rfMl I )J ï 1ёщъ9Ш$рмШ IXlUwUi.
I V ft Í il «T <* •jrlfrl.JU Л.Л
il 'ft.-' '*■>► >' FniHi'iiát jj .. . *r J« U ч л* ” a. i/4 41» u * . * » .K.ie'i' ,
,v - , - - is-'^A. ... • \ ■ ■
l«í«í7lnUk^»y»»É /Жирл * 4v V *rJ* ^ к** Л«»•••• Ч»Чла^ *
М5^^“5Ж«чЖ§И« #!•*?♦< *<&*Ц
*£ *■ * »i* * ï î f»f»tt*<- ïJ-
> * ; » tfw • ■.,4, Ä *> K' “V h ,Ц y ¿ ч T * &■<$* * fJtm * **!!***% **. 4
‘k irV*л Ц Л* è V **S *%*? ÂifeiJMfSÏ
М'ЛГЦ*
lFÍ» 1 ’ ti
WükJI
U* 'i
Л л
MC i
fl№*Ví lÆJÿK
- <í •*и'п‘ ^У
, ,,;J
CIhJmT”
tui
< *'..,,,. - ■ ;. % ._ - ».j -, r :■;:' \ -
* "'»i « :^Ajk ^ iWí*IftA*№ Í^mÍ1 'S*' ‘-AmV* í
•■ .. V *. *• •> V*. V 4 . „ ti* ||иГ. i» #* * ** * ‘
«»RSiUKl “*Í* A » « * *Л*1»íflBllw'
mg№tt*l*mér9*¿K Щ
ftf■f ШШво Ш1
|'ъ4( Ä, MJTiT, £ JffiiÆÉA JWSíSSfr *|%1||>-»>*«д^Ч1й Vtf-U‘Ä
...-- sÄSSb4W*is ДА)|* .,aiH‘Vui^^V II II W il li
î ■ JJ ■ r
.J Щ fjm
TRIBUS
VERÖFFENTLICHUNGEN DES L I N D £ N - M U S E U M S
Nr. 15, August 1966
LINDEN-MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1966
Copyright 1966 hy Linden-Museum Stuttgart
Satz und Druck: Druckerei und Verlag Karl Hofmann, Schorndorf bei Stuttgart
Das Papier für dieses Heft wurde teilweise von der Papierfabrik Scheufeien GmbH.,
Oberlenningen, kostenlos zur Verfügung gestellt.
(fF«1 II
Inhaltsübersicht
Albert Schweitzer
Bericht über das Linden-Museum
Haberland, E.: Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanga-
namun am Sepik) in den Völkerkunde-Museen Stuttgart und Frankfurt
Marschall, W.: Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden
Museum........................................................................
Himmelheber, H.: Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
Fischer, E.: Die Gelbgußmaske des Ali Amonikoyi (aus Togo) im Museum
für Völkerkunde In Basel..........................................
Resch, W. F. E.: Zwei anthropomorphe Gefäße aus Ägypten
Barthel, Th. S.: Mesoamerikanische Fledermausdämonen
Haberland, W.: Eine Jadeplatte aus Xochicalco
Knecht, S.: Mexikanische Zauberpapiere — ihre Fierstellung und magische Ver
Wendung bei den Otomi-Indianern in Mexico.........................
Haberland, W.: Bat Cave — Anmerkungen und methodische Gedanken zu
Herbert W. Dicks Untersuchung.........................................
Buchbesprechungen
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Albert Schweitzer
Als Anfang September des vergangenen Jahres Albert Schweitzer seine Augen für
immer schloß, nahmen Menschen in allen Teilen der Welt an diesem Ereignis Anteil.
Im Westen und im Osten, unter Weißen und Nichtweißen, bei Christen und Angehö-
rigen anderer Religionen empfand man, daß einer von den Großen dieser Erde ge-
schieden war. Die Unterschiede, welche die Menschen unseres Jahrhunderts oft in
erbitterter Feindschaft trennen, verschwanden. Keine Gruppe konnte den Anspruch
erheben, daß Schweitzer nur ihr gehöre. Er selbst würde sich gegen solche Versuche
energisch gewehrt haben.
In einer Zeit der Spezialisierung, in der ein Hochschullehrer zumeist schon nicht
mehr das Arbeitsgebiet seines Fakultätskollegen überschauen kann, sind Menschen wie
Albert Schweitzer Seltenheiten. Es ist erstaunlich, auf wie vielen Gebieten menschlicher
Kultur er Fachmann gewesen ist. Davon kann und soll im folgenden nur ein wenig
angedeutet werden. Eine eingehende Würdigung muß dem jeweiligen Fachmann über-
lassen bleiben.
Seine größeren wissenschaftlichen Untersuchungen begannen bereits 1899, als er
24 Jahre alt war, mit einer Arbeit „Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der
reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Er hätte
daraufhin die Möglichkeit gehabt, sich in der Philosophischen Fakultät seiner Heimat-
universität Straßburg zu habilitieren. Er machte aber keinen Gebrauch davon. Er
wollte nicht nur Philosoph sein, sondern fühlte sich der Theologie verpflichtet. Dar-
über hinaus lag es ihm am Herzen, praktisch als Theologe, das heißt als Prediger und
Seelsorger zu wirken. So wurde er 1899 Hilfsprediger an St. Nicolai in Straßburg.
In die akademische Welt trat er als Lehrender 1902 ein, als er Privatdozent für
Neues Testament wurde. Auf diesem Forschungsgebiet begann mit ihm eine neue
Epoche. Zwar gab es verschiedene Richtungen in der Erforschung des Neuen Testa-
mentes. Neben den konservativen Vertretern, die im wesentlichen die Aussagen des
Neuen Testamentes in der vorhandenen Form als historisch ansahen, standen die
Liberalen, die in Jesus den Idealmenschen sahen, der neue religiöse und ethische Grund-
sätze aufgestellt hatte, bei deren Befolgung die Menschheit einer immer besseren Zu-
kunft entgegengehen würde. Schließlich gab es auch noch die religionsgeschichtliche
Schule, welche die Personen und Vorgänge in die religiösen zeitgeschichtlichen Erschei-
nungen einordnete. Allen diesen Richtungen gegenüber arbeitete Schweitzer eine konse-
quente eschatologische Sicht des Neuen Testamentes heraus. Nach ihm war Jesu Denken
und Handeln von der Erwartung des Endes dieser Welt und dem damit verbundenen
Eintritt des übernatürlichen messianischen Reiches erfüllt. Dasselbe läßt er für Paulus
gelten. Mit seinen Arbeiten setzte er sich in Gegensatz zu den meisten seiner damaligen
neutestamentlichen Kollegen. Die Folgezeit hat gezeigt, daß Schweitzers Thesen er-
wägenswert sind und manches von ihnen zum Verständnis des Neuen Testamentes
herangezogen werden muß. Seine theologischen Arbeiten beschränkten sich jedoch nicht
auf neutestamentliche Fragen, Ihn beschäftigten auch die Probleme der Religions-
8
Albert Schweitzer
geschichte. Dabei erhob sich naturgemäß die Frage nach dem Verhältnis des Christen-
tums zu den nichtchristlichen Religionen. Sie wurde von Schweitzer in der Schrift „Das
Christentum und die Weltreligionen“ behandelt. Sein Drang, den Erscheinungen des
religiösen und geistigen Lebens andersgearteter Menschen gerecht zu werden, fand
seinen Niederschlag in einer Arbeit über „Die Weltanschauung der indischen Denker“.
Aber er begnügte sich nicht mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theologie und
Religionsgeschichte, wozu ihn sein Lehramt an der Universität hätte veranlassen kön-
nen. Es drängte ihn zu praktischer Betätigung als Geistlicher. Predigt, Amtshandlungen
und Unterricht wollte er nicht missen. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuß
gehörte zu denen, die von Albert Schweitzer getraut wurden.
Trotzdem gab er die Beschäftigung mit der Philosophie nicht auf. Er schätzte sie,
weil sie den Menschen zum Denken zwingt. Er sprach daher auch nicht abfällig über
die Aufklärung und den Rationalismus. Diese geistigen Erscheinungen hatten ja im
18. Jahrhundert den Menschen den Weg zu einem freien Denken gebahnt. Er bedauerte,
daß in unserem Jahrhundert das Nachdenken geringer wurde. Er spricht dies deutlich
am Anfang seiner Arbeit über den Verfall und den Wiederaufbau der Kultur aus, wenn
er schreibt: „Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter
uns vorhanden war.“ An der zünftigen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts
übte er allerdings Kritik. Er hielt sie für weltfremd und bemängelte, daß sie abseits der
Lebensprobleme stände und das suchende Denken nicht fördere. Von hier aus versteht
man, daß Schweitzer zu einem Kulturphilosophen wurde, wobei er als Grundprinzip
die Ehrfurcht vor dem Leben aufstellte. Es ist nur folgerichtig, daß er sich dann auch
berufen fühlte, zu Einzelfragen im Leben der Völker Stellung zu nehmen wie zur
Bedrohung der Menschheit durch die atomare Rüstung.
Albert Schweitzer in seiner Bedeutung als Musiker zu würdigen, wäre Aufgabe
einer besonderen Abhandlung. Auch hier macht man dieselbe Beobachtung wie bei dem
Theologen und Philosophen Schweitzer. Theorie und praktische Ausübung sind nicht
voneinander getrennt, sondern in seiner Person zu einer Einheit verbunden.
Das größte Aufsehen erregte Schweitzer dadurch, daß er neben seiner vielseitigen
Tätigkeit als Geistlicher, Gelehrter und Künstler Medizin studierte und 1913 nach
Lambarene im damaligen französischen Äquatorialafrika ging und im Anschluß an
die Pariser Mission eine ärztliche Missionsstation in Lambarene am Ogowe begründete.
Er wollte sich dadurch keinen Namen als Tropenmediziner erwerben oder etwa Be-
rater der Kolonialverwaltung im Gesundheitswesen werden. Er wollte schlicht als
Arzt sich der alltäglichen kleinen und großen Krankheiten der Afrikaner annehmen.
Darum war ihm keine Arbeit zu gering, um sie selbst zu tun. Ob es sich um den Einkauf
der Lebensmittel handelte, was im alten Afrika oft zeitraubend war, oder um Errich-
tung eines Baues oder um Anlage eines Weges, überall war er bereit, mit Hand anzu-
legen. Und dazu kam die schwierige Aufgabe, bisher ungeschulten Menschen die Not-
wendigkeit von Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung in einem Hospitalbetrieb ein-
sichtig zu machen. Oft mußte er das in seiner Person vereinigen, was bei uns auf Arzt,
Pfleger und Verwaltungsdirektor verteilt wird.
Man mag nach den Gründen fragen, die Schweitzer veranlaßten, eine achtbare
Stellung in Deutschland aufzugeben und im afrikanischen Busch — das war Lambarene
damals — als Arzt zu wirken. Es war nicht das Haschen nach romantischem Erleben,
Albert Schweitzer
9
sondern der Ausfluß einer christlich-ethischen Haltung. Er wußte etwas von der Schuld
des weißen Mannes dem Afrikaner gegenüber. Sicherlich hat er diese nicht so inter-
pretiert, wie es bisweilen heute geschieht, als ob alles, was der Weiße in Afrika getan
hat, nur unedlen Motiven entsprossen und daher zu verwerfen sei. Er würde die Schuld
zwar auch in einzelnen dunklen Kapiteln der Kolonialgeschichte wie dem Sklaven-
handel oder der Branntweineinfuhr sehen. Daneben würde aber wohl auch die tragische
Schuld treten, welche durch das bloße Nebeneinander von Schwarz und Weiß in Afrika
entstanden ist. Hier wollte er an seinem Teile wiedergutmachen und bessern. Aus
solchem „ethischen Geist“ heraus, man könnte auch sagen: aus dem „Ergriffensein
durch den lebendigen, ethischen Gott“ heraus wurde er Arzt in Afrika.
Es war für Schweitzer charakteristisch, daß er — bei aller Kleinarbeit, die er lei-
stete — dennoch nicht im Hospitalbetrieb aufging und sein bisheriges Leben gewisser-
maßen verleugnete. Das hätte er gar nicht können; denn er gehörte zu den Menschen,
die in der Ganzheit lebten. So übte er auch in Lambarene seine Musik aus; und wenn
er in Europa weilte, gab er Orgelkonzerte, durch die er, vor allem in den Jahren nach
dem 1. Weltkrieg, seine Arbeit am Ogowe finanzierte. Er arbeitete auch an den theolo-
gischen und philosophischen Problemen weiter und veröffentlichte darüber vielerlei.
Hinzu kamen Berichte über seine missionsärztliche Arbeit und autobiographische Dar-
stellungen.
Die Größe eines Menschen zeigt sich wohl am besten darin, daß man auch mit allen
kleinen persönlichen Dingen zu ihm kommen kann. Da Schweitzer die an ihn gehende
Post schnellstens handschriftlich beantwortete, wird wohl niemals festzustellen sein, wie
oft er einem Menschen durch eine Einladung, durch Empfehlung oder anderweitig ge-
holfen hat. Dabei kamen ihm seine Verbindungen zu den höchsten Stellen sehr gelegen.
Sie mußten ihm dazu dienen, den Mitmenschen zu helfen.
Schweitzer war einer der wenigen Menschen, die Autorität genossen. Diese entsteht
dort, wo eine wirkliche Persönlichkeit vorhanden ist, bei der man weiß, woran man ist.
Dazu gehört auch, daß man aus seiner Überzeugung keinen Hehl macht. Schweitzer
ist ein gutes Beispiel dafür. Seine ersten theologischen Schriften entsprachen gar nicht
den damals geltenden Schulmeinungen und wurden daher arg kritisiert oder totge-
schwiegen. Seine Tätigkeit als „Missionsarzt“ ging nicht mit dem Leitbild eines Mit-
arbeiters auf dem Missionsfeld konform, wie es in den deutschen und französischen
Missionskreisen als selbstverständlich galt. Und wenn er in seinen letzten Lebensjahren
in der Öffentlichkeit gegen die Atombewaffnung auftrat, war er in Gefahr, als Partei-
gänger des Ostens abgestempelt zu werden. Mögliche Mißdeutungen machten ihn nicht
irre, auf dem Wege fortzuschreiten, den er als richtigen erkannt zu haben glaubte. Die
Autorität, die von ihm ausging, machte es unmöglich, ihn als Repräsentanten irgend-
einer Anschauung oder Ideologie abzustempeln. Er war einer der wenigen, denen von
aller Welt Achtung gezollt wurde.
Schweitzer hat schon zu Lebzeiten viel Anerkennung gefunden, wofür zahlreiche
Ehrungen zeugen. Wenn wir seiner auch in der „Tribus“ gedenken, geschieht es nicht
nur, weil er seit 1932 Ehrenmitglied des Württembergischen Vereins für Handels-
geographie war. Es soll vielmehr auch in diesen Blättern an einen Mann erinnert wer-
den, der länger als ein Menschenalter in Afrika und für Afrika gearbeitet hat. Zwar
hat er auf diesem Gebiet keine Forschungen getrieben und daher auch keine neuen
10
Albert Schweitzer
Kenntnisse vermittelt. Er hat uns aber den afrikanischen Menschen nähergebracht. Es
mag sein, daß wir in diesem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr so
sehr den jüngeren Bruder sehen, wie Schweitzer es getan hat. Auf jeden Fall bleibt er
aber Bruder. Daß dies nun nicht nur eine fromme Phrase ist, die im Überschwange
glaubensmäßiger Erlebnisse oder erfahrener Mitmenschlichkeit geäußert wird, sondern
Folgerungen an die Lebensgestaltung stellt, hat Schweitzer uns vorgelebt. Mag einiges
von dem, was er in Afrika geschaffen hat, eine Episode sein, der entsagungsvolle Dienst
an den kranken Afrikanern wird als Ausdruck menschlichen Verpflichtetseins seine
Frucht tragen. E. Dammann
Bericht über das Linden-Museum
Die räumliche Beengung und die damit verbundene Beschränkung der Aus-
stellungsmöglichkeiten konnten trotz gegenteiliger Hoffnungen leider auch in diesem
Jahr nicht gemildert werden. Zwar mietete das Kultusministerium für die bis dahin
bei uns untergebrachte Landesanstalt für Erziehung und Unterricht neue Räumlich-
keiten, doch dehnte sich unerwarteterweise die gleichfalls im Gebäude befindliche
Pädagogische Hochschule in einen Teil der freigewordenen Räume so weit aus, daß
der zwischen die Mietflächen eingestreute Rest für das Museum nicht sinnvoll ver-
wendbar war und deshalb auch nicht von uns übernommen werden konnte. So bleibt
nur zu hoffen, daß durch den Fortzug der Pädagogischen Hochschule nach Ludwigs-
burg, der im Spätsommer 1966 erfolgen soll, endlich eine einigermaßen befriedigende
Lösung gefunden wird, wenn diese auch durch neuerliche Raumforderungen des
Seminars für Studienreferendare gefährdet erscheint. Auch sind die erzielten Miet-
preise unbefriedigend und entsprechen in keiner Weise den ortsüblichen Ansätzen.
Verhandlungen hierüber wurden vom Mieter immer wieder hinausgezögert. So er-
gibt sich der bedauerliche Tatbestand, daß die erfreuliche Förderung, die das Museum
in anderem Bereich vom Kultusministerium erfährt, durch ständige Verschleppung
längst überfälliger Regelungen wieder abgewertet wird.
Unter den obwaltenden Umständen konnte das Ausstellungsgut nur in sehr be-
schränktem Maße gewechselt werden. So wurde die aus Lottomitteln vom Kultus-
ministerium erworbene kostbare Elfenbein-Beninmaske aus dem 16. Jahrhundert
der in der Schatzkammer gezeigten Ausstellung afrikanischen Elfenbeins eingefügt.
Ferner wurde die Sonderausstellung „Kunst aus Westafrika“ durch Beispiele „Buddhi-
stischer Kunst“ abgelöst und in einem Oberlichtsaal, der bisher die Sammelergebnisse
der letzten Afghanistan-Expedition des Museums zeigte, eine „Keramik-Ausstellung“
aufgebaut, die Material verschiedenster Zeiten aus den außereuropäischen Erdteilen
zur Darstellung bringt. Sobald die Raumfrage geklärt ist und wir über größere Aus-
stellungsflächen verfügen, sollen die einzelnen Kontinente in ihren kulturellen Lei-
stungen dauernd vorgeführt und daneben in stetem Wechsel Sonderthemen behandelt
werden.
Der Besuch ist leicht zurückgegangen: von 34 056 im Jahre 1964 auf 33 196 Per-
sonen im Jahre 1965, was sich vermutlich durch die unguten Verkehrsverhältnisse,
wie sie sich während des Umbaues des Hegelplatzes ergaben, neuerdings aber auch
durch den Fortfall bisheriger Parkplätze, erklärt. Durch regelmäßige erläuternde
Lichtbildvorträge, zu denen noch die häufigen Führungen von Gruppen und Schul-
klassen treten, soll dieser Ungunst der Verhältnisse so weit wie möglich entgegen-
gewirkt werden. Auch wird angestrebt, das Fernsehen, das 1965 zwei Sendungen über
das Linden-Museum brachte, sowie den Rundfunk noch stärker zu interessieren.
In mehreren Fällen hat das Linden-Museum auch wieder außerhalb Stuttgarts,
nämlich in Hellbronn, Herrenberg und Schwäbisch Gmünd ausgestellt. Ferner er-
hielten die Musikschule Schwenningen, die völkerkundliche Sammlung der von
llltlllA»
12
Bericht über das Linden-Museum
Portheim-Stiftung in Heidelberg und das Jugendhaus in Stuttgart-Bad Cannstatt
Leihgaben zur Erweiterung ihrer jeweiligen Ausstellungen. Beispiele handwerk-
lichen Schaffens der Naturvölker wanderten mit einer Foto-Ausstellung des Landes-
gewerbeamtes Karlsruhe nach Ettlingen, Offenburg, Villingen, Überlingen und Frei-
burg. Zu Studienzwecken und wissenschaftlichen Katalogisierungsarbeiten über-
regionalen Charakters ging Sammlungsmaterial — vor allem Handschriften — leih-
weise an Universitätsinstitute in Marburg, Göttingen, Bonn und Tübingen. Auch
dem Staatstheater und dem Fernsehen wurde durch Ausleihe von Sammlungs-
objekten geholfen. An die völkerkundlichen Seminare der Universitäten Freiburg
und Münster wurden Bücherdoubletten zum Aufbau ihrer Bibliotheken gegeben. In
den Sommerferien hospitierten Studierende aus Wien und Köln in unserem Hause,
um sich mit den verschiedensten Gebieten der musealen Arbeit vertraut zu machen.
Auch besichtigten die völkerkundlichen Seminare der Universitäten Wien und Mainz
die Ausstellungen und Magazine des Museums.
Die in den Wintermonaten 14tägig durchgeführten Freitagabend-Vorträge sowie
die Sonntagsmatineen waren stets gut besucht. Seit dem letzten Bericht (in Tribus 13)
wurden vom Oktober bis Dezember 1964 sechs Abendvorträge, zwei Sonntags-
matineen und außerdem zwei Aufführungen des chinesischen Schattenspiel-Theaters
von Dr. Max Bührmann veranstaltet. Diese Darbietungen waren von 2557 Personen
besucht; dazu kamen im Jahre 1965 zwölf Abendvorträge und sechs Sonntagsmati-
neen sowie als Sonderveranstaltung die Aufführung polynesischer Volksmusik, in
der — von Prof. Th. S. Barthel, Tübingen, eingeführt — neun Osterinsulaner auf-
traten, ferner die Vorstellung eines indischen Künstlerensembles mit Marionetten-
spiel und Tanz im klassischen Rajasthan-Stil. Die Zahl der Veranstaltungsbesucher
— unter ihnen viele Schüler und Studenten — betrug im Jahre 1965 6150. Außer-
dem waren die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Museums zu Vorträgen nach Ber-
lin, Bonn, Göttingen, Hamburg, Hannover, Hildesheim, Köln und Steinheim ein-
geladen.
Der Ausbau der Sammlungsbestände konnte durch wichtige Neuerwerbungen
weitergeführt werden. Eine große Altperu-Sammlung aus der Schweiz, deren erster
Teil 1964 erworben wurde, ging nunmehr vollständig an das Linden-Museum über,
wobei die Stadt Stuttgart und das Kultusministerium zu etwa gleichen Teilen halfen.
Ebenso konnte eine gute Sammlung der verschiedenen Bereiche alt-mexikanischer
Kunst erworben werden. Durch einen Zuschuß des Kultusministeriums zu zwei
Expeditionen des Heidelberger Südasien-Institutes wurden deren Sammlungsergeb-
nisse dem Linden-Museum übereignet. Dazu traten viele Einzelstücke und Gruppen
von Objekten, mit denen vorhandene Sammlungslücken geschlossen werden konnten.
Besonders erfreulich ist das Geschenk einer wertvollen Bodhisattva-Holzplastik aus
dem frühen 14. Jahrhundert Chinas (Ming-Zeit) durch Herrn Fabrikant Trumpf,
Weilimdorf. Auch der Verkauf altägyptischer Sammlungsteile des Museums an das
Ägyptologische Institut der Universität Tübingen hat in diesem Jahr den Kauf wich-
tiger Ergänzungen ermöglicht. Hinzu kamen Schenkungen einzelner Objekte durch
L. Bretschneider, München, P. Eder, Rottenburg, E. Heinrich, Stgt.-Bad Cannstatt,
K. Kitzele, Stgt.-Büsnau, und Frau Greiner, Waiblingen. Im übrigen werden die Ab-
nv l* '«» V
Bericht über das Linden-Museum
13
teilungsleiter im Anschluß an diesen Bericht etwas ausführlicher über die Zugänge in
den von ihnen betreuten Gebieten berichten.
Die Bibliothek konnte im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ergänzt wer-
den, ebenso das ehrenamtlich von Studienrat Wolf-Dieter Meyer betreute Tonarchiv
sowie die Lichtbildsammlung. Die wissenschaftliche Katalogisierung der Sammlungs-
bestände wurde fortgesetzt. Zu dem wegen Druckverzögerung erst im Januar 1965
erschienenen Jahrbuch Tribus 13 trat im August 1965 ein weiterer Band 14, der unter
anderem einen ausführlichen Bericht über die Ergebnisse der Afghanistan-Expedition
des Leiters der Asien-Abteilung, Dr. Kußmaul, brachte. Es ist beabsichtigt, die Jahr-
bücher in Zukunft im Spätsommer erscheinen zu lassen. Sie gehen im übrigen heute
in alle Erdteile und sind in den großen einschlägigen, wissenschaftlichen Bibliotheken
des In- und Auslandes greifbar. Durch Tausch bringen sie dem Linden-Museum die
wichtigsten Fachzeitschriften in seine Bibliothek.
Durch Geldstiftungen halfen die Firmen Robert Bosch GmbH, E. Breuninger KG,
Hahn & Kolb, Städt. Girokasse, Stuttgart, und die Wieland-Werke AG, Ulm/D.,
ferner die Herren Robert Bosch und Dr. Scheuing, Stuttgart und viele andere. Wie
in früheren Jahren stellte die Papierfabrik Scheufeien, Oberlenningen, einen Teil des
Papieres für die Tribusbände kostenlos zur Verfügung. Allen Spendern und Helfern
sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Unser besonderer Dank gilt auch dem Kultusministerium des Landes Baden-
Württemberg und dessen Ministerialdirigent Wolf Donndorf sowie der Stadt Stutt-
gart und deren Leiter des Kulturamtes, Herrn Stadtdirektor Dr. Schumann. Ohne die
regelmäßigen Förderungsbeiträge beider Stellen wäre das Museum nicht lebensfähig
zu erhalten.
Am 25. 6. 1965 wurden in der Mitgliederversammlung Vorstand und Ausschuß
mit Präsident Robert Goetz als Vorsitzendem und Stadtdirektor Dr. Schumann als
stellvertretendem Vorsitzenden auf weitere drei Jahre wiedergewählt. Anstelle des
aus gesundheitlichen Gründen ausscheidenden Schatzmeisters, Präsident Mittelbach,
trat das bisherige Ausschußmitglied Dr. Braun dem Vorstand bei. Der Ausschuß
wurde durch Zuwahl von Regierungsdirektor Wilhelm Freiherr von Linden,
Koblenz, einem Großneffen des Museumsgründers, ergänzt. Mit großer Mehrheit
wurde eine längst überfällige Erhöhung der Mitgliedsbeiträge (DM 12.— auf DM
18.—, Studenten, Schüler, Rentner DM 3.— auf DM 5.— und Firmen DM 20.—
auf DM 30.—) beschlossen.
Im Herbst des Jahres war der Direktor des Museums zur Generalversammlung
des „International Council of Museums“ (ICOM) nach New York und zu den Jubi-
läumsfeierlichkeiten des „Smithsonlan Institution“ nach Washington eingeladen.
Außerdem besuchten mehrere Mitarbeiter die diesjährige — gemeinsam mit den
österreichischen Kollegen durchgeführte — Tagung der Deutschen Gesellschaft für
Völkerkunde in Wien.
In den Zeitraum dieses Berichts fallen auch die umfänglichen Vorbereitungen
einer großen Ausstellung „Indischer Kunst“, die vom 20. 1. — 13. 3. 1966 im Kunst-
gebäude in Stuttgart gezeigt wurde und später vom 25. 5. — 31. 7. nach Hamburg
ins Museum für Kunst und Gewerbe ging. Die Vorgeschichte dieser Ausstellung
reicht längere Zeit zurück:
14
Bericht über das Linden-Museum
Zum ersten Male tauchte der Plan auf Anregung des Linden-Museums im Herbst
1963 auf. In Gesprächen mit der Deutsch-Indischen Gesellschaft und später mit dem
Stuttgarter Kunstverein wurde die Möglichkeit einer solchen Veranstaltung inter-
nationalen Formates erörtert. Der indische Generalkonsul in Stuttgart, Herr Dr.
Kissel, trug den Plan dem hiesigen Kulturdezernenten, Herrn Stadtdirektor Dr. Schu-
mann, vor, der sich rasch dafür erwärmte und eine erste Arbeitssitzung im Spätherbst
1963 mit Vertretern des Linden-Museums, der Deutsch-Indischen Gesellschaft und des
Kunstvereins anberaumte. Doch konnte die Vorbereitung erst in Angriff genommen
werden, nachdem im Sommer 1964 die Zusagen des Landes und der Stadt Vorlagen,
die Ausstellung finanziell zu unterstützen, und der Kunstverein unter seiner damali-
gen Geschäftsführerin Frau A. Widensohler sich bereit erklärte, seine großen neuen
Räume zur Verfügung zu stellen und das finanzielle Risiko zu tragen. Gleichzeitig gab
auch der Direktor der indischen Kunstabteilung der Staatlichen Museen Berlin, Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, Prof. Härtel, die Zusage, durch Leihgaben aus seinem
Museum den Grundstock zu einer solchen Ausstellung zu legen. In Verhandlungen mit
Prof. Härtel und den anderen Leihgebern, insbesondere den bedeutenden Privat-
sammlern Dr. Beimont, Basel, und R. Gedon, München, sowie Frau Dr. Elsy Leuzinger
vom Rietberg-Museum, Zürich, Herrn Dir. Dr. Lommel vom Staatl. Museum für
Völkerkunde in München, Herrn Prof. Gebhardt von der Universitätsbibliothek
Tübingen und dem Victoria & Albert Museum in London legten Prof. Härtel und Dr.
Kußmaul Umfang und Abgrenzung der Ausstellung fest. Die indische Kunstabteilung
der Berliner Staatl. Museen erklärte sich nämlich nicht nur dazu bereit, die in ihrem
Besitz befindlichen und in Aussicht genommenen Leihgaben zur Verfügung zu stellen,
sondern auch als Mitveranstalter zu fungieren, und ihr Leiter, Prof. Härtel, übernahm
vor allem die mühevolle Arbeit, den Katalog zu schreiben. Es glückte Herrn Dr. Kissel
auch, zwei große Steinplastiken aus dem Indian Museum, Kalkutta, nach Stuttgart zu
bringen, wobei er sich der besonderen Hilfe des indischen Botschafters in der Bundes-
republik, Exzellenz S. K. Banerji, bedienen durfte. Zur Verminderung der Kosten
gelang es Dr. Kußmaul, dem vom Arbeitsausschuß inzwischen die Gesamtverant-
wortung dieser Ausstellung übertragen worden war, das Museum für Kunst und Ge-
werbe in Hamburg für eine Mitbeteiligung zu gewinnen. Nachdem der Termin für
Stuttgart von etwa Mitte Januar bis Mitte März feststand, wurden die Verhandlungen
mit den Leihgebern weitergeführt und mit der Bearbeitung des Kataloges begonnen.
Im Dezember trafen nach und nach die Leihgaben ein und gleichzeitig wurde der Druck
des Kataloges vorgenommen. Die Texte wurden von Prof. Härtel, John Irwin, Dr.
R. Skelton und Dr. V. Moeller geschrieben. Die redaktionellen Arbeiten übernahm
nach Beratung mit Herrn Dr. Hönisch, dem neuen Geschäftsführer des Kunstvereins,
wiederum Dr. Kußmaul. Seit Mitte Dezember wurde dann die Ausstellung, deren
sachliche Gliederung Prof. Härtel vorgenommen hatte, in den Räumen des Kunst-
vereins von Dr. Kußmaul in Zusammenarbeit mit Dr. Hönisch sowie dem technischen
Personal des Kunstvereins und des Linden-Museums aufgebaut. Die Eröffnung in An-
wesenheit des Botschafters der Indischen Union in der Bundesrepublik sowie des
Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Herrn Dr. K. G. Kiesinger, fand
am 20. 1. 1966 statt. Im Gegensatz zur früheren Ausstellung indischer Kunst in der
Villa Hügel bei Essen wurde im wesentlichen auf europäische Bestände zurückgegrif-
Bericht über das Linden-Museum
15
fen und auch die 5000 Jahre alte Industal-Kultur nicht einbezogen, weil eine Verbin-
dung mit den späteren Kulturen Indiens nicht nachzuweisen ist, vielmehr mit dem
ersten vorchristlichen Jahrhundert begonnen. Auch das gegenwärtige Kunstschaffen des
Subkontinents blieb unberücksichtigt, so daß das Kunstgewerbe des vorigen Jahr-
hunderts den Abschluß bildete. Dagegen wurde versucht, an Hand hervorragenden
Materials einen einigermaßen gleichwertigen Überblick über die verschiedenen Stil-
perioden und Kunstbereiche zu geben.
Obwohl dies nicht mehr in die Berichtszeit fällt, sei doch vorweggenommen, daß
die Ausstellung ein erfreuliches Echo fand und allein in Stuttgart von über 31 000 Per-
sonen besucht wurde. Auch wurde die für Stuttgart und Hamburg gemeinsam gedachte
Auflage des von vielen Kollegen als vorbildlich bezeichneten Kataloges in Höhe von
ca. 5000 Exemplaren bereits ganz in Stuttgart verkauft, so daß für Hamburg eine neue
Auflage gedruckt werden mußte. Die besonderen Verdienste Dr. Kußmauls, der allein
46 Führungen während der Ausstellungszeit zu veranstalten hatte, seien dankbar
hervorgehoben.
Der große Erfolg dieser ersten bedeutenden Sonder-Ausstellung außereuropäischer
Kunst in Stuttgart gibt dem Linden-Museum den Mut, im Herbst dieses Jahres in
seinen eigenen Räumen eine weitere Ausstellung: „Kunst der Maya“ zu planen. Die
freundschaftlichen Beziehungen, die seit langem zum Kölner Völkerkunde-Museum und
seinem Direktor, Herrn Prof. Fröhlich, bestehen, haben es ermöglicht, eine große Köl-
ner Ausstellung, die im Juli eröffnet wurde und die in erster Linie Kunstwerke der
präkolumbischen Maya-Kulturen zeigt, für Stuttgart an zweiter Stelle zu gewinnen.
Diese Ausstellung wird anschließend noch in anderen europäischen Städten, insbeson-
dere ln Paris und Lissabon gezeigt. Der Plan erfordert, daß vorübergehend ein großer
Teil der hauseigenen Ausstellungen des Linden-Museums abgebaut werden muß, was
um so leichter möglich ist, weil sowieso in Verbindung mit dem zu erwartenden Raum-
gewinn neue Ausstellungen vorbereitet werden.
Ich schließe diesen Bericht mit besonderem Dank an alle Mitarbeiter des Linden-
Museums sowie an seine Aufsichtsgremien und den Vorsitzenden, Herrn Präsident
Robert Goetz, deren stetes Vertrauen und rege Förderung die Arbeiten des vergange-
nen Jahres getragen haben.
H. Rhotert
Neuzugänge für die Sammlungen
a) Amerika
Mit dem Ankauf von rund 60 figürlichen Gefäßkeramiken und 12 inkaischen
Holzkeros aus frühkolonialer Zeit ist nunmehr die gesamte Sammlung peruanischer
Altertümer, die uns von privater Hand angeboren und seit 1962 für uns reserviert war,
in den Besitz des Museums übergegangen. In den Tribus-Heften 12 und 13 wurde schon
über den vorausgegangenen Erwerb größerer Teile dieser Sammlung berichtet. Auch
das in der Berichtszeit hinzugekaufte restliche Material ist von hervorragender Quali-
tät. Das gilt für die Holzbecher (Keros) der späten (frühspanischen) Inkazeit mit ihrer
Lackmalerei ebenso wie für die Tonware, von der außer den Gefäßplastiken der
Moche-Kultur vor allem die schwarzen figürlichen Chimü-Keramiken genannt seien,
die, zusammen mit interessanten Terrakotten des Spät-Chancay-Stils, vom Land
16
Bericht über das Linden-Museum
Baden-Württemberg erworben und dem Museum als Dauerleihgabe überlassen wurden.
Unter den Neuzugängen der letzten zwanzig Jahre stehen nach ihrem Dokumen-
tationswert diese peruanischen Altertümer neben der bald nach Kriegsende angekauf-
ten Privatsammlung des Konsuls Sutorius (Altperu) und der umfangreichen Sammlung
Petersen (Columbien) obenan. Mit ihren sehr seltenen großen und kleinen Holzschnitz-
werken, ihren vielen Spitzenstücken von Moche- und Chimü-Keramik, den ausgesuch-
ten Beispielen inkaischer Töpferkunst — die vorher nur dürftig in unserem Museum
vertreten war — und den erstklassigen Keros hat die neue Sammlung den Formenkreis
unserer archäologischen Bestände aus dem zentralandinen Raum wesentlich erweitert
und abgerundet. Daß dieses einzigartige Material den Weg in unser Museum fand, ist
der Stiftung Volkswagenwerk, dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart,
aber auch mehreren Firmen unserer heimischen Industrie zu danken.
Die zweitwichtigste Erwerbung ist eine etwas mehr als 40 Nummern umfassende
Sammlung mexikanischer Altertümer, die aus privatem Besitz angekauft werden
konnte. Ihr Wert für das Museum liegt darin, daß sie in typischen Beispielen aus Ton
und Stein die wesentlichsten Epochen und Stilprovinzen mexikanischer Kunst vom
Archaikum bis zur Aztekenzeit dokumentiert. Die Sammlung enthält u. a. mehrere
Ahb. 1. Gegabelter Pfahl mit menschlichem
Gesicht, auf dem Reste roten Farbauftrags
erhalten sind. Wahrscheinlich Stützpfeiler
eines Daches, vielleicht von einer Grabkam-
mer oder einem tempelartigen Kultbau.
Schweres, hartes Huarango-Holz.
Höhe: 120 cm; Gabelbreite: 48 cm; obere
Gesichtsbreite: 38 cm. Inv.-Nr. M 30 103.
Gefunden auf dem Gelände der Hazienda
Camaya im Ica-Tal des südperuanischen Kü-
stengebiets. Nazca-Kultur, vermutlich aus
deren Spätzeit (etwa 700—800 n. Chr.),
möglicherweise auch älter.
Bericht über das Linden-Museum
17
Abh.2. Schale mit Deckel.
Holz, braun-schwarz
patiniert. Höhe: 25 cm;
Länge: 36 cm; Breite:
27,5 cm. Rotse, Zambia.
Inv.-Nr. F 50 686.
Frauenfigürchen der frühen Kunst des Tlatilco-Horizontes, eine Anzahl großer figür-
licher Terrakotten der westmexikanischen Kultur (Colima, Nayarit, Jalisco), ein
totonakisches Steinjoch, eine zapotekische Tonurne mit Jaguarmaske, ein halbes Dut-
zend charakteristischer Steinfiguren der Mezcala-Kultur Guerreros sowie zwei azteki-
sche Steinplastiken, deren eine die Maisgöttin darstellt.
An Einzelobjekten wurden käuflich erworben ein großer, aus Hunderten von
Vogelknochen gearbeiteter Zeremonialschmuck („Tayo-cunchi“) der Jivaro in der
ecuadorianischen Montaña, der mit Fruchtsamen, Affenzähnen und irisierenden Käfer-
flügeldecken besetzt ist und als Rückengehänge an einem gewebten Baumwollstirnband
getragen wird, sowie ein alter Rückenfederschmuck der Bororó Zentralbrasiliens, deren
interessante Kultur in den Beständen des Museums — infolge von Kriegsverlusten —
heute leider nur noch sehr unvollständig dokumentiert ist. Dazu kommen eine weib-
liche Terrakotta-Statuette der Tlatilco-Kultur vom „Fine-Lady“-Typ, die angekauft
wurde, und ein Frauenköpfchen desselben Stils, das Herr L. Bretschneider, München,
dem Museum schenkte.
F. Jäger
b) Afrika
Der Schwerpunkt der Neuerwerbungen lag wiederum — dem Angebot entspre-
chend — in Westafrika.
Die Sammlung aus dem West-Sudan konnte durch wichtige Einzelstücke erweitert
werden: Eine Marionette von den Bambara, eine Maske von den Mande sowie ein
Zeremonialstab und ein Sitz von den Dogon sind wertvolle Ergänzungen. Aus dem
Gebiet der Voltavölker sind vier Plastiken von den Mosi sowie eine Plastik von den
Lobi zu erwähnen, die im Aufsatz von Herrn Dr. Dr. Himmelheber in diesem Tribus-
band veröffentlicht wird. Ferner gelang der Erwerb einer alten Bobo-Maske. Eine
beachtliche Erweiterung erfuhr unsere Sammlung von Gelbgüssen durch einige Objekte
von den Tusyan und eine größere Anzahl von Senufo-Stücken.
Bericht Uber das Linden-Museum
Aus dem Bereich der westlichen Oberguinea-Küste kamen eine Maske von den
Kran und mehrere Schmuckstücke der Guro ins Haus. Wenige, aber auserlesene
Stücke bereichern unsere Sammlungen von der östlichen Oberguinea-Küste: Zwei
Masken und einige Ethnographica der Baule, eine Metallplastik des Ogboni-
Bundes der Yoruba, sowie eine Ifa-Rassel aus Elfenbein (ebenfalls Yoruba).
Das letztgenannte Stück ist im Zusammenhang mit unseren anderen Elfenbein-Kunst-
werken der Yoruba eine besonders wichtige typologische Ergänzung: eine männliche
und eine weibliche Figur sind übereinander und mit den Füßen gegeneinander stehend
im Mittelstück der Rassel dargestellt. Durch Schenkung bekamen wir zwei Flecht- und
zwei Lederarbeiten aus Kamerun.
Ein besonders guter Fang gelang uns durch den Erwerb einer Initationsrassel aus
Loango. Ein ähnliches Stück ist aus der Literatur bekannt. Es handelte sich hier um ein
einmaliges Angebot, das wir erfreulicherweise nutzen konnten.
Als Stiftung eines Stuttgarter Bürgers erhielten wir eine geschlossene Sammlung
von 61 Ethnographica (dabei eine Anzahl interessanter Plastiken) von den Ambundu
in Angola.
Abschließend sind noch vier wichtige Einzelstücke zu nennen: Eine Holzschale mit
Deckel von den Rotse (siehe Abb.), eine Sanza von den Pedi in Südafrika, eine Harfe
mit angeschnitztem Elfenbeinköpfchen von den Mangbetu und eine bemalte Rinderhaut
(Angareb-Decke) aus Äthiopien. Die Sanza von den Pedi ist in vieler Hinsicht ein
interessantes und wichtiges Kulturdokument; der Resonanzkörper besteht aus einem
stark patinierten Schimpansenschädel. Das Stück muß weit über 100 Jahre alt sein,
da — nach Auskunft von Zoologen — Schimpansen seit über 100 Jahren nicht mehr
in jenem Gebiet leben. Die Herkunft des Stückes, das aus der A. W. F. Füller Collection
stammt, ist durch die Ortsangabe Mariti gesichert.
/. Zwernemann
c) Asien und Ozeanien
Auch innerhalb dieser Berichtszeit fällt der Schwerpunkt an Erwerbungen Asien zu,
und hier sind in erster Linie zwei Sammlungen zu nennen, die von Mitgliedern des
Südasien-Instituts Heidelberg für unser Museum zusammengetragen wurden; F. Scholz
sammelte während einer Film-Expedition im nördlichen Thailand und brachte von den
Meau 131, von den Lahu Na 30, von Akha 52 und von anderen benachbarten Stäm-
men 15 ethnographische Objekte mit, darunter eine sehr schöne Sammlung wertvoller
Textilien. L. Löffler sammelte während einer kürzeren Reise in den Chittagong Hill
Tracts und brachte von den Bawm 54 und von den Mru 60 Ethnographica mit, auch
dies recht geschlossene und gute Sammlungen. Beide beweisen, daß man draußen wert-
volles Material zu recht bescheidenen Preisen erwerben kann, das zudem den Vorzug
hat, systematisch gesammelt und gut dokumentiert zu sein.
Aus anderen Quellen gingen der Asien-Abteilung folgende Stücke zu: Aus Klein-
asien zwei Stickereien und zwei Bauernteller, beide aus dem 19. Jh. Aus dem Iran zwei
feine glasierte Tongefäße aus dem 14./15. Jh.; aus Vorderindien einige Prunkgewänder;
aus Tibet ein Gewehr, eine Tempeltrompete, ein Räuchergefäß und ein Zauberhorn;
aus Indonesien zwei Batak-Zauberstäbe und einige hervorragende Dayak-Waffen
;* 4rnir ii
Bericht über das Linden-Museum
19
Ahb. 3. Der Bodhisattva Sarnantabhadra, auf dem Elefanten sitzend. Holz mit farbi-
ger Fassung. Höhe: 85 cm. China, 14. Jh. Inv.-Nr. A 30 545.
Bericht über das Linden-Museum
(Lanzen und Schwerter) sowie ein Trophäenschädel dieses Volkes in seltener Präpara-
tion (vgl. Abb.) und eine islamisch beeinflußte steinerne Stele aus Java; aus Nord-
asien zwei Korjäken-Knochenschnitzereien, dazu ein Köcher und ein Bogenstab von
den Tschuktschen, aus Japan ein feines Steinzeuggefäß für die Teezeremonie und aus
China eine Nackenstütze aus glasiertem Ton (ming-zeitlich) sowie zwei Tonöfen (han-
und t’ang-zeitlich). Die beiden bedeutendsten Einzelerwerbungen der Berichtszeit stam-
men gleichfalls aus China. Eine große, fein gemusterte Vase mit Blaudekor aus der
Periode Wan li und eine farbig gefaßte Holzplastik aus der frühesten Ming-Zeit, eine
Darstellung des Bodhisattva Samantabhadra (vgl. Abb.), deren Fassung mit freund-
licher Hilfe des Württembergischen Landesmuseums restauriert werden konnte. Das
Stück kam als Geschenk der Firma Christian Trumpf, Stuttgart, ins Museum und ist
zweifellos eine der erfreulichsten Neuerwerbungen der Asien-Abteilung seit Jahren.
Eike Haberland
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun
am Sepik) in den Völkerkunde-Museen Stuttgart und Frankfurt*
1. Vorbemerkung
Das Lindenmuseum konnte im Jahre 1961 von Günther Markert zusammen mit
einer größeren Neu-Guinea-Kollektlon einen geschnitzten und bemalten Firstpfosten
erwerben, der zu den schönsten Stücken seiner Art gehört (Inv.Nr. 122 212). Ja, ich
möchte sagen, daß er der schönste in einem Museum befindliche Sepik-Pfosten ist. Das
Dach und die Plattform des Männerhauses, zu dem er gehörte, waren schon vor länge-
rer Zeit, vermutlich vor über zwanzig Jahren verrottet, so daß wie in vielen Sepik-
Dörfern nur noch die großen, gegenüber Insekten und Witterung unempfindlicheren
Pfosten stehen blieben. Die nicht zahlreichen Männer des zu diesem Männerhaus ge-
hörenden Dorfdrittels Munsimbitnimba, die zum Teil bereits Christen waren, konnten
sich nicht, wie die Mitglieder eines anderen Dorfdrittels in Kanganamun, entschließen,
das Haus unter Verwendung der noch stehenden Pfosten wieder aufzubauen. Sie
bauten unmittelbar neben den Resten des alten Männerhauses eine erbärmliche offene
Hütte — denn einen Versammlungsplatz für die Männer muß am Sepik noch immer
jede Gemeinde haben — und waren gern bereit, die für sie nun nutzlosen Pfosten zu
verkaufen.
1961 unternahm ich mit Meinhard Schuster eine Sammelreise für das Frankfurter
Völkerkunde-Museum an den Sepik. Bei dieser Gelegenheit kamen wir häufig nach
Kanganamun und kauften von diesem Haus vier weitere Pfosten sowie einen Pfosten
von einem anderen Männerhaus, die sich jetzt — mit Ausnahme eines Pfosten, der in-
zwischen in das Museum voor Land- en Volkenkunde in Rotterdam gelangte — in
Frankfurt befinden.
Kanganamun ist mit Recht wegen des noch stehenden, vor etwa zwanzig Jahren
in großartiger Form restaurierten Männerhauses des Dorfdrittels Wolimbitnimba
berühmt, das schon in seiner älteren Gestalt von Bateson (1958, Plate VII.A) hervor-
gehoben wird, und später, nach seiner Restaurierung und Erweiterung von fast jedem
über den Sepik schreibenden Europäer genannt und abgebildet wurde (z. B. Gilliard
1955, Bühler 1957 und 1960, Gardi 1956 und 1958, Wirz 1951, 1954 und 1959).
Dieses Männerhaus mit seinen über und über beschnitzten Pfosten, die ein ikono-
graphisches Kompendium der latmül-Mythologie bilden, stellt noch immer — 1963
* Zur Rechtschreibung der latmül-Worte: Aus praktischen Gründen werden die mei-
sten Phoneme durch Buchstaben des deutschen Alphabets wiedergegeben, s ist ein
palatalisiertes s, das bei anderen Autoren durch ch, tsch, tj usw. wiedergegeben wird,
g ist ein Rachen-r, im Unterschied zu dem häufig mit 1 wechselnden Zungen-r.
22
Eike Haherland
waren bereits die ersten Anzeichen des Verfalls zu sehen — das bedeutendste erhaltene
Bauwerk der latmül dar. Als ich mit Siegfried Seyfarth 1963 eine Forschungsreise an
den oberen Korowori unternahm, erschien es gerechtfertigt, dieses Männerhaus in der
uns zur Verfügung stehenden kurzen Zeit — es waren nur zwei Wochen — aufzu-
nehmen. Wir sind uns der Fragwürdigkeit dieses Unternehmens wohl bewußt, anderer-
seits ist es unsicher, ob in absehbarer Zeit je eine Untersuchung der latmül-Kultur statt-
findet, die — das kann nicht häufig genug wiederholt werden — als dringendstes
Desiderat völkerkundlicher Arbeit in Neu-Guinea erscheint. Während dieser Zeit hatte
ich auch Gelegenheit, Angaben über das Männerhaus munsimhit zu sammeln, dessen
Pfosten sich nun in Stuttgart und Frankfurt befinden. Die Veröffentlichung der Ergeb-
nisse unseres Aufenthaltes in Kanganamun — Beschreibung des Männerhauses wolimhit
und der Platzanlagen, Funktion der Männerhäuser, Ikonographie und Mythologie,
Ausstattung (Trommeln, usw.) — soll in ausführlicher Form an anderer Stelle ge-
schehen. Ich beschränke mich in diesem Aufsatz auf die wichtigsten Angaben, wie sie
zum Verständnis der hier beschriebenen Gegenstände notwendig sind.
Die latmül — ich will diesen von Bateson eingeführten Namen weiter verwenden,
obwohl er nicht zutrifft — sind linguistisch betrachtet Mitglieder der großen Ndu-
Familie und bilden kulturell gegenüber benachbarten sprachverwandten wie nicht ver-
wandten Gruppen eine Einheit, die ihnen auch ungeachtet der Feindschaften zwischen
den einzelnen Dörfern selbst wohl bewußt ist. Ihr Wohngebiet umfaßt nur die unmit-
telbar am Sepik-Fluß oder an alten toten Armen in seiner nächsten Nähe gelegenen
Dörfer von Sapandei im Westen bis nach Tambunum im Osten. Bereits wenige Kilo-
meter landeinwärts gelegene Dörfer wie Nangusap und Ngaikoropi, deren Kultur sich
ebenso wie ihre Sprache kaum von der von Kangananum unterscheidet, gelten schon
nicht mehr als „latmai“, das heißt als echte Flußbewohner, sondern sind „Sawos“ oder
„Nembunemba“, das heißt Leute der nördlichen Ebenen. Das gleiche gilt zum Beispiel
für das südlich Kanganamun gelegene Töpferdorf Aibom, dessen Bewohner sogar den
gleichen Dialekt wie die latmül sprechen, die indes als „Nemungki“, das heißt „Aus-
länder“ oder „Fremde“, eingestuft werden.
Die Häuser eines typischen latmül-Dorfes — als ein solches können wir Kangana-
mun ansprechen — liegen in zwei Reihen entlang des schmalen Platzes (wompunau),
an dessen beiden Enden sich die beiden Männerhäuser (ngaigo) erheben. Ungefähr
durch die Mitte des Platzes läuft die bisweilen durch Megalithen gekennzeichnete
Grenze zwischen den beiden exogamen Heiratsklassen (und gleichzeitig damit den
Dorfhälften), denen jeweils ein Männerhaus gehört. Die beiden Hciratsklassen tragen
die Namen „nauinemba“ = „Sonnen-Leute“ (das heißt die männliche Hälfte), und
„namenemba“ = „Mutter-Leute“ (oder weibliche Hälfte). Die beiden Hälften zerfal-
len in Klane, deren Zahl von Dorf zu Dorf schwankt, und deren Mitglieder früher ihre
Häuser geschlossen zusammen bauten. Das hat heute meist aufgehört. Ungeachtet be-
stimmter totemistischer Beziehungen der einzelnen Klane ist die ganze Welt in ihren
Erscheinungsformen den beiden Hälften in der Weise zugeordnet, wie sie sich schon
aus den Namen ergibt. So „gehören“ den Sonnenleuten: Himmel, Sonne, Mond, Sterne,
Wind, Wasser, Meer, „am Fluß“, Tag, weiß und rot, oben, rechts, Opossum, Hornrabe,
Kakadu, Schildkröte, große Schlangen, viele Fische, Sago (? umstritten), Betel und
Kokosnuß. Yams und Taro „gehören“ je zur Hälfte den beiden Gruppen. Den Mutter-
Ahh. 1. Das Männerhaus mun'simhit von Süden. Vorn rechts zwei Stelen, links davon
der „Schädelhügel“. Im Hintergrund die kleine Hütte, die heute das Männerhaus
mun'simhit darstellt, rechts davon die wenigen heute noch stehenden Pfosten.
leuten wird zugeordnet: Erde, „im Busch“, Nacht, schwarz, unten, links, Kasuar (der
als ein Landtier gilt), Krontaube (?), Buschkänguruh, Hund (?), Bambus, Feuer (?).
Häufig zerfallen die Dörfer nicht in Hälften, sondern in Drittel oder Viertel, doch
ist die Zugehörigkeit aller Bewohner eines Dorfteils zu einer Heiratsklasse überall die
Regel. Zwischen den beiden Dorfhälften bestand (und besteht) ein ritueller Antagonis-
mus, der seinen deutlichsten Ausdruck in zeremoniellen Gefechten an der „Grenze“ auf
dem Platz findet, und der in alter Zeit dank des aufgeregten und heftigen Tempera-
ments der latmül häufig genug zu ernstlichen Feindseligkeiten Veranlassung gab. Diese
waren dann oft die Ursache zu Sezessionen, Abwanderungen und Neugründungen von
Dörfern.
Die Dorfhälfte von Kanganamun, in der das hier beschriebene Männerhaus mun-
simbit liegt, heißt Munsimbitnimba, ihre Bewohner gehören zu den „Mutterleuten“.
Sie gliedern sich in die Klane länga und iapmal oder iatmal (die „latmul“ von Bate-
son!). Wir werden daher vornehmlich die dieser Hälfte zugeordneten Wesenheiten auf
den Pfosten dargestellt finden. Der der männlichen Hälfte zugeordnete Dorfteil von
Kanganamun mit dem berühmten Männerhaus wollmbit heißt Wolimbitnimba. Außer-
dem gibt es einen dritten Dorfteil namens Kosimbit, der jenseits eines kleinen Flusses
Hegt und in jeder Weise ein Eigenleben führt.
\
24
Eike Haberland
Ahh. 2. Das Männerhaus munsimbit von Norden. Unter dem Dach die Sitz-Platt-
formen, davor rechts zwei verrottende Trommeln, ln der Mitte der Pfosten Angunmeri,
links davon der noch stehende, unverzierte First-Tragepfosten Nanguswan.
Mythe: Die zum Männerhaus munsimbit gehörenden Leute sagen, daß ursprünglich
ihr Männerhaus als erstes auf der Welt war, und zwar stand es im mythischen Ur-
sprungsort Mävimbit nördlich von Ngaikoropi. Da es zur „weiblichen“ Hälfte gehörte,
war damals alles dunkel. Erst als mit der „männlichen“ Hälfte das zweite Männerhaus
kam, erschienen auch Licht und Sonne.
Beschnitzte Pfosten des M'dnnerhauses munsimhit (Dorf Kanganamun am Sepik) 25
Die Reste des Männerhauses munsimhit liegen am nördlichen Ende des großen
Dorfplatzes von Kanganamun zwischen den der Überschwemmungen wegen auf kleine
Dämme gesetzten, alleeähnlichen Kokospalmen-Reihen (Abb. 1 und 2). In etwa zwan-
zig Meter Abstand erheben sich nördlich und südlich des Männerhauses zwei kleine,
künstliche, mit Palmen bepflanzte Hügel (wag), die im Kopfjagdritual von Bedeutung
waren und bei fast keinem Männerhaus des Sepik fehlen. Dicht neben dem südlichen
Hügel stehen zwei anderthalb Meter hohe Steinstelen. Unmittelbar neben den Resten
des alten Hauses hat man ein erbärmliches kleines Haus (mbarai), eigentlich nur ein
Schattendach, gebaut, unter dem sich zwei anderthalb Meter hohe Sitzplattformen für
die wenigen Mitglieder der beiden Klane dieser sehr zusammengeschrumpften Dorf-
hälfte befinden. Davor auf dem Boden vier Feuerstellen sowie drei bereits sehr mit-
genommene Schlitztrommeln. Drei weitere Trommeln stehen schon seit vielen Jahren
unter freiem Himmel, so daß sie 1963 sehr verrottet waren — einst prachtvoll ge-
schnitzte Stücke (vgl. Abb. 3 und 4 und den Grundriß). Die Trommeln haben Eigen-
namen: I. Kormapan (Krokodilkopf), II. ? (Schlangenkopf), III. Kansikaru (vorn
Schweinekopf, hinten Krokodilkopf), IV. Gramapan (Krokodilkopf), V. Sapemeri
(Krokodilkopf), VI. Kungunmeri (Fischkopf).
Überhaupt — das geht wohl aus dieser Beschreibung hervor — hat man es hier mit
einer Gemeinde zu tun, die in ziemlicher Auflösung begriffen ist. Ich habe in keinem
anderen latmül-Dorf diese völlige Indifferenz gegenüber dem überkommenen Gut
beobachtet. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß vor ungefähr fünfzehn Jahren
4\
Abb. 3. Trommel im heutigen Männerhaus mit stilisiertem Schlangenkopf (Nr. II).
26
Eike Haherland
sehr viele Leute in Kanganamun an Krankheiten starben, die man dem negativen
Einfluß der alten Religion zuschrieb. Distanzierung vom Alten und Heilserwartung
durch das Neue sind ja auch hier latent vorhanden. Deshalb haben viele Menschen, be-
sonders in diesem Dorfteil, freiwillig Masken, Figuren usw. vernichtet. So habe ich auch
leider — im Gegensatz zum anderen Männerhause mit seiner noch blühenden Ge-
meinde — verhältnismäßig wenig über den mythischen Hintergrund der auf den
Pfosten dargestellten Wesenheiten erfahren können. Die Leute, die sie in Auftrag ge-
geben hatten, waren meist gestorben, und die jungen Leute wußten vielfach nur unge-
nau, um was es sich handelte. Auch schränkt der esoterische Charakter der Mythen,
die nur die älteren Mitglieder des Klanes, dem sie gehören, kennen dürfen, ihre Ver-
breitung sehr ein.
Bei der Errichtung eines Männerhauses war das feierlichste Ereignis die Aufrich-
tung der großen Pfosten. Sehr häufig wurden dazu große Stämme genommen, die den
Sepik herabgetrieben kamen, da man sich dadurch die Mühe ersparte, sie im Walde
umzuhauen und ins Dorf zu transportieren. Die Pfosten waren Privatbesitz ihrer Er-
richter bzw. von ihren Klanen, und wurden an der Stelle eingesetzt, wo sich die Sitz-
Plattformen der einzelnen Klane unten in der großen Halle erhoben. Da viele Men-
schen es nicht verstanden, die Pfosten zu beschnitzen, mußten begabte Schnitzer damit
beauftragt werden, die mit Schweinen, Muschelgeld und Festessen reich belohnt wur-
den. Gehörten die Schnitzer fremden Klanen an, so gerieten die Auftraggeber in einen
Gewissenskonflikt, da sie notgedrungen den Künstlern Andeutungen aus den geheimen
Mythen machen mußten, um ihnen einen Vorwurf für die Arbeit zu liefern. Häufig
erklärten mir die Besitzer der Pfosten mit einem gewissen Ärger, daß dieses oder jenes
nicht so ausgefallen sei, wie von ihnen bestellt, weil der Schnitzer nicht alles erfahren
durfte. Die Pfosten wurden im Rahmen eines großen Festes eingesetzt. Man ließ sie in
die ausgegrabenen bis zu zwei Meter tiefen Löcher gleiten, und zog und hob sie dann
Abb. 4.
Zwei verrottende Trommeln vor dem Männerhaus (Nr. V u. VI).
• ♦ O
Eike Haberland
27
Trommeln
Feuerstellen
Plattformen
Das Männerhaus munsimbit in
Kanganamun im Juli 1963
28
Eike Haberland
in die Höhe. Gerne legte man gefangene, noch lebende Feinde unten in die Gruben und
ließ sie durch die Pfosten zerschmettern — ganz so wie es die Mythe von Dibariba und
Andina an der Küste beschreibt. Das muß vor noch nicht sehr langer Zeit geschehen
sein, denn die älteren Leute konnten sich noch an das Flehen und Schreien der in der
Grube Liegenden erinnern.
Das Männerhaus munsimbit hatte wie die meisten Männerhäuser am Sepik — es gab
auch solche von größeren Dimensionen — drei Mittelpfosten, die das Dach trugen.
An beiden Seiten standen jeweils sechs große Pfosten, die das Dach stützten, neben
denen kürzere Pfosten eingesetzt waren, die die Zwischenplattform trugen. Oben auf
der Plattform wurden die heiligsten Geräte aufbewahrt, hier hielten sich auch die
Initianden während der Seklusionszeit auf (vgl. den Aufriß).
Alle großen Pfosten hatten Eigennamen, die mythischen Urzeitwesen entlehnt und
für die Klane dieses Männerhauses bedeutungsvoll waren. In unserem Falle sind es die
mit dem Urzeitheros Wolintambwi zusammenhängenden Gestalten. Alle Pfosten die-
ses Hauses sind bereits mit eisernen Werkzeugen gearbeitet worden. Das erkennt man
— von der Aussage der Gewährsleute ganz abgesehen — bereits an dem überreichen
plastischen Dekor der beiden First-Tragepfosten. Die mit Steinwerkzeugen behauenen
Pfosten sind ungleich einfacher verziert, allerdings häufig in stilistisch vollkommener
Weise.
Die folgende Liste (vgl. den Grundriß) gibt Namen und Verbleib der Pfosten im
Juli 1963 an.
Westliche Pfostenreihe:
1. Angunmeri. Stand 1963. Oben an der Gabel das übliche stilisierte Gesicht, daneben
auf dem Pfosten Schlange und Haifisch. Vermutlich hängt der Name des Pfostens
mit einem mythischen Haifisch angun oder angut zusammen, der auch auf den
Pfosten des anderen Männerhauses in Kangananum auftaucht. Die Oberfläche des
Pfostens ist von den üblichen Wellen-Mustern und Seerosen bedeckt (s. u., vgl.
Abb. 2).
2. verschwunden, Name nicht mehr bekannt.
3. war 1963 vorhanden, das heißt, er wurde gerade umgelegt. Name nicht mehr be-
kannt. Oben an der Gabel Gesicht.
4. Kaimanogwan (ein Urzeit-Heros). Jetzt im Museum Rotterdam.
5. war 1963 vorhanden. Name nicht bekannt. Unbedeutende Schnitzereien unter
der Gabel.
6. Sapetnogwan (ein Urzeit-Heros). Jetzt im Frankfurter Museum.
First-Tragepfosten :
7. Wolintambwi (ein großer Urzeit-Heros). Jetzt im Stuttgarter Museum. Der Pfo-
sten führt auch den Eigennamen Sumbundemi.
8. Nanguswan. Stand 1963. Ohne Verzierungen.
9. Kamwibangeh oder Kamwoi (ein großer Urzeit-Heros). Jetzt im Frankfurter-
Museum.
östliche Pfostenreihe:
10. Tepwianogwan (ein Urzeit-Heros). Wurde ebenso wie Nr. 11 1963 gerade um-
gelegt (vgl. Abb. 5). Am oberen Ende stilisiertes Gesicht.
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun am Sepik)
29
Schematischer Aufriß eines Männerhauses im mittleren Sepik
1 großer Mittelpfosten (trägt den Firstbalken)
2 große Seitenpfosten (tragen die unteren Dachbalken)
3 Pfosten der großen Zwischen-Plattform
4 Zwischen-Plattform
3 kleine Sitzplattformen (ca. anderthalb Meter hoch)
11. Merikapwio (ein Urzeit-Heros). Wurde 1963 gerade umgelegt.
12. Verschwunden. Name nicht mehr bekannt.
13. Mbiatnbuk (ein Urzeit-Heros), verschwunden.
14. Verschwunden, Name nicht bekannt.
15. Meriamei (ein Urzeit-Heros und „Kasuar“), jetzt Im Frankfurter Museum.
Vor der Beschreibung der Pfosten und der darauf dargestellten Mythen zum bes-
seren Verständnis noch einige Bemerkungen zur Mythologie der latmül. Das religiöse
System der latmül ist wie ihre gesamte Kultur außerordentlich komplex. Mag indes
auch jeder Klan seine eigenen Heroen in den Vordergrund schieben und von ihnen an-
geben, sie seien am ersten auf der Welt gewesen und gewisse Kulturleistungen ihnen
zusprechen — und andere Klane werden dem widersprechen — in einem sind sich alle
einig: in der Schöpfungsmythe. Nach Anschauung der latmül war die Welt in der Ur-
zeit wüst, leer und dunkel. Urwasser und Himmel lagen aufeinander, bis das große
Schöpfungswesen erscheint, das je nach der Klanzugehörigkeit dessen, der die Mythe
30
Eike Haherland
Ahh. 5. Die umgelegten Pfosten Merikapwio und Tepwianogwan.
erzählt, einen anderen Namen trägt. Oft ist es zweigeschlechtlich, meist aber ist es das
Krokodil (wani). Es entsteigt dem Urwasser und scharrt mit den Klauen den Schlamm
zusammen, trennt oben und unten und erschafft auf diesem ersten Stück festen Landes
die Welt: indem es nur „denkt“ oder indem es seinen belebenden Atem über den
Schlamm streichen läßt. Häufig werden auch die großen Klanheroen als die Schöp-
fungswesen angesehen. Zu einer Übersicht über die Mythologie der latmül mit ihrer
verwirrenden Vielfalt agierender Heroen wird man erst dann kommen, wenn man
einen ihr gesamtes Gebiet umfassenden Katalog anlegt und versucht, die Grundtypen
herauszulösen, wobei sich herausstellen wird, daß die gleichen Gestalten unter ganz
verschiedenen Namen erscheinen. Zu diesen großen Heroen gehört auch Wolintambwi,
der auf dem in Stuttgart befindlichen Pfosten dargestellt ist, ebenso wie die von ihm
geschaffene Frau Nsimbwori auf dem schönsten Frankfurter Stück. Wolintambwi trägt
viele Züge des Heros Twotmeri der Sonnen-Hälfte, zum Beispiel die Beziehung zur
Sonne, zum Jenseits und zum Himmel.
2. Der Pfosten Wolintambwi (oder Sumbundemi, Sumbwari) im Linden-Museum in
Stuttgart (Abb. 8—11)
Früherer Eigentümer des Pfostens war der Klan iatmal. Gesamtlänge des Pfostens
8,60 m, Länge des Unterteils (der Pfosten wurde für den Transport in der Mitte durch-
gesägt) 4,05 m, des Oberteils 4,55 m. Unten Darstellung des mythischen Heros Wolin-
tambwi, auf dem oberen Teil hinten und vorn je ein großes dämonisches Gesicht, wie
es meist die Gabeln der großen Pfosten ziert. Das eine hat einen menschlichen Körper.
Außerdem eine ganze Reihe von mythischen Wesen. Vor einer eingehenden Beschrei-
bung der Pfosten einige mit dem Heros Wolintambwi zusammenhängende Mythen.
Beschnitzte Pfosten des M'dnnerhauses mun'simhit (Dorf Kanganamun am Sepik) 31
Mythe (Gewährsmann Sowatkaman, Klan länga, Dorf Kanganamun): Wolin-
tambwi kam aus einem Wasserstrudel herauf. Damals war nur Salzwasser da, keine
Erde. Mit ihm kam ein kleiner Erdhügel (neleng) hervor. Er legte sich auf die Erde.
Er dachte und dachte (yalakn) — da wurde der Boden größer. Er war traurig: „Oh,
ich bin ganz allein!“ Er machte aus der Erde die Frau Nsimbwori. „Oh, die Frau ist
ganz allein!“ Er machte aus der Erde den Mann Kamwibangeh. Beide heirateten und
lebten in Ngaikoropi (einem Dorf nördlich von Kanganamun). Sie wurden die Stamm-
eltern der heutigen Menschen. Zuerst wußten die Toten nicht, wohin sie gehen sollten.
Wolintambwi machte einen Weg ins Totenreich (kungadjambeh) und baute dazu eine
Leiter. [Die Gewährsleute waren sich indes nicht einig darüber, ob das Jenseits oben
oder unten liegt.] Die Mutter des Wolintambwi ist die Nacht und das Dunkel (nga’an)
und gleichzeitig das Baum-Känguruh (yämpu). Sie machte am Himmel für die Sonne
eine Tür, so daß seitdem die Hälfte der Zeit Nacht ist.
Mythe (Gewährsmann Abram, Klan iatmal, Dorf Kanganamun): Wolintambwi
hatte einen Garten. Nachts kam die Mondfrau herab und aß das Gemüse (sakna).
Wolintambwi lauerte ihr auf, packte sie in der Dunkelheit und griff ihre Scheide: „Ich
dachte der Dieb wäre ein Mann aus dem Dorf!“ Er schlief mit ihr und ließ sie wieder
weinend an den Himmel gehen.
Mythe (Gewährsmann Ngauwi, Klan länga, Dorf Kanganamun): Wolintambwi
hat die ganze Welt aus dem Salzwasser geschaffen. Er war Mann und Frau zugleich.
Nach ihm kam seine Schwester Kepma-Abä (die Erde) hervor. Er heiratete sie und
hatte mit ihr einen Sohn Kain (Bambus) und eine Tochter Yamantawa. Der Sohn des
Kain war Biatnbuk (nach dem ein jetzt verschwundener großer Pfosten des Männer-
hauses munsimbit in Kanganamun benannt war). Der Sohn des Biatnbuk war Wona-
näbi. Zuerst war die Erde klein, aber die Schlange Ndumagwa, die Schwester des
Wolintambwi, wälzte sich hin und her und machte sie größer. Die Menschen lebten
damals im Dorfe Paraisawan. Alles Essen kam von allein. Die Fische schwammen nicht
fort, Vögel und Krokodile ließen sich ohne weiteres fangen. Man schöpfte Wasser und
kochte es: da kamen Schweine heraus. Zu dieser Zeit starben die Menschen nicht, sie
wechselten nur ihre Haut und wurden immer mehr. Wolintambwi gab den Leuten viele
Ratschläge, aber sie hörten nicht auf ihn. [Was er ihnen eigentlich sagte, darüber waren
sich die Gewährsleute nicht im klaren. Der Nachsatz — s. u. — ist vermutlich eine
junge Erfindung.] „Wenn Ihr nicht auf mich hört, dann sollt Ihr sehen! Ihr werdet
kein Essen mehr haben!“ Endlich fiel er vor Ärger wie tot um und ging fort. Seitdem
geht es den Menschen nicht mehr gut. Als er fortging, hinterließ er den Menschen den
Kasuar — Wolintambwi ist selbst der Kasuar —: „Du sollst Eier legen, und die Scha-
len dem Himmel verkaufen.“ Der Kasuar kratzte mit seinen Krallen den Boden auf —
da kam der Sepik heraus.
[Späterer Nachsatz des Erzählers:] Wolintambwi sagte den Leuten, sie sollten ihre
schwarze Haut in weiße wechseln und wiedergeboren werden. Er sagte ihnen auch, sie
sollten Reis anpflanzen. Aber sie wollten nicht, sie waren zu dickköpfig. Vermutlich
ist Wolintambwi zu den Europäern gezogen, weil die alles können.
Mythe (Gewährsmann Abram, Klan iatmal, Dorf Kanganamun): Paterlimbusawen
[das ist ein anderer Name für Wolintambwi] hatte fünf Töchter, die gleichzeitig
**fn rrrf j
Abb. 7
Eike Haberland
Menschen und Kasuare waren, und daher auch amuya-ragwa genannt wurden:
Meriamänsawa, Amuyakamänsawa, Kinsikamänsawa, Milä’impau und Yuwiankim-
pau. Als sie sich im Flusse wuschen, versteckte der Mann Nsugwatlämbia heimlich den
Bastrock der Meriamänsawa. Die vier Schwestern gingen zum Vater zurück, das Mäd-
chen aber suchte und suchte, bis sie schließlich den Nsugwatlämbia traf, der sie mit nach
Hause nahm und heiratete. Den Rock versteckte er in einem hohlen Rohr im Dache. Die
beiden hatten zwei Söhne; Mbiatnbuk und Wonanäbi. Eines Tages erzählte ihnen der
Vater die Geschichte, wie er den Rock der Mutter versteckt hatte, er holte das Rohr
herab und zeigte ihnen den Rock. Am Nachmittag, als der Vater fortgegangen war,
Abb. 6
Bescbnitzte Pfosten des Männerhauses mun'simhit (Dorf Kanganamun am Sepik) 33
kam die Mutter von der Arbeit zurück. Wonanäbi, der noch klein war, plauderte seiner
Mutter alles aus. Als die Mutter das hörte, warf sie alles hin, was sie trug: Feuerholz,
Sago und Fische. Sie umarmte und küßte die Kinder. Sie buk Sago auf der Pfanne und
fütterte sie. Dann nahm sie ein Ruder, holte das Rohr mit dem Rock darin herunter
und legte den Rock an: „Wir gehen jetzt zum Hause unseres Vaters!“ Sie ging mit den
Kindern fort. Als ihr Mann nach Hause kam, war er sehr traurig und ging der Frau
nach. Im nächsten Dorfe fragte er: „Ist das der Weg zu Paterlimbusawen?“ „Nein, der
wohnt dort oben, da kannst du nicht hinauf!“ Er aber ging weiter. Da kam er zu Sa’at,
einer alten Frau, die das Tor von Paterlimbusawen bewachte. Sie warnte ihn: „Du
kannst nicht weitergehen, denn Paterlimbusawen ist böse, weil du seine Tochter ge-
heiratet hast. Er wird dich töten! Auch ist das Tor zu!“ Er bat sie so lange, bis sie ihm
half und erklärte, wie er seine Frau wiedererkennen könnte. Sie zog sich einen Zahn
aus: „Klopfe damit fünfmal gegen das Tor, dann geht es auf. Dann wirf den Zahn
hinter dich, ich nehme ihn wieder!“ Sie gab ihm auch eine Matte, in der er sich ver-
stecken konnte. So gelangte er in das Haus von Paterlimbusawen. Als dieser nach
Hause kam, entdeckte er ihn gleich und stieß ihn mit dem Fuß: „Ach, du bist der
Mann, der meine Tochter geheiratet hat! Steh auf, deine Haut stinkt zu sehr!“ Er
schlug ihn und sperrte ihn in eine Kiste aus Stein (kampakntimba) ein. Dann legte er
ihn sechs Monate ins Wasser, bis er nicht mehr stank und eine neue Haut bekam. Er
holte ihn heraus und rasierte ihn. Paterlimbusawen stellte die fünf Töchter in einer
Reihe auf und fragte: „Welche ist deine Frau?“ Nsugwatlämbia erinnerte sich dessen,
was ihm die alte Frau gesagt hatte und sagte: „Zwei rechts und zwei links — meine
Frau steht in der Mitte!“ Da gab ihm Paterlimbusawen seine Frau wieder, schenkte
ihm die Hälfte seines Landes und ließ sie bei sich wohnen.
Auf der Vorderseite (Abb. 8) des Pfostens sieht man unten den Heros
Wolintambwi. Sein im Vergleich zum übrigen Körper übergroßes Gesicht (Gesicht und
Körper verhalten sich eins zu zwei) ist in der für viele freiplastische Figuren (auch zum
Beispiel für viele Figuren an den Zeremonialstühlen) typischen Weise gestaltet: lang-
ovale Form; die beiden das Gesicht außen begrenzenden Halbovalen treffen auf dem
Abb. 6 und 7. Der Heros Wolintambwi und seine Schwester Akimbäwoli in Masken-
Darstellung. Es sind die gerade für die Region um Kanganamun typischen Masken mit
ovalem Gesichtsumriß und der langen Nase, die unter den Nüstern in ein rüsselför-
miges Gebilde übergeht, das in einem Tierkopf endet. Mit Ausnahme von Nase, Augen,
dem oberen Teil der Wangen und dem unteren der Stirn ist die aus Holz bestehende
Maske mit Lehm überzogen, in die viele kleine Nassa-Schnecken eingelassen sind, die
oft geometrische Muster bilden. Zwischen den N assa-Schnecken spiralige Boden-
stücke von Conus-Schnecken. Die Augen bestehen meist aus Kauri-Schnecken. In den
Nüstern Eherhauer. Diese Masken treten sehr häufig paarweise auf, als Brüderpaar, als
Ehepaar oder als Bruder und Schwester. Die männlichen Masken haben lang-ovale, die
weiblichen rund-ovale Form. Diese beiden Stücke befanden sich 1963 noch in Familien-
besitz in Kanganamun.
36
Eike Haberland
Scheitel in Form eines Dreiecks zusammen, dessen Spitze in einen langen, über den
Nasenrücken laufenden Strich übergeht; sehr plastisch gearbeitete, über die Augen vor-
springende Stirn; die schrägen Augen durch eingelassene Conus-Schneckenstücke und
schwarze Dreiecke gebildet; lange gerade Nase mit kräftigen Nüstern. Die Form des
Mundes ist ungewöhnlich; weder die heraushängende Zunge — die wir bei den beiden
Gesichtern oben auf dem Pfosten finden — noch der kleine halbmondförmige Mund,
sondern ein gewaltiges, breitgeschwungenes Maul mit zwei Reihen starrender Zähne.
Die Backenknochen und zwei Knubbel auf der Stirn sind plastisch herausgearbeitet und
bemalt. Um das Gesicht läuft ein Ösenkranz, zur Aufnahme von gefärbten Bast-
büscheln bestimmt. Auf dem Kopf trägt Wolintambwi ein merkwürdiges Gebilde, das
von den einen als eine Kopfbedeckung der Urzeit-Heroen, von den anderen als euro-
päischer Hut gedeutet wurde, „weil Wolintambwi so stark wie ein Europäer war“. Ein
langer zapfenförmiger Hals verbindet Kopf und Körper.
Der gesamte Körper der Figur wird von einem eigentümlichen rautenförmigen und
tief eingekerbten Muster bedeckt, dessen Felder weiß oder abwechselnd weiß und rot
gefärbt sind. Dieses Muster taucht meines Wissens nur noch ein einziges Mal auf, und
zwar auf dem Pfosten mindangawoi des noch stehenden Männerhauses in Kangana-
Abb. 12. Detail vom
Pfosten Wolintambwi.
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun am Sepik) 37
mun. Es trägt den Namen sangure und soll das Muster wiedergeben, das man sieht,
wenn man die Wurzel des gleichnamigen Farnstrauches durchschneidet. Ein mythischer
Zusammenhang war den Gewährsleuten nicht bekannt. Vom Körper des Wolintambwi
sollen nur die wichtigsten Züge erwähnt werden: die ovale Bildung der beiden Brust-
hälften, die lang herunterhängenden Arme und Beine mit den sehr schematisch gestal-
teten Händen und Füßen, die stachelähnlichen Auswüchse auf den Gelenken (Ober-
arme, Ellbogen, Hände, Oberschenkel, Knie und Füße — auf Händen und Füßen je
zwei), der sehr lange Penis, und schließlich die drei Reihen von Spitzkegeln auf dem
Mons Pudoris, von denen es hieß, es seien Geschwüre. Spitze Brustwarzen. Zwischen
den Beinen von Wolintambwi sieht man seine Feiter, das heißt einen gekerbten Balken,
mit dem er die Verbindung zum Jenseits herstellte. Zwischen den Füßen ein kleines, auf
dem Kopf stehendes anthropomorphes Wesen mit angewinkelten Beinen.
Abb. 13. Detail vom
Pfosten Wolintambwi.
38
Eike Haberland
Abb. 14. Detail vom
Pfosten Wolintambwi.
Über dem Kopf von W. sechs Vögel (in zwei Reihen geordnet), die ihm gehören;
seput (Hornrabe) und yänswan (? Abb. 12).
Mythe (Gewährsmann Abram, Klan iatmal, Dorf Kanganamun): Der Vogel seput
(Hornrabe) hatte ursprünglich einen kurzen und der Vogel yänswan einen langen
Schnabel. Sie waren Brüder des Buschkänguruhs. Als sich yänswan wusch und seinen
Schnabel ablegte, stahl ihn der Hornrabe und hat seitdem seinen langen Schnabel.
Über den Vögeln — den oberen Teil des Pfostens bildend — unter der schwach
ausgebildeten „Gabel“ — ein langes, stilisiertes menschliches Gesicht mit langer Nase,
Nasenschmuck (Eberhauer und Perlmuttstück aus Holz nachgebildet), breitem, mit
Zähnen besetztem Maul und lang heraushängender Zunge. Auf den Wangen zwei
Vögel. An der linken Seite des Gesichts sowie von beiden Augen ausgehend und sich
am Mund vereinigend, Wellenreihen (s. u.). Der Körper dieses Wesens, das angeblich
einen Buschdämon Wendjebundema darstellt, ist ähnlich dem des Wolintambwi gestal-
tet, indes ohne das Rautenmuster und die Stacheln. Am linken Bein der Gestalt ein
fischähnliches Wesen mit zwei aus dem Maul ragenden Zähnen, langen Ohren und von
kleinen, weißen Kreislinien bedeckten Leib. Es wird als Tausendfuß (minsih) bezeich-
net, der auch ein Tier des Wolintambwi ist (Abb. 13).
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun am Sepik)
Diese großen Gesichter oben unter den Gabeln bilden den häufigsten — oft den
einzigen — Schmuck der Pfosten der Sepik-Männerhäuser. Sie haben indes — und das
muß mit Nachdruck gegenüber anderslautenden Angaben hervorgehoben werden —
keine mythische Bedeutung, sondern stellen lediglich ein aus der Urzeit stammendes
Ornament dar: so sahen die Pfosten des ersten Männerhauses der Schöpfungszeit aus.
Die rechte untere Seite (vom Pfosten aus gesehen) trägt verschiedene klei-
nere, mythisch bedeutungsvolle Schnitzereien. Ganz unten zunächst die stilisierte Darstel-
lung einer Seerosenart (wantika), die ebenso wie die auch auf diesem Pfosten oft auf-
tretenden Wellenformen (wie Schuppen wirkend) das häufigste Ziermotiv der Männer-
hauspfosten ist. Beide sollen an die mythische Urzeit erinnern, da alles von Wellen be-
deckt war und die Seerosen als einzige Pflanzen an der Oberfläche schwammen. Ver-
Abb.15. Detail vom
Pfosten Wolintambwi.
40 Eike Haberland
schiedene Seerosenarten sind den Klanen „totemistisch“ zugeordnet und unterscheiden
sich in ihrer stilisierten Darstellung voneinander. Darüber eine Frau (32 cm hoch),
links von einer Eidechse und rechts von einem Wesen flankiert, bei dem sich die Ge-
währsleute stritten, ob es ein Mensch oder ein Buschkänguruh sei. Diese Frau ist Mek-
tagwa, die Mutter des Wolintambwi, die Verkörperung von Nacht und Dunkel, die
das Nacht-Tor für die Sonne gemacht hat (s. o., Abb. 14). Weiter oberhalb ein als
Buschkänguruh bezeichnetes Tier (95 cm lang), hinter dessen Schwanz weiß und rot
bemalte Wellen geschnitzt sind. Dieses Känguruh ist die Verkörperung einer Urmutter,
die die Schwester des Ur-Kasuar war. Beide wurden zusammen von Wolintambwi ge-
schaffen (Abb. 15).
In weitem Abstand, in der Flöhe der Augen des Wolintambwi ein auf der Seite
liegender Totenschädel (17 cm lang). Das ist der Kopf des Masan, eines großen Heroen
und Kriegers (Abb. 16). Neben dem Schädel des Masan sein langer, groß und breit
geschnitzter Speer mit einem tief eingekerbten Gesicht in der Mitte.
Mythe (Gewährsmann Abram, Klan iatmal, Dorf Kanganamun): In der alten Zeit
waren die Nyaura (eine Gruppe der latmül, zu der verschiedene Dörfer gehören), nicht
stark. Masan ging nach Nyaurangei, machte dort eine Zeremonie für die Fische und
fing viele Fische. Er war der erste Fischer. Er gab allen Männern Fisch zu essen, da
wurden sie groß und mächtig. Daher bewahrt man seinen und seiner Kinder Schädel in
Nyaurangei auf.
Mythe (Gewährsmann Sänaka, Klan ngragn, Dorf Kanganamun): Masan war ein
großer starker Mann, der Heros des Krieges. Er hatte ein Kanu, das von allein fuhr
und mit dem er gegen die Feinde in den anderen Dörfern kämpfte. Er erfand, daß man
den Feinden den Kopf abschnitt. [Ich vermute, daß es auch sein Kopf ist, der vorn auf
den „Kampfschilden“ der Kanus — zum Beispiel Haberland-Schuster 1964:69 —
erscheint, doch haben die Gewährsleute das nicht bestätigt.]
Abb. 16. Detail vom
Pfosten Wolintambwi
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses mun'simbit (Dorf Kanganamun am Sepik) 41
Auf der oberen Hälfte der rechten Seite Wellen und Seerosen: zunächst eine große
Seerose, dann Wellenreihen, darauf zwölf übereinander angeordnete Seerosen.
Die Rückseite zeigt unten verschieden große und verschieden gestaltete,
durch breite Ringe — ein häufig auftretendes, anscheinend bedeutungsloses Motiv —
voneinander getrennte Seerosen (acht), Wellen, Seerosen (vier), Wellen und ein langes,
von dem der Vorderseite wenig unterschiedenes Gesicht. Zwei über die Augen laufende
bogenförmige Wellenreihen, zwei andere — mit einer Doppelspirale beginnend — von
den Wangen zum Mund führend. Unter der herausgestreckten Zunge Nachbildung des
Brustschmucks aus parallel aufgereihten Eberhauern. Die „Ringe“ zwischen den vier
unteren Seerosen laufen in Schlangenköpfe aus. Auf der dritten Seerose von unten die
grobe Umrißritzung eines menschlichen Gesichts.
Die linke Seite. Unten zwei Seerosen, darüber zwei kleine nackte Frauen
(33 cm hoch): Nduman und Ndankan, zwei Schwestern des Wolintambwi (Abb. 17,
vgl. die Mythe auf S. 31, wo von der einen dieser beiden Schwestern als von einer
Schlange gesprochen wird). Dann folgen übereinander sechs verschieden große, durch
Ringe getrennte Seerosen, in der Höhe des Kopfes von Wolintambwi verschiedene als
Tausendfüßler gedeutete Tiere, die dem Wolintambwi „gehören“. Weiter oben eine
große Seerose, Wellenreihen und fünfzehn immer kleiner werdende Seerosen. Über der
letzten Seerose ein kleines Baumkänguruh namens Kamänpengeh, ein Kind des Wolin-
tambwi (37 cm lang, Abb. 18).
3. Der Pfosten kamwinhangeh (oder kamwoi) und zwei andere Pfosten aus Frankfurt.
Kamwinhangeh ist ein Urzeitheros, Sohn des Wolintambwi und Bruder und Mann
der Heroin Nsimbwori, die auf diesem Pfosten dargestellt ist. Eigentümer des Pfostens
Ahb. 17. Detail vom
Pfosten Wolintambwi.
\
Eike Haherland
war der Klan iatmal. Gesamtlänge 845 cm, Länge der Frau Nsimbwori 182 cm. Der
Pfosten wurde für den Transport in drei Teile zerschnitten (Inv. Nr. NS 45 364 a—c,
Abb. 19 und 20).
Mythe (Gewährsmann Ngauwi, Klan länga, Dorf Kanganamun): Wolintambwi
erschuf die Frau Nsimbwori und ihren Bruder Kamwinbangeh. Sie heirateten einander.
