TRIBUS
t
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
JAHRBUCH
BAND 44 • 1995
L Л €63 Л
TRIBUS • Jahrbuch des Linden-Museums Stuttgart
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 44 • Oktober 1995
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1995
Herausgeber: Linden-Museum Stuttgart - Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Redaktion; Prof. Dr. Peter Thiele
Fachbezogene Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des Linden-Museums Stuttgart; Ursula Didoni
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer Bei-
träge allein verantwortlich.
Redaktionsschluß jeweils 1. Juli
Titelbild: Helmmaske des mmanwu-Männerbundes
schwarz gebeiztes und bunt bemaltes Holz, Höhe 45 cm, Ibo
(Nigeria), um 1900, Inv. Nr.-F 54.846 L
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1994
Peter Thiele....................................................................... 7
Referate Museumspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit
Sonja Schierle/Raimund Vogels..................................................... 17
Besucherbefragung am Linden-Museum Stuttgart 1994/1995
Ulrike Buhl/Raimund Vogels........................................................ 25
Berichte über Erwerbungen im Jahr 1994 der Abteilungen Afrika (Hermann Forkl),
Islamischer Orient (Johannes Kalter), Südasien (Gerd Kreisel), Ostasien
(Klaus J. Brandt), Südsee (Ingrid Heermann) und Amerika (Axel Schulze-Thulin) .... 47
Aufsätze
Amborn, Hermann: Von der Stadt zur sakralen Landschaft............................ 65
Baier, Martin: Das Rätsel des Apo Kayan . . . ...................................100
Dietrich, Stefan: Tjeritera Patigolo Arkian: Struktur und Variation in der
Gründungsmythe des Fürstenhauses von Larantuka (Ostindonesien).................... 112
Firla, Monika/Forkl, Hermann: Afrikaner und Africana am württembergischen
Herzogshof im 17. Jahrhundert.....................................................149
Frembgen, Jürgen W.: Schiitische Standartenaufsätze...............................194
Kuhn, Dieter: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum im Spiegel
von Ritualtexten und archäologischen Funden.......................................208
Lamb, Weldon: Tzotzil Maya Cosmology..............................» ; - . 268
Buchbesprechungen Jm"
Allgemein
Petroski, H.; Messer, Gabel, Reißverschluß (W. Jacobeit)......• L- ■ • ■ . *........280
Raabe, E. Ch. (Hrsg.): Mythos Maske (W. Schroeter)..................................281
Seiler-Baldinger, A.: Systematik der Textilen Techniken (G. Dombrowski).............281
Spindler, K.: Der Mann im Eis (A. Schulze-Thulin)...................................282
Wirsing, R.: Gesundheits- und Krankheitsverhalten und seine kulturelle
Einbettung in einer Kleinstadt im Südosten der Türkei (J. Sterly)...................283
Afrika
Blanc, U.: Lieder in Erzählungen der Bulsa (G. Grupe).............................285
Braukämper, U./Schlottner, M. (Hrsg.): Kulturentwicklung und Sprachgeschichte
im Naturraum Westafrikanische Savanne, Bd. 3 (B. Frank)...........................286
Bureau, J./Wonbera, E.; Le Verdict du Serpent (K. Guggeis)........................287
Röschenthaler, U.; Die Kunst der Frauen (P. Göbel)................................288
Tafla, B.: Ethiopia and Austria (R. Best).........................................288
Amerika
Baer, G./Hammacher, S./Seiler-Baldinger, A. (Hrsg.): Die Neue Welt 1492-1992
(A. Schulze-Thulin)...............................................................289
Berlo, J.C. (Hrsg.): Art, Ideology and the City of Teotihuacan (D. Kurelia).......290
Der große Bertelsmann Bildatlas. Indianer (A. Schulze-Thulin).....................291
Boone, E.H.: Collecting the Pre-Columbian Past (M. Fischer).......................291
Fagan, B.M.: Das frühe Nordamerika (A. Schulze-Thulin)............................293
Graham, L: Corpus of Maya Hieroglyphic Inscriptions, Vol. 4, Part 2 and 3 (B. Riese). . . 294
Gramly, R.M.: The Richey Clovis Cache (A. Schulze-Thulin).........................295
Hoffmann, K./Wagner, R.: Karl-May-Museum (A. Schulze-Thulin)......................295
Müller-Wille, L.: Franz Boas (J.-L. Rousselot)....................................295
Stuart, D./Houston, S.; Classic Maya Place Names (M. Gaida).......................297
Verswijver, G.H.: Ornaments and Ethno-History in the Amazon (B. lllius)...........298
Sabloff, J.A./Henderson, J.S. (Hrsg.): Lowland Maya Civilization in
the Eighth Century A.D. (D. Kurella)..............................................299
5
Orient
Pinkwart, D./Steiner, E.: Bergama Cuvallari (U. Reinhard)...............................300
Zschoch, B.; Deutsche Muslime (B. Schmelz)..............................................301
Ostasien
Bawden, C.R.: Confronting the Supernatural (W. Schroeter)...............................302
Siidasien
Okada, A./Nou, J.-L./Joshi, M.C.: Taj Mahal (J. K. Bautze)..............................303
Sellato, B.: Nomads of the Borneo Rainforest (M. Baier).................................309
Teller mit Früchten im Relief
Silber mit Teilvergoldung, D: 16,5 cm. China, Süd-Song-Zeit (1127-1279). Inv.-Nr. OA
24.404
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1994
Die »Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e. V.« hatte im Winterhalb-
jahr 1993/94 ihren Vortragszyklus unter das Leitthema »Völker und Kulturen des Ori-
ents« gestellt. Nach der großen Sommerausstellung »Die Gärten des Islam« 1993
sollten üblicherweise in den Veranstaltungen der Gesellschaft weiterführende und
vertiefende Themen zum Orient behandelt werden. Im ersten Quartal 1994 sprachen
u.a. Eugen Wirth über »Die orientalische Stadt«; Franz Schaffer über »Türkisch-
Thrakien: Brücke zwischen Europa und Asien«, Hans Hopfinger über »Syrien - ein
funktionierendes Agrarland sozialistischer Prägung« und Friedrich Spuhler über den
»Klassischen Orientteppich«. Alle Vorträge waren außergewöhnlich gut besucht und
fanden großen Anklang nicht nur bei unseren Gesellschaftsmitgliedem, sondern
auch bei vielen Besuchern unseres Hauses sowie bei unseren ausländischen Mitbür-
gern.
Als Fördergesellschaft des Linden-Museums hat uns die GEV auch 1994 wieder
finanziell unterstützt, so daß die Inventarisierung unserer Sammlungsbestände fort-
geschrieben werden konnte. Da die Afrika-Abteilung mit über 50000 Objekten den
zahlenmäßig umfangreichsten Bestand aufweist, wird hier die Computerinventari-
sierung noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte an dieser Stelle der
Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. sehr herzlich für die För-
dermaßnahmen danken, mit denen sie satzungsgemäß ihren Zielsetzungen, nämlich
die wissenschaftliche Arbeit des Linden-Museums zu unterstützen, voll nach-
kommt.
Im Jahr 1994 konnte das Linden-Museum mit vier Ausstellungen aufwarten;
1. BETELSCHNEIDER - Kunst und Brauchtum des Betelgenusses in Süd- und
Südostasien (27.11.93 - 30.1.1994). Sie wurde von Dr. Gerd Kreisel, dem Südasien-
Referenten am Linden-Museum konzipiert und realisiert. In der Ausstellung wurden
187 Betelschneider und andere Geräte zur Betelherstellung von Indien bis Indone-
sien gezeigt. Neben den ästhetischen Ausgestaltungen - Formen höchsten metalli-
schen Kunsthandwerks - wurde auch die soziale Funktion des Betelgenusses näher
beleuchtet. Die Objekte stammten aus der berühmten Sammlung von Prof. Dr.
Samuel Eilenberg/London. Der 137 Seiten umfassende, gut bebilderte Katalog
zeigte alle Exponate der Ausstellung.
2. KANGA - Sprechende Tücher aus Ostafrika (2. 3.- 1.5.1994). Diese Ausstellung
basierte auf einem Konzept von Elisabeth Linnebuhr/Berlin, realisiert wurde sie von
Dr. Hermann Forkl, dem Afrika-Referenten am Linden-Museum. Auf mehreren Ebe-
nen wurden die Multifunktionalität sowie die kommunikative Rolle der Kangas ver-
mittelt. Auch zu dieser Ausstellung erschien ein gut bebilderter Katalog.
3. Die Ausstellung GEMALTES LAND - Kunst aus Arnhemland war die große Jah-
resausstellung des Linden-Museums (4.6.-25.9.1994). Sie wurde von Frau Dr.
Ingrid Heermann, Südsee-Referentin am Linden-Museum, unter Mitarbeit von Uli
Menter, M.A., konzipiert und realisiert. Die Ausstellung zeigte unterschiedliche
Kunststilregionen der Aborigines Arnhemlands und der Melville-Bathurst-Gruppe
sowie überregionale Themen der Mythologie. Neben Rinden-Malereien wurden
sogenannte »Log Coffins« und »Pukumani«-Pfosten gezeigt. Diese Kunstausstel-
lung wurde durch einen ethnographischen Bereich ergänzt, der sich sowohl auf das
traditionelle Leben als auch auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen bezog. So
wurden u.a. Fragen der Sozialorganisation, des Landrechts sowie Konzepte von
»Heilig und Geheim«, im weitesten Sinne also das Gesetz, beleuchtet.
Es erschien ein umfangreicher Katalog zur Ausstellung. Neben Leihgaben aus Basel,
Paris, Perth und Frankfurt/Main bestand die Ausstellung hauptsächlich aus eigenen
Beständen des Linden-Museums. Wir konnten die Ausstellung nach Hamburg wei-
tergeben, wo sie zu unserer großen Freude über 40 000 Besucher anzog.
Die Ausstellung MADAGASKAR - Land zwischen den Kontinenten (26.10.1994 -
30.4.1995) wurde von Herrn Dr. Roth/Tübingen, erstellt. Über sie werde ich - da
7
TRIBUS 44, 1995
sie noch läuft - im nächsten Jahr berichten. Aber auch diese Ausstellung wurde zu
über 90% mit Objekten des Linden-Museums bestückt.
Die Ausgestaltung der Ausstellungen mit Gegenständen aus unseren eigenen Samm-
lungen bringt die Vorteile bzw. Nebeneffekte, daß die Objekte sowohl wissenschaft-
lich aufbereitet als auch dem »Heimpublikum« gezeigt werden können.
Im Jahr 1994 konnte das Linden-Museum in seinen Räumen über 1200 Veranstal-
tungen durchführen, womit wir als kulturvermittelnde Institution und besonders als
Völkerkundemuseum in Deutschland einen vorderen Rang einnehmen.
Am 20.1.94 hielt der Diektor des Linden-Museums einen »Mauritius«-Vortrag vor
der »Hamburgischen Geographischen Gesellschaft«, am 24.1.94 einen »Korea«-
Vortrag beim »Institut für Auslandsbeziehungen« im Rahmen eines auslandskundli-
chen Seminars für Führungskräfte aus der deutschen Wirtschaft. Vor der Stuttgarter
Bibliotheksgesellschaft referierte er am 8.2.94 über die »Hochlandbewohner von
Papua Neuguinea«. Am 3.3.94 wurden mit der Daimler Benz AG (Herrn M. Klei-
nert) Verhandlungen über ein umfassendes Sponsoring-Programm zu einer »Usbeki-
stan«-Ausstellung geführt, die für den Spätherbst 1995 geplant ist. In Göttingen
wurde der Direktor des Linden-Museums zum stellvertretenden Vorsitzenden des
Wissenschaftlichen Beirats gewählt. Am 14. und 15.3.94 fand die alljährliche Kon-
ferenz der Direktoren der deutschsprachigen Völkerkundemuseen statt, wo vor allem
die sich ständig verschlechternde Situation der Museen besprochen wurde. Ferner
kam ein Schwerpunktprogramm der DFG auf den Tisch (»Das ethnographische
Bild«), in das auch das Linden-Museum eingebunden werden soll. Am 24.3.94
erschien der Direktor des Rotterdamer Museums für Völkerkunde, um über die Über-
nahme unserer Islam-Ausstellung zu verhandeln. Am 13.4.94 fand die Verwaltungs-
und Beiratssitzung des Linden-Museums statt, wo es schwerpunktmäßig um den
Doppelhaushalt 1995/96, die weitere Ausstellungsplanung, die Besucherentwick-
lung, die Erhebung von Eintrittsgeldern und die Raumsituation am Linden-Museum
ging. Am 10.6.94 besuchte Herr Heinrich vom Württembergischen Landesmuseum
zusammen mit 10 Restaurierungspraktikanten das Linden-Museum, um die moder-
nen Einrichtungen zu besichtigen und um Anregungen aus den Werkstätten zu erhal-
ten. Am 20.6.94 fand eine Sitzung bei der Stuttgart Marketing GmbH statt, um das
Linden-Museum in das längerfristige Marketingkonzept der Landeshauptstadt wer-
bemäßig mit einzubinden. Am 24.6.94 feierte Herr Graf, der langjährige Hausmei-
ster, seinen 90. Geburtstag, zu dem die Mitarbeiter des Hauses herzlich gratulierten.
Am 26.6.94 wurde in Bietigheim die »Dr. Erwin-Bälz-Ausstellung« mit Beständen
aus dem Linden-Museum durch Herrn Dr. Brandt eröffnet. In der Woche vom 26-
30.9.94 wurde im Linden-Museum durch ein SDR-Team der Fernsehkriminalfilm
»Bienzle und die Feuerwand« gedreht, von dem wir uns eine gute Werbung nach der
Ausstrahlung im Mai 1995 erwarten. Autor des Films ist der Stuttgarter Felix Huby.
Am 9.11.94 verstarb Herr Dr. Erwin Eckert, einer der bedeutenden Stifter des Lin-
den-Museums, im 93. Lebensjahr. Ihm haben wir unsere bedeutende Bronzesamm-
lung aus China zu verdanken. Wir bewahren ihm ein ehrendes Angedenken. Am
19.11.94 fand im Wannersaal die diesjährige Vortragsveranstaltung des Reiseveran-
stalters Indoculture mit ausgezeichneten Vorträgen und Darbietungen über den sub-
indischen Kontinent statt. Diese ganztägige Veranstaltung wurde von Indieninteres-
sierten aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich besucht. Am 25.11.94
kam Herr Dr. Volker Harms mit 40 Ethnologie-Studierenden ins Linden-Museum,
um sich hier über die praktische Museumsarbeit zu informieren und die Aussichten
auf den zukünftigen Beruf des Museumswissenschaftlers auszuloten. Die Studenten-
gruppe wurde fachlich durch die Museumspädagogin Dr. Schiede und den Direktor
betreut. Am 30.11.94 besuchte uns der weltberühmte tsuba-Spezialist (japanische
Schwertstichblätter) Prof. Robert Haynes, um sich die Spezialsammlung des Linden-
Museums anzusehen und sie zu beurteilen. Am 4.12.94 fand im Linden-Museum die
große und vielbeachtete Benefizveranstaltung »Das Kind im Krieg« zugunsten der
Kinder aus Bosnien-Herzegowina statt. Am 7.12.94 kamen Vertreter der verschiede-
nen Institutionen Baden-Württembergs ins Linden-Museum, um hier über die zuneh-
mende Sektenproblematik zu diskutieren (MKS, MFK). Am 19.12.94 fand in einem
TRIBUS 44, 1995
sehr schönen, stimmungsvollen Rahmen die diesjährige Weihnachtsfeier statt, zu der
vor allem etliche ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erschienen waren. Der
örtliche Personalrat hat das Betriebsfest ausgerichtet, wofür ich ihm herzlich danke.
Personal
Das Jahr 1994 brachte im Personalbestand folgende Veränderung;
1. Unsere drei AB-Stellen (Frau Buhl für die Besucherbefragung am Linden-
Museum, Frau Erdmann in der Bibliothek, Herr Dr. Roth im wissenschaftlichen
Bereich bei der Inventarisierung der Sammlungsbestände) konnten im Herbst
1994 glücklicherweise um ein weiteres Jahr verlängert werden.
2. Im Aufsichtsdienst konnte Frau Gamerdinger als Aushilfe bis zum 31.3.1995 ein-
gestellt werden. Herr Sönmez konnte in der 9-Stunden-Schicht im Aufsichts-
dienst unbefristet beschäftigt werden.
3. Die Dokumentationsstelle konnte zum 1. Januar 1995 mit Frau Iris Müller, Absol-
ventin der Bibliotheksfachhochschule Stuttgart besetzt werden. Frau Müller hat
ihre Diplomarbeit über die »Inventarisierung von Museumsbeständen« anhand
der Sammlungen des Museums für Technik und Arbeit Mannheim verfaßt.
Leihgaben 1993 Abteilung
Kulturamt. Albstadt
I Objekt für die Ausstellung
»Menschen, Maschen und Maschinen« -
Tropenmuseum, Amsterdam
3 Objekte für die Ausstellung »Beloved Bürden« Amerika
(9.12.93-31.8.94)
Südwestfunk Baden-Baden
II Objekte für eine Fernsehsendung
(19.4.94)
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
310 Objekte für die Ausstellung
»Die Gärten des Islam«
sien
(1.11.93-30.4.94)
76 Objekte für die Ausstellung
»Sprechende Tücher«
(6.6,- 14.8.94)
21 Objekte für die Ausstellung
»Tanzania - Meisterwerke afrikanischer Skulptur« Afrika
(10.4.-15.8.94)
Amerika
Afrika/Orient/
Süd-u. Osta-
Afrika
Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin
3 Objekte für die Ausstellung
»Von Kokos zu Plastik« Südsee
(15.9.93-25.3.94)
Stadtmuseum Bietigheim-Bissingen
34 Objekte für Nigeria-Projekt
(10.11.93-14.1.94)
Afrika
Ostasien
48 Objekte für die Ausstellung
»Erwin von Baelz (1849-1913) -
Ein Leben zwischen zwei Kulturen«
(26.6.-20.11.94)
Übersee-Museum Bremen
114 Objekte für die Ausstellung
»Sprechende Tücher«
(15.8.-30.11.94)
Eine-Welt-Zentrum Ehningen e. V.
15 Objekte für EINE-WELT-Aktionstag
(19.9.-14.10.94)
Zweigmuseum Schloß Ettlingen
290 Objekte für die Dauerausstellung
53 Leihgaben zur Ausstellung
»Ein Arzt und Sammler in China. Slg. Dr. Eckert«
(29.11.94-17.1.95)
Städtische Museen Freiburg
5 Objekte für die Dauerausstellung
Fukuoka City Museum, Fukuoka/Japan
122 Objekte für die Ausstellung
»Japanische Malerei aus der Slg. Erwin von Baelz
im Linden-Museum Stuttgart«
(5.7.93-22.2.94)
Hamburgisches Museum für Völkerkunde
87 Objekte für die Ausstellung
»Gemaltes Land. Kunst der Aborigines aus Arnhemland«
(4.10.94-30.6.95)
Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim
19 Objekte für die Ausstellung
»China - eine Wiege der Weltkultur«
(6.7.94-28.9.95)
Heimatmuseum Höfingen
8 Objekte für die Ausstellung
»Astronomie - Himmelsbeobachtungen«
(15.11.93-15.4.94)
Badisches Landesmuseum Karlsruhe
2 Färberschablonen für die Dauerausstellung
Gemeinde Kernen/Remstal
1 Objekt für die Dauerausstellung
Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
10 Objekte für die Ausstellung
»Bilder aus dem Paradies...«
(1.12.94-30.9.96)
Kunst- und Kulturverein Lohr a. Main
2 Objekte für die Ausstellung
»Hasankeyf am Tigris«
(9.2.94-28.2.94)
Afrika
Orient
Ostasien
Ostasien
Südsee
Ostasien
Südsee
Ostasien
Orient
Ostasien
Afrika
Südsee
Orient
TRIBUS 44, 1995
Los Angeles County Museum of Art
1 Objekt für die Ausstellung
»The Peaceful Conquerors: Jain Art from India«
(1.10.94-10.2.96)
Städtisches Museum Ludwigsburg
7 Objekte für die Ausstellung »Masken«
(15.6.93-21.2.94)
Städtische Galerie im Lenbachhaus München
21 Objekte für die Ausstellung
»Tanzania - Meisterwerke afrikanischer Skulptur«
(15.8.-12.12.94)
Staatliches Museum für Völkerkunde München
8 Objekte für die Ausstellung »Elefanten«
im Zweigmuseum Seefeld
(23.6.94-30.11.95)
Staatl. Museum für Völkerkunde München
2 Objekte für die Ausstellung
»Reise nach Brasilien«
(22.3.94-30.6.95)
Heimatmuseum Nagold
5 Objekte für die Ausstellung »Heinrich Zeller«
(25.10.94-30.12.96)
National Museum of Ethnology Osaka
3 Objekte für die Ausstellung
»Woven Flowers of Silkroads«
(19.8.-19.12.94)
Réunion des Musées Nationaux Paris
4 Objekte für die Ausstellung »Sièges Africains«
(4.10.94-31.1.95)
Stadt Rastatt
24 Objekte für die Ausstellung
»Von erfarung aller land ... «
(21.11.94-15.3.95)
KIWICHA-Weltladen Stuttgart
5 Leihgaben für eine Ausstellung
(1.9.-4.10.94)
Stadtarchiv Stuttgart
7 Gemälde/Drucke für eine Ausstellung
Verein indonesischer Studenten Stuttgart
9 Objekte für Indonesischen Kulturabend
(4.11.-7.11.94)
Universität Hohenheim Stuttgart
1 Objekt für die Ausstellung
»Unkrautbekämpfung in trad. Produktionssystemen«
Südasien
Afrika
Afrika
Afrika
Amerika
Südasien
Orient
Afrika
Amerika/Ostas.
Orient
Südasien
Afrika
12
Ostasien
Haus der Wirtschaft Stuttgart
5 Objekte für die Ausstellung
»Tsutsumi. Traditionelle Verpackungskunst aus Japan«
(19.1.-15.2.94)
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
30 Objekte für die Ausstellung
»Passagers de l’Occident«
(20.4.-20.6.94)
Kulturamt Tübingen
Ausstellung »Ohrenpuzzle« im Stadtmuseum
(2.5.-15.7.94)
Ulmer Theater
1 Objekt als Requisit für ein Ballett
(14.12.93-5.7.94)
Kunstschule Unteres Remstal Waiblingen
14 Objekte für eine Ausstellung im
Stiftshof Beutelsbach
(23.-30.8.94)
Vitra Design Museum Weil am Rhein
4 Objekte für die Ausstellung
»Afrikanische Sitze«
(16.5.-3.10.94)
Völkerkundemuseum der Universität Zürich
10 Objekte für die Ausstellung
»Mandala - Der Heilige Kreis
im tantrischen Buddhismus«
(15.1.92-11.3.94)
Geschenke 1994
Barth, Thomas, Stuttgart
Dharmotharan, Mohan, Reutlingen
Fahrbach, M., Schwieberdingen
Frenz, Dr. A., Stuttgart
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Heuck, Prof. Dr. F. H.W., Stuttgart
Hilgers, Antoine, Brüssel
Indische Botschaft, Berlin-Niederschönhausen
leiden, Prof. Georg, Stuttgart
Jörger, Bettina und Dr. Wolfgang, Braunsbach-Steinkirchen
Kempgen, Heinz-Wilhelm, Künzelsau-Kocherstetten
Kempgen, Prof. Dr. Sebastian, Stegaurach
Kreisel, Dr. Gerd, Stuttgart
Kroener, Klaus, Igensdorf
Lachenmann, Dr. Margret, Reutlingen
Landenberger, Manfred, Stuttgart
Meister, Erika, Niefem-Öschelbronn
Meyer, Anthony JP, Paris
Orient
Orient
Südsee
Afrika
Afrika
Südasien
TRIBUS 44, 1995
Popp, Heinrich Ing. grad., Stuttgart
Pulverer, Prof. Dr. Dr. Gerhard, Köln
Reiner, Dr. Ernst, Gummersbach
Rommel, Manfred, Stuttgart
Roth, Hermann, Weinstadt/Beutelsbach
Sanden, Erika, Henfenfeld
Schmidthals, Dr. Wolfgang, Hamburg
Thiel, Gisela, Überlingen
Walker, Lieselotte, Stuttgart
Wörner, Michael K., Frankfurt/M.
Zöller-Unger, Stuttgart
Geldspenden an die GEV bzw. Linden-Museum im Jahre 1994
Allianz Versicherungs AG, Stuttgart
Baatz, Dr. Klaus-Peter, Stuttgart
Baden-Württembergische Bank AG, Stuttgart
Becht, Horst, Stuttgart
Böhm, Christian, Kempten
Bosch, Robert, GmbH, Stuttgart
Brett, Eberhard, Stuttgart
Breuninger GmbH & Co., Stuttgart
Cronemeyer, Leinfelden-Echterdingen
Deutsche Linoleumwerke AG, Bietigheim-Bissingen
Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
Drechsel, Joerg, Karlsruhe
Dresdner Bank AG, Stuttgart
Eckhardt, Johanna, Stuttgart
Energieversorgung Schwaben AG, Stuttgart
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Gehring, Rudolf und Brigitte, Stuttgart
Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot, Wüstenrot
Günter. Hans-Dieter, Balingen
Hagmann, Willy, Odiaxere/Portugal
Hanseatische Assekuranz Vermittlungs-AG, Stuttgart
Hoffmann, Ulrich, Stuttgart
Huber, Rolf und Franziska, Stuttgart
Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar, Stuttgart
Jung, Olaf, Nürtingen-Roßdorf
Junghans, Dipl.-Ing. Erhard, Stuttgart
Kalter, Prof. Dr. Johannes, Stuttgart
Klett, Ernst, GmbH + Co., Stuttgart
Klostermann, Dieter und Irmgard, Stuttgart
Knorr. Margarete, Heilbronn
Landesgirokasse, Stuttgart
Landeszentralbank Baden-Württemberg, Stuttgart
Mannheimer Versicherung AG. Mannheim
Marquardt-Eißler, Prof. Dr. Werner, Stuttgart
Mercedes-Benz AG, Stuttgart
Mineralbrunnen Überkingen, Bad Überkingen
Müller, Clara E., Stuttgart
Nagel, Kunstbaus, Stuttgart
Nording, Hans, Denkendorf
Rominger, Reisebüro, Stuttgart
14
Ruter, Rudolf X. und Silvia, Stuttgart
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schmitz, Hermann, Siegen
Schnaidt, Brigitte, Stuttgart
STEG Stadtentwicklung Südwest, Stuttgart
Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart
Technische Werke der Stadt Stuttgart
Thiele, Prof. Dr. Peter, Stuttgart
Wieland-Werke, Ulm
Württembergische Versicherung AG, Stuttgart
Württembergische Hypothekenbank, Stuttgart
Württembergische Lebensversicherung AG, Stuttgart
Württembergischer Sparkassen- und Giroverband, Stuttgart
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Zwei kleine Schalen in Blutenform
Teilvergoldetes Silber mit Ranken- und Blütendekor, H: 5,1 bzw. 5,7 cm, D: 9,3 bzw. 9,5 cm.
China, Süd-Song-Zeit (1127-1279). Inv.-Nr. OA 24.393 L und OA 24.394 L
15
TRIBUS 44, 1995
Linden-Museum Stuhgart
- Staatliches Museum für Völkerkunde -
Hegelplatz 1, 70174 Stuttgart
Tel. 0711/123-1242/1243, Fax: 0711/297047
Organisationsplan
Stand: 1.10.1995
16
Referate Museumspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit
I. Die Besuchszahlen im Jahre 1994
Die Besuchszahlen im Jahr 1994 konnten nicht ganz das Niveau von 1993 erreichen.
Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Rückgang 2,9%, d.h. es waren 2961 Besuche
weniger zu verzeichnen.
Besucher im Linden-Museum 1988 -1994
1993 ohne die Sonderausstellung "Die Gärten des Islam"
140
1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994
130804 126157 105181 111771 111198 102605 99644
Diagramm 11
Bei diesen Zahlen handelt es sich um keine lineare Entwicklung, die gleichermaßen
die Einzel-, Gruppen- und Sonderausstellungsbesuche erfaßt. Vielmehr steht dem
starken Rückgang an der Zahl der Einzelbesuche ein signifikantes Anwachsen der
Gruppenbesuche entgegen: Im Vergleich zum Vorjahr sind 1994 ca. 9% weniger Ein-
zelbesucher in das Haus gekommen, während sich die Zahl der Gruppenbesucher um
ca. 24% erhöhte. Damit konnte ein deutlicher Einbruch in der Gesamtbilanz verhin-
dert werden. Es beträgt jetzt der Anteil der Gruppenbesuche an der Gesamtbesuchs-
zahl 1994 ca. 25%, während er im Vorjahr lediglich bei ca. 19% lag.
Entwicklung der Einzelbesuche im Linden-Museum 1988-1994
1993 ohne die Sonderausstellung "Die Gärten des Islam"
|Diagramm 2]
17
TRIBUS 44, 1995
Entwicklung der Gruppenbesuche im Linden-Museum 1988-1994
1993 ohne die Sonderausstellung "Die Gärten des Islam"
¡Diagramm 3)
Die Zahl der Sonderausstellungsbesuche hat sich 1994 geringfügig um 500 erhöht
und nimmt mit ca. 20% an der Gesamtbesuchszahl einen fast gleichbleibenden Anteil
ein.
Die monatlichen Besuchszahlen in den Jahren 1993 und 1994 weichen zum Teil deut-
lich voneinander ab. Generell begann das Jahr 1994 mit einem relativ schwachen
Besuch, der über den Sommer hinweg sogar weiter rückläufig war und erst ab Sep-
tember 1994 deutlich gegenüber 1993 anwuchs. Für diesen Anstieg hat im Septem-
ber besonders die überdurchschnittlich hohe Anzahl der Gruppen- und Sonderaus-
stellungsbesuche gesorgt, während der extrem schwache Besuch im Juli und August
auf den »Jahrhundertsommer 1994« zurückzuführen sein dürfte.
Besucher im Linden-Museum 19D3 und 1994
1993 ohne die Besucher der Sonderausstellung "Die Gärten des Islam"
Jan Feb März April Mai Juni Juli Aug Sept Okt Nov Dez
■ 1993 10336 9992 9645 8956 6840 8027 9519 8127 7209 10122 7891 5941
■ 1994 8892 6599 8887 9912 6022 9451 5564 6765 10780 8915 9626 8231
| Diagramm 4|
18
Die Sonderausstellungen wurden im einzelnen wie folgt besucht:
- Betelschneider. Kunst und Brauchtum des Betelgenusses in Süd- und Südostasien.
27. November 1993 bis 30. Januar 1994
Anzahl der Besuche: 1709 (davon 1032 Besucher im Januar 1994)
Anzahl der Führungen: 11
- Sprechende Tücher Frauenkleider der Swahili (Ostafrika).
2. März bis 30. April 1994
Anzahl der Besuche: 3823
Anzahl der Führungen: 30
- Gemaltes Land. Kunst der Aborigines aus Arnhemland, Nordaustralien.
2. Juni bis 25. September 1994
Anzahl der Besuche: 12300
Anzahl der Führungen: 141
- Madagaskar. Land zwischen den Kontinenten.
27. Oktober 1994 bis 30. April 1995
Anzahl der Besuche 1994: 2890
Anzahl der Führungen: 22
Die Gesamtbesuchszahl schlüsselt sich wie folgt in Einzel- und Gruppenbesuche auf:
Einzel- Gruppen- Gesamt- Sonder-
besuche besuche anzahl ausstellungs besuche
Januar 8 098 794 8 892 1 032
Februar 5 21 1 381 6 599
März 6 947 1 940 8 887 1 865
April 7 878 2 034 9 912 1 958
Mai 3 722 2 300 6 022
Juni 5 494 3 957 9 451 2 863
Juli 4 186 1 378 5 564 2 008
August 5 876 889 6 765 2 698
September 7 217 3 563 10 780 4 731
Oktober 6 361 2 554 8 915
November 7 675 1 951 9 626 1 899
Dezember 6 196 2 062 8 231 991
Gesamt 74 841 24 803 99 644 20 045
19
TRIBUS 44, 1995
II. Führungen und Veranstaltungen
Im Jahr 1994 wurden 1122 Führungen und Veranstaltungen von den Referaten
Museuinspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit betreut. Dabei lag der Anteil an mehr-
stündigen Projekten, die besonders arbeitsintensiv in der Vorbereitungsphase sind,
deutlich höher als in den Vorjahren. Diese projektbezogenen, museumspädagogi-
schen Aktivitäten, bei denen neben dem Führungsgespräch handlungsorientierte
Anteile miteinbezogen werden, stießen bei hauseigenen Veranstaltungen, wie Fe-
rienprogrammen und Familiennachmittagen, auf besonderes Interesse. Im Jahr 1994
standen die Familienprogramme im 1. Halbjahr unter dem Thema »Jahreszeiten im
Kulturvergleich« und im 2. Halbjahr unter dem Thema »Familienalltag«. Konzep-
tionell setzen sich diese Programme aus Elementen zusammen, bei denen Kinder und
Erwachsene gemeinsam in verschiedenartige Aktivitäten einbezogen sind. Das dies-
jährige »Hallo-Kinder-Sommerferienprogramm« zum Thema »Wie man sich die
Welt erklärt« enthielt gleichermaßen Angebote für die erwachsenen Begleitperso-
nen. Aufgrund der positiven Resonanz für solche »Familienangebote« wurde auch
bei dem Ferienprogramm im Herbst »Rund ums Essen« und im Winter »Die Freuden
des Lebens genießen (Betelgenuß in Süd- und Ostasien)« das handlungsorientierte
Angebot für Kinder und Erwachsene beibehalten.
Im einzelnen hat sich die Zahl öffentlicher Veranstaltungen im Linden-Museum wie
folgt entwickelt:
1994 1993
Kindernachmittage 4 15
Familienprogramme 8 4
Ferienprogramme 26 18
Publikumsführungen Dauerausstellungen 54 69
Publikumsführungen Sonderausstellungen 112 180
Begleitveranstaltungen 23 44
Jour Fixe Abteilung Afrika 9 10
GEV 14 14
Gastveranstaltungen 78 65
Gesamt: 328 419
Der Rückgang der Gesamtzahl ist vor allem durch die Vielzahl der Sonderveranstal-
tungen bedingt, die 1993 anläßlich der Ausstellung »Die Gärten des Islam« stattfan-
den.
Zahlenmäßig nehmen die Führungen für Schulklassen, wie in den Vorjahren, den
größten Anteil ein. In der Zusammenarbeit mit den Lehrern ist im Jahr 1994 ein deut-
lich gestiegenes Interesse am Projektunterricht zu verzeichnen gewesen, der zusätz-
lich zum Führungsgespräch Schüleraktivitäten im Museum und in der Schule einbe-
zieht. Besonderes Interesse galt Projekten mit folgenden Themenschwerpunkten;
- in der Ostasien-Ausstellung »Tee und Teezeremonie«, »Bauen und Wohnen in
Japan« und »Familienalltag in Asien«;
- in der Südasien-Ausstellung »Kinderalltag in Indien«, »Nepal als Natur-und Kul-
turraum« und »Javanisches Schattentheater«;
- in der Afrika-Ausstellung »Leben im Regenwald und in der Wüste«, »Kolonialis-
mus« und »Naturreligionen«;
- in der Orient-Ausstellung »Familienleben im Orient«, »Frau und Islam« und
»Europa und der Orient«;
- in der Südsee-Ausstellung »Masken« und »Rund um die Kokosnuß«
- in der Amerika-Abteilung »Indianerdarstellung im Kinderbuch«, »Jahreskreislauf
der Hopi« und »Naturreligionen«
20
Auch hier ist der leichte Rückgang gegenüber 1993 mit der Ausstellung »Die Gärten
des Islam« zu erklären.
Klassen aus 1994 Gesamt Stuttgarter auswärtige Schulen 1993 Gesamt
Grundschule 161 40 121 207
Hauptschule 65 31 34 79
Realschule 94 19 75 83
Gymnasium 155 34 121 184
Berufsbild. Schule 42 11 31 18
Sonderschule 18 8 10 16
Ausländ. Schule 13 - 13
Gesamt: 548 143 405 605
Das Führungsangebot für Jugendliche und Kinder wurde 1994 in ähnlichem Umfang
angenommen wie im Vorjahr. Die Zahlen belegen, daß auch 1994 Kindergartengrup-
pen gern in das Linden-Museum kamen, um den Kindern spielerisch den Zugang zu
fremden Kulturen zu ermöglichen.
1994 1993
Kindergartengruppen 48 49
Kindergeburtstagsgruppen 17 23
Kindertagesstättenbesucher 14 15
Jugendgruppen 34 23
Waldheim-Gruppen 5 1
Gesamt 118 111
Auffallend ist im Jahr 1994 der deutliche Rückgang der Zahl von Führungen, für die
das Führungshonorar vom Anmelder bezahlt werden muß, wie z. B. bei Betrieben,
Vereinen oder städtischen Einrichtungen. Dagegen konnten Führungen, die durch
das Linden-Museum bzw. den Museumspädagogischen Dienst der Stadt Stuttgart
finanziert wurden, wie z. B. Behinderten- und Seniorengruppen, zahlenmäßig zu-
legen.
Behindertengruppen
Betriebsgruppen
Gruppen der Kulturgemeinschaft
Kirchliche Gruppen
Lehrerfortbildungsgruppen
Private Gruppen
Gruppen städtischer Einrichtungen
Seniorengruppen
Studentengruppen Universitäten/PH/FH
Volkshochschulgruppen
Vereinsgruppen
1994 1993
18 13
8 15
3 20
13 19
13 8
14 16
2 11
23 15
18 26
12 14
4 19
128 176
Gesamt
TRIBUS 44, 1995
Die Gesamtzahl der Führungen, d. h. öffentliche und angemeldete Führungen vertei-
len sich wie folgt auf die verschiedenen Ausstellungen im Hause:
Führungen im Linden-Museum 1994
Südsee
Sonderausstellungen
(19,3%)
[Amerika
(35,1%)
I Afrika | (14,1%)
(7,1%)
[Diagramm 5 |
Südasien J
(5,4%)
Ostasien
(6,0%)
(13,0%) [Orient^
Wie in den Vorjahren, so fanden auch 1994 in der Amerika-Abteilung wieder die mei-
sten Führungen statt. Die relativ geringe Anzahl von Führungen in der Orient-Abtei-
lung begründet sich aus der Schließung der Ausstellung in den Monaten Januar bis
Mai 1994. Die öffentlichen Führungen zur Sonderausstellung »Gemaltes Land«
haben einen überdurchschnittlichen Zuspruch erfahren.
III. Kooperation mit anderen Partnern
Ein wesentlicher Teil der Tätigkeiten der beiden Referate liegt in der Zusammenar-
beit mit den verschiedensten Partnern in der Stadt Stuttgart. Eine wichtige Plattform
für den Austausch und die Koordination bildet der »Große Arbeitskreis Kultur« und
dessen Unterarbeitskreis »Bildung und Vermittlung«. Daneben stellt die Mitarbeit im
PR-Arbeitskreis und Beirat der Stuttgart Marketing GmbH eine zusätzliche Mög-
lichkeit der Vernetzung mit anderen Partnern dar. Die folgenden Beispiele bilden nur
einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl der Kooperationsprojekte, an denen die
beiden Referate beteiligt waren:
In Zusammenarbeit mit dem Amerika-Haus Stuttgart gelang es, im Linden-Museum
den workshop »Silberschmiedekunst der Hopi-Indianer« mit dem renommierten
Künstler Michael Kabotie (Lomawywesa) anzubieten.
22
Durch die Vermittlung der Gesellschaft für bedrohte Völker e. V. erhielten die politi-
schen Sprecher des American Indian Movements, Cathy White Eagle und Robert
Castillo, die Gelegenheit, auf die heutige Situation der nordamerikanischen Indianer
aufmerksam zu machen.
Am 1. Juni 1994 fand eine gemeinsame Sitzung des Ausländerausschusses und des
Schulbeirates der Landeshauptstadt Stuttgart statt. Dazu waren die beiden Referen-
ten für Museumspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit eingeladen, um über Konzep-
tionen und Umsetzungen einer interkulturellen Erziehung im Linden-Museum zu
berichten.
Die Arbeit des Interkulturellen Forums konzentrierte sich 1994 auf die Vorbereitung
einer Ausstellung unter dem Titel »Begegnungen«, die im Frühjahr 1995 in der Lan-
desbildstelle Württemberg zu sehen sein wird.
Die Referentin für Museumspädagogik wurde am 2. Mai 1994 zur ersten Vorsitzen-
den des »Vereins für Museumspädagogik Baden-Württemberg e. V.« gewählt. Diese
ehrenamtliche Tätigkeit bietet die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Museen
neue museumspädagogische Modelle zu entwickeln und mit Fachleuten zu diskutie-
ren.
Im gleichen Monat nahm die Referentin für Museumspädagogik an einem Fortbil-
dungsseminar zum Thema »Naturfärberei und Wollverarbeitung im Orient« teil, bei
dem an der Universität Konya traditionelle Techniken vermittelt wurden.
Mit maßgeblicher Unterstützung und in Zusammenarbeit mit der Fa. Kodak und der
Fa. Trialog konnte im Jahr 1994 eine Photo-CD produziert werden, auf der die
Geschichte des Linden-Museums vorgestellt wird. In neunzig, meist historischen
Aufnahmen und durch einen 20minütigen Text ergänzt, soll der Besucher des
Museums die Entstehung der Sammlungen und die Präsentation der Ausstellungen
kennenlernen. Die Photo-CD kann im Foyer des Museums betrachtet werden und
wird als Publikation des Hauses angeboten. Die Photo-CD hat sich zudem als ein
attraktiver Werbeträger erwiesen, der bei der Photokina, Köln, und der ITB (Interna-
tionale Tourismus Börse), Berlin, eingesetzt werden konnte.
TRIBUS 44, 1995
Gießgefäß gui oder li
auf drei euterförmigen Beinen, beigeweiße Tonware, H: 22,3 cm. China, Dawenkou-Kultur,
vermutlich Fundgebiet von Sanlihe, Spätneolithikum, Mitte 3. Jt. v. Chr. Inv.-Nr. OA 24.329 L
24
Ausgewählte Ergebnisse der Besucherbefragung 1994/95
am Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völker-
kunde
Einleitung
Im Laufe eines Jahres sollten in vier Erhebungsphasen neben dem »wer - woher -
warum« vor allem subjektive Eindrücke der Besucher erfragt werden: Fühlt sich der
Besucher im Linden-Museum wohl? Findet er die Texte interessant, informativ und
verständlich? Und für welche Themen interessiert er sich besonders?
Die Untersuchung wurde mit empirisch-sozialwissenschaftlichen Methoden durch-
geführt. Nun liegen repräsentative Ergebnisse vor, d. h. generalisierbare Aussagen
über den Besucher des Linden-Museums können als Entscheidungskriterien für die
zukünftige Arbeit des Museums herangezogen werden. Die folgende Auswahl rele-
vanter Ergebnisse gibt einen kurzen Überblick.
Daß diese Studie mit ca. 3700 ausgewerteten Erhebungsbögen auf einem soliden
Fundament steht, haben wir dem persönlichen Einsatz unserer Befrager zu verdan-
ken und nicht zuletzt unseren Besuchern. Unerwartet viele haben sich Zeit genom-
men und bereitwillig den recht umfangreichen Fragenkatalog beantwortet, dafür
herzlichen Dank. Das Institut für Museumskunde, Staatliche Museen Berlin, ermög-
lichte schließlich die Auswertung an den dortigen Rechnern. Für die großzügige
Unterstützung danken wir dem Leiter des Instituts, Herrn Dr. Bernhard Graf und
besonders Frau Monika Hagedorn-Saupe.
I. Ziele, Zielgruppen und Methode sowie zeitlicher Verlauf
der Untersuchung
1. Untersuchungsziele
Die Untersuchungsziele lassen sich in drei Fragenkomplexen zusammenfassen:
- Ermittlung und Erstellung des Besucherprofils
- Kenntnis des spezifischen Besucherverhaltens
- Erlangen konkreter Rückmeldungen und Einschätzungen durch die Besucher
Die Untersuchung soll das Besucherprofil erschließen, also über Alter und
Geschlecht der Besucher, deren formale Bildung, Stellung im Erwerbsleben und
Mobilität Aufschluß geben, sowie über ihre Freizeitaktivitäten im kulturellen
Bereich wie z. B. die Häufigkeit ihrer Museumsbesuche und das Interesse an
bestimmten Museumstypen.
Zum Besucherverhalten zählen z. B. Dauer und Tageszeit des Besuchs, Besuch
bestimmter Abteilungen, Besuch von Sonderausstellungen im Linden-Museum u. ä.
Schließlich werden konkrete Rückmeldungen und subjektive Einschätzungen zu den
Ausstellungen im Linden-Museum erwartet, z. B. die Erinnerung an bestimmte
Objekte oder Themen, positive und negative Bemerkungen sowie Veränderungsvor-
schläge.
2. Zielgruppen
Es wurden drei unterschiedliche Zielgruppen befragt;
- Einzelbesucher, also Personen, die allein oder in Begleitung Ausstellungen des
Linden-Museums besuchen und nicht zu einer organisierten Gruppe gehören
- Gruppenbesucher, welche die Ausstellungen des Linden-Museums in einer orga-
nisierten Gruppe besuchen
- Veranstaltungsbesucher, d. h. Personen, die Veranstaltungen im Wannersaal des
Linden-Museums besuchen.
TRIBUS 44, 1995
3. Untersuchungsmethode
Die Untersuchung wurde als schriftliche Befragung mit einem für jede Zielgruppe
eigens entwickelten Fragebogen durchgeführt. Mit Hilfe der Zufallsstichprobe er-
hielt jeder Besucher dieselbe Chance, ausgewählt zu werden. Ein geschulter Befra-
ger wählte je nach Besucheraufkommen jeden dritten, fünften oder zehnten Besucher
über 13 Jahren aus. Die Einzelbesucher wurden beim Verlassen des Museums per
Zufallsstichprobe ausgewählt und gebeten, den Fragebogen an einem dafür bereitge-
stellten Tisch auszufüllen (Ausgangsbefragung). Die Gruppenbesucher wurden
durch ihre Gruppenleiter befragt. Jeder Gruppenleiter wurde beim Verlassen des
Museums gebeten, den Fragebogen auszufüllen (Ausgangsbefragung). Die Veran-
staltungsbesucher wurden per Zufallsstichprobe ausgewählt und vor der Veranstal-
tung schriftlich befragt, da uns nicht an einer Bewertung der Veranstaltungen selbst
gelegen war (Eingangsbefragung).
4. Zeitlicher Verlauf
Zwischen März 1994 und Februar 1995 wurden vier Erhebungsphasen mit unter-
schiedlichen Rahmenbedingungen durchgeführt. Den vier Phasen von je 14 Tagen
ging vom 3. Februar bis 3.März 1994 ein Vortest voraus, bei dem die Erhebungsin-
strumente getestet und optimiert wurden.
1. Phase: 26. März bis 10. April 1994
Besonderheiten: Osterferien in Baden-Württemberg (28.3.-8.4.94)
Karfreitag war das Museum geschlossen, Ostermontag dagegen geöffnet.
Sonderausstellung: »Kanga - Sprechende Tücher aus Ostafrika« im Sonderausstel-
lungsraum,
Veranstaltungen: im Vortragssaal und im Projektionsraum
Über die Ergebnisse dieser Phase wurde bereits im TRIBUS Nr. 43 berichtet.
2. Phase: 23. Juli bis 7. August 1994
Besonderheiten: Schulferien
Sonderausstellung: »Gemaltes Land - Kunst der Aborigines aus Arnhemland« im
Sonderausstellungsraum und im großen Vortragssaal (Wannersaal)
Es fanden keine Veranstaltungen statt, die Befragung der Veranstaltungsbesucher
entfiel daher.
3. Phase: 1. Oktober bis 16. Oktober 1994
Besonderheiten; keine Schulferien, Montag, 3. Oktober (»Tag der Deutschen Ein-
heit«) geschlossen
Sonderausstellung: keine
Veranstaltungen: im Vortragssaal und im Projektionsraum
4. Phase: 28. Januar bis 12. Februar 1995
Besonderheiten: keine Schulferien
Sonderausstellung: »Madagaskar - Land zwischen den Kontinenten« im Sonderaus-
stellungsraum
Veranstaltungen: im Vortragssaal und im Projektionsraum
Da ab Januar 1995 alle staatlichen Museen in Stuttgart außer dem Linden-Mu-
seum Eintrittsgeld erheben und parallel zu der Befragung im Linden-Museum seit
Herbst 1994 auch in der Staatsgalerie Stuttgart Besucher befragt werden, wurde -
entgegen der ursprünglichen Planung - diese Erhebungsphase zusätzlich durchge-
führt.
Die Befragung der Veranstaltungsbesucher erstreckte sich ebenfalls über jeweils 14
Tage. Da jedoch nicht jeden Tag eine Veranstaltung stattfand, wurde diese Untersu-
chung beginnend mit der ersten Veranstaltung nach Beginn der Einzelbesucherbe-
fragung 14 Veranstaltungstage lang durchgeführt.
Die Befragung der Gruppenleiter begann am ersten Tag der ersten Erhebungsphase
und wurde ohne Unterbrechung ein volles Jahr lang durchgeführt.
26
II. Ergebnisse der Befragung der Einzelbesucher
Während der vier Erhebungsphasen besuchten insgesamt 17 731 Einzel- und Grup-
penbesucher das Museum. Davon waren über 35% Kinder unter 13 Jahren, die zwar
gezählt, aber nicht befragt wurden. 14 647 Besucher kamen als Einzelbesucher.
Der Bericht stützt sich auf die Auswertung von 1686 Fragebögen, die sich entspre-
chend dem Besucheraufkommen auf die vier Erhebungsphasen verteilen:
Aus der 1. Phase erhielten wir 594 Fälle (35 %), aus der 2. Phase 373 Fälle (22%), die
3. Phase ergab 247 Fälle (14%) und in der 4. Phase erhielten wir 472 Fälle (28%).
Die Mehrzahl der Besucher (57%) befragten wir an einem Samstag, Sonntag oder
Feiertag. Zwar enthielt die 1. Phase mit dem Ostermontag einen zusätzlichen Feier-
tag, der wie ein Sonntag gewertet werden muß, und ein Werktag (Karfreitag) entfiel
dafür. Bei Ausschluß der 1. Phase ergibt sich jedoch für die Phasen II bis IV dieselbe
Relation von Besuchern an Werk- und Wochenendtagen.
Ein Drittel derjenigen Besucher, die das Museum an Werktagen besuchen, kommen
an einem Mittwoch. Hier ist zu beachten, daß das Linden-Museum mittwochs bis 20
Uhr geöffnet ist.
Der Fragebogen enthielt drei große Komplexe:
1. Besucherprofil
2. Besucherverhalten
3. Persönliche Äußerungen der Besucher
1, Besucherprofil
Das Besucherprofil wird aus den persönlichen Daten wie Alter, Geschlecht oder
Wohnort, aber auch aus den Angaben zur formalen Bildung, der Stellung im
Erwerbsleben und zum Tätigkeitsbereich ermittelt.
1.1 Geschlecht und Alter
Während der vier Erhebungsphasen wurden 781 (46,3%) Männer und 883 (52,4%)
Frauen befragt. 9 Befragte antworteten nicht auf diese Frage und 13 Antworten
waren nicht auswertbar.
Während der Phasen I, III und IV ist die Anzahl an männlichen und weiblichen Besu-
chern etwa ausgeglichen, während der zweiten Erhebungsphase wurden allerdings
60% Frauen und 40% Männer befragt. Dieselbe Verteilung (60:40) findet man
während aller Phasen an Werktagen, während an Wochenenden und Feiertagen
jeweils der gleiche Anteil an Männern und Frauen das Museum besuchte.
Die Altersspanne der befragten Einzelbesucher reicht von 13 bis 87 Jahren. Insge-
samt waren 80% der befragten Einzelbesucher jünger als 50 Jahre, jeder dritte zwi-
schen 30 und 39 Jahren alt.
Jeweils 20% der Besucher, die in Begleitung kommen, sind zwischen 13 und 29 Jah-
ren, bzw. 50 Jahre oder älter. Die übrigen 60% gehören zur Altersgruppe der 30- bis
49jährigen. Bei den Besuchern, die das Museum allein besuchen, ist die Altersver-
teilung auffällig anders: Dort ist jeder vierte jünger als 30 Jahre, mit 40% sind die
30- bis 49jährigen vertreten und 30% sind 50 Jahre oder älter. Bei den Erstbesuchern
ist die Altersgruppe unter 30 Jahren mit über 30% besonders stark vertreten (s.
Diagr. 1).
An den Wochenenden besuchen besonders viele 30- bis 49jährige (60%) das
Museum, die an Werktagen mit weniger als der Hälfte vertreten sind. Dann kommen
häufiger die Besucher unter 30 (25%) und über 60 (10%) Jahren.
1.2 Formale Bildung, Stellung im Erwerbsleben, Tätigkeitsbereiche
Die Frage nach der gegenwärtigen Stellung der Besucher im Erwerbsleben gibt Auf-
schluß darüber, wie flexibel die Besucher hinsichtlich ihrer Zeit und ihrer finanziel-
len Möglichkeiten sind.
27
TRIBUS 44, 1995
Altersverteilung aller befragten Einzelbesucher
Erst- und Wiederholungsbesucher (in Prozent)
13-19 Jahre ■
E
Otagramr
■ Erstbesucher E3 Wiederholungsbesucher
Gegenwärtige Stellung im Erwerbsleben
Besucher an Werktagen und Wochenenden in Prozent
O 10 20 30 40 so
Teilweise
Voll Ang/Beami/Selbst
Voll Arbeiter
Nicht erwerbSlat
Keine Antwort
г; ■ Werktage о Wochenenden
15% der Befragten sind nur teilweise erwerbstätig, über 30% sind nicht erwerbstätig.
Entsprechend zählt etwa jeder zweite Befragte zu den Vollbeschäftigten: davon
geben 40% »Arbeiter« als Beruf an. 12% gehörten zur Gruppe der Angestellten,
Beamten oder Selbständigen (s. Diagr. 2). Das heißt, 85% der Besucher des Linden-
Museums verfügen über relativ geringes oder kein Einkommen.
Dennoch sind 35% der Besucher uneingeschränkt bereit, Eintritt zu bezahlen, 28%
nur dann, wenn Ermäßigungen gewährt werden. Ebensoviele würden sich einen
Besuch jedoch genau überlegen, wenn Eintritt verlangt würde und 8% lehnen ihn ab.
Dabei würden immerhin 40% bis zu 5 DM bezahlen, 30% bis zu 3 DM und 11 % bis
zu 2 DM. 6% konnten sich über die Höhe nicht entscheiden und 8% beantworteten
diese Frage nicht.
Unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit haben die Befragten Auskunft über ihren
Tätigkeitsbereich gegeben: Knapp 30% der Besucher kommen aus den Bereichen
Unterricht, Erziehung, Kunst und Kultur, und ebenso viele aus der Industrie, der
Landwirtschaft oder arbeiten als Handwerker. 20% der Befragten arbeiten in den
Bereichen Handel, Banken oder Dienstleistungen und je 10% sind in den Bereichen
Verwaltung/Recht tätig oder machten sonstige Angaben wie z. B. Gesundheitswesen,
soziale Dienste oder Entwicklungshilfe. An Werktagen ist jedoch der Anteil von
Besuchern aus dem Bereich Pädagogik/Kultur mit 35% besonders hoch.
Besucher mit einfachen Bildungsabschlüssen wie Haupt- oder Realschulabschluß
28
sind mit knapp 40% ebenso stark vertreten wie Besucher mit Hochschul- oder Fach-
hochschulabschlüssen. Die verbleibenden 20% hatten Abitur bzw. eine Fachschule
absolviert.
1.3 Wohnort und Art der Anreise
Bezogen auf alle Befragten kommt jeweils ein knappes Drittel der Besucher aus
Stuttgart, aus dem Bereich der S-Bahn und aus der übrigen Bundesrepublik. Nur 3%
kommen aus dem Ausland. Vertreten sind hier v. a. europäische Länder wie Frank-
reich, Großbritannien, die Schweiz, Österreich und die Benelux-Staaten, aber auch
Besucher aus Rußland, Afrika, den USA.
80% (1356 Befragte) geben ihren Wohnort genau an. Von diesen kommt ein Viertel
direkt aus Stuttgart, doch jeder Dritte nennt einen Ort in Baden-Württemberg, der
über 50 km von Stuttgart entfernt ist, und 10% kommen aus anderen Bundesländern.
Die Frage, welches Verkehrsmittel die Besucher zur Anfahrt benutzen, ist in der
ersten Erhebungsphase nicht gestellt worden. Demzufolge können wir hier nur von
1092 Befragten ausgehen, das sind 65 % aller Befragten. Von ihnen reisen über die
Hälfte mit dem PKW an, ein Viertel mit öffentlichen Verkehrsmitteln (WS) und je
ca. 10 % mit der Fernbahn oder sie kommen zu Fuß bzw. mit dem Fahrrad.
Bezieht man die Entfernung zum Museum mit ein, so zeigt sich, daß 40% (!) der
Stuttgarter, 2/3 der im Einzugsbereich der S-Bahn Wohnenden und jeder zweite aus
der übrigen BRD mit dem PKW zum Museum kommen. Nur 30% der S-Bahn-
Anwohner und '/3 der Stuttgarter nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel. An Werkta-
gen überwiegt die Anreise mit dem PKW (37 %) nur knapp die mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln (35%). An Wochenenden allerdings verringert sich die Zahl der
Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel auf 20%. Angesichts dieser Zahlen erscheinen
die häufigen Klagen über den Parkplatzmangel nicht verwunderlich (s. Diagr. 3).
2. Besucherverhalten im Linden-Museum und Umgang mit Museen allgemein
Neben den demographischen Daten erfragten wir Verhaltensweisen der Besucher im
Zusammenhang mit Museen, z. B. Angaben über die Besuchssituation, also ob die
Befragten allein oder mit anderen Personen das Linden-Museum besuchen, Angaben
zur Anzahl ihrer Besuche von Museen und kulturellen Veranstaltungen im letzten
Jahr und auch welche Arten von Museen, Veranstaltungen und Vermittlungsweisen
sie bevorzugen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Ver-
gleich von Erst- und Wiederholungsbesuchern.
TRIBUS 44, 1995
2.1 Besuchssituation
Über 80% aller Besucher besuchen das Linden-Museum gemeinsam mit anderen
Personen. An den Wochenenden liegt der Prozentsatz sogar bei 85%. Davon sind
über die Hälfte in Begleitung ihrer Partner, etwa ein Viertel kommen mit Eltern,
Geschwistern oder sonstigen Verwandten und 15% mit Freunden, Bekannten oder
Kollegen. Die an den Werktagen Befragten unterscheiden sich v. a. in einer Hinsicht:
nur ein Viertel von ihnen kommt in Begleitung ihrer Partner.
618 Personen, also etwa die Hälfte aller Befragten, kamen mit Kindern. Der größte
Teil von ihnen (569) gab die Anzahl an, die bei insgesamt 1122 lag.
Mehrfachnennungen waren hier möglich. Betrachtet man alle Kombinationsmög-
lichkeiten, so zeigt sich, daß nur 10% der Besucher nicht mit Partner, Kind und/oder
Verwandten kommen. Somit bestätigt sich der Trend, der sich bereits bei der Aus-
wertung der ersten Phase (s. TRIBUS Nr. 43) zeigte: das Linden-Museum spricht
besonders Familien an und muß in diesem Rahmen als eine wichtige Institution kul-
tureller Bildung betrachtet werden.
2.2 Erstbesucher und Wiederholungsbesucher
Zwei Drittel der Befragten kennen das Linden-Museum schon von einem früheren
Besuch. 40% dieser Wiederholungsbesucher sind schon mehr als dreimal im Haus
gewesen. Besonders interessant ist hier z. B., welche Sonderausstellungen und Ver-
anstaltungen die Wiederholungsbesucher im Linden-Museum gesehen haben und in
welchen Abteilungen sie sich bei diesem Besuch aufhielten.
Für die Frage, wie die Befragten auf das Museum bzw. diese Ausstellung aufmerk-
sam geworden sind, richten wir besonderes Augenmerk auf die Erstbesucher.
Die Besuchssituation der Erstbesucher unterscheidet sich deutlich von derjenigen der
Befragten, die mehr als dreimal hier waren. Denn fast 90% der Erstbesucher und der-
jenigen, die bereits ein- bis dreimal hier waren, kamen in Begleitung. Wer aber schon
öfter als dreimal im Linden-Museum war, kommt häufiger auch allein: hier waren
nur noch drei Viertel in Begleitung.
Insgesamt sind die Erstbesucher jünger als die Wiederholungsbesucher und bringen
demzufolge nur in 12% der Fälle Kinder mit, gegenüber einem Viertel der Wieder-
holungsbesucher. Über 50% der mindestens dreimal hiergewesenen sind 40 Jahre
oder älter, während bei den anderen Besuchern nur etwa ein Drittel zu dieser Alters-
gruppe gehört.
Daß fast jeder zweite der häufigen Wiederholungsbesucher direkt aus Stuttgart
kommt, wundert nur wenig. Auffallend ist aber, daß immerhin gut 20% von ihnen in
Orten der Bundesrepublik wohnen, die über 50 km von Stuttgart entfernt liegen. Bei
den Erstbesuchern kehrt sich dieses Verhältnis um (s. Diagr. 4).
Wohnort der Ausstellungsbesucher
Erst- und Wiederholungsbesucher (in Prozent)
30
Bedenklich stimmt die Tatsache, daß die Häufigkeit der Wiederholungsbesuche mit
der Höhe des Bildungsabschlusses korreliert. Fachhochschul- oder Hochschulabsol-
venten sprechen die Ausstellungen stärker an, sie kommen häufiger wieder als Besu-
cher mit niedrigeren Bildungsabschlüssen.
Die Erstbesucher halten sich deutlich länger im Museum auf als die Wiederholungs-
besucher: Jeder zweite Erstbesucher gab an, ein bis zwei Stunden im Haus gewesen
zu sein, ein Viertel sogar länger als zwei Stunden. Dagegen verbringen nur knapp
60% der Wiederholungsbesucher mehr als eine Stunde hier, 10% sogar nur etwa eine
halbe Stunde.
2.3 Besuch der Abteilungen
Etwa jeder dritte sieht sich wenigstens eine Dauerausstellung in allen drei Stock-
werken an. Die Nennungen nehmen bei den oberen Stockwerken deutlich ab: über
90% sehen mindestens eine der Dauerausstellungen im Erdgeschoß und/oder die
Sonderausstellung. Die Ausstellungen im 1. Stock werden noch zu 60% besucht, und
etwa die Hälfte aller Befragten gelangt auch in den 2. Stock.
Besonders frequentiert sind die Abteilungen »Amerika« und »Südsee«. Während der
ersten Erhebungsphase war die Orient-Ausstellung wegen Umbaus geschlossen. Ein
Vergleich ist deshalb nur für die Phasen II-IV möglich. Aus diesen Phasen haben
sich 1092 Fälle ergeben, davon 357 Erstbesucher und 730 Wiederholungsbesucher (s.
Diagr. 5).
Von allen Sonderausstellungen erhielt die Ausstellung »Gemaltes Land«, die
während der zweiten Erhebungsphase gezeigt wurde, die meisten Nennungen. Sie
konnte sogar in der Zeit der Befragung von allen Abteilungen die meisten Nennun-
gen verbuchen, während die anderen Sonderausstellungen hinter den anderen Abtei-
lungen bleiben. Bei der Beurteilung durch die Besucher finden sich oft Kommentare
wie »Die Sonderausstellung ist zu teuer« bzw. »zu klein und zu teuer«.
Über 20% der Befragten haben sich nur eine Abteilung angesehen. Von diesen häu-
figen Museumsgängern waren mehr als 60% schon dreimal oder öfter im Linden-
Museum, knapp 20% zählen zu den Erstbesuchern. 60% dieser Besucher sehen sich
gezielt die Sonderausstellung an: 13 % die Amerika-Abteilung, 7 % die Orient-Abtei-
lung, jeweils 6% die Afrika- und die Ostasien-Abteilung und je etwa 3% die Südsee-
und die Südasien-Abteilung. Trotz des Besuchs nur einer Abteilung bleiben fast 70%
dieser Besucher eine bzw. ein bis zwei Stunden im Museum, 17% sogar länger. Ein
knappes Drittel nimmt an einer Führung teil - gegenüber 10% aller Besucher - und
jeder zweite nutzte eines der zusätzlichen Angebote, v. a. den Bücher-Verkauf (20%)
und das Café (30%).
Überdurchschnittlich viele der Besucher, die nur eine Abteilung ansehen, kommen
TRIBUS 44, 1995
allein (30%). Drei Viertel wohnen in der näheren Umgebung: knapp die Hälfte
kommt aus Stuttgart und je ein Viertel aus dem S-Bahn-Bereich und der übrigen
Bundesrepublik.
Besucher, die nur eine Abteilung gesehen haben, gehen oft ins Museum. Weniger als
3% geben an, in den letzten 12 Monaten kein Museum und keine Ausstellung gese-
hen zu haben. Beinahe 70% dagegen hatten 4 oder mehr besucht.
2.4 Interesse für Museen, Häufigkeit der Museumsbesuche
Die Besucher des Linden-Museums zählen zu den ausgesprochenen Museumsfreun-
den. 30% geben an, wenigstens ein Museum in Baden-Württemberg besucht zu
haben. Je ein Viertel der Erstbesucher und der bis zu dreimaligen Wiederholungsbe-
sucher sowie die Hälfte der mehr als dreimaligen Wiederholungsbesucher haben in
den 12 Monaten vor der Befragung öfter als fünfmal ein Museum oder eine Ausstel-
lung besucht.
Nach den Völkerkundemuseen (70%) genießen die Naturkundemuseen (60%) das
besondere Interesse des Linden-Museum-Besuchers. Erst danach interessiert er sich
für Kunstmuseen (50%).
Die Hälfte der Befragten führte außer dem Linden-Museum wenigstens ein weiteres
Völkerkundemuseum an. Davon besuchte ein Viertel Museen in der Bundesrepublik
und 37 % Museen im Ausland. Die genannten Museen sind weit über die ganze Welt
gestreut, von Mexico City über Mombasa, Dehli, Rotorua bis Sri Lanka. Viele Besu-
cher geben bei dieser Frage jedoch kulturhistorische Museen an wie das Römisch-
Germanische Museum in Köln oder die Ägyptischen Museen in Berlin und Kairo.
2.5 Gründe für den heutigen Museumsbesuch
Mit der Frage nach den Gründen für den heutigen Museumsbesuch hatten wir die
Besucher gebeten, ihre Vorlieben auf einer siebenstufigen Skala von »sehr zutref-
fend« bis »gar nicht zutreffend« einzuordnen. In Diagramm 6 sind die Häufigkeiten
für die als »sehr zutreffend« eingestuften Gründe für Erst- und Wiederholungsbesu-
cher dargestellt. Hier wird deutlich, daß die Erstbesucher v. a. die Begegnung suchen,
aber auch die Verbindung von historischen Hintergründen und gegenwärtigem All-
tag. Einzelne Themen oder ausgewählte Kunstobjekte sind weder für Erst- noch für
Wiederholungsbesucher besonders wichtig (s. Diagr. 6).
Bemerkenswert ist, daß das Interesse an einer Begegnung mit Menschen aus anderen
Kulturen für 40% der Besucher besonders wichtig ist, das Interesse am Leben und
der Kultur der ausländischen Mitbürger jedoch besonders unwichtig eingestuft wird.
Nur knapp die Hälfte derer, die »sehr« an einer Begegnung mit Menschen aus einer
anderen Kultur interessiert sind, wollen auch etwas über die Kultur ihrer ausländi-
schen Mitbürger erfahren. 30% interessieren sich »ziemlich« dafür, 15% nur
32
»etwas« oder »gar nicht«. Andererseits interessieren sich 10% derer, die sich »gar
nicht« für ihre ausländischen Mitbürger interessieren, »sehr« für die Begegnung mit
Menschen anderer Kulturen. Das Linden-Museum wird also vielfach nicht als Ort
gesehen, an dem das Miteinander der Kulturen in Stuttgart erfahren werden kann (s.
Diagr. 7).
2.6 Interesse für Veranstaltungen, Häufigkeit der Veranstaltungsbesuche,
Nutzung der sonstigen Angebote im Linden-Museum
In hohem Maße korreliert die Häufigkeit von Besuchen im Linden-Museum mit dem
Interesse am Veranstaltungsangebot des Hauses wie Führungen, Familien- und Kin-
derprogrammen oder Vorträgen.
Von den Veranstaltungen innerhalb der Ausstellungsräume sind Führungen mit über
40% der Nennungen das weitaus beliebteste Angebot im Hause (s. Diagr. 8). Gut ein
Viertel der Befragten interessiert sich für das Kinderprogramm und 17% für das
Familienprogramm. Während der Erhebungsphasen fanden 19 Führungen durch die
Sonderausstellung und 12 Führungen durch eine der Dauerausstellungen statt.
Außerdem führte das Referat Museumspädagogik des Linden-Museums acht Veran-
staltungen der Ferien- und Familienprogramme durch, deren Teilnehmer größtenteils
jünger als 13 Jahre sind und somit nicht befragt werden konnten. Dennoch haben sie-
ben im Rahmen unserer Stichprobe befragte Besucher am Familienprogramm teilge-
nommen. 88 Besucher ließen sich durch die Sonderausstellung führen und 55 durch
eine der Dauerausstellungen. 11 Führungsteilnehmer haben keine Angabe über das
Thema gemacht. Insgesamt haben knapp 10% aller Befragten bei diesem Besuch an
einer Führung teilgenommen.
Besonderes Interesse an Veranstaltungen Erst- und Wiederholungsbesucher (in Prozent)
0 10 20 30 40 50
TRIBUS 44, 1995
Ein Drittel der Wiederholungsbesucher gibt an, in den 12 Monaten vor der Befragung
an bis zu drei Veranstaltungen im Wannersaal des Linden-Museums teilgenommen
zu haben. Dabei kann die Teilnahme an einer Veranstaltung auch Auslöser für den
Besuch der Ausstellungen sein. Über 10% der Erstbesucher waren vorher bereits
wegen einer Veranstaltung im Linden-Museum gewesen.
Das sonstige Angebot wie Bücherverkauf, Café oder Bibliothek wird von jedem
zweiten Besucher angenommen. Am häufigsten wird das Café genutzt, vor allem von
den Besuchern in Begleitung. 35 % aller Befragten haben sich u. a. dort aufgehalten,
davon 40% der Erstbesucher in Begleitung.
In ähnlicher Weise sollten die Besucher ihre Vorlieben für bestimmte Vermittlungs-
formen auf einer Skala einordnen. Besonderes Interesse haben unsere Besucher
daran, ausgewählte Objekte anfassen zu dürfen, um die Andersartigkeit der vielen
unbekannten Materialien zu erspüren (s. Diagr. 9). Daran schließt sich der Wunsch
nach ausführlichen Objektbeschriftungen, Text- und Grafiktafeln, audiovisuellen
Medien wie Video und Film sowie Musik- und Sprachbeispielen. Wenig Interesse
haben die Besucher an Führungsblättern, Informationssystemen über Bildschirm und
Tonbandführungen. Die letzten Angaben können jedoch nur schwer bewertet wer-
den, da aufgrund vieler Kommentare angenommen werden muß, daß nur wenige der
Besucher tatsächlich über diese Vermittlungsform informiert sind.
2.7 Wirkung des Linden-Museums nach außen
Bei der Frage, wie unsere Besucher auf das Museum aufmerksam geworden sind,
sollten alle zutreffenden Möglichkeiten genannt werden.
Besonders wichtig ist das Gespräch über das Museum im Familien- und Freundes-
kreis: 60% der Erstbesucher und immerhin ein Viertel der Wiederholungsbesucher
geben unter anderem an, dadurch auf das Museum bzw. die Ausstellung aufmerksam
geworden zu sein. An zweiter Stelle folgt mit 556 Nennungen die Kenntnis des
Museums seit der Jugend. Knapp die Hälfte der Wiederholungsbesucher und immer-
hin 5% der Erstbesucher wählten diese Kategorie. Das Linden-Museum nimmt
offensichtlich im Stuttgarter Kulturleben einen traditionell festen Platz ein. Dies
bestätigt die hohe Anzahl an Besuchern unter 13 Jahren. Ausbildungsstätte und
Elternhaus weisen dem Linden-Museum hinsichtlich der kulturellen Bildung eine
große Verantwortung zu.
Andere Informationsmedien wie Zeitungen und Zeitschriften, Plakate oder Veran-
staltungskalender werden v. a. von den Wiederholungsbesuchern beachtet. Dies
spricht für das zielgerichtete Interesse dieser Gruppe. An letzter Stelle rangieren
zufälliges Vorbeikommen und ein Besuch der Cafeteria als Anziehungspunkt
(zusammen 4%). Das Linden-Museum kann also keinen Standortvorteil nutzen.
Vielmehr setzt der Besuch des Museums einen bewußten Entschluß unserer Besu-
cher voraus.
34
3. Persönliche Äußerungen der Besucher
Gefragt wurde hier nach den positiven und negativen Eindrücken des aktuellen
Besuchs sowie den konkreten Erinnerungen an bestimmte Objekte oder Themen der
einzelnen Abteilungen. Dieser Fragebogenkomplex gab den Besuchern die Mög-
lichkeit, sich ohne einschränkende Vorgaben zu äußern. Obwohl die Auswertung sol-
cher offen formulierter Fragen recht aufwendig ist, läßt sich mit den subjektiven
Aussagen ein »Stimmungsbild« entwerfen, dessen Wert von keinem »Ausstellungs-
macher« unterschätzt werden darf.
Insgesamt zeigt sich, daß die meisten Besucher mit ihrem Aufenthalt im Linden-
Museum zufrieden sind. Von allen Besuchern haben sich jeweils knapp 70% positiv
geäußert und 43 % negativ. 35 % aller Befragten machen konkrete Veränderungsvor-
schläge.
Das Werturteil der Besucher über das Linden-Museum beruht auf einem wenig
umfangreichen Kriterienkatalog. Zweifellos steht im Mittelpunkt die Erwartung des
Museumsbesuchers, etwas über das heutige Leben in einer Region, die Alltagskultur
eines bestimmten Volkes zu erfahren.
Entsprechend bezieht sich die Mehrzahl der positiven Äußerungen auf diejenige Prä-
sentationsform, die, wie z. B. der orientalische Bazar oder der Kiosk in der Afrika-
Abteilung, Gegenstände in ihrem Anwendungsbezug darstellt.
Die »szenischen Darstellungen«, »die Abkehr vom musealen Wandschrank« und die
Möglichkeit, diese »lebensnahe Szene« auch zu betreten, als ob man »in diese Kul-
tur hineinversetzt« worden wäre, läßt beim Besucher den Eindruck authentischer
Alltagskultur entstehen. Erhält der Besucher im Rahmen einer Führung oder eines
museumspädagogischen Programms z. B. durch Anfassen eines ausgewählten
Objekts oder Tanzen nach Musik der jeweiligen Region einen zusätzlichen Zugang
zur Ausstellung, so schlägt sich auch dies in seinen positiven Äußerungen nieder wie
»Ich komme meist zu Führungen, die gefallen mir, wenn sie nicht zu wissenschaft-
lich sind.« Musik, sei sie vom Band oder live, wenn die Gamelan-Gruppe probt, wer-
den als »lebendige Bereicherung« erlebt. Das Linden-Museum wird so zum »Lieb-
lings-Museum« und gibt Anlaß zu Folgebesuchen.
Ein zweites, weniger wichtiges Kriterium für die Besucher des Linden-Museums ist
die Wertschätzung für einzelne, herausragende Objekte, denen ein besonderer Wert
wegen ihres Alters, ihrer Seltenheit, etc. beigemessen wird. Die Ergebnisse der
Befragung lassen den Schluß zu, daß nur wenige Besucher wegen solcher »high-
lights« ins Haus kommen. Exponate wie z. B. das »Sandmandala« werden nicht als
Kunstobjekte gesehen, eher als Objekte, die ihre Bedeutung durch den Kontext erhal-
ten, den sie verdeutlichen sollen. So werden auf die Frage, an welche Objekte oder
Themen sich der Besucher erinnert nur selten einzelne Objekte genannt. Neben den
Erlebnisbereichen beschränkt sich die Erinnerung meist auf Objektgruppen: Masken,
Waffen, Kleidung und Schmuck, Schattentheater und Götterfiguren.
Drittens hängt die Beurteilung des Museums in nicht geringem Maße von seinem
Freizeitwert und den Rahmenbedingungen des Museumsbesuches ab. Dazu zählen
die zahlreichen Kommentare über die Verkaufstheke, das Café und das »kinder-
freundliche und hilfsbereite Personal«.
Auch die negativen Äußerungen folgen in ihrer Wertigkeit und Anzahl diesem Kri-
terienkatalog. Kritik wird v. a. dann geäußert, wenn der Besucher die erwartete
»Lebendigkeit« nicht erfahren hat. Dies kann sich sowohl auf die Themenauswahl
als auch auf die Präsentation beziehen. Am häufigsten vermissen einige Besucher
des Linden-Museums gegewartsbezogene Ausstellungen sowie die Möglichkeit, sich
außerhalb von museumspädagogischen Programmen aktiv zu betätigen. Insbeson-
dere fehlen kindgerechte Aktionsbereiche für Familien - eine Kritik, die angesichts
der großen Anzahl an Familien unter unseren Besuchern besonders ernst genommen
werden muß.
Viele Besucher kommen gezielt ins Linden-Museum, um »etwas zu lernen«, um
»fremde Kulturen« besser zu verstehen. Lebendig dargebrachte Hintergrundinfor-
mation als didaktisches Prinzip wird auch bei der Vermittlungsform erwartet. Fühlt
TRIBUS 44, 1995
sich der Besucher in seinem »Bildungsengagement« nicht ernst genommen, dann hat
dies oft ausgesprochen aggressive Kritik zur Folge. Entsprechend führen längere
Schließungen von Abteilungen zu deutlicher Verärgerung; »Komme schon zum drit-
tenmal und die Orient-Abteilung ist immer noch zu«. Ebenso, »wenn Objekte ledig-
lich beschriftet, aber nicht erklärt werden«. Kritisiert wird auch die »teilweise lieb-
lose Präsentation der gezeigten Objekte in neutraler Umgebung mit schlechten/
fehlenden Erklärungstafeln«, deren »Erläuterungen zu akademisch« und deren
»Erklärungen zur Einordnung der Exponate im Leben« zu kurz kommen. Darüber
hinaus klagen Besucher darüber, »daß man viel lesen muß«, wobei man die Infor-
mationen auch »durch andere Medien bekommen« könnte.
Die Rahmenbedingungen beeinflussen teilweise erheblich das Gesamturteil über das
Museum, obwohl es sich häufig nur um Äußerlichkeiten handelt. Dabei muß berück-
sichtigt werden, daß die Besucher in der Regel ihre spärliche Freizeit aufwenden, um
das Linden-Museum zu besuchen und wenig Interesse verspüren, sich zusätzlichen
Belastungen auszusetzen. Auffallend häufig betreffen die Klagen »die stickige
Luft«, »die Geruchsbelästigung« durch die Küche oder daß es »zu kalt« war. Auch
das Fehlen von genügend »bequemen Sitzmöglichkeiten«, der »Fahrstuhl außer
Betrieb« oder der »schnippische Kommentar« einer Aufsichtskraft können einen
Nachmittag im Museum zu einem Erlebnis machen, auf das man lieber verzichtet
hätte.
III. Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Gruppenbesucher
Die Befragung der Gruppenbesucher ergab 926 gültige Fragebögen, die insgesamt
22288 Gruppenteilnehmer betrafen. Davon wurden 121 Bögen - insgesamt 2367
Gruppenteilnehmer - während der Einzelbesucherkampagnen ausgefüllt.
1. Allgemeine Angaben
Die Gruppenbesucher halten sich vorwiegend vormittags im Museum auf. Jede
zweite Gruppe kam zwischen 10 und 11 Uhr ins Linden-Museum, 17% zwischen 11
und 12 Uhr und 13% zwischen 14 und 15 Uhr (s. Diagr. 10). Meist bleiben sie ein bis
zwei Stunden (70%), nur 13% waren über zwei Stunden hier (s. Diagr. 11), so daß
zwei Drittel der Befragungen vor 13 Uhr stattfanden.
Mehr als die Hälfte der Gruppenleiter hat zum erstenmal eine Gruppe ins Linden-
Museum geführt, 20% bereits 3mal oder öfter.
Ankunftszeit der Gruppe im Linden-Museum
1 Alle befragten Gruppenleiter
600
soo
400
300
200
100
o ________ __ __________________________________________________
I 2 I 479 | 157 | 42 | 59 I 119 | S§ | 5 | 4~
iDiagramnMOjj
36
DiagrammJjJ
Schulen (67 %) und Kindergärten (12%) bilden den Hauptanteil der Gruppen, so daß
diese noch eingehender betrachtet werden. Die verbleibenden Gruppen kamen von
anderen Bildungseinrichtungen (7 %) wie Universität oder Berufsfachschule, als pri-
vate Freizeitgruppen (6%) wie z. B. Kindergeburtstag, Seniorentreff und Vereinen
sowie sonstigen Gruppen (6%) wie z.B. therapeutischen Einrichtungen.
Zu je 30% kamen die Gruppen aus dem Einzugsbereich der S-Bahn und Orten in der
übrigen Bundesrepublik (s. Diagr. 12). Betrachtet man die etwa 90% der genaueren
Ortsangaben, so kamen nur 10% aus Stuttgart selbst, fast 40% dagegen aus Orten in
der Bundesrepublik, die mindestens 50 km von Stuttgart entfernt sind.
Herkunftsort der Gruppen
Alle befragten Gruppenleiter
400 |-------------------------------------------------
2 1 286 ' _ . 302 | 321 15
DiagrammJ^J
157 Gruppen (17%) kamen zu einem allgemeinen Orientierungsbesuch, drei Viertel
aber besuchten gezielt eine bestimmte Abteilung, 20% davon in Verbindung mit
einem bestimmten Objekt oder einem Thema.
Zwei Drittel aller befragten Gruppen haben an einer Führung teilgenommen. Von
allen Befragten haben 64% Angaben zum Thema der Führung gemacht. Über 70 ver-
schiedene Themen werden genannt, angefangen von einer allgemeinen Einführung
zum Linden-Museum und einzelnen Abteilungen, über vergleichende Themen wie
»Schrift«, »Musik« oder »Religion« bis zu sehr speziellen Themen wie »Frau im
Islam« oder »die Arbeitsweise der Ethnologen und Museumspädagogen«. Dabei
kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich hinter so allgemeinen Angaben wie
TRIBUS 44, 1995
»Indianer« oder »Religion« ein stärker differenziertes Thema verbirgt. (Weitere
Details zu den Führungen im Linden-Museum können den Berichten von S. Schiede
und R. Vogels, der Referate Museumspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit im Lin-
den-Museum Stuttgart entnommen werden.)
Wie bei den Einzelbesuchern wird die Amerika-Abteilung mit ca. 40% am häufig-
sten besucht. Dann folgen die Abteilungen Orient und Afrika (15%), Südsee-Abtei-
lung und Sonderausstellungen belegen mit je 10% Platz 3 und schließlich folgen die
beiden asiatischen Ausstellungsbereiche mit je ca. 5% (s. Diagr. 13).
Leider wurde ein Drittel der Gruppen ohne Vorbereitung ins Linden-Museum
geführt, 40% hatten jedoch wenigstens über die anstehende Thematik gesprochen.
Allerdings gaben 80% der Gruppenleiter an, der Besuch würde nachbereitet. Die
häufigste Form ('/3) waren auch hier Gespräch und Diskussion. Jede 4. Gruppe sollte
das Gesehene schriftlich aufarbeiten z.B. in Form von Arbeitsblättern oder Aufsät-
zen. 90 Gruppen (ca. 10%) besuchten das Museum im Rahmen von fächerübergrei-
fenden Projekttagen.
Die meisten Gruppenleiter sind mit der angebotenen Information zufrieden.
Während fast 20% die Frage nicht beantworteten, sind knapp 30%, nämlich 258 von
926 Gruppenleitern, an zusätzlicher Information interessiert. Besonders Kurzinfor-
mationen und Arbeitsblätter zum jeweiligen Führungsthema werden gewünscht (s.
Diagr. 14). Diese Gruppenleiter haben ihre Gruppen etwas häufiger vorbereitet und
wollten den Besuch zu 90% nachbereiten.
Art der Information
Gruppenleiter, die nähere Angaben gemacht haben
Katalog. Führer
Schülermaterial
Diagramm 141
38
Erfragt wurden auch positive und negative Äußerungen zu Präsentation, Texten,
Technik und Organisation sowie zu den einzelnen Abteilungen. Deutlich häufiger
(77%) sind die positiven Angaben, Negatives äußerten nur 14%. Besonders Organi-
sation, Durchführung und Inhalte der Führungen werden gelobt: 40% der Gruppen-
leiter äußern sich in diesem Sinne. 7 % der Befragten nennen negativ Auffälliges im
Rahmen von Technik und Organisation wie z. B. »geschlossene Abteilungen«, »zu
wenig Sitzmöglichkeiten« oder »schlechte Beleuchtung und Belüftung«. Als beson-
ders störend werden auch die langen Anmeldefristen für Gruppenführungen betrach-
tet.
Konkrete Änderungswünsche machen 242 Gruppenleiter (26%) ebenfalls im Bereich
Technik/Organisation. Besonders häufig wurde ein Aufenthaltsraum für die Gruppen
gewünscht sowie mehr Möglichkeiten für Aktivitäten der Kinder. Hinsichtlich der
Präsentation würden die Gruppenleiter mehr audiovisuelle Medien einsetzen und die
Ausstellungen durch Geräusche, Gerüche und erfühlbare Informationen ergänzen.
2. Gruppen von formalen Bildungseinrichtungen
Die 688 Gruppen von formalen Bildungseinrichtungen kamen meist von Gymnasien
(30%) und Grundschulen (25%), 16% von Kindergärten und je 14% von Haupt- und
Realschulen.
Meist kamen sie aus einem Ort Baden-Württembergs, der über 50 km von Stuttgart
entfernt liegt (37 %). Je ein Viertel der Gruppen kam aus Stuttgart selbst und den
direkt angrenzenden Orten.
474 (70%) der Schulklassen haben an einer Führung teilgenommen. Dabei gaben
knapp 80% an, gezielt wegen einer bestimmten Abteilung gekommen zu sein.
Die meisten Gruppen hielten sich ein bis zwei Stunden während des Vormittags im
Linden-Museum auf. Drei Viertel waren vor 12 Uhr gekommen, und 70% verließen
das Haus bereits vor 13 Uhr wieder. Meist hatten sie sich dann ein bis zwei Stunden
aufgehalten (70%). Nur 20% blieben 30-60 Minuten und nur knapp 10% länger als
zwei Stunden.
Etwa 40 % der Gruppenleiter hatten den Besuch vorher mit der Gruppe besprochen,
und ein knappes Viertel der Gruppen war intensiver vorbereitet worden. 30%
besuchten das Linden-Museum jedoch völlig unvorbereitet. 566 Gruppenleiter
(83%) hatten eine Nachbereitung vorgesehen. Für Gymnasiasten war diese jedoch
Häufigkeit von positiven und negativen Äußerungen und Veränderungswünschen
Alle befragten Gruppenleiter (in Prozent)
J
TRIBUS 44, 1995
mit 68 % deutlich seltener geplant als für die anderen Schulen mit jeweils etwa 90 %.
Knapp 90% aller befragten Gruppenleiter machten nähere Angaben über die Art der
Nachbereitung, wobei je ca. 30% auf Gespräch und die Arbeit mit Schülerheften,
Arbeitsblättern u.ä. entfielen. Etwa 10% führten Projekttage durch.
Auch die Gruppenleiter wurden gebeten, mit ihren eigenen Worten niederzuschrei-
ben, was ihnen gefallen hat, was störte und was sie ändern würden, wenn sie könn-
ten. Insgesamt äußerten sich drei Viertel der Betreuer positiv zu ihrem Besuch im
Linden-Museum und nur 16% war etwas Negatives aufgefallen. Allerdings hatten
25% konkrete Verbesserungsvorschläge (s. Diagr. 15). Da hier Mehrfachnennungen
möglich waren, bezieht sich jede Kategorie auf 100%. Die Kategorie »Präsentation«
betrifft spezielle Äußerungen zur Ausstellungspräsentation und -konzeption wie z. B.
»Auswahl der Exponate«. Unter »Abteilung« sind die Nennungen der einzelnen
Abteilungen (Amerika, Südsee usw.) zusammengefaßt. Der hohe Anteil positiver
Nennungen in der Kategorie »Technik, Organisation« kommt vor allem durch über
40% von Äußerungen zu Führungen und museumspädagogische Angeboten
zustande.
3. Eintrittspreise
Knapp 60% wären bereit, ermäßigten Eintritt zu bezahlen. Jeder 4. Gruppenleiter
würde sich dagegen einen Besuch des Museums dann gut überlegen. Nur 80% konn-
ten sich für ein Preislimit entscheiden, das bei 2 DM (36%) bzw. 3 DM (27 %) liegt
(s. Diagr. 16).
115 Gruppenleiter wären uneingeschränkt zum Bezahlen bereit und zwar zu 40% bis
zu 3 DM und zu 30% bis zu 5 DM. Neben Schulen gehörte zu diesen Gruppen ein
großer Anteil (10%) privater Freizeitgruppen.
Knapp die Hälfte der uneingeschränkt zahlen wollenden kam von außerhalb des Ein-
zugsbereiches der S-Bahn, und 43 % reisten aus Orten in Baden-Württemberg an, die
weiter als 50 km von Stuttgart entfernt sind. Sie nutzten zu 70% die Möglichkeit
einer Führung. 40% kamen jedoch unvorbereitet, und 30% wollten auch keine Nach-
bereitung vornehmen. Hier würden 17% zusätzliche Informationen begrüßen.
Etwa 10% (70 Gruppenleiter) lehnten strikt ab, Eintrittsgeld zu bezahlen. Diese
Gruppen setzten sich v. a. aus Schülern und Studenten bzw. Teilnehmern an Fortbil-
dungsveranstaltungen zusammen, die vorwiegend (53%) aus Stuttgart kamen. 27%
kamen von über 50 km Entfernung in Baden-Württemberg und etwa ein Viertel aus
der übrigen Bundesrepublik. Diese Gruppen setzten sich intensiv mit dem Linden-
Museum auseinander. Ihnen war - im Gegensatz zu den uneingeschränkt bezahlen
wollenden - mehr Negatives aufgefallen, und sie hatten auch mehr konkrete Verän-
Wieviel Eintritt würden Sie pro Person bezahlen?
Gruppenleiter, die nähere Angaben gemacht haben
Diagramm^eJ
40
derungswünsche. Die Hälfte von ihnen hatte an einer Führung teilgenommen, und
30% würden zusätzliche Informationen begrüßen. Während sich ca. 20% aller ande-
ren weniger als eine Stunde im Hause aufhielten, blieben 90% der »Neinsager« län-
ger als zwei Stunden. Jede vierte dieser Gruppen gab an, das Linden-Museum allge-
mein zu besuchen, und nur 62% suchten gezielt bestimmte Abteilungen auf
(gegenüber 75% insgesamt).
4. Häufigkeit der Besuche mit Gruppen
Jeder zweite Gruppenleiter - insgesamt 466 - war zum erstenmal mit einer Gruppe
ins Linden-Museum gekommen. Erwartungsgemäß kamen die meisten »Erstbesu-
cher« (41 %) von außerhalb des Einzugsbereiches der S-Bahn, gegenüber 28 % bei
den schon wenigstens einmal hier Gewesenen. Doch kamen immerhin 26% aus
Stuttgart selbst, im Vergleich zu 35 % der »Wiederholungsbesucher«. 803 Gruppen-
leiter (87%) haben genauere Angaben zum Wohnort gemacht. Demnach kamen 218
Gruppen (47%) aus Orten, die über 50 km entfernt liegen, davon 11 Gruppen (2%)
aus anderen Bundesländern und 7 Gruppen (1,5%) aus dem Ausland.
Die Teilnahme an einer Führung und die Häufigkeit der Vorbesuche stehen in Rela-
tion. Von den 610 Gruppen, die an einer Führung teilgenommen haben, gehörten
52% zu den »Erstbesuchern«, 30% zu den ein- bis dreimal hier gewesenen Grup-
penleitern und 17% zu denen, die öfter als dreimal mit Gruppen hier waren.
Bei den »Wiederholungsbesuchern« wird die Tendenz zum gezielten Besuch
bestimmter Abteilungen deutlich, die teilweise in Verbindung mit bestimmten The-
men oder Objekten stand. Diese Gruppenleiter hatten ihre Gruppen auch häufiger
vorbereitet: nur 30% waren nicht vorbereitet im Gegensatz zu fast 40% der »Erstbe-
sucher«.
IV. Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Veranstaltungsbesucher
Seit dem Umbau des Linden-Museums besitzt das Haus einen Veranstaltungssaal,
den Wannersaal, der für Sonderausstellungen und Begleitveranstaltungen des Hau-
ses und der »Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e. V.« (GEV)
genutzt wird. Darüberhinaus kann der Saal von anderen Veranstaltern gemietet wer-
den. So finden hier in unregelmäßigen Abständen unter anderem wissenschaftliche
Vorträge, Konzert- und Folkloreabende sowie Multimediashows statt. Von den Besu-
chern dieser Veranstaltungen wurde ebenfalls ein Besucherprofil ermittelt. Darüber
hinaus wurden sie nach ihrem Interesse an Museen und Ausstellungen gefragt. Die
Beurteilung der Veranstaltung selbst war nicht Gegenstand der Untersuchung, so daß
die Besucher vor Veranstaltungsbeginn befragt werden konnten.
1. Allgemeines
Während der Sommermonate war der Wannersaal durch die Sonderausstellung
»Gemaltes Land« belegt, so daß keine Veranstaltungen stattfanden. Aus den verblei-
benden drei Erhebungsphasen ergaben sich 1042 gültige Fragebögen, davon 175
(17%) von Besuchern der GEV-Vorträge und »Jour Fixe«-Veranstaltungen. Hierbei
sind mehr Wiederholungsbesucher zu verzeichnen als Erstbesucher. 566 Befragte
(54%) besuchten Vorträge von Fremdveranstaltern, meist Diavorträge über Reisen,
die wesentlich mehr Erst- als Wiederholungsbesucher aufweisen. Es handelt sich
dabei um typische »Einsteigerveranstaltungen«, die neue Besucherkreise als Erstbe-
sucher ins Museum bringen. 10% der Befragten antworteten vor Konzert-, Theater-
oder Folklore-Veranstaltungen, die verbleibenden 19% teilen sich Veranstalter wie
z. B. die Deutsch-Türkische oder die Deutsch-Indische Gesellschaft (s. Diagr. 17).
Für den direkten Vergleich von Veranstaltungs- und Ausstellungsbesuchern dürfen
jedoch nur die Fragebögen herangezogen werden, die tatsächlich während der Zeit
der Einzelbesucherbefragung ausgefüllt wurden.
TRIBUS 44, 1995
■ Erstbesucher о Wiederholungsbesucher
Die meisten Veranstaltungsbesucher wohnen in Stuttgart (57%) oder dem Einzugs-
bereich der S-Bahn (30%). 12% kamen aus der übrigen Bundesrepublik und 8 Per-
sonen (1 %) aus dem Ausland.
70% der Befragten kamen in Begleitung anderer Personen, davon kamen 40% mit
dem Partner, 30% kamen mit Freunden und 10% mit Verwandten. 37 Befragte brach-
ten insgesamt 48 Kinder mit, 5 weitere gaben an, Kinder mitgebracht zu haben, nann-
ten aber keine Zahl.
Etwa 6% mehr männliche als weibliche Besucher wurden befragt. Im Gegensatz zu
den Einzelbesuchern (Ausfall unter 3%) waren die Veranstaltungsbesucher aber
etwas zurückhaltender mit der Angabe von Geschlecht und Alter: jeweils 10% ant-
worteten nicht, oder die Antwort war nicht auswertbar. Die Altersangaben reichen
von 13 bis 85 Jahre. 35% waren zwischen 30 und 49 Jahre alt und jeweils knapp 30%
jünger als 30 Jahre bzw. 50 Jahre oder älter (s. Diagr. 18).
Von den Erstbesuchern sind 40% jünger als 39 Jahre, deutlich mehr als bei den Wie-
derholungsbesuchern (17 %). Umgekehrt bei den Besuchern ab 50 Jahren: diese sind
mit 27 % bei den Erstbesuchern und mit 46% bei den Wiederholungsbesuchern ver-
treten.
Die meisten Veranstaltungsbesucher (37 %) besitzen Abschlüsse einer Hochschule
oder Fachhochschule, 35 % Abitur oder Fachschulabschluß und 27 % haben einfache
Abschlüsse bis zur Realschule. Zusätzlich gaben 663 Befragte (88 %) an, welcher Art
die von ihnen verrichtete Tätigkeit ist. Dabei gehörte der größte Teil zu den Berei-
chen »Unterricht, Erziehung und Kunst« (26%) und »Industrie, Handwerk und Land-
42
Wirtschaft« (24%). Die verbleibenden Antworten verteilen sich etwa gleich auf die
Bereiche »Handel, Banken und andere Dienstleistungen« (18%) sowie »Verwaltung
und Recht« (17 %).
41 % Befragte gaben an, vollerwerbstätige Arbeiter zu sein. Über ein Drittel ist nicht
erwerbstätig, und 10% arbeiten teilweise. Damit verbleiben 11 % vollerwerbstätige
Angestellte, Beamte und Selbständige.
2. Erst- und Wiederholungsbesucher
Für knapp die Hälfte der Befragten war dies der erste Veranstaltungsbesuch im Lin-
den-Museum. Eindeutig liegt der Einzugsbereich direkt in Stuttgart: zwei Drittel der
Wiederholungsbesucher und die Hälfte der Erstbesucher wohnen hier. Besucher aus
dem Bereich der S-Bahn kamen in beiden Fällen etwa 30%, aus weiterer Entfernung
8% Wiederholungsbesucher und 18% Erstbesucher.
Beim Vergleich der Erst- und Wiederholungsbesucher wird deutlich, daß die Auf-
merksamkeit zuerst von Veranstaltungsplakaten (43 %) und durch Mundpropaganda
(37 %) auf die Veranstaltungen gelenkt wird. Auch Wiederholungsbesucher orientie-
ren sich zunächst an Plakaten (28 %), dicht gefolgt von der gezielten Information
durch einen Veranstaltungskalender (26%) und Mundpropaganda (24%). Immerhin
sieben Erst- und zwei Wiederholungsbesucher kamen zufällig vorbei (s. Diagr. 19).
Wie sind Sie auf die Veranstaltung aufmerksam geworden?!
Erst- und Wiederholungsbesucher (in Prozent)I
0 10 20 30 40 50
Prospekte r
^9rarTmn9j ■ Erstbesucher C3 Wiederholungsbesucher
20% der Erstbesucher haben in den 12 Monaten vor der Befragung wenigstens eine
Ausstellung besucht, nur drei Personen vier Ausstellungen und mehr. Dagegen haben
26% der Wiederholungsbesucher eine Ausstellung besucht, 29% zwei oder drei und
15% sogar vier Ausstellungen und mehr. Immerhin haben über die Hälfte aller Ver-
anstaltungsbesucher und 20% der Erstbesucher in den vergangenen drei Jahren
wenigstens eine Sonderausstellung des Linden-Museums besucht.
Diavorträge sind von allen im Linden-Museum vorhandenen Angeboten mit knapp
50% die beliebtesten. 44% interessieren sich für wissenschaftliche Vorträge, ein
Drittel für Filme und etwa je ein Viertel für Konzerte und Führungen durch die Aus-
stellungen. Nennenswert sind noch Theater und Tanz (20%) und Gespräche und Dis-
kussionen (13%), die Nennungen für alle weiteren Angebote liegen bei 6% und
weniger.
V. Mitglieder der Gesellschaft für Erd- u. Völkerkunde als Besucher
Von allen Befragten wissen weniger als 30% von der Existenz der »Gesellschaft für
Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e. V.« (GEV). Sogar mehr als die Hälfte der öfter
als dreimal hier Gewesenen kannten die Gesellschaft, die das Linden-Museum bei
seiner Arbeit unterstützt, nicht.
TRIBUS 44, 1995
1. Mitglieder der GEV als Einzelbesucher in den Ausstellungen
Von 1686 Einzelbesuchern der Ausstellungen waren nur 27 (!) Mitglieder der GEV,
das sind nicht einmal 2%. Die Mitglieder informieren sich v. a. durch Veranstal-
tungskalender (10 Nennungen) oder im Gespräch mit Freunden und Verwandten (6
Nennungen) über Sonderausstellungen und Veranstaltungen. Ebenfalls sechs befrag-
te Mitglieder kennen das Linden-Museum seit ihrer Jugend. Zufälliges Vorbeikom-
men oder einen Besuch in der Cafeteria nennt keiner. 10 Befragte haben aber im Rah-
men dieses Museumsbesuchs auch das Café genutzt.
24 der Befragten waren schon öfter als dreimal hier, ein Mitglied ein bis dreimal,
zwei gaben keine Auskunft darüber. Neun von ihnen haben am Befragungstag an
einer Führung teilgenommen, v. a. in der Sonderausstellung, die die Hälfte der
befragten Mitglieder besucht hat. Aber auch die Südsee- (7) und die Ostasienaus-
stellung (6) werden gut frequentiert.
Ihr Interesse an anderen Museen unterscheidet sich deutlich von dem der anderen
Besucher: Dem großen Interesse an Völkerkundemuseen (25 Nennungen) folgt das
an Kunstmuseen (14) und das an Naturkundemuseen (13). Alle anderen Museumsty-
pen werden als nur teilweise interessant bezeichnet. Drei Viertel (20) der befragten
Mitglieder kennen auch wenigstens ein anderes Völkerkundemuseum.
Alle haben im Jahr vor der Befragung mindestens eine Ausstellung oder ein Museum
besucht, drei Viertel von ihnen sogar öfter als fünfmal, und alle hatten wenigstens ein
Museum in Stuttgart besucht. Vor allem die Staatsgalerie Stuttgart (21 Nennungen)
und das Württembergische Landesmuseum im Alten Schloß (18) haben die befrag-
ten Mitglieder genannt. An dritter Stelle mit 14 Nennungen steht die Galerie der
Stadt Stuttgart. Erst dann folgen die Naturkundemuseen Stuttgarts: das Museum am
Löwentor (10) und das Schloß Rosenstein (9).
Von den befragten 27 Mitgliedern interessieren sich 19 Besucher für wissenschaftli-
che Vorträge und 15 für die Führungen im Linden-Museum. Nur zwei Befragte hat-
ten im vergangenen Jahr keine Veranstaltung besucht und ebenso viele keine der auf-
geführten Ausstellungen gesehen. Zwei Drittel hatten zwischen vier und acht
Sonderausstellungen besucht und einer sogar 11.
Jedes zweite (!) der befragten Mitglieder besucht das Linden-Museum allein. Je 20%
nennt Partner bzw. Verwandte als Begleiter, ein Mitglied kam mit Freunden und zwei
mit Kindern.
Als Wohnort geben über die Hälfte (15) »Stuttgart« an und acht »Einzugsbereich der
S-Bahn«.
18 der 27 befragten Mitglieder sind Frauen. Jedes zweite Mitglied ist 50 Jahre oder
älter, davon sechs älter als 69 Jahre. Demzufolge fällt auch der Anteil an nicht
Erwerbstätigen mit 12 Nennungen recht hoch aus.
2. Mitglieder der GEV als Veranstaltungsbesucher
In den Veranstaltungen im Wannersaal sind die Mitglieder der GEV häufiger anzu-
treffen: 115 GEV-Mitglieder haben einen Fragebogen beantwortet, das sind 11%
aller befragten Veranstaltungsbesucher. Drei Viertel von ihnen haben den »Jour
Fixe« und die von der Gesellschaft selbst durchgeführten Vorträge besucht und
jeweils 11% Dia-Vorträge und Veranstaltungen anderer Gesellschaften wie der
Deutsch-Indischen oder der Deutschen Tibet-Gesellschaft. Etwa 85% gaben an, in
den vergangenen 12 Monaten mindestens vier Veranstaltungen im Linden-Museum
besucht zu haben. Sie besuchen aber auch oft Ausstellungen und Museen: fast die
Hälfte nennt vier oder mehr Ausstellungen, und tatsächlich schlägt sich dies in der
Häufigkeit der im Linden-Museum besuchten Sonderausstellungen nieder.
Über die Hälfte informiert sich durch einen Veranstaltungskalender über die Veran-
staltungen im Linden-Museum. 20% haben zusätzlich ihre Mitgliedschaft als Infor-
mationsquelle genannt. Mundpropaganda hat bei ihnen mit 13% einen wesentlich
geringeren Stellenwert als bei anderen Veranstaltungs- und Ausstellungsbesuchern.
Jeweils weniger als 10% informieren sich durch Prospekte, Veranstaltungsplakate
oder Zeitungen und Zeitschriften.
44
Literatur
Buhl, U. u. R. Vogels, 1994: Besucherbefragung am Linden-Museum Stuttgart 1994. In; Tri-
bus, Jahrbuch des Linden-Museum Stuttgart, Staatl. Museum für Völkerkunde, Bd. 43,
S. 24-31, Stuttgart
Klein, Hans-Joachim, 1990: Der gläserne Besucher. Publikumsstrukturen einer Museumsland-
schaft, Berlin
Schiede, Sonja u. R. Vogels, 1994: Referate Museumspädagogik und Öffentlichkeitsarbeit. In:
Tribus, Jahrbuch des Linden-Museum Stuttgart, Staatl. Museum für Völkerkunde, Bd. 43,
S. 17-23, Stuttgart
Ulrike Buhl/Raimund Vogels
Grahurne guan
mit einem tierförmigen Motiv in kalter Bemalung, dünne, rötlich-ockerfarbene Tonware,
Höhe 44,2 cm. China, Yangshao-Kultur, Machang-Typ, Spätneolithikum, Ende 3. Jt. v. Chr.
Inv.-Nr. OA 24.354 L
45
TRIBUS 44, 1995
Kala-Kopf Wächterfigur
Andesitstein, Höhe: 52 cm. Zentraljava, Indonesien, um 900. Inv.-Nr. SA 01.583 L
Stabaufsätze eines Pferdewagens
Bronze mit Silbereinlagen, H: 7,7 bzw. 4,0-4.1 cm. China, West-Han-Zeit (206 v.-8n.Chr.).
Inv.-Nr. OA 24.406 a-d L ►
46
Neuerwerbungen 1994
Obwohl das Jahr 1994 für unsere Sammlungen zahlenmäßig nicht so sehr ins
Gewicht fällt wie das in den Vorjahren der Fall war, so können wir dennoch einen
hervorragenden Zuwachs im systematischen Ausbau der einzelnen Abteilungen ver-
zeichnen. Das trifft besonders auf die Abteilungen Orient, Ostasien und Südsee zu.
Darüber berichten im einzelnen die Fachreferenten. Die Neuzugänge aus dem Jahr
1994 verteilen sich numerisch auf folgende Abteilungen:
Afrika-Abteilung:
Orient-Abteilung:
Südasien-Abteilung:
Ostasien-Abteilung:
Südsee-Abteilung;
Amerika-Abteilung:
144 Objekte
187 Objekte
144 Objekte
499 Objekte
19 Objekte
26 Objekte
Neben den durch Eigen- und Zentralfondsmittel erworbenen sind dem Linden-
Museum Stuttgart wieder etliche Objekte gestiftet worden, wofür ich an dieser Stelle
den Gebern im Namen unseres Hauses sehr herzlich danke. Wir sehen in solchen
Gaben nach wie vor auch die enge Verbundenheit der Freunde des Linden-Museums
mit unserer Institution. Offensichtlich macht sich in manchen Bereichen auch die
sogenannte »Erbengeneration« bemerkbar. Wir freuen uns über diese Zuwendungen
und bemühen uns, sie so schnell wie möglich auch der Öffentlichkeit zu präsentie-
ren. In einigen gezeigten Sonderausstellungen, z. B. der letztjährigen großen Som-
merausstellung »Gemaltes Land - Kunst der Aborigines aus Arnhemland, Nordaus-
tralien«, konnten wir die Präsentation breits verwirklichen.
Unseren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Herrn Dr. Hermann
Forkl (H. F), Herrn Prof. Dr. Johannes Kalter (J. K.), Herrn Dr. Gerd Kreisel (G. K.),
Herrn Dr. Klaus-J. Brandt (K.-J. B.), Frau Dr. Ingrid Heermann (I.H.) sowie Herrn
Dr. Axel Schulze-Thulin (A. S.-T.) danke ich für ihren Einsatz bei der wissenschaft-
lichen Bearbeitung der Sammlungserwerbungen. Ferner danke ich unseren beiden
Hauptzuwendern, nämlich der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Land Baden-
Württemberg, vertreten durch das Ministerium für Familie, Frauen, Weiterbildung
und Kunst, die uns die meisten Erwerbungen ermöglichten.
TRIBUS 44, 1995
Afrika-Abteilung
Von den im Jahr 1994 erworbenen Objekten stammen die meisten aus der kultur-geo-
graphischen Region »Oberguinea«. Größere Sammlungen sind dabei von den Wolof
(Senegal) und den Baule (Elfenbeinküste) eingegangen.
Die Wolof-Sammlung umfaßt drei Halsketten, drei Zahnputz- und sechs Zahnpfle-
gehölzchen, einen Spielzeug-LKW aus wiederverwendetem Dosenblech, zwei Räu-
chergefäße, davon das eine zusammen mit einem Glutlöffel aus dem gleichen Mate-
rial und das andere mit Deckel aus gebranntem Ton, fünf Gläser mit gongo-Parfum
verschiedener Sorten, zwei islamische Amulettgürtel und einen muridischen Rosen-
kranz. Die bedeutendste Position aus dieser Sammlung stellt das aus Flickenhose und
-hemd sowie einer europäischen schwarzen Zipfelmütze bestehende Derwischge-
wand eines Angehörigen der Baye-Faal-Sektion des Muridenordens dar.
Zur Baule-Sammlung gehören eine gewebte Decke aus Baumwolle nebst Schlaf-
matte aus Rindenstoff, zwei tönerne Spindeln, drei Herren - Halsketten sowie vier -
Armringe, ein Frisierkamm, ein gemaltes Schild eines Herrenfriseurs, 12 Goldge-
wichte mit einer dazugehörigen Waage, ein hölzerner Namensstempel in Form eines
Grasnagers, drei pflanzliche bzw. mineralische Medikamentproben, je ein pflanzli-
ches bzw. tierisches Amulett, elf Amulett-Fingerringe und eine Miniaturmaske. An
Würdezeichen speziell für Dorfhäuptlinge finden sich in dieser Sammlung zwei
lange Messingperlen, sieben Halsketten-Anhänger aus dem gleichen Material, eine
Halskette und ein sog. Bürgschaftsstab.
An weiteren, einzlnen Stücken wurden ferner erworben eine Miniaturmaske von den
Ngere(?), je ein Webrollenhalter und ein geschnitzter Löffel von den Guro (jeweils
Elfenbeinküste), ein seltenes Oberarmband für einen Häuptling von den Ewe (Togo)
und als herausragendes Stück eine vom mmanwu-Männerbund der Ibo (Nigeria)
stammende bemalte Helmmaske mit den idealisierenden Zügen eines körperlich wie
moralisch gesehen besonders schönen Mädchens.
Im Bereich des Kongobeckens konnte unsere Sammlung von Schutzfiguren aus
Talkschiefer von den Bakongo Angolas noch durch 13 weitere entsprechende Skulp-
turen ergänzt werden, an die sich noch drei eigentliche Grabfiguren mit Inschriften
in Kikongo (eine datiert in das Jahr 1923) sowie zwei Skulpturfragmente anschlie-
48
Derwischgewand der Baye-Faal-Sektion des Muridenordens
Hose und Hemd aus Baumwolle in Patchwork-Technik, europäische Zip-
felmütze aus Wolle; Länge Hemd: 123 cm; Wolof (Senegal), vor 1994,
Inv.-Nr. 54.868 a-c
^ Halskette als Würdezeichen für einen Dorfhäuptling
Schnur aus Pflanzenfasern, Messingperlen im Guß in verlorener Form,
Länge: 70 cm, Baule (Elfenbeinküste), um 1975, Inv.-Nr. F 54.797
49
TRIBUS 44, 1995
Ben. Hinzu kommen zwei abbia-Spielsteine (Südkamerun) sowie ein bunt bemaltes
Bootsmodell mit Schiffsschnabel und Besatzung von den Duala (ebenfalls Südka-
merun). Aus dem Zaire sind der Sammlung zwei Münzen zugegangen.
Die Region »Ostafrika« ist mit einem Tanzschild von den Kerewe (Tansania) sowie
einer Sammlung von sechs Lauten vertreten, von denen drei aus Ruanda, drei weitere
aber jeweils von den Amhara (Äthiopien), Rare (?) und Luguru (? Tansania) stammen.
Speziell zum Bereich der Ostafrikanischen Küstenzivilisation gehören 19 schon in
unserer Ausstellung »Sprechende Tücher« ausgestellte Damenwickeltücher aus
Kenia, die teils als Einzelstück (»leso«), teils paarweise (»kanga«) vertreten sind. Bis
auf ein kanga mit einer Somali-Inschrift sind die Inschriften auf allen anderen Tüchern
in Kiswahili. Hinzu kommt als auch für die ostafrikanische Küste typisches Anschau-
ungsmaterial eine Probe Arekaschnitzel (zum Betelkauen) indischer Herkunft.
Aus der Region »Ostsudan« stammt ein Schwert mit Scheide, dessen Klinge eine
geätzte arabische Inschrift trägt (Republik Sudan). Der Region »Zentralsudan«
zugehörig ist ein Spielzeug-Auto aus Hirsestengeln vermutlich von den Gisiga
(Nordkamerun). Das Kameruner Grasland ist mit einem tönernen Krug in Form einer
Ente (Bamessing) und zwei Halsketten vertreten. In den Bereich der Region »West-
sudan« gehören eine Laute vermutlich von den Fulbe in Sierra Leone sowie von den
Senufo der nördlichen Elfenbeinküste eine Miniaturmaske und ein mächtiger eiser-
ner Leuchter.
H.F.
Schild für einen Herrenfriseur
Tempera auf Holz, Baumwollschnur, 114x60,5 cm, Baule
(Elfenbeinküste), vor 1976, Inv. Nr.-F 54.773
50
Helmmaske des mmanwu-Männerbundes
schwarz gebeiztes und bunt bemaltes Holz, Höhe 45 cm, Ibo (Nigeria), um
1900, Inv. Nr.-F 54.846 L
51
TRIBUS 44, 1995
Orient-Abteilung
Rein zahlenmäßig fiel der Zuwachs für die Orientabteilung mit insgesamt 187 Objek-
ten im Berichtsjahr relativ bescheiden aus. Für den systematischen Ausbau der
Sammlungen aber war das Jahr 1994 eines der wichtigsten seit Bestehen der Orient-
Abteilung.
Von größter Bedeutung ist dabei die Erwerbung einer Gruppe von 70 Architekturtei-
len des 14,- 19. Jahrhunderts (Stein, Keramik, Holz) aus dem Punjab und Pakistan.
Diese Materialgruppen dokumentieren lückenlos die Entwicklung des Architektur-
dekors dieser Regionen. Sie sind geeignet, die Verschmelzung iranischer und zen-
tralasiatischer Stilelemente mit indischen zu belegen, die der islamischen Kunst
ihren unverwechselbaren Charakter verleiht. Unter den Steinobjekten sind besonders
zwei filigran durchbrochen gearbeitete Gitter von Gartenterrassen (Sandstein und
Marmor) hervorzuheben sowie zwei Schriftpaneele mit in schwungvollem Thuluth-
Duktus herausgemeißelten Koran-Inschriften aus dem 17./18. Jahrhundert. Beson-
dere Beachtung unter den Fliesen verdienen die komplette Fassadendekoration einer
dörflichen Moschee (18. Jh.) und ein Kuppelsegment von der Audienzhalle eines Pirs
(18. Jh.) sowie Beispiele des Fliesendekors mit floralen, geometrischen und epigra-
fischen Motiven vom Ende des 14. bis zum 19. Jahrhundert.
Inschriftenpaneel
Sandstein. B: 1,12 m, H: 0,39 m, Moghulindien, 17. Jh., L/4076
Die dekorativsten Teile unter den Holzobjekten sind zwei Fassaden von Häusern von
Großgrundbesitzern aus dem Nordwest-Punjab, 17./18. Jahrhundert. Eine davon
zeigt floralen Dekor, der sich sehr stark höfischen Motiven der Zeit des großen
Moghul-Herrschers Akbar anlehnt, eine andere das Weiterleben des streng geome-
trischen Dekors aus klassisch islamischer Zeit. Von höchstem wissenschaftlichen
Wert sind drei Säulenfragmente und eine Türumrahmung des 14./15. Jahrhundert,
deren Dekor bisher nur von seltenen Metallarbeiten aus dieser Zeit bekannt war.
Weitere wichtige Ergänzungen des islamkundlichen Teils der Sammlungen bilden
ein Fenstergitter aus Marmor von einem Heiligengrab aus Ghasni, Afghanistan,
12. Jh. und fünf ostiranische Keramiken des 9.-14. Jahrhundert, darunter ein durch-
brochen gearbeitetes monochromes Räuchergefäß aus Afrasiab aus dem 9. Jahrhun-
dert in einer Form, die sonst nur von Metallarbeiten bekannt ist, ferner eine weiß-
grundige Schale mit manganbrauner Inschrift aus derZeit der ostiranischen Dynastie
der Samaniden und eine türkis glasierte Schale, schwarz bemalt mit sehr lebendigen
Fischdarstellungen aus timuridischer Zeit.
Die restlichen Zugänge verteilen sich auf die ethnografischen Sammlungen. Es han-
delt sich unter anderem um 43 kleinasiatische Stickereien des späten 18. und 19. Jahr-
Durchgangsbogen eines Palastes
Punjab, Zeit des großen Moghulherrschers Akbar (1566-1605), L/4076
bliesen mit schwungvollen spiraligen Blütenranken, Multan, 17. Jh., L/4076
53
TRIBUS 44, 1995
Hunderts, die einen guten vorhandenen Bestand abrunden, 28 Lauten aus dem gesam-
ten islamischen Orient vom Maghreb bis Pakistan, mit denen nun die wichtigsten
Typen orientalischer Lauten vertreten sind, 25 Schmuckstücken aus der ägyptischen
Oase Siwa und 10 Ikatmänteln und Ikats aus Usbekistan. Unsere gute Sammlung tür-
kischer Teppiche und Kelims wurde ergänzt durch das Fragment eines Teppichs mit
Rosetten in Rautenfeldern aus dem östlichen Konya-Gebiet aus dem 18. Jahrhundert.
Als Geschenke konnten wir eine sehr dekorativ tauschierte Tischplatte aus Ägypten,
Mitte 19. Jh., einen Dolch aus Libyen und einen Schal mit Silberapplikationen aus
dem Libanon entgegennehmen.
Viele der Neuerwerbungen wurden bereits als Leihgaben in der Ausstellung »Die
Gärten des Islam« in Stuttgart und Berlin gezeigt. Einige konnten in die Daueraus-
stellung integriert werden, andere werden in der geplanten Usbekistan-Ausstellung
ihren Platz finden.
Ich möchte allen Spendern und allen, die sich um die Erwerbungen bemüht haben,
herzlich für ihre Unterstützung danken. Mit Freude und Dankbarkeit darf ich fest-
stellen, daß sich die Orient-Abteilung quantitativ und qualitativ entscheidend weiter-
entwickelt hat.
J.K.
Südasien-Abteilung
Im Berichtsjahr konnten für die Südadsien-Abteilung insgesamt 144 Objekte inven-
tarisiert werden, wovon 58 uns als Geschenke überlassen wurden. Den acht Stiftern
sagen wir unseren herzlichen Dank.
Zehn Objektgruppen konnten über Eigen- bzw. Landesmittel erworben werden, eine
Erwerbungsliste besteht aus drei Objekten, die im Tausch von der Universität Tübin-
gen übernommen wurden.
Der Gesamtzugang umfaßt 88 Objekte aus Indien, darunter fünf Steinskulpturen der
mittelalterlichen Kunst Rajasthans und als bedeutendste Erwerbung des Jahres der
vielfigurige Visvarupa-Vishnu aus dem nordwestlichen Zentralindien.
Unter den neuzeitlichen indischen Objekten stammen sechs Holzschnitzereien, bzw.
-figuren aus Südindien, die weiteren 63 aus Rajasthan. Darunter befinden sich zwei
mannshohe eiserne Ölbehälter, die uns zusammen mit sieben Tongefäßen dankens-
werterweise von der indischen Botschaft geschenkt wurden. Desweiteren konnten
große Architekturpaneele in ä-jour-Technik, eine marmorne Sitzbank, beschnitzte
und bemalte Holzportale, ferner ein kompletter, freistehend montierter Steinbalkon
eines Bürgerhauses sowie einige Miniaturmalereien mit religiösen Szenen und kulti-
sche Textilien der Srinathji-Verehrung erworben werden. Diese Objekte bilden einen
Teil der Rajasthan-Sonderausstellung 1995.
Aus Sri Lanka wurde ein Terrakottakopf der Anuradhapura-Epoche (ca. 6.-8. Jh.)
erworben, aus Nepal eine frühe holzgeschnitzte Maitreyafigur mit Resten polychro-
mer Fassung (10.-11. Jh.), aus Tibet eine bemalte Truhe sowie eine hölzerne Altar-
plattform mit Schnitzwerk und Vergoldung.
Die Südostasien-Bestände wuchsen um insgesamt 44 Objekte. Aus Vietnam stam-
men 16 Keramiken und eine Steinskulptur, ein Garuda als Einzelfigur, wohl von
einem Tempel der Cham des 11. Jh. in Tra Kieu. Eine steinerne Balustradenfigur,
einen Kalakopf darstellend, ist der mitteljavanischen Kunst des 9.-10. Jh. zugehörig,
21 weitere Objekte aus Indonesien entstammen den Inselkulturen der Molukken, fer-
ner Kalimantans und Südsumatras.
Unter den Erwerbungen ist die Gesamtzahl der Textilien beachtlich groß: 25 Web-
tücher mit Stempeldruckmusterung (bagri bzw. sanganeri) sowie drei Kota-Saris und
vier weitere aus Indien, ferner zwei Tücher aus Bhutan und ein Tapis mit Goldfa-
denstickerei aus Südsumatra.
Innerhalb einer größeren Erwerbungsgruppe von Lauten verteilen sich die 16 Instru-
mente für die Südasien-Abteilung auf die Regionen Indien, Nepal und Tibet sowie
Birma/Nord-Thailand. Kalimantan und Bali.
G.K.
54
Thronender Maitreya
Holzschnitzerei mit Farbspuren. Höhe: 41,5 cm. Nepal, 10 -11. Jh. Inv.-Nr. SA 01585 L
55
TRIBUS 44, 1995
Festtags-Sarong (tapis)
Baumwolle, Metallfäden, Maße: 115 x 127,5 cm. Lampung, Sumatra/Indonesien, um 1900.
Inv.-Nr. SA 01.622
ik '
Stempeldruck-Mustertuch
Baumwolle, Maße: 45x30 cm (Detail). Rajasthan/lndien, um 1900. Inv.-Nr. SA 01.557 L
Ostasien-Abteilung
Das Jahr 1994 war für die Ostasien-Abteilung hinsichtlich der Erwerbungen außer-
ordentlich erfolgreich. So beträgt die Gesamtzahl der Neuzugänge insgesamt 499
Objekte, von denen jedoch 416 gestiftet und die restlichen 83 angekauft wurden.
Wie bereits in den vergangenen fünf Jahren bilden auch in dem Berichtsjahr 357 chi-
nesische Münzen, 256 Münzen aus der nordwestchinesischen Autonomen Region
Xinjiang (Sinkiang) sowie eine silberne Gedenkmedaille aus dieser Region und 101
maschinell gefertigte Kupfer- und Silbermünzen aus den letzten Jahren der Qing-
Dynastie (1644-1911), den Großteil der Stiftungen. Bei den übrigen 59 gestifteten
Gegenständen, 43 stammen aus dem chinesischen Kulturraum und sechzehn aus
Japan, handelt es sich im wesentlichen um chinesische Keramiken aus dem Neolit-
hikum bis in das späte 17. Jahrhundert, darunter neunzehn kleinformatige Blauweiß-
bzw. Blanc-de-Chine-Porzellane aus dem Wrack eines um 1700 vor der Insel Con
Dao, etwa 200 km von Vung Tau an der Südküste Vietnams gesunkenen Schiffes,
vier Bronzespiegel aus der Han- (206 v. - 220 n. Chr.) bzw. Tang-Zeit (618-907), ein
kleines Bronze-Räuchergefäß vom Typ boshanlu aus der Han-Zeit sowie zwei Tex-
tilien und eine Sichuan-Schattenspielfigur aus dem späten 19. Jahrhundert. Unter den
Stiftungen verdienen eine besondere Erwähnung neben den Bronzespiegeln die
frühen Keramiken wie etwa ein neolithischer Becher aus weißem Ton aus der
Dawenkou-Kultur (2. Hälfte 3. Jt. v. Chr.), das Modell eines Pferdes und eines Die-
nerpaares mit gut erhaltener, kalter Bemalung aus der West-Han-Zeit (206 v.-8
n.Chr.), eine undekorierte, runde Dose, weiße Ware, aus der Tang-Zeit, eine Kopf-
stütze mit floralem Sgraffito-Dekor, Cizhou-Ware, und eine Jianyao-Teeschale mit
brauner sog. »Hasenfellglasur« aus der Song-Zeit (960-1279).
Die sechzehn japanischen Objekte, alle illustrierte Holzschnittbücher, bestehen aus
dem kompletten Satz mit 15 Einzelbänden von Hokusai Manga (»Hokusais Skizzen-
hefte«) von Katsushika Hokusai (1760-1849), erstmals 1814 herausgegeben, in einer
Ausgabe der Meiji-Ära aus dem Jahr 1878 sowie dem 1946 erschienenen Band Nihon
no hana (»Flowers of Japan«) mit einer Auswahl von Gedichten und Blumendar-
stellungen moderner japanischer Dichter und Holzschnittmeister wie etwa Onchi
Köshiriö Maekawa Senpan und andere.
Die, verglichen mit den vorangegangenen Jahren ungewöhnlich zahlreichen Ankäufe
wurden hauptsächlich aus Mitteln der Museums-Stiftung, seit dem Jahr 1982 erst-
mals wieder für die Ostasien-Abteilung, und des Zentralfonds bestritten.
Herausragend in ihrer Bedeutung ist die Gruppe chinesischen Silbers mit insgesamt
zwanzig Objekten, die mit Hilfe der Museums-Stiftung erworben werden konnten
und aus der ausgehenden Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) bis zur Süd-
Song-Zeit (1127-1279) stammen, somit die Blütezeit chinesischer Silberarbeiten
umfassen. Die Gruppe beginnt zeitlich mit einem kompletten Satz von vier mit Sil-
ber eingelegten, runden Bronzeobjekten, die Endstücke und Zierbeschlag eines
zweirädrigen Pferdewagens sind und eine einheitliche Inschrift mit vier Schriftzei-
chen tragen, die »Lingli Guo Min« gelesen wird und wohl einen Ortsnamen. Linli,
vermutlich ein kleiner Ort in der im Kerngebiet der chinesischen Kultur liegenden
Provinz Shaanxi, und den Namen des Besitzers, Guo Min, angibt (s. Abb.), gefolgt
von zwei Griffenden von ge-Hellebarden aus Bronze mit Silbereinlagen und einem
Gürtelhaken mit Goldeinlagen. Aus der Tang-Zeit (618-907) stammen eine undeko-
rierte Schale mit vermutlich zugehörigem Löffel (s. Abb.), ein kleines, durchbrochen
gearbeitetes, kugelförmiges Räuchergefäß zum Parfümieren der Kleidung mit einer
kardanisch aufgehängten, halbkugeligen Brennschale aus Gold und eine fein gra-
vierte Schere und Haarnadel. Ein Teller mit gelapptem Rand und zwei mit Früchten
gravierte Teller, einer davon mit einem kräftigen, teilvergoldeten Reliefdekor (s.
Abb.), eine ebenfalls teilvergoldete, kleine Silberdose und zwei teilvergoldete, blü-
tenförmige Schalen mit einem hohen Standring (s. Abb.) sind in der Song-Zeit
(960-1279) entstanden.
In den traditionellen Sammelbereich chinesischer Grabkult gehört das große und mit
einem Phönix- und Wolkendekor in Treibarbeit verzierte Silberobjekt, sehr wahr-
TRIBUS 44, 1995
scheinlich eine Krone, das vermutlich aus einem kaiserlichen Grab der Liao-Dyna-
stie (907-1125) stammt und zur aufwendigen Grabausstattung einer Prinzessin oder
Kaiserin gehörte (s.Abb.)- Wegen des ungewöhnlich großen Durchmessers dieser
»Krone« mit 37,5 cm könnte es sich hier vielleicht aber auch um einen breiten Sil-
bergürtel handeln, der an den rückwärtigen, mit einem Steg versehenen Enden mit
einem Seidenband um den Körper der Toten gebunden war.
Mit Zentralfonds-Mitteln wurden allein 39 chinesische Keramiken angekauft,
dreißig davon bilden allerdings einen »Überhang« aus zurückgestellten Angeboten
aus dem Jahr 1993, deren Erwerb in dem Vorjahr nicht mehr realisiert werden konnte.
Die Entstehungszeit dieser überwiegend in den Bereich des chinesischen Grabkultes
gehörende Keramikgruppe reicht von dem Neolithikum bis in die frühe Ming-Zeit
(1368-1644). Die Bedeutung der Erwerbungen läßt sich schon daran erkennen, daß
mehrere dieser Keramikobjekte neben anderen, bereits in den Vorjahren angekauften
sofort für die 1994 und 1995 in Hildesheim und in Mannheim gezeigte große China-
Ausstellung »China, eine Wiege der Weltkultur. 5000 Jahre Erfindungen und Ent-
deckungen« als Leihgaben angefordert wurden. Hierzu gehören u. a. die Modelle
eines han-zeitlichen Wachtturmes (s. Farb-Abb.) und Ochsenkarrens aus der 6-Dyna-
stien-Zeit (420-589) oder zwei neolithische Gefäße der Yangshao-Kultur, Machang-
Typ (s. Abb.), und Dawenkou-Kultur, ein dreibeiniges Gießgefäß (s. Abb.), die auch
in dem umfangreichen Begleitkatalog zu dieser Ausstellung abgebildet wurden.
Neben den Keramikerwerbungen konnten aus Zentralfonds-Mitteln auch eine kleine
Gruppe von vier Bronzespiegeln, drei aus der Han-Zeit und einer aus der Sui-Zeit
Krone oder Gürtel
Silber mit einem stark reliefierten, getriebenen Dekor mit Wunschjuwel, Phönixen und stili-
sierten Wolkenformen und graviertem Rankendekor, H: 15 cm, D; 37,5 cm. China, Liao-
Dynastie (907-1125). Inv.-Nr. OA 24.401 L
58
Zweistöckiges Modell eines Wachtturmes dianlou
mit Armbrustschützen und Wassertieren, beige-rötliche Tonware mit grüner, silbrig irisieren-
der Bleiglasur. H: 90 cm, D (Schale mit Wassertieren): 65 cm. China, Ost-Han-Zeit
(25-220). Inv.-Nr. OA 24.356 a-f L
59
TRI BUS 44, 1995
(581-618), sowie ein Satz von drei sechsfach gelappten, kleinen, monochromen
Lackschalen aus der Song-Zeit (960-1279) angekauft werden.
Zwei Musikinstrumente, ein dreisaitiges shamisen aus Japan und eine viersaitige
pipa-Ldute aus China, wurden aus dem gleichen Fonds im Zusammenhang mit ande-
ren Lauteninstrumenten aus Afrika, dem Orient und Südasien für die Ostasien-Abtei-
lung erworben.
Aus Eigenmitteln konnten Ergänzungskäufe getätigt werden wie insgesamt dreizehn
chinesische Keramikobjekte aus der Han- bis Qing-Zeit (1644-1911) und ein Satz
Steinabreibungen von dem Grabeingang aus der späten 6-Dynastien-Zeit (420-581),
der bereits 1982 erworben wurde und in der Ostasien-Dauerausstellung gezeigt wird.
Die sehr positive Erwerbungsbilanz der Ostasien-Abteilung für das Jahr 1994 ist im
wesentlichen auch das Ergebnis mehrerer Ostasienreisen des Abteilungsreferenten in
den Jahren 1993 und 1994, die im Zusammenhang mit der Wanderausstellung »Japa-
nische Malerei aus der Sammlung Erwin von Baelz im Linden-Museum Stuttgart«
vom Sommer 1993 bis Frühjahr 1994 in mehreren japanischen Städten sowie der
Rückholung von Leihgaben aus Japan im Spätherbst 1994 durchgeführt werden
konnten und fast vollständig von Seiten der japanischen Leihnehmer finanziert wur-
den. Durch diese Reisen ergab sich die Möglichkeit, einen ausgezeichneten
Überblick über das vielfältige Angebot an ostasiatischer Kunst und archäologischen
Objekten in dieser Region zu gewinnen und detailliertere Konzeptionen und teil-
weise neue oder modifizierte Intentionen und Orientierungen zur Sammelpolitik zu
entwickeln und auch schon in gewissem Umfange zu verwirklichen.
K.-J. B.
