VERÖFFENTLICHUNGEN DES L 1 N D E N - M U S E U M S
Nr. 25, November 1976
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
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TRIBUS
VERÖFFENTLICHUNGEN DES L I N D E N - M U S E U M S
Nr. 2 5, November 1976
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1976
Herausgeber:
Linden-Museum Stuttgart
Staatliches Museum für Völkerkunde
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer Beiträge
allein verantwortlich.
Copyright 1976 by Linden-Museum Stuttgart
Satz und Druck: Druckerei und Verlag Karl Hofmann, Schorndorf bei Stuttgart
Gedruckt auf halbmatt holzfrei Kunstdruckpapier der Papierfabrik Scheufeien GmbH,
Oberlenningen.
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Inhaltsverzeichnis
Bericht über das Linden-Museum im Jahr 1975 ..............................
Abhandlungen
Dewall, M. v.: Grab und Totenbrauch in China.............................31
Hummel, S.: Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums........................83
Seitmann, F.: Handpuppenspiel in Kerala..................................127
Herzog, R.: Eine alte ethnologische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg . . 137
Himmelheher, H.: Verwandtschaftsverhältnisse bei westafrikanischen Masken . 149
Himmelheber, H.: Ein eigentümlicher Haarschmuck der Guro, Elfenbeinküste 155
Buchbesprechungen
Allgemein.........................................................159
Europa ................................................................172
Afrika............................................................175
West-, Zentral- und Nordasien.....................................186
Südasien..........................................................196
Ostasien..........................................................198
Australien und Ozeanien...........................................205
Amerika...........................................................209
Führer und Kataloge...............................................223
nach Autoren:
Almogaren III: Jahrbuch des Institutum Canarium (G. Smolla) S. 160 — Barnes,
R. H.: Kedang (W. Marschall) S. 199 — Barthel, T. S.: Das achte Land (V. Krupa)
S. 207 — Beck, C. W.: Archaeological Chemistry (R. C. A. Rottländer) S. 167 —
Beuchelt, E.: Ideengeschichte der Völkerpsychologie (H. Sheikh-Dilthey) S. 163 —
Böning, P. E.: Der Pillänbegriff der Mapuche (H. Schindler) S. 220 — Bolz, /.;
Sammlung Ludwig — Altamerika (H.-D. Disselhoff) S. 210 — Brandt, K. ].:
China — Bronzen und Keramik (G. Armbruster) S. 228 — Brinker, H.: Das
Gold in der Kunst Ostasiens (G. Armbruster) S. 228 — Brinker, H.: Bronzen aus
dem alten China (E. v. Erdberg) S. 230 — Caplan, A. P.: Choice and Constraint
in a Swahili Community — Proberty, Hierarchy, and Cognatic Descent on the
East African Coast (J. C. Winter) S. 177 — Caspar, F.: Die Tupari — Ein India-
nerstamm in Westbrasilien (M. Munzel) S. 217 — Collingwood, P.: The Tech-
niques of Sprang (A. Seiler-Baldinger) S. 169 — Dammann, E./T. E. Thronen:
Ndonga-Anthologie (W. J. G. Möhlig) S. 183 — Durand, A.: The Making of a
Fronticr (P. Snoy) S. 189 — Eisleb, D.: Westmexikanische Keramik (W. Haber-
land) S. 233 — Eisleb, D.: Altperuanische Kulturen I (A. Schulze-Thulin) S. 234
— Fischer, E. und H. Himmelheber: Das Gold in der Kunst Westafrikas (J.
Zwernemann) S. 223 — Fischer, E. und ]. Jain: Kunst und Religion in Indien
(G. Armbruster) S. 228 — Gabus, }.: L’objet Témoin (M. L. Nabholz-Kartaschoff)
S. 159 — Gay, C. T. E.: Chalcacingo (B. Spranz) S. 213 — Gusinde, M.: Die
Halakwiilup — Vom Leben und Denken der Wassernomaden in West-Patagonien
(O. Zerries) S. 214 — Haberland, W.: Das gaben sie uns — Indianer und Eskimo
als Erfinder und Entdecker (A. Schulze-Thulin) S. 232 — Hagemann, G.: Das
Leben der Lappen in ihren Ritzungen und anderen Zeugnissen (L. Müller-Wille)
S. 174 — Haitod, M.: Mongolische Ortsnamen (S. Hummel) S. 192 — HeckeweT
der, ].: Indianische Völkerschaften (A. Schulze-Thulin) S. 221 — Heintze, D. und
H.-J. Koloß: Bilder des Menschen in fremden Kulturen (S. Wolf) S. 224 —
Heissig, W.: Mongolische volksreligiöse und folkloristische Texte aus euro-
päischen Bibliotheken (S. Hummel) S. 191 — Helfrich, K.: Malanggan. 1. (E. Brou-
wer) S. 205 — Henze, D.: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde
(B. Gabriel) S. 162 — Hohnschopp, H.: Untersuchung zum Para-Mikronesien-
Problcm unter besonderer Berücksichtigung der Wuvulu- und Aua-Kultur (I. de
Beauclair) S. 206 — Huntington, J. C.: The Phur-Pa, Tibetan Ritual Daggers
(S. Hummel) S. 197 — Ivanoff,?.: Maya. Monuments of Civilization (B. Spranz)
S. 212 — Janert, K. L.: Nachi-Handschriften (S. Hummel) S. 198 — Janssen, H.,
]. Sterly, K. Wittkemper: Carl Läufer MSC (H. Fischer) S. 208 — Jensen, E.:
The Iban and Their Religion (K. Tauchmann) S. 198 — Jettmar, K.: Die Religio-
nen des Hindukusch (M. Centlivres-Demont) S. 186 — Jettmar, K.: Cultures of
thè Hindukush (M. Centlivres-Demont) S. 186 — Kleine, E.: Die Eigentums-
und Agrarverfassungen im vorkolonialen Tanganyika (T. Maler) S. 181 — Koech-
lin, B.: Les Vezo du Sud-Ouest de Madagascar (W. D. Sick) S. 182 — Kunst, ].:
Music in Java (W. Marschall) S. 201 — Laude, W.: Musik der Götter, Geister
und Menschen (D. Christensen) S. 166 — Lehtonen, J. U. E.: Kalan myyntiä ja
viinan juonta (Fischverkauf und Branntweintrinken) (E. Schiefer) S. 193 —
Lips, E.: Nicht nur in der Prärie ... (A. Schulze-Thulin) S. 221 — Manik, L.: Batak-
Handschriften (W. Stöhr) S. 202 — Müller-Wille, L.: Lappen und Finnen in
Utsjoki (L. Bäckman) S. 172 — Münzel, M.: Studien zur Kulturkunde. Erzäh-
lungen der Kamayura (H. Schindler) S. 219 — Muriuki, G.: A History of the
Kikuyu 1500—1900 (U. Luig) S. 175 — Prem, H. ].: Matricula de Huexotzinco
(B. Spranz) S. 211 — Riesmann, P.: Société et Liberté chez les Peul Djelgóbé de
Haute-Volta (J. Zwernemann) S. 176 — Robineau, C.: Evolution économique et
sociale en Afrique Centrale (I. Gcrth) S. 180 — Sahlins, M.: Stone Age Economics
(W. Marschall) S. 165 — Schiefei, W.: Bernhard Dernburg 1865—1937 (J. H.
Voigt) S. 171 — Schlosser, K.: Zauberei im Zululand (T. Maler) S. 184 — Schlos-
ser, K.: Wandgemälde des Blitz-Zauberers Laduma Madela (T. Maler) S. 185 —
Schulze-Thulin, A.: Indianische Malerei in Nordamerika (H. Hartmann) S. 234
— Schulze-Thulin, A.: Indianer der Prärien und Plains (G. Hotz) S. 236 —
Taylor, ]. G.: Labrador Eskimo Settlements of the Early Contact Period (L.
Müller-Wille) S. 223 — Westphal-Hellbusch, S. und H. Westphal: Hinduistische
Viehzüchter im nord-westlichen Indien. I (C. Jentsch) S. 196 — Willey, G. R.: An
Introduction to American Archaeology. Voi. 2 (W. Haberland) S. 209 — Winzin-
ger, F.: Meisterwerke des japanischen Farbenholzschnitts (F. Sibeth) S. 204.
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
237
Das Linden-Museum im Jahr 1975
Das Berichtsjahr war für das Linden-Museuni in verschiedener Hinsicht seit vielen
Jahren das erfolgreichste, obwohl natürlich auch bei uns manche Sparmaßnahme Ein-
schnitte brachte, Beschränkungen auferlegte und mögliche Aktivitäten begrenzte.
Trotzdem ist nun, 1XU Jahre nach der Überführung des Museums in die Hand des
Landes Baden-Württemberg, festzustellen, daß dieser Schritt offenbar richtig war,
weil selbst unter den eingeschränkten Möglichkeiten dieser Zeit in vieler Hinsicht ein
vernünftiges Planen und ein systematischer Auf- und Weiterbau möglich erscheint,
und weil eine gewisse Sicherheit im Personellen wie im Hinblick auf Sachtitel gegeben
ist. Der später folgende Bericht über die Neuerwerbungen wird zeigen, daß auf die-
sem gerade heute eminent wichtigen Sektor vieles möglich wurde, woran noch vor
wenigen Jahren nicht zu denken gewesen wäre. Aber nicht nur in dieser Hinsicht war
das abgelaufene Jahr höchst erfolgreich, sondern auch in mancher anderen, so im
Publikationswesen, in der Ergänzung der Bibliothek und im Blick auf die Besucher-
zahlen.
Das Ausstellungswesen war im letzten Jahr einigermaßen eingeschränkt durch den
Umstand, daß unser verlagertes Asien-Material derzeit nicht zugänglich ist und also
für Ausstellungen nicht zur Verfügung steht. Neben den teilweise umgebauten Dauer-
ausstellungen zeigten wir bis zum 20. 4. „Im Zeichen des Jaguars. Indianische Früh-
kulturen in Alt-Peru“, eine Ausstellung, die seit dem 20. 12. 1974 zugänglich war,
und die im wesentlichen Neuerwerbungen brachte. Der dafür herausgebrachte Führer
hat regen Anklang gefunden.
Vom 16. 5. bis zum 2. 11. stand dann als neue Ausstellung „China. Bronzen und
Keramik“. Auch für sie konnte ein Katalog erstellt werden. Auch hier handelte es sich
um eine Darbietung von Neuerwerbungen, vor allem aus den letzten zehn Jahren.
Ein Gang durch die Ausstellung wie ein Durchblättern des Katalogs zeigte, daß für
das gewählte Thema inzwischen sehr reichhaltiges und gutes Material zusammenge-
bracht werden konnte, das der Bedeutung beider Materialgruppen im Rahmen der
chinesischen Kultur und im Verlauf von deren Geschichte einigermaßen gerecht wird.
Der Wandel in den Beständen wird besonders deutlich, wenn man feststellt, daß noch
keine zehn der ausgestellten Stücke vor zwei Jahrzehnten im Besitz des Museums
waren. Die Ausstellung fand regen Anklang und hat der Fachwelt wie unseren Be-
suchern zum Bewußtsein gebracht, daß hier am Hegelplatz in Zukunft auch die Kultur
Chinas angemessen dargestellt werden kann, wenn wir erst Platz für eine Daueraus-
stellung der asiatischen Kulturen haben werden.
Schließlich haben wir am 18. 11. die Ausstellung „Ostafrika. Figur und Ornament“
eröffnet, die bis zum 28. 3. 1976 zu sehen war. Es ist die bereits im letzten Jahres-
bericht angesprochene, zusammen mit den befreundeten Museen in Hamburg und
Köln aufgebaute Darbietung von Kunst und Kunsthandwerk in Ostafrika. Für diese
Das Linden-Museum im Jahre 1975
Ausstellung gaben neben den beiden genannten Museen auch die Völkerkunde-Museen
in Berlin, Frankfurt/M. und Heidelberg Leihgaben, dazu Herr Dr. Kalter (Stutt-
gart) und Herr Maler (Hamburg). Allen fünf Gebern und den Kollegen in Hamburg
und Köln sei für diese schöne Zusammenarbeit noch einmal aufrichtig gedankt. Auch
hier konnte ein Führer herausgebracht werden, so daß die wichtigen Ausstellungen der
letzten Jahre nun durchweg mit Publikationen verbunden waren, was unsere Besucher
(und nicht nur sie) dankbar begrüßt haben.
Die gleichfalls schon im vorausgegangenen Bericht erwähnte Kamerun-Ausstellung
in den USA ist in diesem Jahr im William Benton Museum of Art in Storrs (Connec-
ticut) vom 11. 10. bis zum 20. 12. 1975 zu sehen gewesen. Nach den uns zugegangenen
Berichten war der Erfolg groß. Im laufenden Jahr (1976) wird sie in Ithaca (New
York) und Hanover (New Hampshire) zu sehen sein.
Schließlich ist zu berichten, daß wir im Frühjahr 1975 in Rottweil zusammen mit dem
hiesigen Staatlichen Museum für Naturkunde eine Ausstellung „Australien und Süd-
see“ aufgebaut haben, und zwar in der Schalterhalle der dortigen Kreissparkasse, wo
wir schon mehrfach gastieren konnten.
All denen, die bei diesen Ausstellungen mitgeholfen haben, d. h. dem ganzen Per-
sonalkörper des Museums, darf ich für die vielfältige und manchmal opfervolle Arbeit
sehr danken. Dieser Dank gilt besonders auch Herrn Dr. K. Brandt für seinen guten
und wirklich brauchbaren China-Katalog und Herrn Dr. H.-J. Koloss für seine
gründliche Einführung in die Kunst Ostafrikas, die als Pionierarbeit auf diesem Ge-
biet gelten darf.
Neben den bereits fallweise durchgeführten haben wir in diesem Jahr regelmäßig
Führungen durch Teile unserer Ausstellungen veranstaltet, vor allem natürlich durch
die Sonderausstellungen. Bei insgesamt 66 Führungen, darunter 31 sonntags und
abends, konnte das Interesse größerer Gruppen an den hier vorgeführten Kulturen
verstärkt werden. Bel den Sonntags- und Abendführungen allein zählten wir 685 Be-
sucher, dies seit Juli.
So wird es vielleicht auch verständlich, daß auch die lange Jahre hindurch stagnie-
renden Besucherzahlen weiter angestiegen sind. Die vielen Sonderausstellungen der
letzten Jahre, die hinzugekommenen Publikationen und ein verstärkter Führungs-
dienst sind sicher mit die Ursachen für diese erfreuliche Entwicklung. So kamen wir
im Berichtsjahr mit 54 826 Ausstellungsbesuchern erstmals über die 50 000-Grenze.
Gegenüber den Zahlen, die wir im Jahresdurchschnitt bis 1970 erreichen konnten, be-
deutet dies eine Steigerung um etwa 60°/o. Mit den auswärtigen, von uns ganz oder
teilweise organisierten Ausstellungen zusammen dürfte in diesem Jahr die Besucher-
zahl die 90 000-Grenze überschritten haben.
Neben den vorher genannten Publikationen konnte auch im Berichtsjahr ein wei-
terer Band von TRIBUS herausgebracht werden (Nr. 24), der mit seinen verschiede-
nen weitgestreuten Beiträgen und Buchbesprechungen die gute Tradition dieses Jahr-
buchs fortführt. Die zahlreichen Indianerfreunde freuen sich besonders über die neueste
Publikation des Hauses, ein Bildheft, das unseren frühen Sammlungen aus dem Ge-
biet der Prärie- und Plains-Indianer gewidmet ist. Es stellt vor allem die beiden
großen Sammlungen Paul Wilhelm von Württemberg und Maximilian zu Wied vor,
Das Linden-Muse um im Jahre 1975
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zwei der gewichtigsten Einzelsammlungen im Hause, deren Publizierung ein altes
Desiderat darstellt. Für die Arbeit an diesen beiden Publikationen darf ich Herrn Dr.
H.-J. Koloss (TRIBUS-Abhandlungen) und Herrn Dr. A. Schulze-Thulin (TRI-
BUS-Buchbesprechungen und Bildheft) sehr herzlich danken.
Fortgeführt wurden auch in diesem Jahr die beiden Vortragsreihen „Fänder und
Völker“ und „Archäologie und Kunst“. Die erste, vom Museum mitorganisierte, aber
von der ehemaligen Trägergesellschaft getragene Vortragsreihe stand unter den Rah-
menthemen „Tropisch-Afrika“ und „Orient“. Bei diesmal nur 11 Vorträgen konnten
wir 2682 Besucher zählen. Die vom Museum selbst veranstaltete Sonntagsreihe hatte
bei 6 Vorträgen 1183 Besucher. Sie versuchte, im Winterhalbjahr 75/76 Überblicke zu
geben über die Archäologie wichtiger außereuropäischer Teilgebiete. Bei nur 17 Vor-
trägen fanden wir das Interesse von 3865 Besuchern, was gegenüber 4288 bei 21 Vor-
trägen im Vorjahr eine mindestens gleichbleibende Besucherzahl je Vortrag bedeutet.
Wie wichtig diese Reihen im Rahmen unserer Arbeit sind, mag eine Zahl verdeut-
lichen: seit 1960, dem ersten Jahr, über das Zahlen greifbar sind, hatten wir nahezu
90 000 Vortragsbesucher!
Natürlich wurden auch in diesem Jahr eine Menge von Wünschen nach Auskünften,
Bildern und Feihgaben an uns herangetragen. Wir konnten sie im wesentlichen befrie-
digen. Hier seien diejenigen genannt, die Feihgaben von uns erhielten:
Neben den längerfristigen Feihgaben an das Museum für Völkerkunde in Freiburg
und die Völkerkundlichen Institute in München und Tübingen sowie an die Katalogi-
sierung der orientalischen Handschriften in Deutschland versahen wir mit dem ge-
wünschten Material die Kreissparkasse Rottweil, das hiesige Staatstheater, den Süd-
deutschen Rundfunk, die uns freundschaftlich verbundene Firma Breuninger, Stuttgart,
sowie das Museum für Völkerkunde in Frankfurt/M. Daß ein guter Teil unseres
Kamerun-Materials zur Zeit in den obengenannten amerikanischen Museen liegt,
wurde bereits gesagt.
Im Hinblick auf Neuerwerbungen für die Sammlungen war das Jahr 1975 neben
dem Jahr 1966, das uns als Stiftung die große Sammlung Trumpf brachte, das weitaus
erfolgreichste in der Nachkriegszeit. Ursache dafür waren nicht nur einige sehr erfreu-
liche Spenden und ein etwas angehobener Erwerbungsetat, sondern vor allem die
Möglichkeit, nun als staatliches Museum an den Mitteln des Zentralfonds ganz zu
partizipieren. Dem Museumsreferenten des Fandes Baden-Württemberg, Herrn Min.-
Rat E.-H. Müller, danken wir dafür sehr, ebenso haben wir den Kollegen der ande-
ren vier staatlichen Kunstsammlungen aufrichtig zu danken dafür, daß sie unseren
Wünschen gegenüber aufgeschlossen waren, unseren Vorstellungen freundschaftlich und
kritisch begegneten und dann, als es um eine über unseren Anteil hinausgehende wich-
tige Erwerbung ging, zu deren Gunsten selbst zeitweilig auf eigene Mittel verzichteten.
Nur so war es möglich, eine äußerst qualitätsvolle Indien-Sammlung zu erwerben,
die nach einigen Ansätzen in den Vorjahren endlich den erstrebten Durchbruch auf
diesem Gebiet brachte.
An den Neuerwerbungen haben alle Abteilungen partizipiert, selbst, wenn auch in
bescheidenem Maße, die Südsee-Abteilung. Besonders wichtig aber waren die Erwer-
bungen für die Abteilungen Islamischer Orient und Südasien, dies freilich aus ganz
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Das Linden-Museum im Jahre 1975
verschiedenen Gründen; während für die Südasien-Abteilung vor allem eine Anzahl
hervorragender Werke der Kunst beschafft werden konnte, ging es in der Orient-
Abteilung mehr darum, größere oder kleinere angebotene Sammlungskomplexe rezen-
ten oder subrezenten Materials für das Museum zu sichern. Hier, in diesem Bereich
schreitet der Ausverkauf der alten Kulturen im Augenblick am rapidesten voran, und
geschlossene Sammlungen werden nur noch wenige Jahre in guter Qualität und gut
dokumentiert zu bekommen sein. Deshalb haben wir uns in den letzten Jahren sehr
bemüht, neben älteren, hervorragenden Beispielen aus der Geschichte der iranischen
Kulturen — einem spezifischen Sammelgebiet des Hauses — einige charakteristische,
historisch oder in ihrer Sachkultur besonders wichtige Völker bzw. Stämme in guten
und zum Teil sehr guten Querschnittssammlungen künftighin dokumentieren zu kön-
nen. Der Bericht unseres Orient-Referenten, Herrn Dr. Kalter, zeigt die Intentionen
unseres Sammelns und das bisher erreichte Ergebnis.
Ein anderes im Augenblick bevorzugtes Ziel von Händlern und Sammlern ist
Hinterindien und Indonesien. Weil es sich leicht absehen läßt, bis wann auch hier das
Material draußen dünn wird, haben wir versucht, vor allem an indonesischem Mate-
rial soviel wie möglich Ergänzungen bestehender Sammlungen zu erreichen. Im Hin-
blick auf die Batak scheint uns dies wirklich gelungen.
Um Ergänzungen handelte es sich auch bei den Erwerbungen aus Ostasien, wo es
unverhältnismäßig viel schwieriger ist, gutes ethnographisches Material zu erhalten als
aus dem Orient und aus Südasien.
Ahb. 1 Tanzstandarte, Senufo (Elfenheinküste). Holz, Eisenstäbe, schwarz. H.: 35
cm, B.: 50 cm. Inv.-Nr. F 51.594 L.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
11
Im Hinblick auf Schwarz-Afrika erscheint es heute besonders wichtig, gut doku-
mentiertes, seit langem hier liegendes Material zusammenzubringen. Dies ist gelungen
durch die Hereinnahme einer kleinen, sehr qualitätvollen Sammlung eines befreundeten
Stuttgarter Sammlers. Es handelt sich um Westafrika-Material, das in unseren Be-
ständen bisher viel zu knapp war und immer noch ist.
Abh.2 Maske, Guro(El-
fenbeinküste); imSenufo-
Stil. Holz, dunkel- und
hellbraun, weiß.
H.: 29,5 cm. Inv.-Nr.
51.609 L.
Die Amerika-Sammlung schließlich erwarb neben einigen bedeutenden Einzel-
stücken als Ergänzungen für große bestehende Sammlungen vor allem einen Samm-
lungskomplex aus Nordwest-Mexiko. Dies ist nun der erste Teilraum Meso-Amerikas,
aus dem wir über reicheres, gutes Material verfügen.
Über die Erwerbungen im Detail und die hinter ihnen stehenden Intentionen be-
richten die Abteilungsleiter anschließend, über Afrika (in Vertretung von Herrn Dr.
Koloss) und über den Islamischen Orient Herr Dr. Kalter, über Südasien (und die
Südsee) in Ermangelung von Abteilungsleitern der Direktor, über Ostasien Herr Dr.
Brandt und über Amerika Herr Dr. Schulze-Thulin. Diesen meinen Mitarbeitern
12
Das Linden-Museum im Jahre 1975
darf ich für ihre Bemühungen um den Ausbau der Sammlungen ganz aufrichtig dan-
ken. Die Hereinnahme von mehr als 1100 Objekten hat jeden von uns viel Zeit, Um-
sicht, Findigkeit, Geduld und Mut gekostet, aber ich glaube, daß wir alle uns über
diese Mühen nur gefreut haben.
Afrika-Abteilung
Außer einer zwanzig Objekte umfassenden Sammlung aus dem Besitz eines alten
Freundes unseres Hauses hatte die Afrika-Abteilung im Berichtsjahr zahlenmäßig nur
bescheidende Neuzugänge.
Verglichen mit den reichen Beständen aus Kamerun, dem Kongo und Ostafrika
bedarf der Bereich der Kulturen des Westsudan und Oberguineas einer besonderen
Förderung. Hier lag denn auch der Schwerpunkt der Erwerbungen des Berichtsjahres,
und wir dürfen mit Freude feststellen, daß dieser Sammlungsteil eine entscheidende
qualitative Aufwertung erfahren hat.
Aus der Elfenbeinküste konnten erworben werden: das Fragment einer alten Sitz-
figur von einem Stab, 3 Webrollen, 2 Masken, 1 Ahnenfigur und 1 Tanzstandarte
von den Senufo, 1 weibliche Ahnenfigur, 1 männliche Figur, 1 Maske, 1 Webrolle,
1 Peitsche mit menschlichem Kopf und Zaubergerät sowie 1 Trommelschlegel der
Baule; ferner 1 Webrolle und 1 Maske der Guro (Ahh. 1 und 2).
Aus Ghana kam hinzu: 1 Puppe (Akuaba) und 1 Keramikschale der Aschanti.
Beide Stücke stammen ursprünglich aus dem Besitz der Korntaler Mission und wur-
den schon um 1900 gesammelt.
Unsere Nigeria-Sammlung wurde bereichert durch: 1 von einer weiblichen Figur
getragenen Hocker und einen ungewöhnlich großen Shango-Stab (Oshe Shango) der
Yoruba sowie eine hölzerne Doppelglocke der Ibo.
Für die Kamerun-Sammlung erwarben wir: 2 skulptierte Steine, 1 tönernen Dach-
aufsatz aus dem Grasland von Kamerun und 1 aus Aluminium gegossenes Kruzifix.
Ferner wurde für die Kongo-Sammlung 1 figürliche Signalpfeife der Tschokwe aus
Elfenbein und 1 Raphia-Baststück erworben.
In unsere reichen Ostafrika-Sammlungen fügen sich ein; 1 großer, außergewöhn-
lich seltener Halsschmuck der Kerebe aus Schneckenböden und 1 Straußenfederhaube
der Turkana. J. K.
Orient-Abteilung
Auch in diesem Berichtsjahr hatte die Orient-Abteilung mit 974 Objekten zahlen-
mäßig den größten Zuwachs. Wie die folgende Aufstellung zeigt, schließen sich alle
diese Neuerwerbungen sinnvoll an die der Vorjahre an: Bereits bestehende Schwer-
punkte, wie die Sammlungen aus dem Hindukusch und älteren Iran, wurden ausge-
baut. Im Bereich Nordafrikas konnten — aufbauend auf zahlenmäßig bescheidenem,
aber qualitativ gutem Material — durch die Erwerbung geschlossener Sammlungen
neue Schwerpunkte gebildet werden.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
13
Aus dem Maghreb waren vor allem Keramik und Textilien gut vertreten. Eine
76 Objekte umfassende, einen repräsentativen Querschnitt bietende Schmucksammlung
aus Marokko ergänzt dieses Material sehr glücklich (Abb. 3). Die Völker der Sahara wa-
Abb. 3 Hölzerne Spei-
seschale und Schalenstän-
der der Kel-Ataram-Tua-
reg. Schale: D.: 35,0 cm,
H.: 17,0 cm. Inv.-Nr. A
33.392 L. Schalenständer:
H.: 120,0 cm. Inv.-Nr.
A 33.393 L.
Die Stücke sind schöne
Beispiele für die Zweck-
mäßigkeit des Nomaden-
inventars. Der Ständer
wird mit seinem ange-
spitzten Ende in den Sand
gesteckt und ersetzt einen
Tisch.
ren bislang nur durch Sammlungen aus der Südost-Sahara (Teda, Borku, Ennedi) und
kleine, von Dr. Rhotert im Fezzan angelegte Sammlungen der Adscher-Tuareg reprä-
sentiert. Durch die Erwerbung einer 183 Stücke umfassenden Sammlung von allen
anderen Unterstämmen der Tuareg ist es uns jetzt möglich, ein nahezu vollständiges
Bild ihrer materiellen Kultur zu zeigen. Die Sammlung enthält etwa zu einem Drittel
Schmuckgegenstände, daneben Hausrat mit hervorragenden Lederarbeiten und Werk-
zeuge. Waffen, Fallen und ähnliches waren vorhanden, so daß, abgesehen vom Zelt,
jetzt wirklich das gesamte Inventar vorgestellt werden kann. Damit ist der für den
Trockengürtel der Alten Welt so wichtige Kulturtyp der Kamelnomaden in einer
hervorragenden Sammlung vertreten. Besonders glücklichen Umständen ist es zu ver-
danken, daß auch noch eine 151 Objekte umfassende Sammlung des Inventars maureta-
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Das Linden-Museum im Jahre 1975
nischer Nomaden erworben werden konnte (Abh. 4). Die Zusammensetzung der Samm-
lung entspricht der Tuareg-Sammlung. Das gibt uns die faszinierende Möglichkeit aufzu-
zeigen, wie unterschiedlich zwei Nachbarvölker mit sehr ähnlicher Wirtschaftsweise
und Sozialstruktur vergleichbare Probleme gelöst haben.
Abh. 4 Detail aus ei-
nem Reisesack „Tassou-
fra“ mauretanischer No-
maden im westlichen Stil.
Leder mit Blindpr'dgun-
gen. Bemalung und Appli-
kationen. L.: 157,0 cm,
B.: 67,0 cm. Inv.-Nr. A
32.656 L.
Diese sehr sorgfältig aus-
geführten Lederarbeiten
gehören zu den bekann-
testen kunsthandwerkli-
chen Erzeugnissen nordaf-
rikanischer Nomaden. Die
Ornamentik hat häufig
magisch-religiöse Bedeu-
tung. So dient zum Bei-
spiel das Kreuzornament
in der Bildmitte der Ab-
wehr des „bösen Blickes“.
Ferner erwarben wir noch 9 Schmuckstücke aus der großen Kabylei. Die Email-
arbeiten der Kabylen gehören zu den schönsten und bekanntesten Erzeugnissen der
nordafrikanischen Silberschmiedekunst. Schmuck, der in der islamischen Welt die
ästhetisch und technisch höchste Vollendung erfahren hat und in Form, Material und
Ornamentbestand stark religiös bedingt ist, soll auch weiter systematisch gesammelt
werden. Ebenso wollen wir Kleidung sammeln, um komplette Trachten zeigen zu
können. Als letzte Neuerwerbung aus dem afrikanischen Teil der Orient-Abteilung
sind noch drei äthiopische Handkreuze aus dem 16.—18. Jh. zu erwähnen, die in der
sonst recht guten Äthiopica-Sammlung eine Lücke schließen.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
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Aus dem älteren Iran wurden Stücke erworben, die in den letzten Jahren begon-
nene Sammlungskomplexe ergänzen. Hier ist angestrebt, das Thema Religion mit Ob-
jekten aus dem Bereich der Moschee, des Kultes der Heiligengräber und des Grab-
kultes, des Amulett- und des Derwischwesens zu erläutern.
Aus dem Bereich der Moschee ist besonders ein um 1330—1340 zu datierendes
Fliesenfeld aus Kasan mit 18 Sternfliesen (Lüsterfayence mit Blaumalerei) hervorzu-
heben. An Baukeramik von Moscheen wurde weiter erworben: eine große, unglasierte
Tonfliese mit eingravierter Schrift, Ostiran, 10. Jh., eine als Minai-Ware zu bezeich-
nende Sternfliese hervorragender Qualität aus Rhages, 13. Jh., ein türkisglasiertes
Mihrab einer kleinen Moschee (oder ein Grabstein?), Nishapur, 12./13. Jh., und
schließlich eine timuridische Mosaikfliese mit dem Namen „Muhammad“.
Einen oft besonders sorgfältig ausgeführten Bestandteil des Moschee-Inventars bil-
den Lampen. Als Spitzenerzeugnis islamischer Metallkunst darf ein silbertauschierter,
bronzener Moschee-Leuchter aus Mossul (12./13. Jh.) bezeichnet werden. Ferner wur-
den eine timuridische Moschee-Lampe aus Bronze, ein Bronze-Leuchter aus dem 17. Jh.
und eine türkisglasierte Tonlampe, Nishapur, 12,/13. Jh., erworben. Zum Moschee-
Komplex gehören auch: 1 Läufer zum Verzieren der Moschee (Stoffdruck) aus dem
17. Jh. und eine einer Moschee gestiftete Schirbat-Schale aus der gleichen Periode.
Alte Koran-Handschriften waren bislang in unseren Beständen noch nicht vertre-
ten. Eine im Kufi-Duktus auf Pergament geschriebene Koranseite aus dem Iraq
(9. Jh.) repräsentiert die frühesten Abschriften des heiligen Buches. Ebenso wertvolle
Ergänzungen bilden ein illuminiertes und in bester Kalligraphie geschriebenes Doppel-
blatt aus einem Koran mit persischer Übersetzung aus dem Iran des 14. Jh. und ein
Ahh. 5 Zinnen eines Grabgitters, Stahl, versilbert, Schrift und Ornamente feuerver-
goldet. H.: 19,0 cm. Inv.-Nr. A 33.227 L.
Diese Stücke sind ein besonders schöner Beleg für die mit dem Kult der „Heiligengräber“
eng verbundene schiitische Frömmigkeit. Die Inschrift der Zinnen besteht aus Anrufun-
gen Allahs, wie z. B. „oh Einziger“ und Muhammads „oh Sayid“.
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Das Linden-Museum im Jahre 1975
mamlukischer Koraneinband. Die Übersetzung des Koran war an sich verboten.
Korane mit persischer Übersetzung oder persischem Kommentar kommen nur während
der Ilkhan-Periode vor.
Zur Illustrierung des Grabkultes erwarben wir einen datierten (584 Hidjra =
1188 n. Chr.) Grabstein aus Speckstein und einen lüsterglasierten, datierten (870
Hidjra = 1165 n. Chr.) Grabstein.
Die hervorragendste Neuerwerbung dieses Komplexes bilden 4 Metallzinnen mit
eingelegten Goldornamenten vom Gitter eines Kenotaphs. Sie sind außergewöhnlich
schöne Beispiele safawidischen Kunsthandwerks und vermitteln zusammen mit der im
letzten Jahr erworbenen safawidischen Grabdecke und einer doppelflügeligen Grabtür
ein eindrucksvolles Bild der sich besonders im Grabkult manifestierenden schütischen
Frömmigkeit (Abb. 5).
Das Amulettwesen können wir mit einem Amulett (Teil eines Ovula-Gehäuses)
mit Koraninschrift in Kufi, Nishapur, 9. Jh., und 1 Goldamulett mit allen Namen
Gottes, Isfahan(?), 17. Jh., illustrieren. Der Herstellung von Koranamuletten dienten
zwei Druckstöcke aus dem 17. und 18. Jh.
Interessante Zeugnisse des Derwischwesens sind eine Derwischaxt mit Silberein-
lagen (17./18. Jh.) und ein Gebetsbuch eines Derwisches mit einer Darstellung König
Salomos (18. Jh.).
Zum Thema „Religion“ gehören auch noch folgende Neuerwerbungen: 1 kadjari-
sches Gebetsbuch, ein Seidenbrokat mit Koranversen in Thut-Schrift, 17. Jh., ein Bro-
katfragment eines Mekkatuches, 17. Jh., drei spätsafawidische Druckstöcke zur Her-
stellung von Prozessionsfahnen und die Spitze einer Prozessionsfahne, die in durch-
brochener Arbeit die Namen Allah, Muhammad und Ali in kalligraphischer Verbin-
dung zeigt. Nicht unerwähnt bleiben soll als seltenes Zeugnis der Bedürfnisse des
Gläubigen im Alltag 1 Kompaß zur Feststellung der Gebetsrichtung (17. Jh.).
Ein weiteres, wichtiges Sammelgebiet sind Objekte zum Thema „Bad“. Es erscheint
aus drei Gründen von besonderem Interesse: Das Bad war in islamischen Städten eines
der Zentren öffentlichen Lebens, das Bad spielte in den Bereich der Religion hinein
(rituelle Reinheitsvorschriften wurden sehr ernst genommen), und schließlich ist die
Badekultur ein sehr wichtiger Beitrag des islamischen Raumes zu unserer abendländi-
schen Zivilisation.
Zum Thema „Bad“ erwarben wir: 1 seldjukische Henna-Schale aus Bronze, eine
timuridische aus Stein und eine Keramikschale aus Nishapur. Eines der schönsten
Stücke dieses Komplexes ist ein mit einem eingravierten Tierfries geschmückter, bron-
zener Badeeimer aus dem 11./12. Jh. Ergänzt wird diese Gruppe durch Schminkbehäl-
ter und Parfümflakons aus der Zeit vom 11.—13. Jh. und einen tönernen Hornhaut-
hobel aus Nishapur. Daneben erwarben wir aus der frühen Kadjarenzeit eine kom-
plette Kosmetikgarnitur sowie Spiegel, Kämme, Schmink- und Parfümbehälter. Nach-
dem wir bereits im Vorjahr eine qualitativ hervorragende safawidische Fliesengruppe
aus einem Bad erwerben konnten, werden wir sehr bald in der Lage sein, auch das
Thema „Badekultur des islamischen Raumes“ adäquat darstellen zu können.
Aus dem iranischen Raum gingen ferner ein: 2 ghaznawidische Metallarbeiten und
einige moderne Stoffdrucke aus Isfahan.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
17
Diese Übersicht zeigt, daß mit wenigen Ausnahmen Objekte aus dem 12./13. Jh.
und solche aus der Safawiden-Zeit erworben wurden. Bei konsequenter Fortsetzung
dieser Erwerbungspolitik sollte es uns möglich werden, ein sehr gutes Kulturbild
beider genannter Zeiträume vermitteln zu können.
Ahb. 6 Ein Paar „fal-
scher“ Ohrschmucke (die
Stücke wurden am Band
über dem Kopf getragen
und hängen über den Oh-
ren). Purkmenen, Silber,
feuervergoldet, Karneol.
L.: 19,0 cm. Inv.-Nr. A
32.899 L a, b.
Nomaden-Völkcr wie die
Purkmenen legen Über-
schüsse sehr häufig in
Schmuck an. Er wird in
der Familie über Genera-
tionen vererbt und dient
als eine Art „Risikoversi-
cherung“.
Eine entscheidende Bereicherung haben unsere Sammlungen aus Mittelasien erfahren.
Schon im Vorjahr erwarben wir 10 turkmenische Schmuckstücke (Abb. 6), im Berichtsjahr
kamen 45 hervorragende Schmuckstücke dazu, wie „Brautkronen“, Zopfschmucke,
Brustplattcn, Amulettbehälter. Mit den Stücken aus altem Besitz hat das Linden-
Museum jetzt wohl die quantitativ und qualiativ bedeutendste Schmucksammlung
dieser zentralasiatischen Reiternomadengruppe außerhalb des Ostblocks. Besonders
interessant ist ein fünfteiliger Pferdeschmuck. Er ist datiert 1264 Hidjra = 1847 n. Chr.,
d. h. noch vor der russischen Besetzung dieses Gebietes. Dazu wurde ein Zeltband und
ein Chapan erworben.
Ebenfalls aus diesem Bereich stammen 13 kazakische Schmuckstücke, wie Ohrringe,
Hochzeits-Halsschmuck, Amulettbehälter, Armreife und Fingerringe. Da die Varia-
2
18
Das Linden-Museum im Jahre 1975
tionsbreite des Kazak-Schmucks offenbar geringer ist als bei deren turkmenischen
Nachbarn, ist auch hier eine kleine, aber repräsentative Sammlung entstanden. 47 us-
bekische petit-point-Stickereien, 2 bestickte Pferdedecken, 3 Seidenstickereien auf Filz,
2 neuere und 1 hervorragende alte Buchara-Stickerei runden unsere Textilsammlung
aus diesem Raum ab.
Aus verschiedenen Teilen Afghanistans und von den Pashtunen Pakistans erhielten
wir 62 Objekte, überwiegend Textilien und Schmuck.
Mit großer Freude können wir vom weiteren Anwachsen unserer Hindukusch-
Sammlung berichten. Aus Nuristan und von den Pashai erhielten wir 16 zum größten
Teil hervorragende Arbeiten. Neben Schmuck und Hausrat sind die wichtigsten Stücke
2 beschnitzte Architekturteile und 3 Truhen. Zu unserer Kalash-Sammlung kamen
2 Frauenhauben (Kupas) dazu. Qualitativ und quantitativ am wichtigsten ist aber der
Zuwachs aus dem Gebiet des mittleren und oberen Swat-Tales. Hier können wir 165
Neuzugänge verzeichnen, nachdem schon in den Vorjahren 43 Objekte erworben wur-
den. Es handelt sich um 2 voll durchgeschnitzte Türen, 2 Säulen mit Kapitellen sowie
Abb. 7 Kopf des Bud-
dha. Grauer Schiefer, im
erhaltenen Teil 4 cm hoch.
Gandhara-Gebiet, Ende
des ersten Jahrhunderts n.
Chr. Inv.-Nr. A 33.576 L.
Der noch ganz in der Tra-
dition der klassischen An-
tike gearbeitete Kopf ge-
hört zu den frühesten be-
kannt gewordenen Bud-
dha-Darstellungen über-
haupt.
Das Linden-Museum im ]ahre 1975
19
2 weitere Architekturteile, 20 beschnitzte Möbelstücke, wie Truhe, Stühle, Tische, Ge-
betstische, 1 Bett und Topfständer, 51 Schmuckstücke und Matrizen zur Schmuckher-
stellung, 33 Tongefäße sowie sonstige Objekte aus dem Hausrat und einige Textilien.
Ferner sind noch folgende Zugänge zu verzeichnen: 4 osmanische Schmuckstücke,
die früher erworbene Trachten ergänzen, 1 bestickter osmanischer Schal, der eine
Bereicherung unserer 60 Objekte umfassenden Sammlung osmanischer Stickereien dar-
stellt, und 1 silberner Hochzeitsgürtel aus Südarabien. J. K.
Südasien-Abteilung
Besonders erfreulich waren im Berichtsjahr auch die Erwerbungen für die Südasien-
Abteilung, wo aus den verschiedensten Gebieten Material hereinkam, vor allem aber
aus Vorderindien. Es konnten 143 Objekte erworben werden, was an sich nicht allzu-
viel besagt, aber der wissenschaftliche und künstlerische Rang ist zum Teil erheblich.
Mit 72 Erwerbungen stellt Vorderindien den Löwenanteil. Darunter sind 16 Schat-
tenspielfiguren aus Südindien, geschickte Ergänzungen älterer Bestände. Die vor eini-
Abh. 8 Sita, die Ge-
mahlin Ramas. Dunkel
patinierter Bronzeguß aus
der Zeit der früheren
Chola-Kunst (frühes 11.
Jahrhundert). 57 cm hoch.
Inv.-Nr. A 33.616 L.
20
Das Linden-Museum im Jahre 1975
gen Jahren erworbene Gujarat-Sammlung konnte um 10 Textilien und um 26 Schmucke,
nämlich Silber- und Messingarbeiten, bereichert werden. Zwei kleine Elfenbeinschnitze-
reien aus dem 18./19. Jh. und eine kleine, aus dem Mittelalter stammende Kerala-
Bronze fügen sich an.
Besonders hervorzuheben ist aber, daß in diesem Jahr eine Reihe guter und zum
Teil herausragender Arbeiten indischer Kunst aus den verschiedensten Zeiten erworben
werden konnten. Mit dem frühesten beginnend, darf eine Maurya-Terrakotte genannt
werden, eine Magna-Mater-Darstellung aus dem 3. vorchristlichen Jh., die offenbar
aus dem Raum Mathura stammt. Ihr folgen zwei Gandhara-Stücke, beidesmal
Buddha-Köpfe. Der eine, aus Stein gearbeitet, liegt innerhalb dieser Kunst sehr früh und
gehört wahrscheinlich noch ins 1. nachchristliche Jh. (Abb. 7). Beim zweiten handelt es
Abb. 9 Stehender Bud-
dha mit Mandorla. Heller
Bronzeguß, wenig pati-
niert, Augen aus Silber
eingesetzt. Kaschmir, 11.
Jahrhundert n. Chr. H.:
21,8 cm.
Inv.-Nr. A 33.581 L.
sich um einen Stuck-Kopf im Hadda-Stil. Drei Objekte gehören der Gupta-Zeit an oder
einer Phase unmittelbar danach: wieder ein Buddha-Kopf aus Stein zeigt die Charak-
teristika der Mathura-Schule und bildet eine hervorragende Ergänzung zu unserem
Das Linden-Museum im Jahre 1975
21
Sarnath-Köpfchen. Eine Löwenfigur aus Stein, fragmentarisch, ist ein ausgezeichnetes
Beispiel der späteren Gupta-Kunst im zentralen Nordindien. Beim dritten handelt es
sich um ein hinduistisches Objekt, um einen auf der Vorderseite kräftig reliefierten
Ziegel mit einer Darstellung Nandins.
Bereits aus dem indischen Mittelalter stammt eine große, fast rundplastisch gearbei-
tete Steinfigur der Varahi, die in Zentralindien im 10. Jh. entstanden sein dürfte.
Eine Frauenfigur aus Almora im nördlichen Indien gehört wohl in die gleiche Zeit,
auch sie ist in Stein skulptiert. Besonders wichtig ist die Erwerbung von fünf Chola-
Bronzen, die auch zeitlich einen Querschnitt durch diese bedeutende Phase indischer
Kunst bieten: ein sehr feiner Ganesha stammt aus dem 10. Jh., eine nicht minder gute
Parvati aus dem frühen 11. Dem mittleren 11. Jh. gehört wohl die Sita-Bronze (Ahh. 8)
an, die schon in der Bedvar-Collection aufgefallen war. In der Zeit um oder kurz nach
1100 entstand eine kleinere Sambandha-Bronze, und ein großer Vishnu verkörpert in
hervorragender Weise den Übergangsstil von Chola zu Vijayanagar.
Immer mehr ist in den letzten Jahren der Gebirgsraum im Norden und Nord-
westen Indiens zu einem Sammelgebiet des Museums geworden. Hier gilt es, eine
Brücke zu schlagen zwischen dem Material aus dem Hindukusch- und Karakorum-
Gebiet einerseits und Nepal/Tibet andererseits. Daß die Kulturen Kaschmirs auch in
ihrer historischen Tiefe hier eine wichtige Rolle spielen müssen, ist klar. Aus dieser
Überlegung heraus erwarben wir aus diesem Bereich einige wichtige Arbeiten. Genannt
sei zuerst ein großer, ausgezeichnet erhaltener und auf der Vorderseite im Relief
gearbeiteter Ziegel aus Harwan (2.—4. Jh. n. Chr.), dazu einige feine Kleinbronzen:
je ein sitzender und ein stehender Buddha aus dem 11. Jh. (Abb. 9) und ein Padmapani
aus dem 10./11. Jh. Den Übergang nach Tibet hinüber bildet eine große Vajrasattva-
Bronze aus dem 12. Jh., ziemlich sicher in Westtibet entstanden.
Die in den letzten Jahren einigermaßen angewachsene Nepal-Sammlung konnte
gleichfalls durch einige gute Stücke ergänzt werden. Hier ist zuerst eine Kleinbronze
aus dem 14./15. Jh. zu nennen, eine sehr fein gearbeitete Durga. Ihr schließt sich ein
Bhairava-Kopf an, eine Terrakotte aus dem 16./17. Jh. Aus derselben Zeit oder wenig
jünger ist ein zusammengehöriges Paar von Buchdeckeln aus Holz, skulptiert und auf
den Innenseiten bemalt. Zeitlich das jüngste dieser Stücke ist ein Silberguß mit der
Darstellung des Cintamani-Avalokiteshvara, entstanden wohl im 19. Jh.
Birmanischer Herkunft ist eine kleine Pferdefigur, Teil eines Gewichtssatzes, und
ein kleiner Rahmengong.
Die in den letzten Jahren beträchtlich gewachsene Thailand-Sammlung konnte wei-
ter ausgebaut werden, und einer der beiden Schwerpunkte der Erwerbungen lag auch
in diesem Jahr auf dem Gebiet der Keramik: zu den bereits vorhandenen Gefäßen
dieses Fundplatzes erwarben wir 8 weitere Keramiken aus Ban Chieng, darunter
2 bemalte und 6, die den früheren Schichten angehören. Die Sammlung an Khmer-
Keramik (Lopburi) konnte durch 6 weitere, sehr charakteristische Gefäße ergänzt wer-
den, und 11 Gefäßkeramiken runden die bestehenden Bestände an früher Thai-Kera-
mik ab.
Aus dieser Phase, und zwar aus Savankhalok, stammt auch ein tönerner und gla-
sierter Dachaufsatz, eine Fabeltierdarstellung. Er leitet hinüber zu figürlichen Dar-
22
Das Linden-Museum im Jahre 1975
Stellungen, bei denen ein weiterer Dachaufsatz, diesmal aus Holz, zu nennen ist, ein
Stück aus der Ayuthya-Zeit. Mit ihm zeitgleich ist ein großer steinerner Buddha-Kopf.
Das wichtigste Einzelobjekt aus Thailand aber bildet ein großer, wieder steinerner
Buddha-Kopf aus dem 8. Jh., eine bedeutende Skulptur der Mon-Dvaravati-Kunst.
Auch die Sammlung an Khmer-Objekten ist weiter gewachsen. Oben war die Rede
von einigen Lopburi-Keramiken, hier sind zwei wichtige zusätzliche Stücke anzufügen,
nämlich ein aus Bronze gegossener und goldtauschierter Naga (Fragment) aus dem
11./12. Jh. (Abb. 10) und vor allem ein kompletter Altaraufsatz mit Buddha, eine
seltene und schöne Arbeit aus dem 12. Jh., offenbar kein provinzielles Stück, sondern
aus dem Zentrum des Reiches stammend.
Abb. 10 Gekrönter Na-
ga (Fragment). Der Naga-
König ist aus Bronze ge-
gossen, mit Goldblechauf-
lage. Die Höhe des erhal-
tenen Fragments beträgt
29,5 cm. Khmer, 11./12.
Jh. Inv.-Nr. SA 33.644 L.
Schließlich konnten auch die Bestände aus Indonesien erweitert werden. Die mei-
sten und besten Erwerbungen stammen hier aus Sumatra, nämlich drei Hacken und
ein Dechsel aus Padang und vor allem zwölf Objekte von den Batak, Schnitzereien,
zum überwiegenden Teil von großer Qualität. Es handelt sich um fünf Zauberstäbe,
Das Linden-Museum im Jahre 1975
23
unter denen ein ganz exzeptionelles Stück ist, eine Ahnenfigur, eine figürlich bc-
schnitzte Laute, ein sehr guter Kugelbehälter, eine Truhe und drei in hohem Relief
geschnitzte Architekturteile. Sie ergänzen die bestehende, gute Batak-Sammlung auf
das glücklichste.
Von den Dayak erwarben wir sechs der schönen Perlarbeiten, darunter eine Kin-
dertrage. Aus Sumba stammt ein fein gemusterter Eintragikat und ein Zierkamm aus
Schildpatt. Durch freundliche Vermittlung eines alten Freundes unseres Museums
konnte eine mit seiner Hilfe in den letzten Jahren aufgebaute Ifugao-Sammlung
weiter ausgebaut werden: eine hölzerne, beschnitzte Reis-Schale mit Deckel, vier fein-
geflochtene Reis-Körbe, ein beschnitzter Fleischbehälter mit Deckel, eine Priester-
tasche, eine Götterfigur und eine Perlenkette sind hereingekommen. Aus Timor schließ-
lich stammt eine figürlich beschnitzte Kokosnußschale. So konnten die Bestände an
primitivmalaiischem Material in vielen Punkten weiter ergänzt werden. F. K.
Ostasien-Abteilung
Die Ostasien-Abteilung erhielt Zugänge auf den Sammlungsgebieten China und
Japan. Der Zuwachs der Japan-Sammlungen war zahlenmäßig wesentlich größer als
der der China-Sammlungen, jedoch wog bei diesen die Qualität der wenigen dazu-
gekommenen Objekte bei weitem die Quantität der Japan-Zugänge auf.
Die Erwerbungen der Japan-Abteilung werden fast ausschließlich von einer Stiftung
gebildet, die aus dem Nachlaß von Frau Ella Fischer, Stuttgart 1, Dillmannstr. 1,
stammt. Die Stiftung setzt sich zusammen aus sieben Lackarbeiten, fünf figürlichen Dar-
stellungen aus Holz, Ton und Porzellan, zwei Holzschnitzereien, sieben Metallarbeiten
aus Zinn, Bronze und Gelbguß, drei Kagamibuta-Netsuke, fünf Schwertstichblättern
(Tsuba), fünf Waffen (ein Schwert, eine Schwert- und eine Dolchklinge, eine Lanzen-
spitze, eine Doppellaufpistole), ein Keramikgefäß zur Aufbewahrung von Pulvertee
(Chaire), zwei Rollbildern, zwanzig Holzschnittbüchern aus dem 18. und 19. Jh. mit
Färb- bzw. Schwarzweißholzschnitten und 26 Farbholzschnitten, darunter vier Suri-
mono (Glückwunschblätter).
Die Holzschnitte stammen von den Ukiyo-e-Mcistern Suzuki Harunobu, Isoda
Koryüsai, Kitagawa Utamaro, Kikugawa Eizan, Katsushika Hokusai und Ando
Hiroshige.
Neben dieser Stiftung erwarb das Museum zwei japanische Lackminiaturen aus
dem Ende des 18. Jh. mit Portraits von Kaiser Joseph II. und François de Malherbe.
Die Vorlagen zu diesen Miniaturen bilden europäische Kupferstiche aus dem 18. Jh.,
die sehr wahrscheinlich in Holland oder Frankreich erschienen sind.
Zu Beginn des Berichtsjahres konnte das Museum für die China-Abteilung eine
vollständige Uniform der kaiserlichen Palastwache aus Privatbesitz ankaufen, die
nach Angaben des Vorbesitzers vor 1870 in Peking erworben wurde.
Im Zusammenhang mit der China-Ausstellung von Mai bis November 1975 wur-
den dem Museum von einem süddeutschen Privatsammler zur Vervollständigung der
Bronze-Sammlung zwei sehr bedeutende archaische Kultbronzen aus der Shang-Zeit
(ca. 16.—11. Jh. v. Chr.) gestiftet; ein tsun, das in das 13./12. Jh. v. Chr. datiert
werden kann, und ein hsien aus dem 11. Jh. v. Chr. Die beiden Bronzen stellen eine
Abb. 11 Cloisonné-S ch ale, Bronze mit Zellenschmelz, mit achtfach eingezogenem
Rand und einem Dekor aus stilisierten Drachen und Lotosranken. China, 2. Hälfte 18.
Jh., D.: 22,5 cm. Inv.-Nr. OA 20.503 L.
Abb. 12 Blütenrand-Teller, Porzellan mit bläulich-grüner Seladon-Glasur und einem
plastischen Dekor (Pfirsich-, Granatapfel- und Kürbiszweig) in Biscuit. China, Yüan-
Zeit (13./14. ]h.). D.: 16 cm. Inv.-Nr. OA 20.495 L.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
25
überaus glückliche Ergänzung sowohl in qualitativer als auch typologischer Hinsicht
der schon vorhandenen Bestände dar.
Abgesehen von einer Cloisonne-Schale (Ahb. 11) des 18. Jh. und einem Pinselwasch-
gefäß aus Jade in Form einer Aubergine, ebenfalls aus dem 18. Jh., bestehen die restli-
chen Neuerwerbungen für die China-Abteilung aus Keramiken, überwiegend Porzellane.
Der anteilmäßig bedeutende Bestand an Seladonen wurde durch mehrere, bisher zeitlich
und auch typologisch noch nicht vertretene Gefäße ergänzt. Einen Vorläufer zu dieser
Keramikgruppe bildet eine Kurzhalsflasche aus Steinzeug mit einer olivgrünen, wol-
kigen Glasur aus der T’ang-Zeit (618—906). Eindeutig zur Gruppe der Seladone ge-
hört dann schon der auf fünf Füßen stehende Untersatz für eine Kumme aus Stein-
zeug mit einem eingeschnittenen floralen Dekor und einer graugrünen Seladonglasur
aus der Sung-Zeit (960—1279). Aus der darauffolgenden Yüan-Zeit (1260—1368)
stammt ein Blütenrand-Teller mit einer hellen, blaugrünen Seladonglasur und einem
plastisch modellierten Dekor in Biscuit, bestehend aus drei Zweigen mit Pfirsich,
Granatapfel und Melone (Ahb. 12).
Typologisch außerordentlich selten ist ein durchbrochen gearbeiteter Ständer für
Pfeile aus Porzellan mit einer blaugrünen Seladonglasur (Lung-ch’üan-Ware), der
vermutlich in der Yüan- oder zu Beginn der Ming-Zeit (1368—1644) entstanden ist.
Ebenfalls aus dem Anfang der Ming-Zeit stammt eine sehr große, dickwandige Vase
in Balusterform aus Porzellan mit einer hellen, wäßrigen, blaugrünen Seladonglasur
und einem eingeschnittenen „Päonienranken-Dekor“.
Die großen Lücken in der bis jetzt bedauerlicherweise noch kleinen Sammlung an
chinesischen Porzellanen mit einem kobaltblauen Unterglasurdekor konnten durch den
Erwerb von zwei großen Schalen aus der Ming-Zeit zum Teil geschlossen werden. Eine
der beiden Schalen, die mit einem „Päonienranken-Dekor“ geschmückt ist, gehört
wahrscheinlich noch dem 15. Jh. an, die zweite etwas kleinere Schale mit einem tief-
blauen Dekor, aus zwei Phönixvögeln zwischen Chrysanthemen bestehend, ist in der
zweiten Hälfte des 16. Jh. entstanden.
Eine dritte Porzellanschale aus dem 17. Jh. mit einer stilisierten Landschaft in
Unterglasurblau im Fond und einem grünen und eisenroten floralen Überglasur-Dekor
gehört zur Gruppe der sog. Swatow-Ware, so nach dem Hauptumschlagplatz Swatow
an der südchinesischen Küste benannt, die überwiegend für den Export in die süd-
asiatischen Länder bestimmt war und gerade für ein Völkerkunde-Museum als Doku-
ment für die gegenseitigen Handels- und Kulturbeziehungen im asiatischen Raum von
größter Wichtigkeit ist. Dieser Keramikgruppe zugehörig ist auch ein Schultertopf
mit Ösenhenkeln aus Porzellan mit einem floralen Unterglasurblau-Dekor aus dem
Ende der Ming-Zeit, der aus den Philippinen kommt und dort jahrhundertelang als
Vorratsgefäß benutzt worden war.
Ein Beispiel für die hochentwickelte Schriftkultur der Chinesen, die auch gegen-
über Zubehör und Details des Schreibtisches eines Literaten höchste Ansprüche stellte,
bildet ein Wassertropfer aus Porzellan, Blanc-de-Chine, mit einer elfenbeinfarbenen
Glasur zum Anreiben der Tusche in Form eines hochgerollten Lotosblattes, auf dessen
Grund ein Frosch und eine Schnecke sitzen, der aus der 2. Hälfte des 18. Jh. stammt.
K.J.B.
26
Das Linden-Museum im Jahre 1975
Südsee-Abteilung
Wie in den letzten Jahren, so war es auch im Berichtsjahr schwierig, die reichen
Sammlungen aus der Südsee durch geeignetes Material zu ergänzen. Immerhin gelang
es, fünf Stücke zu finden, die in unsere Sammlungen passen. Es handelt sich um einen
Abh. 13 Modell eines Bootes: Eckpartie mit auf geschnitzter männlicher Figur. Holz
mit Resten von Rötelung in den ornamentierten Partien, auf genähte Haliotis-Plättchen.
Gesamtlänge 73 cm. Höhe der Figur 13 cm. Maori (Neuseeland). Inv.-Nr. S 40.622.
beschnitzten Knochendolch von den Asmat, ein beschnitztes Schwirrholz aus der
Massim-Area, ein sehr feines Bootsmodell der Maori (Abb. 13), eine gute Keule von den
Salomonen und eine alte, auch figürlich beschnitzte Keule aus Tonga. In allen Fällen
konnten dabei bestehende Sammlungen durch Hereinnahmc guter Einzelstücke ergänzt
werden. F. K.
Amerika-Abteilung
Die Sammlungsobjekte, die im Berichtsjahr für die Amerika-Abteilung erworben
werden konnten, gehören Kulturprovinzen Mittel- und Südamerikas an, doch konnte
auch ein sehr seltenes nordamerikanisches Stück günstig angekauft werden. Bei letz-
terem handelt es sich um einen zwölfreihigen Wampumgürtel aus weißen und lila
Perlen der irokesischen Seneca aus der Zeit um 1630 (Abh. 14). Er diente einst einem
Abb. 14 Teilansicht eines Wampum-Gürtels aus 12 Perlenreihen mit weißen und lila
Perlen (Schneckenschale). 7,5 x 110 cm. Inv.-Nr. M 30.396 L. — Nordöstliches Wald-
land Nordamerikas (Staat New York), Seneca (westlichste Irokesen), um 1630.
Redner als Gedächtnisstütze oder zur Besiegelung eines Vertrages (entweder intertribal
oder mit den Euroamerikanern). Der Erwerb dieses Wampumgürtels trägt dazu bei, daß
das Schwergewicht, das innerhalb der Nordamerika-Sammlungen des Linden-Museums
vornehmlich bei den Prärie- und Plains-Indianern liegt, weiterhin zugunsten der an-
deren Indianerkulturen verlagert wird. Damit ist ein zusätzlicher Schritt auf dem
Wege eines Ausgleichs zwischen den verschiedenartigen Kulturprovinzen Nordame-
rikas getan worden.
Aus dem mexikanischen Bereich konnte neben einem relativ gut erhaltenen Ton-
kopf eine umfangreiche Sammlung westmexikanischer Stein- und Keramikobjekte aus
den Kulturen Michoacän, Colima, Nayarit und Jalisco, insgesamt 62 Stücke, erwor-
ben werden. Es handelt sich hierbei um anthropomorph und zoomorph gestaltete Ton-
figuren, um Schalen mit und ohne Füße in verschiedenartiger Ausformung, um unter-
schiedlich modellierte Vasen sowie um zwei Mahlsteine und eine Steinaxt. Zu dieser
Sammlung gehören außerdem drei Paar Sandalen aus Westmexiko. Mit dem Erwerb
dieses Sammlungskomplexes hat das Linden-Museum seine bereits vorhandene, wenn
auch bisher bescheidene westmexikanische Sammlung weiter ausbauen können.
Die herausragenden Neuerwerbungen aus dem peruanischen Raum sind ein 4 m lan-
ges und 68 cm breites, polychrom bemaltes Totentuch (Ahb. 15) sowie ein Federponcho
(70 X 140 cm) mit verschiedenfarbigen, in das Baumwollgewebe eingeknüpften Fe-
dern. Das gut erhaltene Totentuch stammt von der Südlichen oder Mittleren Küste
der Wari- bzw. Küsten-Tiahuanaco-Kultur aus der Zeit zwischen 800 und 1200 n.Chr.
Solche Totentücher waren in den Indianer-Kulturen Alt-Perus ein weitverbreiteter
und fester Bestandteil des Totenkults. Der Federponcho wurde ebenfalls aus einem
Grab im Gebiet der Südküste Perus, wahrscheinlich des (späten) Nazca-Kulturhori-
zontes (600—800 n. Chr.), erworben. Solche erlesenen Stücke wurden einst eigens für
28
Das Linden-Museum im Jahre 1975
die Reise eines indianischen Herrschers ins Jenseits hergestellt. Mit diesen beiden neuen
Sammlungsgegenständen hat die berühmte Peru-Sammlung des Linden-Museums ge-
wichtigen Zuwachs erhalten. Beide haben einen Platz in der permanenten Peru-Aus-
stellung des Museums gefunden.
~TT — aaTTT”!'” nL. AiV TT —T~—-*— , „j. r ^
jpffmiMiim
D Teil eines Totentuches aus mehrfarbig bemalter Baumwolle. Schußrips mit
Kelim-Technik. Farben: Rot, Braun und Orange in verschiedenen Schattierungen.
68 x 400 cm. Inv.-Nr. M 30.375 L. — Peru, Südliche oder Mittlere Küste der Wari-
(Küsten-Tiahuanaco)Kultur. 800 bis 1200 n. Chr.
Für die Peru-Sammlung konnten weiterhin aus dem nordperuanischen Bereich zwei
Teller und ein Becher (Cajamarca) sowie eine Halskette mit Goldperlen (Chimu), ein
Durchziehschurz und zwei Schals (Chancay), aus der Küsten-Tiahuanaco-Kultur zwei
bemalte Tonbecher und aus der südperuanischen Region ein bemaltes Tongefäß mit
Doppelausguß und Bandbügel (spätes Nazca), drei Puppen sowie ein Stirnband (wahr-
scheinlich Nazca, evtl, auch aus einer der nachfolgenden Südkulturen stammend) und
aus dem südöstlichen Peru bzw. Bolivien ein Steinschälchen sowie ein figürlich (Lama)
modelliertes Tongefäß (Tiahuanaco) erworben werden.
Schon seit längerem ist das Linden-Museum bestrebt, die Sammlungen des andinen
Raums zu komplettieren und zu vergrößern. Beide Ziele konnten im Berichtsjahr
weiter vorangetrieben werden. Der Ergänzung vorhandener Bestände aus dem west-
lichen Südamerika diente der Erwerb zweier argentinischer Tongefäße (Cienega) so-
wie mehrerer Keramiken aus Ekuador: drei Schalen und eine Vase (alle Carchi), zwei
menschliche Figürchcn und ein Köpfchen (Valdivia) und eine Frauenfigur (Bahia de
Caraguez). A. S.-T.
Das Linden-Museum im Jahre 1975
29
Innerhalb der hier vorgestellten Sammlungen stecken eine ganze Reihe von Stiftun-
gen. Wir verdanken sie vor allem folgenden Institutionen, Damen und Herren:
Herrn L. Bretschneider, München
Colonia-Versicherung, Karlsruhe
Herrn Dr. J. Drechsel, Karlsruhe
Herrn Dr. E. Eckert, Sindelfingen
Frau E. Fischer, Stuttgart
Herrn G. Gogel, Malsburg
Herrn L. Heubel, Köln
Herrn P. U. Klemm, Böblingen
Herrn Th. Knorr, Lörrach
Herrn S. Motamed, Frankfurt/M.
Herrn O. Spieth, Klrchheim/T. und Kabul
Herrn X. Wanner, Stuttgart
Ihnen allen darf ich namens des Museums auch an dieser Stelle noch einmal sehr
herzlich danken.
Außer diesen Stiftungen in Form von Sammlungsobjektcn erreichten uns auch im
Berichtsjahr eine Reihe von Spenden, die unseren Dank verdienen. Wir dürfen nennen:
Firma Robert Bosch, Stuttgart Herrn B. F. T. Bayer, Ostfildern
Dr.-Eugen-Ebert-Stiftung, Leinfelden TWS, Stuttgart
Firma Karl Hofmann, Schorndorf
Gleichzeitig und vor allem sei der Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stutt-
gart gedankt, die immer wieder mit eigenen Mitteln eingesprungen ist, wenn das
Museum einen Wunsch nicht realisieren konnte oder weil Etatmittel nicht herangezo-
gen werden konnten.
Im internen Bereich konnten die laufenden Arbeiten überall weitergeführt werden.
Durch die vielfältigen und teilweise sehr zeitraubenden Aufgaben des Museums war
der kleine Personalkörper auch in diesem Jahr fortdauernd mehr als beschäftigt.
Zahlreiche Restaurierungen, neue Fotos, neue Vitrinen und andere Ausstellungshilfs-
mittel verraten die Arbeit der hier Tätigen ebenso wie umfangreiche Korrespondenz
und viele große Manuskripte die des Sekretariats. Die im Sommer angelaufenen Um-
bauarbeiten im Dachstock haben nicht nur die Herren des Staatlichen Hochbauamts I,
sondern auch unseren Hausmeister sehr beschäftigt. Ein in diesem Jahr möglich ge-
wordener kräftiger Ausbau der Bibliothek ist von der halbtags angestellten Biblio-
thekarin nur schwer zu bewältigen. So ist es mir ein Anliegen, auch allen Mitarbei-
tern im technischen und administrativen Stab für ihre emsige und umsichtige Mit-
arbeit den Dank des Museums auszusprechen.
Die Veränderungen im Personalkörper waren im Berichtsjahr gering und zudem
erfreulich. Herr Dr. Seltmann, der bereits im Vorjahr bei der Bearbeitung des Süd-
asien-Materials mitgeholfen hatte, konnte wenigstens einige Zeit weiter bei uns tätig
sein. Seine Bearbeitung unserer Schattenspiel-Sammlungen und vieler Neuzugänge der
Südasien-Abteilung sind dem Museum sehr zugute gekommen. Wir danken ihm dafür
und auch, daß er uns in Zukunft mit Rat und Tat zur Seite stehen wird. Frau A. See-
both-Stratz, die als Textilrestauratorin im Werkvertrag bereits 1974 bei uns be-
schäftigt war, konnte gegen Ende des Berichtsjahrs fest übernommen werden, so daß
ein alter Wunsch in Erfüllung ging.
Im Frühjahr war ich auf Einladung der UNESCO als Mitglied eines Masterplan-
Teams fünf Wochen in Nepal. Das Team sollte für die Erhaltung von Kulturgut im
Tal von Kathmandu einen Plan entwickeln. Dabei fiel mir die Aufgabe zu, Pläne für
30
Das Linden-Muscum im Jahre 1975
eine Reorganisation der Museen zu erarbeiten und auch dafür, Vorschläge für die
Sicherung und Betreuung von beweglichem Kunstgut und für die Erhaltung und Pflege
des Brauchtums zu machen. Dieser Plan ist der erste umfassende Masterplan zu die-
sem Thema, und wir hoffen sehr, daß unsere Vorschläge und Empfehlungen bei der
Erhaltung wenigstens des Wichtigsten in diesem kulturell so überreichen Gebiet helfen
können.
Herr Dr. H.-J. Koloss war bereits im Frühjahr für einige Wochen in Kamerun.
Mit einem Stipendium der DFG ist er dann im November in dasselbe Gebiet ausge-
reist, wo er bis Mai bleiben soll. Sein zentrales Anliegen ist es, im Rahmen einer
Untersuchung über die Kunst und ihre Einbettung in Kult und Gesellschaft möglichst
viele Daten zu sammeln, auch über unser eigenes Sammlungsmaterial aus seinem Ar-
beitsgebiet.
Im letzten Jahresbericht war abschließend die Rede von Überlegungen zum Umbau
und zur räumlichen Umorganisation des Museums. Diese Verhandlungen wurden mit
dem Staatlichen Hochbauamt I weitergeführt und kamen zu einem gewissen Abschluß.
Wenn leider auch nicht angenommen werden kann, daß in den nächsten Jahren Mittel
für diesen Umbau zur Verfügung stehen werden, so wollen wir doch die Verhand-
lungen mit dem Hochbauamt weiterführen mit dem Ziel, in der Stunde X ein fertiges,
von beiden Seiten gutgeheißenes Konzept vorlegen zu können. Es soll das ganze Mu-
seumsgebäude umfassen, und wir hoffen, daß uns wenigstens zu Ende der 70er Jahre
tatsächlich auch der ganze Bau wieder zur Verfügung stehen wird — eine Erwartung,
die unsere Bestände erfordern und die nun, mehr als 30 Jahre nach dem Ende des
Krieges, gewiß nicht unbillig ist. Friedrich Kussmaul
Magdalene von Dewall
Grab und Totenbrauch in China
Vorbemerkung
Der folgende Beitrag ist hervorgegangen aus einem Vortrag zum gleichen Thema
im Februar 1975 im Rahmen eines Kolloquiums über „Grab und Grabmal“ am Kunst-
historischen Institut der Universität Heidelberg. Die Initiative dazu war von Pro-
fessor E. W. Palm ausgegangen mit dem Grundgedanken, über einen möglichst weit
gespannten Bereich sehr verschiedener Kulturprägungen hinweg die Vorgänge, die
geschichtlich oder ideologisch zur Monumentalisierung von Grabstätten führten, in
ihren Verlaufsformen und Erscheinungsmerkmalen zu charakterisieren und vergleich-
bare Vorstellungsgrößen für die Interpretation zu formulieren.
Das Material zu einer Dokumentation für den chinesischen (nicht-buddhistischen)
Bereich ließ sich seither beträchtlich erweitern. Dies zwang andererseits zu einer Kon-
zentration, und zwar auf die dem gemeinsamen Bemühen zentralen Themen. Geblieben
ist dabei vom ursprünglichen Anlaß, einem Kreis von Gesprächspartnern aus den Nach-
bardisziplinen der Kunstgeschichte, Archäologie, Orientalistik, Vorgeschichte und Eth-
nologie einschlägige Materialien aus dem chinesischen Kulturraum zugänglich zu
machen und Gesichtspunkte zu deren Ordnung und Deutung zu entwickeln, die Aus-
richtung auf einen nicht primär sinologisch versierten Leserkreis.
Für den Anstoß zu diesem Versuch und die Ermutigung, ihn auch gegen Widerstände
durchzusetzen, gebührt darum in erster Linie den am Kolloquium Beteiligten Dank,
und nicht weniger für die vielerlei indirekten Beiträge und Anregungen, die aus der
ständig weitergeführten Diskussion in die hier ausgeführten Überlegungen eingegangen
sind, ohne daß in ihren Ergebnissen der jeweilige persönliche Anteil kenntlich gemacht
werden könnte.
1. Einleitung:
Die Diesseitigkeit der chinesischen Lehenseinstellung
Das Phänomen des Grabmals als eines sichtbar bleibenden Zeichens persönlicher Exi-
stenz über den Tod des Individuums hinaus gibt für China Problemstellungen auf,
die sich in einer Anzahl von Widersprüchen zu verwickeln drohen. Sie liegen in den
vorherrschenden, und auch gerechtfertigten Vorstellungen begründet, die das Bild von
chinesischer Geistigkeit und von der chinesischen Gesellschaft in unseren Köpfen kenn-
zeichnen. In ihm bestimmen außerhalb des buddhistischen Vorstellungskreises eine
Lebenseinstellung und solche Charakterzüge den Ton, die mit Lebensfreude und Dies-
32
Magdalene von Dewall
Seitsbejahung, mit Gesellungstrieb und ausgeprägtem Zusammengehörigkeitsgefühl, mit
Pragmatismus und mit Skeptizismus in spirituellen Dingen Umrissen werden können.
Chinesische Lebensideale, auf kurze Wunschformeln gebracht, kreisen um Begriffe
wie: langes, erfülltes Leben (shou); Segen, Reichtum, Wohlstand (fü); zahlreiche Nach-
kommenschaft (tzu szu), also Inhalte, die im völligen Gegensatz stehen zu den mensch-
lich-natürlichen Erscheinungen um Sterben und Tod, die Vereinzelung, Vereinsamung,
Alter und Leiden, Todesfurcht ausklammern, ja sie geradezu negieren. Jenseitsvorstel-
lungen und Heilserwartungen auf ein zukünftiges besseres Dasein werden so wenig
spekulativ genährt, daß Unterweits- oder Paradiesesvorstellungen allenfalls spontan mit
bestimmten Denkströmungen oder mit Glaubenshaltungen wie dem Buddhismus popu-
lär werden. Sie sind aber kaum zu einer übergreifenden Systembildung gelangt, jeden-
falls keiner solchen, von der hier unmittelbar als geistiger Voraussetzung für die Inter-
pretation des zum Grabmal baulich gestalteten Begräbnisplatzes auszugehen wäre.
Das Ausklammern des Todesphänomens nicht nur in der Lebenseinstellung des ein-
fachen Mannes, sondern auch in der spekulativen philosophischen Systembildung muß
um so mehr überraschen, als das klassische China sich im Abendland ja im besonderen
durch seine außerordentlich strikt reglementierten öffentlichen und gesellschaftlichen
Lebensformen einen Namen gemacht hat. Die Vorschriften von li, der Sitte, für alle
Bereiche des täglichen Lebens und auf allen Stufen zwischenmenschlicher Beziehungen
können ein so einschneidendes soziales Ereignis wie den Tod, das Ausscheiden des
Familiengliedes aus dem Gemeinschaftsverband — und der Staat war ja Immer nur
eine Fortsetzung der patriarchalisch-hieratischen Familienordnung auf höherer Stu-
fe —, nicht außer acht gelassen haben.
Der grundlegenden Arbeit von de Groot (1892—1910) verdanken wir eine umfas-
sende Darstellung des Trauerzeremoniells und aller mit dem Tod zusammenhängenden
Riten nach dem konfuzianischen Sittenkodex, deren Unterlagen er aus eigenen Beobach-
tungen und der literarischen Überlieferung zusammentrug. Auch auf Grabbauten, im be-
sonderen die Mausoleen der Kaiserfamilien, geht er dabei mit ausführlichen Beschrei-
bungen ein. Ihm folgten mit systematischeren Zusammenstellungen dynastischer Grab-
anlagen, teilweise ohne Kenntnis von bzw. ohne Bezugnahme aufeinander die Arbei-
ten von Combaz (1906), Fonssagrives (1907), Bouillard (1920, 1931) und Ede
(1930).
Daß sich bei einem historisch noch weiter gespannten Blick, der auch archäologische
Funddaten umfaßt, der faktische Denkmälerbestand dennoch nicht als Ausfluß eines
einheitlichen Systems präsentiert, gegliedert nach Rangstufen oder allenfalls gewandelt
durch chronologisch differenzierende Ausgestaltung, gehört zu den Paradoxa der
chinesischen Szene. Die Frage nach einer Umsetzung konfuzianischer Staats- und
Familienmoral in das Grabritual ist damit, daß es nicht umfassend und systematisch
aus dem Standes- und Schicklichkeitsbewußtsein der literati, der gebildeten Führungs-
schicht, abgeleitet werden kann, freilich noch keineswegs ad acta gelegt. Das Minimum
an Emotionalität, das die konfuzianische Ethik in den mitmenschlichen Bindungen
öffentlich billigt und das verhindert, daß bei der pragmatischen Lebenshaltung der
Chinesen die Grablegung zu einer rein hygienisch funktionalen Handlung werden
Grab und Totenbrauch in China
33
könnte, konzentriert sich auf die Tugend der Kindesliebe oder Kindesehrfurcht, hsiao,
die respektvoll-liebevolle Zuwendung zwischen Kindern und Eltern.
Wenn aber auch die Forderungen nach einer „geziemenden“ Grablegung für die
nächsten Angehörigen und der Vorgefundene Tatbestand nach verschiedenen Richtungen
weit auseinanderklaifen, so gehören doch andererseits die Entrüstung über „ungebühr-
liche“ Bestattungsweisen und ihre Ablehnung, also etwa die der „barbarischen“ Stam-
mesnachbarn im Südosten oder die buddhistische Leichenverbrennung, zum stereotyp
gewordenen Instrumentarium, mit dem immer wieder selbstbewußt die zivilisatorische
Überlegenheit chinesischer Lebensart proklamiert wird. Hier spiegelt sich dann doch,
im Konsensus über das Ungehörige, weil Fremde, mindestens indirekt das Anerkennt-
nis eines gemeinsamen und eigenständigen Grabbrauchs, auch wenn, im Rahmen des
Statthaften, in der Praxis Modifikationen zugestanden werden.
Sinn und Eigenart dieses spezifisch chinesischen Grabbrauchs in seiner Auswirkung
auf die Grabbauten und deren Monumentalität ließen sich auf verschiedenerlei Weisen
ergründen. Jeder Versuch, der sich trotz der vielen Möglichkeiten auf bestimmte Ge-
sichtspunkte allein zurückzieht, muß gegen den etwaigen Vorwurf willkürlicher Be-
schränkung von Material und Blickrichtung die Berechtigung des gewählten Stand-
punktes überzeugend vertreten können.
Mit der Betonung auf dem Grab als Raumform und als Ausdruck einer bestimm-
ten Welthaltung, an die die Frage nach seiner Bedeutung als Denkmal oder als etwa-
iger Schauplatz gemeinschaftsbezogener Handlungen anknüpft, wird hier aus dem
Gesamtkomplex des Grabbaus in China ein Themenkreis wieder aufgegriffen, zu
dessen Erschließung bereits Ernst Boerschmann (1910, 1925, 1926) mit seinen Studien
zur chinesischen Architektur den Zugang eröffnet hat. Daß gemeinsam mit dem
Sakralbau der Tempel und dem Profanbau der Wohnhäuser auch die Gräber als
Bauform sich gewissen Grundauffassungen chinesischer Raumgestaltung einordnen
lassen, hatte er schon gesehen. Dabei bezog er anonyme Feldgräber ebenso in seine
Beobachtungen ein wie die weiträumigen Grabanlagen für die Träger kaiserlicher
Würde. Zwar sind die von ihm angeregten Beobachtungen einer umweltbezogenen
baukünstlerischen Raumordnung übernommen und weitergeführt worden (v. Erdberg
1964; D. Frey 1949); ihre Anwendbarkeit auf die Anlage von Grabstätten wurde
jedoch weder neu geprüft noch weiterentwickelt, vielmehr scheinen die Ansätze dazu
in Vergessenheit geraten.
Die Ausweitung dieser von Boerschmann eingeleiteten phänotypisch vorgehenden
Betrachtungsweise auf die Funddaten aus der Archäologie verspricht darum weiter-
führende kulturgeschichtliche Aufschlüsse, zumal wenn als dritte, wesentliche Kompo-
nente das mit dem chinesischen Familienkult verbundene Totenbrauchtum hmzuge-
zogen werden kann.
Auf die Fundmaterlalien aus frühchinesischen Grabbauten, und zwar oberirdische
wie zunehmend auch unterirdische, wurde die Fachwelt parallel zu Boerschmanns
Studien zunächst durch Einzelberichte (Volpert 1908, Torrance 1910, Läufer 1911
u. a.) aufmerksam und vor allem durch die Ergebnisse der archäologischen Feldaufnah-
men französischer Wissenschaftler (Chavannes 1909, 1913; Lartigue, Segalen, de
Voisins (1914/15/16). Erst verspätet folgte dem 1923/24 vorgelegten Tafelband der
3
34
Magdalene von Dewall
letztgenannten der schon 1920/21 redigierte Textband mit einem klar durchdachten
Ansatz zur Systematisierung der Funddaten über Grabbauten (Lartigue 1935), also
unabhängig vom Versuch O. Fischers (1931), die großenteils auf Grabfunden fußende
Malerei der Han-Zeit in ihren sowohl bau- wie geistesgeschichtlichen Zusammenhang
zu stellen. In die gleiche Zeit fiel die vergleichende Untersuchung zur Grabarchitektur
der Han-zeitlichen Anlagen in Lo-lang (Korea) durch H. Spiegel (1933). Durch die
seither weiter intensivierten archäologischen Ausgrabungen ist der Denkmälerbe-
stand zu einer schon fast nicht mehr überschaubaren Menge angewachsen. Der
Großteil der Funde stammt ohnehin aus Gräbern, und vieles davon ist inzwischen
auch außerhalb Chinas bekannt geworden; aber es fehlt an systematischen Arbei-
ten, die neue Ansätze zu ihrer Sichtung und Deutung bieten. Bisher haben vor
allem das reiche Inventar der Gräber und ihre bildkünstlerische Ausgestaltung oder
einzelne Bauformen das Interesse auf sich gezogen, doch ihre primär soziale Funktion
als Begräbnisstätten wurde darüber gröblich vernachlässigt. Davon mußte auch ein
tiefer eindringendes Verständnis traditioneller chinesischer Verhaltensweisen im Zu-
sammenspiel von Individuum und Gemeinschaft, wie sie sich gerade im Beobachtungs-
feld von Totenkult und Grabsitte inhaltlich anfüllen und beziehungsreich auf die
Vergangenheit projizieren ließen, nachteilig betroffen werden.
Die Antwort auf die Frage, ob die Handlungen zugunsten des Toten, die am Grab
und im Ahnentempel vorgenommen werden, und die ihnen zugrundeliegende Ein-
stellung auf die Deutung spezifischer Bauelemente im Grabbau übertragbar sind, hat
über die sozialgeschichtliche Bedeutung hinaus auch eine mittelbare methodologische.
Es muß sich auf der Basis dieser Fragestellung nämlich auch prüfen lassen, inwieweit
die Zuweisung bestimmter Grabformen und Bestattungssitten an eng definierte Trä-
gergruppen, die als ethnische oder kulturelle Einheiten aufgefaßt werden, berechtigt
und im einzelnen Fall zulässig ist oder wo, auch im vorgeschichtlichen Bereich, in dem
man keine sonstigen geistesgeschichtlichen Informationsquellen heranziehen kann,
weitergefaßte Gemeinsamkeiten sich, weltanschaulichen Haltungen vergleichbar, in
bestimmten Prinzipien von Grabbau und Bestattungsweise niederschlagen.
Der Anlaß, sich erneut der Frage der Gräber in China als Träger einer wohl einma-
ligen Bautradition zuzuwenden, ist daher ein mehrfacher. Zu einem Zeitpunkt, da in
China selbst die Bewältigung drängender Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben dazu
zwingt, mit den bisher unverletzlichen Prinzipien des traditionellen Familienzusam-
menhalts zu brechen, schrumpft die über Jahrtausende gepflogene Bestattungssitte, die
der Familie die Aufwendung erheblicher wirtschaftlicher Mittel als Ausdruck einer
verehrungsvollen Kindesliebe für die verstorbenen Angehörigen oder auch nur unter
dem Druck des Prestigezuwachses für die Familie abverlangte, auf bloßes Zweck-
handeln. War früher, wenn immer es die Mittel der Familie erlaubten, ein Stück Land
der Nutzung entzogen und als Grabstätte mit Tumulus, Grabtafel und Opfergaben-
tisch soweit möglich mit einer Einfriedung und Anpflanzung versehen worden (Ahh. 1
Grab eines Beamten, im Flachland; Ahh. 2 Familiengrab in Hanglage), so standen
diesen doch ungezählte Fälle mittelloser Familien gegenüber, die für ihre Toten nur
ein Minimum an Zuwendung erübrigen konnten, eine formlose Erdanhäufung über den
Gebeinen oder dem Sarg (Torrance 1910, 61; O. Fischer 1939, 416; Wells Williams
Grab und Totenbrauch in China
35
1966, 247). Zeugnis dieser Bestattungsweise sind die mit Hügeln übersäten Grabfelder
in den bevölkerungsreichen Zentren (z. B. bei Lanchow, Castell 1938, Luftbild S. 99,
vgl. a. Filchner 1925, 126). Andererseits nahmen sich Wohltätigkeitseinrichtungen
der Bestattung Verstorbener ohne Familienanhang auf Friedhöfen mit einheitlichen
Abb. 1 Grab eines höch-
sten Unterrichtsbeamten
in der Provinzverwaltung
und seiner Frau, im Flach-
land bei T’ai-an (Shan-
tung) aus: Boerschmann
1925 11, 251).
Abb. 2 Familiengrab des
16. ]h. in Hanglage, in
Südchina (nach: deGroot
111, 1897, pi. XXV11).
Reihengräbern an (de Groot III 1897, pl. LII; Forke 1898, 3). Jede andere Form
wie etwa die Einäscherung galt als anstößig. Heute ist unter dem Druck von Fortschritt
und Aufklärung der Widerstand gebrochen, und die Form der Totenbestattung wird
auf ein Erdhäufchen über einer Urne reduziert (Abb. 3), mit dessen Anonymität alle
Ansprüche auf Prestige und Monumentalität aufgehoben sind. Die Reklamation wert-
vollen Ackerlandes für den Gebrauch der Lebenden statt den der Toten muß gerade
für die weniger begüterten Familien immer wieder in ein Dilemma zwischen den
rituellen Pflichten gegenüber den Verstorbenen und der Unterhaltsverpfhchtung für
die Nachkommen und damit zugleich der Selbsterhaltung geführt haben. Trotz der
36
Magdalene von Dewall
allgemeinen Scheu, fremde Gräber zu stören (die auch die archäologische Untersuchung
von Gräbern lange Zeit behinderte), war es ein Gebot der Vernunft, daß bei jedem
Dynastiewechsel (mit Ausnahme des letzten, 1644, durch die Mandschu-Herrscher) alle
einfachen Gräber eingeebnet wurden (Torrance 1910, 59). Daher muß es nicht ver-
Abb. 3 Niedrige Erdhü-
gel über Körper- oder
Aschenbeisetzungen in ei-
nem neuzeitlichen Gräber-
feld (aus: Kiesling 1957,
Abb. 124).
Abb. 4 Gräberhügel mit
chinesischen Familien-
grabstätten unterschiedli-
cher Größe, Bauart und
Ausstattung, teils erst im
Bau, bei Medan (Suma-
tra). Foto: Dr. G. Ger-
ster, Zumikon/Zürich.
wundern, daß im zentralen China so wenige oberirdische Spuren von Grabbauten, die
älter sind als die Ming-Dynastie, erhalten blieben. Günstiger mag von jeher die
Situation in den erst später erschlossenen und nicht unter gleich starkem Bevölkerungs-
druck stehenden Kolonisationsgebieten des Südwestens und Südostens gewesen sein.
Grab und Totenbrauch in China
37
In den südlichen Küstenprovinzen hat einmal der unterschiedliche Landschafts-
charakter die Anlage der Gräber in einer relativ engen Nachbarschaft mit den An-
siedlungen begünstigt und zugleich einen besonderen Bautypus, die in den Hügelhang
eingebettete hufeisen- oder omegaförmige Grabstätte, entstehen lassen. Er ist kenn-
zeichnend für das Chinesentum im Bereich des südchinesischen Meeres geworden. In
den Randgebieten der chinesischen Kulturausstrahlung, auf Taiwan und unter den
Überseechinesen Südostasiens, setzt sich noch heute eine Kulturtradition fort, die in
ihren Zentren, von einer radikalen geistigen Umwandlung erfaßt, auch in ihren sicht-
baren Merkmalen, ihren Bauformen, durch andere gesellschaftliche Symptome ab-
gelöst wird.
Die Ausgestaltung der Grabformen in diesem „Sekundärbereich“ der chinesischen
Kultur auf ihre sozialen Bedingungen hin zu untersuchen (Abb. 4), wäre eine weitere
lohnende Aufgabe. Hier geht es aber um die Frage einer möglichen Verknüpfung jener
„südchinesischen“ Grabbauweise einerseits mit der gemein-chinesischen Bautradition
von Grabanlagen, deren Bauauffassung sich um einige in Abwandlungen immer wie-
derkehrende Kardinalpunkte kristallisiert, und andererseits mit der traditionellen
Praxis des Totenbrauchs, wie sie z. B. in Taiwan noch heute zu beobachten ist.
Aus der skizzierten Fragestellung ergibt sich zwingend eine für ihre Beantwortung
sinnvolle Abstufung der mit dem Grabbau zusammenhängenden Einzelprobleme. Die
Herausarbeitung eines repräsentativen Phänotyps, der sich aus den charakteristischen
Grundelementen als Spiegelung eines oder einer Reihe von maßgeblichen Bauprinzi-
pien konstituiert, muß den Vorrang haben vor Rücksichten auf die Tendenzen der
gestalterischen Entwicklung. Die Art oder den Grad der historisch oder regional be-
dingten Abweichung vom Grundtypus festzustellen, könnte sich als Folgeuntersuchung
an den vorliegenden Versuch anschließen, in dem zunächst die Gemeinsamkeiten ge-
funden werden sollen.
In der sozialgeschichtlich argumentierenden Archäologie ist die Auffassung so
gängig, eine Staffelung von Gräbern nach aufwendig und armselig ausgestatteten sei
als Reflex eines nach wirtschaftlichem Vermögen geschichteten Gesellschaftssegments
mit wohlhabenden und unbemittelten Familien zu werten, daß sie hier nicht eigens zu
begründen ist. Gerade die Frage nach der Überlebenskraft von Vorstellungen im Be-
reich des Totenkults über lange Zeiträume und über Kulturverlagerungen hinweg
rückt aber den Nachweis der außerordentlichen sozialen Reichweite derartiger Ideen
und Traditionen in den Vordergrund. Daß prätentiöse Gräber mit hohem gestalte-
rischem Aufwand die zugrundeliegende Baugesinnung in einer reicher ausgeprägten
Form zum Ausdruck bringen, ist natürlich zu erwarten. Die unabdingbaren geistigen
Elemente in der baulichen Konzeption, auf die — über das rein Zweckmäßige hinaus,
einen Platz zur Aufnahme des Toten zu schaffen — keinesfalls, oder eben doch nur
punktuell unter dem Druck wirtschaftlichen Unvermögens verzichtet wird, werden
dagegen erst in der Breite der sozialen Streuung sichtbar, gerade dann, wenn gewisse
baukünstlerische Ausdrucksformen sich als Abspiegelung aus dem Gedankengut und
dem Ausführungsrepertoire einer Spitzengruppe darbieten.
Folgerichtig wird eine Sichtung des Denkmälerbestandes zunächst die Ausführung
der unterirdischen, nach außen in ihren Wesenszügen unkenntlichen, Grabbauten ab-
38
Magdalene von Dewall
sondern müssen von den oberirdischen und stets sichtbaren Bauformen, deren monu-
mentalisierende oder doch repräsentative Wirkung in Bauplan und Ausführung betont
zur Geltung gebracht werden konnten. Als Bauwerke wirkten sie aus sich selbst tradi-
tionsbildend und reizten zum Nacheifern; dennoch wird man davon ausgehen können,
daß unter den vorgegebenen Vorbildern des Grabbaus nur solche Bauelemente weiter
tradiert werden oder von einem ursprünglich begrenzten sozialen Anwendungsbereich
auf breitere Schichten übergehen, für die ein Gebrauchszweck oder eine direkte Sinn-
gebung ohnehin besteht oder mit übernommen, gegebenenfalls auch neu gefunden
wird. Überspitzt formuliert hieße das, daß es zusammenhanglose Erscheinungen oder
zufällige „Launen“ des Bauherrn im Grabbau nicht gibt. Vielmehr liegt ihm in der
Skala zwischen der praktischen Aufgabe der Beseitigung und der ideellen einer „wür-
digen“ Grabstätte des Toten jeweils ein fest umrissenes Bauprogramm zugrunde, auch
da wo seine Ausführung stärker von Prestigestreben als von bestimmten religiös-
ethischen Vorstellungen motiviert ist. Das Traditionsbewußtsein, das bei der Menge
einfacherer Gräber nicht allein aus der Verkürzung aufwendiger Grabbauten erklärt
werden kann, erweist sich im chinesischen Grabbau als eine Triebkraft von eindrucks-
voller Stärke gerade deshalb, weil keine beherrschende religiös fundierte Ideologie
dahintersteht, die die Formulierung seiner Bauprinzipien entscheidend geprägt hätte,
und weil es sich in den unzugänglichen und unsichtbaren Baueinheiten unter der Erde
ebenso durchsetzt wie in den sichtbaren und begehbaren.
2. Die oberirdische Grabanlage als Raumform
Das absolut beherrschende Bauprinzip in allen chinesischen Grabanlagen ist ihre
räumliche Verwirklichung in der Horizontalen. Die Dimensionen von Länge und
Breite und Raumtiefe bestimmen das Verhältnis der Raumeinheiten zueinander; mit
der einzigen Ausnahme des Tumulus-Vorbaus (chin. ming-lou) an den kaiserlichen
Tempel dach und aufsteigend zum Tumul us-Vor bau (aus:
Abb. 5 Gesamtansicht
des T’ai-ling Komplexes
für Kaiser Shih Tsung
(gest. 1735) im Hsi-ling
Gräberarcal südwestlich
von Peking; mit Blick,
der Tiefenachse folgend,
über eine Grabenmauer
vom Stelen-Pavillon im
Vordergrund zur Torhal-
le des Tempelhofs, zum
BoERSCHMANN 1926, 31).
Mausoleen, der zwei räumliche Funktionsebenen übereinander enthält, gibt es keine
vertikal geschichtete Raumanordnung, und zwar gilt dies auch für die Einbauten im
Grab. Auch da wo Anhebungen des Bodenniveaus und die Höhenmaße einzelner Bau-
teile eine auf die Gesamtwirkung berechnete Bedeutung haben, zielt diese Wirkung in
die Raumtiefe, nicht in die Höhe (Abb. 5). Selbst der Tumulus, ein aus Lehm-, Stein-
Grab und Totenbrauch in China
39
und Kalkschichten künstlich errichtetes und mit einem Mauergürtel ummanteltes
Gebilde von regelmäßigem geometrischen Grundriß, ist nur Schale des darunterliegen-
den Grabgewölbes, zwar dessen sichtbares Äquivalent nach außen, aber keine selb-
ständige Bauform, die eigene zusätzliche Gebrauchs- oder Sinnfunktionen übernommen
hätte wie etwa der christliche Chorraum über einer Krypta oder der Gebetsraum über
der Grabstätte in einem islamischen Grabturm u. ä.
Sind Flächenausdehnung und Tiefenerstreckung die Dominanten der Raumgestal-
tung, so gewinnen die im Grundriß gebildeten Schwerpunkte durch die Größenabmes-
sungen und Proportionen der Räume, ihre Abfolge, ihre Orientierung zueinander und
ihre gegenseitige Verbindung und Erschließung entscheidendes Gewicht. Handlungs-
abläufe im Raum, vor allem wenn ihnen regelmäßige Fortbewegungen von Personen
und Personengruppen zugrundeliegen wie bei Prozessionen oder rituellen Begehungen,
aber auch Versammlungen usw. müssen zwangsläufig im Grundriß eines nur horizon-
tal angelegten Baukomplexes demonstrativ zur Darstellung kommen. Ohne die zere-
moniellen Vorgänge und ihre Begleitumstände etwa am Kaisergrab (das Aufgebot an
Gefolge, die Zubringerleistungen für das Herrichten der Opfergaben in Nebenge-
bäuden) hier im einzelnen zu erörtern, zeichnet sich in der Gliederung eines so flächig
angelegten Raumkomplexes in sehr viel unmittelbarerer Weise, weil nur auf eine Ebene
projiziert, eine Gewichtung von Raumeinheiten innerhalb des ganzen Gefüges ab, die
den durchsichtig gemachten Geschehensabläufen und Funktionszusammenhängen sinn-
voll Rechnung trägt. Der Eindruck von Machtanspruch und Monumentalität nach
dem Verständnis des Abendländers, wie er von Bauwerken mit massiven Baukörpern,
aufragenden Höhenlinien und kompakten Frontalansichten usw. ausgeht, kann sich
viel weniger leicht mit der flächig additiven chinesischen Bauweise verbinden.
Als weiteres Kennzeichen der flächig geordneten äußeren Grabanlage ist, in enger
Anlehnung an die chinesische Bauauffassung allgemein (Boerschmann 1925, v. Erd-
berg 1964), ihre besondere Verbindung von Baukörper und Freiraum hervorzuheben.
Dieser Eigenart wird eine vom Außenraum auf den inneren Kern fortgeführte analy-
tische Beschreibung am besten gerecht, nach der darum hier vorgegangen wird. Als
erstes galt es, das zum Bau gehörige Gelände zu definieren und durch eine Einhegung
abzusondern. Diese äußerste Umfassung der ausgedehnten Flächen z. B. für die kaiser-
lichen Gräber in der weiteren Umgebung Pekings besteht nicht einfach aus mit dem
Lineal gezogenen Mauerringen, sondern sie zieht sich weitläufig hin, eng dem Gelände
angepaßt, mit Vorliebe im Norden gegen hohe Bergzüge gelehnt, die dann die Ab-
schließung wahrnehmen; und in diesem nach außen abgeschirmten, dicht bewaldeten
Areal liegen verstreut oder in Gruppen zusammengefaßt jeweils mehrere Grabanlagen
einer Dynastie.
In der Unzugänglichkeit des Areals von Norden her und in seiner Aufschließung
über den offiziellen Zugang durch das Eingangstor im Süden in den Ritualbereich
selbst (vor dem Besucher durch Tafelaufschriftcn zum Absteigen vom Pferd aufgefor-
dert wurden), ist schon durch die äußerste Umfassung das generell befolgte Prinzip
für die Eängserschließung jedes einzelnen Grabkomplexes vorgezeichnet. Allerdings
war die Nord-Süd-Orientierung, mit dem Tumulus am nördlichen Ende, nur der Idee
40
Magdalene von Dewall
nach, nicht in jedem einzelnen konkreten Fall bestimmend. Daß kosmologische Über-
legungen, nämlich den bösen Einflüssen aus der nördlichen Himmelsrichtung zu weh-
ren und die günstigen aus der südlichen anzuziehen, und dementsprechende geomanti-
sche Praktiken (chin. feng-shui) dabei den Ausschlag gaben, steht außer Zweifel
(Feuchtwang 1974). Eine sinnfällige und realistische Erklärung für die Praxis der
Graborientierug und damit auch für die Abweichungen von der Nord-Süd-Linie bietet
die Beobachtung (Lartigue 1935, 184), daß bei der Anlage einer Grabstätte die
Achse dem stärksten Geländegefälle folgt und die Höhenlinien möglichst rechtwinklig
schneidet; auch die Vorstellungen von der Symmetrie der umgebenden Landschaft
waren dabei mitbeteiligt.
Als geschlossene bauliche Einheit, von der hier auszugehen ist, zählt aber doch erst
die für einen Toten (gegebenenfalls gemeinsam mit seiner Gattin oder auch seinen
Nebenfrauen) angelegte individuelle Grabstätte. Sie läßt sich generell räumlich auf-
teilen in einen mehr oder weniger betonten Ehrenhof oder Vorhof, den Haupt- oder
Tempelhof und den eigentlichen Grabhof, die jeweils durch bestimmte Gestaltungs-
elemente unterschiedlich gekennzeichnet, aber in übereinstimmender Weise miteinander
verbunden sind.
Abb. 6 Abh. 7
Ahb. 6 Grabkomplex A. Anlage mit Ehrenhof, Tempelhof und Grabhof, nach dem
Vorbild kaiserlicher Mausoleen; anonym. Auf genommen bei Chang-te-fu (heute Kreis
Anyang, Honan) (aus: Castell 1938, S. 77).
Abb. 7 Grabkomplex B. Anlage mit Vorhof und ummauertem Tempel- und Grabbe-
zirk; anonym. Aufgenommen südwestlich von Peking (aus: Castell 1938, S. 74).
Grab und Totenhrauch in China
41
Die Aufgabe, die prägenden Elemente der Grabanlagen in ihrem äußeren Teil zu
bestimmen, läßt sich am zweckmäßigsten angehen durch die Gegenüberstellung von
Luftaufnahmen zweier Gräber verwandten Typs und die Zuhilfenahme von Lage-
plänen zu zwei der bestdokumentierten Kaisergräber; zur Illustration einzelner Ge-
sichtspunkte dienen auch Aufnahmen aus anderen Mausoleen. Die Identität der Be-
statteten in den beiden weiträumigen Anlagen ist unbekannt; diese müssen darum für
unseren Vergleich mit A (Ahh. 6) und B (Ahh. 7) unterschieden werden. Dem Bild-
autor Graf Castell zufolge handelt es sich einmal (A) um ein Grab aus dem Umkreis
der kaiserlichen Familie bei Chang-te-fu (Honan), bei dem einfacheren (B) um ein
Grab in der Nähe von Peking. In dieser Aufnahme fehlt der dem mittleren, d. h. dem
Tempelhof vorgelagerte Ehrenhof.
Dieser Ehrenhof ist bei A gekennzeichnet durch die Abschließung an den Längs-
seiten und an der vorderen Schmalseite mit einer von Zypressen bestandenen Umwal-
lung, die auch noch die Flanke des Tempelhofs umgreift. Eine ausgedehnte Baum-
bepflanzung umgibt außerdem den ganzen Komplex in der Breite und Tiefe; dagegen
reichen bei B die bebauten Felder bis unmittelbar unter die gemeinsame Umfassungs-
mauer von Tempel- und Grabbezirk heran. Die dem Grabbezirk abgewandte Schmal-
seite von A gibt einen allee-ähnlichen Zugang frei, der sich nach innen als Mittelweg
fortsetzt, zunächst durch ein fünfjochiges offenes Ehrentor aus Stein (p’ai-lou) geführt
und in größerem Abstand zu beiden Seiten von Steinfiguren flankiert wird, die ein-
ander paarweise gegenüber aufgestellt den viel beschriebenen „Geisterweg“ (shen-lu)
bilden (Ahh. 8).
Auf die Aufstellung einer jeweils individuellen Statuenallee Ist bei den einzelnen
Mausoleen im Areal der Ming-Gräber verzichtet worden; ähnlich verfuhr man bei
Ahh. 8 Blick über das
Eingangsgelände zum
Hsi-ling Gräherareal der
Ch'ing-Dynastie, von ei-
nem Brückenbogen über
die Statuenallee zum
„Drachen- und Phönix-
Tor“ des Eingangs zum
T’ai-ling Komplex (aus:
Boerschmann 1926, 29).
der ersten „Geisterallee“, die im Areal der sog. Hsi-ling (= West-Mausoleen) für das
erste der dort errichteten Gräber, das T’al-ling des Kaisers Shih Tsung (1723—1736)
in direkter Ausrichtung auf seinen Tumulus aufgestellt, auch mehreren anderen An-
lagen im gleichen Areal als Avenue dienen mußte (Ahh. 8). Sie fehlt daher beim
später dort angelegten Ch’ung-ling für den Kaiser Te Tsung, der, unter der Regie-
rungsdevise Kuang-hsü bekannt, von 1875—1908 den Thron innehatte (Ahh. 9).
Hier wie bei allen anderen Mausoleen der Ch’ing-Dynastie (1644—1911) ist es da-
42
Magdalene von Dewall
gegen interessant festzuhalten, daß Wasserläufe zu beiden Seiten des engeren Grab-
komplexes entlangstreichen und der östliche vor dem Haupthof quer über das Vor-
gelände läuft, um sich mit dem westlichen am Rande zu vereinigen. Zu ihrer Über-
querung sind Brücken mit einem, oft auch drei oder mehr Bogen in ungerader Zahl
in die axiale Wegeführung einbezogen (Ahh. 8, 9). Ganz entsprechende Maßnahmen
zur Ableitung jeweils kleinerer Wasserläufe, bzw. Entwässerungsgräben finden sich
noch mehrmals innerhalb eines Grabkomplexes wiederholt.
Angesichts der vielerlei Variationen in der Anlage des Vorgeländes wird man dies
ideell nur als Übergangszone vom profanen in den rituellen Bereich des eigentlichen
Grabkomplexes werten müssen. Dessen räumlicher Ausgangspunkt ist der auf der
Mittelachse im grabnahen Teil des Vorhofs über quadratischem Grundriß errichtete
Stelen-Pavillon. Er bildet zugleich den Angelpunkt für unseren Vergleich der beiden
Komplexe A und B (Ahb. 6, 7), in den nun auch die Pläne der beiden Kaisergräber,
des Ting-ling (Ahh. 10) für den unter
der Regierungsdevise Wan-li (1573—
1619) und mit seinem Tempelnamen
Shen Tsung bekannten Kaiser der
Ming-Dynastie (1368—1644) und des
Ch’ung-ling (Ahh. 9), einzubeziehen
sind. In der Kreuzung seiner beiden
sich rechtwinklig schneidenden Durch-
lässe (Ahh. 5) steht, nach allen vier Sei-
ten als Blickfang sichtbar, die Namens-
tafel des Verstorbenen, die seine Iden-
tität inschriftlich festhält und seine
Verdienste würdigt. In einigen Fällen
noch außen vor dem Tempelhof (B),
in anderen sowohl dort wie im Inneren
(A, Ch’ung-ling) sind die notwendigen
Nebengebäude in der üblichen Form
mehrschiffiger Hallen mit dem Zugang
von der Breitseite her, aber am Rand
des Hofraums längsgestellt, symme-
trisch angeordnet.
Der sehr viel strenger gegliederte
Tempelbezirk wird von einem Mauer-
Ahh. 9 Ch’ung-ling. Grabstätte des
Kaisers Te Tsung (= Kuang hsü) der
Ch’ing-Dynastie (gest. 1908). Grund-
riß und Längsschnitt der äußeren Ge-
samtanlage. (Seitenlange des Stelen-
Pavillions 7,56 m) (aus: Ede 1930,
Taf. I).
