TRIBUS
VERÖFFENTLICHUNGEN DES L I N D E N - M U S E U M S
Nr. 27, September 1978
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1978
TRIBUS
VERÖFFENTLICHUNGEN DES L I N D E N - M U S E U M S
Nr. 27, September 1978
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
Humboldt/Üniversitöt zu Berlin
' Universitöfsbibliothck
Zweigstelle Geschichte
Bereich Ethnogrephle
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1978
Herausgeber:
Linden-Museum Stuttgart
Staatliches Museum für Völkerkunde
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer Beiträge
allein verantwortlich.
Titelbild: Kuskus-Schüssel „Mokhfia“, Meknes (Marokko); s. Abb. 8.
Copyright 1978 by Linden-Museum Stuttgart
ISSN 0082-6413
Satz und Druck: Druckerei und Verlag Karl Hof mann, Schorndorf bei Stuttgart
Gedruckt auf halbmatt holzfrei Kunstdruckpapier der Papierfabrik Scheufeien GmbH,
Oberlenningen
Inhaltsverzeichnis
Bericht über das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977 7
Abhandlungen
Meurer, L.: Die Püppchen der Mossi in Obervolta..................................35
Seitmann, F.: Puppenspiel in Süd-Karnataka.......................................43
Dosedla, H.-C.: Kunst und Künstler im Zentralen Hochland
von Papua-Neuguinea .......................................................87
König, V.; Stick- und Webmuster der Tzotzil von San Pablo Chalchihuitan und
San Pedro Chenalhö, Chiapas, Mexiko.......................................121
Weher, G.: Das Thema von Leben und Tod in bezug auf die Petroglyphen von
Las Palmas, Chiapas, Mexiko...............................................143
Buchbesprechungen
Allgemein.................................................................159
Afrika....................................................................162
Islamischer Orient........................................................168
Zentral- und Nordasien....................................................171
Süd- und Südostasien......................................................172
Australien und Ozeanien...................................................176
Amerika...................................................................179
Führer und Kataloge.......................................................184
nach Autoren:
Benoit, M.: Introduction à la géographie des aires pastorales soudaniennes de Haute-
Volta (H. Ruthenberg) S. 162 — Damane, M./ Sanders, P. B. (ed. and transi.);
Lithoko — Sotho Praise-Poems (J. W. Raum) S. 167 — Doerfer, G.: Türkische und
mongolische Elemente im Neupersischen unter besonderer Berücksichtigung älterer
neupersischer Geschichtsquellen, vor allem der Mongolen- und Timuriden-Zeit (J.
Benzing) S. 169 — Domhrowski, G.: Sozialwissenschaft und Gesellschaft bei Durk-
heim und Radcliffe-Brown (L. G. Löffler) S. 159 — Drew, F.: The Jummoo and
Kashmir Territories — A Geographical Account (H. Uhlig) S. 172 — Ehmann, D.:
Bahtiyaren — Persische Bergnomaden im Wandel der Zeit (C. Jentsch) S. 168 —
Fischer, H.: Gabsongkeg ’71. Verwandtschaft, Siedlung und Landbesitz in einem Dorf
in Neuguinea (R. Schubert) S. 176 — Grötzhach, E. (Hrsg.): Aktuelle Probleme der
Regionalentwicklung und Stadtgeographie Afghanistans (C.-J. Charpentier) S. 170
— Hallpike, G. R.: Bloodshed and Vengeance in the Papuan Mountains — The Ge-
neration of Conflict in Tauade Society (B. Hauser-Schäublin) S. 178 — Kalter,
Aus marokkanischen Bürgerhäusern (H. Venzlaff) S. 184 — Köhler, U.: Conbilal
C’ulelal — Grundformen mesoamerikanischer Kosmologie und Religion in einem Ge-
betstext auf Maya-Tzotzil (T. S. Barthel) S. 179 — Kortt, I. R.: Untersuchungen
zur Erzähltradition der Enec (J. Kroll-Mermberg) S. 171 — Läng, H.: Indianer
waren meine Freunde — Leben und Werk Karl Bodmers 1809—1893 (W. Haber-
land) S. 182 — Marcus, ].: Emblem and State in the Classic Maya Lowland (B. Rie-
se) S. 181 — Meyer, K.: The plundered past — The traffic in art treasures (W. Ha-
berland) S. 160 — Pink-Wilpert, C. B.: Bali — Eine Einführung (F. Seitmann) S.
187 — Richard, M.: Traditions et Coutumes Matrimoniales chez les Mada et les
Mouyeng (C. Geary) S. 164 — Snellgrove, D. L. / Skorupski, T.: The Cultural He-
ritage of Ladakh, Vol. 1 (G. K. Jettmar) S. 174 — Thomsen, M.: Geheimnisvolles
Nepal — Tempelschätze aus zwei Jahrtausenden (W. Reuss de Lobo) S. 186 —
Tischner, H.: Südseemasken in der geistigen Kultur der Melanesier (I. Heermann) S.
187 — Wachsmann, K. / Christensen, D./ Reinecke, H.-P. (Hrsg.): Hornbostel Ope-
ra Omnia I (W.-D. Meyer) S. 161 — Wemhah-Rashid, /. A. R.: The Ethno-History
of the Matrilineal Peoples of Southeast Tanzania (J. Jensen) S. 166 — Wente-Lukas,
R.: Die materielle Kultur der nicht-islamischen Ethnien von Nordkamerun und
Nordostnigeria (B. Frank) S. 163 — Westphal-Hellhusch, S./ Soltkahn, G,: Mützen
aus Zentralasien und Persien (J. Kalter) S. 185 — Westphal-Hellhusch, S./West-
phal, H.: Hinduistische Viehzüchter im nord-westlichen Indien, II (C. Jentsch) S.
173.
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
189
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Baumaßnahmen
Der letzte Jahresbericht schloß mit der Bemerkung ab, daß im Hinblick auf die räum-
lichen Verhältnisse im Haus wieder gehofft werden dürfe. Der damals noch schmale Silber-
streifen am Horizont hat sich inzwischen verbreitert, und es sieht so aus, als ob wir im
Jahr 1979 das Haus nach 35jähriger Unterbrechung endlich wieder ganz zur Verfügung
hätten. Aber nicht nur dies ist als besonders erfreuliches Ergebnis des Jahres 1977 zu
melden, sondern auch die Zusage von Herrn Finanzminister Gleichauf bei seinem Besuch
am 2. 8. 1977, daß die notwendigen Umbau- und Sanierungsmaßnahmen entsprechend den
seit langem vorliegenden Plänen vorgenommen werden und bis zum Jahr 1982, dem 100-
jährigen Jubiläum der Gründung des ehemaligen Trägervereins, beendet sein sollen. Die
erste Phase dieser notwendigen Sanierungsmaßnahmen wurde schon im Frühjahr 1978 mit
dem Umbau der nicht mehr voll funktionsfähigen und sehr anfälligen Heizung, dem
gleichfalls nicht mehr intakten Elektrizitätsnetz sowie der Erneuerung und Ergänzung
der sanitären Anlagen eingeleitet. Diese auf zwei Jahre veranschlagte Baumaßnahme wird
alle Räume des Hauses in Mitleidenschaft ziehen, mit Sicherheit auch die hier Beschäftig-
ten. Doch ist dies ein erster notwendiger Schritt für die dann vorzunehmenden Arbeiten
in einzelnen Teilen des Museums, die — wie gesagt — bis 1982 abgeschlossen sein sollen.
Hoffen wir, daß sich diese Termine einhalten lassen, und daß dann endlich wieder in
einigermaßen vernünftigem Rahmen gearbeitet werden kann! Mit den entsprechenden
Stellen und Herren in den Ministerien, Bauabteilungen und Hochbauämtern des Landes
Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart war die Zusammenarbeit so erfreulich,
daß die sicher knapp bemessenen Daten durchaus realisierbar erscheinen. Für das Ver-
ständnis, das Entgegenkommen und die schöne Zusammenarbeit darf ich den Herren des
Finanzministeriums, des Kultusministeriums und der Stadtverwaltung Stuttgart an dieser
Stelle aufrichtig danken.
Sicher waren die jetzt genannten Zusagen die einschneidendsten Ereignisse im Laufe des
Jahres 1977, doch darf mit Genugtuung festgestellt werden, daß auch sonst der in den
vergangenen Jahren manchmal etwas gebremste, im ganzen aber deutlich feststellbare Auf-
wärtstrend angehalten hat und einiges möglich machte, worüber in diesem Bericht mit
Freude referiert wird.
Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit
Finanzielle Verhältnisse hatten uns im Jahr 1976 zu einer Verminderung der Ausstel-
lungen gezwungen. Auch im Jahr 1977 waren nicht mehr Mittel vorhanden, dennoch
gelang es uns, nicht nur im eigenen Haus, sondern auch an zwei anderen Stellen der Stadt
und im Lande wieder mehr Ausstellungen auszurichten, nämlich Im Institut für Auslands-
beziehungen und im Kunstgebäude am Schloßplatz.
Im eigenen Haus veranstalteten wir im Rahmen des Beiprogramms für die Bundes-
gartenschau eine Ostasien-Ausstellung unter dem Titel „Blumen und Vögel — Berge und
Gewässer. Pflanzen und Landschaften in der Kunst Ostasiens“. Sie stand vom 1. 4. bis
25. 9. 1977 und hat viele Besucher angezogen, konnten wir doch endlich wieder einmal
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
einen Teil unserer Ostasien-Sammlung der Öffentlichkeit vorstellen. Beispiele der Malerei
wurden dabei ebenso gezeigt wie Objekte, gegliedert nach Themen; Keramiken, Lacke,
Gloisonne-Arbeiten, Waffen, Textilien, Kaligraphien, um nur die wichtigsten Gruppen zu
nennen. Selbst bei der ziemlich engen thematischen Beschränkung war die Qualität des
Ausgestellten gut — ein Beweis dafür, daß diese Sammlung allmählich Gesicht und
Gewicht bekommen hat. Herr Dr. Brandt hatte diese Ausstellung aufgebaut, ihm darf
ich auch an dieser Stelle noch einmal für diese schöne Arbeit danken.
Im Institut für Auslandsbeziehungen konnte vom 24. 8. bis 4. 12. 1977 eine Ausstellung
unter dem Titel „Kamerun — Könige, Masken, Feste“ gezeigt werden. Sie enthielt im
wesentlichen Material, das erst neuerdings in Kamerun erworben werden konnte, und
zwar im Rahmen der Forschungsarbeiten, die der Afrikanist des Hauses, Herr Dr. Koloss,
in den letzen Jahren dort durchgeführt hat. Sie basierte in ihrer Anlage auch auf den
Ergebnissen dieser Forschungen, vor allem im Hinblick auf die Multivision, die mit ihr
verbunden und neben einer Maskengruppe der zentrale Teil der Ausstellung war. Diese
Multivision war die bisher größte in Stuttgart, zweifellos bis heute auch eine der umfang-
reichsten im europäischen Museumswesen überhaupt. Auf einem breit gespannten Horizont
konnten mit 17 Projektoren etwa 2000 Aufnahmen innerhalb von 22 Minuten gezeigt
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0 13
Abh. 1 Blick in die Ausstellung „Aus marokkanischen Bürgerhäusern“. Rekonstruktion
einer zum offenen Innenhof orientierten Stirnwand aus dem Obergeschoß eines um 1690
erbauten Hauses in der Medina von Meknes, Marokko. Die Holzteile sind Originale, der
Stuck ist nach Silikonkautschukabgüssen gegossen bzw. geschnitten.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
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werden, die einen hervorragenden Überblick über das Thema boten und die Besucher an
den Festen im Kameruner Grasland fast schon teilnehmen ließen. Herrn Dr. Koloss und
vor allem auch den Mitarbeitern im Institut für Auslandsbeziehungen, voran Herrn H.
Pollig und Herrn H. P. Hoch, sei für die wieder sehr schöne Zusammenarbeit sehr
gedankt.
Wenig später eröffneten wir im Kunstgebäude eine Ausstellung, die unter dem Titel
„Melanesien. Mensch und Natur — Mythos und Kunst“ stand und vom 29. 9. bis 6. 11.
1977 gezeigt werden konnte. Die Thematik und die Bearbeitung lag in den Händen von
Frau Dr. Heermann, die hier ein kaum erforschtes Thema anging und mit Bravour vor-
stellte. Ihr wie den Mitarbeitern vom Württembergischen Kunstverein, vor allem Herrn
Dr. Osterwold, darf ich für das großzügige Entgegenkommen und die Zusammenarbeit
danken.
Schließlich konnte am 16. 12. 1977 noch eine Ausstellung Im Museum selbst eröffnet
werden. Ihr Thema: „Aus marokkanischen Bürgerhäusern“. Das hier gezeigte Material
ist zum größten Teil Ergebnis von zwei Sammelerwerbsreisen, die Herrn Dr. Kalter
1976 und 1977 nach Marokko führten. Bei der ersten dieser Reisen hatte er in einem
großbürgerlichen Haus in Meknes Architekturteile aus dem späten 17. Jh. entdeckt, die
der Eigentümer ausbauen und verkaufen wollte. In langen und zähen Verhandlungen
gelang es, den Besitzer bis zum Frühsommer 1977 hinzuhalten, bis zu dem Zeitpunkt, an
dem wir dank einer großzügigen Stiftung von Herrn H. Breuninger in der Lage waren,
wieder nach Marokko zu fahren, die entsprechenden Teile auszubauen, Negative der
Stuckfriese und Mosaikfelder abzunehmen und nach Stuttgart zu bringen. Sobald ein dafür
geeigneter Raum im Museum fertiggestellt sein wird, soll der Innenhof dieses marokka-
nischen Hauses, d. h. sein 1. Obergeschoß, völlig rekonstruiert wieder gezeigt werden.
Herrn Dr. Kalter und seinen Begleitern auf dieser Reise, Herrn J. Drechsel und Herrn
M. Horn, darf ich für die umsichtige und gewissenhafte Arbeit aufrichtig danken, vor
allem aber natürlich Herrn H. Breuninger, ohne dessen Hilfe dies alles nicht möglich
geworden wäre.
Diese vier Ausstellungen innerhalb eines Jahres haben wieder das wissenschaftliche,
das technische und das administrative Personal des Hauses voll gefordert, also praktisch
den ganzen Personalkörper. Allen meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sei dafür
sehr gedankt.
Die bisher genannten Ausstellungen bilden noch nicht die Summe derjenigen, die wir
ganz oder zum überwiegenden Teil gestaltet oder mitgestaltet haben: Die im Vorjahr bei
uns gezeigte Ausstellung „Schmuck aus Nordafrika“ konnte im Berichtsjahr im Städti-
schen Museum in Lindau, im Städtischen Kunstgewerbemuseum in Schwäbisch Gmünd und
im Museum am Dom in Lübeck gezeigt werden. Sie fand auch in diesen Städten eine gute
und lebhafte Resonanz. Schließlich ist zu berichten, daß Frau Dr. Thomsen, die Südasien-
Referentin, für das Kestner-Museum in Hannover eine Ausstellung „Geheimnisvolles
Nepal — Tempelschätze aus zwei Jahrtausenden“ zusammengestellt, mit einem Katalog
versehen und mit aufgebaut hat, und zwar zum guten Teil mit Leihgaben aus unserem
Hause.
Diese auch in Anbetracht der Größe des Personalkörpers ungemein rege Ausstellungs-
tätigkeit hat sich ebenfalls auf die Zahl des Museumpublikums ausgewirkt: mit 51 463
gezählten Besuchern im Museum selbst erreichten wir die bisher zweithöchste Zahl über-
haupt, und an den anderen Ausstellungsorten kamen fast 40 000 Besucher dazu — ein
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Das Linden-Museum Stuttgart im ]ahr 1977
sicher erfreuliches Echo, wenn man davon absieht, daß die große Melanesien-Ausstellung
im Herzen der Stadt noch keine 7000 Besucher anziehen konnte. Offensichtlich muß die
Öffentlichkeitsarbeit in Zukunft wesentlich verstärkt werden.
Auch in diesem Jahr konnten wir wieder nahezu 2000 Besuchern in 52 Führungen
unser Material vorstellen, von denen die 24 an Sonntagen veranstalteten das größte Echo
fanden. Bedauerlich ist es, daß noch immer nicht der richtige Kontakt zu den Schulen
besteht, und daß diese (und die Lehrer) von den Möglichkeiten eines Museums unserer
Art und Größe bisher noch viel zu wenig Gebrauch zu machen verstehen. Auch hier muß
die Arbeit durch bessere Kontakte zu den entsprechenden Stellen dann intensiviert
werden, wenn die neuen Ausstellungen nach einer in ihrer Dauer noch nicht absehbaren
Pause wieder stehen werden. Die durch die eingangs angesprochenen Umbauten not-
wendige Schließung des Museums ab April 1978 wird einen Teil der Aufbauarbeit der
vergangenen Jahre leider zunichte machen, wir hoffen aber, dann auf vergrößerter
Fläche den Verlust möglichst schnell nicht nur einzuholen, sondern das Museum noch
weiteren Kreisen öffnen zu können.
Auch in diesem Jahr hat sich gezeigt, wie wichtig Kataloge, Führer und Bildhefte sind;
nicht nur ist der Verkauf der in den Vorjahren erschienenen Publikationen auch nach dem
Ende der Ausstellungen weitergegangen, sondern auch die drei neuen Kataloge für die
Ausstellungen Kamerun, Melanesien und Marokko finden gute Abnahme, so gut, daß
einige dieser Publikationen trotz hoher Auflagen in naher Zukunft vergriffen sein werden.
Offenbar besteht durchaus das Bedürfnis für solche auf wissenschaftlicher Basis flüssig
geschriebenen Einführungen in einzelne Themen.
Neben diesen für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Führern konnte auch im
Berichtsjahr wieder ein Band der Zeitschrift TRIBUS erscheinen, und zwar die Nummer
26. Die steigende Zahl der Abnehmer dieser Zeitschrift zeigt, daß sie sich nicht nur im
deutschen Sprachraum, sondern weit darüber hinaus einen Platz gesichert hat. Für die
umsichtige Redaktionsarbeit darf ich Herrn Dr. Schulze-Thulin danken, der diesen Teil
unserer Arbeit übernommen hat.
Neben Ausstellungen und Publikationen bilden die Vortragsveranstaltungen einen
Teil unserer Öffentlichkeitsarbeit. Wie in den vergangenen Jahren haben wir hier auch
im Berichtsjahr mit der alten Trägergesellschaft, der Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde
zu Stuttgart e. V., eng zusammengearbeitet. Die Freitagabend-Veranstaltungen „Länder
und Völker“ wurden von der Gesellschaft getragen, die Sonntagsmatineen „Archäologie
und Kunst“ dagegen vom Linden-Museum Stuttgart. Beide fanden insgesamt mehr als
3969 Besucher, so daß also auch hier wieder eine aufsteigende Tendenz sichtbar wird. Dem
Vorsitzenden der Gesellschaft, Herrn Prof. Dr. Meckelein, und den beiden Organisatoren
der Veranstaltungen im Hause, Herrn Dr. Kalter und Frau Dr. Thomsen, darf ich hier
für die Bewältigung dieses Teils unserer Arbeit danken.
Auch im Berichtsjahr war die Zahl von Anfragen, z. B. Fotowünsche und Bitten um
Leihgaben, wieder so groß, daß diese Service-Tätigkeit einen guten Teil unserer Zeit
in Anspruch nahm. Wir haben diese Anfragen und Wünsche nach Möglichkeit befriedigt.
Im Hinblick auf Leihgaben waren nahezu alle Abteilungen des Hauses mit Objekten in
fremden oder zum Teil mit uns gemeinsam veranstalteten Ausstellungen vertreten. Die
Buschmann-Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen wurde gemeinsam mit die-
sem Institut veranstaltet, mit dem wir seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden sind
und von Jahr zu Jahr enger Zusammenarbeiten, wofür an dieser Stelle dem Institut für
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
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Auslandsbeziehungen und seinen Abteilungen sehr gedankt sei. Neben dem rezenten
Buschmann-Material, das aus der Südafrikanischen Union ausgeliehen war, standen
Objekte aus der traditionellen Buschmann-Kultur, die wir zur Ausstellung beigesteuert
hatten. Für ein neues Afrika-Haus im Zoologischen Garten der Landeshauptstadt Saar-
brücken gaben wir die für einen solchen Rahmen brauchbaren Objekte zur Abrundung der
Saarbrücker Bestände. Das Seminar für Völkerkunde an der Universität Mainz hat für
eine eigene Ausstellung Nigeria-Material von uns erhalten.
Das Urgeschichtliche Institut der Universität Tübingen erhielt für eine Eskimo-Aus-
stellung Material und für die Ausstellung „Frontier America“ im Palais des Beaux-Arts
in Brüssel liehen wir gleichfalls Objekte aus unseren Beständen aus.
Daß die Wanderausstellung „Schmuck aus Nordafrika“ im Berichtsjahr durch einige
weitere Städte des Landes (und darüber hinaus) gegangen ist, wurde eingangs erwähnt.
Selbstverständlich war es Material unserer Ausstellung und unserer Sammlungen. Orient-
Material ging auch an das Äthiopien-Museum im Schloß Bauschlott, wo die Äthiopien-
hilfe e. V. seit einiger Zeit auf die Kulturen Äthiopiens aufmerksam macht.
Die für die Nepal-Ausstellung im Kestner-Museum, Hannover, ausgeliehenen ent-
scheidenden Materlalteile aus dem Linden-Museum wurden weiter oben bereits erwähnt.
Aus der Abteilung Südasien gingen weitere Leihgaben an das Spielkarten-Museum in
Leinfelden, und zwar für eine Ausstellung Indischer Spielkarten.
Die Ostasien-Abteilung war in drei Ausstellungen außerhalb des Hauses beteiligt; an
einer China-Ausstellung in der Landesgirokasse Stuttgart, in der Merzschule in Stuttgart
und in der Leonberger Sparkasse in Leonberg.
Objekte aus verschiedenen Abteilungen des Hauses konnten in der Stuttgarter Filiale
der Commerzbank gezeigt werden, wo wir in bester Stadtlage gelegentlich für das Museum
werben können. Auch eine Leihgabe (Schuhwerk in vielerlei Gestalt) an das Völkerkunde-
Museum in Freiburg umfaßte Material verschiedener Abteilungen.
Die Leihgaben an das Freiburger Museum, an die Tübinger und Münchner Institute
für Völkerkunde bilden dort weiterhin wichtige Teile des Studienmaterials. Ebenso hat
das Seminar für Zentralasien-Kunde in Bonn einschlägiges Material aus unseren Beständen,
und auch die Leihgaben im Zusammenhang mit der Katalogisierung orientalischer Hand-
schriften sind zum Teil noch unterwegs.
Erwerbungen
Die Ergänzung der Sammlungsgegenstände erbrachte im Berichtsjahr alles in allem
eine ähnliche Zahl wie im Vorjahr: unsere Zugangsbücher weisen einen Zuwachs von ins-
gesamt 855 Nummern aus. Rein numerisch wurde der größte Teil dieser Objekte bei Reisen
in den Herkunftsländern erworben, eine Erwerbungsart, die sich immer deutlicher als
besonders günstig, ergiebig und für die Sammlungen wie für die Dokumentation gleich wich-
tig erweist. Im Rahmen seiner Forschungen im Grasland von Kamerun hat Herr Dr. Koloss
44 Objekte sammeln können, Herr Dr. Kalter hat aus Marokko bei seiner zweiten
Sammelreise 231 Objekte angekauft, Herr Dr. Brandt brachte aus Japan eine Ausbeute
von 316 Stücken — vor allem ethnographischen Charakters — mit, und Herr Dr.
Schulze-Thulin erwarb im Südwesten der USA und Kalifornien insgesamt 37 Stücke,
zumeist Körbe, die in unseren Sammlungen proportional zu ihrer Bedeutung innerhalb
der Herkunftskulturen zu schwach vertreten waren. Zwei dieser Reisen, diejenige nach
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Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Abh. 2 Schalenförmiger Korb mit geometrischem und figürlichem Muster, in Spiral-
wulsttechnik hergestellt. Westliche Apachen, Arizona, USA, um 1900. 0 ; 31 cm. Inv.-Nr.
M 30 699.
Japan (4. 9. bis 20. 11. 1977) und in die USA (22. 6. bis 10. 8. 1977) konnten aus eigenen
Mitteln bestritten werden. Die Reise von Herrn Dr. Koloss (30. 12. 1976 bis 11. 3. 1977)
war von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert worden. Die Sammelreise nach
Marokko (18. 4. bis 18. 5. 1977) wurde dadurch möglich, daß ein Stuttgarter Freund
unseres Hauses die Gesamtkosten übernahm, abgesehen von einem kleineren Forderungs-
betrag, den die damalige Trägergesellschaft zuschoß. Von dieser lang vorbereiteten Reise
kam der wichtigste in diesem Zusammenhang zu nennende Zuwachs, vor allem in Form
von Architekturteilen aus dem 17. Jh.
Derselbe Mäzen hat auch eine andere gewichtige Erwerbung möglich gemacht, die
einer zahlenmäßig kleinen, aber bedeutenden Sammlung südostasiatischer Kunstwerke,
die er schon im Vorjahr für das Museum sicherte. Auch an dieser Stelle darf ich ihm, der
ungenannt bleiben will, meinen und des Hauses aufrichtigen Dank dafür sagen, daß er uns
in schwieriger Situation immer wieder zur Seite gestanden hat.
Andere Objekte kamen aus dem Kunsthandel oder aus privaten Sammlungen des In- und
Auslands. An den Erwerbungen haben fünf der sechs Abteilungen des Hauses partizipiert,
leer ausgegangen ist im Berichtsjahr leider die Südsee-Abteilung, die auch in den vergange-
nen Jahren durch einen sehr kleinen Zuwachs gekennzeichnet war.
Innerhalb der Afrika-Sammlungen sind neben den aus dem Kameruner Grasland mitge-
brachten Objekten vor allem zwei Gruppen zu nennen, die aus dem Kongo-Gebiet und
aus Westafrika stammen. Das größere Gewicht hat dabei eine kleine, aber qualitativ her-
ausragende Kongo-Sammlung, wenngleich auch die Westafrika-Stücke, geringer an Zahl,
sich durch ihre hohe Qualität auszeichnen.
Wie in den vergangenen Jahren, so konnten auch in diesem Jahr die Sammlungen
aus dem islamischen Orient in ihren verschiedenen Aspekten wesentlich erweitert werden:
Daß es in den beiden letzten Jahren gelungen ist, Ansätze zu einer Marokko-Sammlung
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
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Abb. 3 Maskentänzer. Baicham, Kameruner Grasland. Zwei Maskentänzer, die als Teil
eines Maskenzuges des Kwifon-Geheimbundes in der Sonderausstellung des Linden-
Museums „Kamerun — Könige, Masken, Feste“ im Institut für Auslandsbeziehungen,
Stuttgart, zu sehen waren. Außer den Aufsatzmasken gehören zu einem vollständigen
Maskenkostüm Federgewänder, Fußrasseln, Kopfnetze und Stöcke.
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Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
soweit auszubauen, um damit die städtische Kultur im Nordwesten dieses Gebiets in
einiger historischer Tiefe darstellen zu können, zeigt die eingangs genannte Ausstellung.
Deutlich verbessert wurden die Bestände aus dem mittelasiatischen Raum, nämlich mit
turkmenischem und usbekischem Material. Der Hindukusch-Schwerpunkt konnte gleich-
falls verstärkt werden. Die hier liegenden Sammlungen werden zahlenmäßig sicher nicht
mehr im gleichen Maß wie bisher steigen, weil nun eine gewisse Abrundung erreicht ist,
und zwar ebenso im Hinblick auf Nuristan wie auf das mittlere Swat-Gebiet, um nur
diese beiden in den letzten Jahren besonders angewachsenen Einzelgruppen zu nennen.
Dank einer freundlichen Stiftung konnte aber auch der historische Aspekt dieses
Kulturraumes noch einmal verstärkt werden: in den Rahmen der höfischen Kultur Irans
gehören drei große geschlossene Fliesenfelder, die aus einem spätsafawidischen Palast in
oder um Isfahan stammen — Seltenheiten in den Islam-Sammlungen unserer Museen.
Nachdem es in den vorangegangenen Jahren gelungen war, eine Reihe herausragender
Objekte indischer und kaschmirischer Herkunft zu erwerben, konnten wir in diesem Jahr
vor allem die Hinterindien-Sammlung ergänzen. Der Schwerpunkt lag hier wieder deutlich
auf Thailand. Neben einer weiteren Keramik-Gruppe sind vor allem einige hervor-
ragende Kunstwerke aus dem frühen Thailand zu nennen, Arbeiten aus dem 7./8. und aus
dem 13. Jh. Auch ein kapitales Werk aus der reifen Zeit des Khmer-Reiches ist zu
erwähnen.
Was die Sammlungen ostasiatischer Herkunft betrifft, so ist der 316 Nummern umfas-
sende Japan-Komplex aus einer Sammelerwerbsreise bereits genannt worden. Abgesehen
davon gelang es, eine Reihe chinesischer Objekte zu erwerben, kleine, gute Ergänzungen
bestehender Gruppen.
Außer einigen guten Einzelstücken aus dem peruanischen sowie dem nördlich angren-
zenden andinen Raum und von der Nordwestküste Nordamerikas betrafen die Zugänge
der Amerika-Sammlungen vor allem zwei Gebiete, nämlich Mexiko und den Südwesten
der USA. Von den aus dem letzteren Gebiet mitgebrachten Körben war schon die Rede.
Die Mesoamerika-Bestände sind fast durchweg taraskischer Herkunft, von nordwestmexi-
kanischen Einzelstücken abgesehen. Es handelt sich zum überwiegenden Teil um Terra-
kotten und Tongefäße, die wenigstens einen Aspekt dieser reichen Kulturentwicklung
darzustellen erlauben.
Wenngleich alle im Berichtsjahr hereingenommenen Einzelstücke, Gruppen und Samm-
lungskomplexe innerhalb der Sammlungen des Museums ihr Gewicht und ihre Bedeutung
haben, so glaube ich doch sagen zu dürfen, daß die entscheidenden Erwerbungen im Bereich
A4arokko und Südostasien liegen. Die marokkanischen Zugänge, vor allem die Architek-
turteile, werden es später erlauben, die belle étage eines großbürgerlichen Hauses im gan-
zen für unsere Ausstellung zu rekonstruieren, und die südostasiatischen Bestände sind
hinsichtlich ihrer Qualität so herausragend, daß ihnen in den Museen Mitteleuropas wenig
Gleichwertiges zur Seite zu stellen ist.
Ahb. 4 Kastenfenster aus einem um 1690 erbauten Haus in der Medina von Mebnes,
Marokko. Rahmen mit doppeltem Hufeisenbogen und Kassettierung im unteren Drittel.
Doppelladen mit Stcrnflechtdekor, beschnitzt und bemalt. H: 216 cm, B; 141 cm. Inv.-Nr.
A 34 304.
16
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 19/7
Allen an den Erwerbungen beteiligten Mitarbeitern danke ich sehr für den Einsatz,
ihre Umsicht, Gewissenhaftigkeit und schöpferische Phantasie. In Abwesenheit von Herrn
Dr. Koloss stellt Frau Dr. Heermann nachfolgend die Erwerbungen der Afrika-Abtei-
lung vor, Herr Dr. Kalter die der Orient-Abteilung, Frau Dr. Thomsen diejenigen aus
Südasien, Herr Dr. Brandt die Zugänge aus Ostasien und Herr Dr. Schulze-Thulin die
seiner Amerika-Abteilung. Die alljährliche Zusammenfassung der Erwerbungen durch die
Betreuer der einzelnen Sammlungen und Sammlungsgruppen gibt jedem von ihnen die
erwünschte Gelegenheit, sich wieder mit seinem Sammlungskonzept auseinanderzusetzen
und den Standort festzustellen, der zum jeweiligen Zeitpunkt erreicht ist. Wir alle freuen
uns über die Möglichkeit, auch in unseren Tagen die Sammlungen des Museums noch
kräftig voranbringen zu können, wir danken den Stiftern und Spendern ebenso wie dem
Kultusministerium und hier vor allem Herrn Ministerialrat Müller sowie den Direktoren
der vier anderen staatlichen Kunstsammlungen, daß sie unseren Erwerbungswünschen im
Ahh. 5 Kruzifix, Gelb-
guß. Kongo. Kreuze die-
ser Art dienten im 19. Jh.
den Würdenträgern als
Amulette. Form und Ge-
staltung gehen aber sicher
auf Einflüsse durch die
portugiesische Missions-
tätigkeit im 16. und 17.
Jh. zurück. H: 28 cm.
Inv.-Nr. F 51 837 L.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
17
Rahmen der Mittel des Zentralfonds wieder mit großer Aufgeschlossenheit begegneten
und uns durch ihr kritisches Mitgehen jedesmal veranlaßten, uns über unsere Wünsche und
Vorstellungen größtmögliche Klarheit zu verschaffen.
Es sollen nun, wie in vergangenen Jahren, die Berichte über die einzelnen Abteilungen
folgen, von denen vorher die Rede war.
Afrika-Abteilung
Die Afrika-Abteilung konnte im Berichtsjahr 1977 einen Zugang von insgesamt 73
Sammlungsstücken verzeichnen. Besonders erfreulich ist, daß die Bestände aus dem Kongo
und Kamerun — seit langem Schwerpunkte der Afrika-Abteilung — weiter ergänzt und
ausgebaut werden konnten.
Ahb. 6 Helmmaske, Holz
und Raffia. Pende, Kon-
go. Maske aus Holz, Fri-
sur mit vier Zöpfen aus
Raffia. Masken dieses
Typs gelten als Personi-
fikation wichtiger Persön-
lichkeiten. Sie werden bei
den Tanzspielen zum Ab-
schluß der Beschneidungs-
zeremonien getragen. H:
60 cm. Inv.-Nr. 51 841.
2
18
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Aus dem Kongo kamen 14 Stücke, darunter von den Bakongo eine hervorragende
Maske, ein Armreif (Gelbguß) und ein Kruzifix von 28 cm Höhe. Form und Gestaltung
des Kruzifixes zeugen von dem fast 200 Jahre dauernden Wirken portugiesischer Missio-
nare im Königreich Bakongo, obgleich der religiöse Hindergrund seit Aufgabe der Mis-
sionstätigkeit 1771 verlorenging. Weiter zu nennen sind eine Helmmaske mit den für die
östlichen Pende typischen dreieckigen Konturen und eine Initiationsmaske der von den
Yaka beeinflußten Suku, durch die eine große Sammlungslücke geschlossen werden konnte.
Von den Yaka selbst kamen zwei Fetischfiguren zur Sammlung, von den Bembe ein figür-
lich gestalteter Tabakmörser und eine Holzfigur. Eine wichtige Ergänzung bilden auch
zwei Stücke vom bedeutenden Schnitzerstamm der Tschokwe: ein beschnitzter, mit Mes-
singnägeln beschlagener Stuhl und eine Fetischfigur.
Insgesamt 44 Objekte wurden von Herrn Dr. Koloss während seines Forschungsauf-
enthaltes im Kameruner Grasland für das Museum erworben, davon 7 Masken, womit die
bestehende Sammlung weiter komplettiert werden konnte. Neben diesen Masken aus
Oku und Baicham sind 4 dazugehörige Maskengewänder — darunter 3 Federgewänder —,
ergänzt durch Rasseln, Tanzstöcke und -wedel, besonders hervorzuheben. Nur
selten im Handel angeboten, geben sie dem Museum in Ausstellungen die Möglichkeit,
einen lebendigen Eindruck vom Auftreten der Masken und ihrer Funktion in den Masken-
bünden zu vermitteln. Gleiches gilt für eine Anzahl kleinerer Objekte, wie Zauber-
figuren, Schwirrhölzer und Pfeifen (juju-in-the-night), wichtige Objekte im Gesamtzusam-
menhang der Geheimbünde. Ergänzt wurde diese Sammlung weiter durch eine Anzahl
Objekte aus dem täglichen Leben (Arbeitsgeräte, Körbe etc.), durch einige Perlenketten —
z. T. Rangabzeichen der Notablen — und 3 Gewehre.
Besonders erfreulich ist die Tatsache, daß im Berichtsjahr eine große Sammlungslücke
durch den Ankauf von 2 Masken der Ibo-Tradition und einer Ibibio-Maske geschlossen
werden konnte. Bei ersteren handelt es sich zum einen um eine Maske der südlich des Benue
lebenden Idoma, zum anderen um eine Ibo-Geistermaske der Mmwo-Gesellschaft. Masken
der zuletzt erwähnten Art stellen verstorbene Frauen dar und gelten gleichzeitig als Ver-
körperung des Schönheitsideals der Ibo. Die Maske der Ibibio in Südostnigeria gehört
zu denen mit festem Unterkiefer.
Im Bereich der nach wie vor relativ schwach bestückten Westafrika-Sammlung konnten
1977 keine größeren Lücken geschlossen werden. Doch kamen auch hier 4 Masken (Senufo,
Bobo, Baja und Yoruba) und eine Anzahl kleinerer Gegenstände, wie Webrollen der
Senufo, Baule und Guro, hinzu — durchweg alte Stücke hoher Qualität. I. H.
Orient-Abteilung
Rein numerisch nimmt sich der Zuwachs der Orient-Abteilung mit 245 Objekten, ver-
glichen mit den Vorjahren, relativ bescheiden aus. Da der Schwerpunkt dieser Erwerbungen
mit 174 Stücken eindeutig auf einem Gebiet — städtisches marokkanisches Material — lag,
war es uns damit möglich geworden, ein bisher nur in guten Ansätzen vorhandenes Sammel-
gebiet soweit auszubauen, daß wir es schon kurz vor Jahresende in der Sonderausstellung
„Aus marokkanischen Bürgerhäusern“ der Öffentlichkeit vorstellen und in einem Katalog
zum Teil publizieren konnten. Das Sammlungsgut stammt aus den großen alten Städten
Nord- und Nordwest-Marokkos — Schwerpunkt Meknes und Fes, Ergänzungen aus
Rabat, Sale, Tetuan und Chechaouen — und ist überwiegend in die Zeit zwischen dem
späten 17. und frühen 20. Jh. zu datieren.
Das Linden-Museum Stuttgart im ]ahr 1977
19
Abb. 7 Tisch mit Haube „Tbicka“ zum Aufträgen eines Gerichts oder zutn Anbieten von
Brot; Zedernholz, bemalt. Tetuan, Marokko, 19. Jh. H: 95 cm, 0; 60 cm. Inv.-Nr.
A 34 296.
20
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Während einer Sammelreise im Jahre 1976 hatte ich in der Medina von Meknes ein
um 1690 erbautes, sehr reich ausgestattetes Haus entdeckt, das vom derzeitigen Besitzer
umgebaut werden sollte. Mit Hilfe einer großzügigen Spende, für die auch ich an dieser
Stelle danke, konnten geschnitzte und farbig gefaßte Türen und Fenster aus dem Ober-
geschoß des Hauses, eine Wandschranktür und eine hölzerne Trennwand aus dem Unter-
geschoß, vier kleine Mosaikfliesenfelder, der Marmorbrunnen aus dem Patio sowie die
beschnitzte und bemalte Decke eines Schlafzimmers aus dem zur gleichen Anlage gehören-
den Nachbarhaus erworben werden. Den für diesen Architekturstil wichtigen Stuckdekor
gossen wir mit Silikonkautschuk ab und rekonstruierten ihn im Museum. Zwei hölzerne
Fenstergitter und zwei Original-Stuckfenster aus Fes runden den Sammlungskomplex
„Architektur“ ab.
Ziel des Sammelns war es, Wohn- und Lebensstil der dünnen städtischen Oberschicht
(Großkaufleute, Großgrundbesitzer, Beamte des Sultans, Gelehrte) darstellen zu können.
Deshalb erwarben wir;
14 geknüpfte Berberteppiche (19. und frühes 20. Jh.);
10 in der Mehrzahl bemalte Möbelstücke, wie Truhen, Tische, Etageren (18. bis frühes
20. Jh.);
46 glasierte städtische Keramiken — blau-weiße Fes-Ware, polychrome Ware von Fes,
Meknes und Saft, monochrome grüne Meknes-Ware (spätes 17. bis Ende 19. Jh.);
27 Metallarbeiten, z. B. Teetablett, weiterhin Behälter, Kannen, Waschgarnitur, Spritz-
flaschen, Räuchergefäße etc. (18. bis frühes 20. Jh.);
18 Teile Hausrat und Kücheneinrichtung (Töpfe, Kohlebecken, Blasebalg, Mühle usw.);
Abb. 8 Kuskus-Schüssel „Mokhfia“, Fayence mit Inglasurmalerei. Meknes, Marokko,
17. Jh. H: 17,4 cm, 0; 45,7 cm. Inv.-Nr. A 34 258.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
21
22 Textilien, wie Brokatgewänder, Vorhänge, Decken, Kissen, Schärpen (meist 19. Jh.),
aber auch Alltagskleidung;
4 städtische Waffen (darunter ein außergewöhnlich reich mit Silberbeschlägen verziertes
sog. Berbergewehr) und einige Ethnographica.
Die schon bestehende umfangreiche Sammlung marokkanischen Schmuckes konnte durch
10 überwiegend aus Süd-Marokko stammende Stücke ergänzt werden.
Weitere wichtige Neuerwerbungen aus Marokko stellen zwei ins 14. Jh. zu datierende
merinidlsche Architekturteile und eine merinidische Truhe dar.
Aus dem älteren Iran (Ostchorasan, 11./12. Jh.) konnten wir durch Zukauf von 11
Metallarbeiten (Mörsern, Schalen, Lampen) die im Vorjahr schon kräftig gewachsene
Sammlung erweitern.
Ein weiteres Gebiet der Iran-Sammlung, dem schon lange unser Interesse galt, konnte
ebenfalls mit Hilfe einer großzügigen Stiftung bereichert werden. Zur Illustration höfischer
Kultur der späten Safawidenzeit wurden unsere Sammlungen um drei vollständige Fliesen-
felder erweitert, die eine Jagdszene, eine Szene auf dem Maidan-e-Shah (Schah-Platz) in
Isfahan und eine Szene aus dem Roman „Laila und Madjnun“ zeigen.
Der Ausbau unserer Mittelasien- und Afghanistan-Sammlung konnte kontinuierlich
fortgesetzt werden. Es kamen hinzu:
17 Textilien; besonders bemerkenswert sind 3 bestickte turkmenische Kürtehs;
9 Waffen (überwiegend aus Nord-Afghanistan);
5 Schmuckstücke (Turkmenen, Kasak);
5 Ethnographica;
1 Tür aus Kabul.
Auch die Abrundung der Swat-Sammlung haben wir weiter betrieben. Außer 5 aus
einer Moschee stammenden Architekturteilen und 3 Möbelstücken war, wie nach den
Erwerbungen der Vorjahre zu erwarten, nur der Zukauf kleinerer Ergänzungen (Werk-
zeug und Hausrat) nötig und möglich.
Bescheidener Anfang eines neuen Sammelgebiets war der Zukauf von 2 Moghul-Waffen,
die für uns vor allem wegen des Vergleichs mit zeitgleichem persischem Material von Inter-
esse sind. J. K.
Südasien-Abteilung
Für die Südasien-Abteilung wurde eine bedeutende Sammlung mit Schwergewicht auf
der Kunstgeschichte Hinterindiens erworben, die im Anschluß vorgestellt werden soll.
Neben diesem Zugang nehmen sich die wenigen anderen Neuerwerbungen bescheiden aus,
wenngleich sie für unsere Sammlungen wichtige Ergänzungen darstellen: eine silberge-
triebene Butterlampe und ein Männer-Ohrring mit Türkisen und Korallen, beide Objekte
aus dem lamaistischen Kulturbereich, sowie ein kupfernes Reismaß aus Nepal vervoll-
ständigen die Sammlungen der Himalaya-Länder ebenso wie besonders eine kleine Bronze
aus dem West-Himalaya-Gebiet, die den Buddha in der Geste der Erdberührung darstellt,
jener Geste, die auf ein Geschehnis im Leben des Gautama Buddha hinweist: Kurz bevor
er die höchste Erkenntnis („Erleuchtung“) erlangte, wurde er durch Mära, die Personi-
fikation des Bösen, versucht und rief die Erdgöttin zur Zeugin an dafür, daß er sich in
früheren Leben durch gute Taten ausgezeichnet habe und die Erleuchtung erlangen werde.
Die Darstellung stammt aus dem 8. Jh.
22
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Ahh. 9 Buddha, Messing mit Silber- und Kupfereinlagen. West-Himalaya, 8. Jh.
H: 9,5 cm. Inv.-Nr. 34 185 L.
Die vorhandene und im Ausbau befindliche Sammlung von Skulpturen und Gebrauchs-
gegenständen vom Stamm der Ifugao aus dem Norden der Insel Luzon (Philippinen)
wurde ergänzt durch zwei Holzfiguren, die Reisgötter darstellen.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
IS
Gestiftet wurden uns
freundlicherweise 7 Ge-
fäßkeramiken aus Thai-
land, davon 6 aus der
(prähistorischen) Ban-
Chieng-Periode, 10 kleine
Bronzen aus Taxila (im
heutigen Nordpakistan)
sowie eine Patchwork-
Pferdedecke aus Gujarat,
Nordindien.
Die bedeutendsten
Neuerwerbungen stellen
8 zumeist buddhistische
Skulpturen dar:
Drei buddhistische Fi-
guren aus dem frühen
Thailand in dem nach der
Hauptstadt des Mon-Rei-
ches am Menam-Delta,
Dväravati, genannten
Stil. Es handelt sich um
den Steintorso eines ste-
henden Buddha, die
Bronzefigur eines eben-
falls stehenden Buddha
und den Stuck-Kopf eines
Buddha, alle ca. 7. bis 8.
Jh.
Eine stehende Buddha-
Figur aus Terrakotta im
sog. Haripunjaya-Stil
(13. Jh.), gleichfalls nach
der Hauptstadt des in-
zwischen nach Norden
verlagerten Mon-Reiches
benannt, zeigt die Budd-
Ahb. 10 Bulol (Reis-
gott), Holz. Ifugao, Lu-
zon, Philippinen. Anf.
20. Jh. H: 60 cm. Inv.-
Nr. SA 34 153.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
hagestalt in der Spätform
des Mon-(Dväravatl-)
Stils.
Von einem der weni-
gen Fundorte in Thai-
land, an denen hinduisti-
sche Skulpturen gefunden
worden sind, nämlich Si
Tep (Shrl Deva) nahe
dem heutigen Phetchabun
in Mittel-Thailand, dürf-
ten zwei jetzt erworbene
Fragmente hoher Quali-
tät stammen: ein Torso
einer weiblichen Figur, ei-
ner vermutlich vishnuiti-
schen Göttin, und ein
Steinkopf, der deutlich
die Beeinflussung durch
den klassisch-indischen
Guptastil zeigt. Beide Ob-
jekte können etwa ins 7.
Jh. datiert werden.
Den reinen Khmer-Stil
des 9./10. Jh. (Kamboja)
repräsentiert die Vollpla-
stik (Kopf und Füße feh-
len) einer weiblichen Fi-
gur aus Kalkstein, teil-
weise angeschliffen. Pla-
stiken dieses Stils befin-
den sich in größerer Zahl
im Musée Guimet, Paris,
aber im Vergleich mit die-
sen zeichnet sich die von
uns erworbene Figur
durch besondere Ausge-
wogenheit aus. M. T.
Abb. 11 Buddha, Bron-
ze. Thailand, Dväravati-
Stil, 7. bis 8. Jh. H: 56 cm.
Inv.-Nr. SA 34 178 L.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
25
Ostasien-Abteilung
Die chinesischen Sammlungen der Ostasien-Abteilung wurden im Berichtsjahr durch elf
Erwerbungen ergänzt: eine Chien-yao-Temmoku-Teeschale aus der Südsung-Zeit (ca. 12/
13. Jh.), die dem Linden-Museum Stuttgart als Geschenk übereignet wurde, ein Elfenbein-
mörser aus dem Ende der Ming-Zeit (1368—1644) mit Drachen- und Phönix-Darstellun-
gen auf zwei übereinander angeordneten Dekorbändern, zwei Paare Schriftrollen von
Ch’ien Ta-hsin (1728—1804) bzw. Tseng Kuo-fan (1811—1872), eine Querrolle mit
einer Seenlandschaft und Pavillon von dem südchinesischen Maler K’ang K’ung (tätig in
der zweiten Hälfte des 18. Jh.) und vier Steinabreibungen von Kalligraphien von Teng
Shih-ju (1743—1805).
Für die kleine Korea-Sammlung wurden eine ovale geflochtene Picknickschachtel
(19. Jh.), die Bauern auf die Felder mitnahmen, zwei Kuchenmodel aus Porzellan (19. Jh.)
und eine moderne Seladon-Schale erworben, letztere in der traditionellen Einlegetechnik
(sanggam) der Koryö-Dynastie (918 — 1392) dekoriert.
Die japanischen Sammlungen erhielten die weitaus meisten Neuzugänge. Abgesehen von
einigen Ausnahmen, handelt es sich dabei um Gegenstände aus dem Alltagsleben und der
sog. Volkskunst (mingei), die während einer mehrwöchigen Sammelerwerbsreise in Japan
direkt erworben wurden. Zweck dieser Reise war, gezielt Ergänzungen besonders im
volkskundlichen Bereich für die japanische Abteilung zu sammeln.
Die erwähnten Ausnahmen sind 3 runde Spiegeldosen (kagami-bako) mit einem maki-
e-Lackdekor aus dem Ende der Muromachi- bzw. dem Anfang der Edo-Zeit (ca. 16. bis
17. Jh.) und 1 rechteckige Dose aus Gußeisen mit einem floralen Lackdekor in takamaki-e
(Mitte der Edo-Zeit, Ende 17./Anf. 18. Jh.). Diese 4 Lackarbeiten sollen die große japa-
nische Lacksammlung des Museums ergänzen, deren systematischer Ausbau in den kom-
menden Jahren — wie auch schon in der Vergangenheit — ein Hauptanliegen der Sammel-
tätigkeit für die Ostasien-Abteilung sein wird. So lag auch einer der Hauptakzente der
Erwerbungen in Japan auf den Lackarbeiten, fast ausnahmslos Alltagsware aus den
letzten 150 Jahren und einige wenige Beispiele moderner Gebrauchslacke.
Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, würden alle Lacke und die übrigen
Erwerbungen der Sammelreise nach Japan einzeln aufgeführt und beschrieben werden;
dies soll nur summarisch geschehen. Insgesamt wurden 36 Lackarbeiten erworben, dar-
unter viele Lackteller und Anbietschalen aus dem 19. Jh. Ferner ein kompletter Satz mit
23 Beispielen der einzelnen Arbeitsstufen der Herstellung einer Lackschale mit Deckel für
Suppe bzw. Reis. Dieses Beispiel für die heute noch angewandte traditionelle Lacktechnik
stammt aus Wajima, einem kleinen Fischer- und Thermalbadeort an der Küste des Japa-
nischen Meeres, der für seine sehr qualitätvollen Lackarbeiten in ganz Japan berühmt ist.
Aus Takayama, einem Städtchen im Inneren der Hauptinsel Honshü, kommen 2 Lack-
arbeiten, die nur mit farblosem Naturlack (shunkei-nuri) bedeckt und typisch für diese
Gegend sind. Hierzu gehört auch ein kleiner Satz von Behältern für Pulvertee (natsume),
der fünf verschiedene Herstellungsstufen zeigt, beginnend mit dem Rohling aus grob
beschnitztem Holz bis zur fertig gelackten Dose.
Neben diesen Lackarbeiten bilden Textilien, aus dem Ende des 19. und vorwiegend aus
der ersten Hälfte des 20. Jh. stammend, den zweiten Schwerpunkt der Neuerwerbungen
aus Japan. Es wurden insgesamt 36 Gewänder erworben. Davon sind 20 Frauengewänder:
1 Uchikake (ein prunkvolles Übergewand), 8 Kimono bzw. Furisode (Kimono mit langen
Ärmeln), 1 Hanten und 4 Haori (jacketähnliche Übergewänder), 6 Unterkimono (shitagi)
26
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Ahh. 12 Detail eines Gewebestreijens für Kimono, indigoblau gefärbte Baumwolle mit
Kranich-Dekor in „e-gasuri“ („bildhaftes Ikat“). Japan, um 1900. 150 x 32,5 cm. Inv - Nr.
OA 20 577 n.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
27
Abh. 13 Teller, Arita-Porzellan mit unterglasurblauem Dekor (drei Rettiche). Japan,
Anfang 19. ]h. 0; 22 cm. Inv.-Nr. OA 20 592.
und dazu 5 Obi (prunkvolle Gürtelschärpen), des weiteren 8 Männergewänder: 3 Haori,
1 Kimono, 3 Unterkimono (shitagi) und 1 Kappa (eine Art Cape aus dickem Baumwoll-
stoff, das bis zu Beginn des 20. Jh. von der Landbevölkerung getragen wurde), und schließ-
lich 8 Kimono für Mädchen und Jungen sowie 2 Obi für Mädchen. Außer diesen Klei-
dungsstücken wurden 34 weitere Textilien erworben: 26 indigoblaue Baumwollstreifen, aus
denen Gewänder genäht werden, 21 von diesen Streifen sind in der e-gtf5«ri-Technik
(Ikat) und 5 mit Farbschablonen (katazome) gemustert, 3 Furoshiki (große Tücher zum
Einwickeln von Gegenständen), 4 Fukusa (kleine Einschlagtücher, mit denen man
Geschenke einwickelt bzw. anbietet), 1 Badetuch für Neugeborene (yü-age) und 1 Noren,
aneinandergenähte Stoffstreifen, die über dem Eingang eines Geschäftes befestigt werden
und meist das Hauswappen des Ladens als Muster tragen.
28
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Ahb. 14 Strichzieher für Schreiner ( „sumi-tsubo“ ), Zedernholz. Japan, 19. ]h. L: 15,1 cm.
Inv.-Nr. OA 20 607.
Ferner wurden erworben: 18 Keramiken, meist Schalen und Teilerchen aus dem 17. bis
20. Jh., das vollständige Zubehör für die Teezeremonie (chado-gu), verschiedene Werk-
zeuge für Schreiner und Lackmeister, 5 Flechtarbeiten aus Wajima, 5 Sonnen- bzw. Regen-
schirme aus dem ausgehenden 19. Jh., 1 aus Binsen geflochtener Schneehut (19. Jh.), wie
sie früher die Bauern auf dem Feld trugen, 2 Handtaschen für Frauen aus Bambusgeflecht
und Stoff, 5 Kalebassen, die als Wassergefäße benutzt wurden, gelackte Holzsandalen
(Geta), 1 kleines Votivbild mit Pferdedarstellungen (ema) aus dem 19. Jh., 2 kantig und
sehr stilisiert geschnitzte Figuren der Glücksgötter Daikoku und Ebisu aus Zentraljapan
(vermutlich Mitte 19. Jh.), ein Satz Puppen für das Mädchenfest (Hina-matsuri) und 2
Brokatpuppen (kime-komi), die charakteristisch für Kyoto sind, weiterhin 4 Gebäck-
formen aus Holz (19. Jh.), 2 Papierlaternen (andon, Ende 19. Jh.), 1 Sakekanne aus ver-
silbertem Messing (19. Jh.), 1 Teedose aus Messing, 1 vollständiger Schminksatz für
eine Braut aus dem 19. Jh. und 1 moderner Schablonendruck aus dem Genji-Zyklus (1977)
von Yoshitoshi Mori (geb. 1898 und in Tokyo lebend). K. J. B.
Amerika-Abteilung
Im Jahr 1977 konnten für die Amerika-Abteilung vor allem zwei größere Komplexe
erworben werden. Zum einen handelt es sich um den dritten Teil der Mexiko-Sammlung
eines Privatsammlers, die das Museum günstig kaufen konnte (s. Bericht der Amerika-
Abteilung in TRIBUS 25 und 26), zum anderen um Objekte, vornehmlich Körbe, die an-
läßlich einer Sammelerwerbsreise in den Sommerwochen 1977 durch den Südwesten der
USA sowie Kalifornien erworben werden konnten.
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
29
Ahh. 15 Körbe aus dem Südwesten Nordamerikas und Kalifornien, erworben auf einer
Sammelerwerbsreise im Sommer 1977. Untere Reihe von links nach recht: Tulare, um 1850
(M 30 713); Porno, 2. H. 19. ]h. (M 30 714); Tlingit, ca. 1850 (M 30 709); Pirna, ca. 1910
(M 30 701); Washoe, 2. H. 19. Jh. (M 30 717); Chemehuevi, 2. H. 19. Jh. (M 30 715);
Pirna, ca. 1910 (M 30 702). Zweite Reihe von unten, ebenfalls von links nach rechts:
Klamath, ca. 1890, Beaty Coll. (M 30 706); Porno, ca. 1920 (M 30 704); Hupa, Karok
oder Yurok, 2. H. 19. Jh. (M 30 716); Klamath, ca. 1900, Beaty Coll. (M 30 705); Pirna,
ca. 1900 (M 30 703). Großer Korb in der Mitte des Bildes: Yokut, ca. 1880 (M 30 697).
Vier Körbe oben von links nach rechts: Klamath, ca. 1900, Beaty Coll. (M 30 707);
Westl. Apachen, ca. 1900 (M 30 699); Westl. Apachen, ca. 1890 (M 30 698); Westl. Apa-
chen, ca. 1890 (M 30 700).
Der Mexiko-Komplex umfaßt insgesamt 135 Stücke. Abgesehen von einer figürlichen
Keramik (Colima) sind alle Objekte taraskischen Ursprungs. Hinsichtlich sowohl der
30
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Qualität als auch der Quantität steht Keramik an erster Stelle: Schalen, topfförmige
Gefäße (oft Dreifüße), kleine Schälchen und Väschen sowie kleinere Leuchter, verschie-
dene Figürchen, Spindelgewichte, Stempel und kleine Okarinas. Es folgen 14 Spitzen
(Lanzen-, Speer-, Pfeilspitzen) und 5 Messer sowie 2 Bruchstücke eines Ohrpflockes aus
Obsidian in der für diesen Kulturhorizont charakteristischen Qualität. Schmuck aus
Muschelschalen, Steinen und Knochenperlen bildet einen weiteren Teil dieser Sammlung.
An kupfernen Gegenständen sind zu erwähnen: 1 Kette aus kleinen Glöckchen, 3 längere
Nadeln, 2 Axtgeldstücke, 1 kleines Beil, 1 Spitze mit Textilresten sowie 3 Bartzupfer.
Eine mittelgroße Grabplatte schließt diese Erwerbung ab.
Bevor wir uns dem nordamerikanischen Bereich zuwenden, sei noch erwähnt, daß wir
von einem anderen Privatsammler ein zwar restaurierbedürftiges, aber verhältnismäßig
großes Gewebe (1,80 x 2,70 m) von der Südküste Perus (Gebiet Ica/Nazca) erwerben
konnten.
Abgesehen von einem großen Holzlöffel der Kwakiutl, Nordwestküste, stammen
nahezu alle nachfolgend aufgeführten nordamerikanischen Objekte aus dem Südwesten
und Kalifornien.
Aufgabe der Sammelerwerbsreise in den Südwesten der USA war es, den im Linden-
Museum Stuttgart vorhandenen Korbbestand aufzustocken. Dabei sollten Körbe vor allem
der Stämme in Betracht kommen, die bereits mit Korbmaterial vertreten sind. Dieses Ziel
konnte erreicht werden. Da Gegenstände dieser Art auf direktem Wege heute nicht mehr
gesammelt werden können (Indianer kaufen selbst autochthones Material zurück bzw.
geben das wenige, das noch vorhanden ist, nicht ab), mußte auf Sammler und Händler,
zum Teil auch Leiter kleinerer lokaler Museen, die über die besten Kontakte und Kennt-
nisse über den Sammlermarkt verfügen, zurückgegriffen werden. Auf diese Art konnten
33 sehr gute Körbe, vor allem aus der Zeit zwischen 1850 und 1930, erstanden werden:
Arizona — 1 großer und 2 mittelgroße der westlichen Apachen; 1 kleiner, 1 mittel-
großer und 1 mit Perlen verzierter von den Pirna; 2 schalenförmige von den Papago;
1 Platte von den Hopi (3. Mesa); 1 sog. Hochzeitskorb der Navajo.
Kalifornien — 1 von den Yokut; 1 mittelgroßer von den Yurok; 1 mittelgroßer sowie
1 kleiner, mit weißen Perlen verzierter von den Porno; 1 mittelgroßer, verziert mit
schwarzen Federchen von den Tulare.
Großes Becken (Kalifornien) — 1 kleinerer, vasenförmiger von den Chemehuevi;
1 kleiner der Washoe (Grenze zu Nevada).
Plateau (Oregon) — 2 mittelgroße sowie 1 Teller (alle 3 aus der Beaty-Kollektion)
von den Klamath.
Nordwesten (British Columbia) — 1 Hutaufsatz (Dreiring) von den Tlingit.
Neben diesen alten Körben wurde noch etliches neues Korbmaterial gekauft, das ins-
besondere von den Papago für den Kunstgewerbemarkt hergestellt wird. Von diesen
wurden außerdem 2 Drahtkörbe mitgenommen, die heute dort in Gebrauch sind. Von den
Apachen stammen darüber hinaus 1 abgedichteter, mittelgroßer Korb (White-River-Reser-
vation) sowie 1 großer Tragkorb (San-Carlos-Reservation), wie sie zur Zeit — bei stei-
genden Preisen — vom Kunstgewerbe angeboren werden. Als letztes Stück des Korb-
materials sei noch 1 neue Korbplatte der Hopi erwähnt.
Neben diesen Körben wurden 1 kleinere Keramik aus Hano (Tewa), 1 Hopi-Kachina-
Puppe sowie 2 ältere Navajo-Silberketten gekauft, von denen die eine aus den 20er-, die
andere aus den 50er-Jahren stammt. A. S.-T,
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
31
Ahh. 16 Silberkette mit
Naja und einem Türkis.
Navajo, Arizona, USA,
ca. 1920. L (o. Naja):
59 cm. Inv.-Nr.M 30711.
Stiftungen
Im Erwerbungsbericht war schon die Rede davon, daß eine nicht geringe Zahl von
Zugängen freundlichen Stiftungen zu verdanken war. Hier darf hinzugefügt werden, daß
uns andere in großzügiger Weise bei der Beschaffung von Sammlungsgut und von Stiftun-
gen geholfen haben. Ihnen allen, den Stiftern wie den Vermittlern darf ich an dieser
Stelle ganz aufrichtig für ihre Hilfe danken. Es sind die folgenden Damen, Herren und
Firmen:
Herr H. Breuninger, Stuttgart
Herr J. Drechsel, Karlsruhe
Frau L. Hafner, Stuttgart
Herr G. Hartl, München
Herr Dr. L. Keller, Nagold
Herr P. U. Klemm, Böblingen
Herr Prof. Dr. H. Luschay, Tübingen
Herr Ch.-J. Massar, Brüssel
Herr S. Motamed, Frankfurt/M.
Galerie Spink, Zürich
Herr M. Speidel, Stuttgart
Galerie Stolper, München
Herr X. Wanner, Stuttgart
32
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
Wie in den vergangenen Jahren, so haben uns nicht nur Zuwendungen in Form von
Stiftungen erreicht, sondern auch Geldgeschenke, die der Arbeit des Hauses im ganzen
zugute kommen. Auch diesen Spendern gilt unserer aufrichtiger Dank. Es sind folgende
Damen, Herren und Firmen:
Firma R. Bosch GmbH, Stuttgart
Firma E. Breuninger KG, Stuttgart
Firma Daimler-Benz AG, Stuttgart
Herr Dr. G. F. Kempter, Engelberg
Landeszentralbank, Stuttgart
Firma H. Lutz, Stuttgart
Herr Dr. R. Meisezahl, Bonn
Frau H. Schoettle, Stuttgart
TWS, Stuttgart
Württ. Hypothekenbank, Stuttgart
Besonders darf das Museum auch in diesem Jahr der Gesellschaft für Erd- und Völker-
kunde zu Stuttgart e. V. danken. Wie in den zurückliegenden Jahren hat sie uns in Form
von Darlehen und Zuwendungen Immer wieder dort geholfen, wo eigene Mittel nicht
oder nicht rechtzeitig zur Verfügung standen. Hier gilt unser ausdrücklicher Dank dem
Vorstand der Gesellschaft, der den Wünschen des Museums stets mit größter Bereitwillig-
keit Gehör schenkte.
Museumsinterne Arbeiten und personelle Veränderungen
Die museumsinternen Arbeiten wurden wie in den Vorjahren in allen Sparten weiter-
geführt. An der Inventarisierung der Bestände konnte weitergearbeitet werden, zahlreiche
neue fotografische Aufnahmen entstanden, die Restaurierung ging — wegen des viel zu
geringen Personalstands leider zu langsam — weiter, und für die Ausstellungen wurden
zum Teil sehr arbeitsaufwendige Hilfsmittel hergestellt. Die Arbeit an „Tribus“ und an
den Führern und Katalogen brachte sehr viel Schreibarbeit mit sich. Zahlreiche Auflagen
des Baurechtsamts, des TÜV und anderer Institutionen konnten endlich erledigt werden.
Die Sicherheit des Hauses und seiner Bestände war schon vor Jahren durch den Einbau
einer Alarmanlage verbessert worden. Diese konnte im Berichtsjahr erweitert und ergänzt
werden, und der Einbau einer zentralen Schließanlage hat uns hinsichtlich der Sicherheit
des uns anvertrauten Gutes wieder ein Stück weitergebracht. Ein weiterer Schritt — die
Sicherung gegen Feuer — wird im Rahmen der geplanten Umbaumaßnahmen getan wer-
den müssen und erfolgen.
Die eben aufgezeigten Arbeiten haben nicht nur den wissenschaftlichen, sondern vor
allem den technischen und administrativen Stab des Museums oft bis an die Grenze des
Möglichen belastet. Allen Mitarbeitern darf ich hier noch einmal sehr für die immer
erfreuliche Zusammenarbeit danken. Nur durch das dauernde Mitgehen und Mitdenken
aller Bediensteten des Museums konnte die enorme Arbeitsleistung, die In diesem Jahr
gefordert wurde, realisiert werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Kalter, der
mit Umsicht, Elan und Zähigkeit seit einigen Jahren die mit Sicherheitsfragen zusammen-
hängenden Arbeiten übenommen hat.
In den vorausgegangenen Jahren konnten die Bestände der drei Asien-Abteilungen in
neuen Magazinen untergebracht werden. Mit der Feinarbeit dieser Magazinierung waren
wir das ganze Jahr über beschäftigt. Gegen Ende 1977 konnten die Bestände der Amerika-
Sammlung ln einen ehemaligen Teilraum des Asien-Magazins zusätzlich aufgenommen
werden, so daß jetzt nur noch die Abteilungen Afrika und Ozeanien magazinmäßig neu
versorgt werden müssen, außerdem die Textilbestände. Auch diese Arbeiten haben eine
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
33
Menge Zeit und viel Überlegungen und geduldiges Arbeiten verlangt, doch zeigt sich schon
jetzt, daß der im Hinblick auf die Neumagazinierung beschrittene Weg richtig war. In
diesem Zusammenhang habe ich vor allem unseren Mitarbeitern Herrn Bless und Herrn
Michalak zu danken, abgesehen natürlich von den wissenschaftlichen Fachreferenten.
Auch die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Firma Georg Epp war wie in den
vergangenen Jahren gut und erfreulich.
Die Bestände der Bibliothek konnten im vergangenen Jahr weiter ergänzt werden,
wenngleich nicht im erforderlichen Umfang. Die Einrichtung der Bibliothek konnte eben-
falls verbessert werden, auch das Aufbinden alter Bibliotheksbestände wurde weitergeführt.
Viel zu wünschen bleibt im Hinblick auf die Ausstattung einiger unserer Werkstätten;
Zwar konnten Fotoatelier und Dunkelkammer besser ausgebaut und eingerichtet werden,
konnte die Einrichtung der Schreinerei verbessert werden, aber auf dem Sektor der
Restaurierungswerkstätten bleibt in dieser Hinsicht noch etliches zu tun. Wir hoffen, daß
hier im Zusammenhang mit dem geplanten Umbau eine generelle Verbesserung, zuerst
einmal räumlich, möglich wird.
Im personellen Bereich bedauern wir das Ausscheiden von Herrn Braun, der fast
10 Jahre als Aufseher in unserer Amerika-Ausstellung gedient hat und nun krankheits-
halber ausscheiden mußte. Auch den Abschied von Herrn Horn, der uns als freier Mit-
arbeiter fast zwei Jahre geholfen hatte und dem vor allem auch die Rekonstruktion der
Hauswand aus Meknes zu verdanken ist, bedauern wir. Beiden Mitarbeitern danke ich
sehr für ihre zuverlässige und gute Arbeit während der Zeit ihres Hierseins.
Erstmals im Jahr 1977 konnte das Museum wissenschaftliche Volontäre einstellen: Frau
Dr. Ingrid Heermann kam aus dem Institut in Münster zu uns, Herr Wolfgang Crey-
aufmüller M. A. hatte seine Studien In Freiburg i. Br. absolviert. Frau Dr. Heermann ist
seit dem 1. 4. 1977 als Volontärin hier, Herr Creyaufmüller war in der gleichen Funk-
tion am 1.12. bei uns eingetreten.
Erfreulicherweise konnte endlich auch die seit Jahren bestehende Stelle eines Magazin-
verwalters besetzt werden. Mit Herrn H.-J. Bless gewannen wir am 1. 6. 1977 einen um-
sichtigen und zuverlässigen Mitarbeiter. Es ist ein besonderer Glücksfall, daß er gerade in
der Zeit des Aufbaus neuer Magazine eintreten konnte und die Bestände von Anfang an
gründlich kennenlernen kann.
Aus Mitteln des Arbeitsbeschaffungsprogramms konnten wir im Berichtsjahr drei Mit-
arbeiter einstellen, nämlich Frau Wurth, Herrn Feldmann und Herrn Ristic. Ihre Mit-
arbeit bei der Vorbereitung der Neumagazinierung ist notwendig und hilft uns ein gutes
Stück weiter. Einige Veränderungen haben sich im Aufsichts- und Reinigungsdienst erge-
ben. Wir freuen uns, feststellen zu können, daß sich die neu zu uns Gekommenen gut in
den bestehenden Personalkörper eingefügt haben.
