppe
charakteristisch sind.
Gerne möchte man Bacon auch in der Frage
der Diffusion recht geben, ihrem großzügigen
Entwurf zustimmen, der einem allgemeinen
Trend folgend den mittleren Osten in der
Phase des entstehenden Ackerbaus als wich-
tigsten Strahlungsherd skizziert. Leider ist
das nicht möglich. Der Ablauf bietet sich ge-
rade im Steppenraum völlig anders dar:
Hier waren bis vor kurzem zwischen den
Völkern mit Obok-Strukturen andere mit
Systemen vertreten, die man bei bestem Wil-
len nicht unter den Begriff einordnen kann.
Sie waren starrer und nach einem einheit-
lichen, spiegelbildlichen Schema durchkompo-
niert3). Es bestand Exogamie, ja ln einzelnen
Fällen, wie etwa bei den Turkmenen, scheint
man an Tierahnen gedacht zu haben5 6). Man
darf dabei nicht vergessen, daß bei den ugri-
schen Stämmen der Waldzone Westsibiriens,
die ja früher auch im Steppenraum verbrei-
tete Erscheinungen als Überlebsel bewahrt
haben, bis vor kurzem Klantotemismus und
ein Dualsystem bestanden7). Ja selbst die Ge-
sellschaft der Kazachen ist einer Klanordnung
ähnlicher gewesen, als dies Bacon wahrhaben
will. Abramzon wies in einer scharfen, nur
teilweise durch die politische Einstellung be-
dingten Kritik8) darauf hin, daß Hudson
(dessen Begleiterin die Autorin war) auf
Grund ungenügender Informationen ein ver-
schwommenes, vereinfachtes Bild gegeben hat.
Man könnte sogar die Frage erheben, ob die
Obok-Einheiten der Mongolen zur Zeit
Dschingis Chans der Definition Bacons ent-
5) Zdanko, T. A.: Karakalpaki Chorezm-
skogo oazisa. Trudy Chorezmskoj archeologo-
etnograficeskoj ekspedicii, I, Moskau 1952,
S. 461—566, besonders 507—515, sowie Plet-
neva, S. A.: Pecenegi, torki i polovcy v juz-
norusskich stepjach. MIA 62, 1958, S. 191 bis
226, besonders S. 192—200.
6) Tokarev, S. A.: Etnografija narodov
SSSR. Moskau 1958, S. 365.
7) Cernecov, V. N.: Fratrial’noe ustrojstvo
u Obskich ugrov. Sov. Etnografija VI—VII,
1947, S. 158—184.
8) Abramzon, S. M.: Formy rodoplemen-
noj organizacci u kocevnikov Srednej Azii.
Trudy instituta etnografii (nov. ser.) XIV,
1951, S. 157—179.
sprachen. Sie besaßen jedenfalls ein eigenes
Heiligtum mit entsprechendem Kult und sind
vermutlich aus komplizierteren Ordnungen
hervorgegangen, deren Überlebsel in der
Stammsage spürbar werden.
Solche Indizien, die beliebig vermehrt wer-
den könnten, zeigen, daß man den heutigen
Befund des Steppenraumes keinesfalls als
Weiterentwicklung oder Akkulturationsform
einer „simple band structure“ betrachten darf,
wie dies Bacon9) tut. Eine Hypothese müßte
vielmehr annähernd so aussehen:
Im Steppenraum gab es zunächst Sippen-
verfassungen, die mit jenen der Neuen Welt
viele gemeinsame Züge aufwiesen. Allerdings
traten diese Eigentümlichkeiten bei der Aus-
bildung gewaltiger Machtzentren, deren frü-
hestes das Hsiung-nu-Reich war, zwangsläufig
zurück, da sie die Integration behinderten.
Zumindest wurden sie in flexiblere Systeme
eingebaut. Kam es dann aber zu politischem
Zerfall, so näherte man sich neuerlich dem
Klansystem10), ohne aber dessen religiöse Er-
fülltheit und klare Durchbildung je wieder
erreichen zu können. Wenn man sich nun bei
jeder Reichsgründung in den Steppen diesen
Vorgang wiederholt denkt, so hat man wohl
die wichtigste Voraussetzung für die Bildung
obokartiger Systeme erfaßt.
Damit fällt freilich jeder Grund, eine Ab-
hängigkeit von den Sozialordnungen Europas
oder Vorderasiens anzunehmen. Man muß
mit Parallelentwicklung rechnen, vor allem
der Degeneration starrer Ordnungen.
Zusammenfassend kann man sagen, daß die
Autorin einen wichtigen Unterschied zwi-
schen den vorherrschenden Sozialstrukturen
der Neuen und der Alten Welt gesehen hat.
Am amerikanischen Material gemessen gibt es,
besonders in Eurasien, erstaunlich häufig so-
ziale Einheiten, die sich als in väterlicher Linie
verwandt betrachten, aber flexibel sind und
nur einen geringen rituellen Überbau aufwei-
sen. Ihr Blick aus der Ferne, vor dem viele
Details zu einem Umriß verschmelzen, hat sie
jedoch behindert, am asiatischen Material die
Spuren der langen und komplizierten Schick-
sale zu entdecken, die hinter der heutigen
Gestalt stehen.
fl) Bacon, S. 189.
10) Vladimirtsov, B.: Le regime social des
Mongols. Paris 1948, S. 56—73.
K. Jettmar
Buchbesprechungen
185
EGON VON EICKSTEDT:
Türken, Kurden und Iraner seit dem Alter-
tum. Probleme einer anthropologischen
Reise. Stuttgart: G. Fischer, 1961. 123 S.
Geb. DM 24.80.
Was der Autor vorlegt, ist das Fazit einer
Reise vom Bosporus durch Anatolien nach
Kilikien hinunter, von hier durch Syrien und
das Irak (Bagdad) nach dem Iran, wo v. E.
vor allem im zentralen Zagros-Gebiet gear-
beitet hat (von Kermanscha aus), um schließ-
lich durch Persisch-Kurdistan an den Urmia-
See, nach Azerbeidschan zu fahren, von wo
aus er durch Armenien und die Türkei heim-
kehrte.
Der Titel läßt erkennen, welchen Proble-
men die Reise gewidmet war: Es sollten die
Völker des Gebirgsgürtels zwischen Bosporus
und Persischem Golf untersucht werden, Tür-
ken, Armenier, Azerbeidschaner und Zagros-
Völker. Dabei war die Fragestellung bio-
historisch, was bei E. v. E. heißt: Unter Be-
rücksichtigung von geographischen und histo-
rischen Gegebenheiten sollte versucht werden,
das nur in kümmerlichen, und zudem falschen
Ansätzen vorhandene Typenbild dieses Rau-
mes rassisch und rassengeschichtlich zu klären.
Ohne Berücksichtigung der historischen Ent-
wicklungen ist in einem so geschichtsträchtigen
Raum freilich das heutige Bild kaum zu er-
kennen und noch weniger zu deuten. Man
darf wohl sagen, daß es bei v. E. selbstver-
ständlich sei, daß der vorliegende Bericht wie-
der ein ungemein anregendes, an Problemen
und Lösungsversuchen fast überreiches Werk
geworden ist.
Der Autor kommt zum Ergebnis, daß die
Küstenlandschaften der Türkei im wesent-
lichen noch immer von Mediterraniden be-
wohnt sind, während Anatolien einen Typus
aufweist, den er „anadolid“ nennt, einen
Schlag, der neben mediterraniden auch ost-
alpine und „dinaroide“ Züge aufweist, bei
dem aber der armenide Blutsanteil äußerst
gering ist. Die Armeniden ihrerseits sind
sicher eine alte Schicht, die ihren Namen zu
Recht hat, weil diese Rasse offensichtlich In
den abgekapselten Gebirgsräumen Armeniens
daheim ist. Von dort aus sind die A. auch
nach Süden vorgedrungen (Hurrlter) und
haben die Anadoliden im Westen von den
Orientaliden der Arabischen Halbinsel und
von den Iraniden der Zagros-Ketten und
Irans abgetrennt. Die beiden letztgenannten
Typen hängen mit den Mediterraniden zu-
sammen, vielleicht auch mit den Anadoliden.
Innerhalb dieser Gruppen ist eine ganze An-
zahl von Lokaltypen zu unterscheiden, die
die reich bewegte Vergangenheit dieses Rau-
mes erklärt. Mongolides Blut ist in der Türkei
kaum zu erkennen, eher schon im Iran. In
allen bekannten Fällen handelt es sich aber
um ganz junge, historisch greifbare Intrusio-
nen, die mehr oder weniger punktförmig auf-
treten.
Der Autor versucht, seinem Typenbild
historische Tiefe zu geben. Ausgehend von
Darstellungen und Beschreibungen der Alten
untersucht er so Hethiter, Hurriter, Mitanni,
Kassiten, Kurden, Loren (richtiger für: Lu-
ren), Elamiten, Sumerer, Meder und Perser.
Bei den Indogermanen unter diesen Völkern
stellt er fest, daß es sich bei ihnen jeweils um
kleine, von Norden (Turan!) hereingekom-
mene Oberschichten handelt, die sich über die
Vorbevölkerung legten, der sie Sprache, Na-
men und Teile ihrer Kultur gaben, um ihrer-
seits blutsmäßig mehr oder weniger schnell
und völlig in der Unterschicht aufzugehen.
So seien es immer wieder dieselben Menschen,
nämlich im Kern Iranide, die im südlichen,
mittleren oder nördlichen Zagros beheimatet,
hier oder in den vorgelagerten Ebenen Staa-
ten und Kulturen des Alten Orients aufbau-
ten, angefangen von Sumer bis hin zu Assur,
Medien und Persien. Sogar die Namen sind
teilweise seit Jahrtausenden erhalten und
überliefert: Guti = Kurden, Lulu = Loren.
Ausgehend von den jeweiligen räumlichen
Gegebenheiten und unter strikter Beobach-
tung der historischen Schicksale der einzelnen
Völker und Völkersplitter behandelt er Teil-
gebiet um Teilgebiet, Volk um Volk, Volks-
teil um Volksteil, wobei immer wieder ethno-
logische Fakten in die Darstellung einbezogen
sind. So tritt z. B. das konservativere Element
der nomadischen Kurden gegenüber den
bäuerlichen Gruppen sehr klar in Erschei-
nung, und sein Vorhandensein wird eingehend
erklärt. Auch der Frage der modernen Akkul-
turation schenkt der Autor Aufmerksamkeit
und zeigt dabei einmal mehr, daß er ein kri-
tischer Beobachter ist und sich von keinem
Schlagwort beeindrucken läßt.
Ein Kernproblem seiner Darstellung scheint
mir die Frage zu sein, ob die von Norden
hereingekommenen Gruppen indogermani-
scher Sprache wirklich im Somatischen von so
186
Buchbesprechungen
geringer Bedeutung gewesen sind. Wenn auch
zugegeben werden muß, daß die Bedeutung
von Substratvölkern im allgemeinen weit un-
terschätzt, die der Überwandernden dagegen
ebensoweit überschätzt wird, so muß doch ge-
fragt werden, ob von Eickstedt zu seiner
Meinung nicht dadurch gekommen ist, daß er
Verhältnisse und Abläufe bei Nomaden als
Vorbild genommen hat, etwa den Hunnen-
zug oder die Reichsgründung eines Chingis
Khan. In diesen beiden Fällen sind es (wie
bei Nomaden immer) tatsächlich nur kleine
Gruppen, die große Räume umgekrempelt
haben. Aber waren d i e Mitanni, d i e Kas-
siten, d i e Hethiter wirklich Nomaden? Das
ist nicht nur ungewiß, sondern höchst unwahr-
scheinlich. Auch für ein Nomadentum des
alten medischen und persischen Volkskerns
spricht nichts, obwohl dies zeitlich eher mög-
lich wäre. Ist daher nicht doch an richtige
Völkerwanderungen im Sinne der germani-
schen zu denken, wenn von jenen Völkern die
Rede ist? Auch in diesem Falle dürfen wir uns
natürlich keine Millionen auf der Wanderung
vorstellen — aber die später Unterworfenen
waren zahlenmäßig wohl auch nicht allzu
stark, und dann müßte man eigentlich an-
nehmen, daß sich außer Sprache und Namen
auch Blut und Volkstum der Überlagernden
erhalten hätten oder mindestens, daß diese im
Typenbild noch immer auftreten, wenn sich
das Somatische so zäh hält, wie v. E. zeigt.
Der Autor sagt, daß vieles habe noch offen
bleiben müssen. Hoffentlich kann er selbst
auf diesem höchst bedeutsamen Sektor Weiter-
arbeiten. Seine Ansätze sind so glänzend, daß
man von weiteren Arbeiten mit Sicherheit
auch weitere Klärung erwarten darf.
F. Kussmaul
FRANZ ALTHEIM:
Geschichte der Hunnen.
1. Band: Von den Anfängen bis zum Ein-
bruch in Europa. Mit Beiträgen von Robert
GöbUHans-Wilhelm Haussig!Ruth Stiehl!
Erika Trautmann-Nehring. Berlin: Walter
de Gruyter & Co. 1959. 463 S., geb.
DM 96.—.
2. Band: Die Hephthaliten in Iran. In Zu-
sammenarbeit mit Ruth Stiehl. Mit Bei-
trägen von Zelik I. JampolskilEugen Lozo-
van/Feodora Prinzessin von Sachsen-Mei-
ningen! Erika Trautmann-Nehring. Berlin:
Walter de Gruyter & Co. 1960. 329 S.,
geb. DM 65.—.
Die beiden vorliegenden Bände behandeln
Fragen der Hunnengeschichte vor dem Ein-
bruch in Europa. Der erste ist mehr den
eigentlichen Hunnen gewidmet, der zweite so
gut wie ausschließlich deren „Brüdern“, den
Hephthaliten (Weiße Hunnen). Das Werk
unterscheidet sich sehr eindeutig von dem,
was man gemeinhin ein Geschichtswerk nennt,
nämlich die Darstellung eines auf Grund von
Quellen nachgezeichneten historischen Ab-
laufs. Vielmehr hat der Autor eine große
Zahl von Einzeluntersuchungen aneinander-
gereiht, die großenteils zum Fragenkreis
„Hunnen“ gehören, gegliedert in Kapitel, die
einzelne Themenkreise des Gesamtproblems
herausgreifen. Dabei werden linguistisch-
philologische, prähistorische, historische, geo-
graphische und vielerlei kulturhistorische Ge-
gebenheiten, Aspekte und Probleme erörtert
und wird auf dieser breiten Basis versucht,
die Hunnenfrage im ganzen voranzutreiben.
Um es vorweg zu .sagen; Sicher hat Alt-
heim (zusammen mit seinen Mitarbeitern)
eine beachtliche Zahl von Einzelfragen ge-
fördert und teilweise gelöst. Seine Quellen-
kenntnis, seine Sprachkenntnisse, sein Spür-
sinn und sein eminent historisches Gefühl sind
ihm dabei zugute gekommen. Ob er aber seine
Kernfrage, das Problem der hunnischen Früh-
geschichte, gelöst hat, muß vorläufig offen
bleiben.
Die beiden Bände sind im Aufbau verschie-
den. Der erste behandelt in vier Büchern
1) die Anfänge der Hunnen, 2) Vorausset-
zungen und Gleichzeitigkeiten, 3) das kul-
turelle Erbe und 4) den Einbruch in Europa.
Altheim diskutiert hier bekannte und bisher
nicht beachtete Quellen und baut mit ihrer
Hilfe sein trotz aller Vielschichtigkeit er-
staunlich geschlossenes Bild der Hunnen-
geschichte. In seiner Darstellungsart scheint
mir aber eine Gefahr für den Leser zu liegen;
Quellen und Quellendeutung sind nicht ge-
nügend getrennt und am Ende weiß man oft
nicht mehr so ganz genau, was Qucllenbestand
und was Interpretation ist. Das ist um so
wichtiger, als die Quellen offenbar der Inter-
pretation weiten Raum lassen. So jedenfalls
muß man urteilen, wenn man die vielen, oft
sehr hart vorgetragenen Kontroversen in al-
len Teilen des Bandes (beider Bände) betrach-
Buchbesprechungen
187
tet. Der zweite Band bringt in seinen drei
Büchern eine ganz andere Gliederung. Im
ersten werden neue Quellen mustergültig vor-
gelegt. Das zweite Buch enthält eine Reihe
von Einzeluntersuchungen, teilweise von sei-
nen Mitarbeitern (so z. B. die hübsche Studie
über die Proskynesis in Iran). Erst das dritte,
wenig umfangreiche, enthält die Auswertung
der Quellen: eine Darstellung der Hephtha-
liten, der eine Zeittafel der äußeren Ereig-
nisse vorangestellt ist. Ein Anhang mit Nach-
trägen (zu beiden Bänden) und ein Abbil-
dungsteil ergänzen auch diesen Band, dem
wie dem ersten aus Altheims Eiand ein gutes
Register beigegeben ist.
Wenn A. auch viele verschiedene Wissen-
schaften mit ihren Ergebnissen und Fragen
heranzieht, so gewinnt er den Großteil seiner
Ergebnisse doch mit Hilfe philologischer Un-
tersuchungen und Überlegungen. Zweifellos
hat die Sprachwissenschaft vielerorts entschei-
dend zur Klärung historischer und frühhisto-
rischer Probleme beigetragen, aber angesichts
all der Kontroversen, die A. gerade auf die-
sem Gebiet vorträgt, erscheint es nicht so ganz
sicher, daß die Philologie etwa gegenüber der
Ethnologie oder Archäologie als „die exakte
Geisteswissenschaft“ anzusprechen sei, min-
destens nicht dort, wo das linguistische Mate-
rial knapp ist und überdies die Zahl der Ge-
lehrten innerhalb einer bestimmten Sparte
klein.
Wie sieht Altheims Bild der Hunnen-
geschichte aus? Seit etwa 160—170 n. Chr.
Geb. bezeugen antike Schriftsteller Hunnen
südlich des Asowschen Meeres. Sie sind ein
kleiner, von Zentralasien herübergesprengter
Stamm, vorläufig ohne jede Bedeutung. Ge-
wicht erhalten sie erst durch den Zuzug von
Stammesverwandten nach der Mitte des vier-
ten Jahrhunderts. Diese sind gleichfalls aus
Zentralasien herübergekommen, und zwar
auf dem Nordweg, südlich — teilweise auch
nördlich — am Altai vorbei, durch die
Dsungarei, das Baikaschgebiet und die Kir-
gisensteppe. Hier gabelt sich der Weg; ein
Teil zieht am Westtienschan nach Süden, un-
terwirft hier iranische Nomaden, die Chioni-
ten, und macht sich zum Herrn eines Gebie-
tes nördlich des Oxus, besonders im Raum
Buchara-Samarkand. Diese Hephthaliten ge-
ben ihre ursprünglich türkische Sprache und
ihre angestammte Kultur bald auf, gehen
ganz im Iraniertum auf, wenigstens die Her-
renschicht in den festen Siedlungen und Städ-
ten. Andere Teile, vor allem die im Norden,
bleiben nomadisch. Nach dem Ende der
Hephthalitenherrschaft ziehen diese noma-
dischen Gruppen nach Westen, wo sie in
Europa in der zweiten Hälfte des 6. Jahr-
hunderts und um 600 als Pseudo-Awaren,
Protobulgaren und Chazaren auftreten. Sie
folgen dabei Wegen, die schon jener andere
Teil der „Hunnen“ in der zweiten Hälfte
des 4. Jhd. gegangen war: von der Kirgisen-
steppe aus nach Südwesten in den Raum
zwischen dem Kaukasus und die Untcrläufe
von Don und Wolga. Hier sammeln sich die
Hunnen vor ihrem Stoß gegen die Ostgoten,
die Westgoten und dann Europa. Sie gehen
ihrerseits Wege, die vor ihnen schon die Ala-
nen gezogen waren, die im Turan, im Kau-
kasusvorland und in Südrußland gewisser-
maßen Quartiermacher der Hunnen gewor-
den waren und später in deren Verband
kämpften.
Das ist das Bild, das A. noch mit unend-
lich vielen und wichtigen Details ausmalt.
Wie Mänchen-Helfen kommt A. zu der
Überzeugung, daß Hunnen und Hsiungnu
(der chinesischen Quellen) nichts miteinander
zu tun haben. Seine Hunnen sind vielmehr
ein von den Chinesen „hun“ genannter
Hsienpi-Stamm In Jehol, der um 300 n. Chr.
Geb. die Ostmongolei beherrschte. Sie sind
Türken und stammen letztlich wohl aus der
Heimat der Türken östlich des Baikal, viel-
leicht aus Otükän selbst.