Grab und Totenbrauch in China
43
Viereck begrenzt, das in der Mitte der Vorderfront durch eine dreiteilige Torhalle (Kom-
plexe A und B), beim Ch’ung-ling durch eine fünfschiffige betreten wird. Beim Ting-ling
(Abb. 10) ist dem inneren noch ein Tempelvorhof vorgelagert, der von außen durch
einen massiven Torbau mit drei Passagen zugänglich ist und längs von einem drei-
fachen Plattenweg durchlaufen wird, der auf ein baulich stark hervorgehobenes
inneres Tor zum Tempelhof zuführt. Beherrschend dem Torgebäude gegenüber liegt
stets quer zur Achse und mit der zugänglichen Frontseite auf die Mittellinie ausge-
richtet die mehrschiffige Tempelhalle. Sie hat bei unseren Beispielen seitlich und rück-
wärts geschlossene Wände, und ein Mauerabschluß führt im Ting-ling in Höhe der
Tempelhalle unmittelbar an deren Seitenwände heran, so daß sowohl das Durch-
schreiten der Halle wie ein Umgehen auf der Terrasse verhindert werden. Obwohl
eine Stufenfolge auch rückwärts an die Terrasse heranführt, ist der fortlaufende Be-
wegungsfluß unterbrochen und damit im geradlinigen Bewegungsablauf ein gewich-
tiger Akzent gesetzt. Der rück-
wärtige Tempelhof bzw. der Grabhof
sind über die Plattenwege zu beiden
Seiten der Tempelhalle und durch zwei
parallele Mauerpförtchen zu erreichen;
im Grabvorhof wird dann die zentrale
Achse durch ein Tor-Monument wieder
aufgenommen. Das Innehalten im Be-
wegungsvollzug beim Betreten des Al-
tarraums im Inneren der Tempelhalle
war rituell für das Opfer und Gebet
vor den hier anwesend gedachten To-
ten gefordert und fand seine Entspre-
chung in einer baulichen Lösung, die
das axiale Bauprinzip zeitweilig zu-
gunsten einer äußeren Umgehung auf-
hebt.
Abb. 10 Ting-ling. Grabstätte des
Kaisers Shen Tsung ( = Wan li) der
Ming-Dynastie (gest. 1620). Grundriß
der Gesamtanlage (nach: Bouillard
u. Vaudescal 1920, pl. XXXIII; KK
1958:7, Abb. 1, S. 38).
1 Stelen-Pavillon; 2 Vorplatz mit Platten-
belag; 3 Torhalle zum inneren Tempelhof;
4 Grabtcmpcl mit weit vorgezogener Ter-
rasse; 5 ming lou Vorbau; 6—8 Einstiegs-
öffnungen; 9 Passage mit Ziegelmauer-
werk; 10 kleine Steinstele; 11 Passage mit
Steinmauerwerk; 12 Verschlußmauer; 13
Eingangsgewölbe; 14 Grabkammern (vgl.
Abb. 28, 29).
44
Magdalene von Dewall
Die Trennung des Grabbezirks selbst vom Tempelhof wird dann am augenfällig-
sten, wenn er durch eine besondere Mauer abgeschlossen ist — bei Komplex B sogar
ringsherum parallel zur Außenmauer und in weitem Bogen um den hier 's erhältms-
mäßig kleinen Tumulus gezogen. Den Zugang bildet ein nur einfaches Tor rückwärts
gegenüber der Tempelhalle. Zwei flankierende Seitenpförtchen sind vielleicht füi nicht
zeremonielle Anlässe, bei der Wartung der Anlage, in Anspruch genommen worden.
Auch die stattliche dreigliedrige Toranlage am Eingang zum Grabhof des Ch ung-ling
(Ahh. 9) verstärkt den Eindruck, daß dieser Teil der Gesamtanlage kompakter ver-
schlossen gehalten wurde als der Tempelhof mit den leichteren Bauformen der Tor-
hallen.
Der Dreiklang von Einfriedung, Innenhof und Tumulus im innersten Grabbezirk
macht die einheitlichen in jeder folgenden Raumeinheit schärfer ausgeprägten Gliede-
rungsprinzipien besonders sinnfällig. In den Gräbern A und B (Ahh. 6,7) schließen
Mauer und Hofraum den zentral freiliegenden rundgemauerten Tumulus ringsum ein,
wobei der konzentrische Freiraum noch betont wird durch die einmal quadratische,
das andere Mal runde und mit einer Brüstung versehene Terrasse, die vorn in ein
Rechteck mündet, zu dem eine breite dreiteilige Treppe aufsteigt. Die frontale Auf-
gangstreppe findet sich auch gegenüber dem Haupttor auf der Mittelachse des ein-
facheren Grabmals B. In viel kleinerem Maßstab wiederholt sich die gleiche Anord-
nung in einem außerhalb des inneren Mauerrings liegenden Tumulus, der an die
Rückseite eines rechteckigen Terrassenunterbaus gesetzt wurde. Alle Beispiele demon-
strieren insgesamt sehr klar eine axiale Bauauffassung, die konsequent bis zum zen-
tralen Bezugspunkt des Gesamtkomplexes, dem Tumulus, durchgeführt ist.
An Stelle einer konzentrischen Dreigliederung, die im Einklang mit den vorge-
lagerten Raumeinheiten steht, tritt bei den Kaisergräbern allgemein eine räumliche
quer zur Längsachse vollzogene Zweiteilung des Grabbezirks. In der praktischen Aus-
führung gibt es auch dabei aufschlußreiche Unterschiede, wenn wir das Ting-ling
(Ahh. 10) mit dem Ch’ung-ling vergleichen (Ahh. 9). Der überdimensionierte Grab-
hügel von über 200 m Dm im Ting-ling, dessen Breite die des Vorgesetzten geradlinig
begrenzten und bündig an den Tempelhof anschließenden Grabvorhofs weit überragt,
dominiert im Grundriß dieses Komplexes nicht durch die strenge Durchführung glie-
dernder Baumaßnahmen wie bei den Beispielen A und B, sondern durch die Wucht
der Baumasse, die ihm in den Raumproportionen ein ungewöhnlich starkes Über-
gewicht verleiht. Dieses Übergewicht ist dagegen beim Ch’ung-ling wieder einge-
dämmt, indem der Tumulus sowohl in seinen Maßverhältnissen wie in seinen Kontur-
linien in den Gesamtgrundriß eingebunden ist. Die gliedernden Maßnahmen sind hier
noch komplexer als bei unseren bisherigen Beispielen, überzeugen aber in ihrer Folge-
richtigkeit. Der Zweiteilung, durch eine dem Tumulus vorgezogene Trennmauer mit
je einem Seitentor an beiden Enden, in einen rechteckigen Grabvorhof und ein halb-
rund begrenztes Tumulusareal wirkt die bündige Weiterführung der äußeren Mauer-
flucht entgegen. Auch die parallel dazu geleiteten Wasserläufe, zunächst aus dem
Tumulushof heraus in den Grabvorhof, aber auch außerhalb davon entlang fließend
und im rückwärtigen Teil des Tempelhofes harmonisch in den Grundriß einkompo-
Grab und Totenbrauch in China
45
niert, schaffen eine Verbindung der einzelnen Raumelemente zusätzlich zu der axialen
Wegeführung längs durch den Grabvorhof.
Anders als bei den erhöht und frei im Raum stehenden Tumuli der Anlagen A
und B, deren Zugänglichkeit durch eine einladende Aufwärtsbewegung über breite
Treppen hervorgehoben wird, richtet sich bei den beiden Mausoleen die Hauptachse
zunächst gegen ein kompaktes Bollwerk, das auf quadratischem Grundriß dem Tumu-
lus vorgebaut ist. Dieser turmartige Vorbau (Abb. 11), chinesisch ming-lou genannt,
Abb. 11 Ch’ung-ling. Seitenansicht und Querschnitt des ming-lou Tumulus-Vdrbaus
(H. der Mauer, ohne Sockel, ca. 6 m) (aus: Ede 1930, Taj. III).
ein wörtlich aber nicht sinnvoll mit „Turm der Seelen“ wiedergegebener Begriff,
nimmt gleichzeitig zwei Funktionen wahr. Von seinem unteren, über breite Aufgangs-
treppen und eine vorgezogene Terrasse erreichbaren Sockel führt durch den massiv
gebauten unteren Baukörper eine gewölbte Passage abwärts über eine Treppe in
Richtung der Längsachse und einen kurzen Gang auf denTumulus zu. Die Verbindung
zum Tumulus, hier also abwärts gerichtet, ist damit allerdings nur angedeutet, denn
sie ist abrupt unterbrochen und durch mehrfaches Mauerwerk verriegelt.
Bei manchen, vor allem den massigen Tumuli der Ming-Gräber wie dem Ting-ling
(Abb. 10), ist der Baukörper des Vorbaus mit seinem rückwärtigen Teil unmittelbar
vom Rund des Grabhügels und seiner Stützmauer eingeschlossen. Auf seine ideelle
Bestimmung als Zugangstor, obwohl funktional nicht vollziehbar, ist damit eindeutig
hingewiesen. Sie zeichnet sich auch in seinen Bauelementen ab, die ganz denen eines
chinesischen Torturms, etwa im Städtebau, entsprechen. Als Beispiel einer differen-
zierteren Funktionszuordnung und Baugliederung dient wiederum der Turm-Vorbau
im Ch’ung-ling (Abb. 9, 11). Er ist an seiner Rückseite durch einen kurzen Zwischen-
hof in Breite der Tumulusfront von dieser abgesetzt; an beiden Seiten ziehen sich,
also von innen her, Treppenaufgänge zur Mauerkrone der an die Rückfront des Vor-
baus anstoßenden Umfassungsmauer des Tumulus. Diese hat hinter ihrer Zinnen-
brüstung einen begehbaren Mauerkranz, der durch seitliche kurze Treppen mit der
Hauptterrasse des Turm-Vorbaus verbunden ist.
Auf der Terrasse erhebt sich der obere Teil des Baukörpers, ein im Inneren von
Holzständern getragener aber nach außen vermauerter Aufbau in Art eines Pavillons
46
Magdalene von Dewall
mit einer für den Hallenbau üblichen Dachkonstruktion, also mit quer zur Raum-
achse liegendem First, und Doppeldach. Er bildet analog dem Stelen-Pavillon am zere-
moniellen Eingang zum engeren Grabbereich das Gehäuse für die in Blickrichtung der
Hauptachse nach auswärts aufgestellte Grabstele, die den Namen des Toten trägt.
Durch eine Tafel mit der rituellen Benennung des Grabmals wird die Identität der
Person des Toten und der Lokalität des Grabplatzes verbürgt.
Aus der Doppelfunktion, einmal die personale und lokale Identität anzuzeigen
und außerdem in der Bauplanung das direkte, und zwar einzige Verbindungsglied
zwischen den äußeren und inneren Raumsystemen der Grabanlage zu bilden, erklärt
sich gewiß die im Gesamtaufbau betonte Stellung des Tumulus-Vorbaus. Über die
äußere Einfassungsmauer hinweg erhebt sich im T’ai-ling-Grabkomplex (Ahh. 5)
der Blick vom Stelen-Pavillon aufwärts, über den Torbau und die Mauer des Tempel-
hofs mit dem Doppeldach der Tempelhalle darüber zur Dachbekrönung des ming-lou
Vorbaus als der höchsten Erhebung im Gesamtgefüge.
Wie ein Blick auf den Längsschnitt des Ch’ung-ling beweist (Ahh. 9), sind es nicht
allein die mit zunehmender Raumtiefe verlängerten Höhen der Bauformen und die
dadurch veranlaßte Aufwärtsbewegung der Blickrichtung beim Betreten des Areals,
die den Turmbau zum beherrschenden Blickfang machen. Der Augenbewegung ent-
spricht vielmehr eine stufenweise Anhebung des Bodenniveaus in dem mäßig anstei-
genden Gelände, die, punktuell verteilt, ihrerseits rhythmisch gliedernd wirkt und
zugleich einen physischen und psychischen Steigerungseffekt erzielt, indem beim Fort-
schreiten in die Raumtiefe sich die Längenabstände zwischen den Zäsuren graduell
verringern und die absoluten Höhenunterschiede jeder weiteren Schwelle im gleichen
Verhältnis zunehmen. Ihre Verteilung erreicht einen Dreiklang auch im tatsächlichen
Bewegungsvollzug des Fortschreitens und Ansteigens, denn dreimal, beim Passieren
des Eingangstores in den Tempelhof, beim Betreten des Grabvorhofs und beim
Hinaufschreiten zur Sockelterrasse des Vorbaus sind solche Höhenschwellen zu über-
winden.
Wenden wir uns mit den neu hinzugewonnenen Gesichtspunkten einer rhythmi-
schen Raumgliederung mit Hilfe von Höhendifferenzierungen in der Abfolge axial
erschlossener Raumeinheiten noch einmal zu den Ausgangsbeispielen zurück, so fällt
nun auch hier Vergleichbares auf. Obwohl beide sich, im Unterschied zu den Kaiser-
gräbern, in völlig ebenem Gelände erstrecken, finden wir Höhenunterschiede nicht
nur in direkter Verbindung mit den Terrassen von Torgebäuden und Hallen. Sie
treten auch im Freiraum, ohne direkt zugeordnete aufgehende Bauformen als kurze
Stufenfolgen zur Erreichung einer höheren Bodenfläche auf, etwa am Ende der Zu-
gangsallee von Komplex A (Ahh. 6) und in Komplex B (Ahh. 7) vor dem Vorplatz
der Torhalle des Tempelhofes und nochmals am Absatz zwischen dem Tempelhof
und dem Umraum des Grabhofes.
Obwohl soweit nur auf wenige Beispiele begrenzt, hat unser Vergleich Ergebnisse
gebracht, die die Prämisse, eine idealtypische Vorstellung von der Eigenart des chine-
sischen Grabbaus lasse sich aus seiner Erscheinungsvielfalt abstrahieren, bestätigen
können. Auf verschiedenen Ebenen der Beschreibung und Relativierung baulicher
Phänomene und ihrer Funktionserklärung ließen sich deutlich gemeinsame prinzipielle
Grab und Totenhrauch in China
47
Einstellungen aufzeigen und von solchen Zügen trennen, die innerhalb eines breiteren
Spielraums variieren. Die generelle Brauchbarkeit eines auf diese Weise zustande-
gekommenen phänotypischen Modells und seiner Konstituenten zur Kategorisierung
und zur Interpretation anderer Bautypen chinesischer Gräber bleibt noch zu prüfen.
Wenn wir uns dazu die oft anonymen Familiengräber vornehmen, immer noch
auf die oberirdisch sichtbaren Merkmale beschränkt, so muß bedacht werden, daß
hierfür die Dokumentation spärlicher und unsystematischer ist. Sie beruht neben Reise-
notizen (Forke 1898, Boerschmann 1910, 1914, 1926, H. Mueller 1913, O. Fischer
Ahh. 12 a—e Grabanlage eines Oberrichters bei Fu-chou, datiert 1831. Südchinesischer
Bautyp. a) Grundriß, b) Querschnitt in Höhe des seitlichen Eingangs, c) Schnitt im
vorderen Teil des Vorhofs, d) Mauerdurchbruch in der Stirnwand mit kosmologischem
Symbol, e) Längsschnitt der Gesamtanlage (aus: Boerschmann 1925 II, 247/48).
48
Magdalene von Dewall
1939) und Zufallserwähnungen hauptsächlich auf eingehenderen Beobachtungen und
Abbildungen bei Beorschmann (1914, 1925) und de Groot (Vol. III, 1897), aber
erlaubt weder einen geschlossenen Überblick noch eine systematische Auswahl. Es kön-
nen folglich nur Schlaglichter gesetzt und symptomatische Erscheinungen mit den bis-
herigen Vergleichsergebnissen in Beziehung gebracht werden.
Abb. 13 Familiengrab
für Chen Fu-chi hei Kuei-
lin (Kwangsi); Ch’ing-
Zeit; mit Terrassenstütz-
mauern, freistehendem
Tumulus, reicher Fassade
und tief gestaffelter Um-
fassungsmauer (aus:
BOERSCHMANN 1925 II,
244).
Abb. 14 a Grab des Lin
Ti-ch’en, Präfekten von
Hang-chou, am Westsee;
Ch’ing-Zeit; terrassierte
Anlage, dreigeteilt in Vor-
hof, Op f er platz und Grab-
bezirk (Foto: Boersch-
mann-Nachlaß,Kunsthist.
Inst. Univ. Köln).
Daß man unter diesen Beziehungen die Möglichkeit einer Anlehnung an die Vor-
bilder der sozialen Führungsschicht und den Versuch, sie unmittelbar nachzuahmen,
auch in Rechnung stellen muß, wurde schon gestreift, und Beispiele dafür gibt es in
der Tat. Gemeint ist dabei nicht die innerhalb desselben Formenrepertoires stufen-
weise geminderte Anwendungsvielfalt, wie sie die Eingangsbeispiele A und B unter-
scheidet, sondern die Übernahme einzelner Bauelemente aus ihrem ursprünglichen
Gestaltungszusammenhang und ihre isolierte Wiederverwendung in einem anders-
artigen Bausystem. Die anonyme Grabanlage eines als Mandarin eingeführten Grab-
herrn (Abb. 12a—e; Boerschmann 1926) in Fu-chou illustriert diesen Sachverhalt
sehr treffend. Nicht nur die Allee von Steinfiguren vor dem Grabeingang, der hier
allerdings an die Längsseite gerückt wurde, sondern ebenso der dreigliedrige Portiko
im äußeren Hof, die Ehrensäulen und das Wasserbecken analog dem querfließenden
Grab und Totenbrauch in China
49
Wasserlauf in den Westlichen Kaisergräbern der Ch’ing-Dynastie machen durch ihre
direkten Parallelen einen sehr bewußten Repräsentationsanspruch geltend. Andere Ge-
staltungsmerkmale teilt diese für den südchinesischen Grabtyp repräsentative Anlage
nicht nur mit denen des Kaiserhauses, sondern mit vielen Familiengräbern teils auf-
wendiger, teils einfacher Bauart (Abb. 2, 12, 13, 14a, 14b, 15). Zu solchen immer wie-
derkehrenden Merkmalen gehören etwa die abschirmende Baumbepflanzung und die
mehrfache Steigerung des Höhenniveaus oder auch eine zwischen der Mittelachse und
beiden Längsseiten alternierende Treppenführung (Abb. 12, vgl. Boerschmann 1926,
243; ds. 1925 II, 246:2; Abb. 14a).
Die beiden Familiengräber, das des Chen Fu-chi nahe Kwei-lin (Abb. 13) im inne-
ren Südchina (Prov. Kwangsi) und das des Präfekten Lin Ti-ch’en (Abb. 14 a) am West-
see außerhalb von Hang-chou zeigen im Vergleich aufschlußreiche Unterschiede, aber
auch gemeinsame Gestaltungsmerkmale über die bereits angeführten hinaus. Der plas-
tisch reich ausgeschmückten und auch ikonographisch beziehungsreichen Ausgestaltung
des Grabes Chen (Abb. 13, vgl. Boerschmann 1925 II, 58), auffallend auch durch den
Tumulus mit seinem ungewöhnlichen eingezogenen Profil, steht im Präfektengrab
(Abb. 14 a) ein betont schlicht ausgeführter Bau von einheitlichem Charakter gegen-
über mit Mauerwerk aus Hausteinen für die nur im äußersten Teil verputzte Einfassung
ebenso wie für die Stützmauern der Terrassen und die Ummantelung des Rundtumulus
selbst. Dieser freistehend aufgemauerte Rundtumulus war schon in den Gräbern des
Kaiserhauses aber auch anderweit für Einzelanlagen ebenso wie für die Zusammen-
legung mehrerer Personen gleicher Familienzugehörigkeit innerhalb eines Gräberver-
bandes als die übliche Form begegnet (Abb. 6, 7; Fonssagrives 1907, 46—47 u. a.).
Er tritt ebenso in einfachen Anlagen als das beherrschende Bauelement auf wie z. B.
Abb. 14 b Ansicht, Plan
und Schnitt eines einfa-
chen Feldgrabes bei Lu-
chou (Szech’uan), mit frei-
stehendem Tumulus und
Grabtafel auf erhöhter
Plattform, rückwärts an-
steigend, und gebogener
Einfassung (aus: Boersch-
mann 1925 II, 235, Grab
Nr. 2).
bei den terrassierten Feldgräbern in Sze-ch’uan (Abb. 14 b, vgl. Boerschmann 1925 II,
235—36). Häufiger erscheint er allerdings mit einer Grasnarbe bedeckt eher als ein
Grabhügel, und nur seine regelmäßige Umrißform und steile Böschung verraten noch
den artifiziellen Kern (Abb. 1, 16, 17, 18).
4
50
Magdalene von Dewall
Das Präfektengrab von Hang-chou (Abb. 14 a) mit seinem gut sichtbaren und bau-
lich absolut beherrschenden Tumulus steht also in einer sehr dicht belegten Traditions-
kette. Demgegenüber nimmt das Familiengrab Chen (Abb. 13) mit seinen Misch-
formen eine Zwitterstellung ein. Der als selbständiger Baukörper gestaltete Rund-
tumulus ist so in das Niveaugefälle der stark terrassierten Anlage eingefügt, daß der
ringsum laufende Umgang die Geländesteigung durch eine Reihe von Stufen aus-
gleichen muß. Der Tumulus, um einiges niedriger als die davor stehende Grabtafel
und ihre Rahmung, verschwindet trotz seiner erhöhten Lage als zentraler Bezugspunkt
hinter der imposanten Fassade. Die Auffächerung von Fassade und Einfassungsmauci
Abb. 15 Familiengrab in Hanglage, in schlichter Ausführung, mit Vorplatz, zurück-
fliehender Stützmauer, Grabtafeln und Opferbank (nach: de Groot III, 1897, pl.
XXXIII).
und ihre rückwärts gestaffelte Tiefenräumlichkeit sind aber ihrerseits Kennzeichen des
südchinesischen Bautyps, wie er sich aus der Anlage einer in den Abhang eingebetteten
bzw. aus dem natürlichen Geländeabfall ausgesparten Grabstelle (Abb. 2, 12, 15, 19, 20)
mit einer tief eingebuchteten Vorderfront und dementsprechend mehrfach gebogener
oder zurückspringender Stützmauer ergeben hat. Obwohl bei dieser Ausnutzung der
FFanglage sich in praktischer Fiinsicht der freistehende Tumulus als zentrales Bauele-
ment erübrigt hätte, klingt die maßgebliche Bautradition auch im weiteren Verbrei-
tungsgebiet des südchinesischen Grabtyps noch bis in die Grabbauten der Gegenwart
nach. Wie bei den Mausoleen der Ch’ing-Dynasten selbst freistehende Rundtumuli im
einen Fall und kompaktere Bauten in anderen errichtet wurden (Fonssagrives 1907,
Bouillard 1931), variiert die Gestaltung in den Grabstätten chinesischer Familien in
Übersee. Im Gräberfeld von Medan (Abb. 4) führt die dichte FFäufigkeit von Gräbern
zu einer anteiligen Parzellierung des natürlichen Geländes und zwingt damit zur
Abgrenzung der einzelnen Familiengrabstätten durch eine meist gerundete Umfassungs-
mauer für jede Parzelle. Bei manchen Anlagen schließt sich ein äußerer hufeisen-
Grab und Totenhrauch in China
51
förmiger Erdwall als Abschirmung um die innerhalb isoliert stehende Grablege, eine
Anordnung, die unweigerlich Reminiszenzen an die Bauordnung mit freistehend einge-
schlossenem Rundtumulus älterer Anlagen (Abh. 13, 14 a, 14 b) wachruft.
Abb. 16 Grabstätte bei
Ya-chou (Szech’uan) für
Chang Hsüan-ming (gest.
1877) und seine Familie;
mit einzelnen Grabtafeln,
Opfertischen und Stein-
sitzen (aus: Boerschmann
1926, 139).
Von diesen Beobachtungen her fällt ein etwas helleres Licht auf das Ver-
hältnis der einfacheren Familiengräber zu denen der sozialen Führungsschicht. Man
wird die im Erscheinungsbild offensichtliche Reduktion in Ausdehnung und Ausge-
staltung von Grabanlagen mit einem im sozialen Schichtungssegment absteigenden
stufenweisen Verzicht auf kostspieligere Bauaufwendungen kaum befriedigend er-
52
Magdalene von Dewall
klären können, denn man kann die Unterschiede nicht ausschließlich einem negativen
Auswahlprozeß zuschreiben.
Gehen wir nämlich nicht von einer direkten formalen Beziehung, also nicht vom
Vergleich einzelner Bauelemente aus, sondern von den Einheiten und Prinzipien der
Raumordnung, so ist die konzeptionelle Verwandtschaft der Familiengräber zu den
Mausoleen auch da noch sichtbar, wo von formaler Nachbildung keine Rede sein kann.
Die wesentlichen Ordnungselemente, die sich für die Familiengrabstätte aus älterer oder
jüngerer Zelt herauskristallisieren lassen, sind die Einfriedigung durch einen Mauer-
zug oder die Absonderung durch Stützmauern, die horizontale Längsaufschließung über
Abb. 18 Grabschrein und
Tumulus im Gedächtnis-
tempel (Lao-ye miao) für
den Kriegsgott Kuan-ti
( = Kuan Yü, gest. 220
n. Chr.), bei Tang-yang
(Hupei); mit Weihe-In-
schriften, aufwendigem
Altar gerät, Speiseopfern
(aus: Boerschmann 1914
II, Abb. 22, S. 49).
Abb. 19 Grabstätte mit
traditionellen Bauelemen-
ten, in hügeligem Gräber-
gelände; mit schreinarti-
gem Aufbau über der
Grabtafel (nach: de
Groot III, 1897, pl.
XXX).
die Mittelachse und als zentraler Bezugspunkt der künstlich errichtete Tumulus oder
angeschüttete Hügel mit der sichtbar davor aufgestellten Grabtafel (Abb. 1, 2, 13, 14 a,
14 b, 15, 16/17, 19, 20).
Grab und Totenbrauch in China
53
Zu diesen Grundelementen, die gemeinsam die Rolle von Bedeutungsträgern über-
nehmen, tritt als ergänzendes Funktionselement ein Opfertisch oder eine niedrige
Steinbank (Abb. 1, 2, 13, 14 a, 15, 16/17) zur Aufnahme der Schüsseln und Platten
mit Opferspeisen (Abb. 18). Der Grabfront vorgelagert bietet ein erhöhter mitunter
durch Pflasterung abgesetzter Vorplatz den an der Darbietung des Opfers Beteiligten
Abb. 20 Ming-zeitliche Grabstätte aus Granitblöcken errichtet; mit Toraufbau vor
der Grabfassade (nach: de Groot III, 1897, pl. XXXII.
Raum. Das komplette nur symbolisch repräsentierte, nämlich in archaisierenden For-
men aus Stein gemeißelte Altargerät vor dem Opferaltar im Grabschrein des ver-
göttlichten Kriegshelden Kuan-ti (Abb. 18) in Tang-yang (Prov. Hupei) umfaßt ein Räu-
cherbecken (ein zweites aus Metall steht noch davor), zwei Lichthalter und zwei Balu-
stervasen. Es betont damit die herausragende Bedeutung dieser Grab- und Gedächtnis-
stätte als Platz der nationalen Heldenverehrung, denn eine vergleichbare Ausstattung
ist sonst den Kaisergräbern Vorbehalten (vgl. Mu-ling = Mausoleum des Kaisers
Tao-kuang, gest. 1850, in den Hsi-ling, Fonssagrives 1907, 33; Boerschmann 1925 II,
190). Nur gelegentlich begegnet sie in Beamtengräbern auf freiem Feld, wie in der
Nähe von Tai-an (Prov. Shantung) vor dem Grab eines hohen Kultusbeamten und
seiner Frau (Abb. 1), nämlich in Form eines von zwei vierkantigen Steinvasen flan-
kierten Ritualgefäßes, eines traditionellen iiwg-Vierfußkessels. Massiv aus Stein ge-
meißelt ist dies Gerät nicht funktionsgebunden als Behälter aufgestellt sondern nur
formal sinngebend. Wie vor diesem gemeinsamen Grabhügel eines Ehepaares dient der
Altartisch im allgemeinen den Speiseopfern für alle Familienangehörigen gemeinsam,
auch wenn sie in getrennten Tumuli beigesetzt sind (Boerschmann 1926, 259). Eine
Ausnahme davon bildet das Familiengrab für Chang Hsüan-ming (gest. 1877) und für
zwei seiner Frauen aus den Familien Wang und Kao bei Ya-chou (West Sze-ch’uan),
in dem vor fünf symmetrisch angeordneten Grabtafeln insgesamt zehn quadratische
Steintische mit jeweils acht Steinsitzen ringsherum auf dem Grabvorplatz gestaffelt
verteilt sind (Abb. 16, 17), aber nur ein gemeinsamer Hügel für alle Familienbestat-
tungen zur Verfügung steht.
54
Magdalene von Dewall
Einen herausragenden Platz nimmt in allen Grabanlagen gleich welchen Typs die
Grabtafel ein. Sie steht an der Stirnseite des Tumulus entweder frei (Abh. 2, 14 a, 15),
oder sie ist flankiert (Abh. 1) von zwei niedrigen Seitenflügeln und einbezogen in ein
gemeinsames Rahmenwerk und Bedachungssystem. Diese Baugestaltung erinnert kaum
nur zufällig an die paarweise aufgestellten Grabpfeiler der Han-Zeit mit ihren Seiten-
flügeln, die zusammen mit den Erdtumuli einzelner Dynasten seit der Frühen Chou-
Zeit zu den frühesten und auffälligsten oberirdisch erhaltenen Grabmonumenten Chinas
zählen (V. Segalen, G. de Voisins, J. Lartigue 1915/16; Boerschmann 1925 II,
231—34). Dasselbe Bauprinzip der nach Höhe und Breite gegliederten mehrflügeligen
Front begegnet bei zahlreichen Torbauten und Ehrenmalen in China, und den Gedanken
eines Tor-Durchlasses muß man immer wieder mit Rahmenbauten für Grabtafeln
assoziieren, die dem Tumulus als Scheineingang nach Art eines Tor-Vorbaus vorgesetzt
sind (Abb. 13, 19, 20; vgl. a. Boerschmann 1925 II, 237). Eine solche zum Torbau
ausgestaltete Grabfassade signalisiert nur ideell eine Verbindung zu dem Bereich des
Toten, denn tatsächlich besteht keinerlei Zugang. Damit treten die Grabtafeln und
ihr Gehäuse vor den Familiengräbern nicht nur nach Funktion und Anordnung sondern
auch der Bauidee nach in unmittelbare Parallele zu dem ming-lou Vorbau der Kaiser-
gräber (Abb. 9, 10, 11), der gleichfalls nur einen Scheineingang markiert.
Die Tendenz des formal relativ geschlossen erscheinenden südchinesischen Bautyps,
die aus der Stützmauer des Tumulus entstandene Vorderfront (Abb. 15) in eine reich
gegliederte und nach Höhe sowohl wie in die Raumtiefe gestaffelte Fassade auszu-
weiten, steht mit der Bautradition des Torvorbaus in einem engen ideellen Zusammen-
hang. Dagegen ergibt sich die weit ausladende Geste der Umfassungsmauern (Abb. 2,
12, 13, 20) organisch aus der Doppelfunktion einer Hinführung nach innen und einer
Abschließung nach außen. Durch eine Staffelung der Raumbreite zur Seite wird eines-
teils Raum gewonnen für weitere Inschrifttafeln und für Nebenfunktionen (etwa die
vorübergehende Aufbewahrung des Toten, Abb. 17, oder die Verbrennung von Opfer-
gaben u. ä.), ohne daß Blick und Bewegung, die geradlinig vom Eingang zur Grab-
front laufen, abgezogen würden.
Die Intensitätssteigerung in der Annäherung an das Grab durch zunehmende Ver-
engung der Raumbegrenzung und Erhöhung der Flächen mit Schwellen, Gelände-
absätzen und Steintreppen weisen alle Beispiele auf. Sie knüpft unmittelbar an Ten-
denzen an, die an den größeren Anlagen Nordchinas zu beobachten waren. Die Aus-
wirkung dieser Terrainanhebung auf eine harmonische Einpassung in das umgebende
Gelände, wobei auch der natürliche Baumbestand mit veranschlagt werden muß, ist
in jedem Fall sehr deutlich. Auch die einzelnen Bauformen scheinen nach Masse und
Form dem Gebot dieser Geländeangleichung unterworfen.
Inwieweit dieser einheitliche Charakter des durch ältere und jüngere Beispiele
vertretenen „südchinesischen Bautyps“ bewußte Gestaltungsabsichten widerspiegelt,
die In der Bauausführung der Mausoleen mit ihrer akzentuierenden Niveausteigerung
als ein strukturierendes Prinzip zur Unterstützung der funktionalen Raumorgani-
sation erkannt wurden, ist schwer generell zu beantworten. Bestimmend dürfte hier
und dort die aus geomantischen Rücksichten gesuchte Anlehnung an den Berghang
und damit die Absicherung im kosmischen Kräftespiel der yang- und ym-Elemente
Grab und Totenbrauch in China
55
gewesen sein. Wenn das in einem Fensterdurchbruch in der Stirnwand der Um-
fassungsmauer angebrachte kosmische Sinnbild des T’ai-ch’i (= Oberste Prinzip) im
Beamtengrab von Fu-chou (Abb. 12 d) universistische Vorstellungen anklingen läßt,
so wird auch die Sinndeutung für den bevorzugten Dreierrhythmus der horizontalen
Raumordnung im Grabbau im Zusammenhang dieses kosmologischen Ordnungs-
systems zu suchen sein.
Zur Abrundung und Abstimmung eines derartigen Deutungsversuchs und zu seiner
Konkretisierung müssen allerdings auch die unterirdischen Grabbauten in ihren
Wesensmerkmalen anschaulich gemacht werden und die Ausübung des Toten- und
Ahnenkults mit der Sinndeutung des Grabbaus in Deckung zu bringen sein.
3. Baugestaltung und Raumgefüge der unterirdischen Grabbauten
An die Ergebnisse einer phänotypischen Beschreibung der oberirdischen Bauanlage,
als deren beherrschende Organisationsprinzipien die horizontale Längserstreckung
entlang einer betonten Mittelachse, die rhythmische Gliederung der horizontal ge-
reihten Raumeinheiten durch Umfassungen mit Durchlässen sowie Freiräumen um
geschlossene Baukörper und schließlich die Steigerung durch stufenweise ansteigende
Flöhen von Bodenniveau und Bauten erkannt wurden, müssen sich nun Beobachtun-
gen zur unterirdischen Grabanlage anknüpfen lassen, um die Gültigkeit der zugrunde-
liegenden Bauprinzipien auch hierfür zu erhärten oder sie zu modifizieren.
Wurde bei der Behandlung der oberirdischen Bauten die Darstellung der Bau-
prinzipien nach raumerschließenden und raumgestaltenden Maßnahmen bewußt her-
vorgehoben und die spezifische Funktionszuweisung einzelner Bauteile zunächst zu-
rückgestellt, so müssen bei der Erörterung der unterirdischen Raumeinheiten beide
Aspekte in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und Durchdringung gesehen werden. Von
hier aus fällt dann, rückblickend In der Zusammenfassung beider, ein um so helleres
Licht auf die Bauauffassung, die hinter dem chinesischen Grab in seiner Gesamtheit
steht.
Ohne Zuhilfenahme des archäologischen Befundes wäre eine Dokumentation über
den funktional zentralen Teil des Grabes, die Grabkammer im bzw. unter dem Tumu-
lus, nur sehr unvollständig und kaum denkbar. Die Beschaffenheit des Grabinnern bei
dem oben herangezogenen südchinesischen Bautyp ist nirgends ausdrücklich beschrie-
ben und als baugestalterisch unergiebig zu beurteilen. Für die Kaiserlichen Mauso-
leen stand bis vor kurzem nur das des letzten, erst in der Republik (1913) beigesetz-
ten Ch’ing-Kaisers Te Tsung (gest. 1908) für die zeitgenössische Beobachtung
(Bouillard 1920, 1931) bzw. für die Beschreibung aus Modellen und Plänen (Ede
1930) zur Verfügung. Inzwischen ist mit der Fülle archäologischer Gräberfunde aus
rund 2500 Jahren chinesischer Geschichte das Material in einem solchen Ausmaß an-
gewachsen, daß nur jeweils einzelne Gesichtspunkte des Grabbaus im engeren Sinne
aus dem Gesamtkomplex kunst- und kulturgeschichtlicher Probleme zu diesem Thema
herausgegriffen und als Orientierungshilfen und Diskussionsgrundlage angeboren
werden können.
56
Magdalene von Dewall
Von einer im eigentlichen Sinne architektonischen Ausgestaltung der Gräber kann
erst von der Han-Zeit an (206 v. — 220 n. Chr.) gesprochen werden, die für die
chinesische Kulturentwicklung in vieler Hinsicht einen Neubeginn darstellt. Im Ver-
lauf der Han-Zeit setzt sich der Grabbau mit Vollziegeln allgemein durch und schafft
damit die Voraussetzung für eine schnell fortschreitende Entwicklung des Gewölbe-
baus. Dieser erlaubt die Ablösung der vorherigen einfachen Grabkammern in Erd-
schächten und -gruben durch solche selbständigen Bauformen, die eine organische und
zweckentsprechende Verbindung — unter Berücksichtigung der technischen Abhängig-
keiten, denn ein Tonnengewölbe konnte z. B. keine beliebigen Raumbreiten über-
spannen — von funktionalen Aufgaben und von planerischen Absichten in mehr-
gliedrigen Raumgefügen ermöglichten.
Nicht die architekturgeschichtlich höchst interessante Weiterbildung dieser An-
fänge über die alsbald auch regional variierenden Erscheinungformen der Post-Han-
der T’ang- und der Sung-Zeit bis an die Neuzeit heran ist unser zentrales Thema,
sondern hier steht zur Diskussion, inwieweit die baukünstlerischen und die raum-
planerischen Möglichkeiten zur Lösung von gestellten Bauaufgaben und zur Durch-
setzung bestimmter Baugedanken genutzt wurden. Zwei Probleme sollen dabei, in
gedanklicher Fortführung der Untersuchungen am oberirdischen Grabbau, im Mittel-
Grundriß und Längsschnitt der unterirdischen Grab-
kammern und Zugänge (nach: WW 1974:9, Ahb.
14, 15, S. 79).
1 Zugangsrampe; 2 Licht- und Luftschächte für den Bau;
3 Tunnelabschnitte; 4 Seitennischen; 5 Überdeckter Vor-
platz; 6 Eindruckstellen; 7 Mauerversicgelung; 8 Ein-
gangstür mit Steinplatten; 9 Vorraum; 10 Epitaph in
Form einer Schildkröte; 11 Grabkammer; 12 Toten-
schrein mit Tür (13).
Abb. 22 Anonyme Grabstätte der T’ang-Zeit
(Grab Nr. 5 von Chin-sheng-ts’un bei T’ai-yüan,
Shansi), mit einfachem Grabgewölbe und horizon-
talem Zugang (nach: KK 1959:9, Abb. 1, S. 474).
Grab und Totenbrauch in China
57
punkt stehen: das der räumlichen Aufschließung, mit der Berücksichtigung technisch-
organisatorischer Zusammenhänge, und das der Zuordnung einzelner Raumeinheiten
zueinander unter dem Gesichtspunkt der Über- und Unterordnung einmal nach Raum-
lage, Zwischenverbindungen und Größenverhältnissen sowie den Gestaltungsunter-
schieden, aber ebenso nach ihrer spezifischen Gebrauchsfunktion als nur dienende oder
als zweckbeherrschende Konstituenten.
Der in Schnitt und Grundriß am klarsten und konsequentesten konzipierte Raum-
und Funktionskomplex scheint sich in den Grabformen des Tang-Kaiserhauses abzu-
zeichnen, deren Raumordnung weitgehend einheitlich ist, nur Anzahl und Maß-
verhältnisse der Räume variieren von Grab zu Grab. Als Beispiel wurde hier das des
Tang Ahnherrn Li Shou (577—630; WW 1974:9, 71 ff.) gewählt (Abb. 21). Um
dabei auch das soziale Gefälle in der Ausgestaltung der Anlagen im Auge zu behalten,
wurde ihm ein anonymes Grab aus der Umgegend von Tai-yüan (Chin-sheng-ts’un;
KK 1959:9, 473 ff.) zur Seite gestellt {Abb. 22), mit seinem auf das Minimum von
Grabraum, Eingangsöffnung und Zugangsstollen eingeschränkten Raumaufwand. In
dem Grabbau des Li Shou (Abb. 21) steht der Grabraum in jeder Hinsicht, nach
seinen absoluten Abmessungen, nach der baulichen Ausführung mit einem hohen
Kreuzgewölbe, nach der zentral fixierten Anordnung senkrecht unter der höchsten
Erhebung des Tumulus und nach seiner Funktion als Sargraum im Mittelpunkt. Er ist,
am Zielpunkt einer extrem langen axialen Aufschließung, der zentrale Punkt der
Raumanordnung und der Brennpunkt im Sinnzusammenhang und damit die be-
herrschende Raumeinheit, die indirekt von außen durch den konzentrisch darüber
errichteten Tumulus markiert wird. Ihr vorgelagert sind als dienende Raumfolgen ein
verengter und mit einer massiven nach innen aufschlagenden Doppeltür verschlosse-
ner Durchgang und ein von dem überdeckten Eingangsvorplatz sanft nach oben an-
steigender langer Zugangsstollen. Der massive Schrein aus Granitplatten in der linken
Hälfte des Grabraums, der den Sarg selbst barg, hat mit Sockel, Wänden, Decke, Tür,
Gesimsen usw. seinerseits architektonische also raumgestalterische Qualitäten, so daß
man ihn als Kernzelle des ganzen Baus ansprechen kann. In dem anonymen Ver-
gleichsgrab (Abb. 22) ist die funktionale Raumteilung für Bestattung und Beigaben
quer zur Hauptachse erfolgt, mit einer Plattform im hinteren Teil des Grabraums,
auf der die Doppelbestattung eines Mannes und einer Frau Platz fand.
Eine ähnlich klare Deckung der verschiedenen Ordnungsgrößen von Raumgliede-
rung, Zweckbestimmung und Bauausführung läßt sich am Beispiel des Sung Lin-Grabes
bei P’ang-hsien (Prov. Szech’uan) aus der Übergangsphase zwischen Tang- und Sung-
Zeit (955) aufzeigen (Abb. 23, 24; KK 1958:5, 18 ff.). Der Zugang zu der kreuzförmig
gruppierten Anlage, unter einem noch ca. 3,5 m hohen Hügel von 15 m Dm, lag im
Norden, doch war die Türwölbung durch eine kompakte Mauer mit einer doppelten
Lage von Ziegeln verschlossen. Trotz teilweiser Beschädigung der Deckenwölbung
ergab die Rekonstruktion als Sicherheitsmaßnahmen nach innen eine Raumabstützung
mit 5 Paar Wandstreben und nach außen an Ober- und Rückseite eine dicke Schicht von
in Lehm eingebetteten Rollsteinen und darüber eine Abdeckung aus ca. 1 x V2 m
großen Rotsandsteinplatten. Auffällig angesichts dieser massiven, auf ein Höchstmaß
an Sicherheit bedachten Bauweise, mit Fugenabdichtungen aus Tonscherben und einem
58
Magdalene von Dewall
inneren Kalkverputz, sind die in der Höhe angebrachten Scheinfenster von Eingangs-
und Mittelraum, die außen unsichtbar bleiben mußten und keinen praktischen Zweck
erfüllen konnten. Besonders ausgeprägt ist bei unserem Beispiel die Niveauanhebung
von Raum zu Raum: der Fußboden im Zentralraum liegt um drei Lagen von Ziegeln
über der Eingangshalle und der im rückwärtigen Raum nochmals um zehn Lagen
höher. Eine klare Funktion ist in dem — allerdings schon zur Zeit der Ausgrabung
gestörten — Befund weder dem letzten Raum am südlichen Ende noch den beiden
....,-j*
Abb. 23 Unterirdischer
Grabbau des Sung Lin
(gest. 955) bei P’ang-shan
(Szech’uan); Grundriß mit
kreuzförmig um den Sar-
kophag angeordneten
Kammern; Zugang von
N-NW.
Abb.24 Längsschnitt
des Grabbaus für
Sung Lin; mit ver-
schieden hoch ge-
wölbten Decken für
Haupt- und Neben-
kammern; abgesi-
chert mit Stein- u.
Lehmpackung und
Steinplatten (Abb.
23,24 nach: KK 1958:
5, Abb. 1, 2, S. 19).
Seitenarmen zuzuerkennen; Beigaben fanden sich vor allem angehäuft im vorderen
Raum. Vom Grundriß her betrachtet gewinnt man den Eindruck, die zentral betonte
Kreuzform der Raumordnung sei vor allem durch die Aufstellung des steinernen
Sarkophags in ihrem Mittelpunkt bedingt. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die
von Nord nach Süd fortschreitende Verringerung der Raumbreiten, die mit der vom
Kopf- zum Fußende verjüngten Form des Sarkophags korrespondieren. Trotz einer
zentralen Gewichtung in der Funktionsbestimmung der Räume ist deren gemeinsame
betonte Längserstreckung, mit einer Gesamtlänge von über 71/2 m, aber nicht zu ver-
kennen. Auch hier trägt eine symbolische Darstellung der Rücksicht auf die kosmischen
Harmonien Rechnung: die Reliefs auf den Längswänden des Sarkophags zeigen links,
im Osten, den Blauen Drachen und rechts, im Westen, den Weißen Tiger.
Einen Anhaltspunkt für die Ortung eines ähnlich mittelpunkt-orientierten Grab-
komplexes innerhalb des Tumulus bietet das gleichfalls in die Übergangsphase von
Grab und Totenbrauch in China
59
Tang- und Sung-Zeit datierbare Grab des kaiserlichen Usurpators Wang Chien
(847—918), wie das vorige in der Provinz Szech’uan, unweit der Hauptstadt Ch’eng-
tu gelegen (Feng Han-yi 1947; Cheng Te-k’un 1950). Der nach den Umfassungs-
mauern erschließbare Umfang des Grabhügels von 75 m Dm (Abb. 25, 26) erlaubte
Abb. 25 Mausoleum des Usurpators Wang Chien (frühere Shu-Dynastic; gest. 918),
bei Ch’eng-tu (Szech’uan); Lageplan und Schnitte des (rekonstruierten) Tumulus mit
Einbauten (nach: Feng Han-yih 1964, Abb. 5, 6, S. 7).
1, 2, 3 Erster, zweiter und dritter Fundamentmauerring; 4 Mantel des Tumulus; 5 Erdpackun-
gen; 6 Grabkammern.
Abb. 26 Grundriß der Grabkammern im Mausoleum des Wang Chien (nach: Feng
Han-yih 1964, Abb. 7, S. 8).
1 Standbild des Grabherrn; 2 Sicgelkasten; 3, 4 Behälter mit Schrifttafeln; 5 Rückwärtige Halle
„Sanktuarium“; 6 Doppeltere aus Holz, mit Erdrosten; 7 Becken- und Steinlaterne; 8 Katafalk
mit Sockel, von Kriegerfiguren getragen (9); 10 Zentrale Totcnhalle; 11 Dreistufige Schwelle;
12 Vorraum.
eine Rekonstruktion seiner ursprünglichen Ausmaße. Ihr zufolge befand sich der
Mittelpunkt des Tumulus genau über dem mehr als 7 m langen Katafalk, auf dem
unter einem Baldachin der nicht mehr erhaltene Holzsarg ruhte, und zwar im mitt-
leren der drei in Längsrichtung gereihten Räume, also wiederum im räumlichen Mittel-
punkt des ganzen Komplexes. Um die Monumentalität der Anlage voll zu würdigen,
60
Magdalene von Dewall
wäre es notwendig, auf ihre kompakten Konstruktionselemente und auf die innere
Ausstattung näher einzugehen, da aus einer vollständigen Übersicht die absolute
Souveränität des Baugedankens noch klarer hervorträte. Seine Prinzipien sind denk-
bar einfach: Sie beruhen auf der Abfolge von drei Räumen, deren Zugang jeweils
durch eine Schwelle und ein massives zweiflügeliges Holztor verschlossen und damit
rhythmisch unterbrochen, zugleich aber funktional gegliedert ist, und zwar durch
eine Überdimensionierung der mittleren Raumeinheit, von etwa doppelter Länge des
Vorraums und des gleichlangen Stirnraums. Der nicht ausgeplünderte Grabinhalt des
Stirnraums, an dessen Ende eine Statue des Grabherrn mit dem Blick in die Raum-
flucht gerichtet über die Unversehrtheit seines Grabes und seiner vor ihm auf einer
Plattform deponierten kaiserlichen Insignien zu wachen scheint, weist diesen Raum
als Sanktuarium aus oder als Schatzkammer für die Regalien der Herrscherwürde.
Zweierlei an der Architektur dieser Grabanlage ist merkwürdig, wenn wir auf
das erste der eingangs ausgewählten Probleme zurückkommen, das der Grablage und
der Zugänglichkeit. Die Grabräume sind hier, im Unterschied zu den Anlagen des
Tang-Kaiserhauses (Abh. 21), nicht in die Erde eingetieft, sondern zu ebener Erde
errichtet. Folglich gab es keine eingegrabenen Zugänge, weder offene Rampen noch
tunnelartige Stollen. Über den durch eine mehrere Meter starke Mauer verschlossenen
Grabräumen wurde der Hügel künstlich gebaut und ließ keinerlei Zugang offen. Die
Achse der inneren Raumfolge führte damit ins Leere, und der durch Schwellen und
Tore sowohl markierte wie unterbrochene ideelle Prozessionsweg endete, aus dem
Grabinnern kommend, abrupt an dem äußersten der drei Tore.
Sucht man von diesen Beobachtungen einander widersprechender Bauordnungen
für die innere Grabanlage her nun den Anschluß an die vorausgegangene Unter-
suchung ihres oberirdischen Raumgefüges in einem Vergleich der beiden jüngeren
Kaiser-Mausoleen, deren innerer Aufbau in Einzelheiten bekannt wurde, so fallen
hier erneut ähnliche Gegensätzlichkeiten beider auf.
Wie beim Grabbau des Wang Chien verrät auch der Grundriß des Ting-ling
(Abh. 10) keinen unmittelbaren Anschluß an die Außenanlage. Obwohl die Achsen-
führung der Grabräume an sich die mittelbare Fortsetzung für die Hauptachse des
Gesamtkomplexes bildet, ist ihre Diskontinuität am Zugang zum Grabe selbst nicht
allein durch einen kompakten Mauerverschluß, sondern zusätzlich durch eine Ab-
winkelung und eine Absenkung des Grabzugangs in die Tiefe betont. Die Schilderung
der Schwierigkeiten bei der Wiedereröffnung des Grabes durch die Ausgräber (KK
1958:7, 37—39) vermittelt einen lebendigen Eindruck von den Anstrengungen, aber
auch vom Erfolg, mit dem man sich bei diesem Bau um Unkenntlichkeit der Zugänge
und Unerreichbarkeit durch Unbefugte gemüht hatte. Nur aus einer Reihe von Längs-
schnitten ließe sich die komplexe Bauweise des Grabverschlusses bildlich nachweisen.
In den Plänen und Schnitten des Ch’ung-ling (Abb. 27) erscheint der innere Grab-
bau nicht im überdimensionierten Tumulus verborgen, fast verloren wie beim Ting-
ling, sondern organische Verbindungen und eine direkte Abhängigkeit der Maßver-
hältmsse bestehen zwischen Größe und Bauform der Grabräume und dem als weitere
Schale darübergeschichteten Tumulus, mit seiner höchsten Stelle sinngemäß aus der
Mitte nach rückwärts verlagert über der am höchsten gewölbten Raumeinheit, der
Grab und Totenhrauch in China
61
eigentlichen Totenhalle. Ebenso ist der Zugang durch die Grabpassage von Turm-Vor-
bau her (Abb. 11) zwar innen konstruktiv blockiert, aber dennoch bilden im Plan
und Schnitt (Abb. 27) Turmbau und Innenbau eine bauliche Einheit: das Fußboden-
Abb. 27 Ch’ung-ling.
Grabstätte des CWing-
Kaisers Te 7sung (vgl.
Abb. 9, 11). Grundriß
und Längsschnitt des Tu-
mulus und der Einbauten
(größte Breite 31,5 m,
Höhe d. Tumulus ca. 18
m) (aus: Ede 1930, Taf.
II).
niveau der Grabkammern stimmt mit der Fundamenthöhe des Turmbaus überein, die
Kämpferhöhe der Gewölbe ist abgestimmt auf die des Turmsockels, und ihre Scheitel-
höhe bewegt sich im Spielraum bis zur Höhe der Turmterrasse, die sie nicht übersteigt.
Leider steht kein Längsschnitt für das Ting-ling insgesamt zur Verfügung, um auch
hier die Bauhöhen einzelner Bauelemente in ihrer Zuordnung zu mustern. Der Grund-
riß des Ting-ling (Abb. 10) mit der scharfen Trennung des kreisrunden Tumulus vom
unvermittelt ansetzenden geradlinigen Mauerzug der Außeneinfassung macht aber
die vergleichsweise harmonisierte Grundrißgestaltung des Ch’ung-ling unter Einbe-
ziehung seiner Einbauten um so prägnanter.
Die äußerst kompakte Umwehrung des Tumulus folgt mit einem langgestreckten
Halbrund den Grabeinbauten möglichst dicht; am rückwärtigen Ende bleibt zwischen
dem massiven Baukern und der Stützmauer nur ein schmaler aufgefüllter Zwischen-
raum, der sich seitlich leicht verbreitert. An der Frontseite ist der bündig um den
Zwischenhof fortgeführte und mit seiner Brustwehr in Höhe der Terrassenmauer ab-
schließende Mauerring nur wenig vorgezogen, um die kurzen Zugangstreppen von
der Turmterrasse zum Mauerumgang einzuschließen. Von dessen funktioneller Be-
deutung wird unten noch zu sprechen sein.
Die innere Grundrißaufteilung beider Vergleichsbeispiele wiederholt kennzeich-
nende Züge ihrer soweit hervorgehobenen unterschiedlichen Bauprinzipien. Gegen-
über dem Innenausbau des Ch’ung-ling (Abb. 27) mit einer sehr vereinfachten Raum-
aufteilung in die drei Grundeinheiten von Eingang — Mittelraum — Hauptraum,
die mit ihren Verbindungsgliedern nur einer einzigen Achslinie folgen, stellt das
Innere des Ting-ling (Abb. 28) ein verselbständigtes und komplexes Raumgebilde dar.
Eine analytische Beschreibung der unterschiedlichen Raumordnungsschemata hier und
dort soll dies verdeutlichen. Dem Innenausbau im Ch’ung-ling gibt die Anordnung
der Haupträume mit der Raumachse quer zum Erschließungsweg im Grundriß eine
62
Magdalene von Dewall
strukturelle Geschlossenheit, er erscheint gedrungen, aber gegliedert; der Raumein-
druck kann bei zunehmender Höhe und Breite der nacheinander betretenen „Hallen“
als großzügig und weiträumig gewirkt haben, ohne dem Besucher, zur Vorbereitung
Abb. 28 Ting-ling. Grabstätte des Ming-Kaisers Shen T sung (vgl. Abh. 10). Grund-
riß des inneren Raumsystems mit gesonderten Grabgewölben für den Kaiser und seine
beiden Kaiserinnen (nach: KK 1958:7, Abb. 3, S. 41).
Abb. 29 Längs- und Querschnitte der Grabgewölbe im Ting-ling (vgl. Abb. 28) (nach:
KK 1958:7, Abb. 4, S. 42).
1 Erster Vorraum; 2 Zweiter Vorraum; 3 Zentralraum mit Thronsessel und Zeremonialgerät;
4 Totenhalle des Kaisers; 5 Grabgewölbe vorgesehen für die Rechte und Linke Kaiserin.
eines solchen Raumeindrucks, vorher das Durchschreiten langer enger Durchgangs-
schleusen abzufordern. Mit dem Einschieben einer Zwischenkammer vor der Toten-
halle selbst wird ein Innehalten in der Raumflucht erreicht ohne die Zuhilfenahme
Grab und Totenbrauch in China
63
längerer tunnelartiger Gänge. Von außen kommend verengt sich das Vestibül nach
einer Abschlußtür auf den ersten Durchgang zum Mittelraum; ein solcher Durchgang
wiederholt sich zweimal, vor der Zwischenkammer und vor der Totenhalle, hier mit
einer zweifachen Tür einmal nach außen und auch nach innen zu verschließen.
Die Rolle des mittleren Raumes bleibt noch zu klären; die bauliche Gewichtung
liegt jedenfalls eindeutig auf der Totenhalle, der hintersten Raumeinheit. Eine
leicht erhöhte Plattform zieht sich an deren Stirnseite quer durch den Raum, dazu
bestimmt, fünf Särge bzw. Katafalke aufzunehmen für den Kaiser in der Mitte und
seine vier Gemahlinnen oder Nebenfrauen zu beiden Seiten. Eine rituell vorgeschrie-
bene Öffnung im Mauerwerk unter dem Platz der kaiserlichen Bestattung sicherte
dieser die direkte Verbindung zur gewachsenen Erde. Der funktionale Mittelpunkt,
die Beisetzung des Grabherrn, ist in diesem Fall also aus dem Zentrum der Raum-
ordnung gerückt, aber andererseits durch baugestalterische Maßnahmen in den geisti-
gen Bezugspunkt des Grabkomplexes verwandelt worden. In dieser Raumaufteilung
scheint sich die konsequente Fortführung des für die Außenanlage beherrschenden
Baugedankens einer räumlichen Steigerung entlang der rhythmisch unterbrochenen
Längsachse auch auf die Grabräume im Inneren auszuwirken.
In der ebenfalls für den Kaiser und seine Gemahlinnen errichteten Anlage des
Ting-ling (Abb. 28, 29) stimmen nur wenige Grundzüge mit dem Ch’ung-ling über-
ein, darunter allerdings die zuletzt betonten am auffälligsten: die Bestattung des
Kaisers selbst fand Platz in der Mitte der Rückwand der innersten, auch hier quer zur
Hauptachse gestellten Totenhalle, auf einem Podest mit Blickrichtung auf den
Eingang zu (vgl. Längsschnitt Abb. 29). Für die beiden Kaiserinnen waren ursprüng-
lich jeweils gesonderte ebenso extrem lange Gewölbe vorgesehen, die als eigen-
ständige, über lange Tunnelgänge erreichbare, am Eingang durch Doppeltüren abge-
sicherte Seitenflügel dem Mittelraum symmetrisch zugeordnet sind. Die einfache
Raumfolge anderer Gräber ist hier also zum komplexen Raumsystem umgebildet, um
eine Bestattung der beiden Gemahlinnen in der Grabanlage des Kaisers auch nach
dessen Tod zu ermöglichen, ohne seine Grabkammer selbst betreten zu müssen.
Auf die Geltung als Hauptraum erhebt daher nicht mehr eindeutig die Halle mit
dem Sarg des Grabherrn am rückwärtigen Ende allein Anspruch, obwohl sie in den
Abmessungen immer noch alle anderen Bauteile übertrifif. Durch die kreuzweise
Anordnung der Gewölbe und Verbindungsgänge um den in der Mitte des Plans
liegenden Raum übernimmt dieser in der Raumgliederung und im Verbindungs-
system eine zentrale Funktion. Das einhellige Ordnungsprinzip anderer Grabanlagen,
das alle anderen Raumteile zur Unterordnung unter die Raumeinheit zwingt, die die
Bestattung aufnimmt, ist hier umgestoßen, indem einmal die Seitenflügel mit eigenen
Nebenkammern und Verbindungstrakten eine unabhängigere Stellung im Gesamt-
gefüge einnehmen und der Mittelraum als Angelpunkt des Ganzen aufgewertet wird.
Aber auch für seine rituell gesteigerte Bedeutung gibt es in diesem Fall eindeutige
Indizien, denn in seinem rückwärtigen Teil fand man bei der archäologischen Frei-
legung des Grabes (KK 1958:7, 36 ff.) noch die Thronsessel, den des Kaisers an der
Stirnseite, die beiden seiner Kaiserinnen einander gegenüber an den Seitenwänden.
64
Magdalene von Dewall
Diese formelle Anordnung von Einrichtung und Gerätschaften als Rahmen für
die offizielle kaiserliche Audienz entspricht ganz der Überlieferung für den Ablauf
einer solchen zeremoniellen Handlung im Kaiserlichen Grabtempel (Fonssagrives
1907). Eine traditionell beschriftete, nicht maßstabgerecht gezeichnete Lageskizze des
Grabes für Te Tsung, d. h. das Ch’ung-ling, benennt die einzelnen Raumeinheiten
des Grabgewölbes mit 1. shan-t’ang = Halle des aus-dem-Wege-gehens, für den
Eingangsraum, 2. ming-t’ang = Halle des Leuchtens für den Mittelraum, 3. ch’uan-
t’ang = Halle des Durchdringens für die Zwischenkammer und schließlich 4. Be-
stattungs-Halle (Bouillard 1920, pl. XL). Zu dem Begriff ming-t’ang, der Assozia-
tionen an später idealisierte rituelle Institutionen der Chou-Zeit (1. Jtsd. v. Chr.)
hervorruft, gibt es inzwischen eine ganze Literatur. Unter ihren vielen Bedeutungs-
spielarten wird man für die ming-t’ang im Grabbau nach Ausweis des Ting-ling für
den Wan-li-Kaiser am ehesten die der Audienzhalle zur Erklärung heranziehen dür-
fen. Auf eine allgemeinere Bedeutungsebene transportiert könnte man dann bei einer
Raumgliederung, wie sie für die Innenräume beider Mausoleen, aber auch bei vielen
weiteren archäologischen Vergleichsfunden besteht, von einer Analogie zum Palast-
bau, aber erweitert auch von einer solchen zum Wohnbau ausgehen, die dem Drei-
klang von Eingang — Empfangsraum — Privatbereich unterliegt. Allerdings darf
man nicht vergessen, daß, von Ausnahmen wie einer feierlichen Versammlung des
Wan-li-Kaisers anläßlich der Fertigstellung seiner Grabstätte zu seinen Lebzeiten
in den Räumen des Grabes (vor Errichtung des Tumulus) abgesehen (Pirazzoli 1971),
die Grahräume ja niemals öffentlichem Gepränge dienten. Alle Maßnahmen zur inne-
ren Ausgestaltung und Ausstattung mußten sich folglich an andere Adressaten richten
als an die etwa durch die äußere Baugestaltung angesprochene Nachwelt.
Zur Lösung dieses Paradoxon zwischen dem Kommunikationsdrang auf der einen
Seite, den u. a. die zahllosen bildlichen Szenen in den Grabräumen seit der Han-Zeit
so profiliert bekunden, und der totalen Absicherung des einzelnen Grabes gegen jede
weitere Zugänglichkeit auf der anderen Seite werden noch umfassende Studien not-
wendig sein.
Die latente Spannung zwischen Kommunikationsfreundlichkeit im äußeren Teil
der Grabanlage und Kommunikationswiderstand im inneren wiederholt sich mit
anderen Mitteln der baulichen Gestaltung auch in den Grabeinbauten selbst. Die klare
symmetrische Anordnung der Raumzellen, ihre übersichtliche Aufschließung in der
Regel von der Breitseite her, ihre Staffelung nach Höhe und Weite oder die rhyth-
mische Unterbrechung durch schmalere und wieder verbreiterte Durchgänge sind im
Prinzip ebenso auf Raumdurchschreiten und Raumerleben angelegt wie die im rhyth-
mischen Wechsel von Bausubstanz und Freiraum erreichte äußere Raumorganisation.
Die interne Verschließbarkeit der Raumzellen gegeneinander durch Türen (mit be-
weglichen Türflügeln) muß dabei ihrer Doppelfunktion nach nicht anders gesehen
werden als bei den Torbauten und Torhallen außen: sie dienen der Sicherung nach
innen ebenso wie der Öffnung nach außen. Der grundsätzliche Unterschied liegt nur
darin, daß Durchgangstore als baugestalterische Mittel im Kontext des Freiraums
eine stärker raumordnende Rolle spielen und damit den Kommunikationsfluß leiten,
also indirekt positive Wirkungen auslösen, während Türen am Abschluß von Innen-
Grab und Totenbrauch in China
65
räumen, speziell von Gewölben, totale Schranken setzen, da einmal die Fortbewegung
behindert, aber auch die freie Sicht eingedämmt ist.
Es würde sich lohnen, den Gedanken der Kommunikationsfreundlichkeit chinesi-
scher Grabanlagen weiter zurück zu verfolgen, um solche interessanten baugeschicht-
lichen Erscheinungen wie, oberirdisch, die Grabpfeiler der Han-Zeit oder die Statuen-
alleen der sog. Geisterwege und, unterirdisch, die der Zugangsstollen mit ausgemalten
Seltenwänden und die echten oder imitierten Toraufbauten über dem Eingang zur
Grabkammer in T’ang- und Sung-Gräbern als Kommunikationsträger zu unter-
suchen, wozu hier keine Möglichkeit besteht.
Die Tatsache, daß in den exemplarisch behandelten späten Kaisergräbern die inne-
ren Räume, von Bekrönungen über den Türlaibungen abgesehen, nicht mehr die bis
zur Sung-Zeit durchaus üblichen architektonischen Zierformen und Imitationen von
Architekturteilen aus Holz oder auch von Einrichtungsgegenständen, ja sogar von
Begleitpersonal aufweisen, zwingt zur Vorsicht gegenüber zu weit verallgemeinern-
den Rückschlüssen. Sie macht nämlich deutlich, daß für eine Erörterung chinesischer
Grabanlagen auch die historische Einordnung jedes spezifischen Sachverhalts uner-
läßlich ist, wenn man eine Rekonstruktion der wesentlichen Entwicklungslinien an-
strebt. In den Bauauffassungen einander ablösender Epochen zeichnen sich nicht nur
Schwankungen oder sogar gegensätzliche Positionen ab, sondern mitunter scheinen
aus dem archäologischen Befund auch Rückgriffe auf Baudispositionen für unter-
irdische, also undokumentierte, Einbauten über sehr große Zeiträume hin ablesbar.
Die keineswegs einheitlichen, ja in ihren Tendenzen geradezu einander entgegen-
wirkenden Raumordnungen verbieten deshalb auch, eine im Einzelfall durchaus über-
zeugende Erklärungsmöglichkeit unbesehen als Regelfall hinzunehmen, wie etwa die,
die Grabanlage als Replik eines Wohnhauses oder Amtssitzes zu betrachten. Wohl
gibt es in mehreren Fällen Han- oder T’ang-, auch Sung-zeitlicher Gräber ikono-
graphische Indizien, daß der innerste Sargraum als Intimsphäre gestaltet wurde,
den inneren Gemächern des Hausherrn zu seinen Lebzeiten vergleichbar, und die
Analogie mit den Verrichtungen innerhalb und außerhalb des eigenen Hauses ließe
sich über die Ausmalung und Ausstaffierung der Vor- und Nebenräume weiter
durchführen.
Geht man aber von einem Deutungsversuch für den Gesamtbefund aus, so kann
diese Parallele mit dem Wohn- oder auch Palastbau trotz der formalen Übereinstim-
mung mancher Bauformen und der Anwendung verwandter Gliederungsschemata aus
mehreren Gründen nicht recht befriedigen. Auf eine In ihren Außentellen und Innen-
einbauten voll dokumentierte Grabanlage wäre der Vergleich nicht mehr anwendbar.
Zu sehr dominiert im Baukonzept und in der Baugestaltung des Grabes der massive
Tumulus, auch da, wo er nur kleine Ausmaße erreicht, als daß seine Bedeutung
herabgesetzt werden könnte, um ihn den innersten Privaträumen des Wohnhauses
gleichzustellen. Man wäre allenfalls geneigt, eine Parallelität der Auffassung zwischen
Grabtempel und Empfangshalle des Wohnhauses zu akzeptieren, da beide die Stätten
abgeben, an denen der Grabherr/Hausherr seine Kontakte zur Außenwelt unterhält
und zu der Besucher des Grabes/Hauses Vordringen. Aber damit endet die mögliche
Parallelisierung, zumal ja deutlich hervortrat, wie stark das Gewicht der Bewegungs-
5
66
Magdalene von Dewall
richtung von Raum zu Raum bis hin zum Tumulus im Bauplan ist. Sie markiert eben
doch im Baugedanken ganz ausgesprochen einen einsinnigen Weg, ohne Umkehr-
barkeit, wie er für ein Verbindungssystem im profanen Wohnbau absurd wäre.
Wenn demgegenüber hier das latente Spannungsverhältnis zwischen den Bau-
prinzipien der gelenkten Zugänglichkeit und der Absonderung und Ablösung vom
alltäglichen Umraum als Deutungsbasis herausgestellt wurde, so hat natürlich auch
diese Formel in erster Linie heuristischen Wert. Er liegt darin, in der Flut der Formen
und Kombinationen zunächst noch im Beobachtungsfeld der Baugestaltung selbst
Kristallisationspunkte als Organisationsdaten anzubieten, um die sich überzeugende
Sinngebilde gruppieren lassen.
Aufgeschlossenheit und Abweisung kennzeichnen, mit nur geringer Akzentver-
schiebung weg von der Raumplanung zu menschlichen Verhaltensweisen ja auch ganz
bestimmte Haltungen. Treffen wir sie in ihrem Spannungsgegensatz als ein Spezifikum
des Grabbaus, so müssen diese Haltungen mit der Einstellung zum Tode und zum
Toten in Beziehung stehen. Die eingangs nur summarisch als diesseitig und daseins-
bejahend charakterisierte, dem Tode gegenüber indifferente Lebenshaltung bedarf der
Korrektur und Ergänzung, um den geistigen Antriebskräften gerecht zu werden, die
die Eigenheit des chinesischen Grabbaus bewirkten. Wenn sie sich in den streng ortho-
doxen Denksystemen nicht niederschlugen, so bleibt doch noch die Möglichkeit, inner-
halb der unter dem Begriff des Universismus miterfaßten unkanonischen Geistes-
strömungen nach ihnen zu suchen. Dies setzt voraus, das Grabmal als Bauform auch
in seinen sozialen Beziehungen zu verstehen, und der Diskussion der Raumformen
muß daher die der Todesvorstellungen und der zwischenmenschlichen Aktionen zwi-
schen Lebenden und Toten folgen.
4. Die Bedeutung von Grabmal und Tod für die Lebenden
Haben wir das Grab bisher ausschließlich als Raumprogramm untersucht, so wäre
doch noch zu fragen, wie weit Deutungsmöglichkeiten sich auch aus sekundären Merk-
malen am Grabe ergeben, die bisher außer acht gelassen wurden.
Verselbständigte ikonische Bedeutungen einzelner Baukörper machen sich kaum
geltend, denn selbst die zahlreich verwendeten Tor- und Türbauten erlaubten eine
Sinndeutung über Ihre primäre Zweckbestimmung hinaus nur in der Einordnung in
den Gesamtkomplex. Bildlicher Schmuck und plastische figürliche Gestaltungen haben
fast immer den Charakter von allgemeinen Glückssymbolen, wie sie auch sonst in der
angewandten Kunst begegnen, aber als glückverheißende Omina gerade im Bereich
der Grabkunst sinnvoll erscheinen. Zu den Omina dieser Art sind auch die individuel-
len Namen kaiserlicher Gräber oder die einzelnen Bauteilen verliehenen blumigen
Bezeichnungen (Ede 1930) wie Halle der Großen Gnade, Jadegürtel-Bach u. a. zu
zählen. Profane und phantastische, auch mit Glücksbedeutungen angefüllte Tier-
darstellungen begegnen, zusammen mit Figuren von Zivil- und Militärbeamten und
Ehrensäulen, in den Statuenalleen der „Geisterwege“ oder Heiligen Wege, auf deren
besondere Sinndeutung ich an anderer Stelle eingehen möchte. Auch kosmologische
Symbolfiguren auf Grabstelen lassen den geistigen Hintergrund ihrer Urheber durch-
scheinen.
Grab und Totenbrauch in China
67
Einzigartig in seinem Ansatz zur Monumentalisierung durch eine direkte bio-
graphische Bezugnahme steht bisher das Grab des Han-Generals Huo Ch’ü-ping (gest.
117 v. Chr.) da, dessen Tumulus Kaiser Wu (141—87 v. Chr.) seinem verdienten
Reitergeneral in Anspielung auf den Schauplatz seiner siegreichen Schlacht gegen die
Hslung-nu, die Erzfeinde des Reiches, als Felsenlandschaft von K’i-lin nachbilden ließ.
Eine noch heute erkennbare Beziehung zu den persönlichen Ruhmestaten des Feld-
herrn stellt unter den verschiedenen Tierskulpturen, die an seinem Grabhügel aufge-
stellt waren (Lartigue 1927) die des über einen am Boden liegenden bärtigen Bogen-
schützen hinwegschreitenden Pferdes dar. Das Pferd ist ungesattelt und ungezäumt;
es gibt keine Hinweise auf den Reiter, es ist also kein Feldherrndenkmal im üblichen
Sinne, da die Darstellung des Helden ausgelassen ist. Die Beziehung zu seiner Bio-
graphie ist nur angedeutet, aber nicht ikonographisch voll ausgeschöpft; auch die Auf-
stellung der Figur vor dem Grabe, wo ihr ursprünglich ein Pendant gegenüberstand,
widerspricht ihrer Deutung als glorifizierendes Denkmal.
Die aufschlußreichste Informationsquelle über den Toten, seine Tugenden und
Verdienste zu Lebzeiten bilden natürlich die am Grab angebrachten oder darin depo-
nierten Inschriften auf Epitaphen. In den einfachsten Fällen tragen sie Namen und
Angaben über Familie, Titel, Herkunft, öffentliche Auszeichnungen und Ämter, Ge-
burts- und Todesdatum, sind aber auch von Segenssprüchen und Wunschformeln be-
gleitet (Abb. 18) oder von längeren Eulogien, die dann, wenn sie außen zu lesen sind,
dem Grab einen denkmalartigen Charakter verleihen, den es nicht allgemein besitzt
und nicht betont.
Eine Gesellschaft, die wie die chinesische so ausgesprochen auf den ethischen Werten
der Tugend und der Rechtlichkeit im Sinne eines beispielgebenden Verhaltens und
nachahmenswerter Handlungsprinzipien fußt, wird zwangsläufig Ausdrucksformen
suchen, Verdienste ihrer hervorragenden Mitglieder durch Ehrungen auszuzeichnen,
die auf die Nachwelt einen nachhaltigen Eindruck machen und die erforderliche
didaktische Wirkung des Nacheiferns auch garantieren.
Der Nachdruck, den die Ehrung einesteils erfahren soll, aber die Notwendigkeit
anderesteils, die Angemessenheit von Verdienst und Grad der Auszeichnung in jedem
einzelnen Fall zu wahren, fand ihren Niederschlag in einem vielschichtigen System
öffentlicher Ehrungen. Dabei bestand ganz offensichtlich für das Einbeziehen der
Grabplätze selbst keine zwingende Notwendigkeit mehr. Es läßt sich auch aus man-
chen Textaussagen vermuten, daß individuelle Handlungen der Glorifizierung ver-
storbener Angehöriger und der Monumentalisierung persönlicher Gedenkstätten unter-
bunden werden sollten. Ausnahmen davon bilden die Grabstätten der Großen der
Nation, wie die Grabtempel des Konfuzius in Ch’ü-fu (Provinz Shantung), des Kuan-ti
(Abb. 18) oder das Mausoleum von Sun Yat-sen außerhalb von Nanking. Insgesamt
ist unverkennbar, daß das Grab als potentielles Ehrenmal gegenüber anderen baulichen
oder immateriellen Formen des ehrenden Gedenkens zurücktritt.
Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie nicht aus etwaiger Geltungssucht prahlender
Familienangehöriger zustande kommen konnten, sondern als Akte kaiserlicher Gnade
entweder direkt durch den Thron oder die örtlichen Behörden als dessen Vertreter
veranlaßt waren. Dazu zählen etwa die Rangerhöhung in der Beamtenhierarchie oder
68
Magdalene von Dewall
die postume Erhebung in den Adelsstand, die dann alle Nachfahren mit einschloß,
oder auch die Errichtung eines p’ai-lou, einer Ehrenpforte auf freier Straße, die von
der kaiserlichen Verleihungs-Inschrift bekrönt wurde, ebenso die Errichtung von Ge-
dächtnisstelen an markanten Stellen des öffentlichen Lebens, oder schließlich die
„Verewigung“ durch eine persönliche Biographie in den offiziellen Geschichtsannalen
der kaiserlichen Dynastie.
Auch solcher Nachruhm, in die Geschichte eingegangen zu sein, schlug sich wie
jegliches Verdienst eines verstorbenen Ahnen um das größere Gemeinwohl nicht nur
in seiner ehrenvollen Erinnerung innerhalb der Sippe selbst als Auslösemoment eines
stärkeren affektiven Zusammenhalts nieder. Vielmehr festigten und steigerten per-
sönlicher Erfolg und sein öffentliches Anerkenntnis das Ansehen des Sippenverbandes
insgesamt in der Gesellschaft weit über den Tod des verdienten Mitgliedes hinaus
und trugen damit zum Wohlstand und Florieren einer Sippe bei, wie sie auch auf
das Selbstbewußtsein seiner einzelnen Angehörigen direkt zurückwirkten — die
chinesische Literatur ist voll von Beispielen dafür.
Die Frage, ob eine Sinngebung des Grabes als Gedenkstätte nach Art des Ehren-
mals aus außerhalb liegenden Quellen möglich ist, muß man also, mit geringen Ein-
schränkungen, verneinen. Die enge Wechselbeziehung zwischen persönlichem Verdienst
und gesellschaftlicher Würdigung findet ihren Ausdruck im Bereich der familien-
gebundenen Ahnenverehrung, aber nicht gezielt in einer Verherrlichung im Grabmal.
Als Memorialbau zur Kundgebung eines politischen oder ideologischen Vermächt-
nisses wurde das Grab nicht genutzt, es hat keine persönliche Zeugniskraft.
Dennoch kann nach chinesischen Vorstellungen nicht geleugnet werden, daß die
persönliche Existenz Fortbestand hat über den Tod hinaus, nur über die Art dieser
Fortdauer, ihre Formen und ihre Wirkungsweise gehen die Auffassungen auseinander.
Diese Vielfalt der Auffassungen erklärt auch die Schwierigkeit, eine davon als die
für die Form des Grabbaus primär verantwortliche zu konkretisieren.
Das Bewußtsein dessen, was tatsächlich mit den Gräbern geschah, war allerdings
vorhanden und schlug sich in Form von Entrüstung und Maßregelung im semi-offi-
ziellen Schrifttum schon in früher Zeit nieder. Darüber, daß die Sorge für das Leben
nach dem Tode — in welcher Form Immer man es sich vorstellte — voll zu Lasten der
unmittelbaren, und zwar der männlichen Nachkommen geht, gibt es keinen Zweifel.
Darauf gründet sich auch der Wunsch jedes Chinesen nach zahlreicher und prosperie-
render Nachkommenschaft, denn erste Obliegenheit eines auf das Wohl seines Vaters
bedachten Sohnes ist, ihm einen Erben zu zeugen, der den Fortbestand der Sippe
sichert, nämlich die Sorgepflicht für die Ahnen und die Toten verantwortlich über-
nimmt und weiterreicht. Worin diese Sorgepflicht besteht, schreiben die Riten im
Grunde sehr genau vor. Sie staffelt sich gemäß dem Verwandtschaftsverhältnis zu dem
Toten und drückt sich auch in dementsprechend angepaßten Formen der Trauerklei-
dung und der Dauer der Trauerzeiten aus. Die Praxis in der Ausgestaltung der
Gräber, wie sie sich jetzt im archäologischen Befund spiegelt, ist von einer solchen
rituell abgestuften Anpassung an vorgegebene Normen jedoch weit entfernt.
Von hier gesehen wird erst verständlich, warum Texte wie z. B. das Lü-shih-
ch’un-ch’ia (= Frühling und Flerbst des Lü Bu Wei) den übertriebenen Aufwand in
Grab und Totenbrauch in China
69
der Grabausstattung, um sich gegenseitig auszustechen, nicht nur als Mißbrauch von
Reichtum und als schlechtes Beispiel brandmarken, sondern auch rügen als Verstoß ge-
gen das wesentliche Gebot: „Bestatten heißt, an eine sichere Stätte bringen.“ Die Sicher-
heit und Unversehrtheit der Gräber und das Ungestörtbleiben der Toten erreiche man
aber allein damit, daß keine begehrenswerten Gegenstände mit ins Grab gegeben
werden, die nur eine Herausforderung an Plünderer und Übeltäter seien. Diese Mah-
nungen stammen aus einer Zeit, aus der in der Tat eine Unzahl ursprünglich reicher
aber beraubter Gräber ihre Berechtigung erhärten. Eine, freilich nicht vorhersehbare,
Rechtfertigung liefert auch das Gegenbeispiel eines ungestörten und ungewöhnlich
luxuriösen Grabfundes der Han-Zeit: Bei der Bestattung der Marquesa von T’ai im
Grab Nr. 1 von Ma-wang-tui bei Ch’ang-sha haben die Ermahnungen gefruchtet;
die Tote, obwohl mit Haushaltgut auch hochwertiger Qualität reichlich versehen und
mit Zeremonialgaben bedacht, erhielt keine Juwelen und Wertsachen mit ins Grab,
und sie blieb darin ungestört und sogar körperlich erhalten bis zu seiner Entdeckung
durch die Archäologen.
Daß gerade in einer Zeit geistigen Umbruchs wie der Han-Zeit die Abweichungen
von der Norm der rituellen Vorschriften und die Suche nach individuellen Ausdrucks-
formen auch in der Grabkunst spürbar werden, muß nicht verwundern, auch wenn
sich die Auflösungserscheinungen deutlicher zeigen lassen als die Tendenzen, die sie
hervorrufen und die zur Formulierung der neuen Vorstellungen drängen. Das Ein-
dringen taoistischer Elemente in die Sinnbilder der Han-zeitlichen Gebrauchs- und
Bildkunst ist eine natürliche Begleiterscheinung der geistigen Neuorientierung jener
Epoche. Wenn sie aber auch in der Grabkunst an zentraler Stelle wirksam werden,
wie etwa in der Abschilderung seltsamer Abenteuer von Fabelwesen in einer völlig
unrealistischen Wolkenlandschaft auf der Sargwand im Grab der Marquesa von T’ai,
muß man sich auch der Frage nach den taoistischen Jenseitsvorstellungen in ihrer
möglichen Beeinflussung von Grabkunst und Grabbau stellen.
Die Suche nach Unsterblichkeit, von den Taoisten der Han-Zeit propagiert, war
gekennzeichnet durch den Wunsch nach langem Leben, nach Überwindung von Alter
und Tod, durch Weltflucht in die Gefilde der Seligen, die zwar Paradies, aber eben
Wunsch-Projektion des im diesseitigen Leben Versagten waren, kein Totenreich, son-
dern der absolute Gegenpol des Diesseits, mit positivem Vorzeichen. Bauer (1971)
spricht sehr treffend vom Bereich der Nicht-Kultur, in dem die Phantasiewelt des
Taoismus angesiedelt ist. Charakteristisch haftet ihr daher das Unstet-Schweifende
und Inselartige an, sie Ist räumlich nicht faßbar, also auch nicht im Abbild, sondern
allenfalls in Symbolen kosmischer Spekulationen oder in Metaphern des Flüchtigen
und Paradiesischen darstellbar. Daß von diesem geistigen Hintergrund her oder aus
dieser seelischen Haltung heraus die wesentlichen Anstöße zur ideologischen Konzep-
tion der Grabgestaltung gekommen seien, ist obenhin kaum zu erwarten.
Bei näherem Zusehen ergeben sich aber doch Berührungspunkte zwischen dem
Phänomen Grab und Tod und gewissen Zügen in den taoistischen Jenseitsvorstellun-
gen. Die absolute Vereinzelung der Person in der Begegnung mit dem Tod hat ihr
Gegenstück in der ganz subjektiven Wirklichkeitserfahrung des taoistischen Mystikers;
die vom Taoisten gepriesene Untätigkeit in weltlichen Dingen hat ihren Höhepunkt
70
Magdalene von Dewall
angesichts des Grabes erreicht, das nur noch ein Gewährenlassen und Geschehenlassen
erlaubt. Daß schließlich die Bemühung um leibliche Unsterblichkeit sich fortsetzte in
solche um Bewahrung des Körpers, auch wenn der physische Tod eingetreten war,
geht direkt auf eine Ausweitung taoistischer Vorstellungen zurück.
Wenn dennoch nicht eine eigentlich transzendentale Ausrichtung vom Taoismus
her auf die Gestaltung des Grabwesens Einfluß nehmen konnte, so lag das wohl an
der Popularisierung und zugleich Profanisierung, die seine Gedanken und Praktiken,
stimuliert durch das Vorbild der Kaiserhofs und der Adelskreise, im Lauf der Han-
Zeit erfuhren. Eine weltliche Transformation des Unsterblichkeitsgedankens ging
damit einher, und die diesseitigen Vergnügungen und Annehmlichkeiten wurden be-
reitwillig mit in den Zustand der paradiesischen Jenseitigkeit transferiert. So tradiert
z. B. das Shih chi (= Record of the Grand Historian) vom legendären Dynastie-
gründer Huang-ti, er sei mit seinem ganzen Gefolge, einschließlich der mehr als
siebzig Haremsdamen „zum Himmel aufgestiegen“ (Yü Ying-Shih 1964, 105).
Nicht eine Vergeistigung, sondern eine Verweltlichung des Todes als Übergang in
eine veränderte, eher räumlich verengte als geistig erweiterte Daseinsform ist es auch,
was uns in den Gräbern jener Zeit als Grundeinstellung begegnet. Die taoistischen
Grundströmungen, die man in der Dichtung festgestellt hat und auf die Wirklichkeits-
flucht und Diesseitsbejahung der Taoisten generell übertragen kann; die eskapistische,
die mystisch-religiöse und schließlich die romantisch-erotische, haben, ohne direkt ein
Gestaltungsprogramm für das Gehäuse des Toten zu entwerfen, doch das geistig-
seelische Klima der Han-Zeit so nachhaltig mitgeschaffen, daß ihr indirektes Mit-
wirken an der Ausgestaltung der Gräber nicht überraschen kann. Das Transzendente
und Irrationale hatte zwar nur ungenügende Ausdrucksformen aber seinen festen
Platz in der diesseitigen Welt gefunden.
Alles was sich im Grab selbst abspielt, hat allerdings eine recht klare Ordnung, die
des Hauswesens selbst. Der Tote bleibt eingegliedert in seine soziale Umwelt mit allen
Obliegenheiten seiner Stellung, als Fürst, als Beamter, als Hausvater, und mit allen
Dascinsfreudcn des Lebens. Bewahrung des Besitzstandes heißt die Maxime. Die
materiellen Ausdrucksformen, die die Erschaffung dieser Totenwelt dabei annimmt,
sind austauschbar. Sie sind als Dokumente des Kunstsinns und der Kunstfertigkeit
für die Kunstgeschichte wichtiger als unmittelbar beziehungsreich für die Geistes- und
Sozialgeschichte.
5. Der Personwert des Toten in Grabritus und Ahnenkult
Überlegungen und Sinndeutung des Grabmals in China wurden bisher zu dessen
baulichen und bildnerischen Manifestationen angestellt unter der Voraussetzung, daß
sie als Verkörperungen von Vorstellungen über Tod und Jenseits in erster Linie zu
befragen seien. Doch wurde der Bereich der visuellen Gestaltung schon mehrfach ver-
lassen, um Aussagen zu diesem zentralen Thema menschlicher Existenz auch in ande-
ren Ausdrucksformen des chinesischen Geisteslebens nachzuspüren. Man wird das
schwierige Problem persönlicher Todesvorstellungen ohne die Möglichkeit des Rück-
griffs auf metaphysische Jenseitsauffassungen religiöser Art hier nicht ausdiskutieren
Grab und Totenbrauch in China
71
können. Man kann es jedoch ohne Schaden ausklammern, wenn man an die Stelle
einer Beschäftigung mit der individuellen Todes- und Jenseitserwartung die kollektive
Bewältigung der Todeserfahrung setzt, wie sie sich in den Beziehungen zwischen den
Lebenden und den Toten äußert. Die Feststellung, daß das Grab wohl primär Ver-
wahrungsort des Verstorbenen, aber keineswegs die einzige und nicht einmal unbe-
dingt die zentrale Stätte der Begegnung mit dem Toten ist, nötigt zum weiteren
Nachdenken über die Natur dieser Begegnung — oder kann man nicht sogar von
einem Umgang mit dem Toten sprechen?
Wenn die traditionelle chinesische Lebenseinstellung keine metaphysisch definierte
Existenzform jenseits des Todes kennt — so müßte man logisch argumentieren —,
dann könnte eigentlich von einem Bezugsverhältnis zwischen Lebenden und Nicht-
mehr-Lebenden nur als Nachklang der gewesenen Verwandtschaftsbeziehungen ge-
sprochen werden; ein Agieren auf seiten der Lebenden würde kein Reagieren auf der
Gegenseite auslösen. Sowohl eine Einflußnahme der Lebenden auf eingetretene, aber
möglicherweise wandelbare Daseinszustände der Toten — durch den Buddhismus
gefördert, gibt es z. B. im Volksglauben auch dem Fegefeuer und Jüngsten Gericht
vergleichbare Erscheinungen —, wie umgekehrt das Herbeiführen gewünschter oder
die Abwehr gefürchteter Einflußnahme von seiten der Toten auf das Dasein der
Lebenden wären dann hinfällig. Von einem Verhalten von den einen zu den anderen,
das Aktionen und psychische Vorgänge zum Inhalt hat, könnte man dann kaum zu
Recht sprechen; die Anlage der Gräber, ihre Instandhaltung, ihr Besuch usw. wären
dann lediglich Akte der Selbstbeschwichtigung oder Selbstdarstellung, ohne an einen
potentiellen Empfänger gerichtet zu sein.
Ein solches Argument ginge für den chinesischen Totenbrauch allerdings völlig
an den Tatbeständen vorbei. Denn die religionsgeschichtliche Forschung -— vor allem
ist hier das Werk von de Groot, The Religious System of China (1892—1910), zu nen-
nen — hat reichlich darüber Aufschluß geliefert, daß auch ohne das Bestehen eines zum
System durchgebildeten Jenseitsglaubens der Tote als sehr reale Kraft existent und
handelnd gedacht und erlebt wird. Es ist das Verdienst der sozialanthropologischen
Untersuchungen von Ahern, The Cult of the Dead in a Chinese Village (1973), die
sie in der kleinen Landgemeinde von Ch’i-nan in Nord-Taiwan unter einer traditio-
nell lebenden bäuerlichen Bevölkerung durchführte, mit ihren aufschlußreichen Ein-
zelbeobachtungen zur Ahnenverehrung und zum eigentlichen Toten- d. h. Gräberkult
Klarheit in das Verhältnis beider gebracht zu haben.
Gemeinsam ist beiden Formen des Handelns, daß der Tod eines Familienmit-
gliedes als das auslösende Moment der Handlungen ein folgenreiches soziales Ereignis
für den Familienverband und die internen Rollenverschiebungen darstellt (Freed-
man 1967), daß er aber nicht als persönliches Desaster in die Familiensituation her-
einbricht. Für beide Existenzformen des Verstorbenen, die des Ahnen, der im Ahnen-
kult als gegenwärtig verehrt wird, und die des Toten im Zusammenhang des Kults
am Grabe, gilt, daß sie als Fortsetzung der diesseitigen Existenz empfunden und dem-
entsprechend behandelt werden, allerdings mit bedeutungsvollen Unterschieden gegen-
einander, aber nicht wesensmäßig gegensätzlich zur menschlichen Existenz.
72
Magdalene von Dewall
Eine mögliche Trennung von Opferhandlungen an Kultstätten, die am Grabe
einiger Han-zeitlicher Würdenträger spezifische Funktionen übernahmen, von dem
ursprünglich nur dem Herrscherhaus und den Feudalherren zustehenden Ritus im
Ahnentempel hatte schon Croissant (1964) in ihrem Versuch, die Funktion dieser
Opferschreine (tz’u-t’ang) aus ihrem Dekor zu deuten, erwogen. Die von ihr schon
innerhalb der Han-Zeit beobachtete Funktionsverlagerung für diesen Schrein von
einer Opferstätte zu einem Ehrenmal und schließlich das vollständige Erlöschen dieser
oder vergleichbarer für Kulthandlungen bestimmter Bauelemente im zugänglichen
Teil der Gräber — mit Ausnahme der kaiserlichen Mausoleen — weisen auf eine
geistige Entwicklung, die sich auch in der schriftlichen Tradition auszuwirken scheint.
Sie geht darauf hin, den Vollzug solcher ritueller Handlungen am Grabe und die
Errichtung solcher Grabbauten zu unterbinden, deren Sinn in einer Verherrlichung
des Toten als Person liegt, denn die persönliche Ehrung und überpersönliche Glorifi-
zierung Verstorbener fließen in andere Kanäle entmaterialisierter Art und schaffen
sich im öffentlichen Bewußtsein noch wirksamere Ausdrucksformen, als eine fest loka-
lisierte und damit räumlich begrenzt wirksame Grabstätte sie zu bilden vermochte.
Die Beobachtung des praktischen Verhaltens im Umgang mit den Toten im Grabe
und mit den Ahnen unter heutigen chinesischen Landleuten und dessen Abstraktion
auf die ihm zugrundeliegenden traditionellen Ritenvorschriften erschließt möglicher-
weise, wenn auch in ideal-typischer Verkürzung, rückblickend das Verständnis dieser
Vorgänge. Das Verhalten im Ahnentempel und am Grabe pendelt zwischen den Ex-
tremen von Annäherung und Meldung, in deren Polarität sich zwei gegensätzliche
Einstellungen zu dem Toten widerspiegeln. Sie beruhen auf der allgemeinen chinesi-
schen Auffassung, wie sie im Li chi, dem Buch der Sitte verankert ist (Liebenthal
1952), von zwei sich ergänzenden Seelen-Substanzen des Menschen, der als yang und
männlich positiv qualifizierten shen (auch hun) = Geistseele und der dem weiblichen
negativen yin Element zugeordneten k’uei (auch p’o) = Körperseele. Diese Auffas-
sung von der dualistischen Natur der Seele mit ihren Konsequenzen für die Behand-
lung des Toten im Grabe hat auch dessen Ausgestaltung beeinflußt und die Rück-
bildung baulicher Einzelformen verursacht; sie hat sich Indirekt in eine Kristallisation
des Grabbaus umgesetzt, wie sie oben idealtypisch als Harmonisierung bestimmter
Raumformen mit einer bestimmten Raumordnung zur Verwirklichung eines kosmisch
orientierten Baugedankens herausgestellt wurde.
Wenn sich die vorläufige Hypothese als zutreffend erweist — Freedman (1967)
postuliert eine andere Entwicklung —, daß die zunehmende Furcht vor den ungünsti-
gen Aspekten von Tod und Leichnam zu einer Verlagerung der rituellen Sorgepflicht
für das Wohl der Verstorbenen in den Rahmen des vom Grab unabhängigen Ahnen-
kultes führte, so erklärte sich daraus auch, daß in der Art eines gesunkenen Kultur-
gutes in späterer Zeit nicht nur Adelshäuser, sondern auch bürgerliche und bäuerliche,
also landbesitzende Familien Ahnentempel für ihre Sippe errichteten, in dem die
Seelentafeln der Verstorbenen aufgestellt und an den jährlichen Gedenktagen, aber
auch sonst, als Ausdruck persönlicher Zuwendung rituell verehrt wurden.
Die zwischen den Extremen von Furcht und Vertraulichkeit schwankende Haltung
gegenüber dem Toten wurzelt in der unterschiedlichen Bewertung und Zuordnung der
Grab und Totenhrauch in China
73
beiden geistig-seelischen Substanzen des Menschen, die sich im Tode trennen in die
ätherisch-immaterielle shen-Seele, die als positives Element, der faktische Lebensodem,
den Körper verläßt und ihren Sitz in der Ahnentafel nimmt, und in die als negativer
irdischer Bestandteil zurückbleibende k’uei-Seele, die, an die körperlichen Überreste
gebunden, im Grab anwesend bleibt, wo sie allmählich wieder in ihre Ursprungs-
substanz, die Erde, aufgesogen wird. Beide Seelensubstanzen eines Verstorbenen er-
heben Anspruch auf Devotion und auf eine Versorgung mit Opfern in Form von
dargebotenen Speisen, Räucherwerk und Verbrennung von Papiergeld, die von den
oder im Namen der männlichen Nachkommen von ihren Familien dargebracht wer-
den. Trotz dieser äußeren Übereinstimmung weicht der Umgang mit dem Toten vor
dem Grabe doch in entscheidenden Aspekten von den rituellen Handlungen im Fa-
milientempel ab, und die Reaktion der k’uei- und der shen-Seele auf die Opferhand-
lungen wird von den Ausführenden als sehr verschieden empfunden.
Die rituellen Totenopfer, zweimal jährlich, am Tag des Frühlingsfestes Ts’ing-
ming (6. April) nach dem traditionellen Kalender, und am Todestag des Verstorbenen
dargebracht, sind seit de Groot schon mehrfach beschrieben worden, und wurden jetzt
durch Aherns Feldstudien in ihren Wesensmerkmalen erkennbar. Als wesentliche
Handlungen gehören zum Ts’ing-ming-Zeremoniell das Reinigen und Instandsetzen
der Grabplätze, wobei von einer Familie alle noch lokalisierbaren Grabstätten der
direkten Vorfahren wieder aufgesucht und helgerichtet werden, um den Anspruch
darauf erneut zu begründen, und das Darbieten von Speisen, begleitet von rituellen
Verneigungen und Gebeten (Ahh. 30). Das Seelenbanner als Zeichen des vollzogenen
Ahh. 30 AmTsing-ming
Fest bringt ein chinesischer
Hausvater mit seiner Fa-
milie Speiseopfer am Gra-
be seines Vorfahren dar,
begleitet von rituellen
Verneigungen und Gebe-
ten (aus; Douwes Obe-
rer, Vanah Air Kita, 1.
Aufl., Abb. 60; Aufnahme
A. van Bennekom).
Ritus bleibt anschließend auf dem Grabhügel selbst zurück; in Form eines Papier-
fähnchens findet es sich noch heute auf den sonst völlig gestalt- und namenlosen Erd-
hügeln (Abb. 3) des modernen China. Die Mauerkrone der massiven Tumuli in den
Kaisergräbern (Abb. 11, 27) war eigens für diesen Zweck ringsum begehbar ausgebaut
(de Groot 1918, 216—17).
Die vor den Familiengräbern südchinesischer Bauart und andernorts wahrgenom-
menen Steinsockel, -bänke oder auch Tische vor der Grabfassade (Abb. 1, 2, 13, 14 a, 15,
74
Magdalene von Dewall
16, 17) dienen praktisch der rituellen Notwendigkeit, hier die vorgeschriebene Anzahl
von Gerichten aufzustellen (Abb. 30). Sie übernehmen damit direkt die Rolle des Altars,
der sich als zentraler Brennpunkt in den kaiserlichen Grabtempeln fand. Die in den
dort früher zahlreicher vorhandenen Nebenräumen wie Schlachthäusern und Küchen
vorbereiteten Opfergerichte wurden in einem genau festgelegten Ritual vom Reprä-
sentanten des Kaisers, nur in Ausnahmefällen von diesem persönlich, seinen dynasti-
schen Vorfahren und Familienangehörigen dargebracht (Fonssagrives 1907). Die
herausragende Stellung des Kaisers als Sohn des Fiimmels und Träger des Himm-
lischen Mandats gab den in seinem Namen zugunsten seiner Ahnen vollzogenen
Opferhandlungen ein staatspolitisches Gepräge, das sie über den bloßen familiären
Akt von Sohnespietät weit heraushob. Im Einklang mit der staatserhaltenden Bedeu-
tung der Ahnenverehrung geschah das kaiserliche Opfer nicht als intimer Vorgang
innerhalb der Familie, sondern im Blickfeld der Öffentlichkeit, d. h. im Beisein vieler
Würdenträger und eines stattlichen Gefolges, dem in der Tempelhalle, auf den Ter-
rassen und Vorplätzen und im Hof selbst Raum gegeben werden mußte. Die rituell
festgelegte Rangabstufung nach Geschlecht und Seniorität der am Opfergebet beteilig-
ten Personen innerhalb einer Familie mit dem ältesten männlichen Mitglied in der
Mitte links (die linke Seite ist in China die ehrenvolle), seiner Frau rechts von ihm
und allen Söhnen in ihrer Altersfolge links neben dem Vater, den Mädchen entspre-
chend rechts von der Mutter (Abh. 30) ist nur graduell, aber nicht wesensverschieden
von der rituellen Aufstellung der Teilnehmenden beim kaiserlichen Opferzeremoniell.
Wie für jede einzelne Familie oder die Familienverbände gilt auch für die kaiser-
liche Ahnenverehrung, daß zwar Kulthandlungen in den Grabtempeln an den dafür
rituell bestimmten Tagen als Totenopfer vorgenommen wurden, daß die Verehrung
der dynastischen Ahnen vor den Ahnentafeln aber räumlich ganz getrennt davon in
den in jeder Hauptstadt errichteten kaiserlichen Ahnentempeln erfolgte.
Die Eigenart der Opferhandlungen am Grabe und des Umgangs mit dem Toten-
geist wird in der Gegenüberstellung mit dem Geschehen im Ahnentempel deutlich.
Wie Ahern beobachtete, herrscht im Verkehr mit den Ahnen ein eher familiärer Um-
gangston, da man sie noch zur Familiengemeinschaft; zählt. Man wendet sich an sie
in allen Familienangelegenheiten, und zwar nicht nur in der Form offizieller An-
kündigungen von Veränderungen im Familienstand durch Heiraten, Geburten u. ä.,
sondern auch um persönlich Rat oder die positive Beeinflussung eines Vorhabens zu
erbitten. Im Vergleich dazu steht man den Toten distanziert gegenüber, man kennt
noch ihre Namensidentität, hat aber kein persönliches emotional getöntes Verhältnis
zu ihnen. Man fühlt sich zwar zur Vorsorge für ihren angenehmen Aufenthalt ver-
pflichtet, d. h. für annehmbare physische Konditionen der Grabstätte und für deren
Instandhaltung sowie für den Unterhalt des Totengeistes mit Speisen usw. in einer
Form, die verhütet, daß er unzufrieden, unruhig und irritiert wird und etwa umher-
wandert. Aber man kennt seine persönlichen Wünsche nicht und bietet deshalb z. B.
ein Standard-Sortiment übrigens nur ungekochter Verpflegung an, während man im
Gegensatz dazu den Ahnengeistern besonders erlesene Speisen, und zwar fertig zube-
reitet vorsetzt und einen Verstorbenen sogar durch seine einstigen Lieblingsgerichte
gewogen zu machen versucht.
Grab und Totenbrauch in China
75
Ein besonderer Aufwand in der baulichen Ausgestaltung der Gräber zählt nach
Aherns Darstellung nicht zu den Obliegenheiten des Sorgepflichtigen. Wie weit er
dennoch anderswo aus dem Bemühen motiviert sein könnte, dem Totengeist einen be-
sonders angenehmen Aufenthaltsort zu schaffen und ihn sich dadurch geneigt zu
machen, oder aber doch vorwiegend aus dem Wunsch handelt, das Familienansehen
würdig zu repräsentieren, muß deshalb dahingestellt bleiben. Daß es bei der Ver-
pflichtung zum Unterhalt der Gräber und der Toten auch um die Wahrung bzw. die
Begleiterscheinung eines Rechtsanspruchs auf die Nutzung des hinterlassenen Acker-
landes geht, ist aus den Fällen ersichtlich, in denen die Sorgepflicht nicht auf leibliche
Nachkommen übergehen kann und daher vom Erben des Rechtstitels auf die Land-
nutzung übernommen wird (Ahern 1973, 246 ff.). Eine Analogie zu dieser Regelung
von Rechten und Pflichten im dörflichen Rahmen kann man vielleicht zu geschicht-
lichen Vorgängen ziehen, wenn mehreren Kaiserhäusern nachgerühmt wird, sie hätten
sich den Schutz und die Instandhaltung der Grabstätten vorvergangener Dynastien
angelegen sein lassen, deren Kaiser sie als legitime Vorgänger in ihren eigenen Rechts-
ansprüchen ansahen. Der mongolischen Fremddynastie der Yüan wird dagegen ange-
lastet, daß sie untätig der Zerstörung und Schändung der Gräber ihrer kaiserlichen
Vorgänger Vorschub geleistet und daß sich darin ihr barbarischer Charakter mani-
festiert habe.
Zusammenfassend läßt sich nach Ahern der Umgang mit den Ahnen als Reprä-
sentanten der K<zng-Welt charakterisieren durch solche Züge, die auch lebende Fami-
lienangehörige auszeichnen, wenn sie durch besondere Umstände zu Einfluß und An-
sehen gelangt sind, die sie zum Wohl ihrer Familie einsetzen können. Ansprüche auf
der einen und Pflichten auf der anderen Seite sind übersehbar und geregelt, aber auch
wechselseitig anpassungsfähig. Die persönliche Initiative hat noch reichlich Freiraum,
und positive emotionale Bindungen schlagen sich in der Handhabung der kultischen
Praxis nieder. Der neue Daseinszustand des verstorbenen Familienmitgliedes wird als
anders, aber nicht als fremd oder gar feindselig und übelwollend empfunden. Man
begegnet ihm daher mit Achtung und Vertrauen, ohne Scheu und Vorbehalte.
Die Haltung den Totengeistern gegenüber ist keineswegs in allen Stücken das
Gegenteil des guten Vertrauensverhältnisses zu den Ahnengeistern. Die Wirkungs-
weise der Totengeister ist diffus und verrät gerade darin auch ihren ym-Charakter;
sie werden gemieden, aber man fürchtet sie nicht grundsätzlich als unheilvoll, bangt
vielmehr vor einer unvorhersehbaren und damit unkontrollierbaren Reaktion, die
einen hohen Unsicherheitsfaktor einschließt. Eine Einmischung in familiäre Angelegen-
heiten, die dann leicht der Kontrolle entgleiten können, wird deshalb nur in speziellen
Fällen erstrebt. Gleichwohl wird vom Totengeist nicht nur passives Wohlverhalten
erwartet, sondern auch aktives Wohlwollen erwirkt; doch sind die Wirkungsfelder
allgemeiner Art und die Formen, dies zu erreichen, viel weniger differenziert als in
den Verhaltensweisen dem Ahnengeist gegenüber.
Anders und schärfer pointiert wird die Rolle des Toten und das Verhältnis zwi-
schen Lebenden und Totengeist von Freedman (1967, 96) gesehen, da er dessen Wir-
kungsmöglichkeiten als sehr viel passiver beurteilt und der Manipulierbarkeit durch
den Nachkommen bei der Wahl des Grabplatzes nach den geomantischen Regeln des
76
Magdalene von Dewall
feng-shui unterworfen. Die Rolle der Geomantik, d. h. der günstigsten Plazierung
zum umgebenden Gelände, bei der Wahl eines Grabplatzes ist unbestritten (Feucht-
wang 1974); aber die damit verbundene Vorstellung einer auf magische Weise er-
strebten günstigen Einflußnahme des Toten auf das Schicksal seiner Nachkommen
wird für einen Außenstehenden schwer zu konkretisieren sein.
6. Schluß: Das Grab und seine kosmische Sinndeutung
Nur teilweise haben die eingangs festgestellten Widersprüche in unseren Kennt-
nissen und Beobachtungen über das Grabwesen in China aufgehoben werden können.