Nsimbwori ist die Urmutter aller Menschen. Sie ist die Erfinderin des Feuers, sie ist das
Feuer selbst und der Venus-Stern. Früher gab es keine Sonne und keinen Mond. Die
Menschen saßen im ersten Männerhaus munsimbit im Dunkeln und waren traurig. Der
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses mun'simhit (Dorf Kanganamun am Sepik) 43
angewinkelt, die Arme angewinkelt erhoben. Die Gebilde in ihren Händen und rechts
und links des Hauptes werden als Strick und Brennholz erklärt, weil sie ja die Mutter
des Feuers ist. Auf dem Haupt die stilisierte Nachbildung einer kleinen, mit Nassa-
Schnecken benähten Kappe. Die Augen bestehen aus kleinen Conus-Stücken. Die
Nasenscheidewand ist durchbohrt, im Loch ein kleiner geflochtener Ring. In den
Ohren je drei kleine Löcher zur Aufnahme von Bastfransen. Breiter, mit vielen Zähnen
besetzter Mund. Auf Gesicht und Brust Reste der weißen, spiraligen Bemalung. Kleine
hängende Brüste. An Stelle des Nabels eine große Seerose, von der vier weiße spitze
Gebilde ausgehen (Fische?). Prominenter Mons Pudoris. Aus der Vagina ragt ein
merkwürdiger Gegenstand hervor — einem mit Schuppen besetzten Schwanz ver-
gleichbar — der von den Gewährsleuten unterschiedlich gedeutet wurde: als Tausend-
füßler oder Assel im Augenblick der Geburt, als Schwanz eines Krebses oder als Nach-
geburt. Es ist möglich, daß die Haltung der Nsimbwori die Gebärhaltung darstellen
soll. Rechts und links ihrer Füße je zwei Asseln, rechts und links des Bauches zwei
kleine Fische. Links von ihr (vom Beschauer aus gesehen) eine lange gerade Schlange —
ihre Tochter Ndumagwa.
Über Nsimbori abwechselnd breite Bänder mit Seerosen (drei) und vier breite mit
Wellen bedeckte Zonen. Oben auf beiden Seiten der Gabel ein großes Gesicht mit halb-
kugeligen Augen, die von konzentrischen Kreisen umgeben werden. Lange Nase mit
Nachbildung des Nasenschmuckes aus Perlmutt in Form einer Doppelspirale (auf einer
Seite außerdem Nachbildung der Eberhauer in der Nase), großer Mund mit heraus-
hängender Zunge. Darunter auf beiden Seiten mehrere übereinander angeordnete Nach-
bildungen von Goldlip-Muscheln, die immer kleiner werden und schließlich in das
Wellenmuster übergehen, das die übrige Fläche des Oberteils bedeckt. Auf der Stirn
der beiden Gesichter zwei kleine dreieckige Gesichtsdarstellungen.
Auf der Rückseite sind zwischen den sonst mit Seerosen bedeckten Flächen
einige Darstellungen herausgeschnitzt. Ganz unten zwischen einem Seerosen-Band zwei
gegeneinandergerichtete dreieckige Vulvae — ein auf Sepik-Pfosten häufiges Motiv:
das Symbol der „Mutter-Hälfte“, zu der der Klan iatmal gehört. Darüber, in zwei
Reihen angeordnet (von links nach rechts); ein auf dem Kopf stehender Vogel (ähnlich
Abb. 12), ein auf dem Kopf stehendes Wesen mit Froschkörper und Vogelkopf, ein
kreisförmiges Gebilde mit vertiefter Innenfläche, darin eine Scheidewand (unerklärt).
Oben: Vogel mit Kopf nach oben, Frosch, nach unten gerichteter Eberkopf mit Hauern,
der auf der Stirn ein menschliches Gesicht trägt. Diese Vögel sind die „Vögel von
Wolintambwi und Nsimbwori“, Frosch und Schwein erinnern an die Urzeit, da die
Schweine im Wasser waren (vgl. S. 31). Darüber von links nach rechts: ein auf dem
Kopf stehender Fisch, der an der stilisierten Darstellung des breiten Mauls und der
Bartfäden als Wels zu erkennen ist. Oben auf dem Kopf menschliches Gesicht. Rechts
davon zwei gegeneinander gerichtete Vulvae. Dann ein auf dem Schwanz stehender
Wels mit langen Zähnen im Maul. In der Höhe des Kopfes der Nsimbwori rechts von
ihr (vom Beschauer aus) ein kleines Buschkänguruh (vgl. S. 40 und Abb. 14; vgl. auch
Gardi, 1958:51 rechts, wo ein Teil dieses Pfostens — noch in situ — abgebildet ist).
Der Pfosten Meriamei in Frankfurt (Inv.Nr. NS 45 366, vgl. Abb. 21). Gesamt-
länge 554 cm. Die Oberfläche des Pfosten ist überwiegend mit Wellen bedeckt. Unten
ein Band mit Seerosen, zwischen denen ein Wels herausgeschnitzt ist. Darüber — er-
Abb. 19 Ahb. 20
Ahb. 19. Der Pfosten Kamwinbangeh in Frankfurt. Unterteil mit der Frau Nsimbwori.
Abb. 20. Der Pfosten Kamwinbangeh. Oberteil.
Abb. 21. Detail vom Pfosten Meriamei — das Krokodil Sambän.
Beschnitzte Pfosten des Männerhauses munsimbit (Dorf Kanganamun am Sepik) 45
haben aus den Wellen ragend — ein
187 cm langes, mit dem Kopf nach un-
ten zeigendes Krokodil mit gekrümm-
tem Schwanz. Das ist Sambän, ein Sohn
des Wolintambwi, ein großer Urzeit-
heros und gleichzeitig auch ein Kasuar.
Auf der einen Seite unter der Gabel
Gesicht in den üblichen Formen (lange
Nase, heraushängende Zunge, Wellen-
bogen auf den Wangen usw.). Über
dem Gesicht ein auf dem Schwanz ste-
hender Wels.
Der Pfosten Sapetnogwan in Frank-
furt (Inv.Nr. NS 45 367). Gesamt-
länge 449 cm. Unter der Gabel großes
Gesicht. Auf dem Scheitel Nachbildung
einer mit Nassaschnecken benähten
Kappe. Von den Augen zu den Nü-
stern Wellenlinien, die in der Mitte
einen verkümmerten Spiralmäander
bilden. Heraushängende Zunge. Unter
dem Kinn Brustschmuck (Nachbildung
von Goldlip-Muscheln). Spuren der
rötlichen Bemalung.
Der ursprünglich in Frankfurt be-
findliche, inzwischen in das Museum
voor Land- en Volkenkunde in Rot-
terdam gelangte Pfosten Kaimanogwan
ist dem vorhergehenden Pfosten sehr
ähnlich, er weist keine besonders be-
merkenswerten Schnitzereien auf.
4. Ein Pfosten unbestimmter Herkunft
in Stuttgart
Außer dem großen Pfosten aus
Kanganamun befindet sich ein zweites
Stück der Sammlung Markert in Stutt-
gart (Inv.Nr. S 40 022, 270 cm, vgl.
Abb. 22). Es bildete wohl nur den obe-
ren Teil eines Pfostens. Obwohl sehr
verwittert, zeichnet es sich noch immer
Abh. 22. Pfosten unsicherer Herkunft
in Stuttgart.
46
Eike Haberland
durch sehr schöne, streng stilisierte Formen aus, die deutlich machen, welch unendlichen
Spielraum der Kanon der Sepik-Kunst der Phantasie der Schnitzer ließ. Auf dem Pfo-
sten befindet sich das übliche Gesicht unter der Gabel — allerdings ganz anders gestaltet
als die entsprechenden Stücke in Kanganamun. Augen, Nase und Mund sind voneinander
abgesetzt gearbeitet und ungleich kräftiger geometrisch profiliert. Die Wellenbögen —
in Kanganamun gern als verbindendes Element verwendet — treten hier ganz zurück.
Die Herkunft ist leider ungewiß. Nach Angaben von Günther Markert stammt der
Pfosten aus dem Umkreis von Timbunke, jedoch nicht von einem am Sepik gelegenen
Dorf.
Literatur
Bateson, Gr., 21958. Naven. Stanford, Cal.
Bühler, A., 1957. Heilige Bildwerke aus Neuguinea. Basel.
Bühler, A., 1960. Kunststile am Sepik. Basel.
Gar di, R., 1956. Tambaran. Zürich.
Gardi, R., 1958. Sepik. Bern-Stuttgart-Wien.
Gilliard, E. Th., 1955. The Land of the Head-Hunters. National Geographical Maga-
zine 108: 437—486. Washington, D.C.
Haberland, E. und Schuster, M., 1964. Sepik — Kunst aus Neuguinea. Frankfurt a. M.
'Wirz,?., 1951. Meine Sepikfahrt. Jahrbuch des Bernischen Historischen Museums in
Bern, Etnogr. Abt., 31. Jahrg.: 122—140. Bern.
Wirz, ?., 1954. Kunstwerke vom Sepik. Basel.
Wirz, ?., 1959. Kunst und Kultur des Sepik-Gebietes. Kon. Inst, voor de Tropen,
Meded. No. 133, Afdel. Cultur. en Phys. Anthropologie No. 62. Amsterdam.
Wolfgang Marsch all
Die südostasiatischen Rahmengongs
aus dem Stuttgarter Linden-Museum
Mit dem zweibändigen Werk „Alte Metalltrommeln aus Südostasien“ legte im
Jahre 1902 der Wiener Gelehrte Franz Heger die bis heute umfangreichste systemati-
sche Untersuchung jener Instrumente vor, die unter den verschiedenartigsten Bezeich-
nungen in die Literatur eingegangen sind1)- Die Schwierigkeiten, einen adäquaten
Terminus für die Instrumente zu finden, zeigten sich seit den Anfängen der wissen-
schaftlichen Bearbeitung gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Heger entschloß sich
für „Metalltrommeln“2). Hornbostel-Sachs schlugen stattdessen „Kesselgong“ vor3).
Von einem Kessel kann jedoch keine Rede sein, und die Termini „Kesselgong“,
„Bronzepauke“, „keteltrom“ und „kettle drum“ sind zu verwerfen. Festzuhalten ist
jedoch die Eingliederung dieser Instrumente in die Familie der Idiophone unter Ord-
nungsnummer 111.241.1 „selbständige Gongs“. Da die Form dieser südostasiatischen
Gongs grob der Form einer Trommel entspricht, und die genetische Verwandtschaft mit
eigentlichen Trommeln wahrscheinlich ist, schlug Heine-Geldern den Terminus „Trom-
melgong“ vor4). Formähnlichkeit und historische Gesichtspunkte sollten aber bei einer
Systematik der Musikinstrumente nach akustischen Kriterien außer acht gelassen wer-
den, so daß ich mich der Verwendung dieses Terminus nicht anschließen kann5).
Die zu besprechenden Instrumente gehören zu den selbständigen Gongs (HS
111.241.1), so daß eine genauere Bestimmung nur in einer Untergruppe erfolgen kann.
Ich schlage vor, analog zur Feingliederung der Trommeln (HS 211.2 und 211.3) für
diese Instrumente den Terminus „Rahmengong“ zu verwenden, wenn die Höhe des
4) Deutsch; Metalltrommel (Heine-Geldern, Heger, Hazeu, Gühler), Kesseltrommel
(Schmeltz, Hoevell), Bronzetrommel (Hirth, Foy), Bronzepauke (Meyer & Foy),
Kesselgong (Hornbostel); holl.: keteltrom (Steinmann, Rouffaer u. a.); frz.; tam-
bour (métallique); engl.: kettle drum, bronze drum.
2) Heger 1902,1:10.
3) Hornbostel-Sachs 1914:564.
4) Heine-Geldern 1933:521.
5) Montagu schlug im Hornbostel-Sachs-System in der Gruppe 111.24 für diese In-
strumente eine Nummer 111.243 vor: „a metal diaphragm fixed at the edge in-
cluding the so-called metal drums“. Wenn Montagu nach den Hornbostel-Sachs-
Kriterien vorgeht, wie er vorgibt zu tun, wirkt es nur störend, wenn er für einen
Gongtypus eine neue Ziffer ohne namentliche Benennung unter Einschluß von Me-
talltrommeln vorschlägt.
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 49
Instruments geringer ist als der Durchmesser der Platte. Neben HS 111.241.11 „ein-
fache Gongs“ sind dann aufzuführen HS 111.241.12 „Rahmengongs“ und 111.241.13
„Röhrengongs“.
Heger konnte bereits 165 Rahmengongs publizieren, und ihm sind besonders die
Katalogisierung der auf den Instrumenten befindlichen Ornamente und die Aufstellung
von vier Rahmengongtypen zu verdanken. Diese Typen werden allgemein als Heger
I—IV bezeichnet. Nach Hegers Arbeit dürften etwa 100 weitere Exemplare beschrie-
ben worden sein, so daß sich die Zahl der bekannten Rahmengongs auf über 250 be-
läuft. Es ist damit zu rechnen, daß sich eine große Anzahl solcher Instrumente in
Privatbesitz befindet und vorläufig der Forschung nicht zugänglich ist. Aber auch in
den deutschen Museeen befinden sich noch unpublizierte Rahmengongs. Die vorliegende
Stuttgarter Linden-
Erratum Seite 49
Die drei eingerückten Zeilen am Ende des 3. Ab-
satzes bilden den Schluß der Anmerkung 6, sind
aber versehentlich oben stehen geblieben.
t A—D“ bezeichnet
ändler Umlauff er-
licht sicher und läßt
trägt. Die Katalog-
; Instrumente kaum
:n. Bei der Beschrei-
Tafelband auf Tafel
5latte werden vom
t.
dct ixauiueiiguiig oLuiLgair-n. ist gor ernaneu. im vjcgcusdi/. ¿u der sauber gegos-
senen Platte weist der Mantel etliche Gußfehler sowie sehr grobe Formnähte auf. Das
Gestirn im Zentrum der Platte ist stark abgenutzt. Die Ornamente des Mantels sind
weniger gut zu erkennen als die der Platte. Die Färbung ist anthraziten.
H 260
Pd 448
Fd 445
Auf der Platte befinden sich keine Frösche. Die vier paarweise angebrachten band-
förmigen Henkel haben zwei Leisten und Flechtbandeinfassung (Abb. 2).
Platte
Zone 1 ebenes 12strahliges Gestirn (0 118) (H XXX:29) mit großem Zwischen-
muster (H XXXI :46) (Abb. 3)
Zonen 2, 3 Kreispunktreihe (H XLI:37)
Zonen 4, 6, 8 Buckelreihe
*) An Abkürzungen gebrauche ich H = Höhe, Pd = Plattendurchmesser, Fd = Fuß-
durchmesser. Alle Angaben sind in mm. Läßt sich ein Ornament der Stuttgarter
Gongs in Hegers Tafelband auffinden, so ist dies vermerkt. H XXX :2 hinter einem
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 49
Instruments geringer ist als der Durchmesser der Platte. Neben HS 111.241.11 „ein-
fache Gongs“ sind dann aufzuführen HS 111.241.12 „Rahmengongs“ und 111.241.13
„Röhrengongs“.
Heger konnte bereits 165 Rahmengongs publizieren, und ihm sind besonders die
Katalogisierung der auf den Instrumenten befindlichen Ornamente und die Aufstellung
von vier Rahmengongtypen zu verdanken. Diese Typen werden allgemein als Heger
I—IV bezeichnet. Nach Hegers Arbeit dürften etwa 100 weitere Exemplare beschrie-
ben worden sein, so daß sich die Zahl der bekannten Rahmengongs auf über 250 be-
läuft. Es ist damit zu rechnen, daß sich eine große Anzahl solcher Instrumente in
Privatbesitz befindet und vorläufig der Forschung nicht zugänglich ist. Aber auch in
den deutschen Museeen befinden sich noch unpubllzierte Rahmengongs. Die vorliegende
Studie befaßt sich mit den vier Exemplaren aus dem Besitz des Stuttgarter Linden-
Museums.
Die Stuttgarter Rahmengongs, die im folgenden als „Stuttgart A—D“ bezeichnet
werden, wurden kurz vor dem ersten Weltkrieg von dem Kunsthändler Umlauff er-
worben. Ob Stuttgart B auch von Umlauff erworben wurde, ist nicht sicher und läßt
sich auch nicht mehr feststellen, da das Stück keine Inventarnummer trägt. Die Katalog-
angaben für Stuttgart A, C und D: „Gong, China“ geben für diese Instrumente kaum
mehr als die Wahrscheinlichkeit, daß sie in China erworben wurden. Bei der Beschrei-
bung der Gongs gehe ich in der von Heger eingeführten Weise vor(i).
Ornament bedeutet: das Ornament stimmt mit dem in Hegers Tafelband auf Tafel
XXX unter Abb. 2 verzeichneten überein. Die Zonen der Platte werden vom
Zentrum zum Rand, die des Mantels von oben nach unten gezählt.
Stuttgart A (Inv.-Nr. 71151) (Abb. 1)
Der Rahmengong Stuttgart A ist gut erhalten. Im Gegensatz zu der sauber gegos-
senen Platte weist der Mantel etliche Gußfehler sowie sehr grobe Formnähte auf. Das
Gestirn im Zentrum der Platte ist stark abgenutzt. Die Ornamente des Mantels sind
weniger gut zu erkennen als die der Platte. Die Färbung ist anthraziten.
H 260
Pd 448
Fd 445
Auf der Platte befinden sich keine Frösche. Die vier paarweise angebrachten band-
förmigen Henkel haben zwei Feisten und Flechtbandeinfassung (Abb. 2).
Platte
Zone 1 ebenes 12strahliges Gestirn (0 118) (H XXX:29) mit großem Zwischen-
muster (H XXXI :46) (Abb. 3)
Zonen 2, 3 Kreispunktreihe (H XFI;37)
Zonen 4, 6, 8 Buckelreihe
6) An Abkürzungen gebrauche ich H = Höhe, Pd = Plattendurchmesser, Fd = Fuß-
durchmesser. Alle Angaben sind in mm. Fäßt sich ein Ornament der Stuttgarter
Gongs in Hegers Tafelband auffinden, so ist dies vermerkt. H XXX :2 hinter einem
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 51
Zone 5 Ornainentkoppelung aus zwei eindeutig chinesischen Zeichen und einem geo-
metrischen Zwischenmuster. Die Kombination: Zeichen für langes Leben (H
XXXIII:3) — drei übereinanderstehende gefüllte Rechtecke (H XXXIII:6) —
(pflanzliches?) Ornament (H XXXIII:4) — (H XXXIII:6) erscheint neunmal.
(Abb. 4)
Zone 7 zwei Ornamente: a) Vierpaß mit eingelegtem Kreuz in Doppelraute und
b) vier zu liegender Raute angeordnete Kreispunkte erscheinen 13mal.
Ahh. 4
Ahh. 5
Zone 9 Wolkenornament (H XLIII:28)
Zone 10 frei, ohne randlichen Abschluß
Die Zonen sind voneinander durch einfache Leisten getrennt.
Mantel
Zone 1 frei mit 10 weit auseinanderstehenden Buckeln
Zonen 2, 6 Doppelvoluten (H XXXV: 10 verwandt)
Zonen 3, 7 mehrfach ineinandergesetzte Quadrate (H XLL23)
Zone 4 gefülltes Rechteck (Abb. 5)
Zone 5 frei, leicht nach außen gewulstet
Zone 8 Wolkenornament (H XLVID29)
Zone 9 Zackenmuster mit dreifacher Zackenfüllung von oben (H XXXIX:40)
Die Zonen des Mantels sind nicht durch Leisten, sondern durch flache Rillen von-
einander getrennt.
Stuttgart B (o. Inv.-Nr.) (Abb. 6)
Der Erhaltungszustand dieses Gongs ist sehr gut, wie auch das Instrument von
ausgezeichneter Qualität ist. Allein das Zwischenzackenmuster der Plattenzone 1 ist
unscharf ausgebildet. Die Mantelleisten laufen über zwei Pseudoformnähte, was auf
Guß in cire-perdue-Verfahren schließen läßt. Die einzige Beschädigung des Instru-
ments zeigt sich am unteren Ende einer Naht im Bereich der Zonen 22—24. Die Fär-
bung ist anthraziten mit Kupfertönung.
H 367
Pd 482
Fd 394
^rrrrr^:
Abb. 8
Abb. 9
Abb. 10
Im Bereich der Zonen 16—18 befinden sich auf der Platte vier einzelne Frösche
(Abb. 7), die in Richtung gegen den Uhrzeiger angebracht sind. Die vier paarig ange-
ordneten Henkel zeigen schmale Bandform, teilen sich nach beiden Enden hin und
setzen mit feinen horizontalen Flechtbändern am Mantel auf (Abb. 2).
Platte
Zone 1 ebenes Sstrahliges Gestirn (0 90) (H XXX:25) mit kleinem Zwischenzacken-
muster (H XXXI :27) (Abb. 3)
Zonen 2, 7, 11, 16 Kreispunktreihe (H XLI:39 verwandt) (Abb. 8)
Zonen 3, 8, 17 doppelte Körnerkette (H XLI:68 verwandt)
Zone 4 sitzende oder schwimmende Vögel (Enten), gegen den Uhrzeigersinn ange-
ordnet (H XXXVI 1:34 verwandt)
Zone 5 Hauptmuster (Abb. 9)
Zonen 6, 10, 12 radiales Strichmuster (H XLI:26)
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 53
VÌ''
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 55
Zonen 9, 13, 14 Kombination: Vogel-Rosette-Fisch-Fisch-Rosette-Vogel
(H XXXVII :32-XL:61-XXXVIII :15-XXXVIII :15-XL:61-XXXVIII :32)
erscheint viermal gegen den Uhrzeigersinn angeordnet (Abb. 10)
Zone 15 Wellenband (H XXXV:55)
Zone 18 frei, mit Flechtbandabschluß
Nach den Zonen 1, 3, 5, 8, 9, 12, 13, 14, 17 sind die Leisten doppelt, sonst einfach.
Mantel
Zonen 1, 8, 13, 20 frei
Zonen 2, 4, 10, 16, 22 Kreispunktreihe (H XLI:39 verwandt)
Zonen 3, 18 schräg verlaufende aneinandergesetzte Rautenbänder (H XLII:21)
Zonen 5, 9, 11, 15, 17 Schraffenreihe
Zonen 6, 12, 14, 23 doppelte Körnerkette (H XLI:68 verwandt)
Zonen 7, 19, 21 Wellenband (H XXXV:55)
Zone 24 frei, mit Flechtbandabschluß
Nach den Zonen 7, 18, 19, 20 erscheinen keine Leisten, nach den Zonen 1, 6, 8, 12,
13, 17, 21, 23 doppelte, nach den übrigen Zonen einfache Leisten.
Stuttgart C (Inv.-Nr. 71690) (Abb. 11)
Der Erhaltungszustand dieses Gongs ist gut. Leichte grünliche Patina überzieht
das Instrument bis auf wenige Stellen des Mantels, an denen (die ursprüngliche?)
kupfergoldene Tönung erscheint. Ein Viertel der Platte war von Zone 1—3 beschädigt.
Das eingefügte Ausbesserungsstück ist an den Nahtstellen, auch an der Art der Orna-
mente und ihrer Anbringung leicht zu erkennen. Eine weitere kleine Beschädigung
findet sich im unteren Teil des Mantels.
H 486
Pd 798
Fd 782
Im Bereich der Zone 6 erscheinen vier einzelne Frösche (Abb. 7) im Uhrzeigersinn
angeordnet. Die Form dieser Figuren ist relativ grob. Das Instrument besitzt vier
paarig angeordnete Ringhenkel (Abb. 2).
Platte
Zone 1 12strahliges Gestirn mit abgesetztem Zentrum (0 127) (H XXX:31). Die
Strahlen laufen in die erste Dreifachleiste hinein. Die ganze Zwischenzackenfläche
ist von einem Schraffenmuster ausgefüllt. (H XLI:28) (Abb. 3)
56
Wolfgang Mar schall
Zonen 2, 3, 4, 5 Vierspiralenornament (H XXXV:33a), im Flickstück einzelne ein-
geschnittene Spiralkreise (H XL:8)
Zone 6 feines Rautenornament aus mehrfach ineinandergesetzten liegenden Rauten
Zone 7 Schraffenmuster (H XLI :28)
Zone 8 frei
Nach den Zonen 1—4 erscheinen drei, nach den Zonen 5—7 zwei Leisten.
Mantel
Zonen 1, 8, 19, 26 frei, mit kleinem Außenwulst in Zone 19
Zonen 2, 4, 6, 9—18,20,22,24 gegenständige Halbkreise (H XXXIV: 13) (Abb. 13)
Zonen 3, 5, 7, 10—18, 21, 23, 25 Rautenmuster (H XLII:15 verwandt) (Abb. 13)
Die Leisten sind im allgemeinen dreifach, nach Zonen 7 und 25 einfach, nach Zonen
18 und 24 zweifach.
Stuttgart D (Inv.-Nr. 71691) (Abb. 12)
Der Rahmengong Stuttgart D ist wenig gut erhalten. Wenngleich weder Platte
noch Mantel größere Beschädigungen aufweisen, so ist doch die Oberfläche derart
korrodiert und die Patina in großen Platten abgeplatzt, daß die Muster über weite
Abschnitte ganz unkenntlich sind oder nur mit Mühe erkannt werden können. In be-
sonderem Maße gilt das für die Platte, die den Eindruck erweckt, daß das Instrument
darauf längere Zeit gelegen hat. Die Färbung ist anthraziten mit ungleichmäßig auf-
tretender dunkelgrüner Patina.
H 396
Pd 938
Fd 863
Im Bereich der Zonen 19—21 erscheinen noch vier von ursprünglich sechs gegen
den Uhrzeigersinn angeordneten einzelnen Fröschen. Diese Figuren sind grob gear-
beitet. Die halbkugelförmigen Hinterschenkel der Tiere tragen je einen kleinen Buckel.
Abb. 16
Abb. 17
An Stelle der hinteren Beine ist nur ein einziger schmaler Sockel vorhanden (Abb. 7).
Das Instrument weist vier paarweise angeordnete Leistenbandhenkel auf (Abb. 2).
Platte
Zone 1 lOstrahliges Gestirn (0 191) (Abb. 3) mit abgesetzem Zentrum. Die weiteren
Zonen setzen direkt am Zentrum an, so daß die Strahlen bis in Zone 5 reichen.
Zonen 2—4, 8—11 und 15 sind unkenntlich
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 57
Zonen 5, 7, 12, 14, 19, 21 Rosette mit vier Speichen und quadratischem Zentrum, sog.
„Glückscash“ (Abb. 14) (H XLIV:la verwandt)
Zone 6 Hauptzeichen?
Zonen 13, 20 Hauptzeichen (H XXXII:3—5 verwandt) (Abb. 15). Da in beiden
Fällen die Zone mit dem Hauptmuster von Glückscashzonen begleitet ist, könnte
auch die ebenso eingerahmte breite Zone 6 das Hauptmuster getragen haben.
Zonen 16, 17 Schraffenmuster (H XLI:28)
Zone 18 Vogelmuster wie Mantelzone 17?
Zone 22 frei
Alle Zonen sind durch Doppelleisten voneinander getrennt.
Mantel
Zone 1 frei
Zone 2 spitze, nach oben gerichtete Vierfachwinkel mit Kreispunkten an der Basis
(H XXXIX:10) (Abb. 16)
Zonen 3, 10, 11, 18 Schraffenmuster
Zonen 4, 8, 13, 17 Vogelmuster (H XXXVII:38 verwandt) (Abb. 17)
Zonen 5, 7, 14, 16 Glückscash (s. Plattenzone 5)
Zone 6 Hauptmuster
Zone 9 unkenntlich, Schraffenmuster?
Zonen 12, 19 Schraffenmuster (H XLI:28)
Zone 15 Hauptmuster (H XXXII :3—5 verwandt)
Zone 20 freies Quadrat, umgeben von vier Schraffenfeldern (H XLIV;18)
Zone 21 frei, mit eingezogenem Rand.
Die Zonen 19 und 20 sind durch einfache Leisten, alle übrigen Zonen durch Doppel-
leisten getrennt.
Die Einordnung der Stuttgarter Rahmengongs in die Hegerschen Typen ist leicht
vorzunehmen. Darüber hinaus verdienen einige Details der Instrumente, vor allem
des Gongs Stuttgart D, besondere Beachtung. Auf die vielen bei den ikonographischen
Untersuchungen aufgetauchten Fragen möchte ich in diesem Zusammenhang nicht
eingehen, da sie in der Hauptsache den Typ Heger I betreffen, der unter den Stutt-
garter Exemplaren nicht vertreten ist.
Stuttgart A gehört eindeutig zu Typus Heger IV. Dafür sprechen neben der für
diesen Typus üblichen Größe und Form besonders die Ornamente: das zwölfstrahlige
Gestirn, das chinesische Zeichen für „Langes Leben“ und das zweite (pflanzliche?)
Ornament7) der Zone 5, das Vierpaßmuster in Zone 7 und das Wolkenornament in der
vorletzten Zone. Auch die Buckelreihen (Zonen 4, 6, 8) sind charakteristisch für
Typus IV. Aus den Mantelzonen sind die Voluten, das Wolkenmotiv und das ge-
7) Das Pflanzenornament als stilisiertes Hauptornament anzusehen, wie Heger es tat,
ist nicht möglich. Für ein entfernt verwandtes Ornament hat Käthe Finsterbusch
die Unrichtigkeit dieser Hegerschen Annahme zeigen können. Finsterbusch
1959:22 ff.
58
Wolfgang Mar schall
füllte Zackenmuster der untersten Zone dem Typus IV eigene Ornamente. Weiterhin
gehört dazu, daß die Zonen des Mantels durch flache Rillen getrennt sind, was nur bei
diesem Gongtypus erscheint.
Eine Erläuterung des in der Beschreibung der Gongs mehrfach aufgetauchten
„Hauptmusters“ soll hier eingeschaltet werden. Als „Hauptmuster“ bezeichnet man
seit Heger die Darstellung einer menschlichen Figur, die mit Federn oder eher Haaren
geschmückt ist und ein ebenso geschmücktes Gerät (Tanzspeer?) oder/und andere Waf-
fen trägt. Diese Darstellung ist auf den meisten Gongs des Typus I, den wir für den
ältesten und den Grundtypus aller Rahmengongs ansehen müssen, relativ realistisch
gehalten (Abb. 18)8). Aber schon bei diesem Typus wird das Hauptmuster gelegentlich
stilisiert, die einzelnen Figuren werden in immer gleicher Form aneinandergereiht und
ergeben schließlich eine mit einem durchlaufenden gleichmäßigen Ornament gefüllte
Zone. In dieser Form erscheinen sie auf den meisten Gongs des Typus Heger IV und,
zu einem jetzt bereits rein geometrischen Muster stilisiert, auf den älteren Gongs des
Typus Heger III.
Daß Stuttgart A das Hauptmuster nicht zeigt, läßt für möglich erscheinen, daß es
sich um ein in relativ junger Zeit hergestelltes Instrument handelt. Gongs des Typus IV
wurden noch in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts in China hergestellt, und es
ist nicht unwahrscheinlich, daß Stuttgart A im 19. Jh. gegossen wurde, wofür auch
der gute Erhaltungszustand des Instruments spricht.
Der Gong Stuttgart B ist ein interessantes Exemplar des Hegerschen Typus III, den
man nach dem Herstellungsgebiet auch den Karen- oder Shan-Typus nennen könnte.
8) Abb. 18 nach Goloubew, 1929 ;Fig. 4a.
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 59
Die von Heger angeregte weitere Aufgliederung in eine ältere und eine jüngere Gruppe
hat Gühler vorgenommen9). Er gliedert in:
Typus lila: alle Gongs des Typus III, bei denen das Hauptmuster in stilisierter Form,
aber noch deutlich erkennbar, erscheint.
Typus Illb: die Gongs, bei denen das ursprüngliche Hauptmuster nicht mehr erscheint.
Weitere Kennzeichen des älteren Typus lila sind das mit zwei Ausnahmen Sstrah-
lige Gestirn, die mit einer Ausnahme einzeln erscheinenden Frösche auf der Platte und
die jeweils nur ein- oder zweifachen Trennleisten zwischen den Zonen. Der jüngere
Typus Illb ist im ganzen größer, weist ein Gestirn mit immer mehr als 8 Strahlen auf,
hat an Stelle der vier einzelnen Frösche vier Gruppen, die aus zwei oder mehr über-
einandersitzenden Fröschen bestehen, und die Zonen sind meist durch Dreifachleisten
getrennt. Fische treten bei der jüngeren Gruppe nie als Ornament auf.
Stuttgart B gehört zu Typus lila. Welche Stellung das Instrument innerhalb die-
ses Untertypus einnimmt, ist schwer zu bestimmen. Die Mantelform mit weit aus-
ladendem Fuß, der im Durchmesser nur wenig kleiner ist als der obere Manteldurch-
messer, zeigt eine enge Verwandtschaft mit den Gongs des Typus Heger I, die charak-
teristisch für die älteste Gruppe des Typus lila ist. Das für diese Gruppe ebenfalls
typische große Zwischenzackenmuster ist jedoch bei Stuttgart B durch ein mittelgroßes
Muster ersetzt. Auch die von der Zone mit dem Hauptmuster (5) abgerückten Fisch-
Vogel-Rosette-Zonen (9, 13, 14) deuten auf ein späteres Stadium in der Entwicklung
des Typus lila. Stuttgart B ist wie alle Exemplare des Typus III im cire-perdue-
Verfahren hergestellt worden. Besonders deutlich ist die Anwendung dieser Technik an
den Feisten des Mantels zu erkennen, die über die beiden Pseudoformnähte laufen. Die
Weiterführung der Feisten über die Nähte ist bei der Anwendung des Schalengusses,
der für die Gongs der Typen I, II und IV angewendet wurde, in der akkuraten Form
nicht möglich.
Stuttgart C gehört zu den seltenen Vertretern des Typus II. Die Hauptcharak-
teristika dieses Typus; Mantelform in drei deutlich erkennbaren Abschnitten, geringe
Anzahl Plattenzonen, Vielzahl von Mantelzonen mit meist nur zwei sich ständig
wiederholenden Ornamenten, das fehlende Hauptmuster und die Frösche auf der
Platte finden sich alle an dem Stuttgarter Exemplar wieder. Mit einigen Besonder-
heiten setzt sich Stuttgart C jedoch von allen bisher bekannten Exemplaren dieses
Typus ab. Gegenüber den sonst üblichen 8 Strahlen weist das Gestirn von Stuttgart C
12 Strahlen auf, was bisher nur von einem Instrument (Wien IV) bekannt war. Das
Vierspiralenmuster der Zonen 2 bis 5 ist ein dem Typus II eigenes Ornament. In dem
schon erwähnten Ausbesserungsstück erscheinen auch Spiralen, aber einzeln angebracht,
wie es für Typus IV üblich ist. Die Spiralen sind auch nicht beim Guß entstanden,
sondern nachträglich eingeschnitten. Man könnte vermuten, daß die Ausbesserung von
Handwerkern vorgenommen wurde, die mit der Herstellung des Typus IV vertraut
waren. Aus dem hervorragenden Erhaltungszustand des Ausbesserungsstückes kann
man schließen, daß die Reparatur des Instruments lange Zelt nach dessen Herstellung
durchgeführt wurde.
') Gühler 1944:60.
60
Wolfgang Mar schall
Die auffallendste Erscheinung an diesem Gong ist jedoch die Anordnung der
Frösche auf der Platte im Uhrzeigersinn. Üblicherweise laufen die Darstellungen auf
den Gongs gegen den Uhrzeigersinn; so sämtliche zusammenhängenden Szenen, aber
auch fast alle einzelnen Figuren. Aus den auf den Gongs vorhandenen Szenen schloß
Goloubew, daß es sich um Darstellungen des Totenkultes handeln müsse10). Dieser
Deutung schloß sich Fieine-Geldern weitgehend an. Er vertrat die Ansicht, daß die
Anordnung der Figuren gegen den Uhrzeigersinn als dem Sonnenumlauf entgegen-
gesetzte Richtung das in Südostasien so weit verbreitete Motiv der „Verkehrten Welt“
veranschauliche11). Die Frösche des Gongs Stuttgart C zeigen eine dieser Deutung
widersprechende Anordnung. Sie ist jedoch kein Beweis gegen den Versuch, die An-
ordnung der Darstellungen auf den Gongs mit dem Motiv der „Verkehrten Welt“ in
Zusammenhang zu bringen. Vielmehr hat der Typus Heger II eine derart starke Son-
derentwicklung durchlaufen, wie es sich im Fehlen nicht nur des Hauptmusters, sondern
— abgesehen von den plastischen Fröschen — überhaupt jeglicher figürlichen Dar-
stellung zeigt, daß man damit rechnen kann, daß die Kenntnis der ursprünglichen
Bedeutung der Frösche im kaufe der Zeit schwand, und eine bestimmte Anordnung der
Tierplastiken unwichtig wurde.
Der Gong Stuttgart D ist zweifellos das interessanteste der Stuttgarter Exemplare,
was seinen schlechten Erhaltungszustand um so bedauerlicher macht. Auffallend sind
zunächst Form und Größe des Instruments. Der Mantel, der aus nur zwei großen
Abschnitten besteht, zeigt in seinem oberen Teil ein stark konvexes Profil, wie es
charakteristisch für den Typus Heger I ist. Ohne den für Typus I üblichen zylindrischen
oder leicht konkaven Mittelabschnitt schließt sich der untere konkave Mantelteil an,
der in seiner letzten Zone eine starke Einziehung des Profils aufweist. Mit einem
Plattendurchmesser von knapp 94 cm gehört Stuttgart D zu den größten aller bekann-
ten Rahmengongs, wobei besonders das extreme Verhältnis 1:2,4 von Höhe zu Platten-
durchmesser auffällt. In den Größenverhältnissen hat Stuttgart D ein Parallelstück in
Canton 57 (Heger) (Pd 940, H 400).
Stuttgart D gehört in die Zwischengruppe Heger In. Dieser Zwischentypus, von
dem bisher nur vier Exemplare bekannt waren, neigt mehr zum Typus II hin: so steht
die Platte weit über den Mantel hinaus vor, auf der Platte befinden sich sechs Frösche,
und der Mantel weist zahlreiche Zonen auf. Zu den Charakteristika des Typus I
gehören bei Typus In die zahlreichen Zonen der Platte und besonders die Ornamentik.
Finden sich bei Typus II ausschließlich geometrische Muster, so zeigt der Typus In
Muster mit Anklängen an die figürlichen Darstellungen des Typus I. Zwei der Heger
bekannten Exemplare zeigen sogar das bei Typus II nie erscheinende Hauptmuster,
wenn auch In sehr stark stilisierter Form. Im ganzen gesehen gehören die vier bisher
bekannten Exemplare des Typus In vielmehr zu Typus II als zu Typus I, so daß man
sie nicht als Vertreter eines wirklichen Übergangstypus ansehen kann. Der Anschluß
des Typus II an den Grundtypus I war jedenfalls noch nicht gegeben.
10) Goloubew 1929:34 ff.
u) Heine-Geldern 1933:531 f.
Die südostasiatischen Rahmengongs aus dem Stuttgarter Linden-Museum 61
Durch den Rahmengong Stuttgart D wird die große Lücke zwischen den Typen I
und II geschlossen. Das Instrument weist alle für Typus II charakteristischen Erschei-
nungen des Typus In auf. Darüber hinaus erscheint das Hauptmuster an Stuttgart D
mindestens viermal: ganz deutlich in den Plattenzonen 13 und 20 sowie in der Mantel-
zone 15. Auch das bisher nicht bekannte Muster aus der Mantelzone 6 (Abb. 19) gehört
m. E. in die Variationsreihe des Hauptmusters. Da in diesen vier Fällen die Haupt-
musterzonen von Glückscashzonen und anschließend ein- oder beidseitig von Vogel-
musterzonen begleitet werden, halte ich es für wahrscheinlich, daß die ebenso einge-
rahmte breite Plattenzone 6 auch das Hauptmuster enthielt. Dann hätten fünf Zonen
dieses Instruments das Hauptmuster getragen.
Das Entscheidende jedoch ist, daß die drei zuerst erwähnten Hauptmuster bisher
ausschließlich an Gongs des Typus Heger I erschienen. Am Grad der Stilisierung ge-
messen gehören sie zu den Hauptmustern, die der ursprünglichen figürlichen Darstel-
lung am nächsten stehen. Daraus ist zu schließen, daß die Abzweigung des Typus In,
aus dem Typus II hervorgegangen ist, in einer relativ frühen Phase der Entwicklung
des Typus I stattgefunden hat.
Eine Datierung des Gongs Stuttgart D kann natürlich nur eine Schätzung sein.
Die Herstellung dieses kostbaren Instruments noch vor der Mitte des ersten nach-
christlichen Jahrtausends anzunehmen, dürfte jedoch aus obengenannten Gründen und
im Anschluß an die datierbaren Exemplare des Typus Heger I kaum zu früh ver-
anschlagt sein.
Herrn Dr. Friedrich Kußmaul, der diese Publikation anregte, danke ich für sein
freundliches Entgegenkommen besonders herzlich. Mit Herrn Doz. Dr. Hans Fischer
diskutierte ich Fragen der Terminologie. Fräulein A. Heilstem fertigte die Zeichnungen
an, wofür ich meinen besonderen Dank ausspreche.
Literatur
Finsterbusch, K., 1959. Eine südostasiatische Bronzetrommel aus dem Museum für
Völkerkunde zu Leipzig. Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig.
Bd. XVI (1957): 19—27.
Golouhew, V., 1929. L’äge du bronze au Tonkin et dans le Nord-Annam. BEFEO
29:1—46.
Gühler, U., 1944. Studie über alte Metall-Trommeln. The Journal of the Thailand
Research Society 35:17—71.
Heger, F., 1902. Alte Metalltrommeln aus Südostasien. 2 Bde. Leipzig.
Heine-Geldern, R., 1933. Bedeutung und Herkunft der ältesten Metalltrommeln
(Kesselgongs), Asia Major 8:519—537.
Hornbostel, E. M. von & Sachs, C., 1914. Systematik der Musikinstrumente. ZfE
46:553—590.
Montagu, J., 1965. What is a Gong: MAN 65:18—21.
Hans Himmelheher
Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
Am Ende meiner zehnten Expedition im Frühjahr 1965 erfüllte ich mir einen alten
Wunsch und fuhr für ein paar Tage zu den Lobi, um, wenn möglich, etwas von deren
Schnitzkunst zu sehen. Diese ist bis heute fast unbekannt, in dem Maße, daß von sechs
neueren Werken über afrikanische Kunst, die mir vorliegen, nur zwei die Kunst der
Lobi überhaupt erwähnen, und nur eines Abbildungen zeigt. Da, was mir dann be-
gegnet ist, keine endgültigen Aussagen über die Kunst dieses Volkes zuläßt, will ich
darüber in der zeitlichen Abfolge meines Reiseablaufes berichten.
Die Lobi wohnen an einer Drei-Staaten-Ecke, dort nämlich, wo die Republiken
Ghana, Obervolta und Elfenbeinküste Zusammenstößen. An der Elfenbeinküste, wo
ich sie besuchte, haben sie keinen guten Ruf. Labouret (1931, S. 393) schildert, wie es
der Ehrgeiz der jungen Männer ist, irgendeinen Menschen zu töten, aber keineswegs
als Beweis von Tapferkeit: eine Frau, die ihren Topf an der Wasserstelle füllt, ein
Kind, das dem Vater das Essen auf die Pflanzung bringt, sind willkommene Opfer für
ihre vergifteten Pfeile. Der Mensch ist in diesem Sinne mehr ein kapitales Jagdwild
für sie, und in der Tat unterscheiden sich die einem solchen Mord folgenden Reini-
gungsriten nicht von denjenigen nach dem Erbeuten eines Löwen oder einer Pferde-
antilope. Eröffnet man seinem Eingeborenenpersonal, daß man jetzt zu den Lobi zu
reisen gedenke, so werden plötzlich Mütter zu Hause totkrank, Felder müssen drin-
gend bestellt werden . . . Mein Fahrer blieb in den ersten beiden Tagen stets bei hoch-
gedrehten Fenstern im Wagen sitzen, wenn ich in ein Dorf ging. Ich selbst kann nur
das Beste über sie sagen. Sie nahmen mich überall mit Herzlichkeit auf und ließen mich
unbefangen sehen, erfragen und filmen, was mich interessierte. Allerdings war nicht zu
übersehen, daß sie sich in dem nahen Wildreservat von Bouna als Wilderer betätigen.
Die Lobi sind in diesem Savannenland weithin bekannt als die besten Hirsebauern.
Sie leben teils in Dörfern, teils in einsam liegenden Gehöften. Ein seltsamer Eindruck
sind die zahllosen verlassenen, verfallenden Gehöfte, die man allenthalben in der
Landschaft sieht; Die Lobi zögern nicht, die Behausung aufzugeben, wenn das Land
ringsum erschöpft ist. Doch sind eben die Häuser das eindruckvollste Element der
Lobikultur. Es sind vielzimmerige kubische Lehmbauten, an welche mit jeder Ehe-
schließung in der Familie neu angebaut wird. Obgleich im heißesten Landstrich der
Elfenbeinküste gelegen, ist das Lobihaus doch immer kühl. Dafür sorgen zwei archi-
tektonische Eigenschaften: Beim Bau wird das Erdreich etwa 15 cm tief ausgehoben;
dieses Erdreich wird dann in ebenso dicker Lage auf das Deckengebälk gehäuft. Es
ergibt sich also eine sehr dicke Decke, welche die Sonnenbestrahlung für die Zimmer
unwirksam macht. Außerdem steigt man von oben durch das Dach in die Zimmer ein.
So kann die heiße Luft, die sich tagsüber am Boden bildet, nicht seitlich in das Haus
eindringen, sondern steigt daran vorbei in die Höhe, während umgekehrt die kühle
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Elfenbeinküste
65
Nachtluft durch die Einstieglöcher und zusätzliche Luftlöcher im Dach in die Räume
niedersinkt. Jede solche Sukala hat mindestens ein Männer- und ein Frauenzimmer,
besondere unbeleuchtete eheliche Schlafkammern neben dem Frauenzimmer, einen
Werkraum und einen Raum für die Hühner. Die Wohnzimmer sind langgestreckt und
enden auf der einen Schmalseite in einen höher gelegenen Erker, von welchem aus man
auf dem Steigbaum aus- und einsteigt. In diesem Erker stehen die Wassergefäße, und
die Frauen kochen hier, so daß der Ausstieg gleichzeitig als Rauchabzug dient. Entlang
der einen Längswand sind bei Frauen und Männern bis zu zweihundert Töpfe ordent-
lich der Größe nach aufgestapelt als Zeichen des Wohlstandes der Familie. Der eigent-
liche Faimlienschatz aber steckt in einigen mächtigen Tontöpfen im Männerzimmer:
Tausende von Kaurischneckenhäusern.
Außerhalb des Hauses stehen mehrere zylinderförmige Getreidespeicher und ein
kleines Häuschen, in welchem während der Regenzeit der Dolo, das Hirsebier, unge-
stört weitergebraut werden kann. Dieses Getränk, das die Lobi im Unterschied zu den
benachbarten Senufo nicht pfeffern, wird in unvorstellbaren Mengen konsumiert. Ich
vermute, daß der Dolo und auch der Palmwein südlicherer Gegenden erheblichen
Nährwert haben. Auch ich selbst trinke auf meinen Reisen in Afrika beide Getränke
leidenschaftlich gern, während ich oft einen oder gar zwei ganze Tage lang keinen
Bissen esse, und befinde mich dabei in bester Arbeitsverfassung. Das Brauen des Hirse-
biers ist Aufgabe der Frauen und füllt ihren Tageslauf zur Hälfte aus, so daß man in
einem Lobigehöft immer einige Frauen an den gewaltigen Biertöpfen hantieren sieht.
Eine andere charakteristische Tätigkeit ist das Mahlen der Hirse zwischen Steinen: An
oder in jedem Haus sind in Brusthöhe große Steinplatten mit flachen Mulden einge-
mauert. Die Frau mahlt die in diese Mulden gefüllten Hirsekörner, indem sie einen
zweiten großen Stein darauf hin- und herwalkt. In einer besonderen Mulde nebenan
hockt meist eine brütende Henne, die sich aus den überfallenden Körnern versorgt.
Im Gegensatz zu andern Völkern der Elfenbeinküste, etwa den Baule und Guro,
sind die Lobi noch wenig von westlichen Anschauungen berührt. Immerhin hat eine
Anordnung der Regierung den Lendenschurz eingeführt und die jungen Frauen tragen,
ebenfalls dem Präfekten gehorchend, keine Lippenscheiben mehr. Schwer getroffen
werden sie jetzt durch den Befehl, ihre alte Bauform aufzugeben, die sie in ihrem heißen
Land so kühl und staubfrei wohnen ließ. Erst wurde angeordnet, daß sie statt der
sukala einzimmerige Rundhütten mit Strohdach bauen sollten, und nachdem dies vie-
lerorts geschehen war, wurde eine neue Order gegeben; die Häuser sollen Betonwände
und Wellblechdächer haben. Derartige Häuser sind der Hitze wegen, die auch nachts
nicht aus ihnen weicht, schlechthin unbewohnbar. Zu ihrem Glück scheinen die Lobi
vorerst zu arm zu sein, um die Materialien zu kaufen, die diese Bauweise erfordert.
Die ersten beiden Lobi-Schnitzwerke sah ich im Dorf Uango-Fitini bei einem jun-
gen Wahrsager namens Tlgite (Abb. 1, 2), und gleich im Nachbardorf bei einem ande-
ren Wahrsager abermals zwei Figuren (Abb. 3, 4). Das Wahrsagen wird bei den Lobi
in derselben Weise geübt wie sie durch Zwernemann (1965, S. 64) von den Wara,
Dittmer (1958) von den Gurunsi und von mir (1960, S. 108 ff.) von den Senufo
beschrieben worden ist, und von den Lobi selbst von Labouret (1931, S. 449 ff.,
Tafel XXX). Der Fragesteller setzt sich neben den Wahrsager oder Ihm gegenüber,
dieser ergreift seine Hand und schlägt sie in regelmäßigem Rhythmus auf seinen Ober-
5
schenke), während er mit der anderen seine magischen Objekte auswirft. Aus ihrem
Fall und je nachdem, ob bei einer bestimmten Frage die vereinten Hände auf den
Oberschenkel oder daneben auf den Boden aufschlagen, liest er die Antwort auf das
Anliegen des Klienten. Vor ihm stehen die beiden Figuren, und diese spenden ihm
ebenfalls Rat.
Im allgemeinen sind es Krankheiten, sagt Tigite, welche seine Mitbürger veranlas-
sen, seinen Rat bzw. den seiner Geister und magischen Gegenstände einzuholen. Der
Klient muß dem „Fetisch“ (der Gesamtheit seiner Hilfsmittel) zunächst ein kleines
Huhn bringen. Der Wahrsager erfährt die Ursache der Krankheit: „Vielleicht ist der
Mann, ohne es zu merken, von einem Skorpion gebissen worden, oder er hat von
Ahb. 3. Wahrsager (links), vor ihm zwei Figuren (vgl. Ahh. 4).
heiliger Hirse gegessen.“ Weiter erfährt er die Heilmethode und was er nach der
Heilung bringen muß; dies kann selbst eine Kuh sein — sie wird dann vom ganzen
Dorf gemeinsam gegessen.
Die Figuren waren in beiden Fällen keine Menschenpaare. Tigite hatte eine männ-
liche Figur, 17 cm hoch und ein 16 cm hohes Vögelchen. Das letztere war dadurch
auffallend, daß es den Kopf zur Seite wendet. Es hatte einen kurzen dicken Kern-
beißerschnabel, das Gefieder war durch ein paar kreuzweise Schnitte auf dem Leib
angedeutet. Beide Figuren waren schwarz und sichtlich alt. Sie heißen „Ma“. Er hatte
sie von seinem Vater, der auch Wahrsager war, geerbt. Wie sie ursprünglich in seine
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Elfenheinküste
67
Familie kamen, wußte er nicht. „Die Figuren sprechen zu mir, und das sind unsichtbare
Geister, aber [auf meine Frage] nicht Geister, die im Busch wohnen.“ Er warf auf eine
vor ihm liegende Matte vier Kaurischnecken, von denen zwei halbiert waren, und
zwar immer abwechselnd, zwei, drei oder alle vier, oder erst zwei und dann die beiden
anderen dazu. Dazwischen tupfte er mit dem Finger auf die Matte, murmelte dabei
etwas und klatschte dann in die Hände. In dieser Weise befragte er seine Objekte je
nach dem Problem nur einmal oder auch viele Male. Die Wahrsager werden hier
übrigens, wenn französisch gesprochen wird, als „charlatans“ bezeichnet, wobei den
Lobi nicht bekannt ist, daß es sich um eine despektierliche Berufsbezeichnung handelt.
In englisch sprechenden Gebieten nennt man sie achtungsvoller „prophets“.
Ahh. 4. Figur des Wahrsagers
(vgl. Ahh. 3). Höhe: 26 cm.
Der zweite Wahrsager im Dorf Uango II nahm seine Aufgabe wesentlich ernster.
Er rief erst alle seine Ahnen an, die vor ihm wahrgesagt hatten, und ließ einen jeden
von ihnen, indem er seine Kaurischnecken auswarf, kundtun, ob er ihm bei der folgen-
den Befragung beistehen wolle. Seine beiden Figuren waren ebenfalls alt, 20 und
26 cm hoch. Die kleinere war eine männliche Figur, ähnlich der des ersten Wahrsagers,
68
Hans Himmelheber
Ahb. 5 Abb. 6
Abb. 5. Figurenpaar eines Wahrsagers. Höhe: 21 cm. Schnitzer Djogilti im Dorf Kiwe.
Abb. 6. Figur geschnitzt vom Hersteller der Lehmplastiken (vgl. Abb. 25) im Dorf
Fengila. Höhe: 21 cm.
künstlerisch ohne Bedeutung; die größere dagegen, weiblich, war entschieden ein eigen-
ständiges Kunstwerk, und man kann sich wohl vorstellen, daß dem Künstler dabei die
Darstellung eines seltsamen, nur eben menschen-ähnlichen Buschwesens vorschwebte
(Abb. 4).
Andere Wahrsager-Figuren, die ich im weiteren Verlauf meiner Reise erwarb,
zeigen die Abb. 5 und 6.
Im Dorf Lantio wurden mir dann die beiden Figuren der Abb. 7 zum Kauf an-
geboren. Sie sind ein zusammengehörendes menschliches Paar, die männliche 42 cm, die
weibliche 36 cm hoch, beide schwarzbraun, aber nicht alt. Erst nachdem Ich sie erwor-
ben hatte, meldete sich der Eigentümer. Er erklärte mir zunächst, daß solche größeren
Figuren nicht zum Wahrsagen dienen, hierfür habe man nur ganz kleine, wie es drei
der vier Figuren, die ich bei den beiden Wahrsagern gesehen hatte, in der Tat waren.
Diese größeren seien für ein Fleiligtum im Haus, wie er es besitze. Bereitwillig führte
er mich in seine ausgedehnte sukala. Vom Männerraum führte ein schmaler Durchstieg
seitlich in das Heiligtum. Dieses bestand aus einem etwa 2,50 m langen, 1,50 m breiten
TKftíT .
Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
Längsschiff und halbrunder Apsis. Die Apsis war vom Schiff durch eine Wand mit
schmalem Durchstieg getrennt. Er erklärte mir, daß er im Hauptraum die Ratsuchen-
den empfange, die Apsis aber dürfe nur er allein betreten. Mich forderte er jedoch auf,
auch diese in Augenschein zu nehmen, nur bat er mich, nicht zu fotografieren oder zu
skizzieren.
Beide Räume wurden nur durch Löcher in der Wand spärlich beleuchtet, was eine
geheimnisvolle Stimmung und Stille schuf. In der Apsis stand das wichtigste heilige
Objekt: drei große Tontöpfe mir unbekannten Inhalts, mit den Federn des ihnen
geopferten Geflügels beklebt. Darüber hing ein Ledersack. Links davon standen fünf
mittelgroße Tontöpfe. In einer Ecke lehnte eine alte Flinte und ein Beil. An der Decke
hingen Grasbüschel, dazwischen baumelten schlafende Fledermäuse. Im großen Raum
stand links neben dem Haupteinstieg ein großer Lehmaufbau mit Vertiefungen. Der
Eigentümer erklärte mir, daß der ihm zugetane Geist ihn erst im letzten Jahr auf-
gefordert habe, dieses kleine Bauwerk zu errichten. An der Querwand stand ein großer
Korb mit Kaurischnecken.
Der Eigentümer sagte mir jetzt, daß er nicht nur Eigentümer und Priester dieses
Heiligtums mit dem ihm innewohnenden Geist sei, sondern auch Wahrsager. Die bei-
den Tätigkeiten unterscheiden sich dadurch, daß man den Geist des Heiligtums um
etwas bitten kann, während der Wahrsager, bzw. seine Geister die Ursachen bestimm-
70
Hans Himmelheher
ter Nöte und die Heilmittel dafür kundtun. Hat ein Mitbürger ein Anliegen an den
großen Geist, so muß er dem Eigentümer erst ein paar Kaurischnecken zahlen, die die-
ser in den Topf des Heiligtums wirft.
Über die beiden Figuren, die er mir zuvor über einen Mittelsmann verkauft hatte,
erzählte er mir: „Mein Kind war krank. In einem solchen Fall muß ich selbst zu einem
anderen Wahrsager gehen. Ich suchte den Wahrsager Biniate Kambre auf, der hier
nebenan wohnt. Er sagte, ich müsse zwei solcher Figuren für meinen Geist schnitzen
lassen; dieser verlange diese weiteren Geister bei sich zu haben. Sie stellen „konde“
dar, das sind Geistwesen, die im Busch leben. Nur die Priester und Wahrsager können
sie sehen. Sie sind so klein wie diese Figuren und gleichen ihnen. Ich opferte dann erst
Ahh. 8. Figur am Heiligtum vor dem Haus des Schnitzers Biniate. Von ihm selbst
hergestellt. Verteidigt Familie und Anwesen gegen Hexen.
Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
71
seinem „Fetisch“ ein Huhn; dann schnitzte er selbst die Figuren für mich und ich stellte
diese in mein Heiligtum und opferte ihnen. Mein Kind genas. Darum konnte ich dir
die Figuren jetzt verkaufen. Figuren dieser Größe hat man also im heiligen Raum; sie
dienen nicht zum Wahrsagen.“ [Auf meine Frage:] „Es gibt auch Schnitzer, die nicht
gleichzeitig Wahrsager sind.“
Anschließend suchte ich diesen Schnitzer-Wahrsager Biniate auf. Er bewohnte ein
alleinstehendes Gehöft mit seiner Mutter und seinen zwei Frauen, die alle noch die
Lippenscheibe in Ober- und Unterlippe trugen. Gleich beim Betreten von Biniates An-
Abb. 9. Heiligtum des Schnitzers Biniate mit Tierkopf aus Lehm, von einem seiner
Vorfahren hergestellt. Sorgt für gute Hirseernte.
wesen war zu erkennen, daß auch er nicht nur Wahrsager, sondern auch Eigentümer
und Priester anderer mächtiger Geistwesen war. An die Hauswand geschmiegt stand
eine etwa 1 m große schlanke weibliche Figur, umgeben von zugedeckten Töpfen, die
teils in einen Lehmsockel eingemauert, teils in dicken Astgabeln aufgestellt waren
72
Hans Himmelheber
(Abb. 8). Dieses Heiligtum, so erklärte mir Biniate später, schütze sein Haus vor
Hexen; es töte diese. Etwas abseits war für sich allein eine weitere Zusammenstellung
heiliger Gegenstände, dabei ein aus Lehm geformter Tierkopf mit Antilopenhörnern
(Abb. 9). Zwei Meter weiter waren wieder zwei hölzerne Bildwerke aufgestellt, davon
das eine bis zum Hals in Lehm eingemauert, das andere nur eine Stele, beide wieder
überragt von einem knorrigen Stück eines Baumstammes, in dessen Gabelung ein zu-
gedeckter Topf ruhte. An seiner Basis sah man noch Reste eines alten mächtigen Lehm-
sockels, der offenbar früher einmal den Baum umschlossen hatte (Abb. 10, 11). Beide
Heiligtümer bescheren Biniates Lamilie gute Hirseernten. Den Tierkopf hat er schon
Abb. 10. Heiligtum beim Haus des Schnitzers Biniate mit von ihm geschnitzten Stelen.
Sorgt für gute Hirseernten.
Figuren und Schnitztechnik bei den Lohi, Elfenbeinküste
73
Abb. 11. Detail von Abb. 10.
vom Vater übernommen. Die größere Holzfigur fand er beim Ackern auf seinem Feld.
Sie sprach zu ihm: „Nimm mich mit, behalte mich bei dir, dann wirst du immer viel
Hirse ernten. Nach der Ernte opfert er den Heiligtümern je ein Huhn und Hirsebier,
von welchem dann der größere Rest von der ganzen Familie getrunken wird. In den
Töpfen ist Wasser, mit welchem man sich wäscht, wenn man sich nicht wohl fühlt1).
*) Zu den Heiligtümern der Stämme dieser Gegend Westafrikas, auch der Kru, wie
der Mande oder der Akan, gehört meist das heilige Wasser des betreffenden Geist-
wesens, das der gläubige Bittsteller trinken oder mit dem er sich waschen muß.
Opferplatz heim Haus des Schnitzers Biniate mit einer Figur, die er aus dem
Holz eines neben ihm vom Blitz gefällten Baumes herstellte.
Abb
12
74 Hans Himmelheber
Während diese beiden Heiligtümer in der prallen Sonne standen, fanden sich zwei
weitere unter einem schattigen Baum. An dessen Stamm waren einige größere Steine
zusammengelegt, zwischen welchen im einen Fall zwei zugedeckte Töpfe standen, im
andern eine weibliche Figur stak (Abb. 12). Zum Letzteren sagte Biniate: „Dieses Hei-
ligtum ist für Gott. Es [nicht die Figur] heißt tamua. Als ich eines Tages mein Feld
anlegte, schlug der Blitz neben mir in einen Baum und zersplitterte ihn, während mir
nichts geschah. Ich ging zum Wahrsager; der sagte: hole Holz von dem Baum, den der
Blitz traf, und schnitze daraus eine Figur als Dank, daß er dich verschonte. Ich opfere
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Elfenbeinküste
75
dem Heiligtum von Zeit zu Zeit ein Huhn, von welchem niemand von uns ißt, auch
die Kinder nicht.“ (Mitunter erhält das Heiligtum nur das Blut des Huhns, während
man das Fleisch gemeinsam ißt oder es den Kindern zuweist.) Von dem andern Heilig-
tum aber sagt Biniate, er habe es schon von seinem Vater und Großvater übernommen.
„Wenn wir hier eines Tages fortziehen, nehmen wir das mit.“ Der eine der beiden Ton-
töpfe Ist mit einem Deckel zugedeckt; ich erfahre nicht, was darin ist. Auf dem zweiten
liegt ein größerer Stein. Er enthält das heilige Wasser. „Wir selbst füllen das Wasser
hinein, und sonst ist nichts drin. Aber wenn ein Kranker sich mit dem Wasser wäscht,
Abb. 13. Mutter mit Babykorb, an dem eine von Schnitzer Biniate gefertigte Figur
hängt.
76
Hans Himmelheher
gibt ihm das die Verbindung zu dem Heiligtum, und das heilt ihn. Der Wassertopf
selbst ist das Heiligtum, nicht der danebenstehende zugedeckte Topf.“ Sowohl der
Deckel des einen Topfes wie der Stein auf dem Wassertopf sind mit dem Blut und den
Federn der geopferten Hühner beklebt. „Sollte jemand einen der Töpfe stehlen, so
würde er sterben“, fügt Biniate mit einem Blick auf meine Begleiter hinzu.
Ahh. 14. Detail von Ahh. 13.
Ich hatte dann das seltene Glück, die Anrufung dieses kleinen Heiligtums rein
zufällig mitzuerleben und dabei sogar noch weitere Hinweise auf Blniates Wirken als
Wahrsager, Priester und Schnitzer zu erhalten. Während er, wie im folgenden geschil-
dert wird, im Schatten desselben Baumes eine Figur für mich schnitzte und ich ihn dabei
filmte, bemerkte ich, wie eine jüngere Frau sich an dem Wassertopf zu schaffen machte.
Um den Hals gehängt trug sie einen schmalen hohen Korb. Erst als ich hinzutrat, sah
ich unten in dem Korb ein Baby liegen (Abb. 13). Sie hob das Kindchen nun mit der
einen Hand hoch und besprengte mit dem heiligen Wasser mehrmals erst den Korb,
dann das Kind. Man erklärte mir, daß diese Frau von einem andern Gehöft gekommen
sei, um ihr krankes Kind mit dem heiligen Wasser zu heilen. Schon früher hatte
Biniates Wissen um das Übersinnliche diesem Kind geholfen. An dem Tragekorb hing
nämlich eine von ihm geschnitzte Figur (Abb. 14), deren Funktion ich aber nicht er-
fragte, um sein Schnitzen nicht zu unterbrechen (vgl. Fabouret, 1931, S. 490: kleine
Figuren am Xylophon dienen zur Hexenabwehr).
Als ich Biniate zuvor gefragt hatte, ob er vor mir eine Figur schnitzen wolle, damit
ich ihn dabei beobachte und filme, war er sofort bereit. Noch ehe ich meine Kamera
aufgebaut hatte, kam er schon mit einem passenden Holzstück vom Schibutterbaum.
Später erklärte er mir allerdings, daß er sonst ein anderes Holz „sankolo“ verwende,
das es aber in der Nähe seines Gehöftes nicht gibt. Er arbeitet sonst nur in diesem einen
Holz. Ich habe ältere Figuren von seiner Hand erworben, die er aus diesem Holz ge-
schnitzt hat (Abb. 18—19). Es ist sehr schwer und die Vorsprünge der Schnitzerei
springen fast wie Glas ab. Vielleicht erklärt es sich aus dieser Eigenschaft des Holzes,
daß die Fobi-Plastiken im allgemeinen keine ausgearbeiteten Hände und Füße haben.
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Eljenbeinküste
Abb. 15. Schnitzer Biniate
mit seiner Axt neben dem
Bäumchen, das er für die
Herstellung einer Figur
gefällt hat.
78
Hans Himmelheber
Umgekehrt würden die Schnitzer gut daran tun, den Füßen einen Sockel anzuschnitzen,
wie es zum Beispiel die Baule tun; das ist aber nur selten der Fall.
Biniate nahm im Baumschatten auf einem dreibeinigen Schemel Platz, den er aber
umkippte, um niedriger zu sitzen. Vor ihm lagen seine Werkzeuge bereit: 4 Dechsel
verschiedener Größe, drei davon mit eingedornter Klinge, der kleinste mit Tüllen-
klinge; drei Messer, sämtlich europäischer Herkunft: ein großes Stellmesser, ein Tafel-
messer und ein altes Taschenmesser; ein schmaler Meißel. Für das Fällen des Baumes
hatte er eine Axt mit eingedornter Klinge und etwa ein Meter langem Stiel verwendet
(Abb. 15).
Während des Filmens und Photographierens führte ich Protokoll, aus welchem ich
folgendes ausziehe:
Uhr zeit
15.55 Beginn der Schnitzarbeit. Der Block ist ein Stück eines Baumstammes mitsamt
der Rinde, 58 cm lang und 14 cm im Durchmesser (Abb. 15).
Mit dem gröbsten der vier Dechsel wird ringsum die Stelle markiert, an welcher
der Kopf ansetzt.
16.05 Biniate hat jetzt sechs Kerben in den Block geschlagen und so die Proportionen
der Figur festgelegt. Er arbeitet dabei rasch, ist offenbar seiner Sache ganz sicher.
16.07 Er greift zu einem kleineren Dechsel, mit welchem er in rascheren, kürzeren
Hieben arbeitet; er führt immer zwei Schläge nacheinander aus, um dann kurz
zu pausieren.
16.12 Es ist schon zu erkennen, daß hier eine menschliche Figur entsteht. Man sieht die
Arme, zum größten Teil noch mit der Rinde bedeckt; das Gesäß, das sich als ein
stehengebliebener Rindenstreif absetzt, den Bauch und die beiden Teile der
Brust. Er arbeitet jetzt erst wieder mit dem breitesten Dechsel, um dann
16.15 die Brust mit einem kleinen auszuhauen.
16.25 Der Kopf war bislang unberührt geblieben. Mit dem gröbsten Dechsel markiert
er jetzt dessen Züge und haut die Ohren aus, auf denen aber auch noch Rinde
verbleibt.
16.30 Er greift zum kleinsten Dechsel mit dem Tüllenblatt. Dieses springt zunächst
aus dem Griff und muß neu eingekeilt werden. Er bearbeitet damit den Hals.
16.35 Immer noch ist allenthalben Rinde stehen geblieben, am Hinterkopf, Gesicht,
Ohren, Armen, Gesäß und Füßen.
16.45 Er nimmt einen kleinen eisernen Meißel zur Hand, den er dann mit der Klinge
eines Dechsels, die er aus dem Schaft genommen hat, schlägt. Er setzt dieses
Werkzeug überall da an, wo es gilt, in die Tiefe zu arbeiten, zum Beispiel jetzt
zwischen den Beinen. Dann schlägt er mit dem Kopf des Dechselgriffs die Rinde
hinten an den Füßen weg.
17.00 Rundung der Waden mit Tüllendechsel.
17.13 Die Beine sind voneinander getrennt. Dort ist jetzt alle Rinde weg.
17.25 Mit dem Meißel wird der vordere Teil der Achselhöhlen herausgeholt.
17.35 Der Bauch ist mit dem Tüllendechsel ausgehauen worden.
18.00 Beine, Unterleib und Brust sind nun ausgehauen. Arme und Kopf tragen immer
noch Rinde.
Figuren und Schnitztechnik bei den Lohi, Elfenheinküste 79
18.15 Ellenbogen und Handgelenke werden mit dem Tüllendechsel herausgearbeitet.
Auch die Brüste sind fast fertig.
18.20 Biniate geht jetzt mit wuchtigen Hieben des großen Dechsels den Kopf an. In
einem fortgesetzten Arbeitsgang schlägt er vorne und seitlich alle Rinde weg und
arbeitet dazwischen schon an einzelnen Stellen in die Tiefe. Einmal schaut er den
Kopf lange überlegend an. Schließlich ist das Gesicht eine leicht konvexe, aber
noch ganz ungegliederte Fläche. Sie läuft am Kinn spitz zu.
18.25 Der Hinterkopf spitzt sich wie das Kinn nach unten zu.
Abb. 16. Schnitzer Biniate haut mit demTüllendechsel die Augenbrauen einer Figur aus.
80
Hans Hiniìnelheber
Da die Dunkelheit hereinbricht, brechen wir ab. Biniate hat genau 2V2 Stunden
ununterbrochen geschnitzt.
Ich schlafe in einem anderen Dorf und komme daher am folgenden Morgen erst
07.55 Uhr wieder zu Biniate. Er schleift eben die Dechselklingen, die er aus den Grif-
fen genommen hat, sorgfältig auf einem in Holz gefaßten Schleifstein.
08.00 Mit dem Stellmesser und dem langen Tischmesser, dann mit dem kleinsten der
eingedornten Dechsel werden die Gesichtszüge in Angriff genommen. Erstaun-
lich, daß das Tafelmesser mit seiner langen, schlecht zu handhabenden Klinge
und seinem runden Ende ihm als Werkzeug dienen kann.
Abb. 17. Biniate arbeitet mit einem Messer am Hals der Figur.
Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
81
08.05 Nase und Mund sind als Trapez und Rechteck ausgehauen. Mit dem Tafelmesser
wird die Nasenkontur bearbeitet.
08.15 Mit dem Taschenmesser kerbt er die obere halbrunde Kontur der Augen oder
Augenbrauen ein. Danach schleift er alle Messer gründlich unter Verwendung
von viel Wasser und prüft dabei die Schneiden häufig mit dem Finger.
08.27 Die Augen treten als eiförmige Körper hervor.
08.30 Mit dem kleinen Tüllendechsel werden erst die Augenbrauen, dann Wangen,
Kinn und Ohren ausgehauen (Abb. 16).
08.40 Biniate nimmt etwas Tabak in den Mund.
08.47 Er bearbeitet die Stirn mit dem kleinsten der gedornten Dechsel, dann die
Brauen mit dem Tafelmesser.
08.55 Er arbeitet jetzt seit fast einer Stunde ausschließlich am Gesicht. Für alle feineren
Schnitte bedient er sich dabei des Stellmessers und des Tafelmessers. Die Messer
hält und führt er mit der rechten Hand, aber die Kraft des Schnittes erhalten
sie meist durch den Druck des linken Daumens.
09.15 Biniate wendet sich wieder den Beinen und Füßen zu. Waden und Kniekehlen
werden weiter ausgeformt, erst mit dem zweitkleinsten Dechsel, dann mit dem
Tafelmesser.
09.48 Mit dem gleichen Dechsel wird der Rumpf bearbeitet. Der Nabel steht weit vor;
er arbeitet an ihm mit dem Stellmesser.
10.10 Er ist mit dem Tüllendechsel, dann mit dem Tafelmesser am Hals beschäftigt
(Abb. 17).
10.20 Mit dem Tafelmesser arbeitet er am Hinterkopf. Dort Ist jetzt endlich alle Rinde
entfernt.
10.25 Er wendet sich dem Scheitelteil zu, der immer noch in dem rohen Zustand ist,
in welchem der Block aus dem Stamm gehauen worden war.
10.42 Er arbeitet mit dem Tüllendechsel am Kinn. Dann betrachtet er die Figur und
wendet sich mit demselben Dechsel den Ohren zu.
11.00 Biniate übergibt mir die Figur; sie sei fertig. Da aber die Oberfläche noch gar
nicht geglättet ist, worauf alle mir bekannten Schnitzerstämme große Sorgfalt
verwenden, vergleiche ich sie prüfend mit den anderen Figuren an seinen Heilig-
tümern und reiche sie ihm dann als unfertig zurück. Nun schabt er sie mit der
senkrecht gehaltenen Klinge des Stellmessers gründlich ab.
11.23 Er schabt und schnitzelt immer noch, um die Figur nun wirklich vollkommen zu
machen.
11.30 Er gibt sich sehr große Mühe, die Schnitzerei zu einem einwandfreien Ende zu
bringen. Er läßt sich ein Büschel Blätter bringen, aber nicht wie bei anderen
Stämmen, um die Figur damit abzuschmirgeln, sondern nur um die Späne von
ihr abzuwedeln. Darnach korrigiert er die Augenbrauen nochmals mit dem
Tafelmesser.
11.55 Jetzt nach fast einer Stunde zusätzlicher Vervollkommnung übergibt er mir die
Figur wieder. Ich sage, ich wolle auch das Färben sehen und filmen. Aber weder
er noch der Dolmetscher verstehen, was ich meine. Es stellt sich heraus, daß die
Lobi ihre Figuren nicht färben. „In einem Monat hat die Sonne sie dunkel ge-
macht", sagt Biniate.
Hans Himmelheber
Ahh. 20
Ahh. 18. Die von Schnitzer Biniate hergestellte Figur (vgl. Ahb. 16, 17). Höhe: 57 cm.
Ahh. 19. Von Biniate gefertigte Figur. Höhe: 102,5 cm. Im Besitz des Linden-Museums
(Katalog-Nr.: F 50 638).
Ahh. 20. Ältere weibliche Figur. Höhe: 67 cm.
Das Ergebnis von Biniates sechseinhalbstündiger Arbeit ist die Figur unserer
Abb. 18. Andere, von Biniate früher geschnitzte Figuren zeigen die Abb. 7 und 19, und
die Heiligtümer vor seinem Haus und am Baby-Korb Abb. 8—14.
Auf meine Fragen über die Schnitzer der Lobi und über ihn selbst gibt Biniate
folgende Auskünfte; Der Schnitzer heißt tertil = der welcher Holz bearbeitet. Diese
Tätigkeit wird im allgemeinen nicht in einer Familie von Generation zu Generation
Abb. 21. Zweigeschlechtliche Doppelfigur eines längst verstorbenen Schnitzers im Dorf
Lantio. Soll untreue Ehefrau zurückbringen. Höhe: 75 cm.
Abb. 22. Alte weibliche Figur. Höhe: 52 cm.
Abb. 23. Alte Figur aus dem Kulango-Dorf Kodo, von einem früher dort lebenden
Lobi-Schnitzer hergestellt. Höhe: 29 cm.
weiter gepflegt. Wer Lust dazu hat, geht schon als Kind ab und zu für zwei Tage zu
einem Schnitzer, schaut ihm zu und lernt es so.
Biniate selbst hat das Schnitzen mit etwa 12 Jahren angefangen. Ihm hat es nie-
mand gezeigt, sondern sein Geist hatte ihm gesagt, er solle ihm eine Figur schnitzen.
Als ihm dies gelungen war, schnitzte er andere zum Verkauf. Seine Kunden sind die
Wahrsager, welche die Figuren brauchen, wenn sie ihre Kaurischnecken befragen. Er
Figuren und Schnitztechnik bei den Lobi, Elfenbeinküste
Abb. 22
Abb. 23
Abb. 24. Im Kulango-
Dorf Kodo von einem
heute dort lebenden Lobi-
Schnitzer für sein eigenes
Heiligtum hergestellte Fi-
gur. Höhe: 22,5 cm.
schnitzt die Figuren auf Vorrat, nicht erst, wenn sich ein Interessent einstellt. Die
Figuren, die ich hier bei seinen Heiligtümern sah, hat er diesen geben müssen, bevor
er begann, solche zu verkaufen, „so wie man ja auch seinem Geist Hirse geben muß,
bevor man welche verkauft“.
Die Figuren stellen „konde“ dar, und zwar die kleinen für die Wahrsager ebenso,
wie die großen an seinen Heiligtümern. Die „konde“ sind kleine Wesen, die an be-
stimmten Plätzen im Busch auf dem Ku-Baum leben. Sie sehen so aus wie die Figuren,
haben aber rote Haare. Wenn sie auch alle gleich aussehen, so ist doch ihre Wirkungs-
weise ganz verschieden. Im engeren Sinne bezeichnet man als „konde“ diejenigen,
die im Freien aufgestellt werden, und als „sitona“ diejenigen, die im Haus sind. Die
Doppelfigur unserer Abb. 21 ist ein „sitona“. „Die Figuren, die du bei mir siehst“,
fügt Biniate bescheiden hinzu, „sind weder ,konde' noch ,sitona', denn diese Wesen
sind mir noch nicht erschienen.“
Jene Doppelfigur (Abb. 21) wurde von einem Schnitzer gefertigt, der so lange tot
ist, daß man seinen Namen nicht mehr kennt. Er lebte im Dorf Lantio. Die Figur
stand in einem Haus ganz für sich allein. Ein Wahrsager hatte sie einem Mann namens
Sonise verordnet, dessen Frau davongelaufen war. So geschieht das oft. Man opfert
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Elfenbeinküste
85
der Doppelfigur ein Huhn — dann kehrt die Frau zurück. Man nennt solche Figuren
„tilbuye-eyu“ = zwei Figuren in einer.
Ich hatte in dieser Gegend schon einige Dörfer der Kulango angetroffen und
wandte mich nun nach Osten, um in ihrem eigentlichen Gebiet einige Siedlungen zu
besuchen. Im Kulango-Dorf Kodo wurde mir eine sehr alte Figur gebracht, die aber
einst von einem Lobi-Schnitzer daselbst verfertigt worden war (Abb. 23). Seinen
Namen wußte man nicht mehr. Der Häuptling machte mich darauf aufmerksam, daß
auch heute ein Lobi-Schnitzer in seinem Dorf lebe. Er begleitete mich zu dessen etwas
außerhalb liegender Werkstatt. Der Schnitzer namens Sje verkaufte mir eine Figur,
die er für sein eigenes Heiligtum geschnitzt hatte (Abb. 24). Der Häuptling dieses
Kulango-Dorfes versicherte mir, daß die Kulango selbst weder hier noch in anderen
Teilen ihres Landes irgendwelche Schnitzereien hätten.
Ich fuhr nun wieder nach Westen und sah im Lobi-Dorf Tengila eine weithin be-
Abb. 25. Heiligtum mit zwei großen Lehmfiguren im Dorf Tengila. Höhe der Figuren
ohne Sockel ca. 1,20 m.
86
Hans Himmelheher
rühmte, gewaltige Lehmplastik. Auf einem runden Lehmsockel sitzen dort eine männ-
liche und eine weibliche Figur mit ausgestreckten Beinen, etwa 1,20 m hoch (Abb. 25).
Hinter ihnen sind in den Lehmsockel mehrere Baumstämme eingemauert und zwischen
ihren Oberschenkeln ein zugedeckter Topf. Diese Figuren hat der Eigentümer selbst
gemacht, und er ist ihr Priester. Er hat sie nicht von seinem Vater übernommen, und
dieser hat auch nie derartiges gemacht. „Gott hat es mir gezeigt.“ Die Figuren heißen
„tanga“, was er mit „dieu“ übersetzt. Kranke und andere Notleidende kommen zu
diesem seinem Heiligtum. Er habe nie eine andere Figur dieser Art gemacht, aber
einmal habe er eine Holzfigur geschnitzt. Er läßt diese bringen und bietet sie mir zum
Kauf an. Es ist die Figur unserer Abb. 6, deren Kopf affenähnlich ist.
Ich möchte zuletzt den Versuch machen, an Hand von vierzig Lobi-Figuren, die
mir im Original oder in Abbildungen vorliegen, etwas über den Stil der Lobi-Plastik
auszusagen. Einen solchen Stammesstil gibt es ohne Zweifel; es fällt ja gar nicht
schwer, eine Figur als „Lobi“ zu identifizieren.
Es scheint mir, daß es einen älteren und einen neueren Lobi-Stil gibt, die aber durch
stilistische Gemeinsamkeiten verbunden sind. Allen ist gemeinsam ein gewisses Zu-
sammengedrängtsein der Gestalt. Eine „Gedrungenheit“, aber nicht in der Vertikalen,
sondern in der Horizontalen. Die Figuren haben etwas von im Glied stramm stehen-
den Soldaten, die ihren seitlichen Körperraum einzuengen bestrebt sind. Die Arme
sind meist gar nicht vom Körper gelöst, oder wo sie es sind, hängen sie steif und straff
nach unten.
Sehr auffallend ist die Bildung der Brüste. Sie sind — anatomisch gesehen — viel zu
klein im Verhältnis zum Rumpf und setzen viel zu hoch an; wie zwei dreieckige Haut-
lappen ohne Schwellung hängen sie von den Schlüsselbeinen herab. Oft sind die Brüste
durch eine ebenso überhängende Hautfalte verbunden. Es ist bezeichnend, daß die
Brust an männlichen Lobi-Figuren kaum anders aussieht, wie es an der zweigeschlecht-
lichen Doppelfigur (Abb. 21) zu erkennen ist.
Die primären Geschlechtsteile sind bei weiblichen Figuren überhaupt nicht aus-
geführt und bei den männlichen Figuren nur eben als vorspringendes Dreieck. Der
Nabel ist stets angedeutet, manchmal auch deutlich herausgearbeitet. So wie der Busen
zu weit oben sitzt, sitzt der Nabel mitunter viel zu weit unten (Abb. 20, 23).
Die Figuren stehen ohne Sockel mit den Füßen unmittelbar auf dem Boden. Hier-
von befinden sich unter meinen vierzig Beispielen nur drei Ausnahmen (Abb. 4, 6 und
Himmelheber, 1960, Fig. 103). Die Füße sind nie ausgearbeitet; sie zeigen nicht einmal
Einschnitte für die Zehen. Ebenso sind die Hände meist nur angedeutet, indem der
Arm als flaches Trapez endet; selten sind die Finger wenigstens durch Einkerbungen
angedeutet, so an der Doppelfigur Abb. 21.
Die Arme zeigen meist keine Ellenbeuge; die Beine sind nur wenig gewinkelt.
Im Gegensatz zu der allgemein steifen Haltung und der geringen Betonung der
Geschlechtsmerkmale sind Gesäß, Bauch und Waden meist wohlgerundet.
Die Gesichtszüge sind recht verschieden gestaltet. Die Nase kann ein einfaches
ungegliedertes Gebilde sein, aber es können auch die Nasenflügel ausgeführt sein. Die
Augen sind manchmal ovoid hervortretend, manchmal bleiben sie mehr in der Fläche
des Gesichts wie bei den Baule. Die Augenbrauen sind meist ausgeführt; sie vereinigen
sich über der Nase in einem Bogen oder Winkel oder gehen in den Nasenrücken über.
Figuren und Schnitztechnik hei den Lobi, Elfenbeinküste
87
Einzig der Mund ist charakteristisch: die Lippen stehen wie zwei Scheiben aus dem
Gesicht heraus. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß damit die Lippenscheiben
angedeutet sein sollen, aber die Lippen männlicher Liguren stehen ebenso vor. Als
Ganzes ist das Gesicht zwar stark stilisiert, aber doch weit mehr der natürlichen Bil-
dung nahe als etwa das zweidimensionale Gesicht der Bauleplastiken oder die Senufo-
gesichter mit ihrer weit vorspringenden unteren Gesichtshälfte.
Körperschmuck ist in der Schnitzerei kaum nachgebildet. Nur an wenigen Liguren
ist die Lrisur in den großen Lormen ausgeführt. Die meisten Liguren haben einen
„kahlen Kopf“, das heißt das ganze Schädeldach ist eine völlig ungegliederte Halb-
kugel. Da, wie wir lasen, die dargestellten Wesen rote Haare haben, wäre es möglich,
daß man dort eine Perücke aufsetzte oder etwa rote Ledern anklebte, doch habe ich
derartiges nie, auch nicht in Spuren, gesehen, auch nicht an den in Heiligtümern ein-
gemauerten, also „in Gebrauch befindlichen“ Liguren. Auffallend ist, daß die „Glatze“
oft gegen den übrigen Kopf derart abgesetzt ist, daß es aussieht, als habe man der
Ligur einen Topf übergestülpt. Es läuft nicht nur ein Rand ringsum, sondern der dar-
überliegende behaarte Teil des Kopfes steht ein wenig über. Nun habe ich tatsächlich
zweimal Liguren gesehen, denen der Eigentümer eine goldgelbe Kalebasse aufgesetzt
hatte (Abb. 8, 25). Ich möchte darum glauben, daß die Kahlköpfe der Lobifiguren so
zu erklären sind, daß man diesen Liguren eigentlich eine Kalebasse aufsetzt, sich also
eine Ausarbeitung dieser Partie nicht lohnt. Es liegt ja nahe, daß man die Liguren
gegen die Unbilden monatelanger Regen und sengender Sonne schützen möchte.
Nur bei einer meiner Liguren — der Doppelfigur Abb. 21 — sind die beiden Lippen-
scheiben der Lrau angeschnitzt, und nur eine Lobi-Ligur kenne ich, die eine schwache
Andeutung von Tätowierung zeigt (Himmelheber, 1960, Lig. 103), obwohl die
strahlenförmige Tätowierung um den Nabel bei beiden Geschlechtern charakteristisch
für die Lobi ist, und sie sich auch auf der Brust und im Gesicht tätowieren (Abb. 1).
Ich habe den Eindruck, daß die neueren Liguren der Künstler Biniate in Tiamne
(Abb. 7, 18, 19), Djogilti in Kiwe (Abb. 5) und anderer, von welchen ich nur die
Werke, nicht aber die Namen kenne, eine gewisse Emanzipation gegenüber den älteren
zeigen. Die älteren Liguren, von denen ich freilich nur ein Dutzend kenne (Abb. 2, 4,
6, 20, 22, 23), sind gebundener, starrer. Die neueren Liguren sind fleischiger, sie
schwellen in den Raum, die Gesichter sind pausbackiger. Bei ihnen sind die Beine stets
voneinander getrennt, und die Arme liegen oft nicht mehr am Körper an. Während
bei den alten Liguren der Kopf anatomisch eher zu klein ist, kehrt sich bei manchen
der neuen Liguren das Verhältnis um.
Literatur
Dittmer, K., 1958: Die Methoden des Wahrsagens im Ober-Volta-Gebiet. Baessler-
Archiv, N. L. VI, S .1—60.
Himmelheber, H., 1960; Negerkunst und Negerkünstler. Braunschweig.
Holas, B., 1953: Et les flèches entrent en jeu . . . (Schéma d’un combat coutumier au
pays lobi). Notes Africaines, no. 57, S. 16—20.
Labouret, H., 1931: Les Tribus du Rameau Lobi. (Travaux et Mémoires de l’Institut
d’Ethnologie, T. XV.) Paris.
Zwernemann, /., 1965; Leldnotizen von denWara (Haute-Volta). Z. f. E. 90, S. 49—65.
Eberhard Fischer
Die Gelbgußmaske des Ali Amonikoyi (aus Togo) im Museum
für Völkerkunde in Basel*)
Auch wenn die Arbeiten des Yoruba- Gießers Ali Amonikoyi aus Kete
Krachi (Togo) sicherlich nicht zu den künstlerisch bedeutendsten Schöpfungen west-
afrikanischen Gelbgusses gezählt werden können, so haben doch gerade sie den
Ethnologen zum ersten Mal gezeigt, daß der individuelle Stil eines westafrikanischen
Gelbgießers in seinen Werkstücken erkennbar ist. Obwohl dies bedeutet, daß wir
auch bei den Naturvölkern (auf alle Fälle in Westafrika) individuelle Kunstschöpfun-
gen zu erwarten haben, ist diese Tatsache bisher nur von den wenigsten Ethnologen
oder Kunstwissenschaftlern zur Kenntnis genommen worden.