Schale und Löffel
Silber, (Schale) H: 7,7 cm. D: 14,9 cm, (Löffel) L: 26,2 cm. China, 1. Hälfte der Tang-Zeit
(618-907). Inv.-Nr. OA 24.395 L (Schale) und OA 24.396 L (Löffel)
60
Südsee-Abteilung
Das Hauptaugenmerk der Südsee-Abteilung lag bei den Erwerbungen im Berichts-
jahr 1994 wie schon im vorhergehenden Jahr auf Kunstobjekten der australischen
Aborigines. So konnte der 1993 getätigte Sammlungsankauf im Hinblick auf die im
Sommer 1994 gezeigte Ausstellung »Gemaltes Land« um weitere acht Kunstwerke
und ein Didjeridoo erweitert werden: Eine Gruppe von drei »Hollow logs«, von Ter-
miten ausgehöhlten und ursprünglich zu Beerdigungszwecken bemalten Baumstäm-
men des Yirittja-Künstlers Jimmy Wululu und zwei Rindenbilder seines ebenfalls in
Ramingining in Nordaustralien lebenden Kollegen George Milpurruru konnten
erworben werden. Außerdem konnte die Sammlung nordaustralischer Kunst um je
eine Arbeit der renommierten Künstler Mick Kubarku und England Bangala, beide
Rindenmalerei »Sacred
Pandanus Skirts« von England
Bangala
Naturfarben auf Rinde,
137 x 60 cm, Zentralaustralien,
Miningrida
TR1BUS 44, 1995
aus der Maningrida-Region, erweitert werden. Weitere sieben Arbeiten australischer
Künstler, die im Berichtsjahr erworben werden konnten, sind sog. Tupfbilder. Sie
zeigen fast ausnahmslos eine Aufsicht der Landschaft, durch die sich die kraftgela-
denen Traumpfade der Schöpferahnen ziehen. Sie bezeichnen durch Kreise oder
Farbflächen geheiligte Orte oder die »Essenz« des Landes. Alle diese Arbeiten stam-
men von weiblichen Künstlern, die in Zentralaustralien eigene Riten für das Land
und seine Fruchtbarkeit durchführen. Neben zwei Arbeiten von Emily Kwarjere, die
die besondere Kraft des Landes in den verschiedenen Jahreszeiten teils durch dichte,
fast monochrom wirkende Farbflächen zeigt, beziehen zwei weitere, ebenfalls von
Rindenmalerei »Goose Egg Hunt« von George Milpurrurru
Naturfarben auf Rinde, 160x84 cm, Zentralarnhemland, Ramingining
Gesichtsmaske
Holz, farbig gefaßt, Vanuatu (Neue Hebriden) ►
62
TRIBUS 44, 1995
Utopia-Künstlerinnen gestaltete Arbeiten den Bezug zum Frauenritual ausdrücklich
in die Gestaltung ein: die traditionelle Bemalung der Körper im Ritual wird in kräf-
tigem Braun und Weiß dem z.T. feiner gestalteten Hintergrund gegenübergestellt.
Linda Syddick schließlich ist mit drei Bildern vertreten: mit einer eher traditionellen
Arbeit, die die Kreisornamentik des Tingara-Zyklus zeigt, und zwei kleineren Arbei-
ten, ebenfalls in Tupftechnik, die den Einfluß christlicher Traditionen bzw. der
modernen Medien auch auf die Inhalte der Aborigines-Kunst verdeutlichen.
Zwei Objekte aus der Sepik-Region kamen als Geschenk zur Sammlung, zwei wei-
tere - eine beeindruckende Maske von den Neuen Hebriden und ein Teil eines Boots-
stevens von den Asmat - konnten mit Hilfe der Galerie Meyer in Paris in die Samm-
lung des Linden-Museums genommen werden, wofür wir Anthony Meyer zu großem
Dank verpflichtet sind.
Insgesamt wurden im Berichtsjahr 19 Werke ozeanischer bzw. australischer Kunst
erworben.
LH.
Amerika-Abteilung
Der Erwerbungsbericht für 1993 begann mit den Worten, die Zugänge im zurücklie-
genden Jahr seien äußerst mager gewesen. Nun, gemessen an den Erwerbungen im
Jahr 1994 war 1993 geradezu ein Spitzenjahr. Bedingt durch die intern angeordnete
TL-Untersuchung einer Keramik aus einer zum Ankauf anstehenden mesoamerika-
nischen Sammlung (mit dem - nach mehreren Monaten - Ergebnis einer Bestätigung
der Angaben nicht nur des Sammlers, sondern auch des bekannten Mesoamerika-
Spezialisten Nicholas Hellmuth), wodurch der Erwerb auch aller anderen Spitzen-
stücke aus besagter Sammlung auf 1995 verschoben wurde, sind für das Berichtsjahr
lediglich 26 erworbene Objekte zu melden, wovon die Hälfte aus Abgüssen prähi-
storischer Speer- und Lanzenspitzen aus Nordamerika besteht.
Für nicht an archäologischen Grabungen beteiligte Institutionen ist es unmöglich,
dokumentiertes Material aus der Clovis-Periode Nordamerikas (11500 - 10500 v. h.)
zu erhalten. (Archäologisch gesichert ist, daß der Mensch während dieser Zeitspanne
- wahrscheinlich einige Jahrtausende früher - zum erstenmal den westlichen Konti-
nent betrat.) Um auch die früheste Besiedlung Amerikas in Ausstellungen andeu-
tungsweise darstellen zu können, muß auf Abgüsse von bedeutenden Fundstücken
aus wissenschaftlich geleiteten Grabungen zurückgegriffen werden. - Als weiteres
und letztes Stück aus Nordamerika sei auf das Modell eines Kajakfahrers hingewie-
sen, das dem Museum im Berichtsjahr geschenkt wurde.
Geschenke sind auch sieben Objekte aus Alt-Peru (Moche, Chimü, Inka): Zwei Arm-
manschetten aus Silber, ein Kopfschmuck aus Tumbaga und vier Schellen aus Kup-
fer-Silber-Legierungen. Angekauft wurde ein guterhaltener Mörser mit Stößel und
Teller aus Stein (Chavin). Vom Völkerkundlichen Institut, Tübingen, wurden zwei
Masato-Gärkrüge von den Shibibo-Conibo übernommen. Zum Schluß ist noch der
Kauf von zwei Kurzhalslauten (Tarahumara, Huitschol) für eine vorgesehene Lau-
tenausstellung des Museums zu melden.
A.S.-T.
64
HERMANN AMBORN
Von der Stadt zur sakralen Landschaft.
Böohee Burji. Eine städtische Siedlung in Südäthiopien.
Von Helmut Straube, bearbeitet von Hermann Amborn
Helmut Straube zum 10. Todestag gewidmet
Östlich des Camo-Sees in Südäthiopien erhebt sich der mächtige Amarro-Gebirgs-
stock, dessen langgestreckte Südzunge von erfolgreichen Bergbauem besiedelt
wurde. Für diese Bevölkerung hat sich die Bezeichnung Burji allgemein durchge-
setzt. Die Burji weisen vielfältige kulturelle Gemeinsamkeiten mit verschiedenen
anderen Ethnien auf, die westlich der Seenkette beheimatet sind und für deren
Gesamtheit sich in der Völkerkunde die Bezeichnung Burji-Konso-Gruppe etabliert
hat. Vor ihrer Inkorporierung in staatliche Organisationsformen - das von den
Amhara dominierte äthiopische Kaiserreich - besaßen die Burji eine akephale
Gesellschaftsordnung, die auch heute noch in weiten Teilen ihre Kultur ausmacht. So
kann die Gesellschaft der Burji als akephal bezeichnet werden, obwohl es einige erb-
liche Titel gibt. Die Gesellschaft verfügt jedoch dabei über genügend Regulative, die
verhindern, daß sich Macht akkumulieren kann (Amborn 1990: Kap 11,2).
Die bäuerlichen Gesellschaften der Burji-Konso-Gruppe sind berühmt für ihre aus-
gefeilte Landwirtschaft, die in starkem Einklang steht mit dem sozialen und religiö-
sen Leben. Helmut Straube bezeichnete dieses vielschichtige System als »agrari-
schen Intensivierungskomplex«.
Die Süd-Burji, von denen hier die Rede sein wird, bauen vornehmlich Zerealien an
und leben in großen geschlossenen Siedlungen, deren größte »noch vor wenigen
Jahrzehnten bis zu 8000 Personen beherbergte.« Sie wird gleich dem gesamten Sied-
lungsgebiet der Süd-Burji als böohee1 Burji bezeichnet. Die Bedeutung von böohee
Burji hat sich bis heute erhalten, allerdings nach der demographischen Streuung der
Burji auf eine andere Ebene verlagert: aus dem einstmaligen Siedlungszentrum ist
ein locus sacer geworden.
Bereits die ersten Europäer, die seit Ende des 19. Jahrhunderts nach Südäthiopien
kamen, waren von diesen Siedlungen beeindruckt. Nicht weniger fasziniert zeigten
sich später die Ethnologen. In der Tat hielten sie als Siedlungsmuster einen ganz
anderen Anblick bereit als die kleinen Weiler und Streusiedlungen, die man außer-
halb der Burji-Konso-Gruppe in anderen Gebieten Südäthiopiens gewohnt ist. Und
auch die Amhara, die das Gebiet Ende des letzten Jahrhunderts eroberten, waren
keine Städtebauer, sondern etablierten in den von ihnen besetzten Gebieten soge-
nannte katamd, meist kleine Siedlungen, die Verwaltungssitz und Militärposten
zugleich waren.
Ein solches städtisches Siedlungsmuster, entwickelt von einer akephalen Gesell-
schaft wie den Burji, ist gewiß ein erstaunliches Phänomen, das weitreichende Fra-
gen aufwirft, auf die die Forschung bisher nur unzulängliche, d. h. eher hypothetische
Antworten gefunden hat.
Ethnologische Forschungen im äußersten Südwesten Äthiopiens sind überhaupt eine
relativ junge Erscheinung. Erst um die Mitte unseres Jahrhunderts begann das ernst-
hafte Interesse an dieser Region. In einem groß angelegten Projekt setzten sich
anfangs der fünfziger Jahre Völkerkundler des Frankfurter Frobenius-Instituts das
Ziel, die zahlreichen, der Wissenschaft noch kaum bekannten, ethnischen Gruppen
in Südäthiopien zu untersuchen. Dem lag die Idee zugrunde, eine Kulturgeschichte
dieses Raumes zu schreiben. Auf umfassende »Stammesmonographien« kam es
dabei weniger an. Vielmehr wollten sich die Forscher einen Überblick über die kul-
turelle Vielfalt der dortigen Ethnien verschaffen, um kulturelle Beziehungen und
historische Zusammenhänge zu erfassen. Die Aufenthalte an einem Ort waren dem-
Abbildung 1: Helmut Straube in Burji 1974
TRIBUS 44, 1995
entsprechend relativ kurz. Es wurde ein Kompromiß zwischen Forschungsreise und
intensiver Feldforschung gewählt. Adolf E. Jensen, auf dessen Initiative dieses Pro-
jekt basierte, knüpfte damit an seine 1934 begonnenen Forschungen in Südäthiopien
an (cf. Jensen 1936). Zum Team der fünfziger Jahre gehörte auch Helmut Straube,
der zunächst im omotischen (»westkuschitischen«) Sprachgebiet arbeitete und im
Frühjahr 1955 (Ende April bis Mitte Juli) nach Burji ging. Nach bereits fünf Mona-
ten in Südäthiopien fühlte er sich hier am wohlsten.
Er war von den kulturellen Leistungen der Burji, besonders in der Landwirtschaft
und der städtischen Siedlungsweise beeindruckt. Wieder in Deutschland, veröffent-
lichte er sein Buch über die omotisch-sprachigen Völker Südäthiopiens.2 Außerdem
verfaßte er über die Burji ein 149 Seiten starkes Manuskript, das er jedoch als noch
nicht reif für eine Veröffentlichung ansah. Für diesen sorgfältigen und genauen
Arbeiter enthielt es zu viele offene Fragen und Widersprüche, die der Klärung
bedurften. Da sich nach einem Unfall in Südäthiopien die schwere Kriegsverletzung
von H. Straube verschlimmert hatte, gestattete ihm A. Jensen nicht, an einer weite-
ren Forschungsreise teilzunehmen. Erst zwanzig Jahre später konnte Straube an die
Überprüfung seines Forschungsmaterials denken. Nunmehr Leiter des Münchner
Völkerkunde-Instituts, nutzte er 1973/74 ein Freisemester für einen siebenmonati-
gen Aufenthalt in Äthiopien. Ziel war es dabei, eine vertiefte Studie »über die Burji
zu erstellen, die alle Bereiche der Kultur so eingehend wie möglich erfaßt« (DFG-
Antrag 1973). Trotz des langen Zeitraums, der seit seinem ersten Aufenthalt vergan-
gen war, konnte er nahezu nahtlos an seine früheren Untersuchungen anknüpfen und
zugleich die zahlreichen Wandlungen der vergangenen Jahre berücksichtigen; denn
er traf noch zahlreiche Burji an, mit denen er von damals her gut bekannt war.
Während dieser Zeit kam auch der Bearbeiter und Herausgeber des vorliegenden
Beitrags, der sich im westlichen Teil der Burji-Konso-Gruppe (bei den Dullay) auf-
66
Ambom: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
hielt, mit den Burji in Kontakt. 1980 besuchte er die Burji in Marsabit/Kenia und
konnte die Zusammenarbeit vertiefen. Seit dieser Zeit ist die Verbindung nicht abge-
brochen. Sie konnte vielmehr durch regelmäßige Korrespondenz und mehrere Auf-
enthalte in Südäthiopien und Nordkenia vertieft werden.
Die Bearbeitung der umfangreichen Aufzeichnungen, für die Helmut Straube meh-
rere Freisemester veranschlagt hatte, war ihm nicht mehr vergönnt. Er starb am
22. März 1984.
Im folgenden sind die Originalstellen aus H. Straubes unveröffentlichten Aufzeich-
nungen durch Anführungszeichen gekennzeichnet, hinter denen keine Quellenan-
gabe steht.3 Kommentare finden sich in den Fußnoten.
Wenn in Straubes Text von »heute« oder »heutzutage« die Rede ist, bezieht sich dies
- falls nicht anders angemerkt - immer auf die Zeit seines Aufenthaltes 1973/74. Es
wird dann auch das Präsens beibehalten.
Topographie
Eine der schönsten Beschreibungen der Kulturlandschaft von Burji findet sich bei
Donaldson Smith, der 1895 Burji noch erlebte, bevor es tiefgreifende Veränderungen
durch die amharische Annektion erfuhr. Am 25. April 1895 begleitete ihn ein Burji-
Würdenträger nach Süd-Burji.
»Er zeigte mir die Berge von Jan Jams (Guji) im Nordosten nahe dem Abaya-See. Im
Nordwesten erblickten wir Berggipfel, so weit das Auge reichte, das Gebiet der
Konso, während im Norden das Land der Jeratu (Dirasa) lag. Ich war nun drei
Marschstunden vom Lager [im Barka-Tal] entfernt, und der Marsch führte über eine
gewellte Hochfläche durch Kornfelder, von denen eines auf das andere folgte. In den
Feldern arbeiteten hunderte von Eingeborenen mit ihren dreizinkigen Feldhacken. ...
Nach einer weiteren Stunde sah ich das Dorf auf einer felsigen Bergspitze liegen; es
war noch eine gute halbe Stunde entfernt. ... Der größte Teil des breiten Gebirgspla-
teaus ist terrassiert und bebaut mit Mais, Sorghum, Bohnen, Kürbissen, Kaffee, einer
Art von Kohl, Baumwolle, Tabak und Bananen-Bäumen. Viele Häuser stehen einzeln
verstreut in der Landschaft. Verschiedene Bergkuppen erheben sich über das Plateau,
und auf der malerischsten dieser Kuppen liegt das Dorf der Burji. Die strohgedeck-
ten Häuser liegen eines über dem anderen und werden durch große Zedernbäume
beschattet und durch schöne Gärten voneinander getrennt, in denen viele tropische
Pflanzen gedeihen, während sich über die natürlichen Felsterrassen viele blühende
Pflanzenranken hinziehen. Das Malerische des Ortes hat mich tief beeindruckt, von
seiner Lage knapp unter den Wolken, wo die kalte und reine Luft einem Kraft gab
und die wunderbare Aussicht das Leben zum Vergnügen machte.« (Donaldson Smith
1897: 215 f., Übersetzung: Exzerpt Straube)
Aus dieser Schilderung ist die bemerkenswerte Lage von Burji-Stadt erkennbar.
»Eine ausgeprägte Bruchstufe gliedert das Bergland von Burji in die höher gelegene
Nord- und die tiefere Südzone. Der topographischen Gliederung entspricht etwa die
Unterteilung in Nord- bzw. Süd-Burji. Die Erosion hat die offensichtlich einst paral-
lel zum südlichen Steilabfall des Amarro-Gebirges verlaufende Stufe tief eingefres-
sen und die Stufenfront weitgehend aufgelöst. Der kegelförmige Stadthügel von
Burji ist durch zwei Bäche (Malka und Garado) aus der Stufe herausgeschnitten wor-
den und liegt heute als markanter isolierter Zeugenberg vor der Stufenstirn.«
»Der ganze Bergkegel ist bis zur Spitze mit Häusern besetzt und wie das umliegende
Feldland terrassiert. Burji-Stadt besteht aus mehreren Stadtquartieren, die sich alle
um den Bergkegel gruppieren und wie ineinanderübergehende einzelne Dörfer
anmuten. Aus Baumstämmen gezimmerte Tore führen nach Burji hinein. Von einer
Umfriedung oder einer Stadtmauer (wie wir sie etwa von den Konso-Städten her ken-
nen) ist heute nichts zu sehen. Die Wege innerhalb des Ortes sind von Hecken oder
den Staketenzäunen der Häuser eingefaßt.«
»Der höchste Punkt des Stadthügels liegt etwa 1850 m hoch. Während der Osthang
stellenweise ausgesprochen steil ist, fällt der Hügel nach Süden weithin kontinuier-
lich ab, geht dann in leicht welliges Hügelland über, das sich schließlich zum Barka-
Legende
H Ä A R A A Stadtquartier, géere
B a r à r e e Stadtviertel, òlla
O baràree Platz
Fl Tor Tabàce Stadttor
Wàlee __ ___ Grenze zwischen géere
Àbàya
___________ Grenze zwischen élla
zz=-==-= Hauptstraße
Hauptwege
Ma / ka geograph Bezeichnung, Flußlauf
(■p markanter Baum
68
Ambom: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Abbildung 2: Blick vom kilico-Platz über den Stadtrand von Burji
Tal (1600 m) absenkt. Der Barka ist der wichtigste ganzjährig wasserführende Fluß
dieser Region.«
Die Stadt bildet das topographische Zentrum eines optimal genutzten landwirt-
schaftlichen Raumes. »Burji-Stadt liegt inmitten kultivierten Landes, das sich in drei
Anbauzonen gliedert, die unterschiedliche Boden- und Klimabedingungen aufwei-
sen und sich nahezu ringfömig um den Stadthügel legen. Nur im Nordwesten des
Stadtgaues von Burji ist die Zonenstruktur nicht gewahrt, da sich hier die Gemar-
kungen anderer Burji-Dörfer in die konzentrischen Anbauringe einschieben. In jeder
Zone werden andere, den jeweiligen Bedingungen entsprechende Kulturpflanzen
angebaut. Die Felder des inneren und mittleren Anbauringes werden permanent
genutzt und intensiv bewirtschaftet und stellen übertragbares Individualeigentum
dar. [...] Das Land des äußeren Anbauringes wird dagegen in Form der Wechsel-
wirtschaft extensiv genutzt und befindet sich im Besitz der einzelnen Stadtquartiere.
Alle Bewohner eines Stadtquartieres geere haben einen Nutzungsanspruch an dem
Landanteil ihrer geere in der äußeren Anbauzone. Die zonale Gliederung der Wirt-
schaftsflächen ermöglicht den Anbau einer Vielzahl von Feldfrüchten mit unter-
schiedlichen Ansprüchen an Boden, Klima und Betreuung und damit eine optimale
Nutzung des zur Verfügung stehenden Kulturlandes. Darüberhinaus sorgt sie für
einen ausgeglichenen Arbeitskalender, der die Arbeitsproduktivität steigert, da die in
den einzelnen Zonen kultivierten Pflanzen unterschiedliche Vegetationszeiten besit-
zen und sich die Feldarbeit daher nicht an einem Termin zusammendrängt, sondern
sich über einen längeren Zeitraum verteilt« (Straube 1975, cf. Sasse und Straube
1977: 241 f.).
»Neben der Gliederung in Anbauzonen teilen die Burji ihr Territorium in zwei
Gebietshälften. Die Scheidelinie geht durch Burji-Stadt. Das Gebiet westlich des
Stadthügels von Burji in Richtung Sagan-Tal ist die sogenannte hitäa-Se'iie (bitäa =
links), zur mirga-Seite (mirga = rechts) gehört alles Land ostwärts des Dorfhügels bis
zum Höhenzug von Bargudda.4 Diese Einteilung des ursprünglichen Territoriums in
eine linke (westliche) und eine rechte (ostwärtige) Gebietshälfte wurde von meinen
Gewährsleuten mit dem Hinweis auf die Einwanderungsrichtung der Burji begrün-
69
TRIBUS 44, 1995
det, die von Süden in das Bergland eindrangen und daher die Bezeichnungen links
und rechts für die entsprechenden Himmelsrichtungen wählten.«
Wasserversorgung
Die Versorgung mit Trinkwasser sichern im wesentlichen Brunnen, die sich rings um
den Stadthügel gruppieren. Bisweilen sind auch Bäche zu Wasserschöpfstellen auf-
gestaut. Die runden Brunnen eela, nicht selten über fünf Meter tief, sind mit Trocken-
mauerwerk ausgekleidet. Trittsteine erleichtern den Zugang. 1974 unterhielt Burji-
Stadt noch drei Brunnen, von denen zwei ständig, also auch in der Trockenzeit,
Wasser führten. Alle diese Brunnen sollen auf die sogenannten Doraale zurückgehen,
ein großwüchsiges unstetes Volk, das von einem Gebiet ins andere zog und Brunnen
grub. Einer anderen Tradition nach haben die Burji die Brunnen zwar selbst gegra-
ben, doch hatten sie diese Technik vorher in ihrer früheren Heimat Liban von den
Doraale übernommen, die dort bereits vor der Ankunft der Burji, Konso und Borana
ansässig waren. Einige Burji sagen aber, die Doraale seien vor oder während der Zeit
von »Mohammed Graanye« (Ahmed b.Ibraahiim, Graañ, t 1543) aus dem Osten in
das Burji-Gebiet gekommen, als die Burji bereits im Lande ansässig waren. Sie seien
dann mit unbekanntem Ziel in westlicher Richtung verschwunden. Nach überein-
stimmenden Angaben sind die Doraale mit den Wardeya der Borana-Tradition iden-
tisch, die als Erbauer der eindrucksvollen Brunnenanlagen in südlichen Borana-Land
gelten, (cf. Sasse und Straube 1977: 241; Haberland 1963: 73).
Geschichte
Die Stadtgeschichte von Burji ist aufs engste mit der Geschichte des ganzen Volkes
verbunden: den Überlieferungen zufolge ließen sich die ersten Siedler im heutigen
Stadtgebiet nieder.
Allgemein im Denken der Burji ist die Herkunftstradition aus Liban verwurzelt. Wie
von den meisten mündlichen Traditionen der Burji, so existieren auch von dieser
mythisch-historisierenden Wandergeschichte zahlreiche Varianten. Übereinstim-
mend berichten sie aber, daß die Burji aus einem einige Tagesreisen östlich gelege-
nen Gebiet (Liban) einwanderten.
Einige Traditionen sprechen bereits von einer Einwanderung nach Liban, die in meh-
reren Stationen erfolgt sei, wohingegen die Ethnogenese der Burji anderen Autoren
zufolge erst in Liban stattgefunden habe.
»In Liban lebten sie mit den Borana und Konso zusammen (bzw. trafen dort mit
ihnen zusammen). Burji, Borana und Konso fühlen sich verwandt, sind aber nicht
Brüder im Sinne von Söhnen eines Vaters, sondern nur im Sinne von Schicksalsge-
nossen, die eng miteinander verbunden sind. In Liban kam es jedoch zwischen den
drei Gruppen zu Streitigkeiten.5 Die Burji wanderten daraufhin von Liban, das
einige Informanten bei Negelli suchen, über Bargudda nach Burji ein. Ziel der Ein-
wanderer war der spätere Stadthügel von Burji. Auf der Bergkuppe liegt der heilig-
ste Opferplatz (baráaree) der Burji. Auf diesem Opferplatz ließen sich die ersten
Einwanderer nieder, unter ihnen der Gründer des heute ausgestorbenen Klanes gini
mit Namen Burji, der ein großer und berüchtigter gánni6 war. Auf dem baräaree-
Platz nahmen die drei zuerst angekommen Klane (girti, kárama und gamáayo) das
erste Schafopfer vor. Der baräaree-Platz gehört heute zu den Opferplätzen, auf
denen bei Opfern alle Klane vertreten sein sollten. Jeweils zu Beginn der Regenzeit
opferte der gánni von kadädo hier in Anwesenheit aller Burji-Klane eine schwarze
Kuh.«
Auch die Bezeichnungen der Stadtquartiere géere und deren Untergliederung in
Stadtviertel òlla gehen in ihrer Mehrzahl auf Eigennamen der ersten Siedler zurück,
die sich in dem jeweiligen géere- oder d//a-Gebiet niederließen.7 Einige géere- und
d//a-Namen sind reine Ortsnamen wie Caréi, das nach dem gleichnamigen fleisch-
farbenen Bodentyp genannt ist, der sich in dieser òlla fast ausschließlich findet. Es
sieht so aus, als ob Burji-Stadt nach der Besiedlung sofort als große Ortschaft ange-
70
Amborn; Von der Stadt zur sakralen Landschaft
legt worden ist. Jedenfalls wurde über spätere Erweiterungen nichts erwähnt. Auch
im Stadtbild lassen sich keine Erweiterungen erkennen.
Die Wanderung nach oder von Liban wird stets in die Zeit von Mohammed Graan
und damit in die Jahre des lang andauernden Krieges zwischen dem christlichen Nor-
den und den islamischen Staaten des Osthoms gelegt. Nach dem Tod von Graan
(1543), als die Oromo sukzessive in die von den rivalisierenden Großmächten nicht
mehr kontrollierten Länder vordrangen, gerieten auch andere Völker im Süden
Äthiopiens in Bewegung.8 In diese Zeit verlegten auch die Konso und Dirasa die Ein-
wanderung in ihre heutigen Siedlungsgebiete (Feldforschungsergebnis des Bearbei-
ters). Da sich auch die Genealogien verschiedener Burji-Lineages etwa bis in diese
Zeit zurückverfolgen lassen - was sie mit Lineages anderer Ethnien der Burji-Konso-
Gruppe gemein haben -, kann heute kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Burji-
Stadt mindestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts besteht.
Abgesehen von Antoine d’Abbadie gelangten erst gegen Ende des letzten Jahrhun-
derts Europäer in das Gebiet des heutigen Südäthiopiens. Dann allerdings setzte eine
rege Reisetätigkeit ein. Einige der damaligen Abenteurer, Agenten oder vorwiegend
naturwissenschaftlich interessierten Reisenden besuchten auch Burji. Am ausführ-
lichsten und ethnologisch am aufschlußreichsten sind die Berichte der Bottego-
Expedition (von Vannutelli und Citerni 1899 veröffentlicht) und des bereits erwähn-
ten Donaldson Smith (1897). Diese Forscher gelangten kurz vor der amharischen
Eroberung in das Gebiet. Übereinstimmend beschreiben sie die beeindruckenden
landwirtschaftlichen Aktivitäten, die Vielzahl der angebauten Feldfrüchte, die dichte
Besiedlung und, als auffälligstes Merkmal, den großen Hauptort auf der Bergkuppe,
ein weithin bekanntes Marktzentrum. Die Bottego-Expedition schätzte die Burji auf
200000 Personen (ibid.: 187f.). Selbst wenn diese Angabe überhöht sein sollte, so
muß das Gebiet noch vor sechzig Jahren erheblich dichter besiedelt gewesen sein als
bei der ersten Feldforschung Straubes 1955.
»Für eine ehemals größere Volksstärke sprechen auch die vielen aufgelassenen Feld-
stücke.« Außerdem muß die Abwanderung berücksichtigt werden. Die »Einwohner-
zahl des südlichen Berglandes beläuft sich [1955] nach eigenen Schätzungen auf
nicht mehr als 5000 Personen.«9
Auch die weitaus dürftigeren Berichte anderer Europäer lassen gewisse Rück-
schlüsse auf die Entwicklung in Burji in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts
zu. Nach einigen gelegentlichen Plünderungszügen nordäthiopischer Einheiten, die
höchstwahrscheinlich unter dem Kommando von Leul Sagad (bzw. dessen Unter-
führer) standen,10 ist Burji offensichtlich im August 1897 durch die Armee von Habte
Giyorgis eingenommen worden. Dies geht jedenfalls aus den Karteneintragungen
von Léon Darragon hervor, der 1897 diesen Feldherm Menileks auf seinem Erobe-
rungsfeldzug begleitete (Darragon 1898). Wie sehr die Burji damals in Mitleiden-
schaft gezogen wurden, ist nicht nachvollziehbar. Bekannt ist aber, daß die mit
modernen Waffen ausgerüsteten Armeen der Nordäthiopier bis dahin nicht gekannte
Massaker im Süden verübten, die Bevölkerung nach Gutdünken versklavten und
alles Vieh mitnahmen, dessen sie habhaft wurden.11 Einige Ethnien haben sich hier-
von nie mehr erholt. Nach den unmittelbaren Zerstörungen und Verlusten durch den
Krieg hatten die Menschen unter Hungersnöten und Epidemien (vor allem Pocken)
zu leiden. Hinzu kam die große Rinderpest, die seit Beginn der neunziger Jahre in
Ostafrika wütete. Dennoch scheinen die Burji die ersten Schläge einigermaßen ver-
kraftet zu haben. Erlanger (1904: 111) beschreibt sie - 1900 - als erfolgreiche Händ-
ler und Gewerbetreibende, die besonders wegen ihrer Weberei Berühmtheit erlang-
ten.
Um den Hegemonialanspruch des Kaiserreichs in den eroberten Gebieten durchzu-
setzen, siedelten die Nordäthiopier Militärkolonisten in z. T. befestigten Orten
katamä an. Jedem der dort stationierten Soldaten wurden neben Tributen einheimi-
sche Fronknechte zugeteilt, gabhar, die ihnen auf Abruf zur Verfügung standen.
Ein solcher ständiger amharischer Militär- und Verwaltungsposten wurde in den
ersten Jahren unseres Jahrhunderts knapp nördlich von Burji-Stadt eingerichtet; dar-
TRIBUS 44, 1995
aus entwickelte sich eine amharische katamä namens Sego, die bis in die sechziger
Jahre bestand.12 Von diesem Posten berichten jedenfalls bereits Luchsinger (1907:
96, Aufenthalt 1906) und zahlreiche spätere Reisende.13 Der Schweizer Luchsinger
lobte übrigens die gut funktionierende Verwaltungsorganisation der Nordäthiopier in
diesem abgelegenen Landesteil, erwähnt die Kaffeepflanzungen der Einheimischen
und bezeichnet Burji als Bergstadt (ibid.: 94). Das aufschlußreichste an seinem
Bericht ist eine Fotografie des Stadthügels, auf dem die dichte Bebauung zu erken-
nen ist (ibid.; 95).14
1907 erkrankte der äthiopische Kaiser Menilek so schwer, daß er bis zu seinem Tod
1913 die Regierung nicht mehr führen konnte, wenn er auch formal Herrscher blieb.
Von 1907 an gärte es in der Führungsschicht, bis die Spannungen sich schließlich im
Oktober 1916 in der Schlacht von Sagale entluden. Zwar hatte nun die Partei des
späteren Kaisers Hayle Selassie gesiegt, von einer effektiven Kontrolle über das
Reich kann man aber erst ab etwa 1930 sprechen. Die Auseinandersetzungen unter
den Notablen des Reiches verschafften den Völkern im Süden keine Atempause,
ganz im Gegenteil: die Rivalitäten und Kämpfe gingen zu ihren Lasten. Versuchten
sich schon seit Beginn der Annexion einzelne Burji dem Frondienst für die Eroberer
zu entziehen, so kam es spätestens seit ca. 1915 zu den ersten größeren Abwande-
rungen.
In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts und zu Beginn der zwanziger Jahre kon-
trollierte ein Notabler das Gebiet südlich von Burji, der zwar (wie manch andere im
Süden agierende Nordäthiopier) den Engländern gegenüber als shifta (Räuber)
bezeichnet wurde, nichtsdestoweniger aber gute Beziehungen zu anderen äthiopi-
schen Notablen unterhielt. Immerhin war dieser Alamu der Sohn des Gouverneurs
der wichtigsten südwestlichen Grenzgarnison Gardulla.15 Unter den Gefolgsleuten
dieses typischen Frontier-Marodeurs fanden sich auch Burji. Deren Anwesenheit im
Grenzgebiet zu Kenia erwies sich wahrscheinlich für so manchen Burji, der sich nach
Kenia absetzen wollte, als vorteilhaft. Ansonsten war die Durchquerung des Gebiets
südlich von Burji wegen der dort lebenden Guji - traditioneller Feinde der Burji -
recht gefährlich. Eine der wichtigsten Quellen für diese Zeit ist Hodson, der britische
Konsul für Südäthiopien. Er kam 1916 durch Burji und berichtet von schweren Ver-
wüstungen und der willkürlichen Versklavung der Bevölkerung durch den Gouver-
neur von Sidamo, Finkabo. Wie er berichtet, »very few natives were left here«.16
An die Versklavung, die kein einmaliger Akt war, ist die Erinnerung noch lebendig
geblieben.
»Als ein besonders unerfreulicher Verwaltungsbeamter wurde mir in Burji der
Balambaras Happee geschildert, der in der Regierungszeit des Däjjazmac Balca viele
Burji als Sklaven an die Amharen verkaufte.«17
Ende der zwanziger Jahre scheinen sich die Burji einigermaßen erholt zu haben,
jedenfalls schreiben sowohl Azais und Chambard (1931 I: 247, Reise 1926) als auch
San Marzano (1935: 240L, Reise 1929) von einer stark bevölkerten, kultivierten
Gebirgszone mit der großen dicht besiedelten Stadt Burji als bedeutendem kommer-
ziellen Zentrum.
Als 1936 die Italiener den Süden besetzten, wurden sie von der Mehrzahl der Burji
als Befreier freudig begrüßt. Viele Männer traten in das italienische Kolonialheer
banda irregolare ein. Die Italiener errichteten in der Nähe von Burji-Stadt ein fortino
mit starker Garnison zur Partisanenbekämpfung.18 In diese Zeit fällt auch der Über-
tritt zahlreicher Burji zum Islam.19 Nach der Reinstallation des äthiopischen Thrones
(1941) hatten die Burji wieder das Nachsehen. Sie galten nun als Kollaborateure.
»Nach Abzug der Italiener wurden sie Opfer blutiger Rachefeldzüge der amhari-
schen Widerstandskämpfer. Sie brandschatzten und plünderten die Dörfer und trie-
ben das Vieh in die Berge von Gumaide, die fast ausnahmslos von ehemaligen amha-
rischen Militärkolonisten bewohnt sind. Dieser Verlust der Viehbestände, der nie
mehr aufgeholl werden konnte, erschütterte das gesamte Wirtschaftsgefüge der
Burji, da ein intensiver Feldbau ohne eine entsprechend große Viehwirtschaft und
den damit anfallenden Dung undenkbar ist.«
Wie viele Burji sich daraufhin den Widerstandsgruppen in Sidamo anschlossen, ist
72
Ambom: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
nicht sicher zu beantworten. Jedenfalls kämpften die Widerständler, »die Amhara
und Engländer haßten«, bis Ende der vierziger Jahre relativ erfolgreich gegen die
Staatsmacht.20
Wenn sich auch in den fünfziger Jahren die Verhältnisse für die Burji besserten, war
das landwirtschaftliche System offenbar im Laufe der vergangenen Jahrzehnte so
sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, daß eine ausreichende Versorgung der
immer noch relativ großen Bevölkerung nicht mehr gesichert war. Dies war wohl
einer der Gründe, warum Mitte der sechziger Jahre die bisher größte Abwanderung
einsetzte.21 Als weiterer Anlaß wurde die hohe Besteuerung genannt. Andererseits
bot das gerade unabhängig gewordene Kenia Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg.
Diese Abwanderungsbewegung hatte eine weitgehende Entvölkerung von Burji-
Stadt zur Folge.22
Die Revolution von 1974, besonders die konsequente Durchsetzung der Landreform
(d.h. die Enteignung amharischer Großgrundbesitzer), wurde von den meisten Völ-
kern im Süden, darunter auch jenen der Burji-Konso-Gruppe, zunächst begrüßt. Die
Militärdiktatur Mengistus belehrte sie eines Besseren, und auf die brutalen Aushe-
bungsmethoden des Militärs für den verlustreichen Krieg in Tigre und Eritrea rea-
gierten die Burji erneut mit Abwanderung. Von den Süd-Burji lebt heute nur noch der
geringere Teil im alten Territorium.
Die von außen aufgezwungenen historischen Ereignisse wirkten sich für die Region
katastrophal aus. Von dem einstigen blühenden Bauernland, das Donaldson Smith so
beeindruckt hatte, ist heute wenig zu sehen, und auf dem nur noch spärlich besiedel-
ten Stadthügel läßt sich das früher hier pulsierende Leben schwerlich erahnen. Jün-
gere Burji zieht es kaum mehr in ihre angestammte Heimat. Sie finden das Leben
dort reichlich öde, sehen für sich dort keine Zukunftschancen. Der desolate Zustand
des Landes darf aber über zweierlei nicht hinwegtäuschen: Zum einen ist böohee
Burji für die in der Diaspora lebenden Burji zum sakralen Ort, das alte Burji-Sied-
lungsgebiet zum heiligen Land ihrer Herkunft geworden. Zum anderen sind die Burji
selbst - die ja zum größeren Teil längst außerhalb ihres südäthiopischen Stammlan-
des leben - alles andere als in einer desolaten Verfassung. Dies gilt insbesondere für
die wirtschaftlich und kulturell prosperierenden Kenia-Burji (cf. Amborn 1994).
So darf die aktive und progressive Seite der Abwanderung aus böohee Burji nicht
unbeachtet bleiben. Sie war nicht nur eine passive Reaktion. Man erläge einer nostal-
gischen Romantisierung, übersähe man die aktive und positive Seite der Abwande-
rung. Die Emigration war für das Überleben der Burji als einer Kulturgemeinschaft
notwendig und sicherte vielen ein menschenwürdiges Leben, das manche von ihnen
unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen sonst wahrscheinlich nicht
hätten führen können. Außerdem ermöglichte sie neben ökonomischen Vorteilen (für
einzelne und für die Gemeinschaft) die Erweiterung des geistigen Horizontes. Doch
erkauft wurde dies mit der zwangsläufigen Auflösung der tradierten Strukturen.
Hiervon soll erst im Schlußabschnitt, nach der Beschreibung des Aufbaus von Burji-
Stadt, die Rede sein.
Bóohée Burji
Der Ortsname böohee Burji - eine Begriffsbestimmung
Vor der Beschreibung der Stadt stehen zunächst einige Überlegungen zur Entwick-
lung des Ortsnamens, da der Terminus Burji im Laufe der Geschichte eine Bedeu-
tungsverschiebung und -erweiterung erlebt hat. In unserem Zusammenhang soll er
als Sammelbezeichnung für eine Reihe von bäuerlichen Gruppen im oben näher
bestimmten Siedlungsgebiet aufgefaßt werden, die aufgrund ihrer akephalen gesell-
schaftlichen Grundstruktur keine Ethnie mit festen Abgrenzungen bilden, sich aber
nichtsdestoweniger aufgrund kultureller Übereinstimmungen, ihrer gemeinsamen
Herkunftsgeschichte sowie sozialer, wirtschaftlicher und politischer Interdependen-
zen verbunden fühlen (cf. Amborn 1994).
Burji war ursprünglich der Name für Burji-Stadt, wurde dann als Landschaftsbe-
zeichnung für das südliche Bergland verwendet und schließlich auch auf die Bewoh-
TR1BUS 44, 1995
ner des südlichen und des nördlichen Berglandes übertragen. Die alte Eigenbezeich-
nung für einen Angehörigen dieser Gruppen war d’äasi, in ihrer Gesamtheit nannten
sie sich ursprünglich d’äas. Beide Bezeichnungen sind auch heute noch gebräuch-
lich.
Die Ortsbezeichnung Burji leitet sich wahrscheinlich vom Gründer des mittlerweile
ausgestorbenen Klanes gini ab, einem mächtigen gänni namens Burji, der sich der
Tradition nach unter den ersten Einwanderern befunden hatte, die sich im derzeitigen
Stadtgebiet auf dem Areal des heute wichtigsten Opferplatzes baräaree nieder-
ließen.23 Die Begriffserweiterung vom reinen Ortsnamen zur weitergefaßten ethni-
schen Bezeichnung ist möglicherweise auf die zeitweise besondere politische und
ökonomische Geltung von Burji-Stadt zurückzuführen, der größten geschlossenen
Siedlung im Burji-Siedlungsraum. Jedenfalls geriet Burji zum Sammelbegriff für die
d’äas -sprachige Bevölkerung, deren einzelne Gruppen sich nun mittels ihrer Sied-
lungsnamen (z. B. Gamiu Burji) näher bezeichneten. Die Stadt-Burji nannten sich
nach einem der exponierten und wichtigen Plätze innerhalb ihres Stadtgebietes kilico
Burji.
Für die Bedeutungserweiterung sorgten auch die politischen und wirtschaftlichen
Veränderungen, die eine stetige Auswanderungsbewegung zur Folge hatten. Burji
kann in der Gegenwart nicht mehr als Sammelbezeichnung für die d’äas -sprachige
Bevölkerung gelten, da viele Emigranten der zweiten und dritten Generation diese
Sprache nicht mehr oder nur mehr in sehr geringem Maße sprechen. Es ist jedoch
besonders der territoriale Aspekt, welcher der Bezeichnung innewohnt, der im Zuge
dieser Entwicklung seine Bedeutung verändert hat. Für die heute sehr weit verstreut
lebenden Auswanderer ergibt es keinen Sinn mehr, sich wie im heimatlichen Sied-
lungsgebiet durch territoriale Spezifizierungen als Angehörige einer bestimmten
Gruppe im Rahmen eines fest umrissenen Territoriums zu erkennen zu geben. Burji
ist nicht mehr, wer im südlichen Amarro-Gebiet siedelt oder d’äas spricht, sondern
wer seine Herkunft auf Burji zurückführen kann.
Die Bezeichnung böohee soll hier »als miteinander verbunden gedachte Siedlungs-
areale« verstanden werden. Sie gilt somit auch für Burji-Stadt.24 Zur böohee von
Burji-Stadt werden auch jene Gemarkungen gerechnet, in denen außerhalb des
eigentlichen Stadtgebietes temporäre und gelegentlich permanente Einzelgehöfte
errichtet werden.25
Burji als kommerzielles Zentrum
Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts, vor der amharischen Okkupation, zählte
Burji-Stadt zu den bedeutendsten Marktzentren Südäthiopiens. Die Stadt verdankte
diese herausragende Stellung ihrer Lage in einem Gebiet intensiver Landwirtschaft,
das von den benachbarten mobilen Viehzüchtern leicht erreicht werden konnte.
Wichtigste Handelspartner waren Konso, Guji, Gideo (Darassa) und Amarro, Borana
sowie Somali, welche die Verbindung zur Küste hielten. Die Burji selbst unternah-
men ebenfalls weite Handelsreisen; alle befragten Personen waren zeitweilig als
Händler tätig gewesen.26
Die Somali erreichten Burji-Stadt mit Kamelkarawanen, die Eisen- und Kupferstäbe,
Silberschmuck, Perlen, bunte europäische Baumwolltücher und Nesselstoffe mit sich
führten. Sie handelten gegen diese begehrten Industrieerzeugnisse Kaffee (büni) und
Elfenbein sowie Weizen und Sorghum ein.27
»Die Borana-Karawanen brachten vornehmlich das im Süden ihrer Heimat gefun-
dene Salz auf den Markt nach Burji und beluden ihre Kamele auf dem Rückweg mit
Kaffee und Webereierzeugnissen, aber auch mit Tabak, Getreide und Hülsenfrüch-
ten. Die Konso sind bis auf den heutigen Tag die großen Baumwollieferanten der
Burji geblieben und beziehen im Tausch hauptsächlich Getreide und Vieh. In extrem
trockenen Jahren, wenn die Frucht auf den Feldern der Konso verdorrt und Hungers-
nöte auszubrechen drohen, kommen sie auf den Markt nach Burji, um dort Baum-
wolle und Webereierzeugnisse gegen die dringend benötigten Lebensmittel einzu-
tauschen.«
74
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Die Amarro und Gideo (Darassa) boten Ensete-Mehl, Gerste und Tabak an und kauf-
ten Salz, Vieh und Webwaren ein, während die Guji Vieh und Sättel auf den Markt
brachten und dafür Webereierzeugnisse erwarben. Sie betätigten sich auch als Zwi-
schenhändler und brachten von den Gideo gekauftes Ensete-Mehl und eine bicita
genannte Getreideart auf den Markt, die von den seßhaften und Feldbau treibenden
Guji kultiviert wird.
Bereits 1955 war Burji-Stadt allerdings nur mehr ein lokaler Markt.28 Den Femhan-
del, einst eine der Lebensadern der Stadt, hatten die Burji aufgrund der politischen
Veränderungen seit der amharischen Eroberung und der damit einhergehenden Ver-
legung der wichtigsten südäthiopischen Fernstraßen weitgehend aufgegeben. Aus
dem in Südäthiopien traditionellen Ost-West-Handel war ein Süd-Nord-Handel
geworden. Für diese Entwicklung, die bereits ab 1910 einsetzte, waren hauptsächlich
die veränderten Handelsbedingungen mit Addis Ababa als Handels- und Exportzen-
trum (vor allem für Kaffee) verantwortlich. Zudem suchte die kaiserliche Regierung
zuerst unter Menilek II. und später unter Hayle Selassie die Ressourcen des Südens
besser unter Kontrolle zu bekommen. Dazu wurde das Verkehrssystem, das voll-
kommen auf Addis Ababa konzentriert war, durch den Bau von Straßen, der Ein-
führung der Eisenbahn und des Postwesens, ausgebaut. Das Steuersystem und die
bereits geschilderte gabbar-Knechtschaft zwang die Völker des Südens zum Erwerb
von Bargeld, entweder durch handwerkliche Tätigkeiten oder den Anbau von cash
crops (McClellan 1986: 177f.).
Für die Burji brachte diese Entwicklung erhebliche Konsequenzen mit sich. Fataler-
weise mußte der Anbau von Kaffee, zuvor eines ihrer wichtigsten Handelsprodukte,
aus mehreren Gründen aufgegeben werden. Als eine Ursache gaben die befragten
Personen an, daß während der Regierungszeit des Gouverneurs Däjjazmac Balca die
amharischen Besatzer die Burji gezwungen haben sollen, allen Kaffee an sie abzu-
treten.
Entscheidend war aber wohl die übermächtige Konkurrenz der Kaffeeanbaugebiete
in Sidamo und Gideo,29 die unter erheblich günstigeren Wettbewerbsbedingungen
produzierten und die Verödung des Burji-Marktes, auf dem die Masse des einheimi-
schen Kaffees abgesetzt wurde. Mit der Eroberung Süd-Äthiopiens durch die
Amhara verlor Burji nicht nur seine Bedeutung als zentraler Marktort, sondern auch
seine wichtigsten Handelspartner, die Somali und Borana-Kaufleute, die einst die
Abnehmer des Burji-Kaffees waren.«
»Vor dem Verlust seiner Stellung als Handelszentrum hielt Burji-Stadt nicht nur ein
gepflegtes Wegenetz aufrecht, um die landwirtschaftlichen Gebiete außerhalb der
Stadt zu erschließen, sondern war auch unmittelbar vom Anschluß an ausgebaute
Straßen abhängig. Auf die Aufrechterhaltung des Wege- und Straßennetzes wurde
früher streng geachtet. »Alle Wege, die von Burji-Stadt durch die Stadttore nach
außen führen, sind künstlich angelegt und auch immer instandgehalten worden. Für
die Instandhaltung waren die jeweiligen geereng-ana verantwortlich.«
Die große Karawanenstraße, die von Burji-Stadt nach Süden führt und auf der in vor-
amharischer Zeit die Somali- und Borana-Händler zum Markt nach Burji zogen, war
ein Musterbeispiel einer angelegten Straße mit geschickter Trassenführung (cf. Sasse
und Straube 1977: 241). Sie war breit genug für Berittene, aber auch um Kamelkara-
wanen aufzunehmen.30
»Ursprünglich begann die Straße am westlichen Stadttor von Abäya. Diese alte von
Heckenbäumen eingefaßte Straße, die vom Westtor von Abaya hinunterführt, mün-
det oberhalb des däree-Platzes, auf dem die Totenfeste von Tabäce und Abäya abge-
halten werden, in die heutige Karawanenstraße, die vom Stadttor von Tabäce kommt,
ein. Sie bildet die Grenze zwischen der bitäa- und der mirga-Seite; setzt sich durch
Burji-Stadt bis zum Tor von Häaraa fort und teilt damit auch die Stadt in zwei Teile.
Die Grenze zwischen der bitäa-und der mirga-Seite bildet im Norden der Stadt der
Weg, der vom Stadttor von Häaraa nach Sego und von dort über die Mission nach
Lemu und weiter nach Derba führt. Die Karawanenstraße führte außerhalb der böo-
hee von WoT’lo nach Baräako und durch das Höobane-Tal nach lavello. Sie mußte
früher bis WolTo instandgehalten werden.«
TRIBUS 44, 1995
Der Rhythmus des Marktwesens wurde durch die viertägige Marktwoche fola
gadesa (= vier Märkte) angegeben.31 Der lokale Markt fand an jedem Wochentag
statt, wogegen der große Markt, zu dem auch Konso, Borana, Somali und andere
kamen, am gadesa-Tag (Markt-Tag) abgehalten wurde. Heute findet nur noch an die-
sem Tag Markt statt. Es scheint, daß diese Marktordnung erst zur Zeit der italieni-
schen Besetzung eingeführt und seitdem beibehalten wurde.
Der älteste Marktplatz von Burji-Stadt befand sich auf einem gudeeta lulüko32
genannten Platz vor dem Nordtor von Häaraa. Später wurde der Markt auf den bereits
erwähnten kilico-Platz verlegt,33 der sich im Nordwesten von Burji-Stadt in der geere
Gandille an der Grenze zu Häaraa befindet und heute als Versammlungs-, Fest- und
Schlachtplatz Verwendung findet.
»Die Verlegung des Marktes auf den kilico-Platz fand vor sehr langer Zeit statt,
angeblich vor Einführung des wöma-Amtes.34 Es scheint, daß auf dem kilico-Platz an
allen Tagen Markt gehalten wurde, außer am ersten Wochentag lulüko, an dem der
Markt traditionsgemäß auf dem gudeeta lulüko stattfand. Dieser Markt wurde
hauptsächlich von Nord-Burji besucht...« 35
»Während der italienischen Besetzung wurde der Markt in die katamä Sego verla-
gert. Der Markt hat nur mehr lokale Bedeutung und ist verhältnismäßig klein. Der
Lebensmittelmarkt liegt in den Händen der Frauen, wogegen die Männer Weberei-
erzeugnisse und Importwaren anbieten. Ihre Marktstände sind deutlich von denen
der Frauen abgesetzt. Besonders stark ist die Marktbeteiligung der Hochlandbevöl-
kerung, die vor allem mit Ensete-Produkten handelt.«36
Um den reibungslosen Ablauf der Geschäfte zu gewährleisten, wurden einige Vor-
kehrungen getroffen.
»Auf dem Burji-Markt fungierte ein Marktaufseher mit dem Titel wominga-masa,
der für ein Jahr neu für dieses Amt bestimmt wurde. Jeder Mann konnte sich um die-
ses Amt beim wöma bewerben. Wer den vom wöma geforderten Preis, z. B. einen
Baumwollumhang boluko, bezahlen konnte und zu zahlen gewillt war, wurde vom
wöma als Markt-masa eingesetzt. Der Markt-masa trat sein Amt zusammen mit dem
wöma an. Er zog von allen größeren Geschäften, die auf dem Markt von auswärtigen
Marktbesuchern, z. B. von den Borana und den Somali getätigt wurden, eine Art
Umsatzsteuer ein, die er mit dem wöma teilen mußte. So bekam der wöma von jedem
geschlachteten Rind eine Rippe und einen Fellschlitzring und auch einen Anteil an
dem umgesetzten Salz der Borana.«37
Auch für einen friedlichen Handel mit den Guji, die ansonsten die traditionellen
Feinde der Burji waren, wurde Sorge getragen. Der Handel mit den Guji wickelte
sich nicht auf den üblichen Marktplätzen ab, sondern auf einem besonderen Markt-
feld, das sich auf der mirga-Seite am Ufer des Malka-Baches befand. Um den allge-
meinen Frieden und somit auch den Marktfrieden sicherzustellen, trafen sich hier auf
Anordnung des wöma je nach Bedarf die beiden ranghöchsten Funktionäre der gäda-
Systeme beider Völker zu einer gondöroo genannten Friedenszeremonie, die zum
letzten Mal während der italienischen Besetzung abgehalten wurde.38
Die Bedeutung von Burji-Stadt als kommerziellem Zentrum wird auch durch die
Entwicklung des Handwerks ersichtlich. Von den in Burji betriebenen Handwerken
war die Weberei zweifellos das bedeutendste. Baumwolltücher aus Burji waren
namentlich bei den Viehhaltergesellschaften der umliegenden Niederungen
geschätzt, die üblicherweise keine eigenen Weber besaßen; doch blieben diese nicht
die einzigen Abnehmer. Mindestens bis 1980 wurden die stets auf dem Trittwebstuhl
hergestellten Burji-Tücher bis Marsabit in Nordkenia gehandelt. Besonders lukrativ
entwickelte sich der Handel mit schweren warmen Decken. Die amharische Okku-
pation brachte zweifellos einen Anstieg der Weberei, da die Tributzahlungen in
Tuchen bei den Fronherren nicht nur willkommen waren, sondern z. T. erzwungen
wurden. Außerdem verboten die Amhara zuerst den Männern und dann den Frauen,
»nackt«, d. h. mit der traditionellen Fell- und Lederkleidung, den Markt zu besuchen.
Mit dem Verlust des Kaffeehandels kam es kurz vor dem 1. Weltkrieg zu einem wei-
teren Anstieg der Weberei, da der wirtschaftliche Druck der Amhara die Erschlie-
76
Ambom; Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Abbildung 3; Halsring einer Frau. Burji; Durchmesser: 16 cm; Messing, Holz, Leder; Linden-
Museum, Inv.-Nr. 21028 (erworben 1901). Photo Ursula Didoni
ßung neuer Erwerbsquellen, die kurzfristig Bargeld einbrachten, erzwang. So hat
dieses Gewerbe seit der Jahrhundertwende immer mehr an Boden gewonnen und ist
zu einer Art Nationalhandwerk der Burji geworden (cf. Sasse und Straube 1977:
243). Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß der Baumwollanbau kurzzeitig ausge-
weitet wurde.39
Älter als das Weberhandwerk gelten drei weitere Handwerke: Schmieden, Töpfern
und Gerben, deren Bedeutung jedoch nach den ersten Abwanderungen stark zurück-
gegangen ist. Diese Gewerbe werden berufsmäßig, d. h. als Hauptbeschäftigung von
genau definierten Berufsgruppen, ausgeübt. Nur beim Weberhandwerk wird die
Begrenzung auf eine bestimmte Berufsgruppe infolge der wirtschaftlichen Entwick-
lung nicht mehr sonderlich genau genommen. Auch viele Bauern, besonders die jün-
geren Söhne der Familien, die nur wenig Landbesitz erben, haben die Weberei erlernt
und betreiben sie als einträgliche Nebenbeschäftigung.
Die Konzentration wesentlicher Gewerbezweige in der Hand bestimmter Berufs-
gruppen hat entscheidend dazu beigetragen, daß es in der Burji-Konso-Gruppe zur
Ausformung einer hochintensivierten Landwirtschaft gekommen ist, da die Hand-
werker der bäuerlichen Bevölkerung nicht nur hochwertige Arbeitsgeräte zur Verfü-
gung stellen konnten, sondern dieser auch ermöglichten, sich ausschließlich auf die
Landwirtschaft zu konzentrieren (Amborn 1990).40 Anders als bei den übrigen Eth-
nien der Burji-Konso-Gruppe, deren Handwerker üblicherweise in besonderen Zen-
tren leben oder bestimmte Stadtviertel bevorzugen, finden wir eine solche Konzen-
tration in Burji-Stadt nicht, obwohl es sie möglicherweise auch hier gegeben hat.41
»Eine gewisse Massierung der Weber ist im Stadtquartier von Häaraa festzustellen.
Als Grund hierfür wird angegeben, daß die ersten drei eingewanderten Weber sich
dort niederließen.«
Berücksichtigt man, daß gerade die Berufsweber auch die Händler stellten und daß
durch die intensive Landwirtschaft veräußerbare Überschüsse erwirtschaftet wurden,
so wird deutlich, daß Burji-Stadt ein wichtiges Gewerbezentrum war.
TRIBUS 44, 1995
Anlage von Burji-Stadt
Burji-Stadt wurde durch mehrere Verteidigungsanlagen geschützt. Der Stadt vorge-
lagert existierte früher zum Schutz gegen die Borana-Kavallerie eine aus Steinen auf-
geschichtete Befestigungsmauer, von der noch heute Fragmente übriggeblieben sind.
Die Mauer verlief auf der bitäa-Seite im Westen zum Schutz des Tores von Tabäce
und im Südwesten,42 weil hier günstiges Gelände für Reiterei vorzufinden ist. In
einem der übriggebliebenen Mauerzüge, ungefähr 15 Gehminuten westsüdwestlich
von Burji gelegen,43 existiert noch heute ein Holztor, das ähnlich konstruiert ist, wie
die weiter unten beschriebenen Stadttore von Burji.
»Der Verteidigungsmauer gegen die Borana-Kavallerie auf der bitäa-Seite entspra-
chen die Verteidigungsgräben gegen die Kavallerie der Mäatee-Guji auf der mirga-
Seite, also im Osten der Stadt. Noch heute existiert östlich von Burji-Stadt ein sol-
cher ausgehobener tiefer Graben, der die alte italienische Autostraße kreuzt.«44
Weiterhin wurde Burji durch vorgeschobene Ausguckposten gesichert. So standen
als weitere Verteidigungsmaßnahme am Rand des äußeren Anbaurings Wachen, die
die Hirten vor herannahenden Feinden warnten. In der Nähe des wenige Kilometer
von Burji entfernten Irdoya »durchzogen die Feldfluren ungefähr 50 cm hohe, aus
Lesesteinen gefügte Mäuerchen, auf denen einige aufrechtstehende Monolithen ein-
gelassen waren, die in früheren Zeiten angeblich den Feldwachen, die hier zur Siche-
rung gegen die Guji aufgestellt waren, als Brustwehr gedient haben sollen«.
Die Wachen, die außerhalb von Burji-Stadt Tag und Nacht die Zugangswege über-
wachten, wurden von den aktiven hägi45 gestellt. Die am weitesten entfernten, wich-
tigsten und am stärksten gefährdeten Punkte innerhalb dieses Überwachungssystems
wurden von den erfahrenen Angehörigen der ältesten hägi besetzt. Einige dieser
Wachen waren zwei Wegstunden von Burji-Stadt entfernt. Weniger bedeutsame
Punkte wurden von den Angehörigen jüngerer hägi bewacht.
Abbildung 4: Gehöfttor
78
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Auch wenn die Stadt selbst - in ihrer heutigen Ausdehnung - offensichtlich nicht von
einem gesonderten Palisaden- oder Mauerring umgeben war, ist es hingegen sehr
wahrscheinlich, daß sie früher durch eine geschlossene Palisade geschützt war, die in
ihrer Anlage aus dichten Hecken und Bäumen der Schutzumfriedung entspricht, wie
sie sich heute noch im benachbarten Gamiu rekonstruieren läßt.46 Ob es sich bei der
Palisade um einen eigens angelegten Verteidigungsring handelte oder um die anein-
andergereihten Umzäunungen der außenliegenden Gehöfte, läßt sich nicht mehr mit
Sicherheit sagen. Wahrscheinlich entstand der Palisadenring um Burji-Stadt jedoch
aus der lückenlosen Verbindung der Gehöftumfriedungen, wie sie auch in der Gegen-
wart noch angelegt werden. Diese bestehen aus Staketenzäunen, errichtet aus in den
Boden gerammten Stämmen und starken Ästen sowie dichten Hecken. Ein dermaßen
geschlossener Palisadenring um die Stadt herum läßt sich heute nicht mehr aufrech-
terhalten, da die Besiedlung zu ausgedünnt ist, als daß mittels der einzelnen Gehöft-
zäune eine vollständige Umfriedung erreicht werden könnte.
In die Stadt hinein gelangte man auf befestigten, z. T. gepflasterten Straßen, die zu
einem von den insgesamt zehn gezimmerten Stadttoren führten. Die hölzernen Kon-
struktionen einiger Tore haben sich im Gegensatz zur Palisade in unterschiedlich
gutem Zustand erhalten.
Jeweils ein Tor befand sich in den geere Wäalee, Gandigäma, Carei, Dabiia, Tabäce,
Akäna, Gandille und Häaraa. Lediglich in Abäya bestanden zwei Tore. Das Stadttor
von Häaraa besteht heute noch aus einem knorrigen Holzrahmen, entsprechend das
Tor von Akäna, das neben dem dortigen Versammlungsplatz liegt. Auch in Tabäce
findet sich noch das große, aus vielen knorrigen Stämmen und Ästen gefügte Stadt-
tor, durch das ein breiter Weg hineinführt, der sich als Hohlweg fortsetzt. Vom Stadt-
tor von Gandille, nahe dem kilico-Platz gelegen, stehen nur noch kümmerliche
Reste. Daneben befand sich das Tor von Carei, das jedoch nicht mehr existiert. Die
Tore wurden zur Nachtzeit bewacht und verschlossen;47 wer passieren wollte, mußte
einen Obolus an den Torwächter zahlen.
Wenn die Stadttore heute noch erhalten sind, so haben sie heute nur noch symboli-
sche Bedeutung. Wer von außen kommt, betritt durch sie das Innere, den Kulturbe-
zirk der Stadt. Die symbolisch-kultische Bedeutung der Stadttore wird durch die
unter ihnen stattfindenden Opfer und Andachten verdeutlicht.48
»Hat man eines der Stadttore durchschritten, fällt die vielseitige Verwendung des
Steines als Baumaterial auf, die dem Ort schon rein äußerlich einen städtischen Cha-
rakter verleiht. Der Stadthügel ist von terrassierten Wohnplattformen überzogen, auf
denen die einzelnen Gehöfte liegen. Die Erdaufschüttungen der teilweise gepflaster-
ten Versammlungsplätze werden von gemauerten Böschungen eingefaßt. Die in
ihrem Kern eng gebaute Stadt ist - so erscheint es dem Neuankömmling - von einem
Gewirr sich kreuzender Pfade durchzogen. Erst allmählich wird ihm die Struktur
sichtbar. Hecken, Staketenzäune oder die Mauern der Gehöfteinfriedungen säumen
die Wege.
Durch ein schmales, aus knorrigen und dicken Asthölzern gefügtes Tor gölgee kann
man die Gehöfte betreten. Zuerst gelangt man auf einen planierten und stets sauber
gehaltenen Hof, auf dem mehrere Getreidespeicher riika und eine auf vier Pfosten
ruhende Plattform, die zum Trocknen der Getreidegarben dient, stehen. Die birnen-
oder urnenförmigen, ungefähr 1,5 m hohen Speicherkörbe sind aus einer Schling-
pflanze geflochten und mit Lehm beschmiert. Sie ruhen auf einem geflochtenen
Astring, der wiederum auf vier Steinen aufliegt und werden durch ein kleines Stroh-
dach vor Feuchtigkeit geschützt. Ist der Gehöftbesitzer Inhaber eines Ranges, so
ragen in der Mitte des Hofes die trockenen Aststangen seines Rang- und Opferzei-
chens auf. An der Schmalseite des Hofes, meist gegenüber dem Gehöfteingang, liegt
das Wohnhaus, an das sich ein kleiner Gemüsegarten mit Tabak, Kohl und Bohnen
anschließt. Meist gehört zum Gehöftkomplex auch noch ein kleines Feldstück, auf
dem Mais und Gerste, untermischt mit Bohnen und Erbsen, angebaut werden. Zu bei-
den Seiten des Gehöfteinganges befindet sich eine schmale erhöhte Erdplattform, die
mit einer gemauerten Bedachung und einigen Sitzsteinen versehen ist, auf denen sich
die alten Männer niederzulassen pflegen.
TRIBUS 44, 1995
Die sorgfältig gebauten Kuppelhäuser sind vom Erdboden bis zur Dachspitze mit
Gras oder Stroh gedeckt, etwa vier Meter hoch, bei einem Durchmesser von sechs bis
sieben Metern. Das Kuppelgerüst des Daches wird von einem starken Mittelpfosten
getragen, der ungefähr einen Meter über die Dachspitze hinausragt und in einen klei-
nen Stempel ausläuft, der zur Befestigung eines Straußeneis gedacht ist. Die Häuser
von Würdenträgern werden durch mehrere über die Dachspitze hinausragende Pfo-
sten gekennzeichnet, von denen einst jeder ein Straußenei trug. Über den Häuserein-
gängen wölbt sich das Dach nasenförmig vor, so daß Regen und Wind nicht direkt in
das Haus schlagen können.
Der Mittelpfosten des Hauses besitzt eine besondere kultische Bedeutung, was schon
aus seiner Bezeichnung biddóo zu ersehen ist, die mit der der heiligen Bretter
übereinstimmt, die den wesentlichsten Bestandteil der Rang- und Opferzeichen der
Burji darstellen und als das größte Heiligtum des Volkes angesprochen werden kön-
nen.«49
Einen wichtigen Zweck innerhalb des landwirtschaftlichen Systems erfüllten die
Abortplätze siriänga kotäy, die zur Herstellung von hochwertigem Dünger dienten.
Sie befanden sich sowohl in der Stadt als auch außerhalb in der Nähe der Stadttore.
»Früher, als der Dorfhügel noch dicht besiedelt war und Haus an Haus stand und sich
innerhalb der bóohee Burji keine Felder befanden, besaß jedes Gehöft seinen eige-
nen Abortplatz. Alle Burji hatten die Abortplätze aufzusuchen und niemand durfte
sein Geschäft an anderen Stellen innerhalb der Stadt verrichten. Auf dem Abortplatz
wurde auch die Asche, der Häuserkehricht und der Dung der in dem Haus stehenden
Haustiere zusammengetragen. Der gesamte Dung wurde dann während der Trocken-
zeit von den Frauen einzeln oder in Arbeitsgemeinschaften in Körben auf die Felder
getragen. Heute haben nur noch wenige Gehöfte einen Abortplatz, und nur noch
wenige alte Leute düngen ihre Felder mit Fäkalien. Der Dung der Pferde und Maul-
tiere wurde auf den Feldern verbrannt, bevor er untergeharkt wurde.«
Burji-Stadt gliedert sich in Stadtquartiere, denen eine große Bedeutung innerhalb der
Kultur der Burji zukommt. Insgesamt gibt es fünf solcher géere genannten Quartiere,
die ihrerseits wieder in Bezirke òlla unterteilt sind.
Jede géere hat einen balbdla genannten Versammlungsplatz und Opferplatz.50 Die
Häaraa-géere beispielsweise ist in drei òlla untergliedert (Baräree, Jiboota und
Däree). Sie verfügt über einen géere-balbàla und über drei Plätze in den jeweiligen
ólla.5]
Die Quartiere und Bezirke der Burji sind korporative Einheiten mit eigenen kommu-
nalen Einrichtungen wie Versammlungs- und Dreschplätzen óyda. Sie besitzen abge-
grenzte Landanteile in der äußeren Anbauzone, ihre Mitglieder haben bestimmte
wirtschaftliche, gesellschaftliche und kultisch-religiöse Aufgaben gemeinsam zu
erfüllen. Für die Durchführung dieser Gemeinschaftsaufgaben sind Quartier- und
Bezirksvorsteher geeréng-ana bzw. ollénga-ana verantwortlich, die jedoch nicht
allein entscheiden können, sondern immer auf den Konsens der älteren Einwohner in
ihrem Bezirk angewiesen sind.52 Diese Ämter sind erblich. Da die Mehrzahl der
Quartier- und Bezirksbezeichnungen wie erwähnt auf die Eigennamen der ersten
Siedler zurückgeht und da die géere ursprünglich von jenen Klanen besiedelt worden
sein sollen, die noch heute die Quartiervorsteher stellen, ist zu vermuten, daß die
Stadtquartiere, aber auch die Bezirke aus den ehemaligen Siedlungsarealen der Ver-
wandtschaftsverbände hervorgegangen sind.53 In historisch überblickbarer Zeit
setzte sich die Einwohnerschaft der einzelnen Quartiere und Bezirke stets aus
Angehörigen unterschiedlicher Verwandtschaftsverbände zusammen, und ihre Mit-
gliedschaft in einer géere oder òlla hing allein vom Wohnsitz ab. Daher müssen
Stadtquartiere und -bezirke als territoriale Einheiten ohne verwandtschaftliche Bin-
dungen betrachtet werden. Der Verwandtschaftsverband der Erstsiedler besitzt auch
keine dominante Stellung mehr, wenn man davon absieht, daß er den erblichen
geeréng-ana stellt.
Zu den Gemeinschaftsaufgaben der Quartiergemeinschaft gehörte beispielsweise die
Pflege der Straßen, die von Burji-Stadt durch die Stadttore nach außen führen. Sie
sind künstlich angelegt worden und müssen dementsprechend auch immer instand-
80
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
gehalten werden. Die jeweiligen geeréng-ana hatten sich laufend um sie zu küm-
mern. Die ursprünglich z.T. gepflasterten Straßen waren und sind noch heute
streckenweise von angepflanzten Hecken eingefaßt, die es dem Vieh verwehren sol-
len, sie zu verlassen und auf die Felder zu laufen.
Die Felder des extensiv bewirtschafteten äußeren Anbaurings - an dem ja alle géere-
Mitglieder Nutzungsanspruch besitzen - wurden gemeinsam gerodet, bestellt, vor
Wildtieren bewacht und schließlich abgeerntet.
Das starke Zusammengehörigkeitsgefühl der géere-Mitglieder zeigt sich in vielerlei
Aktivitäten. So helfen etwa alle Erwachsenen mit, wenn ein Haus in der géere repa-
riert oder errichtet werden soll. Beim Tode eines géere-Mitgliedes schachten sie das
Grab aus und unterstützen die Familie des Verstorbenen mit Lebensmitteln, Wasser
und Holz. Sie helfen bei der Ausrichtung des Totenfestes durch Bereitstellung von
Nahrungsmitteln und Bewirtung der Verwandten des Verstorbenen, die zum Toten-
fest kommen. Bei Krankheit eines géere-Angehörigen oder bei seiner zeitweiligen
Abwesenheit entlasten die anderen Quartiermitglieder seine Familie bei den not-
wendigen Feldarbeiten.
Innerhalb der géere hatte jede òlla ihren eigenen Dreschplatz óyda, auf dem sich alle
o//fl-Mitglieder zum gemeinsamen Drusch versammelten. Gemeinsam wurde der
Platz jährlich vor dem Hauptdrusch neu mit Kuhdung geglättet und schließlich die
Reihenfolge ausgemacht, in der die einzelnen Mitglieder dreschen konnten. Beim
Drusch halfen alle mit. Auch diejenigen, die keine eigene Frucht zu dreschen hatten,
mußten erscheinen und mithelfen. In den Aufgabenbereich des geeréng-ana fiel es,
Mitglieder, die sich den Arbeiten zu entziehen suchten, zu bestrafen. Der gemein-
same Drusch auf dem olla-óyda ist seit der Italienerzeit aufgegeben worden, doch
sonst funktioniert die géere-Organisation auch noch in der Gegenwart. Heutzutage
findet der Drusch bereits auf dem Felde statt.
Der geeréng-ana hatte allgemein für Ruhe und Ordnung zu sorgen, Streitigkeiten zu
schlichten und auch als Richter zu fungieren, z. B. bei Diebstählen. Doch fällte er das
Urteil stets in Übereinstimmung mit den älteren géere-Mitgliedern, die sich zu die-
sem Zweck auf dem baibàia versammelten. Allein aus eigener Machtvollkommen-
heit konnte er keine Entscheidungen fällen. Niemand konnte ohne Genehmigung sei-
nes gegenwärtigen und zukünftigen geeréng-ana seinen Wohnsitz von einer géere in
eine andere verlegen. Aber auch dann hatte der geeréng-ana die Angelegenheit mit
den älteren géere-Mitgliedern zu besprechen. Unruhestifter und Leute, denen ein
Vergehen nachgewiesen werden konnte, wurden grundsätzlich nicht aufgenommen.
Die olléng-ana schlichteten kleinere Streitigkeiten und untersuchten alle Vorfälle,
die sich in ihren òlla zutrugen.
Einmal im Jahr opferte der geeréng-ana auf dem géere-balbàla eine Ziege, mit deren
Blut sich alle géere-Mitglieder die Stirn zeichneten. Sein Helfer (masa) bringt jedem
kranken gecre-Angehörigen Opferblut zur Stirnzeichnung.«
Die Gesamtorganisation der géere - die sich übrigens auch im übrigen Burji-Gebiet
wiederfindet - ist ein schönes Beispiel für das Funktionieren einer akephalen Gesell-
schaft, denn letztlich bestehen hier fünf autonome Gebilde (die géere) nebeneinan-
der, ohne daß es eine übergeordnete Macht oder Institution, die dieses System zusam-
menhielte, gäbe. Ihre Vielfalt ist die Einheit.
In und um Burji-Stadt befindet sich eine Reihe von heiligen und profanen Plätzen,
die je nach Bestimmung als gemeinschaftliche Opfer- und Versammlungsplätze der
verschiedenen géere, Klane oder der gesamten Bevölkerung dienen. Neben den
öffentlichen sakralen Plätzen existieren zudem private Opferplätze in den Gehöften;
als heilig gelten auch die Friedhöfe der Klane.54 Besondere zeremoniale Bedeutung
erlangen einige Plätze und Örtlichkeiten im Rahmen des gada-Systems.55 Die Ge-
staltung der öffentlichen Plätze setzt städtebauliche Akzente.
»In ihrer Anlage findet sich das vielfach verwendete Baumaterial Stein wieder, das
Burji-Stadt seinen städtischen Charakter verleiht. Die Erdaufschüttungen der teil-
weise gepflasterten Versammlungsplätze werden von gemauerten Böschungen ein-
gefaßt. Einzelne öffentliche Plätze, wie z. B. der balbäla der òlla Akäna sind von
großen Sitzsteinen gesäumt und von Bäumen beschattet.«
TRIBUS 44, 1995
Wichtige Heiligtümer der Burji sind die sogenannten biddöo-Bretter und die esa-Zei-
chen, Opferbündel, die auf jedem Opferplatz esse aufgestellt werden und damit seine
Heiligkeit dokumentieren. Im Verlauf eines Opfers werden diese Heiligtümer mit
Milch, Bier und dem Blut des Opfertieres übersprüht, seine Innereien und kleine
Stücke von allen wichtigen Organen und anderen wichtigen Teilen davor vergraben.
»Zu jedem Opfer auf allen esa-Plätzen gehört es, daß neue Aststangen gebracht und
in das esa-Zeichen eingesetzt werden.«
»In die esa-Zeichen, die aus den Aststangen neun verschiedener Baumarten bestehen
und mit einer Schlingpflanze namens hobänee zusammengebunden werden, ist je ein
biddöo-Brett eingebunden, an dem die Opfertiere befestigt werden. Die biddöo sind
Holzbretter von ungefähr einem Meter Höhe, die sich nach oben allmählich verbrei-
tern und in zwei hörnerartige Enden auslaufen. Diese beiden hölzernen Spitzen stel-
len anscheinend ein stilisiertes Rindergehörn dar. Die biddöo-Bretter der esa-Bündel
werden von einem der Seitenbretter der Türeinfassung des Hauseingangs genom-
men, der zeremoniale Bedeutung besitzt. Die Burji verehren die biddöo-Bretter als
heilige Gegenstände, die eng mit ihrem Schicksal verbunden sind, da bei ihrer Zer-
störung auch sie selbst untergehen würden. Dies gilt vor allem für das biddöo-Brett
auf dem wominga balbäla genannten Platz, das als das höchste Heiligtum der Burji
gilt.
Sowohl den Hauseingängen als auch den Gehöfttoren kommt als Andachtsplatz reli-
giöse Bedeutung zu. So verrichten die Vorstände der geere und die Familienober-
häupter unter den Gehöfttoren ihre Gebete.
»Man befestigt einmal im Jahr über den Hauseingängen ein aus Gras und den Blüten
des Flaschenkürbis und des mereera-Baumes (Cordia abyssinica) bestehendes Kult-
zeichen, hängt an das Gehöfttor ein Blätterbüschel des hällaa-Baumes und legt auf
die Türschwelle ein Euphorbienstück, über das alle Gehöftinsassen hinwegtreten
müssen und das erst entfernt wird, wenn es in Fäulnis übergegangen ist.«
Als heilig verehrt wird auch der Mittelpfosten der Häuser, der gleich den höchsten
Heiligtümern biddöo genannt wird. Diese Namensgleichheit wird damit begründet,
daß das biddöo-Brett genau so den Mittelpunkt des csa-Bündels darstellt wie der
Mittelpfosten den Mittelpunkt des Hauses. Der Hausmittelpfosten ist eng mit
Gesundheit und Glück des Hauseigentümers verknüpft, gleichermaßen wie das bid-
döo-Brett auf dem wominga balbäla mit dem Schicksal aller Burji verbunden ist. Der
Eigentümer ist dazu verpflichtet, den Ahnen jährlich Bier, Milch, Getreidekörner
und Kaffeebohnen vor dem Mittelpfosten zu opfern. Nach Fertigstellung eines neuen
Hauses wird ein Reinigungsopfer dargebracht moocee, das nur Inhaber eines hohen
Ranges vornehmen können.:’6 Dieses Opfer wird nach Bedarf wiederholt.
Jeder geereng-ana besitzt einen eigenen esa-Platz und zudem die Verfügungsgewalt
über den in seinem Stadtquartier befindlichen Dreschplatz sowie über den Ver-
sammlungs- und Opferplatz balbäla, für dessen Instandhaltung die gesamte geere
verantwortlich ist. Auf den für Frauen verbotenen geere-balbäla ist kein biddöo-
Brett errichtet. Einmal im Jahr kommen alle männlichen Mitglieder der geere auf
dem balbäla zu einem Opferfest zusammen, in dessen Verlauf der geereng-ana eine
Ziege schlachtet, mit deren Blut sich alle gccrc-Mitglieder auf der Stirn zeichnen.57
Das höchste Heiligtum eines Klanes stellt der csa-Platz dar, der sich im Hof des
Klanführer-Gehöfts befindet und auf dem alle für den Klan relevanten Opferhand-
lungen vorgenommen werden.58
»Das Klanopferfest hiifäano findet einmal jährlich statt. Fünf Tage nach diesem Fest
beginnt die Aussaat des Getreides. Jede lineage des Klanes bringt zum Fest zwölf
neue Aststangen mit, die im Austausch gegen alte Aststangen in das esa-Zeichen hin-
eingesteckt werden. Vor dem Opfer findet die Anrufung der eigenen Ahnen und
Gottes durch den Klanführer statt, verbunden mit der Bitte um Fruchtbarkeit für
Mensch, Tier und Feldfrüchte. Die Mitglieder des Klans hören die Anrufung des
Klanführers stehend an; dieser blickt nach Fiban.«
Der von einem großen mereera-Baum überschattete baräaree-Platz gilt als heiligster
Opferplatz der Burji. Er ist allen Klanen gehörig. Wie schon oben erwähnt, ließen
sich nach der Überlieferung auf diesem am höchsten Punkt von Burji-Stadt gelege-
82
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
nen Platz die ersten Einwanderer in Burji nieder, und die Klane gini, kdrama und
gamäayo nahmen dort das erste Schafopfer vor. Große Bedeutung kommt dem Platz
als Austragungsort für wichtige Regenopfer und Opfer gegen Epidemien sowie für
Gada-Zeremonien zu.59
Ein weiterer bedeutender heiliger Platz innerhalb Burji-Stadt ist der in der geere Häa-
raa befindliche wominga balbäla, auf dem das als das höchste Heiligtum verehrte
biddöo errichtet ist. Der terrassierte und planierte wominga balbäla ist der Zeremo-
nialplatz des wöma-, eine der wichtigsten religiösen Handlungen ist das jährlich zu
Beginn des neuen Jahres im Monat dogölee (Monat März) stattfindende Opfer.60
Neben religiösen Zeremonien finden auf dem wominga balbäla unter dem Vorsitz
des wöma Sitzungen des Gerichtsrates, politische Versammlungen und Amtsein-
führungen von Würdenträgern statt.
»Die Gemarkung von Burji-Stadt wird auf allen Seiten von einem Kranz von esa-
Plätzen umgeben, der von den Gewährsleuten als ¡»eiserner Zaum bezeichnet wird
und der die böohee vor den Angriffen der Feinde des Burji-Volkes schützen soll.
Diese neun Opferplätze liegen in den Außenbezirken auf Geländeerhebungen und
sonstigen markanten Punkten. Auf jedem dieser esa-Plätze wird jährlich einmal in
Anwesenheit des wöma von den Klanführern der neun Burji-Klane ein Opfer voll-
zogen, in dessen Verlauf man die Opferspeere gegen den Himmel erhebt und Gott um
seinen Schutz für Volk und Land bittet.«61
Man bittet um Schutz gegen Kriegsgefahr, Hungersnot und Krankheiten. Von beson-
derer Bedeutung sind die Regenopfer, die auf einigen dieser Plätze abgehalten wer-
den.
Neben den Opferplätzen existiert noch eine Reihe von öffentlichen Plätzen, die kul-
tische und soziale Bedeutung besitzen.
Ein besonders geheiligter Ort innerhalb der Stadt ist der kilico-Platz, der in der geere
Gandille an der Grenze zu Häaraa liegt.
»Er diente früher als Marktplatz, und heute werden auf ihm die Totenfeste abgehal-
ten.62 In der Mitte des Platzes ragt ein Felsblock auf, der von keiner Frau bei Gefahr
der Unfruchtbarkeit erklommen werden darf. Auf dem Felsblock nahm früher der
Markt-masa Platz, und auch erfolgreiche Menschentöter und Großwildjäger ließen
sich auf ihm nieder, um sich von dort aus dem zusammenlaufenden Volk zu zeigen
und ihre Taten in prahlerischer Art und Weise zu bezeugen.«
Die zeremonielle Bedeutung des U7/co-Platzes im Rahmen des gdda-Systems wird
weiter unten beschrieben.
»Hart nördlich von Burji-Stadt befindet sich ein gubäle genannter Platz, dessen
dünne Bodenkrume vom Wasser abgespült worden ist und auf dem der gewachsene
Fels in einem großen Viereck zutage tritt.«
Auf diesem Platz findet die Schwurzeremonie statt, die als letztes Mittel zur Anwen-
dung gelangt bei allen Streitfällen, die mangels Zeugen von keiner Gerichtsver-
sammlung geklärt werden können. Wer von den beiden Kontrahenten, die den
Schwur leisten, zuerst stirbt, gilt als der Schuldige.
In Abäya liegt der kuräare-Platz, auf dem sich der große Gerichtsrat trifft. Er besteht
aus den äms von sieben Burji-Klanen, dem wöma und dem jelaaba.63 In diesem
Gremium werden nur Fälle beraten, die die Existenz des gesamten Volkes betreffen.
Dieselben Würdenträger treffen sich dort auch zur Beratung, wenn Burji von Natur-
katastrophen wie Dürren oder Epidemien heimgesucht wird. Scheinen diese Kata-
strophen deshalb aufzutreten, weil der amtierende wöma seinen Opferpflichten nicht
nachkommt, so treffen sich nur die äms auf dem kuräare-Platz und prüfen die Ange-
legenheit nach. Sehen sie die Schuld des wöma an den unglücklichen Ereignissen
bestätigt, fordern sie ihn auf, seinen Opferpflichten nachzukommen. Reagiert er dar-
auf nicht, unterrichten die äms das Volk über die Ursachen der Katastrophen auf dem
kilico-Platz. Der wöma wird gezwungen, dort zu erscheinen, um sich die Beschuldi-
gungen und Forderungen anzuhören. Er muß dann auf allen Opferplätzen allein je ein
Opfer vornehmen und dem Volk einen Bullen überantworten, den man auf dem
wominga balbäla verzehrt.
Auch den Stadttoren kommt, wie bereits oben erwähnt, als Übergang zwischen der
TRIBUS 44, 1995
»Außenwelt« und dem Kulturbezirk innerhalb der Stadt sakrale Bedeutung zu. Die
Vorstände der entsprechenden geere verrichten unter den Toren Gebete und umwin-
den jährlich einmal ihr Holzgerüst mit den Ranken der hobänee-Schlingpflanze,
deren kultische Bedeutung schon daraus hervorgeht, daß sie auch bei der Errichtung
der c.va-Zeichen als Bindemittel Verwendung findet.
Als heilig gelten zudem die Begräbnisplätze der Klane, auf denen alle Klanan-
gehörigen beerdigt werden.
»Einige Klane verfügen dazu auf der mirga-Seite über Plätze im Buschland, auf
denen beim Tod eines Klanführers jeweils ein Herdstein aus seinem Haus in den
Boden eingelassen wird. Die Steine jedes Klanes bilden eine Reihe und zeigen die
Generationen an, die seit der Einwanderung vergangen sind.«
Verschiedene Plätze und Örtlichkeiten in und um Burji-Stadt besitzen eine besondere
Bedeutung für jene Zeremonien, die im Rahmen des gdr/rz-Systems abgehalten wur-
den. Die zyklische Reihenfolge der bei den aufeinanderfolgenden Festen aufgesuch-
ten Plätze bildet einen zeremoniellen Kalender und symbolisiert zugleich den peri-
odischen Rhythmus des Gada-Systems. Zur Erläuterung sind zunächst einige
Bemerkungen über dieses Generationsgruppensystem, das wichtige Funktionen im
kultischen, sozialen und politischen Leben der Burji einnahm, angebracht. Zwar
brach die Gada-Ordnung in ihrer ursprünglichen Form schon Ende des vergangenen
Jahrhunderts zusammen, doch lebt sie in unterschiedlich starker Ausprägung im
Bewußtsein und in der Praxis der einzelnen Burji-Gemeinden weiter.
Das Gada-System der Burji nahm unter vergleichbaren Systemen des Osthorns eine
Sonderstellung ein.64 So kennt es beispielweise nicht die für das System der Oromo
typische Kombination von Generationsgruppen und Altersgraden, vielmehr ist es
durch eine lockere und rein formale Verbindung zweier Generationsgruppen-Zyklen
strukturiert.
»Der eine Zyklus setzt sich aus acht hdgi genannten Generationsgruppen zusammen,
die in einem Abstand von jeweils 18 Jahren aufeinander folgen. Der Sohn tritt stets
in die übernächste Gruppe nach der des Vaters ein, der er dann für sein ganzes
Leben angehört. Mit dem Eintritt in eine hdgi ist eine Beschneidung verbunden, die
die Ehefähigkeit verleiht. In der Gegenwart wird der zeitliche Rahmen dieses Zyklus
jedoch nicht mehr eingehalten.65 Bei den fünf gäda genannten Generationsgruppen
des zweiten Zyklus, der schon Ende des vergangenen Jahrhunderts aufgegeben
wurde, betrug die Laufzeit jeder Gruppe sechs Jahre« (Sasse und Straube 1977;
244).66
Während der Eintritt in eine hdgi obligatorisch war, war die Zugehörigkeit zu einer
gada-Gruppe, die in ältester Linie vererbt wurde, gewissen Beschränkungen unter-
worfen.67 »Entscheidend war jedoch, daß die Generationsgruppen beider Zyklen
ganz unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hatten und daß sie nur in ihrem zeitli-
chen Ablauf miteinander gekoppelt waren, sonst aber weitgehend beziehungslos
nebeneinander herliefen« (ibid.; 245).68
»In der folgenden Tabelle ist der zeitliche Ablauf beider Zyklen schematisch darge-
stellt.
Schematische Darstellung einer Folge von zwei hdgi mit gdr/ö-Unterteilung:
hdgi: harböora / kümbe
gada muddana /halcisa /agöolee / robdale/harmufa/mudäana
Jahre 123456/123456/123456 / 123456/123456/123456
Alle drei Jahre wurden in einem drei Monate dauernden Zeitraum mit Namen lägoo
die Beschneidungen durchgeführt (in der Abbildung jeweils fett gekennzeichnet).69
Dazu faßte man die Kandidaten aus Burji-Stadt zu drei Beschneidungsgruppen
zusammen: 1. Gruppe: Häaraa; 2. Gruppe: Tabäce; 3. Gruppe: Gandille. Die Be-
schneidung findet für die drei Gruppen am selben Tage statt und wird auf dem Häa-
raa-balbäla (1. Gruppe), dem dimböole-Platz (2. Gruppe) oder dem kilico-Platz
(3. Gruppe) vorgenommen.70 Jede Beschneidungsgruppe lebt nach der Beschneidung
drei Monate lang in Seklusion. Während dieser Initiationszeit erlangen verschiedene
84
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Plätze und Örtlichkeiten zeremoniale Bedeutung. Nach rund einem Monat, wenn die
Beschneidungswunden verheilt sind, gehen alle Beschnittenen zum Garado-Bach,
um sich zum ersten Mal zu waschen; bei ihrer Rückkehr passieren sie das Stadttor
von Gandille. 14 Tage vor Ende des dritten Monats der Beschneidungsperiode gehen
von jeder der drei in Burji-Stadt vertretenen Beschneidungsgruppen je zwei Mann zu
einem häaraa genannten Platz ebenfalls am Garado-Bach und bleiben dort sieben
Tage und Nächte; während der ganzen Zeit stehen sie mit den Füßen im Wasser. Sie
werden häaraa harbüuka genannt. In der Nacht nach dem siebten Tag treffen sich
alle Beschnittenen auf dem wominga balbäla, ziehen dann zum Garado-Bach, wo sie
die sechs häaraa harbüuka abholen, und schließlich zum wominga balbäla nach
Sego weiter. Dort werden die Beschnittenen von ihren Verwandten neu eingekleidet.
Anschließend marschieren die Beschnittenen mit Gesang und Tanz zum kilico-Platz,
auf dem das Ende der Initiation dokumentiert wird.71
Mit Ausnahme der geere Gandille wird aus allen Stadtquartieren für jede hägi je ein
häyyu (Führer der Generationsgruppe) gewählt und ein argumänco, der als sein
Gehilfe und Bote tätig ist.72 Die Wahl der häyyu und argumänco einer hägi findet
stets nach dem ersten lägoo, also im vierten Monat einer hägi statt.73 Sind die Anfüh-
rer gewählt, wird eine Zeremonie veranstaltet, mit der die neue hägi offiziell formiert
wird. An ihr nehmen alle /^/-Mitglieder teil (d. h. alle Beschnittenen der ersten
lägoo). Sie begeben sich nach Goro im Osten von Burji-Stadt, schneiden dort ein
bestimmtes Gras, winden daraus ein Seil und legen es sich als Ring mit daranhän-
gendem langen Ende um den Kopf. Dann ziehen sie zum Barka an eine Stelle, die
den Namen häginda-Barka trägt, und schlagen mit den Grasringen das Wasser des
Flusses in Richtung nach Burji. Dabei rufen sie »lämu rik« aus, was »Glück, Reich-
tum und Gesundheit« bedeutet.74
Auch die Formierung einer neuen gäda-Gruppe besaß einen festen zeremoniellen
Ablauf. »Am Ende der lägoo-Periode, die zu Beginn eines sechsjährigen gäda-Zeit-
raums steht, wurde der Eintritt der neuen Mitglieder in eine gddtf-Generationsgruppe
im Rahmen eines großen Festes vollzogen. Der genaue Termin wurde durch einen
dogoläc genannten Ausrufer vom baräree-Platz aus bekanntgegeben.«
»Dabei wurden alle männlichen Einwohner der Stadt, die ihren Eintritt in das System
zu vollziehen hatten, aufgefordert, sich am nächsten Tage auf dem balbäla der geere
Gandille einzufinden.73 Dort wurde ein besonderer Gesang öosee oder lubäyo ange-
stimmt, der nur den Gada Vorbehalten war, anschließend begaben sie sich zum öyda
der geere Wäale.76 Dort sangen sie wiederum den öosee-Gesang und zogen dann in
einer Art Entengang (aus der Hocke) auf den Seklusionsplatz der unbesiedelten ölla
Dimböole (in der geere Tabäce) weiter. Dort steht der sogenannte gäda-Baum, heute
die riesige Ruine einer alten Cordia abyssinica mereera, weshalb auch der dimböole-
Platz gadenda mereera (also Cordia abyssinica der gäda) heißt. Die Gada selbst nen-
nen diesen Baum gurärs. Auf dem dimböole-Platz, der von den Webern vorbereitet
und zurechtgemacht worden war, fand der Festzug sein Ende, und die gäda traten
ihre sechsjährige aktive Gada-Zeit an, wovon sie die ersten drei Jahre, unter Aus-
nahmebestimmungen stehend, auf dem dimböole-Platz verbrachten.7' Diese Jahre
einer jeden gäda-Gruppe können als die kultisch tätige Zeit der gäda-Angehörigen
bezeichnet werden, in der sie das rituelle und politische Leben der Gemeinschaft
bestimmten.78
Das Ende der sechsjährigen gd^a-Periode wurde auf dem baräaree-Platz gefeiert.
Die gäda zogen zuerst gemeinsam vom dimböole-Platz zu einem Platz namens hir-
bäna, der im Süden unterhalb von Burji-Stadt liegt und auf dem eine große Syko-
more steht. Dort wurden Opfer dargebracht und Gesänge abgehalten. Von dort
bewegten sie sich zum baräaree-Platz, auf dem sich die ganze Bevölkerung von
Burji-Stadt einfand und auf dem ein zweitägiges Fest mit Gesang und Tanz veran-
staltet wurde.
Es zeigt sich, daß sich das öffentliche Leben auf die Plätze konzentriert. Sie dienen
als Foren für religiöse Zeremonien und politische Versammlungen, als Orte der Feste
aber auch der Trauer; der Wahrheitssuche und der Rechtsprechung, zur Versamm-
lung für den Krieg und zur Besiegelung des Friedens. Sie bilden die Zentren des Han-
85
TRIBUS 44, 1995
dels, der regionalen und verwandtschaftlichen Verbände und bieten dem einzelnen
Gelegenheit zur Darstellung seiner Taten. Sie sind die Lebenszentren der Stadt. Es
gilt auch hier, was Hallpike über die Konso schreibt:
»If the social Organization of the Konso is based on the towns, the life of the towns
is inconceivable without the moras [Plätze].« (Hallpike 1972: 33).
Burji als »Stadt«
Es ist nun angebracht, den Begriff »Stadt«, der bisher im Text Undefiniert blieb,
näher zu bestimmen.79 Es ist ja keineswegs üblich, Siedlungen im östlichen Afrika,
die bereits vor der Kolonialisierung bzw. der amharischen Eroberung bestanden, als
Städte zu bezeichnen, zumal ihre Erbauer, anders als etwa die Städtebauer Westafri-
kas, Angehörige von Gesellschaften mit akephaler Grundstruktur waren. Gegen die
Verwendung des Stadtbegriffs spräche die Tatsache, daß die Bevölkerung von böo-
hee Burji vorwiegend aus Bauern besteht und der Ort in einem rein landwirtschaft-
lich genutzten Umfeld liegt. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man böohee Burji
als Dorf bezeichnen.
Dennoch erscheint es gerechtfertigt zu sein, den Stadtbegriff zu verwenden. Neben
den Bauern gibt es einen Bevölkerungsanteil, der nicht in der landwirtschaftlichen
Produktion tätig und zweifellos in böohee Burji stärker vertreten ist als in seiner
Umgebung. Es handelt sich dabei besonders um professionelle Handwerker, aber
auch um gewisse Würdenträger (z.B die gada und die gänni). Trotz des Rückgangs
einiger Handwerke, der aber durch die Zunahme der Weberei weitgehend aufgefan-
gen wurde, dürfte anfangs des Jahrhunderts der Anteil der Handwerker an der
Gesamtbevölkerung bei etwa drei bis vier Prozent gelegen haben.80 Von Bedeutung
ist in diesem Zusammenhang die Rolle von Burji als wichtiger Umschlagplatz an
einer Fernhandelsroute sowie seine Lage am Südrand des äthiopischen Hochland-
blocks. Hier liegt die Grenze zwischen den beiden Wirtschaftsformen Dauerfeldbau
und nomadische Viehhaltung. Burji war also wichtiges ökonomisches Zentrum mit
Handel und Handwerk.
Neben dem ökonomischen Aspekt spricht besonders die Sozialordnung mit ihrer
Einteilung der Stadt in Stadtquartiere für die Verwendung des Stadtbegriffs. Den-
noch scheute sich der Geograph Kuls, in den Siedlungen der Burji-Konso-Gruppe
Städte zu erkennen. Er bezeichnet die nach wie vor gut erhaltenen Städte der Konso
als »große Dörfer« oder »Großdörfer« bzw. »geschlossene Dorfsiedlungen« (Kuls
1958: 98). Offensichtlich hat er als Geograph bewußt auf den Stadtbegriff verzichtet,
wie aus der Beschreibung der amharischen katamä zu ersehen ist, wenn er aus-
drücklich vermerkt, daß der »Katama-Begriff sich nicht mit dem geographischen
Stadtbegriff deckt« (ibid: 158). Straube verwendet im Manuskript von 1955 durch-
weg den Begriff >Dorf<. Auch später vermied er es, wohl eingedenk seiner geogra-
phischen Ausbildung, den Begriff >Stadt< schriftlich niederzulegen, obgleich er ihn
in mündlichen Diskussionen gelegentlich benutzte und in Manuskripten auch von
einer städtischen Gesinnung< der Burji schreibt. In den Aufzeichnungen ist hin und
wieder von städtischen Siedlungem die Rede, und im Aufsatz von 1977 (Sasse und
Straube 1977: 241) schreibt er von »Dorfsiedlungen städtischen Charakters«.81 For-
scher wie Kuls und Straube hatten dabei wahrscheinlich die Stadtentwicklung Euro-
pas und des Vorderen Orients vor Augen, wie sie z. B. Leroi-Gourhan (1984: 227 f.)
beschreibt. Für ihn beginnt historisch die Stadtentwicklung dann, wenn »die
Schwelle des Ackerbaus erreicht und überschritten ist«, d. h. wenn über die Subsi-
stenz hinaus produziert wird und der Prozeß der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
und der Hierarchisierung eingeleitet ist.82
Hallpike verwendet meines Erachtens zurecht für die Konso-Siedlungen den Stadt-
begriff »I use the word >town< in preference to the more usual >village< since their
large and dense populations, their defensive walls, and the fact that in pre-Amhara
times they were sovereign units, distinguish them from most other African Settle-
ments patterns. In English usage one of the distinctive criteria of towns has always
been their self-governing Status, as opposed to that of villages« (Hallpike 1972: 7).
86
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Eine Führungselite, wie sie in den europäischen Städten auftritt, ist freilich in
Südäthiopien nicht festzustellen, man sollte aber nicht vergessen, daß beispielsweise
im mittelalterlichen Europa viele Städte einen Kontrast zu ihrem feudalistischen
Umfeld bildeten. Wenn sich auch in der Burji-Gesellschaft kaum eine soziale Schich-
tung abzeichnet, so besteht dennoch eine soziale Differenzierung, die im Stadtbild
sichtbar ist. Gewisse Merkmale unterscheiden die Gehöfte von Priestern und Wür-
denträgern, älteren und jüngeren Brüdern, Handwerkern und einfachen Bauern.83
Fassen wir für Burji die stadtbildenden Faktoren zusammen:
Vor der amharischen Eroberung war diese Siedlung eine autonome Einheit mit länd-
lichen Außenzonen. In unseren Begriffen ausgedrückt, fand die Autonomie im ein-
zelnen ihren Ausdruck in einer eigenverantwortlichen politischen Verwaltung des
Gesamtbereiches und ihrer Untergruppen, die strukturell miteinander verbunden
waren; einer unabhängigen Rechtspflege und der Militärhoheit.
Auf dem wirtschaftlichen Sektor griffen drei Bereiche ineinander. Die intensivierte
Landwirtschaft, die in der Lage war, Überschüsse zu erwirtschaften, die Produktion
handwerklicher Erzeugnisse und der Handel.
Das Stadtbild zeigt ein gestaltetes überschaubares Ganzes, das es erlaubt, den Ort
ästhetisch und spirituell zu erleben - mit gepflegten Straßen und Wegen, profanen
und sakralen Plätzen, angelegten Baumgruppen. Eine Parallele finden Burji-Stadt
und die übrigen Städte der Burji-Konso-Gruppe in den islamischen Städten mit ihren
teilweise durch Tore »abgeschlossene(n) Quartiere(n) als selbständige(n) Lebensbe-
reichein) jeweils mit Moschee, Bad, Schule und Basar« (Alscher et al. 1981: 628).
Städte in Ostafrika
1975 hat Helmut Straube in einem Vortrag in Wien das Verbreitungsgebiet der städ-
tischen Siedlungen im östlichen Afrika nachgezeichnet.84 Nach einem ausführlichen
Verweis auf die in der Burji-Konso-Gruppe zu findenden Parallelen, fährt Straube
fort:
»Geschlossene Dörfer städtischen Zuschnitts sind außerhalb des Siedlungsgebietes
der Burji-Konso-Gruppe nur ganz sporadisch vertreten. Im südäthiopischen Raum
dominiert eindeutig die Einzelhof- oder die lockere Weilersiedlung. Nur die Ocollo
am Ostabfall des Gamo-Hochlandes leben in einem großen Dorf, das in seiner
Anlage mit den Konso-Dörfern identisch ist. In der alten Reiseliteratur aus der Zeit
der Jahrhundertwende finden sich jedoch Hinweise auf die Existenz von größeren,
geschlossenen und palisadenbewehrten Dörfern bei den Surma-Stämmen westlich
des Omo und bei den Kere und Murle im Omo-Tal. Leider schweigen sich die alten
Quellen über die Struktur dieser Dörfer aus, deren Vorhandensein in späteren
Veröffentlichungen auch niemals mehr bestätigt worden ist, was aber wenig besagt,
da unsere Kenntnisse über den Raum westlich des Omos mehr als dürftig sind.85 Ich
messe den Angaben der alten Reisenden dennoch eine große Bedeutung zu, da die
Bevölkerung des Lafon-Berges und die Lokoya, Lotuko und Didinga im Acholi-
Didinga-Bergriegel ebenfalls in ausnehmend großen, eng gebauten und befestigten
Dörfern leben, die stets auf Bergkuppen oder an Berghängen liegen, deren Ein-
wohnerschaft mehrere tausend Seelen zählt und die in der Anlage und in ihrer inne-
ren Struktur nicht nur weitgehend, sondern zum Teil bis in Einzelheiten den Dörfern
der Burji-Konso-Gruppe entsprechen. Das gilt besonders für die großen Lotuko-
Dörfer, die schon der klarsichtige Samuel Baker in der Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts als Städte bezeichnete und über deren Gliederung in Dorfquartiere mit
eigenen kommunalen Einrichtungen wir relativ gut informiert sind. Bezeichnender-
weise weist die Landwirtschaft der genannten Bevölkerungsgruppen und anderer im
Acholi-Didinga-Riegel ansässiger Stämme Merkmale des agrarischen Intensi-
vierungskomplexes wie den Terrassen- und Bewässerungsfeldbau und möglicher-
weise auch die Fäkaliendüngung auf, da die Lotuko ja über Aborte verfügen. Auch
das massierte Auftreten von steinernen Anlagen profaner und kultischer Zweck-
bestimmung stimmt nachdenklich, zumal die Verwendung des Steines als Bau-
element allen anderen nilotisch-sprachigen Völkern fremd ist.«
TRIBUS 44, 1995
»In Nordost-Afrika gibt es zwei Zentren alter städtischer Kultur, von denen das eine
im äußersten Norden des äthiopischen Schildes auf der erythräischen Hochfläche
und in der Provinz Tigrai liegt. [1] Da das erythräische Zentrum durch das Sied-
lungsgebiet der Amhara von Südäthiopien geschieden ist, kann wohl kaum mit einer
Einwirkung der dortigen Stadtkultur auf die Völker der Burji-Konso-Gruppe gerech-
net werden.86
Das zweite Zentrum städtischer Siedlungen liegt im Raum von Harar und im Cher-
cher-Gebirge. Hier sind es die Stadt Harar selbst, die ihr in der Anlage völlig glei-
chenden ummauerten stadtähnlichen Dörfer der Argobba mit rechteckigen und flach-
dachigen Steinhäusern und die zahlreichen Ruinen befestigter städtischer Siedlungen
im Chercher-Gebirge, die von der alten Stadtkultur dieses Raumes zeugen und die
über die in Ruinen liegenden alten Stadtanlagen an der Grenze zwischen Äthiopien
und dem einstigen Britisch-Somaliland mit den traditionsreichen Küstenstädten
Zeila und Berbera historisch verknüpft sind.«
»Ein Vergleich der Dorfanlagen der Burji-Konso-Gruppe mit der Stadt Harar, die
erstmalig in einer Chronik des 14. Jahrhunderts genannt wird, und mit den Dörfern
der Argobba zeigt einige bemerkenswerte Übereinstimmungen. So war auch Harar
in einzelne Stadtquartiere unterteilt, denen jeweils ein >König< genannter Führer ver-
stand, und das Territorium des Stadtstaates gliederte sich in Wirtschaftszonen, die die
Stadt konzentrisch umgaben. Nicht nur im Gebiet um Harar, sondern im gesamten
Chercher-Gebirge wird ein hochintensiver Feldbau mit Terrassen- und Bewässe-
rungskulturen betrieben. Die großen Wasserspeicherbecken der Konso haben ihre
Entsprechungen im Chercher, und die alten künstlich bewässerten Kaffee-Pflanzun-
gen der Burji erinnern an die Gartenkulturen Harars, in denen unter anderen Spezi-
alfrüchten ebenfalls Kaffee angebaut wird.«
»H. Straube spricht die Vermutung aus, daß die Erbauer der städtischen Siedlungen
in der Burji-Konso-Gruppe Impulse aus dem Gebiet von Harar bis hin zur Ostküste
empfangen haben, wo es eine sehr lange urbane Tradition gibt. Freilich läßt sich die
Stadtentwicklung von Burji nicht allein durch Vergleiche und historische Beziehun-
gen erklären. Bei einer solchen eher mechanistischen Erklärung bleibt offen, warum
es gerade hier in Burji und in anderen Orten der Burji-Konso-Gruppe zur Stadt-
bildung gekommen ist.87 In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft kennen wir ja nur
Streusiedlungen, und dies selbst bei Gruppen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit
historisch eng mit den Burji verwandt sind. Wichtiger als die Frage nach dem
Ursprung, die ohnehin kaum zu klären sein dürfte, erscheint mir die Tatsache zu sein,
daß hier eine städtische Lebensform wirksam geworden ist, die auf das engste mit
der Sozialordnung, der spezifischen Wirtschaftsweise und den Wertvorstellungen
der Burji verbunden ist und daß sich hieraus die typische Kultur der Burji entwickelt
hat.
Plätze in Burji: Organisationsmerkmale einer akephalen Gesellschaft
Bei der Beschreibung bestimmter Plätze in und um Burji-Stadt wurde wiederholt auf
deren - in sakraler wie in profaner Konnotation - mehrfache Bedeutung verwiesen,
aus der sich in gleicher Verteilung mehrfache Funktionen ableiten lassen. Bedeu-
tung und Funktion bezeichnen die unverzichtbaren Parameter, die die Plätze als ein
jeweils Ganzes konstituieren und den spezifischen Rahmen festlegen, der den Kon-
text Platz-in-der-Stadt zu einem gesamtgesellschaftlichen macht. Es ist hier aller-
dings nicht der Ort, näher auf die verschiedenen geistes- bzw. kulturwissenschaftli-
chen Ansätze und Theorienbildungen im Zusammenhang mit der sozialen Erfahrung,
Konstruktion und Organisation von Raum - Plätze wären eine Subkategorie - einzu-
gehen. Ich kann in diesen abschließenden Bemerkungen nur einige allgemeine und
grundlegende Überlegungen anstellen.
Plätze sind mehr als nur räumlich definierte Gebilde. Sie umfassen mehrdimensio-
nale Beziehungssysteme, die sich aus der jeweils besonderen Verknüpfung und
Organisation von Raum und Zeit mit der sozialen Praxis von Menschen (Interaktion
88
Amborn; Von der Stadt zur sakralen Landschaft
von Individuen) ergeben (vgl. das Konzept von Giddens, der »Platz« durch »Schau-
platz« ersetzt wissen will und darunter die »physische Umgebung zeitlich ablaufen-
der Interaktionen von Individuen« versteht; 1985: 271-72). Die geschilderten Plätze
der Burji weisen jedenfalls eine überaus vielschichtige raumzeitliche Dimension
auf, die Handlungszeit und Handlungsort (für Versammlungen, Diskussionen,
Opferzeremonien, soziale Riten etc.) nicht nur auf das Hier und Heute beschränkt,
sondern auf einer zeitlichen Achse Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als vir-
tuelles Kontinuum errichtet, das auf einer räumlichen Achse sich fortwährend mit
einem gleichfalls virtuellen Raum durchdringt. Die spezifische zeitliche Tiefe eines
Platzes erwächst beispielsweise aus der ständigen Wiederholung eines dort stattfin-
denden Geschehens entweder von einem bekannten Anfang an oder seit undenkli-
chen Zeiten; aus dieser repetitio ad infinitum - denn selbstverständlich greift die
Wiederholung auch auf die Zukunft über - erwächst als Grundkonstituente Bedeu-
tung - und bestätigt sich zugleich. Die zeitliche Dimension, die ihre räumliche
Komponente nie verleugnen kann (so auch umgekehrt), geht weitgehend verloren,
wenn die Wiederholung, aus welchen Gründen auch immer, unterbunden wird. Der
Multifunktionalität der Plätze ist es zu verdanken, daß eine solche temporale Unter-
brechung u. U. auf eine Funktion beschränkt bleibt (wenn ein Platz etwa seinen Cha-
rakter als Markt verliert, aber weiterhin als Opferstätte und Versammlungsort fun-
giert).
Funktionen sind anders als Bedeutungen zunächst räumlich verankert, aber diese
räumliche Verankerung hat wie selbstverständlich ihren Ausgangspunkt in der Ver-
gangenheit; ob diese mythischer Art ist, sozusagen in illo tempore, oder historisch
datierbar, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, daß einst ein Ereignis stattgefunden hat,
das als bedeutungstragend verstanden wurde und um das sich in raumzeitlicher
Kontextualisierung soziale (kulturelle, religiöse, symbolische etc.) Praxis organi-
sierte, die aufgrund eben dieser Interaktion zur Wiederholung einlud.
Zeitliche Tiefe wird in ganz ähnlicher Weise auch über die Verbindung mit den
Ahnen hergestellt. Dies gilt vor allem für Opferplätze, jedoch auch für Friedhöfe,
und es gilt im Prinzip für alle Orte, an denen die Vorfahren ihre Spuren (Auslöser von
Erinnerungsakten) hinterlassen, d. h. handelnd in Raum und Zeit eingegriffen haben.
So gesehen erscheint der von Giddens verwendete Terminus locale, »Schauplatz«,
auch im Burji-Kontext als praktikabel.
Akephales Grundprinzip: Beziehungsgeflecht unterschiedlicher sozialer Ver-
bände. Wenn eine akephale Gesellschaft mit ihren vielfältigen, labilen und sich
immer wieder neu definierenden Beziehungssystemen die Stadt als Siedlungsform
wählt, ist es dann nicht sinnvoll, wenn sie sich »Brenn- und Knotenpunkte« schafft,
auf denen die verschiedenen Ebenen ihrer Kultur dem gesellschaftlichen Diskurs
ausgesetzt sind?
Plätze in Burji sind demnach in erster Linie als Orte der Kommunikation zu verste-
hen, die nicht nur verbal stattfindet, sondern auch durch Tanz, Performance, Zere-
monien und der (An-)Teilnahme an diesen Ereignissen. Mit diesem Diskurs nimmt
das soziale, politische und religiöse Leben der Burji Gestalt an; im permanenten Dis-
kurs werden auf den öffentlichen Plätzen flexible Handlungspraxen erzeugt, wobei
die Orte, an denen die Diskurse stattfinden, offensichtlich ihrerseits zum Ausdruck
akephaler Kultur werden. Die Plätze mit ihren vielfältigen Bedeutungen auf ver-
schiedenen sozialen Organisationsebenen spiegeln Grundprinzipien der akephalen
Gesellschaftsstruktur und des Wertesystems der Burji wider.
Durch die Verwendung der Plätze in ihrer Funktion als Kommunikationszentren (im
weitesten Sinne) etc. werden auf der jeweiligen Organisationsebene die entspre-
chenden Verbände bestätigt, durch die Verbindung mit den Ahnen durch religiöse
Zeremonien in ein größeres Ganzes gestellt und durch ihre Multifunktionalität in ein
synchrones Beziehungsgeflecht eingebunden.88
Akephales Grundprinzip: Einheit in der Vielfalt. Diese strukturellen Beziehun-
gen zeigen sich am gleichen Aufbau von Plätzen mit demselben Sinngehalt, die
89
TRIBUS 44, 1995
jedoch auf unterschiedlichen sozialen Ebenen Bedeutung erlangen - die scheinbare
Dichotomie von privatem und öffentlichem Bereich ist dabei aufgehoben. Biddöo ist
der Hausmittelpfosten und das höchste Heiligtum auf dem wominga balhäla. Stütze
und Symbol für den einzelnen im Familienverband wie für das gesamte Volk. Die
Gegenüberstellung von Drinnen und Draußen erweist sich als Komplementarität. Sie
findet ihren Ausdruck sowohl in der sakralen Bedeutung der Hauseingänge und
Gehöfttore als auch der Stadttore und wird an all diesen Plätzen im Ritus zelebriert.
Die Zusammensetzung der esa-Zeichen bleibt immer gleich und erhebt den Platz
zum sakralen Platz - ob es sich nun um den Opferplatz einer Familie im Gehöft oder
um die Opferplätze handelt, auf denen um das Wohl von ganz Burji gebetet wird, d. h.
sie bestätigen die Verbundenheit des einzelnen (seiner Familie) mit seinen Ahnen
und dem Kosmos: Zeugnisse der Einheit in der Vielfalt.
Gada. Die Verwendung der Plätze bei den Gada-Zeremonien demonstriert das
Gada-System als soziale Querklammer innerhalb der Burji-Gesellschaft, das über
regionale und verwandtschaftliche Verbände hinweg wirkt und Gültigkeit besitzt.
Die Prozession bei der Einsetzung der neuen gäda-Gruppe bestätigt den Gesamtzu-
sammenhalt. Bemerkenswert ist auch, daß die kultisch aktive Zeit auf dem dim-
höole-Platz verbracht wird, der sich innerhalb des Stadtgebiets, jedoch in der einzi-
gen nie besiedelten ölla befindet. Dadurch wird die Sonderstellung der aktiven gäda
als ein Personenkreis, der sich in einem Ausnahmezustand befindet, jedoch nicht
außerhalb der Gesellschaft steht, bestätigt. Auch bei der Initiation der hägi, die
keine kultischen, sondern profane (militärische) Aufgaben zu erfüllen haben, sind
einige Aspekte der Gesellschaftsstruktur von Bedeutung. Die Kandidaten, die für
ganz Burji militärische Aufgaben übernehmen sollen, betonen ihre Herkunft durch
die verschiedenen Beschneidungsgruppen, die auch auf verschiedenen Plätzen
beschnitten werden. Es ist also in diesem Fall die Betonung der Vielfalt in der Ein-
heit, die erst durch die gemeinsamen Aktionen während der Initiation und der
Abschlußfeier auf den für ganz Burji bedeutsamen kilico-Platz in eine Einheit
geführt wird.
Akephales Grundprinzip: Der Platz als Ereignis, die Stadt als Medium und
Text. Durch die Prozessionen, die durch die Stadt ziehen, werden die unabhängigen
geere symbolisch und spirituell miteinander verbunden. Als Kommunikationszen-
tren werden sie zu Verdichtungspunkten gesellschaftlicher Stränge, auf denen das
kulturelle Leben zur Repräsentation gelangt und umgekehrt die Repräsentation die
Kultur der Burji konstituiert.
Burji-Stadt und ihre Gemarkung mit ihrem intensivierten Feldbau sind von Men-
schen geschaffene Kulturlandschaften. Sie sind Medien und Ereignisse von sozio-
ökonomischen Strukturen, die ihrerseits wieder Medium und Ergebnis der sozialen
Praxis sind. Die soziale Praxis strukturiert die Gesellschaft und die Landschaft (vgl.
Schieimann 1993: 67).
Für den Angehörigen der Burji-Kultur ist die Kulturlandschaft ein quasi lesbares
Bedeutungssystem. Mit strukturierten Bedeutungsträgern bzw./oder Zeichen, in
denen ökonomische, ästhetische, moralische, kurz, alle verschiedenen kulturellen
Systeme integriert sind. Besonders die »Schauplätze« stellen mnemographische Orte
dar, welche die Kultur tradierbar und durch assoziative Verknüpfungen als Ganzheit
verstehbar machen (deshalb wollten die Burji auch die Karte).
Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Die wirtschaftliche Blütezeit von böohee Burji ist unwiderruflich vorüber. Auch
wenn sich seit 1992 die politischen Verhältnisse beruhigt haben, so bleibt zu bezwei-
feln, ob der Ort in absehbarer Zeit wieder von ökonomischer Bedeutung sein wird.
Wer heute nach Burji kommt und nichts von dessen Geschichte weiß, wird die
Ansammlung der wenigen verbliebenen Häuser dieser Bergsiedlung schwerlich als
Stadt bezeichnen.
Hat also die Beschreibung von Burji-Stadt ihren Sinn lediglich in der historischen
Rekonstruktion oder bestenfalls in der Schilderung dessen, was viele Burji als ein
90
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
Abbildung 5: Errichtung eines esa-Zeichens
Ideal im Bewußtsein festhalten? Die Burji werden nie mehr zu ihren überlieferten
Lebensformen zurückkehren, allein schon deshalb nicht, weil es bei ihnen - anders
als bei manchen Nachbarvölkern - keine auch nur halbwegs einheitliche Entwick-
lung gegeben hat. Die verschiedenen, räumlich weit voneinander entfernten Burji-
Gemeinden zwischen Addis Ababa und Mombasa haben verschiedenartige Wege
eingeschlagen oder waren von außen her unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Es
könnten sogar Zweifel aufkommen, ob man die Burji überhaupt noch als eine zusam-
mengehörige Gruppe im Sinne einer Ethnie ansehen kann (cf. Amborn 1994). Die
einzelnen Gemeinden sind auch im Innern keineswegs homogen. Und dennoch
schwingt nicht nur Nostalgie mit, wenn unter Burji die Rede auf böohee Burji
kommt. Dieser heute so unscheinbare Ort ist für die jetzt lebenden Burji unter ver-
änderten Gesichtspunkten von zentraler Bedeutung. Wenn auch das alltägliche
geschäftige Leben verschwunden ist, so haben doch die Zeremonialplätze, die Grab-
stätten der Ahnen, die Bäume, unter denen sich die ersten Siedler ausruhten und all
die vielen Orte der Landschaft, die mit der Geschichte des Volkes und ihrem Welt-
bild verbunden sind, nichts an ihrer Bedeutsamkeit verloren. Von einigen Plätzen
mag der ursprüngliche Sinngehalt in Vergessenheit geraten sein oder sich mit der
Vorstellung um andere Orte vermischt haben, doch kommt dies keiner Profanisie-
rung gleich, sondern bewirkt im Gegenteil, daß die einstige und die noch vorhandene
Kulturlandschaft um Burji-Stadt als Ganzes einen sakralen Charakter erhält. Das
karge Bergland ist von einem Wirtschaftsraum zur sakralen Landschaft geworden,
die sich markant von ihrer Umgebung abhebt. Dies wird u. a. daran deutlich, daß
TRIBUS 44, 1995
Burji, die seit Jahren an anderen Orten lebten - unabhängig von ihrer gegenwärtigen
Religionszugehörigkeit - ihren Lebensabend in böohee Burji verbringen wollen, um
später neben ihren Ahnen begraben zu werden.
Demgemäß ist Burji-Stadt und deren Umgebung gegenwärtig vornehmlich von älte-
ren Leuten bewohnt. Entscheidend ist indes, daß dort alle religiösen Würdenträger
ansässig sind. Besonders bei den gänni wird auf ihre ständige Anwesenheit in Burji
Wert gelegt. Sind diese doch aufs engste mit ihren Ahnen, den Klan-, bzw. Lineage-
gründern verbunden, weshalb sie als Garanten für die Aufrechterhaltung der kosmi-
schen Ordnung gelten. Die Plätze, auf denen sie die Opferungen der Vorfahren wie-
derholen, sind Orte der Kommunikation zwischen der überirdischen und der
menschlichen Welt. Burji wird nicht als der Mittelpunkt der Welt aufgefaßt, aber als
der Ort innerhalb der gesamten Menschheit und des Kosmos, zu dem die Burji
gehören. Wenn ein Würdenträger stirbt, wird dessen Nachfolger ohne Rücksicht auf
seinen aktuellen Wohnsitz genötigt, sich in böohee Burji niederzulassen, als Hüter
der heiligen Plätze und als Bewahrer einer Kultur, die die Burji als ihre traditionelle
und ureigenste ansehen. Damit sie dort ein menschenwürdiges Leben führen können,
sehen es traditionsbewußte Burji, die in den Städten Kenias und Äthiopiens leben, als
ihre Ehrenpflicht an, die im Lande der Ahnen Wohnenden finanziell zu unterstützen.
In der Tat ist die Stadt ökonomisch von den übrigen Burji-Gemeinschaften abhängig,
da die aufwendige Landwirtschaft von den wenigen dort Lebenden nicht aufrechtzu-
erhalten ist.
Selbst Burji, deren Bezug zu den traditionellen religiösen Vorstellungen gering ist,
sprechen respektvoll von böohee Burji, für sie ist es zu einem Symbol der Identität
und der Einheit der verstreut lebenden Burji-Bevölkerung geworden und zu dem Ort,
an dem sich das, was die Burji-Kultur ausmacht, ausgeprägt hat. In diesem ideellen
Zentrum laufen die Klanverbindungen zusammen und die Beziehungen zwischen
den zur gleichen Generation gehörigen Männern, denn die heiligen Orte, an denen
die hägi- und gäda-Zeremonien stattfanden, sind gleichfalls dort zu finden. Der sym-
bolische Wert des alten Kernlandes wird derart hoch eingeschätzt, daß bei seinem
Verlust die Burji in anderen Teilen Afrikas sich wie Waisen fühlen würden. Es sind
also sowohl das Land selbst als auch die Hüter dieses Landes und deren spirituelle
Fähigkeit, die die heutige Bedeutung von böohee Burji ausmachen.
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Anmerkungen:
1 Die Schreibweise der Burji-Begriffe richtet sich soweit wie möglich nach Sasse 1982.
Die Konsonanten »c« und »j« sind stimmlose bzw. stimmhafte palatale Affrikate. Einge-
deutscht entsprechen sie etwa den Lauten »tsch« bzw. »dsch«.
2 Straube 1963
3 Die Textstellen aus Straubes unterschiedlichen Aufzeichnungen wurden von Barbara Rusch
zusammengetragen. Die DFG hat die Aufarbeitung des Materials ermöglicht. Selbstver-
ständlich mußte auch Straubes Text selbst, besonders die nicht ausformulierten Randno-
tizen, bearbeitet werden. Seine Sprache und sein Stil wurden aber so weit wie möglich
beibehalten. Die bearbeiteten Originalstellen aus den Tagebüchern, dem erwähnten Manu-
skriptentwurf, der etwa 1956 entstanden ist und den verschiedenen Feldjournalen und Ein-
zelnotizen werden nicht spezifiziert angegeben. Mit Quellenangabe wird hingewiesen auf
einen Vortrag von 1975 (Straube 1975).
4 Die Himmelsrichtungen Nord und Süd spielen für die Benennung des Territoriums keine
Rolle.
5 »Burji. Borana und Konso beschlossen, ein Schaf zu opfern und den Kadaver zu vergraben,
ohne das Fleisch zu berühren. So geschah es auch, doch schlich sich der Konso nachts heim-
lich zum Opferplatz, grub das Tier aus, aß das Fleisch auf und warf Haut und Knochen vor
die Haustür des Burji. Gleichzeitig vermißte der Borana ein Schaf. Als er Haut und Knochen
vor der Haustür des Burji liegen sah, glaubte er, die Reste rührten von seinem Schaf her, das
der Burji gestohlen und aufgegessen hätte. Der Borana und Konso jagten daraufhin den Burji
und die ganze Burji-Gruppe aus dem Land.
Einer weiteren Version zufolge zogen die Borana nach dem Kampf mit den Burji in Liban
nach Osten ab, die Burji dagegen nach Westen. Als die Borana den Betrug der Konso merk-
ten und sich bewußt wurden, daß nicht der Burji, sondern der Konso das vergrabene Schaf
gegessen hatte, kehrten sie noch einmal zurück und vertrieben die Konso gewaltsam aus
Liban.«
6 Hoher religiöser Würdenträger eines Klans, dessen Amt erblich ist.
7 Sicher ist, daß Häaraa, Wälee und Gandigäma die Eigennamen der ersten Siedler sind. Häa-
raa war vom Klan anabura, Wälee und Gandigäma waren vom Klan gamäayo.
8 cf. Braukämper 1980: bes. Kap. 3.4 und Karte 9 S. 145.
9 Berücksichtigt man außerdem die enormen Menschenverluste in Südäthiopien zur Zeit der
Jahrhundertwende und bedenkt die Tatsache, daß auf Grund der Unterbevölkerung das
Agrarsystem ins Wanken geriet (Amborn 1995), erscheint dem Bearbeiter die Angabe der
Bottego-Expedition als durchaus realistisch. (Vgl. auch die in Anmerkung 11 angegebene
Literatur).
94
Ambom: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
10 Die Expedition Bottego, die sich 1896 in Burji aufhielt, berichtete von einigen zerstörten
Dörfern nördlich von Burji. (Vannutelli e Citerni 1899: 173, 229)
11 Vgl. die Schilderungen von Harrison: »We past hour after hour through silent cities of the
dead, counting six to eight corpses laid together...« (Harrison 1901: 270) und Donaldson
Smith, der die beschriebene Gegend von seiner ersten Reise her kannte. »I was quite surpris-
ed at first at the manner of our reception by the Murle and by their poverty. The rieh villa-
ges that welcomed us in 1895 did not exist. There were only a few little groups of huts, prin-
cipally on the west bank of the river, that showed the remnants of a once large and
flourishing tribe. We spent nearly a whole day endeavouring to get the people to come to us;
but finally, when we gained their confidence, they were most eager to assist us. The secret
of the natives’ distress was to be found in Abyssinian raids.« (Donaldson Smith 1900: 607).
Haberland 1963; Braukämper 1980; Caulk 1978 passim.
12 Sego ist ein alter Burji-Gemarkungsname. 1973 bestand die amharische katamä nur noch aus
drei baufälligen Häusern. Der Verwaltungsort mitsamt der Polizeistation war in das zwei
Stunden Fußweg weiter nordwestlich gelegene Soyoma verlegt worden.
13 Z. B. San Marzano 1935: 240, Wohlenberg in Jensen 1936: 147ff.
14 Leider ist die Qualität der Abbildung zu schlecht, um sie hier wiederzugeben.
15 Fitawrari Woyesa in Vertretung des nunmehr als Kriegsminister in der Hauptstadt weilenden
offiziellen Gouverneurs Habte Gyorgis, dem Helden von Adua.
16 Hodson 1927: 102. Finkabo war vermutlich vom damaligen Regenten Lij lyasu eingesetzt.
17 Balca war von etwa 1898-Anfang 1908, 1910-1914 (oder Anfang 1915) und von 1917-1928
Gouverneur der wegen ihres Kaffeeanbaus begehrten Provinz Sidamo. Von 1907
(1908)-1910 bekleidete Ras Tafari, der spätere Kaiser Hayle Selassie, dieses Amt. (Bairu
Tafla 1969: 16ff.). Zur Ausweitung des Kaffeeanbaus in Sidamo und zur Rivalität zwischen
Ras Tafari und Balca s.: McClellan 1986: 177 f., 184ff.
18 Ministern» degli Affari esteri, Archivio Storico, Roma: Archivio Storico del Ministero Africa
Italiana: Pos.; 181.
Im März 1939 hielt sich der deutsche Geologe Teuscher im Fortino von Burji auf. Seinen
(unveröffentlichten) Tagebuchaufzeichnungen zufolge waren zu jener Zeit dort immerhin
vier italienische Offiziere stationiert. Zusätzlich war noch ein Offizier der dortigen Garnison
in der weiteren Umgebung zur Partisanenbekämpfung eingesetzt.
Die Italiener legten zwischen Agere Maryam und Burji eine Autopiste an, die aber nach 1941
nicht mehr gepflegt wurde und bereits 1955 kaum noch passierbar war.
19 Den Großteil der Banda stellten Somali. Über sie kamen ins Kolonialheer eingetretene Burji
mit dem Islam in Berührung. Später ließ sich ein islamischer Geistlicher in Burji nieder, der
wohl auch die dortige kleine Moschee errichtete. Das italienische Militär begrüßte die isla-
mische Missionierung. Für sie war es ein willkommenes Gegengewicht zum orthodoxen
Christentum der Amhara-Tigray.
20 Persönliche Mitteilung [1981] eines ehemaligen hohen Beamten/itowrar/ des Kaiserreiches,
der enge familiäre Bindungen in Sego hatte.
21 Einerseits waren zu viele Menschen in Burji, andererseits zu wenige. Zu wenige, um den
arbeitsaufwendigen intensiven Hackbau mit der kontinuierlichen Pflege von Terrassen- und
Bewässerungsanlagen aufrechtzuerhalten; zu wenige auch, um sich gegen die viehhaltenden
Guji zur Wehr setzen zu können, die die Außenfelderzone als Weideland nutzten. Da bei den
Burji kein bzw. kaum noch Großvieh als Dunglieferant vorhanden war, lieferten die zwangs-
läufig unzureichend gedüngten Felder der inneren Anbauringe nur geringe Ernteerträge.
Lang anhaltender Druck hatte das komplexe Agrarsystem aus dem Gleichgewicht gebracht.
Zum Verhältnis zwischen Burji und Guji vgl. auch Hinnant 1932.
22 Von dieser Entwicklung hatte Straube in Deutschland nichts erfahren. Noch hoffte er, Burji
so volkreich anzutreffen wie 18 Jahre zuvor. Ernüchtert schreibt er 1973 in sein Tagebuch:
»In Sego machen wir halt, gehen auf den nächsten Hügel, um einen Blick auf Burji zu wer-
fen. Welche Enttäuschung: der Stadthügel wird großenteils von grünen Feldern eingenom-
men, in denen nur relativ wenige Häuser sichtbar sind.«
23 Dafür könnte sprechen, daß die Mehrzahl der verschiedenen Stadtquartiere von Burji-Stadt
und auch andere Burji-Siedlungen die Eigennamen der ersten Einwanderer tragen. Straube
erwähnt die Person Burji nur einmal im Rahmen der Besiedlungsgeschichte, geht jedoch
nicht weiter auf den Zusammenhang zwischen Orts- und Personennamen Burji ein.
24 böohee ist etymologisch sehr wahrscheinlich mit dem Dullay-Begriff pöohe verwandt (cf.
Sasse 1982 sv). Letzterer bezeichnet die entferntere Verwandtschaft, die zweite Saat etc.,
d. h., etwas, das über das unmittelbar Nächstliegende hinausreicht und zugleich damit in
enger Verbindung steht. In Burji wird dieser Begriff offensichtlich territorial benutzt, also im
Sinne von etwas, das über das Gehöft, Stadtquartier, Dorf hinausgeht. Man kann böohee
auch als auf irgendeine Art zusammenhängende besiedelte Gemarkung auffassen. Im enge-
ren Sinn steht böohee dann für eine Stadt, die aus mehreren Quartieren besteht. Im weiteren
TRIBUS 44, 1995
Sinn verstehen jene Burji, die nicht mehr im alten Territorium im südlichen Amarro-Gebirge
leben, unter höohee das gesamte Siedlungsareal, also Burji-Stadt und verschiedene Klein-
städte, Dörfer und Gehöfte, der Süd-Burji.
25 Im folgenden wird dieses Gebiet als »Gemarkung der Stadt« bezeichnet.
26 Das gilt nur für männliche Informanten. Anscheinend organisierten die Burji keine eigenen
Karawanen, sondern schlossen sich einzeln den Borana- oder Somali-Karawanen an oder
wandelten in kleinen Gruppen bis Asebo. (Ambom 1990: 201)
27 Die Eisen- und Kupferstäbe, die auch als Zahlungsmittel dienten, waren das Rohmaterial für
die Burji-Schmiede. »Das benötigte Roheisen wurde von ihnen niemals selbst gewonnen,
sondern von Somali- und Konso-Händlern bezogen. Die Somali brachten es in Form von
Eisenstäben lakänta woldnco auf den Markt, während das von den Konso eingehandelte
Eisen die Form einer Kniestielhacke aufwies und die Bezeichnung ’wolamo trug. Die Konso
waren aber nur Zwischenhändler und bekamen es ihrerseits über die Hammar und andere
Völker des Bako-Hochlandes von den Dimee, die vor der amharischen Eroberung große
Teile Südäthiopiens mit Roheisen versorgten. Das von den Burji-Schmieden benötigte Kup-
fer stammte aus Gantingäla (Moyale) im Borana-Land [Grenzstadt zu Kenia] und wurde
gleichfalls durch Somali-Kaufleute angeliefert.«
28 Lediglich der Handel mit den nahen Konso und Guji und z. T. mit den Borana ist bestehen
geblieben.