Baucharakter und Bauprinzipien haben ein geschlosseneres Bild ergeben, als es zu-
nächst erscheinen konnte. Die in den Grundzügen des Bauplans dennoch immer wie-
der spürbaren Spannungsverhältnisse einander entgegengerichteter Tendenzen ver-
ursachen nicht Disharmonie, die nach Auflösung drängt. Es geht von ihnen vielmehr
eine dynamische Wirkung aus, die viel fundamentalerer Art ist, als daß sie mit einer
auf magische Weise manipulierten Wirkungsfähigkeit des Toten in einen direkten
Zusammenhang gebracht werden könnte. Hebt man statt dessen auf eine viel allge-
meinere Deutungsebene für die Bauauffassungen ab, die im Grabbau am Werk waren,
so führt D. Frey in seinen globalen kunstgeschichtlichen Vergleichsstudien (1949) mit
der Feststellung eines „kosmischen Dynamismus“ in der chinesischen Bildkunst einen
Schlüsselbegriff ein, der auch zur Bezeichnung der polaren Spannungskräfte im Grab-
bau dienen könnte.
Das Raumkontinuum, besonders augenfällig bei der Anlage der Kaisergräber,
verursacht einen Bewegungsstrom, der den Fortgang im Raum, von Einheit zu Ein-
heit, ebenso versinnbildlicht wie die Fortdauer im infiniten Zeitablauf. Ausdehnung
in der Dimension des Raumes wird übersetzbar in Bewegung als Dauer und steht
damit in unmittelbarer Entsprechung zu dem zentralen Urprinzip der chinesischen
Kosmologie. Dieses kann umgekehrt nicht allein und ausschließlich als Auslöser der
dem Grabbau spezifischen Ordnungsprinzipien hingestellt werden. Nicht die Mittel
von Masse und Größe, von Geschlossenheit und Komplexität bewirken eine Monu-
mentalität des Baucharakters, sondern Spannung und Ausgleich zwischen Abschirmung
und Einpassung, zwischen Tiefenerstreckung und Rhythmisierung von Bauformen
und Raumfolge belassen Ihm ein auf den Menschen zugeschnittenes Maß. Diese Kraft
zur Harmonisierung ist in der chinesischen Raumarchitektur keineswegs nur dem
Grabbau eigentümlich. Ihre Wirkung ist jedoch gerade hier im auffälligen Gegensatz
zu der Monumentalisierung von Grabformen in anderen Kulturbereichen nachvoll-
ziehbar und verleiht dem chinesischen Grabbau eine Qualität der Versöhnlichkeit an-
gesichts des Todes, durch die die Widersprüche überwunden scheinen.
Quellennachweis:
Für die Umzeichnung von Plänen und Schnitten nach den chinesischen Vorlagen
für die Ahh. 10, 21—26, 28, 29 und von Ansichten nach Buchaufnahmen für die Ahh.
2, 15, 19, 20 danke Ich Herrn Dr. H.-E. Nellissen, Köln, und für die fotografische
Grab und Totenbrauch in China
77
Reproduktion der Vorlagen für die Ahb. 1, 3, 5—9, 11, 13, 14 a, 16, 18, 27, 30 Frau
I. Klinger, Heidelberg. Herr Dr. G. Gerster, Zumikon/Zürich stellte dankenswerter-
weise das Originalfoto für Abb. 4 zur Verfügung, dem Nachlaß E. Boerschmann in
der Asien-Abtlg. des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln sind die Abb. 1,
13, 14 a, 18 entnommen.
Aus folgenden nicht-chinesischen Veröffentlichungen wurden Vorlagen für die
genannten Abb. benutzt:
Boerschmann, E., 1914: Baukunst und religiöse Kultur der Chinesen II — Gedächtnis-
tempel: 18.
Ders., 1925: Chinesische Architektur II; 1, 12, 13, 14 b, 17.
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Bouillard, G. u. Vaudescal, 1920: Les Sepultures Imperiales des Ming: 10.
Castell, W. D. Graf zu, 1938: Chinaflug: 6, 7.
Douwes Dekker, N. A.: Tanah Air Kita, 1. Auf!., o. J.: 30.
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Kiesling, G. u. B. y. Kügelgen, 1957: China; 3.
Namen- und Quellenverzeichnis der Grabanlagen:
Chin-sheng-ts’un, Grab Nr. 5 T’ang-Zeit (618—906)
Lage: Außerhalb des Dorfes, 15 km südlich von T’ai-yüan (Shansi).
Fund: April 1958. Publ.: KK 1959:9, 473 ff.
Grabbau: Einzelkammer ca. 2 x 2 m, H. 2,1 m; Ziegelbauweise m. Spiegelgewölbe;
Eingangsöffnung von S; schräg aufsteigende Zugangsrampe, L. noch 2,62 m, Br. 0,88 m;
Doppelbestattung eines Paares auf Plattform (H. 26 cm) in Nordhälfte der Kam-
mer; Ausmalung auf Putzschicht mit Figuren und Szenen auf drei Seiten der Kammer.
Ch’ung-ling Mausoleum für Kaiser Te Tsung (1871—1908).
Persönlicher Name Ts’ai Tien; Regierungsdevise Kuang-hsü 1875—1908; beigesetzt
1913; mitbestattet die Kaiserin u. eine Nebenfrau, Chen-fei.
Lage: Im Nordteil des Hsi-ling Gräberareals bei Yi-chou.
Lit.: Ede 1930, S. 43/44, 48—54, Taf. I—III (nach Plänen u. Modellen); Bouillard
1931, S. 216—221 (nach eigener Beobachtung).
Hsi-ling (= Westliche Mausoleen): Gräberareal für mehrere Kaiser u. weitere Fami-
lienmitglieder der Ch’ing-(= Mandschu)Dynastie (1644—1911), ca. 130 km im SW
von Peking, Bahnstrecke Peking—Hankou.
Lit.: Fonssagrives 1907; Ede 1930; Bouillard 1931.
Huo Ch’ü-ping Frühe Han-Zeit (206 v. Chr.—8 n. Chr.).
Grabhügel als Pyramidenstumpf, ca. 80 m Seitenlänge, 17 m H.;
Lage: Ebene von Hsing-p’ing, Nordufer des Wei-Flußes (Shensi); errichtet durch
78
Magdalene von Dewall
Kaiser Wu für Reitergeneral Huo Ch’ü-ping (gest. 117 v. Chr.), im Anklang an die
Topographie des Schlachtfeldes von K’i-hn; davor Statuenallee m. Tierfiguren, u. a.
Pferd über einem gestürzten Barbarenkrieger.
Lit.: de Voisins 1915; Lartigue 1927; Fu T’ien-ch’iu 1964.
¿i $hou (577—630; T’ang-Kaiserhaus).
Grabtumulus m. Statuenallee u. Grabkammer;
Lage: San-yüan-hsien (Shensi).
Ausgrabung: März 1973. Pubh: WW 1974:9, 71 88.
Gesamtl. d. unterirdischen Anlage 44,4 m, davon Zugangsrampe 16,8 m, Br. 2,30 m,
mit 5 Lichtschächten und 4 Tunnelabschnitten, 2 Nischen; Wandmalereien im Zugang;
ausgebauter Eingangsraum; Grabkammer 3,8 x 3,95 m; Deckengewölbe nicht erhalten;
Sargschrein aus 28 Granitplatten, H. 2,2 m, L. am Boden 3,55 m; mit Steingravierungen.
Shih-san-ling (=13 Mausoleen): Gräberareal für 13 Kaiser der Ming-Dynastie (1368—
1644) in den Westbergen bei Ch’ang-p’ing (Flopei).
Lit.: Combaz 1907; Bouillard 1920, 1931.
Sang Lin (gest. 955; Zeit d. Früh. Shu-Dynastie).
Grabhügel mit Grabkammer, Dm (NS) 15 m, Fl. 3,5 m.
Lage: 6 km nördlich von P’ang-shan-ch’eng (Szech’uan).
Ausgrabung: März 1957. Pubh: KK 1958:5, 18—26.
Grabbau: L. 7,64 m, Br. 1,28—2,40 m, gr. H. 3 m (Fußbodenniveau unklar); m.
kreuzförm. Grundriß um den Steinsarg im Zentrum, m. figürl. Relief; Eingang v. N.;
Ziegelbauweise, Gewölbe gestützt auf mehrfachen parallelen Mauerpfeilern; Schutz-
packung mit Rollsteinen u. Lehmfüllung, abgedeckt mit Sandsteinplatten.
T’ai-ling: Mausoleum für Kaiser Shih Tsung (Regierungsdevise Yung-cheng 1722—
1735).
Erste im Hsi-ling Areal angelegte Grabstätte der Ch’ing-Dynastie, dessen Mittelpunkt
sie bildet.
Lit.: Ede 1930, S. 30—31; Boerschmann 1926 (m. Abbildungen); Bouillard 1931,
S. 200.
Ting-ling: Mausoleum für Kaiser Shen Tsung (Ming-Dyn.).
Persönl. Name Chu I-chün; (Regierungsdevise Wan-li 1573—1619), gest. mit 56 Jah-
ren 18. 8. 1620; Bauarbeiten begonnen 1583, persönlich mit überwacht vom Kaiser;
Mitbestattung der vorher verstorbenen beiden Kaiserinnen in der Grabkammer des
Kaisers.
Lage: im Westteil der Shih-san-ling; Ausgrabungen seit 1955. Grabbau: s. Text.
Lit.: Bouillard 1920, S. 80 ff. (für die Außenanlagen); KK 1958:7, S. 36—47
(für Ausgrabungsbericht u. Konstruktionsdetails).
Grab und Totenhrauch in China
79
Wang Chien (847—918; 907—918 Kaiser d. Früh. Shu-Dyn.).
Yung-ling Grabhügel, H. 15 m. Dm ca. 75 m.
Lage: im W. der Stadt Ch’eng-tu (Szech’uan).
Ausgrabung: 1947. Publ.: Feng Han-yih 1947, 1964; Cheng Te-k’un, 1950.
Grabbau: Folge von 3 Kammern, L. ca. 22 m. aus Rotsandsteinblöcken, mit 13 Dop-
pelbögen gewölbt, FI. 5,5 m; Raumtrennung durch schwere Doppeltore aus Holz;
Steinsockel f. Bestattung im Zentrum m. reichem Figurenschmuck; im Raum dahinter
Aufstellung der Herrscher-Insignien.
Literatur:
Abkürzungen:
KK = Kaogu (ab 1959), vorher; Kaogu Tongxun (1957/58) = Archaeology, Peking;
(in chinesisch).
WW = Wenwu („Cultural Relies“), Peking (in chinesisch).
Anon., 1958: (Arbeitsgruppe zur Ausgrabung des Ch’ang-ling), Kurzbericht über die
Untersuchung des Ting-ling. In: KK 1958:7, 36—47.
Anon., 1972: Ausgrabungsbericht des Han-zeitlichen Grabes Nr. 1 von Ma-wang-tui
bei Ch’ang-sha. Peking.
Anon. (Shensi Provinz Museum), 1974: Ausgrabungsbericht des T’ang-zeitlichen Grabes
von Li Shou. In: WW 1974:9, 71—88.
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6
'Mu' и writ:
Siegbert Hummel
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
Neuerwerbungen
I. Sammlung Lenser
Die von Gerhard Lenser bei seinen Aufenthalten ln Nepal, insbesondere im Khum-
bu-Gebiet, erworbenen Gegenstände gehören zu einem beträchtlichen Teil zur tibeti-
schen bzw. lamaistischen Kultur, zum anderen zur nepalesischen (1).
Khum-bu ist, wie die benachbarte Region von Solu und einige weiter westlich (bis
85°30’) gelegene Südhänge des Himalaya, von den Sherpas besiedelt worden (2) und
wird neuerdings, mehr noch als Solu, auch von tibetischen Flüchtlingen bewohnt. Es
handelt es sich um den nordost-nepälesischen Raum zwischen 86°30’ und 87° bzw. 27°30’
und 28°, den der Khum-bu, ein 5761 m hoher Berg, beherrscht, der als Sitz eines
Yul-lha gilt, d. h. einer dieses Gebiet regierenden Gottheit (3). Die Wanderung der
Sherpa (tib.: Shar-pa = Ostleute), von denen sich in der Gegenwart viele als Hoch-
gebirgsträger hervorgetan haben, in ihre heutigen Sitze läßt sich anhand der durch
A. W. Macdonald bekanntgewordenen tibetischen Texte (4) ziemlich genau ver-
folgen. Danach stammen sie vom alttibetischen iDong-Geschlecht im nordosttibetischen
Mi-nyag[s], von wo sie sich etwa im 15./16. Jh. bei Kriegswirren entfernt haben und
auf der Suche nach neuen Siedlungsmöglichkeiten über Ding-ri[-glang-bskor] im süd-
lichen Tibet die jetzigen Wohnsitze erreichten. Ihr Name kann sich auf das östliche
Nepal beziehen, d. h. nicht unbedingt auf das östliche Tibet, wie des öfteren ange-
nommen wurde, denn sie heißen in Nepal auch Khum[s]-bu oder Shar-khum[s]-bu
(Leute vom östlichen Khumfs]). Auf eine Besiedelung der weiter westlich gelegenen
Südhänge des Himalaya, d. h. noch über 85°30’ hinaus, mit einer Bevölkerung nicht
näher bestimmbarer osttibetischer Herkunft könnten beispielsweise der Trommel- und
Knabentanz von Dri-chu-rong (Tidjirong) im Dolpo-Gebiet schließen lassen, wenn
wir diesen mit solchen im osttibetischen Ba-thang vergleichen (5).
Die Kultur der Sherpa gestattet wertvolle Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der
ehemaligen osttibetischen Heimat (6). Die wenigen Klostergründungen erfolgten durch
den nicht-reformierten Lamaismus. Die wichtigsten, sTteng-bo-che und Thang-smad
(= Thami), wurden erst 1923 bzw. 1920 vom südtibetischen Rong-phu in der Nähe
des Mt. Everest gegründet. Einflüsse aus dem neuen Lebensraum Nordnepäls, d. h.
solche der alteingesessenen Bevölkerung und über diese aus dem Hinduismus, sind in
Gegenständen der materiellen Kultur und in gewissen Fruchtbarkeitsriten und Prak-
tiken zur Abwehr von Naturgeistern zu erkennen, wogegen der intensivierte Kult
von Berggottheiten schon den Tibetern bei ihrer Zuwanderung bekannt war (7). Ein
84
Siegbert Hummel
Wachstum der Bevölkerung sowie ein Aufschwung des Lamaismus in den letzten Jah-
ren ist neben dem Zustrom von tibetischen Flüchtlingen vor allem der Kartoffel zuzu-
schreiben, deren Anbau Mitte des 19. Jh. eingeführt wurde. Neuerdings droht eine
nepalesische Überfremdung. Vieles von den Riten aus der ehemaligen tibetischen Hei-
mat wird in seinem ursprünglichen Sinn nicht mehr verstanden und verflacht. So ist
auch das Khum-bu-Gebiet ein Beispiel dafür, wie eine Kultur in den Rand- und
Kontaktzonen von ihrer ursprünglichen Kraft verliert (8). Damit gewinnen die durch
G. Lenser gesammelten Gegenstände für den Ethnologen an Bedeutung.
Die Sammlung:
1. TIBETISCHE K U LT U RUND LAMAISMUS
SA 30 603
Amitdyus (tib.: Tshe-dpag-med). Bronze. 11,8 cm.
Zu den Erklärungen in Tribus 16 (s. Register) ergänzend: Die mit Amitäyus verbun-
denen Tshe-dbang-Riten dienen nicht nur der vitalen Lebenskraft der Gläubigen, son-
dern auch der Stärkung im psychischen Bereich (vgl. D. L. Snellgrove: Himälayan
Pilgrimage. Oxford 1961, 143). Zu Amitäyus auch Tribus 13, 59 f., Nr. 24 006, 24 007,
71 532.
SA 30 583
Samvara (tib.: bDe-mchog). Bronze. 13,5 cm. Am Sockel (Rückseite) die Inschrift
„Shri-Cakrasamvara“ in tibetischen Buchstaben. Nepalesischer Guß. Ergänzend zu den
Erklärungen in Tribus 16: Eigenartig ist die bei Samvara zu beobachtende linksseitige
rituelle Umwandlung, wie sie bei den Bon-po üblich ist und dort Ye-shes-skor genannt
wird (vgl. hierzu G. Tucci: Die Religionen Tibets. Stuttgart 1970, 269, sowie aus-
führlich S. Hummel: A Gnostic Miscellanea. In: East and West 24/3—4, 343 ff.).
Zu der von mir dort nachgewiesenen, im Vergleich zur rechtsläufigen Umwandlung
viel älteren, offensichtlich mit dem Mondlauf zusammenhängenden Tradition, die auch
der linksläufigen Umwandlung der tibetischen Bon-po zugrunde liegt, vergleiche noch
die Ausführungen von J. J. Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten
(Joh. Jakob Bachofens gesammelte Werke, herausgeg. von K. Meuli, Bd. IV. Basel
1954, 207—214), die viel mehr beachtet werden sollten. Danach vertritt die linke Seite
das weibliche, mütterliche Naturprinzip, die weibliche Naturkraft als Symbol des
Lebens in gynaikokratischen Anschauungen. Die damit zutageliegenden Zusammen-
hänge mit der Bedeutung des Mondes sind durchsichtig. Bachofen verweist als Bei-
spiele u. a. auf den Kranichtanz des Theseus in Delos um einen Altar, der aus lauter
linken Hörnern errichtet ist, oder für Etrurien neben dem linksläufigen rituellen Pflü-
gen der Furche zur Errichtung der Mauer bei Städtegründungen auf die Augurenlehre,
bei der die linke Seite ebenfalls die glückbringende ist, etwa in bezug auf Erscheinungen
von Vögeln oder Blitzen (vgl. auch S. Hummel: Zentralasien und die Etruskerfrage;
Anmerkungen in: Rivista degli Studi Orientali 48. Rom 1974). Was den Samvara
angeht, so war seine Residenz, der Kailäsa (Sumeru) und Umgebung, einst eine Hoch-
burg der Bon-Lehre.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
85
SA 30 602
Shydmavarnd (tib.: sGrol-ljang). Bronze. 18,2 cm.
Zu den Erklärungen in Tribus 16 ergänzend: Die Verehrung der Tara in Tibet hat be-
sonders Atisha (f 1054) propagiert. Von ihm soll d. Täramülakalpa verfaßt worden
sein (übersetzt durch Bu-ston). — Die Gleichsetzung von zwei Frauen des Königs
Srong-btsan-sgam-po im 7. Jh. mit der Grünen und der Weißen Tara (sGrol-ljang
und sGrol-dkar = Sitatärä) dürfte eine spätere Konstruktion sein. Zur Verschmelzung
der Lakshmi mit der Tara ergänzend: Die Lakshmi auf der Schildkröte (vgl. Madan-
jeet Singh: Himalayische Kunst. Unesco 1968, Abb. 183: Nepal, 8. Jh. n. Chr.) als
Meergeborene, Göttin der Schönheit und des Erdsegens (vgl. die Schildkröte, skr.:
Kürma, später als Vishnu gedeutet) erinnert an Aphrodite mit der Schildkröte unter
dem Fuß als Göttin der Zeugung und des Ursprungs in einer Plastik des Phidias in
Elis (römisch als Venus Urania). — Zur Tara und den mit ihr verbundenen Kulten
vor allem St. Beyer: The Cult of Tara. Berkeley 1973 (Rez. S. Hummel. In: Literatur-
Anzeiger d. Schweizer TH. Luzern 1974). Die 21 Täräs (s. Tribus 16) waren Schutz-
gottheiten des Atisha. Eine Divination verwendet ein Brett mit 21 Feldern. Die Gruppe
dieser Taräs hilft, sobald ihr Lobpreis gesprochen wurde, bei Furcht und Sündenschuld,
verleiht Buddharang, bewahrt vor gefährlichen Speisen und Getränken (Gift), schützt
vor Epidemien, gibt Kindersegen und Reichtum und wehrt schädliche Dämonen ab
(vgl. „Hymns to Tara“, ed. Lokesh Chandra, New Delhi 1976, und C. M. Chen, The
Twenty one Taras. Berkeley 1974).
SA 30 582
Bronzerelief mit Srid-pa-ho. Nepalesische Arbeit. 27,4 : 30,8 cm.
Diese Darstellungen, die auch als gemalte Thang-ka Vorkommen, zeigen die Grund-
strukturen des Kosmos (Srid-pa) und sind nicht als Horoskope zu bezeichnen, wie
immer wieder fälschlich behauptet wird. Als Thang-ka werden sie auch in Prozessionen
zum Schutz gegen Unwetter getragen, wie mir H. Harrer mitteilte; vgl. ausführlich
S. Hummel: The sMe-ba-dgu, the Magic Square of the Tibetans. In: East and West
19/1—2, 139 ff. mit Abb.). Im gZi-brjid der Bon-po (ed. D. L. Snellgrove: The Nine
ways of Bon. London 1967, 93, Vers 35) sind die im Zentrum des Schildkrötenpanzers
dargestellten neun Felder Häuser von Sa-bdag (Erdgeistern); vgl. auch R. de Nebesky'-
Wojkowitz: Oracles and Demons of Tibet. VGravenhage 1956, 394 f. NachScHUYLER-
Cammann: Old Chinese Magic Squares. In: Sinologica VII/1, 14 ff. sind die sMe-ba
eine chinesische Erfindung. Die Chinesen sahen in ihnen u. a. Verkörperungen der
9 kosmischen Richtungen. Nach dem Schema des Lo-Schu der Chinesen angeordnet,
galten sie vom 4. Jh. v. Chr. bis 10. Jh. n. Chr. auch als Ausdruck der kosmischen
Kräfte, wie sie in den Jahreszeiten und in den Elementen gegenwärtig sind (vgl.
Schuyler-Cammann, l. c.). Offenbar von daher wurden sie den Tibetern zu einem
Schutz gegen Übel. Sie beeinflussen aber auch die Geburt des Menschen und sein
Schicksal (vgl. Tribus 16, 171, Nr. 23 885 mit Lit.-Hinweisen). Die Felder des Dia-
gramms enthalten tib. Zahlen. Zur Beziehung der sMe-ba zu den Planeten vgl. S.
Hummel. In: Tribus 13, 78 ff., Nr. 71 672. Danach werden die sMe-ba auch als neun
Planetenhäuser betrachtet. Wahrscheinlich hat die Zahl 9 im Tibetischen von daher die
86
Sieghert Hummel
Bedeutung von Viel erhalten. Zur Legende über die Entstehung der sMe-ba-dgu im
Vaidürya-dkar-po vgl. A. MacDonald: Préambule à la Lecture d’un Rgya-bod Yig-
chang. In: Journal Asiatique 1963, 71 ff.). Diese Legende ist eine tibet. Weiterbildung
auf chinesischer Grundlage. Nach MacDonald, 1. c., S. 76 ff.- kannten die Chinesen
seit dem 6. Jh. bis zum Ende der T’ang-Zelt einen Kalender mit 9 Häusern, der in
Tibet dann dem 60-Jahr-ZykIus angepaßt wurde (Tabelle bei MacDonald, S. 78).
Dabei wechselt die mittlere Zahl und mit ihr auch die übrigen acht den Standort. Die
Felder sind in verschiedenen Farben gehalten. Datierung dann z. B.: „wenn die weiße
Acht im Zentrum ist. . .“. Im Gegensatz zu den dynamischen Pa-Kua (acht chinesische
Trigramme), die um die sMe-ba-dgu geordnet sind und die Wandlungszustände im
kosmischen Ganzen andeuten, habe ich die sMe-ba-dgu den statischen Aspekt der
kosmischen Kräfte genannt. Das bedeutet aber nicht, daß das in der Tafel der sMe-ba
schematisierte Kraftfeld selbst statischer Natur wäre. — Um die 8 Trigramme lagert
sich der kleine Zodiakus (Lo-’khor). Unter der Schildkröte erkennt man die Zeichen
der Wochentage vertikal. Oben rechts auf der Platte nochmals eine Tafel mit den
sMe-ba-dgu, links das magische Zeichen Dashâkâro-vâshi. Dazwischen erkennt man die
Rigs-gsum-mgon-po (Vajrapani, Manjushrî, Avalokiteshvara). Vajrapani steht im
Osten, Manjushrî (Tathâgata-Familie mit Vairocana) im Zentrum und Avalokitesh-
vara im Westen. An den Seiten ist die Platte flankiert von einer Weiterentwicklung
chinesischer Trigramme (links: Siegel des Jahres, der Planeten, des lunaren Zodiakus
und der Sa-bdag, rechts: der Näga, der gNyan-Dämonen und der Welt [Srid-pa]).
Die Rigs-gsum-mgon-po waren ursprünglich vielleicht mit der vorbuddhistischen
Vorstellung von den drei Reichen verbunden (Unterwelt: blau, Mittelwelt: rot oder
gelb, Himmelswelt: weiß). Das klingt noch nach, wenn die Gruppe als Beschützer der
Götter, Menschen und Halbgötter auftritt. Für Vajrapani steht seltener Samantabhadra
(vgl. Kl. Sagaster: Subud Erike. Wiesbaden 1967, 264, Anm. 1043). Zur vorbuddhist.
Vorstellung vgl. A. H. Francke: Tibetische Hochzeitslieder. Hagen und Darmstadt
1923, Abb. 2—4. Vajrapani inkarniert sich im Pan-chen von bKra-shis-lhun-po, Ava-
lokiteshvara im Dalai-Lama, Manjushrî im Kaiser von China, aber in dieser Reihen-
folge auch in den Königen Tibets Ral-pa-can, Srong-btsan-sgam-po (chin.: Ch’i-Tsung-
Lung-Tsan und Ch’i-Su-Nung), der sich in Dvags-po-lha-rje, dem Schüler des Mi-la-
ras-pa, inkarniert haben soll, und Khrl-srong-lde-btsan (chin.: Ch’i-Li-Su-Lung-LIeh-
Tsan), ferner in der Gruppe rje-yab-gsum (Tsong-kha-pa = Manjushrî, rGyal-tshab
= Avalokiteshvara, mKhas-grub = Vajrapani) als Weisheit, Liebe und Kraft. Wei-
tere Trinitäten sind Akshobhya (Vajragruppe), Vairocana (Tathagatagruppe mit
Manjushrî) und Amitäbha (Lotusgruppe), ferner die 3 Konstituenten des menschlichen
Wesens (Lus = Leib, gSung = Rede und Thugs = hintergründiges Wesen), ferner die
rTen-gsum als Bildwerk, Buch und Stüpa. Zu den rTen-gsum (skr.: Käyavakcitta)
als Lus (auch sKu), gSung (auch Ngag) und Thugs (auch Sems und Yid) vgl. Tribus 16,
51, Anm. 35 und 180, Nr. 72 315. sKu wird durch die Silbe Om, gSung durch Äh,
Thugs durch Hum auf der Rückseite von Thang-ka angedeutet. Diese Silben weisen
auch auf Vairocana, Amitäbha und Akshobhya sowie auf Tathagata-, Padma- und
Vajrafamilie. sKu auch in dinglicher Verehrung (mChod-pa), gSung in wörtlicher Ent-
äußerung (Chos-’don) und Thugs in Glaube und religiösem Habitus (Dad-pa) reprä-
sentiert; alle drei sind Chos-las (rel. Gebaren); vgl. S. Hummel: Rezension Ekvall.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
87
In: Tribus 1 , 175 f. Ferner wird sKu (Om) durch ein Bildwerk als Symbol der Ge-
meinde, gSung (Äh) durch ein Buch als Lehrverkündigung, Thugs (Hum) durch Stupa
(seltener Vajra = rDo-rje) oder Tempel als Symbol des Lehrgehaltes, wie er in Buddha
gegenwärtig ist, dargestellt. Nach J. Schubert: Das Wunschgebet um Sambhala. In:
Mitt. d. Inst. f. Orientforsch. I, 3/1953, 432, repräsentiert sKu (Bild) den Buddha,
Thugs (Stüpa) aber die Gemeinde. Diese Trinität (tib. : dKon-mchog-gsum, rTsa-ba-
gsum; skr.: Triratna), im Tantrismus auch als Mahâkâla, lHa-mo und Yama bzw.
Padmasambhava, Gu-ru-drag-po und Seng-ge-gdong-ma. sKu wird auch durch die
Hand (Mudrä) und die Tat, gSung durch Mund und Rede (Mantra, Dhâranî), Thugs
durch Herz und Gedanke (Meditation, Samädhi) ausgedrückt. sKu auch als Plastik,
gSung als Malerei und Thugs als Architektur. In der buddhistischen Zufluchtsformel
ist Buddha = sKyabs-ston-pa, Gemeinde = sKyabs-sgrub-pa’i-grogs und Lehre =
sKyabs-dngos (vgl. A. M. MacDonald: Matériaux pour l’Étude de la Littérature
populaire Tibétaine, Vol. I. Paris 1967, 157).
SA 30 571
Maske für ’Cham (tib.: ’Bag, ’Dra-’bag). 25 cm hoch. Mit Messingstiften besetzt.
Zu inkrustierten Masken für die Tanzmysterien (’Cham) vgl. vor allem die schönen
Beispiele in W. Forman und Bjamba Rintschen: Lamaistische Tanzmasken. Leipzig
1967. Zu den tibetischen Masken überhaupt vgl. ausführlich S. Hummel: Die Maske
in Tibet. In: Antaios XI, 2/1969, 181 ff.). In Patan gekauft.
SA 30 576
sNgags-pa’i-zhwa-nag. Höhe des Hutes 17 cm.
Diese bei Tanzaufführungen getragenen Schwarzhüte (tib.: Zhwa-nag) zeigt u. a.
H. Harrer: Meine Tibetbilder. Seebruck 1953, S. 165. Interessant ist das auf dem Hut
eingezeichnete Hexagramm (tib.: Chos-byung-bsnol-ma). Vgl. hierzu meine Deutung
in R. O. Meisezahl: Die Göttin Vajravârâhî. Leiden 1967, 230. (In; Oriens 18—19/
1965/66). In Gebrauch bei den Sherpa, s. Funke, 1. c., Abb. 95.
SA 30 575
Khakkh ara-Spitze (Kh. tib.; mKhar-gsil). 30,5 cm.
Diese Stäbe werden von Bettelmönchen besonders der nicht-reformierten Schulen ge-
tragen (vgl. A. Tafel: Meine Tibetreise, Bd. II, Tafel XV). In nepalesischen Kloster-
höfen kann man diese Khakkhara-Spitzen in großen Häufen aufgeschichtet finden.
SA 30 573
Damaru (tib.: rNga-chung, auch Cang-t’eu genannt) mit Futteral (tib.: Shubs).
10 cm hoch, Durchmesser 20 cm.
Hierzu ausführlich in Tribus 13, 72, Nr. 71 547. Diese Trommeln heißen oft mit
Schädelschalen auch Thod-tam.
SA 30 577
Druckstock (tib.: Phar-shing) aus Holz, 15 : 13,5 cm (hierzu ausführlich Tribus 13,
82—86).
Die Inschrift lautet nach Wiederholungen der Formel für die Tara (Om Taretuttareture
Swäha):Lo-ba-mi-nor-’khor-bcas-kyis / srog-lus-dbang-thang-rlung-rta-rnams / gong-
88
Sieghert Hummel
nas-gong-tu-’phel-ba-dang / bsam-don-thams-cad-’grub-par-shog // kî-kî-swâ-swâ-
lha-rgyal-lo. In den Ecken die Worte für die rLung-rta-dar-ba’i-dgra-lha (Seng =
Löwe, ’Brug = Drache, Khyung = Garuda, sTtag = Tiger); vgl. Tribus 16, 171,
Nr. 23 874. Die Übersetzung lautet: „(Was) Mensch (solchen) (Geburts-) Jahres (tib.:
Lo-ba-mi) samt seinen Besitz und Anhang (angeht), so mögen rLung-rta von Srog,
Lus, dBang (Lebenskraft, Körper und Potenz, als Bedingungen einer glücklichen Exi-
stenz) an Kräftigung immer mehr zunehmen und alle Wünsche in Erfüllung gehen.“
Dieser Text folgt nach einem hinter die Anrufungsformel eingeschobenen Zwischen-
raum, in den das Geburtsjahr dessen, dem diese Gebetsflagge gilt, einzusetzen ist. Der
vorliegende Abzug ist also noch nicht verwendet. Zu den persönlichen Gebetsflaggen
vgl. Tribus 16, 162 ff. — Zu meinen ausführlichen Bemerkungen hinsichtlich der Ge-
betsflaggen (tib.: Dar-lcog, auch mGon-dar genannt) in Tribus 16, 162 ff., möchte ich
ergänzend hinzufügen: Gebetsflaggen sollen möglichst nördlich und westlich vom
Gehöft errichtet werden, jedenfalls nicht östlich, da dies Unglück bringt. Lür Sikhim
ist dies belegt durch G. Gorer: Himalayan Village. New York 196 72, 71. Das gilt
auch für Ma-ni-Wälle. Gorer, 1. c., S. 191, erwähnt auch Dar-lcog für getötete Tiere.
Weitere Hinweise finden sich bei A. David-Neel: Summary of an Essay on Mani
Khorlos and Tarchogs In Tibet. In: Journal of the W. G. Border Research Society XV,
A, 79 ff. — Die rLung-rta (auch Klung-rta), d. h. die bedruckten Dar-lcog wie 30 577,
werden stets in den Farben desjenigen Elementes gehalten, das dem Geburtsjahr dessen
entspricht, dem die sogenannte Gebetsflagge gilt. Das Lebensprinzip rLung steht unter
dem Schutz des rLung-rta. Verliert man bei gewissen Meditationspraktiken die Kon-
trolle über rLung, so entweicht nach Auffassung der Bon-po dieses Lebensprinzip (vgl.
P. Kvaerne: The A Khrid System of Meditation. Oslo 1969, 126, Anm. 42). Zu den
schamanistischen Reminiszenzen im Pferd und im rLung-rta vgl. S. Hummel: Rezen-
sion H. Hoffmann, Symbolik der tibetischen Religionen und des Schamanismus. Stutt-
gart 1967. In: Tribus 17, 194 f., und in: Kairos 1968, 137 ff., dort auch zum Pferde-
kopf auf dem Saiteninstrument sGra-snyan; hierzu auch M. H. Duncan: The Cycle
of Existence. London 1966, 38, wonach für die Saiten, insbesondere für den Bogen,
Roßhaare verwendet werden. — Zu den rLung-rta-dar-ba’i-dgra-lha In den Ecken von
Dar-lcog ergänzend: Die Chinesen und die Bon-po ersetzen den Löwen durch eine
Schildkröte, dabei ist nach chinesischer Ordnung die Schildkröte N, der Tiger W, der
Vogel S und der Drache O.
SA 30 578
Par-shing für sogen. Srung-ha. Holz. 19 : 21 cm. Dazu ein Abzug aus Papier.
Zu den Srung-ba (Tribus 16, 162 ff.) ergänzend: Die Srung-ba werden oft in Amulett-
behältern getragen, die als Ga’u bekannt sind. Die ursprüngliche Bedeutung dieses
Wortes scheint „Sarg“ gewesen zu sein (vgl. A. W. MacDonald: Histoire et Philologie
Tibétaines. In: Annuaire 1967/68. Paris 1968, 557).
SA 30 574
Ein Zeremonialstab, der nach Informationen, die Lenser erhielt, zum Überreichen von
Zeremonialschleiern (tib.: Kha-btags) verwendet wird. 61,5 cm lang. — Vielleicht zum
Umlegen dieser Schleier um Kultfiguren (?).
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
89
SA 30 584
Stiefel (tib.: iHam) (vgl. Tribus 13, 116, Nr. 72 550). 30 cm lang.
Dazu Schuhband (iHam-sgrog) zum Umwickeln an der Wade (vgl. E. Olson: Cata-
logue of the Tibetan Collection, Vol. IV. Newark 1961,48). 85 cm lang und 4 cm breit.
SA 30 570
Oboe (tib.: rGya-gling) (vgl. Tribus 13, 70, Nr. 71 585). 61 cm lang, Durchmesser des
Trichters 14,7 cm.
SA 30 572
Kleidergurt (tib.: Gon-zin) (vgl. H. Kihara: Peoples of Nepal Himalaya, Vol. III.
Kyoto 1957, 321). Die Sherpa erklärten Lenser, diese Gurte stammten vom Keusch-
heitsgürtel ab oder seien es einst gewesen. Die Messingstäbe 13 cm, die Silberkette
155 cm lang.
Abb. 1 Kleidergurt, Silber und Messing,
SA 30 572.
SA 30 588
Feuerzeug (tib.: ICags-ma, Me-lcag); vgl. Tribus 13, 94, Nr. 71 588. 13,4 : 6,8 cm.
SA 30 587
Nadeltäscblein (tib.: Khab-ral [shubs]); vgl. Tribus 13, 115, Nr. 72 736. 14 cm lang,
8,5 cm breit.
SA 30 585
Tragtasche (tib.: sGye-mo), gewebt. 28 cm breit, 26,5 cm hoch.
90
Siegbert Hummel
SA 30 581
Eßbesteck nach chinesischer Art wie Tribus 13, 95, Nr. 122104. Messer 18 cm (Klinge
10 cm), Eßstäbchen 13 cm lang (Eßstäbchen tib.: Kho-tse).
SA 30 607 und 30 608
Gefäß (tib.: Bum) für alkoholische Getränke. Gebrauch s. v. Fürer-Haimendorf 1964
(1. c.), Abb. neben S. 93. Holz. SA 30 607 ist 16,7 cm, 30 608 ist 40 cm hoch, außerdem
mit Metallbeschlägen.
SA 30 590
Körperpflegeinstrumente in einem Futteral aus Bambus, das bereits den Bereich der
nepalesischen Kultur erkennen läßt. Futteral 9,2 cm lang, 1,4 cm Durchmesser.
SA 30 586
Schloß (sGo-lcags) mit Schlüssel (iDe-mig) für Türen (tib.: sGo); vgl. Tribus 13, 96,
Nr. 72 712.
SA 30 611
Vorhängeschloß für Kisten. 3,5 : 4,6 cm.
SA 30 579 und 30 580
Spindel (tib.: Phang). In Gebrauch bei Kihara, 1. c., Abb. S. 319. Holz. 26 bzw.
25,5 cm lang, Scheibe 6,5 cm Durchmesser.
SA 30 589
Sitzteppich (gDan). 152 : 83 cm. Geometrisches Muster. Vgl. Ph. Denwood: The Tibe-
tan Carpet. Warminster 1974. — S. Hummel: Der Tibetteppich. In: Tibet im Exil.
Solothurn 1975, 2, mit Eiteraturhinweisen.
SA 30 591.
Picknickkorb (tib.: Bag-tse). Aus Bambusstreifen geflochten; vgl. M. Brauen: Heinrich
Harrers Impressionen aus Tibet. Innsbruck 1974, Abb. 134. 22, cm Durchmesser.
2. NEPALESISCHE KULTUR
SA 30 605
Padmapäni (Relief aus Stein). Typisch nepälesische Arbeit des 17. Jh. 10,1 cm hoch;
5,3 cm breit. Vgl. Nepal: Kunst aus dem Königreich im Himalaja. Essen 1967, Abb.
27—30.
SA 30 601
Surya, der Sonnengott.
Sehr beschädigtes Holzrclief. Man erkennt noch an den Resten der Mudra und des
Sockelreliefs, daß es sich um Surya handeln muß. Der Wagen ist von sieben Pferden
gezogen. Schöne alte nepälesische Arbeit, 16./17. Jh. (vgl. ähnliche Reliefs in M. Lob-
siger-Dellenbach: Népal, Catalogue de la Collection d’Ethnogr. Népalaise du
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
91
Musée d’Ethnogr. de la Ville de Genève, 1954, Tafel XXII, Nr. 195, 196; zu Surya
239). 13,3 : 17,2 cm. — In gleicher Ausführung finden sich nepalesische Elfenbein-
reliefs, z.B. in: A.Lommel: Kunst des Buddhismus. Zürich und Freiburg 1974, Tafel 98.
Durch irgendein Versehen ist meine Deutung einer benachbarten Plastik des Padma-
sambhava dieser Darstellung des Brahma beigegeben worden. So handelt es sich auch
auf Tafel 91 nicht um den 3. Dalai-Lama, sondern um Rol-pa’i-rdo-rje. Vgl. auch
meine Rezension des Buches in Tribus 24, 200 ff.
SA 30 604
Katamari [Puttali]. Holzpuppe. 18,3 cm hoch.
Diese Puppen werden der Braut zur Hochzeit geschenkt und sollen Kindersegen brin-
gen (ähnliche Puppen zeigt M. Lobsiger-Dellenbach, 1. c., Tafel XXII, Nr. 161).
SA 30 606
Wasserkrug (Gagri). 29 cm hoch.
SA 30 612
Tabakspfeife. 8 cm. In der Mitte 2 cm Durchmesser, vorn 9,3 cm.
Von den Newari so in die Hand genommen, daß der Mund beim Rauchen das Mund-
ende nicht berührt; die Pfeife wird herumgereicht.
SA 30 613
Wie 30 612. 8,5 cm hoch.
92
Sieghert Hummel
SA 30 617
Wasserpfeife.
Der Wasserbehälter ist eine gravierte Kokosnuß-Schale. Das Saugrohr 50,5 cm lang.
Die Pfeifen beschreibt M. Lobsiger-Dellenbach, 1. c., S. 37, Abb. Tafel XI, Nr. 167.
In Gebrauch bei W. Filchner: In der Fieberhölle Nepals. Wiesbaden 1953, Abb. 36.
SA 30 609
Lampe für öl. 19,5 cm hoch.
Nach Lenser eine typische Arbeit der Newari-Schmiede in Ostnepäl.
SA 30 600
Bambus-Flöte aus dem Kathmandu-Tal. 44,3 cm.
Nach Lenser für profanen und rituellen Gebrauch.
SA 30 618
Jacke aus grober Wolle. Newari. 69 cm hoch, Seitenteile je 31 cm breit.
SA 30 614
Reis-Stroh-Schuhe der Newari. Aus einem Newari-Dorf bei Kathmandu. 24 cm lang.
SA 30 615 und 30 616
Gleichartige Mützen, wie sie von den Gurung und Magar, aber auch von den Tamang
getragen werden. Zu diesen Stämmen vgl. Tribus 13, 132.
SA 30 610
Nepalesisches Vorhängeschloß. 27,5 cm lang. Mit Schlüssel.
Arbeit von Newari aus einem Dorf in Ost-Nepal. Beschrieben auch von M. Lobsiger-
Dellenbach, 1. c., S. 13, mit Abb. Tafel III, Nr. 28.
II. Verschiedene Neuerwerbungen
Zur lamaistischen, d. h. tibetisch buddhistischen, Ikonographie muß hier auf die
Einführungen zu meinen Arbeiten in Tribus 8 (Miniaturen), Tribus 11 (Kultplasti-
ken), Tribus 13 (Profane und religiöse Gegenstände) und Tribus 16 (Malereien und
Bilddrucke) sowie auf die zu allen diesen Abhandlungen im Abschnitt III der jetzigen
Veröffentlichung gegebenen Ergänzungen verwiesen werden.
Was die in Plastiken und auf Malereien, aber auch manchmal auf Kultgegenstän-
den angebrachten Gottheiten des lamaistischen Pantheons angeht, so sind diese auch
als Meditationshilfen, d. h. bei Ausschalten aller vulgärmassiven Anschauungen,
Immerhin Realitäten in dem Sinne, daß mit ihnen dargestellte Kräfte nicht abstrakt
verstanden werden dürfen, sondern konkret als Wesenheiten, die auch von außen her
beeinflußt werden können, wodurch z. B. die Mondphasen ihre Wirkung u. U. bald
günstig, bald ungünstig verändern (vgl. hierzu auch R. A. Stein: Trente-trois fiches de
divination Tibétaines. In: Harvard Journal of Asiatic Studies, Vol. 4, 311 ff.).
Ähnlich dem Schamanismus, in dem Geister Gestalt gewordene Vorstellung per-
sönlicher und kollektiver Art sind, die geschaffen wurden, um die chaotische Psyche
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
93
in Ordnung zu bringen und ihre Kräfte zu aktivieren, sollen auch die Angehörigen
des lamaistischen Pantheons das psychische Gleichgewicht erhalten. Wahrscheinlich be-
stehen Beziehungen zwischen den Grundlagen des lamaistischen Pantheons und vor-
buddhistischen Vorstellungen.
Älteste Bildwerke in Tibet dürften in Stein erhalten sein. So soll im 7./9. Jh. eine
Steinplastik des Königs Srong-btsan-sgam-po auf seinem Grab (tib.: Bang-so) in
’Phyong[s]-rgyas aufgestellt worden sein. Auch soll man schon im 7. Jh. Steinbilder
der Rigs-gsum-mgon-po (vgl. I. Lenser zu Nr. SA 30 582) in IHa-sa errichtet haben,
wo auch eine steinerne iHa-mo zu sehen war. Steinplastiken (tib.; rDo-lha) der rGyal-
ba-rigs-lnga (Dhyänibuddhas) in Kra-’brug aus der T’ang-Zeit sind bezeugt. In
Pha-bong-ka findet sich ein gleichaltriges Steinrelief mit den Rigs-gsum-mgon-po. Auf
dem vermutlichen Grab des Königs Ral-pa-can steht ein steinerner Löwe, der an
chinesische Arbeiten des 6. Jh. erinnert (vgl. ähnliche Arbeiten in O. Fischer: Chine-
sische Plastik. München 1948, Tafel 36—38). Vielleicht darf man hier auch die stei-
nerne Schildkröte in bSam-yas erwähnen. Die berühmten rDo-ring des 8./9. Jh. sind
mit ihrem Schmuck in Vollplastik (Bekrönung durch Lotusblüte, Juwel, Sonne in
Mondsichel) und Relief (Swastika, Vajra, Löwe, Drache, Sonne, Mond, chinesisches
Bergmotiv) Zeugen einer Kunst, in der chinesische und nepalesische Motive vermischt
sind (vgl. hierzu H. Richardson: Early burial Grounds in Tibet and Tibetan decora-
tive Art of the Vlllth and IXth Centuries. In: Central Asiatlc Journal VIII, 83—90
und Abb. 3—15). Auch Fresken an Grabbauten (Tiger), Gefäße aus Silber und Gold,
z. T. in Tiergestalt, sowie tibetische Siegel mit Tiermotiven (Tun-Huang-Funde) wer-
den erwähnt.
1. PLASTIK
o. Nr. Sammlung Trumpf. Bronze. 24 cm hoch. Südtibet. 16.—17. Jh.
Akshobhya. Seine Familie (skr.: Kula) ist die Vajrafamilie mit Vajradhara und
Vajrasattva. Zu den Kulas ausführlich: Mkhas Grub Rje’s Fundamentals of the
Buddhist Tantras (ed. F. D. Lessing und A. Wayman: The Hague 1968, 101 ff.). Die
höchste der Familien ist die Tathägata-Familie. Vajradhara kann jedoch über allen
Kulas stehen. Chef (Herr, tib.; gTso-bo) der T.-Familie ist Shäkyamuni bzw. Vairo-
cana, Meister (tib.: bDag-po) der T.-Familie ist Manjushri, Yum ist Sarasvati (aber
auch Märici, die auch Shakti des Hayagriva aus der Lotus-Familie sein kann), schreck-
liche Manifestation des Manjushri ist Yamäntaka. Padma-Familie (Lotusfamilie) hat
als gTso-bo den Amitäbha [Amitäyus], als bDag-po den Avalokiteshvara, als Yum
die Tara, deren schreckliche Form die Parnashavari sein kann. Die Vajra-Familie hat
als gTso-bo den Akshobhya, als bDag-po Vajrapäni. Im Manjushrimülakalpa werden
die Vajra- und die Padma-Familie links und rechts vom Buddha (Tathägata-Familie)
aufgestellt; vgl. auch Farbtafel XXX in G. Tucci: Indo-Tibetica III/2, Rom 1936.
Seine im Tantrismus bevorzugte Stellung hat Akshobhya in Nepal behalten. Im
Mandala der 5-Dhyänibuddhas tritt er dann an die Stelle des Vairocana im Zentrum,
der in den Osten, den gewöhnlichen Platz des Akshobhya, gerückt wird (vgl. zu
Akshobhya: Tribus 16, 67, Nr. 23 684, und 70, Nr. 23 691). Diese Dhyänibuddhas
94
Siegbert Hummel
werden auch symbolisch dargestellt durch Krone, Ohrringe, Halsschmuck, Armschmuck
und Gürtel. Ihre Mudräs sind: Vairocana in Dharmacakramudrä (tib.: Chos-’khor-
bskor), Akshobhya in Bhümisparshamudrä (tib.: Sa-gnon), Amoghasiddhi in Abhaya-
mudrä (tib.: ’Jigs-med) und Vitarkamudrä (tib.: Chos-’chad), Amitäbha in Dhyäna-
mudrä (tib.: bSam-gtan) und Ratnasambhava in Varadamudrä (tib.: mChog-sbyin);
weitere Mudräs sind z. B. Vajrahümkära (tib.: rDo-rje-hüm-mdzad), Karana (tib.:
Bya-ba), Anjali (tib.: Thal-mo-sbyar-ba), Tarjani (tib.: sDigs-mdzub). Die meditative
Augenhaltung der Akshobhya-Figur ist Dhyänanayanah. Der Haarknoten (skr.;
Ushnisha) auf dem Kopf war nach Y. Krishan: The Hair on the Buddha’s Head and
Ushnisha. In: East and West 16, 3—4, 275 ff.) ursprünglich vielleicht ein Turban als
Zeichen des weltlichen Herrschers (Cakravartin), dann als Zeichen der Souveränität
des Buddha.
Wenn Akshobhya wie Gautama Buddha mit Bhümisparshamudrä dargestellt wird,
hat er einen Vajra vor sich liegen (vgl. hierzu die Anmerkungen in Tribus 11, 36,
Nr. 119 384). In Nepäl wird A. auch mit Bhümisparsamudrä und Almosenschale in der
Linken gezeigt. Seit der Päla-Zeit gehen Gautama-Buddha und Akshobhya oft inein-
ander über. Ursprünglich dürfte Akshobhya eine Hypostase des Gautama im Sieg
über Mära gewesen sein. Manifestationen des Akshobhya sind Samvara (bzw. Heruka)
und Hevajra. Sein Himmel ist Abhirati.
Zur Bronze: Zu den verschiedenen Metallegierungen und deren Klassifikation, die
uns allerdings nicht viel sagt, vgl. Loden Sh. Dagyab, in: Buddh. Kunst aus dem
Himalaya, Sammlung Werner Schulemann. Bonn/Köln 1974, 84 f.
Abh. 3 Akshobhya, Bronze, SIg. Trümpf,
V 108.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
95
SA 31 720
Sammlung Zaiser. Bronze. 21,5 cm hoch. 17. Jh. oder früher.
Amitdyus (vgl. Tribus 16, Register), tib. : Tshe-dpag-med. Mit Sitatârâ und Ushnisha-
vijaya (tib.; gTsug-tor-rnam-par-rgyal-ma), die eine Emanation des Vairocana ist und
oft im rNam-rgyal-Stupa von Vaishali sitzt, bildet er die als Tshe-lha-gsum bekannte
Trinität des Lebens. Diese wird in bestimmten Zeremonien anläßlich des Todestages
von Gründern und Lehrern lamaistischer Schulen angerufen. Zu den Tshe-lha-gsum
vgl. Tribus 16, Register, zum Stupa von Vaishali vgl. Tribus 11, 63. Dort fand das
Gespräch Gautama Buddhas mit Mara über seine Lebenszeit statt.
SA 31 126
Sammlung Markert. Bronze. 24,2 cm. 15.—16. Jh. Südtibetisch.
Avalokiteshvara als tausendarmiger Âryâvalokiteshvara (tib.: sPyan-ras-gzigs-phyag-
stong-spyan-stong). Avalokiteshvara wird in weißer Körperfarbe gezeigt, weil er mit
Ideen um Vairocana verbunden wird (vgl. auch Tribus 16, 92, Nr. 23 905), obwohl
er nicht zu dessen Familie gehört. Als Bodhisattva des Amitabha (Padmafamilie) müßte
er rot gezeigt werden (vgl. Tribus 8, 25, Nr. 24 222). Im 7.—8. Jh. verdrängt er mit
dem Kult des Amitabha den des Maitreya (vgl. Tribus 16, 93, Nr. 23 908), aber auch
unter den Bodhisattvas den Vorrang des Manjushrî; vgl. Nirmal S. Sinha: Man-Chu-
Shi-Li. In: Man in India 46, 261 ff.). Er wird schon im Saddharma-Pundarîka er-
wähnt (um 200, nach Nalinaksha Dutt schon im 1. Jh.; vgl. St. G. Darian: Antécé-
dents of Tantrism in the Saddharma-Pundarîka. In: Asiat. Studien XXIV/3—4).
Seine weibliche Partnerin istManipadmä (Yi-ge-drug-ma). Als Shadaksharî inkarniert
er sich in den Dalai-Lamas, jedoch erst seit dem 5. dieser Reihe. Bis dahin galten diese
als Inkarnation des Manjushrî bzw. wurde diese Inkarnation betont. Als Simhanada
schützt Avalokiteshvara gegen Krankheiten. Zu Avalokiteshvara und seinen Bezie-
hungen zu Shiva vgl. J. Ph. Vogel, in: Journal of the Anthropological Society of
Bombay, LXXI, S. 35 (das Gazellenfell des Avalokiteshvara stammt von Shiva). Die
Avalokiteshvara-Statue mit 12 Köpfen, die König Srong-btsan-sgam-po errichtete,
hat sich der Legende nach von selbst gebildet, und zwar nach einer Statue, die eine
Emanation des Königs in Gestalt eines Mönches aus Indien holte (vgl. A. MacDonald:
Histoire et Philologie Tibétaines. In: Annuaire 1966—1967. Paris 1967, 479).
SA 31 223
Sammlung Gedon. Bronze. 13,5 cm hoch.
Vajrapani (tib.; Phyag-na-rdo-rje) als Bodhisattva im indischen Stil von Bihar. Die
linke Hand hält eine Lotusblüte. Darinnen liegen ein rDo-rje und die Glocke.
SA 31 225
Sammlung Gedon. Bronze. Nepalesische Arbeit. 29,5 cm hoch.
Die Figur ist nicht vollständig. Aus den beiden auf dem Rücken liegenden Gestalten
unter den Füßen der Gottheit, wahrscheinlich Rudra und Ananga, könnte man an eine
Form des „tausendarmigen“ Kalacakra denken.
96
Siegbert Hummel
SA 31226
Sammlung Gedon. Bronze. Höhe 10 cm. Wahrscheinlich nepalesische Arbeit.
Gautama-Buddha. 15.—16. Jh.
SA 31010
Sammlung Menist. Bronze. 22 cm. Nepalesische Arbeit des 16. Jh.
Indra (tib.: brGya-byin) in Räjaliläsana und mit dem für Indra typischen querstehen-
den dritten Auge. In dieser Form tritt Indra im nepalesischen Hinduismus auf, wäh-
rend er im Lamaismus unter den Zehn Lokapälas (skr.: Dikpati; tib.: Phyogs-skyong)
erscheint. Er reitet dann einen Elefanten. Diese schöne nepalesische Bronze bedeutet
somit eine Randfigur der tibetischen Sammlung.
SA 31224
Sammlung Gedon. Bronze. 18,3 cm. Nepalesische Arbeit.
Ganesha (Ganapati, tib.: Tshogs-bdag). Zwischen den Beinen, die in Ausfallstellung
(skr.: Älidha) gehalten sind, die Maus, die sonst als sein Reittier auftritt. Die Gottheit
hat eine Schlange umgehängt. In den beiden linken Händen erkennt man Axt und
Ladduka (süße Kugeln), in den beiden rechten die Mülaka-Wurzel und einen Rosen-
kranz. Ganesha gilt als Schutz vor Hindernissen und als Patron der Gelehrsamkeit.
SA 31 594
Sammlung Zaiser. Bronze. 3,5 cm. Nepalesische Arbeit. 15.—16. Jh.
Sitatdrä (tib.: sGrol-ma-dkar). Hierzu Tribus 16, Register.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
97
SA 31 198
Sammlung Markert. Bronze. 18,5 cm hoch. Südtibet. 16.—17. Jh.
Sitatdrd.
SA 31 120
Sammlung Bretschneider. Bronze. 24,7 cm hoch. Nepalesische Arbeit des 17.—18. Jh.
Prasannatdrd. Die Göttin gehört zur Familie des Ratnasambhava (Ratna-Kula) und
ist selten in Sammlungen anzutreffen, aber typisch für den nepalesischen Buddhismus.
Unter ihren Füßen tritt sie vom Beschauer aus von links nach rechts auf Upendra
(Vishnu), Brahma, Rudra (Shiva) und Indra.
Ahb. 5 Prasannatdrd, Bronze, SA 31 120.
SA 31 199
Sammlung Markert. Bronze. 9,5 cm hoch. Südtibetisch-nepälesische Arbeit des 16.—
17. Jh.
Vajrasarasvati (tib.: rDo-rje-dbyangs-can-ma). Eine recht selten vorkommende Göttin,
die in Nepal eher angetroffen wird als in Tibet. — Die bekannteste Darstellung der
Sarasvati (tib.: dByangs-can-ma) ist die mit einer Laute (skr.: Vinä). Nach indischer
Tradition ist sie die Urmutter aller Erscheinungsformen. Die Entfaltung des Seines
besteht nach indischer Auffassung in einer Vielfalt von Tönen (Vak). Bewußtwerden
ist begrifflich-klangliche Entäußerung des Ureinen. So wird Sarasvati auch mit Vak
direkt gleichgesetzt und gilt als erste Entfaltung in der Zweiheit Shakti-Shakta (vgl.
hierzu auch A. Avalon: Dir Girlande der Buchstaben. Weilheim 1967).
98
Sieghert Hummel
SA 31 222
Sammlung Gedon. Bronze. 21 cm hoch. Südtibet, 16.—17. Jh.
Sitâtapatrâ (tib. : gDugs-dkar-can-ma); vgl. Tribus 16, Register S. 191. Der Schirm in
der linken Hand ist verlorengegangen. Merkwürdigerweise rechnet Dorje Tsering:
A short Dictionary of Tibetan-English-Buddhist Terms, II. Kalimpong 1970, 22 f., die
Sitâtapatrâ zu den Yi-dam der Yogis.
SA 31 124
Sammlung Menist. Bronze. 53,5 cm hoch. Nepälesische Arbeit, 19. Jh.
Ushnîsha-Sitâtapatrâ (tib.: gTsug-tor-gdugs[-can]-dkar), vgl. Tribus 16, 72, Nr. 23713.
Auch hier ist der Schirm nicht mehr vorhanden. Tiere und menschliche Gestalten, auf
denen die Gottheit tanzt, sind unter dem rechten Fuß eine neue Nachbildung. Vgl.
hierzu G. Roerich: Tibetan Paintings. Paris 1925, Abb. S. 66.
SA 31 105
Sammlung Bretschneider. Holz. 35,5 cm hoch. Südtibet, 17.—18. Jh.
Shrî-Devî (tib.: dPal-ldan-lha-mo); vgl. Tribus 16, Register S. 189, insbesondere S. 82
Nr. 23 746. Ergänzend zu den dortigen Angaben über IHa-mo: Die verschiedenen vor-
buddhistischen, tibetischen und indischen Traditionen in dieser Gestalt behandelt
S. Hummel: Probleme der Lha-mo. In: Central Asiatic Journal VIII/2. Zu dem in
dieset Gottheit enthaltenen Vorstellungskomplex Frau—Medizin—Zauberei vgl. R. A.
S'iein: Trente-trois fiches de divination Tibétaines, 1. c., 311 ff.), insbesondere zu den
Begriffen sMan und dMan (Mo-sman, Mo-dman) = Frau; Mo-ma = Loswerferin,
Zauberin; sMan-mo = Dämonin (Gattung); IHa-sman = Medizingöttin.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
99
Der zentrale Ort der iHa-mo in iHa-sa ist der Tempel Ra-mo-che (vgl. R.
Kaschewsky: Das Leben des lamaistischen Heiligen Tsong-kha-pa Blo-bzang-grags-pa.
Bonn 1967, 26). Einer der bevorzugten Orte der IHa-mo ist auch der Chos-’khor-gyi-
gnam-mtsho, auch IHa-mo-gnam-mtsho genannt. Dieser See in Südtibet ist der
ßla-mtsho der Dalai-Lamas (vgl. S. Hummel: Die Bedeutung der Na-khi. In: Monu-
menta Serica XIX, 327, mit Literaturhinweisen; ferner: Li An-che: A Lamasery in
Outline. In: Journal of the W. C. Border Research Society XIV, A, 54).
Die IHa-mo trägt die Totenkopfkette (skr.: Mundamälä; vgl. bei Vajrapani die
Schlangenhalskette, skr.: Nagabhüshana), den Knochenschurz (skr.: Asthi-äbharanä)
und sitzt auf einer Menschenhaut (euphemistisch: Zhing-chen-g.yang-gzhi; g.yang-gzhi
= Antilopen-Fell).
Ahh. 7 Shrl-Devi, Holz, SA 31105.
SA 31 593
Sammlung Zaiser. Bronze. 13,5 cm hoch. Nepalesisch. 19. Jh.?
Kniender Deva aus einer Gruppe. Zu diesen im nepalesischen Lamaismus auch häufig
auf Thang-ka vorkommenden Adoranten vgl. die Malereien Nr. SA 30 596 und
SA 30 598 der Sammlung Lenser in Tribus 16. Auf 30 596 unterhalb des Shadakshari,
auf 30 598 unterhalb des Gautama-Buddha.
SA 31 079
Sammlung Bretschneider.
Bruchstück wahrscheinlich von einer großen lamaistischen Kultplastik. 20,5 cm hoch.
Es wird sich um das Abschlußteil eines Ushnisha handeln (vgl. z. B. D. I. Lauf: Das
Erbe Tibets. Bern 1972, Tafel 44).
100
Sieghert Hummel
Das Stück ist interessant, weil es an der Vorderseite nahezu vollplastisch die Gestalt
des Vajradhara trägt. Blattornamente und Blüten umgeben die Gottheit. Das Ganze ist
aus Silber gegossen und mit Türkisen geschmückt.
Es kann sich somit nur um eine Gottheit gehandelt haben, die zur Vajrafamilie
gehört. Zu Vajradhara vgl. Tribus 16, 67, Nr. 23 684. Er ist von weißer Körperfarbe.
In Nepal kommen auch hellrote Varianten vor. Rot erscheint er auf einem Bilde der
Sammlung Lenser mit Na-ro-mkha’-spyod-ma im Zentrum, das in Nepal erworben
wurde. Vajradhara ist Ädibuddha der bKa’-rgyud-pa und der dGe-lugs-pa (zu den
verschiedenen Ädibuddhas vgl. Tribus 16, 68, Nr. 23 684). Von Vajradhara leiten sich
die Sa-skya-pa her. Vajradhara-Inkarnatlonen sind die Äbte von Ngor-e-vam, einer
Untersekte der Sa-skya-pa, gegründet durch Kun-dga’-bzang-po (1382—1457). Als
Ädibuddha scheint Vajradhara seit dem 10. Jh. bekannt zu sein (vgl. N. R. Banerjee:
Some Thoughts on the Development of Buddhist Art in Nepal. In; East and West, Vol.
22/1—2, 71).
SA 31 318
Sammlung Markert. Bronze. 13,5 cm hoch. Südtibet, 16.—17. Jh.
Der indische Mahdsiddha (tib.: Gruh-chen) Ti-lo-pa, Lehrer des Nä-ro-pa (11. Jh.)
und damit bedeutender Heiliger der tibet. bKa’[dKar]-rgyud-pa-Schule. Die Linie
führt über Mar-pa und Mi-la-ras-pa (vgl. Tribus 16, Register, und S. Hummel:
Mi-la-ras-pa und die bKa’-rgyud-pa-Schule. In: Kairos V/4). Der Heilige sitzt in
Utkatäsana.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
101
Neben der klassischen Reihe von 84 (85) Mahäsiddhas (vgl. T. Schmid: The eighty-
five Siddhas. Stockholm 1958, 14) gibt es in Tibet auch noch eine durch sechs weitere
Heilige ergänzte. Es sind zusätzlich aufgenommen: Die Inderin Mandäravä und die
Tibeterin Ye-shes-’tsho[mtsho]-rgyal, beides Gattinnen des Padmasambhava (s. Tribus
16, Register), der Tibeter Mi-la-ras-pa, der Inder Pha-dam-pa (t 1118, Gründer der
2hi-byed-pa-Schule), der Tibeter Thang-ston-rgyal-po, der als Brückenbauer und Ur-
heber verschiedener Riten bekannt ist (Tribus 16, Register), und der Tibeter Gling-ras-
pa (1128—1188, Gründer der ’Brug-pa-Schule). Zur erweiterten Reihe vgl. noch
Tibet House Museum. Catalogue. New Delhi 1965, 26 f.
Abb.9 Tilopa, Bronze, SA 31 318.
Zu Yc-shes-’tsho[mtsho, ’od]-rgyal und Mandäravä in Tribus 16, ergänzend: Die
erste soll ein übernatürliches Gedächtnis gehabt haben und daher die Aussagen des
Padmasambhava in dem Buche Pad-ma-thang-yig festgehalten haben. Mandäravä, die
Schwester des Shäntirakshita (9), wird ikonographisch auch mit einem Katzenkopf
dargestellt. Ein Tempel ist ihr bei Nya-lam (S.-Tibet) geweiht (vgl. A. Grünwedel;
Padmasambhava und Mandärava. In: Zeitschr. d. Deutschen Morgenländischen Ge-
sellschaft 52, 449).
Zu Mi-la-ras-pa in Tribus 16 ergänzend; Die für ihn typische Geste mit Hand am
Ohr ist wahrscheinlich ursprünglich die Geste des Singens (zur Verbreitung dieser Geste
vgl. J. Zwernemann: Zur figürlichen Plastik der Bwa. In: Tribus 11, 150, Abb. 1).
Der in Tribus 16, 104, verzeichnete Spruch stammt nach D. I. Lauf (briefl. Mitt. v.
20. 8. 1968) aus der Mi-la-ras-pa-Initiation. Mar-pa soll sie in Indien durch Nä-ro-pa
erhalten haben.
102
Siegbert Hummel
Zu Thang-ston-rgyal-po ergänzend: Ausführlich S. Hummel: The Tibetan Cere-
mony of Breaking the Stone. In: History of Religions, Vol. 8/2, 1968, 139 ff.). Der
Heilige ist auch unter den Namen ’Ja’-tshon, Grub-thob (Siddha)-lcags-btso-pa
(= Schmied) und brTson-’grus-bzang-po bekannt. Bl. Chr. Olschak: Himalaya-
Paradies Bhutan. In: Berge der Welt, Bd. 16, 94, erwähnt Bücher mit Lebensbeschrei-
bung des Heiligen in Bhutan, wo noch Nachkommen der Familie leben sollen, als
sogenannte Feuer- und Wasserschriften, bei denen die Schrift erst durch Erwärmen
bzw. Anfeuchten des Papiers sichtbar wird. — In der Ilias, XXI, ist Hephaistos, der
Schmied, Herr über die Gewässer. Ebenso ist der Schmied Thang-ston Schutzgott gegen
Überschwemmungen und Herr über die Dämonen, die Brücken gefährden. Der Mythos
rüstet den Schmied mit magischen Kräften aus (Umgang mit Feuer als des Wassers
Feind und mit Eisen), was seine magische Herrschaft über die Gewässer erklärt (vgl.
S. Hummel: Der göttliche Schmied in Tibet. In: Folklore Studies XIX, 270: Schmied-
Feuer und Hitze-Gewitter sowie Fruchtbarkeit-kosmische Wendepunkte [lahme und
halbblinde Gottheiten], ferner heilsgeschichtliche Aufgaben; S. Hummel: Ekajatä in
Tibet. In: Asiatische Studien XII/1968, HO ff.; S. Hummel: mGar. In: Ethnol. Zeitschr.
Zürich 1/1972, 215 ff.).
Zur Ikonographie des Nä-ro-pa, die merkwürdigerweise sehr variabel ist, vgl. S.
Hummel: Rezension Guenther. The Life and Teachlng of Näropa. In: Kairos VI/1964,
255), und ergänzend Pr. Pal: The Art of Tibet. Boston 1969, Abb. Nr. 90; hierzu noch
Tribus 16, Nr. 23 753.
2. MALEREI
(Zur Farbsymbolik vgl. S. Hummel: The Colour in the Tibetan Iconography. In:
Lamaistic Art. Exhibition. Brüssel 1975, VII ff.)
SA 30 895
Thang-ka aus dem Besitz Schoettle, Stuttgart. Ohne Einfassung 52 : 70,5 cm, mit
Einfassung 71 : 114,5 cm. 19. Jh., Osttibet.
Gautama-Buddha, umgeben von den 18 Sthavira (tib.: gNas-brtan), unten von den
vier Weltenhütern (skr.: Caturmahäräja; als Virüdhaka im Süden als König der Rie-
sen, Dhritaräshtra im Osten als König der Gandharvas, Vaishravane im Norden als
König der Yakshas und Virüpäksha im Westen als König der Nägas).
Zu den Sthaviras (Arhat) vgl. Tribus 16, 70, Nr. 23 693. Ergänzend: Die Attribute
und Mudräs haben keine feste Regel (vgl. M. W. de Visser: That Arhats in China and
Japan. Berlin 1923, 99; vgl. Tribus 16, 66, Nr. 108 029). Der 17. und 18. Arhat sind
Hva-shang und Dharmatäla (Dharmätrata). Letzterer wird als Laienbruder (tib.:
dGc-bsnyen) gezeigt und hat langes Haar und mitunter keine Kopfgloriole. Dharmä-
tala, der ursprünglich mit dem berühmten Bodhidharma (6. Jh.) identisch gewesen sein
dürfte, wurde mit einer Legende umgeben, die ihn zu einem Laienbruder macht, der
zur Ming-Zeit gelebt haben soll (vgl. hierzu wie zu Hva-shang G. Tucci: Minor
Buddhist Texts, Vol. II. Rom 1958, 113 f.). Dharmatäla und Hva-shang gehörten zur
Ch’an-Schule, die in Tibet im 8. Jh. als nicht-orthodox verfolgt wurde. Man hat dann
Hva-shang als Maitreya verstanden (vgl. ausführlich Tribus 16, 70 ff., Nr. 23 693)
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
103
und Dharmatala mit der erwähnten Legende umgeben. Die Gruppe der durch Hva-
shang und Dharmatala auf 18 Mitglieder erweiterten Arhat ist wahrscheinlich bereits
entstanden, als die Ch’an-Schule noch anerkannt war.
Die Arhat gelten heute als Wächter des Buddhismus. Einst werden sie alles, was an
den Buddhismus erinnern kann, in einem Stupa verbergen und sich aus der Welt
zurückziehen. Der Stupa wird dann versinken und die Ära des Gautama-Buddha zu
Ende gehen.
Was Hva-shang (chin.: Ho-Shang) angeht, so soll dieser nach der Legende auf
Befehl des chinesischen Kaisers die Arhat nach China geholt haben, wobei ihn Dhar-
matäla, der eine Verkleidung des Avalokiteshvara gewesen sein soll, unterstützte. Die
Bezeichnung Hva-shang (tib. auch: Ha-phrug) für die auch im Ch’am auftretende dick-
leibige Gestalt ist kein Eigenname. Der in der komplexen Gestalt des Dickbauchbuddha
mit enthaltene Mönch Hva-shang [-Mahâyâna], der nach der Disputation von iHa-sa
das tibetische Land verlassen mußte, vertrat die als sTon-min[mun]-pa bekannte Medi-
tation mit dem Ziele der plötzlichen Erlösung als Überwindung aller Gegensätzlich-
keiten und objektiven Gegebenheiten im excessus mentis (japan.: Satori). Diese Lehre
lebt in Tibet in der nicht-reformierten Schule der rDzogs-chen noch fort (vgl. G. Tucci:
Minor Buddhist Texts, II. Rom 1958, 104 ff.).
Vgl. zu Hva-shang auch S. Hummel (Rezension E. Rouselle): Vom Sinn der
Buddhistischen Bildwerke in China. In: Zeitschr. für Miss. u. Religionswiss. 1967/1,
85 f.): Traditionen des Reichtumsgottes Kuvera (Vaishravana und Jambhala) im
Hva-shang als Yaksha-Typ (vgl. L. Schehmann: Dickbauch-Typen in der indisch-
ostasiatischen Götterwelt. In: Jahrbuch d. Asiat. Kunst, I. Leipzig 1924, 120—136).
Nach Rouselle, 1. c. Darmstadt 1958, 34—36, hieß der Pu-Tai-Ho-Shang genannte
Mönch Ch’i-Tzu. Über die dämonischen Züge im Hva-shang, z. T. von Jambhala her, z. T.
vielleicht aus Verbindung mit Ideen um Chronos (vgl. Tribus 16, 70 f., Nr. 23 693 u.
23 694, und S. Hummel; Zervanistische Traditionen in der Ikonographie des Lamaismus.
In: Études Tibétaines. Paris 1971, 159 ff.). Zum Problem Hva-shang in Verbindung mit
Dharmatala vgl. auch: Tibet House Museum. Catalogue. New Delhi 1965, 14; Tibet
House Museum. Second Exhibition. New Delhi 1966, 36; Tibetan Art and Handi-
crafts Exhibition. New Delhi 1969, 12. Neuerdings ist durch S. G. Karmay (A Dis-
cussion on the doctrinal Position of rDzogs-chen. In: Journal Asiatique CCLXIII/
1—2, 147 ff.) die Niederlage des Hva-shang im sogenannten Streitgespräch von IHa-sa
aufgrund eines Tun-Huang-Textes in Frage gestellt. Zu den 18 Arhat scheint man statt
Maudgalyayana und Shariputra (wie nach der indischen Tradition auf tibetischen
Malereien üblich; vgl. Tribus 16, Register) der Vorstellung des chinesischen Buddhis-
mus entsprechend auf osttibetischen Malereien im sino-tibetischen Stil oft die Buddha-
jünger Ananda und Kashyapa beigeordnet zu haben (vgl. hierzu „Zum chinesischen
Buddhismus“, hinterlassenes Fragment von H. Hackmann. In: Asiatische Studien
1951/3—4, 98 f.).
SA 30 927
Thang-ka als Stickerei und Applikation mit aufgenähten Perlen und mit Goldbrokat-
Montierung. Ohne Montierung 145 cm : 100 cm. 19. Jh. Schoettle.
104
Sieghert Hummel
Yamdntaka bzw. Vajrabhairava (tib.: gShin-rje-gshed bzw. rDo-rje-’jigs-byed). Diese
Gottheit gehört auch zu den Drag-gshed-brgyad (vgl. über diese und über verschiedene
Zusammensetzungen dieser Gruppe Tribus 16, 108, Nr. 24 410). Nach P. H. Pott:
Some remarks on the Terrific Deities in Tibetan Devil Dances. In: Studies of Esoteric
Buddhism and Tantrism. Koyasan 1965, 277), stehen diese 8 Gottheiten auch in Be-
ziehung zu den 8 Leichenplätzen und über diese zu den 8 Konstituenten des Ich. Die
Drag-gshed-brgyad führen an den genannten Plätzen ihr heilsam zerstörerisches Werk
durch (vgl. auch P. H. Pott: Een Duivels-Dans in Tibet’s Grensgebied. In: Bijdragen
tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 114). Zu Stickerei (tib.: ’Tshem-drub) und Appli-
que-Technik (tib.: Gos-sku) vgl. Tribus 16, 46 mit Literatur-Hinweisen.
SA 30 928
Thang-ka aus dem Besitz Schoettle, Stuttgart. Ohne Montierung 158 : 104 cm.
Goldbrokat-Montierung. 19. Jh.
Tsogs-shing — Pantheon (vgl. hierzu Tribus 16, 89, Nr. 23 873). Darunter die Vier
Weltenhüter (vgl. SA 30 895). Links im Bilde Amitäbha mit dem Paradies Sukhävati
(Tribus 16, 88, Nr. 23 872), das dem Dharmakäya entspricht, während das Paradies
des Avalokiteshvara als Bodhisattva, das als Potala bekannt ist, dem Sambhogakäya
und das Paradies des Padmasambhava, Zangs-mdog-dpal-ri, auch U-rgyan genannt,
dem Nirmänakäya gehört, da Padmasambhava Nirmänakäya des Amitäbha ist, der
selbst dem Dharmakäya entspricht (vgl. D. L. Snellgrove: Four Lamas of Dolpo.
Oxford 1967, 204). Der Weg nach Sukhävati ist ein silberner, der zur Hölle ein eiser-
ner. Die Beziehung des Eisens zu den Dämonen ist bekannt. Eiserne Kultgeräte werden
bei der sogenannten Schwarzen Magic verwendet (vgl. Tribus 13, 32, Anm. 3). Zu den
Wegen zum Paradies und zur Hölle vgl. P. S. Pallas: Reise durch verschiedene Pro-
vinzen des Russischen Reichs. Neudruck Graz 1967 (Rez. S. Hummel in: Zeitschrift
für Missions- und Religionswiss. 1971/1). Rechts im Bilde Tsong-kha-pa mit dem
Paradies Tushita darüber. Zu Tsong-kha-pa (Tribus 16, Register, bes. S. 70, Nr. 23 690)
ergänzend: Der Geheimname des Heiligen war Don-yod-rdo-rjc (skr.: Amoghavajra),
sein Mönchsname aber Blo-bzang-grags-pa (skr.: Sumatikirtl). Die von ihm begrün-
dete dGe-lugs-pa (auch dGe-ldan-pa) nannte er zunächst bKa’-gdams-pa-gsar-ma.
Er galt vor allem als Manjushri-Inkarnation. Zu den Rigs-gsum-mgon-po (vgl. I, 1
SA 30 582), die sich der Reihe nach an seinem Kopf (Manjushri), an Brust (Avalo-
kiteshvara) und am Leib (Vajrapäni) als Thugs-kyi-sprul-pa zeigen, vgl. Tribus 16,
112, Nr. 24 461. Nach Marion H. Duncan: The Cyclc of Existence. London 1966, 139,
besagt eine Legende, daß alle drei Bodhisattvas im Tsong-kha-pa inkarniert sind, was
auch von Yamäntaka gilt. Die Bilder mit Tsong-kha-pa auf dem Tiger als Yogi (Tribus
16, Nr. 72 327 und 72 247) zeigen in dem Manjughosha unten links eine der Arten,
in denen sich Tsong-kha-pa seinem Schüler mKhas-grub offenbarte. Wenn sich auf den
Bildern auch eine Darstellung des Totengottes Yama findet, so deswegen, weil Yamän-
taka = Tsong-kha-pa Yama überwindet. Tsong-kha-pa bannte den Yamäntaka nach
der Tradition in Gestalt eines Yogi. Eine Vorgeburt des Heiligen soll Nägärjuna ge-
wesen sein.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
105
SA 31 164
Thang-ka aus dem Besitz Schoettle, Stuttgart. Mit rotem Goldbrokat gefaßt,
131 : 77 cm (ohne Fassung 69,5 : 50,5 cm). Wahrscheinlich 19. Jh.
Mandala. Nach Tibetica 1, Ausstellungskatalog Schoettle, Stuttgart 1968, Abb. 136,
soll es sich um ein Mandala des Hayagriva handeln. Die zentrale Gestalt ist jedoch blau
und ohne Pferdeköpfe im Haar. Soweit ich erkennen kann, handelt es sich um ein
Mandala des Vajrakila (tib.: rDo-rje-phur-bu). Darunter links und rechts je zwei
Darstellungen der Gottheit mit Dolchleib für die vier kosmischen Richtungen. Vgl.
hierzu ausführlich S. Hummel: Vajrakila. In: Wiss. Zeitsch. d. Univ. Halle XXII,
3/1973, 21 ff. Id.: Noch einmal Vajrakila. In: Wiss. Zeitschr. d. Univ. Halle XXIII,
5/1974, 126 f.
Abb. 10 Mandala, SA 31164.
SA 30 894
Thang-ka aus dem Besitz Schoettle, Stuttgart. 74,5 : 96,5 cm, mit Montierung
96,5 : 148 cm.
Mandala (tib.: dKyil- khor) mit Samvara (tib.; bDe-mchog). Darum in den acht Him-
melsrichtungen Däkinis (tib.: mKha’-’gro-ma; bei den Bon-po auch rGod-lcam ge-
nannt). Von den Däkinis gilt, daß die von der Erde weggegangenen Ye-shes-mkha’-
’gro-ma heißen, so die Buddha-, Padma-, Vajra-, Karma- und Ratna-Däkini. Im
äußersten Rund des Mandala die acht, für Samvara-Mandalas typischen, Leichenplätze
(tib.: Dur-khrod-brgyad); vgl. ihre Beschreibung in F. D. Lessing: Yung-Ho-Kung.
Stockholm 1942, 136. Oben im Bilde Padmasambhava mit zwei Siddhas. Zu Padma-
sambhava vgl. Tribus 16, HO, Nr. 24 449; ergänzend: In seiner Manifestation als
Gu-ru-drag-po[dmar] ist die Bon-Gottheit sTag-lha verborgen. Als rDo-rje-gro-lod
106
Siegbert Hummel
ist er nach Dorje Tsering, 1. c., S. 23, ein Yi-dam. Über seine Frauen vgl. auch C. M.
Chen: Buddhist Meditation. Kalimpong 1967, 272. Padmasambhava kommt auch als
Vajradhara vor. Er verwandelt sich auch in Hayagriva (tib.: rTa-mgrin); vgl. D. L.
Snellgrove: Four Lamas of Dolpo. Oxford 1967, 198. Auch als sMan-bla scheint
Padmasambhava aufzutreten (vgl. S. Hummel: sMan-gyi-bla. In: Bulletin of Tibetolo-
gy II/2, 9 ff.). Der Kult des sMan-bla scheint in den Kreisen um Padmasambhava
propagiert worden zu sein. Außer in den Guru-mtshan-brgyad (vgl. Tribus 16, 156 f.,
Nr. A 30 599) manifestiert sich Padmasambhava in der Trinität Lama-Yi-dam-Dakini
als Trinität aus Buddha-Lehre-Gemelnde (Lama: Padmasambhava; Yi-dam: Gu-ru-
drag-po; Däkini; Seng-ge-gdong-ma, die nach Dorje Tsering, 1. c., II, 24, auch zu
den Dharmapälas gehört). Auch die vier berühmten Inkarnationen der Ngor-Sekte
der Sa-skya-pa in Dolpo (Nordnepäl), die im 15.—16. Jh. bzw. im 17.—18. Jh. gelebt
haben, gelten als Inkarnationen des Padmasambhava (vgl. D. L. Snellgrove, 1. c., 21).
Padmasambhavas Paradies ist Zangs-mdog[Zam-’brog?]-dpal-ri (vgl. Tribus 16, 88,
Nr. 23 872). In der üblichen, gewohnten Darstellung, jedoch mit Shakti, heißt Padma-
sambhava mTsho-skyes-rdo-rje oder bDe-ba-chen-po. Mit Shäntirakshita und dem
König Khri-srong-lde-btsan (die sogen. mKhan-slob-chos-gsum) gilt er als Wieder-
geburt der drei Söhne der Gründerin des Stupa Bya-rung-kha-shor (Bodhnäth) in
Nepal (vgl. T. Wylie: A Tibetan religious Geography of Nepal. Rom 1970, 21).
Ahh. 11 Medizinische
Bildrolle, SA 31 499.
SA 31 499
Sammlung Schlenker. Malerei auf Papier. 159 : 68 cm.
Eine medizinische Bildrolle mit systematischer Darstellung der tibetischen Medizin,
nach dem berühmten Werk rGyud-bzhi gegliedert in Stämme, Äste, Zweige und Blät-
ter. Der linke Baum ist die Anordnung des menschlichen Organismus (gnas-lugs-
rtsa-ba). Sein linker Ast = gesunder Organismus (mit 25 Blättern), sein rechter = der
kranke (mit 63 Blättern). Der mittlere Baum ist die Diagnose (ngos-’dzin-rtsa-ba) mit
den drei Ästen Beschauen (mit 6 Blättern), Fühlen (mit 3 Blättern), Fragen (mit 29
Blättern). Der rechte Baum Ist die Therapie (gso-ba’i-rtsa-ba) mit den 4 Ästen Ernäh-
rung (mit 35 Blättern), Lebensweise (mit 6 Blättern), Arzneimittel (mit 50 Blättern),
Heilmittel (mit 7 Blättern). Zu den einzelnen Blättern und ihrer Bedeutung bzw. zu
den tibetischen Bezeichnungen vgl. E. Finckh: Grundlagen tibetischer Heilkunde, Bd. 1.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
107
Uelzen 1975. Rechts im Bilde sind noch schwach erkennbar neben- und übereinander-
gestellte Zeichnungen zum anatomischen Bau des Menschen. Vgl. hierzu beispielsweise
die tibetischen medizinischen Bildrollen in I. Veith: Medizin in Tibet. Leverkusen o. J.
Es handelt sich bei der Malerei um ein besonders interessantes und seltenes Stück.
3. GERÄTE
SA 31 227
Sammlung Gedon. Bronze. 31 cm lang.
Phur-hu (skr.: Kila; auch rDo-rje-phur-bu = Vajrakila, wenn es sich um eine im
Phur-bu inkarnierte bestimmte Gottheit handelt). Hier haben wir es mit der Mani-
festation des Hayagriva zu tun (vgl. den Pferdekopf am oberen Ende). Zu Phur-bu
vgl. Trlbus 13, 77, Nr. 72 386 und 56, Nr. L 1472/218; zur Gottheit Hayagriva
Tribus 16, Register. Als dBang-chen-rta-mchog-’bar-ba’i-zhal, geflügelt mit Shakti,
3 Köpfen und 6 Armen mit Dolch, Stock, Hacke und Schädelschale ist die Gottheit im
rNying-ma’i-chos-’byung von bDud-’joms (Kalimpong 1967, 696) zu finden (vgl.
auch Tribus 11, 47, Nr. 24 394: Krodhahayagriva, der als zorniger Aspekt des Avalo-
kiteshvara gilt und tibetisch auch Khro-rgyal-rta-mgrin und Pad-ma-dbang-chen
heißt). Hayagriva, der zur Lotusfamilie gehört, gilt als Yi-dam im Rang eines Buddha
als Manifestation des Amitäbha, und zwar als gSung-Entäußerung (vgl. hierzu Lenser,
1, Nr. A 30 582). Zu Amitäbha Tribus 16, 41 f., Anm. 10 und Register; ergänzend noch,
daß er ursprünglich hauptsächlich in W-Tibet verehrt wurde, von wo er über Turkestan
zu seiner Bedeutung in China und besonders in Japan kam. In seinem Paradies
Sukhävati wird er gern von den 8 Mahäbodhisattvas umgeben (vgl. u. a. P. H. Pott:
Die Kunst Tibets. In: Kunst der Welt. Baden-Baden 1963, 184; A. Lommel: Kunst des
Buddhismus. Zürich und Freiburg i. Br. 1974, Abb. 114; Rezension S. Hummel. In:
Tribus 24, 200 ff.). Von Pott als Gautama-Buddha gedeutet, weil von weißer Körper-
farbe, aber auch die Bodhisattvas sind dort weiß ohne ikonographische Körperfarben;
vgl. das Bild Tribus 16, Nr. 23 872. Es handelt sich mit Sicherheit um Amitäbha. In
China war die Trinität aus Amitäbha-Avalokiteshvara-Mahästhänapräpta beliebt. Zur
Lotusfamilie gehört übrigens auch Shiva.
Die Shakti des Hayagriva ist Vajravärähi, die sich auch in der Nä-ro-mkha-spyod-
ma manifestiert, die dem Menschen schon bei Lebzeiten ermöglichen kann, in den
Nirväna-Zustand einzutreten. Zu Vajravärähi vgl. O. Meisezahl: Die Göttin Vajra-
värähi. In: Orlens 18—19, 228 ff. Ras-chung-pa, der berühmte Schüler des Mi-la-
ras-pa, hatte eine Vajravärähi-Initiation. Ein diesbezügliches Ritual wurde auf seine
Anweisung hin geschrieben (Phag-mo-zhal-gnyis-ma-mdbod-pa’i-cho-ga-ras-chung-
lugs). Zu Vajravärähi, die einst besonders in Lahul (tib.: Gar-sha) verehrt wurde, vgl.
auch Tribus 16, 160 f. Der Begriff Shakti ist hier beibehalten worden. In der Polarität
Yab-Yum ist sie der Mutterschoß des gesamten Seins und zugleich Überwindung der
Vielheit in die Einheit. Im Buddhismus steht korrekt für Shakti die Prajnä (auch als
Vidyä). Als Vidyä ist sie im Mantra gegenwärtig und wird auch in Mudräs ausgedrückt.
Von daher erklärt sich ln sexuellen tantrischen Praktiken der Begriff Mudrä für den
weiblichen Partner (vgl. D. L. Snellgrove: Buddhist Himälaya. Oxford 1957, 81 f.
und 288, Anm. 21).
108
Siegbert Hummel
Eine Hayagriva-Initiation erhielt der König Khri-srong-lde-btsan durch Padma-
sambhava. In der Mongolei wird Hayagriva als Feuerbuddha (mong.: Gal-un burxan)
am 23. des 12. Monats verehrt (vgl. W. Heissig: Lubsangcondans Darstellung des
ostmongolischen Brauchtums. In: Zentralasiat. Studien, 2. Wiesbaden 1968, 231).
Zur Geschichte des Ritualdolches Phur-bu und seiner Varianten sowie zu den ver-
schiedenen sich in dieser magischen Waffe verkörpernden Gottheiten, darunter der als
Vajrakila bekannte Vajrakumära, vgl. ausführlich S. Hummel: Vajrakila. In; Wiss.
Zeitschr. d. Univ. Halle XXII, 3/1973, 21—27). Id.: Noch einmal Vajrakila. Ebenda
XXIII, 5/1974, 126 f., mit Eit.-Hinweisen). Ergänzend zu den verschiedenen Dolch-
gottheiten noch Yamäntaka, der in der ’Brug-pa-Schule mit Dolchleib, 3 Köpfen und
6 Armen als Khro-chu vorkommt (vgl. St. Beyer: The Cult of Tara. Berkeley 1973,
44 mit Fig. 6). Yamäntaka gehört korrekt zur Tathägata-Familie, wird aber auch, z. B.
in Nishpannayogävali, 20 und 21, zur Vajrafamilie gerechnet (vgl. Tribus 16, 89,
Nr. 23 877). Das schon genannte rNying-ma’i-chos-’byung zeigt eine seltene Form mit
3 Köpfen und 6 Händen (S. 695). Die Kette mit 50 Köpfen, die Yamäntaka trägt,
wird wie die der hinduistischen Käli als Sanskritalphabet gedeutet (vgl. Li An-che:
A Lamasery in Outline, 1. c., 52; vgl. auch S. Hummel (Rezension A. Avalon): Die
Girlande der Buchstaben. In: Zeitschrift für Missions- u. Religionswiss., 1968).
Yamäntaka inkarnierte sich auch in Tsong-kha-pa. Seine Shakti heißt rDo-rje-ro-
langs-ma (vgl. Lobsang Dorje and Shirley M’Black: A Mandala of hJigs-Bycd. In:
Oriental Art XVIII/3).
Ahh. 12 Phur-bu, Bronze, SA 31 227.
SA 31 039
Sammlung Bretschneider.
Großer Phur-bu zum Aufstellen, Getriebenes Messingblech. 176 cm hoch. Chinesische
Arbeit für einen Lamatempel. Vielleicht 19. Jh. Ein ähnliches Stück beschrieben in
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
109
S. Hummel: Der lamaistische Ritualdolch und die altvorderorientalischen Nagelmen-
schen. In: Asiatische Studien VI/1—4, 41 ff. mit Abb. 9). Zum Phur-bu vgl. vor allem
J. C. Huntington: The Phur-pa, Tibetan Ritual Daggers. Ascona 1975 (Rezension
S. Hummel. In: Tribus 25).
SA 31 317
Bronze. 26,5 cm Durchmesser, 17 cm hoch. Nepalesische Arbeit, Sammlung Markert.
Mandala (abgebildet in Tribus 21, 23). Auf der Scheibe wird der Kosmos dargebracht.
Für diesen Ritus des kosmischen Opfers vgl. J. Schubert: Das Reis-Mandala. In:
Asiatica. Leipzig 1954, 584 ff.
Mandala zur Opferung des Universums (vgl. Tribus 16, 96 f., Nr. 23 128) heißen
tibetisch Mandal, auch Ma-’dal und Dal geschrieben. Davon zu unterscheiden sind die
tibetisch dKyil-’khor (Bon: gSas-mkhar) genannten, die im höheren tantrischen Sinne
der Ordnung von Gottheiten bzw. deren Attributen oder Symbolen dienen. Dieser
Unterschied wird oft übergangen. Die um das Zentrum des Mandala liegenden kon-
zentrischen Ringe werden auch als Cakras verstanden, und zwar als Citta-Cakra mit
Symbolen (Thugs-Konstituente), Vak-Cakra mit Keimsilben (gSung-Konstitucnte) und
Käya-Cakra mit Gottheiten (als sKu-Konstituente); vgl. hierzu auch Lenser, 1, zu
Nr. SA 30 582 sowie Tribus 16, 51, Anm. 35.
24 006
Sammlung Leder. Las-hum (skr.: Karmakaläsha). 32 cm hoch.
Vgl. zur Erklärung dieser Art von Weihwasserkannen Tribus 13, 59, Nr. 24 006 f.
SA 30 554
Sammlung Bretschneider.
sPos-phor. Räuchergefäß zum Tragen mit Ketten. Am Griff (18 cm lang) Makarakopf,
am Becken (Durchmesser 9 cm) Lahdza-Buchstaben (schwer erkennbar; meist werden
an Kultgeräten mit dieser Schrift die Zeichen des Gebetes „Om Ma-ni Pad-me Hüm“
angebracht. Landza (Rahja) ist eine nepalesische kalligraphische Schrift, die jedoch
nicht die Grundlage des tibetischen Alphabetes bildete, wie oft angenommen wird. Das
tibetische Alphabet ist wahrscheinlich unter Verwendung einer späten Gupta-Schrift
gebildet worden (vgl. F. W. Thomas: The Tibetan Alphabet. In: Festschrift zur Feier
des zweihundertjährigen Bestehens d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, II. Berlin/Göttin-
gen/Heidelberg 1951, 146 f.). Zu den sPos-phor vgl. Tribus 13, 58, Nr. 71971. Es
handelt sich hier zweifellos um eine nepalesische Arbeit für lamaistische Kulte.
72 353 und 72 355
Sammlung Umlauf.
Zwei der hKra-shis-rtags-brgyad (skr.: Ashtamahgala) aus einem Satz für den Altar.
Der ganze Satz besteht aus acht Stücken; vgl. zu diesen buddhistischen Glückszeichen
Tribus 16, 64, Nr. 108 026, sowie Fred Hitchman: Buddhistic Symbols on Chinese
Ceramics. In: Oriental Art. VIII, 1/1962, 3 ff.
Beide Objekte sind aus Bronze und 15 cm hoch. Nr. 72 353 trägt die Fische (tib.:
gSer-nya); 72 355 die Lotusblüte (Pad-ma). Die Ashtamahgala finden sich auch in der
110
Siegbert Hummel
Symbolik der tibetischen Medizin: Der unendliche Knoten weist auf den Darm, der
Lotus auf Enthaltsamkeit, das Siegesbanner auf den Atem, das Gefäß auf die
Muttermilch, der Schirm auf Rückenmark und Gehirn, die Muschel auf Mund und Ohr.
SA 31 221
Sammlung Gedon.
Thab. Ständer für Schädelschale (tib.: Thod-pa) wie in Tribus 13, 67, Nr. 24 009.
12,5 : 17 cm, Höhe 9 cm. Vgl. die Abb. 19 im Catalogue of the Tibetan Collection.
The Newark Museum, Yol. V. Newark 1971. An der unteren Vorderseite Darstellung
des sogenannten Ohrengaruda (tib.: rNa-khyung). Der Garuda steht oft in Beziehung
zum Gold. Von den Bon-po wird er als gNam-mkha’-lding besonders verehrt. Die
Bon-Bewohner des Distriktes rGya-ste (zentrales Ost-Tibet) werden geradezu Khyung-
po-pa (= Khyung-Leute) genannt; vgl. J. F. Rock: The Ancient Na-Khi Kingdom of
Southwest China. Vol. 1. Cambridge 1967, 123, Anm. 21. Nach Dorje Tsering: А
Short Dictionary of Tibetan-English-Buddhist Terms, Bd. II. Kalimpong 1970, 24,
ist der Garuda manchmal (sicher unter Bon-Einfluß) unter den Dharmapälas zu finden.
SA 31 664
Sammlung Riedel.
Spiegel aus Bhutan. Messing. Durchmesser 12,8 cm. Im Zentrum des Ornamentes trägt
der scheibenförmige Behälter das Yin-Yang-Zeichen. Vgl. Abb. 56 in G. Tucci: Tibet
Land of Snow. London 1967.
SA 31 188 und 31 189
Sammlung Lenser.
Ein Paar rGya-gling (Oboe). Zu diesen meist paarweise gebrauchten Instrumenten
vgl. Tribus 13, 70, Nr. 71 585. Die Länge der Instrumente ist 56 cm.
SA 31 200
Sammlung Markert.
Damaru (tib.: rNga-chung), vgl. die Bemerkungen zu Lenser, SA 30 573. Länge der
Bänder 43 cm.
SA 31 254
Sammlung Rana.
Tantrischer Text (tib.: rGyud). Mit Goldtinte auf dunkel gefärbtem Papier. 74 Seiten
(7,5 ; 26 cm). Es handelt sich um den Text Phags-pa-tshe-dang-ye-shes-dpag-tu-med-
pa’i-snying-po aus der Abt. rGyud des bKa’-’gyur (Kanjur). Vgl. zu diesem Text
H. Вески: Verzeichnis der Tibetischen Handschriften. Berlin 1914, 122, Nr. 77; ferner
M. Taube: Tibetische Handschriften und Blockdrucke, I. Wiesbaden 1966,155, Nr. 503.
SA 31 207
Sammlung Bretschneider.
Feld- hzw. Reiseflasche wie in Tribus 13, 114, Nr. 74 545. 22,5 cm hoch, 17 cm Durch-
messer. Das an der Vorderseite befestigte Medaillon zeigt Gautama-Buddha im Für-
stenschmuck. Darum kreisförmig geordnet vier der bKra-shis-rtags-brgyad. Der Dämo-
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
111
nenkopf am Flaschenhals wird Chi-mi-’dra, skr.: Kirttimukha, genannt. Vgl. zu diesem
Kopf auch S. Hummel: Anmerkungen zu Josef Ambros Pfiffig. Religio Etrusca. In.
Almogaren, V. Graz 1975. Ein sehr schönes und wertvolles Stück.
SA 30 949
Teeschale mit Ständer und Deckel (tib.: Phor-pa). Sammlung Bretschneider. Die
Schale, blau-weißes chinesisches Porzellan, ist 5,1 cm hoch. Ständer und Deckel aus
Silber getrieben und mit feuervergoldeten Ornamenten. Der Deckel trägt oben eine
Koralle. 18. Jh.
SA 31 663
Frauenschmuck (rGyan-cha) ähnlich Tribus 13, 107, Nr. 72 625. Silber mit Türkisen
und Korallen. Länge der Bänder 22 cm. Bhutan. Vgl. den Schmuck der Königig von
Bhutan in G. N. Mehra: Bhutan. Delhi 1974, Farbtafel nach S. 32.
SA 32 518
Ohrschmuck (tib.: rNga-rgyan) für Männer. Silber mit Türkis; vgl. Tribus 13, 107,
Nr. 72 610. Durchmesser 6,5 cm.
SA 32 516, 32 517
Teile vom Ohrschmuck (32 517 = 2,2 cm) und anderem Schmuck (32 516 = 9 cm).
Zu SA 32 517 vgl. P. H. Pott: Introduction to the Tibetan Collection of the Nat.
Mus. of Ethnology. Leiden 1951, Tafel XXXII, 5.
SA 31 498
gDan (Sitzteppich). Lotusmuster, rot und orange auf blauem Grund. 174:90 cm.
Moderne Arbeit. Vgl. auch die Anmerkungen zu Lenser, SA 30 598.
Wortregister zu den Neuerwerbungen (einschließlich Sammlung G. Lenser)
Akshobhya 1,1, A 30 582, II, lo.Nr.;
II, 1 A 31 126
Amitäbha I, 1, A 30 582;
II, 1, A 31 126; II, 3, A 31 227
Amitäyus 1,1, A 30 603;
11,1, A 31 720
Arhat II, 2, A 30 895
Ashtamahgala,
s. bKra-shis-rtags-brgyad
Avalokiteshvara I, 1, A 30 582
’Bag (’Dra-’bag) I, 1, A 30 571
Buddha (Gautama) II, 1, A 31 226
Bum I, 1, A 30 607; A 30608
Byin-rten-bzhugs-sgam II, 1, A 31 664
lCags-ma I, 1 A 30 588
Cang-te’u, s. Damaru
Caturmaharäja II, 2, A 30 895
Chos-las I, 1, A 30 582
Ci-mi-’dra II, 3, A 31 207
Dakini II, 2, A 30 894
Damaru 1,1, A 30 573; 11,3, A 31 200
gDan I, 1, A 30 589; II, 3, A 31 498
Dar-lcog I, 1, A 30 577
Deva II, 1, A 31 593
’Dra-’bag, s. ’Bag
Dakini
Drag-gshed-brgyad II, 2, A 30 927
112
Sieghert Hummel
Gàgri I, 2, A 30 606
Ganesha II, 1, A 31 224
sGo-lcags 1,1, A 30 586
Gon-zin I, 1, A 30 572
sGrol-ljang, s. Shyamavarna
rGya-gling 1,1, A 30 570;
II, 3, A 31 188, 31 189
rGyal-tshab 1,1, A 30 582
rGyan-cha II, 3, A 31 663
sGye-mo 1,1, A 30 585
lHam I, 1, A 30 584
Hayagriva II, 3, A 31 227
Hva-shang II, 2, A 30 895
Indra II, 1, A 31 010
rje-yab-gsum I, 1, A 30 582
Karmakalasha, s. Las-bum
Katamari I, 2, A 30 604
Khab-ral[shubs] 1,1, A 30 587
Khakkhara I, 1, A 30 575
mKhar-gsil 1,1, A 30575
mKhas-grub 1,1, A 30 582
Khri-srong-lde-btsan 1,1, A 30582;
II, 2, A 30 894
dKon-mchog-gsum I, 1, A 30 582
bKra-shis-rtags-brgyad 11,3, 72 353,
73 355
Kula 1,1, A 30 582
Las-bum II, 3, 24 006
rLung-rta I, 1, A 30 577
Mahàsiddha II, 1, A 31 318
Maitreya 11,1, A 31 126
Manl-padma II, 1, A 31 126
Manjushri I, 1, A 30 582;
II 1, A 31 126
Mandala II, 3, A 31 317; A 30 894
sMe-ba-dgu 1,1, A 30 582
Mi-la-ras-pa II, 1, A 31 318
Nà-ro-pa II, 1, A 31 318
rNga-chung, s. Damaru
rNga-rgyan II, 3, A 32517, 32518
sNgags-pa’i-zhwa-nag I, 1, A 30 576
Padmapàni I, 2, A 30 605
Padmasambhava II, 2, A 30 894
Frauen des P.: II, 1, A 31 318
Phang I, 1, A 30 580
Phar-shing I, 1, A 30 577
Phor-pa II, 3, A 30 949
Phur-bu II, 3, A 31 039; A 31 227
sPos-phor II, 3, A 30 554
Prasannatàrà II, 1, A 31 120
Puttali I, 2, A 30 604
Ral-pa-can I, 1, A 30 582
Rigs-gsum-mgon-po I, 1, A 30 582
Samvara 1,1, A 30 583; 11,2, A 30 894
Sarasvati, s. Vajrasarasvati
Shadakshari II, 1, A 31 126
Shiva II, 1, A 31 126
Shyamavarna I, 1, A 30 602
Simhanàda II, 1, A 31 126
Sitàtapatrà II, 1, A 31 222
Sitatàrà 1,1, A 30602; 11,1, A 31 198
Srid-pa-ho I, 1, A 30 582
Srong-btsan-sgam-po I, 1, A 30 582
Srung-ba I, 1, A 30 578
Sukhavati II, 2, A 30 928
Tantrischer Text 11,3, A 31 254
Tara I, 1, A 30 602; A 30 577
21-Tàràs I, 1 A 30 602
Thab II, 3, A 31 221
Thang-ston[g]-rgyal-po II, 1, A 31 318
Thod-tam, s. Damaru
Ti-lo-pa II, 1, A 31 318
Triratna I, 1, A 30 582
Tshe-lha-gsum II, 1, A 31 720
Tsong-kha-pa I, 1, A 30 582;
II, 2, A 30 928
Ushnisha-Sitàtapatra II, 1, A 31 124
Ushnìshavijayà II, 1, A 31 720
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
113
Valrocana I, 1, A 30 582
Vaishäli II ,1, A 31 720
Vajradhara II, 1, A 31 079
Vajrapäni I, 1, A 30 582;
II, 1, A 31 223
Vajrakila II, 1, A 31 227
Vajrasarasvati II, 1, A 31 199
Vajravarähi II, 1, A 31 227
Yamantaka II, 1, A 30 927; A 31 227
III. Würdigung
Die Sammlung Gerhard Lenser ist mit Rücksicht auf die rasche Modernisierung
Nepals vor allem von ethnographischer Bedeutung. Die wenigen lamaistischen Kult-
bronzen in der tibetischen Abteilung sind durchweg alt. In der nepalesischen Abteilung
möchte ich an Plastiken (16.—17. Jh.) das steinerne Relief des Padmapäni (SA 30 605),
das hölzerne des Sürya (SA 30 601) und die Holzpuppe (SA 30 604) hervorheben.
Was die übrigen Neuerwerbungen der tibetischen Sammlungen angeht, so sind die
Bronzen nahezu durchweg schöne, alte Arbeiten der Zeit vor dem 18. Jh. und stammen
zum größten Teil aus dem nepalesischen-südtibetischen Raum. Ikonographisch interes-
sant bzw. relativ selten sind die Prasannatärä (SA 31 120) und die Vajrasarasvati (SA
31 199), aber auch das Teilstück eines Ushnisha von einer Großplastik (A 31 079).
Unter den Malereien verdient das Mandala des Vajrakila (SA 31 164) und das Teil-
stück einer medizinischen Bildrolle (SA 31 499) unsere Aufmerksamkeit. Hervorragend
ist die Applikationsarbeit mit Stickerei (Thang-ka SA 30 927), bereits angezeigt in
Tibetica (Ausstellungskatalog Schoettle. Stuttgart 1968, 1, farbige Abb. Nr. 82).
Unter den Kultgeräten und sonstigen Gebrauchsgegenständen sind der Phur-bu für
den Handgebrauch (SA 31 227) sowie ein großer Phur-bu zum Aufstellen (SA 31 039),
ferner das bereits in Tribus 21, mit Abb. S. 23, angezeigte Mandala aus Bronze
(SA 31317) und die auffallend schöne Reiseflasche (SA 31 207) hervorzuheben.
