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Rezensionen
Anthropos 99.2004
Der Fokus dieser Feldforschungsstudie liegt auf all
täglichen Interaktionsprozessen zwischen den Frauen.
Einer dieser Interaktionsprozesse - und damit werden
die Leserinnen in die Welt der Frauen eingeführt - ist
eine Runde von Frauen, die sich von einer fremden
Zigeunerin den Kaffeesatz lesen lassen. Marina Reizakis
hat diesen “Proto-Event” auf Tonband aufgenommen
und geht den vielen verschiedenen Blickwinkeln, die in
dieser sprachlich und performativ verdichteten Alltags
situation zum Tragen kommen, nach. Ein wesentliches
Element eines solchen Proto-Events ist die performa
tive Selbstdarstellung der Teilnehmerinnen. Für diese
Selbstdarstellung führt die Autorin den Begriff “Ikone”
ein. Dabei geht sie von der griechischen Bedeutung
des Wortes aus, die eher dem englischen “image” äh
nelt als dem deutschen “Bild”. Der Begriff der Ikone
bezieht sich auf das Oszillierende, Dynamische und
Verdichtende von Interaktionsprozessen, das auch im
Begriff des Proto-Events zu finden ist. Die performative
Selbstdarstellung der Frauen in Pyrgi ist der rote Faden,
der sich durch die gesamte Untersuchung zieht (daher
der Untertitel des Buches; “Verspielte Ikonen der Frauen
in der Ägäis”).
Das Frauenbild der echten “Pyrgousséna” ist ei
ne “Ikone”, die sich in diskursiver und performativer
Selbstdarstellung unter den Frauen, aber auch in der
Öffentlichkeit kreiert und im ständigen Wandel begriffen
ist. Die Ikone “echte Pyrgousséna” wird von Individuen
performativ verkörpert, die damit zugleich ihren Platz
in der Dorfgemeinschaft behaupten.
Marina Reizakis zeigt an vielen Beispielen, wie die
Frauen in ihren Beziehungen zu Männern ihren domi
nanten Platz behaupten. Die jungen Frauen “spielen”
mit den Männern. Diese “Spiele”, bei denen Sprache
und Performance in der Öffentlichkeit eine besondere
Bedeutung zukommt, sind zugleich die Arena, in der die
jungen Frauen sich einen “Namen” machen. Sie werden
“Heldinnen”, über die man spricht, die eine besondere
Bedeutung für die Dorföffentlichkeit haben (Männern
wie Frauen!), aber auch ihren Wert als Ehefrau steigern.
“Sprechen über jemanden” bedeutet als kulturelles Ideal
dann auch nicht “üble Nachrede”, sondern Lob und
“Anpreisung”.
Die sozialen Rollen der Frauen werden in der Un
tersuchung je nach Alter differenziert. Während die
heiratsfähigen Frauen in der Dorföffentlichkeit - ins
besondere bei Dorffesten, bei denen das ganze Dorf
anwesend ist - die dominierenden Akteurinnen sind,
haben verheiratete Frauen und Mütter von heiratsfähi
gen Töchtern die Regie im Hintergrund. Heiratsfähige
Männer haben bei diesem “Spiel um’s Leben”, wie
Reizakis es nennt, die schlechteren Karten, sie müssen
sich nach den Spielregeln der jungen Frauen richten.
Hier “nehmen” sich nicht die jungen Männer eine Frau,
sondern “heiraten” bedeutet, dass die Frau sich einen
Mann in ihr Haus nimmt. Hier geht es nicht um die Ehre
des Mannes, sondern um die der Frau (das ethnologische
Konzept von Scham und Ehre im Mittelmeerraum wird
in Pyrgi scheinbar auf den Kopf gestellt!). Auch in Pyrgi
versuchen Eltern (d. h. Mütter) die Wahl eines Ehepart
ners zu bestimmen oder zumindest zu beeinflussen,
dem entziehen sich die jungen Frauen mit Hilfe ihrer
Freundinnen (Syntröfisses), manchmal bis hin zur - von
den jungen Frauen - inszenierten “Brautentführung”.
Die Stärke dieser Untersuchung liegt nicht zuletzt
in der sprachlichen Analyse (Griechisch ist die Mutter
sprache der Autorin) der im Buch vorgestellten Proto-
Events. Abgesehen von der performativen Selbstdarstel
lungen durch eine ausgeprägte Körpersprache sind es
vor allen Dingen der Sprachwitz und die im poetischen
Sinne verdichteten Anspielungen, die die soziale Macht
der Frauenbündnisse manifestieren und vor allem die
jungen Männer ausgrenzen und in die Irre führen.
Marina Reizakis hat mit dieser Untersuchung neue
Maßstäbe gelegt. Zum einen was die Detailfülle ihrer
ethnographischen Arbeit anbelangt. Zum anderen ist die
Untersuchung bemerkenswert, was die emische Tiefe
anbelangt. Indem sie die theoretischen Überlegungen zur
“sozialen Poetik”, zur Funktion und Wirkungsweise von
Proto-Events und die Performanztheorien zusammenbin
det, hat sie ein Werkzeug, mit dem sie die Dynamik von
Kulturprozessen aufzeigen kann, sowohl hinsichtlich der
handelnden Individuen als auch in Bezug auf Kultur
ideale und ihre stets im Wandel begriffenen Ausdrucks
formen. Ein kleines Manko dieser Veröffentlichung,
das gerade hinsichtlich der inhaltlichen Stärke dieser
Untersuchung schade ist, ist die mangelnde redaktionelle
Überarbeitung des Textes, die von Seiten des Verlags
hätte geleistet werden müssen. Ulrike Krasberg
Roughley, Neil (ed.): Being Humans. Anthropolog
ical Universality and Particularity in Transdisciplinary
Perspectives. Berlin: Walter de Gruyter, 2000. 426 pp-
ISBN 3-11-016974-6. Price: € 64,00
Ein echter Volltreffer; hier widmet sich ein sehr
gut integrierter und dazu ungewöhnlich sorgfältig ge
machter Sammelband einem wichtigen und gleichzeitig
kaum systematisch beackerten Themenfeld. Das Span
nungsfeld zwischen Universalität und Relativität wird
theoretisch und empirisch beleuchtet. Es geht um die
miteinander verknüpften Themen der sog. “Natur des
Menschen” einerseits und um Universalien, vor allem int
Bereich Kultur, andererseits. Kulturuniversalien sind, in
einfachster Formulierung gesagt, kulturelle Phänomene,
die in allen Gesellschaften vertreten sind. Es handelt sich
dabei immer um einzelne Eigenschaften von Personen,
Kollektiven oder Gesellschaften, nicht um die Summe
ihrer Merkmale. Die Behauptung einer Gleichheit von
Gesellschaften in Bezug auf ein Merkmal x schließt in
keiner Weise aus, dass in weiteren Merkmalen y oder z,
ja evtl, sogar in sämtlichen anderen Charakteristika Un
terschiede bestehen. Die Feststellung einer Universal^
betrifft also in keiner Weise die Einzigartigkeit einzelner
Gegenstände, Personen oder Gesellschaften.
Der Titel des Bands bringt durch eine interessante
Variation, der Mehrzahl zum üblichen “Mensch sein’,
die Vielfalt zum Ausdruck, die zusammen mit den
Gemeinsamkeiten bzw. der Einheit der Menschheit die
zentrale Herausforderung jeder anthropologischen Uni-