Hierzu ist verschiedenes zu bemerken: Ein-
mal ist die Heimat der Türken aller Wahr-
scheinlichkeit nach nicht das Gebiet östlich
des Baikal, sondern liegt weiter im Westen,
im Altai und östlich davon. Für das Gebiet
östlich vom Baikal nennen chinesische Quel-
len der fraglichen Zeit als Bewohner „Shih-
wei“, mongolische Völker also, nicht Türken.
Auch die „Geheime Geschichte der Mongo-
len“, nennt als Bewohner dieses Raumes nur
Mongolen. Aber das ist für die Gesamtfrage
relativ belanglos. Wichtiger erscheint etwas
anderes: Wie die Hsiungnu waren auch die
Hsienpi keine Türken. Beide stammen offen-
bar aus dem Chingan-Gebiet, wo nie Türken
gesiedelt haben. Wenn die Hun der chinesi-
schen Quellen realiter ein Hsienpi-Stamm
gewesen sind, dann waren sie Verwandte
der Hsiungnu. Das gilt auch für die T’opa,
von denen wenigstens ein Teil nach der Mei-
nung von A. und Bazin ebenfalls als Hun-
188
Buchbesprechungen
nenvorfahren in Frage kommen könnte. Alle
diese Völker gehören nach Aussage ihrer
Kultur ursprünglich in den Kreis der Chin-
gan-Völker und waren als solche mit den
Völkern der Mandschurei nahe verwandt,
wie ich in einer Arbeit „Zur Frühgeschichte
des Innerasiatischen Reiternomadentums“
(Dissertation, Tübingen 1953) gezeigt zu ha-
ben glaube. Bei Hsiungnu, Hsienpi und
T’opa sind östliche Affinitäten zu postulie-
ren, Beziehungen zur Mandschurei, zu Korea
(und zum Amurgebiet), wie sie sich ja für die
Hsiungnu und die Hunnen im archäologi-
schen Bild auch herausschälen (vgl. Joachim
Werners Arbeiten und die Jettmarsche Be-
sprechung von Werners „Archäologie des
Atrilareiches" in: Germania 35, 1957 gegen-
über einigen der Darstellungen von A.). Letz-
ten Endes verschiebt sich also bei Altheims
Annahme Hun = Hunnen gegenüber der
bisherigen Auffassung Hsiungnu = Hunnen
im wesentlichen nur der Zeitpunkt der Ab-
wanderung, der Termin, zu dem der spätere
„Hunnische Volkskern“ aus dem östlichen
Zentralasien abgewandert ist, weil die eth-
nische Substanz bei beiden Annahmen un-
gefähr dieselbe bleibt.
In diesem Zusammenhang ist die Namens-
frage sehr bemerkenswert. Wenn man die
einschlägigen Arbeiten de Groots und Eber-
hards durcharbeitet, sieht man, wie zäh die
Chinesen an Hun- und Hsiung-Namen für
ihre nomadischen Nachbarn im Norden durch
viele Jahrhunderte festhalten. Wir werden
wohl nie genau erfahren, welche realen Laut-
werte beiden Formen zugrundelagen. Offen-
bar handelt es sich um Fremdvölkernamen.
A. stellt nun fest, daß die Chinesen um 300
n. Chr. Geb. bei der Schilderung eines be-
stimmten historischen Ereignisses von „Hsi-
ungnu“ sprechen, während dieselbe Gruppe
bei demselben Ereignis in einem soghdischen
Brief jener Zeit mit „xwn“ bezeichnet werde,
also als Hunnen. Er meint, die Chinesen
haben aus alter Gewohnheit den Hsiungnu-
Namen beibehalten, obwohl es sich um ein
anderes Ethnikon gehandelt habe. Das ist
durchaus möglich. Es gibt Parallelen dazu in
Hülle und Fülle, in China wie bei Historio-
graphen anderer Kulturräume („Skythen“
bis in die Zeit um 1100 n. Chr. Geb., so A. I,
95). Doch wäre auch denkbar, daß der xwn-,
der Hunnenname, bei den Chinesen mit
Hsiung(nu) umschrieben wäre. Lautkombi-
nationen, in denen hu, hun und hsiung Vor-
kommen, werden bei ihnen lange für Bar-
baren des Nordens nebeneinander verwendet.
Sind diese mit größter philologischer
Akribie (und einiger Fantasie!) erarbeiteten
Fremdnamen überhaupt eine ausreichende
Basis für weitreichende historische Schlüsse?
Meist werden sie auf Umwegen über eine
(oder mehrere) in ihrem damaligen Bestand
nur wenig bekannte Sprache rekonstruiert,
wobei der Schreibfehlerteufel oft genug Kor-
rekturen in den Quellen verlangt, damit man
überhaupt zu einem Ergebnis kommen kann.
Manche zwischen der jetzt vorliegenden
Quelle und dem Originalnamen liegenden
Sprachen und Dialekte werden wir gar nicht
bemerken, kaum oder nur unzureichend ken-
nenlernen. Fehlermöglichkeiten sind also nie
auszuschließen. Endlich muß berücksichtigt
werden, daß die Autoren der alten Quellen
— die oft von einem Alphabet zum anderen,
von einer Sprache zur anderen transskribie-
ren mußten — keine Philologen waren, de-
nen eine moderne Lautschrift und die inzwi-
schen erarbeitete Kenntnis der Lautgesetze
zur Verfügung stand. Man sollte sich in die-
sem Zusammenhang vergegenwärtigen, mit
welchen Schwierigkeiten wir selbst heute bei
der Transskription vieler Fremdnamen zu
kämpfen haben — trotz aller philologischen
Kenntnisse, Erfahrungen und Hilfsmittel.
Schließlich brauchen wir bereits umfangreiche
Bände zur Identifizierung aller jemals in
moderner Zeit, also vorwiegend von Gelehr-
ten, gehörten und wiedergegebenen Völker-
und Stammesnamen Afrikas, Amerikas oder
Ozeaniens, und das selbst für Gebiete, die
erst in diesem Jahrhundert bekannt wurden
(man denke etwa an die Schwierigkeiten, die
Reche bei seiner Identifizierung der Sepik-
Dörfer hatte, obwohl seine Quellen den Zeit-
raum von 10 Jahren kaum überschritten!).
Solche modernen Erfahrungen sollten uns
vorsichtig stimmen überall dort, wo zur
Stützung einer These nur ein paar trans-
skribierte und dann interpretierte Namen
zur Verfügung stehen. Und das ist im vor-
liegenden Fall oft genug gegeben.
Im Buch „Kulturelles Erbe“ (I, Kap. 8 bis
11) und auch sonst immer wieder kommt A.
auf kulturgeschichtliche Fragen zu sprechen.
Dabei ergibt sich ein wichtiges Faktum: In
der Kultur der Hephthaliten wie in der der
Hunnen findet sich sehr viel Iranisches, über-
nommen von den späten Parthern wie von
den Sasaniden. Titel, Herrschertracht, Zere-
Buchbesprechungen
so dürftig, daß ihm nicht alle folgen werden:
ein paar Namen, Titel und Sprachformen.
Immer wieder drängt sich bei der Lektüre
die Frage auf, ob nicht auch innerhalb des
Türkischen viel mehr, als gemeinhin ange;
nommen, aus dem Iranischen stamme. J. Ben-
zing hat die Türken als eine ganz junge Mi-
schung angesprochen; ich selbst habe ver-
sucht (a. a. O.), einige Wurzelkulturen des
frühen Türkentums herauszuarbeiten. Jett-
mar hat immer wieder betont, wie stark das
iranische Element im Altai bis kurz vor die
eigentlich türkische Zeit gewesen sei; das
sind — neben anderen — Ansätze. Es wird
aber noch lange dauern, bis der iranische
Beitrag im Aufbau aller Kulturen dieses Rau-
mes, auch des Türkentums, wirklich heraus-
gearbeitet ist, bis wir jenes frühe Türkentum
in seiner Kultur und in seiner räumlichen
Verbreitung kennen und zeitlich richtig an-
zusetzen vermögen. Philologen, Archäologen
und Ethnologen werden dabei gleicherweise
bemüht sein müssen. Dabei scheint die hier
gestellte Aufgabe eigentlich leichter als die,
verschiedene Nomadenvölker Innerasiens in
ihrem Nacheinander und Nebeneinander zu
fassen, weil doch ohne Frage ins spätere
Türkentum außer dem iranischen auch ein
spezifisch türkisches, prototürkisches Element
eingeschmolzen sein muß: der Träger des
frühesten türkisdien Idioms. Sprachen ent-
stehen nicht so schnell wie Nomadenvölker;
Träger von Sprachen sind daher wohl leich-
ter archäologisch und kulturgeschichtlich zu
fassen als kurzlebige Nomadenreiche.
Die Bezeichnung „Reich“ erscheint im Zu-
sammenhang mit Nomaden richtiger als
„Volk“, denn Völker in unserem Sinne sind
die Nomaden Innerasiens nur selten gewor-
den. An Eland der „Geheimen Geschichte der
Mongolen“ läßt sich zeigen (vgl. Kußmaul,
Göttinger Völkerkundliche Studien II, 1958),
wie „die Mongolen“ entstanden sind: aus
einem kleinen Kern, einer Familienagglome-
ration heraus, die unter der Führung eines
fähigen Mannes zum Kristallisationspunkt
immer größerer Kreise wird, wobei Leute
der verschiedensten Stammeszugehörigkeit
unter dem neuen Herrn zu „Mongolen“ wur-
den. Nicht viel anders scheinen die ganzen
„Völker“ Innerasiens im Laufe von fast
2500 Jahren entstanden zu sein. Das Fluk-
tuierende, das A. so stark betont, bezieht
sich wahrscheinlich immer nur auf relativ
kleine Gruppen — die Führerschicht, beste-
moniell, Kriegstaktik, Waffen, Kleidung,
Dichtung und viele religiöse Züge leitet A.
aus dieser Quelle ab. Es gibt fast keinen Be-
reich der Kultur, in dem sich bei diesen Völ-
kern nicht Iranisches fände. Oft ist die Sache
mit dem Wort übernommen. Dieses starke
Hervortreten des Iranischen im innerasiatisch-
südrussischen Raum ist kaum je so klar und
sdiarf herausgearbeitet worden wie hier. Und
doch sollte diese Tatsache nicht überraschen;
seit der Frühzeit des Reiternomadentums,
seit kurz nach 1000 n. Chr. Geb. steht dieser
ganze Raum unter der Herrschaft von Ira-
niern — teilweise wohl schon früher. Iranier
waren es auch (Saken?), die das Nomaden-
tum nach Osten trugen, wo in der Ostmongo-
lei erstmals Mongolide diese Lebens- und
Kulturform von ihnen übernahmen, ihre Vor-
gänger in der Folge besiegten und verdräng-
ten. Bis an die Schwelle der Hunncnzeit muß
der ganze mittelasiatisch-südrussische Raum
unter der Herrschaft dieser Iranier gestan-
den sein. Die Völker wechselten dabei, rich-
tiger: die Namen der Völker, nicht aber das
Volkstum und die wesentlichen Inhalte der
Kultur. Das zeigt nicht zum wenigsten die
Verbreitung des späten Tierstils, der seine
Existenz sicher gewissen religiösen Grund-
lagen verdankt und dessen Areal sich ziem-
lich genau mit dem der Iranier und deren
politischem und kulturellem Strahlungsfeld
deckt. Als dann Nicht-Iranier, Hunnen, Tür-
ken und Mongolen ihre Herrschaft in Zen-
tralasien fest verankerten, hörte der Tierstil
auf zu blühen, später zu existieren. Seine
religiöse Basis war verloren. Seit dieser Zeit
ist auch mit dem Auftreten mongoliden Blu-
tes in den mittleren und westlichen Teilen
des Steppenkorridors zu rechnen, im Osten,
in der Dsungarei und ihren Randgebieten
früher und stärker als im Westen. Überall,
außer im trockenen Inneren der Steppen-
becken trafen die neuen Herren bei ihrem
Vordringen auf Iranier, die sie unterwarfen
und assimilierten — oder verdrängten, ohne
freilich verhindern zu können, daß ein be-
trächtlicher Anteil an Blut und viel Kultur-
und Sprachgut der Iranier in ihr eigenes
Volksgut einging. Deshalb glaube ich nicht,
daß wir so bald Gefahr laufen werden, die
Rolle des Iraniertums bei der historischen und
kulturellen Entwicklung Inncrasiens zu über-
schätzen.
A. spricht Hephthaliten und Hunnen als
Türken an. Seine Beweise dafür sind freilich
190
Buchbesprechungen
hend aus den Angehörigen der Dynastie, de-
nen des Adels und den Gefolgsleuten dieser
beiden Gemeinschaften.
Wenn die Chinesen berichten, daß „die
Hsiungnu“ nach Westen geflohen seien, so
heißt das, daß der Schanyü mit dem Hof-
staat, seinen engeren Mitarbeitern, den Heer-
führern, den Lehensträgern und deren Ge-
folgschaft und Gesinde samt ausreichenden
Subsidien abgezogen sind, sich dem neuen
Herrn, nämlich China entzogen haben —
vielleicht 5000, vielleicht 20 000 Mann. Diese
eng zusammengehörige, straff organisierte
und disziplinierte, kluge, energische und ziel-
strebige Gruppe war dann überall dort in
der Lage, ein neues Reich zu gründen, wo
innere Zwietracht, äußere Kriege, Sorglosig-
keit und mangelnde Entschlußkraft bei den
fakultativen oder tatsächlichen Gegnern die
Möglichkeit boten, eine Bevölkerung durch
Terror zu unterjochen. Wenn diese und ihre
Nachbarn — ihrerseits Nomaden — merk-
ten, daß unter der neuen Herrschaft gut zu
leben sei (was man aucn durch reiche Beute
erreichte), dann war sie oft recht schnell be-
reit, ins Lager des Neuen überzutreten. Ei-
gentlich aber blieben die Völker, was wech-
selte, das waren eher die kleinen Gruppen
der Oberschicht und mit ihnen der Name.
So dürfte es auch bei den Hunnen gewe-
sen sein, vor allem wenn Altheims Angabe
stimmt, wonach die frühen Hunnen (um
375) auf nicht mehr als etwa 40 000 Köpfe
zu veranschlagen seien. Dann konnten sie das
iranische Element, über das sie sich legten,
kulturell und blutsmäßig nur wenig beein-
flussen. A. kommt der hier vorgetragenen
Auffassung sehr nahe, wenn er (I, 369) sagt,
daß die Hunnen wie andere Nomaden ein
Volk erst geworden seien im Ausgriff zur
Herrschaft, im Zusammenstoß mit Fremdem.
Vorher konnten sie es gar nicht werden —
wenigstens nicht bei der Gesellschaftsstruk-
tur, die das innerasiatische Nomadentum
durch Jahrhunderte kennzeichnet und die
uns B. Vladimirtsow in seinem „Regime So-
cial des Mongols“ vorgeführt hat. Daß sein
hier etwas modifiziertes Bild auch für die
Hunnen gilt, scheinen mir die „Waldhunnen“
zu beweisen: wenn wir (wie A. und fast alle
übrigen) daran festhaltcn, daß der Namens-
träger und Kern des Volkes aus dem Osten,
aus der Umgebung der Ostgobi stammt, dann
kann es in Rußland keine Wald hunnen
gegeben haben, das heißt Hunnen, die kultu-
rell und blutsmäßig diesen Namen verdie-
nen. „Hunnen“, das sind ganz einfach die
Leute im Reich des Hunnenkönigs, sein
„Volk“, auch die blutsmäßig, kulturell und
sprachlich ganz anders gearteten Hinter-
wäldler.
Ähnlich wird es auch bei den Alanen ge-
wesen sein. Die Zahl (30 000), die A. für
diese (und die Hunnen) angibt, ist noch in
anderer Hinsicht interessant. Er spricht den
Raum zwischen den Unterläufen von Wolga
und Don und dem Kaukasus gewissermaßen
als Bereitstellungsraum nomadischer Völker
vor dem Einbruch nach Westen an und sagt,
er sei immer randvoll gewesen. Das ist bei
diesen Zahlen in Anbetracht seiner Größe
und Fruchtbarkeit kaum zu verstehen. Viel-
leicht erklärt sich seine Vorstellung aus der
Quellenlage: Es war — wie auch Altheims
anderer „Bereitstellungsraum“, das südöst-
liche Turan — ein Gebiet, das noch im Blick-
feld der südlich benachbarten Hochkulturen
stand, im Gegensatz zur Kirgisensteppe und
dem übrigen innerasiatischen Gebiet. Man
könnte seine Meinung aber auch von einem
anderen Gesichtspunkt her begreifen: der
Südosten und Osten dieses Gebiets ist dürrste
Steppe. Hier wirkt sich der für vollaride
Gebiete so bezeichnende sprunghafte Wech-
sel der jährlichen Niederschlagsmenge dem-
gemäß besonders kraß aus. „Klimastürze“
spielen dann in der Darstellung von A. tat-
sächlich eine bedeutende Rolle, wenn es darum
geht, Ursachen für Nomadenwanderungen
herauszuarbeiten. A. stellt eine Liste der
neuerdings erarbeiteten Hungerjahre in der
fraglichen Zeit zusammen. Seine Daten fal-
len nur zum Teil mit großen Nomadenwan-
derungen zusammen. Man sollte aber bei die-
sem Problem berücksichtigen, daß Dürre-
jahre keineswegs weltweit oder auch nur
kontinentweit aufzutreten brauchen — wir
haben das ja in den letzten Jahrzehnten er-
lebt. H. v. Wissmann hat in einigen (von
A. an anderer Stelle zitierten) Arbeiten diese
Zusammenhänge dargestellt. Sie sind weit
komplizierter als es auf den ersten Blick er-
scheint. Immerhin ist natürlich zuzugeben,
daß klimatische Ungunst im Steppenbereich
Unruhe erzeugt oder doch erzeugen kann.
Andererseits sollte man aber auch bedenken,
daß größere Wanderungen und Kriegszüge
nur mit gesunden, kräftigen, also gut gefüt-
terten Tieren möglich sind — nicht mit dür-
Buchbesprechungen
191
ren Kleppern oder mit völlig ausgepumptem
Weidevieh.
Zum anderen sind Klimastürze bei weitem
nicht die einzig mögliche und effektive Ur-
sache für Nomadenwanderungen. Im Trok-
kengürtel ist der Mensch viel stärker als in
humiden Zonen vom Klima abhängig —
aber die historische Entwicklung ist nicht
einfach ein Produkt des Klimas. Anthropo-
gene Faktoren überwiegen bei weitem, wie
man in allen Nomadenchroniken sieht. Da-
her ist auch Altheims Bemühung, die Noma-
denwanderungen um und nach 300 n. Chr.
Geb. im nördlichen Stcppengürtel Eurasiens,
im arabischen Raum und in Nordafrika als
eine einzige, klimabedingte Welle herauszu-
stellen, mit großer Skepsis aufzunehmen (I,
106). Er selbst zeigt, wie wichtig das Auf-
kommen des Beduinentums und des Drome-
darreitens (besonders im Krieg) für die Aus-
breitung der Araber war. H. v. Wissmann
hat (a. a. O. und im Artikel „badw“ der
Realenzyklopädie des Islam, neue Auflage)
fast dieselben Gedanken ausgesprochen. Si-
cher haben beide Autoren recht. Im übrigen
ist der breit angelegte Exkurs über Ara-
bien und Nordafrika auch für den Ethno-
logen von großer Bedeutung, soll aber hier
nicht diskutiert werden.
Die Vorstellung von der extremen Abhän-
gigkeit vom, ja geradezu Bedingtheit des
Nomaden durch das Klima (kein Geograph
würde sie so scharf formulieren) zeigt sich
auch in einer Feststellung (I, 105), die sich
auf die Nomadengeschichte bezieht. A. sagt,
daß es im Steppengürtel Eurasiens Gebiete
gibt, die ausschließlich weidefähig sind und
fährt fort: „Demzufolge gab es (in Inncr-
asien) von jeher Nomaden.“ Sicher gab es
ein altes Kleintiernomadcntum in Innerasien
schon früh, aber nicht von jeher. Sicher gibt
es Reiternomaden, aber — wie A. wohl weiß
— erst recht nicht von jeher. Hier spukt ge-
wiß das alte Wiener Bild vom Hirtennoma-
den noch herein, besonders das der Hirten-
krieger wird immer wieder beschworen. Als
alte nomadische Züge im Kulturbild der
Hephthaliten nennt A. die Trunksucht, die
Kriegspauke, das ausgeprägte Kriegertum
(II, 271: „nomadisch und daher kriegerisch“)
und das Leben und Denken im Tier, das sich
in Tiervergleichcn und in der Verwendung
von Tiernamen in Personennamen kundtut.