Einige der unter II verzeichneten Objekte gehören wie die unter I, 2 (Lenser,
14 Stück) in die nepalesische Kultur, vor allem in deren synkretistischen, d. h. hindui-
stisch-buddhistischen Aspekt und sind insofern als ein Anhang der tibetischen Abteilung
des Linden-Museums zu betrachten, als sich viele der betreffenden Bronzen, Malereien
und Kultgeräte ebenso im tibetisch-buddhistischen (lamaistischen) Bereich finden und
sich zudem auch stilistisch kaum von den tibetischen, meist von nepalesischen Hand-
werkern angefertigten unterscheiden lassen. Auch bei einer möglichen Ausweitung der
nepalesischen Sammlung des Museums und einer damit verbundenen Ablösung zu einer
selbständigen Abteilung wird sich eine scharfe Trennung von der tibetischen Sammlung
nur bei den Gegenständen der materiellen Kultur und den auf die hinduistische Reli-
gion beschränkten Kultobjekten sowie bei einigen nur im nepalesischen Buddhismus
vorkommenden ikonographischen Darstellungen erreichen lassen. Die Geschichte des
tibetischen Buddhismus und seiner Kunst ist zu eng mit Nepal verbunden, und die
gegenseitigen Grenzen bleiben weithin fließend. So war der tibetische Einfluß auf die
nepalesische Kunst, insbesondere die Malerei, im 17. Jh. erheblich. Ein Beispiel von
Objekten, die in der lamaistischen Ikonographie fehlen, ist der Indra in Räjaliläsana
(Nr. SA 31 010), während diese Gottheit in anderer, weit mehr untergeordneter Form
in der Gruppe der Zehn Lokapälas des Lamaismus auftrltt. Zu den auf Nepal be-
114
Siegbert Hummel
schränkten Plastiken und Kultgeräten des Linden-Museums, hinduistlsch oder buddhi-
stisch, vgl. in Tribus 13, 134—137 die Nr. 66 868, 71 484, 120689, 121 614, 71 538,
71 531, 71 567, 71 570, 71 577, 122 096 und 122100 in der Reihenfolge der Bespre-
chung (10). Vergleiche zur nepalesischen Ikonographie auch Pratapaditya Pal: The
Arts of Nepal. In: Handbuch der Orientalistik, VII, 3. Leiden 1974 (Rezension S.
Hummel. In: Orientalistische Literaturzeitung, in Vorbereitung). In Ergänzung der
dortigen Literaturhinweise vgl. auch N. R. Banerjee: Some Thoughts on the Develop-
ment of Buddhist Art in Nepal. In: East and West 22/1—2, 63 ff.
IV. Ergänzungen und Verbesserungen
zu den Veröffentlichungen der tibetischen Sammlung des Linden-Museums in Tribus 8,
11,13 und 16.
1. Tribus 8/1959: Die lamaistischen Minaturen des Linden-Museums
Die Miniaturen finden auch als sogenannte Tsa-ka-li im Totenkult und bei abwehr-
magischen Riten Verwendung (vgl. Fr. W. Funke: Religiöses Leben der Sherpa. Inns-
bruck und München 1969, 188 ff.; Rez. S. Hummel. In: Ethnol. Zeitschrift Zürich
1974/IL — D. I. Lauf: Initiationsrituale des tib. Totenbuches. In: Asiatische Studien
24/1—2, 10 ff.).
S. 24: Parnashavari (tib.: Lo-ma-gyon-ma) in Anm. 24. Vgl. auch R. de Nebesky-
Wojkowitz: A Contribution to Mahayana Iconography. In: Stepping-Stones, Vol.
2—3, p. 77); ferner: Bl. Chr. Olschak: Überlieferungen alt-indischer Heilkunst. In:
Recipe-Sandoz 1/8, 1 ff.). Über den Blätterschurz als Zeichen ihrer Herkunft von indi-
schen Aboriginern vgl. A. Grünwedel: Mythologie des Buddhismus. Leipzig 1900, 150.
S. 25 Nr. 24 224: Vaishravana ist der Anführer der Yaksha. Nach Li An-che:
A Lamasery in Outline. In: Journal of the W. C. Border Research Society XIV, A, 56,
finden am 8. des 1. Monats Zeremonien für Vaishravana mit Bildern der Gottheit und
Opfern statt, um Wohlstand und für die Tiere Segen zu erlangen. Er gewährt auch die
materiellen Grundlagen eines geordneten Kultes. Die Darstellung des Sita-Jambhala,
Tribus 16, 84, Nr. 23 748, ist nach Art des Atisha (= Jo-bo’i-lugs), die des Dzam-bha-
la-nag-po mit Schädelschale zur Juwelenratte (tib.: Sre-mong) nach Art (lugs) des
Kha-che-pan-chen.
S. 25 Nr. 24 237: Zu Klu bzw. Se[bSe], Srin, Sri, gNyan, rGyal-po, bTsan-po,
dMu usw. vgl. S. Hummel: Bon-Ikonographisches im Linden-Museum. In: Anthropos
Bd. 63/64, 1968/69, 858 ff.; zu den Klu auch Tribus 13, 60 f. Als Frösche gestaltete Se
finden sich auch in tibetischen Märchen (vgl. H. Hoffmann: Märchen aus Tibet. Düs-
seldorf/Köln 1965, 55 ff.). Das Wort Klu (sprich: Lu) steht vielleicht in Beziehung zu
Lung (= Drache) im Chinesischen (vgl. A. MacDonald: La Naissance du Monde au
Tibet. In: La Naissance du Monde, Sources Orientales, I. Paris 1959, 441).
S. 25, Nr. 24 248: Vajrasattva im rNying-ma-pa-Pantheon auch als Khyab-bdag-drug-
pa bezeichnet (vgl. rNying-ma’i-chos-’byung des bDud-’joms, Kalimpong 1967). Von
V. sollen stammen: Kriyätantra, Caryätantra und Yogatantra. Ein 100-Silben-Mantra
des Vajrasattva reinigt von Sünden und beseitigt geistige Hindernisse.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
115
S. 25, Anm. 25: Zu sMan-bla vgl. S. Hummel: sMan-gyi-bla. In: Bulletin of
Tibetology II, 9 ff.; Id.: Tribus 16, 75 und 85. Bei den Bon-po ist er auch als Be-du-
rgya[rya]-’od bekannt. Nach Dorje Tsering: A Short Dict. of Tibetan-English-
Buddhist Terms. Kalimpong 19702 * * S., 22, gehört sMan-bla auch zu den Yi-dam.
S. 29, Nr. 71 425; [Dam-can-]rdo-rje-legs-pa (vgl. auch Tribus 16, 103), der auch
rDo-rje-tho-pa und sKyes-mchog-badzra-thig-le heißt, wurde vom 13. Dalai-Lama
besonders verehrt (vgl. M. Hermanns: Das Nationalepos der Tibeter. Regensburg
1965, 316). Sein Reittier ist ein Löwe. Dam-can-’ga’-ra-nag-po, identisch mit mGar-
ba-nag-po und Emanation des rDo-rje-legs-pa, reitet eine Ziege (vgl. J. F. Rock: Con-
tributions to the Shamanism of the Tibetan-Chinese Borderland. In: Anthropos 54,
808). Als sGrol-ba’i-gin-chen wird rDo-rje-legs-pa im rNying-ma-pa’i-chos-’byung
des bDud-’joms (Kalimpong 1967, 785) bezeichnet. Zu rDo-rje-legs-pa als Gewitter-
gottheit vgl. S. Hummel: Ekajata in Tibet. In: Asiat. Studien XXII/1968, HO ff.
In seinem Gefolge befinden sich einbeinige The’u-[b]rang (vgl. A.-M. Blondeau: Le
Lha-’Dre bKa’-Thang. In: Études Tibétaines. Paris 1971. 77). Nach Dorje Tsering,
1. c., S. 24, gehört die Gottheit auch zu den Dharmapalas. Nach E. Haarh: The Yar-luh
Dynasty. Kopenhagen 1969, 298, war rDo-rje-legs vielleicht ursprünglich eine Berg-
und Abstammungsgottheit (Verbindung von Berg und Gewitter, vgl. hierzu Ekajata).
S. 33, Nr. 24 286: Zu Ma-cig-dpal-gyi-lha-mo als Mo-lha und Vertreterin der
weiblichen Ahnenreihe: Vielleicht ist das Reh als Reittier eine Reminiszenz der Tier-
mutter des Schamanen, die bei den Tungusen als Reh auftritt.
S. 36, Nr. 71 430: Vasudhârâ (Vasundharâ) besonders in Nepal beliebt; vgl. Stella
Kramrisch: The Art of Nepal. Asia House Gallery 1964. Die mit ihr verbundenen
Ideen gehen in die vedische Zeit zurück (Atharvaveda) ; auch die Konzeption der
Prithivî (Erdgöttin) scheint in ihr enthalten zu sein. In der Gupta-Zeit finden sich
bereits ihre Plastiken (vgl. Pr. Pal: Two Buddhist Paintings from Nepal. Amsterdam
1967). Vor allem ist V. tantrische Hypostase der Lakshmi, der wassergeborenen Erde.
Prithivî scheint eine Abspaltung von Lakshmi zu sein, der umfassenderen Mutter (vgl.
G. Tucci: Earth in India and Tibet. In: Eranos-Jahrbuch 1953, XXII. Zürich 1954,
328 ff.).
2. Tribus 11 ¡1962: Die lamaistischen Kultplastiken im Linden-Museum
S. 16: Zur Kunst in W-Tibet: Fresken in Mang-nang (11. Jh.), Reliefs in Ta-pho
(11. Jh.), Holzschnitzereien an Tür- und Fensterverkleidungen in mTho-lding[gling],
Ta-pho, Tsa[rTswa]-ba-rang; Gu-ge-Stll (Pâla-, Kashmir-Einflüsse). Vgl. M. N. Desh-
pande: Tabo, the Himalayan Ajanta. In: Bulletin of Tibetology X/3).
S. 17: Shar-gyi-lha auch als Sha-ri bekannt. -Sa-skya mit Tochterschule in Ngor.
S. 17 an die Anmerkung 7 anfügen: Eine besondere Schule der lamaistischen Skulp-
tur, genannt ’Dod-dpal-bzo-rgyun, entwickelte sich unter dem 5. Dalai-Lama.
S. 21: Die Tibeter unterscheiden einen alten chinesischen Stil, der bis zur Ming-Zeit
reicht, von einem neuen, unter dessen Einfluß die sogenannte dPe-gsar-Malerei ent-
stand.
116
Siegbert Hummel
S. 22: Wichtige Gießereien bis zur Gegenwart in rTa-nag und am Fuße des Po-ta-la
(dort vom 5. Dalai-Lama eingerichtet), wo die Plastiken ’Dod-li genannt wurden. —
Butterplastiken sind als dKar-rgyan bekannt.
S. 23: Bei Reperatur beschädigter Plastiken und Thang-ka wird die Gottheit mit
einem Spiegel aus dem Bildwerk in den Spiegel übersiedelt und nach der Reparatur
durch neues Bespiegeln des Bildes in dieses zurückgeführt. — Die Herstellung der
sogenannten Eingeweide mit dem Lebensbaum (tib.: Srog-shing) im Innern der Plastik
und die Augenöffnungsriten (Rab-tu-gnas-Riten) beschreibt J. van Manen. In: Jour-
nal of the Indian Soc. of Orient. Art. Calcutta 1923, I, 2, 105 ff., dort auch ausführ-
lich zur Herstellung der Tsa-tsha.
S. 24: Feuervergoldung ist tib. Tsha-gser, Kaltvergoldung Grang-gser. — Es gibt
auch Statuen aus mit Leim getränkten Seidenstücken, die über einen Lehmkern model-
liert werden (vgl. ähnliche Techniken in Japan).
S. 36, Nr. 72 069: Diese nach einem Wasser-Spiegelbild des Gautama geschaffenen
Bildwerke heißen tibetisch Thub-pa-chu-lon-ma.
S. 43: Die Tsha-tsha heißen auch rDza-sku. Zur Herstellung auch Teig aus Lehm und
zerstoßenen Knochen des Toten. Tsha-tsha soll man nicht anhauchen und nicht mit
Staub in Berührung bringen, sonst muß man sie durch Weihrauch reinigen (vgl. Sv.
Hedin: Durch Asiens Wüsten, Bd. 2. Leipzig 1899, 346).
S. 63: Bilder mit den 8 Tschorten zur Erinnerung an die 8 Reliquien-Stüpas heißen
sKu-gdung-cha-brgyad. — Bre (auch Pu-shu, skr.: Harmikä) ist ein kleiner Bauteil
zwischen Bum-pa und Spira. Die Bauteile des mChod-rten sind in allen Einzelheiten
beschrieben in: Ho-Chin Yang: The Annals of Kokonor. Bloomington 1969, 73
(Anm. 104).
S. 64: Buddhas Herabkunft aus dem Himmel ist als iHa-babs bekannt. — Die
8 Stupas heißen; Byang-chub, sGo-mang, bDud-btul, Chos-’phrul, rNam-rgyal, Theg-
gsum-chos-’khor, Mya-ngan-’das, IHa-babs. Stupa als Behälter für Tsha-tsha heißt
gDung-rten, als Behälter von Mumien dMar-gdung.
3. Tribus 13/1964: Profane und religiöse Gegenstände aus Tibet und der lamaistischen
Umwelt im Linden-Museum
S. 33 f.: Feine Metallarbeiten auch im Gebiet von rTse-gdong (Sa-skya-Bereich).
S. 25: Lies Gupta-Zeit des 6. Jh.
S. 47: 1. Kloster in der Mongolei war Erdeni-dsu (1586); das Kloster in Urga war
Ri-bo-dge-rgyas-gling.
S. 53, Nr. 23 953: Lies: Tengrin-sumu.
S. 54, Nr. 71 509: Dril-bu gelten als weiblich (Mo-dril) zum männlichen rDo-rje.
Es gibt aber auch Pho-dril (männliche Glocken) mit tieferem Klang für besondere
Zeremonien. — Nr. 24 343: Diese Mühlen heißen auch Ma-ni-lag-’khor.
S. 59, Nr. 71 532: Heißen auch sPyi-blugs.
S. 63, Nr. 71 569: Auch für Teeopfer an Schutzgottheiten und heißen dann Phud-
tib; für alkoholische Flüssigkeiten bei Schreckensgöttern mChod-tib genannt.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
117
S. 67, Nr. 24 009: Die Ständer der Schädelschale heißen Thab (= Herd). —
Nr. 72 452—72 460 werden auch Ting-phor genannt.
S. 68, Nr. 24 013: dGang-gzar mit runder Schale, die auch aus einer menschlichen
Calotte bestehen kann, sind für Flüssigkeiten; Blug-gzar für feste Substanzen (hierzu
C. M. Chen: Discriminations between Buddhist and Hindu Tantras. Kalimpong 1969/
43).
S. 70, Nr. 71 593: tib.: Drwa-ting, chines.: Yün-Lo genannt.
S. 71, Nr. 72 445: Eine Zwischengröße zwischen Ting-shags und Rol-mo (auch
sBug-chal) heißt Sil-snyan (u. a. für Hevajra-Kult). Ting-shags für Riten des Sünden-
bekenntnisses. Die 35-Buddhas dieser Riten (vgl. Tribus 16, Register) heißen auch
ITung-bshags.
S. 72, Nr. 71 547: Auch Cang-te’u genannt. Als Überzug wird gern Ziegenfell ge-
nommen. — Nr. 23 959: Auch Rus-pa’i-rkang-gling genannt. Dazu Knochen unnatür-
lich Verstorbener bevorzugt. Hierzu auch I, Lenser, 1, Nr. A 30 573.
S. 74, Nr. 72 436: Rosenkränze aus Holz heißen Shing-’phreng. Zur Verwendung
der Rosenkränze beim Orakeln vgl. G. Gorer: Himalayan Village. New York 1967,
201, 218, 411.
S. 76, Nr. 23 653: Rosenkränze aus hellen (weißlichen) Samenkernen, Muscheln
oder hellem Holz für Avalokiteshvara, solche aus roten Samen für Padmasambhava,
solche aus Knochen für Yamäntaka. — Kunga Yonten Hochotsang: The charac-
teristics of rosaries (In: Bulletin of Tibetology X, 2, 35 ff.) setzt die Rosenkränze nach
Zahl der Perlen, Material und Art der Haltung in Verbindung mit jenen Riten, die ich
in Tribus 16, 176 ff., erwähnt habe. Zhi-ba: Kristall, Muschel oder Perle, 101 Kugeln,
am Herzen gehalten zwischen Zeigefinger und Daumen; rGyas-pa: Gold, Silber oder
Kupfer, 108 Kugeln, am Nabel zwischen Daumen und Mittelfinger gehalten; Drag-po
( = mNgon-spyod): Räksha oder Menschenknochen. 60 Perlen, Nähe der Genitalien.
Zwischen kleinem Finger und Daumen; dBang: Safran. 50 Perlen. Zwischen Ring-
finger und Daumen gehalten. — Material der Fäden: Kamel-, Hunde- oder Menschen-
haar zum Dämonenaustreiben, Abwehrmagie; Goldfaden oder Wolle für Ruhe und
Glück. Dreifacher Faden deutet Trikäya an, neunfacher Vajradhara und die 8 Bodhi-
satvas.
S. 77, Nr. 72 386: Die kleineren heißen Phur-bu, die großen Dolche Phur-pa.
S. 78, Nr. 71 357: Ma-ni-Mauern heißen auch Mang-rdang?; nach C. Jest: Tarap.
Paris 1974, aber Ma-ni-dang.
S. 86, A 2 d: Masken in besonderen Räumen (’Bag-khang) aufbewahrt und rituell
besorgt.
S. 88, Nr. 24 336: Solche Amulette heißen auch Srung-’khor und Srung-skud.
S. 95, Nr. 72 683: Lies: Thur-ma. Als Geflecht (Sieb) Ja-tshags genannt.
S. 97, Nr. 83 686: Tang-ka auch Tang-ga und Tang-dkar. Die seit 1912 geprägten
Münzen sind sKar, Zho und Srang. — Nr. 19 509 a: Die Barren heißen rTa-rmig-ma.
S. 103, Nr. 29 692: Für Am-gri kommt auch rGya-gri vor.
S. 107, Nr. 72 610: Ohrringe heißen auch A-long, aus Gold aber gSer-rna.
118
Siegbert Hummel
S. 110, Nr. 71715: Für Phye-snod findet sich auch Pag-phor. — 72716: Ba-kag
heißen auch Ja-bag.
S. 111, Nr. 24 399: Größere Waagen sind Nyag[Nya]-ga; für schwerere Lasten
verwendet man rGya-ma {— S. 112, Nr. 72 692).
S. 120, Nr. 72 750: Lies: Byams[’Jam]-pa-gling.
S. 131: Das Werk des A-ni-go[Arniko] hat sein chinesischer Schüler Lu-Yüan
fortgesetzt.
S. 132: Der Vertreter des Dalai-Lama in Nepal residiert in Svayambhünätha. Das
tibetische Kloster in Budhnäth heißt dGa’-ldan-chos-’phel-gling.
S. 133: Einflüsse der tibetischen Kunst auf die buddhistische Malerei in Nepal be-
sonders im 17. Jh. — Die Gloriolen der Bronzen heißen Prabhävali (skr.).
4. Tribus 16!1967: Die lamaistischen Malereien und Bilddrucke im Linden-Museum
S. 35, Anm. 1; Lies: Mang-nang und A-lci aus dem 11. Jh. mit Käshmirtradition.
Die Käshmirkunst ist dekadent, d. h. elegant, oft etwas schlecht proportioniert, nicht
so innerlich wie die indische und nicht so dämonisch wie die tibetische.
S. 36: Die östliche Schule des Dhimän teilte sich. Sein Sohn Bitpäla (Bitpälo) ent-
wickelte eigenen Stil, der nach Nepal und in die indischen Westprovinzen eingedrungen
ist. Daneben gab es die Schule des Hasuräja in Käshmir. — Beziehungen zu chinesi-
schen Künstlern im Kloster Zhwa-Iu (14. Jh.).
S. 38, Anm. 4 a: Zu den Schulen der tibetischen Malerei: 1. die sMan-ris im 15. Jh.
durch sMan-bla-don-grub von sMan-thang in iHo-brag gegründet; nach anderen schon
im 8. Jh. in W-Tibet durch sMan-thang-pa-’od-zer-rgyal gegründet. Im 18. Jh. ent-
steht die sMan-gsar des Byi’u-lhas-pa. 2. mKhyen-ris von ’Jam-dbyangs-mkhyen-
brtse’i-dbang-phyug im 16. Jh. (chinesische Einflüsse und Blüte in Sa-skya bzw. Ngor).
3. sGar-bris[ris] vom sPrul-sku Nam-mkha’-bkra-shis im 16. Jh. gegründet (Ming-
Einfluß und Blüte in Khams und A-mdo, besonders bei den Karma-pa). 4. ’Bar-ris in
Zentral-Tibet von’Bar-kha-legs gegründet. Von ihr soll abstammen 5. die dGa’ris[bris]-
Schule (Gründer dGa’-ni-’og-pa). 6. Shang-ris (im 12. Jh. von Shang[s]-nam-mkha’~
rgyal-mtshan gegründet). 7. In Osttibet hat es noch die rZa-ris, Tsa-nag, sDe-ris und
rGya-ris gegeben; der rGya-ris gehörte der berühmte Si-tu-chos-’byung an (18. Jh.).
8. In Bhutan Einflüsse besonders der sMan-ris und mKhyen-ris, im 18./19. Jh. solche
aus Khams und Zentral-Tibet.
S. 40 zu berühmten Malern: Unter dem 5. Dalai-Lama besonders Don-grub-rgya-
mtsho und Chos-dbyings-rgya-mtsho (vgl. ferner T. T. Tingo. In: Buddhistische Kunst
aus dem Himalaya. Köln 1974, 14 ff.).
S. 41: Nach N. R. Banerjee (in: East and West 22/1—2, 63 ff.) ist oberste Grenze
der Ausbildung von den Dhyänibuddhas das 8. Jh.
S. 43: Turkestanische Künstler in Tibet auch im 9. Jh. unter König Ral-pa-can
und um 1000 in West-Tibet khotanesische Mönche.
S. 45 ff.: Wandmalereien heißen tibetisch rTsig-pa-la. Thang-ka werden auch
mThong-’grol genannt. Die indischen Pata gehen vielleicht auf brähmanische Traditio-
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
119
nen zurück. — Thang-ka mit Wiedergeburtsreihen heißen ’Khrung-rabs-zhal-thang. —
Appliqué-Technik ist Gos-sku. — Die Schränke, in denen nichtgebrauchte Thang-ka
aufbewahrt werden, heißen gYang-sgam. — Meditationen an Thang-ka sind mThong-
sgrol und dienen u. a. auch der Krankenheilung. — Die Umrißzeichnung heißt Thlg-
rtsa, die Komposition gNas-thabs, die Leinwand Ras-bris. — Beim Malen der
Schreckensgötter sollen Pinsel aus Haar menschlicher Leichen und Farbbehälter aus
Schädelschalen verwendet werden.
S. 50: Die Rab-tu-gnas-par-byed-2eremonien auch bei A. David-Neel: The Tibetan
Rite called Rab Nes intended to cause inanimate objects to become efflcient. In:
Journal of the W. C. Border Research Society XVI/1945, 88 ff. Die Anfertigung von
Thang-ka zur Sicherung einer Wiedergeburt eines Heiligen ist auch als dGongs-rdzogs
bekannt; vgl. S. 52.
S. 53, Anm. 39; Der obere Bereich der Montierung heißt gNam, der untere Sa.
Die Seiten stellen die beiden Lehrweisen dar, z. B. die linke: Tantra (zum Tantrismus:
tantrisch beeinflußte, ins Chinesische übersetzte Texte im 4.—5. Jh. Die Entstehung
des Tantrismus darum nicht erst ins 7. Jh. zu setzen; vgl. G. Tucci: Animadversiones
Indicae. In: Opera Minora, I. Rom 1971, 199). Die Attribute der dargestellten Gott-
heiten heißen mTshan-byed.
S. 68, Nr. 23 684: Vairocana als Ädibuddha ist Mahävairocana, während Vairo-
cana zu den fünf Dhyänibuddhas gehört (vgl. G. Tucci: Some Glosses upon the
Guhyasamäja. In: Opera Minora, 1. c., 339). Ursprünglich war Vairocana vielleicht
Gautama bzw. ein Epitheton des Buddha. Daher ist V. auch Herr der Tathägata-
Familie und Cakra als Symbol des V. dann vielleicht Zeichen für die Predigt des
Gautama Buddha. Zu weiteren Hypostasen des Gautama vgl. Tribus 16, 99, Nr.
24 020. So dürften auch Akshobhya (s. II, 1), der Unerschütterliche (vgl. die Ver-
suchung des Mara), und Amitabha derartige Hypostasen sein. Bei Amitäbha und
Vairocana möglicherweise iranische Einflüsse. Schließlich kann auch Avaloklteshvara
als Gautamas mitleidiger Blick und Vajrapäni als seine siegreiche Kraft (mit anderen
Gottheiten verschmolzen; s. Tribus 16, Register) zu den Hypostasen des Gautama
gerechnet werden (zum Problem auch D. L. Snellgrove: Buddhist Himalaya. Oxford
1957, 63). Die Vairocana-Tathagata-Familie spielt eine bevorzugte Rolle bei den
Sa-skya-pa. Zu Vairocana im Zentrum der 5 Dhyänibuddhas vgl. Talshun Mibu: On
the Theory of Five Buddhas in Guhyasamája-tantra. In: Journal of Indian and
Buddhist Studies XX, 2. Tokyo 1973, 1039 ff.). Was den Ädibuddha angeht, so wird
dieser oft vom Präsidenten der 5 Dhyänibuddhas vertreten; z. B. bei den bKa’-rgyud-
pa durch Vajradhara. Der Ädibuddha wird auch Dus-kyi-’khor-lo’i-mtshan genannt,
da er vom Kälacakra(Dus-kyi-’khor-lo) eingeführt worden ist. Nach Y. Krishan: The
Origin of the Crowned Buddha Image. In: East and West XXI/1—2, 92, wird der
Ädibuddha erst ins 10. Jh. datiert. Die Frage ist strittig.
S. 74, Nr. 23 698 (auch zu 23 915 und 24 404): Die Begleiter der Shyämavarnä sind
wahrscheinlich Marici und Ekajatá. Márící schützt vor Räubern und Dieben. Im
Bod-snga-rabs-gsang-chen-rnying-ma’i-chos-’byung des bDud-’joms (Kalimpong 1967,
782) wird Ekajatá als Yum-chen bezeichnet. Die Ekajatá kommt auch in einer berühm-
ten Fünfergruppe (skr.: Pañcátmaka) mit Bhrikuti, Hayagriva, Avaloklteshvara und
120
Sieghert Hummel
Amoghapasha vor (hierzu: A. Grünwedel: Taranatha’s Edelsteinmine. Petrograd
1914, 159). Zu Ekajatä auch S. Hummel: Ekajatä in Tibet. In: Asiatische Studien
XXII/1968, 110 ff.).
S. 77, Nr. 23 715: sTong-’khor-Chutuktu. Er wird auch Manjushri-Chutuktu ge-
nannt.
S. 89, Nr. 23 877: Yamäntaka gehört zur Tathagata-Famllie. Daneben wird er
manchmal zur Vajrafamilie gerechnet.
S. 93, Nr. 23 910: Rigs-bu-mo auch Rigs-pa’i-lha-mo genannt und Gri-bdag auch
Gri-thogs.
S. 96, Nr. 23 928: Zu den Tieren als sPyan-rdzas, d. h. zum Ergötzen der Götter,
vgl. F. D. Lessing: Yung-Ho-Kung. Stockholm 1942, 104. Die Darstellung von Gott-
heiten nur durch ihre Attribute heißt Tshogs-rgyan und bsKang-rdzas.
S. 104, Nr. 24 356: Lies: dGe-’dun-grub. rGyud auch als Wiedergeburtsreihe. Hier-
zu ausführlich S. Hummel: Rezension „Brother Don-yod“. In: Sinologica XII/1—2),
ferner S. Hummel: Transmigrations- und Inkarnationsreihen in Tibet unter besonderer
Berücksichtigung der Bon-Religion. In: Acta Orientalia. Kopenhagen 1974, 36; ergänze
dort: Auch im gYung-drung-bon-gyi-bstan-’byung des dPal-ldan-tshul-khrims, Dolanji
1972, Kap. 12, 12, 17—21, finden sich keine Inkarnationsreihen.
S. 106, Nr. 24 374: Lies: Thub-pa-gnas-brtan-bcu-drug-gis-bskor-ba. — Nr. 24 400:
Lies oben Mitte: Vajrapäni. Ergänzend: Vajrapäni ist Anführer der Yaksha-Armeen.
Er inkarniert sich u. a. im Raja von Sikhim, im König Ral-pa-can von Tibet (817
bis 836), ferner in einem Bruder des ’Phags-pa-blo-gros-rgyal-mtshan (1235—1279)
von Sa-skya, während die Sa-skya-Hierarchen sonst Inkarnationen des Manjughosha,
einer Form des Manjushri, sind. V. kommt auch als mThu-chen-thob-pa (= Mahästhä-
mapräpta!) vor und ist Hüter geheimer Weisheiten wie die Nägas, deren Schützer er ist.
Sein Himmel heißt Alakävati (er hat dann auch in der Rechten einen Vajra, in der
Linken den Berg Sumeru).
S. 116, Nr. 10455: Lies stets: gNam-khyl-nag-po. — Zu Nr. 100451 (S. 116):
Wie ich aus Hampden C. Du Bose: The Dragon, Image, and Demon. London 1886,
326 (mit Abb.), entnehme, handelt es sich bei den beiden Alten des Bildes um die
chinesischen Gottheiten des Bettes, die am Hochzeitstag sowie am 1. und 15. eines jeden
Monats verehrt werden. Wie 100 455 mit der Jagd nach dem Himmelshund, ist dieses
Bild ein typisches Beispiel für die chinesisch-tibetische Kontaktzone. In diese Bild-
gattung des chinesisch-tibetischen Kulturkontaktes gehört auch ein in Urga erworbenes
interessantes Bild der Sammlung Leder im Museum für Völkerkunde in Leipzig.
Dieses ist ganz im Stil der lamaistischen Thang-ka gemalt und In der unteren Bildhälfte
gestaltet wie die Abb. 10 bei W. Heissig: Die Religionen der Mongolei. In: Die Reli-
gionen Tibets und der Mongolei. Religionen der Menschheit, Bd. 20. Stuttgart 1970,
365. Nur ist auf dem Leipziger Bild der eine der beiden sich mit Lanzen gegenüber-
stehenden Begleiter von schwarzer Hautfarbe. Es handelt sich somit um die beiden
chinesischen Men-Shen (= Türgeister) in Gestalt der legendären, zauberkräftigen
Generäle (chin.: Erl-Chiang-Chün) Heng und Ha aus der Zeit des Niederganges der
Yin-Dynastie. Sie finden sich im chinesischen Buddhismus in der Eingangshalle zum
Tempel oft anstelle der beiden buddhistischen Wächter Erl-Wang (jap.: Ni-6); vgl. E.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
121
Rousselle: Vom Sinn der buddhistischen Bildwerke in China. Darmstadt 1958, 10 f.,
17 f.). Zu diesen Men-Shen vgl. auch W. Grube: Religion und Kultus der Chinesen.
Leipzig 1910, Abb. S. 195, Legende auf S. 176); ferner Hampden C. Du Bose, 1. c.,
Abb. S. 378, sowie J. Bredon und I. Mitrophanow: Das Mondjahr. Berlin-Wien-
Leipzig 1937, 281 (mit anderer Legende als Grube).
S. 127, Nr. 71 597, Zeile 15, ergänze: Chos-kyi-nyi-byed aus Ceylon. Zur Frage der
Präexistenzen vgl. S. Hummel. In: Acta Orientalia, 1. c., 120, Nr. 72 328: Dus-gsum-
sangs-rgyas (chin.: San-Shi-To) ergänze: Nach Li An-che: A Lamasery in Outline.
In: Journal of the W. C. Border Research Society XIV, A, 57) werden sie in Bla-brang
am 13. des 1. Monats in Form großer Thang-ka ausgestellt (vgl. für iHa-sa, wo diese
Festlichkeit als Tshogs-mchod bekannt ist, H. Harrer: Meine Tibetbilder. Seebruck
1953, Abb. S. 139, und Tsung-lien Shen und Shen-chi Liu: Tibet and the Tibetans.
Stanford 1953, 189 und 138; zu Tshogs-mchod vgl. S. Hummel: Boy Dances at the
New Year’s Festival in Lhasa. In: East and West XII/1, 41). In der Gruppe der
Dus-gsum-sangs-rgyas steht für Dipankara manchmal auch der Vorgänger des Gautama
Buddha, Käshyapa (tib. : ’Od-srung).
S. 123, Nr. 71 597: Auch der Mongole Byams-pa-rin-chen (in: Forman u. Bjamba
Rintschen: Lamaistische Tanzmasken. Leipzig 1967, 50) hält rje-btsun-dam-pa
Chutuktu für eine Inkarnation des Maidari-Chutuktu.
S. 130, Nr. 71611; Zum Stüpa vgl. die Beschreibung in A. MacDonald: Le
Dhanyakataka de Man-Luhs Guru. In: Bull, de l’École Français d’Extrême Orient,
LVIIL Paris 1970, 169 ff.; der Stupa ist dort von 4 Tempeln umgeben wie auf unserem
Bild. Dort soll Gautama-Buddha den Tantrismus verkündet haben. Im Bild oben rechts
die drei Weißen oder Gautama mit Manjushrî und Käshyapa(P).
S. 134, Nr. 71 618: Kulika Manjushrîkîrti ist Präexistenz des Pan-chen von
bKra-shis-lhun-po (vgl. Toni Schmid: Saviours of Mankind, II. Stockholm 1964,
Tafel II und S. 21 f.). Manjushrîkîrti zeigen auch G. Roerich: Studies in the Kala-
cakra. In; Journal of Urusvati II und Mythologie Asiatique Illustrée. Paris 1928,
Fig. 33. Auf dem Bilde in Tribus 16 findet sich links oben Sucandra (tib.: rGyal-po-
zla-ba-bzang-po) von Sham-bha-la, dem Gautama Buddha in Dhanyakataka das
Kalacakra lehrte. — Die ersten sieben Könige von Sham-bha-la sind die Chos-kyi-
rgyal-po (Dharmaraja). Unter den Königen von Sham-bha-la, die als Kulika (tib.:
Rigs-ldan) bekannt sind, befinden sich auch Verkörperungen milder Bodhisattvas, wie
Manjushrîkîrti, sowie solcher von zehn zornigen Gestalten des Pantheons. Sucandra,
der das Kalacakra nach Sham-bha-la brachte, ist Verkörperung des Vajrapani. —
Zum gen. Stupa vgl. K. Hahlweg; Der Dhânyakataka-Stûpa (in: Zeitschr. d. Deut-
schen Morgenländischen Gesellschaft, 22, S. 320 ff.).
S. 142, Nr. 72 252: Zu dem dort gegebenen Material zur Zahl 108 ergänzend, daß
es 108 Übersetzer unter Khri-srong-lde-btsan gab, daß 108 Mönche in der Zeit nach
Glang-dar-ma die buddhistische Tradition hüteten, daß die rNying-ma-pa 108 gTer-
ston (Entdecker verborgener heiliger Schriften) kennen und es in Dolon-noor (Innere
Mongolei, gegr. 1701) 108 Mönche gab.
S. 143, Nr. 72 262: Atîsha. Seine Reliquien sind in Ra[Rwa, Rang]-sgreng (= Re-
ting), ferner im Mausoleum zu sNe-thang, wo er starb. Dort in einem mChod-rten
122
Sieghert Hummel
viele Tsha-tsha aus seiner Asche (vgl. Ch. Bell: The Religion of Tibet. Oxford 1931,
58). Atishas Schutzgotthelten sind die 21-Täräs. Er war an der Ausbildung der Prä-
existenzenlehre in Tibet beteiligt (vgl. S. Hummel. In: Acta Orientalia, 1. c.). Atisha
gilt als Inkarnation des Manjushri, und Tsong-kha-pa war seine Inkarnation. Seine
Namen sind: Geburtsname = Candragarbha, Initiationsname = Guhya-jhäna-vajra,
Ordinationsname = Dipankara, dem später Shrijnana zugefügt wurde (tib.: Mar-me-
mdzad-dpal-ye-shes); Atisha und Jo-bo-rje[-chen-po] sind Epithet.
S. 162 zu Srung-ba: Eßbare Sprüche (tib.: Za-yig, auf Dünndruckpapier) waren
schon in ägyptischen Sargtexten bekannt, auch das Trinken von Wasser, in das die
Tinte solcher Texte abgewaschen wurde (vgl. Hesekiel 3/1 ff.). Zu den Fremdworten
in Texten, die im Orient dann als Sprache der Götter verstanden wurden, vgl. die
IHa’i-skad in Untertiteln tibetischer Bücher (vgl. zum Orient J. Leipoldt und S.
Morenz: Heilige Schriften. Leipzig 1953, 178 f.).
S. 163: Lies: Dar-rgyang statt Dar-rgyan.
S. 169, Nr. 23 865 a: Im Diagramm wahrscheinlich ein Spielbrett.
S. 171, Nr. 23 874; Bei den Bon-po sind die rLung-rta-dar-ba’i-dgra-lha Tiger,
Schildkröte, Vogel und Drache.
S. 172, Nr. 23 897: Thang-zon ist Hsüan-Tsang und nicht Thang-ston-rgyal-po.
Was ich über Thang-ston-rgyal-po geschrieben habe, findet sich mit Literaturhinweisen
in meinem Beitrag „Die Maske in Tibet“ (Antaios XI/2. Stuttgart 1969, 181 ff.). Die
Legende berichtet, der Heilige habe von der Tara eine eiserne Kette mit so viel Glie-
dern bekommen, wie die im Zusammenhang mit den tibetischen Theaterstücken auf-
tretende Gruppe der bKra-shis-zhol-pa, von der sich die Tanzschule gleichen Namens
herleitet, tanzende Akteure hat. Eine Plastik des Heiligen mit eiserner Kette habe ich
in „History of Religions“ VIII/2, Chicago 1968, neben S. 142 gezeigt.
S. 174, Nr. 24 473: Amur-bayas chulangtu wurde 1737 auf Anordnung des chine-
sischen Kaisers als Bestattungsort für Öndör-Gegen erbaut. Zur Legende des Namens
vgl. LJ. Korostovetz: Von Cinggis Khan zur Sowjetrepublik. Berlin/Leipzig 1926,163.
S. 176, Nr. 72256: Nach C. M. Chen, 1. c., S. 41 ff., sind die Diagramme zu a)
rund, zu b) viereckig, zu c) dreieckig, zu d) halbkreisförmig.
S. 190: Lies statt Shaptaratnäni: Saptaratnäni. — Zu den Srung-ba und Dar-lcog
(rLung-rta) vgl. auch das Material in L. A. Waddell: Lamaism in Sikhim. Neudruck
Delhi 1973, 98—113.
Wortregister zu den Ergänzungen für Tribus 8, 11, 13 und 16
A-long III, 3
A-ni-go III, 3
Ädibuddha III, 4
Akshobhya III, 4
Alakävati III, 4
Am-gri III, 3
Amitäbha III, 4
Amur-bayas III, 4
Avalokiteshvara III, 4
Ba-kag III, 3
’Bag-khang III, 3
Be-du-rgya[rya]-’od III, 1
Blug-gzar III, 3
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
123
Bre siehe sPu-shu
Buddhas, 35- III, 1
Budhnath III, 3
Cang-te’u III, 3
mChod-tib III, 3
Chos-kyi-nyi-byed III, 4
Dam-can-rdo-rje-legs-pa III, 1
Dhányakataka III, 4
Dhyánibuddhas III, 4
Dípañkara III, 4
’Dod-li III, 2
Dolon-noor III, 4
Dril-bu (Pho-, Mo-dril) III, 3
Drwa-ling III, 3
Dus-gsum-sangs-rgyas III, 4
Dus-kyi-’khor-lo’i-mtshan III, 4
rDza-sku III, 2
Ekajatá III, 4
Erdeni-dsu III, 3
dGang-gzar III, 3
Gautama-Buddha III, 4
Glang-dar-ma III, 4
dGongs-rdzogs III, 4
Gos-sku III, 4
Grang-gser III, 2
Gri-bdag III, 4
Gri-thogs III, 4
rGya-gri III, 3
rGya-ma III, 3
Ja-bag III, 3
rJe-btsun-dam-pa-Chutuktu III, 4
Jo-bo-rje (= Atisba) III, 4
Kálacakra III, 4
bsKang-rdzas III, 4
dKar-rgyan III, 2
Kasbmir-Kunst III, 4
Káshyapa III, 4
’Khrung-rabs-zhal-thang III, 4
Klu III, 1
sKu-gdung-cha-brgyad III, 2
Kula III, 4
Kulika III, 4
rLung-rta-dar-ba’i-dgra-lha III, 4
Ma-cig-dpal-gyi-lha-mo III, 1
Maidari-Chutuktur III, 4
Maler III, 4
Malschulen (tib.) III, 4
sMan-bla III, 1
Mang-rdang[Ma-ni-dang] III, 3
Maniwälle III, 3
Mañjushrí III, 4
Mañjughosba III, 4
Mañjushríkírti III, 4
Márící III, 4
gNas-thabs III, 4
Nepal III, 3 u. 4
Nyag[Nya]-ga III, 3
sNye-thang III, 4
Pag-phor III, 3
Pañcátmaka III, 4
Parnashavarí III, 1
dPe-gsar III, 2
Phud-tib III, 3
Phur-bu[pa] III, 3
Phye-snod III, 3
Prabhävali III, 3
Präexistenzen III, 4
Pu-shu III, 2
sPyan-rdzas III, 4
sPyi-blugs III, 3
Rab-tu-gnas III, 2 u. 4
Ral-pa-can III, 4
Ras-bris III, 4
Rcting III, 4
Rigs-bu-mo III, 4
Rigs-ldan III, 4
Rigs-pa’i-lha-mo III, 4
Rosenkränze III, 3
Rus-pa’i-rkang-gllng III, 3
124
Sicghert Hummel
Sa-skya III, 4 Ting-phor III, 3
Se[bSe] III, 1 sTong-’khor-Chutuktu III, 4
gSer-ma III, 3 Tsha-gser III, 2
Sham-bha-la III, 4 Tsa-ka-Ii III, 1
Shar-gyi-lha III, 2 Tsha-tsha III, 2
Shyàmavarnà III, 4 mTshan-byed III, 4
Sikhim, Raja von III, 4 Tshogs-rgyan III, 4
Sil-snyan III, 3 rTsig-pa-la III, 4
Srog-shing III, 2 Tsong-kha-pa III, 4
Srung-ba III, 4 Turkestan III, 4
Srung-’khor[skud] III, 3 Stupa III, 2 Urga III, 3
Sucandra III, 4 Tang-ka[ga, dkar] III, 3 Vairocana (Mahàvairocana) Vaishravana III, 1
Tantrismus III, 4 Vajradhara III, 4
Tara (21-Tàràs) III, 4 Vajrapàni III, 4
gTer-ston III, 4 Vajrasattva III, 1
Thab III, 3 Vasudhàrà III, 1
Thig-rtsa III, 4 mThong-gro (-sgrol) III, 4 Yaksha III, 4
mThu-chen-thob-pa III, 4 Yamantaka III, 4
Thub-pa-chu-lon-ma III, 2 gYang-sgam III, 4
Thur-ma III, 3 Za-yig III, 4
Literatur:
(1) Vgl. auch Gerhard Lenser: Pumo Ri. Zürich 1963. Wie mir Lenser, der von
1962 bis 1974 mehrmals im Khum-bu-Gebiet war, wiederholt versicherte, wird
der Erwerb guter ethnographischer Gegenstände in Khum-bu immer problemati-
scher. Hier sei auch an die acht Thang-ka erinnert, die das Linden-Museum von
Lenser erworben hat (von mir bearbeitet in: Tribus 16, 153—156 (Nr. A 30 592
bis 30 599 mit Abb. 16). Die hier besprochenen Objekte wurden 1962—1965
erworben.
(2) Vgl. Chr. v. Fürer-Haimendorf: Buddhist. Expansion im Himalaja. In: Der
Brockhaus — Greif 1959/18, 4 f. — Id.: The Role of the Monastery in Sherpa
Society. In: Ethnologica, NF 2/1960). — Id.: Pre-Buddhist Elements in Sherpa
Belief and Ritual. In: Man, LV, 61. — Id.: The Sherpas of Nepal. London 1964
(Rez. S. Hummel. In: Tribus 15, 180 ff.). —
Zum Khum-bu-Gebiet vgl. H. W. Tilman: Exploration in the Nepal Himalayas.
In: The Geogr. Journal, CXVII, 3, 271 und die Lit. 4, 6, 8.
Nach P. Vittoz: Noms des lieux dans la region de l’Everest. In: Journal, Schweiz.
Stiftung f. Alpine Forschungen, SSAF, I, 4, 245, wird Khum-bu von den Tibetern
als Kham-bu = Aprikosenftal] erklärt.
Die Tibet-Sammlung des Linden-Museums
125
(3) Dieser Yul-lha hat einen zweiten Sitz ln Solu und dürfte von der Klasse der
lokalen Schutzgottheiten sein. Nach v. Fürer-Haimendorf wird er als dGra-lha
verstanden (vgl. Man, 1. c.).
(4) Pha-mes-byung-rabs. Ed. A. W. Macdonald und Shar-pa’i-bla-ma Sangs-rgyas-
bstan-’dzin: Documents pour l’Etude de la Religion et de ^Organisation sociale
des Sherpa, I, Junbesi. Paris/Nanterre 1971.
(5) S. Hummel: Boy Dances at the New Year’s Festival in the Region of Dri-chu-roh
(North Nepal). In: East and West, 24, 3—4, 363 ff.
(6) Vgl. das Material in Fr. W. Funke: Religiöses Leben der Sherpa (Beiträge zur
Sherpa-Forschung, Teil II). Innsbruck/München 1969 (Rez. S. Hummel. In: Eth-
nologische Zeitschrift Zürich 11/1974, 195 ff.),
(7) S. Hummel: Khum-bu-yul-lha, der weiße Gott der Sherpa. In: Acta Oriental.
Hung. XX, 3/1967, 353 ff.).
(8) Vgl. Luther G. Jerstad: Mani-Rimdu, Sherpa Dance-Drama. Seattle und Lon-
don 1969 (Rez. S. Hummel. In: Sinologica XII/1—2, 124 f.).
(9) Vielleicht war Shantirakshita (auch Shäntarakshita, Shäntijiva, Shäntipä, tib.:
Shi-ba-tsho) der Erbauer von bSam-yas und nicht Padmasambhava.
(10) In Abänderung meiner Deutung der Gestalt auf Nr. 122 096 (Trlbus 13) möchte
ich diese sehr seltene ikonographische Darstellung als Harihariharivähana bezeich-
nen, da sich bei den Füßen der Gottheit Vishnu, Garuda und der Löwe (Simha)
befinden.
Friedrich Seltmann
Handpuppenspiel in Kérala
Indien ist auch heute noch ein Gebiet, in dem sich verschiedene Formen des rusti-
kalen Puppenspiels erhalten haben, seien es nun Spiele mit flachen Lederpuppen (Schat-
tenspiel) oder seien es solche mit dreidimensionalen, d. h. körperhaften Puppen. Letztere
präsentieren sich teils als Faden-, teils als Stabmarionetten oder aber auch als Hand-
puppen (glove puppets). Es gibt jedoch nur noch sehr wenige Truppen, die mit der-
artigen Flandpuppen arbeiten. Sie sind vor allem in Orissa, West-Bengalen und
Kerala beheimatet. In Kerala allerdings übt nur noch ein Großfamilien-Verband diese
Kunst aus. Dieser verfügt über sechs Spieler-Gruppen, wie eine vorab eingezogene
Information lautete, während es im Jahre 1964 noch zehn solcher Gruppen gegeben
hatte. Diese Entwicklung war Grund genug, dieser Form des Puppenspiels besondere
Aufmerksamkeit zu widmen.
Innerhalb eines Forschungsvorhabens, das von der „Deutsche Forschungsgemein-
schaft“ gefördert wurde, war anläßlich eines längeren Aufenthaltes in Kerala am
28. Februar 1976 ein Besuch beim Senior des Großfamilien-Verbandes möglich. Bereits
im Oktober 1964 hatte der Verfasser diesen Puppenspieler-Verband aufgesucht und
hatte damals eine Vorführung mit verschiedenen Szenenfolgen gesehen. Bei dem
neuerlichen Besuch konnte keine Vorstellung arrangiert werden, da die verschiedenen
Spielgruppeen auf Tournee waren. Der nachstehende Bericht faßt die Erhebungen aus
beiden Besuchen zusammen.
Die Puppenspieler
Sitz der Puppenspieler-Großfamilie ist der Weiler Kävuthiyän Parampur innerhalb
des Dorfes Paruthipulli (Taluk: Alathur; Distrikt Palghat), ca. 25 km Luftlinie von
der Stadt Palghat entfernt. Dort wohnt auch Samaiyan Pandäram, der 76 Jahre alte
Senior-Chef der verschiedenen Spielgruppen, In dessen Hause das Treffen im Februar
stattfand. Daselbst hatten sich auch die Vertreter jener 5 Unterfamilien versammelt,
welche die 6 Spielergruppen stellen. Diese wurden durch folgende Männer repräsentiert:
1. K. C. Chämu (85 Jahre, nur noch bedingt aktiv)
2. K. V. Rämakrishnan (27 Jahre, aktiv tätig)
3. K. C. Rämakrishnan (Bruder von Nr. 2; aktiv tätig)
4. K. C. Karuppan (45 Jahre, aktiv tätig)
5. Nanjan (73 Jahre, aktiv tätig)
6. Velan (37 Jahre, aktiv tätig)
128
Friedrich Seitmann
Ahh. 1 Hanuman und Bhima in einer Kalydna Saugandhikam-Szene (Foto F. Seit-
mann).
Alle Puppenspieler bezeichnen sich als „Pandäram“, ein Ausdruck, der eher als
Berufsbenennung aufzufassen ist und nicht als Name einer Kaste. K. Iyer (1909/12,
II, pp. 396—398) beschreibt sie als Telegu sprechende Bettler, von denen einige auch
des Tamil mächtig sind. Einige von ihnen arbeiten — so K. Iyer — als Steinpolierer,
als Mattenweber und als Bauern. Sie sind Sivaiten bzw. Lihgayat’s (s. auch Thurston
VI, pp. 45—52). Ursprünglich soll es 60 derartige Pandäram-Familien in Kävuthiyän
Parampur gegeben haben. Die Puppenspieler selbst geben an, Angehörige der Mala-
yändi-Kaste zu sein, d. h. zu einer Gruppe herumziehender Barden zu gehören, deren
Hauptbeschäftigung es wäre, eine spezielle, dem Gotte Subrahmanya (= Kartikeya)
geweihte Opferhandlung (püjä) durchzuführen. Diese wird in den Häusern der Auf-
traggeber abgehalten. Daneben widmen die Spieler sich auch der Feldarbeit. Subrah-
manya ist ihre Hauptgottheit, die in ihm geweihten Schreinen verehrt wird. Als be-
sondern heilig gilt ihnen der Subrahmanya-Tempel Palani Ändavar, der in Palni Ma-
lai (Tamil-Nädu) gelegen ist (an der Bahnlinie von Coimbatore nach Dindigul).
Die Puppenspiel-Tradition der Pandäram soll sich angeblich auf 10 Generationen
erstrecken, was bedeuten würde, daß sie etwa 300 Jahre alt wäre. Der Überlieferung
nach sind die Pandäram-Familien aus dem Guntur-Distrikt in Andhra Prades über
Karnataka nach Kerala eingewandert. Ihre Muttersprache ist daher auch Telegu. Da-
neben sprechen sie Malayälam und etwas Tamil. Alle Vorführer erkennen den älte-
sten, noch praktizierenden Puppenspieler als ihren Ober-Vädhyär (d. i. Ober-Guru)
Handpuppenspiel in Kera\a
129
an; ihm zur Seite stehen die anderen ausgelernten Spieler. Die Schüler, also die ’sisyac,
werden ’pillai kal‘ (G. p. 667 b) genannt. Während früher die Sitte vorherrschte, die
Puppenspiel-Fertigkeit vom Vater auf den Sohn oder die Söhne zu übertragen, wird
heute jeder begabte Interessent als Schüler aufgenommen. Dies gilt selbst für Ange-
hörige anderer Kasten. Die Schüler haben etwa 6 Jahre zu lernen, bis sie die Texte
und das Manipulieren der Puppen beherrschen sowie mit der Handhabung der ver-
schiedenen, zum Spiel benötigten Instrumente vertraut sind. Nach Beendigung der
Ausbildung zelebrieren die Puppenspieler eine Püjä zu Ehren des Gottes Ganapati.
Bei dieser Gelegenheit muß der Schüler seinen Lehrer durch ein Opfer-Geschenk ehren.
Der Wert des Opfers richtet sich nach der wirtschaftlichen Lage des Schülers.
Das Handpuppenspiel, welches sich in Kerala „pava kathakali“ nennt, dient in
erster Linie Unterhaltungszwecken. Die Spiele werden von den herumwandernden
Truppen in Dörfern regelrecht angeboten oder von Interessenten direkt bei ihnen be-
stellt. Dies geschieht vor allem anläßlich religiöser Feste, denen die Spiele die einlei-
Abb. 2 Hanuman mit
seiner typischen Kopfbe-
deckung (vattammudi)
und weißem Bart (velup-
pu tddi) (Foto F. Seit-
mann).
9
130
Friedrich Seitmann
tende oder abschließende Note geben. In erster Linie sind es die reicheren Familien,
die angesprochen werden, also solche der Nambütiri-Brahmanen oder solche der
Näyar-Kaste. Auf dieselbe Art werden auch Bestellungen auf die oben erwähnte Sub-
rahmanya-Püjä eingeholt. Die Fiauptsaison für die Puppenspieler dauert von Februar
bis Anfang Juni. Das von den Spielern erfaßte Aktionsgebiet reicht von Süd-Canna-
nore in Nord-Kerala bis Nord-Alleppey in Süd-Kerala, wo besonders die Regionen
in den Niederungen aufgesucht werden.
Abb. 3 Bhtma und Duh'sdsana in einer Duryodhana-Vddham-Szene (Foto F. Seit-
mann).
Die Puppenspiele dienen nicht ausschließlich nur profanen sondern gelegentlich auch
rituellen Zwecken. So sind sie bei Epidemien und bei lang anhaltender Trockenheit
gefragt. Sie bekommen in solchen Fällen den Charakter eines Opfers, durch das Götter
und Dämonen beschwichtigt werden sollen. Bei derartigen Gelegenheiten gelangt eine
Begebenheit aus dem dritten Buche (Vanaparvan) des Mahäbhärata-Epos zur Auf-
führung; sie nennt sich Kalyäna Saugandhikam und wird in der Fassung, wie sie
Kunjan Nambyar gestaltet hat, dargeboten: Draupadi alias Pantjali (Pancali), die
gemeinsame Gattin der 5 Pändava-Brüder äußert den Wunsch nach himmlischen Lotos-
blüten (saugandhika). Bhima(sena), einer der Brüder, zieht aus, um diese in heiligen
Bereichen zu holen. Dabei gelangt er vor die Lustgärten des Gottes Kubera. Fianu-
man, der Affenfürst, will ihn daran hindern, in die Welt der Götter einzudringen. Es
kommt zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf sich herausstellt, daß beide
Handpuppenspiel in Kerala
131
Kontrahenten Brüder, d. h. Söhne des Windgottes Vayu, sind (Ahb. 1). Danach kommt
Bhima in den Besitz der begehrten Blüten, nicht ohne zuvor die Wächter der Gärten
bezwungen zu haben. Der Kampf mit diesen Räksasa’s wird allerdings im Puppen-
spiel nicht demonstriert.
Ahb. 4 Bali mit schwar-
zem Gesicht (kari) und ro-
tem Bart (cokanna tddi)
(Foto F. Seitmann).
Die Handpuppen
Die Herstellung der Puppen lag früher in den Händen von professionellen Holz-
schnitzern, die im Auftrag arbeiteten. Es sind aber schon einige Jahrzehnte vergan-
gen, seitdem die letzte Puppe angefertigt wurde. Bis in die Gegenwart hat man die
132
Friedrich Seitmann
Ahh. 5 Krsna mit Krone und grünem Gesicht (pacca) (Foto F. Seitmann).
Abh. 6 Draupadt alias Pahcali mit einem roten, über den Kopf gelegten Umhang
(Foto F. Seitmann).
alten Bestände benutzt. Ursprünglich sollen etwa 120 Puppen im Besitz der Puppen-
spieler gewesen sein. Diese Anzahl basiert auf entsprechenden Vorschriften in der ka-
nonischen Literatur (sästra). Die Puppenspieler waren allerdings nicht mehr in der
Lage, die belegenden Textstellen anzugeben. Heute existieren etwa noch 15 Puppen,
die kaum für Vorstellungen ausreichen, wenn alle fünf Truppen im Einsatz sind. Der
Rest ist in alle Winde zerstreut. So befinden sich einige Puppen im Naturkunde-Museum
von Trichur (Kerala), andere gehören zu den Beständen der Sangeet Natak Akademi
in New-Dehli etc. Der Mangel an verschiedenen Typen hat dazu geführt, daß alle
noch vorhandenen Puppen in verschiedenen Rollen auftreten. Dieser Umstand wie-
derum setzt ihrer exakten typologischen Erfassung gewisse Grenzen.
Handpuppenspiel in Kerala
133
Dem Aussehen nach sind die Handpuppen verkleinerte und vereinfachte Kopien
jener Charaktere, die im Kathakali-Tanz-Drama auftreten. Der Eigenart jeder Hand-
puppe entsprechend verfügen die Figuren über keine Beine und Füße. Die Köpfe so-
wie Unterarme und Hände sind aus leichtem, langfaserigem Holz geschnitzt, wobei
Kopfbedeckungen wie Kronen etc. mit in die Schnitzeinheit einbezogen sind. Diese
Holzteile werden bemalt und/oder mit bunten Stoff- bzw. Staniolstreifen beklebt.
Fetztere dienen besonders zur Markierung von Fingerringen, Armbändern, Ohrschmuck
und Kronjuwelen. Hals- und Brustketten dagegen sind Gehänge aus Glasperlen. Die
übrige Kostümierung ist aus Stoff, der am Holz der Unterarme und der Halspartie
dergestalt befestigt ist, daß der Eindruck eines Körpers erzielt wird. Die Kostümierung
umfaßt Ober- und Unterkleidung sowie vor allem eine Manschette aus festem Stoff,
die der Figur, sobald sich die Hand in ihr befindet, den nötigen Umfang verleiht. Eine
Reihe von Figuren tragen Stoffbehänge, die um den Hals gelegt werden und über die
Schultern und Brust nach unten hängen (uttariyam; G. p. 129 b). Ihre Enden sind als Fo-
tosblüten gestaltet. Das Make-Up der Gesichter ähnelt und gleicht dem der Kathakali-
Tänzer bis auf ein wichtiges Detail. Es fehlt ihnen jene vom Unterkiefer und Kinn weit
abstehende Applikation aus weißem Reisleim (chutti; G. p. 371 b), der für die Kathakali-
Tänzer so typisch ist. Die Kopfbedeckungen sind ebenfalls im Kathakali-Stil angelegt,
obwohl sie nicht immer mit jenen bei den gleichen Figuren des Tanzdramas identisch
sind. Charakteristisch ist z. B. die wagenradartige Krempe der Kopfbedeckung von
Hanuman (s. Ahh. 2) oder die tiara-artige Krone, hinter der sich eine große runde oder
fast runde Scheibe erhebt (kiridam; G. p. 249 b). Sie wird von den Heldenfiguren
der „bösen“ Partei getragen (s. Abh. 3, 4 Duhsäsana). Götter und Helden der „guten“
Partei sind mit einer glocken- oder tiara-artigen Krone geschmückt, bei der jedoch die
runde Scheibe fehlt (s. Ahh. 5 Krsna). Bei den Frauen liegt über der hochgestreckten
Frisur meist ein über die Schultern fallendes Tuch (s. Ahh. 6 Draupadi). Fanges Haar
wird in Form von schwarz gefärbten Garnsträngen auf ein Stück Stoff genäht, das
seinerseits am Holz des Hinterkopfes befestigt wird, wie z. B. bei Bhima.
Der Hals sowie die Unterarmstücke sind ausgehöhlt, so daß Daumen, Zeige- und
Mittelfinger (auch andere Kombinationen sind möglich) hineingesteckt werden können.
Diese sorgen nach Art unserer Kinder-Handpuppen für die nötige Bewegung. Ein
guter Spieler vermag die Puppen mit überzeugendem Feben zu erfüllen und Gemüts-
bewegungen wie Ab- und Zuneigung, Kampfeslust, Zorn und dergleichen auszudrücken.
Infolge der verhältnismäßig geringen Größe der Puppen und ihrer besonderen Eigenart
weist das Spiel nicht jene eindringliche Vehemenz und Dynamik auf wie das
Kathakali-Tanz-Drama. Dennoch entsteht durch die Kombination von Bewegung,
Textvortrag und Begleitmusik ein einheitliches dramatisches Gefüge. Die Differenziert-
heit des Spieles war 1964 noch ausgeprägter als heute. Der Mangel an verschieden-
artigen Figuren wirkt sich beeinträchtigend aus. Die Anfertigung neuer Puppen schei-
tert immer wieder am Geldmangel. Man wird sich dazu vielleicht erst dann entschließen,
wenn die letzten Puppen unbrauchbar geworden sind. Da die Spieler aber ziemlich
mittellos sind, wird wohl die Kunst des Handpuppenspiels zum Erliegen kommen,
sobald die restlichen Puppen unbrauchbar geworden sind, falls nicht von der Obrig-
keit entsprechende Auflagen gemacht und Hilfen geleistet werden. Die unbrauchbar
134
Friedrich Seitmann
gewordenen Puppen werden weggeworfen, ohne daß bei dieser Gelegenheit eine be-
sondere Zeremonie stattfindet. Einmal im Jahr, und zwar anläßlich des Onam-Festes
(im August bzw. September) werden die Puppen und Instrumente besonders geehrt.
Die Kiste, in der die Puppen aufbewahrt werden, wird geöffnet, die Puppen werden
in ihr aufgesetzt und die Instrumente werden enthüllt. Mit einer tiefen Verbeugung
und einem entsprechenden Gebet erweisen die Spieler den Puppen und Instrumenten
ihre Reverenz. Dann werden die Puppen wieder in die Kiste (pava petti; G. p. 697 b)
gelegt und diese wird geschlossen. Auch die Instrumente werden wieder eingepackt.
Abb. 7 Arjuna mit Kro-
ne und grünem Gesicht
(pacca) (Foto F. Seit-
mann).
Handpuppenspiel in Kerala
135
Die Aufführung
Zur Vorführung des Handpuppenspiels wird meist eine provisorische Bühne (pandal;
G. p. 612 a) benützt. Ihre Abmessungen richten sich nach den örtlichen Gegebenheiten.
Sie ist etwa drei Meter breit, zwei Meter tief und zwei Meter hoch, kann aber auch
größer sein. Ein Vorhang (tira sila; G. pp. 453 a, 1017 a) schließt die Bühne ab. Auf
ihrem Podest sitzen vier Männer: der eigentliche Puppenspieler, links von ihm der
Trommler, und rechts von ihm hocken der Zymbel-Spieler und der Gong-Schläger
(s. Ahh. 3). Bei den Zymbeln handelt es sich um die kleinere Form (kuli talam; G. p.
280 b), d. h. um ein Paar Metallscheiben mit Buckel von ca. 7 cm Durchmesser. Als
Trommel wird der Chenda-Typ mit normalen Abmessungen verwendet, und als
Gong wird die Chengala-Form benutzt. Dieser Gong von etwa 20 cm Durchmesser
hängt an einer Schnur, die mit der einen Hand gehalten wird; die andere führt den
hölzernen Klöppel. Dieser Typ figuriert auch unter dem Namen „Chengila“ oder
„Chennala“. (Näheres über diese Instrumente s. Sambamoorthy I 1952, pp. 81, 83;
Rajagopalan 1974, vol. 3, pp. 42, 43, 49.)
Die Aufführungen finden meist nachts statt, können aber auch während des Tages
durchgeführt werden. Nachts erhellt eine Öl-Stehlampe (nila vilakku; G. p. 562 a)
die Szenerie. Um das Gelingen der Vorführung sicherzustellen, wird sie mit einer
Opferhandlung (püjä) für Ganapati eingeleitet, bei der ausschließlich diese Gottheit
angerufen wird. Die bei der Invokation benutzte Sprache ist Malayälam. Für die
während der Vorführung verwendeten Texte bedient man sich derselben Sprache. Die
Dialoge werden jeweils von zwei Vokalisten als Gesänge oder Rezitative vorgetragen,
wobei bestimmte Partien im Chorus gestaltet oder wiederholt werden; an ihm be-
teiligen sich auch die übrigen Schausteller. In Aktion sind jeweils zwei Handpuppen,
die von einem Spieler manipuliert (s. Ahh. 1, 3) werden. Als Untermalung und Be-
gleitung der Textvorträge figurieren die Instrumente, welche gelegentlich auch Solo-
partien übernehmen. Diese instrumentalen Darbietungen, die sehr differenziert sein
können, stellen eine außerordentliche Belebung des Spieles dar. Dabei werden volks-
tümliche Räga’s verwendet, wie z. B. Kalyani, Mukhäri, Bhairavi, div. Navarasa,
Pädi etc.
Das Repertoire umfaßt heutzutage fünf Stücke, denen ausschließlich Begebenheiten
aus dem Mahabhära-Epos zugrunde liegen:
a) Aus dem ersten Buch: Baka Vadham, die Geschichte vom Zweikampf Bhima’s mit
dem menschenfressenden Riesen Baka. Bhima bricht diesem das Rückgrat und tötet
ihn. — Auftretende Figuren: Kunti, Bhima, Baka.
b) Aus dem dritten Buch: Kalyäna Saugandhikam (Schilderung s. o.) — Auftretende
Figuren: Yudhisthira, Krsna, Pancali (Draupadi), Bhima, Hanuman.
c) Aus dem vierten Buch: Kicaka Vadham, die Geschichte vom Zweikampf zwischen
Kicaka und Bhima. Pancali hatte Bhima um Schutz gegen den ihr nachstellenden
Kicaka gebeten. Fetzterer wird schließlich von seinem Gegner erwürgt. — Auftre-
tende Figuren: Kicaka, Sudesnä (die Frau von Kicaka), Pancali, Bhima.
136
Friedrich Seitmann
d) Aus dem vierten Buch: Uttarä Svayamvaram, die Geschichte von der Verheiratung
Uttarä’s, der Tochter des Königs Virata. — Auftretende Figuren: Duryodhana,
Bhisma, Uttarä, Arjuna (Ahb. 7), Abhimanyu.
e) Aus dem achten und neunten Buch: Duryodhana Vadham, eine Szenenfolge,
bei der vor allem die blutrünstige Abrechnung Bhima’s mit Duhsäsana gezeigt
wird. — Auftretende Personen: Duryodhana und seine Frau Bhänumati, Arjuna,
Yudhisthira, Duhsäsana, Bhima, Krsna, Bhisma.
Spieldauer von a): 2 Stunden; von b): 1,5 Stunden; von c): 2 Stunden; von d); 4
Stunden; von e): 4 Stunden.
Die verwendeten Texte gleichen jenen, die den Charakter von Volksausgaben
haben, so wie sie auch in gewissen Veröffentlichungen der Malayälam-Literatur anzu-
treffen sind. Eine Reihe von Gesängen sollen die gleichen wie beim Kathakali-Tanz-
Drama sein. Eine Besonderheit stellt der Umstand dar, daß im Figurenbestand weder
eine Tanzmädchen-Puppe noch komische Charaktere wie z. B. Vidusaka vorhanden
sind. Die Buffo-Szenen, welche in keinem indischen Puppenspiel fehlen dürfen, wer-
den von anderen Charakteren gestaltet.
Die Puppenspieler sehen in ihrer Arbeit eine Berufung, denn es heißt bei ihnen:
Die Götter gaben uns den Auftrag zu spielen.
Literatur:
Iyer, L. K./Anantha Krishna: The Cochin Tribes and Castes. 2 Vols. Madras 1909/12.
Parmar, Shyam: Traditional Folk Media in India. New Delhi 1975. (Abb.. — ,Pava
Koothu' zu p. 42.)
Rajagopalan, L. S.: Folk Musical Instruments of Kerala. In: Sangeet Natak, Journal
of the Sangeet Natak Akademi 33. Vol. 3, pp. 40—55. New Delhi 1974.
Sambamoorthy, P.: A Dictionary of South Indian Music and Musicians. Vol. I.
Madras 1952.
Ders., 1959: Vol. II.
Ders., 1971; Vol. III.
Thurston, E./Rangachari, K.: Castes and Tribes of Southern India. 7 Vols.
Madras 1909.
Anmerkung: Die Rechtschreibung der Malayälam-Worte entspricht jener bei;
Gundert, FL: A Malayälam and English Dictionary. London and Basel 1872.
(Abkürzung: G.)
Rolf Herzog
Eine alte ethnographische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg
Günther Spannaus zum 75. Geburtstag
Die meisten Völkerkundemuseen stellen auch Ethnographika aus Landschaften der
jetzigen Republik Sudan, dem ehemaligen Anglo-Ägyptischen Kondominium, aus.
Von der Vielzahl der dort lebenden Ethnien (Sudanaraber, Nubier, Bedja, Bergnuba,
Niloten u. a.) sind meist einige vertreten. Nur wenige Museen verfügen indessen über
umfangreichere Sammlungen, welche im Sudan (mit diesem Ausdruck ist im folgenden
immer die Republik gemeint) vor der Mahdiya erworben worden sind. Im Sommer
1881 begann der 1848 in Südnubien geborene Mohammed Ahmed, zum Aufstand
gegen die türkisch-ägyptisch-europäische Fremdherrschaft aufzurufen und sich selbst
als Mahdi, d. h. der Verheißene, auszugeben. Als im folgenden Jahr seine militäri-
schen Erfolge und damit auch der Zulauf zu seinen Truppen Immer größer wurden,
verließen viele Europäer und Ägypter das Land, und jeglichem Export standen nahezu
unüberwindliche Hindernisse entgegen. Ethnographische Sammlungen sind danach
bis zur Jahrhundertwende nicht mehr ins Ausland gelangt.
Viele europäische Museen sind erst nach 1880 gegründet oder kräftig ausgebaut
worden. Vor 1880 hielt sich deshalb die Nachfrage wie auch das Angebot an Ethno-
graphika aus dem Sudan in Grenzen. Eine Ausnahme macht hier das nördliche Nubien,
in dem Ägyptologen oder bildungsbeflissene Touristen während der Fahrt zu altägyp-
tischen Tempeln bis hin nach Abu Slmbel oder bis zum 2. Katarakt Souvenirs von den
einheimischen Nubiern kauften, welche sie dann in einigen Fällen Museen schenkten.
Einzelstücke aus dem Sudan wurden von der gleichen Personengruppe auch gelegent-
lich bei Händlern in Aswan oder Kairo erstanden, in der Regel mit ungenauer Her-
kunftsangabe. Erschwerend kommt hinzu, daß der geographische Begriff Nubien von
Europäern früher sehr weit und ungenau gefaßt wurde und auch Landschaften um-
schloß, in denen man nie nubisch sprach. Am Beispiel des Lederfransenschurzes der
Mädchen, dem Rabat, läßt sich belegen, wie früh schon in Oberägypten reine Souvenir-
produktion an den Mann zu bringen war (Herzog 1956: 10—12).
Im folgenden soll auf eine Sammlung sudanischer Ethnographika von beträcht-
lichem Umfang aufmerksam gemacht werden, die nachweislich schon Ende 1878 in
Deutschland eintraf. Es handelt sich um zwei Schenkungen, welche die Brüder Rosset
im Sudan zusammenstellten und ihrer Heimatstadt vermachten. Das bisher beste
Nachschlagewerk, Hills Biographical Dictionary of the Sudan, bietet nur einige An-
gaben über den älteren Rosset mit dessen Todesjahr und der kurzen Feststellung:
138
Rolf Herzog
„nothing has heen found concerning bis origin“. Die nachfolgenden Ausführungen zur
Person der beiden Sammler dürften somit auch als Beitrag zur Geschichte des Sudans
gelten.
In Freiburg im Breisgau lebte seit dem Ende des 17. Jh. ein aus dem Savoy stam-
mender Rosset, von dessen Nachkommen es noch heute mehrere Familien dieses
Namens gibt (Krebs 1922: 30). Dominik Rosset war um die Mitte des 19. Jh. Kauf-
mann und Ratsherr in Freiburg. Zusammen mit anderen erwirkte er 1861 einen Be-
schluß des Stadtrates, der als Gründungsakte der städtischen Museen anzusehen ist
(Schroth 1962). Zwei seiner in Freiburg zur Welt gekommenen Söhne, nämlich Carl
Friedrich, geb. am 14. 11. 1842, und Carl Wilhelm, geb. am 24. 4. 1851, sind die für
unsere Untersuchung wichtigen Sammler.
Friedrich Rosset ist nicht — wie Hill vermutet — schon 1860 in den Sudan ge-
langt. Er lebte von 1869 an in Kairo und gründete 1871 einen Export-Import-Handel
in Khartum. 1872 besuchte er zum letzten Male seine Eltern in Freiburg; dabei hat er
wohl auch seinen jüngeren Bruder zu einem Besuch im Sudan eingeladen.
Im Februar 1875 wurde Friedrich Rosset zum Vizekonsul des Deutschen Reiches
ernannt. Zwei Jahre später folgte seine zusätzliche Ernennung zum Vizekonsul Groß-
britanniens, zweifellos auf Empfehlung Gordon Paschas.
Die Konsuln der europäischen Mächte in dem um 1830 gegründeten Khartum waren
bis zum Ausbruch der Mahdiya fast nie Staatsbeamte im diplomatischen Dienst Ihrer
Länder, sondern eher bevollmächtigte Agenten, die in einem kündbaren Vertrags-
verhältnis im Aufträge der ihnen Vorgesetzten Generalkonsulate in Kairo die an Zahl
kleinen Gruppen von Europäern betreuten, über die Lage in dem riesigen Lande
berichteten und nötigenfalls auch Handelsangelegenheiten schlichteten. Sie nahmen
deshalb ihre Geschäfte fast nie hauptamtlich wahr, sondern betätigten sich gleichzeitig
als Kaufleute, und viele vertraten zur selben Zeit mehrere Länder. So hat der bekann-
teste von ihnen, der Österreicher Martin Hansal (1823—1885), der an der Seite
Gordons im Januar 1885 beim Fall Khartums ums Leben kam, in wechselnder Zu-
sammensetzung nicht nur seit 1863 für sein Land, sondern zeitweise auch für Frank-
reich, Italien, England, Deutschland, Rußland und Griechenland die Konsulatange-
legenheiten erledigt und daneben noch eigene Geschäfte betrieben. (Akten des Haus-,
Hof- und Staatsarchivs Wien; Personalia 124 F 4 Hansal.) Rosset war demnach
keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Vor ihm, gleichzeitig mit ihm und nach ihm
amtierten in den verschiedenen Konsulaten Männer, die sich nicht nur erfolgreich
kommerziell betätigten, sondern z. T. auch unbestreitbare wissenschaftliche Verdienste
um die Erforschung des Sudans erwarben.
Rosset hat bereits in den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Khartum die Be-
kanntschaft mit berühmten Forschern gemacht: mit Schweinfurth, Nachtigal, Junker
u. a. Er gewann auch das Vertrauen des für die geschichtlichen Ereignisse der folgenden
Jahre und für sein eigenes Schicksal so bedeutsamen Engländers Charles Gordon. Als
dieser 1874—1876 Generalgouverneur der Äquatorialprovinz mit Sitz in Lado war,
erledigte Rosset — nach Hill — als sein Beauftragter und Bevollmächtigter seine
Angelegenheiten in Khartum. Als Gordon dann von 1877 an als Generalgouverneur
den gesamten Sudan regierte, diente ihm Rosset, der ja zugleich britischer Vizekonsul
Eine alte ethnographische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg
139
war, auch als Privatsekretär. Im November des gleichen Jahres reiste er im Aufträge
Gordons ein zweites Mal nach Faschoda, der später durch den Fiöhepunkt der fran-
zösisch-britischen Kolonialrivalität bekannt gewordenen Siedlung am Weißen Nil,
welche heute wie vordem wieder Kodok heißt.
Darfur war noch ein unabhängiges Sultanat, als sich Gustav Nachtigal am Ende
seiner langen Entdeckungsreise 1874 dort aufhielt. Beim Überschreiten der Grenze zum
ägyptischen Hoheitsgebiet in Kordofan konnte er die unverhüllten militärischen Vor-
bereitungen erkennen, die auf eine Annexion Darfurs hinzielten. In der Tat wurde
es auch kurz danach von einer ägyptischen Armee erobert. Ein Tscherkesse, ein Türke
und ein Nubier hatten sich schon seit 1875 mehr oder weniger erfolglos als Statthalter
Ägyptens mit den immensen Schwierigkeiten in dem eben besetzten Lande herum-
geschlagen, bevor Gordon seinen Vertrauten Rosset auf diesen heiklen Posten beför-
derte. Die Hauptwidersacher waren für ihn wie für seinen Vorgänger und auch für
seine Nachfolger, den Italiener Messedaglia und den Österreicher Slatin, zwei mäch-
tige Interessengruppen. Die eine versuchte, die verlorengegangene Unabhängigkeit
Darfurs wieder herzustellen. An ihrer Spitze stand Harun, ein naher Verwandter des
letzten im Kampfe gefallenen Sultans, der von den ägypten-feindlichen Bevölkerungs-
teilen als legitimer Thronanwärter betrachtet wurde. Die anderen Gegner waren im
Lager der Sklavenhändler zu suchen, für die Darfur ein wichtiges Durchzugsgebiet
blieb. Die dominierende Gestalt unter diesen Menschenhändlern, Zubair Pascha, stand
zwar zu Rossets Amtszeit schon weit entfernt unter Hausarrest; sein Sohn Sulaiman
führte, obwohl zeitweise in offizielle Funktionen übernommen, insgeheim aber die
düsteren Geschäfte weiter bzw. duldete sie bei Freunden.
Die Zustände in Darfur waren in Khartum hinreichend bekannt. Rosset wußte
bestimmt, welche Schwierigkeiten ihn erwarteten. Er ließ seine Frau, Tochter eines
aus Malta stammenden Kaufmannes. (Junker 1889: 1/569—579) und ein kleines Kind
in Khartum zurück. Am 18. Juli 1878 brach er nach Westen auf; 45 Tage saß er im
Sattel, bis er seine neue Residenz in el-Fascher erreichte. Im September und Oktober
unternahm er mehrere Inspektionstouren, die zweifellos seinen örtlichen Opponenten
auf die Nerven gegangen sind. Es ist nicht auszuschließen, daß die Gegenseite schon
bald plante, ihn aus dem Wege zu räumen. So hat sich hartnäckig der Verdacht er-
halten, er sei in el-Fascher vergiftet worden. Junker und Buchta (1888: 77) äußerten
ihn sofort, sein jüngerer Bruder noch Jahrzehnte später. Der österreichische Konsul
Hansal, der die Nachlaßangelegenheiten mit dem Vater abwickelte, weil der im
deutschen Konsulat nachgefolgte syrische Christ wegen finanzieller Verbindungen zu
dem Verstorbenen als befangen galt, übernahm dagegen die Aussagen von Rossets
Dienern, wonach jener „einer heftigen Dysenterie“ am 13. November 1878 erlegen sei.
Auch in dem letzten Brief an die Eltern schildert er seine immer schlechter werdende
Gesundheit, was die HANSALSche Annahme bestätigen würde.
Beide Rossets unterhielten in Khartum enge Beziehungen zu deutschsprachigen
Landsleuten und auch zu anderen Europäern. Weihnachten 1875 feierten die Brüder
im Hause Hansals zusammen mit Rudolf Slatin, Karl Giegler und Eduard Schnit-
zer, genannt Emin. Den drei Letztgenannten wurde später ebenso wie dem älteren
Rosset der Pascharang verliehen, und Slatin folgte später den Spuren in Darfur.
140
Rolf Herzog
Auch über eine der Sammelreisen ist Genaues zu ermitteln. Im Sommer 1876 fuhren
die Brüder zusammen mit Gessi und dem Afrikaforscher Wilhelm Junker den Blauen
Nil aufwärts bis oberhalb von Sennar, um geeignete Vorkommen von Bauholz für
Nilschiffe zu erkunden. Hierbei sind wesentliche Teile der ethnographischen Samm-
lungen angelegt worden. Abgesehen davon, daß um diese Zeit im Sudan ohnehin noch
keine Souvenirproduktion angelaufen war, sorgte die Zusammensetzung dieser Unter-
nehmung aus Männern, die schon jahrelang im Lande lebten und gute Kenntnis der
materiellen Kultur hatten, für eine Auswahl nur solider Stücke.
Einige Angaben mögen auch noch den zweiten Sammler, den jüngeren Rosset,
charakterisieren. Er hat sich von 1873—1876 im Sudan aufgehalten und auch zu Zeiten,
da sein älterer Bruder durch Geschäfte in Khartum festgehalten wurde, verschiedene
Reisen unternommen: Nach seinen eigenen Angaben den Weißen Nil aufwärts bis in
das Tropengebiet, was wohl so zu verstehen ist, daß er mindestens bis in den Bereich
der großen Nilsümpfe gelangt ist. Carl Rosset ist Ende 1876 über Ägypten nach
Europa zurückgekehrt, also noch bevor sein älterer Bruder Friedrich die für ihn so
verhängnisvolle Beförderung zum Gouverneur von Darfur erhielt. Er schenkte dem
gleich zu beschreibenden Freiburger Universitätsmuseum verschiedene Ethnographika
aus dem Sudan. Mit Riebeck und Mook zusammen trat Rosset 1880 eine Expedition
an, die um die ganze Welt geplant, aber von Rückschlägen überschattet war. Mook
ertrank im Jordan. Den Überlebenden schloß sich für einige Wochen Schweinfurth
an, um gemeinsam die dem afrikanischen Osthorn vorgelagerte Insel Sokotra aufzu-
suchen. Riebeck, der übrigens in Freiburg studiert hatte, und Rosset bereisten danach
Indien, Ceylon, Assam, Burma, Thailand und Java. Nach drei Jahren kehrte die
Expedition zurück; ihre Sammlungen (fast 3000 Stücke) gelangten in das Berliner
Völkerkundemuseum, für das Rosset allein 1887/88 nochmals auf den Malediven,
in Kambodscha und Vietnam sammelte (Hopfner 1973: 314—316). Seine fünfte und
letzte Reise in fremde Erdteile führte ihn 1893 nach Nordamerika, wo er unter ande-
rem Vorträge über Südasien hielt und auf der Weltausstellung in Chicago eine Aus-
wahl von Ethnographika der Riebeckschen Expedition, wohl auch von seinen anderen
Reisen, den amerikanischen Interessenten zeigte. Kurz vor Ausbruch des 1. Welt-
krieges ließ sich Rosset in Duderstadt nieder, wo er am 18. Juni 1923 starb.
Was hat die Brüder Rosset wohl bewogen, dem noch kleinen und kaum zahlungs-
fähigen Freiburger Universitätsmuseum so beachtliche Kollektionen sudanischer Ethno-
graphika zu schenken? Neben Heimatverbundenheit waren es verwandtschaftliche
Beziehungen, die mitgesprochen haben. Ursprünglich hatte der ältere Rosset an einen
Verkauf gedacht. Das geht eindeutig aus einem Brief seines Vorgesetzten, des General-
konsuls Travers in Kairo, an den berühmten Berliner Ägyptologen Lepsius vom
März 1878 hervor (Archiv des Berliner Museums für Völkerkunde Nr. 785/78). Durch
die Beförderung schien vielleicht die finanzielle Seite nicht mehr so wichtig, und er
fürchtete wohl auch, die Sammlung könnte bei längerer Abwesenheit Schaden erleiden.
Aus diesen Gründen wartete er die Antwort aus Berlin gar nicht erst ab, sondern ver-
machte alles unentgeltlich der Universität seiner Heimatstadt.
Mit den Rossets verwandt war Leopold Heinrich Fischer, geb. 19. Dezember 1817
in Freiburg, gest. 1. Februar 1886 ebenda. Fischer war zunächst Arzt geworden, hatte
Eine alte ethnographische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg
141
mit einer zoologischen Dissertation zum Dr. med. promoviert, bliebt indessen von die-
sem Beruf unbefriedigt und wandte sich bald ausschließlich den Naturwissenschaften
zu. Er habilitierte sich 1845 für Zoologie und Mineralogie, las über 80 Semester in
Freiburg und spielte in der akademischen Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. Drei
Amtsperioden war er Prorektor; Rektor war damals der Landesherr, der sich kaum
um Einzelheiten kümmerte. Fischers Verdienste in seiner Hauptfachrichtung Minera-
logie sollen hier nur in einem Ausschnitt gestreift werden: 1874 wandte er sich einem
Thema zu, das ihn nahe an die Völkerkunde brachte. Vor der Berliner Gesellschaft
für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte hielt er im fünften Jahr ihres Be-
stehens einen Vortrag „Über die Nephritfrage vom archäologisch-ethnographischen
Standpunkte“ (Zeitschrift für Ethnologie Bd. 7, 48—50, 71—76; Bd. 14, 166—168;
Bd. 16, 197—200). Er publizierte über die mineralogischen Eigenschaften und die viel-
seitige Verwendung von Nephrit und Jadeit. Persönlichkeiten in aller Welt schrieb er
an, um Belegstücke zu erbitten, was auch zu einer recht ansehnlichen Sammlung führte.
Fischer galt in seinem letzten Lebensjahrzehnt als Autorität auf diesem Spezialgebiet.
Nicht erst an der Gesteinssammlung zeigte sich seine museale Neigung. Schon vor-
dem förderte er mit vollem persönlichen Einsatz und auch kraft Amtes das Entstehen
verschiedener Schau- und Lehrsammlungen der Universität, die damals alle Museum
genannt wurden, obwohl dieses Etikett nach heutigem Maßstab etwas hoch gegriffen
sein mag. Wir sind verhältnismäßig gut über die Entwicklungen der Freiburger Uni-
versitätsmuseen, sprich Sammlungen, informiert, weil sie Fischer jeweils zum Thema
seiner Rektoratsreden bei den Feiern zum Geburtstag des Großherzogs von Baden
machte, zu denen damals der akademische Senat alle Studenten und Dozenten der
Universität Freiburg einzuladen hatte. Fischer belehrte dieses durch örtliche Hono-
ratioren erweiterte Auditorium 1866 über das mineralogisch-geologische, 1870 über das
zoologische und 1875 über das urgeschichtlich-ethnographische Museum. Daneben
bestand schon seit 1839 eine Münzsammlung und eine solche von Gipsabgüssen antiker
Kunstwerke. Im ,Academischen Adreßbuch' für das Wintersemester 1866/67 wird
erstmals eine archäologisch-ethnographische Sammlung aufgeführt, deren Leitung in
den Händen der Professoren Ecker und v. Kern lag.
Basis dieser Lehrsammlung war wohl die Schenkung von Alexander Ecker (geb.
1816 in Freiburg, gest. 1887 ebenda), der der Universität seine Privatsammlung ver-
machte, in der sich prähistorisches Fundgut aus Pfahlbauten am Bodensee, Bronze-
geräte, alte Waffen und anderes befanden. Ecker, Professor der Anatomie, nimmt in
der Wissenschaftsgeschichte der physischen Anthropologie einen beachtlichen Rang ein
(Foerster, Gerhardt). Schon 1850 hatte er begonnen, Schädel fremder Rassen für
kraniometrische Untersuchungen zu erwerben. Von 1859 an wurde diese anthropolo-
gische Sammlung mit Mitteln der Universität aufgebaut. Ein wichtiger Zugang war die
,Collectioc seines aus Sigmaringen stammenden Schülers Theodor Bilharz (1825 bis
1862), dessen Name noch heute mit einer weitverbreiteten Wurmkrankheit in Afrika
verbunden ist. Dieser hatte während der zehn Jahre seines Wirkens in Kairo Skelette
und Schädel mit genauen Herkunftsangaben gesammelt. 1872 zählte diese anthro-
pologische Lehrsammlung schon 388 Nummern. Nach dem Tode des Historikers
v. Kern wählte man 1874 Fischer zum Mitdirektor dieser Universitätseinrichtung.
142
Rolf Herzog
Ein von Ecker zur Unterstützung der Freiburger Universität, nicht zuletzt mit Blick
auf die spürbare Konkurrenz der neugeschaffenen und finanziell beneidenswert aus-
gestatteten Reichsuniversität Straßburg, gegründeter Förderverein (Academische Ge-
sellschaft) gewährte bald auch dem ethnographischen Museum Zuschüsse, z. B. zum
Ankauf ,eines goldenen Idols aus Mexiko'. Aus Afrika besaß man bis dahin vorwie-
gend Stücke aus Ägypten, darunter altägyptische von Mook, und weniges von den
Kabylen.
Fischer nahm seine Mitverantwortung für das Universitätsmuseum sehr ernst.
Er trat an die Brüder Rosset, seine Verwandten, heran, um mit deren Hilfe den noch
keineswegs eindrucksvollen Bestand an Sammlungsstücken aus Afrika zu vermehren.
Der jüngere brachte ihm 1877 einiges mit, der ältere hatte offenbar eine größere Sen-
dung in Aussicht gestellt, für welche die Universität die Transportkosten zu über-
nehmen bereit war. Über die spätere Abwicklung dieser finanziellen Verpflichtungen
gibt es ausreichend Akten. Kurz vor Antritt seiner so verhängnisvollen Reise nach
Darfur übergab Friedrich Rosset im Juli 1878 sechs Kisten und einen Packen Speere
in Khartum der gleichen Spedition, die eine fünfmal größere Sammlung Junkers nach
Petersburg und zum kleinen Teil nach Berlin übernahm. Sie ließ alles auf einer Nil-
barke bis Berber, dann auf dem Landwege als Kamellast bis zum Hafen Suakin am
Roten Meer und von dort auf dem Seewege durch den Suezkanal nach Marseille be-
fördern (Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Freiburg; Geologenarchiv
Nr. 9093—9097 und 17 635—17 637). Im Oktober 1878 wurden die Kisten bereits in
Freiburg ausgepackt. Fischer beaufsichtigte neben Ecker die weitere Behandlung der
Stücke, von denen die Speere und Lanzen offensichtlich im Regen etwas rostig gewor-
den waren. Fischer und Ecker bewerteten in einer Eingabe an die ,Academische Wirt-
schaftsdeputation' der Universität Freiburg vom 26. 12. 1879 (Universitäts-Archiv
Freiburg; Reg.-Akten XVI 3/8) den Erwerb mit folgenden Sätzen: „Ein kurzer Ein-
blick ln die jetzt vollständig geordnete Sammlung von F. Rosset, welche allein einen
ganzen Saal füllt, dürfte beweisen, daß diese Ausgaben dringlich waren. Es sind dies
alles Gegenstände, welche mit dem immer weiter schreitenden Aussterben der ursprüng-
lichen Culturzustände afrikanischer Völker täglich an Wert steigen." Fischer charak-
terisierte den Zugang (1885: 183) als „eine große in Chartum angelegte und die be-
nachbarten Völkerschaften repräsentierende Collcktion — das Ergebnis zehnjährigen
Sammelns — von Lanzen, Waffen aller anderen Art, Schmuck, Kleidungsstücke, Mu-
sikinstrumente, Schilder aus Nilpferdhaut“. Er wirft hier, wie an anderer Stelle, die
Bezeichnungen Lanze und Speer durcheinander.
Die sehr ausführliche Berichterstattung der Freiburger Lokalzeitung (1879) enthält
viele Angaben. Die Sendung umfaßte neben Waffen aller Art noch Werkzeuge, Haus-
rat, Kleidung, Schmuck, Musikinstrumente und einige Schädel. Sie stammten von fol-
genden Ethnien: Schilluk und Dinka (beide Niloten), Bongo-Mittu, Bari und Njang-
bara (beide Nilohamiten), Azande, Mangbetu, Madi, Njoro und Pygmäen. Rosset
verwendete in einigen Fällen inzwischen völlig veraltete Termini, so für die Azande
Niam-Niam und für die Pygmäen das Azande-Wort TIkitiki, das heute wohl nur noch
diejenigen richtig einordnen, die Schweinfurth (1922: 370) peinlich genau durch-
arbeiten.
Eine alte ethnographische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg
143
Nach Fischers Tode und Eckers seit 1881 sehr schlechtem Gesundheitszustand
mußte die Leitung des Museums neu geordnet werden. An die Stelle des bis dahin mit
starkem persönlichem Interesse so erfolgreich wirkenden Gespanns Ecker-Fischer
traten nun der Geologe Steinmann und der Anatom Wiedersheim, Schüler und Nach-
folger Eckers. Letzterer fühlte sich aber durch andere Verpflichtungen so stark in
Anspruch genommen, daß er in einer Eingabe an den Senat der Universität Freiburg
vom 1. Juni 1886 (Universitätsarchiv wie oben) darum bat, Steinmann allein die Lei-
tung des Museums für Urgeschichte und Ethnographie (so lauteten auch die Briefköpfe)
zu übertragen und jenem zur Entlastung einen Konservator beizuordnen. Für diese
Stellung schlug Wiedersheim, auch im Namen von Ecker und Steinmann, den Dr.
phil. Otto Schoetensack vor. „Letzterer war im Laufe der letzten Jahre im mineralo-
gischen Institut unserer Hochschule praktisch tätig und fungierte sozusagen als Volon-
rär-Assistent des Hofrats Fischer, namentlich auch bei Verwaltung der ethnologischen
Sammlung. Infolge dieses Umstandes ist er mit allen Einzelheiten derselben aufs beste
vertraut. . . widmete er sich, in der oben erwähnten Stellung zu Fischer, einem lange
gehegten Wunsche folgend, ausschließlich mineralogischen und ethnologischen Studien
und promovierte letztes Jahr in den beiden genannten Fächern.“ Schoetensack ist
möglicherweise der erste Kandidat gewesen, der in Freiburg mit einer Fächerkombina-
tion, die Völkerkunde einschloß, 1885 das Examen bestand. Seine Dissertation wurde
in der Zeitschrift für Ethnologie (Bd. 17) veröffentlicht, und er hat auch Virchow
verschiedene Informationen über Steinbeile zukommen lassen. Otto Schoetensack
(1850—1912) stammte aus Stendal, er habilitierte sich später in Heidelberg für
Mineralogie. Man darf wohl vermuten, er habe den ebenfalls aus Stendal stammenden
Ernst Grosse (1861 —1927) auf die guten Voraussetzungen, welche die Freiburger
Universität zu dieser Zeit der Völkerkunde bot, aufmerksam gemacht. Schoetensacks
Lehrer Fischer hielt im Sommersemester 1884 eine öffentliche Vorlesung über Prä-
historie und Ethnographie, die sehr gut besucht war. Andere Professoren lasen ebenfalls
über Völkerkunde, so der Philosoph Aloys Riehl, der wesentlichen Anteil an Grosses
Habilitation 1889 hatte. Grosse wurde damit der erste Freiburger Dozent, der völker-
kundliche Vorlesungen und Übungen regelmäßig ankündigte.
Während Schoetensack und nach ihm Grosse die auch der Öffentlichkeit zu-
gängige Universitätssammlung betreuten und in die Lehrveranstaltungen einbauten,
entwickelte sich das städtische Museum weiter. Zwei Männer regten 1895 im Stadtrat
die Gründung eines ,Städtischen Museums für Natur- und Völkerkunde' an: der
damalige Privatdozent der Zoologie Adolf Fritze (geb. 1864 in Bremen, gest. 1927 in
Hannover), ein Wissenschaftler mit Erfahrung in Ostasien, und der Stadtrat Hugo
Ficke (geb. 1840 in Hamburg, gest. 1912 in Rangoon), der sich mit ganzer Energie
für den völkerkundlichen Sektor einsetzte. 1899 wurde dieses neue Museum eingeweiht
(Schnetter 1957). Ficke verstand es, von Verwaltungsbeamten, Seeleuten oder
Schutztruppen-Offizieren Stücke aus den damaligen deutschen Kolonien nach Freiburg
zu bekommen (Schroth 1962). Die Anordnung des Bundesrates von 1889, wonach alle
von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes in den Kolonien angelegten Sammlungen
zunächst dem Berliner Museum als Zentralinstanz zuzuleiten seien (vgl. Krieger 1973:
114, Westphal-Hellbusch 1973:16), scheint ihn dabei so wenig beeindruckt zu
haben wie den Grafen Linden in Stuttgart (Kussmaul 1975: 24). Das rasch wachsende
144
Rolf Herzog
städtische Museum zog nach der Zahl der Stücke schon bald mit der etwas stagnieren-
den Universitätssammlung gleich.
Als Grosse kurz nach der Jahrhundertwende einen mehrjährigen Aufenthalt in Ost-
asien plante, erhob sich die Frage nach dem weiteren Schicksal der Universitätseinrich-
tung. Gelöst wurde das Problem zur allseitigen Zufriedenheit durch einen Vertrag, den
die Stadt Freiburg mit der Universität im August 1904 schloß. Danach wurden die
beiden enthnographischen Sammlungen vereinigt und künftig von der Stadt verwaltet,
ohne daß die Universität ihr Eigentumsrecht aufgab.
Die Inventare, welche bei der Fusion angefertigt wurden, führen zwar den alten
Universitätsbestand insgesamt, nicht aber die RossExsche Sammlung speziell auf. Da es
einerseits ein altes Universitätsverzeichnis (Universitäts-Archiv Freiburg), ohne ein
einziges Stück aus dem Sudan, weiter die erwähnten Pressemeldungen gibt, anderer-
seits die Erwerbungen in der Ära Ficke aktenkundig sind, läßt sich noch mit hoher
Wahrscheinlichkeit erschließen, was von den Rossets in das nun vereinigte Freiburger
Museum (1904) gelangte.
Ficke hatte 1900 bei einer seiner Reisen, die er sich als wohlhabender Mann leisten
konnte, in Aswan reichlich für das Museum eingekauft, darunter aber keine Glanz-
stücke, die sich aus dem damals schon florierenden Angebot für Touristen vorteilhaft
heraushöben.
Ein Rabat, d. h. ein schon eingangs erwähnter Lederfransenschurz für Mädchen,
gehörte zur RossET-Kollektion (jetzige Inv.-Nr. 1-905). Drei längere Schnüre enden
in Quasten, die mit alten Steinperlen recht ansprechend verziert sind. Die Ethnie, aus
der er stammt, ist leider nicht vermerkt.
Bemerkenswert sind Elfenbeinarmringe vom oberen Nil. Die Stücke tragen die
Nr. 472/472 c des alten Universitätsinventars, jetzt die Nr. 1/4 und 1/1077 ('s, Abb.
1 u. 2). Über solchen von den männlichen Niloten getragenen Schmuck gibt es in der
Literatur genug Beobachtungen und Bildbelege: Schweinfurth (1922: 51, 77, 79)
hatte sie 1870 mehrfach bei Schilluk und Dinka notiert. Von den letzteren berichtete
er: „Die Lieblingszierde der Männer sind Elfenbeinringe von gewaltiger Massivität, die
am Oberarm getragen werden.“ Auch in seinen ,Artes Africanae‘ stellt er sie auf den
Tafeln I und II dar und erläuterte: „Bei den Djur, Schilluk, Nuer und Dinka viel in
Abb. 2 Elfenbeinarm-
ring, oberer Nil. 1U077.
gungsart (1925: 107). Hofmayrs Stammesmonographie der Schilluk (1925: 350)
schränkt schon ein: „Heutzutage sind Elfenbeinarmringe selten, und künden . . . den
Stand eines Hochzeiters an.“ Ähnlich war bei den Nuern nach Huffman (1931: 6) die-
ses Zeichen allgemein: „ . . . when three ivory armlets are worn it is a sure indication
that the man is to be married in the immediate future.“ Paldi fotografierte nur wenig
später in Tonga am Bahr el-Ghazal einen jungen Schilluk mit einem solchen begehrten
Armring (1927, Tafel 23). Seligman (1923: 17) rubrizierte die Elfenbeinarmringe in
seiner tabellarischen Übersicht des Kulturbesitzes einiger Ethnien im Südsudan. Danach
fehlen sie bei den Nilohamiten, den Bergnuba und Fundj, sind dagegen allen Niloten
eigen: „Ivory bracelets worn above the biceps; smaller ones at wrists.“
Abb. 3 Blashorn aus
Elfenbein, Mangbetu.
1/717.
146
Rolf Herzog
und Frauen im Gebrauch sah. Zu den Mangbetu gehört ein elfenbeinernes Horn von
80 cm Länge (1/717) mit seitlich angebrachtem Mundloch (Ahb. 3). Von den Bari
stammt ein Behang zum Frauenschurz (Ahb. 4) aus Leder mit Eisenbesatz (1/1109).
Weiter gehört ein Bett- oder Sitzgestell von den Azande (1/164) dazu, das häufig mit
der arabischen Bezeichnung Angareb beschrieben wird. Es ist von Nubien bis ins obere
Nilgebiet weit verbreitet, kam mit gleichen Konstruktionsmerkmalen schon im alten
Ägypten vor, und wurde von Schweinfurth (1922:279) gezeichnet. Von den Mitu
(1/939) wurde ein Saiteninstrument gleichfalls genau von ihm belegt (Schweinfurth
1922: 215).
Abb. 4 Behang zu einem Frauenschurz,
Bari. 1/1109.
Die Schenkung Rossets war in Teilen so reichlich ausgefallen, daß die beiden
Direktoren des ethnographischen Universitätsmuseums, Ecker und Fischer, Dubletten
anderen Museen zum Kauf anboten. Davon haben 1880 die Museen von Berlin, Kopen-
hagen, München, Karlsruhe und Dresden Gebrauch gemacht. Die dadurch eingehenden
Beträge wurden in anerkennenswert menschlicher Weise von den beiden der Verwal-
tung abgetrotzt, um sie der verwaisten Tochter Rossets aus 1. Ehe als einmalige Zu-
wendung zu übergeben.
Literaturverzeichnis
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Ludwigs-Hochschule in Freiburg. Freiburg 1875.
Eine alte ethnographische Sammlung aus dem Sudan in Freiburg
147
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Berlin 1876.
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schrift für Ethnologie, Bd. 17. Berlin 1885.
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Schroth, Inge: Hundert Jahre »Städtische Sammlungen'. In: Freiburger Almanach
1962.
Schweinfurth, Georg: Artes Africanae. Leipzig 1875.
Ders.: Im Herzen von Afrika, 4. Aufl. Leipzig 1922.
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Westermann, Diedrich: The Shilluk People. Philadelphia 1912.
Westphal-Hellbusch, Sigrid: Zur Geschichte des Museums für Völkerkunde Berlin.
In: Baessler-Archiv N. F. Bd. 21. Berlin 1973.
Hans Himmelheber
Verwandtschaftsverhältnisse bei westafrikanischen Masken
In einem Aufsatz in der „Zeitschrift für Ethnologie“ (1972, Bd. 97, S. 115—122)
habe ich gezeigt, daß bei einer Reihe von Stämmen der Elfenbeinküste und Liberias
den Masken im allgemeinen ein bestimmtes Geschlecht zukommt, und daß das auch
äußerlich zu erkennen ist, insbesondere an der Form der Augen. Männliche Masken
haben runde, manchmal zylinderförmig vorspringende Augen, weibliche hingegen
Schlitzaugen. (Die weiblichen Masken werden stets auch von Männern getragen.)
Diese Masken gehören oft paarweise zusammen — sie bilden ein Ehepaar. Zu einer
bestimmten männlichen Maske gehört also eine bestimmte weibliche Maske. Eine weib-
liche Maske erhält mitunter erst dadurch ihren Sinn, daß sie die Frau einer bestimm-
ten männlichen Maske ist. Das schließt jedoch nicht aus, daß diese weibliche Maske
ganz besondere Funktionen haben kann, die sie unabhängig von der männlichen Maske
wahrnimmt.
1. Beispiel:
Die männliche Maske des großen Buschgeistes Niamu der Mande-fu-Völker Guerze
(= Kpelle), Mano und Konor hat zwei Frauen. Die männliche Maske hat eine vor-
springende Nase und runde, zylinderförmig vorstehende Augen, die weiblichen sind
Frauengesichter von ebenmäßiger Schönheit (Abb. 1). Zusammen stehen sie dem Busch-
lager der Knaben vor, haben dort aber ganz verschiedene Funktionen. Niamu ver-
schluckt die Knaben zu Beginn der Initiation und gebiert sie an deren Ende wieder
(Schwab 1947, S. 284). Er zeigt sich nur sehr selten. Die weiblichen Masken hingegen
sind ständig im Buschlager anwesend und kommen auch täglich ins Dorf. Ihre Auf-
gabe ist es, die Knaben zu erziehen, sie auf ihren Jagd-Exkursionen in den Busch zu
führen und dabei Frauen und andere Nicht-Initiierte durch Schreie vor dem ver-
botenen Anblick der Frisch-Beschnittenen zu warnen, und Verbindung mit dem Dorf
zu halten. Eine der beiden Masken, die besonders schön mit einem Diadem von Glas-
perlen und Kaurischnecken geschmückt ist, erbittet von den Müttern Lebensmittel, die
andere geleitet des abends die Knaben vom Busch zu ihrer Schlafhütte, die am Rande
des Dorfes steht, und warnt dabei wieder Frauen und Kinder. Bei der Entlassung führt
die schönere Maske die Prozession der Knaben an und verkündet den Müttern, deren
Söhne im Lager gestorben sind, die traurige Botschaft (Himmelheber 1960 b, S. 38.
Holas beschreibt in seinem Buch über die Masken der Kono vier zusammengehörende
männliche und weibliche Masken von dieser Stammesgruppe, Harley in „Masks as
agents of social control“ deren drei.)
150
Hans Himmelheber
Ahh. 1 Masken-Ehepaar der Konor, links die männliche, rechts die weibliche Maske
(Aus: Holas 1952, Fig. 6, 7).
2. Beispiel:
Bei den Senufo an der nördlichen Elfenbeinküste gibt es eine berühmte Tanzmaske
„Kpelie“. Ich habe diese schon früher nach ihrer Frisur und ihrer Augenform als weib-
liche Maske erkannt und beschrieben (1965), obgleich mir von den Senufo versichert
worden war, sie sei männlich. Nun gibt es diese Maske mit demselben Gesicht, aber
behängt mit Duikerhörnchen, die als Behälter für Zaubersubstanzen auf kultische
Eigenschaften der Maske hinweisen (Abb. 2 rechts). Man hatte mir früher immer nur
gesagt, diese Maske sei „für den heiligen Wald“. Auf meiner vorletzten Reise nun
stellte sich heraus, daß diese Maske die Frau von Korubla, der größten Maske des
Poro-Bundes der Kaste der Schmiede bei der Senufo-Untergruppe Kiembara ist (Abb. 2
links). Sie wird deshalb neben ihrem Eigennamen Korugo auch einfach Korubla-dja,
Frau des Korubla, genannt (Himmelheber 1974, S. 144/6). Die beiden Masken, die
männliche Korubla und die weibliche Korugo, haben in ihrem Aussehen nicht die
geringste Ähnlichkeit. Korugo ist, wie gesagt, ein weibliches Gesicht, Korubla ein ge-
waltiger Tierkopf; Korugo wird senkrecht vor das Gesicht gesetzt, Korubla waagrecht
über den Kopf gestülpt. In Himmelheber 1974, S. 144, erwähne ich ein weiteres
Maskenpaar der Senufo, Nifri Gi und Nifri-dja, das aber Masken aus Stoff, nicht aus
Holz trägt.