Forschungsreisen
Im Berichtsjahr war es nur ausnahmsweise möglich, den ganzen wissenschaftlichen Stab
geschlossen bei einer Sitzung zu sehen, weil — wie eingangs erwähnt — die Möglichkeit
bestand, die einzelnen Fachreferenten zeitweilig in ihrem Arbeitsfeld draußen reisen,
sammeln und forschen zu lassen: Daß Herr Dr. Koloss im Winter 1976/77 in der Nord-
westprovinz Kameruns arbeitete, wurde schon erwähnt. Ende Oktober 1977 war er zu
einer weiteren, abschließenden Forschungsreise in dieses Gebiet ausgereist. Die Sammel-
reisen von Herrn Dr. Kalter, Herrn Dr. Schulze-Thulin und Herrn Dr. Brandt sind
3
34
Das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 1977
oben bereits angesprochen worden. Ihre Ergebnisse sind durchweg mehr als befriedigend,
und wir werden alles tun müssen, die für solche Zwecke notwendigen Mittel weiterhin zu
bekommen. Im Zusammenhang mit einem Erwerbungsplan, der Herrn Dr. Brandt nach
New York brachte, war es möglich, ihn im Laufe des Sommers für eine Studienreise durch
große amerikanische Museen an der Ostküste der USA freizustellen. Die dabei gewonne-
nen Eindrücke sind so, daß nur bedauert werden kann, solche Reisen nicht häufiger zu
ermöglichen, weil die dafür erforderlichen Mittel im Etat nicht bereitgestellt werden
können. Dennoch ist es natürlich zu begrüßen, daß die am Linden-Museum Stuttgart
beschäftigten Wissenschaftler häufiger die Möglichkeit haben, Forschungsreisen zu unter-
nehmen, als dies gemeinhin der Fall ist. Nur ein mehr oder weniger regelmäßiger Kon-
takt mit außereuropäischen Völkern, die mit ihrer Kultur im Museum vorgestellt werden
sollen, kann es zuwege bringen, daß unseren Besuchern zutreffende, lebendige Vor-
stellungen von den Verhältnissen draußen und von den Entwicklungen in diesen Gebieten
vermittelt werden können.
Dieser Bericht mag zeigen, daß das Jahr 1977 eine für uns alle sehr arbeitsreiche Zeit
war, für manchen von uns mit der Möglichkeit, sich in seinem Arbeitsgebiet zu orientieren.
Für das Museum im ganzen gesehen war dieses Jahr sicher eines der erfolgreichsten, nicht
nur wegen der wieder steigenden Besucherzahl, wegen zusätzlicher Ausstellungen und
Zunahme der Bestände, sondern vor allem auch deshalb, weil dieses Jahr offenbar den
Durchbruch gebracht hat in einem nun schon mehr als zwei Jahrzehnte andauernden
Ringen darum, endlich wieder das ganze Haus zur Verfügung zu bekommen und so den
Aufgaben des Museums für die Öffentlichkeit in Zukunft besser gerecht werden zu können.
Daß wir bis dahin noch eine Durststrecke durchstehen müssen, wissen wir alle. Aber wir
freuen uns auf die Möglichkeiten, die sich dann eröffnen werden.
Friedrich Kussmaul
Leonhard Meurer
Die Püppchen der Mossi in Obervolta
Neues zu ihrem Brauchtum und neuentdeckte Typen
Seit unserem ersten Hinweis auf diese urtümliche Gruppe der Mossiskulptur in
TRIBUS Nr. 13, 1964, sind die Mossipüppchen mehrfach in der Fachliteratur erwähnt
oder ausführlich behandelt worden. Genannt seien Sigrid Paul; Afrikanische Puppen,
Berlin 1970 und in TRIBUS Nr. 21, 1972, Ladislas Segy: The Mossi Doll. Auch die
Sammler und dann die Händler begannen sich dafür zu interessieren, so daß man heute
in Ouagadougou mengenweise Nachahmungen findet, Originale nur zu steigenden Preisen,
während sie auf den Dorfmärkten verschwunden sind.
Das Wesentliche über diese Puppen und ihre Bedeutung war in jenem ersten Aufsatz
und dem beigefügten Bericht von Eloi Kafando (f 21. 4. 1976) schon gesagt worden.
Das wurde bei neuen Besuchen der Dörfer bei Koupéla in den folgenden Jahren bestätigt
und durch anderes Material — sowohl an Brauchtum wie an Objekten — erweitert, was
hier nachgetragen sei.
Den ersten Bericht vom 13. 2. 1966 verdanke ich Herrn Emile Damiba, geb. 1902,
aus Nakalebo, 3 km von Koupéla, einem Dörfchen, das fast nur von seiner Sippe der Kiba
oder Damiba bewohnt ist:
Von den 1964 abgebildeten drei Grundtypen sei Typ A in Nakalebo der häufigste, der
kein Mädchen, sondern eine Frau darstelle. Auch Typ B sei eine Frau, aber mit geschore-
nem Kopf (tête rasée), wie es noch bei Sterbefällen üblich ist, und mit dem Haarknoten
in Ohrenhöhe. Typ C aber stellt ein Mädchen dar mit der früher allgemein üblichen
Stirnlocke, dem „Skorpionschwanz“ (gi-e manga = Form — Skorpion), der auch bei den
Puppen um Boulsa, Fada N’Gurma und bei den Gurunsi von Koudougou vorkomme.
Der Preis für eine solche Puppe war 25 frs CFA (0,40 DM). Größere Figuren, wie sie
noch bei Ouahigouya von den Tänzern getragen würden, kosteten bis zum Dreifachen.
Ein Überzug aus Leder werde nachträglich bestellt und bezahlt, um die Puppen halt-
barer und schöner zu machen. Die angehängten Hühnerknochen, Kauris und Perlen haben
keinen tieferen Sinn, sie klappern, wenn man im Spiel die Puppe hüpfen läßt.
Auch Kinder tragen manchmal einen solchen Knochen am Hals. Wenn eine Frau zum
jährlichen Totengedenken (hasgha) in ihr Heimatdorf geht, bringt sie ihrem Kind, ob
Junge oder Mädchen, einen Fußknochen der dort geopferten Hühner mit, den ihr Kind
nur während dieser Festtage trägt, um den Schutz seiner Vorfahren zu erlangen. Auch
Kaurischnecken, drei für einen Jungen, vier für ein Mädchen, werden auf Rat des Féti-
cheurs gegen Krankheiten getragen, besonders gegen Keuchhusten, aber auch gegen die
„Seelenfresser“.
Püppchen aus Maiskolben und Hirsestengeln (inzwischen auch festgestellt bei den Bissa
von Garongo und den Nankan bei Navrongo/Ghana, die mit den Mossi verwandt sind,
keine Figuren und Masken haben, aber Püppchen aus Hirsestengeln und aus Ton) machten
die Kinder noch in der Regenzeit, ohne sie länger als bis zur Ernte zu verwahren. Jungen
und Mädchen stellten auch Puppen aus roter Erde her, besonders zum Basgha-Fest und an
36
Leonhard Meurer
Markttagen, um sie den Erwachsenen in Erwartung eines Geschenkes zu zeigen. So wie
sie zu den Frauen sagen würden; „Wennam ko-i biga“ (Gott gebe dir ein Kind), sagen sie
zu den jungen Männern: „Wennam köf parä“ (Gott gebe dir eine Frau). Eine wegge-
worfene oder zerbrochene Puppe bedeute Lebensgefahr für das Kind.
Puppen aus Knochen kannte Herr Damiba nicht (wie ich sie in Kongoussi am Bamsee
fand und In Kampti bei den Birifor feststellte).
Ich ließ mir von den Kindern eine Hirsestengelpuppe anfertigen. Die ins Stengelmark
eingesetzte Schleife, in der die Rasselstreifen hängen, bedeutet den Kopf im Profil. Dar-
unter wurden passend zwei Lateritbröckchen als Brüste eingesetzt. Ähnliche Stücke erhielt
ich noch 1976 vom Katechisten aus Tantako gemacht. — Von seinen Eltern sei ihm erzählt
worden, es habe früher Figuren aus Erde gegeben, die aber nicht von Kindern hergestellt
worden waren. Ich fragte den redegewandten Herrn (damals Vater eines Ministers), ob
er puppenähnliche Figuren auch in anderer Verwendung kenne. Er hatte selbst einen
Spucknapf aus Gelbguß besessen, auf dessen Deckel zwei fingerlange „Püppchen“ darge-
stellt waren, und kannte die bei den großen Häuptlingen gebräuchlichen Holzschalen auf
menschlichen Füßen, deren Deckel gleichfalls solche Puppenpaare tragen (vgl. Abb. 1).
Abb. 1 Holzschale mit Figurendeckel
aus Kaya.
Sicher irrtümlich glaubte er, die Herstellung der Puppen den „Setba“ statt den Mossi
zuschreiben zu müssen. Die Setba (Singular „seata“) sind Peul-Mossi-Mischlinge oder
deren Sklaven. Sie sprechen Peul (Fulfulde) und bilden eine Kaste wie die Schmiede, die
Mörser, Schalen und Schemel aus Holz hersteilen. Er sagte, ein Dorf namens Setbe
liege 7 km nordwestlich von Nakalebo, heute von Mossi bewohnt. Die Setba seien von dort
Die Püppchen der Mossi in Obervolta
37
wegen Holzmangels weggezogen und lebten jetzt verstreut, besonders in Bilayanga,
50 km östlich. Sie hätten ursprünglich eigene Gesichtsnarben gehabt (vom Ohr zur Nase
hin drei horizontale Striche, darüber und darunter je drei senkrechte) und Peulnamen
(etwa „Geao“).
Pere Louis Mauvais, dem Missionar und Pfarrer all jener genannten Dörfer um Bas-
koure, verdanke ich nicht nur den Zugang dorthin, sondern auch die Notiz, daß dort alle
Puppenschnitzer reine Mossi der Schmiedekaste waren und sind. Die dort seltenen Setba
sind eine Art Fulbe ohne Herden, die als Holzarbeiter vor allem Sitze herstellen und,
wenig fleißig, auf den Festen in gröbster Weise die Leute anbetteln. Eine Setba-Puppe
konnte er nirgens finden.
Der nächste Bericht — wie alles weitere vom Januar 1973 — stammt von einer alten
Frau namens Poko (Mädchenname bei Zwillingen) aus Andemtenga bei Baskoure, etwa
35 km nordöstlich von Koupela. Sie trug anläßlich eines Sterbefalls eine geflochtene
Kordel um ihre Brust. Als sie fünf Jahre alt war, hatte ihre Großmutter ihr eine Puppe
auf dem Markt gekauft. Der Preis war damals 10 Kauri, wobei 200 Kauri (= ligidi,
heute für „Geld“ gebraucht) auf einen alten Franc kamen. Ein Gauner, der an der Elfen-
beinküste arbeitete, hatte sie ihr beim Sammeln von Altertümern vor fünf Jahren abge-
redet und wollte sie später bezahlen. Poko hatte ihre Puppe mit Karitefett eingerieben
und mit Perlen geschmückt. Sie wurde wie ein Kind gepflegt und vor allem mit zum Markt
genommen, um sie mit den Wunschworten vorzuweisen und dafür Geschenke zu bekom-
men. Als sie mit 15 Jahren verheiratet wurde (nie mit 16 oder 18, den „weiblichen“ Zah-
len! Die ungeraden Zahlen garantieren dem Mann besser seine Dominanz in der Ehe),
gab Poko ihr Püppchen ihrer nächstjüngeren Schwester. Die tat bei ihrer Heirat dasselbe.
Selten gab es für das zweite Mädchen in einem Hof eine weitere Puppe, nie aber mehr
als drei. Die anderen Kinder mußten warten, bis sie eine Puppe erbten. War keine jüngere
Schwester mehr übrig, gab die letzte ihre Puppe (biga = Kind, Plural kamba) einem
anderen Mädchen aus der Familie. Fand sich aber keins mehr, dann verwahrten die alten
Frauen die Puppen weiter. — Alle Puppen sind weiblich, weil ein Mädchen mit seines-
gleichen spielen will. Es gibt keine männlichen Puppen. Man verwahrte sie meist unter dem
Strohdach der Rundhütten, wo der Rauch sie schön schwarz färbte und besser erhielt.
Der nächste Bericht — wieder aus Andemtenga — stammt von einigen alten Männern
und vom ersten Katechisten Alphonse Selega, geb. 1938, Vater von fünf Kindern, der
aufmerksam als Übersetzer half;
Sobald ein Kind mit drei bis vier Monaten zu krabbeln begänne, reichte man ihm
erst ein Stück Hirsestengel. Spielte das kleine Mädchen damit, bekäme es auch bald eine
richtige Holzpuppe. Eine geliebte Puppe erhielte einen Namen, den das Mädchen selber
wählt und ändern darf. Wolle ein kleiner Junge mit einer Puppe spielen, so würde man
sie ihm wegreißen. Die kleine Lamussa (= Donnerstag, nach ihrem Geburtstag) nannte
ihre Puppe Tilado = Dienstag, an dem sie ihre Puppe geschenkt bekam. Diese war vor
fünf Jahren auf dem 4 km entfernten Markt in Zamse gekauft worden und vom Typ B
mit senkrechten Narben auf dem Leib, wie man sie noch bei den Frauen sehen kann. —
Die zehnjährige Sitnimie {= „Vergiß nicht“ [Wohltaten]) gab ihrer Puppe den Namen
ihrer mohammedanischen Freundin Marjam. Sie bekam diese Puppe vor neun Jahren bei
der Heirat ihrer Schwester, die sie wiederum von ihrer Kusine übernommen hatte. Somit
war die Puppe über 20 Jahre alt, ein C-Typ, hergestellt vom öfter erwähnten Schmied
Kare Ware (oder auch Kudugu) in Songrctenga.
38
Leonhard Meurer
Alphonse, der Katechist, erinnerte sich und so die anderen an einen Begräbnisbrauch,
den er in Andemtenga und Tantako beobachtet hatte: Hat man das Grab für einen Alten
oder eine alte Frau ausgehoben, dann steigen junge Frauen in die Grube, um den Boden
hartzuklopfen. Dabei bringen Frauen, die bisher weder ein Kind noch eine Fehlgeburt
hatten, Lehm mit ins Grab. Sie formen daraus je eine kleine männliche und weibliche
Figur mit deutlichem geschlechtlichen Unterschied, ohne sonstige Verzierung, und lassen
sie im Grab liegen. Wenn nun der allein zuständige Totengräber (lada) in die Grube
hinabgestiegen Ist, fragt er jede dieser Frauen, was für ein Kind sie sich wünsche. Ant-
wortet sie „Ein Mädchen“, dann reicht er ihr nicht die weibliche, sondern die männliche
Puppe hinauf. Die Frau trägt sie eilig heim, ohne ein Wort zu sprechen oder sich umzu-
sehen. Das Sinnbild des von ihr gewünschten Kindes wird mit der Leiche begraben. (Der
Mann mit dem Gesicht nach Osten, die Frau nach Westen. Grab ohne Seitennische. Der
heute übliche Sarg wird mit Brettern gegen die Füllerde abgeschirmt.) Die andere Ton-
puppe wird im Hause der Frau verborgen und oft bis zu zehn Jahren verwahrt, bis sie
vielleicht ein Kind bekommt oder die Puppe zerfällt. Sie wird so schön wie möglich
gemacht, damit auch das erhoffte Kind so werde.
Manchmal gibt man dem Toten seine alten Sachen und Zaubermittel, die niemand
haben will, mit ins Grab. Es sei möglich, daß dabei auch schon mal eine alte Holzpuppe
mitbegraben würde.
Noch ein anderer Puppenbrauch wurde berichtet: Nachdem die alten Frauen bei der
Braut eine Jungfernprobe gemacht haben, stellen sie vor der Hochzeitsnacht zwei Gruppen
von Puppen aus Hirsestengeln vor sie hin, zum einen drei, zum anderen vier Stück (nach
der von den Geschlechtsteilen her gedeuteten Symbolzahl für männlich und weiblich).
Meist wählt die Braut die Vierergruppe, da sie als erstes Kind ein Mädchen bevorzugt,
das ihr später bei den nachfolgenden Kindern helfen kann. Diese Puppen verwahrt die
junge Frau in der Hütte ihrer Schwiegermutter oder einer anderen Verwandten bis zur
ersten Niederkunft.
Weitere Auskünfte verdanke ich dem Naba vonKoupela, besonders aber demNaba von
Songretenga, dessen Chefferie vom traditionsharten Boulsa abhängt, das damit bis auf
12 km vor Koupela südwärts reicht. Er wußte (1973), daß der angeblich verschollene
Schnitzer der zierlichsten Puppen vom Typ C, Kare Ware/Kudugu aus dem nahen Tan-
tako, noch bei Kumasi in Ghana lebe. Auch dessen Vater war Schmied, habe aber Türen,
Sitze und Riegel (solche dort auch mit Menschenformen) gemacht. Dazu Informierte mich
später Pere L. Mauvais:
Kare ist der Vorname. Ware oder auch Kudugu sind Familiennamen der Schmiede,
die auch heute noch Puppen machen, aber nicht vor und während der Regenzeit, wenn
Hacken und andere Feldgeräte verlangt werden. Kudugu bedeutet aber auch die Schmiede
selbst oder der Platz, wo man schmiedet und wo die Schmiede opfern (te kugre). So kann
jedoch auch ein Kind heißen, das man nach einem solchen Opfer erhalten hat. — Vielleicht
hängt die Stadt Koudougou damit zusammen. Alle Schnitzer seien reine Mossi gewesen,
keine Setba. In Tantako habe es noch einen zweiten Schnitzer gegeben, der gleichfalls
die „Skorpionschwanz“-Form des C-Typs herstellte, namens Nimian. (Figurenschalen
waren beiden Häuptlingen bekannt.)
Diesen Nimian traf ich in Solremnoe, nördlich von Baskoure. Er war etwa 40 Jahre
alt und hatte keine besondere Lehre im Schnitzen mitgemacht. Seine Puppen sind wesent-
lich gröber als die von Kare Ware. In den letzten fünf Jahren hat er keine Aufträge
Die Püppchen der Mossi in Obervolta
39
mehr dazubekommen, obschon seine Puppen nur 25 frs kosteten. (Soviel Bargeld verdient
nicht jeder am Tag. Die Katechisten erhalten 500 frs = 8 DM im Monat.) Als Arbeits-
dauer für eine Puppe rechnete er drei Stunden. Nimian bevorzugte dazu das Holz des
Nephlier-Baums, weil es nicht reißt. Andere nehmen Cibra-Holz oder das vom Faux-
Capoquier, beide welcher und schneller zu bearbeiten als das im Grunde beste vom Karite-
Baum.
Ein bekannter Puppenschnitzer war auch Lalle Belem-Sagha aus Bugtenga, der
1971 starb. Er war kein Schmied, sondern Lederbearbeiter gewesen. Sein Enkelkind
Hado zeigte eine angeblich fünf Jahre alte Puppe von ihm, die sie Bila ( — kleine) Marie
nannte.
Nicht bloß die Konkurrenz durch europäische Puppen hat die alten Mossipüppchen
verdrängt. Es gibt sogar Gewissenskonflikte: Ein Schmied und Töpfer aus dem Koupela
nahen Töpferdörfchen Tibe lehnte meine Bestellung für Püppchen ab, weil er keine
Modelle mehr besitze. Sein kleiner Neffe verriet mir nachher, das sei nicht der Grund.
Er wolle sie nicht mehr hersteilen — nun als Christ — „aus Furcht vor den Fetischen“. —
Ein Hinweis darauf, daß auch mit diesen harmlosen Püppchen alter Glaube und Kult
verbunden waren. Überraschend war die Entdeckung eines neuen, besonders schönen
Puppentyps im Schmiededorf Kobundum (= Springwasser), westlich von Andemtenga,
wo trotz der Abgeschiedenheit heute keine Puppen mehr hergestellt werden. Ein noch
lebender Schnitzer namens Namsigya aus Tanga bei Piela (30 km nordwestlich von
Kobundum) hatte sie vor knapp fünf Jahren gemacht. Eine zweite Puppe desselben Typs,
doch mit Leder bezogen und kleiner, war angeblich vor 40 Jahren entstanden. Später
fand sich noch eine, genau wie die erste, doch mit viel älterer Patina, so daß es sich um
keine neue Formgebung handeln kann. Überall wurde diese Puppe bewundert, so daß
sie den Ehrentitel Nabiga = Häuptlingstochter bekam (Abb. 2).
Abb. 2 Neuer Typ mit Rüssellocke aus
Kobundum (Typ D).
40
Leonhard Meurer
Dieser Typ D erinnert zunächst an Typ C wegen der vorne schnabelartig herabge-
zogenen Haarspitze, die beiden Arten eine extravagante Eleganz verleiht. Hier endet
diese Spitze aber nicht in einem scharfen Winkel nach vorne, sondern rollt sich — wie ein
kleiner Elefantenrüssel — ein und umschließt so ein rundes Loch von 3 mm. Der C-Typ
hat einen flachen Kopf, der im Profil gerundet ist und ein kleineres Halboval als Frisur
umschließt. Die „Häuptlingstöchter“ dagegen tragen ihre Köpfe als vom Hals breit
abgesetzte, leicht angerundete Dreiecke mit einer Frisur in großen Winkeln um das drei-
eckige, angebohrte Ohr. Hals und Leib sind gerundet (wie nur bei Typ B), vom rand-
losen Stand nach oben in starker Verjüngung und eleganter Biegung. Ohne Schulteransatz
wachsen die fallenden Brüste lang und sich verjüngend hervor. Auch der Nabel tritt
kräftig heraus. Ein Band um den Hals und ein reicher geritztes in Schulterhöhe dienen
mit den langen Ziernarben des Leibes der Verschönerung. Geschlechtszeichen fehlen ganz.
(Höhe 28/29 cm, Basis 5 cm, größte Tiefe 8—9 cm.)
Künstlerisch betrachtet, ist dieser Typ (D) in seinem verhaltenen Schwung ein kleines
Meisterwerk, das vielleicht noch mehr entzückt als die besten Stücken des spröderen A-
Typs, der allerdings seine Qualität im Foto nicht zeigen kann.
Weitere Beispiele von dieser Schönheit habe ich nirgendwo zu Gesicht bekommen. Erst
1976 fanden sich verwandte, aber viel gröbere Formen im Gebiet auf Boulsa zu, so aus
Kokolgo (mit Kegelbasis und Anusloch). Aus dieser sehr traditionellen Gegend dürfte
noch mehr zu erwarten sein, gleichfalls aus dem Bezirk von Kaya, dessen Puppentyp
eine schmale Gesichtsfront zeigt und meist mit Ohrringen oder einem Metallpfeil in der
Frisur geschmückt ist (Abb. 3). In Kaya werden auch die Messingschalen mit den Figuren-
deckeln gegossen und die zeremoniellen Holzschalen auf Menschenfüßen hergestellt, die
Abb. 3 Puppen im Typ von Kaya, teils
mit Aluminiumdekor.
gleichfalls zwei „Püppchen“ auf ihren Deckeln tragen. (Warum es so oft zwei weibliche
Figuren sind anstatt ein Menschenpaar?)
Schließlich kann noch eine neue Form von hoher Qualität vorgestellt werden, die mir
1974 durch Toumani Triande, den Direktor des Nationalmuseums in Ouagadougou,
liebenswürdigerweise vermittelt wurde. Nach seinen Angaben kommt diese Puppe auch
Die Püppchen der Mossi in Obervolta
41
Ahb. 4
Abb. 5
Abb. 4 Die Yadegapuppe aus dem Gebiet von Boulsa (Typ E).
Abb. 5 Neufunde aus Dörfern um Boulsa: a) aus Kokolgo, b) aus Saolgo, c) aus Bonam.
aus der Umgebung von Boulsa und wird nach ihrem Schnitzer Yadega-Puppe genannt.
Yadega, im Plural Yadesse, die einen Unterstamm der Mossi darstellen, aber von den
Tarse, die verstreut besonders als Weber unter den Mossi leben, scharf zu trennen sind.
Die Yadega-Puppe (Abb. 4), 33 cm hoch, Typ E, muß bei ihrer wunderbaren schwarz-
glänzenden Patina über 30 Jahre alt sein. Das Auffallendste ist ihr Kopf. Er ist ganz
flach und im Profil von der Stirn bis zum Halsansatz oval gerundet. Der äußere Rand
ist als Frisur gemustert und endet in einem kleinen Fortsatz am Nacken, der vielleicht die
Verheiratete kennzeichnet, während die Mädchen den Stirnzopf (Typ C und D) trugen.
Ein vorstehendes gemustertes Dreieck bedeckt die Ohrenpartie. Unerwartet ist das kaum
1 cm breite Gesichtchen, das durch einen Grat von der Stirn zur Nasenspitze geteilt wird
und zwei Augen aus Elsennägeln besitzt. Der Mund springt vor, die Unterlippe führt
ohne Kinn energisch zum Hals zurück. Die Seiten dieses Gesichts tragen die Narben-
bögen der Mossi und zwei horizontale Marken hindurch in Augenhöhe. Der überlange
Hals ruht auf einer horizontalen Brust-Schulterplatte, hinten gerundet, vorne rechtwink-
lig abgeschnitten und in die senkrecht fallenden Brüste überleitend. Der gerundete Leib
spitzt sich zum Nabel hin zu und endet auf einem kräftigen Rundsockel von fast 6 cm
42
Leonhard Meurer
Basis. Die Benarbung zeigt einige Schnitte auf der Brust und ein dreifaches Kreuz vom
Nabel aus. Auf der Schulterplatte liegt ein altes Kettchen mit zehn roten Glasperlen und
zwei verbundenen Kauris. Anders als bei Typ D, doch gemeinsam mit den anderen Typen,
erscheint wieder das Geschlechtszeichen als deutlich geformte Kerbe am untersten Sockel-
rand. Die bei den anderen Typen übliche Anus-Öffnung fehlt ( in die die Mädchen beim
Puppenspiel hineinpusten, wie sie es von den Müttern bei der Darmspülung ihrer Babys
sehen).
Ein junger Händler in Ouagadougou hatte später eine ganz ähnliche, die nicht für
500 DM zu haben war. In Abidjan wurde eine andere dieser Art für 1250 DM ange-
boren . . . Immerhin ein Kompliment für die jetzt erkannte Qualität einer lange über-
sehenen, scheinbar bescheidenen Gruppe der Mossiskulptur*).
Ich habe 1964 (TRIBUS, S. 28) die Vermutung ausgedrückt, daß es sich bei diesen
Mossipüppchen um „eine Urform der menschlichen Gestalt“ handle. Sie kommt ja nicht
nur bei den Kinderpüppchen der Mossi vor, sondern auch an verschiedenen praktischen
und kultischen Geräten, die ihr Urbild nicht auf „Puppen“ zurückführen. A. Schweeger-
Hefel bringt im „Archiv für Völkerkunde“ (1962/63, S. 216) die Abbildung einer ritu-
ellen Eßschale aus der „Kunst der Kurumba“, wie sie bei den Mossi vielleicht häufiger —
wenn nicht ursprünglich — zu finden ist. Ich erwähnte sie schon mehrmals. Die Deckel
dieser im More tiho genannten Schalen sind mit einer oder zwei weiblichen Gestalten —
genau wie die Püppchen — bekrönt. Man findet sie Im Besitz von Oberhäuptlingen (so in
Boulsa und Tenkodogo), die sie bei der Einsetzung anderer Häuptlinge rituell verwenden.
Es gibt auch kleine zylindrische Holzbüchsen, deren Deckel nur mit einem abstrakten
Köpfchen solcher Puppen als Griff versehen sind. Ganze „Püppchen“ erscheinen als
Köpfe von Würde- und Tanzstäben, als Messergriffe sowohl aus Holz (wie in Kaya
und Bourzanga) als auch aus Gelbguß (im Yadegatyp aus Bourzanga). Hinzu kommen die
Spucknäpfe aus Gelbguß mit diesen Figurendeckeln. Damit wird klar, daß sich die eigent-
lichen Puppen an diese allgemeine Form der weiblichen Menschendarstellung angeschlos-
sen haben.
Ladislas Segy erklärt die Mossipuppen im eingangs erwähnten Aufsatz von ihrer
Grundform her als phallisch, verbunden mit dem weiblichen Element. Nirgends erwähnt
er die Zeichen für das weibliche Geschlecht, die entweder als Winkel vorne am unteren
Standrand oder als kräftiges Pfeilzeichen neben der Anusöffnung auf der Standfläche
angebracht sind. Sie kennzeichnen so deutlich das Ende des Rumpfes unter Verzicht auf
Beine und Arme. Unter meinen 250 Mossipüppchen gibt es nur zwei, die unten in zwei
getrennten Beinen enden. Wenn ein Stück Knochen, ein Maiskolben oder ein Hirsestengel
als „Gestalt“ und Puppe dienen können, ohne in den Verdacht zu geraten, gleichfalls
phallisch zu sein, dann mag das auch für diese Holzpüppchen gelten. Es muß ja nicht
jeder Pfahl auch als Phallus gedeutet werden. Die Mossi sehen es sicher anders. Darum
könnte es sich doch, wie damals vermutet, bei diesen Püppchen um nichts anderes als eine
Urform der Menschengestalt handeln.
*) Pere L. Mauvais fand 1976/77 nochmals ähnliche und neue Typen in der Umgebung von
Boulsa. Vgl. Figur 5: a) Aus Kokolgo: Typ D mit Rüssellocke, aber Spitzleib und Sockel ähn-
lich der Yadegapuppe. 33 cm. b) Aus Saolgo: Leib und Sockel ähnlich, aber lang herabhängendc
Seitenzöpfe. Eine davon überraschend mit Beinen und Füßen. 47 und 40 cm. c) Aus Bonam:
Typ E der Yadegapuppe, ohne deren Feinheit und schwarze Patina. 35 cm.
Friedrich Seltmann
Puppenspiel in Süd-Karnätaka
Erloschenes und Lebendes
Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten wissenschaft-
lichen Vorhabens wurden im Frühjahr 1977 in Süd-Karnätaka eine Reihe von Unter-
suchungen durchgeführt, die sich auch auf das Spiel mit dreidimensionalen Puppen be-
zogen. Die Resultate dieses Unternehmens sind in den folgenden vier Fallstudien nieder-
gelegt. Wie fast immer in solchen Fällen war es schwer, mir den einzelnen Truppen Kon-
takt aufzunehmen, ja sie überhaupt erst aufzuspüren. In mehreren Fällen ist dies, trotz
langwieriger Bemühungen, nicht gelungen. Besonders hinderlich erwies sich das Wahl-
fieber, das sich infolge der Parlamentswahlen bis in die abgelegensten Dörfer ausgebreitet
hatte. Dieses Fieber hatte auch von vielen Puppenspielern Besitz ergriffen, die teilweise
mit ihren Aufführungen Wahlpropaganda zu machen hatten und ständig ihren Auf-
enthaltsort wechselten. Eine weitere Schwierigkeit lag in den zum Teil völlig unrealisti-
schen Vorstellungen, welche die Puppenspieler vom Entgelt für ihre Aufführungen und
die Befragungen hatten. Sobald diese nicht mehr in einem vertretbaren Rahmen lagen,
hieß es, Abstand davon zu nehmen. Bei der Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten
haben mir die nachstehenden Personen wertvolle Hilfe geleistet, für die ich ihnen be-
sonders danke: Dr. A. S. Paramashivaiah, Professor an der Universität von Mysore am
Institute for Kannada Studies; P. R. Tippeswamy, Kurator am Folklore-Museum in
Mysore; Dr. Vasanadkar, ß. A., D. I. I. Sc., M. B. H. S. aus Bangalore, und nicht zuletzt
Herr und Frau Drs. Stäche vom Goethe-Institut in Bangalore. Mein Dank gilt auch jenen
Puppenspielern, die sich für Vorstellungen und Befragungen zur Verfügung gestellt
haben, und Herrn Nanjunda Rao, Bangalore, der mir Hinweise und Auskünfte gab.
Aus den einzelnen Studien wird ersichtlich, wie unterschiedlich Puppenspiele gehand-
habt wurden und werden, die in Süd-Karnätaka dargeboten werden. Schon in etwas
weiter gelegenen Gebieten können Spiele und Puppen erheblich anders aussehen. Vor
Verallgemeinerungen muß man sich also sehr hüten. Generelle Behauptungen, wie sie z. B.
von M. Contractor (1968, S. 13) aufgestellt und von Das Gupta (1976, S. 84, 85) zum
Teil übernommen wurden, führen zu Fehleinschätzungen. Man kann nicht einfach er-
klären, daß die Marionetten aus Karnätaka durchweg mit hängenden Beinen ausgestattet
sind und den Eindruck eines 20 kg schweren Gewichtes erwecken, schon deswegen nicht,
da es in jedem Satz große und kleine Marionetten gibt, d. h. schwere und leichtere.
Zur Schreibweise ist zu bemerken, daß technische Begriffe, Eigen- und Gattungsnamen
— soweit sie aus dem Kanaresischen kommen — jeweils nach dem Wörterbuch von Kittee
wiedergegeben werden (Kittel 1894 und 1968—1971; lortan abgekürzt als Kl für 1894
und K2 für 1968 —1971). Topographische Begriffe sowie Namen von Befragten und
Gewährsleuten sind im allgemeinen entweder in der landesüblichen, vereinfachten Schreib-
weise wiedergegeben oder so, wie sie buchstabiert wurden. Allgemein bekannte indische
Worte weisen die eingedeutschte Schreibart auf. Das c entspricht dem deutschen tscb und
das j dem englischen j, z. B. in job, und y klingt wie das deutsche j. Das dentale 5 ist stets
scharf, das palatale sh ist etwa ein deutsches ch (wie in ach) oder etwa wie sch, während
44
Friedrich Seitmann
das cerebrale s ebenso wie t, d und n mit zurückgewölbter Zungenspitze ausgesprochen
werden. Dem französischen gn entspricht das n, das n dagegen dem deutschen ng oder
dem n vor g und k. Der Accent circonflexe indiziert die Länge eines Vokals.
Bijdragen steht für: Bijdragen tot de Taal. Land- en Volkenkunde, VGravenhage;
TRIBUS steht für die jährlichen Veröffentlichungen des Linden-Museums Stuttgart.
A. Mechanische Puppen (Joint Puppets)
Die Auskünfte über diese Art Puppen stammen von dem etwa 65 Jahre alten Kalasaiah
Char, der noch als junger Mann jene Vorstellungen mitgestaltet hatte, die mit diesen
Puppen gegeben worden waren. Sein Vater, Malligappa Char, der seinerzeit als spiritus
rector der Truppe fungiert hatte und deswegen Bhägavata genannt wurde (s. K 2,
S. 1239 a unter 4.), ist im Jahre 1957 Im Alter von etwa 70 Jahren verstorben. Vater und
Sohn stammen aus dem Dorf Honnavalli (Tiptur Taluk, Tumkur-Distrikt). Der Vater
war überdies als einheimischer Arzt tätig gewesen; er stand im Ansehen eines Pandita.
Ebenso wie der Vater ist der Sohn des Lesens und Schreibens kundig. Als Hindus sind sie
Angehörige der Chikkamani-Kaste (und zwar die jüngere Gruppe, d. h. eine Unterkaste
der Goldschmied-Kaste, also der Akkasale; s. K 2, S. 4 b; Thurston 1909, III, S. 106;
Nanjundayya/Iyer, IV, S. 453—457; auch als Pänchäla und Kanndlan oder Kammdla
bekannt). Die Familie umfaßte den Vater, seine Frau und fünf Söhne. Als Familiengott-
heit wird die Göttin Maildra Lihga verehrt, deren Heiligtum der Mailä-Lihga-Tempel ist.
Skizze 1
la Oberkörper und Arme mit glocken-
artigen Vertiefungen zum Einsetzen des
Kopfes und der Hände. Tippeswamy.
lh u. c Hüfte mit Bein. Die Anbringung
am Schenkelhals und der Kniegelenkme-
chanismus sind deutlich erkennbar. Das
Fußgelenk bewegt sich wiederum in einer
glockenartigen Vertiefung. Tippeswamy.
Id u. e Basisplatten mit Röhrenmecha-
nismus, durch den die Zugschnüre laufen.
Tippeswamy.
Abb. 1
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka
45
Die von den Vorführern für ihr Puppenspiel gebrauchte Bezeichnung lautet Gornbe
Mêla bzw. Putili Mêla (gomhe = bombe; putili = puttali; all diese Wörter bedeuten
„Puppe“; K 2, S. 558 a, 1227 a bzw. 1051 b; Mêla hingegen bedeutet nach K 2, S. 1374 b:
a set, a company of dancing girls and their performance etc.). Die von den Vorführern
gesprochene Sprache ist das Kanaresische; Marathi ist ihnen fremd. Malligappa Char hat
noch einige Puppenspieler ausgebildet. Dazu wurden etwa vier bis fünf Jahre benötigt.
Besondere Zeremonien zum Beginn und zum Abschluß der Lehrzeit soll es nicht gegeben
haben.
Der im Folklore-Museum für diese Puppenart verwendete Ausdruck „Joint Puppets“
läßt zunächst an Gelenkpuppen denken. Diese Charakterisierung trifft zum Teil auch zu, da
die Puppen über Glieder mit Gelenken verfügen. Damit wird jedoch der gravierende Unter-
schied zu anderen Puppenspielen nicht sichtbar. Dieser liegt darin, daß diese Puppen nicht
direkt mit den Händen, sondern durch einen Kurbel- und Wellenmechanismus bewegt
werden, der allerdings manuell betrieben wird. Dabei wird man entfernt an jene mecha-
nischen Wunderpuppen erinnert, die als kostbare Prunkstücke in vergangenen Jahrhun-
derten die Raritätenkabinette reicher Leute zierten. Die Bewegungsabläufe kommen auf
drei verschiedene Arten zustande:
Abb.2 Obere Reihe (v. I. n. r.):
a. Nakali Yama (Liste Nr. 29); b. Musiker (Liste Nr. 20); c. Ganapati (Liste Nr. 1);
d. Lampenträger (Liste Nr. 19); e. Tanzmädchen? (Liste Nr. 25).
Untere Reihe (v. I. n. r.):
f. Hanumanayaka (Liste Nr. 27); g. Musiker (Liste Nr. 21); h. Garudiga (Liste Nr. 30);
i. Soldat (Liste Nr. 7); j. Flintenmann (Liste Nr. 14).
46
Friedrich Seitmann
Sie wurden von einem Manipulator ausgelöst, der unsichtbar unter einem Spezialtisch
hockte. Die Platte dieses Tisches war mit langen Schlitzen versehen. Sie dienten als Schie-
nen, auf denen Wägelchen hin und her bewegt werden konnten. Die Puppe konnte auf
eines dieser Wägelchen gestellt werden, und zwar dergestalt, daß ein achsrecht an ihr
angebrachtes Röhrchen in ein Loch in diesem Wagen einrastete. War die Puppe überdies
mit Beinen ausgerüstet, so waren diese wiederum auf einem schmalen Brettchen adjustiert
(s. Skizze Nr. 1 d und Abb. 1). War hingegen die Puppe beinlos oder sollten die Beine in
den Bewegungsablauf einbezogen werden, so verlief das Röhrchen durch den Rumpf
der Puppe bis zum Halsansatz. An seinem unteren Teil war eine runde Platte angebracht,
die auf dem Wägelchen bzw. direkt auf der Schiene ruhte und somit für die Stand-
festigkeit der Puppe sorgte (s. Skizze Nr. 1 e). Eine dritte Art der Montage bestand darin,
daß die Puppe, ähnlich wie oben beschrieben, auf der Schiene eines länglichen Kastens
postiert war. In diesem war eine Kurbelstange untergebracht, die mit der Hand gedreht
werden konnte. Mit Hilfe einer doppelten Übertragung auf einem axial verlaufenden
Mechanismus im Inneren der Puppe wurden zweierlei Bewegungsabläufe miteinander
gekoppelt. Dadurch konnte sich z. B. der Kopf nach beiden Seiten drehen, gleichzeitig
Abb. 3 Obere Reihe (v. I. n. r.):
a. Torso (Liste unter a); b. Vezier ? (Liste Nr. 8); c. Radscha (Liste Nr. 7); d. Torso (Liste
unter b); e. Torso (Liste unter e); f. Torso (Liste unter d).
Untere Reihe (v. I. n. r.):
g. Torso (Liste unter g); h. Pfau (Liste Nr. 4); i. Torso (Liste unter e); j. Ganapati (Liste
Nr. 2).
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
47
konnten aber auch die Anne emporgehoben oder geschwenkt werden. Die beigegebenen
Skizzen und Abbildungen sollen einen Eindruck von den Konstruktionen und Anord-
nungen vermitteln.
Soweit sich der Gewährsmann erinnern konnte, verfügte die Truppe über etwa 45
bis 50 derartiger Puppen. Hinzu kamen noch einige Requisiten. Die Abbildungen 2 und 3
zeigen die meisten der im Folklore-Museum vorhandenen Puppen. Diese gliedern sich in
sechs Gruppen:
Museums- Abmessungen
Nr.*) in cm
I. Götter
1. Ganapati (Vighneshvara)
Ohren, Arme, Rüssel beweglich; keine Gewandung
(Ahb. 2, c).
2. Ganapati
Mit gelber Gewandung; grüner Gürtel. Hängende
Beine. Ohren, Arme, Rüssel beweglich (Ahh.3,j).
3. Shäradä = Sarasvati
Nur noch der Kopf erhalten (Ahb. 4).
4. Pfau, Reittier von Shäradä (Abb.2,h)
5. Laksmi.
Figur nicht mehr vorhanden.
6. Hanumän
Arme seitlich abstehend. Augen, Kiefer, Arme und
Schwanz (über den Kopf reichend) beweglich.
II. Durbar-Gruppe mit Hofstaat
7. Radscha (?) 51 X 13
Gelbe Jacke, grüne Hose, Turban; Führungsstock
(Abb. 2, c).
8. Minister (Vezier) (?) 46 X 14
Blaue Jacke, graue Hose, flacher Turban, mit Füh-
rungsstab und Teller für Kurbelmechanik
(Abb. 2, b und 5).
9. Leibwächter, Neger 3231 34 X 7
Kaftan, roter Turban, rote Hose, Gürtel; in der
rechten Hand ein Schwert (abgebrochen); Beine auf
Steg montiert; doppelter Führungszug (Abb. 1).
1282
3232
Privatbesitz
22 X 15
47 X 20
8,5 X 7,5
29 X 17 X 8-
28 X 25
*) Puppen ohne Museums-Nr. sind zwar Museumsbesitz, aber nicht numeriert.
Abb. 4
Friedrich Seitmann
Abh. 5
Abb. 6
Abmessungen
Museums-Nr. in cm
10. Leibwächter 3233
Langärmelige, rote Jacke, grüner Gürtel mit Flam-
mendolch, schwarze Hosen; in der rechten Hand ein
Kurzschwert; Knie und Ellenbogen ohne Gelenke;
Kopf beweglich, Arme nach vorn schwenkbar
(Abb. 6).
11. Leibwächter bzw. Soldat 3230
Kaftan, schwarze Hosen, Turban; bläuliches Ge-
sicht; Beine auf Steg montiert; mit Führungsstab.
12. Soldat 3237
Kaftan, Dhoti, Turban; geballte Hände mit Öff-
nungen, in die Waffen gesteckt werden konnten;
Kopf, Ellenbogen, Knie beweglich; Füße drehbar,
montiert auf Steg; zwei Führungsmöglichkeiten.
13. Soldat
Gelblicher Kaftan, grüne Hosen, Turban; Kniege-
lenke steif; Arme nach vorn und nach den Seiten
dergestalt beweglich, daß mit der rechten Hand ein
Schwert und mit der linken ein Schild funktions-
gerecht bedient werden kann (Abb. 1, i und Abb. 7).
14. Flintenmann 1922
Gemusterte, langärmelige Jacke, schwarze Hose;
Turban kopftuchartig; Knie unbeweglich; Kopf
und Arme beweglich, letztere: rechter Arm steif
nach vorn; linker Arm kann seitlich salutieren;
Führungsstab (Abb. 1, j).
43 X 12
35 X 18
31 X 7
39 X 10
43 X 10
Puppenspiel in Süd-Karnätaka
49
Abmessungen Museums-Nr. in cm
Anmerkung: Die in der Gruppe II aufgeführten Figuren ließen sich auch zu anderen Kombinationen zusammenstellen, z. B. mit jenen der folgenden Gruppen.
III. Däsaya-Gruppe (Personen, die mit Opferhand- lungen beschäftigt sind) Von dieser Gruppe aus fünf Figuren ist nur noch eine Gestalt erhalten. Vermutlich gehören einige der am Schluß aufgeführten Torsos dazu. 15. bis 18. Brahmanen und Tempeldiener. 19. Lampenträger Schwarze, langärmelige, paspelierte Jacke, rote Schärpe, roter Dhoti, Flachturban (Tragring); steife Beine; Führungsstab (Ahh. 1, d und Ahb. 8). 46 X 12
IV. Deva-Däsi-Gruppe (Tempeltänzerinnen mit ihren Musikanten) mit 8 Figuren; auch Bhar-Täphe-Grup- pe genannt (K 2, S. 1237 b) 20. Musikant Weißer Kaftan mit Gürtel, rote Hosen, roter Tur- ban; in der rechten Hand ein Gong, in der linken ein Schneckenhorn (Ahh. 1, h). 21. Musikant Langärmelige Jacke (gemustert), rote Hose, ge- streifter Turban; Knie und linker Ellenbogen steif; Arme seitlich ausschwenkbar; rechter Arm nach vorn schwenkbar; Hände beweglich, in der rechten Hand eine Schellenrassel (Ahh. 1, g). 22. Trommler Figur nicht mehr vorhanden. 23. Trommler bzw. Musikant Figur verlorengegangen. 24. Tanzmädchen (Kahcini; K 2, S. 353 a) Gemusterter Sari; steife Beine; Kopf und Arme so- wie Hände von großer Beweglichkeit; doppelter Führungsstab; Figur wurde auf spezieller Kurbel- maschine vorgeführt (mantu bzw. mantha; K2, S. 1281a, b); Kopfschmuck, Gesichts- und Hand- bemalung in traditioneller Art (Ahh. 9 und Skizze Nr. 5). 2346 40 X 10 3235 40 X 9
4
50
Friedrich Seitmann
Abh. 7
Abh. 8
Abmessungen
Museums-Nr. in cm
25. Tanzmädchen (Kahcini) 34 X 8
Über Bluse gemusterter Sari; rötliches Gesicht; Füße
und Beine gespreizt; Unterarme und Hände sehr
beweglich; innerhalb der Gelenke laufen die Zug-
fäden über Halbrollen; Halskette aus grünen Per-
len; Perlenkette als Gürtel; nicht so prächtig und
beweglich wie Nr. 24 (Abb. 1, f).
26. Tanzmädchen (Kahcini)
Figur nicht mehr vorhanden.
V. Spaßmacherfiguren, Schausteller und Bettler
27. Hauptspaßmacher (Hanumandyaka) 3238 42 X 9,5
Diese Figur kann auch als Leiter der Tanzmädchen-
Gruppe eingesetzt werden (s. K 2, S. 907 b). Dun-
kelgrüne Samtjacke, rote Hosen; europäischer Hut,
womit gleichzeitig der Europäer an sich als komische
Figur typisiert wird; Beine in der Hüfte und ur-
sprünglich auch in den Knien beweglich; Führungs-
stab mit Scheibe (Abb. 1, f).
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
51
Abmessungen
Museums-Nr. in cm
28. Spaßmacher 43 X 10
Ähnlich wie Nr. 27, aber mit roter Samtjacke, dun-
kelgrüne Samthose; Kopf, Knie und Ellenbogen
beweglich; doppelter Führungsstab.
29. Weiblicher Spaßmacher (Nakali Yama: 3236 33 X 8
K 2, S. 378 b, jester, buffoon)
Weiße Bluse mit rotem Kragen, kurzärmelig; voll-
busig; Haartracht der verheirateten Frau; Partnerin
von Nr. 28; Führungsstab mit Scheibe (Abh. 1, a).
30. Schlangenbeschwörer (Garudiga)
Blauer Kaftan mit Schärpe, gelblicher Dhoti, wul-
stiger Turban; die das Blasinstrument haltenden
Arme sind angewinkelt und können auf- und ab-
wärts bewegt werden. Der Kopf kann von vorn
nach hinten und umgekehrt bewegt werden; keine
Kniegelenke (Abh. 1, h und 10).
31. Bettler (?) 3229 42 X 12
Blaugraue Jacke mit Schärpe, schwarze Hose, fla-
cher roter Turban; rechter Arm seitlich, linker nach
vorn zu bewegen.
VI. Bahnhofszene
Zu dieser Gruppe gehörten etwa 10 Figuren. Das Bahnhofsgebäude und die Eisenbahn-
wagen waren aus Zinn gegossen. Sie existieren nicht mehr. Von den Spezialtypen sind
keine mehr vorhanden; vielleicht gehörte der eine oder andere Torso zu ihnen.
Abb. 9
Abb. 10
52
Friedrich Seitmann
Abmessungen
Museums-Nr. in cm
32. bis 42. Diverse Figuren, wie Stationsvorsteher und
andere Eisenbahner, Verkäufer, Polizisten, Fahr-
gäste etc.
Von den oben genannten Figuren sind — soweit feststellbar — im Folklore-Museum noch
29 vorhanden. Bei 7 von ihnen fehlen die Köpfe und — mit einer Ausnahme — auch die
Kleidung.
b)
c)
d)
f)
g)
Männlicher Torso mit blauem Gewand; keine Füße an den Beinen (Ahb. 3, a). 33 X 11
Männlicher Torso mit beweglichen Armen, Beinen und Füßen (Ahh. 3, d). 3222 29,5 X 11
Männlicher Torso; Arme und Beine nur an den Schultern und Hüften beweglich; Füße fehlen; Hände weiß (Ahh. 3, e). 3221 29 X 10
Männlicher Torso; schwarze Hose; Führungsstab mit Scheibe, auf der die Beine adjustiert sind; weiße Hände (Ahh. 3, f). 3224 31 X 12
Männlicher Torso; in der Hüfte drehbar; Gelenke an den Knien und Füßen; nur ein Oberarm er- halten (Ahh. 3, i). 3227 25 X 9
Männlicher Torso mit vollbeweglichen Armen und Beinen; Führungsstab. 3226 33 X 12
Weiblicher Torso; nur Oberkörper mit seitlich aus- gestreckten, beweglichen Ober- und Unterarmen; Hände fehlen; Brust mit Mieder bedeckt (Ahh. 3, g). 3218 8 X 28
Von wenigen Figuren abgesehen, verfügten die Puppen ursprünglich alle über beweg-
liche Beine, die später in gewissen Fällen durch solche ersetzt wurden, die zwar an den
Hüften gelenkig waren, dagegen nicht mehr in den Knie- und Fußgelenken. Die Arme
waren ebenfalls an den Schultern, Ellenbogen und Händen beweglich gehalten. Dazu kam
die Dreh- oder Neigefähigkeit des Kopfes und in wenigen Fällen auch die Biegsamkeit
des Rumpfes. Wie die Gelenke ineinander sitzen und wie die Basisplatten und Führungs-
stäbe aussehen, zeigt die beigefügte Skizze (Nr. 1). Die Gelenkverbindungen bestehen aus
Schnur oder Hanf; an den Hand- und Fußgelenken heißen sie asta (? K2, S. 134a: „set
aside“ u. a.), an den Ellenbogen bzw. Knien dagegen malkai {= malaku; K2, S. 1294a:
„a knot, a fold, a bent“ u. a.) und an den Schultern bzw. Hüften hhuja (K2, S. 1245b:
„a bending, a bend“). Die von unten entweder direkt oder durch eine Zinnröhre (kolave)
in den Holzkorpus eingeführten Zugschnüre werden sütra genannt (K2, S. 1658b). Der
Führungsstab mit der runden Metallplatte heißt hille (K2, S. 1190 b). Das Holz (mara),
aus dem Korpus und Extremitäten geschnitzt wurden, stammt vom Banian-Baum (Ficus
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
53
Indica Roxb. = die; K2, S. 171b, 172 a). Es heißt Marale. Die Farbgebung erfolgte mit
Farben, die in Päckchen vom Markt in Bangalore bezogen wurden. Zuerst wurde eine
weiße Grundierung (saphedu; K2, S. 1580 a: weiß) angebracht, auf die man mittels einer
Gummilösung die Farben auftrug. Weitere Farben waren: Rot (kempu); Gelb (haladi);
Grün (hasaru); Schwarz bzw. Dunkelblau (kappu); Golden (? varthe). Alle Gesichter
haben eine gelbe oder gelblich-braune Färbung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die
schwarzblau sind. Als letzte Partie der Gesichter wurden die Augen gemalt, und damit
wurden die Puppen „zum Leben erweckt“. Bei der Erarbeitung der heiligen Figuren (z. B.
Ganapati, Shärada) wurde anscheinend eine kleine Püja abgehalten. Der Gewährsmann
erinnerte sich aber nicht mehr an die näheren Umstände.
Die letzte der mit diesen Puppen gestalteten Vorstellungen fand etwa drei bis vier Jahre
vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges statt, also etwa im Jahre 1936. Daran waren vier
Vorführer und drei Musiker beteiligt, die alle zu derselben Großfamilie gehörten. Die
Mitwirkung erstreckte sich aber nur auf ihre männlichen Mitglieder. Die Besetzung des
kleinen Orchesters bestand aus einem Mehrton-Harmonium (Kastenform), einer Dop-
pel-Trommel (tahala) und einer in europäischer Manier gespielten Geige, die nach dem
englischen Wort „fiddle“ dort nunmehr unter dem Namen Peddil bzw. Pettil bekannt
ist. Alle Musiker hatten ihren Platz vor der Bühne. Um Auftraggeber für Vorstellungen
zu finden, ging man auf Tournee, bei der größere Plätze, Jahrmärkte, Messen und solche
Örtlichkeiten bevorzugt wurden, an denen religiöse Feste (ydtre; K 2, S. 1398 a) statt-
fanden. Permanente Auftraggeber mit den Pflichten eines Schirmherrn gab es nicht. Meist
waren es die höheren Beamten verschiedener Verwaltungsstellen, welche derartige Auf-
träge vergaben. Die etwa zwei Stunden dauernden Vorführungen erbrachten durch-
schnittlich 25 bis 30 Rs.; pro Stunde und Person waren das ca. 1,5 Anna nach damaliger
Währung. Von Ausnahmen abgesehen, fanden die Vorstellungen nur in den Monaten
März und April statt; in den übrigen Monaten ging man seiner Hauptbeschäftigung
nach. In diesen beiden Monaten wurden 50 bis 60 Aufführungen abgewickelt, manch-
mal zwei an einem Tag. Sie konnten nachts oder auch am Tag stattfinden. Da sie aus-
gesprochenen Unterhaltungscharakter hatten, waren sie auch nicht Bestandteil religiöser
Veranstaltungen.
An Ort und Stelle angekommen und in Besitz eines Auftrages zu spielen, wurde zu-
nächst ein großes Zelt (derd; Kl, S. 674a: Bühne, Zelt) aufgeschlagen, das mehr als
hundert Personen Platz bot. Wenn möglich, war der Eingang nach Osten gerichtet. Über
Aussehen und Abmessungen des Zeltes gibt die beigefügte Skizze (Nr. 2) Auskunft. Inner-
halb des Zeltes wurde dann an erhöhter Stelle der eigentliche Puppenschaukasten (Skizze
Nr. 3) aufgestellt. Die in ihm befindlichen Apparaturen waren wiederum vor den Augen
der Zuschauer verborgen. Die Front dieses aus Bambusverstrebungen und Pfosten kon-
struierten Kastens nahm die ganze Zeltbreite ein. Seine Seitenteile und der zwischen
ihnen montierte Vorhang wiesen zeitgemäße Bemalungen auf. So war z. B. auf dem Ab-
deckvorhang in bunten Farben der tanzende Krsna dargestellt. Alles Zubehör, also die
Materialien für das Zelt, den Schaukasten, die Puppen und für die Apparaturen, gehörte
der Truppe; sie wurden demnach nicht, wie dies in anderen Fällen sonst üblich war, aus-
geliehen. Sämtliche Arbeiten wurden von allen Beteiligten der Truppe ausgeführt.
Fanden die Vorstellungen des Nachts statt, so sorgten drei Petromax-Lampen für die
Zelt- und Bühnenbeleuchtung; die eine stand am Eingang, die andere in der Mitte des
Zeltes, die dritte war im Bühnenbezirk plaziert. Die Musiker saßen rechts vor der eigent-
54
Friedrich Seitmann
Skizze 2b Grundriß des Zeltes. Tippes- Skizze 3 Die eigentliche Bühne mit den
WAMY. Puppen. TlPPESWAMY.
liehen Bühne (vom Zuschauer aus gesehen), während die Vorführer unter dem bereits
beschriebenen Spezialtisch (Skizze Nr. 4) hockten. Der Spielleiter stand hinter einem der
seitlichen Abschirmvorhänge. Zu Beginn der Vorstellung wurde eine Pûjâ zu Ehren von
Ganapati und Shâradâ zelebriert. Dabei waren die Puppen selbst die eigentlichen Ak-
teure der Opferhandlung, zu der die Figuren der oben erwähnten Däsaya-Gruppe ein-
gesetzt wurden. Diese Pûjâ wurde auf dieselbe Art und Weise vorgenommen, wie sie in
Süd-Indien bei derartigen Opferhandlungen zu Beginn einer dramatischen Vorführung
üblich ist. Sie wurde von Anrufungen und Opfern getragen, bei denen die zerschlagene
Kokosnuß nicht fehlen durfte. Am Ende der Aufführung fand dagegen keine Pûjâ mehr
statt.
Der Hauptakzent der Vorstellung lag auf der Gestaltung der tänzerischen Kompo-
nente, d. h. der Präsentierung einer Gruppe von Tanzmädchen, nach der ja auch die
Truppe ihre Vorführungsform als Gombe Mêla benannt hatte. Dabei war jene Tänzerin,
die mittels der erwähnten Kurbelkonstruktion (Skizze Nr. 5 und Abb. Nr. 9) bewegt
wurde, also die Kancini, der Star der Schau. Aber auch die anderen Figuren wurden
dergestalt bedient, daß ihre vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten voll zur Geltung kamen.
Um dies zu erreichen, wurde der musikalischen Untermalung besonderes Augenmerk ge-
widmet. Die Musik basierte auf volkstümlichen und bekannten Ragas und Tälas, die
55
Puppenspiel
Skizze 4
4a Rollwägelchen, mit dem die Puppen
bewegt werden konnten.
4h Spezialtisch mit Vorführer. Tippes-
WAMY.
Süd-Karnätaka
Skizze 5 Spezialwagen für die Tanz-
puppe mit der Kurbelmechanik für die
doppelte Übersetzung. Tippeswamy.
gemäß den zu spielenden Szenen und Charakteren ausgewählt wurden. Der textliche Teil
trat in den Hintergrund. Die eigentliche Aktion der Puppen wurde vokal entweder gar
nicht oder aber nur spärlich kommentiert, d. h. es wurde zu ihr weder gesungen noch
gesprochen. Nur zu Beginn des Auftritts einer neuen Puppe wurde durch den Spielleiter
(bhägavata) eine in Kanareslsch gehaltene Einführung gegeben. Mit ihr wurde die Puppe
vorgestellt und die kommende Szene erläutert. Sanskrit-Passagen wurden nicht verwen-
det. Das eigentliche Geschehen sollte nur durch die Bewegung der Puppen deutlich gemacht
werden, d. h. diese sollten sich auf gewisse Weise pantomimisch gebärden. Diese Wirkung
wurde auch noch dadurch gefördert, daß die Abmessungen der Puppen, die zwischen 20
und 47 cm liegen, verhältnismäßig klein gehalten waren und längst nicht so groß waren
wie die sonst landesüblichen Marionetten. Zierliche und kleine Bewegungen waren somit
gewährleistet, ungefüges Agieren konnte nicht entstehen. Die von den Puppenspielern
gestalteten Szenen bezogen sich auf das tägliche Leben, wie es sich bei Tempelfesten, am
Hofe, Familienfeiern, Märkten und auf dem Bahnhof abspielte. Die mündlichen Ein-
leitungen, die zu diesen Szenen gegeben wurden, waren kurz; sie wurden extemporiert,
und gelegentliche Dialoge während des Spiels waren vorwiegend von jenen Witzen ge-
prägt, die man den Spaßmachern in den Mund legte.
Alle Puppen wurden in Kisten (pettige; K2, S. 1068 a, b) aufbewahrt, ihre Gesichter
mit kleinen Kissen abgedeckt. Diese — etwa 12X9 cm groß — waren mit Fäden ver-
sehen, die man am Hinterkopf der Puppe zusammenband. Zwischen jede Lage von Pup-
pen wurde außerdem eine Decke gelegt. Anläßlich des Ganesha-Caturthi-Tages (s. Entt-
hoven 1922, S. 235) und des G^«n-Festes (Kl, S. 376b: A yearly feast in honour of
Gauri on the 3rd of the first half of bhädrapada month; Kl, S. 575b, 576a: Gauri =
Parvati) wurde zu Ehren der Puppen im Hause der Puppenspieler eine besondere Pu ja
veranstaltet.
Das Gauri-Fest wurde von den Puppenspielern am Neumondtag des Septembers be-
gangen. In dieses Fest wurden ebenso die Haus- und Familiengottheiten einbezogen. Bei
dieser Gelegenheit wurde auch das spezielle Handwerkszeug der einzelnen Berufsgruppen
56
Friedrich Seitmann
geehrt, in diesem Falle also die Puppen und die Musikinstrumente (Näheres s. Dubois
1906, S. 568, 569 und Dowson 1879, S. 111, 86). In anderen Gebieten von Karnätaka
geschieht dies hingegen zum Abschluß des Mahd-Navami-Vesx.es am Dashara-Tag (Selt-
mann 1971, S. 461).
Die Frage, ob ihm noch andere Truppen bekannt wären, die mit der gleichen Art von
Puppen Vorführungen gestalten, verneinte der Gewährsmann. Andererseits erwähnte er
aber, daß eine Musterpuppe, nach der die anderen konstruiert worden wären, von Ka-
stenangehörigen aus dem Dorf Domenahalli stammen würde, die Puppen der gleichen
Art besessen hätten. Diverse Nachforschungen innerhalb von Karnätaka nach ähnlichen
mechanischen Puppen verliefen jedoch negativ. Da aber in Indien das Puppenspiel auf
alten Traditionen beruht, ist anzunehmen, daß auch diese Art des Puppenspiels seine Vor-
läufer gehabt hat, und daß es heute vermutlich als erloschen gelten muß. Das Haupt-
kontingent dieser Puppen wurde vor sieben Jahren vom Folklore-Museum in Mysore
erworben. Man kaufte es deswegen auf, weil keine Vorstellungen mehr gegeben wurden;
einer anderen Version zufolge wurde dieser Satz jedoch deswegen angekauft, weil man
ihn nicht gewerblichen, vor allem nichtindischen Aufkäufern überlassen wollte.
B. Marionetten mit Masken
1. Die Marionettenspieler
Die nachfolgend beschriebene Art des Marionettenspiels ist seit 1937 erloschen. Den-
noch konnten zwei Mitwirkende ermittelt und als Berichterstatter herangezogen werden.
Bel dem einen handelte es sich um den 65 Jahre alten Echanur Seetaramaiah, einen
ehemaligen Dorfbuchhalter aus Echanur, bei dem anderen um einen gewissen Sri Niva-
sacharya, 57 Jahre alt, Sohn des 1950 verstorbenen Venkataramanacharya, welcher
früher Leiter und Manager der Spieltruppe gewesen war. Die Angaben beider Gewährs-
leute werden im folgenden Bericht zusammengefaßt. Die Interviews mit ihnen wurden
Anfang März 1977 durchgeführt. Zu einigen Punkten wurden widersprüchliche Erklä-
rungen abgegeben. Auf diese wird hingewiesen.
Begründer der Truppe für dieses spezielle Spiel war der oben erwähnte Venkatara-
manachar(ya), ein Zimmermann, der drei Brüder hatte: Sri Nivasacharya, Murtha-
charya und Vasudevacharya. Von diesen hatte nur Venkataramanachar einen Sohn,
eben Sri Nivasacharya, der nach seinem Onkel genannt worden war. Letzterer besitzt
noch etwas von jenem Land, das der Familie seines Großvaters vom damaligen Maha-
radscha von Mysore geschenkt worden war. Die Familie war im Dorf Echanur (Hicha-
nur, Tiptur Taluk, Tumkur-Distrikt) ansässig.
Zur Truppe gehörten noch sechs weitere Mitwirkende; Kodilingacharya, Doddavi-
racharya, Jadelingacharya, Seetaramaiah, Rudraiah und Venkatappa. Die vier
erstgenannten Brüder gehörten der brahmanischen Mddhva-Kaste an (K2, S. 1311a: be-
longing to Mädhva’s doctrine; Thurston 1909, III, S. 253; I, S. 366 ff.; Nanjundayya/
Iyer, II, S. 537—541). Sie waren also Vaisnavas, deren Oberkaste die Hoyisalakar-
ndtaka sind. Die folgenden drei Männer waren Angehörige der Akkasdle-, d. h. der
Goldschmiedekaste (K 2, S. 6 b; s. o.), während die beiden letzten zu den Lihga-Vdntas
(= Lingdyatas) zählten (Kl, S. 1361 a, b: zu dieser Sekte können Angehörige aller Ka-
sten gehören, also auch die Akkasdle als Südras}. Der drittletzte, also Seetaramaiah,
gehörte zu einer Unterkaste der Floyisalakarndtaka, den sog. Smdrta (K 2, S. 1687 b:
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
57
a Brähmana, belonging to the sect of Sankardcdrya etc.; Thurston 1909, VII, S. 366ff.:
eine Untergruppe von Kanaresisch sprechenden Brahmanen; Nan;undayya/Iyer, II, S.
308 ff.).
Die Vorführer nannten ihr Marionettenspiel Puttali Gomhe Mela (Worterklärungen
s. o.; in dieser Verbindung bedeutet gomhe mela: Fadenpuppen-Schau, K2, S. 1227 a).
Als Truppe nannten sich die Vorführer Dashavatdra Puttali Sütrada Gomhe (das erste
Wort bedeutet „zehnfache Manifestation“, die beiden letzten Wörter stehen für „Mario-
nette“; s. Kl, S. 120a und 1658b). Der Spielleiter hieß Bhägavata, sein erster Assistent
Pätradhära (K2, S. 1027 a). Für die anderen Mitwirkenden oder Schüler gab es keine
besonderen Namen. Um die Texte zu erlernen, waren mindestens zwei bis drei Jahre
nötig. In dieser Zeit waren auch die Techniken einzuüben. Avancierte ein Schüler zum
vollwertigen Vorführer, so fand dieser Übergang ohne besondere Ritualien statt.
2. Die Marionetten
Die obengenannte Bezeichnung charakterisiert zugleich die besondere Form dieses
Marionettenspiels. In ihm waren Masken vorgesehen, durch welche die Puppen mannig-
fache Gestalt annehmen konnten. Die Bezeichnung dasha (zehnfach) steht in diesem Fall
für vielfach. Die Masken selbst wurden bezeichnenderweise mukha genannt, ein Wort,
das u. a. „Gesicht“ (K2, S. 1337 b) bedeutet. Etwa 20 Masken waren ursprünglich vor-
handen; von diesen befinden sich noch 10 Stück im Besitz des Folklore-Museums. Zwei
von ihnen sind total zerstört und ihrem Charakter nach nicht mehr bestimmbar; da sie
nur kleine Abmessungen zeigen, dürften es Frauengesichter gewesen sein. Bel zwei wei-
teren Stücken ist eine der Gesichtshälften stark demoliert. Dennoch lassen die Restpartien
eine Bestimmung zu; die eine zeigt einen Rdksasa mit Hauern und herausgestreckter
Zunge, die andere einen schnurrbärtigen Mann mit gebrochenen Augen. Die restlichen sechs
Masken zeigen folgende Typen; zwei Dämonen mit Hauern und gebleckter Zunge; einen
Dämon nur mit Hauern; einen Affen; einen Blinden, dessen Augen entweder geschlossen
oder aber ausgestochen sind (vielleicht ein Toter); die Gottheit Ganapati.
Die Auskünfte über die Masken, über ihre Verwendung und Tradition waren wider-
sprüchlich, selbst bei ein und demselben Auskunftgeber. So wurde z. B. behauptet, daß es
nur Dämonen-Masken und keine anderen gegeben hätte. Auf Vorhalt, daß sich im
Museum auch andere Masken befänden, gab es keine befriedigende Auskunft. Äußerst
merkwürdig ist dabei der Umstand, daß es für eine der wichtigsten Figuren, nämlich für
die des Ganapati, keine eigene Marionette, sondern nur eine Maske gegeben hat. Sowohl
im Puppen- als auch im Schattenspiel von Süd-Indien gehört eine Figur oder eine Leder-
platte dieser Gottheit zum obligatorischen Bestand des Figurensatzes; eine Ausnahme
macht — soweit bislang festgestellt — nur das Schattenspiel in Orissa (Seltmann 1977,
S. 336). Im vorliegenden Fall wurde also eine andere Figur benutzt, um aus dieser mit
Hilfe einer Maske einen Ganapati zu machen. Die Vermutung liegt daher nahe, daß
ursprünglich gar kein Ganapati zum Traditionsgefüge des Figurensatzes gehört hat, son-
dern daß diese Gottheit erst später inkorporiert wurde, um dann bei den Eingangsinvo-
kationen die Stelle einer anderen Gottheit einzunehmen. Nachbarliche und brahmani-
stische Einflüsse dürften zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Untersucht man nun
den Figurenbestand (wie er noch besteht und wie er von den Spielern als früher existent
angegeben wurde) auf andere Götterfiguren, so ist neben Sri Räma und Sri Krsna nur
58
Friedrich Seitmann
noch eine Gottheit vorhanden, die früher bei den Invokatlonen an erster Stelle gestanden
haben könnte, nämlich Sri Indra. Dieser Umstand würde auf eine sehr alte Tradition
dieses Spiels hinweisen.
Besagte Masken wurden einer im Typus ähnlichen Marionette vor das Gesicht gebun-
den (Schlaufenverschnürung am Hinterkopf). Angeblich soll die Ausstattung mit Masken
eine Erfindung des Begründers der Truppe sein. Aus der Art der diesbezüglichen Anga-
ben ließ sich jedoch entnehmen, daß man diese Besonderheit eher dazu benutzte, um sich
selbst in Szene zu setzen und die Wichtigkeit des Ganzen zu unterstreichen. Weiterhin
wurde ausgesagt, daß der Begründer der Truppe mit seinen Brüdern die Marionetten
alle selbst geschnitzt und ausgestattet hätte. Da diese aber völlig mit den lokalen ikono-
graphischen Traditionen übereinstimmen, mußten Vorbilder Vorgelegen haben. Fragen in
dieser Richtung ergaben dann, daß der Begründer der Truppe in Kudur, einem Dorf in
der Nähe von Tumkur (die genaue Lage war nicht zu eruieren), die Vorbilder für die
später von ihm gestalteten Marionetten gesehen hätte, daß er dort einige Zeit gelebt
hätte, um sich mit der Aufführungstechnik, den Texten, der Musik usw. vertraut zu
machen. Wenn man nun überdies weiß, daß ein guter Puppenspieler mehrere Jahre
braucht, um zu einem solchen zu werden, so ist man auch darüber im Bilde, wie derart
vage Angaben zu bewerten sind. Es müssen zumindest gewisse Vorkenntnisse vor diesem
Aufenthalt in Kudur vorhanden gewesen sein. Diese Vermutung wird durch die Aussage
in einer anderen Befragungsphase bekräftigt, daß der Vater des Truppenbegründers eben-
falls als Puppenspieler tätig gewesen sei. Demnach sind durchaus traditionell bedingte
Vorbilder für die Annahme wahrscheinlich, daß auch das Spiel mit maskierten Mario-
netten im Raum von Karnätaka oder sogar darüber hinaus seine Vorläufer gehabt hat.
Die Masken bestanden aus einer Schicht dünner Leinwand und einer breiartigen Masse,
die zwar trocknete, aber dabei elastisch und formbar blieb. Dieser Brei wiederum setzte
sich aus einer Art Papierleim und dem Puder eines weißen, weichen Steines zusammen.