Nun, die alten Germanen waren keine No-
maden und sollen trotzdem getrunken ha-
ben. Die Kriegspauke ist kein spezifisch no-
madisches Instrument, sondern ihr Vorhan-
densein bei manchen Nomaden zweifellos
jeweils historisch bedingt. Soldatentum gab
und gibt es auch bei Nichtnomaden, und es
ist höchst überflüssig, immer wieder das No-
madentum für sein Vorhandensein verant-
wortlich zu machen (zum Glück kann man
es nicht überall). Und schließlich das „Leben
und Denken im Tier“. Wiesner hat diesen
nicht eben glücklichen Terminus geprägt und
seitdem ist er unausrottbar. Nicht daß der
Nomade nicht vorwiegend an seine Tiere
dächte — das ist natürlich. Aber der Tier-
stil (auf den Wiesner die Formulierung vor
allem bezog) ist nicht spezifisch nomadisch,
sondern in der hier betrachteten Form an
eine bestimmte, historisch gewordene Kultur
gebunden, mit der er unterging (s. o.!). Tier-
namen und Tiervergleiche indessen gibt es
auch in nichtnomadischen Kulturen in Hülle
und Fülle, auch im Deutschen. Man sehe nur
etwa den Bayern oder Schwaben aufs Maul!
A. nennt neben den Tiernamen noch mit
„Wasser“ oder „Fluß“ zusammengesetzte
Namen für die Iranier bezeichnend. Chine-
sische Quellen über Iranier in Innerasien zei-
gen immer wieder einen Mythenkomplex
auf, der um Wasser (Quelle, Fluß) Hirsch
und Pferd kreist (vgl. Eberhards Quellen-
sammlungen!). Dabei tritt das Pferd offen-
sichtlich an die Stelle des älteren Hirsches.
Völlig zu recht hat A. die Pferdemaske aus
einem Pasyrykkurgan dahin gedeutet, daß
das Pferd als Cervide erscheinen solle, einen
solchen ersetze. Wenn sich seine Meinung
bestätigt, es handle sich bei dem dargestell-
ten Cerviden nicht um ein Ren, sondern um
einen Elch, so wären wir in der leidigen
Frage der Rentierzucht um einen guten
Schritt weiter. Sicher hat A. völlig recht
darin, daß ein Cervide — gerne der Elch,
doch dort, wo dieser nicht bekannt war,
konnte es auch eine andere Hirschart sein —
bei den Iraniern dem Pferd vorausgehe, frei-
lich nicht überall als Reittier (der Elch in
dieser Funktion wohl nur In den Wäldern
und Sumpfwäldern des Nordens), aber bei
allen iranischen Völkern offenbar im Mythos,
in der religiösen Wertschätzung.
Die Überlegenheit der Nomadenheere be-
ruhte in früher Zeit auf der Technik des
Bogenkampfes, auf ihrer Disziplin und
Schnelligkeit. Mit den ersten Eisenwaffen
breitete sich das frühe Relternomadentum
über die Steppe Asiens aus. Mit den ersten
Stahlwaffen war es, waren die Hunnen den
europäischen Heeren jener Zeit überlegen.
Bogen, Langschwert und Langsax (dieser aus
Ostasien) waren ihre Waffen, die letzteren
jetzt aus gutem Stahl. Eisen und Stahl
stammten jeweils aus dem Süden, waren von
Hochkulturvölkern entwickelt worden. An
deren Waffentechnik lehnten sich auch in der
Hunnenzelt die Steppenkrieger mehr und
mehr an: Panzer, Lanze und Schwert wur-
den im ritterlichen Kampf selbstverständlich.
Doch erscheint das ganz verschiedene Tempo
dieses Übergangs von der alten zu der neuen
Waffentechnik und Kampfesweise bei Heph-
thaliten und Hunnen recht auffällig und es
drängt sich die Frage auf, ob denn die Heph-
thaliten überhaupt jemals Bogenschützen ge-
wesen seien, ob ihre nomadische Vergangen-
heit gesichert sei.
Für A. sind Hephthaliten und Hunnen
zwei Zweige eines Baumes, der letztlich am
Chingan wuchs (wenn seine Hun-These kon-
sequent weitergedacht wird). Beide Völker
können dann eigentlich keine Türken gewe-
sen sein. Warum aber legt A. so großen Wert
auf das Nomadentum der Hephthaliten und
auf diese Sprachzugehörigkeit? Er erarbeitet
eine frühe Hunnengruppe südlich des Asow-
schen Meeres, legt ihr aber (obwohl sie im-
merhin in der Lage gewesen sein soll, in der
Zeit um 300 n. Chr. Geb., das spätere tür-
kische Runenalphabet aus dem armazischen
— einer Variante des aramäischen — und
dem damaligen persischen Alphabet zu ent-
wickeln und zu tradieren) für die spätere
Entwicklung keine größere Bedeutung zu.
Sie sitzen nämlich zu früh im Westen, gleich
um zwei Jahrhunderte zu früh. Altheims
„Urhunnen“ (der Ausdruck stammt nicht
von ihm), die Hun oder Hu oder xwn, wer-
den um 300 nach Chr. Geb. als Randvolk
Chinas genannt, sitzen damals in der Mon-
golei. Erst um 375 n. Chr. Geb. brechen die
Hunnen aus ihrem westlichen Bereitstellungs-
raum gegen Europa auf. Also können die
alten westlichen Hunnen nur eine Vorhut
sein. Weil aber aus Namensgründen nur die
Hun oder Hu, nicht aber die Hsiungnu als
eigentliche Hunnenvorfahren in Frage kom-
men, konstruiert er eine quellenmäßig nir-
gends belegte Wanderung dieses Volkes von
der Ostmongolei nach Südrußland (während
er die Hsiungnu-Wanderung, da quellenmä-
ßig nicht belegt, vom Turan nach demselben
Gebiet ablehnt, vgl. I, 21). Für diese postu-
lierte Wanderung gilt es Belege zu finden
in Form von Zwischengliedern. A. findet
ein solches in den Hephthaliten und deren
„Verwandten“ im zweiten großen Bereit-
stellungsraum von Nomaden, im Turan. Dies
zeigt seine Darstellung (I, 30) in aller Deut-
lichkeit.
Ob sich diese Thesen halten lassen, muß
der Fortgang der Forschung zeigen. Sehen
wir ab von dieser Frage — freilich einer
Kernfrage —, so ist jedoch festzustellen, daß
K. Jettmars Formulierung (in seiner feinen
Besprechung von J. Werners Arbeit „Beiträge
zur Archäologie des Attilareiches“, Germa-
nia 35, 367) bezüglich Altheims „Bemerkun-
gen“ nicht mehr zutreffen kann. Auch hier
geht der Weg weiter, nicht nur auf den Ge-
leisen der Archäologie. A. hat — zusammen
mit seinen Mitarbeitern — so viele und
schöne Ergebnisse vorgelegt, daß wir ihm
aufrichtig dankbar sein müssen. Die philolo-
gisch-historische Methode hat sich neben der
archäologischen als durchaus fruchtbar er-
wiesen. Zu beiden muß nun aber unbedingt
die historisch-ethnologische treten. Von allen
drei Wissenschaften ist noch unendlich viel zu
tun — von uns vielleicht am meisten.
F. Kussmaul
J. HUMLUM:
La géographie de 1’Afghanistan. Etude
d’un pays aride avec des chapitres de M.
Koie et K. Ferdinand. Kopenhagen: Gyl-
dendal Verlag 1939. 421 p., mit einer ge-
sondert gebundenen Karte der Oase Pir-
zada. DM 196.—.
Wenn man die vorliegende Arbeit mit den
landeskundlichen Darstellungen Oskar von
Niedermayers (in Klutes Handbuch) oder
Emil Trinklers (In Petermanns Mitteilungen,
Ergänzungsheft 196) vergleicht, wird jedem
augenfällig, wieviel seit der Mitte der drei-
ßiger Jahre in Afghanistan geographisch ge-
arbeitet worden ist: Humlum konnte wirk-
lich eine Landeskunde schreiben. Aber bei
der Lektüre sieht man auch, wieviel noch zu
tun ist, und zwar auf jedem Teilgebiet der
Geographie und der benachbarten Wissen-
schaften. H. sagt das schon im Vorwort mit
aller Deutlichkeit.
In der Tat stand der Verfasser vor keiner
kleinen Aufgabe: Die zur Verfügung stehen-
Buchbesprechungen
193
den Karten sind dürftig, die statistischen und
wissenschaftlichen Daten außerordentlich lük-
kenhaft. Hier kam dem Autor seine eigene
Erfahrung und die der dänischen Expedi-
tionen der letzten 15 Jahre sehr zustatten.
Die meisten der 148 (!) Abbildungen stam-
men aus diesem Reservoir. H. legt 57 Kar-
ten vor, die fast alle Bereiche der Geographie
umfassen (geologische Karte und Völkerkarte
fehlen freilich noch), meist eigens für die
vorliegende Arbeit entworfen. 59 Tabellen
und 27 Diagramme — für viele davon gilt
ebenso die Autorschaft von H.! — unter-
stützen die ungemein präzise und knappe
Darstellung, die das ganze Werk kenn-
zeichnet.
Im Gegensatz zu den meisten deutschen
länderkundlichen Monographien besitzt die
vorliegende keinen speziellen Teil (keine ge-
schlossenen Darstellungen der Einzelland-
schaften), wenn auch der Autor Ansätze dazu
macht (etwa in der kurzen Schilderung der
Einzellandschaften und ihrer Städte in den
Kapiteln X und XII). Das ist sicher zu be-
dauern, ist aber wohl in der mißlichen Quel-
lenlage begründet. So treten die Einzelland-
schaften weniger, als man es sonst gewohnt
ist, als eigenständige geographische „Persön-
lichkeiten“ in Erscheinung. Ohne Frage wird
die Benutzung des Werkes dadurch erschwert
— ein Mangel, der durch das gute Register
und den reichen Anhang nicht behoben wer-
den kann, weil in diesem Zusammenhang zu
berücksichtigen ist, daß Afghanistan in unse-
ren Atlanten meist recht stiefmütterlich be-
handelt wird und auch von dieser Seite her
eine rasche Orientierung kaum möglich ist.
Sicher hätte — zumal bei der hervorragen-
den Ausstattung des ganzen Werkes — die
Beigabe einer guten Karte oder guter Karten
der einzelnen von H. herausgearbeiteten Na-
turräume und Provinzen hier wciterhelfen
können. Es ist zu hoffen, daß dies bei einer
Neuauflage geschieht.
Diesen sicher größtenteils in der Quellen-
lage bedingten Nachteilen stehen aber vor
allem für den Anthropogeographen und Eth-
nologen eine große Zahl von Vorzügen der
Humlumschen Arbeit gegenüber. Trotz noch
ungünstigerer Ausgangsposition als in der
Physiogeographie legt der Autor im breit
angelegten anthropogeographischen Teil sei-
ner Arbeit (290 Seiten gegenüber 59 des phy-
siogeographischen Teils) eine solche Fülle
von Material der verschiedensten Art vor,
daß seine Monographie über das Handbuch
hinaus zu einem Quellenwerk von hohem
Rang wird, auch für den Ethnologen. Was
er in den Kapiteln „Le Population“, „Types
d’Agglomération et d’Habitation“, „L'Agri-
culture et les Plantes cultivées“, „LTrriga-
tion“, „Elevage“, „Les Arts et Manufactu-
res“ an Einzeldaten und in Karten mitteilt,
ist viel mehr als nur eine gute Komplikation.
Daß darüber hinaus die gesamte Landwirt-
schaft einer Oase mit all ihren Problemen
vorgeführt wird (am Beispiel von Pirzada,
von dem der Arbeit eine ausgezeichnete
Karte beigegeben ist), daß H. bei seiner
Schilderung des Hilmend-Projekts auch (und
sehr eingehend) die dabei auftretenden so-
ziologischen Fragen untersucht, daß er vor
allem in seinem Kapitel „Outils agricoles“
selbst ergologischen Fakten Gehör schenkt,
das ist für eine Landeskunde durchaus nicht
selbstverständlich und von unserer Seite dem
Autor besonders zu danken.
M. Koie hat ein Kapitel über die Vegeta-
tion beigesteuert, K. Ferdinand ein anderes
über die Nomaden Afghanistans. Dieses ist
unser aller Aufmerksamkeit wert. F. gliedert
diese Bevölkerung in drei räumlich und kul-
turell verschiedene Teile, die Nomaden im
Osten, die im Süden und Westen und die im
Norden und Nordosten. Innerhalb der Ost-
gruppe unterteilt er „Nomades locaux“, Ge-
birgsnomaden mit Winterseßhaftigkeit und
Sommerweiden in eng benachbartem Gebiet;
„Semi-Nomades moissonneurs“, Gruppen die
für die Ansässigen als Erntearbeiter dienen;
„Nomades purs“, die in ziemlich enger Sym-
biose mit den Bauern leben; „Nomades mar-
chands“, die neben der Viehzucht noch einen
schwungvollen Handel betreiben. Die Stäm-
me im Süden und Westen Afghanistans glie-
dert er in Halbnomaden und reine Noma-
den. Bei beiden zeigt er, wie stark die Gege-
benheiten des Raumes auf die Entwicklung
der Kultur cinwirken. Über die Gruppen
im Norden und Nordosten Afghanistans
macht F. keine Angaben; sie sind heute noch
weitgehend unbekannt.
Dieses „ignoramus“ durchzieht die ganze
Arbeit. Noch auf den meisten Gebieten, an-
gefangen bei der Bevölkerungszahl, ist man
auf — oft sehr rohe — Schätzungen und
mehr oder weniger begründete Mutmaßun-
gen angewiesen. Das gilt auch in Hinsicht
auf die Völkerkunde. Und doch zeigt die
Arbeit auch, wie rasch sich Afghanistan heute
14
194
Buchbesprechungen
verändert, mit welcher Intensität es sich be-
müht, Anschluß an die westliche Zivilisation
und deren Lebensstandard zu finden. Das
sollte ein Grund mehr sein, die Völkerkunde
Afghanistans rasch voranzutreiben. Hum-
lums schöne Arbeit ist in hohem Maße ge-
eignet, hierfür als notwendige geographische
Basis zu dienen.
F. Kussmaul
/. IV. H. WEYGANDT:
Kapälam. Über den Ursprung des vedischen
Voropfers. Eine indologisch-ethnologische
Studie. Selbstverlag Gütersloh/Westfälen,
Parkstr. 4. 1957; geh. DM 8.— (Orienta-
lische Abhandlungen IV).
Die Tötung eines göttlichen Wesens in der
Urzeit, die Entstehung der Nutzpflanzen aus
seinem Leichnam, die Beziehung der getöteten
Gottheit zum Mond und die kultische Nach-
vollziehung dieser ersten Tötung im Opfer,
bei der Reifezeremonie oder durch die Kopf-
jagd: das sind die zentralen Vorstellungen,
die das Weltbild der frühen Pflanzer bestim-
men. Angeregt durch dieses Forschungsergeb-
nis Ad. E. Jensens (Das religiöse Weltbild
einer frühen Kultur, Stuttgart 1948) unter-
nimmt es der Verfasser, nach Spuren dieses
Mythologems und nach hierhergehörigen
Opferbräuchen in den altindischen, vedischen
Ritualtexten zu forschen.
Folgendes Material, das in diesen Zusam-
menhang zu gehören scheint, legt er vor:
1. Bei der „Purodäsa“ (Voropfer) genann-
ten Zeremonie, wird Reis (oder Gerste) mit
Wasser vermengt, zu einer Kugel geballt, auf
einem Holzschwert zu einem Opferfeuer ge-
bracht, dort halbgar gekocht, dann auf einer
kreisrunden Schale (kapäla-), die aus (ur-
sprünglich) acht irdenen Scherben zusammen-
gesetzt ist, gebacken, wobei noch brennende
Gräser daraufgelegt werden. Dann wird der
Kuchen mit flüssiger Butter gesalbt und bis
zu seiner Aufteilung in einem anderen Gefäß
verwahrt.
Die Opfertheoretiker identifizieren kapäla-
mit der Hirnschale mit ihren acht Haupt-
knochen, den Kuchen mit dem Hirn, die
daraufgelcgten Gräser mit den Haaren. An
anderen Stellen werden kapäla- und die Erde
gl eich gesetzt.
Der Rciskloß des Voropfers wird wieder-
holt „Haupt des Makha“ genannt. In einem
Text wird von der Tötung des Makha durch
die Götter erzählt, bei der der Glanz seines
Lächelns entwich und in die Pflanzen gelegt
wurde, wodurch die Hirse entstand.
Das Ausgießen des Wassers, in dem die
Teigschüssel gespült wurde, geschieht mit
einem Spruch, der anscheinend eine Schuld
(Brahmanenmord?) sühnen soll.
2. Bei einem anderen Opfer (agnicayana-),
bei dem u. a. der Kopf eines Menschen als
Bauopfer für die Schichtung des Feueraltars
niedergelegt wird, kann der Kopf des Men-
schen durch einen goldenen oder irdenen Kopf
ersetzt werden; oder es kann der Menschen-
kopf für 21 Bohnen gekauft werden, die dann
die Stelle des Kopfes bei der Leiche vertreten.
3. Die Tötung zweier Asuras (Dämonen)
durch Indra und die Entstehung zweier (im
übrigen unbedeutender) Pflanzenarten aus
ihren Köpfen ist Bestandteil einer anderen,
in vielen Einzelzügen sehr dunklen Mythe.
Ich bin völlig überzeugt, daß wenigstens
die hier unter 1. und 3. kurz referierten Aus-
sagen letztlich in irgendeiner Weise zu dem
von Jensen aufgedeckten Weltbild in Bezie-
hung stehen.
Die Wirtschaftsgrundlage der vedischen In-
der war allerdings die Viehzucht, neben wel-
cher der Ackerbau eine durchaus untergeord-
nete Rolle spielte. Die Schaffung der Nutz-
pflanzen kann deshalb auch nicht als das ein-
schneidende Ereignis erscheinen, das die Ur-
zeit beendete — und wirklich sind die Be-
ziehungen von Kopf und Pflanze (gemes-
sen an der ungeheuren Stoffmasse der Ritual-
texte) nur in ganz schwachen Andeutungen zu
greifen.
Sehr skeptisch bin ich gegenüber der Ansicht
des Verfassers, daß die hier aufgezeigten
Vorstellungen aus dem nichtarischen, auto-
chthonen Substrat stammen könnten. Dagegen
spricht vor allem die Esoterik der Ritual-
texte und ihre strenge Bewahrung in den
brahmanischen Kreisen. Wenn wir in dem um
vieles älteren Rigveda auf weite Strecken
parallele Aussagen nicht finden, so ist das
kein Beweis für spätere Rezeption. Wir müs-
sen uns vor Augen halten, daß der Rigveda
offensichtlich bestimmte Bereiche des Mythos
und Kultus ausgeklammert hat.
Wäre nicht auch denkbar, daß der Mythos
von der Köpfung eines Dämonen altes Erbgut
ist und wir hier eines der Elemente haben,
aus denen der in Rede stehende pflanzerische
Mythos erst geschaffen wurde?
Eine besondere Schwierigkeit bei der Aus-
wertung der vedischen Ritualtexte liegt darin,
daß wir oft nicht zwischen altüberlieferten
Mythen und theologischer Spekulation unter-
scheiden können. Die theologische Spekulation
und die mystische Ausdeutung, die folgerich-
tig ein kompliziertes, jeweils in sich schlüssiges
Gedankensystem aufbaut, sind das Anliegen
der Verfasser. Wenn wir ihnen folgen — und
zunächst müssen wir ihnen folgen —, gewin-
nen wir sinnvolle Zusammenhänge, die aber
in dieser Form meist ganz jung sind und nicht
dem alten Sinn der ausgedeuteten Opfcrhand-
lungen oder Opfersprüche zu entsprechen
brauchen.
Weygandt hat keineswegs alle Mittel der
Philologie eingesetzt, um sich hier eine mög-
lichst sichere Basis zu schaffen. Auch manche
andere Unebenheiten in der äußeren und in-
neren Form werden nicht das Vertrauen der
Indologen wecken und so die Wirkung dieser
in den Grundgedanken wertvollen Studie
wesentlich beeinträchtigen.
B. Schlerath
ANTOINETTE K. GORDON:
The Iconography of Tihetan Lamaism
(Revised Edition), Vermont & Tokyo: Rut-
land 1959. XXXI, 131 S.