Verwandtschaftsverhältnisse bei westafrikanischen Masken
151
Ahb. 2 Masken-Ehepaar der Senufo. Links die männliche Korubla, rechts ihre Gattin
Korugo. (Die weibliche Maske aus: Goldwater 1964, Abb. 22.)
3. Beispiel:
Bei den Gere der Elfenbeinküste findet sich ein weiteres Masken-Ehepaar, wenn
auch in etwas lockerer Bindung als die beiden bisher beschriebenen. Die Gere haben
Masken, die uralte Wesen aus dem Busch verkörpern. Sie haben keine eigentliche
Funktion und treten nur selten, ein- bis zweimal in einer Generation, in Erscheinung.
Ihr Auftreten bedeutet eine Art Segen von seiten der übersinnlichen Mächte des Wal-
des, ein Zeichen dafür, daß die Welt in Ordnung ist, daß die Menschen sich nicht mit
der Natur in Widerspruch gesetzt haben. Diese großen Masken sind als Andeutung
ihrer friedevollen Einstellung zu den Menschen von weißer Farbe, tragen einen Kopf-
schmuck von weißen Federn, um die ein weißes Tuch gewunden ist, und alle ihre Be-
gleiter müssen sich weiß gewanden. Eine solche große Maske wird von weiblichen Mas-
ken begleitet; meist sind es ihrer zwei. Sie sind deutlich als weibliche Wesen zu er-
kennen an den für die Frauen der Gere typischen Gesichtstätowierungen auf Stirn und
Wangen (Himmelheber 1963, Abb. 2, 3) und manchmal ist ihnen auch eine Frauen-
frisur aus zwei hochstehenden Zöpfchen angeschnitzt (Himmelheber 1963, Abb. 6, 8).
Man sieht diese weiblichen Masken mitten im Gefolge der großen weißen Maske lang-
sam einherschreiten, so wie auch ein Häuptling bei diesem Stamm, wenn er auf
Reisen geht, seine hübscheste junge Frau als „Reisefrau“ mitgehen läßt (Abb. 3). Eine
besondere Tätigkeit über die weiblichen Masken bei diesen Auftritten nicht aus. Sie
sind zu dieser Rolle nur gleichsam delegiert, denn die eigentliche Aufgabe der weib-
lichen Masken ist bei den Gere das Singen, im Gegensatz zu den stets männlichen Tanz-
masken.
152 Hans Himmelheber
4. Beispiel:
Bei den Guro konnte ich auf meiner letzten Reise 1975 zwei eigentümliche Paare
feststellen; Zu der berühmten Zamle-Antilopenmaske (Abb. 4 rechts) gehört als ihre
Frau „zamle-gu“, eine Maske mit einem Menschengesicht (Abb. 4 links). Es ist jene
bekannte Guro-Maske, die obenauf fünf oder mehr parallele kurze Stangen oder
Spieße hat. Sie zeigt nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Antilopenkopf der
männlichen Maske Zamle-bi. Diese weibliche Maske darf aber nicht zusammen mit
ihrem Zamle-Gatten auftreten, sondern stets erst am folgenden Tag. Als Begründung
wurde mir angegeben, daß sie ein anderes Orchester benötige. Mir scheint diese
Trennung eher darin begründet, daß die männliche Zamle-Maske von den Frauen
nicht gesehen werden darf, während die Frauen beim Auftritt von Zamle-gu zu-
schauen dürfen. Das ganz verschiedene Aussehen — Tiermaske und Menschenmaske
wie bei den Senufo-Masken Korubla und Korugo —, das Auftreten an verschiedenen
Tagen, mit verschiedenem Orchester, unter Ausschluß oder unter Zulassung der Frauen,
würde den normalen Beobachter nie vermuten lassen, daß diese beiden Masken als
Ehepaar zusammen gehören.
Abb. 3 Große Maske der
Gere (sitzend). Im Hin-
tergrund stehend und
rechts sitzend drei weib-
liche Masken, welche die
große Maske als deren
„Reisefrauen“ begleiten.
Abb. 4 Das Masken-Ehe-
paar Zamle-bi und Zam-
le-gu der Guro. Die bei-
den Masken zeigen sich
hier ausnahmsweise zu-
sammen.
Verwandtschaftsverhältnisse bei westafrikanischen Masken
153
5. Beispiel:
Einen seltsamen Fall von Verwandtschaft zwischen einer männlichen und weib-
lichen Maske bilden die beiden Zauli-Masken der Guro. Die männliche Zauli-Maske
gibt es nicht mehr. Sie wurde mir als „häßlich“ beschrieben, „mit großen Pausbacken,
und sie war böse: sie jagte die Leute im Dorf umher“. Ohne Zweifel eine Maske, wie
es sie heute noch bei den südlichen Dan gibt (Kagle-Maske, Himmelheber 1960 a,
S. 153 ff.). Wegen ihrer Bosheit haben die Guro sie abgeschafft. In jüngerer Zeit ist
nun im Dorf Uetafla eine weibliche Zauli-Maske „gefunden“ worden, deren Auftritte
— es sind stets mehrere Masken — sehr beliebt sind (Abb. 5) (Himmelheber 1972 b,
S. 61 ff.). Hier handelt es sich also um eine männliche und eine weibliche Maske, die
zwar verwandtschaftlich zusammengehören, aber kein Ehepaar sind.
Abb. 5 Auftritt der
weiblichen Zauli-Maske
bei den Guro.
Schließlich zeigte sich gar, daß die Masken Zamle, Zauli bi, Zauli gu und noch
eine vierte Maske, Djela, auch in vertikaler Linie, in einem Stammbaum, zusammen-
gehören. Bei der Djelamaske (Abb. 6 rechts, Abb. 7) ist auf den Antilopenkopf der
Zamle-Maske (Abb. 6 links) ein Menschengesicht gleichsam aufgepfropft. Mir lag
zunächst daran, zu erfahren, ob diese zweite Maske irgendeine besondere Beziehung
zur Zamle-Maske hat. Dabei ergab sich die erstaunliche, mir bislang ganz unbekannte
Tatsache, daß Masken untereinander in einem Abstammungsverhältnis stehen können.
Zamle selbst ist der Sohn jener häßlichen Maske Zauli-bi, die wegen ihrer Bosheit
aufgegeben wurde. Zamle hat, wie beschrieben, eine Frau, die Maske Zamle-gu (Abb. 4).
Aus dieser Ehe ging 1949 im Dorf Sirugu die Maske Djela hervor, eben jene Maske,
deren menschliches Gesicht als Zeichen ihrer Abstammung auf eine Zamle-Maske auf-
gefügt ist, oder besser, aus ihr hervorgeht, ungefähr wie ein Kind aus dem Mutter-
leib (Abb. 6, 7). Djela wiederum gebar im Dorf Uetafla die Maske Zauli gu. Auf
ihr schönes Frauengesicht wird oben eine Figur (heute auch ganze Szenen) angeschnitzt,
zum Zeichen, daß sie die Nachfahrin einer anderen Maske ist (Abb. 5).
154
Hans Himmelheber
Ahh.6 Djela-Maske der Guro (rechts). Zum Zeichen ihrer Abstammung von der
Zamle-Maske (links) zeigt sie ein Menschengesicht, das aus der tierischen Zamle-Maske
(Hörner und Tiermaul!) hervorgeht.
Abb. 7 Djela-Maske der Guro mit dem aus der tierischen Zamle-Maske hervor-
gehenden Menschengesicht.
Literatur:
Goldwater, R., 1964: Senufo Sculpture from West Africa. New York.
Harley, G. W., 1950: Masks as agents of social control in Northeast Liberia. Cam-
bridge, Mass.
Himmelheber, H., 1960 a: Negerkunst und Negerkünstler. Braunschweig.
Ders., 1960 b: Afrikanische Masken. Braunschweig.
Ders., 1963: Die Masken der Guere im Rahmen der Kunst des oberen Cavally-
Gebietes. In: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 88, S. 216—233.
Ders., 1965: Deutung bestimmter Eigenarten der Senufo-Masken. In: Baessler-Archiv.
N. F. Bd. XIII, S. 73—82.
Ders., 1972 a: Über die Gestaltung der Augen an den Bildwerken einiger westafrika-
nischer Stämme. In: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 97, S. 115—122.
Ders., 1972 b; Masken, Tänzer und Musiker der Elfenbcinküste. Göttingen (Institut
für den Wissenschaftlichen Film).
Ders., 1974: Moderne Negerkunst als Quelle für traditionelles Brauchtum. In: Tribus.
Bd. 23, S. 139—153.
Holas, B., 1952: Les Masques Kono. Paris.
Schwab, G., 1947: Tribes of the Liberian Hinterland. Cambridge, Mass.
Hans Himmelheber
Ein eigentümlicher Haarschmuck der Guro, Elfenbeinküste
In Ethnologica, N. F. 2, 1960, S. 407, habe ich kurz auf einen seltsamen Haar-
schmuck der Guro hingewiesen, der sich mitunter, wenn auch selten, an ihren Masken
und Webrollenhaltern nachgebildet findet (Abb. 4—8). Es handelt sich um drei
lederne Beutelchen, rechteckig, die auf ein Lederband aufgezogen sind (Abb. 1). Ich
hatte nach etlichen Reisen bei den Guro endlich ein solches Objekt gesehen und er-
werben können, aber ich hatte nie gesehen, wie es tatsächlich getragen wird und hatte
nicht erfahren können, ob es damit eine besondere Bewandtnis hat. Beides ist dann auf
einer Reise 1968 gelungen.
Als wir am 10. Februar 1968 im Dorf Zrazra der Guro, dem Sitz eines Kantons-
Häuptlings, eine berühmte Tänzerin filmten, erschien die junge hübsche Frau dieses
Notablen mit eben dieser Frisur (Abb. 3). Die Beutelchen faßten ihre nach oben ge-
kämmten Haare zusammen. Darunter hatte sie sich eine elfenbeinerne Nadel in die
Haare gesteckt.
Abb. 1 Lederband mit drei ledernen Beutelchen, mit dem vornehme Guro-Mädchen
an Festtagen ihre Frisur umschlingen.
Abb. 2 Das Band von hinten. Das Beutelchen links ist aufgeschnitten und zeigt Stoff-
stücke als Füllung.
156
Hans Himmclheber
Abb. 3 Vornehmes Guro-Mädchen mit dem hier beschriebenen Haar schmuck und
elfenbeinerner Haarnadel.
Abb. 4 Maske der Guro mit dem hier beschriebenen Haarschmuck.
Es wurde mir jetzt erklärt, daß der Großhäuptling selbst das Schmuckstück für
seine junge Frau angefertigt hatte. Nur die Frauen großer Häuptlinge dürfen es tragen.
Im allgemeinen wird es für die Tochter des Häuptlings hergestellt, wenn der Vater
ihr zu Ehren ein Fest gibt, damit sie einen Mann findet. Sie trägt den Schmuck dann
weiter, aber nicht jeden Tag, sondern nur, wenn sie bewundert werden will, etwa beim
Besuch eines Marktes in einer anderen Häuptlingschaft, und so auch uns zu Ehren.
Man sieht an dieser Zier, daß sie eine Prinzessin ist.
Der Schmuck heißt una saba (una = Haare, saba = schön genähte Haut). Die
Vorderseite ist aus der hübsch gemusterten, glänzenden Bauchhaut des Krokodils
gefertigt, die hintere Seite und das Band offenbar aus Antilopenleder. Vorder- und
Hinterseite sind am Rand mit einem eineinhalb Millimeter breiten Lederstreifen
kunstvoll zusammengenäht; diese Naht bildet einen wirkungsvollen dunklen Rahmen
für das gelbliche Krokodilsleder.
Die Guro sagten mir, die Beutelchen enthielten nur alte Stoffstückchen. Weil sie aber
jenen Lederbeuteln ähneln, in welche die Mohammedaner des westlichen Sudan Koran-
sprüche einnähen, wollte ich das nachprüfen und schnitt die Hinterseite eines Beutels
auf. In der Tat befanden sich darin nur zwölf fest aufeinandergepreßte Stückchen
blauen Baumwollstoffs, wie ihn die Guro selbst hersteilen (Abb. 2).
Nachbildungen dieses Schmuckstückes finden sich, wie erwähnt, ab und zu an
Masken (Abb. 4—7). Die Guro wie die ihnen benachbarten Baule stellen in ihren
Ein eigentümlicher Haarschmuck der Guro, Elfenheinküste
157
Masken bisweilen bestimmte Persönlichkeiten dar, etwa eine Sklavin, die im Dorf
dienen mußte, oder die auftretenden Masken bilden eine Familie. So kann auch eine
Prinzessin in einer Maske nachgebildet sein. An Webrollenhaltern, dem andern be-
kannten Gegenstand der Guro-Schnitzkunst, stellt man keine bestimmten Personen
dar, weil, wie mir ein Guroschnitzer sagte, man sonst dem Künstler Vorwürfe machen
würde, wenn dem Betreffenden darnach etwas zustößt. Mir ist nur eine Webrolle mit
der Beutelchen-Frisur bekannt (Abb. 8).
Die Nachbildungen dieses Schmuckstückes an den Schnitzwerken der Guro sind oft
sehr undeutlich, ja geradezu falsch. Sie bilden damit ein weiteres Beispiel für eine
Möglichkeit, die ich in einem Artikel in Tribus 23 über „Ein unzuverlässiges Kriterium
bei der Mutmaßung von Fälschungen“ beschrieben habe: Es kommt vor, daß ein
Künstler ein bestimmtes Element der materiellen Kultur seines Volkes falsch dar-
stellt; man darf also aus solchen Fehldarstellungen nicht schließen, daß es sich um
eine Fälschung handeln muß. Die in Wirklichkeit flachen Beutelchen an unserem
Guro-Kopfschmuck mögen an einer Schnitzerei rundgebogen wiedergegeben sein, wie
an der Maske (Abb. 4) oder sie zeigen irgendeine geometrische Ornamentierung, die
mit der Zeichnung der Krokodilshaut nichts gemein hat (Abb. 5, 6). Bei der Maske
(Abb. 7) sind gar alle drei Beutel in eine Ebene verlagert! Wir sind also versucht,
diese Schnitzwerke zu Fälschungen zu erklären, weil ein Guroschnitzer doch wissen
mußte, wie dieser Haarschmuck aussah. Aber eben dieser Schluß stimmt nicht: hier wie
Abb. 5 und 6 Masken der Guro. Die Beutelchen tragen ein geometrisches Ornament
statt der Zeichnung der Krokodilshaut.
158
Hans Himmelheher
Abb. 7 Die Beutelchen sind in eine Ebene nebeneinander gerückt. Vielleicht hatte
der Schnitzer den selten getragenen Haarschmuck nie gesehen.
Abb. 8 Webrollenhalter der Guro mit der „Beutelchen-Frisur“.
in anderen Beispielen, die ich im oben zitierten Artikel angeführt habe, nehmen sich
die Künstler die Freiheit, einen Teil ihres Werkes nach ihrem Belieben zu entstellen.
Das elfenbeinerne Schmuckstück, das die junge Frau unserer Abb. 3 unterhalb
der Beutelchen in die Frisur gesteckt hat, war ursprünglich ebenfalls den Prinzessinnen
Vorbehalten, weil die Zähne eines erlegten Elefanten dem Häuptling abgeliefert wer-
den mußten. Es besteht aus einer 10 cm langen Nadel, an die eine kreisrunde Scheibe
angeschnitzt ist. Als die Weißen die Regierung des Landes übernahmen, verloren die
Häuptlings das Elfenbein-Vorrecht, so daß die Nadeln alsbald auch die Köpfe schlich-
terer Mädchen zierten. Sie wurden aber schon bei meiner ersten Reise im Guro-Land
1933 nicht mehr getragen. An Masken oder andern Schnitzwerken werden sie im
Gegensatz zur Beuteichenfrisur meines Wissens nie dargestellt.
Buchbesprechungen
ALLGEMEIN
Jean Gabus:
L’Objet Témoin. Les références d’une civi-
lisation par l’objet. Neuchâtel: Ides et
Calendes. 1975. 330 S., 189 Abb., davon 40
i. Farbe, 57 Zeichn.
Die Synthese seines fruchtbaren Wirkens
als Leiter des Musée d’ethnographie in Neu-
châtel und als langjähriger Unesco-Berater für
Museumsfragen in vielen Ländern der Welt
legt Jean Gabus in seinem umfangreichen
Werk L’Objet Témoin — Das Objekt als Kul-
turdokument — vor. In reicher Aufmachung
mit hervorragenden Fotografien und Zeich-
nungen wendet sich das Buch primär in visuel-
ler Weise an ein vielschichtiges Museumspub-
likum, doch der Rückblick auf Gabus’ schöp-
ferische Versuche als Ausstellungsmacher wirkt
faszinierend und anregend auch für den Mu-
seumsethnologen. Wer strenge Regeln der Mu-
séographie und klare Rezepte erwartet, ist
positiv enttäuscht: kaleidoskopartig — mit
Bedauern vermißt man denn manchmal aus-
führlichere Angaben — geht der Autor die
bunte Reihe seiner Ausstellungen durch.
Unbeirrt von allen objektfeindlichen Ten-
denzen sieht Gabus das Objekt — ein Werk-
zeug, ein Schmuckstück, ein Keramikgefäß —
als zeichenhaftes Dokument technischer, sozia-
ler, wirtschaftlicher, religiöser Aspekte. Durch
Fotografien, Zeichnungen, Texte und Musik
eingebaut in seinen kulturellen Rahmen wird
es zum Sprecher und Vermittler Insbesondere
schriftloser Kulturen.
Auf welch künstlerisch-ästhetische und
doch ethnographisch fundierte Weise dies ge-
lingt, davon zeugen eine Reihe von Beispielen,
von denen nur zwei herausgegriffen sein sol-
len:
Mit wenigen bescheidenen Werkzeugen, mit
Fotos und Skizzen entwirft Gabus ein leben-
diges Bild der Lebensform der Karibu-Eski-
mos der Barrengrounds, bei denen er zwei
Jahre verbracht hatte. Die Objekte werden zu
sprechenden Zeugen für Umwelt, nomadische
Lebensform, für Jagd, für das geniale techni-
sche Verständnis dieser Menschen und ihre
Adaptationsfähigkeit an extreme Verhältnisse.
Als historische Dokumente aus dem west-
afrikanischen Bereich stehen die Königspaläste
von Abomey. 1962—65 wurden im Verlauf
mehrerer Feldarbeitsphasen die zum größ-
ten Teil in Ruinen liegenden, wichtigsten Bau-
ten und Punkte, die noch heute stattfindenden
Lobgesänge zu Ehren der Könige, aber auch
die Bedeutung bilderrätselartiger Darstellun-
gen auf Reliefs, Wandbehängen und Königs-
stäben (Recades) aufgenommen. Aus dem recht
ausführlich angelegten Bild- und Textmaterial
skizziert Gabus die wechselhafte Geschichte
des Königtums von 17. bis ins 20. Jahrhundert.
Doch zu welchen neuen Mitteln hat man im
Verlauf von zwanzig Jahren in Neuchâtel ge-
griffen? Zugegeben, es sind vielfach Neuerun-
gen, die manchem Museumsethnologen heute
selbstverständlich geworden sind, an deren Er-
arbeitung aber Gabus als Pionier gewirkt hat.
Mit der Umgestaltung des alten Museumsteils
(Villa James de Pury) und dem neuen Anbau
für temporäre Ausstellungen entstand wohl
das erste moderne ethnographische Museum
Europas überhaupt. Primär ging es ihm dar-
um, sich von der sterilen Kulturtempel-At-
mosphäre für eine exklusive Bildungsschicht
zu entfernen und neue Dimensionen, eine neue
Sprache zu schaffen, die den Informations-
durst des modernen, beschäftigten und unruhi-
gen Menschen befriedigen, eine Sprache, die
der Außenwelt mit ihren Plakatwänden und
Reklametexten, ihren lichterfüllten Schaufen-
stern, ihren schreienden Farben, ihrem Lärm
und Gestank standhält. Die Ausführungen
über gewählte Mittel und deren Einsatz sind
für den Museumsethnologen die anregendsten,
leider manchmal nur skizzenhaft gebliebenen
Teile dieses Werks. Vorerst haben sich die Mit-
tel einem didaktischen Gesamtplan — Gabus
nennt dies scenario — unterzuordnen, dessen
jede Ausstellung bedarf, der Vereinfachung,
Popularisierung, Schwerpunktbildung und Ab-
lauf bedeutet, ohne daß dabei der mensch-
liche Aspekt (Kommentar, Geste, Atmosphäre)
vernachlässigt wird. Durch die eingesetzten
160
Buchbesprechungen
Mittel soll ein psychologisches Klima geschaf-
fen werden, das die Fantasie des Besuchers
über das Dargebotene hinaus anregen soll.
Durch bewußtes Setzen von Licht und Farben
schafft der Gestalter eine dem Objekt entspre-
chende Stimmung und einen Raum im Sinn
von Tiefe und Erweiterung oder im Gegenteil
Intimität. Im architektonischen Bereich geht
es um die Schaffung eines logischen Ablaufs,
um die richtige Verteilung der Massen und um
Proportionen. Entscheidend für die Gestaltung
des Mobiliars ist in erster Linie die Ausstel-
lungsform: permanente Schau (musée statique)
und Wechsel- oder Wanderausstellung (musée
dynamique). Während in ersten Fall das Ob-
jekt die Einrichtung diktiert, erfordern tempo-
räre Ausstellungen ein bewegliches und viel-
seitiges, standardisiertes Mobiliarprogramm.
Größter Wert wird in Neuchâtel stets auf
die grafischen Mittel gelegt: Typografie,
technische Zeichnungen als Erläuterung, aber
auch künstlerische Zeichnungen und Malerei.
Die schöpferische Zusammenarbeit mit dem
Künstler Hans Erni, der auch die bekannte Fas-
sade des modernen Museumsanbaus gestaltet
hat, dokumentieren dessen Serie von Guaschen
und Zeichnungen mauretanischer Handwerker,
mit denen er Bewegung, Ausdruck und Gestik
herzaubert.
Den bedeutendsten Platz aber nimmt die
Fotografie ein, die das Objekt im technischen,
funktionalen, sozio-ökonomischen oder ma-
gisch-religiösen Rahmen zeigt, darüber hinaus
aber den menschlichen emotionalen Aspekt
besser zu vermitteln weiß als jegliche Worte.
Doch lassen wir Gabus in seiner vehementen
Art selber sprechen: „Remplaçons ... les
phrases et les mots par des objets, des images,
des couleurs et de la musique“ (S. 191). In die-
sem Sinn ist seine Fotoreihe „La trace de
l’enfant“ (Mauretanien) ein erschütterndes
Verhaltensdokument: Kinderspuren im Sand,
totes Rind, dem Fremden entfliehendes Kind,
Nomadenzelt, die schützende Mutter.
An verschiedenen Ausstellungsbeispielen
wird die Verwendung weiterer Mittel vorge-
legt: plastische Figuren, inkorporierte Tanz-
und Theatervorstellungen, eingefügte Musik
und gesprochene Kommentare, automatisch
wechselnde Beleuchtung, Tonbildschauen etc.
Auch von Erfahrungen mit Kommentaren auf
ausleihbaren Tonbandgeräten wird berichtet.
Daß jedoch 90°/o der Besucher Führungen
durch sorgfältig vorbereitete Studenten oder
Assistenten vorziehen, sei hier nur am Rande
vermerkt. In diesem Zusammenhang interes-
siert auch eine Analyse des Museumspubli-
kums: trotz eines Überwiegcns der kultivier-
ten Bildungsschicht sind im Musée d’ethnogra-
phie von Neuchâtel auch die mittleren Schich-
ten gut vertreten. Den Hauptanteil von über
50% machen Schulen und Lehrkörper aus. Eine
Reihe von Vorschlägen und interessanten Ver-
suchen zielen darauf ab, das Museum neuen
Besuchergruppen zu erschließen: Ausbildung
von Personal zum Abhalten von Führungen
für Gruppen mit verschiedenem Bildungsni-
veau, Vorträge, Demonstrationen und sehr
sorgfältig gestaltete Ausstellungen In Fabriken
und kleinen Gemeinden außerhalb der Stadt,
spezielle Einrichtungen für ältere Besucher.
Schade, daß das in Anmerkung 10 zu S. 20
angekündigte Kapitel „Le musée dans l’entre-
prise“ unauffindbar bleibt. Um so mehr fas-
ziniert die abschließende Darstellung von fünf
Ausstellungen ganz verschiedener Thematik:
A quoi jouent les Enfants du Monde (1959),
Parures et Bijoux dans le Monde (1961), La
Main de l’Homme (1963), Japon, Théâtre
Millénaire Vivant (1969) und Les Touaregs
(1971). Beispielhaft werden Grundthema (to-
pographie), Entstehungsgeschichte, Ablauf und
Inhalt (scénario) ausgeführt und durch einige
Bilddokumente ergänzt. Hier äußert sich am
deutlichsten das Ästhetische und Schöpferische
der von Gabus sehr persönlich geprägten Aus-
stellungen, deren Wirkung und Bedeutung
detailkritische Bemerkungen, insbesondere wo
es um die Tiefe der Verarbeitung ethnographi-
schen Materials geht, kaum schmälern können.
M. L. Nabholz-Kartaschoff
Almogaren iii :
Jahrbuch des Institutum Canarium, Hal-
lein/Austria. Graz: Akademische Druck-
u. Verlagsanstalt. 283 S.
Seit französische Anthropologen (M. H. de
Quatrefages, E. Hamy und R. Verneau) In
den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die
Ähnlichkeit von Schädeln vorspanischer Be-
wohner der Kanarischen Inseln mit dem kurz
vorher entdeckten Schädel des „Alten von
Cromagnon“ bemerkten, ist diese Erkenntnis
nicht nur von Anthropologen vieler Länder —
zuletzt von Ilse Schwidetzky — vertieft und
z. T. modifiziert worden. Es war vor allem
Buchbesprechungen
161
der österreichische Ethnologe Dominik Josef
Wölfel, der weitreichende kulturgeschicht-
liche Schlüsse darauf aufbaute, daß sich damit
die Möglichkeit zu eröffnen schien, eine „eu-
ropide“ Bevölkerung, die auf steinzeitlicher,
allenfalls frühbronzezeitlicher „Stufe“ stehen-
geblieben war, mit ethnologischen Methoden
zu beschreiben und zu untersuchen.
Da die Verwendung von ethnographischen
Analogien nicht nur in der deutschen Prähisto-
rie bis in jüngste Zeit mit dem Hinweis auf
„rassische“ oder sonstige Verschiedenheiten ab-
gelehnt oder stillschweigend ignoriert wurde,
war solches Bemühen verständlich.
Bedeutsam bleibt die vorspanische Besied-
lung der Kanarischen Inseln freilich auch dann,
wenn man ihre „steinzeitliche“ Kultur für
sekundär ansieht und manche Sonderformen
darauf zurückführt, daß sie von Bevölkerungs-
wellen entwickelt wurden, die mangels geeig-
neter Erze auf Stein zurückgreifen mußten.
Auch die Drehmühlenfunde weisen auf Ver-
bindungen hin, die frühestens karthagisch sein
können, wahrscheinlich aber später auf die
Inseln gelangten — vielleicht zusammen mit
den „megallthischen“ Erscheinungen, die an-
scheinend nachchristlich und eher an „präisla-
mische“ Bauwerke der Sahara anzuschließen
sind als an mediterrane Megalithbauten.
Vor allem sollte man dankbar anerkennen,
daß D. Wölfel das Interesse weiter Kreise auf
die vielerlei Probleme hingewiesen hat, die
mit der Erforschung der Kanarischen Inseln
verbunden sind. Auch das Institutum Cana-
rium in Hallein wäre ohne sein Wirken un-
denkbar. So ist der 3. Band seines Jahrbuchs:
Älmogaren (Altkanarisch = Versammlungs-
platz) auch der Erinnerung an seinen 10. To-
destag gewidmet und beginnt mit seinem Auf-
satz über „Die Versklavung der Gomeros“,
der bisher nur in spanisch vorlag. Unmittelbar
Problemen der Kanarischen Inseln sind fer-
ner zwei Aufsätze über die Pfeifsprache auf
Gomero sowie über die „Hunde-Inseln im
Weltmeer“ und Notizen über die Orijama,
eine wenig bekannte Kanarenpflanze, gewid-
met, mittelbar die weit ausgreifende Abhand-
lung des Grazer Ethnologen A. Closs: „Alt-
kanarier und Indogermanentum, religions-
und kulturvergleichend“ und der sich daran
anschließende Beitrag des Grazer Linguisten
H. Stumfohl „Über mögliche Beziehungen
zwischen dem Indogermanischen und dem Alt-
kanarischen von Standpunkt der Linguistik“.
Eine andere Gruppe von Beiträgen gilt
dem „Altägyptischen Schiffsbau“ (E. Don-
delinger), den „problems of reconstructing
an Afro-Iberian ship from the neolithic age
(Z. Krzak) und den „Antiken Quellen zur
Geschichte der Atlantikfahrten“ (K. H. Pfeif-
fer). Zu den beiden Aufsätzen über Schiffor-
men vergleiche man die Abschnitte in P. Cer-
vicek: Felsbilder des Nord-Etbai Oberägyp-
tens und Unternubiens, Wiesbaden 1974, 98
ff., der Beitrag über die antiken Atlantik-
fahrten erörtert (S. 182 f.) den „Bericht des
Hanno“ recht einseitig und ohne Berücksichti-
gung auch nur eines Bruchteils der darüber
vorhandenen Literatur. Seit in der Zeitschrift
Hesperis 44, 1957, 205 die These begründet
wurde, daß es sich um eine Fälschung aus der
Zeit um 300 v. Chr. handele, müßte dazu
doch wohl erst einmal Stellung genommen
werden.
Neu gefundenen Felsritzungen (bzw. Gra-
vierungen) in Südmarokko, in Südalgerien
und dem Norden der spanischen Sahara gel-
ten knappere Dokumentationen, im letzteren
Fall auch einschließlich der bei dieser Gelegen-
heit entdeckten Steinbauten. Obwohl der Mit-
gliederkreis des Institutum Canarium offen-
bar an Felsbildern im allgemeinen interessiert
ist, wird man hier kaum einen Beitrag über
eine Gruppe von Gravierungen aus dem östli-
chen Anatolien (von M. Uyanik, Istanbul) ver-
muten. Dieser Beitrag sowie die Übersicht über
die „Felsbilderforschung in der Sowjetunion“
(von M. Ksick, Brünn) sollten zu stärkerer
Spezialisierung auf Felsbilderproblcme führen,
sonst wäre zu befürchten, daß solche Beiträge
ohne die verdiente Beachtung bleiben. Eher er-
wartete man in diesem Jahrbuch einen Beitrag
wie den von H. Nowak: „Smara, die Heilige
Stadt des Ma’el ’Ainin“, der einen ausgezeich-
neten Überblick über diese Ende des 19. Jh.
gegründete Wüstenstadt vermittelt, die schon
bald nach dem Tode Ma’el ’Ainins 1910 und
nach Plünderung mit weitgehender Zerstörung
1913 verödete.
So bleibt der Eindruck einer lebendigen
Zeitschrift, die ihren Stil noch nicht ganz ge-
wonnen hat. Es wäre schade, wenn die inhalt-
liche Ausweitung der Themen in dieser Weise
fortgesetzt würde. Beschränkung auf Proble-
me, die mindestens mittelbar mit den Kanari-
schen Inseln Zusammenhängen, würden das
Ansehen der Zeitschrift gewiß steigern, zumal
dann auch eher auf allgemeinere Beiträge ge-
il
162
Buchbesprechungen
ringerer Qualität verzichtet werden könnte.
Bei dem großen Mitgliederkreis wäre es viel-
leicht möglich, Bibliographien und Forschungs-
berichte über Teilgebiete zu bringen. Auch
Übersetzungen schwer zugänglicher spanischer
Aufsätze wären willkommen.
Günter Smolla
Dietmar FIenze:
Enzyklopädie der Entdecker und Erfor-
scher der Erde. 1. Lieferung: Ä. — Graz:
Akad. Druck- u. Verlagsanstalt. 1975, XIV
+ 127 S.
Das auf über 3000 Seiten konzipierte
Nachschlagewerk, das wohl in 10 Jahren noch
nicht vollständig vorliegen wird (geplant sind
jährlich 1—2 Lieferungen mit je ca. 150 Sei-
ten), möchte — laut Vorwort — die Ent-
schleierung der Erde in eine „einheitliche Ord-
nung“ bringen, die Leistungen der einzelnen
Forscherpersönlichkeiten erfassen und würdi-
gen. Es sei der „Versuch eines Denkmals, das
die Historie dem Reisenden schuldet“.
Für Autor und Verlag eine große Aufgabe,
der man einen guten Abschluß wünschen möch-
te! Sicherlich ein zukünftiges Standardwerk
in der geographischen Wissenschaft, das aber
gerade deshalb noch einige Änderungen er-
fahren sollte.
Zunächst fragt man sich, ob außer den
Wissenschaftlern (Geographen, Ethnologen,
Historiker) noch andere Zielgruppen ange-
sprochen sein könnten. Im Zeichen nostalgi-
scher Rückschau vielleicht ein breiteres Publi-
kum? Im Zeitalter des Fern- und Massentou-
rismus der gebildete und sich bildende Tourist,
der sich als Nachfolger solcher Forschungsrei-
sender fühlen kann? Oder eher die mit der
Dritten Welt durch Entwicklungshilfe, Poli-
tik und Handel beruflich Verbundenen?
Das für ein solch umfangreiches Werk et-
was magere Vorwort gibt dazu keine Hinwei-
se. Viele Fragen bleiben offen, zum Beispiel
nach den Prinzipien der Auswahl. Ausdrück-
lich ausgepart bleibt das 20. Jahrhundert, aber
regionale Einschränkungen werden ebenso we-
nig erwähnt wie Fragen nach dem Reisemotiv
oder Form, Menge, Inhalt, Zuverlässigkeit
und Initiationswert der hinterlassenen Infor-
mationen. Es werden Reisende aufgeführt, die
nur aus Sekundärschriften bekannt sind, Heer-
führer, die selbst keine Zeile hinterlassen ha-
ben und deren wissenschaftlicher Forschungs-
drang höchstens minimal gewesen sein dürfte.
Man ist gespannt, ob Chamisso, Goethe oder
Odysseus darin erscheinen werden!
Biographische Charakteristiken zur Per-
sönlichkeit der Reisenden werden in teilweise
langen Passagen aus der Sekundärliteratur
übernommen oder in unwesentlichen Details
aus ihrem Lebenslauf gebracht. Ausführliche
Zitate im jeweiligen Stil der Zeit mit gefühl-
vollen Reiseempfindungen lassen befürchten,
daß auf Milieuschilderungen ein zu großer
Wert gelegt wird. Für die Wissenschaft wären
Vollständigkeit und Korrektheit der sachli-
chen Information wichtiger.
Die Literatur — auch Zeitschriftenaufsätze
— wird meist ohne Seitenzahlen angegeben,
die bibliographischen Hinweise sind formal
uneinheitlich und bisweilen schwer zu entzif-
fern. Die Umschrift fremder Namen ist teil-
weise ungewöhnlich. Nebenbei werden Anek-
doten erzählt (S. 75), und die Sprache ist nicht
frei von subjektiven Urteilen des Verfassers:
„Er war ein sonderbarer Typ von Reisen-
den . . .“ (S. 118); „Sehr schön gesagt . . .“
(S. 123) oder die Behauptung S. 78, eine im
folgenden zitierte Stelle sei „merkwürdig“,
ohne daß klar wird, wieso.
Überhaupt wird beim Leser zu viel voraus-
gesetzt. Lange Zitate in der Original-Sprache,
auch in Italienisch, Spanisch, Portugiesisch —
wer versteht sie schon? Man sollte sie über-
setzen (und kürzen)! Unbekannte topogra-
phische Namen werden nicht näher lokalisiert
(S. 27 Kumaon, S. 78 Buitenzorg), altertümli-
che Begriffe ohne Erläuterung gebraucht (S.
78: wie lang ist eine Stadie?), unwesentliche
Details als bekannt vorausgesetzt, z. B. S. 119:
Ayala sei „Kapitän vom ‘San Carlos’“ gewe-
sen (wenn ‘San Carlos’ ein Schiff war: Schiffe
sind im Deutschen feminin!), oder A. macht
„Mitteilung in dem berüchtigten Brief an Kö-
nig Philipp II“ (S. 24).
Solche sprachlich-stilistischen Unebenheiten
zeigen, daß offenbar ein kritischer Lektor ge-
fehlt hat, der auch geholfen hätte, die biswei-
len sinnentstellenden Schreibfehler zu vermei-
den (S. 124: „A. durdhschnitt Räume ... Er
lehrte sein Reisegebiet kennen . . .“ statt
„durchschritt“ und „lernte“), und der z. B. mit
für die Vereinheitlichung der biographischen
Datenangaben gesorgt hätte: Häufig fehlt ein
Geburts- oder Sterbedatum oder beides; für
„geb.“ und „gest.“ sind sonst die Zeichen
* und f üblich, statt des ausgeschriebenen Mo-
Buchbesprechungen
163
natsnamens genügt die Zahl (z. B. S. 48: geh.
13. April 1859 = * 13. 4. 1859; Sterbedatum
fehlt!). Das Hinweiszeichen auf andere Stich-
worte (s.) wird nicht erklärt und sollte viel-
leicht besser durch den in Lexika üblichen Pfeil
-*■ ersetzt werden.
Neben den formalen und stilistischen Män-
geln zeigen sich aber auch sachliche Unvollstän-
digkeiten und Fehler — bei der Größe der
übernommenen Aufgabe durch einen einzelnen
freilich nicht verwunderlich! Zum Beispiel er-
schien F. de Azaras „Voyages dans l’Améri-
que méridionale . . .“ in deutscher Übersetzung
nicht erst 1811 in Wien, sondern bereits 1809
in dem bei Braunes und Comp, verlegten
„Journal für die neuesten Land- und Seerei-
sen und das Interessanteste aus der Völker-
und Länderkunde zur angenehmen Unterhal-
tung für gebildete Leser in allen Ständen“ (in
zwei Teilen im Juni-Heft S. 119 ff. sowie
im September-Heft S. 74 ff.). Warum erscheint
das Journal überhaupt nicht im Abkürzungs-
verzeichnis, und warum werden dort von der
Londoner „Hakluyt Society“ nur die 12 Bän-
de der „Extra Series“ genannt und nicht auch
die vielen Bände der anderen Serien?
Der Wert als Nachschlagewerk würde
durch ein regionales Register oder durch ein-
geschobene regionale Stichworte mit Hinwei-
sen auf die jeweils dort wichtigen Forschungs-
reisenden beträchtlich erhöht. Die vielen Na-
men haben doch oftmals eben nur eine lokale
Bedeutung, und Benutzer mit regionalem In-
teresse dürften im allgemeinen häufiger sein
als mit nur biographischem. — Über die Aus-
wahl der Namen kann man diskutieren. Was
haben z. B. Ankudinow oder Ashcroft so
Wesentliches geleistet? Und ist es richtig, Ale-
xander d. Gr. mit 11 Spalten den längsten
Artikel im Buchstaben A zu widmen? Warum
wird von Albert I, Fürst von Monaco, nur
die 2. Spitzbergenfahrt (1899) ausführlich ge-
nannt und nicht auch seine anderen For-
schungsfahrten beispielsweise im Mittelmeer
und im Atlantik, die der Ozeanographie wert-
volle Impulse verliehen? Warum wird J. J.
Audubon nicht erwähnt, der in der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Natur-
forscher den nordamerikanischen Kontinent
bereiste? Oder der französische Reeder Jean
Ango, der im frühen 16. Jahrhundert For-
schungsexpeditionen in viele Teile der Erde
organisierte und finanzierte?
Vor allem der umfangreiche Literaturan-
hang zu jedem Stichwort, getrennt nach Pri-
mär- und Sekundärschriften, macht das Werk
zu einem wertvollen Instrument nicht nur der
Regionalwissenschaften, selbst wenn es sach-
lich und formal noch einige Verbesserungen
erfahren könnte. — Forschungsgeschichte ist
immer wieder notwendig, um Doppelarbeit zu
vermeiden, um auf der Grundlage bisheriger
Erkenntnisse die Forschung voranzutreiben
und unser Wissen in seinen historischen und
persönlichen Bezügen transparent werden zu
lassen. Sie sollte nicht nur als pietätvolles
Denkmal verstanden werden.
Baldur Gabriel
Eno Beuchelt:
Ideengeschichte der Völkerpsychologie.
Kölner Beiträge zur Sozialforschung und
angewandten Soziologie, hrsg. v. René Kö-
nig und Erwin K. Scheuch, Bd. 13. Meisen-
heim: Anton Hain. 1974. VIII, 574 S., br.
Das Buch ist als Kompendium für Psycho-
logen und Ethnologen gedacht, das sich die
Aufgabe gestellt hat, wegweisende Ideenan-
sätze und -konzepte einer älteren und neueren
Völkerpsychologie chronologisch zu ordnen
und kritisch zu referieren.
Insbesondere für die deutschsprachige Eth-
nologie ist es eine wertvolle Zusammenfassung
all jener Teilbereiche europäischer und vor al-
lem amerikanischer Disziplinen, die sich mit
dem Problem des Individual-Seelischen und
der Kultur auseinandersetzen. Um diese Ideen-
gesamtschau aufstellen zu können, spürt der
Autor dem Werden einer Wissenschaft nach,
das sich nicht im Rahmen einer einzigen Dis-
ziplin vollzieht, sondern mosaikartig aus ei-
nem terminologischen Irrgarten von Rassen-,
Ethno-, Kultur- oder Völkerpsychologie, von
transkultureller, interkultureller Psychologie,
Psychologischer Anthropologie und Anthropo-
logischer Psychologie etc. zusammenzusuchen
ist.
Vor allem Psychologie, Psychoanalyse und
Psychiatrie sowie Anthropologie biologischer
und soziokultureller Ausrichtung waren aus-
schlaggebend für Systematik und Methodik
jener hcranwachsenden Wissenschaft.
Im ersten Abschnitt, der die Entwicklung
der Völkerpsychologie in Deutschland, Frank-
reich und England nachzeichnet, wird insbe-
sondere versucht, die Rolle der Ethnologie und
164
Buchbesprechungen
Ihren Beitrag zur Völkerpsychologie zu cha-
rakterisieren, die sich in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts — vor allem unter
dem Einfluß von M. Lazarus, H. Steinthal
und W. Wundt — innerhalb der Psychologie
etablierte.
Kernpunkt war die systematische Erfas-
sung des „Volksgeistes“ (Herder, G. W. F.
Hegel), der In Sprache, Mythos, Religion,
Kunst und Brauchtum etc. gleichermaßen zu
finden sei, und die Betonung der Einzigartig-
keit verschiedener Kulturen und Gesellschaf-
ten.
Der zweite Abschnitt befaßt sich dann mit
den Hauptwurzeln der modernen Völkerpsy-
chologie, die in der FREUDschen Entdeckung
der unbewußten Tiefenschichten und der An-
erkennung der Rolle des Individuums begrün-
det liegen.
Die Erkenntnis der Bedeutsamkeit des In-
dividuums für die Kulturgestaltung wurde
bald von den Kulturwissenschaften aufgegrif-
fen und vor allem von der amerikanischen
Kulturanthropologie weiterentwickelt.
Drei Gruppen innerhalb der Ethnologie
beginnen sich danach abzuheben:
1. Eine kleine Zahl von orthodoxen Freudia-
nern wie Roheim;
2. jene vor allem in Europa beheimateten
Ethnologen, die die pREUDSche Psychoana-
lyse ablehnen;
3. eine große Zahl amerikanischer Wissen-
schaftler, die psychoanalytische Ideen inner-
halb der Kulturanthropologie weiterent-
wickeln und sich in Nachfolge Malinow-
skis um detaillierte Erhebung von Feld-
forschungsmaterial und deren Auswertung
bemühen (z. B. Mead; Kardiner/Linton).
Insbesondere unter M. Mead entwickelte
sich eine psychoanalytische Richtung der Kul-
turanthropologie, die auf die Neofreudianer
wie Fromm, Kardiner und Horney Einfluß
ausübte.
In der Weiterentwicklung der Psychoana-
lyse zeigt der Autor die bedeutendste theore-
tische Grundlage der modernen Völkerpsy-
chologie auf, die in Amerika unter dem Dop-
pelterminus „Culture and Personality“-For-
schung bekannt wird.
Im dritten Abschnitt befaßt sich der Autor
mit den verschiedenen Strömungen der „Cul-
ture and Personality“-Forschung, die unter
dem Zeichen von interdisziplinärer Zusam-
menarbeit von Soziologie, behaviouristischer
Sozialpsychologie, Kulturanthropologie und
psychoanalytischer Tiefenpsychologie steht.
Kernpunkt dieser Zusammenarbeit ist die In-
terdependenz von Kultur und Persönlichkeit,
die man methodisch in sogenannten Fallstu-
dien zu erfassen und zu analysieren sucht.
An den Anfang dieser neuen wissenschaft-
lichen Völkerpsychologie stellt der Autor die
Teamarbeit von Kardiner/Linton (Psycho-
loge/Ethnologe), betont aber, daß dies seine
subjektive Meinung sei. Er stützt seine Be-
hauptung darauf, daß Ein-Mann-Teams kaum
einen theoretischen Beitrag zur Methodik und
Grundlagenforschung der Interdependenz von
Kultur und Persönlichkeit entwickelt hätten.
Die drei wichtigsten Grundhaltungen der
„Culture and Personality“-Forschung werden
— wie folgt — auf geteilt:
1. Zunächst wendete man sich der Persönlich-
keitsprägung durch die Kultur zu.
2. Danach lag das Hauptgewicht auf der For-
mung der Institutionen in Abhängigkeit
von persönlichen Wünschen und Bedürfnis-
sen.
3. Daran anschließend wendete man sich mehr
Interdepenzmodellen zu.
Diese kulturanthropologische Völkerpsy-
chologie orientiert sich an der sogenannten
Grundpersönlichkeit (Basic personality struc-
ture) und stellt generalisierte, typische Formen
des Denkens und Handelns bei einzelnen
Gruppen und deren Traditionen fest. Da die
Formen des Sozialisierungsprozesses von Ge-
sellschaft zu Gesellschaft variieren, differieren
auch die Einstellungen und Wertbezüge der
Menschen intcrkulturell.
In der systematischen Zusammenfassung
(S. 367) teilt der Autor das Interesse, das die
Völkerpsychologie am Verhältnis von Mensch
und Kultur zeigt — wie folgt — auf:
1. Studien zur Kultur und universalen biolo-
gischen Natur des Menschen.
2. Studien zur Kultur und der gruppentypi-
schen Persönlichkeit.
3. Studien zur Kultur und dem Individuum.
Ein Kurzkapitel am Ende (S. 376) weist
auf zukunftsträchtige Forschungszweige im
Sinne einer Völkerpsychologie hin, z. B.: test-
psychologische Individualforschung, ange-
wandte Völkerpsychologie, Verhaltens- und
Umweltforschung, ethno-science.
Buchbesprechungen
165
Außer der übersichtlichen und klaren Dar-
stellung ist das Buch seines reichen 155 Sei-
ten umfassenden Literaturverzeichnisses und
der zusammenfassenden Übersichten wegen als
Einführung in das Studium der Völkerpsycho-
logie geeignet. Die Literatur wurde bis Ende
der 60er Jahre verarbeitet; die neueren For-
schungsergebnisse der 70er Jahre wurden
nicht mehr miteinbezogen, obwohl das Buch
erst 1974 erschien.
Es muß außerdem darauf hingewiesen
werden, daß der Autor dem milieutheoreti-
schen Ansatz nahesteht, wie er sich in vielen
Psychologen- und Anthropologenschulen eta-
bliert hat. Nun bedeutet das aber eine Einsei-
tigkeit der Betrachtungs- und Darstellungs-
weise. Eine Auseinandersetzung mit dem na-
turwissenschaftlichen Aspekt — etwa von sei-
ten der Elumangenetik oder Humanethologie
— erfolgte nicht. (Es ist beispielsweise noch
keineswegs sicher, „daß eine Verankerung see-
lischer Eigenarten In der Gen-Ausstattung sehr
unwahrscheinlich ist“ S. 276.)
Obwohl sich das Buch bemüht, Ethnozen-
trismen Innerhalb der einzelnen Wissenschafts-
zweige aufzudecken, unterlief dem Verfas-
ser des öfteren der Fehler, von „Akkultura-
tion“ zu sprechen (S. 42, 44, 45, 209, 233, 313,
319, 320) — ein Begriff, der der ethnozentristi-
schen Einstellung unserer westlichen Zivilisa-
tion entspringt und in einer modernen Ethno-
logie vermieden werden sollte.
Helmtraut Sheikh-Dilthey
Marshall Sahlins:
Stone Age Economics. London: Travistock.
1974. XIV + 348 S., Diagr. u. Tab.
Als Rezensent wird man gleich gehörig ab-
geschreckt, das Buch zu besprechen, denn auf
dem Schutzumschlag dieser in 2. Auflage (1.
Aufl. 1972) in England erschienenen Veröffent-
lichung ist Evans-Pritchard zitiert, demzufol-
ge keine Besprechung, sondern nur ein wei-
teres Buch der vorliegenden Publikation ge-
recht werden kann. Hat man diese Form des
Kollegenlobs überwunden, so wird man ab-
geschreckt von dem Bild des Schutzumschlags:
Sahlins hat sich nicht gewehrt, eine Fotogra-
fie einer Tasaday-Gruppe zuzulassen. Oder
sind dies die Steinzeitmenschen, deren Wirt-
schaften untersucht werden soll? Die dritte
Überraschung erlebt der Leser, wenn er sieht,
daß Sahlins’ „excellent new book“ (so der
Schutzumschlag) nur einen Originalaufsatz
enthält, ansonsten Nachdrucke, die nur gele-
gentlich verändert worden sind. Nun wird
dem Wahrheitsgehalt einer Aussage durch de-
ren Wiederholung nichts genommen, und si-
cherlich wird manch einer begrüßen, die Auf-
sätze in einer Sammlung lesen zu können (es
gibt inzwischen auch eine Paperback-Ausgabe),
aber so „new“ ist es eben nicht. Weniger über-
raschend ist dann die Einleitung: eine selbst-
herrliche, polemische Attacke gegen alles, was
anders ist als Herr Sahlins. Wer nicht Sub-
stantivist ist wie er, bei dem blüht die For-
malwirtschaftsethnologie als Ideologie zuhause
und als Ethnozentrismus draußen. Nichts ist
aus diesem Vorwort zu lernen.
Auf das erste Kapitel „The Original Af-
fluent Society“ gehe ich ein, obwohl es kein
Originalbeitrag ist, jedoch die französische (et-
was kürzere) Version nicht so leicht zugänglich
war. Sahlins demonstriert anhand zahlrei-
cher Beispiele, für deren Beibringung er sich
fast entschuldigt, daß Wildbeuter keineswegs
die vom Zwang ständiger Nahrungsbeschaf-
fung Geplagten sind, daß sie nicht von mor-
gens bis abends sammeln und jagen müssen,
sondern daß mit wenigen Stunden Arbeit pro
Tag alles, was erwünscht wird, von den Wild-
beutern erreicht werden kann. „Want not, lack
not“ (11), mit dieser Devise läßt sich die
Wildbeutergesellschaft darstellen. Zum Teil
erscheint das Glück über diese Lebensweise
so bewußt, daß die „Früchte“ der neolithischen
Revolution abgewiesen werden, wie von den
Buschmännern: „Warum sollen wir pflanzen,
wenn es so viele Mongomongo-Nüsse auf der
Welt gibt?“ Es ist sehr nützlich, daß Sahlins
den Überfluß an Zeit gezeigt hat, die einem
Wildbeuter nun zu anderem zur Verfügung
steht. Was mit dieser Zeit geschieht, davon
wird allerdings nichts gesagt. Wie viele Kennt-
nisse In den endlosen Gesprächen vermittelt
werden müssen, wie viele Rituale für eine er-
folgreiche Jagd durchgeführt werden müssen,
wie vielen verwandtschaftlichen Verpflichtun-
gen nachgekommen werden muß, davon er-
fahren wir nichts. Vielleicht würde es so er-
klärt: bei wenigen materiellen Bedürfnissen
sind diese leicht zu befriedigen, den Rest der
Zeit lebt man im Überbau. Und man ist zu-
frieden, weil man nicht arm ist, wobei Armut
weder ein gewisser kleiner Bestand an Gütern
ist noch einfach ein Verhältnis zwischen Mit-
teln und Zielen; zunächst ist sie eine Beziehung
166
Buchbesprechungen
zwischen Menschen. Armut ist ein sozialer Sta-
tus (37). Das soll doch wohl bedeuten, daß
weitgehende Gleichheit mit fehlender Armut
einhergeht. Und hier liegt die Schwierigkeit
für Sahlins’ ganzes Bemühen. Er zeigt diese
Koppelung Gleichheit = fehlende Armut an
einigen Beispielen rezenter Wildbeutergrup-
pen, deren Lebensverhältnisse er „curiously
decapitated“ (38) findet. Würde er sich ein
wenig um die Vergangenheit dieser Ethnien
kümmern oder auch nur um Erscheinungen
wie Machtgefälle und Krieg, die sich in den
Berichten der Menschen selbst immer wieder
finden, würde er die Nordwestküsten-India-
ner einbeziehen, die immer als Sonderfall dar-
gestellt werden, m. E. eher als charakteristisch
für frühes Wildbeuterleben anzusehen sind,
dann würde die historische Rückverlegung
mehr als zweifelhaft werden. Keine Spur von
„Stone Age“. „It is as if the superstructures
of these societies had been eroded“ (38): das
heißt doch auch, daß die politischen, die Herr-
schafts- oder wenigstens Machtstrukturen ver-
schwunden sind. Und eben solche gekappte Ge-
sellschaften sollen als Beleg für früheste Zei-
ten herhalten. Statt zu sagen, daß es früher
eine „affluent society“ gegeben hat, müßte das
Ergebnis eigentlich lauten: Wildbeuter sind
abgedrängte, zu einem Teil erst sekundär zu
Wildbeutern gewordene Gesellschaften, die
uns über die Vergangenheit keine Aussagen er-
laubten, es sei denn durch Analogieschlüsse.
Sahlins aber operiert kaum anders als Wil-
helm Schmidt.
In den zwei folgenden Kapiteln stellt Sah-
lins die „domcstic mode of production“ (ab-
gekürzt: DMP) vor. Es ist die Produktions-
weise von in verschiedenen möglichen Ver-
bänden lebenden Haushalten, gekennzeichnet
durch fehlende politische Überorganisation.
Dieses Charakteristikum hat eine Konsequenz
für die Größe der Siedlungseinhciten. Ab ei-
ner bestimmten Größe können die Spannun-
gen in einer DMP-Gesellschaft nicht mehr ka-
nalisiert werden; die Gesellschaft spaltet sich
auf, ein Teil zieht in ein anderes Gebiet.
Nicht unzureichende Versorgungsbasis bil-
det ein Limit für die Größe von Gesellschaf-
ten, etwa mit Brandrodungsbau, sondern bei
DMP-Organisation die fehlende politische In-
stanz, die allein den Zusammenhalt garantie-
ren könnte. Sahlins’ Erklärung ist einfach wie
die der Bürokraten: Ab einer gewissen Men-
schenzahl braucht — das verlangt die Psyche
— eine Gesellschaft politische Instanzen. Der
Weg zur Bildung einer solchen Instanz sieht
bei Sahlins nun aber ganz anders aus als in
seiner Arbeit über soziale Schichtung in Poly-
nesien. Im vorliegenden Buch sind es bestimm-
te Verwandtschaftssysteme, die „generativer“
für haushaltübergreifende Organisation sind
als andere. So ist das Hawaii-Verwandt-
schaftssystem geeigneter als das Eskimo-Ver-
wandtschaftssystem, weil es kollateral eine
endlose Verwandtschaft einschließt, während
das Eskimo-System die Familie kategorisch
isoliert. Für Jemanden, der sich mit „modes
of production“ beschäftigt, ist diese Reduk-
tion auf Verwandtschaftssysteme als Herr-
schaftsbildner unbefriedigend. Man müßte ver-
suchsweise einer Gesellschaft mit Eskimo-Sy-
stem das Hawaii-System geben, schon würde
sich zur Koordinierung der bis dahin verein-
zelt arbeitenden Haushalte eine politische In-
stanz bilden. Vielleicht hängen doch die ver-
wandtschaftlichen Verhältnisse auch ein wenig
mit der Produktionsweise zusammen? Sicher-
lich ist die DMP eine interessante Konstruk-
tion, im Grunde allerdings nichts mehr als die
verwandtschaftsgebundene Wirtschaft im Sy-
stem von Sahlins’ Lehrer White (s. dessen
„Evolution of Culture“, Kap. 9), aber im Ge-
gensatz zu White stören mich bei Sahlins die
zahlreichen Vorgaben und Zurücknahmen. So
ist die DMP politisch „a kind of natural
state“ (95) und Rousseau wird, in Sahlins’
eigener Übersetzung, stützend dafür herange-
zogen. Einer Festlegung entzieht sich Sahlins
aber sogleich mit der Feststellung, daß die
DMP offensichtlich nur ein „disarray lurking
In the background“ sein kann, „always present
and never happening“ (101).
Wie im ersten Kapitel sind es auch hier zu-
nächst die aufschlußreichen Zusammenstellun-
gen, die zu vielerlei Überlegungen Anlaß ge-
ben oder frühere Thesen bestätigen, die von
Interesse sind, und weniger die Folgerungen.
So entspricht die Bewertung des Buches durch-
aus Sahlins’ eigenen Vorstellungen (XII):
„In all this, the aim of the book remains
modest: merely to perpetuate the possibility
of an anthropological economics by a few
concrete examples.“
Wolfgang Marschall
Wolfgang Laade (Hrsg.):
Musik der Götter, Geister und Menschen
— Die Musik in der mythischen, fabulie-
Buchbesprechungen
167
renden und historischen Überlieferung der
Völker Afrikas, Nordasiens, Amerikas und
Ozeaniens. Sammlung musikwissenschaft-
licher Abhandlungen, Bd. 58. Baden-Ba-
den: Valentin Koerner. 1975. 344 S., 28
Textzeichn.
Mit dieser Zusammenstellung legt Wolf-
gang Laade die Früchte vieljährigen Kompi-
lierens in ansprechender Form vor. Den 302
Erzählungen bzw. Erzählungsfragmenten aus
den im Untertitel genannten Gebieten ist ge-
meinsam, daß sie Musik oder musikbezogene
Verhaltensweisen, Musikinstrumente oder zur
Verständigung dienende Schallgeräte erwäh-
nen und daß sie in deutscher Übersetzung er-
scheinen. Die Anordnung ist geographisch. Ge-
schmackvolle Textzeichnungen, überwiegend
nach bereits veröffentlichten Vorlagen, eine
Einleitung und drei nützliche Register ver-
vollständigen den Band.
Das Ergebnis ist eine angenehm und an-
regend zu lesende Anthologie, die den großen
Reichtum und die schillernde Vielfalt musi-
kalischer Vorstellungen in den gewählten Ge-
bieten traditioneller völkerkundlicher For-
schung illustriert. Wenn sie dem einen oder
anderen Leser zur intensiveren Auseinanderset-
zung mit dieser Thematik stimulierte, so wür-
den sich damit die erklärten Intentionen des
Herausgebers (S. 13) verwirklichen. Laade
selbst verzichtet hier auf den Versuch syste-
matischer Analyse wie überhaupt auf jede Dis-
kussion möglicher methodischer Ansätze.
Der Titel des Buches läßt eine verglei-
chend-analytische Betrachtung erhoffen; erst
der Zusatz „Eine Quellensammlung“ korri-
giert diese Erwartung. Doch besteht gerade
der mit diesem Zusatz erhobene Anspruch
nur bedingt zu recht, denn als wissenschaft-
liche Quellen können die zusammengestellten
Stücke nicht ohne Einschränkungen weder im
einzelnen noch in toto genommen werden.
Mit einer Ausnahme (Nr. 302) entstammen
sie, selbst oft Fragmente, gekürzt, gelegent-
lich „zusammengefaßt“ (cf. Nr. 97) und ge-
gebenenfalls ins Deutsche übersetzt, der ge-
druckten Literatur. Für Afrika beispielsweise
stellt Leo Frobenius den Löwenanteil — 28
von 70 Nummern, doch auch René Gardi
und Melville Herskovits sind vertreten, eben-
so wie P. W. Schmidt und Heinz Wiesch-
hoff, letztere mit ihren Nacherzählungen nach
anderen Autoren, d. h. mit bestenfalls ter-
tiären Versionen. Für eine weitere Auswer-
tung müßte der Benutzer wohl in jedem Falle
kritisch zur frühesten Version zurückgehen.
Auch der für die Auswahl erhobene Anspruch
der Repräsentativität (S. 13) erscheint zumin-
dest nicht überprüfbar, da weder die Aus-
wahlkriterien noch das der Auswahl zugrun-
deliegende Korpus beschrieben werden.
Doch derartige Erwägungen erscheinen an-
gesichts des sympathischen Bandes unangemes-
sen pedantisch. Er ist dem wohlwollenden
Leser warm empfohlen.
Dieter Christensen
Gurt W. Beck (Hrsg.):
Archaeological Chemistry. Advances in
Chemistry Series No. 138. Washington,
D. C.: American Chemical Society. 1974.
254 S., 16 Farbtaf., zahlr. Abb., Zeichn.
u. Tab.
Bereits ein Jahr nach dem 5. Symposium
mit dem Arbeitstitel „Archaeological Che-
mistry“, das im April 1973 in Dallas veran-
staltet worden war, erschien der Bericht hier-
über. Der Band bringt 13 Originalarbeiten auf
archäochemisdhem Gebiet, wobei andere The-
men der Archäometrie ausgeklammert bleiben.
(Vorausgehende Symposien fanden 1950, 1962
sowie 1970 in den USA statt.)
Während etwa 1962 noch „klassische“
Analysenverfahren im Vordergrund standen,
dominierte 1973 die Analyse durch Verfah-
ren, die die völlige Beherrschung kernchemi-
scher Techniken voraussetzen (acht von 13
Themen).
Besonders geeignet erweisen sich aktivie-
rungsanalytische Verfahren bei der Untersu-
chung von Keramiken, Gläsern und Metallen.
Wichtig ist daher die grundlegende Untersu-
chung von W. T. Chase, der verschiedene
analytische Verfahren und die Vergleichbar-
keit analytischer Ergebnisse verschiedener La-
bors in einem besonderen Programm ermit-
telte. Unter diesen Labors waren diejenigen
des Landesmuseums Stuttgart (A. Hartmann)
und des Dörner-Instituts München (J. Rie-
derer) vertreten.
Beachtlich ist die ermittelte Reihenfolge
der Genauigkeit einzelner Verfahren: die be-
ste Methode ist die Atomabsorbtion, gefolgt
von der Massenspektrometrie, der Röntgen-
fluoreszenz und der Naßchemie, während sich
die Polarographie am Ende der Liste befindet.
168
Buchbesprechungen
Die Neutronenaktivierungsanalyse bringt
nur mäßige Ergebnisse. Ihre Vorteile liegen
darin, daß sie oft zerstörungsfrei (Münzen)
arbeitet oder mit Mengen weit unter einem
Milligramm auskommt. Hierzu wird mit ei-
nem angerauhten Quarzstäbchen eine nicht
wägbare Metallprobe „abgefeilt“. Die Nach-
teile der Methode liegen darin, daß sowohl
Oberflächenveränderungen mitanalysiert wer-
den (bei Silber vor allem Verlust von Kupfer
und Anreicherung von Gold; vgl. Untersu-
chungen von P. Meyers et al.) als auch In-
homogenitäten, die durch die Bildung von
Eutektika Zustandekommen, nicht erfaßt wer-
den (Untersuchung von F. Gibbons et al.).
Trotz dieser Nachteile hat sich vor allem
das Ir/Au-Verhältnis (in doppelt logarith-
mischer Auftragung) als ein guter Diskrimi-
nator für Silbererze verschiedener Herkunft
erwiesen, während der geringe Goldgehalt
von Silber (Münzen) allein (A. A. Gordus
& J. P. Gordus) vielleicht doch nicht so zu-
verlässig ist, weil ja Oberflächenanreicherun-
gen einen Einfluß haben können.
Archäologen und Prähistoriker sind immer
an der Frage interessiert, ob eine aufgefun-
dene Keramik am Ort produziert oder im-
portiert wurde. Stilistische Analysen können
bisweilen ohne Ergebnis sein, weil anderen-
orts immer gerne imitiert wird (R. Abascal,
G. Harbottle et al.). Hier ist natürlich ein
sicherer Nachweis der verwendeten Tonsorte
überaus wertvoll. Dabei hat sich das Sc/Fe-
Verhältnis als besonders signifikant heraus-
gestellt, mit dem sogar so große Bereiche wie
Ägypten, Palästina und die Ägäis erfaßt
werden können (D. Broos, G. Harbottle et
al.). In der Bodenkunde ist man weitgehend
vom Eisen als Bezugssubstanz abgekommen,
weil es weniger resistent gegen bodenchemi-
sche Veränderungen ist als Titan. Bei der
Keramikanalyse wird Ti nicht routinemäßig
bestimmt, möglicherweise wegen der Schwie-
rigkeiten, die dadurch entstehen, daß lang-
same Neutronen ein Isotop mit einer Halb-
wertszeit von nur rund 6 min erzeugen.
Die zu Tausenden anfallenden Analysen-
werte werden durch verschiedene Computer-
programme aufgearbeitet (Potplot, Potstat),
die auf dem großen statistischen Hintergrund,
der durch die Arbeiten Harbottles gegeben
ist, zu einer beträchtlichen Sicherheit der Zu-
ordnung führen. (Zur Zeit werden duster im
14dimensionalen Raum gebildet und mitein-
ander verglichen.)
Wertvolle Ergänzungen zur Untersuchung
der Keramiken sind die Brennversuche von
F. R. Matson, die er in einem Ofen mit Tem-
peraturgradient vornimmt. Wegen ihrer Farb-
tönung scheinbar verschiedene Keramik kann
so auf das gemeinsame Tonvorkommen zu-
rückgeführt werden, wobei allerdings Messun-
gen von Porosität, Härte, Schrumpfung u. a.
Größen nicht außer acht gelassen werden dür-
fen.
I. L. Barnes und Mitarbeiter untersuch-
ten massenspektrometrisch das Verhältnis der
stabilen Blei-Isotope 204, 206, 207 und 208 an
Bleigegenständen und bleihaltigen Legierun-
gen. Ihre Arbeitshypothese, daß jedes zusam-
menhängende Bleivorkommen durch ein spe-
zifisches Isotopenverhältnis charakterisiert ist,
konnte Inzwischen durch weitere Arbeiten
gesichert werden (Archaeometry Symposion
Edinburgh 1976). Die Zuordnung untersuch-
ter Objekte zu den Erzen von Laurion darf
somit als sicher gelten. Die neutronenaktivie-
rungsanalytischen Untersuchungen an Serien
von mittelalterlichen Glasfenstern (J. S. Olin
et al.) zeigten, daß selbst Gläsern verschie-
dener Farbe derselbe Ansatz erschmolzener
Glasgrundmasse zugrunde liegt, und daß sich
andererseits verschiedene Werkstätten zumin-
dest durch gut unterscheidbare Glasgrundmas-
sen trennen lassen. Gelegentlich von Restau-
rierungsmaßnahmen (Neufassung in Blei) ist
es daher leicht, an Proben zu kommen und
einerseits spätere Ergänzungen, andererseits
aber Fälschungen zu erkennen.
Das Jahr 1973 brachte die ersten Anwen-
dungsergebnisse der Mössbauerspektroskopie
in der Archäologie. Sie ist besonders geeignet,
Unterschiede beabsichtigter oder zufälliger
Farbnuancen an Keramik mit dem Bindungs-
zustand des allgegenwärtigen Eisens zu korre-
lieren. Dem kommt besonders entgegen, daß
gerade Eisen noch bei Raumtemperatur leicht
ein intensives Mössbauerspektrum ergibt (B.
Keisch).
Weniger überzeugend in bezug auf die
archäologische Fragestellung sind die Unter-
suchungen von J. Winter an chinesischen Tu-
schen. Im Prinzip lassen sich nur zwei Typen
deutlich durch die Korngrößenverteilungsbil-
der trennen: solche auf Harzruß- und solche
auf Ölrußbasis. Selbst mit etwas Erfahrung an
Buchbesprechungen
169
Aufnahmen des Rasterelektronenmikroskops
lassen sich die Auswertungen bisweilen nur
schwer nachvollziehen. Indes gehört die Un-
terscheidung verschiedener Ausprägungen ru-
ßigen oder sonst sehr fein verteilten Kohlen-
stoffs zu den Problemen, die als noch nicht
voll gelöst zu betrachten sind.
C. W. Beck et al. wenden erstmals um-
fangreicher die Kernresonanzspektroskopie
(KMR) auf archäologische Probleme an. So
unterscheiden sie verschiedene Fettsäuren aus
römischen Glasgefäßen, ohne allerdings auf
eine Kontrolle durch andere Verfahren (Gas-
chromatographie) zu verzichten. Überzeugen-
der ist sicher ihr Vorgehen, erst die Fettsäure-
methylester gaschromatografisch zu trennen
und diese dann mittels KMR zu identifizieren.
Ihr interessanter Versuch, über Pyrolysate des
Bernsteins mittels KMR etwas über eine even-
tuelle Anwesenheit von Isopropylgruppen zu
erfahren, muß wohl einer Diskussion in der
chemischen Fachliteratur Vorbehalten bleiben.
Antike Elfenbeinarbeiten werden wegen
ihres Werts oft gefälscht. Deshalb ist ein Ver-
fahren wichtig, das ohne großen Substanzver-
lust wirklich altes Elfenbein zu identifizieren
gestattet. N. S. Baer et al. führen an Proben
von 1—2 mg Mikrobestimmungen von Koh-
lenstoff, Stickstoff (Kjeldahl und Dumas),
Wasserstoff und Asche durch. Dabei tritt deut-
lich die Zersetzung des Kollagens im Laufe der
Zeit zutage. Eventuell würde daher die Be-
stimmung des Aschegehalts (Glühverlust) al-
lein in Zukunft ausreichend sein.
Diese Übersicht läßt wohl erkennen, daß
die Lektüre des Buches eine erhebliche natur-
wissenschaftliche Vorinformation voraussetzt.
Der unvorbereitete Archäologe ist auf die recht
ausführlichen Zusammenfassungen zu Beginn
eines jeden Beitrags angewiesen. Sie stellen
in gut verständlicher Weise die archäologisch
relevanten Ergebnisse dar, ohne den Leser mit
der Prozedur zu belasten. Zahlreiche Dia-
gramme fördern das Verständnis. Die Farb-
tafeln bringen allerdings nicht immer die In-
formation, die die Autoren sida gewünscht
hatten. Deshalb sind bisweilen die Farbnuan-
cen als Text beigegeben.
Besonders wertvoll ist das Sachverzeichnis
in dem gut ausgestatteten Buch, das den Sym-
posionsbericht in den Rang eines Nachschlage-
werkes hebt.
Rolf G. A. Rottländer
Peter Collingwood:
The Techniques of Sprang. Plaiting on
Stretched Threads. London: Faber and Fa-
ber. 1974. 292 S., 69 Abb., 160 Diagr.
Der Autor von „The Technique of Rug
Weaving“ hat mit diesem neuen Werk ein
Buch geschaffen, auf das man in Textil- und
Museumskreisen lange gewartet hat. Und
nicht vergeblich! Die Geduld hat sich gelohnt,
denn diese Arbeit darf man ruhig als erste
„Monographie“ einer Technik bezeichnen, die,
selbst in der Fachliteratur, oft verkannt, falsch
beschrieben, eingeordnet und bezeichnet wor-
den ist. Dies aus durchaus verständlichen
Gründen, nimmt doch der Sprang, sowohl
vom praktischen als auch theoretischen Stand-
punkt aus, in der Systematik textiler Techni-
ken eine Sonderstellung zwischen den primä-
ren Verfahren und der Weberei ein, die genug
Anlaß zu Verwirrung und Mißverständnissen
bietet. Um so begrüßenswerter ist die klare
Definition Collingwoods: „Sprang is a me-
thod of making fabric by manipulating the
parallel threads of a warp that is fixed at
both ends. The manipulation can take the
form of interlinking, interlacing or inter-
twining of adjacent threads or group of
threads“ (S. 31).
Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß die
aus dem Altschwedischcn stammende Be-
zeichnung Sprang (cf. S. 34) sich nun endlich
weltweit durchsetzt, gerade weil die bisheri-
gen Versuche einer anderssprachlichen Ter-
minologie (Stäbchenflechten, twine-plaiting
knotless netting, Coptic plaiting, loom-braid-
ing etc.) nicht nur unzutreffend, sondern auch
irreführend sind, da sie auch auf andere Ver-
fahren angewendet werden bzw. sich bereits
für solche eingebürgert haben. Collingwoods
Definition erwähnt auch die drei Haupttypen
von Sprang und stellt somit die erste Syste-
matik innerhalb dieser Technik dar, die bis-
her jeglicher befriedigender Nomenklatur ent-
behrte. Schwieriger gestaltet sich eine Über-
tragung der Namengebung ins Deutsche. Man
könnte „interlinked“ mit „eingehängt“, „in-
terlaced“ mit „verkreuzt, verflochten“ (im
Sinne einer echten Bindung) und „intertwined“
mit „zwirnbindig“ übersetzen und analog
dazu unterscheiden zwischen Einhänge-,
Flecht- und Zwirnbinde-Sprang.
Alle drei Grundformen können sowohl mit
cinebiger als auch mit zweiebiger, d. h. rund-
170
Buchbesprechungen
laufender Kette gearbeitet werden, was aller-
dings entsprechend dem Einsatz verschiedener
Hilfsmittel (zur Kettenspannnung; ferner
Musterstäbchen, Richtschnüre u. a.) zur Folge
hat, die nebst Materialbeschaffenheit, Dreh-
richtung und Drehwinkel (sowohl der Ele-
mente wie der Struktur) und Art der Ketten-
fixierung bei einer Beschreibung oder Klassi-
fikation berücksichtigt werden müssen.
Der Autor ist ein Praktiker, kein Theore-
tiker. Dies geht deutlich aus der Einteilung
des Buches und dem Inhalt der einzelnen
Kapitel hervor, in denen einer sorgfältigen,
gut verständlichen Anleitung zu verschiedenen
Arbeitsgängen mit Hilfe einer formelhaften,
abgekürzten Schreibweise viel Raum gelassen
wird. Eine große Erleichterung, sowohl für
denjenigen, der die Techniken nacharbeiten
möchte, als auch für den Analytiker, sind die
von Collingwood selbst angefertigten Zeich-
nungen und Diagramme. Sie werden durch
Fotos von alten und neuen Sprangarbeiten
(teilweise vom Autor selbst, teilweise von N.
Speiser hergestellt) ergänzt und illustriert.
Den seit der europäischen Bronzezeit (mög-
licherweise auch dem Neolithikum cf. S. 37)
bekannten Verfahren werden neue Varianten
hinzugefügt und erläutert. Im Laufe der Lek-
türe erhält man einen Eindruck, von der Fülle
faszinierender Musterungsmöglichkeiten, die
phantastisch und beinahe unbegrenzt scheint.
Nicht genug damit, daß die drei Haupttypen
und ihre zahlreichen Varianten miteinander
beliebig kombiniert werden können, sie sind
auch mit zusätzlichen Zierkettfäden, ferner
als Doppel-, ja sogar Quadrupel-Sprang (ana-
log zu Doppelgewcben) ausführbar. Beson-
ders reizvoll ist es, wenn Technik, Material
und Farbgebung so genutzt oder bewußt ein-
gesetzt werden, daß dadurch, nebst der Ver-
schiedenheit der Motive, durchbrochene mit
kompakten und reliefartig voneinander ab-
gehobenen Flächen miteinander wecksein.
Wichtiger als die Arbeitsanleitungen, die
Hinweise zur Korrektur von Fehlern, zur
abschließenden Fixierung der Kettfäden, zur
Bildung von Randabschlüssen oder zur Form-
gebung sind für Archäologen, Ethnologen,
Technologen und Museumsleute die Kriterien,
an denen Sprang-Erzeugnisse zu erkennen und
von anderen (wie Maschenstoffen, Geflechten,
Brettchengeweben, Klöppelspitzen) zu unter-
scheiden sind. Hier Hegt die große Schwierig-
keit und wohl die Ursache der häufigen Fehl-
interpretationen. Collingwood mahnt denn
auch mit Recht immer wieder zur Vorsicht und
gibt bei jeder Variante zudem an, wie die-
selbe Struktur oder Bindungsform in einer
anderen Technik erzielt werden kann, bei-
spielsweise „interlinked Sprang“ durch ein-
faches oder mehrfaches Einhängen oder Ein-
hängen mit Überspringen von Reihen, „inter-
laced Sprang“ durch Zopf- und Diagonal-
flechten und „intertwined Sprang“ durch klöp-
peleiartige Verfahren. Anhaltspunkte zur Be-
stimmung finden sich im ganzen Buch ver-
streut in den vom beschreibenden Text abge-
hobenen Bemerkungen (notes) zu den einzel-
nen Varianten und, konzentrierter, im An-
hang 1 (S. 273 ff.). Zusammengefaßt seien
hier die wichtigsten Merkmale rekapituliert,
an denen Sprang erkannt werden kann. Es
sind dies:
1. Das Fehlen eines fortlaufenden Eintrag-
fadens oder von Eintragfäden. Hier kann
ich mich dem Autor nicht anschließen,
wenn er schreibt: „it is a matter of opinion
whether this (er bezieht sich auf Beispiele
in Kolumbien und Mexiko) wefted struc-
ture can still be classified as Sprang“ (S.
184). Auszunehmen davon ist der Eintrag,
der zur endgültigen Fixierung des durch
die Manipulation der Kettfäden entstan-
denen Stoffes dient.
2. Das Vorhandensein einer solchen Fixie-
rung, die allerdings sehr verschieden ge-
handhabt werden kann. Eindeutig auf
Sprang weist eine quer zu den Stoffrän-
dern verlaufende „Trefflinie“ hin, die In
Form eines Eintrages, aber auch in der
Art von Strickmaschen die ineinanderver-
drehten Kettfäden vor dem Auflösen be-
wahrt. Zwei solche „Trefflinien“ sind zu-
dem ein sicheres Indiz für rundlaufend
(mit zweiebiger Kette) gearbeiteten
Sprang. Bereits hier muß einschränkend
bemerkt werden, daß ersteres nur für „ein-
gehängten Sprang“ und/oder bei Benut-
zung einer einebigen Kette zutrifft. Bei
Flechtsprang, aber auch bei der Verwen-
dung einer rundlaufenden Kette, können
deren Fadenenden ebensogut für das Auge
kaum erfaßbar fixiert werden, z. B. durch
Verknoten an den einander gegenüberlie-
genden Längsseiten eines Stoffes oder flot-
tant verlaufender Elemente an der entspre-
chenden Stelle. Aber selbst diese „verräte-
rischen“ Fadenenden oder Fäden können
Buchbesprechungen
171
nachträglich noch versteckt werden, so daß
sie völlig unsichtbar bleiben.
3. Die Spiegelbildlichkeit zur „Trefflinie“
(sei diese nun vorhanden oder nur ange-
deutet) sowohl der Drehrichtung, der Mu-
sterung als auch der Fehler!
Völlig hilflos jedoch steht man da, wenn
aus einer Sprangarbeit mehrere fertige Stücke
(möglichst noch zu verschiedenen Zwecken)
entstanden sind, beispielsweise durch Zer-
schneiden der Kette; oder wenn man, was bei
älteren Erzeugnissen häufig der Fall ist, nur
ein Fragment in der Hand hält. Dann ist eine
eindeutige Zuweisung selbst für den Sachkun-
digen unmöglich und äußerste Vorsicht bei der
Interpretation angebracht. Komplexität des
Musters oder auch der Technik, besonders bei
Zwirnbinde-Formen, sind noch keine Be-, son-
dern nur Hinweise.
Zu den vom Autor selbst erwähnten Kri-
terien sind mir noch folgende weiteren Indi-
zien aufgefallen, die erfahrungsgemäß bei
einer Textilanalyse für Sprang und gegen ein
Maschenstoffverfahren bzw. gegen Sprang
und für eine Flechtereitechnik sprechen.
Für Sprang: wenn bei Einhängenormen
Asymmetrien in der Längsrichtung, d. h. in
einem Maschenstoff zur Scheitelachse einer
Masche, auftreten.
Einfaches Einhängen und vor allem Ein-
hängen mit Überspringen von Reihen werden
immer symmetrisch zur Maschenschcitelachse
gearbeitet, obwohl theoretisch die andere Mög-
lichkeit auch bestände. In der Praxis kommt
dies jedoch nicht vor, da ein solches Vorgehen
den repetitiven Bewegungsablauf beim Arbei-
ten behindern würde.
Gegen Sprang: wenn bei Flechtformen Pa-
nama- oder Atlasbindungen auftreten. Außer
in der einfachsten Verkreuzung, der Lein-
wandbindung, zeigen Sprangarbeiten stets Kö-
pervarianten.
Es sei abschließend nochmals betont, daß
Sprang mit zahlreichen primären und höheren
Textilverfahren kombiniert werden kann und
daß gerade Übergangsformen hier besonders
häufig auftreten, wie z. B. bei der sogenann-
ten „Ucayali-Weberei“, die Collingwood
im 2. Anhang (S. 287) erwähnt.
Abgesehen von kleinen Druckfehlern (S.36
sollte es wohl heißen „durchbrochene Arbei-
ten“ und S. 132 Paracas an Stelle von Cara-
cas) zeugt das Buch, sowohl in gestalterischer
als auch drucktechnischer Hinsicht von großer
Sorgfalt. Die Lektüre des beispielhaft klar ge-
schriebenen Textes weckt im Leser den Wunsch,
noch mehr über Sprang zu erfahren. Es muß
dem Autor hoch angerechnet werden, daß er
sich auch mit der Geschichte der mindestens
3000 Jahre alten Technik und mit ihrer heu-
tigen Verbreitung auseinandersetzt. Im 2. Ka-
pitel seiner Einführung (S. 35 ff.) gibt er uns
einen kurzen historischen Abriß. Zudem wer-
den bei der Erläuterung der verschiedenen
Varianten auch die ältesten ihm bekannten
Verfahren genannt (koptische, alt-peruani-
sche, alt-skandinavische) und die heute noch
traditionell praktizierten Formen ausführlich
diskutiert (besonders mittel- und südamerika-
nische). Viele, in der archäologischen und eth-
nologischen Fachliteratur erwähnte, oft falsch
eingeordnete Beispiele werden zudem vom
Autor erstmals als Sprang erkannt und Iden-
tifiziert, so u. a. die von W. Roth glücklicher-
weise vorbildlich beschriebenen Techniken der
Indianer Guayanas.
Nun, da die technologischen Grundlagen
und technischen Möglichkeiten von P. Col-
lingwood erarbeitet worden sind, wäre die
so lange vermißte Basis geschaffen, welche eine
vergleichende und historische Untersuchung
über die weltweite Verbreitung von Sprang
erlauben würde.
Annemarie Seiler-Baldinger
Werner Schiefel:
Bernhard Dernhurg 1865—1937. Kolonial-
politiker und Bankier im wilhelminischen
Deutschland. Beiträge zur Kolonial- und
Überseegeschichte, hrsg. von Rudolf v. Al-
bertini und Heinz Gollwitzer, Bd. 11. Zü-
rich: Atlantis o. /., 277 S., brosch.
Das vorliegende Buch ist eine geringfügig
ergänzte Fassung einer Dissertation, die von
der Philosophischen Fakultät der Universität
Münster 1972 angenommen und 1973 mit dem
Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnispreis ausge-
zeichnet wurde. Der Verfasser strebte drei Er-
kenntnisziele an: erstens, Einsichten über be-
stimmte Vorgänge, an denen Dernburg Anteil
hatte; zweitens eine exemplarische Konkreti-
sierung allgemeiner politischer und sozialer
Zustände; und drittens Erkenntnisse über die
gesellschaftliche Struktur des wilhelminischen
Reiches und über bestimmte Aspekte des Ver-
hältnisses von Staat und Wirtschaft, wie sie
aus Dernburgs Werdegang sichtbar werden
(S. 7 f.).
172
Buchbesprechungen
In einer einleitenden Skizze schildert der
Verfasser den Familienhintergrund und die Ju-
gend Dernburgs, der entgegen der Familien-
tradition bereits mit siebzehn Jahren die Schu-
le verließ, um Kaufmann zu werden. Dabei
wird schon hier auf die aus einer jüdischen
Fierkunft resultierende Problematik eines Po-
litikers der wilhelminischen Zeit hingewiesen.
Auf eine Schilderung der Zeit Dernburgs
als Banklehrling in den USA, als Direktor der
Deutschen Treuhandgesellschaft und der
Darmstädter Bank folgt das Mittel- und Kern-
stück der Arbeit, die Darstellung des „Kolo-
nialpolitikers“. In drei weiteren Teilen wird
Dernburgs politisches Wirken nach seinem
Rücktritt (1910) geschildert, in dem er noch
einmal für drei Monate im Jahre 1919 als
Reichsfinanzminister ins Rampenlicht der Öf-
fentlichkeit trat.
Als Staatssekretär des Kolonialamtes (1906
—10) verstand sich Dernburg als Reformator,
der aus der Wirtschaft kommend Wind in den
„verstaubten Laden“ in Berlin brachte. Und so
wurde seine Rolle auch vom Kaiser und Bü-
low aufgefaßt, die, der Kolonialkritik des
Reichstages müde, einen Mann suchten, der
imstande war, die Kolonien aus den roten
Zahlen zu holen. Um Dernburgs Tätigkeit im
Kolonialamt plastisch darzustellen, schildert
der Verfasser als Hintergrund die damals be-
stehenden Hauptprobleme der deutschen Ko-
lonialpolitik: die Wirtschaftlichkeit oder bes-
ser gesagt „Unwirtschaftlichkeit“ der kolonia-
len Besitzungen, die Siedlungspolitik und die
Eingeborenenfrage, die durch die Aufstände in
Südwest- und Ostafrika zumindest vorüber-
gehend in den Mittelpunkt des Kolonialinter-
esses getreten war.
Der Verfasser schildert, den Zielsetzungen
seiner Arbeit entsprechend, das Eingeborenen-
problem so, wie es sich am grünen Tisch in
Berlin oder auf den beiden Afrikareisen, die
Dernburg 1907 und 1908 zusammen mit
Walther Rathenau unternahm, darbot. Die
Problematik der deutschen Eingeborenenpo-
litik wird angeschnitten, bedauerlicherweise
aber nicht in ihrer ganzen Dimension ausge-
lotet, wobei gerne zugegeben wird, daß eine
ausführliche Behandlung gerade dieses Pro-
blems den Rahmen der Darstellung sehr leicht
hätte sprengen können. Zu bedauern ist weiter-
hin, daß der Verfasser bei der Behandlung der
Kolonialfragen sein Interesse auf die deutschen
Kolonien In Afrika und hier wiederum auf
Südwest- und Ostafrika konzentriert, die zu-
gegebenermaßen auch das größte Interesse
Dernburgs und seiner Zeitgenossen weckten.
Doch auch im pazifischen Raum gab es nicht
unbedeutende Probleme, man denke an die
Spannungen auf Samoa, den Aufstand auf der
Insel Ponape und die Befriedungspolitik auf
Neu-Guinea. Man hätte gerne erfahren, ob die
Erfahrungen der Kolonialverwaltung in der
pazifischen Region ebenfalls auf die Berliner
Zentrale zurückwirkten, wie es hinsichtlich der
Kolonien in Afrika der Fall war.
Diese „Lücken“ tun dem Gesamtergebnis
der Arbeit keinen Abbruch. Es ist eine beispiel-
hafte, thematisch orientierte, biographische
Untersuchung, die ausgezeichnet geschrieben
und mit Gewinn und Genuß zu lesen ist. Aus
diesem Grunde wünscht man dem Buch einen
breiten Leserkreis, dies auch deshalb, weil es
von einem Gebiet handelt, das in der deut-
schen Historiographie leider immer noch als
„unterentwickelt“ bezeichnet werden muß.
Statt der Kartenskizzen über die Entwick-
lung der deutschen Kolonialbahnen in den vier
afrikanischen Kolonien (S. 252 f.) hätte man
sich allgemeine Übersichtskarten gewünscht,
aus denen einmal die Relation der Eisenbahn-
linien zum Gesamtgebiet ersichtlich geworden
wäre und die überdies dem Leser eine allge-
meine Orientierung bieten und ihm ein häufi-
ges Nachschlagen im Atlas ersparen würden.
Johannes H. Voigt
EUROPA
Ludger Müller-Wille:
Lappen und Finnen in Utsjoki (Ohcijoh-
ka), Finnland. Eine Studie zur Identität
ethnischer Gruppen im Kulturkontakt.
Westfälische Geographische Studien, 30.
Münster/Wcstf.: Institut für Geographie
und Länderkunde und Geographische
Kommission für Westfalen. 1974. VIII,
285 S., 40 Tab., 28 Abb. (Ktn. u. Diagr.).
Müller-Wille versucht, eine Antwort
auf die Frage zu finden, auf welche Art und
Weise zum einen die Mitglieder einer ethnisch
Buchbesprechungen
173
differenzierten Gemeinschaft sich selbst und
andere nach ethnisch definierten Kriterien
identifizieren und zum anderen die kulturelle
Dichotomie der verschiedenen Gruppen auf-
rechterhalten wird. Die Untersuchung fand
in Utsjoki, der nördlichsten Gemeinde in Fin-
nisch-Lappland, statt und beschränkte sich
zeitlich auf ein Jahr, 1968/69, ergänzt durch
wiederholte Kurzbesuche.
In kultureller Hinsicht ist die Bevölke-
rung generell in zwei ethnische Gruppen ge-
teilt: in Lappen als Ureinwohner der Gegend
und in Finnen, die nach 1945, als das finni-
sche Volk die Kriegsfolgen überwinden muß-
te, in erheblichem Maße zuwanderten. Vom
biologischen Standpunkt aus kann man noch
eine dritte Bevölkerungsgruppe ausmachen,
die „Mischpopulation“, bestehend aus denje-
nigen Personen, deren Eltern ihre Abstam-
mung aus den beiden vorgenannten Gruppen
ableiten. Diese Leute nehmen, nach Ansicht
des Verfassers, kulturell eine Sonderstellung
ein, indem sie vielerlei Beziehungen zur Grup-
pe der Lappen unterhalten und nebenher ihre
ethnische Identifikation bevorzugt bei der fin-
nischen suchen. Dies dürfte ein völlig natür-
licher Umstand sein, da sie ja wirtschaftlich
vom finnischen Staat abhängig ist. Diese
Mischgruppe trägt dazu bei, die Integration
der Bevölkerung des nördlichsten Finnland in
die finnische Gesamtgcsellschaft zu beschleu-
nigen.
Der Autor stellt vier komplexe ethnische
Kriterien auf: „Sprache, Wirtschaft, Heirats-
beziehungen sowie Eigen- und Fremdzuwei-
sung“ (S. III), die entweder als lappisch oder
finnisch definiert werden. Ausgehend hiervon
versucht er, das ethnische Bewußtsein der bei-
den kulturell differenzierten Gruppen zu um-
reißen. Der Schwerpunkt wird jedoch auf die
Erforschung der „Behauptung des ethnischen
Bewußtseins der Minorität — Lappen — ge-
genüber der Majorität — Finnen" (S. III) ge-
legt. Die Lappen stellen, obgleich Majorität
im kleinen Bereich, eine Minorität im finni-
schen Nationalstaat dar, ein Umstand, der
meines Erachtens das Untersuchungsergebnis
teilweise bestimmt.
Die Sprache, wichtigstes kontakt- und kul-
turförderndes Instrument, scheint zur Einheit-
lichkeit hin zu tendieren: Finnisch. Es ist die
offizielle Sprache und als solche von größtem
Nutzwert. Dem Lappischen kann Gleichwer-
tigkeit mit dem Finnischen nicht zugesprochen
werden, denn für den Umgang mit Behörden
beispielsweise wird Finnisch in Wort und —
vor allem — Schrift verlangt. Schule und
Massenmedien, Zeitungen, Rundfunk, Fern-
sehen, spielen hier eine nivellierende Rolle.
Das Lappische ist allerdings nach wie vor un-
erläßlich in Intralingualen und intraethnischen
Zusammenhängen und mithin ein identitäts-
bestimmender Faktor.
Der Autor stellt die Zweiteilung des Un-
tersuchungsgebietes fest: in den lappischen Be-
reich mit den traditionellen Verrichtungen
Rentierzucht, Ackerbau, Viehzucht, Jagd, Fi-
scherei und Heimarbeit sowie in den finni-
schen mit Lohnabhängigen, Gelegenheitsarbei-
tern und Gewerbetreibenden. Die Lappen
werden jedoch mehr und mehr in das finni-
sche Wirtschaftsleben einbezogen. Eine Bewe-
gung In umgekehrter Richtung ist nicht fest-
stellbar. Inwieweit aus diesem Umstand ein
bewußtes Aufrechterhalten kultureller Dicho-
tomie abzulesen ist, mag dahingestellt bleiben.
Auch in dieser Betrachtung müssen wir doch
die Faktoren Tradition und Nutzen berück-
sichtigen. Als die Lappen nach Utsjoki zurück-
kehrten, wandten sie sich wieder ihren alten
Erwerbstätigkeiten zu, während die zugewan-
derten Finnen einen ganz andersartigen Er-
fahrungsschatz mitbrachten.
Allgemein betrachtet, schreibt der Autor,
hat sich bei den Lappen eine Art Doppeliden-
tität herausgebildet, und zwar durch den inni-
gen kulturellen Kontakt. Man identifiziert
sich sowohl mit dem lappischen als auch mit
dem finnischen Kulturkreis. Das ist nach mei-
nem Erachten keineswegs abwegig; Die Lap-
pen sind vollwertige Bürger der jeweiligen
Staaten und werden als solche aller bürgerli-
chen Rechte teilhaftig. Am ehesten ließe es sich
so ausdrücken: Aus nationaler Sicht sind die
Lappen von Utsjoki Finnen, aus kultureller
Sicht Lappen. Bemerkenswert an dieser Unter-
suchung ist auch die Feststellung des Verfas-
sers, daß die Kontaktverhältnisse in gewissem
Ausmaß die ethnische Identifikation eines In-
dividuums bestimmen. In prolappischer Um-
gebung gibt es sich als Lappe, in profinnischer
als Finne: „ ... es wird von ihnen nicht ver-
sucht, in finnisch orientierten Bereichen gegen-
über Finnen ihr lappisches Bewußtsein hervor-
zuheben“ (S. 206).
Ist das nicht ein gemeinsamer Zug aller
Minderheiten?
174
Buchbesprechungen
Eine historisch-politische Übersicht bildet
den Hintergrund der Untersuchung Müller-
Willes. Bei der Feldforschung hat er sich sol-
cher Methoden, wie Interviews (auf Finnisch),
Archivstudien, Erhebungen u. ä., bedient. Die
Schwächen dieses Verfahrens liegen auf der
Hand. Die Situation ist künstlich herbeige-
führt und als solche für Korrekturen und Mo-
difikationen wenig geeignet.
Die Arbeit des Autors muß dennoch als
eine genaue Dokumentation des zusammenge-
tragenen Materials über die Gegebenheiten ei-
nes bestimmten Gebiets betrachtet werden, in-
dem sich Lappen als Minorität einer Majori-
tät gegenübersehen. Diese Dokumentation
macht trotz allem deutlich, daß die Problema-
tik in etwa für den gesamten lappischen Le-
bensraum gleich ist: Wie lassen sich die Be-
wahrung kultureller Eigenart und die Inan-
spruchnahme von Rechten im Staatswesen in
Einklang bringen?
Louise Bäckman
Gustav Hagemann:
Das Leben der Lappen in ihren Ritzungen
und anderen Zeugnissen. Iserlohn: Sauer-
land-Verlag. 1976. 157 S., 166 Abh.
Der Künstler Gustav Hagemann hat schon
mehrfach Sammlungen seiner Zeichnungen
vorgelegt, die er seit Ende der zwanziger Jah-
re von den Lappen in Nordskandinavien ge-
macht hat. „Das Leben der Lappen“, das —
nach dem Geleitwort von Ernst Manker zu
urteilen — auf eine zehnjährige Drucklegungs-
geschichte zurückblicken kann, stellt neben
Hagemanns eigenen Kohlezeichnungen 120
Ritzungen von Lappen auf Kupferplatten
vor, die Hagemann nach Lappland eingeführt
hat, um die Lappen mit diesem Material ver-
traut zu machen. Auf diesen Platten stellten
die Lappen mit Hilfe eines Messers Motive
dar, die überwiegend Themen, wie Lebenszy-
klus, Natur, Rentierwirtschaft, religiöse Vor-
stellungen und Vergangenes, betreffen. Das
Buch ist nach diesen Themen geordnet. Die
Darstellungen werden durch Erläuterungen
und sporadische Tagebuchnotitzen Hage-
manns aus den Jahren seit 1929 erklärt. Die
Anordnung der Kapitel wurde von der Berli-
ner Museumscthnologin H. Nixdorff vorge-
nommen, die auch jeweils eine kurze Einlei-
tung zu den angesprochenen Themen gibt. Es
muß für Nixdorff und für den im Vorwort
erwähnten Professor H. Schwarz eines gro-
ßen Einsatzes bedurft haben, die Hagemann-
schen Materialien und Reminiszenzen in den
Griff zu bekommen. Dies zeigt sich vor allem
in den Bemühungen, dem Material einen eth-
nographischen Zusammenhang zu geben.
Das Buch soll in seiner kunstvollen und
ansprechenden Aufmachung das Interesse und
die Aufmerksamkeit sowohl des Laien als auch
des Ethnologen wecken. Deutsche Fachlitera-
tur über die Lappen, wenn man von den we-
nigen Übersetzungen absieht, ist nicht sehr
zahlreich. Um so mehr findet sich einschlägige
Reise- und Erlebnisliteratur, die in Deutsch-
land das Bild der Lappen als in der Wildmark
lebendes Urvolk formten und immer wieder
bestätigten. Dies geschieht auch teilweise durch
Hagemann selbst, wenn er z. B. das „herrli-
che Leben“ in der Vergangenheit betont, auch
wenn sich Nixdorff in der Einführung be-
müht, diese Vorstellungen durch das Erwäh-
nen der letzten Entwicklungen zu neutralisie-
ren. Es ist schade, daß sich Nixdorff in ihren
Ausführungen allein auf drei Spalten be-
schränken mußte. Glücklicherweise wird deut-
lich, daß nur ein geringer Teil der Lappen in
der Rentierwirtschaft tätig ist, mit der die
Lappen hauptsächlich identifiziert werden.
Hagemanns Erläuterungen zu den lappi-
schen Ritzungen und seine Tagebuchaufzeich-
nungen seiner Lapplandreisen, die während
vier Jahrzehnten entstanden sind, wirken
punktuell und oft zu vereinfachend. Es ist
kaum Reflexion, eher Distanzierung gegen-
über der lappischen Lebensweise zu spüren,
die als etwas Gesondertes genommen wird.
Verweise auf das „Schneeschuhlaufen“ (S. 29)
lassen eine gewisse Unsicherheit in der ethno-
graphischen Terminologie vermuten. Trotz-
dem: die Ritzungen stellen eine Art der lappi-
schen Kunst dar, deren Anstoß und Erhaltung
ein Verdienst Hagemanns ist. Es wäre interes-
sant zu erfahren, ob die Originalritzzeichnun-
gen heute auch lappischen Museen zur Aus-
stellung zur Verfügung stehen, sind sie doch
Teil lappischer Geschichte.
Alles in allem vermittelt „Das Leben der
Lappen“ nur einen kleinen Ausschnitt der lap-
pischen Kultur. Man muß sich fragen, ob sich
der Aufwand hinsichtlich der Aufmachung für
die Herausgabe dieses Buches gelohnt hat.
Ludger Müller-Wille
Buchbesprechungen
175
AFRIKA
Godfrey Muriuki:
A History of the Kikuyu 1500—1900.
Nairobi — London — New York: Oxford
University Press. 1974. 190 S., 5 Karten.
Das vorliegende Buch ist die erste zusam-
menfassende Darstellung der vorkolonialen
Geschichte der Kikuyu. Ihm fällt daher die
Aufgabe zu, eine seit langem bestehende Lücke
zu schließen.
Der erste Teil des Buches (Kap. 2 und 3)
ist der territorialen Expansion der Kikuyu
und ihrer Nachbarn Embu, Meru, Cuka,
Mbeere und Tharaka gewidmet. Mit Hilfe der
Genealogien der einzelnen „mbari“ (traditio-
nelle Großfamilie) und des Altersklassensy-
stems als chronologischer Datierungshilfe wer-
den die Wanderungsrouten dieser Völker in
ihre heutigen Siedlungsgebiete rekonstruiert.
Dank seiner detaillierten Recherchen ist der
Autor in der Lage, das in vielen Punkten un-
genaue und fiktive Geschichtsbild dieses Teils
von Ostafrika zu korrigieren. Zwei der wich-
tigsten Punkte seien kurz herausgegriffen:
1. Sowohl linguistische als auch archäologische
Befunde ergaben, daß die Völker um den
Mount Kenya insgesamt Nachfahren eines
früheisenzeitlichen Jägervolkes, der Thagicu,
sind. In den Traditionen dieser Völker finden
sich keine Anhaltspunkte dafür, daß sie aus
Shungwaya am Indischen Ozean in das zen-
trale Hochland eingewandert sind, wie dies
noch von der älteren Forschung angenommen
wurde. Ihre Herkunft aus Tigania und Igem-
be in Meru gilt vielmehr als gesichert.
2. Die Konstituierung der Kikuyu als eigen-
ständige ethnische Gruppe erfolgte erst im
Verlauf dieser Wanderungen im 17. Jahr-
hundert. Ithanga, im heutigen Mbeere-Land,
spielte dabei eine wichtigere Rolle als das my-
thische Mukurue wa Gathanga, das bisher als
Garten Eden der Kikuyu galt.
Die Besiedlung des Hochlandes durch die
Kikuyu war nicht das Ergebnis einer einmali-
gen Völkerwanderung, sondern eines allmäh-
lichen Expansionsprozesses, den erst die eng-
lische Kolonisation zum Stillstand brachte.
Getragen von einzelnen Pionieren und kleine-
ren Familienverbänden, die das Land durch
Roden und Fallenstellen in Besitz nahmen,
hatte die Okkupation vornehmlich friedlichen
Charakter. Dort, wo man auf autochthone
Jäger- und Sammlervölker (Gumba, Athi)
stieß, erwarb man sich Landrechte durch Ein-
heirat, traditionell festgelegte Transaktionen
oder durch „Kauf“, ohne daß dieser im Fall
der Kikuyu-Athi-Verhandlungen rein kom-
merziellen Charakter gehabt hätte.
Die Analyse der intertribalen Beziehun-
gen (Kap. 4) gehört mit zu den interessan-
testen Abschnitten des Buches. Die Fragwür-
digkeit wissenschaftlicher Aussagen auf Grund
von Eindrücken europäischer Reisender und
kolonialer Administratoren wird insbesonde-
re am Beispiel der Kikuyu-Maasai-Beziehun-
gen deutlich. Wie der Autor nachweist, ent-
spricht die Komplexität dieser Beziehungen
auf Grund der Komplementarität ihrer Wirt-
schaftsform und der beträchtlichen kulturellen
Assimilation in keiner Weise der von den
meisten Historikern unkritisch übernommenen
Vorstellung von der Erzfeindschaft dieser bei-
den Gruppen. Diese ist vielmehr eine Fiktion,
die von den Kamba erfunden wurde, um ihr
Handelsmonopol zwischen Küste und Hinter-
land vor eventuellen Konkurrenten abzusi-
chern.
In Kap. 6 und 7 werden die Anfänge der
frühen Kolonialpolitik beschrieben und ihre
Auswirkungen auf die Gesellschaft der Kiku-
yu untersucht. Wichtigstes Fazit: Die Politik
der „Imperial British East African Company“
erschütterte nicht nur das intertribale Gleich-
gewicht am Mount Kenya, sondern sie trug
auch zur Verschärfung der schon in der vor-
kolonialen Phase existierenden Widersprüche
unter den Kikuyu bei. Indem die aufbrechen-
den gesellschaftlichen Konflikte auf das Ver-
hältnis der von der Kolonialmacht eingesetz-
ten Häuptlinge zu ihren Untertanen be-
schränkt werden, bleiben aber die eigentlichen
Ursachen der sich abzeichnenden Polarisierung
der Kikuyu-Gesellschaft ungeklärt. Dafür
hätte es m. E. einer detaillierten Analyse der
ökonomischen und sozialen Transformation
der Kikuyu-Gesellschaft zu Beginn des 20.
Jahrhunderts bedurft. Trotz eines Versuchs,
die vorkoloniale Sozialstruktur zu beschrei-
ben (Kap. 5), bleibt der Autor zu sehr auf die
traditlonalen Sozialverhältnisse — Akephalie,
Egalitarismus — fixiert, um der sich mit dem
„ahoi“-Problem (landlose Pächter) abzeich-
nenden sozialen Differenzierung Rechnung
tragen zu können. Ute Luig
176
Buchbesprechungen
Paul Riesmann:
Société et Liberté chez les Peul Djelgôbé
de Haute-Volta. Essai d'anthropologie in-
trospective. École Pratique des Hautes
Études — Sorbonne. Sixième Section:
Sciences Économiques et Sociales. Cahiers
de l’homme, n. s. XIV. Paris — La Haye:
Mouton. 1974. 261 S., 2 Abb.
Der Verfasser hat fast zwei Jahre zusam-
men mit seiner Frau in dem Dorf Petaga
in der Landschaft Djelgodji gelebt, die im
Nordosten Obervoltas zum Cercle Djibo ge-
hört. Das Dorf wird von Djelgôbé bewohnt,
einer Ful-Gruppe, deren Mitglieder patri-
lineare Abstammung von einem namentlich
nicht mehr bekannten, gemeinsamen Ahnen
beanspruchen. Diese Gruppe kann dadurch be-
sondere Aufmerksamkeit erregen, daß ihr die
Gründer der Häuptlingsschaften Djibo, Bara-
boullé und Tongomayel angehörten. Für die
vorliegende Untersuchung ist diese Tatsache
freilich irrelevant, wenn man davon absieht,
daß sie bei der Auswahl der Gruppe eine Rol-
le gespielt haben mag. Der Verfasser hatte sich
vorgenommen, das Leben der Bewohner von
Petaga zu teilen. Er hatte sich vor seinem Auf-
enthalt durch intensives Sprachstudium auf
seine Forschung vorbereitet, die er auch ohne
Dolmetscher durchführte.
Ein erstes Kapitel überschrieb der Verfas-
ser „Klima und Technologie“. Der Begriff
„Technologie“ ist nicht im herkömmlichen
Sinn benutzt worden, also zur Beschreibung
technischer Prozesse bei der Fferstellung von
Gebrauchsgegenständen, sondern er wird auf
Subsistenzwirtschaft, Jahresablauf im Wirt-
schaftsleben und Wasserprobleme bezogen.
Das zweite Kapitel ist der gesamten Bevöl-
kerung der Landschaft Djelgodji gewidmet.
Dort werden die beiden Ful-Gruppen (Djel-
gôbé und andere Ful, die nur pauschal als
Ful von Djelgodji bekannt sind) vorgestellt,
die zusammen mit den Ful sprechenden Rii-
maayBe (Nachkommen früherer Sklaven der
Ful) 72°/o der Bevölkerung ausmachen. Fer-
ner werden die Stellung der Kasten und ihrer
Angehörigen und die territoriale Verteilung
der Lineages diskutiert.