Sobald der Trockenvorgang einen bestimmten Grad erreicht hatte, wurde die plastische
Gestaltung vorgenommen; nach ihrem völligen Abtrocknen ließ sich die Bemalung durch-
führen. Wer diese vornahm und in welcher Weise dies geschah, war nicht mehr erinner-
lich. Die Masken zeigten unterschiedliche Abmessungen:
1. Vighneshvara 20,0 X 24,0 cm (Ahb. Ha)
2. Räksasa 10,5 X 11,0 cm (mit Hauern; Abb. 11b)
3. Räksasa 20,0 X 15,0 cm (mit Hauern und gebleckter Zunge; Abb. 11c)
4. Räksasa 14,5 X 13,0 cm (wie Nr. 3; rechte Gesichtshälfte zerstört)
5. Kharib(h)anta 12,0 X 11,5 cm (mit toten Augen; Abb. 11 d)
6. Männliche (?) Maske 12,0 X 11,0 cm (wie Nr. 5; rechte Gesichtshälfte zerstört)
mit Shiva-Zeichen
7. Räksasi 14,0 X 17,0 cm (mit Hauern und gebleckter Zunge)
0 O. Affe, Begleiter 9,0 X 9,5 cm
von Hanuman
Zum Schnitzen der Gesichter und Hände der eigentlichen Marionetten wurden Heb-
bevu- oder Tcgd-Hölzer verwendet (s. Brandis 1911, S. 139 und 505: Niem- bzw. Mar-
gosa-Baum mit hartem Holz, Azadirachta Indica, A. Juss. sowie Teak-Holz, Tectona
grandis Linn.). Die übrigen Teile der Puppe wurden aus dem leichten Hdlivdna-Wo\z
geschnitzt (K2, S. 1728 b; auch halivara oder hdrivala = pdruväna, Coral-Baum: Ery-
Puppenspiel in Süd-Karnätaka
59
thrina indica Lam. s. Brandis 1911, S. 226). Die fertigen Marionetten wurden pfleglich
behandelt. Sie wurden in Kisten (pettige, K2, S. 1068a, b) aufbewahrt; ihre Gesichter
schützte man durch Bandagen, die um die Köpfe gewickelt wurden. Die Lagerung in
diesen Kisten war keinen besonderen Regeln unterworfen.
Ahh. 11 a—d Ahh. 12
Der Typus der Marionetten entspricht jenem, der im Tumkur-Distrikt und in den
umliegenden Gebieten anzutreffen ist. Sie werden mit Fäden (sütra) dirigiert, die an
einem Steg (kaddi, Kl, S. 348 a) befestigt sind. Die mit den Beinen verbundenen Fäden
heißen Kdlu-Sütra (kdlu, der Fuß; K 1, S. 414 a), jene, die zu den Händen führen, Kei-
Sütra und die am Kopf befestigten Tala-Sütra (kei, die Hand, und tala, der Kopf; K 1,
S. 698 b, 699 a). Dies gilt allerdings nur für die männlichen Figuren, denn die weiblichen
weisen insofern einen Unterschied auf, als ihre Hände ursprünglich nicht mit Fäden,
sondern mit dünnen Eisenstangen (ndrdca = ndrsa; K 2, S. 908 b: a long iron arrow)
dirigiert wurden. Damit konnten komplizierte Bewegungen, wie z. B. Umarmungen,
gestaltet werden. Jede Hand des Vorführers betätigte eine solche Eisenstange, während
die Puppe selbst mit Fäden an einem Stoffring (simhi; K2, S. 1633 a) befestigt war, der
seinerseits auf dem Kopf des Vorführers ruhte. Die männlichen Figuren besaßen Beine,
die weiblichen dagegen nicht. Fast alle Figuren waren austauschbar, d. h. sie konnten
jeweils als Vertreter von Charakteren aus dem Rämäyana oder Mahäbhärata auftreten,
wenn sie sich in der Veranlagung und im Aussehen glichen.
Die nachfolgende Aufstellung der ehemals vorhandenen Marionetten gibt auch Auf-
schluß über das Repertoire, welches mit ihnen gespielt werden konnte. Welche Charak-
tere nun von derselben Puppe verkörpert werden konnten, war den Gewährsleuten nicht
mehr ganz erinnerlich. Die Aufstellung ist daher in diesem Punkt nicht vollständig. In
ihr sind aber die Namen all jener Typen aufgeführt, an die sich die Gewährsleute mit
Bestimmtheit erinnern konnten. Die in cm gegebenen Abmessungen beziehen sich auf jene
Puppen, die dem Folklore-Museum in Mysore gehören. Dies gilt auch für die vermerk-
ten Inventar-Nummern. Die obengenannten Masken sind nicht berücksichtigt.
60
Friedrich Seitmann
Museums-Nr.
I. Götter und ähnliche Figuren
1. Sri Indra
2. Airävata 2366
Elefant, zu Indra gehörend.
3. Lord Krsna (Ahh. 12) 2369
4. Balaräma
Bruder von Krsna
5. Närada bzw. Rävana 2343
Als Samnyäsin mit Yogakanda (Stab) und Bart aus
Palmrippen (Ahh. 13).
6. Näga Radscha (Raja) 2386
Ohne Beine; mit rotem Ansatz des Schlangenkörpers.
II. Helden und Heldinnen
A. Aus dem Rämäyana
7. Sri Räma (auch Arjuna; Ahh. 14) 2365
8. Sri Laksmana (auch Bharata)
9. Sri Sita (auch Rani Subhadrä; Ahh. 15)
10. Säki
Edeldame und Vertraute der jeweiligen Fürstin
(Ahh. 16).
11. Dasharatha (auch Dhrtarästra)
12. Shatrüghna
13. Lava (Ahh. 17) 2361
Sohn von Räma.
14. Kusha 2362
Sohn von Räma.
B. Aus dem Mahäbhärata
15. Dharmaräja = Yudisthira (Ahh. 18)
16. Bhima
17. Arjuna Samnyäsin 2346
18. Nakula
19. Sahadeva
Krone z. T. abgebrochen (Ahh. 19).
20. Ghatotkaca
21. Abhimanyu
22. Draupadi
23. Durshäsana
24. Shakuni
Mit flachem Kopfreif.
25. Duryodhana
Abmessungen
in cm
28 X 21 X 7
90 X 40
73 X 25
57 X 22
89 X 43
79 X 39
86 X 31
78 X 20
85 X 35
72 X 21
78 X 30
69 X 25
76 X 41
67 X 41
67 X 38
ШШШЯЁШ
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka 61
Abb. 13
Abb. 19
Abb. 20
Abb. 14
Abb. 16
Abb. 17
Abb. 18
Abb. 21
Abb. 15
62
Friedrich Seitmann
Abmessungen Museums-Nr. in cm
26. Bhisma 27. Ashvatthäman = Ashothäma Sohn von Drona; General der Kauravas. 2349 64 X 25
III. Rsi- und ähnliche Figuren, Spaßmacher, Tänzer, Berater
28. Drona Als Äcärya (Dronäcärya), Brahmane (Abb. 20). 29. Brahmane Vishvämitra oder Vasistha (Abb. 21). 30. Vidura Ratgeber von Krsna, Brahmane. 31. Hanumanäyaka Hauptspaßmacher (Abb. 22). 32. Patela Spaßmacher, Dorfoberhaupt, Freund von Flanuma- näyaka. 33. Spaßmacher Ähnlich einem Räksasa. 34. Kurudi Frau von Hanumanayaka, Spaßmacherin; mit Shiva-Zeichen (Abb. 23). 35. Kollatadavaru Stabtänzer. 36. Gärudiga Schlangenbeschwörer; ohne Beine (Abb. 24). 2348 77 X 29 71 X 28 57 X 22 65 X 26 2372 59 X 20 2378 66 X 24 2353 86 X 28 2373 93 X 28
IV. Affen und Pferd
37. Bali Bruder von Sugriva. 38. Sugriva 39. Ahgada Sohn von Bali. 40. Hanumän (Abb. 25) 41. Patada Kudure Das fliegende Pferd (K 1, S. 933 a, 440 a). 2376 100 X 48 2385 34 X 13 X 12
V. Angehörige des Reiches von Rävana 42. Rävana Zehnköpfig und mit 20 Armen (Abb. 26). 2374 88 X 88
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka
Abb. 22
Abb. 23
Abb. 24
Abb. 25
Abb. 26
Abb. 28
Abb. 29
Abb. 30
Abb. 27
64
Friedrich Seitmann
Abmessungen
Museums-Nr. in cm
43. Vibhisana 2357 76 X 47
Mit Visnu-Markierung (Ahh. 27).
44. Raksasa (auswechselbar)
45. Shurpanakha oder Fanghini 92 X 42
oder Hidambi (= Hidimbä; Ahh. 28)
46. Jälandhara( = Shiva Jälandhara)
Anhänger von Shiva; Dämon.
47. Jarasandha, der Zweihälftige 2375 96 X 44
Anhänger von Shiva; Tod durch Bhima (Ahh. 29).
Dreißig Figuren dieser Art gehören zum Bestand des Folklore-Museums in Mysore*).
Darüber hinaus wurden von den Gewährsleuten die Namen von weiteren vierzehn Figu-
ren genannt, zu denen noch die zehn oben beschriebenen Masken kommen. Wie viele
Marionetten ursprünglich tatsächlich vorhanden waren, konnte nicht einwandfrei festge-
stellt werden.
Folgende Einzelheiten über das Aussehen der Köpfe dieser Marionetten sind noch
erwähnenswert: Die männlichen Köpfe sind mit Schnurr-, Backen- und Kinnbärten aus-
gestattet. Letztere sind unterschiedlich gehalten; die Backenbärte haben meist die Form
eines sogenannten Schifferbartes. Über lange Bärte verfügen Närada und Vishvämitra.
Fianumanäyaka und eine andere, als Dämon gestaltete Spaßmacherfigur (Liste Nr. 34)
weisen bewegliche Unterkiefer auf. Kurudi besitzt ein krankes, schielendes rechtes Auge.
Hanumän und die Räksasas zeigen jeweils zwei Flauer. Einige Räksasas — einschließ-
lich der Frauen — blecken die Zunge und haben Buckelnasen; Rävana und Jarasandha
zeigen keine Zunge. Die Jaräsandha-Figur besteht aus zwei vertikalen Hälften, die von
einem Eisenstab zusammengehalten werden. Die Kronenabschlüsse der männlichen Figu-
ren waren ursprünglich noch mit Feder- oder anderem Schmuck besetzt. Die schüssel-
artige Krone der Shurpanakha war mit einem hohen Federschmuck bestückt. Weitere
Einzelheiten sind den beigegebenen Fotos zu entnehmen.
Von den Kostüm- und Schmuckbenennungen waren noch die folgenden Begriffe ge-
läufig: Krone/Diadem = Kirlta (Kl, S. 422a); Kärena Kundala (Kl, S. 410a, 437b:
Goldkragen oder ein um den Hals getragener Schmuckring); Bhuja Kirthi (K2, S. 1245b:
ein epaulettenartiger Oberarmschmuck); Ede Hära (K2, S. 277, 1726b: ein um den Hals
hängender Brustschild); Jomdle (Kl, S. 661 a und 659 a unter jo/2: Halsband mit Gold-
perlen, das bis zum Nabel hängt); Käse (ein Gürtel mit dreieckigem Bauchlatz (Kl, S.
393a, 20b unter ahgi); Niluvahgi (langer Rock); Hijdra (K2, S. 1733a: breeches, trou-
sers); Rumala bzw. Peta, d. i. der spezielle Turban von Hanumän (K2, S. 1421 b, 1074b).
*) Ebenso wie die mechanischen Puppen wurden die Masken-Marionetten von Prof. Paramashi-
vaiah und seinem Kurator P. R. Tippeswamy für das Museum gesammelt.
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
65
3. Die Aufführung
Das Aufführungsrepertoire enthielt etwa 50 Titel und Themen aus den beiden großen
indischen Epen und anderen mythologischen Werken. Lokale Volkssagen sollen nicht
dazu gehört haben. Folgende Titel waren noch erinnerlich:
1. Rati Kalyäna
Das Fest der Liebesgöttin Rati.
2. Karna Arjuna Kälaga
Der Zweikampf zwischen Karna und Arjuna.
3. Draupadi Vastrapa Harana
Die gewaltsame Entkleidung von Draupadi durch Duhshäsana.
4. Draupadi Svayainvara
Die öffentliche Gattenwahl von Draupadi und ihre Heirat mit den fünf Pändavas.
5. Subhadrä Parinaya
Die Hochzeit von Arjuna und Subhadrä.
6. Abhimanyu Cakra Vyüha
Die Cakra-Schlachtordnung von Abhimanyu.
7. Kanakängi Kalyäna
Die Hochzeit von Kanakängi, der Frau von Abhimanyu.
8. Lava Kusha(ra) Kälaga
Der Kampf von Lava und Kusha.
9. Babhrüvähana
Die Geschichte von Babhrüvähana und seinem Vater Arjuna.
10. Väli Sugriva Kälaga
Der Zweikampf zwischen den Brüdern Väli und Sugriva.
11. Räma Anjaneya Yuddha
12. Gaya Caritra
Die Abenteuer des Gandharva Gaya.
13. Airävata
Die Geschichte Arjunas, der Indras Elefanten für seine Mutter vom Himmel holt.
14. Jaräsandha Vadhe
Die Tötung von Jaräsandha durch Bhima.
15. Jälandhara Vadhe
Die Tötung von Jälandhara.
16. Tripura Sainhara
Die Vernichtung des Dämons Tripura.
17. Cäyä Parinaya
Die Hochzeit der Cäyä.
Die Gestaltung der kanaresischen Texte stand im Belieben der Rezitatoren, welche
diese teils sangen, teils sprachen. Man war nicht streng an „klassische“ und traditions-
bedingte Abläufe gebunden, sondern man ließ der Fantasie freien Lauf, was — wie ver-
sichert wurde — die Güte der Aufführungen sehr gefördert hätte. Die verwendete
Sprache war gehoben, mit Ausnahme jener Dialoge, die von den Spaßmachern bestritten
wurden. In diesen Fällen mußte die Umgangssprache herhalten, deren drastische Aus-
drucksmöglichkeiten voll ausgeschöpft wurden. Alte Manuskripte, zur eventuellen Orien-
5
66
Friedrich Seitmann
tierung, waren nicht vorhanden. Die vorgegebenen Themen gehörten zum traditionellen
Repertoire. Dem Bhagavata oblagen die erklärenden Gesangspartien, während die Dia-
loge von den Vorführern der agierenden Marionetten gesprochen wurden. Sanskrit-
Passagen kamen gelegentlich vor, z. B. beim Auftritt des Götterboten Närada. Strenge
Regeln für die musikalische Begleitung gab es nicht. Talas und Ragas richteten sich nach
den jeweiligen Szenen und nach den in ihnen auftretenden Charakteren. An Einzel-
heiten konnte man sich nicht erinnern. Eine Besonderheit der Darbietung bestand darin,
daß die sonst üblichen, meist vom Chorus durchgeführten Wiederholungen gewisser
Textpassagen entfielen.
Der Aktionsradius der Truppe lag zwischen 30 und 50 km im Umkreis. Bevorzugte
Plätze waren: Rämanätha Pura (ein Ort in der Nähe vom Mysore am Kaveri), Gan-
dasi (Hassan-Distrikt), Arasikere (nördlich der Stadt Hassan), Belur, Chikanäyakana
Halb (nordöstlich von Arasikere). Gelegentlich wurde aber aufgrund persönlicher Be-
ziehungen auch außerhalb von Karnätaka gespielt, so z. B. in Kannanor (Kerala) oder
gar — wie im Dezember 1924 — in Madras.
In erster Linie wurde vor Dorfgemeinschaften gespielt. Erhielt man von einer solchen
ein Engagement, wurde die Aufführung ihrem Wohle geweiht. Diese Dörfer trugen auch
die meisten Kosten, d. h. sie hatten für die Lampen und deren öl sowie für den Bambus
zum Bühnenbau zu sorgen, außerdem für die Bezahlung der Truppe aufzukommen. Das
jeweilige Dorf stellte auch den Platz zur Verfügung, auf dem gespielt werden sollte.
Dieser befand sich meist mitten im Dorf unter freiem Himmel. Im inneren und äußeren
Tempelbezirk fanden keine Aufführungen statt. Die zum Aufbau der Bühne gehören-
den Vorhänge und Tücher waren Eigentum der Truppe. Nach damaliger Währung be-
trug das Entgelt für eine Vorführung 25 bis 60 Rs., wovon gewöhnlich acht Mitwirkende
bezahlt werden mußten.
Das Spiel fand nur nachts statt; es begann gegen 10 Uhr abends und war gegen 5 Uhr
morgens beendet. Im allgemeinen wurde an einer Stelle nur eine Nacht gespielt. Sollte
der Jälandhara Vadha aufgeführt werden, wurden zwei aufeinanderfolgende Nächte
benötigt; zur Bewältigung des Rämäyana waren sogar sieben Nächte erforderlich. Die
Spielsaison dauerte sieben Monate von Oktober bis Mai. Da die Truppe sehr bekannt
war, brachte man es während dieser Periode noch zu Anfang der 30er Jahre auf etwa
150 Vorstellungen. Um etwas beweglicher zu sein, reiste man auf Ochsenkarren, mit
denen man nach einer Aufführung gleich weiterzog.
Obligatorische öffentliche Spiele anläßlich bestimmter Gelegenheiten gab es nicht. An
einem fürstlichen Hof ist die Truppe nie aufgetreten. Große religiöse Feste (besonders
das Shivarätri-Fest) und Hochzeiten waren stets Gelegenheiten, zu denen die Truppe
vieler Engagements sicher sein konnte. Bei Messen und Jahrmärkten wurde in einem
Zelt (derd) gespielt, das der Truppe gehörte und ähnlich dem im ersten Kapitel beschrie-
benen war. Beleuchtet wurde das Zelt mit Petromax- oder elektrischen Lampen, wohin-
gegen außerhalb zwei Fackeln (kakkada) oder Öllampen (dipa) benutzt wurden (s.
Skizze Nr. 6). Als öle wurden verwendet: Rizinus (baddavana; K 2, S. 1138 b), Hohge
Yenne (K2, S. 1765b: Xantochymus pictorius Roxb.) und Hippe Yenne (K2, S. 1737b:
Bassia latifolia Roxb.; Baum).
Die Abmessungen der eigentlichen Bühne (hattu f; K2, S. 1703a: etwas, das erstie-
gen werden muß, also eine Plattform) waren so gehalten, daß drei Vorführer hinter
einer schwarzen Tuchverkleidung manipulieren konnten. Die Lage der Bühnenfront war
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka
67
keinen besonderen Regeln unterworfen, d. h. sie brauchte nicht nach Osten gerichtet
zu sein. Der Bühnenausschnitt betrug etwa 3,5 x 2 m. Die Seiten und die Rückfront
des Bühnenbaus waren mit dunklen Tüchern verkleidet. An der Frontseite war ein Vor-
hang angebracht. Er zeigte in bunter Bemalung eine höfische Szene auf weißem Grund.
Links vor der Bühne (vom Beschauer aus gesehen) war der Platz des Spielleiters. Die
Skizze 6
6 a Bühnenansicht. Tippeswamy.
6h Schwarzes Tuch für den Bühnenhin-
tergrund, das an einer runden Stange
hängt. Tippeswamy.
6c Öllampe mit Ölkrug. Tippeswamy.
Skizze 7 Schematische Skizze der Büh-
ne. Tamara Seltmann.
Skizze 8 Schematische Skizze der Büh-
ne. Tamara Seltmann.
Instrumente des kleinen Begleitorchesters bestanden aus einem Paar Tala (kleine Hand-
becken), einer Mukhavine (K 2, S. 1332: eine Art Oboe) und einem Mridañga (K 2, S.
1364a: eine beiderseitig spielbare Trommel; s. zu diesen Instrumenten auch Sambamoor-
thy 1971, S. 72 a und 67 ff.). Die Musiker saßen seitlich vor der Bühne. Die Vorführer
trugen außerdem am rechten Fußgelenk Lederbänder mit Tanzschellen (géjjé, Kl, S.
562a, 517b). Im Bedarfsfall mußte der Täla-Spieler als Vorführer fungieren; dann wur-
den die Handbecken vom Spielleiter bedient. Zusätzlich konnte auch noch ein Helfer
eingesetzt werden.
Jede Vorführung wurde durch eine Opfer- und Invokationshandlung in Form einer
Ganapati-Püjd mit dem üblichen Zubehör eingeleitet; sie enthielt auch eine Einladung
an Krsna und Rama, der Vorführung beizuwohnen. Das gesamte Zeremoniell wurde
auf der Bühne stellvertretend durch eine Marionette vorgenommen, die einen Brahmanen
68
Friedrich Seitmann
verkörperte. Sie nannte sich Bhüsara Uttama, d. h. oberster Brahmane (K2, S. 1248 b,
229 a). Die Invokationstexte wurden von jenem Mitspieler gesprochen, der die weib-
lichen Rollen vortrug. Eine Anrufung der Ahnen und Gurus fand dabei nicht statt.
Danach erschienen die Marionetten von Krsna und Räma auf der Bühne. Sie verkündeten,
woher sie gekommen waren, erklärten, daß sie der Aufführung beizuwohnen gedächten,
und gaben anschließend eine Einführung in das bevorstehende Spiel. Nun konnte die
eigentliche Vorführung beginnen. Nach Ablauf von etwa vier Stunden trat eine Art
Pause ein, die dazu benutzt wurde, um durch Marionetten einen Kollatam-Tanz auf-
führen zu lassen. Die Vorführung dieses Stabtanzes erforderte besonderes Geschick des
die Puppen bedienenden Vorführers. Angeblich soll es keine Marionetten gegeben haben,
die von zwei Männern bedient werden mußten, selbst nicht im Fall der schwer zu hand-
habenden Jardsandha-Puppe. Eine Positionsregel, nach welcher die Figuren der guten
Partei auf der rechten Seite und die der schlechten auf der linken (bzw. umgekehrt) zu
postieren gewesen wären, hat es nicht gegeben. In den meisten Fällen wurden die Mario-
netten von der Seite her in den Bühenraum eingeschwenkt.
Neben den öffentlichen Aufführungen gab es auch andere. So fanden am Navardtri-
Fest zu Ehren der Marionetten und Instrumente besondere Spiele statt, die mit einer feier-
lichen Püjd verbunden waren. Bei dieser Gelegenheit wurde eine höfische Szene vorge-
führt, die mit einer hochfestlichen Krönungszeremonie (pattdhhiseka) endete. Weiterhin
gab es auch Vorstellungen magisch-beschwörender Art. So wurde zur Bekämpfung einer
bestimmten Viehkrankheit (dodda roga; K2, S. 1425 a) eine ausgewählte Szene aus dem
Mahdhhdrata-Fpos gespielt, an die sich aber der Gewährsmann nicht mehr erinnern
konnte.
Es gab auch Anlässe, die den Abbruch einer Aufführung zur Folge hatten. Dies ereig-
nete sich einmal bei einem akuten Todesfall, ein anderes Mal bei magischer Einwirkung
durch einen der Zuschauer, der als Zauberer im Besitz des bösen Blicks oder als Exponent
unheilvoller Kräfte bekannt war. Dazu eine Geschichte, die sich nach Angaben des Ge-
währsmannes Sri Nivasacharya vor mehr als 50 Jahren ereignet haben soll, als dessen
Großvater noch als Spielleiter fungierte. Damals hatte sich ein Kastenloser vor die Bühne
gesetzt, ohne zuvor den Spielleiter um Erlaubnis gefragt zu haben. Dieser Mann galt als
schwarzmagischer Zauberer. Seiner Kraft wurde es zugeschrieben, daß während der Vor-
stellung die Mridahgam-Trommel zerbrach. Der mit magischen Kräften ausgestattete
Spielleiter zwang ihn daraufhin, ein Betelblatt und eine Betelnuß zu essen. Diese bewirkte,
daß der Mann alle seine Zähne ausspuckte. Damit konnte er nicht mehr — nach Ansicht
der dortigen Bevölkerung — seine magische Macht ausüben. Dieser Spielleiter wäre auch
ln der Lage gewesen, Regen, der die Vorstellung störte, vom Platz, auf dem die Bühne
stand und die Zuschauer saßen, zu bannen, indem er unter Gebeten eine Kokusnuß um
das Geviert trug.
C. Marionetten aus Nelligerea (Nagamangala Taluk, Mandya-Distrikt, Karnataka)
1. Die Marionettenspieler
Etwa 90 km ungefähr westlich von Bangalore liegt das Dorf Nelligere (= Nelligerea).
Hier sind die Marionettenspieler zuhause, die zur Truppe des 48jährigen Leiters Sr! Tim-
mappa Achärya gehören, ebenfalls — zusammen mit seinen Söhnen — ein Gewährs-
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
69
mann. Er ist Haupt einer achtköpfigen Familie, die zur Hälfte aus Frauen besteht. Seine
Spieltruppe umfaßt bis zu zwölf Mann, von denen jeweils drei bis vier als Musiker des
kleinen Orchesters eingesetzt sind. Ebenso wie er war auch sein Vater, Maya Achärya,
der um das Jahr 1957 im Alter von 60 Jahren verstarb, Leiter und Manager der Truppe.
Auch Timmappas Söhne gehören der Truppe bereits an: N. T. Yashodhara Murthi, N. T.
Murthi und N. T. Maya Achäri, 13, 15 und 20 Jahre alt.
Die Kunst des Marionettenspielens wird vom Vater auf die Söhne oder, falls solche
fehlen, auf die Neffen der väterlichen Linie vererbt. Frauen sind von allen Tätigkeiten,
die mit der Aufführung Zusammenhängen, ausgeschlossen. Das Betreten des Bühnenrau-
mes ist ihnen untersagt. Unter Einbeziehung der Generation seiner Söhne kann sich Tim-
mappa an die Namen von Maricnettenspielern aus seiner Familie erinnern, die insgesamt
sechs Generationen repräsentieren. Damit läßt sich das Alter dieser Familie bis in den
Anfang des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgen. In dieser bis heute noch intakten
Familieneinheit werden auch noch die traditionellen Regeln respektiert. In seiner Funk-
tion als Spielleiter trägt der Führer der Truppe den Namen Guru; sein erster Assistent
heißt Sangddiga (K2, S. 1559 a), während die Eleven Shisya (K2, S. 1535 a) genannt
werden. Etwa zehn Jahre sind erforderlich, um Texte, Technik und Gesänge zu lernen
und um die diversen Tänze und Musikinstrumente zu beherrschen. Bei der Aufnahme
eines Schülers in die Truppe findet eine Püjd zu Ehren von Vighneshvara (Ganapati)
und Shdradd (Sardsvati) statt, bei welcher auch der Gurus und Erz-Gurus gedacht wird.
Der Shisya schenkt bei dieser Gelegenheit seinem Lehrer Kleidung, Geld und manchmal
auch einen Goldring als Ehrenzeichen (s. dazu auch unter kundula: Kl, S. 437b). Da
heutzutage Mangel an Nachwuchs besteht, werden auch Außenseiter als Vorführer ein-
gesetzt. Innerhalb von ein bis zwei Jahren erlernen diese das Manipulieren der Puppen.
Von diesen Hilfskräften waren zur Zeit der Befragung vier Personen bei der Truppe.
Das Marionettenspiel wird von den Vorführern als Puttali Bornheydta (K2, S. 1051 b,
152 b unter ata) bezeichnet, was man etwa als Spiel mit tanzenden Puppen übersetzen
könnte. Die Spieler sind Kanaresisch sprechende Hindus, die lesen und schreiben können.
Sie gehören der V aisnava-Gruppe an, die eine Unterkaste der Vishvakarma-Kaste ist
(s. K2, S. 1511b; Thurston 1909, VII, S. 412). Thurston weist darauf hin, daß diese
Bezeichnung ein Synonym für den tamulischen Begriff Kammdian (= Kanndlan, d. s. die
Augengeber; s. oben und besonders Nanjundayya/Iyer, IV, S. 452—453) ist. Von dieser
Kaste wiederum berichtet er (o. c., IV, S. 106, 107), daß sie aus fünf Gruppen bestünde,
den Goldschmieden, den Messingschmieden, den Zimmerleuten, den Steinmetzen und den
Eisenschmieden. Diese seien dafür bekannt, daß sie die Augen neugeschaffener Götter-
statuen in Tempeln und dergleichen fertigstellen und diese damit vollenden würden. Die
Familiengottheiten der Marionettenspieler sind Vishvakarma und Kälikamba; erstere ist
eine Form von Visnu, letztere als schwarze Muttergöttin eine regionale Form der Durgä
(Kl, S. 414a, 89a, 91b). Diese Göttin hat ihren Tempel in dem für die Spieler nahe
gelegenen Ort Nagamangala. Da hingegen ein Tempel des Vishvakarma in der näheren
Umgebung nicht zu finden ist, wird diese Gottheit in den Häusern der Spieler selbst ver-
ehrt. Täglich findet ihr zu Ehren eine Püjd bescheidener Art statt, eine feierliche hingegen
bei gewissen Familienfesten, wie z. B. bei Heiraten, bei den Feiern zum achten oder sech-
zehnten Lebensjahr, nicht dagegen bei Todesfällen. Einmal im Jahr gibt es außerdem
speziell zu Ehren der Puppen eine feierliche Püjd, in die Vishvakarma einbezogen wird.
Dies geschieht zur Zeit des Gaun-Habha, also des der Göttin Gauri geweihten Haupt-
70
Friedrich Seitmann
festes. Gauri ist die gelbe Parvati (Kl, S. 575b, 576a). Ihr Fest fällt in die Monate
August/September. Zu dieser Püjd werden alle Marionetten aufgestellt, und zwar kommen
die guten Charaktere auf die rechte Seite, während die schlechten auf der linken unter-
gebracht werden (Näheres über Figuren-Gruppierungen s. Seltmann 1974, S. 63).
Um von den Einkünften aus dem Puppenspiel leben zu können, müßten etwa 10 bis
15 Spiele monatlich gegeben werden. So viele finden heute nur noch jährlich statt. Daher
sind die Spieler schon seit langem gezwungen, sich andere Verdienstmöglichkeiten zu
suchen. So besitzen sie bereits seit etwa hundert Jahren gekauften Grund und Boden, den
sie selbst landwirtschaftlich nutzen. Darüber hinaus stellen sie landwirtschaftliche Geräte
aus Holz her, wie z. B. Räder, Pflüge usw. Aus dieser Tätigkeit läßt sich noch immer ihre
alte Zugehörigkeit zu der Gruppe der Zimmerleute ablesen, die im weiteren Sinne auch
als Holzbearbeiter anzusehen sind.
2. Die Marionetten
Die Herstellung der Marionetten liegt in den Händen der Puppenspieler. Von den
jetzt noch existierenden Figuren wurden etliche bereits vom Großvater des Gewährs-
mannes geschnitzt, während andere schon vom Gewährsmann selbst angefertigt worden
sind. Hände, Kopf und Körper der Puppen sind aus Holz. Leider war es nicht möglich,
eine genaue Überprüfung des Puppenbestandes vorzunehmen, da die Puppenspieler ande-
ren Verpflichtungen nachzukommen hatten und somit für weitere Recherchen nicht mehr
zur Verfügung standen. Etwa 20 Hauptcharaktere bilden den Kern der Puppenbasis, zu
dem noch weitere Nebenfiguren kommen. Die größten von ihnen sind bis zu 105 cm hoch,
die kleineren hingegen — hauptsächlich die Frauenfiguren — weisen nur eine Höhe bis
zu 80 cm auf. Die dem Verfasser zu Gesicht gekommenen Marionetten werden weiter
unten vorgestellt, bei der Inhaltsangabe des vorgeführten Stückes. Bemalung und Aus-
rüstung der Puppen sowie deren Kostümierung nehmen die Spieler selbst vor. Die Augen
bilden den letzten Teil der Bemalung. Diese Prozedur ist mit einer besonderen Püjd ver-
bunden, durch welche die Figur „zum Leben erweckt“ wird; dabei wird der Mantra der
Lebensverleihung gesprochen. Diese bereits oben erwähnte Kasteneigentümlichkeit ist also
bis auf den heutigen Tag bewahrt worden. Nach der endgültigen Fertigstellung der Puppe,
d. h. nach ihrer Kostümierung etc., wird nochmals eine Püjd für diese und Vighneshvara
durchgeführt. Marionetten, die nicht mehr „lebensfähig“ sind, die also entzwei, zerfressen
oder sonstwie unbrauchbar geworden sind, werden in den Fluß geworfen, wobei erneut
eine Püjd zu Ehren von Vighneshvara abgehalten wird.
Mit Bezug auf die Marionetten wurden folgende technische Ausdrücke genannt:
Haltefäden der Marionette sütra bombe (s. oben)
Führungsstäbe für die Hände ndrdca galu (K 1, S. 536 a) aus Rohr oder Eisen
Gelenkpunkte kilu (s. oben)
(diese sind mit Baumwollschnur
verbunden)
Die Aufhängung der Puppen ist im allgemeinen auf drei, mitunter auf vier Punkte
beschränkt. Zwei davon liegen in der Schultergegend, der dritte am Kopf oder der Kopf-
bedeckung. Die Baumwollschnüre sind lang genug, um sie jeweils den Körpermaßen des
Vorführers anpassen zu können. Die Schnürenden werden zusammengebunden. Die Ver-
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
71
knotung wird hinter einem Wulst im Turban plaziert, der hornartig hervorsteht. Auf
diese Art hängt die Puppe am Kopf des Spielers, der somit seine Hände frei hat, um mit
den Führungsstäben Arme und Hände der Figur dirigieren zu können. Auf Abb. Nr. 30
(s. S. 63) ist diese Art der Puppenführung gut zu erkennen. Die Führung der Arme mit
starren Stäben bewirkt, daß auch kompliziertere Bewegungen abgewickelt werden kön-
nen, wie z. B. die Betätigung von Waffen, Umarmungen und dergleichen. Die Hände
der Puppen sind so gestaltet, daß sich Daumen und Zeigefinger berühren; diese Öffnung
wird zur Befestigung der Führungsstäbe benutzt.
3. Die Aufführung
Die beherrschenden Themen der Vorführungen basieren generell auf den beiden großen
Indischen Epen und gewissen Puranas. Anlässe zu Aufführungen sind zum einen Unter-
haltung, zum andern die Suche nach glückbringender Wirkung, wie z. B. bei Hochzeiten
und Festen der Namensgebung sowie bei den Shivarätri- und Ekadasi-Festen. Außerdem
können die Vorführungen aber noch einen magisch-beschwörenden Charakter haben (s.
weiter unten). Das anläßlich der erwähnten Feste bevorzugte Programm sieht wie folgt
aus:
Heirat
Namensgebung
Todesfälle
Shivarätri und Ekadasi
Visnu-Feste
Sonstige Anlässe
Beschwörungen (Krankheit)
Beschwörungen (Regen)
a. für Shiva'iten
b. für Visnuiten
Girijä Kalyäna — Die Hochzeit von Girijä (bekannte
kanaresische Dichtung; s. Kittel 1875, S. LV und Kl,
S. 543 a).
Dhriva Carita — Die Geschichte von Dhriva (= Dhruva;
Kl, S. 828a).
Svarga Arhana — Lobpreisung von Indras Himmel.
Mahäbhärata; Bhägavata Puräna; Märkandeya Carita
— Die Geschichten um Märkandeya.
Rämäyana; Samandavatta Puräna (?).
Prähläda Carita — Vergnügen bereitende Geschichten,
getragen von den Spaßmacher-Figuren.
Kharibanta Kälaga — Die Abenteuer des Kharibanta.
Devi Mahätmi (K2, S. 1300 a: die generöse Göttin).
Gange Gauri Katha — Die Geschichte von Shiva, der sich
neben Gauri eine zweite Frau in der Göttin Gahga sucht
(Kittel 1875, S. LXXVI: eine alte kanaresische Über-
lieferung).
Aranya Kända — Szenen aus dem dritten Buch des
Rämäyana, z. B. die Geschichte von Jatäyu Mukhya.
Gewisse Texte existieren sogar noch als schriftliche Aufzeichnungen, so z. B. Teile aus
dem Rämäyana und Devi Mahätmi.
Das Aktionsgebiet der Marionettenspieler Hegt im Umkreis von 60 bis 70 Meilen
(97 bis 113 km). Man kommt also auch nach Bangalore, Mysore und Hassan. Geringe
Distanzen wurden früher zu Fuß zurückgelegt, größere mit dem Ochsenkarren. Heutzu-
tage wird vorwiegend der Omnibus benützt. An Ort und Stelle angekommen, wird sehr
rasch die Bühne errichtet. Dieses temporäre Vorführungsgebäude nennt sich Ranga Man-
72
Friedrich Seitmann
tapa (K2, S. 1405 a, 1266 a). Es ist etwa 4,5 m breit, 3,5 m hoch und 3 m tief. Die eigent-
liche Bühnenplattform liegt etwa 60 cm über dem Erdboden (s. Skizze Nr. 7; s. S. 67).
Ihre Seiten- und Rückwände bestehen aus dunklen Tüchern, die an der Bambuskon-
struktion des tragenden Gestells befestigt werden. In der ebenfalls aus einem dunklen
Tuch bestehenden Vorderseite ist die Bühnenöffnung angebracht; sie ist ca. 1 m hoch und
80 cm tief. Ein schwarzes Tuch bildet ihren Abschluß. Es ist an einem runden Balken
befestigt, der länger als der ganze Bühnenbau ist und so von der Decke herabhängt, daß
die hinter ihm stehenden Vorführer über ihn hinweg greifen und auf seiner Vorderseite
die Puppen manipulieren können (Ahb 30, S. 63 und Ahb. 31, S. 74).
Die Bühne wird, wenn es geht, an einer geschützten Stelle oder auf einer erhöht
liegenden Galerie errichtet. Regeln hinsichtlich ihres Aufbaus müssen nicht beachtet wer-
den. Handelt es sich jedoch um Aufführungen magisch-beschwörenden Gepräges, so wird
die Bühne von den Dorfbewohnern in der Nähe des Dorftempels aufgebaut. In früheren
Zeiten und auch gelegentlich noch heute wird dann vor der Vorführung eine feierliche
Püjd abgehalten. Unter Anführung des Gurus wird die Bühne danach dreimal von den
Spielern umschritten (pradaksina). Als Mittel zum Exorzieren — In Fällen von Besessen-
heit — werden keine Marionetten verwendet.
Die Auftraggeber der Vorstellungen sind von jeher die Dorfgemeinschaften und ein-
zelne vermögende Familien. Die Entlohnung erfolgt nicht in Form von Deputaten, son-
dern in bar. Heute kassiert man für eine Vorstellung von mehreren Stunden 500 Rs.,
eine Summe, die zwischen sieben bis acht Leuten aufgeteilt werden muß. Von diesen
arbeiten drei bis vier Mann als Vorführer und ebensoviele als Musiker. Das kleine Orche-
ster setzt sich aus einem Trommler (mridahgam, s. oben), einem Mukhavlna-Spieler und
einem Spieler des Kastenharmoniums zusammen. Der Spielleiter betätigt die Tdlas (kleine
Handbecken). Die Tanzschellen {gejje, s. oben) werden von den Vorführern bedient,
die sie an den Fesseln Ihrer rechten Füße tragen. Der Mukhavinist gehört meist nicht zur
Familie, da dieses Instrument sehr schwer zu spielen und nicht von jedem zu erlernen ist
Die Aufführungstechnik ist jener vergleichbar, die auch bei anderen Marionetten-
spielen aus der Gegend westlich von Bangalore üblich ist. Da die hier vorgestellte Truppe
mit Marionetten arbeitet, von denen fast alle keine Füße haben, wendet man einen Trick
an, um diesem Mangel abzuhelfen. Der Vorführer benutzt seine eigenen Beine als Ersatz,
und zwar dergestalt, daß sie unter dem Saum des lose hinunterhängenden Abschirmtuches
hervorkommen, um sie dann möglichst unter den Rocksäumen der Puppen rhythmisch
im Takt der Musik zu bewegen. Unterschieden werden normale Schritte, ferner solche,
die Sprünge andeuten, und solche, die Tanzschritte ausführen. Diese Tänze sind im Yak-
sagdna-Sü\ gehalten (Näheres s. Ashton/Christie 1977, S. 62—64). Besonders auffal-
lend sind die tänzerischen Elemente beim Auftritt von Frauen, der rhythmisch sehr
betont ist; aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten treten sie in Erscheinung.
Infolge ihrer beträchtlichen Größe und des damit verbundenen Gewichts sind die
Marionetten nicht zu sehr schnellen Bewegungen fähig, wie sie z. B. bei den kleineren
Marionetten aus dem Nordwesten von Indien möglich sind. Bei Liebesszenen oder im
Falle von Verwundeten sind Sitz-, Seiten- oder Liegepositionen in einer Reihe von
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
73
Varianten gestaltbar. Schlafende und dabei schnarchende Helden werden regelmäßig
vorgestellt und mit entsprechendem Gelächter begrüßt. Alle Dämonen kündigen sich, ehe
sie selbst auf der Szene erscheinen, durch eine besondere Art von Geschrei an, womit
angedeutet werden soll, daß sie nicht aus dem eigentlichen Bühnenbezirk, sondern von
draußen kommen. Sie tragen in jeder Hand eine Fackel, die dann durch einen der Helfer
entzündet wird. Damit tanzen sie auf der Bühne eine Weile, dann werden die Fackeln
gelöscht und vom Gehilfen wieder entgegengenommen.
Die komischen Szenen werden in erster Linie von zwei Figuren gestaltet, dem Hanu-
mandyaka und der Bajdrdga Rangi (= Bajara Raga). Letztere ist ein Tanzmädchen;
ihre Namensbestandteile weisen sie als eine schlecht beleumdete Frau aus, die voller
Leidenschaft ist (K2, S. 1128 a, 1405 b). Diesen beiden Figuren ist der deftige Teil an-
vertraut; die Frau biedert sich bei jedem Mann an, was zu entsprechenden erotischen
Konsequenzen führen kann.
Die Muttersprache der Marionettenspieler ist das Kanaresische, das auch während
der Vorführungen gesprochen wird; Maräthi als Sprache ist ihnen nicht geläufig. Jeder
Vorführer spricht die Rolle der von ihm manipulierten Puppe. Es gibt festliegende und
improvisierte Textpassagen; die festliegenden beruhen auf alten Traditionen; sie werden
bei den anerkannt wichtigen dramatischen Szenen vorgetragen, gewisse Telle noch immer
in Sanskrit. Die Texte sind in Prosa gehalten; sie werden gesprochen oder gesungen, wobei
die gesprochenen Teile die Dialoge sind, während die gesungenen oder rezitativischen
Partien erklärenden und überleitenden Charakter haben. Diese werden vom Spielleiter
dargeboten, und nur in ihnen sind die Sanskrit-Einschlüsse zu finden.
Die Begleitmusik ist variantenreich. Je nach Art der dargebotenen Szene werden
verschiedene Ragas intoniert:
Einleitende Szenen mit Ganapati
Einleitende Szenen mit Shäradä
Heiratsszenen
Geburtsszenen (glücklicher Beginn)
Todesfälle
Liebesszenen
Kampfszenen (magisch)
Kampfszenen anderer Art
Räksasa-Szenen
Opferszenen (Püjä) und Gebet
Sonstige Szenen
Näti R.
Kalyäni R.
Kalyäni R.
Samkara Bharana R.
Tödi R.
Bhairavi R.
Möhana R.
Gaula R.
Madhyamävati R.
Ärabhi und Sabhävandane R.
Bhairavi- und Begade R.
Ausgesprochene Volkslieder werden nicht eingesetzt. Auch die oft üblichen Wiederholun-
gen gewisser Passagen mit dem damit verbundenen Wechselsang werden nicht verwendet.
Wenn während einer Aufführung einem der Spieler die Stimme versagt oder ein Musik-
instrument entzwei geht, wird dies als sehr schlechtes Omen angesehen. Das Spiel wird
unterbrochen, und es wirti eine Püjd zur Beschwichtigung der Dämonen (gaydtri; mit
beschwörenden Mantras) abgehalten. Die dabei verwendeten Opfer bestehen vorwiegend
aus speziellen Kräutern, Wurzeln und scharfen Gewürzen: Gida, Gdlu (= Kaie) und
Mülike (Kl, S. 541b, 414b; K2, S. 1362a); nach der Zeremonie werden die Opfer
eingegraben. Das Erlöschen von Fackeln wird dagegen nicht als böses Vorzeichen ange-
sehen.
Abb. 33
Friedrich Seitmann
Abb. 31
Abb. 32
Nachstehend wird die Kurzfassung jener Vorführung der Geschichte von Kharibanta
gegeben, die der Verfasser am 9. März 1977 erlebte:
Vor dem Spiel fand hinter der Bühne eine Püjd zu Ehren der Gurus und Erz-Gurus
(guru namaskdra) statt; auch den Instrumenten wurde dabei Reverenz erwiesen. Die
eigentliche Aufführung begann mit zwei Püjds, von denen die eine dem Ganapati, die
andere der Sharadä geweiht war, d. h. die beiden betreffenden Marionetten erschienen
nacheinander auf der Bühne; ihnen wurde von einem Brahmanen — ebenfalls einer
Marionette — das übliche Opfergut dargebracht. Der Spielleiter zitierte die entsprechen-
den Mantras. Danach gab er eine Einführung, worauf die eigentliche Vorführung mit
den folgenden Szenen begann:
1. Der Vaishdla-König Ballala Raja (Abb. 32) ist im Durbar-Saal mit seinem Minister
(mantri) und dem Armeeführer (senddhi-pati) in einer Besprechung. Jagan Mohini,
die schöne Königstochter, soll an Kari Rdya ( = Kharibanta) verheiratet werden.
2. Auftritt von Jagan Mohini (Abb. 33).
3. Auftritt von Kharibanta und seinem Mantri Dharmashila, auch Gunashila genannt.
Begrüßung.
4. Die Mantris beider Parteien verhandeln über die Heirat.
5. Khari Raja beschließt, zunächst Bdnavanta Devi, seine Mutter, aufzusuchen. In
Begleitung seines Mantris und eines Leibwächters bricht er auf.
6. Bei seiner Reise durch die Urwälder trifft er zwei dämonenartige Waldmenschen
(beda; Jäger: Thurston I, S. 180 ff.; auch Ndyaka bzw. Vdlmiki Janaka: Thurston
I, S. 185). Diese beiden, Urisinga und Mdrisinga führen Böses im Schilde. Es kommt
zum Kampf (Abb. 34); Kharibanta kann beide besiegen. Man reist nun weiter.
7. Auftritt von der Dämonin Udandi (= Fondanuru) und ihrem Bruder Bommardk-
sasa. Die Dämonin will ihre attraktive Tochter Pundari Kdksi, die Lotosäugige,
ihrem Bruder zur Frau geben.
Puppenspiel in Süd-Karnätaka
75
8.
9.
10.
11.
Gespräche im Lustgarten zwischen der Dämonentochter und ihrer Vertrauten Saki.
Kharibanta kommt durch Zufall in diesen Lustgarten. Er entdeckt die schöne Pun-
dari, in die er sich sofort verliebt; er will sie ebenfalls zu seiner Frau machen.
Udandi und Bommardksasa (Abh. 35)
erscheinen auf dem Plan. Es kommt
zunächst zum Kampf zwischen letz-
terem und Khari Raja und später mit
Udandi (Abb.36). Beide Zweikämpfe
gehen unentschieden aus. Die Gegner
sind total erschöpft.
Udandi hat einen Plan ausgeheckt,
um Khari Raja aus dem Weg zu räu-
men. Um diesen in der Dunkelheit
erkennen zu können, wird ihm wäh-
rend des Schlafs unbemerkt ein wei-
ßer Faden um die große Zehe ge- Abb. 34
wickelt. Infolge einer Verwechslung
erhält aber Bommardksasa den Faden. Sobald alle tief schlafen (Schnarchszene),
nähert sich Udandi und sucht den weißen Faden. Nachdem sie ihn entdeckt hat, tötet
sie ihren eigenen Bruder in der Annahme, Kharibanta vor sich zu haben. Letzterer
entfernt sich inzwischen.
Abb. 35
Abb. 36
76
Friedrich Seitmann
12. Am folgenden Morgen kommt es zu einem Gespräch zwischen Udandi und ihrer
Tochter, die von ihr aufgefordert wird, einmal nachzusehen, ob sich Kharihanta noch
am Lagerplatz aufhält. Die Tochter entdeckt nun den toten Bommaraksasa. Udandi
wird äußerst zornig; voller Aktivität begibt sie sich daraufhin auf die Suche nach
Khari Raja.
13. Bei diesem Unternehmen begegnet Udandi einer Angehörigen der Golla-Kaste (Hir-
ten und Viehzüchter; Kl, S. 568b; Thurston 1909, II, S. 284—296), die ihr über
den Aufenthaltsort Kharihantas Auskunft geben kann.
14. Udandi sucht das genannte Dorf Malliganuru auf. Um nicht erkannt zu werden, hat
sie die Gestalt einer Bdnanti angenommen, d. h. einer Frau, die zwei bis drei Monate
zuvor ein Kind bekommen hat. Sie führt dieses Kind mit sich, das in Wahrheit aber
eine Verleiblichung des Schwertes von Kharihanta ist (bei einer späteren Szene läuft
dann dieses Schwert seinem Eigentümer entgegen, nachdem es ihn erblickt hat).
Udandi wendet sich an die Dorfverwaltung und bittet diese, ihr bei der Suche nach
Kharihanta, ihrem Mann, behilflich zu sein, der sie und sein Kind verlassen habe.
Da sich die Dorfältesten aber über die Schilderung nicht sicher sind und sich nicht
entscheiden können, wollen sie Zeit gewinnen. Die wahre Gestalt von Udandi bleibt
ihnen verborgen. Schließlich begeben sie sich auf die Suche nach Kharihanta; sie
finden ihn und nehmen ihn gefangen. Dieser weist alle Vorwürfe zurück. Zusammen
mit Udandi alias Bdnanti wird er in einem Tempel eingesperrt.
15. Szene im Tempel. Udandi tötet ihren Mitgefangenen während des Schlafes. Wäh-
rend sie durch ein Loch im Dach verschwindet, verkündet sie laut, daß sie Khari-
hanta getötet habe.
16. Der dörfliche Fünferrat kommt zusammen. Man ist höchst bestürzt über das Unglück
und macht sich wegen der eigenen Fahrlässigkeit große Vorwürfe.
17. Inzwischen sind Pundari-Kdksi und Jagan Mohini herbeigeeilt, um den toten Helden
zu sehen und ihn durch rituellen Selbstmord (sati) auf seinem Scheiterhaufen zu
ehren. Gemeinsam betet man zu den Göttern.
18. Doch bevor sich die beiden Frauen in die Flammen stürzen, erscheinen Lord Ishvara
und Sri Pdrvati auf der Bildfläche, die von dem Unglück erfahren haben. Lord
Ishvara erweckt Kharihanta wieder zum Leben, und alle Anwesenden empfangen
den Segen des Götterpaares.
19. Einer Heirat zwischen Kharihanta und den beiden Frauen (Pundari und Jagan
Mohini) steht nun nichts mehr im Weg. In Anwesenheit des Götterpaares und mit
ihrem Segen findet die Hochzeit statt.
Den Abschluß der Aufführung bildet eine Püjd zusammen mit dem Mangaldrati-Opfer
(eine Zeremonie mit brennender Lampe; K2, S. 1257b).
Von diesem Spiel wurde eine Tonbandaufzeichnung gemacht.
D. Marionetten aus Veeranayakana Halli (Tumkur Taluk, Karnätaka)
1. Die Marionettenspieler
Nachdem eine Reihe von Verabredungen mit den Spielern aus Veeranayakana Halli
(Hullena Halli P. O.) immer wieder von diesen nicht eingehalten worden waren, gelang
es am 22. Februar 1977 endlich, einen Teil der Vorführer in ihrem Heimatdorf zu über-
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
77
raschen. Nach Aufgabe vieler Vorbehalte und stundenlangen Verhandlungen war Ran-
gaswamiah (50), eines der acht Truppenmitglieder, bereit, sich befragen zu lassen. Die
Besichtigung der Puppen wurde zunächst verweigert. Nachdem das Interview aber durch-
geführt worden war und man Vertrauen geschöpft hatte, wurden auch die Marionetten
— soweit sie gerade vorhanden waren — gezeigt. Leider kam es zu keiner Aufführung, weil
der Truppenleiter mit einigen Marionetten unterwegs war. Das abgelegene Dorf liegt ca.
30 km von der Distriktshauptstadt Tumkur entfernt und ca. 72 km nordwestlich von
Bangalore.
Rangaswamiah gehört der Ndyaka-Kaste an, einer Untergruppe der Bedas (s. oben und
Nanjundayya/Iyer II, S. 197, unter Vdlmiki Janaka). Zur Truppe zählen weitere sieben
Männer:
SlDDIAH
Venkata Ramu
Kenghiah
SlDDALINGIAH
Thimappa
Nagaraju
V ENKATACH ALI AH
V okkaliga-Kaste
Brahmanen-Kaste
V okkaliga-Kaste
V okkaliga-Kaste
V okkaliga-Kaste
Brahmanen-Kaste
Brahmanen-Kaste
Diese Aufstellung zeigt, daß die Vorführer verschiedenen Kasten angehören. Es handelt
sich also nicht mehr um eine geschlossene Gruppe in einem intakten traditionellen Gefüge.
In der Tat stellte sich heraus, daß sich diese Gruppe erst vor etwa 40 Jahren zusammen-
gefunden hatte. Die meisten von ihnen waren damals Schüler eines gewissen Veerachar,
den sie heute als ihren Guru verehren. Er gehörte zur Goldschmiedekaste Akkasdle
(s. oben) und stammte aus einer Familie mit alter Puppenspieler-Tradition, hatte aber
selbst keine Söhne oder männliche Verwandte gehabt, die diese Tradition weiterführen
wollten. So suchte er sich seinen Nachwuchs außerhalb seiner Familie. Bezeichnender-
weise wandte er sich dabei an Angehörige der Vokkaliga- und Beda-Kaste. Erstere kennt
ebenfalls Gruppen, die mit dem Schattenspiel zu tun haben, bei denen also das Puppen-
spiel zu den traditionellen Berufen gehört. Über diese Personenkreise, die sog. Kille-
kydta, schreiben Nanjundayya/Iyer (1930, S. 517—518):
"They were originally Mahratta Okkaligas following then the profession of agriculture.
11 is said that one of their women became intimate with a man of the Goldsmith caste
named Kattdre Kaldchdri and had seven sons with him. They were of course, put out of
caste, and the smith taught his sons to make dolls out of mats, leaves and pieces of lea-
ther, and earn their living by exhibiting marionettes before village audiences. The bro-
thers of the woman, who were poor, were induced to join their nephews subsequently,
reinforced by other accessions.”
Aus diesem Zitat geht — wie schon vermerkt — hervor, daß zu den traditionellen
Betätigungen gewisser Goldschmiede auch das Puppen- und Schattenspiel gehörte, und
daß sie mit den Vokkaligas in Verbindung gebracht werden müssen. Ähnliches scheint
auch für die Beda-Kaste zuzutreffen.
Der Gewährsmann konnte sich noch auf den Vater seines Gurus (oder Upddhydya) als
Puppenspieler besinnen. Er machte darauf aufmerksam, daß sein Sohn auch als Puppen-
spieler ausgebildet würde. Es wäre Tradition, daß sich die Kunst des Puppenspiels vom
78
Friedrich Seitmann
Vater auf den Sohn oder auf die Söhne des Vaterbruders vererbe. Besagter Guru hatte
Anfang der 30er Jahre alles Wissenswerte über das Puppenspiel in Hefte eingetragen,
unter anderem auch den Text des einzigen Stückes, das überhaupt vorgeführt wird, näm-
lich die Geschichte von Mdrkandeya. In einem dieser Hefte war die Jahreszahl 1934 ver-
merkt. Die Puppenspieler nennen sich Gomhe Ndtakada Sahga, was soviel wie „Mario-
nettensplel-Truppe“ bedeutet (K2, S. 558 a, 1227 a, 1559 a etc.). Der erste Assistent heißt
Cikka Upddhydya, d. i. der „kleine“ Vorführer. Die Schüler werden Shisya genannt.
Als solche können heutzutage auch Außenstehende aufgenommen werden, da die eigent-
lichen Erbberechtigten nicht immer Lust verspüren, dieses nicht gerade lukrative Gewerbe
auszuüben. Da nur ein Text beherrscht werden muß, dauert die Ausbildungszeit etwa ein
Jahr. Wird einer der erbberechtigten Schüler als vollwertiges Gruppen-Mitglied aufge-
nommen, so wird eine feierliche Püja veranstaltet, und zwar zu Ehren von Ganapati,
Shäradä, Ishvara und Märkandeya. Bei dieser Gelegenheit überreicht der Schüler dem
Guru Geschenke in Form von Früchten, Kleidung und Geld; früher gehörten auch goldene
Ringe dazu. Der Guru hingegen segnet den Schüler und schenkt ihm manchmal eine
Marionette. Bei Außenstehenden entfällt diese Zeremonie. Frauen haben in keiner Weise
etwas mit der Vorführung, der Textrezitation oder der Begleitmusik zu tun. Vor allem
dürfen sie den Bühnenraum nicht betreten oder sich an den Vorbereitungen beteiligen.
Als Gruppen-Gottheit wird Timmaraya Svami, eine Form von Visnu, angesehen. Ihr
Tempel liegt etwa 1 km vom Dorf entfernt.
Zur Durchführung eines Spiels sind zwölf Leute nötig: vier Vorführer, vier Sänger
und vier Musiker. Letztere bedienen folgende Instrumente: Mridanga; Mukhavina; Td-
la; Kastenharmonium. Außerdem werden zur rhythmischen Gestaltung von den Vor-
führern an den Fußfesseln die üblichen Tanzschellen (gejje) getragen. Beim Püjd-Ritual
wird außerdem eine Handglocke (gante) betätigt. Die Anzahl der jährlich gegebenen
Vorführungen hat sich auf etwa zehn reduziert; früher sind es bedeutend mehr gewesen.
Das Puppenspiel ist nur noch eine Nebenbeschäftigung, die neben der bäuerlichen Haupt-
arbeit erledigt wird. Kunden sind sowohl Dorfgemeinschaften als auch Familien.
Als bevorzugte Gelegenheiten von Vorführungen gelten die großen Feste, wie Shiva-
rdtri, Ugddi (Neujahr), Rämanavami und die Erntedankfeste. Am Shivardtri-Fest wird
eine rituelle Vorstellung zum Wohle der eigenen Dorfgemeinschaft durchgeführt. Hierfür
wird die Bühne außerhalb und in Front des Dorfes aufgebaut. Früher wurden auch Ver-
führungen magisch-beschwörender Art gegeben, wenn es galt, Epidemien abzuwenden
oder kinderlosen Ehepaaren zur Nachkommenschaft zu verhelfen. In solchen Fällen
mußte das ganze Stück gespielt werden, d. h. von neun Uhr abends bis zum Morgengrauen.
Ansonsten beträgt die Spieldauer nur zwei bis drei Stunden. Zur Heilung von Besessenen
wurden Puppenspiele oder die Puppen selbst nicht herangezogen.
Der Aktionsradius der Truppe ist nicht groß; er beträgt etwa 20 km im Umkreis mit
Einschluß der Städte Bangalore und Tumkur.
Anläßlich der wichtigsten Jahresfeste wird den Marionetten zu Ehren jeweils eine
Püjd gegeben, die mit drei Anrufungen und Opfern für Ganapati, Shäradä und Ishvara
beginnt. Dazu werden die Kisten (petdri), in denen die Puppen aufbewahrt werden, ge-
öffnet. Nach Anfertigung einer neuen Puppe gab es früher ebenfalls eine Püjd. Unbrauch-
bar gewordene Puppen werden zu Spielzeug oder in einen Fluß bzw. in einen Tempelteich
geworfen.
Puppenspiel in Süd-Karnätaka
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2. Bühne, Puppen und Aufführung
Das temporäre Bühnenhaus wird Gomhe Melada Ätu genannt, was soviel wie „Ort
für ein Spiel mit Tanzpuppen“ bedeutet (ätu: K2, S. 153 a unter 1,2). Das Gerüst für
die Bühne besteht aus Bambusstangen. Sie ist ca. 250 cm breit, 275 cm hoch und 360 cm
tief. Die eigentliche Bühnenplattform erhebt sich ca. 90 cm über dem Erdboden. Der
Bühnenausschnitt geht über die ganze Breite; er ist ca. 90 cm hoch und ca. 100 cm tief
(s. Skizze Nr. 8, S. 67). Die verbleibenden Flächen der Schauseite sind ebenso wie die Sei-
ten- und Rückwände mit dunklen Tüchern verkleidet. Auf dem unteren Teil der Front-
seite zeigt das schwarze Tuch Darstellungen, die spiegelbildlich angeordnet sind. Im Zen-
trum befindet sich eine Art von Fotosblüte; über ihr drei Blüten und unter ihr ein Haken-
kreuz, seitlich von ihr je eine Stand-Öllampe und je ein Topf mit drei Palmzweigen. Die-
se Figuren sind im Batikverfahren ausgeführt. Über die Bedeutung der Figureneinheit
wurden keine präzisen Angaben gemacht. Man sagte, sie hätte glückbringenden Charakter.
Die „Fotosblüte“ könnte aber auch als Mondsymbol aufgefaßt werden, das „Hakenkreuz“
als Symbol für die Sonne, während die Öllampen für das Feuer stehen und die Palm-
blätter in ihrer Dreierzahl als Symbole für den Febensraum gelten könnten. Somit läge
auch ein Vergleich mit dem javanisch/balinesischen Gunungan nahe. Den Abschluß des
Bühnenausschnitts bildet ein modern kolorierter Vorhang, der an einer Stange befestigt
ist. Er ist so hoch bemessen, daß man die hinter ihm stehenden Vorführer vom Publikum
her nicht sehen kann, andererseits jedoch so, daß die Spieler über ihn hinweglangen kön-
nen, um die Puppen zu manipulieren und sie zu beobachten. Dieser Abschlußvorhang kann
durch einen anderen ersetzt werden, der über zwei quadratische Öffnungen (20 X 20 cm)
für einen bestimmten Zweck (s. weiter unten und s. Skizze No. 8) verfügt. Eine Über-
dachung ist nicht vorgesehen. Der eigentliche Bühnenboden samt Vorhängen nennt sich
Anka Parade (K2, S. 17b: place, ground; S. 998 a: Vorhang). An der Rückseite des Baus
ist der Eingang; er wird fest geschlossen, wenn alle Spieler im Bühnenhaus sind. Den Vor-
führern ist es aber erlaubt, je nach Bedarf das Bühnenhaus während der Vorstellung zu
verlassen.
Bei den Marionetten handelt es sich um Figuren, die durch Fäden (sütra) und Stäbe
(narsa = näräca) gehalten und dirigiert werden. Die Haltefäden sind an einem Holzring
(simhe oder simhi: K2, S. 1633 b, a) befestigt, der auf den Kopf gelegt wird und die
Hauptlast der Puppe zu tragen hat. Die drei Haltefäden sind gewöhnlich am Scheitel
oder an der Kopfbedeckung sowie an den Seiten (Schulter oder Rücken) der Marionette
angebracht. Korpus, Kopf und Hände sind aus Holz geschnitzt, die freiliegenden Teile
polychrom bemalt. Über die Art der Herstellung wußten die Gewährsleute nichts zu
sagen, da die Puppen noch von ihrem Guru, der sich auch als Zimmermann betätigt hatte,
hergestellt worden waren. Wenn eine Marionette entzwei geht, so ist nur noch der Pup-
penspieler Siddiah in der Tage, sie zu reparieren. Sämtliche Puppen sind bein- und fuß-
los, mit Ausnahme einer Marionette, die ein Kleinkind darstellt. Die Schultergelenke sind
durch Baumwollhalterungen verbunden; die Handgelenke dagegen sind Kugeln, die in
einer Kappe liegen. Der Sammelbegriff für Gelenke ist kilu, die Vorderseite einer Puppe
nennt sich munda (= mundu: K2, S. 1346). Die vornehmste Frauenfigur (Marutvati)
verfügt über — mittels zweier Fäden — zu bewegende Augen; ihr Hinterkopf ist offen.
Die in den Kisten ruhenden Puppen sind noch nicht völlig angekleidet. Die eigentlichen
Gewänder, Schmuck usw. werden ihnen erst vor der Aufführung angelegt. Derartige
An- und Umkleideaktionen können auch während des Spiels vorgenommen werden, so
80
Friedrich Seitmann
daß ein und dieselbe Person in verschiedenen Gewändern auftreten kann. Die Puppen-
kleidung muß immer neu sein, d. h. die Stoffe dürfen nicht schon für andere Zwecke
benutzt worden sein. Kleider, die etwas abgenutzt sind, werden gegen neue ausgewechselt.
Die alten Kostüme oder deren Stoffe werden zwar nicht vernichtet, dürfen aber nur zur
Bekleidung von Kindern verwendet werden, bei denen die Pubertät noch nicht begonnen
hat. Die Zopfenden der Frauen sind mit einer Troddel (kuccu: Kl, S. 431b) versehen.
Der Kopfschmuck der Frauen besteht aus einem Stirnreifen (? baitale hottu; hottu: run-
des Ornament, s. K2, S. 1225 b) mit oder ohne Medaillon (hottu: K2, S. 1225 b). Die
um den Hals hängenden Blumengirlanden heißen hdra (K2, S. 1726 b) und die um die
Taille getragenen Gürtel ddhu (Kl, S. 672b). Bei den Männern nennen sich die Kronen
kirita (Kl, S. 422a; ein Sammelbegriff für Kronen, Stirnreifen etc.). Die Oberarmreifen
der Frauen bezeichnet man als tolahande, während der ausladende Schulterschmuck der
Männer hhuja kirthi (Kl, S. 759b; K2, S. 1245b) heißt. Die von den Fürsten getragene
runde Brustplatte (kavaca; K 1, S. 388 a) und der vom Gürtel über den Bauch fallende,
dreieckige Behang (nadu kattu oder vadyana: K 2, S. 884 a, 1452 b unter; vadhri) sind
auffallende Merkmale. Die Frauen tragen einen Wams mit Ärmeln (kuhdsa oder kürpdsa:
K 1, S. 458 b) und über ihm einen zweifarbigen Sari (sire: K 2, S. 1637 a), während die
Männer gewöhnlich mit Jacke und Dhoti bekleidet sind.
Der Bestand an Puppen beläuft sich auf 20 Stück, zu denen noch einige Requisiten
(Wiege, Waffen etc.) kommen. Nachstehend werden sie in der Reihenfolge ihres Auftritts
in der Geschichte von Märkandeya genannt. Jene Figuren, bei denen die Maßangaben
fehlen, waren zur Zeit der Befragung nicht greifbar. Die Maße gelten für die Länge von
Kopf bis Hüfte.
1. Vighneshvara = Ganapati (Ahh. 37) 46 X 14 cm
1. Shäradä
3. Caukidära = Copadära als Zeremonienmeister
= Cara, Bote
4. Devendra = Indra (Ahh. 38) 46 X 26 cm
5. Narada, Götterbote (Ahh. 39) 41 X 19 cm
6. Rambhä, Apsaras (Dowson, S. 263)
7. Urvashi, Apsaras (Dowson, S. 327)
8. Mrikanda Muni, Rsi; Vater von Märkandeya (Ahh. 40) 44 X 25 cm
9. Marutwati, Frau des Rsis (Ahh. 41) 40 X 27 cm
10. Säki, Vertraute der Fürstin (Ahh. 42) 41 X 24 cm
11. Märkandeya als Kleinkind (Ahh. 43) 24 X 9 cm
12. Mantrasani, Hebamme; mit schiefem Mund (Ahh. 44) 34 X 21 cm
13. Märkandeya als Erwachsener (Ahh. 45) 45 X 34 cm
14. Yama Dütaru, Bote von Yama (Ahh. 46) 45 X 24 cm
15. Shiva Dùta
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka
81
Abb. 37
Abb. 38
Abb. 39
Abb. 40
Abb. 41
Abb. 42
Abb. 43
Abb. 44
Abb. 45
6
82
Friedrich Seitmann
16. Yama = Dharmaräya, Gott der Unterwelt
und des Todes (Ahh. 47)
17. Shiva (Ishvara; Abb. 48)
18. Shivalihgam mit Schlangenkopf (Abb. 49)
19. Däseyah, Spaßmacher (eigentlich Sklave; K 1, S. 784 b);
nur Kopf (Abb. 50)
20. Gahgamä(li), Spaßmacherin, Frau von niederer Kaste
(K 1, S. 515a); nur Kopf (Abb. 51)
21. Eine Wiege, Requisit
61 X 25 cm
43 X 14 cm
45 X 24 cm
17 X 11 cm
18 X 17 cm
32 X 117 cm
Abb. 46
Abb. 47
Die Gesamtlänge der Marionetten richtet sich nach der vorgegebenen Oberkörpergröße.
Sie liegt etwa zwischen 80 und 120 cm; die Tiefe des Körpers etwa zwischen 10 und 20 cm
(Nr. 11 hat 3 cm und Nr. 19 hat 21 cm).
Die Geschichte um Märkandeya gehört in Karnataka zu den beliebten Themen. Die
nachstehende kurze Inhaltsangabe soll nur einen Überblick geben, denn je nach Region
können Varianten und Zusätze auftreten. Der Stoff ist jedoch nicht, wie man meinen
könnte, dem Mârkandeya-Purâna entnommen, einem der ältesten Werke dieser Art
(s. Winternitz 1908, I, S. 467—473 und Pargiter 1904), sondern er beruht anscheinend
auf volkstümlichen Überlieferungen (zur regionalen Bedeutung s. u. a.: Nanjundayya/
Iyer IV, S. 559).
Puppenspiel in Süd-Karnâtaka
83
Abb. 51
Abb. 49
Abb. 50
Abb. 48
84
Friedrich Seitmann
Mrikanda Muni, ein hochangesehener Weiser (rsi), machte sich eines Tages auf, um im
himmlischen Palast Indras (Indra sabha) im Kreis der dort versammelten Götter zu ver-
weilen. Närada bedeutete dem Indra, daß der Weise kein Recht dazu habe und am Hof
Indras nicht geduldet werden dürfe. Indra veranlaßte den Weisen, den Palast zu ver-
lassen. Verärgert über diese Behandlung durch den Himmelsfürsten, beschloß der Weise,
sich Shiva zuzuwenden und diesem zu Ehren Bußübungen zu verrichten, die außerdem
dazu dienen sollten, ihm den Wunsch nach einem Sohn zu erfüllen. Marutwati, die Ge-
mahlin des Weisen, unterzog sich ebenfalls derartigen Bußübungen. Sie wurden mit einer
Opferhandlung abgeschlossen, an deren Ende Shiva vor dem Weisen erschien und ihn
nach seinem Begehren fragte. Dieser bat darum, einen Wunsch äußern zu dürfen. Nach-
dem Shiva zugestimmt hatte, offenbarte ihm der Weise seinen Wunsch nach einem Sohn.