Eine methodische Ikonographie müßte
außer Beschreibung und Klassifizierung der
Ikonen die Erforschung des Sinngehaltes aller
Einzelheiten und ihrer ikonographischen Ent-
wicklung vor dem Hintergrund der zugehöri-
gen Vorstellungswelt zum Ziele haben. Dabei
hätte sie auch die für Fragen der Entwicklung
aufschlußreichen stilgeschichtlichen Gesichts-
punkte ins Auge zu fassen. Aus der Deutung
der Symbolik und aus einer Kenntnis der
rcligionsgeschichtlichen und kunsthistorischen
Entwicklung des Typenschatzes läßt sich eine
Ikonographie gewinnen, die eine sinngerechte
Beschreibung der einzelnen Bildwerke ent-
hält und damit eine Quelle religionsgeschicht-
licher Erkenntnisse darstellt. Hier hat die
christliche Ikonographie des Abendlandes
Vorbildliches geleistet, während wir in der
Tibetologie bisher kaum über wenige Einzel-
untersuchungen hinausgekommen sind. Das
liegt aber an dem unvergleichlich komplexen
Charakter der lamaistischen Ikonographie
und an den Ausmaßen des von ihr eingenom-
menen Raumes. Ehe eine befriedigende syste-
matische Darstellung des lamaistischen Bild-
materials unternommen werden kann, wird
man dieses erst noch weiter sammeln, immer
neu mit den literarischen Quellen bzw. mit
der Sektengeschichte des Lamaismus beleuch-
ten und mit anderen ikonographischen Äuße-
rungen, z. B. in den religiösen Maskenspielen,
vergleichen bzw. ergänzen müssen, um nur
einen Ausschnitt aus der Arbeit zu skizzieren,
die hier zu leisten wäre. Von daher ist aber
zugleich jede Veröffentlichung auf dem Ge-
biete der lamaistischen Ikonographie, die uns
unbekannte Ikonen oder Varianten der be-
reits bekannten zugänglich macht, unvorein-
genommen zu begrüßen, auch wenn ihr streng
genommen der Charakter einer Ikonographie
noch nicht zugesprochen werden kann, vor
allem, wenn etwas von dem Reichtum priva-
ter oder öffentlicher Sammlungen, nicht zu-
letzt aber der Museumsmagazine, erschlossen
wird.
Es sei gestattet, aus der Fülle der Auf-
gaben, die dem Ikonographen des Lamaismus
angesichts des vorliegenden Materials gestellt
sind, hier nur zwei Beispiele herauszugreifen.
Ihre genauere Umschreibung muß bei der völ-
lig isolierten Situation des Rezensenten nur
skizzenhaft bleiben. Die eine bewegt sich um
die Frage nach dem Sinngehalt der Gesten
(skr.: Mudrä), Sitzweisen (skr.: Äsana) und
der Attribute der Gottheiten. Hier hat neuer-
dings für den japanischen und damit auch für
den chinesischen Buddhismus E. Dale Saun-
ders (Mudrä, New York 1960, 296 S.) eine
ganz vortreffliche Arbeit geliefert. In der
lamaistischen Ikonographie ist jedoch der ent-
sprechende Fragenkomplex wesentlich kom-
plizierter, da mit und neben dem tantristi-
schen Unterstrom Elemente eingekommen
sind, die uns längst noch nicht alle genau
bekannt sind. Man kann in Tibet nicht nur
mit einer Deutung vom indischen Tantrismus
her (bzw. vom Vajrayäna und Shaktismus)
auskommen, wenn der Sinn erfaßt wTerden
soll, der den Attributen besonders bei den
älteren, nicht-rcformierten Schulen beigelegt
wurde und vielleicht auch noch wird, obwohl
man dieser irrtümlichen Meinung immer wie-
der begegnet. Z. T. stoßen wir auf vor-
buddhistische, z. T. auf archaische Schichten
einer Vorstellungswelt aus früh- und proto-
tibetischer Zeit. Ich erinnere nur an das Attri-
but des Ambosses oder noch mehr an die
Symbolik des Pfeiles in der lamaistischen
Ikonographie. Ob wir hier bald oder über-
Buchbespr schlingen
195
■ ■■
196
Buchbesprechungen
haupt jemals ganz den Schleier lüften werden,
ist sehr fraglich, zumal die Attribute z. T.
einen Bedeutungswandel erkennen lassen, z.
T. sich in einem höchst schillernden Sinngehalt
jedem Zugriff entziehen. In meiner Arbeit
„Lamaistische Studien“ (Leipzig 1950) habe
ich für einige lamaistische Gottheiten und
deren Attribute ergänzende Deutungsver-
suche zu den allgemein üblichen vorgeschla-
gen, z. B. für den ganzen Bereich der Gefäß-
symbolik (vgl. auch meine „Geheimnisse tibe-
tischer Malereien“, Leipzig 1949). Dabei sind
aber die erwogenen tiefenpsychologischen Ge-
sichtspunkte nur wieder ein Versuch, lediglich
Zugänge zum Verständnis zu erschließen, ohne
diesen Ausschließlichkeitscharakter zuzuspre-
chen. Es ist aber angesichts allgemeinmensch-
licher Ausdrucksformen nicht zulässig, der tie-
fenpsychologischen Methode jede Berechtigung
abzusprechen. Mit dem bloßen, aber so gern
ins Feld geführten Hinweis auf das fremd-
artige Wesen des Lamaismus würde es sich die
Forschung viel zu leicht machen. Die Frage,
wo wir in der lamaistischen Ikonographie
allgemeinmenschlichen Ausdrucksformen be-
gegnen, wird vielleicht nach mühevoller Ar-
beit und unter der Gefahr möglicher Fehler
nach und nach beantwortet werden können.
Es ist dabei auch an das noch nicht ganz ge-
löste, hochinteressante Problem der Körper-
farbe sowie der Farbe der Gloriolen bzw.
der Aureolen zu denken, da uns hier gerade
einige ikonographische Körperfarben der
Gottheiten eindeutige Beweise für allgemein-
gültige psychologische Werte und damit wich-
tige Ansatzpunkte für die weitere Behandlung
des Problems liefern (vgl. S. Hummel, Die
lamaistischen Miniaturen im Linden-Museum,
in; Tribus 8, Stuttgart 1959).
Ein anderes, sehr schwieriges Problem bie-
ten Ursprung und Funktion der Ikonen und
deren Zusammenhang mit religiösen Prakti-
ken, z. B. mit den verschiedenen Arten von
Yoga (vgl. S. Hummel, Die lamaistischen
Tempelfahnen u. ihre Beziehung zum Yoga,
in: Tribus, Stuttgart 1953). Während die Be-
ziehung zum Raja-Yoga einigermaßen durch-
sichtig ist, gehen die Ansichten in der Frage,
ob es im Lamaismus einen Bhakti- (tib.: Dam-
tshig) Yoga gibt, weit auseinander. Verschie-
dene Forscher (so A. David-Neel, Meister u.
Schüler, Leipzig 1934, S. 38 f.) verneinen,
daß die reine Bhakti-Idee der liebend-ver-
trauenden Hingabe an die Gottheit, wie sie
von Indien her bekannt ist (vgl. J. W. Hauer,
Der Yoga, Stuttgart 1938, Sachweiser), im
Lamaismus zu finden sei. Dabei kann natür-
lich bezweifelt werden, daß wir den Lamais-
mus überhaupt genügend kennen. Nach A.
Govinda (Grundlagen tibetischer Mystik,
Zürich 1957, S. 118) spielt Dam-tshig als „Ver-
bunden-sein durch die Kraft liebender Hin-
gabe, durch die der Meditierende sich mit . . .
dem Gegenstand seiner Devotionspraxis ...
identifiziert . . . im religiösen Leben Tibets
eine geradezu zentrale Rolle“, allerdings un-
ter dem Siegel der Verschwiegenheit aller
Eingeweihten. Da Beziehungen zwischen
Bhakti und der Shakti-Erotik des Tantrismus
schon an sich naheliegen, dürfte es lohnens-
wert sein, den Veränderungen nachzugehen,
die in der 2. Hälfte des 1. nachchristlichen
Jahrtausends der Sinngehalt des Bhakti-Be-
griffes durch den Tantrismus erlebte, zum
andern aber auch den Einflüssen eines solchen
Bhakti-Yoga auf den Buddhismus und auf
den Lamaismus (zur Bhakti-Richtung im
Spätbuddhismus vgl. J. W. Hauer, 1. c., S.
260; zum tantristischen Bhakti-Yoga vgl. H.
Zimmer, Kunstform und Yoga, Berlin 1926,
S. 171 —174). Zumindest ist dieser tantristisch
veränderte Yoga, der nicht nur mit Bildern
der Minne umschrieben wird, sondern in dem
sich der Mystiker in der Rolle des Liebenden-
Geliebten weiß, im Lamaismus unübersehbar.
In diesem Sinne sind auch meine Ausführun-
gen „Shaktistisches im Lamaismus der Tibe-
ter“ (in: Sinologica, Vol. V, 4, Basel 1958) zu
verstehen. Sicherlich darf man einige Bild-
werke mit Gottheiten in Vajramudrä bzw. im
Mahäsukha-Zustand liebender Vereinigung
als Meditationshilfen in diesem Sinne be-
trachten, wenigstens bedient sich der Lama
mit ihnen einer Symbolik, in der zweifellos
Bhakti in tantristischer Auffassung eine Rolle
spielt. Eine Art Bhakti-Verhältnis besteht
bekanntermaßen auch zur Schutzgöttin von
Tibet, der Dam-tshig-sgrol-ma, der „Verkör-
perung der gläubigen Hingabe“ (vgl. A. Go-
vinda, 1. c., S. 118).
Da die Verfasserin mit der Neuauflage
ihrer Veröffentlichung vom Jahre 1939 of-
fensichtlich nicht den Zweck einer systemati-
schen Ikonographie im strengen Sinne des
Wortes verfolgt, können und sollen unsere
grundsätzlichen Bemerkungen auch nicht als
Maßstab einer Kritik betrachtet werden.
Eine mehr auf die ikonographischen Auf-
gaben des Buches ausgerichtete Darstellung
des Lamaismus in der einleitenden Skizze
Buchbesprechungen
(S. 3—7), eine sorgfältigere Ergänzung der
bibliographischen Angaben in der vorliegen-
den 2. Auflage und einige kurze Hinweise
auf Geschichte und Sinngehalt der Angehöri-
gen des Pantheons bzw. ihrer Gruppen wären
jedoch angebracht gewesen. Ferner kann eine
Ikonographie nicht an den Problemen der
buddhistischen Ikonometrie (skr. Tälamätra)
vorübergehen; vgl. hierzu die wertvollen
Ausführungen und Hinweise in P. H. Pott,
Introduction to the Tibetan Collection of the
Nat. Museum of Ethnology, Leiden 1951,
S. 44 und die Abbildungen in A. Gordon,
Tibetan Religious Art, New York 1952, S. 51,
ferner G. Tucci, A Tibetan Classification of
Buddhist Images (in: Artibus Asiae, Vol.
XXII, 1—2). Daß in dem Rahmen des vor-
liegenden Buches nicht alle Gottheiten auf-
geführt werden können, die uns bekannt sind,
ist verständlich. Die Medizin-Buddhas und
besonders die Fünfunddreißig Buddhas der
Mühe um Sündenvergebung hätten aber unter
Benutzung beispielsweise der im 18. Jh. in
Peking erschienenen diesbez. ikonographischen
Arbeiten ausführlicher behandelt werden kön-
nen. Die in den gleichen chinesischen Veröf-
fentlichungen dargestellte berühmte Gruppe
der Einundzwanzig Täras fehlt leider ganz
(vgl. S. Hummel, Lamaistische Studien, Kap.
V, VII u. VIII mit den entsprechenden Lite-
raturangaben). Die Erklärung der Mandalas
(S. 27) ist bei der weitreichenden und viel-
seitigen, insbesondere aber esoterischen Be-
deutung dieser Diagramme im Lamaismus un-
zureichend. Die Ordnung der Dhyänibuddhas
und ihrer Emanationen in Weltzyklen als
generelles und dominierendes Ordnungs-
schema für diese Angehörigen des Pantheons
(S. 31) ist nicht empfehlenswert, da dieses
nicht im Vordergrund der auf die Dhyäni-
buddhas und ihre Bodhisattvas gerichteten Be-
sinnung steht (vgl. zu den Dhyänibuddhas u.
ihren Bodhisattvas bes. A. Govinda, 1. c.,
Register, S. 338). Die auf S. 53 u. 54 gegebe-
nen Schemata sollten lieber (aber ohne Bhai-
shajyaguru) kombiniert und entsprediend er-
gänzt werden. Hier gibt A. Grünwedel, My-
thologie des Buddhismus, Leipzig 1900, S.
110—112, die bessere Information.
Selten vorkommende und darum den Wert
des Buches erhöhende Darstellungen sind
Mahämäyuri auf dem Pfau (neben S. 74), die
Däkinis neben S. 81 (davon ist auf S. 81,
linke Spalte unten, die Lämädäkini bespro-
chen, ohne besonders genannt zu sein), die
noch ungedeutete Gottheit neben S. 93 rechts
oben (vgl. auch Abb. neben S. 108 rechts
unten; hierzu A. Getty, The Gods of Nor-
thern Buddhism, 2. Aufl. Oxford 1928, Tafel
XLIX) und die Gottheiten aus dem Bar-do
neben S. 101 (die Wang-chügma auf S. 38 u.
101 korrekt dBang-phyug-ma geschrieben).
Abbildungen von Bar-do-Gottheiten zeigen
auch W. Y. Evans-Wentz, The Tibetan Book
of the Dead, 3. Aufl. London 1957, neben
S. 136, u. P. H. Pott, De „Ars Moriendi“ van
Tibet (in: Phoenix, Vol. I, 9, Amsterdam
1946). Auf der Abb. neben S. 94 rechts unten
sind wie auf Abb. neben S. 61 rechts unten
die Attribute leider nicht einwandfrei zu er-
kennen, weswegen die vorgeschlagene Deu-
tung mit Vorbehalt hinzunehmen ist (vgl. zu
Gottheiten wie Abb. neben S. 94 R. de Ne-
besky-Wojkowitz, Oracles and Demons of
Tibet,’s-Gravenhage 1956, S. 157—159). Was
die soeben gen. Lämädäkini angeht, so ist
gerade diese Gottheit oder wenigstens ihr
Name (tib.: IHa-mo?) ein Beispiel für die
rückwirkende Bedeutung Tibets und des
Himälaya auf die indisch-buddhistische
Ikonographie (vgl. auch M. Eliade, Yoga,
Zürich 1960, S. 352), wie das u. a. auch von
Bhairava gilt (vgl. S. Hummel, Der Hund in
der rel. Vorstellungswelt des Tibeters, in:
Paideuma, Vol. VI, 8). Auch diesem Fragen-
komplex wäre in einer Ikonographie nach-
zugehen.
Bei der erwähnten Einbeziehung der kulti-
schen Tanzmasken in die Ikonographie könn-
ten die verschiedenen Aufgaben des "Cham
(z. B. Erlösungsmysterium, Hinweis auf die
Bar-do-Erlebnisse, Handlung zur Austreibung
der Dämonen des Jahres usw.) der ikonogra-
phischen Sinndeutung einiger Gestalten des
Pantheons zugute kommen.
Studenten, Sammler und Liebhaber tibeti-
scher Ikonen werden die Anleitung zur
Deutung von lamalstischen Gottheiten (S. 39
ff.), ferner auch die Listen der Symbole,
Mudräs, Äsanas und Vähanas (S. 12—26) mit
den in Hinsicht auf ihr Vorkommen zwar
nicht vollständigen, aber für den Anfänger
ausreichenden Angaben sowie die Tabellen
wichtiger ikonographischer Begriffe (S.
XXVII—XXXI) dankbar begrüßen. Eine
Ergänzung des Werkes ist das bereits ge-
nannte Buch der Verfasserin „Tibetan Reli-
gious Art“. Dort verrät allerdings S. 59 oben
rechts die Plastik die Hand eines nepälesi-
schen Künstlers. Das gleiche Bild findet sich
198
Buchbesprechungen
wieder in der Ikonographie neben S. 66
rechts unten (im Register S. XVIII, als tibe-
tisch aufgeführt); vgl. hierzu E. Baktay,
Nepäli, Fémplasztlka A Keletäzsiai Müvé-
szeti Müzeumban (in: Az Iparmüvészeti
Muzeum Évkënyvei, Vol. II, Budapest 1955,
S. 291 ff.). Die Scheidung nepalesischer Ar-
beiten von tibetischen ist nicht immer leicht
(vgl. S. Hummel, Rezension von Lobsiger-
Dellenbach, Népal, in: Artibus Asiae, Vol.
XVII, 3—4, S. 330 f.).
Wenn auch das Werk nicht mit den stren-
gen Maßstäben des Spezialgelehrten gemes-
sen werden darf, so verdient es doch vor al-
lem wegen der zahlreichen Abbildungen eine
wohlwollende Aufnahme auch in der Biblio-
thek des Spezialisten.
S. Hummel
ROBERT JAMES MILLER:
Monasteries and Culture Change in Inner
Mongolia. Wiesbaden 1959, XI und 152 S.
(Asiatische Forschungen, Band 2).
Zu den besonderen Vorzügen des Buches
gehört die große Übersichtlichkeit. So läßt
der Verfasser bereits im Vorwort die The-
menstellung seiner Untersuchung erkennen
und die Richtung, in der die Lösung der an-
geschnittenen Probleme zu finden ist. Die
Bedeutung des Lamaismus in dem Gebiet,
das als Innere Mongolei bis vor kurzem eine
geographische und kulturelle Einheit dar-
stellte (Kap. 1 A), ist, wie gezeigt wird, zu
Unrecht umstritten. Die weit verbreitete Auf-
fassung, der Lamaismus habe das Mongolen-
tum geschwächt, führt den Verfasser zu einer
gründlichen Untersuchung der politischen und
sozialen Verfassung der Mongolei vor allem
um die Mitte des 16. Jahrh., der Zeit der
sogenannten zweiten Bekehrung der Mongo-
len zum Lamaismus (Kap. 1 B). Es zeigt
sich, daß der Lamaismus in völlig korrupte
Verhältnisse, in einen bedrohlichen kulturel-
len Zerfall eintrat, wodurch die Mongolen
eine sichere Beute einer totalen Sinisierung
geworden wären. Zwar vermochte der tibe-
tische Buddhismus nicht, den Einstrom chi-
nesischer Kulturgüter aufzuhalten, aber er
gab diesem ein gesundes Gegengewicht. Indem
er unter Anpassung an das Mongolentum
breiteren Schichten durch die neue klöster-
liche Ordnung den Weg in eine soziale
Hierarchie öffnete, den schöpferischen gei-
stigen Kräften neue Direktiven gab (Kap. 5)
und mit einer in den Klöstern betriebenen,
größeren beruflichen Spezialisierung neue
Elemente in die alte mongolische Ökonomie
einfügte (Kap. 7), stärkte er das Selbstbe-
wußtsein des Volkes. In den diesbezüglichen
Kapiteln werden uns, unterstützt durch über-
sichtliche Tabellen und Statistiken, interes-
sante Einblicke in die geistige Struktur der
Klöster, In ihre ökonomische Organisation
und In die verschiedenen Systeme der Ver-
waltung sowie in die Lehre und Praxis der
Inkarnationen ermöglicht.
Die durch den Lamaismus angeregte,
durchaus selbständige Entwicklung vollzog
sich zwischen einer ständig auf Tibet ausge-
richteten Orientierung und einer durch die
Mandschu mit fester Hand in Peking zen-
tralisierten Verwaltung (Kap. 6 und 8). Die
mit den Klöstern gegebenen geistigen, kultu-
rellen, auch wirtschaftlichen Mittelpunkte,
bis zur Konzentration der Vermögenswerte,
gaben nicht nur dem mongolischen Volk eine
gewisse Stabilität, sondern kamen auch dem
Bedürfnis der chinesischen Regierung ent-
gegen, der stets an einer Übersichtlichkeit
fremder Kraftzentren gelegen war, was auch
in den kartographischen und statistischen
Bestrebungen seinen Ausdruck fand. Der La-
maismus und die Mandschu griffen gleichzei-
tig nach der Mongolei. Man wird dem Ver-
fasser darin Recht geben müssen, daß für die
Mongolen eine Übernahme des Lamaismus
wesentlich nach der Machtergreifung durch
die Mandschu eine konsequente Sinisierung
ihrer Kultur, für die reformierte lamaisti-
sche Kirche in Tibet aber wahrscheinlich das
vollständige Fiasko bedeutet hätte, daß aber
eine noch vor dem Aufstieg der Mandschu
lamaistisch gewordene Mongolei zu einem
von China unabhängigen tibetisch-mongoli-
schen Staat hätte führen können, in dessen
Geschichte dann die chinesischen Herrschafts-
ansprüche bis ins 20. Jahrh. kaum erwäh-
nenswert geblieben wären (Kap. 9).