Die Arbeiten Ali Amonikoyis wurden zuerst durch Staudinger in Europa be-
kannt, der 1909 vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte ein Referat über „Bronzeguß in Togo“ gehalten und zwei Originale
und mehrere Fotografien von Gelbgüssen dem Publikum vorgelegt hat1).
Durch Staudinger sind solche Gelbgüsse an die verschiedensten Museen gelangt,
so vor allem nach Stuttgart2), Leipzig3), Dresden4), Darmstadt5 6), Zürich8) und auch
*) Ich danke Herrn Dr. Gerhard Baer und Herrn Prof. Dr. Alfred Bühler für ihre
freundliche Erlaubnis, das Stück aus dem Museum für Völkerkunde in Basel pub-
lizieren zu dürfen.
4) Auf der Sitzung vom 13. November 1909. Vgl. Staudinger, P. (1909); Über
Bronzeguß in Togo, Zeitschrift für Ethnologie 41, 855—862, Tafel XI.
2) Glück, J. F. (1951): Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi. Ein kunstmorphologischer
Beitrag zur Frage des Kitsches bei den Naturvölkern, Jahrbuch des Linden-
Museums 1, 27—71.
Zwernemann, J. (1964): Un masque de laiton provenant du Togo au Linden-
Museum ä Stuttgart, Notes africaines 101, 11 —13.
3) , 4) Wolf, S. (1962): Zwei Gelbgußmasken aus Kete Kratschi, Annals of the Näpr-
stek Museum 1, 173—186.
5) Himmelheber, H. (1960): Negerkunst und Negerkünstler. Braunschweig, Abb.
180. Die Feststellung stammt von Wolf, S. (1962) op. cit. S. 183, Anm. 6.
6) Leuzinger, E. (1963): Museum Rietberg, Zürich — Afrikanische Skulpturen —
Beschreibender Katalog. Zürich, S. 128, Abb. 83.
90
Eberhard Fischer
nach Basel. Durch Sammler wie von RentzeW) und Anckermanns) oder durch Ratt-
ray7 8 9) kamen Güsse aus Togo in Privatsammlungen und in englische und holländische
Museen (so zum Beispiel befinden sich Werkstücke von Ali Amonikoyi in Oxford und
in Leiden). Eine bisher unpublizierte kleinformatige Figurengruppe befindet sich im
Musee d’Ethnographie in Genf (Kat.-Nr. 21 331, Kauf Hotel des Ventes, Paris 1947).
Meine Aufgabe soll nun sein, die Maske, die sich im Museum für Völkerkunde
und Schweizerischen Museum für Volkskunde in Basel befindet, zu beschreiben, damit
auch dieses Stück dem Werke-Katalog des Ali Amonikoyi eingereiht werden kann.
Die mir vorliegende Maske wurde schon von Staudinger (1909)10) abgebildet und
von Rütimeyer (1932)11) kurz beschrieben.
Der Katalog des Völkerkunde-Museums, Basel, zeigt folgende Notiz:
III / 7127 Süd Nigeria Yoruba Maske aus Bronce
Einlauf III / 409 Kauf Staudinger
Eit. Staudinger, lieber Bronceguss in Togo, Z.f.E.1909
Später wurde (von mir) „Süd Nigeria“ durchgestrichen und durch „Togo“ er-
setzt, jedoch hatte schon zuvor Raul Hinderling folgendes auf der Karte vermerkt:
Hergestellt in Kete Kratchi, Grenze Togo-Goldküste von einem Yoruba Mann aus
Ilorin namens Ali Amonikoyi. Weiterhin gibt er noch einen Hinweis auf die Arbeit
von Glück.
Aus den Akten des Museums läßt sich nur entnehmen, daß das Objekt 1931 von
Staudinger persönlich erworben worden ist.
Beschreibung der Maske
Die Maske besitzt folgende Maße;
Gewicht: 3325 g
Höhe: 17,5 cm
Nasen-Länge: 3,9 cm
Ohr-Länge: 4,2 cm
Bart-Länge: 3 cm
Der Kopf ist aus zwei Teilen aufgi
Gesicht und Hals — Hinterhaupt und
Wanddicke: 2—3 mm
Durchmesser: 16,5 cm X 25 cm
Nasen-Breite: 3,9 cm
Mund-Breite: 4,9 cm
Schnurrbart-Breite: 7,4 cm
:, die deutlich voneinander abgesetzt sind:
pe. Die beiden Teile sind zwar gleichzeitig
7) Cornevin, R. (1959); Masques de laiton de type yorouba provenant du nord
Togo, Notes africaines 84, 101 —102.
Ders. (1964): A propos des masques de laiton du Nord-Togo, Notes africaines
101, 7—11.
8) Notiz von Staudinger, P. (1909) op. cit. S. 856.
9) Penniman, T. K. (1951); A note on specimens in the Pitt Rivers Museum illu-
strating cire perdue casting, Occasional papers on Technology, Pitt Rivers Mu-
seum 4, 119 f.
10) Staudinger, P. (1909) op. cit. Tafel XI, links.
u) Rütimeyer, L. in Sarasin, F. (1932): Bericht über das Basler Museum für Völker-
kunde für das Jahr 1931, Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in
Basel 43, 11—12.
f ■■ •+rlir1
92
Eberhard Fischer
Abh. 2. Rückseite der Gelbguß-
maske des Ali Amonikoyi.
■MJf
gegossen, ihre Modelle aber zu verschiedenen Zeiten modelliert, beziehungsweise zu-
sammengefügt worden12).
Das Gesicht ist schräg zur Kopfform gestellt. Der Maskenrand schneidet ein
Oval unterhalb des Kinnes bis zum Hinterkopf, der senkrecht in den Hals abfällt.
An dem Rand ist außen ein schmaler Wulst aufgesetzt.
Mund, Nasenlöcher und Pupillen sind durchbrochen gearbeitet, sonst ist die
Oberfläche der Maske geschlossen.
Von innen sieht die Maske glatt aus. Die einzelnen Vertiefungen gleiten kanten-
los ein. Die Dicke der Bronzewand ist an allen Stellen etwa die gleiche. Nur die
Augäpfel sind massiv, Bart und Ohren sind auf der Außenfläche aufgesetzt.
Die rechte Seite der Maskenoberfläche ist übersät mit kleinen Körnchen — Ver-
unreinigungen des Wachses, beziehungsweise des Tonmantels — während die linke
Seite der Maske eine bedeutend reinere Oberfläche aufweist. Aber auch die Farbe des
Metalles ist nicht überall gleich. Während der obere Teil des Kopfes einen reinen
Kupfer-Ton aufzeigt, ist das Gesicht selbst fein gefleckt: hier tritt neben das Kupfer
ein gelblicher Bronze-Ton. Dieser wird zum Rand hin geradezu dominant. Man
12) Die deutlich sichtbare Naht ist jedenfalls keine Schweißnaht.
Die Gelbgußmaske des Ali Amonikoyi (aus Togo)
93
kann diese ungleichmäßige Verkupferung der Oberfläche besonders gut an der Innen-
seite der Maske erkennen: hier ist die Kuppe bis zur Stirne rötlich-kupfern schillernd,
während die Partien am Rand matt in einem braun-gold erscheinen. Der Übergang
zwischen den beiden Farben ist teilweise verschwommen, teilweise ist aber ein ge-
flammter Rand sichtbar13). Diese thermische Verkupferung der Oberfläche fehlt auch
dort, wo die Kupferhaut, die sehr dünn ist, beschädigt worden ist: dies geschah an
mehreren Stellen, vor allem um die unreine Oberfläche zu korrigieren — am rechten
Auge, unter dem Bart und an einzelnen Stellen auf der Stirne. Als mechanisches
Arbeitsgerät läßt sich die Spur der Feile (unter dem Bart) und die Schlagstelle eines
(Spitz-) Meißels (am Auge) zeigen. Daß diese nachträgliche Bearbeitung der Maske
erst in jüngerer Zeit erfolgt ist, das heißt zu einer Zeit, als das Stück sich in Europa
befand, scheint mir nicht wahrscheinlich14).
Der Rand ist an der Rückseite ausgefranst. Anscheinend hat die Gußmasse nicht
gereicht, die ganze Form auszufüllen, denn daß an dieser Stelle der Einguß-Trichter
sich befunden hat, geht aus einer Abbildung Pennimans hervor15). Auffallend, und
mir als technische Einzelheit nicht erklärbar, ist, daß die Kuppe innen am oberen
Ende eine 2 mm breite, kleine (aber ganz glatte) Eintiefung aufweist, die schwerlich
als Verschmutzung deutbar ist.
Das Gesicht ahmt in seiner weichen Modellierung wie in seinen Proportionen eine
natürliche Gesichtsbildung nach. Die Stirn ist schmal, gedrückt und weitgehend von
einer Kappe verdeckt. Stirnwülste fehlen. Die Brauen sind durch parallele, senkrechte
Striche angedeutet. Darunter senken sich die Augenhöhlen ein. Die Augäpfel stehen
(gekantet) hervor; in sie sind die Pupillen eingebohrt, doch divergiert die Richtung
der beiden Löcher — was für uns den Ausdruck der Maske empfindlich beeinträchtigt.
Die Nasenwurzel liegt etwas tiefer als die Brauen. Die Nase selbst ist schmal am
Ansatz, dann aber blähen sich die Flügel hinter ihrer prominenten Spitze. Unter
der Nase, eine Oberlippe verdeckend, der Schnauzbart, der als leichtgewelltes Brett-
chen, mit parallelen, senkrechten Strichen gezeichnet, auf die Oberlippenfurche ge-
setzt ist. Der Mund ist offen, leicht geschwungen und besitzt scharfe Mundwinkel.
Stege, die uns die Zahnlücken vorspiegeln, verbinden Ober- und Unterlippe, die durch
13) Auf diese Oberflächen-Verkupferung (beziehungsweise Entzinkung) hat vor allem
Glück, J. F. (1951), op. cit. hingewiesen. Daß sie unbeabsichtigt auftritt, dann aber
durch mehrmaliges Erhitzen und schnelles Abkühlen im Sud bestimmter Blätter
verändert werden kann, habe ich selbst bei den Dan erlebt; vgl. Fischer, E. (1965):
Zur Technik des Gelbgusses bei den westlichen Dan, Festschrift Alfred Bühler,
Basler Beiträge zur Ethnologie, 2.
Andere Techniken der Nachbehandlung finden sich dargestellt bei Hefel, A.
(1943): Der afrikanische Gelbguß und seine Beziehungen zu den Mittelmeer-
ländern, Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik 5, 4—18.
14) Mischlich erwähnt, daß Ali Amonikoyi europäische Feilen verwendet hat. Jedoch
hat Staudinger die überarbeiteten Stellen nicht gesehen, denn er schreibt (1909)
op. cit. S. 860: „Das Stück ist unverändert so, wie es roh aus dem Guß kam.“
15) Penniman, T. K. (1951) op. cit. Tafel 14.
94
Eberhard Fischer
Abb. 3. Die Ohren der Gelbgußmaske des Ali Amonikoyi.
je ein dünnes, aufgesetztes Band erscheinen. Das von einem breiten, senkrecht geritzten
und flachabstehenden Backenbart umrahmte Kinn ist spitz und besitzt einen buck-
ligen Grat16). Es zeigt die Form des Kinnes üblich an Gelede-Masken der Yoruba,
nicht die einer naturähnlichen Kinnbildung. Auffallend sind die kleinen Ohren, die
dem Kopf angesetzt sind. Sie ahnen weit mehr das Lapprlg-knorpelige der mensch-
lichen Ohrmuschel nach, als daß sie die Ohrform in ihren Merkmalen erfaßt hätten.
Bemerkenswert ist, daß das rechte Ohr viel sorgfältiger gearbeitet ist als das linke.
Der Kopf trägt eine Mütze. Diese sitzt satt auf der Stirne auf. Die in Bronze
nachgeahmte Stoff-Kappe setzt sich aus zwei Teilen zusammen: einem 8,5 cm
breiten Band, das sich um den Kopf legt, und einem Deckblatt von 11 cm Durchmesser.
Die Ornamente (Stickerei imitierend) sind auf einzelnen trapezförmigen Feldern
aufgetragen. Die Reihung der rechten Seite entspricht der der linken, nur daß rechts
ein Ornamentfeld ausgefallen, ein weiteres beim Guß mißlungen ist. Die Ornamente
sind durch dünne, aufgesetzte Fäden gegeben, deren Mehrzahl einfach sind. Nur
1H) Man vergleiche zum Beispiel die Gelede Maske des Finden-Museums in Stuttgart
(Kat. Nr. F 10 188), abgebildet bei Fagg, W. — List, H. (1963); Bildwerke aus
Nigeria. München, Tafel 80. Diese Maske stellt — so heißt es — einen Brasilianer
dar.
Tgnrrmyjw?
i&mwuSK&wMmJmTi
Die Gelhgußmaske des Ali Amonikoyi (aus Togo)
95
einige wenige werden von zwei s-verzwirnten Fäden gebildet. Fast alle Ornament-
Formen sind aus geraden Linien zu Fischgräten-Mustern, liegenden Rhomben und
Trapez-Dreieck-Aufteilungen zusammengesetzt. Nur bei einem einzigen Zick-zack-
Band sind die Winkel gerundet.
Wenn wir diese Bronze-Maske dem Oeuvre des Ali Amonikoyi einreihen (was
wir in diesem Fall ja nicht nur auf Grund stilistischer Eigentümlichkeiten, sondern
der Erwähnung durch Staudinger tun können) so zeigt sich eine besonders nahe Ver-
wandtschaft zu dem Kopf aus dem Völkerkunde-Museum Dresden (Kat. Nr.
29.774)17): die Oberfläche ist grobkörnig, der Guß nicht an allen Stellen von Guß-
masse erfüllt, der Mund ohne plastische Lippenbildung, ungleich gerichtete Pupillen-
Löcher, lineare Ornamente auf der Kappe. Aus der gleichen Herkunftszeit stammen
die weiteren Stücke aus Dresden und Stuttgart18). Die Maske aus Zürich19 20) jedoch
ähnelt derjenigen aus der Sammlung des Herrn von Rentzell-0).: beide zeigen eine
glatte (überarbeitete?) Oberfläche, einen plastischen Mund, keine vorspringende Na-
senspitze und Spiral- beziehungsweise Kreis-Ornamente auf der Kappe. — Wäh-
rend die erste Gruppe von Güssen wohl zwischen 1905 und 1909 gegossen worden ist,
scheint die zweite Gruppe etwas später, kurz vor dem ersten Weltkrieg angefertigt
worden zu sein.
17) Wolf, S. (1962): op. cit. Tafel 4L
18) Zwernemann, ]. (1964) op. cit. Tafeln 1 und 2.
t9) Leuzinger, E. (1963) op. cit. Tafel 83.
20) Cornevin, R. (1964) op. cit. Tafeln 3 und 4.
'* *
Walther F. E. Resch
Zwei anthropomorphe
Gefäße aus Ägypten
Während einer völkerkundlichen Studienreise in den Jahren 1960 und 1961 durch
Ägypten erregten u. a. zwei anthropomorphe Gefäße das Interesse des Verfassers. Es
handelt sich um zwei Keramiken von eigenartiger Form, die beim Fest der Namen-
gebung in verschiedenen Orten Ägyptens von der bäuerlichen Bevölkerung verwendet
werden. Im folgenden sollen die beiden Gegenstände, die der Verfasser von Scheck
Jasin Abd el Rahman von der Moschee Al Amr in Alt-Kairo erhielt, beschrieben
werden. Die Verwendung eines solchen Gefäßes konnte der Verfasser bei einem
Namengebungsfest ln einem kleinen Dorfe nahe Meadi beobachten.
Beschreibung der Gefäße (vgl. Abb. 1).
Auf einem kelchförmigen Unterteil ist ein mit diesem Gefäßteil fest verbundener
Aufsatz, welcher anthropomorphe Attribute zeigt. Zwischen Stand- und Bauchteil ist
eine Einziehung. Am unteren Rand des Oberteiles sind vier Kerzenbehälter aufgesetzt.
Das eine Gefäß hat einen zweihenkeligen Aufsatz, dessen Kopfteil eindeutig weibliche
Attribute zeigt, nämlich Brüste, Gesicht und langes Haar. Der Mündungsteil ist schmal
und rund, der Rand ladet trichterförmig aus. Fuß- und Bauchteil sind grün, der Aufsatz
rot und der Mündungsteil wieder grün bemalt. Auf dem gesamten Gefäß sind offen-
sichtlich zur Verschönerung Verzierungen in goldener Farbe angebracht. Das andere
Gefäß hat einen einhenkeligen Aufsatz, und an Stelle des zweiten Henkels befindet
sich eine zu einem Phallus ausgebildete Ausgußrohre. Der Mündungsteil ist rund, die
Mündung selbst leicht ausladend und wellenförmig. Beiderseits der Gefäßmündung
befinden sich auf dem Kopfteil ein weiterer Halter und ein Hahnenkamm aufgesetzt,
der ohne Zweifel als männliches Merkmal dienen soll. Fuß- und Bauchteil sind wieder
grün, der Aufsatz rot, der Kopfteil grün und über dem ganzen Gefäß Verzierungen
in goldener Farbe. Beide Gegenstände sind aus gebranntem Ton und zeigen unter
dem Standteil Spuren von der Verwendung der Töpferscheibe.
Benennung der Gefäße
Die Gefäße tragen die gleichen Namen wie die gewöhnlichen Wasserkrüge des täg-
lichen Gebrauches. Für das Gefäß mit der phallusartigen Tülle und weiteren männ-
lichen Attributen ist der Name ibriq, für das Henkelgefäß mit weiblichen Merkmalen
die Bezeichnung qulla gebräuchlich. „Qulla“ heißen in der arabischen Umgangssprache
auch alle Wassergefäße mit Henkeln, während Krüge mit Tüllen als „ibriq“ bezeichnet
werden. Der sprachliche Befund zeigt deutlich, daß der tiefere Sinn und die Bedeutung
der gegenständlichen Gefäße in deren Eigenschaft als Wasserbehälter liegt und daß
deren Form vermutlich nur dem Wunsche nach Verschönerung zu verdanken ist. Ein
7
98
Walther F. E. Resch
weiterer Beweis zur angeführten Ansicht ist die Tatsache, daß arme Leute, die solche
Festkrüge nicht kaufen können, die gewöhnlichen Wasserkrüge für das Fest der Namen-
gebung verwenden. Dies wird auch von allen jenen getan, die aus irgendeinem Grund
die schönen Gefäße nicht bekommen können.
Abh. 1. Links: ibriq; rechts: qulla.
Beschreibung des Festes
In den islamischen Ländern ist es allgemein üblich, daß am siebenten Tag nach
der Geburt eines Kindes das Fest der Namengebung verbunden mit bestimmten Ge-
bräuchen gefeiert wird1 2). Dieser Tag wird al-subu’ genannt. Das Fest ist wiederholt
beschrieben worden-). Eigenartigerweise sind die beiden hier gegenständlichen Wasser-
gefäße, wenngleich sie erwähnt werden, nirgends abgebildet3).
J) Es gibt da zahlreiche Variationen. In manchen Gegenden wird das Fest am neunten
oder an einem anderen Tag gefeiert. Das Namengebungsfest wird heute immer sel-
tener, weil die standesamtliche Anmeldungspflicht des Neugeborenen oft sehr kurz-
fristig ist.
2) Winkler 1936, p. 195 Anm. — Blackman 1948, p. 66. — Kriss 1962, 2. Bd., p. 25,
u. a.
3) In neuester Zeit wurde eines der Gefäße abgebildet: Kriss 1962, 2. Bd., Tafel 16.
Hier wird auch ein zweites kultisches Gerät für das Fest der Namengebung, eine
siebenarmige Kerze, gezeigt.
Äwei anthropomorphe Gefäße ans Ägypten
99
Der Ablauf des beobachteten Festes war folgendermaßen:
Am siebenten Tag nach der Geburt kam zeitig morgens die Hebamme. Inzwischen
hatten sich die Nachbarn, hauptsächlich die Frauen und Kinder der Verwandten und
Bekannten, vor dem Hause versammelt. Nun zeigte sich die Mutter zum ersten Male
nach der Entbindung wieder der Öffentlichkeit. Das Kind wurde in ein großes Ge-
treidesieb gelegt. Um den Hals trug das Kind ein kleines Säckchen, worin je sieben
Stück von sieben Getreidesorten, etwas Salz, ein Stück des Nabelschnurrestes und eine
Münze sich befanden. Nach dem Namengebungsfest wurde auch ein Stück der Namens-
kerze (siehe später) in dieses Säckchen gesteckt. Dieses Säckchen wurde Kls es-suhu
bezeichnet4). Auch an die anwesenden Kinder wurden Schnüre mit sieben aufgefädelten
Bohnen verteilt, die sich diese umhängten. Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammen-
hang sein, daß schon am Vorabend in jede Öffnung des Hauses, die nach außen führt,
je zwei kleine Schnüre mit je drei Bohnen gehängt wurden5). Nach der Verteilung der
Schnüre mit Bohnen an die Kinder formierten sich die Anwesenden zu einem Umzug,
der zajfa genannt wurde. Voran ging die Mutter mit einer brennenden Kerze in der
Hand, ihr folgte die Mutter des Kindesvaters mit dem Kind im Getreidesieb und dann
die Hebamme, die, einen Metallmörser schlagend, viel Lärm erzeugte und dabei ständig
Wünsche für die Zukunft des Kindes, z. B. das Kind soll folgsam werden, die Eltern
achten und ihnen hilfreich sein, es soll auf die Ratschläge der Alten und Erfahrenen
hören usw., ausrief. Dahinter folgten die übrigen Festgäste ohne besondere Ordnung.
Unter Absingen verschiedener Lieder zog die Prozession durch alle Räume und um das
Haus, wobei Salz gestreut wurde6).
Die Namengebung selbst erfolgte im Anschluß an die geschilderte Prozession7). Es
wurde einer der beschriebenen Wasserkrüge, in unserem Falle eine ihriq für einen
Knaben, mit Wasser gefüllt und mit Blumen geschmückt aufgestellt. In die Kerzen-
halter an dem Gefäß wurden Kerzen gesteckt und mit je einem der gewünschten
Namen für das Kind identifiziert8). Die Kerzen wurden angezündet, und diejenige
Namenskerze, welche am längsten brannte, gab dem Neugeborenen den Namen. Das
im Krug befindliche Wasser wurde im Zimmer, wo das Namengebungsfest stattfand,
4) Bei Kriss 1962, 2. Bd., p. 21, wird dieses Säckchen Lelet es-subü’ bezeichnet. Lelet
heißt jedoch „Nacht“, während Kls „Säckchen“ bedeutet.
5) Mein Gewährsmann konnte mir nur sagen, daß diese kleinen Schnüre mit den Boh-
nen gegen die bösen Geister seien.
6) Nach meinem Gewährsmann werden in anderen Orten dem Salz noch Kräuter und
Früchte, wie Fenchel, Dill, Sellerie, Petersilie und Pfeffer, dann Bohnen, Erbsen,
Weizen und Gerste, beigemengt.
7) Oft wurde das Kind bereits am ersten oder zweiten Tag nach der Geburt mit dem
vom Vater bestimmten Namen standesamtlich angemeldet. Heute ist eine Frist von
24 Stunden gesetzlich festgelegt, was natürlich auf den hier geschilderten Brauch
auflösend wirkte.
8) In dem hier geschilderten Fall wurden die vier Kerzen mit den vom Vater ge-
wünschten Namen belegt, die er bereits standesamtlich registrieren ließ. Bestimmt
wurde hier nurmehr der Rufname.
100
Walther F. E. Resch
verspritzt. Hierbei wurde besonders der Bereich nahe und neben der Eingangstür mit
diesem Wasser bedacht. Mit einem kleinen Festessen endete die ganze Zeremonie. Für
die Hebamme gab es reichliches Trinkgeld.
Soweit die Beschreibung der ägyptischen anthropomorphen Gefäße und deren Ver-
wendung beim Fest der Namengebung. Überhaupt wären aus dem bäuerlichen heben
Ägyptens noch zahlreiche Bräuche zu erfassen, die in ihrer Gesamtheit sicherlich manche
kulturhistorische Aspekte eröffnen würden. Der Verfasser möchte hier auf die Not-
wendigkeit einer volkskundlichen Erfassung Ägyptens hinweisen.
Literatur
Blackman, W. S., Fes Fellahs de la Haute-Egypte, Paris 1948.
Kriss, Rudolf und Kriss-Heinrich, Hubert, Volksglauben im Bereich des Islam, 2 Bände,
Wiesbaden 1962.
Lane, Edward William, Manners and Customs of the Modern Egyptians, Fondon 1846.
Littmann, Enno, Kairiner Volksleben, Abh. f. d. Kunde des Morgenlandes, Band 26,
Heft 2, Feipzig 1911.
Winkler, Hans Alexander, Ägyptische Volkskunde, Stuttgart 1936.
Ders., Bauern zwischen Wasser und Wüste, Stuttgart 1934.
Thomas S. Barthel
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
Zu den tiergestaltigen Dämonen oder Gottheiten, die von den alten Völkern im
südlichen Mexiko und nördlichen Mittelamerika verehrt wurden, zählt ein Wesen,
das ganz oder teilweise die Merkmale einer Fledermaus besitzt. Die Quellenlage ist so
beschaffen, daß die verstreuten Darstellungen und gelegentlichen Nennungen uns
gerade genug verraten, um die Neugierde zu wecken und die einst recht wichtige
Existenz jener mythischen Gestalt anzudeuten. Der „Fledermaus-Dämon“, wie ich ihn
im folgenden nennen möchte, stammt jedenfalls aus einer relativ frühen Schicht in den
klassischen Kulturen des südlichen Mesoamerikas und verdient schon von daher unser
Interesse.
Die bislang einzige Zusammenfassung über unser Wissen vom Fledermausdämon
hat Seler gegeben1). Knappe, aber nützliche Orientierungen zur Fledermaus-Hiero-
glyphe der Maya lieferte kürzlich Thompson2). Geht man von dem heute verfügbaren
Material aus, so lassen sich weitere Querverbindungen und Themenkreise aufdecken,
die den Fledermausdämon schärfer zu bestimmen gestatten. Unmittelbarer Anlaß zu
dieser kleinen Studie ist einmal die 100. Wiederkehr des Geburtstages von Karl Sapper
am 6. Februar 1966, also jenes Gelehrten, dessen Lebenswerk so eng mit dem Areal
wichtiger Zeugnisse von Fledermausdämonen verknüpft erscheint; zum anderen eine
neuentdeckte Keramik aus der Alta Verapaz, die gegenwärtig in einer amerikanischen
Privatsammlung aufbewahrt wird. Herrn Hasso von Wlnning (Los Angeles) möchte
ich auch an dieser Stelle herzlich dafür danken, daß er mir photographische Aufnahmen
und die Beschreibung des Objektes bereitwillig zur Verfügung stellte und so der wissen-
schaftlichen Dokumentation zugänglich machte.
Es handelt sich um ein typisches, polychromes Chamä-Gefäß von 13,5 cm Höhe und
18,3 cm Durchmesser. Die hellgelbe, polierte Ware trägt als Grundfarbe Orange. Die
weitere Bemalung umfaßt die Farbpalette Rot, Weiß und Schwarz. Der Erhaltungs-
zustand ist ungewöhnlich gut, und es bedurfte nur ganz weniger Reparaturen. Die
genauen Fundumstände sind, wie leider so oft im Kunsthandel, nicht bekannt, doch
kann weder an der Lokalisierung noch an der Stilprovinz ein Zweifel bestehen. Zwei
Fledermausdämonen (Abb. 1 und 3) stehen einander gegenüber, getrennt durch zwei
hieroglyphische Beischriften (Abb. 2 und 4). Jeder Mexikanist erkennt auf den ersten
Blick, daß hier eine bemerkenswerte Parallele vorliegt zu jenem Chamä-Gefäß, das
E. P. Dieseldorff vor rund 75 Jahren als Grabbeigabe entdeckte3) und Seler im weiteren
J) Seler 111:641—653 sowie IV:464—467. Die Kompilation von Anders (1963:207—
209) bleibt eher dahinter zurück.
2) Thompson 1962:348—349.
3) Dieseldorff 1894:576—577.
104
Thomas S. Barthel
Zusammenhang kommentierte. Dimensionen („ . . . Umfang von ungefähr 55 cm, um
den Außenrand gemessen, und. . . eine Höhe von 15 cm“), Farben und Dekor sind
ungewöhnlich ähnlich. Künstlerisch ist das Dieseldorffsche Gefäß vielleicht überlegen,
zumindest in der Linienführung und Flächenfärbung der Fledermausgestalten. Das neu-
entdeckte Gefäß darf deshalb aber nicht als bloße zweitrangige Kopie verstanden
werden; vielmehr weist es abweichende ikonographische Details und vor allem eine
wichtige Substitution der Hieroglyphen auf. In seinen Grundzügen ist der Fledermaus-
dämon hier wie dort einheitlich, nämlich eine Mischgestalt (Männerkörper mit Tier-
kopf, Flughaut und Krallen an den Extremitäten) mit Halsband aus Totenaugen,
Schmuckmanschetten an den Gelenken und Voluten vor dem geöffneten Maul. Die
Nabelmarkierung des Dieseldorffschen Gefäßes fehlt. Die Zeichen auf der schwarzen
Flughaut repräsentieren ausgerissene Augen, während das Stirn-Infix weniger bestimmt
als das frühere Dunkelheitssymbol ist. Neu hinzu tritt ein Element rechts vom Hinter-
kopf eines jeden Fledermausdämon. Es handelt sich dabei wohl nicht um einen
„Schmuckanhänger“, sondern um eine Variante der Hieroglyphe T 5354 5). Denkt man
an den diesem Graphem eigentümlichen Konnex mit dem „keimenden Maiskorn“, so
fällt auf, daß der Beitext des Dieseldorffschen Gefäßes an letzter Stelle jeweils eine
„Mais'Y&tfnj-Kombination bringt, also hieroglyphisch aussagen könnte, was unser
neues Gefäß bildhaft als Attribut den Fledermausdämonen zufügt. Übrigens scheint
auch ein weiteres Fledermausdämonen-Fragment ein hieroglyphisches Maisindiz zu
enthalten3). Ich komme auf die Assoziation Fledermaus/Mais später zurück.
Die in Dreiergruppen zwischen die Figuren eingeschobenen Beischriften stimmen
fast völlig miteinander überein. Der Text beginnt mit einer thematischen Hieroglyphe6),
zeigt als nominale Hieroglyphe einen Portraitkopf und endet leicht divergierend. Die
Schlußhieroglyphen nämlich präfigieren vor das etwas untypisch geschriebene Haupt-
zeichen T 502 einmal T 188, zum andern T 110. Die Beischriften unterscheiden sich
also nur durch das Affix „Spinne“ (am) und das stabförmige Affix. Ob darin eher eine
Kontrastierung oder nur eine elegante Parallelisierung liegt, bleibt offen. Die themati-
sche Hieroglyphe gehört zu jenen Verbformen, die häufig Inschriften auf Maya-Kera-
miken einleiten. Solche — von mir „Leit-Hieroglyphen“ genannte — Konstruktionen
gehören mit Sicherheit in das Begriffsfeld „Tod — Bestattung — Jenseits“. Auch das
Dieseldorffsche Gefäß beginnt einen seiner Begleittexte mit einer analogen Leit-
Hieroglyphe, setzt dann aber in dem anderen Begleittext in thematischer Position
stattdessen ein cauac-RündtX. Als mögliche Gesamtfolge für das ältere Chama-Gefäß
gewinnt man so7):
4) Barthel 1963:198 Anm. 143.
5) Seler 111:643 Abb. 1, zweite Hieroglyphe: Hauptzeichen T 506 oder 507, Suffix
136, Präfix eventuell 109?
6) Das Hauptzeichen ist wohl eine Variante von T 616. Als Präfix dient T 229, als
Suffix eine Variante von T 125.
7) Im Thompsonkatalog 1962 ist die Zuordnung gewisser Sonderformen offen. Seine
Umschrift lautet: 229.1327:25 / 1.96:501 / 103P.506 / 228.1326:103:126 /
103?.1328:136 / 228.506:60.
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
105
1. 229.Variante 616:126
2. 1.96:501
3. 103?.506
4. 229.Variante 528:103:?
5. 103?.Portrait:136
6. 229?.506:60?
Kompositionstechnisch bemerkenswert in diesem Text sind die Dreifachnennungen der
Affixe 229 und 103 sowie das Vorherrschen singulärer Konstruktionen.
Während die hieroglyphische Ergänzung der beiden ikonographisch parallelen Ge-
fäße nur bedingt ertragreich ist, führt uns eine unvermutete Übereinstimmung von der
Alta Verapaz in das nördliche Yucatan. Die zweite und die dritte Hieroglyphe unserer
neuen Keramik kehren nämlich wieder auf einem Eintel in der Casa de las Monjas in
Chich’en Itzä. Der Portraitkopf erscheint zweimal dort auf der Vorderseite des Eintel
VII; die Koppelung von T 502 mit T 110 begegnet uns ebenso wie jene zwischen T 502
und T 188 (Abb. 5)8). Beyer gibt zwar die Umzeichnungen der betreffenden Hiero-
glyphen, doch läßt sich leider im Augenblick der genaue Kontext nicht eruieren9).
Immerhin darf festgehalten werden, daß eine epigraphische Verknüpfung und Aus-
weitung des Themas für die spätklassische Zeit besteht. Alle Eintel in der Casa de las
Monjas sind, direkt oder indirekt, auf das gleiche Datum 8 Manik 15 Uo (in einem
Tun 11 eines Katun 1 Ahau) zu beziehen, was nach der Thompsonschen Leseweise für
yukatekische Daten auf 10.2.10.11.7, also in das Jahr 880 n. Chr. führt. Sämtliche
Monjas-Texte hängen inhaltlich aufs engste untereinander zusammen. Es erscheint
daher gerechtfertigt, den ganzen fraglichen Inschriftenbestand daraufhin zu durch-
mustern, ob er zur Thematik der Fledermaus irgendwelche Angaben enthält.
Zunächst ist die sogenannte „Fledermausformel“ zu nennen, die auf den Einteln
II—VI der Nordfassade vorkommt, aber auch anderswo in Chich’en Itzä nachgewiesen
werden kann. Ihre Normalform 1.756.568:23 stellt einen Übergang dar von der klas-
sischen Wendung 61.756(568) zu dem paläographischen Superfix T 267 (Abb. 6) und
gehört zum Themenkreis einer negativen attributiven Hieroglyphe10). In den Codices
bezieht sich T 267 auf die Tätigkeit des Geiers, der seinen toten Opfern die Augen
ausreißt und anscheinend die „Bestrafung einer Sünde“ symbolisiert11). Es drängt sich
übrigens der Eindruck auf, daß im Mayaklassikum der Geier wesentlich günstiger be-
wertet wurde als in späteren Zeiten, während der Fledermausdämon im Postklassikum
seine frühere Schreckensrolle eher einbüßte.
8) Vgl. Beyer 1937 Figs. 447,320,448 und 281.
9) Die Vorderseite von Eintel VII ist niemals veröffentlicht worden. Nachfragen beim
„Negative File“ im Peabody Museum blieben ohne Erfolg. Eine Klärung ist durch
die geplante Monographie über die Casa de las Monjas (von John Bolles) zu er-
hoffen.
10) Vgl. Barthel 1955:11 und Barthel 1964:234.
11) In epigraphischen Zeugnissen erfüllt diese Rolle eher die Fledermaus. Gerade unser
neuentdeckter Fledermausdämon hat ja „ausgerissene Augen“ als unverwechsel-
baren Flügelschmuck.
106
Thomas S. Barthel
Hochinteressant sind ferner Textstellen, die von einer „Geburt der Fledermaus“
berichten12). War mir diese Aussage früher noch unverständlich13), so läßt sich jetzt eine
mögliche Erhellung durch andere mesoamerikanische Quellen anbieten. Zum besseren
Verständnis ist es zweckmäßig, die hieroglyphischen Kontexte in Chich’en Itzä ein-
zubeziehen. Monjas L. III bringt neben der „Geburt der Fledermaus“ eine analoge
Konstruktion „Geburt der Sünde, des Lasters“ (ahal ilil); ferner begegnen uns im
gleichen Abschnitt das Phallus-Zeichen und Portraithieroglyphen einer jungen Göttin.
Ahb. 5. Parallelstellen zur hieroglyphischen Beischrift in Chich’en Itzd, Casa de las
Monjas, Vorderseite Lintel VII. Links Positionen B und C, rechts D und B (nach Beyer).
Diese Anhäufung von Motiven erinnert nun an eine merkwürdige zentralmexikanische
Überlieferung. Im Codex Magllabecchi f. 61 r heißt es14):
„Este demonio que aquí está pintado, dicen que hizo una fealdad nefanda, que este
Quetzalcoatl estando lavándose tocando con su mano el miembro viril, echó de sí la
simiente y la arrojó encima de una piedra, y allí nació el murciélago, al cual enviaron
los dioses (a) que mordiese a una diosa que ellos llaman Xochiquetzal — que quiere
decir rosa —, que le cortase de un bocado lo que tiene dentro del miembro femenino;
y estando ella durmiendo, lo cortó y lo trajo delante de los dioses y lo lavaron, y del
agua que de ello derramaron salieron rosas que no huelen bien, y después el mismo
murciélago llevó aquella rosa a Mictlantecuhtli y allí la lavó otra vez, y del agua que
de ello salió, salieron rosas olorosas, que ellos llaman súchiles (sie), por derivación de
esta diosa que ellos llaman Xochiquetzal . . .“ (Hervorhebungen durch mich.)
Die mythische Fledermaus wird also durch eine Sünde „geboren“, nämlich durch
die Selbstbefleckung des Quetzalcoatl. Sie fungiert als Bote für die Götter und den
Herrn des Totenreiches. Die Fledermaus steht in einer intimen Beziehung zur Göttin
12) T 126:23:756 = ahal zodz. Wichtig vor allem Lintel III in der Casa de las Monjas;
hierzu direkte Parallele im „Temple of the One Lintel“ sowie ähnliche Thematik
im Akab-Dzib-Gebäude.
«) Barthel 1955:13.
14) Modernisierte Schreibweise des Textes nach J. L. Franco 1954:112.
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
107
der Liebe15) und zu zweierlei „Blumen“. José Franco hat diese Überlieferung mit
einem ikonographischen Motiv — Fledermaus mit zwei Blumen, nebst Messer in der
Hand — auf einem Spinnwirtel aus Cholula in Verbindung gebracht. Man wird ihm
darin folgen dürfen, während der Hinweis auf Codex Dresden 37b nicht überzeugt16).
In diesen Zusammenhang gehört vielleicht auch die Szene Codex Borgia 44, wo der ein
Herz befördernde Fledermausdämon als Bote zwischen Quetzalcoatl17) und einer
Göttin fungiert, welche Seler als Variante von Xochiquetzal interpretiert18). Die
Abh. 6. Oben klassische Standardformen der Fledermaus-Hieroglyphe (nach Thompson).
Mitte Evolution der „Fledermaus-Formel“. Unten „Geburt der Fledermaus“ und
Sonderkonstruktion in Chich’en Itzä, Akab Dzib (nach Beyer).
„Blumen“ sitzen hier an einem sich gabelnden Strom von „Edelsteinwasser“, gehören
also zu einer Blutsymbolik.
Die erwähnten Passagen in Chich’en Itzä können aus dieser Perspektive weiter
interpretiert werden. Ich will auf die möglichen Folgerungen hier nicht eingehen, son-
15) Bei dem Herausschneiden eines Stückes aus dem weiblichen Genital wird man
weniger an reale Klitoridektomie als an das „Vagina dentata“-Motiv zu denken
haben.
1(i) Franco 1954 Anm. 10. Der Urin des Regengottes verwandelt sich in einen Vogel.
Falls überhaupt die Fledermaus paläographisch genannt wird, könnte es sich höch-
stens um die kin-zodz im Text zum Regengott Dresden 37b handeln.
17) Der enge Zusammenhang zwischen Fledermaus und Quetzalcouatl manifestiert sich
auch darin, daß Quetzalcouatls konischer Hut von Fledermausdämonen getragen
wird (Codex Borgia 49, Codex Vaticanus B 24).
18) Seler 1904—1909:11:66.
108
Thomas S. Barthel
dem nur auf kolonialzeitliche Quellen in Yucatan verweisen, die ebenfalls einen Nexus
von „Fledermaus“ und „Blume“ bieten. In den Chilam Balam-Büchern von Mani und
Tizimin werden zwei große Fledermaus-Dämonen (chac uayah zoodz) genannt, die
herabkamen und „den Honig aus der Blüte saugten“19). Man wird hier erstens bei der
subtilen Aufzählung von „Blüten“ im weiteren Textzusammenhang mit einer sexuellen
Symbolik zu rechnen haben, zweitens kaum verschlüsselte solarlunare Hierogamien
entdecken. Diese Esoterik ist verhältnismäßig durchsichtig und braucht hier nicht aus-
gebreitet zu werden. Ich möchte aber darüber hinaus auf das mögliche Wortspiel zwi-
schen „Fledermaus“ (zodz) und „Saugen“ (dzudz) hinweisen. Könnte die Wendung
„den Fionig aus der Blüte saugen“ nicht übertragen zu verstehen sein und eigentlich
meinen „das Blut (aus den Herzen Geopferter) trinken“? Die Fledermausdämonen in
den mexikanischen Bilderhandschriften sind ja eng verknüpft mit Darstellungen des
Menschenopfers, wo sie entweder den Kopf abreißen oder das Herz gepackt halten.
Blicken wir noch einmal zurück auf die Szene Codex Borgia 44, so finden wir dort den
Fledermausdämon umgeben von fliegenden Mischwesen mit Kolibrischnabel und
Kolibriflügeln. Der Kolibri aber ist jener Vogel schlechthin, „der den Honig aus der
Blüte saugt“! Mit anderen Worten: Die gleiche Idee wie in den Worten der Chilam
Balam-Bücher wird auch in Altmexiko mit bilderschriftlichen Mitteln ausgedrückt;
überdies nennen die yukatekischen Texte später ausdrücklich Kolibri-Epiphanien. Das
mesoamerikanische Denken hat anscheinend „Fledermaus“ und „Kolibri“ gleicher-
maßen als „Blütensauger“ rubrifiziert. Doch muß darin auch eine Opposition von
Nachtwesen und Tagwesen einbeschlossen gewesen sein, läßt sich der Kolibri doch als
solar und dem Menschen günstig gesonnen im Mayabereich nachweisen. Ich wage sogar
noch einen Schritt weiter und stelle die These auf: Die Opposition der „Blütensauger“
Fledermaus und Kolibri entspricht dem Gegensatz von Menschenopfer und priester-
lichem Autosacrificio, dem Unterschied zwischen dem Blut des zwangsweise Geopferten
und dem Blut der freiwilligen Selbstkasteiung20).
Das cholultekische Ensemble „Fledermaus — Blume — Messer“ findet sich übrigens
schon im mittelklassischen Uaxactun, wie ich anderswo gezeigt habe21). Ob seltene
epigraphische Konstruktionen die „Fledermaus mit zwei Blüten“ meinen, mag offen
19) Text und spanische Übersetzung von Mani im Cödice Perez 1949: 232 ff. Zitat
aus Tizimin 21 bei Roys 1933:104, Note 8. Vgl. auch Barrera Väsquez — Rendön
19632:8. Dubiose Übersetzung des Tizimin bei Makemson 1951:42—43. Im Chu-
mayel 45 stattdessen cantul chaac uaya(b) caat, „four mighty supernatural jars“.
Zum Verständnis des Zusammenhanges mit verschiedenen Gottheiten vgl. Roys
1933:104—105.
20) Als Hinweis für künftige Untersuchungen sei notiert, daß eine Opposition zwischen
Kolibri und Fledermaus u. U. auch den Gegensatz von Totenseelen im himmlischen
und solchen im unterirdischen Jenseits impliziert haben könnte.
21) Barthel 1965:141 —142. Dort im Beitext zu einem Kosmogramm, welches die
jenseitigen Welten der Maya wiedergibt. Zwei weitere, jedoch anders qualifizierte
Blumen stehen als Präfixe vor Hauptzeichen, die auf den „Großen Schwarzen“ des
Ostens und den Jüngling der Mitte bezogen werden können. Beide sind Herren
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
109
bleiben22). Bedeutsamer sind Vorkommen in den Palenque-Inschriften, die sich als
chac zodz lesen lassen, das heißt als „rote Fledermaus“ oder „große Fledermaus“. Rein
zoologisch bewertet, ergibt chac zodz („murciélago rojo“) einen Mayanamen für die
Nycteris borealis mexicana (Saussure)23). Die Textzusammenhänge, speziell auf dem
„Tablero de los Esclavos“, sprechen aber gegen eine nur naturwissenschaftliche Erklä-
rung. Vielmehr dürfte es sich bei der chac zodz von Palenque um eine mythische oder
historische Gestalt gehandelt haben. Ich stelle einen Auszug der genannten Inschrift
parat:
(Datum 8 Ix 7 Yaxkin)
D2a 109:756a chac zodz
D2b 168:757 ben-ich coh
Ela 109:756a chac zodz
Elb 125:168:563:122? ah ben-ich toc?
F3b 11:526:246
F4a 109:756 chac zodz
(Datum 8 Imix 4 Geh)
G2a 109:756 chac zodz
G2b 1004
rote Fledermaus“ tritt uns viermal entgegen: Zuerst
Die
ben-ich coh (wörtlich „Puma-Anführer“, besser wohl zu übersetzen als „Höchster über
die Kostbarkeit“), danach mit dem Titel ah ben-ich toc (?) („Er, der an der Spitze des
Brennens (oder Rauhens) steht“). Die ersten beiden Vorkommen gehören zum gleichen
Datum und haben jeweils weitere Texterläuterungen mit den Motiven „Landformel“
bzw. „Gefangennahme“. Das dritte Vorkommen greift die „Landformel“ auf und stellt
der Jaguare, auf denen die Wege in die Unterwelt verlaufen. Für die „Messer-
Blume-Fledermaus“ wäre an eine Region des Westens zu denken, womit eine nun
nicht mehr überraschende Verbindung zu den Frauengestalten jener Uaxactun-
Keramik deutlich würde.
22) Man hätte zu erwägen T 322:756 auf der Stele 6 von Tortuguero (also äußerste
Westgrenze des klassischen Mayagebietes) bzw. T 62.756.7:7 auf dem Eintel des
Akab Dzib-Gebäudes in Chich’en Itzä (also äußerste Zeitgrenze des Mayaklassi-
kums).
23) Roys 1931:331. Herrn Dozent Dr. E. Kulzer vom Zoophysiologischen Institut der
Universität Tübingen verdanke ich die weiteren Auskünfte: Nycteris borealis
mexicana, jetzt Lasiurus cinereus cinereus; Gruppe der Wanderfledermäuse, Fami-
lie der Vespertilionidae. Lebt auf dem mittelamerikanischen Festland und vor-
gelagerten Inseln; wandert aus den USA im Herbst nach Süden, im Frühjahr
zurück. Lebt einzeln oder in sehr kleinen Gruppen auf Bäumen und Büschen. Ein
Insektenfresser von mahagonibrauner Färbung. Auffällig die Fruchtbarkeit: 2—4
Junge, was für Fledermäuse ganz außergewöhnlich ist, weil solche üblicherweise
ein, höchstens zwei Junge zu haben pflegen.
110
Thomas S. Barthel
die nominale Hieroglyphe an das Ende des Unterabschnittes, während das vierte
Vorkommen schließlich durch ein zusätzliches göttliches Portrait ergänzt wird, das
irgendwie mit „Erde“ Zusammenhängen dürfte. Wie immer bei Vierfachnennungen,
drängt sich der Gedanke an einen Richtungszyklus auf. Im ganzen legen die Nachbar-
zeichen nahe, daß in Palenque Beziehungen zwischen der Fledermaus und „Kostbar-
keit“ (das heißt wohl „Blut“ oder „Herz“?), „Feuer (oder Raub)“ und bestimmten
Aspekten der „Erde“ registriert wurden.
Es sei ferner erwähnt, daß in dem unweit gelegenen El Cayo von einer dzoc chac
zodz mit irgendeiner „göttlichen“ (ku) Qualifizierung die Rede ist-4). Bei der folgen-
den Hieroglyphe Hl ist die Affigierung zum Hauptzeichen 604 nicht sicher auszu-
machen. Handelt es sich bei dem Postfix tatsächlich um einen „Knoten“ — innerhalb
der Fledermausthematik wäre eigentlich eher eine „Schleife“ zu erwarten — so könnte
man die „durch Zerreißen tötende rote Fledermaus“, wie eine der Übersetzungsmög-
lichkeiten von dzoc chac zodz lautet, als eine „göttliche Binderin (nämlich des Opfers
zum Töten)“ verstehen. Rot ist die Farbe des Fledermausdämon im Codex Vaticanus
B 24, der seinen Opfern die Köpfe abreißt und an seinen Oberarmen Verknotungen
trägt! Die Übereinstimmung mit der hieroglyphischen Passage aus El Cayo ist zumin-
dest buchenswert.
Thompson fühlt sich überrascht von epigraphischen Koppelungen zwischen der
Fledermaus und der Sonne24 25 26). Wir haben gesehen, wie gewisse Motivfäden aus dem
Mayagebiet hinaus nach Altmexiko verlaufen. Auch für die Relation „Fledermaus/
Sonne“ gibt es dort eine mögliche Erklärung; Codex Borgia 49 gehört der Fledermaus-
dämon zur Ostrichtung und trägt das Kopfband des Sonnengottes Tonatiuh, welcher
am Osttempel erscheint. Es ist also ein „solarer“ Fledermausdämon, am Ende der Nacht
und zu Tagesbeginn. Eine willkommene Bestätigung findet man wiederum in Palenque
auf dem „Tablero de El Palacio“ mit dem Passus „große (?) Sonnen-Fledermaus (im)
Osten“20). Interesse verdient auch die Aussage auf der Stele 12 von Yaxchilan über
eine „große (?) Sonnen-Fledermaus“ in Relation zu einer Venusphase27), weil nämlich
seinerzeit Seler den solaren Fledermausdämon mit dem Morgenstern in Verbindung
brachte28). Insgesamt läßt sich erkennen, daß keineswegs eine schroff trennende Grenze
zwischen der Maya-Epigraphik am Usumacintla und den Codices der Codex Borgla-
24) Maler 1903 Pl.XXXV. Der Beleg Gl = T 12.109:756 fehlt im Thompsonkatalog.
Meine Fesung von Affix T 12 als dzoc erfolgt nach unveröffentlichten Studien.
Andere Autoren haben als Fautwerte u. a. hidz (Thompson) oder ah (Knorosow)
vorgeschlagen.
25) Thompson 1962:349 „. . . cases of infixing of Glyph 544, the sun glyph, a strange
link for the bat, unless one supposes that the association is with the sun in the
underworld. In one or two cases the bat sign follows the sun glyph, but I think
this juxtaposition is fortuitious.“
26) P13—014 = 115.756(544):116 — 183:544.116. Das Affix T 115 lese ich, aus hier
nicht zu diskutierenden Gründen, seit einiger Zeit versuchsweise als noh.
27) G3—H3 = 1.17?:510 — 115?:756(544);116.
28) Codex Fejerväry-Mayer, Seler 1901:197—198.
Ai esoamerikanische Fledermausdämonen
Gruppe postuliert werden darf, sondern weitläufige Diffusionsprozesse in Rechnung
gestellt werden müssen.
Zahlreiche Fledermaushieroglyphen in der Südostprovinz haben „Regen-Attri-
bute“, sei es durch Infigierung von T 528 (haah, yaah), sei es durch Postfigierung der
cauac-Derivate T 177 oder T 200. Es kann kaum daran gezweifelt werden, daß da-
durch eine auf Lautähnlichkeit beruhende und von den zusätzlichen Kleinzeichen ge-
steuerte Begriffsverschiebung von zodz („Fledermaus“) zu zudz („Wolke“) von den
Mayaschreibern vorgenommen wurde29). Durch Präfigierung des Farbaffixes T 95 =
ek beispielsweise konnten in Quirigua „schwarze (d. h. Regen-) Wolken“ hierogly-
phisch ausgedrückt werden30). Das irrtümlich Copan genannte große Kultzentum sollte
Ahb. 7. „Herr der Fledermäuse“ (rechts) analog zu unheilvollen Götter-Portraits auf
dem Lintel 18 von Yaxchilan (nach Maler).
besser als „Stadtstaat der (regenspendenden) Wolken“ in eine noch zu schreibende poli-
tische Geschichte des Mayaklassikums eingehen31). Ich halte es für verfehlt, bei Copan
von einer „ciudad del murciélago“ zu sprechen und sich dabei ein Toponym etwa von
der Art eines „Tzinacantlan“ vorzustellen32).
Muß also ein nicht unbeträchtlicher Teil der epigraphischen Belege von T 756 von
der Diskussion der „Fledermaus“ abgezweigt werden, so bleiben für unser Thema doch
noch zahlreiche Hieroglyphenkompositionen übrig. Zweifellos in die religiöse Sphäre
zurück führen uns gewisse Belege von einem „Herrn der Fledermäuse“33). Nach dem
29) So schon Barthel 1955:12.
30) Besonders aufschlußreich Stele J, CIO—D10 und Stele F, B9 mit der Wendung
„schwarze Wolken (ek zudz)“ -cauac-Derivat (T 200) -„Geier“. Das entspricht
ziemlich genau Codex Dresden 38b, wo der Geierdämon im Regen unter einem
dunklen Himmel steht! Für das cauac-Derivat T 177 erwäge ich übrigens einen
Lautwert toh.
31) Identifizierung der Emblem-Hieroglyphe für „Copan“ durch Berlin 1958. Weitere
Präzisierung in meinen noch unveröffentlichten Studien über den historischen
Gehalt der Maya-Inschriften.
32) Um ein „Fledermaus-Ethnonym“ handelt es sich dagegen sicherlich bei der Kon-
struktion T 168:756a.4:25, die uns verbunden mit (yukatekischen?) Fremdein-
flüssen in Yaxchilan begegnet.
33) Vgl. Thompson 1962:345 für Belege mit Präfigierungen von T 125/126. Einer
zunächst denkbaren Auslegung im Sinne der „Wolkenwesen“ bei den modernen
Quiche-Indianern (Schultze-Jena 1933:21) widersprechen die Kontexte.
'• ÿ.Se
f,r'TÏ.*_ TT r I "Svir ,n№ ïrc^fy ■
*snr-.vW wsr. zszz*” *
ttTWinirr^'Vr
112
Thomas S. Barthel
Textzusammenhang auf Lintel 18 in Yaxchilan zu schließen, gehört der „Herr der
Fledermäuse“ in eine Serie mit der Todesgottheit T 1040; vielleicht entspricht die
analoge Position sogar einer Identität (Abb. 7).
Die Beziehung der Fledermaus zur Unterwelt ist wohlbekannt aus dem Popol Vuh.
Ein Bote von Xibalba wird durch seine Fledermausflügel (u xic zotz) charakterisiert
— jenes Attribut also, das die Dämonen auf den Chamä-Gefäßen so auffällig kenn-
zeichnet —, während Raubfledermäuse (cama-zotz)34) ein eigenes Schreckenshaus in
der Unterwelt bewohnen, wo dem Heroen Hunahpu der Kopf abgeschnitten wird.
Das „Haus der Fledermäuse“ (zotzi ha) gehört zu einer Gruppe von sechs verderben-
bringenden Prüfungsstätten: Vier dieser Unterweltshäuser haben elementare Eigen-
schaften (Finsternis — Dolchmesser — Kälte — Feuer), während zwei von Unter-
weltstieren bewohnt werden35). Halten wir zunächst fest, daß die Quiche-Quelle als
Tierdämonen in Unterweltshäusern nur Jaguar und Fledermaus nennt36).
Die Chama-Ikonographie läßt einige gemeinsame Attribute von Jaguar und
Fledermaus erkennen: Beide werden mit ihren typischen Lauten dargestellt37), beide
tragen den Halskragen mit Totenaugen, und beide haben eine Beziehung zum keimen-
den Maiskorn. Die zuletzt angeführten Merkmale dürften auf den Komplex „Tötung
und neues Leben“ hinweisen. Jaguar und Fledermaus haben aber auch differenzierende
Merkmale. So halte ich es für denkbar, daß der „Geräusch-Kontrast“ zwischen Jaguar
und Fledermaus in eine Opposition mesoamerikanischer Musikinstrumente, nämlich
zwischen Schneckentrompete und (tönerner) Pfeife, transportiert wurde. Sicher dem
Popol Vuh zu entnehmen ist jedenfalls ein Gegensatz der von den Unterweltstieren
begehrten Nahrung („Herz“ für Jaguar, „Kopf“ für Fledermaus) sowie der ihnen
gegenüber wirksam von den Heroen benutzten Täuschungsmittel („Knochen“ für
Jaguar, „Blasrohr“ für Fledermaus). Einem Kenner der Mayaschrift werden rasch
Beispiele für gleichgerichtete und unterscheidende Attribute bei den Hieroglyphen
34) Recinos 1950:149 hat stattdessen die Übersetzung „Death Bat“ und erläutert die
Mordwaffe chaqui tzam als „burnt staff, hardened in the fire“. Der Fledermaus-
dämon tötet demzufolge bei den Quiche mit einer durchbohrenden Stoßwaffe (oder
einfach mit einem zugespitzten Pflanzstock?), nicht mit einem Steinmesser, wie
man es nach den Darstellungen in mexikanischen Bilderhandschriften eher ver-
muten sollte.
35) Neben der ausführlichen Fassung (Schultze-Jena 1944:77—83) gibt es noch eine
gekürzte Aufzählung der Unterweltshäuser, wobei das Haus des Feuers fehlt und
die Reihenfolge „Finsternis — Kälte — Jaguar — Fledermaus — Dolchmesser“
lautet (ebd. S. 45).
3ß) Über die Unterweltsjaguare habe ich an anderer Stelle gehandelt, vgl. Barthel 1965
passim.
37) Brüllender Jaguar als „Sänger“ im Totenorchester (Barthel 1965 Abb. 4); Voluten
vor dem Maul des Fledermausdämon, vgl. Beschreibung der Fledermausgeräusche
im Popol Vuh: „Sie pfeifen, sie piepsen (quetzitzotic, quetzitilahic)“; „befragten
(sich) und berieten und lärmten: (Quilitz! Quilitz!) riefen sie“ (Schnitze-Jena
1944:45 und 83).
Ahh. 8. Außen zapotekische Räuchergefäße für „Jaguar mit Knoten-Attributen“ bzw.
„Fledermaus mit Rosetten-Attributen“ (nach Caso und Bemal). Innen klassische
Mayahieroglyphen „Knoten-]aguar“ und „Schleifen-Fledermaus“.
„Jaguar“ und „Fledermaus“ einfallen. Für den ersten Typus nenne ich die Vergesel-
lung des Affixes T 12 (dzoc) mit T 751 (balam) in Yaxchilan und Copan, mit T 756
(zodz) in Piedras Negras und Kuna38). Für den zweiten Typus kommen theoretisch
verschiedene Konstruktionen in Betracht, von denen ich hier nur ein Beispiel bringe,
das uns später weiterführen wird. Es handelt sich um die zusammengesetzten Hiero-
glyphen „Knoten-Jaguar“ und „Schleifen-Fledermaus“. Der kax-balam (60:751) ist in
seiner Mehrdeutigkeit kürzlich behandelt worden39). Die durch das schleifenartige
Präfix T 61 (ausnahmsweise T 62) qualifizierte Fledermaus tritt im Klassikum häufig
eng verbunden mit der Hieroglyphe T 568 auf.
Jaguar und Fledermaus, diese typischen Unterweltstiere des südlichen Meso-
amerikas, begegnen uns nun aber mit verblüffend gleichwertigen „Attributen“, wenn
wir den Blick auf die zapotekische Kultur lenken.
Bekanntlich gibt es kaum einen Ort, an dem die kultische Hochschätzung von
Fledermausgestalten so deutlich durch archäologische Zeugnisse belegt ist, wie Monte
Alban. Es sei nur an die großartige Jademaske eines „Dios Murciélago“ aus dem
38) Die Qualifizierung durch das hieroglyphische Kleinzeichen T 12 dürfte übrigens
das Äquivalent zum ikonographischen Merkmal des „Halskragen mit Totenaugen“
darstellen.
39) Dütting 1965, Barthel 1965.
114
Thomas S. Barthel
Montículo H erinnert. Caso und Bemal halten die Fledermaus für eine der wichtig-
sten Gottheiten im zapotekischen Pantheon40). Diese beiden besten Kenner der Oaxaca-
Kulturen haben in ihrem opus magnum die mit der Fledermaus verbundenen Motive
und Gestalten schon nahezu erschöpfend dargelegt. Solche Relationen sind heute zu-
sätzlich von den Ergebnissen dieses Aufsatzes her zu beleuchten. Wenn für Monte
Alban die enge Verknüpfung zwischen Fledermaus und Maisgott bezeichnend ist, so
sind die ikonographischen und hieroglyphischen Zusammenhänge zwischen Fleder-
maus und Mais nun auch für die Maya belegbar. Wenn zapotekische Urnen die Fleder-
maus mit Blumen schmücken, so weise ich nun auf den oben beschriebenen mexikanlsch-
yukatekischen Komplex hin41). Und wenn wir von der engen Relation der Fledermaus
zu einer jungen weiblichen Gottheit42) hören, werden weibliche Portraithieroglyphen
im Fledermaus-Kontext auch bei den Maya interessant. Schließlich ließe sich der Gott
„5 Blume“ (das Äquivalent zu Macuilxochitl) in Monte Alban, der mit einem Fleder-
mauskopfputz auftaucht, aus dem Blickwinkel jener von mir bereits genannten Chilam
Balam-Texte betrachten, die von der mythischen Fledermaus über das Blumenmotiv
zum „Macuil Xuchit“ führen! Alle diese Zusammenhänge konvergieren in einem spät-
klassischen Band quer durch Mesoamerika.
In die Schlußphase des dekadenten Monte Alban (Periode III B oder sogar IV)
fallen nun höchst merkwürdige Räuchergefäße43), die eine bedeutsame Sonderung zwi-
schen Jaguar und Fledermaus implizieren. Die eigentlichen Räucherschalen sind mit
stachligen Vorsprüngen (Tierkrallen?) besetzt und tragen an der Vorderseite den
Kopf eines Jaguars bzw. einer Fledermaus, während auf den zylinderartigen Gefäß-
füßen mehrere schleifenförmige Applikationen angebracht sind. Diese Zusätze unter-
scheiden sich je nach dem dargestellten Tier: Wo der Jaguar erscheint, ist das Auftreten
von Knoten, wo die Fledermaus vorkommt, das von Rosetten definierend. Was in der
Schlußphase von Monte Alban gleichsam „attributiv“ zum Jaguar (als „moño decorado
con un nudo al centro“) und zur Fledermaus (als „moño decorado con roseta al
centro“) beobachtet werden kann, entspricht in der Maya-Epigraphik den Affigierun-
gen von „Knoten“ (T 60) bzw. „Schleife“ (T 61/62) zu „Jaguar“ (T 751) bzw. „Fleder-
maus“ (T 756)! (Abb. 8).
40) Caso und Bemal 1952:67.
41) Gilt in der mesoamerikanischen Symbolsprache die „Blüte“ mitunter als weib-
liches Genital, so scheint gelegentlich der „Maiskolben“ den Phallus vertreten zu
haben, wie eine zapotekische Graburne zeigt (Fuhrmann 1922 Tafel 65). Caso und
Bemal schließen aus der „mazorca como símbolo generador masculino“ auf die
Eigenschaft des Malsgottes „como una deidad de fecundidad y la generación“
(1952:99). Die gleiche Urne hat aber auf dem Leib außerdem eine Vulva. Man
wird entweder an die Gehurt des Maises oder an eine bisexuelle Thematik der
Zeugung und Empfängnis durch die gleiche Gottheit zu denken haben (zumal in
Altmexiko Cinteotl sowohl männlich wie weiblich nachweisbar ist).
42) Nach ihrer unentzifferten, kalendarischen Namenshieroglyphe „2 J“ genannt.
43) Caso und Bemal 1952 Figs. 144—147; Lehmann 1922 Fig. 34 unten.
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
115
Vielleicht wird es durch diese Beobachtung möglich, rückschließend mehr als bisher
über das „Schleifen-Affix“ aussagen zu können44). Bei der künftigen Lösung der Affixe
T 61 (epigraphische Normalform) bzw. T 62 (paläographische Normalform) sollte
man jedenfalls auch an den formalen Zusammenhang mit einer Rosette denken. Ich
sehe zwei Anknüpfungspunkte:
1. Der Fledermausdämon Codex Fejervary-Mayer 41 trägt am Hinterhaupt eine
Rosette aus Rindenpapier. Solch ein cuexcochtechimalli ist ein typisches Determinativ
von Todesgestalten45). Dagegen ist einzuwenden, daß Affix T 61/62 keine ungün-
stige Grundeigenschaft verrät, sondern in positiven wie negativen Zusammensetzungen
verwendet wird. Eine solche vielseitige Brauchbarkeit deutet eher auf einen einfachen
Lautwert als auf einen streng gebundenen Symbolgehalt.
2. Das „Knotenaffix“ beim Jaguar bezeichnet dessen Haupttätigkeit des „Bindern“
(sei es zum Opfertode, sei es als Zauberpraxis). Könnte die „Rosette“ bei der Fleder-
maus nicht ebenfalls eine Aktion — oder das Objekt einer Handlung — dieses mythi-
schen Tieres ausdrücken? Von den uns bekannten Tätigkeiten des Fledermausdämonen
her, als eines „Saugers“ oder „Köpfers“, würde man auf mögliche Ziele von der Art
„Blume/Blüte/Blut/Herz/Haupt“ schließen. Ich stelle als vorläufige Deutung den
Lautwert hol/jol zur Diskussion46).
Hol ist u. a. der Rindenbast von Bäumen, aus denen Schnüre verfertigt wurden47).
Besonders wird damit der Hibiscus clypeatus (oder H.tiliaceus?) bezeichnet, also ein
Baum, der überdies durch seine schönen Blüten auffällt48). Friederici nennt unter den
Nutzungsmöglichkeiten des Bastes von Hiblscus-Arten in Amerika darüber hinaus
nicht nur Hängematten und Netze, sondern auch einen kolonialzeitlichen Gebrauch
als Schreibpapier49). Ob man Affix T 61/62 nun als „Rosette (aus Rindenpapier)“
44) Bisherige Deutungsvorschläge zu T 62: Knorosow (1963:289) = lac; Cordan
(1964:45) = kax. Die Cordansche Lesung wurde von mir erwogen (Barthel 1965
Anm. 30), inzwischen aber aufgegeben, da nicht weiterführend und weil das Affix
T 60 die Bedingungen dieses Lautwertes besser erfüllt.
45) Vgl. auch die große Stirnrosette des linken Kriegers auf der Stele 31 von Tikal,
welche wir als cuatonalli von Atlaua und somit als ixquatechimalli der Chachal-
meca erläutert haben (Barthel 1963:196). Die Rosette weist auch hier einen Ge-
hilfen des Todesgottes aus. — Große Rosetten waren in Altmexiko u. a. Attribute
von Erdgottheiten.
46) Eine wörtliche Übersetzung der „Rosette“ als lol bleibt steril. Ein weiterer Lesungs-
versuch als yol (ausgehend von dem yol niete des Chilam Balam-Textes) ermöglicht
ein Wortspiel von „Blüte“ und „Herz“, widerspricht aber der Entzifferung von
T 96 als (y)ol.
47) Motul 1929:396 sub hool, hoolil: „cortezas correosas de algunos árboles, y yervas
y matas con que suelen atar algunas cosas, y para hazer sogas . . .“ Perez 1866—
1877:135 sub hol: „la majagua ó corteza de algunos árboles ó yerbas con que atan
los indios“.
48) Roys 1965:119.
49) Friederici 1960:234 sub damahagua.
116
Thomas S. Barthel
oder als „Schleife (aus Bastschnüren)“5Ü) konkretisiert — in jedem Falle ist ein An-
schluß an den Rohstoff möglich50 51).
Hol (jol) kann für zahlreiche Homonyma stehen, die je nach Zusammenhang in
den hieroglyphischen Vorkommen erprobt werden müssen52). Eine Lesung der „Schlei-
fen-Fledermaus“ als Hol Zodz gestattet mannigfaltige Übersetzungen, von denen mir
„Kopf-Fledermaus“ interessant erscheint, weil damit die „kopfabreißende“ Tätigkeit
des Fledermausdämon gemeint sein könnte53). Umgekehrt ist auch an das Wortspiel
zodzldzudz zu denken und die „Schleifen-Fledermaus“ möglicherweise als „Die am
Kopf Aussaugende“ zu verstehen. Hauptzeichen T 568 ergibt mit unserem Affix zu-
sammen vielleicht hol-lom54), also entweder das „Kopf-Durchbohren“ oder eine quasi-
syllabische Schreibung für holom55). Die epigraphisch häufige Konstruktion 61.756(568)
wäre dementsprechend hol-lom-zodz zu lesen. Grundsätzlich ist zu sagen, daß auch
geglückte Lesungen von Hieroglyphen nicht der Pein vielfältiger Übersetzungs- und
Interpretationsmöglichkeiten entheben.
Unser Erkundungsweg durch die nächtliche Welt mesoamerikanischer Fledermaus-
dämonen ist damit vorläufig beendet. Neue Funde und weitere Entzifferungen wer-
den auch diesen Komplex noch bestimmter greifbar machen. Immerhin erscheint es
angebracht, Zeitstellung und örtliche Verteilung der Fledermausthematik schon jetzt
wenigstens in Umrissen zu skizzieren.
Nach ihrer Vorkommensintensität sind die Belege aus Monte Alban an die Spitze
zu stellen. Der dortige Fledermausgott, im kostbarsten Material des alten Meso-
50) Vgl. hiermit den durch Gordon publizierten Fledermausdämon vom Rio Uloa, der
als Brustschmuck ein kunstvoll verschlungenes Schnurband trägt!
51) Vgl. auch das aztekische Zeichen für „Papier“ (amatl), nämlich eine zusammen-
gerollte Rolle weißen Papieres (ggf. qualifiziert durch weitere Zusätze).
52) Wurde mit Homoiphonie gearbeitet, ist auch hol mit „schwachem“ h sowie ]ul zu
berücksichtigen.
5S) Beachte ferner das homoiphone hol als „Durchlöchern (mit einem nadelspitzen
Gegenstand)“ im Vergleich zum Durchbohrungsgerät der Fledermaus im Popol
Vuh, Anm. 34.
34) T 568, Beyer’s „gouged eye“, wird von den meisten Autoren als Opfersymbol ver-
standen. Das yukatek. „Augen-Ausreißen“ (col ich) ist als „castigo antiguo para los
amancebados“ (Perez 1866—1877:55) erläutert. In den mexikanischen Bilder-
handschriften gilt das „Ausbohren des Auges“ als Zeichen der Kasteiung. — Von
den für T 568 vorgeschlagenen Lautwerten befriedigt Zimmermanns lom („Durch-
bohrung mit einer Waffe“) bisher am ehesten. — Es sei vermerkt, daß in Chich’en
Itzä das Hauptzeichen T 568 zusammen mit Affix T 35 (pul) das priesterliche
Autosacrificio meint. Ein „Durchbohrung(s-Blut) — Vergießen“ (wie die wörtliche
Interpretation der hieroglyphischen Bestandteile lauten würde) entspricht dem
Blutabzapfen durch Perforation geeigneter Körperstellen mittels eines scharfen
Objektes,
55) Vgl. etwa Kekchi jolom = cabeza, retrato; Cakchiquel jolom = cabeza, jefe,
capitan; jolom qaminak = calavera.
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
117
amerikas ausgeführt, ist jedenfalls schon in der Periode II mit seinem hohen Range
dargestellt worden. In der Periode lila läßt sich die Vergesellung mit dem Maisgott
(dlos „L“), gefolgt von dem Nexus mit der jungen Göttin (diosa „2 J“), beobachten.
In der Periode Illb begegnet uns die Fledermaus als Nagual des Gottes „5 Blume“
(Quiepelagayo). Jetzt und in der folgenden Periode IV erreichen die Fledermaus-
darstellungen ihre größte Fläufigkeit. Gefäße mit den Krallen des Tieres erscheinen
und Räuchergefäße zeigen eine Dichotomie der in vielem wesensverwandten Unter-
weltsgestalten Jaguar und Fledermaus. Für Monte Alban I fehlen ikonographische
Zeugnisse der Fledermaus; dazu paßt, daß auch die Olmekenkultur der Fledermaus
keine auffällige Beachtung geschenkt zu haben scheint. Der voll entwickelte und ver-
zweigte Fledermauskomplex gehört jedenfalls in die eigentlich zapotekische Kultur des
klassischen Monte Alban, fällt also in die Zeit nach der Übergangsphase zwischen den
Perioden II und III. Ob der Fledermausgott der Periode II eine lokale Schöpfung oder
ein Neuankömmling aus dem Süden (Chiapas? Hochlandguatemala?) ist, wage ich nicht
zu entscheiden.
In der Mayakultur sind die ikonographischen und hieroglyphischen Belege das
ganze Klassikum hindurch zu verfolgen, wenn auch mit einer gewissen Steigerung zum
Spätklassikum hin, also analog zur Intensivierung bei den Zapoteken. Der Einbau der
Fledermaus-Hieroglyphe in den Jahreskalender muß schon im Protoklassikum erfolgt
sein, doch ist hier eine Rebuslesung nicht auszuschließen. Ich neige dazu, dem Raum
Chiapas-Guatemala eine gewisse Priorität gegenüber den Gebieten nördlich der Land-
enge von Tehuantepec zuzuerkennen. Ein wesentlicher thematischer Unterschied scheint
darin bestanden zu haben, daß im Mayagebiet (und wohl auch in der Golfküsten-
zone)56) der Fledermausdämon primär zu Tod und Unterwelt gehörte, während der
zapotekische Fledermauskomplex sich eher auf Mais und Zeugung richtete. In der
zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends ist die Ausstrahlung von sehr
spezifischen Fledermausideen anscheinend von Süden nach Norden erfolgt. Das gilt
wohl auch für die epigraphischen Passagen in Palenque und Chich’en Itzä, die einen
Anschluß an bilderschriftliche Darstellungen der Mixteca-Puebla-Kultur gestatten.
Soweit die Fledermausthematik auf das zentralmexikanische Hochland reicht, wird
man auch hier mit einer südlichen Provenienz rechnen dürfen. Bezeichnenderweise
fehlen irgendwelche auffälligen Fledermausmotive sowohl in Teotihuacän als auch in
Tula57). Überhaupt wirkt der weiter nördlich gelegene Bereich eher steril für irgend-
welche „Fledermausdämonen“. In Überlieferungen des „Größeren Südwestens“ neh-
men Fledermäuse („bat woman“, „bat boy“) meistens andere als die aus Mesoamerika
bekannten Rollen ein.
Das Fledermausmotiv in Bild und Wort endet nicht an der Südgrenze der Maya.
Handelt es sich bei Fledermausdämonen auf Keramiken des Rio-Uloa-Gebietes58) und
56) Kelemen 1956 Fig. 118d belegt die Fusion von Fledermaus und Todesgott auf einer
Terrakottafigur aus dem Tuxtla Distrikt im südlichen Veracruz.
57) Briefliche Mitteilung durch Hasso von Winning vom 1.1.1966.
58) Seler IV:467 Fig. 48 (nach Gordon). Fledermausköpfe gelegentlich auch an Ala-
bastergefäßen.
118
Thomas S. Barthel
El Salvadors59) noch um Vorkommen aus einem mayoiden Grenzsaum, so sind Belege
von der Nicoya-Halbinsel60) schon deutlich nach Zentralamerika eingerückt. In Costa
Rica finden sich auch die detailliertesten Fledermausdarstellungen vom Typ der sog.
„winged pendants“, die bekanntlich über Panama nach Venezuela und darüber hinaus
nach Westindien verbreitet sind61). Bei vielen dieser „Flügelanhänger“ (in der Fitera-
tur auch als „Klangplatten“ erörtert) aus geschätzten Steinarten (darunter Jade und
Achat) ist freilich das tierische Vorbild nicht mehr auszumachen. Für unser Thema
indikativ ist der Fund eines Flügelanhängers im Tairona-Gebiet: Er stellt eine Fleder-
maus dar mit ausgebreiteten Flügeln, die an beiden Seiten durch einen Jaguarkopi
flankiert wird62).
Die südlichsten mir bekannten Vorkommen aus dem „Intermediate Area“ stammen
aus Esmeraldas (Fa Tolita). Hier sind die Fledermausdämonen als goldener Brust-
schmuck gearbeitet. Interessant an einem der Belege aus Ecuador ist die Koppelung
von Fledermaus und vier doppelköpfigen Alligatoren63), erinnert sie doch an das
Mischwesen (Fledermauskopf mit Krokodilköpfen als Flügelenden) auf dem kost-
baren Anhänger von Guäpiles64 65). All diese archäologischen Zeugnisse lassen erkennen,
wie stark das Fledermausthema südlich von Mesoamerika — also circumcaribisch wie
„zwischengebietlich“ — von den alten Indianerkulturen dargestellt und variiert wurde.
Es ist nun reizvoll zu prüfen, ob die in Mesoamerika erkennbaren, verschiedenen
Rollen von Fledermausdämonen sich etwa auch in den mündlichen Überlieferungen
zentral- und südamerikanischer Naturvölker wiederfinden. Erste Stichproben in den
Mythen solcher Gruppen ergaben, daß Fledermausmoüve in offenen oder verdeckten
Relationen zu Jaguarmotiven verkommen. Ich führe drei Beispiele an.
Verschiedene Fassungen von Urstandmythen der Cahecar in Costa Rica60) besagen:
Bei Weltbeginn gibt es noch kein Erdreich, in das der Schöpfergott seinen Mais aus-
säen kann. Auf der Suche nach Fand findet er einen Felsen, an dem eine Fledermaus
hängt. Erst aus den Fäkalien dieser Fledermaus entsteht die erste fruchtbare Erde, in
der Pflanzen wachsen. Die Urfledermaus selbst gewinnt ihre Nahrung, indem sie einem
Jaguarkind, das in der tiefsten Unterwelt lebt, Blut absaugt.
Bei den Uitoto in Kolumbien spielt der Kampf eines Heilbringers mit einer men-
schenfressenden Fledermaus eine besondere Rolle66). Der Fledermausdämon treibt im
Osten sein Wesen, nahe der Höhle, wo die Vorfahren auf die Welt kamen. Wenn es
nachts donnert und am Fuße des Himmels dröhnt, bewegt sich die Fledermaus. Der
Sturm beginnt zu brausen, wenn die Fledermaus am Himmel jagt; die Menschen in den
59) Kelemen 1956 Plate 142d.
60) Fothrop 1926:II:Fig.l22 (vgl. das „Flechtbandmotiv“ mit dem Uloa-Beleg!).
Fothrop 1926:1: PL XXIXb (vgl. das „Augenmotiv“ mit den Chamä-Belegen!).
61) Fothrop 1957:264.
62) Nachtigall 1961 Abb. 193 (nach Mason).
63) Kelemen 1956:257 und PL 212.
64) Fothrop 1957 Pl.XCVI oben (= Katalog-Nr. 208).
65) Stone 1961:118—121.
66) Preuss 1921 passim, s. Index.
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
119
Dörfern frieren. Dann wirft der tierische Dämon sein Zaubermittel, die Menschen ver-
lieren das Bewußtsein und werden zu einer leichten Beute. Dem Heros gelingt es, zu-
nächst ein eigenes Zaubermittel gegen die Fledermaus zu werfen, welches sie gleichsam
fesselt und an der Verfolgung hindert. Später tötet er den menschenfressenden Dämon
mit Hilfe eines Blasrohres. Die Fledermaus wird zerstückelt, und aus ihrem Ellbogen-
knochen verfertigt der Heilbringer einen Angelhaken. — Dieser Fledermausdämon
hat eine Schwester, die „eigentlich“ ein Jaguar ist. Sie will den Tod ihres Bruders
rächen, scheitert aber schließlich und fällt Scharen schreiender und winderzeugender
Fledermäuse zum Opfer.
Die Apapocüva-Guarani in Südbrasilien67) erzählen, wie sich ihre urzeitliche
Schöpfergestalt in das Haus der ewigen Nacht zurückzieht. Dort hängt am First die
Urfledermaus Mhopi recoypy, welche die Sonne fressen wird, während der „blaue
Tiger“ Jaguarovy, der große gefräßige Menschenvernichter, unter der Hängematte
liegt. Nimuendajü vermutet, daß die Fledermausdämonen schon beim Weltanfang
Gegenspieler des Schöpfers sind. „Sie sind als Nachttiere Feinde der lichtspendenden
Gestirne . . . Manchmal stürzen sie sich aber doch auf die Sonne oder den Mond und
rufen dadurch die Eklipsen hervor, aber (der Schöpfer) hat sie auf die Vorstellungen
der Medizinmänner hin bis jetzt noch immer wieder zurückgerufen. Wenn er jedoch
den Untergang der Erde definitiv beschlossen hat, so wird er selbst die Fledermaus-
Dämonen aussenden und durch die Vernichtung der Sonne und den „Sturz der Nacht“
das Verderben einleiten“.
Das erste Beispiel erläutert einen positiven Aspekt der Fledermaus für das Ge-
deihen der Pflanzen und setzt damit die günstige Bewertung dieses Tieres im „zapo-
tekischen Maiskomplex“ über Mesoamerika hinaus fort. Denktypisch erscheint mir die
Wirkungsreihe Blut (als tierische Nahrung)) Faeces) Erde (als Voraussetzung für
pflanzliche Nahrung). Am zweiten Beispiel fallen Anklänge zum Todesaspekt des
Fledermausdämon auf, wobei Ostrichtung und Blasrohr bereits als Requisiten in unse-
ren Belegen aus dem Mayagebiet vorkamen. Das dritte Beispiel differenziert zwischen
der Fledermaus als „Fresserin der Himmelskörper“ und dem Jaguar als „Fresser der
Menschen“68). Es wäre zu begrüßen, wenn die naturvölkischen Belege weiter vervoll-
ständigt und auch die Rollen der Fledermaus in sozialen Klassifikationen überprüft
werden könnten. Ich denke dabei etwa an neuweltliche Belege für „Fledermausleute“
von Chiapas bis zum Matto Grosso („Moreegos“), an den Stammvater mit Fledermaus-
attributen69) und an die Benennung von Teilgruppen.
Vor welche Probleme man sich unverhofft gestellt sieht, mag ein letzter Exkurs
verdeutlichen; Im spätklassischen Copan trägt der Altar T zusätzliche Gestalten, die
67) Nimuendajü-Unkel 1914:318—319. Dort auch Hinweis auf Bakai'ri, vgl. von den
Steinen 1886:282—283 (Fledermausdämon Semino als ältester Repräsentant der
Finsternis; sein Sohn Tumeng führt vielleicht den Namen „Der Dunkle, Schwarze“;
seine Frau Evaki gibt Menschen und Tieren den Schlaf).
68) Normalerweise gilt in Südamerika der mythische Jaguar als das Eklipsetier schlecht-
hin.
69) So bei den Paressi (von den Steinen 1893:437).
120
Thomas S. Barthel
Abb. 9 a. Mesoamerikanische Fledermausdämonen der Ostrichtung. Links Copan
Altar T; Mitte Palenque Tablero de El Palacio („Große (?) Sonnenfledermaus (im)
Osten“); rechts Codex Borgia 49.
nach bestimmten Regeln über die vier Seiten verteilt sind. Ostseite und Westseite zei-
gen je vier Gestalten, drei tierförmige und eine anthropomorphe. Die Serien sind
gegeneinander orientiert und werden angeführt im Osten durch eine Fledermaus, im
Westen durch einen Papagei70). Wir notieren den Kontrast zwischen der Fledermaus
als Anführer der Ostgruppe und dem Papagei als Anführer der Westgruppe71). — Bei
seinen Feldarbeiten unter den Timbira Ostbrasiliens stieß Nimuendajü auf ein kompli-
ziertes Dualsystem, welches — gemessen am Kulturhorizont der Ge-Völker — eine
der großen Überraschungen für die Amerikanistik darstellte. Darunter fand sich die
70) Morley 1920:334—338 (Abb. bei Maudslay 1889—1902:1: Pl.95,96,118,119).
Seler (111:649) hat aus dieser Opposition gefolgert, daß hier vielleicht ein Zusam-
menhang mit dem cakix (Arara) besteht, „der von dem den Cakchiquel verwandten
Clan der Ah-zo’tzil, der „Fledermaus-Leute“, als Gottheit verehrt wurde“. Bei
Recinos (1953:47:Note 24) heißt es von der Fledermaus: “Zotz, the bat, Is the
symbol of the Cakchiquel race, whose totemic name was zotzil. The king of that
nation later received the title of Ahpop — Zotzil, that is, lord of the mat, or chief
of the zotzils”, und später vom Papagei (ebd. S. 58): “And the Zotzils said: ‘Only
in the beak of the macaw can we live and be safe”. And therefore they were called
the Cakix (= macaws)”. Das klingt freilich weniger nach einer Opposition zwi-
schen Fledermaus und Papagei, als nach einer stattgefundenen Verschmelzung von
möglichen Gegensätzen.
71) Mit Befriedigung ist zu verzeichnen, daß auf der „Fledermaus-Seite“ auch der
Jaguar auf tritt!
Abb. 9 b. Beispiele von amerikanischen Naturvölkern für Fledermaus des Ostens und
deren westlichen Opponenten. Oben Navaho-Sandgemälde (rechts Fledermaus mit
heiligem Medizinbündel), unten Fimbira-Körperbemalung (rechts für Fledermaus-
Gruppe). — Nach Wheelwright bzw. Nimuendajü.
Existenz sog. „plaza groups“, das heißt rein zeremonielle Gruppierungen männlicher
Stammesmitglieder, denen genau fixierte Versammlungshäuser und Aufmarschpositio-
nen im Siedlungs-Rund zugewiesen waren. Diese sechs Gruppen verteilen sich zu je
dreien auf die Osthälfte und auf die Westhälfte. Auf der Ost-West-Achse stehen ein-
ander gegenüber die „Fledermaus“-Gruppe und die „(Zwerg-) Papagei“-Gruppe. Die
Ost-West-Opposition entspricht also einem Kontrast von Fledermaus und Papagei!7-)
Man kann natürlich die Auffassung vertreten, daß hier ein reiner Zufall vorliegt;
denn schließlich existiert ein zeitlicher Abstand von über einem Jahrtausend und eine
räumliche Distanz von rund 6000 km zwischen dem hochkulturellen Denkmal in einer
Mayastadt und den recenten ethnographischen Angaben von den Timbira. Ich bin nicht
so sicher, ob wir nicht doch solchen „Modellen von Oppositionen“ mehr Beachtung
schenken müßten. Seit Levi-Strauß’ Arbeitsweisen sollte der Blick unbefangener über
den ganzen neuweltlichen Doppelkontinent schweifen dürfen. Die Zuordnung „Fleder-
maus = Osten“ ist keine sachbedingte Selbstverständlichkeit. Dennoch treffen wir sie
von den Fimbira über die Uitoto bis Mesoamerika (Copan-Yaxchilan-Palenque; Codex
'-) Nimuendajü 1946:87—90. Bei der Aufstellung nehmen die beiden genannten
Gruppen einen zentralen Platz auf der Ost-West-Achse ein. Die „Fledermaus“ wird
flankiert von „Riesenschlange“ und „Aasgeier“, der „Zwergpapagei“ von „Gürtel-
tier“ und einem „Fremdstamm (?)“. Alle besitzen charakteristische Körperbema-
lungen. Hauptaufgabe solcher „plaza groups“ sind Initiationsriten und zeremonielle
Wettläufe.
122
Thomas S. Barthel
Borgia) und sogar darüber hinaus an. Im Weltbild der Navaho nämlich stoßen wir
erneut auf die mythische Fledermaus am Ostrand der Welt!73) (Abb. 9).
Fraglos war Mesoamerika nicht hermetisch abgeschlossen vom naturvölkischen Süd-
und Nordamerika, sondern gebend wie empfangend mit seiner indianischen Nachbar-
welt verknüpft. Gewiß hat man schrittweise und behutsam vorzugehen, um zunächst
die inner-mesoamerikanischen Verflechtungen nach genetischen wie strukturalistischen
Gemeinsamkeiten aufzudecken. Dann aber ist es an der Zeit, einen erhellenden Blick
über die selbsterrichtete Mauer der Mexikanistik hinweg zu richten. Ich sehe in der
stärkeren Berücksichtigung der „amerikanischen Einbettung“ ein mindest ebenso dring-
liches Desiderat für die Mayaforschung, wie in jenem transpazifischen Brückenschlag,
über den — leider oft überhastet — nach hypothetischen Wurzeln Mesoamerikas in
altweltlichen Hochkulturen gefahndet wird.