Diese Bitte wollte Shiva erfüllen. Zuvor wollte er jedoch wissen, ob der Weise einen Sohn
mit schlechtem Charakter vorziehe, der dafür aber hundert Jahre alt werden würde, oder
ob er einen solchen mit gutem Charakter haben wolle, der jedoch nur sechzehn Jahre alt
werden würde. Der Weise gab der zweiten Möglichkeit den Vorzug. Das Wunschkind
wurde geboren und erhielt den Namen Mdrkandeya. Es entwickelte sich zur höchsten
Zufriedenheit der Eltern, war wohlerzogen und beliebt bei jedermann. Nur die Eltern
lebten in ständiger Furcht vor dem immer näherrückenden verhängnisvollen Datum. Als
ihr Sohn sechzehn Jahre alt werden sollte, erklärten sie ihm das Vorgefallene. Mdr-
kandeya beschloß, sich selbst an Shiva mit der Bitte um ein längeres Leben zu wenden.
Nachdem er von seinen Eltern die Einwilligung dazu erhalten hatte, ging er in die Wäl-
der, um Buße zu tun und zu Shiva zu beten. Als sein Geburtstag herangekommen war,
schickte Yama seine Gehilfen aus, um die Seele des jungen Mannes zu holen. Da dieser
aber gerade Buße tat, gelang ihnen dies nicht. Unverrichteter Sache kehrten sie zu Yama
zurück, der nun den Jüngling selbst aufsuchte. Aber auch er vermochte keine Macht über
den Büßenden auszuüben; schließlich drohte er, die Seele mit seiner magischen Schlinge
(pdsha) zu fangen. Als Retter in der Not erschien nun Shiva. Dieser befahl dem Todes-
gott, sich zurückzuziehen; er verhieß Mdrkandeya ein langes Leben, ja sogar die Unsterb-
lichkeit. Nun konnte der Sohn zu seinen glücklichen Eltern zurückkehren.
Alle Vorführungen finden stets nachts statt. Für die Beleuchtung sorgen zwei vor der
Bühne stehende Lampen und eine weitere, die zentral im hinteren Teil der Bühne hängt.
Während früher Öllampen benutzt wurden, nimmt man heute Petromax- oder elektrisches
Licht.
Die Texte und Dialoge in Kanaresisch werden gesungen oder gesprochen. Sanskrit-
Passagen sollen nicht vorhanden sein. Der jeweilige Vorführer einer Marionette spricht
auch deren Rolle. Während der Dialoge schweigt die Musik. Bei den erklärenden Über-
gängen, die vom Guru gesungen werden, tritt das Orchester in Aktion. Dieses hält sich
neben dem Bühnenraum auf. Zu den Takten der Musik werden die Marionetten rhyth-
misch bewegt, wobei ihre fehlenden Füße durch die der Vorführer ersetzt werden. Die
musikalische Untermalung ist abwechslungsreich; man benutzt folgende Ragas:
Gebet — Änanda Bhairavi; Ärabhi; Säveri
Püjä — Nädanämakriya (sehr alt)
Schlußgebet — Saurästra
Ärger, Zorn — Athäna
Glückliche Anlässe — Regupti; Kambhödhi
Puppenspiel in Süd-Karndtaka
85
Anlässe zur Besorgtheit — Mukhäri; (Shahkara)-Bhärana
Gesänge von Shäradä und Närada — Kalyäni
Gesänge von Caukidära (Cara) und Devendra — Madhyamävati
Bei Tänzen — Gaula Raga
(Näheres zu den einzelnen Ragas s. Sambamoorthy)
Die beiden Spaßmacherfiguren werden als Handpuppen betätigt; sie haben also nur
Köpfe und keine Leiber. Sobald sie in Aktion treten sollen, erscheinen ihre Köpfe durch
die beiden Ausschnitte im Abschlußtuch der Bühne (s. oben). Sie fungieren als Spione und
Voyeurs, die heimlich beobachten und bei Liebesszenen ihre entsprechenden verfänglichen
Bemerkungen machen. Auch während des Umkleidens von Puppen im Verlauf der Auf-
führungen müssen diese beiden Handpuppen in Erscheinung treten, um die Zuschauer bei
Laune zu halten. Beim Marionettenspiel im Bellary-Distrikt sollen diese Typen auch vor-
handen sein.
Vor Beginn einer Aufführung wird im Bühnenbau eine für die Zuschauer nicht wahr-
nehmbare Püjd zelebriert, bei der alle Puppen, nachdem sie angezogen sind, an einer
Stange aufgehängt werden. Dabei muß darauf geachtet werden, daß sie niemals nach Nor-
den und in Richtung von Rähu, dem Daitya, blicken. Einzelheiten über dieses Ritual
wurden nicht bekannt gegeben; es hieß nur, daß Lord Ganapati und die Göttin Shäradä
in die Anrufungen einbezogen würden. Erst nach dieser Zeremonie werden die Figuren
der beiden Gottheiten dem Publikum gezeigt, wobei Musik ertönt und Hymnen an sie
gesungen werden. Die Opfer bei dieser weiteren Püjd sind weitgehend dieselben, wie sie
bei ähnlichen Gelegenheiten dargebracht werden, d. h. Früchte (Betel- und Kokosnuß,
Banane etc.), Betelblätter, roter und gelber Puder (arasina; K2, S. 99b; Kurkume und
Turmeric), Kampfer und Weihrauch. Geld wird nicht geopfert. Diese Püjds werden im
Sinne eines Prasdda-Opfers zelebriert, bei dem die Götter die Essenz der Opfergaben zu
sich nehmen und auch die verstorbenen Gurus angerufen werden. Nunmehr kann die
eigentliche Aufführung beginnen.
Ein Bote der Götter tritt in einer Durbarhalle auf. Es ist die Cara-Figur, die laut ver-
kündet, daß Indra, der Herr der Götter, erscheinen und in der Halle Platz nehmen werde.
Der Bote gibt auch eine gewisse Einführung in das Spiel, betätigt sich also als Sütradhara.
Sobald die Gottheit auf einem Thron Platz genommen und sie von sich aus generell alle
Leute zu dem kommenden Spiel eingeladen hat, erscheinen die beiden Apsaras, um vor
Indra zu tanzen. Nach ihrem Auftritt fragt Närada die Gottheit, weswegen er denn alle
Leute zur kommenden Aufführung eingeladen habe, unter diesen gäbe es doch auch
schlechte Menschen, und nur die guten hätten eingeladen werden müssen. Indra erteilt ihm
einen Verweis und schickt ihn weg. Inzwischen ist der Rsi Mrikanda Muni auf der Szene
erschienen. Närada kommt nun zurück und macht Indra auf den Ankömmling aufmerk-
sam. Nochmals stellt er die Frage, ob auch die bösen Menschen eingeladen seien. Er wird
von Indra erneut in die Schranken verwiesen. Närada wird dann mit dem Rsi, weil dieser
keine Kinder habe, weggeschickt. Der Rsi geht daraufhin in den Wald, um Buße zu tun
(tapa). Als ihm Shiva erscheint, erzählt er diesem seine Geschichte und bittet ihn um einen
Sohn. Danach nimmt die eigentliche Handlung ihren Fortgang, während der auch eine
große Püjd für Shiva ausgeführt wird; dazu wird die erwähnte, reichlich dekorierte Shi-
valinga-Figur auf die Bühne gebracht. Eine Zeremonie am Schluß der Aufführung soll
angeblich nicht stattfinden.
86
Friedrich Seitmann
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Winternitz, M.: Geschichte der indischen Literatur. Bd. 1: Einleitung. Der Veda. Die
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Heinz-Christian Dosf.dla
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
1. Einleitung
Unter den reichhaltigen Beständen an Artefakten der verschiedenen Südseekulturen,
die sich in europäischen Sammlungen befinden, sind zwar zahlreiche Beispiele für die
meisten küstennahen Gebiete von Neuguinea sowie für die bekannten „Kunstprovinzen“
der Sepik-Region vorhanden, das zentrale Hochland von Neuguinea ist hingegen mit
Kunstgegenständen und anderem ethnographischen Material nur verhältnismäßig spärlich
vertreten. Auch die völkerkundliche Literatur enthält nur wenige Angaben über die Kunst
dieses Gebietes Neuguineas, die auf eine Reihe von oft wenig bekannten oder schwierig zu
beschaffenden Publikationen — z. B. Berichte in Missionsfachzeitschriften — verteilt sind.
Dies ist vor allem zwei Tatsachen zuzuschreiben. Einerseits blieb das gebirgige Landes-
innere im Gegensatz zu den küstennahen Gebieten bis zum Zweiten Weltkrieg von
europäischem Kontakt weitgehend unberührt und ist auch bis zum gegenwärtigen Zeit-
punkt nicht restlos wissenschaftlich erschlossen, andererseits übte die Kunst der Hochland-
gebiete — von wenigen Ausnahmen abgesehen (1) — auf die internationale Sammlerwelt
bei weitem nicht die Faszination aus wie die anderen inzwischen eingehend behandelten
und optimal dokumentierten Kunstprovinzen der Insel.
Während jedoch heute von den meisten Gebieten Ozeaniens gesagt werden kann, daß
die ursprünglichen Kulturen „. . . seit der ersten Berührung mit den Weißen . . . einem
nahezu völligen Verfall unterlegen“ sind und „. . . ebenso der Vergangenheit angehören
wie die Kunstwerke, die einst auf ihrer Grundlage geschaffen wurden“ (2), bietet das bis-
lang weitgehend isoliert gebliebene Hochland von Neuguinea noch hinreichend Gelegen-
heit, das künstlerische Schaffen innerhalb von Gruppen, deren traditionelle Lebensweise
sich in den letzten Jahren trotz mancher Neuerungen nicht entscheidend geändert hat, in
voller Funktion zu untersuchen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, eine über-
sichtliche — wenn auch aus Raummangel nur sehr knapp gefaßte — Darstellung der
Kunst im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea zu bieten, vor allem aber auch, das
vorhandene Material durch eine Reihe neuer, bisher unveröffentlichter Forschungser-
gebnisse zu ergänzen. Diese Übersicht umfaßt nicht nur solche Objekte, auf die der
Begriff des Kunstwerks auch im klassischen Sinn angewendet werden kann, sondern
berücksichtigt sämtliche Bereiche bildnerischen Gestaltens, einschließlich der einfachsten
verzierten Gebrauchsgegenstände. Die Grundlage hierfür bot eine zweijährige Sammel-
tätigkeit des Autors, der in dieser Zeit unter anderem auch einen Lehrauftrag für das
Fach „Kunst- und Werkerziehung“ („Art and Grafts“) an einer der drei Lehrerbildungs-
stätten des heutigen Staates Papua-Neuguinea wahrnahm. Untersucht wurden vor allem
das Siedlungsgebiet der Mbowamb oder Mt. Hagen-Stämme der Westlichen Hochland-
Provinz und die benachbarten Bevölkerungsgruppen der Südlichen Hochland-Provinz (3),
Enga-Provinz und Chimbu-Provinz.
Weiteres Material stammt von mehrwöchigen Besuchen der damals teilweise noch als
„restricted area“ erklärten Trans-Strickland-Region (Telefomin und Oksapmin, West-
88
Heinz-Christian Dosedla
Sepik-Provinz bzw. Westliche Provinz), der Gegend von Bundi (Gende) und des Ramu-
Quellgebietes im gebirgigen Süden der Madang-Provinz sowie der Stämme der öst-
lichen Hochland-Provinz und der östlich angrenzenden Menyamya( Kukukuku)-Region
in der Morobe-Provinz (4).
Besonderes Augenmerk wurde einer systematischen Untersuchung der traditionellen
Technologien und der verwendeten Werkstoffe (5) sowie der bemerkenswerten Entwick-
lungstendenzen gewidmet, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Hochlandkunst
festgestellt werden können.
2. Die Stellung des zentralen Hochlands innerhalb der übrigen Kunstlandschaften
Neuguineas
Wenngleich die traditionelle Kultur der Bevölkerung des Hochlands bei oberflächlicher
Betrachtung gewisse einheitliche Züge aufweist, lassen sich doch innerhalb der auch sprach-
lich voneinander abgesetzten Stammesgruppen deutliche Unterschiede feststellen. Am
auffälligsten tritt hierbei jene Kulturgrenze in Erscheinung, die zwischen den Flußtälern
des Chimbu und des Asaro verläuft, worauf erstmals K. E. Read (6) in den 50er Jahren,
zur Zeit der zunehmenden wissenschaftlichen Erschließung des zentralen Hochlandes von
Neuguinea, hingewiesen hat. Aufgrund der linguistischen Untersuchungen von S. A.
Wurm (7) kann die Hochlandbevölkerung in fünf Sprachfamilien aufgeteilt werden: die
westliche, die westliche Zentral-, die zentrale, die östliche Zentral- und die östliche Sprach-
familie (vgl. die Übersichtskarte Abh. 1). Durch die Chlmbu-Asaro-Kulturgrenze werden
die östliche und die östliche Zentral-Sprachfamilie, deren Gebiet sich mit dem heutigen
östlichen Hochland-Distrikt deckt, von den übrigen Sprachzonen und Verwaltungs-
distrikten des Hochlands geschieden.
Was in der einschlägigen Literatur an allgemeinen Kriterien über ozeanische Kunst
gesagt wird, trifft zwar auf die meisten küstennahen Gebiete Neuguineas mit ihren ver-
schiedenen, oft sehr ausgeprägten Lokalstilen (8) zu, kann jedoch keineswegs in vollem
Umfang auf das zentrale Hochland übertragen werden.
Wenn als Charakteristikum der melanesischen Kulturen festgestellt wird, daß in erster
Linie „die mit Ahnenkult, Initiation, Gehelmbünden, Maskenwesen und Totemismus
verbundenen Vorstellungen nahezu die ganze bildende Kunst beeinflußt und bestimmt
haben oder überhaupt erst den Antrieb zu künstlerischem Schaffen gaben“ (9), so bedarf
diese Formulierung in bezug auf die Kulturen der Hochlandbevölkerung Neuguineas
einiger Modifikationen, denn dieses Gebiet fällt dadurch auf, daß hier Elemente wie
Initiation oder Maskenwesen teils völlig fehlen, teils nur in rudimentärer Form bzw. auf
wesentlich andere Art als bei der küstennahen Bevölkerung in Erscheinung treten (10).
Ein weiterer Unterschied zu den Kulturen der Küstengebiete scheint in der vergleichs-
weise weitaus größeren Flexibilität hinsichtlich der künstlerischen Traditionen der Hoch-
landstämme zu bestehen. Der — auch in der neueren — Literatur immer wiederkehren-
den Behauptung, die künstlerische Gestaltung sei so starr am jeweiligen „Kulturschema“
einer sozialen Gruppe ausgerichtet, daß jede Abweichung von traditionsbedingten Formen-
kodex nahezu ausgeschlossen sei, wodurch stammesgebundenen Kunststilen die Elemente
des Statischen und gleichsam der „Zeitlosigkeit“ innewohnten (11), widersprechen die
diesbezüglichen Verhältnisse im Hochland von Neuguinea erheblich. Vielmehr zeigt sich,
daß unter den Hochlandstämmen trotz gegenseitiger Feindschaften und kriegerischer Aus-
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
89
Trans-Strickland-Region:
(1) Ok-Bergstämme — (2) Hewa
Westliche Sprachfamilie:
(3) Duna
Westl.-Zentral-Sprachfamilie:
(4) Ipili — (5) Enga — (6) Huli — (7) Mendi — (8) Kewa — (9) Wiru
Zentrale Sprachfamilie:
(10) Mhowamh — (11) Mittel-Wahgi-Stämme — (12) Chimhu
Östl.-Zentral-Sprachfamilie:
(13) Siane u. Gurumumba — (14) AsarolGahuku-Gama — (15) Jäte
östliche Sprachfamilie:
(16) Kamano
Sonstige Lokalgruppen:
(17) Maring — (18) Gende — (19) Arawa — (20) Kukukuku
Ahh. 1 Zentrales Hochland von Papua-Neuguinea.
elnandersetzungen ein reger Austausch sowohl an materiellen wie an verschiedenen
geistigen Kulturgütern bestand.
Eine wichtige Rolle als kulturverbindendem Element zwischen den verschiedenen
Hochlandgruppen kam nämlich — vermutlich schon seit Jahrhunderten — dem Tausch-
handel zu, für dessen Entstehen das ungleichmäßige Vorkommen mancher begehrter
Güter (steinerne Beilklingen (12), Salz, Muscheln, Schneckengehäuse, Schmuckfedern,
wohlriechendes Baumöl etc.) die Voraussetzung bildete. Dieser intertribale Tauschhandel
vollzog sich auf verschiedenen Ebenen, sowohl als gewöhnlicher, von Angebot und Nach-
frage diktierter Warenaustausch profaner Art als auch als Tauschtransaktionen, bedingt
90
Heinz-Christian Dosedla
durch rituelle Gepflogenheiten (13). Auf diese Weise wurde zwischen den verschiedenen
lokalen Gruppen des Hochlands über ein weit gespanntes Netz von derartigen Aus-
tauschsystemen eine Verbindung hergestellt, wodurch sich eine breite Basis für das ständige
Fluktuieren zahlreicher kultureller Erscheinungen von Stamm zu Stamm ergab. Infolge-
dessen war auch das künstlerische Schaffen einem fortgesetzten Wandel unterworfen.
Die bildende Kunst im Hochland von Neuguinea hat zwar wie überall in Melanesien
innerhalb des religiös-sozial-politisch-moralischen Systems der traditionsgebundenen Ge-
meinschaften überwiegend zweckbestimmten Charakter, es fällt jedoch auf, daß bei der
Hochlandbevölkerung unabhängig davon eine deutliche Neigung zu einem — auch klar
formulierten — ästhetischen Bewußtsein besteht, die übrigens ihre Entsprechung in eigen-
ständigen Dichtungen mit ausgesprochen lyrischem Inhalt findet. Dies weist darauf hin,
daß die künstlerische Betätigung bei den Hochlandstämmen einen etwas anderen Stellen-
wert einzunehmen scheint, als es nach den bisherigen Erkenntnissen in den übrigen Kunst-
provinzen Neuguineas der Fall ist. Das künstlerisch aktive Stammesmitglied untersteht
nämlich im Hochland zwar ebenfalls starken gesellschaftlichen Bindungen, die von ihm
hergestellten Arbeiten können jedoch in vielen Fällen durchaus als das individuelle Produkt
einer Persönlichkeit gewertet werden, die sich in gleichem Maß von den Normen der sozia-
len Gruppe, in der sie lebt, als auch von ihren eigenen schöpferischen Einfällen leiten läßt.
In den folgenden Ausführungen über die verschiedenen Objekte, die für die Kunst des
Hochlands charakteristisch sind, kann auf die zum Verständnis notwendigen Zusammen-
hänge mit den entsprechenden religiösen Traditionen nur in Form von wenigen stichwort-
artigen Angaben eingegangen werden. Soweit hierüber Beschreibungen in der bisherigen
völkerkundlichen Literatur vorliegen, wird in den Fußnoten darauf hingewiesen. Eine
Reihe von neuen, aufgrund der einschlägigen Untersuchungen des Autors inzwischen
gesammelten Erkenntnissen hinsichtlich religiöser Vorstellungen mancher Hochlandstämme
muß allerdings vorläufig noch auf eine Veröffentlichung warten.
3. Funktionale Bereiche künstlerischen Gestaltens
3.1 Landschafls- hzw. Gartenkunst
Kulturschöpfungen besonderer Art stellen die Kultstätten der Mbowamb oder Mt.
Hagen-Stämme der Westlichen Hochland-Provinz dar. Angesichts dieser künstlich geschaf-
fenen, in exakt geometrischer Ordnung ausgerichteten, meist rechteckigen Lichtungen, zu
denen oft auch kilometerlange, eindrucksvolle Alleen als Zugangswege gehören, erscheint
es berechtigt, von einer regelrechten Landschafts- bzw. Gartenkunst zu sprechen. Diese auch
heute noch gelegentlich neu angelegten und mit besonderen Bäumen, Sträuchern und
einer Reihe von anderen künstlich angepflanzten Gewächsen eingesäumten Stätten ver-
körpern im mythischen Sinn den Ort eines schöpferischen Urgeschehens. Die Anregung
zur Anlage solcher Plätze sollen die Vorfahren der Mbowamb durch Beobachtung des
eigentümlichen Balzverhaltens des Laubenvogels erhalten haben, der deshalb auch in
manchen Beschwörungsformeln zur Mehrung magischer Kräfte angerufen wird (14). Auf
jedem dieser Plätze steht ein Kulthaus, in dessen Nähe in eigens errichteten und mit
„magischen“ Gewächsen bepflanzten kleinen Erdhügeln — die man als „Geisterplattfor-
men“ bezeichnet — die Kultsteine der betreffenden Lokalgruppe vergraben sind, wodurch
der ganze Bezirk zum Sitz übernatürlicher Kräfte wird. Hier werden die wichtigsten reli-
giösen Veranstaltungen, vor allem auch die als Moka-Fest bekanntgewordenen Zeremonien,
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
91
abgehalten. Abgesehen von bestimmten Pflanzen, die als Träger magischer Kräfte gelten,
werden diese Kultplätze häufig unter großem Arbeitsaufwand mit einer Vielzahl von
sorgfältig gehegten Ziergewächsen bepflanzt. Diese sollen nach der erklärten Meinung
der Mbowamb im Gegensatz zu den ausgesprochenen Ritualpflanzen keinem anderen
Zweck dienen als dem, durch auffallende Buntheit den farbenfreudigen optischen Eindruck
dieser Kultplätze, die auch das größte Prestigeobjekt einer Lokalgruppe bilden, zu ver-
stärken.
Die gleichen Tendenzen lassen sich auch hinsichtlich der häufig in ähnlicher Weise mit
Zierhecken eingesäumten Wohnplätze sowie der planmäßig in Schachbrettform angelegten
Gartengrundstücke der Mbowamb feststellen (13). Die auffällige Schachbrettform der von
Wasserabzugsgräben durchzogenen Gartenanlagen wird zwar primär als agrartechnische
Maßnahme (Hochwasser- bzw. Erosionsschutz) erklärt, hat für die Mbowamb jedoch auch
symbolische Bedeutung. Man vergleicht nämlich die quadratische Aufteilung der Felder
mit der rituellen Art und Weise, in der das Fleisch der Opferschweine unter die Teil-
nehmer an einem Festmahl aufgeteilt wird.
3.2 Ritzzeichnungen
Häufig kann man bei den Mbowamb auf lehmigen Bodenstellen oder an den Wänden
von Hohlwegen auch eingeritzte Zeichnungen beobachten, die ebenfalls die Verteilung von
Opferfleisch an die Teilnehmer eines Schlachtfestes symbolisieren sollen (Ahb. 2). Bei den
Gende nördlich der Ramu-Wahgi-Wasserscheide lebt diese Sitte offenbar nur noch als
Kinderspiel fort (16).
Abh. 2 Lehmritzzeichnungen der Mbo-
wamb. Mt. Hagen, Westl. Hochland-
Provinz (a, b: gedämpftes und zerlegtes
Schweinefleisch; c: Schwein; d: Huhn; e:
Kuskus, Kletterbeuteltier).
3.3 Blättermosaike
Bei den Mbowamb und ihren westlichen Nachbarstämmen (Enga, Ost-Kewa) werden
an verschiedenen Kultgebäuden und entlang der Wände der bis zu vier Meter hohen Schilf-
und Bambuseinfriedungen von Kultplätzen kunstvoll ausgeführte Blättermosaike ange-
bracht. Auch neu errichtete Wohngebäude werden anläßlich des Einweihungsfestes oft so ge-
schmückt. Die Bedeutung dieser „Mosaike“ beruht weniger auf dem Symbolgehalt ihrer
Ornamentik, die meist nur Schmuckcharakter hat und deshalb nach den individuellen
Einfällen ihrer Hersteller beliebig abgewandelt werden kann, als vielmehr auf den hier-
für verwendeten magischen Pflanzen und einer damit verbundenen Farbsymbolik. In der
Hauptsache werden hierfür die besonders auffälligen Blätter einer Melastomataceen-Art,
92
Heinz-Christian Dosedla
die bei den Mbowamb kondomb oder kundumb genannt wird (Beleg-Nr. 221,296) und einer
bestimmten Lauraceen-Art verwendet (Beleg-Nr. 129). Die ersteren sind auf der Vorder-
seite dunkelgrün, auf der Rückseite rostrot, die anderen hingegen auf der Vorderseite
hellbraun und auf der Rückseite weißlich bis silbergrau. Beide Blattarten sind länglich-
oval und etwa 18 cm lang. Sie werden so an den Wänden der Kultzäune und -gebäude
angebracht, daß Streifenmuster entstehen, die durch den aus magischen Gründen erwünsch-
ten weißen und rostroten Farbkontrast hervorgerufen werden.
Die eindrucksvollsten Blättermosaike dieser Art stellen die bis zu zwanzig Meter hohen,
in Form von „Triumphbögen“ aufgerichteten Laubfassaden dar, die anläßlich der Kult-
feste der Wasser- und Fruchtbarkeitsgeister Wöp bzw. Eimb der Mbowamb errichtet
werden (17).
3.4 Schnitzverzierungen an Gebäuden
Geschnitzte Verzierungen treten nur gelegentlich an den als magische Kraftträger auf-
gefaßten Hauspfosten der Männerhäuser auf, für die deshalb auch nur besondere, unter
rituellen Vorkehrungen gefällte Hölzer verwendet werden, oder an manchen Kultge-
bäuden (z. B. Schädelhäuschen) auf. An den Eingangspfosten der Frauen- und Schweine-
häuser können manchmal als segenbringend oder auch als apotropäisch interpretierte,
geschnitzte Symbole einfachster Art angebracht sein.
Bei den Ok-Bergstämmen der Westlichen Provinz waren Hauszierbretter üblich, die
an die Frontseite der „Geisterhäuser“, Männerhäuser und Familienwohnhäuser gebunden
wurden. Sie bestanden aus ornamentierten Bohlen, die oben spitz zulaufend bis zum Gie-
bel reichten und im unteren Teil ein ausgeschnitztes „Schlupfloch“ besaßen, das als Eingang
diente. Bei manchen Kulthäusern traten zu diesen Eingangsbrettern noch zwei kleinere
Seltenbretter, wodurch eine mit bemalten Schnitzornamenten geschmückte Fassade ent-
stand. Die Dekorationselemente entsprachen denen der Kampfschilde und sollten symbol-
haft die schützende Macht der Ahnen verkörpern (18).
Bei den westlichen Unterstämmen der Mbowamb (Temhoka-Sprecher u. a.) besitzen
manchmal die Männerhäuser eine Art von Veranda, deren Wände Zickzack-Muster aus
geflochtenen Bambusstreifen tragen (19). Die übrigen Wandbretter sind mit zahlreichen
eingekerbten Rauten versehen.
Die einzigen Beispiele von Holzplastiken, die bisher aus dem Hochland von Neu-
guinea bekannt wurden, stellen die Schnitzereien in Form von menschenähnlichen Figuren
an den Pfosten der Kulthäuser dar, die die Mendi-Stämme des Südlichen Hochlands
anläßlich ihrer Tauschhandelszeremonien errichten (20).
3.3 Kultsteine
An Steinplastiken sind im Hochland von Neuguinea, wo Steinkulte bei fast allen
Stämmen eine große Rolle spielen, nur verschieden geformte Kultsteine bekannt. Es han-
delt sich dabei um mörserartige Steinschalen und dazugehörige Stoßwerkzeuge sowie
steinerne Keulenköpfe, die die Hochlandbewohner gelegentlich bei Grabarbeiten im
Boden finden und die einer früheren Kultur entstammen, über deren Alter und Art auf-
grund fehlender Forschungsergebnisse bis jetzt nichts gesagt werden kann. Nach der Auf-
fassung der rezenten Bevölkerung sind diese Fundstücke nicht von Menschenhand
geschaffen, sondern stammen von jenseitigen Mächten. Die schalenförmigen Steine werden
zusammen mit den steinernen Stoßwerkzeugen oder anderen länglichen Steinen bei rituellen
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
93
Anlässen mit roter, schwarzer und weißer oder gelber Farbe bemalt und zusammen mit
Blut und Fett von Opferschweinen auf den Kultplätzen vergraben, um — im Sinne magi-
scher Fruchtbarkeitsvorstellungen — den Akt der geschlechtlichen Vereinigung zu symbo-
lisieren. Die in der Mitte durchlochten steinernen Keulenköpfe finden heute als Waffen —
außer bei den Kukukuku des östlichen Hochlands — keine Verwendung. Bei den
Mbowamb gelten sie als Segenssteine, die deren Reichtum an Perlmuscheln und anderen
wertvollen Besitztümern auf magische Weise anwachsen lassen sollen. Das Loch im Zen-
trum dieser Steine symbolisiert dabei den Eingang zur jenseitigen Welt, da man glaubt,
daß die begehrten Wertgegenstände von dort herstammen (21). Außer diesen prähistori-
schen Stein-Artefakten konnten bei den Mbowamb inzwischen zahlreiche Kultsteine fest-
gestellt werden, die erst in jüngerer Zeit von wenigen „Experten“ Im Geheimen selbst
angefertigt worden waren. Diese Steine sind entweder sehr freie Abwandlungen der
älteren Vorbilder (Abb. 3 und 4) oder haben die Form von stilisierten Vögeln. Derartige
Abb. 3 Scheibenförmiger Kultstein der
Mbowamb. Mt. Hagen, Westl. Hochland-
Provinz.
Abb. 4 „Phallischer“ Kultstein der Mbo-
wamb. Mt. Hagen, Westl. Hochland-
Provinz.
„Geistervögel“, die meist zum persönlichen Besitz von „Medizinmännern“ oder „Ritual-
experten“ gehören, werden häufig auch unter Verwendung von pflanzlichen Materialien
hergestellt (22). Ob es sich bei dem steinernen Hundekopf der Kentipi, eines nördlichen
Unterstammes der Mbowamb, um ein „prähistorisches“ Fundstück oder eine erst in jünge-
rer Zeit hergestellte Steinplastik handelt, kann nicht eindeutig festgestellt werden (23).
94
Heinz-Christian Dosedla
Es darf zwar als auffälliges Merkmal für die Kunst der Hochlandstämme gewertet
werden, daß hier Holzskulpturen in Form von geschnitzten Masken oder menschen- bzw.
tiergestaltigen Figuren fehlen, wie sie für die Kunst fast aller Südseekulturen charak-
teristisch sind (24), das heißt jedoch nicht generell, daß im Hochland von Neuguinea
Plastiken und andere figürliche Darstellungen unbekannt sind.
3.6 Kultfiguren aus Flechtwerk
Bei den Ost-Kewa und Wiru im Südlichen Hochland-Distrikt gibt es 1 m bis 1,5 m
große, meist flach (Abb. 3), seltener auch dreidimensional ausgeführte, innen hohle Figuren
in Form von stilisierten, reptilähnlichen Tieren oder menschenähnlichen Darstellungen
Abb. 3 Flache Kultfigur in Gestalt einer
Eidechse aus geflochtenen Farnstengeln.
Kagua, Südl. Hochland-Provinz.
mit deutlich hervorgehobenen männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Sie
sollen Geisterwesen bzw. die Seelen von Verstorbenen darstellen, als deren Aufenthalts-
ort die ausgedehnten Erave-Sümpfe im Süden des Kewa-Gebietes gelten. Das Material,
aus dem diese Figuren angefertigt werden, stammt von der Farnpflanze Gleichenia
brassii (Beleg-Nr. 95) (25), die von den Ost-Kewa Yagibu genannt und auch von den
übrigen Hochlandstämmen sowohl für magische als auch profane Zwecke — z. B. Flechten
von Fischreusen — verwendet wird, wozu man übrigens die gleiche Herstellungstechnik
anwendet (26). Die Figuren werden im Rimbu-Kult der Ost-Kewa verwendet, worüber
sich der Autor eine eigene Publikation vorbehält. Da die Kewa-Stämme seit der erst
vor wenigen Jahren erfolgten Kontaktaufnahme mit europäischen Missionaren der ver-
schiedensten christlichen Bekenntnisse die Zerstörung ihrer traditionellen Kulturgüter
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
95
befürchten (aufgrund der Erfahrungen, wie sie benachbarte Bevölkerungsgruppen erleiden
mußten), wurden diese Rimhu-Figuren von den Kultanhängern bisher nach Möglichkeit
geheimgehalten.
Die gleiche Situation trifft auf die in den letzten Jahren unter missionarischen Einfluß
geratenen Gebiete der Enga zu, worüber bereits 1958 M. J. Meggitt berichtet hat (27).
Manche Vertreter der dort tätigen Religionsgemeinschaften verboten den von ihnen
Bekehrten außer den meisten ihrer traditionellen Gepflogenheiten auch den Genuß von
Schweinefleisch, ohne dafür jedoch einen Ausgleich für deren sowieso schon ziemlich
proteinarme Ernährung anzubieten. Dies veranlaßte zahlreiche Familien, die sich diesen
neuen Lehren nicht fügen wollten, ihr angestammtes Gebiet auf der Suche nach neuen
Wohnsitzen fern des christlichen Wirkungskreises zu verlassen, was manche tiefgreifende
Erschütterung sowohl des sozialen Gefüges innerhalb der Enga-Bevölkerung als auch
innerhalb der Nachbarstämme, bei denen sich diese Flüchtlinge niederließen, zur Folge
hatte (28). Es gelingt daher nur selten, Kultobjekte der Enga — sofern diese nicht im
Zuge der Bekehrung vernichtet wurden — für ethnographische Sammlungen zu erwerben
oder auch nur zu fotografieren. Soweit aus den Aussagen von Gewährsleuten aus ver-
schiedenen Gegenden des Enga-Dlstrikts hervorgeht, kennt man geflochtene Kultfiguren
nur bei den Stämmen westlich von Wabag sowie bei den Ipili der Porgera-Region, die zu
einem gewissen Grad von der Enga-Kultur beeinflußt sind (29). Die Kultfiguren der
Enga ähneln den Rimhu-Figuren der Wiru und Ost-Kewa. Die Größe schwankt zwischen
70 und 100 cm, Material und Herstellungstechnik sind wie im Südlichen Hochland. Nach
der Beschreibung von W. Blank, der eine der anthropomorphen Figuren für die ethno-
graphische Sammlung des Anthropos-Instituts in St. Augustin bei Bonn sicherstellen
konnte, besteht diese „aus eng aufeinandergelegten, umwickelten Lianenranken, die durch
senkrecht dazu verlaufende gedrehte Bastfasern miteinander verbunden sind“ (30).
Während die geflochtenen Idole der Ost-Kewa und Wiru in Verbindung mit einem
Steinkult eine Rolle bei der Totenverehrung spielen, knüpfen die Enga an ihre — eben-
falls mit einem Steinkult verbundenen — Figuren bestimmte Fruchtbarkeitsvorstellun-
gen (31).
Eine aus gespaltenen Bambusstangen geflochtene Kultfigur ist auch bei den Gende am
Nordabfall des Bismarck-Gebirges zu den Ramu-Niederungen gebräuchlich. Da diese
überlebensgroße Figur jedoch Maskencharakter hat, erfolgt deren Beschreibung im ent-
sprechenden Abschnitt über das Maskenwesen im Hochland von Papua-Neuguinea.
3.7 Geisterhretter
Die unter der Bezeichnung Gerua-Bretter bekannten Geisterbretter verkörpern mythi-
sche Kräfte der Ahnengelster und werden im Zusammenhang mit den Schweinefest-
Ritualen der östlichen Hochland-Provinz (Slane) (32) und Gururumba (33), der Chimbu-
Provinz (Kuma) (34) und des östlichen Teils der Westlichen Hochland-Provinz (Nondugl,
Mittleres Wahgi-Tal) (35) hergestellt.
Die Siane der östlichen Hochland-Provinz kennen mehrere Arten solcher Geister-
bretter. Der größte, etwas mehr als mannshohe Typus wird als wenena-gerua (d. h.
„Menschen-Ger«^“) bezeichnet und trägt reiche Bemalung in Form von stilisierten
Menschenfiguren mit rautenförmigem Körper (ajaniki, d. h. „Hand des Mondes“), run-
dem Kopf (fo numuna, d. h. „Haus der Sonne“) und V-förmigen Gliedmaßen (orna, d. h.
96
Heinz-Christian Dosedla
„Weg“), wobei jede Sippe sich an ihr eigenes, traditionelles Vorbild hält (Ahb. 6). Für
einen kleineren Typus, der von einzelnen Personen auf individuelle Weise nur mit ein-
fachen geometrischen Figuren, wie Dreiecken, Kreisen und Strahlen, bemalt wird, ist
Ahb. 6 „Gerua“-Geisterbrett der Gende.
die Bezeichnung korova-gerua (d. h. „Geister-Gerua“ ) üblich. Beide Typen von Gerua-
Brettern werden im Kultkomplex der alle drei Jahre stattfindenden Schweinefeste der
Siane verwendet, die jeweils in mehreren Phasen verlaufen und auch mit Initiations-
feiern für die männliche Jugend verbunden sind (36). Dabei werden die größeren
„Menschen-Ger«^“ bei bestimmten Tänzen zur Musik der heiligen Flöten und Bambus-
posaunen von Repräsentanten der einzelnen Sippen, die als Frauen verkleidet sind, auf
dem Kopf getragen, um Ahnengeister zu symbolisieren.
Besondere Gerua-Bretter, sogenannte ruweja gerua, werden für die größten Schweine,
die geschlachtet werden sollen, bzw. als Sitz für deren Geister angefertigt. Ein anderer
Typus von nur ca. 40 bis 60 cm langen, als vau bezeichneten Gerua-Brettern der Siane,
die mit einem sonnenähnlichen Symbol — einem ovalen Loch, von dem Strahlen ausgehen
— versehen werden, spielt im Initiationsbrauchtum der Mädchen der Siane eine Rolle (37).
Die angeführten, mit den Gerua-Brettern der Siane verbundenen Vorstellungen und
Handlungen entsprechen in mancher Hinsicht dem Gerua-Kult der mehrere hundert Kilo-
meter nordwestlich siedelnden Gende. Bei den Gende tragen die etwa mannshohen Gerua-
Bretter zwar keine anthropomorphen Darstellungen (38), lassen sich jedoch als Sonnen-
oder Mondsymbole deuten; daneben gibt es ebenso wie bei den benachbarten Waugla-
Chimbu und den Mlttel-Waghi-Stämmen (39) einen kleinen, annähernd halbmeterlangen
Typus eines Geisterbrettchens, das bei Schlachtfesten zum Segnen der Schweine verwendet
wird und ebenfalls im Jungmädchen-Brauchtum eine Rolle spielt. Außer den als gerua
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
97
bezeichneten Geisterbrettern kennen die Gende auch anthropomorphe Darstellungen von
Geisterwesen, die entweder auf Stücken von Baumrinde oder mit RindenstofT (Pidgln:
tapa-cloth) bespannte Stangenrahmen aufgemalt werden. Derartige Figuren wurden von
den Gende auch in Baumstämme auf geheimen Kultplätzen im Wald eingekerbt (40).
Ähnliche Darstellungen auf Rindenstücken, die sowohl die Geister als auch die lebenden
Mitglieder eines Klans symbolisieren sollen, sind bei den Mae-Enga im Zusammenhang
mit deren Steinkult bekannt (41). Diese sind nicht mit den ovalen Schlafbrettern der
Enga aus dem Gebiet um Wabag zu verwechseln, die nach dem Tod des Besitzers zum Auf-
bahren der Leiche dienten, ebenfalls mit Darstellungen von Geisterwesen versehen sind
und in einem — heute abgekommenen — Totenkult verwendet wurden (42).
3.8 Gestelle mit zeichenhafler Bedeutung
Bei den Gende sind außer den im kultischen Bereich verwendeten Geisterbrettern auch
sogenannte „Friedensbrettchen“ bekannt, die rein profane Bedeutung besitzen. Sie haben
die Funktion einer Art von Verständigungszeichen zwischen zwei miteinander krieg-
führenden Parteien (43). Zum Zeichen eines Waffenstillstands wird ein besonderes „Frie-
densmal“ errichtet (Ahb. 7), das aus vier zu einem Rechteck nebeneinandergelegten Holz-
Abh. 7 „Friedensmal“ der Gende.
knüppeln und darum herum in den Boden gesteckten Pflanzen mit symbolischer Bedeutung
besteht. Zu Zwecken der magischen Krankenheilung wird von den Gende ein ähnlicher
Typus eines „Mals“ aufgerichtet, das vom Erkrankten im Rahmen einer rituellen Hand-
lung übersprungen werden muß (44).
Derartige Male, die durchweg figuralen Charakter haben, sind auch bei anderen Hoch-
landstämmen verbreitet. Sie werden je nach ihrer Bedeutung aus verschiedenen Anlässen
errichtet. Ebenso wie bei den Gende werden ähnliche Gebilde aus Hölzern, Zweigen
und anderen meist pflanzlichen Materialien von den Ritualexperten der Mbowamb, Enga,
Mendi und Ost-Kewa zur Heilung von Krankheiten auf magische Weise eingesetzt.
Bei den Mbowamb werden — meist an den Grenzen benachbarter Stammesterritorien —
auch besondere Mahnmale, sogenannte „Tfz-Zeichen“, aufgestellt, die z. B. die Aufgabe
haben können, ehemalige Verbündete in kriegerischen Auseinandersetzungen zu fälligen
Kompensationszahlungen für gefallene Mitglieder der eigenen Gruppe zu erinnern. An
solchen Zeichen können auch verschiedene Blättermosaike mit einer bestimmten Bedeu-
tung angebracht werden (45).
7
98
Heinz-Christian Dosedla
Bel den Mittel-Wahgi-Stämmen stellt man im Rahmen des Hochzeitsbrauchtums stan-
dartenähnliche Gebilde zusammen, an denen Schmuckfedern und Perlmuscheln, die Be-
standteile des Brautpreises bilden, befestigt werden (46).
3.9 Masken
Masken der Hochlandbewohner sind in ethnographischen Sammlungen fast nicht ver-
treten und deshalb — abgesehen von einigen verstreuten, ziemlich knappen literarischen
Angaben — auch kaum dokumentiert. Der Grund hierfür liegt wohl darin, daß die
Masken des Hochlandes in der Regel nur aus verhältnismäßig rasch vergänglichem Mate-
rial hergestellt und nach ihrer einmaligen Benutzung vernichtet wurden bzw. heute bereits
weitgehend abgekommen sind.
Bei den Siane der östlichen Hochland-Provinz existiert eine Art von Kulttheater, das
anläßlich der alljährlichen Erntefeiern aufgeführt wird. Es besteht aus Szenen mit meist
humorvollem Charakter, die auf mythische Traditionen Bezug nehmen. Die darin agie-
renden Personen trugen früher einfache Masken, die aus Flaschenkürbissen (Lagenaria sp.)
hergestellt waren, wobei Frauenrollen von verkleideten Männern dargestellt wurden. Das
Repertoire an szenischen Darstellungen ist reich und von Lokalgruppe zu Lokalgruppe
verschieden. Es wurde schon in voreuropäischer Zeit ständig durch neue, von benach-
barten Stämmen „importierte“ oder von einzelnen schöpferisch begabten Persönlichkeiten
erfundene Szenen bereichert (48). Seit einigen Jahren lassen sich Tendenzen zur Profa-
nisierung dieser Theateraufführungen erkennen, indem immer häufiger auch aktuelle Pro-
bleme der Gegenwart aufgegriffen und zu solchen Schauspielen verarbeitet werden.
Ein weniger ausgeprägtes Kulttheater, aber mit z. T. ähnlichen Masken aus einer
melonenartigen Frucht kannten die Gende des Bismarck-Gebirges, wo anläßlich der
Erntefeiern maskierte Tänzer auftraten. Durch eine besondere Art von Maske wurde hier-
bei der Yogondio-Geist verkörpert. Der Darsteller dieses Geisterwesens trug auf dem Kopf
eine Lage von Blättern einer bestimmten Pflanze, die bis zum Hals herunterhingen und
das Gesicht bis auf kleine Sehschlitze verdeckten. Darüber wurde feuchte Erde und eine
dicke Lehmschicht aufgetragen, wodurch der Yogondio-T'inzer weitgehend gegen Ver-
brennungen geschützt werden sollte, die allenfalls dadurch entstehen konnten, als er auf
dem Kopf eine kleine Feuerstelle zu tragen hatte. Zu dieser Lehmmaske gehörte eine
Bemalung des ganzen Körpers, wobei die Vorderseite mittels Ruß und Fett geschwärzt,
die Hinterseite mit weißer Tonerde gefärbt wurde. Die Begleiter dieses Maskentänzers
waren mit Pfeil und Bogen bewaffnete kleine Knaben, die dieser während seines Auftritts
ständig mit einem Steinbeil bedrohte. Die Knaben trugen ebenfalls Körperbemalung und
helmartige, kegelförmige Masken, die aus Streifen von gespaltenem Bambus zusammen-
geflochten waren (49).
Im Rimhu-Kult der Ost-Kewa treten Tänzer mit ähnlichen Helm-Masken und einer
Blätter- und Moosverkleidung (50) auf. Masken aus hellgrauem Lehm, der über ein
helmartiges Geflecht geschmiert wird, mit dazugehöriger grauer Lehmbemalung des ganzen
Körpers werden auch von den Stämmen des Asaro-Tals bei Goroka in der östlichen Hoch-
land-Provinz bei verschiedenen Gelegenheiten, heute allerdings häufig schon als reine
Touristen-Attraktion, getragen (51). Ähnliche Maskentänzer erscheinen gelegentlich auch
im Rimhu-Kult der Ost-Kewa im Südlichen Hochland-Distrikt (52) (Ahb. 8). Bei den
Maskentänzen der Gende trat früher auch die Gestalt eines uva poroi (d. h. „wilder
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
99
Geist“) auf, der eine Gesichtsmaske aus der Wurzel einer Bananenstaude trug und auf
dessen Finger Bambusröhrchen aufgesteckt waren, wodurch der Eindruck von Raubtier-
krallen hervorgerufen wurde. Andere, paarweise auftretende Maskentänzer der Gende
hatten Gesichtsmasken aus Baumrinde, die mit Blüten bestimmter Pflanzen beklebt waren
(53). Die Mittel-Wahgi-Stämme trugen noch vor wenigen Jahren sehr farbenfreudig
bemalte Rindenmasken, die heute einer entsprechenden Gesichtsbemalung gewichen sind
Abh. 8 Tänzer mit Maskierung aus
Lehm, Ost-Kewa. Kagua, Südl. Hoch-
land-Provinz.
(54). Eine Maske, die aus dem Stamm einer Bananenstaude oder aus frischer Baumrinde
verfertigt wurde, kannten früher auch die Mbowamb. Der Träger dieser Maske galt als
Personifizierung eines Himmelswesens und trat nur bei fallweise stattfindenden Frucht-
barkeitszeremonien auf. Er stieg in einem symbolischen Akt auf einen Baum, von dem er
verschiedene Früchte auf die Kultteilnehmer hinabwarf, die ihn, nachdem er wieder
herabgestiegen war und einige Tänze vollführt hatte, unter Schmähreden verprügelten
und mit Schmutz und Asche bewarfen (55).
Im Rahmen der Initiation bei den Gende spielte die aus Bambus geflochtene, masken-
hafte Verkörperung eines wilden Geisterschweins eine Rolle, von dem auch in sagen-
haften Erzählungen anderer Hochlandstämme berichtet wird (56) und das den Charakter
eines „Verschlingungs-Ungeheuers“ hat, wie es z. B. im Initiationsritus mancher küsten-
naher Völker Neuguineas verkommt (57).
3.10 Kopfschmuck
Eine Grenze zwischen manchen der oben beschriebenen Masken und einer Reihe von
anderen Kopfaufsätzen, die meist bei kultischen Tanzfesten der Hochlandstämme getragen
werden, läßt sich nicht eindeutig ziehen. Die vielfältigen Formen von Kopfschmuck, den
100
Heinz-Christian Dosedla
die männlichen Hochlandbewohner gewöhnlich auch auf ihren alltäglichen Wegen tragen,
sind zwar — im Sinne von A. J. & M. Strathern (58) — als den berühmten Schöpfungen
der Holzschnitzkunst der Sepik-Region oder der Bevölkerung mancher Küsten- und
Inselgebiete Melanesiens gleichrangige Kunstwerke zu betrachten, bilden jedoch ein so
umfangreiches Stoffgebiet, daß sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur äußerst knappe
Berücksichtigung finden können.
Dem Tragen von Kopfbedeckungen liegt bei den Männern vieler Hochlandstämme die
Vorstellung zugrunde, daß das Haupthaar als Sitz von magischen Kräften besonders
geschützt werden müsse. Man glaubt auch, diese Kräfte mit Hilfe von Manipulationen,
zu denen das Anlegen bestimmter Haartrachten aus kultischen Anlässen gehört, günstig
beeinflussen zu können. Bei den Mbowamb galten noch vor wenigen Jahrzehnten als
Zeichen der erwachsenen Männer Hauben aus Rindenstoff, die allmählich durch solche in
engmaschiger Netzknüpftechnik ersetzt wurden. Verschieden geformte, perückenartige
Gebilde aus Menschenhaar, das durch Kletten auf einem leichten Rahmen aus Bambus-
streifen zusammengehalten wird, waren zunächst nur bei den benachbarten Stämmen im
Enga-Distrikt und im Südlichen Hochland-Distrikt üblich, kamen jedoch — nur wenige
Jahre vor der Ankunft der Europäer im Hochland — auch bei den Mbowamb in Gebrauch.
Für die verhältnismäßig komplizierte Anfertigung dieser „Perücken“ nahmen die Mbo-
wamb die Hilfe besonderer Ritualexperten der Nachbarstämme in Anspruch, die für ihre
Dienste reichlich mit Schweinen, Muscheln und anderen Wertgegenständen entlohnt wur-
den (59). Ein besonderer Typ einer helmartigen, ornamental bemalten, bis über die
Schultern herabreichenden Perücke, deren Basis ein Geflecht aus Lianen bildet, das mit
Menschenhaar, Lehm und Harz beschichtet wird, ist für die östlichen Mbowamb, die
Mittel-Wahgi-Stämme und die benachbarten Maring zwischen den Flüssen Jimi und
Simbai charakteristisch (60).
In Verbindung mit diesen Kopfbedeckungen wurden bei festlichen Anlässen ver-
schiedene Arten von Federschmuck getragen, deren ausführliche Beschreibung sich hier
erübrigt. Erwähnt sei nur, daß vor allem bei den Mbowamb die Herstellung von bemer-
kenswerten Feder-Mosaiken üblich ist. Der Verwendung von Federn bestimmter Vögel
kommt hierbei auch symbolische Bedeutung zu (61).
3.11 Tanzdekorationen in Form von Nackenaufsätzen
Auf den Schultern getragene Tanzdekorationen aus ornamental bemaltem Rindenstoff,
der über ein leichtes Stangengerüst gespannt ist, sind bei den Stämmen des östlichen Hoch-
land-Distrikts und den benachbarten Gende im Süden des Madang-Distrikts üblich. Sie
sind bei den Gende mit anthropomorphen Darstellungen von Geisterwesen versehen.
Diese Tanzdekorationen werden im östlichen Hochland heute noch bei Schweineschlacht-
festen mit bereits weitgehend profanisiertem Charakter getragen, wobei an Stelle von
Rindenstoft inzwischen meist schon importierte Baumwollstoffe verwendet werden (62)
(Ahh. 9).
3.12 Gesichts- und Körperbemalung
Einen sehr wichtigen Bereich der traditionellen Kunst des zentralen Hochlands von
Neuguinea bildet die ornamentale Bemalung von Gesicht und Körper sowie in geringerem
Maße auch verschiedene Arten der Tatauierung, worüber inzwischen — zumindest für die
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
101
Abb. 9 Tanzdekorationen in Form von Abb. 10 Bemalter Umhang aus Rinden-
Nackenaufsätzen. Asaro, Östl. Hochland- Stoff. Asaro, Östl. Hochland-Provinz.
Provinz.
Stämme des Mt. Hagen-Gebietes (Mbowamb) — eingehende Untersuchungen vorliegen
(63).
Aufgrund verschiedener Anhaltspunkte kann mit großer Wahrscheinlichkeit ange-
nommen werden, daß Gesichtsmaskierung im Zusammenhang mit Körperbemalung (vgl.
den obigen Abschnitt über Masken) noch vor zwei bis drei Generationen im Hochland
viel häufiger war, und daß zahlreiche heute übliche Typen von Gesichtsbemalung, für
die es teilweise feststehende Bezeichnungen gibt, an die Stelle von mittlerweile abge-
kommenen Masken getreten sind.
3.13 Kleidung und Schmuck
Textilien eigener Herstellung gab es im Hochland nur wenige. Während die östlichen
Hochlandstämme in der Anfertigung feiner weißer Rindenstoffe, die sie u. a. zu Scham-
binden, manchmal auch zu ornamental bemalten Umhängen (Abb. 10) verwendeten,
stellte die weiter westlich lebende Bevölkerung, nicht zuletzt in Ermangelung geeigneten
Pflanzenmaterials (64), nur grobe, bräunliche Rindenstoffe her, die als Männerhauben,
Stirnbinden oder Schlafdecken verwendet wurden. Netzbeutel, die in einer besonderen
Schlingtechnik von den Frauen angefertigt werden (Pidgin: bilum), sind in ganz Neu-
guinea gebräuchlich. Die gewöhnlichen, groben und weitmaschigen Netzbeutel, die von den
Frauen zum Tragen von Feldfrüchten und anderen Gütern verwendet werden, sind ein-
102
Heinz-Christian Dosedla
fach aus gedrehten Fasern geeigneter Pflanzen hergestellt. Besondere Netzbeutel jedoch,
die sich die Frauen bei festlichen Anlässen umhängen und die weniger den Charakter eines
Transportgerätes als den eines Kleidungsstückes haben, werden aus verschiedenartig mit
Pflanzensäften gefärbten Schnüren aus besonders feinfaserigem Pflanzenmaterial gefertigt.
Sie haben vielfältige Muster, die zu den überlieferten Kenntnissen der Frauen gehören.
Als besonderes Schmuckelement können in die Schnüre weiße Wollbüschel von Kletter-
beuteltieren („Baumbär“, Cuscus, Phalanger sp.) eingesponnen sein.
Die gleiche Fierstellungstechnik wird für den neueren Typus der Männerhauben der
Mbowamb sowie für die Festtags-Schürzen der Männer angewendet, die in verschiedenen
Ausführungen westlich der Chimbu-Asaro-Kulturgrenze bis zum Stricklandfluß getragen
werden. Interessante Verzierungsmotive mit z. T. symbolischer Bedeutung bilden den
Schmuck der verschiedenen Gürtel, Arm- und Beinreifen der Hochlandstämme, die je
nach Typus, Material und Herstellungstechnik als Kerbschnittverzierungen in Rinde oder
Holz (65) oder in Form von geflochtenen Mustern aus feingespaltenen Lianenstreifen,
seltener auch als Brandmalerei auf Rotangringen auftreten können. Besondere Erwähnung
verdienen ferner die In Ringwulsttechnik hergestellten, früher meist mit einfachen Flecht-
Abb. 11 Mit Nassaschnecken benähte
Stirnbänder ans Rindenstoff, Mbowamb.
Mt. Hagen, Westl. Hochland-Provinz.
Ornamenten aus gefärbten Pflanzenfasern verzierten Brust- und Rückenpanzer der Duna-
Stämme im Westen des Enga-Distrikts.
Während verschiedenartiger Nasenschmuck und mancherlei Ohrgehänge meist nur
wenig künstlerische Ausgestaltung erfahren, stellen bestimmte Formen von Anhängern,
die um den Hals getragen werden, wichtige Beispiele für die Kunst der Hochlandstämme
dar. Hier treten nämlich ältere Verzierungsmotive auf, deren Bedeutung der heutigen
Bevölkerung oft nur noch undeutlich geläufig ist. Das gilt z. B. für die Brustgehänge aus
Schweinehauern bei den östlichen Hochlandstämmen, die früher anthropomorph aufge-
faßt wurden und — heute bereits unbekannte — Geisterwesen verkörpern sollen. Der-
artige Schmuckstücke aus Schweinehauern, wie sie auch bei der Küstenbevölkerung Neu-
guineas üblich waren, werden westlich der eingangs erwähnten Chimbu-Asaro-Kultur-
grenze immer seltener und fehlen eigenartigerweise bei den Mbowamb völlig. Sie treten
erst wieder weit im Westen bei den Stämmen der Trans-Strickland-Region (z. B. Oksap-
min und Telefomin, Westliche Provinz) auf.
Als weitere Schmuckstücke seinen die mit kleinen Nassaschnecken benähten Stirn-
bänder aus Rindenstoff erwähnt, von denen bei den Hochlandstämmen verschiedene
Formen üblich sind. Bei den Mbowamb sind sie in der Mitte häufig mit rot gemalten
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
103
Zeichen geschmückt, die zu einem gewissen Grad dem gesellschaftlichen Rang der jewei-
ligen Träger entsprechen (Ahh. 11) oder einen anderen Symbolgehalt ausdrücken können
(66).
Gleiches gilt in geringerem Umfang auch für die mit Brandmalerei verzierten „Kratz-
oder Schläfenstäbchen“ aus Kasuarknochen oder Bambus, die gerne seitlich unter das Stirn-
band geschoben werden und eine dekorative Einrahmung des Gesichts bilden. Sie können
auch in die Armreifen gesteckt werden (67).
Da sich gerade bezüglich Kleidungs- und Schmucksitten der Hochlandbevölkerung die
vielfältigen kulturellen Verflechtungen unter den einzelnen Stämmen am deutlichsten ver-
folgen lassen, hat der Autor die Behandlung dieses Stoffes in einen — vorläufig noch
unveröffentlichten — Aufsatz über „Tauschhandel und intertribalen Verkehr im zentralen
Hochland von Papua-Neuguinea“ einbezogen (68).
3.14 Prunk- und Zeremonialwaffen
Über die bekannten Prunk- oder Zeremonialbeile der Mbowamb und einiger ihrer
Nachbarstämme, bei deren Schäftung kunstvolle Flechtverzierungen angebracht werden,
wurde bereits in einem früheren Aufsatz des Autors berichtet (69).
Sie spielen im kultischen Leben der Bevölkerung z. T. immer noch eine wichtige Rolle
und wurden nur von Männern hergestellt, die dabei besondere rituelle Vorschriften
Ahb. 12 Zeremonialspeer der Mhowamh.
Mt. Hagen, Westl. Hochland-Provinz.
Ahh. 13 Nahkampfwaffe.
104
Heinz-Christian Dosedla
beachten mußten, wozu z. B. auch geschlechtliche Enthaltsamkeit während der Zeit der
Anfertigung gehörte (70).
Die gleiche Funktion wie diese Steinbeile als Attribute der Männer bei verschiedenen
Kultveranstaltungen haben auch die kunstvoll geschnitzten Zeremonialspeere, die von
den östlichen Hochlandstämmen nach Westen bis zu den Mbowamb verbreitet sind (71)
(Ahh. 12).
Unter den verschiedenen Typen von Pfeilen der Hochlandstämme befinden sich manche,
die ebenfalls vorwiegend repräsentativen Zwecken dienen, anläßlich von Festlichkeiten
getragen werden und ähnlich geschnitzt sind wie die Zeremonialspeere (72).
Diese Art der geschnitzten Verzierung tritt auch bei manchen Exemplaren einer vom
Südlichen Hochland (Mendi, z. T. auch Ost-Kewa und Huli) nach Westen hin (Oksapmin)
verbreiteten Nahkampfwaffe auf, die aus einer kniebeilartig geschäfteten Kasuarkralle
besteht (73) (Ahh. 13).
Die in flacher Schnitztechnik verzierten und bemalten Kampfschilde der Hochland-
stämme, die aus den brettartigen Wurzeln großer Urwaldbäume herausgeschnitten wurden,
sind bereits sehr selten geworden und werden heute nur noch gelegentlich bei einigen
Stämmen an der Grenze zu Indonesisch-Neuguinea (Irian Barat oder Irian Dyaya, West-
Irian) verwendet (74). Sie tragen in der Regel Darstellungen mit symbolischer Bedeutung,
vor allem sonnenähnliche Motive oder solche, die — im übertragenen Sinn — anthropo-
morph aufgefaßt werden und ihre Entsprechung in manchen Dekorationselementen der
Gesichts- und Körperbemalung haben (75).
3.15 Musikinstrumente
Viele der im Hochland gebräuchlichen Musikinstrumente haben sakralen Charakter.
Die in ganz Neuguinea gebräuchlichen hölzernen Sanduhrtrommeln (Pidgin: Kundu)
sind bei sämtlichen Hochlandstämmen mehr oder weniger häufig anzutreffen, werden
jedoch nicht in allen Gebieten selbst hergestellt, sondern oft auch im Tauschhandel von
anderen Volksgruppen erworben. Im Gegensatz zu den Küstengebieten besitzen die Sand-
uhrtrommeln im Hochland gewöhnlich keine seitlich angeschnitzten Haltebügel, sondern
werden nur mit Hilfe einer daran befestigten Schnurschlinge gehalten. In Kerbschnitt-
Technik ausgeführte Schnitzverzierungen der Art, wie sie auch auf Rindengürteln und
hölzernen Armreifen Vorkommen (76), befinden sich in der Regel nur auf der unteren
Hälfte der Trommeln. Diese werden, ähnlich wie es bei den Kultsteinen und Zeremonial-
waffen geschieht, mit Erdfarben ausgemalt und mit Schweinefett eingerieben, was früher
jedes Mal vor Gebrauch anläßlich eines Kultfestes im Sinne einer Erneuerung der inne-
wohnenden magischen Kräfte vorgenommen wurde (77).
Die paarweise auftretenden, in synkopischer Weise geblasenen „Geisterflöten“ aus
Bambus, die von den Stämmen des östlichen Hochlandes bis zu den Mittel-Wahgi-
Stämmen verbreitet sind, galten — häufig in Verbindung mit teleskopartig aus mehreren
Bambusstücken und einem Schalltrichter aus Flaschenkürbis zusammengesetzten Posaunen
— als die geheiligten Kultsymbole einer Sippe (78). Ein anderer, im gesamten Hochland
verbreiteter Flötentypus mit vier Grifflöchern, dessen Klänge man bei vielen Stämmen
ebenfalls als Vogelstimmen aus der jenseitigen Welt interpretierte (79), wurde daher —
zumindest östlich der Chimbu-Asaro-Kulturgrenze — mit Vorliebe aus den eigenartig
geformten Wurzelstücken einer Bambusart gefertigt, so daß das untere Ende mit dem
Schall-Loch das Aussehen eines stilisierten Vogelkopfes erhielt.
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
105
Bei einigen Stämmen des südlichen und westlichen Hochlands (Enga, Duna, Hewa-
Kewa, Mendi und Ok-Bergstämme von Telefolmin) ist in mehreren Abarten die Pan-
flöte verbreitet, die auch im Rimbu-Kult der Ost-Kewa eine Rolle spielt (80).
Die aus Bambus hergestellten, in ganz Neuguinea gebräuchlichen Maultrommeln galten
zwar als profane Musikinstrumente, da sie aber überwiegend von jungen Männern ver-
wendet wurden, um damit die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich zu lenken — bzw.
bei vielen Stämmen auch umgekehrt —, haben die darauf angebrachten Ornamente
häufig eine Bedeutung, die mit Liebeszauber zusammenhängt (81).
Alle diese Musikinstrumente — mit Ausnahme der holzgeschnitzten Trommeln —
können mit Ritzzeichnungen oder Brandmalerei in Form einfacher geometrischer Muster,
selten auch mit figuralen Darstellungen (82) verziert sein.
3.16 Verzierte Gehrauchsgegenstände
Mit einfachen Ornamenten, die als als magisch wirksam aufgefaßt werden, versieht
man im Hochland gelegentlich auch manche Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Dazu
gehören u. a. Tabakpfeifen bzw. Rauchrohre aus Bambus (83), von denen es von Stamm
zu Stamm — entsprechend den jeweiligen Rauchsitten — verschiedene Arten gibt
(Abh. 14). Behälter aus getrockneten Flaschenkürbissen, die zur Aufbewahrung des als
Abb. 14 Rauchrohr.
magisch mächtig aufgefaßten Fetts von Opferschweinen, von Samen verschiedener Pflanzen
oder auch nur als Trinkwassergefäße dienen, haben ebenfalls oft Verzierungen mit sym-
bolischer Bedeutung. Sie werden entweder, wie auch die Tabakpfeifen, mit Brandmalerei
oder eingeritzten meist mäanderartigen Mustern versehen oder so verziert, als man
die Zeichnung mit den Fingernägeln oder anderen scharfkantigen Gegenständen in die noch
grüne Fruchtschale eindrückt (84). Eingeritzte oder -gebrannte Verzierungen befinden sich
mitunter auch auf Bambusrohren, die als Behälter für verschiedene Zaubermittel — zu
denen in gewissem Sinn auch Farben gehören (85) — oder Schmuckfedern, die im kulti-
schen Bereich eine Rolle spielen (86), verwendet werden. Wenn kleine Bambusröhrchen,
die früher als Behälter für die beinernen Nähnadeln der Frauen dienten, gelegentlich
ebenfalls auf diese Weise verziert wurden, so geschah dies lediglich in verliebter Laune,
wenn ein junger Mann durch ein solches Geschenk die Aufmerksamkeit eines Mädchens
erringen wollte (87).
Im ganzen Hochland waren in voreuropäischer Zeit hölzerne Speiseschüsseln üblich
(88), die meist aus besonders schön gemaserten Hölzern hergestellt wurden. Bei den
Stämmen des östlichen Hochlandes gab es — oft aus kultischen Anlässen — zum Dämpfen
von Speisen in Erdgruben auch hölzerne Kochtrommeln, die manchmal ebenfalls mit
Kerbschnittmustern verziert waren. Die Anregung hierzu könnte unter Umständen aus
dem benachbarten Ramu-Gebiet stammen, von wo diese Stämme, die selbst keine Kera-
mik kannten, gelegentlich verzierte irdene Kochtöpfe importierten (89).
106
Heinz-Christian Dosedla
Kämme waren ursprünglich nicht bei allen Hochlandstämmen üblich. Man benutzte
statt dessen die bereits erwähnten „Kratz- oder Schläfenstäbchen“. Manche Stämme
kannten jedoch Kämme aus mehreren langen Hartholz-Zinken, die oben durch ein deko-
ratives Geflecht aus Lianen-Streifen zusammengehalten wurden. Seit der Erschließung des
zentralen Hochlands sowie der zunehmenden Durchsetzung dieser Gebiete mit Europäern
und in ihrem Gefolge auftretenden Elementen aus den Küstenkulturen Neuguineas hat
sich ein anderer Kamm-Typus allgemein durchgesetzt, der aus einem Bambusstück, seltener
auch aus einem Hartholzbrettchen geschnitzt wird. Auf seinem Griffteil werden heute
verschiedenartige Verzierungen angebracht, die häufig auf individuellen Einfällen beruhen.
Diese Kämme werden gerne als „Liebesgaben“ für Mädchen benutzt und von den Her-
stellern teuer verkauft (Ahb. 15).
Ahh. 15a Kamm aus mittels Flecht-
zverk zusammengehaltenen Bambus-
zinken, ältere Form, Ost-Kewa. Kagua,
Südl. Hochland-Provinz, b: Kamm, aus
einem flachen Stück Bambus geschnitzt,
neuere Form, mit Kerbschnitt-Verzierung.
Gegend von Wabag, Enga-Provinz.
Bei einigen Hochlandstämmen, z. B. bei den Gende, ist eine Art von Kreiselspiel
bekannt, das heute meist nur noch von der Jugend gespielt wird. Die Kreisel werden
aus verschiedenen Früchten, durch die ein Holzstäbchen gesteckt wird, hergestellt. Bel den
Gende gibt es auch Kreisel aus einer hohlen Nußschale mit einem seitlichen Loch, die bei
entsprechend schneller Drehung einen Pfeifton hervorbringen (90), Die Ost-Kewa
besaßen früher eine Art von Orakel, das auf einem bestimmten Kreiselspiel basierte. Die
dafür verwendeten Kreisel waren aus dem Holz eines besonderen Baumes geschnitzt und
trugen Kerbschnitt-Ornamente mit symbolhafter Bedeutung.
4. Botanische, zoologische und mineralogische Grundlagen von Material und Herstel-
lungstechnik
Welche pflanzlichen, tierischen und mineralischen Rohstoffe für die Kunst der Hoch-
landbevölkerung von Bedeutung sind oder waren, wurde bei den bisher behandelten
Objekten wegen der verwirrenden Vielfalt der damit zusammenhängenden (botanischen,
zoologischen und mineralogischen) Termini sowie der entsprechenden Vernacular-Nomen-
klatur in den verschiedenen Stammessprachen nur fallweise erwähnt.
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
107
Aus den wenigen angeführten Beispielen läßt sich jedoch deutlich die bei den Hoch-
landstämmen herrschende Tendenz erkennen, die Materialien zur Herstellung ihrer künst-
lerischen Schöpfungen nur nach bestimmten, traditionell festgelegten Gesichtspunkten aus-
zuwählen. Das entspricht völlig der Vorstellung, daß die gesamte Natur, d. h. die Materie
in der Vielfalt ihrer anorganischen und organischen Erscheinungen und Bewegungsformen,
von magisch aufgefaßten Kräften belebt ist. Alle auffälligen Naturerscheinungen, wie
Blitz und Donner, der Regenbogen, bestimmte Tiere, Pflanzen und Steine sowie deren
Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen, sogar das Phänomen „Farbe“ an sich, werden daher
als Manifestationen der schöpferischen Tätigkeit überirdischer Mächte aufgefaßt.
Diese animistischen Vorstellungen finden bei einigen Hochlandstämmen auch ihren
sprachlichen Ausdruck. Sämtlichen Unterstämmen der Mbowamb, die verschiedene Dia-
lekte sprechen, ist z. B. das Wort ugl gemeinsam. Wie auch von Rev. H. Strauss angeführt
wird, hat dieses Wort die vielschichtige Bedeutung von: Gepflogenheit, Sitte, Brauch, Art
und Weise; großartige Veranstaltung, schöpferisches Kunststück; Vorgang, Ereignis numi-
nöser, mysteriöser Art, Phänomen schlechthin (91). Äquivalente hierfür gibt es nicht nur
in anderen Hochlandsprachen, sondern auch in dem PIdgin-Ausdruck fesen (vom eng-
lischen jashion für Art und Weise, Sitte, Gewohnheit, auch „Mode“). Der Begriff des
„schöpferischen Kunststücks“ umfaßt demnach sowohl Naturphänomene als auch alle von
Menschen ausgeführten Handlungen oder von Menschenhand hergestellten Objekte, vor
allem aber sämtliche Leistungen künstlerischer Art, in denen man magische Kräfte am
Werk glaubt. Indem also der Vorgang der Schaffung eines künstlerisch gestalteten
Objekts so aufgefaßt wird, daß dabei magische Kräfte gleichsam in Gegenstände der
Natur gebannt werden, ist es für den Hochlandbewohner selbstverständlich, daß zur
Herstellung bestimmter Dinge, auch wenn diese nur profanen Zwecken dienen sollen,
keinesfalls beliebige Materialien verwendet werden dürfen. Diese Gegenstände könnten
andernfalls nicht nur in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden bzw. völlig unbrauchbar
sein, sondern die gewünschte Wirkung könnte dadurch sogar ins Gegenteil verkehrt
werden.
Die Kenntnis der meisten dieser Zusammenhänge wird bei vollwertigen, erwachsenen
Mitgliedern einer Lokalgruppe vorausgesetzt, wenngleich dieses durch Tradition fest-
gelegte Wissen je nach Geschlecht, Alter und sozialem Rang sehr unterschiedlich sein kann.