29 »Beide Gebiete liegen sehr verkehrsgünstig an der Straße Addis Ababa - Dilla - lavello und
haben unvergleichlich größere Emteerträge zu verzeichnen als die verhältnismäßig kleinen
Pflanzungen der Burji, deren Bewirtschaftung einen großen Arbeitsaufwand erfordert, da
der Kaffee infolge der klimatischen Verhältnisse des Berglandes nur in künstlich bewässer-
ten Kulturen gedeihen kann. In Sidamo und Gideo stehen dagegen erheblich größere und kli-
matisch begünstigte Areale zum Anbau von Kaffee zur Verfügung, der in der Höhenstufe
zwischen 1700 und 1900 m seine optimalen Wachstumsbedingungen findet.« Der Anbau von
Kaffee, der nur über Addis Ababa gewinnbringend exportiert werden konnte, wurde in die-
sen Gebieten ab ca. 1920 ausgeweitet.
30 Bei Straubes zweiten Aufenthalt (1973) in Burji war sie fast vollständig verfallen.
31 Die einzelnen Tage heißen lulüko, deero, höro und gadesa. »Eine besondere kultische
Bedeutung kommt dem deero- und höro-Tag zu, an denen alle Opferschlachtungen und son-
stige religiöse Zeremonien, so wie auch alle bedeutsamen profanen Handlungen vorgenom-
men werden.«
32 gudeeta = Platz, wo kaum Gras wächst, lüluko = erster Tag der Marktwoche
33 Siehe dazu oben die Bedeutung des Platzes bei der Namensgebung.
34 Hoher politischer Führer
35 Straube schreibt dagegen an anderer Stelle, daß nach einer Überlieferung seit dieser Verle-
gung auf dem gudeeta lulüko nie mehr Markt abgehalten wurde.
36 Dazu eine Tagebuchnotiz von H. Straube: »Morgens auf dem Markt in der Verwaltungssied-
lung. Der Markt war erstaunlich klein und fast ausschließlich von Gule-Burjis besucht; ich
sah nur vier Guji-Frauen, was bei der gegenseitigen Spannung zwischen Burjis und Guji
auch verständlich ist. Die Weber saßen getrennt von den Maktfrauen und hatten ihre bolu-
kos vor sich ausgebreitet. Der übrige Markt lag - wie üblich - in Händen der Frauen.«
37 Nach unterschiedlichen Darstellungen wurde der Marktaufseher entweder gewählt (1955)
oder vom wöma bestimmt (1974).
38 Näheres zu diesem sozial und kultisch wichtigen Generationsgruppensystem weiter unten
im Abschnitt über die öffentlichen Plätze in Burji-Stadt, s. S. 88 ff
39 Der Baumwollanbau ist inzwischen wieder stark zurückgegangen. Straube schreibt hierzu:
»Tabak und Baumwolle wurden früher in den tiefliegenden Randgebieten des Territoriums
angebaut, die infolge der Gefährdung durch die Guji seit mehreren Jahren nicht mehr bestellt
werden können. Mit dem Verlust dieser äußeren Feldkomplexe gab man auch den Anbau
dieser beiden bedeutsamen Kulturpflanzen auf.«
40 Außer Geräte für den täglichen Bedarf stellten die Schmiede auch Schmuckstücke her. (s.
Abb.3)
41 Der Grund hierfür könnte sein, daß seit den fünfziger Jahren die Zahl der Gewerbetreiben-
den (der klassischen Handwerke Töpfern, Schmieden und Gerben) abgenommen hat.
42 Die Steinmauer wurde von den hägi, Generationsgruppen innerhalb des gd4a-Systems,
errichtet.
43 Die Mauer steht vor dem Begräbnisplatz der Klane yabi und kadädo, wo sich auch die Grä-
ber von Ruspoli und des wöma Guyo befinden.
44 »In der Gemarkung Koroma befindet sich angeblich ein weiterer Verteidigungsgraben.«
45 Generationsgruppe innerhalb des ga4a-Systems
46 Gamiu war früher von einer dichten Hecke und Bäumen umgeben, durch die drei Tore Ein-
laß boten. Für dieselbe Art der Verteidigungsanlage um Burji-Stadt spricht, daß die Kon-
96
Amborn: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
struktion der Tore von Gamiu, die an beiden Seiten von einem Zaunstück aus knorrigen Ast-
stangen und Baumstämmen eingefaßt waren, dem Aufbau des Stadttores von Tabäce ent-
spricht. Weiterhin finden sich am westlichen Stadteingang von Korbäya noch Reste einer
ehemals dichten Hecke.
47 Dazu wurde das am oberen Türholz befestigte Falltor heruntergelassen und mit einer Stange,
die ein Loch aufwies, an einem in den Boden eingelassenen Pflock befestigt, den man in das
Loch der Stange einführte. Mit dieser Stange wurde das Tor auch wieder hochgeschoben.
48 Siehe dazu weiter unten den Abschnitt über die heiligen Plätze, s. S. 88ff
49 »Bei der Errichtung eines Hauses werden während der Aushebung des Pfostenloches in
regelmäßigen Abständen Milch- und Hirsebiergaben in die Grube gegossen. Ist der Bau voll-
endet, so schlachtet der Hauseigentümer unter dem Mittelpfosten ein weibliches Schaf. Die
Beinhaut des Tieres wird an allen vier Extremitäten von den Kümmerzehen bis zum ersten
Gelenk abgelöst und zusammen mit dem Netzfett am Pfosten befestigt. Das Fell schneidet
man in Streifen und hängt sie in allen Teilen der Haus auf. Der Mageninhalt wird mit dem
Blut vermischt und im Häuserinneren herumgesprengt. Dieses Opfer wird nach Bedarf wie-
derholt, da die Burji des Glaubens sind, daß mit den Mittelpfosten die Gesundheit und das
Glück des Eigentümers sowie auch der Kindersegen für seine Familie verknüpft sind.«
50 Der Versammlungsplatz einer òlla heißt lediglich kotày, was die allgemeine Bezeichnung
für »Platz« ist.
51 Bei den übrigen géere liegen die Verhältnisse wie folgt:
Die géere Wälee besteht aus den òlla Wälee und Gandigäma. Sie verfügt über ein géere-bal-
bäla und zwei ólla-balbàla. Die géere Gandille besteht aus den òlla Gandille, Cardi, Dabia.
Sie verfügt über einen géere-balbàla und zwei ólla-balbàla', der géere-balbàla dient der òlla
Gandille auch als ólla-balbàla. Die géere Abäya besteht aus den òlla Abäya, Mandida,
Aihur. Die òlla Mandida ist heute nicht mehr besiedelt; sie wurde nach 1955 verlassen.
Abäya verfügt über einen géere-balbàla und zwei ólla-balbàla. Die géere Tabäce besteht aus
den olla Tabäce, Akäna, Gailu, Dimbóole. Dimbóole ist nach Erinnerung der Informanten
nie besiedelt gewesen, so daß diese òlla auch keinen eigenen baibàia besitzt. Die géere
Tabäce verfügt daher über ein géere-balbàla und nur zwei ólla-balbàla', der géere-balbàla
dient auch der òlla Tabäce als baibàia.
52 Wie schwierig es für den Kulturfremden ist, eine nicht bekannte Struktur, die wir zwangs-
läufig von unserer eigenen Vor-Beurteilung her angehen, zu erkennen, zeigt folgender Tage-
bucheintrag (1.2.1974) von H. Straube: »In der Arbeit mußte ich heute einen Rückschlag
einstecken, denn Ato Télle und Ato Urago erklärten, es gebe nicht fünf, sondern zwölf géere
und in den meisten géere gebe es nicht einen, sondern mehrere geeréng-ana', auch habe nicht
jede géere einen baibàia-Platz. Adam behauptet jedoch, diese Darstellung stimme nicht, und
die Ergebnisse, die ich zu Beginn unserer Arbeit über die géere-Gliederung von Burji nie-
dergeschrieben habe, seien die richtigen. Nach meinem bisherigen Eindruck scheint mir
Adam Recht zu haben. Vieles spricht für die erste Darstellung, die ich vor mehr als drei
Monaten erhielt. Ich muß nun aber dieses Thema zu meinem großen Mißvergnügen
nochmals mit anderen Berichterstattern aufrollen und in allen Einzelheiten durchgehen.«
(Schreibweise der Burji-Begriffe der hier verwendeten Transkription angepaßt)
Die Einteilung in fünf géere stellte sich dann doch als die wahrscheinlichere heraus. Dieses
Beispiel zeigt zudem, mit welcher Vorsicht man ethnographischen »Daten« begegnen muß.
Sie sind keine »harte Fakten«, sondern Interpretationen von Interpretiertem.
53 Einige Informanten waren sogar der Meinung, daß in den fünf géere die Klane der ersten
Siedler auch die ursprünglichen Eigentümer des géere-Landes waren.
54 Da die privaten Opferplätze wichtige Parallelen zu den öffentlichen aufweisen und noch
genauer beschrieben werden können, wird auch auf diese eingegangen.
55 Eine kurze Darstellung des gdda-Systems wird bei der Beschreibung der entsprechenden
Plätze weiter unten gegeben.
56 Im Verlauf dieses Opfers wird vor dem Mittelpfosten ein weibliches Schaf geschlachtet, des-
sen Steißfett am Mittelpfosten befestigt wird. Der Mageninhalt und das Blut werden im Haus
versprengt, und die an allen vier Extremitäten von den Kümmerzehen bis zum ersten Gelenk
abgelöste Beinhaut wird in Streifen geschnitten und quer durch das Haus gespannt.
57 Jedem kranken géere-Angehörigen wird das Opferblut vom masa, einem hohen Würdenträ-
ger, zur Stirnzeichnung gebracht.
58 »In alten Zeiten sollen alle neun Burji-KIane nur einen gemeinsamen esa-Platz gehabt
haben, der auf einem Hügel mit Namen karkädee hart westlich von Burji-Stadt lag. Infolge
von Streitigkeiten wurde dieser Opferplatz später aufgegeben und jeder Klan schuf sich ein
eigenes Opferzeichen, das vor dem Haus des Klanführers Aufstellung fand.«
59 Siehe dazu den entsprechenden Abschnitt
60 »Dabei wird ein Bulle von schwarzer oder roter Fellfarbe von drei Tötern, die das Tier am
Schwanz und an den beiden Ohren packen, dreimal zwischen dem Stadttor von Häaraa und
97
TRIBUS 44, 1995
dem wominga-balbäla hin-und hergeführt und dann auf dem wominga-balbäla in Anwesen-
heit aller männlichen Burj vom wöma geopfert.«
61 »Die sich wie eine unsichtbare Mauer um die Gemarkung der Stadt herumziehenden Opfer-
plätze liegen in den Gemarkungen Sego, Jiräri, Bokölca, Kolica, WoPIo, Loiso und Kala-
cinkara sowie auf den sich im Westen erhebenden Randbergen Silya und Irdöya.«
62 Die Totenfeste von Tabäce und Abäya werden auf dem däree-Platz in der geere Abäya abge-
halten.
63 Der äms leitet die politischen Angelegenheiten eines Klans. »Ein weiterer Würdenträger,
der zusammen mit dem wöma sein Amt antritt und dieses gleichfalls ein Jahr lang verwal-
tet, ist der jelaaba. Der jelaaba darf niemals dem Klane des wöma angehören.«
64 Zu den Alters- und Generationsgruppensystemen in Ostafrika vgl. u. a. Baxter und Almagor
1978 sowie Zitelmann 1990.
65 »Nach Zusammenbruch des Systems wurde die Laufzeit der einzelnen hägi stark verkürzt.
Die aufeinanderfolgenden sechs lägoo innerhalb einer hägi wurden zwar beibehalten, doch
folgten sie nicht mehr im Abstand von drei Jahren aufeinander, sondern wurden und werden
nach Bedarf abgehalten; oft findet jedes Jahr ein lägoo statt, so daß die Laufzeit einer hägi
nur sechs Jahre betragen kann. Früher fand die Beschneidung zwischen dem 15. und
20. Lebensjahr statt; heute werden die Jungen schon mit weniger als zehn Jahren beschnit-
ten. Der Beitritt in eine hägi ist aber auch heute noch immer mit der Beschneidung verbun-
den.«
66 Einige Bezeichnungen des Burji Gada-Systems zeigen Übereinstimmungen mit denen ver-
schiedener Oromogruppen (cf. Haberland 1963:193ff., 386f.; Asmaron Legesse 1973: 65ff.;
während der /zdg/-Zyklus eher Vergleiche mit einigen Sidamo (Hamer 1970; 55ff.; Lonfer-
nini: 1971: 85f.), bzw. den Ost-Konso zuläßt (Hallpike 1972: 180ff.).
67 Die ältesten Söhne konnten erst nach dem Tod des Vaters der gäda-Gruppe beitreten, jedoch
nicht mehr, wenn sie schon selber einen Sohn besaßen.
68 Die /idg/-Gruppen besaßen lediglich militärische und ökonomische Aufgaben, während die
Mitglieder der jeweils neu formierten gdda-Gruppen eine rituelle Ausnahmestellung
innehatten und als geheiligte und gefürchtete Persönlichkeiten praktisch drei Jahre das
gesamte religiöse und gesellschaftliche Leben der Bevölkerung kontrollierten. Selbst die
temporären politischen Führer (die wöma) waren von dieser Kontrolle nicht ausgenommen
(cf. Straube 1975).
69 Es darf auch nur während dieser Periode geheiratet werden.
70 Der dimböole-Platz wird weiter unten noch genauer beschrieben.
71 »Nachdem sie sich aller Zeichen, die an ihre Initiationszeit erinnern, entledigt haben, stür-
men sie auf den kilico-Platz, auf dem in früheren Zeiten an diesem Tage Markt abgehalten
wurde, und machen dort von ihrem Faustrecht, das bei vielen Völkern den Initianden einge-
räumt wird, Gebrauch, indem sie die Marktfrauen schlagen, die Lebensmittel auf den Boden
werfen, die Milch ausschütten und die Tonwaren zerbrechen. Inmitten dieses Chaos tanzen
und singen sie dann auf einer Felsengruppe, die sich auf dem alten Marktplatz erhebt, und
begeben sich anschließend wieder nach Beschneidungsgruppen geordnet in ihre Dörfer
zurück, wo sie bereits von den erfolgreichsten und berühmtesten Menschentötem und
Großwildjägern erwartet werden, deren Aufgabe es ist, den Beschnittenen die Haarknoten
abzuschneiden und sie zu ermahnen, gleichfalls tapfere und erfolgreiche Töter und Jäger zu
werden.«
72 In der geere Gandille wird nur ein argumanco, jedoch kein häyyu gewählt.
73 »Die Wahl nehmen alle in Burji ansässigen alten und in der Geschichte des Volkes bewan-
derten Männer auf dem häginga balbäla vor, der auch hälahäakan balbäla genannt wird. Die-
ser Platz befindet sich in der ölla Gailu in der geere Tabäce.« »Am Tage der Wahl sind alle
alten Männer und alle Beschnittenen der ersten lägoo der hägi auf dem haginga balbäla ver-
sammelt. Die Wahl wird gemäß der Ranghöhe der vier häyyu in folgender Reihenfolge vor-
genommen: Abäya-häyyu als ranghöchster, Häaraa-häyyu, Tabäce-häyyu, Wäale-häyyu und
Gandille-argumänco; dann folgen die anderen argumanco. Die häyyu der einzelnen geere
und der Gandille-argumänco müssen in den geere, für die sie gewählt werden, auch ansäs-
sig sein.« »Nach der Wahl opfert jeder häyyu beginnend mit dem Abäya-häyyu vor seinem
Haus eine Ziege.«
74 »Diese Zeremonie wird auch nach den folgenden fünf lägoo einer hägi abgehalten.«
75 Nach einer anderen Information fand diese Zusammenkunft auf einem gadenda mereera
genannten Platz statt, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Platz, den die gäda
selbst gurars nennen.
76 Nach anderen Informationen zogen sie nicht auf den öyda, sondern auf den balbäla von
Wälee. »Besondere Beachtung verdient die Fortbewegungsart des Festzuges, denn die Teil-
nehmer gingen nicht aufrecht, sondern bewegten sich in einer Art Entengang vorwärts.«
77 »Eingehüllt in Kälberfelle, die ihre Träger vor Kälte und Nässe schützen sollen, sitzen die
98
Ambom: Von der Stadt zur sakralen Landschaft
gäda dort täglich auf einem Graslager und verbringen die Zeit mit Gesprächen und mit
Schlafen, denn es darf auf dem Seklusionsplatz keiner manuellen Beschäftigung nachge-
gangen werden. Auch Bekannten und Verwandten ist es nicht gestattet, die gada aufzusu-
chen oder ihnen etwas zu überbringen. Nur spezielle Würdenträger dürfen den dimböole-
Platz verlassen, um bestimmte Arbeiten zu erledigen. Erst nach Einbruch der Dämmerung
verlassen die gäda den Seklusionsplatz und schleichen sich vorsichtig in ihre Gehöfte, da sie
von niemanden gesehen werden dürfen. Vor Anbruch des neuen Tages begeben sie sich wie-
der ungesehen auf den dimböole-Platz zurück.«
78 »Die gäda waren gefürchtet und man war des Glaubens, daß der Fluch eines gäda einen
Menschen krank und arm machen konnte. Niemand wollte einem gäda während der drei-
jährigen Seklusionszeit begegnen; man rannte vor ihm weg oder verdeckte das Gesicht, da
man den Blick des gäda fürchtete, der angeblich tödlich wirkte. Man trat vom Wege und der
gäda spuckte als Segenszeichen auf den Menschen, der ihm begegnete. Die Gewährsleute
waren der Ansicht, daß die gäda während der dreijährigen Seklusionsperiode die politische
Gewalt in Händen hielten. Niemand durfte den Estrich seiner Hütte mit Rinderdung über-
streichen, eine Arbeitsgemeinschaft zusammenrufen und mit ihr auf den Feldern arbeiten,
die Ernte seiner Felder einbringen, seinen Reibstein mit einem Klopfstein aufrauhen oder
eine Schlachtung vornehmen, ohne die auf dem dimböole-Platz in der Seklusion sitzenden
gäda um Erlaubnis zu fragen.« »Auch kein Totenfest, keine der vielen religiösen Zeremo-
nien und Opferungen, keine Gerichtssitzung und kein Kriegszug konnten ohne Erlaubnis der
gäda stattfinden. Selbst die gänni hatten um Erlaubnis zu fragen, wenn sie eine Zeremonie
abhalten wollten, und desgleichen der wöma, wenn er einen Kriegszug anberaumen oder
eine Gerichtssitzung einberufen wollte.«
79 Während der Bearbeiter bisher nur in den Fußnoten hervortrat und versuchte, sich möglichst
an Straubes Diktion zu halten, geht jetzt die Autorenschaft an den Bearbeiter über. Ich kann
mich jedoch auch im folgenden bei der Verbreitung von Städten in Ost-Afrika auf ein Vor-
tragsmanuskript von H. Straube stützen.
80 Es kann davon ausgegangen werden, daß in dieser großen Siedlung der Anteil der Hand-
werker, den ich für die Gesamtbevölkerung der Burji-Konso-Gruppe mit etwa 3 Prozent eru-
iert habe, höher gelegen hat.
81 »Die Dörfer der Konso, Gato, Gidole und Burji machen schon im äußeren Bild einen aus-
gesprochen städtischen Eindruck und lassen auf den ersten Blick erkennen, daß es sich bei
ihnen nicht um zufällige und planlose Hütten- und Gehöft-Agglomerationen handelt, son-
dern um eigenständige strukturierte Siedlungseinheiten, die den Mittelpunkt der Dorfge-
markung bilden. Die Konso-Dörfer werden von Hallpike mit Recht als >towns< bezeichnet.
82 Ähnlich wie Leroi-Gourhan sehen auch Keyser und Stoob (1971: 20) bei der Beschreibung
der Stadtentwicklung am Beispiel der keltischen >oppida< in den dortigen Stadtbewohnern
eine Bevölkerung, die »über rein agrarische Wirtschaftsformen hinausgewachsen war«.
83 Vgl. für Konso Toru Shinohara 1993
84 Vortragsmanuskript ohne wissenschaftlichen Apparat.
85 Für die ältere Literatur cf. Pauli 1950; Lewis 1972; Tomay 1978
86 Den Amhara war das städtische Leben und die Verwendung des Steines als Baumaterial bis
in jüngste Zeit fremd. Selbst die Kaiser lebten in beweglichen Zeltlagern und temporären
Pfalzen und kannten keine festen Residenzen. Gondar, die einzige ältere Stadt des Hochlan-
des, wurde erst im 17. Jahrhundert gegründet.
87 Daß der historische Vergleich als einziger Erklärungsansatz nicht greift, zeigt auch das Bei-
spiel Ocollo im Gamu-Hochland. Diese einzige städtische Siedlung einer omotisch-sprachi-
gen Bevölkerung fällt völlig aus dem Siedlungsmuster der Region heraus.
88 So finden z. B. auf manchen geere-balbäla auch Zeremonien statt, die für ganz Burji von
Bedeutung sind, die Außenplätze stehen unter der Obhut der Klane, sind jedoch für Gesamt-
Burji von Bedeutung.
MARTIN BAIER
Das Rätsel des Apo Kayan
Megalithische Skulpturen und Sarkophage im Apo Kayan-Gebiet
Studien einer Reise ins südöstliche Apo Kayan im Juli/August 1994
Robert Nicholl zum 85. Geburtstag am 27. März 1995 als Zeichen des Dankes und
der Wertschätzung.
Die Apo Kayan-Hochfläche gehört landschaftlich, archäologisch und kulturhistorisch
zu den interessantesten Gebieten Indonesisch-Bomeos (Kalimantans). Seit 1989 ist
das Gebiet für Touristen zugänglich. Die ersten Produkte entsprechender Touristikli-
teratur sind auf dem Markt. Sie zeichnen sich aus durch große Unkenntnis auf archäo-
logischem und kulturhistorischem Gebiet. L. Blair (1991: 121) schreibt über die Pfo-
sten vom Sungan Sui: »Neither his (sc. chief of Lidung Payau) people nor
archeologists know who carved this stone figure«, und K. Müller (1992; 92) behaup-
tet gar im Gegensatz zu jeglicher Dayakadat: »this ... stone carving was probably
worshipped until recent times«. Andrerseits hat ein Team junger Wissenschaftler ver-
schiedener Disziplinen unter B. Sellatos Federführung (persönliche Mitteilung B. Sel-
latos an mich vom 17.6.1994) erkannt, daß Untersuchung und Erforschung von Stein-
skulpturen, Petroglyphen (also »megalithischen Malen«) und steinernen Artefakten im
zentralen Borneo Aufschluß über die Vorgeschichte Südostasiens und die Besied-
lungs- sowie Kulturgeschichte Borneos geben könnte. Vorliegender Aufsatz bezweckt,
die gröbsten Fehlurteile aufzudecken und andeutungsweise die Richtung zu weisen, in
der weitere Erforschung erfolgversprechend ist. Last but not least stellt dieser Aufsatz
eine Fortsetzung und Ergänzung meiner Tribus-Aufsätze von 1979, 1987 und 1992 dar.
Das Apo Kayan-Gebiet ist eine Hochfläche von durchschnittlich 600 m ü. M., umgeben
von Gebirgen bis zu 2000 m Höhe. Seine Fläche beträgt 17 400 qkm. Die Verbindung
zur Außenwelt geschieht heute praktisch nur mit dem Flugzeug (von der indonesischen
Regierung subventioniert). Wegen der niedrigen Lebensqualität (keine Fachärzte,
Gymnasien, Kaufhäuser und Verkehrsstraßen) wandert die Bevölkerung ständig ab;
1906 waren es 19600 Einwohner, 1976 nur noch 9361, heute sind es kaum mehr als
5000 Einwohner. Dominierende Stammesgruppe sind die Kenyah; 99% sind Christen.
Der Boden besteht größtenteils aus Schiefer, überlagert von Sandstein. Häufig sind die
Schieferformationen durch mächtige Basaltgänge durchstoßen (Elshout 1923: 5). Die
Literatur meldet übereinstimmend, daß bereits in vorkolonialer Zeit Erzgewinnung
{Elshout 1926: 100) und Eisenverarbeitung {Nieuwenhuis 1904 II: 197) betrieben
wurde. Daß der alte Kenyah Uma Badang-Stamm bereits Erzgewinnung praktizierte
{Van Walch/Ren 1907: 800), legt nahe, daß dies schon in der Prä-Kenyah-Periode mög-
lich war. Damit könnten sämtliche Steinmale und Petroglyphen auch aus sehr hartem
Stein mit Eisenwerkzeugen bearbeitet worden sein.
I. Geographische Lage und Beschreibung
Den klassischen Werken über das Apo Kayan ist Steinsetzung nur zur zeitlichen
Ansetzung der Reispflanzzeit bekannt. Nieuwenhuis (1904 I; 317) berichtet von solch
einem Doppelstein bei den Mahakam-Kayan, welche angeblich ursprünglich im Apo
Kayan beheimatet waren. Danach berichtet fast ausschließlich nur Sierevelt auf fünf
Seiten über Steinmale. Im Endeffekt wird auch vorliegender Aufsatz wenig über Sie-
revelt hinauskommen, weshalb ich mich zu dem Titel »Das Rätsel des Apo Kayan«
gezwungen sah. Bei der Lokalisierung halte ich mich an die Reihenfolge in meinem
Tribus-Aufsatz von 1992 {Baier 1992: 161-163).
100
Baier: Das Rätsel des Apo Kayan
Abbildung 2
Lage der Steinpfosten vom Sungan
Sui (2.)
Weg nach Long Sungai Barang.
Sungai Sungan Sui. Insel ca. 100 m
lang. Furt. Steine A, B, C. Sungai
Kayan
101
Abbildung 3
Sungan Sui: Stein C. Maßstabsgetreue Skizze
1:15 (20 cm tief).
TRIBUS 44, 1995
Abbildung 4
Der Stützstein von Data Benuang (6.). Maß-
stabsgetreue Skizze 1:10.
Abbildung 5
Der Grenzstein vom Berg Batu Kalong (7.)
(von Lehrer Leram Udau skizziert).
1. Der Steinsarkophag von Long Danum
Ursprünglich muß dieser kurze Sarkophag (1,07 m lang, 46 bzw. 18 cm tief an den
Enden, vgl. Baier 1992: 161) am rechten Kayan-Nebenfluß Long Danu deponiert
gewesen sein. In den 30er Jahren wurde er ins Holländerviertel von Long Nawang
gebracht. Wahrscheinlich ist der Sarg zur einfachen Bestattung benützt worden, wobei
der sicher prominente Tote in den Sarg durch Pressen und Anwinkeln hineingezwängt
wurde (vgl. Baier 1992: 161).
2. Die Pfosten einer Grabbedachung vom Sungan Sui
1992 wurden sie von mir in Anlehnung an Sierevelt noch »Sarkophag von Long
Uro« genannt, nach eingehender Besichtigung im August 1994 ist jedoch nur obige
Bezeichnung angebracht. Die Trümmer des Sarkophages und des Daches über der
dolmenähnlichen Grabanlage können heute nicht mehr bestimmt werden. Die
genaue Lage zeigt Skizze Nr. 2 Sierevelt (1929; 162) schreibt: es seien sechs Pfosten
102
Baier: Das Rätsel des Apo Kay an
Abbildung 6
Heutige Aufstellung der Pfosten
einer Grabbedachung vom Sungan
Sui (2). Steine A, B, C.
Abbildung 7
Sungan Sui (2): Stein A.
gewesen »(der sechste war ein viereckig behauener, langer Stein ohne weitere
Bearbeitung). Diese Pfosten mußten ausgegraben werden, sie schauten nur ungefähr
30 cm über der Erde heraus. Wahrscheinlich haben sie früher auf der Erde ge-
standen, denn an ihrem unteren Ende waren sie von schweren Steinklötzen um-
geben, wodurch sie vor dem Umstürzen bewahrt werden sollten ... Die Höhe der
Pfosten beträgt 1,25 m. Das Dach der Grabanlage muß bestanden haben aus einer
großen Steinplatte, die auf dem eben ausgehauenen hinteren Teil der Pfosten
aufsaß.« Schneebergers, (1979: 77) Beschreibung als Stützsteine für den gesamten
Sarkophag ist also unkorrekt. Sierevelts, Fotos zeigen zwei weitere Pfosten, die heute
verloren sind. Auf dem einen (Mitte der unteren Reihe) sind möglicherweise
gekrümmte Tiere zu erkennen ähnlich den »Affen« einer Kayan-Kenyah-
Schnitzerei (Furness 1902: 115). Das schlechte Foto unten rechts bei Sierevelt wage
ich nicht zu interpretieren. Heute sind nur noch die drei Steine auf Foto Nr. 1 anzu-
treffen:
Stein A hat die Maße: 74x28x15 cm. Bei Sierevelt muß er um einiges länger gewe-
sen sein. Er zeigte eine Relieffigur in spread-eagle-Stellung (vgl. zu diesem Ausdruck
Harrisson 1959: 19), rechte Hand nach unten abgewinkelt, linke nach oben. Zwischen
103
TR1BUS 44, 1995
Abbildung 8 Abbildung 9
Sungan Sui (2): Stein B. Sungan Sui (2); Stein C.
den Beinen könnte der Penis dargestellt sein. Das spread-eagle-Motiv ist vor allem
nördlich am und im Kerayan-Gebiet wiederholt bei Felsrelieffiguren anzutreffen
(.Baier 1979: 74-76). Leider sind wegen der starken Verwitterung keine weiteren Ein-
zelheiten auszumachen. Schneeberger (1979: 77) beschreibt diese Figur folgender-
maßen; »... another that of a female, squatting, with knees spread, elbows resting on
them, forearms and hands raised, a phallus in penetrario«. Ob Schneeberger, 1985 ver-
storben, mit eigenen Augen den Stein gesehen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf
jeden Fall ist die rechte Hand nicht nach oben gewinkelt.
Stein B hat gegenüber Sierevelt seinen oberen Teil (Verfügung zum Auflegen der
Dachlatte) verloren. Seine heutigen Maße sind; 87x62x11 cm. Bei der Figur in
spread-eagle-Stellung sind beide Hände nach oben gebogen. Der Kopfschmuck (nur
bei Sierevelt zu erkennen) ist den Relieffiguren bei Baier (1979: 75, bei Pa Upan) und
bei Harrisson (1958: plate XVI) ähnlich, vielleicht eine Art stilisierter Ohrschmuck.
Schneeberger schreibt (1979: 77): »... a male with large, pierced ears, exaggerated
genital and spread legs«.
Stein C zeigt auch heute deutlich die Fuge für die Dachlatte. Seine Maße sind: am
Kopf 1,06 mx49 cmx20 cm, bis zum unteren Ende der Bearbeitung sind es 47 cm.
Nach Sierevelts Foto zeigt das Gesicht eindeutig menschliche Form. Sollte Furness
(1902: 114/115) recht haben, käme auch die Darstellung eines Gibbon in Frage. Stein
A und B stehen nicht mehr am ursprünglichen Platz, bei Stein C mußten es Ausgra-
bungen klären. Daß Stein C am ursprünglichen Platz steht, wäre denkbar, daß dann der
Sarkophag parallel zum Flußlauf aufgestellt gewesen wäre.
Von Sierevelt aus zu schließen wären die Sungan Sui-Pfosten Reste eines dolmenähn-
lichen Grabes. Sechs Steinpfosten (einer ohne Skulptur bzw. Ornamentik) tragen die
Dachlatte. Darunter muß der Sarkophag gestanden haben. Eine solche Megalithgrab-
anlage ist auf Borneo ohne Analogie. Bei Chin (1981: 26) wird zwar das Foto eines
104
Baier: Das Rätsel des Apo Kay an
Abbildung 10
Sungan Sui (2): Stein C.
Abbildung 11
Sungan Sui (2): Stein C.
Abbildung 12
Paradebeispiel für typisch
dayakischen Abschreck-
charakter bei Darstellungen
auf Pfosten für Grabstätten
(Ot Danum-Sandung bei
Merako, Kecamatan Amba-
lau, Westkalimantan).
105
TRIBUS 44, 1995
echten Dolmens aus dem Kelabit-Hochland gezeigt, aber keiner der Felsbrocken weist
irgendwelche Bearbeitung auf. Eine nur vage Ähnlichkeit könnte bei den Urnendol-
men von Long Bera’s (Steinume in der Form einer abgerundeten Kiste mit kleiner
Deckplatte, daneben vier Stützpfeiler, die eine große Deckplatte tragen. Baier 1992:
166-167) vorliegen. Nach der Oraltradition heutiger Bewohner von Lidung Payau
(modernes Dorf, gegründet von der sehr alten Siedlung Long Uro aus) sei diese Grab-
anlage vom Stamm der Ga’ai erstellt worden.
3. Der Sarkophag von Data Dian
Kaum eine bomesische Begräbnisstätte ist derart häufig beschrieben und fotografiert
worden (Baier 1992: 161). Der Sarkophag ruht auf vier Pfosten, deren einer januskopf-
artig bearbeitet ist. Das dem Fluß zugewandte Gesicht zeigt einen zähnefletschenden
Sägezahnmund. Ergänzend soll bemerkt werden, daß aufgrund dieses Grabpfostens
der Steinklotz von Long Pujungan (Baier 1987; 122-123) wahrscheinlich auch als
Pfosten bzw. Unterlage für einen Steinsarkophag erklärt werden muß.
4. Der Steinpfeiler von Long Po
Auch hier ist bei Sierevelt (1929: PI. 39 a und b) deutlich die Einkerbung sichtbar, wo
ein eventueller Sarkophag aufgesetzt wurde. Die herausgemeißelte Figur hat die
bekannte spread-eagle-Form. Bei Foto a ist ein etwas zum rechten Arm geneigter Phal-
lus erkennbar, Harrissons sonst sehr dilettantische Ausführung (1959: 14, 15) bestätigt
dies. Im Gegensatz zu anderen heute noch erkennbaren spread-eagle-Darstellungen
fällt diese Phallus-Herausstellung auf.
5. Die Sarkophage vom Kajanan-Gebiet
Da dieses Gebiet zum Apo Kayan gehört, jedoch in einem meiner früheren Tribus-
Aufsätze (1992: 162) bereits besprochen wurde, wird nur der Vollständigkeit halber
kurz daraufhingewiesen (vgl. auch Baier 1979: 74).
6. Der Stützstein von Data Benuang
Da dieser Stein in seiner Gesamtform analogielos ist, wurde eine Skizze mit den
genauen Maßen angefertigt. Auf beiden Schmalseiten sind grobe Gesichter heraus-
gemeißelt, an den Kanten und den Breitseiten ist die den spread-eagle-Figuren ähnli-
che Hockstellung der Arme und Beine zu erkennen. Bei der »hinteren« Figur könnte
ein Phallus herausgemeißelt worden sein - wäre die »vordere« Figur dann eine Frau?
Auffallend ist die ebene Abflachung der langen Oberseite des Steins. Sie weist dar-
aufhin, daß er als Stützstein und Unterlage gedient haben muß, höchstwahrscheinlich
für einen Sarkophag. Die Einkerbung auf der einen Breitseite könnten vielleicht für
die Einsetzung eines horizontal oder schräg angebrachten Stützbalkens gedient
haben. Heutiger Standort des Steines ist das Ufer des Sule (Nebenfluß des Kayan
lyot) im Dorf Long Sule neben der Hängebrücke über den Fluß. Long Sule ist eine
Siedlung der Punan Aput. Sie stehen in wirtschaftlicher Kooperation mit den Lepo
Tau-Kenyah. Früher waren sie Kopfjäger. Long Sule wurde 980 gegründet. Ihr
Schweifgebiet war früher am Kajanan. Ab 1967 wurden sie schrittweise am Kayan
lyot seßhaft. 1937 wurde zwei Motorbootstunden unterhalb von Long Sule das inzwi-
schen aufgegebene Dorf Data Benuang als Zentrum für das Gebiet des Kayan lyot
gegründet. Dort befand sich der Stützstein. Die Punan Aput brachten ihn bei ihrer
Umsiedlung mit. Nach Meinung der Punan Aput sei der Stein vom Stamm der Be-ö-
ü (deutsche Schreibweise) hergestellt. Diese Be-ö-ü seien die ursprünglichen Bewoh-
ner dieses Flußgebietes, ähnlich den Ga’ai und Modang. Sie seien an den Wahau- und
Telenfluß ausgewandert. In der Literatur finden sich die Be-ö-ü nirgends, was aller-
dings bei der Fülle ausgestorbener und kaum bekannter Kleinstämme im Bulungan-
Gebiet nicht viel aussagt.
7. Der Grenzstein vom Berg Batu Kalong
Informant hierüber war der 28jährige hochgebildete Hauptschullehrer Leran Udau aus
Long Uro (Lep Tau-Kenyah). Er geht oft auf die Jagd und kommt häufig an die Stelle
106
Baier: Das Rätsel des Apo Kayan
dieses Steines. Skizze Nr. 4 ist von der Vorlage Leram Udaus abgepaust. Der Berg Batu
Kalong (= Verzierung, Einmeißelung) erhebt sich nach vier Stunden Fußmarsch süd-
lich von Long Uro an der Wasserscheide des Kayan-Gebietes. Der Stein ist ein etwa 3
m hoher parabelförmiger Felsbrocken auf dem Berggipfel. Daß ein typisches Motiv
aus dem Kenyah-Barock auf seine Oberfläche eingeritzt ist, legt nahe, daß er den im
nördlichen Zentralborneo üblichen Grenzsteinen zuzuordnen ist. Tehupeiorij (1906:
198) schreibt: »Beim Passieren der Wasserscheide richteten die Kenyah einen Pfosten
auf, auf dem sie die Stammeszeichen der Uma Tau anbrachten«, vgl. auch Harrisson
1958: plate XVI. Feram Udau und anderen Dorfautoritäten ist nichts über den
Ursprung dieser Petroglyphe bekannt. Aufgrund des heute weit verbreiteten Motivs
muß gefolgert werden, daß kein unmittelbarer Zusammenhang mit Steinsetzung und
Malen des Totenkults besteht.
II. Versuch einer Einordnung der megalithischen Male in Kultur und Totenritual
So gut wie alle megalithischen Male des Apo Kayan-Gebiets haben im gesamten der
Kultur ihren Platz im Totenritual. Genauer; sie dienen einem sepulkralen Zweck. Ent-
weder sind es Sarkophage ohne Verzierung bzw. Petroglyphe oder Pfeiler bei bzw. tra-
gende Pfosten von Sarkophagen. Fetztere sind vielfach mit Skulpturen menschlicher
Gesichter bzw. Figuren versehen. Wo es feststellbar ist, sind die Male nicht weiter als
30 m von einem Flußlauf entfernt aufgestellt worden. Data Dian und Sungan Sui las-
sen annehmen, daß sie flußabwärts von einer Siedlung errichtet wurden. Diese Fage
der Friedhöfe ist die verbreitetste und allgemein übliche in der Dayakkultur, vielleicht
nicht zuletzt deshalb, weil mit einer Fast flußabwärts zu rudern leichter ist als flußauf-
wärts. Auch sonst fallen gewisse Ähnlichkeiten mit den Grabanlagen der Kayan-
Kenyah-Gruppe (vgl. Rousseau 1990: 341) auf: daß in den vorhandenen Sarkophagen
(Data Dian und Fong Danum) mutmaßlich prominente Persönlichkeiten in einfacher
Bestattung (im Gegensatz zu den Urnendolmen und Sarkophagen des Pujungan-
Gebietes. Baier 1992: 168, 169) beigesetzt wurden.
Grundsätzlich wurde im Apo Kayan bei natürlichem Tod bis zur Christianisierung der
Tote in seinem Sarg oder mit mehreren Särgen zusammen in Feichenhäusem auf ein
bis zehn Pfählen (»liang-Typ«, Stöhr 1959: 98-100) bestattet. Auch die prähistori-
schen Megalithmale weisen daraufhin. Von bemerkenswerter Auffälligkeit ist die
Grabanlage vom Sungan Sui: sechs Pfosten tragen eine Steinplatte über einem Sar-
kophag. Hier liegt also Dolmenform vor, was bis heute in Fong Pulung am Bahau
seine geographisch nächste Analogie hat (Baier 1987: 121-123). Aus rezenter Zeit
weist eine Notiz bei Nieuwenhuis (1904 1: 90) auf eine ähnliche Grabanlage - natür-
lich aus Holz - hin: Der Sarg wird »auf den Begräbnisplatz getragen und ... auf ein
hölzernes Gerüst gestellt, das oft mit einem schön geschnitzten hölzernen Dache
überdeckt wird«. Während jedoch am Bahau eindeutig mehrstufige Bestattung vor-
liegt, muß im Apo Kayan einfach angenommen werden. Bei sämtlichen anderen Apo
Kayan-Funden weist nichts auf eine Dolmenform hin. Bei diesen anderen Funden
muß eine den Sarkophag direkt tragende Funktion der Steinpfosten bzw. -unterläge
angenommen werden. Ein Beispiel aus dem Bahau-Gebiet zeigt, daß die Form der
Bestattung (einfach - mehrstufig) nicht unbedingt von der Tradition einer Ethnie
bestimmt wird sondern lokalbezogen ist und von früheren Ethnien übernommen wird
(Baier 1992: 167).
Wesentlich komplizierter ist die Deutung der herausgemeißelten Gesichter/Figuren an
den Pfosten bzw. Unterlagen. Der Januskopf-Pfosten von Data Dian (Baier 1979:
72,73) hat im Stützstein von Data Benuang ein gewisses Gegenstück. Zu beachten ist,
daß die beiden Gesichter bzw. Figuren bei beiden Steinen Unterschiede aufweisen.
Natürlich liegt nahe, daß geographisch und damit ethnisch von Data Dian ach Data
Benuang Beziehungen bestanden haben. Auch heute gehören beide Fundstellen dem-
selben Kreis (Kecamatan Kayan Hilir) an. Sehen wir uns zunächst die Gegebenheiten
bei den Pfosten rezenter Fiang-Grabmale im Apo Kayan an. Auf den wenigen Fotos
bei Nieuwenhuis und Tillema sind fast alle Holzpfosten mit nicht aus dem Rahmen fal-
lender Ornamentik verziert. Elshout gibt als Erklärung (1926: 89), daß es Einzelteile
TRIBUS 44, 1995
Abbildung 13
Der Stützstein von Data Benuang (6), »vor-
dere« Figur (Breitseite dem Fluß zugekehrt,
Gesicht schaut flußabwärts).
Abbildung 14
Der Stützstein von Data Benuang (6), »vor-
dere« Figur (Breitseite dem Fluß entgegen-
gekehrt).
Abbildung 15
Der Stützstein von Data Benuang (6), »hin-
tere« Figur (Breitseite dem Fluß zugekehrt,
Gesicht schaut flußaufwärts).
108
Baier: Das Rätsel des Apo Kayan
stilisierter Drachen seien (könnte es nicht auch das Hunde-aso-Motiv sein?). Von den
ebenfalls stilisierten Drachen auf dem Dachfirst berichtet Elshout (1926: 90), daß sie
»mit einem eindeutig männlichen Genitalapparat« (also Phallus!) »versehen sind; oft
genug sieht man dabei die Penisdurchbohrung«. Im früheren Kenyahdorf fallen die
vielen Schreck- und Abwehrbilder (= uyat) mit Phallus auf. Allgemein dayakisch
schreckt eine Phallusdarstellung Negativgeister ab und soll sie fernhalten. Teilweise
werden auch unter den Leichenhäusem solche Schreckbilder angebracht {Elshout
1926: 95). Vielleicht hat das Gesicht mit dem Sägezahnmund von Data Dian dieselbe
Funktion. Nach Nieuwenhuis (1904 II; 239) soll auch die spread-eagle Figur auf den
Kindertragbrettern Abwehrmagie darstellen. Nicht von der Hand zu weisen wäre also
die Deutung, daß die Darstellungen von menschlichen Gesichtem und Körpern
abwehrenden Charakter haben, vor allem bei Pfeiler von Long Po, weniger eindeutig
beim Stützstein von Data Benuang und bei den Pfosten von Sungan Sui.
Völlig offen ist natürlich die Frage, welches Stadium der Totenseele bzw. welche Form
des Toten hier geschützt werden soll. Diese Frage wird hinsichtlich der Kultur jener
Ethnien, welche die Megalithsarkophage hergestellt haben, immer ein Rätsel bleiben.
Andrerseits steht hinter solcher Frage das Problem, ob von dem den Dayak eigenen
Wesen und Denken her überhaupt so gefragt werden darf.
III. Denkbare weitere Zusammenhänge
Hier bieten sich nur zwei Gebiete an: 1. Steinskulpturen auf Borneo vertretener Hoch-
kulturen, 2. Stilkunde bzw. Ornamentik darstellender Kunst der Dayakstämme im obe-
ren Kutei- und Bulungangebiet.
1. Wenn Robert Nicholl im Vordergrund steht, darf dieses Thema nicht ausgespart wer-
den. Niemand ist diesem Faktor, Einfluß auswärtiger Hochkulturen, so nachgegangen
wie er; es sei nur darauf hingewiesen, was er in seinem Aufsatz Odoric of Pordenone
schreibt (o. J.: 5): »the Bruneis... were Taoists«. Diese Einflüsse sind m.E. grundle-
gend für Geschichte und Verständnis vieler Dayakkulturn. Im Gegensatz zum nördlich
gelegenen Kerayan-Gebiet sehe ich im Apo Kayan keine Elemente chinesischer Kul-
tur. Mit aller Vorsicht möchte ich behaupten, daß das Apo Kayan-Gebiet auch in prä-
kolonialer Zeit mehr zur Celebes-See hin orientiert war als zum Südchinesischen
Meer. Nominell gehörte es immer zum Sultanat Berau, dem gewichtigen Nachbarn
von Kutei. Damit wird unser Blick zum Hinduismus gelenkt. Und da zeigt es sich, daß
nur 60 km Luftlinie von der Grenze des Apo Kayan entfernt die nächsten Überreste
von Hinduskulpturen {Nieuwenhuis 1904 II: 116) gefunden wurden und daß das mas-
sive Vorhandensein von Hinduidolen in der Gunung Kombeng-Grotte nur 150 km vom
Kayan lyot entfernt ist. Unter den Idolen befand sich auch ein »viereckiger Kopf mit
vier gleichförmigen Gesichtern« {Witkamp 1914; 596), also der viergesichtige Brahma.
Der Januskopf von Data Dian ist zwar nur zweigesichtig, dazuhin weisen die beiden
Gesichter Unterschiede auf. Er würde also eher dem Feuergott Agni entsprechen. Hier
wird man über einen Zusammenhang nachdenken dürfen. Witkamp (1914: 597, 598)
vermutet, daß die Skulpturen aus der Pantun-Ebene, dem Zentrum des Pantun-Hindu-
reiches, stammen, und daß in der oberen Telen-Ebene ein früherer Hindutempel ver-
mutet werden muß. Außerdem erklärt Nieuwenhuis den Nandi vom Rata (1904II: 116)
als »Überrest eines Hindugrabes«. Und schon sind wir bei der Zuordnung Steinskulp-
tur - Totenritual in einer Hochkultur. Dringend wird gewarnt, auf C. C.Millers Black
Borneo (New York 1942) Bezug zu nehmen. Millers Buch ist ein Plagiat übelsten Aus-
maßes (z. B. 1942: 246 u. v. a. m.).
2. Apo Kayans Megalithskulpturen sind heute zu verwittert, um ikonographische
Rückschlüsse zuzulassen. Eine eventuelle Abwehrfunktion konnte nur im Rückgriff
auf Sierevelt vermutet werden. Die Schlüsselrolle bei der Ikonographie spielt die Dop-
pelfigur von Riam Laya {Baier 1979; 76): hier ist erkennbar, daß Zusätze an der Kopf-
seite und an der Innenseite der Füße von der Ornamentik her erklärt werden müssen.
An der fotografierten spread-eagle-Figur aus dem Kelabit-Gebiet bei CHIN (1981; 24)
erkenne ich dieselbe Ornamentik. Die alte Ornamentik im Apo Kayan und seinen
Nachbargebieten bestand aus Kreisen, Kurven und Spiralen. Dargestellte Figuren
109
TRIBUS 44, 1995
wurde damit ausgeschmückt. Was den Rahmen vorliegenden Aufsatzes sprengen
würde, wären Erläuterungen, daß sich daraus der Stil des heutigen Kenyah-Barock ent-
wickelt hat. Bei den besprochenen Apo Kayan-Skulpturen fallen die geschwungenen
langen Arme und Beine bei Figur C vom Sungan Sui auf. Seitliche Ausweitung am
Kopf liegt bei Figur A und B vor. Mehr kann leider nicht herausgelesen werden. Daß
die spread-eagle-Form auf typisch dayakische Flecht- und Webmuster zurückgeht,
wurde bereits in meinem Aufsatz von 1979: 75 behandelt.
IV. Wer hat die Magalithskulpturen hergestellt?
Eindeutig ist, daß die megalithischen Steinbearbeitungen nicht von den Kayan-
Kenyah-Stämmen stammen. Nach Elshout (1923: 11) sollen die Kenyah am Telen
Usan im oberen Baram-Gebiet seßhaft geworden sein, vorher lebten sie nomadisch.
Von dort zogen sie ins Pujungan-Gebiet und an den Iwan, vom Iwan aus in den Apo
Kayan. Wahrscheinlich werden sie erst nach 1750/1800 ins Apo Kayan-Gebiet einge-
drungen sein, das zu jener Zeit überwiegend von Kayan bewohnt war (vgl. Rousseau
1974; 93). Daß die Jenyah vor dieser Zeit keine Beziehung zur bornesischen Süd- und
Ostküste hatten, zeigt das gänzliche Fehlen folgender Hinduismen bzw. Java-Hinduis-
men: Bahatara, san hyan, dewa/dewata/Jata, naga, u.a., und nicht zuletzt; nur einstu-
fige Bestattung! Wegen der dürftigen Oraltradition zum Data Dian-Sarkophag (Baier
1979: 73) muß dessen Bezug zu den Kayan hinterfragt werden.
Wer bewohnte also das Apo Kayan-Gebiet im 18. Jahrhundert und noch früher? Nach
Van Walchren (1907: 768) hätten die Melarang und Segai »ursprünglich« im Apo
Kayan gewohnt. Nach Sierevelt (1929: 163 mit großen Fragezeichen versehen!) und
mir mitgeteilter Information, was Sungan Sui betrifft, seien die Ga’ai die Erbauer der
Megalithgräber. Sonst wird nirgends in der Literatur aufgrund direkter Informationen
von den Apo Kayan-Ga’ai gesprochen. Offensichtlich geht diese Tradition auf die aus
Long Uro stammende Bevölkerung zurück. Ähnlich steht es mit den Be-ö-ü, die nur
in der mündlichen Tradition der Punan Aput von Kayan Hilir Vorkommen. Ihre Urhe-
berschaft kann nur im Rückgriff auf die erwiesene Urheberschaft der Ngorek bei den
Umendolmen im Pujungan-Gebiet (Baier 1992; 169) in Erwägung gezogen werden.
Wie die Ga’ai (Baier 1992; 169) so sind auch die Be-ö-ü nur insofern den Ngorek ent-
sprechend die Hersteller megalithischer Grabmale, als die Ngorek so gut wie erwiesen
die Megalithgräber in ihrer Heimat erstellt haben. Alles andere, was darüber hinaus-
geht, ist Hypothese. Es bleibt dabei: das Woher der Steingräber vom Apo Kayan ist ein
Rätsel!
Literatur
Baier, Martin
1977 Das Adatbußrecht der Ngaju-Dayak; Text, Übersetzung und Erklärung der
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diss. Eberhard-Karls-Universität Tübingen)
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Harrisson, Tom
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1942 Black Borneo. New York: Modern age books
Muller, Kal
1990 Indonesian Borneo Kalimantan. Berkeley - Singapore: Periplus Editions
Nicholl, Robert
o. J. Odoric of Pordenone - Java the Great a. D. 1323 (Manuskript in meinem Besitz)
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Rousseau, Jerome
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Koninklijk Nederlandsch Aardrijkskundig Genootschap 1906/1907: 755-843
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1919 Een bezoek aan eenige oudheden in Koetei. Tijdschrift van het Koninklijk Neder-
landsch Aardrijkskundig Genootschap 31: 587-610
STEFAN DIETRICH
Tjeritera Patigolo Arkian
Struktur und Variation in der Gründungsmythe
des Fürstenhauses von Larantuka (Ostindonesien)
Untersuchungen zu politischen Mythen< in Indonesien zielen in einem komparati-
ven Ansatz auf die Herausarbeitung spezifischer Motive, die sich durch Bezug auf
Strukturen einer Kosmologie verstehen lassen oder Konzepte legitimer Herrschaft
ausdrücken (s. z. B. Ras 1968: 81-99; de Josselin de Jong 1980; Jordaan & de Josse-
lin de Jong 1985; de Josselin de Jong 1986). Der vorliegende Beitrag ist nicht im
Sinne dieser Untersuchungen komparativ angelegt. Er verfolgt vielmehr folgende
Ziele.
Zuerst soll die Gründungsmythe des Fürstenhauses von Larantuka zugänglich
gemacht werden: die >Erzählung von Patigolo Arkian< (Tjeritera Patigolo Arkian).
Sie liegt in veröffentlichter Form bisher nur als (stellenweise wohl gekürzte) Nach-
erzählung durch Arndt (1940: 73-75) vor, wobei zu vermuten ist, daß diese Version
nicht aus Larantuka selbst, sondern aus einem benachbarten Lamaholot-Dorf
stammt. Hier soll ein malaiischer Text wiedergegeben werden, der aus Larantuka
stammt und dem entsprechend die Geschichte von Patigolo bis heute in Larantuka
erzählt wird.
Die Analyse dieses Textes ist zwar auch komparativ angelegt, allerdings in bezug auf
verschiedene Versionen der Mythe. In einem ersten Abschnitt wird der Text kurz in
sein >Umfeld< gestellt. In zwei weiteren Abschnitten wird er zuerst als >Typ< von
Ursprungsmythe bestimmt, danach werden die Varianten systematisch dargestellt
und verglichen. In einem weiteren Abschnitt schließlich wird der Vergleich auf die
>Zwillingsmythe< der Patigolo-Geschichte ausgeweitet. Das in und über Indonesien
hinaus weit verbreitete Motiv des >stranger king< wird im Lauf dieser Diskussion in
den Vordergrund rücken.
Die verschiedenen Versionen der Patigolo-Geschichte weichen an ganz spezifischen
Punkten voneinander ab. Wie ich zu zeigen hoffe, sind dies keine willkürlichen
Abweichungen; vielmehr lassen sie sich zu verschiedenen Perspektiven in Bezug
setzen, aus denen heraus die Mythe schwerpunktmäßig >gelesen< werden kann. Diese
verschiedenen Perspektiven wiederum, so ist zu vermuten, lassen sich ihrerseits mit
verschiedenen historischen Kontexten in Bezug setzen, in denen die Mythe ihre
Funktion erfüllte.
Die Patigolo-Geschichte ist eine in sich geschlossene Erzählung. Zugleich ist sie
aber auch Teil einer umfassenderen Überlieferung, innerhalb derer sie ihre spezielle
Stellung einnimmt, ebenso wie sie in einem größeren kulturellen Zusammenhang
steht. Aus Platzgründen konzentriere ich mich auf die Varianten der Patigolo-
Geschichte und ihre interne Struktur sowie auf ihre >Zwillingsmythe<. Andere
Aspekte der Überlieferung können nur kurz an den relevanten Stellen angedeutet
werden. Der nicht-narrative Kontext wird vorwiegend in bezug auf die unmittelbare
Funktion der Patigolo-Geschichte berücksichtigt - d. h. die Grundlegung einer spe-
zifischen sozio-politischen Ordnung (das Kernland des Fürstentums Larantuka).1
Das moderne Larantuka ist eine Kleinstadt von etwas über 20000 Einwohnern am
Ostzipfel der Insel Flores. Das historische Larantuka, auf das ich mich hier beziehe,
ist beträchtlich kleiner als die moderne Stadt. Es umfaßt eine Reihe von Küstensied-
lungen, die sich durch Sprache und - bis Anfang des 20. Jahrhunderts zumindest -
durch Religion von ihrem Umfeld absetzten. Im historischen Larantuka wurde und
wird ein malaiischer Dialekt - Larantuka-Malaiisch (LM) - gesprochen (s. Steinhauer
112
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
1991), außerhalb von Larantuka Lamaholot (Lh) (s. R. H. Barnes 1993). Larantuka ist
seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts katholisch, die Lamaholot-Bevölkerung
wurde erst im 20. Jahrhundert erfolgreich missioniert. Dies soll keineswegs heißen,
daß die Bevölkerung von Larantuka eine eigene >ethnische Gruppe< darstellt. Letzt-
lich ging sie aus der Lamaholot-Bevölkerung hervor und unterhielt immer Beziehun-
gen zu dieser - sie unterscheidet sich aber durch ihren eigenen, historisch gewachse-
nen >life-style< (Sprache, religiöse und soziale >Bräuche< u. a.).
Das historische Larantuka war Zentrum eines Fürstentums, das sich über Ostflores
und Teile der Inseln Adonara, Solor und Lembata erstreckte - also über einen großen
Teil des Lamaholot-Gebiets (s. Dietrich 1989; 27-37, 59 [Karte]). Ethnographisch
werden die Konturen dieses Fürstentums erst im Lauf der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts erkennbar. Portugiesische Quellen belegen, wenn auch etwas
undeutlich, seine Existenz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und es ist sicher
nicht erst in jener Zeit entstanden. Die Dominikanermönche, von denen die ersten
Berichte stammen, scheinen jedenfalls vom Ansehen des Fürsten soweit beeindruckt
gewesen zu sein, daß sie ihn nicht einfach als >König< oder >Herrn< (rey, regulo, sen-
hor) bezeichneten, sondern als >Kaiser< (emperador; s. Dietrich 1989: 37).
Der Text
Die handschriftliche Vorlage der hier wiedergegebenen »Erzählung von Patigolo
Arkian< bildet gewissermaßen »Kapitel 2< (bzw. S.9-17) in einem Schreibheft, das
verschiedene Überlieferungen zu Larantuka enthält. Das Heft selbst befindet sich im
Regionalarchiv der Societas Verbi Divini (SVD) in Ende (Flores).2
Der Text ist in Malaiisch verfaßt, aber nicht im spezifischen malaiischen Dialekt von
Larantuka. Ich nehme an, daß es sich um ein Malaiisch handelt, das (zwar nicht unbe-
einflußt vom Larantuka-Malaiischen) vor dem Pazifischen Krieg durch den Einfluß
von Mission, Schule und Kolonialverwaltung in Larantuka als »Hoch-Malaiisch< galt.
Die Gliederung in Abschnitte findet sich im Originaltext nicht, ansonsten habe ich die
Orthographie (einschließlich der Abkürzungen) und die Interpunktion beibehalten.
Das Heft nennt weder Autor noch Datum. Ich würde vermuten, daß es in den 1940er
Jahren geschrieben wurde. Auf Seite 6 wird Bezug genommen auf Raja Don Lorenzo
III, »der jetzt König ist< (»jg berkeradjaan sekarang ini«; raja >Fürst<), welcher von
1938 bis zur Abschaffung der »selbstverwaltenden Länder< (swapraja) im Jahre 1962
regierte. Der Schreiber des Textes bleibt ungenannt.
Es gibt im Grunde genommen drei Versionen der Patigolo-Geschichte, die ich in
zwei Gruppen gliedern möchte: A die Larantuka-Versionen, B Versionen aus dem
Lamaholot-Gebiet. Die hier wiedergegebene Tjeritera sei Al. Ein zweiseitiges
maschinenschriftliches Hikajat Patigolo Arkian (»Geschichte von Patigolo Arkian<),
ebenfalls im SVD-Regionalarchiv in Ende, datiert 29.9.1936. Hier wird ausdrück-
lich hervorgehoben, daß die Geschichte »gemäß den Erzählungen der alten Leute von
Larantuka< niedergeschrieben wurde (»Ditulis menoeroet tjeritera orang toea-toea
Larantoeka«), Ich berücksichtige diese Version nicht, da sie weitgehend (z. T. wört-
lich) aber in der Regel straffer und knapper formuliert mit Al übereinstimmt, so daß
sie in der vorliegenden Fassung kaum unabhängig von Al entstanden sein kann (falls
ich mich darauf beziehe, dann als Al'). Daneben werde ich gelegentlich auf zwei
ra/a-Genealogien zurückgreifen, die in aller Kürze auf Patigolo Bezug nehmen (A2:
Tjeritera pendek dari katoeroenan radja di tanah Larantoeka, ca. 1905/6 von Raja
Don Lorenzo II verfaßt, Beilage zu Couvreur 1907; A3: Tjeritera asal hangsa Radja
Larantoeka, »Kapitel 1< in dem oben erwähnten Heft, in dem sich die Patigolo-
Geschichte befindet).
Zur Gruppe B gehört die von Arndt (1940: 73-75) publizierte Version (Bl), deren
Herkunft Arndt leider nicht angibt. Im Kantor P&K in Larantuka erhielt ich freund-
licherweise einen hektographierten Text, schlicht »Pati Golo< (B2 ) betitelt. Leider
war auch hier nicht zu ermitteln, wo der Text aufgenommen wurde. Sicher ist nur,
daß er nicht aus dem eigentlichen Larantuka-Gebiet stammt (d. h. dem Gebiet, in dem
Larantuka-Malaiisch gesprochen wird), da er ursprünglich in der Lamaholot-Sprache
TRIBUS 43, 1994
aufgenommen wurde. Die vorliegende Fassung ist eine Übersetzung ins Indonesi-
sche. Es ist, wie bereits bemerkt, anzunehmen, daß auch die Version von Arndt aus
dem Lamaholot-Gebiet stammt.3 Ein dritte Version (B3) stammt aus Belogili
(Lamaholot). Sie wurde mir freundlicherweise von Prof. Karl-Heinz Kohl zur Verfü-
gung gestellt. Da sie publiziert werden wird - sie ist Teil einer noch nicht ganz voll-
endeten Monographie (Kohl, in Vorbereitung) -, möchte ich hier so sparsam wie
möglich auf sie zurückgreifen.
Darüber hinaus wird in unveröffentlichten Dokumenten der Kolonialzeit sowie in der
Literatur auf die Tradition von Larantuka Bezug genommen. Diese Quellen zitiere
ich wie üblich.
Die Patigolo-Geschichten, die ich in Larantuka gehört habe, sollen hier (mit einer
Ausnahme) nicht weiter berücksichtigt werden. Die Geschichte wird auch heute
noch - von unterschiedlicher Formulierung und Ausführlichkeit einmal abgesehen -
entsprechend des hier wiedergegebenen Textes (Al) erzählt, und von allen Überlie-
ferungen in Larantuka ist sie die bekannteste. Ich erhielt zudem eine Version, die der
R-Gruppe entspricht, auf die ich kurz eingehen werde.
In den Anmerkungen zum Text notiere ich vor allem Varianten aus Al' und Bl-2\
B3 soll aus dem bereits genannten Grund nicht berücksichtigt werden.
Tjeritera Patigolo Arkian
[1] Bermoela adalah pada zaman poer-
bakala, dinegeri Waihali dipoelau
Timoer, doea org bersaudara, jg toea,
seorg perempoean bernama Boeikéna
Harawadan dan jg boengsoe, seorg laki2
bernama Patigolo Arkian. Adapoen
pekerdjaan Patigolo itoe setiap pagi dan
petang menjadap toeak, mengambil nira
(toeak manis) oentoek soedaranja.
[2] Sekali peristiwa pada soeatoe hari
pagi tiada diperoléhnja nira maka ia
ditanjai soedaranja, jg pada waktoe itoe
sedang bertenoen kain (saroeng mabéi)
tentang niranja.
[3] Мака djawabnja: »Adalah soedah
beberapa hari, nira pendapatan hamba
amat koerang dp biasanja; roepa2nja
ditjoeri org.« Akan tetapi soedaranja
tiada hendak pertjaja akan perkataannja
itoe, maka diambilnja pedang pene-
noennja laloe diparapnja kepala adiknja
itoe.
[4] Maka Patigolopoen berloemoeran
darahlah. Maka berkatalah ia (Patigolo)
dalam hatinja: »Baiklah akoe pada
malam ini, doedoek diatas pohon tempat
nira itoe, akan melihat kalau2 datang
pentjoeri itoe poela.« Maka haripoen
petanglah, maka pergilah Patigolo
memandjat pohon talas penjadapannja
itoe, laloe doedoek menoenggoe disitoe.
Die Erzählung von Patigolo Arkian
[1] Am Anfang in der Vorzeit, da lebten
im Lande Waihali auf der Insel Timor
zwei Geschwister. Das ältere war eine
Frau namens Buikena Harawadan, das
jüngere war ein Mann namens Patigolo
Arkian. Patigolos Arbeit war es, jeden
Morgen und Abend Palmwein zu zapfen
und süßen Palmwein für seine Schwe-
ster zu holen.4
[2] Eines Morgens geschah es, daß er
keinen Palmwein hatte. Seine Schwe-
ster, die gerade ein Tuch (sarung mahei)
webte, fragte ihn nach dem Palmwein.5
[3] Er antwortete: »Schon seit einigen
Tagen bekomme ich sehr viel weniger
Palmwein als gewöhnlich. Es sieht ganz
so aus, als ob ihn jemand stiehlt.« Aber
seine Schwester wollte seinen Worten
keinen Glauben schenken, daher nahm
sie ihr Webschwert und schlug ihren
Bruder auf den Kopf.6
[4] Patigolo war blutbefleckt. Da sagte
er (Patigolo) zu sich im Stillen:7 »Na
gut, heute Nacht setze ich mich oben in
die Palme, um zu sehen, ob möglicher-
weise der Dieb wiederkommt.« Als der
Abend dämmerte, kletterte Patigolo auf
den Taro-Baum,8 wo er gewöhnlich
zapfte. Dort saß er und wartete.
114
Dietrich: Tjeritera Fatigólo Arkian
[5] Sjahdan maka pada laloe tengah
malam didengarnja dari djaoeh, boenji
menderoe seakan-akan boenji angin
riboet; makin lama makin dekat, jaítoe
seékor boeroeng jg amat besarnja.
[6] Мака di hati Fatigólo: »Inilah
boeroeng jg soedah mentjoeri nirakoe,
agaknja.« Serta hinggap boeroeng itoe,
maka oléh Fatigólo diikatkannja
badannja kepada kaki boeroeng itoe dg
ikat pinggangnja.
[7] Maka ada beberapa djam lamanja ia
di bal jg demikian itoe, datang waktoe
dinihari, maka terbanglah boeroeng itoe
membawa serta Fatigólo itoe ke Tanah
Djawa.
[8] Ketika siang tetap, hinggaplah
boeroeng itoe pada sebatang pohon ara
jg amat besar dekat seboeah keboen
boeah2an. Maka segeralah Fatigólo
mengoeraikan ikat pinggangnja laloe
toeroen perlahan-lahan dari atas pohon
i toe.
[9] Sjahdan pada laloe tengah hari Pati-
golopoen berasa lapar, di hal ta’ ada ia
berbekal makanan soeatoe djoeapoen.
Maka masoeklah ia kedalam keboen itoe
mentjahari boeah; maka didapatnja
sebatang pohon pisang berboeah masak;
maka diambilnja beberapa boeah itoe
akan menghilangkan laparnja. Apabila
petanglah hari, maka penoenggoe
keboen itoe datang hendak mengambil
boeah2an; maka terlihatlah ia akan seorg
boedak laki2; pada sangkanja pentjoeri.
Maka kembalilah ia memanggil bebe-
rapa org laki2 menangkap pentjoeri itoe.
Setelah soedah ditangkapnja, maka
dibawanja menghadapi radja, minta
dihoekoem akan boedak itoe.
[ 10] Maka oléh radja ditanjainja tentang
segala hal ihwal org jg disangka pentjoe-
ri itoe. Apabila didengar radja akan
segala djawab Fatigólo itoe, maka nja-
talah kepadanja bahwa boekan pentjoeri
boedak itoe, melainkan org baik2 djoega.
Maka diberi oléh radja kepada penoeng-
goe keboen itoe, boedak itoe akan anak
angkatnja.
[5] Mitten in der Nacht hörte er in der
Ferne ein Rauschen wie von einem
Sturm, das immer näher kam. Es war ein
sehr großer Vogel.9
[6] Patigolo dachte: »Das ist wahr-
scheinlich der Vogel, der meinen Palm-
wein gestohlen hat.« Während der Vogel
da saß, band sich Patigolo mit seinem
Gürtel an dem Fuß des Vogels fest.10
[7] So verharrte er einige Stunden lang.
Als der Morgen graute, da flog der
Vogel weg und brachte Patigolo ins
Land Java.
[8] Als es hell geworden war, landete der
Vogel auf einem sehr großen Feigen-
baum, der sich nahe bei einem Obstgar-
ten befand. Sofort löste Patigolo seinen
Gürtel und stieg ganz langsam vom
Baum herunter.
[9] Um die Mittagszeit verspürte Pati-
golo Hunger, denn er hatte überhaupt
keinen Essensvorrat dabei. Da ging er in
den Garten und suchte Früchte. Er fand
einen Bananenbaum, dessen Früchte reif
waren.11 Da nahm er einige Früchte, um
den Hunger zu vertreiben. Abends kam
der Wächter des Gartens, um Früchte zu
holen und sah einen jungen Mann; er
nahm an, daß es ein Dieb sei. Er kehrte
um und rief einige Männer, um den Dieb
zu fangen. Als sie ihn gefangen hatten,
brachten sie ihn vor den König und
baten, den jungen Mann zu richten.12
f 10] Da fragte der König den Mann, den
man für einen Dieb hielt, über alles aus,
und als der König die Antworten Fatigó-
los gehört hatte, da war ihm klar, daß der
junge Mann kein Dieb war. sondern ein
guter Mensch. Und so übergab der
König den jungen Mann dem Wächter
des Gartens als Adoptivsohn.13
TRIBUS 43, 1994
[11] Arkian maka beberapa tahoen
kemoedian dp itoe, Patigolopoen beris-
terikan seorg perempoean negeri itoe;
maka beranaklah 2 org laki2 bernama
Poesi dan Coa.
[12] Sjahdan pada soeatoe hari, Patigolo
membersihkan pisaunja; maka dikikis-
nja hoeloe pisaunja laloe pengikisan itoe
diboeboeh kedalam api; maka tertjioem-
lah kepada radja barang baoe jg haroem.
Setelah soedah diperiksainja maka dida-
patnja, kajoe hoeloe pisau Patigolo itoe,
sedjenis kajoe jg haroem adanja;
[13] maka bertanja-tanjalah ia akan
Patigolo tentang kajoe itoe. Maka oléh
Patigolo ditjeriterakan bahwa kajoe dje-
nis i toe, tempatnja dipoelau Ti moer,
namanja tjendana.
[14] Apabila didengar radja akan tjeri-
tera Patigolo itoe, maka soekatjitalah ia,
karena kajoe itoe boléh mendjadi dagang-
annja. Maka disoeroehnja melengkap-
kan seboeah kapal dg nachodanja, Pati-
golo akan berlajar kepoelau Timoer,
mengambil kajoe tjendana itoe.
[15] Beberapa lamanja berlajar itoe,
maka tibalah meréka itoe dipoelau
Timoer. Maka ada seboelan lamanja di
Timoer itoe, maka kapal itoe saratlah ber-
moeat tjendana belaka. Maka kembali-
lah Patigolo ke Tanah Djawa.
[16] Dalam perdjalanan poelang itoe
singgahlah ia kepoelau Flores, laloe naik
kedarat dipantai Waibaloen.
[17] Maka ada beberapa hari lamanja
meréka bersenang-senang dipantai itoe.
Datang kepada soeatoe hari waktoe pagi,
terlihatlah kepada Patigolo, dipoentjak
goenoeng llémandiri, asap berbangkit. Pa-
da pendapat Patigolo, ta’ dapat tiada ada
org dipoentjak goenoeng itoe, maka ada
api disitoe. Maka bermoepakatlah ia sama
sendirinja hendak kepoentjak llémandiri. 18 * * * * * *
[18] Setelah soedah berkemas segala
bekal, maka berkatalah ia kepada djo-
eroemoedinja: ȃsok pagi bamba men-
daki goenoeng itoe; apabila tiada bamba
kembali selang 3 hari, hendaklah kamoe
bertolak ke Tanah Djawa; karena ta’
dapat tiada soedah bamba mati.«
[11] Einige Jahre später heiratete Pati-
golo eine Frau jenes Landes, und er
bekam zwei Söhne, die Pusi und Goa
hießen.
[12] Eines Tages säuberte Patigolo sein
Messer. Er schabte den Messergriff, und
die Abschabsei warf er ins Feuer. Da
nahm der König einen Wohlgeruch war.
Nachdem er die Sache untersucht hatte,
gelangte er zum Griff von Patigolos
Messer, einer Art duftenden Holzes.14
[13] Er fragte Patigolo über das Holz
aus, und Patigolo erzählte, daß es diese
Art Holz in seiner Heimat Timor gebe
und Sandelholz genannt werde.
[14] Als der König Patigolos Bericht
gehört hatte, da freute er sich, denn jenes
Holz könnte eine Handelsware werden.
Und so ordnete er an, ein Schiff aus-
zurüsten mit Patigolo als Kapitän, um
nach Timor zu segeln und Sandelholz zu
holen.15
[15] Nach einer gewissen Zeit kamen sie
in Timor an. Sie blieben einen Monat in
Timor, bis das Schiff mit nichts als San-
delholz voll geladen war. Dann kehrte
Patigolo nach Java zurück.
[16] Auf ihrer Rückreise kamen sie zur
Insel Flores und gingen am Strand von
Waibalun an Land.
[17] Sie vergnügten sich einige Tag am
Strand, bis Patigolo eines Morgens auf
dem Gipfel des Ilimandiri16 Rauch auf-
steigen sah. Patigolo war der Ansicht,
daß es unmöglich sei, daß da kein
Mensch auf dem Berggipfel sei, da es
dort ein Feuer gebe. Da kam er mit sich
zu dem Ratschluß, den Gipfel zu bestei-
[18] Nachdem er seine Vorräte gepackt
hatte, sagte er zum Steuermann; »Mor-
gen besteige ich den Berg; wenn ich
nach drei Tagen nicht zurück bin, dann
fahrt ihr nur nach Java zurück, weil ich
dann sicher tot bin.«
116
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
119] Sjahdan maka pada keésokan har-
inja, pagi2, berangkatlah Patigolo seorg
dirinja, menoedjoe kepoentjak Iléman-
diri. Tiba disitoe, pada soeatoe tempat,
dilihatnja sekebanjakan bangkai dp
babi, roesa, oelar, tokék dan beberapa
djenis binatang hoetan; akan manoesia
seorg poen tiada tampak. Dalam pada
itoe, seramlah boeloe badannja dp takoet-
nja, kalau2 orgnja bersendjata, bersem-
boenji menantikan dia.
[20] Мака dipandjatnja sebatang pohon
jg tinggi laloe doedoek disitoe hendak
melihat apakah jg akan djadi kelak.
[21] Adalah kira2 sedjam lamanja ia dia-
tas pohon itoe, tiba2 dilihatnja keloear
dari soeatoe djalan jg sempit, seperti
bekas djalan binatang, seorg org hoetan
jg hébat roepanja. Мака terkedjoetlah
Patigolo, sebab beloem pernah melihat-
nja, sambil doedoek dg tiada bergerak.
[22] Hatta maka org hoetan itoepoen
doedoek memboeat api dg doea kerat
kajoe kering; bagaimana djoega digoso-
knja, tiada hendak djadi api itoe. Мака
berkatalah ia: »Ada org agaknja maka
tiada djadi api ini. Baik ia datang menja-
takan dirinja, soepaja djangan ia binasa.«
[23] Apabila didengar oléh Patigolo
akan perkataanja itoe, maka toeroenlah
ia dg hati2. Sebeloem sampai ketanah,
terlihat ia kepada org hoetan itoe. Мака
kata org hoetan: »Oentoeng, lekas
djoega engkau kemari, djika tiada, nis-
tjaja toelangmoe poen ta’ketinggalan.«
[24] Setelah sampai maka Patigolo di-
djamoeinja doedoek, laloe ia poen mem-
boeat api poela, maka djadilah. Мака
segala binatang perboeroeannja itoe
dibakarnja sehingga masak kesemoeanja
laloe dipotong-potongnja dg koekoenja.
Adapoen koekoenja itoe pandjang serta
tadjam sehingga dapat dipakainja seperti
sendjatanja; maka segala binatang jg
dapat diboeroeinja diboenoehnja dg
koekoenja itoe. 25
[25] Setelah siap soedah makanan itoe,
maka Patigolo didjamoeinja makan ber-
sama-sama. Sementara makan itoe,
[19] Am nächsten Tag brach Patigolo
frühmorgens ganz alleine auf und ging
zum Gipfel des Ilimandiri. Als er dort
angekommen war, sah er an einem Platz
zahlreiche Skelette von Schweinen, Hir-
schen, Schlangen, Geckos und anderen
wilden Tieren. Ein Mensch war aller-
dings nicht zu sehen. Unter diesen
Umständen bekam er aus Furcht eine
Gänsehaut, denn möglicherweise hatten
sich bewaffnete Leute versteckt und
warteten auf ihn.18
[20] So stieg er auf einen hohen Baum;
dort saß er und wollte sehen, was passie-
ren würde.19
[21] Etwa eine Stunde später sah er
plötzlich, wie auf einem schmalen Pfad,
der wie ein ehemaliger Wildwechsel
aussah, ein gewaltiger Waldmensch her-
ankam. Patigolo erschrak und blieb
regungslos sitzen, denn noch nie zuvor
hatte er so etwas gesehen.20
[22] Der Waldmensch aber setzte sich
nieder und machte mit zwei trockenen
Holzstücken Feuer. Aber wie auch
immer er sie rieb, das Feuer wollte nicht
entstehen. Da sagte er: »Wahrscheinlich
ist da jemand, so daß das Feuer nicht
entsteht. Besser zeigt er sich, damit er
nicht zunichte geht.«21
[23] Als Patigolo diese Worte hörte, da
stieg er vorsichtig herab. Bevor er am
Boden war, sah ihn der Waldmensch. Er
sagte; »Ein Glück, daß du sofort
kommst. Falls nicht, dann wäre nicht
einmal etwas von deinen Knochen
übriggeblieben.«22
[24] Als Patigolo [am Boden war], da
lud [der Waldmensch] ihn ein, sich zu
setzen. Dann machte er noch einmal
Feuer, und nun entstand es. Er grillte alle
seine Jagdtiere, bis sie alle gar waren,
dann schnitt er sie mit seinen Fingernä-
geln in Stücke. Seine Fingernägel aber
waren lang und scharf, so daß sie wie
eine Waffe gebraucht werden konnten,
alle seine erjagten Tiere erlegte er mit
seinen Fingernägeln.
[25] Nachdem das Essen bereit war, da
lud er Patigolo zum gemeinsamen Essen
ein.22’ Während sie aßen, nahm Patigolo
117
TRIBUS 43, 1994
diambil Fatigólo anggoernja sebotol,
ditoeangnja kedalam tjawan laloe dibe-
rinja kepada org hoetan itoe sambil
katanja: »Soedi apalah kiranja tocan
minoem minoeman ini, jg biasa bamba
dan bangsa bamba minoem.« Мака
disamboet oléh org hoetan tjawan itoe
laloe diminoemnja isinja. Setelah habis
beberapa tjawan anggoer itoe dimi-
noemnja, maka tertidoerlah org hoetan
itoe, tiada chabarkan dirinja lagi.
126] Adapoen perboeatan Fatigólo jg
demikian itoe, sebab sangat hendak
diketahoeinja, laki2 atan perempoeankah
org hoetan i toe.
[27] Мака diambilnja pisan tjoekoernja
laloe ditjoekoernja boeloe org hoetan
itoe, maka njatalah kepadanja bahwa org
i toe seorg perempoean adanja. Setelah
soedah habis ditjoekoernja, dikerat koe-
koe org itoe laloe ditoetoep badannja dg
kain selimoet.
[28] Beberapa lamanja tidoer itoe maka
tersadarlah ia. Maka heranlah ia akan
sendirinja, sebab badannja bersih dp
boeloe serta berselimoet itoe.
[29] Maka Patigolopoen mengambil
perempoean itoe akan isterinja, laloe
beranak empat org anak laki2, bernama
Padoe lié Pook Wolo, Watowélé Dolé,
Koedi Lelén Bala dan Lolapan Doro
Doeli, seperti terseboet di tjeritera asal
bangsa Radja Larantoeka.
[30] Adapoen Poesi dan Goa anak Fati-
gólo, jg ketinggalan di Djawa itoe telah
mendjadi org moeda; maka bermoepa-
katlah kedoeanja hendak mentjahari
bapanja ke Flores. Maka menoempanglah
meréka itoe seboeah perahoe kenegeri
Larantoeka. Maka dg takdir Allah ber-
djoempalah kedoeanja dg bapanja oléh
bertanja-tanja. Maka oléh Fatigólo
diberi tempat Lebao Tabali akan
kediaman kedoea anaknja itoe.
Tammat.
seine Flasche Wein,24 schenkte einen
Becher ein, gab ihn dem Waldmenschen
und sprach: »Vielleicht darf ich Euch
bitten, dieses Getränk zu trinken, das
meine Wenigkeit und meinesgleichen
gewohnt sind zu trinken.« Der Wald-
mensch nahm den Becher entgegen und
trank ihn leer. Als er einige Becher Wein
getrunken hatte, da schlief der Wald-
mensch wie bewußtlos ein.25
[26] Fatigólo aber hatte dies mit Absicht
getan, da er unbedingt wissen wollte, ob
es sich bei dem Waldmenschen um einen
Mann oder um eine Frau handelte.26
[27] So nahm er sein Messer und rasierte
das Fell des Waldmenschen ab. Da
wurde ihm augenscheinlich, daß dieses
Wesen eine Frau war. Als er mit dem
Rasieren fertig war, schnitt er die Nägel
dieses Menschen und deckte ihn dann
mit einer Decke zu.27
[28] Nachdem sie eine Weile geschlafen
hatte, wachte sie auf. Da war sie über
sich verwundert, denn ihr Körper war
frei von Fell und sie trug eine Decke.28
[29] Fatigólo aber nahm die Frau zur
Gattin und bekam vier Söhne namens
Padu lié Pook Wolo, Watowélé Dolé,
Kudi Lélén Bala und Lolapan Doro
Duli, wie schon in der Erzählung vom
Ursprung des Fürstengeschlechts von
Larantuka berichtet wurde.
[30] Was aber Pusi und Goa betrifft, die
in Java zurückgeblieben waren, die wur-
den zu jungen Männern. Da beschlossen
sie, ihren Vater auf Flores zu suchen. Sie
fuhren mit einem Schiff nach Larantuka
und gemäß des Ratschlusses Gottes tra-
fen sie ihren Vater durch wiederholtes
Fragen. Fatigólo gab seinen zwei Söh-
nen Lebao-Tabali als Wohnort.29
Ende.
118
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
Der Kontext
Das Gerüst der historischen Tradition von Larantuka bildet die Genealogie der Für-
sten (vgl. Fox 1971: 42-52). An dieser Genealogie orientiert werden zu einzelnen
Figuren mehr oder weniger ausführliche >Geschichten< erzählt, d. h. bemerkenswerte
Taten oder Geschehnisse während der Lebenszeit des jeweiligen Fürsten. Diese
>Geschichten< können dann auch unabhängig von der Genealogie selbst erzählt und
gelegentlich verschiedenen Figuren zugeordnet werden. Die Patigolo-Geschichte ist
eine solche Geschichte, eine andere wäre die Gründung des Königreichs Larantuka.
Die Überlieferungen anderer Clans (LM suku) hängen sich oft an die Fürsten-Genea-
logie an. Beispielsweise wird die Ankunft eines Clans durch den Bezug auf einen
Fürsten zeitlich eingeordnet, und der Rang des Clans wird durch eine Leistung, die
von diesem Clan dem Fürsten erbracht wurde, erklärt.
Die Patigolo-Geschichte bildet den Anfang und damit die Grundlage der
>Geschichte< von Larantuka. In genealogischen Berichten (z. B. A3) zur Fürsten-
Familie werden in aller Kürze am Anfang Lianhura und seine Schwester Watowélé
erwähnt, die auf dem Ilimandiri wohnen. Es wird gesagt, wen sie heiraten (im Falle
Watowélés ist dies natürlich Patigolo). Die Kinder von Watowélé und Patigolo wer-
den genannt und dann fährt der Bericht mit der >Reichsgründung< fort.
Die Kenntnis der Patigolo-Geschichte wird vorausgesetzt und damit gewissermaßen
Platz gespart für die einzige Geschichte, die im genealogischen Bericht (A2-3) aus-
führlich erzählt wird: die erwähnte >Reichsgründung< durch Sira Demon.30 Weitere
Episoden der Überlieferung werden dann nur noch stichwortartig angedeutet. Die
Schwerpunktsetzung auf die >Reichsgründung< erscheint ausgesprochen nahelie-
gend, da diese Episode erklärt, warum es einen Fürsten in Larantuka gibt und welche
Familie das Recht auf diese Würde besitzt.
Im Kontext von A2-3 ist die Patigolo-Geschichte auf die Fürsten von Larantuka
fokussiert. Genau genommen ist sie aber nicht nur für die Fürstenfamilie eine
Ursprungsgeschichte. Von Watowélé und Patigolo stammen zudem der älteste Clan
(und damit ältester tuan tanah >Herr des Bodens<) von Waibalun (ein Lamaholot-
Dorf) ab, sowie die tuan tanah von zwei Stadtteilen von Larantuka (Baléla und
Larantuka, letzteres auch der Name eines Stadtteils, nicht zu verwechseln mit der
ganzen Stadt; vgl. Abb. 10). Auf dieser Ebene, d. h. Watowélé-Patigolo und ihre
Söhne, gab es noch kein Fürstentum: >Damals gab es noch keinen Fürsten und jeder
hatte sein eigenes Land mit eigenen Dörfern, das er regierte< (»Pada tempo itoe tida
ada radja di sitoe dan orang masing2 negeri dan kampoeng2 pegang pemerentah
negrinja sendiri«; A3; entsprechend B2).
Der Fokus auf die Fürsten wird aber in Al-3 insofern deutlich, als sie die Fürsten-
würde dadurch >präfigurieren<, daß unter den Söhnen Patigolos Padu lié [29], Vater
des >Reichsgründers< und ersten Fürsten Sira Demon, der älteste Sohn ist (so auch
Heynen 1876: 77). In B2 (und heutigen Erzählungen in- und außerhalb Larantukas)
hingegen ist Kudi, der Gründerahn von Waibalun, der älteste Sohn. Wie immer die
Altersverhältnisse geordnet sind: die Geschichte von Patigolo >gehört< nicht nur dem
Fürstenclan. Auch dies dürfte ein Grund für die Zentralität der Geschichte der
>Reichsgründung< in A2-3 sein, da diese den Fürstenclan endgültig unter den Brü-
dern vom Ilimandiri heraushebt.
Dennoch ist die Tatsache, daß mehrere Familien von Patigolo und Watowélé abstam-
men, gerade auch für das >spätere< Fürstentum von Bedeutung. Dank eben dieser
Abstammung nämlich besitzen die genannten Dörfer Waibalun, Baléla und Laran-
tuka ihren Status unter den pou suku léma (>Volk der fünf Clans<), den fünf Dörfern
des Kernlandes des Fürstentums Larantuka (s. Dietrich 1989: 54; vgl. schematisch
vereinfacht Abb. 10). Repräsentanten dieser >fünf Clans< bildeten den >Reichsrat< des
Fürsten; sie waren zugleich seine Kriegsführer.31
Die Patigolo-Geschichte ist also in doppelter Hinsicht eine Ursprungsgeschich-
te: Zum einen für das Fürstenhaus selbst durch - nach Al-3 - den Status von Pa-
du lié als ältestem Sohn Patigolos, zum anderen indem sie die Grundlage für den
>Reichsrat< des künftigen Fürsten legt. Andere Überlieferungen berichten dann, wie
119
TRIBUS 44, 1995
sich die Struktur des Kernlandes des Fürstentums im weiteren Verlauf voll ausbil-
det.
Die Vorgeschichte zu Patigolo und Watowele ist aus der Lamaholot-Ethnographie
bekannt. In einer Mythe zu Watoweles Bruder Lenurat (der Name taucht in ver-
schiedenen Formen auf, ich verwende der Kürze halber im weiteren Verlauf die Form
Lenurat) beispielsweise fertigen zwei Urwesen, Sen Mo. und Adam Eva, sieben Bün-
del, die sie weit wegwerfen; aus dem letzten dieser Bündel entsteht der llimandiri. In
dessen Gipfel befinden sich zwei Eier, die von zwei Vögeln ausgebrütet werden und
aus denen dann die Zwillinge Lia Nura Nura Nama (Lenurat) und Watu Wele Apa
[sic] Utan ausschlüpfen.32
Von Lenurat wiederum leiten sich führende Clans der Domäne Baipito (Mudaka-
putu) ab, analog des Verhältnisses in Larantuka (s. Dietrich 1989: 27 und 53). Auf
diese Weise können die Überlieferungen von Larantuka und Baipito als ein >Feld<
mit zwei Überlieferungssträngen betrachtet werden, die durch das anfängliche
Geschwisterverhältnis von Lenurat und Watowele miteinander verbunden sind. Zen-
trum dieses >Feldes< ist die gemeinsame Abstammung vom llimandiri. Die betref-
fenden Clans sind >vom Berg geboren< (Lh ile jadi), >vom Berg geboren, vom Hügel
gemacht< (Lh ile jadi woka tula), >Kinder des Berges< (Lh ile ana), >Kinder des
Ilimandiri< (LM ana-ana Ilemandiri) (Kleden 1975: 61; Arndt 1940: 68; Heynen
1876: 72).
Hierauf stützt sich ihre Vorrangstellung gegenüber den später >eingewanderten<
Clans. Sehr viele unter diesen >Einwanderern< führen sich auf zwei >mythische< Her-
kunftsländer zurück, Sina Jawa im Westen, und Kroko Puken (Lapan Batang) im
Osten (s. Dietrich 1989; 14-15; R. H. Barnes 1994: 81-82, 87).
In der Geschichte der ersten Ahnen vom llimandiri spielen schließlich noch die Paji
und Demon eine Rolle, die beiden rituell verfeindeten Bevölkerungsgruppen der
Lamaholot-Kultur.33 Im Kontext der Geschichte von Lenurat sowie in der Überliefe-
rung von Larantuka sind die Paji die ersten Bewohner an der Küste (ihre Anwesen-
heit wird in den betreffenden Überlieferungen nicht explizit erläutert). Anfangs leben
die beiden Gruppen noch friedlich zusammen, dann entsteht Streit, und die Paji wer-
den von den >Kindern des IlimandirL (Demon) - d. h. den Söhnen von Lenurat und
denen von Watowele - vertrieben. Die Demon beginnen damit, vom Berg herab zu
kommen (Arndt 1940: 68-70; Wertenbroek o. J.: 4; vgl. Vatter 1932: 34-35).
Struktur und Konstanz in den Patigolo-Geschichten
In der narrativen Struktur und in den Erzählmotiven sind sich die verschiedenen Ver-
sionen der Patigolo-Geschichte ausgesprochen ähnlich. Gelegentlich gibt es kleine
Abweichungen, manchmal erscheinen mir die ß-Versionen konsistenter, insofern sie
eher beiläufige Handlungen in Al spezifizieren oder näher begründen. Solche Vari-
anten sind in den Anmerkungen zur Übersetzung angeführt; sie ändern nichts
wesentliches an der Geschichte selbst.
Die gleiche Gesamtstruktur und dieselben Elemente der Erzählung treten auch in
anderen Lamaholot-Überlieferungen zum Ursprung eines oder mehrerer Clans auf.
Einzigartig für die Larantuka betreffenden Versionen ist, soweit ich das sehe, das
>Sandelholz-Motiv< [12-16].
Zu nennen ist hier v. a. die Geschichte von Lenurat, die das >Spiegelbild< der
Geschichte von Patigolo und Watowele darstellt. Hier ist Lenurat der >Waldmensch<
auf dem Berg, auf den das Mädchen Hadun Boleng Teniban Duli an der Küste auf-
merksam wird, als sie einen Lichtschein vom llimandiri sieht. Ihr Bruder Suban
Lewa Hawan Sau Lewa Gewe tritt als Vermittler auf, bis Teniban Duli Lenurat hei-
ratet. Struktur und zahlreiche Erzähldetails sind mit der Patigolo-Geschichte iden-
tisch (s. Arndt 1940: 61-66).34 Bei Arndt findet man, in mehr oder weniger ausführ-
licher Form, entsprechende Mythen aus West-Solor sowie aus West- und
Ost-Adonara (Arndt 140: 146-149, 154-155, 160-161, 166, 215-216; 1951: 235;
vgl. R.H. Barnes 1974: 40-41 zu Kedang).35
Die Patigolo-Geschichte gehört somit zu einem (aber nicht dem einzigen) Typ von
120
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
>Ursprungsmythen< der Lamaholot-Kultur (R.H. Barnes 1974: 40); ein Clan oder
eine Gruppe von Clans entsteht dadurch, daß ein >Waldmensch< vom Berg von
einem »normalen Menschern >kultiviert< wird, was die Heirat und schließlich ein
»normales Lebern ermöglicht - so lernt Lenurat, der wie Watowele ursprünglich ein
Jäger ist, von seinem Schwager Feldbau und Palmweinzapfen, zwei Beschäftigun-
gen, die in B2 Patigolo ausdrücklich beherrscht. Hadun Boleng muß Lenurat dage-
gen beibringen, wie die Begattung zu erfolgen hat (Arndt 1940: 63-64, 66). Es las-
sen sich insgesamt folgende Oppositionen festhalten:
Watowele/> Waldmensch<
Fell
Fingernägel
Jagd
Gebratene Nahrung
keine Unterscheidung von Jagdtieren
magische Kraft
lernt
Berg
Patigolo/Anormaler Mensch<
Kleidung/Weben
Messer/Eisen
Landbau/Palmweinzapfen
Gebratene und gekochte Nahrung
Unterscheidung von eßbaren und nicht
eßbaren Tieren
List
lehrt
Küste/See/Übersee
Heirat
i
Ursprung »berggeborener Clans<
Letztlich geht es in diesen Überlieferungen um die Verbindung zweier sprachlich und
symbolisch wichtiger Kategorien, die »Berg/Innen< und »Meer/Außen/Peripherie<
repräsentieren. Im Larantuka-Malaiischen wären dies beispielsweise die Richtungs-
begriffe dam und lao, ersterer alles >landseitige< bezeichnend, letzterer alles »seesei-
tige< und »überseeische«36 In allen Lamaholot-Ursprungsmythen befindet sich der
»Waldmensch< auf dem Berg, der »normale Mensch< kommt »von der Seeseite<, sei es
nun von Übersee, einer Nachbarinsel, der Küste oder einfach vom Fuße des Berges
- all diese Lokalisierungen liegen vom Berg aus gesehen lao. In Larantuka bei-
spielsweise ist auch der Bräutigam ein symbolisch >Fremder<, der »von der Seeseite<
kommt und der sich zu der Braut im Hause ihrer Eltern (»zu Land<) gesellt.37 In den
Ursprungsmythen findet sich allerdings keine feste Rollenverteilung: mal ist der
>Waldmensch< eine Frau, mal ein Mann.
Im Lamaholot sind die >Berge< der Ursprung allen Lebens und Lebenserhaltenden,
während das >Meer< (ähnlich wie die >Erdgeister< nitu) ambivalent ist. Für Repro-
duktion scheint eine >Verbindung< beider nötig zu sein. So zitiert Arndt »die Vorste-
her und Alten« wie folgt:
»Wenn wir unsere Felder an und auf den Bergen machen, so müssen wir beim Säen
und Pflanzen einen Weg für die lié Woka [die Berggottheit(en)] lassen oder machen;
tut man das nicht, schlägt uns lié Woka, bestraft uns mit Unglück. Wir lassen für sie
den Weg, damit sich lié Woka und Hari Botang [die Seegottheit(en)] treffen können.«
(Arndt 1951: 27-2B)38
»Berg - Meer<, so scheint es, ist im Lamaholot ein umfassendes Bild für den mensch-
lichen Lebensprozeß. Die »wilden Wesen< auf dem »Berg< sind noch keine »norma-
len Menschern, v. a. können sie keine Nachkommen haben. Um »normale Menschern
zu werden, benötigen sie jemanden von der »Seeseite« Erst das »Treffern von >Berg<
und »Meer< läßt Leben und die menschliche Gesellschaft entstehen.39 Stand ganz am
Anfang der »Berg« so steht ganz am Ende die »See« in deren Richtung man die nor-
male Menschenwelt verläßt - ein Verstorbener geht (Lh) lau kewokot »[seewärts] zu
den Verstorbenen«40 Kategorien, die vor dem Beginn des menschlichen Lebens
getrennt waren, trennen sich wieder nach dem Tod.
TRIBUS 44, 1995
Struktur und Variation in den Patigolo-Geschichten
Ein weiteres, weitgehend konstantes Element ist die Beziehung von Patigolo zu zwei
Frauen (s. Abb. 1-5). Die eine ist Watowele, eine >fremde< (d. h. nicht-verwandte)
Frau und >korrekte Gattim, die somit zur Stammutter des raja- und anderer Clans
wird. Die zweite ist Buikena, Schwester Patigolos, die verschiedene Rollen erfüllt.
Die Beziehung Patigolos zu den zwei Frauen sowie die Lokalisierung der Gescheh-
nisse ergeben eine Reihe von Varianten, die aber die Gesamtstruktur der Erzählung
nicht stören.
In Larantuka (Al-3) wird die Herkunft Patigolos auf Timor bzw. genauer in Waihali
lokalisiert {Bl sagt ganz allgemein; Timor). Auf Timor wohnt er mit seiner Schwe-
ster Buikena ([!]; in Bl nicht namentlich genannt). Patigolos Reise ist damit: Timor
-*■ Java (bzw. in Bl Pulau Perca [SO-Sumatra]) -> Timor -► Ilimandiri-Larantuka.
Hier treten drei Frauen auf, und Patigolo heiratet zweimal: er trennt sich von seiner
Schwester Buikena, heiratet in der Fremde eine ungenannte >fremde< Frau, von der
er zwei Söhne hat (Pusi, Goa), und heiratet dann Watowele (s. Abb. 1).
In der Lamaholot-Version B2 stammt Patigolo selbst vom llimandiri. Er wohnt dort
zusammen mit seiner Schwester Buikena. Die Geschichte geht wie in Al weiter, nur
daß Patigolo nach Timor gelangt. Hier ergibt sich eine Inkonsistenz bezüglich des
>Sandelholz-Motivs< [12-15] - es muß in dieser Version aus Ost-Flores kommen,
während eigentlich Timor immer die Sandelholz-Insel par excellence war. Trotzdem,
der >König von Timor< rüstet eine Flotte aus. Beim llimandiri angekommen, sieht
Patigolo drei Lichtstrahlen auf dem Berg (von den Plätzen Lenurats, Buikenas und
Watoweles). Patigolo steigt auf den Berg und kommt zur verlassenen Feuerstelle
Lenurats, die er wieder verläßt, so daß er zur ebenfalls verlassenen Feuerstelle Wato-
weles gelangt. Er versteckt sich im Baum, trifft Watowele und sie heiraten (entspre-
chend Al). Später geht Patigolo fischen und kommt auf dem Weg zur Küste zu sei-
nem eigenen Herkunftsort. Dort trifft er seine Schwester Buikena. Sie waren schon
so lange getrennt, daß sie ihr geschwisterliches Verhältnis vergessen haben und hei-
raten. Eines Tages, als Buikena Patigolo mit Kokosnußöl die Haare wäscht, entdeckt
sie die Narbe der Wunde, die sie ihm einst mit dem Webschwert zugefügt hatte. Sie
erkennen nun, daß sie eigentlich Bruder und Schwester sind. Trotzdem bleiben sie
verheiratet, haben aber keine Nachkommen. Die Reise geht also llimandiri -► Timor
-► llimandiri.
Auch in dieser Version heiratet Patigolo zweimal: einerseits die >fremde< Watowele,
die zur Ahnfrau wird; andererseits und irrtümlicherweise seine Schwester. Sie tren-
nen sich zwar nicht, aber Buikena wird auch keine Ahnfrau (Pusi und Goa kommen
in dieser Version nicht vor) (Abb. 2).
Timor 1 1 llimandiri Java
1 1 Buikena «-» Patigolo Watowélé NN
(keine i
Nachkommen) ‘
4 Söhne 2 Söhne
Abb. 1 {Al)
llimandiri (Timor)
Buikéna Patigolo
(keine Nachkommen)
llimandiri
Watowélé
3 Söhne
Abb. 2 (B2)
122
Dietrich; Tjeritera Patigolo Arkian
Bl wirkt wie ein Kompromiß zwischen Al und B2. In Bl wohnen Patigolo und Bui-
kena auf Timor. Anders als in Al aber trifft Patigolo seine Schwester Buikena, als er
von Pulau Perca nach Timor zurückkommt, um Sandelholz zu holen. Wie in B2
erkennen sie sich nicht und heiraten. Beim Lausen entdeckt Buikena Patigolos Narbe
am Kopf. Wie in B2 fängt Buikena an zu fragen, woher diese Wunde stammt, so daß
sie ihr wahres Verhältnis entdecken. Anders als in B2 trennen sie sich sofort und Pati-
golo kommt zum Ilimandiri, wo er Watowele trifft etc. (s. Abb. 3).
In Bl heiratet Patigolo somit dreimal: (1) zuerst die ungenannte >fremde< Frau in
Übersee (Pusi und Goa), (2) dann irrtümlich seine Schwester Buikena, von der er
sich sofort wieder trennt und die damit keine Ahnfrau wird, und (3) schließlich die
zur Ahnfrau werdende >fremde< Watowele. Damit wird auch deutlich, das das Auf-
tauchen von Pusi und Goa davon abhängt, ob die Erzählung eine Heirat Patigolos in
der Fremde mit einer >fremden Frau< kennt (Al-3, Bl) oder nicht (B2). Ein anderer
Ursprung scheint für sie nicht möglich zu sein.
Eine Version, die mir in Larantuka erzählt wurde, zeigt eine weitere Permutation des
Themas. Auch in dieser Version stammt Patigolo vom Ilimandiri, ist aber der Bruder
von Watowele. Er geht nach Timor (wie und warum, wird nicht gesagt), heiratet dort
eine Frau namens Maria Segelai-Segelai Ata Molang,41 mit der er zwei Söhne, Pusi
und Goa, hat. Ein großer Vogel trägt ihn zum Ilimandiri, wo er den >Waldmenschen<
Watowele trifft. Sie heiraten, entdecken (aufgrund der Kopfwunde Patigolos) ihr
wahres Verhältnis, bleiben aber verheiratet. Pusi und Goa kommen später nach und
erhalten Lebao-Tabali als Wohnort [30]. Hier heiratet Patigolo wieder zweimal: eine
namentlich genannte >fremde Frau< auf Timor (Pusi und Goa als Söhne) und seine
Schwester, hier aber Watowele. Beide Frauen werden somit Ahnfrauen. Ich vermute,
daß diese Version durch >Interferenz< zwischen Versionen vom Typ Al und B2 (oder
B3) entstanden ist (s. Abb. 4).
In B3 heiratet Patigolo, wie in Bl, dreimal; (1) seine Schwester Buikena auf Timor;
(2) Maria Sidi Lae Sidi Lae Ata Molang in Sina Jawa im Westen (die Maria Segelai-
Segelai Ata Molang in der obigen Version); und schließlich (3) Watowele am Ili-
mandiri. Neu ist, daß alle drei Ehen Nachkommen haben: Maria in Sina Jawa wird
Mutter von Söhnen, die später (wie Pusi und Goa) nach Larantuka kommen. In B3
aber kommen Pusi und Goa nicht vor; die Kinder von Maria in Sina Jawa gelten viel-
mehr als Vorfahren der Portugiesen, die sich früher an der Küste niedergelassen
haben. Buikena auf Timor hat auch Kinder mit Patigolo. Sie werden in B3 die Ahnen
der Einwanderer aus Kroko Puken Lepan Batang. Unter Watoweles Kindern befin-
det sich, wie in allen Versionen, der Ahne der rajas von Larantuka (s. Abb. 5).
All diese Versionen >spielen< auf verschiedene Weise mit dem Thema Tliman-
diri-Timor<, wobei gerne ein >fremdes Land< (Java, Perca, Sina Jawa, Kroko Puken)
vermittelnd auftritt. Die Verbindung >Ilimandiri-Timor< erscheint gewissermaßen
als obligatorisches Erzählmotiv, wie auch das >Sandelholzhandel-Motiv<, das an
Patigolo gebunden ist. Der obligatorische Charakter< des >Sandelholzhandel-
Motivs< wird u. a. in B2 deutlich, wo es eigentlich nicht so recht in den Verlauf der
Erzählung paßt.
Eine Variation innerhalb dieses Rahmens findet sich zum einen in bezug darauf, wo
Patigolos Herkunft lokalisiert wird (s. u.), zum anderen in bezug auf die Heiraten
Patigolos. Entscheidend ist natürlich, daß Patigolo Watowele trifft - sie ist die obli-
gatorische Ahnfrau< der Fürsten. Auch heiratet Patigolo durchweg (mindestens)
zweimal. Die Themen (irrtümlicher) >Inzest< und die >zwei Söhne in der Fremde<
(Pusi und Goa) werden aber unterschiedlich behandelt.
Al vermeidet das Thema >Inzest< völlig, da sich Patigolo und Buikena gleich zu
Beginn der Erzählung auf Timor ein für allemal trennen. Als Patigolo nach Timor
zurückkehrt, widmet er sich rein geschäftlichen Aufgaben (Erwerb von Sandelholz)
[16]. Genau an dieser Stelle läßt die Version Bl, die insgesamt Al am stärksten
ähnelt, Patigolo mit Buikena auf Timor Zusammentreffen (Inzest). In der rinzest-
freien< Version Al erscheint dann das Motiv des >Sich-nicht-Wiedererkennens< und
>Sich-durch-Frage-und-Antwort-Identifizierens<, das sonst in bezug auf Buikena und
den Inzest mit Patigolo fokussiert ist, bei den Söhnen aus der Fremde [30].
TRIBUS 44, 1995
Timor
i i
Buikéna Fatigólo
I____~_______I I_______
(keine Nachkommen)
Abb. 3
Iliraandiri
Watowélé
4 Söhne
(BI)
Perca
NN
2 Söhne
Ilimandiri Timor
Fatigólo Watowélé Maria
4 Söhne 2 Söhne
Abb. 4
Timor
Ilimandiri Sina Jawa
Buikéna Fatigólo Watowélé Maria
Immigranten aus 3 Söhne
Kroko Puken
(raja kedua)
n Söhne
Vorfahren der
Portugiesen in
Larantuka
Abb. 5 (B3)
Den Versionen Bl-2 scheint somit die Opposition von >Inzest< (ohne Nachkommen)
und >korrekter Ehe< (mit Nachkommen, darunter die rajas) zugrunde zu liegen (vgl.
Abb. 2-3). Dabei deutet sich aus Al und Bl-3 (Abb. 1-3 und 5) ein weiterer obli-
gatorischer Aspekt der Erzählung an: (1) Buikéna: Name der Schwester Fatigólos;
(irrtümlicher) Inzest (nur ß-Versionen); keine Ahnfrau (außer B3, vgl. unten). (2)
Watowélé: Name der >fremden Frau<; >korrekte Gattinc; Ahnfrau. Demnach wäre zu
vermuten, daß Al schlichtweg vom Thema >Inzest< gereinigt wurde, möglicherweise
durch den jahrhundertealten christlichen Einfluß in Larantuka.
Diese Vermutung könnte dadurch bekräftigt werden, daß eine reduzierte Patigolo-
Geschichte< in der Lamaholot-Kultur eine Mythe bildet, die offensichtlich den Irrtum
des Inzests unterstreicht. >Reduziert< soll heißen: etwa die Version Bl bis zur Rück-
kehr Fatigólos nach Timor und seiner erneuten Abreise.
Es handelt sich um eine Mythe über Siebengestirn und Antares, zwei Sternbilder von
zentraler Bedeutung im landwirtschaftlichen Jahreszyklus (und damit auch der
Reproduktion der Gesellschaft): der Aufgang des Siebengestirns markiert den
Beginn der Pflanzsaison (R.H. Barnes 1974: 117-121). Die Mythe hat Arndt (1951:
62-64) aufgezeichnet.
Es geht um zwei Geschwister, Wuno, die ältere Schwester, und Pari, den jüngeren
Bruder. Pari zapft Palmwein, bekommt eines Morgens keinen, Wuno schlägt ihn mit
dem Webschwert, worauf Pari dem Palmweindieb auflauert. Es ist eine Fledermaus
(vgl. Bl-2), die ihn ergreift und zum Himmel trägt. Später folgt er der Fledermaus
zurück zur Erde, trifft Wuno, und da sie sich nicht mehr erkennen, heiraten sie. Beim
Haarewaschen mit Kokosöl entdeckt Wuno die Kopfwunde und erkennt Pari als Bru-
der. Sie wollen sich nun nicht mehr zu nahe kommen. Daher verschwindet Antares
(Pari), wenn das Siebengestirn (Wuno) aufgeht und umgekehrt.
Der Schlag mit dem Webschwert hat hier, wie in Bl (und etwas verkürzt in B2), die
124
Dietrich; Tjeritera Patigolo Arkian
gleiche Funktion; Er führt zur ersten Trennung; aber nach dem ungewollten Inzest
hilft er auch, den Fehler zu erkennen und ermöglicht somit die endgültige Trennung.
In der inzestfreien Larantuka-Version Al wird dieses Motiv des >Schlags mit dem
Webschwert< nicht so logisch-konsequent ausgenützt, da die Kopfwunde im weite-
ren Verlauf der Erzählung nicht mehr benötigt wird. Im Grunde hätte Buikena Pati-
golo auf eine beliebige Weise beleidigen können, um seine für den weiteren Verlauf
der Erzählung notwendige >Abreise< zu verursachen.42
Dieser Typ von Mythos ist in Indonesien weit verbreitet (vgl. Errington 1987; Dam-
ste 1917). Ich möchte zur Illustration nur einen Fall anführen; es handelt sich um den
Beginn des Babad Tanah Jawi (Olthof, Übers., 1987: 7-11).
Protagonist ist Watu Gunung, König von Giling-Wesi. Sein Name allein assoziiert
ihn mit dem Motiv >Berg<.43 Er hat zwei Frauen, mit einer (Dewi Landep) hat er
keine Kinder, mit der anderen (Dewi Sinta) hat er 27 Söhne. Dewi Sinta ist seine
Mutter, was beiden aber unbekannt ist. Infolge dieses Inzestes wird das Land von
Katastrophen heimgesucht. Eines Tages laust Dewi Sinta Watu Gunung die Haare
und erkennt eine Narbe. Sie fragt ihn danach und er erzählt, daß ihn einst seine Mut-
ter, als er ihr lästig fiel, mit dem Reislöffel geschlagen hat, woraufhin er weggelau-
fen sei. Dewi Sinta erkennt nun ihren Sohn und ihren Inzest. Sie sagt nichts, sinnt
aber auf einen Plan, wie Watu Gunung umkommen könnte; er soll eine Himmels-
nymphe entführen und zur Frau nehmen. Im Kampf mit den Göttern wird Watu Gu-
nung getötet. Da Dewi Sinta darüber so sehr trauert, daß die Natur erbebt, wird er
wieder lebendig gemacht. Watu Gunung, seine beiden Frauen und die Söhne werden
nun allesamt in den Himmel der Götter aufgenommen (s. Abb. 6). Eine Folge davon
ist übrigens, daß dadurch eine Zeitrechnung (die 30 wuku) entsteht (vgl. Sieben-
gestirn und Antares)
Die Auflösung der inzestuösen Ehe fehlt hier.44 Eine >Trennung< erfolgt nur in dem
Sinne, als Watu Gunung und Familie bei den Göttern aufgenommen werden und so
die Menschenwelt verlassen (vgl. Wuno/Pari, die als Gestirne ans Himmelszelt
gehen). Im Gegenzug aber kommen zwei Götter auf die Erde und werden zu Köni-
gen: Batara Wisnu und Batara Brama (dieser in Giling-Wesi).
Im Schattenspiel wird die Watu-Gunung-Geschichte zur rituellen Reinigung nach
einem Fehltritt aufgeführt. Ras erklärt daraus überzeugend die Funktion dieser
Geschichte im Babad Tanah Jawi (Ras 1987: xxxv-xxxviii). Ganz zustimmen kann
ich ihm allerdings nicht, wenn er darauf verweist, daß das Babad Tanah Jawi somit
nicht mit einer Ursprungsgeschichte beginnt. Immerhin, der Inzest resultiert durch
eine Inversion in einer erfolgreichen Dynastie-Gründung: Watu Gunung und Familie
gehen in den Himmel, zwei Götter kommen als Fürsten auf die Erde. Batara Brama
von Giling-Wesi wird zum Ahnen der Fürsten von u. a. Kediri, Koripan und Pajaja-
ran (Olthof, Übers., 1987: 11-12). Doch solche vergleichenden Überlegungen sollen
hier ausgeklammert bleiben.
Die Variationen im Vergleich
Die oben gezeigten Unterschiede in den verschiedenen Versionen der Geschichte von
Patigolo und Watowele scheinen schon lange bestanden zu haben - d. h. es sind mehr
als zufällige oder rezent durch Reinterpretation entstandene Unterschiede.45 Dies
zumindest läßt sich aus der frühesten veröffentlichten Erwähnung dieser Überliefe-
rung schließen, die P. Heynen SJ anläßlich eines Besuchs in Larantuka im Jahre 1874
notierte (s. Heynen 1876; 71-72). Er berichtet von Lenurat und Watowele als Bruder
und Schwester, sowie der Herkunft Patigolos aus Timor (Waiwiku[-Wahali]), der hier
allerdings seine Heimat verläßt, weil er Streit mit seinen Brüdern hat (ein ganz typi-
sches Motiv in Clan-Überlieferungen für den Beginn einer >Wanderung<). Am Ili-
mandiri trifft er Watowele, den >Waldmenschen<, sie heiraten und werden so zum
Stammelternpaar der rajas von Larantuka und anderer Clans (bzw. Waibalun, Balela
und Larantuka). Dann schreibt er aber auch;
»De volksphantasie heeft nu om de boven meegedeelde kem allengs allerlei versier-
selen geweven ... Men heeft er van gemaakt, dat de Ilimandiri de eerste stamouders.
125
Watu Gunung)
Himmel)
Abb. 6 (Babad Tanah Jawi)
Demon
Berg
Lenurat « Watowéle
Zwillinge
(Problem Inzest)
(Paji)
Küste/Übersee
Patigolo « Buikéna
jünger älter
(begehen Inzest)
Abb. 7
namelijk Pategölo en Watewéle had gebaard ... Eene andere lezing derzelfde mythe
is een weinig soberder uitgevallen en verhaalt dat er een wezenlijk verschil heeft
bestaan in den oorsprong der beide stamouders. De stamvader [Patigolo] werd name-
lijk volgens haar door de zee, de stammoeder [Watowélé] door den berg voortge-
bracht.« (Heynen 1876: 72)
Dies ist zwar nicht viel, aber soviel läßt sich erkennen: (1) Patigolo aus Timor (vgl.
AI, Bl, B3)\ (2) Patigolo vom Ilimandiri (vgl. B2 und die Version, in der Watowélé
seine Schwester wird); (3) Die Opposition >Berg< (Watuwélé) und >Meer< (Patigolo).
Alle Versionen, die oben dargestellt wurden und auf die auch Heynen anspielt, sind
im Lamaholot-Kontext plausibel. Die Abstammung von einem inzestuösen Geschwi-
sterpaar oder von Mann und Frau, die beide zusammen >aus dem Berg< entstehen,
findet sich häufig. Ein Clan in Lamaboléng (Zentral-Solor) führt sich beispielsweise
auf das Geschwisterpaar Raja Pati Golo Tuan Golo Arakian und Nini Wato Wele
Wele Ata Utan, beide >vom Berg geborem (hier der lié Napo) zurück (leider ist außer
dieser Tatsache nichts weiter bekannt) (Leyn 1981: 56; vgl. z. B. Arndt 1940: 59,
1938; 4-5; Leyn 1981: 70; R. H. Barnes 1974: 28). Ebenso ist zu finden, daß die
Ahnen von Hart Botan, der Meeresgottheit, geboren wurden oder der Urahn vom
Berg und die Urahnin von Hari Botan stammt (z. B. Arndt 1940: 215, 1938: 21).
Diese Variationen - »denkbare Kontingenzen« (Gladigow 1985: 65) - zum Thema
>Ursprung< spiegeln sich in den verschiedenen Versionen der Patigolo-Geschichte
wider. Am umfassendsten und abstraktesten ist die komplementäre Opposition von
>Berg-Meer<. In diesem Fall besteht kein Gegensatz, sondern eine gegenseitige
Bedingung: der Berg wächst aus dem Meer, die >Kinder des Berges< benötigen
jemanden >von der Seeseite< für erfolgreiche Reproduktion. Auf einer anderen Ebene
lassen sich dann Schwerpunkte setzen: Der >Ursprung vom Berg< {lié jadi) verbindet
mit dem Land, ritueller Kontrolle über das Land, mit übernatürlichen Kräften (Wato-
wélé). >Meer< oder >Übersee< verbindet mit Prestige, Reichtum und >Kultur< (Pati-
golo).46
Für die Begründung von politischen Strukturen stehen damit zwei weit verbreitete
Modelle zur Verfügung - >raja aus dem Berg< oder >stranger king aus Übersee<, was
sich zugleich als Opposition von >älter< (zuerst am Ort) und >jünger< (später >einge-
wandert<) verstehen läßt (vgl. de Josselin de Jong 1980; Teeuw 1984: 49; Reuter
1992: 503-517; Dietrich 1989: 37-47). In der Lamaholot-Ethnographie tauchen
beide Modelle auf.
126
Dietrich; Tjeritera Patigolo Arkian
Ganz allgemein gesprochen finden sich in der sozio-rituellen Struktur komplementäre
Funktionen, in der Regel sind es vier. Zwei davon repräsentieren die Opposition
>Innen-Äußern, d. s. die Funktionen koten (Lh, >Kopf<) und kelen (Lh, »Hinter-
beine<).47 In Larantuka haben diese Funktionen ihre strukturelle Entsprechung in den
Ämtern des kebelen (bzw. tuan tanah) und des kapitan. >Innen< wird damit mit Land
und ritueller Funktion assoziiert, >Außen< mit >säkularer, exekutiver< Funktion.48
>Kopf< und >Hinterbeine< beziehen sich auf die Position, die die beiden Funkti-
onsträger im Opferritual in bezug auf das Opfertier einnehmen. Ihre Rollen sind
komplementär, da ihre Kooperation beim Opfer für das Wohlergehen des Dorfes
erforderlich ist. Die Komplementarität beinhaltet insofern zugleich eine Ungleich-
heit, als die Funktion koten (bzw. in Larantuka das Amt des tuan tanah) den Vorrang
hat.49
Wie die verschiedenen Funktionen auf Clans verteilt sind wird in der historischen
Überlieferung begründet.50 Hierbei wird zum einen wieder die Komplementarität
von Funktionen unterstrichen, als es zum Zustandekommen der Struktur der vier
Funktionen sowohl >autochthoner< {ile jadi) als auch >eingewanderter Clans< bedarf
(vgl. Komplementarität von >Berg-Meer<). Welcher Typ von Clan welche Funktio-
nen übernimmt ist allerdings ganz unterschiedlich. Das Zentrum des Fürstentums
Larantuka stellt nur eine >Lösung< dar.
Larantuka hat einen >stranger king<. Er ist allerdings raja kedua (»zweiter Fürst<), der
nach dem von Patigolo und Watowele abstammenden Fürsten {raja) den »zweiten
Platz< einnimmt. Es handelt sich um >Immigranten< aus Kroko Puken. Der Führer
dieser Immigranten erhält in der Überlieferung den Rang des raja kedua, weil er
durch die Wahrnehmung der Funktion kelen die Durchführung eines Opfers ermög-
lichte und zudem als Beweis seines fürstlichen Ranges einige Wertobjekte vorweisen
konnte (die dann zu sakralen Erbstücken [pusaka] des Clans wurden). Entsprechend
zur Funktion als kelen in dieser Version heißt der Clan des raja kedua tatsächlich
auch »Amakelem. So ist es möglich, die Beziehung von raja und raja kedua auch als
raja koten und raja kelen zu konzeptualisieren.51 In der Dyade raja koten-raja kelen
wird die Komplementarität deutlich, in der Beziehung raja-raja kedua wird der
Rangunterschied unterstrichen.52
Die rajas von Larantuka stehen via Watowele den »eingewandertem raja kedua (den
»stranger kings<) als »autochthom {ile jadi) und damit mit älteren Rechten versehen
und ranghöher gegenüber. Vatter vermerkt entsprechend: >»... der Radja von Laran-
tuka heißt auch wohl »Radja Ili<, also »der Radja vom Berge<« (Vatter 1932: 14).
Innerhalb von Larantuka sind die rajas sogar eine von wenigen »autochthonem, vom
Ilimandiri stammenden Familien (s.o. zu Waibalun, Balela und Larantuka). Die
Gegenüberstellung von raja koten und raja kelen ist in diesem Zusammenhang auch
insofern sinnvoll, wenn man berücksichtigt, daß in Larantuka bei der räumlichen
Ordnung eines Dorfes der >Kopf< {koten) der >Bergseite< (LM dara) zugeordnet wird
(LM kepala nagi »Kopf des Dorfes<), der >Fuß< dagegen der >Seeseite< (LM lao; kaki
nagi »Fuß des Dorfes<).53
Die Patigolo-Geschichte hat so auf einer Seite nicht das geringste mit dem Motiv des
»stranger king< zu tun. Sie repräsentiert einen Typ von Ursprungsmythos, in dem die
komplementäre Opposition »Berg-Meer< operationalisiert wird, und dies erlauben
alle hier behandelten Versionen. Der »Ilimandiri-Patigolo< wie der »Timor-Patigolo<
kommt »von der Seeseite<, bevor er Watowele trifft, und beide erfüllen in bezug auf
Watowele die selbe »zivilisierende Funktiom. Im Kontext analoger Ursprungsge-
schichten aus Ostflores, worauf oben verwiesen wurde, ist es zudem irrelevant, ob
der Mann oder die Frau von der »Seeseite< kommt (vgl. z. B. die Lenurat-
Geschichte); entscheidend ist, daß einer der Ahnen von der >Seeseite< kommt, damit
eine Bevölkerungsgruppe entstehen kann. Der Fokus liegt aber auf dem »Berge, dem
Entstehen von »Kindern des Berges< {ile jadi). Genau hierum geht es primär in die-
sem Typ von Ursprungsgeschichte, nicht um den Ursprung eines Fürsten (daß aus der
Bevölkerungsgruppe später in Larantuka ein Fürst hervorgeht, ist eine andere Sache).
So hebt auch die Überlieferung von Larantuka hervor, daß es zu Zeiten Patigolos und
seiner Söhne noch keinen Fürsten gab.
127
TRIBUS 44, 1995
Andererseits ist natürlich gerade die Assoziation mit dem Berg für die (späteren)
rajas von entscheidender Bedeutung. Man darf sich in gewisser Weise nicht dadurch
irreführen lassen, daß die Ursprungsgeschichte des Fürstenhauses eine >Erzählung
von Patigolo< ist. Denn die relevante, status-legitimierende Ahnenfigur für das Für-
stenhaus wie für die pou ist an erster Stelle Watowélé. In allen Versionen ist sie
ursprünglich mit dem Ilimandiri verbunden, unabhängig davon, wo Patigolo lokali-
siert wird, der, wenn man es extrem formulieren will, nur die unerläßliche komple-
mentäre Kategorie (>Meer/Übersee<) zu Watowélé (>Berg<) zur Verfügung stellt.
Eine ganz knapp gehaltene genealogische Liste - Nene mojang deri Radja Laran-
toeka (>Die Ahnen der Fürsten von Larantuka<) - beginnt daher charakteristischer-
weise wie folgt: >die erste [ist] Watowélé; [sie] gebiert Padu lié; [er] zeugt Sira
Demon; [er] zeugt Pati Laga ...< (»jang pertama Watowele, beranak Paduile, beranak
Sira Demon, beranak Pati Laga ...«). D. h. mit Padu lié beginnt die normale patrili-
neale Sequenz, am Anfang aber steht Watowélé, die relevante Ahnin.54
Demgegenüber stellt der raja kedua einen >stranger king< dar: hier treffen fürstliche
Migranten auf eine >autochthone Bevölkerung<. Sie werden als raja kedua im Rang
zwar über andere >Kinder des Berges< erhoben (d. h. über drei der pou suku léma),
bleiben aber dem Fürsten >vom Berg< untergeordnet. Die Versionen, die den
Ursprung von Patigolo auf den Ilimandiri verlegen und ihn nur >von der Seeseite<
zurückkommen lassen (B2), scheinen mir das ilé-jadi-Element für die Begründung
dokalen Primats< besonders stark hervorzuheben.
Auf der anderen Seite hat Patigolo durchaus etwas von einem >stranger king<, und
zwar in den Versionen (Al), in denen er als fürstlicher Fremder auftritt, d. h. in denen
er aus Waiwiku-Waihali stammt, dem angesehensten Fürstenhaus von Timor. Das
Schema >Berg-Meer< wird hier geographisch konkretisiert. Im Kontext der anderen
Lamaholot-Ursprungsgeschichten, die analog zur Patigolo-Geschichte strukturiert
sind, aber nur mit dem Kontrast >Berg -Meer< operieren, ist zu vermuten, daß es sich
hier um eine Larantuka-spezifische Innovation handelt. Anders als im Falle des raja
kedua wird durch Patigolos Einwanderung nicht unmittelbar ein fürstlicher Rang<
begründet, da noch andere Clans von Patigolo abstammen. Was aber begründet wird
ist die Sonderstellung des Kernlandes des Fürstentums Larantuka-d. h. des (späte-
ren) raja sowie jener Clans, die im >Reichsrat< der (späteren) rajas vertreten sind
(pou suku léma). Das Zentrum des Fürstentums setzt sich damit von den anderen
>Kindern des IlimandirL, d. h. der untergeordneten Domäne Mudakaputu (Baipito),
ab (vgl. Abb. 8 und 11)- einer der Nachkommen Patigolos wird raja, die anderen bil-
den seinen >Reichsrat<; entsprechend erhält eine Gruppe der Einwanderer aus Kroko
Puken >sekundär fürstlichen Status< (raja kedua), eine andere wird in den >Reichsrat<
aufgenommen (s. Abb. 10). Gegenüber Lenurat ist Patigolo ein >stranger king<,
gegenüber den Einwanderern aus Kroko Puken dagegen ist Watowélé ilé jadi.
Das Zitat zu Anfang dieses Abschnittes belegt allerdings, ebenso wie Version B2,
daß eine solche >stranger-king<-Version nicht ohne >Konkurrenz< dasteht.
Patigolo und Lenurat
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Geschichten von Lenurat und Patigolo
in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis soll etwas
näher ausgeführt werden, um ein weiteres Stück Information zu Patigolo, das wir
Ernst Vatter verdanken, einzuordnen.
Die Frau von Lenurat ist Hadun Boléng Teniban Duli. Sie ist ein Paji-Mädchen aus
Kuku Lewo Pulo, ein Ort, der an der Küste beim heutigen Pantai Délang55 lokalisiert
wird (Wertenbroek o. J.: 43-44, 45). Raja Don Servus (reg. 1912-1918, 11941 )
erklärte Vatter, daß das Paji-Mädchen eines Tages Feuer auf dem Ilimandiri sah, wor-
aufhin sich die Paji auf den Berg begaben:
»Sie stießen dort auf Lenurat und Watuele [sic], und die Folge dieses Zusammentreffens
war, daß Lënurat das genannte Patjimädchen heiratete und seine Schwester Watuele
einen Patjimann namens Patji Golo Arakiang zum Gemahl erhielt.« (Vatter 1932: 34)
Patigolo kommt hier im weitesten Sinne >vom IlimandirL (vgl. B2), konkret aber von
128
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
der Küste und ist daher ein Paji-Mann. Möglicherweise handelt es sich nur um ein
Wortspiel >Pati/Patji<. Im Vergleich mit Lenurat liegt aber in der Identifizierung von
Patigolo als Paji-Mann ein sinnvolles Potential (s. Abb. 8).
In der von Wertenbroek aufgenommenen Geschichte von Lenurat tritt auch Buikena
Harawadan [1] auf, und zwar in der >Endphase< der Kriege der Söhne Lenurats
(Demon) gegen die Paji. In einem Vorgeplänkel wird fälschlicherweise (weil eine
Frau) Buikena Harawadan getötet; danach folgt die Vertreibung der Paji (Werten-
broek o. J.: 48).56
Der >Bergmensch< Lenurat heiratet also ein Paji-Mädchen aus Kuku Lewo Pulo von
der Küste, wird dadurch >kultiviert< und ein Stammvater der Demon an der >Land-
seite< des Ilimandiri. Es paßt zur analogen Struktur der Lenurat- und Patigolo-
Geschichten, daß Patigolo ein Paji-Mann von der Küste ist, der die >Bergfrau< Wato-
wele heiratet und >kultiviert<, die dann zur Ahnfrau der Demon an der >Seeseite< des
Ilimandiri wird.57 Daß eine Lenurat-Geschichte die Schwester Patigolos in Kuku
Lewo Pulo ortet, würde annehmen lassen, daß dort (in derselben Geschichte Wohn-
ort des >Königs< der Paji) auch ihr Bruder Patigolo zu suchen wäre. Die Geschichte
der beiden Geschwister vom Ilimandiri, die auch sonst in Struktur und Erzählele-
menten übereinstimmt, würde damit in bezug auf Personen und Orte zu einem kon-
sistenten, symmetrischem Ganzen (s. Abb. 8).58
kakang raja, 3 pou suku léma
(Domäne Baipito/Mudakaputu) Abb. 8 (Zentrum des Fürstentums)
Ilimandiri Ilé Boléng (Hadun Boléng)
(jünger) (älter)
Lenurat
Watowélé
(jünger)
Patigolo
Watowélé
kakang-Domäne
Baipito
raja (u.a.)
(Larantuka)
Abb. 9
1
i
kakang-Domänen
Hadun Tanah Boléng
(Lewoléba)
129
TRIBUS 44, 1995
Die Symmetrie setzt sich übrigens fort, obwohl sich in der Erzählung selbst ein Kon-
trast ergibt - und zwar bezüglich der inzestuösen Eheschließung,
ln einer Lenurat-Geschichte kommt Lenurat dem Fehler Patigolos vor: Er beschließt,
sich von seiner Schwester Watowele zu trennen, damit sie nicht in Versuchung
kämen, Inzest zu begehen (Wertenbroek o. J.: 43). Lenurat verhält sich damit konträr
zum inzestuösen Patigolo (der nicht-inzestuöse Patiolo dagegen verhält sich wie
Lenurat).
Andererseits aber verhält sich Lenurat wie der inzestuöse Patigolo (der nicht-inze-
stuöse Patigolo verhält sich dann konträr zu Lenurat). In Lenurat-Myten tauchen
nämlich Lenurat und Watowele als Zwillinge auf (Arndt 1940: 61; Wertenbroek o. J.:
43). Im ethnographischen Kontext aber haben verschiedengeschlechtliche Zwillinge,
wie Arndt es ausdrückt, »schon im Mutterleibe ... Mann und Frau gespielt« (1940:
31). Lenurat ist also nicht frei vom Problem des inzestuösen Patigolo, und logischer-
weise trennt sich Lenurat eben aus Furcht vor Inzest von seiner Schwester, nachdem
sie nun einmal zusammen auf dem Ilimandiri erschienen sind (s. Abb.7). In den
Lamaholot-Versionen (Lenurat, ß-Versionen) steht also ein potentieller Inzest<
(Lenurat) einem wirklichen Inzest< (Patigolo) gegenüber. Die Larantuka-Versionen
(A) entsprechen nur im Motiv der >Trennung von der Schwester< den Lenurat-
Mythen, insofern hierdurch in beiden Fällen Inzest vermieden wird.
Lenurat (Demon) wird zum Stammvater, als er ein Paji-Mädchen ehelicht; Patigolo
(nehmen wir ihn für einen Moment tatsächlich als Paji) wird zum Stammvater, als er
ein Demon-Mädchen zur Frau nimmt. In beiden Fällen sind dann die (Demon-bzw.
Paji-) >internen< Ehen unfruchtbar (Inzest), die >externen< Ehen haben ein glückli-
ches Resultat.
Aber wie beim inzestuösen Patigolo ist auch das Eheleben Lenurats nichts aus-
nahmslos glücklich. Denn auch Lenurat geht eine katastrophale Ehe ein, die schließ-
lich zu seinem Tod führt (und aus der es keine Nachkommen gibt). Seine zweite Frau
stammt aus dem Maumere-Gebiet (Soge Kewa). Die Maumere-Frau und Hadun
Boleng reiben sich gegenseitig die Haare ein; Hadun Boleng tut es mit Palmzucker,
die Maumere-Frau verwendet Kokosöl. Da die Haare der Maumere-Frau durch den
Zucker verklebt werden, bricht ihr beim Kämmen der Kamm. Darüber ist sie
beschämt und ihre Brüder führen deswegen Krieg gegen Lenurat. Sie können ihn
aber erst töten, nachdem er ihnen sagt, wie sie es anstellen müssen. Die Söhne Lenu-
rats führen nun ihrerseits Krieg gegen Maumere, und da ein Paji-Mann (sie sind zu
dem Zeitpunkt noch nicht verfeindet) ihnen hilft, Eisenwaffen herzustellen, siegen
sie auf ganzer Linie (Arndt 1940: 66-67). Später werden die Söhne Lenurats genau
dieses Wissen der Waffenherstellung verwenden, um die Paji zu vertreiben (s. Wer-
tenbroek o. J.: 48).