Das sehr wichtige dritte Kapitel befaßt
sich mit der Struktur der Ful-Gesellschaft.
Der Verfasser geht dabei von der Siedlung,
wuro, aus. Die wuro definiert er als soziogeo-
graphische Einheit, die einen Mann als Obcr-
haupt anerkennt und deren Mitglieder mit-
einander verwandt sind oder sich stets be-
nachbart waren. In diesem Sinn bildet schon
ein Ehepaar eine wuro, und im weitesten Sinn
jede Gruppe, die sich als Gemeinschaft auf-
faßt. Die wuro ist nicht beständig, sondern
sie existiert nur, solange die Mitglieder bei-
einander sind. Strukturelle soziale Einheit ist
die Lineage, die der Verfasser in erster Linie
als Konzept interpretiert, das die Zugehörig-
keit zu einer Gruppe dokumentiert (S. 44).
Gemeinsame Riten oder gemeinsames Han-
deln in der Verfolgung eines kollektiven Ziels
existieren offenbar nicht. Dagegen gehört der
Lineage der Lebensraum Ihrer Mitglieder. Am
Schluß des Kapitels wird die Organisation
der Macht in Häuptlingsschaft und Dorf dis-
kutiert.
Das vierte Kapitel versucht, die verschie-
denen Personenkategorien und ihre Aufgaben
im täglichen Leben darzustellen. Hier wer-
den behandelt: das Tabu, die Namen be-
stimmter Personen auszusprechen; die Tren-
nung nach Geschlechtern und Altersklassen;
die soziale Arbeitsteilung zwischen Mann und
Frau; die produktive Arbeitsteilung. Das sich
anschließende Kapitel ist den Autoritätsver-
hältnissen gewidmet.
Im sechsten Kapitel, das „La religion“
überschrieben ist, werden in einem wesentli-
chen Abschnitt die als Hamallismus bekann-
te religiöse Bewegung und ihre Folgen be-
schrieben, die 1941 durch Abdoulaye Dou-
koure bei den Djelgobe ausgelöst wurde.
Außerdem werden Einblicke in die religiöse
Erziehung der Kinder, das Gebet, den Kon-
flikt zwischen Islam und den alten Bräuchen
der Ful am Beispiel der Heiratszeremonien
gegeben. Der erste Teil des Werkes schließt
mit einem Kapitel über „Das Ful-Sein und
die Scham“. Hier wird versucht, durch eine
Analyse des Verhaltens der Djelgöbe-Ful ge-
genüber anderen ethnischen Gruppen und ge-
genüber anderen Ful sowie auf Grund der
Aussagen der Gewährsleute herauszuarbeiten,
was für diese Ful typisch ist, was sie als
Ful charakterisiert. In diesen Zusammenhang
hat der Verfasser mit gutem Recht den Be-
griff der Scham bei den Ful gestellt. Die sehr
große Bedeutung des Schamgefühls, das auf
Angehörige anderer ethnischer Gruppen of-
fenbar grotesk wirken kann, wurde dem Re-
zensenten von Moba und Gurma In Nord-
togo geradezu als charakteristisch für die Ful
Buchbesprechungen
177
genannt und mit sehr drastischen Beispielen
erläutert.
Ist der erste Teil des Buches vom Verfas-
ser mit dem Ful-Wort tawaangal (Brauch,
Tradition) überschrieben worden, so stellt er
die zweite Hälfte unter den Titel „Das ge-
lebte Leben“. In diesem Abschnitt des Buches
werden Verhaltensweisen in verschiedenen Si-
tuationen des Lebens und gegenüber verschie-
denen Bezugspersonen, die Aufrechterhaltung
des gesellschaftlichen Lebens (konventionelle
Formen, aber auch emotionale Reaktionen),
persönliche Freiheit und die Möglichkeiten
und Grenzen des Widerstandes gegen sozia-
le Pressionen dargestellt. Im Schlußkapitel
geht der Verfasser dem Gegensatz Dorf —
Busch nach, der in der Vorstellungswelt und
in den Verhaltensweisen der Ful eine erheb-
liche Rolle spielt. Der zweite Teil ist in der
Fülle der angeschnittenen Probleme minde-
stens so reichhaltig wie der erste. Subjektiv
gewann der Rezensent den Eindruck einer
noch größeren Vielzahl von einzelnen The-
men.
Dieses hochinteressante Buch bringt den
Leser mehr als einmal in Verwirrung, und
es ruft manche zwiespältigen Gedanken her-
vor. Der Rezensent hätte sich eine stärkere
Durcharbeitung der „technischen“ Seite der
Sozialstruktur gewünscht. Manchmal fällt es
schwer, den „roten Faden“ eines Kapitels zu
erkennen. Es gibt Überschriften, deren Zu-
sammenhang mit dem folgenden Text nicht
unbedingt einleuchtet oder diesen zumindest
unzureichend charakterisiert. Ein Beispiel: Auf
S. 66 steht die Überschrift „Une cérémonie
comme révélateur de la division du travail
social“. In dem folgenden Text wird die Na-
mengebungszeremonie beschrieben, vor allem
die Verteilung von Fleisch und Geschenken . . .
Während fortlaufender Lektüre des Werkes
mag das nicht stören. Beim Gebrauch als Quel-
le kann man durch solche Überschriften man-
che interessante Angabe leicht übersehen, denn
dem Buch ist leider kein Schlagwortregister
beigegeben. Nicht zuletzt ist das auch des-
halb zu bedauern, als zu einigen Themen An-
gaben an ganz verschiedenen Stellen des Bu-
ches stehen.
Unbefriedigend erscheint dem Rezensen-
ten das Kapitel über die Religion. Hier gibt
der Verfasser offen seine Grenzen zu, indem
er sich als Atheist bekennt und mehr oder we-
niger erkennen läßt, daß es ihm schon allein
zuwider ist, das Wort „Dieu“ bzw. „Allah“
etc. zu gebrauchen, und sei es auch nur in
Grußformeln. Bei positiverer Einstellung hät-
te dieses Kapitel über das religiöse Leben der
Djelgöbe wohl reicher und verständnisvoller
ausfallen können. Sicher ist dem Verfasser
nicht abzusprechen, daß er sich um Toleranz
bemüht, aber — auch ein Ethnologe kann
eben nicht über seinen Schatten springen.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß der
Autor auch die Reaktionen der Ful auf seine
und seiner Frau Gegenwart und umgekehrt
seine eigenen Reaktionen den Ful gegenüber
in bestimmten Situationen schildert und zu
analysieren versucht. Am Rande sei noch ver-
merkt, daß Riesmann mehrere psychologische
Tests mitgenommen hatte und bei den Ful
anwenden wollte. Obwohl er der Sprache
dieser Menschen mächtig war und direkt mit
ihnen verkehrte, ist es ihm auch im zweiten
Jahr seines Aufenthaltes nicht gelungen, eine
brauchbare Testsituation zu schaffen.
Mit dem im Untertitel des Werkes auf-
tauchenden Begriff der „introspektiven An-
thropologie“ konnte der Rezensent zunächst
nichts anfangen. Es hätte nichts geschadet,
wenn der Verfasser sich den Untertitel er-
spart hätte, der lediglich ein Schlagwort ist.
Klarer wäre es jedenfalls gewesen, wenn dort
ausgedrückt worden wäre, daß in dem Buch
vor allem von sozialen Normen, Verhaltens-
weisen und Konventionen des täglichen Le-
bens die Rede ist.
Alles in allem hat der Verfasser einen
wichtigen Beitrag zur Kenntnis der Ful ge-
leistet. Bedeutsamer erscheint jedoch der For-
schungsansatz, auf neuen Wegen zu tieferen
Erkenntnissen über menschliche Kultur zu
kommen. Hier hat der Verfasser Pionierar-
beit geleistet. Dieses Buch sollte nicht nur
von Afrikanisten zur Kenntnis genommen
werden. Jürgen Zwernemann
Ann Patricia Caplan:
Choice and Constraint in a Swahili Com-
munity — Property, Hierarchy, and Cog-
natic Descent on the East African Coast.
Puhlished for the International African
Institute. London: Oxford University
Press. 1975. xix + 162 pp., 30 tab., 2
maps, 12 figures.
12
178
Buchbesprechungen
Der Fülle von Arbeiten zur Sprache, Lite-
ratur und Geschichte der Swahili sprechenden
Gesellschaften in Ostafrika steht eine ver-
gleichsweise winzige Zahl von Bearbeitungen
ethnosoziologischer Art gegenüber. Im Hin-
blick auf die große und immer noch wachsende
Bedeutung der Swahilisprache für mehr als
30 Millionen ostafrikanischer Inländer mit ei-
genen Kulturtraditionen ist die Dürftigkeit
unserer Kenntnisse von den sozio-kulturellen
Verhältnissen der Küstenleute (d. h. „Swa-
hili“), aus denen die Sprache bis heute den
größten Teil ihrer Wachstumssubstanz bezieht,
um so bedauerlicher und jeder Kenntniszu-
wachs schon um seiner selbst willen zu be-
grüßen.
Caplans Untersuchung gilt dem Zusam-
menhang zwischen institutionell vorgegebenen
Wahlmöglichkeiten bzw. Wahlbeschränkungen
und den Entscheidungen von Individuen und
Gruppen im Rahmen Ihrer Daseinsvorsorge.
Das Feld ihrer Untersuchungen ist eins von
sechs größeren Dörfern im Norden der vor
der Mündung des Rufiji im Indischen Ozean
gelegenen Insel Mafia. Etwas über ein Jahr
verbrachte die Autorin dort zwischen 1965
und 1967.
In methodischer Hinsicht legt die Autorin
ihrer Analyse eine Gliederung in drei Ebe-
nen zugrunde, nämlich erstens die Ebene der
„conscious models“ (d. h. der Entscheidungs-
ideologien), die analytisch zu einem „mecha-
nical model“ („a set of jural rules“) zusam-
menzuziehen sind; zweitens die Ebene des
„Statistical model“ („what people do“); und
schließlich die Ebene des „self-interest, action
or decision model“. Auf der Ebene der „con-
scious models“ werden drei vorkommende Ar-
ten von Beziehungssystemen diskutiert: unbe-
schränkte, kognatische Abstammungsgruppen;
Ego-bezogene, personale Beziehungsnetze; und
die sozioreligiöse Hierarchie des Dorfes. Drei-
ßig kleine Tabellen und Übersichten (im Text)
und zehn Diagramme von Genealogieaus-
schnitten repräsentieren den Kern des „Statis-
tical model“. Das „decision model“ wird aus
achtzehn Fallberichten und allgemeinen Fcld-
kenntnissen entwickelt.
Nicht so sehr vielleicht der unter Teil-
nehmern an der Theoriediskussion seit zwan-
zig Jahren umstrittene Begriff der kognati-
schen Abstammungsgruppe selbst, als vielmehr
die unzureichende empirische Rechtfertigung
für seine Verwendung hier lädt zur Kritik
ein. 93°/o der 930 Dorfbewohner beanspru-
chen für sich sogenannte „freigeborene“ Ab-
stammung. Die restlichen 7°/o verteilen sich
auf höherrangige Araber und Bajuni und nie-
derer eingestufte Festlandafrikaner und Nach-
kommen früherer Sklaven. Jede freigeborene
Person besitzt nach kognatischer Abstam-
mungsrechnung die Mitgliedschaften der vikao
(sg. kikao) genannten Siedlungsgruppen aller
ihrer bekannten Vorfahren. Auf die 380 er-
wachsenen Freigeborenen verteilen sich 672
Mitgliedschaften in den sechs vikao des Dor-
fes in der Form, daß 45,5°/o dieser Personen
— wegen endogamer Heiraten ihrer Vorfah-
ren — nur über je eine einzige kikao-Mit-
gliedschaft verfügen, während 16,5°/o — durch
Zwischenheiraten ihrer Vorfahren — Mit-
gliedschaften in drei, vier oder fünf vikao
besitzen. Diese sechs vikao oder Siedlungs-
gruppen werden von der Autorin als kognati-
sche Abstammungsgruppen bezeichnet.
Zwar schweigt die Autorin dazu, doch
scheint das genealogische Material (z. B. fig.
8, S. 67) trotz Stützung anzudeuten, daß sich
das anscheinend egalitäre, sogenannte kogna-
tische System möglicherweise in einem kom-
plexeren System erbranggestufter, linearer Be-
ziehungen mit marginaler Möglichkeit zur In-
anspruchnahme „mittelbarer“ Abstammungen
von FM, MF usw. her auflösen läßt. (Vgl. z.
B. Lienhardt, 1968, S. 33—35.) Bis vor drei
oder vier Generationen scheinen matrilineare
Verhältnisse vorgeherrscht zu haben (vgl. z.
B. fig. 7, S. 64); die Statistik über Ver-
wandtenheiraten (S. 28) legt den Schluß na
he, daß matrilineare Exogamie bis heute die
Regel ist. Gegenwärtige lokalisierte Linien
(sg. tumbo, mlango oder koo) von zwei bis
drei Generationen Tiefe scheinen dagegen,
nach den Diagrammen zu schließen, nach
patrilinearen oder ambilinearen Grundsätzen
konstituiert zu sein.
Die Autorin übergeht diese schwierigen
Fragen mit Stillschweigen. Statt dessen er-
klärt sie die vikao kurzerhand zu „cognatic
descent groups“ und verweist (S. xvi) zur
Begründung auf ihren Aufsatz von 1969, in
dem jedoch ebensowenig Aufklärung zu fin-
den ist. (Was übrigens Lienhardt, ibid.,
„descent groups“ genannt hatte, und zwar
ohne den Zusatz „cognatic“, sind Gruppen
weit geringerer genealogischer Tiefe, die etwa
dem tumbolmlango/koo von Caplan entspre-
chen. Sic können kaum, wie die Autorin es
Buchbesprechungen
179
tut (S. xvi), als Präzedenzfall für den Ge-
brauch des Terminus in Anspruch genommen
werden.)
Anlaß, die vikao zum Angelpunkt ihrer
weiteren Untersuchungen zu nehmen, findet
die Autorin in der Tatsache, daß jedes kikao
in unterschiedlicher Menge und Qualität Län-
dereien für Siedlung, Kokospalmenpflanzun-
gen, Reisanbau und ßuschlandackcrbau besitzt
und Anteile in erster Linie Mitgliedern zur
Nutzung überläßt. (In mancher Hinsicht schei-
nen diese Funktionen jedoch eher von den lo-
kalisierten Linien ausgeübt zu werden.) Ge-
sellschaftlicher Status, islamisch-religiöses Pre-
stige, politischer Einfluß und traditionelle
Heilkraft (Besessenheitskulte) und Magie sind
ebenfalls an bestimmte vikao gebunden. Das
Streben von Gruppen und Individuen nach
Daseinssicherung bedient sich der ererbten und
durch Heirat für die Nachkommen zu er-
werbenden oder von unnötigem Konkurrenz-
druck freizuhaltenden H/^o-Mitgliedschaften.
Das Hauptanliegen der Autorin ist die Dar-
legung der die Entscheidungen in diesem Rah-
men bestimmenden Hintergründe und Ten-
denzen.
Leider liegt in der etwas nachlässigen Re-
daktion der für diese Argumentation wichti-
gen statistischen Tabellen ein weiterer Man-
gel des Buches. Erstens zeigt sich in den we-
nigen Fällen, in denen ein Vergleich zwischen
mehreren Tabellen möglich ist, eine hohe Fre-
quenz von Druckfehlern. Beispiele: (1) S. 32,
2. Abs.; statt „just over half“ richtig: 55°/o;
statt „nearly 40°/o“ richtig: 54%. (2) In
table 16 (S. 57) Zeile C heißt es 18%, in
table 29 (S. 146) ist derselbe Wert dagegen
mit 36% angegeben. (3) Table 22 (S. 79):
ln Kolumne„o d/g“ muß die Ziffer 3 von der
ersten Zeile in die zweite Zeile gerückt wer-
den. (4) In table 23 (S. 81) und table 29
(S. 146) muß es in den Zeilen A und D wohl
statt 70% richtig 71% heißen. (5) Table 25
(S. 97) und table 29 (S. 146): Die beiden
Werte in Zeile/Kolumne C sind in einer der
beiden Tabellen vertauscht. (6) Tabelle 30 (S.
147): Die Werte in Zeile A sind offenbar
durch mehrfache Manipulationen in eine Form
gebracht worden, die zwar eine Summe von
100% ergibt, aber keine Rück Verwandlung
in die richtigen absoluten Mitgliedschaftszah-
len mehr zuläßt. (7) Table 30 (S. 147): Die
Zeile E ergibt nicht, wie angegeben, 100%,
sondern nur 98%. (8) Table 5 (S. 24) im-
pliziert einen n-Wert von 482 erwachsenen
Dorfbewohnern, während table 1 (S. 8) einen
solchen von 486 angibt. — Oskar Baumanns
Herausgeber (vgl. S. 155) war übrigens nicht
der Verein für Erkands (sic) zu Leipzig, son-
dern der für Erdkunde.
Zweitens ist bei zahlreichen Prozentwert-
tabellen der genaue n-Wert nicht angegeben,
während gleichzeitig, um die Verwirrung zu
steigern, in den Überschriften oft von „mem-
bers“ die Rede ist, aber tatsächlich „member-
ships“ gemeint sind. Dazu gibt es ungeklärte
Diskrepanzen, z. B. zwischen der Gesamtzahl
der freigeborenen Männer, die in table 1 (S.
8) mit 189 angegeben ist, und der von 187,
die in table 8 (S. 31) genannt und so auch
in anderen Tabellen implicite verwandt wird;
oder zwischen der Summe von 328 Mitglied-
schaften dieser Männer, die sich aus der letz-
ten Spalte von table 30 (S. 147) errechnen
läßt, und der Summe von 327 Mitgliedschaf-
ten, die der übrige Teil der Tabelle 30, wie
auch Tabelle 8 und andere voraussetzen. So
unbedeutend, wie diese Unstimmigkeiten zu-
nächst erscheinen mögen, sind sie doch hinder-
lich beim Versuch, schwerwiegendere Druck-
fehler zu berichtigen.
Drittens ist zu bedauern, daß keine Sta-
tistik über die Häufigkeit der möglichen
Kombinationen von Mitgliedschaften in den
verschiedenen vikao geboten wird. Sie würde
nicht nur wesentliche Informationen über
die Zwischenheiratspolitik bieten können, son-
dern auch erst eine über Impressionismus hin-
ausgehende Vergleichung anderer Statistiken
miteinander ermöglichen.
Am Ende (S. 148) drückt die Autorin die
Hoffnung aus, ihr Buch möge wenigstens ge-
zeigt haben, daß die drei Modelle zusammen
größeren Erklärungswert besitzen als jedes
von ihnen allein. Mein Eindruck ist, daß der
Erklärungswert des mechanischen und des sta-
tistischen Modells in der vorgelegtcn Form
leider beschränkt ist. Übrig bleibt das „deci-
sion model“, über das hier aus Raumgründen
nichts weiteres ausgeführt werden kann, das
aber auch allein das Buch lesenswert macht.
Für jeden Studenten der Swahilisprache sollte
es zur Pflichtlektüre werden.
Zitierte Literatur:
Caplan, Ann Patricia: Cognatic descent
groups on Mafia Island, Tanzania. Man n. s.
4 (1969), 419—431.
180
Buchbesprechungen
Lienhardt, Peter A.: Introduction, in; Hasa-
ni bin Ismail. The Medicine Man: Swifa y a
Nguvumali. Oxford 1968, 1—80.
J. C. Winter
Claude Robine.au:
Évolution économique et sociale en Afri-
que Centrale. L’exemple de Souanké (Ré-
publique Populaire du Congo). Mémoires
O. R. S. T. O. M. no. 45. Paris: O. R. S.
T. O. M. 1971. 222 S., 34 Karten, Tab.
und graf. Darst., 20 Fotos.
Robineaus Untersuchung, vom Office de
la Recherche Scientifique et Technique Outre-
Mer (ORSTOM), Brazzaville, in Auftrag ge-
geben (S. 8), ist im Rahmen der Bemühungen
um die Entwicklung der Volksrepublik Kon-
go zu sehen, in denen der Kakao seit ca. 1956
eine Rolle spielt. Im Jahr 1963 erhielt die
Kakaowirtschaft eine EG-Subvention (S. 142),
im gleichen Zeitraum schien sie jedoch stag-
nierende Erträge zu erbringen (S. 145); die
Vermarktung begann Schwierigkeiten zu ma-
chen (S. 22).
Das haupsächlich untersuchte Gebiet
Souanké liegt im wichtigsten Kakaoanbau-
gebiet des Landes, im Distrikt Sangha (S. 29).
(Vgl. auch; Annuaire Statistique, Brazzaville
1969, S. 118.)
Eine gründliche Erforschung Souankés und
angrenzender Gebiete ist u. a. aus den Ver-
öffentlichungen des ORSTOM zu erschließen.
1961 erschien die Studie „La culture du cacao
et son retentissement social dans la région
Souanké. ORSTOM, Commissariat au Plan.
Brazzaville (multigr.)“, eine für ein Entwick-
lungsprojekt angefertigte Studie der Ethno-
login J. F. Vincent, die Robineau grund-
legende Aspekte für seine fünfmonatige Feld-
forschung in den Jahren 1963—64 in ver-
schiedenen Dörfern der Djem und Bakwélé
lieferte. Die Archivdokumente der alten Ver-
waltungsposten Souanké und Ouesso ermög-
lichten ihm die Rekonstruktion der Kolonial-
geschichte ab 1900.
Nach einigen fehlgeschlagenen sogenann-
ten Modernisierungsversuchen — u. a. Reis-
und Kaffeeanbau — weckte die seit 1955
steigende Produktion von Kakao bei der Ver-
waltung Hoffnungen auf einen materiellen
Fortschritt für die Bevölkerung, die im Lau-
fe der Kolonialzcit je nach Bedarf der Kon-
zessionsgesellschaften und Kolonialmächte un-
terschiedliche Ausbeutungsformen und Maß-
nahmen zur Landeserschließung erlitten hat-
te. Der Zusammenbruch des Wildkautschuk-
booms nach dem 2. Weltkrieg und der Fehl-
schlag des Kaffeeanbaus veranlaßte die För-
derung des Anbaus von Kakao, der neben
Häuten und Elfenbein zum wesentlichen Ex-
portprodukt wurde (S. 29). Die Hoffnungen
auf einen materiellen Fortschritt schienen sich
jedoch bis zum Zeitpunkt der Untersuchung
nicht erfüllt zu haben: „wenn sich die Bevöl-
kerung trotz eines Jahrzehnts Kakaoanbaus
beklagt, schlecht und zu überhöhten Preisen
versorgt zu werden, ohne regelmäßige Kom-
munikationsmittel zu den städtischen Zentren,
isoliert und fern von medizinischer Versor-
gung zu sein; wenn die kongolesischen Regie-
rungsbeamten sich in Souanke im Exil fühlen,
heißt das, daß der Kakao womöglich nicht al-
lein ausreicht, die Prosperität zu sichern, d.
h., daß es in Souanke ein ökonomisches Ka-
kaoproblem zu lösen gibt“ (S. 29).
Robineaus Ziel ist es festzustellen, bis zu
welchem Punkt die Möglichkeit einer wirt-
schaftlichen Entwicklung gelegt war, um für
zukünftige Projekte eine wissenschaftlich fun-
dierte Basis zu schaffen (S. 107, 33). Um
dieses Ziel zu erreichen, rekonstruiert er die
vorkolonialen sozialen und ökonomischen
Strukturen der Region und untersucht die
während der Kolonialzeit entstandenen Neue-
rungen.
Untersuchungsperspektiven lieferten Ihm
folgende Annahmen J. F. Vincents: „Spär-
liche Bevölkerung und die Idee einer demo-
graphischen Stagnation als Faktoren, die die
Wachstumsmöglichkeiten einschränken; Kon-
sumhaltungen mit erheblicher Entwicklung des
Alkoholverbrauchs, aber auch durch die Des-
organisation des sozialen Lebens als Folge
der Transformation der Wirtschaft und durch
die Akkulturation“ (S. 14).
Seine In sieben Kapitel gegliederte Dar-
stellung beginnt mit einem differenzierten
Überblick über die natürlichen Bedingungen
und die wirtschaftsräumliche Position des Ge-
bietes im Gesamtraum sowie der Identifizie-
rung der ethnischen Gruppen. Ein erster Ab-
riß über die Etappen der kolonialen Besitz-
ergreifung und ein Überblick über den moder-
nen Sektor der Wirtschaft aufgrund einer
Analyse der — zu 509/o aus der Kakaopro-
duktion stammenden — Einkommen und Aus-
Buchbesprechungen
181
gaben schließt sich an. Die Entwicklungspro-
blematik des Gebietes wird im folgenden dar-
gelegt und das Untersuchungsziel formuliert
(Kapitel 1).
In den sich anschließenden Kapiteln erfolgt
die parallele Analyse der sozialen, ökonomi-
schen und demographischen Verhältnisse der
Djem und Bakwélé aufgrund von 9 Fallstu-
dien (Untersuchungseinheiten: Dorf bzw. Wei-
ler). Die vorkolonialen Verhältnisse der „an-
cienne société traditionelle“ werden vor allem
in den Kapiteln 3 und 4 „L’Organisation fami-
liale“ und „L’économie traditionelle“ rekon-
struiert, die Neuerungen der Kolonialzeit vor
allem im 5. Kapitel „La transformation éco-
nomique“ dargestellt. Im zuletzt genannten
Kapitel nimmt die Untersuchung der Kakao-
wirtschaft den wichtigsten Platz ein.
Als Bezugsrahmen (Kapitel 2: „Le peuple-
ment“), der immer wieder aufgenommen und
differenziert wird, fungiert der räumliche As-
pekt der kolonialen, ökonomisch und politisch
bedingten Bevölkerungsbewegungen in Form
von Zwangsumsiedlungen, Zwangsrekrutie-
rungen, Fluchtbewegungen. Das gegenwärtige
Siedlungsmuster entstand aus an wenigen Pi-
sten aufgereihten Dörfern mit siedlungsleeren
Flächen dazwischen. Die räumlichen Ausmaße
der Verschiebungen werden anhand von 5
Karten für die Zeit von 1910—1935 darge-
stellt, in der die gesamte Bevölkerung umge-
siedelt wurde (S. 27). Differenziert wird die-
ses Ergebnis durch die Untersuchung und kar-
tographische Darstellung von Lineage- und
Clan-Verteilungen innerhalb des Gebietes, die
über das unterschiedliche Ausmaß der räum-
lichen Zersplitterung der Djem und Bakwélé
Aufschluß geben. Zu diesen Folgen der kolo-
nialen Erschließung kommen die rezenten Be-
wegungen der Bevölkerung durch die „An-
ziehungskraft“ der kakaoproduzierenden Ge-
biete und der Verwaltungszentren hinzu.
In der Analyse der Bevölkerung, der Ver-
wandtschaftssysteme, der traditionalen Wirt-
schaft und der wirtschaftlichen Neuerungen
haben Heirat und Brautpreiskomplex eine
hervorragende Funktion, da Robineau die
Heirat als den Schlüssel zu den traditionellen
Institutionen der Djem und Bakwélé ansieht
(S. 92) und weiter der Ansicht ist, „Le phé-
nomène économique essentiel est lié à l’échan-
ge matrimoniale“ (S. 124). Gesellschaftliche
Veränderungen werden u. a. dargestellt an
den ökonomischen, sozialen, demographischen
Aspekten der Eheschließungen: an der Ver-
änderung der Zusammensetzung und der Hö-
he des Brautpreises; der Konzentration von
Geld und Frauen bei Alten und Angesehenen
Im Zusammenhang mit dem Geldeinkommen
aus der Kakaoproduktion und der Lohnarbeit;
am Problem des Zölibats und der Polygynie.
Wichtiger Faktor in der Analyse der wirt-
schaftlichen und sozialen Entwicklung sind die
Bevölkerungsverhältnisse, die demographische
Dynamik, der Nachweis einer demographi-
schen Stagnation (Kapitel 6: „Une popula-
tion stationnaire“), der im zusammenfassen-
den Schlußkapitel zu der Hypothese führt:
„. . . l’état stationnaire de la démographie . . .
limite les possibilités économiques, explique
les échecs passés (3) et handicape tout projet
futur qui ne serait pas assorti d’un apport
de population active“ (S. 197).
Eine Kritik an dieser komplexen und de-
taillierten Untersuchung müßte am Entwick-
lungsbegriff ansetzen. Er scheint Teil einer
Modernisierungstheorie zu sein, die zwar von
den traditionalen Gesellschaften ausgehen will,
diese jedoch dort nicht als Subjekte ihrer ei-
genen, sondern Objekte einer von außen indu-
zierten Entwicklung begreift. Hier faßt diese
Theorie bestimmte strukturelle Merkmale der
traditionalen Gesellschaften von vornherein
als Entwicklungshindernisse auf.
Ilse Gerth
Ekkehard Kleine:
Die Eigentums- und Agrarverfassungen
im vorkolonialen Tanganjika — Ein Bei-
trag zur Herausbildung der gesellschaftli-
chen Klassen. Arbeiten aus dem Institut
für Völkerkunde der Universität Göttin-
gen. Bd. 8. München: Klaus Renner. 1974.
193 S.
In seiner Dissertation (1972) am Institut
für Völkerkunde der Universität zu Göttin-
gen untersuchte Kleine die Entstehung, die
Bedingungen und Ursachen der Herausbildung
von gesellschaftlichen Klassen aus egalitären,
zum Teil gemeinwirtschaftlich orientierten Ge-
sellschaften. Für dieses Ziel war es notwendig,
verschiedene Völker und Distrikte in Tansania
exemplarisch auszuwählen und auf ihre ge-
sellschaftlichen und ökonomischen Organisa-
tionen, die politischen Instanzen, die verschie-
denen Eigentumsformen und die unterschied-
182
Buchbesprechungen
liehen Grade der Arbeitsteilung genauer ein-
zugehen. Als Beispiel für die acephalen, also
herrschaftsfreien Völker wählte Kleine die
Luguru. Als Beispiel für Völker mit differen-
zierter Staatenbildung und zentraler Herr-
schaft stellt der Autor das ökonomisch wich-
tigste und zahlenmäßig größte Volk in Tan-
sania, die Nyamwezi, im einzelnen vor.
Die Arbeit ist in ihrer Methode historisch-
materialistisch angelegt. Sie orientiert sich —
so will es der Autor — speziell an den dy-
namischen Aspekten von Wandel und Ver-
änderung und dem Prozeß der geschichtlichen
Entwicklung: insofern historisch. Die Unter-
suchung ist materialistisch, indem die gesell-
schaftliche Entwicklung von der Produktion
und Reproduktion her abgeleitet wird.
In der Betrachtung über die Luguru
kommt Kleine zu dem Resultat, daß Herr-
schaft und Klassengesellschaft zusammenge-
hörig seien und es somit einer Tautologie
gleichkomme, Vorklassengesellschaften als
herrschaftsfrei zu bezeichnen. Die Luguru re-
präsentieren nach Kleine durchaus keinen so-
zialen Zustand von Gleichheit und Herr-
schaftsfreiheit. Regenmacher und bestimmte
Lineage-Mitglieder etwa deuten darauf hin,
daß Vorformen für eine Teilung In Klassen
durchaus existieren.
Am Beispiel der Nyamwezi diskutiert
Kleine die Frage der Produktionsweise, die
damit zusammenhängenden Probleme der Ar-
beitsteilung und Eigentumsform sowie der ge-
sellschaftlichen Schichten und Klassen in den
chiefdoms. Hier sind die sozialen Beziehungen
nicht mehr identisch mit den verwandtschaft-
lichen Banden, während bei den Luguru uni-
lineare Herkunftsgruppen (also Clans oder
Lineages) die Dorfgemeinschaft bilden.
Kleine gelangt zu der Feststellung, daß
das chiefdom-System lediglich die Zusammen-
fassung der tatsächlichen Gemeinwesen zum
Zwecke der Aneignung des Mehrproduktes sei;
es regele weder den Verkehr der Gemeinwe-
sen untereinander noch stehe das chiefdom-
System in wirtschaftlichem Austausch mit den
Gemeinwesen. Hier muß erwähnt werden, daß
der chief angehalten ist, in Notzeiten — und
diese waren nicht selten — aus seinen Vorrä-
ten verteilen zu lassen und anläßlich seiner
Besuche auf dem Lande Feste für die Bevöl-
kerung zu spendieren u. a. m.
Damit sich ein Handel entwickelt, muß
ein Mehrprodukt vorhanden sein, das nicht
der Konsumtion gleich wieder anheimfällt.
Dieses Mehrprodukt wurde nun vom chief oh-
ne entsprechendes Äquivalent angeeignet —
so die These Kleines. Hier macht sich indes-
sen die Problematik der Untersuchungsme-
thode bemerkbar: Daß diese Aneignung
durchaus akzeptiert und als Äquivalent ju-
ristischer und sakraler Gegenleistungen begrif-
fen wurde, muß bei einer Analyse, die sich
am rein materiellen Tausch von Produkten
orientiert, unberücksichtigt bleiben.
Die historisch-materialistische Untersu-
chungsmethode übergeht die eingehende Be-
schäftigung mit den vier Grundprinzipien der
Agrarverfassung (Herskovits, Mair, Labou-
ret): ihr magisch-religiöses Fundament, das
Recht der ersten Okkupanten, das Denken in
der Kontrolle und das Recht auf Bodennut-
zung. Diese Prinzipien sind eng miteinander
verwoben und kommen gerade in den hier
untersuchten Sozialeinheiten in Ihrer Inter-
dependanz voll zum Tragen. Die mit zahl-
reichen Einzelinformationen sorgfältig ausge-
arbeitete Studie kommt zu dem wohl reich-
lich genialen Gesamtergebnis, daß das frühere
Tanganyika auf dem Wege der Überwindung
seiner „historischen Verspätung“ (sic!) gewe-
sen sei, das Kolonialsystem indessen eine au-
tochthone Entwicklung abgeschnitten, ver-
schüttet und für ein halbes Jahrhundert er-
stickt habe. Thomas Maler
Bernard Koechlin:
Les Vezo du Sud-Ouest de Madagascar.
Contribution à l’étude de l’éco-systcme de
semi-nomades marins. Cahiers de L’hom-
me. N. S. XV. Paris: Mouton. 1975. 243
S., 24 Abh.
Die Vezo im südwestlichen Küstengebiet
von Madagaskar sind mit etwa 8 000 Men-
schen eine der kleinsten Volksgruppen der In-
sel. Als Fischfang treibende und in Symbiose
mit den Ackerbauern des Hinterlandes le-
bende, halbnomadische Teilgruppe der Saka-
lave geben sie ein aufschlußreiches Beispiel für
die Anpassung an die ökologischen Biotope
des Küstensaumes und damit für die Anwen-
dung der Methoden der physischen Anthro-
pologie. Nach jahrelangem Aufenthalt mit
vielseitigen Beobachtungen hat sich der Ver-
fasser als gegenwärtig wohl bester Kenner der
Vezo ausgewiesen und legt hier eine Unter-
Buchbesprechungen
183
suchung vor, die mit der Verknüpfung von
Ethnologie und Ökologie und der dynami-
schen Auffassung der Kulturlandschaftsent-
wicklung richtungweisend interdisziplinäre
Methoden verfolgt.
Die Schrift ist keine geschlossene Mono-
graphie der Volksgruppe, sondern eine nach
Gegenstand und Darstellung vielfältige Do-
kumentationssammlung über Lebensraum und
„mode de vie“ der Vezo. Zunächst werden
die ökologischen Faktoren (Klima, Relief,
Vegetation) mit ihrer ökonomischen Bedeu-
tung und einheimischen Benennung behandelt
und die Kontakte mit den benachbarten
Volksgruppen untersucht, deren Unterschiede
mit den Aussagen der Vezo charakterisiert
werden. Der Hauptteil der Arbeit gilt der
Darstellung von Lebensform und Verhalten
der Vezo Im ökonomisch-technischen, sozio-
logischen und religiösen Bereich. Sie erstreckt
sich, zwanglos gegliedert, von den Methoden
und Geräten des Fischfanges über das Bud-
get einer Familie, die sozio-ökonomische und
verwandtschaftliche Schichtung bis zu den sub-
tilen religiösen Äußerungen mit der zere-
moniellen Aufnahme übernatürlicher Bezie-
hungen. Der Autor kann hier die ganze Fülle
seiner unmittelbaren Beobachtungen, aber
auch seine psychologische Einfühlungsgabe ein-
dringlich zur Wirkung bringen.
Unsystematisch erscheinend, aber sehr an-
regend ist auch der Wechsel des Darstellungs-
stiles: Sachliche Aufzählungen neben der Wi-
dergabe von Berichten der Einheimischen oder
dem Bordtagebuch einer Seereise, ausführliche
Protokolle religiöser Zeremonien mit eigenen
Kommentaren sowie detaillierte Interpreta-
tion von Fotografien und Zeichnungen. Die
profunde Sachkenntnis des Verfassers beruht
nicht zuletzt auf der gründlichen Sprachbe-
herrschung. Die umfangreichen Texte mit pho-
netischer Transkription der Vezosprache (und
französischer Übersetzung) stellen eine einzig-
artige linguistische Sammlung dar, die in ihrer
lautgetreuen Wiedergabe einen didaktischen
Fortschritt gegenüber der bisher üblichen
Schreibweise bringt. So werden Ausdrucks-
und Denkweise der Bevölkerung und die Sinn-
bedeutung der Wörter in ihrer Ursprünglich-
keit lebendig, wenn auch manche Deutungen
(z. B. das Auftreten der Zyklone als erst
junge Erscheinung ? S. 29) noch zweifelhaft
bleiben.
Im ganzen bietet die Schrift eine Fund-
grube für die Integrale Erkenntnis einer bis-
her unzureichend untersuchten marginalen
Volksgruppe. Sie gibt Einblick in Entwick-
lungstendenzen, wenn sie z. B. den Einfluß
wirtschaftlicher Aktivitäten auf die Land-
schaftsökologie oder die Zunahme des indi-
viduellen Gewinnstrebens anstelle traditionel-
ler sozialer Bindungen aufzeigt. Gleichzeitig
erweist sie die Möglichkeiten ethnologischer
Feldforschung, die vom Autor auch mit Edm-
und Schallplattenaufnahmen bei den Vezo an-
gewandt wurden. Es bleibt zu hoffen, daß
Koechlin diese Sammlung systematisch ver-
knüpfend zu einer Gesamtdarstellung aus-
bauen kann. Vielleicht könnten dabei auch
neue Erkenntnisse zu der hier unberücksichtigt
gebliebenen und jüngst von P. Ottino (in:
Madagascar, les Comores et le Sud-Ouest de
l’Ocean indien, 1974) wieder aufgegriffenen
Frage der afrikanischen Einwanderung und
gemeinsamer kutureller Beziehungen der Vezo
zu den Bantu gewonnen werden. Die Schrift
sollte methodisch Nachahmung auch für an-
dere Volksgruppen der Insel finden und ver-
dient als tiefschürfender Beitrag zur Landes-
kunde von Madagaskar über die Völkerkunde
hinaus auch das Interesse benachbarter Diszi-
plinen. Wolf Dieter Sick
Ernst Dammann / Toivo E. Tirronen:
Ndonga-Anthologie. Beiheft 29 der „Folge
der Beihefte zur Zeitschrift für Eingebo-
renensprachen“: Afrika und Übersee. Ber-
lin: Dietrich Reimer. 1975. 239 S.
Die Sammlung ist in vier Abteilungen un-
terteilt. 27 Märchen, Fabeln und Erzählungen
stehen am Anfang. Es folgen Texte zu Brauch-
tum und Religion. Die dritte Abteilung ent-
hält, meist in Spruchform, Vorstellungen der
Ndonga aus dem Bereich der Meidungen. In
der vierten Abteilung finden sich Lieder, Tän-
ze und kleine Dichtungen zur Unterhaltung.
Zu jedem einzelnen Titel wird zunächst der
Text in der Originalsprache geboten, bedauer-
licherweise ohne Angabe der distinktiven Tö-
ne. Es folgt dann jeweils eine weitgehend
wörtliche Übersetzung ins Deutsche. Den
Schluß bilden Kurzkommentare zur Sprach-
struktur und zum ethnographischen Hinter-
184
Buchbesprechungen
grund. Diese sind durch Fußnoten mit den
Originaltexten verbunden. An weiteren tech-
nischen Hilfen findet der Leser am Anfang
des Werkes eine Übersicht der im Originaltext
verwendeten Orthographie und ein Abkür-
zungsverzeichnis der Quellen und Informan-
ten, auf das im Kommentarteil regelmäßig Be-
zug genommen wird. Die Anthologie schließt
mit einem kurzen Literaturverzeichnis.
Der Kern dieser Sammlung an Folklore-
literatur geht auf den Finnen Martti Rau-
tanen zurück, der von 1870 bis zu seinem
Tode im Jahre 1926 unter den Ndonga als
Missionar wirkte. In über zwanzigjähriger
Forschungsarbeit haben die beiden Autoren
Rautanens Material vor Ort geprüft und ana-
lysiert sowie durch eigene Aufnahmen, ins-
besondere in den fortlaufenden Texten, er-
gänzt. Damit umfaßt die Anthologie einen
Zeitraum, der von etwa 1890 bis 1960 reicht.
Auch wenn im einzelnen das Material der
späteren Sammlungsperiode thematisch mo-
derne westliche Einflüsse aufweist, so ist es
doch erstaunlich, wie wenig sich offenbar die
Einstellung der Ndonga-Informanten gegen-
über traditionellem Brauchtum während des
Sammlungszeitraums gewandelt hat. Nach den
Erfahrungen in benachbarten Bantugebieten
wäre gegenüber diesem Brauchtum zumindest
in der letzten Sammlungsphase eine distan-
ziertere Haltung zu erwarten gewesen. Doch
klingt eine solche kritische Einstellung nur
einmal, und zwar in einem älteren Text von
Rautanen, an (vgl. S. 142).
Das für die vergleichende Kulturforschung
in Bantu-Afrika so überaus interessante Ma-
terial über Meldungen in Spruchform ist in
der Anthologie zwar mit 222 Eintragungen
reichlich vertreten, dennoch für eine inhalts-
bezogene Analyse wenig geeignet, weil zu-
sätzliche Begründungen und Erklärungen aus
der Vorstellungswelt der Ndonga fast aus-
schließlich fehlen. So erfährt man etwa in
Spruch 126 (vgl. S. 159); „Ein Mensch, der
plötzlich stirbt, wird nicht begraben.“ Warum
wird er nicht begraben oder was würde ge-
schehen, wenn er dennoch begraben würde?
Das sind doch Fragen, die sich bei der Lek-
türe unmittelbar aufdrängen. Eine Antwort
wird man in der Anthologie jedoch vergebens
suchen. Dieser Mangel geht allerdings nicht
zu Lasten der beiden Autoren, denn die Mei-
dungen in Spruchform stammen ausschließlich
aus der Sammlung Rautanens. Im Gegenteil,
wir haben Dammann und Tirronen zu dan-
ken, daß sie dieses Material trotz seiner Lük-
kenhaftigkeit in die Anthologie mit aufge-
nommen haben. Denn auf diese Weise ist es
möglich, wenigstens Schlüsse auf die Verbrei-
tung bestimmter Meidungen zu ziehen, deren
Funktion man aufgrund vollständigerer Er-
hebungen in anderen Gebieten kennt. Außer-
dem kann der Abdruck der alten, von Rau-
tanen gesammelten Meidungen auch dazu die-
nen, moderne Beobachter auf heute noch fort-
lebende Meldungen bei den Ndonga aufmerk-
sam zu machen und zusätzliche Informationen
einzuholen.
Insgesamt enthält die Anthologie wert-
volles Grundmaterial zur Erschließung der
geistigen Kultur eines Volkes, das in Zukunft
noch verstärkt den verändernden Kräften der
westlichen Zivilisation ausgesetzt sein wird.
Es ist zu befürchten, daß vieles des heute hier
und da noch in der Erinnerung vorhandenen
und befolgten Brauchtums in Kürze vergessen
sein wird. Nicht nur Linguisten, Völkerkund-
ler, Sozialanthropologen und Religionswissen-
schaftler, sondern auch zukünftige Genera-
tionen der Ndonga selber werden aus der
Anthologie eine Fülle an Erkenntnis schöpfen
können. Wilhelm J. G. Möhlig
Katesa Schlosser:
Zauberei im Zululand — Manuskripte
des Blitz-Zauberers Laduma Madela. Ar-
beiten aus dem Museum für Völkerkunde
der Universität Kiel. IV. Kiel: Schmidt &
Klaunig. 1972. XXVIII + 467 5., 50 Bild-
taf. sowie zahlr. Abb. i. T.
Nicht der Ober-, sondern der Untertitel
dieses Buches läßt erahnen, welcher gewaltige
und wichtige Stoff hier zusammengefaßt ist.
Mit dem Hintergrund eines aktiv Beteiligten
berichtet der Zulu-Medizinmann Laduma Ma-
dela, der sich selber als „Spezialist zur Stär-
kung von Leuten in höheren Positionen“ (S.
106) einschätzt, über
• sein Elternhaus und seine Erziehung;
• eigene und überlieferte Interpretationen des
Geschehens in der Natur;
• seine Version der Kosmogonie;
• Tod und Wiederauferstehung;
• die Medizinmann-Praxis der Zulu;
Buchbesprechungen
185
• die Wahrsager;
• die Magier (Schwarzzauberer);
• Traumdeutungen.
Das höchst umfangreiche Primärmaterial
kam dadurch zustande, daß sich 1957 Profes-
sor Dr. Otto Friedrich Raum, damals am Ban-
tu College Fort Hare, und Laduma Madela
kennengelernt haben. Madela bedrückte der
unaufhaltsame Kulturwandel im Zululand mit
dem weitgehenden Verlust mythologischer
Kenntnisse und traditioneller Wertbegriffe. So
stieß Raum auf spontane Bereitschaft mit sei-
nem Vorschlag an Madela, sein umfangreiches
Wissen niederzuschreiben. Er begann damit
1957. Bis 1959 füllte er etwa 50 Schreibblöcke.
Katesa Schlosser hat die Manuskripte
nach Themenbereichen zusammengestellt und
hier dasjenige publiziert, „was in irgendeiner
Weise die Zauberei betrifft — und vorweg
alles, was Licht auf die Persönlichkeit des
Zauberers Laduma Madela selbst wirft“ (S. 2).
Zu diesem Zweck war die Autorin selber län-
gere Zeit täglicher Gast in Madelas Kral.
Mehrere hundert briefliche Auskünfte Made-
las an die Autorin bis in das Jahr 1972 sind
in das Werk mit eingearbeitet. So konnte in
jahrelanger Kleinarbeit ein Werk entstehen,
das Aufschluß gibt über die Natur- und Le-
bensphilosophien der Zulu, über das magische
Verbundsystem von Medizinmännern, Wahr-
sagern, Herbalisten, sozial positiv wie negativ
wirkenden Magiern, und das schließlich ein ge-
schlossenes kosmogonisches Modell vorführt.
Eine These Indessen muß hier aufgegriffen
werden, da die Autorin über den Medizin-
mann schreibt: „Ein inyanga, der die Funk-
tion eines Arztes ausübt, wird wegen seiner
Kräuterkenntisse oft als ,Herbalist' bezeich-
net. Da viele seiner Heilmethoden einer aka-
demischen Überprüfung hinsichtlich ihrer an-
geblichen Wirkungsweise nicht standhalten,
spricht man gern davon, daß er vorwiegend
durch Zauber heile und nennt ihn deshalb
,Zauberdoktor“‘ (S. 107). In aller Regel ist der
Medizinmann in seiner kleinen Dorfgemein-
schaft dazu verurteilt, so zu arbeiten, daß er
Erfolg hat. Nur fehlt es uns immer noch man-
gels Interdisziplinärer Feldforschung an quali-
fizierten Informationen auf diesem Gebiet.
Bei eigenen Medizinmann-Forschungen in
Tansania konnte der Rezensent beispielsweise
durch musikologische Untersuchungen feststel-
len, daß psychogene Sterilität mit einem
menschlichen Biorhythmus in Rasseln und
Trommeln erfolgreich behandelt wird. Man
muß wohl die These der Autorin dahingehend
abwandeln, daß die bisherigen akademischen
Überprüfungen den Heilmethoden der Medi-
zinmänner kaum standhalten.
Das vorliegende Werk ist ein äußerst wich-
tiger, weil reichhaltiger Baustein zum drin-
gend notwendigen Corpus ethnologischen Pri-
märmaterials. Besonders Naturphilosophie,
Mythen und Märchen bieten eine Imposante
Stoffquelle an, aus der man für vergleichende
Themenstellungen schöpfen kann.
Thomas Maler
Katesa Schlosser:
Wandgemälde des Blitz-Zauberers Ladu-
ma Madela — Motive zu Mythologie,
Magie und Soziologie der Zulu. Arbeiten
aus dem Museum für Völkerkunde der
Universität Kiel. III. Kiel: Schmidt &
Klaunig. 1971. 60 S. m. 24 Fotos.
Der Zulu Laduma Madela ist Schmied,
Blitz-Zauberer, Gesandter des Schöpfergottes
der Zulu, Philosoph, darstellender Künstler
und unermüdlicher Schriftsteller. Die Gäste-
hütte seines alten Krals hat er mit einem
zwölf Meter langen Bilderfries ausgeschmückt.
Eine vollständige Kopie befindet sich im Mu-
seum für Völkerkunde der Universität Kiel.
In jahrelanger Zusammenarbeit mit Katesa
Schlosser hat Madela die einzelnen Bilder
gedeutet und ihren mythischen, magischen und
sozialen Hintergrund durch illustrierte Ma-
nuskripte erläutert. Die Darstellung eines Ele-
fanten, des wichtigsten Tieres in der Schöp-
fungsgeschichte der Zulu, veranlaßte Madela,
den gesamten Schöpfungsmythos seines Volkes
darzulcgen. Er ist in diesem Buch vollständig
aufgenommen und ausführlich beschrieben.
Ebenso wie in dem umfangreichen Werk
„Zauberei im Zululand“ legt Katesa Schlos-
ser auch in diesem Buch wichtiges Feldma-
terial aus dem südafrikanischen Bantu-Raum
vor: ein sorgfältig dokumentierter Stoff, der
nicht nur allein für die Ethnologie, sondern
auch andere Disziplinen der Sozialwissen-
schaften von großem Interesse sein dürfte.
Thomas Maler
186
Buchbesprechungen
WEST-, ZENTRAL- und NORDASIEN
Karl Jettmar (Hrsg.):
Cultures of the Hindukush. Selected Pa-
pers from the Hindukush Cultural Confe-
rence held at Moesgard 1970. In collabo-
ration with Lennart Edelberg. Beiträge zur
Südasienforschung, Südasien-Institut der
Universität Heidelberg, Bd. 1. Wiesbaden:
Steiner. 1974. XIV, 146 S., 12 Taf., 1
Karte.
Karl Jettmar:
Die Religionen des Hindukusch. Mit Bei-
trägen von Schuyler Jones und Max Klim-
burg. Reihe „Religionen der Menschheit“
Bd. 4/1. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer.
1975. 528 S., 1 Faltkarte.
Ces deux ouvrages concernent un même
domaine géographique, l’Hindoukouch, enten-
du dans le sens où le concevait Biddulph pour
qui ce massif — soit les vallées comprises dans
le Badakhshan et le Wakhan au nord et le
Kafiristan (maintenant le Nouristan), le pays
des Hunza et le Chitral au sud — représentait
un ensemble culturellement homogène. Cette
vaste région, aux vallées innombrables, bien
que proche des trois grands axes de migration
et d’invasion que sont le corridor du Wakhan
et les vallées de la Caboul et du Panshir, est
restée fermée aux envahisseurs et à l’islam
jusqu’à la fin du XIXe s.
Robertson fut en 1889—90 le dernier
Européen à voyager au Kafiristan avant l’is-
lamisation et il fallut attendre les années tren-
te pour que cette région, devenue le Nouristan,
soit entr’ouverte aux chercheurs. Que ces val-
lées soient totalement islamisées, comme le
Kafiristan conquis en 1896 par Abdur Rah-
man, ou en cours d’islamisation comme celle
des Kalash, il subsiste de nos Jours assez de
traces ou d’empreintes des anciennes cultures
pour fournir aux linguistes, aux historiens, aux
ethnologues des matériaux sur un passé récent.
C’est au linguiste norvégien G. Morgen-
stierne que l’on doit les premiers travaux
systématiques sur les langues dardiques et ka-
firs. A l’heure actuelle cependant l’énigme
posée par la classification des langues de 1’
Hindoukouch n’est pas encore entièrement ré-
solue (voir en particulier le problème de la
position taxinomique des langues kafirs).
Un nouveau train de recherches ethnologi-
ques et anthropologiques va commencer dès
1955 avec A. Friedrich, Karl Jettmar et
Peter Snoy et elles sont loin d’être achevées
aujourd’hui. Mais quelles recherches ethnologi-
ques peuvent être considérées comme achevées
dans un domaine si complexe? Riches par leur
contenu et leur diversité, les publications aux-
quelles elles donnent naissance n’éclairent
souvent qu’une facette de l’ensemble culturel
et n’offrent pas toujours une vue d’ensemble
ni de l’histoire récente, ni de la position occu-
pée par la sous-culture de la population étu-
diée.
Ce sont des particularités culturelles et
religieuses qui confèrent aux populations de
l’Hindoukouch une place à part aux confins
des immenses aires culturelles voisines: Inde,
Asie Centrale, Moyen Orient islamique, quand
bien même leur influence s’est toujours plus
ou moins fait sentir au cours de l’histoire.
C’est dire l’intérêt de ces deux ouvrages,
d’ailleurs très différents l’un de l’autre:
— „Cultures of the Hindukush“ fait briève-
ment le point des connaissances actuelles dans
le domaine de l’histoire, de la mythologie, du
folklore et de l’anthropologie sociale et ceci
plus spécialement pour le Nouristan et le
Chitral;
— „Religionen des Hindukusch“ représente
une somme de ce que l’on sait (et de ce que
l’on ne savait pas) sur la complexité des tra-
ditions religieuses des populations des vallées
de l’Hindoukouch oriental.
Dans „Cultures of the Hindukush“ sont
reproduites la plupart des communications,
certaines sous forme de résumé, présentées
lors d’un colloque tenu en 1970 à Moesgard
(Danemark) et regroupées selon les thèmes sui-
vants: linguistique, histoire, religion préisla-
mique au Nouristan, sociologie au Nouristan,
religion et folklore kalash et folklore des Kho
du Chitral, héritage matériel et avenir des
peuples des montagnes.
G. Morgenstierne met l’accent sur l’ex-
trême morcellement des zones habitées et le
manque de communication dû au relief, ce qu’
exprime la complexité de la carte linguistique.
Il rappelle le problème fondamental que pré-
sente l’origine du kafiri: est-il issu de l’indo-
iranien ou découle-t-il de l’indien?
Buchbesprechungen
187
K. Kristiansen présente le chapitre „Cycle
des fêtes“ tiré d’une chronique sur l’histoire et
les fêtes du Kafiristan écrite en urdu par un
Kafir qui décrit la vie religieuse et sociale des
Kati au moment de la conquête afghane. Le
résumé de R. F. Strand sur l’histoire des Kom
concerne des mouvements de tribus au XIXe
s. et celui de W. Au Shah diverses invasions
subies par le Kafiristan avant la conquête de
1896.
S. Hussam-ul-Mulk présente un récit de
la cosmologie kafir donné par le dernier adhé-
rent de l’ancienne religion peu avant sa con-
version à l’islam en 1937. G. Buddruss étudie
le mythe de la création qu’il met en relation
avec un passage du Rigveda (Ile mili, avant
J. C.). W. Lentz met en parallèle Imra et
Mithra dont les mythes font intervenir l’astre
du jour et celui de la nuit. Pour K. Jettmar,
le Kafiristan ne s’est vraiment trouvé isolé
que lors de la poussée de l’islam dans la plaine,
c’est-à-dire dès le Xle s., et ceci jusqu’à la
fin du XIXe s., développant pendant cette
période sa propre culture.
S. Jones prend l’exemple des 9 villages
de Waigal, politiquement réunis sous le nom
de Kalashum, mais où chaque village reste
autonome, sans pouvoir central. Les conflits
sont réglés par la médiation de sages qui pro-
posent, sans l’imposer, une solution. Il existe
pourtant un système de strates très hiérarchi-
sées, où la compétition s’exerce pour la pos-
session des biens et du prestige. R. Strand
signe deux articles, l’un sur le système de
parenté des Kom du Nouristan, l’autre sur le
rang et le pouvoir politique chez les Kom pré-
islamiques. A. R. Palwal se fonde sur des
informations apportées par Robertson et ses
propres recherches à Wama, Bagramtal et
Kamdesh.
W. Ali Shah analyse quelques hypothèses
quant à l’origine des Kalash sans toutefois
pouvoir apporter de nouvelles précisions. S.
Hussam-ul-Mulk décrit brièvement les divi-
nités principales et les sacrifices qui leur sont
offerts. P. Snoy a relevé au Dizilawat ( —
pierre de la création) des peintures et gravures
représentant des chèvres sauvages et exécutées
selon la mythologie kalash par le dieu Balu-
main. Le culte de la chèvre sauvage markhor
dépasse cependant les frontières du Kafiristan
et du Chitral; on a retrouvé de semblables
représentations gravées sur pierre au Ferghana.
H. Shger retrace les phases principales des
fêtes de printemps qu’il a observées en 1948,
célébrant le passage de l’hiver au printemps,
de la disette à la suffisance et le rétablissement
des communications de village à village. Le
résumé de A. R. Palwal concerne les fêtes
marquant le début et la fin de la collecte des
fruits et des moissons. S. Hussam-ul-Mulk
s’attache citez les Kho du Chitral à l’étude des
croyances et des superstitions liées aux êtres
surnaturels et dresse la liste des croyances con-
cernant les circonstances de la vie, dont il
nous intéresserait de savoir si elles sont spé-
cifiques à la région où elles ont été rele-
vées ou si elles sont communes à d’autres cul-
tures à l’intérieur d’une aire beaucoup plus
vaste.
W. Ali Shah suggère de préserver avec
l’aide de l’UNESCO certains édifices histori-
ques et religieux comme témoins de l’ancienne
culture. L. Edelberg décrit la maison nouri-
stani et insiste sur la nécessité de préserver
les maisons claniques, seuls vestiges de l’archi-
tecture religieuse. E. Hansen craint les con-
séquences du développement sur l’organisation
sociale.
Le programme de la conférence, la liste des
participants et le texte d’une résolution adressée
au Secrétaire général de l’UNESCO pour un
développement harmonieux du Nouristan et
du Chitral précèdent un index et une biblio-
graphie des ouvrages cités.
Ces communications, parfois inégales et
quelque peu disparates, ont permis de combler
des lacunes. Toutefois on constate combien de
domaines restent inabordés ou obscurs. Pour
certains, histoire et mythologie, on ne peut
plus guère espérer de découvertes sensation-
nelles, faute de sources; pour ceux, en revan-
che, touchant à l’étude des sociétés et des cul-
tures contemporaines, on souhaiterait une
meilleure coordination des entreprises, sur-
tout une meilleure mise en parallèle avec les
aires voisines, le cloisonnement et l’isolement
géographiques réels qui conduisent à une ap-
proche micro-régionale n’étant pas sans dan-
ger.
Cette légère réserve visant à un excès de
particularisme, on ne peut certes pas la faire à
l’ouvrage monumental de Karl Jettmar, ,,Re-
ligioncn des Hindukusch“.
Les religions de l’Asie Centrale offrent un
champ d’étude si vaste et si complexe qu’il a
fallu dans la collection „Die Religionen der
188
Buchbesprechungen
Menschheit“ leur consacrer 2 volumes. Le
premier „Die Religionen des Hindukusch“
comprend les religions de l’ancien Kafiristan
(Afghanistan), des Kalash du Chitral, des
populations de langues shina et burushaski
(entre le Chitral et le Baltistan) et des Kho du
Chitral (Pakistan). Le second volume sera con-
sacré aux peuples turcs et aux Tadjiks des
plaines et du Pamir.
Auteur de ce premier volume, Karl Jett-
mar répond au voeu exprimé plus haut; il a
entrepris de rassembler, d’ordonner, d’exposer
et d’analyser un matériel considérable, en
grande partie inédit. Il s’appuie en particulier
sur ses propres recherches chez les populations
islamisées de langue shina (Gilgit, Astor,
Chilas) et sur celles de D. L. R. Lorimer chez
les Burushos (Hunza, Nagir, Yasin); il utilise
les manuscrits du regretté A. Friedrich sur la
religion des Kalash et les documents recueillis
par P. Snoy et G. Buddruss (Nord Kafiri-
stan). Pour les régions d’Ashkun et de Waigal
(Sud Kafiristan), Jettmar a fait appel aux
contributions de S. Jones (p. 150—161) et de
M. Klimburg (p. 162—172). Biddulph, Ro-
bertson et Morgenstierne restent des réfé-
rences fondamentales.
Si par leur économie et les traits de la
culture matérielle, peuples kafirs et peuples
dardiques offraient — et offrent toujours —
des ressemblances (agriculture de montagne,
élevage de la chèvre), ils se distinguaient au
niveau de l’organisation sociale et politique:
„république“ au Kafiristan, monarchies au
Chitral et à Gilgit, monarchie également au
Swat jusqu’à l’arrivée des Pachtouns, alors
que l’organisation politique du Kunar était de
type acéphale. C’est dans le domaine des croy-
ances religieuses que les différences sont les
plus marquées. Le destin religieux des Kafirs
et des Kalash a été déterminé par l’orienta-
tion et le relief des vallées: l’islam (surtout les
mouvements chiite et ismaeli) a pénétré par
le nord et l’ouest, le bouddhisme et l’hindouis-
me par le sud, uniquement cependant dans les
vallées les plus accessibles.
Les faits relatés dans cet ouvrage ne sont
pas synchroniques; ceux qui concernent le
Nouristan, par exemple, s’étalent sur plus de
150 ans, d’autres sont presque uniquement
contemporains.
Les religions kafirs forment l’héritage spi-
rituel d’une confédération de tribus cernées
par l’islam; on ne peut en conséquence négli-
ger l’importance des interrelations avec les
voisins d’au-delà des montagnes. Pensons à la
période précédant l’arrivée de l’islam dans les
plaines, à un moment où les influences ira-
nienne et indienne se font sentir par les trois
voies de pénétration déjà citées. Pour Karl
Jettmar, la culture kafir s’est formée au 1er
s. de notre ère, et ses traits principaux pro-
viennent des cultures iranienne et hindouiste
mêlées de Gandhara. Toutefois en raison de
la rareté des documents, Jettmar ne l’avance
que comme une hypothèse. Les religions kafirs
ont aussi subi une évolution, des métamor-
phoses internes, une diffusion, ce qui explique
pourquoi elles présentent entre elles des ana-
logies, tout en ayant eu probablement des
points de départ différents. Après la conquête
afghane, les religions du Kafiristan ne furent
pratiquées que par des groupes isolés; il appa-
raît cependant que d’anciennes divinités ont
été en quelque sorte réinvesties dans certaines
figures particulières de la cohorte des saints
de l’islam.
Avec les traditions religieuses des popula-
tions de langues shina et burushaski, on abor-
de le chapitre basé sur les recherches person-
nelles de Karl Jettmar, entreprises dès 1955
avec Friedrich et Snoy, puis avec Wiche,
puis seul de 1964—1973. C’est dire l’impor-
tance du matériel, presque entièrement inédit,
publié ici. Les traditions religieuses des po-
pulations concernées sont complexes: le
bouddhisme du Ve-XIIe s., l’hindouisme jus-
qu’au XIXe s., puis l’islam qui a tout recou-
vert (sauf le Ladakh). Cependant l’islam a
laissé, selon qu’il s’agissait de sunnites, de
chiites ou d’ismaelis, une moindre ou plus
grande tolérance vis-à-vis des religions préis-
lamiques dont on retrouve des empreintes
dans les activités de chasse, d’élevage ou
d’agriculture et dans les fêtes calendaires liées
au cycle agricole.
Le Chitral, monarchie jusqu’à la création
du Pakistan en 1947, a fait l’objet de recher-
ches linguistiques (Leitner, Robertson, Mor-
genstierne) et ethnographiques (Schomberg,
Shger, Deutsche Hindukusch-Expedition,
Graziosi, Klimburg, entre autres). Le Chitral
du nord présente une homogénéité ethnique;
le Chitral du sud, mosaïque ethnique et lin-
guistique, est considéré comme le dernier noy-
au du paganisme de l’Hindoukouch (vallées
de Rumbur et de Bumboret) où grand nombre
de Kafirs se sont réfugiés lors de la conquête
Buchbesprechungen
189
afghane de 1896. L’amélioration des voies de
communication impose aux Kalash l’invasion
de touristes (et de chercheurs) pour qui ces
„païens“ constituent à la fois objets d’étude ou
attraction touristique; il n’est pas étonnant
que pour échapper à cette curiosité les Kalash
se convertissent en masse à l’islam depuis les
années cinquante. Le nombre des adhérents
à l’ancienne religion a beaucoup diminué; il
n’y a même plus de prêtres. Les Kalash re-
connaissent avoir emprunté de nombreux
traits religieux à leurs puissants voisins kafirs
et avoir eu une base religieuse commune avec
les Dardes de langue shina. Mais c’est une
religion qui offre une image en pleine modi-
fication et sur laquelle les travaux sont encore
peu nombreux.
Relevons que ce chapitre est accompagné
de dessins fait en 1964 par Horst Beck lors
de son séjour chez les Kalash.
Au centre et au nord de l’ancien royaume
du Chitral, les Kho, de langue dardique ar-
chaïque, forment le groupe ethnique le plus
fort, sur lequel Hussam-ul-Mulk, ancien gou-
verneur de Drosh, membre de l’ancienne fa-
mille royale, qui a rassemblé un merveilleux
matériel sur les croyances au sein de la classe
dirigeante, et W. Ali Shah, ancien haut fonc-
tionnaire du Chitral, nous fournissent au-
jourd’hui les informations les plus précieuses.
Les religions dardiques — qu’elles subsis-
tent à l’état résiduel ou à l’état de survivan-
ces (Kalash) ou qu’elles soient intégrées à un
complexe islamique (peuples de langue shina
et Kho) se fondent sur une variante de la con-
ception du monde semblable à celle que par-
tagent la plupart des tribus indiennes: l’oppo-
sition de „pur/impur“, qui conduit non pas à
la formation de castes dans le cas qui nous
occupe, mais à une ordonnance de la nature
correspondant à une polarité sexuelle (principe
mâle: pur, principe femelle: impur).
Les religions kafirs sont plus complexes,
avec un panthéon qui ne serait pas sans rappe-
ler les divinités de l’ancienne Asie occidentale
(Hurrites, Mitanni) où les dieux font face à
un monde hostile, tout en composant avec lui
(p. 464—465).
De toutes façons il ne faut pas considérer
ces religions isolément, mais en relation avec
celles de leurs voisins, car il y a toujours eu
passage, communication. Et cela est claire-
ment exprimé dans chacune des introductions
historiques, géographiques, économiques et so-
ciales que Karl Jettmar place en tête de
chaque grand chapitre, où il présente également
un état des recherches et une analyse des tex-
tes sur lesquels il s’appuie.
On peut se demander dans quelle mesure
les concepts développés par Robert L. Can-
field (Faction and conversion in a plural so-
ciety: rcligious alignments in the Hindu Kush.
Ann Arbor 1973) postulant une relation entre
la distance et les obstacles géographiques, la
diversité des groupes d’intérêt, l’éloignement
d’un pouvoir central et la multiplicité des
formes religieuses ne sont pas également vala-
bles pour le domaine considéré.
La richesse du matériel publié, sa comple-
xité rendent l’accès du livre parfois difficile
au profane qui souhaiterait quelques tableaux
récapitulatifs et chronologiques, ainsi que des
cartes où les domaines d’influence linguistique,
culturel et religieux soient nettement marqués.
Mais ce même profane tirera grand profit des
conclusions intercalées qui closent chaque cha-
pitre et de l’utile index. Quant au spécialiste,
il trouvera là l’ouvrage de référence classique
à la bibliographie exhaustive, où la minutie
du détail n’exclut pas les hypothèses de syn-
thèse et la maîtrise dans le maniement des
données historiques.
Micheline Centlivres-Demont
Algernon Durand:
The Making of a Frontier. Introduction by
Garry J. Alder. Um ein Vorwort vermehr-
ter Nachdruck der 1899 bei John Murray
in London erschienenen Ausgabe. Graz:
Akademische Druck- u. Verlagsanstalt.
1974. XXXVI*, XVI, 298 S., 35 Fotos,
2 Karten, Index.
Es wäre falsch, das Wort „Frontier“ im
Titel des Buches mit „Grenze“ zu übersetzen,
wenngleich der Name Durand mit einer bis
in unsere Zeit politisch aktuellen Grenze ver-
knüpft ist: der afghanisch-pakistanischen
Grenze, die auf der 1893 festgelegten Durand-
Linie beruht. Schon der Vater, Henry Marion
(1812—1871), der es zum Gouverneur des
Panjab brachte, diente England im Nordwe-
sten der indischen Kolonie, wo auch seine drei
Söhne ein Tätigkeitsfeld fanden. Edward Law
(1846—1920) gehörte der 1885 gebildeten Af-
ghan Boundary Commission an. Henry Mor-
timer (1850—1924) wurde Foreign Secretary
190
Buchbesprechungen
to the Government of India und Unterzeich-
nete als solcher das erwähnte, mit dem Amir
von Afghanistan ausgehandelte Grenzabkom-
men. Algernon George Arnold (1854—
1923), der jüngste, war von 1889 bis 1893
Political Agent in Gilgit. Diese Zeit nebst ei-
ner Erkundigungsreise Im Jahre 1888, die ihn
gemeinsam mit George Scott Robertson
von Kashmir aus bis nach Chitral führte, be-
handelt er in seinem Buch.
Garry J. Aldeh, bekannt durch sein 1963
erschienenes Buch „British India’s Northern
Frontier 1865—95“, umreißt in seiner Einlei-
tung den historisch-politischen Rahmen, in dem
Algernon Durands Tätigkeit zu sehen ist,
und schildert das Leben dieses viktorianischen
Offiziers, dem Säbelrasseln keineswegs fremd
ist, der aber auch um Verantwortung weiß.
Dem frischen Stil seines Buches Ist freilich
kaum zu entnehmen, was seine Briefe bezeu-
gen: daß ihm die Last der Verantwortung auch
schwer werden konnte. Robertson sollte 1889
Garnisonsarzt in Gilgit werden. Doch Ro-
bertson erwirkte die Genehmigung zu seiner
Reise nach Kafiristan, der wir das berühmte
Quellenwerk „The Kafirs of the FIIndu-Kush,
1896“ verdanken. „No other doctor was sent
up . . . The medical work was retarded by a
year, and there was unnecessary suffering
among the troops“, berichtete der verantwor-
tungsbewußte Durand (S. 132), den eine herz-
liche Freundschaft (S. 5) mit Robertson ver-
band.
Durand sieht seinen Auftrag vor dem
Hintergrund des russischen Vordringens an die
afghanische Grenze und der wachsenden rus-
sischen Militärmacht in Mittelasien (S. 119).
Der Blick auf die „russische Gefahr“ läßt ihn
auch eine historische Ungenauigkeit berichten;
„Mahomed Ishak had invaded Afghanistan
from Russian Turkestan“ (S. 78). Er meint da-
mit den Aufstand in afghanisch Turkestan im
Jahre 1888, wo ein Vetter des afghanischen
Amir Abdur Rahman, Sirdar Mohammad
Ishaq, der seit 1880 die Provinz als Gouver-
neur verwaltete, sich selbst zum Amir ausru-
fen ließ: ein Ereignis, das von russischer Seite
positiv bewertet wurde (Novoe Vremja 6. 9.
1888). Auch fand Mohammad Ishaq später
Zuflucht in Tashkent. Interessant ist, daß Du-
rand am Hofe des Mehtar von Chitral Send-
boten Mohammad Ishaqs antraf und so das
„große Spiel“, in dem er selbst mitwirkcn soll-
te, als Beobachter kennenlernte.
„The points requiring special attention
were the northern passes of the Hindukush“
(S. 119). Diese Pässe lagen im Bereich kleiner
Bergfürstentümer (Chitral, Yasin, Punyal, Gil-
git, Hunza, Nagir, Astor, Baltistan), die durch
ständige interne und externe Machtkämpfe
charakterisiert waren, wovon auch Durands
Schilderungen zeugen. Die Vormachtstellung
der von den Engländern unterstützten Dogra-
Herrscher Kashmirs stand nicht zuletzt infolge
Korruption auf schwachen Füßen. Besonders
bedeutsam war das Fürstentum Hunza. 1881
hatten sich die Russen im Vertrag von St. Pe-
tersburg von den Chinesen nicht nur Zollver-
günstigungen im Zentralasien-Handel, sondern
auch das Recht, in Kashgar ein Konsulat zu
errichten, zusichern lassen. Vor allem von han-
delspolitischen Interessen geleitet, entsandten
die Engländer 1890 Macartney als ständigen
Vertreter nach Kashgar. Der Verbindungsweg
von dort nach Indien führte über Hunza, dem
der russische Hauptmann Grombchevsky
(Grombcevskij — nicht Gromchevsky, S.
XIII*) 1888 an der Spitze einer Kosaken-Ab-
teilung einen Besuch abgestattet hatte. Es galt,
diesen Verbindungsweg unbedingt zu sichern.
Das Intrigenspiel führte im Dezember 1891
zu einem kurzen Feldzug, wobei Safdar Ali
vertrieben und später Mahomed Nazim Khan,
der bis zu seinem Tod im Jahre 1938 regierte,
als neuer Hunza-Herrscher anerkannt wurde.
Safdar Ali, abgebildet bei von Le Coq („Auf
Hellas Spuren in Ost-Turkistan“, 1926, Tafel
29), starb 1930 in Yarkand. Er lebte völlig
verarmt in Kucha, wo ihn auch R. C. F.
Schömberg kennenlernte, der seine Ehrenret-
tung versucht: „I have never understood why
Durand, in his book, is so severe on Safdar
Ali“ („Between the Indus and the Oxus“,
1935, S. 153). Nach Schömberg war der da-
malige Wazir von Hunza, Tara Beg (bei
Durand „Dadu“ genannt), der eigentliche
Intrigant, der eine Vereinigung der Staaten
Hunza und Nagir versucht habe.
Gerade die „Hunza-Politik“ zeigt, daß es
nicht Algernon Durands Auftrag war, eine
„Grenze“ zu errichten, sondern eben eine
„Frontier“, das heißt eine Übergangsregion —
unter britischem Einfluß. Der Hunza-Herr-
scher lieferte nach wie vor seine mehr oder
weniger symbolischen Tribute (Gold, wie es
aus den Flüssen des Landes gewonnen wird)
an das chinesische Reich und beanspruchte Ho-
heitsrechte in Sarikol und Raskam, jenseits der
Buchbesprechungen
191
Pässe. Erst 1963 legte ein chinesisch-pakista-
nisches Abkommen in diesem Gebiet eine
Grenze fest; und in der Folge wurde durch das
Indus-Tal und über den 4700 m hohen Min-
taka-Paß mit Hilfe der Volksrepublik China
eine Straße von Pakistan nach Kashgar gebaut,
ein Unterfangen, welches 1943 die Experten
noch für unmöglich hielten, wie Garry J. Ad-
der in der Einleitung ausführt.
Straßenbau war auch das Hauptproblem
Durands. Der Nachschub aus Kashmir über
die nur wenige Monate offenen Pässe mußte
gesichert werden. Hierbei konnte er, dem das
Studium in Sandhurst keinen Anlaß bot, sich
hervorzutun, und der seinen Posten zu einem
guten Teil der einflußreichen Stellung seines
Bruders Mortimer verdankte, seine organi-
satorischen und militärischen Fähigkeiten in
freier Entscheidung voll entfalten. „The ab-
sence of a telegraph line was a godsend. A man
must be able to take responsibility on the
frontier“ (S. 240). Außer dem Straßenbau or-
ganisierte er den Neubau von Truppenunter-
künften und die Anlage von Bewässerungs-
systemen, um die Getreideversorgung weniger
nachschubabhängig zu machen. Schließlich ver-
ordnete er den Soldaten Luzerne als Gemüse
(S. 231), um dem auf Vitaminmangel beru-
henden Skorbut zu begegnen.
Algernon Durands Buch ist ein Doku-
ment zur Geschichte des britischen Indien-Im-
periums. Dank seines biographischen Charak-
ters beleuchtet es aber auch dessen Verwal-
tungsbeamte und deren Verhalten, und darin
liegt heute noch der Wert dieses Buches für
den Ethnologen und Anthropologen. Wie Du-
rand im Vorwort schreibt, übernimmt er viele
seiner ethnographischen Daten über Dardi-
stan dem Buche John Biddulphs („Tribes of
the Hindoo-Koosh“, Reprint Graz. 1971) und
bedauert, daß er selbst aus Zeitmangel den
zahlreich von ihm angedeuteten archäologi-
schen, folkloristischen und ethnographischen,
aber auch naturkundlichen Fragen nicht nach-
gehen konnte. Auf den Selten 216 bis 219 be-
schreibt er ausführtlich eine schamanistische
Seance und zieht die bemerkenswerte Schluß-
folgerung, daß diese Seancen oft die einzige
Möglichkeit waren, dem Fürsten durch den
Mund des Schamanen (Dayal) die öffentliche
Meinung kundzutun. Modernen Anforderun-
gen an die Feldforschung entspricht es, wenn
Durand seinen Ausführungen über Geister-
glauben in Chitral (S. 95—98) Bemerkungen
über den Verlauf des Interviews beifügt. Es
sind diese eingestreuten Bemerkungen und
Reflexionen über das Verhalten seiner selbst
und seiner Handlungspartner, die dem Buch
den Reiz der Spannung geben und zugleich,
unterzieht man sie der Analyse, jenen Weg er-
schließen, der ein anthropologisch-ethnologi-
sches Verstehen ermöglicht. Aufschlußreich ist
es, die von Garry J. Adder in der ausge-
wählten Bibliographie genannte „Autobio-
graphie of Sir Mohomed Nazim Khan, K. C.
I. E., Mir of Hunza“ heranzuziehen, welche
die in Durands Buch behandelten Ereignisse
von der Hunzaseite aus darstellt. Leider liegt
die Autobiographie nur als ein 1936 abge-
schlossenes, vervielfältigtes Maschinenmanu-
skript vor. (Für den an dardischen Studien
Interessierten sei der Hinweis Adders wieder-
holt, daß die bislang unbearbeiteten Papiere
John Biddudphs jetzt im Herefordshire Re-
cord Office zugänglich sind.) Das Buch ist
jedem zu empfehlen, der selbst Feldforschun-
gen in dem von Durand behandelten Gebiet
oder in Nachbargebieten durchzuführen ge-
denkt. Bei aufmerksamer Lektüre wird er es
nicht unbelehrt aus der Hand legen.
Peter Snoy
Wadther Heissig:
Mongolische volksreligiöse und folkloristi-
sche Texte aus europäischen Bibliotheken.
Verzeichnis der Orientalischen Handschrif-
ten in Deutschland, hrsg. v. Wolfgang
Voigt. Supplementhand 6. Wiesbaden:
Steiner. 1966. XII, 256 S., 32 Taf.
Das Buch enthält 77 folkloristische und
volksreligiöse Texte in Umschrift aus verschie-
denen europäischen Bibliotheken (vgl. zu den
diesbezüglichen Handschriften in Deutschland
W. Heissig in Zusammenarbeit mit K. Saga-
ster „Mongolische Handschriften, Blockdruk-
ke, Landkarten“; Verz. d. Orient. Handschrif-
ten in Deutschland, Bd. I, Wiesbaden 1961,
Nr. 43: „Sammlung von Liedern, Rätseln und
Gedichten“ und Nr. 53—87: volksreligiöse
Gebete u. a. an Geser Khan). Schon G. F.
Müdder (1733), P. S. Paddas (1762) und B.
Bergmann (1804—1805) haben die Existenz
eines volksreligiösen Brauchtums erkannt, d.
h. eines Vorstellungsgutes, in dem schamani-
stischc und lamaistische Traditionen ver-
schmolzen sind. Beiträge und Textproben zu
dieser Literaturgattung haben bisher vor al-
Buchbesprechungen
lern B. Rintschen (1959), Damdinsürüng
(1959) und P. A. Mostaert (1957) veröffent-
licht.
Die in vorliegendem Band gesammelten
und kommentierten Texte gehören vornehm-
lich zum Kult des Möngke tngri (Ewiger Him-
mel), des Cayan ehügen (Der Weiße Alte), des
Geser Khan (tib.: Ge-sar), des Cinggis Khan
und einiger Reiter- bzw. Kriegsgottheiten
(Dayisud tngri, Dayacin tngri, Sülde tngri),
aber auch zum Feuer- und Höhenkult sowie
zum Hochzeits- und Jahresbrauchtum (vgl.
hierzu Heissig „Die Religionen der Mongo-
lei“; Religionen der Menschheit, Bd. 20, Stutt-
gart 1970).
Von besonderem Interesse sind doch im-
mer wieder die Gestalten des Weißen Alten
(mong.: Cayan ehügen, tib.: rGan-po-dkar-po)
und des mythologischen Helden Ge-sar
(mong.; Geser Khan). Die Vermutung des
Verfassers, daß wir es bei Cayan ehügen ur-
sprünglich mit einem yajar usun-u ejen (tib.:
sa-hdag) zu tun haben, verdient in Hinsicht
auf verwandte Gestalten in der Religionsge-
schichte (z. B. Tages) besondere Beachtung
(S. 22). Im Hinblick auf den Zusammenhang
des Weißen Alten bei den Burjaten mit einem
weißen Löwen (cayan arslan) als Reittier, das
auch cak-un cayan arslan (weißer Löwe der
Zeit; Mostaert, 1. c.) genannt wird (der Weiße
Alte dann auch Cak-un cayan ehügen), ist mei-
nes Erachtens zrvanistisches Gedankengut er-
kennbar. Ebenso wichtig erscheint mir bei der
Behandlung des Ge-sar-Problems die Fest-
stellung, daß Ge-sar-Kult und Ge-sar-Epos
in einem ursächlichen Zusammenhang stehen
(S. 28).
Das Textmaterial ist für Religionswissen-
schaft und Ethnologie gleich bedeutsam, wie
auch für die mongolische Literaturgeschichte.
Hilfreich ist das Glossar mit vielen Realien-
Siegbert Hummel
Orientalischen Handschriften in Deutschland“
(W. Heissig unter Mitwirkung von K. Saga-
ster „Mongolische Handschriften, Blockdruk-
ke, Landkarten“, Wiesbaden 1961), S. 335—
446 (= Nr. 672—853). Die in diesem Band
durch Klaus Sagaster bearbeiteten mongoli-
schen Weideplatzkarten aus den Jahren zwi-
schen 1890 und 1920, gesammelt durch H.
Consten und W. Heissig, zeigen die Verhält-
nisse zu Beginn unseres Jahrhunderts und ent-
halten über 15 000 Ortsnamen. Die in der
Westdeutschen Bibliothek (Marburg) aufbe-
bewahrten Karten sind mongolisch, einige
chinesisch und nur eine mandschurisch beschrif-
tet. Mit ihnen deckt sich ein großer Teil der
von Mongolen besiedelten Gebiete der Äuße-
ren und Inneren Mongolei sowie der mongoli-
schen Gegenden von Kan-Su und Hsin-
Ch’iang (Sinkiang). Außer den Namen für
Siedlungen und Klöster enthalten sie die Be-
zeichnungen der Gebirge, Berge, Flüsse und
Seen.
Damit ist uns ein unschätzbares Material
für die Kenntnis und Schreibung vor allem der
mongolischen Ortsnamen zugänglich gewor-
den, zumal sich herausgestellt hat, daß der
Namenbestand in den letzten 200—300 Jah-
ren kaum Änderungen erfahren hat. Bis zum
letzten Krieg etwa waren wir im wesentlichen
auf den Jesuiten-Atlas, den Namenbestand im
„Hsi-Yu-T’ung-Wen-Chi“ und auf den „Geo-
graficeskij atlas Mongol’skoj Narodnoj Repu-
blik!“ aus dem Jahre 1934 angewiesen. Wel-
che Mühe und auch Problematik mit der Her-
stellung einer zuverlässigen Schreibung in phi-
lologisch exakter Transkription der oft nur
ungenau nach dem Gehör aufgenommenen
Ortsnamen (vgl. die Karte in H. Consten
„Weideplätze der Mongolen“, Berlin 1919—
1920) noch bis in die Mitte der vierziger
Jahre verbunden war, ist dem Rez. aus per-
sönlicher Erfahrung bekannt. Hierzu verglei-
che man beispielsweise G. L. Träger und J. G.
Mutziger „The Linguistic Structure of Mon-
golian Placenames“ (in: JAOS, 67, 1947, S.
184—195), neuerdings auch J. Schubert „Pa-
ralipomena Mongolica“, Berlin 1971, S. 31 —
49, mit Namenliste über Gebirge, Flüsse und
Seen sowie Angaben zur neueren geographi-
schen Literatur, die durch Schubert z. T.
ausgewertet wurde (besonders das Material
in E. M. Murzaev „Die Mongolische Volks-
republik“, Gotha 1954).
Buchbesprechungen
193
In seiner Einleitung weist W. Heissig noch
darauf hin, daß Nachrichten bekannt sind, wo-
nach auf Anweisung der Mandschu-Kaiser im
17. Jh. mongolische Landkarten zur Festle-
gung umgrenzter Weidegründe der einzelnen
Stämme angefertigt wurden, wenn auch die
älteste uns bekannte Karte im Stil der vogel-
schauartigen Bildkarten erst aus dem Jahre
1739 stammt. Eine große Sammlung (335 St.)
solcher Karten aus der Zeit von etwa 1850 bis
zum Anfang des 20. Jh. besitzt die Staatsbib-
liothek in Ulaanbaatar; 44 Karten dieses Typs
befinden sich in der Universität Tenri (Japan).
Wie in jeder Hinsicht wichtig, und nicht
nur für die Mongolisten, eine zuverlässige
Orientierung über die mongolischen Ortsna-
men ist, zeigt sich u. a. beispielsweise auch bei
der wissenschaftlichen Bearbeitung der Mu-
seumsbestände, deren Objekte mitunter eine
lediglich nach dem Gehör niedergeschriebene
Herkunftsbezeichnung tragen (vgl. „Tribus“,
13, Nr. 24010 u. a., „Tribus“, 16, Nr. 24473,
S. 174 u. a.). Siegbert Hummel
Juhani U. E. Lehtonen:
Kalan myyntiä ja viinan juonta (Fischver-
kauf und Branntweintrinken) — Kansa-
tieteellinen tutkimus ostjakkien ruokata-
loudesta ja sen suhteesta ostjakkien talous-
muotoon erityisesti 1800-luvulla (Eine
volkskundliche Untersuchung der ostjaki-
schen Nahrungswirtschaft und ihrer Bezie-
hung zur Wirtschaftsform der Ostjaken,
besonders im 19. Jahrhundert). Helsinki:
Helsingin yliopiston Kansatieteen laitos.
N:o 4, 1974. 101 S., 1 Kte.
Die Erforschung der ostjakischen Nah-
rungswirtschaft sei bisher noch nicht sonder-
lich weit gediehen, meint der Verfasser, beson-
ders im Vergleich mit Haus, Tracht oder Fang-
gerät der Ostjaken, und er schreibt dies „der
aus mehreren Gründen bis in die jüngste Zeit
fortdauernden, allgemeinen Stagnation auf
dem Sektor der volkskundlichen Nahrungs-
forschung“ zu (S. 7). Seine Arbeit darf sich
als eine erste Gesamtdarstellung auf diesem
Gebiet verstanden wissen, wobei ihr Titel nicht
unmittelbar auf die der Einleitung (S. 4—9)
folgenden vier Kapitelüberschriften schließen
läßt: Die Bestandteile der Nahrungswirtschaft
und die Speisen (S. 10—46), Selbstversorgung
und Nahrungswirtschaft (S. 47—56), Tausch-
handel und Nahrungswirtschaft (S. 57—88),
Die Veränderung der materiellen Kultur im
19. Jh. bei den Ostjaken (S. 89—95). Den
Schluß bildet ein Literaturverzeichnis nebst
Karte des Wohngebietes der Ostjaken (S. 96—
102).
In der Einleitung erläutert der Autor seine
Absichten. Zunächst einmal möchte er deskrip-
tiv die Nahrung der Ostjaken im 19. Jh. dar-
stellen, des weiteren „in welcher Weise sie in
Zusammenhang stand mit der Wirtschafts-
form der Ostjaken und den dort eingetre-
tenen Veränderungen“ (S. 7). Sodann gedenkt
er auf „die mit der Wirtschaftsform verbun-
denen Veränderungen“ einzugehen, weil sich
diese „vor allem auf die Speise auswirkten“
(S. 8). Die Vorzeichen für das Unternehmen
stehen günstig: „Da praktisch gesehen die gan-
ze während der Autonomie in Rußland ge-
druckte Literatur in der Slavica-Abteilung
der Universitätsbibliothek Helsinki vorhan-
den ist, bestehen auch aus diesem Grund für
die Erforschung der Ostjaken in Helsinki sehr
gute Voraussetzungen“ (S. 3). Dessenunge-
achtet erfährt man nichts darüber, warum
der Verfasser gerade auf die herangezogenen
Gewährsleute verfallen ist, da er jeglicherlei
Quellenkritik unterläßt. Die Folge hiervon
Ist, daß sich manchmal andeutungsweise der
Eindruck einschleicht, die Quellenauswahl sei
zufällig, so etwa im Kapitel über die Speisen
(S. 10—46): was die Tiere anbelangt, deren
Fleisch verzehrt wird, so werden sie wenig-
stens für das Vach-Gebiet alle aufgezählt,
nämlich Bär, Rentier, Vielfraß, Fuchs, Hase,
Fischotter, Polarfuchs, Eichhörnchen, Auer-
huhn, Birkhuhn, Haselhuhn, Wildente, Gans
und Schwan; „über das Hermelin hieß es, we-
gen seines sonderbaren Geruches sei es nicht
einmal für die Hunde gut genug“ (S. 23). Bei
den Fischen jedoch vermißt man eine derar-
tige Aufzählung. Vgl. M. A.Castren (1): „Die
gewöhnlichen Fischarten im Ob sind: 1. der
Hecht, der Barsch, der Kaulbarsch, die Plötze,
welche Arten sich sowohl im Sommer als Win-
ter im Ob aufhalten; 2. der Stör (Russ.
Ossetr), der Häring, die Quappe und verschie-
dene Lachsarten, welche von den Russen Muk-
sun, Njelma, Syrok, Pydshan benannt wer-
den — lauter solche Fische, die im Anfang des
Juni gleich nach Aufbruch des Eises flußauf-
wärts gehen und nach und nach im Laufe des
Winters ins Meer zurückkehren. Vornehmlich
sind es der Stör und die verschiedenen Lachs-
13
194
Buchbesprechungen
arten, die hoch im Preis stehen; die übrigen
Fische braucht der Ostjake meist zu seiner ei-
genen Nahrung und zu der der Hunde“ (S.
124).
Das Kapitel „Bestandteile der Nahrungs-
wirtschaft und die Speisen“ (S. 10—46) ent-
hält folgende Abschnitte: „Fisch“ (S. 10—22),
„Fleisch und Fleischprodukte“ (S. 23—31),
„Brote, Backwaren und Mehlspeisen“ (S. 32—
37), „Gemüse“ (S. 38), „Getränke- und Ge-
nußmittel“ (S. 39—46). Lehtonen schildert
nicht nur die Speisen und Getränke, sondern
auch ihre Zubereitung etc., wobei er sich dar-
auf beschränkt, das typisch Ostjakische her-
auszustellen. So enthält dieses Kapitel manche
Bemerkung, die vom Inhalt her aus anderen
Zusammenhängen bekannt ist. Das Brannt-
weintrinken, Bestandteil des Buchtitels, kommt
im drei Seiten langen Abschnitt „Branntwein“
zur Sprache (S. 41—44). Es verdient Erwäh-
nung, daß die Ostjaken sich einen Cocktail
mixten, der in unseren Breitengraden wenig
bekannt sein dürfte: Branntwein mit zerstük-
keltem oder gemahlenem Fliegenpilz (S. 44).
Die Kapitelüberschrift „Selbstversorgung
und Nahrungswirtschaft“ (S. 47—56) wählte
der Verfasser für die beiden Teile „Die Nah-
rungsbestandteile der Selbstversorgung“ (S. 48
—52, mit Wiederholungen aus dem vorange-
gangenen Kapitel) und „Wirtschaftstyp und
Nahrungswirtschaftstyp“ (S. 53—56). Im
letzterwähnten Teil führt er aus: „Fleisch war
keinesfalls das wichtigste Nahrungsmittel der
Ostjaken, sondern das untersuchte Material
stellt die Ostjaken vor allem als Fischesser dar,
für die Elch- oder Rentierfleisch viel mehr
eine Delikatesse denn ein gewöhnliches All-
tagsessen war“ (S. 55). Hier bringt er also
klar zum Ausdruck, daß sich alle Ostjaken
von der Fischerei ernähren und leben; nahe-
zu ohne Einschränkung gilt dies für die An-
wohner des Ob und Irtysch, während an den
Nebenflüssen auch Jagd, im Süden auch Acker-
bau und Viehzucht und im Norden auch Ren-
tierzucht getrieben wird.
Im Kapitel „Tauschhandel und Nahrungs-
wirtschaft“ (S. 57—88) ist nach Lehtonen
insofern ein Novum zu erblicken, als der
Tauschhandel „in früheren Untersuchungen
überhaupt nicht behandelt wurde“ (S. 7);
immerhin hat aber schon der auch vom Ver-
fasser ins Literaturverzeichnis aufgenommene
A. Ahlqvist (2) festgestellt: „Aller Handel
in diesem Lande ist Tauschhandel“ (S. 173).
Was die Ostjaken zu bieten hatten, waren im
wesentlichen vier Artikel: Felle und Pelze,
Fisch, Beeren (3) und Cedernüsse (S. 61). Hin-
sichtlich der letzteren schildert der Autor sehr
eindringlich die Sammelmethoden der Ost-
jaken: „Auch die von Eichhorn und Cractes
infaustus zum Eigenverbrauch angelegten Ce-
dernußvorräte wurden aufgestöbert und aus-
geraubt“, und eine, „wenn auch nicht sehr
weitsichtige“ Methode beim Sammeln war es,
einfach die Bäume zu fällen (S. 64). Was
andernorts beim Handel mit Eingeborenen
zu beobachten war, vermeldet auch Lehtonen:
„Des weiteren konnte der Kaufmann beim
Tauschgeschäft seine eigene Ware zu einem
für sich selbst besonders vorteilhaften Preis
taxieren und den Ostjaken völlig überflüssi-
gen Krimskrams verkaufen“ (S. 66). Der Ver-
fasser berichtet aber auch davon, daß es Ost-
jaken gab, die nicht nur nach eitlem Plunder
trachteten, sondern auch nützliche Dinge, wie
Kerzen, Seifen, Geschirr, Netzzubeör, Stricke
etc., erwarben (S. 63; diese Nachricht stammt
aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts).
Im übrigen zitiert er eine Anordnung, wo-
nach schon 1768 mehr als 50 000 Rubel zum
Anlegen von Magazinen bewilligt wurden,
in denen dann die Eingeborenen Nordwest-
sibiriens Getreide und Schrot kaufen konn-
ten (S. 85).
Das wohl als Fazit gedachte letzte Ka-
pitel „Die Veränderung der materiellen Kul-
tur im 19. Jahrhundert bei den Ostjaken“ (S.
89—95) enthält im wesentlichen die folgen-
den drei Informationen: 1. Branntwein und
Feuerwaffen wurden bei den Ostjaken Ende
des 18. Jh. bekannt, ebenso das Mehl (die ent-
sprechenden Öfen zum Brotbacken jedoch erst
im Laufe des 19. Jh. 2. Bis sich jedoch Tee,
Zucker und Salz verbreitet hatten, verging
nochmals ein Jahrhundert. 3. Ende des 19. Jh.
waren die Ostjaken hinsichtlich Haus, Klei-
dung und Tracht russifiziert (in der damali-
gen Terminologie: verrusst). Daß sich die In-
novationen auf dem Gebiet der Nahrungs-
wirtschaft durchsetzen konnten, sieht der Au-
tor als unmittelbare Folge des Tauschhandels
an (zu dem laut S. 90 die Ostjaken am Vas-
jugan erst Ende des 19. Jh. übergegangen sein
sollen). Durch diese Innovationen wurde der
Wandel besonders im Sektor „Kleidung und
Tracht“ ausgelöst: „Der Übergang der Ost-
jaken in den Bereich des Tauschhandels bedcu-
Buchbesprechungen
195
tete nicht nur die Übernahme von Neuheiten
auf dem Sektor der Nahrungswirtschaft, son-
dern es vollzogen sich auch auf den anderen
Gebieten der materiellen Kultur Veränderun-
gen“ (S. 90). „Die sichtbarste Veränderung
auf dem Gebiet der materiellen Kultur neben
der Nahrungswirtschaft vollzog sich dennoch
auf dem Gebiet von Kleidung und Tracht“
(S. 92). Diesen Schlußfolgerungen gegenüber
muß jedoch Skepsis aufkommen, denn wenn
Lehtonen schreibt: „Nach den Pelzwaren der
Ostjaken herrschte jahrhundertelang Nach-
frage; deren Beschaffung wurde schon im Mit-
telalter von den Nowgorodern mit ihren Be-
steuerungszügen erstrebt, und im 15. und 16.
Jahrhundert wurde der Handel mit den Ost-
jaken von den sibirischen Russen organisiert“
(S. 89) sowie „Die Produkte der Ostjaken ge-
langten des weiteren in die Zentren des nord-
westlichen Sibiriens nach Tomsk, Tobolsk, Tju-
men und Irbit auf mannigfache Weise. Eine
der Möglichkeiten war, daß die Waren von
den mit den Ostjaken Handel treibenden
Kaufleuten selbst weitergeliefert wurden, nor-
malerweise auf dem berühmten und schon im
17. Jh. bekannten Februarmarkt von Irbit“
(S. 67), so liefert er hiermit selbst die Argu-
mente, daß seine Beweisführung (kurz skiz-
ziert: „Ende des 18. Jh. Aufkommen des
Tauschhandels mit erster Welle von Neuhei-
ten, Ende des 19. Jh. die zweite Welle, beide
Wellen ziehen Veränderungen auf dem Gebiet
der materiellen Kultur nach sich“) dem Leser
etwas nebelhaft bleiben muß.
Der Verfasser sah es nicht als seine Auf-
gabe an, die Nahrungswirtschaft der Ostjaken
historisch zu interpretieren bzw. die verschie-
denen Kulturschichten aufzuzeigen, denn das
hätte, wie er meint, auch die Eieranziehung
des ostjakischen Wortschatzes vorausgesetzt
(S. 7). In diesem Zusammenhang verdient bei-
spielsweise Interesse, daß es Wörter für Ei, Ei-
gelb, Eiweiß gibt (nach S. 51 liegen „keine An-
gaben über Sammeln und Verwenden von
Eiern“ vor). Einleitend hatte Lehtonen in
aller Kürze einige Überlegungen theoretischer
Natur angestellt. In Anlehnung an Wiegel-
mann (4) verwendet er den Terminus „Mahl-
zeit“ als Oberbegriff für „Speise“ und „Ver-
zehrsituation“ und kündigt an, sich in der
Hauptsache auf die Darstellung der „Speise“
zu beschränken (S. 7 f.). In seiner Arbeit sind
manche Fakten enthalten, die in das Wiegel-
mannsche Modell nicht ohne weiteres hinein-
passen, so z. B. daß „der Ostjake an einem
Tage bis zu 10 Kilo rohen Fisch hinunterwür-
gen konnte“ (S. 10) oder daß „manche drei bis
vier Fliegenpilze am Tag essen konnten, und
von solchen Personen sprach man wie von
Helden“ (S. 44) (5). Der Autor beruft sich
außer auf Wiegelmann auch auf den an der
theoretischen Diskussion beteiligten Tolks-
dorf (6), von dem die folgende Forderung er-
hoben wurde: „Doch sollten dabei auch die
politischen bzw. ideologischen Implikationen
bedacht werden, die zu sehen gerade das Fach
,Volkskunde' sich bemühen sollte“ (S. 68). Er-
freulicherweise hält Lehtonen seine von inten-
sivem Quellenstudium zeugende Arbeit von
derartigen „Implikationen“ frei und beläßt
die Ideologie bei den Ideologen und die Poli-
tik bei den Politikern.
(1) M. Alexander Castrens Ethnologische
Vorlesungen über die Altaischen Völker nebst
Samojedischen Märchen und Tatarischen Hel-
densagen, hrsg. von Anton Schiefner, St.
Petersburg 1857.
(2) August Ahlqvist: Unter Wogulen und
Ostjaken. Acta Societatis Scientiarum Fenni-
cae 14. Helsinki 1885. S. 133—307 (S. 173).
(3) Vgl. hierzu Erhard Schiefer: Ostjakische
Beerennamen. Erschien in Etudes finno-ou-
griennes 11 (1975); ca. 15 S.
(4) Günter Wiegelmann: Was ist der spe-
zielle Aspekt ethnologischer Nahrungsfor-
schung? Ethnologia Scandinavica 1971. S. 6—
15 (S. 8).
(5) Vgl. eine vom Verfasser nicht benutzte
Quelle: „Die Rolle des Wodka spielte früher
wie auch heute noch zum Teil im Hohen Nor-
den der Fliegenpilz; in gewisser Anzahl ge-
nossen (von 7—21 Stück und manchmal so-
gar noch mehr) ruft er vorübergehende Erre-
gung und starke Halluzinationen hervor“ (S.
K. Patkanov: Der Typ des Helden in der
ostjakischen Volksdichtung, übersetzt aus dem
Russischen in Veröffentlichungen des Finnisch-
Ugrischen Seminars an der Universität Mün-
chen Serie B, Bd. 2, München 1975, S. 51).
Munkäcsi kam zu dem Schluß, daß „wog.
pä?/^, ostj. por]y .Schwamm; Fliegenschwamm’
sowie mord. pai/ga, cerem. po>/go ,Pilz‘ nach
ihrem ursprünglichen Etymon eigentlich
,Rauschmittel, Narkotikum' bedeuten und daß
die Kenntnis dieses Kulturproduktes bei den
196
Buchbesprechungen
finnischen Völkern von den Ariern herstammt,
ebenso wie dies auch bezüglich des ,Bieres1 an-
nehmbar ist“ (Bernhard Munkäcsi: „Pilz“
und „Rausch“, Keleti Szemle 8 (1907). S. 343
—344).
(6) Ulrich Tolksdorf: Ein systemtheoreti-
scher Ansatz in der Ethnologischen Nahrungs-
forschung. Kieler Blätter zur Volkskunde 4
(1972). S. 55—72 (S. 68).
Erhard Schiefer
SÜD ASIEN
Sigrid Westphal-Hellbusch und
Heinz Westphal:
Hinduistische Viehzüchter im nord-westli-
chen Indien. 1: Die Rabari. Forschungen
zur Ethnologie und Sozialpsychologie Bd.
8. Berlin-München: Duncker & Humblot.
1974. 358 S., 32 Abb. u. 3 Ausschlagtaf.
Die Verfasser reihen in ihre wohlbekann-
ten systematischen Untersuchungen der Hir-
tenkulturen auf dem Indischen Subkontinent
eine weitere ein, die den Rabari, einer hindui-
stischen Gruppe zwischen Rann of Kutch und
Rajasthan, gilt. Schon bei der räumlichen Fest-
legung dieser Viehzüchterbevölkerung ergeben
sich Schwierigkeiten, denn früher reichte ihr
Verbreitungsgebiet bis ins untere Sind, von
wo sic sich wohl vor dem Islam zurückgezogen
haben. Unter dem Sammelbegriff Rabari lebt
in diesem Raum eine Vielzahl von Gruppen,
die zum Teil nur wenige Familien umfassen,
aber weitgehende Gemeinsamkeiten in ihren
Traditionen aufweisen.
Eine wesentliche Zielsetzung der Arbeit ist
es, die Kulturzüge der Viehzüchter Nordwest-
Indiens herauszustellen und Vergleiche zwi-
schen hinduistischen und islamischen Gruppen
zu ziehen. Findet sich bei den entsprechenden
islamischen Bevölkerungen eine Stammesor-
ganisation, so sind die hinduistischen Vieh-
züchter vor allem durch ihre Einordnung in
das Kastensystem ausgezeichnet. Genealogen
schreiben die Geschichte der Gruppen, die kei-
ne schriftlichen Traditionen besitzen, wie es bei
den Rabari der Fall ist.
Eine weitere Frage, die wohl von vielen
Lesern an die Arbeit herangetragen wird,
nämlich, ob es sich bei den Rabari um Noma-
den handelt, wird in der ganzen Schrift nicht
deutlich genug beantwortet. Aufschluß dar-
über erhält man nicht in dem Abschnitt über
die Wanderbewegungen, der nur die geschicht-
liche Mobilität erhellt, und nur teilweise durch
die Ausführungen über Siedlung und traditio-
nelle Lebensweise. Immerhin leben die Kut-
chi-Rabari in Dörfern — hier sollte der weiter
im Nordwesten gebräuchlichen Ausdruck Kut-
chi für Nomaden nicht irreführen — und bil-
den als Kamelzüchter mit den ebenfalls in
diesen Dörfern lebenden Bauern eine wirt-
schaftliche Symbiose. Man entfernt sich allen-
falls noch für einige Tage zum Weidegang
vom Dorf. Die nomadische Vergangenheit
kann aber wohl kaum in Zweifel gezogen wer-
den.
Einen großen Raum in dieser Arbeit neh-
men naturgemäß die ethnologischen Beschrei-
bungen des Gemeinschaftslebens, der Heirats-
beziehungen und der kultischen Verhältnisse
ein. Aber ein Verlust der Traditionen droht
auch hier: Die Grenze zwischen Indien und
Pakistan wird aus militärischen Gründen un-
durchlässiger, der Straßenausbau begünstigt
die modernen Verkehrsmittel.
Insgesamt zeigen diese Viehzüchter aber
eine große Abhängigkeit vom Naturraum und
von der herrschenden Siedlungsdichte; sie ha-
ben sich wohl immer am Rande der großen
kultivierten Gebiete bewegt. Auch im Bereich
bodensteter Siedlung haben die Rabari immer
die Beschäftigung mit Bodenkultur vermieden.
Die Gruppen, die von den offiziellen Stellen
des Landes wenig beachtet werden, haben auch
in größten Notzeiten, wie sie sich in der jüng-
sten Zeit durch Dürrekatastrophen wiederholt
eingestellt haben, immer an ihrer Viehwirt-
schaft festgehalten.
Die Studien über Viehzüchterkulturen der
Alten Welt sind durch diese Untersuchung um
eine weitere, sehr wesentliche Arbeit bereichert
worden. Die zwei beigegebenen Übersichtskar-
ten wären allerdings besser in dieser Form un-
publiziert geblieben; es ist unverständlich, wie
ein so renommierter Verlag den Gesamtcin-
druck von einer sonst soliden Ausstattung
durch solch primitive Faustskizzen herabmin-
dern läßt. Christoph Jentsch
Buchbesprechungen
197
John C. Huntington:
The Phur-Pa, Tihetan Ritual Daggers. As-
cona: Artihus Asiae Suppl. XXXIII. 1975.