Die größte Autorität innerhalb dieses Vorstellungssystems besitzen die anerkannten
Ritualexperten, Schamanen oder Medizinmänner (92), von denen es in den einzelnen
Hochlandstämmen verschiedene Kategorien gibt. Diese Personen können auf unterschied-
liche Ressorts spezialisiert sein, zu denen auch die meisten künstlerischen Aufgaben zählen.
Aufgrund dieser Situation wird klar, daß ein richtiges Verständnis der künstlerischen
Schöpfungen der Hochlandkulturen nur möglich sein kann, wenn es gelingt, weitgehend
in die Betrachtungsweise ihrer Hersteller einzudringen. Als entscheidender Faktor bezüg-
lich der Entstehung und Entwicklung bestimmter Schöpfungen der materiellen Kultur der
Hochlandbewohner muß auch die geographische Verteilung bestimmter Mineralien, Pflan-
zen und Tiere in diesem ausgedehnten Gebiet mit regional oft sehr unterschiedlichen
Lebensbedingungen betrachtet werden, die — vermutlich schon zur Zeit der frühesten
Besiedlung Neuguineas — die Ursache für die Herausbildung einer intertribalen Tausch-
handelsform (93) bildete.
Eine systematische Untersuchung der natürlichen Grundlagen der Hochlandkulturen
im Zusammenhang mit dem diesbezüglichen tradierten Wissen der Bevölkerung war das
108
Heinz-Christian Dosedla
Ziel der zweijährigen Sammeltätigkeit, die das Material für die vorliegende Arbeit
erbrachte. Deshalb ergab sich eine Ausrichtung der Feldforschungen nach jenen Gesichts-
punkten, die mittlerweile in der englischsprachigen Fachliteratur unter dem von R. N. H.
Bulmer 1975 geprägten Terminus der „Folk-Science“ bzw. „Ethno-Science“ (im Sinne
einer „schriftlosen Naturwissenschaft“) zum Programm einer neuen, interdisziplinären
Forschungsrichtung erklärt wurden (94).
5. Die Stellung der künstlerisch tätigen Mitglieder in der traditionellen Gesellschaft der
Hochlandstämme
Das Vorhandensein einer ausgeprägten Kunst bei „Völkern mit geringer Naturbeherr-
schung“ (95), wie sie z. B. oft in beachtenswerten Holzschnitzwerken zu finden ist, gilt in
der einschlägigen Literatur als Charakteristikum für solche Kulturen, die ein streng
gegliedertes, stufenweise auf gebautes, von den Verbänden der initiierten Männer be-
herrschtes Gesellschaftssystem besitzen, wie es auf sämtliche küstennahen Kunstprovinzen
Neuguineas zutrifft. Die Weitergabe besonderer, meist mit rituellen Vorschriften ver-
bundener Kenntnisse an die heranwachsenden Mitglieder dieser Gesellschaften unterstand
der Autorität der führenden älteren Männer, deren Macht sich über den kultischen Rah-
men hinaus auf fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens erstreckte. In diesen Kulturen
waren die sorgfältig von Nichteingeweihten gehüteten Kultgeheimnisse identisch mit der
Herstellung bestimmter Kunstwerke, die in den — oft auch äußerlich durch reichen
Schmuck gekennzeichneten — Männerhäusern aufbewahrt wurden. Die Beobachtung, daß
so bemerkenswerte Kunstschöpfungen, wie sie die Sepikbevölkerung und die Küsten-
bewohner hervorbrachten, im zentralen Hochland ungleich weniger auffällig oder zumin-
dest in völlig anderer Weise in Erscheinung treten, läßt daher den Schluß zu, daß dieser
Unterschied aus den vergleichsweise viel weniger straff organisierten Gesellschaftssystemen
der Hochlandstämme erklärt werden kann, in denen Initiation und damit verbundenes
Maskenwesen sowie andere Kunsttraditionen keine so zentrale Stellung einnehmen wie
ln den küstennahen Kulturen (96). Seit dem Vorliegen genauerer Untersuchungen über
die Struktur verschiedener, wenn auch noch nicht aller Hochlandgesellschaften, die zahl-
reiche neue Erkenntnisse gerade bezüglich der Funktion von Initiationswesen, kultischen
Männerverbänden und damit zusammenhängenden Fragenkomplexen erbrachten (97),
kommt auch einer Betrachtung der sozialen Stellung der künstlerisch tätigen Persönlich-
keiten innerhalb dieser Kulturen entscheidende Bedeutung zu.
Im Zusammenhang mit den bisher behandelten Objekten der Hochlandkunst, die fast
immer auf irgendeine Weise eine Rolle im kultischen Bereich spielen, wurde wiederholt
erwähnt, daß es bei den Hochlandstämmen bestimmte „Ritualexperten“ gibt, die für
verschiedene Bereiche zuständig sein können (98). Der Aufgabenbereich dieser Personen
und der soziale Rang, den sie genießen, weist von Stamm zu Stamm zwar Unterschiede
auf, einige ihrer Tätigkeitsmerkmale tragen jedoch im ganzen Hochland die gleichen
Grundzüge. Die Skala dieser Tätigkeitsmerkmale umfaßt die profunde Kenntnis und
exakte Weitergabe der verschiedenen mündlichen Überlieferungen, das Wissen um die
richtige Ausführung der gemeinsamen rituellen Gebräuche, die entscheidende Mithilfe bei
der Organisation von Kultveranstaltungen, die Herstellung von Kontakten zu über-
irdischen Mächten, in manchen Fällen in der Funktion eines Mediums, die Deutung von
Träumen, Visionen und anderen Vorgängen mit zeichenhafter Bedeutung, die als Offen-
barung jenseitiger Kräfte aufgefaßt werden, die Handhabung von Orakeln und schließ-
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
109
lieh die Beherrschung einer Reihe von Sprüchen sowie damit verbundener Handlungen
für verschiedene Anlässe und Gelegenheiten, um positive oder schadenbringende Wir-
kungen zu erzielen. Als besonderes Merkmal tritt hinzu, daß die Ausübung fast aller
dieser Tätigkeiten auch überdurchschnittliche Kenntnisse auf dem Gebiet der vorhin so
genannten „schriftlosen Naturwissenschaften“ voraussetzt.
Die einzelnen Punkte dieser keinesfalls vollständigen Aufzählung treffen nur in
seltenen Fällen auf eine einzige Person zu. Für die Kultur der Hochlandstämme ist es
vielmehr bezeichnend, daß immer nur ein Teil oder auch nur eine dieser Aufgaben von
bestimmten Personen, die dafür als Experten gelten, wahrgenommen wird. Viele kultische
Handlungen, wozu einfache Opferbräuche gehören, können von den meisten erwachsenen
Männern, zumindest aber den Familienoberhäuptern, auch ohne Hilfe eines besonderen
Experten vollzogen werden, und die meisten Männer oder auch Frauen kennen irgend-
welche „magischen Geheimnisse“, die sie für entsprechende Gelegenheiten individuell
anwenden.
Inwieweit eine Person, die bestimmte Funktionen im kultisch-magischen Bereich aus-
übt, die allgemeine Anerkennung seitens 'der übrigen Mitglieder der sozialen Gruppe
findet, kann von verschiedenen Faktoren abhängen, den höchsten Ruf genießt selbstver-
ständlich derjenige, dessen Praktiken auf längere Sicht den meisten „Erfolg“ zeitigen.
Wenngleich es Beispiele dafür gibt, daß manche Ritualexperten ihre „magische Macht“ im
vorgerückten Alter auf ihre Söhne übertrugen (99), darf das nicht als Hinweis für das
Vorhandensein eines institutionalisierten, erblichen „Medizinmannwesens“ aufgefaßt
werden. Verhältnismäßig häufig sind Fälle von Ritualexperten, die manche ihrer magi-
schen Kenntnisse und Fähigkeiten in Form bestimmter „Zaubersprüche“ und damit ver-
bundener Handlungen an außenstehende Interessenten weitergeben, die diese Geheimnisse
und das Recht, sie anzuwenden, gegen eine entsprechend hohe Bezahlung in Form von
Schweinen, Muscheln usw. regelrecht „erwerben“ (100) können. Dieser Vorgang der
Übertragung der außergewöhnlichen Befähigung des Ritualexperten auf eine mit ihm
nicht blutsverwandte Person wird zu einem gewissen Grad als eine Art geistiger Adoption
aufgefaßt, da der Empfänger sich dadurch an die Verpflichtung gebunden fühlt, im Rah-
men der kultischen Opfergemeinschaft für die Seele seines Lehrmeisters zu sorgen, falls
dieser vor ihm sterben sollte. Daß gerade solchen Ritualexperten bei künstlerischen
Betätigungen das meiste Gewicht zufällt, hat mehrere Gründe.
Da fast alle künstlerisch gestalteten Gegenstände im gewissen Grade mit magischen
oder kultischen Vorstellungen Zusammenhängen, werden sie nur dann als „wirksam“
betrachtet, wenn sie unter Beachtung entsprechender Regeln hergestellt wurden. Zu diesen
Regeln gehört zunächst die Kenntnis des richtigen Materials samt dessen allfälligen
„magischen“ Eigenschaften, auf die oft bereits bei der Auffindung und Gewinnung — z. B.
durch Einhaltung bestimmter Enthaltsamkeits- und Opfergebote — streng zu achten ist.
Mit derartigen Regeln ist auch die Herstellungstechnik und in manchen Fällen auch der
spätere Gebrauch des fertigen Gegenstandes verbunden. Da die Kenntnis dieser Regeln,
zu denen auch eine Reihe von „Zaubersprüchen“ und magischen Handlungen gehört, nicht
immer Allgemeingut der ganzen sozialen Gruppe oder Männergemeinschaft ist, und well
gerade deren genaue Beherrschung die anerkannte Autorität der verschiedenen Ritual-
experten ausmacht, liegt fast die gesamte künstlerische Tätigkeit bei den Hochlandstäm-
men mehr oder weniger in den Händen dieser Personen. Vice versa ausgedrückt, kann das
auch heißen, daß jedes Mitglied einer sozialen Gruppe, das sich auf eine oder mehrere
110
Heinz-Christian Dosedla
künstlerische Fertigkeiten versteht, gleichzeitig den Ruf eines Ritualexperten genießt, da
mit der Kenntnis um bestimmte Herstellungstechniken immer auch die Erwerbung des
nötigen Wissens um die entsprechenden „magischen“ Zusammenhänge einhergeht (101).
6. Die Rolle der Kunst der Hochlandstämme im heutigen Staat Papua-Neuguinea
Eine Kunst, die in entscheidender Weise von religiösen Vorstellungen und besonderen
Ritualexperten reglementiert wird, tendiert konsequenterweise in eine Richtung, die
allein durch traditionell festgelegte gesellschaftliche Bedürfnisse geprägt wird. Daß dies
jedoch für die Hochlandstämme nicht in einem Maß zutriift, wonach jede Weiterentwick-
lung ebenso ausgeschlossen ist wie die individuelle Entfaltung freier Künstlerpersönlich-
keiten (102), kann teilweise bereits aus den wenigen Beispielen ersehen werden, die in der
vorausgegangenen Behandlung der verschiedenen Bereiche künstlerischen Gestaltern ange-
führt wurden.
Aufgrund neuerer Forschungsergebnisse konnte festgestellt werden, daß es im gebirgi-
gen Landesinneren von Neuguinea seit Jahrtausenden Bevölkerungsverschiebungen gege-
ben hat, die mit Sicherheit immer auch einschneidende Änderungen der kulturellen Tradi-
tionen der beteiligten Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten (103). Daß die Hochland-
bewohner nicht, wie früher angenommen wurde, seit unzähligen Generationen etwa in völ-
liger Isolation und in einem unveränderten, gleichsam „geschichtslosen“ Zustand dahinleb-
ten, wird zum einen durch die zahlreich zutage getretenen „prähistorischen“ Bodenfunde,
zum anderen aber auch von den Überlieferungsträgern der rezenten Bevölkerung bezeugt.
Demnach wurde z. B. ein Großteil der heute bei den Hochlandstämmen verbreiteten Kulte
samt zahlreicher damit zusammenhängender Dekorationselemente und einer Reihe anderer
Erscheinungsformen künstlerischen Gestaltens erst vor wenigen Menschenaltern eingeführt
(104). Die Rolle, die einzelne Persönlichkeiten — meist identisch mit Ritualexperten —
bei derartigen Innovationen spielen, wurde bereits bei der Erwähnung des Kulttheaters
der Siane hervorgehoben (105).
Vor dem Hintergrund einer solchen Innovationsbereitschaft seitens der Bevölkerung
muß auch das Phänomen des Zusammentreffens von europäischen Zivilisationseinflüssen
mit den traditionellen Hochlandkulturen unter einem spezifischen Aspekt gesehen werden.
Es erscheint daher wichtig, auch den Stand der jüngsten Entwicklungen innerhalb der
Hochlandkunst von Papua-Neuguinea aufzuzeigen.
Im Gegensatz zu den Küstengebieten Neuguineas, in denen der Zusammenstoß mit der
abendländischen Kultur bereits im 19. Jahrhundert stattfand und insgesamt unter
Bedingungen erfolgte, die von den dort beheimateten traditionellen Kulturen nur noch
spärliche Reste in Form von Touristen-Folklorismus und einem Kunsthandwerk weiterbe-
stehen ließ, das lediglich als Fremdenverkehrs-, Souvenir- und Kuriositätenindustrie
bezeichnet werden kann (106), blieben die verhältnismäßig spät „entdeckten“ Hochland-
stämme von einer derartigen Entwicklung bisher weitgehend verschont. Abgesehen von
einigen extremen Ausnahmen, die bereits erwähnt wurden, gelang der Versuch, diesen
Stämmen das Christentum in einer Form nahezubringen, die es den Menschen ermöglichte,
frei über eine Änderung ihrer traditionellen religiösen Werte zu entscheiden, was inzwi-
schen zu einer allmählichen Vermischung ihrer überkommenen Vorstellungen mit neueren
Elemente geführt hat (107). Eine derartige Situation konnte auch den Nährboden für
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
111
völlig neue Kunstrichtungen bilden, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten spontan
innerhalb der Hochlandbevölkerung entstanden sind.
Diese neue Hochlandkunst hat nichts mit der Herstellung von minderwertigen Nach-
bildungen der alten Prunk- bzw. Zeremonialwaffen, namentlich von Steinbeilen (108),
oder einer sogenannten „Airport Art“ (109) zu tun, die in erster Linie für den Verkauf
an Touristen bestimmt ist, sondern verdankt ihre Entstehung dem Bedürfnis der einge-
borenen Bevölkerung nach einer Auseinandersetzung mit dem Einbruch der modernen
westlichen Zivilisation in ihre traditionelle Lebensform mit Hilfe neuer künstlerischer
Mittel.
Seit ihrer ersten Konfrontation mit „Bildern“ der Europäer, die sie zunächst nur ln
Form von Illustrationen in Zeitungen und anderen von den Weißen mitgebrachten
Druckwerken oder auch nur von Abbildungen auf Lebensmittelverpackungen sowie von
Spielkarten kennenlernten, zeigten sich die Hochlandbewohner von der für sie völlig
neuen Idee, Gegenstände der realen Wirklichkeit mit graphischen Mitteln mehr oder
weniger naturgetreu wiederzugeben, in höchstem Maße fasziniert. Viele der älteren
Gewährsleute, darunter einige der ersten weißen Siedler und Missionare, die sich im
Hochland niederließen (HO), berichten davon, wie gleich zu Beginn der gegenseitigen
Kontaktaufnahme viele der jüngeren Hochlandbewohner, die oft ganze Tage damit ver-
brachten, den ins Land gekommenen Fremden bei ihren täglichen Verrichtungen zuzusehen,
in kurzer Zeit aufs Zeichnen und Malen verfielen. In Nachahmung der Europäer, die sie
beim Schreiben beobachteten, was großen Eindruck hinterließ, begannen die jungen Leute
auf Papier und Pappe mittels Schreibwerkzeugen, deren sie habhaft werden konnten,
verschiedene Themen festzuhalten. Dabei versuchten sie — entsprechend der bereits
erwähnten spielerischen Gewohnheit, stilisierte Tiere und einfache Gegenstände des tägli-
chen Lebens in den Boden zu ritzen —, auch viele der neuen Dinge zu malen, die sie bei
Europäern sahen (111).
Dieses stark zutage tretende Interesse am bildnerischen Gestalten veranlaßte die
Missionare, die heranwachsenden Hochlandbewohner in den bald schon gegründeten
ersten Schulen zunächst auf dem Umweg über das äußerst beliebte Zeichnen einer allmäh-
lichen Alphabetisierung zuzuführen. Auch heute, nach der Übernahme des gesamten
Bildungswesens Europas durch den unabhängigen Staat Papua-Neuguinea, wird dem
Kunst- und Werkunterricht („Art and Grafts“) im Lehrplan neben den anderen Unter-
richtsfächern nach wie vor ein breites Feld eingeräumt, da dem pädagogischen Wert dieser
kreativen Fächer große Bedeutung zugemessen wird. Diese offizielle Förderung der musi-
schen Begabungen der Schuljugend hat jedoch nicht nur zur Entstehung einer reinen
„Schul-Kunst“ geführt (112), sondern auch außerhalb des Erziehungssektors die künst-
lerische Betätigung der Hochlandbevölkerung spürbar beeinflußt. Die Farben, die die
Kinder in den Schulen gewöhnlich kostenlos erhalten, waren von Anfang an auch bei den
meisten erwachsenen Hochlandbewohnern sehr begehrt, die diese nun mit Vorliebe statt
der traditionellen Erd- und Pflanzenfarben zur Gesichts- und Körperbemalung, auch zum
Bemalen verschiedener Gegenstände, die früher nie bemalt wurden, oder aber zur Anfer-
tigung von Spielkarten verwendeten. Diese Spielkarten, die von den europäischen Vorbil-
dern — deren Einfuhr wegen der gefährlichen Spielleidenschaft der Bevölkerung übrigens
verboten wurde — erheblich abweichen, bildeten wahrscheinlich die Ausgangsbasis zur
allmählichen Entwicklung einer eigenständigen, höchst eindrucksvollen naiven Malerei.
Die neue Kunstform bei den Hochlandleuten stellt ein Phänomen dar, das im südpazifi-
112
Heinz-Christian Dosedla
sehen Raum kaum vergleichbare Parallelen hat und das auch in den küstennahen Gebieten
von Neuguinea in dieser Form nicht auftrat. Vergleichbares stellt höchstens die in den
20er- und 30er-Jahren dieses Jahrhunderts entstandene naturalistische Landschaftsmalerei
einiger australischer Ureinwohner dar, als deren hervorragendster Vertreter Albert
Ahb. 16—18 Zeitgenössische Beispiele
einheimischer Malerei.
Ahb. 16 Paul Hupiko „Cuscus“. Rohr-
feder, 11 x 15, 1970.
Abb. 17 Benedict Kulda „Messijah“.
Schabtechnik, 21 x 28, 1971.
Namatjira tragischen Ruhm erringen sollte (113). Bei der Malerei im Hochland von Papua-
Neuguinea handelt es sich um Bilder, die vorwiegend Darstellungen entweder aus dem
mythologischen Bereich oder aus dem Alltagsleben enthalten, mitunter auch mit sozial-
kritischer Aussage, aber auch um sehr stimmungsvolle Tier- und Landschaftsbilder, die,
mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen gemalt, am ehesten jene Empfindungen wider-
spiegeln, die für die lyrischen, meist von Flötenmusik begleiteten Lieder der Hochland-
stämme so charakteristisch sind (114). Gemalt wird vielfach mit improvisierten Pinseln
oder Holzstäbchen auf Papier, Pappe oder Sperrholz, das heute im Hochland, seit es in
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
113
Abb. 18 Albert Mondu „Paim Bilong Karuka“ („Zeit der Pandanusreife“). Rohrfeder,
27 x 30, 1970.
einigen kleinen Betrieben auch im Land selbst erzeugt wird, in Form von Rest- oder
Abfallstücken ohne große Schwierigkeiten erhältlich ist. Die Farben sind einerseits
australische, japanische oder auch deutsche Fabrikate, die als Deckfarben oder Pulver-
farben zur Verfügung stehen, oder die traditionellen Erd- und Pflanzenfarben, wozu
man bestimmte Baumsäfte oder Holzleim als Bindemittel nimmt. Sehr beliebt sind auch
graphische Techniken, wie Bleistift-, Buntstift-, Farbkreide- oder Federzeichnungen, die
vorzugsweise mittels selbstgefertigten Rohrfedern und verschiedenen getönten Pflanzen-
säften anstelle von Tusche ausgeführt werden, sowie eine Kratztechnik auf einem mit
8
114
Heinz-Christian Dosedla
Wachsfarben beschichteten Untergrund, die besonders dekorative Ergebnisse liefert.
Fast gleichzeitig mit dem Aufkommen dieser Mal- und Zeichenkunst begann man mit der
Herstellung von Bilderrahmen, die auch als Einrahmungen von Spiegeln bald einen
„Prestigegegenstand“ für die Hochlandbewohner bildeten. Sie tragen Dekorationsmotive,
die entweder auf die Schnitzverzierungen der heute noch angefertigten und allgemein
getragenen Rindengürtel, der Prunkspeere und -pfeile bzw. der vor einiger Zeit schon
abgekommenen hölzernen Armmanschetten (115) zurückgehen, oder die geschmackvolle
Neuschöpfungen darstellen, wie sie auch auf den neueren Bambuskämmen auftreten (116).
Andere Rahmen werden in einer Art Mosaiktechnik aus Rohrstäbchen hergestellt, die eine
auffällige „geflammte“ Maserung besitzen (117). Aus der Kerbschnittverzierung der
Bilderrahmen entwickelte sich — wohl auf europäische Anregung hin — eine selbständige
Druckgraphik in Form interessanter Holzschnitte, auf die sich einige Hochlandkünstler,
namentlich Albert Mondu aus Bundi, Paul Hupiko aus Tari oder Benedict Kulda aus
der Mt. Hagen-Gegend geradezu spezialisiert haben (Ahh. 16—18).
Teilweise gehen auch erste Anfänge der Herstellung individuell bedruckter Stoffe
(118) auf diese Art der Verzierung zurück.
Wenngleich die naiven Maler und Graphiker des Hochlandes von Papua-Neuguinea
ebensowenig wie die heutigen Hersteller von Nachbildungen der alten Prunk- bzw.
Zeremonialwaffen in den Augen der übrigen Bevölkerung den gleichen Rang einnehmen
wie die traditionellen, heute noch fast allgemein anerkannten Ritualexperten, können sie
doch beträchtliches soziales Ansehen genießen. Dieses Ansehen beruht darauf, daß ein
Großteil der heutigen Bewohner von Papua-Neuguinea in diesen Erzeugnissen, die von
zahlreichen Fremden geschätzt und zu ansehnlichen Preisen erworben werden, den
Beweis für die Anerkennung der Bemühungen erblickt, durch eigenständige kulturelle
Leistungen in der Gegenwart den Anschluß an die moderne Welt zu finden und ein
Gegengewicht zu den meisten der serienmäßig hergestellten importierten Fabrikate der
Europäer herzustellen. Dieses neu entstandene kulturelle Selbstverständnis der einge-
borenen Bevölkerung, dem auch im Regierungsprogramm des im September 1975 unab-
hängig gewordenen Staates Papua-Neuguinea Rechnung getragen wird, fand — Hand
in Hand mit den vielbeachteten Anfängen einer eigenen Nationalliteratur — bereits in
einigen mittlerweile ins Leben gerufenen institutioneilen Initiativen zur modernen Kultur-
förderung seinen Ausdruck (119).
Anmerkungen:
(1) Vgl. Vicedom-Tischner 1943—1948, S. 121 f. (Zitat): „Von dem ganzen mate-
riellen Kulturbesitz der Inlandstämme waren es die völlig aus dem Rahmen alles
bisher aus Neuguinea Gewohnten herausfallenden Beile, die bei der Entdeckung
des Inlandes Ost-Neuguineas und seiner Eingeborenenkulturen berechtigterweise
das größte Erstaunen der Ethnologen hervorriefen.“
(2) Zitiert nach Tischner 1954, S. 9.
(3) Vgl. Dosedla 1974, 1975, 1977.
(4) Ein beträchtlicher Teil der gesammelten Artefakte befindet sich derzeit als Leih-
gabe im Museum für Völkerkunde, Wien.
(5) Hier sei meinem verehrten Lehrer, Herrn Universitätsprofessor Dr. Walter
Hirschberg, für seine wertvollen Anregungen sowie Herrn Dr. Alexander Gilli,
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
115
Naturhistorisches Museum Wien, der die zeitraubende botanische Bestimmung des
gesammelten Pflanzenmaterials besorgte, besonderer Dank ausgesprochen.
(6) K. E. Read: Cultures of the Central Highlands, New Guinea. Southwestern Journal
of Anthropology, Vol. 10, 1954, S. 13—15. S. & R. N. H. Bulmer: The Prehistory
of the Australian New Guinean Highlands. American Anthropologist (special publ.
New Guinea), 1964, S. 43.
(7) S. A. Wurm: Australian New Guinea Highlands Languages and the Distribution
of Their Typological Features. „American Anthropologist“, Vol. 66, 1964, No. 4,
S. 77—97.
(8) Vgl. Speiser 1936, S. 304 ff.; Buhler 1960; Speiser 1941.
(9) Zitiert nach Tischner 1954, S. 9.
(10) Vgl. Allen 1967 (Einleitung).
(11) Trowell-Nevermann 1967, S. 204; Koch 1969, S. 31.
(12) Vgl. Dosedla 1975.
(13) Vgl. Bus 1951, S. 813 ff.; Elkin 1954, S. 161 ff.; Bulmer 1960/1961, S. 1 —13;
Strathern 1966.
(14) Strathern 1971, S. 84, 177. Wenn in den folgenden Ausführungen nur knapp
gehaltene Aussagen über die Rolle bestimmter Gegenstände im Kultleben der
Hochlandstämme gemacht werden, so deshalb, weil eine ausführlichere Behandlung
über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausführen würde. Es wird daher auf
die entsprechende Literatur verwiesen.
(15) Vgl. Powell 1975 (mit zahlreichen Bildbeispielen).
(16) Vgl. Auffenanger-Höltker 1940, S. 125, Abb. 11; Srauss-Tischner 1962, S. 408,
Abb. 4; S. 410, Abb. 5.
(17) Vgl. Strathern 1971, S. 55—59, 178 f. und Farbtafel 29.
(18) Koch 1969, S. 57.
(19) Strathern 1971, S. 179.
(20) Ryan 1961, S. 213—214.
(21) Vgl. Tischner 1939, S. 59; Schlesier 1958 (zahlreiche Beispiele); Vicedom-Tisch-
ner 1943—1948, S. 195; Bjerre 1964, S. 39.
(22) Vgl. Höltker 1940 (vorwiegend Beispiele von küstennahen Kulturen); Vicedom-
Tischner 1943—1948, Bd. II, S. 391.
(23) Strauss-Tischner 1962, S. 111.
(24) Zitiert nach Strathern 1971, S. 1.
(25) Vgl. Dosedla 1974, S. 172, Abb. 1.
(26) Ebenda, S. 171, Abb. 4.
(27) Meggitt 1956, S. 118 f.
(28) Einige dieser Flüchtlingsgruppen, die sich samt ihren Schweineherden in dem kürz-
lich auf Regierungsinitiative durch Entwässerungsmaßnahmen erschlossenen ehe-
maligen Sumpfgelände des Wahgitals östlich von Mt. Hagen, zwischen Kindeng und
Banz, Westliche Hochland-Provinz, niedergelassen hatten, brachten auch ihre Kult-
figuren in die neuen Siedlungsgebiete mit.
(29) Einigen Enga aus dem Gebiet um Laiagam, die sporadische Kontakte im Zuge von
Tauschhandel- und Jagdunternehmungen zu Bevölkerungsgruppen in der Nähe des
Sepik unterhalten, sind derartige Figuren auch von dort bekannt. Sie vermuten
selbst, daß die Anregung zum Verfertigen geflochtener Kultfiguren ursprünglich aus
116
Heim-Christian Dosedla
diesen Gebieten übernommen wurde. Bezüglich des verhältnismäßig jungen Alters
mancher Kultformen im Hochland vgl. Dosedla 1977, S. 104. Bei den benach-
barten Duna-Stämmen der West-Sepik-Provinz (s. Übersichtskarte) waren Panzer-
jacken in der gleichen Flechttechnik gebräuchlich.
(30) Zitiert nach Blank 1963, S. 907. Eine ähnliche Figur konnte J. Bjerre (vgl. Bjerre
1964) für das Dänische Nationalmuseum Kopenhagen erwerben.
(31) Blank 1963, S. 907 (Zitat): „In dem dort befindlichen Geisterhaus (Yainanda)
sollte die Figur Verkehr mit den als weiblich gedachten Steinen pflegen. Davon
erhofften sich die Leute gesteigerte Fruchtbarkeit ihrer Gärten und ihrer Schweine,
wie auch des eigenen Stammes.“
(32) Salisbury 1962, S. 32—35.
(33) Newman 1965, S. 69.
(34) Lutzbetak 1954, S. 106; Reay 1959, S. 140.
(35) Strathern 1971, S. 175 (Erwähnung für Nondugl).
(36) Salisbury 1965, S. 66 f.
(37) Salisbury 1965, S. 73. Ähnliche Verzierungen trugen früher auch die bei Festen
verwendeten Pflöcke zum Anbinden der Schweine bei den Mbowamb (Dosedla
1970—1972).
(38) Aufenanger 1965, S. 82.
(39) Schäfer 1938, S. 405, 416; Nilles 1940, S. 93 f.
(40) Aufenanger-Höltker 1940, S. 134.
(41) Salisbury 1965, S. 119.
(42) Dosedla 1970—1972.
(43) Auffenanger-Höltker 1940, S. 73, 83, 119 und Taf. 5, Abb. 24.
(44) Ebenda, S. 153.
(45) Vgl. Strauss-Tischner 1962, Bild 10.
(46) Entsprechende Photos bei Gilliard 1953 und 1955.
(47) Vgl. Dosedla 1974, S. 155 ff.
(48) Salisbury 1965, S. 64 f.
(49) Aufenanger-Höltker 1940, S. 122 f.
(50) Es handelt sich um die Verkörperung eines Waldgeistes, der auch bei den benach-
barten Mbowamb unter dem Namen Ndepona Nigints (wörtlich „Vogel des Wal-
des“) bekannt ist.
(51) Vgl. PNG Artists 1972, S. 1 f.
(52) Siehe auch Abschnitt 3.6 der vorliegenden Arbeit.
(53) Aufenanger-Höltker 1940, S. 122 f.
(54) Gilliard 1953, S. 434.
(55) Vicedom-Tischner 1943—1948, Bd. II, S. 418.
(56) Entsprechende Erzählungen bei Dosedla 1970—1972.
(57) Vgl. Heermann 1977, S. 76, Abb. 57.
(58) Vgl. Strathern 1971, S. 175.
(59) Vgl. Wirz 1952, S. 211; Lutzbetak 1954, S. 79; Strathern 1971, S. 26.
(60) Strathern 1971, S. 88 und Abb. 59.
(61) Ebenda, S. 29.
(62) Vgl. Aufenanger-Höltker 1940, S. 81 f.; Heermann 1977, S. 41, Abb. 28.
(63) Strathern 1971, S. 40 f.
Kunst und Künstler im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea
117
(64) Vgl. Dosedla 1975, S. 98; Strathern 1971, S. 28, 65, 87 f., 94.
(65) Entsprechende Bildbeispiele bei Tischner 1939.
(66) Das in Abb. 11c wiedergegebene Zeichen taucht häufig auch auf Kampfschilden der
Mbowamb auf. Vgl. Strathern 1971, S. 103, Abb. 1.
(67) Ebenda, S. 179 und Abb. 8, 11.
(68) Der in „Tribus“ Nr. 24, 1975, S. 109, Anm. 48, angekündigte Aufsatz ist für Bd.
1979 der „Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft“ (MAG) Wien vorge-
sehen.
(69) Vgl. Dosedla 1975, S. 97 ff.
(70) Ebenda, S. 110 f.
(71) Vgl. W. Ross: Ethnological Notes on the Mt. Hagen Tribes. „Anthropos“ 31, 1936,
S. 341 ff.
(72) Strathern 1971, S. 24.
(73) Ähnliche Geräte, die außerdem mit flguralem Schmuck aus Flechtwerk versehen
sind, waren am mittleren Sepik offensichtlich als Zeremonialwaffen gebräuchlich.
Vgl. Koch 1969, S. 55 (und Abb.).
(74) Ebenda, S. 57 ff.
(75) Strathern 1971, S. 103 f.
(76) Vgl. Anmerkung (65).
(77) Vgl. Dosedla 1975, S. 111.
(78) Salisbury 1965, S. 66 f.
(79) Vgl. Straus-Tischner 1962, S. 112 f., 339.
(80) Entsprechende Tonbandbeispiele Dosedla 1970—1972. Über irdene Gefäßflöten
am Mittellauf des Wahgi berichtet ausführlich Aufenanger 1946—1949, S. 877 ff.
(81) Vgl. Vicedom-Tischner 1945—1948, Bd. 1, S. 242 (und Abb.).
(82) Ein Beispiel für anthropomorphe Darstellungen auf einem Bambusrohr (Rauch-
rohr) bei den Gende findet sich bei Aufenanger-Höltker 1940, S. 9, Abb. 2.
(83) Dosedla 1975, S. 111.
(84) Strathern 1971, S. 179.
(85) Wie Anmerkung (77).
(86) Strathern 1971, S. 22, 58, 119, 152.
(87) Dies gilt in gleicher Weise für die sogenannten „Schläfenstöckchen“ (vgl. Anmer-
kung 67).
(88) Aufenanger-Höltker 1940, S. 21, 23, 25, 27, 37, 55, 73, 95, 102.
(89) Vgl. die jüngste zusammenfassende Arbeit von Watson 1977, S. 54 ff.
(90) Aufenanger-Höltker 1940, S. 126.
(91) Strauss-Tischner 1962, S. 109 ff., 280 f.
(92) In den folgenden Ausführungen wird wegen der bestehenden Uneinheitlichkeit der
entsprechenden Begriffe (vgl. Aufenanger-Höltker 1940, S. 134, Anmerkung 53)
dem eher neutralen Ausdruck „Ritualexperte“ der Vorzug gegeben.
(93) Vgl. Anmerkung (68).
(94) Bulmer 1974, S. 9 ff.
(95) Vgl. W. Hirschberg: Wörterbuch der Völkerkunde. Stuttgart 1965, S. 313, Stich-
wort „Naturvölker“.
(96) Vgl. Strathern 1971, S. 175 ff.
(97) Vgl. Dosedla 1977, S. 106.
118
Heinz-Christian Dosedla
(98) Vgl. Straus-Tischner 1962, S. 169 if.
(99) Lutzbetak 1954, S. 79; Aufenanger 1962, S. 32.
(100) Viragh 1974, S. 80.
(101) Strauss-Tischner 1962, S. 112; Kussmaul 1969, S. 22.
(102) Vgl. Trowell-Nevermann 1967, S. 206.
(103) Dosedla 1977, S. 101 f.
(104) Ebenda, S. 104 f.
(105) Salisbury 1965, S. 66 f.
(106) Vgl. Hirschberg 1975, S. 231.
(107) Vgl. Perlitz 1973, S. 25 f.
(108) Dosedla 1975, S. 109 und Anmerkung (47).
(109) Vgl. Himmelheber 1974, S. 140.
(110) Leahy-Crain 1937, S. 74; vgl. Italiaander 1973, 1975.
(111) Vgl. Anmerkung (16).
(112) Vgl. Tpng Syllabus 1967; Yarroll 1968; Lonie 1971.
(113) Vgl. Mountford 1954.
(114) Entsprechende Tonbandbeispiele Dosedla 1970—1972.
(115) Vgl. Anmerkung (65).
(116) Vgl. „PNG Artists“ 72, Abb. 10, 14.
(117) Ebenda, S. 3 f.
(118) Dortselbst, Abb. 18—20.
(119) Vgl. Kovave 1970; „PNG Artists“ 71, S. 1 f.; Institute of Papua New Guinea
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Viola König
Stick- und Webmuster der Tzotzil von San Pablo Chalchihuitan und
San Pedro Chenalho, Chiapas, Mexiko
Einleitung
Die vorliegende Studie enthält eine Darstellung der verschiedenen Stick- und Web-
muster der Frauenkleidung in den Tzotzil-Gemeinden San Pablo Chalchihuitan und
San Pedro Chenalho. Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Veröffentlichungen über
die Tzotzil erschienen sind, wird darin die hier behandelte Thematik kaum berührt. Mein
Bericht liefert eine Übersicht über die wichtigsten wiederkehrenden Formen, kann aller-
dings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da zur Datenerhebung nicht mehr
als drei Wochen zur Verfügung standen. In San Pablo habe ich mich sogar nur einen Tag
aufgehalten; dieser bot jedoch für meine Untersuchung besonders günstige Voraussetzun-
gen, denn anläßlich eines Festes war eine große Menschenmenge aus dem Hinterland in
das sonst nur von den amtierenden Würdenträgern bewohnte Hauptdorf gekommen.
Mir stand also ein reiches Anschauungsmaterial zur Verfügung.
Die Untersuchung erfolgte im August 1974 im Rahmen einer von U. Köhler ge-
leiteten Exkursion der Arbeitsstelle für Altamerikanische Sprachen und Kulturen der
Universität Hamburg. Vor Antritt der Reise hatte ich Grundkenntnisse des Tzotzil
erworben und mich eingehend mit der Sammlung von Trachten der Tzotzil befaßt, die
das Übersee-Museum in Bremen besitzt. Während des Aufenthalts in San Pedro hatte ich
öfters Gelegenheit, mit C. Morris zusammenzuarbeiten, der damals ebenfalls über Stick -
und Webmuster arbeitete, seine Untersuchungen aber auf mehrere indianische Gemeinden
ausgedehnt hat. Ihm verdanke ich viele wertvolle Hinweise, vor allem auf vergleichbare
Musterformen in anderen Dörfern. Für das Zustandekommen dieses Berichtes bin ich
besonders U. Köhler zu großem Dank verpflichtet, ohne dessen ständige Betreuung und
Beratung die Aufarbeitung des Materials in der hier vorliegenden Form nicht möglich
gewesen wäre. Köhlers Kenntnisse der Tzotzil-Sprache einerseits und Tzotzil-Lcgenden
andererseits haben besonders zur Deutung der Namen einiger sonst unerklärbarer Stick-
muster beigetragen.
Eine nähere Vorstellung der sprachlich zu den Maya-Völkern zählenden Tzotzil sowie
der beiden hier behandelten Gemeinden erscheint nicht erforderlich, da es sowohl zur
Information über die Region insgesamt (1) als auch die „municlpios“ San Pablo Chalchi-
huitän (2) und San Pedro Chenalho (3) leicht zugängliche Literatur gibt.
Da Weben und Sticken bei den Tzotzil Frauenarbeit ist, war es für meine Untersuchung
von großem Vorteil, selbst weiblichen Geschlechts zu sein, so daß die Frauen nicht so viel
Scheu vor mir hatten. Es zeigte sich, daß ich am besten mit den Informantinnen arbeiten
konnte, wenn ich ihnen die Wahrheit sagte: daß ich nämlich „Schülerin“ sei und ihre
Stick- und Webmuster (die meisten werden im Prozeß der Herstellung des Gewandes
eingewebt) erlernen wolle, jedoch nur zum Abzeichnen und nicht zum Selbstweben; daß
ich kein Geld damit machen wolle und im übrigen als Schülerin nichts verdiene. So brauchte
ich für die Informationen in den meisten Fällen nicht einmal ein Entgelt zu entrichten.
122
Viola König
Meine Arbeit wurde auch durch den Umstand erleichtert, daß ich die Muster nicht
fotografierte, sondern durch Abzeichnen mit Filzstiften kopierte. Allein schon diese Stifte
sowie die Art und Weise, mit ihnen die mühsam gewebten Muster schnell kopieren zu
können, fanden ein so reges Interesse der Frauen, daß sie mir, nur um beim Zeichnen
Zusehen zu können, bereitwillig ihre Trachten und Muster vorführten. Fasziniert waren
sie auch von Zeichnungen nach Museumsstücken, die ich schon vor Beginn der Exkursion
angefertigt hatte. Sie wurden stets ausführlich diskutiert; dabei wurde der jeweilige Her-
kunftsort des abgebildeten Stückes fast immer sofort identifiziert.
Einige meiner schon fertigen Zeichnungen wurden auch kritisiert, z. B. wenn den
Frauen die Muster als zu unähnlich oder gar falsch erschienen. Dabei wurde deutlich, auf
was es den Frauen bei ihren Mustern am meisten ankommt. Einmal aufgenommene
Muster zeigte ich anschließend noch verschiedenen anderen Frauen, die dann teils die-
selbe Bezeichnung wie die jeweilige Herstellerin nannten, teils aber auch abweichende.
Von Nachteil war bei diesen Unterhaltungen meine unvollkommene Kenntnis des Tzotzil,
so daß ein Teil der mir gegebenen Informationen verlorengegangen ist. Meine Erläuterung
der Muster beschränkt sich zumeist auf eine Wiedergabe der Namen, wie sie heute den
Frauen bekannt sind. Ich hatte weder die Zeit noch die Vorbildung, näher auf die Her-
kunft der Bezeichnungen einzugehen oder auf die Frage, inwieweit sie alte Symbolik
beinhalten. Soviel ich weiß, beschäftigen sich gegenwärtig C. Morris und M. Turok mit
diesem Themenkreis.
Alte Stickmuster werden von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Jedoch gibt
es in jedem Ort nur einige wenige „maestras“, die solche Muster noch kennen. Die ande-
ren Weberinnen gucken diese Muster einfach ab. Sie können sie zwar bei den „maestras“
weben lernen, diese geben jedoch ihre Kenntnis der Namen der alten Muster in der Regel
nur an ihre eigenen Töchter weiter (Inf. von C. Morris). Unter diesen Umständen muß
eine Untersuchung recht oberflächlich bleiben, wenn es nicht gelingt, einen guten Kontakt
zu einer „maestra“ herzustellen. So erging es mir anfangs im Hauptdorf von San Pedro,
wo mir fast alle Frauen wohlgesonnen waren, unglücklicherweise jedoch gerade die all-
gemein anerkannte „maestra“ nicht bereit war, mir ihre Muster zu erklären. Mit Hilfe
der Übersetzungskünste ihrer Händlerin, einer Ladina, die die Trachten der „maestra“
weiterverkauft, kam ich dann aber doch noch in Kontakt zu ihr. Die genannte Ladina war
mir auch bei der Befragung anderer Weberinnen von großer Hilfe, da sie nicht nur Spa-
nisch und Tzotzil sprach, sondern aufgrund ihrer Tätigkeit auch recht gut mit den india-
nischen Stickmustern vertraut war.
Besonders gegen Ende des Aufenthaltes brachte die Methode, die abgezeichneten Mu-
ster auch anderen Frauen zur Kommentierung vorzulegen, gute Ergebnisse. Nachdem sie
einen Namen genannt oder aber ausgesagt hatten, es gebe keinen, nannte ich alle schon
früher erhaltenen Bezeichnungen, die dann bestätigt oder abgelehnt wurden. Dabei wurde
nicht selten ausgesagt, daß keiner der angeführten Namen bekannt sei. Einige dieser
Frauen schienen erfreut zu sein, durch mich Namen erfahren zu haben. Wenn ich für ein
bestimmtes Muster mehrfach dieselbe Bezeichnung erhalten hatte, danach jedoch von
Informantinnen behauptet wurde, es habe keinen Namen, nannte ich manchmal absicht-
lich einen falschen Namen und erhielt daraufhin prompt den mir bereits bekannten rich-
tigen. Ungeachtet derartiger Fälle nur schleppenden Informationsflusses glaube ich nicht,
daß man mir absichtlich Bezeichnungen verschwieg, sondern daß die Namen entfallen
waren bzw. daß es für viele Muster wirklich keine Namen (mehr?) gibt. Ein generelles
Stick- und Wehmuster der Tzotzil
123
Tabu, Bezeichnungen von Mustern weiterzugeben, scheint jedenfalls nicht zu bestehen;
dafür wurde mir zu oft bereitwillig Auskunft gegeben.
Wenn ich in San Pablo zunächst Schwierigkeiten hatte, überhaupt Bezeichnungen für
die Muster zu erhalten, so lag dies wohl mehr an der allgemeinen Scheu der Frauen gegen-
über Fremden als an dem Versuch, die Namen geheimhalten zu wollen. Sobald ich zu
einer Frau bewundernd toh coc („sehr schwierig“) sagte, gab sie ihre Auskünfte sogleich
viel bereitwilliger. Immerhin sind die Frauen ja, auch wenn sie es nicht offen sagen, stolz
auf ihre Arbeiten. So habe ich in San Pedro mehrere Male beobachten können, daß sich
Frauen nur aus dem Grund gegenseitig besuchten, um neue oder in Arbeit befindliche
Stücke bewundern zu können.
„Patente“ für bestimmte Muster scheint es nicht zu geben. Grundsätzlich können die
Frauen soviel voneinander kopieren wie sie wollen. Dies findet allerdings darin seine
Grenzen, daß die Nachahmung mancher Muster an der Schwierigkeit ihrer Herstellung
scheitert. Sowohl in San Pedro wie in San Pablo neigen die jüngeren Frauen und Mädchen
— soweit sie nicht ohnedies nur moderne Muster tragen — dazu, über die traditionellen
Formen ganz einfach neuere darüber zu sticken. Die darunter befindlichen Muster sowie
auch das Gewand insgesamt haben sie dann aber in der Regel nicht selbst hergestellt.
Obwohl sie aneinandergrenzen, werde ich im folgenden die beiden Gemeinden San
Pablo und San Pedro getrennt voneinander behandeln, da sich ihre Trachten und Web-
muster deutlich voneinander unterscheiden (4). Soweit bei den Mustern Übereinstimmun-
gen feststellbar sind, werde ich im Text Querverweise geben. Die einzelnen Muster habe
ich in mehrere größere Komplexe zusammengefaßt. Die Tatsache, daß die überwiegende
Mehrzahl der Muster sich auf wenige Kategorien verteilt, macht vielleicht deutlich, daß
sich die Phantasie der Frauen bei der Erfindung neuer Formen größtenteils innerhalb
bestimmter Normen und Grenzen bewegt.
San Pablo Chalchihuitän
1. Allgemeines
In San Pablo war es viel schwieriger als in San Pedro, die Frauen zu befragen. Sie
waren keine Fremden im Ort gewöhnt, sprachen kein Spanisch, ich wiederum am zweiten
Tag meines Aufenthaltes in Chiapas nur sehr wenig Tzotzil, so daß ich ihnen nur schwer
klarmachen konnte, wozu ich die Informationen benötigte. Pablera sind es auch nicht
gewöhnt, ihre Trachten weiterzuverkaufen, schon gar nicht an Fremde, so daß sie mir auch
keine anderen Stücke vorzeigen konnten als die, die sie gerade selbst trugen. Sie konnten
auch nicht andere herbeischaffen, da sie ja nur aus Anlaß eines Festes an diesem Tag aus
dem Hinterland ins Dorf gekommen waren.
Ein weiterer Grund dafür, daß bisher so gut wie überhaupt nicht über Pablerotrachten
gearbeitet wurde, ist der, daß nach der dort herrschenden Sitte Frauen und Männer,
soweit sie nicht eng miteinander verwandt sind, nicht ohne weiteres miteinander reden
dürfen, was sich auf fremde Männer natürlich noch viel stärker bezieht. Da die Trachten
von Frauen hergestellt werden, ist es also nur Frauen möglich, intensiv über dieses Thema
zu arbeiten. Dennoch hatte auch ich hierbei Schwierigkeiten: Mit mir als fremder Frau
dürfen die Pablero nämlich sprechen, nur nicht mit ihren eigenen Dorfgenossinnen. So
verlief denn meine Befragung immer folgendermaßen: Wenn ich mühsam eine Frauen-
gruppe dazu bewegt hatte, mich ihre Trachten abzeichnen zu lassen, bildete sich nach
124
Viola König
Abb. 1 Ehepaar aus San Pablo; die Frau Ahh. 2 Ehepaar aus San Pablo. Einge-
in typischer traditioneller Trächt. webte Muster im Huipil der Frau in außer-
gewöhnlicher Anzahl und Formenvielfalt.
kurzer Zeit eine Traube von meist jüngeren, neugierigen Männern um uns, die die Frauen
dazu veranlaßte, sich zu entfernen. Ich versuchte dann, unauffällig hinter ihnen herzu-
gehen und an anderer Stelle mit ihnen weiterzuarbeiten, bis die unvermeidliche Männer-
traube nachgefolgt war und die Frauen prompt wieder das Weite suchten. Dennoch über-
wog bei einigen Frauen die Neugier, mir beim Zeichnen mit den interessanten Filzstiften
zuzuschauen, und so erhielt ich doch noch Informationen. Bei der Übersetzung der Muster-
bezeichnungen kam mir ein ladinohaft gekleidetes Mädchen zu Hilfe, das Spanisch und
Tzotzil sprach. Es forderte die Frauen nicht nur auf, sich neben mich zu setzen, damit
ich besser abzeichnen könne, sondern fragte die Frauen auch nach den Namen der Muster.
Viele Muster hatten angeblich überhaupt keine Bezeichnungen, oder diese wurden, wie
mir schien, absichtlich nur genuschelt und dann von den Umstehenden sehr belacht. Manch-
mal hatte ich sogar das Gefühl, daß sie nur für mich eben erst erfunden worden waren.
Mein häufiges Nachfragen nach Bezeichnungen, die ich akustisch nicht verstanden hatte,
wurde leider auch öfters so interpretiert, daß ich die Bezeichnungen zu unglaubwürdig
oder komisch fände und deshalb nachfragte. Die Frauen schienen sich dann dieser Namen
zu schämen und wiederholten sie entweder gar nicht mehr oder nur noch undeutlicher.
Stick- und Webmuster der Tzotzil
125
Bei meinem sehr kurzen Aufenthalt war es mir leider nicht möglich, eine „maestra“
unter den Weberinnen zu identifizieren oder festzustellen, ob es solche in San Pablo gibt.
2. Die Muster in der Gesamtkomposition
Die Frauentracht setzt sich zusammen aus den folgenden Teilen: einem ärmellosen
Hemd in der Form des traditionellen mesoamerikanischen Huipil, auf Tzotzil sk’u
anc, was „Frauenhemd“ bedeutet (dieses Stück reicht bis zum Knie); einem dunkelblauen
Rock, cek’, der kurz unterhalb des Knies endet, so daß von ihm nur ein ca. handbreiter
Streifen zu sehen ist (er ist aus einem großen rechteckigen Stück mit feinen horizontalen
hellen Streifen gefertigt; an der Hüfte wird er mit einem roten Wollband zusammcn-
gehalten, scuk anc = „Frauenschärpe“, das von Chamulafrauen gekauft wird). Die Stick-
muster befinden sich nur auf dem Huipil. Ihre traditionelle Grundzusammenstellung,
vorwiegend auf den Huipiles der älteren Frauen, ist wie folgt:
breite Schulterborte — einzelne Muster — breite Borte — einzelne Muster — breite Borte
— einzelne Muster — breite Borte (vgl. Ahb. 1 und 2).
Die traditionellen Stick- und Webmuster setzen sich aus folgenden Farben zusammen:
Rot — Orange — Violett — Pink — Gelb — Grün — Dunkelblau — Hell- bis Türkis-
blau.
Die Anzahl der Borten- und Musterreihen pro Huipil variiert zwar, die oben ange-
führten habe ich jedoch am häufigsten angetroffen. In den Schulterborten und breiten
Borten überwiegt die Farbe Rot, durchsetzt mit anderen üblichen Farben. Unterhalb der
Schulterborte, an den Armausschnitten, kann sich je eine weitere kurze Borte befinden.
Die Muster der breiten Borten bestehen aus Zacken und aneinandergereihten Rhomben
in Einer- und Doppelreihen. In der Mitte befindet sich häufig ein senkrechter Mittel-
streifen aus kleinen Zacken, mehrfarbig gestickt.
Ob diese abstrakten Muster von irgendeiner bestimmten Form abgeleitet sind, kann
ich nicht nachweisen. Es kämen vielleicht Blumenblüten in Frage, angelehnt an Form j).
Aus diesem Grundmuster kann sich auch der Affe entwickelt haben [s. dazu Form k)
Abb. 3 Gruppe von Pablera, überwiegend mit schlichten, kaum verzierten Huipiles.
126
Viola König
Neben den beschriebenen traditionellen Musterzusammenstellungen trägt man in
San Pablo modernere, die speziell aus der Gegend Hol Yü.tontik im Hinterland von San
Pablo stammen (vgl. die zweite Frau von links auf Ahh. 3). Sie bestehen teils aus neuen
Mustern, teils werden sie mit den traditionellen Mustern kombiniert. Farblich tritt das in
den traditionellen Trachten dominierende Rot zurück. Statt der obengenannten Standard-
farben werden auf den modernen Trachten mehr Mischfarben zusammengestellt. Es werden
auch mehr verschiedene Farbnuancen derselben Farbe auf einem Stück benutzt, z. B. Hell-
und Dunkelgrün, Hell- und Dunkelblau, was ich auf traditionellen Trachten nicht beob-
achtet habe. In der Musterkomposition scheint mir bei den modernen Trachten mehr
experimentiert zu werden. Dabei lassen sich keine Regelmäßigkeiten feststellen, wie dies
bei der Zusammensetzung der traditionellen Tracht der Fall ist. So können drei Muster-
reihen in demselben Schema laufen und in der vierten Reihe dann plötzlich völlig andere
Muster und Farben erscheinen. Angefangene Borten und Muster können abgebrochen
werden und in anderem Stil und in anderen Farben oder auch gar nicht fortgesetzt wer-
den. Die Borten sind meist schmaler als die der traditionellen Trachten, so daß die Orna-
mentik des Huipil weniger reichhaltig wirkt. Oft bestehen diese Borten nur aus einfachen
Zacken- oder Schlangenlinien, bei einigen Huipiles waren sie die einzige Verzierung (vgl.
Ahh. 3).
3. Die Stick- und Wehmuster
Komplex A: c’is luc (Tafel I)
Sehr häufig ist in San Pablo ein Muster, das als c’is luc bezeichnet wird. Über seine
Bedeutung bin ich mir nicht ganz im klaren: luc bedeutet allgemein Stickmuster, c’is
kann entweder Dorn, Stachel u. ä. sein, dann hieße der ganze Ausdruck also Dornen-,
Stachelmuster, und es wären damit die einzelnen Teile des Musters gemeint, c’is kann
aber auch Maß, Norm, Regel bedeuten, dann hieße der Ausdruck „normales Muster“ oder
„Regelmuster“, und es würde damit die Häufigkeit des Musters erklärt werden.
Erklärungen zu den einzelnen Mustern:
a) Dies zeigt in einfacher Gestaltung die Grundform des Musters c’is luc.
b) Dazu wurde mir zwar mu?yuk shi, also „ohne Name“, gesagt, aber von der Form
und Zusammensetzung her scheint es mir zum c’is /«¿-Komplex zu gehören.
c) Hierfür wurde mir außer c’is luc auch wo?m’ spak’al angegeben, also „es hat fünf
Fäden“; dieses Muster wird beim Weben nämlich mit fünf Fäden angefangen. In
San Pedro wurde mir bei Mustern dieser Art häufiger wo?m’ spak’al gesagt als c’is luc.
d) Es wurde nur als luc bezeichnet, gehört aber wohl in diesen Komplex.
g) Auch dieses Muster, für das ich keinen Namen bekam, zählt dazu. Diese Form könnte
aber auch zum Kreuz-Komplex gehören.
h) Dies könnte entweder zu diesem oder zu den Tierformen gehören, da mir eine sehr
ähnliche Form als lot’om = „Krebs“ bezeichnet wurde (s. u. Tiere).
j) Ich habe es von einer älteren Tracht abgezeichnet. Dieses Muster war gegenüber U.
Köhler als nicim luc (s. Komplex C) bezeichnet worden, könnte von den Bestand-
teilen her aber auch in diesen Komplex gehören.
Ob diese abstrakten Muster von irgendeiner bestimmten Form abgeleitet sind, kann
ich nicht nachweisen. Es kämen vielleicht Blumenblüten in Frage, angelehnt an Form j).
Stick- und Wehmuster der Tzotzil
127
Aus diesem Grundmuster kann sich auch der Affe entwickelt haben [s. dazu Form k)
in Tafel IV], Die Muster c), e), f), g), j) finden sich besonders häufig auf traditionellen
Trachten, der Rest auf modernen Huipiles.
Komplex B: kurus lue (Tafel II)
Ein weiteres Muster in San Pablo ist das „Kreuzmuster“ = kurus luc. Dazu habe ich
die auf Tafel II abgebildeten Varianten gefunden:
a) wurde als kurus, „Kreuz“, bezeichnet,
b) als kurus luc, „Kreuzmuster“,
c) , d), e), f) wurden nicht benannt, ebenso wie
g) , h), i). Alle sieben Formen rechne ich aber nach dem Aussehen zu diesem Komplex.
j) Dieses Muster wurde mir in San Pablo ebenfalls nicht bezeichnet, aber eine Frau, die
ich auf dem Markt von San Pedro traf und die ihrer Tracht nach aus San Pablo
stammen mußte, nannte diese Form kurus luc San Pablo; demnach muß es sich hierbei
um eine typische Kreuzform aus San Pablo handeln.
Die mit k) und 1) gekennzeichneten Muster wurden wieder nicht benannt, für sie gilt das
zu den Formen c) bis i) Gesagte.
Die Zeichen d) und 1) setzen sich zwar aus den Teilen von e) und f) zusammen, die ein-
deutig ein Kreuz bilden, dennoch können alle vier Formen auch durchaus dem Komplex
C = Blumen angehören (s. dazu Tafel III). Auch die Frauen selbst sind sich in der Kenn-
zeichnung nicht immer einig; es kann sein, daß eine Frau eine solche Figur als Kreuz be-
zeichnet, eine andere als Blume.
m) Dieses Muster stammt wieder von der obenerwähnten älteren Tracht und wurde
gegenüber U. Köhler als kurus luc bezeichnet.
h) , i), m) Diese Formen habe ich auf traditionellen Trachten gefunden, den Rest auf
modernen Huipil.
Komplex C: nicim luc (Tafel III)
Es fanden sich in San Pablo die in Tafel III aufgeführten Varianten von nicim luc,
was „Blumen- bzw. Blütenmuster“ bedeutet.
a) Dieses Muster wurde auch schon als mögliche Kreuzform angeführt.
b) , c) Diese Formen wurden als nicum = „Blume“ (sprachliche Variante von nicim)
bezeichnet.
d) Für dieses Zeichen erhielt ich keinen Namen; es dürfte wohl ein Blatt darstellen.
e) Dieses Muster wurde schon in Komplex B als mögliche Blume angeführt.
f) Dieses Bild stammt aus einer traditionellen Tracht. Es wurde gegenüber U. Köhler
als nicim luc bezeichnet.
g) , h) Diese beiden großen Blumen seien nur der Vollständigkeit halber gebracht. Sie sind
gewiß neueren Datums. Die mit h) gekennzeichnete Form war über ein traditionelles
Muster gestickt worden. Es scheint sich hierbei um ein von Ladino-Kleidung über-
nommenes Muster zu handeln. Die „spanischen Muster“ sind jedoch von den hier
„modern“ genannten Formen zu unterscheiden, die zwar auch neu, aber gewiß india-
nische Kreationen sind.
Von den abgebildeten Blumenmustern fand ich nur f) auf einer traditionellen Tracht.
128
Viola König
Stick- und Webmuster der Tzotzil
129
Komplex D: Tiere (Tafel IV)
Die in Tafel IV abgebildeten Figuren lassen sich aus Tierformen ableiten:
a) Dies ist eine Borte und wird immer als hecon = „Schlangenweg“ bezeichnet.
b) , c) Diese Muster wurden mir nicht benannt, könnten aber auch zu den „Schlangen-
wegen“ gehören.
d) Diese Figur heißt yok wet = „Fuchspfote“. Sie wurde gelegentlich auch mit yok c’i?
= „Fiundepfote“ bezeichnet.
e) Dieses Bild heißt lot’om = „Krebs“, aber auch salo. Auf die Bedeutung dieses Namens
werde ich unter den Pedrano-Mustern näher eingehen, da es sich hierbei um etwas
Besonderes handelt.
f) Dieses Muster wurde nicht benannt, ähnelt in der Form aber sehr der Figur e) und
könnte dasselbe darstellen.
g) Diese Form hat zwei Bezeichnungen: yok coy = „Fischflossen“ und yok wet — „Fuchs-
pfote“.
h) Dieses Bild wurde mit ku?ul bezeichnet. Seine Bedeutung ist unklar.
i) , j) Diese beiden Muster sind ohne Namensangabe. Sie könnten eventuell Tierarten
darstellen, z. B. Moskito (wie in San Pedro), sie könnten aber auch zur Gruppe der
Menschendarstellungen gehören.
k) Diese Form heißt c’is luc mos = „gestacheltes Affenmuster“ oder „normales Affen-
muster“.
Weiterhin sind zu übersetzen:
l) yok wet = „Fuchspfote“.
m) sulem = „Geier“.
n) henhen = „Kröte“.
o) Dieses Muster heißt un yok holom = „kleiner Fuß einer Raubkatze“.
p) Diese Form heißt ebenfalls henhen, aber auch p’us luc — „gekrümmtes Muster“.
Die Formen k) bis p) stammen von älteren Trachten, unter denen sich auch ein Männer-
tuch befand.
q) Ein „spanisches Entchen“ befand sich über einer traditionellen Stickerei wie die
Blume h) in Komplex C.
Auf traditionellen Geweben waren die Formen a) bis d), k) bis p) angebracht.
Komplex E: Menschendarstellungen (Tafel V)
a) Diese Figur heißt santa luc, es handelt sich hier um einen „santo“, d. h. eine Heiligen-
figur. Von den Bestandteilen her erinnert sie, wie auch c), an den Affen (s. Komplex
D, k).
b) Dieses Muster ist ein soldato = „Soldat“.
c) Diese Form stammt von dem Huipil einer anderen Frau. Sie bezeichnete das Muster
als scEil kurus, was „Kamerad“ oder „Verwandter des Kreuzes“ bedeutet. Hier müßte
noch genauer untersucht werden, wer oder was mit santa luc (a) und scKil kurus (c)
gemeint ist. Später fand ich auf einer Pedranotracht das Muster einer Soldatenfigur,
die an den Armen den gleichen „Kasten mit Punkt in der Mitte“ trug wie hier Form c).
Von der Pedrana wurde dieser „Kasten“ als Soldatenbuch bezeichnet. Hinsichtlich
der Pablerofigur liegt die Vermutung nahe, daß es sich bei dem „Kasten“ ebenfalls
um ein Buch handelt.
130
Viola König
d), e) Hierfür bekam ich keine Bezeichnungen, habe sie jedoch als eventuelle Tiere an-
geführt.
f) Dieses Muster heißt ku*ul. Wie erwähnt wurde, ist diese Bezeichnung unklar.
Nur c) fand sich auf einem traditionellen Huipil.
Einzelformen (Tafel VI)
Die in Tafel VI abgebildeten Formen konnte ich keinem der Komplexe A bis E zu-
ordnen und bringe sie deshalb gesondert.
a) Dieses Muster heißt satinam lue (Bedeutung unklar). Das Abzeichnen dieses Musters
erwies sich als recht schwierig, weder die Pablera noch die Pedrana waren mit meinen
Kopien zufrieden. Ich habe jedoch nicht erfahren können, was die Frauen an den Zeich-
nungen dieses an sich recht einfachen Musters so störte.
b) Dieses Bortenmuster wurde mit kehetik — „Gebeugte“ (Plural) bezeichnet.
c) Diese Form wurde mir nicht benannt, aber wie mir C. Morris mitteilte, wird sie in
San Bartolomé kopa genannt und leitet sich wohl von „copa“ = „Trinkglas“ ab.
Über Glasformen wird noch näher bei den Pedranamustern eingegangen.
d) Dies ist ein weiteres Muster einer älteren Tracht und wurde gegenüber U. Köhler
mit hac’um’ lue = „Kammuster“ bezeichnet.
San Pedro Chenalhö
1. Allgemeines
In San Pedro wird eine einheitliche Frauentracht getragen, für Festtage prächtiger
verziert, die Alltagstracht einfacher bestickt. Die Grundmuster sind immer an den glei-
chen Stellen der Kleidungsstücke angebracht (zu den einzelnen Stücken s. u. 2.). Dadurch
lassen sich auf den ersten Blick abweichende Stile von verschiedenen Weberinnen nicht
Stick- und Wehmuster der Tzotzil
131
gleich unterscheiden. Allerdings scheint auch nicht jede Frau im Ort selbst weben und
sticken zu können. Es gibt einige „maestras“, die teilweise nicht nur für den Eigenbedarf
arbeiten. Im Hauptdorf von Chenalhö habe ich ungefähr zehn bessere Weberinnen ge-
troffen, die ständig in Kontakt miteinander zu stehen schienen, um ihre Arbeiten zu ver-
gleichen und zu kopieren. Vielleicht ist das ein Grund dafür, daß relativ wenig unter-
schiedliche Musterformen auf den Trachten zu finden sind. Die von den Grundformen
abweichenden Muster, die ich aufgenommen habe, stammen zum größten Teil von Frauen,
die ich auf dem Wochenendmarkt traf und die aus dem Hinterland ins Dorf gekommen
waren. Ihre Stickereien wirkten ungelenker und waren bei weitem nicht so sorgfältig
ausgeführt wie die der Weberinnen aus dem Hauptdorf. Daß in San Pedro so einheitliche
Muster getragen werden, scheint allerdings nicht an der Phantasielosigkeit oder Unfähig-
keit der Weberinnen zu liegen. Ich habe zumindest bei einigen Frauen gesehen, daß sie
auch ganz andersartige Muster herzustellen wissen, diese jedoch nicht auf ihren Kleidungs-
stücken anbringen; ich sah solche auf Tortillatüchern und Probestreifen. Man scheint also
bewußt eine einheitliche Tracht tragen zu wollen und demonstriert das besonders an
Festtagen.
Im folgenden seien einige Antworten festgehalten, die mir von Weberinnen auf meine
Fragen gegeben wurden. Eine Informantin: Gewebt wird die ganze Woche über, sonntags
jedoch nicht. Trachten werden auch wochentags getragen, jedoch nicht bei der Arbeit im
Maisfeld. Das Weben vererbt sich von der Mutter auf die Tochter, dabei werden die
Muster indirekt übernommen, d. h. die Tochter stickt und webt danach, was sie von der
Mutter noch im Gedächtnis hat, aber ohne direkte Vorlage ihrer Stücke. Alle diese Muster
sind jedoch typisches Chenalhö-Inventar.
Eine andere Informantin, die als die „maestra“ im Ort gilt, verkauft ziemlich viel,
nicht nur an Indianerinnen, sondern auch an Fremde. Sie veräußert die Stücke jedoch
nicht selbst, sondern gibt sie weiter an eine Ladina, eine Spanisch sprechende Frau, die
diese Sachen weiterverkauft und auch Bestellungen entgegennimmt, also die Funktion
einer Mäklerin hat. Diese „maestra“ hatte auch die derzeitigen Trachten der Heiligen-
statuen in der Kirche angefertigt. Nach ihrer Aussage hat sie das Weben mit zwölf Jahren
von ihrer Mutter gelernt und erfindet die Muster selbst. Wahrscheinlich meinte sie damit
nicht die Standardformen, sondern die Muster, die sie — teils auf besonderen Wunsch —
auf kleineren Probetüchern herstellt, oder ihre speziellen Varianten der Standardformen.
Für die Anfertigung eines Kleidungsstückes braucht sie drei bis vier Monate.
Über die Weberei im Dorf sagte sie, daß die Frauen, die es können, ihre Kleidung
selbst weben, sonst aber bei anderen Frauen, z. B. bei ihr, einkaufen. Die Leute bestellen
die Stücke bei ihr, die sie dann nach Gedächtnis und Augenmaß anfertigt, ohne bei den
Leuten vorher Maß zu nehmen. Allerdings sind die Blusen auch so weit geschnitten, daß
man sie in Einheitsgröße hersteilen kann. — Sie hat auch Schülerinnen, Mädchen im
Alter von zehn bis zwölf Jahren, nicht ihre eigenen Kinder, sondern fremde, deren
Eltern für den Unterricht zahlen müssen.
Eine weitere Informantin teilte mit, daß sie nur für die eigene Familie webt. Jedoch
lehrt auch sie nicht nur die eigenen, sondern ebenfalls fremde Kinder. Sie selbst lernte
das Weben mit zwölf Jahren, ohne jedoch selbst zu weben, nur durch Zusehen.
Für ein kleineres Stück braucht sie zwischen 20 Tagen und zwei Monaten, für ein
größeres drei Monate. Hierzu muß gesagt werden, daß die Angaben der verschiedenen
Weberinnen über die Dauer der Herstellungszeit für ein normal großes Stück zwischen
132 Viola König
drei und sechs Monaten schwanken. Die von dieser Frau gemachten Zeitangaben schienen
sich auf die Kinderblusen zu beziehen, die sie gerade in Arbeit hatte. Die übrigen An-
gaben der verschiedenen Weberinnen stimmen jedoch im wesentlichen überein.
Zu den Trachten der Heiligenstatuen in der Kirche von San Pedro: Vier der Statuen
tragen Pedranatracht. Es sind Santa Maria, Santa Lucia, San Estella und Santa Catarina.
Ihre Trachten wirken antik, obwohl sie alle drei Jahre ausgewechselt werden, weil sie
dann zu verstaubt, verblichen und porös sind. Als Beispiel sei hier die Tracht der Maria
beschrieben: Sie trägt ein fußlanges Gewand, das nur am unteren Rand mit einer Borte
und im übrigen mit einigen Zickzacknähten versehen ist. Darüber fällt ein wadenlanges
Gewand, ebenfalls mit einer Borte am unteren Rand. Über dieses Gewand sind drei
Musterreihen verteilt. Um den Halsausschnitt verläuft eine prächtige Borte, über den
Armausschnitten je eine weitere. Auf dem Kopf trägt diese Maria ein großes Tuch, an
drei Seiten mit Borten versehen. Größere Muster finden sich über das ganze Tuch ver-
streut.
2. Die Muster in der Gesamtkomposition
Die Pedranatracht besteht aus folgenden Teilen: Einem dunkelblauen wadenlangen
Rock, cek\ Er wird von einem wollenen roten Hüftband zusammengehalten, das wie
im Fall der Pablera von Chamulafrauen gekauft wird. Der Oberkörper wird von einer
Ahh.4 Pedrano-Familie in normaler Tracht. Die Frau, Töchter und Enkelinnen hier
ohne Schultertuch und mit nur wenig bestickten Alltagsblusen.
Stick- und Webmuster der Tzotzil
133
kurzärmeligen oder ärmellosen Bluse bedeckt, die in den Rock gesteckt wird (Abb. 4).