Auch Lenurat heiratet somit zweimal. Durch eine Ehe (mit der Paji-Frau) wird er
zum Stammvater. Durch die zweite Ehe findet er schließlich (freiwillig sogar) den
Tod. Ursache dafür ist eine Mißstimmigkeit zwischen seinen beiden Frauen, aus-
gelöst bei einer Handlung, die in Analogie zur Entdeckung der inzestuösen Verbin-
dung von Patigolo und Buikena steht (Haarewaschen). Mit der Frau aus Maumere hat
Lenurat keine Nachkommen, ebensowenig wie Patigolo mit Buikena.
Oben wurde auf den Kontrast zwischen >korrekter< und inkorrekter Ehe< in der Pati-
golo-Geschichte hingewiesen, ein Kontrast, der sich in den Motiven >Inzest vs.
fremde Frau< und >Nicht-Ahnfrau vs. Ahnfrau< äußert. Im Vergleich mit der Lenurat-
Mythe ergeben sich dann diese Parallelen: (1) Buikena (Inzest, keine Ahnfrau); Frau
aus Maumere (keine Ahnfrau), Watowele (potentieller Inzest), und (2) Watowele;
Hadun Boleng (beide sowohl >fremde Frau< wie Ahnfrau).
Wenn man beide Geschichten als Einheit nimmt, dann erscheint es ausgesprochen
logisch, Patigolo an der Küste (lao) unter den Paji zu beheimaten. Damit fallen beide
Geschichten nicht nur in das bereits genannte mythologische Muster: Küste (>Kul-
tur<) und Berg (>Natur<, aber mit übernatürlicher Kraft ausgestattet) als Ursprung
einer Bevölkerung. Sie fallen auch in in das Muster der feindlichen Interdependenz<
der Demon und Paji.
In einigen Mythen zur Entstehung der Demon und Paji gehen die beiden Bcvölke-
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
rungsgruppen aus einer (realen) inzestuösen Verbindung von Zwillingen, Bruder und
Schwester, hervor; die beiden Söhne aus dieser Verbindung geraten in Streit und
begründen so die >ewige Feindschaft (Arndt 1938: 2-6). In dem ganz anderen Kon-
text der Ilimandiri-Mythen wird ein Demon-interner Inzest für den Ursprung der
Demon disqualifiziert (d. i. Lenurat-Watowélé); aber auch die Nicht-Paji-Frau aus
Maumere eignet sich nicht als Ahnfrau. Entsprechend ist der Paji-interne Inzest Fati-
gólos mit seiner Schwester Buikéna untauglich. Die Demon brauchen die Paji für
einen erfolgreichen Ursprung< - alle anderen Möglichkeiten (Demon-intern, Paji-
intern, Demon-nicht-Paji) werden ausgeschlossen. Erst danach entsteht die Feind-
schaft.
Diese >Interdependenz< und >Feindschaft< bestand bis in die jüngere ethnographische
Vergangenheit, indem sich die beiden Gruppen für rituelle Gefechte und Kopfjagd
>brauchten<: der Bau einer korke (der Lamaholot-Dorftempel), die für das Wohlerge-
hen der Gemeinschaft benötigt wurde, und Trockenheit, die die Existenz der
Gemeinschaft durch die Gefahr einer Mißernte bedroht, waren Anlässe für solche
Gefechte (Arndt 1938; R.H. Barnes 1993a: 151-152). Demon und Paji benötigen
sich für Entstehen und Kontinuität der Gesellschaft.59
Bei aller Symmetrie zwischen der Lenurat- und Patigolo-Geschichte, die eine Veror-
tung Fatigólos unter den Paji naheliegend erscheinen läßt, ist trotzdem festzuhalten,
daß die hier besprochenen Versionen Al-3 und Bl-3 eine solche Verortung nicht
vornehmen. Auch hiermit ergibt sich wieder eine Differenzierung zwischen den
>Kindern des Ilimandiric Der Ahnherr der untergeordneten Domäne nimmt eine
Paji-Frau, die Ahnherrin des raja und der pou nimmt einen Mann vom Ilimandiri
(B2) bzw. einen fürstlichen Fremdem aus Timor zum Mann (s. Abb. 8; vgl. Graham
1985: 58-60).
Pusi und Goa
Ein Element der Variation blieb bisher ausgeklammert: Pusi und Goa, die Söhne Fati-
gólos aus der Fremde (Java, Pulau Perca, Timor), die nach Larantuka aufbrechen, um
ihren Vater wieder zu treffen und sich dann in Lebao-Tabali niederlassen.
Die früheste Anspielung darauf gibt wieder P. Heynen SJ. Er notierte zur Siedlung
Tengah, daß es eine »Niederlassung von Javanern« sei; Tengah wiederum bilde die
>Hälfte< (vgl. tengah >Mitte, Hälfte<) eines Dorfes, dessen andere Hälfte aus Lebao
besteht (Heynen 1876: 78). D. h. die Bewohner von Tengah erhielten die Erlaubnis,
sich auf dem Land von Lebao niederzulassen. Lebao ist ein Lamaholot-Dorf,
das erst im 20. Jahrhundert zum Katholizismus überging; in Tengah dagegen
wird Larantuka-Malaiisch gesprochen, es war seit alters katholisch.60 Die Informa-
tion von Heynen harmonisiert mit der Version AI, in der Pusi und Goa aus >Java<
kommen.
Die Bezeichnung >Java/Javaner< ist im lokalen Kontext jedoch vieldeutig. Im
Lamaholot bedeutete ata jawa (ata >Mensch<) soviel wie >Malaie< (Leemker 1893;
425) und bezeichnete die Bewohner von Larantuka. Ich vermute, daß man dies im
weiteren Sinne von >Fremde<, >Leute aus der Fremde< verstehen kann. Ähnlich
bezeichnete die Bevölkerung von Timor alle >Fremden< als >Malaien< (Castro 1944;
40).
Im Lamaholot taucht ferner der Name Sina Jawa als Herkunftsland zahlreicher >ein-
gewanderter< Clane auf. Dies kann wörtlich als >China-Java< verstanden werden, hat
aber genau genommen keinen so konkreten geographischen Bezug. Es bedeutet ein-
fach >Übersee<, ein mythisches Land fern im Westen (vgl. Vatter 1932: 140; Kohl
1990: 102). Aus der Perspektive von Richtungen liegt es dann der anderen Übersee-
heimat vieler Clane, Kroko Buken (im Osten), gegenüber. Angesichts dieser stereo-
typen Verbindung von Sina mit Jawa ist es dann auch nicht verwunderlich, daß Wer-
tenbroek eine Patigolo-Geschichte hörte, in der der Vogel Patigolo nicht nach >Java<
[7], sondern nach >China< trägt (Wertenbroek o. J. a: 10).
Der Name Sina Jawa wird öfters auch erweitert; eine solche Erweiterung ist Sina
Jawa Malaka (s. z. B. Arndt 1938: 29). Couvreur, der auch über Lebao Informado-
TRIBUS 44, 1995
nen sammelte, befand wie Heynen, daß die Bewohner von Tengah >Einwanderer<
seien. Er notierte als ihre Herkunft Malakka bzw. Java, m. a. W. Jawa Wlalaka. Inner-
halb der Ämterstruktur der gesamten Siedlung artikuliert sich ihr Verhältnis >wie
erwartet< (s. o. zu koten und kelen): Die ursprüngliche Bevölkerung< behält das Amt
des tuan tanah (>Innen<), die Einwanderer erhalten das Amt des kapitan, der das Dorf
mach Außen< vertritt (Couvreur 1907).
Al, Heynen und Couvreur bringen somit alle dieselbe Information, wenn man dabei
die Bedeutungsverschiebungen berücksichtigt: einmal das >legendäre< Ursprungs-
land Sina Jawa, dem auch Malakka zugeordnet werden kann; dann die Konkretisie-
rung als Ethnie (Heynens >Javaner<) und als geographische Insel (Al >das Land
Java<).
In B3 kommen Pusi und Goa nicht vor; ihre Stelle nehmen die >Portugiesen< ein
(s.Abb.5). Eine solche Variante ist in Larantuka unbekannt; sie ist, wie Kohl be-
merkt, >integrativ<-sie führt die beiden Gruppen, die das Thema >Immigration< re-
präsentieren (Sina Jawa = Portugiesen, Kroko Puken) letzlich auf das Stammeltern-
paar der rajas von Larantuka zurück (Kohl, in Vorbereitung).61 >Portugiesen< muß
man allerdings nicht immer wörtlich nehmen - wie Abdurachman zu den Molukken
bemerkt, bezeichnen portugiesische Dinge< nicht unbedingt mehr als »something in
the far, mysterious past« (Abdurachman 1974; 131). Genau in diese Art Vergangen-
heit gehören in Ostflores auch die Einwanderer aus Sina Jawa und Kroko Puken. Die
>Portugiesen< finden da aus heutiger Sicht ihren >natürlichen< Platz.
Aus der Perspektive des Lamaholot-Dorfs Belogili, aus der B3 stammt, ist diese Art
der Integration sinnvoll. In Larantuka erfüllten Pusi und Goa aber eine andere Funk-
tion: sie legitimierten den Status von Lebao unter den pou suku lema, den fünf Dör-
fern des Kernlandes des Fürstentums Larantuka (s.o.). Die Repräsentanten dieser
fünf Dörfer bildeten den >Reichsrat< des Fürsten. Da diese Repräsentanten nicht die
tuan tanah waren, sondern die für >exteme Beziehungen zuständigen Vorsteher, so
wird die Anbindung von Einwanderern aus >Java< an Patigolo verständlich; als Ein-
wanderer werden sie kapitan; Lebao wird Mitglied der pou suku lema, da die Kinder
Patigolos dort wohnen; Lebao wird durch die Nachfahren der Einwanderer (kapitan)
im >Reichsrat< vertreten.
Die zwei Watoweles
Ein merkwürdiges Element sei noch kurz gestreift, mit dem uns die ra/a-Genealo-
gien A2-3 konfrontieren. In A2-3 hat Lenurat nicht nur eine Schwester, sondern
zwei, und beide heißen Watowele. Schon Couvreur (1907) fand diese Namens-
gleichheit verdächtig, und er verweist darauf, daß in anderen relevanten Überliefe-
rungen nur eine Watowele auftaucht, wie in den Lenurat-Mythen. Ich kann dieses
Problem auch nicht erklären, möchte aber nur auf einen Aspekt hinweisen, der die
Existenz dieser gleichnamigen Schwestern auf ähnliche Weise verständlich macht
wie die Funktion von Pusi und Goa.
Nach A2-3 geht die ältere Watowele nach Lembata (Hadun Boleng), wo sie heiratet
und zwei Söhne hat - Laba und Samon (s. Abb. 9). Diese beiden Söhne spielen spä-
ter eine entscheidende Rolle für die >Reichsgründung< von Larantuka durch Sira
Demon, indem sie sozusagen den Anstoß dazu geben (s. Dietrich 1989: 31-32).
Nachdem Sira Demon die zehn Domänen vereinigt und deren zehn Vorsteher
(kakang) eingesetzt hat, geraten die Brüder in Streit, trennen sich und teilen ihr Land
in zwei Domänen: der Ältere bleibt auf Lembata und behält die Domäne Hadun
(Lewoleba), der Jüngere geht nach Adonara und wird Herr über die Domäne Boleng
(Tanah Boleng).
Es gibt nun auch andere Erzählungen zur >Reichseinigung<, in denen Laba und
Samon nicht vom llimandiri bzw. von Watowele abstammen. Gemein ist diesen
Erzählungen aber, daß die >Reichseinigung< mit Hadun Boleng bzw. Laba-Samon
beginnt. Eine gewisse Vorrangstellung von Hadun-Boleng unter den zehn Domänen
wird auch anhand des Kerbaus deutlich, der bei der >Reichseinigung< eine zentrale
Rolle spielt - er wird geschlachtet und das Fleisch wird an die zehn kakang verteilt,
132
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
die damit ihre Unterwerfung unter Sira Demon (Larantuka bzw. Ilimandiri) anerken-
nen. In A2-3 sind es Laba und Samon, die Sira Demon den Kerbau liefern; in einer
Version, die Seegeier (1932: 75-77, 85) mitteilt, schlachtet Sira Demon zwei Ker-
baus, wobei Hadun (Laba) und Boléng (Samon) jeweils den Kopf erhalten.62
Eine genealogische Anbindung von Hadun Boléng an Larantuka erscheint sinnvoll
zu sein, wenn man sie in den Kontext von Weltentstehungsmythen stellt. Oben wurde
bereits angedeutet, daß die Berge aus Steinbündeln entstehen, die von zwei Schöp-
ferwesen geschnürt und geworfen werden. In zwei Mythen, die Arndt mitteilt, wer-
den drei Berge namentlich genannt. Der >älteste< davon ist mir nicht als >realer< Berg
bekannt - eine Mythe lokalisiert ihn »im Osten, wo die Sonne aufgeht«. Die zwei
weiteren Berge sind der lié Boléng (Ré Hadung Woka Boléng) und der Ilimandiri {lié
Maindiri [sic] Tana Lolong), wobei deutlich ist, daß sie in einem >älter-jünger<-Ver-
hältnis stehen (Arndt 1951: 74, 76, 199). Durch die genealogische Anbindung über
die >ältere Watowélé< bleibt der >ältere< Status von Hadun Boléng zwar erhalten, die
Zentralität von Larantuka wird aber herausgehoben, indem auch die >ältere Wato-
wélé< aus dem jüngeren Ilimandiri< entsteht.
Ein >älter-jünger<-Verhältnis tritt noch in einer anderen Hinsicht bei der »Reichseini-
gung< in Erscheinung, und zwar in bezug auf den Titel der Vorsteher der zehn Domä-
nen: kakang (bzw. kakan, Lh >älterer Bruder<). In einer Erzählung, die Couvreur
(1907) wiedergibt, bestimmt Sira Demon, daß die Vorsteher der zehn Domänen älte-
rer Bruder< der pou suku léma seien. Die pou suku léma stammen, wie der raja, zum
Teil von der »jüngeren Watowélé< ab (Waibalun, Baléla, Larantuka), zum Teil sind
sie, wie der raja kedua, >Immigranten< (Lewoléré, zu Lebao-Tengah, vgl. oben).
Konkrete Bedeutung scheint dieses >älter-jünger<-Verhältnis von kakang und pou
suku léma nicht gehabt zu haben; es paßt aber zu der Situation, in der Larantuka/Ili-
mandiri als >jünger< erscheint, und die beiden prominentesten kakang-Domänen als
Hadun und Boléng >älter<.63
Geschichte und Überlieferung
Das >Sandelholz-Motiv< der Patigolo-Geschichte liefert ein Stichwort, um kurz über
den historischen Kontext dieser Überlieferung zu reflektieren.64 Der Handel mit
timoresischem Sandelholz geht wohl mindestens bis in das 13. Jahrhundert zurück.
Im 16. Jahrhundert brachte er die Portugiesen nach Ostflores. Im 17. Jahrhundert
(v. a. in der 2. Hälfte) nahmen aber die Bewohner von Larantuka die Schlüsselstel-
lung im Absatz des timoresischen Sandelholzes ein. Infolge der erneuten Bemühun-
gen der Portugiesen Anfang des 18. Jahrhunderts, Timor unter ihre Kontrolle zu
bekommen, verlagerte sich der Schwerpunkt dann ganz nach Timor. Damit spielte
Larantuka keine Rolle mehr im »großen Geschäft^ es zog sich auf Kleinhandel mit
lokalen Produkten zurück, ein Handel, der immer neben dem Sandelholzhandel ein-
herlief. So luden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Sandelholzschiffe aus
Macau in Larantuka noch Carnuti, Wachs und etwas Zimt (Anonymus [ca. 1769]:
521).
Die Verbindung Larantuka-Timor wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts lockerer,
brach allerdings nie ab. So bruchstückhaft die historischen Quellen sind, so kann
man doch von einem regelmäßigen Kontakt zwischen Larantuka und Timor ausge-
hen. Drei kleine Beispiele deuten dies an. Raja Don Lorenzo I (1. Hälfte 19. Jahr-
hundert) verbrachte längere Zeit in Dilli, wo er, wie später auch sein Sohn Raja Don
Caspar II (reg. 1861-1877), seine Schulbildung erhielt.65 Don Lorenzos einheimi-
scher Name war Usi Néno, d. i. in der Atoni-Sprache (West-Timor) »Herr des Him-
mels^ Grund dafür war (nach der Überlieferung in Larantuka), daß sein Vater in
Oékusi (West-Timor) eine Novene abhalten ließ, um einen Sohn zu bekommen.
Timoresen kamen auch nach Larantuka und ließen sich dort nieder; um 1860 führte
ein Bruder von Raja Don Caspar in Larantuka einige Beschneidungen durch, ein
Brauch, den ihm besagte Timoresen beigebracht hatten (Laan 1962; 103-104).
Im Hinblick auf die Handelsbeziehungen waren dann »China<, >Java< und >Malakka<
(.Sina Jawa, Jawa Malakka) durchaus keine »mythischen Länden - sie hatten ganz
133
TRIBUS 44, 1995
konkrete Bedeutung für Larantuka, wenn auch nicht im 19., so doch vom 16 —18.
Jahrhundert, weil alle drei wichtige Absatzgebiete für Sandelholz waren. Neben Por-
tugiesen und Niederländern spielten entsprechend Javaner und v. a. Chinesen die
Rolle von Sandelholz-Aufkäufern auf Timor und zeitweilig auch in Larantuka selbst.
Im Kontext des Handels ist nicht nur die Rolle Patigolos als >Sandelholzhändler< zu
sehen, sondern auch die Anbindung an Waihali. Patigolo erscheint als Initiator und
Vermittler des Sandelholzhandels zwischen Timor und >Javanern< (>Fremden<).
Damit integriert die Patigolo-Geschichte den Sandelholzhandel und die Anwesenheit
fremder Händler in den Ursprungsmythos von Larantuka. Die Vermittlerrolle Pati-
golos beschreibt recht gut die Stellung, die die Bewohner von Larantuka v. a. im
17. Jahrhundert auf Timor innehatten. Eine historische Erfahrung konnte ohne Pro-
blem in ein kosmologisches System (Opposition >Berg-Meer/Übersee<) integriert
werden.
Die Region von Waihali (Süd-Belu) war lange Zeit ein wichtiger Lieferant von San-
delholz; zudem war es das angesehenste Fürstentum auf Timor (s. Schulte Nordholt
1971: 232-239; Fox 1982; vgl. Friedberg 1977: 161-164). Eigenartigerweise
bestätigt eine Überlieferung von Waihali eine Beziehung mit Larantuka: Demnach
kamen vier Gruppen aus Sina Mutin Malakan (>China-weiß-Malakka<) über Laran-
tuka nach Waihali. In Larantuka blieben einige Leute zurück und wurden dort zu
Ahnen der rajas; die übrigen begründeten die Herrschaft von Waihali auf Timor
(Schulte Nordholt 1971: 233).66 Schulte Nordholt bemerkt zurecht, daß China, Mal-
akka und Larantuka in Waihali im Zusammenhang mit Handelskontakten bekannt
waren und dann offenbar in die Überlieferung integriert wurden. Angesichts der lan-
gen Dauer der Kontakte zwischen Larantuka und Timor, die zeitweilig sogar sehr
intensiv waren, kann man durchaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die rezi-
prokem Überlieferungen von Waihali und Larantuka kein reiner Zufall sind, sondern
in gegenseitiger Kenntnis bestanden (entstanden?).
Der historische Kontext scheint mir aber auch aus anderen Gründen relevant zu sein.
>Außen/Meer-Innen/Berg< sind einerseits eine komplementäre Opposition, die
Mythen strukturieren können; in einem historischen Kontext wie in Larantuka wer-
den sie zudem zu realen Kategorien historischer Erfahrung.
Von >Außen< kamen Prestigobjekte (in Ostflores z. B. Elfenbein und Seidenpatolas).
Diese wurden in die Gesellschaft integriert, wo sie in einem zeremoniellen Tausch-
system zirkulierten. Sie waren jedoch ebenso instrumental, um Rang und Status zu
artikulieren (s. Forman 1977: 106-107; R.H. Barnes & R. Barnes 1989: 409-410,
413; R. Barnes 1991; Graham 1985: 138) - m. a. W. die Gesellschaft intern zu diffe-
renzieren. Von >Außen< kam auch die neue Religion und Elemente einer neuen
Lebensweise; »They value themselves on the account of their Religion«, beobachtete
Dampier (1729; 176) im Jahre 1699 unter den einheimischen Katholiken in Lifau (wo
damals auch Leute aus Larantuka wohnten). Damit konnte man sich in lokalem Kon-
text von den >Heiden< absetzen: In Larantuka waren diese die jentiu (< Port, gentiö)
im Gegensatz zu den orang serani (LM, >Katholiken<).67 Die jentiu waren zugleich
die guno (LM, >Bergbewohner, Hinterwäldler^ d.h. unziviliziert und dumm; < Mal.
orang gunung), spezifischer und abschätziger guno buso (LM, >stinkende Hinter-
wäldler^ < Mal. orang gunung busuk), im Gegensatz zu den orang pantai (>Küsten-
bewohner<, d.h. zivilisiert, gebildet).68 Das >Außen< war ganz konkret eine Quelle
von >Prestige< und der Möglichkeit sozialer Differenzierung - kulturelle Kategorien
(>Berg-Waldmensch< vs. >Küste/Übersee-Kultur<) erweisen sich zugleich als sozio-
logische Realität.69
Von >Außen< kamen ferner auch >reale< Immigranten nach Larantuka. Darunter
befanden sich Soloresen, einige europäische Deserteure und ein paar Portugiesen
(darunter bis 1670 auch ein capitäo-mor, d. i. Repräsentant der Krone); man kann in
den Quellen auch Gujaratis in Larantuka finden, sowie einige einheimische Christen
und >Mestizen< aus Malakka, die 1641 nach Makassar ausgewichen waren und nach
dem Fall von Makassar 1660 nach Larantuka kamen.70 Erwähnenswert sind die
Familien Hornay (mit einem niederländischen Deserteur als Stammvater) und Da
Costa.71 Die Handelshegemonie, die sich von Larantuka nach Timor erstreckte.
134
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
Ilimandiri
Abb. 11
wurde von drei Vertretern dieser Familien - Matheus da Costa (t 1673), Antonio Hor-
nay (t 1693) und Domingos da Costa (t 1722) - errichtet und geführt, die rajas von
Larantuka spielten darin keine direkte Rolle. Nicht nur solchen >realen< Immigranten
gegenüber, sondern vor allem auch gegenüber Portugal konnte der Rückgriff auf den
guno >Berg< lokale Unabhängigkeit sichern. Ein Ereignis aus dem Jahre 1702 illu-
striert dies beispielhaft.
1702 erreichte Antonio Coelho Guerreiro, der neu ernannte >Gouverneur von Solor
und Timor<, Larantuka und forderte Gehorsam von der Bevölkerung - speziell die
Unterwerfung von »König« Dom Domingos Vieira und von Domingos da Costa.
Danach stand in Larantuka aber niemand der Sinn, schon allein deswegen, weil sich
ein Vorgänger Coelhos einige Jahre zuvor durch Diebstahl und Mord einen Namen
TRIBUS 44, 1995
gemacht hatte.72 Man ließ Coelho also gar nicht erst an Land, und als dieser weiter-
hin auf völliger Unterwerfung bestand, ließen Domingos da Costa und die Bevölke-
rung von Larantuka ihm folgende Nachricht zukommen; Sie seien natürlich
>Freunde< (»amigos«) und >Waffenbrüder< (»irmäos em armas«) des Königs von Por-
tugal, doch bevor man einen untergeordneten Vasallen-Status akzeptiere, wünsche
man lieber, eine unabhängige Republik< (»republica imdependente«) zu gründen.
Der erzürnte Coelho griff Larantuka an, wurde zurückgeschlagen und mußte seinen
Weg nach Timor fortsetzen (wo es ihm nur deshalb gelang, Fuß an Land zu setzen,
weil er durch Vermittlung eines Dominikanermönchs den Vertreter und Schwager
von Domingos da Costa, einen Macaenser, bestechen konnte).
Rechtzeitig vor dem Angriff Coelhos aber hatte man in Larantuka zweimal eine
Ziege auf dem Ilimandiri geopfert, wie Coelho von den beiden entsetzten, in Laran-
tuka residierenden Dominikanermönchen erfuhr.73 Daß die Ziegen wirklich auf dem
Ilimandiri geopfert wurden, scheint etwas zweifelhaft zu sein; ich würde vermuten,
daß dies auf dem Hügel Woto, eine Erhebung am Abhang des Ilimandiri, stattfand.
Dieser Hügel gilt als die erste Residenz der rajas und manchmal auch als Wohnplatz
von Watowele; dort befindet sich auch das Ahnengrab der Fürsten von Larantuka.
M.a. W., man suchte den Segen der Ahnen >vom Berg< und beschwor >die Kraft
des Berges<, um in der erwarteten Auseinandersetzung zu bestehen (vgl. Dietrich
1989: 32).
Larantuka blieb frei von portugiesischer Herrschaft. Knapp 70 Jahre nach dem
genannten Vorfall lesen wir zu Larantuka, daß der König dem portugiesischen Gou-
verneur auf Timor >nicht immer< gehorche, und zwar immer dann, wenn ein Befehl
>gegen seine Interessem sei; nach einer solchen Uneinigkeit kehre aber alles zum
alten zurück, man bleibe >Freunde wie zuvor< (Anonymus [ca. 1769]: 521). Noch ein-
mal etwa 70 Jahre später vermerkte ein portugiesischer Autor etwas erstaunt, daß der
Fürst von Larantuka offenbar das >Privileg< besitze, im Unterschied zu anderen der
Krone Portugals unterstehenden rajas74 keinerlei Tribut an Portugal entrichten zu
müssen (Monteiro 1850: 329).
Schlußbemerkungen
Das zentrale Anliegen dieses Beitrags war die Veröffentlichung der >Erzählung von
Patigolo Arkiam, einer Ursprungsgeschichte aus Larantuka, und auf Überlegungen
zu Variationen, die in den verschiedenen Versionen dieser Geschichte auftreten. Man
könnte nun versuchen, eine ursprüngliche Version< zu rekonstruieren, von der sich
die vorhandenen Versionen ableiten lassen; doch scheint es mir lohnender zu sein,
die verschiedenen >Lesarten<, die in den Varianten zutage treten, hervorzuheben.
Zuerst sei jedoch noch einmal auf die konstanten, >obligatorischen< Elemente hinge-
wiesen, die sich durch die verschiedenen Versionen hindurch finden. Sie scheinen die
Identität der Patigolo-Geschichte auszumachen. Ohne bestimmte Elemente, so
könnte man sagen, ist es keine Patigolo-Geschichte und keine Ursprungsmythe. Zu
diesen konstanten Elementen gehören natürlich die Namen der Protagonisten,7:) fer-
ner spezifische Beziehungen zwischen ihnen76 sowie bestimmte Erzählmotive.77 Die
Patigolo-Geschichte besitzt damit einen zweifachen >externen<, d. h. über die Erzäh-
lung selbst hinausgehenden Bezug: (1) Als Ursprungsmythe steht die Patigolo-
Geschichte in einem impliziten Zusammenhang zu einem Typ von Ursprungsmythe
in der Lamaholot-Kultur. (2) Über Namen und Lokalisierung (sowie, wie anzuneh-
men ist, über das >Sandelholzhandel-Motiv<) erhält sie ihren spezifischen Larantuka-
Charakter. In Larantuka hat (bzw. hatte) sie einen expliziten Bezug auf >gegenwär-
tige< sozio-politische Realitäten, d.h. auf die Organisation des Kernlandes des
Fürstentums Larantuka - Fürstenhaus und pou suku lema. Als Gründungsmythe ist
sie daher über das Fürstenhaus hinaus relevant und bekannt. Beide >externen
Bezüge< dürften die Möglichkeiten der Manipulation der Geschichte stark eingren-
zen.78
Als weitere absolut obligatorische Elemente finden sich zudem die Verbindung von
Watowele als >Berggeborene< mit dem Ilimandiri und ihre Stellung als Ahnin der
136
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
rajas und von drei der pou suku léma. Auch Timor muß offenbar in irgendeiner
Beziehung zum Ilimandiri Vorkommen. Variabel dagegen ist die Lokalisierung von
Patigolo (und, wo vorhanden, seiner Schwester Buikéna). Diese Variabilität erlaubt
in Verbindung mit kulturell relevanten Kategorien verschiedene Konstellationen
-Konstellationen von »cultural categories, abstract but fundamental conceptions,
represented in persons« (Sahlins 1985: 89; vgl. Sahlins 1976: 24). Hieraus ergeben
sich verschiedene >Lesarten<.
Zuerst kann die Geschichte im Kontext eines umfassenden kosmologischen Systems
und dessen strukturierenden Prinzipien gesehen werden->Berg-See<, fnnen-
Außen< etc.79 Speziell die Verbindung von >Berg-See/Küste< ist hierbei ein Aspekt,
der für das Entstehen einer >normalen< menschlichen Gesellschaft notwendig ist.
Alle Versionen enthalten dieses Thema, auch diejenigen, die Patigolo auf dem Ili-
mandiri lokalisieren und ihn dorthin von Übersee zurückkehren lassen, bevor er
Watowélé heiratet. In diesem Kontext bezieht sich die Patigolo-Geschichte auf die
Entstehung von Clans bzw. einer Gesellschaft.
Dieselbe Art von Logik liegt der Version zugrunde, in der Patigolo den Paji an der
Küste zugeordnet wird. Auch hier erscheint die Notwendigkeit einer anfänglichen
Verbindung von Demon/Berg mit Paji/Küste. Diese Interdependenz setzt sich später
in der >Feindschaft< der beiden Gruppen fort. Damit entsteht - aus der Demon-
Perspektive - eine Opposition zum (nach einigen Versionen wenigstens) Ursprung
der >verfeindeten< Paji und Demon. Die Demon vom Ilimandiri entstehen aus einer
>korrekten Heirat<, die Paji und Demon dagegen aus einem Inzest von Zwillingen.
Eine entsprechende Opposition - >Inzest-korrekte Ehe< - zeigt sich in den Patigolo-
Geschichten (Bl-2) wie in der Lenurat-Mythe. Bei Lenurat ist der Inzest nur poten-
tiell, angedeutet durch sein Zwillingsverhältnis zu Watowélé; er kontrastiert dann mit
der >korrekten Ehe< mit der Paji-Frau von der Küste. Was Patigolo betrifft, so
erscheint er zwar im allgemeinen nicht als Paji, es tritt aber dieselbe Opposition von
Ehen auf.
Watowélé und Lenurat treten als >Bergmenschen< und als >unzivilisiert< aber mit
magischen Kräften begabt auf; der >normale< Patigolo von der Küste oder von Über-
see ist dafür durchgehend mit dem Ursprung von >Kultur< verbunden. Damit ergibt
sich auch ein Anknüpfungspunkt für Patigolo als >stranger king< (Prestige/Übersee),
der sich aus einem fremden aber angesehenen Fürstenhaus herleitet.80 Andererseits
wird Patigolo aber auch klar auf dem Ilimandiri lokalisiert (>autochthon<).81
Auf der einen Seite steht der raja als ile jadi dem eigentlichen >stranger king< {raja
kedua) aus Kroko Puken als ranghöher gegenüber. Ebenso sind unter den pou suku
téma Nachkommen von Watowélé und Einwanderer aus Kroko Puken vertreten. In
Anlehung an Sahlins (1985) könnte man argumentieren, daß die rajas durch die
Geschichte der Einwanderung des raja kedua von >Fremden< in >Autochthone< trans-
formiert werden. Doch wäre das zu einfach. Denn auf der anderen Seite leiten sich
das Primat und die Legitimität des >autochthonen< raja v. a. von Watowélé her; Pati-
golo bleibt in gewisser Hinsicht sekundär. Der >ßergmensch< Watowélé braucht eben
jemanden (von der >Seeseite<), damit eine ilé-jadi-Bevölkerung entstehen kann.
Dennoch ist Patigolo als >Fremder< keineswegs irrelevant. Zwar stammen der raja
und ein Teil der pou suku léma immer noch vom Ilimandiri ab (Watowélé), sie besit-
zen aber, anders als Watowélés Bruder Lenurat, zugleich einen fürstlichen Ahnen<
(Patigolo). M. a. W., der fremde Patigolo< erlaubt, unter den >Kindem des Ilimandiri<
zu differenzieren - hier das Zentrum des Fürstentums (raja und >Reichsrat<), dort die
untergeordnete Domäne (Mudakaputu, Nachkommen von Lenurat). Der eigentliche
>stranger king< (raja kedua) erlaubt wiederum, innerhalb des Zentrums des Fürsten-
tums das Primat der >Kinder des Ilimandiri< zu unterstreichen.82 Die Lokalisierung
von Patigolo auf dem Ilimandiri hebt dieses Primat zusätzlich hervor, aber auch in
diesem Fall kommt er >vom Meer< zurück und >zivilisiert< den >Waldmenschen<. Es
kommt also gar nicht darauf an, den fremdem Patigolo in einen >Autochthonen< zu
transformieren. Denn das >autochthone Element< ist in Watowélé unzweideutig
fixiert; der von >Übersee< oder der >Küste< kommende Patigolo wird als sekundäres
Element gebraucht, um unter den >Kindern des Ilimandirb zwischen Domäne und
TRIBUS 44, 1995
Zentrum des Fürstentums zu differenzieren. Statt Transformation kommt es darauf
an, im Kernland des Fürstentums eine Dualität des Ursprungs des Fürstenhauses zu
bewahren (vgl. Gladigow 1985: 68). Nur so ist der raja zugleich ile jadi und doch
von anderen ile jadi (Nachkommen von Lenurat) verschieden.
>Berg-Meer< sind jedoch auch mehr als strukturierende Kategorien, wenn sie wie
im Falle Larantukas einen direkten Bezug zu historischer Erfahrung haben. Von der
>See< wurde insbesondere das Problem von Herrschaft und Dominanz an die lokale
Gesellschaft herangetragen. Gegenüber solchen realen >stranger kings< kann dann
der >autochthone Ursprung< {ile jadi) zusätzlich einen vorrangigen Stellenwert
gewinnen und Status legitimieren. Im Falle Larantukas lassen die Dokumente erken-
nen, daß der König von Portugal als >stranger king< akzeptabel war, solange er >in der
Fremde< blieb. Wenn er aber Vertreter aussandte, um in seinem Namen Herrschaft
auszuüben, so zog man eine unabhängige Republik< vor.
So ist die Ursprungsgeschichte von Larantuka zwar eine Geschichte von Patigolo aus
der >Fremde<, aber die Macht der rajas leitet sich via Watowele vom Ilimandiri ab.
Dies wurde, nach Erzählungen in Larantuka, auch noch in der jüngsten Vergangen-
heit deutlich: Die Residenz der rajas liegt in einem Stadtteil, der 1979 zu einem
großen Teil von einem Erdrutsch verwüstet wurde; wie es heißt, gelang des dem
damals noch lebenden letzten raja, den Erdrutsch von seinem und benachbarten Häu-
sern abzuwenden, indem er einen sakralen pusaka-Kris hinter seinem Haus in die
Erde steckte. Eine entsprechende Geschichte gibt es in Waibalun, die berichtet, wie
der Vorsteher des vom Ilimandiri stammenden Clans das Dorf vor dem Erdrutsch ret-
tete. In beiden Fällen gelang es den Nachkommen vom Ilimandiri, Unheil dank ihrer
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Vroklage, B. A.G. 1940. »De prauw in de culturen van Flores«, Cultureel Indie 2: 193-199,
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Wertenbroek, M. o. J. Het rijk van Larantoeka. Unveröffentlichtes Manuskript.
- o. J. a. De geschiedenis van Flores. Unveröffentlichtes Manuskript.
141
TRIBUS 44, 1995
Anmerkungen
1 Die hier vorgelegte Analyse kann somit nicht ganz vollständig sein, da sie Teil einer laufen-
den Forschungsarbeit zu Geschichte, Gesellschaft und Religion von Larantuka ist (Dietrich,
in Vorbereitung); erst deren Ergebnisse werden die Analyse abrunden können. Allerdings ist
auch die Analyse einer Mythe und ihrer Varianten Voraussetzung, um sie überhaupt in ihren
weiteren Kontext einbetten zu können.
2 Es wurde mir während einer sechsmonatigen Archiv- und Feldforschung 1981/82 auf Flores
zugänglich. Eine Feldforschung in Larantuka wurde 1991/92 durchgeführt. Mein Dank gilt
der Universität Tübingen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Forschun-
gen durch ein GFG- bzw. Forschungsstipendium unterstützten, sowie dem Lembaga Ilmu
Pengetahuan Indonesia (LIPI) und der Universitas Nusa Cendana (UNDANA) Kupang, die
die Schirmherrschaft für die Forschungen übernahmen. In besonderer Dankbarkeit bin ich
ferner Br. Petrus Laan S VDf verbunden, der mich bei meiner Archivarbeit in Ende mit größ-
tem Entgegenkommen unterstützte, sowie natürlich all jenen, die sowohl 1981/82 wie
1991/92 in Larantuka bereit waren, ihr Wissen mit mir zu teilen. Für hilfreiche Kommentare
zur Erstfassung dieses Beitrags danke ich außerdem Dr. R. H. Barnes und Prof. Dr. K.-H.
Kohl, der mir darüberhinaus noch eine zusätzliche Variante der Patigolo-Geschichte zugäng-
lich gemacht hat.
3 Amdt hat, soweit ich weiß, nicht in Larantuka ethnographisch gearbeitet, sondern nur im
Lamaholot-Gebiet. Ferner nennt Arndt den Namen »Pati Golo Arikian (Todo Golo Geha
Rewa)«. Dieser Namensform bin ich in Larantuka nie begegnet. Sie entspricht der dangen
Form< vieler Namen, die in Lamaholot-Überlieferungen verkommen; der Namen >Patigolo<
oder >Patigolo Arkiam, der in Larantuka üblich ist, ist eigentlich nur eine Kurzform. Der
Name kommt in einer dangen Form< auch in Überlieferungen anderswo im Lamaholot-
Gebiet vor, so in Pamakayu (West-Solor) als Raja Pati Golo, Tuan Pati Golo Ara Kian (Leyn
1979: 21) oder in Lamaboleng (Mittel-Solor) als Raja Pati Golo, Tuan Golo Arakian (Leyn
1981: 56). Da auch Arndt einen dangen Namen< angibt, ist zu vermuten, daß seine Version
aus einem Lamaholot-Dorf stammt.
4 Palmweinzapfen ist in der Lamaholot-Kultur die typische Männerarbeit. B2 führt hier im
einzelnen aus, wie Palmwein gezapft wird, und identifiziert Patigolo als >Bauem<, d. h. er
beherrscht auch den Landbau. - Arndt schreibt: »Neben der ... Feldarbeit besteht das tägli-
che Pensum des Mannes im Palmweinzapfen. Für Frau und Kinder hat er täglich eine oder
mehrere Bambuskannen an süßem und unvergorenen Palmsaft abzuliefern« (Arndt 1940:
22).
5 Der frische und noch süße Palmwein gilt als Getränk, das für Frauen besonders geeignet ist.
Männer trinken ihn auch, genießen aber auch gerne den vergorenen und stärker alkoholi-
sierten Palmwein. Weben ist in der Lamaholot-Kultur die typische Frauenarbeit. Arndt
schreibt u.a. zu den Frauenarbeiten: »Jedes Jahr hat sie für den Mann die von ihm getra-
genen Kleidungsstücke zu erneuern und zu weben ...« (Arndt 1940; 22).
6 In B2 heißt es: Der Palmwein wurde immer weniger, so daß er nicht mehr für beide reichte.
Als Patigolo keinen Palmwein mehr brachte, schlug sie ihn, ohne viel zu fragen, mit dem
Webschwert auf den Kopf.
7 D. h., wie B2 explizit sagt, Buikena wußte nichts von seinem Vorhaben.
8 Auch in Al 'steigt Patigolo auf einen Taro-Baum, eine Angabe, die mir rätselhaft ist. In B2
steigt er, wie zu erwarten ist, auf eine Lontar-Palme.
9 ln B2 ist es eine riesenhafte Fledermaus (wie auch in Bl), die aus dem »Süden« kommt. D. h.
wahrscheinlich: von der See her.
10 In Bl-2 ergreift die Fledermaus Patigolo und fliegt sofort wieder davon.
11 In Bl~2 landet Patigolo in einem Bananengarten. B2 dazu: Er wurde auf einem Baum mit
halbreifen Bananen abgesetzt. Er aß von diesen Bananen und blieb mehrere Tage auf dem
Baum.
12 In B2 gehört der Garten einer alten Frau, die Wae Belek heißt (vgl. BI: »eine sehr alte
Matrone«). Sie entdeckt Patigolo, als sie die Bananenschalen auf dem Boden findet und sich
umschaut. Sie bittet ihn herabzusteigen. Für einen Dieb hält sie ihn nicht. - Malaiisch budak
bedeutet sowohl >Sklave, Diener< als auch >Knabe, Junge« Ich übersetze hier als »junger
Mann< in Anlehnung an LM buda/bebuda (< budak ) »Kind, junge Person«
13 ln BI-2 wird Patigolo von der alten Gartenbesitzerin einfach freundlich aufgenommen. Ein
König tritt bisher noch nicht auf; in Bl erscheint überhaupt kein König. In AI' wird Patigolo
vom König des Landes adoptiert.
14 Bl-2 geben einen spezifischen Grund für das Verbrennen von Sandelholz: ln Bl tut Pati-
golo es anläßlich einer Zeremonie nach der Geburt seiner Söhne. In B2, wo keine Söhne Vor-
kommen, verbrennt er es zu einer allabendlichen Zeremonie, um böse Geister aus dem Haus
zu vertreiben. Hierdurch wird das Interesse des König des Landes geweckt, er wird auf Pati-
142
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
golo aufmerksam und Patigolo zieht in den Palast um. Ferner verbrennt Patigolo nicht
Sandelholz vom Messergriff, sondern von der Messerscheide. Es handelt sich übrigens um
sein Messer zum Palmweinzapfen. - Die Erzählungen greifen hier ganz realistische Motive
auf: auf Java wurde Sandelholz für die Herstellung von Kris-Griffen und -Scheiden ver-
wendet, auf Timor scheint es nicht für einen entsprechenden Zweck gebraucht worden zu
sein. Dafür wurde es auf Timor verbrannt, um >böse Geisten zu vertreiben (Ormeling 1957:
93, 173 Anm. 1; Frey 1988: 44).
15 Die Abreise Patigolos in B2 erfolgt, weil das Sandelholz vom Messer Patigolos verbraucht
ist und er zum Bedauern des Königs keines mehr verbrennen kann. In BI kommt auch das
Motiv des Handels zur Sprache.
16 Der 1502 m hohe, erloschene Vulkan, an dessen Füßen Larantuka liegt. >Ilimandiri< ist die
heute übliche Schreibweise in Larantuka; >Ilemandiri< ist korrekter (Lh He >Berg<) - also
etwa >der Berg, der von selbst besteht< bzw. >der Berg an sich<, >der Berg der Berge< (Vatter
1932: 14). Der Ausdruck >gunung Ilemandiri< ist, wie in Larantuka erklärt wird, eigentlich
unsinnig, da dies >Mandiri-Berg-Berg< bedeutet.
17 In Bl-2 sieht er ein Licht bzw. einen Feuerschein.
18 In BI-2 trifft Patigolo nur auf ein erloschenes Feuer, was ihm natürlich keine Furcht einjagt.
19 In Bl ist es ein Waringin-Baum, in B2 ein Eukalyptus-Baum. In B2 bleibt Patigolo an dem
verlassenen Ort, da er die Vorahnung hat, daß der Mensch bald kommt. In Bl will er schon
zurückkehren, aber ein Hirsch, der vom >Waldmenschen< gejagt wird, versperrt ihm den
Weg.
20 In B2 bringt der >Waldmensch< Schweine, Hirsche, Stachelschweine, Mäuse, Eidechsen,
Schlangen etc. von der Jagd mit. Auch in BI kommt der >Waldmensch< von einer erfolgrei-
chen Jagd zurück. In beiden Fällen kündigt er sich durch ein Getöse an (wie schon zuvor die
Fledermaus).
21 In B2 verwendet der >Waldmensch< zwei Hälften eines Bambus zum Feuer machen - die tra-
ditionelle Lamaholot-Methode.
22 In B2 wirft der >Waldmensch< Patigolo explizit vor, das Feuer verzaubert zu haben,
so daß es nicht entsteht. Danach macht Patigolo Feuer, wobei er Feuersteine verwendet,
die er aus Timor mitgebracht hat. - In Bl wittert der >Waldmensch< Patigolo sofort; später
muß dann Patigolo Feuer machen, schafft es aber nicht; dies gelingt dann dem >Wald-
menschem, der hier ein Stück Holz und einen Fingernagel verwendet. In diesem
Abschnitt [23] >sieht< der >Waldmensch< Patigolo, bevor er den Boden erreicht. In Bl-2
versichert sich Patigolo, bevor er den Boden erreicht hat, daß der >Waldmensch< ihm nichts
antun wird.
23 Hier scheint es, daß sie tatsächlich zusammen essen. In B2 verlangt Patigolo, auch noch
bevor er auf den Boden gelangt ist, daß der >Waldmensch< die für Menschen verbotenen
Tiere wegwirft; danach essen sie zusammen. Unter dem Vorrat von Patigolo (vgl. [18])
befinden sich auch ketupat (mit gekochtem Reis gefüllte Palmblattpäckchen). In Bl wirft
Patigolo die ihm Vorgesetzte Speise (Schlangenfleisch) weg. In dieser Version ist der Wari-
ngin-Baum, auf dem Patigolo zuvor saß, das Haus des >Waldmenschen<.
24 In B2 hat Patigolo Arak (Palmschnaps, aus Palmwein gebrannt) dabei, in Bl Palmwein.
25 Eine ruse de guerre, angesichts derer ich nicht umhin kann, einen Vorfall aus dem
Jahre 1669 zu erwähnen. Damals kam Fernäo Martins da Ponte, offizieller Vertreter
Portugals im Timor-Archipel, mit sieben Schiffen vor die Festung der Niederländischen
Ostindischen Kompanie (VOC) auf Solor. Die VOC war dort noch durch zwei bosschieters
vertreten. Da die Portugiesen auf Zurufe nicht antworteten, schoß man ein paar
mal auf die Schiffe, die danach wieder abfuhren. Ein Solorese, der zuvor von den Schiffen
desertiert war, berichtete: Die Portugiesen hätten den Plan gehabt, als Freunde zu
kommen; 2-3 Mann sollten an Land gehen und die beiden bosschieters betrunken
machen, worauf man die Festung für Portugal erobern wollte - «dat waerlijck een
roeckeloos bestaen van die rapalie soude hebben geweest« (G. G. & Raden, Batavia,
17.11.1669, GM III: 681).
26 Bl-2 unterstellen Patigolo eine solche Neugier nicht; er schreitet einfach zur Tat und ist
verblüfft festzustellen, daß es sich um eine Frau handelt.
27 B2 vermerkt, daß Patigolo die verbotenen Teile< nicht rasiert hat. In Larantuka wurden die
Fingernägel von Watowele zu sakralen Erbstücken der rajas; Vatter (1932: 156) konnte sie
im Dorf Lamika (Domäne Wolo) in Augenschein nehmen. Sie waren wahrscheinlich ausge-
lagert worden, um sie dem Zugriff der Mission zu entziehen.
28 In B2 ist der >Waldmensch< wütend, weil er meint, er sei jetzt nackt. Aber er kann Patigolo
nichts mehr anhaben, weil seine übernatürlichen Kräfte verloren gegangen sind. Sie vertra-
gen sich dann wieder.
29 Das >Fragen< wird in Al 'deutlicher: Hier erkennt Patigolo seine Söhne nicht am Gesicht;
daher muß durch Frage und Antwort geklärt werden, wer wer ist. - In der Handschrift
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TRIBUS 44, 1995
erscheint dieser letzte Abschnitt bei Abschnitt [ 11 ] als Randnotiz neben dem Haupttext. Ich
habe ihn hier, wie auch in Al ' an den Schluß der Geschichte gesetzt.
30 S. die Zusammenfassung dieser Episode in Dietrich (1989: 31-32), die auf der in Abschnitt
[29] der Patigolo-Geschichte genannten Geschichte vom Ursprung der Fürstenfamilie
basiert. Zum Fürstentum Larantuka s. Dietrich (1989: 27-37, 54).
31 Zu den pou suku léma und ihrer Rolle im Kernland von Larantuka s. Dietrich (1989: 28-31).
>Volk der fünf Clans< ist streng genommen keine Übersetzung des Ausdrucks pou suku léma
{suku >Clan<, léma >fünf<). Pou wird in Larantuka als ein spezifischer Rang bzw. Titel ver-
standen; eine spezifische Bedeutung wird dem Wort nicht beigelegt. Heynen (1876: 76) fragte
sich, ob es von Lateinisch >populus< hergeleitet werden könne. Ich denke, er hat recht gehabt,
wenn man das lateinische Wort durch Portugiesisch povo >Volk, Weiler, Flecken< ersetzt (und
die Aussprache [’povu] berücksichtigt).
32 So die von Wertenbroek (o. L; 43) aufgenommene Mythe. In der entsprechenden, von Arndt
mitgeteilten Mythe legen ein brauner Falke und ein grauer Adler zwei Eier auf dem Iliman-
diri, aus dem die Zwillinge hervorkommen (Arndt 1940: 61). Die Vögel heißen hier Lera
Wulan und Tanah Ékan, d. s. die Namen der dualen Lamaholot->Hochgottheit<. Watowélé
heißt hier Oa Dona Wato Wélé. Der Lamaholot-Text integriert damit zwei adlige Appellative
des Larantuka-Malaiischen. Der Titel Dona ist Frauen fürstlicher Abstammung Vorbehalten,
mit Oa wurden ursprünglich nur Frauen aus >gutem Hause< angeredet. - Zu diesem
Ursprungsmythos gibt es verschiedene Varianten (s. z. B. Arndt 1951: 65, 71-76, 199; Kohl
1988: 259-260).
33 S. dazu Arndt (1938); vgl. Downs (1977). Die Bedeutung der >Feindschaft< von Paji und
Demon scheint im Lamaholot-Gebiet durchaus nicht unbeträchtlich zu variieren.
34 Bei Amdt heißt das Mädchen Teniban Duli Hadun Boléng. In der von Wertenbroek aufge-
nommenen Lenurat-Mythe erscheint der Name anders herum, ebenso in einer Mythe, die ich
1982 in Lewohala (Ilimandiri) aufnahm.
35 In einer Version wird Patigolo zum >Waldmenschen< (Amdt 1940: 160-161).
36 Zur sprachlichen Bedeutung dieser Kategorien im Larantuka-Malaiischen s. Dietrich
(1994). - Heutzutage wird in Larantuka bei Ansprachen zu Hochzeitsempfängen gern eine
Variante des indonesischen Sprichworts »Asam di gunung, garam di laut, bertemu di
belanga« zitiert (Tamarinde auf dem Berg, Salz im Meer, sie treffen sich im Kochtopf<).
Brataatmadja erläutert seine Bedeutung so: Ehepartner, die getrennt und weit voneinander
entfernt sind, werden sich wieder treffen (Brataatmadja 1985: 40, vgl. 151). In Larantuka
wird damit eher ausgedrückt, daß die Ehe zwischen zwei Liebenden erfolgreich zustande
kam, auch wenn sie zwischenzeitlich fern voneinander waren oder aus ganz verschiedenen
Orten stammten.
37 Wenn der Abend des Hochzeitsfestes schon recht weit fortgeschritten ist, zieht sich die Braut
ins Haus ihrer Eltern zurück, während der Bräutigam mit Freunden durch die Stadt zieht.
Nach einer Weile begibt er sich zum Haus der Braut, wo inzwischen alles verschlossen und
dunkel ist. Er macht sich durch Klopfen bemerkbar, worauf ein Frage- und Antwortspiel
beginnt. Von >Innen< wird beispielsweise gefragt, wer denn noch so spät anzuklopfen wage,
der Bräutigam stellt sich daraufhin als einsamer Fremder dar, dessen Schiff bei Nacht an der
Küste angetrieben wurde, der ohne Unterkunft und Nahrung sei etc. - Genauer wäre es, im
Imperfekt zu schreiben, da diese Zeremonie heute äußerst selten, wenn überhaupt durchge-
führt wird; ich kenne sie nur aus Beschreibungen darüber, >wie es früher war< bzw. >wie es
eigentlich sein müßte<.
38 Zu lié Woka, Hart Botang und den nitu s. Amdt (1951: 22-30; 165-171). Lh iléwoka >Berg
und Hügel<; Hari Botang scheint ein Eigenname zu sein.
39 Vgl. einen Lamaholot-Doppelvers, den Amdt wie folgt wiedergibt; »Meine Absicht ist,
lange zu leben und viel auf Erden zu wandern, von den Bergen hinabzugehen und von der
See heraufzusteigen« (Amdt 1951: 152).
40 Diese Bemerkung zu Tod und Jenseits ist unvermeidlicherweise stark verkürzt und verein-
facht, besonders in Hinsicht auf die Thematik Tod-See-Erde-Unterwelt-Jenseits<. S. dazu
Amdt (1951: 34-56, 173-184; lau kewokot auf S. 178). Vgl. ausführlicher R. H. Barnes
(1974: 201-203) zu Kédang.
41 Der Name ist mir nicht verständlich. Ata molang bedeutet etwa soviel wie >Heiler, Augur,
Magien - weist also auf >magische Kräfte< hin (s. Arndt 1951: 131-134).
42 Das Webschwert heißt in Lamaholot hurit (< suri >Schwert<) (s. Vatter 1932: 225; Amdt
1940; 102). Hurit bezeichnet auch die Rolle desjenigen, der im Opferritual dem Tier den
Kopf abschlägt. Der Schlag Buikénas mit dem hurit könnte dann eventuell in Zusammen-
hang mit >Weben/Erschaffen / Fruchtbarkeit einerseits und der Analogie >Geburt/Kopf-
jagd< andererseits gesehen werden (s. R. Barnes 1993)—die Analogie zwischen >Geburt< und
>Krieg< wird auch in Larantuka gezogen, wenn man von der Geburt als prang perempuan pu
(LM, >der Krieg der Frauen<) spricht. Buikéna kann für Patigolo nicht auf >Kopfjagd< gehen
144
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
(>gebären<), da er ihr Buder ist; sie kann höchstens seinen >Kopf jagen<. Im nicht-kopfja-
genden Java wird das >Schwert< durch einen Reislöffel ersetzt (s. u. die Geschichte von Watu
Gunung).-Zumindest scheint es, daß genau ein Schlag mit dem Webschwert kein rein zufäl-
liger Anlaß für die Trennung ist.
43 Vgl. Watowélé: wato >Stein<, wélé nach Arndt von bêle >groß< (Amdt 1940: 71).
44 Anders als im Hikayat Banjar, wo eine entsprechende Inzest-Geschichte vorkommt. Die
Mutter schwört einen Eid (bersumpah): »from this day on we shall live separately; when I
die you may not corne to see me, and when you die I shall not come to see you« (Ras 1968:
369). Vgl. die Wuno-Pari-Mythe: »Die Frau sagte: >Komm mir nicht mehr nahe! Ich komme
dir auch nicht mehr nahe<«. In einer sehr stark verkürzten Version dieser Mythe schwören
Wuno und Pari dieses als Eid (pelétung) (Arndt 1951: 64). S.Leemker (1893: 451): plétun
>beeidigen, Eid schwören«
45 Anders als beispielsweise die Überlieferungen zum Ursprung des Fürstenhauses von Ter-
nate, die ebenfalls je eine Version autochthonen und fremden Ursprungs kennen. Die
Quellen sind hier allerdings von sehr viel größerer Zeittiefe (s. van Fraassen 1987, II:
Appendix I).
46 Vgl. die Überlieferungen in Dörfern am Ilimandiri: »The Sina Djawa folk [d. h. >Einwande-
rer<] were liked by the Ili Djadi people ... because when they entered they brought iron, flint
and Steel and other >high< things« (Kennedy 1955; 168). S. auch Vatter (1932; 140). - In
einem Lamaholot-Mythos kommen neben den >Berggeborenen< die >von Klippe und Sand-
bank geborenem (bajak jadi tonén déwa) hinzu. Unter den letzteren befinden sich, nach
Arndts Übersetzung, katholische Priester und Europäer (Arndt 1951; 73). Ich verdanke die-
sen Hinweis Herrn Prof. Karl-Heinz Kohl.
47 S. hierzu mit weiteren Literaturangaben Dietrich (1989: 14-18) und Graham (1985:
Kap.5); ein rezentes ethnographisches Beispiel gibt Graham (1991: 113-118); kompara-
tiver Kontext dazu: R. H. Barnes (1985: 100-101). Es sei darauf hingewiesen, daß ich
hier koten/kélén ausschließlich als Funktionsbezeichnungen verwende. Beide Bezeich-
nungen tauchen in der Ethnographie auch als Clan-Namen auf; der Name des Clans
gibt dann aber keinen sicheren Hinweis auf seine Funktion. In Waibalun beispielsweise
nimmt der Clan Balun die Funktion koten wahr, der >eingewanderte< Clan Koten die
Funktion kélén.
48 Zur Ämterstruktur der Dörfer, aus denen die Stadt Larantuka sich zusammensetzt, s. Dietrich
(1989: 28-30). Lh kebélén >großer [Mann]<, von Lh bélén >groß<.
49 Heynen bringt dies für Larantuka klar zum Ausdruck; »De toewan-tanah van Larantoeka is
tevens hoofdkapala van zijn eigen negorij; hij bestuurt die evenwel zelf niet, maar stell een
ondergeschikten kapala [kapitan] aan in zijne plaats. Deze kapala woont ok voor hem de
raadsvergaderingen bij, waarin hij echter niets anders mag verklären dan wat hem de toe-
wan-tanah, wiens >mond< hij is, heeft opgedragen« (Heynen 1876: 83-84; vgl. aber auch
Graham 1994). Das >Larantuka< in diesem Zitat bezieht sich auf das Dorf Larantuka, ein Teil
der ebenfalls Larantuka genannten Stadt.
50 Diese Überlieferungen ergeben, soweit sie bekannt sind, ein komplexes Bild (s. z. B. Arndt
1940: 52-93, 146-169, 1951; 140-142; Graham 1994: 356-360). Ich kann hier nur einige
charakeristische Punkte herausgreifen,
51 In einer anderen Version hilft der Ahne des raja-kedua-Clans den Nachkommen Patigolos,
die Paji von der Küste zu vertreiben. Zu den beiden Versionen zum raja kedua s. Seegeier
(1932: 80-83). Zum Verhältnis raja-raja kedua in der politischen Struktur von Larantuka
s. Dietrich ( 1989: 28, 30). Zu ihrem Verhältnis als koten und kélén: »Door de bergbevolking
hoort men vaak spreken van >radja Kottang< en >radja Keling<. Hiermee worden dan onder-
scheidelijk de radja en de radja kedoea bedoeld« (ein »Bestuur; Algemene indeling« über-
schriebenes Fragment einer Memorie van Overgave, wahrscheinlich aus dem Jahre 1923, in
Abschrift im Archiv San Dominggo, Larantuka). Weitere Hinweise bei Seegeier (1932: 43,
47, 81). - Dem Clan Amakélén des raja kedua steht der Clan des raja nicht als Amakoten
gegenüber.
52 Dieser Rangunterschied war schon den Portugiesen aufgefallen. In zwei Briefen aus dem
Jahre 1768 werden raja und raja kedua als »rey« und »thenente e segunda cabeça« bzw. als
»rei« und »tenente« gegenübergestellt (Brief Gouv. Antonio José Teles de Meneses, Lifau,
16.5.1768, in Matos 1974: 434; Brief Fr. Antonio de S. Boaventura, Lifau, 3.3.1768, in
Castro 1867: 258-259). »Segunda cabeça« könnte man durchaus als portugiesische Über-
setzung von raja kedua ansehen. Der Titel »tenente« indiziert ebenso deutlich eine sekun-
däre Position^ er bezeichnet »dengeen die in eens anders plaats, als zijn vicarius, gezag
voert« (Veth 1867: 361). Vgl. das Zitat von Heynen in Anmerkung 49.
53 Entsprechend werden heute Gräber ausgerichtet, d. h. der Kopf zeigt Richtung Berg.
54 Nene mojang deri Radja Larantoeka wurde 1906 von Raja Don Lorenzo II aufgeschrieben
(Arsip Regio SVD, Ende). - Das Primat von Watowélé wird auch heute in Larantuka immer
145
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wieder noch deutlich. Vgl. auch den Lokalhistoriker Fernandez, der schreibt: »Raja adalah
tokoh sentral yang dianggap berasal dari keturunan langsung dari gunung Ilemandiri, dina-
makan >Ile Jadi<« (>Der Fürst ist die zentrale Figur; es wird angenommen, daß er direkt vom
Ilimandiri abstammt und er wird >vom Berg geboren< genannt<) (Fernandez 1986: 2). So
schreibt auch Vatter aufgrund von Informationen, die er von Raja Don Servus (t 1941 )
erhielt: »... aus dem Schoß Watueles [sic] entsproß das Radjageschlecht von Larantuka«
(Vatter 1932; 35). - Der fraglose Fixpunkt für die >direkte Abstammung vom Ilimandiri< ist,
in allen Versionen, Watowélé; die Verbindung von Patigolo und Ilimandiri ist dagegen
gewissermaßen optional, seine Funktion >sekundär<.
55 Pantai Délang ist ein alter Küstenmarktplatz auf dem Land der Domäne Baipito (Mudaka-
putu). Er liegt nordöstlich vom Gipfel des Ilimandiri außerhalb des Gebietes, in dem Laran-
tuka-Malaiisch gesprochen wird (s. Dietrich 1983; Fig 1 [Karte]).
56 Entsprechend eine von mir in Lewohala (Ilimandiri-Gebiet) aufgenommene Lenurat-Mythe.
57 Die explizite Zuordnung zur Land- und Seeseite entnehme ich Couvreur (1907).
58 In einer Lamaholot-Version aus Lewoléré erscheint Patigolo als Bruder von Hadun Boléng
Teniban Duli, beide Paji in Kuku Lewo Pulo. Patigolo macht sowohl Lenurat wie Watowélé
betrunken und >zivilisiert< sie, wonach sie Patigolo zur Küste folgen. Lenurat heiratet dort
Hadun Boléng. Patigolo nimmt Watowélé zur Frau (Kleden 1975: 62-63). Kleden zitiert am
Ende seiner Wiedergabe Vatter (1932: 34-35), obwohl Kledens Wiedergabe sich, außer in
der Identifizierung von Patigolo als Paji, stark von Vatter unterscheidet. Wahrscheinlich han-
delt es sich in Kleden um eine Version aus Lewoléré.
59 Vgl. auch die kanonische Zahlenkombination >10/5<, um eine Gesamtheit auszudrücken (es
muß nicht eine konkrete Mengenangabe sein). (1) Das Fürstentum Larantuka heißt auch
Demon Lewo Pulo Pagong Tana Téma >die 10 Dörfer der Demon, die 5 Länder der Pagong<.
Demon/Pago (ng) erscheint in Lamaholot-Texten stereotyp kombiniert. Wertenbroek fügt in
der von ihm aufgenommenen Lenurat-Mythe zu dem Ausdruck demu pago hinzu (offen-
sichtlich eine Erklärung seines Informanten): »Demu Pago artinja timbul dari satu tempat
sendiri« (>Demu Pagi bedeutet, an einem Ort von selbst zu entstehen<) (Wertenbroek o. J.:
45). Demu pago könnte wohl mit Demon/Pago(ng) in Zusammenhang stehen. Die Söhne
Lenurats allerdings werden nicht als demu pago bezeichnet, sondern als ilé jadi. (2) Den 10
kakang stehen im Fürstentum Larantuka die 5 pou gegenüber. (3) Ferner werden die Paji
auch als Paji Watan Téma >die 5 Küsten der Paji< bezeichnet, womit sie die >10 Dörfer der
Demon< vervollständigen.
60 >Seit alters Katholisch< soll heißen: Tengah wird als katholische Siedlung seit 1863 nament-
lich erwähnt, was aber nichts über ihr Alter aussagt. Die ersten Bewohner des betreffenden
Küstenstreifens am Ilimandiri begannen 1558 zum Katholizismus zu konvertieren.
61 Auf dem Tanjung Bunga (in direkter Nachbarschaft von Belogili, woher B3 stammt) scheint
es nicht unüblich zu sein, den >Einwanderern< aus Kroko Puken (Lapan Batang) Timor
als ursprüngliches Herkunftsland zuzuschreiben (s. Vatter 1932; 135); in Lamalera auf
Lembata findet man statt dessen Sulawesi (R. Barnes 1991: 12). - Ebenfalls ist es nicht
unüblich, Europäer und andere Fremde in einen lokalen Ursprungsmythos zu integrieren
(s. R. H. Barnes 1974: 29-30; Arndt 1951: 73; Kohl 1990: 111), u.U. auch durch die
Übernahme von Namen aus fremden Mythologien (vgl. oben Adam Eva als Schöpferwesen)
oder die Reinterpretation lokaler Namen als biblische Namen (vgl. Kohl 1988: 260;
Fox 1971:47).
62 Vgl. eine Version zur >Reichsgründung< in Arndt (1938: 42-45), laut welcher, was eigent-
lich naheliegend ist, die Domäne Mudakaputu (Baipito) den Kopf des Kerbaus erhält. In die-
ser Version ist allerdings nicht Sira Demon der >Reichseiniger<; sie stellt die >Reichseini-
gung< zudem in den Kontext einer ganz anderen Überlieferung.
63 Eigenartig ist, daß diese beiden Domänen (Hadung Boléng) den Namen von Lenurats
Paji-Frau (Hadun Boléng Teniban Duli) reflektieren. Merkwürdig ist auch eine gewisse
Parallelität von Pusi-Goa und Laba-Samon als >zwei Nachkommen vom Ilimandiru in der
Fremde.
64 Zu verschiedenen Aspekten der Geschichte von Timor, Solor und Larantuka ließe sich
inzwischen eine nicht unansehnliche Bibliographie zusammenstellen. Es seien hier genannt:
Die klassische Studie von Boxer (1947); Ptak (1987), Souza (1986: 109-111, 181-183) und
Ormeling (1957: 94-136) speziell zum Sandelholzhandel; Leitäo (1948); Schulte Nordholt
(1971: 159-185); Daus (1983: 323-343; mit etwas Vorsicht zu genießen).
65 Zu Raja Don Lorenzo I s. u. a. Castro (1944: 46, 52) und Francis (1856, II: 183), vgl. Car-
valho (1842: 415); zu Raja Don Caspar: Humme (1874).
66 Eine etwas andere Version (in der Malakka ebenfalls eine zentrale Rolle spielt); Graham
(1985: 80-81).
67 Im Lamaholot-Gebiet wird Larantuka auch als Serani bzw. Serani Larantuka bezeichnet
(R.H. Bames 1994; Leyn 1980: 28-29; vgl. Kohl 1990: 102).
146
Dietrich: Tjeritera Patigolo Arkian
68 Zur Unterscheidung von Küstenbewohner (= Christen oder Muslime, zivilisiert, gebildet)
vs. Bergbewohner (= Heiden, unzivilisiert, dumm) in Ostflores s. auch Arensbergen
(1909: 262) und Seegeier (1932a: 6-7). Interessanterweise ist LM guno, das auch ohne
das vom Malaiischen her zu erwartende orang >Bergmensch< bedeutet, eines der ältesten
belegten Wörter der Sprache von Larantuka: »... os que pello alto dos montes vivem,
a que chamáo Cunos, que he o mesmo nome dos montes ...« (Encarnaçào & Rangel 1635:
325).
69 Ich würde daher nicht in jedem Fall so prinzipiell zwischen der konkreten Realität (Existenz
von Land und Meer, besonders in einem Archipel ubiquitär) und kulturellen Kategorien
(Ideologie) trennen, wie Barraud (1985: 117) es tut. Ihr hypothetisches Beispiel, daß man
sich auch eine Inselkultur vorstellen könnte, die das Meer völlig ignoriert, erscheint mir für
Ostindonesien wenig glücklich zu sein. Typischer erscheint es mir, was Berthe über die
Bunaq mit Erstaunen feststellt: bei einer landwirtschaftlichen Inlandbevölkerung, »qui, de
nos jours, ignore tout de la navigation et de la pêche«, findet sich trotzdem in Ritual und
anderen Vorstellungen immer wieder das Thema >Meer/Übersee< (Berthe 1964/65: 72; vgl.
Vroklage 1940).
70 Eine niederländische Quelle (1689) spricht von etwa 30 (weißen) Portugiesen in Larantuka
und Lifau, und erwähnt ferner »een groot aantal Malaxe, Macauwse, Goase en andere mix-
tise Christenen« (G.G. & Raden, Batavia, 30.12.1689, GM V: 311). Die Zahl der weißen
Portugiesen dürfte seit 1613 nie sehr hoch gewesen sein. Bocarro berichtet, daß in Larantuka
»poucos Portuguezes« wohnten (Bocarro 1635; 54).
71 Johan de Ornai, Kommandant der VOC-Festung auf Solor desertierte 1629 nach Larantuka
(s. R.H. Barnes 1987: 229-230). Die Herkunft der Da Costas ist nicht genau bekannt -
Leitäo zitiert eine Quelle vom 10.10. 1673, die den ersten bekannten Da Costa »natural
daquellas partes« nennt (Leitäo 1948: 257). Beide Familien waren durch Heirat einander
verbunden. S. ferner zu den Hornays und Da Costas Boxer (1947) und Leitäo (1948: bes.
Kap. 12).
11 S. Brief Domingos da Costa an König von Portugal, Timor, 5.5. 1703 (in Matos 1974; 308);
Leitäo (1948; 266-267).
73 Zu den Ereignissen bei der Ankunft Coelhos s. Brief Gouv. Antonio Coelho Guerreiro,
Timor, 28.5.1702 (in Matos 1974: 231-237; ausführlich referiert in Leitäo 1948; 279-282);
in einem anderen Brief (Lifau, 29. 9. 1703) spricht Coelho von »ritos gentílicos, sacrificios
e päo males diabólicos« (in Matos 1974: 327). Der Ausdruck »Waffenbruder« (»irmäos em
armas«) bezieht sich auf die Tatsache, daß die Hornays und Da Costas mit ihren Gefolgs-
leuten aus Larantuka die Stellung Portugals auf Timor erfolgreich gegen die VOC verteidigt
und ausgebaut hatten.
74 Zu den Tributverpflichtungen von rajas auf Timor s. Matos (1974: 145-161 = Tab. 9) und
Minutoli (1855, II: 369-370). Das Larantuka benachbarte Fürstentum Sikka hatte anstelle
von Tribut eine Kompanie Hilfstruppen in Dilli zu unterhalten (Monteiro 1850: 494; vgl.
Lencastre 1934: 15).
75 Die Tatsache, daß in A2-3 zwei gleichnamige Schwestern (Watowélé) Vorkommen, legt
nahe, daß mit dem Ilimandiri nicht willkürlich neue Namen assoziiert werden können - d. h.
es kann kein neuer Name eingeführt werden, Watowélé kann nur verdoppelt werden.
7(S Eine Minimalanforderung scheint zu sein, daß Patigolo eine Schwester hat und mindestens
zweimal eine eheliche Beziehung eingeht. Der Name der Schwester ist in der Regel Buikéna
Harawadan, außer in der Version, in der Watowélé Fatigólos Schwester ist (Abb. 4). Auch
diese Version entspricht der >Minimalanforderung<, sie greift aber das >Inzestmotiv< auf und
erscheint dann, im weiteren Lamaholot-Kontext, als ein gängiger Typ von Ursprungsmythe.
In einer Version (aus dem Lamaholot-Gebiet), die ich allerdings nicht vollständig aufneh-
men konnte, ist Watowélé ebenfalls Schwester von Patigolo und Ahnin der rajas; Buikéna
ist dagegen die Frau >in der Fremde< (hier in Lamakéra, Ost-Solor).
7/ Wie der >Palmweindiebstahl<, der >Schlag mit dem Webschwert<, das >Sich-durch-Fragen-
erkennem, das >Betrunkenmachen des Waldmenschem, das >Problem des Feuerentfachens<
u.a. Der >Schlag mit dem Webschwert< beispielsweise kann offenbar nicht fehlen; Al ent-
hält dieses Motiv, nutzt es dann aber nicht so konsequent wie В1-2. Dies war ein Grund für
die Vermutung, daß Al vom Inzest-Motiv >gereinigt< wurde.
78 Vgl. auch Kohl (1988; 260-261). - Ähnliches gilt für die rq/ü-Genealogie, die, wie Heynen
berichtet, früher mindestens einmal pro Jahr auf einer großen Versammlung öffentlich rezi-
tiert wurde (Heynen 1876: 82-83). Vgl. Fox (1971; 44-45).
79 Zur Opposition >Berg-Meer< vgl. z. B. auch Barnes (1974: Kap. 1) und Barraud (1985).
S(l Im modernen Kontext ¡-nationaler Geschichte< wurde mir in Larantuka einmal eine andere
>stranger-king<-Theorie zu Patigolo vorgetragen. Über >Java< läßt er sich an >Majapahit<
anbinden, das ja bekanntlich viele Gebiete im Archipel >erobert< hat, u. a. Solor (»Solot«; s.
Pigeaud 1960-63, 111: 17, IV: 34). Die Anbindung an Majapahit erfolgte durch eine Neuin-
TRIBUS 44, 1995
terpretation des Namens: Pati, ein geläufiger Lamaholot-Name wird zum javanischen Titel
patih, Golo wird zu golok (eine Art Schwert), während Arkian bzw. Arakian, auch dies ein
üblicher Lamaholot-Name, vom altjavanischen Titel rakryan hergeleitet wird.
81 Fatigólos Name deutet an. daß er im Gegensatz zu Watowélé nicht eindeutig lokal fixiert ist:
golo >überall, umher, rundherum, umherziehem (Leemker 1893: 434 s. v. gölö) (vgl. Fatigó-
los >Reisen< zur See und durch die Luft [mit dem Vogel]).
82 Vgl. z. B. auch Bowen (1989: 676-677).
148
MONIKA FIRLA/HERMANN FORKE
Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
im 17. Jahrhundert
Dieser Aufsatz ist Michael Praetorius (1571-1621) und Sonny Boy Williamson (um
1901-1965) gewidmet
1. Einleitung
Afrikaner und Africana finden sich in Stuttgart nicht erst in neuerer Zeit. Jahrhun-
derte bevor 1884 das Linden-Museum eröffnet wurde und nach dem II. Weltkrieg
afro-amerikanische Soldaten nach Stuttgart kamen, existierten Afrikaner und Afri-
cana bereits im 17. Jahrhundert in der württembergischen Hauptstadt am Herzogshof
als Mitglieder des Hofstaates bzw. Bestandteile der Kunstkammer.
Welche Assoziationen des Reichtums und der Pracht der Afrikanische Kontinent in
vergangenen Zeiten an europäischen Höfen hervorrief, zeigt ein anonymes Kostüm-
bildchen aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, das den Markgrafen Ludwig
Wilhelm von Baden-Baden als Afrikaner darstellt (Abb. 1). Das Kostüm schwelgt in
Edelsteinen, Goldbrokat, Tüllrüschen und Straußenfedern und vermittelt den Ein-
druck märchenhafter Fülle.
Nicht nur die Kunstkammer bzw. die herzoglichen Sammlungen dienten zum
»Splendor« (zit. nach Fleischhauer 1976: 86) des Herzogshofes, sondern auch die
Afrikaner, die man in jener Zeit noch »Mohren« nannte. Dies wiederum verdeutlicht
auf einzigartige Weise eine Miniatur aus dem Jahr 1724 von Lorenz von Sandrart
(Abb. 2). Auf der linken Seite befindet sich die Herzogin mit Sohn, Schwiegertoch-
ter (dem württembergischen Herzogspaar in spe1) und Enkelin. Auf der rechten Seite
sieht der Betrachter einen acht- bis zehnjährigen Afrikaner vor einem Arrangement
aus weißem Korallenstock, überdimensional blühender Pflanze und Ananas, typi-
schen Bestandteilen fürstlicher Sammlungen und Gewächshäuser2. Dem Ensemble
der herzoglichen Familie steht das Ensemble der wunderbaren und seltenen Kunst-
werke Gottes, wie die Mirabilien der Natur auch verstanden wurden (Holländer
1994: 139), zur Seite, und Landprinzessin Henriette Maria weist würdevoll mit der
Linken auf Korallen, Blütenpracht, Ananas und kleinen tiefschwarzen »Mohren« mit
Stupsnäschen und Kulleraugen. Dieser seinerseits lädt den Blick mit der Linken zum
Verweilen ein, um dann mit der Rechten zurück zur herzoglichen Familie zu weisen.
Präziser ist das Wechselspiel von Präsentation und Re-Präsentation nicht zu illu-
strieren, und die Miniatur verdeutlicht eindrucksvoll die Rolle, die Afrikaner und
Kunstwerke, zu denen auch die Africana gehörten, für das fürstliche Prestige spiel-
ten.
Waren die Motive, Vertreter beider Gruppen an den Hof zu holen, auch exotistisch,
so wurden diese gleichwohl integriert und galten im Anschluß als gleichberechtigte
Vertreter des Makrokosmos’ im Stuttgarter Mikrokosmos von Hof und Gesellschaft.
- Dies soll für das 17. Jahrhundert der folgende Aufsatz zeigen.
2. Der Pauker Eberhard Christoph und der Trompeter Christian Real
Die beiden ersten namentlich identifizierbaren Afrikaner am württembergischen Hof
sind der Pauker Eberhard Christoph, nachzuweisen vor 1665 (Pfeilsticker 1/1957:
§ 290 Eintr. »Christoph Eberhard«) bis zu seinem Tod 1684 (ibid.: § 881 Eintr.
»Mohr Eberhard«) und der Trompeter Christian Real, nachzuweisen von 16573 bis
1674 (Pfeilsticker 1/1957: § 873 Eintr. »Real Chrn.«), dem Todesjahr Herzog Eber-
hards III., in dem er offensichtlich den Hof verließ.
149
TRIBUS 44, 1995
Abb. 1 Anonym (wohl Baden-badischer
Hofmaler), 1. Viertel 18. Jh.: Markgraf
Ludwig Wilhelm von Baden-Baden als
Afrikaner (Kostümbildchen). Schloß
Favorite bei Rastatt. Staatliche Liegen-
schaftsverwaltung Karlsruhe.
Inv.-Nr. G 2564. Photo: Gerd Haferkorn
Abb. 2 Lorenz von Sandrart, 1724: Herzogin Johanna Elisabeth von Württemberg, Land-
prinz Friedrich Ludwig, Landprinzessin Henriette Maria, Prinzessin Luise Friederike und
Mohr (Miniatur). Württembergisches Landesmuseum Stuttgart. Inv.-Nr. KK Grau 134
150
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergisehen Fierzogshof
2.1. Die Pauker- und Trompeterzunft
Pauker und Trompeter gehörten spätestens seit dem 15. Jahrhundert zum »ritterli-
chen Heerbann« des Deutschen Reiches, während das Fußvolk lediglich Trommeln
und »Pfeifen« (Flöten) benützen durfte. Aus diesem Grund bezeichnete sich das
Musizieren mit Pauken und Trompeten als »ritterlich freie Kunst« (Tobischek 1977:
23). Die vom Hochadel angestellten Pauker und Trompeter bildeten, da die Pauken
den Baß zu den Trompeten spielten, eine gemeinsame Zunft (ibid,: 24), die 1623 vom
Kaiser als privilegierte, überregional organisierte »Reichszunft« bestätigt wurde
(Altenburg, D. 1976: 40).
Der martialische Klang von Trompeten und Pauken im Ensemble repräsentierte den
Hochadel, galt als »Symbol fürstlicher Macht« und wurde »in dieser Zusammenstel-
lung [...] den zünftigen« Trompetern und Paukern Vorbehalten (ibid.: 138).
Im wesentlichen waren Paukern und Trompetern drei unterschiedliche Aufgabenbe-
reiche übertragen:
a) die Teilnahme an Feldzügen, wobei es sich um »Signaldienst und mehrstimmige
Militärmusik (Reitermärsche)« handelte;
b) »regelmäßig wiederkehrende Verpflichtungen im höfischen Zeremoniell: eben-
falls Signaldienste, Tafelblasen [d. h. zur Tafel blasen; M. F.], Tafelmusik. Begleitung
zum Gottesdienst und bei Auftritten in der Öffentlichkeit«;
c) »Mitwirkung bei Hoffesten aller Art: Taufen, Hochzeiten, Krönungen, Turnieren,
Ballfesten, Fürstenbesuchen, Trauerfeiern und ähnlichen Anlässen«4.
Das »hohe [.] Ansehen« von Trompetern und Paukern (ibid.: 59) entsprang vor allem
ihren Funktionen im Bereich des Militärwesens und ihrer dortigen »Schlüsselstel-
lung in der Nachrichtenübermittlung durch Signale, die die Truppen im Feld lenkten,
und als Herolde, Botschafter oder Kundschafter, von deren Zuverlässigkeit Sieg oder
Niederlage abhängen konnte«5. Aus dieser Funktion resultierte eine gewisse Gleich-
stellung mit den Offizieren (Altenburg, D. 1/1973: 61), und nur wie diese durften sie
- ansonsten ein Vorrecht des Adels - Straußenfedern an ihren Hüten tragen (Alten-
burg, J. E. 1966: 33). Der Pauker mußte dabei ein besonders »mutiger Mann sein«
und eher »in der Schlacht sein Leben verlieren, als sich mit seinen Pauken gefangen
nehmen lassen« (zit. nach Avgerinos 1964: 66), da das Regiment bei Verlust der Pau-
ken gemäß Militärrecht erst wieder solche führen durfte, wenn es ein anderes Paar
vom Feind erbeutet hatte (Altenburg, J. E. 1966; 128). Wie hoch die Reputation der
Trompeter- und Paukerzunft auch im Herzogtum Württemberg war, zeigt sich nicht
zuletzt daran, daß sich 1670/71 selbst einer der Prinzen als Pauker ausbilden ließ
(Pfeilsticker 1/1957: § 881 Eintr. »Peel [...] Georg«). Das, allerdings sehr variable,
Verhältnis von Paukern zu Trompetern war in der Regel 1 zu 6 (Altenburg, J. E. 1966:
128).
Die Pauker fielen deshalb besonders auf, da sie ihre künstlerische Ehre in die phan-
tasievolle Variierung der »Schlagmanieren« (das sind z. B. »Wirbel«, »Triolen« etc.;
Altenburg, J.E. 1966: 129) und zugleich die Beherrschung kunstvoller »Figuren,
Wendungen und Bewegungen des Leibes« (zit. nach Tobischek 1977: 38) legten,
wozu zweifellos u. a. das weite Ausholen mit den Armen und das Hochwerfen, Wie-
derauffangen und Vertauschen der Schlegel gehörte, wie man es heute noch bei der
Leibgarde der englischen Königin bewundern kann. All dies erforderte eine fast
akrobatische Körperbeherrschung, nicht zuletzt deshalb, weil das Pferd nur mit den
Füßen gelenkt werden konnte und die Zügel an den Steigbügeln befestigt waren
(Avgerinos 1964: 63; Blades 1970: Abb. 170-72).
Die bisher ersten belegbaren Trompeter im Deutschen Reich standen in Diensten von
Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (Debrunner 1979: 19). Der bisher erste beleg-
bare schwarze Pauker im Deutschen Reich stand in Diensten von Kaiser Karl V. im
Jahr 15296. Erst die Beschäftigung von Trompetern und Paukern am Hof machte die
»Vollkommenheit eines Hofstaates« aus (zit. nach Altenburg, D. 1973: 43). Und man
kann sich lebhaft vorstellen, welchen Eindruck Pauker und Trompeter, deren Instru-
mente oft aus Silber (Avgerinos 1964: 64; Altenburg, J. E. 1966; 26) und mit kostba-
ren Stoffen (Avgerinos 1964: 64) und Fahnen aus Brokat drapiert waren', bei üffent-
151
TR1BUS 44, 1995
Abb. 3 Johann Andreas Tille, 1675: Stuttgart. N-Ansicht mit Seegassen und Büchsentor.
[Sog.] Leichen-Prozession Herzog Eberhard III. Detail: Pauker und Trompeter. Staatsgalerie
Stuttgart. Inv.-Nr. A 46905
liehen Einzügen machten, vor allem, wenn sie überdies noch eine schwarze Haut-
farbe hatten (s. hierzu Abb. 3).
Herzog Eberhard III. folgte somit einer langen Tradition europäischer bzw. deutscher
Höfe, als er zur selben Zeit ab 1665/66 Eberhard Christoph als Pauker (Pfeilsticker
1/1957: § 290) und Christian Real als Trompeter (ibid.; § 427) ausbilden ließ und
damit gleich zwei Afrikaner die komplementären Instrumente der angesehenen
Reichszunft erlernen ließ, um damit für zukünftige Höhepunkte fürstlicher Reprä-
sentation zu sorgen8.
2.2. Eberhard Christoph
Eberhard Christoph war bereits einige Jahre vor 1665/66 am Hof Eberhards III.
(Pfeilsticker 1/1957: § 290). Seine Vornamen - in der Regel wurde der letzte Vorna-
men als Nachname verwendet - deuten daraufhin, daß er in Stuttgart getauft wurde.
Denn neu angekommene Afrikaner im Kindes- bzw. jugendlichen Alter erhielten
auch am württembergischen Hof in der Regel die Vornamen ihrer herzoglichen Tauf-
paten9. Somit dürfte Eberhard III. einer seiner namensgebenden Taufpaten gewesen
sein.
Pfeilsticker (1/1957; § 427 Eintr. »Real Chrn.«) bezeichnet Eberhard Christoph ein-
mal als »Mitmohr« Reals, ob jener jedoch auch zum Hofstaat Herzogin Maria Doro-
theas, der zweiten Frau (seit 1656) von Eberhard III. gehörte, wie Real (ibid.; § 427),
ist nicht nachzuweisen. Ebensogut könnte er zum Hofstaat des Herzogs gehört
haben10.
Es war auch in Württemberg selbstverständlich, die noch nicht getauften Afrikaner
nach entsprechendem Schul-, Sprach- und Religionsunterricht" taufen zu lassen,
was mitunter festlich begangen wurde12 und wonach gelegentlich die Taufpredigt
zum Druck kam13. Eberhard Christoph war der selten gesehene Vertreter eines fernen
Kontinents, und als solcher erfüllte er die Rolle aller seiner >Kollegen< und >KoIle-
ginnen< an den europäischen Höfen, nämlich zugleich ästhetisches Ereignis und
Repräsentationsobjekt zu verkörpern, um u. a. auf die weitreichenden Verbindungen
seines »Herrn« hinzuweisen14.
152
Firla/Forkl; Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Wie seine >Kollegen< und >Kolleginnen< setzte man ihn ohne Zweifel als Spielge-
fährten und Spielzeug und zu leichten Arbeiten als Lakaien ein, um Speisen und
Getränke zu servieren und kleine Botengänge zu erledigenb.
Solange die kleinen Afrikaner verschenkt werden konnten, wurden sie offenkundig,
wie dies nachweislich bei Real auch der Fall war, als »[Ijeibeigen« betrachtet (Tho-
man in Fussenegger 1658; fol. 43 v). Doch spätestens wenn sie erwachsen waren und
eine bezahlte Arbeitsstelle als Mitglied des Hofstaates innehatten, waren sie frei
(Firla 1995 a: Anm. 17). Auch wenn sie eine Lehre in der »rittermäßigen Kunst« der
Pauker- und Trompeterzunft antraten, mußten sie frei sein, denn das Gegenteil hätte
sich mit der Zunftzugehörigkeit nicht vereinbaren lassen (s. auch Martin 1993: 119).
Wie alt Eberhard Christoph im Jahr 1665/66 war, ist unbekannt, seine Lehre jedoch
muß, wie bei allen Paukern und Trompetern, zwei Jahre (Altenburg, D. 1973: 59)
betragen haben, wonach eine Gesellenprüfung abzulegen war (ibid.). Sein Lehrmei-
ster, in dessen Familie er auch gelebt haben dürfte, wie sein afrikanischer Pauker-
kollege Ludwig Wilhelm Weiß im 18. Jahrhundert bei dem seinen (Pfeilsticker
1/1957: § 290), war Georg Pahl (ibid.) bzw, Peel u. ä. (ibid.; § 881), bei dem auch der
herzogliche Prinz später seit 1670/71 in die Lehre ging (ibid.).
Pahl/Peel war seit 1650 bis zu seinem Tod 1691 fürstlich württembergischer Heer-
pauker (ibid.) und hatte Anspruch auf 100 Taler Lehrgeld (Altenburg, D. 1973: 69),
die kein anderer als Herzog Eberhard III. bezahlt haben kann. Die zweijährige Lehre
innerhalb der Zunft unterlag genauen und z. T. strengen Regeln, die sowohl die Aus-
bildung als auch das sittliche Betragen der Lehrlinge betrafen (ibid.: 68-80).
Erinnern wir uns an die oben in 2.1. vorgestellten repräsentativen Aufgaben von Pau-
kern wie Trompetern, an das martialische Auftreten des Paukers mit seinen kunst-
vollen »Figuren, Wendungen und Bewegungen des Leibes« (zit. nach Tobischek
1977: 38), dem weiten Ausholen der Arme, dem Hochwerfen und Wiederauffangen
der Schlegel etc., das die Stuttgarter Damenwelt ja auch bei öffentlichen Auftritten
des Herzogs in Begleitung von Paukern und Trompetern zu Pferd bewundern konnte,
dann ist es sehr gut vorstellbar, daß Eberhard Christoph wohl schon bald seine Ehe-
frau Maria Jakobina fand16, in welchem Zusammenhang jedoch daraufhinzuweisen
ist, daß auch die anderen Stuttgarter Afrikaner des 18. Jahrhunderts insgesamt ein-
heimische Ehepartnerinnen für sich gewannen (s. Pfeilsticker 1/1957 § 289, 290).
Juristische Hindernisse für eine Eheschließung zwischen Christen existierten in
Württemberg nicht, auch nicht, wenn diese eine unterschiedliche Hautfarbe hatten,
und gerade ein berittener Pauker mit seiner prächtigen Livree, Ausstattung und hero-
isch-martialischen Ästhetik dürfte auf junge Frauen einen ähnlichen Eindruck
gemacht haben, wie manche Popmusiker heute.
2.3. Christian Real
Während für Eberhard Christoph nur ganz wenige biographische Daten vorliegen,
kennen wir im Fall Christian Reals auch (a) die Taufpredigt anläßlich seiner Taufe
am 17. V. 1657 in der evangelischen St. Stephanskirche zu Lindau im Bodensee von
Jacob Fussenegger. Von dieser Predigt existiert eine Ausgabe, erschienen Nürnberg
1658 (s. Abb.4), die nur noch in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart
vorhanden ist (Fussenegger 1658). Möglicherweise handelt es sich um ein Exemplar,
das zusammen mit Real nach Stuttgart gelangte, als Taufgeschenk in seinem Besitz
war und so in den Bestand der damaligen Hofbibliothek kam. Nur diese Ausgabe
enthält im Anhang 13 sog. Glückwunsch-Carmina von einem Augsburger und zehn
Lindauer Honoratioren (Juristen, Theologen, Ärzte) auf Real und seinen Mitbringer
Joß K/Cramer. Eine weitere Ausgabe, jedoch ohne Glückwunsch-Carmina, befindet
sich in der Predigtsammlung von Albrecht (1660), am Ende des Bandes, nach dem
Register (Fussenegger 1660a)17. Als zweite wichtige Quelle (b) haben sich die
Gerichtsakten aus dem Jahr 1669/70 erhalten, die anläßlich eines nächtlichen Über-
falls auf Real (abweichende Namensformen: Royal, Rojahl, Röal u. ä.) angelegt wur-
den18.
Real muß um 1643 geboren sein, da sein (geschätztes) Alter 1657 mit 14 Jahren ange-
TRIBUS 44, 1995
geben wurde (Fussenegger 1660a/b: 3). Er war als »sehr klein[es]« Kind zunächst
von Afrikanern geraubt und schließlich zuerst an Portugiesen und dann an Nieder-
länder verkauft worden. Offenbar arbeitete er auch einige Jahre auf einem Schiff
(»etliche Jahr auff dem Meer«), bevor ihn Joß Kramer auf Säo Tomé >erwarb<. Ins-
gesamt war er neunmal verkauft worden (ibid.: 47).
Als Reals Heimat bezeichnet Fussenegger das »Königreich Guinea in Africa« und
ihn selbst als »Nigriten« (ibid.: 3). »Guinea« jedoch erstreckte sich laut einer Quelle
(de Bry/de Bry 1603: 84), die Fussenegger, wie wir sehen werden, auch in anderem
Zusammenhang nennt, vom »Cabo de Trespunctas« bis zum »Rio de Volta« (das ent-
spricht zum größten Teil der Küste des heutigen Ghana), während die »Nigriten« ihre
Bezeichnung »nach dem schwarzen Fluß Nigro«, der ihr Siedlungsgebiet durchfloß,
gewählt hatten (Fussenegger 1660a/b: 3). Auf Grund dieser Angaben ist eine ethni-
sche Zuordnung Reals heute natürlich nicht mehr möglich. Die Angabe jedoch, seine
afrikanischen Entführer hätten ihn zuerst den Portugiesen verkauft, läßt an eine Her-
kunft aus dem Grenzgebiet Angola/Zaire denken (vgl. Hilton 1987: 111 Karte 8), da
diese Region, von ihrer geographischen Nähe zum ebenfalls portugiesischen Säo
Tomé einmal abgesehen, in der fraglichen Zeit (zweite Hälfte der 1640er Jahre) am
meisten am portugiesischen Sklavenhandel zumindest des westlichen Afrika betei-
ligt war.
Den Namen »Real« bzw. »Regal« hatte er »von den Holländern« erhalten, »dieweil
sein Vatter für einen König gehalten« wurde19. Sein tatsächlicher afrikanischer Name
ist, wie bei den meisten »Mohren«, nicht überliefert.
Nach Lindau mitgebracht hatte Real der Lindauer Joß K/Cramer aus der gleichna-
migen Familie20. Dieser war 1652 von Lindau in die Niederlande gekommen und
schließlich von einem niederländischen Hafen aus nach Afrika aufgebrochen (Fus-
senegger 1660a/b: 3). In dieser Zeit dürfte er in Diensten der Niederländisch-West-
indischen Kompanie gestanden haben (Jones 1983: 149 Anm. 53). 1656-57 war Kra-
mer Vizekommandant der Schwedischen Afrikanischen Kompanie an der Goldküste
(ibid.) und von spätestens 1659 (ibid.: 149) bis zu seinem Tod am 6. VI. 1662 (ibid.:
246 Anm. 485) Kommandant des dänischen Forts Frederiksborg der dänischen
Glückstadt-Afrikanischen Kompanie21. Da von Kramers damaliger Mannschaft von
40 Personen nur vier den Aufenthalt an der Goldküste überlebt hatten, kaufte er »vier
arme Seelen/von Mohren/aus dem Heidenthumb« los und führte sie »mit sich her-
aus in die Christenheit [...] gleichsam zu einem Heb= und Danck= Opffer Christo«22.
Mit dieser Formulierung wird klar, daß man den Kauf von »Mohren« zugleich als
Befreiungsakt verstand, durch den dieselben der unvermeidbaren Verdammnis ent-
rissen und auf den Weg der Seligkeit gebracht wurden.
In welche europäischen Städte Kramer die drei anderen Afrikaner brachte, ist bisher
unbekannt, doch Real nahm er mit sich in seine Heimatstadt und vertraute ihn Jacob
Fussenegger zum privaten Religionsunterricht an, mit dem ihn seit gemeinsamen
Schultagen im Augsburger St. Anna-Colleg 1638/39 ein freundschaftliches Verhält-
nis verband (Fussenegger 1660a/b: fol.5v)23.
Real war während seiner mutmaßlichen Tätigkeit zur See (s. o.) offenbar in Kontakt
mit deutschsprachigen Seeleuten in niederländischen Diensten. Dies würde erklären,
warum er, der in den ersten Monaten des Jahres 1657 mit Kramer nach Lindau
gekommen war (StAL RA Ratsprotokoll v. 13. IV. 1657), die deutsche Sprache so gut
beherrschte, daß er den entsprechenden Religionsunterricht erhalten und schon am
17. V. getauft werden konnte24.
Von Bedeutung für die Rekonstruktion, wie Real in seiner neuen Lindauer und spä-
ter auch Stuttgarter Umgebung sozial beurteilt wurde, sind Fusseneggers
(a) Afrikabild in Verquickung mit seinem
(b) theologischen Verständnis des Christentums als für alle Völker der Erde geoffen-
barte Religion.
Fussenegger bringt zunächst (zu a) Reals Heimat in Zusammenhang mit dem bibli-
schen »Goldland Ophir« (Fussenegger 1660a/b: fol. 2r), aus dem König Salomon
»seinen meisten Schatz und Reichthumb«, nämlich »Gold/Silber/Edelstein/Heben-
holtz/Helffenbein/sampt Affen und Pfauen« bezogen habe (ibid.) und meint, nun
154
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergisehen Herzogshof
hätte sich gleichsam ein »Te u t s c h e s Ophir« bzw. »Teutsches Goldland« gefunden,
nämlich die »Africanische Goldküste Guinea«. Dieses sei ein »gewaltig reiches
Goldland«, das außerdem einen großen Reichtum an »Elephanten/Affen/ Pfauen/
Papageyen/Meerkatzen/Palmwein/Oel/Baumwolle/Pfeffer und dergleichen Sa-
chen« berge (ibid.: fol.4r).
Wir finden in dieser Vorstellung auch die Assoziationen wieder, die sich in dem
Kostüm des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden-Baden als Afrikaner doku-
mentieren (Abb. 1). Hier erscheint Afrika als Kontinent unermeßlichen, märchenhaf-
ten Reichtums.
An anderer Stelle geht Fussenegger auf die Religion in Reals »Heimat« ein;
»Die Nigriten und Mohren dienen einem Heiligthumb und Götzen/welchen sie
Fetisso nennen; der ist eben der leidige Teuffel selbs/so ihnen offtmal in gestalt eines
schwartzen Hundes oder kleinen schwartzen Männleins erscheint/und antwort gibt«
(Fussenegger 1660a/b: 3, s.a. 45).
Als Quelle für diese Angabe gibt Fussenegger Kap. 20-21 von de Bry/de Bry25 an.
Ob er dieses Werk selbst gelesen hat oder nur durch die Vermittlung etwa Kramers
kannte, da er den Titel bibliographisch verzerrt wiedergibt26, ist fraglich, de Bry/de
Bry (1603: 79) jedenfalls bemühen sich um eine unvoreingenommene Darstellung
und weisen darauf hin, daß die Afrikaner »Verstands gnug hetten«, die christliche
Religion »zu fassen«.
Wieder an anderer Stelle erwähnt Fussenegger (1660 a/b: 45), daß der ungetaufte
Real »sampt seinen Mohrenländischen Leuten [...] elende verlorne Leut seynd [...]
gegen uns getaufften Christen. Homines von Homines, Menschen und doch keine
Menschen«. Doch, und dies ist genau zu beachten, hat er nicht das geringste Inter-
esse daran, die Afrikaner aus diesem Grund in irgendeiner Weise verächtlich zu
machen, und will deshalb »von ihrer wilden barbarischen Weise/ihrer schwartzen
nackenden Gestalt/Sclaverey/und gemeinen elenden Jammerleben ietzo nichts
sagen«, da das, was sie vornehmlich bedauernswert mache, die Unkenntnis des Chri-
stentums sei (ibid.).
(Zu b) Die Passagen, in denen Fussenegger die afrikanische Kultur kritisiert, sind
verschwindend kurz gegenüber dem Gesamttext und gehen vollständig in diesem
unter. Als Theologe hat er kein Interesse an der Denunziation der Afrikaner, da er das
Christentum als Offenbarungsreligion versteht und die Afrikaner nach diesem Reli-
gionsverständnis keine Schuld daran tragen, wenn die »Frohe Botschaft« bisher noch
nicht zu ihnen vordrang27. Fussenegger als Theologen geht es darum, einem, der
diese »Frohe Botschaft« bisher nicht kannte, diese zu bringen und entsprechend sei-
nem Predigtthema, Apg. 2: 1-13 (ibid.: 0) an jenem 17. V., dem Pfingstmontag des
Jahres 1657, das Völkerverbindende der christlichen Botschaft herauszustellen.
Dabei betont er vor seiner Gemeinde die Gemeinsamkeiten zwischen Real und sei-
nen neuen Landsleuten:
»ia wir selbst auch/die wir doch von getaufften christlichen Eltern geboren wor-
den/seyn von unserer leiblichen Geburt her/ehe wir getauft und widergeboren wer-
den/lauter unreine Sündenkinder/Hellenkinder/Adamskinder/und arme junge Hei-
den/so wol als dieser Mohr«28.
Fusseneggers theologisches Bestreben ist darauf ausgerichtet, daß Real durch die
Taufe unter anderem »der waaren Christlichen Kirchen einverleibt/und ein Glied-
maß des Leibes Christi« werde (ibid.; 23). Und so erklärt er:
»du seyest wer du wollest/ein Heid oder geborner Christ/ein Teutscher oder Vnteut-
scher/Schwartz oder Weiß/Sclav oder Herr/dann Gott sihet die Person nicht an son-
dern auß allerley Volck/wer ihn förchtet und recht thut/der ist ihm angenehm/Actor.
[Apg.] 10/35.« (ibid.: 25)
Dies war der theoretische und praktische Boden, auf den Real »in sehr Volckreicher
Versammlung« in St. Stephan zu Lindau gestellt wurde (ibid.: Titelblatt; s. Abb. 4),
und auf dem er sich fortan bewegte - auch in Stuttgart, wie wir noch sehen werden.
Nach der Taufpredigt folgte der eigentliche Taufakt, und Real, der dem Anlaß ent-
sprechend in »weise Schuch /Strümpff/ Band/ Hosen /Wammes/ Kragen /Hut und
Handschuch« erschienen war (ibid.: 41), wurde, nachdem die Gemeinde »Komm hei-
155
TR1BUS 44, 1995
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»in Sobmfeegebraefee / unb b.t/elbfi ui bec pf.tr ihrdj.u j«
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2)m3‘4'VSbuffi iiifg.
Abb. 4 Titelblatt der Tauf-
predigt von Jacob Fussen-
egger (1658) anläßlich der
Taufe von Christian Real in
Lindau. Württembergische
Landesbibliothek Stuttgart.
Sign. Theol. qt. 2535
liger Geist/Herr Gott« gesungen hatte, unter Orgelspiel von seinen Paten Amadeus
Eckolt (Bürgermeister von Lindau) und Valentin Beider (Syndicus der Stadt Lindau,
Praeses des Konsistoriums und herzoglich württembergischer Rat seit 163 5 29),
zusammen mit Joß Kramer vor den Altar geführt (Fussenegger 1660a/b: 51). Dort
legte er das wörtlich protokollierte Taufexamen ab (ibid.: 52ff.) und wurde über
einem »silbern=vergülten Tauffbecken« auf den Namen »Christianus« getauft (ibid.;
57), der ja nichts anderes bedeutet als »der Christ«. Den Namen »Real« behielt er als
Nachnamen bei (ibid.: 58), sicherlich deshalb, weil er zu dem neuen Vornamen vor-
züglich zu passen schien, denn »Christianus Real« bedeutet wiederum für alle Klas-
sischer Bildung Verpflichteten »wirklicher Christ«. Auf entsprechende Weise inter-
pretiert diesen Namen auch der Lindauer Kirchen- und Schulrat Johann Martin
Suevus, der sein Glückwunsch-Carmen folgendermaßen endigt:
»Glaub recht/un fürchte Gott/du nichts was sündlich ist/
So wirstu freylich seyn ein recht=Realer=Christ!«
(in Fussenegger 1658: fol.48r).
Nach der Taufe wünschten Christian Real »die Fürnemste Herren /und gesambte
Herren Prediger f...] mit Hand und Hertz Glück« und begleiteten ihn in das Haus von
Valentin Beider30. Dort dürfte der Neugetaufte die Taufgeschenke erhalten haben,
und ganz ohne Zweifel feierte man das Ereignis mit einem festlichen Essen.
Ein Augsburger und zehn Lindauer Honoratioren, darunter auch Valentin Heider,
ließen es sich nicht nehmen, Glückwunsch-Carmina auf Real und Joß Kramer zu ver-
fassen, die als »Amicorum Carmina« ein einzigartiges Dokument darstellen (Fussen-
egger 1658: fol.43vff.). Kramer wird dafür gepriesen, daß er einen >Heiden< vor der
Verdammnis gerettet hat. während man Real die Bedeutung seines neuen Glaubens
vor Augen führt. Stellvertretend für die Einstellung, die die Freunde Reals vertreten,
seien hier einige Zeilen von David Thoman, Ratskonsulent zu Augsburg, zitiert:
Firla/Forkl; Afrikaner und Africana am Württemberg}sehen Herzogshof
»Die von dem Sündenschlam pechschwartzgefärbte Seele
Komt in des Teuffels Pful/die Schwefel volle Hole/
Und nicht der schwartze Leib. Die Schwärtze schadet nicht/
Wann durch die schwartze Haut ein weisser Glaube sicht.«
(Thoman in Fussenegger 1658: fol. 43v)
Zum Zeichen seines neu angenommenen Christentums trug Real noch eine Woche
lang nach der Taufe seine weiße Kleidung, und Fussenegger ermahnt die in St. Ste-
phan so zahlreich anwesenden Lindauer Bürger, dies nicht »wie etwan grobe unver-
ständige Leut« für »einen neuen Afrikanischen Auffzug« zu halten oder zu glauben,
man wolle »seiner schwartzen Gestalt spotten« (Fussenegger 1660a/b: 41)31.
Noch im selben Jahr 165732 kam Real nach Stuttgart. Kramer33 reiste ebenfalls noch
1657 nach Holland ab (Fussenegger 1660a/b: fol.5v) und starb 1662 (Jones 1983;
246 Anm.485) als erster Kommandant (ibid.: 246) des dänischen Forts Frederiks-
borg (ibid.: 264 Anm. 12). Real, den man damals noch als »leibeigen« betrachtete
(s. o.), wurde von Kramer an Valentin Heider »verehret«, der ihn in sein Haus auf-
nahm, unterrichten ließ und schließlich Herzog Eberhard III. mit ihm ein »Präsent«
machte (StAL Lit 41: 312-13 Annales Lindavienses Kroelii).
Heider (1605-64), Jurist, Syndicus und Konsistorialpraeses, hatte sich in den Ver-
handlungen zum Westfälischen Frieden 1648 in Osnabrück für seine Vaterstadt Lind-
au und andere freie Reichsstädte als diplomatischer Vertreter die größten Verdienste
um die Rechte der Protestanten erworben (Biographie 1969 XI: 305; Sprusansky
1978: 19) und gilt bis heute als größter Sohn Lindaus; seit 1635 trug er den Titel eines
herzoglich württembergischen Rats (Freher 1688: 1167). Wie es dazu kam, daß Hei-
der Real an Eberhard III. weiterverschenkte, ist bisher nicht zu ermitteln. Real war
nun, seitdem man ihn seinen afrikanischen Eltern geraubt hatte, neunmal verkauft
(s.o.) und zweimal verschenkt worden. Möglicherweise schenkte Eberhard III. ihn
wiederum seiner jungen, gerade achtzehnjährigen zweiten Frau, Herzogin Maria
Dorothea, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte, denn Real war 1665 in ihren Dien-
sten (Pfeilsticker 1/1957 § 427).
Ein vierzehnjähriger Afrikaner, der sicherlich gut aussah, da man beim Kauf der zum
Repräsentationssubjekt bestimmten »Mohren« auf diesen Vorzug achtete (vgl. Jones
1983: 69), der bereits die deutsche Sprache beherrschte und ohne Zweifel viel zu
erzählen wußte, war das >ideale Geschenk< für eine junge Herzogin, die Real ohne
Zweifel als ästhetisches Ereignis und zur fürstlichen Repräsentation in ihren Hofstaat
eingereiht haben dürfte, ebenso wie dies Landprinzessin Henriette Maria auf der
oben erwähnten Miniatur von Sandrart (Abb. 2) tat. Eine nicht unwesentliche Quali-
fikation Reals dürfte auch darin bestanden haben, daß er als Sohn eines afrikanischen
Königs galt. Daß man sich dessen am Hof bewußt war, zeigen die Gerichtsakten aus
dem Jahr 1669/70, in denen sein Nachname nicht nur als »Real« (HStAS A 21 III Bü
43; Qu. 3), sondern auch als »Rojal« (ibid. Qu. 5 u. a.) erscheint. Daß Real nicht wei-
terverschenkt werden wollte34, wie so manche seiner >Kollegen< auch (Pichler in
Bauer 1993: 115), verhinderte seine Übersiedlung nicht.
Bei seiner Ankunft in Stuttgart dürfte Real, wie auch später üblich35, in die Familie
eines Mitglieds aus der »niederen Dienerschaft« (Kammerdiener, Lakaien etc.)
gegen Erstattung der Auslagen (z. B. für Kost und Unterricht) aufgenommen worden
sein und zu festen Zeiten seinen Dienst am Hof verrichtet haben. Vielleicht wurde er
auch, wie Anfang der 1650er Jahre die Türkin Rahab, getaufte Christina Catharina
(Zeller 1652: 5), zusammen mit den herzoglichen Kindern unterrichtet.
Spätestens als »Lakai« in einem damit verbundenen von Jahr zu Jahr zu verlängern-
den Arbeitsverhältnis war Real auch ein freier Mann und kein Leibeigener mehr. Frei
mußte er um so mehr sein, als er seit 1666 in eine Trompeterlehre bei dem Hof- und
Feldtrompeter Marcell Kerbs ging (Pfeilsticker 1/1957: § 427), denn nur ein Freier
konnte Mitglied der Pauker- und Trompeterzunft werden (s. o. 2.2.).
Während seiner zweijährigen Lehre von 1666-68 (ibid.) muß er im Haushalt von
Kerbs gelebt haben, da es einerseits üblich war, daß Lehrlinge bei ihrem Mei-
ster wohnten, und Real andererseits auch noch im November 1669 bei Kerbs im
TRIBUS 44, 1995
Haus lebte, als er seine Lehre bereits absolviert hatte (HStAS A 210 III Bü 43:
Qu. 1).
Auch wenn Real zunächst von Kramer gekauft worden war und zu Anfang seines
Aufenthalts in Europa - wie übrigens so viele seiner bäuerlichen Zeitgenossen in der
neuen Heimat ebenfalls - den Status eines Leibeigenen innehatte, auch wenn er auf
Grund exotistischer und auf das Prestige abzielender Motive in den Hofstaat einge-
reiht worden war, so war er doch auch, wie wir bereits oben sahen, als Mitglied der
protestantischen Glaubensgemeinschaft integriert und als Mitglied des Hofes und der
Stuttgarter Bevölkerung, wie wir noch sehen werden, ein gleichberechtigter Teil der-
selben. Ein beredtes Zeugnis für die Integration in Hof und Bevölkerung geben die
bereits erwähnten Gerichtsakten, die anläßlich eines Überfalls auf Real, kurz nach
Mitternacht des 11.XI.166936 angelegt wurden, so makaber dies zunächst klingen
mag.
Am 10. XI. ging Real »mit einem guten freund« (HStAS A 210III Bü 43: Qu. 6), dem
Pfalzgräflich-Sulzbachischen Lakaien Marcus Brandshagen (ibid.: Qu. 2) »spatzi-
ren« (ibid.: Qu. 1). Brandshagen war aus dem Herzogtum Bremen gebürtig (ibid.:
Qu. 2) und der Sohn des dort in Bülkau wirkenden Pfarrers und Propstes Johannes
Brandshagen (Nägele 1956 II: HO). Woher sich die beiden Freunde kannten, ist
unbekannt. Marcus Brandshagen war von 1678-95 herzoglich-württembergischer
Stallmeister und Marstallinspektor37.
Etwa um 15.00 Uhr nachmittags des besagten 10. XI. gingen Real und Brandshagen
in des »alten Lengelers [...] behausung«, der »damals wein geschenckt« (HStAS A
210 III Bü 43: Qu. 1), d.h. eine Besenwirtschaft betrieb. Der »alte Lengeier« war
Johannes Lengeier sen. (LkAS KB 106b Stiftskirche Stuttgart/Taufbuch Eintr. v.
27.11.1646), der Vater von Johannes Lengeier jun. (geb. 1646; ibid.), der seit 1666
zweiter herzoglicher Heerpauker war38. Die Tatsache, daß Real die Besenwirtschaft
der Familie eines Berufskollegen wählte, um seinen auswärtigen Freund auszu-
führen, deutet darauf hin, daß er zu jenem in einem guten Verhältnis stand, was sich
auch durch Lengeier sen. Besorgnis um Real bestätigt, wie wir unten noch sehen wer-
den. Die Behausung der Familie Lengeier befand sich in der sog. Thurnieracker-
bzw. Reichenvorstadt39.
Bei Lengeier sen. tranken Real und Brandshagen »bey [d. h. etwa; M. F. ] 3. maß wein«
(HStAS A 210 III Bü 43; Qu. 1), das sind pro Person gute 2,7 1 (1 Maß entsprach
1,8371; Sauer 1993II: 398), ein Alkoholkonsum, der zu jener Zeit auch in dem Wein-
baugebiet Lindau nicht ungewöhnlich war (Stolze 1956: 148). Gegen 17.00 Uhr ging
Brandshagen zum Hof, Real aber in das Haus seines Lehrmeisters Marcell Kerbs, bei
dem er, wie wir bereits wissen, wohnte, trug seinen Hausgenossen auf, ihn um 18.00
Uhr zu wecken, damit er dann auch zum Hof gehe und dort seinen Dienst - als Hof-
trompeter - versehe, zog sich aus und legte sich in sein Bett, was uns nach dem ange-
gebenen Weinkonsum nicht verwundert. Nach 18.00 Uhr erwachte Real von selbst
und ging »in seiner grünen Kapp nach Hof«, um, wie wir auf Grund unserer Kennt-
nis von den Tätigkeiten eines Trompeters (s. o. 2.1.) hinzufügen können, zur Tafel zu
blasen, d. h. das Signal zum Abendessen zu geben (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 1).
Die erwähnte »grüne Kapp« hatte für Real offenkundig eine besondere identifika-
torische Bedeutung, da er sie in diesem Zusammenhang als einziges Kleidungs-
stück erwähnte. Es dürfte sich um eine Art Barett mit Straußenfedern gehandelt ha-
ben (s. auch Abb. 5), die er als Angehöriger der privilegierten »ritterlich freien«
Pauker- und Trompeterzunft tragen durfte, was sonst nur noch Adligen Vorbehalten
war (s.o. 2.1.). Real scheint sich somit mit seiner Rolle als Trompeter voll identifi-
ziert zu haben, auch wenn er bei seiner Ankunft in Stuttgart im Jahre 1657 nicht
hatte bleiben wollen. Aus seiner Zugehörigkeit zur Pauker- und Trompeterzunft er-
klärt sich auch, daß er beim Abendessen am Hof am Offizierstisch aß (HStAS A
210 III Bü 43: Qu. 1). Daß auch Brandshagen als Lakai dort Platz nehmen durfte
(ibid.), widerspricht allerdings den damals üblichen Hofordnungen. Möglicherwei-
se hatte ihn jedoch einer der Offiziere, vielleicht auch Real selbst, >regelwidrig< da-
zu eingeladen.
Am Offizierstisch erinnerten sich die beiden Freunde »deß guten weins«, verabrede-
158
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Abb. 5 Wie Abb. 3. Detail; Trompeter
ten, nach dem Essen »noch ein mäßel mit einander aus zu trincken«, und gingen
gegen 19.00 Uhr abermals in die Besenwirtschaft von Lengeier sen. Um 19.30 Uhr
kam noch ein Pfalzgräflich-Sulzbachischer »Edelman«, der mit beiden trank »und
von Kriegs-sachen, wie es mit trompetern und paukern gehalten werde, discurrirte«
(ibid.). Das Thema der Unterhaltung entsprach also Reals beruflicher Tätigkeit und
auch der seines Pauker-Kollegen Johannes Lengeier jun., der möglicherweise eben-
falls anwesend war40. Und da ein Trompeter wie Real in Kriegszeiten einem Offizier
in gewisser Hinsicht gleichgestellt war, ist es auch nicht verwunderlich, daß ein
>Edelmann< mit ihm zusammen am Tisch trank und diskutierte. Gegen 24.00 Uhr
machten sich Real und Brandshagen auf den Heimweg. Und Reals entsprechende
Aussage enthält ein besonders schönes Beispiel für seine Integration in die Stuttgar-
ter Gesellschaft, denn er berichtet, »der Lengeier habe ihnen wollen heim zünden
fheimleuchten; M. F] lassen, er (Real; M. F.) habe es abgewendet mit vermelden, er
seye nun über 12 iahr in Stutgart, iederman kenne ihn, und begehre er niemand nichts
zu thun, sie wollen den weg schon finden. Lengler habe ihnen biß an das eck nach-
gezündet« (ibid.; Qu. 1). Dies bedeutet, Real war als Trompeter und zweifellos auch
als Afrikaner stadtbekannt (1648 hatte Stuttgart - bedingt durch die hohen Kriegs-
verluste -4500 Einwohner; Hartmann 1886:100) und fühlte sich gerade deshalb voll-
kommen sicher, obwohl die Stuttgarter Straßen nachts damals nachweislich als unsi-
cher galten (Sauer 1993 II: 280). Lengeier sen., eine Generation älter als Real, und
angesichts der nächtlichen Unsicherheit vorsichtiger, ließ es sich nicht nehmen, sei-
nen beiden Gästen persönlich ein Stück Weges zu beleuchten, was seine Besorgtheit
um Real und Brandshagen verdeutlicht.
Das »eck«, bis zu dem Lengeier sen. mitging, ist nicht exakt zu lokalisieren. Doch
befand es sich ohne Zweifel innerhalb des Areals südlich der heutigen Büchsen-
straße, begrenzt von der südlichen Hälfte der heutigen Kronprinzstraße, da der fol-
gende Weg der beiden, wie auch der der Täter, die Real überfielen, und der Ort des
Überfalls auf Grund topographischer Angaben in den Gerichtsakten unter Zuhilfe-
nahme von Wais (1951) zu verifizieren sind (s. Abb. 6 u. 7)41.
Real und Brandshagen waren nicht mehr nüchtern, Brandshagen »etwas beraüscht«
(HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 2), Real gar »zimlich beraüschert« (ibid.: Qu. 1). In der
Kronprinzstraße, kurz vor der Kreuzung zur Büchsenstraße (von Süden her), mußte
Brandshagen austreten und blieb deshalb ein wenig zurück, während Real (wohl aus
TRIBUS 44, 1995
Abb.6 Matthäus Merian, 1638: Stuttgart. Aus Topographia Sueviae 1643. Württem-
bergische Landesbibliothek Stuttgart. Sign. Geogr. qt. 1188
Abb. 7 Skizze des Tatorts und sei-
ner Umgebung. Zeichnung Monika
Firla
160
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergisehen Herzogshof
Gründen der Diskretion) bis zur Kreuzung weiterging (ibid.; Qu. 2). Es herrschte völ-
lige Dunkelheit (ibid.: Qu. 1 u.a.), und zu gleicher Zeit näherten sich vom »Land-
schaftshaus« her, direkt ihnen entgegenkommend (s. Anm.41), vier ebenfalls zum
Hof gehörige »Jägersjungen« Anfang zwanzig42, die mit ihren Degen »in die stein«
hauten (in die Pflastersteine schlugen; ibid.; Qu. 2), daß es Funken schlug (ibid.:
Qu. 6), was in jener Zeit offensichtlich ein beliebter Spaß in der Dunkelheit war (vgl.
Sauer 1993 II: 281).
Der Federschmücker43 Hieronymus Gaßner sah auf Grund des Lärms der vier Jäger
aus dem Fenster, sah zunächst diese herankommen und bemerkte dann Real. Er
fragte ihn, wo er herkomme, worauf jener ihm von dem Besuch in der Besenwirt-
schaft mit Brandshagen erzählte (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 6). Da rief Brandsha-
gen nach Real, den er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und Real antwortete
»hierüber« (ibid.). In der Folge fielen die Jäger über Real her und versetzten ihm drei
Hiebe mit ihren Hirschfängern (einer Stichwaffe zum Töten weidwunden Wilds),
einen über den Kopf, der die Kopfschwarte bis auf den Schädelknochen spaltete,
einen über das Gesicht, von der linken Stirnhälfte über das linke Auge und durch das
Nasenbein, so daß er das Auge verlor, und einen durch die linke Achsel bis auf das
Gelenk (ibid.: Qu. 7). Einer der Täter faßte ihn von hinten um die Taille, um ihn fest-
zuhalten (ibid.; Qu. 3), da Real sich mit seinem Degen wehrte (ibid.: Qu. 6). Als er
am Boden lag, hoben ihn die Täter auf und schleppten ihn in Richtung Pferdetränke
(damalige Bezeichnung: »Wette«; ibid.; Qu. 1, 6), in die sie ihn, wie Real überzeugt
war, werfen wollten (ibid.: Qu. 1), wo er zweifellos ertrunken wäre, denn sie war sehr
wasserreich (Wais 1951: 105-06). Da sich die Tränke schräg gegenüber dem Nacht-
wächterhäuschen befand (s. Abb. 6 u. 7), muß man davon ausgehen, daß auch die
Täter alkoholisiert waren - auch sie kamen vom Weintrinken (HStAS A 210 III Bü
43: Qu. 3) -, denn sie liefen auf jenem Weg den Wächtern direkt in die Arme.
Brandshagen war Real zu Hilfe gekommen und hatte die Aggressoren um Frieden
gebeten (ibid.: Qu. 2). Nun eilten endlich auch die Wächter herbei44; zwei von ihnen
verfolgten die flüchtenden Täter, der dritte führte Real zusammen mit Brandshagen
in das nächstgelegene Barbierhaus (ibid.: Qu. 6). Nach einigen Tagen kam Real in
das »Neue Hospital« (ibid.: Qu. 1), das Krankenhaus für Hofbedienstete, gegenüber
dem Chor der Hospitalkirche (zur Lokalisierung s. Wais 1954: 82).
Die Täter kannten Real lediglich vom Sehen am Hof und beteuerten, sie hätten weder
irgendeine Feindschaft gegen ihn gehegt, noch ihm aufgelauert (HStAS A 210 III Bü
43: Qu. 3).
Hier stellt sich nun die Frage, warum die Täter so brutal auf Real einschlugen und -
wie Real und sein wichtigster Zeuge, der Federschmücker Hieronymus Gaßner, über-
zeugt waren - ihn umgebracht hätten, wären nicht die Wächter zu Hilfe geeilt (ibid.:
Qu. 1, 6). In der besagten Nacht vom 10./11. XI. war es völlig dunkel (s.o.), und die
Täter hätten Brandshagen und Real, die sich ja unmittelbar vor dem Überfall zuge-
rufen hatten, für Wegelagerer halten können, die ihnen auflauerten und sich zu die-
sem Zweck verständigten. Dem widerspricht jedoch, daß sie so brutal vorgingen und
Real auch noch von hinten festhielten, Brandshagen aber nicht anrührten (ibid.:
Qu. 2, 6). Auch erkannten sie Real laut Zeugenaussagen und sagten Brandshagen, er
solle sich nicht einmischen (ibid.: Qu. 1, 2, 6). Laut Angabe eines Mittäters erklärte
ihm der Haupttäter Joachim Crafft, der den ersten Hieb ausgeführt hatte, er habe Real
»den Kopf frey geschüttelt« (ibid.: Qu. 6). Demnach war Crafft offenbar der Ansicht,
Real müsse von bestimmten Ansichten befreit und auf andere Gedanken gebracht
werden.
Wir sahen bereits oben, daß Real seine »grüne Kappe«, mit der mutmaßlichen
Straußenfeder - dem Zeichen seiner Zunftzugehörigkeit - besonders wichtig war, da
er sie als einziges Kleidungsstück erwähnt, mit dem er zum Hof ging, um seinen
Dienst zu verrichten. Auch mit Bezug auf den ersten Hieb im Verlauf des Überfalls
sagt er aus, ihm sei dabei »die Kapp abgefallen« (ibid.: Qu. 1) und nicht etwa, er habe
Schmerzen dabei empfunden. Wahrscheinlich konnte man Real ansehen, wie sehr er
sich mit seinem Status identifizierte - und dies mag die Täter zu einem nicht einge-
standenen Neidgefühl bewogen haben, das sich in alkoholisiertem Zustand auswirkte.
161
TRIBUS 44, 1995
Real war offenkundig sehr mitteilsam und konnte anschaulich erzählen, was aus sei-
nen Aussagen (ibid.: Qu. 1, 6) deutlich hervorgeht. Während sein Freund das
Geschehen von 19.00 Uhr an berichtet (ibid.: Qu. 2), beginnt Real seine Schilderung
bereits für die Zeit vor 15.00 Uhr (ibid.: Qu. 1). Über Selbstironie bzw. mehr als guten
Humor verfügte Real ebenfalls, da er einmal aussagt, nach dem ersten Hieb, der ihm
immerhin die Kopfschwarte bis auf den Schädelknochen spaltete (s.o.), habe er
»nichts mehr umb sich gewust« und sei »umbgedaumelt wie ein Mayenkäfer« (ibid.:
Qu. 6). Man darf somit annehmen, daß Real die Anforderung erfüllte, »ein Trompe-
ter soll und muß Staat machen, zumal, wenn er noch jung und ledig ist« (Altenburg,
J.E. 1966: 55).
Real wurde in der Nacht (10./11.XI) überfallen, die dem Besuch Herzog Eberhards
III. in der neuen Kunstkammer folgte, bei dem ihm ein Raffiaplüsch und ein Deckel-
körbchen übergeben wurden (HStAS A 20a Bü 7), die aus Loango stammten und
unten noch ausführlich behandelt werden. Beide Stücke kamen aus Lindau an den
Hof und gehörten Daniel Re(h)m (ibid.), einem Neffen Valentin Heiders45, dem ja
bereits 1657 Real geschenkt worden war. Möglicherweise wurde Real, der seinerzeit
ebenfalls aus Lindau nach Stuttgart gelangte, in irgendeiner Weise in die Angele-
genheit der Erwerbung der beiden Stücke miteinbezogen, sei es, daß man ihn zu den
Stücken befragte, sie ihm zeigte o. ä., zumal man ihn einmal in den Gerichtsakten als
»dero liebsten diener Einen« (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 29) bezeichnete. Trom-
peter konnten durchaus zum »Liebling« ihres Arbeitgebers aufsteigen, wie Christian
August Nicolai am Hof von Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels (Altenburg,
J. E. 1966: 58). All dies könnte zu einem heimlichen Neid der Täter beigetragen und
den Überfall verursacht haben.
Die Aussagen und Berichte in den Gerichtsakten enthalten nicht die geringste vorur-
teilsbestimmte bzw. rassistische Anspielung, etwa dergestalt, daß Real vielleicht
durch vermeintlich >wilde< u.ä. Charakterzüge an dem Vorfall mit schuldig sein
könnte. Auch die Bittschriften des Vaters des Haupttäters, eines Forstmeisters in
Diensten des Grafen Albrecht Ernst von Öttingen-Öttingen (einer von Eberhards III.
Schwiegersöhnen), enthalten keine solche Anspielung, sondern erkennen bestürzt
die Schuld des Sohnes an und schreiben sie dem Alkoholkonsum und der schlechten
Gesellschaft zu (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 29, 30).
Die Strafsache wurde gemäß der »Fürstliche Hoffgerichtsordnung part: 3. Tit.: 25«
entschieden (ibid.: Qu. 6), und die Täter mußten nicht nur Schadensersatz und
Schmerzensgeld in Höhe von 50 Reichstalern an Real bezahlen (ibid.: Qu. 11), was
dem zweieinhalbfachen des damaligen Monatsverdienstes einer hochgestellten Per-
sönlichkeit entsprach46, sondern wurden auch zu mehrmonatiger Haft und öffentli-
chen Arbeiten auf der berüchtigten Festung Hohenasperg und anschließender Lan-
desverweisung, teils befristet, teils für immer, verurteilt47.
Die Gerichtsakten in Sachen Real sind ein wichtiges Dokument zum Thema »De iure
Maurorum in Europa«, das Anton Wilhelm Amo (um 1700-nach 1753), selbst Afri-
kaner48 und später Hochschullehrer der Philosophie in Halle und Jena (ibid.: 80 u. a.),
1729 zum Gegenstand einer juristischen Disputation wählte (ibid.; 30). Da diese ver-
mutlich nie zum Druck kam und als verschollen gilt (ibid.: 37), sei auf die Auswer-
tung von Akten wie den obigen verwiesen. Sie zeigen, daß Real ganz selbstver-
ständlich in das geltende Rechtssystem seiner Zeit miteinbezogen wurde und keine
juristische Sonderbehandlung als Afrikaner erfuhr49. Auch schloß keiner der Betei-
ligten von seiner Hautfarbe auf etwaige negative Eigenschaften. Die theologische
Einteilung der Welt in >Heiden< und Christen und die Tatsache, daß Real Christ
geworden war und nun zu dieser Gemeinschaft gehörte, erlaubten keinerlei biologi-
stisch-pseudonaturwissenschaftliche Spekulationen, auf Grund deren man ihn hätte
diskriminieren können. Nach seiner gesundheitlichen Wiederherstellung, soweit
man von einer solchen nach dem Verlust seines linken Auges sprechen kann, versah
Real noch bis 1674 seinen Dienst als Trompeter am württembergischen Hof (Pfeil-
sticker 1/1957: § 873). Man kann sich vorstellen, daß er nun wohl eine schwarze
Augenklappe trug, was ohne Zweifel einen besonders heroisch-verwegenen Ein-
druck erweckte und seiner repräsentativen Funktion umso mehr zugute kam.
162
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am Württemberg!sehen Herzogshof
Der letzte Nachweis für Reals Tätigkeit findet sich in der »Beschreibung der Ord-
nung und Procession« des Leichenzugs von Eberhard III. vom 21. VII. 1674 in Stutt-
gart. An Postion Nr. 11 nennt die Liste die dem Heerpauker (Nr. 10) folgenden 12
Trompeter namentlich, und »Christian Roahl Mohr« erscheint an zweiter Stelle50.
Leider bildet der als »N-Ansicht von Stuttgart mit Seegassen und Büchsentor. Lei-
chen-Prozession Herzog Eberhard III.« (Schefold 11/1957; Nr. 7802) bezeichnete
Kupferstich nicht wirklich diese Prozession ab (die Numerierung stimmt nicht mit
der oben genannten in der »Beschreibung der Ordnung und Procession [...]« überein,
es fehlt der Katafalk, die Trauerkleidung etc.), sondern den Einzug zu einem ande-
ren, freudigen Anlaß (etwa die Heimführung von Maria Dorothea, der zweiten Frau
von Eberhard III.). Falls die Darstellung der tatsächlichen Leichenprozession noch
aufgefunden wird, können wir unter der Position Nr. 11 Christian Real verifizieren.
1674 war Real (geb. um 1643; s. o.) ca. 31 Jahre alt. Da er ab dieser Zeit nicht mehr
am Hof nachzuweisen ist, darf man annehmen, daß ihn ein zur Beisetzung von Eber-
hard III. in Stuttgart weilender Potentat >vom Fleck weg< für seinen Hof verpflich-
tete.
3. Die Stuttgarter Kunstkammer
Afrika südlich der Sahara war im Stuttgart Eberhards III. nicht nur durch seine Men-
schen vertreten, sondern auch durch von afrikanischen Menschen geschaffene
Kunstwerke, die damals ihren Platz in der herzoglichen Kunstkammer fanden und
1901 bzw. 1922 (Fleischhauer 1976: 144) in die Sammlungen des Linden-Museums
Stuttgart und des Württembergischen Landesmuseums aufgenommen wurden. Wie
wir sehen werden, hatten Menschen und Objekte damals weite Strecken ihres langen
und gewundenen Weges von Afrika nach Stuttgart gemeinsam, ja reisten z.T ver-
mutlich gar zur gleichen Zeit und auf Veranlassung der gleichen Personen. Doch
auch die Motivation dafür, daß hochgestellte Persönlichkeiten der Renaissance und
des Barock Afrikaner in ihre, vor allem höfische, Dienste nahmen und Kunstkam-
mern anlegten, in denen Schönes, Kurioses und Lehrreiches aus dem Reich der Natur
ebenso wie dem der einheimischen und exotischen Kunst ausgestellt wurden, liegt im
gleichen politisch-religiös-kosmologischen Weltbild begründet.
Die herzoglich-württembergische Kunstkammer in Stuttgart wird zum ersten Mal
1596 von dem Astronomen Johannes Kepler für die Zeit unter der Regierung des
an Kunst und Archäologie interessierten Herzogs Friedrich (reg. 1593-1608) er-
wähnt (ibid.: 2). Unter der Regierung Eberhards III. (1633-74) 1634 weitgehend
von kaiserlichen und bairischen Truppen ausgeplündert, erlebte die Kunstkammer
1642 einen bescheidenen Neuanfang (ibid.: 44ff.). Eine einheitliche Auf- und Aus-
stellung fand sie mit einem herzoglichen Dekret vom 8.V. 1669 im Alten Lusthaus
(ibid.: 77) an der Stelle des späteren Neuen Schlosses, doch seit dem Abriß dieses
Lusthauses 1750 wurden die Bestände der Kunstkammer immer wieder unter ver-
schiedene Räumlichkeiten aufgeteilt und nie mehr zusammen aufgestellt (ibid.:
121 ff.)