73) Ich verdanke diesen Hinweis meiner Schülerin cand. phil. R. Preise. Das betref-
fende Sandgemälde bei Wheelwright 1946:193. Die Kontrastgruppen: “East of the
sky are a mountain sheep; a bluebird, which is the symbol of the dawn; and
Jdhhunny, the hat, who carries his sacred medicine bundle on his hack. At the west
are four birds . . .” verdienen weitere Untersuchungen. Wichtig ferner Wheelwright
1946:128 sowie Reichard 1953:383. — Interessant außerdem Fledermauspaare als
„Wächter“ am Osthimmel (Wyman 1960:60 und Fig. 16) sowie die mehrfache
Koppelung von Fledermaus und „Sun’s tobacco pouch“ (ebd. S. 45, 49).
Mesoamerikanische Fledermausdämonen
Literatur
Anders, F., 1963. Das Pantheon der Maya. Graz.
Barthel, T. S., 1955. „Versuch über die Inschriften von Chich’en Itzá Viejo“. Baessler-
Archiv N.F. Bd. III. Berlin.
Ders., 1963. „Die Stele 31 von Tikal“. Tribus Nr. 12. Stuttgart.
Ders., 1964. „Comentarios a las inscripciones clásicas tardías de Chich’en Itzá“. Estu-
dios de Cultura Maya Vol. IV. México.
Ders., 1965. „Gedanken zu einer bemalten Schale aus Uaxactun“. Baessler-Archiv N.F.
Bd. XIII. Berlin.
Barrera Vásquez, A., und Rendón, S., 19632. El libro de los libros de Chilam Balam.
Mexico.
Berlin, H., 1958. „El glifo ,emblema' en las inscripciones Mayas“. Journal de la
Société des Américanistes t.XLVII. Paris.
Beyer, H., 1937. Studies on the inscriptions of Chichen Itza. Contributions to Ameri-
can Archaeology No. 21 (CIW Publ.483). Washington.
Caso, A., und Bernai, F, 1952. Urnas de Oaxaca. México.
Códice Pérez, 1949. Mérida.
Cor dan, W., 1964. La clave de los glifos Mayas. Mérida.
Dieseldorff, E. P., 1894. „Ein Thongefäß mit Darstellung einer vampyrköpfigen Gott-
heit“. ZfE 26. Berlin.
Dütting, D., 1965. „Das Knoten-Graphem bei den Maya“. ZfE 90. Braunschweig.
Franco, ]. L., 1954. „Un notable ejemplar de arte individual en cerámica azteca con
una breve discusión sobre el Xochimecatl y Quetzalcoatl“. Yan III. México.
Friederici, G., I9602. Amerikanistisches Wörterbuch und Hilfswörterbuch für den
Amerikanisten. Hamburg.
Fuhrmann, E., 1922. Mexiko III. Hagen i. W. und Darmstadt.
Kelemen, P., 1956. Medieval American Art. New York.
Knorosow, J., 1963. Pis’mennost’ Indeizew Maija. Moskau.
Lehmann, W., 1922. Altmexikanische Kunstgeschichte. Berlin.
Lothrop, S. K., 1926. Pottery of Costa Rica and Nicaragua. New York.
Ders., 1957. Pre-Columbian Art. New York.
Makemson, M., 1951. The Book of the Jaguar Priest. New York.
Maler, T., 1903. Researches in the central portion of the Usumatsintla valley. Peabody
Mus. Mem., Vol. 2, No. 2. Cambridge, Mass.
Maudslay, A. P., 1889—1902. Archaeology (Biología Centrali-Americana). London.
Morley, S. G., 1920. The Inscriptions at Copan. (CIW Publ. 219.) Washington.
Motul, Diccionario de, 1929. Mérida.
Nachtigall, H., 1961. Indianerkunst der Nord-Anden. Berlin.
Nimuendajú, C., 1914. „Die Sagen von der Erschaffung und Vernichtung der Welt
als Grundlagen der Religion der Apapoctiva-Guarani“. ZfE 46. Berlin.
Ders., 1946. The Eastern Timbira. Berkeley.
Perez, P., 1866—1877. Diccionario de la lengua Maya. Mérida.
Preuss, K. T., 1921. Religion und Mythologie der Uitoto. Göttingen.
Recinos, A., 1950. Popol Vuh. Norman.
124
Thomas S. Barthel
Ders., 1953. The Annals of the Cakchiquels. Norman.
Reichard, G., 1950. Navaho Religion. New York.
Roys,R., 1933. The Book of Chilam Balam of Chumayel. (CIW Publ.438) Washington.
Ders., 1965. Ritual of the Bacabs. Norman.
Schnitze-Jena, L., 1933. Indiana I, Leben, Glaube und Sprache der Quiche von Guate-
mala. Jena.
Ders., 1944. Popol Vuh. Stuttgart und Berlin.
Seler,E., I9602. Gesammelte Abhandlungen zur Amerikanischen Sprach- und Alter-
tumskunde (5 Bde.). Graz.
Ders., 1901. Codex Fejervary-Mayer. Berlin.
Ders., 1904—1909. Codex Borgia (3 Bde.). Berlin.
von den Steinen, K., 1886. Durch Central-Brasilien. Leipzig.
Ders., 1894. Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin.
Stone, D., 1961. Las tribus talamanquenas de Costa Rica. San Jose.
Thompson, E., 1962. A Catalog of Maya Hieroglyphs. Norman.
Wheelwright, M., 1946. Hail Chant and Water Chant. Santa Fe.
Wyman, L., 1960. Navaho Sandpainting. Colorado Springs.
Wolfgang Haherland
Eine Jadeplatte aus Xochicalco
Als man im Jahre 1872 begann, die im Naturhistorischen Museum vorhandenen
völkerkundlichen Gegenstände listenmäßig zu erfassen und mit Nummern zu versehen,
verzeichnete man unter B 297 ein Steinobjekt, das aus Mexico stammen sollte. Es war
augenscheinlich schon länger Bestand der Sammlungen, denn weder der Geschenkgeber
noch das Eingangsdatum waren bekannt. Zusammen mit allen anderen völkerkundlich-
archäologischen Gegenständen ging es 1879 in den Besitz des neugegründeten Hambur-
gischen Museums für Völkerkunde über, in dem es sich noch heute befindet, eines der
zahlreichen Objekte, die hier aus Mexico vorhanden sind. Obwohl in jeder Hinsicht
interessant, ist es bisher nur ein einziges Mal, und dann auch nur unvollständig, ver-
öffentlicht worden. Allerdings würde man es kaum in dem Aufsatz von Walter Leh-
mann „Reisebericht aus San José de Costa Rica“ (1908) vermuten, wo es als Figur e und
Figur f abgebildet wurde.
Das Objekt, um das es sich hier handelt, ist eine langgezogene, flache Platte aus
einem blaugrauen, etwas in Grünliche gehenden Gestein, das als „Jade“ bezeichnet
werden kann, ohne daß es genauer einer der vielen Untergruppen dieser Sammel-
bezeichnung zugeschrieben werden kann. Die von Lehmann angegebene Farbbezeich-
nung „lauchgrün“ trifft auf keinen Fall zu, und seine Gesteinsbestimmung als „Nephrit“
dürfte rein intuitiv gewesen sein. Die äußere Form und die Maße können wie folgt
beschrieben werden: Die Längsseiten des 15,7 cm langen Stückes sind fast parallel, so
daß die Breite an dem abgerundeten (im folgenden als „oberes“ bezeichneten) Ende
mit 3,3 cm nur unwesentlich größer als das fast gerade „untere“ Ende mit 2,9 cm ist.
Das obere Ende ist unregelmäßig abgerundet (vgl. Abb. 1 a), wobei die linke Kurve
(von der „Schauseite“ aus betrachtet) später ansetzt, dafür aber stärker als die rechte
Kurve ist. Auch der untere Abschluß ist nicht ganz gerade, sondern sehr leicht gebogen.
Der höchste Punkt dieser Kurve ist nach links verschoben. Die beiden Kanten der
Längsseiten stehen nicht in einem rechten Winkel zur Schauseite (vgl. den Querschnitt
Abb. 1 d), sondern bilden mit dieser einen spitzen Winkel, so daß die Fläche der Rück-
seite (Abb. 1 b), besonders in der Breite, kleiner ist als die Schauseite. Die Breite der
Rückseite beträgt 2,95 cm bzw. 2,65 cm. Der Winkel der linken Seitenkante ist übrigens
zur Schauseite erheblich spitzer als der der rechten. Wie aus der Seitenansicht (Abb. 1 c)
klar ersichtlich ist, stehen Schau- und Rückseite auch nicht parallel zueinander, vielmehr
ist der Abstand oben, vor dem Kurvenansatz, mit 0,8 cm größer als am unteren Ende
mit 0,5 cm. Dieses trifft wieder besonders für die linke Seite zu, denn die rechte Seiten-
kante ist mit 7,2 cm bzw. 6,0 cm viel gleichmäßiger. Sowohl das obere als auch das
untere Ende der Platte sind abgeflacht. Während die schneidenartige Zuspitzung am
oberen Ende fast gleichmäßig von beiden Seiten aus erfolgt, ist am unteren Ende die
Abflachung von der Rückseite her stärker als von der Schauseite. Endlich ist bei den
ir*
•-
126
Wolfgang Haberland
\J
Abh. 1. Jadeplatte; a) Schauseite; b) Rückseite; c) Seitenansicht; d) Querschnitt. —
Alle Abbildungen in natürlicher Größe. Die Zeichnungen wurden von Frl. Dascha
Detering nach dem Original angefertigt.
Eine Jadeplatte aus Xochicalco
127
äußeren Merkmalen noch zu erwähnen, daß sich 1,3 cm vom unteren Ende entfernt
und etwas nach rechts verschoben eine Durchbohrung befindet, die konisch von der
Rückseite her angesetzt ist. Dort beträgt ihr Durchmesser 0,42 cm, während das Loch
auf der Schauseite nur einen Durchmesser von 0,18 cm besitzt.
Die äußere Form der Platte ist zwar selten und bisher ohne veröffentlichte Paral-
lelen, doch würde sie alleine nicht eine besondere Veröffentlichung rechtfertigen. Was
das Stück so besonders interessant macht, sind die eingeritzten Muster auf Schau- und
Rückseite. Ihr eigenartiger Stil hat vielfach Zweifel an der Echtheit des Objektes auf-
kommen lassen, da bisher keine vergleichbaren Stücke bekannt waren. Immer wieder
haben aber allein Ausführung und die Tatsache, daß sich das Stück bereits rund 100
Jahre in der Sammlung befindet, ausgereicht, diese Bedenken zu zerstreuen, wie Dis-
kussionen mit solchen Experten mexikanischer Kunst, wie Gordon F. Ekholm und
Gordon R. Willey gezeigt haben. Andererseits gab aber der Stil immer wieder zu
Rätseln Anlaß. Bevor wir aber auf ihn eingehen und nach Parallelen suchen, sollen
Technik und Darstellungen der Verzierungen kurz erläutert werden.
Die Verzierung erfolgte durch scharf eingeschnittene Ritzlinien, die im Durchschnitt
etwa 0,8 mm breit und 0,5 mm tief sind. Sie sind heute teilweise mit weißer Farbe
ausgefüllt, die aber wahrscheinlich neueren Datums ist und augenscheinlich dazu diente,
das Photographieren des Musters zu erleichtern. Neben geraden Linien kommen auch
viele gebogene Linien und Kreise vor. Letztere scheinen mit einem hohlen Stab (kleine
Rohrstücke?) hergestellt worden zu sein, die mit Wasser und Sand zusammen verwen-
det wurden (vgl. Lothrop 1955 für die Jadebearbeitung in Costa Rica). Andere Kur-
ven bestehen oft aus Halb- oder Viertelkreisen, die in verschiedenen Richtungen gegen-
einander gesetzt wurden und die man mit Rohrabschnitten hergestellt haben könnte.
Obwohl die Ausführung im allgemeinen sicher ist, kommen doch auch verschiedentlich
Fehlstellen vor, so zum Beispiel nicht geschlossene Kreise, Linien, besonders Bogen,
die nicht Zusammentreffen, oder solchen, die sich überschneiden (dieses besonders bei
rechten Winkeln) oder auch falsche Ansätze, die dann weniger tief neben den beab-
sichtigten Linien stehen.
Soweit über die Technik. Was wurde aber nun dargestellt? Die Schauseite zeigt
eine stehende Figur mit großem Kopfschmuck, der mit einem steif aufgerichteten Feder-
büschel bekrönt ist. Seitliche Elemente im Oberteil des Kopfschmuckes sind bewegter,
geben aber augenscheinlich auch Federn wieder. Der Hauptteil des Kopfschmuckes ist
ein geöffneter Tierrachen, aus dem das menschliche Gesicht herausblickt. Augen mit einer
gebogenen Umrandung, zwei gebogene obere Reißzähne, große Ohrscheiben und zwei
am Unterkiefer angesetzte gebogene Elemente, die als eine gespaltene Zunge aufzufas-
sen sind, lassen bei dem Tierkopf an den einer Schlange oder eines Jaguar denken.
Wahrscheinlich handelt es sich um ein Mischwesen, wenn auch die vor dem Leib ge-
haltenen Hände zu krallenbewehrten Tatzen ausgebildet sind und so eine Interpreta-
tion als Jaguar wahrscheinlicher machen. Die Bekleidung der sonst menschlichen Figur
besteht aus einem Schulterumhang, der am Ende mit Perlen besetzt ist, einem recht-
eckigen, unverzierten Gürtel, von dem ein langer Streifen mit einer Quaste als Abschluß
zwischen den Beinen herabhängt (wahrscheinlich ein Durchziehschurz) und einem von
Gürtel bis zum Knie reichenden Rock. Unterhalb der Knie sind breite Bänder aus recht-
eckigen Elementen befestigt, die einen unteren Abschluß aus Perlen besitzen. In Knö-
128
Wolfgang Haberland
chelhöhe endlich beginnen Bänder und Schlaufen, die zu reich verzierten Sandalen ge-
hören müssen, die aber nicht weiter dargestellt sind, ebensowenig wie die Füße. Diese
sind wahrscheinlich nach außen gestellt und ragen über den Rand der Platte heraus.
Der untere Abschluß wird durch einen waagerechten Doppelstrich und in einigem
Abstand parallel dazu, einen einzelnen Strich gebildet.
Während so die Schauseite ganz von der Figur ausgefüllt ist, die mit einigen Ele-
menten (Füße, Ellenbogen) über die Platte hinausreicht, ist die Rückseite nur im
oberen Drittel verziert (Abb. 1 b). Hauptelement ist ein sitzendes Tier, das mit seinen
großen Ohren unschwer als Hase oder Kaninchen identifiziert werden kann. Es ist von
einer unregelmäßigen Linie mit geraden Seitenkanten und gerundetem oberen und
unteren Teil umgeben, sitzt also in einer Kartusche und kann deshalb als Kalender-
zeichen aufgefaßt werden. Unter ihr befindet sich ein waagerechter Strich und darunter
zwei Ringe aus je zwei konzentrischen Kreisen. Lehmann faßte in einer Beschreibung
(1908, p. 443) den Strich als Zeichen für 5 auf und las das Datum, um das es sich hier
sicherlich handelt, als chicome tochtli (7 Kaninchen). Ich selber bin nicht sicher, aus
noch zu erwähnenden Gründen, daß der Strich so zu interpretieren ist und möchte auch
die Deutung als ome tochtli (2 Kaninchen) in den Bereich der Möglichkeiten ziehen.
Stilistisch fallen die Darstellungen der beiden Seiten aus dem Rahmen jeglicher
größeren Fundgruppe in Meso-Amerika, vielleicht ein Grund, warum viele, auch der
Verfasser, diesem Objekt lange skeptisch gegenüberstanden. Vereinigt doch die Figur
der Schauseite Züge aus den verschiedensten Kulturbereichen und findet man in ihr
Anklänge sowohl aus dem Mayabereich als auch aus der Teotihuacän-Kultur, aus Tula
und aus Oaxaca. Am ehesten ist die Frage nach der Zuordnung und damit der Her-
kunft an Hand der rückseitigen Glyphe einzuschränken. Von denjenigen glyphischen
Inschriften, die von einer Kartusche umgeben sind, können wir die der Maya gleich
ausschließen, da das Zeichen nicht in diesen Bereich gehört. Auch eine Deutung als
aztekisches Zeichen scheint auszuscheiden, da hier die Glyphen entweder freistehen
oder von einem Rechteck umgeben sind. Die weitere Durchmusterung zeigt, daß in
Mexico vor allen Dingen drei Kulturen ihre Glyphen mit Kartuschen (wenn auch nicht
immer) umgaben, die derjenigen unserer Platte ähnlich sind: Teotihuacän, die Zapote-
ken und Xochiacalco. Die Zapoteken scheinen auszuscheiden, da hier Kaninchen-
darstellungen bisher nicht bekannt sind (vgl. Caso 1928). Auch in Teotihuacän ist es
zumindest selten (vgl. Caso 1958—1959). Dagegen ist es in Xochicalco häufig, wo es
allein viermal auf der 1961 durch Cesar A. Säenz aufgefundenen Stele 1 erscheint
(Säenz, 1961, läm. II). In allen Fällen ist hier die Haltung des Tieres so ähnlich, daß
man fast an eine Kopie glauben könnte, gelangte die Jadeplatte erst heute in unsere
Hände. Selbst scheinbar so unwichtige Details wie die bis zum Auge durchgezogene
Linie des Unterkiefers, die deutliche Markierung der Nase, das Aufstützen des Ellen-
bogengelenkes auf das Kniegelenk usw. finden sich bei den meisten Glyphen der
Stele 1. Daß diese Darstellung typisch für Xochicalco war, zeigt auch der „Stein der
vier Glyphen“ (Piedra de los cuatro glifos) (Noguera, 1961, fig. 2), ferner die Glyphen,
vollfigurig oder nur als Kopf, an der Hauptpyramide (Caso, 1962, fig. 2f), am „Piedra
del Palacio“ (ibid., fig. 1) und dem „Piedra de Seler“ (ibid., fig. 16). Diese vielen
Parallelen zeigen deutlich, daß wir es hier mit einer Glyphe im Stile von Xochicalco
zu tun haben. Dieser Eindruck wird noch durch die Art der Punkte verstärkt, welche
Eine Jadeplatte aus Xochicalco
129
auf der Platte wie auch in Xochicalco aus zwei konzentrischen Kreisen bestehen (vgl.
Säenz, 1961; Caso, 1962). Fraglich bleibt es in diesem Zusammenhang weiter, ob es
sich um die Zahl 2 oder 7 handelt, da das Zeichen für 5 in Xochicalco aus einem orna-
mentierten Balken besteht (vgl. Caso 1962), dessen Anbringung auf der Platte möglich
gewesen wäre. Andererseits kommt aber gerade die Verbindung chicome tochtli bereits
zweimal in Xochicalco vor: An der Hauptpyramide (Caso, 1962, fig. 2f) und in D 13
auf der Stele 1 (Säenz, 1961, läm. II). So muß eine Entscheidung hier weiter offen
bleiben.
Wie steht es nun mit der menschlichen Figur auf der Vorderseite? Sind auch hier
Parallelen zu Xochicalco vorhanden? Wie bei der Beschreibung der Figur (Abb. 1 a)
erwähnt wurde, blickt das menschliche Gesicht aus einem geöffneten Tierrachen, von
dem eine gespaltene Zunge herabhängt. Eine sehr ähnliche Darstellung Ist auf der Stele
1 in A2 (Säenz, 1961, läm. II) und in der gleichen Position auf der Stele 3 (ibid., läm.
IV) vorhanden. In beiden Fällen fehlt allerdings der Unterkiefer des Tierrachens, und
auf dem Oberkiefer findet sich ein Horn, das den „Tierhelm“ einwandfrei als Schlan-
genkopf ausweist. Auch setzt die Zunge am Mund des Menschen an und nicht, wie auf
der Platte, am Unterkiefer des Tierrachens. Säenz (1961, pp. 46—47, 58) interpretiert
diesen Kopf als den des Quetzalcoatl in seiner Stellung als Morgensterngott (Tlahuis-
calpantecutli) und zieht Parallelen zu Darstellungen in Tula und Chichen Itzä. In der
Tat sind hier große Ähnlichkeiten vorhanden, wie ein Vergleich zum Beispiel mit Dar-
stellungen am Chac Mool-Tempel (Rivet, 1954, fig. 146) und Säulen des Kriegertem-
pels (vgl. u. a. Rivet, 1954, fig. 152) zeigen, wo sogar die krallenbewehrten Hände
unserer Figur wieder erscheinen. Allerdings fehlt unserer Figur der sonst typische
Nasenpflock, doch erscheint er auch auf den beiden genannten Gesichtern der Stelen
in Xochicalco nicht. Einen Nasenschmuck, dieses Mal halbmondförmig, besitzt auch
eine weitere Figur, die in gewisser Weise als Parallele herangezogen werden kann. Sie
ist auf einer Platte aus Onyx eingeritzt und wurde in Ixtapalulca bei Chalco gefunden
(Caso 1958—59, fig. 12). Auch sie weist einen „Schlangenhelm“ auf, bei dem besonders
die Augen denjenigen unseres Tierkopfes sehr ähnlich sind. Andere Ähnlichkeiten sind
die steife Federkrone, der breite, mit einem Perlenrande verzierte Schulterumhang,
der rechteckige Gürtel und der Rock. Die von der Figur auf der Brust getragene Glyphe
„Ojo de reptil“ bringt sie in enge Verbindung mit Xochicalco.
Damit dürfte gezeigt sein, daß die menschliche Figur unserer Platte ebenfalls in den
Rahmen der Ikonographie Xochicalco’s, soweit sie uns heute bekannt ist, paßt. Fraglich
bleibt dabei allerdings, wer hier dargestellt wurde. Zweifellos besteht die von Säenz
(1961, pp. 46—47, 58) angedeutete Möglichkeit, daß es sich um Quetzalcoatl als Mor-
gensterngott handelt. Andererseits könnte man auch von dem Datum ausgehen, wenn
man es mit der Figur in Zusammenhang bringen will. Caso hat in einer Arbeit, die
allerdings hauptsächlich auf die Verhältnisse im Valle de Mexico eingeht, festgestellt,
daß das Datum „7 Kaninchen“ mit Coatlicue im Zusammenhang steht (Caso, 1959,
p. 87). Wenn man die krallenbewehrten Hände, den Schlangenrachen, den Rock usw.
in Betracht zieht, ist es nicht ausgeschlossen, daß diese Gottheit hier gemeint sein könnte.
Allerdings sind gerade bei Coatlicue erhebliche ikonographische Schwierigkeiten vor-
handen, wie Spranz kürzlich zeigen konnte (Spranz, 1964, pp. 60—62). Endlich
könnte man noch, unabhängig vom Datum, an Tepeyollotl denken, der oft in Jaguar-
130
Wolfgang Haberland
gestalt oder mit Jaguarmaske dargestellt wird (vgl. zum Beispiel die Abbildungen bei
Caso, 1958—59, figs. 9a—c). Trachtenmerkmale wie Durchziehschurz, Rock, perlen-
besetzter Umhang, Kniebänder mit Perlen usw. sind hier übereinstimmend vorhanden
(vgl. Spranz, 1964, pp. 138 —146). Eine Entscheidung allerdings, welche Gottheit hier
gemeint sein könnte, oder ob es sich nur um einen Priester oder Krieger handelt, läßt
sich nicht herbeiführen. Sicher ist nur, daß es sich nicht um einen Pulquegott handelt,
den man, in Analogie an zentralmexikanische Verhältnisse, bei einem Datum ome
tochtli erwarten müßte (Caso, 1959, p. 86). Damit dürfte auch das Datum chicóme
tochtli mehr an Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die vorliegende Jadeplatte sicherlich
aus Xochicalco oder seiner näheren Umgebung stammt und etwa in die Zeit der Blüte
dieses Ortes während des 7. bis 9. Jh. n. Chr. datiert werden kann. Auf diese Zu-
schreibung deutet sowohl das Datum auf der Rückseite, das wahrscheinlich als chicóme
tochtli (7 Kaninchen) zu deuten ist, als auch die Figur der Schauseite hin. Wen die
Figur darstellt, läßt sich aus Mangel an Vergleichsmaterial nicht entscheiden. Ebenfalls
unbekannt ist der Zweck des Objektes. Die Durchbohrung ist so angebracht, daß es
nicht als Anhänger dienen konnte, und auch vom bildlichen Standpunkt aus ist es
unwahrscheinlich, da dann Figur und Datum auf dem Kopf stehen würden. Die Ab-
flachung der oberen Kante zu einer Schneide könnte daran denken lassen, daß es zum
Beispiel zur Blutentnahme aus der Zunge, ähnlich gewissen „olmekischen“ Jaden,
gedient haben könnte, doch ist dieses reine Spekulation. Es steht zu hoffen, daß durch
die Zuschreibung ein kleiner Beitrag zu unseren noch immer mangelhaften Kenntnissen
über Xochicalco und seine Kultur gegeben wurde.
Literatur
Caso, Alfonso, 1928. Las Estelas Zapotecas. Museo Nacional de Arqueología, Historia
y Etnografía; México.
Ders., 1958—59. Glifos Teotihuacanos; Revista Mexicana de Estudios Antropológicos,
vol. XV, pp. 51—70; México.
Ders., 1959. Nobres Calendáricos de los Dioses; El México Antiguo, tomo IX, pp.
77—100; México.
Ders., 1962. Calendario y Escritura en Xochicalco; Revista Mexicana de Estudios
Antropológicos, vol. 18, pp. 49—79; México.
Lehmann, Walter, 1908. Reisebericht aus San José de Costa Rica; Zeitschrift für Ethno-
logie, Band 40, pp. 439—446; Berlin.
Lothrop, Samuel K., 1955. Jade and String Sawing in Northeastern Costa Rica;
American Antiquity, vol. 21, no. 1, pp. 43—51; Salt Lake City.
Noguera, Eduardo, 1961. Ultimos Descubrimientos en Xochicalco; Revista Mexicana
de Estudios Antropológicos, vol. 17, pp. 33—37; México.
Rivet, Paul, 1954. Cités Maya; Les Hauts Lieux de l’Hlstoire; Paris.
Sáenz, César A., 1961. Tres Estelas en Xochicalco; Revista Mexicana de Estudios
Antropológicos, vol. 17, pp. 39—65; México.
Spranz, Rodo, 1964. Göttergestalten in den mexikanischen Bilderhandschriften der
Codex Borgia-Gruppe; Acta Humboldtiana, Series Geographica et Ethnographica,
Nr. 4; Wiesbaden.
Sr-TiirtrrfinrJSrr^
Sigrid Knecht
Mexikanische Zauberpapiere
Ihre Herstellung und magische Verwendung hei den Otomi-Indianern in Mexico
Im Grenzgebiet der mexikanischen Staaten Puebla, Hidalgo und Veracruz liegt
auf der nördlichen Hangschulter des Rio Chistla-Tales (Quell-Nebenfluß des Rio
Cazones, der östlich von Cazones unterhalb Tuxpan in den Golf von Mexico mündet)
in der Tierra templada zwischen 1400 und 1500 m die Otomi-Siedlung Mhithö oder
„Nvite“, auf spanisch San Pahlito Chiquito. Dieses Indianerdorf war für mich in
doppelter Hinsicht ein faszinierendes Ziel: 1. weil sich hier noch die vorspanische
Papierherstellung aus Baumrinde erhalten hat und 2. weil es in diesem etwa 1000 Ein-
wohner zählenden Ort eine seltsame Spezialisierung des Brujo-„Berufs“ (brujo, spr.
brucho = Zauberer oder Hexenmeister, Heilkundiger — ganz allgemein „der Wis-
sende“) gibt, Brujos, die mit Hilfe von selbst ausgeschnittenen Papierfiguren (auf Otomi
„hä-mi“ oder „gämi“ bzw. „puetey“) Magie betreiben.
Die Otomi, sehr alte mexikanische Hochlandbewohner, die durch die Nahua-
Stämme aus ihrem ursprünglichen Wohngebiet der Hochtäler von Mexico, Toluca und
Puebla verdrängt wurden, leben heute noch in den nördlichen Teilen des Staates Puebla
(San Pablito!) und in den Staaten Queretaro und Hidalgo. Sie gehören als das nörd-
lichste Endglied der großen Völkerfamilie der Oto-Mangue (vergleichbar den altwelt-
lichen Indo-Germanen) zu den sprachlich „Autochthonen“, da sie außerhalb von
Meso-Amerika1) keine Sprachverwandtschaft haben-).
Historisches:
Heute ist das Papier durch und durch profanisiert und hat — zumindest bei den
zivilisierten Völkern — seine geistige oder kultische Bedeutung verloren, die es früher
in der Welt hatte, besonders in Ostasien und im alten Mexiko.
In Altamerika ist Herkunft und früheste Verwendung des Papieres bei den Maya
„huun“, bei den Azteken „amatl“ genannt — historisch nicht bestimmbar. Doch muß
es schon sehr lang, vielleicht schon in olmekischen Zeiten, bekannt gewesen sein. Die
') Die Völkerkunde bezeichnet heute mit Meso-Amerika den aus Mexico, Guatemala,
Britisch Honduras und den westlichen Teilen von El Salvador u. Honduras beste-
henden altindianischen Kulturkreis, im Gegensatz zu dem geographischen Begriff
„Mittelamerika“, das sich vom „Isthmus von Tehuantepec“ (Mexico) bis zur Straße
von Panama erstreckt.
-) Für die Oto-Manguefamilie ist u. a. eine „Tonsprache“ charakteristisch — ein und
dasselbe Wort, in verschiedenen Tonhöhen und -gleitungen gesprochen, hat ver-
schiedene Bedeutung.
HH
■U tu:
Abb. 1. Kleine Götterbilder (tepitoton), aus Maismasse plastiziert, mit Papierkronen,
bedeckt von heiligen Ornamenten (amatetehuitl). a) Popocatepetl mit Papierkleid,
-krone und -¡ahne, b) Iztactepetl. c) Matlalcueye. d) Chalchiuhtlicue. e) Cihua-
coatl. Alle Götter mit den für sie charakteristischen Mitren aus Papier und Papier-
röcken. (Nach Sahagün.)
Abb. 2. Links: Mayahuel, der Entdecker des Honigwassers in der Maguey-Agave
(aguamiel) mit einem Papierfächer, bedeckt mit Tropfen von Kautschuk. (Nach Codex
Bourboniens). — Rechts: Azt. Priester, zum Fest der Wassergötter mit Papierkleid,
Papierflaggen und Papierkrone („amacalli“ = Papierhaus) geschmückt, an der Seite
eine Papiertasche. (Nach Codex Bourboniens.)
älteste Überlieferung stammt von den Tolteken, den Vorläufern der Azteken. Nach
einer toltekischen Sage hatten sich bei der 5. Weltschöpfung alle Götter in Teotihuacan
versammelt, um die noch „unvollkommene Sonne“ durch den Opfertod eines Gottes
„vollkommen“ zu machen, also zum Leuchten zu bringen, damit die im Dämmerlicht
befindliche Welt erhellt werde. Der aussätzige, mit Pusteln bedeckte Gott Nanaoatzin
stürzte sich, mit einem Kleid aus Papier (amat-zontli) angetan, freiwillig ins Feuer.
Mexikanische Zauberpapiere
133
In Tula tragen die 4,60 m hohen Kolossalstatuen des Morgensterntempels an ihrer
Linken einen Beutel für Räucherwerk, der nach dem damals üblichen Papiersack skul-
piert war (J. Acosta, Mex. Review of Anthropol. Studies, Mexiko 1945). Das Blut von
den geheiligten Opfern wurde in Papier gesammelt und den Idolos dargebracht. Die
Tarasken tanzten mit Papier-Schmetterlingen ihren kultischen Tanz. — Die Popoloca-
Indianer besaßen eine mannshohe Figur, die sie als Gott des Papiers (Malteutl) ver-
ehrten und mit Menschenblut bespritzten, wenn sie nach einer gewonnenen Schlacht ein
menschliches Dankopfer brachten.
Besonders wichtig war das Papier bei den Azteken, die für die verschiedensten
weltlichen und kultischen Zwecke einen ungeheuren Papierbedarf hatten: Für die tod-
geweihten Opfer, die mit Papierkronen und -kleidern angetan wurden, zum Schmuck
von Tempeln und Götterbildern, für Papierflaggen bei Festen und Prozessionen, zum
Auffangen des Opferblutes, für Papierberge, die vor der Abreise der Kaufleute und
Papierschlangen, die nach deren glücklicher Rückkehr angezündet wurden, bei Wahr-
sage- und Heilungszeremonien (die Kranken wurden mit Papierstückchen bedeckt und
Ahb. 3. Eine Zeremonie zu Ehren Tlalocs,
bei der dessen Papierornamente ans Was-
ser getragen werden. Dann wird von
Ruderbooten aus ein Weihrauchgefäß mit
brennenden Opferpapieren in einen Kanal
geworfen, der in den Texcoco-See entleert.
(Codex Florentinus, Sahagún.)
die Opfergaben an die Götter in Papier gewickelt), als Totenpaß, um die gefahrvolle
Reise durch die Unterwelt zu überstehen, als Modell für die Feder- und Tonarbeiten,
für die Siegel und Stempel (eine „Buchdruckerkunst“), für die mit Bilderschriften ver-
sehenen Faltbücher [Lesen und Schreiben wurde im „Camacac" (Calmecatl), einer Art
Priesterseminar, gelehrt].
134
Sigrid Knecht
Abh.4. Links: Zeichen auf einer Tributliste für den Ort Amacoztitlan (= Ort, wo
Papier des gelben Arnate-Baums, Ficus petiolaris) her gestellt wird (= das rechteckige
Zeichen). — Rechts: Das Symbol für „Papier“ (Amate oder Amatlan — Ort, an dem
es Papier gibt, wurde durch eine Papierrolle mit Kordel dargestellt). Daneben sind ein
einstürzendes Haus und Feuer zu sehen, wodurch auf die Eroberung des Ortes Amatlan
(Oaxaca) unter Moctezuma //. angespielt wird. (Nach Codex Mendoza.)
Trotz der großen Bedeutung des Papiers im präkolumbischen Mexiko, speziell im
Aztekenland, steht merkwürdigerweise so gut wie nichts in den Codices über die Her-
stellungstechnik geschrieben. Dies ist erstaunlich, da sonst alle Gattungen des Hand-
werks sehr genau geschildert sind (z. B. bei B. Sahagtm). Es finden sich höchstens kurze
Bemerkungen, daß Papier aus Maguey-Blättern3) (metl) und gewissen Bäumen, aus
Rinde und Wurzeln, gemacht werde, auch von Baumwolle, Yucca und „Würmern“
(offenbar dem Gespinst der Seidenraupe). — Pedro Mártir de Angleria war der erste,
der kurz nach der Conquista berichtet: „ . . . sie schreiben auf Blättern von der dünnen
inneren Rinde der Bäume, . . . von der sie Streifen schneiden . . . Wenn sie aufgeweicht
ist, kann sie geformt und gestreckt werden, ich glaube, durch Kalkzusatz oder eine
andere Substanz . . . Diese innere Bastschicht besteht aus Hohlräumen und Maschen
(Decades of the New World, VIII, Kap. I, Buenos Aires, 1944). Und Bemal Diaz del
Castillo, der Begleiter von Cortez: „ . . . kleine Bücher von der Rinde eines Baumes,
genannt amatl . . .“ Bischof Diego da Landa: „ . . . aus den Wurzeln eines Baumes . . .“
(gemeint sind wohl die brettartigen Stützwurzeln einiger Ficus-Arten).
Eine ausführliche Beschreibung gibt 1570 der zum Studium der Heilpflanzen nach
Mexiko geschickte Arzt und Naturforscher Dr. F. Hernández: „Viele Menschen . . .
stören die Stille eines Ortes, wenn sie Papiere herstellen, das zum Schreiben nicht sehr
geeignet ist, obgleich Tinte nicht eindringt . . . Sie schneiden dicke Äste ab, deren
Schößlinge sie entfernen und lassen sie über Nacht in Bächen liegen . . . Am folgenden
3) Agave cantala.
Mexikanische Zauberpapiere
135
Tag ziehen sie die Rinde ab, dann schlägt man das Material mit einem flachen Stein . . .
es wird biegsam . . . dann poliert man es ... Es ist von der Dicke unseres gewöhnlich-
sten Papieres, aber kompakter und weiß und von geringerer Qualität als unser (weißes)
Papier. Nach einer anderen rascheren Methode werden die Fasern weich gekocht. . .“
(Novi Orbis Archiatn, Vol. I, Kap. CXIII, ed. 1790; vgl. hierzu die Bearbeitung der
Rentierknochen bei den Lappen, die das Geweih entweder längere Zeit in fließendes
Wasser legen oder im Kurzverfahren kochen.) — Die Rindenmasse wurde mit Stein-
klöppeln flach geklopft. Leider ist unbekannt, seit wann Steinklöppel in Gebrauch
waren. Aus Funden zu schließen, waren sie in Teotihuacan III—V sicher schon benützt.
Es besteht zwischen den altmexikanischen Steinklöppeln und denen von Ozeanien
(Celebes u. a.) eine überraschende Übereinstimmung (S. Linné, Arch. Research, at
Teotlh., Mex., Ethn. Mus. Schweden, 1934).
300 Jahre nach Hernandez machte F. Starr im Jahr 1898 eine Reise zu den Otomi-
Indianern und berichtet, daß in fünf Bergdörfern noch immer nach den alten Methoden
Papier aus Rinde zu kultischen Zwecken hergestellt werde. Ihm folgten verschiedene
andere Autoren. 1942—1945 bereiste Hans Lenz alle „Papierdörfer“ (insgesamt 18),
unter denen San Pahlito nach seiner Meinung das Dorf mit der besten Tradition ist,
wo Papier noch im „Großbetrieb“ hergestellt wird, das bei den Indios das „gute Papier
für Zauberei“ heißt, da es besonders hohe magische Kräfte besitzen soll.
Wanderung zu dem berühmten „Papier-Dorf“ der Otomi, San Pahlito Chiquito
(Puebla)
Nur ein schmaler Pfad führt von Pahuatlan, dem Verwaltungszentrum einiger
umliegender Indianerdörfer, nach Mbithö (Nvite) — San Pablito. Pahuatlan ist erst
neuerdings durch eine windungsreiche, schmale Fahrpiste mit dem In der kalten Zone
liegenden Ort Tulancingo (an der Strecke Pachuca-Huauchinango) verbunden worden.
Die etwa 4stündige Fahrt mit der landesüblichen „coche da linea“, einem vorsintflut-
lichen, keuchenden Klappergestell aus den Kindertagen des Omnibusses, ist ein strapa-
ziöses Abenteuer für sich. Das Sträßlein schlängelt sich aus der tundraartig kargen Land-
schaft der Hochebene (oberhalb 2000 m) und den immergrünen Eichen-Kiefernwäldern
steil hinab in das gemäßigte Land mit seinem üppigen subtropischen Pflanzenwuchs
(hohe Luftfeuchtigkeit!). Man fährt („romantisch“) unter sprühenden Wasserfällen
zwischen überhängenden Felswänden mit dicken, von Orchideen und Riesenfettkräu-
tern durchsetzten Pflanzenpolstern und talwärts steil abstürzenden Hängen, durch
hochspritzende Bäche, grundlose Schlammlöcher, auf die Piste gefallene Felsblöcke und
Erdschollen, die von den männlichen Mitfahrern in mühseliger Arbeit beiseite geräumt
werden. Immer wieder öffnen sich neue und imposante Ausblicke auf das glitzernde
Band tief drunten in der Talsohle und die wild zerklüfteten violett-grünen Berge, die
in der Mitte wie mit einer Perlenkette gegürtet erscheinen: Indianerdörfer mit ihren
goldbraun schimmernden Hüttendächern aus Palm- oder Maisstroh. Wegen der absei-
tigen Lage finden sich in dieser Gebirgsgegend, deren Bevölkerung sich aus Otomi,
Mexikanern (Azteken) und Totonaken sowie einigen wenigen Ladinos (Mestizen)
zusammensetzt, noch manche ursprünglichen Bräuche, magische Praktiken und aber-
gläubische Vorstellungen.
Ahh. 5.
Quellenkreuze
(Nähe S. Pahlitot
Hgo Puehla).
136
Sigrid Knecht
Der „Presidente municipal“ von Pahuatlan schickte mir einen seiner 3 Dorfpoli-
zisten als Begleiter und Beschützer. Dieser, ein fast reinblütiger Otomi, erschien bis zu
den Zähnen bewaffnet mit Machete und Pistolen, als gälte es eine Horde von Wege-
lagerern zu bekämpfen. Dabei sind die Indianer dieses Gebietes friedfertig und keines-
wegs bösartig, wenn auch ablehnend und verschlossen allen Fremden gegenüber. — Wir
durchquerten den Fluß und kamen in einem Waldstück zu einer gefaßten Quelle, an
der zahlreiche, mit Blumen geschmückte indianische Kreuze standen (Abb. 5; das Kreuz
ist ein uraltes vorchristliches Symbol des alten Amerika; Cortes, der die vielen Kreuze
für ein Blendwerk des Satans hielt, gründete daher die Stadt „Vera Cruz“ = „Wahres
Kreuz“). Die Tatsache, daß Fidel (mein getreuer Wächter) an dieser Quelle eine stille
Andacht hielt, zeigt, wie sehr noch die Vorstellungen des vorkolumbischen kosmisch-
animistischen Gedankenguts lebendig sind (die lebenspendende Quelle fand von jeher
höchste Verehrung).
Nach etwa dreistündigem Aufstieg kamen wir zu steil angelegten, mit Erdnüssen
und Mais bebauten Milpas (Äcker). In Reih un Glied jäteten und hackten die Männer
Mexikanische Zauberpapiere
■¿$
j/LÄg --«fC ^jfcaWV * -I -vr^vl>.-? 'Jfe!T Srl3«SA
iV'
'A.
£^s*v * c . fo»' • ?'mf, $*, ä
■,
^rc- ^v"..,;v ,\f., *$■'* r ''$**<■' ., .u
<£?* /vT\,.■*-*:{|5»t-a- H |Üf -
s’swssSSHBffSÄRISfeK- *. •..:a.. v*aBlfe‘«Si^'iÄ
A^A 6. Otomi-Indianer in der „milpa“ mit der „coa“ arbeitend.
in ihrer weißen „europäischen“ Bekleidung mit der altindianischen „coa“ (Abb. 6).
Wie in vorspanischen Zeiten wird hier noch die an der Spitze spatenartig verbreiterte
kurze Holzhacke für die Feldarbeit benutzt. Bei den meso-amerikanischen Indianern
obliegt die Feldbestellung ausschließlich den Männern, und zwar arbeiten die Väter
mit ihren Söhnen, seltener auch mit anderen männlichen Verwandten der Sippe. In
einzelnen Fällen helfen sich auch die Männer gegenseitig in Gemeinschaftsarbeit, ob-
wohl die Milpas Privatbesitz sind (also nicht zu verwechseln mit den staatlichen
„ejidos“, einer Art Kolchosewirtschaft). Oberhalb der Milpas ragten aus dem dunklen
Grün von Kaffeesträuchern die mit Pamstroh und Bananenblättern gedeckten Hütten-
dächer von San Pablito empor.
Schon von weitem dröhnte uns ein seltsames Klopfgeräusch entgegen; Die Otomi-
„Paplerfabrik“. Vor fast jeder Hütte knieten Frauen in ihrer kleidsamen weißen, mit
farbigen Borten geschmückten Tracht und schlugen mit einem Stein eine schwärzlich
aussehende Masse auf einem rechteckigen Holzbrett zu dünnen „Papierfladen“ (Abb. 7).
Neben den Frauen lehnten die fertig bearbeiteten Bretter zum Trocknen des Papiers.
Da und dort zog eine Frau den getrockneten Bogen wie ein Abziehbild von der Unter-
lage ab. Da die Bretter alle etwa die gleiche Größe haben, erhalten die Bögen ungefähr
dieselben Maße, sozusagen ein „Din A Holz-Format“.
Abb. 7. Otomi-Indianerinnen bei der Herstellung von Rindenpapier
138
Sigrid Knecht
Als mich die Frauen kommen sahen, stellten sie sofort ihre Arbeit ein und ver-
schwanden lautlos in ihren Ffütten. Da die Papierherstellung kultischen Zwecken dient
und ohnehin jeder Fremde als unbefugter „Einbrecher“ in althergebrachte, sanktio-
nierte Bräuche gilt — die Indianer begegnen dem Weißen mit „passivem Wider-
stand“ —, so war die ablehnende (in einigen Fällen sogar feindselige) Fialtung dieser
Frauen verständlich. Ohne Vermittlung meines dolmetschenden Begleiters (keine der
Frauen sprach spanisch) wäre es ganz unmöglich gewesen, die einzelnen Phasen der
Papierherstellung zu studieren oder zu fotografieren.
Mexikanische Zauberpapiere
139
Abb. 8. Otomi-lndianerin klopft die Bastfasern mit einem Steinschlegel zu Fladen.
Dieser Schlegel hat dieselbe Form wie in präkolumbischen Zeiten (vgl. Lenz, Abb. 67 ff.
u. Text 77 f.).
Die Fertigung des Rinden„papiers“
Aus der Maguey-Agave (metl) und dem Yucca-Baum (izote) wird heutzutage,
aller Wahrscheinlichkeit nach, kein Papier mehr gewonnen. Der einzige Rohstoff-
lieferant ist die Rinde verschiedener, zu den Moraceen gehörender Ficus-Arten (es gibt
in Mexiko über 20) mit dem Vulgärnamen „Xalama(tl)“ (x wie weiches sch). In
S. Pablito wird verwendet:
1. Brauner Xalamatl (X. bayo), Ficus sp. („po-popotzä“)4)
4) Alle botanischen und indianischen Namen nach H. Lenz.
140
Sigrid Knecht
2. Zitronen Xalamatl (X. limón), F. tecolutensis („muxi-coni“)
3. Maulbeerbaum, Morus microphylla („tza-secua“), ein Baum von 5—8 m Höhe,
gesägten Blättern, der von Hernández erwähnte „Tlaco-amatl“, der bei den Otomi
hohe Verehrung genießt.
4. Teo-chichicastle, Morus celtidifolia („ix-nä“), der für schwarze Magie verwendet
wird.
Die Rindenfarben sind: 1. braun, 2. weiß, 3. weiß, 4. gelblich. Da das Rinden-
papier nicht gefärbt wird, sind diese natürlichen Färbungen wichtig5).
Ahb. 9.
Ablösen des
Rindenpapiers
von der
Holzunterlage.
5) Anderswo findet auch noch die weiße oder große Amate (Xamatl) Verwendung,
Ficus involuta, mit sehr heller Rinde, keine Früchte produzierend, und die gelbe
Amate, Ficus petiolaris (Itzamatl?), sowie die dunkle Amate, Ficus cotinifolia
tlimatl) mit etwas dunklerer Rinde und schönen Früchten, die letzteren beiden auch
„Fels-Amate“ genannt, da sie in den Bergen auf Felsen wachsen, mit großen schlan-
genartigen Wurzeln.
Mexikanische Zauherpapiere
141
An der Herstellung beteiligen sich beide Geschlechter, die Männer jedoch nur vor-
bereitend (Gewinnung des „Rohstoffes“), während die Frauen die eigentlichen Fabri-
kanten sind. „Erntezeit“ ist von April bis Juni, möglichst bei abnehmendem (?) Mond
(bei „zartem Mond“), wenn die Rinde leichter vom Holz gelöst werden kann. Oft
wird auch die Regenzeit abgewartet, damit die Borke etwas weicher ist. Mit dem
Buschmesser (machete) machen die Männer einen senkrechten Schnitt in den Stamm,
wo etwas dickere, aber noch biegsame Äste ansetzen, und wo die Rinde am besten
gelöst werden kann. Drei Jahre, nachdem die Rindenstreifen abgeschält sind, haben
sich die Bäume regeneriert. — Nachdem die Männer von verschiedenen Bäumen eine
genügende Anzahl gesammelt haben, kehren sie ins Dorf zurück, und nun beginnt die
Arbeit der Frauen. Sie trennen von Hand die Borke ab, legen dann die Fasern zum
Trocknen in die Sonne, um sie für den späteren Gebrauch aufzubewahren. Diese ab-
gelagerten Stücke sind besser zu verarbeiten, von den frischen muß man, falls sie sofort
verwendet werden, erst eine gummiartige „Milch“ entfernen.
Die Streifen werden in großen Tongefäßen eingeweicht oder aber in fließendem
Wasser mehrmals untergetaucht, an der Luft geschüttelt, um sie dann 1—2 Stunden
mit Wasser vollsaugen zu lassen. Dann erfolgt ein gründliches Waschen, und hinterher
wird die Masse mit Holzasche zusammen (besonders wichtig bei der Rinde vom Maul-
beerbaum und Xalamatl limon) 3—4 Stunden über kleinem Feuer gekocht. Harte
Rinde wird in der Kalklauge gekocht, in der die Maiskörner für die Tortilla-Berei-
tung gequollen haben. Durch den Kalkzusatz wird die Farbe gelblich, und daher ver-
meidet man ihn möglichst bei den obengenannten beiden Rindensorten, die ein weißes
Papier abgeben sollen. Die gekochte Masse muß nochmals gewaschen werden und
kommt dann zur Aufbewahrung in eine mit Wasser gefüllte Holzschale. Damit sind
alle Vorbereitungen getroffen, und die eigentliche Herstellung kann beginnen:
Kleine Portionen der gallertig sich anfühlenden Masse legt nun die Frau auf ein bei-
derseits geglättetes und angefeuchtetes Holzbrettchen (muixte) von etwa 23—40 cm
Länge, 15 cm Breite und 2 cm Dicke (Holz des Jonote-Baumes, Heliocarpus sp.,
Tiliaceen). Zunächst legt sie eine rechteckige Form, die sie durch 2 kürzere Streifen
unterteilt, erst in der Längs-, dann in der Querrichtung. Mit der Linken hält sie das
Brett, während sie mit der Rechten auf dem ausgelegten Gitterwerk mit einem glatten,
quaderförmigen Stein (7—9 cm lang und etwa 5 cm breit) so lang herumklopft, bis sich
die Fasern miteinander verbinden (Abb. 8). Nach dieser Prozedur stellt sie das Brett-
chen zum Trocknen in die Sonne und arbeitet in der Zwischenzeit an einem anderen
Papier. Manchmal werden auch die Rückseiten benützt. Die trockenen Papiere können
nun von der Unterlage gezogen werden (Abb. 9). Nachdem sie gefaltet und gebün-
delt sind, stehen sie für den Gebrauch, bzw. den Verkauf zur Verfügung.
Während die gä-mi (hä-mi) früher ausschließlich für kultische Zwecke verwendet
wurden, sind neuerdings auch Museen und Bibliotheken an ihnen interessiert. Die
Qualität ähnelt gröberem Japanpapier und läßt sich ausgezeichnet mit Tinte beschrei-
ben, ist daher z. B. zur Ausbesserung alter Foliantenbögen geeignet. Wo das Papier
auf dem Holzbrettchen auflag, ist es glatt, auf der mit dem Stein bearbeiteten Ober-
fläche leicht aufgerauht.
Für den Eigengebrauch dient das Papier noch immer nur für magische Zwecke, die
dunklen Rinden für schwarze Magie, die hellen für Heilungs- und Flurzauber. Da-
142
Sigrid Knecht
neben wird auch das von ladinischen Händlern angebotene farbige Seidenpapier be-
nützt. Doch bei wichtigen Zeremonien verwenden die Zauberer lieber Rindenpapier,
„das gute Papier für Zauberei“.
Die magischen Papierfiguren
Die Indianer haben — wie alle Naturvölker — ein archaisches Denken. Dieses ist
anthropozentrisch (der „Mikrokosmos Mensch“ ist Spiegel des „Makrokosmos Welt“),
animistisch (personifizierte Naturmächte sind hilfreich oder schädlich) und existentiell
(Welt ist Umwelt für das tägliche Leben, eine affektgeladene, durch viele Generatio-
nen überlieferte Erfahrungsgröße). Das Weltgefühl ist von Angst durchdrungen. Der
frühe Mensch spürt die Überlegenheit der höheren Mächte, die er durch Magie in seine
Gewalt bekommen möchte. Ehrfurcht und Abhängigkeitsgefühl ist die Triebfeder der
Zauberei (Fruchtbarkeits-, Jagd-, Heilungs- und Abwehrzauber, auch Schadenzauber).
Wenn auch bei den Primitiven jeder über gewisse magische Kräfte und „Zaubertalente“
verfügt, so besitzen doch nur bestimmte Personen (Zauberpriester, Schamanen) die
Fülle der magischen Fähigkeiten. Sie bilden oft einen eigenen Stand, der, mehr gefürch-
tet als geliebt, etwa (auf höherer Stufe) den Priestern oder allgemein den Lehrern der
Weisheit und des Wissens entspricht. Daher nennen die Indianer ihre Zauberer auch
Abb. 10.
Der „brujo“
beim Ausschneiden
einer Zauberfigur.
Mexikanische Zauherpapiere
143
Abh. 11. Zauberfiguren aus Seidenpapier.
den „Wissenden“, den „Weisen“ oder den Menschen „dem Respekt gebührt“, auf
Otomi „pah-ti“ (das „a“ nasal und gedehnt). Dieser kann sich mit Hdfe seiner Kennt-
nisse und magischen Praktiken unmittelbar an die höheren Mächte wenden, sie be-
schwören, bannen, überwinden. Er ist — wie auch seine gesamte Dorfgemeinschaft —
von unbegrenztem Vertrauen in seine Machtmittel erfüllt, um sich selbst an die höch-
sten (guten und bösen) Mächte (Leben und Tod) wenden zu können. Seme Magie hat
keinerlei Bezug zum Ethischen (Knecht, 1965 a, b, c).
Unter diesen Aspekten ist das Praktizieren mit den Papierfiguren (auf Otomi
„hä-mi ) zu betrachten. In San Pabhto lebten zur Zeit meines Besuches zwei pah-ti,
der eigentliche „Meister“ und sein „Lehrling“. Ersterer war leider abwesend, so
daß ich mit dem „Schüler“ vorlieb nehmen mußte, was mir Fidel vermittelte. Bereit-
willig packte der junge „Zauberlehrling“ sein „Handwerkszeug“ zusammen und setzte
sich vor seine Hütte, damit ich ihn beim Schneiden fotografieren konnte.
Zunächst faltete er die dunklen Bastpapiere in der Mitte und legte — wenn sie
sehr dünn waren — 2 Bögen übereinander. Dasselbe geschah mit den bunten Seiden-
papieren, von denen er immer 2 verschiedene Farben übereinanderlegte, zu unterst
Sigrid Knecht
(beim Faltstück zu innerst) eine Lage weißes, festeres (gekauftes) Papier. Dann schnitt
er Figuren im Profil, wobei die Rückenlinie als Falz diente (Abb. 10); auseinander-
geklappt entstehen daraus Vorderansichtsbilder0). Andere wurden jedoch als nicht auf-
zuklappende Profilfiguren geschnitten. Der Abfall wurde sorgsam aufgesammelt und
in einen Beutel gesteckt, um bei der späteren Zeremonie vernichtet zu werden (nichts
darf übrig bleiben). Das Schneiden geschah in einem Zug, so daß es nur ein bis zwei
Abfallstücke gab. Obwohl der Brujo kein Metermaß benützte, fielen die Figuren alle
ziemlich gleich groß aus, und zwar hatte er zwischen 20 und 30 cm drei „Normgrößen“
(etwa 20—21, 25—26 und 30 cm). Später sah ich auch die „Meisterwerke“, bei denen
dieselben Größenordnungen galten. Außer einigen Tiergestalten (Hund, Truthahn,
Pferd, Schwein), die vielleicht „modern“ sind (letztere zumindest nachkolumbisch),
gibt es zwei Grundtypen von menschlichen Figuren:
1. einen menschlichen Adorantentyp (en face) mit erhobenen Armen und mehr
oder weniger ausladendem „Kopfputz“ und teilweise mit „Strahlen“ am Kopf und den
Füßen und an den Seiten „Auswüchse“, welche die Form der verschiedenen Feld-
früchte, für die das „hä-mi“ eine magische (wachstumsfördernde) Wirkung haben soll
(Abb. 11). Möglicherweise sind mit diesen „Auswüchsen“ ganz konkrete Kraftströ-
mungen gemeint, die zwischen der Zauberfigur und der physischen wie der Geister-
welt nach ihrer Meinung vorhanden sind;
2. einen geschwänzten Adoranten (im Profil) mit fletschenden Zähnen und her-
aushängender Zunge, manchmal mit Andeutung eines Kinnbartes, die Personifikation
des Bösen, der als „diablo“ (Satan) von der christlichen Glaubenswelt beeinflußt ist.
Damit sollen böse Geister beschworen, gebannt, ausgetrieben werden (Verwendung
für schwarze und weiße Magie).
Schließlich gibt es noch weiße viereckige Papiere, aus denen spiegelbildlich nach
oben und unten allerlei Figuren herausgeschnitten sind, wie 4 Blumen, 4 Rosetten,
4 Vögel, 4 Menschen usw. Sie werden „Servietten“ auf spanisch genannt (das Otomi-
Wort erfuhr ich nicht). Der Sinn der „Servietten“-Figuren ist mir nicht bekannt. Ich
hörte jedoch von einem Ladino die Bezeichnung „puerto del ciel“ und „flor del ciel“
(„Pforte“ und „Blume“ des Himmels). Sie müssen also zur Öffnung der „magischen
Pforte“, das heißt für die Herstellung des Kontaktes zwischen Zauberer und den
„höheren“ Mächten eine Rolle spielen. Es deuten ihre Figuren und die Vierzahl (das
Weltenkreuz, die vier Weltecken!) auf eine Einbeziehung des gesamten Kosmos hin.
Diese Papiere werden als Unterlage für den „Altar“ verwendet, ein tischartiges
niederes Gestell („tlapextle“ oder „tampexque“, ein aztekisches Wort?) aus leichten,
6) Durch das Aufklappen entstehen zwei symmetrische, sich zu einem Ganzen fügende
Hälften. Die primitive Volkskunst benützt häufig symmetrische Gestaltungen, ver-
mittelt doch Symmetrie ein menschliches Urerlehnis, das durch den physischen (materiel-
len) Vorgang des Aufklappens vom Teil zum Ganzen blitzartig eine Verbindung vom
Leiblichen zum Geistigen (Spirituellen) herstellt. Solche Symmetrie-Erlebnisse dienen
auch kultischen Zwecken, da sie einen (zumindest unterschwellig) heilenden Impuls
besitzen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß solche symmetrischen en-face-Figuren
(aufgeklappt) beim indianischen Flur- und Heilungszauber Verwendung finden.
Mexikanische Zauberpapiere
145
etwa fingerdicken, mit Bastfasern verbundenen Holzstäben. Die „hä-mi“ sind Grüße,
mit „mana“ (Kraft) ausgestattete „Kontrahenten“ der höheren Mächte, der Geister des
Berges, des Wassers, des Windes, der Sonne (also der auf das Leben ein wirkenden
Mächte), Grüße an die belebenden, wachstumsfördernden Geister der Feldfrüchte, aber
auch an die dunklen Mächte von Krankheit, Unheil, Tod.
Jede Feldfrucht hat (seit Verwendung der bunten Seidenpapiere) ihre eigene Farbe:
Blau und grün = Chile (kleine Paprikaschoten);
schwarz = schwarze Bohnen (neben Mais und Chile die Nahrungsbasis);
türkisfarben = Ananas;
weiß, rosa = Mais, auch Berg;
orange = Erdnuß;
grasgrün (Unterlage rot) = Kaffee (rot = Feuer).
Die Unterlagen zu der äußeren Hauptfarbe wechseln, gelegentlich auch die Haupt-
farbe.
Die geschwänzten Figuren (böse Geister, die gebannt werden müssen) sind rot =
„der böse Geist dieser Gegend“ (so erklärte mir der „pah-ti“). Blaugrün = der böse
Geist von Flüssen, Bächen, Lagunen, Ziehbrunnen (denn stehendes Wasser bringt
Krankheiten, strömendes Wasser zerstört mit seiner Wildheit das Ackerland; nur
Quellwasser ist „gut“ — hat in sich einen guten Geist, den man mit Dankopfern ehrt
und freundlich stimmt). Violett = „diablo del condenado“ (des Verdammten? Der
Brujo sprach bei dieser Figur auch von einem Mamey-Baum!?) Gelb — diablo de
Montetoma (oder Mantetoma) (?). Ich erfragte mehrmals den Namen. Schließlich
bekam ich heraus, daß damit wohl der letzte Aztekenherrscher Moctezuma (Monte-
zuma) gemeint war, der noch immer im Volksglauben existiert — meist als böser
Geist = „böser Wind“ (Verräter am Aztekenvolk, Unterdrücker der Otomi, der
schuld an Krankheit und allen Unglücksfällen ist) oder — seltener — als guter Geist,
der Gesundheit und gute Ernten gewährt und mit dessen Hilfe man die bösen Geister
bannen kann. Die Otomi im Municipio Tlacuilotepec glauben sogar an die Wieder-
kehr von Moctezuma (Spranz 1961), was offenbar eine Verquickung mit dem Glauben
an die Wiederkunft des „weißen Gottes“ Quetzalcöatl (gefiederte Schlange) ist.
Moctezuma zu Ehren findet dort alljährlich ein Fest statt („el costumbre“), und die
Indianer glauben, der Geist des toten Herrschers nehme daran teil. Daher wird für ihn
außerhalb des Dorfes an einem geheimen Ort ein Altartisch gedeckt, mit aufgeschich-
teten „hä-mi“ und zwischen ihnen Silbermünzen. Über diesen „Altar“ wird das Blut
von frisch geköpften Hühnern gespritzt, „damit Montezuma nicht gestört wird und er
ihre Wünsche erfüllt“ (Starr 1901). Auch werden Zeremonien gemacht, eigens um
Moctezuma zu bitten, die Menschen nicht bei ihrer Arbeit zu stören (z. B. bei der
Aussaat oder beim Betrieb ihrer Zuckermühlen).
Die Zauberfiguren, die auf „Vorrat“ geschnitten werden, verwenden die „pah-ti“
für weiße und schwarze Magie. Jeder Zauberer hat als „Handwerkszeug“ den oben
erwähnten tragbaren Tisch, an dessen 4 Ecken meist 4 Kerzen befestigt werden (die
magische Vierzahl!), „Tischdecken“ in verschiedener Größe, einfach oder mit ausge-
schnittenen „Ornamenten“, eine „petate“ (Matte aus geflochtenem Palmstroh) und
eine Räucherschale zum Abbrennen von Copälharz (mit dem aufsteigenden Rauch
werden Gebete und Beschwörungen zum Himmel geschickt).
10
146
Sigrid Knecht
Nicht aus naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auf eine andere, für unser
rationales Denken unverständliche Weise bilden die Indianer (wie alle Naturvölker
mit „magischem“ Denken) ihre Begriffe von der Welt, indem sie diese Begriffe in
bildlich dargestellte Mächte umsetzen, um sie zu bannen (daher auch die Abneigung
gegen das Fotografieren!). Den sogenannten „Primitiven“ bedeutet die bildliche Dar-
stellung eines Begriffes viel mehr als uns. Mit dem Bild können sie ganz erstaunliche
Effekte erzielen. Wenn die „pah-ti“ helle und dunkle (gute und böse) Zauberpapiere
verwenden, die den Mächten des Lichtes und der Finsternis entsprechen (Analogie-
zauber), so ist das ein sinnfälliger Ausdruck des Machtkampfes, mit dem sich der
Mensch auseinandersetzen muß. Durch Anerkennung beider Kräftepole kann er mit
Hilfe altbewährter Zauberpraktiken diese Mächte in Schach halten, bannen oder sich
dienstbar machen. Die vorkolumbischen Indianer brachten zu diesem Zweck Menschen-
opfer dar, für die möglicherweise die Papierfiguren der heutigen Otomi ein Ersatz
sind. — Mit Flötenspiel und Getrommel (um die Geister zu wecken oder wach zu hal-
ten, bzw. die bösen Mächte zu verjagen) wandert eine feierliche Prozession auf einen
Berggipfel oder eine Milpa, wo eine Tafel für die Opfergaben gerichtet wird, und der
Zauberer die Papierfiguren auslegt, ein Huhn köpft und dessen Blut über die Figuren
spritzt. Mit Gebeten, Rauchentwicklung, Getrommel werden der Geist von Sonne und
Regen, von Mais, Chile, Kaffeebaum usw. um eine gute Ernte angefleht und die bösen
Geister gebannt. Das tote Huhn wird zusammen mit den „hä-mi“ in die Papierbögen
gewickelt und in der Erde vergraben (manchmal zusammen mit einem Maiskorn, einer
Kaffeebohne usw.). Diese Zeremonien sind Flurzauber.
H. Lenz (1950 und 1961) berichtet von einer merkwürdigen Flurzeremonie, ge-
nannt die „Taufe der Saat“ (tebetit):
Die Otomis von San Pablito unternehmen alljährlich eine für alle Dorfbewohner
pflichtmäßige Wallfahrt nach einem Berg in der Nähe von Tutotepec, angeführt durch
den ältesten Zauberpriester. Er allein darf die Höhle, die sich in dem Berg befindet,
betreten, wo die Zauberer üblicherweise den Göttern der Luft, des Feuers und der
Saaten ihre Verehrung darbringen. Während der Brujo im Innern der Höhle seine
Zeremonien vollführt, bleiben die Dorfbewohner draußen während der ganzen Nacht,
tanzen, singen und schießen Raketen ab. Auf dem Heimweg dürfen sie nicht anhalten,
da sonst kein Segen möglich ist. Im Dorf angekommen, tun sie, als ob sie ihren Tieren
pfeifen, aber sie tragen mit größter Sorgfalt ihre Saatkörner, die sie die „zarten Ge-
schöpfe“ nennen, und die weder dem Wind, noch Gewitter ausgesetzt werden dürfen.
Am frühen Morgen wird eine Glocke geläutet, eine weiße Grütze für die „zarten“ oder
„kleinen Geschöpfe“ bereitet, und nun ziehen sie mit dieser Grütze und einer Menge
schwarzer und weißer Papiere und Papierfiguren zu einem See, eine Tagereise von
San Pablito entfern („San Francisco de la Laguna“). Es werden dem See Opfer dar-
gebracht, Hühner, Schokolade, Branntwein, Tortillas und Hühnerblut, die alle in
weiße Papiere eingewickelt werden, bevor man sie ins Wasser wirft. Die Papierfiguren,
die (s. o.) verschiedene Pflanzen (-Samen) bedeuten (Zuckerrohr, Chile, Kaffee, Mais
usw.), auch verschiedene Tiere (Hühner, Vögel, Kühe, Schweine) werden dann feier-
lich im Wasser von dem Zauberpriester getauft. Anschließend wandert die Prozession,
an der Spitze der Zauberer und die Musikanten, zurück ins Dorf, und der Dorfschulze
Mexikanische Zauberpapiere
147
erhält nun die „getauften“ Papierfiguren zur Aufbewahrung und muß für sie Sorge
tragen, als wären sie aus Gold.
Die Heilungszeremonien verlaufen in ähnlicher Weise. Wie alle Naturvölker sind
auch die Indianer der Ansicht, daß Krankheiten durch „Verzauberung“ entstehen (ein
böser Geist fährt in den Körper, von selbst oder durch den Wunsch eines Feindes —
mit Hilfe der Praktiken eines Zauberers). Ähnlich wie die ceylonesischen Tanz-
masken (Lommel 1963) werden wohl auch die Papierfiguren der Otomi in einer für
uns schwer erklärbaren Weise psycho-somatisch wirken. Der Heilungsprozeß beschränkt
sich zwar auf die psychische Ebene, wirkt aber dennoch auf den Körper. Versagt bei
einem Kranken die Behandlung mit Heilkräutern und anderen „natürlichen“ Mitteln,
oder soll eine Rekonvaleszens beschleunigt (verstärkt) werden, wird der „pah-ti“ mit
einer Zeremonie beauftragt. Er erhält meist im voraus sein „Konsultationshonorar“,
Geld oder Naturalien (Mais, Schnaps, Hühner u. a.). Kann der Patient gehen oder
getragen werden, so begibt er sich in die Hütte des Zauberers (Medizinmannes),
andernfalls macht dieser einen „Hausbesuch“, wobei sich natürlich die Behandlungs-
kosten erhöhen. Bei der „Arztsitzung“ werden meist 1—2 Hühner geopfert und deren
Blut über die „hä-mi“ gesprengt. Manchmal wird ein Huhn nicht getötet, sondern mit
„aguardiente“ (Feuerwasser, ein äußerst scharfer Schnaps aus Zuckerrohr, auch Mais-
schnaps und „tequila“ — von der Agave) betrunken gemacht. Mit dem Alkohol wer-
den gleichfalls die Papiere besprengt, dann trinken Arzt und Patient von dem „ge-
weihten“ Getränk. Unter Verbrennen von Copäl, Gebeten und Getrommel beschreibt
der Brujo mit den beiden Bündeln, in denen sich die Opfertiere und die (weißen)
Zauberfiguren befinden, kreisende Bewegungen um den Kranken. Danach legt er die
Hühner wieder auf den „Altar“. Dann begibt sich die Prozession mit „Musik“ und dem
Beutel mit den Papierabfällen (in den der ausgetriebene Krankheitsgeist gebannt ist)
vor das Dorf, um an einer bestimmten Stelle den „Geist“ in den Fluß zu werfen oder
ihn in den Boden zu vergraben. Meist ist der Heilungsprozeß erfolgreich. — Für
Liebeszauber hält der „pah-ti“ eine Papierpuppe (der Geist des Geliebten) in alle vier
Windrichtungen, um den „Geist“ zu rufen, und danach muß die Figur von dem Klien-
ten 14 Tage in der Hütte auf dem Altartisch, eine brennende Kerze daneben, auf-
bewahrt werden.
Seltener dienen die Zauberpapiere der schwarzen Magie. Will jemand einem un-
liebsamen Nachbarn etwas Böses antun oder gar einen persönlichen Feind beseitigen,
so gibt er dem Zauberer einen entsprechenden Auftrag. Dieser vergräbt eine entweder
mit Dornen durchstochene, mit Blut bestrichene oder in Schnaps getränkte Zauberfigur
vor der Hütte des Widersachers. Beim Anblick der aufgewühlten Erde erkennt dieser
die Ursache, was ihm einen solchen Schock verursacht, daß er tatsächlich erkrankt (die
„Zauberkrankheit“ äußert sich in Schwäche und Lähmungserscheinungen): Ein Analo-
giezauber, dessen Wirkungsweise psychosomatisch ist, seinem Wesen nach uns aber ver-
schlossen bleibt. Denn oft erkrankt der Verzauberte an derselben Stelle, wo sich bei
„seiner“ Zauberfigur der Dorn oder das Blut befindet. Das „Entzaubern“ nimmt ein
anderer „Berufskollege“ (ebenfalls gegen Honorar) vor. Am besten, man kann ihm das
„corpus delicti“ vorlegen. Er entzündet auf seinem Hausaltar (in jeder Brujo-Hütte
vorhanden) ein Feuer, wirft Alaun hinein, um die entstehenden Flammenfiguren zu
deuten. Gleichzeitig ruft er den Heiligen des Hausaltars an, aber auch sämtlich „Santos“
148
Sigrid Knecht
(Gottheiten) des Kosmos. Dann entdornt er die Papierfigur, verstopft die Löcher mit
dem Wachs, das aus den Altarkerzen stammt (die das Leben des Betroffenen und des-
sen engste Familienangehörige symbolisieren). Meist glückt die Bannung des bösen
Geistes. Doch ziehen sich die Brujos den Haß der einen oder anderen Partei zu und
sind meist Opfer eines Racheaktes.
Die Magie mit den Zauberpapieren ist psychischer Natur. Mit Hilfe von alterprob-
ten Praktiken werden auf dem Wege eines Rituals bestehende Ordnungen positiv ge-
lenkt (Flurzauber), psychische Unordnungen oder psychosomatische Schwächen (Krank-
heit) in einen normalen Zustand gebracht (Heilung), und ein geordneter Zustand mit
denselben Praktiken gestört (Krankheit, Tod). Eine ähnliche Wirkung wird auch ohne
Zauberpraktiken durch den Analogiezauber mit einem Tier erzielt, das durch sein
„Nagual“ (seelische Verkleidung, das „andere Ich“ des Menschen) aufs engste mit
diesem verbunden ist. Der Indianer lebt durch und durch „psychisch“.
„Trotz aller Forschungen über die primitiven Kulturen wissen wir so gut wie nichts
von den magischen Wirkungsweisen auf die Psyche. Die Erforschung solcher Prozesse
und der primitiven Praktiken gehört sicherlich zum Interessantesten, was heute die
Völkerkunde erforschen kann“ (Lommel).
Literatur
Christensen, Bodil, Notas sobre la fabricación del papel Indígena (Rev. Mexicana de
Est. Antrop., Tomo VI, 1—2), 1942.
Dies., Los Otomis des estado Puebla (ebenda Tomo XIII, 2—3), 1952.
Knecht, S., (a) Der böse Blick. Vorbeugungs- und Behandlungsmethoden bei einigen
Indianerstämmen in Mexico und Guatemala. Med. Welt 1965, 1416—1419.
Dies., (b) „Ich tötete durch Zauber“. Dokumentarbericht eines Otomi-Indianers über
seine Erfahrungen mit Zauberpraktiken. Med. Welt 1965, 1459—1464.
Dies., (c) Das Phänomen der Mundlosigkeit in menschheitsgeschichtlicher Sicht. Fest-
schrift f. Jean Gebser: „Transparente Welt“. 1965, 178—208.
Lenz, Hans, El papel Indígena Mexicano, Mexico D. F., 1950, ins Englische übersetzt
1961 durch M. Campbell, mit detaillierten Literaturangaben.
Lommel, A., Ceylonesische Krankheitsmasken (in Publikationen der Chem. Fabrik
von Heyden), München, 1963.
Spranz, Bodo, Zauberei und Krankenheilung im Brauchtum der Gegenwart bei Otomi-
Indianern in Mexiko (Z. f. Ethnologie Bd. 86, H. 11), 1961.
Starr, F., Notes upon the Ethnography of Southern Mexico (Prod. of the Davenport
Acad. of Sciences, VIII und IX), 1901 u. 1904.
r. •Wj'
Wolfgang Haberland
Bat Cave
Anmerkungen und methodische Gedanken zu Herbert W. Dicks Untersuchung''')
In den Diskussionen zur Frage der Erst-Kultivierung, Entwicklung und Ausbreitung
des Maises haben in den letzten zwei Dekaden die Funde von Bat Cave in New Mexico
immer eine bedeutende Rolle gespielt. Die Diskussion beruhte dabei auf den speziellen
Berichten von Mangelsdorf und Smith (1949) und Dick (1954). Nunmehr hat Herbert
W. Dick (1965) das gesamte Material vorgelegt, das hauptsächlich 1948 ergraben wurde.
Kleinere Untersuchungen fanden 1947 und 1950 statt. Während Chronologie, Typo-
logie und Stratigraphie ausführlich dargelegt wurden und es ermöglichen, die vom
Autor gezogenen Schlüsse wenigstens teilweise zu überprüfen, beschränkt sich der Ab-
schnitt über Mais vor allen Dingen auf Zitate aus der Arbeit von Mangelsdorf und
Smith und geht kaum über die damaligen Erkenntnisse heraus. Man bedauert dabei
das Fehlen von Vergleichen mit den Funden aus dem Tehuacän-Tal in Mexico, doch
scheint das Manuskript schon vor jenen Grabungen abgeschlossen gewesen zu sein und,
trotz der langen, dazwischenliegenden Zeit, nicht mehr revidiert worden zu sein. Das
Erscheinungsdatum täuscht also einen Stand vor, der nicht ganz den Tatsachen ent-
spricht, wie auch die Literaturliste ausweist.
Bat Cave ist ein Komplex aus einer Haupt- und vier Nebenhöhlen am Südrande
der Plains von San Augustin im Südwesten von New Mexico. Diese Ebene ist der
Überrest eines spät- bis post-pleistozänen Sees, der nach Antevs zwischen 10 000 und
8000 v. Chr. seine größte Tiefe und Ausdehnung erreichte. Zu jener Zeit war auch Bat
Cave überflutet bzw. lag in der Strandzone, wie die groben Geröllablagerungen zeigen,
die diskordant über dem anstehenden Agglomeratgestein aus eckigem Trachyt und
vulkanischem Glas, eingebettet in einer tuffitischen Grundmasse, liegen. Nach Powers
(1941) sind die Höhlen wahrscheinlich durch Wellenbewegungen des alten Sees aus-
gehöhlt worden.
Über dem fundleeren Strandgeröll folgt stratigraphisch ein hellbrauner, wind-
gelegter Sand, gemischt mit von der Decke der Höhlen abgestürzten Gesteinsbrocken,
die sich auch in allen anderen Schichten finden. Funde sind hier vor allen Dingen in
der oberen Hälfte vorhanden, für die auch ein Radiocarbon-Datum existiert. Es wurde
durch Holzkohle aus einer Herdstelle gewonnen und lautet 3981 ± 310 v. Chr. Es
steht damit im Gegensatz zu den Ansichten von Antevs (Dick, 1965, p. 20), der die
Schicht dem Altithermal zurechnet, das seiner Berechnung nach bis 2000 v. Chr. dauerte
Ü Herbert W. Dick: Bat Cave, The School of American Research, No. 27; Santa Fe,
N. M., 1965. XIV + 114 S., 61 Fig., 15 Tab. Preis: $ 4.75.
150
Wolfgang Haberland
1948 1950
Schicht I 225 n. Chr. ± 250 (1) 340 n. Chr. ± 200 (2)
Schicht II 43 n. Chr. ± 250 (3)
Schicht III 289 v. Chr. ± 250 (4) 866 v. Chr. ± 200 (5)
Schicht IV 299 v. Chr. ± 250 (6) 98 v. Chr. ± 170 (7)
Schicht V Schicht VI Sandzone 912 v. Chr. ± 250 (8) f 3049—5549 v. Chr. (9) [3655 v. Chr. ± 290 (10) 3981 v. Chr. ± 310 (11)
Tabelle 1
Tabelle 1: Cu-Daten der Schichten von Bat Cave. Die Daten der Kolumne 1948
basieren auf organischem Material (Holz, Mais, u. a.), diejenigen der Kolumne 1950
ausschließlich auf Holzkohle. Die Zahlen in Klammern sind die Nummern der Daten.
Nach Dick, 1965, S. 17.
(vgl. auch Antevs 1948). Da das obige C14-Datum aber in gewisser Weise durch die
Daten 10 und 9 (siehe Tabelle 1) bestätigt wird, muß man eher annehmen, daß, wie
schon von anderen Autoren hervorgehoben wurde, die Antevsschen Daten revidiert
werden müssen.
Die Sandzone wird von einer dunklen Schicht überlagert, die viel organisches
Material und die Masse der geborgenen Objekte enthielt. Sie wird von Dick als „Ab-
fallzone“ bezeichnet. Es ist die letzte Zone der Stratigraphie, da sie bis auf die heutige
Oberfläche reicht. Dick teilte sie in sechs oberflächenparallele Schichten von je 12 Zoll
(ca. 40 cm) Dicke ein. Da die darunterliegenden Schichten meist gegen das hintere Ende
der kleinen Höhlen IA bis ID, die zusammen mit dem davorliegenden Abfall die
Funde lieferten (die Haupthöhle war augenscheinlich zu erodiert), anstiegen, ist das
Volumen der einzelnen Schichten sehr unterschiedlich und nimmt nach unten stark ab.
Die einzelnen Schichten sind also mengenmäßig nicht vergleichbar. Auch besagt die
Zugehörigkeit zu einer Schicht nichts über den absoluten Abstand von der Sandzone.
Darin und in der offensichtlich zu groß gewählten Schichtdicke (die Hälfte wäre evtl,
vertretbar gewesen), sind große Fehlermöglichkeiten enthalten, die sich bei der späte-
ren Chronologie, die auf diesen Schichten basiert, auswirken müssen und, wie noch
gezeigt werden wird, es auch tun. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Abstand von der
unteren Schichtgrenze wichtiger ist als derjenige von der heutigen Oberfläche, die
möglicherweise größeren Veränderungen unterworfen gewesen ist.
Bat Cave
151
Diese Überlegungen und Vorbehalte werden in gewisser Weise von den C,4-Daten
bestätigt. Die insgesamt 10 Daten der Abfallzone (das Datum der Sandzone wurde be-
reits genannt) lassen sich in zwei Gruppen teilen: Diejenigen, die 1948 gewonnen wur-
den und auf organischem Material basieren, das heißt vor allen Dingen auf Mais und
Holz (Daten 1, 3, 4, 6, 8) und diejenigen, die 1950 speziell zur Datierung gesammelt
wurden und ausschließlich auf Holzkohle basieren (Daten 2, 5, 7, 9, 10). Die erste
Gruppe Daten, deren Material aus der vorderen Hälfte der Höhlen IC und IB stammt,
ist in sich konsistenter und jünger als die zweite Gruppe. Sie wurde, mit einer Aus-
nahme (Datum 5) aus einer einzigen, 1948 stehengelassenen Kolumne in der Höhle IC
gewonnen, wobei oft alle Holzkohle einer Schicht vereinigt wurde, um genügende
Mengen zu erzielen. Über die Zulässigkeit einer solchen Methode läßt sich streiten, da
ein „Mehr“ aus dem oberen oder unteren Teil einer Schicht bedeutende Datenände-
rungen mit sich bringen kann. Datum 5 stammt aus dem rückwärtigen Teil von IC.
Es fällt völlig aus dem Rahmen (vgl. Tabelle 1). Hier könnte der Abstand von der
unteren Schichtgrenze eine überragende Rolle spielen und es erforderlich machen, daß
es zwischen die Daten 7 und 10 eingeordnet werden müßte. Datum 9 ist, mit seinen
unterschiedlichen Ergebnissen, chronologisch nicht brauchbar. Ob dieses sich auf die Art
zurückführen läßt, wie das Grundmaterial gewonnen wurde, ist heute nicht mehr zu
überprüfen. Dick neigt dazu, die Daten von 1950 als richtiger anzusehen, da sie mit
seinen sonstigen chronologischen Überlegungen besser übereinstimmen, während andere
Autoren (z. B. Antevs) sie für zu alt halten. Sicher scheint zu sein, daß das Datum 2
chronologisch etwa mit dem dort vorhandenen Material gut übereinstimmt. Dagegen ist
der immense Unterschied von fast 3000 Jahren zwischen den recht nahe beieinander-
liegenden Proben 7 und 10 auffällig. Er läßt an eine Besiedlungslücke denken, die
aber durch die sonstigen Funde augenscheinlich nicht verifiziert wird, wenn hier nicht
wieder die stratigraphischen Fehlerquellen, die oben erwähnt wurden, eine Rolle spie-
len. Ein endgültige Bestätigung der Daten wird wahrscheinlich erst möglich sein, wenn
weitere Daten für ein vergleichbares Material vorliegen.
Die künstlichen Schichten, die von oben nach unten mit den Ziffern I bis VI be-
zeichnet wurden, lassen sich generell in zwei Gruppen einteilen: Diejenigen, die Ton-
scherben enthalten, das heißt die Schichten I und II, und diejenigen, in denen Ton-
objekte fehlen und von denen man, aus stratigraphischen Gründen, annehmen muß,
daß es sich um präkeramische Schichten handelt (Schichten III—VI und Sandzone).
Das Scherbenmaterial gehört zu 93% der Mogollon-Tradition an, wie auch aus der
geographischen Lage der Höhle zu vermuten war. Diese Zugehörigkeit wird auch
durch das übrige Material der oberen Schichten bestätigt. Es läßt, ebenso wie die Ton-
scherben, einen geringen, lang anhaltenden Anasazi-Einfluß erkennen.
Am wichtigsten für die Unterteilung und die Chronologie der unteren Schichten
sind die Projektilspitzen bzw. ihre Bruchstücke, die Dick (1965) in 17 Typen und
5 Untertypen einteilte. Jedem Typ ist eine eingehende Beschreibung gewidmet, die auch
Hinweise auf bisher veröffentlichte Vergleichsstücke und deren chronologische Stellung
enthält. Die für die Typen photographisch abgebildeten Exemplare, die nur eine Aus-
wahl darstellen, könnten die Variationsbreite andeuten. Leider fehlt bei Ihnen der
Hinweis, wo, das heißt in welcher Höhle bzw. in welchem Quadranten und in welcher
Schicht sie gefunden wurden, Angaben, die für die Beurteilung teilweise wichtig sind.
152
Wolfgang Haherland
Tabelle 2
Bat Cave
153
Zu den Projektilspitzen gehören ferner zwei Tabellen. Die erste von ihnen (Dick, 1965,
Tabelle 1, hier als Tabelle 2 wiedergegeben) zeigt die Verteilung der Spitzen nach
Typen und Schichten. Dabei sind sowohl absolute Zahlen als auch Prozentzahlen an-
gegeben. Letztere sind auf den Typ bezogen und zeigen an, wie der prozentuale An-
teil einer Schicht an dem einzelnen Typ ist. Die andere Tabelle (Dick, 1965, Fig. 24)
bringt eine ähnliche Zusammenstellung in graphischer Art, bei der Symbole für Grup-
pen absoluter Zahlen für die einzelnen Typen und Subtypen in den einzelnen Schich-
ten aufgetragen sind. Beide Tabellen geben einen ungefähren Eindruck der Verteilung
innerhalb der Schichten, wobei ihnen natürlich wieder die anfangs erwähnten Fehler-
quellen der oberflächenparallelen Schichten innewohnt. Nach Ansicht des Verfassers
beinhalten die Tabellen und die in ihnen vorhandenen absoluten Zahlen bzw. die auf
die Typen bezogenen Prozente eine methodische Unzulänglichkeit, die dann auch in der
Diskussion durch Dick zu Schwierigkeiten führt. Auf Grund des schon erwähnten unter-
schiedlichen Volumens der einzelnen Schichten und der dadurch, wenigstens teilweise,
bedingten verschiedenen Anzahl der Objekte, in diesem Falle Projektilspitzen, wäre es
sinnvoller gewesen, die Prozentzahlen auf die Schichten, nicht aber auf die Typen zu
beziehen. Durch eine solche Rechnung kommt das Überwiegen eines oder mehrerer
Typen in einer Schicht viel besser zum Ausdruck und verschieben sich teilweise die
Akzente. Die dieser Arbeit beigegebene Tabelle 3 ist so erstellt worden. Sie zeigt in
fast allen Fällen ein regelmäßiges An- und/oder Abschwellen des Anteiles eines Typs
im Verlaufe der Schichten, verbunden mit einem bestimmten Höhepunkt. Er wurde,
ebenso wie der prozentual häufigste Typ einer Schicht, in der Tabelle 3 markiert. Eine
solche Tabelle kann man evtl, aus einer Graphik bei Dick (1965, Fig. 61) ablesen, doch
sind hier keine Prozentzahlen angegeben, nur bestimmte Typen aufgeführt und, letzt-
lich, ist wieder mit absoluten Zahlen gearbeitet worden.
Ein Vergleich der Tabelle 3 und 2 (Dicks Tabelle I) und der Diskussion bei Dick
läßt folgendes erkennen: Wie Dick bereits ausführte, liegt die Häufigkeit und die Kon-
zentration der ersten vier kleinen Projektiltypen, die alle als Pfeilspitzen angespro-
chen werden können, in der Keramikzone, das heißt in den Schichten I und II. Wie
aus Tabelle 3 hervorgeht, ist Typ 4 der häufigste Typ der beiden Schichten, wobei er in
Schicht I dicht von Typ 3 gefolgt wird, der in Schicht II stark zurücktritt. Der bisher
unbekannte Typ 3 (nicht 4, wie Dick auf p. 30 schreibt) dürfte später als Typ 4 sein.
Letzterer ist während der ganzen Mogollon-Zeit häufig. Auch Typ 5 ist in der Kera-
mikschicht häufig. Er besitzt in Schicht II einen leichten Höhepunkt. Danach ergibt
sich, daß für die Schicht 1 die Kombination der Typen 3 und 4, für Schicht II diejenige
der Typen 4 und 5 charakteristisch ist. Sie machen in beiden Fällen je ca. 40% aller
Typen der Schicht aus. Diese Feststellung dürfte für zukünftige Vergleiche von Wich-
tigkeit sein.
Die Kurve für Typ 6, die San-Pedro-Spitze, zeigt zwei Höhepunkte, einen in
Schicht I, den anderen in Schicht IV. Unterscheidet man aber mit Dick in kleine und
Tabelle 2; Verteilung der Projektilspitzentypen nach Schichten. Die obere Zahl stellt
dar, wieviel Prozente der Gesamtmenge des Typs in der Schicht gefunden wurde, die
untere Zahl die Anzahl der gefundenen Objekte. Vereinfacht nach Dick, 1965, Tabelle 1.
Bat Cave
155
große Exemplare, so ist für jeden ein Höhepunkt vorhanden. Typ 8 erreicht seinen
Höhepunkt, in Tabelle 3, in Schicht III, mit einem geringen Abfall in Schicht IV. In
beiden Fällen macht der Typ rd. 25% der gesamten Projektilspitzen der Schicht aus.