Darüber wird ein Schultertuch, pok’, getragen. Die Muster- und Bortenreihen der Pedrana-
bluse sind nicht wie bei den Pablerahuipiles über das ganze Stück verteilt, sondern kon-
zentrieren sich um den Halsausschnitt, sind dort aber besonders breit und prächtig. Der
Rest der Bluse bleibt meist unverziert, eventuell befindet sich am unteren Rand eine
weitere Borte. Mädchenblusen, die oft ohne pok’ getragen werden, sind häufiger mit
Mustern versehen. Manche Blusen sind mit senkrechten eingewebten Streifen durchzogen,
ein- oder mehrfarbig. Die geringe Verzierung der Vorder- und Rückseite der Bluse erklärt
sich vielleicht dadurch, daß die Tracht erst mit dem pok’, dem Umschlagtuch, vollständig
ist, das nur den verzierten Halsausschnitt der Bluse zum Vorschein kommen läßt (Abb. 5),
so daß eine üppigerere Dekoration der Bluse überflüssig ist. Bei den Schultertüchern sind
die Muster oft über die ganze Fläche verteilt, mehrfarbig eingewebte Streifen finden sich
jedoch bei ihnen nie.
Abb. 5
Gruppe von Pedrana mit
ihren Schultertüchern.
Im Gegensatz zu San Pablo lassen sich hier keine traditionellen und modernen Muster
unterscheiden. Es gibt ein für San Pedro typisches Stammrepertoire, dessen einzelne
Muster von Frau zu Frau nur leicht variieren. So hatte ich während meines viel längeren
Aufenthaltes in San Pedro mehr Schwierigkeiten, verschiedene Muster aufzunehmen, als
an einem Tag in San Pablo. Darüber hinaus bekannte Formen sind meist nicht auf den
Blusen oder Schultertüchern zu finden.
Farblich dominiert auf allen Stücken das Rot, manchmal ist auch Orange recht häufig.
Hinzu kommen folgende Farben: Gelb, Pink, Violett, Hell- und Dunkelblau, Hell- und
Dunkelgrün. Bei den Trachten in der Kirche waren die Farben teilweise schon so verbli-
chen, daß sich der ursprüngliche Ton nicht mehr feststellen ließ. Es ist möglich, daß die
Grundfarbe hier nicht das sonst übliche leuchtende Rot war, sondern ein dunkelroter bis
violettfarbener Ton. Die eingewebten Streifen fand ich in den folgenden Farben: Violett
134
Viola König
TAFEL VII
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kombiniert mit Hellblau-Orange und Rot; Hellblau mit Orange und Rot oder lediglich
rote, blaue oder violette Streifen. Die Streifen befanden sich jedoch nicht auf der Fest-
tracht. Dies verwundert, weil gerade diese Streifen als sehr wertvoll gelten und man den
Wert der Stücke sogar, soweit vorhanden, nach der Anzahl der eingewebten Streifen
festlegt.
Die Grundmusterverteilung einer typischen Pedranabluse ist wie folgt: Unmittelbar
um den Halsausschnitt befindet sich eine breitere, reich bestickte Borte, die so dicht mit
roten Fäden besetzt ist, daß das naturfarbene Webtuch nicht mehr zu erkennen ist. Diese
Borten bestehen oft aus einem bunten Zickzack- oder Kammuster. Um sie herum läuft
eine weitere breite Borte, oft vom übrigen Blusenteil durch eine schmale Zickzackreihe
getrennt. Bei dieser Borte sind jeweils bestimmte Grundmuster aneinandergereiht. Der
Rest der Bluse kann, wie schon erwähnt, schlicht bleiben, eine schmale Borte am unteren
Rand haben oder auch von ein oder zwei Musterformen übersät sein. Die zuletzt genannte
Art traf ich häufig bei Kinderblusen an, über die noch kein pok’ getragen wird.
Stick- und Webmuster der Tzotzil
135
Der pok’, auch mocim pak’al oder pak’al genannt, wird nicht nur aus Schönheitsgrün-
den oder zur Abwehr der Kälte umgelegt, sondern dient auch dazu, Kleinkinder auf dem
Rücken zu tragen oder vor der Sonne zu schützen. Die Tücher haben entweder an den
beiden Seitenrändern und dem unteren Saum, nur an den Seitenrändern oder auch über-
haupt keine Borten. Allen gemeinsam ist die Verzierung des unteren Drittels des Tuches:
An der unteren Kante befinden sich über kleinen rechteckigen Bortenkästen mehrere
„Baummuster“ (s. Komplex G). Der Rest des Tuches ist mit einem oder mehreren Mustern
übersät, gelegentlich aber auch unverziert.
Während die Blusen auch schon von Kleinkindern getragen werden — die kleinste
Bluse habe ich von einem zwei Monate alten Mädchen abgezeichnet —, werden die
Schultertücher nur von heranwachsenden Mädchen und von Frauen umgelegt.
3. Die Stick- und Webmuster
Komplex A: wo*m’/balunem’ spak’al (Tafel VII)
Die in Tafel VII abgebildeten Formen sind in San Pedro nach der Anzahl der Fäden
benannt, mit denen sie gewebt werden:
a) ist ein wo?m’ spak’al = „fünf Fäden“;
b) ist ein balunem’ spak’al = „neun Fäden“;
c) hat — nach Auskunft der Herstellerin — keinen besonderen Namen, eine andere Frau
bezeichnete es als unin luc, „kleines Muster“; es sieht aber der Form nach a) so ähnlich,
daß man es diesem Komplex zurechnen kann;
d) wurde sowohl als vo?m’ spak’al als auch als c’is luc (s. San Pablo) bezeichnet (die
Punkte im Muster wurden nicimal, „geblümt“, genannt);
e) , f) heißen nur wo?m’ spak’al;
g) heißt osim’ spak’al — „drei Fäden“, es ist das einzige „drei Fäden“, das ich sah;
h) ist ein balunem’ spak’al — „neun Fäden“.
Die Formen dieses Komplexes scheinen ein verbreitetes Motiv in San Pedro zu sein.
Sie treten jedenfalls sehr häufig auf.
Daneben gibt es noch einige andere Formen, die den oben beschriebenen ähneln, aber
andere Namen haben; sie werden zum Vergleich anschließend behandelt (s. Tafel VII):
i) Dieses Muster wurde als snicimal — „sein Geblümtes“ bezeichnet, die Kreise im Muster
als mal — „Sprenkel“, die feinen Striche als sc’isal = „seine Stacheln“. Eine andere
Frau bezeichnete diese Figur als cukum luc — „Raupenmuster“. Es ähnelt dem wopm’
spak’al e).
j) Dieses Bild heißt nicim = „Blume, Blüte“, es ähnelt dem osim’ spak’al (g).
k) Dieses wurde mir gegenüber einfach als muk’ta luc = „großes Muster“ oder als
pekahtik luc = „scherenförmiges Muster“ bezeichnet. Die Grundelemente sind hier
die von vo?m’ spak’al (d).
l) Diese Form wurde c’is luc genannt, die feinen Striche wieder sc’isal oder spinal
= „seine Stacheln“, die Glieder des Musters heißen sloc’omal = „sein Krabben- bzw.
Scherenförmiges“. Die Punkte in der Figur heißen sat = „Auge“.
m) Dieses Bild wurde ebenfalls mit sloc’omal bezeichnet.
n) Dies heißt nur slucal = „sein Gesticktes“.
o) Diese Figur nannte man sakil luc — „helles Muster“, was sich wohl auf die Farbe be-
zieht, oder unin luc = „kleines Muster“.
136
Viola König
Stick- und Wehmuster der Tzotzil
137
р) Diese Form heißt zwar yok c’i-, „Hundefuß“, ich bringe es wegen seiner Bestandteile
aber auch in dieser Gruppe.
Komplex B: kurus luc (Tafel VIII)
Die Figuren a) und b) heißen krus luc = „Kreuzmuster“, wobei b) an die salo-Form
erinnert, auf die ich später noch eingehen werde.
с) Dieses Muster heißt außer kurus luc auch eukum = „Raupe“, gehört also außerdem
noch in die Tiergruppe.
d) Diese Form wurde merkwürdigerweise tres krus = „drei Kreuze“ genannt, was ich
mir nicht erklären kann.
Komplex C: nicim luc (Tafel IX)
In Tafel IX sind die Blumenformen abgebildet, die ich auf Pedranatrachten gefunden
habe.
Die Muster a) und b) heißen nicim = „Blume, Blüte“.
c) und d) Zu beiden Figuren wurde nur ein Name für den oberen Teil gegeben: nicim luc.
Die Muster als Ganzes wurden nicht bezeichnet; sie könnten entweder Blumen dar-
stellen oder aber auch Bäume, da Baummuster in San Pedro häufig auftreten.
e) Diese Form heißt snic toh, was „Kiefernblüte“ bedeutet.
f) Diese Figur wurde mir gegenüber als nicim luc = „Blumenmuster“ bezeichnet; zu
C. Morris wurde dazu yok bolom = „Jaguarfuß“ gesagt.
g) Dieses Muster wurde sowohl als snicimal = „sein Geblümtes“ als auch als Raupe
(s. Komplex D, g) bezeichnet.
h) Dies ist ein Bortenmuster und nennt sich insgesamt nicim, die Muster darin werden
entweder als sat = „Auge“ oder als snicimal — „sein Geblümtes“ bezeichnet.
Komplex D: Tiere (Tafel X)
Obwohl Tiergestalten eigentlich nicht zu den Standardformen der Pedranatrachten
gehören und Nicht-Standardmuster selten sind, bekam ich dennoch gerade aus diesem
Komplex recht verschiedenartige Figuren zu sehen:
a) nennt sich bik’it oder unin eukum = „kleine Raupe“;
g) wurde schon unter g) der Blumen angeführt (s. o.), es wird aber auch nur als eukum luc
= „Raupenmuster“ bezeichnet; die feinen Striche werden sc’isal = „seine [des Mu-
sters] Stacheln“ bzw. „ihre [der Raupen] Stacheln“ genannt.
Die Formen b), c), e), f), p), u), v), x) werden meist als Bortenmuster verwendet:
b) , e) nennen sich lukum mecel, was „wurmartig Gekrümmtes“ bedeutet;
c) heißt slukum mecel yok = „sein wurmartig gekrümmter Fuß“ (d. h. der untere Saum-
abschluß);
d) heißt wieder lukum mecel oder shakil coy = „Fischgräten“, der Mittelstrich allein
nennt sich sbe con — „Schlangenweg“ (gegenüber C. Morris wurde hierzu auch hococ
= „Tausendfüßler“ gesagt);
f) wird außer lukum mecel auch unin c’isal eukum genannt = „kleine stachelige Raupe“;
p) ist lukum mecel luc — „wurmartig gekrümmtes Muster“ (gegenüber C. Morris wurde
es auch als sat luc = „Augenmuster“ oder als becon = „Schlangenweg“ bezeichnet);
u) ist ein becon;
138
Viola König
x) ein unin — „kleiner“ becon;
v) heißt yok = „sein Fuß“, womit hier aber wohl eine Fußspur oder Fährte oder der
untere Saumabschluß gemeint sein wird. Weitere Fußspurformen sind
h) als bik’it yok = „sein kleiner Fuß“ und
s) als yok wet = „Fuchspfote“;
d’) das mir nur als Blume bezeichnet wurde, wurde C. Morris auch als yok bolom =
„Jaguarfuß“ angegeben;
o) heißt yok c’i* = „Hundefuß“, eine ähnliche Form heißt aber auch Blume (s. u. Blu-
men a);
y) wurde mir zwar als unin sat luc = „kleines Augenmuster“ bezeichnet, entspricht
aber der Pablero-Kröte henhen;
c’) befand sich auf einem Probestück der „maestra“ von San Pedro; es wurde als walk'un
scak spokok = „umgedrehter Frosch“ bezeichnet.
Außer einzelnen Körperteilen finden sich auch ganze Tierdarstellungen, so die Formen
i) , j), k), alle drei als us = „Moskito“ (kleine Stechfliegenarten) bezeichnet. Ich fand
diese Muster nur einmal, alle auf demselben Tuch, so daß eine eigene Erfindung der
Fierstellerin vermutet werden kann. Ich habe nicht herausbekommen, ob es sich bei den
drei Formen um Variationen desselben Tieres handelt oder ob verschiedene Insekten
gemeint sind.
t) Diese Figur, schon als c) unter den Kreuzen gebracht, heißt außerdem cukum = „Raupe“.
g) Dieses Muster, die zweite Form, auch als wo?m’ spak’al bezeichnet, wurde C. Morris
auch als bus = „Krebs“ benannt.
l) Diese Form wurde außer spokok = „Frosch“, was einleuchtend ist, auch noch als
lukum = „Wurm“ oder sogar als nicim = „Blume“ bezeichnet.
m) Dieses Bild ist hier nicht vollständig wiedergegeben, da die Frau wegging, bevor ich
fertig war; es heißt ebenfalls spokok — „Frosch“, ebenso auch
n) , das gegenüber C. Morris außerdem als s*a?u = „Kaulquappe“ bezeichnet wurde.
q) Diese Figur ist ein lot’om — „Krebs“ oder eine om = „Spinne“.
r) Dieses Abbild wurde mir gegenüber als spokok = „Frosch“, C. Morris gegenüber
aber auch als Antun, yahval na — „Anton, Flüter des Hauses“ bezeichnet. Das ist
insofern interessant, als U. Köhler von einem Pableromythos berichtete, in dem ein
Frosch namens Antun Hüter des Hauses eines Berggottes ist.
w) Dieses Muster ist cukumal = „raupenförmig“.
z) Dieses wurde zwar als mu?yuk sbi, „ohne Namen“, bezeichnet, da das Stickmuster
aber sehr an eine Tierform erinnert, bringe ich es unter diesem Komplex.
a’) Diese Gestalt ist ein mas = „Affe“, und
b’) ist entweder generell ein mut = „Vogel“ oder speziell eine sawalek’as = „Schwalbe“.
Komplex E: Menschendarstellungen (Tafel XI)
Diese Tafel enthält folgende Muster:
a) ist ein bayaso, also ein „Bajazzo“, „Clown“;
b) wurde muneca = „Puppe“ genannt;
c) ist ein luc soldato = „Soldatenmuster“;
d) heißt c’is luc, was (s. San Pablo) entweder „Stachelmuster“ oder „normales Muster“
Stick- und Webmuster der Tzot7.il
139
bedeutet (gegenüber C. Morris wurde hierzu santo krus winik = „heiliges Kreuz
Mann“ gesagt);
e) ist ein kristiano = „Mensch“;
f) ist ein winik — „Mann“, aber ein „indianischer Mann“;
i) ist ein soldato = „Soldat“; er hält in einer Hand einen quadratischen Kasten mit
einem Punkt in der Mitte (das Quadrat soll das Tagebuch des Soldaten darstellen);
j) sind kristiano, die Ball spielen; das Gebilde zwischen den Beinen ist cukum = „Raupe“,
in diesem Fall aber der Ball. Auch die Figuren der Gruppe
k) sind kristiano, hier aber sollen speziell Schüler dargestellt sein; die ersten beiden halten
sich an den Händen, der dritte soll sich gerade zu Wort melden. So jedenfalls hat die
Weberin ihr Muster C. Morris erklärt.
Bei den Menschendarstellungen fällt auf, daß sie zum größten Teil spanische Bezeich-
nungen haben. Diese nicht zur Grundtracht gehörenden Muster scheinen individuelle
Erfindungen der einzelnen Weberinnen zu sein, man findet sie nicht oft und auch dann
nie bei verschiedenen Frauen in derselben Form.
Komplex F: Sonstige Muster (Tafel XII)
Bevor die besonders typischen Muster der Pedranertracht behandelt werden, sollen im
folgenden noch einige Formen erklärt werden, die sich in keine der bisher behandelten
Kategorien einordnen lassen:
a) heißt unin lue — „kleines Muster“;
b) wurde mit unin snic toh = „kleine Kiefernblüte“ bezeichnet, was nicht besonders
einleuchtend ist;
c) ist ein luc hac’um’ = „Kammuster“, es weicht aber von den sonst in San Pedro üb-
lichen Kammustern ab (s. u. typischen Mustern) und wird auch hac’um’ pok’ — „Um-
schlagtuchkamm“ genannt;
d) heißt osc’isal = „mit drei Spitzen“, also eine Beschreibung des Musters;
e) heißt karena = „Kette“, was leicht zu erkennen ist;
f) hat keinen Namen, also mu?yuk shi;
g) mit mit’nuk = „umwickelter“ oder „abgeschnürter Hals“ erklärt;
h) ist ein sat luc = „Augenmuster“;
j) heißt soh, was „durchgezogen“ bedeuten soll, es sind bei dem Muster wohl die durch-
gezogenen Fäden gemeint;
k) , 1) wurden als salo bezeichnet.
Aus den Angaben der Weberinnen war nicht ersichtlich, was mit dieser letzten Bezeich-
nung gemeint ist. J. Arias war der Ansicht, daß hiermit ein Chicha-Glas bzw. eine -Schale
gemeint sei, wahrscheinlich aber nicht das ganze Gefäß, sondern nur der Fuß, d. i. der
Abdruck des Fußes. U. Köhler fügte der Deutung als salo = „Chicha-Gefäß“ noch eine
andere Möglichkeit hinzu, nämlich salo? — „Katze“ bzw. „Vagina“. Parallel dazu wurde
C. Morris in einigen Orten die Pablero-Tierform e) (s. o.) als scak salo genannt, was man
mit „Boden des Chicha-Glases“ übersetzen könnte, da cak „Hintere Seite, Rückseite“ so-
wie „Hintern, Arsch“ bedeutet, jedoch auch den Boden eines stehenden Objektes (nach
Laughlin) bedeuten kann (Auskunft von U. Köhler). Auch in der Verbindung mit
cak meinte U. Köhler, daß es sich wieder wie bei k), 1) um die andere Möglichkeit salo?
140
Viola König
handeln könnte. Das Aussehen des Stickmusters läßt keine Entscheidung darüber zu, ob
salo oder salo* dargestellt sein soll.
Komplex G: Baum-Raupen-Kreuzmuster (Tafel XIII)
Im folgenden werden die typischen Pedraner Grundformen — zu denen auch die
Muster des Komplexes A (s. o.) gehören — behandelt, die in vielen Variationen zu jeder
Tracht gehören, wie ebenso der nachfolgende Komplex H.
Die Baum-Raupen-Kreuzmuster kommen nicht auf Blusen, sondern nur auf den pok',
den Schultertüchern, vor; andererseits fehlen sie auf keinem Pedranertuch. Man kann
fast sagen, daß es für dieses Muster so viele verschiedene Bezeichnungen wie Formvaria-
tionen gibt. Sicher ist hier nur eine kleine Auswahl davon erfaßt.
a) Dieses Muster heißt hik’ital cukumetik = „kleine Raupen“; da es immer in mehreren
Exemplaren auf einem pok' auftaucht, kann mit dem Plural entweder die ganze Form
als kleine Raupe gemeint sein oder, was wahrscheinlicher ist, die einzelnen runden
Kreise des Musters (d. h. mehrere Stachelraupen im Querschnitt bzw. von vorn oder
hinten gesehen). Die Form wurde außerdem auch snicimal = „sein Geblümtes“ ge-
nannt. Auch gegenüber C. Morris wurde hierzu eukum = „Raupe“ oder scobal
eukum = „seine versammelten Raupen“ erwähnt.
Stick- und Wehmuster der Tzotzil
141
b) Diese Figur heißt yanai te? = „Baumblatt“. Auch hier ist nicht sicher, ob mit der
ganzen Form das Blatt gemeint ist oder ob nur die einzelnen Kreise als Blätter an-
gesehen werden. Diese Form heißt außerdem kurus luc = „Kreuzmuster“. Bei
c) wurden nur Bezeichnungen für die einzelnen Teile der Form angegeben. So heißt die
Mittellinie bakil coy = „Fischgräten“, die runden Kreise links und rechts davon
nicimal = „Geblümtes“ oder tres krus = „drei Kreuze“. Die Zahl drei ist hier nicht
klar, da weder die Anzahl der einzelnen Kreise noch die Anzahl der Muster auf dem
Tuch drei beträgt.
d) Dieses Bild, schon als w) unter den Tierformen gebracht, heißt cukumal = „Raupen-
förmiges“. Es wird hier noch einmal aufgeführt, da es in der Form den Mustern des
Komplexes G ähnelt und auch der Name der Raupe in diesem Komplex häufig ist.
e) Dieses Muster nennt sich krusal = „Kreuzartiges“.
f) Diese Form, mu?yuk sbi, „ohne Namen“, gehört sicherlich in diesen Komplex.
Während die Bezeichnungen „Raupe“, „Baumblatt“, „Geblümtes“ für die Muster dieses
Komplexes einleuchtend sind, sind die Namen „Kreuzartiges“ oder „drei Kreuze“ in
diesem Komplex unerklärlich. Allenfalls die Form b) könnte an ein Kreuz erinnern. Da
gerade diese Muster so häufig und typisch für San Pedro sind, wäre es wichtig, heraus-
zubekommen, wie es zu dieser Bezeichnung gekommen ist und was damit dargestellt
werden soll.
Komplex H: Kammuster (Tafel XIV)
Im Gegensatz zu den als einzelne Muster aufgeführten Kämmen bilden die Kämme
dieses Komplexes Borten rund um den Halsausschnitt. Sie fehlen auf keiner typischen
Pedranerbluse. Außerdem treten sie auch als kleinere Rechtecke unter oder über den
Baum-Raupcn-Kreuzmustern der Schultertücher auf. Alle hier aufgeführten Muster heißen
entweder hac’um’ = „Kamm“ oder hac’ubil = „Kammförmiges“. Von da her läßt sich
also nicht entscheiden, ob von vornherein ein Kamm dargestellt werden soll, oder ob
man diese Borten nur als kammförmig ansieht.
b) Dieses Muster wurde noch genauer als hac’um’ pok’ = „Schultertuchkamm“ bezeichnet.
c) Diese Form nannte man nur pok’ luc = „Schultertuchmuster“.
g) Diese Zeichnung fand ich nur einmal als untere Borte des Gewandes der Maria in der
Kirche. Die Einzelelemcnte sehen den Kammformen ähnlich.
Schluß
Das hier aufgeführte Material wurde nur in der Form eines Musterkataloges vorge-
stellt. Sicher ließen sich tiefergehende Untersuchungen in bezug auf Herkunft, Bedeutung
und Kontext der einzelnen Muster anstellen. Dazu wären aber bessere Kenntnisse der
Tzotzilsprache und genauerer Einblick in die Vorstellungswelt der Tzotzil notwendig,
als ich sie z. Z. aufweisen kann. Derartige Untersuchungen werden außerdem durch die
Tatsache erschwert, daß die heutigen Weberinnen oft selbst nichts Genaueres über ihre
Webmuster wissen. Daher halte ich es für übereilt, in jede Form unbedingt eine tiefere
Bedeutung hineininterpretieren zu wollen, besonders hinsichtlich angeblich vorspanischer
Ursprünge. Solange sich dazu keine eindeutigen Vorlagen, wie z. B. Kleidungsdarstellungen
auf Stelen, Keramik, Handschriften usw., anführen lassen, erscheinen mir dahingehende
Interpretationen als zu spekulativ.
142
Viola König
Anmerkungen
(1) Vgl. Robert M. Laughlin: The Tzotzil. Handbook of Middle American Indians,
Vol. 7: 152—194. Austin 1969. — Evon 2. Vogt: Chiapas Highlands. Handbook of
Middle American Indians, Vol. 7: 133—151. Austin 1969.
(2) Ulrich Köhler: Conbilal C’ulelal. Acta Humboldtiana, Nr. 5. Wiesbaden 1977.
(3) Calixta Guiteras Holmes: Perils of the Soul. New York 1961.
(4) In den beiden Gemeinden wurde je eine vollständige Frauentracht für das Hambur-
gische Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte angekauft.
Bildnachweis: Fotos von U. Köhler, Zeichnungen von der Verfasserin.
Gertrud Weber
Das Thema von Leben und Tod in bezug auf die Petroglyphen
von Las Palmas/Chiapas, Mexiko
Im Jahr 1972 entdeckten wir zum erstenmal eine Reihe von Petroglyphen in der Finca
Las Palmas/Chiapas, Mexiko. Über diese Funde, 22 bezeichnete Steine, wurde während
des Internationalen Amerikanistenkongresses in Rom (1972) berichtet. Inzwischen hatten
wir Gelegenheit, die erwähnte Zone eingehender zu studieren. Die Zahl der bearbeiteten
Steine erhöhte sich auf 110.
Durch dieses Studium und den Vergleich mit anderer Felskunst festigte sich nach und
nach unsere Annahme, daß die Petroglyphen von Las Palmas — trotz mancher Ähnlich-
keiten mit anderen Gravierungen — einen eigenartigen Charakter haben. Zahlreiche
Beobachtungen deuten darauf hin, daß es sich bei dem Platz um ein Kultzentrum han-
delte, in dem ein besonderes Thema, das von Leben und Tod, vorherrschte.
Abb. 1 „Olmecoid“ (Museum Villa-
hermosa).
Bekanntlich ist einer der Grundanlässe zur Entwicklung religiöser Vorstellungen die
Tatsache des Todes und die Frage, ob er dem Leben ein absolutes Ende setzt oder nicht.
Ein Mensch von entwickeltem Denkvermögen begreift, daß es ihm unmöglich ist, sich
sowohl „Ewigkeit“ als auch ein totales „Ende“ vorzustellen. Er erkennt seine Grenzen
und die Notwendigkeit, einen schöpferischen Impuls zu suchen. Dies Problem kann zum
Entstehen einer Religion beitragen.
144
Gertrud Weber
Sicher gibt es in den meisten Kulturen Menschen, denen diese Gedankengänge nicht so
klar bewußt werden, doch kennen sie ebenso die Unausweichlichkeit des Todes, suchen
eine Erklärung oder doch eine Möglichkeit, mit dieser Aussicht zu leben. Diese Frage
erreicht jedes menschliche Wesen ohne Unterschied von Abstammung, Kultur usw. und
kann Ausdruck im Kult finden.
In der vorkolumbischen Kunst sind Darstellungen häufig, wo Leben und Tod eng ver-
bunden in ein und derselben Figur erscheinen. Abb. 1 bietet ein entsprechendes Beispiel.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, daß Werke aus anderen Kulturen (wie in
den folgenden Abb.) auf gleichen Grundgedanken fußen: Da ist zunächst das Grabmal
eines hessischen Landgrafen aus dem 16. Jh. Im oberen Teil liegt die Gestalt, als Lebender
wiedergegeben, eine imponierende Erscheinung, deren Macht durch ihre Rüstung betont
wird; darunter der Leichnam, zerfressen von Gewürm.
Abb. 2 Grab eines hessischen Landgrafen (1516). Marburg!L.
Die zweite Skulptur stammt aus dem 13. Jh., befindet sich in Straßburg und stellt den
„Fürsten der Welt“ dar. Die Vorderseite zeigt einen schönen, vornehmen Edelmann, die
Rückseite einen Kadaver. Hier sind also die Gegensätze, wie bei der mexikanischen
Figur, in ein und derselben Person vereinigt.
Die größte Ähnlichkeit mit dem mexikanischen Typus hat ein sogenannter „Korwar“
aus Neuguinea: ein als lebend charakterisierter Körper mit einem Schädel statt des Kopfes.
Doch kann man nicht umhin, in Betracht zu ziehen, daß allen diesen Werken verschie-
dene Vorstellungen zugrunde liegen. Die beiden deutschen Plastiken (Motiv „Vanitas“)
146
Gertrud Weher
basieren auf der Verachtung weltlicher Dinge, dieser Einstellung, die schon im frühen
Christentum entstand. Schönheit, Macht, irdische Freuden wurden als Versuchung des
Teufels abgelehnt. Während des Mittelalters wandelt sich die Erleichterung über die
Erlösung zeitweise in die Angst vor dem Jüngsten Gericht.
Eine Denkweise, wie sie sich ln den beiden Darstellungen der Alten Welt äußert, steht
im Gegensatz zur mexikanischen, die keine Erwartung von Lohn oder Strafe im Jenseits
kennt. Die verschiedenen Orte, wohin die Toten gelangen, sind nicht abhängig von ethi-
scher Wertung ihres Lebenslaufs, sondern einzig und allein von der zufälligen Todes-
ursache.
Der „Korwar“ gilt in Neuguinea als Verkörperung eines Vorfahren, dessen Seele in ihm
weiterlebt. Er befindet sich im Männerhaus des Stammes, um an den Gesprächen teilzu-
Ahb. 4 Korwar aus Neuguinea.
Das Thema von Lehen und Tod in bezug auf die Petroglyphen
147
nehmen und durch seine Kräfte die Taten der Lebenden anzufeuern. Die Vergangenheit
wird also mit der Gegenwart verbunden. Für die Lebenden hat der Ablauf der Zeit
keine Bedeutung. Der Stamm versteht sich gewissermaßen als ein Baum. Blätter und
Früchte fallen und sprießen neu, aber der Baum ist immer gegenwärtig und der gleiche.
In diesem Punkt weicht das Denken eines solchen Stammes grundlegend vom mexikani-
schen ab.
Ahh. 5 Huaxtekische Erdgöttin.
Sucht man Analogien in der Alten Welt, so könnte man die vorkolumbische Anschau-
ung im ganzen mit dem „Panta rei“ Heraklits vergleichen oder mit der Vorstellung
Epiktets, der das Leben als dem Menschen auf kurze Zeit geliehen auffaßt. Selbstver-
ständlich besteht ein Unterschied zwischen den Philosophien und Denkweisen, wie sie sich
in den verschiedenen Kulturen entwickelt haben. Für Mexiko könnte man sagen, daß die
„Fünfte Sonne“, die „Sonne der Bewegung“, ihren Einfluß nie verloren hat.
Die vorkolumbischen Kultformen sind nicht die einzigen, in denen die Kalender-
rechnung in der Regel eine Rolle spielte. Aber nirgends sonst auf der Welt hat das Kalen-
derwesen die gleiche fundamentale Bedeutung: Hier handelt es sich nicht darum, einen
Augenblick oder eine bestimmte Konstellation der Gestirne festzulegen. Das, was eine
14В
Gertrud Weher
Rolle spielt, ist der Verlauf an sich. Vergessen wir nicht, daß der Tod eines Gottes die
Sonne erscheinen ließ, daß es aber des Opfers aller bedurfte, um sie in Bewegung zu setzen.
Immer ist die Bewegung das Wesentliche. Das gilt auch für das menschliche Leben, das
nicht als Zustand, sondern nur als Ablauf betrachtet wird.
In der Sammlung altmexikanischer Gesänge, der „Cantates Mexicanos“ aus dem
Zeitraum von 1430—1519, heißt es:
„Geliehen haben wir die Dinge, о Freunde
nur vorübergehend hier auf Erden . . .“
Der Lohn der Kriegshelden und Geopferten besteht nicht in einem dauernden Aufenthalt
an festem Ort, wie es dem „Walhalla“ der germanischen Vorstellung oder dem „Sitzen zur
Rechten Gottes“ des christlichen Glaubensbekenntnisses entspricht, sondern im Begleiten
der Sonne auf ihrem Weg zum Zenit. Wieder zeigt sich die dynamische Tendenz. In diesem
Sinne verstehen sich Leben und Tod als zwei Phasen desselben Verlaufs. P. Westheim
spricht von „einer Welt, die im Tode nur eine andere Form des Lebens sieht“ (20).
Die mexikanische Kunst bietet eine Menge Beweise dieser Auffassung. Als Beispiel
dafür die Plastik der „Erdgöttin“ (Abb. 5). Von ihr heißt es, sie habe die Gestirne ge-
boren. Aus ihr sproßt das Leben. Sie, „von der alles ausgeht und wohin alles zurück-
kehrt“, wie Guerrero sagt, regiert aber ebenso das Totenreich, das alles Leben verschlingt.
Die huaxtekische Figur macht die enge Beziehung zwischen Tod und Leben deutlich.
Abb. 6 Tod-Darstellungen von: 1) Brandberg/Afrika; 2) Johannesburg/Afrika; 3) Jo-
hannesburg/Afrika; 4) Kahni Melikan/Anatolien; 5) Australien; 6 a) China 2200—1700
v. Chr.; 6 b) Chatan Island.
Das Thema von Lehen und Tod in bezug auf die Petroglyphcn
149
Darstellungen des Todes scheinen in der Felskunst auf der ganzen Welt verhältnismäßig
selten zu sein. Zwar finden sich unter den sehr lebhaften zoomorphen Bildnissen, z. B. im
franko-kantabrischen Stil, getötete Tiere. Doch wäre es gewagt, hier vom Thema „Leben-
Tod“ zu sprechen, einem Thema, das eine gewisse Fähigkeit zur Abstraktion voraussetzt.
Selbst bei Bildern im „Röntgenstil“ (bei denen das Skelett teilweise erkennbar ist; Bei-
spiele unter anderem in Sibirien) ist bei der Interpretation noch Vorsicht geboten.
Doch finden wir dieses Motiv gelegentlich auch in der Felsbildkunst, allerdings mög-
licherweise auf jüngere Werke beschränkt. FIenri Breuil beschreibt z. B. den sogenannten
„Skelettstein“ Brandberg/Südafrika. Wir sehen eine halbnaturalistische Gestalt, die deut-
lich als Skelett zu erkennen ist, und ihr zur Seite eine kleine Zeichnung, die in diesem
Zusammenhang wahrscheinlich ebenso interpretiert werden muß (Ahh.6, Nr. 1). Man
fragt sich, ob die Figuren von Nr. 3, die von Lina Slack als Lebensbäume gedeutet wer-
den, nicht im gleichen Sinn zu verstehen sind, oder ob etwa ein Zusammenhang zwischen
Lebensbaum und Skelett oder Wirbelsäule besteht. Auch die Figur Nr. 5, diesmal aus
Australien, könnte zu dieser Überlegung anregen. Andreas Lommel interpretiert sie als
Skelett. Nr. 4 gehört zur Felskunst von Kahni Melikan/Anatolien. Diese Zeichnung im
Röntgenstil stellt vermutlich einen Toten dar.
Es wurde schon erwähnt, daß sich die Auffassung von Leben und Tod im vorspanischen
Amerika von der in der übrigen Welt unterscheidet. Sahagun läßt uns wissen, daß die
Tage im Tonalpohualli mit dem Zeichen „Tod“ nicht als schlecht galten und daß es Sitte
war, den Herrscher mit Emblemen des Todes zu schmücken. Die große Zahl von Doku-
mentationen dieser Ideen setzen ein umfassendes Denkvermögen voraus. Vermutlich erklärt
sich dadurch die geringe Anzahl von Beispielen dieser Motive in der typischen Felskunst
Amerikas.
Die Ritzungen von Abb. 7 stammen mit einer Ausnahme (Nr. 5 aus den USA) aus
Mittelamerika: Aus Costa Rica, Nicaragua, den Antillen und Mexiko, das heißt aus Ge-
bieten, die vor der Eroberung durch zahlreiche Wanderungen miteinander verbunden
waren. Nr. 3 von Salto Arriba/Costa Rica zeigt eine Figur des Röntgentyps mit Kopf-
schmuck. Fast gleiche Beispiele gibt es in Porto Rico. Der gleiche Typus, wenn auch in der
Darstellungsweise unterschiedlich, findet sich in Ometepe/Nicaragua (Nr. 2). Hno. Hil-
berto, der bekannte Felskunst-Experte jener Region, erwähnt Kontakte mit den Antillen,
wo sich in Grenada tatsächlich, wenn auch mit Abwandlungen, das entsprechende Motiv
findet: ein Kopf mit Federschmuck über einer „Leiter“, besser gesagt einer Wirbelsäule
(Nr. 4).
Auch in San Vincente gibt es Ritzungen ähnlicher Art, Wirbelsäulen mit Köpfen (z. B.
Abb. 7, Nr. 6). Aus Grenada kommt eine weitere Zeichnung, diesmal wieder im Röntgen-
stil. Obgleich die Figur in der Stellung einer Gebärenden gezeigt wird, handelt es sich
wahrscheinlich um eine Tote (Abb. 7, Nr. 7).
E. H. Thompson, der eine Reihe von Schädeln in der Höhle von Loltun/Yucatan
beschreibt, erwähnt andere Petroglyphen in der Nähe von Nr. 1, die ihn an Mumien
erinnerten. Diese Nachbarschaft und die Form von Nr. 1 lassen auch in dieser ein Skelett
vermuten.
Mit dem letztgenannten Beispiel befinden wir uns schon in der Nähe von Las Palmas.
Es gilt nun, die Überlegungen der Einleitung zu beweisen.
Die Zone „Petroglyphen von Las Palmas“ liegt an einem Weg, der Km. 60 der Straße
von Malpaso nach Cardenas mit dem Grijalva-Fluß verbindet; er besteht seit dem Bau des
150
Gertrud Weher
Abh.7 Amerikanische Felshildkunst: 1) Höhle von Loltun/Yucatan; 2) Insel Omete-
pe/Nicaragua; 3) Salto arriha/Costa Rica; 4) Grenada!Antillen; 5) Kalifornien; 6) St.
Vincente!Antillen; 7) Grenada!Antillen.
Stauwerks Netzahualcóyotl. Vor einer steilen Anhöhe ist eine große Menge Steine, von
denen mindestens 110 Gravierungen tragen, über ein flaches Feld verstreut.
Den meisten von ihnen liegt wahrscheinlich ein ernster Sinn zugrunde. Im großen und
ganzen konzentriert sich diese Felskunststation auf bestimmte Motive. Während Szenen
aus dem täglichen Leben fehlen, gibt es zahlreiche große Steine, die als Altäre in einem
Kultzentrum gedient zu haben scheinen (Abh. 8). Sie tragen auf ihrer waagerechten Ober-
fläche verschiedene Ritzungen. Dazwischen befinden sich immer einige Mulden, sowohl
in Rechteck- als auch in Doppel-T-Form (Form des Ballspielfeldes, eine wenig geläufige
Art in der Felskunst). Die senkrechten Seiten der Felsen tragen Ketten runder Vertie-
fungen (Abb. 9). Hno. FIilberto bezeichnet solche Mulden als Flüssigkeitsbehälter und
spricht von Opfern, sei es von Wasser oder Blut.
Das Thema von Leben und Tod in bezug auf die Petroglyphen
151
Die Keramik, die zwischen den bearbeiteten Steinen gefunden wurde und die ins
späte Klassikum datiert wurde, läßt ungefähr die Zeit abschätzen, in der die Zone ln
Gebrauch war. Aufgrund dieser Datierung kann man vielleicht darauf schließen, daß die
Schöpfer dieser Felsbilder, obgleich eventuell einem Stamm außerhalb der Hochkulturen
angehörend, mit Angehörigen der letzteren zusammengekommen waren und deren Vorstel-
lungen gemäß ihren eigenen Fähigkeiten in einfacher Weise Wiedergaben. So ließe sich die
Kenntnis des Ballspielfeldes erklären, vor allem aber das Thema von Leben und Tod.
Unter den anthropomorphen Darstellungen sind die von Schädeln und Skeletten sehr
zahlreich. Abb. 10 zeigt uns verschiedene Typen der letzteren. Nr. 2 besteht aus den
üblichen gepunzten Linien. Obgleich teilweise durch Erosion zerstört, kann man die
Wirbelsäule, die Rippen und den kleinen Kopf erkennen. Nr. 3 und 4 sind noch stärker
stilisiert.
Die sogenannten Leitern mit oder ohne Abschluß treten in großer Zahl auf. Abb. 10,
Nr. 1 zeigt zwei Augen und einen Mund, wenngleich stark erodiert, in dem Kreuz am
Abb. 11 Altar mit Sonnensymbol und Lebensbaum {Las Palmas).
oberen Ende, das damit als Kopf gekennzeichnet ist. Die Annahme, daß es sich in die-
sem Fall um eine Wirbelsäule handelt, hat sich durch weitere Funde verstärkt.
Die Interpretation der erwähnten Darstellungen wäre gewagt ohne zwei Beweise:
1. Genügend Parallelen an anderen Orten, die durch Experten gedeutet wurden. 2. Eine
Anzahl von Beispielen in unserer Zone, die zweifellos gleiche Grundideen ausdrücken,
so z. B. Abb. 10, Nr. 5. Die Künstler (in diesem Fall kann man sie mit Recht so bezeich-
nen) benutzten eine natürliche Höhlung des Steines für den Thorax und formten darin
mit verschiedenen Techniken die Rippen, Beckenschaufeln und den Kopf. Die Abwei-
chungen von der Naturform resultieren mit Sicherheit nicht aus Mangel an Geschick,
sondern aus einer bestimmten Absicht.
Ein Stein weist im ganzen acht solche sogenannten Leitern auf, ein anderer deren drei
zusammen mit einem Skelett des Typs, den wir von Loltun kennen.
Allerdings muß man hinzufügen, daß hie und da ähnliche Formen auftreten, die man
keinesfalls als Wirbelsäulen interpretieren kann. Auf dem Felsen von Tezcoco, den
Carmen Cook beschreibt, finden sich z. B. plastische „Leitern“, die sich eher mit den
Muldenketten vergleichen lassen, die als Behälter für Flüssigkeiten angesehen werden.
Ebenso wie für den Tod bietet Las Palmas auch zahlreiche Symbole des Lebens, so
z. B. Sonnenzeichen oder Spiralen, die als Abstraktionen ewigen Lebens angesehen werden.
Schon während des Megalithikums, von Indien und Turkestan ausgehend, eroberte dies
Zeichen nach und nach die ganze Welt.
Außerdem wird das Leben durch den Lebensbaum symbolisiert, der in Form des
Kreuzes oder griechischen Kreuzes auftritt. Las Palmas bietet beide Spielarten. Ein Kreuz
Das Thema von Lehen und Tod in bezug auf die Petroglyphen
155
zeigte schon Abb. 11, Nr. 1. Ein griechisches Kreuz befindet sich auf einer Altarplatte.
Es geht aus einem Sonnensymbol hervor.
Neben diesen Zeichen, die sich auf verschiedenen Steinen finden, gibt es andere, die
die Kontraste Leben und Tod verbinden und so die präkolumbische Grundidee der Zwei-
heit zum Ausdruck bringen. Am eindrucksvollsten wird die Vorstellung wiedergegeben
durch zwei übereinandergestellte menschliche Gestalten (Abb. 12). Sie bestehen — so ein-
fach wie möglich — aus reinen Punzlinien. Die Lebendigkeit, trotz dieser Einfachheit in
der oberen Figur sichtbar, ist erstaunlich. Die untere, im gleichen Stil wiedergegeben, ist
als Enthaupteter gekennzeichnet. Der Kopf, ohne Verbindung mit dem Körper, scheint
zu fallen (Abb. 13).
Ein Fruchtbarkeitsmerkmal, ein Phallus- oder Geburtszeichen, findet sich überraschen-
derweise gerade bei der Gestalt des Toten. Dies, zusammen mit der Darstellung des
Kopfes eines Lebenden, beweist, daß nicht nur in zwei verschiedenen, sondern in ein und
derselben Figur die Idee von Leben und Tod vereint ist.
Dieses Thema, das wir von den Hochkulturen wohl kennen, wie aus der Einleitung
hervorgeht, überrascht bei so eindeutigen Primitivdarstellungen. Die Bedeutung, die
Abb. 13 Stilisierte Darstellung eines Lebenden und eines Toten in Skelettform unter
einem Sonnenzeichen (Las Palmas).
156
Gertrud Weher
diesen Bildern beigemessen wurde, wird dadurch betont, daß sich die Szene einzeln —
weit entfernt von anderen Zeichnungen — findet.
Den gleichen Grundgedanken kann man bei einigen noch stilisierteren Zeichnungen
beobachten. Auf der Oberfläche des Steines, an dessen Flanke sich das schon beschriebene
große Skelett befindet (Ahb. 12, Nr. 5), sieht man einen Menschen in linearer Stilisierung
(Ahb. 13). Ohne die geringste naturalistische Wiedergabe vermittelt die Figur eine aus-
geprägte Lebendigkeit. Sie steht in Verbindung mit einem Skelett (Abb. 13 links). Die
Gruppe ist gekrönt durch ein Sonnenzeichen. Die Beziehung ist unübersehbar.
Möglicherweise wiederholt sich das gleiche Thema in der Zusammenstellung eines leben-
den Gesichts mit einem zweiten in entgegengesetzter Richtung (Abb. 14), das als Schädel
gekennzeichnet ist. Auch hier ist wieder der Bezug zwischen beiden Zeichnungen dadurch
betont worden, als sie sich fern von allen anderen allein auf einem Stein befinden.
i
Abb. 14 Lebendes Gesicht und
Totenschädel (Las Palmas).
Die Meinung, daß einige Zeichen der Felsbildkunst, auch wenn sie voneinander getrennt
auftreten, nur im Zusammenhang zu verstehen sind, ist nicht neu. S. Dewdney und K.
E. Kitt erwähnen diese Ansicht sogar hinsichtlich von Ritzungen auf verschiedenen Stei-
nen. Über diese Beobachtung hinaus, die auch für Las Palmas Gültigkeit haben kann,
fragt es sich, ob hier nicht für die meisten Bilder ein bestimmter Plan vorliegt.
Es ist nicht ihre künstlerische Schönheit, die die Aufmerksamkeit auf diese Zone lenkt —
im Gegenteil. Verglichen mit der Felsbildkunst vieler anderer Orte muß hier eine gewisse
Dekadenz festgestellt werden. Andererseits, vielleicht unter dem Einfluß benachbarter
Zeremonialzentren, zeigt sich eine echte Fähigkeit, Ideen zum Ausdruck zu bringen, die
im allgemeinen den Hochkulturen Vorbehalten sind, wie etwa die Vorstellung von der
Einheit von Leben und Tod. Wenn sich diese Annahme bestätigt, könnte darin die Bedeu-
tung der Petroglyphen von Las Palmas liegen.
Das Thema von Leben und Tod in bezug auf die Petroglyphen
157
Literatur
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Weber, G. / Strecker, M.: Petroglyphen der Finca Las Palmas (Chiapas, Mexiko). Graz
(in Vorbereitung).
Westheim, P.: Die Kunst Alt-Mexikos. Köln. 1966.
Buchbesprechungen
ALLGEMEIN
Gisela Dombrowski:
Sozialwissenschafl und Gesellschaft bei
Dürkheim und Radcliffe-Brown. Forschun-
gen zur Ethnologie und Sozialpsychologie,
hrsg. v. Hilde Thurnwald. Bd. 10. Berlin:
Duncker & Humhlot. 1976. 162 S.
In dieser von Inhalt und Aufmachung her
erfreulichen Publikation stellt sich die Verfas-
serin die Aufgabe, die oft angesprochenen, aber
nie im Detail nachgewiesenen Beziehungen in
den Theorien Dürkheims und Radcliffe-
Browns aufzuzeigen. Der eilige Leser wird in
der Zusammenfassung alle wichtigen Punkte
prägnant aufgeführt finden und zudem durdr
den Aufbau des Buches keine Schwierigkeiten
haben, zur genaueren Information auch auf die
eingehendere Darstellung im Hauptteil zu re-
kurrieren. Zudem enthält die Arbeit ein kom-
plettes Verzeichnis der Publikationen beider
Autoren mit einem Anhang der wichtigsten
Schriften über sie.
Nach einzelnen Themenbereichen unterglie-
dert, werden in möglichst paralleler Weise zu-
nächst Dürkheims, dann Radcliffe-Browns
Ansichten zu diesen Gebieten je nach Erforder-
nis zusammenfassend referiert oder In möglichst
wortgetreuer Übersetzung wiedergegeben (wo-
bei leider nicht immer klar wird, welches von
beiden jetzt der Fall ist); mit der Anführung
unübersetzter Zitate ist Dombrowski sparsam
— etwas mehr Sprachpluralismus wäre m. E.
durchaus vertretbar gewesen. Die thematische
Aufteilung hält sich an für die Theorien zen-
trale Begriffe — aber eben hier beginnt das
Problem, da weder Dürkheim noch Radcliffe-
Brown sich jener terminologischen Exaktheit be-
fleißigten, die Dombrowski ihre Arbeit erleich-
tert hätte. Den im Schlußabschnitt des Buches
erhobenen Forderungen — die verwendeten Be-
griffe klar zu definieren, sie im Verlaufe der
Entwicklung der Theorie in der einmal definier-
ten Form beizubehalten und unabdingliche Neu-
definitionen explizit zu machen — entspricht
insbesondere Radcliffe-Brown nicht, und die
trotzdem möglidi gewordene Entwicklung der
englischen Social Anthropology widerlegt zu-
gleich die Behauptung der Autorin, daß nur mit
dieser terminologischen Schärfe Theorien „wirk-
lich Grundlage für Forschung“ bilden könnten.
Offenbar kommt es doch nicht so sehr auf prä-
zise Definitionen als auf den inneren Gehalt
an, der allerdings, durch den Wörterwirrwarr
hindurch, erst einmal verstanden sein will.
Ebendas ist Dombrowski bei Radcliffe-
Brown nur zum Teil gelungen, und man be-
kommt gelegentlich d'vn Eindruck, daß er ihr
unsympathisch ist. Sc ind Browns Beispiele,
mit denen er seine theoretischen Aussagen zur
vergleichenden Methode illustriert, zweifellos
kein Mittel, um daraus eine Methodik zu ab-
strahieren; aber daraus zu schließen, daß eben
deshalb seine Methode gar keine sei, ist ange-
sichts der (hier allerdings impliziten) Demon-
stration eben dieser Methode in seiner Arbeit
über die Rolle des Mutterbruders in Südafrika
(1924) schlicht unfair. Ebenso unhaltbar ist es,
zu behaupten, dieser Wissenschaftler erwähne
an keiner Stelle, wie der Schritt von der Typen-
bildung zur Klassifikation auszusehen habe: sei-
ne ganze Arbeit über die Sozialorganisation der
australischen Stämme (1930) tut nichts anderes.
Diese Unfähigkeit, von der Oberflächenge-
stalt der Aussage zu deren Gehalt durchzu-
stoßen, wird zur Qual, wenn die Verfasserin
Radcliff-Browns „Definitionen“ von Gesell-
schaft, Sozialsystem, sozialer Struktur etc. auf-
reiht, um aus Ähnlichkeiten und Parallelitäten
dieser „Definitionen“ dann auf den synonymen
Gehalt der Begriffe zu schließen. Dabei über-
sieht sie, daß es sich hier um jene pars-pro-toto-
Bestimmungen handelt, die sie auch selbst unge-
niert benutzt, wie z. B. bei der Identifizierung
der „conscience collective“ als „Gesellschaft“.
Selbst wo Dombrowski meint, Brown eine
einigermaßen eindeutige Verwendung zugute-
halten zu können, nämlich bezüglich „Gesell-
schaft“, täuscht sie sich. Er definiert näm-
lich Gesellschaft durchaus nicht immer als
„eine Gruppe von zusammengehörigen Men-
schen“, sondern z. B. auch als „structural sy-
stems observable in particular communities“
(Structure and Function .. ., 1952: 194), durch-
aus vergleichbar Dürkheims nicht minder ab-
straktem „système de fonctions . . . qu’unissent
des rapports définis“.
Normalerweise wird dies (durchaus nicht
direkt beobachtbare) strukturelle System aller-
dings „social structure“ genannt: als soziale
Struktur vereinigt es die einzelnen Menschen,
und die sozialen Phänomene sind sein Resultat
(1952: 191). Umgekehrt ist es die Funktion
dieser Phänomene, jene Strukturen, deren Teil
sie sind, und damit eben auch das Gesamt-
system, aufrcchtzuerhalten. Jedes Phänomen hat
dabei — je nach Bezugsrahmen — eine spezi-
160
Buchbesprechungen
fische Funktion (so wie z. B. Bücher im Rah-
men eines Bücherbords, einer Rezension, der
Kultur etc.). Der Ärger mit Radcliffe-Browns
abstrakten Darstellungen ist, daß er meist den
Rahmen ebensowenig definiert wie das Bild
nennt, von dem er, mit variabler Terminologie,
abstrahiert. Nimmt man, seinem Schüler Meyer
Fortes folgend, an, daß es sich eigentlich um
australische Verwandtschaftssysteme handelt,
wird schon manches klarer. Brown ist gar nicht
der abstrakte Denker, als der er in den heran-
gezogenen Äußerungen erscheint. Nimmt man
ihn dort jedoch wörtlich, kann man durch
Bezug auf „die“ soziale Struktur zweifellos
alles — aber damit eben auch nichts — „erklä-
ren“ — darin gehe ich letztlich wieder mit
Dombrowskis Analyse (S. 116 ff.) einig — nur
ist die Analyse der Funktion kein zentrales
Anliegen für Radcliffe-Brown, sondern viel-
mehr die des Funktionierens der Struktur,
einer Struktur, die als solche vergleichbar ist
mit der „conscience collective“ Dürkheims.
Damit entfällt für Brown, entgegen der Mei-
nung der Autorin, der letzte Zwang zur psy-
chologischen Reduktion.
Kommt Radcliffe-Brown also m. E. etwas
zu schlecht weg, so Dürkheim eher zu gut.
Bei den Stellen, an denen Dombrowski mit
ihm nicht ganz klar kommt, handelt es sich
vorwiegend um Punkte des SPENCERSchen Er-
bes. Abgesehen von einem von Dürkheim
selbst gegebenen Verweis, wird Spencer — da
nicht direkt zum Thema gehörig — von Dom-
browski unterschlagen, was ihr dann (doch
wohl nicht ganz zu Recht) erlaubt, Dürkheim
als Begründer einer neuen Wissenschaft hinzu-
stellen. Doch die Grundlegung einer kompara-
tiven Soziologie als einer exakten Wissenschaft
(„Science“) einschließlich nicht nur des Biologis-
mus (an dem auch Radcliffe-Brown noch sei-
ne Freude hatte), sondern auch der Grundbe-
griffe Struktur und Funktion, stammt nun ein-
mal von Spencer, der sich mithin ganz gut als
Dritter im Bunde geeignet hätte. Aber man
soll nicht zu viel auf einmal verlangen. Dom-
browski hat der deutschen Ethnologie zum
Verständnis Dürkheims und Radcliffe-
Browns eine Plattform erstellt; es ist an uns,
darauf aufzubauen. Lorenz G. Löffler
Karl Meyer:
The plundered past — The traffic in art
treasures. London: Hamish Hamilton. 1973.
XXV + 353 S., 49 Abb. auf 29 Taf., 4
Tab., Bibi., Index.
Die Diskussion über gestohlene oder ille-
gal aus den Ursprungsländern verbrachte,
meist vom Kunsthandel angebotene Objekte
hat in den letzten Jahren viele Gemüter hef-
tig bewegt. Die Amerikanisten wurden sich
dieses Problems vor allem durch das plötzliche
Auftauchen zahlloser Maya-Stelen bzw. ande-
rer Großskulpturen aus diesem Raum ab etwa
1960 bewußt. Das war seit dem Ende des 19.
Jh. nicht mehr geschehen. Als zu jener Zeit
Maudsley Skulpturen nach London brachte
und das Peabody Museum in Cambridge/Mass,
seine Stücke erhielt, war es auch nicht der
Kunsthandel gewesen, der sich der Plastiken
bemächtigt hatte. Die Übernahme aus dem
Ursprungsland war vielmehr das Ergebnis da-
maliger Feldforschungen gewesen, mehr oder
weniger legal nach den seinerzeitigen Gesetzen
exportiert. Auf den neuerlichen Export setzten
erste Reaktionen ohne viel Erfolg ein, vorge-
tragen zunächst allerdings nur von einer klei-
nen Gruppe. Während des 38. Internationalen
Amerikanistenkongresses 1968 in Stuttgart
wurde auf Veranlassung von Gordon R. Wil-
ley und dem Rezensenten eine Round Table
Conference einberufen, die sich speziell mit
diesem Problem befaßte. Die damals beschlos-
sene Resolution, die auch die Vollversammlung
des Kongresses annahm, sollte die Museen ver-
pflichten, keine archäologischen Monumente
mehr zu erstehen, deren legale Ausfuhr nicht
einwandfrei nachzuweisen war. Die Reaktion
darauf war unterschiedlich. Eine ganze Reihe
von Institutionen, vor allem die großen ameri-
kanischen Museen, sandten dem Sekretariat
des Kongresses Verpflichtungserklärungen im
obigen Sinne, andere dagegen, darunter viele
europäische Museen, lehnten dies ab. Der Strom
der angebotenen und gekauften Maya-Monu-
mente ließ aber nicht nach, denn nun traten
andere Institutionen auf, die bisher kaum auf
diesem Sammelgebiet tätig gewesen waren, be-
sonders Kunstmuseen, für die damals — und
auch heute noch — solche Kunstobjekte erheb-
lich billiger waren als z. B. französische Im-
pressionisten oder Alte Meister.
Die Maya-Skulpturen sind ein Paradebeispiel
für die Zerstörung archäologischer oder kultu-
reller Werte. Seit wir wissen, daß die auf
ihnen vorhandenen Inschriften geschichtliche
Bezüge haben, ist der Fundort, ganz abgesehen
von vielen anderen Bezugsmöglichkeiten, von
höchster historischer Wichtigkeit. Das ist gerade
kürzlich durch Joyce Marcus nachgewiesen
worden, die aufgrund der „Emblem Glyphs“
und der Fundorte Einflußsphären, die even-
tuellen politischen Konstellationen entsprachen,
aufstellen konnte. Aber nicht nur dieser Ver-
lust ist zu verzeichnen: Zahlreiche Skulpturen,
Buchbesprechungen
161
bleiben wir bei dem Maya-Beispiel, sind bei
der Ausräubung zerstört worden. Sie wurden
mit Sägen auf ein handliches Format gebracht
oder, noch schlimmer, mit Hammer und Meisel
zerkleinert. Wer die so behandelten Stelen von
Naranjo sieht, sei es im Original oder in Bil-
dern, kann sich nur noch fragen, wie irgend
jemand, der an Archäologie oder Kulturge-
schichte auch nur vage interessiert ist, diesem
zustimmen und durch Ankäufe unterstützen
kann.
Diese Betrachtung am Anfang der Bespre-
chung hätte ebensogut über indische Skulptu-
ren, griechische Vasen, kolumbianisches oder
kleinasiatisches Gold, Luristan-Bronzen usw.
gestellt werden können, um nur einige solcher
Komplexe zu nennen.
Karl Meyer ist kein Archäologe, auch kein
Völkerkundler oder Kunsthistoriker, sondern
Journalist — doch das will nichts heißen —
es bedurfte eines solchen Mannes, das Problem
in die Öffentlichkeit zu bringen. Daß er dabei
die Hilfe zahlreicher Fachkollegen erhielt,
zeigt, wie viele sich besonders mit diesem
Komplex beschäftigen, wenn sich auch nur we-
nige bereit gefunden haben, öffentlich ihre Stim-
me zu erheben. Angeregt durch Unterhaltungen
mit Archäologen und Kunsthistorikern, selbst
an der Archäologie interessiert (er schrieb 1970
das Buch „The pleasures of archaeology“) hat
Meyer drei Jahre darauf verwendet, die Fak-
ten zusammenzutragen: Er interviewte Fach-
leute, Händler und Sammler, ging auf Kon-
gresse, las die relevante Literatur und besuchte
Ausgrabungen in Lateinamerika und Europa.
Was er dabei entdeckte, ist in höchstem Maße
erschütternd:
Was soll man sagen, wenn von einem
„Museumsmann“ gesagt wird, daß Erwerbun-
gen seine und des Museums vornehmste Auf-
gabe ist und daß alle anderen Dinge — Kon-
servierung, Untersuchung, Interpretation und
Ausstellung — erst danach rangieren, daß Er-
werbungen „Lebenskraft, Sinn“ eines Museums
wären, daß „jedes Museum, das sich vor dieser
Aufgabe drückt, eine nützliche Ausstellungs-
galerie wäre, aber kein Museum“ (S. 50)?
Hier sind, nach Ansicht des Rezensenten, die
Werte umgekehrt: Erhaltung, Ausstellung und
Interpretation für das Publikum sind die vor-
nehmsten Aufgaben, die Verdeutlichung frem-
der Kulturen und der Abbau der Idee, nur in
Europa bzw. dem mediterranen Raume wäre
„Kultur“ entstanden.
In der gleichen Richtung liegt die Feststel-
lung Meyers, daß das Verhältnis jener Gel-
der, die für Ankäufe ausgegeben werden, und
solcher, die man zur Konservierung verwendet,
sich etwa wie 100 zu 1 verhalten. Ist das noch
normal?
Man könnte einen langen Artikel über das
Buch schreiben, aber das wäre für eine Bespre-
chung zu umfangreich. Daher zum Schluß noch
zwei Punkte, von denen einer versöhnlich
stimmt: Seit 1971 haben sich viele große Mu-
seen in den USA verpflichtet, keine illegal aus
den Ursprungsländern ausgeführten Objekte
mehr zu kaufen. Den Anfang machte das Uni-
versity Museum in Philadelphia am 1. April
1971, es folgten Harvard, das Field Museum
in Chicago, das Brooklyn Museum und andere
mehr. Auch einige Vereinigungen in den USA
haben solche Richtlinien aufgestellt, so
das Archaeological Institute of America
und die Society for American Archaeo-
logy. Ein wichtiger Anfang, dessen Bei-
spiel hoffentlich andere folgen werden. End-
lich ist noch in diesem Zusammenhang die
UNESCO-Resolution von 1971 mit einem ähn-
lichen Sinne zu erwähnen, die allerdings bis
heute von nur wenigen Ländern ratifiziert
wurde. All diese Dokumente finden sich, und
das ist ein weiteres Verdienst des Buches, in
einem umfangreichen Anhang, der einen außer-
ordentlich wichtigen Teil ausmacht. Neben den
Deklarationen ist u. a. eine Liste der gestoh-
lenen Maya-Monumente (Stand: 1973) vor-
handen, eine weitere über die größten Kunst-
diebstähle zwischen 1911 und 1973, wobei die
rapide Zunahme seit 1968 bemerkenswert ist,
eine Auflistung der nationalen Schutzgesetze,
die allerdings nur die wichtigsten Länder ein-
schließt.
Es ist ein faszinierendes Buch, aufrüttelnd,
erschütternd, voll Fakten, die man sich vor
Augen führen sollte. Jeder, der an Kunst,
Archäologie oder Völkerkunde interessiert ist,
sollte es lesen und seine eigene Stellung über-
denken. Und hoffentlich findet sich auch ein
Verlag, der es in Deutsch herausbringt. Es
wäre nötig.
Wolfgang Haberland
Klaus Wachsmann / Dieter Christensen /
Hans-Peter Reinecke (Hrsg.):
Hornbostel Opera Omnia I. Unter Mitar-
beit von Richard G. Campbell, Nerhus
Christensen, Heinz Jürgen Jordan. Den
Haag: Nijhojf. 1975. XXII + 390 S.
Erich Moritz von Hornbostel, 1877 in
Wien geboren, muß als der bedeutendste Ver-
treter der systematischen Musikwissenschaft an-
gesehen werden. Nach Studien in Heidelberg
11
162
Buchbesprechungen
und Wien, die er mit Promotion in Chemie ab-
schloß, wurde er 1901 am Psychologischen In-
stitut der Universität Berlin Assistent und
schließlich Freund und Mitarbeiter des Direk-
tors des Instituts, Carl Stumpf, der die gegen
1890 in Amerika entstandene Vergleichende
Musikwissenschaft in den deutschen Wissen-
schaftsbereich einbezogen hatte. Beide Männer,
Stumpf und Hornbostel, schlugen eine Brücke
zwischen Musik und Völkerkunde. Zu ihnen
trat noch der Arzt Otto Abraham. Damit
wurde das Psychologische Institut der Berliner
Universität eine Stätte, die mit naturwissen-
schaftlichen Methoden die Lösung gehörpsycho-
logischer Probleme anstrebte. Hornbostels
Aufgabe war es, die von den Forschern außer-
europäischer Kulturen mitgebrachten phono-
graphischen Aufnahmen zu sammeln, zu sichten
und in moderne Notenschrift zu übertragen.
Das auf diese Weise entstandene Berliner
Phonogrammarchiv, zuerst Anhängsel des Psy-
chologischen Instituts, wurde 1922 vom Staat
übernommen und schließlich 1934 dem Museum
für Völkerkunde Berlin angegliedert. Zu jenem
Zeitpunkt hatte Hornbostel seinen Posten
schon infolge des Regierungswechsels 1933
verloren. Er starb 1935 in Cambridge (Eng-
land). (Aufnahmen aus der sog. „Dokumenta-
tions-Sammlung von E. M. v. Hornbostel und
dem Berliner Phonogrammarchiv“ sind unter
der Nummer FE 4175 der Ethnie Folkways
Library, New York: Folkways Records, 1963,
herausgegeben worden.)
Da Hornbostel niemals ein Buch geschrie-
ben hatte, sind seine Erkenntinsse in mehr
als 100 Aufsätzen und Rezensionen verstreut,
manche nur noch schwer auffindbar. Hinzu
tritt, daß die musikethnologische Forschung und
Lehre heutzutage ihren Schwerpunkt nicht
mehr im deutschen Sprachraum hat, so daß das
meiste des Werkes Hornbostels für die Mehr-
zahl der heutigen Musikethnologen unzugäng-
lich geworden ist. Die „Hornbostel Opera
Omnia“ wollen — einer Anregung Jaap
Kunsts folgend — diese Lücke schließen. Die
zweisprachige Gesamtausgabe — deutscher Ur-
text und Parallelabdruck der englischen Über-
setzung auf jeder Seite — aller Schriften
Hornbostels (ausgenommen die unveröffent-
lichten Manuskripte) ist auf ungefähr 7 Bände
mit ca. 2500 Seiten berechnet. Die 81 Artikel,
58 Buchbesprechungen sowie andere Arbeiten
wurden nach Erscheinungsjahren geordnet, wo-
bei die Rezensionen den Aufsätzen nachfolgen.
Beginnend mit den „Studien über das Ton-
system und die Musik der Japaner“, die Horn-
bostel und Abraham 1903 gemeinsam als
Frucht ihrer Arbeit im Phonogrammarchiv in
SIMG veröffentlicht hatten, umfaßt der Band
I die Jahre bis 1906. Ebenfalls mit Abraham
gemeinsam erschienen 1904 die Aufsätze über
„Phonographierte türkische Melodien“ und
„Phonographierte indische Melodien“. Eben-
falls gemeinsam verfaßt wurde 1906 die Stu-
die über „Phonographierte Indianermelodien
aus Britisch-Columbia“. Aus demselben Jahr
stammt Hornbostels Arbeit „Phonographierte
tunesische Melodien“ — sämtlich Grundlagen-
arbeiten der Musikethnologie. „Melodischer
Tanz — eine musikpsychologische Studie“ von
1904 befaßt sich mit den Bestrebungen des
Kunsttanzes, die mit dem Namen der amerika-
nischen Tänzerin Isadora Duncan in die Ge-
schichte des Tanzes eingegangen sind.
In seinem Aufsatz „Die Probleme der ver-
gleichenden Musikwissenschaft“ schreibt Horn-
bostel 1905 zum Schluß die prophetischen
Worte:“ Die Gefahr ist groß, daß die rapide
Ausbreitung der europäischen Kultur auch die
letzten Spuren fremden Singens und Sagens
vertilgt. Wir müssen retten, was noch zu ret-
ten ist . . .“
Heute — 70 Jahre später — wissen wir wie
schnell sich die Musik der nicht-europäischen
Völker in einer Immer kleiner werdenden Welt
verändert und schon verändert hat. Die ange-
sprochene Aufgabe, das eigenständige Musik-
gut der Völker zu sammeln und zumindest zu
bewahren, ist aktueller denn je.
Wolfgang-Dietrich Meyer
AFRIKA
Michel Benoit:
Introduction à la géographie des aires pa-
storales soudaniennes de Haute-Volta. Tra-
vaux et Documents No. 69. Paris: Orstom.
1977. 95 S., 22 Fotos.
Ziel dieser Studie ist vor allem die Demon-
stration einer Methode zur Systematisierung
und kartographischen Darstellung verschiedener
Formen der Viehhaltung am Beispiel von
Ober-Volta. Die vorgelegte Systematisierung
basiert auf (1) den natürlichen Verhältnissen
und den daraus resultierenden Vegetationszo-
nen mit ihren Leitgräsern, (2) den Bestands-
dichten, Formen der Bodennutzung und der
Buchbesprechungen
163
Viehhaltung und (3) der ethnisch-kulturellen
Herkunft der Viehhalter. Sie überzeugt, und
ihre Anwendung auf weitere Gebiete der Sahel
könnte nützliche Grundlagen für entwicklungs-
politische Entscheidungen liefern.
Ein zentrales Problem der Viehhaltung, in
Ober-Volta wie in anderen Ländern der Sahel,
liegt darin, daß das Vieh hauptsächlich dort
gehalten wird, wo es trocken ist und wo der
jahreszeitliche Futterausgleich in trockenen Jah-
ren fehlt, während andererseits im Süden von
Ober-Volta ausgedehnte ungenützte Savannen
mit recht sicherem Futterpotential vorhanden
sind, zu denen aber der Viehhalter des Nor-
dens kaum Zugang hat, und zwar aus zwei
Gründen:
1. Zwischen der Viehzone des Nordens und
der Savanne des Südens erstreckt sich eine rela-
tiv dicht besiedelte Ackerbauzone mit geringem
Weidepotential und einer erheblichen ortsfe-
sten Viehhaltung.
2. Die Savannen des Südens haben Tsetse-
fliegen, die die für die Zebu-Rinder tödliche
Trypanosomiasis übertragen. Trypanotolerante
Taurus-Rinder sind zwar vorhanden, aber zah-
lenmäßig reichen sie zur Nutzung des Futter-
potentials nicht aus. Die Trypanotoleranz die-
ser Rassen ist auch nur bei guter Fütterung
gegeben. In weiten Teilen Afrikas ist es mitt-
lerweile unter den Nomaden üblich geworden,
Zebu-Rinder in Tsetsegebieten mit Hilfe von
Chemotherapie zeitweilig gesund zu halten.
Tsetse ist damit nicht mehr wie früher eine
absolute Barriere für die Zebu-Haltung. Be-
noit zeigt indes, daß der jahreszeitliche Fut-
terausgleich durch die Beweidung der südlichen
Savannen in Ober-Volta noch nicht vorliegt.
Die Wanderungen der Nomaden beschränken
sich auf recht enge Abstände. Sie sind sozusa-
gen „eingesperrt“ im Norden und müssen er-
hebliche Tierverluste in Trockenjahren hinneh-
men.
Benoit beherrscht sein Metier in souverä-
ner Weise. Das Vorhandene wird von ihm sy-
stematisch und sinnvoll geordnet. Dennoch
fragt man sich bei seiner Studie — wie so oft
bei geographischen Arbeiten — welchem Ziel
die Arbeit dienen soll, welchen Erkenntniswert
sie hat oder welche entwicklungspolitische Rele-
vanz.
Hinter Benoits Methode steht offenbar ein
ähnlicher Ansatz, wie ihn die französische
Agrarplanung verschiedentlich in Afrika zu
verfolgen pflegte: Klimakarten, Bodenkarten,
Bodennutzungscignungskarten (für Kulturen
und Tierarten), betriebswirtschaftliche Daten
und schließlich ein optimaler Bodennutzungs-
plan. Wir wissen mittlerweile, daß der „homo
planificans“ an der Komplexität ländlicher
Systeme zu scheitern pflegt, daß oft zu viel in
Planung investiert wird und zu wenig in „trial
and error“. Benoits Ansatz neigt zur Planifika-
tion. Ich bin überzeugt, daß es der Verfasser
des vorliegenden Buches angesichts seiner Ver-
trautheit mit der Materie geschafft hätte, sein
Material in einer Art und Weise zu sammeln
und aufzuarbeiten, um es so für entwicklungs-
politische Entscheidungen unmittelbar brauch-
bar zu machen.