3.1. Eine plüschierte Stickerei der Vili (Königreich Loango)
Das erste Objekt, dessen Spuren wir verfolgen wollen, ist eine plüschierte Stickerei
wohl aus Raffiafasern. Ich (H. F.) traf 1989 auf das Stück und erkannte seine Bedeu-
tung im Zuge der Bearbeitung von »Nachzüglern« aus der Rücklagerung der wegen
Umbauarbeiten zum größten Teil aus dem Linden-Museum ausgelagerten Bestände.
Es trägt die Inventarnummer 19.618 und stammt laut Inventarbuch aus der Sammlung
des Königs von Württemberg (das Herzogtum wurde 1805 zum Königreich erhoben)
mit der Eintragung aus dem Jahr 1901;
»gemusterter Teppich, braun Süd-Amerika [dieses Wort ist durchgestrichen] Kongo-
Plüsch Kongo«.
In der gleichen Technik werden auch heute noch im Kongobecken plüschierte Sticke-
reien hergestellt. Am bekanntesten sind die der Kuba im Zaire. Als Rohstoff für die
163
TRIBUS 44, 1995
Fäden sowohl zum Weben als auch zum Sticken51 dient jeweils die obere Schicht jun-
ger Blätter verschiedener Palmen, unter ihnen je nach Region vor allem mehrere
Arten der Raffiapalme. Im alten Königreich Loango (heute Republik Kongo und
Angola, Prov. Cabinda) kam für gewöhnliche sowie als Geldzeichen verwandte
Tücher Raphia vinifera in Frage, für solche von feiner Qualität dagegen Hyphaene
guineensis (Heintze 1989: 120 Anm. 15).
Die Herstellung des Gewebes erfolgt nach rezenten Beobachtungen auf einem senk-
rechten Webstuhl mit einem gespaltenen Stock als Litze (Loir 1935: 22ff.; Meurant
1988: 136). Zum Sticken des Plüschdekors wird die Nadel mit dem Stickfaden so
zwischen Schuß- und Kettfaden hindurchgeführt, daß der Stickfaden an der Unter-
seite nicht sichtbar ist, sondern an der Oberseite des Kettfadens entlang verläuft.
Somit bleiben an der Oberseite des Gewebes zwei Enden des Stickfadens stehen, die
mit einem Messerchen so abgeschnitten werden, daß beide gleich hoch sind. Gehal-
ten wird dieses unzählige Male hergestellte Plüschelement nur durch die Dichte des
Gewebes (Stritzl 1971: 48; Picton/Mack 1979: 201; Meurant 1988: 137).
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang noch ein anderer, ebenfalls
aus dem Zaire des 20. Jahrhunderts bekannter Dekor: durch eine besondere Bindung
beim Weben selbst mit Hilfe flottant geführter Schußfäden gleicher Farbe erreichte
zarte Muster (Loir 1935: 52). Unsere plüschierte Stickerei (Abb. 8) ist aus 9'/3 Ein-
zelstücken zusammengenäht, die zwar alle den gleichen Dekor tragen, aber ähnlich
wie auch heute noch bei den Kuba, unabhängig voneinander gewebt und verziert
wurden. Schon die Verschiebungen des Dekors an den Nahtstellen lassen diesen
Sachverhalt erkennen. An den Rändern ist der hellbraune Stoff jeweils umgeschla-
Abb. 8 Plüschierte Stickerei, 159x 149 cm, vermutlich Raffiafasern, Vili (Königreich
Loango), seit 1669 in Stuttgart. Linden-Museum, Inv.-Nr. 19.618. Photo: Ursula Didoni
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Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergisehen Herzogshof
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Abb. 9 Wie Abb. 8. Detail, das den durch flottanten Eintrag hergestellten Dekor zeigt.
Photo: Peter Thiele
gen und sind dunkelbraune Fransen eingehängt, die nächst dem Stoff zu kleinen Bün-
deln gewickelt sind.
Der Dekor besteht aus zwei Typen zahlreicher umrahmter Rechtecke, die sich jeweils
in ihrem senkrechten und waagrechten Verlauf abwechseln. Gefüllt sind sie alle mit
der im Prinzip gleichen Figur: zwei sich überschneidende, mit den Spitzen nach
außen weisende, »Herzen«, deren Umrisse aber nur aus Geraden und Winkeln gebil-
det werden.
Beim ersten Typ der umrahmten Rechtecke ist diese Figur negativ in dunkelbrauner
moussierter Plüschstickerei dargestellt, dazu zweimal konzentrisch umrahmt und
bisweilen mit einer Raute gefüllt. Rechts und links rahmt je ein senkrechter Streifen
plüschierter Stickerei die Figur zusätzlich ein, nicht jedoch oben und unten in der
Waagrechten.
Beim zweiten Typ der umrahmten Rechtecke wurde diese Figur positiv in der hell-
braunen Gewebestruktur selbst durch die Eintragstechnik flottant geführter Schußfä-
den der gleichen Farbe erreicht (Abb. 9). Die Figur ist allseits (senkrecht und waag-
recht) von einem ununterbrochenen Rechteck nun wiederum in plüschierter Stickerei
eingerahmt, dessen beide Senkrechten jeweils innen zusätzlich noch einen parallelen
Streifen haben; m.a. W., die beiden Senkrechten des Rahmens in dunkelbrauner
moussierter Plüschstickerei sind beim zweiten Typ der Rechtecke jeweils doppelt
ausgeführt.
Auf den senkrecht verlaufenden Zwischenräumen zwischen den eingerahmten
Rechtecken läßt sich z. T. noch ein fortlaufender Doppelkreuzdekor erkennen, der
ebenfalls durch die genannte Eintragstechnik im Gewebe selbst angelegt ist (Abb. 9).
Insgesamt ist das Gewebe so brüchig und abgeschabt, daß selbst das durch Eintrags-
technik im Gewebe erreichte Muster vieler eingerahmter Rechtecke kaum noch
erkennbar ist. Dagegen ist die plüschierte Stickerei fast vollständig erhalten geblie-
ben. Gleich auf den ersten Blick fällt dem Betrachter eine Unzahl kleiner Brand-
TRIBUS 44, 1995
flecken in der Mitte des Stückes auf, die, dicht nebeneinander gelegen, zusammen
eine Art liegender Ellipse bilden.
Noch 1989 wurde unsere Plüschstickerei von unserer Textilrestauratorin, Frau Anne
Seeboth-Stratz, gereinigt, unterlegt und in Nadelarbeit restauriert. Seit 1991 ist das
Textil in der Afrika-Dauerausstellung, Raum »Kongobecken«, dem Publikum zu-
gänglich.
Wenden wir uns nun der Datierung und afrikanischen Herkunft unseres Stückes zu.
ln dem Inventar der herzoglichen Kunstkammer aus der Feder des mit ihr betrauten
Antiquars Adam Ulrich Schmidlin der Zeit zwischen 1670 und 1692 lesen wir unter
der Überschrift »Indianische Kleider und ornat«:
»Ein Indianischer Teppich von graß künstlich gemacht.« (WLM Schmidlin
1670-92: 395)
Wer an dieser unserer Identifizierung zweifelt, sei auf die entsprechenden Erwer-
bungsakten der Kunstkammer verwiesen:
»Actum den 10 9bris 1669.
Bei werender dieser neuen action Praesentirte auch Ihrer Fürstl. Durchl. Oberraths-
Saecretarius Ruff zu unterthänigsten ehren in die Fürstl. Kunst-Kammer. Einen
Indianischen Teppich von Seiden fäden gemacht, welcher aber in der Mitten ein
Schwartzer Mackel hatte neben einem Körblein mit vermelden, daß solche Stuck sei-
nem Tochtermann zu Linda, Daniel Remen zuständig, wovor er wann es sein könnte,
einen gnaden Pfenig verlangt, worauf Sne. Fürstl. Durchl. der Kunst Karner durch
besagten dero Cammerdiener zustellen lassen, übrigens aber auch nach gedenken
nahmen.«52
Schließlich einigte man sich auf den Preis:
»Actum den 10. Aprilis. 1670 [...].
Welches Ihrer fürstl. H. dem Ehrgerecht [...] wegen seiner Zur neuen Kunstkammer
praesentirten Indianischen Teppichs und geflochtenen Körbleins Ihr fürstl. brustbild
in gold begehrter maßen für seinen Tochtermann H. Daniel Remen zu Lindau nicht
zukommen laßen sondern ließen demselben bey der Cammer Schreiberey hierfür,
laut ergangenes Fürstl. Decret 22. R[eichstaler] in Gelt bezahlen.«53
Daß das Gewebe als von Seidenfäden bezeichnet wird, soll uns nicht irritieren, wei-
sen doch auch die Fasern der Raffiablätter einen seidigen Glanz auf (Meurant 1988:
136). Das gleiche gilt für die Kategorisierung »indianisch«, die damals für amerika-
nische Indianer, Inder und Afrikaner gleichermaßen angewandt wurde. So finden wir
z. B. im Inventar der in der herzoglichen aufgegangenen Kunstkammer des Ludwig
Guth von Sulz:
»Ein Indianisch Schäfelein [gemeint: Schäfflern] oder Pfeyl, Im der mitte mit einem
grossen Knopff, halt vff der einen seyten ein zimbliches langes Spießeysen, vff der
anderen seyten ein eysin Spiz, welchen die Innwohner des Königreichs Loango für
Ihre wehrn gebrauchen [...]« (HStAS A 20a Bü 4 Inventar 1624: 261).
Die Verhandlungen über eine Vergütung zeugen von einer beiderseitigen Wertschät-
zung afrikanischer Kunst. Denn immerhin handelt es sich bei dem von Daniel
Re(h)m verlangten Gnadenpfennig um eine vom Herzog für besondere Verdienste
verliehene ovale Goldmedaille mit seinem Brustbild darauf. Doch auch die schließ-
lich gebotenen 22 Reichstaler entsprechen dem damaligen Monatsverdienst einer
hochgestellten Persönlichkeit.54
Daniel Re(h)m (geb. 1633), seit 1663 der Schwiegersohn des Stuttgarter Oberratsse-
kretärs Melchior Schweickard Ru(o)ff (StAL Lit 79/1: 492), war der Sohn der
Schwester Susanna von Valentin Heiden Susanna (gest. 1635) hatte 1625 Abraham
Rehm (gest. 1633) geheiratet (StAL Hie 26-3: 193), dessen Familie aus Augsburg
stammte (Reinwald/Rieber 1909: 120). Da Daniel Rehm seit 1635 Vollwaise war,
könnte er im Haushalt seines Onkels Valentin Heider gelebt haben. Heider war nicht
nur mit Joß Kramer bekannt, der Christian Real 1657 bei der Rückkehr von seinem
Afrika-Aufenthalt im Dienste der Schwedischen Afrikanischen Kompanie mit-
brachte, sondern auch einer der Taufpaten Reals, der von Kramer Real schließlich
»verehrt« bekam und ihn dann an Eberhard III. weiterverschenkte (s.o. 2.3.).
Eventuell mit Kramer zusammen, wie wir vermuten, könnte auch der ebenfalls in
166
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
schwedischen Diensten stehende Augsburger Patrizier Johann Abraham Haintzel,
dessen Familie bis 1594 in Lindau ansässig war (Reinwald/Rieber 1909: 113), schon
einmal Ende 1656 oder Anfang 1657 aus Afrika zurückgekehrt sein, nachdem er
1652 den unter schwedischer Herrschaft stehenden Hafen Stade mit dem Ziel Cape
Coast verlassen hatte. Eine schwedische Rangbezeichnung (»opper commiss«) wird
für ihn zum letzten Mal im November 1656 erwähnt. Im Februar 1658 war Haintzel
inzwischen in die Dienste der dänischen Krone getreten, um diese aktiv bei der Ein-
nahme des bisher schwedischen Cape Coast zu unterstützen. Sicher bezeugt ist seine
endgültige Rückkehr im Juni 1658 im Hafen von Glückstadt, von wo er sich ver-
mutlich bald weiter ins heimatliche Augsburg begab, wo er 1662 starb (Jones 1994:
41). Haintzel, dessen Familie im Wappen übrigens auch ein Schwert führte (Rein-
wald/Rieber 1909: 113 Abb.), brachte für die berühmte Kunstkammer des Ulmer
Patriziers und Handelsherrn Christoph Weickmann mindestens ein Schwert aus Fetu
(heute Republik Ghana) mit, vielleicht auch die ganze Weickmannsche Afrika-
Sammlung (Jones 1994: 41).
Zu dieser Sammlung gehört auch eine heute im Ulmer Museum ausgestellte plü-
schierte Stickerei, die in Herstellungsverfahren und z. T. auch Dekor unserem Stutt-
garter Stück entspricht. Ja sie weist sogar mehrere, wenn auch dort nicht mehr so gut
sichtbare, Flecken auf, die verblüffend den Brandflecken auf unserem Stuttgarter
Plüsch gleichen (Abb. 10).
Jones (ibid.) bemerkt zu Recht, daß die Weickmannsche Afrika-Sammlung, deren
Objekte durchweg einen für afrikanische Verhältnisse hohen politischen Stellenwert
erkennen lassen, systematisch angelegt worden sein dürfte. Dennoch glauben wir,
daß Haintzel deshalb nicht unbedingt allein mit der Anlegung der Sammlung
beschäftigt gewesen sein muß, daß dies vielmehr zusammen mit Kramer geschehen
sein kann. Kramer müßte dann auch die Stuttgarter plüschierte Stickerei zusammen
mit dem Körbchen, auf das wir noch zurückkommen werden, sozusagen als Pendant
zur Ulmer Sammlung Weickmann nach Lindau gebracht haben, wo beide Objekte
dann von ihm, ähnlich wie Christian Real, an Valentin Heider bzw. dessen Neffen
Daniel Rehm weiterverschenkt worden sein dürften. Solch ein Raffiaplüsch war auch
als Tischdecke zu verwenden, und Tischdecken galten in Lindau als beliebtes
Geschenk für die exklusiven Tafeln der Patrizier (Stolze 1956: 135).
Übrigens wurde Christian Real in der Nacht auf den gleichen 10. November 1669 in
Stuttgart überfallen, an dem der Plüsch und das Körbchen in die Stuttgarter Kunst-
kammer aufgenommen wurden. Ob zwischen beiden Ereignissen ein wie auch immer
gearteter Zusammenhang besteht - immerhin wurde Real ja ebenfalls von Kramer
bis nach Lindau gebracht - (s. o. 2.3.), läßt sich vorläufig nicht beurteilen.
Plüschierte Stickereien aus Palmblatt-Fasern sind für das alte Kongo-Reich vom
frühen 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 18. in den europäischen Quellen überlie-
fert.55 Schön verzierte Palmblatt-Gewebe, die ebenfalls plüschierte Stickereien mit
eingeschlossen haben könnten, werden als Staatsgeschenke an den König von Portu-
gal schon für das Jahr 1488 erwähnt (Stritzl 1971; 41; Bassani 1975 b: 89, 20
Anm.41-42). Der italienische Missionar Zucchelli (1715: 188, 473, 479) berichtet
für die Zeit zwischen 1700 und 1702, daß sich die Missionare im von Kongo quasi
unabhängigen Fürstentum Sonyo (heute Nordangola) vor ihrer Rückkehr nach Italien
Teppiche, Kissen u.a. aus solchen Plüschen als Mitbringsel anfertigen lassen (ibid.:
210), und daß auch die Besatzungen der in Sonyo anlegenden Sklavenschiffe gerne
solche Textilien kaufen, um sie nach Europa mitzunehmen (ibid.; 211).
Wenden wir uns europäischen Sammlungen mit unserem Stuttgarter Stück ver-
gleichbaren plüschierten Stickereien aus dem unteren Kongogebiet zu, so finden wir
in alten Inventaren des Kopenhagener Nationalmuseet zwei als Kissenbezug56 und
eine mit Fransen als Tischdecke57 vermerkt. Die Frage freilich, ob solche mit Fran-
sen versehenen Textilien nur für den europäischen Bedarf angefertigt worden sind,
wie in einem Führer des genannten Museums einmal angeregt wurde (Stritzl 1971:
38), muß vorläufig ungeklärt bleiben.
Verweilen wir noch etwas länger bei europäischen Sammlungen, um sie danach zu
befragen, was sie uns an Daten zur zeitlichen und ethnischen Eingrenzung unseres
TRIBUS 44, 1995
Abb. 10 Plüschierte Stickerei, 219x 175 cm, vermutlich Raffiafasern, Vili (Königreich
Loango), spätestens seit 1659 in Ulm. Ulmer Museum. Photo: Bernd Kegler
Abb. 11 Wie Abb. 10. Detail. Photo: Schmidt-Glassner
168
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Stuttgarter Plüschs bieten können. Entsprechende Textilien mit dem Dekor vieler,
waag- und senkrecht aufgereihter, kleiner eingerahmter Rechtecke, in denen sich
jeweils eine geometrische Figur befindet, sind bekannt aus dem Ulmer Museum
(Abb. 10-11, man beachte den auch hier moussierten Plüsch), dem Museo Nazionale
Preistorico e Etnologico »Luigi Pigorini« in Rom58, der Sammlung des Mailänder
Edelmannes Manfredo Settala59, dem Kopenhagener Nationalmuseet60 und dem
Londoner British Museum (Schaedler 1987: 376). Ferner finden wir in Kopenhagen
noch als etwas abgewandelten Dekor eine diagonale Versetzung der Rechteckreihen
bzw. eine teilweise Auflösung der Rechtecke, wobei als geometrische Figuren dann
jeweils Mäander vorherrschen.61
Einheitlich wirken ebenso die Jahresangaben ihrer erstmaligen Erwähnung in den
Inventaren der jeweiligen Kunstkammern bzw. ihrer Erwerbung. Für den Plüsch im
Römer Museo Nazionale (5.468) können wir das Eingangsdatum immerhin ab 1650
ansetzen, da er sich früher im jesuitischen Museo Kircheriano befand (Bassani
1975a: 78, 80 Anm.30), welche Anstalt 1650 gegründet wurde (Jones 1994: 28).
Ansonsten finden wir als Datum der Ersterwähnung jeweils für:
Ulm: 1659 (Stritzl 1971: 38; Jones 1994: 28)
Mailand: 1666 (Bassani 1975a: 80 Anm. 31)
London: 1666 aus der Kunstkammer des Herzogs von Gottorp (Van-
sina 1978; 360 Anm. 31)
Kopenhagen EDc: 117; 1666, aus der Kunstkammer des Herzogs von Gottorp
(Lundbaek 1980: 53; vgl. Meurant 1988: 145)
EDc 105: 1674, aus der königlich-dänischen Kunstkammer (Lundbaek
1980: 52)
EDc 107: 1674 (Meurant 1988; 113), wohl dto.
EDc 108: 1674 (ibid.: 145), wohl dto.
EDc HO: 1674 (ibid.: 161), wohl dto.
EDc 111: 1674 (ibid.: 185), wohl dto.
EDc 109: 1737, dto. (Lundbaek 1980; 52);
als Eingangsdatum ferner:
Stuttgart 19.168: 1669 (s. S. 166).
Wenn der Ulmer Plüsch von Haintzel - oder zusammen mit ihm - mitgebracht
wurde, dann auf seiner Rückreise von Cape Coast. Aus navigatorischen Gründen
mußte man damals zur Rückkehr von dort zunächst nach Süden mindestens bis zum
Kap Lopez im heutigen Gabun vorstoßen, wobei man üblicherweise in den Orten ent-
lang der Küste Handel trieb. Haintzel müßte die aus dem unteren Kongogebiet stam-
menden Stücke der Sammlung Weickmann dann spätestens im März/April 1658
erworben haben, eher aber schon um die Jahreswende 1656/57 (Jones 1994: 41).
Eine Erwerbung wesentlich früher, also noch vor den 1640er Jahren, käme auch um
so weniger in Betracht, als durch die Wirren des 30jährigen Krieges ein Transport der
Sammlung quer durch Deutschland bis nach Ulm mehr als schwierig gewesen wäre
(ibid.: 42). Ähnlich ermöglichte erst der Westfälische Friede (1648) dem Herzog
Friedrich von Gottorp (Schleswig-Holstein) die Einrichtung seiner Kunstkammer
(Dam-Mikkelsen 1980: XX), und auch die königlich-dänische Kunstkammer wurde
erst um 1650 gegründet (ibid.: XVIII).
Wenn wir die Datierung einer technisch wie stilistisch ziemlich einheitlichen Gruppe
plüschierter Stickereien somit nicht vor 1650 ansetzen sollten, so wirkt dieser Ansatz
insofern noch überzeugender, als ihre einzelnen Stücke durch die Unternehmungen
zweier gänzlich verschiedener europäischer Sklavenhandels-Nationen von Afrika
nach Europa gelangt sind. Während für die Sammler in Mailand und auf Gottorp
(heute in den Museen von Kopenhagen und London) ihre Verbindungen zu nieder-
ländischen Geschäftspartnern von Bedeutung waren (Jones 1994: 93 Anm. 51), pro-
fitierten die in Ulm und Stuttgart von Dienstleistungen für die Schwedische Afrika-
nische Kompanie.
Jones (1994:42) zieht als Orte, in denen Haintzel 1656/57 oder 1658 den Ulmer Plüsch
und einige andere Objekte der Sammlung Weickmann südlich des Kap Lopez erwor-
ben haben könnte, die Inseln Säo Tomé oder Principe, Loango, die Kongomündung
TRIBUS 44, 1995
oder Luanda in Betracht. Lassen wir zur regionalen Eingrenzung auch hier wieder die
Angaben in den zeitgenössischen Sammlungsunterlagen sprechen. Während für den
Mailänder Plüsch auf dem Aquarell aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (Bassani
1975 b: 11) »Angola o Congo« (Bassani 1975a: 80 Anm. 31) vermerkt ist, findet sich
für Ulm 1659 (Stritzl 1971: 38; Jones 1994; 38) sowie Kopenhagen nur »Angola«, für
Rom 1709 schon ganz spezifiziert »Regno Angolano« (Bassani 1975 a: 80 Anm. 30).
Jones (1994: 42) weist zwar mit Recht daraufhin, daß »Angola« damals die ganze Re-
gion zwischen Kap Lopez und Luanda bedeuten konnte, doch differenzierten wieder-
um andere Autoren damals schon recht genau (Dapper 1967; Cavazzi 1694).
Vergleichen wir dieses anhand europäischer Sammlungen erarbeitete Material nun
wieder mit dem Befund vor Ort im unteren Kongogebiet. Für das 16./17. Jahrhundert
teilt Stritzl (1971: 40) jenes Gebiet in drei Zentren der Produktion plüschierter Raf-
fiastoffe ein:
1. Die Provinz Mbata und das Königreich Okanga beiderseits der Ostgrenze des
Kongo-Reichs. Von hier aus führte bis um 1641 eine Handelsroute für die Ausfuhr
von Palmfaser-Stoffen zum portugiesischen Luanda, wo diese den Portugiesen
u.a. für den Sklavenhandel und zur Bezahlung ihrer Soldaten als Währung dien-
ten (Heintze 1989; 120). Ende des 16. Jahrhunderts wurde der in dieser Ostregion
erzeugte Dekor auf den plüschierten Stickereien summarisch beschrieben (Piga-
fetta/Lopez 1963; 36-37).
2. Das Woyo-Königreich Ngoyo an der Küste nördlich der Kongomündung, in dem
nur ungemusterte Plüsche hergestellt und ebenfalls nach Luanda ausgeführt wur-
den (Dapper 1967: 541).
3. Das Vili-Königreich Loango, das im 16. Jahrhundert ähnlich wie Ngoyo auch ein-
mal zum Kongo-Reich gehört hatte. Nach der niederländischen Besetzung von
Luanda und Säo Tomé (1641-48 ) konnte sich der Textilhandel der Ostregion mit
Luanda nicht mehr erholen und wurde von Vili-Kaufleuten aus Loango abgelöst
(Hilton 1987: 164-65; Heintze 1989: 120-21). Die Vili belieferten mit jenen Pro-
dukten aber nicht nur die Portugiesen in Luanda, sondern auch die niederländi-
schen und englischen Sklavenhändler in der quasi unabhängigen Kongo-Provinz
Sonyo (heute Nordangola) mit ihrem eigenen Hafen Mpinda (Hilton 1987;
201-02). Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ging dieser Handel mit Palmfaser-
Geweben en gros dann langsam zu Ende (Heintze 1989: 121; vgl. aber Zucchelli
1715: 210-11). Um 1775 trugen die Vornehmen nördlich der Kongomündung dann
nur noch europäische Stoffe (Proyart 1968: 109).
Die erste Möglichkeit scheidet aus chronologischen, die zweite aus ikonographi-
schen Gründen aus. Somit kommt für die Herkunft unseres Stuttgarter Plüschs wie
auch der ihm entsprechenden Stücke in Ulm, Kopenhagen usf. nur noch Loango in
Frage. Auch Schaedler (1987: 376) vermutet für das Ulmer Stück eine Herkunft von
der Küste, also letztlich wohl auch aus Loango, weil sein Mäanderdekor ganz den
rezenten Skarifikationen bei den Yombe, östlichen Nachbarn der Vili im Binnenland,
entspricht (vgl. ibid.: Farbtaf. 136-37).
Plüschierte Stickereien aus Palmblatt-Fasern sind für Loango schon seit dem Beginn
des 17. Jahrhunderts belegt (Stritzl 1971: 43). Besonders überzeugend für unsere
Argumentation ist aber der großartige, 1668 erschienene Bericht des Niederländers
Dapper (1967: 512) über Loango:
»Die Männer tragen lange Kleider/ welche vom mittelleibe bis auf die Füße rei-
chen/und unten mit Frantzen besetzt seynd. Aber mit dem Oberleibe gehen sie
bloß. Der Zeug darzu ist unterschiedlich/und fürnehmlich auf vielerley weise
gemacht. Darunter ist eine Tracht/die niemand/als der König/und der-
selbe/dem er es aus sonderlicher Gunst zu lesse/zu tragen vermag.
Keine Weber dürfen auch solche Kleider/die sie Libongo und Bondo nennen/auf
Leibesstrafe/verkauffen. Sie seynd zweyerley; die besten/welche man Kimbos nen-
net/und die g rösten des Adels tragen/seynd sehr zahrt/und ahrtig m i t
vielerley Bildern gemacht. Ein iedes ist ohngefehr dritte-
halbe Spanne breit: daran ein Weber 15 oder 16 Tage/darnach er
170
Firla/ForkI; Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
fleissig ist/arbeiten mus. Die zweyte ahrt/welche sie Sokka nennen/ist mehr als die
helfte geringer/dan die so genenten Kimbos. Gleichwohl pflegen etliche: die wenig
damit gehandelt haben/eine vor die andere leichtlich anzusehen; weil beides ein
erhobenes und geschnittenes Werck ist/mit Bildern. Aber die
Unrechte seite beider Trachten giebt den unterscheid/durch den groben und zahlten
Fade/zu erkennen. Aus sechsen der vorgemelten Tücher oder Blätter kan
ein Kleid gemacht werden; welches sie nach ihrer weise roht/schwartz/und grühn
zu färben wissen.
Die zwo anderen Kleiderahrten/der gemeinen Leute Tracht/seynd glat und ohne Bil-
der; doch die eine dichter und fester gewürcket/als die andere.« (Hervorhebungen
H.F.)
Dem ist nur wenig hinzuzufügen. Stritzl (1971: 44) deutet diese von Dapper erwähn-
ten Stoffe zu Recht als plüschierte Stickereien. Bei unserem Stuttgarter Stück wird
es sich wohl nicht um das feinste aus den Blättern der Hyphaene (s. S. 164) handeln,
sondern um die aus Raffiablatt-Fasern hergestellte zweite Wahl, die sicher leichter
zur Ausfuhr gelangte. Das von Dapper angegebene Maß entspricht etwa 70 bis 90
cm, der Hälfte unseres Stuttgarter Plüschs also. Doch ist uns von plüschierten Sticke-
reien dieses Loango-Typs kein gefärbtes Exemplar bekannt.
Neben der Erwähnung einer riesigen Plüschdecke vor dem königlichen Thron von
Loango (Dapper 1967: 526) macht Dapper (1967: 523) noch eine Bemerkung, die an
die Kopenhagener Kissenbezüge erinnert, in bezug auf das »Weinhaus« des Königs
von Loango,
»darinnen die schweersten Streitigkeiten/in des Königes gegenwart/geschlichtet
werden. [...] Die Wand selbsten ist mit zahrten Küssenblättern/welche sie
Kumbel nennen/über und über behänget. Und an derselben stehet ein Reichsstuhl
oder Königssessel [...]«
»Tüchern/welche die Holländer Küssenblätter nennen/weil sie auf die weise/wie
die Küssenbl ätter aussehen/gemacht seynd [...]« (ibid.: 540; Hervorhebun-
gen H. F.)
Fassen wir zusammen: Unsere Stuttgarter plüschierte Stickerei wurde in Loango her-
gestellt, von dort durch Vili-Kaufleute vermutlich nach dem portugiesischen Luanda
ausgeführt, von dort nach dem ebenfalls portugiesischen Säo Tomé verbracht und
hier (wie auch Christian Real) um die Jahreswende 1656/57 von Haintzel und/oder
Kramer als Mitbringsel für die Rückreise nach Deutschland erworben. Diese Kom-
bination erscheint uns jedenfalls bis auf weiteres als die schlüssigste.
3.2. Ein Deckelkörbchen der Vili (Königreich Loango)
Das zweite Objekt, dessen Spuren wir verfolgen wollen, befindet sich ebenfalls in
der Dauerausstellung des Linden-Museums und trägt die Inventarnummer 19.446.
Im Inventarbuch findet sich für dieses Körbchen, das ebenfalls aus der Sammlung
Krongut stammt, die Eintragung aus dem Jahr 1901 »Korb mit Deckel Loango«
(Abb. 12).
Als Flechtmaterial werden speziell für unser Stück »Palmblattrippen und Blattstrei-
fen« (Wersin 1940: 104) genannt, für vergleichbare Körbe Palmblatt-Stiele (Masui
1899: 32). Zur Herstellung des ovalen Bodens wurde die Technik des durchstechen-
den Wulsthalbflechtens62 aus hellbraunen Streifen gewählt. Ganz anders die Wand,
die aus zwei Schichten besteht, deren innere aus hellbraunen Streifen randparallel
geflochten ist. Die äußere Schicht jedoch, also die Schauseite, besteht aus einem
halbgeflochtenen Dekor runder Rippen oder Stiele, indem schwarze Kettfäden je
nachdem, wie es das Muster erfordert, ein- oder mehrfach horizontal durch jeweils
um die Wand herumlaufende goldgelbe Schußfäden aufgefangen werden.
Der untere (wo Wand und Boden Zusammentreffen) und obere Rand der Wand ist
jeweils durch einen flachen geflochtenen Zopf aus sechs dunkelbraunen Streifen ver-
stärkt. Diese beiden Zöpfe haben schon in beträchtlichem Maße an Substanz einge-
büßt.
Beim Dekor figurenbildend sind die goldgelben Schußfäden. Ein waagrecht um die
TRIBUS 44, 1995
Abb. 12 Deckelkörbchen, Länge 28 cm, Palmblatt-Fasern, Vili (Königreich Loango), seit
1669 in Stuttgart. Linden-Museum, Inv.-Nr. 19.446. Photo: Linden-Museum
ganze Wand herumlaufendes Band wird oben und unten von einer Zickzacklinie
begrenzt. Es ist abwechselnd gefüllt mit der Figur eines doppelten geschlossenen
Umlaufs und deren Auflösung in diagonal zusammengesetzte Mäander. Die Fläche
ober- und unterhalb des Bandes ist mit versetzt angeordneten kleinen waagrechten
Rauten gefüllt.
Die Wand des Deckels ist wie die des eigentlichen Körbchens wieder randparallel
geflochten. An der inneren Schicht der gewölbten Oberfläche des Deckels können
wir wieder durchstechendes Wulsthalbflechten erkennen, an der äußeren wieder
halbgeflochtenen Dekor ähnlich wie an der Wand des eigentlichen Körbchens.
Wand und Oberfläche des Deckels werden durch einen flachen geflochtenen Zopf
aus sechs dunkelbraunen Streifen zusammengehalten, indem er in das jeweilige
Flechtwerk von beiden eingreift. Zudem ist dieser Zopf mit einem Kern aus gebün-
delten langen Fasern gefüllt. Auch dieser Zopf hat schon beträchtlich an Substanz
verloren.
Als Dekor auf der gewölbten Oberfläche des Deckels erkennen wir auf schwarzem
Grund einen mehrfachen geschlossenen Umlauf, außen umgeben von einem feinen
Muster diagonal zusammengesetzter Mäander, jeweils wieder aus den goldgelben
Schußfäden.
Im Inventar der herzoglichen Kunstkammer aus dem Jahr 1754 finden wir zu unse-
rem Körbchen den treffenden Vermerk:
»Von Strohe ein Körblein samt einem Deckel, oval form, künstlich geflochten und
mit Figuren auswendig gezieret. Eines Schun lang ist aus Indien herausgebracht wor-
den [...]« (HStAS A 20a Bü 44 Schönhaar 1754: 36)
Gehen wir die Inventare zeitlich zurückgerichtet durch, finden wir fast wörtlich
immer wieder diesen gleichen Text, einschließlich der ursprünglich noch nicht vor-
handenen Bemerkung über Indien.63 Im nicht vor 1670 angelegten Schmidlinschen
172
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Inventar lesen wir dann:
»Ein Indianisch geflochten Körblein von graß.« (WLM Schmidlin 1670-92: 396)
In den schon zitierten Erwerbungsakten von 1669 (3.1.) wird dann zusammen mit
der plüschierten Stickerei 19.618 auch des »geflochtenen Körbleins« (HStAS A 20a
Bü 7 Übergabe 1669-71: fol. 32r, vgl. 31 r, 22v, 58r) Erwähnung getan. Auch unser
Körbchen 19.446 kam also 1669 von Lindau nach Stuttgart.64
Mit mehr oder minder der gleichen Technik und sogar dem gleichen Dekor ge-
flochtene Körbchen finden sich in anderen Museen:
Muséum Datierung Technik und Dekor Quelle
Nationalmuseet 1. Erwähnung Undekorierte geflochtene Lundbaek
Kopenhagen 1653 (Slg. innere Schicht aus Streifen 1980: 50
EHc 37-38 Worm) fehlt. Umlaufende Zierbänder mit diagonal zusammengesetzten Mäandern bzw. doppelten geschlossene Umläufen, waagrechten kleinen Rauten; Mäanderbänder Abb.
Ulmer Muséum 1. Erwähnung Innere undekorierte Jones
1659 (Slg. geflochtene Schicht ersetzt 1994:
Folkens Muséum, Stockholm Weickmann) durch Flaschenkürbis, der mit dem Dekor in Halbflechtarbeit überzogen ist. Umlaufendes Zierband diagonal zusammen- gesetzter Mäander und von Doppelkreuzen, waagrechte kleine Rauten 39, 29 Abb.
R.M. 1.301 um 1798-99 Zweischichtig; umlaufendes Zierband mit diagonal zusammengesetzten Mäandern, waagrechte kleine Rauten Lindblom 1937: 367, 368
o. Nr. Zweischichtig; umlaufendes Zierband von Doppelkreuzen, waagrechte kleine Rauten Ibid.: 367,368 Abb. 2b
521 1890er Zweischichtig; waagrechte Ibid.:
Jahre? kleine Rauten 367, 368 Abb. 2a
Musée Royal de 19.Jh. Zweischichtig; umlaufendes Masui
l’Afrique Zierband mit unendlichem 1899:
Centrale, Tervuren Doppelkreuz Umlaufendes Zierband, auf Deckel Mäanderband 32, Taf. VIII: HO Ibid.; 32, Taf. VIII: 119, 119a
ReiB-Museum, 1882 erwähnt Zweischichtig; umlaufendes Dr.
Mannheim Zierband mit mehrfachem Klaus
IV Af 9.242 geschlossenen Umlauf, auf Deckel diagonal zusammen- gesetzte Mäander Born, Brief vom 15. VI. 1994
Cincinnati Art zwischen Zweischichtig; waagrechte Mount
Muséum 1885 und kleine Rauten 1980:
1980.1182 1889 (Slg. Steckelmann) 40, 42 Abb. links
173
TRIBUS 44, 1995
Zur ethnischen Zuordnung ist zu bemerken, daß die beiden Kopenhagener Körbchen
in einem Inventar von 1655 als afrikanisch ausgewiesen werden, für die Ulmer Fla-
sche im Weickmannschen Inventar als Herstellungsland Angola vermerkt ist. Masui
(1899: 28) betont nicht nur, daß in Cabinda und Loango die berühmtesten Korb-
flechter der Kongoregion ansässig seien, sondern auch, daß die von uns hier
beschriebene komplizierte Flechttechnik nur für Loango typisch sei (ibid.: 32,
Taf. VIII: 110a). Im Hinblick auf Museumsmaterial allein ist Lindblom (1937: 367)
diese Technik von keinen anderen Stücken als von solchen aus Loango bekannt. Vor
diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn der Sammler Carl Steckelmann, der auf
seinen Handelsreisen seit 1885 auch die Vili besuchte (Mount 1980: 40), solche
Körbchen als nur von Vili-Männern geflochten und von Nachbargruppen benützt
ausweist (nach ibid.: 44). Und aus dem 17. Jahrhundert berichtet wiederum Dapper
(1967: 523) in bezug auf einen Thronsessel des Königs von Loango:
»[...] von weissen und schwartzen Palmzacken sehr künstlich gemacht/fast auf die
weise/wie sie ihre Körbe flechten; die man zuweilen mit in Europe zu bringen pfle-
get.«
Somit kann die ethnische Zuordnung zu den Vili des Königreichs Loango auch auf
unser Deckelkörbchen 19.446 ausgedehnt werden.
3.3. Ein Sapi-portugiesisches Horn aus Elfenbein (Sierra Leone)
Wenden wir uns nunmehr noch zwei Jagdhörnern aus Elfenbein zu, deren eines etwa
zur gleichen Zeit wie unsere plüschierte Stickerei und unser Deckelkörbchen in die
Kunstkammer Eberhards III. gelangt sein dürfte, jedoch aus Sierra Leone stammt.
Dagegen stammt das andere zwar wiederum aus Loango, war der Stuttgarter Kunst-
kammer jedoch schon um einiges länger zugehörig. Die jeweilige Erfassung beider
Musikinstrumente ist in einem unserer Kunstkammer-Inventare so gleichsam kon-
gruent, daß das eine hier nicht ohne das andere behandelt werden kann.
Das erstgenannte elfenbeinerne Horn befindet sich im Kunstkammer-Raum des
Württembergischen Landesmuseums und trägt die Inventarnummer KK 124
(Abb. 13). Es besteht aus einem im Hochrelief beschnitzten Elefanten-Stoßzahn, an
dessen Spitze sich das Blasloch mit nach außen erweitertem Rand befindet. Der
Reihe nach folgen ein umlaufendes Spiralband, eine Partie mit Gruppen von jeweils
drei Längsgraten, die sich darüber hinaus noch auf dem Rand fortsetzen, und wie-
derum ein umlaufendes Spiralband. Das alles ist noch als Mundstück zu bezeichnen,
das aus dem Rachen eines Tierkopfes mit großen spitzen Zähnen hervorkommt. Die-
ser Kopf ist verziert mit einem Netz aus Perlensträngen und punktförmigen Inkru-
stationen aus einem schwarzen Material, vermutlich Blei65.
Weiter folgen: umlaufendes Spiralband; umlaufendes Band mit Gruppen von jeweils
drei Graten; umlaufendes Spiralband; umlaufendes breites Band mit einem Dekor,
der den Ausschnitt aus einer größeren Spirale darstellt, deren einzelne Stränge durch
Perlenreihen voneinander abgegrenzt sind; umlaufendes Spiralband; umlaufendes
Band mit Gruppen von jeweils drei Graten; umlaufendes Spiralband.
Von dort an setzt sich ein auf vier Seiten jeweils unterschiedlicher Dekor fort. So fin-
den sich auf der konkaven Seite zum Durchziehen eines Bandes nacheinander drei
Ösen, deren erste beide jeweils von zwei Schlangenpaaren mit sich gegenseitig
anblickenden menschlichen Gesichtern (Masken) gebildet sind, während die dritte
Öse die Form eines Hundes einnimmt. Es folgt ein Malteserkreuz in einer Kartusche,
wohl ein Wappen.
Auf der linken Seite finden wir ein greifenartiges Wesen, gefolgt von einem dicken,
doppelt umlaufenden Spiralband, dessen einer Strang glatt, während der andere mit
einem Leiterband-Muster verziert ist. Dem schließt sich eine Hirschjagd an, mit
einem Jäger in europäischer Tracht mit Spieß und Jagdhorn ähnlich dem hier
beschriebenen und zwei Hunden, die einen Hirsch anfallen. Es folgt ein breites
umlaufendes Band in der Zeichnung eines mehrfachen geschlossenen Umlaufes, in
dessen Schlingen sich jeweils eine vierseitige Pyramide erhebt.
174
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Abb. 13 Blashorn, Länge 69 cm, Elfenbein, Sapi-portugiesisch (Sierra Leone), spätestens
seit 1692 in Stuttgart. Württembergisches Landesmuseum, Inv.-Nr. KK 124. Photo: Württem-
bergisches Landesmuseum
Anschließend sehen wir den Abtransport der Beute: Der Jäger mit Spieß geht hinter
einem mit dem Hirsch beladenen Pferd her, darunter trottet sein Hund. Doch vor die-
sem Hund hat gerade ein Löwe mit Krönchen einen Mann in europäischer Tracht zu
Boden geworfen.
Auf der rechten Seite folgt nach den drei genannten umlaufenden Bändern ein Jäger
in europäischer Tracht mit Spieß und Jagdhorn im Angriff auf zwei Wildschweine
(nicht Keiler, wie Bassani/Fagg 1988: 115 meinen), deren Hinterteile durch das dop-
pelte umlaufende Spiralband vom übrigen Rumpf getrennt sind. Mit Pfeil und Bogen
greift ein Jäger in europäischer Tracht zusammen mit seinem Hund die beiden Wild-
schweine von der anderen Seite aus an.
Auf das breite Band mit dem mehrfachen geschlossenen Umlauf folgt ein von zwei
Männern in europäischer Tracht gehaltenes Wappen mit der Spitze nach oben, das
von Federn (Helmzier) gekrönt ist. Durch Perlbänder in sechs Felder aufgeteilt, fin-
det sich in deren jedem das gleiche Motiv: ein Kreuz im Kreis (Schild?), umgeben
von einem Strahlenkranz (Verfremdung des portugiesischen Wappens?).
Auf der konvexen Seite erkennen wir in Höhe der Hirsch- bzw. Wildschwein-Jagd
eine Maria mit dem Kinde. Den Abschluß bilden umlaufende Bänder in Form einer
Perlenreihe, von Weinranken, einer weiteren Perlenreihe und der schräg gezackte
Rand.
Bassani und Fagg (1988: 57, 60-61, 97) kommt das Verdienst zu, auf Grund portu-
giesischer Berichte vom Beginn des 16. Jahrhunderts und stilistischer Vergleiche als
Schnitzer dieser, wohl als Jagdhörner bestellten, Auftragsarbeiten für portugiesische
Kunden die alten Sapi im heutigen Sierra Leone auszumachen, die Vorfahren der
rezenten Sherbro, Temne und Kissi (ibid.: 44). Die dargestellten Jagdszenen erinnern
an entsprechende Themen auf spätgotischen Miniaturen und Teppichen der franzö-
sisch-flämischen Schule des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts (ibid.: 97),
die Spiral- und Perlbänder an die manuelinische Architektur Portugals der gleichen
Zeit (ibid.: 109), das Mundstück in Form eines Tierkopfes und die zoomorphen Ösen
(»Delphine«) an europäische Feuerwaffen des frühen 16. Jahrhunderts, und auch das
Blasloch ganz am Anfang weist auf Anfertigung für die Ausfuhr nach Europa hin
(ibid.: 95). Als Vorlagen dürften den Sapi in ihren Werkstätten nach Sierra Leone
gebrachte Abzeichnungen europäischer Drucke gedient haben (ibid.: 111). Die Szene
der Wildschwein-Jagd auf dem Stuttgarter Stück ist mit der Illustration eines 1505 in
Parma von Francesco Marzalis gedruckten Buches zu vergleichen (ibid.; 115). Afri-
kanisch mutet auf unserem Elfenbein-Horn eigentlich nur die uns ungewohnte
175
TRIBUS 44, 1995
Flächenaufteilung an, bei der der Rumpf der Wildschweine durch ein Zierband unter-
brochen ist, was an die Unterbrechung des Musters bei zusammengenähten Stücken
plüschierter Stickereien im Kongobecken erinnert.
Bassani und Fagg (1988: 140) sind der Ansicht, daß der reiche Dekor dieser Hörner
auf ihre Herstellung in ein und derselben Werkstatt verweist. Feinere stilistische
Unterschiede schreiben sie individuellen Schnitzern zu. So ist das Stuttgarter Stück
zwar dem Stil des »Meisters des Wappens von Kastilien und Aragon« ähnlich, bildet
jedoch wegen der ihm eigenen Zeichnung der Zierbänder wiederum mit entspre-
chenden Stücken anderer Sammlungen eine eigene Gruppe, in der es selbst nur eine
vereinfachte, weniger elegante Version, die Ausführung von Figuren und Weinranke
betreffend, darstellt (ibid.: 143).
In den Inventaren der Stuttgarter herzoglichen Kunstkammer des 18. Jahrhunderts
lesen wir zu dem Elfenbein-Horn KK 124:
»Noch ein ander Horn aus Helfenbein, vierzehn Zoll lang, unten dritthalb Zoll weit,
durchaus hohl daß man darauf blaßen kan, außwendig mit allerhand Figuren, wilden
Thieren, Jägern mit Spießen, Pfeil und Bogen, auch andern selzamen Figuren mehr,
hat an drey Orthen Öhrlein und Löchlein, daß man ein Band oder Schnur dardurch
ziehen kan«.66
Im nächstfrüheren Inventar fällt uns die Auswahl aber nicht mehr leicht, finden wir
doch:
»Von Bein, Horn, und dergleichen gedreht und geschnitzte Sachen.
[•••]
Ein von bein Zierlich geschnitztes Horn. [...]
Ein Jägerhorn.« (WLM Schmidlin 1670-92: 369)
»Ein Jägerhorn von bein.« (ibid.: 370)
Da sich an solchen Hörnern in den drei nächstfrüheren Inventaren nur noch unser
»gedrehtes« Elfenbein-Horn des Linden-Museums (18.359) aus Loango findet, das
1669 auch nur einmal als »Ein Jägerhorn.« bezeichnet wird (s. u. 3.4.), verbirgt sich
das doch mit beträchtlichem figürlichen Aufwand geschnitzte Horn des Württem-
bergischen Landesmuseums vermutlich hinter dem »von bein Zierlich geschnitztes
Hom.« Es wäre somit frühestens 1670 und spätestens 1692 in die Kunstkammer
gelangt.
In Sammlungen Europas, der USA und Australiens lassen sich heute insgesamt 30
Sapi-portugiesische Elfenbein-Hörner nachweisen (Bassani/Fagg 1988: 234ff.), die
Bassani und Fagg (1988; 101) auf Grund fehlender Feuerwaffen für die Jagd alle vor
1530 und auf Grund der europäischen Motive nach ca. 1490 (ibid.: 147) datieren wol-
len. Es fällt jedoch auf, daß es für keines dieser Stücke eine frühere sichere schriftli-
che Erwähnung gibt als die von 1643 aus der Sammlung der toskanischen Herzoge
in Florenz (ibid.: 54, 235). So sollten wir uns bis auf weiteres die Option für auch
noch wesentlich spätere Herstellungszeiten Vorbehalten, zumal in Sierra Leone die
Mende des 19./20. Jahrhunderts für ihren eigenen Bedarf immer noch Elfenbein-
Hörner schnitzten, die noch Stilelemente unserer frühen Stücke erkennen lassen (vgl.
ibid.; 208 Abb., 210, 211 Abb.). Somit muß vom 15./16. bis zum 19./20. Jahrhundert
eine gewisse Kontinuität vorhanden gewesen sein, während der über längere Zeit
Archaismen bei der Auswahl der Motive eine Rolle gespielt haben dürften. Man ver-
gleiche diese Situation nur mit ähnlich lange laufenden Stilelementen in anderen
Bereichen afrikanischer Kunst, wie z. B. der Darstellung von Personen in europäi-
scher Kleidung des 16. Jahrhunderts bis zu unserer Zeit in der höfischen Kunst des
nigerianischen Reiches Benin (Blackmun 1988: 129-30, 132, 134-35). Somit ließen
sich die genannten feineren Stilunterschiede der Sapi-portugiesischen Hörner eher
diachron als synchron verstehen, der vereinfachte Stil von KK 124 u. U. dann als ein
relativchronologisch gesehen später entstandenes Stück.
176
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Abb. 14 Blashorn, Länge 69 cm, Elfenbein, Vili (Königreich Loango), spätestens seit 1642
in Stuttgart. Linden-Museum, Inv.-Nr. 18.359. Photo; Ursula Didoni
3.4. Ein Horn aus Elfenbein der Vili (Königreich Loango)
Das zweite hier zu erörternde elfenbeinerne Horn befindet sich seit 1985 in der Dau-
erausstellung des Linden-Museums und ist im Inventarbuch mit dem folgenden Ein-
trag vermerkt:
»18.359 Signalhorn aus Elfenbein, geschnitzt, aus Loango, West Afrika«.
Die Erwerbungsliste ergänzt noch »aus dem alten Königreich Loango-Kakongo«,
was natürlich ein Widerspruch in sich ist, da Loango (Vili) und Kakongo (Woyo)
zwei verschiedene Reiche waren.
Es besteht aus einem im Kerbschnitt beschnitzten Elefanten-Stoßzahn (Abb. 14), der
zu zwei Dritteln (bis zum seitlichen Blasloch) hohl ist. Die Spitze ist von einem
stumpfen Konus mit längs verlaufenden Rinnen gekrönt. Darunter befindet sich auf
der konkaven Seite des Hornes eine an fünf Seiten freistehende Öse. Eine weitere
freistehende Öse finden wir am Ende nach etwa drei Vierteln der Länge des Hornes.
Unterhalb der Spitze beginnend laufen um das Stück jeweils die folgenden Zierbän-
der herum; zwei Rillen - Mäanderband - zwei Rillen; dieser Gruppe folgt ein mehr-
facher geschlossener Umlauf, der auf den ersten Blick wie aneinandergesetzte Mäan-
der wirkt, unterbrochen von der außen mit einem Rautenmuster verzierten oberen
Öse; zwei Rillen - Mäanderband - zwei Rillen.
Weiter findet sich auf insgesamt etwa einem Drittel der Länge des Hornes ein um den
Schaft spiralig herumlaufendes Flechtband in rechteckiger Struktur, die auf den
ersten Blick ebenfalls wie aneinandergesetzte Mäander wirkt. Es verläuft parallel zu
einem glatten Band. Dieser Dekor ist auf der konkaven Seite einmal durch das spitz-
ovale Blasloch und weiter unten durch die zweite, ebenfalls mit einem Rautenmuster
verzierte, Öse unterbrochen. Das obere und untere Ende jener spiraligen Struktur
wird jeweils durch ein glattes, nur einmal umlaufendes, Band begrenzt.
Es folgen nacheinander ein von je einer Rille beidseitig begrenztes Mäanderband; ein
Band im mehrfachen geschlossenen Umlauf, der auf den ersten Blick wieder wie
aneinandergesetzte Mäander wirkt; von je einer Rille beidseitig begrenztes Mäan-
derband.
Darunter sehen wir ein breites Band zusammengesetzter, in beide Richtungen diago-
nal verlaufender Mäander, die immer nur nach links geöffnet sind und auf den ersten
Blick wie ein Flechtband wirken. Diese Mäander wiederum sind mit kleinen doppel-
ten Mäanderbändern gefüllt. Die von den großen Mäandern ausgesparten Flächen
sind gefüllt mit vielen kleinen büschelartigen Figürchen, die an die Struktur mous-
sierter plüschierter Raffiastickereien erinnern. Den Abschluß bildet wieder die
177
TRIBUS 44, 1995
beschriebene Trilogie aus rillenbegrenzten Mäanderbändern und mehrfachem
geschlossenen Umlauf.
Die Stuttgarter Kunstkammer-Inventare geben über dieses Elfenbein-Horn ähnlich
wie über das aus Sierra Leone getreulich Auskunft:
»Ein großes gedrehtes Horn aus Helfendem, lang dritthalb Schue, unten drey Zoll
weith über die Helfte ausgehöhlt, oben aber ganz zu, ringsherum mit Zierath von lau-
ter durcheinandergezogenen Quadrantulis gewunden hat zwey Öhrlein, ein Band
dardurch zu ziehen, und anzuhängen.«66
Von den drei zur Disposition stehenden elfenbeinernen Hörnern im nächstfrüheren
Inventar schon des 17. Jahrhunderts (s. o. 3.3.) dürfte mit unserem Instrument 18.359
»Ein Jägerhorn.« (WLM Schmidlin 1670-92: 369) gemeint sein, findet sich doch
dann für 1669 kein weiteres elfenbeinernes Horn mehr als nur noch wieder »Ein
Jägerhorn.« (HStAS A 20a Bü 7 Übergabe 1669-71, 1684: fol. 7r), noch früher aber
präziser:
»Ein Rundt Krumb weiß horn, mit gewundener und geschnittener Arbeit.« (HStAS
A 20a Bü 6 Betz 1654: 3)
Der früheste Eintrag jedoch stammt vom 28. XII. 1642 (HStAS A 20a Bü 5 Protocoll
1642-65; 5) und lautet:
»Ein rund krumb weiß horn, mit gewunden geschnittener arbeit.« (ibid.: 6)
Vermutlich hat unser Blasinstrument aus Afrika in Südwest-Deutschland die Plün-
derungen des 30jährigen Krieges überlebt und müßte dann schon vor 1634 (vgl. o. 3.)
in Stuttgart angelangt sein. Doch für die Zeit vorher verliert sich jede Spur.
Dafür verfügen wir bei drei mit unserem Stuttgarter nahezu identischen Stücken über
sehr frühe Zeitansätze. Eines mit der Inventarnummer 1.003 im Museo de Infanteria
von Toledo wird dem Besitz des Lyrikers Garcilaso de la Vega (1503-36) zuge-
schrieben67, und die zwei anderen mit den Inventarnummern 2-3 des Florentiner
Museo degli Argenti tauchen schon 1553 in der dortigen herzoglichen Waffenkam-
mer auf68. Weitere Ersterwähnungen finden sich erst wieder im 19./20. Jahrhundert.69
Daß unser »Jägerhorn« für den Verkauf an Europäer hergestellt wurde, legen nicht
nur die beiden Ösen nahe (Bassani 1975b: 8; Koloß 1982: 88), sondern nach Koloß
auch die für das Kongobecken überreiche Verzierung und das Fehlen jeglicher
Gebrauchsspuren. Dagegen ist das seitlich angebrachte Blasloch als afrikanisches
Element aufzufassen (Söderberg 1956: 205; Hegemann 1969: 42; Forkl 1989: 106).
Aus dem alten Kongo-Reich sind schon für 1488 nicht näher spezifizierte bearbeitete
Gegenstände aus Elfenbein als Staatsgeschenke an den portugiesischen König
belegt, für die Zeit zwischen 1580 und 1700 dann elfenbeinerne Blashörner, oft mit
eigens erwähntem seitlichen Blasloch, die immer nur bei politisch bedeutsamen
Anlässen gespielt wurden, wie im Krieg, zur Ankündigung wichtiger Persönlichkei-
ten oder bei den Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen König.70 Besonders prä-
zise äußert sich Dapper (1967: 526) über Loango;
»Bey dieser Stahtspracht wird sehr ahrtig auf unterschiedlichen Spielzeugen gespie-
let: [...] als erstlich Hörner/von Elefantenzähnen gemacht /und so tief aus-
gehöhlet/als es möglich ist/mit einem Loche am eusersten ende des Hohlen/das
ohngefehr anderthalben oder zwee Daumen breit ist. Solcher Hörner findet man
große und kleine/ein iedes nach dem maße/den Klang wohl zu bilden: und sie
geben/wan ihrer achte oder zehen zugleich geblasen werden/keinen unangenehmen
Klang.«
Bassani (1975a: 78) weist zu Recht auf die Ähnlichkeit des Mäandermusters auf die-
sem Typ elfenbeinerner Hörner mit dem Dekor von Skarifikationen auf dem mensch-
lichen Körper71 bzw. auf einer hölzernen Figur72 und dem auf einer Matte72 jeweils
der Yombe, östlichen Nachbarn der Vili, hin; ferner mit dem Dekor der schon
erwähnten plüschierten Stickereien in Rom und Mailand, die u.E. ja von Vili-Her-
kunft sind. In die gleiche Richtung weist auch die Imitation moussierter Plüsch-
stickerei, wie wir sie z. B. auch von den entsprechenden Textilien aus Ulm und Stutt-
gart kennen. Das Woyo-Reich Ngoyo mit seinen ungemusterten Plüschen (s. o. 3.1.),
und damit vermutlich auch das von Kakongo, dürfte als Herkunftsgebiet für unser
Stuttgarter Blashom ausfallen. Auf seine Vili-Herkunft wird in Publikationen des
178
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Abb. 15 Beschnitzter Elefanten-Stoßzahn, Länge: 85 cm, Vili, 19. Jahrhundert, (erworben
1899). Linden-Museum, Inv.-Nr. 3.872. Photo: Ursula Didoni
179
Abb. 16 Die Stadt Loango im 17. Jahrhundert (heute Rep. Kongo). Kupferstich aus Dapper
1967(1670): S. 508/509
TRIBUS 44, 1995
Linden-Museums übrigens schon seit längerem verwiesen (Koloß 1982: 88; Forkl
1989: 16).
Für seine Datierung werden nicht ohne Grund immer wieder längere Zeiträume ver-
anschlagt, nämlich das 16. bis zum frühen 17. Jahrhundert (Hegemann 1969: 42), das
17./18. Jahrhundert (Koloß 1982: 88) und vom 16. bis in das 19. Jahrhundert hinein
(Forkl 1989: 106). Ohne einzelne Objekte zu nennen, setzt Soret (1959: 107) die
Elfenbein-Skulptur der Vili im 17. /18. Jahrhundert an.
Wird doch zum einen für die Zeit von ca. 1580 bis in das 18. Jahrhundert hinein
gerade immer wieder Loango als der bedeutende Exporteur von Elfenbein hervorge-
hoben (Pigafetta/Lopez 1963: 65; Alpers 1992: 354). Dapper (1967: 506) betont im
17. Jahrhundert die Rolle der Landschaft Chilongo nördlich der Hauptstadt Loango
in der heutigen Republik Kongo bei der Ausfuhr von Elfenbein, im Unterschied zur
Stadt Majumba, wo jene damals schon stark im Rückgang begriffen war (ibid.: 509).
Alpers (1992: 357) legt einen Zusammenhang zwischen dieser regen Elfenbein-Aus-
fuhr und dem Beschnitzen einer späteren Art von Elefanten-Stoßzähnen für Europäer
durch die Vili nahe: im Hochrelief festgehaltene figürliche Darstellungen, die sich in
einer einzigen Bahn wie eine Spirale um den nicht mehr als Blashorn zu verwenden-
den Stoßzahn auf seiner gesamten Länge herumwinden (Abb. 15). Strenggenommen
unterscheidet sich dieser Dekor von dem unseres Stuttgarter Blashornes nur in der
Ablösung der abstrakten durch die figürliche Darstellung.
Soweit bei Stücken mit diesen figürlichen Darstellungen in Sammlungen die Her-
kunftsregion eingegrenzt ist, wird dafür »Loango« angegeben (Mount 1980; 41;
Alpers 1992: 357). Die zeitgenössischen Quellen nennen als Orte, in denen diese spä-
teren Stoßzähne beschnitzt wurden, nur die jeweils im Vili-Gebiet liegende Siedlung
Chissambo im Chiloango-Gebiet (Güssfeldt 1879: 67) des heutigen Angola (Prov.
180
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Cabinda) und vor allem das viel weiter nördlich in der heutigen Republik Kongo
gelegene, nicht mit Chiloango zu verwechselnde, Chilungo (Bastian 1874: 156). Ein
Blick auf die jeweiligen Karten belegt, daß es sich bei Dappers reichem Elfenbein-
Exportgebiet Chilongo und bei Bastians Chilungo um die gleiche Region handelt.
Es liegt also nahe, in den spiraligen Darstellungen beider Typen beschnitzter
Stoßzähne eine nur den Vili eigene Kontinuität der Darstellung zu sehen. Ross (1992:
36) datiert die späteren, figürlich verzierten Zähne in den Zeitraum zwischen ca.
1830 und 1900. Somit neigen wir zu dem Schluß, daß unsere »gewundenen« elfen-
beinernen Blashörner eine »Laufzeit« von ca. 1530 bis 1830 hatten. War die Zäsur,
nach der die figürlich verzierten Zähne ihre große Zeit hatten, die von Alpers (1992:
357) vermerkte Abschaffung des offiziellen portugiesischen Handelsmonopols für
den Export aus dem westlichen Zentralafrika im Jahr 1836, die den Vili-Schnitzern
von nun an neue europäische Märkte erschloß?
Jedenfalls muß unser Elfenbein-Horn 18.359 nicht unbedingt schon ein Jahrhundert
vor seiner Ersterwähnung 1642 hergestellt worden sein - ebensowenig wie KK 124
aus Sierra Leone dann angeblich schon zwei Jahrhunderte vor seiner Ersterwähnung
zwischen 1670 und 1692. Im Unterschied zu unserer plüschierten Stickerei und dem
Deckelkörbchen, die beide einen langen Weg zusammen mit dem Afrikaner Chri-
stian Real zurückgelegt haben könnten, ist über die Herkunft des Horns 18.359 nichts
weiter bekannt, als daß es ebenfalls von den Vili des Königreichs Loango stammt.
Auch darüber, wie das Sapi-portugiesische Horn KK 124 noch später in die Kunst-
kammer gelangte, können wir nur mutmaßen. Direkte oder indirekte Verbindungen
des Stuttgarter Hofs zur westafrikanischen Küste und speziell zu Loango (Abb. 16)
müssen jedoch schon ab spätestens 1624 (s. o. 3.1.) bestanden haben.
4. Schluß
Wir haben gesehen, daß die beiden Afrikaner Eberhard Christoph und Christian Real
im Stuttgart Eberhards III. nach kurzer Zeit nicht nur als freie Menschen lebten, son-
dern ihre soziale Stellung darüber hinaus, soweit irgend feststellbar, der ihrer in Süd-
west-Deutschland geborenen Standesgenossen entsprach. Auch wenn sie nicht
zuletzt aus exotistischen Motiven an den Hof geholt wurden, so war man doch gleich
zu Anfang um ihre religiöse Integration und damit Gleichstellung bemüht, was weder
für afrikanische Sklaven in Amerika noch für Afrikaner in den späteren europäischen
Kolonien überall eine Selbstverständlichkeit war. Sie übten einen qualifizierten
Beruf aus, waren rechtlich gleichgestellt, einer von beiden heiratete eine Einheimi-
sche, und im übrigen waren sie bei ihren Stuttgarter Mitmenschen so beliebt oder
unbeliebt wie diese untereinander auch.
Es besteht somit kein Grund zu der Annahme Martins (1993: 68-69, 73), auch nicht
auf Grund der Gerichtsakten anläßlich des Überfalls auf Real, rassistische Vorurteile
gegen Afrikaner seien in Europa aus einer Abneigung der »Kleinen Leute« gegen
höfische Verschwendungssucht entstanden. Solche Vorurteile gehören vielmehr
gerade in den Umkreis von Vertretern der sog. Aufklärung des 18. Jahrhunderts
(Sadji 1979; Firla 1995 b) und in das Kolonialzeitalter des 19. Jahrhunderts und schie-
nen durch weltwirtschaftliche »Sachzwänge« geboten. Symptomatisch dafür ist, daß
zu Beginn unseres Jahrhunderts die Berliner »Deutsche Tageszeitung« die Tatsache,
daß ein Afrikaner als Pauker in einem Grenadierregiment Kaiser Wilhelms II. diente,
empört kritisierte (Martin 1993; 126).
Den ästhetischen wie finanziellen Wert in die Kunstkammer aufgenommener Realien
aus Übersee, einerlei, ob man sich ihrer afrikanischen, indischen usf. Herkunft
bewußt war, setzte man im Stuttgart des 17./18. Jahrhunderts recht hoch an, wenn wil-
den von Eberhard III. für die plüschierte Stickerei und das Deckelkörbchen aus
Loango veranschlagten Preis von 22 Reichstalem, aber auch die spätere liebevolle
Beschreibung des Körbchens und der beiden Elfenbein-Hörner aus Loango bzw.
Sierra Leone in den Inventaren bedenken. Daß unserem Plüsch später nicht die glei-
che Gunst widerfahren ist, dürfte auf seinen »Schwartzer Mackel« zurückzuführen
sein. Der aber deutet wiederum daraufhin, daß die Plüschdecke - wie auch das eben-
181
TRIBUS 44, 1995
Abb. 17 Örtlichkeiten in Afrika. Zeichnung Hermann Forkl
falls Gebrauchsspuren aufweisende Körbchen - schon längere Zeit in einem (Lin-
dauer?) Haushalt benützt worden sind, bevor sie in die herzogliche Kunstkammer
gelangten.
Jones (1994: 43) bemerkt zu Recht angesichts der Ulmer Sammlung Weickmann, daß
es neben der Neugier auf das Wunderbare noch eine weitere Motivation für das Anle-
gen von Kunstkammern gab:
»Had Weickmann been insensitive to the merits of African artistry, it is doubtful that
he would have bothered to make such a collection at all.«
Diese jedenfalls vorhandene Wertschätzung afrikanischer Kunst zu Beginn der Neu-
zeit dokumentiert auch ein Ölportrait von 1562 (Hess 1983: 106 Anm. 3), auf dem der
englische Kapitän Thomas Wyndham mit einer Glocke aus Benin um den Hals, so
wie sie dort damals als Würdezeichen getragen wurde, abgebildet ist (ibid.: 105).
Befinden wir uns doch noch in einem Stadium gleichberechtigter afrikanisch-
europäischer (vor allem Sklaven-) Handelspartnerschaft (Davidson 1966: 25 ff.,
183 ff.), die erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinanderbrechen sollte (ibid.:
216 ff.).
Wir sind der Meinung, daß die damals im Vergleich zu heute offenbar viel selbstver-
ständlichere Integration von Afrikanern in eine europäische Gesellschaft und ebenso
eine gewisse Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen auf die gleichen vorherr-
schenden politisch-kosmologischen Wertvorstellungen zurückzuführen sind, die
auch für den württembergischen Hof gelten müssen. Das im Zeitalter der Ent-
deckungen immens zunehmende Wissen über außereuropäische Kulturen verband
sich mit älteren neuplatonischen Ideen von der Widerspiegelung des Makrokosmos
im Mikrokosmos zu dem Bestreben der Einrichtung
»einer zentralen Dokumentationsstelle, in welche Reisende oder ortsfeste Korre-
spondenten laufend Informationen und Sammlungen einbringen sollten wie Bienen
Blütenstaub in den Bienenstock« (Stagl 1989: 147).
Als Modell aus dem wirtschaftlichen Bereich schwebte den damaligen Gelehrten die
Republik Venedig als bedeutender Ort des Austausches von Gütern und Informatio-
nen vor (ibid.: 147-48). Gerade in ihrer Rätselhaftigkeit, Komplexität und Vieldeu-
182
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Abb. 18 Örtlichkeiten in Europa. Zeichnung Hermann Forkl
tigkeit zielten die im 16./17. Jahrhundert eingerichteten Kunstkammern so jedoch
nicht nur auf intellektuelle Universalität ab, sondern waren auch »eine Allegorie der
uneingeschränkten Macht des Fürsten« (Kulenkampff/v. Drachenfels 1994: 32).
Doch keineswegs nur rein pragmatisch angesehen, waren solche Kunstkammern
dazu noch Zeugen für seine »weltlichen wie kosmischen Verbindungen« (v. Plessen
1994: 202). Über ihn, den fürstlichen Inhaber mehr oder minder erhaltener Relikte
von Sakralität, war jedoch eine weitere Autorität gesetzt, die ebenfalls das Konzept
seiner Kunst- und Wunderkammer »als Spiegel des Universums« (Holländer 1994:
139) bestimmte. Denn obwohl sich in ihr »unterschiedliche und konkurrierende Ord-
nungssysteme« fanden.
»stand alles mit allem in Zusammenhang. Naturalia konnten zugleich Artificialia
sein, denn sie waren als Werk des größten Künstlers [...] zugleich Kunstwerke [...]«
(ibid.).
Über die Kunstkammer hinaus förderte der Fürst die Anstellung von Menschen aus
anderen Ländern und Kontinenten an seinem Hof, um damit seine weitreichenden
politisch-wirtschaftlichen Verbindungen und sich selbst gewissermaßen als irdischen
Mittelpunkt des Kosmos diesmal für jedermann sichtbar darzustellen. Doch noch
mehr umfaßte die eigentliche judäo-christliche Kosmologie mit Gott als Mittelpunkt
den Menschen und damit, jedenfalls soweit sie ihre Autorität durchsetzen konnte,
auch immer den afrikanischen, was nicht nur die Bibel (4. Mose 12; Apg. 8: 26ff.),
sondern auch Fusseneggers Predigt zur Taufe Christian Reals in Lindau belegt. Wie
durchlässig bei diesem vermeintlichen Idyll freilich die Grenze zum Sklavenhandel
sich als christlich bezeichnender Seemächte war, zeigen die Aktivitäten Haintzels
und Kramers im Dienste der Schwedischen Afrikanischen Kompanie.
183
TRIBUS 44, 1995
Anmerkungen
1 Die Hoffnung bestätigte sich nicht, da Erbprinz Friedrich Ludwig schon 1731 starb.
2 Zu Korallen s. Scheicher (1976: 112-13); Fleischhauer (1976: 16, 65 u.a.). Zu reichblühen-
den Pflanzen s. Würtemberg (1980: neue Zählung 8); zur Ananas s. ibid.; 71.
3 HStAS A 210 111 Bü 43, Qu. 1. Hier erklärt Real, er sei nun (1669) über 12 Jahre in Stuttgart.
4 Ibid.: 138; ausführlich 86-137. Altenburg spricht gemäß seinem Thema vor allem von Trom-
petern, doch gilt das Gesagte ebenso für die Pauker.
5 Altenburg, D. 1976; 61. Die Signale waren z. B. »Zu Pferd«, »Marche«, »Angriff«, »Rück-
zug«, »Alarm«, »Sourdine« (heimliche Truppenbewegung) (ibid.: 69). Als Herold, Bot-
schafter oder Kundschafter mußten sich die Trompeter oder Pauker in die Nähe bzw. in das
feindliche Lager begeben und u.a. Verhandlungen führen. S. hierzu auch sehr plastisch
Altenburg, J.E. (1966: 42-43).
6 S. hierzu die Abb. bei Weiditz (1927: Taf. X). Zu weiteren schwarzen Paukern s. Baader
(1943: 85); Hulsen/Merian (1979: Taf. 23). Die bei Tobischek (1977: 30) erwähnten
schwarzen Pauker des Kurfürsten von Brandenburg 1685 sind somit nicht die ersten nach-
weisbaren.
7 Die Abb. einer entsprechenden Trompete befindet sich auf dem Umschlag von Tarr (1977).
8 Weitere schwarze Pauker am württembergischen Hof im 18. Jahrhundert waren die bisher
belegbaren Ludwig Wilhelm Weiß (Pfeilsticker I/1957: § 290), ein Anonymus (ibid.: § 881
Eintr. »Louis«; letzterer dürfte mit Weiß identisch sein) und Eberhard Wilhelm (ibid.: § 881,
879, 889). Weitere belegbare schwarze Trompeter waren Dominicus Joseph Deacosta
(LkAS KB 106b Stiftskirche Stuttgart/Taufbuch Eintr. v. 20. V. 1727), der zweifellos mit
Pfeilstickers (I/1957: § 866) »Dominique« identisch ist, und Leopold Agage (LkAS KB 650
Gemeinde Ludwigsburg/Trauungsbuch Eintr. v. 4. II. 1767).
9 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist Ludwig Wilhelm Weiß, getauft am 30. VII. 1713
in der Stiftskirche Stuttgart (LkAS KB 106 b Taufbuch Eintr. wie angegeben). Seine beiden
Hauptpaten - er hatte insgesamt 32 - waren Herzog Eberhard Ludwig und dessen Mätresse,
die berüchtigte Wilhelmine von Würben, geb. von Grävenitz.
10 Zur Ausdifferenzierung in einzelne Hofstaaten der verschiedenen Mitglieder des Herzogs-
hauses (Herzog, Herzogin, verwitwete Herzogin, Prinzen und Prinzessinnen) s. Würtemberg
(1980: 12, 34, 36, 38,40).
11 Es war von großer Bedeutung, daß der zukünftige Täufling die christliche Lehre wirklich
erfaßte (LkAS A 26 Nr. 403).
12 S. hierzu den oben in Anm. 9 erwähnten Ludwig Wilhelm Weiß mit seinen 32 Taufpaten.
13 Die einzige bisher nachweisbare gedruckte Taufpredigt eines in Stuttgart getauften Afrika-
ners stammt von Urisperger (1716). Ein Taufeintrag für Eberhard Christoph im Taufbuch der
bis 1805 einzigen Stuttgarter Pfarrkirche, der Stiftskirche, war bisher nicht zu finden. Mög-
licherweise empfing der Täufling das Sakrament in der Schloßkapelle. Die entsprechende
Aktenüberprüfung steht noch aus.
14 Zu diesen Funktionen s. Debrunner (1979: 22, 33, 57ff., 89, 91 u.a.); Martin (1993: 42-43
u. a.).
15 Zum Lakaienstatus s. auch Pfeilsticker (1/1957: § 873), wo Real als »gewesener Lakai«
bezeichnet wird, und Moser (11/1755: 216). Zum Lakaienstatus kleiner Afrikaner im 18.
Jahrhundert s. Würtemberg (1980: 37).
16 Pfeilsticker 1/1957: § 881 Eintr. »Mohr Eberhard«. Es kann sich hier nur um Eberhard
Christoph handeln. Auch Real wurde einmal in den Gerichtsakten mit diesem Nachnamen
versehen (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 1 »Protocollum des Christian Mohren Trompeters
Aussag« v. 14. XI. 1669).
17 Aus dem in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vorhandenen Exemplar von
Albrecht (1660), Sign. Theol.qt. 156, ist Fusseneggers Predigt herausgetrennt worden. Sie
ist als eigener Buchbinderband (Fussenegger 1660b), Sign. Theol. qt. 2536, verzeichnet.
Offenkundig war das Interesse an der Predigt seinerzeit so groß, daß man sie herauslöste und
separat aufstellte. Im folgenden wird, wenn möglich, aus Fussenegger 1660a (entspricht
Fussenegger 1660b) zitiert, da die Ausgabe leichter zugänglich ist. Nur die Zitate der Glück-
wunsch-Carmina entstammen Fussenegger 1658.
18 Den Überfall und die entsprechenden Akten erwähnt zum ersten Mal kurz Sauer (II/1993:
280). Für den Hinweis auf diese Stelle sei Herrn Martin Armbruster, Stuttgart, ganz herzlich
gedankt.
19 Fussenegger 1660a/b: 3. Zu den beiden Adjektiven s. Verwijs/Verdam (1907: 1072, 1188).
20 Zur Familie Gramer s. leider nur fragmentarisch Reinwald/Rieber (1909: 109); StAL Lit
79/1: 72 (= Bensberg, Genealogia Lindaviensis); Stolze (1956: 228). Joß Kramers Vater hieß
Andreas (StAL RA Ratsprotokolle v. 1657: 109). Möglicherweise war Joß der Bruder eines
Andreas Kramer (jun.) (vgl. Bittelmair 1709; 26-27), dessen Vater ebenfalls Andreas (sen.)
184
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am Württemberg!sehen Herzogshof
hieß. Zu einem zu seinen Ehren veranstalteten Festmahl erschien Joß mit einem Andreas
Kramer (StAL RA Akten der Sünfzen 115, I; Eintr. v. 12. IV. 1657). Da Andreas Kramer sen.
bereits 1650 verstorben war (Bittelmair 1709: 27), dürfte es sich bei dem Begleiter von Joß
um seinen mutmaßlichen Bruder handeln.
21 Ibid.; 260. Weitere Detailangaben zu K/Cramers Tätigkeit s. ibid.: 261 ff.
22 Fussenegger 1660a/b: fol.Sv. Ein »Hebopfer« bedeutet hier die für Gott als Opferanteil
bestimmte Abgabe, die von etwas »abgehoben« und für gottesdienstliche Zwecke abgeson-
dert wird.
23 Für die Identifizierung des bei Fussenegger so genannten »Evangelischen Collegi[i] und
Predigt=Hof[s]« mit dem St. Anna-Colleg sei Herrn Dr. Wolfram Baer, Stadtarchiv Augs-
burg, gedankt.
24 Real legte sein Taufexamen in deutscher Sprache ab (Fussenegger 1660a/b: 52-55). Es
kamen auch Fälle vor, in denen afrikanische Täuflinge mangels ausreichender deutscher
Sprachkenntnisse das Taufexamen per Dolmetscher in einer Fremdsprache, z. B. Italienisch,
ablegen durften (s. hierzu Reinhart 1688: 4, 8-13). Für den Hinweis auf diese Predigt und
die Überlassung einer Kopie sei Herrn Dr. Hartmut Heller, Universität Erlangen-
Nümberg/Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Abt. Fandes- und Volkskunde, herzlich
gedankt.
2:1 1603: 66-79. Die Stelle zum »Teuffel« und »schwartzen Hund« befindet sich in ibid.: 73.
Auf die Mißinterpretationen dessen, was die Europäer als »Fetisch« bezeichneten, kann hier
nicht eingegangen werden; vgl. hierzu Pietz (1985 u. 1987).
26 Fussenegger (1660a/b: 3) gibt an: »Holländische Schiffahrt in Guinea« und lehnt sich damit
an die durchlaufenden Seitenüberschriften im Inneren des Bandes (»Schiffahrt der Hollän-
der ins Goldtgestadt Guinea«) an.
27 Ganz anders deutet Kant, der die christliche Religion primär als Vernunftreligion verstand,
das Phänomen des >Fetischglaubens<. Nach seinem Verständnis ist dieser ein Zeichen für die
gestörte bzw. nicht vorhandene Vernunft der Afrikaner (Firla 1995 b).
28 ibid.: 18. Urlsperger (1716: 9), dessen Predigt die zweite in der Württembergischen Landes-
bibliothek vorhandene aus Anlaß einer >Mohrentaufe< ist, variiert diese These folgender-
maßen: »Ja, wer sind wir selbsten in unsern Vor=Eltern gewesen? Blinde Heyden und grobe
Götzen=Diener?«.
29 S. hierzu die Belege zu Heider weiter unten.
30 Fussenegger 1660a/b: 58. Vermutlich handelt es sich um das Haus »zum Storchen« (heutige
Adresse: In der Grub 36), das die Stadt Lindau Heider 1651 für seine Verdienste um das
Gemeinwesen geschenkt hatte (Dobras 1981: 29).
31 Dobras (1971: 2) sieht Fusseneggers Taufpredigt als Dokument von »Selbstzufriedenheit
und Überheblichkeit«.
32 Dies geht aus Reals Angabe in den Gerichtsakten hervor, er sei im November 1669 nun
schon über 12 Jahre in Stuttgart (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 1).
33 Vergeblich hatte somit der Lindauer Rat versucht, ihn durch eine Nominierung für densel-
ben an seine Vaterstadt zu binden (StAL Ratsprotokolle von 1657 Eintr. v. 13. IV. 1657).
Einige marginale Details zu K/Cramers Aufenthalt in Lindau in der fraglichen Zeit berich-
tet Stolze (1956: 146, 157), dessen Darstellung einen sehr guten Einblick in die >höheren
Kreise< gibt, in denen sich Real damals bewegte.
34 StAL Lit 16: 169 Anm.b (Lindauische Prediger- und Schulhistorie des M. Bonaventura
Riesch). Riesch, der seine Chronik 1739 verfaßte, dürfte seine Information, daß Real »hat
aber nicht bleiben wollen«, durch >orale Traditiom Lindauer Bürger erhalten haben. Ein-
deutig falsch ist jedoch seine Angabe, Real sei Kramer »nach und wieder mit ihm in Guinea
gezogen« (ibid.). Möglicherweise handelte es sich hier um einen der anderen drei von Kra-
mer mit nach Europa gebrachten Afrikaner.
35 S. hierzu das Beispiel des kleinen »Mohren« Karl Baptista im Jahr 1732 (HStAS A 21 Bü 6:
Qu. i).
36 Zur genauen Datierung s. HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 2, 5.
’7 Pfeilsticker 1/1957: § 730; Nägele 1956: 110, hierauch noch einige weitere Daten zu Brands-
hagens Heirat etc.
'8 Pfeilsticker 1/1957: § 880. Zum Betreiben einer Besenwirtschaft durch Angestellte des Hof-
staats auch im 18. Jahrhundert s. HStAS A 210 II Bü 536.
’9 Dies ergibt sich aus der weiteren Aussage (s. u.). Zur Lokalisierung s. auf Abb. 6 das Vier-
tel, in dem sich die Hospitalkirche befindet (Wais 1977: 93).
40 Brandshagen sagte aus, daß auch »der wirth [Lengeler sen.; M. F.] sampt seinen hausleu-
then« damals »bey tisch gesessen« sei (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 2).
41 S. Abb. 7. Die wesentlichen Angaben beziehen sich zunächst äuf die Einteilung der Thur-
nierackervorstadt in »Kreuz-« und »Zwerchgassen«, d. h. in Längs- und Querstraßen
(HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 2; Wais 1977: 84). Zwerch- bzw. Querstraßen waren die heu-
185
TRIBUS 44, 1995
tige Kronprinz- und ihre Parallelstraßen. Dies ergibt sich aus Brandshagens Aussage, er sei
mit Real »gegen die Creitzgassen hinabkomen«, während die Täter auf der »Zwerchgassen«
nahten (HStAS A 210 III Bü 43: Qu. 2). Diese »Zwerchgasse« war jene, in der sich das
»Landschafft haus« befand (ibid.), in dem sich der Landtag (die »Landschaft«; Wais 1977:
204) versammelte. Es lag in der Kronprinzstraße (ibid.: 502), Ecke Kienestraße (früher Lin-
denstraße; ibid.: 504). Der Überfall ereignete sich vor der »Stiftsverwaltung« (HStAS A 210
III Bü 43: Qu. 7) an der Ecke Kronprinzstraße/Büchsenstraße (zur Lokalisierung s. Wais
1977: 104-05). Opfer und Täter gingen somit aufeinander zu.
42 ibid.: Qu. 3, 6. S. auch Anm. 41.
43 Dieser Beruf beschäftigte sich mit dem Färben und Zurichten von Federn und der Aus-
schmückung von Hüten, Möbeln etc. mit denselben (Zedier IX/1734: Sp. 409).
44 Gaßner machte ihnen den Vorwurf, aus Angst zu lange gezögert zu haben (ibid.: Qu. 6). Er
scheint überhaupt ein >kritischer Geist< gewesen zu sein, denn er wurde am 15.11.1675
»wegen seiner Unbußfertigkeit« nachts begraben (LKAS KB 127 Stiftskirche
Stuttgart/Totenbuch Eintr. v. 15.11.1675).
45 Rehm war der Sohn von Heiders Schwester Susanna. S. hierzu ausführlich 3.1.
46 Für diesen Hinweis sei Herrn Stefan Sonntag, Münzen- und Medaillenhandlung Stuttgart,
gedankt.
47 ibid.: Qu. 16. Sauer (II/1993: 280), der die Strafen als »sehr hart« bezeichnet, stellt vermut-
lich nicht den Verlust des Auges in Rechnung.
48 Er stammte aus einem Dorf bei Axim im heutigen Ghana (Brentjes 1976: 28).
49 Dies zeigt sich auch für die »Mohren« im Herzogtum Württemberg des 18. Jahrhunderts
ganz klar (Firla 1994).
50 HStAS G 87 Bü 26. Für die Erlaubnis zur Akteneinsicht sei S. K. H. Carl Herzog von Würt-
temberg gedankt.
51 Zur Gewinnung und Vorbereitung der Fasern Loir (1935: 20ff.), Picton/Mack (1979:
32-33, 37), Cornet (1982: 184), Meurant (1988: 136).
52 HStAS A 20a Bü 7 Übergabe 1659-71, 1684: fol. 22v, vgl. wegen Wasserschäden im Origi-
nal die rezente Transkription fol. 58r.
53 HStAS A 20a Bü 7 Übergabe 1669-71, 1684: fol. 31 r, 32r. Zu einem anderen exotischen
Stück aus Pflanzenfasern geben die Kunstkammer-Inventare Vermerke an, die man für die
Zeit nach 1669 zunächst fälschlich für auf unsere plüschierte Stickerei bezogen halten
könnte. Sie seien hier zur Kontrolle zitiert, um ein derartiges Mißverständnis ein für allemal
auszuschließen. Beginnen sie doch schon 1624 mit »Ein selzam Indianische weiber Zier,
oder Niderklaidt von graß gemacht, mit vielen quasten, welche die Indianische weiber zur
Zier für Ihre schäm sollen henkhen[...]« (HStAS A 20a Bü 4 Inventar 1624: 249). Sie set-
zen sich immer wieder in ähnlicher Diktion fort (HStAS A 20a Bü 6 Betz 1654: 45) bis zu
Schmidlin, also parallel zu unserem Stück: »Ein Indianische weiber Zierat oder underkleidt
von graß gemacht.« (WLM Schmidlin 1670-92: 395) Und weiter (HStAS A 20a Bü 12
Moser 1680-90; 59; HStAS A 20a Bü 22 Schuckard 1708: 17; HStAS A 20a Bü 35 Ver-
zeichnisse 1750: 96) bis zu: »Ein von indianischem Strohe kunstreich gewirktes Unterdeck,
welches die Weibspersohnen an etlichen Orten gebrauchen, den Unterleib damit zu
bedecken.« (HStAS A 20a Bü 46 Schönhaar 1754: 37).
54 Diesen Hinweis verdanken wir Herrn Stefan Sonntag, Münzen- und Medaillenhandlung
Stuttgart.
55 Zusammenstellung und Kommentierung der Quellen bei Stritzl (1971; 41, 39. 45-46); vgl.
zu regionalen und technischen Details noch eigens Dapper (1967: 560), Cavazzi (1694: 207)
und Zucchelli (1715: 210-11).
56 EDc 117 (1666) (Lundbaek 1980: 53, 54 Abb.), EDc 109 (1737) (ibid.: 52, 53 Abb.).
57 EDc 105 (1674) (Lundbaek 1980; 52, 51 Abb.).
58 5468 (Bassani 1975b: 9 Abb. 13; Bassani/Fagg 1988: 203 Abb. 274).
59 heute nur noch zu sehen auf einem Aquarell von Cesare Fiore in der Biblioteca Estense,
Modena, ms. 338 Campori, Y. H. I. 21 (Bassani 1975 a: 78, 80 Anm. 31; 1975 b; 11 Abb. 16).
60 EDc 105 (Lundbaek 1980: 52, 51 Abb.), EDc 108 (ibid.; 52 Abb.; Bassani/Fagg 1988: 47,
45 Abb. 14; Meurant 1988: 145, 144 Abb., 169, 168 Abb., 183, 182 Abb.), EDc 109 (Lund-
baek 1980: 52, 53 Abb.; Meurant 1988: 113, 112 Abb., 175, 174 Abb.), EDc 117 (Lundbaek
1980: 53, 54 Abb.; Meurant 1988: 145, 144 Abb., 183, 182 Abb.), EDc 120-21 (Lundbaek
1980: 54, 55 Abb.).
61 EDc 106 (Lundbaek 1980: 52 Abb.), EDc 107 (ibid.; Meurant 1988: 113,112 Abb.), EDc 110
(Lundbaek 1980: 52, 53 Abb.; Meurant 1988: 161, 160 Abb., 177, 176 Abb.), EDc 111 (Lund-
baek 1980; 52 Abb.; Meurant 1988: 185, 184 Abb.).
62 Die Terminologie der Flechttechnik richtet sich nach Hirschberg/Janata (1980: 135 ff.).
63 HStAS A 20a Bü 35 Inventar 1750: 36; HStAS A 20a Bü 20 Schuckard 1708: 22.
64 Wieder läßt sich hier anhand der Inventare eine Gegenprobe anstellen. Ebenfalls im Schmid-
186
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
linschen Inventar heißt es auf der gleichen Seite nämlich über ein anderes Stück: »45. Ein
Indianisches Körblein von graß gemacht.« (WLM Schmidlin 1670-92 : 396, Hervorhe-
bung H.F.) Fast wörtlich so auch 1654 (HStAS A 20a Bü 6 Betz 1654: 45). N.B.: Unser
Körbchen 19.446 wurde durchweg geflochten, nicht gemacht.
65 Diesen Hinweis verdanken wir Frau Dr. Sabine Hesse, Württembergisches Landesmuseum.
66 HStAS A 20a Bü 44 Schönhaar 1754: 31; ähnlich HStAS A 20a Bü 35 Verzeichnisse 1750:
31; HStAS A 20a Bü 20 Schuckard 1708: 19.
67 Diesen in Toledo geborenen Lyriker verwechseln Bassani und Fagg (1988; 198, 199
Abb. 267) mit dem peruanischen Geschichtsschreiber gleichen Namens (1539-1616).
68 Bassani 1975a: 73ff., 74 Abb. 7-8; Bassani/Fagg 1988; 199 Abb. 268, 248.
69 Bassani 1975a; 76-77, 75 Abb. 9 u. 11 ; Bassani/Fagg 1988; 199 Abb. 268, 248.
70 Bassani 1975b: 8; 1978: 31-32, 34, 40, 20ff.; Zucchelli 1715: 195-95.
71 Musée Royal de l’Afrique Centrale, Tervuren, Negativ 107 645 A; Bassani 1975 b: 12
Abb. 19; Bassani/Fagg 1988; 202 Abb. 273.
72 Musée Royal de l’Afrique Centrale, Tervuren, 24 662; Bassani 1975b: 12 Abb. 18.
73 Musée Royal de l’Afrique Centrale, Tervuren 73.36.33; Bassani 1975b: 11 Abb. 17; Bas-
sani/Fagg 1988; 206 Abb. 279.
Literaturverzeichnis
1. Unveröffentlichtes Archivmaterial
a) Hauptstaatsarchiv Stuttgart
HStAS A 20a Bü 4
HStAS A 20a Bü 5
HStAS A 20a Bü 6
HStAS A 20a Bü 7
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»Protocoll-, Inventur-, Decret-, Quittir-, Lifferungs-Sachen Von Ao
1642 bis 65.«
[Betz, Johann]: »Inventarium uber die Fürstliche Kunst Cammer
Allhier Zu Stuttgarden. 1654«.
Ȇbergabe von Pretiosen u. a. aus dem herzogl. Kabinett und
Gewölbe an die neue Kunstkammer. Käufe. Protokolle von Zugän-
gen und Abgaben sowie anderer, vor allem auf die Vermehrung
der Kunstkammerbestände bezüglicher Maßnahmen, 1669-1671.
1684.«
HStAS A 20a Bü 12 [Moser, Daniel]: »Inventarium Uber Die jenige Kunst Kammersa-
chen so in dem Zimmer Über der Fürstin von Mompelgard Gemach
vorfand beschrieben von H. Antiq. Mosern pare Ohne einige Jahr-
zahl. nach 1680. um 1580-1690«.
HStAS A 20a Bü 20, 22 [Schuckard, Johann]: »Inventare des Prof. Schuckard, o D. [1708?,
zw. 1705 und 1723]«.
HStAS A 20a Bü 35 »Undatierte Verzeichnisse [2. Hälfte 18. Jh.]. Inventar der Kästen K,
L und M [um 1750?]«.
HStAS A 20a Bü 44, 46 [Schönhaar, Friedrich]: »Acta. Kunst Cammer Inventaria von a.
1754.«
HStAS A 21 Bü 6, Qu. i) »Oberhofmarschallamt. Hofstaat der regierenden Herzogin Johanne
Elisabeth. Annahme des kleinen Mohren Karl Baptiste 1732.«
HStAS A 210 II Bü 536 Oberrat Stuttgart. Stadt und Amt. »Das Weinschenken der Hof- und
Kanzleibedienten, desgl. die Beschwerden der Schildwirte gegen die
Gassenwirte wegen Speisung und Beherbergung 1741/1750.«
HStAS A 210 III Bü 43 Oberrat Stuttgart. Stadt und Amt. »Die tötliche [d. h. lebensgefährli-
che; M. F] Verwundung des Mohren und Trompeters Christian
Royal durch Joachim Kraft u. a. 1669/70.«
HStAS G 87 Bü 26 Geheimes Hausarchiv. »Beschreibung der Ordnung und Procession,
welche bei weyland deß durchlauchtigsten Fürsten [...] Herrn Eber-
hardten [...] Leuchbegängnuß beobachtet werden solle.«
b) Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (WLM)
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13elx.l967 des zoglich Württemb. Kunstkammer - 1670 bis 1692«.
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Staatlichen Museum
für Naturkunde
Stuttgart
TRIBUS 44, 1995
c) Landeskirchliches Archiv Stuttgart
LkAS KB 106b
LkAS KB 124
LkAS KB 127
LkAS KB 650
LkAS A 26 Nr. 403
Stiftskirche Stuttgart/Taufbuch 1600-1749.
Stiftskirche Stuttgart/Trauungsbuch 1669-98.
Stiftskirche Stuttgart/Totenbuch 1627-99.
Gemeinde Ludwigsburg/Trauungsbuch 1754-1767.
Konvertiten (Exulanten). Proselyten 1622-1780.
d) Stadtarchiv - Stadtbibliothek Lindau im Bodensee
StAL Hie 26 Genealogia Lindaviensis des Jacob Heiden
StAL Lit 16 Lindauische Prediger- und Schulhistorie des Bonaventura Riesch.
StAL Lit 41 Annales Lindavienses Kroelii.
StAL Lit 79 Genealogia Lindaviensis Bensberg.
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ten Mohrens/Welcher vom Herrn Joß Kramer aus dem Königreich Guinea in Africa
gelegen/in des Heiligen Röm. Reichs Stadt Lindau im Bodensee gebracht/und daselbst
in der Pfarrkirchen zu St. Stephan am Abend des Heiligen Pfingstfestes getauffet wor-
den. Mit angehengtem Bericht/wie der Tauffactus verrichtet worden. Gehalten den
17. Mai dieses 1657. Jahres/in sehr Volckreicher Versammlung/und auff Begehren in
Druck gegeben. Nürnberg (vorhanden nur in der WLB).
1660a Mohren Tauf [derselbe Titel, mit orthographischen Varianten], ln: Albrecht, Georg:
Meletemata Festivalia. Oder Schrifftmäßige Außlegung deren auff die vier hohe Fest
als Weyhenacht/ostern AuffartsTag und Pfmgsten/verordneten Evangelien/in hundert
und neun Predigten [...] Sambt angehengten nützlichen Registern/Und vom Verleger
beygefügter Mohren=Tauff Predigt/Herrn M. Jacobi Fusseneggers. Ulm, nach d. Regi-
ster, am Ende des Bandes, mit neuer Zählung.
189
TRIBUS 44, 1995
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Zeller, Christoph
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will ich etliche holen: Bey der Tauff Eines/in deme Groß=Türcken schwebenden Vene-
tianischen Krieg/zu Clissa in Dalmatien gefangenen Türckischen Mägdlins/in [...]
volckreicher Versammlung [...] den 16. Novembris/Anno 1651 in der Stiffts=Kirchen
zu Stuttgarten gehalten. Stuttgart.
Zucchelli, Antonio
1715 Merckwürdige Mißions- und Reise-Beschreibung nach Congo in Ethiopien/worinnen
nicht allein dasjenige, was sich auf dieser Reise aus Steyermarck, durch Italien, Spa-
nien. Portugall und Indien biß nach Ethiopien denckwürdiges zugetragen/sondern auch
die Sitten und Gebräuche der Heydnischen Indianer/ihre Abgötterey und Aberglauben,
ihre Regiments-Verfassung, ihre innerliche und auswärtige Kriege, ihr Handel und
Wandel, ihre Kranckheiten und derselben Curen/ihre Art zu begraben/die
Früchte/Bäume, Thiere, Fische ec. so das Land hervor bringet, desgleichen wie die
Verfassung der Mißion in diesem Land beschaffen, und wie eine grosse Menge Ein-
wohner durch den Autorem von dem Heydnischen Unglauben zur Christlichen Catho-
lischen Religion bekehret und getaufft worden, nebst unzehlich vielen anderen curiö-
sen und lesenswürdigen Sachen beschrieben werden. Aus d. Italien. Frankfurt am
Mayn.
192
Firla/Forkl: Afrikaner und Africana am württembergischen Herzogshof
Für die Beibringung für diese Arbeit wichtiger Informationen und Hinweise etc. danken wir:
Herrn Martin Armbruster, Stuttgart
Herrn Dr. Wolfram Baer, Stadtarchiv, Augsburg
Herrn Dr. Klaus Born, Reiß-Museum, Mannheim
Herrn Werner Dobras, Stadtarchiv-Stadtbibliothek, Lindau
Herrn Dr. Thomas Gelder, Institut für Ethnologie und Afrika-Studien,
Mainz
Herrn Gerd Haferkorn, Schloß Favorite b. Rastatt
Herrn Dr. Hartmut Heller, Institut für Landes- und Volkskunde,
Nürnberg
Frau Dr. Sabine Hesse, Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart
Herrn Dr. Wilhelm Kinkelin, Enzisweiler
Frau Dr. Brigitte Kühn, Ulmer Museum
Frau Hannelore Maier, Stadtarchiv-Stadtbibliothek, Lindau
Frau Susanne Merle, Stadtarchiv-Stadtbibliothek, Lindau
Herrn Stefan Sonntag, Münzen- und Medaillenhandlung Stuttgart
Herrn Dr. Manfred Warth, Staatliches Museum für Naturkunde, Stuttgart
S. K. H. Carl Herzog von Württemberg, Altshausen
193
JÜRGEN W. FREMBGEN
Schiitische Standartenaufsätze
Anhänger des schulischen Islam tragen vor allem an ‘äshürä, dem 10. Tag des Trau-
ermonats Muharram, in Prozessionen Standarten (‘alain) von verschiedener Form
und Gestalt. Dieses seit den Safawiden (1501-1732) intensiv gepflegte religiöse
Brauchtum geht auf das für die Schiiten so bedeutsame historische Ereignis der
Schlacht von Karbala (680 n. Chr.) zurück, bei dem der Prophetenenkel Husain mit
seinen Begleitern auf grausame Weise von den Regierungstruppen Yazids getötet
wurde. Die ‘alam repräsentieren die damals verwendeten Feldzeichen und Banner
und gehören daher zu den wichtigsten Symbolen schiitischer Volksfrömmigkeit. Sie
sind Husain - dem dritten Imam der Schia - sowie den anderen schiitischen Imamen
geweiht. Handförmige ‘a/am-Aufsätze sollen zumeist an ‘Abbas ‘Ali, den Standar-
tenträger (‘alamdär) Husains, erinnern.
Ein berühmtes Symbol der Trauer um Husain wird im nordindischen Lucknow in der
Dargah-e Hazrat-e ‘Abbas aufbewahrt; es handelt sich um ein Feldzeichen (rotes
Banner mit Darstellung von ‘Alis zweispitzigem Säbel dhü’l-fiqär 1), das ‘Abbas
selbst zugeschrieben wird. Wie Mrs. Meer Hassan Ali berichtet, fand seinerzeit ein
indischer Mekka-Pilger diese Reliquie in Karbala und brachte sie dem Nawab Asaf
ud-Daula (gest. 1775) nach Lucknow als Geschenk mit2. Während der dortigen
Muharram-Feierlichkeiten tragen bis heute Gläubige am 5. Tag des Trauermonats
Prozessionsstandarten zu dem betreffenden Schrein und berühren damit den ‘alam
des ‘Abbas. Sie übertragen dadurch den Segen dieses heiligen Gegenstandes und ver-
gegenwärtigen sich die Tragödie von Karbala. Die gleiche Bedeutung hat das oft in
schiitischen Versammlungshäusern (Imdmbdro) zu beobachtende, mit persönlichen
Bittgebeten verbundene innige Berühren und Küssen der ‘alam.
Standarten, die oft paarweise getragen werden, sind in West- und Südasien im Rah-
men der städtischen Muharram-Umzüge einzelnen Wohnvierteln, Moscheen und
Handwerkskorporationen zugeordnet, die jeweils einen eigenen, in Iran dasteh
(»Gruppe«) genannten Prozessionszug bilden3. Aus Teheran berichtet M.G. van
Vloten: »Les quartiers forment des bandes {dasteh), de vingt jusqua’ä plus de cent
personnes, qui se rangent sous leur drapeau {‘alam) respectif« (1892: 110). Solche
Prozessionszüge einzelner Wohnquartiere stehen hinsichtlich der Größe und Aus-
schmückung ihrer Standarten untereinander in Wettbewerb. Wie mir in Peshawar
(North-West Frontier Province/Pakistan) berichtet wurde, werden die ‘alam von ein-
zelnen Gläubigen für den Imdmbdra ihres Viertels gestiftet. Dies geschieht in Ver-
bindung mit einem Gelübde als Dank für erhörte Gebete, etwa wenn einer Familie
nach mehreren Töchtern endlich ein Sohn geboren wird. Mitglieder iranischer Hand-
werkergilden besitzen nach der Herstellungstechnik als shahakeh-ye eslimi bezeich-
nete Embleme in Stahldurchbrucharbeit, die auf Stangen aufgesetzt im Muharram
getragen werden.4 M.G. van Vloten hat so z. B. die Standartenaufsätze der Tehera-
ner Fayencehersteller und Ziegelbrenner abgebildet5. Zur Aufbewahrung der ‘alam
dienen vor allem die Imdmbdra sowie andere öffentliche Gebäude und Privathäuser.
In Indien werden sie in den ersten zehn Tagen des Muharram in sog. Ashürkhdnd
(wörtl. »Zehn-Tage-Haus«) aufgestellt; so gibt es u.a. in Hyderabad ein eigenes
Badshdhi ‘Ashürkhdnd, in dem kostbar verzierte Standarten aus königlichem Besitz
aufbewahrt werden6.
J. Calmard und J. W. Allan haben islamische Standarten und Banner in einem Eintrag
der Encyclopaedia Iranica (1985) in ihren historischen Zusammenhängen näher vor-
gestellt7; darüber hinaus finden sich in der Literatur lediglich Kurzangaben und
Abbildungen einiger ausgewählter Einzelstücke. Als ergänzende und das Thema kei-
neswegs erschöpfende Behandlung sollen hier noch einige bisher unpublizierte schi-
itische Standartenaufsätze aus späterer Zeit vorgestellt und Aspekte ihrer Verwen-
194
TRI BUS 44, 1995
düng angesprochen werden. Auf Bemerkungen zu weiteren Zusammenhängen -
etwa zwischen osmanischen mg/z-Standarten und mitteleuropäischen Schellenbäu-
men8 - muß in diesem Rahmen verzichtet werden.
Die Grundbedeutung von ‘alam lautet im Arabischen und Persischen »Markierung«,
»Wegweiser«, »Fahne«; bereits die vorislamischen Beduinen der arabischen Halbin-
sel banden Kriegsbanner in verschiedenen Farben zur Unterscheidung von anderen
Stämmen an ihre Lanze9. Wie J. Calmard anmerkt, ist es schwierig zu bestimmen,
wann diese genau ihre militärische Funktion verloren und ihnen eine rein religiöse
zugesprochen wurde10. Im folgenden wird jedoch speziell auf schiitische Kultstan-
darten eingegangen, die in einem weiteren Kontext stehen. Wie M. H. Zaidi ausführt,
bestehen die ‘alam aus zwei Teilen: »a) der obere Teil, genannt >Nishan<, welcher
eine Art Wappenzeichen oder Familienwappen darstellt, ist zumeist aus Silber oder
Gold, Eisen oder auch anderen Metallen gemacht, b) der untere Teil, genannt >Patka<,
besteht aus der Fahnenstange, die das obere metallene Wappenzeichen trägt. An die-
ser Fahnenstange ist eine Art Stoffahne befestigt, die meistens aus Brokat oder fei-
ner Seide und mit Quasten und Verzierungen aus Gold oder Silber verbrämt ist«
(Zaidi 1977: 641). Auf die Farbsymbolik der Banner geht Calmard näher ein (1985:
789). Abb. 1 zeigt einige solcher mit kostbaren Stoffen drapierten Standarten, die in
dem 1784 erbauten Bärä Imämbära des Nawab Asaf ud-Daula in Lucknow aufge-
stellt sind.
Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Form und Symbolik verschiedener
nishän, also Standartenaufsätze, wobei hier zunächst waffengestaltige in Speer- oder
Schwertklingenform (mit 1, 2, 3, 5 oder 7 Spitzen) und danach solche in Form einer
geöffneten Hand (panjah) behandelt werden sollen. Neben diesen beiden Haupt-
gruppen gibt es noch Sonderformen, wie etwa eine im südindischen Hyderabad
gezeigte panjah mit 12 Fingern oder 12 Händen als Symbole für die zwölf Imame der
Zwölfer-Schia, die auch in Nordindien verbreiteten, als Hufeisen {na7 sähib) und
Rundschild {dhäl sähib) gestalteten Aufsätze sowie die Fisch-Standarte11. An
‘äshürä befestigt man in Nordindien häufig Limonen an den Standarten, die eine
unheilabwehrende Funktion haben12; in den Metropolen Pakistans werden dagegen
mit Gelübden verbundene Äpfel - vor allem Granatäpfel - verwendet.
Sowohl in Iran als auch in Südasien gibt es Standartenaufsätze in Speerform mit
einer Spitze. Ein besonders schönes Stück aus dem Besitz eines Sufi-Meisters wird
im »Jagdish and Kamala Mittal Museum« in Hyderabad aufbewahrt: Die im 17. Jahr-
hundert im Dekkan hergestellte bidri-Arbeit (H ca. 30 cm) geht nach der säulenför-
migen Tülle in ein mit Widerhaken besetztes schildartiges Zentralfeld über, das u. a.
in Kalligraphie die Anrufungen »Hilfe von Gott und naher Sieg« (Sura 61, 13) und
die häufig gebrauchte schiitische Schutzformel midi ‘AlTyyan (»Rufe ‘Ali, der Wun-
der manifestiert ...«) enthält13. Die eigentliche Spitze hat bei vielen nishän eine
dreiblättrige Form, wobei die beiden äußeren »Blätter« als Widerhaken fungieren
und bei entsprechender Längung in dreispitzige Formen übergehen können (vgl.
Abb. 4-5). Häufig wächst aus der fruchtknoten- oder birnenförmigen, mit kalligra-
phischen, figuralen und durchbrochenen Verzierungen gestalteten Basis ein langer,
gerader »Hals«, der in der dreiblättrigen Spitze oder einer panjah endet (vgl. Abb. 1,
3)14. Diese langen, aus dünnem Blech gearbeiteten »Hälse« bzw. Schwertklingen
haben die Eigenschaft wedelähnlich vor und zurück zu schwingen, »as if doing obei-
ssance to the holy martyr«, wie John W. Wertime schreibt15. In Iran sind solche, dem
Imam Husain geweihte Standarten nicht selten mit Pfauen- und anderen Tierfiguren,
Vasen, Rosenwasserflaschen, Doppelaxtklingen, panjah, Kerzenhaltern, Spiegeln,
Federn etc. sowie Votivgaben zu kunstvollen, übergroßen - bis zu 4,50 m hohen -
Gebilden mit kreuzweise ausgestreckten Armen kombiniert, die oft gesondert als
‘alärnat (»Pfahl«) bezeichnet und während der Muharram-Prozessionen mitgeführt
werden16. Zu diesen enorm schweren Sakralgegenständen eines Prozessionszuges
heißt es bei James Morier: »Zuerst kam ein rüstiger Mann, von den Lenden an nach
oben nackt, der in seinem Gürtel eine lange dicke Stange trug, woran oben wohl
dreißig Fuß hoch eine zinnerne, künstlich gearbeitete mit Sinnsprüchen aus dem
196
TRIBUS 44, 1995
Koran versehene Verzierung war« (in: Monchi-Zadeh 1967: 32). Eckhard Neubauer
ergänzt: »In Siraz waren diese Gebilde 1971 immer noch so gewaltig, daß sie kaum
ein einzelner starker Mann tragen konnte. In ländlichen Gegenden sind sie meist
weniger ausladend« (1972: 264).
Abb. 2 zeigt einen Standartenaufsatz, der sich in dem 1839 von Nawab Mohammad
‘Ali Shah erbauten Husainäbäd-Imämbära in Lucknow befindet. Wie in zahlreichen
Fällen bildet ein blatt-, tropfen- oder herzförmiges Schmuckfeld das Innere der Basis;
es ist vielfach ä jour gearbeitet und mit Kalligraphie ausgefüllt oder dient als Rahmen
für einen Spiegel, der den »Bösen Blick« zurückwirft; solche Mittelmedaillons finden
sich im übrigen auch an zeitgenössischen Metallkannen aus Mittel- und Südasien.
Ein ins 18. Jahrhundert datierter, hervorragend gearbeiteter Standartenaufsatz im
Besitz des New Yorker Brooklyn Museums (Inv.-Nr. X 710.3; L 85 cm, B 28,5 cm)
ist vollkommen aus durchbrochen gearbeiteten arabischen Schriftzügen aufgebaut
(Abb. 3). Der »Hals« ist an der Spitze mit Mondsichel und Handsymbol besetzt. Das
Zentralfeld ist durch mit dreiblättrigen Spitzen besetzte Medaillonformen konturiert,
die zwar auf das safawidische Schema zurückgehen, aber auch für Metallarbeiten aus
dem südindischen Dekkan typisch sind. Die Form dieses Zentralfeldes deutet meines
Erachtens auf eine mögliche Herkunft aus Hyderabad; durchbrochen gearbeitete
Standartenaufsätze aus dem nordindischen Lucknow haben demgegenüber eine
fruchtknotenförmige Basis.
Einfachere nishän zeigen figürliche Szenen in poussee-repoussee-Technik, wie z. B.
‘Alis weißes Maultier Duldul (Abb. 7), oder die Darstellung eines Schreins vor durch-
brochenem Hintergrund (Abb. 1: Nr. 1 u. 3 von rechts). Die fruchtknotenförmige Basis
wird außen oft durch zwei spiegelsymmetrisch angeordnete schlangen- oder drachen-
gestaltige Wesen mit Raubtierköpfen geschützt; es kann sich um die Köpfe von Löwen
(Abb. 2), Krokodilen17 oder Drachen bzw. Schlangen (Abb.4)18 handeln. Drachen-
köpfe mit apotropäischer Bedeutung finden sich vielfach auch an iranischen und indi-
schen Metallgefäßen und gehen auf die Kunst der Timuriden zurück.
Neben Standartenaufsätzen mit zwei Spitzen, die den Säbel ‘Alis symbolisieren19
(Abb. 1: Nr. 4 von rechts), gibt es vor allem in Indien - aber auch bei den türkischen
Schiiten - recht häufig dreispitzige Formen - die Drei repräsentiert in der Schia Gott-
Muhammad-‘Ali oder ‘Ali-Hasan-Husain (Abb. 4-5)20. In aller Regel sind dreispit-
zige nishän wie auch solche mit fünf oder sieben Spitzen dem Hazrat ‘Abbas ‘Alam-
dar geweiht21. Als Beispiel wird im folgenden ein gerade auch wegen seiner reichen
Inschriften bemerkenswerter ‘alam näher vorgestellt (Abb. 4):
‘Alam
Lucknow (Indien); 18./19. Jh.
Bronze; L 47,4 cm, B 22 cm (oben), 16,3 cm (Mitte)
Privatbesitz
Der massive, gegossene und getriebene Standartenaufsatz besteht aus einer baluster-
förmigen Tülle, der ä jour gearbeiteten birnenförmigen Basis und einem dreispitzi-
gen Speer. Die mittlere Spitze ist gerade nach oben gerichtet, die beiden anderen wei-
sen dagegen wie Blätter eines Blütenkelches nach außen. Die Basis der Standarte
wird spiegelsymmetrisch von zwei Schlangen flankiert, deren Körper unterhalb der
Speerspitzen jeweils in einem stilisiert geformten aufgerissenen Maul endet. Diese
von einer an der Tülle ansetzenden Gabel ausgehenden Schlangenleiber sind jeweils
durch fünf Stege mit dem Standartenkorpus verbunden. Ferner finden sich an der
Außenseite des Schlangenkörpers je vier Ösen (den Stegen gegenüberliegend), mög-
licherweise dienten sie zum Anbinden von Tüchern (vgl. dazu auch den von Haase
1993 publizierten Standartenaufsatz).
Die Rückseite der ‘alam ist unverziert, lediglich die erwähnten Durchbrechungen in
der birnenförmigen Basis geben den Schriftzug des Glaubensbekenntnisses (kalima)
wieder (auf der mit Inschriften verzierten Vorderseite somit spiegelverkehrt erschei-
nend!). Spuren von früheren Inschriften sind deutlich zu erkennen. Diese Seite des
Standartenaufsatzes wurde abgeschliffen; an der rechten Spitze wurde zudem ein
198
Frembgen: Schiitische Standartenaufsätze
Abb. 5 Dreispitziger ‘alam
in der Dargah-e Hazrat-e
‘Abbas/Lucknow
(Foto: Jürgen Frembgen)
Bruchstück ergänzt. Anscheinend wurde die Prozessionsstandarte einmal »umge-
widmet« und erhielt dann die heutigen (späteren ?) Inschriften auf der Vorderseite,
die bis auf den Hohlschaft der Tülle vollkommen damit bedeckt ist.
Auf der mittleren Spitze sind folgende Namen und Formeln zu lesen: Allah, Muham-
mad, Abü В akr, ‘Umar, ‘Uthmän, ‘All, Fätima, Hasan-o-Husain, yä shahldan. Fer-
ner läfatä illä ‘AU lä saif al-dhü’l-fiqär (»Kein Siegerheer als ‘Alis, kein Säbel als
dhul-fiqär«) und daneben der in Verbindung mit dem Propheten geläufige Segens-
spruch sallä alläh alaihi wa sallam wa кагат sharafan. Auf der rechten Spitze fin-
det sich neben hasmala, kalima und nädi ‘Allyyan die Anrufung Hazrat Jibrail yä
janän ‘aunan lakr ... (?). Die linke Spitze hat die Inschriften Karbala yä ghauth yä
ghauth (Beiname des Heiligen ‘Abdul Qadir Jilani) kull hamm wa ghamm (»Karbala,
Kummer und Schmerz«)22 und darunter yä Muhammad, yä ‘All, yä ‘AU, die Schutz-
formel yä ‘AU az hab (?), das künstlich gebildete magische Wort yä budüh sowie
Hazrat Israil yä burhän. Unterhalb der Spitzen sind zu lesen: yä mannän (»Oh
Wohltäter«), yä dayyän (»Oh Richter«) und die Namen des Todesengels Hazrat Isra-
fil, sowie Hazrat Mikail. Die hexagonale Platte auf der kurzen Halszone zwischen
Basis und Speerspitzen trägt die Schriftzüge Alläh, Muhammad, Abü Bakr, ‘Umar,
‘Uthmän, ‘AU sowie basmala und kalima. Auf der Basis finden sich zwischen den
Durchbrechungen die Namen der zwölf Imame sowie Sayyid Wall Qädirl Husain i
und unterhalb davon die weiteren Namenszüge Sayyid Mir Sähib Qädirl Husaini,
Sayyid Isma‘U Shäh Qädiri und Sayyid Wall Qädirl al-Husainl. Der rechte Schlan-
199
TRIBUS 44, 1995
genkörper, auf dessen Kopf yä Alläh graviert ist, hat die Inschriften Sayyid Bahr ud-
Dln Qädin al-Husaini, Häjji 'Abd ar-Rahmän Qädirial-Husaini, Sayyid Sharafud-
Din und die Fortsetzung des Thronverses (Sura 2, 255-256), der auf dem linken
Schlangenkörper nach der basmala beginnt.
Die Stiftungsinschrift nennt also die Namen von Mitgliedern der Husaini-Sayyids,
welche Anhänger der Qadiriyya-Bruderschaft sind. Es könnte sich auch um die Ge-
nealogie eines Heiligen handeln. Da bemerkenswerterweise die Namen der ersten drei
Kalifen genannt werden, wird es sich bei den Auftraggebern um Anhänger der sunni-
tischen Konfession handeln. Tatsächlich gibt es unter den in Lucknow und Umgebung
lebenden Husaini-Sayyids sowohl Schiiten als auch Sunniten23. Eine Weiheinschrift
mit der Nennung der ersten drei Kalifen stellt generell keinen Widerspruch zu der An-
nahme dar, daß der vorstehend beschriebene Standartenaufsatz während schiitischer
Muharram-Prozessionen getragen wurde. In Nordindien, aber auch in Pakistan, neh-
men Stadtviertel mit sunnitischer Bevölkerung vielfach an den Umzügen mit eigenen
‘alam und ta ‘ziya (Schreinmodelle) teil. Bei Derwischbruderschaften - wie der Qadi-
riyya - sind die auf ‘Ali zurückgehenden Bindungen an die Schia und ihr Brauchtum
noch um so enger. An dieser Stelle sei kurz daraufhingewiesen, daß es beispielsweise
in der sunnitisch geprägten Türkei als ‘alern bezeichnete, durchbrochen gearbeitete
Aufsätze (in Standartenform) für Moscheekuppeln gibt, die in kalligraphischen
Schriftzeichen neben Gott und dem Propheten auch ‘Ali nennen24.
In Iran und Indo-Pakistan sind neben den dreispitzigen nishän auch solche mit fünf
Spitzen bekannt, wie z. B. ein reich gegliederter und mit 114 cm recht hoher Stan-
dartenaufsatz aus Südindien (18./19. Jh.), der auffallend mit vorstehenden Blüten
verziert ist25. Während die Fünf die panjtan päk - d. h. die fünf »heiligen Leute«
Muhammad, Fatima, ‘Ali, Hasan und Husain - symbolisiert, weist die Sieben der
siebenspitzigen nishän im Islam auf eine umfangreiche mystisch-magische Zahlen-
symbolik (siebenmalige Umkreisung der Kaaba, siebenversige Eröffnungssura, Sie-
benergruppen in Visionen der Sufis usw.)26.
Es gibt Standartenspitzen des islamischen Raumes von herausragender handwerkli-
cher und künstlerischer Qualität; leider fehlen bei einigen dieser durch den Kunsthan-
del nach Europa gelangten Metallarbeiten die eigentlichen Spitzen, oder sie sind ab-
gebrochen. So z. B. im Falle einer safawidischen Standartenbasis in meisterhafter
Stahldurchbrucharbeit mit Gravierungen und Inschriften der Sura 110 in Thulut-Duk-
tus (datiert 1712/13 n. Chr.; H 92,5 cm), die sich in der Orient-Abteilung des Stuttgar-
ter Linden-Museums befindet27. Abb. 6 zeigt ein aus Iran oder Afghanistan stammen-
des Fragment eines bronzenen Standartenaufsatzes (18./19. Jh.; H 50 cm, B 45 cm;
Privatbesitz Elfriede Roseeu, Regensburg) mit reichem Schriftdekor, u. a. finden sich
auf dem mittleren Schmuckband in Medaillons die Namen der zwölf Imame und im
inneren Segment der fruchtknotenförmigen Basis spiegelsymmetrisch der kalligra-
phisch gestaltete Schriftzug läfatä illä ‘Ali lä saif al-dhul-fiqär - »Kein Siegerheer
als ‘Alis, kein Säbel als dhü’l-fiqär«. Das äußere Schriftband beginnt unten links mit
as-salämu ‘alaika yä ‘Abdallah (so auch am Anfang des inneren Schriftbandes), as-
salämu ‘alaika yä rasül Alläh, as-salämu ‘ alaika yä amir al-mu’minin.
Als häufigste Form schiitischer Standartenaufsätze findet sich die Hand {panjah,
dast), die mit einer vielfältigen Symbolik verbunden ist (Abb. 3, 7— 11 )28: Im sunni-
tisch geprägten Westen der islamischen Welt wird sie als die der Fatima erklärt. Die
Schiiten deuten sie jedoch in erster Linie als panjah 'AU - »Hand ‘Alis«, unter
Bezugnahme auf dessen Ehrentitel auch panjah-e Haidar - »Hand des Löwen« -
oder panjah sher-e khudä - »Hand des Gotteslöwen« - genannt. Außerdem symbo-
lisiert sie häufig - wie bereits erwähnt - die panjtan päk29 und nicht zuletzt ‘Abbas
‘Alamdar, den Standartenträger und Helden der Schlacht von Karbala, der nach
volkstümlicher Überlieferung der verdurstenden Tochter Imam Husains - der vier-
jährigen Sakina - Wasser vom Euphrat holen wollte und dem dabei von den Feinden
beide Hände abgeschlagen wurden. Zur Erinnerung und aufgrund eines Gelübdes
200
Frembgen: Schiitische Standartenaufsätze
Abb. 6 Fragment eines Standartenaufsatzes (Iran oder Afghanistan)
ihrer Mütter tragen an ‘äshürä iranische Jungen kleine, aus Silber gefertigte Hand-
darstellungen30. Große Prozessionsstandarten können mitunter mit zwölf Handdar-
stellungen besetzt sein, die die Imame der Zwölferschia symbolisieren31. Panjah
gehören ferner zu den Emblemen der schiitisch geprägten Derwischbruderschaften
und werden in Indien mitunter von Wanderderwischen und Fakiren mitgeführt32, ln
Iran wurden Standarten mit Handsymbolen und anderen Darstellungen auch bei
Begräbnissen von Würdenträgern und wohlhabenden Bürgern getragen33. Wie auf
Miniaturen zu sehen, waren panjah auch am Moghul-Hof gebräuchlich34. Über das
Muharram-Brauchtum von Karbala wird außerdem berichtet, daß sie neben ihrer
Primärfunktion als Standartenaufsätze noch anderweitig benutzt werden konnten:
»... the fork-like Instruments, also inscribed, with which true believers beat and stab
their heads« (Norden 1928: 29). Im folgenden wird eine feiner gearbeitete, bei Pro-
zessionen getragene panjah vorgestellt, die solchen rituellen Selbstpeinigungen nicht
standgehalten haben dürfte (Abb. 8):
Panjah
Karachi (Pakistan); 1. Hälfte 20. Jh. Zink-Silber-Legierung; L 22,7 cm, B 9,8 cm
Staatl. Museum für Völkerkunde München (Inv.-Nr. 91-315 362)
201
Frembgen: Schiitische Standartenaufsätze
Dieser Standartenaufsatz, den ich 1991 von einem Silberschmied in Karachi-Khara-
dar erwarb, wurde nach Angaben des Händlers etwa in den dreißiger oder vierziger
Jahren hergestellt. Er besteht aus zwei zusammengelöteten Teilen: der aus Blech
geschnittenen Hand und der runden, konisch geformten Tülle, in die ein Holzstab
hineingesteckt werden konnte. Die Hand entspricht in ihrer Größe und ihren Propor-
tionen dem natürlichen Vorbild einer linken Hand, sogar die Daumen- und Kleinfin-
gerballen der Handfläche sind wie bei einem Abdruck angedeutet. Die »Außenseite«
der Hand ist mit reichhaltigem Treibdekor (poussee-repoussee-Technik) verziert;
Auf dem Handrücken finden sich die kalligraphisch gestalteten Namen Allah,
Muhammad, Fatima, ‘Ali, Hasan und Husain. Sie sind in Form einer tughra mit vier
vertikalen Schäften und zwei Schlingen wiedergegeben. Die gerade nach oben
gestreckten Finger sind jeweils mit einer Arabeske gefüllt.
Eine eigene Gruppe schiitischer Standartenaufsätze bilden silberne und nieliierte
panjah des 18. Jahrhunderts, die Iran und der Türkei zugeschrieben werden35. Es
handelt sich um sehr feine Metallarbeiten, die mit nasta'llq-Inschriften der Namen
der zwölf Imame, der Anrufung nädi ‘Aliyyan und Koran-Versen graviert wurden. In
der Türkei sind solche Handsymbole bis heute bei Schiiten in Gebrauch. Neben sol-
chen bis zu 50 cm langen Aufsätzen gab es kleinere und wesentlich einfacher gear-
beitete Stücke wie das im folgenden kurz vorgestellte türkische Beispiel (Abb. 9)36:
Panjah
Türkei; 19./20. Jh.
Messing; L 28,8 cm
Privatbesitz E. Fondakowski, Gilching
Abb. 10 Der Laborer Schmied Iqbal Husain mit einer Abb. 11 Drehbare panjah aus Lahore
großen panjah (Foto: Jürgen Frembgen) (Foto: Jürgen Frembgen)
203
TRIBUS 44, 1995
Eine grob gearbeitete, gefalzte Tülle aus Messingblech endet an ihrem oberen Ende
in einem Knauf und ist dort mit der aus Messing gegossenen Hand verlötet. Es han-
delt sich um den Aufsatz einer Standarte, die von türkischen Schiiten getragen
wurde. Die Hand zeigt in ihrer durchbrochen gearbeiteten Innenfläche die Schrift-
züge Allah und ‘All.
Rezente pakistanische panjah werden in verschiedenen Größen aus Nirosta-Stahl-
blech gefertigt und mit geätzten Inschriften versehen37. Häufig findet sich der Name
von Imam Husains Halbbruder Hazrat Ghazi ‘Abbas ‘Alamdar in einem Medaillon
auf der Handinnenfläche. Die Handform ist zumeist mit der Mondsichel (hiläl) kom-
biniert. Mehrfach sind Stücke aus Lahore mit dem Werkstattzeichen »M. R.« ausge-
wiesen38. Im November 1993 besuchte ich den auf die Herstellung von panjah und
Geißelketten spezialisierten Schmied Iqbal Husain in seiner am Grab von Sayyid Suf
bei der Lahorer Wazir Khan-Moschee gelegenen Werkstatt, der größten im Bereich
der befestigten Altstadt: Neben kleineren panjah, die als ständiges Angebot bereit-
gehalten werden, fertigt er größere nur in speziellem Auftrag an (Abb. 10). Die
Inschriften legt er in Absprache mit dem Kunden fest. Als seine eigene besondere
‘alam-Form stellt er eine Abwandlung von den langhalsigen Lucknowi-Formen vor,
die durch zwei gekreuzte Säbel und insgesamt vier Handsymbole bestimmt wird.
Seine Produktion reicht bis zu großen Aufsätzen für schiitische Versammlungshäu-
ser mit einer unter einem chattrl-Dach im Wind drehbaren panjah (Abb. 11).
Neben diesen meist reich ornamentierten, aber aus Blech geschnittenen Handsym-
bolen gibt es zumindest seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch vollplastische, ganz
naturalistisch geformte Standartenaufsätze, bei denen die Handlinien und die leichte
Wölbung der Handinnenseite nachgebildet sind, ln der Sammlung des Rijksmuseum
voor Volkenkunde in Leiden befindet sich eine solche, aus Iran stammende Mes-
singhand, die 1949 im Kunsthandel erworben wurde (Inv.-Nr. 2838-3; L 39 cm).
Abb. 12 zeigt mehrere silberne panjah unterschiedlicher Form, die in einem schuli-
schen Schrein in Karachi-Kharadar aufbewahrt werden.
Abb. 12 Standarten in einem Schrein in Karachi-Kharadar (Foto; Jürgen Frembgen)
204
Frembgen: Schiitische Standartenaufsätze
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Annemarie Schimmel sowohl für die kritische Durchsicht
des Manuskripts als auch für ihre Hilfe bei den Lesungen der Inschriften. Weitere
wichtige Angaben verdanke ich Layla S. Diba (The Brooklyn Museum, New York)
und Peter J. Chelkowski (New York University).
Anmerkungen
1 Vgl. Zygulski 1992: 46-50.
2 Mrs. Meer Hassan Ali 1917: 32-34; vgl. Hollister 1953: 171; Zaidi 1977: 641.
3 Kippenberg 1981: 223-224; Calmard 1985: 789.
4 Wulff 1966: 72.
5 Vloten 1892: Tafel X, Nr. 8 u. Tafel IX, Nr. 1; vgl. Ackerman 1939: 2775.
6 Greenfield 1937: 269 ff.
7 Calmard 1985; Allan 1985; vgl. auch: Ackerman 1939.
8 Vgl. dazu: Zygulski 1992: 96-97.
9 Zu den verschiedenen Begriffen siehe: Ackerman 1939: 2772 ff.; Calmard 1985: 785; vgl.
Houtsma u.a. 1913: 261 (Stichwort ‘alam); David-Weill 1979: 349; Zygulski 1992: 9.
10 Calmard 1985: 788.
11 Ja‘far Sharif 1921: 160 (mit Abb. geg.); Greenfield 1937; 270; Hollister 1953: 169; vgl.
Welch 1985: 324-325, Nr. 220 (Standarte in Habicht-Form mit der kalligraphisch gestalte-
ten nädi ‘AlTyyan-Formel; Dekkan, spätes 17. Jh.).
12 JaTarSharlf 1921: 159-161.
13 Schimmel 1982: 24 u. Tafel XIII a; Schimmel 1985: 337.
14 Vgl. Ackerman 1939: 1433 (Abb.); Calmard 1985: 786 (Abb. 24).
15 Wertime 1977: 144; vgl. Ackerman 1939: 2781.
16 Vloten 1892: 109-111, Tafeln IX u. X; Monchi-Zadeh 1967: Abb. S. 34-36; Wertime 1977:
142-145; Allan 1985: 791; Calmard 1985: 786 (Abb. 24), 788; Riggio 1988: Abb. letzte
Seite; vgl. Ackerman 1939: 2775; Kippenberg 1981: 224-225.
17 Z. B. bei einer Standarte in dem Bärä Imämbära von Lucknow.
18 Ackerman 1939: 1433 (Abb. zweier ins 16. Jh. datierter iranischer Standartenaufsätze im
Topkapi Palast, Istanbul); Wertime 1977: 144 (1922 datierte ‘alam im Ethnologischen
Museum von Teheran); Auktionskatalog Sotheby’s 1993: Nr. 211 (links u. 2. von rechts);
Haase 1993: 166-167 (Nr. 109).
19 JaTar Sharif 1921: Abb. geg. S. 160, Nr. 11; Greenfield 1937: 269; Calmard 1985: 788.
20 JaTar Sharif 1921: Abb. geg. S. 160, Nr. 5; vgl. Calmard 1985: 786 (Abb. 22: Standarte aus
dem Haji Bektash Museum/Türkei); Auktionskatalog Sotheby’s 1993: Nr. 211 (2. von
links).
21 Vgl. z. B. auch die im Crafts Museum in Delhi ausgestellten dreispitzigen ‘alam.
22 Der nordindische Handwerker, der diese Inschriften anbrachte und sicherlich nicht des Ara-
bischen mächtig war, hat hier einen Teil des nädi ‘AlTyyan, nämlich tajiduhu ‘aunan li- kulli
hammin wa ghammin, auseinandergezogen und teils falsch wiedergegeben.
23 Mündl. Mitteilung von Claudia Liebeskind (London)/2. 9. 1994.
24 Im Istanbuler Türk ve Islam Eserleri Müzesi steht eine Vitrine mit zehn solcher ‘alem des
18./19. Jahrhunderts (z. B. Inv.-Nr. 394 C, 263, 1303).
25 Auktionskataloge Sotheby’s 1992: Nr. 190; 1993: Nr. 211 (rechts). Zu fünfspitzigen irani-
schen ‘alam siehe: Calmard 1985: 790 (Tafel XXXV).
26 JaTarSharlf 1921: Abb. geg. S. 160; Endres & Schimmel 1984; 130-131, 162-166.
27 Kalter 1982: 93 (Nr. D 65; Inv.-Nr. A 35 686 L); Kalter 1987: Frontispiz u. S. 98. Wie die
fehlende Spitze wohl ausgesehen haben mag, sieht man auf einer Abb. in Monchi- Zadeh
(1967: 36; nach H. Moser).
28 Vgl. Calmard 1985: 789 (Abb. 28: Panjah aus einer Privatsammlung); Zygulski 1992;
50-54. - Für den auf Abb. 7 gezeigten Lucknower Standartenaufsatz gibt es zwei, ins 18.
Jahrhundert datierte Vergleichsstücke im New Yorker Brooklyn Museum (Inv.-Nr. X 710.1,
X 710.2), die aus Iran stammen sollen. Ihre Form und Verarbeitung könnten jedoch auch
auf eine nordindische Herkunft deuten. Die bisher immer noch zu wenig publizierten
Sammlungsstücke erlauben derzeit noch keine genaueren Herkunftsbestimmungen.
29 Calmard 1985: 788.
30 Donaldson 1938: 208.
205
TRIBUS 44, 1995
31 Greenfield 1937: 271.
32 Z.B. Buck 1917; 217; Calmard 1985: 788; Michaud 1991: 157 (Foto eines Derwisch in
Ajmer).
33 Ackerman 1939: 2780-2781.
34 Ausstellungskatalog London 1982: Nr. 68 (»Shah Jahan holding court«); vgl. Auktionska-
talog Sotheby’s 1993: Nr. 211 (2. von rechts: südindischer handförmiger Aufsatz mit kalli-
graphischem Dekor).
35 Schimmel 1992: 47, Abb. 56 (The Metropolitan Museum of Art, New York; lnv.-Nr.
1984.504.2); Died 1985: 269 (Ethnographisches Museum in Ankara).
36 Vgl. Riggio 1988; Abb. Inhaltsverzeichnis.
37 Staatl. Museum für Völkerkunde München (Inv.-Nr. 88-310 763, 88-310 764, 88-310
765; = sämtlich panjah-hiläl-Formen, die in Multan gefertigt wurden); Hamburgisches
Museum für Völkerkunde (Inv.-Nr. 86.6; 200; Slg. G. Brunner).
38 Hamburgisches Museum für Völkerkunde (Inv.-Nr. 86.6: 200, 86.6: 207). Vgl. Brunner
1987: 10.