90 S., 103 Abb.
Das prächtige Werk ist die bisher einzige
Beschreibung des im tantrischen Buddhismus,
vor allem in Nepal und Tibet, aber auch in
der tibetischen Bon-Religion als Kila (skr.),
tib.: Phur-bu[pa], bekannten Zercmonialge-
rätes, die Anspruch auf eine gewisse Vollstän-
digkeit hat. Es fehlen jedoch vor allem Bei-
spiele für die großen feststehenden Typen (vgl.
die Abbildung in: Asiatische Studien, 1952,
dort zu S. 41 ff.). Die vorgeschlagene Ordnung
der ikonographischen Fülle ist hilfreich. Wenn
aber nach den im Gerät inkorporierten Gott-
heiten gegliedert wird, und dann innerhalb
der so entstandenen Gruppen nach gewissen,
immer wiederkehrenden sekundären Kriterien,
so hätte die Typologie doch etwas mehr die
Bedeutung der göttlichen Attribute in den
Vordergrund stellen sollen, die nicht nur auf
Malereien, sondern auch auf einigen plasti-
schen Phur-bu[pa] eine Rolle spielen. Das Er-
gebnis wäre ohne allzu große Belastung der
Ausführungen eine reichere Vielfalt und Prä-
zision der Aussagen, selbst wenn es dem Ver-
fasser offensichtlich um das Kultgerät und
nicht so sehr um eine Gesamtdarstellung des
Phur-bu[pa] geht. Eine Grundkonzeption von
dessen Sinngehalt läßt sich jedoch nur mit
Hilfe einer möglichst umfassenden Ikonogra-
phie gewinnen.
Der Verfasser geht von der Überzeugung
aus, daß sich in allen Formen dieses Zeremo-
nialgerätes nur eine Gottheit manifestiere, die
er Phur-pa nennt (Sektion I). Demgegenüber
entsteht jedoch die Frage, ob nicht vielmehr die
im Phur-bu[pa] feststellbaren Gottheiten je-
weils ganz und allein sein Wesen ausma-
chen, d. h. daß sich diese Gottheiten als
Kila tarnen bzw. die von den Dämonen ge-
fürchtete Gestalt der apotropäisch erfolgrei-
chen Waffe annehmen. Schon bei den alt-vor-
derorientalischen Vertretern des Kila stellen
die sogenannten Nagelmenschen offenbar ver-
schiedene Gottheiten dar. Neuerdings hat auch
A. J. Pfiffig (Uni-Hera-Astarte, Wien 1965,
S. 47 f.) auf den sog. Nagel bei den Etruskern
mit chronologischer, bei den Römern mit chro-
nologischer und expiatorischer und bei den
Hethitern mit dedikatorischer Bedeutung hin-
gewiesen. Eine weitere Frage ist dann, ob im
Buddhismus die Nagelgestalt nicht ursprüng-
lich nur als ein Aspekt der Vajrapäni verstanden
wurde, wie schon F. A. Bischoff (Ärya Ma-
häbala-Näma-Mahäyänasütra, Paris 1956)
vermutete. Vajrapäni war es auch, der dem
Padmasambhava die Manuskripte der Phur-bu
[pa]-Lehre überreichte. Wahrscheinlich gehört
Vajrakila (tib.: rDo-rje-phur-bu, Phrin-las-
Iha-mchog) bzw. Vajrakumära (tib.: rDo-rje-
gzhon-nu, Fig. 22) als Variante in die Vajra-
päni-Genealogie. Das entspräche dann der Ka-
tegorie II des Buches (Die Gottheit Phur-pa).
Die Bon-Religion (Sektion IV) kommt durch
die Beschränkung auf den Phur-bu [pa] als
Gerät mit nur zwei Beispielen leider zu kurz.
Die Gestalt auf Fig. 70 heißt auch gTum-drag-
dmar-nag-me-phreng-can. Neben der Katego-
rie VII (S. 44 ff.) scheinen gerade die unter
Sektion II (S. 48—59) klassifizierten nepalesi-
schen Ritualdolchc für die vom Rez. vorge-
tragene Theorie zu sprechen, wonach sich ver-
schiedene Gottheiten in die Gestalt dieses Ge-
rätes kleiden (vgl. S. Hummel: Vajrakila. In:
Wiss. Zeitschr. d. Univ. Halle-Wittenberg,
XXII ’73 G, H. 3, 21—27; XXIII 74 G, H. 5,
S. 126 f.). Zu den dabei gesammelten Realien
zu einer Ikonographie des Kila sei ergänzend
auch St. Beyer; The Cult of Tara (Berkeley
1973, S. 44), mit Yamäntaka als Dolchgottheit
Khro-chu, genannt.
Leider ist offenbar nur englischsprachige
Literatur benutzt worden. So verfügen wir im
Gegensatz zur Meinung des Verfassers (S. VII)
heute bereits über ein recht brauchbares Mate-
rial zu einer wenn auch erst zögernden Rekon-
struktion der Geschichte des Phur-bu [pa],
seiner Entstehung und Übernahme in den tan-
trischen Buddhismus (vgl. die Literaturhin-
weise in S. Hummel: Der lamaistische Ritual-
dolch und die alt-vorderorientalischen Nagel-
menschen. In: Asiatische Studien, 1952, S. 41
ff.). Dabei bleibt es sehr fragwürdig, ob die
buddhistischen Tantriker diese Ritualwaffe
von den Bon-po übernommen haben. Mehr als
eine vom Buddhismus unabhängige Bekannt-
schaft und Verwendung des Phur-bu [pa] auf-
grund der Nachbarschaft des Entstehungsge-
bictes der Bon-Religion, des westtibetischen
Zhang-zhung, zur Heimat des Padmasambha-
va kann vorläufig den Bon-po nicht zugestan-
den werden. Ikonographie und Ritualtexte lie-
fern noch keine Beweise für eine andere Ver-
mutung.
19S
Buchbesprechungen
Was die mit dem Phur-bu als Gerät ver-
bundenen Zeremonien angeht, so vermißt man
die grundlegende Abhandlung von R. A.
Stein: Le Linga des Danses Masquées Lamai-
ques et la Theorie des Âmes (in: Liebenthal
Festschrift, Sino-Indian Studies, V, 3—4), des-
gleichen vom selben Verfasser Étude du monde
chinois (in: L’Annuaire du Collège de France,
Résumé 1972—73). Neuerdings hat auch D. I.
Lauf: Vorläufiger Bericht über die Geschichte
und Kunst einiger lamaistischer Tempel und
Klöster in Bhutan (in: Ethnol. Zeitschr. Zü-
rich, 11/1973, S. 41 ff.) wertvolles Material zur
Ikonographie des Phur-bu [pa] veröffentlicht.
Trotz dieser Ergänzungen wird dieses
Werk über den Phur-bu [pa] als Zeremonial-
gerät auf lange Zeit nach Zuverlässigkeit und
Fülle kaum zu übertreffen sein und einen si-
cheren Platz In der Handbibliothek des Ti-
betologen einnehmen. Man kann sich nur wün-
schen, daß der Verfasser eine ebenso schöne
Ikonographie des Kila folgen läßt.
Siegbert Hummel
Klaus L. Janert:
Nachi-Handschriften, Teil 3. Beschrieben
von Klaus L. Janert. Verzeichnis der
Orientalischen Handschriften in Deutsch-
land, hrsg. v. Wolfgang Voigt, Bd. VII, 3.
Wiesbaden: Steiner. 1975. 301 S., 16 Taf.
Die Na-Khi Manuscripts, die bereits 1965
in zwei Bänden erschienen sind (vgl. die aus-
führliche Besprechung in „Tribus“, 15, S. 178
ff.), haben nunmehr einen 3. Teil erhalten,
den wiederum Klaus L. Janert herausgege-
ben hat. Vielleicht hätte der Einheitlichkeit
des Gesamtwerkes wegen weder die Bezeich-
nung des Volkes als Na-khi in die deutsche
Aussprache (Nachi) noch der Titel abgeändert
werden sollen, zumal im Band selbst durch-
gehend die Transkription der Na-khi-Worte
in der heute allgemeingültigen Orthographie
von J. F. Rock Anwendung findet. Aber das
sind nebensächliche Kriterien. Entscheidend ist,
daß nunmehr auch die in Marburg nicht als
Manuskripte, sondern in Gestalt von Photo-
kopien vorhandenen Texte erfaßt worden
sind, deren Originale Rock an verschiedene
Eigentümer in den USA veräußert hat.
Was auch diesem 3. Band seinen über die
bloße Katalogisierung hinausgehenden Wert
gibt, ist wieder die Verbindung der einzel-
nen Texte mit den Zeremonien, zu denen sie
gehören und die im Bd. 1 in einer Liste geord-
net sind, die für eine Systematisierung aller
Na-khi-Handschriften unerläßlich bleiben
wird, ein besonderer Vorzug der Katalogisie-
rung gerade der Na-khi-Texte, deren Zahl zu
überschauen ist. Da im Gegensatz zu den Bän-
den 1 und 2 eine Inhaltsangabe der einzelnen
Handschriften fehlt, weil die Bilderschrift (Ss
dgyu Iv dgyu), in der sie abgefaßt sind, zuver-
lässig nur J. F. Rock deuten konnte, ist der
Hinweis auf Rocks Na-Khi-English Diction-
ary, Bd. 2 (Rom 1972) deshalb so wichtig,
weil dort (S. 343—509) die meisten Hand-
schriften wiederum in den Zusammenhang mit
den verschiedenen Zeremonien gestellt, außer-
dem aber mit kurzen Inhaltsangaben versehen
wurden. Die den einzelnen Handschriften zu-
sätzlich beigegebenen R(= RoCK)-Zahlen sind
darum so wichtig, weil Rock die Manuskripte
in seinen verschiedenen Publikationen danach
zitiert hat.
Zur Bedeutung der Na-khi-Forschung, ins-
besondere für die Tibctologie, verweise ich auf
meine ausführlichen Besprechungen in „Tri-
bus“, 13, 1964, S. 163—65 (J. F. Rock: The
Life and Culture of the Na-khi Tribc) und
„Tribus“, 15 (1. c.). Siegbert Hummel
OSTASIEN
Erik Jensen:
The Iban and Their Religion. Oxford Mo-
nographs on Social Anthropology. Oxford:
At the Clarendon Press. 1974. 242 S., 9
Fotos, 2 Karten.
Die Iban gehören wohl zu den seit Beginn
dieses Jahrhunderts am intensivsten studier-
ten und dokumentierten Gruppen Südost-
asiens. Unter den wichtigsten Publikationen
reiht sich Jensens Studie zwischen Freeman,
Harrison und Sandin ein. Insgesamt drei Ka-
pitel des zweiten Hauptteiles wurden bereits
früher separat publiziert und sind in kaum
veränderter Fassung, aber neuen Titeln über-
nommen worden. Jensen sammelte das Ma-
Buchbesprechungen
199
terial als Community and Divlsional Develop-
ment Officer (1961—65) und anschließend für
sieben Monate als Stipendiat des Foreign Of-
fice seines Heimatlandes Dänemark. Seine em-
pirischen Daten beschränken sich auf die „Se-
cond Division“ Sarawaks, und er bietet damit
ergänzendes Material zu Freeman an (Third
Division), obwohl jener schwerpunktmäßig die
soziale Organisation untersucht hat.
In der Einleitung charakterisiert Jensen
seine Publikation als einen Versuch ethnogra-
phischer Darstellung von Iban-Verhaltensnor-
men; den religiösen Inhalten, welche die Basis
ihres „way of live“ darstellen, dem Rahmen,
in welchem sich dieser manifestiert, und dem
Ziel, auf das er gerichtet ist. Er hält sich hier-
bei an Freeman, der im Jahre 1955 die kar-
dinale Bedeutung der Rituale und Konzepte,
die sich im Iban-Reiskult ausdrücken, als das
Zentrum ihrer Religion gekennzeichnet hatte.
Diesen Ansatz hat Jensen aufgegriffen. Über
den Begriff adat (hier nicht im engeren Sinn
als Gewohnheitsrecht) kommt er zu einer Re-
konstruktion der Kultur, wobei der besondere
Akzent auf den Beziehungen und Abhängig-
keiten zwischen den Menschen und den spiri-
tuellen Wesen liegt. In der Darstellung ihres
konstruktiven Verhältnisses, in welchem beide
Teile demselben sozialen Kodex verpflichtet
sind (adat), wird Religion von ihrer esoteri-
schen und irrationalen Dimension befreit.
Hierin sehen wir Jensens größten Verdienst.
An die Stelle von „heilig“ und „profan“
(Eliade) treten reale Dichotomien: links —
rechts, Mann — Frau, tot — lebend, 7 — 9,
usw. Sie stellen keine antagonistischen Paare
dar, sondern zwei Aspekte der Realität, die
nur insgesamt ein Ganzes bilden. Es sind kei-
ne moralischen Kategorien eines „besser“ oder
„schlechter“; wohl enthalten sie eine relative
Wertung, doch wird die positive Qualität von
rechts innerhalb der Augurien durch eine ent-
sprechende Qualität von links für die Frucht-
barkeit (Lockerung) des Bodens aufgewogen.
Besonders hier wird die Bedeutung der realen
Taxonomien für das Verständnis anderer Kul-
turen deutlich.
Leider ist auch Jensen dem Irrtum erle-
gen, daß eine Monographie nur mit einem re-
lativ statischen Kulturbegriff operieren kann.
So entstand ein in sich ruhendes System, wel-
ches fiktiv mit den wenigen Ausnahmen hindu-
javanischer und malaiisch-arabischer Entleh-
nungen seit Jahrhunderten nahezu unverän-
dert besteht. Es überrascht daher, wenn man
auf der letzten Seite (213/14) liest, inwieweit
diese „traditionelle“ Kultur seit dem II. Welt-
krieg bereits Neuorientierungen ausgesetzt
war. So ist der Schluß zulässig, daß sich Jen-
sens Darstellung quantitativ auf die ältere
Generation beschränkt (siehe auch die Stel-
lungnahme eines „konservativen“ Iban, S.
214).
Abgesehen von diesem Mangel zählt Jen-
sens Monographie wohl zu den besten reli-
gionsethnologischen Publikationen auf regio-
naler Ebene und ist geeignet, eine Neuinter-
pretation südostasiatischer Religionen zu för-
dern. Bevor jedoch ein solcher Versuch unter-
nommen werden kann, müssen besonders für
den ostindonesischen Raum und die Philip-
pinen noch einige qualitativ gleichwertige Mo-
nographien geschrieben werden.
Kurt Tauchmann
R. H. Barnes:
Kedang. A Study of the Collective
Thought of an Rastern Indonesian People.
Oxford University Press (Clarendon).
1974. 350 S., 9 Abb., 14 Taf., 13 Diagr.,
4 Karten.
Mit dem Werk „Ata Kiwan“ hatte Ernst
Vatter 1932 nicht nur eines der wenigen
qualitätvollen und populären Bücher der
deutschsprachigen Ethnologie vorgelegt, son-
dern auch den bis heute umfassendsten Bericht
über den Solor-Alor-Archipel. Sicht man von
einigen kleineren Aufsätzen ab, so ist nur
durch die verschiedenen Beiträge von Paul
Arndt und Cora Du Bois’ Alor-Buch eine
maßgebliche Erweiterung unserer ethnologi-
schen Kenntnisse dieses Raumes erzielt wor-
den. Mit Barnes’ Buch liegt nun eine weitere,
gewichtige Studie über diesen Raum vor. Sic
basiert auf mehr als 19monatiger Feldarbeit
in der Region Kedang im nordöstlichsten Teil
von Lembata, dem ehemaligen Lomblem oder
Lomblen. Barnes’ Ausrichtung ist schon im
Projekt eindeutig gewesen und ebenso im vor-
liegenden Resultat: es ist die konsequente An-
wendung der Vorstellung von den totalen So-
zialphänomcnen, wie sie durch Mauss ent-
wickelt wurde und insbesondere von einer
Gruppe englischer Kollegen um Rodney
Needham ausgebaut und zu einem For-
schungsgebiet gemacht worden ist. Wichtige
weitere Einflüsse gehen von Leach aus.
200
Buchbesprechungen
Die Lektüre des Buches ist nicht einfach.
In 19 Kapiteln werden Kulturbereiche von
Kedang, in der Hauptsache aus dem Dorf Leu-
wayang, vorgestcllt. Nach den Kapitelüber-
schriften erwartet man eine klassische Dorf-
studie. Sie heißen etwa „Der Berg“, „Das alte
Dorf“, „Das Haus“ oder „Tod und Bestat-
tung“, „Heirat“ und „Verwandtschaftstermi-
nologie“. Was die Lektüre selbst für einen
Indonesienkenner erschwert, ist Barnes’ be-
grüßenswerte Einstellung, seine Erfahrung
nicht durch einen fahrigen Begriffsapparat für
scheinbar eindeutig Benanntes verstellen zu
lassen. Das bringt notgedrungen eine, sofort
schon im Schriftbild erkennbare Häufung ein-
heimischer Termini mit sich. Solange nicht in-
tensiv an einer Begriffsverfeinerung, in den
meisten Fällen eine Begriffseinengung, gear-
beitet wird, ist diese Art die legitime Art der
Darstellung. Nur eben, sie erschwert die Lek-
türe.
Barnes beginnt mit einer Darstellung des
Berges von Kedang, der wie ein Wahrzeichen
das Land beherrscht und mit Menschenur-
sprungsvorstellungen und Gedanken über die
Ausbreitung vom Berg her, über Ursprungs-
orte und Wasser als besonderem Reichtum
verknüpft ist. Einer Darstellung des „alten“
Dorfes, gemeint als ursprünglicher Standort
des jetzigen und als nächster Bezugspunkt,
folgt die Darstellung der Hausanlage und
Raumorientierung. Hier kehren von Bali und
Sulawesi, aber auch von Westindonesien, z. ß.
Nias, bekannte Kategorien wieder, wie oben
— unten, aufwärts — abwärts, zum Berg —
zur See. Barnes erwähnt einige Parallelen,
stellt die Ordnung in Kedang jedoch insofern
als etwas Besonderes dar, als in dem dualen
System eine Richtungskomponente eingebaut
ist, die das Nachrechtsgehen oder das Rechts-
herumumgehen als „richtige“ Richtung anzeigt.
Diese Komponente findet sich vom Hausbau
bis zu Vorstellungen über Leben und Tod (S.
208). Eng verbunden mit ihr ist die Vorstel-
lung von Abläufen über Strecken und Knoten-
punkte, ähnlich den Internodien und Nodien
eines Bambusstamms. Diese Vorstellung scheint
weit verbreitet in Indonesien, etwa vergleich-
bar Nias göiö als Klassenwort für „Stock-
werk“, „Zeitabschnitt“, „Geschlecht“.
Mit Abschnitten über Gottheiten und Ge-
stirne, Jahres- und Lebenslauf, Magie und die
Maisernteopfer gelangt Barnes zu dem Be-
griffspaar matan-puen, das Ursprung und
Quelle von allen Dingen bezeichnet. Einige
Abschnitte aus den ersten Kapiteln, wie die
Geschichte vom Lebensbaum, erhalten über
dieses Begriffspaar eine bessere Einordnung.
Der zweite Teil des Buches ist der Ver-
wandtschaft gewidmet. Kedang weist ein vor-
geschriebenes asymmetrisches Allianzsystem
auf, obwohl auch hier die Ausnahmen nicht ge-
ring an Zahl sind. Es gibt nicht nur Heirat
innerhalb des Klans und Schwesterntausch,
sondern auch häufig reziproke Heiratsbezie-
hungen. Die als Regel genannte Allianz ist im
Licht dieser Ausnahmen ein etwas mühsam
gehaltenes Gebilde, auch wenn die Bezeich-
nungen für Frauengeber und -empfänger so
geläufig sind und zur Verdeutlichung ein tria-
disches Diagramm gezeichnet wird mit Pfeilen,
die dann der Wirklichkeit doch nur in engen
(?) Grenzen entsprechen.
Als ethnographische Quelle ist Barnes’
Buch sehr wertvoll, auch vorteilhaft zu be-
nutzen, da Interpretationen immer deutlich
erkennbar sind. Einige — nur im ersten Teil
des Buches — sind eher Ahnungen oder Wün-
sche als Interpretationen, so die Folgerung,
daß in einem Mythos der Hinweis auf das
Tragen von Kleidung enthalten sei (S. 41)
oder die Annahme von großen Opfertieren in
früherer Zeit anstelle der jetzt kleineren (wie
sonst in der Literatur so häufig Tieropfer als
Menschenopferersatz bezeichnet werden).
Im Anschluß an die Lektüre von Barnes’
Buch wünscht man sich zwei Erweiterungen.
Zum einen, daß der Autor von seiner Meinung
Abstand nähme, im Bereich der Subsistenzar-
beit, der Geräte und anderer wirtschaftlicher
und materieller Komplexe sei Kedang am
wenigsten geeignet, um Untersuchungen von
„collective representations“ zu machen, und
er ein Anschlußbuch über eben diese Bereiche
schreiben möchte. Zum anderen wünschte man
sich jemanden, der die vergleichende Arbeit
trotz all ihrer Tücken wieder aufnähme, z. B.,
um endlich einmal in den Vorstellungen zur
Ordnung der Welt die altindonesische Kom-
ponente deutlicher herauszubilden. Sind etwa
Welt- und Lcbensbaumvorstcllungen, die Aus-
richtung oben — unten, der Schwangerschafts-
kalender indonesische Trademe oder sind cs
cingcpaßte indische Anregungen? Wie sind, um
ein anderes Ziel einer vergleichenden Arbeit
zu nennen, die Varianten in der Kontrolle der
unverheirateten Frauen in Gesellschaften mit
Buchbesprechungen
201
patrilinearer Deszendenz und Allianzsystem
zu begründen.
Barnes hat mit seinem Buch nicht nur ei-
nen wertvollen Beitrag zur Ethnologie des
Solor-Alor-Archipels geliefert, er hat auch die
Untersuchung von Weltbildern aufschlußreich
weitergeführt und einer Indonesien-Ethnolo-
gie, die die historische Komponente als selbst-
verständlichen, untrennbaren Faktor von Kul-
tur sieht, neue Anregungen gegeben.
Wolfgang Marsghall
Jaap Kunst:
Music in Java. Its History, its Theory and
its Technique. 3rd. enlarged edition. Ed. by
E. L. Heins. 2 Vol. The Hague: Martinas
Nijhoff. 1973. 660 S., 165 Abb., Zahlr.
Notenbeispiele, Diagramme, 2 Tab., 1 Kar-
tenblatt.
In der Rezension von Jaap Kunsts „Hin-
du-Javanese Musical Instruments“ empfahl
ich, dieses Buch gleichzeitig mit „Music in Ja-
va“ zu lesen. Letzteres liegt nun in einer er-
weiterten, zweibändigen Ausgabe vor. Es ist
im wesentlichen der Nachdruck der ersten
Übersetzung der 1934 erschienenen holländi-
schen Ausgabe. Die Darstellung wird eingelei-
tet von einigen Überlegungen zu der Möglich-
keit, indonesische Musik zu charakterisieren.
Kunst findet die musikalische Verschiedenheit
so groß, daß eine allgemeine Charakterisie-
rung nicht angestrebt wird. Vor dem ersten
Hauptabschnitt über Ton- und Leitersysteme
beklagt Kunst, daß nach den vielen Einflüs-
sen, die in Indonesien und speziell in der in-
donesischen Musik wirksam wurden, nun der
europäisch-amerikanische Einfluß so gewaltig
ist, daß er nur zur Zerstörung führen kann.
Wenngleich an vielen Orten Indonesiens eine
Intensivierung des einheimischen Musiklebens
zu erkennen ist, ist doch allenthalben dieser
zerstörerische Einfluß gegenwärtig, der durch
Mittel wie Kassettenrecorder nur noch ver-
stärkt wird. Die Darstellung der Tonsystemc
ist beherrscht von der von Von Hornbostel
rekonstruierten Blasquinte und der darauf
basierenden Theorie der Umschichtreihen
(samt Auswahlkriterien). Auf die u. a. von
Bukofzer angebrachte Kritik geht Kunst nur
wenig ein, zumal es darüber eine gesonderte
kleine Schrift von ihm gibt. Tatsächlich wäre
die Wiederaufnahme der Blasquintentheorie-
Diskussion überaus wünschenswert, um so
mehr, als die musikalischen Beziehungen Javas
zum alten China so deutlich geworden sind.
Zu den folgenden Darstellungen von slen-
dro, pelog und patet muß man sicher neuere
Ergänzungen hinzuziehen, etwa die Untersu-
chungen von Mantle Hood, ebenso wie zu
irama (dem Zeit- oder Tempobegriff) Heins’
Beitrag herangezogen werden muß. Insgesamt
bleibt jedoch Kunsts Beitrag zu diesen Grund-
kategorien Ausgangspunkt jeder weiteren Be-
schäftigung mit diesem Thema. Das gilt in
vielleicht noch höherem Maß von dem histo-
rischen Abschnitt, zu dem das oben erwähnte
Buch herangezogen werden muß, und von der
regionalen Darstellung, die in zwei großen
Abschnitten erfolgt: Mittel- und Ostjava und
Westjava. In diesen beiden Abschnitten wer-
den nacheinander die Vokalmusik, die Instru-
mente (nach der Gliederung von Hornbostel
und Sachs) und die Orchester parallel aufge-
baut sowie schließlich die einzelnen Komposi-
tionen vorgeführt. Eingebaut sind zahlreiche
Hinweise auf Temopragen, auf sprachliche Ab-
leitungen, auf Notationen.
Der zweite Band besteht aus Abbildungen,
der Bibliographie, Notenbeispielen, Verbrci-
tungstabellen und dem vorzüglichen Index.
Durch den Herausgeber dieser Ausgabe wurde
die Bibliographie um solche Titel ergänzt, die
direkt mit Musik zu tun haben, während
Nachbargebicte nur in Ausnahmefällen be-
rücksichtigt wurden (etwa die Literatur über
wayang). Der Herausgeber hat auch die An-
merkungen, die Kunst in sein eigenes Exem-
plar der zweiten Auflage geschrieben hatte,
hier eingefügt. Meist sind es kürzere Ergän-
zungen oder Korrekturen, gelegentlich auch
längere Passagen, wie eine Ergänzung zu der
Blasquintcn-Diskussion, eine briefliche Mit-
teilung von Janse über die Instrumente auf
den Dongson-Lampen (inzwischen publiziert)
und längere Informationen von B. Ijzerdraad
über das Spielen von bonang und saron.
Der Herausgeber hat schließlich noch eine
Diskographie von 74 Titeln von im Handel
erhältlichen Platten mit javanischer Musik an-
gefügt. Für die Indonesienkunde ist die neue,
erweiterte Auflage von Kunsts Buch begrü-
ßenswert, auch deshalb, weil Kunst eine Viel-
zahl von Informationen verarbeitet hat, die
nur am Rande mit Musik zu tun haben, aber
Verbindungen aufzeigen, die auch für den all-
gemeinen Ethnologen von Interesse sind.
Wolfgang Marschall
202
Buchbesprechungen
Liberty Manik:
Batak-Handschriften. Verzeichnis der
orientalischen Handschriften in Deutsch-
land, hrsg. v. Wolfgang Voigt. Band
XXVIII. Wiesbaden: Steiner. 1973. XII,
235 S., 6 Taf.
Das „Verzeichnis der Orientalischen Hand-
schriften in Deutschland“ (VOHD) reicht in
seiner Bedeutung für die Sprach- und Kultur-
wissenschaften über den nationalen Rahmen
weit hinaus. Der Gesamtplan der VOHD
(Stand vom August 1973,) der dem vorliegen-
den Band beigegeben ist, verzeichnet 23 (teils
mehrbändige) Handschriftenkataloge und 17
Supplementbände, die entweder schon erschie-
nen oder vor der Veröffentlichung stehen;
weitere Bände sind In Vorbereitung. Wenn
man bedenkt, daß die Katalogisierungsarbeit
erst 1958 begann, ist dies für den Herausgeber
der VOHD eine stolze Bilanz. In besonderem
Maße verdient Anerkennung, daß dieses groß-
angelegte Forschungsunternehmen auch die
Schriftdokumente derjenigen Völker einbe-
zieht, die nicht der sogenannten Hochkultur
angehören. So sind mehrere der Handschrif-
tenkataloge und Supplementbände für den
Ethnologen von unmittelbarem Interesse. Das
gilt vor allem für die „Batak-Handschriften“.
Der Bearbeiter dieses Katalogs, Liberty Ma-
nik, ist selbst ein Batak, der 1924 in Sidika-
lang westlich des Toba-Secs auf Nord-Suma-
tra geboren wurde. In der Revolutionszeit und
und den ersten Jahren der Republik Indonc-
sia machte sich Manik, wie man in der „En-
siklopedia Indonesia“ nachlcsen kann, als
Komponist und Musikschriftsteller einen Na-
men. Mitte der fünfziger Jahre ging er zur
weiteren musikalischen Ausbildung in die Nie-
derlande und dann nach Deutschland, studier-
te schließlich Musikwissenschaft in Berlin und
promovierte dort über das Thema „Das ara-
bische Tonsystem im Mittelalter“ (Leiden
1968). Zu den sprachlichen Voraussetzungen
und dem Einfühlungsvermögen in die Materie,
die Manik als Batak mitbrachte, verlieh ihm
das Studium auch das wissenschaftliche Rüst-
zeug, um sich in die schwierige Problematik
der Batak-Handschriften einarbeiten zu kön-
nen. Manik stützt sich dabei im wesentlichen
auf die Arbeiten des 1958 verstorbenen Mis-
sionsarztes J. Winkler sowie des niederländi-
schen Sprachforschers P. Voorhoeve, der ihn
auch, wie aus den Dankesworten des Vorworts
hervorgeht, persönlich beraten hat.
Der Katalog der „Batak-Handschriften“
deutscher Museen und Bibliotheken verzeich-
net Insgesamt 501 Dokumente. Zuerst denkt
man hier an die Pustaha, die sogenannten
Zauberbücher, d. h. an die auf leporelloartig
gefalteten Baumrindestreifen geschriebenen
Texte zur priesterlichen Kunst (Hadutaon),
von denen 215 in dem Band aufgeführt wer-
den. Erfaßt sind weiterhin beschriftete Bam-
bussegmente oder -streifen (214), gravierte
Knochenstücke (62) sowie einige wenige be-
schriebene Papierblätter. Es handelt sich im
wesentlichen um Orakeltextc, Drohbriefe und
Klagelieder. Die Schriftdokumente sind durch-
laufend numeriert und nach den einzelnen In-
stitutsorten in alphabetischer Folge geordnet.
Das Museum für Völkerkunde in Berlin hat
mit 192 Objekten die weitaus meisten Batak-
Handschriften, aber auch die Museen in Bre-
men, Frankfurt, Leipzig, Stuttgart und Wup-
pertal haben größere Sammlungen. Merkwür-
digerweise verzeichnet der Katalog für das
Hamburgische Museum für Völkerkunde nur
vier Pustaha, obwohl dieses Museum m. W.
vor ungefähr 50 Jahren die große Sammlung
von J. Winkler erworben hat. Anscheinend
ist aber diese Sammlung, die vermutlich die
beste und wertvollste in Deutschland war,
durch Kriegseinwirkung verlorengegangen.
Dem Katalogteil stellt Liberty Manik eine
kurze Einleitung voran. Da sich das Werk
praktisch nur an den Fachmann wendet, be-
schränkt er sich hier auf die notwendigsten
Angaben zur Methode der Katalogisierung,
zu vergleichbaren Arbeiten, zum Inhalt der
Pustaha und zum Stand der Forschung. Es
wäre sicher von Nutzen gewesen, wenn er in
der Einleitung auch etwas über den Verlauf
seiner Katalogisierungsarbeit, von seinen Er-
fahrungen und den mutmaßlichen Schwierig-
keiten berichtet hätte. Vielleicht fände man
dann dort die Erklärung, warum man im In-
haltsverzeichnis unter München nur die Bay-
rische Landesbibliothek, nicht aber das dor-
tige Museum findet. Es ist höchst unwahr-
scheinlich, daß das Münchener Museum keine
Batak-Handschriften haben soll, und man
möchte doch erfahren, warum dieses so bedeu-
tende Institut nicht berücksichtigt werden
konnte. Sehr wertvoll ist das dem Katalogteil
nachfolgende, umfangreiche „Verzeichnis der
Buchbesprechungen
203
Handschriften nach Sachgebieten“. Ohne die-
ses sorgfältige Register wäre bei der Vielzahl
der Schriftdokumente eine Orientierung über
die Inhalte und einzelnen Themen der Texte
kaum möglich. Auch hier bestätigt sich übri-
gens, daß Erzählungen und Mythen in den
vornehmlich der priesterlichen Unterweisung
dienenden Pustaha eine seltene Ausnahme bil-
den. Das Register nennt dafür nur sechs Beleg-
stellen.
Die Batak-Handschriften werden von Ma-
nik auf gründliche und systematische Weise
erfaßt und beschrieben. Natürlich stehen die
Pustaha im Vordergrund, denn sie sind vom
Text her nun einmal weit wichtiger und viel
umfangreicher als die beschrifteten Bambus-
und Knochenobjekte. Für die Zwecke eines
Katalogs ist die Beschreibung dieser Zauber-
bücher sehr ausführlich. Das gilt vor allem für
diejenigen Pustaha, die wegen der Seltenheit
des behandelten Themas, der Vollständigkeit
des Textes oder aus anderen Gründen für die
Wissenschaft von besonderem Wert sind. An
erster Stelle muß hier die Handschrift 399
(Linden-Museum Stuttgart: 27210) genannt
werden. Das Pustaha enthält die Unterwei-
sung über Herstellung und Verwendung des
Tunggal Panaluwan, des sogenannten Zauber-
stabs, der als Kultobjekt in der priesterlichen
Praxis eine zentrale Stellung einnimmt. Nach
Manik sind nur drei Pustaha (Dublin, Leiden
und Paris) bekannt, die in ähnlich ausführli-
cher Weise über den Tunggal Panaluwan han-
deln. Das Stuttgarter Zauberbuch enthält
überdies eine vollständige Wiedergabe des
Mythos über die Entstehung des Zauberstabs,
die in den anderen Handschriften nur frag-
mentarisch oder gar nicht vorhanden ist. Kaum
weniger bedeutend ist das Pustaha 198 (Staats-
bibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin),
das 1842 in dem Dorf Batipuh (Minangkabau)
als Kriegsbeute anfiel und somit zu den nach-
weisbar ältesten Batak-Handschriften gehört.
Dieses „Zauberbuch von Batipuh“ wurde von
J. Winkler in den „Bijdragen tot de Taal-,
Land- en Volkcnkunde“ (110, 1954, S. 335—
368) besprochen, teilweise auch transkribiert
und übersetzt. Es ist das einzige im Katalog
genannte Pustaha, das eine solche Bearbeitung
gefunden hat. Als letztes Beispiel sei noch das
Pustaha 341 (Museum für Völkerkunde Köln:
15059) erwähnt. Das überaus sorgfältig ver-
faßte Buch enthält 35 Orakeldcutungen, von
denen jede genau ein Faltblatt einnimmt, d.
h. auf der Vorderseite steht der Orakeltext
und auf der Rückseite die zugehörige magische
Figur. Eine Sonderheit des Pustaha sind klei-
ne, am rechten Rand der Seiten angebundene
Perlen. Manik hat sicherlich recht, wenn er dar-
aus schließt, daß dieses Zauberbuch nicht nur
der Unterweisung, sondern auch der prakti-
schen Orakeldeutung gedient hat. Der Fra-
gende hatte offenbar eine der Perlen zu fassen
und so das für ihn bestimmte Orakel zu wäh-
len.
Im Vorwort betont Manik, daß sich die
Texte bzw. die von ihnen behandelten Themen
nur dem erschließen, der so viele Pustaha wie
möglich lesen und miteinander vergleichen
kann. Die Verfasser der Zauberbücher, die
Batak-Priester also, haben vielfach bestimmte
Sachverhalte, die ihnen als selbstverständlich
erschienen, einfach weggelassen. Manche Texte
sind dadurch fast unverständlich. Hier hilft
nur der Vergleich mit analogen, aber ausführ-
lichen Texten. Es zeugt für die Intensive Be-
schäftigung mit der Materie, daß Manik über
das Register hinaus in seinen Beschreibungen
häufig auf direkte Parallelstellen verweisen
kann. So vermittelt das Verzeichnis der Batak-
Handschriften ohne Zweifel eine Fülle wichti-
ger Informationen. Dennoch ist und bleibt es
nur ein Katalog. Ist es nicht möglich, so möch-
te man den Herausgeber der VOHD fragen
und zugleich bitten, nicht auch diesem Werk,
wie es bei anderen Handschriftenkatalogen
geschehen ist, einen Supplcmentband nachfol-
gen zu lassen. Manik hat durch die Katalogi-
sierungsarbeit einen großen Fundus an Kennt-
nissen und Einsichten erworben, der nicht un-
genutzt bleiben sollte. Wünschenswert wäre
die Transkription und Übersetzung der wis-
senschaftlich bedeutendsten Pustaha sowie auch
eine ausführliche Besprechung der einzelnen
Themen dieser Zauberbücher. Es sei noch ein-
mal daran erinnert, daß nur eine einzige der
501 im Katalog genannten Handschriften bis-
her (teilweise!) transkribiert und übersetzt
werden ist. Im übrigen böte ein Supplement-
band, da einige Museen (z. B. Köln und Wup-
pertal) in letzter Zeit neue Batak-Handschrif-
ten erworben haben und, wie schon erwähnt,
das Museum für Völkerkunde in München
im Katalog nicht erfaßt worden ist, auch eine
gute Gelegenheit, Ergänzungen vorzunehmen.
Waldemar Stöhr
204
Buchbesprechungen
Franz Winzinger:
Meisterwerke des japanischen Farbenholz-
schnitts. Veröffentlichungen der Albertina
Bd. IX. Graz: Akadem. Druck- u. Verlags-
anstalt. 1975. 30 S., 10 Schwarzweiß-Faf.,
56 Farbtaf.
Für einen Rezensenten ist es eine Freude,
eine so schöne und gut gemachte, geradezu bi-
bliophile Kunstveröffentlichung besprechen zu
dürfen. Die Gesamtkonzeption des Buches und
die technischen Belange ergänzen sich nahtlos:
dies gilt vom Layout bis hin zur sehr getreuen
farblichen Wiedergabe der Holzschnitte. Nicht
zuletzt trägt hierzu bei, daß die Blätter — bis
auf wenige formatbedingte Ausnahmen — in
ihrer Originalgröße reproduziert worden sind;
die einzige Form übrigens, die es erlaubt, sie
in ihrem Liebreiz oder ihrer Monumentalität,
insbesondere aber in ihrer technischen Brillanz
voll zu würdigen.
Alle Holzschnitte des Bandes entstammen
der wesentlich umfangreicheren Sammlung des
Verfassers, aus der breitere Ausschnitte mehr-
fach und zuletzt 1972 mit großem Erfolg in
der Albertina/Wien und im Germanischen Na-
tionalmuseum Nürnberg der Öffentlichkeit
gezeigt wurden. Die hier vorliegenden Wieder-
gaben bedeuten eine persönliche Auswahl des
Kunstwissenschaftlers und Sammlers Winzin-
ger und sind somit angetan, auch ihn selbst
in seinem Qualitätsgefühl und seinen Präfe-
renzen auf einem relativ engen Sektor seiner
sammlerischen Leidenschaften zu beleuchten.
Darüber hinaus beweisen diese Blätter die vom
Direktor der Albertina, Walter Koschatzky,
in der Einleitung gewürdigte universelle Gei-
steshaltung dieses Wissenschaftlers, der in der
klassischen Kunstgeschichte seit langem als
Autorität für Altdeutsche Malerei, für Alt-
dorfer, der Kreis um Dürer gilt.
Erinnern wir uns, wie stark der Einfluß
japanischer Graphik in ihrer Aussageform und
ihren technischen Mitteln von Bracquemond
über Degas, Manet, Monet, Toulouse-Lautrec
und viele mehr bis hin zu Jugendstil, art nou-
veau und modern style auf Europa und seine
Künstler gewirkt hat, ja zusammen mit einem
breiten Band künstlerischer Aussagen von Ar-
chitektur bis hin zu moderner industrieller
Formgebung weiter wirkt. Auch hierüber soll-
te man nachdenken, wenn man in diesem Werk
blättert und herausragende Leistungen des
Ukiyo-e betrachtet. Denn naturgemäß bleiben
gerade die besten Blätter der japanischen Gra-
phik zeitlos und auf Dauer wirksam — viel
mehr noch als die zufälligen und ungesichteten
Begegnungen der damals jungen europäischen
Künstler mit dieser Formen- und Farbenspra-
che, die trotzdem damals zu einer künstleri-
schen Revolution ausreichten.
Die Texte des Buches, die sowohl einen
historischen Abriß, knappe kulturhistorische
Bemerkungen zu Yoshiwara und Kabuki, eine
kurze Geschichte der verschiedenen Holz-
schnittschulen und ihrer wesentlichen Künstler
in Edo (dem heutigen Tokyo) als auch eine
Zusammenfassung der wichtigsten graphischen
Techniken bieten, sind in ihrer recht persön-
lichen sprachlichen Farbgebung angenehm zu
lesen. Sie bieten das Wesentliche und lassen
neben den Sachdaten sowohl die Liebe des
Sammlers zum Stoff als auch den Kunsthisto-
riker In ihm erkennen. Nicht zuletzt ergibt
sich hier, wie im ausführlichen Katalog zum
Bild-Teil, eine Fülle von Streiflichtern auf
Menschen und Zeit, die von erheblichem kul-
turhistorischem Interesse sind. Daß bei der
gebotenen knappen Fassung des Text-Teils
eine Reihe nicht ganz so wichtiger Fragen aus-
geklammert werden mußte, ist verständlich,
doch wäre es vielleicht möglich gewesen, eini-
ges, was erwähnt wurde, deutlicher werden zu
lassen. Dies gilt z. B. für die bewußte Rückbe-
sinnung auf das eigentlich Japanische in der
Tosa-Schule und ihrem doch breiteren Themen-
kreis, als dies auf S. 14 erscheint, mehr aber
noch für die Verschmelzung der malerischen
und thematischen Mittel und Aussagen der
Kano- und Tosa-Schulen, die so erst zur Basis
der beginnenden Genre-Malerei und damit
letztlich auch des Ukiyo-e werden konnten.
Ähnliches gilt für die Breite der Verwendung
des „Mediums“ Holzschnitt, für die Schilde-
rung der glanzloseren Seiten des Yoshiwara
(S. 12) sowie der anderen einfacheren Quar-
tiere ähnlicher Art und für eine noch etwas
differenziertere Schilderung der diversen tech-
nischen Raffinessen im Druck selbst.
Der Bildteil des Bandes enthält eine groß-
artige Schau gut bis sehr gut erhaltener Farb-
holzschnitte von Rang. Sie führt von den An-
fängen bis hin zu den letzten großen Land-
schaftern und umspannt somit die 250 Jahre
der Blüte dieser Kunst. Darüber hinaus aber
ist dieser Teil nicht nur ein hervorragender
Ausschnitt aus einer liebevoll und mit ge-
schultem Auge zusammengetragenen privaten
Buchbesprechungen
205
Sammlung, sondern eine wertvolle Ergänzung
der umfangreicheren Standardwerke und Mo-
nographien. Er zeigt nicht nur eine Anzahl
bisher unpublizierter und seltener, sondern z.
T. wohl auch nur noch im Exemplar der
Sammlung Winzinger erhalten gebliebener
Holzschnitte. Im besonderen gilt dies für die
Tafeln 8 (Okumura Masanobu), 15 (Haruno-
bu), 19 (Koryüsai-?-ishizuri-e), die Utamaro-
blätter 36, 37 und 38 und die Hokusai-Holz-
schnitte 49 und 53. Andere bekanntere Holz-
schnitte zeichnen sich durch einen besonders
reich gestalteten Druck oder eine besonders
schöne bzw. frühe Version eines Blattes aus.
Als Beispiel sei hier nur die Tafel 35 mit
Utamaros berühmter Darstellung des Tee-
hausmädchens Okita von 1792/93 erwähnt.
Der Katalog des Bildteils bringt nicht nur
Kurzbiographien zu jedem der Künstler, son-
dern eingehende und im wesentlichen exakte
Angaben zu den Blättern bis hin zu ihrer Pro-
venienz, zu Angaben über verschiedene Druck-
zustände und das erwähnte kulturgeschichtli-
che Hintergrundmaterial. Schade, daß dabei
die Bearbeitung nicht in allen Fällen gleich
ausführlich erfolgen konnte — einige Lesun-
gen von Texten, Rollenbezeichnungen, Verlags-
stempeln u. dgl. fehlen — und schade, daß es
nicht gelungen ist, den Druckfehlerteufel gänz-
lich aus dem Buch zu verbannen.
Der insgesamt so großartigen Publikation,
die man dem Kunstliebhaber wie auch jedem
Kenner und Sammler nicht warm genug emp-
fehlen kann, käme ein kleines ergänzendes
Einlageblättchen mit der Überschrift „Errata“
sicherlich zugute, zumal sich die Zahl dieser
Fehler noch in sehr engen Grenzen hält.
Fedor Sibetii
AUSTRALIEN und OZEANIEN
Klaus Helfrich:
Malanggan. 1. Bildwerke von Neuirland.
Veröffentlichungen des Museums für Völ-
kerkunde Berlin. N. F. 25. Abt. Südsee X.
Berlin: Museum für Völkerkunde. 1973.
147 S., 12 Farbtaf., 210 Abb. auf Taf.
On reading „Malanggan. 1“, by Klaus
Helfrich, it becomes apparent that the aim
of the author in writing such a work was to
present a handbook of New Ireland Masks
which would be of particular value to the
museum curator. As such it is a commendable
work, providing excellent black and white
photographs of the items in the collection of
the Berlin Museum, as well as colour plates
of particular masks.
Such a photographic collection of a large
number of similar items from the one histori-
cal period, i. e. the early contact period of
New Irland with European, especially Ger-
man, culture, can be of great value on a num-
ber of points. Firstly, it provides detailed in-
formation on the specific collection of Ma-
langgan masks housed in the Berlin Museum,
information not always accessible, even to a
museum visitor. It is thus a comprehensive,
illustrated guide to that collection available
to a wide audience. Secondly, by comparing
masks one can readily see the general differen-
ces in appearance between, for example, a
tatanua and a nit mask or a merue. Helfrich
derives his typology from early ethnographic
records and from visual differentiation, and
within this typology the range of variation in
construction, use of materials and overall pre-
sentation can be appreciated. This gives the
viewers the feeling that New Ireland masks
were not stereotyped, lifeless reproductions,
but that each mask was the individual creation
of the carver. This impression is reaffirmed by
our knowledge of the culture for masks were
carved from memory and destroyed once the
ceremonies were completed.
„Malanggan. 1“ also provides the layman,
as well as those already familiar with New
Ireland art, with an indication of the techni-
cal and artistic skill of the New Icelanders.
The masks, many of which are well preserved
in spite of their age, show in detail the skill
of the carver and the decorator, (for often
they were not the same person) in utilizing
raw materials such as bamboo, feathers, grass,
shells, pigments and later on, European tex-
tiles, to compose the Malanggan mask.
It is, however, essentially in terms of its
visual presentation that the strength of the
book „Malanggan. 1“ lies, for on closer read-
ing limitations in the method of interpreting
the information become apparent. Because
there are inadequate ethnographic details pro-
206
Buchbesprechungen
vided of New Ireland culture, particularly
with reference to the Malanggan ceremonials
and the function of the masks within those
ceremonies, the masks are presented as in a
cultural vacuum. Although It may not have
been the intention of the author to provide a
general ethnographic background, relying ra-
ther, on reference to previous works to give
such information, because of this lack of in-
formation the value of the work as a whole
suffers, for it must be realized that no item
of material culture can be adequately under-
stood or appreciated if presented outside its
appropriate cultural context.
Apart from this minor limitation „Ma-
langgan. 1“ suffers mainly from a weakness
in its typology which is based on visual clas-
sification and inadequate representation of
masks. The first has without doubt relied on
the latter for where there is but one or two
masks showing differences to all others these
would have to be placed In a separate type or
sub-type. What may originally have been in-
dividual artistic expression or signification of
standards of craftsmanship, become thus the
basis for differentiating between masks.
Based as such a classification is, on sub-
jective visual criteria, the typology has rele-
vance only to the particular collection of
Malanggan masks illustrated in this book. In
many cases the individual types and sub-types
are based on only a small number of masks of
a particular function, e. g. pitalot, pi and du-
dul are illustrated by only two or three masks
each whereas tatanua and kepong are illustrat-
ed by a much greater number. In this way
„Malanggan. 1“ only reliably serves the collec-
tion of Malanggans in the Berlin Museum,
and will be of limited value for curators of
similar collections. It can only be of use in
helping to place unknown masks into a general
functional category. Where masks are re-
presented by only one or two illustrations,
e. g. the pi, ngass or Marendan such identifi-
cation will be further restricted.
However despite the limitation of typolo-
gy, „Malanggan. 1“ remains as an outstanding
presentation of New Ireland masks. If other
museums could produce similar works on
their Malanggan collections it would be pos-
sible to build on the work of Klaus Helfrich
and perhaps arrive at a culturally meaning-
ful classification of New Ireland Malanggan
masks. Elizabeth Brouwer
Henning Hohnschopp:
Untersuchung zum Para-Mikronesien-Pro-
hlem unter besonderer Berücksichtigung der
Wuvulu- und Aua-Kultur. Arbeiten aus
dem Institut für Völkerkunde der Univer-
sität Göttingen, Band 7. München: Renner.
1973. VII + 215 S., 1 Faltkarte.
Die vorliegende Arbeit wurde zugleich der
Universität Hamburg als philosophische Dis-
sertation vorgelegt. Der Verfasser beschäftigt
sich mit dem Problem der Para-Mikronesien-
Kultur, ein Begriff, der 1905 von Augustin
Krämer für zwei Inseln des westlichen Bis-
marck-Archipels geprägt wurde. Der Terminus
Para-Mikronesien, der später — abgesehen
von den Inseln Wuvulu und Aua — auf wei-
tere Inseln ausgedehnt wurde, gründete sich,
nach dem damaligen Stand der Forschung, auf
ungenügendes Material. Die Bezeichnung „pa-
ra-mikronesisch“ scheint auf die deutsche Ko-
lonial-Literatur beschränkt geblieben zu sein.
Es ist jedoch im Licht moderner Forschung
von deutscher Seite her bisher keine Stellung-
nahme zu der Berechtigung des Begriffs „para-
mikronesisch“ abgegeben worden. Dieser Auf-
gabe unterzieht sich der Verfasser in seiner
Dissertation mit wahrhaft bewundernswerter
Gründlichkeit. Die rassischen, kulturellen und
sprachlichen Elemente, die auf Parallelen mit
Melanesien, Polynesien, Mikronesien sowie In-
donesien und den Philippinen hinweisen, sind
in Tabellenform angeführt und auf das ge-
naueste besprochen. Die kulturelle Stellung der
Inseln des westlichen Bismarck-Archipels un-
tereinander und ihre Position in Ozeanien er-
fahren detaillierte Behandlung. Aufgrund der
erarbeiteten Resultate gelangt der Verfasser
zu folgendem Ergebnis; Die Bezeichnung „pa-
ra-mikronesisch“ war unglücklich gewählt,
weil weder damals noch heute der Begriff
„mikronesisch“ definierbar ist. Die In-
seln des Bismarck-Archipels zeigen in erster
Linie eine melanesische Kultur, die wahrschein-
lich von den Admiralitäts-Inseln übermittelt
wurde.
In dieser Beziehung kommt den beiden
Inseln Wuvulu und Aua eine Sonderstellung
zu. Sic zeigen eine Reihe von nicht-melanesi-
schen Kulturzügen, von denen der Verfasser
dreizehn aufzählt. Neun von diesen lassen
sich auf polynesische Parallelen zurückführen,
während zwei auf den indonesisch-philippini-
schen Raum deuten. Für die Einführung dieser
Buchbesprechungen
20 7
Elemente macht der Verfasser gelegentliche
Verschlagungcn verantwortlich. Das polynesi-
sche Kulturgut stammt wahrscheinlich von
Atoll-Kulturen aus dem polynesisch-mikrone-
sischen Grenzgebiet und ist von einer ur-
sprünglich melanesischen Kultur absorbiert
worden. Mit dieser Ansicht findet sich der Ver-
fasser in Übereinstimmung mit Dempwolff
(1905), der auf Grund linguistischer Forschung
schloß, daß ein proto-polynesisches Eroberer-
volk auf eine ursprünglich melanesische Be-
völkerung getroffen sei.
Das Para-Mikronesien-Problem darf somit
als gelöst betrachtet werden, und wie der Ver-
fasser am Ende seiner Ausführungen bemerkt,
sollte der Terminus „para-mikronesisch“ in
Zukunft nicht mehr verwendet werden. Eine
weitere Arbeit, die sich mit dem Einfluß der
Admiralitäts-Inseln auf die des Bismarck-Ar-
chipels befassen soll, ist in Aussicht gestellt.
Dem vorliegenden Buch Ist ein ausführli-
ches Verzeichnis der benutzten Literatur bei-
gegeben, zunächst eine Bibliographie der west-
lichen Inseln des Bismarck-Archipels (S. 71 —
77), der das Literaturverzeichnis (S. 180—215)
folgt. Inez de Beauclair
Thomas S. Barthel:
Das achte Land. Entdeckung und Besied-
lung der Osterinsel nach Eingeb or enentra-
ditionen übersetzt und erläutert. München:
Renner. 1974. 387 S.
Thomas Barthel is well-known through
his extensive work in the field of Easter Is-
land culture. Although simultaneously eng-
aged in the American studies, he never ceased
to be interested in the Easter Island. The latest
fruit of his occupation with this subject is the
present volume.
The object and basis of Barthel’s histori-
cal research is the so-called manuscript E. The
author explains its origin as follows. The
Easter Islanders, having learned writing from
European visitors, used their new competence
to record anything they regarded as worth re-
cording. Altogether there are six such manu-
scripts of the local provenience available and
coded A to F. In Barthel’s opinion, the ma-
nuscript E is no doubt the most important one
as a source of semihistorical traditions. In
1957—58 the author studied the manuscript
and discussed it with his native informants,
expecially with Leonardo Pakarati. It is as-
sumed that the manuscript E has been written
down by a certain Simeon Riroroko, a grand-
son of the king of Anakena and a reputedly
competent scribe to whom several old men
dictated various Easter Island traditions. The-
se old men were among the last eyewitnesses
of the pre-European island culture, and this
is what makes the manuscripts valuable; they
bridge the gap between the present and the
past era. The manuscript contains, according
to the results of Barthel’s analysis, the fol-
lowing genres: (a) genealogies, (b) lists of per-
sons of equal status, (c) lists of toponyms,
(d) lists of plants and animals.
Due to its importance, the manuscript has
been published in extenso by Barthel and
Included in the Appendix II.
However, the manuscript itself cannot be
understood without a deep knowledge of the
many aspects of the Easter Island culture. The
latter, as applied to the analysis of the text, is
discussed in ten chapters, concerned largely
with the Hotu Matua cycle.
This cycle is to be evaluated on a par with
similar Polynesian traditions. They are essen-
tially of a semihistorical nature, and it is the
task of the investigator to distinguish what is
history from what is fiction. This difficult
aim can be achieved in several ways, and
Barthel’s approach illustrates most if not all
of them. The author compares a variety of
sources, extrapolating the rational core from
various versions. Data from various Polyne-
sian languages and traditions are amply used.
Barthel explains symbolism, etymologizes,
utilizes geographical and other extracultural
data. The semantic analysis ranks high in
Barthel’s argument. However, this is not
easy to accomplish because of the high degree
of homonymy for which all Polynesian lan-
guages are notable and because of the con-
densed style of the recorded text. The meagre
phonemic structure of Polynesian morpheme
makes many results achieved via etymology
less reliable than other data (cf. the etymology
of the Easter Island paihenga „dog“ versus
Central Solomon Island pai). Despite homo-
nymy, the vocabulary cannot be left aside
since it helps one to evaluate the relative im-
portance of the various aspects of culture.
Analyzing the texts, Barthel stresses that
Polynesian myths and traditions allow for
multiple interpretations (exoteric and eso-
208
Buchbesprechungen
teric). This is obviously a universal feature
since the myth attempts to generalize and
philosophize although its formal devices are
confined to the metaphorical level.
Alongside with his „Grundlagen zur Ent-
zifferung der Osterinselschrift“ and with his
series of papers, the present publication by
Barthel represents a major contribution to
the study of the still enigmatic Easter Island
culture. It will also be appreciated by scholars
engaged in the study of the Polynesian oral
traditions. Viktor Krupa
Hermann Janssen MSC, Joachim Sterly,
Karl Wittkemper MSC (Hrsg);
Carl Läufer MSC. Missionar und Ethno-
loge auf Neu-Guinea. Eine Gedenkschrift
für P. Carl Läufer MSC, gewidmet von
seinen Freunden. Freiburg-Basel-Wien:
Herder. 1975. 268 S.
Die Rezension von Festschriften ist eine
meist recht fruchtlose — für den Leser frucht-
lose — Arbeit, weil unterschiedliche Beziehun-
gen zu dem Geehrten die Anlässe für die Auf-
nahme der einzelnen Beiträge sind, selten in
der Sache liegende Gründe, gemeinsame Pro-
bleme, Gegenstände oder ähnliches. Will man
sich nicht in sehr unterschiedlichen Einzelhei-
ten verlieren, muß eine Besprechung notwen-
dig sehr allgemein und deshalb wenig befrie-
digend sein. Auch im Interesse der Wissen-
schaftsorganisation übrigens wären Sonder-
bände, Festschriften, Sammelbände mit ge-
meinsamen Themen nützlicher. Für den vorlie-
genden Band gelten die Einwände übrigens
nur begrenzt, denn außer einem Beitrag von
Anna Hoiienwart-Gerlachstein könnte man
die anderen Aufsätze unter zwei Themen-
kreise — Nordost-Melanesien und Mission —
stellen.
Carl Läufer starb am 23. 11. 1969. Er
war einer aus der großen Anzahl katholischer
Missionare in Neuguinea und Inselmelanesien
(meist von MSC), die ganz entscheidenden
Anteil an der ethnographischen Erforschung
Melanesiens hatten. Und er war ganz sicher
einer der bedeutendsten, der über die reine
Ethnographie hinausging und vor allem im
Bereich der Religionsethnologie wesentliche
Beiträge geliefert hat. Die zwei einleitenden
Artikel dieses Bandes, von Johannes Höhne
und Karl Wittkemper, würdigen Carl Lau-
fer als Missionar und Ethnologe und geben
eine knappe Biographie dieses Missionars, der
von 1929 bis 1955 in Neu-Britannien unter
den Tolai (Gunantuna) gewirkt hat. Die von
Wittkemper und Sterly zusammengestellte
Biographie seiner Arbeiten zählt 166 Num-
mern auf, von denen ein Teil zwar in unbe-
kannteren Lokal- und Missionsblättcrn er-
schienen ist („Münsterscher Anzeiger“, „Got-
tesreich“), ein erheblicher Anteil aber auch in
bekannten ethnologischen Zeitschriften, etwa
im „Anthropos“ oder in „Mankind“. Die Ar-
beiten sind größtenteils über die Gunantuna,
aber auch andere Gruppen in Neu-Britannien,
vor allem die Bainung, auch die Sulka, Taulil,
Arave, sie sind teils missionswissenschaftlich,
doch überwiegend ethnographisch, teils auch
vergleichend über Ozeanien. Dabei stehen re-
ligionsethnologische Probleme im Vorder-
grund, doch reichen die Gegenstände bis zu
Handwerk, Heilmitteln, Genußmitteln oder
Haustieren.
Unter den verbleibenden 9 (außer den ge-
nannten 3) Beiträgen sind fünf über Melane-
sien, und zwar von Hermann Janssen („Crea-
tive Deities and the Role of Religion in New
Britain. An Evoluation of Carl Laufer’s An-
thropological Concern“), ein zweiteiliger Bei-
trag, dessen erster Teil sich sehr kritisch mit
Läufers Daten über Hochgottvorstellungen
auseinandersetzt. Dem Rezensenten scheint der
folgende Beitrag von Joseph Schuy („Ehe
und Geburt bei den Tolai auf New Britain“)
der beste. Leider ist über den Autor nicht mehr
als die Adresse im Anhang zu erfahren. Er ist
offenbar Mediziner, und seine Angaben über
Pubertät, Helratsalter, Geburt, Unfruchtbar-
keit etc. sind von einer Qualität, wie sonst
sehr selten in ethnographischen Berichten. Hin-
zu kommen Originaltexte mit Übersetzungen
und ein äußerst sorgfältiger Vergleich mit den
Angaben anderer Autoren über dieses Gebiet.
Wünschenswert wären nur genauere Angaben
über Ort und Zeit der Datengewinnung und
die Informanten gewesen.
Der Artikel von Heinrich Maurer („Drei
Märchen von den Tangga Inseln, New Ire-
land“) ist eine sorgfältige sprachliche Analyse,
Georg Höltker ediert das Manuskript eines
namentlich unbekannten Missionars über die
Valman, mit einigen allgemeinen ethnographi-
schen Daten. Die weiteren Beiträge stammen
von Joachim Sterly: „Sühneopfer als the-
rapeutische Maßnahmen in Melanesien“, es
Buchbesprechungen
209
folgen drei Aufsätze über außerozeanische Ge-
biete (Anna Hohenwart-Gerlachstein: „Re-
flections on Nubian Society“, Albert de Rop;
„Lianja, l’Epopee vivante des Mongo“, Gu-
stave Hulstaert: „Notes sur la Traduction
de la Bible au Congo“) und ein etwas schwäch-
lich-kompilatorischer Aufsatz von Heinrich
Aufenanger: „Die Herkunft des Feuers im
religösen Denken schriftloser Völker“.
Die Würdigung von Erzbischof Höhne,
die Biographie und die Bibliographie geben
einen sehr nützlichen Eindruck von Carl
Läufers Arbeit als Ethnograph, Ethnologe
und — natürlich — auch als Missionar. Vor
allem die ozeanistischen Artikel des Bandes er-
gänzen diese Würdigung der Arbeit eines
Mannes, der sicherlich einer der bedeutendsten
Ethnographen Melanesiens gewesen ist.
Hans Fischer
AMERIKA
Gordon R. Willey:
An Introduction to American Archaeology.
Volume Two: South America. Englewood
Cliffs, N. ].: Prentice-Hall. 1971. XIV +
559 S., 21 Tab., 32 Karten, 384 Abb.-Grup-
pen, Bibliogr., Index.
Fünf Jahre nach dem ersten Band (Be-
sprechung s. TRIBUS Nr. 17, 1968, S. 225—
226) erschien der zweite, Südamerika gewid-
mete Band dieses bedeutenden Werkes, von
dem man sagen kann, daß es wahrscheinlich
für lange Zeit unübertroffen bleiben wird.
Kaum jemand wird in absehbarer Zukunft
eine solche Arbeit in Angriff nehmen, nicht
nur wegen der immensen Arbeit, nicht nur,
weil man zu leicht scheitern kann, nicht nur,
weil die Materie immer stärker anwächst, im-
mer schwieriger zu überblicken ist, sondern
auch, weil jeder künftige Autor es sich gefal-
len lassen muß, daß seine Arbeit mit diesem
Werke verglichen, an ihm und an dem hohen
Standard, den Gordon Willey ihm gegeben
hat, gemessen werden wird.
Bei der Besprechung des zweiten Bandes
kann man eigentlich nur all jene positiven
Aspekte wiederholen, die bei der Diskussion
des ersten Bandes bereits herausgestellt wur-
den. Auch auf das benutzte Schema braucht
man nicht näher einzugehen, es gleicht dem
des ersten Bandes, wie es auch bei einem sol-
chen Gesamtwerk nicht anders zu erwarten
ist.
Manchmal kommt allerdings der zeitliche
Unterschied zum Ausdruck, so in der Biblio-
graphie, die fünf Jahre weiter reicht als die
des ersten Bandes, also bis 1970. Der erwei-
terte Wissensstand wird auch im 2. Kapitel
deutlich, das den „Frühen Südamerikanern“
gewidmet ist. Hier bringt Willey auch einen,
wie er es nennt „Rückblick auf Nordameri-
ka“ (S. 26—28), in dem er jene neuesten nord-
amerikanischen Daten, wie die von Tlapa-
coya/Mexiko, aufzeichnet, die unsere Kennt-
nisse über frühe menschliche Anwesenheit in
diesem Raum erweitert haben. Er führt also
hier die im ersten Band begonnene Diskus-
sion fünf Jahre weiter. Noch deutlicher als in
jenem Band plädiert der Autor für ein Ein-
treffen des Menschen in der Neuen Welt via
Beringia um 26 000 v. Chr., ein Datum, das
nach Meinung des Rezensenten zu spät liegt,
um die neuesten, damals noch unbekannten
Funde aus der Ayacucho-Gegend/Peru (Pacai-
casa-Phase, 21 000—14 000 v. Chr.) unterzu-
bringen. Diese Aussage Willey’s steht auch
in einem gewissen Widerspruch zu seinem
Schema im Schlußkapitel, das er mit 40 000
v. Chr. beginnen läßt (S. 505).
Die weitere Behandlung dieses Themas
der frühesten menschlichen Gruppen in Süd-
amerika hat Willey wieder ausgezeichnet ge-
löst und dabei eine Tabelle (Fig. 2—2; S. 31)
entworfen, die erstmalig die sehr komplexen
Tatsachen schematisiert und klar darstellt.
Daß sie durch neue Tatsachen Veränderun-
gen erfahren wird, tut dem keinen Abbruch.
Nicht erwähnt wurde bisher das 1. Kapi-
tel dieses Bandes, das als „Einleitung“ bezeich-
net ist. Es behandelt die Gliederung des Ban-
des ebenso wie Aspekte der Geographie, Eth-
nographie und Linguistik Südamerikas. Be-
sondere Beachtung verdient hier der durch
Karten (Figs. 1—6 bis 1—13) ausgezeichnet
erläuterte Vergleich von Kulturtypenverbrei-
tungen, wie sie für Südamerika von ver-
schiedenen Autoren vorgenommen wurden (S.
14
210
Buchbesprechungen
17—21). Man sollte dabei vielleicht in diesem
Zusammenhänge erwähnen, daß Willey die-
sen Band keinem Archäologen, sondern ei-
nem Völkerkundler, Julian H. Steward,
widmete.
Auf die beiden allgemeineren Kapitel fol-
gen, wie auch im ersten Band, fünf Regional-
kapitel, die folgende Bereiche — in der hier
aufgezeigten Reihenfolge — behandeln: Pe-
ru; die südlichen Anden, d. h. Bolivien, Chi-
le bis einschließlich der Insel Chiloe und
Nordwest-Argentinien; das Zwischengebiet,
bestehend aus Zentralamerika einschließlich
Nikaragua, den nicht-amazonischen Teilen
von Kolumbien und Ekuador sowie West-Ve-
nezuela; die tropischen Tiefländer Südameri-
kas, untergliedert in den Karibischen Raum
(Antillen, restliches Venezuela) und das Ama-
zonasgebiet (einschließlich Guayana); und das
östliche und südöstliche Südamerika, das vier
recht unzusammenhängende Bereiche umfaßt:
Ost-Brasilien, Chaco, Pampas und Feuerland.
Das 8. Kapitel ist wieder einer Zusammen-
fassung gewidmet, die sich nicht nur auf Süd-
amerika erstreckt, sondern in den Schlußab-
schnitten ganz Amerika behandelt. In diesen
werden sowohl die kulturellen Traditionen
als auch die Kulturgebiete der Neuen Welt
aufgezählt (S. 504—505), illustriert durch eine
instruktive Karte (S. 506—507), die beson-
ders hervorgehoben werden muß. Wichtiger
noch erscheinen die Abschnitte „Some syn-
chronic perspectives of major American Pc-
riods“ (S. 505—509) und „Major American
Culture Stages“ (S. 509—511), in denen Wil-
ley, wie ich meine erfolgreich, versucht, be-
stimmte allgemeine Züge (trends) und Ent-
wicklungen, das Gemeinsame Gesamt-Ameri-
kas aufzuzeigen. Im ersten der beiden Ab-
schnitte untergliedert er die ganze Entwick-
lung, beginnend mit 40 000 v. Chr. (auf den
Widerspruch zu Ansichten in Kapitel 2 wur-
de schon oben hingewiesen), in sieben zeitli-
che Perioden, im zweiten Abschnitt in sieben
Kulturstufen, wobei er sich an seine und
Phillip’s theoretische Grundkonzeption an-
lehnt.
Daß die Zeichnungen, Fotos und Tabellen
ebenso wie der Druck von hervorragender
Qualität sind, versteht sich fast von selbst.
Abschließend ist man versucht, den letz-
ten Abschnitt der oben zitierten Besprechung
des ersten Bandes zu wiederholen. Er besag-
te, mehr oder weniger direkt, daß es sich ein
Archäologe, der sich mit der Neuen Welt be-
faßt oder über diese Aussagen macht, nicht
leisten kann, dieses Werk nicht gelesen zu
haben. Er sollte es, ebenso wie die Biblio-
theken, möglichst auch besitzen.
Wolfgang Haberland
Ingeborg Bolz:
Sammlung Ludwig — Ältamerika. Eth-
nologica, N. F. Bd. 7. Recklinghausen:
Bongers. 1975. 392 S., 219 Bildtaf., meh-
rere Karten, zahlr. Zeichn.
Als erstes sei festgestellt, daß die Altame-
rika-Sammlung Dr. Peter Ludwigs seit Er-
scheinen des Bandes VI der von Gerd Kut-
scher herausgegebenen „Monumenta Ameri-
cana“, der den damaligen Bestand der Samm-
lung vollständig wiedergibt, noch beträchtlich
erweitert wurde. Sämtliche Neuerwerbungen
gehören in den Bereich Mesoamerika und
zeichnen sich durch besondere Kostbarkeit aus.
Hier seien nur die seltenen polychrom be-
malten Maya-Gefäße aus Guatemala und
Campeche (Mexiko), die Erdgöttin aus Vera-
cruz und die einzigartige spätklassische Maya-
Reliefkeramik sowie die steinerne Jaguar-
skulptur aus der Frühzeit des Staates Guerre-
ro als erlesene Beispiele hervorgehoben. Eben-
so selten sind die feinen olmekischen Tonfi-
guren, und eine Seltenheit par excellence ist
der ausdrucksvolle Kopf einer Holzfigur, des-
sen Abbildung auch den Umschlag des ge-
wichtigen Bandes ziert.
Sämtliche Fotografien sind, ebenso wie die
aus dem genannten Band der „Monumenta
Americana“ entnommenen, Schöpfungen des
Ateliers änn Münchow. Erwähnt werden
müssen, außer der reichen Ausstattung mit
Kartenmaterial, die beiden Glossarien und
die gelungenen Einführungen in die beiden
geographischen Hauptgebiete sowie die Zeit-
tafeln. Zu den Neuerwerbungen Peter Lud-
wigs gehören auch 7 innen szenisch bemalte
Tonschalcn der Mimbres-Kultur aus dem Süd-
westen der USA, die meines Wissens bisher
in allen europäischen Museen fehlten.
Was die Beschreibung der durchweg aus
dem genannten Berliner Katalog übernomme-
nen peruanischen Stücke betrifft, sei dem Ver-
fasser des Peruteils jenes Katalogs und dieser
Zeilen gestattet, hier einiges zu notieren:
Buchbesprechungen
211
Frau Bolz-Augenstein meinte, Korrektu-
ren vornehmen zu müssen. Dazu ist zu ver-
merken, daß sie vermutlich mit Recht eine
149 Gramm schwere Goldkrone der Samm-
lung „mit ziemlicher Sicherheit“ als moderne
Replik betrachtet und sie deshalb nicht auf-
zeigt. Ohne Kenntnis der inzwischen erfolg-
ten technischen Untersuchung des Stückes
durch Kölner Restauratoren hatte Dissel-
hoff das Stück abgebildet und beschrieben.
Dagegen wendet sich dieser Autor mit aller
Überzeugung gegen die veränderte Stilbe-
stimmung verschiedener Goldobjekte durch
Frau Bolz, und er teilt ihre Vorliebe für die
generelle Klassifizierung „Chimu“ keines-
wegs. Vermutlich hat die Verfasserin diese
von dem peruanischen Sammler Mujica Gal-
lo blindlings übernommen.
In diesem Zusammenhang sei mit dem
Flinweis auf das Goldgefäß mit Doppelaus-
guß (Nr. 41) begonnen. Ich habe anhand gül-
tiger Details und mit triftigen Gründen auf
eine Berührung von Lambayeque und Tia-
huanaco hingewiesen. Frau Bolz weiß es bes-
ser, obwohl sie sonst den Großteil meines
Textes übernimmt. Lambayeque geht dem
klassischen Chimu voraus. Das scheint die
Verfasserin auch bei einigen Stücken durch die
Jahreszahlen anzuerkennen, während sie an-
dererseits einen schweren Becher mit typischen
Tiahuanaco-Merkmalen und Lambayeque-
Augen (Nr. 46) in das 14. bis 15. Jahrhun-
dert verlegt. Vicüs dagegen setzt sie durch-
weg sehr früh an. Die Gründe dazu sind mir
nicht ersichtlich.
Frau Bolz ist eine hervorragende Kenne-
rin Mesoamerikas, und die Neuerwerbungen
aus diesem Bereich sind vermutlch ihrem er-
fahrenen Rat zu verdanken. Der Katalog als
Ganzes ist als geglücktes Werk zu betrach-
ten. Er bringt in Wort und Bild nicht nur
dem Fachwissenschaftler wichtige Daten und
darf als hervorragend ausgestattetes Hand-
buch für interessierte Laien und alle Besu-
cher des Rautenstrauch-Joest-Museums gelten.
Solchem Verdienst geschieht kein Abbruch da-
durch, daß es die Verfasserin versäumt und
vermieden hat, den Namen des Graphikers
zu nennen (Rainer Wilken), dessen Abroll-
zeichnungen sie großzügig in Bausch und Bo-
gen aus dem Berliner Katalog („Monumenta
Americana“ VI) übernahm.
Hans-Dietrich Disselhoff f
Hanns J. Prem:
Matricula de Huexotzinco. (Ms. mex. 387
de Bibliothèque Nationale Paris). Kom-
mentierte und reich illustrierte Edition des
mexikanischen Dokumentes. Mit Hierogly-
phenglossar. Einleitung Pedro Carrasco.
Graz: Akademische Druck- u. Verlagsan-
stalt. 1974. 718 S., 798 Abb., 2 Karten.
Die vorspanische Bilderschrift-Tradition
Mexikos, die sich in einem ursprünglich rei-
chen und heute nur noch in wenigen Exempla-
ren erhaltenen Bestand an religiösen und hi-
storisch-genealogischen Handschriften nieder-
geschlagen hat, setzte sich noch weit in die
Kolonialzeit fort. Es handelt sich dabei vor
allem um Sicdlungs- und Flurkarten sowie um
Tributlisten — Dokumente also, die die neuen
Herren des Landes ebenso für die Verwal-
tung brauchten wie ihre Vorgänger. Wenn auch
der Stil der jetzt vorwiegend auf Papier eu-
ropäischer Herkunft gezeichneten Bilderschrift
einige Veränderungen erfuhr, so ist doch die
Indianische Grundlage unverkennbar.
Eines dieser Dokumente ist die als Matri-
cula de Huexotzinco bekannte, in der Biblio-
thèque Nationale in Paris aufbewahrte Hand-
schrift. Sie ist das Ergebnis einer von der spa-
nischen Verwaltung angeordneten und 1560
durchgeführten Volkszählung in der Provinz
Huexotzinco im heutigen Staat Puebla und
enthält die im Zusammenhang mit dieser
Zählung stehenden Schriftstücke. Die Hand-
schrift ist nicht vollständig, sie beginnt mit
fol. 464 und endet mit fol. 1032, wobei an
verschiedenen Stellen noch weitere sieben Blatt
fehlen.
Inhaltlich läßt sich die Handschrift in
mehrere Abschnitte aufteilen. Die Dokumente
1—35 (vom 24. 10. 1559 bis 22. 2. 1560) be-
reiten die Volkszählung vor, Dokument 36
enthält die von den Indios von Huexotzinco
aufgestellten bildlichen Personenlisten und die
dazugehörigen spanischen Schriftstücke (vom
17. 1. bis 23. 1. 1560), hieran schließen sich
vier Gruppen von Dokumenten (37—45; 46—
48; 49—56; 57—72, vom 23. 1. bis 9. 3. 1560)
an, in denen die Ergebnisse der Zählung vor-
bereitet und abgeschlossen werden. Mit Aus-
nahme des umfangreichen Dokumentes 36, das
als Faksimile reproduziert ist, sind alle Do-
kumente im Wortlaut abgedruckt.
Anlaß der Zählung war eine Beschwerde
der Indios von Huexotzinco bei der könig-
212
Buchbesprechungen
liehen Audiencia wegen einer 1558 angeord-
neten, drastischen Erhöhung der Tributleistun-
gen, der eine frühere Zählung zugrunde lag.
1566 wurden dann die Tribute etwas reduziert.
(Hier wäre eine Erläuterung der damaligen
Mengen- und Wertangaben angebracht.)
Während der erste Teil der Arbeit der
Matricula selbst gewidmet ist, beschäftigt sich
der zweite Teil speziell mit den Namenshiero-
glyphen der in Faksimile beigegebenen india-
nischen Personenlisten (Dokument 36). Schon
frühere Autoren hatten darauf hingewiesen,
daß der umfangreiche Bestand der Matricula
eine ideale Grundlage für die Untersuchung
der aztekischen Hieroglyphenschrift bildet.
Eine solche Bearbeitung stand jedoch bisher
aus.
Nach einer Einleitung über die aztekische
Schrift und die Geschichte ihrer Erforschung
behandelt der Verfasser den Inhalt der azte-
kischen Hieroglyphen der Matricula und die
Funktionsweise der aztekischen Hicroglyphen-
schrift. Ein weniger mit der Materie vertrauter
Leser würde es begrüßen, wenn die Ausfüh-
rungen durch Beispiele, d. h. Hinweise auf
entsprechende Stellen im abgebildeten Teil
der Matricula, erläutert worden wären. Im
Glossar wird der Hieroglyphenbestand der
Matricula, erweitert durch die Hieroglyphen
einer anderen Quelle, der Historia Tolteca
Chichimeca, vorgestellt. Die Fülle des Mate-
rials erfordert, wie der Verfasser betont, eine
größtmögliche Kürze der Einzelangaben, die
am ehesten durch eine tabellarische Anordnung
zu erfüllen ist. Trotz der Benutzungshinweise
ist das so geordnete Glossar nicht ohne wei-
teres erschließbar. Die „größtmögliche Kürze“
scheint mir nicht die ideale Lösung zu sein, sie
geht zu Lasten der Verständlichkeit und könn-
te Benutzer verwirren, die sich in die Materie
cinarbeiten wollen. Doch davon abgesehen ist
diese Publikation einschließlich der Einfüh-
rung von Pedro Carrasco über die gesell-
schaftlichen Verhältnisse Huexotzincos eine
außerordentlich verdienstvolle Arbeit, die
wieder eine wichtige Quelle und die daraus
gewonnenen Ergebnisse der Forschung zu-
gänglich macht. Auch der durch ihre einschlä-
gigen Veröffentlichungen bekannten Akademi-
schen Druck- u. Verlagsanstalt in Graz ge-
bührt für diese mustergültige Ausgabe Dank
und Anerkennung. Bodo Spranz
Pierre Ivanoff:
Maya. Monuments of Civilization. Fore-
word by Miguel Angel Asturias. London:
Cassel. 1975. 191 S., 107 Ahh. in Farbe,
Pläne, Querschnitte, 1 Karte, 1 chron.
Übersicht.
Cassell’s „Monuments of Civilization Se-
rics“ macht es sich zur Aufgabe, Geschichte und
gesellschaftliche Entwicklung früherer Hoch-
kulturen anhand ihrer Architektur aufzuzei-
gen. Mit diesem Vorhaben ist ein Rahmen ge-
setzt, der den wohl eindruckvollsten Aspekt
vergangener Zeiten zu Wort kommen läßt.
Aber ebensowenig wie die gotischen Dome
oder die römischen Amphitheater reflektieren
die Tempel von Tikal oder Chichen Itza die
Kultur ihrer jeweiligen Zeit. Man sollte nicht
vergessen, daß sie letzten Endes „nur“ Höhe-
punkte, nur Ausdruck eines viel umfassende-
ren Phänomens sind, das sich auch in anderen,
unscheinbaren Bereichen niedergeschlagen hat.
Sie bleiben lediglich schöne Bilder, solange man
in ihnen nicht die Summe aller Kräfte einer
Kultur, ihre geistige und wohl auch materielle
Grundlage sieht. Etwas davon klingt Im Vor-
wort an, das Miguel Angel Asturias ge-
schrieben hat.
Das Buch Ist für einen weiten Leserkreis
gedacht und entsprechend angelegt. Nach einer
knapp vier Seiten umfassenden Einführung
stellt Ivanoff 17 Ruinenplätze der klassischen
und nachklassischen Mayakultur In Text und
Bild vor. Die Bilder, alle in Farbe, sind be-
eindruckend, wenn auch nicht immer von der
Qualität her. Die dazugehörigen Texte brin-
gen, auf das Wesentliche beschränkt, gute
Übersichten. Sie werden durch Pläne und Dc-
tailskizzen sinnvoll ergänzt sowie durch Aus-
züge aus alten Maya-Chroniken bereichert.
Auch die großen Anlagen der Maya sind
nicht als Stadt in unserem Sinne anzusehen.
Sie waren Kult- und wohl auch Verwaltungs-
zentren bestimmter Gebiete, in denen die Be-
völkerung verstreut oder in weilerartigen
Siedlungen Inmitten ihrer Felder lebte. Grö-
ßere politische Gebilde hat es im Bereich der
Maya nicht gegeben, sondern lediglich Bünd-
nisse zwischen einzelnen „Provinzen“.
Im Bereich von Tikal hat man zahlreiche
Hügel als Unterbauten von Wohnhäusern ge-
funden, die schon eher an eine „Stadt“ denken
Buchbesprechungen
213
lassen. Die Ernährung einer zahlreichen Be-
völkerung dürfte hier schwierig gewesen sein.
Im Urwaldbereich wurde Brandrodungs-Feld-
bau betrieben. Die freigelegten Böden waren
relativ schnell erschöpft und neue Flächen
mußten gerodet werden. Um Tikal ist die
Humusdecke besonders dünn, und in diesem
Zusammenhang ist die vom Verfasser geäu-
ßerte These von Interesse, daß die Bevölke-
rung sich vor allem von Importen ernährt
haben könnte, die sie mit Produkten des Wal-
des, wie Kautschuck, Chicle, Copal usw., be-
zahlte. Das Problem dabei ist aber der Trans-
port von Massengütern (z. B. Mais), da
Fahrzeuge und Fasttiere unbekannt waren.
Man weiß zwar, daß ein ausgedehnter Fern-
handel betrieben wurde, jedoch mit leichter
vom Menschen zu transportierenden Gütern,
vor allem mit Fuxusartikeln (z. B. Kakao-
bohnen, Quetzalfedern, Rohmaterialien für
Schmuck, Baumwollstoffe usw.). Die ganze
Ernährungsfrage scheint auch der Grund da-
für gewesen zu sein, daß am Ende der klassi-
schen Periode die alten Zentren verlassen wur-
den und große Teile der Bevölkerung in das
nördliche Yucatán abwanderten.
Die wohl faszinierendste Kultur des alten
Amerika hält auch für die moderne Forschung
viele noch zu lösende Fragen bereit. Zum Bei-
spiel die Frage, ob Impulse aus der Alten Welt
zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. Un-
ter diesem Gesichtspunkt sollte man es nicht
einfach hinnehmen, wenn Asturias im Vor-
wort Aldous Huxley behaupten läßt, zwi-
schen der zweideutigen, lasziven hinduistischen
Plastik Asiens und der Plastik der Maya lägen
Welten, und die Maya hätten fast immer die
Darstellung erotischer Szenen vermieden. Die
neuere Forschung macht sich mehr und mehr
mit dem Gedanken einer asiatischen Beeinflus-
sung der mesoamerikanischen Kulturen ver-
traut, und darüber hinaus waren den Maya
erotische Darstellungen durchaus nicht fremd,
wie u. a. Beispiele aus der spätklassischen
Kleinkunst von Jaina zeigen.
Der Fachmann mag bedauern, daß die Aus-
wahl nur hinlänglich bekannte Ruinenplätze
zeigt — der interessierte Faie aber wird dank-
bar dafür sein, daß sie ohne allzu große
Schwierigkeiten auf einer Reise auch erreich-
bar sind. Bodo Spranz
Carlo T. E. Gay:
Chalcacingo. Drawings by Franccs Pratt.
Monographien und Dokumentationen „Die
amerikanischen Felsbilder — American
Rock Paintings and Petroglyphs'1. Graz:
Akademische Druck- u. Verlagsanstalt.
1971. 122 S., 47 Abb., 2 Kartenskizzen und
zwei Übersichten, 24 ganzseit. Taf., davon
5 in Farbe.
Während die Bedeutung der olmekischen
Kultur als „cultura madre“ Mesoamerikas
(Caso) kaum angezweifelt wird, sind die
Meinungen über ihre Herkunft geteilt. Die
traditionellere Forschung betrachtet die süd-
liche mexikanische Golfküste im Mündungs-
gebiet des Papaloapan, Coatzacoalcos und
Tonalä als Heimat der Olmeken. Hier liegen
ihre alten Zentren, u. a. San Forenzo und Fa
Venta. Beide Plätze sind archäologisch unter-
sucht und werden etwa in die Zeit zwischen
1200 und 900 (San Forenzo) bzw. 800—400
v. Chr. (Fa Venta, Komplex A) datiert. Nicht
gelöst ist bisher die Frage nach der Entstehung
der olmekischen Kultur, denn an beiden Plät-
zen präsentiert sie sich in voller Blüte. Von
hier aus soll sie, nach dem Ende der eigent-
lichen San-Lorenzo-Phase, das übrige Meso-
amerika und besonders das mexikanische
Hochland beeinflußt haben.
Ein anderes, bisher vorwiegend von mexi-
kanischen Forschern (u. a. Covarrubias und
PinA Chan) vertretenes Konzept sieht umge-
kehrt das olmekische Kerngebiet im heutigen
Bundesstaat Gucrrero im südwestlichen Hoch-
land. Von hier aus hätte sich der olmekische
Einfluß nach Osten ausgebreitet, um an der
Golfküste seinen Höhepunkt zu finden.
Diese letztere Ansicht vertritt eindeutig
und mit guten Gründen der Verfasser des vor-
liegenden Werkes.
Die Olmeken sind bekannt für ihre her-
vorragenden Steinarbeiten. Für die kleinfor-
matigen Stücke verwendeten sie vorwiegend
Jade und Serpentin — Gesteine, die im Golf-
küstengebiet nicht Vorkommen. Da solche Ar-
beiten auch in Guerrero gefunden wurden,
glauben die Vertreter der ersteren Theorie,
daß die Golfküsten-Olmeken diese Gesteine
von dort bezogen haben. Dagegen wendet
Gay mit Recht ein, daß es schwer zu erklären
ist, wieso die Golfküsten-Olmeken an die Ver-
wendung von Materialien gedacht haben, die
214
Buchbesprechungen
in ihrem Gebiet gar nicht Vorkommen. Viel
einleuchtender ist es nach Gay, daß die Ol-
meken ihre Steinbearbeitungstechnik in Guer-
rero entwickelt und nach ihrer Ausbreitung in
den neuen Gebieten fortgeführt haben.
Eine wichtige, aber nicht die einzige Sta-
tion auf dem Weg zur Golfküste ist Chalca-
cingo, wo eine amerikanische Gruppe unter
der Leitung von Gay in mehrjähriger Feldar-
beit archäologische Untersuchungen durchge-
führt hat.
Chalcacingo (die alte — richtige —
Schreibweise ist Chalcatzinco) liegt im Bun-
desstaat Morelos an der Straße Cuernavaca —
Matamoros, ca. 130 km südöstlich der Haupt-
stadt Mexiko. Hier erheben sich über die
sonst ebenen Hochflächen drei große, über
300 m hohe Basaltfelsen. Schon Anfang der
30er Jahre berichtete Eulalia Guzmän von
einigen olmekischen Reliefs an einem der Fel-
sen, dem Cerro de la Cantera.
Nach den Untersuchungen von Gay sind
heute insgesamt 32 Felszeichnungen in roter
Farbe, 10 Reliefs, 2 freistehende Monumente,
21 Altäre und einige kleinere Funde bekannt.
Die Zeichnungen und Reliefs sind im Laufe
der Zeit zum Teil verwittert, manche davon
bis zur Unkenntlichkeit.
Gay beschreibt in der eben angegebenen
Reihenfolge anhand von ausgezeichneten Ab-
bildungen eingehend die Funde. Die Zeich-
nungen und Reliefs sind in natürlichen Über-
hängen und Nischen des Felsens zu Gruppen
zusammengefaßt, für die Gay eine ikonogra-
phische Deutung versucht.
Die Felszeichnungen (Sanctuary of the
Pictographs) werden zeitlich früher (Mitte des
2. vorchristlichen Jahrtausends) angesetzt als
die Reliefs (Sanctuary of the Reliefs). Die
Datierung erfolgte aufgrund stilistischer Ver-
gleiche.
Dem mit olmekischer Kunst vertrauten
Leser dürfte es schwerfallen, die Zeichnungen
als olmekisch zu erkennen. Aber allein die Tat-
sache der unmittelbaren Nachbarschaft zu den
eindeutig olmekischen Reliefs hat den Ver-
fasser kaum zu dieser Zuweisung veranlaßt.
Sie wird — zumindest vom Thema her —
glaubhafter in der Zusammenstellung auf S.
51, in der Zeichnungen und Reliefs von Chal-
cacingo und Malereien aus der Höhle von
Juxtlahuaca (Guerrero) verglichen werden.
Juxtlahuaca und anschließend Chalcacingo
sind nach Gay wichtige Beweise für die Aus-
breitung der olmekischen Kultur nach Osten.
Problematisch ist der zeitliche Ablauf. Noch
fehlen gesicherte Datierungen, und das ange-
nommene Zentrum, das mittlere Balsas-Gebiet
in Guerrero, ist archäologisch noch so gut wie
unbekannt.
Methodisch etwas bedenklich ist der Ver-
gleich der Felsmalereien und Zeichnungen von
Juxtlahuaca und Chalcacingo mit solchen aus
dem paläolithischen Westeuropa. Hier klaffen
zeitlich und räumlich sowie entwicklungsge-
schichtlich gewaltige Lücken.
Aus sicherer Grundlage stehen die Ausdeu-
tungen der Reliefs. Hier entwickelt Gay über-
zeugend ein Regen-Fruchtbarkeitskonzept, das
sich in ikonographischen Einzelheiten von Fi-
guren und ihren Attributen manifestiert, und
in dessen Mittelpunkt nicht der Jaguar, son-
dern die Schlange steht. In dieses Bild passen
auch die einfachen Altäre — natürliche Fels-
blöcke mit schalenförmigen Vertiefungen.
Dieses „Sanctuary of the Reliefs“ wurde
angelegt, als die olmekische Religion sich be-
reits über rein schamanistische Praktiken hin-
aus entwickelt und die olmekische Kultur sich
im zentralen Hochland etabliert hatte. An-
zeichen für die bisher noch fehlende formati-
ve Phase der Ohneken sicht Gay hier in Chal-
cacingo sowie in Juxtlahuaca und vermutet
sie vor allem in Guerrero.
Die übersichtlich und klar abgefaßte und
mit ausgezeichnetem Bildmaterial versehene
Arbeit Gays ist ein wichtiger Beitrag zur The-
se von einem westlichen Ursprung der Ol-
meken. In diesem Zusammenhang wären in-
tensive Untersuchungen in Guerrero, beson-
ders im mittleren Balsasgebiet, sehr wün-
schenswert. Bodo Spranz
Martin Gusinde:
Die Halakwülup — Vom Lehen und Den-
ken der Wassernomaden in West-Patago-
nien. Bd. III/l des Werkes „Die Feuer-
land-Indianer(c. Mödling/Wien: St. Gab-
riel. 1974. XV + 684 S. m. 44 Ähb. i. T.,
15 Bildtaf. u. 1 Karte.
Genau ein halbes Jahrhundert nach Ab-
schluß seiner vier Forschungsreisen ist der letz-
te Band der Publikationen von Martin Gu-
sinde über die Fcuerland-Indianer — post-
hum — erschienen; ein Trost für andere Feld-
forscher, deren Expeditionsergebnisse eben-
Buchbesprechungen
215
falls erst nach Jahrzehnten publiziert werden
konnten; Die Hauptsache ist, daß es über-
haupt geschieht, denn noch immer hat der al-
te Spruch „Quid non est in libris, non est in
mundo“ Gültigkeit. Im Falle des Halakwü-
lup-Bandes spielt bei der außerordentlichen
Verzögerung seiner Drucklegung nach Anga-
ben im Vorwort von Wilhelm Saake ein
kurioser Umstand mit: Bei der Besetzung
Wiens durch die Russen im Jahre 1945 durch-
suchten russische Soldaten das Studierzimmer
Gusindes und verbrannten alle Bücher und
Manuskripte — darunter auch das über die
Halakwülup — sowie andere Unterlagen,
weil ihnen diese Schriften als kapitalistisch-
imperialistische Machenschaften zum Schaden
des internationalen Proletariates erschienen.
Für diese Art literarischen Autodafes lassen
sich in neuerer wie in älterer Zeit — sogar
aus der Geschichte der Amerikanistik — Bei-
spiele finden. Interessiert hätte im Vorwort
nur ein Hinweis, wieso es Gusinde doch noch
möglich war, ein neues Halakwülup-Manu-
skript zu erstellen. Wie dem auch sei, es ist
offensichtlich geglückt, und der Autor schildert
mit; der von den früheren Bänden her gewohn-
ten epischen Breite unter Anwendung eines
teilweise altväterlichen Wortschatzes, z. B.
„Freite“, „Weibsperson“, „Volksgemeinschaft“
usw., nicht nur die von ihm angetroffene Si-
tuation des damals (1923/24) bereits im vollen
kulturellen Niedergang begriffenen nördlich-
sten der von ihm besuchten Feuerland-Stämmc,
sondern geht auch im 1. Teil seines Buches
ausführlich auf die Geschichte der Halakwülup
— in der älteren Literatur auch oft als Alaca-
luf bezeichnet — und die ihrer Erforschung
ein. Er trägt damit auf rund 150 Seiten dem
heute als wichtig erkannten ethnohistorischen
Aspekt völkerkundlicher Forschung in ver-
dienstvoller Weise Rechnung.
Die Geschichte der Halakwülup, d. h. hier
der Zeitraum von 450 Jahren des Kontaktes
mit der europäischen Zivilisation, ist eine Ge-
schichte ihres durch deren „Träger“ verursach-
ten unsäglichen Leidens bis zu ihrem Unter-
gang in unseren Tagen, ein Schicksal, das die
Halakwülup mit den übrigen Feuerland-In-
dianern, den Selknam und Yamana, teilen.
Gusinde bezweifelt sehr, ob die Zahl der
reinrassigen Halakwülup zur Zeit der Abfas-
sung seines Manuskriptes noch 20 Personen be-
trägt, wobei er etwa 30 Mischlinge nicht mit
einrechnet.
Die generelle Einstellung Gusindes zu den
Halakwülup ist auf Zuneigung und Wohlwol-
len gegründet. Er nimmt sie gegen den Vor-
wurf des Kannibalismus, jener „abscheulichen
Sitte, die sich hauptsächlich bei jüngeren Na-
turvölkern fände“ (S. 427), in Schutz; er ist
von ihrem „typischen Hochgottglauben“ ange-
tan und attestiert ihnen mehrfach „echtes
Schamgefühl“. Allenfalls stört ihn ihre man-
gelnde Reinlichkeit und ihr Hang zur Trunk-
sucht.
Der 2. Teil des Buches befaßt sich mit dem
Wirtschaftsleben der Halakwülup, die wie die
in Band I der Reihe behandelten Yamana
Wassernomaden sind und eine ausschließlich
aneignende Wirtschaftsform besitzen, wobei
das Meer — durch Jagd auf Meeressäuger,
Fischfang und Sammeln von Muscheln — der
Hauptnahrungslieferant ist. Die hierzu ge-
brauchten Geräte und Werkzeuge sowie die
angewandten Methoden werden mit genauen
Zeichnungen anschaulich beschrieben, wobei
Gusinde — wie auch in den übrigen Teilen
seines Werkes — außer den eigenen Beobach-
tungen alle erreichbaren Ergänzungen aus der
früher erschienenen Fachliteratur in dankens-
werter Weise mit einbezieht. Der Autor be-
zeichnet die ursprüngliche Sachkultur der Ha-
lakwülup als eine weitgehend a-lithische Kno-
chenkultur, wenn man von einer begrenzten
Verwendung von Mineralien, wie Quarz und
Obsidian (letzteres in neuerer Zeit durch Fla-
schenglas ersetzt) für Pfeilspitzen, Messer und
dolchartige Geräte absieht, die noch in histo-
rischer Zeit bei ihnen angetroffen wurden.
Über das prähistorische Vorkommen von
Steinartefakten im Halakwülup-Gcbiet äußert
sich Gusinde erst zum Schluß seines Buches —
eine Voranstcllung wäre für das Verständnis
des Lesers besser gewesen —, wenn er auf die
Grundzüge der feuerländischen Kultur zu
sprechen kommt. Dieses letzte Kapitel bildet
übrigens den für eine Rezension interessante-
sten Teil des Werkes, so daß ich auf diesen
näher eingehen werde, während ich mir von
einer detaillierten Inhaltsangabe der übrigen
Kapitel wenig verspreche. Einige wenige An-
merkungen seien jedoch auch zu diesen gestat-
tet: Was Teil 3 „Die Gesellschaftsordnung“
angeht, kann man über Gusindes Auffassung,
bei den Halakwülup gäbe es — abgesehen von
den Familienoberhäuptern — keine sichtbaren
Autoritätspersonen, jedoch so etwas wie eine
geheime „Amtsgewalt“, geteilter Meinung sein.
216
Buchbesprechungen
Diese Gewalt beruhe letztlich auf dem von
allen Erwachsenen befolgten Sittengesetz, als
deren Vertreter sie ihren Hochgott, den Xolas,
anerkennten.
Dieser Hochgottglauben ist auch weitge-
hend Inhalt des Abschnitts A des 4. Teiles
„Die Geistcswelt“. Ich will es mir an dieser
Stelle versagen, auf die Problematik einer ur-
sprünglichen und vor allem für die Religion
dieser Stämme ausschlaggebenden Hochgott-
verehrung der Feuerländer einzugehen, da ich
mich früher bereits mehrfach hierzu geäußert
habe und sich an meiner eher zurückhaltenden
Einstellung hierzu inzwischen nichts geändert
hat. Festzuhalten wäre, daß Gusinde (S. 637
ff.) eigentliche Gebete an den Xolas der Ha-
lakwülup oder mit ihm verbundene kultische
Handlungen nicht bemerkt hat. Nur bei An-
nahme einer homogenen, allgemein verbindli-
chen monotheistischen Religionsform bei den
Halakwülup ist es zu verstehen, wenn Gusin-
de verschiedene davon abweichende Vorstel-
lungen trotz einiger geäußerter Bedenken doch
noch unter dem Titel „Aberglauben“ abhan-
delt. Völlig unabhängig von Xolas ist aber
auch der Schamane oder Medizinmann — Gu-
sinde läßt beide Bezeichnungen für ihn gelten
— owurkan der Halakwülup; er steht angeb-
lich auch nicht mit irgendwelchen anderen
Geistwesen in Verbindung, was m. E. auf
einer Beobachtungslücke beruhen dürfte. Die
Geheime Männerfeier yineihaua mit dem Auf-
treten von Maskenträgern leitet Gusinde ge-
treu der alten Wiener Schule von mutterrecht-
lichen Pflanzenkulturcn ab, die von Norden
her zunächst auf die Selknam, von diesen auf
die Yamana und schließlich in deutlicher Ab-
schwächung auf die Halakwülup einwirkten.
In den Grundzügen der feuerländischen
Kultur (IV. G.) erkennt der Autor zwei deut-
lich voneinander verschiedene Volkseinheiten:
die kanufahrenden Kanal-Indianer im Insel-
bereich Westpatagoniens einschließlich des
Kap-Horn-Archipels, Yamana und Halakwü-
lup, die er wohl mit Recht die eigentlichen
Feuerländer nennt; zum anderen die Fußgän-
ger der Großen Feuerlandinsel, die Selknam
mitsamt ihrem Vortrupp, den Haus, die er
beide als den patagonischen Tehueltsche nahezu
gleichartig betrachtet. Zwischen beiden Grup-
pen habe ein reger Tauschhandel bestanden.
Gusinde spricht sodann von einer neuzeitli-
chen feuerländischen Knochenkultur der Ya-
mana und Halakwülup mit nahezu aus-
nahmslos a-lithischer Geräteausrüstung, als de-
ren Prachtstück er das Rindenkanu bezeichnet.
Der Nahrungserwerb beruhe vorwiegend auf
dem Sammeln von Schalentieren. Im Ab-
schnitt über die frühzeitliche feuerländische
Knochenkultur holt der Autor weit aus und
geht auf die Erstbesiedlung Amerikas über die
Behringstraße ein, da eben diese „wirklichen“
Feuerländer die Kulturform jener frühesten
Einwanderer, die bis zur Südspitze des Kon-
tinents durchsickerten, bewahrt hätten. Die
mächtigen Muschelhaufen an der Westküste
Südamerikas und gerade ganz besonders am
Beagle-Kanal und im Kap-Horn-Archipel be-
wiesen das Auftreten niederer Jäger und
Sammler zwischen 10000 und 9000 v. Chr. Er
beruft sich hierbei in erster Linie auf den Ar-
tikel von Oswald Menghin in der Festschrift
für L. Zotz (1960) „Urgeschichte der Kanu-
Indianer des südlichsten Amerika“. Menghin
konstatiert eine mit älteren Komplexen in
Nordamerika zusammenhängende epiprotoli-
thische Kultur niederer Jäger in Südpatago-
nien, die er Riogallegium nennt. Sie dauert bis
etwa 1000 v. Chr. an und ist vielfältigen
Einflüssen von benachbarten Kulturen höherer
Jäger unterworfen. Zu diesen Einflüssen könn-
te meiner Meinung nach — Gusinde weist
nicht darauf hin — die Bearbeitungstechnik
der steinernen Pfeil- und Dolchspitzen gehö-
ren, die von den Geschoßspitzen abgeleitet
sein dürften, wie sie den höheren prähistori-
schen Jägern dieses Raumes zugeschrieben wer-
den. Letztere, die Vorfahren der späteren
Tehueltsche, drängten die niederen Jäger an
den unwirtschaftlichen westlichen Rand des
Subkontinents und auf die vorgelagerten In-
seln ab, wo sie sich einseitig anpaßten und zu
Kanu-Indianern wurden. Die von ihnen ent-
wickelte Kultur, das Magallanium, lebt (von
1000 v. Chr.) bis in die historische Zeit hinein
fort. Es handelt sich hierbei um die archäo-
logische Hinterlassenschaft der Halakwülup,
deren Herkunft aus dem Protolithikum nach
Menghin und Gusinde damit erwiesen ist.
Schon in Teil 2 des Buches hatte Gusinde
noch recht vage von einer „grauen Anfangs-
periode“ gesprochen, in welche die gegenwär-
tige Wirtschaftsform der Halakwülup zurück-
reiche: jetzt erst wissen wir genau, was er da-
mit gemeint hat. Auch die weiter nördlich von
den Halakwülup wohnenden Chono gehen
nach Menghin und Gusinde auf das Magalla-
nium zurück; für die weiter im Südosten woh-
Buchbesprechungen
217
nenden Yamana wird eine etwas jüngere Va-
riante, die Ushuaia-Kultur postuliert. In allen
Fällen aber handele es sich um ein echtes
amerikanisches Protolithikum knochenkultur-
licher Prägung, um eine selbständige, lebens-
fähige Kulturform, nicht etwa um eine Dege-
nerationserscheinung. Die Halakwülup aber
hätten vor ihren südlichen Nachbarn, den
Yamana, den kulturgeschichtlichen Vorrang.
Ihre endgültige Heimat hätten sie zeitlich vor
den letztgenannten in Besitz genommen.
Den Beweis für diese Differenzierung müs-
sen wir dem Autor bzw. Menghin überlassen;
feststeht jedenfalls, daß die Halakwülup zu
den ältesten Bewohnern Südamerikas gehören.
Gesindes großes Verdienst ist es, uns mit dem
vorliegenden Werk ein noch einigermaßen ge-
treues Bild der untergegangenen Halakwülup-
Kultur hinterlassen zu haben.
Otto Zerries
Franz Caspar:
Die Tupari — Ein Indianerstamm in West-
brasilien. Monographien zur Völkerkunde
Bd. VII. Berlin—New York: Walter de
Gruyter. 1975. XXIII + 321 S., 96 Bild-
tafeln.
Dieses Werk ist nicht nur wegen seines
hervorragenden illustrativen Bildteils wichtig.
Eines der großen Handikaps der Völker-
kunde ist es, daß zwischen Feldforschung und
Veröffentlichung der Ergebnisse oft Jahre ver-
streichen. Die für eine lebendige Wissenschaft
so notwendige Dramatik neuer Forschungser-
gebnisse und rascher Ausweitung des Gesichts-
kreises wird so gehemmt. Besonders gilt das
für Monographien, deren Veröffentlichung
technische und finanzielle Probleme entgegen-
stehen, obwohl doch diese Art Arbeiten bei der
Verbreitung neuer Erkenntnisse eine besondere
Rolle spielen sollten, da in ihnen deren Zu-
sammenhang und damit Überprüfbarkeit In
vorbildlicher Weise gegeben ist. So hätte etwa
die frühere Veröffentlichung der Yanoama-
Monographie von Zerries und Schuster die
Yanoama-Diskussion eher in andere Bahnen
gelenkt. Beträgt hier die Zeitdifferenz 19
Jahre, so macht sie im nun zu besprechenden
ähnlichen Fall 20 bzw. 27 Jahre aus: Caspar
besuchte die Tupari 1948 und 1955. Die als
Ergänzung der Monographie wichtige Arbeit
von Rodrigues und Caspar über die Tupari-
Sprache konnte, obwohl längst das Manuskript
abgeschlossen, bis heute nicht veröffentlicht
werden.
Solche voraussehbaren Verzögerungen las-
sen viele Völkerkundler überhaupt vor dem
Projekt einer Monographie zurückschrecken.
Daß sich die Mühe aber lohnt, zeigen die we-
nigen dennoch realisierten Beispiele, etwa das
von Caspar. Zwar waren die Tupari zum
Zeitpunkt ihrer Erforschung bereits im vollen
Niedergang begriffen, aber sie hatten ihre
Kultur doch noch so gut bewahrt, daß sie von
nun an, nach der Veröffentlichung dieses um-
fassenden Thesaurus, aus der Tupi-Diskusslon
nicht mehr weggedacht werden können. Syste-
matisch, mit der durch das zu Unrecht oft
kritisierte Medium der Monographie erzwun-
genen Genauigkeit werden die einzelnen Le-
bensbereiche abgehandelt. Der ausführliche
musikethnologische Anhang entstand in Zu-
sammenarbeit mit H. Fischer.
Voraussetzung für die vorliegende Publi-
kation waren zwei monatelange Aufenthalte
(leider werden keine genauen Daten angege-
ben) bei den Tupari, während derer Caspar
Feste und Arbeit der Indianer teilte und Ein-
blicke erhielt, die z. B. demjenigen, der nicht
mit den Indianern auf dem Feld arbeitet, vor-
enthalten bleiben. Das Erlebnis der ständigen
Nähe zu den Tupari ermöglicht Caspar eine
Sicht auch der alltäglichen Details, die seiner
Arbeit oft die bei einer Monographie nicht
immer ganz vermeidbare Trockenheit nimmt.