Wirtschaftliche Entwicklung bestätigt immer
wieder die Wahrheit der alten Geschichte, daß
Kain (der Ackerbauer) Abel (den Hirten) „er-
schlägt“. Die Viehhaltung der Nomaden im
Norden von Ober-Volta geht vermutlich einem
Prozeß zunehmender Degenerierung entgegen
(fortschreitende Überweidung und Verarmung
der Hirten im Zuge weiterer Bevölkerungszu-
nahme). Der entwicklungspolitisch mögliche
Ausweg liegt im Aufbau einer ortsfesten Vieh-
haltung in der Tsetsesavanne, basierend auf
trypanotoleranten Rinderrassen und veterinä-
ren Fortschritten. Es ist schade, daß sich Be-
noit auf die Darstellung der Ist-Situation be-
schränkt, ohne mögliche Alternativen zu erör-
tern.
Hans Ruthenberg
Renate Wente-Lukas:
Die materielle Kultur der nicht-islamischen
Ethnien von Nordkamerun und Nordost-
nigeria. Studien zur Kulturkunde, 43. Bd.
Wiesbaden: Steiner. 1977. VIII + 313 S.,
375 Abb., 3 Karten.
Eine von der Autorin während einer mehr-
monatigen Studienreise angelegte Sammlung
bildet die Ausgangsbasis dieser Arbeit. Jedoch
wurden auch andere Sammlungen sowie Litera-
tur ausgewertet. Im Mittelpunkt der Darstel-
lung steht Material von Bevölkerungen des
Mandara-Gebietes in Nordkamerun (Zulgo,
Bana usw.) und seiner nordwestlichen Ausläu-
fer im Gwoza-Distrikt in Nigeria. Doch ist
auch die nicht-islamische Bevölkerung im We-
sten bis zu den Bura, im Süden bis hin zu den
Chamba einbezogen, soweit die Dokumenta-
tion in der Literatur und einigen Museen es
zuließ. Eine unerläßliche Ergänzung zum Text
bilden viele instruktive Zeichnungen von Gi-
sela Wittner und wenige Fotos.
Die Sachkultur wird ausführlich dargestellt,
beginnend mit Gehöft und Haus bis zu Musik-
164
Buchbesprechungen
instrumenten und Ritualgegenständen. Beson-
ders breiten Raum nehmen die Themen Haus-
haltsgeräte, Kleidung, Schmuck, Waffen und
Musikinstrumente ein. Gehöft und Haus wer-
den ziemlich kurz abgchandelt, da die Gegen-
stände der Sammlung im Mittelpunkt stehen.
Dementsprechend ist das Buch in erster Linie
den Objekten als solchen gewidmet — nicht
den damit ausgeführten Tätigkeiten. Auch kön-
nen nicht so ausführliche Informationen über
die Herstellung der Gegenstände geliefert wer-
den wie bei kleineren Sammlungen, die als
Nebenprodukt langfristiger Feldforschung ent-
standen sind. Es sei hier nebenbei angemerkt,
daß sich bei zwei Objekten Zweifel an der mit-
geteilten Funktion aufdrängen: Ein „Kopfpol-
ster“ aus Gelbguß kann wohl nur als Auflage
auf ein weiches Polster seinen Zweck erfüllen
(S. 33), und ein Bogenspanngerät kann nicht
die (andere) Hand vor der zurückschnellenden
Sehne schützen (S. 196). Sehr gut ist die Doku-
mentation über die Benennung der Gegenstän-
de in den jeweiligen Sprachen.
Die Arbeit zeigt einmal mehr den Wert
von Darstellungen des Sachbesitzes für kultur-
historische Fragen. So wird hier konkret vor
Augen geführt, wie kulturell eigenständig sich
die Gruppe von „Altnigritiern“, deren Ähn-
lichkeit in der ganzen Sudanzone bei oberfläch-
licher Betrachtung oft herausgestellt wird, ent-
wickelt hat. Zum Beispiel sind Gebrauchsgegen-
stände des Alltags, wie Körbe, Äxte und Feld-
baugeräte, völlig andersartig als im westlichen
Teil des sogenannten nigerianischen „Mittel-
gürtels“. Im Westen unbekannte Waffen, die
Wurfmesser, sind hier von Bedeutung. Auf-
fallend ist der verhältnismäßig starke Anteil
„jungsudanesischer“ Elemente, der sich in den
Formen der Schwerter und Dolche sowie der
allgemeinen Verbreitung der Sanduhrtrommcl
zeigt. Der Gelbguß ist dagegen nur in einem
Teil dieses Raumes als Technik bekannt, und
auch die Ornamentierung der Kalebassen wird
in der Vollkommenheit, wie Rubin sie für die
westlichen Ebenen dokumentiert, im Bergland
nicht geübt.
In ihrer Schlußbetrachtung stellt die Auto-
rin den Gegensatz zwischen dem im Mittel-
punkt ihrer Untersuchung stehenden Norden
und dem Süden des betrachteten Raums heraus.
Diesen Gegensatz belegt sie nicht nur aus der
materiellen Kultur, sondern verweist auch auf
andere Bereiche. Es sei hier nur die Initiation
genannt, die im Süden mit dem Symbolgehalt
der „klassischen“ zentral- und westafrikani-
schen Form gefüllt ist, während sie Im Norden
nur als festliche Markierung eines Lebensab-
schnittes gefeiert wird. Der kulturellen Ver-
schiedenartigkeit entspricht die sprachliche:
Tschadische Sprachen im Norden stehen denen
der Niger-Kongo-Familie im Süden gegenüber.
Dabei verlaufen Sprach- und Kulturgrenzen
durchaus nicht immer gleichartig, wie über-
haupt der nördliche und südliche Raum nicht
scharf gegeneinander abzugrenzen sind.
Die Arbeit ist ein wertvolles Nachschlage-
werk für jeden, der sich mit der Kulturge-
schichte des zentralen Sudan befaßt.
Barbara Frank
Madeleine Richard:
Traditions et Coutumes Matrimoniales chez
les Mada et les Mouyeng (Nord-Cameroun).
Collectanea Instituti Anthropos, Bd. 10. St.
Augustin: Anthropos-Institut. 1977. 380 S.,
10 Fotos, versch. Karten.
Nord-Kamerun ist seit einigen Jahren zu
einem „Rückzugsgebiet“ der Ethnologen ge-
worden, nachdem sich die Gegebenheiten für
Feldforschungen andernorts vielfach verschlech-
tert haben. Dort siedeln in den Bergmassiven
des Mandara-Gebirges die sog. Kirdi, eine pa-
läonigritische Bevölkerung, während islami-
sierte Gruppen, die die Kirdi verdrängten, in
den weiten Ebenen des Logone und Benoue
leben. Gerade die einzelnen KIrdi-Gruppen
sind Ziele einer Reihe von neueren, monogra-
phischen Untersuchungen, denen nun eine wei-
tere über die Mada und die Mouyeng hinzu-
gefügt wird. Hinter dem Titel des Buches, der
eine Studie über das Heiratsverhalten verheißt,
verbirgt sich nämlich auch eine umfangreiche
Monographie alten Stils.
Mada und Mouyeng, so Richard, gehören
zu den Gesellschaften mit geringer politischer
Zentralisierung und Spezialisierung. Während
die patrilinearen Mada einen homogenen Ver-
band bilden, inkorporierten die ebenfalls patri-
linearen Mouyeng eine Anzahl fremder Line-
ages. Beide Ethnien haben in den letzten Jahr-
zehnten in zunehmendem Maße mit einem Exo-
dus in die von den islamisierten Mandara be-
siedelten Ebenen begonnen. Diese Tendenz ist
bei den Mada, die als dynamisch und aufge-
schlossen gelten, stärker ausgeprägt als bei den
nüchternen und verschlossenen Mouyeng. Doch
während die Mouyeng, wenn sie ihr Massiv
verlassen, häufig in der Anonymität versinken,
bilden die Mada oft auch In der Ebene eine
Einheit, d. h. der Zusammenhalt der Ethnie
bleibt weiterhin gewährleistet. Die Expansion
in die Ebene hinein führt zu Akkulturations-
Buchbesprechungen
165
Vorgängen und Konflikten, wobei sich die Stra-
tegien beider Ethnien zur Bewältigung der
neuen Situation voneinander unterscheiden.
Die Autorin führte eine kurze Feldfor-
schung durch und sammelte Materialien über
die Mada und Mouyeng. Allerdings lassen sich
nur wenige Angaben zu ihrem Aufenthalt und
ihrer Arbeitsmethode finden. Richard hielt
sich kurz 1966 und von Januar bis Juli 1971
in Tokombere auf einer Missionsstation auf,
in deren Einzugsgebiet die Ethnien leben. Eige-
ne Beobachtungen, Interviews und Erhebungen
mittels Fragebögen, über deren Beschaffenheit
der Leser leider nichts erfährt, bilden die
Basis für die Untersuchungen. Unklar bleibt
auch, in welchem Maße Richard die Sprache
der Mada und Mouyeng beherrscht, zumal sie
häufig deren Aussagen direkt zitiert. Hierbei
sei noch eine Bemerkung zu der verwendeten
Literatur eingefügt: es ist befremdlich, daß
nur französische Arbeiten herangezogen wur-
den. Weder englisches Vergleichsmaterial über
die eng verwandten nigerianischen Gruppen
noch deutsches Material über Nord-Kamerun
findet sich In der Bibliographie — wohl wegen
sprachlicher Schwierigkeiten.
Das Buch gliedert sich in drei lose mitein-
ander verknüpfte Teile. In einem Anhang ist
zusätzlich noch die Lebensgeschichte der Mou-
yeng-Frau Ergli aufgeführt, dazu Erzählungen
und Legenden. Im ersten Teil werden der Le-
bensraum und die territoriale Gliederung bei-
der Gruppen erörtert. Es folgt ein kurzer Ab-
riß der historischen Entwicklung mit Hinweisen
auf die Wanderungen beider Ethnien, die Ein-
flußnahme der islamischen Mandara und die
koloniale Periode.
Nach häufig erprobtem Schema beginnt der
zweite Teil mit einer Darstellung der Wirt-
schaftsform — die Mada und Mouyeng sind
Hirsebauern. Eine ausführliche Schilderung der
Sozialorganisation schließt sich an. Mit gleicher
Akribie widmet sich die Autorin der Darstel-
lung der Siedlungseinheiten, von der Dachkon-
struktion bis hin zu den Formen des Konsums
und des Reichtums. Die religiösen Vorstellun-
gen stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapi-
tels. Wohl noch am meisten Bezug zum Teil
über die Heiratssitten hat das fünfte Kapitel
über den Lebenszyklus.
Obwohl die Autorin in der Einleitung an-
gibt, erster und zweiter Teil seien der Frage-
stellung gewidmet, inwieweit Mada und Mouy-
eng ihre „ethnische Persönlichkeit“ erhalten
können, auch wenn die sich wandelnde Umwelt
neue Verhaltensweisen erfordert und dadurch
ständige Spannungen auftreten, geht dieser
Ansatz in der Beschreibung verloren. Die Fülle
des Materials zum Teil irrelevanter Natur läßt
vermuten, daß versäumt wurde, Wesentliches
von Unwesentlichem zu trennen. Auch fallen
die häufigen Wiederholungen auf. Bei einem
strafferen Aufbau hätten sie vermieden wer-
den können. Zusammenfassend gesehen, wird in
beiden Teilen eine zu ausführliche Beschrei-
bung einer weiteren Variante der Kirdi-Kultur
gegeben.
Im dritten Teil greift Richard nach der
Darstellung der Heiratssitten ein interessantes
Problem auf: die wachsende Instabilität der
Ehen, die nicht nur durch eine gewisse Unste-
tigkeit der Frauen, sondern auch durch den
Wandel der Umwelt bedingt ist. Die Autorin
sieht die Rolle der Frauen in den Gesellschaf-
ten der Mada und Mouyeng weder als dem
Manne überlegen noch untergeordnet, sondern
als komplimentär. Auch sind die Frauen nicht
durch gesellschaftliche Normen beengt. Manche
der befragten Frauen hatten bis zu zehn ehe-
liche Verbindungen hinter sich, wobei nur sel-
ten Scheidung oder Vertreibung der Frau eine
Rolle spielte, dagegen aber häufig Frauen das
Gehöft ihres Mannes (es herrscht Patrilokalität)
freiwillig verließen. Die Gründe, warum sie
sich zu diesem Schritt entschlossen, sind viel-
fältig, seien es u. a. generelle Unzufriedenheit,
die Konversion des Mannes zum Islam oder
der Druck der Familie. Allenthalben zeigt sich
der Wille der Frauen, ihre Unabhängigkeit zu
bewahren, selbst unter Anwendung von Prak-
tiken, die nicht mehr mit den traditionellen
Modellen konform gehen.
Im Gegensatz zu den Mouyeng, die durch
ihre Heterogenität von der Auflösung tradi-
tioneller, sozialer und religiöser Strukturen
eher bedroht sind und daher eine größere In-
stabilität der Ehen aufweisen, sind die eheli-
chen Beziehungen bei den Mada, die die Ein-
heit der Lineages weitgehend erhalten konnten,
noch stabiler. Gravierende Eingriffe in die Fa-
milienstruktur sind die Folge dieser Entwick-
lung. In der Instabilität der Ehen ebenso wie
in der Expansion beider Ethnien in die Ebene,
der Einführung des Islams und des Christen-
tums, der neuen Geldwirtschaft und dem An-
bau von Baumwolle als „cash crop“ sieht
Richard die Wurzel gesellschaftlichen Wan-
dels. Offen bleibt, welchen Einfluß die wach-
sende Instabilität der Ehen in der Zukunft ha-
ben wird.
Leider scheint Richard der Weg zu einer
Auslotung der gesellschaftlichen Aspekte dieses
Phänomens weitgehend verschlossen. Zu deut-
lich schwingen ihre eigenen Wertvorstcllungen
166
Buchbesprechungen
mit, wenn sie die „Unmoral“ der Frauen an-
prangert, die ohne Rücksicht auf Kinder und
Mann nach Unabhängigkeit streben. So bleibt
die Behandlung dieser Problematik unbefrie-
digend. Der Leser fragt sich, welchem Zweck
ein derartig konzipiertes Buch überhaupt dienen
soll, abgesehen einmal von der „Inventarisie-
rung“ der Kultur zweier weiterer Kirdi-Grup-
pen.
Christraud Geary
J. A. R. Wembah-Rashid :
The Ethno-History of the Matrilineal Peop-
les of Southeast Tanzania. Acta Ethnologica
et Linguistica 32, Series Africana 9. Wien:
Institut für Völkerkunde. 1975. 159 S.
Dies ist nicht eine ethnohistorische Unter-
suchung in einer der landläufigen Anwendun-
gen des Terminus „Ethnohistorie“, wie der Ti-
tel vermuten läßt, und keine Studie zum Kul-
turwandel, wie es das Vorwort nahelegt, son-
dern eine ethnographische Beschreibung der
vorkolonialen Kultur einer Gruppe von Eth-
nien im südlichen Tanzania. Letzteres jeden-
falls ist der Inhalt der substantiellen Kapitel
(II: Social, Political and Economic Organiza-
tion; III: The Initiation Rites; IV: Traditional
Religion), während die ältere Geschichte im
einleitenden Kapitel (I: The Country and the
People) und der moderne Kulturwandel im
abschließenden Kapitel (V: The Impact of For-
eign Contact) kurz angesprochen werden.
Die Darstellung bezieht sich auf die matri-
linearen Ethnien zwischen Rufiji und Ruvuma,
jedoch mit einem deutlichen Schwergewicht auf
den Makua und Makonde. Der Autor ist offen-
sichtlich selbst ein Makua, und zwar ein Klan-
ältester; er verfügt also über Insider-Kennt-
nisse und hat im übrigen — soweit dies ver-
streuten Hinweisen zu entnehmen ist — beson-
ders andere Älteste und rituelle Spezialisten
als Informanten herangezogen. Er hält ethno-
graphische Erhebungen für praktisch relevant,
besonders hinsichtlich der Kenntnis der einma-
ligen Merkmale, d. h. der zentralen Werte der
betreffenden Gesellschaft, weil jede Politik, die
diese nicht berücksichtigt, bei der Einführung
von Neuerungen nicht zu den erwünschten Re-
sultaten führen kann.
Wembah-Rashid ist offensichtlich von Hau-
se her kein Ethnologe bzw. Social Anthro-
pologist, da — abgesehen von einigen Termini
(clan, lineage, cross-cousin) — in der Publika-
tion keinerlei Anzeichen für die Verwendung
gegenwärtig diskutierter theoretischer und
methodischer Gesichtspunkte vorliegen. Die
Arbeit ähnelt vielmehr außerordentlich den
ethnographischen Beschreibungen der frühen
feldforschenden Ethnologen und ethnographisch
interessierten und wohlinformierten Laien, ins-
besondere der Missionare. Das heißt, es wer-
den detaillierte Beschreibungen von Normen zu
den einzelnen Aspekten der Kultur geliefert,
wobei die Darstellungen von Zeremonien —
besonders der Initiationsriten — einen breiten
Raum einnehmen. Als einem Angehörigen der
behandelten Einheit gelingt es dem Autor auch
in besonderem Maße, den Sinn der Gebräuche,
soweit feststellbar, wiederzugeben. Abgesehen
von der Beschreibung der Initiationsriten sind
in dieser Hinsicht die Ausführungen über das
Maskenwesen, das im südöstlichen Tanzania
bekanntlich eine bedeutende Gestaltung erfah-
ren hat, hervorzuheben. Gerade unter diesem
Gesichtspunkt werden wichtige Beiträge zur
Ethnographie der Region geliefert. Dies ist um
so mehr hervorzuheben, als das hier behan-
delte Gebiet bisher von der ethnographischen
Forschung ausgesprochen stiefmütterlich behan-
delt wurde; die vorliegende Arbeit ist die erste
eigentliche Monographie überhaupt.
Anzumerken ist auch, daß ein Text von
B. H. M. Gwaja (als M. S. unter dem Titel
„History ya Wamakua“ in der National Mu-
seum of Tanzania Library hinterlegt), der hi-
storische Legenden der Klans der Makua von
Tanzania enthält, vollständig übersetzt als Ap-
pendix zum einleitenden Kapitel abgedruckt
wurde. Damit ist eine wichtige Materialgrund-
lage für historische Rekonstruktionen der Re-
gion — die in dem vorliegenden Buch nur an-
deutungsweise versucht wurden — zugänglich
gemacht worden.
Was man nicht in dem Buch findet, sind —
wie gesagt — Problemstellungen, Methoden-
diskussion; es fehlen aber auch Erläuterungen
von Methoden der Datensammlung. Es ist
infolgedessen der Veröffentlichung auch kaum
zu entnehmen, auf welchen Zeitpunkt sich
eigentlich die Darstellung genau bezieht, inwie-
weit von gegenwärtig vorhandenen Sitten auf
frühere Verhältnisse geschlossen wurde, oder
inwiefern die Auskünfte der Informanten über
frühere Verhältnisse kritisch untersucht wur-
den; die knappen Daten zum Kulturwandel
geben dazu nur sehr unzureichend Auskunft.
Auch über das Verhältnis von Normen und
tatsächlichem Verhalten finden sich kaum An-
haltspunkte. Dies alles sind die Nachteile einer
sozusagen „naiven“ Ethnographie, deren Vor-
teile — wie auch im vorliegenden Fall — meist
darin Hegen, daß sie über eine große Detail-
Buchbesprechungen
167
fülle verfügen. Die Publikation enthält u. a.
auch Angaben zu vielen Bereichen der Kultur,
die gegenwärtig nicht im Mittelpunkt theore-
tischer Überlegungen stehen und daher von den
Theoretikern vernachlässigt werden, zu denen
aber hier — bei einem neu entstehenden Inter-
esse — die wesentlichen oder gar ausschließ-
lich vorhandenen Anhaltspunkte bereits gege-
ben sind.
Im übrigen ist festzustellen, daß es die Re-
daktion an hinreichender Sorgfalt bei der Vor-
bereitung der Arbeit fehlen ließ; den einheimi-
schen afrikanischen Autoren, von denen es noch
viel zu wenige gibt, wird ein schlechter Dienst
erwiesen, wenn ihre Arbeiten überflüssig viele
Mängel aufweisen, die zu eliminieren einer
Redaktion sehr wohl zugemutet werden kann.
An vielen Stellen hätte der Text eine gewisse
sprachliche Überarbeitung vertragen können;
wem ostafrikanisches Englisch nicht aus eigener
Erfahrung geläufig ist, dürfte streckenweise
Verständnisschwierigkeiten haben. Auch wim-
melt es geradezu von Druckfehlern. Eine kleine
Vorrede mit Bemerkungen zur bisherigen Lite-
ratur über die matrilinearen Stämme des süd-
östlichen Tanzania — dazu fehlt jeder Hin-
weis in dem Buch — wäre hilfreich gewesen.
Jürgen Jensen
M. Damane/P. B. Sanders (ed. and transl.):
Lithoko — Sotho Praise-Poems. Oxford:
Clarendon Press. 1974. 289 S.
Dieses Buch enthält eine Sammlung von
(ins Englische) übersetzten Preisgedichten (li-
thoko) über achtzehn Häuptlinge der Süd-
Sotho aus dem Hause Moshoeshoe I.; leider
fehlt der Urtext. Die Einführung gibt Auf-
schluß über den historischen und sozio-kul-
turellen Hintergrund der Preisgedichte, erläu-
tert deren Bedeutung im Leben der Süd-Sotho
und analysiert den Aufbau dieser für alle Süd-
ost-Bantu charakteristischen Dichtungen. Den
Preisgedichten über die verschiedenen Häupt-
linge ist jeweils ein Abriß des Lebensweges des
betreffenden Häuptlings vorangestellt. Wäh-
rend des 19. Jh. wurden die Preisgedichte fast
ausschließlich nach einer Schlacht oder nach
einem Feldzug verfaßt; heute bilden Streitig-
keiten um die Häuptlingsnachfolge die Haupt-
themen.
Lestrade wies 1937 in seinem Überblick
über die orale Literatur der Südost-Bantu
darauf hin, welche Auslegungsschwierigkeiten
ihre Prcisliedertextc auch dem einheimischen
Zuhörer und sogar — wenn es sich um alte
überlieferte Dichtungen handelt — dem Preis-
sänger selbst bereiten. Die Veröffentlichung
solcher Gedichte kann daher nur sinnvoll sein,
wenn sie kommentiert werden — eine Aufgabe,
die im vorliegenden Band vorbildlich gelöst
worden ist. Lestrade bezeichnete nicht nur die
Anspielungen, sondern auch die häufig archa-
ische Sprache früher Preisgedichte als schwer
verständlich. Damane und Sanders haben für
zweifelhafte Textstellen behutsame Alternativ-
vorschläge gemacht. Lestrade bemerkte auch,
daß in den 20er und 30er Jahren unseres
Jahrhunderts neue Preisgedichte häufiger vor-
kamen als Erzählungen im traditionellen Stil
oder Sprichwörter; das wird durch neuere Un-
tersuchungen wie die von Opland über Xhosa-
Preislieder bestätigt. Der vorliegende Band ent-
hält ein Preisgedicht auf Moshoeshoe II., un-
ter dem Lesotho 1966 seine Unabhängigkeit
wiedererlangte. Allerdings gehören Preislied-
sänger der Gegenwart nicht zu den heute füh-
renden, im europäischen Sinn gebildeten Schich-
ten, sondern zu den an der überlieferten Stam-
meskultur orientierten, konservativen Gruppen.
Nationalistisch gesonnene Süd-Sotho-Führer
beginnen indessen heute, sich wieder für die
alten Preislieder als Zeugnisse des Widerstan-
des gegen Briten und Buren zu interessieren.
Lestrade stellte ebenfalls fest, daß die
Preisgedichte der Südost-Bantu als Genre zwi-
schen epischen Dichtungen und Oden anzu-
siedeln sind; solche, die ein Ereignis zusam-
menhängend wiedergeben, sind selten. In die-
ser Sammlung gibt es für letzere nur ein ein-
ziges Beispiel, das für Letsie II. gedichtete
Preislied, das seinen Kampf gegen den auf-
ständischen Häuptling Masopha schildert. Die
anderen reichen von Gedichten, die über weite
Strecken verhältnismäßig folgerichtig struktu-
riert sind, aber dennoch insgesamt keinen Zu-
sammenhang aufweisen, bis zu reinen melanges,
in denen kein ersichtlicher Zusammenhang zu
erkennen ist, der über mehr als einige Strophen
hinausreicht. Die Strophen oder Stanzen sind
die Bausteine der Preisgedichtc; viele bestehen
aus Strophen, die nicht oder nur locker mitein-
ander verbunden sind. Jede Strophe wie auch
jede einzelne Gedichtzeile bildet indessen eine
Bedeutungs- oder Sinneinheit. Die Strophe be-
sitzt keine einheitliche, vorgeschriebene Form;
sie besteht gewöhnlich aus vier bis sechs Ge-
dichtzeilen, kann aber viel länger sein oder auch
nur zwei Zeilen umfassen. Etwa ein Fünftel
der Stanzen sind „strukturierte Verse“, die aus
einer einführenden Aussage, einer anschließen-
den Erläuterung und einem auflösenden Schluß
bestehen. Die Übersetzer haben versucht, die-
sen Tatsachen Rechnung zu tragen und den
168
Buchbesprechungen
besonderen Rhythmus der Gedichte wiederzu-
geben.
Eine wichtige Funktion der Preislieder war,
Bedeutung und Persönlichkeit eines Häuptlings
oder Kriegers den Gefolgsleuten und Nachbar-
stämmen bekannt zu machen. Preislieder liefer-
ten den Stammesmitgliedern eine Art histori-
sches Selbstverständnis, wodurch das Zusam-
mengehörigkeitsgefühl gestärkt wurde; somit
liegt ihre politische Bedeutung auf der Hand.
An manchen Stellen scheinen in den Preisge-
dichten Gebietsansprüche des jeweiligen Häupt-
lings untermauert worden zu sein. Jedenfalls
erhoben Preisliedsänger stellvertretend An-
sprüche auf die Häuptlingsnachfolge, insbe-
sondere dann, wenn ein bestimmter Häupt-
lingssohn sich nach Stammesrecht benachteiligt
wähnte. Eine wichtige, oft übersehene Funk-
tion der Preisdichte war die Ermahnung an
Stammesangehörige, sich den im Stamm allge-
mein anerkannten Verhaltensweisen zu fügen.
Die Bedeutung von Preisliedern als histo-
rische Quellen in Afrika südlich der Sahara
wird heute allgemein anerkannt. Im Gegen-
satz zu Damane und Sanders betrachtet Bo-
lanle Awe die Yoruba-Preisgedichte als wert-
volles Quellenmaterial, das über Sachverhalte
vorwiegend sozialgeschichtlicher Art, über die
in anderen Quellen nur wenig zu finden ist,
Auskunft gibt. Leonard Thompson beruft sich
In seiner Biographie Moshoeshoes I. unmittel-
bar auf entsprechende Gedichtstellen.
Es mag sein, daß Preisgedichte als Doku-
mente, denen man geschichtliche Vorgänge ent-
nehmen kann, wenig taugen. Sie liefern aber
wichtige sozial- und wirtschaftsgeschichtliche
Informationen und enthalten Angaben über die
Wertvorstellungen der Süd-Sotho im 19. Jh.,
also über Sachverhalte, die in anderen, meist
von Europäern aufgezeichneten Quellen nicht
erwähnt werden. Darüber hinaus schildern sie
bekannte Ergebnisse aus dem Blickwinkel der
Schwarzafrikaner. So kann man Ihnen ent-
nehmen, daß Buren den Süd-Sotho Feuerwaf-
fen für ihren Kampf gegen die Briten ver-
kauften, daß aber auch schwarzafrikanische
Verbündete der Buren gegen die Krieger
Moshoeshoes I. kämpften. Allerdings waren
Sotho, die sich der europäischen Herrschaft füg-
ten, für Preisliedsänger Ochsen, die die Narben
der Peitsche aufwiesen, oder Untertanen In der
Gewalt der Nilpferdpeitsche! Der erbitterte
Kampf der San, Süd-Sotho und Buren um den
Siedlungsraum zwischen Caledon-Fluß und
Maluti-Bergen findet in den Preisgedichten sei-
nen Niederschlag: Sotho-Krieger entführten
San-Frauen und -Kinder; Buren zerstörten ge-
mäß ihrer Politik der verbrannten Erde die
Felder der Sotho.
Johannes W. Raum
ISLAMISCHER ORIENT
Dieter Ehmann:
Bahtiyaren — Persische Bergnomaden im
Wandel der Zeit. Beihefte zum Tübinger
Atlas des Vorderen Orients. Reihe B (Gei-
steswissenschaflen) Nr. 15. Wiesbaden: Dr.
Ludwig Reichert. 1975. 189 S., 34 Abb.,
16 Fotos auf 8 Taf., z. T. farbig, 4 Falt-
karten i. Tasche.
Diese Nomadenstudie aus dem Mittleren
Osten ist im Zusammenhang mit dem Atlas-
projekt des Vorderen Orients im Tübinger
Sonderforschungsbereich 19 entstanden. Ange-
regt und betreut wurde die Arbeit von den
Geographen H. Blume, E. Ehlers und G.
Schweizer, womit schon angedeutet ist, daß
hier die geographische Orientforschung konse-
quent weiterbetrieben wird.
Der Verfasser setzte sidi zum Ziel, den zum
Teil noch nomadisierenden, im Zagros-Gebirge
lebenden Stamm der Bahtiyaren geographisch-
chronologisch zu erfassen und damit seine Le-
bensform aus dem natürlichen und geschicht-
lichen Raum heraus zu erklären, aber auch die
Auswirkungen der Gruppe auf das Raumge-
füge darzustellen, wie es in der heutigen sozial-
geographischen Forschung üblich ist. Daneben
wird keineswegs der historische Vergleich ver-
nachlässigt, so daß die Wandlungen innerhalb
der Gruppe schrittweise sichtbar werden. Aller-
dings werden diese Ziele in der Arbeit nicht
ganz gleichgewichtig verwirklicht, weil die
Feldforschungen in ihrem Zeitaufwand gegen-
über dem Quellen- und Literaturstudium etwas
zurücktreten mußten. Immerhin konnten mit
dem Geländeaufenthalt im Jahre 1972 die
jüngsten Entwicklungstendenzen erfaßt wer-
den, so daß am Schluß der Arbeit auch der
Anwendungsaspekt zum Tragen kommt.
Ehmann leitet seine Studie mit allgemeinen
Erörterungen zur Bedeutung des Nomaden-
tums, zum Forschungsstand und zum Ziel sei-
Buchbesprechungen
169
ner Arbeit ein, wobei das Definitionsproblem
einen breiten Raum einnimmt. Wichtig ist fest-
zuhalten, daß für den Verfasser Nomadentum
nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Lebens-
form bedeutet, was ihm den Weg zu einer um-
fassenden Betrachtung eröffnet. Fließende
Übergänge zwischen den Extremen des No-
madentums und der Seßhaftigkeit ergeben sich
für Ehmann darüber hinaus beim Wechsel von
der einen zur anderen Existenzform. Man
wird sich in der Nomadenforschung damit
abfinden müssen, daß Gliederungsschemata
und Trennungsstriche kaum noch weiterführen.
Gerade dadurch wird der Begriff der „Mobili-
tät“ wieder anwendbar, der im traditionellen
Nomadentum für die regelmäßig wiederkeh-
renden Wanderungen im begrenzten Raum eher
fehl am Platze zu sein scheint.
Nach dem Raum und seiner physischen
Ausstattung behandelt der Verfasser die Ge-
schichte des Bahtiyaren-Stammes recht ausführ-
lich, dessen Wurzeln in diesem Gebiet wohl in
einer seßhaften Existenz mit gemischter Wirt-
schaft zu suchen sind. Dieser Abschnitt spitzt
sich auf die Frage zu, seit wann es das noma-
dische Leben bei dieser Gebirgsbevölkerung
gibt. Soweit geschichtlich zu belegen, hat man
es bei den Bahtiyaren auch mit einer kom-
plexen Ethnogenese zu tun, bei der die Mongo-
lenstürme des 13. Jh. ebenso eine Rolle spielten
wie die Arabereinwanderung des 17. Jh. Als
politische Kraft mit Stammesorganisation sind
die Bahtiyaren erst seit dem 19. Jh. zu erfas-
sen.
Weiter beschäftigt sich Ehmann mit den
Lebensverhältnissen der Nomadenfamilien,
ihrem wirtschaftlichen Jahresablauf und mit
Ihrem Erwerb, bei dem das vollständige Feh-
len der Handelsfunktion sicher eine Besonder-
heit darstellt. Das heißt aber nicht, daß die
Bahtiyaren subsistent leben; sie sind in ihrer
Erzeugung durchaus auf einen Markt und
historische Handelswege im Raum orientiert.
Abschließend behandelt der Verfasser
Strukturwandlungen und die Integration der
nomadisierenden Bahtiyaren. Modellhaft wird
die Vielzahl der möglichen Veränderungen an-
gesprochen, ohne daß auch nur schätzungsweise
die Anzahl der bisher seßhaft gewordenen
Familien angegeben wird. Gerade auch im Zu-
sammenhang mit der bekannten Zwangsansied-
lung unter Schah Reza wünschte man sich,
mehr über Erfolge und Mißerfolge sowie über
die Neigung zur Seßhaftigkeit und die An-
sicdlungswilligkeit der behandelten Bevölke-
rungsgruppe zu erfahren. Anerkennungswert
ist, daß die gravierende Veränderungen zumin-
dest andiskutiert werden.
Insgesamt bringt diese Studie über eine
nicht eben kleine Nomadengruppe in Persien
die Forschung in vielen Einzelheiten weiter.
Im ganzen gelingt es dabei, den roten Faden
der Entwicklung sichtbar zu machen. Schließ-
lich sei noch die gute Raumprojektion des
Problems mit Hilfe einer sauberen Kartogra-
phie lobend erwähnt.
Christoph Jentsch
Gerhard Doerfer:
Türkische und mongolische Elemente im
Neupersischen unter besonderer Berücksich-
tigung älterer neupersischer Geschichtsquel-
len, vor allem der Mongolen- und Timuri-
den-Zeit. Band IV: Türkische Elemente im
Neupersischen (Schluß) und Register zur
Gesamtarbeit. Wiesbaden: Steiner. 1975.
640 S.
Die Bände I—III dieses großen Werks sind
in „Tribus“ 17 (1968): 187—189 besprochen
worden. Der abschließende Band IV bringt
wieder eine Fülle von kulturgeschichtlichem
Material, auf das hier mit einigen wenigen
herausgegriffenen Beispielen aufmerksam ge-
macht werden soll.
Auf S. 71—82 (s. v. yäsäq) wird Bedeutung
und Herkunft der Bezeichnung des angeblich
von Tschingis Chan kodifizierten mongolischen
Gewohnheitsrechts diskutiert; den Postdienst im
Mongolenreich finden wir auf S. 110—118 (s. v.
yäm) besprochen, und auf S. 82—92 (s. v. yä-
säl) werden Details der mongolischen Schlacht-
ordnung mit Planskizzen der Aufstellung der
einzelnen Heeresgruppen behandelt. Unter dem
Stichwort yilvil = „Jahr“ (S. 243—231) sind
nicht nur die Bezeichnungen der Jahre des
Zwölftierzyklus aus einer Reihe von türki-
schen und mongolischen Sprachen aufgeführt,
sondern es ist auch die Literatur darüber und
über den umstrittenen Ursprung des Zyklus
zusammengestellt.
Eine „Bibliographie zur türkischen und al-
taischen Musik“ finden wir auf S. 233—242
(s. v. ylräu = „Sänger“). Während für den
Benützer des Werks im allgemeinen türkische
Sprachkenntnisse vorausgesetzt werden dürfen,
kann dies für einen solchen bibliographischen
Exkurs nicht gelten, und für die an Musik
interessierten Benützer hätten in diesem Ab-
schnitt die Titel übersetzt werden sollen. Es
findet sich auch kein Hinweis darauf, daß es
sich nur um eine vorläufige Bibliographie
handelt. Viele russische und sowjetische Ver-
170
Buchbesprechungen
öffentlichungen zu diesem Thema sind schwer
erreichbar. Zur aserbeidschanischen Musik feh-
len (u. a.):
P. Vostrikov: Muzyka i pësnja u azerbaj-
dzanskich tatar (= Musik und Lied bei den
aserbeidschanischen Tataren). In: Sbornik mat.
. . . Kavkaza 42. Tiflis 1912, 98 S.
Uzeir Gadzibekov: Osnovy aserbajdzans-
koj muzyki (= Grundzüge der aserb. Musik).
Baku 1945, 115 S.
M. Mamedov: Azerbajdzanskij mugam
„cargjach“ (= Die aserb. Tonart car£ah; asb.
und russ.). Moskau 1970.
Zur Musik der sibirischen Türken wäre
z. B. aufzunehmen A. N. Aksenev: Tuvin-
skaja narodnaja muzyka ( = Die tuwaische
Volksmusik). Moskau 1964, 235 S. + 123 S.
Noten. Aufsätze zur Musik in der Türkei fin-
den wir zerstreut in vielen Publikationen (z. B.
Bulletin of the Technical University of Istan-
bul, Zeitschriften „Varlik“ und „Türklük“); es
wird zeitraubend sein, nachzuprüfen, ob diese
in der Bibliographie von Arseven (Ist. 1969)
vollständig aufgeführt sind. Jedenfalls aber
muß jeder, der sich für türkische Musik inter-
essiert, für diese Bibliographie dankbar sein,
und man wird bedauern, daß in der vorliegen-
den Publikation nicht eine ähnliche vorläufige
Bibliographie über die türkischen und mongo-
lischen Musikinstrumente etwa bei dem Wort
*qopuz (I 443—445, Nr. 314 und III 535—
537, Nr. 1546) eingefügt worden ist. — Statt
der Zahl von 36 Tonarten der Chinesen für
die dreisaitige Laute (IV 290, 291, Nr. 2053
und IV 303, Nr. 2102) muß 360 gelesen wer-
den, falls das persische sîsad u säst stimmt.
Bei türkisch aqca (eine Münzeinheit; S. 412
zu Nr. 506 [so statt 505], vgl. I 85—86, Nr.
506) findet sich kein Hinweis darauf, daß es
offensichtlich eine Lehnübersetzung aus Spät-
byzantinisch (seit dem 12. Jh.) xöitqov ( =
„weiß; Asper = Weißmünze“) ist. — Bei dem
„Einhorn“ (S. 393 zu Nr. 291) könnte hinge-
wiesen werden auf Richard Ettinghausen:
Studies in Muslim iconography. I. The unicorn.
Washington 1950, 12 + 209 S. und W. Tho-
mas: Zu den tocharischen Ekasrfiga-Fragmen-
ten. Central Asiatic Journal 16, 1972, S. 226—
231. — Der Ausdruck Levirat wird (S. 205—
206, Nr. 1906) in einer sehr ausgeweiteten Be-
deutung verwendet, die man m. E. nicht gut-
heißen kann: Außer der Eheschließung mit der
Frau des verstorbenen (älteren) Bruders soll
es auch der Usus sein, „daß ein Sohn nach dem
Tode des Vaters seine Stiefmütter (also sämt-
liche Gattinnen seines Vaters außer seiner eige-
nen Mutter) zur Frau nimmt“, und auf S. 206
—207, N. 1907 findet man für yängä die Be-
deutungen „Stiefmutter: Gattin des älteren Bru-
ders bzw. des Vaters, die man heiratet; Braut-
führerin“ angegeben, obwohl keiner der ange-
führten Belege des Wortes in Türksprachen
oder im Persischen die Bedeutung „Gattin des
Vaters, die man heiratet“ (so S. 206) oder
(S. 205) „Stiefmutter (in der polygamen Ehe)“
anführt oder nahelegt. Y'dngä ist die Frau
des jüngeren Bruders des Vaters oder des älte-
ren Bruders des Ego. Durch die ungenaue
Übersetzung solcher Termini wird dem unkun-
digen Leser das Bild der Familienordnung
verwischt.
Die Seiten 318—495 enthalten „Nachträge
und Berichtigungen“; im Registerteil ist für die
völkerkundlich Interessierten vor allem das
Sachregister (S. 496—519) wichtig.
Wie aus dieser Aufzählung erneut hervor-
geht, ist dieser Band und das Gesamtwerk nicht
nur für philologische Arbeiten, sondern für
alle kulturgeschichtlichen Forschungen über In-
nerasien ein ganz unentbehrliches und reich-
haltiges Hilfsmittel, für das man dem Verfas-
ser Dank schuldet.
Johannes Benzing
Erwin Grötzbach (Hrsg.):
Aktuelle Probleme der Regionalentwick-
lung und Stadtgeographie Afghanistans.
Afghanische Studien, hrsg. v. L. Fischer f,
K. Jettmar, R. König, W. Kraus u. C.
Rathjens, Bd. 14. Meisenheim a. G.: Hain.
1976. 247 S., zahlr. Karten, Zeichn. u. Tab.
Die Publikation enthält zwölf Aufsätze in
Englisch, Französisch und Deutsch mit Zu-
sammenfassungen in drei Sprachen, verteilt auf
zwei Hauptthemen: Regionalentwicklung und
Stadtgeographie.
Der erste Teil behandelt Entwicklungsstu-
dien (Anam, Azghari, Lalande), geographi-
sche-methodische Aspekte des Demographie
Survey (Eighmy), Regionalisierungsprobleme
(Arens), landwirtschaftliche Entwicklung
(Grötzbach) und das Paktia-Projekt (Lind-
auer). Der zweite Teil konzentriert sich auf
stadt-geographische Fragestellungen betreffend
Bazartypen (Centlivres), Beschreibung von
zwei Bazaren in Badghis (de Planhol), Stadt-
entwicklung und Gewerbe (Wiebe), periodische
Märkte (Allan), sozialen Wandel (Sawez),
Turkemigration (Balland) sowie Verstädte-
rung und Städtebau (Grötzbach).
Ziel der Arbeit ist es — gesehen von allge-
meinen wissenschaftlichen Ausgangspunkten —,
Buchbesprechungen
171
eine mehr regional orientierte Analyse von
afghanischen Entwicklungsproblemen zu zeigen
und zu fördern. Meiner Meinung nach haben
Grötzbach und seine Mitverfasser diese Ziel-
setzung erreicht, indem sie einsichtsvoll empi-
risches Material mit theoretisierenden Frage-
stellungen verwoben.
Insgesamt vermittelt diese Veröffentlichung
viele stimulierende Aspekte, die nicht nur Af-
ghanistan gelten, sondern auch auf die Ent-
wicklungsproblematik der Dritten Welt im
großen und ganzen überführt werden können.
Jedoch verhindert vielleicht der Preis des Bu-
ches die Verbreitung. DM 115,— liegen wahr-
scheinlich an der obersten Grenze für eine un-
eingebundene, manuskriptgedruckte Publika-
tion.
Carl-Johan Charpentier
ZENTRAL- UND NORDASIEN
Ivan R. Kortt:
Untersuchungen zur Erzähltradition der
Enec (Jenissej-Samojeden). Veröffentlichun-
gen des F innisch-U grischen Seminars an der
Universität München, hrsg. v. G. Ganschow.
Serie C, Bd. 6. München. 1977. 319 S.
Die vorliegende, im Wintersemester 1976/77
von der Ludwig-Maximilians-Universität in
München als Dissertation angenommene Ar-
beit basiert auf den bekannten „Mifologiceskie
skazki i istoriceskie predanija encev“, die Dol-
gich 1961 veröffentlicht hat. Ein Anhang (S.
236—304) gibt sinnvollerweise 45 der von
Dolgich gesammelten Erzählungen in Über-
setzung oder Inhaltsangabe wieder, so daß der
Leser nicht nur die Arbeit des Autors verfolgen
kann, sondern darüber hinaus einen Extrakt
der DoLGiGHschen Sammlung in deutscher
Sprache vorfindet. Überzeugend wird die Aus-
wahl des Materials, die Beschränkung auf Sip-
pen- und Heldenerzählungen begründet sowie
die Analyse von Götter- und Anthropogonie-
geschichten für die nahe Zukunft angekündigt
(S. 2). Zunächst jedoch wird viel Zeit darauf
verwendet, das Material Dolgichs zu gliedern
und neu zu klassifizieren. Statt der naiven,
aber — wenn man von einigen Fehlern absieht
— doch treffenden Unterteilung Dolgichs fin-
den wir hier den Versuch einer „materialimma-
nenten“ Untergliederung nach formalen, „phä-
nomenologischen“ Kriterien.
„Heldenlose“ Erzählungen: „Helden“-Er-
zählungen werden unterteilt in „Erzählungen
der Gruppe A, B, C“. Die Gliederung wird
versucht nach „Gesichtspunkten . . ., die sich
aus der Analyse des enecischen Materials selbst
ergeben (S. 45). Zuvor jedoch, gewissermaßen
als Einstieg, werden wir ausführlich über Ety-
mologie, Demographie und soziale Struktur
sowie die exogamen Einheiten der Enec infor-
miert. Die immer wieder in reichlicher Fülle
eingestreuten ethnographischen Anmerkungen
lockern diesen ersten Hauptteil der Arbeit auf,
wie die Einleitung: „Die Enec“. Dagegen ist in
Teil 2: „Die Erzähltradition“ und vor allen
Dingen in Teil 3; „Analyse ausgewählter The-
men und Motive“ die fast enzyklopädische
Fülle von Hinweisen und Bemerkungen lästig,
sie erschwert nämlich den Zugang zum eigent-
lichen Anliegen und Vorhaben des Verfassers.
Dazu kommt, daß bestimmte Probleme, wie
etwa der Schamanismus, auf den immer wie-
der rekurriert wird, trotz extrem häufiger Nen-
nung nicht eigentlich an-, geschweige denn aus-
diskutiert werden. Ja, besonders der Schama-
nismus, den man im Material wie in der Ana-
lyse wiederfindet, hätte eine gründlichere Be-
handlung gebraucht. Einige Interpretations-
versuche gipfeln geradezu im Schamanismus,
und der Autor, der sogar Schamanen verschie-
dener Kategorien nennt (etwa auf S. 169/170)
bescheidet sich in seiner Schamanendiskussion
mit dem Hinweis auf zwei freilich gewichtige
und solide Gewährsleute: Prokofeva und Haj-
dü.
Das reichhaltige Literaturverzeichnis läßt
erkennen, daß Kortt erfreulicherweise viele,
insbesondere russische Arbeiten verwenden
konnte. Es fehlt auch nicht an Werken über
Schamanismus. Doch hätte die Hinzureichung
älterer (z. B, Eliade) oder auch jüngere Lite-
ratur (z. B. Hermanns, Lommel oder Motzki:
„Der Schamanismus als Problem religionswis-
senschaftlicher Forschung“, Köln — Leiden
1977) neben Vajda 1964 manche Unklarheiten
ausräumen können. Hier liegt auch der Ansatz
zur Kritik, die an vorliegender Arbeit zu üben
ist: Material, das sich dermaßen im Dunstkreis
des Schamanismus bewegt, kann nicht ohne
gründliche Diskussion dieses Phänomens bear-
beitet werden, wie Immer Vorhaben und The-
ma der Arbeit lauten mögen. Daraus erklären
sich denn auch die unerläßlichen Hinweise eben
auf den Schamanismus, der als gewissermaßen
172
Buchbesprechungen
ungelöstes Problem immer wieder stört. Ande-
rerseits könnte argumentiert werden, daß hier
die Chance des Buches liegt: daß die hier vor-
gelegte Untersuchung, die eine neue Klassifi-
zierung und eine Interpretation DoLGiCHschen
Materials darstellt und ihrem Thema „Unter-
suchungen zur Erzähltradition der Enec“ so-
mit voll Genüge tut, hoffentlich von vielen
Ethnologen und Religionshistorikern verwertet
werden wird, nicht nur hinsichtlich der Scha-
manismusfrage, sondern mythischer Kultur-
theorie (S. 176), der Kulturherosfrage (S. 172),
Initiation (S. 172) und vieler anderer ethno-
logischer und anthropologischer Fragen, die
Völker und Kulturen des Zirkumpolargebietes
betreffend. So kann der Religionshistoriker
auch auf den angekündigten Band weiterer
Untersuchungen auf der Basis anderer Erzähl-
motive oder Gattungen gespannt sein und die
Lektüre als ergiebig und anregend empfehlen
— und das keineswegs, wie man aufgrund des
eingeschränkten Titels meinen könnte, nur für
den Philologen eines Zweiges der ural-altai-
schen Sprachen!
Was haben wir — zusammenfassend —
also vor uns? Der Kenner der Materie steht
zunächst wieder einmal im Banne Dolgichs,
kann sich der materialimmanenten Klassifizie-
rung des DoLGiCHschen Stoffes und den meisten
der aufgrund der neuen Rubrifizierung mög-
lichen Implikationen und Interpretationen zu
Fragen der zirkumpolaren Kulturen nicht ver-
schließen. Es bleibt freilich offen, ob in der vor-
liegenden Publikation manche Uminterpreta-
tion, mancher Beleg oder Beweis nicht — bei
aller gebotenen wissenschaftlichen Zurückhal-
tung — deutlicher und in kräftigeren Farben
dargestellt werden konnte, so wie das z. B. bei
der Darstellung der wechselseitigen Beeinflus-
sung von Erzähltradition und Erzählung auf
der einen sowie materieller Kultur auf der
anderen Seite geschehen ist.
Sehr hilfreich für Nicht-Philologen dieser
Sparte ist das Glossar. Anmerkungen und Lite-
raturliste sind funktional und erleichtern die
Lektüre ebenso wie der schon erwähnte An-
hang mit dem Material. Eine abschließende
Zusammenfassung der teilweise sehr subtilen
Darlegungen und Folgerungen wäre dem Buch
von großem Nutzen gewesen, vorab für die-
jenigen, die etwa materialiter damit arbeiten
wollen und die, In der jetzigen Form des Bu-
ches, auch ein Register vermissen werden.
Jörn Kroll-Mermberg
SÜD- UND SÜDOSTASIEN
Frederic Drew:
The Jummoo and Kashmir Territories —
A Geographical Account. Nachdruck der
Ausgabe von 1875; mit einem Vorwort von
C.-J. Charpentier. Graz: Akademische
Druck- u. Verlagsanstalt. 1976. 568 S., meh-
rere Abb. u. Kartenanh.
Der Neudruck von Frederic Drews „Jum-
moo and Kashmir“ In der Reihe der „Quellen
zur Entdeckungsgeschichte und Geographie
Asiens“ erschließt einen für jeden Interessenten
am westlichen Himalaya hochwillkommenen
Zugang zu einem „klassischen“ Werk aus der
Zeit der frühen wissenschaftlichen Erforschung
dieses Hochgebirgsraumes. Drew trat 1862 als
Geologe in den Dienst des Maharaja von Kash-
mir und lebte dort rund zehn Jahre. Führte
ihn zunächst schon sein Auftrag zur „geologi-
cal Investigation, more exactly, to looking for
minerals“ in fast alle Teile des Landes, wuchs
seine intime Kenntnis auch entlegener Gebiete
noch mehr, als der Maharaja den bewährten
englischen Forscher und Berater auch zum Lei-
ter seines Forstdienstes und schließlich zum
Gouverneur von Ladakh ernannt hatte. Gelöst
von der chronologischen Abfolge, vielmehr
regional oder nach besonderen Themen geord-
net, gibt Drew in seinen Schilderungen ein
erstaunlich umfassendes, bis in viele Details
exaktes Bild des vielfältigen Staatsgebietes von
Jammu und Kaschmir, das von den Rändern
der indischen Stromebenen im Panjab bis La-
dakh und in den Karakorum reichte. Seine
Beobachtungen erstreckten sich von den geolo-
gischen und physisch-geographischen Gegeben-
heiten über die ethnischen, sprachlichen und
religiösen Verhältnisse, die Geschichte und die
Bevölkerungsentwicklung bis zur Landwirt-
schaft und den ländlichen und städtischen Sied-
lungen. Er bietet praktisch einen landeskundlich
sehr breit gespannten Stoff, der f reilich überwie-
gend deskriptiv und aufzählend und ohne ein
bestimmtes wissenschaftliches Darstellungskon-
zept nach und nach ausgebreitet wird, meist
aber gut lesbar und außerordentlich informa-
tiv bleibt.
Buchbesprechungen
173
Hinzugefügt wurde ein ausführliches Vor-
wort von C.-J. Charpentier (Uppsala) über
das Kaschmir von heute, das vor allem auch
die Geschichte des Kaschmir-Konfliktes und
die heutige politische Teilung des Landes aus-
führlich behandelt. (Die Aussage, daß China
heute 70°/o von Ladakh besetzt halte, beruht
sicher auf einem Irrtum. Sie trifft auf das rand-
liche Gebiete von Aksai Chin und einige andere
Grenzgebiete, auch gegen Pakistan zu, ist aber
sicher in diesem Umfang nicht richtig.)
Der zweite Teil der Einführung bringt bio-
graphische Angaben über Frederic Drew und
einige Erläuterungen zu seinem Werk.
Besonders reizvoll sind Drews Schilderun-
gen der Routen durch die einzelnen Regionen
natürlich für den, der selbst dort im Zusam-
menhang mit wissenschaftlichen Fragestellungen
gereist ist und der so zutreffende Beschreibun-
gen vorfindet, daß er in Gedanken diesen We-
gen aufs neue folgt. Beeindruckend ist es, wie
viel an weitgehend zutreffenden wissenschaft-
lichen Beobachtungen, über jene ganze Breite
der Kenntnisse von der Geologie bis zu den
ethnischen und wirtschaftlichen Faktoren, schon
damals von Drew erreicht wurde. Selbstver-
ständlich ist andererseits in manchen Einzel-
heiten — z. B. der völkerkundlichen, sprach-
wissenschaftlichen, glaziologischen oder agrar-
geographischen Forschung — der heutige
Kenntnisstand weiter fortgeschritten und man-
ches Detail zu korrigieren oder zu ergänzen.
Im ganzen ist es aber erstaunlich, wie viele
noch heute gültige Beobachtungen Drew mit-
teilt. Das bezieht sich besonders auch auf die
historisch-territoriale Entwicklung des 19. Jahr-
hunderts, in der Drew ja noch Augenzeuge der
allmählichen Konsolidierung des von den Bri-
ten als innenpolitisch selbständiges Fürstentum
belassenen Paßstaates von „Jummoo and Kash-
mir“ war, nur zwei Jahrzehnte nach dessen
Eroberung durch Ladakh und der Errichtung
der Oberherrschaft über die Karakorum-Fur-
stentümer sowie der allmählichen Entmachtung
der kleineren Rajas im Vorderen Himalaya.
Die orographischen Schilderungen werden
durch die Beigabe von maßstabsgerechten, iso-
metrischen Ansichten bzw. Profilen unterstützt.
Eindrucksvoll (und durch ihre Genauigkeit be-
stechend) sind die mehrfarbigen Karten
(1:2 027 520 = 32 miles to 1 inch) über die
Dauer der Schneedecke (eingeteilt in Areale
mit mehr als 3, unter 3 Monaten Schneedecke,
solchen ohne Schneedecke und die Gletscherge-
biete), die Karten der politischen Gliederung
des alten Staates „Jummoo and Kashmir“ so-
wie Karten der Religionen, der Rassengruppen
und der Sprachen. Die abschließenden Kapitel
des Buches bringen jeweils zusammenfassende
wissenschaftliche Erläuterungen (natürlich nach
dem damaligen Stand) zu den Inhalten dieser
einzelnen Karten und fassen so — nach der
anfänglichen Verteilung des Stoffes über die
regionale Beschreibung — die wichtigsten wis-
senschaftlichen Ergebnisse noch einmal zusam-
men.
Weniger differenziert — darauf wird auch
im Vorwort von Charpentier hingewiesen —
ist Drews Eindringen in die sozialpolitischen
Probleme. Eine gutgläubige Loyalität zu den
heimischen Herrschaftsschichten paart sich mit
kolonialbritischem Selbstverständnis. Stellt man
das aber als weitgehend zeitbedingte Voraus-
setzung in Rechnung, so bleibt darüber hinaus
so viel an beachtlicher Forschungsleistung und
an Information, daß dieses Buch für jeden am
westlichen Himalaya Interessierten mit einer
breiten Palette von geo- und kulturwissen-
schaftlichen Disziplinen eine wirkliche Fund-
grube bleibt, für die man dem Verlag für sei-
nen Mut zum Neudruck nur danken kann.
H. Uhlig
Sigrid Westphal-Hellbusch / Heinz West-
phal:
Hinduistische Viehzüchter im nord-westli-
chen Indien. 11: Die Bharvad und die Cha-
ran. Forschungen zur Ethnologie und So-
zialpsychologie Bd. 9. Berlin—München:
Duncker & Humhlot. 1976. 262 S., 32 Abb.
u. 1 Ausschlagtaf.
Mit der Abhandlung über die Bharvad
und die Charan schließen die Verfasser ihre
Feldstudien über die hinduistischen Viehzüchter
im nordwestlichen Indien aus den Jahren 1968
und 1969 vorläufig ab. Wie auch die Rabari
(siehe Rezension in „Tribus“ 25, S. 196) sind
die hier behandelten Gruppen als Viehzüchter
vor allem um die Marschen des Kutch zu loka-
lisieren. Die Schwerpunkte ihrer Verbreitung
aber sind, das ergibt die Untersuchung, Sau-
rashtra und Rajasthan. Hinduistische und isla-
mische Einflüsse treffen hier zusammen, aber
das Kastensystem bleibt streng erhalten, wie
auch die mythische Herkunft von Parvati und
Krishna erweist. Durch historische Berichte
wird die Erfassung der Bharvad eher erschwert
als erleichtert: es kann sich um den Beruf des
Viehzüchters oder um die ethnische Abstam-
mungsgemeinschaft handeln. Deshalb schwan-
ken die Bevölkerungsangaben von einer hal-
ben Million bis zu der vorsichtigen Einschät-
zung der Verfasser von 200 000 Personen.
174
Buchbesprechungen
Es ist festzuhalten, daß es sich bei den
Bharvad um eine zugewanderte Gruppe von
Viehzüchtern handelt, bei denen In der Gegen-
wart Schaf- und Ziegenhaltung im Vorder-
grund steht, während wohl nur sehr wenige
den Wandel zum Büffelhalter mitgemacht ha-
ben. Sie sind heute im wesentlichen als seß-
haft anzusprechen, denn sie siedeln entspre-
chend dem Rang ihrer Kaste am Rand der
Dörfer. In der Vergangenheit haben sie weit-
gespannte Wanderungen unternommen; auch
sie finden ihren Niederschlag in den genealo-
gischen Traditionen. Für die Weidemöglichkei-
ten ihres Viehs ergeben sich recht vielfältige
lokale Rechtsverhältnisse. Entscheidende Er-
werbsquelle dieser Gruppe ist der Verkauf von
Milchprodukten. Ergänzend nimmt sie mit ih-
ren Tragtieren Transportfunktionen auch für
andere Gruppen wahr.
Die Verfasser vermögen ein Bild der Bhar-
vad-Lebensweise zu entwerfen, bei der die
Verwandtschaft die wichtigste Rolle spielt. Aus
ihrem Zusammenleben entwickeln sich Wander-
gemeinschaften und wirtschaftliche Einheiten.
Recht eingehend werden Züge des Gemein-
schaftslebens, die kultischen Verhältnisse, eth-
nographische Besonderheiten der materiellen
Kultur und die Probleme der Anpassung an
die Gegenwart behandelt. Dazu gehört vor
allem die Landreform der frühen 50er Jahre,
die die Bodenständigkeit der wandernden
Viehzüchter zwangsläufig verstärkt hat. Die
Märkte der Städte bieten einen weiteren An-
reiz für wirtschaftliche und siedlungsmäßige
Anpassung.
Auch die Charan verfügen über eine kom-
plizierte mythische Genealogie. Die Kopfzahl
dieser viehzüchtenden Kaste oder Gruppe ist
mit weniger als 40 000 gering und konstant
im Rückgang begriffen. Charan siedeln heute
vorwiegend in den Städten und außerhalb in
geschlossenen Gruppen als teilseßhafte Vieh-
züchter und vor allem Händler, namentlich mit
Vieh. Ihr Landbesitz Ist gegenwärtig wesentlich
umfangreicher als der der vorher behandelten
Gruppen.
Besondere Beachtung verdient das Schluß-
wort zu den weitgespannten Untersuchungen
der Verfasser, die von den Marschgebieten am
Persischen Golf bis nach Indien reichen. Am
Beispiel der Büffelhaltung werden die mannig-
fachen Beziehungen aufgedeckt, die von den
untersuchten Bevölkerungsgruppen durch Wan-
derungen in früher Zeit hergestellt worden
sind. Ideelle wie materielle Kultur weisen In
diesem Raum bemerkenswerte Entsprechungen
auf. Diese Überlegungen lassen auf weitere ver-
gleichende Untersuchungen der Verfasser hof-
fen, vielleicht eine Ethnographie der Vieh-
züchter Südasiens in ihren gegenseitigen Be-
ziehungen.
Christoph Jentsch
David L. Snellgrove / Tadeusz Skorupski:
The Cultural Heritage of Ladakh, Vol. 1.
Warminster: Aris & Phillips Ltd. 1977.
172 S., 145 Fotos, 20 Farbtaf., Karten, Dia-
gramme.
Das westtibetische Königreich Ladakh, durch
den Anschluß an Jammu 1834 in das politische
System der indischen Staaten einbezogen, steht
heute im Brennpunkt wissenschaftlichen und
touristischen Interesses. Der britische Tibeto-
loge Snellgrove und sein Mitarbeiter Sko-
rupski hatten 1974 als erste Wissenschaftler die
Möglichkeit, das 26 Jahre lang aus Sicherheits-
gründen westlichen Ausländern verschlossene
Grenzgebiet zu besuchen. Die hier vorliegende
Studie bringt neues Material zur Geschichte und
Religion Westtibets und gibt Aufschluß über
frühe künstlerische Formen des tibetischen
Buddhismus. Das reiche Fotomaterial ist —
trotz der oft schwierigen Aufnahmebedingun-
gen — gut und informativ. Die Karte ist es
leider nicht. Es wäre z. B. jene vorzuziehen, die
A. H. Francke in seinem Klassiker „Antiqui-
ties of Indian Tibet“ (1914 und 1926) ver-
wendete, der den Autoren als Handbuch und
Forschungsgrundlage diente.
Der Titel „Das kulturelle Erbe Ladakhs“
erscheint mir, jedenfalls für diesen ersten Band
der Publikation, etwas weit gefaßt. Konkret
geht es darin um die Baukunst am Beispiel
buddhistischer Klosteranlagen, speziell um de-
ren Großplastik und Wandmalerei. Berech-
tigterweise steht hier der intensiven kunsthi-
storischen Untersuchung früher Kultzentren
(11.—13. Jh.) eine eher summarische Abferti-
gung jüngerer Kloster- und Tempelanlagen
gegenüber. Nicht berücksichtigt werden auch
islamische Kultbauten. Der immerhin seit dem
15. Jh. einsetzende Einfluß Kaschmirs scheint
keine Entwicklung ausgelöst zu haben.
Die Chroniken von Ladakh berichten, daß
Nachkommen des letzten zentraltibetischen
Königs (Glang-dar-ma, ermordet 824 A. D.)
nach dem Zerfall des Reiches auswanderten
und in Nga-ri, westlich des Kailasa, selbstän-
dige Königstümer gründeten. Unter ihrem Ein-
fluß setzte eine intensive buddhistische Sekun-
därmissionierung von Nordwestindien, speziell
Kashmir, her ein, da ein starkes Bedürfnis
nach der Übernahme kultischer und künstleri-
Buchbesprechungen
175
scher Traditionen aus dem Kernland des Budd-
hismus bestand. Von Rin-chen bzang-po, der
im Auftrag des frommen Königs von Gu-ge
nach Kaschmir gesandt worden war, um an-
schließend in Tibet seine immense Überset-
zungs- und Bautätigkeit zu beginnen, sollen der
Überlieferung nach die frühen Klöster Ladakhs
gegründet worden sein.
Die Autoren beschreiben sie im zweiten
Kapitel, nachdem sie zuvor die historische
Situation geschildert und eine Einführung in
die für diese Phase des Buddhismus gültige
Ikonographie gegeben haben. Zentrale Kult-
flgur der Frühzeit ist der Buddha Vairocana,
dessen Verbindung mit dem „historischen
Buddha“ Säkyamuni in den frühen Tantras
noch sehr eng ist.
Das älteste Kloster, Nyar-ma (ca. 1000
A. D.), ist heute völlig zerstört, während ein
Tempel von Lamayuru noch Reste interessan-
ter Malereien enthält. Mang-gyu, ein heute
noch sehr aktives religiöses Zentrum, ist durch
Ausbesserungsarbeiten und „Verschönerungen“
stark entstellt.
Das Hauptanliegen der Studie ist jedoch
die ausführliche Beschreibung von Alchi. Die
Anlage besteht aus einer Reihe von Gebäuden,
die mit Wandgemälden geschmückt und in ein-
heitlichem Stil dekoriert sind. Von den zahl-
reichen Wandmalereien der Versammlungshalle
(’Du-khang), die eine große vierköpfige Vairo-
cana-Statue enthält, sind ikonographisch beson-
ders die sechs, jeweils drei Meter breiten Man-
dalas zu beachten. Diese Darstellungen lassen
vermuten, daß in Kaschmir geschulte Meister
gemeinsam mit tibetischen Hilfskräften am
Werk waren.
Eine stilistische Sonderstellung nehmen eini-
ge Miniaturen mit höfischen Motiven ein: of-
fensichtlich Stiftcrdarstellungen, deren bester-
haltene eine Trinkszene zeigt (Abb. XVIII).
Der König trägt ein „sassanidisch“ wirkendes
Kostüm, das mit Löwenmedaillons verziert ist.
Die Autoren vermuten einen bewußten Rück-
griff auf den höfischen Stil des zentraltibeti-
schen Königreichs früherer Jahrhunderte. Aus-
gerechnet diese Szene wird jedoch von Man-
danjeet Singh in seinem 1968 erschienenen
UNESCO-Band „Himalayan Art“ einem
Künstler der „Schule von Bagdad“ zugeschrie-
ben und wesentlich später datiert (Snellgrove
ist auch an anderen Stellen mit den Ausfüh-
rungen dieses Autors nicht einverstanden).
Die am Portal befindlichen Schnitzarbeiten,
ebenso wie die Holzpartien des dreistöckigen,
mit Galerien gegliederten Nachbartempels
Sum-tsek, sind typisch kaschmirische Arbeit.
Dies läßt sich nur den Fotos entnehmen, im
Text werden sie kaum beschrieben. Auch wäre
an dieser Stelle ein Hinweis auf die von H.
Goetz bearbeiteten frühen Holztempel von
Chamba und Lahoul angebracht gewesen: Spe-
ziell auf ornamentalem Gebiet könnten sich
dabei interessante Aspekte ergeben.
Der Sum-tsek, dessen monumentale Boddhi-
sattva-Figuren bis in die oberen Stockwerke
ragen, stammt aus der gleichen Zeit und wurde
laut Inschrift im 16. Jh. restauriert. Die Über-
malungen deuten auf einen von der Moghul-
Miniaturmalerei Kaschmirs künstlerisch beein-
flußten einheimischen Handwerker hin. Der
Duktus der noch vorhandenen Inschriften
stützt die von den Autoren vorgeschlagene
Datierung der Bauphasen.
Drei weitere Tempel der Klosteranlage
sind in das 12. und in das 13. Jh. zu datieren.
Ihre Inschriften wurden teilweise weggeschla-
gen, die Fresken hingegen im Originalzustand
belassen. Die auf dem Klostergelände befind-
lichen Tsch’orten, in ihrer speziellen Variante
als Torgebäude, wurden offenbar von den am
Bau der Versammlungshalle beschäftigten
Künstlern in freier Manier mit Darstellungen
des Lehrers Rin-chen bzang-po und der drei
indischen Pandits, bei denen er studiert haben
muß, ausgemalt.
Da die gesamte Klosteranlage von Alchi
nicht — wie das benachbarte Kloster Likir —
in späterer Zeit von dem sog. Gelbmützen-
orden übernommen wurde, stand sie für Jahr-
hunderte leer und bewahrte dadurch ihre ur-
sprüngliche Form als Beispiel für die Ikono-
graphie des frühen Buddhismus.
Im dritten Kapitel schildern die Autoren
den heutigen Zustand von Zitadellen und kö-
niglichen Residenzen. Sämtliche frühere Bauten
wurden durch Kriege mehrfach zerstört und
sind im Hinblick: auf ihre künstlerische Aus-
sage nicht mit den vorher beschriebenen Kult-
zentren zu vergleichen. (Auf S. 98 hat sich
bei den Abbildungen des Forts von Feh eine
Unterschriftsverwechslung eingeschlichen.)
Das vierte Kapitel enthält den an dieser
Stelle dringend notwendigen historischen Ab-
riß über das Auftreten der verschiedenen
tibetischen Orden auf dem Territorium von
Ladakh seit dem 15. Jh. Bei ihren zu dieser
Zeit entstandenen Klosteranlagen handelt es
sich durchwegs um Bergfestungen, deren
kunsthistorische Bedeutung sich nicht mit der
von Alchi vergleichen läßt. Die Autoren ver-
zichten auf die detaillierte Beschreibung im
176
Buchbesprechungen
Text und bieten statt dessen eine Fülle von
fotografischen Eindrücken. Besonders zu nennen
sind hier die Aufnahmen in den Klöstern von
Phiyang (S. 123 ff.) und Hemis (S. 127 f.) auf-
bewahrten Kaschmirbronzen. Ihre Bearbeitung,
etwa im Sinne der von P. Pal 1975 erfolgten
Publikation von Objekten aus europäischen
und amerikanischen Sammlungen, wäre von
höchster wissenschaftlicher Bedeutung.
Die Autoren weisen auf die in den meisten
Fällen unbefriedigende Verwaltung und die
Verwahrlosung der Klöster durch die häufige
Abwesenheit von ihren Oberhäuptern hin. (Der
inkarnierte Abt von Hemis z. B. wird seit der
chinesischen Okkupation in Tibet festgehalten).
Abschließend wird mit dem „modernen La-
dakh“ die Situation geschildert, die durch den
Zusammenbruch der alten Handelsrouten nach
Zentraltibet und die kulturelle Isolation ge-
schaffen wurde. Inzwischen — aber das wird
im Buch nicht mehr erwähnt — hat die Öff-
nung des Gebietes die Zerstörung erheblicher
Teile der traditionellen Kultur durch kauf-
wütige Touristen zur Folge gehabt.
Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß der
Inhalt des Buches zwar nicht völlig dem Titel
gerecht wird, daß aber jedenfalls ein grund-
legender Beitrag zur Erforschung frühbudd-
histischer Großplastik und Wandmalerei gelie-
fert wurde. Gabriele K. Jettmar
AUSTRALIEN UND OZEANIEN
Hans Fischer:
Gabsongkeg ’71. Verwandtschaft, Siedlung
und Landbesitz in einem Dorf in Neugui-
nea. Hamburger Reihe zur Kultur- und
Sprachwissenschaft, Bd. 10. München: Ren-
ner. 1975. 484 S., mehrere Abb., Karten,
Tab.