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207
DIETER KUHN
Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
im Spiegel von Ritualtexten und archäologischen Funden
1. Zum Verständnis von Tod und Beerdigung
2. Tod und Beerdigung als ritualisierte Ordnung
Zur Hierarchie im Grabkult
Die leibliche Ausstattung der Toten
Grabbeigaben und Geistergeräte
3. Die Grabentwicklung im Liji im Licht archäologischer Funde
4. Die konfuzianischen Ritualtexte und die Gräber der Han-Zeit
Kreativität im Grabbau der Han-Zeit
Die gesellschaftliche Aufgabe des Grabes in der Han-Zeit
5. Nachwort
(Liste der chinesischen Schriftzeichen: S. 246-248; Tafeln 1 -4:5. 249-251;
Abb. 1-40: S. 252-267)
1. Zum Verständnis von Tod und Beerdigung
In der gesamten Menschheitsgeschichte lagen dem Totenritual, der Beerdigung von
Verstorbenen in Gräbern und den Beerdigungsritualen Sitten [lial] und Bräuche [sua2]
zugrunde, die auf kulturelle und religiöse Vorstellungen zurückgeführt werden kön-
nen. In dieser Untersuchung wird das vor-buddhistische Verständnis der Entwick-
lung von Totenritual, Grabkult, Bestattung und Grab vor allem im ersten Jahrtausend
v. Chr. in China so nachgezeichnet, wie es sich aus den frühen Quellentexten ermit-
teln läßt. Einige der Beschreibungen und Vorstellungen im Lijia3 [Aufzeichnungen
der Riten] [ 1 ] und Yilia4 [Etikette und Riten] [2] stammen bereits aus den frühen Jah-
ren der Zeit der Streitenden Reiche (463-221) in der Zhou-Dynastie (1045-221
v. Chr.), doch kompiliert wurden die Werke in der Han-Zeit. [3] Wegen ihrer Jahr-
hunderte währenden Verbindlichkeit in Fragen der Ethik und Moral werden diese
Werke nach herkömmlichem chinesischem Verständnis der konfuzianischen Litera-
tur zugerechnet.
Vergleicht man die archäologisch geöffneten und erforschten Gräber von der Zeit des
Neolithikums in China (ca. 6000-2000 v. Chr.) bis zur Periode des Frühlings und
Herbstes (770-464 v. Chr.) in der Zhou-Zeit (1045-221 v. Chr.) mit den Aufzeich-
nungen zu Beerdigungen und Gräbern in den erhaltenen frühen Quellentexten, so
gelangt man zu dem Ergebnis, daß bereits die chinesischen Gelehrten der Periode der
Streitenden Reiche (463-221 v.Chr.) und der Han-Dynastie (206 v.Chr-220
n. Chr.) keine einheitliche oder gesicherte Vorstellung mehr von den Gräbern und den
Bestattungssitten ihrer Vorfahren hatten. Viele Angaben entsprangen einem Ver-
ständnis von Gelehrsamkeit und Belehrung, das offensichtlich keines inhaltlichen
Belegs der Glaubwürdigkeit bedurfte. Da sich verschiedene Traditionen über Jahr-
hunderte untrennbar vermengt hatten, beruhte ihr Inhalt oftmals auf Hörensagen und
fußte somit eher auf interpretativen theoretischen Vorstellungen als auf tatsächlicher,
auf Fakten beruhender historischer Kenntnis um die vergangene Entwicklung. Wie
im vierten Kapitel noch ausgeführt wird, entsprachen die Vorstellungen von Begräb-
nis und Grab den Projektionen einer konfuzianischen Ordnung, wie sie die konfu-
zianischen Gelehrten der Han-Zeit entgegen besserem Wissen in der Han-Zeit pro-
pagierten. Obgleich aus diesem Grund viele Aussagen fragwürdig sind, müssen sie
hier vorgestellt und erörtert werden, denn die Ritualwerke wurden bis zum Ende des
Kaiserreiches im Jahr 1912 diskutiert und interpretiert, ohne jemals in ihrem
Anspruch auf gesellschaftliche Verbindlichkeit ernsthaft und mit Konsequenzen hin-
terfragt zu werden. Sie galten immer als verbindliche Richtlinien. [4] Doch abgese-
hen von den Diskrepanzen zwischen den Angaben zu Särgen und Gräbern im Schrift-
208
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
tum und den durch archäologische Funde belegten Fakten gibt es auch erstaunliche
Übereinstimmungen, die auf eine lange und lebendige schriftliche und mündliche
Übermittlungstradition in der Zhou-Zeit schließen lassen. Die Überprüfung der
schriftlichen Quellen anhand der archäologischen Funde ist deswegen weit mehr als
eine inhaltliche Prüfung der Richtigkeit ihrer Angaben. Sie ist vielmehr der Versuch,
inhaltliche Ergänzungen zu entdecken, die zu Erklärungen führen, die diesen Bereich
des Kulturschaffens im chinesischen Altertum ein wenig vorstellbarer machen. [5]
Über die in vorgeschichtlicher Zeit herrschenden Vorstellungen zum Tod kann man
anhand der gefundenen Gräber nur spekulieren. In historischer Zeit gingen die Chi-
nesen der oberen Gesellschaftsschicht in der Regel von der Annahme aus, daß
irgendetwas von einer Person auch nach ihrem Tod fortbesteht, sei es in der Existenz
eines Ahn, von Seelen, von Geistern oder Dämonen der Toten. [6] Deshalb war man
überzeugt, daß die Beerdigung sowohl für den Verstorbenen als auch für seine Nach-
kommen einen Nutzen hatte oder in der Zukunft bringen konnte. Das Verhältnis zwi-
schen den Verstorbenen, die schon bald nach ihrer Beerdigung zu Ahnen wurden,
und ihren Nachkommen war also wechselseitig. Der Ahnenkult, eine rituelle Toten-
verehrung, ist seit der Westlichen Zhou-Zeit (1045-771 v. Chr.) bis heute das wich-
tigste religiöse Ritual in China. Es wurde im Ahnentempel oder am Ahnenaltar zele-
briert. [7]
Wahrscheinlich im 5. Jahrhundert v. Chr., doch mit Sicherheit seit dem 4. Jahrhundert
v. Chr. setzte sich eine neue Vorstellung bezüglich des Wesens des Todes, der Toten
und des Jenseits durch, in deren Folge sich auch die Anlage der Gräber langsam zu
verändern begann. Ersichtlich ist dies nicht nur an den Gräbern der Han-Zeit, son-
dern auch an der Terminologie. Konfuzius sprach im 5. Jahrhundert v. Chr. noch von
guia5 und shena6 als Geistern (l’âme et l’esprit, mânes spiritusque), doch war diese
Terminologie offensichtlich erklärungsbedürftig.
»Zai Wo sagte: >Ich habe die Namen gui und shen gehört, doch weiß nicht, was sie
bedeutend Der Meister antwortete: >Die »geistige Seele« ist shen, die sich voll ent-
faltet; die körperliche Seele ist bo, die sich voll entfaltet. Es ist das Vereinigen von
gui und shen, das das Äußerste der Lehre bildet« a7. [8]
Schon kurze Zeit nach Konfuzius stellte man sich jeden Menschen mit zwei deutlich
unterscheidbaren Seelen vor: eine, die nach dem Tod zum Himmel aufstieg [huna8],
und die andere, die im Körper verblieb [boa9]. [9] Damit die Körperseele kein Unheil
anrichten konnte, baute der Nachkomme ein Grab, das ihr als Wohnstätte diente. [ 10]
Daraus erklärt sich nicht nur die architektonische Anlage des Grabes, sondern auch
der Aufwand, mit dem viele Tote der Oberschicht in Särgen und Gräbern beigesetzt
wurden. Weiterhin drängt sich der Schluß auf, daß sich in dieser Art von Grab in der
Han-Zeit die zwei Welten, das Diesseits und das Jenseits, trafen; das Grab als Portal
zur jenseitigen Domäne. [11] Nach der Beerdigung des Vorfahren war der Ahnen-
tempel für die Nachkommen der Ort, an dem sich die Sphären der Lebenden und der
Toten überschnitten. Hier erneuerten Vorfahren und Nachkommen in regelmäßigen
Abständen ihre Gemeinschaft. [12]
Viele Chinesen der Oberschicht müssen geglaubt haben, daß die Seele in der Weise,
wie sie den Körper verlassen hatte, auch wieder in ihn zurückkehren konnte, vor-
ausgesetzt er war noch in seiner ganzen Körperlichkeit erhalten. [13] Sicherlich
steht der alte Brauch, die Seele des Verstorbenen sofort nach Eintritt des Todes
zurückzurufen [zhaohunal°], damit in Zusammenhang. Dadurch bezeugte man dem
Verstorbenen und der Öffentlichkeit nicht nur seine Liebe als Nachkomme, sondern
half ihr auch, aus dem Dunkel zurückzukehren. [14] Der Erhaltung dieser Ganz-
heitlichkeit dienten viele der Vorbereitungen und der Präservierungsmethoden des
Leichnams für das Grab. Im Einklang damit wurde die unterirdische große horizon-
tale Grabanlage mit mehreren Kammern und einer langen Zugangsrampe spätestens
in der Westlichen Han-Zeit endgültig zu einer Residenz der Seele des Verstorbenen,
zu seinem neuen Heim, das nach seinen Bedürfnissen als domus aeterna angelegt
und ausgestattet war. Alles sollte ihr im Tode so zur Verfügung stehen wie es der
Verstorbene aus seinen Lebzeiten gewohnt war. Gleichzeitig war das große han-
zeitliche Grab der Ort, an dem der pietätvolle und rechtschaffene Nachkomme seine
209
TRIBUS 44, 1995
konfuzianischen Tugenden vor hunderten, manchmal tausenden angereisten Trauer-
gästen öffentlich zelebrierte. Vor vielen der großen unterirdischen Gräber standen
vor allem in der Östlichen Han-Zeit zusätzlich noch aufwendig gebaute Schreine,
[15] die letztendlich dem selben Zweck dienten. Einerseits bewunderten die Trauer-
gäste die Ausrichtung des Begräbnisses, die Beherrschung der Rituale, die Größe
und Qualität des Sarges und besichtigten die beeindruckende Grabarchitektur mit
ihren der Ideologie des Konfuzianismus verpflichteten Steinreliefs und Ausma-
lungen, andererseits wurden die Nachkommen für den ganzen Aufwand damit
belohnt, daß die Zeitgenossen diese Art der Beerdigung als pietätvoll anerkannten.
Dieses Verhalten erhöhte die eigene gesellschaftliche Reputation und ließ die kon-
fuzianische Gesinnung der Nachkommen zum allgemeinen Gesprächsstoff werden.
[16] Daneben diente das große Grab dem Nachkommen auch dazu, durch die Opfer-
rituale individuell mit der Seele des Verstorbenen in Kontakt treten zu können.
Nun gab es neben den aufwendigen Bestattungen [houzang311] in großen Gräbern, die
bei den Angehörigen der oberen Gesellschaftsschicht der Zhou-und der Han-Zeit
weit verbreitet waren und jeweils im Einklang mit der allgemeinen Anschauung und
gesellschaftlichen Aufgabe des Grabkults standen, auch eine andere, sehr einfache
Tradition, die ebenfalls propagiert und praktiziert wurde. Einfache Bestattungen
[bozanga12], deren Einhaltung besonders aus volkswirtschaftlichen Gründen immer
wieder gefordert wurde, sollten nur aus einem Sarg mit vergleichsweise dünnem
Holz und der bescheidenen Zahl von drei Leichentüchern bestehen. Diese Ausstat-
tung erlaubte ein angemessenes Begräbnis, durch das die Verwesung des Leichnams
weder verzögert noch verhindert wurde. [17] Auch Konfuzius wird einmal in dem
Sinn zitiert, daß man sich beim Tod wünschen solle, schnell zu verfaulen a13. [18] In
der Han-Zeit wurde deshalb in einigen Fällen sogar vollständig auf eine Sargbestat-
tung verzichtet. Der Körper sollte in der Erde liegen, um so ungehindert und so
schnell wie möglich zu ihr zurückzukehren. [19]
Im Liji stand bereits zu lesen, daß alles, was lebt, sterben muß und sterbend zur Erde
zurückkehrt. Das ist, was gui heißt. Knochen und Fleisch verfaulen unten und wer-
den dem Auge verborgen zu Erde“14. Gleichzeitig stellte man sich aber eine geistige
Kraft qi vor, die ausströmt und in der Höhe in leuchtender Helle Weiterbestand“L\
[20] An anderer Stelle heißt es bestätigend: »Die Körperseele sinkt nach unten, die
intelligente geistige Seele [Lebenskraft] ist in der Höhe«316. [21]
Der Skeptiker Wang Chong“17 (27-97) sollte später radikaler formulieren:
»Das, was das Leben der Menschen erhält, ist die Lebenskraft. Stirbt ein Mensch, so
erlischt die Lebenskraft... und der Körper verwest. Er wird zu Asche und Erde. Wor-
aus soll [da] der Geist entstehen ... Die Verwesung ist die vollkommene Auflö-
sung«318. [22]
Da das Bauen der aufwendigen Gräber mit den Vorstellungen von der Existenz übel-
wollender Geister eine neue inhaltliche Dimension bekam und damit auch als ein
Eindringen in die jenseitige Domäne verstanden wurde, bedurfte das Grab des
Schutzes, einer Versicherung, die man durch Verträge, durch Riten und durch
Schutzfiguren gewährleistet sah. So wie man das Grab und den Verstorbenen auf
diese Weise rechtlich sicherte, so versuchten die Nachkommen durch das Anlegen
der Gräber, durch die ritualisierte Durchführung der Bestattungen in einem Grabkult
und durch das Trauerritual nicht nur die eigene Furcht vor dem schädlichen Einfluß
des Geistes, beziehungsweise der Dämonen des Verstorbenen aus der jenseitigen
Welt, zu beschwichtigen, sondern auch sich mit ihnen zum Nutzen für beide Seiten
zu arrangieren. Überspitzt könnte man sagen, daß die Vorstellung von einer wech-
selseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung die weitere Entwicklung des aufwendi-
gen chinesischen Ahnenkults ganz wesentlich beeinflußte. In ihm wurde den Gei-
stern der Ahnen ihr Platz in der Hierarchie des Jenseits durch die Opfer ihrer
Nachkommen gesichert, während die Geister im Gegenzug dafür über das Wohler-
gehen ihrer tugendhaften Nachkommen wachten. Deswegen mußte man für die Gei-
ster der Toten einen geeigneten permanenten Aufenthaltsort, eine vorstellbare
Adresse, haben. Während man sich den Wohnsitz der Ahnengeister hierarchisch
hochstehender Personen in der frühen Zhou-Zeit in der Umgebung des höchsten
210
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Himmelsgottes Shangdi3'9 vorstellte, dachte man sich den Aufenthaltsort der Geister
gewöhnlicher Sterblicher an ganz verschiedenen, doch in der Regel wenig erfreuli-
chen Orten, wie den Gelben Quellen [huangquan320], die für das Jahr 721 v. Chr. zum
ersten Mal erwähnt sind, [23] und seit der Han-Dynastie im Land der Toten, dem hei-
ligen Berg Taishan321 in Shandong.
Sich um einen Sterbenden und dann um einen Toten vor seiner Beerdigung zu küm-
mern, ist weder physisch noch psychisch eine einfache Aufgabe. Um sie für die Hin-
terbliebenen erträglich und sinngebend zu machen, hat man schon früh gewisse
Regeln geschaffen und den Einsatz von Hilfsmitteln festgelegt. Im Liji [Aufzeich-
nungen der Riten] findet sich eine eindringliche Beschreibung der Einstellung der
Chinesen zum Sterben und zum Umgang mit dem Leichnam:
»Wenn ein Mensch gestorben ist, dann findet man [den Leichnam] abstoßend. Er hat
keine Stärke und man wendet sich von ihm ab. Um die Menschen davor zu bewah-
ren, [ihre Toten] abstoßend zu finden, wickelt man [sie] in ein Leichentuch, errichtet
Stellwände und stellt große verzierte Fächer an langen Stielen auf. Sofort nach Ein-
tritt des Todes wird [zu beiden Seiten des Toten] Trockenfleisch und eingelegtes
Fleisch aufgestellt. Wenn die Beerdigung stattfinden soll, werden [Speiseopfer] ans
Grab gebracht und [dem Toten] dargeboten. Noch nie hat man gesehen, daß [sie] sich
daran gelabt hätten. Doch von der frühesten Zeit bis heute hat man sie niemals ver-
nachlässigt, um die Menschen nicht zu veranlassen, [ihre Toten] abstoßend zu fin-
den322. [24]
Auch der mit den »Konfuzianern« konkurrierende Philosoph Mo Dia23 (ca. 480 - ca.
390 v. Chr.) äußerte sich in dem Sinn, daß man die schockierende Wirkung, die der
Anblick eines Toten habe, durch die Vorbereitung der Leichentücher dämpfen könne.
Des weiteren bestand er darauf, daß das Grab unten auf keinen Fall an die Quellen
heranreichen dürfe und der Sargdeckel dick genug sein müsse, um den Austritt unan-
genehmen Geruchs oben zu verhindern a24. [25] Durch die Art der Aufbahrung und
den rituell festgelegten Ablauf der Handlungen und die Aufhängung des Totenban-
ners wurde dem Leichnam und damit der Person des Verstorbenen eine letzte direkte
Ehrung zuteil, die durch den teilweise öffentlichen Charakter der Beerdigungsvorbe-
reitungen das Ansehen der Familie erhöhte. Dies half, alle anderen weniger schönen
Empfindungen im Interesse der Familie und des tugendhaften Verhaltens ihrer Mit-
glieder zurückzudrängen.
Die rückhaltlose Beschreibung der Betroffenheit offenbart eine nüchterne Diesseits-
bezogenheit, die in China durchaus eine Tradition hat und hinter der zunächst einmal
alle anderen Aspekte, wie die Verehrung des Verstorbenen als Ahn im Ahnenkult,
zurücktraten. Schon Konfuzius (551-479 v. Chr.) hatte einen gewissen Pragmatis-
mus gezeigt, als er von einem Schüler danach gefragt wurde, wie man den Geistern
[guishen325] diene. Er antwortete nämlich: »Wer nicht Menschen zu dienen vermag,
wie kann der den Geistern dienen?«326. Und nach dem Tod [sia27] befragt, antwortete
er: »Wer noch nicht das Leben kennt, wie will der wohl den Tod begreifen?«328. [26]
Dies hinderte Konfuzius jedoch nicht daran, den Geistern zu opfern, als wären sie
gegenwärtig. [27]
Die gesamten Toten- und Beerdigungsrituale wurden im inhaltlichen Kontext der
konfuzianischen Schriften zu moralischen Imperativen. Sie beinhalteten »die wahre
Lehre«, die der Aufrechterhaltung von Ordnung, Angemessenheit und von hierar-
chisch geregeltem Verhalten diente. Ihre Befolgung erhöhte das gesellschaftliche
Ansehen der Nachkommen. Wie stellt schon das Liji [Aufzeichnungen der Riten]
fest:
»Von allen Methoden Menschen zu regieren, ist keine dringender als die [Beherr-
schung der] Rituale. Und von den fünf Arten der Rituale ist keines wichtiger als die
Opfer«329. [28]
Deswegen wurde das Ritual und seine Beherrschung auch zur wichtigsten der Sechs
Künste (Ritual, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Schreiben und Rechnen). Das
Schriftzeichen li zeigt rechts ein Ritualgefäß lia3°, das zwei Stück Jade oder etwas
anderes enthält, [29] und links das Zeichen shia31, [30] das verschiedene Bedeutun-
gen haben konnte wie Zeichen, zeigen, deuten, informieren. Ursprünglich mag es
211
TRIBUS 44, 1995
von der Form eines Altars hergeleitet worden sein, auf dem Opfer dargebracht wur-
den. [31] Das Schriftzeichen li war aber nicht nur ein materieller Begriff oder der
Begriff für die Abfolge ritueller Handlungen, wie sie vor allem bei Opfern ausgeführt
wurden, sondern umfaßte ebenso Ritual, Zeremonie, Sitte, Schicklichkeit. Damit war
li auch ein grundlegendes Ordnungsprinzip, das eine sittliche Forderung enthielt.
[32] War es Konfuzius noch darum gegangen, das aus früherer Zeit überkommene
magisch-religiöse Ritual mit dem neuen Sinn eines gesellschaftlichen Bezugs und
damit einer Rationalität zu erfüllen, wobei alles was man dachte, wahrnahm und
machte mit dem li übereinstimmen mußte, so wurde bei Xunzia32 (298?- 238 v. Chr.)
offensichtlich, daß das Ritual nicht nur Ordnung schuf, sondern auch zum Werkzeug
zur Schaffung von Menschlichkeit wurde. [33] Und diese Vorstellung ritualisierten
Verhaltens erfüllt die anfangs zitierte Textpassage über den Umgang mit dem Leich-
nam aus dem Liji [Aufzeichnungen der Riten], [34]
Wie wird nun über die frühesten Beerdigungen und Gräber in den schriftlichen Quel-
len berichtet? Bereits im Buch Mengzia33, das unbekannte Schüler des Philosophen
Menzius (ca. 372-289 v. Chr.) verfaßt haben, steht geschrieben, daß einige Leute in
frühester Zeit ihre Eltern nicht beerdigt, sondern in einen Wassergraben geworfen
haben, wo sie dann nach kurzer Zeit von wilden Tieren verschlungen und von Fliegen
und Mücken ausgesaugt worden seien334. Bei diesem Anblick trat den Nachkommen
der Schweiß auf die Stirn und sie schauten weg, weil sie ihn nicht ertragen konnten.
Deshalb habe man die Toten mit Hilfe von Korb und Spaten mit Erde bedeckt [yana3:i].
[35] Das Yijinga36 [Buch der Wandlungen], das in die älteste Tradition textlicher
Überlieferungen gehört, [36] berichtet eine andere, etwas ausführlichere Variante:
»Diejenigen die ihre Toten im Altertum beerdigten, bedeckten sie reichlich mit Feu-
erholz als Kleidung und beerdigten sie auf dem offenen Feld. Sie errichteten weder
Grabhügel noch pflanzten sie einen Baum. Die Länge der Trauerzeit war nicht durch
eine Zahl von Tagen geregelt. Die Weisen späterer Generationen änderten diese Sitte
und gebrauchten innere und äußere Särge«337. [37]
Man muß wohl annehmen, daß die Beschreibung einer Beisetzung unter Gras, Zwei-
gen und Blättern eher von der Auslegung des Schriftzeichens zanga38 herrührt, das
oben und unten das Element »Gras« zeigt, als aus der Überlieferung durch Beobach-
tung stammt. [38] Doch es läßt sich nicht übersehen, daß es auch noch im 19. Jahr-
hundert üblich war, Tote einfach an Ort und Stelle liegen zu lassen oder den Leich-
nam nur aus dem Haus oder der Siedlung zu bringen und auf dem offenen Feld mit
Gras zu bedecken. Ließ man den Verstorbenen lange genug liegen, so konnte man
nach einiger Zeit die Knochen des Skeletts einsammeln und in einer Grube oder einer
Knochenurne beisetzen.
Friedhöfe und Grabfelder belegen, daß sich bereits die Menschen in der Steinzeit
bemühten, ihre Angehörigen nach bestimmten Vorstellungen in Gräbern beizuset-
zen. [39] So lag das 600 m2 große Grabfeld von Yuanjunmiao339 im Süden der Sied-
lung (Abb. 1) [40]. Die insgesamt 57 Gräber waren in sechs Grabreihen mit unter-
schiedlich großen, zum Teil abgestuften Erdgrubengräbern von Osten nach Westen
angelegt. In 28 Gräbern lagen mehrere Tote. Das hieß, 92 Prozent der Toten waren
gruppenweise in Zweitbestattungen [ercizang340] beerdigt. Die Toten lagen mit ihren
Köpfen nach Westen ausgerichtet. Die Anlage und chronologische Anordnung der
Gräber und das Geschlecht und Alter der Toten in ihnen führte zu der Annahme, daß
dieses Grabfeld den Bewohnern eines Dorfes diente, das von einem in zwei Clans
aufgeteilten Stamm, in dem matriarchalische Vorstellungen lebendig waren,
bewohnt wurde. Ganz fraglos wurden schon damals Angehörige einflußreicher
Familien mit vergleichsweise vielen nützlichen und persönlichen Grabbeigaben wie
unterschiedlichen keramischen Gefäßen, zum Teil mit Schnurmuster, Schmuck,
Haarnadeln aus Knochen, Spinnwirtel, Muschelmesser und anderen Objekten
bestattet (Abb. 2) [41].
Wie in allen Zeiten war es auch in der Zhou-Zeit der häufige, doch wenig erfreuliche
Anblick von unbestatteten Toten, der nach einer verbindlichen und praktikablen
Bestattungsweise verlangte. Wie zur Bestätigung heißt es auch im Liji [Aufzeich-
nungen der Riten]:
212
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
»Beerdigen bedeutet verbergen. Das Verbergen entsteht aus dem Wunsch, daß die
Leute [den Leichnam] nicht sehen sollen«1*41. [42]
Der Text fährt fort mit der Forderung, daß aus diesem Grund genügend Kleidungs-
stücke vorhanden sein müssen, um den Leichnam zu schmücken. Der Tote soll in
einem inneren Sarg liegen, der von einem äußeren Sarg umgeben ist, der wiederum
in der Erde liegt342. (Abb.3) [43]. Die Deutung von beerdigen als zudecken oder
bedecken, den Leichnam verbergen und damit dem Auge unsichtbar machen, steht
im Einklang mit der von Mengzi (ca. 372 - 289 v. Chr.) und auch von Mo Di (ca. 480
- ca. 390 v. Chr.) vertretenen Sichtweise. Die Erwähnung des inneren Sarges
[guan1*43], in dem der Tote lag, und des äußeren Sarges [guoa44], die in der Regel aus
Holz waren, spiegelt eine Bestattungspraxis wider, die bereits seit der Steinzeit in
weiten Teilen Chinas praktiziert wurde. Bei Mengzi findet sich dafür eine schriftli-
che Bestätigung:
»Im Altertum gab es keine Regel für die Größe des inneren und des äußeren Sarges.
Im mittleren Altertum war der innere und der äußere Sarg sieben cun dick. Das galt
für alle Särge, vom Himmelssohn bis zu den gewöhnlichen Leuten«345. [44]
Im Shijing [Buch der Lieder] aus den frühen Jahrhunderten der Zhou-Dynastie [45]
finden sich in einer Ode die Zeilen:
»Zu Lebzeiten mögen wir in verschiedenen Zimmern gelebt haben, doch im Tod tei-
len wir dasselbe Grab«346. [46]
Im Liji [Aufzeichnungen der Riten] heißt es: »Eine gemeinsame Bestattung war
nicht nach Art des Altertums«347. [47] Hier haben sich die Verfasser geirrt, denn
schon in der Steinzeit gab es den im konfuzianischen China als unmoralisch verpön-
ten Brauch der Beisetzung in einem Sarg (Abb. 4) [48]. Die Bestattung in einem Grab
wurde auch in der Westlichen Zhou-Zeit praktiziert. Wohl aus einer anderen Quelle
des Liji stammt die Angabe, daß die Beerdigung von Mann und Frau in einem
gemeinsamen Grab [fuzang348] in der Zeit des Herzogs von Zhou (in der Westlichen
Zhou-Zeit) entstanden sei. [49] Die Textstelle legitimiert die Beerdigung in einem
gemeinsamen Grab. [50]
Der Brauch, ein Grab durch einen Grabhügel zu kennzeichnen, auf dem oftmals
auch ein Baum gepflanzt wurde, kam wohl erst nach der Westlichen Zhou-Zeit aus
dem südlichen Sibirien nach China. Zu Lebzeiten von Konfuzius (551-479 v. Chr.)
scheinen Grabhügel dann zur Kennzeichnung von Gräbern ganz üblich gewesen zu
sein, so wie sie noch heute bei Beerdigungen auf dem Land angelegt werden. Des-
wegen hat er dann auch anläßlich der Beerdigung seiner Mutter betont, daß die
Alten zwar Gräber, doch keine Grabhügel [fena49] angelegt hätten (Abb. 5) [51]. Daß
Konfuzius im Fall des Grabes seiner Mutter dann doch einen Grabhügel aufschüt-
ten ließ, erklärte er damit, daß er sich die Stelle des Grabes dadurch einfacher mer-
ken könne, da er viel auf Reisen sei. Der besagte Grabhügel war recht nachlässig
errichtet und das Grab selbst wohl kaum ordentlich verfestigt, denn schon nach dem
ersten Regenguß war er samt dem Grab zusammengebrochen. Als Konfuzius diese
Nachricht nur wenige Stunden nach der Beerdigung erhielt, stellte er zwar unter
Tränen, doch trotzdem lakonisch fest, daß die Alten ihre Gräber nicht ausgebessert
hätten350. [52] Er unternahm nichts, um das Grab wieder herzurichten, denn eine sol-
che Handlung hätte nicht den Sitten des Altertums entsprochen351. [53] Bei Mo Di
(ca. 480-ca. 390 v. Chr.) kann man lesen, daß der Grabhügel nur so niedrig sein
sollte, daß er von den bearbeiteten Feldern ringsum nicht zu unterscheiden sei. Auch
über die Form des Grabhügels gingen die Vorstellungen damals wohl weit ausein-
ander. So gab es sie in der Form eines Gebäudes [lang352], eines Deiches [fang353],
eines Daches oder der Klinge einer Axt [fua54]. [54] Was die Nordung des Grabes
anbelangte, die in späterer Zeit bei der Bestimmung der Lage und Ausrichtung eines
Grabes nach geomanlischen Kriterien, die den Nachkommen Glück verhießen, eine
wichtige Rolle spielen sollte, so wurde festgestellt, daß es schon in den Dynastien
Xia, Shang und Zhou üblich gewesen sei, die Toten im Norden (einer Siedlung oder
Stadt) und mit dem Kopf im Norden zu beerdigen. Begründet wurde diese Ausrich-
tung nach Norden damit, daß die Toten ins Dunkel gehen würden, das man sich im
Norden dachte355. [55] Der Text berücksichtigt offensichtlich jene Jenseitsvorstei-
TRIBUS 44, 1995
lungen, die seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. zunehmend um sich griffen. Die archäo-
logischen Funde belegen jedoch, daß man vor der Han-Zeit keineswegs von einer
mehrheitlichen Nordung der Gräber sprechen kann. Und auch in der Han-Zeit und
danach wurde sie keineswegs so verbindlich gehandhabt wie dies der Text nahelegt.
[1] Das Liji ist zitiert nach dem Liji zhushu256 in der Wenyuange Siku quanshua57-Ausgabe, Tai-
wan shangwu yinshuguana58. Bde. 115 — 116, Jingbu 109-110.
[2] Das Yili ist zitiert nach dem Yili zhushu“59 in der der Wenyuange Siku quanshu-Ausgabe,
Taiwan shangwu yinshuguan. Bd. 102, jingbu 96.
[3] Die Texte wurden erst in der Han-Zeit in die heutige Form gebracht; siehe hierzu die Ein-
träge im Werk von Michael Loewe (Hg.), Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide. Ber-
keley: The Institute of East Asian Studies, University of California 1993. [Early China Special
Monograph Series No. 2]; die Einträge zum Liji von Jeffrey K. Riegel, S. 293-297; zum Yili
von William G. Boltz, S. 234-243; zum Zhouli von William G. Boltz, S. 24-32. Das Zhouli
ist wohl ein vor-han-zeitlicher Text. Übersetzungen der Werke: Séraphin Couvreur, Mémoires
sur les bienséances et les cérémonies. Paris; Cathasia 1950 (Nachdruck). 2 Bde.; James Legge,
The Li Ki, Max Müller (Hg.), The Sacred Books of the East. Oxford: Clarendon Press 1885.
Bde. 27-28; John Steele, The I-li or Book of Etiquette and Ceremonial. London; Probsthain
1917. 2 Bde.; Édouard Biot, Le Tcheou-li ou Rites des Tcheou. Paris: L’Imprimerie Nationale
1851. 2 Bde.
[4] Siehe zum Beispiel auch die Untersuchung von Margareta Grieszier, Das letzte dynastische
Begängnis. Chinesisches Trauerzeremoniell zum Tod der Kaiserinwitwe Cixi. Eine Studie.
Stuttgart: Franz Steiner 1991. [Münchener Ostasiatische Studien, Bd. 57J. Kap. 3,4.
[5j Ein lesenswerter Überblick zum Grabkult wurde vor einigen Jahren veröffentlicht, siehe
Edith Dittrich, Grabkult im alten China. Köln: Museum für Ostasiatische Kunst 1981.
[Taschenbücher des Museums für Ostasiatische Kunst, 2].
[6] Siehe dazu Michael Loewe, Chinese Ideas of Life and Death. Faith, Myth and Reason in the
Han Period (202 BC-AD 220). London: George Allen and Unwin 1982.
[7] Siehe zum Fund eines Ahnentempels im Reich Qin aus der Periode des Frühlings und Herb-
stes in Shaanxi kaogu zhongda faxian (1949-1984). Xi’an: Shaanxi renmin chubanshe 1986.
S.52, Abb. 12.; Lothar von Falkenhausen, »Ahnenkult und Grabkult im Staat Qin. Der Reli-
giöse Hintergrund der Terrakotta-Armee«, Lothar Ledderose, Adele Schlombs (Hg.), Jenseits
der Großen Mauer. Der Erste Kaiser von China und seine Terrakotta-Armee. Gütersloh, Mün-
chen: Bertelsmann 1990. S. 35-48.
[8] Liji zhushu, j. 47, S. 274 (unten).
[9] Gemäß dem Zhouli aus der Zeit der Streitenden Reiche wurden Opferriten auch für die Gei-
ster des Himmels [tianshen260], (Sonne, Mond und Fünf Planeten), für die Geister der Men-
schen [rengui261], (die Vorfahren und Ahnen), und die Geister der Erde [dishia62], (Berge,
Flüsse, Seen etc.), ausgeführt; Zhouli zhushu [Shisanjing zhushu -Ausg.], Bd. 1, j. 18, S.757
(oben). Siehe auch Hans Steininger, Hauch- und Körperseele und der Dämon bei Kuan Yin-tze.
Leipzig: Harrassowitz 1953; Brigitte Pfau, Seelenvorstellungen in der chinesischen Philoso-
phie und Religion. Magisterarbeit, Universität Würzburg 1993 (unveröffentlicht).
[10] Lothar von Falkenhausen (1990), S.45; Wu Hung, The Wu Liang Shrine. The Ideology of
Early Chinese Pictorial Art. Stanford: Stanford University Press 1989. S. 220-221.
[11] Los Angeles County Museum of Art (Hg.), The Quest for Eternity. Chinese Ceramic
Sculptures from the People’s Republic of China. London: Thames and Hudson 1987. In diesem
Zusammenhang wichig sind die Beitrüge von Albert E. Dien, »Chinese Beliefs in the After-
world«, S. 1-15, und Robert L. Thorp, »The Qin and Han Imperial Tombs and the Development
of Mortuary Architecture«, S. 17-37.
[12] Bernhard Karlgren, The Book of Odes. Stockholm: Museum of Far Eastern Antiquities
1974 (Nachdruck). S. 161-163.
[13] Albert E. Dien (1987), S. 11.
[14] Nach der Schlacht von Shengxing“63 im Jahr 638 v. Chr. versuchte man die Seelen der
Toten mit Hilfe von Pfeilen, die man in den Himmel schoß, zurückzurufen. Liji zhushu, j. 6,
S. 140 (unten, im Kommentar); zur Rückkehr aus dem Dunkeln, siehe Liji zhushu, j. 9, S. 191
(oben); das berühmteste Zurückrufen der Seele, das allerdings nicht im konfuzianischen Kon-
text angesiedelt ist, findet sich in den Gesängen des Südens; siehe David Hawkes, Ch’u Tz’u.
The Songs of the South. Oxford: Oxford University Press 1957. S. 101-114. Mit großer Wahr-
scheinlichkeit fand dieser Brauch des Südens Eingang in das Totenritual des Nordens.
[15] Wu Hung, The Wu Liang Shrine. (1989). S.30X-37, 226-227.
214
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
[ 16] Wu Hung, The Wu Liang Shrine. (1989). S. 225X- 226; Martin J. Powers, Art and Politi-
cal Expression in Early China. New Haven: Yale University Press 1991. S. 97-98.
[17] Mozi jiangu (Zhuzi jicheng-Ausg.), Bd.4, j,6, S. 111-117; Dieter Kuhn (1994), S. 15-16,
Fußn, 16.
[18] Liji zhushu, j. 8, S. 168 (unten).
[19] Dieter Kuhn, »Decoding Tombs of the Song Elite«, Dieter Kuhn (Hg.), Burial in Song
China. Heidelberg: Edition Forum 1994. S. 16-18; Beispiele von Yang Wangsun und Lu Zhi.
[20] Liji zhushu, j. 47, S.275 (oben).
[21] Liji zhushu, j. 21, S.448 (unten).
[22] Lunheng [Zhuzi jicheng-Ausg.], j. 24 (lunsi), S.202; Dieter Kuhn, Die stummen Zeugen.
Gräber tragen zur Erforschung der Geschichte Chinas bei. Heidelberg: Edition Forum 1990.
S. 39-40.
[23] Burton Watson, Early Chinese Literature. New York: Columbia University Press 1962.
S. 40-66; Michael Loewe, Ways to Paradise: The Chinese Quest for Immortality. London:
Allen und Unwin 1979. S. 10-13; Albert E. Dien (1987), S. 3.
[24] Liji zhushu, j. 9, S. 201 (unten) - 202 (oben); siehe auch James Legge, The Li Ki. (1885).
S. 177-178.
[25] Mozi jiangu (Zhuzi jicheng-Ausg.), Bd.4, j.6, S. 112; Dieter Kuhn (1994), S. 16, Fußn. 16.
[26] James Legge, The Chinese Classics. Vol. 1. Confucian Analects, The Great Learning, and
The Doctrine of the Mean. London: Triibner 1861. S. 104-105 (Nachdruck, S. 240-241), (Buch
XI, Kap. 11); Übersetzung nach Ralf Moritz, Konfuzius. Gespräche. Leipzig 1982. S.89.
[27] Ralf Moritz, Konfuzius. (1982). S.52.
[28] Liji zhushu, j. 49. S.291 (unten); James Legge, The Li Ki. (1885). Bd. 28, S.236.
[29] Bernhard Karlgren, Grammata Serica Recensa. Stockholm: Museum of Far Eastern
Antiquities 1957, 1972. Nr. 597 a-c.
[30] Bernhard Karlgren, Grammata Serica Recensa. (1972). No. 553a-g.
[31] Weitere Vermutungen gehen in die Richtung, daß der Pictograph ursprünglich vielleicht
auch eine unkenntlich gemachte Form eines phallischen Symbols gewesen sei; siehe Joseph
Needham, Science and Civilisation in China. Cambridge: Cambridge University Press 1965.
Bd. 4:2, Table 11, S. 230.
[32] Dieter Kuhn, Status und Ritus. Das China der Aristokraten von den Anfängen bis zum
10. Jahrhundert n.Chr. Heidelberg: Edition Forum 1991. S.242.
[33] Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück. München: Deutscher Taschenbuch-
verlag 1989 (3. Aull). S. 85.
[34] Für spätere Dynastien bleibt dazu noch anzumerken: Eine Änderung der traditionellen
Ordnung auf diesem Gebiet des Rituals wurde dann zur Kenntnis genommen und bestätigt,
wenn sie bereits durch eine neue allgemein akzeptierte Ordnung gleichsam überlagert und ver-
drängt war, wobei aber galt, daß sich die neue geltende Handhabung auf Beispiele in Texten
der Vergangenheit berufen konnte. Diese Verfahrensweise sicherte auch in diesem Bereich
historische Kontinuität.
[35] James Legge, The Chinese Classics. Vol. II. The Works of Mencius. Hong Kong 1861.
S. 135-136 (Tengwen gong, pt. 1, ch. 5).
[36] Michael Loewe (Hg.), Early Chinese Texts. (1994). Eintrag von Edward L. Shaughnessy
zum Yijing, S. 216-228.
[37] Zhouyi zhengyi (Shisanjing zhushu-Ausgabe, Nachdruck 1980), Bd. Lj. 8, S.87; Dieter
Kuhn (1994), S. 19.
[38] Siehe auch J. J.M. de Groot, The Religious System of China. Leiden: Brill 1892-1910
(Nachdruck: Taibei, Chengwen 1972). Bd. 2, S.361.
[39] Zhongguo kexueyuan kaogu yanjiusuo, Banpo bowuguan (Hg.), Xi’an Banpo. Beijing:
Wenwu chubanshe 1963; Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (T986). S.34; 76; 230-231;
595-602; Kwang-chih Chang, The Archaeology of Ancient China. New Haven: Yale Univer-
sity Press 1986 (4. Aufl.). S. 107-156.
[40] Beijing daxue lishi kaogujiao suoshi (Hg.), Yuanjunmiao Yangshao mudi. Beijing: Wenwu
chubanshe 1983. Abb. 2.
[41] Yuanjunmiao Yangshao mudi. (1983). S.91, Abb. 40, Taf. 20.
[42] Liji zhushu, j. 8, S. 175 (oben); Dieter Kuhn (1994), S.20.
[43] Hubeisheng Jingzhou diqu bowuguan (Hg.), Jiangling Yutaishan Chu mua64. Beijing:
Wenwu chubanshe 1984. S.38, Abb. 27; Dieter Kuhn, »Zwischen dem Sarg in der Erdgrube
und dem Kammergrab aus Ziegelstein«, Dieter Kuhn (Hg.), Arbeitsmaterialien aus chinesi-
schen Ausgrabungsberichten (1988-1991) zu Gräbern aus der Han- bis Tang-Zeit. Heidelberg:
Edition Forum 1992. S.43, Abb.5:2.
[44] James Legge, The Chinese Classics. Vol. 2 The Works of Mencius. (1861). S.221.
[45] Micheál Loewe (Hg.), Early Chinese Texts. (1993). Siche den Eintrag Shijing von Michael
Loewe, S.415-423.
215
TRIBUS 44, 1995
[46] James Legge, The Chinese Classics. Vol.4 The She King. Hong Kong, London 1871.
Bd. 1, S. 121.
[47] Liji zhushu, j. 6, S. 129 (unten).
[48] Shandongsheng bowuguan. Shandongsheng wenwu kaogu yanjiusuo (Hg.), Zouxian
Yediana65. Beijing: Wenwu chubanshe 1985. S. 121, Abb. 95; S. 111; Taf. 13.
[49] Liji zhushu, j. 6, S. 129 (unten); j. 7, S. 146 (unten).
[50] Noch im 11. Jahrhundert der Song-Zeit gab es eine Reihe von Bestattungsformen für Ehe-
paare; so findet sich für den Bau von Doppelkammergräbem mit Durchgang die Rechtferti-
gung, daß diese Bauweise in der Tradition des konfuzianischen Klassikers Shijing [Buch der
Lieder] aus der frühen Zhou-Zeit stehe und damit die richtige Bauweise eines Doppelkam-
mergrabes sei; siehe Helga Stahl, »Su Shi’s Orthodox Burials: Interconnected Double Cham-
ber Tombs in Sichuan«, Dieter Kuhn (Hg.), Burial in Song China. (1994). S. 161-168.
[511 Sanlitu366 aus der Östlichen Han-Zeit. Nachdruck der Song-Ausgabe von 1175, Shanghai:
Guji chubanshe 1985. Bd. 2, j. 19, S.3b (zhaoyua67).
[52] Liji zhushu, j. 6, S. 131 (unten).
[53] Liji zhushu, j. 7, S. 158 (oben).
[54] Liji zhushu, j. 8, S. 175 (oben).
[55] Liji zhushu, j. 9, S. 191 (oben), S. 195 (oben).
2. Tod und Beerdigung als ritualisierte Ordnung
Sterberitual und Grabritual sind in den Werken zu den Riten, im Liji [Aufzeichnun-
gen der Riten] und im Yili [Etiquette und Riten] beschrieben. Während diese beiden
Werke die Darstellung der traditionellen orthodoxen Rituale in weiten Kreisen der
Oberschicht für sich in Anspruch nehmen können, behandelt das Zhoulibl [Riten der
Zhou] fast ausschließlich die streng reglementierten Rituale, wie sie vielleicht idea-
liter am Hof des Herrscherhauses der Zhou in der Zeit der Streitenden Reiche
(463-221 v. Chr.) durchgeführt worden sein könnten. [1] Neben den offiziellen
orthodoxen Riten [li] muß es aber schon damals viele regionale Bräuche [su] gege-
ben haben. Obgleich die Beschreibungen im Liji und Yili den Eindruck vermitteln,
als ob ihre Darlegungen in der Zhou-Zeit in jeder Hinsicht verbindlich gewesen
wären, ist der Einfluß solcher regionalen Bräuche wohl die Ursache für die häufigen
Varianten in der Abfolge und Ausführung der rituellen Handlungen. Ihre Aufzählung
im Liji und Yili zeugt von der Komplexität eines in der Praxis in dem beschriebenen
Umfang kaum durchführbaren, aber in der Theorie geforderten Toten- und Beerdi-
gungsrituals. Einerseits läßt es erkennen, in welchem Ausmaß sich die Familien der
oberen Gesellschaftsschicht der Vergangenheit und den althergebrachten Traditionen
zu unterwerfen bereit waren; andererseits wurde allen damaligen Zeitgenossen durch
die Zelebrierung der Beherrschung des Rituals und seiner vielen Einzelschritte auch
das Wissen um eine noch immer gelebte Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar
und erkennbar. Daraus konnten in der Zhou-Zeit die aristokratischen Familien und in
der Han-Zeit die konfuzianischen Beamten ihren unbestrittenen Anspruch auf ihren
hohen Status in der Gesellschaft herleiten.
Die folgende vereinfachende Beschreibung des Toten- und Beerdigungsrituals der
Angehörigen des hohen und niederen Adels, die auch die Beamtenpositionen
innehatten, beinhaltet nur die wichtigsten Stationen und Handlungen, wie sie sich
aus dem Liji und dem Yili zusammenstellen lassen. Die Texte sind äußerst umfas-
send und an vielen Stellen sehr detailliert. Oftmals ergänzen sie sich, manchmal sind
sie auch widersprüchlich. Viele Textpassagen sind jedoch nur mit Hilfe der aus-
führlichen Kommentare von Zheng Xuanb2 (127-200) aus der Han-Zeit, Lu
Demingb3 (556-627), Kong Yingdab4 (574-648) und Jia Gongyanb5 (ca. 655) aus
der Tang-Zeit zu verstehen. Sie tragen dazu bei, die Bedeutung der einzelnen Sta-
tionen in der Handlungsabfolge im Rahmen des Gesamtrituals einschätzen zu kön-
nen. Sie müssen deswegen aber auch als Interpretationen aus späterer Zeit verstan-
den werden, die sich zwar ausführlich mit den Begriffen beschäftigen, aber nur
selten inhaltlich-kausale Erklärungen für das rituelle Geschehen liefern. Auch muß
angemerkt werden, daß sich die gesamten Regelwerke in Widerspiegelung der Pra-
xis des Ahnenkults auf den Tod und das Begräbnis von Angehörigen des männli-
216
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
dien Geschlechts konzentrieren. Frauen kommt darin nur eine untergeordnete
Bedeutung zu. [2] Deswegen neige ich dazu, jede Abfolge von rituellen Handlun-
gen nur als den Versuch einer Rekonstruktion des tatsächlichen Verlaufs anzusehen,
weswegen die nachstehende Abfolge keineswegs verbindlich sein kann und auch im
Umfang sehr reduziert wiedergegeben sein muß. [3] Kenntnisse aus späteren Jahr-
hunderten lassen den Schluß zu, daß Abweichungen davon sicherlich gang und gäbe
waren.
Das Totenritual dauerte mehrere Tage. Als Grundregel galt;
»Männer dürfen nur in den Händen von Männern sterben, Frauen in den Händen von
Frauen«*36. [4], [5]. Diese geschlechtsspezifische Zuordnung von Aufgaben galt auch
bei der weiteren Behandlung des Leichnams.
»Sobald der Tod eintrat wurde der Leichnam auf die aus Bambus geflochtene Matte
auf einem [besonders dafür hergerichteten] Lager gebettet«67, [6] und die Angehöri-
gen mußten vom Sterbenden Abschied nehmen.
Danach wurde der Verstorbene in der seinem Rang und Geschlecht entsprechenden
Halle oder an anderer Stätte vorübergehend aufgebahrt, [7] und »die Seele des Ver-
storbenen zurückgerufen. Das war die angemessene Art einer letzten Liebesbezeu-
gung [im Sinn der kindlichen Elternliebe]«68, [8] denn »das Ausschau halten nach
dem Zurückkehren [der Seele] aus dem Dunkel ist der Weg, unter den Geistern nach
ihr zu suchen«69. [9]
»Als Keil, der zum Öffnen des Mundes des Toten diente, verwendete man einen Löf-
fel aus Horn«610. [10]
Danach stellte man als Opfer Trockenfleisch, eingelegtes Fleisch und Wein im Osten
vom Toten auf und »teilte die Halle durch einen Vorhang611 ab, der zugezogen
wurde«. [11]
Dann sandte man die Nachricht vom Tod aus, im Fall eines Beamten an den Herr-
scher, und man ordnete den Trauernden ihre Plätze zu. [12] Die Betrauerung durch
Beweinung und die korrekte Einhaltung der Sitz- und Standordnung bei dieser Zere-
monie der Ehrerweisung für den Toten, die nach dem Rang des Toten und dem Grad
der Verwandtschaft und sozialen Stellung geregelt war, mußten beachtet werden.
[13] Danach wurden die Totenkleidung und die Leichentücher in Empfang genom-
men, im Fall eines Beamten vom Herrscher, [14] und das Totenbanner aus Seide
[mingjing612] beschrieben und aufgehängt. [15] Damit war der Tote namentlich und
durch seine öffentlichen Funktionen zu Lebzeiten standesgemäß bezeichnet und von
anderen Toten unterscheidbar. »An ihrem Ende gibt die Inschrift darüber Auskunft,
wer in dem besagten Sarg liegt«613. [16] Die Maße des Banners richteten sich nach
dem offiziellen Rang des Verstorbenen. [17]
Der Text wurde dann auf eine Ehrentafel aus Holz kopiert, die auch erste Seelentafel
[chongzhu614] hieß. [18] Sie soll während der Shang-Dynastie verwendet, doch in der
Zhou-Dynastie abgeschafft worden sein. In der Nähe der Seelentafel, die allein dem
Grabkult diente, wurden die Opfer dargebracht. [19] Die Trauergesellschaft war zu
diesem Zeitpunkt gefühlsmäßig bereits sehr ergriffen.
Danach folgten »die Auslegung der Totenkleidung einschließlich der Unterwäsche
im (östlichen) Hauptraum« fchen xishi615], [20] »der Haarnadeln aus dem Holz des
Maulbeerbaums« [ji yong sang616], »der Ohrenstöpsel aus weißer Floss-Seide« [tian
yong baikuang617], »der Augenklappen aus schwarzer Seide« [mingmu yong zi618],
»der Bandagen für die Hände aus dunkler (purpurroter) Seide« [woshou yong xuan-
xun619], [21] und einer Reihe weiterer Textilien, das Vorbereiten der Gegenstände
zum Waschen des Verstorbenen und zum Füllen seines Mundes. [22]
Anschließend erfolgte die wichtige Waschung des Leichnams [23] mit unterschied-
lich präpariertem Wasser [24] auf dem sogenannten Wasserbett. »Der Leibdiener
ging (in den Raum), um den Leichnam zu waschen. Die vier niedrigen Diener hoben
das Leichentuch hoch, während zwei Leibdiener die Waschung ausführten ... zum
Waschen verwendeten sie feine Tücher, zum Abtrocknen die alltägliche Badeklei-
dung«620. [25], [26] War der Leichnam eine Frau, so wurde er von Frauen gewaschen.
Danach »wurde die Totenkleidung in vorgeschriebener Ordnung ausgelegt, insbe-
sondere die zeremonielle Opferrobe« [xi jifu621], [27] und dann auch eine Beklei-
217
TRIBUS 44, 1995
dungszeremonie des Toten durchgeführt, [28] wonach auch das zeremonielle Füllen
des Mundes des Toten mit Reis [mib22] und Kaurimuscheln [beib23], [29] bezie-
hungsweise Jade [yub24], [30] vorbereitet und vollzogen wurde.
Danach folgten Vorbereitungen für das »erste Einkleiden« des Toten, [31] das soge-
nannte »kleine Einkleiden« [xiaolian625], das am darauffolgenden Tag in der Halle
stattfand und nach strengen hierarchischen Regeln durchgeführt wurde. Die Unter-
schiede begannen bereits bei der Unterlage [32], auf der der Leichnam lag. »Der
Leichnam eines Herrschers wurde auf einer feinen Bambusmatte mit einem mehr-
farbig gemusterten Leichentuch aus Seide ausgelegt, der eines hohen Würdenträ-
gers auf einer Matte aus Schilf und einem weißen Leichentuch aus Seide und der
eines niedrigen Würdenträgers auf einer Matte aus Ried und einem Leichentuch
aus schwarzer Seide, wobei für jeden neunzehn Kleidungsstücke vorgesehen
waren«b26. [33]
Danach folgte das Aufstellen der mit symbolischen Emblemen verzierten Fächer.
Man hat sich diese Fächer wie etwa fächerförmige große Holzplatten, die an manns-
hohen Stangen aus Elfenbein angebracht waren, vorzustellen. Im Fall des Todes
eines Herrschers trugen acht Männer die acht Fächer mit den verschiedenen symbol-
trächtigen Motiven wie Drachen, Streifen und Äxten, und Wolken neben dem Sarg
zur Grabstätte. [34]
Daran schloß sich am nächsten Tag in aller Frühe eine weitere aufwendige Zeremo-
nie an, die mit der Aufstellung neuer Opfer einherging, [35] bevor eine nochmalige
Einkleidungszeremonie, das sogenannte »große Einkleiden« [dalianb27], vor der
Haupthalle stattfand. Zu diesem Zweck »wurden drei Stoffbänder der Länge nach
und fünf der Breite nach ausgelegt. Die Garderobe eines Herrschers, die auf dem Hof
mit den Krägen in Richtung Norden ausgestellt wurde, wobei die im Westen die
besten Stücke waren, umfaßte einhundert Kleidungsstücke, die eines hohen Wür-
denträgers umfaßte fünfzig Stücke, die im östlichen Korridor mit den Krägen nach
Westen ausgestellt waren, von denen die im Süden als die besten galten, und die eines
niedrigen Würdenträgers bestand aus dreißig Stücken, die nach ebensolchen Vorga-
ben ausgelegt waren«b28. [36] Auf diese Zeremonie folgten entsprechende Opfer.
[37] Die Zahl der Kleidungsstücke für das große Einkleiden belief sich selbst bei
einem niederen Aristokraten auf dreißig Teile, [38] bevor der Leichnam mit Hilfe der
Bänder und danach der Sarg kunstvoll mehrfach verschnürt wurden. Es ist aufgrund
der großen Zahl von Bekleidungsstücken durchaus angebracht von einem Ein-
wickeln oder Verpacken des Verstorbenen zu sprechen, im Sinn von »sammeln« oder
»ansammeln« [lian624] von Kleidungsstücken. [39]
Das Ritual endete mit der Aufbahrung unter einem Leichentuch im dafür bestimm-
ten und zuvor hergerichteten Hauptraum. Danach wurde der Vorhang wieder geöff-
net.
Am nächsten Tag folgte die makabre Zeremonie der Einsargung des Toten, in der
»der Hauptleidtragende [mit Hilfe anderer] den vollständig verhüllten Leichnam
mit beiden Händen empfängt und in den Sarg bettet, und nachdem er wie zuvor auf
den Boden gestampft hat, den Sargdeckel auflegt«630. [40] Zum Vorgang des Ein-
sargens bedurfte es weiterer aufwendiger Opferrituale mit Tieropfern, [41] wobei
die alten Opfer in der Halle durch neue ersetzt wurden. Sodann erfolgte die Pla-
zierung der hölzernen Seelentafel, die Inspektion der Grabbeigaben, die Festset-
zung des Datums der Beerdigung im vorher bestimmten Grab. Bei alledem mußten
die Vorgaben für die Trauerklage, für die richtige Aufstellung der Trauernden, die
Durchführung ihrer Wehklagen beachtet werden, wobei die Männer mit den Füßen
auf den Boden stampften und die Frauen sich mit den Händen an die Brust schlu-
gen. In ihrer äußeren Erscheinung zeigten sie ihren Schmerz dadurch, daß sie die
Haare nicht mehr zusammengebunden trugen, sondern aufgelöst und wirr herab-
hängen ließen. [42]
»Der Sarg wurde auf einem Leichenwagen zum Ahnentempel transportiert«631, [43]
wobei folgende Reihenfolge im Leichenzug einzuhalten war: Seelentafel, Opferga-
ben, Fackel, Leichnam im Sarg, Fackel und dann der Hauptleidtragende, dem die
anderen Trauernden folgten632. [44]
218
Kuhn; Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Am Ahnentempel »wurden die Grabbeigaben (Geistergeräte) westlich von (den Pfer-
den und) dem Leichenwagen aufgestellt«b33. [45]
Dann bereitete man folgende Gegenstände vor: »die Längs- und Querbretter für die
Grababdeckung mit der Unterseite nach oben, die drei Quer- und zwei Längsbretter
für die Sargabdeckung und die drei Matten, die im Grab auf den Brettern lagen«b34,
[46] des weiteren das Verpackungsmaterial für Geschenke, Grabbeigaben, Nah-
rungsmittel und andere Gegenstände, die ins Grab mitgegeben wurden; danach folg-
ten jene Objekte, die der Verstorbene zu Lebzeiten geschätzt hatte, »sein Bogen,
seine Pfeile, Hacke und Pflugschar, zwei Behälter mit Saatgut (dui), zwei Gefäße
mit Ausguß und ein Weingefäß (yi), dessen Ausguß nach Süden gerichtet ist, in
einem Waschbecken, falls gewünscht Musikinstrumente, seine Kriegsausrüstung,
Harnisch und Hehn, Speer und Köcher, die Gegenstände wie Fächer, Stock und
Bambushut, die der vornehme Herr in Zeiten der Muße bei sich trug«b35. [47] In dem
Text heißt es ausdrücklich, daß keine Opfergefäße unter den Grabbeigaben sein soll-
ten.
Danach kam die Vorbereitung der Darbietung der aufwendigen Abschiedsopfer in
fünf speziellen Dreifüßen, die Teile eines Schafes und Schweines ohne Innereien,
sowie separat einige Innereien wie Magen und Lunge, und auch Fisch und Wild und
vieles andere mehr enthielten. [48]
Zum Schluß folgte die Verlesung der Liste der Zuwendungen und ihre buchhalteri-
sche Erfassung. Dies geschah östlich des Sarges dergestalt, daß »der Sekretär des
Hauptleidtragenden darum bat, die Liste (feng) verlesen zu dürfen, und ein Assistent
mit der Buchhaltung östlich des Sarges folgte«636. [49]
War dies alles beendet, wurden der Sarg, die Opfer und Grabbeigaben auf verschie-
dene Wagen geladen, [50] und der Leichenzug »machte sich auf den Weg zum Grab,
wo die Gefäße östlich und westlich des Weges aufgestellt wurden, wobei die wichti-
gen im Norden standen«. [51] Dann legte man zuerst geflochtene Matten [yin xian
rub37] in die Grube und brachte die Seile am Sarg an [shu yinb38]. Erst »dann wurde
der Sarg in die Grube hinabgelassen, wobei der Hauptleidtragende laut wehklagte
und unzählige Male mit den Füßen auf den Boden stampfte. Nach herkömmlicher
Weise wurden dem Toten als Abschiedsgeschenk noch mehrere Längen schwarze
und purpuiTOte Seide in Rollen ins Grab mitgegeben«b39. [52] Danach »plazierte man
die Gebrauchsgegenstände und Waffen sichtbar und dann die Vorratsgefäße mit dem
Fleisch und den Feldfrüchten an den Seiten des Sarges«b4°, danach »wurden die
Abdeckbretter auf den Sarg gelegt, mit Matten zugedeckt und die Sargabdeckung
darübergelegt«b41, [53], [54] War der Sarg unter einer großen verzierten zeltförmigen
Ummantelung, die in ihrer Ausgestaltung dem Rang des Toten entsprach, [55] zum
Grab gebracht worden, [56] dann wurde sie mit ins Grab gegeben. Der Impersonator
des Verstorbenen wurde von den bevorstehenden Opfern unterrichtet. [57] Der
Hauptleidtragende schüttete drei Lagen Erde ins Grab und bedankte sich bei der
Trauergemeinde, die ihm zum Grab gefolgt war. Die Opfergaben wurden links vom
Grab auf einer Matte aufgestellt und um die Mittagszeit wurde das Opfer zelebriert.
Es sollte nicht mit jenem Opfer verwechselt werden, das anläßlich der Beisetzung
des Sarges dargebracht wurde. Die Zeit der Totenklage war erst nach dem dreifachen
Opfer [sanyub42] beendet. [58] Damit kam die Trauer am Grab zu ihrem Ende und
man sagte: »Es ist vollbracht« [chengshi643]. [59]
Nachdem die hölzerne Ehrentafel verbrannt war, wurde sie durch eine dauerhafte
Seelentafel [shenzhub44] ersetzt. Ihre Aufstellung im Ahnentempel erfolgte am näch-
sten Tag, wodurch Toten- und Begräbnisritual endgültig abgeschlossen waren. [60]
Der Verstorbene wurde zum Ahn und die Seelentafel war der Ort, an dem die Seele
bei den entsprechenden Opferritualen im Ahnenkult angerufen werden konnte. Die
Seelentafel war also die Wohnstatt des Geistes des Ahnen und damit von rituell
schicksalhafter Bedeutung, die dem Grab des Verstorbenen nicht im selben Maß
zukam. Die Seelentafel gehört damit in den Bereich des Ahnenkults und stand dem-
entsprechend auf dem Ahnenaltar in der Haupthalle oder im Ahnentempel. Vor ihr
wurden die Familienopfer der Nachkommen an die Ahnen dargebracht, [61] die
wichtigsten Opferriluale in der chinesischen Geschichte.
219
TRIBUS 44, 1995
Für die nächsten Jahre mußten die Hauptleidtragenden nun die komplizierten Trau-
ervorschriften in der Trauerzeit und das Tragen der Trauerkleidung einhalten. Alle
Einzelheiten waren für die Angehörigen der Oberschicht, die Aristokraten und
Beamten, bis ins kleinste Detail verbindlich geregelt. [62]
Die aufwendigen Vorschriften und Regeln in den Ritenbüchern, die immer wieder
durch die Jahrhunderte in Zweifelsfällen oder bei unorthodoxen Neuerungen in die-
sem Bereich befragt wurden, besaßen keineswegs nur im Altertum verbindliche Gül-
tigkeit, sondern sie wurden mit Abweichungen und Vereinfachungen bis zum Ende
des Kaiserreiches von den Familien der Oberschicht befolgt. Selbst die Art wie man
Trauer und Schmerz über den erlittenen Verlust angemessen zeigte, war vorge-
schrieben, beziehungsweise beschrieben. So heißt es unter anderem:
»[Wenn ein Vater gerade gestorben ist], so muß der Sohn so betroffen sein, als ob er
selbst am Ende wäre; bei der Einsargung soll er nervös und besorgt umherblicken, als
ob er nach jemandem suchen würde, den er nicht finden kann; bei der Beisetzung soll
er verwirrt und beunruhigt sein, als ob er nach jemandem Ausschau hielte, der nicht
kommt«645. [63]
Zur Hierarchie im Grabkult
Es ist nicht möglich, die ganzen komplizierten und zum Teil auch widersprüchlich
kommentierten Regeln der Bestattung und der oftmals auch makaber erscheinenden
Toten- und Beerdigungsrituale in allen Einzelheiten aufzuführen oder näher zu
erklären. Doch einige seien hier beispielhaft herausgegriffen und mit Material aus
dem reichen archäologischen Fundus belegt.
Die Vielfalt der überlieferten komplizierten Regeln übertrifft bei weitem die einfa-
che hierarchische Einteilung der zhou-zeitlichen Gesellschaft in Beamte aus aristo-
kratischen Familien [shib46], Bauern [nongb47], Handwerker [gong648] und Kaufleute
[shang649]. Tatsächlich zählte in dieser Einteilung nur die vielfältig differenzierte
Schicht der Aristokraten. Zu ihr gehörten insbesondere die niederen Aristokraten
[shi]. In der Han-Zeit sollte sich die Struktur der Gesellschaft augenfällig ändern, da
nun auch Beamte, die nicht aus der Aristokratie stammten, zu gesellschaftlichem
Ansehen und entsprechenden Ämtern gelangen konnten. Dazu entstanden in der
Han-Zeit eine reiche Kaufmannschaft und eine Schicht von Landbesitzern, die kei-
neswegs mehr bereit waren, sich in ihrem Lebensstil älteren und für sie antiquierten
Vorstellungen unterzuordnen. [64] Gleichwohl erkannten sie die Vorteile, die in der
Übernahme von einigen, ihnen passenden konfuzianischen Praktiken lagen, deren
äußerliche Beherrschung im Ritual ihnen zu öffentlichem Ansehen und einer Kar-
riere verhelfen konnte.
Obgleich sich also tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in der Han-Zeit
aufzeigen lassen, bestand die offizielle Ideologie fort, wie sie sich im Sprachge-
brauch auch nach der Zhou-Zeit nachweisen läßt. So richtete sich die Verwendung
des Schriftzeichens [65] für »Tod« und »sterben« danach, wer von den Angehörigen
der Oberschicht starb. Der Tod des Himmelssohns [tianzi650] und nach 221 v. Chr.
des Kaisers, wurde mit dem Schriftzeichen beng (einstürzen) bezeichnet; der Tod
eines Fürsten oder Prinzen, der vom Herrscherhaus abstammte, hieß hong (kra-
chen); der Tod eines hohen adligen Beamten hieß zu (enden); der Tod eines niedri-
gen Beamten hieß bu lu (keine Einkünfte mehr beziehen); der Tod eines gewöhn-
lichen Menschen hieß si (sterben)651. [66] So wie das Sterben terminologisch nach
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe unterschieden
wurde, so entsprach dann auch der Aufwand bei der Anfertigung des wichtigsten
Gegenstands der Beerdigung, dem Sarg, seiner Stärke, seiner Ausfütterung mit Sei-
denstoff, [67] Beschichtung mit Lack und seiner Bemalung mit farbigen Mustern
wie man sie vom Dekor von Ritualbronzen kennt, [68] dieser hierarchischen Ord-
nung.
Der Sarg des Himmelssohnes [guan652] bestand aus fünffach ineinandergesetzten
Särgen, wobei die beiden innersten Särge aus den Häuten von Wasserbüffel und Rhi-
nozeros angefertigt gewesen sein sollen, danach folgten drei Särge aus genau
220
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
bestimmten Hölzern. Bislang wurde keine Särge aus Leder gefunden. Ob hier
tatsächlich Särge gemeint sind oder eine Art von Auskleidung beziehungsweise Ver-
kleidung ist nicht festlegbar. Der große Sarg [daguanb53] stand wiederum in einem
äußeren Sarg [guob54] aus Zypresse, der verputzt und geschmückt war und die Form
eines Hauses hatte. [69] Die Wahl des Holzes richtete sich nach dem Rang des Ver-
storbenen. [70] Die Stärke des Holzes war auch vorgeschrieben. [71 ] Der äußere Sarg
stand im Grab, das im Gegensatz zu den Ausführungen in den Textquellen, die immer
die Einfachheit des Grabes betonen, ganz unterschiedlich angelegt und gebaut sein
konnte. Bei den in der Hierarchie nachfolgenden Würdenträgern verringerte sich die
Zahl der Särge jeweils um einen. [72] Den niederen Beamten stand somit nur noch
ein Sarg zu; das einfache Volk [shuminb55] mußte demnach seine Toten ohne Sarg
beisetzen. Die Särge waren kunstvoll verzapft oder mit grobem Tuch oder Lederrie-
men zugebunden [73] und in der Zhou- und Han-Zeit in der Regel noch ohne Nägel
hergestellt. [74] Doch es gab auch andere Ausführungen: Der innere Sarg des Herr-
schers war mit roter Seide [zhulub56] ausgefüttert und mit Nägeln aus verschiedenen
Metallen befestigt, der Sarg hoher Beamter wurde mit schwarzer Seide [xuanlub57]
ausgeschlagen, die mit Nägeln aus Ochsenknochen befestigt wurde. [75] Der äußere
Sarg eines Herrschers wurde gefüttert, der eines hohen Würdenträgers nicht. [76]
Auch die Ausführung der mit Lack beschichteten Sargdeckel, die Verkeilung, bezie-
hungsweise Verpflockung und Verschnürung des Sarges waren vorgeschrieben
(Abb.6) [77]. [78] Es gab auch Bestimmungen für den äußeren Sarg, die nicht nur
die Art des Holzes festlegten, sondern auch die Größe des Zwischenraums zwischen
dem inneren und dem äußeren Sarg bestimmten. Im Fall eines Herrschers durfte ein
Musikinstrument des Typs zhub58, bei einem hohen Würdenträger ein Wassergefäß,
bei einem niederen Beamten ein Weinkrug aus Steingut in den Zwischenraum pas-
sen1539 (Abb.7) [79]. [80] Sehr oft wurden Ritualbronzen und andere Gefäße auch in
dem schmalen Raum zwischen dem äußeren Sarg und der Wand der Schachtgrube
aufgestellt (Abb. 8) [81 ].
Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die doch recht kurzen Beschreibungen der Särge
in den Quellentexten, die sich in Angaben zum Holz und zu den Maßen erschöpfen,
kaum befriedigend sind. Sie wandten sich eindeutig an eine Leserschaft, die
ohnehin Bescheid wußte. Deswegen konnte man sich auf eine systematisierende
Beschreibung der traditionellen, das heißt der als richtig erachteten Vorgaben,
beschränken. Auf die kaum einmal eindeutig erwähnte Verwendung von Schacht-
gräbern, geschweige denn ihre Bauweise, kann nur durch die Verwendung mecha-
nischer Hilfsmittel ljib6°], derer man sich zum Absenken des Sarges bediente,
geschlossen werden. [82] Die wenigen Angaben stehen in keinem Verhältnis zu der
Vielfalt, Größe und Ausstattung der in den archäologischen Ausgrabungen ent-
deckten Gräber der Zhou-Zeit.
ln der Zhou-Zeit soll es üblich gewesen sein, den Verstorbenen im Sarg zum Ahnen-
tempel zu bringen und dort zu präsentieren, bevor er sofort danach beerdigt wurde.
[83] In der Regel wurde der Sarg ]jiub611 von dort auf einem Wagen ans Grab beför-
dert, wobei auch wieder gewisse Regeln im Trauerzug, wie das Festhalten an den
Seilen des Wagens, strikt einzuhalten waren. Die Bestimmungen der Zhou-Dynastie
legten fest, daß der Himmelssohn sieben Tage nach seinem Tod eingesargt und sie-
ben Monate später beerdigt wurdeb62. [84] Der Leichenwagen des Herrschers
(Abb. 9) [85], auf dem der Sarg [jiu] zum Grab gefahren wurde, hieß liucheb63,
»Wagen aus dem Holz der Weide«. [86] Der zweiachsige Wagen, »ein rollender
Katafalk«, war von einer bis fast zum Boden hinabhängenden, vierseitigen, zeltför-
migen Ummantelung des Sarges [guanzhaob64] verdeckt. Die Qualität ihres Materi-
als und die Art ihrer Ausgestaltung richteten sich nach dem gesellschaftlichen Rang
des Toten; deswegen hießen sie Ummantelung mit Drachen mit dreifachem Bam-
busgeflecht [longwei sanchib65], Ummantelung mit Bildern mit zweifachem Bam-
busgeflecht [huawei erchib66] und Ummantelung aus weißem Tuch mit einfachem
Bambusgeflecht [buwei yichib67]. Die Machart der Ummantellungen wurde also
ebenfalls verschieden. Es gab die kunstvoll bestickte innere Lage [chub68] und die
äußere Lage [weihuangb69]. Im Fall der Ummantelung des Sarges eines Herrschers
221
TRIBUS 44, 1995
benötigte man drei Bambusgeflechte [sanchi] zwischen den verschiedenen Lagen.
[87] Bei dieser Ummantelung waren alle Seiten kunstvoll mit glückverheißenden
Symbolen bestickt, wie Drachen, den Klingen der Doppelaxt, Phönixen und derglei-
chen. [88] Kleine Fische aus Bronze, die aussahen, als ob sie aus dem Wasser sprin-
gen würden, waren zusätzlich angebracht. [89] Die Ummantelung wurde bei der Bei-
setzung auf den Sarg gelegt und mitbegraben, wie das im Fall der Beerdigung von
Shao Tuo im Jahr 292 v. Chr. geschehen ist. Die Ausstattung dieses Grabes unter-
scheidet sich von anderen Gräbern auch dadurch, daß in ihm ein großes, 220 cm lan-
ges Klappbett aus Holz gefunden wurde. [90]
Der hierarchischen Ordnung bei den Bestattungen entsprechend, wurden die Prinzen
nach fünf Tagen eingesargt und nach fünf Monaten begraben, und alle anderen
einschließlich der gebildeten Leute niederen Standes wurden drei Tage nach ihrem
Tod eingesargt und drei Monate später beerdigtb7a [91] Einzig die Einhaltung der
dreijährigen Trauerzeit für Eltern sollte für alle gelten. [92] Diese Bestimmungen
werden auch in den konfuzianischen Werken späterer Dynastien immer wieder als
verbindliche Festsetzungen wiederholt, wenngleich den gebildeten Leuten ein
Begräbnis binnen eines Monats eingeräumt wurde. [93] Doch das theoretische
Wesen dieser Bestimmung wird, abgesehen von dem offensichtlichen Widerspruch
über die Benutzung eines Sarges beim Volk und der Festlegung einer Frist für die
Beerdigung nach der Einsargung, auch daran erkennbar, daß im Zhouli [Riten der
Zhou] für die niederen Ränge und das gewöhnlich Volk nur von einer Frist von einem
Monat für die Beerdigung die Rede ist.
In welchem Maß das ganze komplizierte Regelwerk auch im Todesfall von Kaisern
Theorie war, sieht man daran, daß man sich selbst im kaiserlichen Haushalt der Han-
Zeit nicht mehr an diese Bestimmungen gehalten hat. Beim Tod des Kaisers Wendib71
(reg. 179-157 v. Chr.) im Jahr 157, dessen Regierungszeit oftmals als konfuzianisch
geprießen wurde, wartete man nur sieben Tage bis zur Beerdigung, [94] bei Kaiser
Wudib72 (reg. 140-87 v.Chr.) im Jahr 87 v. Chr., in dessen Regierungszeit sich kon-
fuzianische Vorstellungen offiziell etabliert hatten, gerade achtzehn Tage, [95] bei
Kaiser Mingdib7? (reg. 58-75) [96] elf Tage und bei Kaiser Zhangdib74 (reg. 76-88)
[97] zwölf Tage. Man kann deswegen für die Han-Zeit annehmen, daß die früheren
idealen Festlegungen keine verbindliche Gültigkeit mehr besaßen, wahrscheinlich
auch nie so verbindlich gewesen waren, wie dies die alten Ritentexte glauben
machen wollen.
Im Fall eines Kaisers oder eines Lehnsfürsten in der Zhou-Zeit war eine möglichst
schnelle Einsargung und Beerdigung eine Frage der kontinuierlichen Machtsiche-
rung im Reich oder Lehensstaat und, damit verbunden, der moralisch gerechtfertig-
ten Thronfolge oder des Erbantritts. Schon aus diesem Grund bedurfte es der Schaf-
fung gewisser Regeln, die durch die Tradition legitimiert waren. Bei den »kleinen
Leuten«, die zwar gebildet sein konnten, aber nicht zum Hauptzweig der großen
Familien der Oberschicht gehörten, gestaltete sich die Durchführung einer großen
Beerdigung als Problem, da solche Beerdigungen meistens die persönlichen finan-
ziellen Möglichkeiten überforderten.
Da die Beerdigung des Verstorbenen mit den angemessenen Ritualen in der Regel die
Voraussetzung für die Ausführung des Ahnenkults bildete, wurden solche aufwendi-
gen Toten- und Beerdigungsrituale durchgeführt. Alle finanziellen Ausgaben, auch
wenn sie die wirtschaftliche Basis der Familie fast ruinierten, waren dem Ziel der
legitimen Fortsetzung des Ahnenkults untergeordnet, da er allein als Ausweis der
gesellschaftlichen Dazugehörigkeit angesehen wurde. Dieses Problem erkannte auch
schon Konfuzius in seiner Zeit, als er feststellte, daß sich der Aufwand bei den
Trauerutensilien (Sarg, Opfer, Grabbeigaben) nach den Mitteln der Familien richten
müßte. Er empfahl, daß diejenigen Familien, die über alle Möglichkeiten verfügten,
sich an die vorgegebenen Riten halten, und jene, die nur wenig hatten, sich darauf
beschränken sollten, den Toten von Kopf bis Fuß zu bedecken, den Sarg mit Hilfe
von Seilen in das Grab hinabzulassen und das Grab mit Erde zuzudecken. [98] An
anderer Stelle findet sich ergänzend, daß man, wenn die Mittel fehlen, auch auf den
äußeren Sarg [guo] verzichten durfte. [99]
222
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Die leibliche Ausstattung der Toten
Was den Verstorbenen selbst anbetrifft, so wurden ihm noch vor seiner Beerdigung
Opfer in einfachen Gefäßen dargebracht und sein Mund mit ungekochtem Reis und
kleinen Kaurimuscheln gefüllt. Die dahinterstehende Idee war weder, daß man ihn
mit Nahrung versorgen wollte, noch, daß man die Vorstellung, der Mund könne
leer sein, nicht ertragen konnte. [100] Im Zhouli [Riten der Zhou] steht geschrie-
ben, daß man zum Füllen des Mundes zerstossene Jade mit Reis mischte. [101]
Man versuchte auf diese Weise, die yang-Energie, die Lebensenergie, zu fördern.
Deswegen wurde es auch üblich, dem Toten einen Jadestein in den Mund zu legen,
denn dem Jadestein sagte man nach, die Lebensenergie zu stärken. Übertragen auf
einen Toten sollte Jade den Leichnam vor der Verwesung bewahren. Aus diesem
Grund verwendete man auch Körperstöpsel aus Jade, [102] mit denen alle neun
Körperöffnungen (Mund, Nasenlöcher, Ohren, Augen, After und Genitalien) ver-
schlossen wurden, [103] um die Ganzheitlichkeit des Leichnams zu gewähren, die
nach der Vorstellung von der Rückkehr der Seele in den Körper erforderlich war.
In einigen Fällen wurden ganze Gewänder aus Jadeplättchen für die Verstorbenen
hergestellt. [104]
Eine Praxis, die in keinem der hier zitierten maßgeblichen Texte Erwähnung findet,
ist das Bestreuen des Sarginnern mit Zinnober. Der Brauch war schon in der Stein-
zeit üblich und wurde auch in der Shang- und Zhou-Zeit fortgesetzt. Wenn man weiß,
welche Bedeutung Zinnober wenige Jahrhunderte später in der alchimistischen
Kunst der Herstellung der Droge der Unsterblichkeit in China gewinnen sollte, [105]
ist dieser frühe vorschriftliche Zusammenhang im Sarg zwischen einem Toten und
der Verwendung von Zinnober besonders hervorhebenswert. Unerwähnt bleibt auch
die archäologisch nachgewiesene Verwendung von verschiedenen Isolationsmateria-
lien wie Holzkohle und speziellen tonhaltigen Mörtelschichten. Eine weitere Beson-
derheit, die sich in den Schriften nicht findet, ist die Ausstattung von Verstorbenen
mit einer sogenannten kastenförmigen »Schutzmaske« aus Lack für das Gesicht des
Toten [qimianzhaoh7;i], wie sie vollständig in einem Grab aus den letzten Jahrzehn-
ten des 1. Jahrhunderts v. Chr., das einem hohen Beamten und seiner Gattin gehörte,
gefunden wurde. [106] Ganz zweifellos sind alle jene Grabausstattungen im Bereich
einer mündlichen Brauchtumspflege angesiedelt, also im Sinn einer oral history
überliefert und wurden über Jahrhunderte praktiziert. Neben einer Reihe von Grab-
beigaben aus Lack, Bronze und Holz fanden sich im Sarg des Grabbesitzers und dem
seiner Gattin auch jeweils zwei Handhölzer [muwob76], die die Toten ursprünglich in
den Händen gehalten hatten, und eine Schutzmaske (Abb. 10) [107]. Der aus Holz
gefertigte, nach vorne unter dem Schild offene Kasten, der den Kopf des Mannes
umhüllte, war etwas größer als der der Frau. Das Holz war außen mit braunem Lack,
innen mit rotem Lack beschichtet. Darauf hatte man verschiedene Motive von Wol-
kendunst, Raubvögeln, wilden Tieren und gefiederten Menschen mit Lack gemalt.
Im Deckel der Maske innen war über dem Gesicht des Toten ein Bronzespiegel mit
einem Durchmesser von 9 cm angebracht. In späteren Jahrhunderten sollte der Spie-
gel auf der Innenseite des Sargdeckels befestigt werden, um in der Dunkelheit Licht
auf den Verstorbenen zu werfen. [108]
Grabbeigaben und Geistergeräte
Als die Frau des Herzog Xiangb77 von Songb78 (gest. 638 v. Chr.) starb, wurden ihr
hundert Gefäße mit eingelegten Nahrungsmitteln ins Grab mitgegeben. Obgleich sie
eigentlich nur als Geistergeräte [mingqib79] [109] gelten sollten, waren sie dennoch
tatsächlich gefüllt, [110] also Grabbeigaben im Sinn von Vorratsgefäßen [zangqib80].
[111] Grabbeigaben konnten sowohl kunstvoll gefertigte Ritualgefäße als auch
andere Statusobjekte wie Waffen und Schmuck sein, die von der hohen Wertschät-
zung, die man den Verstorbenen entgegenbrachte, zeugten. [ 112] In der Steinzeit gab
man den Toten Vorratsgefäße, Waffen, Werkzeug und Schmuck mit, daneben aber
auch Statussymbole wie Schweinekiefer, die belegen, daß der Tote aus einer vermö-
223
TRIBUS 44, 1995
genden Familie stammte. Vereinzelt wurden auch rituelle Menschenopfer entdeckt.
In der Shang-Dynastie statteten die Nachkommen aus den wichtigen Familien die
großen Schachtgräber ihrer Verstorbenen mit Menschen- und Tieropfern in großer
Zahl aus (siehe Abb. 13 u. 14). Meistens mußten die Menschen ihrem Herrscher oder
Herrn ins Grab folgen [xunzangb81]. Dazu stellten sie wertvolle Ritualbronzen für
Speise- und Trankopfer, kunstvoll gearbeitete Gegenstände aus Jade, Knochen und
Elfenbein in und bei den Särgen auf. Bereits in der frühen Westlichen Zhou-Zeit, als
die Zahl der Menschenopfer pro Grab sieben nicht mehr überschritt [113] und Typ
und Zahl der Ritualbronzen den Rang des Grabbesitzers erkennen lassen, wurde zwi-
schen wertvollen Grabbeigaben und unbrauchbaren Geistergeräten, die man den
Verstorbenen ins Grab mitgab, unterschieden. [114] Um welchen Typ von Beigaben
es sich handelt, kann in der Regel anhand der Qualität und der tatsächlichen Brauch-
barkeit der Objekte erkannt werden. Die Zeitgenossen von Konfuzius haben sich bei
der Anfertigung von Grabbeigaben allem Anschein nach weniger an deren sym-
bolischem Wert für die Ahnen orientiert als vielmehr an ihrer praktischen Nützlich-
keit, was wohl kaum der Sinngebung von Geistergeräten entsprechen konnte.
Während die Quantität der Grabbeigaben bis zur Han-Zeit ständig zunahm, vermin-
derte sich ihre Qualität. Trotzdem wurde in der Östlichen Han-Zeit Klage darüber
geführt, daß kostbare Dinge, Grabwächter, Wagen und Pferde in die Gräber unter die
Erde kämen. [115]
In dieser über Jahrhunderte und auch noch später weit verbreiteten Praxis, die viele
Zeitgenossen als volkswirtschaftliche Verschwendung betrachteten, hatte bereits
Konfuzius eine Gefahr erkannt. Er fürchtete eine verhängnisvolle Verwechslung der
Begriffe, die mit seinen Vorstellungen nicht in Übereinstimmung zu bringen war. Für
ihn war die Funktion der Geistergeräte im Grab deswegen ganz klar umrissen:
»Die Toten als Tote zu behandeln, würde einen Mangel an Zuneigung zeigen. Das
sollte man nicht tun. Die Toten als Lebende zu behandeln, würde einen Mangel an
Klugheit zeigen. Das sollte man auch nicht tun. Deswegen besorge man ihnen Bam-
busgeräte, die zum Gebrauch ungeeignet sind; Keramikgefäße, die ungewaschen
sind; Holzgeräte, die unfertig geschnitzt sind; Zithern mit gespannten Saiten, die ver-
stimmt sind, Mundorgeln mit vollständigen, doch unharmonischen Pfeifensätzen;
Glocken und Klangsteine, doch ohne Ständer. Alle diese nennt man Geistergeräte
[mingqi], weil man mit ihnen [die Toten] als Ahnengeister behandelt«1382. [116]
Konfuzius betrachtete es als eine Unsitte, taugliche Objekte als Grabbeigaben zu ver-
wenden. Und er fürchtete, daß hölzerne Figuren in den Gräbern durch Menschen
ersetzt werden könnten. [117] Die Befürchtung von Konfuzius widersprach sicher
seinem Wissensstand, denn auch er wußte, daß in seiner Heimatprovinz Shandong
Menschen ihrem Herrscher ins Grab folgen mußten. [118] Auch war ihm sicherlich
bekannt, daß im Jahr 678 v. Chr. dem Fürsten Wu von Qin 66 Personen als Opfer ins
Grab gefolgt waren, [119] dem Fürsten Mu im Jahr 621 v. Chr. sogar 177 Personen.
[ 120] Im Grab des Marquis Yi von Zeng in Chu wurden um das Jahr 433 v. Chr. noch
21 Mädchen und junge Frauen als Begleitopfer in Särgen mitbegraben (siehe
Abb. 24). [121] Zweifelsohne wurde mit solchen Begräbnissen die neue Macht der
Lehensfürsten im eigenen Reich und ihr politischer Anspruch gegenüber dem
Königshaus der Zhou demonstriert. Während der Zeit der Streitenden Reiche
(463-221 v. Chr.) verringerte sich die Zahl von Menschenopfern in den Gräbern
zwar wieder, doch auch in der Qin-Zeit und in späteren Dynastien ging noch eine
Reihe von Konkubinen mit ihren Herrschern in den Tod. Aus der frühen Westlichen
Han-Zeit ist ein sehr aufwendig gebautes Holzkammergrab mit zwölf Kammern
bekannt, unter dem sieben Menschen, die ihren Herrn in den Tod begleiten mußten,
in Särgen bestattet waren. [122]
Doch die quantitative Abnahme der rituellen Menschenopfer in Gräbern [xunzang]
hing nicht nur mit den machtpolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen in den
einzelnen Lehensstaaten, sondern auch mit dem seit dem 4. Jahrhundert zu beob-
achtenden, langsam wachsenden neuen Verständnis der Funktion eines Grabes
zusammen. Dem neu aufkommenden Abbildcharakter des Grabes als domus aeterna
des Verstorbenen, als einer unterirdischen Residenz für die Ewigkeit, entsprachen
224
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
vor allem die Grabfiguren aus Keramik, die man gegen Ende der Zhou und in der
Han-Zeit vermehrt in Gräbern entdeckt hat. Lothar von Falkenhausen erklärte dazu:
»Für eine abbildende Funktion eignen sich Figuren viel besser als Menschen-
leichen; man kann auf ihnen die gewünschten Tätigkeiten, Handbewegungen und
Körperposen unveränderlich festschreiben. Auch sind sie im allgemeinen hand-
licher.« [123]
Die Figuren der Terrakotta-Armee in den Katakomben des Grabes des ersten Kaisers
von China der Qin-Dynastie verkörpern auf eindrucksvolle Weise in Haltung und Ge-
stik die bildhafte und gleichzeitig körperliche Funktion der Grabfiguren. [124] Von der
Zahl her ähnlich beeindruckend, doch zivil im Wesen, sind tausende Grabfiguren, die
bislang in elf von 48 Gruben in der Nähe des Grabes von Kaiser Jingdi (reg. 156-141
v. Chr.) der Westlichen Han-Zeit entdeckt wurden (Abb. 11). [125] Sie sind etwa 60 cm
hoch und waren ursprünglich mit Seide bekleidet. Abgesehen von solchen unbeweg-
lich starren Keramikfiguren gab es auch kunstvoll zusammengesetzte hölzerne Glie-
derpuppen mit Kopf, deren Haltung veränderbar war. Von solchen Puppen, die so groß
wie Menschen sein konnten, versprach man sich offensichtlich eine Funktionalität wie
sie nur Menschen erbringen konnten (Abb. 12). [126]
[1] Die Beerdigungs- und Grabrituale sind im Zhouli nicht in einem geschlossenen Kapitel
abgehandelt, sondern über mehrere Kapitel des Frühlingsamtes Chunguanb83 verteilt, siehe
Zhouli zhushu (Shisanjing zhushu-Ausg. in 2 Bänden). Beijing: Zhonghua shuju 1980. Bd. 1,
j. 17-27, S. 752-829; Übersetzung von Edouard Biot. (1851). Bde. I & 2, Livre 18-27.
[2] Eine Reihe von schwer zu beantwortenden Fragen, die die Anwendung des Totenrituals für
Frauen betrifft, könnten gestellt werden.
[3] Kürzlich hat Bernt Hankel eine philologische Untersuchung der letzten Tage vor der Beer-
digung anhand der Ritenklassiker abgeschlossen, die mir bei der Fertigstellung dieses Manu-
skripts leider noch nicht zur Verfügung stand; Bernt Hankel, Der Weg in den Sarg. Die ersten
Tage des Bestattungsrituals in den konfuzianischen Ritenklassikern. Dr. phil. Dissertation,
Universität Münster 1993 (unveröffentlicht).
[4] Liji zhushu, j. 44, S.21I (oben).
[5] Yili zhushu, j. 13, S.491 (unten).
[6] Liji zhushu, j. 44, S. 223 (unten); zur Matte zib84 siehe den Kommentar.
[7] Liji zhushu, j. 44, S. 211 (unten).
[8] Liji zhushu, j. 9, S. 191 (oben); j. 44, S. 212 (oben).
[9] Liji zhushu, j. 9, S. 191 (oben).
[10] Yili zhushu, j. 12, S.427 (unten).
[11] Yili zhushu,]. 12, S. 428 (oben). Das Liji zhushu, j. 9, S. 190 (unten) bemerkt dazu, daß dies
im Altertum keineswegs der Brauch gewesen sei.
[12] Yili zhushu,]. 12, S.428 (unten).
[13] Liji zhushu, j. 44, S. 213-214. Aus dem Kommentar ergibt sich, daß der Körper eines toten
Herrschers mit dem Kopf nach Süden unter dem Fenster aufgebahrt war.
[ 14] Yili zhushu, j. 12, S. 429 (oben) bis S. 431 (oben).
[15] Yili zhushu, j. 12, S.431 (oben).
[16] Yili zhushu, j. 12, S.431 (oben).
[17] Liji zhushu, j. 9, S. 192 (oben).
[18] Liji zhushu, j. 9, S. 192 (oben).
[19] Liji zhushu, j. 9, S. 193 (oben).
[20] Yili zhushu, j. 12, S.432 (oben).
[21] Yili zhushu, j. 12, S. 433; die Bandagen ergänzen die Handhölzer (muwob85), die Tote oft-
mals im Grab in ihren Händen gehalten haben; siehe Dieter Kuhn (1992), S. 72.
[22] Yili zhushu, j. 12, S.433 (oben, unten).
[23] Sie wird auch im Zhouli besonders erwähnt; Zhouli zhushu (Shisanjing zhushu-Ausg.),
Bd. l,j. 19, S. 767 (unten); Biot, Bd. 1, S.45I.
[24] Liji zhushu, j. 44, S. 224-225.
[25] Dazu gibt es auch Berichte, die andere Tücher für die Waschung vorsehen.
[26] Liji zhushu, j. 44, S. 224 (oben).
[27] Yili zhushu, j. 12, S.438 (oben).
225
TRIBUS 44, 1995
[28] Yili zhushu, j.9, S.439 (unten).
[29] Yili zhushu, j. 12, S.439 (oben).
[30] Dem verstorbenen Herrscher wurde der Mund mit Reis und Jade gefüllt, siehe Zhouli
zhushu, Bd. 1, j. 20, S.778 (unten); Biot, Bd. 1, S.492.
[31] Yili zhushu,]. 12, S.439 (unten).
[32] Zu den Matten siehe auch Dieter Kuhn, Chinese Baskets and Mats. Wiesbaden: Steiner
1980. [Publikationen der Abteilung Asien. Kunsthistorisches Institut der Universität Köln,
Bd.4]. S. 47-48, Tafel 1; verschiedene Leichentücher aus der Zhou-Zeit sind beschrieben in
Dieter Kuhn, »Silk Weaving in Ancient China; From Geometrie Figures to Patterns of Picto-
rial Likeness«, Chinese Science 12 (19941995), S. 75-112. Ob es tatsächlich neunzehn Klei-
dungsstücke waren oder neunzehn vollständige Kleiderausstattungen kann nicht entschieden
werden. Die umfangreichen Grabfunde lassen beide Möglichkeiten zu.
[33] Liji zhushu, j.44, S.227 (oben); siehe auch Yili zhushu,]. 12, S.445.
[34] Sanlitu [Illustriertes Handbuch zu den Drei Riten] aus der Östlichen Han-Zeit, Nachdruck
der Song-Ausgabe von 1175, Shanghai: Guji chubanshe 1984. Bd. 2, j. 19, S. la.
[35] Yili zhushu,]. 12, S.442 (oben).
[36] Liji zhushu,]. 44. S. 229 (oben); siehe auch Yili zhushu,]. 12, S. 449 (oben); S. 451 (unten).
[37] Yili zhushu,]. 12, S.449 (oben).
[38] Liji zhushu, j. 45, S. 229 (oben).
[39] Ein frühes Beispiel für den Aufwand an Textilien liefert das Grab des Marquis Yi von
Zeng, etwa vom Jahr 433 v. Chr. Im Sarg wurden viele Fragmente gefunden, die jenen Ein-
kleidungsbrauch bestätigen, siehe Hunansheng bowuguan (Hg.), Zeng hou Yi mu. (1989).
Bd. 1, Abb. 34, S. 660-667; siehe auch das Grab Nr. 1 von Mawangdui von 168 v. Chr., Hu-
nansheng bowuguan (Hg.), Changsha Mawangdui yihao Han mu. (1973). Bd. 1, S. 28-31;
Bd. 2, Taf. 62-68; zur Verschnürung des inneren Sarges, siehe Yin Zhihua, »Yangzhou Ping-
shan Yangzhichang Han mu qingli jianbao«, Wenwu 1 (1987), S. 26-36 (Grab M 3).
[40] Yili zhushu. j. 12, S.452 (oben).
[41 ] Yili zhushu, j. 12, S. 452 (unten) und S. 453.
[42] Für die komplizierten Rituale, die im Fall des Todes eines Herrschers einzuhalten waren,
gab es gemäß dem Zhouli bestimmte Beamte, die diese Aufgaben erfüllten, wie der Bestat-
tungsdirektor [zhisangb86], der Großmeister des Friedhofs [mu dafub87], der Grabbeauftragte
[zhongrenb88] und die vielen Beamten, die für die Aufführung der rituellen Musik zuständig
waren; siehe Zhouli zhushu, Bd. Lj. 22, S. 786 (oben, unten), S. 787 (oben), S. 787 (Mitte) ff.;
Biot. Bd. 2,5.20, 24, 25, 27 ff.
[43] Yili zhushu,]. 13, S.469.
[44] Yili zhushu,]. 13, S.470 (oben).
[45] Yili zhushu,]. 13, S.475 (oben).
[46] Yili zhushu,]. 13, S.475 (oben, unten).
[47] Yili zhushu,]. 13, S.477 (oben).
[48] Yili zhushu,]. 13, S.482-483.
[49] Yili zhushu, j. 13, S. 486 (oben). Auch wenn der Herrscher starb, wurden das Grab und die
Grabbeigaben inspiziert und die entsprechenden Opferriten am Grab ausgeführt; Zhouli
zhushu, Bd. l,j-19, S.768; Biot, Bd. 1, S.452.
[50] Sanlitu, Bd. 2, j. 18, S.4ab; j. 19, S. la-2b; einer der damals üblichen Bezeichnungen für
den Leichenwagen war buche, ein überaus komplizierter Begriff, denn liu ist auch der Ober-
begriff für die verschiedenen zeltähnlichen Ummantelungen des Sarges in ihrem Gestell, die in
der Regel auf dem äußeren Sarg im Grab mitbestattet wurden, siehe Zhang Changshou,
»Qiangliu yu huangwei«, Wenwu 4 (1992), S. 49-52.
[51] Yili zhushu,]. 13, S.487 (unten).
[52] Yili zhushu,]. 13, S.487 (unten), S.488 (oben).
[53] Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß es bei der Reihenfolge in der Abdeckung des
eigentlichen Sarges große Unterschiede gab. Nach den archäologischen Funden zu urteilen,
wurde auch der Sarg selbst mit Bambusmatten bedeckt.
[54] Yili zhushu,]. 13, S.488 (unten), S.489 (oben).
[55] Liji zhushu, j. 45, S.242 (unten), S.243 (oben).
[56] Sanlitu, Bd. 2, j. 19. S.2a; der Begriff weihuang ist ausgesprochen kompliziert, da er nur
für einen Teil der gesamten Ummantelung des Sarges steht; siehe Zhang Changshou, »Qiang-
liu yu huangwei«, Wenwu 4 (1992), S. 49-52. Ein solcher Wagenvorhang wurde im Grab von
Shao Tuo vom Jahr 292 v. Chr. gefunden; Wu Shanqing et al., »Jingmen Baoshan erhaomu
bufen yiwu de qingli yu fuyaun«, Wenwu 5 (1988), S. 15-24; Dieter Kuhn (1992), S. 65.
[57] Liji zhushu, j.9, S. 195 (oben). Dieser Sachverhalt wird aus dem Kommentar klar; siehe
James Legge, Li Ki. (1885). S. 170-171.
[58] Yili zhushu, j. 13, S. 490 (unten).
[59] Liji zhushu, j.9, S. 195 (unten).
226
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
[60] Yili zhushu, j. 13, S. 490 (unten), siehe den Kommentar.
[61] Liji zhushu, j. 9, S. 192.
[62] Siehe die Übersetzung von John Steele. (1917). Bd. 2, S. 9-44
(Trauerkleidung); S.45-105 (Leichenfeier).
[63] Liji zhushu, j. 6, S. 140 (unten), im Kommentar.
[64] T’ung-tsu Ch’ü, Han Social Structure. Seattle: University of Washington Press 1972.
S. 101-107, S. 113-122.
[65] Neben den nachfolgenden Schriftzeichen gibt es eine Vielzahl von anderen Bezeichnun-
gen und Umschreibungen für sterben; siehe Zhou Suping, Zhongguo gudai sangzang xisu .
Xi’an; Shaanxisheng renmin chubanshe 1991. S. 8-9.
[66] Liji zhushu, j. 5, S. 120 (oben).
[67] Liji zhushu, j. 45, S. 240 (unten) S. 241 (oben).
[68] Im Grab M 170 aus der Westlichen Zhou-Zeit wurde auf dem Deckel des inneren Sarges
das sogenannte »Vielfraß«-Muster [taotieb89] entdeckt; »Shaanxi Chang’an Zhangjiapo M 170
hao Jing Shu mu fajue jianbao«, Kaogu 6 (1990), S. 504-510; Taf. 1-3.
[69] Liji zhushu, j. 8, S. 179 (oben und unten). Der Text spricht zwar von einem vierfachen Sarg
des Himmelssohnes [tianzi zhi guan sichongb90], doch aus dem Kommentar geht eindeutig her-
vor, daß die beiden Särge aus Häuten als ein Sarg gezählt wurden.
[70] Liji zhushu, j. 45, S.247 (oben).
[71] Liji zhushu, j. 45, S.240 (oben).
[72] Liji zhushu, j.45, S.240 (oben), im Kommentar.
[73] Alfred Forke, Me Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke. Berlin:
Kommissionsverlag der Vereinigung wissenschaftlicher Verleger 1922. [Mitteilungen des
Seminars für Orientalische Sprachen, Beiband zum Jahrgang 23-25]. S. 307.
[74] Es gab auch andere Traditionen, in denen Sargnägel verwendet wurden. Sargnägel aus
Bronze wurden in fürstlichen Gräbern vom Ende des 6. Jh. v. Chr. in der Chunqiu-Periode
gefunden, siehe Henansheng wenwu yanjiusuo et al. (Hg.), Xichuan Xiasi Chunqiu Chu mu.
Beijing; Wenwu chubanshe 1991. S.93 (Grab M 1); S. 194, Abb. 145 (Grab M 2).
[75] Liji zhushu, j. 45, S. 240 (unten); siehe das Sargfutter in der Han-Zeit, Changsha Mawang-
dui yihao Han mu. (1973). Bd. 2, Taf. 9-13.
[76] Liji zhushu, j.45, S.247.
[77] Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). Taf. 6:3.
[78] Liji zhushu, j. 45, S. 241 (oben); siehe auch Changsha Mawangdui yihao Han mu. (1973).
Bd. 1,S. 12, Abb. 13.
[79] Lu Liancheng, He Zhisheng, Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 2, Taf. 196:2.
[80] Liji zhushu, j.45, S.247 (unten).
[81] Lu Liancheng, Hu Zhisheng, Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 1, S.48, Abb. 34; Bd. 2,
Taf. 14.
[82] Liji zhushu, j. 10, S.211 (unten).
[83] Liji zhushu, j. 9, S. 197 (oben, unten).
[84] Liji zhushu, j. 12, S.267 (oben).
[85] Sanlitu, j. 19, S. lab.
[86] Sanlitu, Bd.2, j. 19, S. la-2b. Liuche war der Oberbegriff. Daneben gab es noch andere
Bezeichnungen, die sich nach der Funktion und der Ausführung des Wagens richteten; siehe
auch Zhang Changshou, Wenwu 4 (1992), S. 49-52.
[871 Zhang Changshou, Wenwu 4 (1992), S.51.
[88] Liji zhushu, j. 45, S. 242 (unten), S. 243 (oben).
[89] Liji zhushu, j. 45, S.243 (oben); siehe Wang Shimin, »Luoyang diqu de Zhou mu he
Zheng, Guo Xi Zhou de muzang«, Xin Zhongguo de kaogu faxian he yanjiu. Beijing: Wenwu
chubanshe 1984. S. 281-286, insbesondere S. 284-285, Abb. 73; Grab M 1747 mit über ein-
hundert Bronzefischen. In einem Grab aus der Chunqiu-Periode fand man ebenfalls neunzehn
Bronzefische, die allerdings im äußeren Sarg lagen, siehe Gao Yingqin, Wang Jiade, Wenwu 4
(1982), S. 42, S. 45, Abb. 8.
[90] Dieter Kuhn (1992), S. 65; S. 73, Abb. 8.
[91] Liji zhushu, j. 12, S.267 (oben); siehe auch Liji zhushu, j.44, S.220 (oben) bis S.22J
(unten).
[92] Liji zhushu. Bd. 115, jingbu 109, j. 12, S.267 (oben).
[93] Dieter Kuhn (1994), S. 45 -46.
[94] Hanshu (Zhonghua shuju-Ausg.), j. 4, S. 131-132.
[95] Hanshu, j. 6, S?211 -212.
[96] Hou Hanshu (Zhonghua shuju-Ausg.), j. 2, S. 123-124.
[97] Hou Hanshu, j. 3, S. 159.
[98] Liji zhushu, j. 8, S. 173 (oben).
[99] Liji zhushu, j. 10, S. 210 (oben).
227
TRIBUS 44, 1995
1100] Liji zhushu, j. 9, S. 191 (unten).
[101] Zhouli zhushu, Bd. 1, j.20. S.778 (unten).
[ 102] Viele Nachweise für diese Praxis aus Gräbern der Han-Zeit finden sich bei Dieter Kuhn
(1992), S. 74, 90, 110.
[103] Baopuzib91 (Zhuzi jicheng-Ausg.), Bd. 8, j.3 (duisub92), S. 10.
[104] Dieter Kuhn (1992), S. 117-121, 132; Liste von han-zeitlichen Gewändern aus Jadeplätt-
chen, Fu Juyou, »Kaogu faxian de Handai yuqi«. Arts of China 12 (1993), S.66; siehe auch
Timoteus Pokora, »Living Corpses in Early Medieval China - Sources and Opinions«, Gert
Naundorf et al. (Hg.), Religion und Philosophie in Ostasien. Würzburg: Königshausen und
Neumann 1985. S. 343-357.
[105] Joseph Needham, Lu Gwei-djen, Science and Civilisation in China. Cambridge: Cam-
bridge University Press 1974. Bd.5:2, S. 128.
[106] Yin Zhihua, Li Zebin, »Jiangsu Hanjiang Yaozhuang 101 hao Xi Han mu«, Wenwu 2
(1988), S. 19-43; Taf. 4-7; Dieter Kuhn (1992), S. 71-76, Abb.9:l.
[107] Yin Zhihua, Li Zebin, »Jiangsu Hanjiang Yaozhuang 101 hao Xi Han mu«, Wenwu 2
(1988), Taf. 4:2.
[108] Dieter Kuhn (1994), S. 35.
[109] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 335-336.
[110] Liji zhushu, j. 8, S. 174 (oben).
[111] Yili zhushu, j. 13, S.475 (oben).
[112] Lothar von Falkenhausen (1990), S. 38.
[113] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S.585.
[114] Siehe die vierzehn kleinen als Hiebäxte untauglichen Bronzewaffen im äußeren Sarg des
reichlich mit tatsächlichen Waffen und anderem Gerät ausgestatteten Grabes Nr. 13 von
Zhuyuangou; Lu Liancheng, Hu Zhisheng, Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 1, S.74-75,
Abb. 61.
[115] Rainer Holzer, Das Ch’ien-fu lun des Wang Fu. Aufsätze und Betrachtungen eines Welt-
flüchtigen. Heidelberg: Edition Forum 1992. [Würzburger Sinologische Schriften]. S.71.
[116] Liji zhushu, j.8, S. 167 (unten), S. 168 (oben); abgeändert zitiert nach Lothar von Fal-
kenhausen (1990), S.44.
[117] Liji zhushu, j. 9, S. 197 (unten), S. 198 (oben).
[118] Lothar von Falkenhausen (1990), S.46.
[119] Piet van der Loon, »The Ancient Chinese Chronicles and the Growth of Historical Ide-
als«, W. G. Beasley, E. G. Pulleyblank (Hg.), Historians of China and Japan. London: Oxford
University Press 1961. S.25 [24-30].
[120] Shiji [Zhonghua shuju-Ausg.], Bd. 1, j.5, S. 183, 194.
[121] Hubeisheng bowuguan (Hg.), Zeng hou Yi mu. (1989). Bd. 1, S. 56-59.
[122] Guangxi Zhuangzu zizhiqu bowuguan (Hg.), Guangxi Guixian Luobowan Han mu. Bei-
jing: Wenwu chubanshe 1988. S. 3 — 19.
[123] Lothar von Falkenhausen (1990), S.47.
[124] Lothar Ledderose, Adele Schlombs (Hg.), Jenseits der Großen Mauer. Der erste Kaiser
von China und seine Terrakotta-Armee. München, Gütersloh: Bertelsmann Verlag 1990.
[125] Wang Xueli et al., »Han Jingdi Yangling nanqu zongzangkeng fajue diyihao jianbao«,
Wenwu 4 (1992), S. 1-13, Farbtaf. 1-2, Taf. 1-3; Wang Xueli, Wang Baoping, »Han Jingdi
Yangling nanqu zongzangkeng fajue dierhao jianbao«, Wenwu 6 (1994), S. 1-23, 30; Yang
Xueli, »Meisterstücke aus der Han-Zeit«, China im Bild 6 (1994), S. 14-17; Shaanxisheng
kaogu yanjiusuo (Hg.), Zhongguo Han Yangling caiyong. Xi’an: Shaanxi luyou chubanshe
1992.
[126] Eine 193 cm große bewegliche Gliederpuppe wurde in einem Grab aus der Westlichen
Han-Zeit in Shandong gefunden; Wang Mingfang, »Shandong Laixixian Daishu Xi Han
muguomu«, Wenwu 12 (1980), S. 7-16, S. 15, Abb. 21.
3. Die Grabentwicklung im Liji im Licht von archäologischen Funden
Ganz abgesehen von den in der Zielrichtung wenigstens ähnlichen Erklärungen zum
Ursprung der Beerdigung, [1] gibt es im Liji [Aufzeichnungen der Riten] eine ver-
gleichsweise ausführliche Textpassage zur Entwicklung des Grabes, die den Sach-
verhalt allerdings nur teilweise richtig wiedergibt:
»In der Regierungszeit von Youyu, [dem legendären Herrscher Shuncl im 23. Jahr-
hundert v. Chr.] gab es Särge aus Steingut [waguanj; bei den Herrschern der Xia [tra-
ditionelle Datierung 2205-1767 v. Chr.] gab es den mit Ziegelstein ummauerten
Raum [jizhou]; [2] bei den Leuten von Yin [traditionelle Datierung der Shang-Dyna-
228
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
stie 1766-1122 v. Chr.] gab es den inneren und äußeren Sarg [guanguo]; bei den Leu-
ten von Zhou [traditionelle Datierung 1122-221 v. Chr.] gab es [zusätzlich] Wände
aus Vorhängen [um den Sarg] und die verzierten großen Holzfächer an Stielen [sha].
Die Leute in der Zhou-Dynastie beerdigten jene, die zwischen dem 16. und 19.
Lebensjahr starben, in den Särgen [nach Art] der Yin-Dynastie, jene, die zwischen
dem 8. und 16. Lebensjahr starben, in einem mit Ziegelstein ummauerten Raum
[nach Art] der Xia-Dynastie, und jene, die in ihrer Kindheit starben und für die keine
Trauerkleidung angelegt wird, in einem Sarg aus Steingut wie in der Zeit von
Youyu«c2. [3]
Dieser Text ist aufschlußreich und chronologisch so bestimmt und eindeutig verfaßt,
daß man annehmen muß, sein Verfasser wußte genaustens Bescheid. Doch betrach-
tet man die verwendete Terminologie genauer und vergleicht den Text mit den
archäologischen Funden, so stellt man fest, daß nicht nur einige Korrekturen, son-
dern auch wesentliche Ergänzungen gemacht werden müssen, um der Entwicklung
des Grabes in China gerecht zu werden.
1) Die Särge aus Steingut sind nicht genau zugeordnet. Soweit heute bekannt ist, gab
es Urnensärge [wengguanc3| aus Keramik für Kinder bereits im 5. Jahrtausend
v. Chr. in der Yangshao-Kultur. Für Erwachsene sind sie bisher nicht nachgewiesen.
[4] Tatsächlich läßt sich für das 3. Jahrtausend v. Chr. eine Vielzahl von Grabtypen
belegen. [5] Bereits damals begrub man die Toten in Särgen, wobei sogar schon
Ansätze für einen inneren und äußeren Sarg zu erkennen sind. Der Boden der Grube
war oftmals mit Holzasche bestreut. Der äußere Sarg in Form des Schriftzeichens
jinge4, Brunnen, [6] wurde von einer die Grube auf allen vier Seiten umlaufenden
Erdbrüstung [ercicengc5] umgeben (siehe Abb.4), wie sie in der Shang- und ersten
Hälfte der Zhou-Zeit üblich sein sollte. [7] Damit hatte sich die flache Grube zu
einem gestuften tiefen Grab entwickelt. [8] Das bedeutet, um das Jahr 3000 v. Chr.
verfügte man über einige auch später noch verbindliche Strukturen des Sarg- und
Grabbaus.
2) Bei dem mit »Ziegelstein ummauerten Raum« der Xia macht der Verfasser keine
klare Angabe. Das Schriftzeichen jic6 »ein Grab aus Ziegelstein mauern« kann in die-
ser Bedeutung auch nur in diesem Text nachgewiesen werden. [9] Ob es damals
bereits aus Ziegelstein gemauerte Gräber gegeben hat, sei dahingestellt. Archäolo-
gisch sind sie so früh nicht nachweisbar. Tatsächlich lassen sich aber für die zweite
Hälfte des 3. und den Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr., eine Periode, die in Nord-
china archäologisch zur Longshanc7-Kultur gerechnet wird, viele andere, durchaus
bemerkenswerte Entwicklungen in der Grabkultur aufzeigen. [10] Aus der Anlage
der 87 Gräber von ChengzF8 in Shandong wird ersichtlich, daß man damals bereits
zwischen reichen und armen, mächtigen und schwachen Familien unterschieden hat.
[11] Alle Erdgrubengräber der drei Grabareale, die offensichtlich nach Familien-
oder Clanszugehörigkeit angelegt waren, wiesen Einzelbestattungen auf, wobei die
Köpfe der Toten nach Südosten ausgerichtet waren. Man kann die Gräber gemäß
ihrer Größe und Ausstattung in vier Kategorien einteilen: während nur fünf Gräber
zum Typ der großen Gräber mit Holzsarg, Erdbrüstung, vielen Grabbeigaben und
Schweinekiefern gehörten, waren insgesamt 54 Gräber sehr schmal und hatten kein-
erlei Inventar. »Schweinekiefer waren vermutlich Statussymbole und mögen auf den
sozialen Rang oder den Wohlstand des Verstorbenen hinweisen.« [ 12] Sicherlich ist
es kein Zufall, daß die Schriftzeichen für Schwein [shic9], für Familie und Haushalt
fjiacl0J und Grab [zhongcl1] eng miteinander verwandt sind. Vielleicht standen
Schweineköpfe auch in Verbindung mit einer kultischen Opferpraxis oder müssen in
apotropäischer Funktion gesehen werden, wie dies in späteren Zeiten üblich war. [13]
Auch der etwas später zwischen 2500 und 1900 v. Chr. zu datierende Friedhof von
Taosic12 im Südwesten der Provinz Shanxi, auf dem über tausend Gräber gefunden
wurden, war wohl nach bestimmten Gesichtspunkten von Familien- und Clanszu-
gehörigkeit angelegt worden. [14] Die Toten lagen mit ihren Köpfen nach Südosten
ausgerichtet. Die Gräber wurden in große, mittlere und kleine unterschieden. Nur
neun Gräber (ca. 1%) gehörten in die Kategorie der großen Gräber (300 cm lang,
200-275 cm breit). Sie enthielten hölzerne Särge, die innen mit Zinnoberpulver
229
TRIBUS 44, 1995
bestreut und in denen Männer beigesetzt waren. Abgesehen von den phantasievoll
und aufwendig bemalten keramischen Grabbeigaben fand man auch Klangsteine,
eine mit Krokodilhaut bespannte Trommel, Schmuck, Jade und ganze Schweineske-
lette. Die etwa achtzig mittelgroßen Gräber (ca. 11%) lagen in der Nähe der großen
Gräber und gehörten hauptsächlich Männern. In flacheren Gräbern des Typs wurden
auch Frauen gefunden. Jedes Grab enthielt einen Sarg, der manchmal auch bemalt
war. ln einigen Särgen entdeckte man noch Fragmente von Leichentüchern, Klingen
aus Stein und Jade, des weiteren verschiedene Ritualobjekte aus Jade, Kämme und
Haarnadeln, Zinnober, keramische Gefäße und Schweinekiefer. Die meisten Erdgru-
bengräber (ca. 88%) waren jedoch klein und schmal und enthielten weder Sarg noch
Grabbeigaben.
3) Zwar wird für die Shang-Zeit der Begriff guanguocl3, innerer und äußerer Sarg
(siehe Abb. 3), angeführt, doch über die außergewöhnliche Struktur und Ausstattung
der Gräber in jener Dynastie und auch über die Entwicklung der Särge danach ver-
liert der Text kein Wort. Das königliche Gräberfeld von Xibeigangcl4 bei Anyang in
der nordchinesischen Provinz Henan gehört zu den spektakulärsten und bedeutend-
sten archäologischen Funden unseres Jahrhunderts. [ 15] Die unterirdischen Schacht-
gräber ohne Grabtumuli waren nordöstlich ausgerichtet und einschließlich der Ram-
pen im Grundriß oftmals kreuzförmig. Tausende Arbeitstage brauchte man allein für
den Aushub. Der innere Sarg mit dem Toten stand in einem die Grube fast ausfül-
lenden nicht zugänglichen äußeren Sarg, der so groß wie ein Raum war. Das Grab
WKGM 1 bei Wuguancuncl5, [16] das wohl im späten 13. oder frühen 12. Jahrhun-
dert v. Chr. angelegt wurde, war 12 m breit, 8,40 m tief und einschließlich der Ram-
pen im Süden und Norden 45 m lang (Abb. 13) [17]. Die photographischen Aufnah-
men, die bei der Freilegung gemacht wurden, zeigen, daß 24 Personen westlich und
17 Personen östlich des bei der Ausgrabung nicht mehr erhaltenen äußeren Sarges
auf der Erdbrüstung gefunden wurden. Wie aus anderen Funden bekannt ist, waren
die Särge beschnitzt, mit Mustern wie auf Ritualbronzen und zusätzlich mit schwarz-
em und rotem Lack bemalt. [18] Die Menschen, die als Opfer ihrem Herrscher oder
Herrn in den Tod folgten, gehörten in der Regel zum königlichen Hof. Sie wurden
von Statusobjekten wie Ritualbronzen, Jadearbeiten und Knochenschnitzereien, aber
auch von Tieren, wie zum Beispiel von Hunden, begleitet. In den drei oberen Gruben
in der nördlichen Rampe entdeckte man die skelettierten Reste von sechzehn Pferden
und zwei Kriegern. Über ihnen, getrennt durch eine verdichtete Erdschicht lagen
weitere Schichten von Tieropfern wie Affen und Hirsche. Des weiteren fand man 34
menschliche Schädel, die alle in Richtung des Sarges ausgerichtet waren. Allein für
diesen Herrscher belief sich die Zahl der im Grab aus Anlaß seiner Beerdigung ge-
opferten Menschen auf neunundsiebzig. Das gesamte Gräberfeld von Xibeigang war
übersät mit 1232 unterschiedlich großen Begleitgräbern aus der Shang-Zeit, unter de-
nen sich mehr als 1400 Opfergruben [jisikengcl6] mit den Skeletten enthaupteter und
verstümmelter Menschen befanden (Abb. 14) [19]. Diese Grabpraxis war keineswegs
auf den königlichen Friedhof begrenzt.
Das vergleichsweise große Grab M 1 von Sufutunc17 in Shandong hatte ursprünglich
einen O-förmigen 455 cm langen und 200 cm hohen hölzernen Sargraum [guoshic18],
der von einer 70 cm breiten Erdbrüstung umgeben war (Abb. 15) [20]. Der gesamte
Sargraum stand auf einer vier bis fünf cm hohen Isolierschicht aus Holzkohle. Im
Sargraum selbst wurde nur noch ein 78 cm langes Stück Lack des Sarges gefunden.
Unterhalb der Isolierschicht befanden sich zwei Taillengruben [yaokengc19] zur Beer-
digung der Grabopfer. In der fast quadratischen Grube lag das Skelett eines Hundes
mit dem Kopf nach Norden, in der anderen ein als Menschenopfer begrabener
Sklave. Noch unterhalb der beiden Gruben befand sich die sogenannte Grube mit
dem Opfer zur Grundsteinlegung [dianjikengc20]. Darin kniete ein mit gesenktem
Kopf nach Norden ausgerichteter Sklave (Abb. 16) [21]. Die Haarnadel aus Knochen
lag auf seiner Schulter. Auf der Erdbrüstung und der Rampe waren insgesamt 48
Menschenopfer und fünf Hundeopfer beigesetzt.
Neben solchen großen Gräbern hat man auch Hunderte Gräber entdeckt, die
Angehörigen mittlerer und niederer Familien der Oberschicht, Offizieren, Medizin-
230
Kuhn; Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
männern und Prognostikern gehörten (Abb. 17) [22]. [23] Daher ist bekannt, daß
auch in der Shang-Zeit Familien eigene Friedhöfe hatten. Das durchschnittliche
Grab, in dem der Tote mit dem Kopf in südlicher oder östlicher Richtung lag, war
etwa 200 cm lang und 70 cm breit; es hatte eine Erdbrüstung, selten eine Opfergrube.
Menschenopfer fanden sich nur in weniger als 10% der Gräber. Wie an ihrer Haltung
zu erkennen ist, hatte man sie an Händen und Füßen gefesselt, bevor sie lebend auf
der Erdbrüstung oder seltener im Sarg ihres Herrn mitbegraben wurden. In einigen
Fällen wurden zusätzlich noch Hundeopfer und Schweineköpfe begraben. Generell
läßt sich sagen, daß die Grabbesitzer vor ihrer Einsargung in eine geflochtene Matte
gewickelt wurden. Sie lagen auf einer weiteren Matte in ausgestreckter Rückenlage
in einem mit schwarzem und rotem Lack bestrichenen und mit farbigen Mustern
bemalten Holzsarg. In einigen Fällen wurden die Toten mit Zinnober bestreut, was
an den rot gefärbten Knochen gut zu erkennen ist.
4) Mit den Vorhängen in den Gräbern ist die Rahmenkonstruktion einer zeltförmigen
Ummantelung gemeint, mit der man den Sarg auf dem Leichenwagen bedeckte.
Diese Ummantelung (siehe Abb. 9) wurde nach der Aufstellung des Sarges im Grab
auf den äußeren Sarg gelegt. Wahrscheinlich entstand dieser Brauch erst in der Zeit
der Streitenden Reiche. [241 Doch abgesehen davon steht die Ummantelung ebenso
wenig mit der Entwicklung der Gräber und Särge in einer direkten inhaltlichen
Verbindung wie die verzierten Holzfächer an langen Stielen. Beides waren Bestand-
teile der Ausstattung für die Durchführung der Leichenprozession und des Grabkul-
tes.
Die Entwicklung der Gräber in der Zhou-Zeit war unvorstellbar vielfältig. [25]
Nahezu jeder größere Fundort liefert unglaubliche Mengen neuer Materialien, die
weitere und tiefere Einsichten in die Bauweise zhou-zeitlicher Gräber eröffnen.
Gerade jüngst erschien eine Monographie zum bedeutendsten Fund eines Friedhofs
in der Provinz Shanxi mit 1373 Bestattungen. Darunter sind neben den üblichen Grä-
bern auch höchst ungewöhnliche, die eine genaue Darstellung verdienen würden.
[26] Allgemein läßt sich feststellen, daß in den Gräbern der Westlichen Zhou-Zeit
nicht nur die doppelten inneren Särge in einem äußeren Sarg verwendet wurden, son-
dern man auch die Isolationstechniken mit Holzkohle, Mörtel, weißem Ton und der-
gleichen Materialien über die Jahrhunderte weiterentwickelte (siehe Abb. 29) [27].
[28] Die Isolierung diente ganz offensichtlich dem Schutz vor Wasser und damit der
Erhaltung des Sarges, so wie die Verwendung von Zinnober der Verwesung des
Leichnams entgegenwirken sollte.
Während guoc21 in den Texten der Zhou-Zeit oft als ein Gewölbe aus Stein verstan-
den werden muß, zeigen die archäologischen Funde, daß der große äußere Sarg und
doppelte innere Sarg seit der Westlichen Zhou-Zeit zu festen Bestandteilen des Gra-
bes wurden (Abb. 18) [29]. [30] Das Grab des Lehensgrafen von Yuguoc22 und seiner
Konkubine Nic23 bildet zusammen mit dem Grab seiner Gattin Jing Jic24 die am
besten erhaltene Grabgruppe eines aristokratischen Haushalts der Zeit. Eine lange
Zugangsrampe führte zu dem 12,20 m tief gelegenen, nordöstlich ausgerichteten
Schachtgrab. Der äußere Sarg war aus Zypresse. Er wurde in der Grube zusammen-
gesetzt. Das südlich gelegene Grab des Grafen war nicht nur etwas größer und tiefer,
sondern besaß auch eine Taillengrube mit einem Grabopfer. Den Boden des äußeren
Sarges legte man mit zwölf Rundhölzern aus, den der Konkubine mit neun. Rund-
hölzer wurden auch noch in der Han-Zeit auf verschiedene Weise im Grabbau ver-
wendet. [31] Die Wände bestanden aus Lagen von etwa 10 cm dicken Brettern, die
an den Ecken kunstvoll verfugt waren. Die westliche und östliche Seite des äußeren
Sarges wurde aus jeweils vier bis fünf 320 cm langen Holzplanken geschichtet. Da
die beiden Räume nicht auf gleicher Höhe angelegt wurden, war an der Stelle der
Abstufung die Trennwand errichtet. Während der Grabbesitzer in der üblichen aus-
gestreckten Rückenlage mit dem Kopf nach Süden in zwei ineinanderstehenden, mit
farbigem Lack und mit Mustern bemalten Särgen (260 cm, bzw. 210 cm lang, 155 cm,
bzw. 95 cm breit) bestattet war, hatte die Konkubine nur einen inneren Sarg. In bei-
den Särgen fanden sich Zinnober und Spuren von Textilien, die darauf schließen las-
sen, daß die Toten in Leichentücher aus Seide eingewickelt und mit Bändern ver-
231
TRIBUS 44, 1995
schnürt waren. Des weiteren bestätigt die Zahl der Ritualbronzen für Speiseopfer,
daß der Grabbesitzer ein hoher Aristokrat war. Der gesamte äußere Sarg war von
einer ursprünglich mit Matten belegten Erdbrüstung umgeben, auf der einige der fünf
Menschenopfer beigesetzt waren und auch Wagenräder und Keramikgefäße als
Grabbeigaben lagen. [32]
Gräber des frühen Typs mit Erdbrüstung wurden mit Abweichungen auch noch in der
Periode des Frühlings und Herbstes zwischen dem 7. und 5. Jahrhundert v. Chr. in
Nordchina angelegt, wobei man nun allerdings auf die Zugangsrampe meistens ver-
zichtete. [33] Durch die Aufstellung der für den Rang des Grabbesitzers wichtigen
Ritualgefäße aus Bronze beim Sarg und im Sarg (siehe Abb. 7 und 8) änderte sich in
einigen Gräbern bereits in der Westlichen Zhou-Zeit die innere Aufteilung des äuße-
ren Sarges. Das Grab M 170, das auf dem Friedhof der Familie Jing Shuc25 in
Zhangjiapoc26 gefunden wurde, hatte einen sogenannten Kopfraum [touxiangc27|
oder Kopfkasten [touxiangc28], in dem die Ritualbronzen und andere Grabbeigaben
aufgestellt waren (Abb. 19) [34]. Die Übernahme dieser Einteilung und ihre Weiter-
entwicklung in der Östlichen Zhou-Zeit geschah auf verschiedene Weise. [35] Zum
einen legte man nun häufig eine Wandnische [bikanc29] am Kopf des Sarges an. [36]
Dieser Brauch sollte über Jahrtausende fortbestehen. [37] Zum anderen gliederte
man das Innere des äußeren Sarges mit Hilfe von Holzwänden in mehrere Hohlräume
(Abb. 20) [38]. In einer von diesen stand der innere Sarg, in den anderen wurden die
Grabbeigaben untergebracht. Der äußere Sarg verlor durch die Aufteilung seinen
Charakter als »Sargkammer«. Die Verfügung dieser Särge war überaus kunstvoll
(Abb. 21) [39]. [40]
Abgesehen von den großen Gräbern der Qin und einiger anderer Herrscher in der
Östlichen Zhou-Zeit, [41] die allein schon durch ihre Dimensionen beeindrucken,
wurden mehrere tausend Gräber, vor allem in den südlichen Provinzen Hubei und
Hunan entdeckt. Die zum Zeitpunkt der Ausgrabung am besten erhaltenen Gräber
der Oberschicht gehörten zum Typ des seit der Zeit der Streitenden Reiche domi-
nanten Schachtgrabes mit unterteiltem großem äußeren Sarg. [42] Einige dieser Grä-
ber hatten einen Tumulus und eine Zugangsrampe (Abb. 22) [43], andere nicht
(Abb. 23) [44]. Die Zugangsrampe führte allerdings nicht bis zum Boden der Grube,
sondern nur bis an den Grubenrand. [45]
Von den vielen ungewöhnlichen Gräbern [46] aus der Zeit der Streitenden Reiche
sei hier noch das Grab des Marquis Yi von Zengc3° erwähnt, das etwa im Jahr 433
v. Chr. gebaut wurde. [47] Es kann als früher Höhepunkt in der Konstruktion von
nicht begehbaren Holzkammergräbern betrachtet werden. Gräber dieses Typs sc-
heinen über viele Jahrhunderte bis in die Westliche Han-Zeit hinein gebaut worden
zu sein und lieferten für die Entwicklung einer unterirdischen Grabarchitektur in
Form unterirdischer Paläste, wie sie dann in der Westlichen Han-Zeit florierte,
wichtige Impulse. [48] Das Grab bedeckte eine Fläche von 220 qm. Die Grube war
13 m tief. Der »äußere« Sarg, der ein Gesamtvolumen von 378 m3 umbaute, war in
60 Tonnen Holzkohle gebettet. Die Holzbalken, die die Decke des »äußeren« Sar-
ges bildeten, wurden durch ein unterschiedlich strukturiertes Bambusnetz und durch
Bambusmatten vor Nässe geschützt. Obwohl die Erde zum Abdecken der Anlage
sorgfältig ausgesucht, geschichtet und verdichtet war, sind auch in dieses Grab
bereits früher Grabräuber eingedrungen, wodurch sich der eigentliche Sargraum im
Laufe der Zeit mit Wasser und Schlamm gefüllt hat. Die gesamte Anlage, die man
streng genommen als äußeren Sarg bezeichnen könnte, war an Ort und Stelle in der
Schachtgrube zusammengefügt worden. Sie gliederte sich in vier verschieden große
und unterschiedlich zueinander angelegte »Räume« (Abb. 24) [49]. Auch wenn es
bei diesem Grab gerechtfertigt erscheint von »Räumen« zu sprechen, waren diese
durch ihre Bauweise doch unzugänglich verschlossen. Im östlichen Raum standen
der Sarg des Grabbesitzers und weitere acht Särge, in denen Mädchen oder junge
Frauen als Begleitopfer lagen. Ein Hundeopfer fand sich ebenfalls in einem eigenen
Sarg. Neben verschiedenen Grabbeigaben wurden auch hölzerne Kleidertruhen mit
Lackmalerei gefunden. Auf einem ihrer Deckel ist die älteste, noch erhaltene Stern-
karte aufgemalt. Sie zeigt die Schriftzeichen für die 28 Mondhäuser (Konstel-
232
Kuhn; Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
lationen der Sterne), den Tiger des Westens und den Drachen des Ostens. Im west-
lichen Raum entdeckte man die Särge von dreizehn weiblichen Begleitopfern, die
alle bei ihrer Tötung zwischen dreizehn und fünfundzwanzig Jahre alt waren. Der
große zentrale Raum kann als eine auf die wichtigsten Elemente reduzierte Nach-
bildung einer Zeremonialhalle beschrieben werden, da in ihm ein Satz Bron-
zeglocken und Klangsteine mit Gestell, [50] Wölbbrettzithern, Blasinstrumente und
andere Musikinstrumente für rituelle Anlässe gefunden wurden. Der sich nördlich
anschließende kleine Raum fungierte als Waffenkammer, in der sich auch 240
beschriftete Bambustäfelchen befanden. Insgesamt wurden 134 Ritualbronzen
gefunden, dazu eine Vielzahl von Bronzen für den alltäglichen Gebrauch, Waffen
verschiedenster Art, 4500 Pfeilspitzen, Lederhelme, Rüstungen, Pferdegeschirr,
über 5000 lackierte Holzobjekte und Lacke, Gürtelhaken aus verschiedenen
Metallen, Kosmetikartikel, Bambuswaren, Artikel aus Gold, wie zum Beispiel ein
Becher, der 15 kg wiegt, Gegenstände aus Kristall und mehr als 200 bearbeitete
Jaden.
Was jedoch im Rahmen der Betrachtung von Särgen und ihrer Entwicklung in die-
sem Grab besonders auffällt, ist die Konstruktionsweise des äußeren (inneren) Sar-
ges des Grabherrn (Abb. 25) [51]. Dieser Sarg bestand aus einem aus Bronze gegos-
senen Rahmen, [52] in den die mit Lack bemalten Holzplatten mit großer
Genauigkeit eingesetzt waren. Der Rahmen stand auf zehn Füßen.
Die im Rahmen eingelegte Bodenplatte aus Holz, die sich aus zwei unterschiedlich
großen Platten zusammensetzte, war 295 cm lang, 168 cm breit und 13 cm stark. Auf
ihr stand der innere Sarg. Die insgesamt zehn Wände des Sarges, die in den Rahmen
eingesetzt waren, hatten im Durchschnitt eine Länge von 183 cm und waren 80 cm
breit. Die vier Ecken der Wände wurden durch 178 cm hohe, quadratisch geformte
Pfosten gebildet, die in dem Rahmen aus Bronze oben und unten durch Verzapfung
eingepaßt waren. Der überwiegend mit rotem Lack in einer Vielfalt von Mustern und
Dekoreinheiten innen und außen bemalte innere Sarg, in dem sich noch das Skelett
eines etwa 45jährigen Mannes befand, hatte nach außen gewölbte Wände und einen
gewölbten Deckel (Abb. 26) [53]. Chinesische Archäologen haben bei der Bestim-
mung der Motive auf dem Sarg Darstellungen von insgesamt 549 Drachen, 204
Schlangen, 110 Vögeln und 24 Mischwesen aus Tierleibern und Vogelköpfen, Hir-
sche, Phönixe und Fische gezählt. Drachen und übernatürliche Kriegergestalten
(Abb. 27) [54] dominieren weit über 90% der Fläche der Sargwände. Neben dem
Skelett fanden sich in dem Sarg noch mehrere hundert Objekte aus Jade, aber auch
Reste von Textilien, die darauf schließen lassen, daß der Verstorbene in einer großen
Einkleidungszeremonie mit verschiedenen Totengewändern, Leichentüchern und
einem Leichenbanner aus Seide eingesargt wurde, so wie es den Beschreibungen in
den Ritualtexten entspricht.
