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JÜRGEN W. FREMBGEN
Schiitische Standartenaufsätze
Anhänger des schulischen Islam tragen vor allem an ‘äshürä, dem 10. Tag des Trau
ermonats Muharram, in Prozessionen Standarten (‘alain) von verschiedener Form
und Gestalt. Dieses seit den Safawiden (1501-1732) intensiv gepflegte religiöse
Brauchtum geht auf das für die Schiiten so bedeutsame historische Ereignis der
Schlacht von Karbala (680 n. Chr.) zurück, bei dem der Prophetenenkel Husain mit
seinen Begleitern auf grausame Weise von den Regierungstruppen Yazids getötet
wurde. Die ‘alam repräsentieren die damals verwendeten Feldzeichen und Banner
und gehören daher zu den wichtigsten Symbolen schiitischer Volksfrömmigkeit. Sie
sind Husain - dem dritten Imam der Schia - sowie den anderen schiitischen Imamen
geweiht. Handförmige ‘a/am-Aufsätze sollen zumeist an ‘Abbas ‘Ali, den Standar
tenträger (‘alamdär) Husains, erinnern.
Ein berühmtes Symbol der Trauer um Husain wird im nordindischen Lucknow in der
Dargah-e Hazrat-e ‘Abbas aufbewahrt; es handelt sich um ein Feldzeichen (rotes
Banner mit Darstellung von ‘Alis zweispitzigem Säbel dhü’l-fiqär 1 ), das ‘Abbas
selbst zugeschrieben wird. Wie Mrs. Meer Hassan Ali berichtet, fand seinerzeit ein
indischer Mekka-Pilger diese Reliquie in Karbala und brachte sie dem Nawab Asaf
ud-Daula (gest. 1775) nach Lucknow als Geschenk mit 2 . Während der dortigen
Muharram-Feierlichkeiten tragen bis heute Gläubige am 5. Tag des Trauermonats
Prozessionsstandarten zu dem betreffenden Schrein und berühren damit den ‘alam
des ‘Abbas. Sie übertragen dadurch den Segen dieses heiligen Gegenstandes und ver
gegenwärtigen sich die Tragödie von Karbala. Die gleiche Bedeutung hat das oft in
schiitischen Versammlungshäusern (Imdmbdro) zu beobachtende, mit persönlichen
Bittgebeten verbundene innige Berühren und Küssen der ‘alam.
Standarten, die oft paarweise getragen werden, sind in West- und Südasien im Rah
men der städtischen Muharram-Umzüge einzelnen Wohnvierteln, Moscheen und
Handwerkskorporationen zugeordnet, die jeweils einen eigenen, in Iran dasteh
(»Gruppe«) genannten Prozessionszug bilden 3 . Aus Teheran berichtet M.G. van
Vloten: »Les quartiers forment des bandes {dasteh), de vingt jusqua’ä plus de cent
personnes, qui se rangent sous leur drapeau {‘alam) respectif« (1892: 110). Solche
Prozessionszüge einzelner Wohnquartiere stehen hinsichtlich der Größe und Aus
schmückung ihrer Standarten untereinander in Wettbewerb. Wie mir in Peshawar
(North-West Frontier Province/Pakistan) berichtet wurde, werden die ‘alam von ein
zelnen Gläubigen für den Imdmbdra ihres Viertels gestiftet. Dies geschieht in Ver
bindung mit einem Gelübde als Dank für erhörte Gebete, etwa wenn einer Familie
nach mehreren Töchtern endlich ein Sohn geboren wird. Mitglieder iranischer Hand
werkergilden besitzen nach der Herstellungstechnik als shahakeh-ye eslimi bezeich-
nete Embleme in Stahldurchbrucharbeit, die auf Stangen aufgesetzt im Muharram
getragen werden. 4 M.G. van Vloten hat so z. B. die Standartenaufsätze der Tehera-
ner Fayencehersteller und Ziegelbrenner abgebildet 5 . Zur Aufbewahrung der ‘alam
dienen vor allem die Imdmbdra sowie andere öffentliche Gebäude und Privathäuser.
In Indien werden sie in den ersten zehn Tagen des Muharram in sog. Ashürkhdnd
(wörtl. »Zehn-Tage-Haus«) aufgestellt; so gibt es u.a. in Hyderabad ein eigenes
Badshdhi ‘Ashürkhdnd, in dem kostbar verzierte Standarten aus königlichem Besitz
aufbewahrt werden 6 .
J. Calmard und J. W. Allan haben islamische Standarten und Banner in einem Eintrag
der Encyclopaedia Iranica (1985) in ihren historischen Zusammenhängen näher vor
gestellt 7 ; darüber hinaus finden sich in der Literatur lediglich Kurzangaben und
Abbildungen einiger ausgewählter Einzelstücke. Als ergänzende und das Thema kei
neswegs erschöpfende Behandlung sollen hier noch einige bisher unpublizierte schi
itische Standartenaufsätze aus späterer Zeit vorgestellt und Aspekte ihrer Verwen-