Er kann deshalb als charakteristisch für diese Schichten angesehen werden. Daß die
Verteilung etwa derjenigen der San-Pedro-Spitze ähnlich ist, wie Dick es meint, ist
nach dieser Methode nicht ganz einzusehen.
Die größte prozentuale Häufigkeit der Chiricahua-Spitze (Typ 10 B) liegt in
Schicht VI mit 15% der dort gefundenen Spitzen. In diesem Falle wird die Bedeutung
der in Tabelle 3 angewandten Methode deutlich, denn werden, wie in Tabelle 2, die
Prozente auf die Typen bezogen, so liegt der Höhepunkt mit je 31% in den Schichten
IV und V, während in Relation zu den Gesamtfunden der Schichten die Chiricahua-
Spitzen nur 12,2 bzw. 11,36% ausmachen. Damit löst sich wahrscheinlich auch die Dick
Schwierigkeiten bereitende Frage der Relation der San-Pedro- (Typ 6) und Chiricahua-
(Typ 10B) Spitzen, die nach anderen Funden Übereinanderliegen müßten, in Bat Cave
aber, nach seiner Meinung, sich zu sehr überlappen. Unsere Tabelle 3 zeigt, daß der
prozentuale Höhepunkt, auf die Schichten bezogen, für die San-Pedro-Spitzen in
Schicht IV, für die Chiricahua-Spitzen in Schicht VI liegt. Der Variationstyp 10 A der
Chiricahua-Spitzen hat seinen Höhepunkt allerdings ebenfalls in Schicht IV. Hier
muß die Frage offen bleiben, ob und inwieweit die Trennung der Typen 10 A und 10 B
richtig ist und richtig durchgeführt wurde. Nach Dick besteht der Unterschied darin,
daß bei 10 A die „Ohren“ spitz, bei 10 B gerundet sind. Augenscheinlich sind aber auch
Übergänge vorhanden, denn zum Beispiel bei der unter Fig. 21h abgebildeten Spitze
würde der Verfasser die „Ohren“ als gerundet ansehen, während Dick dieses Stück zum
Typ 10 A stellt. Eine Kontrolle wäre nur möglich, wenn alle Stücke abgebildet und für
jedes die Schichtposition genannt wäre. Eine Zusammenziehung der Typen 10 A und
10 B, wie sie am Ende der Tabellen 3 gegeben ist, zeigt einen doppelten Höhepunkt in
den Schichten IV und VI, der, vom theoretischen Standpunkt aus, auf zwei zu tren-
nende Typen unterschiedlicher Zeitstellung hinweist. Eine solche doppelt anschwel-
lende Kurve zeigt auch Typ 11. Betrachtet man die Abbildungen dieses Typs (Fig.
21 o—u), so fällt auf, daß hier sehr große Unterschiede vorhanden sind, die es, neben
der Kurve, wahrscheinlich machen, daß mehr als ein Typ unter dieser Bezeichnung
zusammengefaßt wurden.
Von Bedeutung für die Chronologie ist auch die Pelona-Spitze (Typ 12 A), die
eine ziemlich gleichmäßige Häufigkeit von der Schicht IV bis zur Sandzone besitzt. Ihr
Höhepunkt liegt in Schicht V, in der sie auch der häufigste Typ ist. Der Eindruck wird
noch durch die Variante 12 B verstärkt, deren Höhepunkt ebenfalls in Schicht V liegt.
Typ 12 C sollte, wie schon Dick bemerkte, lieber abgetrennt werden. Nach Ansicht des
Verfassers sind große Ähnlichkeiten mit einzelnen Exemplaren des Typs 11 vorhanden
Tabelle 3: Verteilung der Projektilspitzentypen in den Schichten. Die aujgetragenen
Prozentzahlen beziehen sich auf den Anteil des Typs an der Gesamtmenge der Spitzen
in der Schicht.
-----; Häufigster Typ der Schicht.
.....; Prozentualer Höhepunkt eines Typs.
156
Wolfgang Haherland
(vgl. Fig. 21 o—u und Fig. 22 i—j), so daß die Typen 11 und 12 C gemeinsam neu
gegliedert werden könnten.
Der dominierende Typ der Schicht VI und der Sandzone ist die Augustin-Spitze
(Typ 13 A) mit 35 bzw. 37,5°/o. Allerdings ist ihr Anteil nicht so hoch wie Dick (1965,
p. 32) es schreibt: “a little more than half of the total of all points found in that zone”.
Dick hat zwar recht, wenn er schreibt, daß die Augustin-Spitze die San-Pedro- und
die Chiricahua-Spitzen überlappt, doch liegt ihre größte Häufigkeit, prozentual ge-
sehen, früher. Schichten geringerer Mächtigkeit hätten diesen Unterschied wahrschein-
lich noch deutlicher gemacht.
Unterschiede zwischen den Tabellen und damit auch in den Auffassungen ergeben
sich auch für die Datil-Spitze (Typ 14). Wenn man das einzelne Bruchstück in Schicht I
als Streufund ausschließt, ist der Typ auf die Schichten IV bis VI beschränkt. Er besitzt
einen deutlichen Höhepunkt in der Schicht V, wo er in der Häufigkeit der Chiricahua-
Spitze gleich ist und nur von der Pelona-Spitze übertroffen wird. Das zeigt, daß die
Datil-Spitze jünger als die Konzentration der Chiricahua- und Augustin-Spitzen ist
und nicht gleichzeitig, wie Dick es sieht.
Ausgeglichen scheint auch die Kurve der Bat Cave-Spitzen (Typ 15) zu sein, die
zuerst in Schicht V erscheinen und in der Sandzone ihre größte Häufigkeit mit 25%
aller Spitzen dieses Abschnittes erreichen. Trotzdem sind aber typologische Bedenken
gegen diesen Typ anzumelden, wenigstens nach den Abbildungen, denn die Spitze
Fig. 23 c kann nicht dem gleichen Typ angegliedert werden wie die Fig. 23 g. Durch die
schon genannten Schwierigkeiten kann eine Neugliederung des Typ 15 nicht versucht
werden.
Die Spitzen sind hier so eingehend besprochen worden, da an sie sich sowohl typo-
logische wie auch methodische Fragen anknüpfen, in denen der Verfasser nicht mit dem
Autoren des Bat Cave-Berichtes konform gehen kann, und da die Verteilung der
Spitzen für die Interpretation ebenso wie für die Chronologie von überragender Wich-
tigkeit ist. Die weiter oben angestellten Überlegungen, die auf der Tabelle 3 basieren,
ermöglichen es, die einzelnen Schichten und Zonen wie folgt zu charakterisieren:
Schicht I: Häufigste Spitze Typ 4, gefolgt von Typ 3. Prozentualer Höhepunkt für
die Typen 1, 2, 3, 4.
Schicht 11: Häufigste Spitze Typ 4, gefolgt von Typ 5. Prozentualer Höhepunkt
für die Typen 5, 11 (?), 12 C, 16.
Schicht 111: Häufigste Spitze Typ 8, gefolgt von den Typen 6 (San Pedro) und 7
in gleicher Häufigkeit. Prozentualer Höhepunkt für die Typen 7, 8, 13B.
Schicht IV: Häufigste Spitze Typ 8, gefolgt von den Typen 6 (San Pedro) und
12 A (Pelona) in gleicher Häufigkeit. Prozentualer Höhepunkt für die Typen 6 (San
Pedro), 10 A.
Schicht V: Häufigste Spitze Typ 12 A (Pelona), gefolgt von den Typen 10 B
(Chiricahua), 13 A (Augustin) und 14 (Datil) in gleicher Häufigkeit. Prozentualer
Höhepunkt für die Typen 9, 12 A (Pelona), 12 B, 14 (Datil).
Schicht VI: Häufigste Spitze Typ 13 A (Augustin), gefolgt von den Typen 10 B
(Chiricahua), 12 A (Pelona) und 15 (Bat Cave) in gleicher Häufigkeit. Prozentualer
Höhepunkt für den Typ 10 B (Chiricahua).
Bat Cave
157
Sandzone: Häufigste Spitze Typ 13 A (Augustin), gefolgt von Typ 15 (Bat Cave).
Prozentualer Höhepunkt für die Typen 13 A (Augustin), 13C, 15 (Bat Cave), 17
(Folsomoid).
Wie ersichtlich und auch vorher diskutiert, ergeben sich gegenüber der Betrach-
tungsweise Dicks bei dieser Art der Analyse einige Verschiebungen, die vor allen Din-
gen die chronologische Reihenfolge der Spitzen besser und klarer hervortreten lassen.
Die oben aufgeführten charakteristischen Kombinationen der Projektilspitzen in den
einzelnen Schichten sollten bei zukünftigen Vergleichen mit anderen Ausgrabungen
mit in Betracht gezogen werden, da hier typische Gruppierungen vorzuliegen scheinen.
Neben Projektilspitzen sind noch zahlreiche andere geschlagene Steinwerkzeuge
in dem Bat Cave-Material vorhanden, die von Dick typologisch eingeteilt und be-
schrieben wurden. In der Masse stammen sie aus den oberen beiden Schichten, das heißt
aus der Keramikzone, die zusammen 77,8% dieser Werkzeuge enthielt, während die
Sandzone nur 2,8% zur Gesamtmenge beisteuerte. Da viele der in dieser untersten
Zone beginnende Typen bis in die Schicht I, das heißt bis zur Oberfläche durchgehen
und dort auch ihren Höhepunkt haben, sind sie chronologisch uninteressant. Es soll
daher hier nicht weiter auf sie eingegangen werden. Bemerkt werden muß aber, daß
zwischen den zahlenmäßigen Angaben der Tabelle 2 bei Dick (1965) und den einzelnen
Beschreibungen der Objekte auf den Seiten 36—49 viele und teilweise erhebliche
Diskrepanzen bestehen. So gibt zum Beispiel die Tabelle eine Gesamtzahl von 150
Klingenschabern des Typs 1 an, während die Beschreibung auf S. 44 176 Stücke er-
wähnt. Augenscheinlich wurden Tabelle und Beschreibung hier wie auch bei anderen
Objekten zu verschiedenen Zeitpunkten angefertigt und nicht koordiniert.
Bei den durch Reiben geformten Steingeräten ist besonders die Metatenform im
Hinblick auf die Einführung des Maises, und der evtl, dadurch hervorgerufenen Ände-
rung der Wirtschaftsform, interessant. Vorherrschend ist eine brettförmige Metate,
die bereits in der Sandzone vorkommt und bis in die oberste Schicht als dominierend
durchläuft, mit einer größten Häufigkeit in Schicht V. Augenscheinlich hat die Ein-
führung eines Maisbaues, wie Dick richtig an mehreren Stellen argumentiert, keine
Änderung der Metatenform bewirkt, im Gegensatz zu den bisherigen Annahmen.
Von den Objekten aus vergänglichem Material hatten sich solche aus Knochen und
Horn nur wenig erhalten. Ihre Masse stammt aus der Keramikzone, wenige aus
Schicht III. Die Schichten IV—VI waren für diese Kategorie fundleer, die Sandzone
lieferte nur eine, allerdings Interessante, Knochenspitze. Muschelmaterial war nur
durch drei kleine Perlen vertreten. Häufiger waren Schnüre aus Yucca, Gras, Haar,
Sehnen, Federn und Fell. Ihre Serien beginnen teilweise in Schicht VI und steigen
zahlenmäßig bis Schicht I an, wobei ihre prozentuale Bedeutung wieder nicht berück-
sichtigt wurde. Sie scheinen somit ebenfalls chronologisch unergiebig zu sein. Eine Aus-
nahme bilden hier die Fellschnüre, deren Höhepunkt in der Schicht IV liegt. Sie müs-
sen wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Einflüssen aus der Desert-Tradition
gesehen werden. Weitere Untersuchungen Dicks über das Bat Cave-Material betreffen
Knoten, die ab Schicht V auftreten, Flechtarbeiten, meist in der Spiralwulsttechnik,
die ebenso wie die Sandalen in der Schicht IV zuerst Vorkommen. Obwohl gerade bei
den Sandalen als auch bei den Flechtereien eine ganze Reihe von Punkten diskutiert
werden müßten, wird darauf hier verzichtet, um diese lange „Besprechung“ nicht noch
158
Wolfgang Haberland
mehr auszudehnen. Die Koordination zwischen Tabellen und Text ist wieder schlecht
und es wäre wünschenswert gewesen, wenn man mehr Zeichnungen, besonders bei den
Sandalen und Geflechten, anstatt der oft undeutlichen Fotos gebracht hätte. Von den
zahlreichen anderen Gegenständen, die noch in Bat Cave, besonders in der Keramik-
zone angetroffen wurden und zu denen Objekte aus Leder und Kalebassenschale,
Pfeifen, Tragnetze, ein Federbündel, eine zu einem Spiel oder magischen Zwecken
gehörige Gruppe und vieles andere mehr gerechnet werden können, sei nur noch er-
wähnt, daß Bogenpfeile und Schleuderpfeile sich überlappen, letztere aber stratigra-
phisch früher beginnen. Stimmt die Typologie von Dick, so haben Bogen und Schleuder
lange nebeneinander bestanden. Den Abschluß der beschreibenden Teile bilden Ab-
schnitte über die Pflanzen- und Tierreste sowie über den Mais, wobei letzterer haupt-
sächlich Zitate aus der Arbeit von Mangelsdorf und Smith (1949) bringt, wie bereits
erwähnt wurde.
In der Zusammenfassung teilt Dick die Abfolge von Bat Cave in drei Abschnitte
ein, die er mit den Chiricahua- und San-Pedro-Phasen der Cochise-Folge und der
Mogollon-Tradition parallelisiert. Die Chiricahua-Stufe ist nach ihm die älteste in Bat
Cave und umfaßt den oberen Teil der Sandzone und die Schichten VI und V der Ab-
fallzone. Diese Einteilung ist nach den Darlegungen hier, aber teilweise auch bei Dick,
und unserer Tabelle 3 nicht ganz einzusehen, denn typisches Chiricahua-Material war
in der Sandzone nicht vorhanden. Sie sollte daher abgetrennt werden und eine eigene
Stufe bilden, charakterisiert besonders durch die Augustin und die Bat Cave-Spitzen
(Typen 13 A und 15). Sie kommen beide auch noch in größeren Prozentsätzen in der
Schicht VI vor, doch ist es möglich, daß sie sich im unteren Teil der Schicht finden. Die
Trennungsschwierigkeiten innerhalb dieser Schicht gehen wahrscheinlich weitgehend zu
Lasten der zu mächtigen Schichten und der nicht erkennbaren Abstände zur Obergrenze
der Sandschicht. Das älteste C14-Datum (Datum 11) dürfte in diesen Zusammenhang
gehören, evtl, auch Datum 10.
Dick glaubt, daß Mais und Kürbis (Cucurbita pepo) um 3500 v. Chr. zuerst in der
Bat Cave-Region auftauchen, da Datum 10 mit Mais vergesellschaftet wäre. Wahr-
scheinlich kam dieser Feldbau-Komplex zusammen mit dem Chiricahua-Material in
diesen Bereich. Das Chiricahua tritt aber nicht rein auf, sondern zeigt eine starke Ab-
weichung gegenüber dem Typen-Komplex, die u. a. durch das Hervortreten der Pelona-
und Datil-Spitzen nachgewiesen werden kann. Auch die Augustin-Spitzen scheinen
fortzubestehen, wenn auch wieder die Unsicherheiten in den Schichten keinen end-
gültigen Schluß zulassen. Dick läßt die Chiricahua-Stufe von Bat Cave zwischen
1000 und 500 v. Chr. enden. Berücksichtigt man die Lagerungsverschiebung des
Datum 5, die schon oben besprochen worden ist, so kann unter Berücksichtigung der
Fehlergrenze des Datums, diese Zeitgrenze anerkannt werden. Ob die die Schichten
III und IV umfassende San-Pedro-Stufe, in der Bohnen und neue, durch Teosinte-
Einkreuzungen verbesserte Maissorten auftreten, wirklich nur bis zur Zeitwende
dauerte, wie Dick es sehen möchte, läßt sich nach der augenblicklichen Lage der Dinge
nicht beweisen. Sicher ist nur, daß zwischen ihr und der nachfolgenden Keramikzone
der Schichten I und II, die die Mogollon-Tradition repräsentiert, ein gleitender Über-
gang besteht, ein erneuter Beweis, daß die Basis für Mogollon im Cochise-Komplex
liegt.
■ "':n ..................•• •■'
Bat Cave 159
Die Arbeit von Herbert W. Dick über Bat Cave wird lange Zeit eine Rolle spielen,
besonders wegen der mit den dortigen Maisfunden zusammenhängenden Fragen. Wenn
auch viele Punkte in der Arbeit gut und ausführlich behandelt worden sind, so sind
doch, bei der Bearbeitung der Projektilspitzen, die besonders durchgearbeitet wurden,
methodisch und teilweise auch typologisch Einwände zu erheben, wie ausführlich dar-
gelegt wurde. Solche methodischen Überlegungen sind oft von entscheidender Bedeu-
tung und allein die Wahl zwischen den Möglichkeiten und die Erkenntnis, welche
Methode die geeignetste ist, kann die Ergebnisse grundlegend beeinflussen. Dieses sollte
hier dargelegt werden. Bedauerlich ist, daß vielfach Tabellen und Text nicht überein-
stimmen, da sie augenscheinlich zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. Es wäre
außerdem für künftige Untersuchungen wünschenswert gewesen, alle Projektilspitzen-
bruchstücke mit ihren genauen Fundangaben abzubilden, um eine evtl. Reinterpreta-
tion zu ermöglichen.
Literatur
Antevs, Ernst, 1948. The Great Basin, with Emphasis on Glacial and Post-Glacial
Times; University of Utah, Bulletin, vol. 38, no. 20, pp. 168—191; Salt Lake City.
Dick, Herbert W., 1954. The Bat Cave Pod Corn Complex: A Note on Its Distribution
and Archaeological Significance; El Palacio, vol. 61, no. 5, pp. 138—144;
Santa Fe.
ders., 1965. Bat Cave; The School of American Research, Monograph No. 27; Santa Fe.
Mangelsdorf, Paul C. & C. Earle Smith, jr., 1949. New Archaeological Evidence on
Evolution in Maize; Botanical Museum Leaflets, Harvard University, vol. 13,
no. 8; Cambridge, Mass.
Powers, William E., 1941. Volcanic Rocks in the Western San Augustin Plain District,
New Mexico; The Journal of Geology, vol. 49, no. 2, pp. 207—217.
Buchbesprechungen
WILHELM SCHMIDT:
Wege der Kulturen — Gesammelte Auf-
sätze. Studia Instituti Anthropos Bd. 20.
St. Augustin bei Bonn: Anthropos-Institut.
1964. XXXI + 304 S. Preis: DM 54.—.
Dem Unternehmen, dieses posthume Werk
von Pater Wilhelm Schmidt zu rezensieren,
tritt der Besprecher mit einem gewissen Be-
denken gegenüber. Sollte er seine Aufgabe
ganz erfüllen, so hätte er nichts weniger zu
tun, als das hier in nuce niedergelegte ge-
samte Lebenswerk zu würdigen. Das ist ein
Unternehmen, das über den Rahmen einer
Besprechung weit hinausgeht. Zum anderen
steht die gewaltige Gestalt von Wilhelm
Schmidt noch zu stark „von der Parteien
Haß und Gunst verzerrt“ vor unseren
Augen, als daß es möglich wäre, ihm und
seiner Bedeutung wirklich gerecht zu werden
— vor allem der Bedeutung seiner in die Zu-
kunft wirkenden Gedanken. Das gilt beson-
ders da, wo Werk und Persönlichkeit nicht
voneinander zu trennen sind und einander
bedingen. Wie häufig empfindet die Nach-
welt auch hier beim Tode eines Großen nur
das Nachlassen des von seiner Persönlichkeit
ausgehenden Druckes, und hat nichts Eilige-
res zu tun, als die Periode „der Anarchie, die
dem Königstode folgt“, durch einen allge-
meinen Bildersturm, ja ein Scherbengericht
zu feiern, ohne daran zu denken, daß die
Zeit der unbestechlichste Richter ist. Wer
will heute noch seine Zugehörigkeit, auch
wenn es eine ehemalige ist, zur „Wiener
Schule“ bekennen? Ja, es wird geleugnet, daß
es sie überhaupt gab.
Dieser Überlegungen müssen sich die Her-
ausgeber wohl bewußt gewesen sein, als sie
das Buch jetzt erscheinen ließen. Allerdings:
„Der Plan, das Gedankengut P. Wilhelm
Schmidts in Form einer Auswahl von Auf-
sätzen kurz darzustellen, wurde bereits zu
seinen Lebzeiten gefaßt“ (so das Vorwort).
Ob es glücklich war, dieses Gedankengut ge-
rade jetzt herauszubringen, und es nicht bes-
ser gewesen wäre, noch einmal zehn Jahre
damit zu warten, sei dahingestellt. Eine mit
größerem zeitlichen Abstand blickende Be-
urteilung wäre dann zweifellos gerechter aus-
gefallen als heute, wo man sich unter dem
Eindruck so vieler umwälzender neuer Er-
kenntnisse mit einem gewissen Achselzucken
vom Werke abwendet und es bestenfalls als
zur „Wissenschaftsgeschichte“ gehörig abtut.
Anscheinend wird das sogar vom Heraus-
geber so aufgefaßt, denn im ersten Satz der
Einleitung heißt es: „P. W. Schmidts Dar-
stellung der Kulturgeschichte ist in der Wis-
senschaftsgeschichte von bleibendem Wert
durch das System der Kulturkreise, obwohl
dieses in mancher Hinsicht durch die neuere
Forschung überholt ist.“ Dem kann man sich
nur anschließen, aber soll das alles sein?
Aber wie dem auch sei, es muß hervorge-
hoben werden, daß es für den, der sich mit
dem Werk von P. W'. Schmidt auseinander-
setzen will, keine bessere Einführung geben
kann als diese sorgfältig ausgesuchte und ge-
schickt aneinandergereihte Auswahl gedruck-
ter und ungedruckter Schriften. Diese Aus-
wahl wurde von Fritz Bornemann vorge-
nommen, Joseph Henniger schrieb Vorwort
und Einleitung. Hier wird man auch alle für
die Arbeitsweise von Schmidt typischen Züge
wiederfinden: „Disziplinierte Gliederung so-
wie Weite und Tiefe der Schau“, wie es von
einem anderen Rezensenten bei der Bespre-
chung des Mutterrechts von Schmidt gesagt
wurde. Nicht zuletzt dieser Klarheit und
Systematik der Gliederung ist die große
Überzeugungskraft zuzuschreiben, die das
Werk von Schmidt auf so viele ausgeübt hat.
Wir werden daneben aber auch andere cha-
rakteristische Züge antreffen, wie die eiserne
Konsequenz, ja Unerbittlichkeit, mit der
Quellen und Autoren behandelt werden,
auch wenn sie sich der Einfügung in das
System widersetzten. Endlich muß man —
das macht gerade (ungewollt) diese Zusam-
menstellung deutlich — auf die in ihrer
Grundkonzeption doch evolutionistisch aus-
gerichtete Methode hinweisen, trotz aller
Gegnerschaft des Autors gegen den „einseitig
naturwissenschaftlich und materialistisch
orientierten Evolutionismus“.
Eine kurze Inhaltsangabe soll die Bespre-
chung abschließen. Das Buch enhält zwanzig
ii
162
Buchbesprechungen
einzelne Aufsätze, die in fünf Abschnitten
zusammengefaßt werden. Im ersten Abschnitt
— „Überschau“ — finden wir ein kurzes
Kapitel, das die wichtigsten Elemente der
Kulturkreise in Tabellenform wiedergibt, dem
sich ein längerer Aufsatz über die Familie
anschließt. Der zweite Abschnitt — „Urzeit“
— umfaßt acht Aufsätze, die sich mit der
Korrelation von ethnologischen und prähisto-
rischen Kulturen, mit dem religiösen Welt-
bild und der „geistigen Ausstattung ethnolo-
gisch ältester Völker“ und mythologischen
Vorstellungen auseinandersetzen (psychologi-
sche Ausdeutung des Gottesbildes der Urzeit,
Menschenweihe an das höchste Wesen bei den
Samojeden, das Tauchermotiv und Erd-
schöpfungsmythen, die Schöpfungsgeschichte
der biblischen und ethnologischen Urzeit).
Der dritte Abschnitt — „Primärkulturen“ —
bringt neben zwei einleitenden Aufsätzen
(Primärkulturen und spätere Kulturkreise,
Religionen der späteren Primitivvölker) vier
Kapitel über das Eigentum bei mutterrccht-
lichen Pflanzern, höheren vaterrechtlichen
Jägern und Herdenviehzüchtern, über das
höchste Wesen der patriarchalen Her-
denvichzüchter und über das Himmcls-
opfer der innerasiatischen Pferdezüchter-
völker. Einen Zwischenabschnitt bilden die
„Spätkulturen“ (Herkunft der Indogerma-
nen, Rasse und Weltanschauung). Im letzten
Abschnitt — „Rückschau“ — schließt sich der
Kreis. Im „Gang der Entwicklung in Reli-
gion und Kultur“ wird eine kritische Ausein-
andersetzung mit — nicht namentlich aufge-
führten — anderen Religionstheorien vorge-
nommen. Die „Entfaltung der Gottesidee in
der Geschichte der Menschheit“ endlich bringt
die Summe der religiösen und wissenschaft-
lichen Überzeugung von P. W. Schmidt. Die
Uroffenbarung — so wie sie nach Schmidt
in den „Urkulturen“ zu erkennen ist — stellt
den Beginn aller Religion, ja überhaupt den
Beginn der eigentlichen Menschwerdung dar.
Der Mensch erscheint nicht als ringendes, su-
chendes und leidendes Wesen. „Das hatten
wir bestätigt gefunden in der Tatsache der
Uroffenbarung, In welcher Gott gleich den
ersten Menschen sich darbietet, so daß diese
nicht erst ihm entgegengehen und ihn von
weitem suchen müssen.“ Der Mensch kann
diesem von der Offenbarung vorgezeichneten
Weg folgen oder entarten. Eine „rein natür-
liche Religion“ fehlt. „Die Gestalt des sitt-
lich gerichteten Hochgottes (ist) nicht als
letztes Glied einer langen Entwicklung, son-
dern gleich schon in den Anfangszeiten dieser
Entwicklung zu sehen.“
Eike Haberland
FESTSCHRIFT ALFRED BÜHLER.
Hrsg, von C. A. Schmitz und R. Wildhaber.
(Basler Beiträge zur Geographie und Eth-
nologie. Ethnologische Reihe. Bd. 2). Basel:
Pharos-Verlag Hansrudolf Schwabe. 1965.
466 S. mit Abb., mehrere Bildtaf. 8°. Preis:
broschiert sfr. 38.50, gebunden sfr. 58.—.
Die vorliegende Festschrift spiegelt wie
kaum eine andere Leben und Wirken des
Jubilars wider und darf insofern mehr als
viele andere den Anspruch darauf erheben,
eine persönliche Festgabe zu sein.
Bühlers früheste Studien galten der Geo-
graphie, Geschichte und Volkskunde seiner
Heimat. Daran erinnern einige Beiträge des
gut ausgestatteten und redigierten, stattlichen
Bandes: M. Gschwend, Köpfe und Fratzen an
schweizerischen Bauernhäusern; H. Trümpy,
Jahrgängervereine; R. Bay, Der Schädel von
Eguisheim, Ht-Rhin, Elsaß; und E. Schmid,
Über gerundete Knochenbruchstücke aus dem
römischen Straßenkies von Augusta Raurica.
Nach A. Bühlers Eintritt in das Basler
Museum führte ihn die erste seiner erfolg-
reichen Sammel- und Studienreisen nach Me-
lanesien, wo er auch in späteren Jahren wie-
der reiste, um seine Sammlungen wesentlich
auszubauen. An seine dortigen Arbeiten
knüpfen an die Aufsätze von G. Höltker,
Tapa-Mäntel und Schambinde, Schwirrholz
und Häuserschmuck von der Rai-Küste in
NO-Neuguinea; M. Schuster, Mythen aus
dem Scpik-Gebiet; W. H. Stöcklin, Medizin
und schwarze Magie bei den Fore im öst-
lichen Hochland Neu-Guineas; H. Tischncr,
Bemerkungen zur Konstruktion und Termi-
nologie der Hausformen auf Neu-Irland und
Nebeninseln; und M. u. G. Lobsiger-Dellen-
bach, Architecture de Nouvclle Caledonie
(gravures sur bambou).
An ein anderes Arbcits- und Sammelgebiet
des Jubilars knüpft ein Beitrag von E. Schla-
ger an: „Vom Arbeitsrhythmus zur Musik
in Bali“. Hier, in Indonesien, vor allem Ost-
indonesien, lernte Bühler eine Materie ken-
nen und schätzen, der er in der Folge einen
guten Teil seinerZeit und Kraft opfern sollte:
dem Studium der Textilien, der verschiedenen
Techniken des Webens, des Färbens und
schließlich dem Problem der Textilien als einer
Quelle unserer Erkenntnis kulturhistorischer
Buchbesprechungen
163
Zusammenhänge. An diese, eine zentrale Auf-
gabe im Leben des Jubilars, knüpfen die fol-
genden Beiträge an: P. Hinderling, Über die
Herstellung von Schnur- und Ledertaschen
in Nordkamerun; M. Hoffmann, Der islän-
dische Gewichtswebstuhl in neuer Deutung;
H. Landolt, Gedanken zum islamischen Ge-
betsteppich; H. Niggemeyer, Sariweberei und
Ikatarbeit im Gebiete von Baudh (Mittel-
Orissa, Indien); und C. Schuster, Remarks on
the Design of an Early Ikat Textile in
Japan.
Von den textlichen Techniken war es für
Bühler nur ein kleiner Schritt zum Studium
anderer Techniken, wie eine Reihe seiner aus-
gezeichneten Sonderausstellungen und Führer
für diese immer wieder dargetan haben. Kein
Wunder, daß auch dieser Sektor seines Wir-
kens jetzt wieder aufscheint: E. Fischer, Zur
Technik des Gelbgusses bei den westlichen
Dan; A. Leroi-Gourhan, Sur les formes pri-
maires de l’outil; W. Marschall, Indonesische
Gebläseformen; und A. Steinmann, Einige
merkwürdige Töpferei-Erzeugnisse der Galla
im westlichen Aethiopien.
Aber die Wirksamkeit Bühlers als akade-
mischer Lehrer führte ihn weit über seine
eigenen Spezialgebiete hinaus; in einigen der
Beiträge wird der Respekt deutlich, den Kol-
legen, Freunde und Schüler zollen: G. Baer,
Ein nordwestamerikanischer Totempfahl;
H.-G. Bandi, Überlegungen zum Ursprung
der Eskimokultur; H. Dietschy, Der bezau-
bernde Delphin; R. Gardi, Über den Toten-
kult bei den Doayo in Nordkamerun; R.
Gelpkc, Das Schicksal des Amir Arsalân; H.
Himmelheber und Wowoa Tame-Tabmen,
Wunkirle, die gastlichste Frau; Ad. E. Jensen,
Ein Beispiel von Kulturkonstanz; G. Koch,
„Farbenindifferenz“ bei pazifischen Völkern;
E. Leuzinger, Zwei Aloalos aus Madagaskar
Im Museum Rietberg, Zürich; und H. Zemp,
Eine esoterische Überlieferung über den Ur-
sprung der maskierten Stelzentänzer bei den
Dan (Elfcnbeinküste).
K. Mculis würdige Laudatio zeigt auch
dem, der es noch nicht wußte, daß Bühlers
besondere Liebe seinem Museum und dessen
Beständen galt, dem Sammeln, dem Betreuen,
dem Bearbeiten und Erarbeiten und dem
Ausstellern So durften zwei Beiträge nicht
fehlen, die ganz dem Museologischen gewid-
met sind: R. Jaques, Denkmalpflegcrische
Überlegungen beim Ausstellen von Textilien;
und E. Fel und T. Hofer, Über monographi-
sches Sammeln volkskundlicher Objekte. Ge-
rade diese letzte Arbeit verdient es, in einer
Museums-Zeitschrift besonders hervorgehoben
zu werden — es ist ohnehin nicht möglich,
alle angegangenen Themen auch nur kurz
darzustellen — zeigt sic doch in aller Deut-
lichkeit, was alles man bei systematischem
Sammeln im Felde zu und von den einzelnen
Objekten erfahren kann, und welche Mög-
lichkeiten die Analyse eines systematischen
Inventars nicht nur in Hinsicht auf wirt-
schaftliche, ergologische, soziologische und re-
ligiöse Verhältnisse bietet, sondern auch,
welche Wechselbeziehungen innerhalb dieser
Bereiche bestehen und welche Veränderungen
in ihnen und zwischen ihnen in der Zeit er-
folgt sind, aus der die Objekte der Samm-
lung stammen. Man erkennt wieder einmal
— und vielleicht deutlicher als je zuvor —
welche Möglichkeiten der Forschung auch die
in unseren Museen gehorteten Bestände böten,
wenn den wissenschaftlichen Stäben die Zeit
bliebe, sich intensiv darum zu bemühen. Mit
Recht sagen die Autoren (p. 92), beim Ver-
gleich mit den Archäologen scheiden die Eth-
nographen oft schlecht ab in Hinsicht darauf,
was jene und wir aus den jeweiligen „Fund-
stoffen“ machen. Es ist wohl an der Zeit,
die Völkerkunde-Museen im allgemeinen wie-
der als Hüter wichtiger Archivalien zu er-
kennen und sie in den Stand zu setzen, dort
anzuknüpfen, wo der Faden vor 50 Jahren
meist abgerissen ist.
In Basel hat man diese Aufgabe nie aus
dem Auge verloren, wie viele dort entstan-
dene Arbeiten zeigen, Bücher, Aufsätze und
Führer. Dort war man auch in der Lage,
innerhalb der letzten 22 Jahre die Bestände
zu verdoppeln — und das in einer Zeit, in
der unsere deutschen Museen mit einigem
Glück ihren alten zahlenmäßigen Bestand
wenigstens erhalten oder wieder erreichen
konnten. Man könnte neidisch werden, nicht
auf die Basler Bestände, über die wir alle
uns freuen, sondern darüber, daß in einem so
kleinen Gemeinwesen, wie dem Kanton Basel-
Stadt, eine solche Entwicklung möglich war.
Man bewundert die Einsatz- und Opfer-
freude der Männer, die das ermöglicht und
geschaffen, die der völkerkundlichen For-
schung ein solches Dorado erarbeitet haben,
und beglückwünscht den Jubilar, daß seine
Festschrift in so hohem Maße geeignet ist,
Geschichte und Art des von ihm geleiteten
und mitgeschaffenen Instituts aufzuzeigen.
F. Kußmaul
164
Buchbesprechungen
FESTSCHRIFT FÜR AD. E. JENSEN.
Herausgegeben von Eike Haberland, Mein-
hard Schuster und Helmut Straube. Mün-
chen: Klaus Renner Verlag. 1964. 2 Bände.
XVI + 378, VIII + 464 S., 46 Bildtafeln,
zahlreiche Zeichnungen und Karten im
Text. Preis DM 100.—.
Die Herausgeber und Mitarbeiter haben
dem inzwischen verstorbenen Jubilar diese
voluminöse Festschrift als Gabe zum 65. Ge-
burtstag überreicht. 53 Mitarbeiter steuerten
zum Teil sehr umfangreiche Aufsätze bei.
Wenn alle Erdteile in Beiträgen behandelt
werden, so spiegelt das gleichzeitig das all-
gemeine Interesse und das weite Arbeitsfeld
des mit dieser Festschrift Gefeierten wieder.
Daß alle Erdteile auch durch Beiträge dort
lebender Wissenschaftler repräsentiert sind,
zeigt die weltweiten Kontakte, die Ad. E.
Jensen pflegte.
Es ist unmöglich, im Rahmen einer Rezen-
sion alle Beiträge dieser Festschrift ausführ-
lich zu würdigen, und es ist schwierig, die
wichtigsten hcrauszugreifen und zu diskutie-
ren. Letztlich haben alle Aufsätze der Fest-
schrift ihre allgemeine oder spezielle Bedeu-
tung. Der Rezensent möchte sich daher im
wesentlichen darauf beschränken, die Arbei-
ten aus dem ihm vertrautesten Gebiet, Afrika,
kurz zu erwähnen.
F. Altheim und R. Stiehl behandeln „Die
Anfänge des Königreiches Aksüm“. Diese hi-
storische Studie umfaßt den Zeitraum von
etwa 150—450 n. Chr.
FL Baumann schreibt über „Die ethnologi-
sche Beurteilung einer vorgeschichtlichen Ke-
ramik in Mittelafrika“. Er demonstriert, daß
Ornamente der Basis-Dcllen-Keramik, die
um 800—1100 angesetzt werden muß in re-
zenter Keramik etwa des südlichen Kongo
und Angolas weiterleben. Der Beitrag zeigt
gleichzeitig, wie prä- beziehungsweise proto-
historischcs Material mit Hilfe ethnographi-
scher Fakten erfolgreich interpretiert und wie
andererseits ethnographisches Material in
einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt
werden kann.
R. Cornevin zeigt den starken Einfluß auf,
den die „Kulturgeschichte Afrikas“ von Leo
Frobenius auf die Elite der jungen afrikani-
schen Staaten (des französischen Sprach-
raums!) ausgeübt hat. Das klingt auch im
Beitrag des senegalesischen Staatspräsidenten
L. S. Senghor an, der seinerseits auch den Ein-
fluß der Arbeiten von Westermann, Bau-
mann und vor allem Jensen („Mythos und
Kult bei Naturvölkern“) herausstellt: „Fro-
benius . . . nous avait rendus à l’authenticité
de la Négritude ... le Professeur Jensen nous
invite à la ,convergence panhumaine'. D’une
négritude de ghetto, il nous aide à faire une
,négritude ouverte'.“
K. Dittmer befaßt sich mit der Frage der
„Herkunft und Bedeutung der altyorubischen
Kronen und des äthiopischen Kalatscha“. Für
beide Insignien sucht er Vorbilder im nubi-
schen Raum (meroitische Krone). In bestimm-
ten Werken nigerianischer Kunst (Bronzefigu-
ren und -köpfe verstorbener Ife-Könige so-
wie Bronzegüssen von Jebba und Igara) er-
kennt Dittmer spätägyptische, indische und
koptische Elemente, die von Nubien nach
Westafrika gekommen sein müssen.
D. Drost handelt über „Besondere Verhal-
tensweisen In Verbindung mit dem Töpfer-
handwerk in Afrika“. Er untersucht Tabus,
Opferhandlungen und die Verwendung „ma-
gischer Medizinen“ bei der Ausübung der
Töpferei.
B. Frank stellt unter dem Titel „Der Hund
als Opfertier und Kulturheros in Afrika“ die
Hauptergebnisse ihrer Dissertation vor, die
inzwischen als Band XVII der „Studien zur
Kulturkunde“ (Die Rolle des Hundes in af-
rikanischen Kulturen) erschienen ist.
In seinem Beitrag „König und Paria in
Afrika“ zeigt E. Haberland, daß die einheit-
liche Verbreitung des Verhältnisses von König
und Pariakasten auf eine einheitliche Kultur-
schicht deutet, wobei das Königtum die Vor-
stellung einer besonderen Schicht mitgebracht
haben muß.
W. Hirschberg setzt die Ausgrabungsergeb-
nisse von Dawu (Akwapim, Ghana) in Be-
ziehung zum Reisebericht von Pieter de Ma-
rees (1605). Der Autor versucht mit Erfolg
„eine gegenseitige Bestätigung und Interpre-
tation“ schriftlicher Quelle und archäologi-
schen Materials.
Der Aufsatz von W. Kuls („Über einige
bemerkenswerte Züge der Siedlung und Bo-
denbewirtschaftung bei den Agau in God-
jam“) führt in das engere Arbeitsgebiet von
Ad. E. Jensen in Äthiopien. Dieser Beitrag
demonstriert eindringlich, wie wertvoll eine
enge Zusammenarbeit zwischen Kulturgeogra-
phen und Völkerkundlern sein kann und
welche Fülle von Anregungen beide einander
zu bieten haben.
Buchbesprechungen
165
St. Lagercrantz knüpft in einer Verbrei-
tungsstudie über „Traditional Beliefs in Af-
rica Concerning Meteors, Comets and Shoo-
ting Stars“ nach 50 Jahren an die bislang
viel zu wenig beachtete Arbeit von J. Wisch-
newski (Afrikaner und Himmelserscheinun-
gen, Borna-Leipzig 1915) an.
Über „Neue Felsbildfunde im Wadi Ta-
rhoscht (Südwest-Libyen)“ berichtet H. Rho-
tert. Der Aufsatz ergänzt den in Tribus 12,
1963, gegebenen Bericht über die Felsbild-
forschungen, die der Verfasser 1962/63 durch-
führen konnte. Geschichtliche und kulturge-
schichtliche Fragen der Rozwi-Reiche zwi-
schen dem Ende des 17. und dem Anfang des
19. Jahrhunderts untersucht H. v. Sicard, und
H. Straube geht der „Sinndeutung der wich-
tigsten künstlichen Körperverstümmelungen
in Afrika“ nach. Er verbindet damit die
Untersuchung von Ornamenten südäthiopi-
scher Megalithdenkmälcr.
Mit Asien befassen sich Beiträge von W.
Eberhard, Chr. v. Fürer-Haimendorf, J.
Haekel, R. Heine-Geldern, M. Höfner, I.
Hori, O. Karow, H. Lommel, H. Nigge-
meyer, K. Numazawa, T. Obayashi, R. Seil-
heim und P. Snoy.
Über Amerika schreiben; K. Hissink, P.
Kirchhoff, W. Lindig, O. F. A. Menghin,
W. Müller, E. Schaden, M. Schuster, H. Trim-
born und O. Zerries.
Aufsätze von G. Höltker, Ch. P. Mount-
ford, H. Petri und G. Petri-Odermann, E.
Schlesier, C. A. Schmitz und T. G. H. Streh-
low behandeln Themen über Ozeanien und
Australien.
Die Arbeiten von H. Rahn und K. Kerenyi
befassen sich mit dem alten Europa. Allge-
meinen Themen sind die Beiträge von W.
Dostal, M. Eliade, K. Jettmar, A. Lommel,
C. O. Sauer, C. Schuster, L. Vajda und H.
ZIcgcrt gewidmet.
Die Vielfalt der in dieser Festgabe ange-
schnittenen Probleme und Themen zeugt
gleichzeitig von der Vielfalt der Fragestel-
lung unserer Wissenschaft.
J. Zwernemann
PETER WEIDKUHN:
Aggressivität Ritus Säkularisierung. Biolo-
gische Grundformen religiöser Prozesse.
(Ergänzungsband zu Regio Basiliensis. Bas-
ler Beiträge zur Geographie und Ethnolo-
gie. Ethnologische Reihe Bd. 3). Basel:
Pharos-Verlag Hansrudolf Schwabe. I960.
143 S.
Rezente Veröffentlichungen des Verhal-
tcnsforschers K. Lorenz erfreuen sich einer
Popularität, die über das Maß an öffentli-
chem Interesse, das ein Wissenschaftsgebiet
in der Regel beanspruchen kann, weit hinaus-
geht und, da anderen Ethologen nicht die
gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde, offen-
bar auf einer sozialpsychisch effektvollen
These aufbaut: der Spontaneität der Aggres-
sion. Die Parallele zu Freuds Libidotheorie
ist offenbar; und auch der Freudsche Ausflug
in die Ethnologie („Totem und Tabu“) bleibt
nicht ohne Nachfolge — nur daß der Versuch
hier nicht von dem Urheber der Theorie, son-
dern von einem „Schüler“ ausgeht, der sich
sogar auf eine ethnologische Schulung beru-
fen kann. Nun bleibt der Verfasser aber
keineswegs dabei stehen, sondern überformt
seine Materialinterpretationen mit einer in
Neologismen schwelgenden Kulturphiloso-
phie. Und hier beginnt das Problem für den
Rezensenten: soll er darauf eingehen und
damit ebenfalls Gefahr laufen, das Bathos1)
ethnologischer Tatsachen zu verlassen, oder
soll er in seinen Grenzen bleiben und, indem
er das Pathos philosophischer Theoreme un-
terläuft, auch das Thema verfehlen?
Kein Kollege wird verlangen, daß der
Rezensent angesichts solch hohlen Getöns wie
„in der Regel ruht der vor dem fascinans
Zusammengebrochene nicht, bis auch die Welt
unter dem Terror des tremendum zusam-
mengebrochen ist“ (S. 63) mehr tut, als sich
die Ohren zuzuhalten, und der Verfasser
mag ihm dankbar sein, wenn er ob assozia-
tiver Fehlkonstruktionen oder Illogismen wie
„die eine Hälfte des Richtwertes sucht mit
phonetischen Mitteln ihr Revier, ihr Kultur-
feld, auf Kosten der anderen Hälfte zu ver-
größern. Das Nest jedes Männchens fungiert
als Richtwert, der Vogel als sein Organ“ (S.
69) die Augen zudrückt.
Aber kann ich auf eine Diskussion der
eben zitierten Begriffe „Kultur-Feld“ und
„Richtwert“ überhaupt verzichten? Kommt
doch in sechs von fünfzehn Kapitelüberschrif-
ten der Begriff „Richtwert“ vor, so daß es
vielleicht nicht genügt, wenn ich sage, daß
„der absolute Richtwert und sein Todes-Vor-
Urteil“ (Kap. 4) nur die Generalisierung von
„Totem und Tabu“ ist. Ist nicht auch klar-
zustellen, daß ein Kulturbegriff, der Kultur
') s. Immanuel Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft.
166
Buchbesprechungen
gleich Religion setzt und als Summe sämt-
licher Verhaltensweisen (S. 45) zu ihren Wer-
ten in Juxtaposition bringt — wobei Religion
andererseits als „Zusammenspiel von Leistung
und Gegenleistung zwischen einem absoluten
Richtwert und seinem Wert-Feld“ (Kap. 5)
oder als „Versuch einer Kultur, sich existen-
tiell erfolgreich zu verhalten“ (S. 33) ver-
standen werden soll — ethnologisch nicht
sonderlich akzeptabel erscheint, es sei denn,
man rekurriere auf ein Paideuma und andere
kulturelle Über-Ichs, und sei es in Form des
„religiösen Instinktes“. Heißt es doch vom
„absoluten Richtwert“ (der von den gewöhn-
lichen Richtwerten offenbar nur graduell
durch seine Herrschaft über Leben und Tod,
seine „absolute Aggression“, seinen optimalen
Aggressivitätsgrad [S. 29] verschieden ist),
er sei „feststehender Beweg-Grund“, „Nabel
einer Kultur“, Nullpunkt aller Wert-Raster
(S. 48), wenn ihn das auch nicht daran hin-
dert bereits auf der folgenden Seite (S. 49)
entweder (im betont sakralen Feld) optisch
faßbar und plastisch greifbar oder (im vor-
wiegend säkularen Feld) nur aus dem „Ver-
halten des Feldes“ erschließbar zu sein, was
zur Folge hat, daß ein Auto ein sakraler, der
„liebe Gott“ hingegen nur ein säkularer
Richtwert ist. Und schließlich ist es ein sol-
cher „absoluter Richtwert“, der aus einer
unfaßbaren Selbstentscheidung heraus (spon-
tane Aggressivität) den kulturellen Wandel
erzeugt, oder besser: als „Evolutionsmotor“
der „linear-progressiven Säkularisierung“
(Kap. 13 und 14) fungiert — ein im feld-
transzendenten Raum pulsierendes, sich selbst
regulierendes „biologisches Gewissen“ (S. 95).
Ich hoffe, daß Ich mich nun guten Gewis-
sens in das „von ,Gott‘ verlassene Kultur-
Feld“ Australien flüchten kann, zumal ihm
die ethnologische Aufmerksamkeit des Ver-
fassers galt, bis er die „empirischen Grenzen“
überschritt, um „kopfschüttelnd“ zu dem
Schluß zu kommen, „die Aggression an sich
habe bei ihrem eigenen Bewegungssturm die
australische Form ihrer Probierbewegung
frühzeitig als Sackgasse erwittert, habe des-
halb dieses Feld sich selbst überlassen und
sich anderen, leistungsfähigeren Bewegungs-
richtungen zugewandt“ (S. 90). Ich erwittcre
hier allerdings etwas ganz anderes, nämlich
das kulturhistorische „Vor-Urteil“ des Ver-
fassers, nach dem die „australischen Stammes-
kulturen eine sehr altertümliche Struktur“
aufweisen (S. 14). Da nun aber auch die
Australier ihre Geschichte haben, beeilt sich
der Verfasser, einen möglicherweise histori-
schen Charakter der „Mythen“ nicht in Er-
wägung ziehen zu müssen, indem er ihnen
einen „Mangel an historischer Tradition“ zu-
erkennt (S. 90), so daß auftretende Formen
der Kulturbewegung nicht mehr als Evolu-
tion, sondern nur noch als Involution begrif-
fen werden können. Den Verfasser braucht es
nunmehr nicht zu kümmern, wenn er erfahren
sollte, daß es im Bereich der von ihm als
„absoluten Richtwert“ der Australier be-
stimmten Verwandtschaft während der zwei-
ten Hälfte des 19. Jh. zum Beispiel bei den
Aranda ganz gewaltige Umwälzungen gege-
ben hat. Und auch die Tatsache, daß er sich
die Erkenntnis der Allianzorientierung der
australischen Verwandtschaftssysteme durch
sein patrilinear-genealogisch orientiertes Vor-
urteil verbaut hat, dürfte dem Verfasser we-
nig besagen — nur möge er dann bitte auch
dem Rezensenten nicht verübeln, wenn er
meint, daß cs sich bei des Verfassers Erklä-
rungen über Inzest und Endogamie nicht um
einen „Wirbel metalogischer Paradoxien“ (S.
55) handelt, sondern um baren Unsinn.
Mein Gesamturteil: Für Leute, die sich für
spekulative Weltbilder interessieren, ein An-
laß, viel guten Willen zu investieren, für
ethnologisch vorgebildete Normalverbrau-
cher, denen man mit einer „Phänomenologie
des Kults“ (S. 9) winkt, zudem ein Anlaß,
dem Verfasser seine Ansicht zu bestätigen,
daß Leistung ohne Gegenleistung Aggressivi-
tät freisetzt.
Lorenz G. Löffler
GRUNDBEGRIFFE DER GESCHICHTE.
50 Beiträge zum europäischen Geschichts-
bild. Herausgegeben in Zusammenarbeit
mit dem Europarat und dem Internatio-
nalen Schulbuchinstitut. Gütersloh: C. Ber-
telsmann Verlag, 1964. 427 Seiten. Preis:
DM 29.50.
Das Buch ist auch in englischer Sprache,
und zwar unter dem Titel: „European Hi-
story — 50 Terms and Their Interpretation“
erschienen, das heißt die Hinordnung auf
Europa, die sich hier nur im Untertitel mani-
festiert, rückt dort an erste Stelle. Bereits
eine Durchsicht der gewählten Termini zeigt,
daß der englische Titel treffender ist, nur
ganz wenige beziehen sich auf die große
weitere Welt — bezeichnenderweise solche
wie „Kolonien“ und „Orient“, „Djihad“ und
„Hidschra“. Die Barbaren werden schon im
Buchbesprechungen
167
wesentlichen als europäisches Problem be-
handelt. Man könnte fast formulieren, daß
das Buch zu gemütvoller Verbundenheit in-
nerhalb einer Völkerfamilie mittlerer Größe
und nicht zu radikaler Weltoffenheit erziehen
will.
Wie an einem Prüfstein erweist sich diese
Tendenz bei der Behandlung der „Universal-
und Weltgeschichte“. Daß im mittelalterlichen
Iran unter den Il-Chanen das einzige Werk
jener Zeit verfaßt worden ist, das Anspruch
auf den Titel einer „Weltgeschichte“ erheben
kann, ist dem Bearbeiter anscheinend ver-
borgen geblieben. Es werden auch die Ver-
suche nicht erwähnt, von der Ethnologie her
eine neue Dimension in der Universalge-
schichte zu eröffnen.
Auch mit dem Artikel: „Feudalismus“ wird
sich der Asien zugewandte Historiker nicht
zufrieden erklären. Der ,Fall Japan“ wird an
Europa gemessen, das Resultat sieht so aus
(S. 111): „Alle diese Institutionen bleiben in
einem nicht voll ausgebildeten Zustand. Nir-
gends findet sich dieses zugleich verwickelte
wie auch in Praxis und Bindung einheitliche
Ganze, welches das Wesen der feudal-vasalli-
schen Ordnung des mittelalterlichen Abend-
landes ausmacht. Daher kann man sagen, daß
die Erscheinungen, die uns beschäftigen, ver-
kümmerte Formen eines Feudalisierungspro-
zesses oder, wenn man es vorzieht, pseudo-
feudale Erscheinungen sind.“ Man wird wohl
antworten müssen, daß keine der Alternati-
ven vorliegt, sondern daß hier Sozialstruk-
turen gegeben sind, für die wir noch keine
brauchbare Terminologie entwickelt haben.
Dieses allgemeine Manko unserer „Paläo-
Soziologie“ darf uns jedoch nicht an jenem
System der Mongolen Vorbeigehen lassen, das
Vladimirtsov als „feodalisme nomade“ be-
zeichnet Wat. Es ist in mancher Hinsicht kon-
sequenter und großartiger, man könnte fast
sagen, philosophischer als das des gleichzei-
tigen Europa — was schon Rubruk und
Carpini im 13. Jahrhundert, nicht aber dem
Verfasser aufgefallen ist.
Selbstverständlich sind all die eben zusam-
mengetragenen Einwände für die meisten Be-
nutzer des Buches ganz unwesentlich. Man
wird sich an vielen Punkten über die ver-
nünftige und brauchbare Arbeit freuen, die
hier geleistet worden ist. Oft sind die Auto-
ren zu bewundern, die belanglosen, vieldeu-
tigen Stichworten (etwa: „Mißbräuche“) ge-
rade jene Aspekte abgewonnen haben, die
dem Leser etwas zu sagen haben.
Nur in einem Jahrbuch, das den program-
matischen Namen „Tribus“ führt, konnte man
auf derartige Einwände nicht verzichten.
Europa kann nur zur Einheit werden, wenn
es seine Gegenspieler sieht — auch ihr buntes,
oft überlegenes Erbe. Von diesen geistigen
Welten Ist hier allzu wenig zu spüren. Es ist
wieder einmal eine Gelegenheit verpaßt wor-
den, Geschichtslehrer — an die sich ja das
Buch bewußt wendet — aus dem sorgfältig
verwalteten Duodezstaat der europäischen
Historie herauszulocken.
Karl Jettmar
KARL W. BUTZER:
Environment and Archeology. An Intro-
duction to Pleistocene Geography. London:
Methuen & Co. 1965. (Amerikanische Aus-
gabe Chicago 1964.) XVIII + 524 S., 18
Tabellen, 84 Textfiguren. Preis: sh. 84/—.
Das Pleistozän gehört als jüngste geologi-
sche Vergangenheit seit langem zum For-
schungsbereich auch der Geographen. Doch
beschäftigen sich auch deren Studien meistens
mit stratigraphischen und morphologischen
Einzelproblemen. Vielleicht war die Zeit noch
nicht reif zu geographischer, das heißt kom-
binatorischer Verarbeitung der vielerlei Ein-
zelergebnisse so mannigfacher Wissenschafts-
zweige. Vielleicht hinderte aber auch die
Trennung zwischen „anthropo-geographi-
schen“ und „physisch-geographischen“ For-
schungsrichtungen eine solche Zusammenschau.
Denn es ist sicherlich kein Zufall, daß dieser
erste Versuch von einem Autor stammt, des-
sen Forschungen von Anfang an auf enge
Verknüpfung geographischer und kulturge-
schichtlicher Fragestellungen hinzielten.
Der Obertitel muß für den deutschen
Sprachgebrauch erläutert werden. Archeology
meint hier „prähistorische Archäologie“, und
zwar nicht nur die des Paläolithikums, denn
es werden auch die Probleme der Entstehung
des Neolithikums und der städtischen Kultu-
ren behandelt und bis ins 3. Jahrtausend v.
Chr. hineinverfolgt. Dadurch wird die son-
stige Geschlossenheit der Darstellung etwas
gestört. In der augenblicklichen deutschen
Wissenschaftssituation ist es zwar sehr erfreu-
lich zu sehen, wie hier die Kluft zwischen
der Paläolith- und Mesolith-Forschung einer-
seits und der Erforschung des Neolithikums
und der jüngeren Perioden andererseits über-
brückt wird. Doch gehört diese Kluft zu
jenen nur forschungsgeschichtlich und indivi-
168
Buchbesprechungen
dualpsychologisch verständlichen Wunderlich-
keiten, die man nicht einmal durch Polemik
aufwerten sollte. Von späteren Auflagen die-
ses Werkes möchte man sich daher eine Be-
schränkung auf das Pleistozän im engeren
Sinne wünschen, zumal wir für die jüngeren
Perioden gewiß neue Spezialstudien des
Autors erhoffen dürfen.
Daran, daß wir es hier mit der ersten —
aber schon weitgehend ausgereiften — Fas-
sung eines „Standardwerkes“ zu tun haben,
scheint mir kein Zweifel zu bestehen. Mut,
Übersicht und systematische Kombinations-
gabe zeichnen den Autor aus. Er beherrscht
nicht nur die angelsächsische, sondern genau-
so die kontinentaleuropäische, insbesondere
die deutsch-sprachige Literatur und hebt sich
dadurch unter den amerikanischen Autoren
seiner Generation im weiten Umkreis seines
Fachgebietes heraus. Es ist zu hoffen, daß die-
ser Brückenschlag zwischen verschiedenen
Wissenschaftstraditionen sich fruchtbarer und
nachhaltiger erweisen wird als der F. Zeu-
ners.
Angesichts einer solchen Leistung hat es
wenig Sinn, Einzelheiten hervorzuheben oder
zu kritisieren. Denn selbstverständlich wird
jeder Spezialist in einem solchen Werk auch
etwas zu kritisieren haben. Es sei nur darauf
hingewiesen, daß die Beispiele und näher aus-
geführten Darstellungen sich auf jene Räume
beschränken, in denen der Autor auch Feld-
forschung getrieben hat, das heißt vor allem
den mediterranen Raum von Spanien über
Ägypten nach Vorderasien. Die „neue Welt“
ist bewußt ausgeklammert. Den Ethnologen
werden vor allem die letzten Kapitel inter-
essieren, in denen die Anfänge des Anbaus
von Kulturpflanzen und die Anfänge städti-
scher Lebensformen unter geographischen Ge-
sichtspunkten behandelt werden. Mehr möchte
Ich zum Inhalt nicht sagen. Denn dieses Buch
gehört zu jenen, die man in der Hand gehabt
haben muß — und die man dann immer wie-
der zur Hand nehmen wird.
G. Smolla
MASTERP1ECES IN THE MUSEUM OE
PRIMITIVE ART. Africa, Oceania, North
America, Mexico, Central to South Ame-
rica, Peru. (Photographs by Charles Uht.)
(New York: The Museum of Primitive Art;
Greenwich, Conn.: New York Graphic
Society in Komm.) 1965. 79 ungez. Bl. mit
134 Ahb., 1 Farbtaf. 8°. Preis: US$ 4.95.
Primitive Kunst, genauer: die Kunst der
sog. Primitiven, hat seit einem halben Jahr-
hundert in zunehmendem Maße nicht nur das
Interesse der schaffenden Künstler und der
Kunsttheoretiker, der kunstbeflissenen Laien
und der Kunsthistoriker gefunden, sie ist auch
für den Ethnologen immer mehr zu einem
wichtigen Forschungsgegenstand geworden.
Das hat sich in einer Fülle von Veröffent-
lichungen niedergeschlagen, wissenschaftlichen
Arbeiten wie auch zahllosen Schriften, die
sich an einen breiteren Leserkreis wenden. Das
Bild spielt in diesen Publikationen naturge-
mäß eine große Rolle, es ist Dokument, hin-
ter dem das interpretierende — freilich nicht
immer von der Sachkenntnis herkommende —
Wort oft völlig zurücktritt. Auch die Völker-
kundemuseen, in der Alten wie in der Neuen
Welt, haben sich der Kunst zugewandt. Die
Themen ihrer Ausstellungen in den letzten
zwei Jahrzehnten bezeugen es. Das „Ethno-
graphische“, aus dem das Gesamtbild einer
Kultur resultiert, ist in bedenklicher Weise
zurückgedrängt worden. Man muß das be-
dauern, aber man sollte es nicht dramatisie-
ren. Das Pendel wird Zurückschlagen. Die
heutige Dominanz des Interesses an der
Kunst auch in den völkerkundlichen Museen
ist jedenfalls unbestreitbar, und jeder Mu-
seumsmann weiß aus Erfahrung, daß die Kunst
eines Volkes als Ausstellungsthema heute so
attraktiv für den Besucher ist, wie es einst
die „Kuriositäten“ fremder Kulturen waren.
Der Gedanke, den Museumsbesucher mit
ausgewählten Werken hoher Qualität aus den
Sammlungsbeständen zu konfrontieren und
ihn durch diese Begegnung zur Kunst der be-
treffenden Völker hinzuführen, wie ihn das
Pariser Musee de l’Homme im vergangenen
Jahr in seiner Ausstellung (und dem dazu
herausgegebenen Katalog) „Chefs-d’oeuvre“
zu verwirklichen suchte, liegt auch der Ver-
öffentlichung gleichen Titels des Museum of
Primitive Art in New York zugrunde. In
hervorragenden Aufnahmen werden 135 Spit-
zenwerke der Kunst und des Kunsthandwerks,
vorwiegend Plastik, aus Afrika (südlich der
Sahara), Ozeanien (einschließlich Australiens),
dem naturvölkischen Nordamerika, aus Me-
xico, Mittelamerika mit Colombia) und Peru
vorgeführt. Der Anteil des amerikanischen
Materials an dieser Auswahl ist mit insge-
samt 73 Objekten unverhältnismäßig groß.
Das entspricht wohl der Gewichtsverteilung
in den Beständen der großartigen New Yor-
ker Sammlung.
Buchbesprechungen
169
Es sei dem Rez. erlassen, dieses oder jenes
der In dem Bändchen präsentierten Werke als
besonders bemerkenswert herauszugreifen. Es
sind ausnahmslos Meisterwerke, vor deren
Größe, Originalität und Ausdruckskraft sich
dem Betrachter offenbart, daß primitive
Kunst nichts anderes bedeuten kann als Kunst
technisch relativ unentwickelter Völker.
Leider sind die Angaben des Katalogteils
allzu formelhaft-knapp. Die Einführungen zu
den verschiedenen geographischen Gebieten
orientieren vortrefflich und verraten in ihrer
prägnanten Kürze die Sachkenntnis der Auto-
ren. Sie versuchen nicht nur das Wesen der
Kunst in dem betreffenden Bereich nach Form
und Vorstellungsgehalt zu umreißen, sondern
gehen auch den Beziehungen der Kunst zum
Sozialen nach.
Dem Bändchen sind geographische Über-
sichtskarten und Zeittafeln beigegeben, die
in ihrer graphischen Gestaltung ebenso wie
der Satz und die Bildreproduktionen den
hohen Stand amerikanischer Buchkunst be-
weisen.
F. Jäger
ARNULF KOLLAUTZ:
Bibliographie der historischen und archäo-
logischen Veröffentlichungen zur Awaren-
zeit Mitteleuropas und des Fernen Ostens
mit Berichtigungen und Ergänzungen zu
der von Dzsö Csallany in den „Archäolo-
gischen Denkmälern der Awarenzeit in
Mitteleuropa“, Budapest 1956, angeführten
Literatur. Klagenfurt: Geschichtsverein für
Kärnten. 1965. 27 S. 8° (Kärntner Mu-
seumsschriften. 38). Preis: öS 15.—.
Die Diskussion um die Awaren und ver-
wandte Völker, die sich, von Osten kom-
mend, im Pontischen Raum und in Südost-
europa niederließen, ist in letzter Zeit durch
die Bände der Altheim’schen Fdunnenge-
schichte neuerdings belebt worden. A. Kol-
lautz, der die vorliegende Bibliographie zu-
sammenstellte (leider ist sie nicht kommen-
tiert), hat auf diesem Gebiet selbst wichtige
Beiträge geleistet (die in seiner Bibliographie
leider nicht genannt sind). Es ist klar, daß
an der Problematik der hier betrachteten
Völker viele Disziplinen in vielen Ländern
neben- und miteinander arbeiten, und daß
das Schrifttum deshalb nicht nur sehr um-
fangreich, sondern auch weit verstreut ist.
Daher Ist es außerordentlich zu begrüßen,
daß sieh der Autor der Mühe unterzogen hat,
eine Bibliographie vorzulegen, die allen Be-
teiligten das Arbeiten wesentlich erleichtern
wird. Kollautz nennt im Titel die Awaren-
zeit Mitteleuropas wie die des Fernen Ostens,
also den Gesamtkomplex Jou Juan/Awaren.
Es leuchtet ein, daß der mitteleuropäische
Raum in seinem Verzeichnis stärker berück-
sichtigt ist als der Osten, eben der Quellen-
lage entsprechend. Für den Osten stützt er
sich auf zahlreiche japanische Publikationen,
Titel, die uns hochwillkommen sein müssen.
Auch die zahlreichen russischen Titel nimmt
man mit Freude zur Kenntnis. Aber An-
spruch auf Vollständigkeit kann die Zusam-
menstellung kaum erheben — sie müßte dann
wohl sehr viel umfangreicher sein. Selbst
große Zusammenfassungen sind gelegentlich
unter den Tisch gefallen, wie etwa die Ar-
beiten von O. Franke, de Groot, W. Eber-
hard, B. Läufer, O. Mänchen-Fielfen und
K. Jettmar — offenbar, weil der Autor deren
Kenntnis als selbstverständlich voraussetzt.
Trotz solcher Lücken sei dem Autor Dank
gesagt.
F. Kußmaul
ROLAND HAMPE, ADAM WINTER:
Bei Töpfern und Zieglern in Süditalien,
Sizilien und Griechenland, mit einem Bei-
trag von Ulrich Hofmann und Hans-Peter
Boehm. (Römisch-Germanisches Zentral-
museum zu Mainz.) Mainz: Verlag des
Römisch-Germanischen Zentralmuseums
Mainz. (In Kommission bei Rudolf Habelt
Verlag, Bonn.) 1965. XII + 274 S., Titel-
bild, 3 Farbtafeln, 60 Tafeln, 150 Abb. im
Text, 1 Übersichtskarte.
Die beiden Autoren, den Lesern dieser
Zeitschrift bereits als Verfasser der Abhand-
lung „Bei Töpfern und Töpferinnen in Kreta,
Messenien und Zypern“, Mainz 1962, be-
kannt (vgl. Tribus 13, 1964, S. 146 f.), haben
weitere Ergebnisse ihrer Feldforschung in
dem vorliegenden stattlichen Bande veröf-
fentlicht, dessen Ficrausgabe und vorzügliche
Ausstattung wie bei dem erstgenannten Werk
dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum
in Mainz, zu verdanken ist. Die Zielsetzung
ist bei beiden Bänden die gleiche. Es sollten
in einzelnen Landschaften des Mittelmecr-
gebietes die Techniken und Erzeugnisse der
Töpfer — im vorliegenden zweiten Bande
auch die der Flandstrichziegler — erforscht
werden, soweit diese die altüberlieferten Ver-
fahren und Einrichtungen bewahrt haben,
170
Buchbesprechungen
um daraus Aufschlüsse für das keramische
Handwerk der Antike zu gewinnen. Im
ersten Bande waren Werkstätten beschrieben
worden, die noch vorgeschichtliche Methoden
anwenden. Der vorliegende zweite Band um-
faßt Werkstätten, deren Arbeitsweise in die
Antike oder in das Mittelalter und in neuere
Zeit zurückreicht.
Um zu ihrem Material zu gelangen, haben
die Verfasser Süditalien und Sizilien bereist,
wobei möglichst Vollständigkeit in der Er-
fassung der altertümlichen, vom Untergang
bedrohten Töpfereien und Ziegeleien ange-
strebt wurde. In Griechenland ist dagegen
eine Auswahl unter den auf dem Festland
und auf den Inseln weitverstreut vorkom-
menden Werkstätten getroffen worden. Dar-
auf folgen Beschreibungen einiger zyprioti-
scher Werkstätten und einer kleinasiatischen,
womit vergleichende Ausblicke auf Nachbar-
gebiete ermöglicht werden. Ist schon die
Durchführung einer solchen, in armselige und
verkchrsabgelegene Dörfer führenden Reise
eine beachtliche Leistung, so verdienen vor
allem aber die planmäßige, in allen Töpfer-
und Zieglerwerkstätten in gleicher Weise vor-
genommene „Enquete“ über Einrichtung, Ar-
beitsverfahren und Erzeugnisse, die Herstel-
lung der zahlreichen Photos, die Tonband-
aufnahmen und die Sammlung der Fachaus-
drücke der Handwerker ganz besondere An-
erkennung. Wer einmal Feldforschung unter
ähnlichen Umständen betrieben hat, vermag
zu beurteilen, wie schwierig es Ist, das Miß-
trauen der Einheimischen zu überwinden und
geeignete „Sujets“ zu finden. R. Hampe und
A. Winter haben mit der Sammlung des um-
fangreichen Stoffes eine Meisterleistung voll-
bracht. Sie waren als Kenner des keramischen
Handwerks die für ihre Aufgabe berufenen
Forscher und haben in mühseliger Arbeit an
Ort und Stelle alles das aufgezcichnet, was
von dem uralten Handwerk noch am Leben
war. Bald schon wird man nichts mehr oder
nur noch Reste finden, weil das Töpfern sich
nicht mehr lohnt und die Handwerker ab-
wandern.
Der erste Teil des Buches enthält eine Be-
schreibung aller von den Verfassern besuch-
ten Töpfer- und Zieglerwerkstätten. Hervor-
zuheben ist die klare und genaue Darstel-
lungsweise, die sich durch eine für den Leser
außerordentlich angenehme Kürze auszeich-
net. Zahlreiche deutsche keramische Fachaus-
drücke, die im Text verwendet werden, sind
in einem Register auf S. 258—264 zusam-
mengefaßt und erläutert. Eine Übertragung
der italienischen und neugriechischen Töpfer-
ausdrücke findet man auf S. 246—257. Zu-
nächst werden die Töpfereien von Camerota,
einem Bergdorf im südlichen Kampanien, aus-
führlich beschrieben. Hier haben sich die Ver-
fasser länger aufgehalten als in den übrigen
Ortschaften, um Maßstäbe für die Beurtei-
lung aller anderen, von Ihnen untersuchten
Werkstätten zu gewinnen. Dem Töpfer An-
tonio in Camerota, mit dem sie sich anfreun-
deten, kommt das große Verdienst zu, der
wissenschaftlichen Forschung zahlreiche zu-
verlässige Auskünfte über die Aufbereitung
der Töpfererde, über die Arbeit an der Dreh-
scheibe (Fußschubschcibe), die Herstellung gro-
ßer Gefäße aus zwei Hälften, das An-
setzen der Henkel, über Glasur und
Brennöfen und über vieles andere ge-
geben zu haben. Nach dieser eingehenden
Darstellung ist es dann möglich, Arbeits-
weise und Erzeugnisse der Töpfer und der
Handstrichziegler in Latium, in der Basili-
kata, in Apulien, Kalabrien, auf Sizilien, auf
dem griechischen Festland und den griechi-
schen Inseln, auf Zypern und in Söke (Klein-
asien) mit Hilfe von Hinweisen auf Came-
rota in wesentlich kürzerer Form zu beschrei-
ben. Die Darstellung wird durch die zahlrei-
chen, in den Text eingestreuten Zeichnungen
und Photos, vor allem auch durch den um-
fangreichen Bilderanhang, der auf 63 Tafeln
293 Photos enthält, zu einem großartigen
Dokumentarium eines aussterbenden Hand-
werks.
Der zweite Hauptteil des Buches ist eine
Zusammenfassung der Ergebnisse, besser ge-
sagt, eine systematiche Dartellung des Töpfer-
und Zieglerhandwerks der erforschten Ge-
biete — eine hochwillkommene, gleichsam im
letzten Augenblick geschriebene Überschau,
die später als unentbehrliche Vorarbeit für
eine Gesamtdarstellung des keramischen
Handwerks des Mittelmeergebietes gewertet
werden wird. Besonders wichtig ist die ver-
gleichende Beschreibung der Brennöfen, deren
Verbreitung in Unteritalien auf einer Über-
sichtskarte S. 191 dargestellt wird. Oben
offene, runde Schachtöfen finden sich vor-
wiegend auf Sizilien, in Kalabrien und noch
In Kampanien, während die mit einer Kuppel
geschlossenen runden Öfen (Kammeröfen)
in Kampanien, Kalabrien und Apulien be-
heimatet sind. Auf weitere Einzelheiten muß
Buchbesprechungen
171
hier verzichtet werden; es sei nur darauf hin-
gewiesen, daß die Beschreibung der Bauweise
der Öfen (Anwendung von Wölbtöpfen) und
der Einsetzordnung der zu brennenden Ge-
fäße oder Ziegel, ferner auch die Untersu-
chung der Brenntemperaturen und der Brenn-
dauer usw. eine für Keramiker wie für
Archäologen, Ethnologen und Volkskundler
gleich aufschlußreiche Abhandlung darstellt,
die richtungweisend für spätere Untersudhun-
gen sein wird. Zahlreiche Fingerzeige erhält
besonders der Archäologe, der aus der Ar-
beitsweise der Töpfer von heute Rückschlüsse
auf mögliche Verfahren der antiken Hand-
werker ziehen wird. Der dem Buche beige-
gebene Exkurs von U. Hofmann und H.-P.
Boehm über eine „Wasserschale im Feuerungs-
kanal eines korinthischen Töpferofens“ und
die Schlußfolgerungen hieraus von R. Hampe
lassen die Bedeutung der vorliegenden Arbeit
für Archäologie und Prähistorie erkennen.
Das Werk zeigt deutlich, wie eng das heutige
Töpfer- und Zieglerhandwerk Süditaliens
und Griechenlands mit dem der Antike ver-
wandt ist. In seinen Grundzügen lebt dieses
bis zum heutigen Tage fort, wie ja so oft
technische Verfahren über Jahrtausende be-
stehen bleiben.
Außer nach seiner zeitlichen Tiefe könnte
man auch nach der geographischen Verbrei-
tung des Töpferhandwerks mittelmeerischer
Prägung fragen, obwohl dies nicht zu den
Aufgaben gehört, die die Verfasser sich ge-
stellt hatten. Es sei jedoch gestattet, auf das
Vorkommen in einem anderen römischen Ein-
flußgebiet, der Iberischen Halbinsel, zu ver-
weisen, wo das keramische Handwerk unter
sehr ähnlichen Bedingungen anzutreffen ist
und fast die gleichen Arbeitsmethoden an-
gewendet werden. Der Verfasser dieser Zei-
len hat spanische Töpfer und Ziegler zuerst
im Jahre 1927 in Extremadura1) beobachtet
und später (1931—36) In Dörfern der Pro-
vinzen Murcia, Alicante und Albacete auf-
gesucht. Das in Südostspanien gesammelte
Material wurde unveröffentlicht im letzten
Weltkrieg ein Raub der Flammen, aber an-
hand noch erhaltener Notizen kann zusam-
menfassend folgendes ausgesagt werden.
') Vgl. Wilhelm Bierhenke, Ländliche Ge-
werbe der Sierra de Gata. Sach- und wort-
kundliche Untersuchungen. Hamburg 1932,
S. 93 ff.
Wie in Süditalien usw. ist das Töpferhand-
werk auch in Südostspanien Familiengewerbe.
Viele Töpfereien sind seit mindestens vier
Generationen im Besitz derselben Familie.
Die Werkstätten finden sich in der Nähe der
Lagerstätten brauchbarer Tone. Meistens lie-
gen sie am Rande von Ortschaften. Zur Ein-
richtung gehören mehrere große Becken für
die Aufbereitung des Tons, die Werkstatt mit
den Töpferscheiben (Fußschubscheiben — ge-
nauso gebaut wie in Süditalien), ein kleiner
gepflasterter oder festgestampfter Platz für
das Treten des Tons, freie Plätze für das
Trocknen der Hohlwaren, ein Schuppen für
Brennholz und ein bis drei Brennöfen. Die
Verfahren der Aufbereitung der Töpfererden
entsprechen im ganzen den süditalienischen
und griechischen, und ebenso sind die beim
Drehen oder beim Aufbau der Gefäße und
beim Brennen im Ofen angewendeten Ver-
fahren die gleichen oder doch eng mit jenen
verwandt. Große Tonfässer werden auch in
Südostspanien in mehreren Phasen aufgebaut.
Nur ihr unterer Teil entsteht auf der Dreh-
scheibe. Wie In Süditalien und in Griechen-
land sind auch in Spanien bei den Brennöfen
der Töpfer mehrere Typen zu unterscheiden,
ln Extremadura fanden sich 1927 runde,
oben offene Schachtöfen und runde, mit
einem Gewölbe geschlossene Kammeröfen.
Ziegler benutzten viereckige, oben offene
Schachtöfen. In Südostspanien waren 1932
Kammeröfen mit in den Boden versenktem
Feuerraum im Gebrauch, deren Brennrost auf
parallelen Wölbbogen aus Ziegeln ruhte.
Außer runden Öfen gab es auch Töpferöfen
mit birnenförmigem Grundriß, bei denen ein
Schürkanal vor den ovalen Feuerraum ge-
setzt war. In Lorca und Murcia-Stadt be-
nutzten Töpfer einen Ofen mit viereckigem
Grundriß.
Ohne Zweifel würden genauere Untersu-
chungen auf der Iberischen Halbinsel zahl-
reiche Übereinstimmungen mit den Befunden
aus Süditalien und Griechenland ergeben, und
es ist zu hoffen, daß recht bald — ehe es zu
spät ist — in Spanien und Portugal wie auch
in anderen Teilen des MIttelmeergebictes, zum
Beispiel in Nordafrika, Erhebungen wie die
von R. Hampe und A. Winter durchgeführt
werden. Das Werk der beiden Autoren, das
eine hervorragende Leistung darstellt, wird
künftiger Forschung als Vorbild dienen.
W. Bierhenke
172
Buchbesprechungen
J. NEMETH:
Die Türken von Vidin. Sprache, Folklore,
Religion. (= Bibliotheca Orientalis Hun-
garica, X.) Budapest: Akademiai Kiado
(Verlag der Ungarischen Akademie der
Wissenschaften). 1965. 8°, 420 S.. Preis:
DM 56.—.
Julius Nemeth, der seit bald sechs Jahr-
zehnten als Turkologe wissenschaftlich tätig
ist und wertvolle Arbeiten zur türkischen
Philologie geschaffen hat, ist bei der Erfor-
schung der osmanisch-türkischen Elemente des
Ungarischen von der richtigen Erwägung aus-
gegangen, daß dafür die Kenntnis der tür-
kischen Dialekte des Balkans wesentliche Hil-
fen bieten müßte. So hat er vor 40 Jahren
— hier ist die konkrete Jahreszahl gemeint,
und nicht die in der türkischen Volkskunde
so häufige mythisch-unbestimmte Zeitangabe
— begonnen, die türkische Mundart von
Vidin im äußersten Nordwesten Bulgariens
zu untersuchen; wiederholte Reisen dorthin
haben ihm die Möglichkeit zur Ergänzung
und genauen Ausarbeitung des gesammelten
Materials geschaffen. In sprachlicher Hin-
sicht haben diese Forschungen nicht nur die
erwartete allgemeine Bereicherung unserer
Kenntnis des Türkischen vom Balkan ein-
gebracht, sondern sie haben auch „den
Schlüssel der Einteilung der türkischen Mund-
arten der Balkanhalbinsel geliefert“ (S. 5).
In einer durch die Bulgarische Akademie der
Wissenschaften 1956 in Sofia herausgegebe-
nen Arbeit Nemeths, „Zur Einteilung der
türkischen Mundarten Bulgariens“, ist diese
Einteilung mit einem umfassenden Material
ausgeführt und begründet.
Die sprachliche Untersuchung der türki-
schen Mundart von Vidin nimmt, als Aus-
gangspunkt des Forschungsunternehmens, in
dem vorliegenden Buch den ihr gebührenden
Raum ein (S. 5—120, Glossar S. 377—413).
Das reichhaltige Material ist ausgezeichnet
dargestellt; im Rahmen dieser Besprechung
kann jedoch auf die linguistische Seite nicht
weiter eingegangen werden. Belegt wird das
sprachliche Material mit Texten, die es nicht
in belangloser Alltagsrede, sondern im Zu-
sammenhang längerer volkskundlicher Er-
zählungen usw. vorführen. Diesen Texten ist
eine genaue deutsche Übersetzung beigegeben,
wobei der Druck so eingerichtet ist, daß jede
Seite oben den türkischen Text, unten die
deutsche Übersetzung dazu enthält.
Die Texte sind gegliedert in Volksdichtung
(Märchen, Erzählungen, Lieder und Rätsel)
und Türkisches Leben in Vidin (Das Kindes-
alter, Hochzeitsgebräuche, Heilverfahren, Re-
ligiöses Leben). Die Berichte aus dem reli-
giösen Leben scheinen zunächst volkskundlich
wenig ergiebig zu sein; was sollte man schon
in einem rechtgläubigen, genormten islami-
schen Milieu besonderes erwarten? Daß aber
auch hier interessante religiöse Besonderheiten
festzustellen sind, hat Nemeth schon 1948
in seinem Artikel „La ceremonie du Tewhld
ä Vidin“ (Ignace Goldziher Memorial Vo-
lume, S. 329—335) gezeigt. Es handelt sich
um eine Gedenkfeier, bei der am 40. Tage
nach dem Tode die Teilnehmer 70 000 mal
das Einheitsbekenntnis Allahs für die Seele
des Verstorbenen aussprechen. Daß hier eine
Sonderentwicklung vorliegt, zeigt die Ver-
wendung des Ausdruckes tehvit, der bei den
Türken (tevhld) und Arabern (tawhjd) sonst
das Einheitsbekenntnis Allahs bedeutet; ältere
osmanische Wörterbücher erklären das Wort
auch als Bezeichnung für religiöse Exerzitien
der Derwische, bei denen das Einheitsbe-
kenntnis Allahs im Mittelpunkt steht. Die
von Nemeth aus Vidin festgestellte spezielle
Bedeutung fehlt den Wörterbüchern. Ähnlich
wie bei diesen Tehvit-Zeremonien, die im
vorliegenden Werk auf S. 351—353 ausführ-
lich beschrieben sind, bieten auch die anderen
Abschnitte über das religiöse Leben Einblick
in vom orthodoxen Islam her wohlbekannte
Bräuche und in die darin eingebetteten, zum
Teil recht charakteristischen und vielfach aber-
gläubischen Vorstellungen. Es sind die Ab-
schnitte Der Ramazan (S. 342—344), Das
Fest des Fastenbrechens im Ramazan (S.
344—346), Das Opferfest (S. 346—347), Der
Mevlut (d. h. eine Art Seelenmesse am 40.
oder 52. Tage nach dem Tode, S. 348—351,
vgl. hierzu Nemeth Die Zeremonien des Mev-
lud in Vidin, in Acta Orientalia Hungarica
1950 S. 134—140), Derwische und heilige
Orte (S. 354—360), Die Pilgerfahrt (S. 360—
363, vgl. hierzu Nemeth, Ein türkischer Text
aus Vidin über die Pilgerfahrt, in Documenta
islamica inedita, Berlin 1952, S. 273—277),
Das Begräbnis (S. 363—367). Sie verdienen
einmal eine besondere Untersuchung auf brei-
ter Basis. Für volkskundliche Forschungen
sind ja gerade die Abweichungen von all-
gemein islamischen Vorstellungen und Bräu-
chen interessant, und es wäre zu begrüßen,
wenn das schöne Material Nemeths einen
Ansporn zu solchen Untersuchungen gäbe.
Buchbesprechungen
173
Wichtiges volkskundliches Material finden
wir aber auch in den Berichten über das
Kindesalter (Die Geburt des Kindes S. 284—
285, Die Nacht der Augenschminke — eine
Zeremonie von unklarer Funktion in der 3.
Nacht nach der Geburt — S. 286—287, Die
Erziehung eines Mädchens S. 287—291, Mäd-
chcnspiele S. 291—306, Die Beschneidungs-
feier S. 307—310) und über die Hochzeits-
bräuche (S. 311—333). Im Abschnitt Heilver-
fahren (S. 334—341) werden Zauberprakti-
ken behandelt mit Bleigießen, mit Kohlen-
löschen, mit einem um den Kranken gelegten
Kreis aus Werg, das angezündet wird und
dessen Asche, mit Rosenwasser und einer Art
roter Tonerde vermischt, zum Einreiben der
Hände und des Gesichts des Kranken dient.
Auch über Talismane und Amulette gegen
den bösen Blick ist hier berichtet, ebenso
auch über die Übergabe und Übernahme der
Fähigkeit zum Heilen bei den heilkundigen
Frauen. „Das Leben des stummen Ver-
wandten“ (S. 367—373) ist eine Schilderung
des Lebensablaufs eines stummen Mannes.
Es kann hier nicht auf die vielfältigen Be-
ziehungen dieses Materials zu anatolischen
und anderen türkischen Aufzeichnungen ein-
gegangen werden, es würde auch zu weit füh-
ren, die Texte im Abschnitt Volksdichtung
(S. 121—283), dem Umfange nach Hauptteil
des Werkes, im einzelnen zu untersuchen und
zu besprechen. Die folkloristische Analyse der
Vidiner Märchen hat J. Nemeth nicht als
seine Aufgabe angesehen, und er gibt auch
keine Hinweise darauf, ob und unter welcher
Bezeichnung seine Vidiner Märchen bei Eber-
hard und Boratav, Typen türkischer Volks-
märchen (Wiesbaden 1952) behandelt sind.
Bei der Übersetzung einer Stelle im Märchen
vom faulen Hasan hat sich jedoch als „philo-
logische Aufgabe“ die Beschäftigung mit
einem bestimmten Motiv als notwendig er-
wiesen, und J. Nemeth hat daraufhin dieses
Motiv in seinem Artikel Die ,Lebensrute' in
einem türkischen Märchen von Vidin (Oriens
15 (1962, 304—314) in einer Weise unter-
sucht, daß man gern die gesamten folkloristi-
schen Texte aus Vidin von ihm in gleicher
Weise analysiert sehen möchte.
Bei den Liedern ergibt ein Vergleich mit
den — sehr unvollständigen — zum Nach-
schlagen eingerichteten Sammlungen aus der
Türkei (etwa Kilisli Rif’at, Anadolu Türk-
lerinin halk edebiyäti. I. Mänller — Volks-
literatur der anatolischen Türken. I. Vicr-
zeiler-Lieder, Istanbul 1928, gr. 8°, 270 S.;
Niyazi Eset, Mander kdavuzu = Index der
Vierzeiler-Lieder, Ankara 1946, gr. 8°, 375
S.) eine Anzahl neuer Vierzeiler und viele
Varianten von schon bekannten. So ist zum
Beispiel das Liedchen 15 („Am Himmel kann
man die Sterne nicht zählen, ein rohes EI
kann man nicht schälen, an dem Reiz der
fünfzehnjährigen Mädchen kann man nicht
satt werden“) in den eben angeführten türki-
schen Sammlungen nicht mit ganz gleichem
Wortlaut aufgeführt, dagegen ist aus dem
Rhodopegebirge im Süden Bulgariens der
genau entsprechende Text überliefert in dem
schönen, aber wegen Fehlens eines Indexes
schwer benützbaren Werk Hayriye Memova,
Emil Boef, Rodop manileri (Sofia 1962). Ob
solche Übereinstimmungen Einzelfälle sind,
wäre durch Untersuchung am gesamten Ma-
terial nachzuprüfen.
Dieser Bericht ist schon über Gebühr lang
geworden. Es müssen aber auch zum Glossar
noch ein paar Worte gesagt werden. Ein gutes
Wörterverzeichnis zu volkskundlichen Texten
ist immer auch volkskundlich und nicht nur
sprachlich interessant. Hier aber hat der Her-
ausgeber noch ein Übriges getan und hat eine
Anzahl von Begriffen durch einfache Zeich-
nungen klar gemacht. Bei dem verhältnismä-
ßig geringen Interesse, das bisher für die
materielle Kultur der Türken bestanden hat,
sind diese Zeichnungen nicht nur eine Hilfe
für das Verständnis der Nemethschcn Texte,
sondern eine Mahnung, auch die Gegenstände
der materiellen Kultur nicht zu vernachlässi-
gen.
Mit seinem äußerlich und innerlich hervor-
ragenden Werk hat J. Nemeth der Turko-
logie in sprachlicher und in volkskundlicher
Hinsicht erneut Material geschenkt, das vor-
bildlich verarbeitet ist, und das hoffentlich
dazu anregt, daß auch die türkische Volks-
kunde bearbeitet und insgesamt auf das Ni-
veau gebracht wird, das wir zum Beispiel für
die Märchen in dem Werk „Typen türkischer
Volksmärchen“ sehen.
