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Analecta et Additamenta
Anthropos 62. 1967
tung eine entscheidende Produktivkraft, aber es würde zu ganz falschen Schlüssen führen,
wenn man Kulturen verschiedenen Entwicklungsetappen zuweisen wollte, je nachdem,
ob Metalle verarbeitet werden oder nicht (p. 474 f.). Es gibt auch keine Möglichkeiten,
den Gesamt-Entwicklungsstand der Produktivkräfte an objektiven Kriterien zu messen
(p. 475) 41 .
Ein zuverlässiger Maßstab für die Höhe der Arbeitsproduktivität ist der ganze
Komplex der sozial-ökonomischen Beziehungen ... Die Produktivkräfte, im Zusammen
hang mit den sozial-ökonomischen Beziehungen der Menschen betrach
tet 42 , geben deshalb einen objektiven Maßstab für die allgemeine Entwicklungshöhe
ab ... Zu diesen gesellschaftlichen Auswirkungen gehören eine ganze Reihe von Faktoren,
einen der wichtigsten aber bildet das Eigentum. Der sozial-ökonomische Charakter einer
Gesellschaft wird maßgebend durch die herrschenden Eigentumsverhältnisse bestimmt.
Ob an den wichtigsten Produktionsmitteln Gemeineigentum, individuelles Eigentum oder
Privateigentum herrscht, macht das Wesen einer Gesellschaft aus. Da es zur Ausbildung
von Privateigentum aber erst kommen konnte, als die Arbeit des Menschen einen ent
sprechenden Ertrag über den von ihm benötigten Lebensunterhalt hinaus erbrachte, ist
also die Entstehung von Privateigentum immer ein untrügliches Kennzeichen für den
nahenden Untergang der Urgemeinschaftsordnung (p. 476).
Man muß diesen Abschnitt und die folgenden Seiten (pp. 476-482) genau lesen,
denn hier zeigt sich am deutlichsten, wie die ganze Systematisierung von doktrinären
Voraussetzungen beeinflußt ist, nämlich von der marxistischen Konzeption, daß es ur
sprünglich nur Gemeineigentum gegeben habe und daß das Privateigentum sich erst
sehr spät entwickelt habe 43 . Die Unrichtigkeit dieser Voraussetzung ist in einer ganzen
Reihe von Detailstudien nachgewiesen, die aber von I. Sellnow weder erwähnt noch
berücksichtigt werden (cf. hier oben Anm. 14 u. 15). Das ethnographische Material zeigt
jedoch eindeutig, daß individuelles Eigentum und individuelle (bzw. einzelfamiliale) wirt
schaftliche Betätigung sich schon bei äußerst primitiven Jägern und Sammlern finden.
Mit diesen Fakten ist die Verfasserin in folgender Weise fertig geworden : a) sie verringert
so viel wie möglich deren Bedeutung (Beispiele sind hier oben, pp. 219-221, erwähnt), b) sie
unterscheidet manchmal nicht zwischen herrenlosen (infolge dünner Besiedlung noch nicht
okkupierten) Gütern und Gemeineigentum, c) sie läßt für die älteren Stadien nur ein
individuelles, aber kein Privateigentum gelten; ein Privateigentum ist nur da vorhanden,
wo ausschließliche (nicht bloß einfache) Verfügungsgewalt und überdies Ausbeutung vor
liegt (cf. p. 478 f.; auch pp. 109-111). Hier ist aber die Grenze zwischen der Feststellung
gegebener Tatsachen und ihrer doktrinären Interpretation deutlich überschritten, und
darin liegt wohl die größte Schwäche der ganzen Konstruktion, die im übrigen - das ist
wiederholt schon anerkannt worden — in den Einzelheiten viel Wertvolles und Anregendes
enthält. Gegen den Einwand der Einseitigkeit nimmt die Verfasserin am Schluß noch
Stellung :
Ältere Periodisierungsschemata konnten vielfach dem ethnographischen Material
deshalb nicht immer gerecht werden, weil sie einseitige Periodisierungsprinzipien gewählt
hatten. Man könnte die Frage aufwerfen, ob das hier vorgeschlagene Periodisierungsprinzip
nicht nur eine neue Einseitigkeit bedeutet, ob die urgeschichtliche Entwicklung nicht
wesentlich mehr Seiten des gesellschaftlichen Lebens betraf. Das ist zweifellos der Fall-
Wenn es aber darum geht, den gesetzmäßigen Verlauf der Entwicklung einer sozial-
ökonomischen Formation zu periodisieren, dann kann man die Kriterien dafür nur dort
suchen, wo die Gesetzmäßigkeit dieser Entwicklung liegt. Alle außerhalb des Bereichs
der Produktionsweise liegenden Erscheinungen existieren zwar ebenfalls nicht unabhängig
davon, aber sie sind variabler ... Das bezieht sich sowohl auf die Verfassungsform als auf
den ganzen Komplex der geistigen Kultur.
41 In diesem Zusammenhang finden sich interessante Bemerkungen gegen einen
Determinismus des geographischen Milieus; ein ungünstiges Milieu kann negativ und
positiv auf eine Kultur wirken (Sellnow, p. 475 f.).
42 [Hervorhebung von mir. J. H.]
43 Cf. die Artikelserie über die marxistische Geschichtsbetrachtung in Saeculum
11.1960, besonders die Artikel: Otto Monter, Die philosophischen Grundlagen des histo
rischen Materialismus, a. a. O. pp. 1-26; Rüdiger Schott, Das Geschichtsbild der sowje
tischen Ethnographie, a. a. O. pp. 27-63; cf. auch R. Schott, Der Entwicklungsgedanke
in der modernen Ethnologie. Saeculum 12. 1961, pp. 61-122.