Diesen grundsätzlichen Erwägungen (Kap.
5—9) sind mit großer Sorgfalt eine klärende
Typologie (mit chinesisch-mongolischer Ter-
minologie), eine Klassifizierung, eine Über-
sicht über die Verbreitung und eine Beschrei-
bung der baulichen Anlage der Klöster in
der Inneren Mongolei vorangeschickt (Kap.
2—4). In die reichhaltige Bibliographie am
Schluß des Buches sind dankenswerterweise
Buchbesprechungen
199
auch die mongolischen, chinesischen, japani-
schen und russischen Quellen einbezogen wor-
den (S. 144—152). Natürlich darf nicht ver-
gessen werden, daß die Darstellungen des
Verfassers zum größten Teil die Vergangen-
heit betreffen. Für die Gegenwart und Zu-
kunft hat das Ergebnis seiner Untersuchun-
gen u. a. darin Gültigkeit, daß eine Sinisie-
rung der Inneren Mongolei am ehesten über
die Trümmer des Lamaismus zum Ziele kom-
men kann. Daß der Lamaismus, wie er vor
allem im Kap. 7 auftritt, seine Macht und
innerhalb der Struktur des Volkes seine ho-
hen Aufgaben sehr bald mißbraucht und da-
mit selbst seine Lebensfähigkeit empfindlich
untergraben hat, das ist seine große Tragik.
Man vergleiche hierzu nur die Abb. 88—90
in W.-K. Herrmann, Ein Ritt für Deutsch-
land, Berlin 1944 (Kloster Kumbum), oder
was Sven Hedin schreibt (Von Peking nach
Moskau, Leipzig, 6. Aufl. 1929, S. 97—100,
Äußere Mongolei).
S. Hummel
WILLIAM P. MALM:
Japanese Music and Musical Instruments.
Rutland, Vermont & Tokio: Charles E.
Tuttle Company, 1959. 299 S. mit Noten-
beispielen und Textillustrationen, 89 photo-
graphische Bildtafeln.
Es gibt eine ganze Anzahl Veröffentlichun-
gen in europäischen Sprachen über Musik und
Instrumente Japans. Einen Überblick über die
vorhandene Literatur vermittelt das Verzeich-
nis des Artikels „Japanische Musik“ in „Mu-
sik in Geschichte und Gegenwart“. Hierbei
handelt es sich aber fast ausschließlich um
Spczialstudien; eine Gesamtdarstellung neue-
ren Datums fehlt. Das Werk, das einen sol-
chen Gesamtüberblick gibt, stammt mit seiner
ersten Auflage Immerhin aus dem Jahre 1893;
die zweite erschien 1909! Es ist dies F. T.
P i g g o 11 s “The Music and Musical In-
struments of Japan“ — bis heute immer noch
die Hauptquelle aller Studien über die japa-
nische Musik. Eine neuere Gesamtdarstellung
wird deshalb dankbar begrüßt werden: ist sic
doch schon längst eine Notwendigkeit gewor-
den.
“Japanese Music and Musical Instruments“
von William P. Malm ist das Ergebnis
eines zweijährigen Studienaufenthalts in Ja-
pan, berücksichtigt die neuesten Forschungs-
ergebnisse (vor allem japanischer Wissen-
schaftler) und gewährt einen faszinierenden
Einblick in eine Kultur, die ihre Eigenart
trotz starker europäisch-amerikanischer Ein-
flüsse bis heute bewahren konnte. Wie wohl
in keinem anderen Land des Ostens hat ja
die westliche Musik in Japan eine breite Basis
gefunden. Zahlreiche japanische Komponisten
haben sich ihr angeschlossen und schreiben in
einem Stil, der sich in keiner Weise vom mo-
dernen europäisch-amerikanischen unterschei-
det. Aber unberührt von allen fremden Ein-
flüssen hat sich auch die eigentliche Musik des
„Landes der aufgehenden Sonne“ erhalten.
Zwischen beiden Musikarten vermittelt eine
dritte (geschaffen von einheimischen Kompo-
nisten), die traditionelles Material in west-
licher Weise verarbeitet. Obgleich auch sie
zum Bild japanischen Musiklebens gehört, be-
handelt Malm ausschließlich die zweite
Gruppe: die traditionelle Musik Japans, ge-
nannt Hogaku.
Nach einem kurzen Überblick über die hi-
storische Entwicklung der japanischen Musik
vom Mittelalter bis in unsere Tage und einer
Darstellung ihrer Grundzüge betrachtet der
Verfasser eingehend die verschiedenen Gat-
tungen, ihre musikalischen Formen und In-
strumente.
In ausgezeichneter, systematischer Dar-
legung, die vielleicht noch ein wenig stärker
durch Musikbeispiele und Analysen unter-
stützt sein dürfte, entwirft Malm ein kla-
res Bild der japanischen Musikkultur. Er be-
ginnt mit der Musik des Shintoismus und des
Buddhismus, ihren Festen und Instrumenten
und weist die enge Verflechtung von Elemen-
ten beider Kulte untereinander und mit allen
Gebieten des Lebens und der Kunst auf. Im
folgenden Kapitel wendet sich der Verfasser
der klassisch gewordenen Hofmusik zu. Der
Anfang dieser als Gagaku bezeichneten Or-
chestermusik im 6./7. Jahrhundert n. Chr. ist
gekennzeichnet durch die Aufnahme koreani-
scher, chinesischer und indischer Musik, die
schließlich japanisiert worden sind. Die Er-
richtung des Amtes für die kaiserliche Hof-
musik im Jahre 701 schuf die Voraussetzung
für eine ununterbrochene Pflege und Bewah-
rung der Tradition innerhalb des Repertoires
dieser Musik, die dadurch Elemente der auf
dem asiatischen Festland längst untergegange-
nen Musikformen enthält. Eine heutige Auf-
führung dieser Musik spiegelt deshalb eine
Tonkunst wider, wie sie wohl vor über tau-
:oo
Buchbesprechungen
send Jahren erklungen ist. Die Gagaku stellt
somit in einzigartiger Weise so etwas wie ein
lebendes Musikmuseum dar.
Höchst instruktiv ist das folgende Kapitel
über das japanische „Gesamtkunstwerk“, das
No-Drama, das lyrische Chordrama. Seine
Geschichte, seine dramatische Struktur, sein
Ensemble (No-Flöte, zwei Sanduhrtrommeln,
eine Faßtrommel und Gesang) werden be-
sprochen. Der Musik des wichtigsten volks-
tümlichen Theaters Japans, des Kabuki, ist
ein weiteres Kapitel Vorbehalten. Malm
untersucht ferner sehr ausführlich Geschichte
und Musik vier der wichtigsten Instrumente:
die Längsflöte Shakuhachi, die Biwa (eine
Lautenart), die 13saltige Wölbbrettzither
Koto und das Shamisen (3saitige Langhals-
laute). Das Koto, das aus der höfischen Tra-
dition hervorgegangen und zu einem Haus-
musikinstrument geworden ist, muß sich heute
— so berichtet der Verfasser — im Kampf
gegen die „Musik aus der Konserve“ genau
so behaupten wie bei uns das Klavier, mit
dem es auch viele gesellschaftliche Funktionen
teilt. Hier wäre es übrigens wünschenswert
gewesen, bei der Angabe der Stimmungen des
Instruments noch eine weitere — Iwato —
mitzuteilen, da sie einer der hauptsächlichsten
Leitern entspricht.
Von allen Instrumenten spielt das Shamisen
die weitaus größte Rolle: als Rückgrat der
Musik des Kabuki-Theaters, als Begleitinstru-
ment des Puppenspiels und der verschiedenen
Gesangsarten und innerhalb der eigentlichen
Volksmusik. Malm behandelt sehr detail-
liert die einzelnen Arten der Shamisenmusik
und widmet das letzte Kapitel seines Buches
der Volksmusik. Er weist dabei vor allem auf
das Vorhandensein einer reichen Volksthea-
terkunst hin.
In einem Anhang befaßt sich der Verfasser
noch mit den Notationssystemen, fügt ein
Diagramm der geschichtlichen Entwicklung
der Musik Japans hinzu und schließt mit einer
auf die einzelnen Kapitel bezogenen Biblio-
graphie und einer Discographie, deren Titel
zum größten Teil in Deutschland kaum zu er-
halten sind.
Ein ausführliches Stichwortverzeichnis er-
leichtert die Benutzung des Werkes außer-
ordentlich. Besonders hervorzuheben ist die
ausgezeichnete Ausstattung des Buches, dessen
zahlreiche und vorzügliche Bildbeilagen —
teilweise in herrlichem Farbdruck — das Werk
auch zu einer bibliophilen Kostbarkeit machen.
Auf zwei Fehler in den Notenbeispielen
sei abschließend noch hingewiesen: Im Bei-
spiel 4 muß im 1., 3. und 11. Takt an vor-
letzter Stelle statt einer Sechzehntel- eine Ach-
telnote stehen. Am Schluß der Takte 4 und 16
des Beispiels 7 fehlt jeweils eine Viertelpause.
Das Buch kann nur wärmstens empfohlen
werden.
W. D. Meyer
H. F. J. JUNKER:
Alte koreanische Bilder. Landschaften und
Volksleben. Leipzig: VEB Harrassowitz
1958. 18 S. und 44 Tafeln.
In seiner trefflichen Einleitung skizziert
der Autor Leben und Werk des Mannes, aus
dessen Sammlung die Bildvorlagen des Ban-
des entnommen sind, des verdienstvollen Paul
Georg v. Moellendorff. Anschließend stellt er
Wesen und Eigenart der ostasiatischen Tusch-
malerei vor, besonders die Bedeutung von
Taoismus und Zenbuddhismus in der „sub-
jektiven“ Malerei des Ostens, in der der
Künstler Selbstbekenntnisse gibt, Darstellun-
gen seiner eigenen Stimmungen, Gedanken
und Gefühle, wobei er meist in Symbolen
spricht, mehr andeutet als ausführt, weil der
Betrachter das Wesentliche selbst ergänzen
soll. Die Landschaftsbilder sind aus immer
wiederkehrenden Bildelementen aufgebaut,
besonders aus Felsen (oder Gebirgen) und
Wasser (Bächen, Flüssen, Meeresstrand), den
Symbolen für Yang und Yin. Beim Bild der
Menschen wird nicht das Porträt angestrebt,
nicht der einzelne abgebildet, sondern werden
Typen wiedergegeben, die in einen Vorgang,
eine Handlung eingebaut sind. Dabei kann
die Darstellung in minutiöser Malerei Einzel-
heiten getreu festhalten — eine Tatsache, die
diese Malerei gerade für den Völkerkundler
so wichtig macht.
Nach einer Behandlung einzelner wichtiger
Bildmotive und der Malweise folgen die Ta-
feln selbst, jede von dem Verfasser gut und
ausführlich beschrieben, was den Zugang zu
den Bildern wesentlich erleichtert.
Die 44 Tafeln sind nach Vorlagen koreani-
scher Tuschmalerei aus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts wiedergegeben. Es handelt
sich in den meisten Fällen nicht um große
Kunst, sondern um mehr oder weniger in
ï )
w
Buchbesprechungen
201
technische Perfektion abgeglittene Bilder, die
keinen Vergleich mit der großen Tuschmalerei
Ostasiens aushalten und auch im Rahmen der
koreanischen Kunst spätes Epigonentum ver-
körpern. Es ist daher schwer verständlich, wie
der Verlag den Titel „Alte Bilder“ wählen
konnte. Auch ist die sehr mäßige Qualität der
Reproduktionen nicht geeignet, über das
Dürftige der Vorlagen hinwegzutäuschen.
Das Typische des Pinselstrichs, die feine
Nuancierung der Töne, die Art und die Struk-
tur des Malgrunds sind verlorengegangen. Die
Zeichnung steht hart auf einem einfarbig
getönten Grund, oft wie eine Strichzeichnung.
Diese Mängel sind um so erstaunlicher, als
der Verlag in einem eigenen Vorwort betont,
daß mit dem vorliegenden Werk eine Lücke
in unserem Wissen um die koreanische Kunst
und ihre Vergangenheit ausgefüllt werden
soll, und daß das vorgelegte Werk zur Ver-
tiefung des Verständnisses und der Freund-
schaft mit dem koreanischen Volk beitragen
soll. Angesichts der eben charakterisierten
künstlerischen Qualität der meisten Bilderund
der Mängel in der Reproduktion erscheint es
mehr als fraglich, ob die hier gesteckten Ziele
auch nur teilweise erreicht werden können.
Im umgekehrten Falle wären wir wenig be-
glückt, wenn unter dem Titel „Alte deutsche
Bilder“ in Korea eine mäßig gute Sammlung
von Bildern aus dem 19. Jahrhundert heraus-
gebracht würde, und diese noch drucktechnisch
mangelhaft.
Im Verlagsvorwort steht: „Dem Kunst-
schaffen unterworfener Völker in den fernen
Erdteilen begegnete man in Europa über-
wiegend mit Überheblichkeit und unverhüll-
ter Indifferenz“. Wie ein solcher Satz aus-
gerechnet in Leipzig geschrieben werden
konnte, diesem alten Buchzentrum europä-
ischen Ranges, wo man die alte „Deutsche
Bücherei“ neben sich stehen hat, In der Hun-
derte von Aufsätzen und Bänden allein in
deutscher Sprache den Schreiber Lügen stra-
fen, ist unverständlich. Sollte dem Verlag die
seit Jahrzehnten ansteigende Flut prachtvol-
ler, nur außereuropäischer Kunst gewidmeter
Bildbände wirklich entgangen sein?
Wenn die Publikation trotz dieser Mängel
zu begrüßen ist, so allein, weil der Autor es
ausgezeichnet verstanden hat, zu Wesen und
Sinn der vorgelegten Bilder hinzuführen.
F. Kussmaul
Chinesische Skulpturen der Sammlung
Eduard von der Heydt
Beschreibender Katalog von Oswald Sirén.
Zürich: Museum Riethberg. 1960.
Oswald Sirén hat in diesem glänzend aus-
gestatteten zweisprachigen Katalog (deutsch
und englisch) chinesische Großplastiken der
Sammlung von der Heydt bearbeitet. Er
führt die Objekte in Bild (wo notwendig
neben der Totale auch Detailaufnahmen) und
Text vor. Der Katalog ist in zwei Teile ge-
gliedert, Tierfiguren und religiöse Plastik.
Diesen beiden Teilen gibt der Verfasser Ein-
leitungen bei, die man als kurze, präzise Dar-
stellungen der jeweiligen Materie bezeichnen
darf. Wie es bei Sirén zu erwarten war, sind
auch die einzelnen Objekte knapp und präzis
beschrieben, ist die Frage ihrer örtlichen und
zeitlichen Zugehörigkeit geklärt und sind
Parallelstücke benannt. Leider wurde darauf
verzichtet, die (früher bereits publizierten)
Inschriften auf manchen Stelen noch einmal
abzudrucken. Da der vorliegende Katalog für
diese Materie doch wohl als endgültig betrach-
tet werden darf, wäre es zu begrüßen gewe-
sen, wenn ihm diese Texte noch einmal bei-
gegeben worden wären. Aber auch so muß
man das RIethberg-Museum zu seinem ersten
Katalog der neuen Serie (geplant sind 9 Bän-
de) aufrichtig beglückwünschen. Er erschließt
erstmals die ganze Sammlung dieser Objekte
und ist sicher ein Weg, diese herrlichen Stücke
einem noch größeren Kreise näherzubringen,
wird also beiden Aufgabenbereichen des Mu-
seums, dem wissenschaftlichen wie dem volks-
bildenden in gleicher und gleich vorbildlicher
Weise gerecht.
F. Kussmaul
HANS FISCHER:
Schallgeräte in Ozeanien. Straßburg und
Baden-Baden: Verlag Heitz GmbH, 1958.
177 S. mit 487 Abb. und einer ethnogra-
phisch-musikologischen Bibliographie.
(Sammlung Musikwissenschaftlicher Ab-
handlungen, Band 36.)
Zusammenfassende Arbeiten über die In-
strumente größerer Gebiete haben vor allem
Gurt Sachs („Die Musikinstrumente In-
diens und Indonesiens“ und „Die Musikinstru-
mente Birmas und Assams“), KarlGustav
Izikowitz („Musical and other Sound-
instruments of the South American Indians“)
202
Buchbesprechungen
sowie B. Ankermann („Die afrikanischen
Musikinstrumente“) veröffentlicht. In der Ein-
leitung zu seiner Studie „Schallgeräte in
Ozeanien“ betont Hans Fischer, daß leider
die instrumentenkundlichen Untersuchungen
später vernachlässigt wurden, so daß für
weite Gebiete heute noch Zusammenfassungen
fehlen, obgleich das Material hierzu außer-
ordentlich angewachsen ist. Fischer ver-
sucht, für Melanesien, Polynesien und Mikro-
nesien die unzweifelhaft vorhandene Lücke zu
schließen. Der Titel seiner Arbeit läßt schon
erkennen, daß es ihm dabei nicht allein darauf
ankam, die Instrumente zu beschreiben, mit
denen man „Musik machen“ kann; er bezog
auch solche Geräte in seine Untersuchungen
ein, die der Erzeugung von Geräuschen, Klän-
gen und Tönen dienen, die schwerlich als
„Musik“ zu bezeichnen sind. Schon I z i k o -
w i t z hat die Bezeichnung „Schallgeräte“
für seine Untersuchung gewählt. Sie ist sicher
umfassender als das Wort „Musikinstrumente“,
da die von den Naturvölkern erzeugten Schall-
erscheinungen sehr oft weder formal noch
funktional etwas mit Musik im europäischen
Sinne zu tun haben. Fischer grenzt den
Begriff allerdings insoweit wieder ein, als er
unter Schallgeräten nur solche Geräte versteht,
die vom Menschen bewußt zur Schall-
erzeugung verwendet werden. Der Verfasser
fußt im wesentlichen in der Systematik auf
der Sachs-Hornbostelschen Klassifikation, die
an einigen Stellen erweitert wird. Idiophone,
Membranophone, Chordophone und Aero-
phone sind die Hauptabschnitte des ersten
Teils der dreiteilig angelegten Studie.
Sehr ausführlich beschreibt Fischer in
diesem ersten Teil den Bau und die Spiel-
weise der Geräte sowie ihre Funktion für
Spieler und Hörer. Da es sich um eine reine
instrumentenkundliche Arbeit handelt, wird
die Musik selbst nicht besprochen.
Im zweiten Teil stellt der Autor auf 29 Ta-
feln die Geräte zeichnerisch dar. Es sind meist
Kopien aus anderen Werken, und sie vermit-
teln einen guten Einblick. Leider sind manche
der Zeichnungen in Einzelheiten nicht sehr
deutlich.
Der dritte Teil umfaßt 53 Tabellen. Sie las-
sen erkennen, wo die betreffenden Schall-
geräte verkommen. Es wird der Stamm, der
Ort oder die Inselgruppe angegeben. In einer
zweiten Spalte sind die Belege hierfür aufge-
führt.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis be-
schließt die verdienstvolle Arbeit. Bedauer-
lich ist, daß der Verfasser keine einzige Lage-
karte beigegeben hat. Man empfindet das Feh-
len eines derartigen Hilfsmittels, das das Auf-
finden der angegebenen Orte und Inselgrup-
pen wesentlich erleichtern könnte, bei einer
solchen Studie besonders unangenehm, da
nicht immer ausreichende Atlanten zur Hand
sind.
W. D. Meyer
JOSEF RÖDER
(in Zusammenarbeit mit ALBERT HAHN):
Felsbilder und Vorgeschichte des MacCluer-
Golfes, West-Neuguinea. Darmstadt: L. C.
Witticb, 1959. 162 S.
(Ergebnisse der F robcnius-Expedition 1937
bis 1938 in die Molukken und nach Holldn-
disch-Neuguinea, herausgegeben von Ad. E.
Jensen und H. Niggemeyer. Band IV. Ver-
öffentlichung des Frobenius-lnstituts an der
] ohann-Wolf gang-Goethe-Universität in
Frankfurt am Main.)