Johannes Benzing
MARIE-THERESE DE MALLMANN :
Étude iconographique sur Manjusrî (Puhl.
de l’École Française d’Extrême-Orient,
Vol. LV). Paris: in Kommission bei Adrien-
Maisonneuve. 1964. 284 S., 16 Bildtafeln.
Die Verfasserin ist vor allem durch ihre
Veröffentlichung „Introduction à l’étude
174
Buchbesprechungen
d’Avalokitc^vara“ (Paris 1948) bekannt ge-
worden; ihre weiteren Publikationen finden
sich in der Bibliographie, S. 248, verzeich-
net. Als Quellen zur vorliegenden Studie
dienten vor allem die Sädhanas (Sädhana-
mäla = SM) und die Nishpannayogävali
(= NSP). Das letztere der beiden Werke ist
besonders wegen der ausführlichen Beschrei-
bung der Begleitfiguren des Manjushri auf-
schlußreich (S. 11 —16).
Irgendwelche Bezüge aus dem Vorstellungs-
kreis um Brahma bei der Herausbildung der
buddhistischen Gestalt des Manjushri sind
naheliegend (S. 16 f.). Die alten Bezeichnun-
gen Pancacira-kumära und Pancashikha ste-
hen wahrscheinlich mit der in Zentral- und
Ostasien üblichen, für die weit verbreitete
Meinung vom Ursprung der Gottheit in
China verantwortlichen Verbindung mit
einem fünfgipfligen Berg (Wu-T’ai-Shan) in
irgendeinem, noch ungeklärten, ursächlichen
Zusammenhang (S. 16—18).
Interessant ist ein Blick auf die Namen des
Gottes in menschlicher Gestalt (formes humai-
nes), d. h. mit nur einem Kopf und zwei Ar-
men. Man ist versucht, insbesondere in Hinsicht
auf den Buddhismus tibetischer Prägung (La-
maismus), in den verschiedenen Bezeichnungen
stets Hinweise auf verschiedene Aspekte mit
festen ikonographischen Eigenheiten zu sehen.
Das gilt besonders von Manjuvajra und
Dharmadhätu-Vägishvara. Wir erfahren aber,
daß nach den genannten Quellen Namen wie
Mahjughosha, Manjushri, Manjuvajra, Dhar-
madhätu-Vägishvara, Manjukumära oder
Manjuvara, um nur einige zu nennen, wenig-
stens in Hinsicht auf die genannte Gattung
und dabei mit dem Dharmacakra-Gestus
(mudrä), ohne weiteres vertauschbar sind, zu-
mindest in der Frühzeit (Kap. I, S. 23). Bei
Formen mit Schwert und Buch trifft das u. a.
auf Manjushri, Manjuvajra, Vägishvara,
Manjughosha und Arapacana zu; Dharma-
dhätu-Vägishvara, Manjuvajra und Manjuku-
mära treten dann auch wieder unter den
mehrköpfigen und mehrarmigen Aspekten
(formes surhumaines, Kap. II, S. 47 ff.) auf.
Wie verworren, fießend und daher auch un-
sicher im Buddhismus eine stabile Kongruenz
zwischen Ikonographie und Namen sein
kann und wie fiktiv daher die in unseren
Handbüchern angewendete Ikonographie oft-
mals sein mag, zeigten schon die Versuche
von B. Bhattacharyya, mit dem sich die Ver-
fasserin des öfteren auseinandersetzt.
Kap. II (S. 69—100) und IV (S. 101 — 183)
widmen sich anhand dreier Mandalas des
Manjuvajra und Dharmadhätu-Vägishvara
der NSP einem weniger bekannten ikono-
graphischen Bereich. Besonderen Hinweis ver-
dienen dabei in Kap. IV neben den sogenann-
ten Dhyänibuddhas mit drei Köpfen und
sechs Armen Tabellen S. 104—107),
Zur seltenen Ikonographie von Prajnän-
taka beziehungsweise Aparäjita in der Göt-
terversammlung dieser Mandalas sei der Hin-
weis auf Raghu Vira und Lokesh Chandra,
A New Tibeto-Mongol Pantheon (NTMP),
Vol. 1 (New Delhi 1961), Tafel 49; Vol. 2
(1962), Tafel 72; Vol. 5 (1962), Tafel 305
und Vol. 6 (1962), Tafel 371 gestattet; des-
gleichen betr. Vighnäntaka NTMP, Tafel 52,
76, 306 und 369; betr. Nîladanda NTMP,
Tafel 60, 82 und 250. Zu Mahäbala sollte die
ausführliche Studie von F. A. Bischoff, Arya
Mahâbala-Mahâyânasûtra, Paris 1956, er-
wähnt werden. Ushnishacakravartin findet
sich in NTMP, Tafel 51, 74 und 307; Sumb-
haräja NTMP, Tafel 58 und 81; die Göttin-
nen auf S. 141 und 162 (déesses des organes
des sens beziehungsweise huit déesses du
culte) zeigt NTMP auf Tafel 163 ff. bezie-
hungsweise 430 ff.
In einem Abschnitt des Kap. IV (S. 174—
183) über die hinduistischen Gottheiten in
den genannten buddhistischen Mandalas er-
gänzt die Autorin die diesbezüglichen An-
gaben bei B. Bhattacharyya, The Indian
Buddhist Iconography. Gerade diese am Ende
behandelte Gruppe im Mandala um Man-
jushri ist geeignet, nochmals an den Anfang
des Buches zurückzuführen und daran zu er-
innern, wie auch Manjushri selbst letzten
Endes ein Derivat des brahmanischcn Götter-
himmels ist, aus dem sich bereits im 7. Jh. ein
ansehnliches buddhistisches Pantheon heraus-
gebildet hat.
Die Anhänge bieten die für die Ikono-
graphie des Manjushri wichtigen beschreiben-
den Stellen der Sädhanas und für die Man-
dalas die der Nishpannayogävali im Urtext.
Man könnte einem so präzisen Werk nur
noch wünschen, daß in einem besonderen Ka-
pitel die Ikonographie des Manjushri und sei-
ner verschiedenen Aspekte Im sogenannten
Lamaismus zusammengefaßt würde, weil da-
mit dann die Linien in jene Vorstellungswelt
gezogen werden, in der eine so überragende
Gestalt des buddhistischen Pantheons wie
Manjushri noch bis in die Gegenwart hinein
lebendig geblieben ist.
Buchbesprechungen
175
Nachdem uns die Autorin nunmehr die
grundlegenden ikonographischen Werke über
Avalokiteshvara und Manjushri geschenkt
hat, dürfen wir vielleicht hoffen, daß von ihr
auch das Material zur Ikonographie des
Vajrapäni mit der gleichen Gründlichkeit vor-
gelegt wird, womit unsere Kenntnis von den
Realien einer so bedeutenden Gruppe, wie
sie die Rigs-gsum-mgon[dgon]-po darstellen,
bereichert würde.
Siegbert Hummel
ROBERT B. EKVALL:
Religious Obscrvances in Tibet: Patterns
and Function. Chicago und London: The
University of Chicago Press. 1964. XVI +
313 S. Preis: sh. 63/—.
Grundidee des Buches ist die Darstellung
der religiösen Haltung des Tibeters als Ant-
wort auf die persönlichen Nöte und auf die
Anliegen der Gesellschaft sowie des modi-
fizierenden und prägenden Einflusses der Re-
ligion auf die mancherlei Aspekte der tibeti-
schen Kultur. Dabei zeigen sich gewisse Un-
terschiedlichkeiten zwischen den kanonischen
Formen des Buddhismus und der frommen
Praxis des Volkes, die z. T. aus vorbuddhisti-
schen Quellen gespeist wird und in Hinsicht
auf die Stabilität der Gesellschaftsordnung
als Funktion zweifellos die größere Bedeu-
tung hat. Der gesamte religiöse Habitus des
Tibeters darf darum nicht auf dem Hinter-
grund der als Lamaismus bekannten Form
des Buddhismus gesehen und aus diesem her-
aus verstanden werden. Das religiöse Klima
gehört einer tieferen, allerdings rassisch und
kulturell höchst komplexen Schicht an, die
dem tibetischen Buddhismus wie auch der
sogenannten Bon-Religion erst ihr Gesicht
gab. Von dort stammt schon das Aufgeschlos-
sensein des Tibeters für den sogenannten
übersinnlichen Bereich. Das hat ihn später für
die Aufnahme tantrischer Lehrinhalte und
Praktiken prädestiniert. Der chinesische Prä-
gestempel, der manchmal zu erkennen ist,
berührte nur mehr die peripheren Bezirke.
Dieser grundsätzlichen Erörterung in den
ersten beiden Kapiteln, die zugleich einen
guten Einblick in das Wesen der Bon-Religion
mit brauchbaren Realien vermittelt, sollte
man vorbehaltlos zustimmen. Bedenken wird
man wohl dort anmeldcn dürfen, wo das tri-
chotomische Weltbild als buddhistisches Mit-
bringsel in Erwägung gezogen werden soll.
Das dualistische Prinzip, vielleicht iranischer
Herkunft, ist der archaischen dreigeschossigen
Welt möglicherweise später eingegliedert wor-
den. Schwerlich wird man etwa die alttibeti-
schen Vorstellungen von der Weltsäule (tib.:
Ka-ba) und vom Weltbaum, der die drei
Stockwerke durchwachsen hat, oder die tri-
chotomischen Reminiszenzen im Weltbild der
den Tibetern verwandten Na-khi buddhisti-
schen Einflüssen zuschreiben können. In
der vielschichtigen frühtibetischen Kultur
dürften auch die heiligen Berge, z. T. als
Yakstier gestaltet, nicht post mortem ver-
göttlichte Ahnen, sondern Sippenursprung be-
deutet haben. Hier Hegt an der Wurzel die
Idee vom Bla-gnas als Lebensquell des Stam-
mes. Der Berg hat dann als Ort der Rück-
kehr aller Stammestoten vieles mit der kos-
mischen Säule gemein, die nach megalithischen
Vorstellungen eines genealogischen Weltbil-
des den irdischen Bereich mit dem der Ver-
storbenen verbindet (der Rez.).
Das bestimmende und prägende Verwo-
bensein in die Kultur und soziale Struktur
des Landes schuldet die in Tibet gültige Re-
ligion, wie schon angedeutet, nicht der Ver-
breitung eines Lehrgebäudes, sondern einer
religiösen Haltung, deren einzelne Aspekte
sich im Chos-las ( = religiöses Gebaren) ver-
einen, das, von einer spezifischen Profilierung
abgesehen, auch der lebendige Unterstrom des
Bon-Glaubens ist (Kap. 3). Hier und im fol-
genden zeigt sich die geniale Anlage des Bu-
ches, dessen durchsichtige Gliederung (Kap.
4—9) den sechs Aspekten von Chos-las nicht
auf Grund einer bloßen Konstruktion des
Verfassers, sondern der tibetischen Deutung
gemäß entspricht.
Kapitel 4: Dad-pa, der erste der Aspekte
als eine gewisse Grundstimmung oder als
Habitus (tib.: rNam-’gyur), der auch die
folgenden Gepflogenheiten (observanccs) be-
einflußt, wird gern mit „Glaube“ übersetzt
und als Tür zu einem segensreichen Leben
(tib.: dGe-bai-sgo) bezeichnet. Dazu gibt der
Verfasser eine brauchbare Terminologie des
Begriffs in einer überraschenden Fülle, wie
überhaupt die den einzelnen Kapiteln beige-
gebenen Listen aller Varianten des jeweils
fraglichen Terminus unsere besondere Beach-
tung verdienen.
Kapitel 5: Chos-’don als die in Worte ge-
faßte Entäußerung von Dad-pa; darum auch
als Ngag-las (= sprechendes Gebaren) be-
zeichnet. Chos ist letztlich das Gesetztsein
aller fundamentalen Bedingungen der Exi-
176
Buchbesprechungen
stenz, das sich im Naturgesetz und im Ge-
setz der sittlichen Verpflichtungen entfaltet,
in den Augen des Buddhisten aber in Gau-
tamas Verkündigung seinen tiefsten und rein-
sten Ausdruck fand. Diese Lehre des Erhabe-
nen sowie die gesamte lamaistische, dem
Außenstehenden oft sinnlos erscheinende For-
melsprache sind nur darum für das tibetische
Volk ein lebendiges Bindeglied und in der
tibetischen Kultur von einender Funktion,
weil sie vom Unterstrom des gemeinsamen
Dad-pa getragen und von daher Ausdruck
für gemeinsames Chos-las sind.
Kapitel 6: mChod-pa als dingliche Ver-
ehrung. Das Überreichen von Gaben, eine
merkwürdige, das gesamte gesellschaftliche
Leben bestimmende Eigenart des Tibeters, war
von jeher mehr als bloße Geste und steht
unter den verbindenden gesellschaftlichen
Funktionen obenan. Im Gebiet des Religiösen,
jedoch nicht erst seit Einführung des Buddhis-
mus, ist diese Gepflogenheit mChod-pa. Hier-
her gehören vor allem die Opfer. mChod-pa
ist gleichsam körperlicher Aspekt (tib.: Lus)
von Chos-las, zu dem dann auch Phyag (Kap.
7) und bsKor-ba (Kap. 8) gehören. Dabei
entspricht die Dreiheit aus Dad-pa als gei-
stiger Aspekt von Chos-las und Ausdruck für
Thugs (Sems), mChod-pa und schließlich
Chos-’don als das Lus und Thugs verbin-
dende Element der Stimme (tib.: gSung be-
ziehungsweise Ngag) dem dreifachen Wesen
alles Seienden. Der Verfasser gibt in der Ge-
samtdarstellung der verschiedenen Kategorien
von mChod viele unbekannte Einzelheiten,
bes. zu dMar-mchod (Selbstopferung durch
Feuer) und auf S. 166—169 zu Nye-bar-
spyod-pai-mchod-pa mit den zugehörigen
verschiedenen Mudräs (S. 220). Hier sei auf
Tribus, 13, S. 67, Nr. 72 452, verwiesen,
dessen Bericht nunmehr zu ergänzen ist. Letzt-
lich ist auch das Überreichen von Gaben im
profanen Sektor religiös durchdrungen und
von mChod nicht abzulösen. Auf das Ganze
hat gerade diese Art von Chos-las die tibe-
tische Kultur mit einer Art Wertsystem be-
reichert, das von hohen sittlichen Vorstellun-
gen getragen ist.
Kap. 7: Phyag (Phyag-’tshal), die Ver-
ehrung durch Gesten, ist Ausdruck der inne-
ren Haltung (rNam-’gyur) gleichsam als
Sprache ohne Laut. Dabei wird deutlich, wie
bei dem Gewicht von Phyag auch der kon-
templative Homo religiosus fortgesetzt zu
höchster Aktivität aufgerufen ist. Das ent-
spricht dem tibetischen Naturell, das von der
ständigen Herausforderung seiner Umgebung,
besonders durch Klima und Landschaft, für
eine Fortsetzung der Abwehr in die über-
sinnlichen Bereiche hinein disponiert wurde,
denen er mit Phyag begegnet. Phyag-’tshal
ist wiederum nicht erst buddhistisches Erbe
und Ihre Bedeutung geht, wie schon gesagt,
weit über die religiöse Sphäre hinaus. Sie
zeigt sich als Formung von Gestus und Hal-
tung des tibetischen Menschen in einer auf-
fallenden Kultur des körperlichen Ausdrucks.
Kapitel 8: bsKor-ba ist der religiöse Tur-
nus, vornehmlich die sakrale Umwandlung.
Hier wird man wohl des Verfassers Vermu-
tung eines arischen Ursprungs bezweifeln
müssen. Bekanntlich findet sich der religiöse
Turnus in seiner Verbreitung gern in einem
Zusammen mit Vorstellungen vom heiligen
Stein, heiligen Baum und dem Lebenswasser.
Dieser Komplex wird seinen Ursprung in
einer vor-arischen Schicht haben. Diesbezüg-
liche archaische Traditionen sind mit dem
’Phrul-snang von iHa-sa wie mit der Sham-bha-
la-Eschatologie verbunden und haben ihre über-
raschenden Parallelen in jüdischen Vorstellun-
gen von der Apokalypse und vom Heilig-
tum zu Jerusalem mit mediterran-megalithi-
schen Traditionen. In dieses sich weit nach
Asien hinein erstreckende Stratum gehört
auch das Mandalaprinzip, dessen Ursprünge,
auch für Indien, wahrscheinlich im Megalithi-
kum zu suchen sind. Im Mandala spielt neben
dem Moment der Emanation auch das der
vorbereitenden meditativen Umwandlung
eine bedeutende Rolle (vgl. den Rez. in: Die
Kathedrale von Lhasa, Imago mundi und
Hcilsburg, Antaios 1965, mit Lit.-Hinwei-
sen). Vielleicht darf hier hilfsweise noch an
die belagernde Umwandlung Jerichos erin-
nert werden. bsKor-ba scheint doch wie die
übrigen Aspekte von Chos-las ein urtibeti-
scher Faktor in der Kultur des Schneelandes
zu sein.
Kapitel 9: Mo. Die allerdings nur bedingt
in die Reihe der verschiedenen Weisen von
Chos-las aufgenommene Divination hat über
den vulgär-abergläubigen Gebrauch hinaus-
gehend zur Voraussetzung die Überzeugung,
daß die Dinge und Ereignisse, die räumlich-
zeitlichen Zusammenhänge und der Mensch
selbst samt ihren Veränderungen Momente
eines Bezugssystems der den Ablauf des
Weltgeschehens bestimmenden Faktoren sind.
Damit wird auch das Verhalten aller Glie-
Buchbesprechungen
der dieses Systems von Einfluß auf den Zu-
stand des Ganzen und Ausdruck für das kos-
mische Kräftespiel sein. Auspizien (tib.:
rTen-’brel) schließen darum neben Omina
(tib.: ITas und brTags), d. h. sich vom Wil-
len des Menschen unabhängig einstellendc
Zustände und Zeichen, auch Manipulationen
ein, die zielbewußt beabsichtigt sind, zu-
nächst nur eine Hindeutung darstellen, deren
Inhalte sich aber magisch verwirklichen
können. Man darf dem Verfasser für die
Darstellung dieser höheren Einsicht In das
komplizierte Gebiet der Divination dankbar
sein (vgl. auch den Rez. in: Günstige und
ungünstige Zeiten und Zeichen nach dem
Tibetischen des Chags-med-rin-po-che, Asian
Folklore Studies, XXII).
Alle die genannten Funktionen von Chos-
las entsprechen, wie sich zeigt, den drei Kon-
stituenten menschlichen Wesens nach tibeti-
scher Auffassung: Sems (das hintergründige,
psychische Element) = Kap. 4, Ngag (sprach-
liche, laut- und formelhafte Äußerung) =
Kap. 5 und Lus (leibliche, körperliche Dar-
stellung) = Kap. 6—9.
Im Schlußkapitel (10) zeigt der Verfasser
die verschiedenen Aspekte von Chos-las mit
Hilfe einer Skizze aus dem Leben eines
Tibeters nicht nur im lebendigen Alltags-
zusammenhang, sondern auch in ihrer heil-
samen Funktion im Einzelleben wie in der
Gesellschaft.
Am Rande sei auf einige Druckfehler hin-
gewiesen. Lies in der Transkription des Ver-
fassers S. 25; adGra iHa; S. 61: dGe Bai
rTen; S. 131; NYi Ma gCig Gi CHos aDon;
S. 160: mCHod Pa Sreg; S. 174: bCo INGai
mCHod Pa; S. 213: Yan Lag; S. 291: Srung
mDud. gYung Drung Sems dPaa (S. 23) ent-
spricht im Buddhismus doch wohl dem Byang
CHub Sems dPaa.
Der Druck der sich anschließenden Biblio-
graphie und der zahlreichen Anmerkungen
hätte die Mühe nicht scheuen sollen, die Na-
men der Autoren (zum Beispiel Jäschke oder
Schäfer, statt Jaschke und Schäfer) mit den
nötigen diakritischen Zeichen zu versehen.
Hier steht eine gewisse Sorglosigkeit im Wi-
derspruch zur Gewissenhaftigkeit des Autors,
dessen Werk man des öfteren lesen wird, um
auch nur annähernd in die Fülle der Ein-
sichten und Realien einzudringen, die er in
jahrelangem Aufenthalt im tibetischen Raum
und in Zusammenarbeit mit ersten tibetischen
Autoritäten erarbeitet hat. Hier ist uns ein
MÄRCHEN AUS TIBET.
Herausgegeben und übertragen von Hel-
mut Hoffmann. Düsseldorf und Köln: Eu-
gen Diederichs Verlag. 1965. 256 S. Preis:
Halbleinen DM 15.80, Ganzleder mit Schu-
ber DM 32.—.
Der gleiche Verlag hatte im Jahre 1923
unter dem Titel „Märchen aus Turkestan und
Tibet“ durch G. Jungbauer eine Sammlung
herausgegeben, bei der jener Teil, der den
Anspruch auf tibetische Provenienz erhob,
insofern enttäuschen mußte, als es sich um
Märchen handelte, die zwar in Tibet bekannt,
aber wie die durch Schiefner und Ralston
1906 veröffentlichten „Tibetan Tales“ indi-
scher Herkunft sind. So blieb eine Sammlung
echt tibetischer Märchen bislang ein Deside-
ratum. Das 1963 durch H. Bräutigam in Ber-
lin unter dem Titel „Die Prinzessin Wen
cheng und der Gesandte aus Lhasa (Volks-
märchen, Legenden und Tierfabeln der Ti-
beter)“ publizierte Buch hat den empfind-
lichen Nachteil, daß jede Quellenangabe fehlt
und sich so das Maß der Freiheit des Über-
setzers leicht der Kontrolle entzieht. Es ent-
sprechen S. 69, 142 f. und 152 f. bei Bräu-
tigam den Nummern 20,13 und 26 bei Hoff-
mann.
Die nunmehr durch einen der besten Ken-
ner tibetischer Sprache und Kultur veran-
staltete Sammlung enthält zwar auf S. 102—
230 (Nr. 22—38) wiederum eine Fülle von
genuin indischem Geistesgut, deren Aufnahme
nur dort gerechtfertigt erscheint, wo typisch
tibetische Weiterentwicklungen nachweisbar
sind oder Erzählungsstücke tibetischer Her-
kunft eingeschoben wurden, aber die erste
Gruppe (Nr. 1—21 = S. 5—102) bietet
immerhin neben längst Bekanntem manches
Neue. Vielleicht hätten die diesbezüglichen
wertvollen mündlichen Überlieferungen (Nr.
19—21) nach Umfragen bei tibetischen Ge-
lehrten, die sich z. Z. in Europa und in den
USA aufhalten, noch erweitert werden kön-
nen. Auch ein Hinweis auf die interessanten
Beispiele in A. Tafel, Meine Tibetreise, Bd.
II, Stuttgart 1914, S. 332 ff. wäre wenigstens
178
Buchbesprechungen
in den Anmerkungen angebracht gewesen.
Eher sollte dann der dafür nötige Raum im
Buche auf Kosten der zweiten Gruppe ge-
wonnen werden. In einer wissenschaftlichen
Ausgabe würde man bei den Berichten indi-
scher Herkunft ein sorgfältiges Abheben der
verschiedenen Schichten erwarten, weil sich
daraus wertvolle Einblicke in die Psyche des
Tibeters ergeben. Das alles aber würde wohl
der Charakter der Sammlung verbieten, die
ganz offensichtlich eine Auswahl für einen
breiteren Leserkreis sein will und darum
auch nicht überfordert werden sollte. Da die
tibetische Märchenforschung, ein noch nahezu
unbetretenes Gebiet, bei der überragenden
Bedeutung des Märchens im erzählfreudigcn
Tibet so ungemein wichtig für die tibetische
Kulturgeschichte ist, möchte man es fast be-
dauern, daß der Verfasser bei dem gewählten
Forum nicht wenigstens eine gründlichere
Einführung unternommen hat, die der weni-
ger wissenschaftlich Interessierte ohne Scha-
den überschlagen könnte. Dort wäre zugleich
der Platz für eine unerläßliche Scheidung
zwischen Fabeln, Schwänken, Legenden und
ätiologischen Sagen, zu denen doch etliche der
Geschichten gehören, und den eigentlichen
Märchen. Insofern ist der Titel des Buches
wohl etwas zu allgemein gehalten.
Was die vom Verfasser als Erstübersetzung
bezeichneten Stücke 1—3 angeht, so könnte
u. a. bei den Lit.-Hinweisen zu 1 vermerkt
werden, daß M. Hermanns zusammen mit
weiteren Varianten der alttibetischen Kos-
mogonic einen ähnlichen Bericht in Anthro-
pos, Vol. 41—44, S. 275 ff. (Schöpfungs- und
Abstammungsmythen der Tibeter) herausge-
geben hat. Die Eigeburt, die hier, wie man
dem Verfasser zustimmen muß, mit irani-
schen Elementen verkleidet ist und eines der
noch nicht geklärten kosmologischen Probleme
darstellt, dürfte für Tibet möglicherweise aus
Gebieten stammen, die für die früheste ur-
geschichtliche Besiedelung des Landes im Süd-
osten von Bedeutung waren. Immerhin mag
erwähnt bleiben, daß die Geburt aus dem Ei
auch in Sibirien bekannt ist (zum Problem
vgl. S. Hummel, Die Bedeutung der Na-khi,
in: Monumenta Serica, XIX, S. 314 f.); auf
manichäische Anklänge der diesbezüglichen
iranischen Einflüsse hat G. Tucci in „East
and West“, VI, 3, S. 201 f. aufmerksam ge-
macht. Zum Abschnitt 2 vgl. die Übersetzung
durch M. Hermanns aus dem Ma-ni-bka’-’bum
(in: Anthropos, 1. c., S. 817 ff.). Das himm-
lische Seil und die Himmelsleiter (Nr. 3) ge-
hören sicher zwei ganz verschiedenen Vor-
stellungsschichten an (vgl. S. Hummel, Das
Motiv der Nabelschnur in Tibet, in: Antaios,
IV, S. 582 ff.). Hinter dem Affen- und
Hundetotem (Nr. 1) verbergen sich wie hin-
ter der Feindschaft von Pferd und Yak (Nr.
4) wohl verschiedene Schichten der komplexen
tibetischen Kultur, wobei wir uns beim Affen-
totem wie bei der Eigeburt auf Spuren, nach
v. Eickstedts Diktion wahrscheinlich palämon-
golider, in Kong-po bis in die Gegenwart
besonders deutlich ausgeprägter Ureinwohner
befinden, wie der Verfasser auf S. 234 auch
andeutet (vgl. S. Hummel, Günstige und un-
günstige Zeiten und Zeichen, in: Asian Folk-
lore Studies, XXII, Anmerkung 16. — ders.,
Die Bedeutung der Na-khi, 1. c.). Die Unter-
weltsfahrt der Ling-sa-schos-skyid (Nr. 7) hat
noch kürzlich durch H. Kasack in „Die Stadt
hinter dem Strom“, Frankfurt 1949, ein neues
Gewand gefunden. Zum Bericht von der Höl-
lenfahrt, insbesondere zum weißen und
schwarzen Mann beim Totengericht (S. 37),
vgl. die wertvollen Untersuchungen von P.
Poucha (Das tib. Totenbuch im Rahmen der
eschatologischen Literatur, in: Archiv Orien-
tälni, XX, S. 136 ff.); zum Problem der
ägyptischen Vorstellungen vgl. S. Hummel,
Zum Ursprung der Totengerichts- und Höl-
lenvorstellungen bei den Tibetern, in: ZMR,
1958, 1, S. 48 ff. Die Schwänke (Eulenspie-
geleien) des A-khu-ston-pa verdienen einen
Hinweis auf Kun-dga’-legs-pa (vgl. R. A.
Stein, Un saint poete tibetain, in: Merc. de
France 1964, S. 485 ff.). Das Motiv der
Vogelpredigt (Nr. 22) erinnert an die beson-
ders bei den bKa’-rgyud-pa beliebte und nur
z. T. von Indien her zu verstehende Bya-
chos-Erzählung.
Diese wenigen Hinweise wollen lediglich
als Anregungen für eine Kommentierung der
tibetischen Märchen usw. verstanden werden.
Man wird dem Verfasser dankbar sein müs-
sen, daß er mit diesem Buche die Fachgelehr-
ten wieder auf die Notwendigkeit der tibe-
tischen Märchenforschung aufmerksam ge-
macht hat und einen breiteren Leserkreis er-
neut auf den Reichtum der tibetischen Le-
bensweisheit, die uns in jeder der Geschichten
dieser schönen Auswahl erquickend begegnet.
Siegbert Hummel
]. F. ROCK:
Na-Khi Manuscripts, herausgegeben v. Kl.
L. Janen (Verzeichnis der Orientalischen
Buchbesprechungen
179
Handschriften in Deutschland, Bd. VII).
Wiesbaden: Franz Steiner Verlag. 1965.
2 Bdc., zus. XVII + 485 S. mit 2 Farb-
tafeln, 8 (Bd. 1) und 31 (Bd. 2) Abbildun-
gen, 140 Faksimile-Reproduktionen von 19
Manuskripten (Bd. 2).
Die Bedeutung der Na-khi, wegen der ar-
chaischen Elemente ihrer Kultur insbesondere
für die Zcntralasienforschung, wurde vom
Rez. bereits in Tribus, Bd. 13 (S. 163—165),
gewürdigt. Das dort besprochene Werk des
1962 verstorbenen Prof. J. F. Rock, des
besten Kenners dieses Volkes (The Life and
Culture of the Na-khi Tribe of the China-
Tibet Borderland, Wiesbaden 1963), ist als
Einführung in das Verständnis der Na-khi
Handschriften gedacht, die aus seinem Besitz,
z. T. über das Istituto Italiano per il Medio
ed Estremo Oriente in Rom, von der West-
deutschen Bibliothek in Marburg erworben
wurden.
Bei der Katalogisierung aller orientalischen
Handschriften in Deutschland, wie sie 1957
durch die Deutsche Morgenländische Gesell-
schaft beschlossen, durch Wolfgang Voigt tat-
kräftig in Angriff genommen und von W.
Heissig mit den mongolischen Handschriften,
Blockdrucken und Landkarten als 1. Band
(Wiesbaden 1961) eröffnet wurde, kommt
der Literatur der Na-khi ein aus dem Gan-
zen herausfallender, eigenständiger Platz zu.
Die Piktographic, in der diese Handschriften
abgefaßt sind, ist nämlich nur ein mnemo-
technisches Hilfsmittel. Diese Literatur kann
also nicht eigentlich übersetzt werden. Man
muß den Sinngehalt des jeweiligen Manu-
skriptes vor der Lesung schon eingehend ken-
nen. Die angewendete Bilderschrift ist ledig-
lich eine Gedächtnisstütze beim Vortrag des
Inhaltes. Die wichtigsten Fakten sind pikto-
graphisch fcstgelegt. Die sich darum ranken-
den Gedankengänge muß der Lesende er-
gänzen können. Nur zur Transkription bud-
dhistischer Formeln (Mantras und Dhäranis)
gebraucht man eine etwas ältere Silbenschrift.
Für Abstrakta, Fremdworte, Eigennamen und
grammatische Partikeln werden die pikto-
graphischcn Ideogramme, u. U. mit zusätz-
lichen Determinativen, ausnahmsweise pho-
netisch verwendet. So wird selbst ein mit
dem Text vertrauter Na-khi das gleiche Buch
zwar stets mit dem gleichen Sinngehalt, aber
nie mit den gleichen Worten verlesen können,
wenn er cs nicht auswendig gelernt hat (Ri-
tualtextc werden singend vorgetragen). Diese
Piktographic ist somit im Effekt nicht einmal
mit unseren Noten vergleichbar.
In dem Maße als die Na-khi Kultur heute
vor unseren Augen vernichtet wird und uns
daher Na-khi Gelehrte nicht mehr zur Ver-
fügung stehen, wird es auch unmöglich, die
Handschriften voll auszuwerten. Prof. Rock
dürfte der einzige Europäer gewesen sein, der
die Na-khi Piktographic ausreichend zu lesen
verstanden hat. Er konnte bei seinem etwa
zwanzigjährigen Aufenthalt im Lande dieses
interessanten und sympathischen Volkes eine
ansehnliche Reihe wichtiger Bücher mit Hilfe
einheimischer Gelehrter (Dto-mba) übertra-
gen und veröffentlichen. Seine Handschriften-
sammlung, insgesamt etwa 8000 Stüde umfas-
send, ist auf verschiedene Eigentümer über-
gegangen (vgl. Bd. I, S. XI), darunter 1115
Manuskripte in die Westdeutsche Bibliothek.
Diese Marburger Sammlung wurde in den
vorliegenden beiden Bänden registriert, die
bedeutendsten Handschriften (527 Stück) je-
doch durch Prof. Rock mit einer ausführlichen
Inhaltsangabe versehen, wodurch wenigstens
die wesentlichen Aussagen festgehalten und
der Vergänglichkeit entrissen werden konn-
ten. Hier liegt die große Bedeutung dieses
Katalogs für die künftige Na-khi Forschung.
Die Ordnung dieser Handschriften (Sec-
tion B = S. 43—294) folgt einer Liste der
Na-khi Zeremonien samt ihren Aufgaben mit
den zugehörigen Texten (Section A = S. 1 —
42). Innerhalb der Section B sind dann die
zu den verschiedenen Zeremonien gehörigen
Texte alphabetisch geordnet. Das gesamte
Material ist religiöser Art. Section C enthält
19 äußerst seltene Handschriften in Faksimile-
Reproduktion, darunter eine in der eingangs
erwähnten Silbenschrift.
Von besonderem Interesse dürfte der in
Bd. I, S. 179 ff. beschriebene, auf 31 Tafeln
(nach Photos) dargestellte und Hä-zhi-pi ge-
nannte Weg sein, den die Toten im Jenseits
zu gehen haben. Er erinnert uns, insbeson-
dere mit dem Totengericht, den verschiedenen
Höllenstrafen und den Seinsbereichen mögli-
cher Wiedergeburt an die berühmten tibeti-
schen Bar-do-Bücher vom Nachtodzustand.
Die lamaistisch-buddhistischen Einflüsse sind
auffallend. Trotzdem ist die ältere nicht-
lamaistische, z. T. schamanistische Schicht in
diesem bei den Na-khi höchst komplexen
Vorstellungsbercich noch erkennbar geblieben,
vor allem in der Rückkehr der Toten, die
ihre Reise in Gestalt einer Schlange auf einem
180
Buchbesprechungen
Pferde(!) reitend antreten, zu den Ahnen
über neun Hügel (S. 175 u. 249).
Die mimische Seilknüpfung beim Hoch-
zeitszeremoniell (S. 53) ist auch den Tibetern
bekannt und wahrscheinlich sehr alte Über-
lieferung (vgl. S. Hummel, Das Motiv der
Nabelschnur in Tibet, in: Antaios, IV, S.
575).
Interessant Ist auch jene archaische nicht-
animistische Vorstellung, wonach der Ver-
storbene durch eine Figur (Nv), der Speise
und Trank vorgesetzt wird, real vergegen-
wärtigt werden kann. Das erinnert uns wie-
derum an die tibetischen Totenbräuche.
In Bd. II fällt besonders die Tafel V (zu
S. 262 f.) mit Frosch als Träger des kosmi-
schen Diagramms der Neun Mi-Wua (tib.:
sMe-ba) auf. Der Frosch (Bpa, tib.: sßal)
kann sich wohl neben der von Rock vermu-
teten Anspielung auf die chinesischen acht
kosmischen Diagramme (chin.: Pa-Kua) auch
auf die Schildkröte beziehen (tib.: Rus-sbal),
die in Tibet wie der Frosch der Na-khi ge-
mäß altchinesischcr Tradition Träger der
Neun sMe-ba ist (vgl. S. Hummel, Kosmi-
sche Strukturpläne der Tibeter, in: Geogr.
Helvetica 1964, 1).
Mit Erfolg wird man beim Studium der
beiden Bände „A Na-Khi-English Encyclo-
pedic Dictionary“ benutzen, von dem seit
dem Tode des Verfassers, Prof. Rock, in Rom
1963 der 1. Band herausgekommen ist. Bei
der großen Bedeutung der Na-khi für unsere
Kenntnis von den frühen religiösen Vorstel-
lungen in Zentralasien sollte der Nakhilogie,
als deren eigentlicher Begründer J. F. Rock
anzusehen ist, künftig größere Aufmerksam-
keit geschenkt werden.
Slegbert Hummel
CHRISTOPH v. FÜ RER-H Al MENDORF:
The Sherpas of Nepal — Buddhist High-
landers. London: John Murray. 1964. XIX
+ 298 S. mit 65 Abb., 2 Karten. Preis:
sh. 35/—.
Die ethnologischen, kultur- und religions-
geschichtlichcn Untersuchungen des Verfassers
bei den Shcr-pa umfassen den Zeitraum von
1953—1962. Das vorliegende Buch behandelt
hauptsächlich die Verhältnisse in Khum-bu,
dem bedeutendsten, in sich geschlossenen Sied-
lungsgebiet dieses durch seine Hochgebirgs-
träger rühmlich bekannten Volkes tibetischer
Herkunft südwestlich des Mt. Everest-Mas-
sivs (bes. 86°/87°, 27°/28°). Nachdem seit
1952 durch G. Tucci, D. Snellgrove, C. Jest
und die Japanese Expedition to Nepal Hi-
malaya die westlichen, mit Völkern tibeti-
scher Verwandtschaft besiedelten Gebiete
Nordnepäls erforscht und die Ergebnisse ver-
öffentlicht worden sind, erweitert sich nun-
mehr unser Bild auch in die südöstlichen
Flänge des nepalesischen Himalaya. Wann die
Sher-pa (= Shar-pa = Ostleute) dorthin ge-
kommen sind, wissen wir nicht. M. Hermanns
hält A-mdo für die ursprüngliche Heimat.
Einige der von tibetischen Verhältnissen ab-
weichenden Sonderentwicklungen lassen ver-
muten, daß die Niederlassung in Nordnepäl
wahrscheinlich doch noch im 1. Jahrt. n. Chr.
geschehen sein muß (d. Rez.). Merkwürdig ist
zum Beispiel die Gewohnheit, auf den ent-
sprechend der Jahreszeit in verschiedener
Höhenlage jeweils nur wenige Wochen be-
nutzten Weideflächen feste Häuser zu bauen,
zu denen eigene Felder mit Ackerbau gehö-
ren. Die Häuser des eigentlichen Wohnortes
werden kaum länger als 6—7 Monate be-
wohnt. Die durch die Europäer in Sikhim
und in der Hauptstadt von Nepal bekannt
gewordene Kartoffel wird in Khum-bu seit
der Mitte des 19. Jh. angebaut und hatte nicht
nur ein Wachstum der eingesessenen Bevölke-
rung und des Einwandererstromes, vornehm-
lich aus Tibet, zur Folge, sondern, besonders
in den letzten 50 Jahren, auch einen Auf-
schwung des Lamaismus (S. 5—11), dem der
zunehmende Wohlstand zugute kam (Kloster-
gründungen); vgl. den Autor in „Buddh. Ex-
pansion im Himalaya“ (Der Brockhaus-Greif,
1959, 18, S. 4).
Die Gesellschaft der Sher-pa (Kap. 2) be-
zeichnet der Verf. mit Recht insofern als eine
offene, als die Zuwanderer von der Teil-
nahme am sozialen und religiösen, rituell ge-
ordneten Leben nicht ausgeschlossen werden.
Lediglich zur streng eingehaltenen exogamen
Clan (tib.; Rus)-Ordnung und zu den allen
Angehörigen des Clans gemeinsamen Schutz-
göttern (tib.: Yul-lha bzw. dGra-lha) haben
sie keinen Zugang. Hinter diesen vorbud-
dhistischen Gottheiten unter Führung des
Khum-bu-yul-lha verbergen sich die schon
bei den Frühtibetern als archaische Vorstel-
lung nachzuweisenden, in Tibet und bei den
Na-khi noch heute verehrten Hüter eines
Bla-gnas, d. h. einer Örtlichkeit (bei d. Sher-
pa meist ein Berg), von der die Lebenskraft
des Clans abhängt (d. Rez.). Hier oder auch
im Kap. 6 (Religion) hätte der Verfasser
'
Buchbesprechungen
181
einiges aus seiner in Man, LV, 61 (Pre-
Buddh. Elements in Sherpa Belief and Ritual)
erschienenen, höchst bedeutsamen und in ver-
schiedener Hinsicht richtungweisenden Arbeit
aufnehmen können, zumal von der Vorstel-
lung um Khum-bu-yul-Iha Wege zur Lösung
der Frage nach der zentralen Gottheit der
Frühtibeter führen, wie der Rez. demnächst
in einer Arbeit zu zeigen versuchen wird.
Im 3. Kap., das im besonderen der Familie
gewidmet ist, fallen im Vergleich mit Tibet
einige Abweichungen in der Ausübung der
Polyandrie auf, die eine wertvolle Ergänzung
des durch Prinz Peter v. Griechenland u. zu
Dänemark (A Study of Polyandry, The
Hague 1963, Rez. S. Hummel, in: Tribus, 13,
S. 160 ff.) vorgelegten Materials bedeuten.
Die Männer einer Frau bleiben auf zwei be-
schränkt. Sie müssen dem gleichen Clan an-
gehören. Eine monogam geschlossene Ehe darf
später nicht polygam erweitert werden. Der
Ursprung der Polygamie wird entgegen der
Meinung des Verfassers (S. 70) vorläufig
noch immer in der Sorge um die Stabilität
des Besitzes zu suchen sein, wenn sich die
Polyandrie auch, wie in Tibet, bei den wohl-
habenden Schichten eingebürgert hat. In der
sogenannten Mag-pa (Sher-pa: Maksu)-Ehe,
bei der eine Familie ohne Sohn für die
Tochter einen Mann aufnimmt, bleibt nach
den Untersuchungen von M. Hermanns im
tibetischen A-mdo der Eingeheiratete ohne
Besitz; bei den Sher-pa dagegen übernimmt
er das Haus, wenn die Frau die Ehe löst. Sie
muß dann ihr angestammtes Heim verlassen.
Der größere Teil des Buches (S. 126—288)
ist den religiösen, vornehmlich lamaistischen
Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft ge-
widmet. Hier darf auf den wertvollen Auf-
satz des Verfassers in „Ethnologien“, NF 2,
1960, S. 12 ff. (The Role of the Monastery
in Sherpa Society) verwiesen werden. Wir
bewegen uns durchgehend in der tibetischen
Traditionsschicht. Der Buddhismus in dieser
seiner lamaistischen Form kam nach Khum-bu
etwa gegen Ende des 17. Jh. Als eine der
Ursachen für sein Aufblühen in den letzten
fünfzig Jahren erwähnten wir den wachsen-
den Wohlstand im Zusammenhang mit dem
Anbau der Kartoffel. Der tiefere Grund ist
jedoch in einem dem Sher-pa wie dem Tibeter
eigenen, religiösen Begehren nach frommen
Verdiensten zu suchen, das einer Ideologie
inneliegt, die durch den Buddhismus eindeu-
tig transzendental, im besonderen auf die
Gestaltung des Zustandes nach dem Tode,
ausgerichtet ist, sich aber ganz im profanen
Bereich bewegt. Dazu vermittelt das Schluß-
kapitel des Buches tiefe Einsichten in die
Psyche des Sher-pa und in die Hintergründe
seiner gesellschaftlichen Ordnung. Eine Sünde,
und das gilt in gleicher Weise von den reli-
giösen Verdiensten, gibt es nur in der Sphäre
der persönlichen Beziehungen zu den anderen
Lebewesen. Typisch für diese Beziehungen ist
die Achtung vor dem anderen. Die Toleranz,
mit der er diesem, seinen Gefühlen und Inter-
essen, begegnet, ist das auffallendste Charak-
teristikum der Gesellschaft der Sher-pa und
der in ihr gültigen Umgangsformen. Sie ga-
rantiert den lebendigen und dauerhaften Zu-
sammenhalt einer Gemeinschaft aus Clan und
Zugewanderten, die gegen die harten Gege-
benheiten ihres Lebensraumes zu bestehen hat.
Für den Rcligionshistoriker, insbesondere
den Tibetologen, sei auf S. 157 mit einem
interessanten Beitrag zu den höchst komple-
xen und nicht leicht entwirrbaren Vorstellun-
gen im Zusammenhang mit dem lamaistischen
Inkarnationsdogma hingewiesen. Der Ver-
fasser zeigt und begründet die seltene Mög-
lichkeit der Inkarnation eines Heiligen nach
seinem Tode gleichzeitig in drei verschiede-
nen Personen entsprechend der lamaistischen
Aufgliederung eines jeden Wesens in die drei
Konstituenten sKu (leiblicher Aspekt), Thugs
(geistiger Aspekt) und gSung (Stimme) als
das beide verbindende Element. Interessant
sind auch die ausführlichen Beschreibungen
der Herstellung und Anwendung von gTor-
ma (Kap. 6 passim), der Tshe-dbang-Riten
(S. 215), des ’Cham[s] (S. 217), der Toten-
riten (S. 224 ff.) und die eingehende Darstel-
lung der für ein Sher-pa-Dorf wichtigen
Institution einer Art von Laienpriestertum.
Der Dorfpricster, der den Titel Bla-ma nach
streng lamaistisch-buddhistischen Gesichts-
punkten zu Unrecht führt und ein Laie ist,
der durch einen anderen Dorfpriester oder
in einem Kloster unterrichtet wurde, ohne
Gelübde abgegeben zu haben, oder der früher
ein Mönch war, aber durch Heirat und Grün-
dung eines Hausstandes aus dem Klosterver-
band ausschied, darf gewisse Riten durch-
führen. In allen, die gesamte Dorfgemein-
schaft angehenden Festen, insbesondere im
Zusammenhang mit Saat und Ernte, aber
auch in einem gemeinsamen Bußzeremonicll
mit anschließenden Tshe-dbang-Weiheriten
zeigt sich das die Glieder der Gesellschaft
untereinander und mit dem klösterlichen
Zentrum verbindende religiöse Element in
182
Buchbesprechungen
Form von brauchbaren und wirkungsvollen
sozialen Institutionen.
Im 7. Kap., das sich den im Verhältnis zum
lamaistisch-buddhistischen Pantheon im Leben
der Sher-pa viel bedeutenderen, niederen
Gottheiten widmet, findet sich auf S. 254 ff.
auch ein zuverlässiger Bericht über die soge-
nannten IHa-pa. Das sind Medien, in denen
sich im Vergleich mit den durch hochgestellte
Srung-ma-Gottheiten besessenen sKu-rten
mehr niedere Angehörige aus dem vorbud-
dhistischen Pantheon kundtun. Hier begegnen
wir einer Form der schamanistischcn Besessen-
heit, die D. Schröder (Zur Struktur des Scha-
manismus, in: Anthropos, 50, S. 965) vom
Wanderschamanen mit seinen ekstatischen Jen-
seitsreisen unterscheidet. Diese IHa-pa sind
mit den Llü-bu der Na-khi verwandt. Der
vollständige Verlust des Bewußtseins und der
Rückerinnerung an die gehabten Zustände
ist für die intensivste Stufe des Besessenseins
bezeichnend. Man wäre in diesem Kapitel
dem Verfasser dankbar, wenn er das in Man
(l.c.) vorgelegte Material, das in der soge-
nannten Bon-Religion eine gewisse Rolle
spielt, aufgenommen hätte. Dem Tlbctologen
würde mühsame Arbeit erspart, wenn im
Buche die z. T. durch bisher unbekannte In-
halte höchst wertvollen Termini in tibetischer
Umschrift und nicht in der so leicht trügeri-
schen Aussprache wiedergegeben wären. Aber
diese Notiz am Rande kann die Bedeutung
des Werkes in keiner Weise schmälern. Bei
der Aufmerksamkeit, die heute mehr und
mehr der Kontaktzone der tibetischen Kultur
geschenkt wird, darf man dieser exakten Ver-
öffentlichung eine schnelle Verbreitung Vor-
aussagen.
Siegbert Hummel
J. E. van LOHUlZEN-de LEEUW:
Museum Rictberg. Indische Skulpturen der
Sammlung Eduard von der Heydt. Be-
schreibender Katalog. Zürich: Atlantis Ver-
lag. (1964). 250 S. mit zahlr. Abb. 8°.
[Ncbent.:] Indian Sculptures in the von
der Heydt Collection.
Nach den Katalogen der chinesischen und
der afrikanischen Skulpturen (vgl. Tribus 10,
201 und 13, 176 f.) folgt nun in der Reihe der
Publikationen des Rietberg-Museums der
Band mit den Skulpturen vorderindischer
Herkunft. Er entspricht im Format, Aufma-
chung, Bild- und Druckqualität genau seinen
Vorgängern und ist im Text wieder zwei-
sprachig, was seine Verbreitung und Brauch-
barkeit sicher erhöht.
Frau van Lohuizen stellt 47 Objekte vor,
die sie mit z. T. sehr einprägsamen und phan-
tasievollen Namen versieht: Göttliche Ek-
stase, Göttliches Liebesspiel, der Liebesbrief,
die nackte Schöne, la belle et la bete (letzte-
res leider zweimal). Überhaupt ist der Text
(etwa im Gegensatz zu dem Sirens) umfang-
reicher und, ohne an Klarheit und Prägnanz
zu verlieren, lockerer geschrieben, die Stücke
werden auch nach der künstlerischen Seite hin
interpretiert.
Vor allem aber sind die einzelnen Stücke
im Katalogstil ausführlich und eindringlich
geschildert. Da viele der Stücke in ihrer Her-
kunft offenbar nicht gesichert sind, war es
auch eine Aufgabe der Autorin, sie entspre-
chend dem Material, dem Stil und anderen
Kriterien ikonographisch und herkunftsmäßig
festzulegen. Manche dieser — sicher nicht
immer einfachen — Bestimmungen sind in
extenso vorgeführt, so daß über die Beschrei-
bung der Einzclstücke hinaus der Rahmen
indischer Kunst in einzelnen Epochen und
Regionen Immer wieder aufscheint. So wird
das Buch Im ganzen zu einem kleinen Kom-
pendium indischer Kunst in der Zeit zwischen
dem 2. und dem 18. nachchristlichen Jahr-
hundert. Dieses Bild ist natürlich schon an-
gelegt in der präzise formulierten Einführung
(Seite 7 bis 18), aber cs wird im Katalogtcil
mit vielen Einzelzügen bereichert. Ein brauch-
bares Glossar und ein gutes Register tun das
ihre, es noch leichter benutzbar zu machen.
Die Aufnahmen stehen in jener Mitte zwi-
schen Sachlichkeit und Effekt, die wissen-
schaftlichen Publikationen wohl ansteht. Na-
türlich wäre cs der Autorin nicht so leicht ge-
lungen, aus ihrem Katalog eine kleine Kunst-
geschichte Indiens zu machen, wenn die
Sammlung von der Heydt nicht über eine so
große Zahl ausgezeichneter Stücke verfügte,
die viele der wichtigsten Phasen und Denk-
mäler indischer Kunst repräsentieren. Glück-
liches Rietberg-Museum, das einen solchen
Überblick über die indische Kunst bieten kann
und das seine Bestände in so mustergültiger
Weise vorzulegen vermag!
F. Kußmaul
HENRY ORENSTEIN:
Gaon. Conflict and Cohesion in an Indian
Village. Princeton: University Press. 1965.
Buchbesprechungen
183
XII + 341 S., 12 Tafeln, 3 Karten. Preis:
S 8.50.
Das Buch basiert auf Feldforschungen des
Verfassers (assoc. Prof, of Anthropology der
Tulane-Universität) in einem Dorf nahe
Poona, 1954—55 und 1961. Wie der Unter-
titel besagt, sind es vorwiegend soziologische
Fragen, die zur Diskussion stehen — Familie
und Sippschaft, Kastenwesen, Jajmani-Sy-
stem und Verwaltung werden in ihren sozia-
len, religiösen, wirtschaftlichen und politi-
schen Aspekten behandelt, in ihren Inter-
relationen untersucht und als im Wandel be-
griffen analysiert: Dem Hauptteil, der das
traditionelle Dorfleben zur Darstellung bringt
(wobei der Klassiker indischer Dorfstudien,
Baden-Powell, trotz gegebenen lokalen Be-
zuges seltsamerweise nie erwähnt wird), fol-
gen zwei Kapitel, die dem sich 1954/55 ab-
zeichnenden Wandel und den 1961 eingetre-
tenen Veränderungen gewidmet sind. Der
Verfasser beschreibt somit nicht nur zwei,
sondern drei Stadien, von denen die ersten
beiden synchron aufgenommen wurden.
Die darin implizierte Zerlegung des Ma-
terials läßt Angaben darüber, wie die einzel-
nen Daten gewonnen und ihrem Gewicht
nach festgestellt wurden, wünschenswert er-
scheinen. Doch, abgesehen von einer Einfüh-
rung in seinen theoretischen Ansatz, sagt
Orenstein wenig über die Fcldforschungstech-
nik; v/Ir erfahren zwar, daß er ein Haus Im
Dorfe bewohnte, daß er Fragebogen benutzte,
Leute aller Kasten einzeln und in Gruppen
interviewte und Kontrollfragen stellte; wir
erfahren jedoch nicht, ob er mit Dolmetscher
arbeitete, wie er von den Dorfbewohnern
akzeptiert und eingeordnet wurde usw., als
ob ein Eindringling in Konfliktsituationen
eines Kastensystems nicht selbst ein wichtiges
Faktum wäre. Weiterhin muß man es zwar
akzeptieren, wenn der Verfasser das Dorf,
die Hauptsippen und Hauptpersonen mit
Teknonymcn bezeichnet, jedoch entzieht er
dem Leser jede Möglichkeit näheren „Kon-
takts“ mit den Dorfbewohnern, wenn er bloß
nicht näher gekennzeichnete „Informanten“
zitiert und auch ihre Kastenzugehörigkeit nur
gelegentlich angibt. So bleibt dem Leser keine
andere Wahl, als die Situationen mit des Ver-
fassers Augen und Argumenten zu sehen und
zu verstehen.
Nur wenige marginale Daten, wie zum Bei-
spiel Angaben über die Auswirkungen des 2.
Weltkrieges auf die wirtschaftliche Lage der
unteren Kasten, lassen eine widersprüchliche
Deutung zu — sie hier anzuführen, hieße
jedoch am Inhalt des Buches vorbeiargumen-
tieren. Es geht Orenstein vielmehr um eine
Illustration seiner im Eingangskapitel skiz-
zierten Theorie der Interrelationen von Kon-
flikt und Kohäsion, wobei er über moderne
amerikanische Arbeiten hinaus (und in viel-
leicht etwas zu betonter Opposition zu ande-
ren Autoren indischer Dorfuntersuchungen)
auf klassische Werke der europäischen Sozio-
logie (Durkheim, Simmel, Tönnies) zurück-
greift. (Nur am Rande vermerkt sei, daß die
dabei benutzte amerikanische Übersetzung
wegen der nur teilweisen Entsprechung von
„Gesellschaft“ und „society“ einerseits und
„Gemeinschaft“ und „community“ anderer-
seits gelegentlich einem volleren Verständnis
im Wege stand.) Die dabei entwickelte und
im Verlauf der Darstellung der Feldergeb-
nisse intensiv demonstrierte Gegenüberstel-
lung von political und social domination ist
nicht nur für den europäischen Soziologen
interessant, der seine herkömmlichen Kennt-
nisse auf das Gebiet der „nicht-westlichen“
Soziologie auszudehnen wünscht, sondern we-
gen der darin implizierten Interpretation des
sozialen Debitor-Krcditor-Verhältnisses, wie
es zum Beispiel in Verdienstfesten manifest
wird, gleicherweise für den Ethnologen.
Nicht minder relevant scheint mir Orcn-
steins Darstellung der segmentären Organisa-
tion der indischen Kasten in Maharashtra.
Von der minimal Lineage über das lokale
Segment bis zur maximal Lineage werden
(bei offenkundiger Vernachlässigung der eng-
lischen Diskussion zu diesem Thema und da-
mit auch ohne Strapazierung der eben ge-
nannten Termini) als Gruppen nach Zusam-
mensetzung und Interaktionen in den ver-
schiedenen Bereichen sozialer Aktivität be-
schrieben und, vor allem auch im affinalen
Bereich, zu einander in Beziehung gesetzt.
Das in drei Kapiteln geschlossen dargebotene
und durch einen Appendix über Verwandt-
schaftsterminologie erweiterte Material kann
mit Hilfe eines Registers durch weitere Ein-
zeldaten leicht ergänzt werden.
Die stereotype Vorstellung der indischen
Großfamilie erfährt hier eine (durch eine
reichhaltige indigene Terminologie sekun-
dierte) beachtenswerte Differenzierung und
Bereicherung, an der weitere Untersuchungen
sowohl indischer Dorforganisationen im be-
184
Buchbesprechungen
sonderen als auch linearer Sozialstrukturen
im allgemeinen nicht Vorbeigehen sollten.
Lorenz G. Löffler
GEORGES CONDOM1NAS:
üexotique est quotidien. Sar Luk, Viet-
nam central. (Collection Terre Hamaine.)
Paris: Pion. 1965. 538 S., 29 Zeichn., 4
Karten, 47 Abb. Preis: F. 30.85.
Wer immer, mit unseren herkömmlichen
ethnologischen Kategorien, versuchen sollte,
dieses Buch zu rubrizieren, wird es schwer
haben. Vielleicht kommen wir dem Thema
dann am nächsten, wenn wir sagen, es sei die
Ethnographie eines Ethnologen, wobei die
Konnotationen nach Belieben betont und
gruppiert werden dürfen. Und wer in den
ersten hundert Seiten eine Autobiographie
sehen will, wird bald umdeuten müssen auf
einen „nouveau roman“, sofern er nicht die
Forderung erhebt, daß dessen Inhalt erfunden
sein müsse. Ein Kunstwerk also — und um
so mehr, als all die Expeditionen in den All-
tag, in denen der Leser dem Verfasser in sei-
nem Bemühen, sich als Eurasier zu begreifen,
nahekommt, ihm später im Alltag der Ex-
pedition, in dem der Verfasser zu sich selbst
kommt, ein Pendant bieten. Das retrospektiv
zum Forschungsgegenstand erhobene Indivi-
dualleben löst sich auf in Personen und
Handlungen einer anderen Kultur, die wir,
ethnologischer Praxis gemäß, als Mnong Gar
bezeichnen.
Konventionell betrachtet also ein Expedi-
tionsbericht. Doch alle Reflexionen sind vor-
weggenommen, und die (lebensgefährlich be-
drohte) Physis des Autors verschwindet in
zwei unscheinbare Anmerkungen im Anhang
— stattdessen finden wir detailliertes ethno-
graphisches Material. Nur: der Leser schaut
dem Verfasser beim Notieren über die Schul-
ter und erlebt eine Technologie der Feldfor-
schung, über die er verwandtschaftlichen Zu-
gang zu einer Kosmologie findet, deren Vor-
Feld ihm dargeboten war. Fast unmerklich
wird hier der alte Vorwurf, daß „ihre“ Eth-
nien berühmten Ethnographen zu ähnlich
sähen, unterhöhlt: Könnte es nicht umgekehrt
sein, daß sie nur deshalb Erfolg hatten, weil
sie sich in ihren Ethnien in einem umfassen-
deren Sinne wiederfinden durften?
Condominas wirft die Frage nicht offen
auf, doch finden wir ihn auf halbem Wege
bei der Lektüre “ä la rcdierche du temps
perdu“. Oder ist es ein Versehen, daß aus-
gerechnet das Kapitel, das den Titel des Bu-
ches wiederaufnimmt, „la vic quotidlenne“,
den Alltag des Forschers umgeht, um dafür
das Nichtsichtbare zu Wort kommen zu las-
sen, wobei die Ernte im Mittelpunkt steht?
Und dann folgen — voll kriminalistischer
Spannung — zwei Kapitel „aux prises avec
le monde moderne“, die, während der Autor
in die Geschehnisse eingreift, zwei sich
schließlich überblendende Bewußtseinsebenen
gegeneinander setzen, die des humanen Euro-
päers und die des sich adaptierenden Einge-
borenen. Zusammen mit dem von ihnen ein-
geschlossenen Kapitel, in dem Zauberei ihre
blutig-ökonomische Seite offenbart, bilden
diese Darstellungen das beste, was ich —
wobei offenbar persönliche Erfahrungen mit-
spielen — bisher über das aktive Eingreifen
eines Forschers in ihn umgebende interethni-
sche Spannungsfelder gelesen habe. Doch
eben diese „Moderne“ sollte noch härter zu-
packen, indem sich die Spannungsfelder über
jedes Individuelle Maß hinaus steigerten:
Über einem zehntägigen „revisited“ liegt be-
reits der Schatten des für die Mnong Gar
wohl letzten Krieges.
Ich bin mir bewußt, mit diesem kurzen
Überblick noch nicht einmal eine kleine In-
haltsangabe geliefert, geschweige denn die in
diesem Werke verborgenen Werte gehoben
zu haben; auch einen Seitenblick auf ver-
wandte Themen in den „Tristes Tropiques“
von Lévi-Strauss habe ich mir versagt. Wei-
das Buch als bloße Quelle für ethnographische
Daten benutzen will — oder als „Vorwort“
oder Ergänzung zu jenem Erstlingswerk, das
dem Verfasser verdienten Erfolg bescherte
(1957: „Nous avons mangé la forét ...“),
dem helfen über 60 Seiten Annex zu seinem
Ziel, da hier neben Anmerkungen und Ab-
bildungs- und Inhaltsverzeichnis nicht nur
ein Glossar und jeweils ein Index der geo-
graphischen und ethnischen Namen, der Per-
sonen- und Clannamen sowie der Pflanzen
gegeben wird, sondern auch ein ausführliches
Stichwortverzeichnis. Lorenz G. Löffler
FRANK M. LEB AR, GERALD C. HICKEY,
JOHN K. MUSGRAVE:
Ethnie Groups of Mainland Southeast Asia.
Nezv Havcn: Human Relations Area Files
Press. 1964. XIII + 288 S., 2 eingesteckte
Karten.
In der Reihe der Southeast Asia Studies
der Yale University erschien im Jahre 1950
Buchbesprechungen
185
von John F. Embree und William L. Thomas:
Ethnie Groups of Northern Southeast Asia.
Dieser — abgesehen von Handbuchartikeln
— erste Versuch einer Darstellung der eth-
nischen Verhältnisse eines größeren Teils von
Hinterindien wurde begeistert aufgegriffen,
nicht zuletzt wegen der beigefügten Sprachen-
karte. Innerhalb kurzer Zeit war das Buch
vergriffen.
In derselben Reihe liegt nun ein Werk mit
fast gleichem Titel vor. Über Embrees Ar-
beit hinaus werden hier aber nicht nur die
südlichen Teile Hinterindlens einschließlich
der malaischen Halbinsel bearbeitet, sondern
auch das südliche China und Hainan, die völ-
kerkundlich von Hinterindien nicht zu tren-
nen sind. Die Bereitstellung („Organization“)
des Materials erfolgt nach linguistischen Kri-
terien in vier Teilen. Eine sino-tibetische, eine
austroasiatische, die Tai-Kadai- und eine
malayo-polynesische Gruppe werden aufge-
stellt. Daß man Paul Benedicts Zuordnung
des Kadai (1942) gefolgt ist, hat den großen
Vorteil, daß die Kadai sprechenden Gruppen
einschließlich der LI endlich in größerem Zu-
sammenhang gesehen werden können, und
berechtigterweise das Tai von der sino-tibeti-
schen Gruppe angehoben wird. Innerhalb der
vier Sprachgruppen werden die Stämme meist
nach geographischer Gruppierung abgehan-
delt. Dies geschieht in jeweils 7 Abschnitten:
„Orientation“ (= Wohnsitz, Umwelt, lingui-
stische Zuordnung, demographische und histo-
rische Fakten), Siedlungsform und Haus,
Wirtschaft, Verwandtschaft, Heirat und Fa-
milie, soziopolitische Organisation, Religion.
Sicher läßt sich auf weniger als 300 Seiten
nicht ein Abriß geben, der jeweils dem Spe-
zialisten für ein Gebiet ganz gerecht würde.
Zum Teil wurde auch wichtige Literatur nicht
mitverarbeitet. So vermißt man bei der Be-
handlung der Wirtschaft der Naga Kauff-
manns große Arbeit „Landwirtschaft bei den
Bergvölkern von Assam und Nord-Burma“
(Z. f. E. 66: 15—111). Für die anthropolo-
gischen Verhältnisse Kambodjas fehlt die her-
vorragende Untersuchung von G. Olivier
„Les Populations du Cambodge“ (Paris,
1956). Zur Ergänzung der zweiteiligen Spra-
chenkarte, die sehr übersichtlich, aber durch
die starken Generalisierungen häufig zu un-
genau ist, wird man immer wieder auf die
russischen Karten von Bruk (China, Indo-
china und Indonesien) zurückgreifen.
Der Gesamteindruck ist jedoch der eines
vortrefflichen Handbuches, das bald unent-
behrliches Werkzeug bei der Arbeit über Hin-
terindien sein wird. Jeden Ethnologen, be-
sonders den Nichtfachmann für Hinterindien
wird der ausführliche Synonym-Index für die
Stammesnamen begeistern.
Wolfgang Marschall
WALDEMAR STÖHR und
RIET lOETMULDER:
Die Religionen Indonesiens. (= Die Re-
ligionen der Menschheit, Band 5,1) Stutt-
gart: W. Kohlhammer Verlag. 1965. V +
354 S., 4 Karten. DM 36.—.
In der Völkerkunde hat cs immer wieder
„Modevölker“ gegeben, Gruppen, die eine
Zeitlang die besondere Aufmerksamkeit der
Ethnologen erregten. In der Religionsethno-
logie waren es u. a. die Batak und Dajak,
deren Religionen Paradebeispiele für den
Animismus und Stützen für die Animismus-
theorie liefern mußten. Eine Vielzahl von
Stämmen wurde so mit einem Etikett ver-
sehen, das abzulösen auch heute noch auf er-
hebliche Schwierigkeiten stößt. Viele Einzel-
untersuchungen haben dazu beigetragen, die
indonesischen Religionen aus der Klammer
allgemein gültigen Anspruch erhebender
Theorien zu lösen, in der die Hochreligionen
dank der philologisch-historischen Schulung
der Bearbeiter nie in so hohem Maße gefan-
gen waren.
Zu diesen Einzeluntersuchungen gesellt sich
jetzt die m. W. erste Gesamtdarstellung der
indonesischen Religionen, vorgelegt von Stöhr
(Die Religionen der Altvölker Indonesiens
und der Philippinen) und Zoetmulder (Die
Hochreligionen Indonesiens). Die Arbeit will
Übersicht und Einführung sein.
Die Einleitung bringt einen vorgeschicht-
lichen Abschnitt, der mir in einigen Teilen
(„Bronzekultur“, „Megalithkultur“) proble-
matisch erscheint, und einen kurzen präg-
nanten Abriß der rcligionsethnologischen For-
schung, besonders im Hinblick auf Indonesien.
Die Darstellung der Stammesreligioncn
nimmt den ersten größeren Teil von Stöhrs
Darstellung ein und ist außerordentlich klar
und flüssig geschrieben. Selbstverständlich
müssen bei einer Gesamtdarstellung Auswah-
len getroffen werden, aber es erscheint nicht
ganz einsichtig, daß von Sumatra praktisch
nur die Religion der Batak vorgelegt wird.
Bei zugegeben oft mangelhafter Quellenlage
hätte sich doch aus den Arbeiten Hurgronjes,
Kreemers und Jacobs für das nördliche Su-
186
Buchbesprechungen
matra eine farbige Darstellung der Religion
geben lassen, was im Fall dieser Mischreligion
mit den frühesten islamischen Einflüssen in
Indonesien von hohem Interesse gewesen
wäre. Bedauerlicherweise werden die reli-
giösen Formen der philippinischen Negritos
nicht dargestellt. Hier wäre eine Gegenüber-
stellung mit den Religionen der Altvölker
wegen vermuteter Eigenformen der Negrito-
religion aufschlußreich gewesen.
Der zweite Teil von Stöhrs Beitrag be-
handelt das System in den Stammeskulturen“.
„Quasi als Reaktion gegen ältere Richtungen
der Religionswissenschaft“, die religiöse Er-
scheinungen aus dem Zusammenhang betrach-
teten, sollen diese jetzt in der Stellung, „die
sie im ganzen des religiösen Systems einneh-
men, richtig gesehen werden“ (145). Das ist
der Plan zu einer funktional-strukturalisti-
schen Analyse, der jedoch gleich untergraben
wird mit der Behauptung: die Gottes- und
Schöpfungsidee ist das Prinzip, das dem
System unterliegt. „Sie ist der Mittelpunkt,
auf den alle Fäden zulaufen, . . .“ (145).
Wieder wird ein Theorem vor die Analyse
gestellt. Diese ist in den meisten Abschnitten
gut gelungen, besonders im Abschnitt über
den Schöpfungsmythos und über Totenkult
und Ahnenverehrung. Die Frage nach dem
System schließt aber auch die nach der Art
und Stellung der religiösen Funktionäre ein,
und bei einem System kommt man nicht ohne
möglichst präzise Definitionen aus. Vom
Priester wird aufgezählt, was er auch alles
ist; Zauberpriester, Schamane, Magier, Augur,
Repräsentant der göttlichen Ordnung, der
Mittler zwischen Gottheit und Mensch . . .,
„d. h. er ist Priester im vollen Sinne des Wor-
tes“ (167). Damit kann man nicht weiter als
bis zur Feststellung kommen; „Priestertum
und Priesterstand legen ebenfalls Zeugnis ab
von der Individualität und Besonderheit
einer jeden Stammesreligion des malaiischen
Archipels“ (173). Leider wird auf die Scha-
manismusfrage nicht eingegangen, die beson-
ders in der Auseinandersetzung mit den so
unterschiedlichen historischen Ansätzen von
Vajda (1965) und Quaritch Wales (Prehistory
and Religion in South East Asia, 1957) ver-
lockend gewesen wäre.
Im zweiten Teil des Buches stellt E. Zoet-
mulder Hinduismus, Buddhismus und Islam
in Indonesien dar und gibt abschließend ein
weitgehend dem Bali-Sammelband entnom-
menes Bild der Religion auf dieser Insel. Der
erste Abschnitt von Zoetmulders Beitrag ist
m. E. die beste Einführung jüngeren Datums
in den Problemkreis der indischen Einflüsse
nach Indonesien.
Bedauerlicherweise muß man sich für das
überaus reichhaltige Material des Bandes mit
einem knapp bemessenen Index begnügen.
Das erschwert die Arbeit außerordentlich.
Trotz einiger Kritik ist die Arbeit als eine
schöne Bereicherung der religionsethnologi-
schen und vor allem der Indonesien-Literatur
zu begrüßen und den beiden Autoren Dank
zu sagen.
Wolfgang Marschall
5. KOOIJMAN:
Ornamented Bark-Cloth in Indonesia. Me-
dedelingen van het Rijksmuseum voor Vol-
kenkunde, Leiden, Nr. 16. Leiden: E. ].
Brill. 1963. VIII + 143 S., 233 Ahh. u.
XXXII Tafeln.
Kooijmans Untersuchung der ornamentier-
ten Baststoffe des indonesischen Raums ba-
siert ausschließlich auf Museumsmaterial und
Literatur. Sie Ist unterteilt in drei Kapitel:
The Social and Ceremonial Aspects of Orna-
mented Bark-Cloth and Bark-Cloth Orna-
ments in Borneo and Eastern Indonesia, The
Technical Aspects of Ornamented Bark-Cloth
und Styles and Style Areas: Analysis and
Interpretation. Die 14 Seiten über die tech-
nischen Verfahren bei der Herstellung der
Baststoffe hätte man sich als einleitendes Ka-
pitel gewünscht.
Der Abschnitt über die soziologische und
rituale Bedeutung der ornamentierten Bast-
stoffe ist das Kernstück von Kooijmans Buch.
Was in einer früheren Arbeit über die Ver-
hältnisse auf Borneo schon angedeutet war
(SMJ 1958: 357—362), wird hier eingehend
und unter Berücksichtigung von Celebes und
Ostindonesien behandelt: die engen Bezüge
zwischen Baststoffkleidung samt ihrer Deko-
ration und der Kopfjagd. Auf West-Ceram
spielen die Baststoffe zusätzlich eine bedeu-
tende Rolle im Dualsystem der Patasiwa und
Patalima.
Im letzten Kapitel erfährt der Leser leider
nicht, was er sich unter einem Stilareal genau
vorzustcllen hat. Außerdem muß er sich mit
dem Raum Celebes-Ostindonesien zufrieden
geben, da in den fünf Seiten über Borneo
(70—74) über Stile nichts zu finden ist. Aller-
dings erscheint ganz verstreutes Material dar-
über im ersten Teil des Buches. Was aber
Buchbesprechungen
187
nutzt die Zusammenstellung der vielen Mo-
tive auf den Toradja-Baststoffen? Erst in Ab-
setzung von anderen indonesischen Stilarealen
oder im Vergleich mit außerindonesischen
Gebieten dürften ertragreiche wissenschaft-
liche Ergebnisse zu erwarten sein. Welche
Möglichkeiten bietet etwa der Vergleich des
asu-Motivs der Kenyah mit chinesischen Dra-
chenfiguren! Schon Hein (Die bildenden
Künste der Dayak auf Borneo. Wien, 1890)
hatte auf die engen Verbindungen auf künst-
lerischem Gebiet zwischen China und Borneo
hingewiesen.
Auch im inncrindonesischen Bereich gäbe
es zum Gesamtthema eine Reihe lohnender
Einzeluntersuchungen: ist die in etwa über-
einstimmende Verbreitung der Verwendung
steinerner Bastschlegel und der Celebes-Mo-
lukken-Ornamentik zufällig? Haben sich die
Steinschlegel tatsächlich aus den Holzschle-
geln entwickelt (S. 66)? Ist das von van der
Hoop gefundene Exemplar neolithisch?
Bedauerlicherweise fehlt in der Untersu-
chung das Material der Philippinen und Ma-
dagaskars. Gerade die Philippinen, die doch
für die Siedlungsgeschichte Indonesiens und
der Südsee immer mehr in den Mittelpunkt
der Forschung rücken, hätten m. E. nicht un-
untcrsucht bleiben dürfen.
Kooijman plant die Herausgabe eines wei-
teren Bandes über die Baststoffe Polynesiens,
In dem er auch auf historische- Probleme ent-
gehen wird. Wir würden uns freuen, wenn er
dabei auch auf einige Details eingehen könnte,
deren Bearbeitung wir In diesem kleinen Band
vermissen müssen.
Wolfgang Marschall
MAX-POL FOUCHET:
Nubien. Geborgene Schätze. Stuttgart: W.
Kohlhammer Verlag. 1965. 271 S., 18 Farb-
tafeln, 128 Schwarzweiß-Abb. Preis: DM
39.—.
Das von den Fluten des neuen Stausees
bedrohte und inzwischen teilweise schon ver-
schlungene Nubien ist durch die Aufrufe zur
Rettung seiner Denkmäler aus seinem
schlummernden und träumenden Dasein
plötzlich zunächst durch die Scheinwerfer in-
ternationaler Presse, dann durch die Ma-
schinen der Techniker aufgeschreckt worden.
Eine unübersehbare Flut von Artikeln in
allen Sprachen der Welt, zahlreiche Bücher
und einige wenige gute Monographien hat
der Journalismus über Nubien produziert.
Zu den letzteren zählt das hier anzuzeigende
Werk, das gleichzeitig mit der französischen
Originalausgabe in deutscher Übersetzung er-
schienen ist.
Der Text bringt in einer guten und klaren,
von geschmacklichen Entgleisungen freien
Sprache nüchterne Tatsachen, zunächst über
den im Bau befindlichen neuen Hochdamm,
den Sadd el-Ali, und seine Folgen für die
Wirtschaft Ägyptens wie für Nubiens Denk-
mäler und einen allzu knappen Überblick
über die menschlichen Opfer des Hochdamms,
die Nubier, die ihre Heimat verlieren und
damit früher oder später als Volk unter-
gehen werden. Die Eigenart der Nubier, die
sich rassisch wie kulturell deutlich von den
Ägyptern wie von ihren südlichen Nachbarn,
den schwarzen Sudanesen der Dongola-Pro-
vinz unterscheiden, wird allzu klisdieehaft
behandelt; der Verfasser ist offenbar mit
diesem Volkstum nicht in engeren Kontakt
gekommen. Es folgt eine Geschichte des nu-
bischen Landes. Was hier, besonders für die
pharaonische und römische Zeit geboten wird,
ist ein gutes, vor allem klares Resume des
Forschungsstandes vor etwa 10 Jahren. Mehr
wird man billigerweise nicht erwarten kön-
nen, weder eigene Ansichten noch auch Be-
rücksichtigung der sehr starken Veränderun-
gen, die unser Bild von der Vergangenheit
Nubiens durch die neuen Bodenfunde und
gewissenhafte Prüfung der Inschriften lau-
fend erfährt, zumal diese Befunde weder
vollständig publiziert noch in ihrer Bedeu-
tung ausdiskutiert sind. Hier sei nur darauf
hingewiesen, daß man in einigen Jahren so-
wohl für das Mittlere und Neue Reich wie
für die dunkle Epoche der 20.—25. Dynastie,
dann aber auch wieder für die Meroiten
gründlich wird umlernen müssen. Außerdem
zwingen die sehr reichen christlichen Funde,
diese weit von Byzanz entfernte Provinz
erheblich höher zu werten als es bisher üblich
war. Aber diese Periode liegt außerhalb der
Ambition des Verfassers, der sich, sehr zum
Vorteil des Buches, auf die heidnische Periode
konzentriert.
Nach diesen einleitenden Abschnitten führt
er uns die einzelnen Bauwerke vor, von de-
nen der größte Teil gerettet wird, ein klei-
nerer in den Fluten versinken muß. Rund
30 Tempel und Kapellen, einige Stadtruinen
und Kirchen werden erwähnt und, soweit es
lohnt, ausführlich beschrieben. Jedesmal er-
fährt der Leser zunächst etwas von der re-
Buchbesprechungen
ligions- und kunstgeschichtlichen Bedeutung
des Bauwerkes, wird dann hindurchgeführt
und mit geschickter Hand auf das Bemer-
kenswerte hingewiesen. Sacht und taktvoll
fließen persönliche Wertungen in die objek-
tive Schilderung ein und beleben in sympa-
thischer Weise das Bild. Wenn auch bei den
heiklen Fragen der Rcligionsgeschichte gele-
gentlich Schiefheiten den Fachmann stören —
große Fehler braucht niemand zu fürchten.
Die Reihenfolge wird weder durch das Alter
noch durch die geographische Lage bestimmt,
sondern durch den Effekt: Abu Simbel bildet
als Höhepunkt den Schluß der Reihe, die mit
Philae beginnt.
154 Tafeln, davon 16 farbig, bringen gut
gesehene Ansichten der antiken Bauwerke;
besonders Detailaufnahmen sind für den Stil
der Reliefs im groben nubischen Sandstein
aufschlußreich. Die Schwarz-Weiß-Bilder sind
nach französischem Geschmack auf starke
Schattenkontraste abgestimmt.
Als Dokumentarwerk für eine breite Inter-
essierte Öffentlichkeit wird das Fouchetsche
Buch seinen guten Dienst tun, dem Fachmann
bietet es zumindest ausgezeichnete Stilproben
aus den nubischen Tempeln.
Hellmut Brunner
FABRIZIO MORI:
Tadrart Acacus, arte rupestre c culture del
Sahara prcistorico. Prefazione di Paolo
Graziosi. Torino: Giulio Einaudi editore.
1965. 4°, 257 S., 2 Karten, 236 teilweise
farbige Ahb. und zahlreiche Textzeichnun-
gen. Preis: 15.000 Lire.
Sieben Forschungsreisen unternahm Mori
in den Wintermonaten 1955 — 1964 zur
Untersuchung der von ihm entdeckten rei-
chen Felsbildvorkommen im Djebel Acacus,
östlich der Oase Ghat im äußersten Süd-
westen der Provinz Fezzan (Libyen). Nach
und nach fand er sieben Stationen mit Gra-
vierungen und 41 mit Malereien. Nach einer
ganzen Reihe von verstreuten Aufsätzen, die
meist in italienischen Zeitschriften, vor allem
in der „Rcvista di Science Preistoriche“ er-
schienen sind, liegt nun ein hervorragend
illustriertes Tafelwerk vor, das eine For-
schungsarbeit von rund 10 Jahren zusammen-
faßt und die Ergebnisse dokumentarisch be-
legt.
Das Sandsteinplateau des Djebel Acacus
verläuft östlich und parallel der Piste von
Serdeles nach Ghat und Tin Alcum, mit dem
Steilabfall nach Westen und langgestreckten,
nach Osten drainierenden Tälern. Westlich
der Senke von Ghat beginnen die Tassili-
Berge, deren reiche Felsbildvorkommen durch
die Arbeiten von J. Tschudi und H.Lhote seit
längerem bekannt, wenn auch nur teilweise
wissenschaftlich publiziert sind. Der natür-
liche Zugang in das Acacus-Massiv erfolgt
also von Osten her, und man kann die ver-
schiedenen Täler mit geländegängigen Wa-
gen erreichen, indem man von Serdeles zu-
nächst nach Süden vorstößt, um dann jeweils
nach Westen abzubiegen, während der Zu-
gang über die Steilabfälle der Ghater Seite
schwierig und nur mit Maultieren, vereinzelt
vielleicht auch mit Kamelen, möglich ist.
Unter diesen Umständen überrascht es, daß
die Funde von Mori viele motivische und
stilistische Verwandtschaften zu den Bildern
der Tassili-Berge aufweisen, vermutlich also
von den gleichen oder benachbarten Stäm-
men hergestellt wurden; und zwar sind die
Übereinstimmungen größer und vielseitiger
als die mit den Malereien eines Zwischenge-
bietes (Wadi Ertan, ca. 15 km wsw. von
Ghat), das ich 1962/63 bearbeiten konnte.
Wie in den Tassili-Bergen herrscht auch im
Acacus die Malerei bei weitem vor, und
überaus zahlreich sind die Darstellungen des
Menschen, einzeln, zu Paaren oder als Grup-
pen, teilweise mit Schurz, Penistasche und auf-
wendigem Kopfputz; Menschen beim Tanz,
im geselligen Beisammensein, mit feierlicher
Gebärde oder auf der Jagd mit dem Bogen
oder Wurfholz in der Hand. Meist darge-
stelltes Tier dürfte das gescheckte Hausrind
sein, mit großen, runden oder lyraförmigen
Hörnern. Daneben treten etwas seltener
Wildtiere auf: Giraffe, Nilpferd, Waddan,
Antilope, Strauß, bei den Gravierungen
außerdem Elefant, Löwe und Bubalus anti-
quus. Aus einer vermutlich jüngeren Periode
der Malereien stammen Pferdepaare mit
zweirädrigem Wagen und Lenker, wie wir
sie gleichfalls aus den Tassili-Bergen kennen.
Insgesamt strömt uns eine solche Fülle von
Motiven entgegen, daß die bloße Aufzählung
den Rahmen einer Besprechung sprengen
würde. Es gibt Fundplätze, die derart von
Malereien strotzen, daß man sie kaum ganz
entziffern kann, zumal offenbar verschiedene
Perioden über- und nebeneinander gemalt
haben, was am Stil sowohl wie am Erhal-
tungszustand kenntlich ist und es zugleich
ermöglicht, relative Altersansctzungen zu ver-
suchen. Der Erhaltungszustand der Bilder
zn7nrrr<7yjrzT:
Buchbesprechungen
scheint mir im ganzen besser zu sein als an
vielen anderen Stellen der Wüste. Die Was-
sererosion hat bei verschiedenen Härten des
Gesteins vielfach langgestreckte Felsübcr-
hänge gebildet, die Schutz vor Sonne und
Witterungseinflüssen boten und zum Woh-
nen — wie auch zum Malen — geradezu ein-
luden. An mehreren Stellen war es auch
möglich, bei nicht gestörten Schichten Gra-
bungen vorzunehmen und in verschiedenen
Straten Werkzeuge aus Stein und Knochen
sowie ornamentierte Topfscherben zu finden.
Außerdem wurden Bodenproben entnommen
und pollenanalytisch untersucht, so daß sich
Klimakurven erstellen ließen. Für eine abso-
lute Datierung waren C-14-Bestimmungen
möglich, die von 8072 (± 100) bis 4730
(± 310) ab heute reichen, meist auf Grund
von Holzkohlefunden, einmal aber auch
durch Ausgrabung einer Kindermumie, die
sich heute im Museum von Tripolis befindet
(5405 + 180 ab heute). Nun ist es natürlich
kaum möglich, diese Funde mit Sicherheit be-
stimmten Gruppen von Malereien zuzuord-
nen, also zeitlich gleichzusetzen. Immerhin
geben sie gute Anhaltspunkte für die Besied-
lungsgeschichte des Raumes. So ist es denn
sehr sympathisch, daß der Autor zwar ver-
sucht, eine absolute Chronologie aufzustellen,
diese aber ausdrücklich als Vorschlag bezeich-
net. Danach reiht er die Gravierungen von
Wildtieren, speziell des Bubalus antiquus, in
eine älteste, Jägerische Stufe ein, der sich
polychrome Malereien von Menschen mit
Rundköpfen und negroidem Typus anschlie-
ßen. Beide Gruppen datiert er — nicht näher
bestimmt — in eine Zeit vor 8000 ab heute.
Er läßt eine Phase von mediterranen und
später nilo-hamitischen Hirtenvölkern fol-
gen, die von etwa 7000 bis 4700 (ab heute)
reicht. Um 1500 v. Chr. folgt eine Periode
des Pferdes mit mediterraner Bevölkerung,
und den Abschluß in historischer Zeit bilden
die Gravierungen und Malereien von Kame-
len und zugehörigen Menschen. Als Arbeits-
hypothese scheinen mir diese absoluten Da-
tierungen sehr brauchbar zu sein, wenn sie
auch in der Zukunft, so dürfen wir hoffen,
noch manche Verfeinerung erfahren werden.
Mori hat auf seinen Reisen nicht nur mit
einer Reihe von Malern gearbeitet, wie dies
ja auch andere vor ihm getan haben; er hatte
Jeweils ein Team von Fachwissenschaft-
lern, Paläontologen, Vorgeschichtlern usw.
um sich versammelt, deren guter Zusammen-
arbeit die bedeutenden Ergebnisse zu ver-
danken sind. Es scheint mir, daß sich die
häufige Wiederkehr mit diesen Kräften in den
gleichen Raum gut bewährt hat und beispiel-
haft für künftige Forschungen sein sollte.
Allerdings darf nicht übersehen werden, daß
hierfür auch sehr erhebliche Mittel aufge-
bracht und mancherlei Strapazen ertragen
werden mußten. Für die weitere Erforschung
der Vorgeschichte der Sahara und ihrer weit
verbreiteten Felsenkunst haben Mori und
seine Mitarbeiter eine bedeutende Arbeit ge-
leistet.
Da die Italienische Sprache nur einem be-
schränkten Kreis zugänglich ist, wäre eine
Übersetzung des Werkes in eine der Welt-
sprachen wünschenswert, und man bedauert,
daß dem Bande nicht wenigstens ein ent-
sprechendes Summary beigegeben wurde.
Hans Rhotert
LEO FROBEN1US und
HUGO OBERMAIER:
Hadschra Maktuba — Urzeitliche Felsbil-
der Kleinafrikas. Mit einem Anhang von
Walther F. E. Resch: Die klcinafrikani-
schen Felsbilder im Lichte der neueren For-
schung. [Um den Anhang erweiterter pho-
tomechanischer Nachdruck der Ausgabe
München 1925.] Graz: Akademische Druck-
und Verlagsanstalt. 1965. 4° [X + ] 89 S.,
6 Karten, 160 z. T. farbige Abb. auf Ta-
feln. Preis DM 118.—.
Als 1925 das repräsentativ ausgestattete
Werk von Leo Frobenius: „Hadschra Mak-
tuba — Urzeitliche Felsbilder Kleinafrikas“
bei Kurt Wolff in München erschien, bildete
es eine echte Sensation mit bedeutender Wir-
kung, ganz besonders auf einen großen Kreis
von künstlerisch interessierten Laien, mehr
vielleicht, als auf die kleine Gruppe von
Fachwissenschaftlern, die sich mit der Vor-
geschichte Nordafrikas befaßte. Das damals
veröffentlichte Material gewann Frobenius
auf einer Forschungsreise, die er 1913/14 in
den Sahara-Atlas, hauptsächlich in das Gebiet
südlich von Oran, unternahm, begleitet von
Albrecht Martius und Dr. Paul Germann so-
wie den Malern und Zeichnern C. Arriens,
Fr. W. Fischer-Derenburg, Baron von Stetten
und B. Bauschke und ausgehend von den Ar-
beiten der französischen Gelehrten Flamand
und Gautier. Es verhalf der Veröffentlichung
zu besonderer Beachtung, daß sich der damals
von Wissenschaftsstreit und Publizität um-
witterte Frobenius mit dem angesehenen Prä-
190
Buchbesprechungen
Historiker Hugo Obermaier zusammengetan
hatte und sich im wesentlichen auf die Do-
kumentation der Fundstellen beschränkte,
während Obermaier eine Einordnung und
Gliederung der aufgenommenen Felsbilder
nach dem damaligen Stande der Vorge-
schichtsforschung versuchte. Die Wiedergabe
der Bilder — zum allergrößten Teil Fels-
gravierungen von Wild- oder Haustieren —
erfolgte teils nach Fotografien, überwiegend
aber nach farbigen Kopien — die Farbfoto-
grafie war ja noch nicht erfunden — oder
Zeichnungen der mitreisenden Maler, denen
der exakte Obermaier denkbar größte Natur-
treue bescheinigt.