Die vorliegende Arbeit bringt Ergebnisse
von Literaturstudien und der Aufnahme von
Sammlungen in Museen seit 1956 sowie von
Feldforschungen in Neuguinea zwischen 1958
und 1972, wobei der Verfasser 1965 ca. 12
Wochen in der Missionsstation Gabmadzung
und 1971 6V2 Monate im benachbarten Dorf
Gabsongkeg bei den Wampar verbrachte.
Die Wampar gehören mit den Atsera, Wa-
tut u. a. zu einer gemeinsamen Sprachfamilie
des melanesischen Sprachbereichs, die am Mark-
ham-Fluß eine Art Trichter in das Gebiet der
— von einem historisch sicherlich älteren Be-
völkerungselement gesprochenen — papuani-
schen Sprachen bildet. Anfang des Jahrhun-
derts wurden die Wampar durch Überfälle
auf die Küstenbevölkerung um Lae unrühmlich
bekannt, was 1911 zur Gründung der Missions-
station Gabmadzung durch die deutsche lutheri-
sche Neudettelsauer Mission führte. Seither
hatten sie ununterbrochen Kontakte zu den
Weißen in Gestalt japanischer, amerikanischer
und australischer Truppen im Zweiten Welt-
krieg, deutscher und australischer Kolonialver-
waltung sowie weißer Pflanzer und Züchter.
Von ihrer alten Kultur ist wenigstens äußer-
lich wenig übriggeblieben, weder Siedlungen
noch Häuser, Kleidung, Werkzeuge oder Ge-
räte.
Die Einwohner von Gabsongkeg haben fast
alle die Schule besucht, der Prozentsatz an
Oberschülern und Lehrern ist bei ihnen höher
als irgendwo sonst in Neuguinea. Sie spielen
z. B. eine wichtige Rolle als Evangelisten, Mis-
sionslehrer und Pastoren bei den Watut, die
die Wampar als ihre „Väter“ bezeichnen.
Nach den Worten des Autors „richtet sich
das Interesse des Ethnographen also nicht auf
,primitive“ oder ,alte“ Formen der Kultur, son-
dern auf andere Möglichkeiten als unsere eige-
nen, nicht auf das ,Ursprüngliche“, sondern auf
das in der Veränderung befindliche Heute“. Er
sieht — unter Zustimmung der Wampar —
seine Ethnologen-Aufgabe als „Vermittler zwi-
schen verschiedenen Kulturen und Helfer für
die in einer Machtsituation Unterlegenen, u. a.
durch den Versuch, von den Wampar selbst
gesehene Probleme systematischer und nicht
erkannte überhaupt zu formulieren“.
Als Schwerpunkt seines Aufenthaltes in
Gabsongkeg — in Zusammenhang mit der
Überarbeitung des Lexikons u. ä. — bezeichnet
der Verfasser „Fragen, die die Methodik der
Datengewinnung In der ethnographischen Feld-
forschung betrafen und Ansätze der kognitiven
Anthropologie“. Diese Fragen nehmen einen
breiten Raum In der Einleitung — die in ih-
rer Systematik geradezu Lehrbuchcharakter hat
— ein und treten auch in der Materialdarstel-
lung immer wieder in den Vordergrund. Der
Autor kritisiert, daß in der Ethnologie die
Forderung nach intersubjektiver Überprüfbar-
keit der Aussagen von ihrer Erfüllung „offen-
bar noch weit entfernt“ ist, da Untersuchungs-
ziele vor und während der Sondierung nicht
Buchbesprechungen
177
ausreichend explizit sind, angewandte Ver-
fahren der Datengewinnung nur summarisch
erwähnt werden, die eigene Rolle des Ethno-
graphen in der untersuchten Gesellschaft kaum
oder nur andeutungsweise bemerkt wird, In-
formanten meist nicht genannt und schon gar
nicht charakterisiert werden und gewöhnlich
kaum das aufgenommene Material, sondern
nur die Folgerungen des Ethnographen publi-
ziert werden. Das führe dazu, daß die Daten
weder intern kontrolliert noch im Feld über-
prüft und ergo auch nicht in anderen Zusam-
menhängen verwendet werden könnten. Um
dem abzuhelfen, fordert er u. a. begrenztere
Sachbereiche als bisher In begrenzteren Gebie-
ten über längere Zeit mit möglichst guten
Sprachkenntnissen zu untersuchen, die Um-
stände der Datengewinnung als Teil der Da-
ten selbst zu betrachten und auf eine Publi-
kation der aufgenommenen Daten selbst hin-
zuarbeiten, nicht nur auf verallgemeinerte
Schlüsse.
Die geforderte Ausrichtung der Daten auf
ein bestimmtes, vorher formuliertes Problem
hin lasse sich erst verwirklichen, wenn der
eigentlichen Forschung eine Voruntersuchung
an Ort und Stelle vorausgehe; sie erst liefere
die Möglichkeit, ein solches für die Gruppe
relevantes Problem zu erkennen, das ja auch
Aussicht auf eine — u. a. vom Vorhandensein
informierter Gewährsleute abhängende — zu-
friedenstellende „Lösung“ bieten soll.
Ehe sich der Forscher jedoch einem solchen
als relevant erkannten Problem zuwenden
könne, müsse er zunächst durch Anwendung
der „ethnographischen Standard-Verfahren“,
wie Zensus, Genealogie, Siedlungsplan, Karto-
graphie, Erlernen der Sprache und Biographie,
die unerläßlichen Grundlagen dazu schaffen.
Die Erfahrung, daß man ihn als zurückge-
kehrten Totengeist betrachtete, hatte den Ver-
fasser zunächst dazu angeregt, den Bereich der
Fieilserwartungen (Einstellungen zwischen
Schwarzen und Weißen, interethnische Be-
ziehungen, gegenseitige Stereotypen und Vor-
urteile) zu untersuchen, doch mußte er bald
feststellcn, daß Ihm dazu noch wesentliche
Grundlagenkenntnisse fehlten, vor allem aus
dem Bereich der Sozialstruktur und dem
ökonomischen Gebiet. Deshalb unternahm er
zunächst eine genaue, auf Siedlung und Ver-
wandtschaft bezogene Studie des Dorfes Gab-
songkeg, die er hier zwar als in sich abge-
schlossenen Komplex vorlegt, jedoch nur als
eine Anzahl von Teilaspekten verstanden wis-
sen will, die durch weitere Veröffentlichungen
über die Gabsongkeg aus ihrer Isolation be-
freit werden müssen: „Dabei sollen die als
Einzelteile publizierten Datenkomplexe sich
nicht nur additiv ergänzen, sondern die Bezie-
hungen zwischen den Einzelteilen aufzeigen
und nachweisen. Unterschiedliche Problemstel-
lungen und Ansätze sollen sich nicht aus-
schließen, sondern sich gegenseitig ergänzend
wie kontrollierend das Material ordnen und
,aus‘werten.“
Bei den Stammesmonographien im her-
kömmlichen Sinn kritisiert der Autor, daß sie
nicht problemorientiert sind. Sie verlangen die
Aufnahme möglichst des gesamten „Kulturin-
ventars“ einer Gruppe samt aller sich daraus
ergebenden Probleme — was allerdings in der
hier geforderten detaillierten Weise gar nicht
durchführbar Ist und, außer bei sehr kleinen,
überschaubaren Gruppen mit wenig umfang-
reichen Kulturinventar, Jahre, wenn nicht gar
Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. —
Auch verleite das Fehlen eines vorformulier-
ten Problems den Feldforscher zu bloß pas-
siver „teilnehmender Beobachtung“.
Zur Debatte stehen zwei extreme Ansätze,
die m. E. beide ihre Vor- und Nachteile ha-
ben. Der eine bietet größere Genauigkeit und
Nachprüfbarkeit und begnügt sich mit einem
kleineren Ausschnitt aus dem „Kulturinven-
tar“, in dessen Rahmen er jedoch möglicher-
weise einen größeren Beziehungsreichtum auf-
decken kann; der andere versucht eine Dar-
stellung möglichst aller kulturellen Aspekte,
wobei er sich notwendigerweise mit einer gerin-
geren Genauigkeit und Ausführlichkeit bei den
Einzelproblemen und ihrer Interaktion zu-
friedengeben muß. Der eine läßt viele Detail-
fragen zu den Einzelproblemen offen, der
andere läßt ganze Problemkreise weg.
Zumindest sollte nach Meinung des Rezen-
senten auch bei einer problemorientierten Un-
tersuchung versucht werden, die übrigen, nicht
in den gerade untersuchten Problemkreis gehö-
renden Teile des Kulturinventars wenigstens
überblicksweise in Form eines knappen Kata-
logs aufzunehmen, schon um festzuhalten, wel-
che aus der Kenntnis der Nachbargruppen zu
erwartenden Daten greifbar und eventuell für
eine spätere problemorientierte Untersuchung
geeignet sind. — Bei Gruppen, die vom kul-
turellen Untergang oder rapidem kulturellem
Verfall bedroht sind, stellt sich allerdings die
Frage, ob nicht da im Zuge einer „Notber-
gung“ einer — je nach Erfordernins modifi-
zierten — Gesamtaufnahme der Vorzug gege-
ben werden sollte.
Auch sollte sich bei Fehlen eines vorfor-
mulierten Problems bei entsprechend vorberei-
12
178
Buchbesprechungen
teten Feldforschern die „teilnehmende Beob-
achtung“ nicht — wie das nach Meinung des
Verfassers gewöhnlich der Fall ist — auf die
„passive Erwartung, daß etwas geschehen
möge“ beschränken, sondern sich schon auf
konkrete Aspekte richten, die sich aus den
nötigen Grundkenntnissen über das Untersu-
chungsgebiet und über die bei der betreffenden
Gruppe zu erwartenden Daten ergeben. Sollte
sich indessen wirklich etwas Besonderes ereig-
nen — etwa eine seltene kultische Veranstal-
tung — so wird auch ein problemorientierter
Forscher sicher nicht die Gelegenheit zur „teil-
nehmenden Beobachtung“ Vorbeigehen lassen,
nur weil dieses Ereignis nichts mit seinem
aktuellen Forschungsprojekt zu tun hat.
Um den Feldforschern aus der Rolle des
passiven „teilnehmenden Beobachters“ zu be-
freien, regt der Autor „zur Aufdeckung (bei
vorformuliertcn Problemen) nicht erwarteter
Zusammenhänge, zur Erlangung nicht erwar-
teter Daten“ die Anwendung von sog. „explo-
rativen Verfahren“ an, die mit möglichst ge-
ringen Kenntnissen über die betreffende Kul-
tur in möglichst allen Kulturen anwendbar
und bereits vor der Feldforschung erlernbar
sein sollen. Er nennt z. B. unbeobachtete Auf-
nahme von Gesprächen, Aufnahme freier Texte
nach eigener Wahl, Anfertigen und Kommen-
tieren von Zeichnungen u. a. und gibt an, daß
bei den Wampar der Bereich von Sprache und
Texten, vor allem die Untersuchung von Na-
men von Menschen, Tieren und Landstücken,
die besten Ergebnisse gebracht habe.
Im Flauptteil seines Buches bringt der Ver-
fasser als erste Teilaspekte des nach und nach
zu publizierenden gesamten „Kulturinventars“
den Komplex von Verwandtschaft, Siedlung
und Landbesitz, den er in 9 Kapiteln über 1.
Siedlung und Einwohner, 2. Haushalte, 3.
Entstehung und Veränderung des Dorfes, 4.
Verwandtschaft, 5. die sagaseg (totemistische
Gruppen), 6. Heirat, 7. Brautpreise, 8. Land-
rechte und 9. Landbesitz unterteilt. Den An-
hang bilden u. a. Originaltexte, ein Verzeich-
nis der Häuser, genealogische Übersichten,
Zensusdaten, eine Bibliographie, Karten und
ein Schema der Verwandtschafts-Terminologie.
Gemäß seiner in der Einleitung formulier-
ten Forderung nach intersubjektiver Überprüf-
barkeit der Aussagen läßt er den Leser Schritt
für Schritt an der Entstehung der Daten teil-
nehmen, indem er u. a. die Gewährsleute und
die Befragungssituation vorstellt und nicht nur
die Antworten, sondern auch die Fragen im
Wortlaut wiedergibt. Auch diskutiert er Hin-
tergründe, die das Entstehen der Daten beein-
flussen, so z. B. die Rolle des Feldforschers in
der untersuchten Gemeinschaft und die Rolle
des Gewährsmanns in dieser Gemeinschaft
sowie sein spezielles Verhältnis zur „Familie
des Forschers“, in der der Autor während
seines Aufenthaltes in Gabsongkeg lebte; über
diese Familie wurde generell nichts Ungün-
stiges vorgetragen, auf sie beziehen sich beson-
ders viele Daten.
Das alles führt natürlich dazu, daß die
Darstellung der Daten einen besonders brei-
ten Raum einnimmt. — Hier sei das auch vom
Verfasser aufgeworfene Problem der ethnolo-
gischen Publikationen gestreift, die lange Zeit
in der Tradition der Reisebeschreibungen mit
„schriftstellerischer Ausrichtung“ den größten
Wert auf leichte Lesbarkeit und möglichst fes-
selnde Darstellung, d. h. auch im berechtig-
ten Interesse der Verleger — auf gute Ver-
käuflichkeit legten. Dieses Interesse mit
den Forderungen einer Publikation, wie der
hier vorgelegten, zu verbinden, scheint dem
Rezensenten — trotz ihrer zweifelsfrei stilisti-
schen Qualität — unmöglich. Ihr Leserkreis
wird sich unvermeidlicherweise auf Fachkolle-
gen und Interessenten aus Nachbardisziplinen
beschränken. Für einen breiteren Leserkreis
interessierter Laien wird man nach wie vor
zusammenfassende Sonderpublikationen her-
ausbringen müssen, die auf akribische Detail-
darstellungen verzichten und zugunsten besserer
Lesbarkeit und Allgemeinverständlichkeit Ver-
einfachungen in Kauf nehmen und sich auch im
Stil möglichst „populär“ im guten Sinne geben.
Für die wissenschaftlichen Publikationen
sollte das hier gewählte preispünstige Fotover-
fahren o. ä. Schule machen.
Rose Schubert
C. R. Hallpike:
Bloodshed and Vengeance in the Papuan
Mountains — The Generation of Conflict
in Tauade Society. Oxford: Clarendon.
1977. 317 S., 8 Fotos, 5 Karten, Tab.
Die Tauade, die insgesamt rund 8600 Per-
sonen zählen und im Goilala Sub-District des
Central Districts von Papua New Guinea
leben, hat der Autor während zweier Jahre
untersucht. Zuvor hatte er sich mit den Konso
in Äthiopien eingehend beschäftigt. Mit diesem
ethnographischen und emotionellen Hinter-
grund reiste Hallpike nach Neuguinea, wo er
bei den Tauade alles andere als eine Konso-
Kopie fand. Deshalb — so hält er ehrlicher-
weise fest — könne er nicht zugeben, daß er
die Tauade gern hatte, um so mehr als er zuvor
Buchbesprechungen
179
bei den Konso gearbeitet habe. Diese Haltung
ist im ganzen Buch spürbar. — Auch wenn
Hallpike im Zusammenhang mit den Tauade
meint, Sozialanthropologie sei das Studium von
den Lügen, die die Einheimischen dem Anthro-
pologen sagen, so enthält sein Buch dennoch
aufschlußreiche (und hoffentlich wahre) Resul-
tate.
In Anlehnung an Ruth Benedict entwirft
Hallpike zwei Gesellschaftstypen, den aristo-
telischen und den heraklitischen. Der erste
Typus ist charakterisiert durch die Unter-
scheidung von Form und Inhalt, wobei das
einzelne Element, das Individuum, Ausdruck
der Form, der Ordnung ist. Dem aristokrati-
schen Prinzip sind die Konso zuzuordnen. Das
herakhtische Modell zeichnet sich durch stän-
digen inneren Wechsel und Konflikt aus, wo-
bei das Einzelne, das Besondere wichtig ist
und die Form, die Kategorie nicht zählt. Die
Tauade rechnet der Autor diesem letzteren
Typus zu, wobei er den atomistischen Charak-
ter dieser Gesellschaft besonders betont. Die
Tauade leben in kleinen Weilern. Obwohl
Klannamen existieren und die Klane selbst ge-
mäß der Aussagen der Informanten patrilinear
organisiert zu sein scheinen, ist die Linearität
in Wirklichkeit nicht ausgeprägt. Auch beste-
hen in diesem relativ dünn besiedelten Gebiet
keine klaren, etwa klangebundenen Landan-
sprüche. Die Zugehörigkeit zu einem Weiler,
in dem es einen oder zwei „chiefs“ gibt, wird
kaum durch Verwandtschaft bestimmt. Auch
ändert sich die bevölkerungsmäßige Zusam-
mensetzung der Weiler immer wieder: ein
Mann lebt im Verlauf seines Lebens nachein-
ander in ungefähr zwölf verschiedenen Wei-
lern. Der hohe Grad an Mobilität, die Umwclt-
bedingungen, die diese Mobilität ermöglichen,
zusammen mit einem aggressiven Ethos, das
sich durch Selbstbestätigung, Stolz und Rache
auszeichnet, ist mitbestimmend für das große
Ausmaß an Gewalttätigkeit, das diese Bevöl-
kerungsgruppe aufweist. In diesem Zusammen-
hang wäre ein Vergleich mit dem diesbezüg-
lichen Material von Ronald M. Berndt (in
seinem Brillianten Buch „Excess and Restraint“,
Chicago 1962) besonders wertvoll gewesen.
Hallpike versucht, den atomistischen und
heraklitischen Charakter der Tauade nachzu-
weisen und Gründe anzugeben, die dafür ver-
antwortlich sein könnten. Dies ist das Grund-
thema des Buches.
Der Autor nimmt aufgrund von verschie-
denen Indizien an, daß früher stärker durch-
strukturierte Klanorganisationen existierten,
wobei die Klanzugehörigkeit für den Ort des
Wohnens und der Feldbestellung ausschlagge-
bend waren. Zur Desintegration hätten riesige
Feste beigetragen, die von den Angehörigen
aller Klane gemeinsam an einem einzigen Ort
abgehalten wurden und immer noch werden.
Nicht nur steuern alle Vertreter der Klane
Schweine und Feldfrüchten zu diesen Festen bei,
sondern sie beteiligen sich auch aktiv am Er-
richten des Festdorfes. Solche Tanzdörfer ha-
ben zur Folge, daß die ursprünglich auf Klan-
prinzip basierende Wohn- und Sozialordnung
periodisch immer wieder durchkreuzt wird.
Während des Festes fördert der Austausch
von Schweinefleisch zwischen Individuen die
Schaffung neuer Sozialbeziehungen (Austausch-
beziehungen, Heiraten) mit anderen sozialen
Gruppen. Solche Schweinefeste und Tänze ver-
stärkten die dem Verhalten der Tauade zu-
grunde liegende heraklitische Mentalität und
führten zur Atomisierung der Gesellschaft.
Brigitta Hauser-Schäublin
AMERIKA
Ulrich Köhler:
Conbilal C’ulelal — Grundformen meso-
amerikanischer Kosmologie und Religion in
einem Gebetstext auf Maya-Tzotzil. Acta
Humboldtiana, Series Geographica et Eth-
nographica Nr. 5, hrsg. v. W. Haberland.
Wiesbaden: Steiner. 1977. XIV + 172 S.,
1 Karte.
Die vorliegende Studie, eine Münsteraner
Habilitationsschrift, stellt — um es gleich sehr
deutlich zu sagen — Ulrich Köhler in jene
Reihe bedeutender Ethnographen, die auf deut-
scher Seite bei der Erforschung rezenter In-
dianerkulturen in Mexiko mitgewirkt haben.
Die Qualität der Daten läßt erwarten, daß
sein Name künftig neben dem eines K. Th.
Preuss oder eines L. Schultze-Jena genannt
werden wird. In einer Zeit, wo Feldprojekte
großen Stils, wie das Chiapas-Projekt der Har-
vard Universität, nahezu Monopolcharakter
angenommen haben, sind intensive Einzellei-
stungen besonders hoch zu veranschlagen. Die
deutsche Mexikanistik kann sich heute und
künftig wohl nur noch nach der Devise „mul-
tum, non multa“ behaupten.
ISO
Buchbesprechungen
Die Lektüre macht deutlich, welche Kunst
der Menschenbehandlung und Vertrauensge-
winnung bei der Feldarbeit unter den konser-
vativen Tzotzil-Indianern des entlegenen San
Pablo zu entfalten war. Wer die mißtrauische
Verschlossenheit solcher Gruppen kennt, wird
mit Bewunderung von dem reichen Ertrag eines
taktvollen und geduldigen Explorierens india-
nischer Geistigkeit Kenntnis nehmen. Der Er-
trag bestätigt zugleich, daß selbst in Zeiten
raschen Kulturwandels noch wesentliche Züge
der traditionellen Lebens- und Glaubensweise
durch sorgsame Kooperation mit Schlüsselin-
formanten gewonnen werden können. Das
Wechselspiel zwischen Datenerhebung und Da-
tenverfeinerung einerseits, Ableitung von
„middle ränge theories“ und historisch-ver-
gleichender Auswertung andererseits, wie es
eine Völkerkunde kennzeichnet, die mit beiden
Füßen fest in der Wirklichkeit ihrer realen
Ethnien steht, durchzieht dieses Buch (wie auch
Köhlers ergänzende Aufsätze).
Die Kunst ethnographischer Beobachtung
und Befragung trägt hier ihre Früchte. Über-
ragende Feldforschung ist gerade gegenwärtig
nicht geringer zu erachten als mehr oder min-
der brillante Schreibtischanalysen, an denen es
nicht mangelt. Der Zugewinn an faktischem
Wissen, die Aufschließung neuer Fragestellun-
gen, die kritische Auseinandersetzung mit kon-
kurrierenden Befunden anderer Forscher sind
von hoher Qualität. In guter Gliederung ent-
faltet Köhler seine Untersuchung in einer
Schrittfolge von Induktiver und vergleichender
Methodik, ohne die Bedingungen der Erkennt-
nisgewinnung unreflektiert zu lassen.
Der umfängliche Gebetstext handelt von
der Heilung der Krankheit „Verkaufte Seele“.
Eine Kontrolle der Übersetzung (stichproben-
weise mit Hilfe von Robert M. Laughlin
„The Great Tzotzil Dictionary of San Loren-
zo Zinacantän“, Washington 1975) verlief posi-
tiv: Die deutschen Äquivalente sind kenntnis-
reich und abgewogen gewonnen worden und
durch eine wertvolle Exegese abgestützt. Der
Verzicht auf Namensübersetzungen erscheint
mir gerechtfertigt; auch der vorsichtige Um-
gang mit Metaphern überzeugt. Inhaltlich noch
stärker als formal liefert dieser Gebetstext ein
kostbares ethnographisches Dokument für das
Schicksal der Seele im Glauben der Tzotzil-
Indianer. Neuweltliche Gebetstexte sind ja bis-
lang weit spärlicher erhoben worden als etwa
Mythentexte im Vernakular. Numerische For-
meln, Farbassoziationen, Wendungen der Kult-
sprache, Bauelemente des Weltbildes werden
in diesem erstaunlichen Text transportiert —
erstaunlich auch angesichts der jüngsten Wand-
lungsbedingungen, durch eingesprengte Bezeich-
nungen für „Auto“ und „Flugzeug“ selbst Im
Gebetstext ablesbar. Die fortlaufenden Texter-
läuterungen tragen entscheidend zum Ver-
ständnis bei. Religionsethnologisch wichtig er-
scheinen mir die Befunde zu den Seelenarten
und zu den Antagonismen zwischen Gegnern
und Helfern der Seele. Anders als für Ozea-
nien (Fischer) und Nordamerika (Hult-
krantz) steht für Meso- und Südamerika eine
synthetische Behandlung der Seelenvorstellun-
gen noch aus. Was Köhler etwa über das
Schicksals-Doppelgängertum vergleichend zu
erarbeiten versucht hat, wäre zumindest ein
wichtiger Baustein für eine ebenso lohnende
wie dringende Aufgabe.
Köhlers Hinwendung zur Altamerikani-
stik entspringt einer diachronischen Betrach-
tungsweise, wie sie von bestimmten Gebetsin-
halten her erforderlich wird. Er vermeidet die
Naivität, direkt von den heutigen Tzotzil auf
das Maya-Klassikum zurückschlüsseln zu wol-
len (Ablehnung der Thesen von Vogt und
Holland). Seiner strikten Bewertung der
Tzotzil als „peripheres Bergvolk“ kann ich
allerdings nur mit gewissen Einschränkungen
folgen, da eine marginale Akkulturation für
das Spätklassikum angenommen werden darf.
Einerseits läßt die Errichtung von Stelen im
Hochland von Chiapas an ortsfeste Tiefland-
einflüsse über Generationen hinweg denken,
andererseits treten offenkundig Tzotziles — wie
jüngste Untersuchungen von Dieter Dötting
zeigen — als politische Faktoren in Zentren
der Usumacinta-Provinz auf. Ich zögere, eine
solche beiderseitige Kontaktmetamorphose als
folgenlos veranschlagen zu sollen. Der Versuch,
von den heutigen Tzotzil auf ein weiteres me-
soamerikanisches Stratum mit präklassischen
Wurzeln zu rekurrieren, ist zwar naheliegend,
bedarf aber vorsichtigen Abwägens lokaler Dis-
kontinuität. Wie stand es etwa mit der pro-
duktiven Strahlkraft von Izapa während des
späten Präklassikums?
Mit besonderem Interesse habe ich Köhlers
vergleichende Untersuchung kosmologischer
Natur gelesen, in denen er Fragen der Him-
melsträger und den Prinzipien einer vertikalen
Himmelsgliederung nachgeht. Während der
Vergleich mit Daten anderer rezenter Gruppen
von Guatemala bis Nordmexiko gut fundiert
wirkt, und ich dem erschlossenen Himmels-
modell hinsichtlich der fundamentalen Bedeu-
tung von Solstizialpunkten Im wesentlichen
zustimmen möchte, ist die Behandlung solcher
Themen In den Codices der Borgia-Gruppe
Buchbesprechungen
181
vom Verfasser zu skizzenhaft durchgeführt
worden. Man vermißt eine fundierte Ausein-
andersetzung mit Selers einschlägigen und
noch immer unentbehrlichen Kommentaren,
die ja auch im Literaturverzeichnis fehlen. Alt-
amerikanistik ist ersichtlich (noch) nicht das
eigentliche Feld von Ulrich Köhler. Die Dis-
kussion, ob denn der Himmel aus Schichten
bestünde oder ob Stufen an einer Himmels-
pyramide hinauf und hinab führten, ist zwar
vom Verfasser in der kritischen Auseinander-
setzung mit dem früh verstorbenen William
Holland ein gutes Stück vorangetrieben wor-
den. Es bleibt aber zu bedenken, daß diverse
präkolumbianische Modelle, die nur indirekt
erschlossen werden können (vgl. eigene Befunde
zu dem siebengeschossigen System der Kopf-
varianten 1—13 im Mayaklassikum nach 500
n. Chr., siebengeschossiges System der Regen-
gott-Orte Codex Dresden 65b—69b, dreizehn-
geschossiger Weltberg Codex Laud 24—17), aus
altweltlichen Sphärenmodellen abzuleiten sind,
in denen der Weg der Sonne keine übergrei-
fende Funktion hatte. Die subtile palencanische
Kosmologie, wie sie um 700 n. Chr. architek-
tonisch wie ikonographisch-hieroglyphisch reali-
siert wurde (vgl. diverse Teilnehmer an den
Palenque-Symposien der 70er Jahre), wäre
hier künftig einmal gegenüberzustellen. Übri-
gens könnte so beispielsweise der umstrittene
Göttername „Acht Men“ aus der Perspektive
des palencanischen Kreuztempels als Epitheton
des Schöpfergottes G 1 und dessen Zuständig-
keit für acht planetarische Weltrichtungshüter
erklärt werden.
Insgesamt erweist sich der Verfasser In die-
sem Buch als ein hochbegabter Ethnograph,
dessen weiteren Veröffentlichungen man ge-
spannt entgegensehen darf. Erfreulich ist auch,
daß Wolfgang Haberland die „Series Geo-
graphica et Ethnographica“ in den „Acta
Humboldtiana“ mit Studien erstklassiger Ame-
rikanisten der jüngeren Generation wieder in
Bewegung gebracht hat.
Thomas S. Barthel
Joyce Marcus:
Emblem and State in the Classic Maya
Lowlands. An Epigraphic Approach to Ter-
ritorial Organization. Vorwort von Gor-
don R. Willey. Washington, D. C.: Dum-
barton Oaks. 1976. XVIII + 203 S., meh-
rere Karten, Zeichn. u. Fotos.
Das Buch zeichnet sich durch einen fächer-
übergreifenden Ansatz aus, indem es die Em-
blem-Interpretationen innerhalb der histori-
schen Richtung der Mayaschriftforschung mit
der wissenschaftsgeographischen Theorie der
zentralen Orte zu verknüpfen sucht. Die Ab-
sicht, diese beiden in ihren eigenen traditio-
nellen Anwendungsbereichen erfolgreichen Aus-
gangspunkte zu verbinden, weckt vielverspre-
chende Erwartungen.
Die Durchführung des kombinierten An-
satzes und die inhaltlichen Ergebnisse möchte
ich an drei allgemeinen Kriterien messen: An
der theoretisch-methodischen Angemessenheit,
an der Verarbeitung des empirischen For-
schungsstandes und an der Repräsentativität
der berücksichtigten Quellen. Jedes dieser Kri-
terien stellt an die Verfasserin hohe Anforde-
rungen, und zwar aus folgenden Gründen: Die
Mayaschriftforschung ist in theoretisch-metho-
dologischen Aussagen notorisch unexplizit; die
Verknüpfung der beiden Forschungsrichtungen
ist wissenschaftliches Neuland; eine kritische
Synthese der historischen Richtung innerhalb
der Mayaschriftforschung ist noch nicht verfüg-
bar; und schließlich ist die Zugänglichkeit des
wichtigsten Quellenmaterials, nämlich der
Mayainschriften, nicht optimal.
Entsprechend dem Titel des Buches orien-
tiert sich Marcus bei ihrer Untersuchung in
erster Linie an den Emblem-Hieroglyphen,
die sie als Indikatoren für soziopolitische Hier-
archien und Regionalismus auffaßt. Durch
mehrere Zeitschnitte versucht sie, außer der
räumlichen Dimension auch die zeitliche zu
erfassen und hierdurch den Wandel innerhalb
der etwa 600 Jahre umfassenden Epoche des
Klassikums aufzuzeigen. Als Kern-Ergebnis re-
sultiert: Im zentralen Peten (Tikal) entstand
um 520 n. Chr. ein zentralistischer Maya-
staat. Seine Orte sind auf unterer Ebene der
soziopolitischen Hierarchie, entsprechend den
Erfordernissen der Zentralitätstheorie, räum-
lich regelhaft angeordnet. Das Gesamtsystem
umfaßt vier hierarchische Ebenen (s. S. 191).
In die Aussagen der Autorin fließen aller-
dings so viele Spekulationen und unbestätigte
oder zumindest für den Leser unüberprüfbare
Existenzannahmen ein, daß man aus methodo-
logischen Gründen von gesicherten inhaltlichen
Ergebnissen nicht sprechen kann. Ein besonders
markantes Beispiel hierfür ist ihre Behandlung
der Region um den Ort Calakmul. Die Zu-
weisung eines Emblems von überregionaler
Verbreitung an diesen Ort und damit das kon-
stitutive Merkmal seiner Zentralität beruht auf
182
Buchbesprechungen
reiner Spekulation. Bisher ist nämlich keine
Inschrift in Calakmul oder eine, deren Her-
kunft aus Calakmul gesichert ist, bekannt, in
der das betreffende Emblem vorkommt. Fer-
ner ist die hexagonale und äquidistante An-
ordnung sekundärer Orte um das vermeintliche
Zentrum Calakmul, womit die Theorienkon-
formität nachgewiesen werden soll, vollkom-
men spekulativ. Denn die Region um Calak-
mul ist meines Wissens weder durch archäolo-
gische Landesaufnahmen flächendeckend er-
forscht noch exakt vermessen, so daß nicht
einmal Anzahl und Lage der Orte in ihr genau
bekannt sind (s. dazu bei Marcus S. 25 und
das Diagramm in Fig. 1.15 auf S. 27). Wir
müssen ihr Ergebnis deshalb als empirisch
mögliche, aber noch nicht bestätigte Modell-
hypothese auffassen.
Bedauerlich ist, daß Marcus den For-
schungsstand generell nur bis 1972/73 ver-
arbeitet. Enttäuschend ist, daß sie Anregungen
zur raum-zeitlichen Verbreitung von Emble-
men, die in zwei Aufsätzen von Thomas S.
Barthel aus den Jahren 1968 und 1969 ent-
halten sind, nicht voll ausschöpft.
Andererseits muß ihr ein nachdrückliches
Lob bezüglich der Verarbeitung von primärem
Quellenmaterial gezollt werden. Marcus be-
schränkt sich nicht auf die in der Standard-
literatur veröffentlichten Hieroglyphen, son-
dern erfaßt auch schwer zugängliche Arbeiten
und unveröffentlichte Inschriften. Einen gute?
Eindruck davon vermittelt ihre Tabelle 2 (S.
14—15).
Dumbarton Oaks, die herausgebende und
finanzierende Institution, ist für den hohen
Standard der Text- und Bildgestaltung ihrer
Veröffentlichungen bekannt. Angesichts der
dadurch der Verfasserin zu Gebote stehenden
Möglichkeiten ist es bedauerlich, daß sie so we-
nig Gebrauch davon macht. Alle Strichzeich-
nungen, die für dieses Buch neu angefertigt
wurden, sind durch zittrige Linienführung
oder Verzerrung stilistisch entartet. Einige wei-
sen außerdem zeichnerische Detailfehler oder
irreführende Bildlegenden auf, was um so
schwerer wiegt, als nur der Leser dessen ge-
wahr wird, der sowieso Zugang zu verläßli-
chen Abbildungen hat und gewohnt ist, sich die
Texte in ihrer ursprünglichen syntaktischen
Anordnung anzusehen. Auch die 17 ganzseiti-
gen Karten befriedigen nicht. Sie enthalten
keinerleit topographische Informationen, und
in der Mehrzahl weisen sie noch nicht einmal
Maßstabsangaben oder geographische Koordi-
naten auf. In ihrer thematischen Aussageform
sind sie außerdem naiv, da viele nur zwei bis
sechs punktuelle thematische Einträge enthal-
ten, so daß räumliche Beziehungen in Frage
stehender Merkmale nur sehr beschränkt an-
schaulich werden. Sicher wäre es besser gewe-
sen, den thematischen Gehalt auf weniger Kar-
ten unterzubringen. Schließlich enthält das Buch
weder ein Register noch ein Verzeichnis der
Karten, Abbildungen oder Tabellen, die im-
merhin ein Drittel seines Gesamtumfangs aus-
machen.
Berthold Riese
Hans Läng:
Indianer waren meine Freunde — Leben
und Werk Karl Bodmers 1809—1893. BernI
Stuttgart: Hallwag. 1976. 192 S., 107 Abb.
(davon 35 farbig), Index.
Kein Wissenschaftler und auch kein anderer
Autor kann über die Indianer des Oberen Mis-
souri berichten, ohne auf die Bilder einzuge-
hen, die der Schweizer Karl Bodmer während
der Reise des Prinzen Maximilian zu Wied
1832—34 angefertigt bzw. skizziert hat. In
jedem Buch, das über nordamerikanische India-
ner im allgemeinen oder die Prärie-Indianer
im speziellen in den letzten Jahrzehnten —
und das sind nicht wenige — erschienen ist,
findet sich fast immer mindestens eine Illustra-
tion, die von Bodmer stammt, in einigen Fäl-
len sogar ohne Bezeichnung des Autors. So war
es an der Zeit, daß jemand sich einmal einge-
hender mit diesem Künstler befaßte, der —
zumindest bei einem breiteren Publikum — oft
im Schatten des etwas früheren George Catlin
steht, der ihn aber weder künstlerisch noch an
Exaktheit erreichen kann. Daß sich Hans Läng
seines Landsmannes angenommen und in müh-
seliger Kleinarbeit viele Fakten zusammenge-
tragen hat, kann man ihm nicht hoch genug
anrechnen: denn Schwierigkeiten gab es, wie in
der Einleitung kurz angeschnitten wird, genug.
Viele Unterlagen sind verschwunden. Der
wichtige Nachlaß des Prinzen zu Wied mit
der Masse der von Bodmer geschaffenen
Skizzenblätter wurde 1962 an die Northern
Natural Gas Co. in Omaha, Nebraska, ver-
kauft, sicherlich weil sich keine deutsche oder
schweizerische Institution fand, diese Hinter-
lassenschaft zu kaufen, eigentlich ein Armuts-
zeugnis für die betreffenden Stellen. Der Nach-
laß findet sich heute im Joslyn Art Museum,
Omaha, und war Läng nicht zugänglich, auch
ein Vorgang, der zu denken gibt und nicht gera-
de von wissenschaftlicher Kooperation zeugt. Der
Buchbesprechungen
183
Rezensent wäre mit einem solchen Fakt nicht
so vornehm wie der Autor umgegangen und
hätte härtere Worte als nur „verunmöglicht“
oder „gesperrt“ benutzt.
Neben der Einleitung hat Läng das her-
vorragend gedruckte Buch in zwei Teile ge-
gliedert; der Rezensent möchte allerdings lie-
ber drei Teile — nach ihrer Wichtigkeit —
unterscheiden. Der erste (S. 13—114) befaßt
sich mit der Reise 1832—34, weitgehend bezo-
gen auf Bodmer und seine Tätigkeit. Quellen
sind neben dem leider viel zu seltenen Reise-
werk Auszüge aus Briefen und dem Tagebuch
des Prinzen, die noch vor dem Verkauf in die
USA gemacht worden sind. Hier haben wir in
einer Kurzfassung die ganze Reise nochmals
vor uns, ergänzt durch Beobachtungen Längs,
die er bei seinen Aufenthalten an den entspre-
chenden Stellen in den USA machen konnte.
Daneben hat der Autor Hintergrundinforma-
tionen teils geschickt in den Text eingebaut,
teils als Fußnoten beigegeben, um nicht den
Fluß der gut geschriebenen Erzählungen zu
stören. Bilder, Aquarelle und Skizzen Bod-
mers sowie einige Fotos ergänzen diesen Teil.
Dabei sind in einigen Fällen Zeichnungen und
Fotos nebeneinandergestellt worden, um einen
Vergleich herbeizuführen, so bei der Gabel-
antilope (S. 40) oder einer Ansicht vom Mis-
souri (S. 60/61). Sie ermöglichen es, Rück-
schlüsse auf die Exaktheit der BoDMERschen
Bilder zu ziehen, die sicher zu seinen Gunsten
ausfallen. Andere Gegenüberstellungen zeigen
Vergangenheit und Gegenwart, so z. B. bei
Bellevue (S. 33/34). Insgesamt bietet dieser
Teil einen guten Einblick in die Reise und gibt
sie sozusagen in einer Zusammenfassung wie-
der, die vor allem jenen, die das Reisewerk
nicht in Händen haben, eine gute Übersicht
über deren Verlauf gewährt.
Als zweiten Teil möchte der Rezensent die
Biographie Karl Bodmers (S. 117—162) be-
trachten. Sie ist von außerordentlichem Inter-
esse, denn — seien wir ehrlich: Außer der
Tatsache, daß Bodmer den Prinzen zu Wied
auf seiner Amerikareise begleitete und hervor-
ragende Bilder schuf, war uns, den Völkerkund-
lern — sofern man nicht die vorher erschiene-
nen Aufsätze Längs gelesen hatte — kaum
etwas über das Leben des bedeutendsten Ma-
lers nordamerikanischer Indianer bekannt.
Für den Rezensenten zumindest war das spä-
tere und frühere Leben neu — neu, daß Bod-
mer zum Kreis von Barbizon gehörte, neu
seine Freundschaft mit Rousseau, neu seine
weiteren Erfolge als Landschafts- und Tierma-
ler. Wie so oft wurde der Mensch hier bisher
über der Wissenschaft vergessen.
Der dritte Teil könnte als eigentlicher An-
hang bezeichnet werden. Er enthält eine Kurz-
biographie des Prinzen zu Wied (S. 163—170),
einen kurzen Abriß der völkerkundlichen Lite-
ratur über Nordamerika bis 1800 (S. 171 —
174), ein Werkverzeichnis (S. 175—183), so-
weit Läng diese Arbeiten lokalisieren konnte
— die Omaha-Bestände fehlen natürlich auch
hier —, Bibliographie und Index.
Dieses Buch kann nicht besprochen werden,
ohne auf die herrliche Ausstattung mit Bildern
einzugehen, von denen 76 (davon 30 farbige)
von Bodmer selber stammen, darunter eine
Reihe bisher unveröffentlichter Aquarelle und
Skizzen. Sie machen neben dem Text einen
Teil des Wertes dieses Buches aus. Leider muß
aber hier auch Kritik ansetzen, die allerdings
die Gesamteinschätzung nur unwesentlich
schmälert. Die wenigsten Bilder haben eine
Unter- bzw. Beischrift. Einige sind im Text er-
wähnt, aber längst nicht alle. Da es auch kein
Abbildungsverzeichnis gibt, stehen viele ohne
Bezeichnung im Raum. Sicherlich könnte man
sie mit Hilfe des Reisewerkes identifizieren,
aber wer hat das schon? Auch im Werkver-
zeichnis findet sich kein Hinweis, ob das ent-
sprechende Bild im Buch erscheint. Vielleicht
kann das bei einer Neuauflage geändert wer-
den.
Vermißt hat der Rezensent auch einen Hin-
weis auf den 1957 erstmalig veröffentlichten
und 1968 erweiterten Aufsatz von John C.
Ewers über die Einflüsse, die Bodmer und
Catlin auf die indianische Malerei ausgeübt
hatten. Augenscheinlich kannte Läng diese
nicht, sonst hätte er nicht versäumt, darauf
einzugehen, z. B. dort, wo er von den Malver-
suchen des Mandan Sih-Chida (S. 81) berich-
tet.
Insgesamt gesehen, hat Läng ein rund-
herum erfreuliches Buch geschaffen, das nicht
nur viele neue Tatsachen vermittelt, alte zu-
sammenfaßt und falsche berichtigt, sondern
auch mit seinem sehr lesbaren Text und der
hervorragenden graphischen Gestaltung volles
Lob verdient. Es ist ein schönes, wenn auch
recht spätes Denkmal für den „Indianer-Bod-
mer“, wie er manchmal genannt wird. Darüber
hinaus zeigt es, wieviel auch historische For-
schungen noch heute der Völkerkunde geben
können.
Wolfgang Haberland
184
Buchbesprechungen
Angeführte Literatur:
Ewers, John C.:
1957 Early White Influence upon Plains In-
dian Painting — George Catlin and
Carl Bodmer among the Mandan.
Smithsonian Miscellaneous Collection,
Bd. 134, No. 7. Washington.
1968 Indian Life on the Upper Missouri.
Norman, Okla.
Wied, Maximilian Prinz zu:
1839—41 Reise In das Innere Nord-America
in den Jahren 1832 bis 1834. Cob-
lenz.
FÜHRER UND KATALOGE
Johannes Kalter:
Aus marokkanischen Bürgerhäusern. Aus-
stellungskatalog des Linden-Museums Stutt-
gart. 1977. 123 S., 33 Abb., 18 Fig., 11
Farbtaf., 1 Karte.
Das Linden-Museum Stuttgart legt mit
dieser Publikation von Johannes Kalter
einen Führer zur Ausstellung von Samm-
lungsgegenständen „aus marokkanischen Bür-
gerhäusern“ vor. Um es gleich vorweg zu
sagen: der Titel mißfällt mir sehr. Die Be-
zeichnung „Bürgerhäuser“ löst bei uns Vor-
stellungen aus, die — verbunden mit dem
Begriff Bürgertum — eine unstatthafte Schab-
lone für völlig anders geartete historische Ver-
hältnisse in Marokko abgeben.
In seiner Einführung weist Kalter selbst
auf diese Schwierigkeit hin und erklärt kurz,
klug und allgemeinverständlich die historische
Entwicklung und den kulturellen Hintergrund
islamischer Städte und ihrer Bewohner; den-
noch fragt man sich, warum er nicht nennt,
was er bespricht: nämlich die traditionelle
marokkanische Stadtkultur. Oder kam es ledig-
lich auf einen „griffigen“ Titel an?
Ein anderes Zugeständnis an einen breiten
Leserkreis halte ich dagegen für vertretbar:
Ortsnamen und geographische Bezeichnungen
werden in der Schreibweise gebracht, wie sie
auf französischen Landkarten üblich ist; ebenso
werden arabische Fachausdrücke nach fran-
zösischem Muster transkribiert. Diese Methode
erleichtert ohne Zweifel die Suche nach den ge-
nannten Orten, das Wiederfinden von Spezial-
ausdrücken in Reise- und Kunstführern. (Was
allerdings ein Reisender deutscher Zunge, der
nicht in die Geheimnisse französischer Um-
schrift eingeweiht ist, aus „Chechaouen“ =
Stadt im westlichen Rif oder aus „tajine“ =
Spezialtontopf für ein Fleischgericht gleichen
Namens macht, würde kein Marokkaner mehr
verstehen.) Apropos „Suche“ nach Ortsnamen:
dem Führer ist in der vorderen Umschlag-
klappe eine Karte beigegeben, die manche der
im Text genannten Orte vermissen läßt (u. a.
Chechauouen und Taroudant), dafür aber
einige nichtgenannte verzeichnet.
Kommen wir jedoch zum Anliegen und In-
halt der Arbeit. Der Verfasser möchte, dem
Programm der Ausstellung entsprechend, das
Inventar wohlhabender marokkanischer Stadt-
häuser traditionellen Stils vorstellen. In Wort
und Bild werden nacheinander Hauskonstruk-
tion, Baudekor und Ornamente, Mobiliar und
Beleuchtung, Kücheneinrichtung, Teegerätschaf-
ten, Raumschmuck, Frauenkleidung und Waf-
fen vorgestellt und besprochen. Dieser sehr in-
formative, mit großer Sachkenntnis und Liebe
zum Detail bearbeitete Hauptteil der Veröf-
fentlichung ist geschickt in eine „Rahmenhand-
lung“ eingebracht worden: der Leser wird
durch ein marokkanisches Haus geführt, ihm
werden alle sehenswerten Einrichtungsgegen-
stände gezeigt, es werden ihm Gebrauch und
Bedeutung profaner Haushaltsgeschirre und
repräsentativer Punkgerätschaften erklärt und
er wird schließlich zu zeremoniellem Teetrin-
ken und einem Gastmahl eingeladen. Auf diese
Weise wird auch dem Sachunkundigen eine
fremde Kultur nahegebracht, ohne ihn zu er-
müden. Der Sachkundige allerdings wird als
Mangel empfinden, daß marokkanisch-arabi-
sche Termini für die gezeigten Gegenstände
nur sehr selten (und dann in besagter unwis-
senschaftlicher Umschrift) mitgeteilt werden. Als
kleinere Mängel fallen u. a. etwa auf: bei den
auf S. 80 abgebildeten Teegerätschaften fehlen
die Gläser; für Einladungen „wichtiger“ Gä-
ste werden dekorative, mit Silber- oder Gold-
ziselierung verzierte Teegläser für unerläßlich
gehalten. Auch sollte ein silbernes Teetablctt,
als wichtigstes Paradegeschirr jedes besseren
marokkanischen Haushaltes, eigentlich nicht
fehlen.
Mangelndes Geschick im Umgang mit ara-
bischen Wörtern wird an verschiedenen Stel-
len deutlich. Zum Beispiel: muß denn der in
Deutschland inzwischen allenthalben bekannte
Buchbesprechungen
185
Kuskus immer als Cous-cous erscheinen? (Das
Wort wird überdies im Französischen wie im
Arabischen zusammengeschrieben.)
Nicht so gut wie den Hauptteil der
Arbeit finde ich den einleitenden geographi-
schen und den historischen Überblick. Beide
Kapitel bringen jedoch die wichtigsten Tat-
sachen in leicht lesbarer Form und erfüllen da-
mit den Anspruch, den man an eine Publika-
tion der vorliegenden Art stellen sollte. Er-
freulich als Verständnisgrundlage und Über-
leitung zur Darstellung des Hauses ist das Kapi-
tel über die marokkanische Stadt.
Trotz verschiedener kleiner Unebenheiten
(z. B. ist die Eigenbezeichnung der Berber sing.
amazigh, pl. imazighen, ihre Sprache heißt
tamazight, S. 20; Farbe wird nicht aus der
Safran-Wurzel — die eine Knolle ist —, son-
dern aus den Narbenschenkeln der Blüten ge-
wonnen, S. 100; der Stamm im Mittleren Atlas
heißt nicht Beni Nguild, sondern Beni Mgild,
S. 102) hat Kalter insgesamt eine schöne,
runde Arbeit vorgelegt, die weit mehr ist als
ein Ausstellungskatalog und die ich mit Ge-
winn und Freude gelesen habe.
Helga Venzlaff
Sigrid Westphal-Hellbusch /
Gisela Soltkahn;
Mützen aus Zentralasien und Persien. Ver-
öffentlichungen des Museums für Völker-
kunde Berlin. N. F. 32 — Abt. Westasien II.
1976. 348 S., 166 Abb. (teilw. farbig),
Zeichn. i. T., 1 Karte.
Die vorliegende Publikation steht in der
Tradition der thematisch sehr eng umrissenen
Berliner Material-Veröffentlichungen. Selbst in
diesem Rahmen nimmt sie durch die unge-
wöhnlich starke Begrenzung des Themas eine
Sonderstellung ein. Publiziert werden 142
Mützen und eine größere Anzahl von Mützen-
bändern.
Um es vorwegzunehmen: Was die in diesem
Punkt nicht sehr ergiebige Literatur über
Herstellung, Funktion und Ornamentik der
Mützen hergibt, in dieser Publikation ist es
zusammengefaßt. Was an technologischen An-
gaben mit Hilfe der Objekte zu rekonstruieren
war, ist durch die Zusammenarbeit der Wissen-
schaftlerin und der Texilrestauratorin ermittelt
worden. Hier wurde Vorbildliches geleistet.
Die Arbeit läßt dem textilkundlich Interessier-
ten keine Wünsche offen. Für den, der sich
nicht als Textilfachmann betrachtet ist die aus-
führliche „Darstellung und Verwendung der
Fachausdrücke“ außerordentlich hilfreich. Wenn
sich bei ihm, während der Lektüre doch ein
gewisses Unbehagen einstellt, hat das zwei
Gründe:
1. Ohne zufriedenstellende Antwort bleibt
fast immer die Frage der Zuordnung bestimm-
ter Mützenformen oder -Ornamente zu be-
stimmten Ethnien. Die Autorin hat in der Ein-
leitung auf die auch dem Rezensenten bekann-
te, außerordentlich ungünstige Quellenlage hin-
gewiesen. Dennoch hätte es möglich sein müs-
sen, mit Hilfe eines Vergleichs der Mützen mit
anderen Textilien und insbesondere mit Knüpf-
erzeugnissen sowie durch einen Vergleich mit
sicher bestimmten Stücken in anderen alten
Sammlungen die eine oder andere Zuschreibung
zu wagen. Auch wenn sich hier dann Frage-
zeichen ergeben hätten, wäre es dennoch für
den Bearbeiter, der vor ähnlichen Problemen
steht, eine Hilfe gewesen.
2. Noch schwieriger ist die Frage der Inter-
pretation der Ornamente. Die angebotene
Lösung ist allerdings noch unbefriedigender.
Ein einführender Abschnitt „Ornamentik“
stützt sich im wesentlichen auf Moschkowa und
Sucharewa. Es werden bestimmte Grundzüge
der Musterung herausgestellt und einige Orna-
mente benannt. Bei fast allen vom Muster her
auffälligen Mützen wird die Bearbeitung mit
einer Bemerkung abgeschlossen, in der auch
in der Regel eine sehr vorsichtige Interpreta-
tion der Ornamente versucht wird. In einigen
Fällen ist schon dieser Versuch zuviel. — Der
Rezensent hatte dann immer den Eindruck,
die Autorin habe das Ornament gefunden,
das sie gesucht hat. — In anderen, recht ein-
deutigen Fällen ist der Versuch zu interpretie-
ren zu zaghaft gemacht worden. Gesucht und
häufig gefunden wird z. B. das Vogel-, Vogel-
schwingen- und Vogelkrallenmotiv. Daß für so
deutliche florale Muster, wie die der Abbildun-
gen 19 und 20, Moschkowas Deutung als
Umwandlung von Vogeldarstellungen in
pflanzliche Motive angeboren wird, überfor-
dert auch den phantasiebegabten Betrachter.
Ebenso wird der „unbefangene Betrachter“
wohl Schwierigkeiten haben, In der Füllfigur
der Abbildung 55 einen Vogel zu sehen. Auch
die Erklärung von Fruchtzweigen, wie z. B. auf
der Abbildung 47, als Vogelkralle ist nur
schwer nachzuvollziehen. Die Freude des Re-
zensenten über eine klare Blütendarstellung in
einer Ranke wurde durch die Erklärung, es
handele sich um ein Sonnenrad (Abb. 120), den-
noch nicht beeinträchtigt. Demgegenüber ist es
erstaunlich, daß die Autorin bei Abbildung
113, auf der deutlich ein Waschbecken und
186
Buchbesprechungen
eine Wasserkanne zu erkennen sind, an die-
ser Deutung Zweifel anmeldet.
Zusammenfassend darf man wohl feststel-
len: Für den Textilfachmann muß die Arbeit
höchst befriedigend sein; deshalb gehört sie
auch in jede Museumsbibliothek. Dem Ethno-
logen zeigt sie an diesem Randthema, wie
gering unser Wissensstand noch ist und wieviel
Arbeit uns noch zu leisten bleibt. Auch darin
könnte ein Sinn dieser Publikation liegen.
Johannes Kalter
Margrit Thomsen:
Geheimnisvolles Nepal — Tempelschätze
aus zwei Jahrtausenden. Ausstellungskata-
log. Hannover: Kestner-Museum. 1977. 144
S., 117 Fotos (farbig und schwarzweiß),
1 Karte.
Die Ausstellung „Geheimnisvolles Nepal“
eröffnet eine Folge außereuropäischer Sonder-
stellungen des Kestner-Museums Flannover. Sie
ist zugleich, wie im Katalog gesagt wird, die
erste große Ausstellung indisch-nepalischer
Kunstwerke in Norddeutschland seit mehr als
einem Jahrzehnt. Die gezeigten Kunstgegen-
stände (Stein- und Holzskulpturen, Bronzen,
Stoffmalerei, Tonplaketten, Manuskripte und
verschiedene Objekte des Kunsthandwerks)
sind Leihgaben aus dem Museum für Indische
Kunst Berlin und dem Linden-Museum Stutt-
gart. Sie umspannen einen weiteren Rahmen,
als der Titel vermuten läßt, denn eine Reihe
von ausgestellten Stücken stammt aus dem in-
dischen Raum (Bihar, Bengalen, Kashmir),
aus Ladakh, Bhutan, Zentralasien (Kyzil) und
vor allem Tibet. Angehängt ist eine Gruppe
jüngerer Bronzefiguren aus der Sammlung Max
Büchner, die, wie es im Untertitel „Tempel-
schätze aus zwei Jahrtausenden“ ausgedrückt
ist, die Kontinuität nepalischen Kunsthand-
werks bis in die heutige Zeit hinein dokumen-
tieren soll. Insgesamt zehn Kunstobjekte, alle
aus nepalischen Sammlungen, finden sich zwar
im Katalog abgebildet (und zwar unter den
Nummern 1, 10, 14, 15, 16, 17, 20, 34, 85, 90),
sind jedoch nicht ausgestellt, ein Umstand, der
die Schwierigkeiten, unter denen diese Aus-
stellung vorbereitet werden mußte, beleuchtet.
Ursprünglich war nämlich geplant, Objekte aus
nepalischen Museen nach Hannover zu holen.
Die Erlaubnis zur Ausfuhr der schon ausge-
wählten Kunstgegenstände wurde von nepali-
scher Seite jedoch im letzten Augenblick zu-
rückgezogen, so daß kurz vor Ausstellungser-
öffnung eine totale Umorganisation nötig wur-
de. Einige dieser Objekte (vgl. die obenge-
nannten Abbildungsnummern) hat man den-
noch aus didaktischen Gründen im Katalog be-
lassen, weil sie das Gesamtbild abrunden (im
Katalog selbst wird allerdings auf diesen Um-
stand nicht hingewiesen, wohl aber in der
Tonbandführung).
Die Tatsache, daß Margrit Thomsen vom
Linden-Museum Stuttgart bereit war, unter
diesen Umständen in kürzester Zeit den Kata-
log für die Ausstellung völlig umzustellen, und
daß es tatsächlich gelang, ihn am Tage der
Eröffnung noch vorzulegen, kann nicht hoch
genug geschätzt werden.
Der Katalog gibt eine umfassende Ein-
führung in den Themenkreis, wobei die Bei-
träge mehrerer Verfasser geschickt zusammen-
gestellt wurden: Von Heinrich Seemann
stammt der Beitrag zur Geschichte Nepals
(Auszug aus: „Nepal 2029 — Gestern noch
verbotenes Land“), von C. von Führer-Hai-
mendorf „Die Bevölkerung von Nepal“ (Aus-
zug aus: „Bild der Völker“, Bd. 7, Südasien
und Ostasien), von Christian Meyer „Die
Newar Bronzegießer“. Frau Thomsen hat die
Einführung in die Religionen geschrieben. In
einerseits wissenschaftlicher, andererseits gut
verständlicher Form hat sie, Indologin mit be-
sonderen Kenntnissen des nördlichen Buddhis-
mus, die wesentlichen Merkmale des Hinduis-
mus, Buddhismus, Vajrayana-Buddhismus und
Lamaismus erläutert.
In den gesamten Einführungstext, alle Bei-
träge umfassen zusammen 15 Seiten, sind klei-
ne Fotos eingestreut, die Szenen aus dem heu-
tigen Nepal wiedergeben. Ein tabellarischer
historischer Überblick und eine geographische
Übersichtstabelle bieten dem Ausstellungsbesu-
cher und Leser schnelle Orientierungshilfe. Her-
vorragend ist die großzügige Bildausstattung
und übersichtliche Anordnung des Katalogs.
Alle ausgestellten Objekte sind abgebildet, ein
großer Teil davon in Farbe, die Qualität der
Fotos ist ausgezeichnet. Die Legenden zu den
Abbildungen, die jeweils die rechte Katalog-
seite einnehmen, finden sich stets auf der ge-
genüberliegenden, linken Seite. Das macht
dem Leser die Lektüre besonders angenehm und
erspart das bei vielen Katalogen leider unum-
gängliche endlose Herumblättern.
Auf die große Eile, in der die Beschrei-
bungen zu den einzelnen Ausstellungsobjekten
angefertigt werden mußten, wird es sicherlich
zurückzuführen sein, daß Kleinigkeiten über-
sehen wurden. Einige Bildverwechslungen fan-
Buchbesprechungen
187
den statt, und einige Formulierungen können
Mißverständnisse Hervorrufen. So z. B. die Be-
merkung im historischen Überblick (2000—1000
v. Chr.) zur Überlieferung der vier Vedas,
die natürlich zu dieser Zeit noch nicht schrift-
lich fixiert waren, sondern erst in den ersten
nachchristlichen Jahrhunderten Vorlagen. Zur
Beschreibung von Abbildung 6, dem sitzenden
Gautama Buddha, ist eine kurze Bemerkung
nötig: bei der halbrunden Erhebung auf dem
Kopf des Buddha handelt es sich nicht um die
Andeutung seines Turbans. Er hatte ihn abge-
legt, als er vom Haus in die Hauslosigkeit
zog, zum Zeichen für seine Lösung von der
Weltlichkeit. Zurück blieb die übliche Frisur
des hochgebundenen Haarknotens, wie sie bei
den frühen Buddhafiguren (z. B. bei dem sog.
Katrabuddha) sehr naturgetreu dargestellt
wird, sich in späteren Darstellungen jedoch, so
auch im vorliegenden Fall, zu einer kurzen
Löckchenfrisur wandelt.
Wenn auch, wie gesagt, Kleinigkeiten der
Korrektur bedurft hätten, wird doch dadurch
der Gesamteindruck dieses großzügig und über-
sichtlich aufgebauten Katalogs keineswegs be-
einträchtigt. Es bleibt das große Verdienst der
Verfasserin, daß durch ihre Tag- und Nacht-
arbeit der Katalog fristgerecht zum Ausstel-
lungsbeginn vorlag.
Wibke Reuss de Lobo
Clara B. Pink-Wilpert:
Bali — Eine Einführung. Wegweiser zur
Völkerkunde, Heft 20. Hamburgisches Mu-
seum für Völkerkunde. 105 S., 55 Ahb.
einschl. 1 Karte u. meherer Skizzen.
Die für ein breites (Museums)Publikum
geschriebene Einführung in die Struktur der
indonesischen Insel Bali, in das Leben, die Kul-
tur, die Kunst und die Religion ihrer Einwoh-
ner, kann nicht mit jenen Maßstäben gemes-
sen werden, die bei einem rein wissenschaft-
lichen Werk anzulegen wären. Gewisse Verall-
gemeinerungen sind somit unumgänglich; von
einer differenzierteren Darstellung mußte im
vorgegebenen Rahmen abgesehen werden. In-
teressierte können sich anhand der Aufstellung
„Ausgewählte Literatur“ zusätzliche Informa-
tionen verschaffen, durch die sie dann auch an
jene Veröffentlichungen herankommen, die hier-
in unberücksichtigt bleiben mußten. Die sich auf
Bali beziehende Literatur ist zu umfangreich,
als daß ihr in diesem Rahmen auch nur an-
nähernd Rechnung getragen werden könnte.
Die vorliegende Einführung ist so flüssig
und instruktiv geschrieben, daß dem Leser dar-
über gar nicht bewußt wird, welchen Geschik-
kes es bedarf, um diese komplexe und z. T.
diffizile Materie auf den kleinen Umfang von
etwa 94 echten Textseiten zu bringen. Das
Buch enthält die wichtigsten Aspekte baline-
sischen Lebens und seiner Struktur sowie
balinesischer Kultur, Kunst und Religion, de-
nen sich Bemerkungen über Geographie, Ge-
schichte, Sprache und Wirtschaft hinzugesellen.
Neben dem Vorwort, dem Glossar und den
Literaturangaben ist der Inhalt in elf Kapitel
aufgeteilt, vielleicht eine versteckte Reverenz,
denn diese ungerade Zahl hat auf Bali eine
besondere magische Bedeutung. Selbst für den
Kenner wird einiges Wissenswertes geboten,
da auch moderne Entwicklungen, z. B. mit
Hinblick auf den Hausbau, die Schulpflicht, die
Kleidung der Frau und die aktive Beteiligung
der Frauen auf den Gebieten der Musik und
Malerei usw., berücksichtigt wurden. Besonders
die Ausführungen über Religion, Ahnenver-
ehrung und die Priesterschaft bieten eine Fülle
von Details, die wesentlich zum Verständnis
balinesischer Verhaltensweisen beitragen.
55 beigegebene Abbildungen und Skizzen
ergänzen die Beschreibungen. Bedauerlich ist
die mangelhafte, der Verfasserin nicht anzula-
stende Qualität einiger Abbildungen (z. B. No.
7, 46, 50, 51), auf denen die im Text erwähn-
ten Einzelheiten, wie die kleine Mauer hinter
einer Eingangstür, Details von Masken etc.,
nicht ausreichend deutlich zu erkennen sind.
Dies trifft besonders auf Abb. 31 zu, die gerade
jenes Objekt, auf das es ankommt, selbst mit
der Lupe nur schemenhaft erkennen läßt. Nur
jemand, der balinesische Flammendolche kennt,
bekommt eine vage Vorstellung von dieser
„abgebildeten“ Waffe. Ein stark vergrößerter
Bildausschnitt des Rembrandt-Gemäldes wäre
dienlicher gewesen. Die zweimalige Wieder-
gabe ganzer Sätze auf den Seiten 82 und 83
ist ein wenig störender Schönheitsfehler.
Friedrich Seltmann
Herbert Tischner:
Südseemasken in der geistigen Kultur der
Melanesier. Wegweiser zur Völkerkunde,
Heft 19. Hamburgisches Museum für Völ-
kerkunde. 1976. 64 S., 16 Abb.taf.
Das 19. Heft der „Wegweiser zur Völker-
kunde“ des Hamburgischen Museums für Völ-
kerkunde ist dem im Krieg zerstörten und erst
in den vergangenen Jahren wieder eröffneten
Maskensaal gewidmet. Durch eine kurze Ein-
leitung — in der Tischner auf die Geschichte
188
Buchbesprechungen
der Hamburger Sammlung eingeht — wird
die Ausstellung in eine „stadtgeschichtliche“
Beziehung zum — hamburgischen — Besucher
gebracht.
Der Verfasser versucht auf 64 Seiten mit
17 Abbildungen im Text und ergänzt durch
einen Tafelanhang mit 49 Fotos, die Masken
der Südsee nicht nur formal darzustellen, son-
dern ihre Funktion ebenso zu beleuchten wie
ihren geistigen und gesellschaftlichen Hinter-
grund. Von zentraler Bedeutung sind für ihn
dabei die Männergeheimbünde, deren Funktion
er an den Beispielen des Ingiet (ohne Masken),
des Dukduk, des Hevehe und der Organisation
der Suque darstellt, sowie die Initiation, der
über vier Seiten gewidmet werden.
Eine Beurteilung der Auswahl dieser Bei-
spiele ist kaum möglich ohne eine gleichzeitige
Besprechung der Ausstellung (was gleicher-
maßen für die Didaktik gilt). Unabhängig da-
von ist es Tischner Jedoch gelungen, auf
knappem Raum wesentliche Züge dieser Insti-
tutionen herauszuarbeiten. Gleiches ist für das
abschließende, den Masken gewidmete Kapitel
zu sagen: Kurze Bemerkungen zur Umwelt,
formale Beschreibungen einzelner Maskentypen,
das Eingehen auf den Wissensstand über die
Bedeutung einzelner Formen ebenso wie die
Darstellung der Funktion sind sicher geeignet,
das bei einem Ausstellungsbesuch gewonnene
Bild zu vertiefen oder sich ins Gedächtnis zu-
rückzurufen.
Kritischer dagegen sind die Eingangskapitel
über die „Kultur Melanesiens“ und „Die Mas-
ken in der Kunst der Melanesier“ zu beurtei-
len. Daß von der Kultur und der Religion
der Melanesier gesprochen wird, mag in einem
Katalog, dessen Ziel „Übersetzung“ wissen-
schaftlicher Ergebnisse auf schmalem Raum,
also auch Vereinfachung sein muß, dahinge-
stellt bleiben. Daß Totemismus und Animismus
zwar erwähnt werden, hinter der Darstellung
des Ahnenkults aber vollständig zurücktreten,
ist bedauerlich. Ärgerlich jedoch ist die Aus-
sage „So müssen wir den Ursprung der Kunst
auch Melanesiens in der Religion erblicken“
(S. 19), „wenn an anderer Stelle der Hinweis
folgt, daß „erhebliche Teile Neuguineas, insbe-
sondere das gesamte Gebiet des zentralen
Hochlandes quer durch die Insel für jegliche
Kunst, also auch für die Masken ausscheiden,
weil hier die geistigen Grundlagen dafür feh-
len.“
Diese kurzen Passagen können jedoch
ebensowenig wie einige Anklänge an „edle
Wilde“ (z. B. S. 22/23) den Gesamteindruck
zerstören, daß hier ein Katalog vorliegt, der
dem Leser Anregungen zu weiterer Beschäfti-
gung mit dem Thema geben kann und dem
Kollegen durch die — wenn auch kleinforma-
tigen — Fotografien einen Einblick in die
Hamburger Sammlung erlaubt.
Ingrid Heermann
Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Prof. Dr. Thomas S. Barthel, Völkerkundliches Institut der Universität Tübingen, Schloß,
7400 Tübingen.
Prof. Dr. Johannes Benzing, Seminar für Orientkunde, Johannes-Gutenberg-Universität,
Saarstraße 21, 6500 Mainz.
Dr. Klaus J. Brandt, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Carl-Johan Charpentier, Väktargatan 40 a, S-75422 Uppsala.
Dr. Heinz-Christian Dosedla, Magirusstraße 23, 7000 Stuttgart 30.
Dr. Barbara Frank, Wannkopfstraße 1, 3550 Marburg.
Dr. Christraud Geary, Panoramastraße 40, 6901 Wiesenbach.
Dr. Wolfgang Haberland, Hamburgisches Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte,
Binderstraße 14, 2000 Hamburg 13.
Dr. Brigitta Hauser-Schäublin, Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Museum für
Volkskunde Basel, Augustinergasse 2, CH-4051 Basel.
Dr. Ingrid Heermann, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Jürgen Jensen, Seminar für Völkerkunde der Universität Hamburg, Rothenbaum-
chaussee 64, 2000 Hamburg 13.
Prof. Dr. Christoph Jentsch, Geographisches Institut der Universität Mannheim, Schloß,
6800 Mannheim 1.
Dr. Gabriele K. Jettmar, Birkenwaldstraße 88, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Johannes Kalter, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Viola König, Arbeitsstelle für Altamerikanische Sprachen und Kulturen, Universität Ham-
burg, Rothenbaumchaussee 64 a, 2000 Hamburg 13.
Jörn Kroll-Mermberg, Reitgasse 13, 3550 Marburg.
Dr. Friedrich Kußmaul, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Prof. Dr. Lorenz G. Löffler, Ethnologisches Seminar der Universität Zürich, Rämistraße 44,
CH-8001 Zürich.
Leonhard Meurer, J. Leuschstraße 13, 5474 Brohl/Rhein.
Wolfgang-Dietrich Meyer, Wacholderweg 16, 7000 Stuttgart 1.
Dr. Johannes W. Raum, Bahnhofstraße 2, 8051 Langenbach.
Dr. Wibke Reuss de Lobo, Nauheimer Straße 46, 1000 Berlin 33.
Dr. Berthold Riese, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 64 a, 2000 Hamburg 13.
Prof. Dr. Hans Ruthenberg, Landwirtschaftliche Hochschule der Universität Hohenheim,
7000 Stuttgart 70 (Hohenheim).
Dr. Rose Schubert, Gailmayerstraße 13, 8000 München 80.
Dr. Axel Schulze-Thulin, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
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Anschriften der Mitarbeiter dieses Bandes
Dr. Friedrich Seitmann, Ahornstraße 52, 7000 Stuttgart 70.
Dr. Margrit Thomsen, Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, 7000 Stuttgart 1.
Prof. Dr. Harald Uhlig, Geographisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Landgraf-
Philipp-Platz 2, 6300 Gießen.
Prof. Dr. Helga Venzlaff, Johannes-Gutenberg-Universität, Saarstraße 21, 6500 Mainz.
Gertrud Weber, Wilhelm-Roser-Straße 18, 3550 Marburg/Lahn.
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