Ein außergewöhnlich gut erhaltener kastenförmiger Sarg mit üppiger Lackmalerei in
mehreren Dekorzonen (Abb. 28) [55] wurde im Grab M 2 von Baoshanc31 bei Jing-
menc32 in Hubei gefunden. Er gehörte dem hohen Beamten Shao Tuoc33, der 292
v. Chr. beerdigt wurde. Schon ein Vergleich zwischen den Särgen aus Chu im 4. und
3. Jahrhundert v. Chr. bestätigt, wie vielfältig die Traditionen auch im Sargbau in
einer Periode und in einem Reich waren.
Die Betrachtung der Entwicklung der Gräber in China vom Neolithikum bis in die
Zhou-Zeit legt nahe, daß die am Anfang des Kapitels zitierte Textpassage über die
Gräber und Särge kaum aus der Zhou-Zeit stammen kann, da sie Gräber und Särge
beschreibt, ohne auf ihre grundsätzliche Struktur genauer einzugehen oder ihre viel-
fältigen Besonderheiten auch nur zu erwähnen. Die Textpassage versucht, eine Ent-
wicklung festzuschreiben, [56] bei der die Bedeutung der zivilisatorischen Kraft und
auch der kulturschaffenden Erfindungsgabe der legendären Herrscher und der Drei
Dynastien (Xia, Shang und Zhou) hervorgehoben wird. In dieser geschickten Kon-
struktion wurden verschiedenste Elemente von Gräbern früherer Dynastien mit Sta-
tussymbolen der Leichenprozession der Zhou-Zeit verschmolzen, um dadurch eine
durch Tradition legitimierte Ordnung zu schaffen, die in der Befolgung der rituellen
Vorgaben ihre praktische Erfüllung fand und auf die sich die nachkommenden Gene-
233
TRIBUS 44, 1995
rationen guten Gewissens berufen konnten. Bei diesen Überlegungen konnte der Ent-
wicklung der Gräber und der Beerdigungen, wie sie in der Shang- und Zhou-Zeit
tatsächlich stattgefunden hatten, nur noch eine untergeordnete Bedeutung zukom-
men.
[1] Siehe Kapitel 1.
[2] Der Raum soll zwei chi breit und vier chi lang gewesen sein und aus fester Erde in Form
von Ziegeln gebaut worden sein, um den Leichnam zu umgeben; siehe Zhou Suping, Zhong-
guo gudai sangzang xisuc34. Xi’an: Shaanxi renmin chubanshe 1991. S. 155.
[3] Liji zhushu, j.6, S. 134 (oben, unten); James Legge, The Li Ki. (1885). Bd. 27, S. 125;
J. J. M. de Groot, vol. 1:1, S. 282.
[4] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S.666.
[5] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 80-83; S. 301-305.
[6] Thomas O. Höllmann, Neolithische Gräber der Dawenkou-Kultur in Ostchina. München;
Beck 1983. S. 126, Abb.58.
[7] Shandongsheng wenwu guanlichu, Ji’nan bowuguan (Hg.), Dawenkou - Xinshiqi shidai
muzang fajue baogaoc35. Beijing: Wenwu chubanshe 1974; Shandong daxue lishixi kaogujiao
suoshi (Hg.), Dawenkou wenhua taolun wenjic36. Ji’nan; Qilu shushe 1979; Thomas O. Höll-
mann. (1983); Shandongsheng bowuguan, Shandongsheng wenwu kaogu yanjiusuo (Hg.),
Zouxian Yedian. Beijing: Wenwu chubanshe 1985.
[8] Zouxian Yedian. (1985). S. 106, 114, Fig. 86: M 51.
[9] Zhongwen dacidian, Bd. 2, no. 5422.
[10] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S.290.
[11] Kwang-chih Chang, The Archaeology of Ancient China. (1986). S. 245-252; Zhongguo
dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S.290.
[12] Helmut Brinker, »Vorgeschichte«, Roger Goepper (Hg.). Das alte China. Gütersloh, Mün-
chen: Bertelsmann 1988. S.38.
[13] Helmut Brinker (1988), S. 38.
[14] Gao Tianlin, Zhang Daihui, »Shanxi Xiangfenxian Taosi yizhi fajue jianbao«, Kaogu 1
(1980), S. 18-31; Taf.4-6; Gao Wei, Li Jianmin, »1979-1980 nian Shanxi Xiangfen Taosi jidi
fajue jianbao«, Kaogu 1 (1983), S. 30-42; Kwang-chih Chang (1986), S. 276-277; Zhongguo
dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 520-521.
[15] Liang Siyong, Gao Quxun, Houjiazhuangc37. Taibei: Academia Sinica 1962-1970; Li Ji,
Anyang. Seattle. University of Washington Press 1977; Kwang-chih Chang, Shang Civiliza-
tion. New Haven; Yale University Press 1980; Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986).
S.438-439, S.443-445.
[16] Magdalene von Dewall, »Der Gräberverbund von Wu-kuan-ts’un, An-yang. Ein Einblick
in die höfische Rangordnung der Yin-Zeit«, Oriens Extremus 7 (1960), S. 121-151.
[17] Cheng Te-k’un, Archaeology in China. Vol. II Shang China. Cambridge: Heffer & Sons
1960. S.73, Fig. 17, pl. 6 a; Robert L. Thorp, »Burial Practices of Bronze Age China«, Wen
Fong (Hg.), The Great Bronze Age of China. New York: Metropolitan Museum 1980.
S. 54-57; Helmut Brinker, Roger Goepper, Kunstschätze aus China. Zürich: Kunsthaus Zürich
1980. S. 24-31; Dieter Kuhn, Status und Ritus. (1991). S. 127-133.
[18] »Panlongcheng 1974 niandu tianye kaogu jiyao«, Wenwu 2 (1976), S.5-15.
[19] Zhongguo shehui kexueyuan kaogu yanjiusuo (Hg.), Xin Zhongguo de kaogu faxian he
yanjiuc38. Beijing: Wenwu chubanshe 1984. S. 231, Abb. 61; Zhongguo dabaike quanshu. Kao-
guxue. (1986). S. 556-557;
»Anyang Yinxu nuli sijikeng de fajue«, Kaogu 1 (1977), S. 20-36.
[20] »Shandong Yidu Sufutun diyihao nuli xunzangmu«, Wenwu 8 (1972), S. 17-30, bes. S. 18,
Abb. 2; S. 25, Abb. 10.
[21] »Shandong Yidu Sufutun diyihao nuli xunzangmu«, Wenwu 8 (1972), S. 19, Abb. 4.
[22] Hebeisheng wenwusuo yanjiubian (Hg.), Gaocheng Taixi Shangdai yizhic39. Beijing:
Wenwu chubanshe 1985. S. 148, Abb. 89; Taf. 63:1.
[23] Yang Baocheng, Yang Xizhang, »1969-1977 nian Yinxu xiqu nuzang fajue baogao«,
Kaogu xuebao 1 (1979), S. 17-146; 20 Taf.; Gaocheng Taixi Shangdai yizhi. (1985).
[24] Wu Shanqing et al., »Jingmen Baoshan erhaomu bufen yiwu de qingli yu fuyuan«, Wenwu
5 (1988), pp. 15-24; Dieter Kuhn (1992), S.65.
[25] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 65; siehe auch Lu Liancheng, Hu Zhis-
heng, Baoji Yuguo mudi jiyuc40. Beijing: Wenwu chubanshe 1988. Bd. 1, S. 271-277, Abb.
186-190.
[26] Dieser bedeutende Fundort kann im Rahmen dieser Arbeit nicht abgehandelt werden.
234
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
doch auch er zeigt, daß es Grabgestaltungen gibt, die nirgendwo in zhou-zeitlichen Texten
beschrieben sind, zum Beispiel das Grab M 1283, S. 198-202 oder die Konstruktionen von
Särgen, S. 18-20; siehe Shanxisheng kaogu yanjiusuo (Hg.), Shangma mudic41. Beijing:
Wenwu chubanshe 1994.
[27] Maryta L. Laumann, The Secret of Excellence in Ancient Chinese Silks. Taibei; Southern
Materials Center 1984. Taf. 1; Hunansheng bowuguan (Hg.), Changsha Mawangdui yihao Han
mu. Beijing: Wenwu chubanshe 1973. Bd. 1, S. 5.
[28] Zheng Wenlan, »Shaanxi Chang’an Zhangjiapo M 170 hao Jing Shu mu fajue jianbao«,
Kaogu 6 (1990), S. 504-510; siehe auch Hubeisheng Jingzhou diqu bowuguan (Hg.), Jiangling
Yutaishan Chu mu. (1984). S.47, Abb. 36 (Grab M 354); S.51, Abb. 41 (Grab M 555); Dieter
Kuhn (1994), S. 26-27.
[29] Lu Liancheng, Hu Zhisheng. Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 1, S. 271-277, Abb. 186-190;
Taf. 151; »Shaanxisheng Baojishi Rujiazhuang Xi Zhou mu fajue jianbao«, Wenwu 4 (1976),
S. 34-56, bes. S. 35, Abb. 62, 63.
[30] Lu Liancheng, Hu Zhisheng, Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 1, S. 45-48, Abb. 33-34;
S.92-95, Abb.72-73; S. 141-144, Abb. 109-110; S.271-274, Abb. 178-190; S.360-363,
Abb. 245-247.
[31] »Yunmeng Dafentou yihao Han mu«, Wenwu ziliao congkan 4 (1981), S. 1-28, insb. S. 2,
Abb. 2 & 4; Dieter Kuhn (1992), S. 128-131.
[32] Die eigentlichen Gruben mit zwölf Pferden und sechs Wagen lagen nordöstlich vom Grab;
siehe Lu Liancheng, Hu Zhisheng, Baoji Yuguo mudi. (1988). Bd. 1, S. 388-412; zu Pferd und
Wagen in der Zhou-Zeit und Qin-Zeit siehe Magdalene von Dewall, »Wagen und Gespanne in
Qin«. (1990). S. 49-57.
[33] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 103-105; gute Einzelbeispiele siehe
Lothar von Falkenhausen (1990), S.41 (Schachtgrab Nr. 3 von Songcun); Dieter Kuhn (1992),
S. 25-31; Li Buqing, Lin Xianting, »Shandong Penglai xian Liugezhuang muqun fajue jian-
bao«, Kaogu 9 (1990), S. 803-810 (besonders M 6 auf S. 804); Wu Zhenlu, »Shanxi Houma
Shangma mudi sanhao chemakeng fajue jianbao«, Wenwu 3 (1988), S. 35-49 (Grubengrab M
3 vom Jahr 655 v. Chr.); Hou Yi, Qu Chuanfu, »Taiyuan Jinshengcun 251 hao Chunqiu damu ji
chemakeng fajue jianbao«, Wenwu 9 (1989), S. 59-86; Farbtaf. 1-2; Taf. 1-8 (Grab eines Ari-
stokraten der Zhao-Sippe von Jin im Rang eines qingc42, ca. 475-425 v. Chr.).
[34] Zheng Wenlan, »Shaanxi Chang’an Zhangjiapo M 170 hao Jing Shu mu fajue jianbao«,
Kaogu 6 (1990), S. 504-510; Taf. 1:2.
[35] Einfache Anordnung der Grabbeigaben oberhalb des inneren Sarges; Gao Yingqin, Wang
Jiade, »Dangyang Jinjiashan jiuhao Chunqiu Chu mu«, Wenwu 4 (1982), S. 41-45; die Fort-
führung der Anlage eines Kopfraumes im äußeren Sarg kann in vielen Beispielen nachgewie-
sen werden, siehe Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984).
[36] Zhao Dexiang, »Dangyang Caojiagang wuhao Chu mu«, Kaogu xuebao 4 (1988),
S.455-500, (besonders M 248, 6. Jh. v.Chr.); Dieter Kuhn (1992), S.48, Abb. 6; S. 50-53;
Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). S. 14, Abb. 9 (Grab M 109, ca. 5. Jh. v.Chr.).
[37] Dieter Kuhn (1994), S.25, 91, Abb.21.
[38] Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). S.48, Abb.38; S.50, Abb.40.
[39] Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). S.6, Abb.3; S.7, Abb.4; S.26, Abb. 15.
[40] Siehe auch die Särge aus dem Grab Nr. 5 von Caojiagang, Zhao Dexiang, »Dangyang Cao-
jiagang wuhao Chu mu«, Kaogu xuebao 4 (1988), S. 455-500; Dieter Kuhn (1992), S. 50-53.
[41] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 104; Li Xueqin, Eastern Zhou and Qin
Civilizations. New Haven: Yale University Press 1985. S. 222-239 (bes. S.227, Abb. 99);
Zhongshan: S.93-107; Robert L. Thorp, »Burial Practices of Bronze Age China«. (1980).
S. 59-62.
[42] Die äußeren und die inneren Särge lassen sich nach ihrer Machart wiederum in fünf, bezie-
hungsweise drei Hauptgruppen unterteilen, siehe Dieter Kuhn (1992), S.41-46.
[43] Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). S.51, Abb.41.
[44] Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). S.47, Abb. 36.
[45] Dies war auch der Fall beim Grab M 1 von Mawangdui; Changsha Mawangdui yihao
Hanmu. (1973). Bd. 1, S.4, Abb. 4.
[46] Siehe Li Xueqin, Eastern Zhou and Qin Civilizations. (1985). S. 154-188 (Gräber in Chu);
Petra Klose, »Das Grab des Königs Cuo von Zhongshan (gest. 308 v.Chr.)«, Beiträge zur All-
gemeinen und Vergleichenden Archäologie 7 (1985), S. 1-93; ein ungewöhnlich großes und
gut ausgestattetes Grab war das von Shao Tuo aus dem Jahr 292 v. Chr.; siehe »Jingmen Baos-
han Chu mu fajue jianbao«, Wenwu 5 (1988), S. 1-14; Dieter Kuhn (1992), S. 61-65. 73,
Abb. 8; siehe auch das riesige Grab M 1 von Xinyang aus dem Reich Chu, An Jinhuai (Hg.),
Zhongguo kaogu. Shanghai: Shanghai guji chubanshe 1992. S. 319-320, 422, Abb. 73.
[47] Hubeisheng bowuguan (Hg.), Zeug hou Yi mu. Beijing; Wenwu chubanshe 1989. 2 Bde.;
Alain Thote, »The Double Coffin of Leigudun Tomb No. 1: Iconographic Sources and Related
235
TRIBUS 44, 1995
Problems«, Thomas Lawton (Hg.), New Perspectives on Chu Culture Düring the Eastern Zhou
Period. New Jersey: Princeton University Press 1991. S. 23-46; Dieter Kuhn (1992), S. 53-60.
[48] Ein berühmtes Beispiel ist das aus zwölf Sargkammern bestehende Grab M 1 von Luobo-
wan in Guixian, Provinz Guangxi. Sieben Begleitopfer waren unterhalb des äußeren Sarges
bestattet; siehe An Jinhuai (Hg.), Zhongguo kaogu. (1992). S.492, 544, Abb. 116.
[49] Zeng hou Yi mu. (1989). Bd. 1, S. 9, Abb. 5.
[50] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). Farbtaf. 23; Lothar von Falkenhausen,
»Chu Ritual Music«, Thomas Lawton (Hg.), New Perspectives on Chu Culture Düring the
Eastern Zhou Period. (1991). S. 47-106; (bes. S. 70-83).
[51] Zeng hou Yi mu. (1989). Bd.2, Taf.8:3; Bd. 1, S.20, Abb. 12.
[52] Bislang wurde kein anderes Beispiel eines solchen Sarges gefunden. Allerdings ist ein
Sarg, der ganz aus Bronzeplatten hergestellt ist, am Fundort Dapona in Sichuan entdeckt wor-
den. Der Sarg datiert etwa in das 5. Jh. v. Chr., siehe Li Xueqin, Eastern Zhou and Qin Civi-
lizations. (1985). S. 219-221, Abb. 96.
[53] Zeng hou Yi mu. (1989). Bd. 2, Taf. 10:1.
[54] Zeng hou Yi mu. (1989). Bd. 1, S. 36, Abb. 21.
[55] »Jingmenshi Baoshan Chu mu fajue jianbao«, Wenwu 5 (1988), S. 1-14; Taf. 1:1; Wu Yali,
»Baoshan erhao mu qihua kao«, Wenwu 5 (1988), S. 30-31, 29.
[56] Neben den erwähnten Gräbern mit Särgen aus Holz gab es in der Westlichen Zhou-Zeit
auch Gräber mit Särgen aus Steinplatten; siehe Wang Xiping, »Shandong Rushanxian Nan-
huangzhuang Xi Zhou shibanmu fajue jianbao«, Kaogu 4 (1991), S. 332-336; Taf. 1, 2; Dieter
Kuhn (1992), S.26.
4. Die konfuzianischen Ritualtexte und die Gräber der Han-Zeit
Die Gelehrten der Han-Dynastie (206 v. Chr.- 220 n. Chr.) sahen es nach der Bücher-
vernichtungskampagne der pragmatisch unduldsamen, anti-konfuzianisch und anti-
historisch eingestellten [1] und ideologisch extrem zentralistischen Qin-Dynastie
(221-207 v. Chr.) als ihre historische Aufgabe und Pflicht an, die noch erreichbaren
historischen Texte und Ritentexte aus der Zeit vor der Qin-Dynastie zu kompilieren
und zu kommentieren. Ihr Bemühen hatte mehrere Zielsetzungen: zum einen ging es
um die Bewahrung der Vergangenheit, wie sie früher in schriftlichen Zeugnissen auf-
gezeichnet worden war, zum anderen wollten sie sich die Vergangenheit anhand der
Schriften wieder aneignen. Ein vernehmliches weiteres Ziel bestand nach den
Schreckensjahren des alltäglichen Terrors der sogenannten legalistischen Regie-
rungsweise darin, die konfuzianische Ethik im Staat zu propagieren und in der Form
einer staatlichen Ordnung zu etablieren. Die zu Beginn der Han-Zeit vergleichsweise
wenigen Gelehrten und ihre Schüler, die man später grob vereinfachend als die Kon-
fuzianer bezeichnete, nutzen also die öffentliche Stimmung nach dem Untergang der
verhaßten Qin-Dynastie für ihre Ziele.
Die Voraussetzungen zur Verbreitung konfuzianischen Gedankenguts waren zu
Beginn der Han-Dynastie günstig. Zum einen brauchte das aus dem Bauerntum
stammende Kaiserhaus der Han-Dynastie, das im Aufstand gegen die Qin-Dynastie
zur Macht gelangt war, eine andere ethische Grundlage als die Qin-Dynastie, zum
anderen waren die alten Aristokratenfamilien durch die Qin-Dynastie und in den
blutigen Bürgerkriegen um die Macht am Anfang der Han-Dynastie sehr
geschwächt worden. Diese Ausgangslage begünstigte den Aufstieg der sogenannten
konfuzianischen Gelehrten als einer moralisch legitimierten Kraft zur neuen intel-
lektuellen und gesellschaftlichen Elite des Reiches. Wie immer gab es aber auch
unter den Konfuzianern karrieristische Beamte, die sich das konfuzianische Gedan-
kengut nur oberflächlich aneigneten, um daraus einen Profit zu ziehen. Des weite-
ren entstand im Verlauf der Han-Dynastie eine einflußreiche Schicht von reichen
Landbesitzern und Kaufleuten, die die alte hierarchische Ordnung der vier Klassen
ad absurdum führte.
Zur Erreichung ihrer gesellschaftlichen Ziele bedienten sich die Gelehrten der Han-
Dynastie der alten konfuzianischen Schriften, die nach der Bücherverbrennung
gesammelt, kompiliert und kommentiert werden mußten. Diese Behandlung der
Quellentexte war die damals übliche und verständliche Weise, das Wissen und die
eigene Bildung zu systematisieren. [2] Die Kommentare wurden zum Prototyp und
236
Kuhn; Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Merkmal chinesischer Gelehrsamkeit und Wissenschaft. Es war bei dieser Ver-
fahrensweise unvermeidlich, daß die Vergangenheit für die Gegenwart gedeutet
wurde und umgekehrt, daß man die Gegenwart auch an der großen Vergangenheit,
wie sie die Gelehrten verstanden, auszurichten versuchte. Mißverständnisse und
Fehldeutungen ließen sich nicht vermeiden. Doch betrachtet man die Wirkungs-
geschichte ihrer Kompilationen im Bereich der sogenannten klassischen Schriften
und ihre davon inspirierten Leistungen insgesamt, so waren sie nicht nur erfolg-
reich, sondern auch zweitausend Jahre lang in China und ganz Ostasien kulturprä-
gend.
Bei aller Ernsthaftigkeit, die bei der Kompilation und Deutung der Texte angebracht
war, kann aber nicht übersehen werden, daß es auch zu Manipulationen kam. Diese
ergaben sich aus dem konfuzianischen Anspruch an die Gesellschaft und besonders
aus dem neu gewachsenen historischen Bewußtsein seit der Regierungszeit von Kai-
ser Wudi (reg. 140-87 v. Chr.). Dieses neue der konfuzianischen Moral und auch
anderer rationaler Deutung verpflichtete Bewußtsein verlangte danach, die in den
verschiedenen Quellen überlieferte vorgeschichtliche Unklarheit, das Chaos, zu
beseitigen und eine erklärende Ordnung für die vorgeschichtliche Zeit, die über die
Drei Dynastien (Xia, Shang und Zhou) hinausging, zu schaffen. Überlieferte
Bezeichnungen religiöser Vorstellungen und mythologische Personen wie die Drei
Souveräne und die Fünf Kaiser [sanhuang wudidl] [3] aus der Zeit vor der Han-
Dynastie formte man nun endgültig zu historischen Persönlichkeiten, [4] zu chine-
sischen Heroen und Archetypen grundlegenden Kulturschaffens und großartiger
Erfindungsgabe, zu den idealen Herrschern eines Goldenen Zeitalters des Alter-
tums, die man gleichzeitig mit den entsprechenden Eigenschaften, Fähigkeiten und
bildlichen ikonographischen Kennzeichen ausstattete. Die legendäre Vorgeschichte,
die man bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als verbindlich betrachtete, war
geschaffen. [5]
Auch die Ritentexte legen Zeugnis davon ab, daß man die Vergangenheit über die
geschichtliche Erfaßbarkeit hinaus in das Dunkel der vorschriftlichen Zeit kunstvoll
verlängert hatte. Sitten und Bräuche im Bereich der Beerdigungen und Gräber wur-
den nur all zu willig im Sinn einer Entwicklung aus der Vergangenheit wiederge-
geben und nach eigenem Gutdünken gedeutet. Die Verfahrensweise hatte ihre
Tücken.
Wie ich anhand der archäologischen Funde belegt habe, wird die schriftliche Über-
lieferung in den Ritenwerken, die aus der Zeit der Streitenden Reiche und der Han-
Zeit stammt, der Vielfalt der Gräber und der Beerdigungspraxis generell nur unzu-
reichend gerecht. Die Aufzeichnungen beweisen, daß die Gelehrten der Han-Zeit
weder von den Gräbern der Steinzeit oder jenen der Shang-Zeit eine tatsächliche
Vorstellung hatten, noch scheinen sie sich jemals ernsthaft mit der unglaublichen
Vielfalt der Gräber in der Zhou-Zeit auseinandergesetzt zu haben. Darüber hinaus
dokumentieren die archäologischen Grabfunde der Han-Dynastie, wie wenig sich die
Gelehrten bei der Niederschrift ihrer Vorstellungen, Kommentare und Erklärungen
zu Gräbern und Begräbnissen in längst vergangenen Zeiten von den eigenen, zeit-
genössischen praktischen Erfahrungen mit und den Kenntnissen von Gräbern beein-
flussen ließen. Zwar wird vergleichsweise viel in den schriftlichen Quellen über die
bislang nicht ausgegrabenen Kaisergräber der Han-Dynastie berichtet, [61 doch die
Gräber der anderen Angehörigen der Oberschicht bleiben mehr oder weniger im
Dunkeln. Ein Blick auf die Grabfelder außerhalb der Stadtmauern hätte auch damals
genügt, um festzustellen, daß die Gräber auf vielfältige Weise und nach sehr ver-
schiedenen Traditionen gebaut wurden.
Kreativität im Grabbau der Han-Zeit
Es ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe, der in der späteren chinesischen
Geschichte niemals wieder erreichten Vielfalt der Gräber in der Han-Zeit mit ihren
landschaftlichen Besonderheiten gerecht zu werden. Aus den von der Zhou-Zeit
bekannten Grabtypen entwickelten sich in der Han-Zeit neue Typen in vielen Varia-
237
TRIBUS 44, 1995
tionen, vor allem Kammergräber aus Ziegelstein und Steinplatten, Höhlenkammer-
oder Katakombengräber, Felsengräber, Gräber in der Form hängender Särge,
Urnensärge, Ziegelsärge und Steinsärge, großflächige Mehrkammergräber in diver-
sen Ausführungen, sogenannte unterirdische Paläste, und aufwendig gebaute
Gräber mit Wandelgängen. [7] Hier können nur einige im Rahmen dieser Un-
tersuchung wichtige und für die Han-Zeit charakteristische Gräber vorgestellt wer-
den.
Der aus der Zhou-Zeit bekannte Typ des Grabes mit hölzernem Sarg in einer Erd-
grube mit senkrechten Wänden, vielfach auch Schachtgrab genannt, wurde in der
Westlichen Han-Zeit übernommen (Abb. 29) und mit vielen Variationen in Hubei,
Hunan und Anhui und in den Küstenprovinzen Shandong, Jiangsu, Guangdong und
im südlichen Nordchina fortgeführt. [8] Im Unterschied zur allgemeinen Beiset-
zungpraxis in der Zhou-Zeit hat man nun in vielen der Gräber Ehepaare in separaten
inneren Särgen in einem gemeinsamen äußeren Sarg beigesetzt, ganz entsprechend
den Vorstellungen im Shijing [Buch der Lieder]. Eine Variante dieses Sargtyps in
Hubei und Sichuan unterschied sich von dem in Zentral- und Ostchina, obgleich man
auch dort den Sarg oftmals in einem wasserundurchlässigen Gemisch aus weißem
Ton, wie es aus dem Grab Nr. 1 von Mawangdui bekannt ist, eingebettet hat. Der
äußere Sarg eines Grabfundes bei Chengdud2 lagerte auf einer aus Holzbohlen gezim-
merten Plattform, die wesentlich größer war als die Abmessungen des äußeren Sar-
ges (Abb. 30) [9]. Originell ist seine Inneneinteilung. Die beiden Särge standen auf
einem eingezogenen Boden im Sargraum, unter dem zwei flache Räume (im Osten
und Westen) und ein kleiner östlicher Seitenraum für die Grabbeigaben lagen. Da
Grabräuber das Grab mehrfach heimgesucht hatten, standen die außen mit
schwarzem und innen mit rotem Lack beschichteten Särge nicht mehr in ihrer
ursprünglichen parallelen Ausrichtung. Der nördliche Sarg gehörte wohl dem Grab-
herrn, der im Alter von etwa 56 Jahren starb. Seine Frau wurde etwa 40 Jahre alt. Die
Schädel und Knochen der Toten waren mit einer nicht definierten roten Substanz
beklebt. Das legt den Schluß nahe, daß es sich um eine Zweitbestattung gehandelt
haben könnte. Ein ähnlicher, doch recht eigenwillig konzipierter Sarg wurde auf
einem Gräberfeld bei Nanchangd3 gefunden. 110] Seine Inneneinteilung unterschied
sich dadurch, daß der eingezogene Boden an der Stelle des Sarges tiefer lag und eine
Treppe vom Bodenraum in den Sargraum führte. Dieser Typ Sarg wurde nach der
Westlichen Han-Zeit von äußeren Särgen aus Ziegelstein abgelöst.
Den Typ des Höhlenkammergrabes, den man auch als Katakombengrab bezeichnen
könnte, gab es ebenfalls bereits in der Zeit der Streitenden Reiche. [11] In der Han-
Zeit sollte dieser Grabtyp vor allem in den nordchinesischen Provinzen Shaanxi und
Hebei an Popularität gewinnen. [12] Die Gräber waren in ihrer Anlage zwar alle
ähnlich, besonders was die Aushöhlung des Sargraums betraf, doch keines glich
genau dem anderen. Einige der Gräber hatten einen senkrechten Schacht vor dem
Sargraum, andere einen rampenartigen Grabweg. Besonders hervorzuheben ist ein
ostwestlich ausgerichtetes Grab, in dem ein äußerer Sarg stand, der in einen Sar-
graum und einen nur 50 cm hohen Bodenraum gegliedert war (Abb. 31) [13]. Der
Grabbesitzer hieß Zhao Qianqiud4, wie die Inschrift auf einem Bronzesiegel mitteilt.
Eine Weiterentwicklung dieses Grabtyps war eine Anlage, bei der der Grabraum
und der Raum für die Grabbeigaben im rechten Winkel zueiander angeordnet waren
(Abb. 32) [14]. Der Grabraum besaß eine strikte ostwestliche Ausrichtung. Zu den
Räumen führte ursprünglich ein sehr langer und breiter Grabweg. Der Zugang zu
beiden Grabräumen war durch eine 285 cm hohe Mauer aus ungebrannten Lehm-
ziegeln und eine Reihe von Holzpfählen im Mauerwerk versiegelt. Die Decke des
Sargraums war bogenförmig. In der Nord- und Südwand des Raums befanden sich
verschieden hohe Aussparungen, in denen ursprünglich Holzpfosten auf Steinbasen
standen, die die Decke des Raumes über dem äußeren Sarg mit einer Holzkonstruk-
tion verkleideten. Dies geschah wohl aus symbolischen Gründen in der Form eines
Baldachins, der gleichzeitig die Decke vor dem Einsturz bewahren sollte. Beide
inneren Särge waren mit Hanftuch beklebt, das wiederum mit schwarzem Lack
beschichtet war. Das Sarginnere war mit rotem Lack überzogen. In beiden Särgen
238
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
fanden sich noch Fragmente von Seidentextilien. Das Grab gehörte wahrscheinlich
einem Ehepaar. In dem südlichen Sarg der Frau wurde in Höhe ihres Kopfes ein Satz
von sieben Stöpseln aus Jade gefunden: ein in Form einer Zikade geschliffenes
weißes Jadestück diente zum Verschließen des Mundes, zwei weiße lange Stöpsel
für die Ohren, etwas kürzere Stöpsel für die Nasenlöcher und zwei weiße ovale
Klappen für die Augen.
Mit der Verbreitung größeren Wohlstands und der allgemein zu beobachtenden
Bereitwilligkeit zur Übernahme konfuzianischer Wertvorstellungen in weiten Krei-
sen der neuen Elite aus hohen Beamten und aus Angehörigen mächtiger Sippen
wuchs das Bedürfnis nach entsprechender Repräsentation auch im Bereich der Grä-
ber. Das Höhlenkammergrab in seiner Ausformung als horizontal angelegtes Kata-
kombengrab fand seine höchste Vollendung in der Entwicklung der beiden Gräber
von Liu Shengd5 (gest. 113 v. Chr.), einem Bruder des Kaisers Wudi, und seiner Gat-
tin Dou Wand6 in Manchengd7 (Abb. 33) [15]. Beide Gräber hatte man horizontal im
Berg angelegt. Im zentralen Raum stand eine Konstruktion aus Bronze und Holz, die
das Dach trug und die stoffbespannten Seiten hielt. Insgesamt mehr als 2800 Grab-
beigaben wurden in den beiden Gräbern entdeckt. Die Leichen waren in kostbare
Gewänder aus Jadeplättchen gekleidet.
Ein ebenfalls gigantisches Grab, das Assoziationen zu den komplizierten vielräu-
migen Grabanlagen han-zeitlicher Felsengräber in Sichuan erweckt, [16] wurde
nördlich von Xuzhou in der Provinz Jiangsu gefunden (Abb. 34) [17]. Die Graban-
lage kann als Höhlenkammergrab oder Katakombengrab mit Architekturelementen
aus Stein bezeichnet werden. Es ist eines der größten und kompliziertesten Gräber,
das bislang entdeckt wurde. Die Anlage ist exakt nach Norden ausgerichtet. Der
Grabzugang war 45 m lang und bis zu den beiden Erdhügeln 4,85 m breit. Der
mittlere Abschnitt des Grabwegs hatte eine Länge von 13 m. Er war auf beiden
Seiten von insgesamt sieben, mit Steinplatten versiegelten Nischen gesäumt, in
denen 222 farbig bemalte Keramikfiguren gefunden wurden. Der nördliche Teil des
Grabwegs und der hintere Abschnitt waren durch riesige, zwischen drei und 7,8
Tonnen wiegende Steinblöcke in mehreren Lagen blockiert, ln den Spalten zwi-
schen diesen Steinblöcken hat man Plättchen und Goldfäden von einem Jadege-
wand, Jadeschmuck und Bronzesiegel gefunden, Anzeichen dafür, daß das Grab
dem Herrscher eines Lehensreiches gehörte. Deswegen läßt es sich in den Zeitraum
zwischen 175 und 128 v. Chr. datieren. [18] Im Norden der querliegenden vorderen
Kammer schloß sich die hintere Kammer an, die wiederum mit Steinblöcken ver-
sperrt war. In dieser hinteren Kammer stand ursprünglich der äußere Sarg, der den
inneren Sarg mit dem Toten enthielt. Ein ganz besonderes Merkmal des Grabes war
die zusätzliche, dem eigentlichen Grab angeschlossene Architektur, die aus dem
Stein des Berges herausgeschlagen und dann in Steinbauweise vollendet worden
war. Man erreichte diesen Bereich über eine Treppe auf der Ostseite vor dem großen
Grabtor. Insgesamt bedeckte er allein eine Fläche von 335 qm. Die Wirtschafts-
räume der Grabresidenz, die insgesamt aus elf durch kurze Durchgänge verbundene
Kammern bestanden, waren zumeist längsrechteckig mit Satteldach gebaut. Jeder
Raum hatte ursprünglich eine bestimmte Funktion, wie Musikhalle, Schatzkammer,
Speicher, Küche, Brunnenraum, Zeughaus, Waffenkammer, Toilette und derglei-
chen.
Aus diesem wahrhaft aristokratischen Grabtyp entwickelte sich bis zum 1. Jahrhun-
dert die oft erheblich kleinere, doch architektonisch anspruchsvoller gestaltete unter-
irdische Residenz, die meistens aus Steinblöcken und massiven Ziegelsteinen errich-
tet war. Die Steinblöcke waren kunstvoll mit Reliefs graviert. Dieser Grabtyp war
hauptsächlich im Süden von Henan, im westlichen Shandong und nördlichen
Jiangsu, in Sichuan und Shaanxi verbreitet. [19] Eindrucksvolle Beispiele entstanden
im 2. Jahrhundert der Östlichen Han-Zeit, wie das Grab M 1 von Dahutingds im Kreis
Mixiand9 in Henan (Abb. 35) [20], das große Grab von Cigoudl° bei Xiangchengd" in
Henan (Abb. 36) [21] und das Grab M 2 von Mamaozhuangdl2 im Kreis Lishixiandl3
in Shanxi (Abb. 37) [22], um nur einige wenige zu nennen. Das in der Forschung
bekannte Grab von Yi’nand14 in Shandong stammt aus dem letzten Viertel des 2. Jahr-
239
TRIBUS 44, 1995
hundert n.Chr. Es wurde mit 280 Kalksteinblöcken gebaut und so angelegt, daß es
durch Pfeiler und Konsolen in Längsrichtung geteilt war (Abb. 38) [23]. Die Decke
bestand aus acht falschen Steingewölben. Die kunstvoll ausgeführten Steinreliefs
stammen aus dem konfuzianischen und daoistischen Themenkreis. Auf der Ober-
schwelle des Eingangs ist die Schlacht zwischen Chinesen und »Barbaren« auf einer
Brücke dargestellt. Auf den monolithischen Türpfosten finden sich die schlangenlei-
bigen Kulturheroen Fuxid15 mit dem Winkelmaß und seine Schwester und Frau
Nüwad16 mit dem Zirkel, darunter die Königinmutter des Westens Xiwangmud17,
deren Dienerinnen das Kraut der Unsterblichkeit in Mörsern zerstoßen. Dazu gibt es
neben vielen dekorativen und kaum zu erklärenden Darstellungen auch Reliefs von
offiziell gekleideten Beamten in einer Versammlung oder Audienz, den Vorbeizug
des Gouverneurs im Wagen, verschiedene Residenzen und Ahnentempel, aber auch
Szenen aus dem täglichen Leben. Einige der Szenen illustrieren historische
Geschichten von aufrechten Beamten aus vergangenen Zeiten, die jeder Gebildete
kannte. Wie eng und untrennbar damals bereits die historische Wirklichkeit mit der
eigenen Interpretation von Geschichte verwebt war, ist an der Darstellung von Gang
Jiedl8 zu ersehen. Nach der Legende hat er die Schriftzeichen und damit das wichtig-
ste und die gesamte chinesische Kultur prägende Element erfunden.
Das mit verschiedenen Materialien und in höchst unterschiedlicher Innenstruktur
gebaute große Grab mit Wandelgang [huilang019] verdient an dieser Stelle besondere
Erwähnung. Dieser Grabtyp, der für die zeremonielle Ausführung von Ritualen in
einer Prozession im Grab bestens geeignet war, wurde in der Form nur in der Han-
Zeit gebaut. Leider ist nicht bekannt, wie diese Rituale durchgeführt wurden.
Ursprünglich war dieser Grabtyp wohl als Grab für Herrscher von Lehensreichen
bestimmt, doch archäologische Funde belegen, daß solche Gräber in vereinfachter
Form auch gerne kopiert wurden. [24] Zwei sehr eindrucksvolle Gräber des Typs
sind ziemlich genau datierbar, zwei weitere sind entweder nur unangemessen publi-
ziert [25] oder vage datierbar. [26] Die Gräber M 1 und M 2 von Dabaotaid20 bei Bei-
jing lagen parallel nebeneinander nach Norden ausgerichtet auf einem Hügel. [27]
Wahrscheinlich gehörten die Gräber dem Lehenskönig Liu Jiand2! von Guangyangd22
(gest. 45 v. Chr.) und seiner Gattin. Im Gegensatz zu den meisten Gräbern schloß ihre
Abdeckung aus Holz, Holzkohle und einem 50 bis 70 cm dicken Gemisch aus
weißem Ton auf Höhe des Bodenniveaus der Umgebung ab. Um die Gräber zu schüt-
zen, waren über ihnen riesige Grabhügel aufgeschüttet, 8 m hoch, 80 m breit und 100
m lang. Das vollkommen aus Holz gebaute Grab M 1 hatte eine im Süden angelegte
Zugangsrampe, die über einen Korridor in den vorderen Raum und in den Grabraum
des Typs »Stapelung von gelbem Darm« [huangchang ti coud23] mit dem Sargraum
führte (Abb. 39,40) [28]. Huangchang ti cou war die Bezeichnung für eine kaiserlich
genehmigte Baustruktur aus 90 cm langen, regelmäßig dicken Balken aus dem gel-
ben Kernholz von Zypressen. Diese aus 15 000 gleichmäßig zugeschnittenen Balken
bestehende Struktur fungierte als ein gewaltiger äußerer Sarg, der gleichzeitig den
inneren Hauptraum [zhengzangd24] des Grabes schuf. Der hintere Raum war der Sar-
graum, in dem der sogenannte Catalpa Palast, der Sarg des Herrschers, stand. Er war
ursprünglich 508 cm lang, 344 cm breit und 270 cm hoch. Der Tote war in einem
dreifachen Sarg bestattet, ganz so wie es hohen Aristokraten nach den Ritualvor-
schriften entsprach. Ein doppelter, von einander getrennter, äußerer Wandelgang
umgab die aus Balken aufgeschichtete Mauer.
Ein anderer Fund eines Grabes mit Wandelgang im Südosten der Provinz Henan, das
um 125 n. Chr. angelegt wurde, belegt, daß diese große Tradition des Grabbaus in ari-
stokratischen Kreisen auch noch gegen Ende der Han-Zeit praktiziert wurde. [29]
Zu diesen in der Anlage und Ausgestaltung unterschiedlich aufwendig gebauten
Grabtypen, unter denen das Grab mit Wandelgang eine Besonderheit bildet, gesell-
ten sich in der Östlichen Han-Zeit eine Vielzahl von großen anspruchsvollen Gräbern
aus Ziegelstein. [30] Diese Bauweise war nicht nur schneller und preisgünstiger, son-
dern bot auch den Vorteil, daß man die Wände nun technisch einfacher, großflächig
und farbenprächtig mit erzählerischen Themen und Szenen aus dem Alltagsleben des
Grabherrn und seines Haushalts bemalen konnte. Viele Beispiele solcher Wandma-
240
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
lereien sind erhalten. [31] Dazu boten Ziegelsteine, die entweder massiv oder hohl
produziert wurden, den Vorteil, daß man ihnen auf einfache Weise ein dekoratives
geometrisches, ein figürliches oder sonstiges Dekor einpressen oder aufmalen
konnte. Sowie es Gräber gab, die aus einer Kombination von Steinblöcken und mas-
siven kleinen Ziegelsteinen gebaut waren, so wurde es nun Mode, Gräber aus großen
Hohlziegeln unter Verwendung kleiner Massivziegel zu errichten. Im Laufe der
nachfolgenden Jahrhunderte sollte Ziegelstein in vielfältiger Ausführung alle ande-
ren Materialien im Bau von Gräbern der chinesischen Oberschicht langsam aber ste-
tig zurückdrängen.
Die gesellschaftliche Aufgabe des Grabes in der Han-Zeit
Zum Schluß soll das Motiv der konfuzianischen Gelehrten für ihre Darstellungen
von Gräbern und Särgen und ihre Beschreibung des Toten- und Beerdigungsrituals
in ihren Schriften nochmals verdeutlicht werden: ihr Bestreben war nicht die Dar-
stellung der han-zeitlichen Wirklichkeit, sondern ihre Schriften trugen ihrem
Wunsch nach beispielhafter Vereinheitlichung und damit nach Nachvollziehbarkeit
der Grabentwicklung Rechnung. Die von ihnen favorisierten Beerdigungen und Grä-
ber wurden idealisiert und gleichzeitig in eine zeitlich ungenaue Vergangenheit pro-
jiziert. Durch diese Projektionen sollte sowohl das konfuzianische Ideal einfacher
Gräber und Bestattungen und gleichzeitig ausgefeilter Grab- und Trauerrituale pro-
pagiert als auch die althergebrachte, aus der Zhou-Zeit stammende hierarchische
gesellschaftliche Ordnung bestätigt werden. Jeder sollte auch auf dieser Grundlage
den ihm gebührenden Platz in der Gesellschaft einnehmen und sich dementsprechend
in allen Lebenssituationen verhalten.
Den konfuzianischen Gelehrten, insbesondere der Östlichen Han-Zeit, war durchaus
bewußt, daß die zeitgenössische Realität eine ganz andere w'ar als die ihrer Wünsche
und politischen Projektionen. Die Verschiedenheit der Gräber, insbesondere der
begehbaren Grabanlagen, erlaubt den Schluß, daß die han-zeitliche Elite, zu der
neben den strengen und moralisch gefestigten konfuzianischen Beamten und Gelehr-
ten auch die Aristokraten, die Karrierebeamten, die Kaufleute und die Landbesitzer
zählten, eigene Vorstellungen und Wünsche beim Grabbau verfolgte. Sehr viele
Angehörige dieser Elite hielten sich nicht an überlieferte Vorgaben aus der Zhou-
Zeit, die ein angemessenes Begräbnis nach einer veralteten Einteilung der Gesell-
schaft vorschrieben, die dem han-zeitlichen Bedürfnis nach Selbstdarstellung kei-
nerlei Rechnung trug. Die Vielfalt und die Anlage der Gräber offenbaren dann auch,
daß es keine verbindlich festgelegten Richtlinien mehr gab. Die Lehenskönige
bestätigten ihre Position nach außen durch den Bau großer und aufwendiger Gräber
des neuen Grabtyps. Und die gesamte Gesellschaft der Karrierebeamten, Neureichen
und Emporkömmlinge, die wie das Kaiserhaus weder eine wirkliche Genealogie
noch die Tradition des familiären Ahnenkultes besaß, folgte dem Beispiel und
benutzte in Ermangelung des Ahnentempels den Friedhof und das Grab zur öffentli-
chen Zurschaustellung ihrer konfuzianischen Tugend, insbesondere der Kindesliebe,
die die Kinder ihren Eltern bezeugen mußten. [32] Man brachte also die konfuziani-
sche Ideologie auf die einfachste und verständlichste, nämlich auf sichtbare Weise,
zum Vorschein, indem man die Wände der Gräber mit in Steinplatten gravierten Bild-
programmen aus der wiederentdeckten konfuzianischen Tradition, künstlich
geschaffenen Mythen vorgeschichtlicher Zeit und mit lange überlieferten glückver-
heißenden Motiven, ausstattete. Man beauftragte Kunsthandwerker und Graveure
mit der Schaffung dieser Bildwerke, die zweifelsohne als konfuzianische Kunst zu
betrachten sind. [33]
Während die archäologischen Funde Erstaunen auslösen, erfährt man in den zeit-
genössischen Schriften nur wenig über den eigentlichen Bau der Gräber dieser
neuen Elite, über die tatsächliche Durchführung der Beisetzung des Sarges im Grab
und über die in den vielräumigen Gräbern praktizierten Opferriten. Dies hängt
sicherlich auch damit zusammen, daß die strengen konfuzianischen Gelehrten und
Beamten, die sich als Hüter der konfuzianischen Ordnung und Moral verstanden.
241
TRIBUS 44, 1995
diesen vielfältigen öffentlichen Zurschaustellungen kritisch und ablehnend gegenü-
berstanden. Ausführlich wird dagegen über die öffentlich wirksamen und auch
augenfälligen, gesellschaftlich wichtigen Handlungen beim Todesfall in einer Fami-
lie berichtet.
Die Begräbniszeremonie in der Han-Zeit umfaßte fünf Stufen: die Familie des Ver-
storbenen setzte die Verwandten, Freunde, Schüler und Kollegen davon in Kenntnis;
die Angehörigen des Clans erweisen dem Toten die letzte Ehre; Freunde, Schüler und
Kollegen kommen zum Kondolieren; die Begräbniszeremonie findet statt, an der die
Angehörigen des Clans und andere Trauergäste teilnehmen; der Leichenzug geht
zum Friedhof. Die zu beachtenden Normen, wie sie für die Trauerrituale, die Trau-
erkleidung und Trauerzeiten und dergleichen galten, waren bis ins kleinste Detail in
den Schriften über Riten und Etiquette festgelegt und wurden wohl auch nach
Umständen befolgt. Das alles hatte einen guten Grund. Jede wohlhabende Familie,
die auf ihr öffentliches Ansehen und die Bewahrung ihrer lokalen Einflußsphäre
bedacht war, lud hunderte, oftmals tausende Trauergäste zur Beerdigung ein. Die
Bewirtung bei der Beerdigung, die Besichtigung des aufwendigen Grabes durch die
Gäste und die Demonstration der richtigen Handhabung des komplizierten, von den
Konfuzianern für sich vereinnahmten Rituals erhöhten den guten Ruf des Nachkom-
men und der Familie des Verstorbenen in der Öffentlichkeit und natürlich in der
Beamtenschaft. Diese Reputation half einem Bewerber aus der entsprechenden
Familie wiederum, im lokalen Empfehlungssystem, das für die Rekrutierung von
Beamten damals üblich war, berücksichtigt zu werden. Die Befolgung der Ritual-
vorschriften und der damit verbundene erhebliche finanzielle Aufwand konnte dem-
nach mit etwas Glück geradewegs zu einer öffentlichen Karriere für die Nachkom-
men führen. [34] Zur Erreichung ihrer recht profanen Ziele bedienten sich die
reichen und mächtigen Familien und die Karrierebeamten der Han-Zeit der konfu-
zianischen Ideologie auf vielfältige Weise, ohne jedoch ihre Inhalte auch leben zu
wollen. Die Kritik aus den Reihen der ernsthaften konfuzianischen Gelehrten ver-
hallte ungehört in der allgemeinen Geschäftigkeit.
Wang Fud25 (ca. 90-165) beschwert sich in seinem Qianfu lund26 [Abhandlungen
eines Weltflüchtigen] über die Mißstände seiner Zeit. Über Särge weiß er folgendes
zu berichten:
»Die Schreiner und Kunsthandwerker brauchen für ihre Arbeit auch noch Tage,
wenn nicht gar Monate, und wenn man einmal überschlägt, wieviel die Herstellung
eines einzigen solchen Sarges kostet, muß man für alle Leistungen gut und gern tau-
send Pfund Gold rechnen. Kommt er dann zu seiner endgültigen Bestimmung, dann
ist er mit zehntausend Pfund so schwer, daß ihn nur ungeheuer viele Menschen
hochheben und gerade noch die größten Wagen fortziehen können. Und trotzdem
möchte in dem riesigen Gebiet, von Luoyang im Osten bis Dunhuang im Westen,
einer lieber als der andere solch einen Sarg verwenden. Eine derartige Vergeudung
von Arbeitskraft und damit Schädigung der Landwirtschaft muß einem doch das
Herz zerreißen!« [35]
Man kann für die Han-Dynastie zu folgendem Schluß gelangen: die neue gesell-
schaftliche Elite und sicherlich auch einige aristokratische Familien eigneten sich
konfuzianische Themen an und ließen sie in ihren Gräbern eindrucksvoll in Bild-
werke umsetzen. Dadurch dokumentierten sie einer gleichgesinnten Öffentlichkeit
ihren Willen, am politischen Leben im Reich teilhaben zu wollen. Die in der Stille
wirkenden konfuzianischen Gelehrten dagegen, deren langfristige Zielsetzung die
Schaffung einer nach konfuzianischen Idealen lebenden Gesellschaft war, kompi-
lierten und kommentierten die überlieferten Normen und Richtlinien für das richtige
und angemessene Verhalten der jeweiligen sozialen Schicht in allen denkbaren Situa-
tionen des öffentlichen Lebens. Obgleich die Zielsetzungen der beiden gesellschaft-
lichen Kräfte recht verschieden waren, bedienten sich beide der konfuzianischen
Ideologie und schufen mit unterschiedlichen Mitteln konfuzianische Idealisierungen,
die historisch betrachtet, die Schaffung gesellschaftlicher Identität innerhalb der chi-
nesischen Elite förderten. Denn sowohl die Gelehrten wie auch die Familien, denen
die großen Gräber gehörten, verfügten über das technische Wissen und die Möglich-
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
keiten der praktischen Umsetzung von konfuzianischen Vorstellungen in komplexen
Ritualen. Die Beherrschung der Rituale galt jedoch nicht nur als eine Loyalitätsbe-
zeugung gegenüber den schriftlich fixierten Traditionen und damit der idealisierten
Vergangenheit, sondern war auch ein Bekenntnis zur han-zeitlichen Gegenwart,
einem Zeitalter, das die gesamte chinesische Kultur und Geschichte maßgeblich
prägte.
5. Nachwort
Eine ritualisierte Ordnung bei Tod und Beerdigung, wie sie durch die aufwendigen
Ausführungen und Vorschriften in den in der Han-Zeit kompilierten und zum ersten
Mal kommentierten Ritualbüchern Liji und Yili geregelt ist, wurde mindestens seit
der Zeit der Streitenden Reiche (463-221 v.Chr.) in der Zhou-Dynastie von der
Oberschicht in China befolgt und besaß bis ins 20. Jahrhundert Verbindlichkeit. Die
Toten- und Beerdigungsrituale wurden im inhaltlichen Kontext der konfuzianischen
Schriften zu moralischen Imperativen. Im Gegensatz zu vielen anderen frühen chi-
nesischen Schriftwerken, wie zum Beispiel den historischen Klassikern Shujing
[Buch der Dokumente] oder Chunqiu [Frühlings- und Herbstannalen], dem Shijing
[Buch der Lieder] oder den Vier Büchern, wurden die Ritualwerke nicht so sehr vor
einem geistesgeschichtlichen, staatsphilosophischen oder literaturhistorischen Hin-
tergrund untersucht und kommentiert, sondern vor allem aus praktischen Gründen.
Es ist nicht übertrieben festzustellen, daß das Liji, Yili und Zhouli »die wahre Lehre«
beinhalteten, die der Aufrechterhaltung von Ordnung, Angemessenheit und von hier-
archisch geregeltem Verhalten diente, ganz gemäß einer Feststellung im Liji: »Von
allen Methoden, Menschen zu regieren, ist keine dringender als die [Beherrschung
der] Rituale.« Deswegen wurde das Ritual und seine Beherrschung auch zur wich-
tigsten der Sechs Künste (Ritual, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Schreiben
und Rechnen). Und auch auf die Familie und Sippe wurde die konfuzianische
Maxime des richtigen Verhaltens übertragen, gemäß dem li im Sinn der kindlichen
Pietät (xiaod27) gegenüber den Eltern im Hinblick auf den Ahnenkult. Konfuzius
hatte gesagt:
»Die Lebenden sollen [ihren Eltern] gemäß dem li dienen; wenn [die Eltern] gestor-
ben sind, sollen sie gemäß dem li begraben werden; und man soll ihnen gemäß dem
li Opfer darbringen«028. [36]
Während sowohl die Anlage, die Ausführung der Gräber und ihre Ausstattung als
auch die alltägliche Praxis bei Tod und Beerdigung im Laufe der chinesischen
Geschichte ganz entsprechend den Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft
erhebliche und gut aufzeigbare Entwicklungen erfuhren, wurden die Ritualbücher
aber trotzdem immer wieder als unveränderliche und verbindliche Grundlagen, als
Anleitung und Maßstab für öffentliches und privates Handeln, konsultiert. Man
suchte in ihnen verbindliche Anweisungen für alle Angelegenheiten des täglichen
Lebens, besonders in schwierigen Fällen, bei Abweichungen und Regelverstößen.
Wie alle Philologen, die sich mit diesen Werken beschäftigt haben, wissen, bieten die
Quellentexte und ihre Kommentare nur ganz selten inhaltlich kausale Erklärungen
für die Handlungen im rituellen Procedere. Wie in so vielen anderen Bereichen der
chinesischen Kultur, wie zum Beispiel der Schrift, den Erfindungen oder dem Grab-
bau, wußte zu dem Zeitpunkt, als die Werke kompiliert wurden, niemand mehr, wann
und wo die Ursprünge gelegen hatten. Auch die originäre Bedeutung und die ihr
innewohnende Symbolik muß bei den Toten- und Beerdigungsritualen schon früh in
Vergessenheit geraten sein, denn die inhaltliche Ausrichtung der Kommentare läßt
nur den Schluß zu, daß die Rituale bereits in der Han-Zeit weitgehend unerklärbar
geworden waren. Wie die archäologischen Funde der letzten Jahrzehnte eindeutig
belegen, reicht jedoch der Ursprung der meisten rituellen Handlungen in dem vorge-
stellten Bereich mit Sicherheit zeitlich viel weiter zurück, als die schriftlichen Auf-
zeichnungen dies vermuten lassen.
Ganz fraglos - und dies läßt sich auch aus den späteren Werken mit vergleichbaren
Inhalten erklären [37] - waren schon in der Han-Zeit die Beherrschung und die Aus-
243
TRIBUS 44, 1995
führung der Rituale selbst zum eigentlichen Inhalt geworden und damit zur rituali-
sierten Ordnung. Es trifft auf die Gesamtheit des Ritenwesens zu, daß die Beherr-
schung der Rituale und die Fähigkeit entsprechend dieser Ordnung zu handeln, das
heißt Rituale durchzuführen am ehesten als das bezeichnet werden kann, was sich
damals einer intellektuellen Vorstellung genähert haben könnte, die für uns heute
»Wissenschaft« bedeutet. Denn die Beherrschung der Rituale und die Kommentie-
rung der Ritualtexte war seit Anbeginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine der
herausragenden intellektuellen Beschäftigungen und Leistungen von Gelehrten und
Beamten, auf deren Grundlage im Laufe der Jahrhunderte eine riesige, bis heute nur
teilweise bibliographisch erfaßte, hunderte Titel umfassende Literatur erwuchs. Auf
diese Weise versuchte die intellektuelle Elite Chinas immer wieder, die Beziehun-
gen und Handlungen im sozialen Gefüge der chinesischen Gesellschaft zu verstehen
und festzulegen. Die Werke dienten also nicht nur dazu, sich mit der sozialen Ord-
nung im Rahmen der konfuzianischen Vorgaben auseinanderzusetzen und sich mit
Hilfe der Werke zu definieren und mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung
zu identifizieren, sondern das Wissen und die Beherrschung der Rituale mit ihren
vielen Einzelschritten ließen jedermann auch die glorifizierte Vergangenheit durch
ihre rituell gestaltete und gelebte Gegenwart sichtbar, erkennbar und praktisch nach-
vollziehbar werden. Und damit war kulturelle und intellektuelle Kontinuität, die die
chinesische Geschichte in höchstem Maß auszeichnet, hergestellt. Aus diesen
gesellschaftlichen Vorgaben und Aufgaben erklärt sich die phänomenale Wirkungs-
geschichte des Zhouli, Liji und Yili. Der unvergleichlich lange Atem ihrer über
zweitausendjährigen ungebrochenen Wirkungsgeschichte reicht in der chinesischen
Kultursphäre, und das ist überall dort wo Chinesen leben, bis in die Gegenwart.
[1] Dieter Kuhn, Status und Ritus. (1991). 290-293.
[2] Shigeru Nakayama (übers, von Jerry Dusenbury), Academic and Scientific Traditions in
China, Japan, and the West. Tokyo: University of Tokyo Press 1984. S.42.
[3] Julia Ching, »Who Were the Ancient Sages?«, Julia Ching, R. W. L. Guisso (Hg.), Sages and
Filial Sons. Mythology and Archaeology in Ancient China. Hong Kong; The Chinese Univer-
sity Press 1991. S. 1-22, [insbes. 2-6].
[4] Zhongguo dabaike quanshu. Zhongguo lishi. Beijing: Zhongguo dabaike quanshu chu-
banshe 1992. Bd.2, S. 874-875.
[5] Das erste Kapitel der annalistischen Aufzeichnungen in dem frühesten, auch in einem wis-
senschaftlichen Sinn historischen Werk in China, nämlich dem Shiji [Aufzeichnungen des
Historikers] von Sima Qian (145-86 v. Chr.), behandelt die Fünf Kaiser als historische Herr-
scher; siehe Shiji (Zhonghua shuju-Ausgabe), Bd. 1, j. 1, S. 1-48; Dieter Kuhn, Status und
Ritus. (1991). S. 86-93. Auch heute noch beschäftigen diese legendären Herrscher die chinesi-
schen Historiker, siehe zum Beispiel die Diskussion über das Problem ihrer geschlechtlichen
Bestimmung in einer der führenden historischen Zeitschriften, Li Hengmei, »Gushi chuanshuo
zhong diwang de xingbie wenti«, Lishi yanjiu 4 (1994), S. 3 — 18.
[6] Robert L. Thorp, »The Qin and Han Imperial Tombs and the Development of Mortuary
Architecture«. (1987). S. 17-37; Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 164-165.
[7] Dieter Kuhn (1992), S. 66-137; Literaturangaben auf S. 66, Fußn. 2; Reinhold Kreifelts,
»Felsengräber in Sichuan und Kammergräber in Fujian und Guangdong vom Ende der Westli-
chen Han-Zeit bis zum Ende der Tang-Zeit«. (1992). S. 138-158; Zhongguo dabaike quanshu.
Kaoguxue. (1986). S. 173-174, S. 178-180.
[8] Wang Mingfang, »Shandong Laixixian Daishu Xi Han muguomu«, Wenwu 12 (1980),
S. 7—16; Taf. 2; Yin Zhihua, »Yangzhou Pingshan Yangzhicheng Han mu qingli jianbao«,
Wenwu 1 (1987), S. 26-36; Taf. 4; Wang Qinjin et al., »Jiangsu Yizheng Xupu 101 haoXiHan
mu«, Wenwu 1 (1987), S. 1-19; Taf. 1-3; Yin Zhihua, Li Zebin, »Jiangsu Hanjiang Yaozhuang
101 hao Xi Han mu«, Wenwu 2 (1988), S. 19-43; Taf.4-7; Feng Yi, »Shandong Linyi Jin-
queshan jiuzuo Han dai muzang«, Wenwu 1 (1989), S.21-47; Taf.4-5; Yang Hua, »Yidu
Lucheng fajue de yizuo Xi Han muzang jianbao«, Jianghan kaogu 2 (1989), S. 33-36, 22; Zhi
Peiyong, »Shanxi Pinglu Shangmiangaocun Xi Han muguomu«, Wenwu 1 (1989), S. 59-63;
Yang Jiuxia, »Anhui Huoshanxian Xi Han muguomu«, Wenwu 9 (1991), S. 40-60, 14;
Taf.5-7; die Gräber sind besprochen in Dieter Kuhn (1992), S.69-85. Zu den Gräbern in
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Guangdong, siehe Guangzhoushi wenwu guanli weiyuanhui, Guangzhoushi bowuguan (Hg.),
Guangzhou Han mu. Beijing: Wenwu chubanshe 1981. 2 Bde.
[9] Xu Pengzhang. »Chengdu Fenghuangshan Xi Han muguomu«, Kaogu 5 (1991),
S. 417-425, besonders S.418, Abb. 1; Dieter Kuhn (1992), S. 83-85, Abb. 13.
[10] Chen Wenhua, »Guanghua wuzuofen Xi Han mu«, Kaogu xuebao 2 (1976), S. 149-186
bes. Grab M 3, S. 151-153, Abb. 4.
[11] Lothar von Falkenhausen (1990), S.47; Ye Xiaoyan, »Qin mu chutan«, Kaogu 1 (1982)
S. 65-73.
[12] Xie Fei, Li Enjia, »Hebei Yangyuan Sanfengou Han muqun fajue baogao«, Wenwu 1
(1990), S. 1-18, Farbtaf. 1 & 2; »Xi’an Baqiaoqu zhengfu jijian gongdi Han mu qingli jian-
bao«, Kaogu yu wenwu 4 (1991), S. 41-45; siehe auch Dieter Kuhn (1992), S. 85-90.
[13] Xie Fei, Li Enjia, Wenwu 1 (1990), S.3, Abb. 5.
[14] Xie Fei, Li Enjia, Wenwu 1 (1990), S.6, Abb. 10.
[15] »Mancheng Han mu fajue jiyao«, Kaogu 1 (1972), S. 8-18,28, bes. S. 9, Abb. 2; Zhongguo
shehui kaogu yanjiusuo (hg.), Mancheng Han mu. Beijing: Wenwu chubanshe 1978. Bd. 1,
S. 15, Abb. 6; Wen Fong (Hg.), The Great Bronze Age of China. (1980). S.326, Abb. 112;
Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 316-317; siehe auch Michèle Pirazzoli-t’Ser-
stevens, China zur Zeit der Han-Dynastie. Kultur und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer
1982. S. 112-122.
[16] Dieter Kuhn (1992), S. 117, Fußn.45.
[17] Qiu Yongsheng et ah, »Xuzhou Beidongshan Xi Han mu fajue jianbao«. Wenwu 2 (1988),
S. 2-28, 68; Färb Taf. 1-3; bes. S. 3, Abb. 2.
[18] Dieter Kuhn (1992), S. 121-122.
[19] Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 178-179.
[20] An Jinhuai, Wang Yugang, »Mixian Dahuting Han dai huaxiangshi mu he bihua mu«,
Wenwu 10 (1972), S. 49-62; Taf. 6-7; bes. S. 50, Abb. 2.
[21] An Jinhuai, Zhongguo kaogu. (1992). S.534, Abb. 106.
[22] Liu Yongsheng et ah, »Shanxi Lishi Mamaozhuang Dong Han huaxiangshi mu«, Wenwu
4 (1992), S. 14-40, bes. S. 16, Abb. 6.
[23] Liu Dunzhen. Zhongguo gudai jianzhu shi. (1980). Abb. 41-1 ; Ceng Zhaoyu et ah, Yi’nan
guhua xiangshi mu fajue baogao. Shanghai: Xinhua shudian 1956; William Watson, China.
Kunst und Kultur. Freiburg: Herder 1980. S. 529-531.
[24] Siehe Xin Zhongguo de kaogu faxian he yanjiu. (1984). S. 443-447; Zhongguo dabaike
quanshu. Kaoguxue. (1986). S.215; Zhou Dao, Li Jinghua, »Tanghe jizhichang Han hua-
xiangshi mu de fajue«, Wenwu 6 (1973), S. 26-40, Abb. 3.
[25] An Jinhuai, »Mangdangshan Xi Han shiqi Liangguo wang lingmuqun kaocha«, Wenwu
tiandi 5 (1991), S.4-7; das Grab gehörte König Xiao von Liang aus der Westlichen Han-Zeit.
Die Kammern und der Wandelgang sind aus dem Felsen herausgeschlagen, weswegen man
auch von einem Steinkammergrab sprechen kann.
[26] »Hebei Dingxian ßeizhuang Han mu fajue baogao«, Kaogu xuebao 2 (1964), S. 127-194.
[27] Dabaotai Han mu fajuezu (Hg.), Beijing Dabaotai Han mu. Beijing: Wenwu chubanshe
1989.
[28] Beijing Dabaotai Han mu. (1989). S.8, Abb. 9; 10, Abb. 13; Dieter Kuhn (1992), S. 129,
Abb. 23; S. 130, Abb. 23:1.
[29] Han Weilong, »Henan Huaiyang Beiguan yihao Han mu fajue jianbao«, Wenwu 4 (1991),
S. 34-46; Taf. 5-6; Dieter Kuhn (1992), S. 132-134, Abb. 24.
[30] Chen Jiuheng, Shi Xiaoyan, »Luoyang xijiao Han mu fajue baogao«, Kaogu xuebao 2
(1963), S. 1-58; Taf. 1-11; »Wuwei Leitan Han mu«, Kaogu xuebao 2 (1974), S. 87-109;
Taf. 1-18; Liu Dunzhen, Zhongguo gudai jianzhu shi. Beijing: Zhongguo jianzhu gongye chu-
banshe 1980. S.67; Zhongguo dabaike quanshu. Kaoguxue. (1986). S. 179-180; Dieter Kuhn
(1992), S. 90-105.
[31] Zhongguo meishu quanji (Hg.), Zhongguo meishu quanji. Huihuabian 12. Mushi bihua.
Beijing: Wenwu chubanshe 1989. 2-12; Taf. 1-29; siehe auch Wangdu Han mu bihua. Beijing;
Zhongguo gudian meishu chubanshe 1955; Helinge’er Han mu bihua. Beijing: Wenwu chu-
banshe 1978.
[32] Martin J. Powers, Art and Politicial Expression in Early China. (1991). S. 108-109.
[33] Wu Hung, The Wu Liang Shrine. (1989). S. 228-229.
[34] Martin J. Powers, Art and Politicial Expression in Early China. (1991). S. 98-99.
[35] Rainer Holzer, Das Ch’ien-fu lun des Wang Fu. (1992). S. 71.
[36] James Legge, The Chinese Classics. Voi. 1. S. 147 (Lunyu II, 5:3).
[37] Siehe die berühmten Beispiele das Sima shi shuyid2l) des Beamten und strengen Rituali-
sten Sima Guangd3° (1019-1086) und das Jialid31 des Philosophen Zhu Xitl32 (1133-1200), der
seine Interpretation der Rituale mit unglaublichem Erfolg und einer für Jahrhunderte nach-
weisbaren Wirkungsgeschichte propagierte.
245
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Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Tafel 1 Vier Pfeilspitzen
Bronze. L.: 6,4-4,7 cm. Shang Zeit. 16.-11. Jh. v. Chr. Inv.Nr. OA 22.443 a-d
Tafel 2 Schwert
Bronze. L.: 47,2 cm. 2. Hälfte Zhanguo-Zeit, 4.-3. Jh. v.Chr. Inv.Nr. OA 21.626
249
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Tafel 4 Opfergefäß ding
Bronze. H. (mit Henkel): 21,8 cm; Dm.: 17,8 cm
späte Shang-Zeit, 12.-11. Jh. v. Chr. Inv.Nr. OA 22.426
251
TRIBUS 44, 1995
50/1*
Abb. 1 Das Grabfeld von Yuanjunmiao, Yangshao-Kultur, Shaanxi, 5. Jahrtausend v. Chr.
Legende: weiblich, Erstbestattung, 30 bis 35 Jahre alt
männlich, Zweitbestattung, ungefähr 40 Jahre alt
Erwachsener unbestimmten Geschlechts, Alters und unbestimmter Bestattungsweise
Kind unbestimmten Geschlechts und unbestimmter Bestattungsweise
Quelle: Beijing daxue lishi kaogujiao yanshi
(hg.), Yuanjiaomiao Yangshao mudi. Beijing:
Wenwu chubanshe 1983. Abb. 2.
Abb. 2 Erstbestattung einer Frau, Grab M 419
auf dem Grabfeld von Yuanjunmiao, Shaanxi,
5. Jahrtausend v. Chr.
Grabbeigaben:
1 -6 verschiedene keramische Gefäße, Töpfe,
Schüsseln, 7 Topf mit Schnurmuster,
8 Muschelmesser, 9 Knochennadel, 10 Spinn-
wirtel aus Keramik, 11 Schmuck, 12 Tierkiefer,
13 Haarnadel aus Knochen
Quelle: Yuanjunmiao Yangshao mudi. (1983).
91, Abb. 40; Taf. 20.
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252
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 3 Standardausführung eines inneren und
äußeren Sarges, Grab M 323, Yutaishan,
Hubei, 4. Jh. v. Chr.
1 Aufsicht (Sargraum und Kopfraum)
2 Längsschnitt
3 Querschnitt
4 Verschnürung und Abdeckung des inneren
Sarges
Quelle: Hubeisheng Jingzhou diqu bowuguan
(hg.), Jiangling Yutaishan Chu mu. Beijing;
Wenwu chubanshe 1984. 38, Abb. 27.
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Abb. 4 Gemeinsames Begräbnis eines alten
Mannes (links) und einer Frau in mittleren
Jahren (rechts), Grab M 81 von Yedian,
Dawenkou-Kultur, Shandong, ca. 3000 v. Chr.
Längsrechteckige Erdgrube mit umlaufender
Erdbrüstung: 255 cm lang, 138 cm breit,
105 cm tief (beschädigt)
Äußerer Sarg aus Holz; 233 cm lang, 116 cm
breit, 34 cm hoch
Sechs Grabbeigaben.
Quelle; Zouxian Yedian. (1985). 121, Abb. 95;
Taf. 13.
253
254
Abb. 6 Verschnürung und Ver-
pflockung des Sarges aus Grab M 438,
Yutaishan, Hubei, 3. Jahrhundert v. Chr.
Quelle: Jiangling Yutaishan Chu mu.
(1984). Taf. 6:3.
Abb. 7 Ritualgefäße zwischen dem
inneren und dem äußeren Sarg, Grab
M 2 von Rujiazhuang, Frau des Grafen
von Yu, Shaanxi, Westliche Zhou-Zeit,
Mitte 10. Jahrhundert v. Chr.
Quelle: Lu Liancheng, He Zhisheng,
Baoji Yuguo mudi. (1988). Taf. 196:2.
Abb. 5 Grabhügel auf einem Friedhof.
Quelle: Sanlitu, Östliche Han-Zeit.
Nachdruck der Song-Ausgabe von 1175,
j. 19, 3b.
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 8 Ritualgefäße zwischen dem äußeren
Sarg und der Grabwand, Grab M 13 von
Zhuyuangou, Westliche Zhou-Zeit.
Quelle: Lu Liancheng, He Zhisheng, Baoji
Yuguo mudi. (1988). Taf. 14:1.
Abb. 10 Kastenförmige Schutzmaske
aus Holz mit Lackmalerei, Grab M 101,
Hanjiang, Jiangsu, Ende der Westlichen
Han-Zeit.
Abmessungen: 58 cm lang, 38 cm breit,
34 cm hoch.
Quelle: Yin Zhihua, Li Zebin, Wenwu 2
(1988), Taf. 4:2.
Abb. 9 Leichenwagen des Herrschers mit zeltähnlicher Ummantelung.
Quelle: Sanlitu, Östliche Han-Zeit, Nachdruck der Song-Ausgabe von 1175, j. 19, lb-2a.
255
TRIBUS 44, 1995
Abb. 11 Keramische Grabfiguren
von einer Fundstelle beim Yangling
Mausoleum des Kaisers Jingdi
(reg. 156-141 v. Chr.), Shaanxi.
ca. 62 cm lang.
Quelle: Zhongguo Han Yangling
caiyong. (1992). 67.
Abb. 12 Bewegliche Gliederpuppe
aus Holz, Shandong, Westliche
Han-Zeit.
Länge: 193 cm.
Quelle; Wang Mingfang, »Shan-
dong Laixixian Daishu Xi Han
muguomu«, Wenwu 12 (1980),
S. 15. Abb. 21.
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 13 Blick in das 1950 geöffnete
Grab von Wuguancun (WKGM 1), mit
Grundriß und Längsschnitt, Anyang, spä-
tes 13. oder frühes 12. Jahrhundert v. Chr.
Quelle: Helmut Brinker, Roger Goepper,
Kunstschätze aus China. (1980). Abb. 15.
iv
Abb. 14 Gräberfeld von Xibeigang mit
den Königsgräbern und mehr als 1200
Begleitgräbern, Anyang, Shang-Zeit.
Quelle; Xin Zhongguo de kaogu faxian
he yanjiu. (1984). 231, Abb. 61.
i
TRIBUS 44, 1995
Abb. 15 Grab M 1 von Sufutun in
Gesamtgrundriß, Längsschnitt und
Schachtgrube mit Sargraum, Shan-
dong, Shang-Dynastie. Abmessungen
des Sargraums: 455 cm lang, 200 cm
hoch
Quelle: »Shandong Yidu Sufutun diyi-
hao nuli xunzangmu«, Wenwu 8
(1972), 18, Abb.2; 25, Abb. 10.
Abb. 16 Grube mit dem knienden
Opfer zur Grundsteinlegung, Grab
M 1 von Sufutun, Shandong, Shang-
Dynastie.
Quelle: Wenwu 8 (1972), 19, Abb. 4.
Kuhn; Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 17 Grab M 14 von Taixicun, Hebei,
Shang-Dynastie. Grabbesitzer war etwa 45
Jahre alt; Spuren von Zinnober am Skelett;
die junge Begleiterin wurde gefesselt und
lebendig auf der Erdbrüstung neben dem
Verstorbenen beigesetzt.
Grabbeigaben: Ritualgefäße aus Bronze,
Pfeilspitzen und Waffen aus Bronze,
Haarnadeln aus Knochen, Divinations-
knochen, Jadeschmuck
Quelle: Gaocheng Taixicun Shangdai yizhi.
(1985). 148, Abb. 89.
Abb. 18 Grundriß und Längsschnitt durch
das Grab des Grafen von Yu (M 1 (links)),
seiner Konkubine (M 1 (rechts)) und seiner
Frau (M 2), Rujiazhuang, Shaanxi, Westli-
che Zhou-Zeit, Mitte 10. Jahrhundert v. Chr.
Abmessungen des Grabes: 848 cm lang,
520 cm breit
Quelle: »Shaanxisheng Baojishi Rujia-
zhuang Xi Zhou mu fajue jianbao«,
Wenwu 4 (1976), 35, Abb. 62, 63.
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259
TRIBUS 44, 1995
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Abb. 19 Grab M 170 mit Kopfraum für Ritual-
bronzen, Zhangjiapo, Shaanxi, Westliche Zhou-
Zeit.
Abmessungen des äußeren Sarges: 376 cm lang,
260 cm breit, 210 cm hoch
Abmessungen des Kopfraums: 200 cm lang und
breit, ca. 200 cm hoch
Quelle: Zheng Wenlan, »Shaanxi Chang’an
Zhangjiapo M 170 hao Jing Shu mu fajue
jianbao«, Kaogu 6 (1990), Taf. 1:2.
Abb. 20 Äußerer Sarg mit innerem Doppelsarg,
großem Kopfraum und Seitenhohlräumen, Grab
M 354, Yutaishan, Hubei, 4. Jahrhundert v. Chr.
Abmessungen des äußeren Sarges: 368 cm lang,
152 cm breit, 148 cm hoch
Abmessungen der beiden inneren Särge:
224 cm/184 cm lang, 75 cm/48 cm breit,
84 cm/52 cm hoch
1 Aufsicht auf zugedeckten äußeren Sarg
2 Längsschnitt
3 Querschnitt
Quelle: Jiangling Yutaishan Chu mu. (1984). 48,
Abb. 38, 50, Abb. 40.
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Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 21 Äußerer und innerer Sarg
von Grab M 554, Yutaishan, Hubei,
4. Jahrhundert v. Chr.
1 äußerer Sarg mit innerem Sarg im
Längsschnitt
2 äußerer Sarg mit innerem Sarg im
Querschnitt
äußerer Sarg: 332 cm lang, 183 cm
breit, 159 cm hoch
Einzelteile; A Deckel, B Innere
Deckplatte, C Seitenwände, D Kopf-
und Fußwand, E Bodenplatte, F
Bodenbalken
innerer Sarg: 231 cm lang, 98 cm
breit, 93 cm hoch
Einzelteile: A Deckel, B gewölbte
Seitenwände, C Kopf- und Fuß-
wand, D Bodenplatte, E Stütz-
hölzer, F Keile
Quelle: Jiangling Yutaishan Chu mu.
(1984). 6, Abb. 3,7, Abb. 4, 26,
Abb. 15.
Abb. 22 Grab M 555 mit Sarg,
Zugangsrampe und Tumulus,
Yutaishan, Hubei, 3. Jahrhundert
v. Chr.
1 Grabtumulus
2 verdichtete Erde
3 Mörtel
4 Muttererde
Quelle: Jiangling Yutaishan Chu mu.
(1984). 51, Abb. 41.
Abb. 23 Grab M 354 mit Sarg, 1
Yutaishan, Hubei, 4. Jahrhundert
v. Chr.
1 Acker
2 verdichtete Erde
3 Mörtel
4 Muttererde
Quelle; Jiangling Yutaishan Chu mu.
(1984). 47, Abb. 36.
261
TRIBUS 44, 1995
Abb. 24 Grabräume des Grabes von Marquis Yi von Zeng, Hubei, ca. 433 v. Chr.
Grundriß, Längsschnitt, Aufsicht
Ostwestliche Länge 19,7 m, nordsüdliche Breite 15,72 m.
N nördlicher Raum (Waffenkammer),
W westlicher Raum mit dreizehn Begleit-
särgen, E östlicher Sargraum des Marquis
von Zeng und neun Särge mit Begleit-
262
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 25 Der bemalte äußere Sarg mit
seinem Rahmen aus Bronze, Marquis von
Zeng, Hubei, ca. 433 v. Chr.
Ansicht des äußeren Sarges mit
Rahmen aus Bronze des äußeren (inne-
ren) Sarges; 320 cm lang, 210 cm breit,
219 cm hoch, 6 t schwer
Quelle: Zeng hou Yi mu (1989). Bd. 2,
Taf. 8:3; Bd. 1,20, Abb. 12.
Abb. 26 Der bemalte innere Sarg des
Marquis von Zeng, Hubei, ca. 433 v. Chr.
Abmessungen: außen 250 cm/innen
208 cm lang; außen am Kopf 127 cm/am
Fuß 132 cm breit, außen 132 cm/innen
81 cm hoch.
Quelle: Zeng hou Yi mu. (1989). Bd. 2,
Taf. 10:1.
Abb. 27 Lackmalerei auf der westlichen
Seite des inneren Sarges, Marquis von
Zeng, Hubei, ca. 433 v. Chr.
Quelle: Zeng hou Yi mu. (1989).
Bd. 1,36. Abb. 21.
TRIBUS 44, 1995
Abb. 28 Kastenförmiger innerer
Sarg mit Lackmalerei, Grab M 2 von Baoshan,
Jingmen, Hubei, 292 v. Chr.
Abmessungen: 184 cm lang, 46 cm breit, 46 cm hoch.
Quelle: »Jingmenshi Baoshan Chu mu fajue jianbao«,
WenwuS (1988), Taf. 1:1.
Abb. 29 Zeichnung des äußeren Sarges
und der inneren Särge aus dem Grab Nr. 1
von Mawangdui im Aufriß, Changsha,
Hunan, 168 v. Chr.
Isolierung des Sarges aus einer Schicht
Holzkohle und einem wasserundurchläs-
sigen weißen Tongemisch (baigaoni)
Abmessungen des äußeren Sarges;
673 cm lang, 481 cm breit, 280 cm hoch
Quelle: Maryta L. Laumann, The Secret
of Excellence in Ancient Chinese Silks.
Taibei: Southern Materials Center 1984.
Taf. 1.
Abb. 30 Längsschnitt und Grundriß des äußeren
Sarges mit Sargraum und zwei Bodenräumen aus
Grab M 1 von Fenghuangshan, Chengdu, Sichuan,
Westliche Han-Zeit.
Abmessungen des äußeren Sarges; außen 544 cm/
innen 476 cm lang, außen 336/innen 280 cm breit,
außen 256 cm/innen 126 cm hoch.
Höhe der Bodenräume: 50 cm.
Abmessungen des Sarges Nr. 1: 244 cm lang, 84 cm
breit, 80 cm hoch
Abmessungen des Sarges Nr. 2: 253 cm lang, 85 cm
breit, 84 cm hoch.
Quelle: Xu Pengzhang, »Chengdu Fenghuangshan
Xi Han muguomu«, Kaogu 5 (1991), 418, Abb. 1.
264
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
Abb. 32 Grundriß eines Höhlenkammergrabes mit
Rampenzugang und im rechten Winkel zueinander
angeordnetem Sargraum und Raum für Grabbeigaben,
Grab M 9, Yangyuan. Hebei, Westliche Han-Zeit,
1. Jahrhundert v. Chr.
Abmessungen des Grabraums: 460 cm lang, 250 cm
breit, ca. 260 cm hoch.
Abmessungen des äußeren Sarges: 430 cm lang,
220-240 cm breit.
Abmessungen der beiden inneren Särge: 220 cm/210 cm
lang, 70 cm/80 cm breit.
Quelle: Xie Fei, Li Enjia, Wenwu 1 (1990), 6, Abb. 10.
Abb. 31 Grundriß und Seitenansicht eines Höhlenkam-
mergrabes mit Schachtzugang und mit in Sargraum und
Bodenraum gegliedertem äußeren Sarg, Grab M 2,
Yangyuan, Hebei, Westliche Han-Zeit.
Quelle: Xie Fei, Li Enjia, »Hebei Yangyuan Sanfengou
Han muqun fajue baogao«, Wenwu 1 (1990), 3, Abb. 5.
Abb. 33 Grundriß und Aufriß der Höhlengrabanlage
des Prinzen Liu Sheng von Zhongshan (gest. 113 v. Chr.),
Mancheng, Hebei.
Gesamtlänge und -breite der Grabanlage;
51,7 cm x 37,5 m, höchste Höhe; 7,9 m.
Grundriß:
1 versperrter Eingangsweg, 2 mit Erde aufgefüllter Ein-
gangsweg, 3 Eingangsraum, 4 Nordflügel mit Vorrä-
ten, 5 Südflügel mit Stallungen, 6 Brunnen, 7 zen-
trale Grabkammer, 14,90 x 12,60 m, 8 Sargkammer,
9 Badezimmer mit Toilette, 10 umlaufender Wandel-
gang
Quelle: Wen Fong (hg.), The Great Bronze Age. (1980).
326, Abb. 112.
265
TRIBUS 44, 1995
Abb. 34 Grundriß des Katakombengrabes eines Herrschers des Reiches
Chu, Xuzhou, Jiangsu, Westliche Han-Zeit, zwischen 175 und 128 v. Chr.
Abmessungen:
Gesamtlänge nach dem großen Tor: 21,3 m
querliegende vordere Kammer; 910 cm lang, 300 cm breit, 353 cm hoch
hintere Kammer (Grabkammer): 512 cm lang, 287 cm breit, 344 cm hoch.
1 Grabzugang, 2 Grabweg, 3 Treppen, 4 Seitennischen, 5 Seiten-
kammern, 6 großes Tor, 7 querliegende vordere Grabkammer, 8 hintere
Kammer, Sargkammer, 9 Toiletten mit Abtritt, 10 Wirtschaftsräume der
Grabresidenz (335 qm)
Quelle: Qiu Yongsheng, Wenwu 2 (1988), 3, Abb. 2.
0
Abb. 35 Längsansicht und Grundriß des
Grabes M 1 mit Steinreliefs, Mixian,
Henan, Ende der Östlichen Han-Zeit.
Größte Abmessungen; 26,46 m lang,
20,68 m breit, 6,32 m hoch (zentraler
Raum).
Quelle: An Jinhuai, Wang Yugang,
Wenwu 10(1972), 50, Abb. 2.
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266
Kuhn: Tod und Beerdigung im chinesischen Altertum
ten mit Reliefs im Grab M 2 von Mamaozhuang,
Lishixian, Shanxi, Östliche Han-Zeit.
Quelle: Liu Yongsheng et al., Wenwu 4 (1992), 16,
Abb.6.
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Abb. 38 Isometrische Ansicht des aus Kalkstein
gebauten Mehrkammergrabes von Yi’nan, Shandong,
Östliche Han-Zeit, 2. Jahrhundert n. Chr.
Abmessungen: nordsüdliche Länge 870 cm, Breite
7,55 m.
1 mit Ziegelsteinen zugemauerter Eingang, 2 Vor-
kammer, 3 Hauptkammer, 4 hintere Kammer (in der
ursprünglich die Särge standen), 5 rechte Seiten-
kammer
Quelle; Liu Dunzhen, Zhongguo gudai jianzhu shi.
(1980). Abb. 41-1.
Abb. 39 Grundriß eines Grabes mit Wandelgang vom
Typ huangchang ti cou, Grab M I von Dabaotai bei
Beijing, Westliche Han-Zeit, ca. 45 v. Chr.
Abmessungen insgesamt: 23,20 m lang, 18 m breit
Sargraum: außen 15,7 m/innen 13,9 m lang,
außen 10,8 m/innen 8,9 m breit.
I vorderer Raum, 2 Sargraum mit Sarg, 3 innerer
Wandelgang, 4 Eingrenzung des Sargraums, des
Hauptraums des Grabes, durch aufgeschichtete Holz-
balkenmauer (huangchang ti cou), 5 äußerer Wandel-
gang, 6 äußerer Wandelgang
Quelle: Beijing Dabaotai Han mu. (1989). 8, Abb. 9.
Abb. 40 Aufriß eines Grabes mit Wandelgang vom
Typ huangchang ti cou. Grab M 1 von Dabaotai bei
Beijing, Westliche Han-Zeit, ca. 45 v. Chr.
1 Zugang zum Grab, 2 Abdeckung des Grabes mit
Lagen von Holz, Holzkohle und einem Gemisch aus
weißem Ton, 3 Sargraum. 4 Eingrenzung des Sarg-
raums durch Holzbalkenmauer
Quelle; Beijing Dabaotai Han rau. (1989). 10, Abb. 13.
267
WELDON LAMB
■
Tzotzil Maya Cosmology
Introduction
Almost every Tzotzil Maya town in mountainous central Chiapas, Mexico, regards
itself as the navel of the universe. These communities hold in common many beliefs
about the cosmos but they do differ on the details. This study sketches several con-
temporary (1950-1980) traditions about the directions, the structure of the earth, the
heavens and the underworld: the world pillars, and some of the stars and planets.
The Directions
Like most Maya peoples, the Tzotzil do not define horizontal space with the Western
quarters of east, west, north and south. They relate it to the sun’s circuit. “East” is
xlok’jtotik “dawn” or “our honorable father comes out”; slok’e’m jtotik “the place of
the coming out of our (honorable) father” (Gossen 1974: 33; Köhler 1972: 322), and
lok’eb k’ak’al “emergent heat or day” (Gossen 1972: 119) or “place where the sun
comes out or buds”. It apparently spans the entire horizon between the solstitial
points. It is where the sun, having started its ascent from the nadir at 1 a. m. (Köhler
1972; 323; Köhler 1977; 106, 107, 113), comes up over the horizon and rises to the
zenith. Of course, then, “east” also glosses with ‘ak’ol “above, up” (Gossen 1972:
117). The Tzotzil associate east with up, increasing heat, the male principle (Gossen
1982: 30, fig. 2), and, I assume by analogy to the associations of the other directions,
with dawn, birth and the period between the winter solstice and the vernal equinox,
when the days begin to grow longer.
West, the whole span between the solstitial points, the Tzotzil name sbat jtotik “our
honorable father goes,” smale’m jtotik “the place of the self-outpouring (leaving) of
our father” (Köhler 1972:322), sch’ayeb k’ak’al “the place where the fiery one (sun)
disappears,” maleb k’ak’al “the fiery one (sun) grows old” or “waning heat” (Gossen
1972:119), and ‘anehal (García de León 1971:38, 39, 90), approximately “place glo-
wing like embers”. It is where the sun, having begun its descent from the zenith at 1
p. m., goes down below the earth and descends to the nadir, the navel of the under-
world; of course, then, west is also called ‘olon “down, below, beneath” (Gossen
1972:117; 1974:21) and even “center” (García de León 1971:63). It connotes down,
waning heat, the female principle, sunset, incipient death, and the period between the
summer solstice and the autumnal equinox, when the days start to grow shorter until
they last only as long as the nights (Gossen 1974: 33-35).
“North” is xokon vinajel “edge of the sky” or xokon vinajel ta batz’i k’ob “edge of
the sky on the right hand” of the sun (Gossen 1974: 31-32). Batz’i means not only
“right” but also “most representative, true” and connotes good; this association with
the right hand helps to imbue this direction with good fortune and virtue (Gossen
1972: 119-120). North glows all the more positive first because it is the horizontal
equivalent to the sun’s vertical position at noon, the hour of maximum heat and light;
and second because the Tzotzil know that the sun apparently shifts northwards along
the horizon during the increasingly longer days between the vernal equinox and the
summer solstice, the period of the first rains of the wet season and the beginning of
the annual highland growing cycle (Gossen 1972: 119-120).
“South,” too is xokon vinajel (Guiteras Holmes 1961: 36), “the edge of the sky” ta
tz’et k’ob “on the left hand” of the sun (Gossen 1974: 31). It is the horizontal coun-
terpart to the nadir, the sun’s vertical position at midnight. In the daily cycle south
represents night and the underworld. In the annual round it corresponds to the span
of ever shorter days between the autumnal equinox and the winter solstice, the period
268
Lamb: Tzotzil Maya Cosmology
that marks the end of the growing season and the onset of killer frosts (Gossen 1974*
33).
In all the reports the Tzotzil describe north and south as the edges of the sky. In San
Pablo Chalchihuitan, however, they apparently relate these regions not to the sun but
to themselves as facing the sun: North is ta tz’et k’o’m “on the left hand” and south
ta batz’i k’o’m “on the right hand” (Kohler 1972: 322).
The sun in its path is the model for the ritual circuit among at least the Zinacantan
and Chamula Tzotzil. “In fact, the Chamulas say that they move east-north-west-
south in ritual circuits precisely because this is dictated by the motion of the sun”
(Gossen 1982: 28). And again, religious cargo-holders, sharing with the sun and his
kinsmen the saints the duty of maintaining the social order, “metaphorically follow
the sun’s pattern of motion by (initially) moving to their own right through any ritual
space ... This helps to explain the overwhelming tendency ... to follow a counter-
clockwise pattern” (Gossen 1972; 119). Frequently the southeast is the alternate to
the east as the starting point in ritual circuits. This appears to be due to its positive
character as the first point in the daily-annual round that represents an “upswing” or
ascent of the sun from the negative nadir of south-midnight-winter solstice, corre-
sponding to 1 a. m. and Christmas (Gossen 1972: 121, 123).
Most Maya directional systems describe east and west at least in terms of sunrise and
sunset, but they differ markedly in how they define north and south; namely, as the
northern and southern quadrants of the earth and sky; as the zenith and nadir; as up
and down; as above and below; as the regions on the rising sun’s own right and left;
as the regions on the right and left of someone facing the rising sun; as uphill and
downhill or vice versa, depending on the local terrain; or as the sources for particu-
lar winds or rains or seasonal phenomena. Scholars debate whether a zenith-nadir,
above-below construct (Bricker 1983, 1988; Brotherston 1976, Carmack 1973: 276,
293, 317, note 67; 1981: 77-78; Coggins 1980, 1988; B. Tedlock 1992: 173-178;
Watanabe 1983), or a cardinal quadrant complex (Closs 1988 a, 1988 b; Justeson
1989: 119, 126, note 41;), or a combination of both (Brotherston and Ades 1975, Sosa
1989: 132 - 134; Stress 1991), preserves the directional system recorded in the hie-
orglyphs of the codices and inscriptions. The carved and painted compounds appa-
rently point to the cardinal quadrants. They do fail to match in some geographic and
astronomical contexts, but this might well indicate a ritualistic rather than terrestrial
cycle (Justeson 1989:119). The signs and quarters do line up on the four walls of
Tomb 12 at Rio Azul (B. Tedlock 1992: Figs. 33-36). The monumental inscriptions
record very few complete directional sequences, but none of these replaces a cardi-
nal name with another toponym or an apparent “zenith” or “nadir” glyph. The codi-
ces preserve countless complete directional sets, but the Codex Madrid offers eight
extended sequences. Six (38a-39a, 42c, 43 a, 43 b, 43c, 78), entire and correct in eit-
her clockwise or counterclockwise order, present one to four additional compounds,
including “in the sky,” “home,” “three stones,” “fire” and “hole”; none, however,
replaces a cardinal compound. The other two (77, 89d-90d) both list three standard
directionals in proper counterclockwise order, insert additional signs, then repeat one
standard sign but out of order; whether these extras denote the same referents as the
regulars remains ambivalent.
The meanings for most variants of “north” and “south” glyphs also elude precision,
while most of the readings proposed for them (Bricker 1983, Stress 1991) fail to per-
suade. Two of the four major versions of “north,” the Classic (T 114; 566; 23) and the
Codex Madrid (T 48.1016c) forms, do read xaman (Closs 1988a), so perhaps the
similarity of the latter to the Codex Dresden collocation (T 48.1037) and the other
Classic form (T 4.1008[: 140]) indicates xaman for them, too. The accepted na for T
48 as well as its allograph T 4, and k’u(l) /ch’u(l) [Yucatecan / Cholan] for T 1016
and so possibly for its counterparts T 1037 and T 1008, however, suggest na k’u(l)/
ch’u(l) “great god” or “great temple”. Some deduce just na(l) “house(?)” for the
Madrid and Classic versions (Scheie 1992; 22). Even the certain xaman itself might
present a problem: Unlike the other three Yukatek directionals, it interprets with no
alternate or compound meanings. According to very preliminary research, this hints
TRIBUS 44, 1995
that it represents a loan, via Cholan, from a word ancestral to the Mixe xdvd (Clark
1981; 128) or xdd (Schoenhals and Schoenhals 1965: 135); or the Zoque jama (Engel
and Allhiser de Engel 1987: 66), all glossing as “sun, day.” The mal reading for the
“south” glyph group (Bricker 1983) appears ill-founded (Justeson 1989; 126, note
41). The main sign in the Classic and Madrid versions of the compound also dodges
decipherment, although in the only other major variant, from the Codex Dresden, it
renders yax “great” or “first” or “green” depending on tone. Without the main sign,
and even with it, the readings for the directional’s one to three affixes (T 74 ma(l?),
obligatory; T 134 ji[7], T 178 la, optional) do not yet provide recognized solutions.
My own rather tentative probing suggests T 74:( 134)575/17( 135)( 178) yields maj
(jo) jool (la), for maj jool “large hole”, perhaps a reference th the underworld. Inter-
pretations for all the compounds and a resolution of the current debate depend on
secure readings from many constrained phonetic substitutions as well as from
thorough variant, semantic and contextual analyses.
The Earth and the Ceiba
The universe in general and the earth in particular are the ‘osil balam (Guiteras Hol-
mes 1961: 285-6) “clearing or dwelling-place world”. Also known as sba-balamil
“the upper-side or surface of land,” the earth is a square, like the ideal house or corn-
field (Guiteras Holmes 1961: 282, 286); a few describe it instead as rectangular or
oval (Kohler 1972: 322). It is full of caverns and tunnels that eventually reach the
edges and drain most of its waters into the cosmic ocean surrounding the earth. Every
day the sun and moon, if not all the stars and planets, emerge from and plunge into
these seas (Gossen 1974: 19, 21,23, 34). The sun, of course, dries up the ocean where
it enters and exits, but the rivers immediately replenish those waters (Guiteras Hol-
mes 1961: 152).
Some Tzotzil preserve the belief that at the center of the earth, associated thus with
the color green (Holland 1964: 14-16), there looms a huge ceiba tree which connects
with its countless branches the various heavens. The spirits of old people, especially
those of the curers and the officers called principals, climb this tree and creep up its
branches into the heavens. There they become ancestral gods (WL: stars?), old men
with white hair, some bearing the names of Catholic saints (Holland 1963: 69-70,
74, 110; 1964: 14-16). This and the report that some Tzotzil of San Pablo Chalchi-
huitan identify St. Thomas or santo tomax with Venus and santo rominko or St.
Dominic with another large star, possibly Jupiter (Kohler 1972: 323); and the state-
ment by a Zinacantan Tzotzil that the saints are in heaven and have stars (Laughlin
1980; 132-133); all this together strongly suggests that some people transform at
death into stars.
The ceiba or yaxte’ “green tree” is the very tree of life. As such it might be the Cha-
mula and Chenalho celestial tree of many breasts at which suckle the souls of un-
weaned infants (Guiteras Holmes 1961: 143; Pozas A. 1953: 239-40). In an appa-
rently Zinacantan version of this belief, the souls of dead babies change into flowers
tied to the celestial cross (Laughlin 1962: 126). This celestial cross could be the cele-
stial tree of many breasts, because the cross of Christ, Santa Cruz, is also a tree, the
Ch’ulte’ “Holy Tree” (Guiteras Holmes 1961: 197). The data to hand, though, do not
explicitly identify the tree or the cross with any stars. Note, however, that some
Lakandon Maya call the constellation of the Southern Cross halol, “(a kind of) ceiba”
or “cork tree,” a tree of the ceiba family, palo de corcho or majaua in Spanish,
Ochroma lagopus in Latin (Bruce 1979: 155, 260; Bruce S. et al 1971: 15: VIII).
The Heavens
Five alternate models describe the heavens. According to a more common one, the
heavens are like a mountain, or a dome over the earth, with thirteen steps, six in the
east, six in the west, and the last one, called explicitly “the thirteenth,” in between,
at the zenith or “heart” of the sky (Holland 1963; 69, 75, 77). “Thirteenth” could well
270
Lamb: Tzotzil Maya Cosmology
mean just “highest.” A literal reading, however, is attractive, too, for it marks the
zenith as the end and climax of the sun’s ascent from the nadir: The sun begins at the
nadir, itself the first level (1), climbs the four eastern steps of the underworld (5) to
the eastern horizon, which one story explicitly calls the sixth step (6) (Gossen 1974,
40, 337), then ascends the eastern six steps of the sky (12), finally arriving at the
zenith, the thirteenth step. The sixth step or horizon, by the way, is apparently the
eastern sea or its shore; here Mary, the moon, must leave her son the sun a bowl of
maize gruel every morning so that he will have enough energy to heat the world
(Gossen 1974: 40, 337). Every one of the east-to-west steps belongs to one or more
deities who personify the most important natural and agricultural phenomena. Next
to the sun and moon the greatest gods are the Catholic saints. The brothers and sisters
of God, they occupy the lower steps in accord with their rank or relative importance
(Holland 1963: 73, 79; 1964: 15).
In the other common model the heavens are three layers, drawn by informants as con-
centric, nesting domes. Humans below see only the first, lowest layer, and they see
there only dimmed or incomplete images of the realities in the upper two levels. Peo-
ple perceive, for example, just the head and face of the sun; as one Chamula inform-
ant puts it, “The sun comes out every day, but it is God the Father whom we see ...
rather than the Savior, who lives in the Third Layer of Heaven. God the Father lives
in the First Layer” (Gossen 1974: 21, 330). In the second level there live and move
the stars, the minor, dim constellations and the moon, known as the Virgin Mary and
jme’tik “our honorable mother”. In the third layer reside and travel not only the sun,
called Christ, the Savior, and jtotik “our honorable father”, but also his father San
José; the guardian of animal spirits San Jerónimo; the major, bright constellations;
Venus, as both the Sun’s Candle (Gossen 1974: 21, 23, fig. 1; 1982: 29, fig. 1) and
santo tomax or St. Thomas (Köhler 1972, 323); as well as, I presume, St. Dominic or
santo rominko, who is a bright star if not Jupiter (Köhler 1972: 323) and the other
planets and prominent stars, some probably in the garb of yet more saints. Finally,
traveling with the sun, constantly in its immediate radiant presence named the vina-
jel or “heaven” are the purified souls, namely young children who did not sin or know
intercourse, women who died in childbirth, people struck by lightning, those who
drowned, and those who were murdered and so did not need to be cleaned of sin
because all their faults accrued to their killers (Guiteras Holmes 1961: 143, 258;
Pozas A. 1953: 240).
In a third model, the heavens are clearly layers placed one atop the other and cannot
be steps. Some informants tell of nine layers, others of thirteen, with the thirteenth
again the highest. Supporting this construct is the appearance in a prayer text of the
numeral classifier k’alai “layer” with vinajel “heaven” (Köhler 1977: 105, 109, 112).
The fourth model, also less well known, duplicates the typical Tzotzil hut. Each of
the two roof sheds has eleven evenly spaced crosspoles; they resemble the rungs of
a ladder. The space between any two adjacent crosspoles represents one hour. Start-
ing at 1 a. m. the sun begins to climb up the roof of the house. At noon he rests an
hour on top. At 1 p. m. he starts the descent. At midnight he apparently reaches the
last crosspole and then immediately enters the house, where he stays one hour.
According to another informant the sun spends all the night hours inside the house
(Köhler 1977: 106-107, 113); this suggests a construct in which the roof represents
only the day-time sky, with the vaxak men or earth bearers as the hut’s four subterra-
nean yoyal balumil “forked uprights of the earth” (Hurley Vda. de Delgaty and Ruiz
Sánchez 1978: 95, 234).
The fifth, last model, reported from San Pablo Chalchihuitan (Kohler 1972: 322),
depicts the universe as the three planes of sky, earth and underworld. The sky is much
father away from the earth than is the underworld. On the plains of the sky grow
pines and oaks as on the earth but there live there only the malevolent demons or
pukujetik, who feed on human souls. The sun and moon circle around the earth, itseli
between the sky and underworld planes.
271
TRIBUS 44, 1995
The Underworld
In one of two better known versions, the underworld, called ‘olontik “the place
below” and lajebal “the place of the dead”, is beneath the earth and consists of nine,
thirteen or an indeterminate number of steps. Its countless demonic denizens rush out
of caves onto the earth at sunset to plague mankind and scurry back below at dawn
(Holland 1963:69, 70, Fig. 5; 97, 297 n. 23). The sun, ch’ultotik “holy honorable fat-
her”, enters this realm at sundown to visit his father San Jos¿)271¿ (placed in the
Third Layer of Heaven by at least the Chamulas [Gossen 1974:21, 23 Fig. 1; 1982:
29 Fig. 1]) and those who have died. The dead must be buried before sunset so that
their spirits can leave their bodies and accompany ch’ultotik into the underworld
(Holland 1963, 116; Pozas A. 1953: 231-232, 237). Those who seriously violated
social norms must ride black dogs across a river or lake and proceed to the “jail” or
place of eternal punishment called K’atinbak “put bones on the fire,” named for its
enormous bonfire; it is at the last, lowest step. There San Jos¿)271¿ burns with a red-
hot poker the hands of thieves and the genitals of unfaithful spouses; he also punis-
hes suicides, evil witches, and murderers, who suffer both for their sins and for those
of their victims. All must endure fire, and pointed, gashing stones (Holland 1963:
116-117; Guiteras Holmes 1961: 143; Köhler 1972: 326; Pozas A. 1953: 231,
239-240). Most spirits go to the other unnamed, unlocated part of ‘olontik, where
the houses, the society and daily life are just like those they have known but more
pleasant and carefree. According to some sources, these spirits must refrain from
sexual intercourse; they eat only charred food and flies for beans (Gossen 1974:
21-22; Köhler 1972: 326; Pozas A. 1953: 241). These souls arrive as fully grown
adults but become at one bik’ta vinik “little people,” too weak to work or carry heavy
loads. Every night, when the sun passes closeby overhead, they suffer serious burns,
and so they always try to escape back up to the land of the living. Each year these
spirit dwarfs grow smaller and younger, until finally, after spending as much time in
the netherworld as they did on earth, they are tiny babies. God then endows each one
with a different identity and another animal companion spirit and allows it to return
in a newborn infant. The reincarnation involves reversals: men return as women,
women as men; a person will be born in a different community; a poor Indian might
even come back as a wealthy Ladino. As the soul is spiritual and indestructible, the
cycle is eternal (Guiteras Holmes 1961: 143; Holland 1963: 116-117; Köhler 1972:
326; Laughlin 1976: 93 n.2). Escape seems possible for the spirits of old people,
curers and principales, which creep up the ceiba into the sky to become ancestral
gods (Holland 1963; 70, 74, 110; 1964, 14-16) and maybe stars; and for women who
perish in childbirth, murder victims, and those who die by lightning or drowning: all
these go to the vinajel and forever stay close to the sun (Guiteras Holmes 1961: 143,
258; Pozas A. 1953; 240).
One principle Chenalho informant offers contrasting details of the netherworld. He
places the tiny dwarfs in the ‘olol or “center of the world” and calls them the yojob,
more or less “weaklings, deformed ones” (Guiteras Holmes 1961: 256; Hurley Vda.
de Delgaty and Ruiz Sánchez 1978: 233; Laughlin 1975: 386). The K’atinbak he
assigns to the middle of the earth (Guiteras Holmes 1961; 258, 282) and includes in
it both regions of the dead distinguished above. After punishments for minor offen-
ses, the spirit meets all its relatives and walks with them through fertile valleys, abun-
dant fields and lovely trees to the Lord of K’atinbak, who chastises serious offenders
but not forever. From then on all enjoy rich happy lives, with the men strong and
healthy, the women and children beautifully dressed. They grow ever younger and
finally are reborn on earth, as in other accounts (Guiteras Holmes 1961: 143-144).
In the other well-known model, the underworld is a square or plane in space below and
apart from the earth. This lower plane is kolontik “down below” and on it live the weak
yojob. Because the sun passes so near overhead every night, these dwarfs smear their
necks and heads with mud as a protection against burns, and so they are also called the
ach’eljoletik “mud heads” (Guiteras Holmes 1961: 282; Köhler 1972: 322-323). The
K’atinbak is inside the middle plane (Guiteras Holmes 1961; 282).
Lamb: Tzotzil Maya Cosmology
The Bearers of the Sun
When the sun, “the soul of God,” rises in the east, the totil-me’il receive it on their
knees and draw it in a two-wheeled cart or chariot over a rose-covered road, one step
an hour, to the zenith, where they rest an hour while the sun notes men’s deeds. They
then bring it down, one step an hour, to the western horizon (Gossen 1972: 119 fig.
1; Guiteras Holmes 1961: 152; Holland 1963: 77; Laughlin 1962: 134-135). The term
totil-me’il “fathers-mothers” names the anthropomorphic tutelary gods, deified ance-
stors who watch over the upright members of the community (Laughlin 1976: 19 D1:
n.5; Vogt 1966: 89, 91). It applies as well to the highest ranked animal companion
spirits, those of the town’s elite, who are the curers and the principales (Holland
1963: 113; Kohler 197: 326). In some accounts the totil-me’il helping the sun are in
human form. In the version from San Pablo Chalchihuitan they appear as the thirteen
most prominent animal companions called the j-nitkariltera (Kohler 1972: 326)
“those who pull along the road.” Such animal companions belong to the larger cate-
gory of companion spirits, known often as tonales and more recently as “co-essen-
ces.” A co-essence is any animal or celestial phenomenon, such as rain, lightning,
wind, fireballs, comets, or rainbows, that is believed to share in the consciousness of
the person who owns it. Not only humans but deities and saints have them, too, and
many own more than one. Fate or fortune, usually dictated by a person’s day of birth,
ties a co-essence to its possessor, who often reflects in his character and personality
its qualities. Incorporeal, the companion lies deep within its owner’s heart or core,
but when he sleeps, it roams. So close is the bond that if the co-essence is wounded
or destroyed, the owner falls ill or perishes. Recent work demonstrates that Maya hie-
roglyphs and art document the companion spirit as a central belief as far back as the
Classic period (Houston and Stuart 1989: 1 -2). The roses that cover the daily path of
the sun, incidentally, recall the hieroglyphs T544 and T646 (Fig. 1 a, b), which both
mean “day” or “sun” and depict flowers.
At sunset the human totil-me’il hand the sun over on their knees to the people wait-
ing for it under the world. These helpers, also called totil-me’il are very small
because the sun passes very close to them, as close as the height of a tree. It even spe-
aks to them and looks directly at them. In order not to die from the heat these escort
dwarfs cover their heads with mud. At dawn the totil-me’il above receive the sun on
their knees (Guiteras Holmes 1961: 152, 153, 268). These tiny companions appear to
be the “weaklings” (yojob), the “mud heads” (‘ach’eljoletik) or those ever younger,
smaller souls nearing reincarnation, all mentioned above.
The Bearers of Heaven and Earth
In many Tzotzil towns informants agree that the earth bearers carry the name of the
creator god Vaxak Men: this can mean either “Eight Makers” or “8. Men”, a 260-day
calendar date used as a name. Not all the natives agree, however, on what these bea-
rers look like, how many there are or where they stand.
People variously describe the vaxak men as pillars, as serpents and as men who hold
up the earth on their shoulders (Laughlin 1975: 364; Vogt 1966: 92). In all likelihood
they also call these gods the ‘oy balamil “cosmic pillars” (Laughlin 1975: 71) or
“posts of the earth” and yoyal balumil “axis of the earth, immortal person, forked
upright of the earth” (Hurley Vda. de Delgaty and Ruiz Sanchez 1978: 95, 234). The
deities of both these sets, like the vaxak men, perform as atlantids, pillars and snakes
(Laughlin 1975: 71).
For some, earth bearers number only four. An origin myth in Larrainzar seems to
state that the four ancestors first lived to the east in an elegant palace of many levels
at a site called Vaxak Men. They later abandoned this home, and each trekked to a dif-
ferent cardinal point, where he turned into the corresponding earth bearer. The Tzot-
zil descend from the atlas in the west (Holland 1964: 13). In Zinacantan, too, the
vaxak men are four and cardinal (Vogt 1966; 91-92). In Chamula many believe that
they are four but intercardinal (Guiteras Holmes 1961: 118).
273
TRIBUS 44, 1995
At least the Larrainzar Tzotzil assert that the vaxak men are eight. Four of them are
the intercardinal Kuch Vinajel-Balumil “Bearers of the Sky and Earth,” whose slight-
est moves cause tremors and earthquakes. Midway between atlases who hunch under
the corners of the square earth stand the four gods of the cardinal points, each asso-
ciated with a color and a function. The white deity of the east sends rain; the also
white numen of the north, maize; the black lord of the west, death; and the red god
of the south, wind. Together, the intercardinal atlantids and the cardinal senders are
the eight vaxak men (Holland 1963: 92; 1964: 14-16).
As mentioned above, many in Chamula believe that the earth bearers are four and
intercardinal. Others, however, assert that only one supernatural carries the world on
his back: Miguel, who crouches in the middle below. He is the younger of two
brothers who helped Our Father the Sun to build parts of the church in Chamula
(Gossen 1974: 22, 23 fig. 1, 327).
The image from San Pedro Chenalho is not of earth bearers but of sky pillars: “The
world ... is square, like the house and the field. The sky rests on four pillars, just like
those of a house” (Guiteras Holmes 1961: 254, 285). Nobody specifies the location
of these pillars, but here and in San Bartolomé de Los Llanos the color-direction
scheme ties east to red, north to white, west to black and south to yellow (Guiteras
Holmes 1961: 287).
The most complex construct comes from San Pablo Chalchihuitan. Four gods or pil-
lars uphold the sky, and not at the cardinal or intercardinal points but at the solstitial
points (Köhler 1972: 322; 1977: 95-98). A few informants speak of a fifth pillar, in
the middle, while others even contend that there are many around the earth, like
house posts. Firmly set in the underworld plane below, four more pillars or gods sup-
port the earth (Köhler 1972: 322).
Stars
In Tzotzil k’anal glosses with “star” and “yellow” (Laughlin 1975: 196, 513; 1988:1:
234). In general the people speak of the stars as k’anaketik “the yellow ones,” and
place them in a layer of the sky above the clouds but below the paths of the sun and
moon, providing light both above and below (Vogt & Vogt 1980: 506) The Tzotzil
say very little about the stars in general. Most significant overall are the hints, dis-
cussed above, that bright stars or planets might be men-become-gods. My pre-
liminary research indicates that the scribe of the Classic encoded the ancestral or
proto-Tzotzil-Tzeltal *k’anal (Kaufman 1972: 106: 322) in the hieroglyphs T 510 and
T638 and their optional affixes, or even spelled it out with compounds of T 281 and
other signs (Fig. 1 c-e).
Constellations
Many a thing on earth has its counterpart somewhere in the Zinacantan skies: “... we
had looked at the stars, then ... the saints in heaven ... They had stars. We saw ...
there scorpions (tzek), spiders (‘om), birds {mat), angels (‘anjel), shoes (sapatoil),
everything that was there” (Laughlin 1980: 133). Sapatoil, a form of the Spanish
zapato “shoe, sandal,” designates both the Hyades and Pleiades (Laughlin 1980; 133,
139 n. 35), presumably owing to their form. The native xon “sandal, horseshoe,” also
applies to both (Laughlin 1975; 324). Xonob “sandal, shoe,” also denotes both the
Hyades [pi, theta 1 and 2, 70, 71, 75, and 79 of Taurus] (Laughlin 1975: 318, 455;
1980: 61), and the Pleiades (Köhler 1991: 252). Xon j’elek’ “sandals of the robbers,”
however, indicates only the Pleiades (Laughlin 1975: 318, 482). Near the Pleiades
twinkles the costellation xukum’ [xuk’ubl] k’anal “starry elbw” (Köhler 1991; 253).
A bit back from the Pleiades, perhaps in Gemini [Castor and Pollux?], shine the two
bek’at or “testicles” [lit. “seeds of penis”]; if they visualize this pair as in the center
of a ring of other stars, some informants most likely also name this asterism ton tzu-
mut “egss of the dove” [tzumut<(s-)tzu(in)mut “mourning dove bird” of Hurley Vda.
de Delgaty & Ruiz Sánchez 1978: 207; Laughlin 1975: 98,1988: 177], imagining two
Lamb: Tzotzil Maya Cosmology
eggs in a nest (Köhler 1991: 253-254). Tzek “scorpion” might name Scorpio or an
asterisms that passes through the zenith, or a star group in the northern half of the sky
(Köhler 1991: 252, 254). Machal, a form of moch “(two-handled) basket” and “lad-
der,” tags the stars 88 and 90 in Taurus (Laughlin 1975: 238,418; 1988:1: 260). Vuku-
pat “seven out back” describes Ursa Major or more likely just the Big Dipper (Laug-
hlin 1975; 380,427; Köhler 1991: 252). The name t’inipat “bent over back” may also
denote this constellation or the handle of the Big Dipper; some informants place its
stars in the north, while others locate them in the “center” of the sky (Köhler 1991;
252-254), which might designate the zenith or, I suspect, the circumpolar region.
Orion’s Belt [delta, epsilon, xi] goes by ox-lot “trio” (Laughlin 1975: 70, 220; 1980:
61, 132; Köhler 1991: 252-253); a few natives, however, group and draw this trio not
as a line but as a triangle or even a triangle of triangles (Köhler 1991: 253), and this
recalls the K’iche triangle oxib’xk’ub' or “Three Hearthstones”, beta, kappa and zeta
of Orion, also called, respectively, Rigel, Saiph and Alnitak, this last luminary being
the star furthest to the viewer’s left in the Belt (D.Tedlock 1985: 82, 85). Orion’s
Sword [theta, 1, d] boasts three aliases: ox-lot j’elek’ “trio of robbers,” j’a’yej-lot
“group of eavesdroppers,” believed to be listening in on the stars of the Belt; and,
finally, the Three Marys (Laughlin 1975: 37, 70, 220; 1980: 61, 132, 139 n.35). The
Belt and Sword together go by kurusk'anal “starry cross”, this term some use as well
for the Southern Cross (Köhler 1991: 252-253). Tuk’owil “pistol” [tuk’awil “blow-
gunner, harquebusier” Laughlin 1988: 321 ] designates a constellation still not clearly
located (Köhler 1991; 253, 254).
The Milky Way they assign seasonal epithets. In the “winter” or dry season they dub
it be taiv “road of frost,” and in the “summer” or wet season, be vo’ “road of water,
ravine” (Laughlin 1975: 80,469) and me ’jo ’’’mother of water or rain” (Köhler 1991:
253) .
Planets
Venus figures prominently in the lore. For its brilliance or importance they call it mol
k’anal “large or elder star” (Laughlin 1975: 240, 530) and muk’ta k’anal “large star”
(Laughlin 1975; 530; Köhler 1972: 323; 1991: 252). As the glorious morning star it
is the great plumed serpent muk’ta ch’on “large snake” (Holland 1963: 77, 93; 1964,
14; Vogt 1969: 600). The Chalchihuitan Tzotzil see Venus as santo tomax, who is not
Ladino but Indian (Köhler 1972: 323; 1991: 252) and so perhaps dark-skinned. The
Zinacantan Tzotzil present Venus the morning star as an ugly, swarthy Chamula girl
called jmes-be “sweeper of the path” and jmes-na “sweeper of the house” (Laughlin
1977: 253). They also name the dawn luminary vixil “elder sister,” while Venus as
evening star is mukil “female’s younger sibling” (Laughlin 1975: 243, 371; 1977:
254) . The Zinacantecas even call Venus jti’-puy “he who eats the river snail” (Laug-
hlin 1975: 336, 530).
Two figures from San Pedro Chenalho might represent Venus as the morning star.
The first is Lusibel (Lucifer): “It is said that long time ago there was another sun:
Lusibel ... This sun did not give forth enough heat ... That is why the kox (Child
Jesus, the present sun) took his place” (Guiteras Holmes 1961: 186). The apparent
link is Lucifer “Light Bearer,” itself supposedly a name for Venus as morning star.
The second suspected form is 'uch, “opossum,” also the name of a month:
‘Uch is greatly respected because it has fire, because at dawn it lights up the hills. It
is not the sunlight, for the sun rises later (Guiteras Holmes 1961; 195).
...it seemed as if the hills were on fire. It was the ‘Uch ... Then it slowly disap-
peared and gave place to the white light of dawn ... I woke up when it was still
night ... and 1 saw that ... the sky toward the northeast was red (Guiteras Holmes
1961: 206).
‘Uch is as God, because it has light, a red light, that later disappears to give place to
the God, the sun. Neither “‘Okinahual (a caterpillar and a month name) nor "Uch are
[s/c] evil, but they must be respected as a God (Guiteras Holmes 1961: 196).
275
TRIBUS 44, 1995
The Tzotzil describe Venus, too, as hatz’i tzoj “bright or truly red” (Laughlin 1977;
253). The earliest Cakchiquel dictionary (Vico 1548-50: 211 v— 212r) seems to con-
firm the suggested Tzotzil identification of Venus and the opossum by glossing
wuch ’, its cognate to ‘uch, with “opossum” and “morning star”. In their Popol Vuh
the Quiche also link the opossum to the red sky at morning and maybe to Venus as
well (D. Tedlock 1985: 145, 149, 287-288, 290, 342).
In Zincantan Jupiter is known as bankilal k’anal “older brother star” (Laughlin 1975:
79, 459). In Chenalho the bankilal of the sun is the pig or peccary (Guiteras Holmes
1961; 183-185). The Chamula version of the same tale calls the sun’s older brother,
once turned into a pig, Marian (Gossen 1974: 312). In Chalchihuitan they link ano-
ther proper name to a bright star, possibly Jupiter: it is santo rominko (Köhler 1972;
323) or rominkok’anal “Dominic star” (Köhler 1991: 253).
The last planet for which there are data, however paltry, is Mars. It is a blood-red star
that moves in the sky and sends eye diseases (Hunt 1977: 144-145). Curiously
enough tzajal k’anal or “red star” refers not explicitly to Mars but to a large planet
or a planet in general (Köhler 1991: 253, 245 note 6).
Conclusion
The basic beliefs about the cosmos are common to most Tzotzil communities but
details, sometimes major, vary among the towns and even within them. This study
only samples a vast corpus.
The directions orient to the point of view of the rising sun and relate to its daily and
annual cycles, to farming and to ritual. The earth is a square island in the cosmic
ocean. From its center there spreads out a ceiba that connects all the heavens and so
allows the souls of infants, old people, curers and high officials to ascend to the sky
and apparently become ancestral gods and stars.
The heavens consist of thirteen steps; three, nine or thirteen layers; or they are the
roof of the cosmic hut. The underworld has nine, thirteen or some unknown number
of steps. In one compartment there serious sinners undergo punishments, while in the
rest of the realm the others suffer minor deprivations as they grow ever younger and
smaller, finally reincarnating on earth as the souls of newborns. These rejuvenating
spirits are or resemble the weak dwarfs who help the sun through the underworld
every night and then hand it over at dawn to the ancestral gods or their animal com-
panion spirits to draw across the sky in a cart.
Four men, serpents or pillars support the earth at the cardinal, intercardinal or sol-
stitial points. Between them can be four more gods. Yet four more may keep just the
skies up.
The Classic hieroglyphs for “star” seem to represent *k’anal, the ancestral Tzotzil
word for “star.” Venus is a plumed serpent, a large or elder star, a sweeper girl, a snail
eater, St. Thomas, as well as, perhaps, an earlier sun and an all-reddening opossum.
Jupiter is the older brother star and so might be a pig or peccary; it could also be St.
Dominic. Mars is the red, moving, eye-afflicting star.
Careful comparisons of these primary data with those from other Maya groups
should confirm identifications and qualify attributes. The Yucatec (Lamb 1981),
Lacandon, Mopan, Cakchiquel and Quiche corpuses appear especially rich.
Acknowledgments
I owe many thanks to Robert M. Laughlin for an unpublished copy of his 1988 dic-
tionary and for numerous corrections. Thanks are also due John Carlson and Von Del
Chamberlain for patience and advice.
Abstract
Tzotzil Maya directional terms describe the sun’s travels, not the Western cardinal
points. Several communities vary in their understanding about the heavens and the
Lamb: Tzotzil Maya Cosmology
underworld as well as the bearers of the earth and sky. The souls of infants and cer-
tain people seem to transform into stars. Some constellations survive. Venus goes by
many names, including St. Thomas, while Jupiter and Mars have very few.
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Petroski, Henry:
Messer, Gabel, Reißverschluß. Die Evolu-
tion der Gebrauchsgegenstände. Aus dem
Amerikanischen von Inge Rau. Basel/
Boston/Berlin: Birkhäuser, 1994. 342 Seiten
mit Fotos und Zeichnungen
Kulturgeschichte aus der Sicht eines amerikanischen
Ingenieurwissenschaftlers - das prägt den Inhalt dieses
Buches mit seinem spannenden Titel. In Wahrheit geht es
jedoch über die Zeit der Erfindung und des Siegeszuges
von Reißverschlüssen hinaus, denn behandelt werden
auch Gebrauchsgegenstände der Gegenwart wie McDo-
nalds Verpackungen aus Polystyrol, Abfalltüten aus
Kunststoff, digitale Telefonapparate, selbst Flugzeugty-
pen u. a. m.
Für den Ethnologen, der sich mit dem Alltag von Men-
schen im allgemeinen oder mit Bevölkerungsgruppen im
besonderen bzw. mit Fragen von materieller Kulturaus-
stattung beschäftigt, ist das weite Blickfeld des Verf. von
der Ur- und Frühgeschichte bis an die Schwelle des 3.
Jahrtausends wertvoll und wichtig, zumal in ethnologi-
schen Fachkreisen die Frage nach wie vor diskutiert wird,
ob die Objektivationen einer vom Konsumdenken
bestimmten Massengesellschaft noch dem Untersu-
chungsgegenstand von Ethnologie, Ethnographie, Volks-
kunde, Anthropologie usw. zugehören. Das von Henry
Petroski vorgestellte Material scheint dem Rez. ein unbe-
dingtes Indiz dafür zu sein, den Dingen des unmittelbaren
gegenwärtigen Alltags größere Aufmerksamkeit zu
schenken, denn es sind Menschen, die mit den Gerät-
schaften, die ihnen zur Verfügung stehen, an deren Her-
stellung sie in irgendeiner Weise häufig selbst beteiligt
sind, umgehen, von denen ihr Leben mit bestimmt wird
und von deren Bedürfnissen es nicht zuletzt mit abhängt,
ob etwas ihnen Angebotenes akzeptiert wird, sich durch-
setzt oder nicht. Das aber ist wiederum Teil eines Prozes-
ses, der letztlich mit der Menschwerdung und der Ent-
wicklung menschlicher Kultur seinen Anfang nimmt und
den wir über die Jahrhunderte bzw. über die zahlreichen
gesellschaftlichen Perioden bis in unsere Tage verfolgen
können.
Solche oder ähnliche Zusammenhänge zwischen Mensch
und Gegenstand, Gerät, Maschine und dergleichen wer-
den vom Verf. freilich kaum behandelt und damit fehlt ein
wesentliches Stück Beziehungsgeschichte, das zumindest
der Rez. erwartet hätte und das in einer ganzen Reihe sehr
instruktiver kulturhistorischer Publikationen nicht erst in
jüngster Zeit zum Ausdruck gebracht wurde (vgl. bei-
spielsweise »Leben und arbeiten im Industriezeitalter«,
Stuttgart 1985; »Auch Dinge haben ihre Tränen«, Wien
1988; »Das Schicksal der Dinge. Beiträge zur Designge-
schichte, Dresden 1989; 13 Dinge. Form, Funktion,
Bedeutung«, Stuttgart 1992 u.v. a. m.). Der Grund dafür
mag darauf zurückzuführen sein, daß P. mit wenigen Aus-
nahmen nur amerikanische Literatur benutzt und er
Untersuchungen zu den Mensch-Ding-Beziehungen aus
Europa kaum reflektiert hat. Das bleibt jedoch lediglich
festzustellen, wie andererseits der Gerätespezialist auf
Dinge hingewiesen wird, die er bis dahin kaum wahrge-
nommen haben dürfte und die auch in Europa eher in die
Bereiche von Wirtschafts- und Produktivkraftgeschichte
gehören. Wie auch immer: Die Untersuchungen von P.
sind einzuordnen in die immer wieder aufbrechende Pro-
blematik um den Stellenwert von materieller Kulturaus-
stattung im historisch-ethnologischen Kontext, wobei
gleichzeitig die Frage der Interdisziplinarität wieder ein-
mal aufgeworfen wird. Denn es zeigt sich, daß auch der
ingenieurwissenschaftliche Aspekt seinen heuristischen
Stellenwert für die Interpretation von materieller Kultur
haben kann.
Der Untertitel des vorliegenden Buches lautet: »Die Evo-
lution der Gebrauchsgegenstände« und die führt uns P. in
14 Fallbeispielen vor, die in ihrer Detailfülle an dieser
Stelle nicht zu resümieren sind. Nur einige Überschriften
seien erwähnt: »Wie die Gabel zu ihren Zinken kam«,
»Von der Stecknadel zur Büroklammer«, »Steckverschluß
vor Reißverschluß«, »Erst verschließen, dann öffnen«,
»Wenn das Gute doch besser als das Beste ist« usw.
Evolution der Formen, der Gegenstände, der Werkzeuge,
der Gebrauchsutensilien ist für P. in erster Linie die
»Erkenntnis des Versagens« vorheriger Dinge, deren
Gebrauchswert verbessert werden muß, und dies in der
Art eines Wettbewerbs, dessen eigentliche »Natur... ein
Kampf um Überlegenheit« ist; ein Konkurrenzkampf
zwischen Erfindern oder Designern, der sich dann, um
den Absatz irgendeiner Novität zu steigern, sehr oft im
Äußerlichen erschöpft, ohne die Grundfunktion etwa
eines dreiteiligen Eßbestecks wesentlich, wenn über-
haupt, zu verändern. Vom Beispiel des x-teiligen Tafelsil-
bers seit der Jahrhundertwende ausgehend, das für P. in
manchen Fragen geradezu ein Leitfossil« ist, kommt er
im Kapitel »Die Form folgt dem Fehlschlag« zur
Erkenntnis: »Es ist eher der Luxus und nicht so sehr die
Not, die erfinderisch macht.« Das mag auf vieles in der
gehobenen bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhun-
derts zutreffen, vermag aber keine Antwort z. B. auf die
Multifunktionalität des Hammers mit den unterschied-
lichsten, weil für die jeweiligen Arbeiten notwendigen
Veränderungen, zu geben. Die Vielfalt der Formen
stammt aus den Erfahrungen des Handwerkers und hat in
erster Linie mit den Funktionen des Geräts, des
Gebrauchsgegenstands zu tun. Darauf geht P. kaum ein,
wie er auch den Bereich der agrarischen Gerätschaften
und deren Entwicklung durch die Kooperation von Bauer
und Dorfhandwerker außer acht läßt und die Bedeutung
des Funktionalen mit Bemerkungen wie der folgenden
negiert: » .. .wenn wir die Dinge schon nicht dazu bringen
können, richtig zu funktionieren, ... können wir sie
zumindest vorzeigbar machen. Nichts, was wir entwerfen
oder hersteilen, funktioniert jeweils wirklich. Immer kön-
nen wir sagen, was es tun sollte, aber gerade das tut es
nie ... Jedes Ding, das wir konstruieren oder herstellen,
ist etwas Behelfsmäßiges, etwas Improvisiertes, etwas
Unpassendes und Provisorisches... Alle Produktentwick-
lungen sind bis zu einem gewissen Grade Fehlschläge«
(S.41 f.)
280
Buchbesprechungen Allgemein
Das freilich ist eine Theorie, die historisch nicht zu ver-
allgemeinern ist, denkt man z. B. an die präkapitalistische
fast bruchlose bäuerliche Arbeitsgerätekultur oder an die
der Handwerker bis zum Zeitpunkt der Gewerbefreiheit.
Die Bevorzugung US-Amerikas in neuer und neuester
Zeit hat solche Fragen so gut wie ausgeschlossen. Die
Einbeziehung Europas in den ganzen Problemkreis, den
P. darlegt, müßte dann freilich eine erweiterte theoreti-
sche Basis haben, wenngleich das amerikanische Beispiel
brauchbare und wesentliche Einblicke in eine ausschließ-
lich von kapitalistischen Prämissen bestimmte Erfor-
schung materieller Kultur vermittelt.
Wolfgang Jacobeit
Raabe, Eva Ch. (Hrsg.):
Mythos Maske - Ideen, Menschen, Weltbil-
der. Roter Faden zur Ausstellung, Bd. 19.
Frankfurt/M.; Museum für Völkerkunde,
1992. 293 Seiten mit Fotos
Eva Ch. Raabe, Kustodin der Ozeanien-Abteilung des
Museums für Völkerkunde Frankfurt am Main, veröf-
fentlicht im vorliegenden Band einen gelungenen
Überblick über die komplexe Welt der Maske. Masken
finden wir rund um den Erdball in vielfältigen Erschei-
nungsformen. Sie zeugen von den frühesten Kulturäuße-
rungen der Menschheit, wie zahlreiche archäologische
Funde belegen.
Betrachten wir die Maske in ihrem Verwendungszusam-
menhang, so stoßen wir auf derart unterschiedliche
Zweckbestimmungen, daß uns die Einordnung fast
unmöglich wird.
Masken in ihrer nicht überschaubaren Funktionsfülle
»sollen abschrecken, beschützen, helfen, Recht sprechen,
Krankheiten heilen, geistige Kräfte von Toten bewahren,
Fruchtbarkeit garantieren, Initiationen vollziehen, magi-
sche Beeinflussung von Naturkräften ermöglichen
u.a. m.« (Ebeling, 1987). Daher ist es völlig unmöglich,
etwa eine Theorie der Maske zu begründen. So gesehen,
muß anerkennend gesagt werden, daß Eva Ch. Raabe und
den Co-Autoren ein akzeptables Werk gelungen ist. Und
das nicht zuletzt deshalb, weil sie sich in akribischer
Weise mit den Herstellern und Trägern von Masken, also
mit den betroffenen Menschen auseinandersetzten. In
jedem Aufsatz des Bandes wird deutlich, aus welchen
Gründen von dieser oder jener Menschengruppe Masken
gefertigt und getragen bzw. getanzt werden.
Von besonderer Bedeutung erscheint es mir, daß in fast
jedem Aufsatz zwei Themen behandelt werden, die man
in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erwartet; 1.
die Krisenbewältigung mit Hilfe von Masken und 2. das
Aufeinanderprallen von Menschen verschiedener Wirt-
schaftsformen, Kulturen, Sprachen usw., was in den mei-
sten Fällen bei Alteingesessenen zu Krisen führt.
So werden in diesem Buch dankenswerter Weise nicht
nur die üblichen Kultmasken indigener Völker beschrie-
ben und gedeutet, sondern auch die Arbeits- und Tanz-
masken der modernen Zivilisationsgesellschaft: Ärzte -
Schweißer - Taucher, Fasching - Fastnacht - Karneval.
Aber auch bei Naturvölkern erfuhren die Masken einen
Wandel von der Verkörperung transzendenter Wesen zur
Identitätsstiftung, z. B. bei den Irokesen.