Es ist ein besonderes Verdienst der Aka-
demischen Druck- und Verlagsanstalt in Graz,
das damals erarbeitete Material in einem aus-
gezeichneten photomechanischen Nachdruck
des längst vergriffenen Werkes erneut zu-
gänglich gemacht zu haben. Die Wiedergabe
der Abbildungen ist der ursprünglichen Ver-
öffentlichung absolut ebenbürtig. Auch sind
in der gleichen Technik zwei weitere Fels-
bilddokumentationen von Frobenius: „Ma-
dsimu Dsangara, Südafrikanische Felsbilder-
chronik“ und „Ekade Ektab, die Felsbilder
Fezzans“ bereits nachgedruckt worden und
neue, noch nicht abgeschlossene Publikationen
zum Thema „Afrikanische Felsbilder“ ge-
plant.
Dem vorliegenden Bande ist ein Anhang
von Walther F. E. Resch: „Die kleinafrikani-
schen Felsbildcr im Lichte der neueren For-
schung“ angefügt, der in ausgezeichneter
Weise über den derzeitigen Stand unseres
zum Thema gehörenden Wissens unterrichtet
und zugleich die vielfältigen Probleme und
Fragen skizziert, um die auch noch heute ge-
rungen wird. Vergleicht man diesen Anhang
mit den Ausführungen von Obermaier, so er-
gibt sich ein reizvolles Bild eines Stückes
Wissenschaftsgeschichte und des Fortschrittes,
der inzwischen erzielt werden konnte. Wäh-
rend Obermaier noch an dem heute längst
aufgegebenen diluvialen Alter der ostspani-
schen Felsbildcr festhält und einen ähnlichen
Ansatz für den ältesten Teil der nordafrika-
nischen Gravierungen vermutet, die Flamand
damals bereits, wie wir es heute tun, dem
Neolithikum zuordnete, spürt man an seinen
Ausführungen doch schon, daß er sich nicht
festlegen möchte und nur versuchte, die Be-
lege für beide Standpunkte zu sammeln und
zu wägen. Dieses Sichvorwärtstasten in einem
damals noch sehr dürftig belegten Wissens-
gebiet kommt in dem Beitrag von Obermaier
gut zum Ausdruck, so daß man auch ihn mit
Gewinn wieder lesen sollte.
Der Fundbericht von Frobenius, der ge-
wissenhaft alle Beobachtungen und Umstände
verzeichnet und durch fünf großmaßstäbliche
Kartenskizzen ergänzt ist, läßt daneben doch
die Begeisterung an der Großartigkeit und
künstlerischen Qualität der wichtigsten Funde
durchschimmern. So ist er in Verbindung mit
den 160 Bildtafeln bleibendes Dokument und
zugleich Ausdruck einer Zeit, für die Ent-
deckungen auf dem Gebiete der Urzeit des
Menschen erregender waren, als wir es heute
zu empfinden vermögen.
Resch hat seinem Nachwort ein Literatur-
verzeichnis angehängt, das die wichtigeren
Arbeiten zum Thema bis in die Gegenwart
enthält, ohne Anspruch auf Vollständigkeit
erheben zu wollen.
Man bedauert, daß dem Band kein Sum-
mary in französisch und eventuell englisch
beigefügt oder doch wenigstens das Nachwort
von Resch ins Französische oder Englische
übersetzt wurde. Erfahrungsgemäß wird von
den deutschen Arbeiten wegen Sprachschwie-
rigkeiten immer weniger Notiz genommen,
so daß gerade dort, wo andere Nationen
maßgeblich geforscht haben, solche fremd-
sprachigen Kurzangaben sich empfehlen wür-
den.
Hans Rhotcrt
PIERRE BARDIN:
La vie d’un douar. Essai sur la vie rurale
dans les grandes plaines de la Haute Me-
djerda. Tunisie. (Recherches Méditerranéen-
nes, Documents No. II.) Paris — La Haye:
Mouton & Co. 1965. 144 S., 15 Abbildun-
gen, 2 Falttafeln.
Studien wie diese sollte es zahlreicher ge-
ben: Ethnosoziologische Untersuchungen einer
fest umrissenen kleinen Gemeinschaft, ge-
stützt auf jahrelange gründliche Beobachtun-
gen, fundiert durch die Kenntnis der Landes-
sprache — unter Verzicht auf verallgemei-
nernde Darstellungen großräumiger Zusam-
menhänge und verfrühte ehrgeizige Schluß-
folgerungen.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist
eine kleine bäuerliche Siedlung in Tunesien,
in der Ebene des Oberen Medjerda, unweit
des Zusammenflusses von Medjerda und Mel-
lègue gelegen. Der Name des Douars und
Buchbesprechungen
191
seiner Bewohner wurde vom Verfasser ge-
ändert, eine Maßnahme, deren Notwendig-
keit nicht unbedingt einzusehen ist. Die zu-
grunde gelegten Beobachtungen erstrecken sich
über mehrere Jahre, von 1947 bis 1956, eine
Zeitspanne, die ebenso exakte wie umfassende
Informationen möglich machte.
Der Verfasser stellt zunächst den Lebens-
raum, das Dorf — er nennt es Soualhia —
und seine Bewohner vor, um sich dann ein-
gehender dem Haus und der Zusammenset-
zung der laut Kopfzahl und Landbesitz füh-
renden Familie zuzuwenden. Es folgt als um-
fangmäßig stärkster Teil der Arbeit eine Be-
schreibung der verschiedenen Arbeiten und
Riten im bäuerlichen Jahreszyklus, dem sich
ein Kapitel über Struktur und Verteilung
von Grund und Boden anschließt. Etwas zu
gerafft wird danach das häusliche Leben in
seinen sozialen Aspekten dargestellt. Die fol-
genden Betrachtungen über das religiöse und
geistige Leben der Dorfgemeinschaft leiten
über zu Problemen des Kulturwandels: In
drei Kapiteln wird der Kontakt mit franzö-
sischen Kolonisten, die Reaktion auf nationa-
listische Propaganda (Tunesien wurde 1956
selbständig) und die Konsequenzen einer zu-
nehmenden Mechanisierung der Landwirt-
schaft untersucht.
Tabellen über die Landverteilung innerhalb
des Dorfes, eine Skizze der Flurauftcilung
unter die einzelnen Familien, ein Plan der
Dorfanlage und ein Grundriß des Gehöftes
der größten Familie, dazu eine allgemeine
genealogische Übersicht der Dorfbewohner,
komplettieren die Studie.
Erfreulich sind die Fußnoten, in denen
termini technici der Arbeit in arabischer
Schrift wiedergegeben und erläutert werden.
Das im Anhang gebrachte Fotomaterial
allerdings wünscht man sich reichhaltiger und
instruktiver. Die geringe Zahl der Abbildun-
gen ist um so bedauerlicher als der Autor auf
detaillierte ethnographische Schilderungen
weitgehend verzichtet. So interessant und
verdienstvoll die Arbeit ist, eine größere Aus-
führlichkeit hätte ihren wissenschaftlichen
Wert erhöht, ohne ihr den Vorwurf epischer
Breite einzutragen.
Desungeachtct handelt es sich um eine auf-
schlußreiche, auf beneidenswert guten Infor-
mationen fußende Studie, die in Ihrer Art für
den arabisch-islamischen Raum Seltenheits-
wert hat.
JEAN DÉJEUX, JACQUELINE ARNAUD,
ARLETTE ROTH, ABDELKÉBIR
KH ATI Bl:
Bibliographie de la littérature nord-afri-
caine d'expression française 1945—1962.
Ouvrage public sous la direction de Al-
bert Memmi. (École Pratique des Hautes
Études — Sciences économiques et socia-
les.) Paris — La Haye: Mouton & Co.
1965. 48 S.
Ein solches Aufgebot an Mitarbeitern der
École Pratique des Hautes Études an der
Sorbonne, unter der Leitung von Albert
Memmi, scheint vielversprechend. Insbeson-
dere da es sich um eine Bibliographie handelt.
Ganz besonders aber da es sich um die Bib-
liographie eines Gebietes handelt, über das
derartige Informationsmittel nicht gerade
reichlich vorliegen.
Gegenstand ist die sogeannte „Schöne Li-
teratur“ Nordafrikas, genauer gesagt der
Länder Marokko, Algerien, Tunesien. Bear-
beitet wurde die Zeitspanne von 1945 bis
1962. Ausgewählt und gesammelt wurden
ausschließlich Publikationen in französischer
Sprache. Neben den Schriften einheimischer
nordafrikanischcr Autoren sind in die Samm-
lung einige Veröffentlichungen europäischer
Verfasser aufgenommen worden, die das The-
ma betreffen. 479 Titel, dazu 48 weitere in
einem Nachtrag, werden nach Sachgebieten
geordnet aufgeführt: Nach Studien allgemei-
ner Art (I), speziellen Abhandlungen über
die verschiedenen Genres (II) und Autoren
(III), folgen die eigentlichen literarischen
Werke (IV), gegliedert nach Romanen, No-
vellen - Erzählungen - Märchen, Poetischen
Werken, Theaterstücken, Essays. Jedem Ver-
fassernamen ist in Klammern der Anfangs-
buchstabe seines Herkunftslandes beigefügt.
Den Abschluß bildet ein Autorenindex.
Die Bibliographie ist ein dankenswertes
Hilfsmittel für jeden, der sich über die neue
Literatur der jungen nordafrikanischen Staa-
ten informieren möchte. Den wissenschaftlich
Interessierten allerdings wird befremden, daß
lediglich Publikationen in französischer Spra-
che zusammengetragen wurden. Das mag bei
beschreibenden Werken zu vertreten sein; bei
darstellenden Werken auf Veröffentlichungen
in arabischer Sprache zu verzichten, will mir
gerade im Falle der vorliegenden Sammlung
etwas problematisch erscheinen.
Helga Uplegger
Helga Uplegger
192
Buchbesprechungen
BARBARA FRANK:
Die Rolle des Hundes in afrikanischen
Kulturen. (Studien zur Kulturkunde, Bd.
XVII.) Wiesbaden: Franz Steiner Verlag.
1965. VIII + 256 S., 5 Karten. Preis:
DM 38.—.
Der vorliegende Band setzt eine bewährte
Tradition der „Studien zur Kulturkunde“
fort, ausgewählte Themenkreise im Rahmen
eines Kontinents vergleichend zu behandeln.
Er zeigt erneut, daß derartige Untersuchun-
gen trotz des notwendigen Verzichts, alles
vorhandene Quellenmaterial vollständig zu
erfassen und im Detail zu analysieren, nach
wie vor einen wesentlichen Weg zur Deutung
und historischen Eingliederung bestimmter
kultureller Erscheinungen bilden.
Mit ihrer Arbeit hat sich die Verfasserin
einen Ausschnitt aus dem großen Komplex
„Mensch und Tier“ vorgenommen, von des-
sen gründlicher und umfassender Bearbeitung
— wie auch eine Durchsicht des Literaturver-
zeichnisses (S. 232—249) beweist — wir noch
weit entfernt sind.
Das Schwergewicht ihrer Untersuchung
liegt auf der „Stellung des Hundes in der
geistigen Kultur“ (S. 1), doch werden auch
seine Rolle im profanen Leben und seine
wirtschaftliche Nutzung behandelt, „denn die
wirtschaftliche und die religiöse Bedeutung
eines Kulturelements sind eng verflochten“
(a. a. O.). Nach kurzen Kapiteln über die
Verbreitung als Haustier und einer Charak-
teristik der Hauptrassen folgt daher ein län-
gerer Abschnitt über die Haltung und wirt-
schaftliche Bedeutung des Hundes (Kap. 4,
S. 15—46). Aus ihm ergibt sich, daß er als
Jagdgehilfe bei vielen Stämmen, besonders
West- und Zentralafrikas einen beachtlichen
ökonomischen Faktor darstellt und dement-
sprechend Wertschätzung und gute Behand-
lung erfährt. Andere Stämme stehen ihm
gleichgültig gegenüber oder zeigen eine eigen-
artig ambivalente Einstellung; seltener ist
eine ausgesprochene Mißachtung (gehäuft in
Ost- und Südostafrika und in islamischen
Gebieten) anzutreffen.
Das 5. Kapitel ist dem „Verzehr von Hun-
den“ gewidmet und bildet den Übergang zur
Behandlung der religiösen Rolle des Hundes.
Die in einer spezifizierten Liste zusammenge-
stellten und auf einer Karte eingetragenen
Belege lassen erkennen, daß diese Sitte in
erster Linie von west- und zentralafrikani-
schen Pflanzern geübt wird, in Nord- (außer
einigen Berbergruppen!), Ost- und Südost-
afrika dagegen bei Großviehzüchtern bezie-
hungsweise im Bereich des Islams fehlt; in
der Mehrzahl der Fälle bildet das Essen von
Hundefleisch eine rituelle Handlung.
Im Material der beiden folgenden Kapitel,
Hundeopfer und die Rolle des Hundes in
Geheimbund und Initiation umfassend, sind
offensichtlich sehr heterogene Komponenten
miteinander verbunden, die eine Einordnung
und Deutung der Befunde erschweren. Oft
ist der Hund nur ein Opfertier unter vielen,
und verschiedenste Anlässe können sein Opfer
erfordern. Immerhin deuten eine Reihe von
Quellen darauf hin, daß er oft das Haupt-
opfertier im Kult der Ahnen oder Ahnen-
gottheiten ist.
Das Kernstück der Monographie bildet die
Analyse der mythologischen Rolle des Hun-
des (Kap. 9, S. 120—184). Das nach Mythen-
motiven geordnete Quellenmaterial beweist
eindeutig, daß er am häufigsten als Feuer-
bringer auftritt, seltener auch als Übermittler
von Kulturpflanzen, Haustieren und Gerä-
ten. Bei einigen Stämmen erscheint er in den
Mythen als ausgesprochener Kulturheros. In
gesonderten, kurzen Abschnitten werden so
heterogene Themen wie „Hund und Him-
melserscheinungen“, „Vieräugiger Hund“ und
„Beziehungen zum Tode“ behandelt. Kap.
15 gibt einen knappen Überblick über außer-
afrikanische Parallelen.
Aus der Fülle des ausgebreiteten Materials
und der daran geknüpften Erörterungen und
Schlußfolgerungen über kulturhistorische Ein-
ordnung und Sinndeutung sollen hier nur we-
nige Komplexe herausgehoben werden.
Die noch weit verbreitete Auffassung vom
Hund als ältestem Haustier, das sich frühen
Jäger- und Sammlerkulturcn durch eine Art
Selbstdomestikation zugesellt habe und dann
von ihnen ökonomisch genutzt worden sei,
wird durch die kulturhistorischen Ergebnisse
der Verfasserin ernsthaft in Frage gestellt.
Viele Quellen deuten darauf hin, daß die
afrikanischen Wildbeuter ihre Hundehaltung
von benachbarten Pflanzern übernommen
haben; bei den Buschmännern ist zudem die
ökonomische Bedeutung des Hundes gering
(S. 4—8). Entsprechend spielt er in Mytho-
logie und Kult der Wildbeuter gar keine oder
eine nur untergeordnete Rolle (S. 178/9).
Dieser negative Befund wird aber vor allem
unterstützt durch den wohl überzeugend er-
Buchbesprechungen
193
brachten Nachweis, daß sowohl die ökonomi-
sche Nutzung wie die mythologische und kul-
tische Bedeutung des Hundes in den afrikani-
schen Pflanzerkulturen, sowohl des Waldes
wie der Steppe, verankert ist. Wenn damit
auch noch nicht der endgültige Beweis für die
Domestikation durch Pflanzer gegeben ist, so
steht doch zumindest fest, daß die eigentliche
Entfaltung der Hundchaltung mit allen ihren
Konsequenzen erst in dieser Kulturschicht
erfolgt sein kann. Entsprechend gründliche
Untersuchungen in anderen Erdteilen und
auch archäologische Befunde können vielleicht
eine endgültige Lösung des Problems bringen.
Das Fehlen von Monographien, in denen
die Rolle anderer Tiere oder Tiergattungen
ebenso umfassend behandelt wird, erschwert
naturgemäß die Analyse und Deutung vieler
Befunde. Oft tritt der Hund in den Mythen,
im Kult oder in geistigen Vorstellungen als
ein Tier unter mehreren oder vielen auf, und
es ist schwer zu entscheiden, ob sich seine
Rolle im konkreten Falle primär aus einem
inneren Sinnzusammenhang ergibt oder nur
in Analogie zu einem entsprechenden Auf-
treten anderer Tiere entstanden ist. Letzteres
nimmt die Verfasserin zum Beispiel vom ne-
gativen Verhalten des Hundes In den Todes-
ursprungsmythen an (S. 172).
Als Schülerin von Prof. Jensen folgt die
Autorin in ihrer Arbeit weitgehend den re-
ligions- und kulturgeschichtlichen Auffassun-
gen ihres Lehrers. Das zeigt sich besonders
deutlich in dem Bemühen, die Beziehungen
zwischen Mythen, Kult und sinnentleerten
Riten herzustellen, und letztere vom Mythos
ausgehend zu deuten. Allerdings muß sie ein-
gestehen, daß beim vorliegenden Material
klare Zusammenhänge zwischen Mythe und
Kult selten zu erfassen sind (S. 120), und
dementsprechend dürfte die Verbindung zwi-
schen der Rolle des Hundes in Mythos und
Kult und seiner Stellung im täglichen profa-
nen Leben noch lockerer sein. Ob zum Bei-
spiel das Verzehren von Hundefleisch aus-
schließlich kultischen Ursprungs ist, wie die
Verfasserin annimmt, oder daneben auch
profane Elemente von Anfang an eine Rolle
gespielt haben, bleibe dahingestellt.
Von besonderem Interesse ist der Versuch
Franks (S. 145), die Rolle des Hundes als
mythischer Feuerbringer mit seinen realen
Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen
(etwa ähnlich dem Mythologem des Zerstük-
kelns im Zusammenhang mit der Genese der
Knollenpflanzen). Hier scheint sich wirklich
der Kreis zwischen Realität und Mythe eini-
germaßen zu schließen. Die Tatsache, daß
diese Feuerursprungsmythe am häufigsten
und in weitester Verbreitung (vgl. Karte II)
vorkommt, bekräftigt die Auffassung der
Autorin, in diesem Motiv die ursprüngliche
Form des Mythologems zu sehen, die anderen
Kulturbringertaten dagegen als sekundäre
Sonderformen zu interpretieren.
Die Verfasserin verdient unseren Dank und
Anerkennung für ihre übersichtliche und stets
quellenkritische Materialzusammenstellung
und die daraus gewonnenen religionskund-
lichen und kulturhistorischen Ergebnisse.
Diese Ergebnisse und die noch zahlreichen
ungelösten Probleme sollten zu weiteren Mo-
nographien aus dem Themenkreis „Mensch
und Tier“ anregen, wobei die Anlage der
vorliegenden Arbeit als ein gutes Vorbild
dienen kann.
Dietrich Drost
HERMANN BAUMANN:
Schöpfung und Urzeit des Menschen im
Mythus der afrikanischen Völker. 2. Auf-
lage. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. 1964.
X + 435 S. Preis: DM 76.—.
Dieses Buch hat sich seit dem ersten Er-
scheinen im Jahre 1936 seinen unbestrittenen
Platz in der Völkerkunde Afrikas und in der
Rcligionsethnologie erworben. Es ist der erste
und erfolgreiche Versuch einer umfangreichen
vergleichenden Darstellung afrikanischer My-
thologie und einer Analyse der Motive. Bis
in die jüngste Zeit hinein hat sich das Buch
als Fundgrube für Detailstudien bewährt und
offenkundig auch als Anregung zu weiteren,
teilweise umfangreichen und wichtigen Un-
tersuchungen gedient. Der Verlag Dietrich
Reimer hat sich im Einverständnis mit dem
Verfasser erfreulicherweise zu einem unver-
änderten Nachdruck entschlossen. Im Vor-
wort zu dieser zweiten Auflage verweist der
Autor darauf, daß eine Neubearbeitung we-
gen des Umfanges des inzwischen veröffent-
lichten Materials eine völlige Umarbeitung
des Werkes bedeutet hätte, die aus zeitlichen
Gründen nicht möglich war.
Die Schüler und Freunde H. Baumanns
wissen seit langem, daß sich seine kultur-
historische Auffassung in mancher Hinsicht
seit der ersten Auflage dieses Werkes und
seit dem Erscheinen seiner „Völkerkunde von
Afrika“ gewandelt hat. Seine jetzige Mei-
nung wird er in dem hoffentlich bald erschci-
13
194
Buchbesprechungen
nenden Handbuch „Völker und Kulturen Af-
rikas“ vertreten. Materialsammlung und Dar-
stellung von „Schöpfung und Urzeit“ werden
davon wohl kaum betroffen. Der Verfasser
verweist jedoch darauf, daß das Schlußkapitel
„zum Teil vom Autor heute nicht mehr ver-
tretene Ansichten darlegt“.
Eine Fülle neuer Belege zur afrikanischen
Mythologie ist seit 1936 von Fcldforschern
zusammengetragen worden, aber entschei-
dende Veränderungen erbrachten — so betont
Baumann in seinem Vorwort — nur die For-
schungen von M. Griaule und seiner Schule.
Für das Bantu-Gebiet und für viele Teile des
Sudan bedingen die neueren Quellen keine
Revision der Darstellung Baumanns, sondern
sie beinhalten lediglich zusätzliche Belege.
Seit vielen Jahren war es nur durch einen
glücklichen Zufall möglich, ein Exemplar die-
ses wichtigen Werkes zu erwerben, das prak-
tisch in keinem Antiquariatskatalog angebo-
ren wurde. Für die jüngeren Afrikanisten und
für viele erst in jüngerer Vergangenheit be-
gründete Institute ergaben sich somit erheb-
liche Schwierigkeiten, H. Baumanns „Schöp-
fung und Urzeit“ in wünschenswertem Maße
bei der Anfertigung von Untersuchungen und
im Lehrbetrieb heranzuziehen. Die Neuauf-
lage des Buches war dringend erforderlich.
J. Zwernemann
MARGARET TROWELL:
Classical African Sculpture. 2nd edition.
London: Faber and Faber Ltd. 1964. 103
S., 2 Karten im Text, 48 Bildtafeln. Preis:
sh. 36/—.
Von der ersten Auflage dieses Werkes und
von ihrem Buch „African Design“ (London
1960) sowie dem vorbildlichen Werk „Tribal
Grafts of Uganda“ (zus. mit K. P. Wachs-
mann; London 1953) ist die Verfasserin
wohlbekannt.
„Classical African Sculpture“ versucht, dem
Leser den Zugang zur afrikanischen Kunst
von allen bedeutsamen Blickpunkten aus zu
erschließen: Der Abschnitt „The Apprecia-
tion of African Art“ ist eine vorwiegend
kunsthistorischc und ästhetische allgemeine
Einführung in das Wesen der afrikanischen
Kunst. Dabei werden völkerkundliche Ge-
sichtspunkte aber nicht völlig ausgeschlossen.
Unter der Überschrift „The Function of the
Craftsman and his Art“ unterscheidet die
Verfasserin „spirit-regarding art“, „man-
regarding art“ und „the art of ritual dis-
play“. Hier wird der Leser mit Hilfe charak-
teristischer Beispiele, die der völkerkund-
lichen Fachliteratur entnommen sind, mit dem
geistigen und historischen Hintergrund afri-
kanischer Kunst vertraut gemacht. Der dritte
Abschnitt, „Geography, History and Social
Pattern“, führt genauer in einzelne Stilre-
gionen ein, und im letzten Teil — als „A
Brief Critique of African Sculpture“ betitelt
— werden die abgebildeten 134 Stücke einer
erläuternden Betrachtung unterzogen. Der
Terminus „critique“ erscheint dem Rezen-
senten in der Überschrift nicht gerechtfertigt.
Mrs. Trowell gibt eine sehr knappe, prä-
zise Einführung in die afrikanische Kunst
und greift bewußt auf „klassische“ und somit
bekannte Beispiele zurück. Sie will und kann
mehr bieten als eine rein völkerkundliche
Einführung, denn die Verfasserin läßt ihre
kunsthistorischen Ambitionen durchdringen.
Gegenüber der ersten Auflage (1954) er-
gaben sich folgende Änderungen: 1. die Ein-
beziehung der archäologischen Funde aus dem
Bereich der Nok-Kultur; 2. die Änderung der
Chronologie der Benin-Kunst nach den For-
schungsergebnissen von W. Fagg; 3. Korrek-
tur von Ländernamen nach dem neuesten
politischen Stand. Schade, daß dabei nicht
einige andere „Schönheitsfehler“ korrigiert
wurden. Obwohl bei den Stammesnamen
auch francophoner Gebiete ,u‘ meist mit ,u£
wiedergegeben ist (zum Beispiel Duala, Ba-
mum, Baule) steht leider in zwei Fällen ,ou‘:
Gouro und Nalou. Bedauerlich, daß sich die
Korrektur politischer Veränderungen nur auf
die jungen afrikanischen Staaten bezieht,
daraus resultierende Veränderungen in Euro-
pa aber unberücksichtigt blieben: das „Musée
Royal du Congo Beige“ (so noch zitiert im
gesamten Bildteil!) heißt bekanntlich seit
mehreren Jahren „Musée Royal de l’Afrique
Centrale“. Diese Kleinigkeiten wünschte man
sich bei einer eventuellen 3. Auflage berück-
sichtigt.
Verlag und Verfasserin sind zur Neuauf-
lage dieses schönen und nützlichen Buches zu
beglückwünschen.
J. Zwernemann
CLAUDE MEILLASSOUX:
Anthropologie Économique des Gouro de
Côte d’Ivoire. De l’économie de subsistance
à l’agriculture commerciale. (École Prati-
que des Hautes Études: Le monde d’outre-
mer passé et présent, Ie série, Études,
Buchbesprechungen
195
XXVII.) Paris — La Haye. Mouton & Co.
1964. 382 S., 36 Abh. auf Tafeln, 9 Falt-
karten, zahlreiche Tabellen, Diagramme
und Karten im Text. Preis: F 59. —.
Diese interessante Monographie gehört in
die Reihe der modernen französischen Arbei-
ten über einzelne afrikanische Völker. Es ist
nicht ganz leicht, ihr einen Platz in den wis-
senschaftlichen Disziplinen zuzuordnen: der
(deutsche) Ethnologe wird die starke wirt-
schaftliche Ausrichtung des Buches nicht über-
sehen und weitgehend die historischen Bezüge
vermissen; der Ökonom wird mit einer so
speziellen Studie, deren Datenmaterial ihm
nicht ausreichend erscheinen mag, wenig an-
fangen können; für den Soziologen und So-
zio-ökonomen schließlich ist das hier empi-
risch dargebotene Material zwar höchst auf-
schlußreich, doch stellen die Sprache und das
Niveau der Abstraktion der 352 Textseiten
einige Ansprüche. Vorbildlich sind die an-
schaulichen Karten, Pläne und Diagramme.
Das Werk beruht auf den Ergebnissen eines
Aufenthaltes des Autors und von Mme.
Chiva-Deluz vom Juli 1958 bis Januar 1959
an der Elfenbeinküste, während dem in den
vier Hauptdörfern der Guro je während
3—4 Wochen Untersuchungen angestellt wor-
den sind. Die fünfzig übrigen Orte und die
achtzehn Märkte, die in die Untersuchung
einbezogen sind, mußten in entsprechend kür-
zerer Zeit untersucht werden. Die Grundla-
gen entstammen den Archiven der Verwal-
tungszentren und den mit eingeborenen Über-
setzern durchgeführten direkten Befragungen.
Die Gesamtleitung der Forschungen wie auch
der Publikation lag in den Händen von
Prof. Balandier.
Die Arbeit teilt sich auf in 13 Kapitel, von
denen das erste die Übersicht über das Wohn-
gebiet der Guro und über die Umwelt gibt.
Das zweite Kapitel enthält Informationen
über die Besiedlung der Gegend, wobei histo-
rische Entwicklungen berücksichtigt sind. Für
die nicht genügenden demographischen An-
gaben, die zu finden allerdings einen ungleich
größeren Aufwand erfordert hätte, als es
möglich war (die Zahlen der Verwaltungen
genügen in solchen Fällen bei weitem nicht),
entschuldigt sich der Autor im Vorwort. Es
handelt sich um eine Größenordnung von
rund 100 000 Menschen, die auf Savanne und
Urwald verteilt sind. Die Bevölkerungsdichte
ist sehr unterschiedlich und schwankt zwi-
schen 4,2 bis zu 40 Einwohnern pro qkm für
die einzelnen „cantons“, wobei sich die Be-
völkerung auf die großen Dörfer konzen-
triert. Dabei ist die Savanne im Schnitt we-
sentlich dichter bewohnt als der Wald.
Die Aussagen des Autors über die ethnische
Zusammensetzung der Guro genügen in keiner
Weise. Auf die Sprache wird nicht eingegan-
gen, und wir wissen nicht, wieweit die Guro
überhaupt als ein „Volk“ bezeichnet werden
können beziehungsweise in welchem Moment
eine Volkswerdung der Stämme, die offenbar
sehr unterschiedlichen Ursprung haben, an-
genommen werden kann.
Das dritte Kapitel beschreibt die Elemente
der um einen Ältesten versammelten Groß-
familie („gomwuo“, mit Eigennamen, aber
in den Savannen nicht original und nicht
strikte Abstammungsgruppen repräsentierend,
sondern auch zusammengesetzt aus verschie-
denen, der Autorität eines einzelnen Mannes,
des „goniwuoza“, untergeordneten Gruppen)
sowie der Verwandtschaft und des Dorfes,
das aus mehreren goniwuo besteht. Ihre Ver-
treter bilden zusammen den Dorfrat. Es exi-
stiert ein „Erdherr“ und ein Ober-Orakler;
außerdem gibt es temporäre andere Ämter.
Wir vermissen hier Informationen über den
Status des von der Verwaltung eingesetzten
„Dorfchefs“.
Das vierte Kapitel behandelt die Jagd, die
Viehzucht und den Feldbau in Waldland und
Savanne sowie die Nutzung der Bäume. Im
fünften Kapitel wird die wirtschaftliche
Wirklichkeit dargestellt. Der Kooperations-
gruppe auf den Feldern entspricht die
Gruppe, die die Mahlzeiten miteinander teilt;
hier sind aber auch die nicht arbeitsfähigen
Glieder der Gruppe eingeschlossen. Beson-
ders wichtig ist wohl, daß der Umfang dieser
Gruppierungen oft nicht mit den Grenzen
der eigentlichen goniwuo zusammenfallen;
diese Produktions- und Konsumgruppen sind
die faktischen sozialen Einheiten. Es kann
vermutet werden, daß die Segmentierung der
goniwuo in Arbeits- und Konsumationsgrup-
pen eine spätere Aufsplitterung der goniwuo
verzeichnet. Umgekehrt können auch aus Ar-
beitsgruppen verschiedener Abstammung neue
goniwuo gebildet werden. Es ist hier die
Frage zu stellen, ob die goniwuo nicht über-
haupt bereits als Produkt einer Akkultura-
tion1) der verschiedenen Gruppen, die zusam-
men die Guro bilden, aufzufassen sind.
Im 6. Kapitel werden die über die Arbeits-
gruppen hinausgehenden Kooperationsformen
196
Buchbesprechungen
beschrieben, das „bo“ — eine gelegentliche
Kooperationsform von Freunden und Nach-
barn, basierend auf der Hierarchie, und das
„lala“, eine mehr auf Leistung ausgerichtete
Kooperationsform hauptsächlich der Jungen.
Im 7. Kapitel kommt der Autor auf die
ihm (und den französischen Ethnologen über-
haupt) wichtigen Fragen der Zirkulation der
Güter und auf den Reichtum zu sprechen.
Dabei kann er die Lebensmittel, die Produkte
des Kunsthandwerks, das Eisen (verhandelt
in barrenartigen Stäben) und die Gewebe be-
handeln, die in dieser Reihenfolge auch zu-
nehmenden Reichtum bedeuten. Außerdem
waren Güter des Reichtums Elfenbein, Groß-
vieh, Gold und Sklaven; manche dieser Güter
sind thesauriert worden. Der Eintritt des
Wirtschaftssystems der Guro in den inner-
afrikanischen Verkehr sowie die moderne
Entwicklung der cash crops und damit der
Anschluß an das Weltwirtschaftssystem waren
Gegebenheiten, denen sich die Auffassung
vom „Reichtum“ anpassen mußte. — Die
Familienältesten waren in früheren Zeiten
meist auch die Wohlhabenden. Da einzelne
Gruppen sich teilweise auf besondere Aktivi-
täten spezialisierten, bildeten sich besonders
reiche Männer heraus, die meist auch die reli-
giösen Ämter innehiclten. — Im folgenden
Kapitel wird der Reichtum in seiner Bezie-
hung zum Heiratssystem untersucht. Der
Autor beschreibt den ökonomischen Wert der
Frau im Wirtschaftssystem der Guro. Die
Zirkulation der Frauen wird auch vom goni-
wuoza gesteuert. Er nimmt den Brautpreis
der von ihm abhängigen Frauen ein und bin-
det andererseits die Männer seiner Gruppe
noch fester an sich, indem er ihnen den Braut-
preis für ihre Frauen zur Verfügung stellt.
Dabei erweist es sich, daß die sich im Gebiet
der Guro berührenden patrilincaren und
matrilinearen Systeme durchaus nicht unver-
einbar gegenüberstehen. Funktionell regelt
die Bezahlung beziehungsweise Nicht-Bezah-
lung des Brautpreises die Zugehörigkeit der
Kinder zur väterlichen beziehungsweise zur
mütterlichen Familiengruppe. Die Höhe des
Brautpreises wurde dabei u. a. auch nach der
Zahlungskapazität des Mannes bestimmt; ein
armer Mann kann durch die Leistung von
*) Akkulturation hier verstanden als eine ge-
genseitige Angleichung verschiedener, durch
enge Kontakte miteinander verbundener und
unter sich etwa gleichwertiger Kulturen.
Arbeit beim Schwiegervater einen großen Teil
seiner Schulden begleichen. Der hohe Status
der Ältesten hängt somit eng zusammen mit
ihrem Allcinverfügungsrecht über die Frauen
überhaupt (Frauen Töchter-^ Reichtum —>
Frauen). Der Autor betont, daß dieses Zir-
kulationssystem unabhängig ist vom kom-
merziell ausgerichteten Tauschverkchr. Es
dient vielmehr der Erhaltung des Sozialsy-
stems und ist damit ein konservatives Ele-
ment. Der Autor diskutiert ausführlich die
theoretischen Implikationen dieses Ansatzes.
Das neunte Kapitel behandelt das Thema
„Allianzen und Kriege“. Noch einmal er-
weist es sich, wie wenig kohärent das „Volk“
der Guro ist. Einige Allianzen im Kriegsfall
beruhen auf dem Zusammenhang von Klanen,
andere verbinden verschiedene, meistens nicht
direkt benachbarte Dörfer. Der Autor be-
schreibt die Formen des Krieges und disku-
tiert seine sozialen und ökonomischen Funk-
tionen.
Im zehnten Kapitel werden die Beziehun-
gen des Menschen zum Boden und zur Erde
abgehandelt. Meillasoux unterscheidet hier,
wie das in Afrika oft getan werden muß,
zwischen dem Territorium (eines Stammes)
und der bebauten Erde als dem Produktions-
faktor, das heißt den Feldern. Nach ihm ist
das Territorium soviel wie das Aktionsfeld
einer Stammesgruppe (vor allem für die
Jagd). Erdherr (treza) und die religiösen Be-
ziehungen zur Erde werden nur als histori-
sche Überbleibsel beschrieben, da ihre Funk-
tionen irrelevant geworden seien. Ob dem
wirklich so ist, erscheint angesichts der Ar-
beit von Dittmer über die sakralen Häupt-
linge der Gurunsi doch als fraglich. Im fol-
genden Kapitel werden die vorkolonialen,
innerafrikanischen Handelssysteme beschrie-
ben, in welche auch die Guro als Mittelstamm
zwischen Savanne und Urwald eingeschaltet
waren. Die damit verbundenen Ausführungen
über die sozialen Auswirkungen dieses Han-
dels sind ein interessanter Beitrag zur Frage
des Kulturwandels als geschichtliches Phäno-
men.
Mit der Darstellung der Besetzung des
Landes durch die Franzosen und der damit
verbundenen Kolonialökonomie (Steuern,
Geld, Zwangsarbeit, Installation der „Cheffe-
rie“ und erster Anbau von cash crops) betritt
der Verfasser im zwölften Kapitel vollends
den Bereich der neuesten Geschichte und be-
schreibt damit — übrigens bemerkenswert
Buchbesprechungen
197
kritisch gegenüber der Kolonialmacht — die
Erscheinungen des Kulturkontaktes und des
Kulturwandels. Diese Phase reicht bis in die
heutige Zeit hinein. — Im letzten Kapitel
werden schließlich die Entwicklung der kom-
merziellen Kulturen, der Ausbau der Ver-
marktung, die veränderten Aspekte im Ar-
beitssektor (mit Immigrationen fremder Grup-
pen!) und ihre Auswirkungen auf Grund- und
Bodenrecht sowie auf das Sozialgefüge (Sta-
bilität und Auflösungserscheinungen der tra-
ditionellen Gesellschaft) behandelt.
Das Hauptaugenmerk der Studie ist also
auf die Darstellung der engen Interdependenz
zwischen der traditionellen Subsistenzwirt-
schaft und der Sozialstruktur gerichtet. Zwei-
fellos ist dies Anliegen geglückt; da aber die
Tatsache wenig bestritten ist, hätte vielleicht
auch eine weniger breite Beweisführung ge-
nügt. Dagegen hätte man gerne noch Ge-
naueres gewußt über die Tendenzen, die sich
in der modernen Auseinandersetzung mit der
Weltwirtschaft ergeben. Auch über die psy-
chischen Reaktionen der Bevölkerung auf die
Wandlungsprozesse, über ihre Einstellung zu
den neuen Dingen wären weitere Untersu-
chungen willkommen gewesen. Sicher sind sie
in den verschiedenen Alters- und Berufsgrup-
pen beziehungsweise in verschiedenen Status-
gruppen nicht dieselben.
Vielleicht hätte man von diesem Buch mehr
konkrete Daten und etwas weniger Über-
legungen und Theorien erwartet. Aber es
steht außer Zweifel, daß der Beitrag von
Meillassoux über die Problematik der Elfen-
beinküste hinausgeht und für vergleichende,
allgemeinere Fragen bedeutsam wird.
P. Hinderling
MARCEL G RI AU LE:
Conversations with Ogotemmcli. An Intro-
duction to Dogon Religions Ideas. London:
Oxford University Press (for International
African Institute). 1965. XVIII + 230 S.,
9 Abb., 12 Textzeichnungen, Pläne und
Diagramme, 1 Karte. Preis: sh. 35/—.
Das Buch von Marcel Griaule erschien
erstmals 1948 unter dem Titel „Dieu d’Eau
— Entretiens avec Ogotemmcli“ (Éditions
du Chêne, Paris) und ist für jeden, der sich
intensiv mit dem Westsudan befaßt, längst
zu einem „Klassiker“ geworden, stellt es
doch den ersten tieferen Vorstoß in das me-
taphysische und mythologische Wissen eines
Volkes aus dem Westsudan dar.
Seit vielen Jahren war die französische
Erstausgabe vergriffen. Das Internationale
Afrikanische Institut hat nun die sehr schwie-
rige Aufgabe unternommen, eine englische
Übersetzung des Werkes herauszugeben. Wer
sich eingehend mit „Dicu d’Eau“ beschäftigt
hat, weiß, daß der Inhalt und der brillante,
aber gelegentlich schwierige Stil von Marcel
Griaule den Leser vor manche Probleme stel-
len. Wer versucht hat, nur einzelne Stellen
zu übersetzen, weiß um die Schwierigkeit, die
eine Übersetzung des Buches in sich birgt.
Um so mehr sind die Übersetzer und das
Internationale Afrikanische Institut zu be-
glückwünschen, daß die schwierige Aufgabe
erfolgreich gemeistert wurde. Die englische
Übersetzung wird weitere Kreise — nicht zu-
letzt auch in Afrika — mit dem Inhalt dieser
Unterhaltung mit Ogotemmeli vertraut ma-
chen. Die Dogon sind heute eines der best-
bekannten afrikanischen Völker. Gerade
darum ist es wichtig, daß wenigstens die be-
deutendsten Arbeiten über dieses Volk auch
den Kreisen zugänglich gemacht werden, die
der französischen Sprache nicht hinreichend
mächtig sind, um jene Veröffentlichungen im
Original zu lesen. Es ist zu hoffen, daß bald
weitere Übersetzungen von Arbeiten Griaules
und seiner Mitarbeiter folgen.
Dem Buch ist eine kurze Einführung von
Germaine Dieterlen vorangestellt, am Schluß
findet sich eine Literaturauswahl wichtiger
Arbeiten über die Dogon. Ein Index ermög-
licht das rasche Auffinden wichtiger Stellen.
Der Rezensent bedauert lediglich, daß die
Zeichnungen der Seiten 50, 52, 68, 107, 112 f.,
127 f., 207, 230 und 256 f. sowie die Foto-
tafeln I, III, VI, VII (teilweise), XI, XII,
XIV und XVI der Originalausgabe in der
englischen Übersetzung fortgelassen wurden.
J. Zwcrnemann
ROBERT GÜNTHER:
Musik in Rwanda. Ein Beitrag zur Musik-
ethnologie Zcntralafrikas. Koninklijk Mu-
seum voor Midden-Afrika, Annalen, Rceks
in-8°, Wetenschappen van de Mens, no.50.
Tervuren: Koninklijk Museum voor Mid-
den-Afrika. 1964. VIII + 128 S., 10 Abb.,
68 Falt tafeln Transkriptionen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel,
in einer Zeit grundlegender Wandlungen und
Umwälzungen in Afrika „die Besonderheiten
afrikanischer Kultur am Beispiel der Musi-
zierweise eines bestimmten Kulturareals mo-
198
Buchbesprechungen
nographisch darzustcllen“ (Vorwort). Rwan-
das jüngste Geschichte ist ein Spiegelbild die-
ser sich schnell wandelnden afrikanischen
Welt: ehemals zu Deutsch-Ostafrika gehö-
rend, dann Völkerbundsmandat, einige Jahre
später mit Belgisch-Kongo vereinigt, seit 1946
Treuhandgebiet der Vereinten Nationen und
schließlich seit 1962 ein unabhängiger Staat.
Im Herzen des afrikanischen Kontinents ge-
legen, von mannigfachen Wanderungen und
Strömungen im Laufe der Jahrhunderte be-
rührt, ist es cm Gebiet, das einen Einblick in
die Kultur ethnisch verschiedener Völker-
schaften gewährt.
Die zahlreichen Arbeiten über Rwanda
geben zwar manchen Hinweis auf die Musik-
kultur des Landes, doch sind eigentliche mu-
sikethnologische Studien bislang noch selten;
eine Ausnahme bilden die instrumentenkund-
lichcn Abhandlungen, die aber meist über das
rein Ergologische nicht hinausgehen. Aller-
dings hatte schon Erich M. v. Hornbostel
1917 in dem Beitrag „Gesänge aus Ruanda“
(veröff. in „Wissenschaftliche Ergebnisse der
Deutschen Zentral-Afrika-Expedition 1907—
1908“) erstmalig für dies Gebiet musikalische
Dokumente durch Übertragung auf Walzen
befindlicher Klangbeispiele festgchalten. (Es
darf hier eingefügt werden, daß eines dieser
von Hornbostel übertragenen Beispiele heute
wieder zugänglich ist: „Die Demonstrations-
sammlung von E. M. von Hornbostel und
dem Berliner Phonogramm-Archiv“ — er-
schienen bei Folkways Records and Service
Corporation, New York, unter der Nummer
Ethnie Folkways Library FE 4175 — ent-
hält ein Chorlied, das Hornbostel später noch
einmal in „African Negro Music“, London
1928, als Beispiel 6 abgedruckt hat.)
ln Marius Schneiders „Die Geschichte der
Mehrstimmigkeit“ ist Rwanda ebenfalls durch
einige Beispiele vertreten, vor allem haben
sich dann in neuerer Zeit R. Brandei, A. P.
Merriam und K. P. Wachsmann mit der Mu-
sik Rwandas befaßt. Zu diesen Arbeiten tritt
nun als weiterer verdienstvoller Beitrag zur
Erhellung der Musikkultur des Landes die
Monographie Günthers hinzu. Die von ihm
benutzten Klangbeispiele entstammen dem
Tonbandmaterial, das ihm das „Institut pour
la Recherche Scientifique en Afrique Cen-
trale“, Brüssel, zur Verfügung stellte, und das
die Aufnahmen enthält, die D. Hiernaux —
L’Hoest und J. J. Maquet 1954/55 an Ort
und Stelle gewinnen konnten. Die 38 Bei-
spiele stammen von den Twa (5), Hutu (8)
und Tussi (23) aus verschiedenen Gebieten
des Landes. Einige Aufnahmen der Fulero (2)
dienen als Ergänzung. In der Mehrzahl han-
delt es sich hierbei um Vokalmusik (ein- und
mehrstimmig), sowie um Koppelung von
Sologesang und Soloinstrument. Reine Instru-
mentalmusik ist nur in 5 Beispielen vertreten.
Allein 18 der 19 Sologesänge entfallen auf
die Tussi, 5 der insgesamt 7 Beispiele instru-
mentalbegleiteter Vokalmusik auf die Hutu.
Aus dieser zahlenmäßigen Betrachtung geht
hervor, daß bei dieser Arbeit der Schwer-
punkt der Untersuchung ebenfalls auf der
Vokalmusik basiert, wie es auch bei den
anderen Studien der Fall ist. Die Erforschung
der instrumentalen Klangwelt ist — darauf
weist auch Günther hin — immer noch eine
Aufgabe der Zukunft.
Nach einer allgemeinen Einführung in
Land und Leute analysiert der Verfasser
sämtliche 38 Beispiele sehr ausführlich. In
einem Anhang, der in seinem Umfang den
Textteil übertrifft, werden sämtliche Bei-
spiele ausführlich übertragen. Allein für diese
genaue Darstellung gebührt dem Verfasser
besonderer Dank. Den Einzelanalysen folgt
eine Zusammenfassung der Ergebnisse in
deutscher und französischer Sprache. Eine
Übersicht über einige musikalische Phänomene
in den Transkriptionen — aufgegliedcrt nach
den verschiedenen Völkerschaften —, Hin-
weise zu den einzelnen Kapiteln und den
Analysen, ein sehr ausführliches Literatur-
und Schallplattenverzeichnis aller im Handel
erreichbaren Platten mit Musik aus Rwanda
schließen den Textteil ab. Der vor die Ana-
lysen gesetzte Bilderteil enthält insgesamt 10
Abbildungen verschiedener Instrumente (Flö-
ten, Musikbogen, Stab- und Schalenzither
sowie Sanza).
In seiner Zusammenfassung weist der Ver-
fasser selbst darauf hin, daß das seiner Arbeit
zugrunde liegende Material seiner Herkunft
und Zusammensetzung nach uneinheitlich ist,
und daß mit 38 untersuchten Aufnahmen nur
wenige Proben von der Musizierweise der Be-
völkerung Rwandas vorliegen (ein Wider-
spruch zu der Behauptung auf S. 7, daß die
Beispiele einen guten Querschnitt durch die
Musikkultur des Landes vermitteln!). Gün-
ther verzichtet daher auch auf einen er-
schöpfenden Vergleich der verschiedenen Mu-
sizierarten.
Als Ergebnis seiner Studie trifft der Ver-
fasser u. a. folgende Feststellungen:
Buchbesprechungen
199
Die großbogige kantable Melosform, von
rezitativischcn Elementen durchsetzt, findet
man nur bei den Tussi, die sie wahrscheinlich
mit den Trägern anderer Hirtenkulturen ge-
mein haben (vgl. Schneider und Danckert).
Bemerkenswert ist auch die Reichhaltigkeit
der Variationsformen in der Musik der Tussi.
Der Verfasser findet Ansätze zur Gestalt-
variation, wie sie aus der asiatischen und
mediterranen Musik in den Begriffen Ma-
quam, Raga und Patet bekannt ist. Die von
ihm ausgesprochene Vermutung, daß das Ge-
staltmusizieren in Afrika vielleicht verbreite-
ter ist als man sonst annimmt, hat einen gro-
ßen Wahrscheinlichkeitsgrad, doch müßten
weitere Untersuchungen diese These erhärten.
Für Ostafrika hat die Ethnologie bisher
ja schon Unterlagen für die Beziehung zu
Südostasien geliefert, und über das afrikani-
sche Xylophon hat bereits Hornbostel ge-
äußert: „Das afrikanische Xylophon stammt
aber aus Südostasien (Birma, Siam)“. Auch
der arabische Einfluß — in Ostafrika auf vie-
len Gebieten bemerkbar — könnte eine Rolle
spielen. Auch andere orientalisch anmutende
Züge in der Musik der Tussi (Verzierungs-
technik, die Verwendung von Vierteltönen)
könnten hierin ihre Erklärung finden. Dieser
von A. P. Merriam ausgesprochenen An-
nahme begegnet Günther allerdings mit einer
gewissen Skepsis, womit er allerdings nicht
allein steht. Er meint, daß diese orientalisch
anmutenden Züge mehr aus der Überein-
stimmung von Kulturstufe und Wirtschafts-
form von Hirtenvölkern abzuleiten seien und
glaubt, daß das von ihm betrachtete Klang-
material keinesfalls den Schluß zulasse, von
einem Vicrteltonbewußtsein zu sprechen. Die
(zahlenmäßig allerdings geringen) Beispiele
vokaler Polyphonie weisen für die drei Völ-
kerschaften ebenfalls auf die Verbreitung
mehrstimmigen Singens hin. Hierbei bildet
der Wechselgesang zwischen zwei Solosängern
oder Vorsänger und Chor die Basis für die
Entwicklung der Mehrstimmigkeit. Auch das
Überlappen der Stimmen tritt in den Bei-
spielen auf — beide Erscheinungen in Uber-
einstimmig mit ebensolchen im übrigen
Negerafrika.
Diese kurzen Hinweise auf einige Ergeb-
nisse, die der Verfasser aus seinen Untersu-
chungen ablcitet, mögen genügen, um zu
zeigen, daß hier eine verdienstvolle Mate-
rialstudie vorliegt, die unsere Kenntnis von
der Musik Ostafrikas bereichert.
W. D. Meyer
ANGELA MOLNOS:
Die sozialwissenschaftliche Erforschung Ost-
afrikas 1954—1963 (Kenya, Tanganyika!
Sansibar, Uganda). Berlin-Heidelberg-New
York: Springer-Verlag. 1965. XVI + 304
S. Preis: DM 43.—.
Seit Kriegsende erschienen mehr als hun-
dert bibliographische Arbeiten, die das
Schrifttum über Ostafrika eingehender be-
handeln. Veröffentlichungen über diesen
Raum auf dem Gebiet der Völkerkunde und
angrenzenden Wissenschaften sind aufgenom-
men teils in allgemeinen Afrika-Bibliogra-
phien wie jener von Mylius 1952 oder H. F.
Conover 1957—1963, teils in den ebenfalls
ganz Ostafrika umfassenden oder sich auf den
Osten beschränkenden anthropologischen Ver-
zeichnissen (zum Beispiel Hambly 1937/1952
beziehungsweise Jones 1960). Befriedigende
deutschsprachige Versuche dieser Art fehlten
seit vielen Jahren.
Das 1949 gegründete Ifo-Institut für Wirt-
schaftsforschung, München, veranstaltet seit
1961 von der eigens dafür geschaffenen „Af-
rika-Studienstelle“ aus Untersuchungen in
Tropisch-Afrika, speziell in Kenya, Buganda,
Tanganyika und Madagaskar mit dem Ziel,
Grundlagen für die künftige Entwicklungs-
politik zu erarbeiten. Frühzeitig war der
Wert sozialwissenschaftlicher Beiträge zur
Beurteilung der im Vordergrund stehenden
wirtschaftlichen Probleme erkannt worden.
Seither erhalten neben Ökonomen und teil-
weise koordiniert mit ihnen Ethnologen und
Soziologen Feldforschungsaufträge im Rah-
men des vielglicdrig angelegten Programms.
Unter den mitarbeitenden Sozialwissenschaft-
lern befindet sich die Autorin der vorliegen-
den Publikation. Als Nicht-Ethnologin benö-
tigte sie für eine Studie über die „Situation
und Rolle der Frau in der wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung Ostafrikas“ einen
Überblick über den Stand der Forschung, das
heißt auch eine möglichst vollständige Quel-
lensammlung. Sie existierte nicht zusammen-
gefaßt. Infolgedessen beauftragte das Ifo-
Institut die Verfasserin mit einer — nun frei-
lich ausführlicheren — Zusammenstellung
aller für sozialwissenschaftlichc Studien im
betreffenden Gebiet erforderlichen Unter-
lagen. Frau Dr. A. v. Molnos besorgte sie
sich ln Ostafrika selbst auf einer sechsmona-
tigen Reise.
Der Titel Ihrer Arbeit scheint nicht beson-
ders glücklich gewählt. Jedenfalls hätte der
Untertitel auf den bibliographischen Charak-
200
Buchbesprechungen
ter des Inhalts weisen müssen. Zudem wird
weit mehr geboten als ein Verzeichnis nur
„sozialwisscnschaftlicher“ Bemühungen, selbst
wenn man unter dem Ausdruck einen „weit-
gefaßten Sammelbegriff nicht-naturwissen-
schaftlicher und nicht-technischer Arbeiten
(p. 5) verstehen will. Beispielsweise im Ab-
schnitt D über die einzelnen Themenkreise
ist ein Kapitel, „die wirtschaftliche Entwick-
lung“, fast ausschließlich wirtschaftlichen
Sachgebieten (Planungen, Produktionen,
Transport, Handel, Kapitalbildung, Arbeits-
kräftepotential usw.) gewidmet, ein anderes
dem Gesundheitswesen und der Ernährung.
Freilich liegt der Schwerpunkt auf Gegenstän-
den sozietärer Relevanz.
Die Schrift ist vorbildlich klar und über-
legt gegliedert. Sie beginnt nach einleitenden,
notwendig zu lesenden Erläuterungen mit
einer Beschreibung von Forschungszentren
innerhalb jener drei Länder und solcher aus-
wärtigen, deren Forschungsgegenständc vor-
wiegend Ostafrika betreffen. Wir erfahren
vieles Wissenswerte über die Institutionen:
Entstehungsgeschichte, Finanzierung, Aufga-
ben, Projekte und die Namen der Fachkräfte.
Hinsichtlich der afrikanischen Anstalten hätte
man noch gern etwas gehört über den zur
Verfügung stehenden Apparat (Umfang und
Art der Bibliothek und weiterer Hilfsmittel).
Im Abschnitt über europäische Zentren stehen
treffende Bemerkungen über das Dilemma
der deutschen Afrikaforschung nach den Welt-
kriegen (p. 20 f.).
Der folgende Teil (C) würdigt das Schrift-
tum über die einzelnen ethnischen Gruppen
und ihre Wohnsitze. In bezug auf die triba-
len Gruppierungen hat sich die Autorin von
L. Vajda beraten lassen. Es ist von der Ab-
sicht der Studie her gesehen zwar nicht bedeu-
tungsvoll, nach welcher der bestehenden Theo-
rien die Stämme in „Blöcke“ (clusters) geord-
net werden. Eine Anmerkung, ob man der
Auffassung Baumanns, Murdocks, Hirsch-
bergs oder einer vierten folgt, wäre trotzdem
erforderlich. Vorzüglich ist die Darbietung des
Materials. Nach der kurzen tabellarischen
Übersicht eines „Blocks“ mit Angaben von
Quellen vor 1954 wird das forscherliche Ge-
schehen der letzten 10—12 Jahre, auch das
laufende und projektierte bei den einzelnen
Stämmen ausgearbeitet und der literarische
Niederschlag besprochen. Unterschiedliche
Ausführlichkeit hat teils informative, teils
sachliche Gründe: In verschiedenen Distrik-
ten, zumal im Westen Tanzanias bei den Ha,
Bende, Fipa u. a. ist weder früher noch ge-
genwärtig ausreichend gearbeitet worden. So
gut wie keine Berichte liegen vor von den
kleinwüchsigen Nyahoza in den Malagarasi-
Sümpfen. Auch hat sich niemand eingehender
mit der weißen Minderheit befaßt. Auf der-
artige Lücken im allgemeinen und in der Spe-
zialforschung wird ausdrücklich hingewiesen.
Besonders wertvoll (Abschnitt D) sind die
Berichte über neuere Publikationen und den
Stand der Forschung in einzelnen Sachgebie-
ten. Nicht nur der sozialwissenschaftliche
Fachmann findet hier reichhaltiges Material
auf engem Raum und doch übersichtlich zu-
sammengestellt. Kein für Ostafrika aktuelles
Thema scheint ausgelassen. In Kürze kann
man sich informieren über Arbeiten in so
wichtigen Fragen wie „Flüchtlinge“, „Wan-
derarbeiter“, „Genossenschaften“, „Gewerk-
schaften“, „Schulen“, „Elitebildung“, „städti-
sche Sozialstruktur“, „Akkulturation“, „Stel-
lung der Frau“, „Wandel in der Ernährung“.
Auf über 50 solcher Einzelgebiete werden
Auskünfte erteilt. Daran schließen sich über-
aus nützliche Besprechungen von methodi-
schen Arbeiten und Feldforschungstechniken.
Den Rest des Buches bilden Verzeichnisse.
Eine nahezu vollständige Liste von Erschei-
nungen der letzten anderthalb Jahrzehnte im
Bereich der Sozialforschung; eine weitere über
ältere Schriften; eine dritte über Methoden;
schließlich eine Bibliographie der Bibliogra-
phien. Gesondert aufgeführt sind Zeitschrif-
ten, Stammes- und Distriktslisten und An-
schriftenverzeichnisse. Wird so weit differen-
ziert — grundsätzlich sehr zu begrüßen —
dann sollten Sammelwerke und Handbücher
ein eigenes Register erhalten, oder unter dem
Stichwort beziehungsweise Titel zu finden
sein und nicht wie zum Beispiel das „Hand-
book of Tanganyika“ unter dem Namen des
Herausgebers (Moffet).
Bei den wenigen angemerkten Punkten
handelt es sich um Schönheitsfehler, die kaum
ins Gewicht fallen und sich leicht beheben
lassen. Die Verfasserin bittet ausdrücklich
um Korrekturvorschläge und hat zu diesem
Zweck heraustrennbarc Formulare am Schluß
beigefügt. Ihren bescheidenen Vermerk, die
Studie sei nicht für Ethnologen verfaßt, möch-
ten wir gern cinklammern. Denn es gibt kaum
eine vergleichbare Veröffentlichung, die dem
regional engagierten Völkerkundler ähnlich
viele und zuverlässige Hilfen böte und sich
Buchbesprechungen
201
ebenso mühelos benutzen ließe. Die gebote-
nen Daten in dieser Zusammenstellung er-
sparen ihm die Nachschlagearbeit zumindest
vieler Tage. Besonders der weniger versierte
Fcldforscher hat alles zur Hand, was er
braucht, um sich informativ vorzubereiten.
Unwillkürlich verweist die Lektüre auch auf
den einzuschlagendcn Weg, der frühzeitig mit
methodischen Vorstudien und Aufnahme von
Kontakten mit Forschungsstellen beginnen
soll.
Nun es vorliegt, läßt das Buch die Frage
stellen, warum cs derartige, sogleich als un-
entbehrlich empfundene Vademekums nicht
schon längst gibt! Es bleibt zu hoffen, daß die
Arbeit von Angela Molnos nicht isoliert bleibt
und bei der Abfassung ähnlicher Instruktions-
bücher für weitere Kulturräume zum Muster
dient.
A. v. Gagern
J. A. K. LESLIE:
A Survey of Dar es Salaam. London, New
York, Nairobi: Oxford University Press.
1963. VIII + 305 S., 6 Abh., 3 Dia-
gramme, 1 Karte. Preis: sh. 30/—.
Die vorliegende Urbanisierungsstudie be-
ruht auf einer 1956 im Aufträge der Kolo-
nialverwaltung durchgeführten Erhebung, die
in einem systematischen cluster sample 5%
der afrikanischen Bevölkerung Dar es Sa-
laams erfaßte. Obwohl eine systematische
Gliederung fehlt und an verschiedenen Stel-
len des Buches Aussagen wiederholt werden,
lassen sich einige Schwerpunkte hervorheben:
Faktoren der Zuwanderung, die Situation der
Neuankömmlinge im urbanen Milieu, die
stammesmäßige Zusammensetzung der Stadt-
bevölkerung, Bedeutung der Stammesher-
kunft und traditioneller Institutionen in der
Stadt, Wohnverhältnisse und Wohnviertel,
informelle Zusammenschlüsse. Die letzten
Abschnitte behandeln Leistungsmotivation —
besonders in der Abhängigkeit von der Reli-
gionszugehörigkeit, Arbeitslosigkeit und vor
allem die mit dem soziologischen Begriff der
Anomie analysierte moralische Instabilität
der urbanisierten Bevölkerung — hier werden
vor allem das sehr freie Sexualverhalten, aber
auch die verschiedenen Formen legalisierter
Beziehungen geschildert.
Ausgangspunkt der Darstellung ist die Si-
tuation des Neuankömmlings in der Stadt.
Als Motive der Zuwanderung werden (S. 31)
Prestige, Geld und der Versuch, sich der engen
Kontrolle, die im Stammesgebict sowohl
durch Verwandte wie durch Verwaltungs-
beamte ausgeübt wird, zu entziehen, ange-
geben. Nur in wenigen Fällen ist der Wunsch
nach besserer Ausbildung erkennbar. Im Un-
terschied zu vielen anderen afrikanischen
Städten findet der Neuankömmling in Dar
es Salaam größere Gruppen seines eigenen
Stammes vor, so daß vor allem in der schwie-
rigen Anfangszeit Unterkunft und Verpfle-
gung bei einem Verwandten oder notfalls bei
einem nichtverwandten Stammesgenossen ge-
sichert sind und sich auch die Einsamkeits-
problematik europäischer und amerikanischer
Großstädte kaum stellt. Nahezu alle urbanen
Stammesgruppen verfügen über eine lockere
Vereinigung, deren Hauptzweck das Begräb-
nis verstorbener Mitglieder ist (S. 41).
Sofern die Ältesten noch Autorität haben,
ist sie von der gleichen stark persönlichkeits-
bestimmten Art wie im traditionellen System
(S. 43), doch verzeichnet der Autor eine all-
mähliche Verdrängung der Ältestenrolle aus
dem städtischen Milieu (S. 194). Viel stärker
als durch die urbanen Stammesvereinigungen
wird die Kontinuität von Elementen der
Stammeskultur durch die häufigen meist all-
jährlichen Urlaubsreisen ins Herkunftsgebiet,
vor allem auch durch Geburt und Erziehung
der Kinder auf dem Lande ermöglicht.
Eine wichtige Konsequenz hat die auch im
urbanen Milieu geltende Verwandtschafts-
solidarität für die wirtschaftliche Leistungs-
motivation. Da aufgrund des traditionellen
Teilzwangs der einzelne keine individuellen
Profite anhäufen kann, wurde der Handel
durch Araber, Hindu und Pakistani mono-
polisiert. Ausnahmen gab es nur dann, wenn
ein afrikanischer Händler zwischen sich und
seine Verwandtschaft eine Distanz von meh-
reren hundert Kilometern legen konnte (S.
137). Dieser geringen Leistungsmotivation ist
es auch zuzuschreiben, daß auch jene Arbeiter,
die wie die gut verdienenden Dockarbeiter
von Arbeitslosigkeit nicht betroffen sind, nur
während eines Teils einer Arbeitsperiode ar-
beiten und sich mit einem Verdienst begnü-
gen, der das Existenzminimum und gelegent-
liche Eskapaden sichert. Doch gibt es auch
hier Unterschiede: So weist Leslie mehrmals
auf den Kontrast Im Bildungsniveau zwischen
der fatalistischen konsum- und rentenorien-
tierten muslimischen Küstenbevölkerung und
den eine Minderheit von 13°/o bildenden,
meist aus dem Innern Tanganyikas zugewan-
202
Buchbesprechungen
derten Christen, aus denen sich bereits zur
Zeit der Erhebung die afrikanische politische
Elite rekrutierte, hin.
Zum Wohnproblem vertritt Leslie eine
marktwirtschaftliche Position. Er hält den
Wohnbedarf trotz der hohen Belegungsdichte
der Suahelihäuser für weitgehend befriedigt
und befürchtet sogar, daß in absehbarer Zeit
bei stagnierender urbaner Bevölkerung die
Rendite wegen eines Überangebots an Woh-
nungen sinken wird (S. 160). Von dieser Po-
sition aus kritisiert er auch die zur Zeit seines
Berichtes realisierten Wohnprogramme. Er
hält die dafür aufgewandten öffentlichen
Mittel für zu hoch und bedauert die mögliche
Verringerung der Hausbesitzerklasse (S. 153).
Vor allem befürchtet er aber — wobei er sich
auf „schlechte Erfahrung“ in Nairobi und
Kampala beruft — Auseinandersetzungen
über die Zuteilung und über den angemesse-
nen Wohnungsstandard. Leslie glaubt, daß
die durch Privatinitiative erzielte verbesserte
Version des Suahelihauses (mit Zementboden,
Verputz und Blechdach, aber ohne Toilette
und Wasseranschluß) den Ansprüchen der
großen Mehrzahl genügt. Damit vermittelt
er ein verzerrtes Bild von den Wohnwün-
schcn der Bewohner Dar es Salaams. Hätte er
eine richtige Prognose gegeben, wäre das in-
zwischen mit deutscher Hilfe durchgeführte
housing project ein weiteres Beispiel für
überflüssige Entwicklungshilfe. In Wirklich-
keit übersteigt heute die Zahl der Anwärter
bei weitem die der fertiggestellten Neubau-
ten. Hier zeigt sich eine erstaunliche Befan-
genheit des Verfassers in spätkolonialcn Vor-
stellungen, die sich mitunter einer paternali-
stischen Idyllik nähern und den aktuellen
und prognostischen Informationswert dieser
durch die Schilderung zahlreicher Alltags-
szenen trotzdem interessanten Darstellung in
Frage stellen.
Chr. Sigrist
EIKE HABERLAND:
Untersuchungen zum äthiopischen König-
tum. (Studien zur Kulturkunde Bd. 18.)
Wiesbaden: Franz Steiner Verlag GmbH.
1965. 353 S., 8 Karten, 3 Abb. Preis:
DM 44.—.
Mit dieser Arbeit hat der Verfasser einen
wichtigen Beitrag zur Schließung einer von
der Völkerkunde offen gelassenen Lücke ge-
leistet und bisher einseitige Betrachtungs-
weisen durchbrochen: Denn von der Ethno-
logie war die Erforschung des amharischen,
christlichen Abessiniens als „hochkulturlich“
vernachlässigt und der Äthiopistik überlassen
worden. Da diese philologisch arbeitet und
ihr die für Vergleiche mit heidnischen äthio-
pischen Kulturen heranzuziehende afrikanische
Völkerkunde wenig vertraut ist, war sie vor-
wiegend an den sprachlichen, historischen und
theologischen Zusammenhängen mit Arabien
beziehungsweise dem christlichen Mittelmeer-
raum interessiert. Da ferner beiden Wissen-
schaften bis zur Veröffentlichung der Ex-
peditionsergebnisse des Frobenius-Institutes
nur wenig an zuverlässigem und detailliertem
monographischem Material über die so wich-
tigen Völker Südäthiopiens zur Verfügung
stand, hatte sich bis heute das Axiom er-
halten können, die Kultur des christlichen
Abessiniens sei ein Fremdkörper in Afrika
ohne engere Beziehungen zu altafrikanischen
Kulturen. Durch seine Feldforschungen mit
äthiopischen Kulturen des unterschiedlichsten
Gepräges ebenso vertraut wie mit der um-
fangreichen Literatur über diesen Raum hat
der Verfasser mit der vorliegenden Arbeit
einen gründlichen Wandel geschaffen und im
Gegenteil eine enge Verflechtung der orien-
talischen und christlichen Kulturelemente mit
altafrikanischen nachgewiesen, um das wich-
tigste Ergebnis vorwegzunehmen.
Zur Erreichung seines Zieles hat Haber-
land zunächst den hochkulturlichen Firnis
vorsichtig abgelöst, um dann das darunter-
liegendc Bild altafrikanischer Kulturen und
deren Verbindung mit den jüngeren aufschei-
nen zu lassen. Die Darstellung des christ-
lichen Hochäthiopiens nimmt gute 60°/o des
Textes ein, während dem Streifzug durch die
anschließenden, hochkulturlich beeinflußten
Regionen und durch die entfernteren und
„altafrikanisch“ gebliebenen Südäthiopiens
40% gewidmet sind. Einzelne Elemente die-
ser Kulturen werden thematisch jeweils auch
im I. Teil mitbchandelt.
Zur gerechten Würdigung der Leistung des
Verfassers muß auf die großen Schwierig-
keiten hingewiesen werden, mit denen er
sich abzuplagen hatte: Eine zuverlässige und
umfassende Monographie der Amharen fehlt
leider immer noch; die nichtamharischen Eth-
nien sind nur zum geringeren Teil eingehend
erforscht; zwischen den spärlichen Nachrich-
ten über Aksum und dem Beginn der salo-
monischen Dynastie um 1270 klafft eine fa-
tale Lücke in der Geschichtschreibung; die zur
Buchbesprechungen
203
Verherrlichung dieser Dynastie schreibende
Geistlichkeit war sehr erfolgreich in ihrem
fanatischen Bemühen, die Zeugnisse der und
die Erinnerung an die ehemaligen Rivalen —
die jüdische und die christliche (Zague-)Dy-
nastie der Agau — auszulöschen. Damit
wurde aber die kulturgeschichtlich so bedeut-
same Zeitspanne zwischen dem Untergang
Aksums und dem 13. Jh. unserer Kenntnis
entzogen. Sodann pflegten die amharischen
Geschichtsschreiber (ausschließlich Geistliche)
nicht nur ärgerlicherweise die den Zeitgenos-
sen selbstverständlich erscheinenden Bräuche
meist unerwähnt zu lassen, sie schrieben auch
bewußt tendenziös. D. h. sie vertuschten die
mit dem christlichen Moralkodex unverein-
baren Handlungen der Herrscher oder deu-
teten sie zumindest um, schreckten auch vor
Erfindungen nicht zurück. Die Könige und
ihre Handlungen wurden von den Mönchen
mehr nach deren Idealvorstellungen als nach
der Wirklichkeit gezeichnet. Demzufolge
hatte der Verfasser eine ungeheure Mühe und
viel Scharfsinn aufwenden müssen, um aus
den Schriftquellen wahre Sachverhalte heraus-
zuschälen.
Im 1. Kap. „Christentum und Reichsidee“
wird auf die engen Beziehungen zur israeliti-
schen Tradition hingewiesen, die bereits im
12. Jh. und möglicherweise schon bei den
Aksumiten bestanden haben. Die im kebra
negast, der „magna charta“ des äthiopischen
Kaisertums, zum Dogma erhobene Legende
von der Abstammung der äthiopischen Kaiser
aus der Verbindung König Salomons mit der
Königin von Saba war im Orient schon lange
vorher bekannt, desgleichen die Vorstellung,
die Bundeslade sei von Menelik I. aus Jeru-
salem nach Aksum entführt worden (kop-
tische Quelle des 12. Jh.). Obwohl Christiani-
sierung und Abfassung der älteren kirchlichen
Literatur vorwiegend syrischen Missionaren
zu verdanken waren, blieb „Rom“ (bezie-
hungsweise „Byzanz“, außer Namen und
Rolle Konstantins) ein leerer Begriff. Aber
auch vom Reich Aksum war kaum mehr als
die — auf die Führungsschicht beschränkte
— Erinnerung an die heilige Krönungsstadt
geblieben. Selbst das koptische Ägypten übte
nur geringen Einfluß aus, am wenigsten auf
die Formierung des Königtums. Durch die
islamischen Staaten für ein Jahrtausend von
den mediterranen Christen abgeriegelt und
selbst in der Existenz bedroht, entwickelten
die ganz auf sich gestellten äthiopischen Chri-
sten — trotz Unterlegenheit in der Höhe
ihrer materiellen Kultur — ein naives Über-
legenheitsgefühl über alle Heiden rings um
ihren „Nabel der Welt“ und ein erstaunliches
Sendungsbewußtsein. Es befähigte sie, alle
Katastrophen — wie die Zusammenbrüche in
den Mohammedaner-, Galla-, Bürger- und
Italienkriegen — standhaft zu überdauern
und unerschütterlich die Hoffnung auf je-
weilige Wiederaufrichtung und Vergrößerung
des Reiches zu hegen und zu verwirklichen.
In einem Abriß des christlichen Priester-
tums unterstreicht Haberland die unüber-
schätzbare Rolle, die nicht nur der in allen
führenden Stellungen des Hofes und Staates
tätige höhere Klerus und die Mönche als Kul-
turträger, Missionare und tapfere Krieger,
sondern auch die vielen ungebildeten Bauern-
priester für die Ausbildung dieses Sendungs-
bewußtseins, aber auch für die Gestaltung
des Königtums und der unsterblich gewor-
denen Idee von Äthiopien als einem heiligen
christlichen Reich gespielt haben. „Ohne das
Christentum hätte das hochäthiopische König-
tum nie seine . . . einmalige Gestalt erhalten,
ohne das Königtum als Vorkämpfer einer
übermenschlichen Heilsordnung hätte das
Christentum in Äthiopien . . . keinen Bestand
gehabt“.
In den folgenden Kapiteln werden ein-
zelne Elemente des Königtums untersucht.
So werden im 2. Kap. Nachfolge, Inthroni-
sation und Herrschaftssymbole behandelt. Da
allergrößtes Gewicht auf eine Abstammung
von David gelegt wurde, war die Nachfolge
patrilinear; Sohnesfolge war die — aller-
dings nicht schriftlich fixierte — Regel; die
Mutter war gleichgültig, Seitenlinien waren
bis zum Ende des 19. Jh. ausgeschlossen. Da
auch für den christlichen König die An-
schauung fortbestand, daß er das Heil seines
Landes garantiere, sollte ein Nachfolger den
ererbten Besitz des Charisma erweisen. Die
hierfür bei Heiden üblichen Orakel und
Mirakel wurden gern durch Prophetien nach
dem Muster des Alten Testaments ersetzt
(oder erfunden), die Verstümmelung von ri-
valisierenden beziehungsweise unterlegenen
Thronanwärtern durch ihre Relcgierung auf
unzulängliche Berge. Hier lebten sie jedoch
nicht in Gefängnissen, sondern ehrenvoll an
heiligen Stätten. Ein ritueller Königsmord
war erst recht mit dem Christentum unver-
einbar.
Die Fest-Inthronisation in Aksum bildete
eine der letzten Erinnerungen an das erste
204
Buchbesprechungen
christliche äthiopische Reich, zu dem im übri-
gen die Kontinuiät im Mittelalter nach Ha-
berland völlig erloschen war. Ihr hatten sich
von 1270 bis 1855 allerdings nur 4—5 Könige
unterzogen, davon zwei mehr aus zufälligen
politischen Gründen. Das Ritual, das von der
afrikanischen Grundschicht des sakralen Kö-
nigtums mitgeprägt war und später christlich
umgeformt wurde, hatte anderthalb Jahr-
tausende überdauert. Allerdings war seine
Regel bereits unverständlich geworden (mußte
jeweils mühsam einstudiert werden) und in
Unordnung geraten. Es ist wichtig wegen der
Bewahrung von Zügen, die der üblichen
Inthronisation (in den Pfalzen) fehlen oder
von den Chronisten nicht erwähnt werden.
Der feierliche Einzug des Königs weist
manche Parallelen zu Westafrika auf. In
Äthiopien ist er zur Kopie der Inthronisation
des Salomo beziehungsweise des Einzuges
Christi in Jerusalem umgeformt worden. Der
ursprünglich wichtigste Ritus der Inthroni-
sation auf dem steinernen „Königsstuhl“ zur
Entgegennahme der Huldigung der Inhaber
der 12 Erzämter (die völlig in Verwirrung
geraten sind und später als Führer der 12
immigrierten israelitischen Stämme angesehen
wurden) ist in den Hintergrund getreten ge-
genüber der Salbung. Wegen ihrer biblischen
Parallelen wurde sie später von den Mön-
chen als entscheidendes Ritual hingestellt,
während nach Haberland früher das Scheren
und Verbrennen des Haares bedeutungsvoller
gewesen sein dürften. Diese letzten drei Ri-
tuale fanden, zusammen mit der Tötung der
Königstiere Löwe und Büffel, als eigentliches
Sacrum nur in Gegenwart der 12 Erzbeamten
und Priester statt. Nach erneuter Akklama-
tion und Gebet des Königs nahm er mit den
12 Erzbeamten auf den berühmten steinernen
„Richterstühlen“ unter gegenseitigen Segnun-
gen Platz. Da die „Erzbeamten“ auch Ver-
wahrer königlicher Insignien (wie Ring, Mes-
ser, Salböl, Jordanwasser, Schirm, Zelt usw.)
waren, dürften auch Belehnungen des Königs
mit Insignien vorgenommen worden sein.
Von späteren Chronisten werden sie aller-
dings nicht beschrieben (da nicht bei diesen
Zeremonien anwesend?), obwohl von einigen
nicht erwähnten Riten sicher ist, daß sie vor-
genommen wurden.
Der Verfasser bespricht anschließend aus-
führlich die königlichen Insignien, von denen
einige schon in vorchristlicher Zeit besonders
wichtig waren, wie zum Beispiel Ring, Trom-
mcl und Trompeten, Königstiere. Von diesen
konnte der Löwe wegen seiner alttestament-
lichen Beziehung seine Bedeutung noch stei-
gern. Eine besondere Rolle spielen die Biene
und ihre Produkte, die schon in Altägypten
Königstier war und in Südäthiopien und bei
der Zague-Dynastie als Orakel zur Aus-
findigmachung des charismatischen Thron-
folgers diente.
Die Inthronisationen in den Pfalzen ver-
liefen schlichter, an Stelle weggelassener ak-
sumitischer Zeremonien traten altüberlieferte
altafrikanische Riten stärker in den Vorder-
grund. Wichtig blieben: Inthronisation, Sal-
bung, Übergabe der Insignien, Krönung,
Proklamation und Akklamation, Ertönen der
kgl. Trommeln und Trompeten. Stärker be-
tont scheinen Kleiderwechsel, Zulegung eines
Herrschernamens, Übernahme des Eigentums
des Vorgängers (von der alten Sitte, auch
dessen Frauen zu erben, ließen sich einige
Herrscher von den Mönchen nicht abbringen;
wie auch generell Polygynie und Haltung von
Konkubinen beibehalten wurden), Rundreise
durch die Provinzen, Neuverteilung der
Ämter. Großes Gewicht erhielt die Abhal-
tung der Totenfeier für den Vorgänger —
während der altafrikanische Brauch des
anarchischen Interregnums nicht beibehalten
wurde — und als Abschluß die Abhaltung
einer Ritualjagd (auf Löwe, Büffel, Elefant
und Rhino beschränkt) oder statt dessen eines
Kriegszuges. Der Verfasser möchte beide von
den Töterzügen der äthiopischen Megalith-
kulturen ableiten.
Aus den Untersuchungen des 3. Kap. über
das Sacrum geht hervor, daß im Volksglau-
ben der König zwar Charisma und Tremen-
dum, „Heil“ und Segens- wie Zauberkraft
(zum Beispiel Macht über Regen, zur Teilung
von Gewässern und zur Prophetie) besaß, die
Chronisten aber keine Schilderungen der
„wundertätigen“ Eigenschaften der Könige
geben (die sic lieber den Heiligen zuschrie-
ben). Höchste Heiligkeit kam den — bis zur
Gründung der Hauptstadt Gondar (Mitte
des 17. Jh.) ständig verlegten — Pfalzen, ge-
schützt durch drei Einfriedungen 4- magi-
schen Schutzwall, zu. Allem „Unreinen“ war
der Zutritt verwehrt; in ihnen waren Tötung
und Zeugung nur dem König Vorbehalten.
Seine Umgebung bestand daher aus Knaben,
Jungfrauen, Greisen und Mönchen. Die für
das sakrale Königtum typische Unsichtbar-
keit des Herrschers blieb bis auf wenige
Buchbesprechungen
205
öffentliche Auftritte anläßlich hoher Feier-
tage oder Kriegszüge auch in Hochäthiopien
erhalten, ebenso das Verbot, mit seinen Hän-
den Speisen zu berühren.
Im 4. Kap. ,,Königtum und Volksverfas-
sung“ werden die soziale Rolle und Funktion
des Königs untersucht. Da Haberland über-
zeugt ist, daß von den altafrikanischen Kul-
turen das Megalithikum den tiefstgreifenden
Einfluß in ganz Äthiopien ausgeübt habe,
gibt er einleitend einen vorzüglichen — wenn
auch m. E. zu weit gefaßten — Abriß dieser
Kultur. Die „demokratische“ Verfassung der
Megalithkultur habe modifizierend auf den
monarchischen Anspruch auf absolute Herr-
schergewalt eingewirkt; noch mehr sei Äthio-
pien durch ihren „Verdienstkomplex“ geprägt
worden. Allerdings habe der Einfluß der
Mönche und der ritterlich-höfische Lebensstil
Hochäthiopiens das barbarisch-wilde Morden
der megalithischen Töterzüge zum Idealtyp
der „Heldentat“ verfeinernd umgeformt. Der
„Held“ wurde in die Dienste des Herrschers
genommen und empfing seine Auszeichnun-
gen aus dessen Hand. Auch die (Ehren-)Äm-
ter — aus Prestigegründen so heiß ersehnt —
wurden vom König verliehen und nicht mehr
vom Ältestenrat beziehungsweise automatisch
durch irgendwelche „Verdienste“ einschließ-
lich Reichtum erworben. Der Verfasser klärt
dabei anhand von Arbeiten anderer Verfasser
den Irrtum auf, der König sei angeblich
Eigentümer des ganzen Bodens gewesen und
habe ihn willkürlich entziehen oder vergeben
können. Dieses Recht betraf nur Lehensgüter
von zu Dienstleistungen verpflichteten Amts-
inhabern, das Bodeneigentum der Familien
und Clane wurde davon nicht berührt.
Im II. Teil werden südäthiopische König-
tümer behandelt. Im 5. Kap. „Zur Kultur-
geschichte des Königtums in Südäthiopien, die
Beeinflussung des Südens durch den Norden“
wird einleitend ein kurzer Abriß der Kultur
und Geschichte südäthiopischer Völker — so-
weit sic bekannt sind — gegeben. Bedeutsam
ist die vom ostafrikanischen Graben gezogene
Kultur- und Sprachgrenze zwischen West-
kuschiten mit Königtum und Ostkuschiten
mit „gada-System“. Haberland bringt Be-
lege dafür, daß im Hoch- und Spätmittel-
alter die christliche Missionierung mit der
Gründung von Kirchen weit nach Süden vor-
gestoßen war und Nachbarstaaten des am-
harischen Kerngebietes in dessen politische
Abhängigkeit geraten waren. Das Eindringen
der Galla in das von den Mohammedaner-
kriegen geschwächte amharische Reich iso-
lierte das Christentum im Süden und brachte
es zum Absterben. Auch den häufig feudalen
Charakter mehrerer Reiche im Norden des
Südgebietes möchte der Verfasser auf eine
kulturelle Durchdringung beziehungsweise auf
das bewunderte Vorbild Hochäthiopiens zu-
rückführen.
Als Beispiel eines solchen Reiches wird im
6. Kap. das Königtum von Wolamo vorge-
führt, das der Verfasser während seiner Feld-
forschungen selbst studieren konnte. Er ent-
wirft von dieser „ritterlich-feudalen Kultur
großartigen Stils wie in Hochäthiopien“ (nur
ohne Christentum) ein anschauliches Bild.
Der König an der Spitze der zentralistischen
Staatsorganisation mit Verdienstadel und
Lehens- (und auch Söldner-) wesen hat for-
mell eine größere Machtfülle als die sakralen
Könige älteren Typs, ist im Vergleich zu die-
sen stärker säkularisiert. Höchst interessant
und aufschlußreich sind die historischen Tra-
ditionen; Wolamo war einstmals Bestandteil
des Reiches Damot (im Norden) und bewahrt
eine Erinnerung an dessen Christianisierung
und an das spätere Erlöschen des Christen-
tums. Danach kam eine „Heldenschar“ aus
Koysa (im Westen, südlich von Kaffa gele-
gen) durch Konta und Dauro nach Wolamo
und gründete hier und in den Nachbarlän-
dern als wolaytamala-Dynastie kleinere sa-
krale Königreiche alten Typs. Sie führte die
meisten Riten und Insignien des Königtums
ein, besaß aber nie die Machtfülle der spä-
teren Dynastie. Diese kam als eine Schar von
150 Reitern unter Führung eines Fürsten-
sohnes aus Tigre mit von dort und aus dem
Agauland stammenden Pagen. Sie fielen von
Westen her in Wolamo ein und eroberten
es in schweren Kämpfen, als es durch lange
Kriege mir den nördlichen Hadya-Nachbarn
geschwächt war. Dieser Tigre-Dynastie ist
die Einführung des feudalen Staatswesens
mit Primogenitur und Reichsbildung durch
Eroberung und Besetzung von Nachbarlän-
dern zuzuschreiben.
Im 7. Kap. wird das ältere Königtum Süd-
äthiopiens vorwiegend am Beispiel der vom
Frobcnius-Institut besuchten Kleinkönigreichc
in einer gedrängten Zusammenfassung vor-
geführt. Die Untersuchungen zu den Themen
(mythischer) „Ursprung“, „Tod“, „Nach-
folge“, „Funktionen“ des Herrschers, seine
„Pfalz und Zeremoniell“ ergeben eindeutig,
206
Buchbesprechungen
daß sich hier ein echt sakrales Königtum
ältesten Typs mit charismatischem Herrscher
erhalten hat, wie es für einen weiten Bereich
Afrikas typisch ist. Sein Fortleben — wenig-
stens mit einzelnen Zügen — auch in Hoch-
äthiopien hat der Verfasser scharfsinnig her-
ausgearbeitet. Einflüsse aus Hochäthiopien
beziehungsweise den feudalen Reichen sind
nur gering. In manchen Fällen dürften nur
Ausläufer des Königtums zu primitiver struk-
turierten Gesellschaften (mit noch lebendigem
Clanwesen) vorliegen, wo sich die monar-
chische Ordnung nicht gänzlich hat durch-
setzen können.
Kurze Zusammenfassungen in deutsch und
englisch, eine Regentenliste ab 1270 und ein
umfangreiches Literaturverzeichnis beschlie-
ßen das Werk.
Es ist bedauerlich, daß von der Fülle des
vorgelegten Materials, der ebenso schwieri-
gen wie gründlichen Auswertung der Quellen
und der Vielzahl der angeschnittenen Prob-
leme in dieser — sehr komprimiert geschrie-
benen — Arbeit eine Rezension auch nicht
annäherungsweise eine adäquate Vorstellung
und Würdigung zu geben vermag. Es ist dem
Verfasser zu bescheinigen, daß er unsere
Kenntnisse zum Problem der afrikanischen
Königtümer und der Kulturgeschichte Äthio-
piens wesentlich und grundlegend bereichert
hat.
Da nun die vorgelegten Quellen und Fak-
ten verschiedene Auslegungen ermöglichen,
die zwangsläufig vielfach hypothetischen
Charakter haben, ferner der Verfasser selbst
im Vorwort seine Arbeit als Versuch und
Vorstudie bezeichnet, sei es gestattet, der
laudatio einige kritische Anmerkungen fol-
gen zu lassen:
Haberland hat leider das Problem des
jüdischen Königtums und des christlichen
Königtums der Zague-Dynastie aus seinen
Untersuchungen ausgeklammert, obwohl dem
Leser deren Beurteilung aus einem so beru-
fenen Munde besonders wichtig gewesen wäre.