Man wird dem Verfasser wie auch dem we-
sentlich mitbeteiligten Zeichner der Frobenius-
Expedition, Albert Hahn, Dank sagen
müssen dafür, daß sie nach mehr als zwanzig
Jahren das durch die Kriegsereignisse stark
reduzierte Material ihrer Untersuchungen am
MacCluer-Golf jetzt doch noch in so anspre-
chender Form vorlegen. Der Verfasser betont
ausdrücklich, daß es sich hierbei um eine reine
Materialvorlage handeln soll. Daneben ist es
sein Anliegen, als Voraussetzung für verglei-
chende Untersuchungen die Schichten und
Stile, ihre Verbindungen zueinander, die Mo-
tivvcrflcchtungen, den Charakter der Kunst
und das Alter der verschiedenen Einflüsse
herauszuarbeiten.
In den Felsbildern lassen sich drei Schichten
unterscheiden: rot-, schwarz- und weißfiguri-
ger Stil. Die weißfigurigen Bilder stammen
aus jüngerer und jüngster Zeit, der schwarz-
figurige Stil in der Hauptsache aus dem 17.
bis 19. Jahrhundert, während für die ältesten
rotfigurigen Bilder ein Alter von rund 1000
Jahren mit großer Vorsicht angenommen wird.
Die rotfigurigen Malereien stammen aus
einer Zeit, in der die (papuanische) Fischer-
bevölkerung in Höhlen lebte, bevor indonesi-
sche Einwanderer aus Ost-Ceram in das Ge-
biet kamen und sich mit ihnen vermischten.
Als Beweis dafür, daß die Hersteller der rot-
figurigen Felsbilder Höhlenbewohner waren,
Buchbesprechungen
203
wird neben Angaben der heutigen Eingebo-
renen vor allem der Fund einer Steinplatte
mit roten Farbresten in Schicht B einer der
Höhlen gewertet.
Möglicherweise sind vor allem die vielen
Fischdarstellungen, die durch alle Stile gehen,
Hinweis auf einen älteren, naturalistischen
Stil. So stellt der Verfasser eine naturnahe
ältere Kunst der Jäger einer stärker stilisier-
ten neolithisierter Fischer gegenüber (p. 89).
An eine Deutung der Felsbilder geht der
Verfasser mit bemerkenswerter Vorsicht. Bei
einer Untersuchung der geistigen Welt der
Felsbilderkunst könne man sich nur an die
„dürftigen, aber kräftigen Erinnerungen der
Eingeborenen, wie an die Felsbilder selbst
halten“. Diese „Erinnerungen“ der (heutigen)
Eingeborenen freilich scheinen doch eher dürf-
tig als kräftig und kaum verwertbar zu sein.
Das ist aus den Erklärungen über die Matu-
tuos ersichtlich, zu denen der Verfasser selbst
sagt: „ . . . so daß wir, wollten wir den Ein-
geborenen folgen, letztlich jede Menschen-
figur als Matutuo bezeichnen müßten, was
wohl nicht in allen Fällen zutrifft“ (p. 72).
Und an anderer Stelle (p. 30): „Hier konnte
man wie auch sonst beobachten, wie die Fcute
versuchen, den Fclsbildern eine Deutung un-
terzulcgen, die ihnen bestimmt nicht inne-
wohnt.“
Auf Grund einer Untersuchung der Motiv-
kombinationen kommt der Verfasser zu dem
Ergebnis, daß einheitliche Gedanken sich
durch alle Stile der Felsbilderkunst ziehen.
In der Frage, ob die Felsbildmotive selbst zur
Altersansetzung hcrangezogen werden kön-
nen, gesteht der Verfasser, daß er in den klei-
neren, vorläufigen Veröffentlichungen hoff-
nungsvoller gewesen sei als heute (p. 70).
Die außerordentliche Vorsicht des Verfas-
sers drückt sich in dem Satz aus (p. 92): „Die
Dcutungsversuche zum Inhalt der Felsbilder-
kunst seien hiermit abgeschlossen. Deutungen
vergehen, bestehen bleibt nur das Material.“
Ein stilistischer Vergleich der Motive mit
anderen Gebieten wird nicht unternommen.
Der Verfasser scheint völlig im Recht, wenn
er der Meinung ist, daß man eigentlich nicht
Felsbilder mit ethnographischer Kunst, son-
dern nur Fclsbilderprovinzen miteinander
vergleichen dürfe. Vielleicht würden Ver-
gleiche mit den Felsbildcrn des südöstlichen
Neu-Guinea doch einige Ergebnisse, sicherlich
motivische Übereinstimmungen zeitigen.
H. Fischer
CARL A. SCHMITZ:
Historische Probleme in Nordost-Neu-
guinea, Huon-Halbinsel. Wiesbaden: Franz
Steiner Verlag 1960. 441 S., 43 Abb., 9
Karten und 1 Faltkarte. (Studien zur Kul-
turkunde, 16. Band).
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist,
wie der Verfasser selbst schreibt, „die Auf-
schlüsselung des ethnographischen Quellen-
materials nach den Prinzipien der kultur-
historischen Methode“. Das „Kulturareal“
Huon-Halbinsel in Nordost-Neuguinea wird
dabei als Modell angesehen, in dem die auch
für ganz Neuguinea substituierenden Grund-
kulturen herausgearbeitet werden können.
Die Darstellung der geographischen Si-
tuation, Daten zur Entdeckungsgeschichte
und vor allem methodologische Vorbemer-
kungen schaffen sehr wesentliche Ausgangs-
punkte. In den Vorbemerkungen werden das
Form-, Quantitäts- und Kontinuitäts-Krite-
rium untersucht, wobei der Verfasser das
Quantitätskriterium bei korrekter Anwen-
dung des Formkriteriums für überflüssig
hält (p. 22). Der Fokalinterpretation wird
keine große Bedeutung zugemessen. Dem
Verfasser erscheinen Haekels Bemerkungen,
daß dem Formkriterium ein subjektives Mo-
ment innewohnt, bedenklich (p. 19/20).
In einem Kapitel über die Sprachgruppen
des Gebietes mit ergänzender Karte werden
diese nach einem zweifellos wesentlichen
Merkmal unterschieden: Sprachen mit Suffix-
Konjugation (nicht-melanesische) und Spra-
chen mit Praefix-Konjugation (mclanesische,
austronesische). Das Kapitel über die ma-
terielle Kultur wird dadurch sehr anschau-
lich, daß, wie auch in folgenden Abschnitten,
jeweils das Beispiel der Komba im Zusam-
menhang vorangestellt wird. Die einzelnen
Elemente werden dann jeweils den drei er-
arbeiteten Grundkulturen A, B und C zuge-
ordnet. Diese Dreigliederung ist bereits von
früheren Autoren angenommen worden. Als
ebenfalls sehr instruktiv erweisen sich die
tabellarischen Zusammenstellungen am Ende
einzelner Kapitel. Hier kann es jedoch zu
Mißverständnissen kommen: So wird etwa
die Maultrommel in der Tabelle (p. 123)
unter „Kultur B“ aufgeführt, obgleich sie
sich tatsächlich bei allen untersuchten Grup-
pen findet. Schmitz schreibt jedoch (p. 120):
„ . . . daß die Maultrommel im Bereich der
Kultur B, der wir sic sicherlich zuschreiben
204
Buchbesprechungen
müssen, in einem rituellen Zusammenhang
Verwendung findet (Liebeszauber, Toten-
klage), während sie bei den Trägern der Kul-
tur A als reines Unterhaltungsinstrument
dient.“ Die Verbreitungstatsachen sind also
allein nicht Argument für die Zuordnung
eines Elementes zu einer Grundkultur. Ge-
rade in diesem Falle scheint unklar, warum
die Maultrommel nicht in der Funktion als
Unterhaltungsinstrument der Kultur A zuge-
schrieben werden soll. Es scheint, daß in sol-
chen Fällen rituelle Zusammenhänge über-
bewertet werden.
Feldbau, Anbaupflanzen, Gesellschaft und
Lebenszyklus werden in den folgenden Ka-
piteln untersucht. Im Kapitel Gesellschaft
bedürfen die Frage der maternalen Gesell-
schaftsordnungen und das Vorkommen von
Matrisippen (p. 189, 253) sowie die Frage der
Dual-Ordnungen (p. 200) sicherlich noch wei-
terer Untersuchungen.
Das Hauptinteresse des Verfassers gilt der
Herausarbeitung des Religions-Musters jeder
der drei Grundkulturen. So nimmt auch das
Kapitel Religion den relativ größten Teil des
Buches ein.
Ein zusammenfassender Abschnitt über die
Kulturen im einzelnen, die Vermischung der
Kulturen auf der Huon-Halbinsel, die Lokal-
kulturen sowie ein Anhang mit mythischen
Texten schließt die Untersuchung ab.
Bedenken müssen angemeldet werden bei
dem hier verwendeten Begriff des „Kultur-
areals“ (p. 5, 6, 351, 370). Die Huon-Halb-
insel ist zweifellos kein Kulturareal in dem
Sinne, in dem der Begriff üblicherweise an-
gewendet wird. Dazu ist das Gebiet entweder
zu groß (da zu unterschiedliche Gruppen
darin leben) oder zu klein (da gleichartige
Gruppen auch in benachbarten Gebieten im
Westen, Süden und Osten anzutreffen sind).
Skinner (J.P.S., 1921, p. 71) definiert: „A
culture area is a geographical region within
the bounds of which all groups of inhabitants
show a strong family resemblance. Fach
group within the area resembles the other
groups within it mudi more than it resembles
any group outside“, ähnlich Steward (Theory
of culture dränge, 1958, p. 22, 82).
Der Verfasser benutzt an einer Stelle (p.
363) auch für die ganze Nordküste Neu-
guineas den Begriff „Kulturareal“. Damit
aber werden bereits zwei Gebiete, von denen
das eine ein Teil des anderen ist, mit dem
gleichen Begriff bezeichnet. Sehr wahrschein-
lich ist hier „Kulturareal“ auf die gleiche
Weise gebildet wie „Kulturprovinz“ in dem
im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz in
Anthropos (55, 1960, p. 215—238), der zur
Methodik des Verfassers weitere wesentliche
Ausführungen bringt. Hier heißt es (p. 217),
die Grenzen der Kulturprovinz würden „nach
geographischen Gesichtspunkten bestimmt“ (?).
Der unklare Gebrauch des Begriffes „Kul-
turareal“ ist deshalb bedenklich, weil beim
Leser, der mit den ethnographischen Verhält-
nissen Neuguineas nicht genauer vertraut ist,
der Eindruck hervorgerufen wird, man habe
es auf der Huon-Halbinsel mit so gleicharti-
gen Gruppen zu tun, daß ethnographische Er-
scheinungen bei der einen Gruppe zur Er-
klärung der Zusammenhänge in anderen
Gruppen ohne große Schwierigkeit herange-
zogen werden können. Tatsächlich wird aus
Einzelerscheinungen, die bei verschiedenen
Gruppen vorgefunden werden, das Gesamt-
bild etwa „des Schweinekultes“ oder „des
kannibalistischen Kultes“ zusammengesetzt.
Es erscheint sehr zweifelhaft, ob man mit die-
ser Methode zu gesicherten Ergebnissen kom-
men kann. Die geringe Bewertung der Lokal-
interpretation (p. 19/20) birgt zweifellos
größte Gefahren in sich.
Genauso gefährlich erscheint es methodo-
logisch, ethnographische Einzelerscheinungen
aus Nachbargebieten zur Vervollständigung
des Gesamtbildes auf der Huon-Halbinsel
heranzuziehen. Schmitz p. 233 sagt ausdrück-
lich: „Wenn man nun die beobachteten Hand-
lungen, die ja schließlich das Rohmaterial der
ethnographischen Feldforschung sind, nach
dem ihnen innewohnenden Sinn erklären will,
muß man auf die Mythen zurückgreifen, die
bei dem entsprechenden (sic!) Volk vorhan-
den sind, und ihren Zusammenhang mit die-
sen Handlungen untersuchen.“ Dennoch wer-
den immer wieder Mythen und andere Be-
lege aus anderen Gebieten herangezogen
(p. 273, 274, 285, 313, 321). Das Verfahren
wird ad absurdum geführt auf Seite 288. Hier
heißt es; „Die Zeremonialfarbe des Kanni-
balismus ist in der ganzen Südsee, wo immer
Träger der Kultur B mit ihrem Religions-
Muster hingekommen sind, gelb !“ Die ein-
zigen angeführten Belege sind von den Jat-
mül (Sepik), den Azera und den Kaioi der
Marquesas („. . . deren Festfarbe gelb war
und die sidi durch Kopfjagden auszeichne-
ten . . .“) Seite 289 heißt es dann weiter: „Auf
Buchbesprechungen
205
Grund des Materials in unserem Unter-
suchungsgebiet ist es nicht möglich, den Sinn
der gelben Farbe als Festfarbe des Kanniba-
lismus zu deuten.“
Mißverständlich scheint auch der Gebrauch
des Begriffes „homogen“. Der Verfasser
spricht von homogenen Grundkulturen, Kul-
turen oder Einheiten (p. 5, 25, 252, 362). Der
Gegensatz dazu wären wohl „Mischkulturen,
.. . die sich von vorneherein aus verschiede-
nen alten Kulturerscheinungen zusammen-
setzen“ (p. 22). Seite 211 heißt es: „... es
gibt heute nur sehr wenige ungeschichtete Kul-
turen“, p. 352: „Da aber jede Kultur ein
homogener Organismus ist . . .“. Im Sinne des
letzten Satzes wäre der Gebrauch des Aus-
drucks „homogene Kulturen“ natürlich völlig
überflüssig. Es scheint aber mit dem Begriff
impliziert zu werden, daß die abstrahierten
„Grundkulturen“ unvermischt, ungesdrichtet
gewesen wären, was jedoch nicht bewiesen ist
und vorläufig auch kaum bewiesen werden
kann.
Der schwächste Punkt der Untersuchung
liegt, was dem Autor auch selbst sehr klar ist,
/ in der Zuordnung von Sprachgruppen zu den
Elementen der Kultur B. Schmitz legt selbst
sehr großes Gewicht auf diese Frage: „Alle
Verbreitungstatsachen von Kulturerscheinun-
gen innerhalb eines gegebenen geographischen
Raumes gewinnen erst Sinn, wenn sie auf den
Hintergrund der sprachlichen Gruppierung
dieses Raumes projiziert werden können. An-
dernfalls sind sie Kenntnisse im luftleeren
Raum.“
Sehr gut können die Kulturelemente der
Kultur C mit austronesischen Sprachen in
Verbindung gebracht werden, die der Kultur A
mit vor-austronesischen. Über die Kultur B
heißt es (p. 5) „ . . . daß wir aber über Rassen-
typus und Sprache vor allem der zweiten vor-
austronesischen Kultur so gut wie gar nichts
wissen.“ Hier hat sich der Verfasser bereits
entschieden, von einer „vor-austronesischen“
Kultur zu sprechen. In früheren Veröffent-
lichungen wurde sie noch als „ältere austro-
nesische Kultur“ bezeichnet (p. 42). Die Un-
sicherheit der Zuordnung wird an verschie-
denen Stellen deutlich, doch reichen die Be-
merkungen von (p. 357) „die linguistische
Situation dieser Kultur ist ungeklärt“, bis
— verblüffenderweise — (p. 373): „...sie
ist definitiv vor-austronesisdi.“
Das Hauptverbreitungsgebiet der Elemente
dieser Kultur umfaßt sowohl Gruppen mit
Suffix- (vor-austronesische), als auch mit
Praefix-Sprachen (austronesische), doch wer-
den gerade die letzteren (Azera, Wampar) als
markanteste Vertreter der Kultur B bezeich-
net (p. 143). Der Rezensent vermag sich der
Deutung des Verfassers nicht anzuschließen,
daß hier Träger vor-austronesischer Sprachen
von Austronesiern die Praefix-Kojugation
übernommen hätten; was nicht heißen soll,
daß nicht starke vor-austronesische Einflüsse
vorliegen.
Es sollte nicht apodiktisch von einer „defi-
nitiv vor-austronesischen“ Kultur gesprochen,
sondern zugegeben werden, daß die Situation
vorläufig ungeklärt ist und damit (s. o.) die
Ergebnisse noch „im luftleeren Raum“ hän-
gen. Der Verfasser ist völlig im Recht, wenn
er die Klärung dieser Frage als ein Desiderat
der Völkerkunde an die Linguistik bezeich-
net.
Anzufügen wäre auf sprachlichem Gebiet
noch, daß die Pidgin-Englisch-Ausdrücke
„marsalai“ und „tambaran“ durchaus nidtt
überall die Bedeutung haben, die der Ver-
fasser geklärt zu haben glaubt (p. 236). So
werden etwa sowohl am unteren Watut als
auch bei den Wampar Totengeister überwie-
gend als „tewel“ bezeichnet, doch auch als
marsalai und tambaran, wie überhaupt das
gleiche Wesen in der gleichen Erzählung oft
nacheinander mit den verschiedenen Ausdrük-
ken bezeichnet wird.
Die Zuordnung einzelner Kulturelemente
zu den drei Grundkulturen wird selbstver-
ständlich ergänzt und berichtigt werden müs-
sen, wenn das Schema auf ganz Neuguinea
oder Melanesien angewandt werden soll. So
scheinen etwa die Zuordnung der steinernen
Tapaschlegel („rein austronesisch“, p. 73;
Hauptverbreitungsgebiet jedoch Kuku-kuku
und oberer Waria: Kultur A), der Maultrom-
mel oder der Kämme (p. 64) sehr fraglich.
Die verschiedenen Typen des Erdofens oder
Erddampfofens werden weiter aufgegliedert
werden müssen (p. 75). Auch bei der Betel-
palme müssen zwei Arten unterschieden wer-
den, die auf Pidgin als „Bilinat“ und „Ka-
wiwi“ bekannt sind (p. 87). Nackenstützen in
Form von Menschen und Tieren und „mono-
phyle“ Nackenstützen stellen natürlich be-
grifflich keinen Gegensatz dar; auch erstere
sind hier „monophyl“ (p. 70).
Einige Materialbestimmungen müssen ab-
geändert werden, so p. 63: Ovula-Muschel
(-Schnecke), Schildkrot (-patt), p. 64: Kauri-
206
Buchbesprechungen
muscheln (-Schnecken), p. 89: Kaurischnecken
(Nassaschnecken-Scheibchen), p. 119: Muschel-
trompeten (Schnecken-).
Eine grundsätzliche methodologische Frage
wirft das Verfahren auf, die Erwähnung eines
Kulturelements in einer Mythe als Beweis da-
für zu werten, daß das Element der Grund-
kultur angehört, der (hypothetisch) diese
Mythe zugewiesen wird. Wie sehr sich solche
Einzelelemcnte in Mythen wandeln und der
gegenwärtigen Kultursituation des Erzählers
angepaßt werden, sollte bekannt sein. Requi-
sit-Erstarrung und Requisit-Verschiebungen
sind so allgemeine und nicht zu berechnende
Erscheinungen, daß das genannte Verfahren
überhaupt keine Beweiskraft haben kann. So
wird die Erwähnung von Schalen (p. 76),
Tontöpfen (p. 82), Kawa (p. 91), Banane
(p. 139), Kokospalme (p. 140) oder Beschnei-
dung (p. 328) in Mythen als Beweis für die
Zuordnung dieser Elemente zu bestimmten
Kulturen gewertet. Seite 327 heißt es; „Mit
Sicherheit ist dieser Phase der Mythe zu ent-
nehmen, daß die Kunst des Tatauierens die-
ser Kultur angehört.“ Ähnlich p. 331: „Wir
entnehmen dieser Phase unserer Mythe, daß
die maritime Pflanzerkultur der Austroncsier
über hochseetüchtige Auslegerboote verfügte.“
Unverständlich erscheint die Beweisführung
bei der Besprechung der Mythe von Kilibob
und Manub (p. 330): „Wir erfahren aber
jetzt, daß auch die Hühner erst von dieser
Kultur als Haustier nach Neuguinea gebracht
worden sind“, und etwas weiter unten: „Nun
sind Hühner als solche sicherlich schon vor
dem Eintreffen der jüngeren Austroncsier
(sic!) bekannt und verbreitet gewesen. Die
Betonung liegt hier auf Haustier.“ — Abge-
sehen davon, daß der Ausdruck „jüngere
Austroncsier“ die Träger der Kultur B wieder
als „ältere Austroncsier“ impliziert, ist un-
klar, was das Huhn früher anderes als ein
Haustier gewesen sein soll? Denn es ist ja
nicht von Buschhühnern (die eine ganz andere
Art darstellen) die Rede.