Die Stärke des Buches liegt in der detaillierten
Beobachtung des Alltags, der in völkerkundli-
chen Werken viel zu oft hinter der Synthese
und der Beobachtung des Ungewöhnlichen zu
kurz kommt. So besitzen wir etwa zahlreiche
Berichte über Initiationsfeiern für Kinder und
synthetische Abhandlungen über die Bedeu-
tung der Kinderseele, aber kaum Darstellun-
gen z. B. der Säuglingspflege bei tropischen
Waldlandindianern. Beobachtungen über die
Einstellung indianischer Mütter zum Kinder-
urin, Methoden der Entwöhnung, Entwicklung
von Aggressivität und Unterordnung bringen
Aufschlüsse über „primitives“ Leben, die nicht
nur für Völkerkundler, sondern auch für Psy-
chologen und Soziologen von Interesse sind.
Die Gesellschaft der Tupari ist insofern er-
staunlich, als in ihr „tätliche Streitigkeiten ver-
hältnismäßig selten und verpönt sind, gegen-
seitiges Beschimpfen von Erwachsenen etwas
Unerhörtes bedeutet, und das normale Ab-
reagieren von Wut und Ärger im Vortragen
218
Buchbesprechungen
nächtlicher Reden besteht“, wobei „auch die
Erziehung weitgehend von Aggression frei“
Ist. Caspar bringt ein illustratives Beispiel:
Ein Kind hatte bei einem Fest die Tänzer am
Tanzen behindert; „weit davon entfernt, den
Jungen zurechtzuweisen oder gar zu schla-
gen, zogen sich die erwachsenen Tänzer und
Tänzerinnen überrascht zurück und hörten
auf zu singen und zu tanzen. Sie schienen den
Wutausbruch des Jungen wie ein Naturereignis
hinzunehmen“ (S. 97 f.). Gewalt gegen Kinder
wird meist nur dann angewendet, wenn diese
ein wirklich ernstes Verbot übertreten; etwa,
wenn ein Junge seinen Vater im Spiel mit
einem Pfeil beschießt. „Darauf schlug der
Vater den Kleinen mit dem Erfolg, daß dieser
nie mehr auf einen Menschen schoß“. Dro-
hung tritt oft an die Stelle der Tätlichkeit: Ein
Vater droht mit dem Stock, der Sohn schreit
und rennt davon, dann aber, „statt sich zu
verstecken, bis der Zorn des Vaters verraucht
ist, läuft er zu meinem Staunen in einem Bogen
wieder zum Wohnplatz der Eltern zurück und
bleibt dort reglos, aber laut heulend stehen,
gerade da, wo ihn sein Vater am ehesten er-
wischen kann. Dieser sagt ihm ein paar halb
ärgerliche, halb ermahnende Worte, schlägt
ihn jedoch nicht“ (S. 98). Hier wird am klei-
nen täglichen Beispiel die Erziehung zu jener
für die Indianer des südamerikanischen tro-
pischen Waldlandes so typischen Haltung be-
schrieben, wie sie sich etwa Im gewaltlosen,
aber ständig Gewalt androhenden Kwarüp-
Fest manifestiert, das im Alto Xingu Kriege
ersetzt. Am Fall der Erziehung demonstriert
Caspar aber auch einen weiteren Zug nicht
nur der Tupari, sondern wohl überhaupt der
Tiefland-Kultur Südamerikas: das Auseinan-
derklaffen von gesellschaftlicher Theorie und
Praxis, so wenn die von den Tupari als Ideal
angesehene aggressionslose Erziehung in vie-
len Ausnahmefällen eben doch eine ideale
Vorstellung bleibt, weil es auch hier Neuroti-
ker und überhaupt „anormale“ Charaktere
gibt. Eine Eigenart dieser Kulturen besteht
darin, daß Abweichen von der positiven Norm
nur in Extremfällen geahndet, sonst aber le-
diglich zur Kenntnis genommen wird, meist
mit der resignierenden Feststellung, daß eben
die Realität unschön ist. So ein Häuptling,
der nach Wutanfällen, die seine Beziehungen
zu Nachbarn schwer belasteten, „betrübt zu-
gab, er sei ein böser Mensch und sollte deshalb
eigentlich nicht Häuptling sein“ (S. 134). Ein
ähnliches Verhalten beobachtete ich z. B. bei
den Kamayurä, notorischen Dieben, die ihr
von der eigenen Moral streng verurteiltes
Laster betrübt zugeben („leider sind wir so“).
Bel der Kindererziehung wurde zitiert, daß
Reden eine der wichtigsten Sanktionen sind.
Ähnlich wie die Drohung mit dem Stock im
angeführten Beispiel ersetzen sie physische
Gewalt. Das Tupari-Wort für Schelten heißt
wörtlich „Schmerz zufügen“ und drückt so
den Ersatz handgreiflicher durch rhetorische
Gewalt aus. Typisch ist die von Caspar be-
obachtete Szene, wie eine leicht zurechtgewie-
sene Frau „sich erschüttert an einen Hauspfo-
sten lehnte und reglos beide Hände vor das
Gesicht hielt“ (S. 133). Diese Macht des Wor-
tes im Alltag findet ihre Entsprechung in re-
ligiösen Vorstellungen, wie wir sie von ande-
ren Tieflandgruppen kennen (vgl. z. B. die
Arbeiten von Cadogan über die Guarani-Re-
ligion), die eine regelrechte Philosophie von
der Macht des Wortes entwickelten. Bei den
Tupari hat Caspar dergleichen nicht gefunden,
wohl aber eine Vorstellung von der Macht des
Atems, wie sie bei anderen Tieflandindianern
bisweilen in enger Verbindung mit der Wort-
philosophie steht (vgl. etwa die Verbindung
von Atem und Wort des Medizinmannes). Der
Atem-Komplex in der Religion der Tupari ist
auch deshalb von besonderem Interesse, weil
die recht bildhaften Vorstellungen von Atem-
Essen bzw. Atem-Verlust (das heißt Ausatmen
oder überhaupt sich erregen) in ihrer gleichzei-
tigen Verbindung zu eher abstrakten Ideen
von Seele und Fluidum vielleicht eine „theolo-
gische“ Erklärung — neben anderen — für das
aus vielen Teilen des Tieflandes und Südame-
rika bekannte Schau- und Hörspiel der Kran-
kenheilung durch den Medizinmann bietet.
Das sind nur einige Beispiele aus dieser
wichtigen Arbeit. Sic beziehen sich auf die
historische Vergangenheit. Vor 1920 zählten
die Tupari nach Caspars Schätzung rund 2000
Personen. 1948 waren cs nur noch etwa 190,
1955 noch 66. Der Rückgang wurde durch von
Gummisammlern cingeschleppte Krankheiten
verursacht. In seinem Bemühen, ein möglichst
genaues Bild der traditionellen Kultur zu re-
konstruieren, versäumt Caspar es leider, die
Phänomene des zu seiner Zeit schon deutlichen
Kulturwandels, insbesondere die Auswirkun-
gen der drastischen Bevölkerungsverringerung
auf das Sozialgefüge, genauer darzustellen (er
Buchbesprechungen
219
hat dies allerdings früher a. a. O. getan). Ge-
legentlich spürbar ist bei ihm die Auffassung,
mit dem Anschluß an neue ökonomische Tä-
tigkeiten, wie dem Gummisammeln, und mit
dem Kontakt zu Nicht-Indianern sei alles vor-
bei. Hier muß sein Erstaunen über einen 1968
erhaltenen Brief aus Brasilien genannt werden,
demzufolge die Tupari noch immer existier-
ten, in etwa gleicher Zahl wie 1955. Dieses
Erstaunen übersieht die demographischc Regel
in Brasilien: Die meisten indianischen Popula-
tionen erleiden beim Kontakt zunächst eine
drastische Reduzierung, dann aber — falls die
Gruppe nicht in dieser ersten Phase völlig
verschwindet — stabilisiert sich die Zahl auf
einem Tiefstpunkt, um später allmählich wie-
der anzusteigen. Dabei wird indianische Kul-
tur trotz Übernahme äußerlicher Akkultura-
tionssymbole meist erstaunlich hartnäckig und
lebendig beibehalten und den neuen Bedin-
gungen schöpferisch angepaßt. Dieser Aspekt
fehlt bei Caspar, was im übrigen nichts an der
hervorragenden Qualität des Buches ändert.
Mark Münzel
Mark Münzel:
Studien zur Kulturkunde. Erzählungen der
Kamayurd (Alto Xingü — Brasilien). Bd.
30. Deutsche Übersetzung mit Kommentar
von Mark Münzel. Wiesbaden: Steiner.
1973. VII + 378 S., 12 Abb.
Das Buch besteht aus einer zwölfseitigen
Einführung von vier Abschnitten und dem
Korpus der insgesamt 84 Erzählungen, die
nach ihrer Thematik in acht Gruppen geordnet
sind. Wie Münzel in der Einführung ausein-
andersetzt, deuten linguistische Gründe auf
eine Herkunft der Kamayurä von der Küste
hin; erst nach der Ankunft der Europäer dürf-
ten sie in das Rückzugsgebiet am oberen Xingü
geflohen sein. Heute leben sie dort mit ande-
ren Stämmen verbündet, mit denen sie Tausch-
handel treiben sowie gemeinsame Feste ab-
halten. Wir wissen nicht, wie der Zusammen-
schluß dieser Stämme vor sich gegangen ist, die
z. T. ganz verschiedenen Sprachgruppen an-
gehören. Nach Münzel bietet jedoch die Ge-
schichte der Integration der Txikäo in neuerer
Zeit einen Hinweis darauf, wie eine derar-
tige Eingliederung in anderen Fällen ausge-
sehen haben mag. Münzel charakterisiert kurz
die Stellung der Nicht-Indianer am oberen
Xingü: der Weiße wird dort nicht als über-
legen betrachtet, ein Umstand, der z. B. Feld-
forschungen keineswegs vereinfacht. Unter den
Indianern besteht eine „Abwehrbereitschaft,
die eines Tages die Unterdrückung dieser In-
dianer erschweren wird“. Hoffentlich stellt
sich diese Prognose nicht demnächst als zu
optimistisch heraus.
Jeder Erzähler und Übersetzer wird von
Münzel einzeln vorgestellt: Sein Alter und
Familienstand, seine Kenntnisse der Stammes-
religion sowie seine Begabungen und Interes-
sen sind erwähnt. Bei den Erzählern ist ange-
geben, welche Absichten sie mit der Wieder-
gabe der Geschichten verbanden, bei den Über-
setzern deren Kenntnisse des Portugiesischen.
Daß derartige Punkte wichtig zur Beurteilung
der einzelnen Mythenversionen sein können,
ist bekannt. Daß so selten auf sie eingegangen
wird, ist bedauerlich.
Schon in der Einführung schneidet Münzel
ein Thema an, auf das er in den Kommentaren
und Anmerkungen immer wieder zurück-
kommt, nämlich auf das Verhältnis der Aus-
sagen der Erzählungen zu anderen Aspekten
der Stammeskultur: In welchem Ausmaß stel-
len die Erzählungen eine Beglaubigung oder
Rechtfertigung kultureller Gegebenheiten dar?
Inwieweit bzw. inwiefern dienen sie zur Auf-
rechterhaltung der sozialen Ordnung? Bieten
einzelne Schilderungen eine realistische Dar-
stellung gegenwärtiger Zustände? Ferner in-
teressiert Münzel, welche Probleme in einer
Erzählung angeschnitten und welche Lösun-
gen für sie gegeben werden. In den Kommen-
taren finden sich sowohl Verweise auf weitere
Versionen der gleichen Erzählung in anderen
ethnologischen Abhandlungen über die Kama-
yura als auch Hinweise auf ähnliche Erzählun-
gen bei benachbarten Stämmen. In den zahlrei-
chen Anmerkungen sind u. a. Ortschaften,
Tiere und Pflanzen identifiziert und überdies
Anspielungen der Erzähler erläutert. Überdies
geht Münzel dort auf die Untersuchungen von
Lévi-Strauss zur südamerikanischen Mytho-
logie ein, auf dessen Deutung verschiedener
Kategorien (z. B. Jaguar, Ara, Tapir, Tabak,
Gekochtes) und deren Beziehungen unterein-
ander. Bei seinen Erläuterungen muß Münzel
zwangsläufig immer wieder auf seine Disser-
tation über „Medizinmannwesen und Geister-
vorstcllungcn bei den Kamayura“ (Wiesbaden
1971) verweisen, die eine hervorragende Er-
örterung der Ideologie dieses Stammes dar-
220
Buchbesprechungen
stellt. Diese Arbeit und das vorliegende Buch
ergänzen einander, weswegen es naheliegt, sie
gemeinsam durchzuarbeiten.
Helmut Schindler
P. Ewald Böning SVD:
Der Pillánbegriff der Mapuche. Studia
Instituti Missiologici Societatis Verbi Divi-
ni Nr. 14. St. Augustin: Steyler. 19V4. 203
S., 3 Karten.
Das Titelblatt läßt Arges vermuten: ein
Buch über Pillán, einem vieldiskutierten, of-
fenbar schwer deutbaren Begriff aus der Ma-
puche-Rcligion, geschrieben von einem Priester
der SVD, vorgelegt in einer Schriftenreihe von
Missionsstudien. Soll hier endlich einmal wie-
der ein höchstes Wesen kreiert werden, in
memoriam P. W. Schmidt? Wer dementspre-
chend diese Abhandlung skeptisch oder spott-
bereit zur Hand nimmt, muß feststellen, daß
seine Vorahnungen getrogen haben.
Im ersten Drittel des Buches legt Böning
die Aussagen aus der Literatur über Pillán
nach Jahrhunderten geordnet vor — nebenbei
gesagt, in vorzüglichen Übersetzungen —, an-
schließend bringt er Daten, die er auf zwei
Feldforschungen und durch Briefwechsel mit
Kennern der Mapuche zusammengetragen hat.
Als nächstes geht er auf die Mapuche-Aus-
drücke Pellü und Am ein, die beide wiederholt
mit „Seele“ übersetzt worden sind. Dies ist
jedoch nach Böning irreführend, der eine
plausible Deutung der beiden Begriffe, der
ihnen zugrundeliegenden Weitsicht und der
daraus resultierenden kultischen Handlungen
bietet. In diesem Teil beweist der Autor zum
erstenmal seine Gabe, sich von europäischen
Klischeevorstcllungen freizumachen und sich
in fremde Denksysteme einzuarbeiten, die mit
unseren nicht zur Deckung zu bringen sind.
Böning führt dann die Gründe für seine These
auf, wonach Pillán höchstwahrscheinlich aus
einer Kontraktion von Pellü und Am entstan-
den ist. Gegen Ende seines Buches streicht er
heraus, daß erst die Verschmelzung beider
Komponenten, also beider Vorstellungen, den
Pillánbegriff verständlich macht. Manche der
Fchlintcrprctationcn, die dieser erfahren hat,
erklären sich aus der Beschränkung auf nur
eine der beiden Komponenten.
Pillán wurde u. a. bereits als Ahne, Don-
ner, Gott, Vulkandämon, Totem und Teufel
interpretiert. Böning geht diesen und anderen
Mißdeutungen nach, wobei sich herausstellt,
daß sie sich „auf Mitteilungen und Urteile
weniger, aber einflußreicher ,Araukanisten‘
und auf Berichte einzelner Schriftsteller“ stüt-
zen, „die meist gläubig übernommen wurden“
(S. 121). Mit guten Argumenten, in flüssigem
Stil und gelegentlich mit milder Ironie wider-
legt er die verschiedenen Fehlinterpretationen,
die z. T. von Personen stammen, die lange Zeit
unter den Mapuche gelebt haben. Er setzt da-
bei auseinander, aus welchen Gründen sie zu
der Annahme verleitet wurden, es bestehe ein
Pillánkult oder das Nguillatun werde zu
Ehren eines Pillán abgehalten.
Mit wenigen Sätzen wird erläutert, wes-
halb es für das Denken der Mapuche nahelag,
während der Zeremonien auch Flaggen zu
hissen. Böning behandelt ferner den Ausdruck
Pillán-toki, der immer wieder fälschlich mit
Axt des Gottes Pillán übersetzt wird, was
man jedoch nur unter Mißachtung der Mapu-
che-Syntax tun kann. Ist diese irrige Interpre-
tation einmal erfolgt, so bietet sich als nächster
falscher Schritt ein Vergleich mit den hammer-
schwingenden Göttern indogermanischer Reli-
gionen an.
Das Buch macht erneut deutlich, wie
schwierig die Kommunikation einer Weltan-
schauung über kulturelle Grenzen hinweg
ist, wenn die Ideologien beider Kulturen tief-
greifende Unterschiede aufweisen. Auch die
Beherrschung beider Sprachen beseitigt das
Problem nicht automatisch. Selbst Weiße mit
langjähriger Kenntnis des Araukanischen ha-
ben den Ausdruck Pillán mißverstanden, da
sie sich von den Vorurteilen ihrer Mutterspra-
che nicht freimachen konnten. Ebenso finden
Spanisch sprechende Mapuche häufig nicht das
rechte Wort, um die mit Pillán verbundenen
Vorstellungen in der Kontaktsprache treffend
wiederzugeben. Ihre Erklärungsversuche füh-
ren zu einem Herumgcrcdc, das glücklicher-
weise in aller Ausführlichkeit wiedergegeben
ist. Dies kann den Befraget dazu verführen,
die Mapuche hochmütig der Ideenverwirrung
zu bezichtigen. Böning setzt glaubhaft aus-
einander, daß auch ein Gebildeter unseres Kul-
turkreiscs ähnlich „wirr“ antworten würde,
falls man ihn zur Erläuterung eines derart ab-
strakten Begriffes aufforderte.
In bestimmten Gebieten Chiles bedeutet
Pillán für die Mapuche tatsächlich Teufel.
Bönings einfache Erklärung dafür; dies trifft
Buchbesprechungen
221
für jene Gegenden zu, wo die Indianer am
stärksten akkulturiert sind und sich folglich
die Fehlinterpretation des Wortes durch die
Missionare zu eigen gemacht haben.
Dieses Buch ist nicht in einer der ethnolo-
gischen Standardreihen erschienen, deshalb
könnte es leicht übersehen werden. Das wäre
bedauerlich. Helmut Schindler
Eva Lips:
Nicht nur in der Prärie ... — Von der
Vielfalt der Indianer Nordamerikas. Leip-
zig: VEB F. A. Brockhaus. 1974. 220 S.,
48 Fotoseiten, 1 Faltkarte.
In jüngster Vergangenheit sind mehrere
deutschsprachige Indianerbücher erschienen,
die sich an einen breiten Leserkreis wenden.
Die Autorin des vorliegenden Buches bürgt
für Qualität. So überrascht es nicht, daß
„Nicht nur in der Prärie . . .“ aus der Masse
der Veröffentlichungen mit ähnlicher Themen-
stellung weit herausragt, nicht zuletzt auch
deshalb, weil Lips die nordamerikanischen
Kulturprovinzen gleichwertig nebeneinander-
stellt, ohne übermäßige Gewichtung der Prä-
rie- und Plainsindianer.
Neben den verschiedenen indianischen Kul-
turen kommen auch die Inuit (hier — wie
auch immer noch in anderen völkerkundlichen
Abhandlungen — Eskimo genannt) zu Wort.
Ihnen ist das Kapitel „In der Arktis: Jäger
und Künstler" gewidmet. Von den indiani-
schen Kulturprovinzen werden in folgender
Reihe vorgestellt: Subarktis; Becken und Pla-
teau; Prärie und Plains (hier: „Die Prärie-
indianer“); Große-Seen-Gebiet; Kalifornien;
Südwesten; den Irokesen ist ein eigenes Ka-
pitel zuerkannt worden; vom östlichen Wald-
land werden darüber hinaus „Die Algonkin
der atlantischen Küste“ und „Das Indianer-
reich in Virginien“ behandelt; es folgen „Vier
Unvergeßliche“, das sind vier berühmte In-
dianerführer; der Südosten wird mit den
„Zivilisierten“ und den Natchez vorgestellt;
die Nordwestküste schließt die Kulturprovin-
zen ab. Mit einem Nachwort von Helmut
Reim endet das Buch. Obwohl dieses, mit dem
Vokabular aus der marxistisch-leninistischen
Ideologie durchsetzte Nachwort zwar etwas
zusammengewürfelt erscheint und man sich
fragt, ob es nicht entbehrlich gewesen wäre,
kann der Leser ihm doch einen knappen Abriß
der europäisch-amerikanischen Geschichte ent-
nehmen. Zweck dieses Nachwortes ist aber
wohl nicht der historische Überblick, sondern
aufzuzeigen, daß es erst durch den „Sieg der
Arbeiterklasse“ möglich geworden ist, den
„bürgerlich-reaktionären Verunglimpfungen
ein wissenschaftlich begründetes Bild von den
Indianern Nordamerikas entgegenzusetzen“
(S. 218). Na ja. Der Rezensent möchte Hel-
mut Reim entgegensetzen, daß manches in
seinem Text den Aussagen selbst in diesem
Buch widerspricht, z. B. die angeblich in den
USA bis heute herrschende „kulturelle
Zwangsassimilation“ dem Inhalt auf Seite 9 f.
Erfrischend ist demgegenüber das kom-
promißlose Engagement der Autorin für die
Sache der Indianer. Manchmal wirkt hier al-
lerdings die Grenze zur Idealisierung bereits
überschritten. Doch erscheint dies dem Rezen-
senten entschuldbar, ist doch das Buch in
seiner Gesamtheit ein gelungener Beitrag zur
„Entkitschisierung der Indianer“. Nur eine
kritische Anmerkung bleibt bestehen.
In ihrer Einführung „Ein neues Indianer-
buch?“ geht Lips auch auf die heutige Situation
der Indianer Nordamerikas ein. Dies ist au-
ßerordentlich begrüßenswert, doch ist zu wün-
schen, daß bei einer nächsten Auflage neueres
Material aus der Indianerverwaltung (hin-
sichtlich statistischer Angaben und Erwähnung
von Personen der indianischen Szene) und
auch solches aus nicht offiziellen Quellen, wie
das mancher Indianerorganisationen, zu Rate
gezogen werden möge. Vielleicht ist dieser
Mangel mit der nicht nur geographisch be-
dingten Entfernung der Verfasserin von den
Orten des heutigen Geschehens In Nordame-
rika erklärbar. Die ist insbesondere dort zu
vermuten, wo sie schreibt (S. 15 f.), daß eng-
lischsprachiges Grundlagenmaterial in Europa
kaum erhältlich sei.
Diese Anmerkung ändert nichts daran, daß
Eva Lips mit „Nicht nur in der Prärie . .
wieder einmal ein Buch vorgelegt hat, das
auch — obwohl es bewußt eine vielschichtige
Leserschaft anspricht — der Fachmann gerne
zur Hand nimmt und mit Gewinn liest.
Axel Schulze-Thulin
Johann Heckewelder:
Indianische Völkerschaften. Aus dem Eng-
lischen übersetzt von F. Hesse. Zusatz von
G. E. Schulze. Nachwort von H. Hame-
cher. Nachdruck von Johann Heckewel-
222
Buchbesprechungen
der’s Nachricht von der Geschichte, den
Sitten und Gebräuchen der Indianischen
Völkerschaften, welche ehemals Pennsylva-
nien und die benachbarten Staaten be-
wohnten (Göttingen: Vändenhoeck und
Ruprecht, 1821). Kassel: Hamecher. 1975.
606 S., 1 Abb., 1 Faltkarte.
Der Verlag Horst Hamecher hat sich In
den zurückliegenden Jahren schon des öfteren
um den Nachdruck wertvoller alter Bücher,
die seit langem vergriffen waren, verdient ge-
macht. Hierzu rechnet auch der Heckewelder.
Obwohl 155 Jahre seit dem Erscheinen der
„Nachricht von der Geschichte, den Sitten und
Gebräuchen der Indianischen Völkerschaften“
vergangen sind, ist es (leider!) nach wie vor
berechtigt, aus dem Anfang der Einleitung
Heckewelders einen Hinweis besonders her-
vorzuheben: „Da ich nicht wünsche, daß ir-
gendeiner seine Erwartungen zu hoch spannen
möge, so will ich kürzlich anführen, daß ich
nicht geschrieben habe, Verwunderung zu er-
regen, sondern zur Belehrung derer, die mit
der wahren Geschichte der Völkerschaften be-
kannt zu werden wünschen, die Jahrhunderte
lang in vollkommenem Besitz des Landes,
welches wir anjetzt bewohnen, gewesen, nun
aber weithin ausgewandert sind“ (S. 7).
Daß Johannes Gottlieb Ernestus Hecke-
welder (1743—1823) zu dieser „Belehrung“
fähig war und noch immer ist, bedarf keiner
Frage, hat er doch als Geistlicher der zinzen-
dorfschen Brüdergemeinde in Pennsylvania
viele Jahre seines Lebens unter Indianern,
vornehmlich Delawaren, verbracht. Von 1763
—71 wirkte er unter den Indianern am Sus-
quehanna. In dieser Zeit eignete er sich vieles
von dem Wissen an, daß ihn später befähi-
gen sollte, sein Buch zu schreiben. Sein eigent-
licher Missionsdienst begann erst 1771. In den
folgenden 15 Jahren war er Assistent David
Zeisbergers und lebte mit den Böhmischen
Christlichen Indianern (Moravian Christian
Indians) zusammen. Nachdem er 1786 seinen
Missionsdienst aufgegeben hatte, arbeitete er
für die Regierung der jungen Vereinigten Staa-
ten von Amerika, die sich seine Kenntnisse der
„indianischen“ Mentalität und der verschie-
denen Indianersprachen zunutze machte.
Mehrmals begleitete Heckewelder Regie-
rungsabordnungen zu indianischen Stämmen
und diente bei Verhandlungen als unentbehr-
licher Fachmann. Von 1801—10 verwaltete er
den sogenannten Indianerstaat am Muskin-
gum. Nach dieser Zeit lebte er in Bethlehem,
Pennsylvania.
Seine spätere Veröffentlichung über die
nordöstlichen Indianer hatte ihm neben Be-
wunderern natürlich auch Gegner geschaffen.
So wurde ihm vorgeworfen, Aussagen von In-
dianern in ihrer Naivität allzu bereitwillig
als unumstößliche Tatsachen bewertet und vie-
le Indianische Praktiken beschönigt zu haben.
Wahrscheinlich ist hiervon der eine oder an-
dere Punkt berechtigt, denn schließlich hatte
der Verfasser drei Jahrzehnte mit und unter
Indianern gelebt, und so mag er manchmal den
kritischen Abstand zu den Dingen, den der
Forscher wahren muß, verloren haben. Doch
eines ist gewiß; Er hatte sich während seines
Lebens ein immenses Wissen indianischen Da-
seins angeeignet, und er hat es verstanden,
dieses Wissen der Nachwelt zu überliefern.
Zusätzliches Gewicht erhielt die Publikation
durch die Einbeziehung von Aussagen ver-
schiedener Reisender, ausgezeichneter India-
nerkenner, aus der zweiten Hälfte des 18.
Jh. in Nordamerika.
Neben den erwähnten Delawaren hat
Heckewelder insbesondere die Irokesen in
seiner „Nachricht“ beleuchtet. Hochinteres-
sant, und auch für heutige Verhältnisse im
indianischen Amerika von Bedeutung, ist seine
Schilderung (wobei man allerdings seine Liebe
zu seinen delawarischen Schützlingen berück-
sichtigen muß), wie es die Sechs Nationen der
irokesischen Konfördcration Im 18. Jh. schaff-
ten, sich im Gegensatz zu anderen indianischen
Völkerschaften im Lande zu halten — oft auf
Kosten ihrer algonkinischen Nachbarn. Neben
der Schilderung solcher und anderer politischer
Hintergründe wird dem Leser eine reiche Pa-
lette des geistigen und materiellen Lebens der
Indianer Pennsylvanias geboten. Sie reicht von
einer Beschreibung der „indianischen“ Menta-
lität über Kindererziehung, medizinisches Wis-
sen, Bilderschrift, Redekunst, gesellschaftliche
Einrichtungen und Sprachen verschiedener
Stämme bis hin zu Zeitrechnung, astronomi-
schen und geographischen Kenntnissen. In ei-
nem Nachwort werden Leben und Werk
Heckewelders ausführlich vorgestellt.
Mit gutem Grund kann diese Veröffentli-
chung als eine Fundgrube für alle diejenigen
bezeichnet werden, die aus der Vergangenheit
indianischen Lebens Tatsachen vermittelt er-
halten möchten. Axel Schulze-Tiiulin
Buchbesprechungen
223
J. Garth Taylor:
Labrador Eskimo Settlements of the Early
Contact Period. National Museum of Man.
Publications in Ethnology, No. 9. Ottawa
1974. 102 S., 4 Karten.
Taylors übersichtlich gegliedertes Buch ist
ein interessanter Versuch, die Rekonstruktion
der Wohn- und Wirtschaftsweise sowie der
Bevölkerungsverteilung der Labrador-Eskimos
während des 18. Jh. auf eine quantitative
Grundlage zu stellen. Anhand von histori-
schen Quellen, wie Tagebuchnotizen von Ent-
deckern, Landvermessern, Walfängern und
Missionaren (hier die Herrenhuter Brüderge-
meinschaft), setzt er ein überraschend genaues
Bild der Wohnplätze mit Einwohnerzahl, der
materiellen Kultur und der wirtschaftlichen
Nutzung des natürlichen Potentials durch die
Eskimos zusammen, die im 18. Jh., also wäh-
rend der frühen Kontaktperiode mit den
Europäern, entlang der Labrador-Küste wohn-
ten. Dieses Bild ist durch genaue Zahlenanga-
ben untermauert, die mühselig aus unterschied-
lichsten Quellen zusammengestellt sind. Diese
Zahlen beziehen sich nicht nur auf die Be-
völkerungsgröße, sondern auch auf die An-
zahl der gejagten Meeres- und Landsäugetiere,
falls sie vorhanden waren. Vor allem die
letzteren Angaben geben eingehend Aufschluß
über die wirtschaftliche Grundlage der Eski-
mos.
Taylor geht es darum, die Grenzen der
Nutzbarkeit und Belastbarkeit der natürlichen
Umwelt durch Zahlenmaterial zu erfassen. Er
stellt seine Arbeit bewußt in den Zusammen-
hang mit Studien von Julian Steward, Ralph
Linton und Leslie White, die sich eingehend
mit dem Verhältnis zwischen Natur und Kul-
tur beschäftigen. Taylor selbst konzentriert
sich bei seinem kulturökologischen Ansatz auf
die Begriffe ecological capacities (ökologische
Tragfähigkeiten) und ecological requirements
(ökologische Erfordernisse), mit denen er sich
dem Problem der natürlichen Umwelt als
bestimmendem Element in der Entwicklung
von Kulturen und Sozialsystemen von der
unteren und oberen Grenze des Machbaren
nähert. Das vorgelegte Material macht ersicht-
lich, daß der Entwicklung der Kultur der
Labrador-Eskimo durch die natürliche Um-
welt erhebliche Grenzen gesetzt war. Diese
ließen es lediglich zu, daß die Konzentrierung
von Menschen an bestimmten Orten nur eine
gewisse Dichte erreichte, die durch die vor-
handenen Naturprodukte begrenzt war. An-
dererseits war aber eine bestimmte Anzahl
von Menschen notwendig, um der Natur diese
Produkte, z. B. Wal, abzugewinnen. Diese
Punkte bringt Taylor in Verbindung mit der
sozialen Organisation der Eskimos, die zu
jener Zeit ein Führersystem auf der Grundlage
des „Beratenden“ oder „besten Jägers oder
Kenners“ für bestimmte Bereiche kannte. Die-
ses System konnte entstehende Konflikte zwi-
schen den erweiterten Familienverbänden bei
der vorherrschenden Wohnweise nicht aus-
schalten. Taylor kommt daher zu dem Schluß,
daß die ökologische Situation der Ausweitung
der Bevölkerung wohl natürliche Grenzen
setzte, aber die nicht-ökologischen Faktoren,
wie Sozial- und Familienstruktur, einen eben-
so starken Einfluß auf die Art der Siedlung
und Ausnutzung der Umwelt haben.
Taylors Ansatz, Ethnohistorie von der
ökologischen Seite zu sehen, Ist erfrischend und
sollte als Beispiel für die Weiterentwicklung
der kulturökologischen Richtung gesehen wer-
den, die vor allem für die Interpretationen in
der Archäologie von Bedeutung ist. Taylors
Arbeit erschien zum rechten Zeitpunkt, da die
Archäologie im arktischen und subarktischen
Nordamerika in den letzten Jahren einen
großen Aufschwung erfahren hat (vor allem
bedingt durch die Suche nach Erdöl- und Mi-
neralvorkommen, der immer eine archäologi-
sche Voruntersuchung vorausgehen soll). Diese
Arbeiten bringen Fundmaterial aus der Über-
gangsperiode zwischen Vorgeschichte und Ge-
schichte, auf die sich Taylors Buch In Ver-
bindung mit historischen Quellen bezieht.
Ludger Müller-Wille
FÜHRER und KATALOGE
Eberhard Fischer und Hans Himmelheber: Dieser Katalog wurde anläßlich einer Son-
Das Gold in der Kumt Westafrikas. Aus- dcrausstellung im Museum Rietberg veröffent-
stellungskatalog. Zürich: Museum Riet- licht. Er soll den Ausstellungsbesucher in die
berg. 1975. 68 S., 47 + 115 Abb. Thematik der Goldgewinnung und -verarbei-
224
Buchbesprechungen
tung einführen und — im zweiten Teil —
fraglos auch die Ausstellung als solche doku-
mentieren (lediglich 19 Objekte wurden nicht
abgebildet). Der Katalogteil enthält alle wich-
tigen Angaben. Man vermißt allenfalls die
Erwerbungsjahre, die sich bei privaten Leih-
gebern vielleicht nicht immer exakt ermitteln
lassen. Die Ausstellungsstücke stammen mit
einer Ausnahme von den Akan (interessant
einige Arbeiten von den Lagunenvölkern). Die
übrigen Völker Westafrikas sind lediglich
durch einen Brustschmuck der Bambara (Kat.-
Nr. 88) repräsentiert.
Bei der Einführung erfaßt lediglich der
erste, auf die Geschichte des Goldhandels be-
zogene Abschnitt Westafrika allgemein. Alle
anderen Abschnitte sind — der Quellenlage
entsprechend — ausschließlich den Akan ge-
widmet. Dort werden Goldgewinnung und
-Verwendung, die goldplattierten Herrschafts-
zcichen der Akan, die Technik des Goldplat-
ticrens, gegossene Goldobjekte und der Gold-
guß erläutert. Fast alle Abschnitte werden
durch zahlreiche Abbildungen (Feldaufnah-
men der Verfasser) veranschaulicht. Besonders
instruktiv sind die Abbildungen zur Technik
des Goldplattierens. Ganz ohne Abbildungen
bleibt leider der Abschnitt über den Goldguß.
Wenn die Fotodokumentation hier nicht ana-
log zu den anderen Abschnitten fortgeführt
werden konnte, hätte man den (wohl kaum
immer fachkundigen) Leser durch schematische
Zeichnungen mit den Stadien des Gusses in
verlorener Form vertraut machen können.
Dem interessierten Laien und den Fachleuten
bietet das Literaturverzeichnis manche Anre-
gung zur Vertiefung des Themas.
Es erhebt sich noch die Frage, ob der mit
Ausnahme des historischen Abschnittes so gut
wie ganz auf die Akan-Völker bezogene In-
halt nicht die im Titel gegebene regionale
Abgrenzung („Westafrika“) in Frage stellt.
Ein Schönheitsfehler.
Alles in allem bietet dieser Katalog dem
Besucher eine wohlfundierte und umfangrei-
che Information. Jürgen Zwernemann
Dieter Heintze und Hans-Joachim Koloss:
Bilder des Menschen in fremden Kulturen.
Beispiele aus Afrika und der Südsee. Kata-
log zur Ausstellung des Linden-Museums
Stuttgart im Württembergischen Kunstver-
ein Stuttgart (Hrsg.). 1973. 167 S., über 70
Schwarzweiß-Fotos, färb. Umschlagbild,
Zeichnungen u. Kartenskizzen.
Gehalt, Umfang und Ausstattung heben
die „Bilder des Menschen in fremden Kultu-
ren“ von dem ab, was man gewöhnlich unter
einem Ausstellungskatalog versteht. Schon seit
langem kennt man diese meist kleinformati-
gen Kataloge, die den wechselnden Ausstel-
lungen von Museen und Galerien gern beige-
geben werden, deren Vorhandensein der Be-
sucher schon fast als selbstverständlich hin-
nimmt.
Heute haben sich, je nach Möglichkeiten
und Absichten der ausstellenden Institutionen,
recht vielfältige Formen entwickelt. Ihre Un-
terschiede werden deutlich, selbst wenn nur
an drei ihrer Haupttypen erinnert wird: das
Faltblatt, den eigentlichen, „klassischen“ Aus-
stellungskatalog und die in steigendem Maße
anzutreffende Sonderpublikation aus Anlaß
einer Ausstellung. Alle diese Veröffentlichun-
gen können auf ihre eigene Weise nützlich
sein und lange über die Laufzeit der Aus-
stellung hinaus lebendig und wirksam bleiben.
Das Faltblatt hat mehr hinweisenden als
erklärenden Charakter. Es ist mehr oder we-
niger reich mit Abbildungen ausgestattet und
läuft oft neben anderen Formen von Ausstel-
lungsveröffentlichungen her.
Der Ausstellungskatalog im eigentlichen,
üblichen Sinn ist darauf eingerichtet, in die
Tasche gesteckt zu werden und den Besucher
durch die Ausstellung zu begleiten. Er enthält
die wichtigsten Informationen in Kürze: die
Exponate sind verzeichnet samt Maßen, Her-
kunft, Zeit der Entstehung und des Erwerbs,
Besitzverhältnissen, Leihgebern und kleinerer
Zusätze zur Vollständigkeit, soweit sie sich
zusamentragen ließen. Solche Kataloge sind
weniger dazu da, in einem Zuge durchgelesen
als durchgeblättert und nachgeschlagen zu
werden.
Der dritte Typ ist besonders reich an Va-
rianten. Diese Publikationen behandeln spe-
zielle Themen der Ausstellung oder deren
Grundtenor. Manchmal entsprangen sie einem
vordergründigen Streben nach Repräsentation
— aber sie müssen keineswegs besonders kost-
spielig oder umfangreich sein. Im allgemeinen
Ist ihr zentrales Anliegen die Erläuterung.
Die „Bilder des Menschen in fremden Kul-
turen“ gehören dem dritten Typ an. So wand-
Buchbesprechungen
225
lungsfähig er sich auch erwiesen hat — ver-
hältnismäßig selten wurden bisher afrikani-
sche und ozeanische Objekte (ohne zusätzliche
Objekte aus anderen Regionen) zu einer Aus-
stellung oder in einer Kunstpublikation ver-
eint. Die Gründe hierfür sind sehr komplexer
Natur, sie haben sich im Laufe der Zeit in
ihren Schwerpunkten verschoben und mögen
dahingestellt bleiben; gewiß ist, daß nicht die
große räumliche Entfernung voneinander den
Ausschlag gab, und daß sich sowohl kulturell
verbindende als auch unterscheidende Züge für
beide Regionen herausstellen lassen (cf. S. 18).
Im vorliegenden Band führen zwei Wis-
senschaftler des Linden-Museums Stuttgart die
beiden Komplexe in getrennten Beiträgen vor
(Afrika: Dr. Hans-Joachim Koloss, S. 6 bis
83; Südsee: Dr. Dieter Heintze, S. 85 bis
167). Die beiden Beiträge nehmen nicht durch
Verweise aufeinander Bezug. Das Stich- und
Schlüsselwort „Negerkunst“, das an einen der
wesentlichen Wendepunkte der europäischen
Kunst erinnert und auf S. 90 in die Betrach-
tung einbezogen wird, schlägt — äußerlich
gesehen — die fast einzige Brücke.
Für den jeweiligen Textteil stand den bei-
den Autoren nahezu die gleiche Seitenzahl
zur Verfügung, auch der für die Fotos vor-
gesehene Raum (beidseitig nutzbare Kunst-
druck-Blätter) hält sich die Waage. Für Af-
rika wurden etwas mehr Objekte als für die
Südsee im Foto vorgeführt, dafür mußte ein
Teil der fotografischen Objekte in kleinerem
Format gebracht werden. Strichzeichnungen
von Objekten finden sich nur im Südsee-Teil
des Bandes. Die Legenden zu den Fotos wer-
den durchweg auf der gegenüberliegenden
Seite, die zu den Strichzeichnungen sofort im
Anschluß gegeben. Verweise aus den Texttei-
len auf bestimmte Fotos oder von den Le-
genden zu bestimmten Stellen des Textes sind
selten.
Erfreulicherweise bringen beide Autoren
In ihren Beiträgen mehrfach zum Ausdruck,
daß eine beträchtliche Zahl ursächlich oder als
Begleitumstände mit dem außereuropäischen
Kunstschaffen in Zusammenhang stehender
Faktoren auch heute der Wissenschaft noch
nicht oder nur unzulänglich bekannt sind.
Wenngleich die Beschäftigung europäischer
Gelehrter mit der außereuropäischen Kunst
nicht ganz so spät einsetzt, wie man oft an-
nimmt, so war doch das Interesse der euro-
päischen Wissenschaft damals in der Regel
auf ganz anderes gerichtet als das, was ge-
genwärtig die ethnologische Kunstforschung
in erster Linie ins Auge faßt. Die Nachteile
und Gefahren, die dieser fragmentarische Zu-
stand des Wissens, der noch dazu von man-
cherlei Zufälligem, Ungenauem und Unsiche-
rem durchsetzt ist, im Gefolge haben kann,
liegen auf der Hand: die Geschichte der Ver-
mutungen, der Hypothesen und Theorien be-
legt es zur Genüge (cf. S. 2, 3, 12, 90). „Tat-
sächlich sind“, so wird auf S. 87 ausgeführt,
„Struktur und historische Schicksale der von
der Ethnologie untersuchten Gesellschaften zu
komplex und zu verschieden, als daß deren
ästhetische Produktionen auf einen gemein-
samen Nenner gebracht werden könnten.
Schon der Begriff Naturvölker ist der Eth-
nologie peinlich geworden, er legt eine Ein-
heitlichkeit jener Gesellschaften nahe, die nicht
vorhanden ist, ganz abgesehen von seinen
wertenden Nebenklängen.“ Es wird auf die
Notwendigkeit unvoreingenommener, ikono-
graphischer und funktionaler Analysen kon-
kreter Kunstobjekte definierter Gesellschaften
verwiesen, um bewerten zu können, „wieweit
tatsächlich die Kunst in der Religion veran-
kert ist, mit welchem Recht und in wel-
chem Umfang Begriffe der europäischen
Kunstgeschichte angewendet werden kön-
nen . . . , wieviel Gestaltungsfreiheit die
Künstler jener Gesellschaften haben und
anderes, was als Problem leicht eine pau-
schale Antwort herbeizieht“ (1). In diesem
Dilemma entscheidet sich der Autor folgen-
dermaßen: „Allgemeine Aussagen zur Kunst
der sogenannten Naturvölker sind heute nur
noch zu vertreten als in Thesenform geklei-
dete Fragen, die an das konkrete Material zu
stellen sind. Ansonsten muß die Kunstethno-
logie sich, um allgemeine Auskunft gebeten,
mit Aufzählungen dessen begnügen, was
manchmal, häufig oder in der Regel der Fall
ist“. Hier könnte man — um lediglich bei
der angeschnittenen Problematik zu bleiben
— hinzufügen, daß die Einschätzung der
Quantitätsverhältnisse, besonders wenn nur
eine kleine Zahl von Fällen bekanntgewor-
den ist, keineswegs immer ein einfaches Un-
terfangen darstellt.
In beiden Beiträgen bringen die behan-
delten Themen zwanglos immer wieder die
Dimension Zeit ins Spiel (2). Aber obwohl
die Bedeutung der Zeitperspektive mehrfach
anklingt und auch fallweise betont wird,
15
226
Buchbesprechungen
kommt sie doch — mit Ausnahme der Ka-
pitel, die unmittelbar geschichtliche Vorgän-
ge betreffen (z. B. S. 88 bis 91, 102 bis 103),
— meines Erachtens nicht recht zum Tragen.
Zudem werden geschichtliche Vorgänge in oder
vor der Frühzeit des Kolonialismus kaum be-
rührt; auf C14-Untersuchungen, spektrogra-
phische Analysen und ähnliche physikalisch-
chemische Methoden, wie auch z. B. auf die
Nok-Kultur, wird nicht eingegangen.
Ist diese Zurückhaltung, die z. T. auch
den Verzicht auf eine vergleichende und ver-
gleichend-historische Sicht einschließt, Absicht?
Etwa gemäß der Vorsichtsregel, nach der eine
historische Analyse nur erfolgreich sein kön-
ne, wenn die Struktur des zu Untersuchen-
den genauestens bekannt ist? Oder aus Sor-
ge, die Darlegung andernfalls über das rein
Faktische hinaus mit Hypothesen und Theo-
rien überlasten zu müssen?
Aber vielleicht bringen gerade diese Zu-
rückhaltung und dieser Verzicht es mit sich,
daß manches dem Leser schwerer verständ-
lich wird, daß er manches mißverstehen kann.
So, wenn z. B. auf S. 8 festgestellt wird:
„Oft kannten die Gesellschaften, in denen
Forscher arbeiteten, nicht einmal den Be-
griff der »Kunst«“, ohne daß daran erinnert
wird, wie auch in Europa solche Begriffe
(samt den entsprechenden Wertbildungen) sich
erst in einem komplizierten, keineswegs schnell
und geradlinig verlaufenden Prozeß und in
Abhängigkeit von der konkreten Geschichte
der betreffenden Gesellschaften entwickelten
(3). Dieser Zurückhaltung gegenüber schei-
nen mir Wünsche, die an anderen Stellen des
Bandes offenbleiben, verhältnismäßig weni-
ger Ins Gewicht zu fallen. Oft hat man, zu-
gespitzt ausgedrückt, den Vergleich eine der
Wurzeln der Wissenschaft genannt — eben-
so könnte man ganz allgemein sagen, daß
der Vergleich das lebendige Verstehen zu ver-
mitteln vermag: die Literatur aller Zeiten
und Völker, und in besonderem Maße die
philosophische und didaktische Literatur, hat
sich mit großer Vorliebe des Vergleichs in sei-
nen verschiedenen Formen bis hin zum Gleich-
nis bedient.
Doch fehlt es im vorliegenden Bande nicht
an Passagen, wo möglichen Mißverständnis-
sen Schranken gesetzt werden. Kurz ein Hin-
weis auf wenigstens zwei von ihnen.
Die Bezeichnung der schon in früherer
Zeit weitverbreiteten und auch im alten Benin
angewandten Gußverfahren als „Guß in ver-
lorener Form“ (S. 8) ist nicht glücklich (4).
Die Möglichkeit des Verwechselns wird vom
Autor dadurch eingeschränkt, daß er das von
ihm gemeinte Verfahren in einigen Einzel-
zügen beschreibt. Die Bezeichnung „Rundpla-
stik“ (S. 16), die In die völkerkundliche Fach-
sprache gelangt ist, um Unterschiede zur
„Pfahlplastik aufzuzeigen, kann ebenfalls zu
Verwechslungen führen: sie tritt in der Kunst-
wissenschaft als Synonym für „Vollplastik“
auf. Auch hier klärt der Autor durch eini-
ge anschließende Erläuterungen den Sachver-
halt.
Gewiß — der Raum, der für die beiden
Beiträge zur Verfügung steht, ist knapp. Den-
noch lassen beide Autoren nicht nur erken-
nen, was sie für am meisten mitteilenswert
hielten, sondern auch, wieviel unter diesen
Umständen an Wissenswertem mitgeteilt wer-
den kann. Dabei kommt auch manches kri-
tisch zur Sprache, was als Erbe der Kolo-
nialzeit in Wissenschaft und Bildungsbürger-
tum an falschen und schädlichen Meinungen
und Vorstellungen fortlebt. Schon bei wahl-
losem Aufschlagen des Bandes verraten die
Überschriften der größeren und kleineren Ka-
pitel eine breite Skala von Informationen,
die kurz umrissen oder näher behandelt wer-
den: „Zur afrikanischen Ästhetik“, „Unnatür-
liche Proportionen“, „Der afrikanische Künst-
ler“, „Zweckgebundenheit der afrikanischen
Kunst und »Part pour l’art«“ oder, im Süd-
see-Teil, außer den schon erwähnten Über-
schriften, „Die Lesbarkeit der Bilder“, „Be-
deutung und Funktion der ozeanischen Kunst-
werke“ und anderes mehr. Aber auch die Ab-
bildungen erfordern Beachtung. Nicht selten
sind Bilder das erste, das den zukünftigen
Leser eines Buches gefangennimmt.
Mir haben die Fotos von Ursula Didoni
(LInden-Museum Stuttgart) Freude gemacht,
die sie von Objekten aus den Beständen des
Linden-Museums und aus der Sammlung
Hans Himmelheber (Heidelberg) aufgenom-
men hat. Sie nehmen von Effekthascherei Ab-
stand und sind auch in vielen Details zu-
verlässig. Die Zeichnerin Angelika Zühmen-
dorf stand von vornherein vor weniger dank-
baren Aufgaben; auch bei ihr ist das Bemü-
hen um Werktreue unverkennbar.
Wird der vorliegende Band seiner Auf-
gabe gerecht, das Verständnis für afrikani-
sche Menschen und Menschen der Südsee an-
Buchbesprechungen
227
zubahnen und zu vertiefen, aus deren Hän-
den neben tausend kleinen und großen, le-
bensnotwendigen und entbehrlichen Dingen
auch erstaunliche Zeugnisse künstlerischer
Schöpferkraft hervorgingen? Ein gewichtiges
Wort, vielleicht das entscheidende, hat dazu
der große Kreis der potentiellen Leser zu
sprechen, an den sich das Buch wendet. Aber
wie genau kennen wir tatsächlich diese Leser-
schaft, die sich aus so unterschiedlichen soge-
nannten „Laien“ mit nicht minder unter-
schiedlichen Erwartungen zusammensetzt?
Was wissen wir davon, was der Leser eines
solchen Bandes an Lragen in erster Linie be-
antwortet sehen möchte (5), was sich in ihm,
bevor er zum Buch greift, an Fragen bereits
gespeichert hatte, welche anderen beim Lesen
in ihm geweckt werden, was In ihm aufbe-
wahrt bleiben wird und über was er auch
später noch nachdenkt?
Das Vorwort des Bandes erinnert an die
frühere Zusammenarbeit des Linden-Museums
Stuttgart mit dem Württembergischen Kunst-
verein Stuttgart (Indische Kunst, 1966). Die
Kooperation bei der Ausstellung afrikani-
scher und ozeanischer Kunst ist als Beginn
einer neuen Folge gemeinschaftlicher Aus-
stellungen gedacht. Die zunächst ins Auge
gefaßten weiteren Ausstellungsvorhaben wur-
den Im Vorwort noch nicht bekanntgegeben.
Es ist zu hoffen, daß gezielte Überlegungen
bestehen, nicht allein den zukünftigen Aus-
stellungen, sondern auch deren Niederschlag
in Publikationen eine entsprechende Effekti-
vität zu sichern.
(1) Cf. aber z. B. S. 7, wo mitgeteilt wird,
daß man in „der Kunstwissenschaft... bis
zu zweihundert verschiedene afrikanische Stil-
provinzen gezählt“ habe, daß es aber „selbst
bei großen Unterschieden gemeinsame, spezi-
fisch afrikanische Züge“ gäbe; verschieden sei
„bei den einzelnen Stämmen . . . nur das Vor-
kommen bestimmter, typologisch faßbarer
Motive und deren jeweilige gestalterische In-
tensität“.
(2) Cf. Herta Haselberger: Kunstethnolo-
gie. Wien—München 1969, S. 9 (sowie die
Rezension in „Tribus“ 19, 1970, S. 161—163
von Eberhard Fischer) und „Current An-
thropology“ 2, No. 4, 1961, S. 341—384 (ein-
schließlich der Diskussion) als ein instrukti-
ves Beispiel zur breiten Skala der Meinun-
gen.
(3) Um im Bereich der Kunst zu bleiben: Aus
jedem größeren Lexikon ist zu erfahren, was
man im Altertum z. B. unter den „freien
Künsten“ verstand, nämlich Fertigkeiten,
Kenntnisse und Wissenschaften, die dem Frei-
en als angemessen erachtet wurden. Plastik,
Malerei wie auch Architektur fielen nicht dar-
unter. Erst im 18. und 19. Jh. begann man
in Europa Bildnerei, Malerei und Grafik als
„freie Künste“ im Unterschied zur „ange-
wandten Kunst“ zu bezeichnen. Cf. auch
Frans van Veen: Sozialgeschichte der Ar-
beit, München 1971, Bd. 1, Kap. 7 zur Be-
wertung handwerklicher Arbeit durch den
jüngeren Seneca; G. Zinserling: Abriß der
griechischen und römischen Kunst, Leipzig
1972, S. 118 zum Begriff des Banausen; R.
Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittel-
alter, Köln 1963, Кар. I, 2 zum mittelalter-
lichen und neuzeitlichen Kunstbegriff / artes
liberales und artes mechanicae S. 18 ff. —
Bemerkenswert Ist der Einfluß von Kunst-
zentren (im Altertum z. B. Athen, Rom, spä-
ter Byzanz u. a.) auf das soziale Ansehen
des Künstlers und die Beachtung seines Na-
mens.
(4) „Guß in verlorener Form“ ist kein in je-
der Hinsicht sinngleicher Ausdruck für Circe
perdue- bzw. Wachsschmelzverfahren: das
eine Mal ist die Rede von jener Form, die
das Gußstück schon während seines Erstar-
rens zu begrenzen hat, das andere Mal
vom Wachs als Ausschmelz-Substanz. Im er-
sten Fall bestehen Verwechslungsmöglichkei-
ten mit ganz anders gearteten Verfahren, die
z. T. in der heutigen Industrie viel angewen-
det werden und bei denen man ebenfalls da-
von sprechen könnte, daß die Form nicht
bestehen bleibt bzw. verlorengeht. Wollte
man eine völlig korrekte Bezeichnung wäh-
len, so reichen schon für die Gußverfahren,
die allein aus Nigeria bekannt wurden,
Ausdrücke wie Circe perdue- bzw. „Wachs-
ausschmelzverfahren“ nicht ganz aus. Hier
können an die Stelle von Bienenwachs auch la-
texartige Substanzen treten — abgesehen von
einfacheren Methoden, bei denen überhaupt
keine Materialien in Anwendung kommen,
die beim Eingießen des flüssigen Metalls oder
vorher ausgeschmolzen oder auf andere Wei-
se entfernt werden bzw. verlorengehen. Über
die Gußverfahren, die in Völkerkunde und
Archäologie eine Rolle spielen, cf. z. В. H.
Beelte: Das Wachsausschmelzverfahren. Eine
228
Buchbesprechungen
Determination. Baessler-Archiv 33 (N. F. 8)
1960, S. 235—246.
(5) Besonders bei Diskussionen und nach Vor-
trägen habe ich jede Gelegenheit zu nutzen
versucht, darüber Näheres zu erfahren. Man
kann viel und vieles dabei lernen — unter
anderem auch, daß es manchmal sehr schwer
ist, sich gegenseitig verständlich auszudrücken
oder Mißverständnissen vorzubeugen, und
daß der wirklich treffende Ausdruck, der die
Sachlage schlagartig erhellt, oft nicht der kon-
zentriert korrekte, sondern der entspannte,
gelockerte ist. Siegfried Wolf
Klaus Joachim Brandt:
China — Bronzen und Keramik. Ausstel-
lungskatalog. Linden-Museum Stuttgart,
Staatl. Museum für Völkerkunde. 1975.
96 S., 1 Karte, 186 Fotos, 2 Farbahb., 1
Zeichn.
Eberhard Fischer und Jyotindra Jain:
Kunst und Religion in Indien — 2500
Jahre Jainismus. Ausstellungskatalog.
Museum Rietberg Zürich und Museum für
Völkerkunde Basel. 1974/75. 71 S., 270
Fotos.
Helmut Brinker:
Das Gold in der Kunst Ostasiens. Ausstel-
lungskatalog. Museum Rietberg Zürich.
1974/75. 72 S., 80 Fotos.
Von einem Ausstellungskatalog erwartet
der Leser zweierlei: Zuerst einmal soll er ein
Führer durch die Ausstellung sein, zu der er
geschrieben wurde. Er soll die ausgestellten
Gegenstände und Bilder — zusätzlich zu der
Beschriftung an den Objekten — erklären
und dazu eine Einführung geben in das The-
ma dieser Schau. Darüber hinaus wünscht der-
jenige, der ein solches Buch für seine Biblio-
thek erwirbt, sei er nun Fachmann oder Laie,
daß auch nach Jahren noch Abbildungen und
Text gemeinsam ein anschauliches Bild ver-
mitteln von dem Gebiet, das die Ausstellung
behandelt. Auf wie verschiedene Weise ein
Katalog diesen Anforderungen gerecht oder
auch weniger gerecht werden kann, läßt sich
an den hier zu besprechenden beobachten.
Die China-Ausstellung des Linden-Mu-
seums wurde von dem Ostasien-Kurator des
Museums, Klaus J. Brandt, eingerichtet und
katalogmäßig bearbeitet. Sie zeigte — dem
Untertitel „Bronzen und Keramik“ entspre-
chend — in drei Abteilungen 1. Bronzen, d.
h. archaische Kultgefäße aus Bronze, 2. Grab-
keramik, d. h. Urnen und figürliche Grabbei-
gaben, und 3. Keramik der T’ang- bis Ming-
Zeit, d. h. vorwiegend Gefäße des täglichen
Gebrauchs. Der Katalog erfüllt die Aufgabe,
die ausgestellten Objekte zu erläutern, in vor-
bildlicher Weise: Den exakten Angaben über
Material, Format, Zustand (z. B. Patina der
Bronzen), Entstehungszeit folgt eine ausführ-
liche Beschreibung des Stückes, ergänzt am
Schluß durch Hinweise auf Vergleichsbeispiele
in anderen Sammlungen. Die Einführungen
zu jedem der drei Kapitel geben jeweils ei-
nen knappen, flüssig geschriebenen Überblick
über das entsprechende Gebiet, wobei erfreu-
licherweise immer wieder auf die ausgestell-
ten Werke Bezug genommen wird. Besonders
anzuerkennen ist, daß Brandt die Techni-
ken, sowohl des Bronzegußes als auch der
Keramikglasuren, ausführlich und genau be-
schreibt.
Nachdem nun die Ausstellung vorüber ist,
erscheint der Katalog als eine gute Einfüh-
rung in die Welt der archaischen Bronzen
Chinas und der chinesischen Keramik. Eine
Zeittafel zur chinesischen Geschichte und eine
klare Übersichtskarte der Provinzen Chinas
und der wichtigsten Fundstätten ergänzen die-
se Funktion. Nur: ergibt sich nicht dem un-
befangenen Leser leicht ein etwas schiefes, weil
unvollständiges Bild, wenn er nach der Lek-
türe der Einführungskapitel glauben kann,
diese Werke des Linden-Museums Stuttgart
spiegelten das ganze jeweilige Gebiet der chi-
nesischen Kunst wider? Es hätte zu Beginn
des Textes, besser schon im Titel des Kata-
logs und der Ausstellung, klar gesagt werden
sollen, was man aus dem Vorwort des Mu-
seumsdirektors hcrauslesen kann, daß es sich
um Neuerwerbungen der letzten Jahre han-
delt. Dann wird verständlich, daß zwar viele
Gebiete der chinesischen Bronzen und Kera-
mik gut vertreten sind, andere aber, z. B. vie-
le Typen der Shang-Bronzen oder T’ang- und
Sung-Keramik, ganz fehlen.
Ging diese China-Ausstellung des Linden-
Museums Stuttgart von einer bestimmten
Gruppe vorhandener Objekte aus, die kunst-
historisch zu erläutern und in einen größeren
Rahmen zu stellen waren — wobei dieser
Buchbesprechungen
229
Rahmen ein hinreichend erschlossenes Gebiet
der chinesischen Kunstgeschichte ist —, so wa-
ren der Ausstellung „Kunst und Religion in
Indien — 2500 Jahre Jainismus“ und ihrem
Katalog ganz andere Aufgaben gestellt. Ein
bisher noch wenig bearbeitetes Gebiet der in-
dischen Religions- und Kunstgeschichte wurde
von ethnologischen Fachleuten neu angegan-
gen. Dabei war es die Absicht der Ausstel-
lung, die vom Museum Rietberg in Zürich in
das Völkerkundemuseum Basel und weiter
nach Wien wanderte, mit einer beschränkten
Auswahl von Kunstwerken und einer Men-
ge ergänzender Fotografien den Jainismus do-
kumentarisch vorzustellen, und der Katalog
hatte ergänzend die Funktion, diese alte Re-
ligion in Wort und Bild von allen Seiten zu
beleuchten und bekanntzumachen.
Anlaß für die Ausstellung war der zwei-
tausendfünfhundertste Todestag des letzten
Patriarchen des Jaina-Glaubens, Mahävira,
den man ab 1974 in Indien feierte. Der Eth-
nologe Eberhard Fischer, Direktor des Rict-
berg-Museums, und der Religionswissenschaft-
ler Jyotindra Jain haben diese Ausstellung
seit 1972 in Indien vorbereitet, vor allem ei-
ne große Zahl jainistischer Feste und kulti-
scher Bräuche fotografiert und aufgezeichnet.
Das Ergebnis ist ein eindrucksvolles, vielsei-
tiges Bild dieser uns so fernen und weitge-
hend unbekannten indischen Glaubensrich-
tung.
Jaina heißt auf Sanskrit Sieger und ist ein
Ehrentitel für die Heiligen dieser Religion,
die — in verschiedene Sekten gespalten —
heute noch in mehreren Gegenden Indiens ver-
breitet ist. Das Leben in den jainistischen
Laiengemeinden ist nach strengen Vorschrif-
ten geregelt: Man lehnt das Töten und den
Fleischgenuß ab und bevorzugt sitzende Be-
rufe, weil bei jeder Bewegung Lebewesen zu
Schaden kommen können. Dadurch haben sich
die Jaina besonders in Nordindien Monopole
in Handel und Industrie und zum Teil er-
hebliche Rcichtümer erworben. Die in streng-
ster Askese und Selbstdisziplin lebenden Mön-
che teilen sich in die In weiße Tücher Gehüll-
ten und in die „Luftgekleidetcn“, die selbst
auf das letzte Standeszeichen, das Schamtuch,
verzichten und vollständig nackt umherwan-
dern. Ungeheuer beeindruckend sind die Bil-
der der ausgezehrten, alten Mönchsgestalten,
die das Essen nur stehend einnehmen dürfen.
Wenn die Zeit zum Sterben gekommen ist,
machen sie Ihrem Leben durch konsequentes
Fasten bewußt ein Ende.
Der Titel des Katalogs „Kunst und Reli-
gion in Indien“ mit dem Untertitel „2500
Jahre Jainismus“ weckt die Vorstellung, die-
se Ausstellung stehe in einer Reihe von Do-
kumentationen verschiedener indischer Reli-
gionen. Davon aber sagt der Katalog nichts.
„Religion und Kunst des Jainismus“ wür-
de vielleicht den Gehalt von Ausstellung und
Katalog besser treffen. Von den 270 Abbil-
dungen des Katalogs zeigen nur etwa die
Hälfte Werke der Kunst, von denen nur we-
nige in der Ausstellung zu sehen sind. Der
zweite Teil der Abbildungen sowie der größ-
te Teil des Textes ist dem Leben, den Festen
und Bräuchen der verschiedenen jainistischen
Religionsgemeinschaften gewidmet. Was ei-
gentlich das Typische der Jaina-Kunst ist, ist
schwer zu sagen. In den Tempeln und Ihren
Schmuckformen lehnt sie sich eng an hindui-
stischc und buddhistische Vorbilder an. Ein-
zigartig sind die großartigen stehenden oder
auch in Meditation sitzenden Skulpturen der
nackten Heiligen, die in ihrer strengen Fron-
talität einen seltsamen Gegensatz bilden zu
den fülligen, bewegten weiblichen Figuren,
die auch die Jaina-Tempel schmücken. Inter-
essant erscheinen ferner kleinere Holzskulp-
turen von Götterwesen, Kleinbronzen der sit-
zenden Patriarchen und besonders die soge-
nannten „Verehrungsbilder“, mandalaartige,
gemalte Konfigurationen (z. B. das „religiö-
se Diagramm" auf dem Umschlag des Kata-
logs); leider werden sie nicht näher erläutert.
So wird dieser Katalog bei all seinem
dokumentarischen Wert seiner Aufgabe als
Führer durch die Ausstellung nicht ganz ge-
recht. Viele der ausgestellten Gegenstände, die
alle keine Nummern tragen, sind im Katalog
überhaupt nicht erwähnt, so z. B. die große
Skulptur gleich am Eingang, Tirthankara in
Meditation aus dem Rietberg-Muscum. Da-
gegen sind zahlreiche abgebildete Werke gar
nicht in der Ausstellung zu sehen, sondern
nur als Ergänzung zu verstehen. Es wird
nicht deutlich genug unterschieden zwischen
ausgestellten und nicht ausgestellten Objek-
ten. Daß alle Maßangaben fehlen, ist weiter-
hin bedauerlich. Solche Kritiken sprechen aber
nicht gegen die gründliche und umfassende
dokumentarische Arbeit, für die wir den bei-
den jungen Wissenschaftlern sehr dankbar sein
müssen. Das knappe Literaturverzeichnis
230
Buchbesprechungen
zeigt, wie wenig bisher über dieses Gebiet in-
discher Frömmigkeit veröffentlicht worden
ist, dessen Kunst noch immer ein Forschungs-
desiderat für den Kunsthistoriker bleibt.
Zur Eröffnung der neuen Ausstellungs-
räume des Museums Rietbcrg in Zürich im
Dezember 1971 hat sich der Ostasien-Kura-
tor Helmut Brxnker etwas Besonderes ein-
fallen lassen. Die Schau „Das Gold in der
Kunst Ostasiens“ soll eine Reihe von Ausstel-
lungen einleiten, die zeigen werden, welche
Rolle das Gold, dies edelste aller Metalle, in
verschiedenen Kulturen spielt. Der Katalog
dieser ersten Ausstellung mit Werken aus
China, Korea und Japan wurde Dietrich
Seckel gewidmet, Brinkers Lehrer an der
Universität Heidelberg, der als erster in meh-
reren Aufsätzen das Thema „Gold“ in ver-
schiedenen Gebieten der fernöstlichen Kunst
behandelt hat. In sieben Kapiteln, den Ab-
teilungen der Ausstellung entsprechend, stellt
Brinker die vielfältigen Möglichkeiten vor,
die es für die Verwendung des Goldes in der
ostasiatischen Kunstgeschichte gegeben hat. Als
frühestes gibt es in der Goldschmiedekunst des
Bronzezeitalters Feuervergoldung und Einla-
getechniken an Bronzegefäßen und Schmuck-
stücken. Dazu treten in der zweiten Periode,
der Kunst der Han- bis T’ang-Zeit, Granu-
lation, Punzier- und Graviertechniken, wobei
vielleicht die wichtige Rolle Koreas stärker
hätte betont werden sollen. Der dritte Ab-
schnitt behandelt die buddhistische Plastik im
Glanz des Goldes: Die aus Bronze, Holz
oder Trockenlack gearbeiteten Gestalten des
buddhistischen Pantheon wurden ganz oder
teilweise vergoldet. „Das Gold in der Sakral-
malerei Ostasiens“ heißt der vierte Abschnitt,
der sich ebenfalls mit der Sphäre des Buddhis-
mus befaßt. Goldfarbe, Blattgold und Schnitt-
gold wurden verwendet, um den gemalten
Heilsgestalten auf Hänge- und Querrollen
oder auch Titelbildern von Sütren sakrale
Weihe zu verleihen. Hat das Gold in diesen
vier ersten Bereichen an den Kultbronzen so-
wie im buddhistischen Zusammenhang mehr
oder weniger sakrale Funktion, so wird in
den letzten drei Abschnitten die dekorative
Verwendung des Goldes in der profanen
Kunst dokumentiert. In den chinesischen Fä-
cherbildern der Ming- und Ch’ing-Zcit wer-
den Landschaften und auch Schriftzeichen mit
Tusche auf goldgefärbtes Papier gesetzt —
eine Geschmacksrichtung, die ohne Einfluß aus
der dekorativen Kunst Japans kaum zu den-
ken ist. Die japanische Profanmalerei verziert
vorwiegend Stellschirme und Schiebetüren mit
Blattgold oder Streugold als Hintergrund für
die dann oft starkfarbige Malerei. Aus dem
späteren ostasiatischen Kunsthandwerk zeigt
die Ausstellung in ihrer letzten Abteilung die
Techniken des japanischen Goldlacks sowie
Tauschierung und Plattierung mit Gold an
Metallarbeiten, z. B. Schwertstichblättern;
schließlich auch Goldmalerei auf Porzellan
und — als interessanten Schlußpunkt — Gold-
lack zum Flicken kostbarer Keramik.
Alle Abteilungen waren in der Ausstellung
mit zum Teil wenig bekannten Beispielen
aus dem Museum Rietberg und aus Schweizer
Privatsammlungen einleuchtend vertreten, so
daß in den beiden neuen, mit Rokkoko-Stuck
verzierten Räumen eine reizvolle, goldfun-
kelnde Schau zu sehen war. Der Katalog bil-
det alle numerierten Stücke ab und beschreibt
sie kurz. Zu jeder Abteilung gibt es eine aus-
führliche Einleitung, in der zahlreiche Hin-
weise auf nicht ausgestellte Stücke vielleicht
dem Laien das Lesen etwas erschweren. Be-
sonders erfreulich ist auch an diesem Kata-
log, daß alle die verschiedenen und dem Eu-
ropäer oft fremden Techniken exakt und auch
dem Nichtfachmann verständlich erklärt wer-
den — eine Übung, der sich Kunsthistoriker
früherer Generationen meist nicht genügend
gewidmet haben. In der Einleitung weist der
Autor auf die reiche symbolische, metaphysi-
sche Bedeutung des Goldes in der Kultur Ost-
asiens hin. „Reines Gold verändert nicht sei-
ne Farbe“ — dieser Spruch eines Zen-Meisters
erfaßt sowohl den materiellen als auch den
ideellen Wert, den dieses Metall seit eh und
je für die Menschheit gehabt hat.
Gisela Armbruster
Helmut Brinker:
Bronzen aus dem alten China. Ausstel-
lungskatalog. Museum Rietberg Zürich.
1975. 167 S., 135 Fotos.
Der vorliegende Katalog füllt eine Lücke,
die seit Jahren in der Literatur zur chinesi-
schen Archäologie klafft. Es gibt für den an
frühen chinesischen Bronzen interessierten
Laien kein einführendes, nur diesem Thema
gewidmetes Werk neueren Datums. (W. Wat-
sons vorzügliches Buch „Ancicnt Chinese
Buchbesprechungen
231
Bronzes“ hat seinen Wert nicht verloren; es
haben aber seit seinem Erscheinen 1962 neue
Funde zu neuen Erkenntnissen geführt.) Im-
mer sind es nur Kataloge von Museen, Pri-
vatsammlungen und Ausstellungen, die Wis-
sen über die Kunst der Bronzen vermitteln.
Sie mehren vor allem den Bestand der be-
kannten Denkmäler. Forschungen zu Einzel-
fragen finden in Fachzeitschriften ihren Nie-
derschlag. Es ist darum zu begrüßen, daß
Helmut Brinker den Rahmen für seinen Ka-
talog der Züricher Ausstellung weit gespannt
hat und ihn mit einleitenden Kapiteln versah,
die alle grundlegenden Tatsachen nach dem
neuesten Stand der Forschung in knapper, gut
formulierter und dem Laien nicht unverständ-
licher Form enthalten.
Klar und übersichtlich ist die Shang- und
Chou-Chronologie und die Darstellung ihrer
Probleme. Sehr lebendig ist das Kapitel über
die Ausgrabungstätigkeit unseres Jahrhunderts
geschrieben. Es folgen Exkurse über Sammeln
und Sammlungen, über Inschriften — hier ist
eine kurze Zusammenfassung besonders will-
kommen —, über Technik (mit guten Illustra-
tionen) und ein Formen- und Dekorvokabu-
lar. Dies letzte Kapitel ist so gut gelungen,
wie es in einer kurzen Abhandlung so zahl-
reicher Motive überhaupt möglich ist. Brin-
ker stellt keine phantasievollen Theorien auf;
er verheimlicht nicht die Lücken unseres Wis-
sens. Er resümiert das Beweisbare und Sicht-
bare. Seine Beschreibungen legen Zeugnis ab
für sein geschultes Auge. Er verweist die vie-
len Theorien über den Sinngehalt auf den
ihnen zukommenden Platz der Spekulatio-
nen, ohne sie zu verdammen.
Der Katalogteil ergänzt die in der Ein-
führung zusammengcstellten Fakten in einer
Weise, die dem Betrachter und Leser zusätz-
lich fundiertes Wissen vermitteln. Die Anzahl,
Variationsbreite und Qualität der ausgestell-
ten Bronzen aus Schweizer Sammlungen er-
möglicht Brinker die Abhandlung vieler Spe-
zialfragen. Nur wenige Formen und Schmuck-
motive sind nicht vertreten. Nach der von
Max Loehr, dem diese Arbeit gewidmet ist,
mit Erfolg angewandten Methode, durch gut
dokumentierte Vergleiche mit ähnlichen Stük-
ken zu einer Datierung zu gelangen, legt
Brinker jede Bronze in einen Zeitraum von
ein bis zwei Jahrhunderten mit überzeugen-
den Argumenten fest. Da die ausgestellten
Gegenstände im Katalog nicht chronologisch,
sondern nach Formgruppen geordnet sind, voll-
zieht sich innerhalb jeder dieser Reihungen —
anschaulich sich wiederholend — der Ablauf
des Stilwandels.
Die im folgenden vorgebrachten Bedenken
an einigen Textstellen betreffen nicht die we-
sentlichen Informationen, an denen der Ka-
talog so reich ist.
S. 24: Das T’ao-t’ieh als „aggressiv“ zu
bezeichnen, heißt, den Beschauer auf eine Deu-
tungsweise festzulegen. Gerade dies will Brin-
ker — mit Recht — vermeiden (vgl. auch
Nr. 10: „Monstermaske“). S. 24 wird die oft
vorgebrachte Meinung, dem T’ao-t’ieh fehle
der Unterkiefer, bekräftigt. M. E. hat jedes
T’ao-t’ieh einen Unterkiefer, der allerdings
in den meisten Fällen, ebenso wie der Kör-
per des von Karlgren „bodied“ genannten
T’ao-t’ieh, gespalten ist und dessen zwei Hälf-
ten zu beiden Seiten des Maules erscheinen.
In der Benennung unterschiedlicher Dra-
chen hält sich Brinker nicht immer an das im
Eingangskapitel vorgelegte Vokabular. Dort
wird eine in Abb. 18 gezeigte Spezies richtig
als Vogeldrachen bezeichnet; dieselbe wird
aber bei den Nummern 1, 6, 19, 25 mit dem
Namen K’uei belegt. Abb. 19 trägt die Unter-
schrift „Schlangendrache“, zeigt aber einen
K’uei. Er ist an seinem einen Bein erkenn-
bar. Wenn man diesen nicht aus der Shang-
Zeit stammenden Namen in die Terminolo-
gie aufnimmt, so kann er nur einbeinigen
Drachen gegeben werden. Hierbei bleibt die
Tatsache, daß in der Profilansicht stets das
Bein einer Körperseite das ihm auf der an-
deren Seite entsprechende verdeckt, unberück-
sichtigt. Abb. 13 zeigt zwei „verschiedene For-
men des K’uei-Drachen“. Dies ist nur vertret-
bar, wenn man einen der das Körperband
schmückenden Haken als Band ansieht. Wenn
man dies ablehnt, handelt es sich um Schlan-
gendrachen, zu denen dagegen Abb. 19 trotz
seiner Unterschrift wegen des unmißverständ-
lichen Beines nicht gehört. Dieselbe Frage
müßte in den Beschreibungen von Nr. 2, 3
und 15 geklärt werden. Auf keinen Fall kann
man von „Hinterbeinen“ sprechen (Nr. 16),
denn das Merkmal des K’uei ist ein Bein.
Dies ist auf dem Fang I Nr. 24 dcutlidi zu
sehen; die Bezeichnung K’uei ist hier richtig;
die Drachen auf dem Fuß sind aber nicht
eine „andere Spezies“, sondern K’uei, die sich
in ein engeres Bildfeld schicken müssen. No.
42: Es ist überflüssig, Drachen als „im Profil
232
Buchbesprechungen
gegeben“ zu beschreiben, denn die Profilan-
sicht ist charakteristisch für alle Drachen; al-
lein die wenigen Ausnahmen verdienen Er-
wähnung. Die Drachen auf dem Fuß des Tsun
gehören einer selteneren Spezies an, die man
Rüsseldrachen nennen kann. Oberhalb der
Mittelzone und in den schildförmigen Flächen
darüber weisen sich die Drachen durch Schna-
bel und Krallenfuß eindeutig als Vogeldra-
chen aus.
Die Beine der Ting Nr. 2 und 5 als „Röh-
renbeine“ zu kennzeichnen, ist etwas irrefüh-
rend, da sie nicht hohl, sondern massiv sind;
„zylindrisch“ (Nr. 1) ist zutreffend.
Nr. 6 und 13: Der Terminus „Bogenseh-
ne“ sollte dem selbständigen Motiv Vorbehal-
ten bleiben, also nicht für die horizontale
Begrenzung der Schmuckzonen gebraucht wer-
den.
Nr. 16 und 18: Ein „wappenschildförmi-
ges“ Element kann verständlicher als die ur-
sprüngliche, hier isolierte Form von Stirnschild
und Nase eines T’ao-t’ieh beschrieben werden.
Nr. 60 und 62: Die zwei Lampen mit hoch-
klappbarem Halbdeckel können nicht in der
geschilderten Weise funktionieren. Würde der
Docht aus der mit öl gefüllten oberen Schale
herabhängen und an seinem unteren Ende
angezündet, so würde eine schnell hochschie-
ßende Flamme das gesamte öl im Docht und
in der Schale erhitzen und verzehren. Vielmehr
enthielt die untere Schale das öl; ein Ende des
Dochts war hineingetaucht, das andere an
dem Dorn im hochgeklappten Deckel befe-
stigt. Nur dies obere Dochtende brannte in
kleiner, steter Flamme, weil der Docht das öl
hochsog und auf dem Weg über den Metall-
rand so kühl hielt, daß eine weitere Ausbrei-
tung des Feuers nicht möglich war. Denn nur
erwärmtes öl brennt. Zudem faßt der flache
Deckel, besonders von Nr. 62, viel zu wenig
öl. Wenn man — wie im Text geschildert —
durch Zuklappen des Deckels das öl in die
untere Schale abgießen wollte, müßte man
mit Schrecken Zusehen, wie cs außerhalb des
Schalenrandes abfließt, da man den hochlie-
genden Drehpunkt nicht berücksichtigt hätte.
Die hier kritisierten Punkte wiegen nicht
schwer genug, um den Wert des Katalogs zu
mindern. Sie wurden aufgezählt im Interesse
einer einheitlichen und verständlichen Be-
schreibung. Unseren gesicherten Kenntnissen
stehen immer noch eine Fülle von Unsicher-
heiten gegenüber, die zur Aufstellung von
Hypothesen verleiten. Dieser Versuchung hat
Brinker möglichst nicht nachgegeben. Sein
Katalog kann darum über die Dauer der Aus-
stellung und über den Kreis der beschriebe-
nen Bronzen hinaus gültige Informationen
vermitteln. Eleanor v. Erdberg
Wolfgang Haberland:
Das gaben sie uns — Indianer und Eskimo
als Erfinder und Entdecker. Wegweiser zur
Völkerkunde, Heft 17. Hamburg: Ham-
burgisches Museum für Völkerkunde. 1975.
62 S., 8 Abb.-Taf., 23 Zeichn i. T.
Dieses Heft 17 der Reihe „Wegweiser zur
Völkerkunde“ des Hamburgischen Museums
für Völkerkunde gehört zu den Veröffentli-
chungen, die längst überfällig waren. Doch
nicht nur aus diesem (wissenschaftlichen)
Grund ist diese Zusammenstellung indiani-
scher Erfindungen und Entdeckungen zu be-
grüßen, sondern insbesondere auch deshalb,
weil sie über die Hamburger Ausstellung glei-
chen Titels (1975/76) hinaus dazu beitragen
wird, die noch weitverbreitete Vorstellung
vom „Indianer“ als dem federgeschmückten
Wilden zu korrigieren. Neben den Erfindun-
gen der Indianer werden auch diejenigen der
Eskimo (es ist zu wünschen, daß sich auch
bei deutschen Völkerkundlern die Bezeichnung
„Inuit“ durchsetzt) behandelt.
Dem Verfasser kommt es darauf an, nicht
etwa „das umfangreiche Gebiet der indiani-
schen und eskimoischen Erfindungen und
Züchtungen erschöpfend zu behandeln, son-
dern nur Hinweise und Denkanstöße zu ver-
mitteln“ (S. 10). Dabei beschränkt er sich auf
die Erfindungen, die eigenständig, ohne Be-
einflussung durch die Europäer, gemacht wur-
den, und hebt diejenigen hervor, die von der
Alten Welt übernommen wurden und hier
zum Teil erhebliche Neuerungen hervorriefen,
wie z. B. Eßgewohnheiten (Kartoffeln, Mais).
Hier ist zu ergänzen, daß gerade in jüngster
Zeit indianische Nahrungs- und Genußmittcl
(mit dem Flair des Exotischen) in unseren Ge-
schäften angeboten werden, die bisher bei der
Ernährung des Mittelcuropäers keine Rolle
spielten, wie z. B. Chili, Avocado, Mate.
Den größten Teil des Inhalts beanspruchen
die Erfindungen auf dem Nahrungs- und Ge-
nußmittelsektor. Sie sind in die Abschnitte
„Nutzpflanzen“ (mit einer tabellarischen Zu-
Buchbesprechungen
233
sammcnstellung), „Nahrungsverarbeitung“,
„Genußmittel, Drogen, Gifte“ und „Haustie-
re“ eingetcilt worden. Es folgen drei Kapitel,
die man unter „technischen Innovationen“ zu-
sammenfassen kann; „Geräte“, „Architektur“,
„Techniken“. In den beiden letzten Abschnit-
ten werden die Erfindungen auf dem Gebiet
der „Sprache“ und „Wissenschaft“ behandelt.
Hinweise auf weiterführende Literatur und
ein Index schließen die Publikation ab.
Sehr anschaulich sind die Zeichnungen in-
nerhalb des Textes. Darüber hinaus wird der
Leser mit Fotos (auf insgesamt 8 Tafeln) alt-
peruanischer Keramik (Darstellungen von
Kulturpflanzen) und Erfindungen der Inuit
bekanntgemacht.
Mit dem Autor ist zu wünschen, daß diese
Veröffentlichung über die erwähnte Sondcr-
ausstellung hinaus ihren Wert behalten und
weite Verbreitung finden möge.
Axel Schulze-Thulin
Dieter Eisleb:
Westmexikanische Keramik. Veröffentli-
chungen des Museums für Völkerkunde
Berlin, N. F. 24. Abt. Amerikanische Ar-
chäologie II. Museum für Völkerkunde
Berlin. 1971. 75 S., 4 Farhtaf., 278 Abb.,
1 Karte.
Im Rahmen der nun schon bekannten Ka-
taloge der Sammlungen des Berliner Museums
für Völkerkunde hat sich Dieter Eisleb der
schwierigen Aufgabe unterzogen, die Bestände
westmexikanischer Keramiken zu veröffentli-
chen. Wie Eisleb in seinem Vorwort richtig
schreibt (S. 5), war West-Mexiko lange terra
incognita. Wissenschaftliche Grabungen sind
auch heute noch selten, und viele der Datierun-
gen basieren auf nur einer oder zwei C14-Un-
tersuchungen, sind also keineswegs gesichert.
Der Wissensstand ist zwar in den letzten Jahr-
zehnten fortgeschritten, kann jedoch kaum mit
dem anderer mesoamcrikanischer Regionen
standhalten, wobei die Frage, ob West-Mexiko
überhaupt zu Mesoamerika zu rechnen ist, aus-
geklammert werden muß. So sind stilistische
Kriterien, die vielfach subjektiv bleiben müs-
sen, weiterhin die Grundlage jeder Arbeit an
Sammlungsbeständcn aus diesem Bereich.
Wie üblich, gliedert sich der Text des Bu-
ches in Vorwort, Einführung und Katalog. Im
letzteren hat der Verfasser aus Gründen, die er
in der Einführung darlegt, darauf verzichtet,
Datierungen und Zuschreibungen zu geben,
mit Ausnahme der regionalen Herkunft und
jener Stücke, die aus Jalisco und Nayarit stam-
men. Man kann, bei der Lage der Dinge, Eis-
leb voll verstehen, wenn auch der nicht fach-
bezogene Leser dadurch keine zeitlichen An-
haltspunkte bekommt.
Die westmexikanische Sammlung in Berlin,
wie sie hier präsentiert wird, d. h. ohne die
Steinobjekte aus Guerrero, ohne Chupicuaro
und ohne taraskische Gegenstände, stammt
vorwiegend aus zwei Quellen: Seler 1899 und
Vogel 1911. Wie bei Sammlungen aus jener
Zeit bedauerlicherweise meist die Regel, fehlen
hier Angaben über Herkunft, Fundzusammen-
hänge und Fundumstände fast ganz. Die Masse
des Materials bezieht sich auf Michoacan-
Colima (249 von 261 Stücken). Es wurde in
einzelne Gruppen, wie „Gefäßplastiken und
Hohlfiguren von menschlicher Gestalt“, „Tier-
darstellungen“ oder „Tongefäße in Form
menschlicher oder tierischer Köpfe“, um nur
einige zu nennen, gegliedert. Von den übrigen
Gebieten ist Jalisco nur mit 5 Stücken, Nayarit
mit 7 vertreten, die fast alle nach 1950 im
Kunsthandel erworben worden sind.
In der Einführung (S. 8—19) gibt Eisleb
einen kurzen Überblick zur Kulturentwick-
lung, zur Geschichte der regionalen Archäolo-
gie und zur Kultur von West-Mexiko, vor al-
lem von Colima. Sie bringt dem deutschen
Leser dieses so vernachlässigte Gebiet nahe und
ist schon darum verdienstvoll.
Der Rezensent hat allerdings an einer
Stelle einen Einwand zu erheben: Er ist nicht
wie Eisleb der Meinung, daß die zentralmexi-
kanischen Kulturen von Tlatilco, Cuicuilco
und Ticoman Bevölkerungen widerspicgcln,
die weitgehend ungeschichtet waren (S. 9). Die
nachweislich vorhandenen Bewässerungsanla-
gen deuten ebenso wie die Pyramidenbauten
und die unterschiedliche Qualität der Gräber
auf sozio-ökonomische Unterschiede innerhalb
der Gruppen hin. Ähnlich dürfte es auch in
West-Mexiko gewesen sein, wie Eisleb es
letztlich auch an anderer Stelle (S. 15) selbst
andeutet. Das ist jedoch eine Interpretations-
frage, die heute noch weit offen ist. Sie sollte
nicht von dem Wert der sauberen und ver-
dienstvollen Veröffentlichung ablenken..
Wolfgang Haberland
234
Buchbesprechungen
Dieter Eisleb;
Altperuanische Kulturen I. Veröffentli-
chungen des Museums für Völkerkunde
Berlin. N. F. 31. Abt. Amerikanische Ar-
chäologie III. Unter Mitarbeit von R.
Strelow, Chr. Goedicke, J. Riederer. Mu-
seum für Völkerkunde Berlin. 1975. 75 S.,
196 Abb.-Taf., 6 Zeichn.
Dieser Band ist der erste einer geplanten
Reihe innerhalb der „Veröffentlichungen des
Museums für Völkerkunde Berlin“, mit der
das Kulturgut aus Alt-Peru, das sich in dem
genannten Museum befindet, in Wort und
Bild Interessierten vorgestellt werden soll. Wie
der Verfasser schreibt, ist „das Hauptanliegen
dieser Veröffentlichungen die komplette kata-
logartige Darstellung einzelner Stilgruppen
oder Sammlungsteile, die sich aus dem Mate-
rial ergeben“ (S. 5). Diesen Zweck muß sich
der Leser vor Augen halten, der vielleicht
etwas mehr einführenden Text erwartet hat
und enttäuscht ist, daß dieser plötzlich (auf S.
14) endet. Die Veröffentlichung soll also we-
niger Lesestoff, als vielmehr (laut Vorwort)
Arbeitsgrundlage sein. Doch gerade unter die-
sem Aspekt sind die Objektbeschreibungen des
Katalogteils oft wenig ergiebig. Man hätte
hier in vielen Fällen gerne mehr erfahren, als
auf der jeweiligen Abbildung zu sehen ist. Der
Textteil fällt dabei allerdings positiv aus dem
Rahmen, doch obwohl die gekonnte und aus-
führliche Darstellung der verschiedenen
Flecht-, Stick- und Wcbtechniken (mit Zeich-
nungen) sehr begrüßenswert ist, muß anderer-
seits bedauert werden, daß nicht der Versuch
einer kulturgeschichtlichen Gliederung unter-
nommen wurde. Auch ein Inhaltsverzeichnis
oder zumindest eine Zusammenstellung der
Gliederungspunkte hat der Rezensent vermißt.
Sie sei daher hier gegeben:
Nach Vorwort und Einführung (mit
einer tabellarischen Chronologie der altperua-
nischcn Kulturen) folgt der Katalogteil. Er
gliedert sich in einen Keramikteil (Abb.-Nrn.
1—52, 80—122), einen Teil mit Metall- (Abb.-
Nrn. 53—77 Kupfer, Abb.-Nr. 78 Gold)
und Steinobjekten (Abb.-Nrn. 79) sowie in
einen sich hieran anschließenden Textilteil
(Abb.-Nrn. 123—196). Die Keramiken sind in
solche aus Nord- und solche aus Südperu ein-
getcilt, innerhalb dieser Hauptteile sind sie in
die verschiedenen Kulturen, Phasen und Stile
(innerhalb derer nach Fundplätzen) unterglie-
dert. Dem Katalogteil schließt sich ein Abriß
„Metallanalysen der Kupferobjekte“ (vor-
nehmlich Speerschleuderhakcn, Keulenköpfe
und Zierbleche) an. Mit einem zweiseitigen
Literaturverzeichnis endet der Textteil. Der
Abbildungsteil umfaßt 196 Tafeln, mit teil-
weise zwei Abbildungen/Seite und Farbfotos.
Axel Schulze-Thulin
Axel Schulze-Thulin:
Indianische Malerei in Nordamerika 1830
—1970. Prärie und Plains — Südwesten —
Neue Indianer. Linden-Museum Stuttgart.
1973. 110 S., 3 Karten u. zahlr. Abb.
Der Leiter der Amerika-Abteilung des
Stuttgarter Linden-Museums, Dr. Axel
Schulze-Thulin, hat 1973 eine Ausstellung
älterer und moderner indianischer Malerei aus
Nordamerika zusammengestellt, die vom 1.
November 1973 bis 10. Februar 1974 gezeigt
worden ist. Zu sehen waren neben Ethnogra-
phica aus den Prärien, den Great Plains und
dem Südwesten Nordamerikas — sämtlich aus
den renommierten Beständen des Linden-Mu-
seums — 59 Bilder aus amerikanischen Museen
und Instituten und 25 Werke des indianischen
Malers Fritz Scholder. Zur Ausstellung wur-
de ein Katalog herausgegeben, und dieser ist
Gegenstand der vorliegenden Rezension.
Ziel der Stuttgarter Ausstellung war es,
„eine breite Öffentlichkeit in Deutschland an-
hand indianischer Malerei mit der nach wie
vor vitalen Kunst nordamcrikanischer India-
nerstämme bekanntzumachen“ (S. 9). Ich glau-
be, daß diese Absicht erreicht worden ist, zum
einen durch die — leider nur wenige Wochen
gezeigte — Ausstellung selbst, zum anderen
durch den ausführlichen Text und die vorzüg-
liche Bebilderung des Katalogs. Ich habe selten
ein Druckwerk in der Hand gehabt, das schon
auf den ersten Blick so anspricht wie diese Ar-
beit Schulze-Thulins. Beschäftigt man sich
dann mit den Ausführungen des Autors über
die indianische Malerei früherer Jahrhunderte
und unserer Zeit, wird offenbar, wie intensiv
sich Schulze-Thulin mit diesem Stoff befaßt
hat, wieviel Wissenswertes und Neues er selbst
dem Kollegen vermitteln kann. Da in der Aus-
stellung nur Objekte und Bilder aus zwei Kul-
turarealcn präsentiert wurden — Provinzen,
Buchbesprechungen
235
die auf den Seiten 12 und 13 in Karten vorge-
führt werden —, ist auch der Inhalt des Kata-
logs auf die Grasländer und den Südwesten
Nordamerikas ausgerichtet. Der Verfasser gibt
einen Überblick über diese beiden geographi-
schen Großräume und wendet sich dann dem
eigentlichen Thema zu, wobei erstens die Far-
ben und Geräte beschrieben werden, die von
den Indianern beim Malen benutzt worden
sind, zweitens die „Bildträger“ (Felsen, Stein,
Holz, Ton, Leder, Leinwand und Papier) vor-
gestcllt werden, drittens die Motive der Ma-
lerei erläutert und viertens die verschiedenen
Stile („abstrakt“ und „naturalistisch“ — „tra-
ditionell“ und „modern“) charakterisiert wer-
den. In dem zuletzt genannten Abschnitt
nimmt die indianische Malerei des 20. Jahr-
hunderts einen breiten Raum ein. Hier zeigt
sich deutlich, daß es auf dem Gebiet der heu-
tigen indianischen Kunst eine Art „Panindia-
nismus“ gibt — eine Gemeinsamkeit, die in
vielen anderen Bereichen des indianischen Le-
bens fehlt.
Von den modernen indianischen Künstlern
leitet Schulze-Thulin auf die „Neuen India-
ner“ über, als deren berühmtester Vertreter
Fritz Scholder gilt. Scholder ist ein Lui-
scno-Halbblut (die Schreibweise „Luseino“ ist
— nach Mitteilung des Autors — auf die bei
diesem Stamm selbst und auch in einigen ame-
rikanischen Veröffentlichungen vor Jahren
übliche Schreibweise zurückzuführen, wohl um
das spanische n phonetisch zu erfassen; sie hat
sich aber nicht durchgesetzt); seine Bilder sind
nicht nur eine Anklage gegen die von den
Euroamerikanern (i. e. den weißen Amerika-
nern) zu verantwortenden Mißstände, sondern
üben auch Kritik an Rassegefährten. Schulze-
Thulin meint, daß Scholders Werke zur He-
bung des Selbstbewußtseins der „Neuen India-
ner“ beigetragen hätten. Scholder könne „mit
seiner Malerei . . . der indianischen Kunst einen
neuen Weg weisen“ (S. 83).
Dem Haupttext folgen biographische An-
merkungen (S. 85 ff.), nützlich für diejenigen,
denen die Bücher von Dorothy Dünn (1971)
und Clara Lee Tanner (Second Edition 1973)
nicht zur Verfügung stehen, eine Literatur-
übersicht, in der alle wichtigen Werke zum
Komplex „Malerei der Indianer“ berücksich-
tigt worden sind (S. 97 ff.), und das Verzeich-
nis der 124 Exponate (S. 105 ff.). Zurückkom-
men möchte ich noch einmal auf die geschickte
Bebilderung des Katalogs: auf der einen Seite
die Darstellungen auf älteren Ethnographica
sowie auf Felsen und Kiva-Wänden, auf der
anderen Seite die modernen Aquarelle, Ka-
sein-, öl- und Acrylmalereien sowie die Litho-
graphien und Zeichnungen, letztere ausgeführt
mit Tinte, Blei- und Buntstift.
Viele Textstellen sind zu loben, von der
Skizzierung der unterschiedlichen „Bildträger“
bis zu den Betrachtungen über die Bedeutung
der Farben und Symbole. Richtig ist der Hin-
weis, daß es bei den Indianern früherer Jahr-
hunderte keinen Unterschied zwischen Kunst
und Kunsthandwerk gegeben hat. Ich stimme
mit dem Autor auch darin überein, daß viele
Dekorationen allein aus dem Grund der Ver-
schönerung von Gegenständen angebracht wor-
den sind (S. 43). Dagegen glaube ich nicht, daß
es heute schon so etwas wie eine indianische
Kultur gibt (S. 10). Die Entwicklung könnte
dahin führen — noch sind die Gegensätze je-
doch zu stark. Nicht richtig ist, daß das Pferd
„Anfang und Ende der Prärie-Kulturen“ ge-
wesen ist (S. 54). Große Teile der Grassteppen
im inneren Nordamerika sind schon lange vor
der Einführung des Pferdes bewohnt gewe-
sen, und zwar permanent bewohnt. Die Karte
auf Seite 12 mit den Stämmen der Prärien
und Plains enthält auch die Namen einiger
Randvölker, läßt andererseits aber Stämme
wie die Sarsi, Blood (Blackfoot), Yanktonai,
Oto, Missouri und Kiowa-Apache vermissen.
In der Karte (aus: J. J. Brody „Indian Pain-
ters & White Patrons“, Albuquerque, N. M.
1971) auf Seite 13 hätte man die Dreiecke, die
die Pueblos Laguna und Acoma bezeichnen,
ausfüllen müssen, da die östlichen Keres durch
schwarze, die Tiwa und Tewa dagegen durch
weiße Dreiecke markiert werden. Übrigens
gehören die Tewa sprachlich zu den Tano, und
wenn man für New Mexico 19 Dörfer nennt
(also Pojoaque mitzählt), dann hätte man den
Hopi mindestens acht Pueblos zuordnen müs-
sen (Hano wird ausgenommen) (S. 14).
Inzwischen hat Schulze-Thulin im Lin-
den-Museum Stuttgart ein Bildheft zur dor-
tigen Nordamerika-Sammlung mit dem Titel
„Indianer der Prärien und Plains“ publiziert,
in dem er bei der Beschreibung der vorgestcll-
ten Wied- und Paul-Objekte einen interessan-
ten Weg gegangen ist. Es ist zu hoffen, daß
ähnlich ansprechende Bild- und Druckwerke
mit nord-, mittel- und südamerikanischen
Themen folgen werden. Horst Hartmann
236
Buchbesprechungen
Axel Schulze-Tiiulin:
Indianer der Prärien und Plains — Reisen
und Sammlungen des Herzogs Paul Wil-
helm von Württemberg (1822—24) und
des Prinzen Maximilian zu Wied ( 1832—
34) im Linden-Museum Stuttgart. Bildheft
2 des Linden-Museums Stuttgart, Staatli-
ches Museum für Völkerkunde. 1976. 104
S., 148 Abb., 1 Karte.
Dieses Bildheft des Linden-Museums Stutt-
gart behandelt sowohl die Reisen als auch die
Sammlungen (die sich im Linden-Museum
befinden) des Herzogs Paul Wilhelm von
Württemberg (1822—24) und des Prinzen
Maximilian zu Wied (1832—34) auf eine so
originelle Weise, daß es ein breites und interes-
siertes Publikum ansprechen wird.
Die beiden besonders in Nordamerika be-
rühmt gewordenen Forscher trafen die Stäm-
me der Pflanzer der humiden Prärien und die
mobilen und vorwiegend von der Jagd auf den
Bison lebenden Verbände der semiariden
Great Plains noch in ihrer Blütezeit, weshalb
ihre Sammlungen die besten aus diesen Ge-
bieten sind. Stuttgart kann sich glücklich
schätzen, den größeren Teil davon zu besitzen.
Ein kleinerer Teil befindet sich im Museum
für Völkerkunde Berlin.
Wie Museumsdirektor Kussmaul schreibt,
ist Schulze-Thulin bei der Darstellung dieser
Kostbarkeiten neue Wege gegangen, indem
er Textteile aus dem Reisewerk Maximilians
(und dem von Paul über dessen erste Reise)
mit dazugehörigen Kupferstichen Carl Bod-
mers kombinierte. Texte und Bilder dienen
gemeinsam der Illustrierung und der Doku-
mentation der Stücke im Linden-Museum. So
entstand ein sehr lebendiges Bild der Kultur
der betreffenden Indianervölker.
Indem der Naturforscher Maximilian zu
Wied den jungen Schweizer Maler Karl Bod-
mer für die Reise in das innere Nordamerika
für die Jahre 1832 bis 1834 gewinnen konnte,
ist eine wissenschaftlich unschätzbare Doku-
mentation entstanden, zumal Bodmer äußerst
gewissenhaft und naturgetreu gezeichnet hat.
Der Bearbeiter Schulze-Thulin hat die
Bilder und die dazugehörenden Textteile in
verschiedene Kapitel zusammengefaßt, und
zwar nach einer Einführung „Erklärungen,
Vermutungen, Zusammenhänge“ in:
Reise In die Vergangenheit
Über indianische Mode
Jagd und Krieg
Indianisches Frauendasein
Religiöses Leben
Hierauf werden die wenigen nicht abgebilde-
ten Objekte der Sammlungen aufgeführt.
In einer ganzseitigen Planskizze, die vom
Mississippi bis ins Felsengebirge und vom
Golf von Mexiko bis nach Kanada hinein-
reicht, sind sowohl die damaligen Wohngebiete
der Stämme (nach Horst Hartmann) als auch
die Reiserouten der beiden Forscher eingetra-
gen. Gottfried Hotz
237
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Dr. Gisela Armbruster, Kolpingstr. 3, 6800 Mannheim.
Louise Bäckman, Institute of Comparative Religion, University of Stockholm, Fis-
kartorpsvägen 160 D, Pack, S-104 05 Stockholm 50.
Inez de Beauclair, Lane 12, House 7, Hsinghua Street, Tainan, Taiwan.
Elizabeth C. Brouwer, Dept, of Anthropology and Sociology, University of Queens-
land, St. Lucia, Brisbane, Australia 4067.
Michellne Centlivres-Demont, 2, rue de la Serre, CH-2000 Neuchâtel.
Prof. Dr. Dieter Christensen, Department of Music, Columbia University in the City
of New York, New York, N. Y. 10027.
Dr. Magdalene von Dewall, Südasien-Institut der Universität, Im Neuenheimer Feld
330, 6900 Heidelberg 1.
Prof. Dr. Eleanor von Erdberg, Ludwigsallee 59, 5100 Aachen.
Prof. Dr. Hans Fischer, Seminar für Völkerkunde der Universität, Rothenbaum-
chaussee 64 a, 2000 Hamburg 13.
Dipl.-Geogr. Baldur Gabriel, Geographisches Institut der Universität, Silcherstr. 9,
7000 Stuttgartl.
Ilse Gerth, St. Anscharplatz 7, 2000 Hamburg 36.
Dr. Wolfgang Haberland, Hamburgisches Museum für Völkerkunde, Binderstr. 14,
2000 Hamburg 13,
Dr. Horst Hartmann, Museum für Völkerkunde Berlin, Arnimallee 23/27, 1000 Ber-
lin 33.
Prof. Dr. Rolf Herzog, Institut für Völkerkunde der Universität, Werderring 4,
7800 Freiburg i. Br.
Dr. Dr. Hans Himmelheber, Wilckenstr. 32, 6900 Heidelberg.
Gottfried Hotz, Indianermuscum der Stadt Zürich, Seminarstr. 97, CH-8057 Zürich.
Prof. Dr. Dr. h. c. Siegbert Hummel, DDR-9701 Plohn üb. Auerbach, Vogtland.
Prof. Dr. Christoph Jentsch, Geographisches Institut der Universität, Schloß, 6800
Mannheim 1.
Dr. Viktor Krupa, Slowakische Akademie der Wissenschaften, Klemensova 19,
CS-88416 Bratislava.
Dr. Friedrich Kußmaul, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völker-
kunde, Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Ute Luig, Institut für Soziologie und Ethnologie der Universität, Hauptstr. 156,
6900 Heidelberg.
Thomas Maler, Eichenweg 8, 2401 Reinsbek.
Prof. Dr. Wolfgang Marschall, Seminar für Ethnologie der Universität, Schwanen-
gasse 7, CH-3011 Bern.
238
Prof. Dr. Wilhelm J. G. Möhlig, Institut für Afrikanistik der Universität zu Köln, Mei-
ster-Ekkehart-Str. 7, 5000 Köln-Lindenthal.
Dr. Ludger Müller-Wille, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Kennedyallee 50,
5300 Bonn-Bad Godesberg.
Dr. Mark Münzel, Museum für Völkerkunde, Schaumainkai 29, 6000 Frankfurt/M. 70.
Dr. M. L. Nabholz-Kartaschoff, Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Mu-
seum für Volkskunde, Augustinergasse 2, CH-4051 Basel.
Dr. Rolf C. A. Rottländer, Institut für Jägerische Archäologie der Universität, Schloß,
7400 Tübingen.
Dr. Erhard Schiefer, Finnisch-Ugrisches Seminar der Universität, Franz-Joseph-Str. 1,
8000 München 13.
Dr. Helmut Schindler, Arbeitsgruppe für Humanethologie am Max-Planck-Institut
für Verhaltensphysiologie, Enzianstr. 12, 8136 Percha/Kreis Starnberg.
Dr. Axel Schulze-Thulin, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völker-
kunde, Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Annemarie Seiler-Baidinger, Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Mu-
seum für Volkskunde, Augustinergasse 2, CH-4051 Basel.
Dr. Friedrich Seitmann, Ahornstr. 52, 7000 Stuttgart 70.
Dr. Helmtraut Sheikh-Dilthey, Oberer Rainweg 25, 6900 Heidelberg.
Dipl.-Volkswirt Fedor Sibeth, Sigwartstr. 18, 7400 Tübingen.
Prof. Dr. Wolf Dieter Sick, Geographisches Institut II, Werderring 4, 7800 Frei-
burg i. Br.
Prof. Dr. Günter Smolla, Seminar für Vor- und Frühgeschichte der Universität,
Arndtstr. 11, 6000 Frankfurt/M.
Dr. Peter Snoy, Seminar für Ethnologie, Südasien-Institut der Universität, Im Neuen-
heimer Feld 13, 6900 Heidelberg.
Prof. Dr. Bodo Spranz, Museum für Völkerkunde, Adelhauser Str. 33, 7800 Frei-
burg i, Br.
Dr. Waldemar Stöhr, Rautenstrauch-Joest-Museum, Ubierring 45, 5000 Köln 1.
Dr. Kurt Tauchmann, Institut für Völkerkunde der Universität zu Köln, Berrenrather
Str. 138, 5000 Köln 41.
Dr. D. Johannes H. Voigt, Historisches Institut der Universität, Kienestr. 41, 7000
Stuttgart 1.
Dr. Jürgen Christoph Winter, Institut für Afrikanistik der Universität zu Köln, Mei-
ster-Ekkehart-Str. 7, 5000 Köln-Lindenthal.
Prof. Dr. Siegfried Wolf, Staatliches Museum für Völkerkunde Dresden, Japanisches
Palais, DDR-8060 Dresden.
Prof. Dr. Otto Zerries, Staatliches Museum für Völkerkunde, Maximilianstr. 42,
8000 München 22.
Prof. Dr. Jürgen Zwernemann, Hamburgisches Museum für Völkerkunde, Binderstr.
14, 2000 Hamburg 13.
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