Auch nach Auffassung des Verfassers ist ja
das Zeitalter dieser Dynastien das der For-
mierung der hochäthiopischen Kultur gewe-
sen. Wie er selbst bestätigt, reichte der Ein-
fluß des äthiopischen Judentums weit über
die Grenzen Äthiopiens hinaus. Um so mehr
muß es seine unmittelbaren Nachbarn und
christlichen Nachfolger in der Herrschaft be-
einflußt haben. Das ist schon mehrfach fest-
gestellt worden und in praxi wirkt das äthio-
pische Christentum mehr als jüdische Sekte
denn christliche Kirche. Abgesehen von dem
allgemeinen Vorherrschen des A.T. über das
N.T. und Beibehaltung vieler wichtiger jüdi-
scher Rituale ist schließlich das höchste Hei-
ligtum die angeblich aus Jerusalem entführte
originale Bundeslade, gilt Aksum als „Neues
Zion“ als Nachfolger Jerusalems und wird
die äthiopische Geistlichkeit nicht müde, das
christliche Königtum als überlieferungsgetreue
Fortsetzung des jüdischen Königtums — sogar
in seiner genetischen Abkunft — zu erweisen.
Die kleine judenchristliche Gemeinde Palä-
stinas kann das nicht verursacht haben, da sie
bereits seit einigen Jahrhunderten unterge-
gangen war.
Haberland erklärt diese Judai'sierung mit
der Behauptung (S. 25) „für einen christlichen
König konnte ursprünglich . . . nur das alt-
testamentliche Königtum Vorbild . . . sein“,
außer wo die cäsarisch-augustei'sche Tradition
lebendig war. Diese Beweisführung geht fehl,
denn die Christianisierung Äthiopiens er-
folgte ja gerade durch Missionare aus dem
cäsarisch geprägten Kulturkreis. Als einziges
weiteres Beispiel wird Karl d. Gr. angeführt,
der sich mehr als novus David denn als
Imperator romanus gefühlt habe. Dabei wird
übersehen, daß die Politik der germanischen
Könige von den damaligen politischen und
theologischen Rivalitäten unter sich, zwischen
West- und Ostrom, lateinischem, griechischem
und arianischem Christentum bestimmt
wurde. Die Karolinger führten den Titel
patricius Romanorum neben ihren fränki-
schen und langobardischen Königstiteln. Die
durch eine Intrige des Papstes überrumpelnd
erfolgte Kaiserkrönung Karls d. Gr. änderte
nichts daran, daß er die Suprematie des Kai-
sers von Byzanz weiterhin anerkannte und
sich in erster Linie als germanischer König
fühlte. Ferner ist bis heute zu beobachten,
daß unter kulturell schlichteren Ethnien ge-
gründete Nationalkirchen oder solchen, die
sich in einem Gegensatz zur römischen Kirche
fühlen (Protestantismus), eine stärkere Hin-
wendung zum A.T. mit seinem ebenfalls
schlichteren Hintergrund erfolgt. Nirgends
aber ist eine derart starke Judai'sierung wie
in Äthiopien zu bemerken.
Diese Betonung der alttestamentlichen Be-
ziehungen durch die Salomoniden und ihren
Klerus muß also durch die politischen Ver-
hältnisse im frühmittelalterlichen Äthiopien
verursacht worden sein. Damals war das jü-
Buchbesprechungen
20 7
dische Agau-Reich das herrschende, das auch
durch die Eroberung Aksums die Reste des
Christentums im Norden ausgelöscht hatte.
Ihm gegenüber war die Macht der christlichen
Zague-Dynastie im Osten des Agau-Landes,
erst recht die der amharischen Könige in
Schoa, unbedeutend. Die zur Erweiterung
ihres Machtbereiches in Gang gesetzte Missio-
nierung mußte aber auf die bekannte Schwie-
rigkeit stoßen, daß die zu Bekehrenden nicht
so leicht von ihren überlieferten, d. h. jüdi-
schen, Glaubensvorstellungen lassen wollten;
eine Anpassung daran war also notwendig.
M. E. ist die Propagierung der Salomoniden
und die Redigierung ihrer neuen Reichsidee
am ehesten als ein Versuch zu deuten, der
jüdischen Bevölkerung die salomonische Dv-
nastie als die getreueren Bewahrer der jüdi-
schen religiösen Traditionen und als durch
ihre Abkunft besser legitimierte Fortführer
des davidischen Königshauses als die Agau-
Dynastie zu erweisen.
Zu fragen bleibt noch, weshalb sich der
Klerus von der Zague-Dynastie abwandte
und nach Kräften an ihrem Sturz arbeitete.
Sie bewahrte ja — wie auch Haberland er-
wähnt — ebenfalls jüdische Traditionen und
widmete sich auch der Missiom’erung. Anstoß
mögen beibehaltene Elemente des heidnisch-
altafrikanischen Gottkönigtums gegeben ha-
ben, solche hat Haberland aber auch beim
amharischen Königtum festgestellt. Es könnte
auch eine Rivalität zwischen dem mediterran
bestimmten amharischen Klerus und dem der
Agau mitgewirkt haben. Letzterer scheint
nach der völligen Abriegelung vom Mittel-
meer die seit altersher bestehenden Beziehun-
gen zu den Thomas-Christen Vorderindiens
gepflegt zu haben. Jedenfalls sind ohne indi-
sche Bauhandwerker die aus dem anstehenden
Fels skulptierten Kirchen Lalibelas nicht zu
erklären. Die von den Chroniken nicht be-
strittene niedere und illegitime Herkunft des
Gründers der salomonischen Dynastie (schlecht
gehaltener Pferdeknecht am Zague-Hof,
Sproß einer flüchtigen Beziehung eines am-
harischen Fürsten mit der Sklavin seines Gast-
gebers) deutet darauf hin, daß er vom Klerus
als willfähriges Werkzeug zur Durchsetzung
seiner Ziele ausgewählt und propagiert wor-
den war. Es ist zu vermuten, daß Judentum
und Christentum der Agau die Entwicklung
christlicher und heidnischer Kulturen Äthio-
piens wesentlich stärker beeinflußt haben, als
cs die von tendenziöser Propaganda durch-
tränkten amharischen Schriftquellen erken-
nen lassen.
In der kulturgeschichtlichen Auswertung
zeigen sich die Grenzen einer Lokalinterpre-
tation: So, wenn der Verfasser als „das“ alt-
afrikanische sakrale Königtum nur die in
Südäthiopien erhalten gebliebene Form gel-
ten läßt, die noch ganz mythisch geprägt ist
und wo der König als „faineant“ nur durch
seine Anwesenheit und Riten das Heil des
Landes garantiert. Diejenigen Königtümer je-
doch, die staatlich organisierte größere Reiche
gründen und in denen der Herrscher auch
politisch beziehungsweise kriegerisch aktiv
tätig ist, werden von Haberland als von
Megalithikum oder/und christlichem Hoch-
äthiopien beeinflußt angesehen. Nun zeigt
aber ein Blick auf das übrige Afrika und seine
Geschichte, daß das kleinräumige sakrale Kö-
nigtum mit dem König faineant nur eine,
durch die früheste Ausbreitungswelle ver-
breitete, Form darstellt. Später beginnt dann
zwischen dem 6. und 9. Jh. n. Chr. die
Kette von Reichsgründungen eines staatlich
höher entwickelteren und differenzierteren
sakralen Königtums. Seine Herrscher waren
durchaus kriegerisch und hatten z. T. die
Pflicht, nach Regierungsantritt einen Kriegs-
zug zu unternehmen. (Ein Großwild-Jagdzug
könnte auch als dessen Ersatz — wie in
Äthiopien häufig — angesehen werden und
nicht umgekehrt.) Die Ausbreitung dieser Kö-
nigtümer durch Uganda und Kongobecken
beziehungsweise durch den Sudan bis zum
Atlantik zeigt keinerlei Beeinflussung durch
Megalithkultur oder das christliche Hoch-
äthiopien, wohl aber viele Übereinstimmun-
gen — auch im Detail — mit äthiopischen
Königtümern. Die kulturellen und geschicht-
lichen Zusammenhänge dieser beiden Aus-
breitungswellen mit Nubien (und damit auch
mit Ägypten) sind nun schon von so vielen
Autoren festgestellt und auch archäologisch
nachgewiesen worden, daß es verwunderlich
scheint, daß sie für Äthiopien von Haberland
— mit Ausnahme einer Beeinflussung Ak-
sums durch Meroe — kategorisch verneint
werden. Dazu dürfte das letzte Wort noch
nicht gesprochen sein.
Das gleiche gilt für die Krone als kgl.
Insignie. Habcrland will sie nur als portu-
giesische Beeinflussung und erst seit dem 17.
Jh. getragen gelten lassen, da sie erstmalig
in der ordo des Fasiladas (1632—67) quellen-
mäßig erfaßbar wird. Dies, obwohl Haber-
208
Buchbesprechungen
land selbst mehrfach richtig vermerkt, daß
die ordines u. a. Quellen die aktuellen Insig-
nien und Riten nur höchst lückenhaft erwäh-
nen. So nennt zum Beispiel die erhalten ge-
bliebene aksumitische ordo die Krone nicht,
obwohl aksumitische Könige Kronen als In-
signien, 1t. Ausweis ihrer Münzbilder und der
Weihgeschenkes einer Krone des Königs Ka-
leb-Ellesbaas an das Heilige Grab in Jeru-
salem, getragen haben. Der Verfasser zitiert
aber selber eine Quelle, wonach Claudius
(1540—59) bei der Amtseinführung eines
Oberpriesters diesem eine königliche Krone
aus Gold aufsetzte! Das stimmt überein mit
dem Denkmalsbefund; Im Kloster Daga
’Istifanos, Tana-See, hat sich eine spitzkup-
pelförmige Krone mit durchbrochen gearbei-
tetem Reifen und Lamellen aus dem Ende
des 15. Jh. erhalten (welche Form bis in das
17. Jh. beibehalten wurde, von Haberland
aber nicht unter seinen Kronen-Abbildungen
gezeigt wird). Daß hier die kontinuierliche
Fortführung einer alten Tradition vorliegt,
zeigt eine technisch sehr viel einfachere Vor-
form aus dem 4. Jh. (vgl. Koptische Kunst,
Ausstellungskatalog, Essen 1963, Abb. 522).
Nach W. Budge, A History of Ethiopia, I,
S. 76 ff., London 1928, wurden solche Kro-
nen bereits von vorchristlichen äthiopischen
Herrschern getragen. Ich hatte bereits (K.
Dittmcr, Zur Herkunft und Bedeutung der
altyorubischen Kronen und des äthiop. ka-
latscha, Festschr. Jensen, München 1964) die
„Kaiserkrone“ von Kaffa als eine verein-
fachte Nachbildung dieser Kronenform zu
erklären versucht und die Möglichkeit In
Betracht gezogen, daß letztere die metallene
Umsetzung der spitzkuppeligen oberägyp-
tischen Krone darstellcn könne, die auch von
meroitischen Königen getragen wurde.
Der Verfasser möchte das nicht nur für
das christliche Elochäthiopien, sondern auch
für nichtchristliche Reiche vom Wolamo-Typ
gültige Leitbild des „ritterlichen“ Heiden auf
den Einfluß des megalithischen Verdienst-
komplexes und Töterideal zurückführen. Er
hat aber selber eindringlich genug den dia-
metralen Gegensatz nicht nur in der sozialen
Struktur, sondern auch in der Mentalität des
äthiop. Megalithikums zu den Königskultu-
ren aufgezeigt. Von den im Mythos ver-
wurzelten und ausgesprochen „feige“ durch-
geführten Töterzügen der Megalithiker führt
m. E. keine Brücke zum ritterlichen Helden-
ideal. So verdienstvoll die Herausarbeitung
der Bedeutung megalithischer Kulturen für
die Kulturgeschichte Äthiopiens ist, so ist Ha-
berlands Überdehnung der Kriterien doch
auch geignet, eine Abgrenzung des Megalithi-
kums wieder zu verwischen. So, wenn als
Kriteria nicht nur Feldterrassen, sondern jede
Art eines nicht ganz primitiven Ackerbaues
(regelmäßige Feldanlagen, größere Zahl von
Nutzpflanzen, Fruchtwechsel, Düngung,
Dauerfeldbau) angegeben werden; dann
müßte das Mcgalithikum eine ungeheure,
nahezu allgegenwärtige, Verbreitung gefun-
den haben! Auch werden Vcrsammlungs-
plätze von nahezu jeder Siedlungsgemein-
schaft jeglichen Kulturgepräges benötigt; als
„megalithisch“ können sie nur angesprochen
werden, wenn sie mit entsprechenden Ele-
menten (Sitzreihen, Stein- oder Pfahlsetzun-
gen, Ahnengrab usw.) verbunden sind. Es
ist auch davor zu warnen, zylindrische Stein-
male immer noch als „phallisch“ zu bezeich-
nen: Wie schon in der Holzskulptur techni-
sches Unvermögen des Schnitzers zur Sche-
matisierung der menschlichen Gestalt als
phallusähnliche Pfahlplastik führen kann,
so erst recht bei Steinbildwerken. Wie Bei-
spiele aus verwandten westafrikanischen Kö-
nigskulturen lehren, führt die Schematisie-
rung ehemals naturnaher menschlicher Ge-
stalten über reduzierte mit nur noch einge-
ritzten Armen und Gesichtszügen zu glatten
Stellen mit nur durch Einkerbung der Hals-
linie abgesetzten Köpfen, die nun in der Tat
wie phalloi aussehen. (Eine ähnliche Entwick-
lung nahmen auch mohammedanische Grab-
steine mit Turbanknauf als anscheinende
„glans“). Haberland will aber (S. 184) sogar
„mit Gesichtern und Ornamenten verzierte
Säulen“ (demnach ausgesprochen menschliche
Gestalten) als mcgalithische phalloi gewertet
wissen. Es ist ferner unzulässig, jedweden
Mauerbau in Hoch- und Tiefbau als „mega-
lithisch“ anzusehen. In Tigre sind solche je-
denfalls hochkulturlich, von sabäischen bis
persisch-muslimischen Zeiten von Arabien ein-
geführt worden. Und die Riesenstelen von
Aksum (mit indischen Architekturmotiven!)
sind ebensowenig „megalithisch“ wie ägyp-
tische Pyramiden oder gotische Dome.
Daher hat mich Habcrlands Hypothese,
mit Ausnahme der „Altvölker“-Gebiete sei
die Megalithkultur „gleichmäßig“ über „ganz“
Äthiopien verbreitet, älter als das Königtum
und von Kuschiten äthiopider Rasse gebracht
worden, nicht überzeugt. Die anthropologi-
Buchbesprechungen
209
sehen Verhältnisse bei den lebenden Mega-
lithkulturen Südost-Äthiopiens und Straubes
Feststellungen (H. Straube, Westkuschitische
Völker, Stuttgart 1963), daß äthiopide Ras-
senzüge um so stärker in Erscheinung treten,
je kräftiger das sakrale Königtum ausgebildet
ist (beziehungsweise in dessen Adelsschichten),
sprechen gegen diese rassische Zuordnung. Es
ist möglich, daß wir mit mehreren Schichten
des Megalithikums in Äthiopien rechnen müs-
sen. Die des prototypischen, lebenden Mega-
lithikums ist aber metallzeitlich. Dabei weisen
Waffendarstellungen und Ornamente auf
ihren Steinsetzungen (degenerierte) Beziehun-
gen zum Megalithikum des Dekkan auf, das
ebenfalls eisenzeitlich ist. Andererseits tritt
das sakrale Königtum in Oberägypten (seit
Negade II) und Nubien — also in nächster
Nachbarschaft Äthiopiens — sogar In seiner
entwickelteren, Reiche bildenden Form be-
reits voreisenzeitlich auf. Die frühe Form
des sakralen Königtums, die sich in Süd-
äthiopien erhalten hat, könnte sich hierher
also bereits voreisenzeitlich verbreitet haben.
Kehren wir nochmals zur jüngsten, von
Haberland herausgearbeiteten Kulturschicht
zurück: Von ihrem „mittelalterlich-feuda-
len“ Lehnswesen, Ihrer „ritterlich-höfi-
schen“ Lebensart und Mentalität im christ-
lichen wie heidnischen (z. B. Wolamo) Äthio-
pien entwirft der Verfasser ein äußerst an-
schauliches und instruktives Bild. Nur könnte
er fast mit den gleichen Worten auch rezente
feudale Fürstentümer Im Sudan oder im mit-
telalterlichen Orient oder Europa schildern.
Von wo gelangte dieser Ableger des früh-
mittelalterlichen Feudalismus nach Äthiopien?
Von Byzanz kann er nicht gekommen sein,
da von ihm das christliche Hochäthiopien
schon lange vor der Begründung der salomo-
nischen Dynastie hermetisch abgeriegelt war.
Die wenigen Geistlichen, die in großen Zelt-
abständen vereinzelt Wallfahrten nach Jeru-
salem unternahmen, haben nicht einmal nen-
nenswerte Spuren davon In der Theologie
hinterlassen. Viel weniger konnten sie den
ganzen Komplex der — in erster Linie säku-
laren — Elemente des Feudalismus übertra-
gen haben. Er wurde auch nicht durch die
Todfeinde, die islamischen Nachbarstaaten
übermittelt. Das bezeugt das Fehlen Islamisch
geprägter Elemente sowohl in Amhara wie
in Wolamo. Dessen Tigre-Dynastie war auch
nicht christlich, denn sie führte neben „Prie-
ster“ (unbekannter Funktion) auch „Zauber-
priester“ im Gefolge mit (was an die magii
an persischen Höfen denken läßt). Sie konnte
auch kaum christlicher Herkunft sein, da z. Z.
ihres Auszuges Tigre (mit Ausnahme viel-
leicht einiger überlebender Priesterfamilien)
seit Jahrhunderten nicht mehr christlich war.
Der Verfasser sieht (S. 249 f.) in einer
Hinsicht eine Beziehung zum Sudan, in der
— für die mittelalterliche feudale Kultur ty-
pischen — Verwendung des Streitrosses: „Die
Existenz des Pferdes . . . (trug bei) zur Ent-
wicklung jenes «ritterlich-feudalen» Zuges . . .,
der die Kultur der staatstragenden Ober-
schicht der südäthiopischen Königreiche . . .
in eine entwicklungsgeschichtlich bedingte
Verwandtschaft mit den «Rittern» des west-
lichen Sudan setzt. . .“ Nun hat natürlich
nicht das Reitpferd an sich den Feudalismus
bewirkt (Gegenbeweis: Prärie- und Pampas-
indianer, Antike), so wichtig es diesem als
Kampfmittel auch war, sondern seine feu-
dalen Züchter haben es gemäß ihrer Menta-
lität auch zum „ritterlichen“ Zweikampf zu
Pferde verwendet. Die Parallele Äthiopien-
Sudan beruht demnach nicht auf einer ent-
wicklungsgeschichtlichen Konvergenz, sondern
auf einer genetischen Verwandtschaft aus
gleicher Abstammung. Die orientalische Her-
kunft des Streitrosses gibt uns jedoch einen
weiteren Hinweis auf die Herkunft des
äthiopischen Feudalismus:
Es wird vielfach die Tatsache übersehen,
daß der Feudalismus zuerst in Persien ent-
wickelt und vom Sasanidenrcich auf den
Höhepunkt seines Glanzes, einschließlich der
„ritterlich-höfisch“ verfeinerten Kultur, ge-
führt wurde. Ebenso wird meist das unge-
heure Ansehen der sasanidischcn Weltmacht
und die weltweite Bewunderung ihrer „ritter-
lich-höfischen“ Lebensart unterschätzt, die bis
Ost-, Zentral- und Westasien, Kaukasien und
Osteuropa, erst recht im Vorderen Orient
ausstrahlte und sogar den „Erbfeind“ Ost-
rom-Byzanz zu vielfältigen Nadiahmungen
veranlaßte. Bekannt ist, daß die mohamme-
danischen Araber nach der Eroberung des
Sasanidenreiches sofort dessen wesentlichste
Kulturelemente übernahmen, für Jahrhun-
derte konservierten und nach Afrika und
Europa vermittelten.
Nun ist der gesamte „ritterlich-feudale“
Komplex, den der Verfasser so klar für das
christliche und heidnische Zentraläthiopien
hcrausgearbeitet hat, ausgesprochen „sasani-
disch“, auch in den Details, die er auf christ-
liche oder megalithische Einflüsse zurückführt.
So der zentralisierte Beamtenstaat mit Ver-
14
210
Buchbesprechungen
dienstadcl, Lehns- und Söldnerwesen;
„Reichsidee“ mit kriegerischer Ausbreitung
und Einsetzung von Statthaltern in eroberten
Provinzen; „Pferdekult“; der stärker säku-
larisierte König als vorbildlicher Held, der
in seinem Dienst ausgeführte Heldentaten
freigiebigst zu belohnen hat, nach Regierungs-
antritt Ämter neu verteilt, einen neuen Pa-
last (oder Residenz) errichtet, als „Mehrer
des Reiches“ einen Kriegs- oder Jagdzug
unternimmt, überhaupt ein großer Nimrod
ist. (Sasanidische Herrscher hielten ihre
Ritualjagden für wichtg genug, um sie
durch kostspielige Riesen-Felsenreliefs ver-
ewigen zu lassen!) Ferner viele Züge des
Hofzercmoniells; die ritterliche Lebensart;
Insignien wie Thronbett, Staatsschirm und
-zeit, Kombination von Kesselpauke und
Tuba („Trommel und Trompete“), rote Farbe,
langes Haar u. a. mehr. Auch die „verfas-
sungsmäßige“ Beschränkung der Herrscherge-
walt zum Ausschluß einer Willkürherrschaft
mit Eidesleistung bei der Thronbesteigung,
die Rechte der Untertanen wahren zu wollen,
findet sich außerhalb Äthiopiens in sudani-
schen Fürstentümern und dürfte gleicher Her-
kunft sein. Selbstverständlich haben altein-
heimische Kulturen, insbesondere das sakrale
Königtum (wie von Haberland glänzend hcr-
ausgearbeitet), dazu — wie in Europa — das
Christentum modifizierend gewirkt. Dieses
kann aber nicht von sich aus den Feudalismus
in Äthiopien hervorgebracht oder auch nur
verbreitet haben, wie das heidnische Wolamo
u. a. Reiche beweisen.
Nun gibt der direkte Bezug des feudalen
Komplexes aus Persien gar keine Rätsel auf;
denn Äthiopien war ja für längere Zeit der
direkte Nachbar des sasanidischen Macht- und
Kulturbereiches: Zunächst waren schon ara-
bische Gegner in Südarabien als Vasallen des
Pcrserrciches zwangsläufig von dessen Kultur
beeinflußt. Dann aber hatten ja persische
Heere die aksumitischen Besatzungstruppen
aus Südarabien herausgeworfen, dazu nicht
nur Ägypten und Nubien besetzt, sondern
auch die Küste von Tigre. Sudanische Tradi-
tionen, daß die durch die Niederlagen der
Sasaniden gegen Byzanz und dann gegen die
mohammedanischen Araber von der Heimat
abgeschnittenen persischen Besatzungstruppen
sich aus Nubien Staaten gründend nach Inner-
afrika abgesetzt hätten („Kisra-Legende“),
sind inzwischen auch archäologisch verifiziert
worden. Demnach können die 150 Ritter, die
von Tigre aus ihren Eroberungszug nach
Wolamo unternahmen, zwanglos als (letzter)
Teil solcher vor den vordringenden islami-
schen Arabern abziehenden und längst afri-
kanisierten Nachfahren der persischen Be-
satzungstruppen angesehen werden. (Mögli-
cherweise ist wegen der üblichen Lücken in
mündlich überlieferten Chronologien ihr Aus-
zug aus Tigre auch wesentlich früher anzu-
setzen, als es die Quellen erkennen lassen.)
Die Tatsache, daß auch im christlichen Hoch-
äthiopien nicht nur einzelne Elemente des
Feudalismus, sondern nahezu der ganze
Komplex geschlossen übernommen wurde,
hier ferner die Aufstellung fremdvölkischer
Söldnertruppen bezeugt ist, deutet auf die
Möglichkeit, daß solche heimatlos gewordenen
Ritter letztlich persischer Abkunft sich auch
amharischen Königen für deren Kriege ver-
dingt hatten. In diesem Zusammenhang sei
noch erwähnt, daß — entgegen Haberland
(S. 28) — der schon aksumitische Kaisertitel
„König der Könige“ doch nur von dem ein-
zigen Vorbild des persischen Großkönigs ab-
geleitet sein kann. Aksum war zur Zeit seiner
Blüte, als es auch Nubien und Südarabien be-
herrschte, nicht zu unbedeutend für eine
solche Titelführung, wie Haberland meint,
jedenfalls galt es damals als 4. Weltmacht!
Selbstverständlich kann und soll dieser
Dissens zu einigen Hypothesen des Verfas-
sers seine großen Verdienste in keiner Weise
schmälern, sondern zu weiterer Diskussion
anregen. Afrikanisten und Orientalisten wer-
den ihm für seine wertvolle Arbeit aufrich-
tigen Dank wissen und ihr Studium als ob-
ligatorisch ansehen.
K. Dittmer
JOSEPH UKOKO, JAN KNAPPERE,
MARCEL VAN SPAANDONCK:
Essai de Dictionnaire Dho Alur. [Dho
Alur — Français — Néerlandais — Ang-
lais.J Gent: Rijksuniversiteit te Gent;
Ganda-Congo. 1964. XXVI + 436 S.
Das Dho Alur (gelegentlich auch kurz Alur
genannt) gehört zur Süd-Lwo Gruppe der
nilotischen Sprachen. Es steht also in engem
Zusammenhang mit Lango, Kumam, Labwor,
Lwo, Adhola, Luo und vor allem Acoli.
Dho Alur wird nördlich und westlich des
Albert-Sees in Uganda und im Kongo von ca.
180 000 Menschen gesprochen, die etwa je
zur Hälfte in den genannten Staaten leben.
Das Wörterbuch entstand in einer Gemein-
schaftsarbeit im Seminar für afrikanische
Buchbesprechungen
211
Sprachen der Universität Gent. Eine Einfüh-
rung von A. Burssens gibt darüber nähere
Einzelheiten bekannt. Ferner wird dort kurz
auf die Stellung des Dho Alur innerhalb der
nilotischen Sprachen, die Wohngebiete der
Alur sprechenden Untergruppen sowie auf
die tonologischen und phonologischen Gege-
benheiten der Sprache eingegangen. Schließ-
lich ist noch eine erschöpfende Bibliographie
(27 Titel) über die Alur und ihre Sprache
angcschlossen.
Das Wörterbuch zeichnet sich durch seinen
Reichtum aus. Alle Wörter sind mit Tonbe-
zeichnungen versehen. Die Wortbedeutungen
sind in französischer, niederländischer und
englischer Sprache wiedergegeben. Neben den
Wörtern, die in der Kultur der Alur ver-
wurzelt sind, wurden auch solche aufgenom-
men, die der Sprachgebrauch in unserem Zeit-
alter der Technik geprägt oder aus europäi-
schen Sprachen übernommen und abgewan-
delt hat, zum Beispiel òthòbìs ,Autobus' (S.
291) oder jùkùrmâc ,Feuerwehr' (S. 134).
Manche Wörter der sogenannten geistigen
Kultur und aus dem Bereich der Sozialord-
nung hätte man sich exakter definiert ge-
wünscht, zum Beispiel abendé ,mauvais esprit,
esprit malveillant, démon' (S. 1); ciyôra1)
,femme de mon beau-frère (comme la femme
de son frère l’appelle)' (S. 43) — warum
nicht ,femme du frère du mari'? — oder dhà
(ma) grand-mère (S. 56) — wer ist hier ge-
meint? Die Mutter des Vaters, die Mutter
der Mutter oder beide? Im ganzen gesehen
fallen diese Kleinigkeiten nicht ins Gewicht.
— Das Wörterbuch ist ein gewichtiger und
wertvoller Beitrag zur Erforschung der nilo-
tischen Sprachen und damit der afrikanischen
Sprachen allgemein.
J. Zwernemann
HANS FISCHER:
Studien über Seelenvorstellungen in Ozea-
nien. [München:] Klaus Renner Verlag.
1965. XII + 432 S., 4 Übersichtskarten.
Preis: DM 60.—.
Der Verfasser legt mit diesem Buch seine
Habilitations-Schrift (Universität Tübingen)
vor. Das Thema, welches er sich ausgesucht
hat, gehört sicherlich mit zu den vernachläs-
sigten Kapiteln in der Ethnologie des pazifi-
schen Raumes. Konsequenterweise schließt
Fischer auch an verwandte Arbeiten aus an-
*) e und a ohne Tonzeichen tragen Mittelton.
deren Gebieten der Ökumene an (wie zum
Beispiel Arbmann, Hultkrantz und Paulson).
Dabei beschränkt sich der Verfasser thema-
tisch auf die Seelenvorstellungen „am leben-
den Menschen“ und gliedert das Schicksal
dieser „Seelen“ nach dem Tode des Indivi-
duums aus. Natürlich sind gelegentliche Ex-
kurse in diesen Bereich unvermeidlich.
Im I. Kapitel referiert Fischer kurz die
Auffassungen verschiedener älterer Autoren
zu diesem Thema. Solche Kurzfassungen sind
immer mißlich, was jeder bestätigen wird,
der sich solcher Aufgaben unterzogen hat.
Und bei aller Objektivität des Verfassers
ist es fast unvermeidlich, daß er den einzel-
nen Autoren in dieser Kürze nicht immer
ganz gerecht werden kann. Eine „Geschichte
der Theorien von den Seelenvorstellungen
außereuropäischer Völker“ ist eine eigene
Dissertation wert.
Im II. Kapitel legt der Verfasser dann
seine eigenen methodischen und quellenkriti-
schen Überlegungen vor. Es sind hier vor
allem die vielen klugen Gedanken zur Quel-
lenkritik hervorzuheben, denen man sich
nur anschließen kann. Schwieriger wird es
mir persönlich, mich so vorbehaltlos seinen
Gedanken zur „typologischen Methode“ an-
zuschließen. Jedoch verlangt dies eine geson-
derte Auseinandersetzung, die nicht im Rah-
men einer Besprechung abgcwickclt werden
soll. Ich möchte aber betonen, daß ich im
Prinzip diese sogenannte „typologische Me-
thode“ als die einzig mögliche bei ethnologi-
scher (also vergleichender) Themenstellung
halte und insofern mit Fischer völlig über-
einstimme.
Im III. Kapitel legt der Verfasser zu-
nächst einmal ethnographisches (also beschrei-
bendes) Material aus einer Reihe ausgewähl-
ter Stammeskulturen vor. Die Auswahl er-
folgte nach dem Gesichtspunkt, welche der
zur Verfügung stehenden Quellen für seine
Themenstellung ausreichend Angaben anzu-
bieten hatte. Auch dieses Verfahren ist bei
der noch sehr dürftigen Lage unseres Wissens
zu diesem Thema durchaus richtig. Die ganze
Untersuchung Fischers gewinnt damit den
Charakter einer „sample study“, mit Hilfe
derer man zunächst einmal auf die noch wei-
ter zu untersuchenden Probleme hinweisen
kann.
Im IV. Kapitel versucht Fischer nun auf
der Grundlage seines ausgcwähltcn Beweis-
materials bestimmte Typen der Seelenvor-
Stellung herauszuarbeiten. Naturgemäß wird
sich die Diskussion an diesem Kapitel ent-
zünden. Er kommt im einzelnen zur Bestim-
mung folgender Typen: Traumego und Spiri-
tuelles Doppel; Totengeist, Externes Doppel,
Seelenstoff, Lebenskraft. Dieses Kapitel ent-
hält eine ganze Reihe sehr stimulierender Be-
merkungen. Wenn ich es recht übersehe, dann
wird eine eingehende Würdigung — die an
anderer Stelle und später erfolgen soll — ab-
zuklären haben, ob es Fischer gelungen ist,
wirklich klassifikatorische Typen herauszu-
arbeiten.
Innerhalb seines eigenen Gedankenganges
bringt Fischer dann im letzten Kapitel einen
Wortvergleich. Dabei beschränkt er sich, wie
das bei der Lage der linguistischen Forschun-
gen zur Zeit nicht anders möglich, ausschließ-
lich auf Stämme mit austronesischen Dialek-
ten. Er versucht einerseits, bestimmte Worte
auf das Ur-Austronesische Grundwort (nach
Dempwolff) zurückzuführen. Den Bedeu-
tungsbereich dieser Worte stellt er dann dem
Bedeutungsbereich der von ihm aufgestellten
Typen gegenüber. Jeder, der nur ein wenig
mit dem Forschungsstand innerhalb der pazi-
fischen Ethnologie vertraut ist, wird wissen,
daß ein im Prinzip richtiger methodischer
Ansatz hier noch nicht zu vollem Erfolg füh-
ren kann. Fischer ist sich dieser unvermeid-
lichen Unvollkommenheit auch durchaus be-
wußt geblieben, und legt eine Reihe diskus-
sionswürdiger, aber vorsichtig formulierter
Arbeitshypothesen vor.
Im ganzen gesehen hat Fischer mit seinem
Buch einen wirklich wichtigen Beitrag ge-
leistet, der die Forschungen zu diesem Thema
im pazifischen Raum ein gutes Stück vor-
wärts gebracht hat. Dies ungeachtet meiner
Vermutung, daß der eine oder andere Typus
noch weiterer Diskussion oder gar einer neuen
Formulierung bedarf. Wenn zum Schluß we-
nigstens ein mir wichtig erscheinender kriti-
scher Einwand geäußert werden darf, so
möchte ich zu bedenken geben, ob man bei
der weiteren Diskussion die von Fischer ein-
gehaltene scharfe Trennung von Seelenvor-
stellungcn „am lebenden Menschen“ und dem
Schicksal dieser „Seelen“ nach dem Tode bei-
behalten kann. Ich habe die Vermutung, daß
einige der kritischen Bemerkungen Fischer’s
zu bereits vorhandenen theoretischen Auslas-
sungen zu diesem Thema wieder fortfallen
werden, wenn man den größeren Komplex
ins Auge faßt, von dem die Seelenvorstellun-
gen am lebenden Menschen integrierender Be-
standteil sind. Das jedoch wird die zukünftige
Forschung ergeben, die von diesem Buch ent-
scheidende Impulse erfahren hat.
C. A. Schmitz
M. J. MEGG1TT:
The Lineage System of the Mae-Enga of
New Guinea. Edinburgh und London:
Oliver & Boyd. 1965. Mit einem Vorwort
von M. Gluckmann. XX + 297 S., Glossar,
Index, Karten, 16 Abb. Preis: sh 70/—.
Die Enga sind eine etwa 60 000 Köpfe zäh-
lende ethnische Gruppe im Wabaga-Suh-
distrikt westlich des Mt. Plagen im östlichen
zentralen Hochland von Neuguinea. Der
Autor hat in dieser Gruppe von September
1955 bis Februar 1957, sodann noch einmal
1960 und 1962 Feldforschungen durchgeführt,
ln diesem Buch legt er eine beispielhafte,
strukturalistische Analyse der Verwandt-
schafts-Ordnung vor. Es handelt sich um eine
patrilineare Ordnung, wie sie für die Be-
völkerung im zentralen Hochland von Neu-
guinea charakteristisch ist, und wie sie in sol-
cher Reinheit und Ausschließlichkeit nur sel-
ten anzutreffen ist. Aus diesem Grund hat
die Darstellung über den Einzelfall hinaus
auch theoretisch-allgemeine Bedeutung, da in
dieser Gesellschaft alle Ordnungen im Bann
einer strikt patrilinear verstandenen Ver-
wandtschaft vollzogen werden.
Die Einheiten der Lineage-Struktur sind:
Phratrie, Klan, Sub-Klan, Patrilinie und Fa-
milie. Die Phratrie ist die größte patri-
lineare Abstammungsgruppc, die anerkannt
wird. Gleich bei der Besprechung dieser Ein-
heit löst Meggitt ein Problem, welches in
einigen theoretischen Diskussionen zu sehr
hitzigen Auseinandersetzungen geführt hat,
mit schöner Selbstverständlichkeit. Zwei
Aspekte müssen unterschieden werden. (1) Zu-
nächst ist die Phratrie eine zusammenwoh-
nende Gruppe, wie sie eben zu einem be-
stimmten Zeitpunkt beobachtet werden kann.
Sie begreift sich als von einem „eponymous
phratry founder“ abstammend. Sie ist eine
„land occupying group“, deren Land sich
aus den Gebieten der zugehörigen Klans zu-
sammensetzt. In diesem Verstände gehören
dann alle Mitglieder der Siedlungen dieser
Klans zur Phratrie. Eine solche Siedlung be-
steht aus dem patrilinearen (agnatischen)
Kern, den angeheirateten Frauen und ange-
glicderten Verwandten, sogenannten Nicht-
Buchbesprechungen
213
Agnaten. (2) Gleichzeitig aber muß die
Phratrie verstanden werden als eine unend-
liche Kategorie von Agnaten. Die Vorstellung
dieser „long line“ bezieht sich auf alle mut-
maßlichen agnatischen Abkömmlinge (ein-
schließlich Schwestern und Geister), die von
dem „einen Penis“ des frühesten, bekannten,
irdischen, männlichen Vorfahren abstammen.
Gewöhnlich hat dieser sechs bis acht Gene-
rationen vor „heute“ gelebt. Mit diesem älte-
sten männlichen Vorfahren findet die Gruppe
Anschluß an die mythischen Vorfahren, an
die überirdische Unendlichkeit.
Innerhalb dieses größten, anerkannten
patrilinearen Abstammungskegels werden
nun kleinere Segmente auf verschiedenen
Ebenen unterschieden. Die Klans als nächst-
kleinere Einheit führen sich auf einen mut-
maßlichen Sohn des Phratrie-Gründers zu-
rück. Im Sinne der unendlichen Patrilinie ist
auch der Klan eine Linie von Männern (be-
gotten by the one penis of the clan founder).
Die nächst-kleinere Einheit ist der Sub-Klan,
der sich wieder auf mutmaßliche Söhne des
Klan-Gründers zurückführt. Die Mitglieder
einer Phratrie betrachten sich alle als „Brü-
der“, ohne Rücksicht darauf, was ihre wirk-
liche Verwandtschaft ist. Die Mitglieder eines
Klans bezeichnen sich als Vater und Sohn,
sie machen also schon einen Generationen-
unterschied. Jedoch hat diese Bezeichnung
noch nichts mit der wirklichen Verwandtschaft
zu tun. Die Mitglieder eines Sub-Klans kön-
nen sich ebenfalls als Vater und Sohn be-
zeichnen. Aber in dieser Einheit beginnt be-
reits die Herrschaft der Verwandtschafts-
Terminologie.
Die nächst-kleinere Einheit ist die Patri-
linie, „ein Penis“. Diese Gruppe wird häufig
auch als Menschen “of one blood“ bezeichnet.
Innerhalb der Gruppe reden sich die Mit-
glieder mit spezifischen Verwandtschafts-
Termini an. Nach außen betrachten sie sich
als Geschwister (siblings). Man glaubt, daß
der Gründer der Linie der Sohn oder Schwie-
gersohn des Sub-Klan-Gründers ist. Diese
Bemerkungen zeigen deutlich, daß die Mit-
glieder einer Patrilinie zu wissen glauben,
daß sie genetisch miteinander verwandt sind.
Es folgt ein wichtiger Satz: „Because the
patrilineage is a quasi-domestic grouping, its
features, and indeed its very existence, are
not immediately apparent to the Outsider.
A person not closely concerned with the
Internal affairs of a clan seldom hears its
patrilineage mentioned“ (p. 17).
Wird eine solche Patrilinie als Siedlungs-
cinheit verstanden, dann besteht sie aus meh-
reren kleinen Familien von verschiedener Ge-
nerationentiefe. In der Regel handelt es sich
um Kernfamilien eines monogamen Eheman-
nes. Einige sind erweiterte Familien eines
polygynen Ehemannes. Hinzu treten dann
noch die unvollständigen Familien, d'e ver-
witweten Ehepartner mit ihren Kindern. Die
grundsätzliche Haushaltseinheit ist die Kern-
familie, auch in den erweiterten Familien.
In einem späteren Kapitel wendet sich
Meggitt der Frage zu, wie die Mae-Enga ihre
Verwandtschafts-Ordnung selbst verstehen
und darstcllen. Wie bereits angemerkt, grenzt
die Menschcnwelt in ihrer Vorstellung mit
dem Phratrie-Gründer an die Überirdischen.
Die irdische Gesellschaft, die sich von diesen
Anfängen her entwickelt hat, wird als iso-
morphe Parallele der Gesellschaft der Über-
irdischen verstanden. Meggitt spricht hier von
den „platonic implications of this Statement“
(p. 52).
Auf der Basis dieser streng patrilinearen
Struktur sind die Abschnitte des nächsten
Kapitels zu verstehen, das sich mit dem Sta-
tus der Nicht-Agnaten befaßt: Umwandlung
von nicht-agnatischen Sicdlungsgenossen in
Agnaten; der Status der angegliederten Mit-
glieder einer Siedlungseinheit; und schließ-
lich Gründe für die Hemmungen der Agna-
ten, Außenseiter zuzulassen. Meggitt belegt
jede einzelne Möglichkeit mit kleinen Statisti-
ken. Dieses Vorgehen zeigt noch einmal deut-
lich, daß in dieser von dem patrilinearen Ab-
stammungsgedanken beherrschten Verwandt-
schaftsordnung alle „Ausnahmen“ nur in be-
zug auf die Kernstruktur verstanden werden
können. Dies sei den vielen mundfertigen und
voreiligen Kritikern ins Gedächtnis gerufen,
welche Überlegungen zur Struktur einer Ver-
wandtschafts-Ordnung als unvollkommen
verdammen, da sie sich (noch) nicht mit je-
nen Vorgängen befassen, die zum vollständi-
gen Bild der wirklich zusammenlebenden
Gruppen führen.
Im nächsten Kapitel beschreibt Meggitt
Wachstum und Schwund agnatischer Grup-
pen. Hier sind die klaren Bestimmungen der
einzelnen Vorgänge nur dankbar zu begrü-
ßen, die immer nur in bezug auf die unilineare
Basis-Struktur verstanden werden können.
Von Segmentierung wird dann gesprochen,
wenn eine agnatische Gruppe durch den na-
türlichen Fortpflanzungsvorgang aus sich
selbst heraus weitere Segmente bildet, ohne
214
Buchbesprechungen
dabei ihre Identität zu verlieren. Spaltung
(fission) ist der gleiche Prozeß, wobei aber
die Gruppe(n) ihre Identität verliert. Ab-
splittern ist ein Prozeß, wobei sich ein Teil
eines Klans selbstständig macht und eine
neue Gruppe bildet. Der abgesplitterte Teil
und der zurückgebliebene Rumpf behalten
die Identität des alten Klans. Zuwachsen
(accretion) ist ein Prozeß, bei welchem eine
Einheit eines patrilinearen Abstammungs-
kegels diesen verläßt und sich einer Einheit
höherer Ordnung eines anderen Abstam-
mungskegels zugesellt. Verbinden (Fusion)
schließlich ist ein Prozeß, wobei eine auto-
nome agnatische Gruppe sich mit einer ande-
ren solchen Gruppe von koordiniertem Status
verbindet und eine neue Gruppe gleichen
oder höheren Status bildet. Dies jedenfalls
sind die wesentlichen Prozesse, mit Hilfe
derer sich Wachstum und Schwund solcher
agnatischer Gruppen vollzieht.
In weiteren Kapiteln bespricht Meggitt
noch die Ehe, die Auflösung der Ehe, das
Eigentumsproblem, und im letzten Kapitel
gibt er einige theoretische Überlegungen, die
auf weitere mögliche Forschungen verweisen.
Der Rezensent muß gestehen, daß er schon
lange nicht mehr ein Buch gelesen hat, das
mit solcher Klarheit, Disziplin und Beweis-
kraft geschrieben worden ist. Es ist also doch
möglich, einen komplizierten Sachverhalt
leicht faßlich darzustellen. Das Geheimnis be-
steht offensichtlich darin, zuerst einmal die
Basis-Struktur darzustellen, damit die Schil-
derung aller weiteren Ordnungsprinzipien,
die doch nur darauf bezogen verstanden wer-
den können, sinnvoll erscheint. Möge dieses
Buch ein Beispiel für weitere Arbeiten sein.
Carl A. Schmitz
HERMANN STRAUSS:
Die Mi-Kultur der Hagenberg-Stämme im
östlichen Zentral-Neuguinea. Eine reli-
gions-soziologischc Studie. Unter Mitarbeit
von Herbert Tischner (Monographien zur
Völkerkunde, 3. Hrsg. v. Hamburg. Mu-
seum f. Völkerkunde). Hamburg: Kom-
missionsverlag Cram, de Gruyter & Co.
1962. AV + 492 S., 4°. 14 Zeichng., 38
Abb. auf Taf., Karte.
Voller Bewunderung legt man das an In-
halt wie an Umfang gleich bedeutende Werk
aus der Hand. Hermann Strauss lebt seit
1937 als Missionar unter den Papua-Gruppen
am Hagcnberg (Mount Hagen) im Zentralen
Hochland von Neuguinea. Vom Studium der
Sprache her drang er in die Kultur der Hoch-
land-Papua ein. „So ging mir beispielsweise
die Bedeutung des guten und des bösen Blicks
im Glauben der Leute erst durch die Arbeit
an der Sprache auf.“ Das sind goldene Worte,
die der normale Völkerkundler mit einer ge-
wissen Resignation liest — wann ist er ein-
mal lange genug unter einem Volk, um von
sich mit Sicherheit sagen zu können, die Kul-
tur auch von der Sprache her erfaßt zu ha-
ben. Viele sprachliche Aufzeichnungen von
Strauss, d. h. ethnologische Texte, sind be-
reits in der dreibändigen Mbowamb-Mono-
graphie von Georg Vicedom, der ebenfalls
viele Jahre am Mount Hagen lebte, verar-
beitet worden.
Was uns jetzt hier vorliegt, kann mit Recht
eine Lebensarbeit genannt werden — unter
dem Namen der „Mi-Kultur“ verbirgt sich
nichts weniger als eine Darstellung der ge-
samten geistigen Kultur der Hagenbcrg-Pa-
pua. Das geschieht jedoch nicht in dem sonst
in Monographien üblichen Verfahren der
Auflösung des Stoffes in eine Reihe von Ein-
zel-Kategorien. Der Autor unternimmt cs
vielmehr, die Kultur von einem als zentral
erkannten Phänomen her (dem „Mi“) als
eine feste Einheit darzustellen — ein in die-
ser Geschlossenheit und Überzeugungskraft
wohl einzigartiges Unternehmen. Obwohl das
Buch nicht leicht zu lesen ist, und eine ge-
wisse Straffung der Sprache nur von Nutzen
hätte sein können, so ergänzen sich Aufbau
und Inhalt in glücklicher Weise. Seite für
Seite dringt man tiefer in das Wesen dieser
Kultur ein. Man kann das Buch geradezu
als Modell und Vorbild für ähnliche Ar-
beiten ansehen — gleichgültig ob sie theore-
tischer oder beschreibender Art sind. Und
diese unglaubliche geistige Differenzierung
bei einer Kultur, die man doch allgemein
nach ihren äußeren Merkmalen als verhält-
nismäßig primitiv ansah! Strauss hat aber
nicht nur immense Kenntnisse über das Volk,
unter dem er lebt, er versteht nicht nur, uns
Fremden das Gefüge dieser Kultur plastisch
vor Augen zu führen, ihm ist auch in hohem
Maße die Gabe eigen, „dem Volk aufs Maul
zu schauen“. Die vielen Selbstzeugnisse der
Papua, die überall den zentralen Platz ein-
nehmen, geben dem Werk eine nur selten
erreichte Unmittelbarkeit und Anschaulich-
keit. Das beginnt auf der ersten Seite mit
dem Bericht des Wuti Mong Rogenda über
Buchbesprechungen
215
das alte Weltbild, und endet auf der vor-
letzten Seite des Textes mit dem Märehen
von der Süßkartoffel. Auf die ungeheure
Wichtigkeit dieses Buches für die Kulturge-
schichte Neuguineas sei nur am Rande hin-
gewiesen.
Herbert Tischner, dessen hingebungsvoller,
in der Stille wirkenden Arbeit die Völker-
kunde so viel verdankt, hat auch hier das
Werden dieses Buches durch Rat und Tat ge-
fördert. Viele gute Zeichnungen und Fotos
ergänzen den Text.
Was ist nun das „Mi“, das im Mittelpunkt
des Buches steht? Wenn der Autor fast 500
Seiten braucht, um es darzulegen, so ist es
schwer, es mit wenigen Worten zu sagen. Ich
scheue mich zumindest, den viel zu häufig
und viel zu leichtfertig gebrauchten Begriff
der „Kraft“ hier einzusetzen. Ebensogut
könnte man auch „Leben“, „Weltgesetz“ oder
„Schöpfungsmacht“ sagen. Solche ungeheuer
komplexen Begriffe entziehen sich durchaus
dem Versuch, sich mit einem oder mehreren
unserer Worte hinreichend zu kennzeichnen.
Es spricht für Strauss, daß er diesen Versuch
nicht unternommen hat, sondern sich bemüht,
uns durch Umschreibungen die verschiedenen
Aspekte dieses Phänomens näher zu bringen.
„. . . Weiter erfahren wir, daß das Mi vor
Mißerfolg, Gefahren und Unglück warnt,
gegen falsche Anklage in Rechtssachen und
unbegründete Sühneforderungen schützt, als
Unterpfand des Friedens gilt, bei Verheim-
lichung getanen Unrechts und damit Verwei-
gerung der berechtigten Sühneforderung
unter Berufung auf das ,Mi', die Missetäter
.frißtc, d. h. ihnen die Lebenskraft aufzehrt.
Es übt also eine Schutz- und Rechtsfunktion
aus“ (S. 27). Das ist aber nur eine Seite des
Mi, voll verständlich wird es erst dann, wenn
man es in einem Zusammenhang mit einer
anderen Vorstellung bringt, nämlich der, die
Gruppe (oder Stamm, wenn man will) als
einen „Setzling“, eine Pflanze anzusehen.
Deshalb nennen die Hagenberg-Leute ihren
Stamm wamb-mbo, d. h. „Menschen-Setz-
ling“, oder auch nur mbo „Setzling, Pflänz-
ling“. Der Urahn oder Stammvater einer
Gruppe „wurde einst von einem der Über-
irdischen als wamb mbo, Mcnschensetzling,
hier unten ,hingelegt', d. h. gepflanzt, ge-
steckt, gesetzt, zur Zeugung und Vermehrung
einer Menschengruppe“ (S. 22), in dem nun
für alle Zukunft die Lebens-, Zeugungs- und
Vermehrungskraft der Gruppe „zufließt“.
Hören wir am besten, was Strauss selbst dar-
über sagt: „Wenn irgend welche Mbowamb
von ten-nga Mi, unser Mi, sprechen, so mei-
nen sie niemals ein allgemeines Mi, sondern
immer ihr eigenes, das der Mi-Gemeinschaft,
der sie jeweils angehören, ganz speziell „hin-
gelegt“ wurde als ihre „Ergänzung“, „Er-
füllung“, ihr „Bruder“ und damit als Unter-
scheidungszeichen ihres „Blutes“, d. h. ihrer
Zeugungs- und Vermchrungskraft, die sich
von dem „Blut“ anderer Mi-Gruppen als
andersartig und eigenständig abhebt, so daß
Heiratsverbindungen eingegangen werden
können; ferner auch „hingelegt“, gleichsam
als Repräsentation des Anspruches des hinter-
gründigen Erzeugers oder besser „Zeugers“
des Urahnen der betreffenden Mi-Gruppe
auf sein Urheber-, Besitz- und Bewahrungs-
recht, das im Opferanspruch konkrete For-
men annimmt“ (S. 30). Um diese für alle
Aspekte der Kultur verbindliche Struktur
gruppieren sich die zehn Kapitel des Buches:
Name und Verbreitung der Mbowamb; Ent-
stehung der einzelnen Gruppen der Mbo-
wamb; Funktion des Mi im Aufbau der Ge-
sellschaft; Mi und Mana, Mi-Gemeinschaft
und Seelen, Tote, Geister; Mi-Gemeinschaft
und Führung, Ratsversammlung; Mi- und Ge-
meinschaftsgewissen; Mi- und Rcchtsleben;
Integration; Opferdienst. Manchmal scheint
es fast, als sei dem zentralen Gedanken die-
ses Buches — Mi — zuliebe eine vielleicht
zu lückenlose Strukturierung erreicht. Sollten
daneben nicht auch andere Bezogenheiten be-
stehen? Aber das sind lediglich Reflexionen,
die — ob berechtigt oder nicht — angesichts
des gewaltigen Werkes bedeutungslos sind.
Wir wollen wünschen, daß es die ihm ge-
bührende Aufnahme findet und daß sich nie-
mand, der sich mit der Völkerkunde Ozea-
niens oder der Religionswissenschaft beschäf-
tigt, durch seinen Umfang oder die Breite
der Diktion davon abhaltcn läßt, es gründ-
lich zu lesen.
Eike Habcrland
JOHN J. and IRMA HONIGMANN:
Eskimo Townsmen. Ottawa: Canadian
Research Centre for Anthropology, Univer-
sity of Ottawa. 1965. XIX + 278 S.,
6 Fig., 38 Tab., 151 Abb. auf Tafeln. Preis:
$ 6.50.
Seit einigen Jahren findet in der völker-
kundlichen Literatur jener Vorgang verstärkt
einen Niederschlag, der — mit Begriffen wie
216
Buchbesprechungen
,Akkulturation‘, ,Culture Change' oder ähn-
lichen umrissen — vom Zusammentreffen
ehemals als ,naturvölkisch' bezeichneter Ge-
meinschaften mit entwickelteren Gesellschafts-
formen ausgeht und heute vor allem die Aus-
einandersetzung der sogenannten Entwick-
lungsländer' und ihrer Menschen mit der mo-
dernen Industriegesellschaft umfaßt. Daß die-
ser Prozeß auch die entferntesten Winkel der
Erde nicht ausläßt, hat Charles C. Hughes in
bezug auf die nördlichsten Bewohner unseres
Planeten, die .unter vier Flaggen' auf den
Staatsgebieten Dänemarks, Kanadas, der Ver-
einigten Staaten von Amerika und der So-
wjetunion lebenden Eskimo, erst kürzlich in
einer eindrucksvollen Studie dargelegt (vgl.
Current Anthropology, vol. 6, no. 1, 1965).
Kam es einerseits darauf an, das weit ver-
streute Material zum Kulturwandel unter den
Eskimo erstmalig zusammenzufassen, so ließ
diese Veröffentlichung andererseits erkennen,
wie dringend nötig es ist, durch begrenzte
detaillierte Feldforschungen unser Wissen um
diese Fragen noch mehr zu vertiefen.
Das vorliegende Buch von John und Irma
Honigmann stellt das Arbeitsergebnis einer
solchen Untersuchung dar. Die beiden Auto-
ren hielten sich im Auftrag des Northern
Coordination and Research Centre beim ka-
nadischen Department of Northern Affairs
and National Resources vom 1. März bis
27. August 1963 in der 1600 Einwohner zäh-
lenden Stadt Frobisher Bay (Süd-Baffinland)
auf, die aus den Siedlungen Apex Hill und
Ikhaluit sowie dem US-amerikanischen Luft-
stützpunkt besteht. Sic setzten sich zum Ziel,
folgende Komplexe zu studieren; (1.) „Pat-
terns of Organization“, die über den Rahmen
der Familie hinausreichen; (2.) Faktoren,
welche die gegenwärtige eskimoische Lebens-
weise bestimmen, die Interessengebiete der
Menschen, ihre Zufriedenheit oder Unzu-
friedenheit mit dem Leben in der Stadt; (3.)
psychodynamische Persönlichkeits-Aspekte
und (4.) die Kindererziehung. An Ort und
Stelle richteten John und Irma Honigmann
ihr Augenmerk auch zusätzlich darauf, welche
Möglichkeiten einer Berufsausübung für die
Eskimo bestehen, wie sich die Eskimo in be-
zug auf alkoholische Getränke verhalten und
wie das von der Regierung im Sommer 1956
eingerichtete Rehabilitierungs-Zentrum ar-
beitet.
Die Verfasser beschränken sich bei ihren
Untersuchungen nicht auf die 906 damals am
Ort lebenden Eskimo, sondern wollen das
Leben in Frobisher Bay als in sich geschlosse-
nen Komplex verstanden wissen. Den dort
ansässigen Eurokanadiern komme dabei eine
führende Rolle zu — eine Feststellung, die,
wenn sie zutrifft, auch nur als vorläufiges
Endglied einer langen Kette von Ereignissen
zu werten ist.
Der Kulturwandel der Eskimo auf Süd-
Baffinland hatte bereits im ausgehenden 18.
und beginnenden 19. Jahrhundert eingesetzt,
als Walfänger aus Europa und Amerika mit
ihnen zu handeln begannen — wenig später
gefolgt von Missionaren. Während des zwei-
ten Weltkrieges (1942/43) errichtete die US-
Luftwaffe einen Stützpunkt an der Frobisher
Bay, und als schließlich in den fünfziger Jah-
ren in jenem Teil der östlichen Arktis die als
DEW-Linie (Distant Eearly Warning-Line)
bekannten Radaranlagen gebaut wurden, die
zahlreiche Eskimo als Arbeiter anzogen, kam
es zu bis in die Gegenwart fortwirkenden
einschneidenden Veränderungen. „For many
of these people jobs, not hunting and trap-
ping suddenly became the mainstay of exi-
stence. Other revolutionary features entered
their lives, bringing about a sharp break
with the past“ (S. 9).
John und Irma Honigmann bieten in ihrem
Buch ein überreiches Material, das in folgende
Hauptabschnitte gegliedert wurde: Three In-
cidents (Zurück auf das Land / Genossen-
schaftsbewegung / Tanzvergnügen), People
in the Town, Community Organization,
People under Tutelage, The Eskimo as a
Person. Den Schluß bildet ein demographi-
scher Anhang. Alle Kapitel sind in zahlreiche
(bis zu 20!) Unterabschnitte zerlegt; dennoch
wird dem Leser die Verfolgung der Haupt-
gedanken der Autoren keineswegs leicht ge-
macht, nicht zuletzt durch eine Häufung von
Zahlenangaben im Text, der ohnehin stark
von Tabellen durchsetzt ist. Ein zusätzliches
zusammenfassendes Kapitel wäre dem Buch
zu wünschen gewesen.
Angesichts der Fülle des unter soziologi-
schen Aspekten vorgelegten Materials kann
in der Rezension auf viele Einzelheiten nicht
näher eingegangen werden, obwohl manches
Faktum bemerkenswert erscheint. Ein Bei-
spiel nur möge dies illustrieren; Zum Kochen
und zur Beleuchtung der Häuser (Typenbau-
ten aus Fertigteilen, die S. 56 ff. ausführlich
vorgestellt und durch zahlreiche instruktive
Abbildungen belegt werden) dienen im allge-
meinen Gasolin und Kerosin; manchmal aber,
um die Kochtemperatur zu kontrollieren (!),
verbrennen die Eskimo noch „seal oil in open
troughs („lamps“ resembling the aboriginal
stone variety) made by beating a piece
of metal into shape“ (S. 46). Zu bedauern
ist, daß wohl kein ethnographisches Museum
derartige Objekte aus der rasch dahinschwin-
denden Übergangszeit systematisch sammelt.
Wie weit Vergangenheit und Gegenwart schon
voneinander entfernt sind, zeigt in diesem
Zusammenhang besonders Abb. 54 (Küche
eines modernen Eskimohaushalts in einem
Typenhaus).
John und Irma Honigmann werfen auch
einen Blick in die Zukunft dieser kanadischen
Eskimo. Nach dem Rückzug der US Air
Force vom Stützpunkt an der Frobisher Bay
im Sommer 1963 schrumpfte die Siedlung
erheblich zusammen und ihre Bewohner frag-
ten; „Where will the Eskimo go from here?“
Die Verfasser können diese Frage verständ-
licherweise nicht beantworten, sind aber der
Überzeugung, daß die Eskimo „will never
return to where they had been before the
second world war, that is, to a hunting,
fishing, trapping basis of existence“ (S. 10).
Vermerken wir dazu einen Ausspruch des
Eskimo Anakudluk, der deutlich die Situation
erhellt, In der sich dieser Teil des Polar-
volkes heute befindet: „The reason my
children don’t go to school sometimes is
because I want them to learn both ways,
the Eskimo and the white man’s“ (Abb. 98).
Alles in allem handelt es sich um ein be-
achtenswertes Buch, das — kritisch gesehen
— wesentliche Einsichten in das gegenwärtige
Leben einer kanadischen Eskimogruppe ge-
stattet. Den psychologischen Interpretationen
der Verfasser kann man nicht in jedem Falle
zustimmen; dennoch bleibt unter dem Strich
ein Gewinn auch für den historisch inter-
essierten Ethnologen.
Heinz Israel
GÜNTER ZIMMERMANN:
Die Relationen Chimalpahin’s zur Ge-
schichte Mexico’s. Teil 2; Das Jahrhundert
nach der Conquista (1522—1615). Azteki-
scher Text. (Universität Hamburg. Abhand-
lungen aus dem Gebiet der Auslandskunde,
Band 69 — Reihe B, Band 39.) Hamburg:
Gram, de Gruyter & Co. 1965. 4°, V +
207 S. Preis: DM 48.—.
Buchbesprechungen
Mit diesem zweiten Teil der Relationen liegt
jetzt das ganze Werk des Chimalpahin im
Originaltext vor, soweit es erhalten ist. Fort-
gelassen wurde lediglich ein seines rein christ-
lich-theologischen Inhalts wegen weniger
wichtiges Fragment aus der ersten Relation.
Die Bedeutung des Werkes Chimalpahin’s,
der aus einer der alten Herrscherfamilien der
Chalca stammt und seine Aufzeichnungen
gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach der
Eroberung verfaßte, ist dem Fach-Mexika-
nisten als bedeutsame Quelle besonders für
die Geschichte der Chalca im Südosten des
Valle von Mexico bekannt. Ich darf dabei
auf die Besprechungen der quellenkritischen
Studien Zimmermanns zum Chimalpahin so-
wie des 1963 erschienenen ersten Teiles der
Relationen verweisen (Tribus 10/1961, S. 208
und 13/1964, S. 173).
Der jetzt erschienene, wieder mit zahlrei-
chen Anmerkungen versehene zweite Teil der
Relationen enthält die Annalen (1522 bis
1612), das sehr wichtige Tagebuch (1589 bis
1615), historisch-spekulative Fragmente und
zwei Fragmente zur mexikanischen Ge-
schichte (1196 bis 1404 und 1398 bis 1589).
Die Veröffentlichung fällt in eine Zeit
erfreulicher Wieder-Intensivierung mexika-
nistischer Forschungen von deutscher Seite.
Allen Interessenten an der Geschichte der
Vor- und Nach-Conquistazeit Mexicos wird
demnächst die Übersetzung des aztekischen
Textes in deutscher Sprache als dritter Teil
dieser verdienstvollen und mit gewohnter
Sachkenntnis und Gewissenhaftigkeit vorge-
nommenen Arbeiten Zimmermanns zur Ver-
fügung stehen.
B.Spranz
HANS HORKHEIMER:
Nahrung und Nahrungsgewinnung im vor-
spanischen Peru. (Bibliotheca Ibero-Ame-
ricana, Band H.) Berlin: Colloquium Ver-
lag. I960. 155 S., 8 Tafeln, 7 Abb., 4 Ta-
bellen, I Karte.
Der Rezensent ging, von dem Titel ver-
lockt, mit großen Erwartungen an die Lek-
türe dieses Buches, handelt es sich doch um
eines der interessantesten Kapitel alt-pcruani-
schcr und alt-amerikanischer Kulturgeschichte.
Vielleicht spannt man durch solchen Titel
seine Erwartungen zu hoch? Auf jeden Fall,
das sei hier vorweggenommen, war die Ent-
täuschung sehr groß.
( 11’ 1 U*
218
Buchbesprechungen
Die Gründe für diese Enttäuschung sind
vielschichtig und lassen sich kaum auf einen
Nenner bringen. Stilistische Feinheiten und
Formulierungen mögen zum Beispiel nicht
jedermanns Sache sein und sollten einem
Autoren nicht angerechnet werden, doch soll-
ten Sätze wie: „Die ganze Anlage zerfiel
in mehrere Bauten, . . .“ (S. 94) vermieden
werden. Ein anderer Mangel der Arbeit liegt
in der Literatur begründet, in der wichtige
und grundlegende Arbeiten fehlen, wie zum
Beispiel Friedericis Amerikanistisches Wör-
terbuch und Sappers Arbeit zur indianischen
Landwirtschaft, um nur zwei zu nennen.
Wichtiger sind einige andere Dinge, die
zum Charakter dieses so unausgeglichenen
Buches gehören. Sie kommen in dem Kapitel
VII über die „Kultivierten Nährpflanzen“
gut zum Ausdruck. In der zu diesem Ab-
schnitt gehörenden Tabelle sind zum Beispiel
44 Pflanzen aufgeführt, aber nur 15 von
ihnen sind auch im Text besprochen. Die Be-
sprechungen sind dabei so unterschiedlich, daß
sie kaum miteinander vergleichbar sind. So
werden in einigen Fällen zum Beispiel latei-
nische Namen angegeben, in anderen nicht.
Hinweise, ab wann eine Pflanze als kultiviert
in Peru nachweisbar ist, fehlen völlig oder
sind so allgemein gehalten, daß sie nutzlos
sind. Da Friedericis Wörterbuch nicht benutzt
wurde, sind auch die Herkunftsangaben der
Pflanzenbezeichnungen oft vage.
Diese Charakteristika kennzeichnen auch
viele andere Kapitel, die oft, wie zum Bei-
spiel das Kapitel XIII über die „Hydrauli-
schen Werke“, eine unsystematische Anein-
anderreihung an sich interessanter Einzelhei-
ten bringen. Hier wäre eine gute Karte mit
den cingezcichneten Bewässerungskanälen von
großem Nutzen. Die dem Buche beigegebene
Übersichtskarte kann höchstens den Anspruch
einer Skizze erheben.
Auch die Kapitel X und XI, die sich mit
der Nahrungszubereitung und den „Speise-
Bräuchen“ befassen, lassen sehr zu wünschen
übrig und versprechen im Titel mehr als der
Text hält. Sicherlich ist cs so, wie der Autor
betont, daß wir kaum „Kochrezepte“ kennen,
aber schon eine Erörterung dessen, was ge-
gessen wurde und in welcher Form (Brei,
Fladen, Hauptnahrung, Beigerichte) und wie
die Unterschiede in den Speisegewohnheiten
zwischen den einzelnen peruanischen Regio-
nen waren, wären von Interesse gewesen,
mehr jedenfalls als zum Beispiel Bemerkun-
gen über den Fortschritt der Dehydrierung
in den USA auf S. 90.
All diese Vorwürfe sind recht allgemein.
Sic ändern nichts daran, daß eine Reihe neuer
Tatsachen in den Zeilen versteckt sind, die
man, wenn auch mit Mühe, finden kann. An-
dererseits sind aber auch grobe Fehler bzw.
Fchlinterpretationcn vorhanden, wie zum
Beispiel die Ansicht, daß vorspanisch bereits
Hühner in Peru vorhanden gewesen seien.
Diese Meinung dürfte längst überholt sein
(siehe zum Beispiel Jose Tudela: Los gallos
de dos mundos; Mitt. Hamb. Mus. Volk., Bd.
25, S. 14 ff., 1959). Auch die Anwesenheit
der Banane im Peru der Inkazeit läßt sich
nirgendwo nachweisen. Die im Buche vor-
handenen Theorien über den Maisbau sind
in der Zwischenzeit durch die Funde von
Tehuacän (Mexico) widerlegt worden, eine
Tatsache, die der Autor allerdings nicht vor-
ausahnen konnte. Endlich müssen noch seine
Ansichten über die Tierzucht genannt wer-
den, die man zumindest als seltsam bezeich-
nen kann. Wirft er doch u. a. den Bewohnern
der Feuerlandgegend des 8. vorchristlichen
Jahrtausends vor, daß sie die Möglichkeit,
das damals vorhandene Wildpferd zu züch-
ten, nicht ausgenutzt hätten!
Zusammenfassend muß am Abschluß dieser
Besprechung festgestellt werden, daß das
Buch zwar einige interessante Tatsachen ent-
hält, aber so wenig organisiert und so un-
ausgeglichen geschrieben ist, daß man von
ihm mehr als enttäuscht ist.
Wolfgang Haberland
NICOLAUS FEDERMANN:
Indianische Historia [Neuausg.]. Mit einer
Einf. von ]uan Friede. Illustr. von Peter
Hahlbrock.
(München:) Renner (1965). XXIII, 102 S.,
mehr. Taf. 8°.
[Vort.:] Historia Indiana.
(Dorado-Bücher.) Preis: DM 12.—.
Nicolaus Federmann, Conquistador und
Entdecker in Diensten der Welser, für die er
zwischen 1530 und 1539 weite Gebiete Vene-
zuelas und Columbias erschloß, ist selber, in
seiner Bedeutung für die Geschichte des nord-
westlichen Südamerika, erst spät „entdeckt“
worden, namentlich von den Historikern und
Chronisten spanischer Zunge. Auch heute
noch wird er von diesen nicht immer in dem
Maße gewürdigt, wie es ihm nach seinen Lei-
stungen zukommen würde. Inwieweit dies —
i
*
\
wie Friede meint — darauf zurückgeht, daß
er Deutscher und des lutherischen Glaubens
verdächtig war, ist schwer zu sagen. Mit dazu
beigetragen hat zweifellos sein umstrittenes
Charakterbild, das durch manchen Schatten
verdunkelt wird. Unter den zeitgenössischen
Chronisten haben etliche begeistert seine
menschlichen Vorzüge gepriesen, andere harte
Worte über ihn geäußert, Oviedo hat wenig
Rühmliches über ihn gesagt. Die Welser ha-
ben ihn der Untreue beschuldigt und nach
seiner endgültigen Rückkehr aus Amerika ge-
gen ihn prozessiert. Er kam für mehrere Mo-
nate ins Gefängnis. Zwar gelang es ihm, sei-
nen Prozeß noch vor den Indienrat zu brin-
gen, wovon er sich eine Rehabilitierung er-
hoffte, doch hat er das Ende des Verfahrens
nicht mehr erlebt. Er starb mit 36 Jahren.
Die „Historia“, in der er über seinen ersten
großen Entdeckungszug 1530—1531 von Coro
aus südwärts über die Gebirge weit ins Hin-
terland Venezuelas bis an den Oberlauf der
nördlichen Zuflüsse des Apure-Stromsystems
und zurück an die Küste des Karibischen
Meers berichtet, als „Zeitung“ für die Welser
gedacht und 1557 in einem wenig sorgfältigen
Druck in Hagenau erschienen, wurde erst im
19. Jahrhundert ins Französische und erst in
unserem Jahrhundert nach diesem französi-
schen Text ins Spanische übertragen (Caracas
1916 und Buenos Aires 1945). Vor wenigen
Jahren hat dann schließlich Juan Friede, der
sich auch sonst eingehend mit Federmann be-
schäftigt hat, eine neue spanische Überset-
zung direkt aus dem deutschen Text der
Hagenauer Ausgabe geschaffen („Historia
Indiana“, Madrid 1958).
Es Ist hier kaum notwendig, etwas über den
Wert der „Historia“ als historische, geogra-
phische und völkerkundliche Quelle zu sagen.
Jedem Amerikanisten ist ihre Bedeutung als
eines der frühesten Zeugnisse über die Völker
des nordwestlichen Venezuela östlich des Ma-
racaibo-Sees vertraut. Was Federmann beob-
achtet und aufgezeichnet hat, ist für den
Ethnologen deshalb von so unschätzbarem
Wert, weil die indianische Bevölkerung dieses
Raums nach der Conquista rasch dezimiert
wurde und mancher Stamm frühzeitig er-
losch. Außer den pflanzerischen Caquetio,
von denen ihn auch 100 Mann als Träger
begleiteten, waren es in der Hauptsache die
Jirajara mit ihren Unterstämmen („parciali-
dades“) der Coyón, Cuiba und Ayamán und
das dunkelhäutige, hochwüchsige Fischervolk
der Guaikcri, mit denen Federmann auf sei-
nem sechsmonatigen Zug in Berührung kam.
Die „Historia“ ist kein literarisches Kunst-
werk (obgleich Federmann nicht ungebildet
war und die wichtigsten Werke der deutschen
und spanischen Historiker kannte), doch ist
sic frisch und lebendig geschrieben, eine an-
schauliche Schilderung nicht nur der Reise,
sondern auch des Landes und seiner Natur
sowie der Indianer und ihrer Lebensweise.
Federmann war ein aufmerksamer, kluger Be-
obachter, der die kulturelle Eigenart der ver-
schiedenen Indianerstämme genau erfaßte und
in seiner „Historia“ treffend beschrieben hat.
Sein völkerkundliches Interesse war so groß,
daß er sich mit der Absicht trug, später noch
ein Werk speziell über die Indianer zu schrei-
ben. Er ist leider nicht dazu gekommen. Das
müssen wir um so mehr bedauern, als seine
„Historia“ erkennen läßt, daß er nicht nur
ausgezeichnet völkerkundlich beobachten
konnte, sondern sich auch Gedanken machte
über so moderne Probleme wie Akkultura-
tion und Erziehung zum Leben in einer ande-
ren, technisch höher entwickelten mensch-
lichen Gesellschaft.
Federmann war gewiß kein Las Casas, aber
es ist bezeichnend für sein Denken — und der
Völkerkundler registriert es mit Sympathie —
daß sich in der „Historia“ Worte wie „wild“
oder „barbarisch“ zur Charakterisierung der
indianischen Eingeborenen nicht finden. Im
übrigen war Nicolaus Federmann ein Kind
seiner Zeit, ein echter Conquistador, der grau-
sam, rücksichtslos, verschlagen sein konnte,
wo seine Ziele es nützlich erscheinen ließen.
Er war überzeugt vom Recht der Christen,
Amerika zu erobern, ohne darüber nachzu-
denken, ob dieses Recht wirklich bestehe.
Federmanns Indianische Historia ist ein Spie-
gel; Man erblickt darin die Conquista.
Die vorliegende deutsche Neuausgabe, von
Juan Friede herausgegeben und sachkundig
eingeleitet, entspricht textlich im wesentlichen
den Nachdrucken, die in Deutschland zwi-
schen 1843 und 1938 erschienen sind. Der
Text wird in modernem Deutsch heutiger
Orthographie geboten. Der wissenschaftliche
Kommentar ist ungenügend; vor allem in völ-
kerkundlicher Hinsicht hätte man eine ein-
gehendere Textinterpretierung gewünscht.
Ein Schriftenverzeichnis, unter dessen Autoren
erstaunlicherweise Gregorio Hernändez de
Alba fehlt, sowie eine Kartenskizze mit der
Reiseroute Federmanns vervollständigen die
220
Buchbesprechungen
Schrift, in der leider einige Druckfehler
stehengeblieben sind. Die Illustrationen sind
ohne historischen und völkerkundlichen Wert.
Sonst hat der Verlag das Buch wie a'le seine
Dorado-Bände sorgfältig und ansprechend
ausgestattet. Er hat sich mit der Neuausgabe
der „Historia“ um einen Pionier der frühen
Entdeckungszeit Südamerikas verdient ge-
macht.
F. Jäger
OTTO ZERRIES:
Waika. Die kulturgeschichtliche Stellung der
Waika-Indianer des oberen Orinoco im
Rahmen der Völkerkunde Südamerikas.
[München:] Klaus Renner Verlag. 1964.
VII + 293 S., 1 Tabelle, 54 Karten. Preis:
DM 78.—.
Die jetzt im Druck vorliegende Münchener
Habilitationsschrift von Otto Zerries führt
ihre eigentliche Inhaltsbezeichnung als Unter-
titel. Nicht die lang erwartete Monographie
über die Waika-Indianer am oberen Orinoco,
als Ertrag der Expedition Zerries-Schuster in
der Kampagne 1954/55, stellt dieses Buch dar,
sondern eine komparatistische Studie, die den
Waika ihren kulturgeschichtlichen Ort inner-
halb der südamerikanischen Indianer zuwei-
sen will. Der Leser wird dadurch in die et-
was schwierige Lage versetzt, zahlreichen
Vergleichen folgen zu sollen, deren Aus-
gangs- und Bezugspunkt ihm gar nicht zu-
sammenhängend beschrieben worden ist. Erst
wenn der angekündigte zweite Band zur Ver-
fügung steht, wird daher ein ganzheitliches
Bild der Waika-Kultur deutlicher konturiert
hervortreten können. Im Moment erfährt
man, etwas atomistisch, zahlreiche Einzelhei-
ten des zivilisatorischen Inventars, der Ge-
sellschaftsordnung und der geistigen Welt,
welche der Verfasser mit stupender Matcrial-
kenntnis den verschiedensten Naturvölkern
Südamerikas gegenüberstellt. Zerries erarbei-
tet gleichsam eine Fortsetzung von Erland
Nordenskiölds „The Ethnography of South
America seen from Mojos in Bolivia“, wobei
anstelle der damaligen „Südperspektive“
jetzt eine „Nordperspektive“ tritt. Der Ver-
fasser steht durchaus in der Tradition jenes
(kulturhistorisch-temperierten) Positivismus,
der In der Göteborger Schule so sachkundig
gepflegt wurde; daneben sind Züge einer kul-
turmorphologischen Betrachtungsweise unver-
kennbar, die Zerries als treuen Jcnsen-Schü-
ler ausweisen. Finessen cthnosoziologischer
Methodik oder gar — horribile dictu —
strukturalistische Betrachtungsweisen liegen
dem Verfasser nicht. Sein Feld Ist abgesteckt
durch eine gewisse Scheu vor dem Theorcti-
sieren, in dieser Begrenzung aber belebt von
einer Freude am Ethnographisch-Faktischen.
Manchem anglo-amerikanischcn Kollegen
wird daher das Buch „old-fashioned“ Vor-
kommen.
In der Tradition Nordenskiölds verstan-
den, ist die Neuerscheinung eine Fundgrube
ersten Ranges. Mindestens 80'Vo des Umfan-
ges sind nichts anderes als 50 oder 60 indivi-
duelle Vergleichsketten quer durch den süd-
amerikanischen Kontinent, die am Orinoco
beginnen und von Feuerland bis zum Cir-
cumcaribischen Raum reichen. Ob man sich
über ergologische Details, über Endokanni-
balismus oder das Knochenritual, über be-
stimmte Mythologeme oder wirtschaftliche
Nutzungsformen orientieren will — stets
werden einem Daten in Fülle geboten. Ein
ausführlicher Apparat von Verbreitungskar-
ten gestattet es, mit einem Blick charakteristi-
sche Zusammenhänge zu erfassen. Zerries hat
hier eine Arbeitsleistung vollbracht, die für
die Amerikanistik von hohem Nutzen ist.
Wichtig und ertragreich sind auch die Er-
örterungen zum Yanoama-Problem, das in den
letzten zehn Jahren häufiger diskutiert wurde.
Es handelt sich dabei um Festlegung der Kri-
terien für die Abgrenzung von Waika, Schi-
riana und anderer Gruppen im Grenzgebiet
von Venezuela und Brasilien, mit relativem
Kleinwuchs und Hellhäutigkeit, Sprachver-
wandtschaft und kulturellem Habitus eines
„inneren Randvolkes“. Zerries setzt sich aus-
einander mit den Kontroversen um den Be-
griff sogenannter „Marginaler Kulturen“, wie
er seit John Cooper und Julian Steward vor-
geschlagen und letzthin von George Murdock
scharf kritisiert wurde. Eine große tabella-
rische Übersicht läßt erkennen, welche Kul-
turelemente der Waika (als eines „inneren
Randvolkes“) bei anderen marginalen Völ-
kern, im tropischen Urwaldgebict, in der
subandinen Schicht (im Sinne Krickebergs) so-
wie bei den circumcaribischen und andinen
Kulturen Parallelen finden. Diese Tabelle
enthält meines Erachtens Fragestellungen für
ein Dutzend Dissertationen . . . Die horizon-
tale Verbreitung von Kulturelementen dient
Zerries als Baumaterial, um eine vertikale
Schichtung von Kulturhorizonten innerhalb
des voreuropäischen Südamerikas zu gewin-
j
i
V
y
nen. Es gelingt ihm, eine starke Beeinflussung
durch Altpflanzer des westlichen Urwaldes
auf die Waika zu erweisen, die noch kräftiger
durchschlägt als die ostbrasilianische Kompo-
nente frühen Jägertums. Die „wildbeuterische
Grundsituation des Yanoama-'Volkes“ (Zer-
ries) stellt zwar die Basis dar, ist aber man-
nigfaltig überformt worden. Der Verfasser
macht deutlich, wie viele historische Sonder-
formen in der Kategorie „Randkultur“ fak-
tisch enthalten sind, und erörtert die Abfolge
von Jägern und Urwald-Nomaden über
Erntepraktiken (wobei die Fruchtbaumnutzung
entscheidend ist) zu frühen Pflanzern mit
tropischem Knollenanbau. Erst spät werden
die Yanoarna durch einen rückläufigen Kul-
turstrom aus Guayana getroffen, der mit der
Einführung der Banane eine revolutionäre
Wendung von der Sammelwirtschaft zum
Pflanzertum bewirkt. Diese und andere Be-
einflussungen durch aruakische und karaibi-
sche Nachbarn lassen sich recht gut heraus-
präparieren.
Berücksichtigt man, daß die Yanoama-
Gruppen rein zahlenmäßig an der Spitze noch
intakter Naturvölker im tropischen Südame-
rika stehen dürften, so erhebt sich der nach-
drückliche Wunsch, es möchten weitere Feld-
forschungen unter diesen Indianern unter-
nommen werden, solange noch Gelegenheit
dazu besteht. Dann ließen sich vielleicht auch
manche Fragen der Sozialordnung und vor
allem des geistigen Kosmos besser beantwor-
ten, als es heute schon in jedem Falle mög-
lich wäre.
Dem Klaus Renner Verlag gereicht es zur
Ehre, sein wissenschaftliches Veröffentli-
chungsprogramm mit einer so grundsoliden
Studie akzentuiert zu haben. Ein baldiges
Erscheinen des zweiten und „eigentlichen“
Waika-Bandes wäre lebhaft zu begrüßen.
Thomas S. Barthel
Es soll das von der gleichen Verfasserin
schon vor Jahren erschienene Werk “Red
Man’s America” ergänzen, in dem die gesell-
schaftlichen Verhältnisse sowie die Sachaus-
rüstung der Indianer in populärer Form ab-
gehandelt werden. Der wissenschaftliche Ruf
der Autorin, die sich speziell mit Religion und
Gesellschaft der Indianer des Südwestens, ins-
besondere der Papago, beschäftigt hat, bürgt
für eine gute und zuverlässige Darstellung des
Materials. Einige kleine Anmerkungen seien
gestattet.
Die auf den Karten 1 und 2 eingetragenen
Sprachen und Wirtschaftstypen hören an der
politischen Grenze zwischen den Vereinigten
Staaten und Mexiko auf. Wie wenig sinnvoll
eine solche Abgrenzung ist, scheint der Autorin
bei der Abfassung der eigens für dieses Buch
entworfenen Karte der Verbreitung des Bo-
denbaus (S. 156) selbst bewußt gewesen zu
sein, denn hier schließt sie sogar den mesoame-
rikanischen Kulturbereich mit ein.
Die Abbildungen enthalten u. a. auch Bilder
des Malers Karl ßodmer aus dem großen
Reisewerk des Prinzen Maximilian zu Wied
[nicht wie im Begleittext steht „Maxmillan“
Fig. 16)]. Es sind immer noch die schönsten
und auch historisch wertvollsten Darstellun-
gen aus der Endphase der Prärie-Kultur. Dem-
gegenüber fallen weniger die modernen Zeich-
nungen oder die Dioramenmodelle als viel-
mehr die Photographien stark ab.
In der Literatur zu allgemeinen Problemen
der Religion ist auch Jensens Werk „Mythus
und Kult bei Naturvölkern“ angeführt — eine
löbliche Ausnahme für amerikanische Bücher,
in denen die Tendenz allzu deutlich erkennbar
ist, deutsche ethnologische Arbeiten zu ignorie-
ren.
Wolfgang Findig
RUTH M. UNDERHILL:
Red Man’s Religion. Reliefs and Practices
of the Indians North of Mexico. Chicago
und London: The University of Chicago
Press. 1965. X + 301 S., 34 Abb., 4 Karten.
Preis: $ 7.95.
Das vorliegende Buch ist eine populäre
Darstellung der Glaubensvorstellungen und
religiösen Praktiken nordamerikanischer In-
dianer einschließlich eines Kapitels über mo-
derne synkretistische Kulte und Bewegungen.
t*
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Prof. Dr. Th. S. Barthel, Völkerkundliches Institut der Universität, 74 Tübingen,
Schloß.
Prof. Dr. J. Benzing, Seminar für Orientkunde der Joh.-Gutenberg-Universität,
65 Mainz, Saarstraße 21.
Dr. W. Bierhenke, Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte, 2 Hamburg 13,
Binderstraße 14.
Prof. Dr. H. Brunner, Ägyptologisches Institut der Universität, 74 Tübingen, Naukler-
straße 2.
Prof. Dr. E. Dammann, Orientalisches Seminar der Philipps-Universität, Afrikanistische
Abteilung, 355 Marburg, Schloß 1.
Dr. K. Dittmer, Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte, 2 Hamburg 13, Binder-
straße 14.
Dr. habil. D. Drost, Museum für Völkerkunde, X-701 Leipzig, Täubchenweg 2.
Dr. E. Fischer, 69 Heidelberg, Wilckensstraße 32.
Dir. Dr. A. Frhr. v. Gagern, Museum für Völkerkunde, 68 Mannheim, Zeughaus C 5.
Prof. Dr. E. Haberland, Institut für Völkerkunde der Joh.-Gutenberg-Universität,
65 Mainz, Saarstraße 21.
Dr. W. Haberland, Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte, 2 Hamburg 13,
Binderstraße 14.
Dr. Dr. H. Himmelheber, 69 Heidelberg, Wilckensstraße 32.
Dr. P. Hinderling, Forschungsstelle f. Entwicklungshilfe a. d. Universität des Saar-
landes, 66 Saarbrücken 15.
Prof. Dr. Dr. h. c. S. Hummel, X-9701 Plohn üb. Auerbach i. Vogtland (Sachsen).
Dipl.-Ethn. H. Israel, Museum f. Völkerkunde, X-8060 Dresden, Japanisches Palais.
Kustos F. Jäger, Linden-Museum, 7 Stuttgart, Hegelplatz 1.
Prof. Dr. K. Jettmar, Südasien-Institut der Universität, 69 Heidelberg, Rohrbacher
Straße 12.
Dr. S. Knecht, 78 Freiburg i. Br., Günterstalstraße 68.
Kustos Dr. F. Kußmaul, Linden-Museum, 7 Stuttgart, Hegelplatz 1.
224
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Dr. W. Lindig, Frobenius-Institut, 6 Frankfurt, Liebigstr. 41.
Dr. L. G. Löffler, Südasien-Institut der Universität, 69 Heidelberg, Rohrbacher Str. 12.
Dr. W. Marschall, Völkerkundliches Institut der Universität, 74 Tübingen, Schloß.
Stud.-Rat W. D. Meyer, 7 Stuttgart-Möhringen, Dornröschenweg 45.
Dr. W. F. E. Resch, Frobenius-Institut, 6 Frankfurt, Lieblgstraße 41.
Dir. Dr. H. Rhotert, Linden-Museum, 7 Stuttgart, Hegelplatz 1.
Prof. Dr. C. A. Schmitz, Frobenius-Institut, 6 Frankfurt, Liebigstraße 41.
Dr. Chr. Sigrist, Institut f. Soziologie a. d. Universität, 78 Freiburg i. Br., Günterstal-
straße 67.
Prof. Dr. G. Smolla, 6241 Mammolshain/Ts., Hardtgrundweg 20.
Dr. B. Spranz, Museum f. Völkerkunde, 78 Freiburg i. Br., Adelhauser Straße 33.
Dr. H. Uplegger, Seminar für Orientkunde der Joh.-Gutenberg-Universität, 65 Mainz,
Saarstraße 21.
Kustos Dr. J. Zwernemann, Linden-Museum, 7 Stuttgart, Hegelplatz 1.
A
4206
00941
Zweigbibliothek Europäische Ethnologie
é ♦ itàt? ** ! «A Äp
■:V s: > # J ' ♦ u * ^ V* :? ni* *$ **■ ■*■>'? •* «
■ — • . ■ •..
) 5&|t* •*?/%¥£* *
WiiXi Ä £ i IfÎV'l
^ iW*>
:Ét» ... '• " iti
m,,v
'« : »■
«11vV-
f».
' -...................•■'•'-■
■ : “ - '
nrMWt')]
WdtWä
V.V&îÆîf
’imvimstimmm
wWÎr¥^ * ** #n#Æ«î*
>*.V ♦ f : ■- " C, « * .1 ^ ft ,. ;
* *1* « * / * *4» ,** *** * “I
* äIä * * * * ^ * * ' ♦ ** • * »V f» wî
* ¿* ♦ * I* * fAV/ * i
&S • i iVi* f i*j* « îS&sbÆ
BÜMÜ9!
*ii*$mw***n
i A ,* \, «. M * v(* ** *»•
Copyright 4/1999 YxyMaster GmbH www.yxymaster.com VierFarbSelector Standard* - Euroskala Offset