Das Schwergewicht der Untersuchung liegt
bei dem Kapitel Religion. Das Bemühen des
Verfassers geht dahin, die „Rcligionsmuster“
jeder der drei Grundkulturen herauszuarbei-
ten. Er stützt sich dabei auf die Arbeiten von
Eliade, Jensen, van der Leeuw, Kerenyi und
Pettazoni. Die angewandten Methoden sind
die einer „kulturmorphologischen Religions-
wissenschaft“ (p. 232). Man muß sich vor
Augen führen, daß bestimmte Anschauungen
über das Wesen des Religiösen, der Mythe
und des Kultes als gesicherte Erkenntnisse
vorausgesetzt werden. Nach diesen Gesichts-
punkten, die nicht aus dem Material des
Untersuchungsgebietes gewonnen sind, werden
die Erscheinungen aufgeschlüsselt und gedeu-
tet. Es ist eine Frage der Anerkennung der
vom Verfasser vertretenen Schule, ob man
sich den Ergebnissen anschließen will. Weitere
Diskussionen werden sicherlich stattfinden,
wenn die vom Verfasser angekündigten wei-
teren Untersuchungen über Religionsmuster in
Ozeanien vorliegen.
Die vorliegende Arbeit wird zweifellos alle
kommenden historischen Untersuchungen in
Ozeanien ungeheuer befruchten. Es ist zu hof-
fen, daß sie Ausgangspunkt weiterer Diskus-
sion wird. Dabei wird vor allem die Stellung
der Kultur B, besonders ihre sprachliche Zu-
ordnung, geklärt werden müssen. Außerdem
ist anzunehmen, daß sich bei weiterer For-
schung eventuell noch Untergliederungen her-
ausarbeiten lassen. Allerdings dürften so apo-
diktische Formulierungen bei kulturhistori-
schen Arbeiten kaum angebracht sein wie der
Satz p. 370: „ . . . haben meine Ausführungen
einen bewiesenen und konkreten Ansatzpunkt
geschaffen, von dem aus das Kulturgemisch
des nördlichen Neuguinea und der melanesi-
schen Inseln aufgeschlüsselt werden kann.“
H. Fischer
KARL ERIK LARSSON:
Fijian Studies. Göteborg: Etnografiska
Museet 1960. 147 S., 3 Karten und 97 Ab-
bildungen (Ethnologiska Studier 25).
Der Verfasser, Kustos am Etnografiska
Museet Göteborg, legt in diesem Band zwei
Beiträge zur Kultur der Fiji-Insulaner, der
melanesisch-polynesischen Mischkultur, vor:
„Human Images in Fiji“ (S. 13—118) und
„The conch shclls of Fiji“ (S. 121 —147). Vor-
weg sei bemerkt: Die erste Anregung zu die-
sen Untersuchungen empfing Larsson durch
seine Beschäftigung mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen auf Fiji. — Seine Studie „Vasu-
privilegiet pa Fiji-öarna, en förstudie i en
sedvänjas sociala och kulturella bakgrund“
wurde 1955 von der Universität Göteborg als
Fil. Lic. Arbeit angenommen. — Larsson hat
seitdem eine Fülle von Material, vor allem
der materiellen Kultur, über Fiji zusammen-
getragen. An Hand dessen will er klären, in-
Buchbesprechungen
207
wieweit die im gesellschaftlichen Leben vor-
handenen Verschiedenheiten innerhalb der
Fiji-Gruppe mit unterschiedlichen Äußerun-
gen in anderen Bereichen der Fiji-Kultur
koinzidieren. Die hier zu besprechenden
„Menschlichen Darstellungen“ und „Muschel-
bzw. Schneckentrompeten“ sind in diesem
Rahmen nur Nebenprodukte oder Vorarbei-
ten zu der geplanten umfassenden Studie.
Grundlage beider Untersuchungen bildet
die Auswertung zahlreicher Fiji-Kollektionen
aus fast allen Teilen der Welt. Larsson ist
nicht bei einer rein registrierenden Darbie-
tung des musealen Befundes stehengeblieben.
Er versucht, mit Hilfe einer kritischen Verar-
beitung der schriftlichen Quellen (Aufzeich-
nungen der Sandelholzhändler, Missionare,
Verwaltungsbeamten und Wissenschaftler) zu
einer Erfassung der „human images“ und
„conch shells“ in ihrer Funktion zu gelangen.
Dies ist ihm auch — allerdings, durch die
Quellenlage bedingt, in unterschiedlichem
Maße — geglückt. Auf eine ausführliche Er-
örterung der Frage, ob die von ihm für Fiji
erarbeiteten Ergebnisse in den übrigen Teilen
der Südsee Entsprechungen finden, hat der
Autor bewußt verzichtet. Lediglich Befunde
aus der in engen Kontakt zu Fiji stehenden
tonganischen Kultur werden des öfteren zum
Vergleich herangezogen.
In „Human images in Fiji“ behandelt
Larsson zunächst die Vollplastiken: Material
(Holz, Baumfarn, Spermwal- und Walroß-
zahn), Stil (Larsson hebt deren 5 heraus) und
Verwendungszweck (Sakralfigur, eine Art
„Fetisch“, Aufhängehaken, Kinderschreck,
Verzierung; Spielpuppe wahrscheinlich als
Folge des europäischen Kulturkontaktes). Die
7—140 cm großen menschlichen Figuren tra-
gen teils maskuline, teils feminine Attribute;
einige Plastiken lassen keine Geschlechts-
bestimmung zu. Reliefgeschnitztc anthropo-
morphe Gebilde oder allein Köpfe weist der
Verfasser an Keulen, an „Kannibalen-Ga-
bcln“, an „oil-dishes“ sowie als Kammgriff
und als Verzierung auf einer Brustplatte nach.
Reichlich 1 m hohe Miniaturtempel in Men-
schenkopfform dienen dem Priester als Me-
dium bei der Zwiesprache mit der Gottheit.
Larsson betont, daß an den fijianischen Mcn-
schendarstellungen mannigfache Einflüsse von
außen zu erkennen sind. So können Entleh-
nungen von Tonga (vgl. stilisierte Menschen
im Flachrelief auf Keulen, Doppelfiguren aus
Walzahn als Aufhängehaken u. a. m.) und
von den Banks-Inseln (s. Baumfarnschnitze-
reien, die durch Eingeborenenarbeiter von
jener melanesischen Inselgruppe nach Fiji ge-
bracht wurden) nachgewiesen werden. Die
Arbeit zeigt, daß die einzelnen Teile der Fiji-
Gruppe auch in bezug auf „human images“
(Material, Stil, Funktion) heterogene und zum
Teil nur auf engsten Raum beschränkte Züge
aufweisen.
In „The conch shells of Fiji“ wird zoolo-
gisch unterschieden zwischen Charonia trito-
nis Linné (fast ausschließlich „side-blown“
Trompeten) und Bursa lampas Lamarck
(„end-blown“ Instrumente). Beide Schnecken-
arten gehören zur natürlichen Ausstattung der
Inselgruppe. Das museale Material geht in
erster Linie auf die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts zurück. Der überwiegende Teil
stammt aus Viti Levu. Doch das Schrifttum
läßt die allgemeine Verbreitung der Schnek-
kentrompete im gesamten Fiji-Archipel erken-
nen. Von ihren vielseitigen Bedeutungen, die
sich in den einzelnen Teilen des Archipels
nicht vollkommen decken, seien angeführt:
Zeitweiliger Aufenthaltsort der Gottheit, In-
strument des Priesters, Kriegstrompete, Grab-
schmuck Vornehmer. Die als heilig angesehe-
nen Trompeten werden meist im Tempel oder
in besonderen Höhlen aufbewahrt. Der Ver-
fasser geht abschließend noch auf die Funk-
tion des „Trompetenblasens“ bei gesellschaft-
lichen und religiösen Ereignissen (u. a. bei
Totenfeiern, Circumcisio der Knaben, nächt-
lichen Schildkrötenfang) ein. Die Quellen ge-
statten es nicht, einwandfrei festzustellen,
welche Schneckenart (Bursa lampas oder Cha-
ronia tritonis) in den einzelnen Teilen der
Inselgruppe zu welchen Anlässen benutzt
wird.
Die zahlreichen Abbildungen ergänzen in
begrüßenswert anschaulicher Weise den Text.
Beide Beiträge sind eine sichere Basis für
weitere — vergleichende — Forschungen.
M. Urban
HANS KRIEG
Mein afrikanisches Skizzenbuch. München:
F. Bruckmann 1959.
Ein ganz bemerkenswertes Buch, dem man
weiteste Verbreitung und junge wie alte Leser
in größter Zahl wünscht. Es vermittelt nicht
nur aktuelle Kenntnisse der Tierwelt Afrikas
vom Standpunkt des erfahrenen Zoologen
208
Buchbesprechungen
und Tierfreundes von höchstem Rang. Es er-
zieht uns auch unmerklich und mit leichtester
Hand zur richtigen Wahrnehmung und zum
Begreifen eines Lebensbereidies, über den ge-
rade in dieser Zeit für einen großen Teil der
Wissensdurstigen nur der allzuleichte Griff
nach sensationeller Reportage wenn nicht
falsch, so doch völlig unzulänglich unterrichtet.
Die Betrachtung der dem Buch beigegebe-
nen Bleistiftskizzen und Aquarelle des Ver-
fassers vermittelt zudem einen künstlerischen
Genuß, wie er bei den üblich gewordenen
Foto-Illustrationen keineswegs in gleicher
Weise zu erlangen ist. Im einleitenden Kapitel
seines Buches spricht sich der Autor darüber
aus, warum er in Afrika trotz größter Ver-
lockung nicht gejagt und fotografiert habe.
Es wird nicht bestritten werden können, daß
er uns mit seiner Wahl „unblutiger“ Beobach-
tung und schöpferisch künstlerischen Bildcr-
schmucks ein seltenes Geschenk lebendigen
Miterlebens gemacht hat.
Daß das Buch wegen seiner von hoher Hu-
manität und Toleranz getragenen mensch-
lichen Haltung unbedenklich auch in die Hän-
de junger und jüngster Menschen gelegt wer-
den kann, sich also als Geschenkbuch hervor-
ragend eignet, soll am Rande vermerkt sein.
R. Goetz
GÜNTER ZIMMERMANN:
Das Geschichtswerk des Domingo de Mu-
non Chimalpahin Quauhtlehuanitzin. Quel-
lenkritische Studien zur frühindianischen
Geschichte Mexikos. Hamburg: Hamburgi-
sches Museum für Völkerkunde und Vor-
geschichte 1960. (Beiträge zur mittelameri-
kanischen Völkerkunde, Band 5).
Die mexikanistische Forschung hat in den
letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße
schriftliche einheimische Geschichtsquellcn er-
schlossen. Die notwendigen Voraussetzungen
für die Existenz derartigen Materials, nämlich
das Vorhandensein einer genauen Zeitrech-
nung und die Möglichkeit des wie auch im-
mer gearteten schriftlichen Ausdrucks waren
im gesamten Amerika nur in Mesoamerika
entwickelt worden. Neben der hochentwickel-
ten Hieroglyphenschrift der Maya hatten be-
nachbarte mexikanische Stämme eine Bilder-
schrift herausgebildet, die nur Aufzeichnung
z. B. religiös-augurischer oder historischer
Themen diente. Durch die rasche Übernahme
der (lateinischen) Buchstabenschrift, die die
Spanier mitbrachten, setzte sich diese indiani-
sche Tradition fast ohne Bruch fort. Bedurfte
die beschränkte Ausdrucksmöglichkeit der
früheren Bilderschrift noch der zusätzlidien
mündlichen Erläuterung, so finden wir als
eine Art Übergang eine (buchstaben-) schrift-
lich erläuterte Bilderschrift und eine bilder-
schriftlich illustrierte Buchstabenschrift (Co-
dex Aubin von 1576 bzw. die Historia Tol-
teca-Chichimeca). Daneben läuft aber be-
reits die rein buchstaben-schriftliche Bericht-
erstattung einheimischer Chronisten In azte-
kischer Sprache und lateinischer Schrift an
(1523).
Neben den zahlreichen zeitgenössischen
spanischen Berichten dieser Zeit stellen diese
einheimischen, aus der alten indianischen Tra-
dition schöpfenden Berichte ein Quellenmate-
rial ersten Ranges dar.
Chimalpahin, einer der späteren indiani-
schen Autoren des ersten Jahrhunderts nach
der Eroberung Mexikos durch die Spanier,
stammt aus einer der alten Herrscherfamilien
der Chalca. Da ihm aus der Vergangenheit
seines eigenen Geschlechtes und damit seiner
engeren Heimat ausgiebigere Überlieferungen
zur Verfügung standen, kann Chimalpahins
Werk als Hauptquelle zur Geschichte der
Chalca-Stämme (Landschaft Chalco, im Süd-
osten des Hochtales von Mexiko) betrachtet
werden.
Das erhalten gebliebene Geschichtswerk des
Chimalpahin, des „fruchtbarsten einheimi-
schen Geschichtsschreibers Mexicos“ (Zimmer-
mann), ist von Ernst Mengin im Corpus
Codicum Americanorum Medii Aevi (Hav-
niae 1949—52) als photographische Repro-
duktion veröffentlicht worden. Das Original
befindet sich als Ms. Mexicain No. 74 in der
Bibliothèque Nationale In Paris.
Das nicht vollständig erhaltene Werk ist in
acht Relationen eingeteilt, die z. T. schon in
Übersetzungen vorliegen und die den Zeit-
raum von 610—1612 behandeln.
Zimmermanns Arbeit, der Philosophischen
Fakultät der Universität Hamburg als Habi-
litationsschrift 1957 vorgelegt, ist eine quel-
lenkritische Studie zum Werke des Chimal-
pahin. Da der Wert eines solchen Werkes von
der Zuverlässigkeit des Autors und seiner
Quellen abhängt, ist eine derartige Unter-
suchung nicht nur notwendig, sondern einfach
eine Voraussetzung für seine Benutzung, zu-
mal Chimalpahin seine Aufzeichnungen erst
mehr als ein Jahrhundert nach der Eroberung
Mexikos niedergelcgt hat.
Chimalpahins eigene Angaben über seine
Quellen sind bisher nicht veröffentlicht wor-
den und liegen hier erstmalig vor. Sie bezie-
hen sich speziell auf solche aus Familienbesitz,
deren Verfasser nach Abkunft und Rang in
hohem Maße als authentisch angesehen wer-
den können. Diese Quellen beziehen sich, der
Herkunft des Chimalpahin entsprechend, auf
dessen engere Heimat Chalco.
Verschiedenes deutet darauf hin, daß Chi-
malpahin auf bilderschriftliche Vorlagen zu-
rückgehende Unterlagen besaß (Beispiele bei
Zimmermann) und daß ihm sowie anderen
Autoren frühe Traditionen zur Verfügung
standen, die nicht mehr erhalten sind (inhalts-
gleiche Partien ohne gleichlautenden Text bei
verschiedenen Autoren. Eine verlorengegan-
gene „Crönica X“, von Barlow durch quel-
lenkritische Untersuchungen erschlossen).
Für die übrigen Partien müssen andere
Quellen zur Kontrolle herangezogen werden.
Die Verläßlichkeit des Autors zeigt sich z. B.
in einer von einer Vorlage in spanischer Spra-
che angefertigten Übersetzung für seine eigene
Arbeit. Durch die bekannte spanische Vorlage
ist eine Kontrolle der Übersetzung bis ins
Detail möglich (Enrico Martinez, Rcpertorio
de los Tiempos).
Manches in dem umfangreichen Werk des
Chimalpahin ist weniger brauchbar und all-
gemeinere Phrasen über einige Quellen mah-
nen zur Vorsicht (cequintin huehuetque qui-
machiyotia .... — Einige Alte geben an . . .).
In der Zusammenfassung streift Zimmer-
mann auch die Frage der Tageskonkordanz
der mexikanischen Chronologie mit dem euro-
päischen Kalender, die noch Unklarheiten
enthält und für die er die Notwendigkeit
einer erneuten Überprüfung feststellt.
Von speziellerem Interesse sind auch sprach-
liche Hinweise, für die Zimmermann sehr
kompetent ist, und die damit die angekün-
digte quellenkritische Gesamtausgabe des
Werkes des Chimalpahin durch Zimmermann
in mehr als einer Hinsicht begrüßenswert er-
scheinen lassen.
B. Spranz
GUNTER ZIMMERMANN:
Die Hieroglyphen der Maya-Handschrif-
ten. Hamburg: Gram, De Gruyter & Co.
1956. (Universität Hamburg. Abhandlun-
gen aus dem Gebiet der Auslandskunde,
Band 62 — Reihe B (Völkerkunde, Kultur-
geschichte und Sprachen, Band 34)).
Wie der Verfasser im Vorwort seiner Ar-
beit hervorhebt, ist die für Altamerika un-
gewöhnliche Entwicklung einer differenzier-
ten Schrift durch die Maya von über die
eigentliche Amerikanistik hinausgehender Be-
deutung für die Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Geistes.
Ohne Zweifel trifft das für die Schrift-
entwicklung als solche zu. Das bisher in der
Entzifferung Erreichte hat beachtliche mathe-
matisch-kalendarisch-astronomische Kennt-
nisse enthüllt, jedoch harrt die Masse des
überaus großen Formenbestandes noch der
Deutung. Es bleibt abzuwarten, ob sich die
Hoffnung der Forschung, historische Angaben
neben den sehr wahrscheinlichen (und gewiß
nicht uninteressanten) Aufschlüssen über Reli-
gion und religiöse Gebräuche aus der Ent-
zifferung zu erhalten, erfüllen wird.
Die Entzifferung unbekannter Schriftzei-
chen setzt methodisch deren Bestandsaufnah-
me und systematische Ordnung voraus. Daß
eine solche Ordnung nur ein vorläufiges Hilfs-
mittel darstellen kann, das mit jeder Neu-
entdcckung Änderungen unterliegt, war dem
Verfasser bei seiner Arbeit durchaus bekannt.
Der möglichen Starrheit solchen Systems
wurde dadurch weitgehend vorgebeugt, daß
die Kennzeichnung der Schriftelemente auf
die neutrale Ebene der Bezifferung verlegt
und diese selbst so angelegt wurde, daß aus
ihr die systematische Gruppierung der Ele-
mente bereits ersichtlich ist und daß Spiel-
raum für weitere Formen bleibt, die sich bei-
spielsweise aus der Bestandsaufnahme des
Inschriftenmaterials ergeben können.
Ein wesentliches Charakteristikum der
Maya-Schrift sind ihre Affixe, die — je nach
ihrer Stellung zum Hauptzeichen — als Prä-
fix, Superfix, Postfix und Suffix bezeichnet
werden (auch Infigicrung kommt vor).
Die Masse der Einzelhieroglyphen ist so aus
mehreren Elementen zusammengesetzt, eine
Eigenart, die die von Zimmermann heraus-
gearbeitete ziffernmäßige Aufschlüsselung be-
rücksichtigt.
Buchbesprechungen
209
210
Buchbesprechungen
Arbeitstechnisch wurde die Systematik so
angelegt, daß auf Übersichtstafeln (Tafel 1
Affixe, Tafel 2—4 Hauptzeichen) die For-
men ohne Varianten, nach Gruppen geordnet,
abgebildet und beziffert sind. Diese Tafeln
dienen der raschen Orientierung, während im
Vorkommensnachweis unter den gleichen Zif-
fern die jeweilige Form beschrieben und mit
ihren Varianten abgebildet ist. Es folgen die
Belegstellen in den einzelnen Handschriften
sowie die vorkommenden Kombinationen.
Unter die Affixe aufgenommen sind auch
die wie üblich in Punkten und Strichen ge-
zeichneten Mayazahlen 1—13, da sie auch
übertragene Bedeutung haben. Die höheren
Zahlen dagegen scheinen auf Grund ihres Vor-
kommens reinen Zahlenwert zu haben und
sind als Koeffizienten gekennzeichnet.
Der Verfasser geht noch einmal auf das
ebensooft wie vergeblich zur Entzifferung
herangezogene „Alphabet“ Landas ein und
zeigt für gewisse Zeichen dieses Alphabets
mögliche phonetische Parallelen.
Sowenig wie Landas Alphabet als Entziffe-
rungsschablone dienen kann (gegen eine Buch-
stabenschrift der Maya spricht schon der große
Glyphenbestand), so wenig kann es auch
bloße Erfindung sein. Merkwürdig ist der
von Zimmermann hervorgehobene Umstand,
daß speziell diese von Landa angeführten
Zeichen zum größten Teil selten in den Hand-
schriften verkommen und daß umgekehrt die
hier häufigen Zeichen nicht bei Landa auf-
geführt sind.
Neu und wichtig für die weiteren Unter-
suchungen ist die begriffliche Analyse be-
stimmter (bebilderter) Textpartien und die
sich daraus ergebenden „Begriffsreihen“. In
ihnen bleibt — zunächst — die individuelle
Bedeutung der Zeichen unberücksichtigt, je-
doch grenzen diese Begriffsreihen die mög-
liche Bedeutung ihrer Glieder gegen andere
ab. Das scheint gegenüber früheren Versuchen
ein erfolgversprechender Fortschritt in der
Untersuchung dieser zum größten Teil noch
unbekannten Materie zu sein.
Diese Analyse wird durch eine Eigenart der
Mayaschrift möglich gemacht, die der Verfas-
ser „positioneile Begriffsschematik“ nennt.
Darunter ist das Vorkommen gleichgerichte-
ter Begriffe an positioncll gleichen Stellen in
Textfolgen zu verstehen, die auffallend sche-
matisch konstruiert sind. Hier liegen even-
tuelle Möglichkeiten, auch in anders aufge-
baute Textpartien einzudringen und sie be-
grifflich zu gliedern.
Ebenfalls von besonderer Bedeutung ist die
Aufdeckung des positiven bzw. negativen
Aspektes der Göttergestalten und der mytho-
logischen Tiere. Die Unterlagen dazu lieferten
die augurischen Abschnitte der Dresdener und
der Madrider Handschrift. Daraus ergab sich
eine Überarbeitung der 1904 von Paul Schell-
has veröffentlichten Götterreihe der Maya-
handschriften und ihre Neugliederung nach
den jeweiligen Aspekten. Von dieser Neu-
Zusammenstellung (Tafel 6—7) wurden die
eine Reihe für sich bildenden Gottheiten der
Venuskapitel ausgenommen.
In engem Zusammenhang mit den Gott-
heiten (und den mythologischen Tieren) ste-
hen naturgemäß die Glyphen der nominalen
Begriffsreihe, mit den jeweiligen Aspekten
beider die der attributiven Begriffsreihe. An
letzteren zeigt sich, durch Beispiele belegt, die
Bedeutung der Affixe, die hier einen Aspekt-
wandel des affigierten Hauptzeichens verur-
sachen.
Die Opfer-Gaben-Reihe mit bekannten
Glyphen wurde um neue Formen bereichert.
Durch die Teilung des Begriffes in „Opfer“
und „Gaben“ wurden seine beiden Möglich-
keiten erfaßt: das Opfer an die Götter und
deren Gaben an die Menschen.
Die thematischen Begriffsreihen endlich
umfassen jene Glyphen, die nach Art ihres
Vorkommens auf bestimmte Themenkreise
zugeschnitten sind. Auf die in einer früheren
Arbeit (Kurze Formen- und ßegriffssystema-
tik der Hieroglyphen der Mayahandschriften.
Museum für Völkerkunde Hamburg, Ham-
burg 1953) gesonderte Aufstellung dieser
Reihe (Tafel 5, 6, 7 obere Hälfte) verzichtete
der Verfasser auf Grund der gegenüber jener
Arbeit verbesserten formenkundlichen Syste-
matik und Notation. Die entsprechenden Hin-
weise finden sich dafür im Vorkommensnach-
weis.
Der Versuch einer Bestandsaufnahme des
Handschriftenmatcrials ist nicht neu. Jedoch
bietet diejenige Zimmermanns gegenüber der
von Gates 1931 publizierten den Vorzug er-
heblich größerer Handlichkeit (Gates, Wil-
liam E., An outline dictionary of Maya
glyphs. Maya Society, Publ. No. 1. Balti-
more, 1931). Es bleibt zu hoffen, daß diese
Arbeit mit ihren neuen und wesentlichen Ge-
sichtspunkten die Hicroglyphenforschung ein
Buchbesprechungen
211
gutes Stück weiterbringt und daß bald auch
das über die Inschriften angesammelte Mate-
rial unter Anwendung gleicher Kriterien ver-
öffentlicht wird. B. Spranz
ETTA BECKER-DONNER (Hrsg.):
Zwettler-Codex 420 von P. Florian Paucke
SJ. 1. Teil. Unter Mitarbeit von Gustav
Otruba. Wien: Wilhelm Braumüller 1959.
(Veröffentlichungen zum Archiv für Völ-
kerkunde, Bd. 411.)
Dem Amerikanisten ist P. Martin Dobriz-
hoffers „Geschichte der Abiponer“ (1783/84)
ein Begriff — daß aber ein Landsmann und
Ordensbruder des österreichischen Jesuiten zur
gleichen Zeit und im gleichen Gebiet missio-
niert und seine Erinnerungen in ausführlicher
Form niedergeschrieben hat, ist wenig be-
kannt. Der Verfasser dieses nach seinem Auf-
bewahrungsort im Zisterzienserstift Zwettl
(Österreich) als „Zwettler Codex 420“ bc-
zeichneten Manuskripts ist der 1719 geborene
Florian Paucke (Baudke). Bisher war Pauckes
zwischen 1774 und 1780 geschriebener Beridit
über seine Missionsjahre (1748—69) unter
den Mocobi (einem Guaycuru-Stamm des
südlichen Gran Chaco) nur in einer spanischen
Übersetzung vollständig und wortgetreu ver-
öffentlicht worden (Publicaciones de la Uni-
versidad Nacional, Tucumán, No. 324/1942—
43). Erfreulich also, daß die Wiener Ethno-
login Etta Becker-Donner unter Mitarbeit von
Gustav Otruba es unternommen hat, eine
deutsche Gesamtausgabe einschließlich aller im
Codex 420 enthaltenen (z. T. kolorierten)
Handzeichnungen zu edieren. Der 1. Band
dieser Ausgabe liegt nun vor; er umfaßt eine
von Gustav Otruba geschriebene Einführung
mit den Lebensdaten P. Florian Pauckes so-
wie einen knappen Überblick über das mis-
sionarische Wirken des Jesuitenordens. Dabei
wird zunächst die jesuitische Wcltmission Im
allgemeinen, ihre Ausbreitung und ihre Me-
thode dargelegt, darauf folgt ein Abriß der
Missionstätigkeit der Societas Jesu in Süd-
amerika, eine kurze Abhandlung über die
Jesuitenreduktionen in Paraguay, ihre Wirt-
schafts- und Sozialverfassung sowie ihren Zu-
sammenbruch nach der Vertreibung der Jesui-
ten im Jahre 1769. Daran schließt sich als
Hauptteil die originalgetreue Wiedergabe
des „Zwettler Codex 420“ an. Im 2. Teil des
Werkes wird Etta Becker-Donner sich vom
ethnologischen Standpunkt aus mit den Mis-
sionsmethoden der Jesuiten In Paraguay so-
wie dem ethnologischen, linguistischen und
landeskundlichen Inhalt des Paucke-Manu-
skripts auseinandersetzen. Drei Kapitel aus
dem Codex — über die Sitten der Mocobi,
über ihr Christentum und über die Landes-
natur des Gran Chaco —, ferner ein Litera-
turverzeichnis und Sachregister sollen das
Werk abschließen.
Otrubas Einführung stellt den historischen
Rahmen dar für den Bericht des Missionars.
Neben seinem Wert als ethnographische
Quelle bildet der Zwettler Codex nämlich
auch einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte
der Jesuitenmission in Paraguay und steuert
wertvolles Material zu den bekannten Streit-
fragen um die Reduktionen der Societas Jesu
bei. Otruba gehört nicht zu den Verfechtern
eines Jesuiten-„Staates“, und er glaubt auch
nicht daran, daß die Verfassung der Reduk-
tionen ihre Entstehung einem „planvollen
Experimentieren nach utopischen Vorbildern“
verdankt. Für ihn sind die Reduktionen und
die Missionierungsweise hervorgegangen aus
der typisch jesuitischen Akkomodationspraxis
— d. h. einer möglichst weitgehenden Anpas-
sung an Lebensweise und Denkart der zu
missionierenden Volksgruppen. Für Otruba
unterliegt es keinem Zweifel, daß die Ordens-
devise „Omnia ad maiorem Dei gloriam“
auch die Missionsarbeit der Jesuiten be-
stimmte. —
P. Florian Pauckes Schilderung führt uns
durch die 21 Jahre, die er in Paraguay ver-
brachte — von der Mühsal einer zehnmonati-
gen Reise von Olmütz nach Montevideo,
durch die langen Jahre als Reduktionspfarrer
in San Francisco Xavier (nördlich von Santa
Fe) bis zu der bitteren Stunde der Vertrei-
bung von seinem Arbeitsfelde und dem
schmachvollen Rücktransport nach Spanien.
Die wortgetreue Wiedergabe mit ihrer al-
tertümlichen Orthographie und dem oft recht
weitschweifigen Stil P. Pauckes gestalten die
Lektüre nicht eben flüssig, aber der Verfas-
ser — ohne die gelehrten Ambitionen seines
Mitbruders Dobrizhoffer zu haben — weiß
seinen Leser zu fesseln. Eine scharfe Beob-
achtungsgabe und der Wunsch, „unpartheyisch
zu schreiben und keinen größer noch gerin-
ger einschätzen“ zu wollen, machen sich wohl-
tuend bemerkbar. Selbst wenn er gelegentlich
212
Buchbesprechungen
einmal herbe Kritik übt — sei es wegen un-
nötiger Reisemühen und Schikanen unterwegs,
sei es wegen der Schwierigkeiten mit der welt-
lichen Obrigkeit — ist seine Sprache offen
und derb, aber ohne Bosheit. Ein kraftvoller,
oft kecker Humor (der sich immer wieder in
launigen Sdrilderungen oft gar nicht ergötz-
licher Situationen beweist!) und eine tiefe
Glaubenssicherheit lassen ihm sein Liebes-
werk leicht werden. Dem Ethnologen von be-
sonderem Interesse ist Pauckes offensichtliches
Geschick, sich bei seiner seelsorgcrischen Ar-
beit der Akkomodationsmethode zu bedienen.
Einfühlungsvermögen und pädagogische Be-
gabung helfen ihm bei der schwierigen Auf-
gabe, ein typisches Jägervolk an landwirt-
schaftliche und handwerkliche Tätigkeiten
heranzuführen und den an unstetes Schweifen
gewöhnten Indianern die Anfangsgründe
vorausschauenden Planens und bedachtsamen
Wirtschaften nahezubringen.
Das MS enthält eine Fülle ethnographi-
schen Materials, das Etta Becker-Donner im
2. Teil des Werkes auswerten wird und das
daher hier noch nicht im einzelnen zu be-
sprechen ist.
Der „Zwettler Codex 420“ wird in einer
sorgfältigen Ausstattung und mit ausgezeich-
neten Bildwiedergaben vorgelcgt. Um so mehr
sähe man zwei Schönheitsfehler gern vermie-
den; das Fehlen der Akzente sowie Druck-
fehler bei spanischen Ortsnamen und die
wiederholte Eindeutschung spanischer Orts-
und Eigennamen. Es geht nicht an, beispiels-
weise aus einem „Caspar de Caravaca“ einen
„Kaspar von Caravaca“ zu machen — zumal
das „de“ in spanischen Eigennamen nur in
wenigen Fällen ein Adelsprädikat, meist aber
ursprünglich eine Herkunftsbezeichnung dar-
stellt. Nennt man eine Reduktion „St. Joseph“
anstatt „San José“, so müßte „San Estanislao“
konsequenterweise „St. Stanislaus“ heißen —
eine Kombination wie „St. Joachim (San
Joaquin) de Taruma“ erscheint uns vollends
unmöglich! —
Im deutschen Sprachbereich fließen die
Quellen zur frühen Kolonialgeschichte Ibero-
amerikas nicht so reich wie in den Archiven
Spaniens und Portugals. Um so dankbarer
dürfen wir der Herausgeberin des Zwettler
Codex sein, daß sie das wichtige Manuskript
des P. Florian Paucke uns in einer so anspre-
chenden Form zugänglich gemacht hat.
G. Calvo
HELMUT DE TERRA:
Alexander von Humboldt und seine Zeit
Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1956.
Unter den zahlreichen deutschsprachigen
Veröffentlichungen anläßlich der hundertsten
Wiederkehr des Todesjahres von Alexander
von Humboldt befinden sich nicht eben viele,
die dem wissenschaftlich nicht Vorgebildeten
eine Vorstellung von der Persönlichkeit, dem
Werk und der wissenschaftlichen Bedeutung
des großen Forschers zu geben suchen. So
gewinnt das vorliegende Buch des bekannten
Vorgeschichtlers Helmut de Terra erhöhte
Bedeutung. Ohne die Prätention ernsthafter
wissenschaftlicher Untersuchungen über Hum-
boldts Leben und Wirken, will es den „Ver-
such“ (so der Autor selbst) wagen, den genia-
len Forscher und bedeutenden Menschen in
einer volkstümlichen Darstellung dem Leser
näherzubringen.
de Terra legt eine Biographie vor, die alle
wesentlichen Lebensstationen Humboldts be-
rührt, ohne sich indessen auf eine Wiedergabe
bloßer „Daten“ zu beschränken: mit Bedacht
wählte der Autor den Titel „Humboldt und
seine Zeit“ — daß eine so vielschichtige Per-
sönlichkeit, ein so universeller Geist nur zu
verstehen ist aus der geistigen Situation, aus
der Kenntnis der auf ihn wirkenden Ein-
flüsse von Elternhaus und Familie, Freunden,
wissenschaftlichen Mitarbeitern, der politi-
schen und menschlichen Atmosphäre — dies
Bewußtsein bestimmte maßgeblich den Auf-
bau des Buches.
Schon während der Kinder- und Jugend-
jahre erwachte das Interesse an den Erschei-
nungsformen und Gesetzen der Natur in
Alexander v. Humboldt, aber auch die Nei-
gung zu versponnener Zurückgezogenheit und
eine gewisse Empfindlichkeit dürften in der
Kindheit des „schwierigen“ Knaben ihre Wur-
zeln gehabt haben. So aufschlußreich übrigens
der Versuch eines solchen psychologischen Ju-
gendbildes ist, erscheint es uns überflüssig,
um der „historischen Genauigkeit“ willen die
Unterrichtung des Lesers auch auf gewisse
abartige Züge in der Psyche Humboldts aus-
zudehnen. Gerade eine volkstümliche Dar-
stellung sollte dort Zurückhaltung üben, wo
der Leser — einer heute weit verbreiteten
Neigung folgend — Gefahr laufen könnte,
seinen Gegenstand unter dem Einfluß höchst
einseitig gesetzter Akzente nur noch verzerrt
Buchbesprechungen
213
zu sehen. Diskretion ist nicht gleichbedeu-
tend mit Glorifizierung!
Sicherlich haben die damals sehr populären
Expeditionsberichte der beiden Förster, eines
La Condamine oder Bougainville ihren Ein-
fluß auf Humboldt ausgeübt, ebenso wie
während seiner Göttinger Jugendjahre eine
Englandreise mit Georg Förster seinen Wunsch
nach eigenen Forschungsunternehmungen be-
stärkt hat. Das Studium und die Zeit als
Bergbaubeamter sind in ihrer intensiven wis-
senschaftlichen Arbeit nur Vorbereitung auf
die große Zeit seines Forschens, die nach
mühseligen Vorarbeiten und zahllosen Rück-
schlägen mit seiner amerikanischen Reise
(1799—1804) anbricht. Die Schilderung die-
ser 5 Jahre bildet den anregendsten und
umfangreichsten Teil des vorliegenden Bu-
ches. Zitate aus Humboldts eigener Reise-
beschreibung und einige Stiche nach seinen
Handzeichnungen ergänzen das Bild die-
ses gewaltigen Forschungsunternehmens auf
reizvolle Weise. Es muß den Leser allerdings
verstimmen, wenn die vom Verfasser oder
Verlag den Stichen beigegebenen Beschriftun-
gen an drei Stellen nicht mit den — gleich-
falls wiedergegebenen! — französischen Ori-
ginalbildtiteln übereinstimmen : Taf. 4:
„Floß . . . auf dem Orinoko“ — Original:
„Radeau de la Rivière de Guayaquil“; Taf.
5: „Landschaft bei Quito mit dem Chimbo-
razo“ — Original: „Passage du Quindiu, dans
la Cordillère des Andes“ (Quindio-Pass in
der kolumbian. Zentralkordillere); Taf. 10:
„Hieroglyphische Zeichnung aus einer alten
Inka(!)-Handschrift“ — Original: Hiéro-
glyphique, firée au Manuscrit Borgien de
Veletri.“
Im Bericht über die Amerikanische Reise
berührt es den Völkerkundler besonders, mit
welcher Aufgeschlossenheit, mit welchem Ver-
ständnis Humboldt den Eingeborenen und den
Zeugnissen vergangener Indianerkulturen ent-
gegentritt. Er gibt aber nicht nur zuverläs-
sige ethnographische Beschreibungen — wie
er auch auf allen Gebieten des Naturreiches
unermüdlich nach Ursprung, Werden und We-
sen fragt, so auch hier: er ist einer der ersten,
die in den archäologischen Überresten Perus
und Mexikos das Gewicht uralter Kulturen
spüren, er erahnt in den Felszcichnungen des
Orinokotales die historische Tiefe „primiti-
ver“ Indianerkulturcn. Humboldt war auch
überzeugt, gewisse gemeinsame Züge in My-
thologie und Kunst sowie Übereinstimmungen
in Kalenderwesen und Astronomie zwischen
amerikanischen und asiatischen Kulturen ent-
deckt zu haben und schloß daraus auf eine
asiatische Herkunft der Indianer, zumindest
aber auf eine starke Beeinflussung von Asien
her.
Die große Reise durch Venezuela, Kolum-
bien, Ekuador, Peru, Mexiko und die Ver-
einigten Staaten endet im Sommer 1804 in
Paris. Nun beginnt H. unter großen Schwie-
rigkeiten gemeinsam mit zahlreichen bedeu-
tenden Gelehrten die wissenschaftliche Aus-
wertung seiner Forschungsergebnisse, als deren
Frucht im Laufe von nahezu 25 Jahren in
30 Bänden (Text, Atlanten, Abbildungen) die
„Voyage aux régions équinoxiales du Nou-
veau Continent . . .“ vorgelegt wird — „das
größte und umfangreichste naturwissenschaft-
liche Werk . . . das es zu jener Zeit gab“ (de
Terra, 146).
1827 in den Dienst des preußischen Königs
nach Berlin zurückgekehrt, bleibt Humboldt
wie stets in seine immer umfangreichere wis-
senschaftliche Tätigkeit vertieft. Um so mehr
ehrt es ihn, daß er Zeit findet, neben seinen
akademischen Kollegs vor einem Publikum
aller Schichten seine naturwissenschaftlichen
Studien und naturphilosophischen Anschau-
ungen in öffentlichen Vorlesungen darzu-
legen: „Mit dem Wissen kommt das Denken,
und das Denken verleiht dem Volke Ernst
und Macht“ (Humboldt in einem Brief).
1829 bricht Humboldt noch einmal zu einer
großen Reise auf: 7 Monate durchstreift er
auf Einladung des Zaren Sibirien bis zur
chinesischen Grenze. Wenig später nimmt er
dann die Arbeit an der wichtigsten literari-
schen Arbeit seines Lebens, dem „Kosmos“,
Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“
auf. Dies kühne Werk sollte die gesamte
Kenntnis seiner Zeit von der Natur enthalten
und zugleich die naturphilosophischen Ideen
seines Autors darlegcn.
Während der Arbeit am 5. Band des Kos-
mos überraschte der Tod den fast Neunzig-
jährigen (6. Mai 1859). —
Der von de Terra unternommene Versuch
einer volkstümlichen Humboldtbiographie
darf im ganzen gesehen als gelungen bezeich-
net werden. Um der Lesbarkeit willen
wünschte man allerdings hier und da eine
Straffung, die v. a. der Erklärung wissen-
schaftlicher Tatbestände zugute käme. Im
übrigen sollten in einer etwaigen späteren
Auflage einige Druckfehler (z. B. Pyata anst.
214 Buchbesprechungen
Payta, S. 109; Cusco anst. Cuzco, S. 108)
ausgemerzt sowie sachliche Fehler vermieden
werden, wie die oben bereits angemerkten
Bildunterschriften und wiederholte Formu-
lierungen wie „Gebrüder Förster“ (S. 23) oder
„Neu Granada“ (das „Nuevo Reino de Gra-
nada“ umfaßte das Gebiet der heutigen Repu-
bliken Venezuela, Kolumbien und Ekuador).
Die im Anhang enthaltenen Bibliographien
der Werke Humboldts und der Literatur über
Humboldt sowie eine Zusammenstellung der
Humboldtschen Beiträge zur Naturwissen-
schaft bieten eine willkommene Ergänzung.
G. Calvo
<, Щг*9р
00941100014199
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Württ. Verein für Handelsgeographf