Gerade durch den modernen Bezug ist dieser Band für
den Laien interessant und lesenswert.
Weiterführende Literatur:
Seiler-Baldinger, Annemarie:
Wer immer sich mit fremden, gar unbekannten Textilien
befaßt, kommt ohne zwei Standardwerke nicht aus: Irene
Emery’s The Primary Structures of Fabrics (Washington
1966, 2. Auflage 1980) und Annemarie Seiler-Baldingers
Systematik der Textilen Techniken (Basel 1973, Neuauf-
lage 1991). Daß ein dringender Bedarf an solchen umfas-
senden, systematischen Abhandlungen über Textilien be-
steht, zeigt die im Vorwort des letztgenannten Werks
erwähnte Tatsache, daß das Buch mehrmals nachgedruckt
werden mußte, bevor sich die Autorin kürzlich zu einer
völligen Überarbeitung entschloß.
Die beiden Systematiken gehen, wie schon die Titel zei-
gen, von unterschiedlichen Ansatzpunkten aus: Emery
nimmt die Struktur des fertigen Gewebes als Grundlage
und erlaubt auf diese Weise eine Verständigung über
jeden beliebigen, auch gänzlich unbekannten Stoff. Sei-
ler-Baldinger ihrerseits geht vom Prozeß der Entstehung
des Gewebes aus; Bindungsformen und ihre Herstellung
bilden die Grundlage, wobei die Systematik vom Einfa-
chen zum immer Komplexeren fortschreitet. Die Techni-
ken der Fadenbildung - als Grundlage für die Gewebe -
und der Stoffverzierung und -Verarbeitung - sind in diese
Systematik integriert, während sie bei Emery zwar
behandelt werden, aber nicht wirklich Bestandteil ihrer
Systematik sind.
Seiler-Baldinger hat den eigentlich ethnologischen
Ansatz, denn ihrer Arbeit liegt ursprünglich die Notwen-
digkeit zugrunde, die vielen, durch Feldforschungen
bekannt gewordenen textilen Techniken in eine befriedi-
gende Ordnung zu bringen. Sie konnte dabei aul die von
Alfred Bühler und Kristin Bühler-Oppenheim gelegten
»Grundlagen zur Systematik der gesamten textilen Tech-
niken« (Die Textilsammlung Fritz Ikle-Huber, Zürich
1948) aufbauen.
Grundsätzlich hat sich an der Systematik der textilen
Techniken in der Neuauflage nichts geändert: Sie beginnt
wie in der ersten Auflage mit den Techniken der Faden-
bildung und führt dann weiter über Stoffbildung mit nur
einem Faden (wie Verschlingen, Verknoten, Stricken,
Häkeln) zur Stoffbildung mit Fadensystemen (wie Flech-
ten und Weben) und den Techniken der Stoffverzierung
Ebeling, I.:
1987 Masken und Maskierung. Kult, Kunst und Kos-
metik. Köln
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Willy Schroeter
Systematik der Textilen Techniken. Basler
Beiträge zur Ethnologie, Bd. 32. Basel; Wepf
+ Co., 1991. 290 Seiten
281
TRIBUS 43, 1994
und der Stoffverarbeitung - um nur die Hauptschritte zu
nennen.
Welches sind also die Neuerungen? Es ist die Aufnahme
einiger erst kürzlich entdeckter Techniken (z. B. das
Zwirnspalten). Es sind Umstellungen aufgrund neuerer
Erkenntnisse in der Systematik von Textilien und einige
terminologische Veränderungen, z. T. in Anlehnung an
den englischen Sprachgebrauch, wodurch häufige
Mißverständnisse vermieden werden können (»abgelei-
tete Bindungen« sind jetzt »zusammengesetzte Bindun-
gen« = englisch »compound weaves«, und »zusammen-
gesetzte Bindungen« sind jetzt »kombinierte Bindungen«
= englisch »combined weaves«). Neu sind zahlreiche Ab-
schnitte »Notation und theoretische Überlegungen« im
Anschluß an Beschreibungen von Techniken. Die Dar-
stellung des Fadenverlaufs durch Zahlensymbole ist
erfahrungsgemäß eine Erleichterung bei der Beschrei-
bung von Stoffen. Ob die Erfassung der Möglichkeiten
von Fadenkreuzungen bei der Stoffbildung durch Einhän-
gen und durch Verschlingen mit Hilfe von mathemati-
schen Formeln korrekt ist, kann ohne eine entsprechende
Vorbildung nicht beurteilt werden. Sehr nützlich sind die
gegenüber der ersten Auflage stark vermehrten »anderen
Bezeichnungen« für die jeweils beschriebene Technik,
die einem die Orientierung in der babylonischen Sprach-
verwirrung innerhalb der Textilliteratur sehr erleichtert.
Neu ist auch der Umfang des Anhanges (128 von 290 Sei-
ten). Er enthält neben einigen Beispielen zur Strukturbe-
schreibung eine ausführliche Bibliographie, die auch nach
bestimmten Themenbereichen aufgeschlüsselt ist, sowie
ein mehrsprachiges Register. Sicher werden die Leser und
Benutzer auch das ansprechendere Äußere - gutes Papier,
klarer Druck und einige Farbabbildungen - zu schätzen
wissen.
Bei einer allfälligen Neuauflage sollten die wenigen
Druckfehler berichtigt werden, die vor allem bei Zahlen
im Zusammenhang mit der Notation verunsichern, es
sollten noch einmal die Zeichnungen sehr genau kontrol-
liert werden, da sich an einigen - wiederum wenigen -
Stellen Fehler eingeschlichen zu haben scheinen, und es
sollte überlegt werden, wie die Systematik optisch deutli-
cher gestaltet werden kann. Als Beispiel sei auf die Seite
17 verwiesen, wo die Hauptüberschrift »Verschlingen«
weit weniger ins Auge fällt als die Unterüberschrift »1.
Einfaches Verschlingen«. Völlig unklar bleibt lange Zeit
eine Art Zwischenüberschrift (bei »Verschlingen« und
»Verknoten«), die als Bestandteil einer Aufzählung
mißverstanden werden kann (z. B. S.26 »-Knotenfor-
men:«).
Doch angesichts der ungeheuren, bewunderungswerten
Arbeit, die in diesem Werk steckt, und der gar nicht hoch
genug einzuschätzenden Hilfe, die es bei der wissen-
schaftlichen Beschäftigung mit Textilien bietet, sind
diese Einwände kaum der Erwähnung wert. Niemand, der
sich intensiv mit textilen Fragen befaßt, wird auf dieses
Buch verzichten können, und auch, wer die erste Auflage
bereits besitzt, wird nicht ohne diese erweiterte Neufas-
sung auskommen.
Gisela Dombrowski
Spindler, Konrad:
Der Mann im Eis - Die Ötztaler Mumie ver-
rät die Geheimnisse der Steinzeit. München:
C. Bertelsmann, 1993. 352 Seiten, 55 Farb-
Fotos, Zeichnungen, Karte.
Die Zahl der Ötzi-Bücher ist Legion. Daher soll gleich
vorweggenommen werden - diese Publikation ist, nach
dem 1992 imRGZM, Mainz, erschienenen wissenschaftli-
chen Bericht über die Restaurierungsarbeiten an der 1991
entdeckten Gletschermumie und ihrem Begleitmaterial,
der einzig authentische, umfassende Beitrag zum Thema.
Darüber hinaus ist das Werk ein fundiertes Sachbuch im
besten Sinne des Wortes. Spindler ist als archäologischer
Leiter der »Operation Ötzi« nicht nur ein kompetenter
Autor, sondern auch Sprecher der zahlreich beteiligten
Wissenschaftler in Österreich, Deutschland und Holland.
Sie alle geben mit ihren sorgfältig und mit bester techni-
scher Ausrüstung erarbeiteten Untersuchungsergebnissen
Einblick in das mitteleuropäische Neolithikum, wie er in
dieser Detailfülle bis dahin nicht möglich gewesen ist.
Unglaublich ist zudem das Glück, daß dieser Ötztaler
Hirte/Jäger bei seinem letzten Gang über die Berge so gut
ausgerüstet war, und - natürlich - daß sich so vieles von
seiner Kleidung und den mitgeführten Utensilien über fünf
Jahrtausende im Eis erhalten hat.
Das Buch ist in sechs Teile mit bis zu 16 Abschnitten
gegliedert. Ausgezeichnete Farb-Fotos und eingängige
Zeichnungen unterstreichen den flüssigen und spannen-
den Text. Einem Prolog und dem ersten Teil über die Ent-
deckung, Bergung und Nachuntersuchungen folgt als
zweiter Teil »Die Ausrüstung des Mannes im Eis«. Im
dritten Teil wendet sich der Autor der Bekleidung zu, um
im vierten Teil »Die Mumie« über die Gletscherleiche
selbst umfassend Auskunft zu geben. Im fünften Teil wird
die natürliche und kulturelle Umwelt während des alpi-
nen Neolithikums beschrieben. Begrüßenswert ist, daß
sich Spindler erst im sechsten und letzten Teil seinen Kri-
tikern zuwendet, die zum Teil mit übereilten, zum Teil
sogar lächerlichen Argumenten gegen den Jahrhundert-
fund und seine Begleitumstände zu Felde zogen. Medien
und Verlage leben nun einmal von der Auflagenhöhe
ihrer Produkte, und zu dieser tragen »Reißer« entschei-
dend bei. Reagieren? Ja. - Ernst nehmen? Nein. Soviel
dazu. Einem Exkurs über Mumien schließen sich ein
Glossar sowie die üblichen Verzeichnisse und Nachweise
an, von denen die umfangreiche Literaturliste besonders
erwähnt werden soll.
Gekonnt und minuziös schildert der Autor zu Beginn die
Geschehnisse rund um die Fundbergung. Dabei wird dem
Leser sehr anschaulich das wissenschaftliche Umfeld
nahegebracht, dessen Komplexität ebenfalls zu den vie-
len Fehlinformationen in den ersten Monaten nach der
Bergung beitrug. Souverän legt Spindler die Motivatio-
nen, Gedankengänge und Vorstellungen der vielen Betei-
ligten an der Fundbergung und -deutung dar. Die Aus-
leuchtung der Begleitumstände und Hintergründe des
Ötzi-Fundes liest sich teilweise wie ein Krimi. Doch wird
dem Leser nicht nur Spannung geboten, sondern auch viel
Wissenswertes, wie beispielsweise zu Anfang eine Ein-
führung in das Auffinden und die Behandlung von Glet-
scherleichen durch Behörden, Mediziner und Historiker.
282
Buchbesprechungen Allgemein
Die in den ersten Monaten nach der Entdeckung des Neo-
lithikers in und über die Medien erhobenen Vorwürfe
dürften mit diesem Buch gegenstandslos geworden sein.
Die meisten der vor allem von Wiener Kollegen geäußer-
ten Einwände wird Spindler jetzt wohl ebenfalls entkräf-
tet haben. Nicht nur der historisch Interessierte muß
eigentlich sehr dankbar sein, daß bei allen nicht vor-
hersehbaren kleineren Unfällen in den Anfängen der
Fundbergung mehrere glückliche Umstände rund um Ötzi
zusammentrafen, zum einen bei seiner Einlagerung im
Eis des Hauslabjochs vor 5000 Jahren, zum anderen bei
der Hebung seiner Leiche, wie zum Beispiel die ORF-
Filmaufnahmen. Mehr als amüsant ist für den Nicht-
österreicher, daß zwischen den Zeilen österreichische
Mentalitäten, Staatsbürokratie und überholte gesell-
schaftliche Strukturen sowie Animositäten zwischen
Landesteilen sichtbar werden, die auf den Außenstehen-
den irgendwie beruhigend wirken ... dort wie hie ... c’est
la vie.
Glänzend versteht es Spindler, in das eigentliche Thema
der Publikation viel Lehrreiches zu integrieren, so über
Restaurierungen, über die jüngere Geschichte Mitteleuro-
pas, wie das Mittelalter, und über die holozäne Klima-
geschichte, die bereits vor etlichen Jahrtausenden Wär-
meperioden aufwies, wie wir sie heute erleben. Wer von
den selbsternannten Klimatologen unserer Tag liest schon
ein Buch über Klimageschichte! Vielleicht greift der eine
oder andere jedoch zu Spindlers Ötzi-Buch und macht
sich dann eventuell Gedanken über pressegerechte Sen-
sationsmache, womit jedoch nicht die Bedeutung jegli-
chen Naturschutzes geleugnet werden soll. Fazit: »Der
Mann im Eis« ist auch ein archäologisches Lehrbuch,
nicht über Stratigraphien, Typologien und nicht nur für
Studenten, sondern über das gesellschaftliche Umfeld
von Grabungen, in dem sich Archäologen notgedrungen
ebenfalls bewegen müssen. Ein sicher nicht zu unter-
schätzender Lehrbereich!
Bei so viel Lob drängen sich einige kleinere kritische
Anmerkungen geradezu auf. Beispielsweise die: Am 2.
Oktober 1991 wurde endgültig festgestellt, daß die
Mumie auf italienischem Hoheitsgebiet lag (81). Es wird
dem Leser nicht klar, warum Innsbruck dennoch mit sei-
ner begonnenen Arbeit am Fund und am Fundplatz fort-
tahren konnte. Sicherlich haben doch auch italienische
Archäologen an der Bewältigung dieser Aufgabe Inter-
esse gehabt. - Bei der von Spindler gegebenen Erklärung
zu den Schalensteinen (129) bleiben etliche Fragen offen,
zum Beispiel die nach der jeweils großen Zahl an »Schäl-
chen« auf Monolithen. Kann sie wirklich mit der Lange-
weile neo- und chalkolithischer Hirten erklärt werden? -
Der Hinweis auf die Verwendung zweier verschiedener
Holzarten bei einem der zwei »schußbereiten« Pfeile, der
kein Kompositpfeil gewesen sein soll, ist nicht schlüssig.
Gerade der Vorschaft bestand in der Regel aus einer ande-
ren Holzart, wenn nicht sogar aus anderem Material. -
Der Exkurs über Mumien erscheint überflüssig, nachdem
den hiermit zusammenhängenden Fragen bereits in Teil
IV (Mumien) drei Abschnitte gewidmet wurden. Das im
Exkurs Niedergelegte hätte in den vierten Teil integriert
werden können. - Gemessen an der Bedeutung der Publi-
kation insgesamt, fallen diese beispielhaft ausgewählten
Kritikpunkte nicht ins Gewicht.
Was hleibt, ist dies: Spindler und seinen Mitarbeitern ist
eine detaillierte Dokumentation der Fundumstände, der
Befunde und der Funde, die »der Mann im Eis« mit sei-
ner Hebung und in den Folgejahren freigab, bestens
gelungen.
Axel Schulze-Thulin
Wirsing, Rolf;
Gesundheits- und Krankheitsverhalten und
seine kulturelle Einbettung in einer Klein-
stadt im Südosten der Türkei. Kölner Ethno-
logische Mitteilungen, Bd. II. Köln: Böhlau,
1992. 312 Seiten
Dieser Habilitationsschrift, eingereicht 1990 bei der Phi-
losophischen Fakultät der Universität Köln, ging eine
einjährige Feldforschung des Autors 1984/85 in der Tür-
kei vorher.
Das Buch macht einen ausgezeichneten Eindruck, wenn
man es in die Hand nimmt und durchblättert. Es ist über-
sichtlich gegliedert, in gut verständlicher Sprache
geschrieben, und die Thematik wird gründlich vorbereitet
und kommentiert. Zunächst werden Theorie und Metho-
den dargestellt (31 Seiten), dann wird ein Überblick gege-
ben über die kulturell geprägte Umwelt einschließlich
Geographie, Demographie, Soziologie, Politik, Wirt-
schaft und das kulturelle Wissen der Bevölkerung zum
Thema (56 Seiten). Das Gesundheitsverhalten wird auf
65 Seiten, das Krankheitsverhalten auf 56 Seiten behan-
delt. Eine Zusammenfassung (19 Seiten), 9 Appendizes
(65 Seiten) und eine Bibliographie (19 Seiten) beschlie-
ßen das Werk.
Bei näherer Betrachtung fällt dem Leser auf. daß von den
312 Seiten nicht mehr als 118 dem Thema »Gesundheits-
und Krankheitsverhalten« Vorbehalten sind und daß
davon ganze 53 Seiten dem »Krankheitsverhalten« ein-
geräumt werden, das nach Wirsings Definition nicht nur
das Verhalten der Kranken, sondern auch die Leistungen
medizinischer Einrichtungen und Personen, traditioneller
Heiler und Krankenversicherungen einschließen soll.
Bei der Lektüre des Buches stolpert der Leser gleich ein-
gangs über diese Definition des Krankheitsverhaltens
(Seite 14 f.). Sie enthält grammatikalische Fehler, ist in
sich widersprüchlich, steht in Widerspruch zu Ausführun-
gen des Autors in anderen Veröffentlichungen, läßt vorlie-
gende medizinsoziologische und epidemiologische Arbei-
ten zum Thema unberücksichtigt und stimmt insgesamt
mit den Gegebenheiten, die begrifflich definiert werden
sollen, nicht überein. Mit der Problematik vertraute Medi-
zinsoziologen und Epidemiologen dürften mit dieser Defi-
nition nichts anfangen können. Die für die Habilitation
und die »Kölner Ethnologischen Mitteilungen« verant-
wortlichen Ethnologen nahmen daran keinen Anstoß.
Wirsings Definition des Krankheitsverhaltens »trennt die
bei einer Person beobachteten Reaktionen auf sein(!)
Kranksein von der seinem!!) Verhalten zugrundeliegen-
den Perzeption und Bewertung ab. Sie definiert Krank-
heitsverhalten als das Verhalten einer sich gesundheitlich
beeinträchtigt fühlenden Person, die sich um die Wieder-
herstellung ihrer Gesundheit bemüht. Krankheitsverhal-
ten ist dabei ein Prozeß, der die Mobilisierung besonde-
rer Verhaltensweisen zur Folge hat, ungeachtet, ob diese
Verhaltensweisen ihr beabsichtigtes Ziel der Wiederher-
stellung der Gesundheit erreichen, den Krankheitszu-
283
TRIBUS 43, 1994
stand verlängern oder zum Tode führen. Krankheitsver-
halten muß auch das Verhalten der besorgten bzw. um
Unterstützung angegangenen Angehörigen des jeweili-
gen Kranken und das der Menschen und Einrichtungen
berücksichtigen, die sich berufsmäßig mit der Diagnose
und Therapie von Krankheit befassen« (Seite 14 f.).
Wirsing hatte sich 1981 (in: Anthropos 76, 758) noch auf
David Mechanics Bestimmung des Krankheitsverhaltens
bezogen, »die Art und Weise, wie eine Person Schmerzen
und Krankheitssymptome wahrnimmt, bewertet und
drauf reagiert« (in: Social Psychiatry 1, 1966). In der
deutschsprachigen Sozial- und Präventivmedizin wird
das Krankheitsverhalten als Verhalten von Personen
medizinischen Institutionen gegenüber unter den Begriff
des Gesundheitsverhaltens gestellt, was deren führender
Vertreter Manfred Pflanz wie folgt begründet: »Der
Begriff des Gesundheitsverhaltens ist vorzuziehen, da er
den ganzen Komplex von Motiven, Entscheidungen und
Aktionen umfaßt, die auf Gesundheit und Krankheit
bezogen sind« (in: Mensch und Medizin 6, 1965, 173).
Pflanz weist auf die Untersuchungen nordamerikanischer
medizinischer Soziologen zum Thema hin und führt 10
Konzepte an, die »dazu beitragen sollen, das Gebiet des
Gesundheitsverhaltens methodisch zu erfassen«. Wirsing
geht auf die von Pflanz erörterten Konzepte nicht ein und
zieht keine der genannten Untersuchungen heran.
Wirsings Definition des Krankheitsverhaltens wider-
spricht den Erläuterungen, die er vorausschickt. Eine Per-
son, die »sich gesundheitlich beeinträchtigt fühlt«, kann
dies nur, indem sie diese Beeinträchtigung an sich selbst
wahrniramt. Diese Wahrnehmung konstituiert z. T., was
wir Personalität nennen. »Weder Kultur beziehungsweise
soziale Umwelt noch Krankheit existieren als in sich
geschlossene Größen, die unmittelbar aufeinander wirken
können, sondern sie werden beide erst durch das Vorhan-
densein von Personen ermöglicht«, hatte Pflanz 1969
gesagt (in: Der Kranke in der modernen Gesellschaft.
Neue wissenschaftliche Bibliothek 22, Soziologie, Köln
1969, 371). Eine Person, die sich gesundheitlich beein-
trächtigt fühlt, muß nicht krank sein. Eine Person aber,
der die Perzeption abgetrennt wurde, kann keine Person
mehr sein.
Das Krankheitsverhalten wird von Wirsing auf ein beab-
sichtigtes Verhalten reduziert, dessen Ziel die Wiederher-
stellung der Gesundheit ist. Zur Definition des Krank-
heitsverhaltens im Sinne Wirsings gehört, daß der Kranke
sich um die Wiederherstellung seiner Gesundheit
bemüht. Ein solches Bemühen setzt in jedem Fall ein
Wollen und Wünschen voraus. Es entspricht dem, was
Soziologen wie Park und Burgess mit dem psychologi-
schen Terminus »Einstellung« (attitude) bezeichnen, ein
Begriff, von dem Wirsing zwei Jahre zuvor erklärt hatte,
daß er in der Ethnologie keinen Platz habe. Daß die Ein-
stellung auf Wiedererlangung der Gesundheit das Verhal-
ten von Kranken nicht notwendig motivieren muß, ist
eine andere Frage.
Die Untersuchung zeigt, daß der Autor die Abtrennung
der Perzeption und die Reduktion des Patientenverhaltens
auf das Bemühen um Wiederherstellung vornehmen muß,
um therapeutische, pflegerische und behördliche Maß-
nahmen und Dienste in den Begriff des Kranheitsverhal-
tens einbeziehen zu können. Wiederholte Aussagen wie
»Jedes Krankheitsverhallen ist per definitionem beab-
sichtigt, es hat die Wiederherstellung der Gesundheit zum
Ziel« bestätigen diese Annahme (Seite 17 f., 224). Nun
sind »Kranksein« (illness) und »Therapie« keine identi-
schen Begriffe. Sie lassen sich unter einen gemeinsamen
Begriff nur bringen, wenn die Begriffsinhalte beider
gewahrt bleiben. Wirsing verstößt gegen diese Regel,
indem er das Patientenverhalten demontiert und die ärzt-
liche und pflegerische Versorgung als Krankheitsverhal-
ten abqualifiziert. Krankheitsverhalten wird hier nicht
begrifflich definiert, sondern im Hinblick auf Operatio-
nalisierbarkeit konzeptionalisiert.
Der Teil II der Arbeit gibt einen kurzen länderkundlich-
deraographischen Bericht über die Kleinstadt Feke und
ihre Bewohner. Von Interesse für uns sind die Abschnitte
über den Gesundheitszustand und die traditionellen
Krankheitskonzepte. Bei der Lektüre finden wir, daß der
Text zum großen Teil auf schriftlichen Quellen fußt, Ver-
öffentlichungen, Statistiken und anderen Berichten, und
auf Fragebögen, mit deren Hilfe Krankenschwestern
Befragungen Vornahmen (was in Kadirli scheiterte, wes-
halb die Untersuchung dort mißlang). Als Ergebnis spe-
zifisch ethnologischer Feldforschung können nur die 35
Seiten über traditionelle Krankheitstheorien, Heiler und
Selbstbehandlung gelten, doch wurden auch diese Texte
zum Teil aus schriftlichen Quellen übernommen. Die
Aussagen sind durchweg allgemein gehalten, ohne Nen-
nung der Gewährsleute und ohne Datum. Immerhin
erfährt der Leser, daß mit einem Außenseiter wie Wirsing
über Namen, Aufenthalt und Dienste traditioneller Heiler
nicht gern gesprochen wurde und daß der Autor über die
Identität anderer Heiler nichts erfahren konnte (Seite 172,
174). Daß in dem Ort Heiler lebten, von denen er etwas
hätte lernen können, gibt der Text zu erkennen (p. e. Her-
balistin, Seite 173). Wirsings Verhaltensbegriff macht es
nicht erforderlich, die traditionellen Krankheitskonzepte,
das Befinden und Verhalten der Kranken und die Thera-
pie der Heilkundigen religions- und medizinethnologisch
zureichend aufzunehmen und zu untersuchen.
Die Beurteilung des Gesundheitszustandes stützt sich in
der Hauptsache auf die Antworten von Hausfrauen aus 38
Haushalten in Feke, die zwei Krankenschwestern anhand
ausgearbeiteter Fragebögen erhielten und aufzeichneten.
Diese Antworten werden ergänzt durch Diagnosen aus
dem Gesundheitszentrum. Wirsing wählte nicht Haus-
halte aus, die nach Art und Größe die Gesamtheit der
Haushalte am treffendsten repräsentierten, sondern ging
numerisch vor und ließ aus der Liste der 748 Haushalte
jeden 19. befragen. Bei Durchsicht der 70 Fragen fällt
auf. daß sie in der Mehrzahl suggestiv gestellt sind und
daß die Frauen nur mit ja oder nein antworten konnten.
Daß 72 % der Befragten mit 3 bis 10 Krankheitssympto-
men behaftet waren und 68 % sich nicht für gesund hiel-
ten, läßt den Leser stutzen. Er fragt sich, ob die Haus-
frauen nicht meinten, bestätigende Angaben machen zu
müssen? Der Epidemiologe dürfte mit den Ergebnissen
solcher Meinungsumfragen wenig anfangen können.
Auch ein völkerkundlicher Feldforscher kann nicht
erwarten, wahrheitsgetreu Auskunft zu erhalten, wenn er
Suggestivfragen stellt, etwa »Die bösen Geister verursa-
chen beim Menschen epileptische Anfälle, verschobene
Kiefer und ähnliche Krankheiten?« (Seite 260). Der
»Feldforscher« weiß schon im vorhinein, welche Ant-
wort er erhalten will, und die Befragte kann entweder die
Frage verneinen und unbedeutend bleiben oder ihm sein
Wissen bestätigen.
284
Buchbesprechungen Afrika
Die Ausführungen im Abschnitt über traditionelle Krank-
heitstheorien einschließlich der »Krankheitsbegriffe«
sind der Literatur oder anderen schriftlichen Quellen ent-
nommen oder berufen sich auf Informanten, über die
keine näheren Angaben gemacht werden. Die traditionel-
len Krankheitskonzepte, die das Herzstück einer Studie
wie dieser sein sollten, werden nur unvollständig unter
dem Titel einer »Domäne der Krankheitsbegriffe«, die in
Feke »häufig zitiert werden und teils aus einer traditio-
nellen und teils aus einer modernen lexikographischen
Domäne stammen« und »nicht systematisch erhoben
wurden«. Als Quelle wird gegeben »Gespräche mit Infor-
manten und Ärzten 1985«. Die Liste gibt in der ersten
Spalte keine Krankheitsbegriffe, sondern türkische
Krankheitsnamen, ohne sie wörtlich zu übersetzen. Die
folgenden deutschsprachigen Erklärungen dieser Namen
beziehen sich zum großen Teil auf Krankheitsbilder,
nosographische Einheiten, wie Durchfall, Verstopfung,
Abszeß, Kropf, einige andere auf den pathologischen
Befund, den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Krankheitsbegriff, wie Polio, Tuberkulose, Pneumonie,
Lipom, einige wenige auf die Befindlichkeit des Kran-
ken, Geisterbefall, Alpträume, Nervosität. Eine Beschrei-
bung der Krankheitszustände, wie die Bevölkerung sie
überliefert, wird nicht gegeben. Die Angabe »lexikogra-
phische Domäne« scheint auf den Gebrauch von Wörter-
büchern hinzudeuten. Der Leser fragt sich: Wie soll ein
Kranker, dem die Perzeption abgesprochen wird, unter
Halluzinationen, Alpdrücken, Zahnschmerzen und Nie-
renkoliken leiden können? Wie will ein Feldforscher das
Krankheitsverhalten von Menschen untersuchen können,
wenn ihm deren Krankheiten und Krankheitszustände
ungenügend bekannt sind? Daß von vermuteten »ethno-
medizinischen Systemen heute nur noch Systemtrümmer
vorhanden sind«, ist eine vom Autor behauptete, aber
nicht überprüfte Hypothese.
Es mögen hier drei Beispiele der von Wirsing aufgeliste-
ten »Krankheitsbegriffe« folgen. Die Buchstaben und
Ziffern hinter den Namen verweisen auf andere Kapitel
und sollen anzeigen, ob der Arzt die Bezeichnung kennt
und wer die Behandlung vornimmt.
Cocuk felci Polio c 2,7;
c = Begriff ist dem Arzt bekannt und wird auch unter Kol-
legen verwandt;
2 = Behandlung durch einen hoca (Kapitel 15);
7 = Behandlung durch den Arzt (Kapitel 14). Der Bezug
des türkischen Krankheitsnamens zum pathologischen
Begriff Polio bleibt dunkel. In den Kapiteln 14 und 15 fin-
den sich keine Angaben über die Behandlung.
Ince agri Tuberkulose a 7:
a = Begriff ist dem Arzt unbekannt und wird nicht im
Gespräch mit Patienten verwandt;
7 = Behandlung durch den Arzt (Kapitel 14). Es kann nur
gemeint sein, daß nicht der Begriff, sondern der Krank-
heitsname ince agri dem Arzt unbekannt ist. Was der
Name bedeutet, wird nicht gesagt. Im Kapitel 14 wird all-
gemein über Dienstleistungen im Tuberkulosezentrum
von Kadirli berichtet. Im Kapitel 17 (Seite 206) wird
Selbstbehandlung bei Tuberkulose erwähnt.
Kurt Parasitosis b 1:
b = Begriff ist dem Arzt bekannt und wird im Gespräch
mit Patienten, aber nicht mit Kollegen verwandt;
I = Selbstbehandlung zu Hause (Kapitel 15). Parasitosis
ist kein Krankheitsbegriff und kann sich auf alle Arten
von Parasitenbefall beziehen. Im Kapitel 15 wird nur über
traditionelle Heiler berichtet. Im Kapitel 17, traditionelle
Selbstbehandlung, rindet sich kein Hinweis, ausgenom-
men die Behandlung bei Tuberkulose.
Es ist ein erheblicher Mangel dieser fleißigen Arbeit, daß
Zusammengehöriges auseinandergerissen wird. Die Glie-
derung des Buches, die auf den ersten Blick so beste-
chend wirkt, erweist sich als Hindernis bei der Lektüre.
Das Fehlen eines Registers setzt die Brauchbarkeit der
Arbeit weiter herab.
Den umfangreichsten Teil des Buches bilden die Kapitel
über das Gesundheitsverhalten, den schwächsten die über
das Krankheitsverhalten. Was Wirsing unter dem Titel
»Gesundheitsverhalten« darstellt, entspricht fast aus-
nahmslos dem, womit sich die seit über 100 Jahren beste-
hende medizinische Wissenschaft der Hygiene, später
auch der Tropenhygiene, befaßt.1 Die Behauptung, seine
Arbeit sei (soweit ihm bekannt) die erste ihrer Art, ist
zurückzuweisen (Seite 14). Es ist anzunehmen, daß die-
ses Fach seit langem an türkischen Universitäten gelehrt
wird und daß Veröffentlichungen in türkischer Sprache
darüber vorliegen. Hinweise darauf finden sich in Wir-
sings Texten nicht.
Der eigentliche ethnologische Gehalt dieser Habilitati-
onsschrift ist gering. Ob sie Epidemiologen. Hygienikern
und Medizinsoziologen von Nutzen sein kann, erscheint
zweifelhaft. Ob die türkischen Behörden und die
Angehörigen der Heil- und Pflegeberufe des Landes mit
einer Übersetzung dieser demographisch-hygienischen
Bestandsaufnahme etwas anfangen könnten, mag des-
gleichen bezweifelt werden.
Joachim Sterly
Blanc, Ulrike:
Lieder in Erzählungen der Bulsa. Eine musik-
ethnologische Untersuchung. Forschungen
zu Sprachen und Kulturen Afrikas, Bd. 3.
Münster/Hamburg: Lit, 1993, 157 Seiten.
Auch wenn man heute sicher nicht mehr von völlig
weißen Flecken auf unserer musikalischen Landkarte
Schwarzafrikas sprechen wird, so bleibt doch festzuhal-
ten, daß dort nach wie vor einige Musikkulturen von der
ethnomusikologischen Forschung bisher eher stiefmüt-
terlich behandelt worden sind. Es ist also durchaus zu
begrüßen, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Augen-
merk einer ethnischen Gruppe gilt, die in der Literatur bis
dato kaum Beachtung gefunden hat.
Gegenstand der Untersuchung sind hier in Erzählungen
eingestreute Lieder der im Norden Ghanas lebenden
Bulsa. Diese Art von »story songs« sind uns ja auch aus
anderen Regionen Afrikas bekannt. Neben einer Inhalts-
angabe der Erzählungen mit zusätzlichen ethnographi-
schen Informationen werden die Liedtexte im Original
(Buli) und deutscher Übersetzung wiedergegeben und die
1 Seit 1829 wurden in Paris die »Annales d’hygiène publique et
de médecine légale« veröffentlicht. In Deutschland waren die
ersten Lehrstühle für Hygiene 1865 an bayerischen Universitäten
errichtet worden (Pettenkoffer und Ziemssen, Handbuch der
Hygiene und der Gewerbekrankheiten. 3 Teile, 3. Auflage, Leip-
zig 1882)
285
TRIBUS 43, 1994
Lieder auf der Basis von Transkriptionen in musikali-
scher Hinsicht analysiert.
Die Arbeit Blancs ist zwar aus dem Seminar für Völker-
kunde der Universität Münster hervorgegangen, wo
bereits seit 1986 eine eigene Arbeitsstelle für afrikanische
Erzählforschung existiert, sie erhebt jedoch - wie der
Untertitel zeigt - den Anspruch, »eine musikethnologi-
sche Untersuchung« des Materials zu liefern, das von
Rüdiger Schott und seinen Mitarbeitern im Rahmen meh-
rerer Feldforschungen gesammelt wurde. Damit sind wir
auch gleich bei einem Problem, das die Autorin selbst in
einem Abschnitt zur Quellenlage (S. 7 ff.) thematisiert. Sie
stützt sich nämlich nicht auf eigene Anschauung vor Ort,
sondern ausschließlich auf Cassettenaufnahmen, die
»nicht systematisch nach musikalischen Gesichtspunkten
gesammelt wurden« (S. 8). So lobenswert die Auswertung
solcher Archivbestände zweifellos ist, sollte sie doch,
wenn irgend möglich, durch eigenes Vergleichsmaterial
abgesichert werden. So wäre es sicher möglich gewesen,
die Fragen weiterzuverfolgen, die auch nach Auffassung
Blancs eine Anwesenheit vor Ort erfordert hätten (S. 8).
Selbst wenn man diese Tendenz als übertrieben kritisieren
mag, so sind doch bereits für ethnomusikologische Magi-
sterarbeiten eigene Feldforschungen mittlerweile gang
und gäbe.
Darüber hinaus ist leider auf gewisse terminologische
Schwächen der Arbeit hinzuweisen, die sich in der Ana-
lyse fortsetzen. So hält Blanc den Begriff »Motiv« für
ersetzbar durch »Periode« (S. 16), als »Motivtypen« ste-
hen ohne weitere Erklärung »Rezitation«, »Ambitus und
Duktus« (sic!) und »Tonrepetition« nebeneinander (S. 17
und 142). Die Definition des abendländischen »Takt«-
Begriffs als »Rhythmus in genauem Zeitmaß« (S. 17)
dürfte so für Musikhistoriker kaum akzeptabel sein.
Entscheidend ist aber wohl die Beurteilung von Blancs
Trankriptionen »als Basis für die Strukturanalyse«
(S. 19). Zurecht bemerkt die Autorin, daß sie eine Vor-
aussetzung für eine detaillierte musikwissenschaftliche
Untersuchung darstellen, sie weist allerdings selbst dar-
auf hin, daß es ihr nicht möglich war, »die genaue Ton-
höhe, Intervallabstände und weitere klangliche Details zu
erfassen« (S. 19). Um die Lieder besser miteinander ver-
gleichen zu können, hat sie »die vorzeichenlose Tonart C-
Dur verwendet« (S. 22). Betrachtet man jedoch die Trans-
kriptionen, so findet man zahlreiche Vorzeichen, die
zudem sofort die Frage nach dem zugrundeliegenden
Tonsystem aufwerfen, die jedoch nicht behandelt wird.
Auch hinsichtlich der temporalen Organisation bleibt
manches offen. Das für die Erforschung afrikanischer
Musikkulturen so zentrale Konzept der Pulse als kleinste
zeitliche Einheiten (Elementarpulsation) wird von Blanc
bloß erwähnt (S. 79), jedoch nicht auf das Material ange-
wandt. Inwieweit der zyklische Charakter der Stücke
durch eine Formzahl ausgedrückt werden könnte, bleibt
ebenso offen wie eine Erklärung für die teilweise wech-
selnden Phrasenlängen von Zeilen bzw. Strophen (z. B.
S. 89).
Wenn die Arbeit Blancs sich also vom musikwissen-
schaftlichen Standpunkt aus einige Kritik gefallen lassen
muß, so bleibt doch das eingangs erwähnte Verdienst, uns
auf ein sehr interessantes Repertoire aufmerksam
gemacht zu haben, das eine weitere Bearbeitung verdient,
wie die Autorin selbst an mehreren Stellen ihrer Arbeit
bemerkt. Für eine derartige weitergehende Studie wäre
jedoch - was die musikwissenschaftliche Analyse des
Materials betrifft - eine Kooperation mit Ethnomusikolo-
gen anzuraten.
Gerd Grupe
Braukämper, Ulrich/Schlottner, Michael
(Hrsg.):
Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im
Naturraum Westafrikanische Savanne, Bd. 3.
Berichte des Sonderforschungsbereichs 268.
Frankfurt a. M.: Johann Wolfgang Goethe-
Universität, 1993. 81 Seiten.
Die Beiträge zu diesem Bändchen gehen auf Vorträge
zurück, mit denen der Frankfurter Sonderforschungsbe-
reich 268 in einem Symposium anläßlich der Tagung der
Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in München
1991 vorgestellt wurde. Die Publikation hat daher weit-
gehend programmatischen Charakter, d. h. die meisten
Aufsätze bringen einen aktuellen Bericht über die For-
schung als Ergebnisse. Hinter dem »Naturraum westafri-
kanische Savanne«, der im Titel des SFB den geographi-
schen Rahmen der Untersuchung bildet, verbergen sich
konkret zwei Ausschnitte aus diesem Raum: das Voltage-
biet und Nordostnigeria. Nach »Einleitende(n) Bemer-
kungen zum Programm des Sonderforschungsbereichs«
von E. Haberland beschäftigen sich vier Beiträge mit dem
ersten, drei mit dem zweiten Gebiet. Während der SFB
interdisziplinär angelegt ist und die Sprachwissenschaft
darin einen Schwerpunkt bildet, sind die Autoren des vor-
liegenden Büchleins - mit einer Ausnahme - Ethnologen.
In zwei Beiträgen, von H. Schneider (Burkina Faso) und
J. Adelberger (Nordostnigeria), sind parallele Untersu-
chungen von Linguisten mit einbezogen. Teilweise steckt
die interdisziplinäre Zusammenarbeit wohl noch in den
Anfängen; so würde man sich wünschen, daß Ethnologen
dem Geographen W. Fricke für den Aufsatz »Wandlungen
der Agrar- und Siedlungsstruktur bei den Tula Baule
(Bauchi State, Nordost-Nigeria) seit dem zweiten Welt-
krieg« einige Hinweise auf agrarethnologisch relevante
Literatur gegeben hätten, die über Gunn (1953, 1956) und
Netting (1968) hinausgeht. Hier ist auch eine Bemerkung
notwendig, die die Zusammenarbeit innerhalb des Faches
betrifft: Es verwundert, daß der Name von Annemarie
Fiedermutz, die die Forschungsmöglichkeiten des SFB in
Burkina Faso durch jahrelange Kontakte dorthin und wie-
derholte Aufenthalte und Forschungen in enger Zusam-
menarbeit mit dem Frobenius-Institut vorbereitet hat, nir-
gends genannt wird.
Als übergreifendes Thema des SFB werden Naturraum
und kulturelle Entwicklung in ihrer Beziehung zueinander
herausgestellt. Die Zusammenarbeit von Ethnologie und
Linguistik erfolgt vor allem im Hinblick auf kulturhistori-
sche Fragestellungen. Einen Schwerpunkt des SFB bilden
auch Untersuchungen der materiellen Kulturausstattung,
im vorliegenden Band vertreten durch M. Schottner
»Materielle Kultur und Rekonstruktion der Vergangenheit
am Beispiel von Musikinstrumenten in Nordost-Ghana«
und H. P. Hahn »Verhüttung und Schmiede in Nord-Togo«.
Schlottner und auch Schneider empfinden offenbar eine
Notwendigkeit, die schwerpunktmäßige Beschäftigung
mit »materieller Kultur« zu verteidigen; sie erklären (bes.
286
Buchbesprechungen Afrika
Schlottner) ausführlich, daß und wie sich ihre Arbeit von
Methoden und Zielen vergangener kulturhistorischer
Schulen unterscheidet. Am eindeutigsten unter dem
Thema »Naturraum und Kulturentwicklung« steht der
Aufsatz von U. Braukämper »Umweltanpassung ara-
bisch-sprachiger Rindernomaden (Shuwa) im nigeriani-
schen Tschadsee-Gebiet«. Dieser vorläufige Bericht läßt
die Untersuchung einer bisher wenig bekannten Sonder-
form von Rinderhirtenwirtschaft erwarten. In seinen
historischen Rekonstruktionen knüpft Braukämper an
seine frühere Arbeit zur Entwicklung der Rinderzucht bei
Sudan-Arabern (Baggara) an.
In den genannten Rahmen, Naturraum und Kultur, ist
auch ein Aufsatz von U. Ritz-Müller eingepaßt, der sich
vorwiegend mit religiösen Vorstellungen befaßt: »Gesell-
schaft und Umwelt; zum Naturkonzept der Kademba in
Burkina Faso«. Dieser Beitrag hat nicht den Vorschau-
Charakter der anderen, sondern den einer eigenständigen
interpretierenden Untersuchung. Besonders beachtens-
wert finde ich darin die Vorstellungen über die Herkunft
der Kinder, die einige - vielleicht nicht beantwortbare -
Fragen offenlassen, sowie über den Wasserhaushalt, der.
wie häufig in Westafrika belegt, von einer Schlange kon-
trolliert wird. Das Knüpfen von Bindungen zwischen
Menschen und Natur- bzw. Geistmächten zieht sich als
treffendes Interpretationsmodell durch den Artikel:
»Natur wird zur gesellschaftlichen Kategorien.. «(27).
Barbara Frank
Bureau, Jacques, en collaboration avec
Eshetou Wonbera:
Le Verdict du Serpent. Mythes, Contes et
Récits des Gamo d’Ethiopie. (Bulletin de la
Maison des Etudes Etiopiennes, No. 4).
Paris, Addis-Abeba: Centre des Recherches
Africaines/Maison des Etudes Etiopiennes,
1994. 246 Seiten mit 3 Karten.
Das Buch stellt eine kurze Anthologie der oralen Litera-
tur der Gamo im südwestlichen Äthiopien dar, die Jac-
ques Bureau mit Hilfe der langjährigen Mitarbeit von
Eshetou Wonbera, seinem kenntnisreichen Führer und
Dolmetscher, erstellt hat.
Unentbehrlich für das unmittelbare Verständnis der
Texte, aber auch bestimmter darin behandelter Themen,
ist die kurze, informative Einleitung. Sie gibt einen
Überblick über die Kultur und Geschichte der Gamo
sowie den Stellenwert ihrer Literatur innerhalb der äthio-
pischen. Behandelt werden »die >Fürstentümer< (im Ori-
ginal »principautés«, K.G.) der Gamo«, »die kulturelle
Einheit der Gamo«, »der Platz der Gamo innerhalb Äthio-
piens« sowie die »orale und schriftliche Literatur«. Der
Autor nimmt dabei auf relevante Texte der Sammlung
Bezug und vermeidet dadurch das Überhandnehmen von
Fußnoten und bibliographischen Hinweisen in den Erzäh-
lungen. Weniger verschachtelte Sätze könnten das Lesen
jedoch wesentlich angenehmer gestalten.
Die Geschichten der Gamo werden - auch durch Heran-
ziehen von Versionen anderer äthiopischer Bevölke-
rungsgruppen - in den Rahmen der nationalen Kultur
gestellt, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede her-
ausgearbeitet werden.
Den Stellenwert von schriftlichen und mündlichen Tra-
ditionen beschreibt Bureau als Dominanz der ersteren.
Wünschenswert wäre es, wenn sich diese Vorherrschaft
nicht auch durch überproportionale Gewichtung in den
Ausführungen widerspiegeln, sondern der oralen Litera-
tur etwas mehr Beachtung geschenkt würde. Die Gamo
sehen dem Autor zufolge die Schrift als Instrument der
Kultur und der nationalen Macht des alten wie des
modernen Äthiopiens. Sie empfinden es als Manko,
keine Schrift zu besitzen, und wollen Zugang dazu
haben. Ihre oralen Traditionen wie auch die zahlreicher
anderer äthiopischer Völker stießen nie auf dasselbe
Interesse wie diejenigen im restlichen Afrika. Selbst
Bücher, die der Gesamtheit der Literatur Äthiopiens
gewidmet sind, berücksichtigen im allgemeinen nur die
schriftliche Literatur. Diese war auf ge’ez oder amha-
risch, bis auf wenige Ausnahmen zunächst religiös und
elitär auf den Klerus beschränkt und den Traditionen des
Volkes mißtrauisch gegenüber. Ihre Intention der Beleh-
rung übernahm die weltliche Literatur, die sich seit
einem Jahrhundert herauszubilden begann. Die oralen
Traditionen blieben verkannt und verleugnet, doch
zugleich der Zufluchtsort für Humor, für Absurdes, für
Wunder, Falschheit und Revolte.
Die Einführung schließt mit den Worten: »Jetzt kommt
das Urteil der Schlange, die entscheiden wird über richtig
und falsch, über Wahrheit und Lüge« (S.21, Übers.
K. G.). Diese Überleitung kann exemplarisch die gelun-
gene Verbindung zwischen den ethnologischen Erläute-
rungen und den Texten selbst verdeutlichen: Den Titel der
ersten Erzählung wie auch des Buches aufgreifend,
umreißt sie kurz den Inhalt dieser Geschichte und ver-
weist zudem auf die Bedeutung der mündlichen Traditio-
nen an sich.
Den Hauptteil des Buches bilden 44 Texte oraler Litera-
tur der Gamo - ein Viertel der von Bureau und Eshetou
zwischen 1973 und 1983 aufgenommenen Sammlung.
Besondere Hervorhebung verdient die Tatsache, daß im
ersten Teil die Texte in äthiopischen Schriftzeichen und
erst im zweiten Teil deren französische Übersetzungen
publiziert sind. Die gewählte Transkription in äthiopi-
schen und nicht lateinischen Schriftzeichen entspricht
den Gamo selbst, die heute tendenziell eher ihr Äthio-
piertum in Anspruch nehmen, auch und insbesondere
durch Gebrauch des äthiopischen Alphabets. Die Text-
sammlung umfaßt, wie vom Untertitel des Buches
bereits angekündigt, eine große Spannbreite - Mythen,
Märchen und Erzählungen. Verbote und die Folgen ihrer
Überschreitung sowie historische Verbindungen der
Gamo bilden die großen Themenkomplexe. Die ausge-
wählten oralen Traditionen vermitteln einen Einblick in
das Denk- und Wertesystem der Kultur und die
geschichtlichen Entwicklungen der Region. Auf zentrale
Inhalte und Aussagen ist der Leser bereits durch die Ein-
führung eingestimmt, so daß nur wenige Konzepte oder
Metaphern besonderer Erklärungen bedürfen, welche als
Anmerkungen unmittelbar dem jeweiligen Text folgen.
Ferner zeugen die Geschichten von einer manchmal
ungezügelten Phantasie.
Ein Glossar, ein thematischer Index, eine Liste der
Erzähler mit Angaben zu deren Geschlecht, Herkunftsort
und Tätigkeit, ein Index der Herkunftsgegenden der
Texte sowie eine auf die Einleitung bezogene Auswahlbi-
bliographie vervollständigen das Buch.
287
TRIBUS 43, 1994
Fachwissenschaftlichen Wert erwirbt sich das Buch
durch die Niederschrift oraler Traditionen einer Kultur,
die keine Schrift hatte. Weiterhin zeichnet es sich durch
die Transkription der Texte in äthiopischen Schriftzei-
chen aus, die - anders als in vielen anderen Sammlungen
mündlicher Literatur - nicht nur im Anhang als Quellen-
material fungiert, sondern vielmehr dem Kapitel der fran-
zösischen Übersetzungen vorangestellt ist. Das Verdienst
des Werkes für die Gamo liegt darin, daß auch ihrer
mündlichen Literatur durch deren Aufzeichnung und
Hinterlegung der Originale der Niederschriften im Insti-
tut für äthiopische Studien in Addis-Abeba Bedeutung
zugesprochen und ihre Kultur dadurch aufgewertet
wurde. Durch seinen Inhalt und seine Vorgehensweise -
Erzählungen fremder Kulturen, denen ethnologische
Erläuterungen vorausgehen - ist dem Werk breitere
Öffentlichkeit zu wünschen.
Karin Guggeis
Röschenthaler, Ute:
Die Kunst der Frauen: zur Komplementarität
von Nacktheit und Maskierung bei den Ejag-
ham im Südwesten Kameruns. Berlin: Verlag
für Wissenschaft und Bildung. 1993. 287
Seiten, 43 Abbildungen und ein Schema im
Text, 29 Abbildungen auf Tafeln, 1 Tabelle
und 2 Karten
Die Autorin weilte 1987 und 1988 neun Monate bei den
Ejagham im Cross-River-Gebiet beiderseits der Grenze
Nigeria-Kamerun und besuchte die Unterethnien Obang,
Keaka/Ngunaya, Ekwe/Njemaya und Qua. Das dabei
gesammelte reiche Faktenmaterial wird außerdem
ergänzt durch die Auswertung umfangreicher Literatur,
von Materialien der Archive der Basler Mission und der
Staatsarchive in Yaounde und Buea sowie von Völker-
kundemuseen in Berlin, Leipzig, London und Oxford.
Erarbeitet wurde kein herkömmliches Buch über Kunst,
auch kein tendenziell feministisches, denn nach einem
sehr konstruierten Einleitungsbeginn zum Thema Frau
und Kunst in Afrika und zur Zuordnung von abstraktem,
geometrischem und figürlichem Stil zur Frauen- bzw.
Männerwelt wird alles relativiert und thematisch konkret,
indem mit der Kunst der Ejagham-Frauen gezeigt wird,
»auf welche vielschichtige Weise die Bereiche der Frauen
und Männer und ihre Kunst miteinander verwoben sind«
(S. 12) und daß es sinnvoller erscheint, »die Kunst von
Männern und Frauen stärker in ihren Kontext einzubezie-
hen und auch mit anderen Bereichen zu kontrastieren«
(S.257). Die Autorin legt eine kunstsoziologisch und
kunstethnologisch orientierte Arbeit vor, deren großer
Wert sicherlich auch in ihrer Zeitbezogenheit und damit
historischen Aussagefähigkeit gerade für die 2. Hälfte der
80er Jahre liegt. Dazu ist die Untersuchung und Darle-
gung des Bundwesens der Ejagham unabdingbar gewe-
sen. Welche Dynamik in diesem bisher bei weitem noch
nicht gut erforschten Komplex besteht, wird durch die
Arbeit ersichtlich. Gleichzeitig wird aber auch erkennbar,
wie dieses Gebiet theoretisch innerhalb der Ethnologie
vernachlässigt wurde, da die Autorin völlig berechtigt
den veralteten Begriffsapparat teilweise beiseite legt,
aber auch nur mit Übergangslösungen wie beispielsweise
»kaufbare Bünde« (S. 14) Abhilfe schaffen kann.
Das Bundwesen wird sicherlich auch das Thema sein,
weswegen mancher die Arbeit zur Hand nehmen wird.
Sehr viele Museen besitzen Sammlungen im Zusammen-
hang mit diesem und in den wenigsten Fällen dazu aus-
führliche Angaben. Diese interessante Region bietet
heute noch eine Fülle von Problemen, so daß das Ergeb-
nis jeder Reise in dieses klimatisch auch sehr anstren-
gende Gebiet fast ungeduldig erwartet wird.
Zur Forschungspraxis schildert die Autorin selbst: »Es
bereitete den Ejagham, mit denen ich gesprochen habe,
manchmal Schwierigkeiten, den Zweck meines Aufent-
haltes bei ihnen zu verstehen: Unternahm ich diese müh-
same Reise nur, um zu erfahren, was ohnehin jeder wis-
sen kann? Ich würde sicher geheimes Wissen
herausfinden wollen, um es in Europa teuer zu verkau-
fen« (S. 9). Die Autorin respektiert diese Sorge der Ejag-
ham. Aber dem Rezensenten erscheinen manche Antwor-
ten von Informanten innerhalb dieses Rahmens eines
scheinbar ganz allgemeinen Wissens. Aber auch das kann
der Wandel in den letzten fünfzig und mehr Jahren
bewirkt haben.
Die Arbeit ist mit detaillierten Angaben in der Ejagham-
sprache (ohne Tonzeichen) und einem entsprechenden
Register versehen. Die Autorin bietet ebenso ausführli-
che und wichtige semantische Auslotungen der für die
Untersuchung wichtigen Begriffe Arbeit, Handwerk und
Kunst in verschiedenen Beziehungen.
Wenn der Rezensent bedauert, daß in der ein geschlosse-
nes Ganzes mit wertvollen Ergebnissen bildenden Arbeit
die Ästhetik der Kunst der Ejagham leider trotz reicher
Illustration nur wenig anklingt, so sei ihm der aus-
blickende Wunsch gestattet, daß die Autorin ihr sicher-
lich dazu zur Verfügung stehendes Material auch darbie-
ten, überhaupt, daß sie ihre Arbeit weiterhin diesen
Ethnien und dieser Region widmen möge.
Eine technische Bemerkung; Der umfangreiche Fußno-
tenapparat dient mit reichem Faktenmaterial mehr als
dem Quellennachweis. Leider ist es dabei zu fehlenden
Literaturangaben im Verzeichnis (Bouchaud, Hackett,
Murray) und einer divergierenden Zeitangabe (Ebot)
gekommen.
Peter Göbel
Tafla, Bairu:
Ethiopia and Austria. A History of their
Relations. Äthiopische Forschungen Band
35. Wiesbaden: Harrassowitz, 1994. 426 Sei-
ten.
Die Geschichte Äthiopiens in bezug auf seine
internationalen Beziehungen war bisher unvollständig
beschrieben worden, so auch insbesondere die Relation
zu Österreich. Bairu Tafla hat diese Lücke mit seinem
Werk geschlossen und ausführlich die Beziehungen zwi-
schen Äthiopien und Österreich von ihren Anfängen bis
zur Gegenwart dargelegt. Er behandelt alle Aspekte der
Verbindungen beider Länder von 1852 an, dem Jahr der
offiziellen Kontaktaufnahme, bis 1988, dem Redaktions-
schluß.
Seine Auswertungen stützen sich auf Quellenmaterial aus
offiziellen Archiven in Österreich und Deutschland sowie
288
Buchbesprechungen Amerika
auf private Sammlungen. Außerdem hat er Zeitzeugen
befragt und Reiseliteratur, Enzyklopädien, Lexika,
Monographien und Artikel in Zeitungen und Zeitschrif-
ten ausgewertet und damit, wie Ernst Hammerschmidt in
seinem Geleitwort ausdrückt, »zahlreiche bisher noch
unbekannte Tatsachen herausgefunden und neuentdeckte
Zusammenhänge aufgezeigt«.
Bairu Tafla beginnt nach der Einleitung mit einer sehr
genauen Beschreibung der diplomatischen Kontakte, die
er in drei Kapitel unterteilt;
- die Vorstufe der diplomatischen Beziehungen von 1852
bis 1904
- der Zeitraum von 1904 bis 1918
- die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis 1988.
In Kapitel fünf untersucht er die ökonomischen und kul-
turellen Beziehungen. Er geht dabei insbesondere auf die
große Bedeutung des Mariatheresientalers ein, der als
Währung in Äthiopien bis 1944 benutzt wurde. Es
schließt sich eine Unterteilung in einen wissenschaftli-
chen (Kapitel sechs) und einen nicht wissenschaftlichen
österreichischen Beitrag (Kapitel sieben) zu den äthiopi-
schen Studien an, wobei sich hier gewisse Überschnei-
dungen mit den vorherigen Kapiteln nicht vermeiden
ließen. Im letzten Kapitel (acht) werden die klerikalen
Kontakte beider Länder aufgezeigt.
Die entscheidenden Bestandteile der Geschichte interna-
tionaler Beziehungen sind die diplomatischen und ökono-
mischen, die immer eng miteinander verknüpft sind. Die-
sen hat sich Bairu Tafla im besonderen in den ersten vier
Kapiteln gewidmet. Die diplomatische Kontaktaufnahme
war von ökonomischen Motiven bestimmt. Somit unterlag
die Mission des Constantin Reitz den merkantilistischen
Interessen Österreich-Ungarns, um den britischen, fran-
zösischen sowie italienischen zuvorzukommen. Anfang
des 20. Jahrhunderts begann Österreich-Ungarn neben
diplomatischen Beziehungen auch Handelsstützpunkte
zu errichten. 1905 wurde in einem Handelsabkommen
mit Äthiopien freier Ex- und Import beschlossen. Auch
Äthiopien, das sich durch die Kolonialmächte Großbri-
tannien, Frankreich und Italien eingeschlossen fühlte,
versuchte als souveränes Land diplomatische Kontakte
zu anderen Ländern aufzubauen. Menelik II. bemühte
sich um Österreich-Ungarn, weil es keine kolonialen
Ansprüche auf Äthiopien erhob, im Gegensatz zu Italien.
Vorrangig war nur ein guter Wille von beiden Seiten fest-
zustellen. Man unternahm jedoch keine konkreten
Schritte, um diesen auch in die Tat umzusetzen. Trotzdem
wurden die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn
und Äthiopien langsam aufgebaut, immer jedoch durch
bürokratische Irrwege und durch das gegenseitige Miß-
trauen sowie die koloniale Interessenpolitik erschwert.
Erst 1912 richtete man das erste österreichisch-ungari-
sche Konsulat in Addis Ababa ein. Einzelne Pioniere, wie
z. B. Karl Schwimmer, der erste Honorarkonsul, spielten
dabei eine wichtige Rolle. Nach Kriegsausbruch 1914
wurde er nach Österreich zurückgerufen.
1923 wurde das Konsulat auf Betreiben von österreichi-
schen Geschäftsleuten, die sich in Äthiopien niedergelas-
sen hatten, wiederbelebt. Dr. Erich Weinzinger ernannte
man zum Honorarkonsul, und 1926 schloß man ein
Freundschafts- und Handelsabkommen. Durch den Zwei-
ten Weltkrieg w'aren die offiziellen diplomatischen
Beziehungen unterbrochen worden und wurden erst von
Haile Selassie wieder aufgenommen.
Das Buch von Bairu Tafla ist eine sehr gute und genaue
Schilderung über die Beziehungen zweier Länder aus
sehr unterschiedlichen Kulturkreisen. Es zeigt auf, daß
einzelne Reisende und Pioniere zum Aufbau der Bezie-
hungen beider Länder entscheidend beigetragen haben,
und es macht deutlich, daß die ökonomischen Interessen
vor den politischen die treibende Kraft in der Annäherung
war. Da Österreich keine kolonialen Ansprüche auf
Äthiopien hatte, war auch eine gegenseitige Ännäherung
möglich. Dieses Buch ist ein wertvoller Beitrag zu den
Forschungen über Äthiopien.
Renate Best
Baer, Gerhard / Hammacher, Susanne /
Seiler-Baldinger, Annemarie (Hg.);
Die Neue Welt 1492-1992 - Indianer zwi-
schen Unterdrückung und Widerstand.
Basel-Boston-Berlin; Birkhäuser, 1992. 155
Seiten, zahlreiche SW-Abbildungen, Zeich-
nungen, Karten
In einer Welt (auch der »indianischen«), in der selbst die
Wissenschaft vom Zeitgeist nicht verschont bleibt, ist es
recht schwierig, sich objektiv zu Ereignissen wie dem
Kolumbusjahr 1992 zu äußern. Wie viele andere Bereiche
der Geisteswissenschaften ist auch die Völkerkunde, hier
speziell die Amerikanistik, in der jüngeren Vergangenheit
nicht davon verschont geblieben. Unbewiesenes und
Halbwahrheiten, die auch durch ständiges Wiederholen
nicht wahr werden, zu übernehmen und weiterzutragen.
Das Museum für Völkerkunde in Basel hat 1992 mit sei-
ner Kolumbusausstellung und der vorliegenden »Begleit-
publikation« versucht, diese Klippen mit der Vorlage von
Fakten zu umschiffen - völlig gelungen ist das nicht.
Abgesehen von Generalisierungen, wie zum Beispiel der
Behauptung einer »vorwiegend sakralen Nutzung« von
Tabak und Kokain durch »Indianer« (zu ersterem sei bei-
spielsweise auf das tagtägliche Paffen der [historischen]
»Indianer« von allen möglichen Kräutern hingewiesen,
wenn der Tabak ausgegangen war; zu letzterem seien die
andinen Hochlandindianer als Beispiel angeführt), ist
doch die Bedeutung eines Rohstoffes abhängig von der
vollzogenen wirtschaftlichen Nutzung sowie der Stellung
der mit dem Rohstoff erzeugten Fertigprodukte innerhalb
der jeweiligen Gesellschaft. Beispiel Kautschuk: »Kau-
gummi« mag ja dem Zahnerhalte sowie ab und zu dem
Wohlergehen des Magens dienen, das Ballspiel mag in
bestimmten Regionen der indianischen Welt wichtige
gesellschaftliche Funktionen erfüllt haben, doch bedeu-
tungsvoll wurde dieser Rohstoff erst in der Industriege-
sellschaft, wohin er (und anderes) diese auch führen mag.
Zahlreiche andere »indianische« Rohstoffe ließen sich in
diesem Sinne weiterhin anführen.
Doch es gibt ja so viele von »Indianern« kultivierte Nutz-
pflanzen, die sie der Alten Welt gaben ... und aus Anlaß
eines Kolumbusjahres ist es sinnvoll, die daraus gewon-
nenen Erzeugnisse erneut vor- und aufzuführen. Dies hat
Basel in sehr anschaulicher und didaktisch vorbildlicher
Weise mit seiner Ausstellung getan.
Neben der Einleitung enthält das diese Ausstellung
begleitende Buch 16 Aufsätze. Es schließt mit einem
Bi Fd- und Quellennachweis sowie einem Autorenver-
289
TRIBUS 43, 1994
zeichnis. Eine Bibliographie wird der eine oder andere
Leser sicher schmerzlich vermissen, auch wenn die mei-
sten Autoren einige ihrer Quellen am Schluß ihres jewei-
ligen Textes erwähnen.
Den Herausgebern ist es gelungen, bekannte Namen für
ihr Vorhaben zu gewinnen. Doch von der Einleitung, den
ersten Beiträgen und einigen anderen abgesehen, hätten
die meisten der übrigen Artikel durchaus auch in jede
andere Publikation, zum Beispiel in eine Museumsjahres-
schrift, Eingang finden können. Nach den Antillen, »wo
die Invasion begann« (Baer), und den entsprechenden
Beständen in Basel (Haas) wird der Import der afrikani-
schen Sklaven nach Amerika behandelt (Gardi). Dem
Anliegen der Ausstellung auf den Leib geschneidert ist
der »Kulturimport« aus der Neuen in die Alte Welt (Sei-
ler-Baldinger). Es folgen Beiträge über den Aufstand der
Tzeltal Anfang des 18. Jahrhunderts (Dürr), über die
Tzotzil und ihre Sicht des Anderen (Köhler) sowie das
Triqui-Kulturzentrum in Mexiko (Hammacher). Mit dem
Ausstellungsthema besser konform gehen dann wieder
Gedanken zum Indianerbild früher Überseereisender
(Bitterli). Hieran schließen sich Artikel über die erste
katholische Missionierung im Amazonasgebiet (Cipol-
letti) und über Quechua-Textilien im Patakancha-Tal an
(Spinnler-Dürr). Der folgende Aufsatz über Beurteilun-
gen von Pflanzen der Ache in Ostparaguay (Münzel)
hätte Anlaß für das gesamte Ausstellungsprojekt sein
können, über die Relativität materieller Kulturwerte, hier
im indigenen Amerika, nachzudenken.
In den weiteren Beiträgen wird üöer die Anpassung, aber
auch die Selbstbehauptung bei den Guarani (Boglär),
übereine indianische Gemeinschaft in Paraguay (Wicker)
und über das Amazonasgebiet als Indianerland (Birraux-
Ziegler) berichtet. Für andere Museumsleute nachah-
menswert ist, daß auch ein Indianer in der Schrift zu Wort
kommt, seltsamerweise (oder bezeichnenderweise?!) ein
nordamerikanischer - für die Herausgeber scheint »Die
Neue Welt« ansonsten nur aus Meso- und Südamerika zu
bestehen. Es ist der Hopi-Künstler Michael Kabotie
(Lomawywesa), der drei seiner Gedichte (englischspra-
chig) vorlegt, die außerdem in deutscher Übersetzung
gedruckt wurden. Zum Schluß gibt Gerber mit seinen
Ausführungen zum Verhältnis von Museum und Indianer
Anstoß zum Nachdenken (er schreibt übrigens immer
noch »Reservat« statt »Reservation«), einen Anstoß, in
dem es letztlich - aufgezeigt wird ein negatives Beispiel
in Kanada und die positiv zu wertende US-Indianerge-
setzgebung der vergangenen Jahre - um Kooperation
zwischen Autochthonen und Museen oder aber Rückgabe
von Kulturgut (Restitution) an Eingeborenenmuseen
geht. Diese Entweder-Oder-Stellung verlangt noch ein
zusätzliches Wort:
Über den Sinn völkerkundlicher Museen ist schon oft
räsoniert worden. Was treibt überhaupt Europa (einge-
schlossen das nichtindigene Nordamerika) dazu, sich für
fremde Welten, fremde Völker zu interessieren? Grund-
lage dieses Verhaltens war, wie in zahllosen anderen
menschlichen Bereichen, vor allem die Aussicht auf wirt-
schaftlichen Gewinn. Wie erinnerlich, waren es insbeson-
dere exportorientierte Handelsgesellschaften, die Völker-
kundemuseen mit »Anschauungsmaterial« initiierten.
Selbstverständlich spielte auch bloße Neugier an fremden
Ländern eine Rolle. Ein Informationsvorsprung gegen-
über Konkurrenten und detailliertes Wissen über andere
290
Völker konnte damals wie heute im Überseehandel in
bare Münze umgewandelt werden. Das bekannte Wort
»Wer zu spät kommt... « hat eine lange Tradition. Nach
und nach folgte dann wissenschaftliches Verstehenwollen
des Anderen, was schließlich in den Wunsch der Wis-
sensweitergabe, des Lehrens über das Fremde mündete.
Hier fand das Völkerkundemuseum sein heutiges Ver-
ständnis. Nach jahrzehntelanger Entwicklung hilft es
gegenwärtig bei der Weckung von Einfühlungsvermögen
für fremde Menschen. Es hat sich von einem Instrument
zur Steigerung des Ex- und Imports zu einem Lehrmittel
der Völkerverständigung gewandelt. Auf diesem Weg
sollte es weitergehen. Dafür ist das Lehrmittel »völker-
kundliches Kulturgut« unerläßlich.
Axel Schulze-Thulin
Berlo, Janet Catherine (Ed.):
Art, Ideology, and the City of Teotihuacan: a
Symposium at Dumbarton Oaks 8th and 9th
October 1988.
Dumbarton Oaks Research Library and
Collection, Washington D.C. 1992, 442 Sei-
ten
Teotihuacan war zu seiner Blütezeit (um 500 n. Chr.) die
größte Stadt auf dem amerikanischen Kontinent. Schät-
zungen über ihre Einwohnerzahl bewegen sich zwischen
125000 und 200000, verteilt auf ungefähr 3 Quadratmei-
len (Evans und Berlo, Kap. 1; Millon, Kap. 13). Neben
den aus der unmittelbaren Umgebung stammenden
Bevölkerungsgruppen, deren Sprache möglicherweise
totonakisch oder eine frühe Form des Nahua gewesen ist
(Cowgill, Kap. 9), lebten auch Gruppen aus anderen Tei-
len des heutigen Mexiko, beispielsweise Zapoteken
(Spence, Kap.3), in Teotihuacan. Die Stadt war in ein
Handelsnetz eingebunden, das ganz Mesoamerika
umspannte und Teotihuacan mit Luxusgütern wie Mica,
Jade und Spondylusmuscheln versorgte (Sempowski,
Kap. 2). Die Beziehungen zu den großen Zentren im Tief-
land der Maya-Kultur (Tikal, Uaxactun und Yaxha)
erreichten im 4. und 5. Jahrhundert ihren Höhepunkt.
Eine Besonderheit der internen Struktur Teotihuacans ist
es, daß die wichtigste Gottheit weiblich war (Berlo,
Kap. 6) - als einzige in Mesoamerika. Ihr zu Ehren und
auch zu Ehren Quetzalcoatls wurden Menschenopfer dar-
gebracht, was neuere Ausgrabungen im Tempel des
Quetzalcoatl zu belegen scheinen (Sugiyama, Kap. 8).
Innerhalb Teotihuacans gab es Werkstätten für Stein-
metze, die die berühmten Steinmasken (aus Jadeit, Ser-
pentin, Onyx, Mica u.a.) (Turner, Kap. 4) und Pyritspie-
gel (Taube, Kap. 7) fertigten. Bemerkenswert erscheint,
daß diese Werkstätten, die Objekte für rituelle Zwecke
herstellten, in der Umgebung der Elitewohnviertel und
Tempel lagen. Möglicherweise stammten die Steinmetze
selbst aus der Oberschicht oder sie wurden zumindest
direkt von ihr kontrolliert.
Insgesamt läßt dieser Band den Leser mit geteilter Mei-
nung zurück. Einerseits ist es eine lobenswerte Absicht,
eine Artikelsammlung über ein weniger erforschtes
Gebiet zu veröffentlichen und den gegenwärtigen For-
schungsstand zu präsentieren. Andererseits sollte dies
jedoch in bestmöglicher Form geschehen und man fragt
Buchbesprechungen Amerika
sich durchaus, ob das hier der Fall ist. Die Reihenfolge
der Artikel erscheint willkürlich und in keinem logischen
Zusammenhang zu stehen. Sie sind nicht in Überkapitel
gruppiert und so steht nach der Abhandlung über die
Bestattungssitten und Grabbeigaben ein Beitrag über eth-
nische Enklaven, dann wieder einer über die lithische
Industrie, danach ein zu kurzer Artikel über das zentrale
Thema der Wandmalereien, einer über die »Great God-
dess«, um dann wieder einen Beitrag über die Spiegel,
auf die bereits in der Abhandlung über die lithische Indu-
strie eingegangen wurde, anzuschließen. Den Menschen-
opfern und dem Krieg folgen dann die Glyphen und es
endet mit der wirtschaftlichen Organisation der Priester-
schaft. Dieser Beitrag schließt zudem mit »reconsiderati-
ons«, die noch ernsthaft auf die Behauptung von Elman
Service eingehen, daß Häuptlingstümer »redistributive
Gesellschaften« seien. Eine Theorie aus den siebziger
Jahren, die längst überholt und in zahlreichen Publikatio-
nen widerlegt ist (siehe auch Rambo und Gillogly 1991).
Das Schlußkapitel gehörte zum Teil an den Anfang, da es
eine ausführliche Einführung in die Forschungsge-
schichte Teotihuacans gibt. Man vermißt den roten
Faden, einzelne Beiträge verlieren sich zu sehr in Details
(wie Techniken der Steinbearbeitung u. a.), andere sind
zu kurz (Castro, Kap. 13). Insgesamt ein eher enttäu-
schender Beitrag der »Dumbarton Oaks Conferences«,
der vor allem aufgrund der redaktionellen Durchführung
in krassem Gegensatz zu anderen Publikationen dieser
ansonsten sehr qualitätvollen Reihe steht.
Literatur:
Rambo, A. Terry and Kathleen Gillogly (Eds.): Profiles in
Cultural Evolution: Papers from a Conference in
Honor of Elman R. Service. Anthropological Papers,
Museum of Anthropology, University of Michigan,
No. 85. Ann Arbor, MI. 1991
Doris Kurella
Der große Bertelsmann Bildatlas:
Indianer - Die Ureinwohner Nordamerikas.
Geschichte, Kulturen, Völker und Stämme.
(Original: The Native Americans. London
1991) Gütersloh/München: Bertelsmann
Lexikon Verlag. 1992. 256 Seiten, zahlreiche
Färb- und SW-Abb., Zeichnungen, Karten.
Das erste Durchblättem dieses prachtvollen Bildbandes
über »die Indianer« läßt auch den kundigen Betrachter
ehrfurchtsvoll erschauern. Manche Farb-Abbildung,
manche kolorierte Zeichnung (einige haben allerdings die
Grenze zum Kitsch überschritten), manches historische
Schwarzweiß-Foto wird die professionellen Verfasser
von Museumsführern und Ausstellungskatalogen über
Nordamerika vor Neid erblassen lassen, sofern sie zu die-
sem Buch greifen. Das sollten sie tun, denn neben den
erwähnten seltenen Fotos ist auch die im Buch wiederge-
gebene völkerkundliche Materialfülle beeindruckend.
Tatsächlich ist dieses Werk ein »Bildatlas«, wenn darun-
ter eine Publikation mit übergroßer Betonung des Bildes
verstanden werden soll.
Wenn auch die Museen, in denen das abgebildete Kultur-
gut verwahrt wird, nicht extra aufgeführt werden, so kann
doch davon ausgegangen werden, daß die Autoren dieses
Buches, wissenschaftliche Mitarbeiter bekannter ethnolo-
gischer Institutionen, mit seltenen Stücken zum Gelingen
des Werkes beigetragen haben. Diese Verfasser sind meist
namhafte Amerikanisten. Neben den bereits erwähnten
graphischen Vorzügen der Publikation ist auch auf die
übersichtlichen Karten hinzuweisen, die jedes Kapitel
eröffnen und auf denen die verschiedenen Ethnien der
nordamerikanischen Kulturgebiete eingetragen sind.
Abgesehen von der Einleitung, ist das Buch nach diesen
Kulturgebieten gegliedert. Es reiht sich damit in die gän-
gigen Indianersachbücher ein, wenn auch die Abfolge der
Kapitel ungewöhnlich ist. Beginnend mit dem Südosten,
wird der Leser zunächst in den Südwesten geführt. Daran
schließen sich die Plains und der Westen mit drei Kapi-
teln an. Dann geht es über die Subarktis in die Arktis und
zum Schluß in den Nordosten. Ein rein amerikanisches
Literaturverzeichnis und ein nicht zu ergiebiges Register
beenden das Werk.
Schön wäre es, wenn die Rezension hier abschließen
könnte. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten, und so
gibt es an dem farbenprächtigen Werk auch einiges zu
bemängeln. Es ist klar, daß Klappentexte nicht überbe-
wertet werden dürfen, doch wenn dem Verlag als Auf-
hänger für den Zweck des Buches nichts anderes einfällt
als die seit Kolumbus verstrichenen 500 Jahre und er
überdies noch fragt »was ist aus denen (Indianern)
geworden?«, dann darf der Leser doch w'ohl erwarten,
daß auch das Heute der nordamerikanischen Indianer im
Buch behandelt wird. Dies ist jedoch, abgesehen von sehr
wenigen Ausnahmen, nicht der Fall. Es handelt sich bei
dem Bildatlas um eine Publikation, in der historisches
indianisches Kulturgut vorgestellt und vergangene india-
nische Daseinsformen sowie Geschehnisse bis Ende des
19. Jahrhunderts behandelt werden.
Da die deutsche Übersetzung weitgehend (einige Aus-
nahmen, wie beispielsweise »band«: nicht »Bande«, son-
dern zum Beispiel »Lokalgruppe«; nicht »Büffel«, son-
dern »Bison«) gelungen erscheint, kann die vor Fehlern
und Unverständnis über prähistorische Zusammenhänge
strotzende Einleitung (ausgerechnet!) nicht auf den Über-
setzer zurückgehen. Es ist wirklich unverständlich, wie
das passieren konnte. Die Erklärung kann, wenn auch
wenig überzeugend, in der räumlichen Nähe der Verfas-
serin zum Verlag liegen - beide haben ihren Sitz in Lon-
don. Wie erfrischend fundiert sind dagegen etwa die
Texte über den Südosten (Sturtevant), den Südwesten
(Parezo), die Plains (C. Taylor) oder die Arktis (Rowley).
Neben den teilweise seltenen Schwarzweiß-Fotos liegt
der Wert dieser Publikation in der Zusammenfassung des
derzeitigen Wissens über die Indianer Nordamerikas, das
von zahllosen Amerikanisten in gut zwei Jahrhunderten
zusammengetragen wurde.
Axel Schulze-Thulin
Boone, Elisabeth Hill (Hg.);
Collecting the pre-Columbian past: a sympo-
sium at Dumbarton Oaks, 6. und 7. Oktober
1990. Washington: Dumbarton Oaks, 1993.
359 Seiten mit Fotos
Die Konferenzen in Dumbarton Oaks versammeln seit
291
TRIBUS 43, 1994
1967 alljährlich eine ausgewählte Runde von Amerikani-
sten meist zu Fragen der Archäologie. Mit »Falsifications
and Misreconstructions of pre-Columbian Art« befaßte
man sich 1978 erstmals mit musealen Aspekten der ame-
rikanischen Archäologie. »Collecting the pre-Columbian
Fast«, die Konferenz von 1990, greift nun das Anlegen
von präkolumbischen Sammlungen auf. Anders als es der
allgemein gefaßte Titel vermuten läßt, behandeln die
meisten der 14 Beiträge das Sammeln vorspanischer
Artefakte durch nordamerikanische Privatleute und Insti-
tutionen (USA und Mexiko) und zwar in der Vergangen-
heit. Diese Beschränkung macht jedoch gerade die Stärke
des Symposiums aus, da es auf diese Weise möglich war,
über ein klar abgestecktes Thema zu diskutieren.
Ausgehend von der in Dumbarton Oaks beherbergten
Robert Woods Bliss-Sammlung wird exemplarisch das
Zustandekommen einer für die USA typischen, nach rein
ästhetischen Gesichtspunkten zusammengetragenen. Pri-
vatsammlung beschrieben (E. Benson).
Den Handelsweg präkolumbischer Kunstwerke (bis in die
60er Jahre) skizziert M. Coe anhand einiger berühmter
Objekte: vom Grabräuber (huaquero) über Zwi-
schenhändler (runner) zu in den Herkunftsländern ansäs-
sigen Ausländern (resident). Diese können den Markt
unmittelbar beeinflussen, da sie ästhetische Veränderun-
gen in der Nachfrage direkt an die »Produzenten« weiter-
geben. Von dort aus wurden archäologische Objekte dann
von Kurieren an Händler in den USA/Europa weiterge-
geben, die ihrerseits private Sammler und Museen belie-
ferten.
Die ästhetischen Kriterien des Sammelns seit der Ent-
deckung Amerikas polarisieren sich in der Regel zwi-
schen Genuß (delight) und Abscheu (horror), wobei die
jeweilige Einstellung ihre Funktion innerhalb der
betrachtenden Gesellschaft hat. Die Schwierigkeit,
Begriffe zur Beschreibung einer fremden Ästhetik zu fin-
den, spiegelt sich auch in der Unfähigkeit, räumliche und
zeitliche Zusammenhänge adäquat zu benennen. Ein Bei-
spiel hierfür ist die bis heute gültige Periodisierung der
mesoamerikanischen Archäologie, deren Bezeichnungen
Präklassik - Klassik - Postklassik eine gerichtete Kunst-
entwicklung europäischen Zuschnitts suggerieren (G.
Kubier).
In den USA - ante bellum - wurde in Museen lediglich
aufgenommen, was zur eigenen Kultur einen bestenfalls
gleichwertigen oder »höheren« kulturellen Standard auf-
wies. Erst mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrie-
ges erwachte das Bedürfnis nach einer nationalen Kultur.
Als Zeugnisse dieser gemeinsamen amerikanischen Ver-
gangenheit wurden Archäologica (Originale und Gipsab-
güsse), vorwiegend aus Mexiko, in großer Zahl in die
Museen der us-amerikanischen Metropolen verbracht.
Entscheidender Wendepunkt in der Akzeptanz vorspani-
scher Artefakte schreibt C. Hinsley der Photographie zu,
durch die - insbesondere die monumentale Architektur -
reproduziert und konsumiert werden konnte. Mit dem
nun erreichten Rang der »Klassik der Neuen Welt« wurde
auch das präkolumbische Artefakt wertvoll und sammel-
würdig.
Wie sehr das Anlegen vorspanischer Sammlungen poli-
tisch motiviert sein kann, wird an der Vorgeschichte der
Gründung des Museo Nacional de Antropologia in
Mexiko deutlich (E. Florescano). Schon in der 2. Hälfte
des 18. Jh. erwachte bei der kreolischen Bevölkerung
Mexikos der Wunsch, sich eine eigene Identität zu schaf-
fen. Hierzu beruft man sich auf die vorspanischen Kultu-
ren als den europäischen Kulturen ebenbürtige Zivilisa-
tionen. Damit wird eine Entwicklung eingeleitet, die
1909 zur Gründung des Museo Nacional führte, mit dem
erklärten Ziel, mittels dieser Forschungs- und Bildungs-
stätte eine nationale Identität herzustellen.
Das politische Konzept einer nationalen Identität mate-
rialisiert sich am deutlichsten im Neubau des 1964 eröff-
neten Museo Nacional de Antropología in Mexiko (S.
Errington), wo die indianische und die spanische Kompo-
nente der mexikanischen Bevölkerung als zwei sich
ergänzende Hälften eines Ganzen betrachtet werden. Die
Tatsache, daß der zentrale Raum innerhalb der archäolo-
gischen Ausstellung den Azteken gewidmet ist, wird als
herrschaftslegitimierende Geste der bis heute an der
Macht befindlichen Regierungspartei PRI gedeutet.
Ein weiteres Beispiel für eine diesmal private Sammlung
nationalistischer Prägung ist die archäologische Samm-
lung des Malers Diego Rivera. Der durch den Indige-
nismo und die aztekische Symbolik geprägte Stil Riveras
schlägt sich auch in der bedeutungsbeladenen Architektur
seines Museumsgebäudes nieder. Ausgehend vom Tod
als einem zentralen Motiv der aztekischen Weltanschau-
ung, wird der Besucher von einem düsteren Keller über
mehrere Etagen zum lichten Studio des Künstlers
gelenkt. Obwohl mit lokalen Baumaterialien errichtet,
versinnbildlicht die Vermengung verschiedener vorspani-
scher Stile mit zeitgenössischer Architektur, daß die ver-
gangene und die heutige Welt zumindest in der Vorstel-
lung Riveras als eine statische Einheit verstanden wurde.
Die politische Vereinnahmung vorspanischer Kunst in
der jüngeren Vergangenheit der USA zeichnet H. Bamet-
Sánchez am Beispiel der »good neighborhood policy«
des Präsidenten F. D. Roosevelt (1933) nach. Mittels kul-
tureller Aktivitäten sollte angesichts des drohenden
europäischen Faschismus der Zusammenhalt des ameri-
kanischen Kontinentes gewährleistet werden. Die
»Geschichtslosigkeit« der auf dem amerikanischen Kon-
tinent durch technische und ökonomische Vorherrschaft
hervortretenden USA sollte durch die vorspanische
Geschichte Mexikos ausgeglichen werden. Bis dahin als
»primitiv art« zugeordnete Objekte wurden in diesem
Zusammenhang zu »Kunstwerken« gemacht und poli-
tisch vereinnahmt.
Auch in den europäischen Museen ist die politische Kom-
ponente als Sammelmotiv nachweisbar. In Frankreich
z. B. wurden archäologische Expeditionen nach Latein-
amerika schon seit Mitte des 19. Jh. von staatlicher Seite
ausgerichtet und Sammlungen im Louvre angelegt,
während die erste vom British Museum organisierte
Expedition nach British-Honduras erst 1926-30 statt-
fand. Dies läßt sich u. a. auf die unterschiedlichen politi-
schen Organisationen in Frankreich und England zurück-
führen: der napoleonische Zentralismus auch in
kulturellen Belangen gegenüber den nicht staatlich ver-
ankerten Bildungseinrichtungen in England (E. Wil-
liams).
Die amerikanistische Rezeption, weitgehend am Beispiel
Englands dargelegt, ist in den Anfängen ausschließlich
auf private Initiativen zurückzuführen. An drei promi-
nenten Sammlern zeigt I. Graham die Entwicklung vom
Kuriositätenkabinett (Lorenzo Boturini) über das Privat-
museum (William Bullock) zum öffentlichen Museum
292
Buchbesprechungen Amerika
(Alfred Maudslay) auf.
Die Entstehung von Sammlungen vorspanischer Kultur
und ihre Rezeption in der Vergangenheit ist das Thema
dieses Symposiums. Die anderen traditionellen Aufgaben
von Museen, neben dem Sammeln auch das Bewahren,
Forschen und Bilden, werden in diesem Band lediglich
angedeutet; wobei zu hoffen ist, daß diesen Fragen
zukünftige Konferenzen gewidmet sein werden. Ein zen-
trales Problem von Ausstellungen vorspanischer Kultu-
ren ist z. B. das Vermitteln der Zusammenhänge, in denen
die nun vereinzelten Objekte einstmals standen. Dieser
Kontext wurde in den USA bis in die 30er Jahre hinein
durch Modelle und Abgüsse der monumentalen meso-
amerikanischen Architektur geschaffen. Damit wäre in
den frühen Ausstellungen die Geschichte Amerikas die
»Geschichte dessen, was tatsächlich reproduziert werden
konnte« (D. Fane).
Dies ist in den meisten Ausstellungen amerikanischer
Kulturen bis heute noch der Fall. Programmatisch fordert
P. Messinger eine radikale Umorientierung in bezug auf
die musealen Aufgaben, wobei die Bildung absolute Pri-
orität haben sollte. Nach dem Motto: wer die lokale Ver-
gangenheit schätzt, geht bewußter auch mit fremder
Archäologie um. Die Zielgruppen sind hierbei vielfältig;
Politiker und Beamte, Verantwortliche in der Tourismus-
branche, Sammler, Reisende, Lehrer, Grabräuber etc.
Nicht zuletzt sollte eine grundlegende Perspektive für die
Zukunft die engere Zusammenarbeit mit den Museen in
Lateinamerika sein.
Manuela Fischer
Fagan, Brian M.:
Das frühe Nordamerika. Archäologie eines
Kontinents (Original: Ancient North Ame-
rica. The Archaeology of a Continent. Lon-
don 1991). München: C. H. Beck. 1993. 496
Seiten, zahlreiche SW-Fotos, Zeichnungen,
Karten, Tabellen.
Ein sowohl vom Inhalt als auch von der graphischen
Gestaltung ansprechendes Buch, das umfassend über die
Ersten Amerikaner von den Anfängen ihrer Siedlungen
im polaren Nordwesten des Kontinents bis zu den verhee-
renden Folgen der europäischen Invasion berichtet.
Anders als bei dem der vorliegenden Publikation voraus-
gegangenen Fagan-Buch ähnlicher Thematik (»Die ersten
Indianer«) ist auch die Übersetzung gelungen, wobei
mancher fehlerhafte Fachbegriff nicht allzu schwer ins
Gewicht fällt, mancher wohl auch auf Fagan selbst
zurückgeht, zumal dem Autor auch in sachlicher Hinsicht
einige Unrichtigkeiten nachzuweisen wären. Der nicht
unbedarfte Leser kann sich denken, was gemeint ist, dem
anderen wird es nicht weiter auffallen. Er wird sich höch-
stens über die wissenschaftlich-geschraubte Ausdrucks-
weise ärgern, die auch in diesem Buch den Stil des Ver-
fassers über etliche Passagen kennzeichnet und nicht auf
den Übersetzer zurückzuführen ist. Dem Lektorat stand
offensichtlich mehr Zeit als bei anderen Büchern Fagans
zur Verfügung: Es ist gut redigiert, selbst wenn die Kom-
masetzung nach wie vor nicht fehlerfrei ist.
Das Buch ist in sieben Teile mit jeweils mehreren
Abschnitten gegliedert, die wiederum vielfach unterteilt
sind. So läßt sich bereits mit Hilfe des Inhaltsverzeich-
nisses das eine oder andere Sachgebiet leicht ausfindig
machen. Der erste Teil beginnt mit den frühesten europäi-
schen Kontakten zum autochthonen Amerika. Einblicke
in die amerikanische Forschungsgeschichte, insbeson-
dere Archäologie und Ethnologie (im Deutschen nicht
Anthropologie) führen zur Beschreibung verschiedener
methodologischer Ansätze, Lehren und Schulen der
Urgeschichtsforschung.
Im zweiten Teil werden die paläoindianischen Perioden
mit ihren Fundstellen vorgestellt. Mit den frühen Bison-
jägem der Plains führt Fagan im dritten Teil zum Archai-
kum des Westens über, um sich im vierten Teil dem
»hohen Norden« zuzuwenden. Der kundige Leser hätte
sich hier eher ein Anknüpfen an paläoindianische Zeiten
gewünscht, vor allem ein Eingehen auf das mögliche
»Zurückfluten« von Clovis-Traditionen aus dem Süden.
Die ausführlichen Beschreibungen von Dorset und Thule
zeigen beispielhaft, daß Fagans Textlängen mit der jewei-
ligen Quellenlage korrespondieren. Er unterscheidet sich
hier nicht von anderen Sachbuch-Vielschreibern. Das
führt in manchen Bereichen zu einer Verschiebung der
Akzente, wie zum Beispiel der Überschätzung von Cur-
tis, dessen Fotos keineswegs »von unschätzbarem Infor-
mationswert« sind (47). Curtis hat im Gegenteil durch
manche Schummelei das Bild des Indianers teilweise ver-
zeichnet.
Ähnlich wie beim arktischen Teil eine Anbindung von
Clovis sinnvoll gewesen wäre, verhält es sich mit dem
fünften Teil »Der Westen«. Ausgehend von den histori-
schen Nordwestküsten-Kulturen, versucht Fagan, einen
Bogen zum Archaikum zu schlagen, um dann schnell -
bereits wenige Seiten später und wiederum gezwungen
durch die Quellenlage - in die Frühgeschichte sowie prä-
und postkolumbische Flistorie der Region zurückzukeh-
ren. So wird sattsam Bekanntes zum tausendsten Mal wie-
derholt. Besser gelungen ist die Beschreibung des mittel-
und südwestlichen Archaikums, wobei auch hier auf die
gute quellenbedingte Ausgangslage hinzuweisen ist.
Im sechsten Teil wird das Östliche Waldland in großer
Breite und Ausführlichkeit behandelt, beginnend mit dem
frühen Archaikum dieses Raumes und endend mit den
historischen Gartenkulturen des Nordostens, insbeson-
dere der Irokesen. Mit dem siebenten Teil »Nach Kolum-
bus«, in dem Fagan Kulturwandel und Assimilation/Aus-
rottung der Ersten Amerikaner während der Kontaktzeit
umreißt, beschließt er sein Buch, das vor allem durch
seine Informationsfülle beeindruckt. Der Anhang enthält
eine »Gliederung der altamerikanischen Sprachen«, ein
Literaturverzeichnis, ein Register sowie die üblichen
Nachweise und Danksagungen. Bezüglich der Literatur-
angaben im fortlaufenden Text ist noch anzufügen - viel-
leicht als Anregung für das Beck-Lektorat daß solche
Quellenhinweise ohne Seitenangaben unbrauchbar sind.
Verwirrend für Ungeschulte ist außerdem, daß Fagan bei
frühen Publikationen mit mehreren Auflagen das Jahr der
neuesten Auflage nennt und nicht das des Erstwerkes.
Nicht zuletzt mit dem gestrafften Register liegt hier ein
Nachschlagewerk vor, in dem der Leser immer wieder
gerne an interessanten Passagen, guten Fotos, übersicht-
lichen Karten, verständlichen Tabellen und Grafiken
sowie aussagekräftigen Zeichnungen hängenbleiben
wird.
Axel Schulze-Thulin
293
TRIBUS 43, 1994
Graham, Ian:
Corpus of Maya Hieroglyphic Inscriptions.
Volume 4, Part 2 (Uxmal) und Part 3 (Uxmal
& Xcalumkin, dieser unter Mitarbeit von
Eric von Euw). Cambridge, Mass.: Peabody
Museum of Archaeology and Ethnology,
1992. S. 73-197 (des durchpaginierten Ban-
des). SW-Fotos, Zeichnungen, Karten.
Mit Band 4 des Corpus of Maya Hieroglyphic Inscriptions
(CMH1), dessen erstes Heft 1977 erschienen war und des-
sen zweites und drittes hier zur Rezension anstehen,
nimmt sich die Inschriften-Dokumentation des nördlichen
Maya-Tieflandes an. Die hieroglyphischen Texte der Orte
Itzimté, Pixoy, Tzum. Uxmal und Xcalumkin sind nun
vollständig veröffentlicht. Das CMHI ist dadurch im
Begriff, eines der dringendsten Desiderate der Maya-Epi-
graphik zu befriedigen, nämlich die systematische Veröf-
fentlichung von Texten aus dem Norden. Liegen zu eini-
gen anderen Großregionen, so zum Siidosten mit Copán
als Zentrum, zum Petén, zum Usumacinta-Tal zu Tonina
und zu Palenque aus anderer Feder nämlich leidlich
brauchbare Dokumentationen vor, so gab es bisher keine
einzige umfangreiche Zusammenstellung von Inschriften
aus dem Norden. Freilich ist mit den genannten Orten erst
ein Anfang gemacht. Vor allem Cobá, Resbalón, Chichón
Itzá und Oxkintok, die zu den inschriftenreichen im Nor-
den gehören, harren noch der Dokumentation.
Der Norden Yukatans zeichnet sich inschriftlich vor den
im Corpus bisher hauptsächlich dokumentierten Petén-
und Usumacinta-Regionen durch das Überwiegen von
Bauskulptur als Inschriftenträger gegenüber den im
Süden bevorzugten freistehenden Denkmälern (Stelen,
Altäre, Zoomorphe) aus. Es mußten daher zwei neue
Bezeichnungen in die bisher 19 Klassen umfassende
Schriftträgernomenklatur eingeführt werden, nämlich
Cst. (Englisch: Capstone) für >Gewölbedeckstein< und
Cap. (Englisch: Capital) für >Kapitel<. Aber auch mit
diesen Ergänzungen wird die Variationsbreite des
inschriftlichen Bauschmuckes nicht voll erfaßt: Ni-
schen, Türrahmen, Gesimsbänder, Dachkämme und
manch anderes Element bleiben unzulänglich in einer
der Restklassen »Miscellaneous«, »Monument« oder
»Panel« erfaßt. Unbeschadet dieser leicht zu beheben-
den Systemlücken muß ich meine frühere generelle
Skepsis gegenüber Abkürzungen für Schriftträgerklas-
sen revidieren. Mit der Personal Computer-Nutzung seit
den 80er Jahren hat sich gezeigt, daß die volle Bezeich-
nung eines Inschriftenortes und des Schriftdenkmales in
der von Graham geschaffenen CMHI-Nomenklatur in
den allermeisten Fällen genau in die unter dem Betriebs-
system DOS erlaubten acht Speicherplätze für Dateina-
men paßt. So kann man zum Beispiel eine Abhandlung
über Stele 18 aus Yaxchilán gemäß CMHI als YAXST18
abkürzen und so als Dateiname für die EDV-Speiche-
rung gebrauchen. Daher empfehle ich jetzt jedem die
Übernahme des Nomenklatursystems des CMHI.
Die formalen Grundsätze der Bild-Dokumentation haben
sich gegenüber früheren Lieferungen, die ich in Tribus 32
(S. 211-212, 1983) besprochen habe, zwar nicht radikal
verändert, doch werden einige beherzigenswerte Prinzi-
pien nicht mehr durchgängig verwirklicht. So ist der
Abbildungsmaßstab von Inschriften gegenüber dem
ursprünglich beabsichtigten und zunächst auch meist
befolgtem 1:10 zu 1:20 geschrumpft. Sicher war das teil-
weise wegen der Größe einiger Bauinschriften nötig, in
anderen Fällen aber überhaupt nicht. Auch das im glei-
chen Maßstab nebeneinander Abbilden eines Fotos und
der Zeichnung, was zur Kontrolle der Zeichnung hilfreich
ist, wird immer wieder ohne ersichtlichen Grund aufge-
geben. Doch beeinträchtigen diese redaktionellen Mängel
den dokumentarischen Wert der Veröffentlichung nicht
entscheidend. Archäologen werden erfreut zur Kenntnis
nehmen, daß die kartographische Darstellung der im
jeweiligen Band oder Heft präsentierten Orte erheblich
an Gewicht gewonnen hat (wenn auch das Drucken einer
Karte über den Falz auf zwei gegenüberliegenden Seiten
ein bedauerlicher Mangel ist). Uxmal ist ein treffendes
Beispiel für Gewicht und Potential kartographischer Dar-
stellungen im CMHI. Trotz fleißiger Erforschung seit 150
Jahren gab es bisher keine Gesamtaufnahme und karto-
graphische Umsetzung der Ruinen dieser großen Stadt.
Graham hat diesen Mangel auf einen Schlag beseitigt;
und das erstaunt um so mehr, wenn man bedenkt, daß er
das im Alleingang geschafft hat. Seine Karte zeigt nicht
nur sehr schön die räumliche Verteilung, Größe und
Struktur der Hofkomplexe, sondern sie gibt auch erstmals
einen Überblick über die Mauer, die in spät- oder nach-
klassischer Zeit Uxmals Zentrum umschloß. Ganz offen-
sichtlich ist es ein Schutzwall, der bestehende Gebäude-
fundamente geschickt ausnutzt und so den Kern des Ortes
ganz umschließt. Im Rahmen der gegenwärtigen Rééva-
luation der vorspanischen Maya als kriegführendes Volk
ist das ein wichtiger Befund!
Vor 25 Jahren hat lan Graham das Corpus-Projekt offizi-
ell initiiert, nachdem er schon 1965 und 1967 Proben sei-
nes Zeichentalentes und seiner Leidenschaft für die Doku-
mentation von Maya-Skulpturen veröffentlichte. Vor 20
Jahren begann er mit der Veröffentlichung des ersten Hef-
tes. Nur zwei Mitarbeiter hat er in den langen Jahren
gehabt: Eric von Euw (EE) in den 70ern und Peter
Mathews (PM) in den 80ern. Insofern ist dieses großartige
Unternehmen ganz seine persönliche Leistung. Der Stand
der Veröffentlichung ist im Überblick jetzt folgender:
Vol. 1 (Introduction, IG) 1975;
Vol. 2 (Naranjo, Chunhuitz, Xunantunich, Ixkun, Uca-
nal, Ixtutz, IG & EE), Part 1/1975, Part 2/1978, Part
3/1980;
Vol. 3 (Yaxchilan, IG), Part 1/1977, Part 2/1979, Part
3/1982;
Vol. 4 Part 41/1977 (Itzimte, Pixoy, Tzum, EE), Part
2/1992 (Uxmal, IG); Part 3/1992 (Uxmal, Xcalumkin, IG,
EE);
Vol. 5 (Xultun, La Honradez, Uaxactun, IG, EE), Part
1/1978, Part 2/1984, Part 3/1986;
Vol. 6 (Tonina, PM), Part 1/1983.
Wenn in den letzten Jahren die Veröffentlichung der Cor-
pus-Bände aus verschiedenen Gründen stark zurückge-
gangen ist (im ersten Septenium wurden 8, im zweiten 4
und im laufenden nur 2 Hefte veröffentlicht), sollte die
kürzlich erfolgte Einstellung des jungen Maya-Epigra-
phikers und begabten Zeichners David Stuart die
Veröffentlichungen wieder beschleunigen und vor allem
auch die vor vielen Jahren begonnenen und nie ab-
geschlossene Dokumentation der Inschriften von
Yaxchilan und Tonina zu einem Ende bringen!
Berthold Riese
294
Buchbesprechungen Amerika
Gramly, Richard Michael:
The Richey Clovis Cache: Earliest Ameri-
cans Along the Columbia River. Buffalo,
New York: Persimmon Press. 1993. 69 Sei-
ten, SW-Fotos, Zeichnungen
Mit »Cache« wird in der amerikanischen Urgeschichts-
forschung ein Versteck- und Vorratsdepot bezeichnet.
Sofern diese Caches Clovis-Artefakte enthalten, reichen
sie bis in die (archäologisch gesicherte) früheste Besiede-
lung des amerikanischen Kontinents zurück, das heißt
12-13 000 Jahre. Vieles spricht dafür, daß diese Phase
nicht der Beginn der Ersten Amerikaner gewesen sein
kann. Caches sind deshalb für die amerikanische Archäo-
logie so bedeutsam, weil sie - sofern ungestört - oft ver-
schiedenartiges Steinwerkzeug in intentionell geschütz-
ter Lage enthalten, das Aufschlüsse über kulturelle
Zusammenhänge der paläoindianischen Gruppierungen
und Einwanderungsrouten in den jungfräulichen Konti-
nent geben kann.
Das Richey Clovis Cache (Depot) und damit die gesamte
East Wenatchee Clovis-Station (Staat Washington) wurde
1987 von Obstgartenarbeitern entdeckt. Seit 1988 wird
auf dem Areal gegraben. Wie der Name des Fundplatzes
bereits sagt, wird er der Clovis-Periode zugerechnet. Bis
jetzt ist die gesamte Ausdehnung besagter Station noch
nicht bekannt. Die Ausgrabungskampagne soll bis zum
Jahr 2007 dauern. Gramly versteht denn auch seine Publi-
kation als Teil eines Vorberichtes über die Fundstelle.
Zum Inhalt des Buches: Nach Danksagung und Vorwort
folgt eine gut vierseitige Beschreibung des Richey Clovis
Caches, in die der Autor die Entdeckungsgeschichte des
Depots ebenso einschließt wie die mit neuesten wissen-
schaftlichen Methoden erarbeiteten archäologischen
Funde und Befunde. Erstere werden auf 11200 v. h.
datiert. Sie bestehen aus Knochen- und Steinartefakten.
Insgesamt enthielt das Cache, das gleichbedeutend mit
der erstentdeckten Fundstelle des Areals ist und von
Archäologen auf einer Grundfläche von 1,1 x 1,5 m aus-
gegraben wurde, 57 großformatige Steinartefakte, viele
davon in der Tradition gekehlter Clovis-Spitzen herge-
stellt. Neben diesen besteht das Ensemble aus Zweisei-
tern in Form von Messern, Klingen, kleinen Beilen sowie
gekehlten Rohformen für Spitzen und Werkzeuge. Dar-
über hinaus lieferte das Cache mehrere hundert kleine
Steinabschläge und Knochenfragmente. Eine weitere
Grabung einige Meter östlich der ersten Fundstelle
brachte einen großen Schaber und eine Klinge sowie etli-
che Abschläge ans Tageslicht. Menschliche Skelettreste
wurden nicht gefunden. Die teilweise Größe der Steinob-
jekte hat rituellen Gebrauch vermuten lassen, was aller-
dings angezweifelt wird, denn Gebrauchsspuren und
Blutreste weisen - laut Verfasser - auf rein profane
Benutzung der Artefakte hin, wie Jagd und das an-
chließende Schlachten der Beute. Die erwähnten Spuren
von Blut an etlichen Objekten zeigen Bison, Karibu und
andere Cerviden, Hase und Kaninchen als Jagdtiere an.
Auch Menschenblut wurde entdeckt.
Außer Steinartefakten enthielt das Richey Clovis Cache
14 Schälte aus Mastodon- und Mammutknochen mit
einer durchschnittlichen Länge von 25 cm. Zwei dieser
Stücke weisen Ritzungen auf, die allerdings kaum als
Kunst gedeutet werden können. Dennoch sind sie von
einiger Bedeutung, denn Verzierungen auf Clovis-Objek-
ten sind äußerst selten.
Der fortlaufende Text endet mit Literaturangaben sowie
einer Lagekarte des Fundplatzes. Es folgen mehrere
Fotos zur Ausgrabungstätigkeit, dem topographischen
Umfeld der Station, einigen Funden in situ sowie ausge-
zeichnete Zeichnungen der herausragendsten Stücke von
Seite 27 bis 57. Ein Sach- und Namensregister beschließt
den Band, der vor allem durch sein Bildmaterial einen
guten Einblick in diese bedeutende Fundstelle aus der
frühen Besiedelungsperiode Amerikas bietet.
Axel Schulze-Thulin
Hoffmann, Klaus / Wagner, Rene;
Karl-May-Museum. Kurzführer durch die
Ausstellungen - Indianer Nordamerikas,
Karl May - Leben und Werk. Hg.: Karl-May-
Stiftung Radebeul. München: Karl M. Lipp,
1992. 60 Seiten, viele Färb- und SW-Fotos.
Vor mir liegt eine Broschüre, wie sie sich der Museums-
besucher wünscht. Handlich, um sie in die Jackentasche
zu stecken. Verständlich und flüssig geschrieben, um
darin bereits während der Kaffeepause im Museum mit
Interesse zu schmökern. Mit Färb- und Schwarzweiß-
Fotos ausgestattet, um den Führer als Erinnerung an
einen anregenden Museumsbesuch aufzubewahren. Zum
gelungenen Äußeren kommt eine gelungene Gliederung
des Inhalts: Neben das kurz erklärte Umfeld der Ausstel-
lungsstücke tritt viel Hintergrundwissen über den
berühmten Autor spannender Abenteuerliteratur, die Mil-
lionen begeisterter Leser einst verschlungen haben und
noch verschlingen.
Nicht nur Karl-May-Fans werden, wenn sie nach Dresden
oder überhaupt nach Sachsen kommen, gerne einen
Abstecher nach Radebeul machen, um sich die über Jahr-
zehnte gesammelten Gegenstände einstiger Indianer-
pracht in der Villa Bärenfett anzusehen oder sich über
Leben und Werk des großen Erzählers in der Villa Shat-
terhand zu informieren. Der Museumsführer wird ihnen
dann ein guter Begleiter und eine liebenswerte Erinne-
rung an den unsterblichen Sachsen sein.
Axel Schulze-Thulin
Müller-Wille, Ludger (Hrsg.):
Franz Boas. Bei den Inuit in Baffinland
1883-1884. Tagebücher und Briefe. Bearbei-
tung, Einleitung und Kommentare von Lud-
ger Müller-Wille. Berlin: Reinhold Schletzer
Verlag, 1994. 294 Seiten, 32 Abbildungen, 3
Karten, Listen, Glossar, Ortsregister. Preis:
DM 128,-
Der 50. Todestag von Franz Boas (1858-1942) war für
mehrere Autoren Anlaß, sich um ein besseres Verständnis
seiner Persönlichkeit und seines Werkes zu bemühen
(z.B. Dürr, Kasten & Renner 1992; Rodekamp 1994). In
der hier vorgestellten Publikation spricht dagegen der
25jährige Boas selbst: es handelt sich um unpublizierte
Manuskripte (bis auf kurze Auszüge, Müller-Wille 1992),
295
TRIBUS 43, 1994
die Boas während der Vorbereitung seiner ersten und ein-
zigen arktischen Reise und seines Aufenthaltes auf Baf-
finland (August 1883 bis September 1884) geschrieben
hat. Der größte Teil dieser auf deutsch verfaßten Texte
befindet sich in Philadelphia, im Archiv der American
Philosophical Society (S. 1). Ludger Müller-Wille, der
Herausgeber, hat die verschiedenen Quellen (4 Tage-
bücher, Briefe an seine Eltern, seine Verlobte und Dritt-
personen, das Tagebuch von Wilhelm Weike, seinem Die-
ner) geschickt chronologisch geordnet (S. 17). Sein Ziel
war es. für jeden Tag eine Eintragung zu finden, damit der
Leser die täglichen Ereignisse verfolgen kann. Hatte
Boas selbst nichts zu Papier gebracht, zieht Müller-Wille
das Tagebuch von Weike heran. Franz Boas wurde von
einem Diener seiner Familie, Wilhelm Weike, begleitet,
der sich um alle praktischen Dinge kümmerte (S.7),
wobei das Kochen der Konserven und des eingetauschten
Fleisches auf einem Petroleumkocher zu seinen Haupt-
aufgaben gehörte. Weike baute eine scheinbar unkompli-
zierte Beziehung zu den Einheimischen auf. Sein Ver-
hältnis zu Franz Boas drückt sich darin aus, daß er ihn mit
»Herr Doktor« ansprach, was in Inuktituk zu »Doktoraa-
luk« wurde. Weike, von Boas schlicht »mein Wilhelm«
genannt, führte während der Reise ein eigenes Tagebuch,
das hier nur als Lückenbüßer fungiert. Wie der Herausge-
ber erklärt (S. 22), ist es so umfangreich (445 Seiten), daß
es einer eigenen Publikation bedarf: Dem kann man sich
nur anschließen.
Voraussetzung für den von Boas als Sprungbrett für seine
Karriere (S.29) angestrebten Arktisaufenthalt war eine
finanzielle Unterstützung, die er in Form eines Vertrags
mit dem Berliner Tageblatt erhielt. Gegenleistung waren
fünfzehn Artikel über seine Arbeit (vgl. Müller-Wille
1984: 119-120). Freie Passage bekamen Boas und Weike
auf der Germania, dem deutschen Polarschiff. Einen
großen Teil des Buches nimmt die Anreise nach Baffin-
land in Anspruch: der Leser muß bis Seite 80 warten, um
von intensiveren Kontakten mit der einheimischen
Bevölkerung zu hören. Nach der Ankunft in der Wal-
fangstation Kekerten verhandelte Boas mit der Gruppe
der Deutschen Polar Station, die gerade eine Überwinte-
rung (1883-84) hinter sich hatte, er übernahm Teile ihrer
Ausrüstung, da diese jetzt mit der Germania nach
Deutschland zurückfuhren. Nach der logistischen Sicher-
stellung des Aufenthaltes begann Boas unverzüglich
seine naturgeographischen Erkundungsfahrten.
Besonders aufschlußreich für die Chronik der Expedition
sind die Briefe an seine Eltern und Schwestern (vgl.
S. 108, 113, 146, 213). Da sie nach der Abfahrt des letzten
Schiffes nur sporadisch geschrieben wurden und erst im
Sommer abgeschickt werden konnten, stellen sie eine
gestraffte Zusammenfassung der vorangegangenen
Monate dar. Bewundernswert ist der Umfang der Schrif-
ten, die Führung von verschiedenen Tagebüchern, (eth-
nographischen, Mythen-, Geographie-) Notizbüchern
und Briefen. Auch wenn der Diener Weike die alltägli-
chen Aufgaben übernahm, blieben die schwierigen Ver-
hältnisse auf Schlittenreisen; Wie können die Notiz-
bücher sicher untergebracht werden und gleichzeitig bei
Gebrauch rasch zur Verfügung stehen? Das Auspacken
der Säcke und Kisten ist umständlich, da alles von trei-
bendem Schnee durchdrungen wird, das Papier des
Notizbuches wird naß, die Tinte friert. Will man die
Kisten in den engen Zelten oder Schneehäusern öffnen.
engt man die Bewegungsfreiheit der Mitreisenden ein: sie
müssen unbeweglich warten, bis der eine mit dem Aus-
packen fertig ist. Durch den Temperaturunterschied zwi-
schen draußen und drinnen wird zudem der Inhalt feucht.
Leider erfährt der Leser über diese praktischen Aspekte
des Alltags einer Feldarbeit recht wenig. Boas legt größ-
ten Wert auf seine Peilungen und die Erstellung von Kar-
ten (berichtet wird hauptsächlich über Geländevermes-
sungen. Wegverhältnisse und das Wetter). Man erlebt
einen unermüdlichen, dynamischen Entdecker, der, stän-
dig unterwegs, unzählige Hunde verbraucht und immer
neue erwerben muß. Mit seinen begehrten Tauschgütern
kann er sie den Eskimo abkaufen, obwohl sie selber
zuwenige haben. Sein Vorhaben, bis nach Igloolik mit
Hundeschlitten zu fahren, um eine möglichst isolierte und
weitgehend unbekannte Gegend zu erkundschaften,
scheiterte an einer Tierseuche (Epizootie), welche die
Hunde dezimiert hatte. Äußerungen und Ereignissen, die
im Zusammenhang mit dem Diener Weike und den Es-
kimo stehen, kommen selten vor.
Der lakonische Ton der Tagebücher läßt kaum vermuten,
daß Boas trotz widriger Verhältnisse bereits von Januar
bis März und im August 1884 sehr intensiv und produk-
tiv, parallel zu seinen kartographischen und meteorologi-
schen Erhebungen, ethnographische Informationen
gesammelt hat. In diesen Monaten hatte Boas Kontakt zu
mehreren Inuitfamilien. Erstaunlicherweise hinterläßt
das unmittelbar Erlebte wenig Spuren im vorliegenden
Text, der Autor reagiert sich nicht ab, Laune. Mißerfolge,
Zweifel werden dem Tagebuch fast nicht anvertraut:
Seine persönliche Entwicklung vom Geographen zur
führenden Figur der Anthropologie läßt sich nicht nach-
vollziehen. Wo ist der Mensch, der soviel Daten über die
»Central Eskimo« gesammelt hat? Wie hat er sie bekom-
men? Wuchs sein Interesse für die einheimische Kultur,
wie entwickelte er seine Feldforschungsmethode - wir
wissen es nicht. Hat Boas bereits seine eigenen Tage-
bücher von allen persönlichen Ausführungen gereinigt?
Schließlich sind die Central Eskimo etwa 270 Seiten
lang, die hier vorgelegten Tagebücher dagegen nur 120
Seiten. Selbst wenn die Daten seiner Publikationen aus
»ethnographischen« Notizbüchern (S. 17) kommen, hat
der Leser den Eindruck, daß die Ethnographie nebensäch-
lich war, auf jeden Fall, laut Boas, »weniger anstren-
gend« (S. 242). Die Tagebücher (Boas selbst nennt sie Ili-
nerarien, S.250) ähneln ein wenig den Logbüchern
mancher weitgereister Seeleute, die nur von der Wind-
stärke, den Strömungen und der Reiseroute erzählen.
Ist Boas wirklich so nüchtern, oder liegt es beim Heraus-
geber? In den Briefen an die Familie, besonders aber an
seine Verlobte, finden sich nämlich häufig Auslassungs-
punkle, die, so liest man im Vorwort, »persönliche Äuße-
rungen und Liebesbezeigungen enthalten« und wegen
»ihres intimen Charakters hier nicht veröffentlicht wer-
den sollten« (S. 22). Vielleicht ging hier die menschliche
Dimension in der Persönlichkeit Boas’ verloren, etwas,
das die Lektüre zu einer wirklichen Bereicherung
gemacht hätte?
Es ist dem Herausgeber gelungen, durch akribische
Transkribierung und durch logisches Anordnen der
gewählten Quellen, den Alltag des jungen Boas darzu-
stellen. Trotz physischer Erschöpfung und extremen kli-
matischen Umständen führt er mit stoischer Ausdauer und
exemplarischem Fleiß seine Messungen und Beobachtun-
296
Buchbesprechungen Amerika
gen durch. Müller-Wille hat dieses Buch mit größter Sorg-
falt vorbereitet, ein Projekt, das mehr als zehn Jahre in
Anspruch nahm. Er fügte nicht nur Daten aus verschiede-
nen Archiven zusammen, sondern besuchte selbst die von
Boas bereisten Orte und sammelte tradierte Informatio-
nen und die Toponymie (S. xv) aus dieser Zeit, die er - wo
es nötig ist - in klärenden Kommentaren einfügt.
Literatur:
Boas, Franz
1888. The Central Eskimo. Sixth Annual Report of the
Bureau of American Ethnography, 1884-85: 399-669 &
2 Karten. Washington: Bureau of American Ethnology,
U. S. Government Printing Office.
Dürr, Michael, Erich Kasten & Egon Renner (Hrsg.)
1992 Franz Boas, Ethnologe, Anthropologe, Sprach-
wissenschaftler. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag.
Müller-Wille, Ludger
1984 Document: Two Papers by Franz Boas. Etu-
des/Inuit/Studies 8 (1): 117-144.
Müller-Wille, Ludger
1992 Franz Boas: Auszüge aus seinem Baffin-Tage-
buch, 1883-1884 (19. September bis 15. Oktober 1883).
In: Dürr et al., 39-56.
Rodekamp, Volker (Hrsg.)
1994 Franz Boas, 1858-1942. Bielefeld: Verlag für
Regionalgeschichte.
Jean-Loup Rousselot
Stuart, David & Stephen Houston:
Classic Maya Place Names. Studies in Pre-
Columbian Art & Archaeology, Nr. 33. Wa-
shington: Dumbarton Oaks, 1994. 102 Seiten
mit 107 Abbildungen (überwiegend Zeich-
nungen sowie einige Photos).
H. Berlin (1958) hat durch die Entdeckung der Emblem-
Hieroglyphe, einem Titel mit lokaler Referenz, entschei-
dend dazu beigetragen, den historisch-biographischen
Charakter von klassischen Inschriftentexten der Maya zu
erkennen. Die Emblem-Hieroglyphen könnten sich, so
der aktuelle Forschungsstand, auf politische Einheiten
beziehen, die mehrere einzelne Orte umfassen können.
Dann allerdings wären in den Texten diese geographi-
schen Orte zu identifizieren, die man in historisch-bio-
graphischen Berichten ebenso erwarten würde wie etwa
den Zeitpunkt eines Geschehens.
Wo in den Texten aber haben die höfischen Berichterstat-
ter diese Ortsnamen eingebaut? In sieben Kapiteln versu-
chen die Autoren, die syntaktische Position und individu-
elle Struktur dieser speziellen Glyphenkategorie zu
ermitteln und phonetische und semantische Lesungen zu
rekonstruieren.
Das Subjekt eines hieroglyphischen Basissatzes (Verb -
Subjekt) besteht meist aus dem persönlichen Namen
eines Individuums und oft mehreren Titeln. Manchmal
schließt sich ein weiterer Satz an, in dem, so die Hypo-
these der Autoren, der Ort des vorher beschriebenen
Ereignisses präzisiert wird. Diese Zu-Sätze haben meist
drei Teile gemeinsam, die hier als »Ortsnamen«-Formel
bezeichnet werden. Die Formel besteht aus dem dreisil-
brigen u-ti-ya für das Verb ut-i »it happened«. Das zweite
Element der Formel, spezifiziert den Ort und variiert ent-
sprechend. Gelegentlich folgt dem Ortsnamen eine dritte
Komponente, die sog. »sky-bone«-Glyphe. Die Para-
phrase der Formel lautet sodann: »It happened ((at)) (the
location)«.
Das häufige Fehlen von Lokativpräpositionen (z. B. »ti«,
»ta«), die man zumindest in den Maya-Sprachen vor dem
Toponym erwarten würde, wird in der geschriebenen Ver-
sion als optional eingeschätzt, vergleichbar den numeri-
schen Klassifiers oder dem kompletten Wegfall der Plu-
ralendung »ob« in Glyphentexten.
Im derzeitigen Forschungsstadium bleiben noch viele
syntaktische und semantische Datails offen, die die Auto-
ren mit plausiblen Argumenten einkreisen und an vielen
hieroglyphischen Textstellen diskutieren. Die strukturelle
und wenn möglich phonetische und semantische Identifi-
zierung zahlreicher Orts-Hieroglyphen erbrachte als vor-
läufiges Ergebnis bereits eine Reihe phonetisch transpa-
renter, wenngleich semantisch noch unklarer Toponyme
(z. B. Naranjo, Copän). Zum Teil aber entspricht die
Lesung der Orts-Hieroglyphen sogar den tatsächlichen
geographischen Gegebenheiten (z. B. Aguateca: ut-i
K’inich Wits »sun-faced split hill«). Das Untersuchungs-
feld »Toponym« wird von vielen verschiedenen, denkba-
ren Seiten beleuchtet, so daß das Bild nach und nach an
Kontur gewinnt.
So stellt sich heraus, daß in Verbindung mit dem masku-
linen Präfix ah- die Ortszeichen einen »Title of origin«,
»er von...« repräsentieren. Entsprechende Hieroglyphen
mit dem ah-Präfix scheinen sich nicht nur syntaktisch zu
»verhalten« wie Orts-Hieroglyphen, obwohl man sie nie
mit dem ut-i Verb, dem bis jetzt einzigen Kriterium für
Orts-Hieroglyphen, zusammen findet.
Manchmal ist der Ort eines bestimmten Ereignisses in
dem Satz selbst enthalten und nicht in einer separaten
Phrase, die durch ut-i eingeleitel wird. Das »Shell-star-
verb«, das über kriegerische Aktionen zwischen zwei
Orten berichtet oder »muk-ah«, »was buried«, sind beste
Beispiele dafür, weitere sind bekannt.
Darüber hinaus scheint zwischen den angenommenen
Ortsnamen und der Ikonographie unter Szenen oder ste-
henden Figuren eine enge Beziehung zu bestehen. Nicht
nur in den Chaak-Seiten des Dresdner Codex fungieren
ikonographischc Komponenten als Toponym. die den Ort
von Geschehnissen wiedergeben.
Neben den geographisch bestimmbaren Ortszeichen gibt
es auch Stätten mythischer Begebenheiten, die uns Ein-
sicht in die Geographie des religiösen Glaubenssystems
der Maya gewähren. Durchgehend sind in Palenque,
Copän, Piedras Negras und Quiriguä beispielsweise
Ereignisse, die am Beginn des laufenden Baktun-Zyklus
13.0.0.0.0 4 Ahau 8 Cumku stattfanden, mit einem
bestimmten Ort verknüpft. Es gab offenbar die Praxis,
etwa in Texten, die von der Geburt von Göttern berichten,
Toponyme an Verben anzugliedem. um den Geburtsort
genau zu benennen (Matawil-compound). Weitere Bei-
spiele mythischer Toponyme werden erläutert.
Konsequenterweise suchte man nun auch nach noch spe-
zielleren Ortsbezeichnungen wie einzelnen (rituellen)
297
TRIBUS 43, 1994
Gebäuden, Bestattungsorten, ganzen Sektoren innerhalb
eines Ortes, mit Erfolg. Eine Reihe dieser lokativen
Bezeichnungen bezieht sich auf große Bereiche eines
Ortes (z. B. El Duende als Sektor von Dos Pilas), andere
auf einzelne Strukturen (z. B. Zwillingspyramiden,
Tikal).
Die als Ortsnamen identifizierten Hieroglyphen sind ver-
mutlich echte Toponyme und variieren erwartungsgemäß
von Ort zu Ort im Gegensatz zu den Emblem-Hierogly-
phen, die größere politische Einheiten bezeichnen.
In der historischen Perspektive stellt es sich so dar, als ob
im ersten Teil der Frühklassik bestimmte Ortsnamen
gebräuchlicher waren als Emblem-Hieroglyphen; dies
traf möglicherweise u.a. für Tikal zu, wo das Hauptzei-
chen des lokalen Emblems konsistent nach ut-i erscheint.
Der simultane Gebrauch von Toponym und Emblem-Hie-
roglyphe in einer einzigen »clause« ist eine relativ späte
Innovation, die vielleicht das Anwachsen der politischen
Gemeinwesen reflektiert bis zu einem Punkt, an dem sie
zusätzlich größere Zentren inkorporierten.
Die Autoren, die sich ausdrücklich nicht nur an Epigra-
phiker richten, wollen ihre Publikation als Diskussions-
grundlage verstanden wissen und erheben keinen
Anspruch auf endgültige Ergebnisse oder Vollständig-
keit. Es ist gerade auch deshalb erfreulich, daß diese für
historische und mythologische Texte so wichtige Hiero-
glyphen-Kategorie dem aktuellen Forschungsstand ent-
sprechend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Die Argumente, u.a. durch zahlreiche Hieroglyphen-
Umzeichnungen sichtbar gemacht, sind geeignet, die
Hypothese von der Existenz spezifischer Ortsnamen
nachzuvollziehen und auch Interessierten, die nicht zum
»inner circle« der Maya-Epigraphiker zählen, eine eigene
Einschätzung des Problems zu ermöglichen. Durch die
Beleuchtung der Orts-Hieroglyphen gewinnen wir Ein-
sicht darüber wie die Maya ihre geographischen und
mythologischen Landschaften benannten und strukturier-
ten. Signifikant wird die Erhellung dieser geographischen
Konzepte für das, was sie uns eines Tages über Gesell-
schaft, Politik, Religion und Geschichte der alten Maya
sagen werden. »Whal remains for the future is an intégra-
tion of such emic geographica! concepts with the etic pat-
terns documented by Settlement pattem archaeology
(S. 95).
Berlin, Heinrich:
El glifo »emblema« en las inscripciones Mayas. Journal
de la Société des Américanistes 47: 11-119, 1958.
Maria Gaida
Verswijver, Gustaaf Hubert:
Ornaments and Ethno-History in the Ama-
zon: Proposition of a Methodological Model.
(Werkdocuments over Etnische Kunst 7).
Gent: Universiteit Gent, Seminarie voor
Etnische Kunst 1993. 49 Seiten mit 1 Karte
und 11 Abbildungen.
In den Jahren 1974-82 hat Verswijver mehr als 38
Monate bei den Kaiapo Zentralbrasiliens verbracht. Seine
Arbeit »The Club-Fighters of the Amazon« (Gent 1992)
war eine eindrucksvolle Zusammenfassung seiner minu-
tiösen Studien der materiellen Kultur, der Ethnohistorie
sowie der Außenkontakte und der Kriegführung bei den
verschiedenen Kaiapo-Untergruppen.
Diesmal gilt sein Interesse der Signifikanz und den Effek-
ten der Kontakte zwischen amazonischen Ethnien. Er
nimmt an, daß Begegnungen - welcher Art auch immer -
stets ihren Niederschlag in Objekten der materiellen Kul-
tur finden; letztere also sehr oft Zeugnisse solcher histo-
rischer Ereignisse und daraus resultierender intertribaler
Akkulturationsprozesse sind.
Für gewöhnlich stützten sich Ethnohistoriker auf die
Analyse schriftlicher Dokumente und ikonographischen
Materials oder auf die Interpretation oraler Tradition. In
Einklang mit dem heute zurecht praktizierten Metho-
denpluralismus schlägt Verswijver für die Fälle, in denen
Zeugnisse dieser beiden Kategorien unzureichend sind,
die genauere Untersuchung materieller Objekte vor.
Die im Tocantins-Araguaya-Xingü-Gebiet zwischen
anderen Makro-Ge, Tupi, Arawaken und Kariben leben-
den Ge-sprachigen Kaiapo sind, historisch gesehen, recht
homogen und verdanken die bemerkenswerte Varietät
ihrer kulturellen Ausdrucksformen nicht etwa ökologi-
schen Faktoren, sondern, und das will Verswijver zeigen,
v. a. ihren zahlreichen Kontakten mit Nicht-Kaiapo in den
letzten beiden Jahrhunderten. Ä
Zu diesem Zweck untersuchte Verswijver u.a. Materia-
lien, Konstruktionsprinzipien und Größe von etwa 1000
Kaiapo-Objekten und 400 Artefakten benachbarter Grup-
pen.
Er hatte festgestellt, daß zwei der drei Kaiapo-Untergrup-
pen, nämlich die Goroti und Xikrin, in den letzten hun-
dert Jahren die Größe und Anzahl ihrer krökrökti-Feder-
kronen enorm steigerten. Diese Entwicklung sieht er in
direktem Zusammenhang damit, daß diese Kaiapo etwa
zeitgleich die in Hinblick auf die Vogelpopulation nicht
ausgejagten Gebiete von kleineren Nachbargruppen
besetzten, effektive Feuerwaffen erwarben und ihre
eigene Gruppengröße reduzierten. Pro Siedlungseinheit
konnten also rasch nicht nur mehr, sondern auch größere
Kronen hergestellt werden.
Tatsächlich war die dritte Gruppe, die der Ira’amran-re,
die weiterhin kleine Kronen anfertigte, nicht migriert und
hatte erst dann Zugang zu Gewehren, als schon Tausende
von Brasilianern in ihr Territorium eindrangen.
Das technologisch interessante Detail beim äkkäti-Kopf-
schmuck, Verswijvers zweitem Beispiel, ist ein hufeisen-
förmiger Rahmen aus Palmblattrippen. Verswijver zeigt
nun, daß dieses Konstruktionselement von den tupi-spra-
chigen Tapirape stammen muß, die im frühen 19. Jh. am
unteren Araguäya Kontakt mit den Goroti und Ira’amran-
re hatten. Folgerichtig fand sich bei den Xikrin, die sich
schon im späten 18. Jh. von den beiden anderen Gruppen
trennten, dieser Kopfschmuck erst kürzlich, nachdem sie
ihn ihrerseits von den Xikrin übernommen hatten.
In Übereinstimmung mit den Beobachtungen aus dem
ersten Beispiel gibt es diesen aufwendigen Schmuck, für
den bis zu 60 Vögel einer Art erlegt werden müssen, bei
den Ira’amran-re seltener und zudem in kleinerer Aus-
führung.
Beim dritten Typ, äkkäkry-re, sind die Federn auf einem
Kopfreif aus Baumwolle montiert; manchmal zweilagig
und manchmal mit längeren Federn über der Stirn. Ver-
swijver fand fünf Kombinationen dieser drei Merkmale,
wiederum die einfachste davon bei den Ira’amran-re. Die
Buchbesprechungen Orient
Goroti hatten erst in jüngster Zeit von gefangengenom-
menen Xikrin deren »Erfindung« einer doppelten Lage
Federn übernommen, und das Element »längere Mittelfe-
dern« stammte offenbar von den Jurüna, die Ende des
19. Jh. am Xingü unmittelbare Nachbarn der Goroti
waren.
Die Ira’amran-re verwendeten für einen vierten - bei
ihnen seltenen - Federkronentyp anstelle der von Xikrin
und Goroti bevorzugten Baumwollfäden weiterhin die
traditionellen Palmfasern. Bei den Mekragnoti, einer
Goroti-Gruppe, werden solche Kronen mit Baumwollbe-
festigung von den jungen (»modernen«), solche mit
Palmfaserbefestigung von den älteren (»konservativen«)
Männern getragen. Verswijver zeigt, daß die Feinheit und
Komplexität der Baumwollarbeiten als Gradmesser für
die Beeinflussung der verschiedenen Kaiapo-Untergrup-
pen durch Tupf dienen kann.
Nicht nur auf die spektakulären Federkronen, auch auf
andere Körperschmuckobjekte kann Verswijvers verglei-
chende Methode angewendet werden. Intertribale Ent-
lehnung weist er ebenfalls für bestimmte Typen von
Arm- und Beinbändern nach. Auch die hölzernen Lip-
penscheiben, die bei den Kaiapo-Goroti mit 13 cm -
wesentlich größer als die Lippenpflöcke bei anderen
Kaiapo und umgebenden Nicht-Kaiapo sind, erklärt er
so. Er sieht eine Verbindung zwischen der außergewöhn-
lichen Größe der Lippenscheiben der Kaiapo und deren
Hochschätzung der Redekunst. Diese ist - wie das Tra-
gen der Lippenscheiben - Vorrecht der Männer. Die
Scheibe ist das Symbol des »zweiten Mundes«, der
Überzeugungskraft des Anführers. Nun hatten die besten
Rhetoriker gleichzeitig das Recht und die Pflicht,
Kriegszüge gegen Nachbarn anzuführen. Die seit etwa
1910 rapide steigende Zahl der Kriegszüge gegen die bra-
silianischen Siedler und die dazu direkt proportional
wachsende Bedeutung männlicher Tugenden ging nach-
weisbar mit einer stetigen Vergrößerung der Lippen-
scheiben einher. Und die Goroti, die die meisten militäri-
schen Auseinandersetzungen mit Neo-Brasilianern
hatten, entwickelten die größten Lippenscheiben.
Verswijver stellt zusammenfassend eine kulturelle
Distanz zwischen den Goroti und den Xikrin fest, ebenso
eine zwischen diesen beiden Gruppen und den Ira’amran-
re. Tatsächlich hatten die drei Gruppen in dieser Reihen-
folge in absteigender Intensität und Dauer Kontakte mit
verschiedenen Nachbarn und Migrationen in abnehmen-
der Zahl.
Einer naheliegenden Kritik - daß nämlich seine anhand
der Objekte gemachten »Entdeckungen« nur mit und
nach seinen ethnohistorischen Kenntnissen möglich
waren - hat Verswijver schon 1987 (»Analyse compara-
tive des parures Nahua.« Bulletin du Musée d’ethnogra-
phie de la Ville de Genève 29: 25-67) vorgebeugt. Seine
Methode hat sich damals bei der Untersuchung von vier
Pano-sprachigen Nahua-Gruppen bewährt: Die Er-
klärung für außergewöhnliche Züge des Schmucks bei
einer der vier Gruppen, die - wie die Goroti unter den
Kaiapo - durch »Anomalien« hervorstach, fand sich dort
erst viel später in einer größeren Migration und daraus
resultierenden Kontakten mit nicht-verwandten Gruppen.
Verswijvers Vorgehensweise erfordert eine breite Daten-
basis und genaue Kenntnisse der Technologien nicht nur
direkter Nachbarn der zu untersuchenden Gruppe, son-
dern auch geographisch und linguistisch entfernterer Eth-
nien. Diese vorausgesetzt, stellt seine kombinierende
Methode ein wertvolles Werkzeug der ethnohistorischen
Rekonstruktion dar.
Bruno Julius
Sabloff, Jeremy A./Henderson,
John S. (Eds.):
Lowland Maya Civilization in the Eighth
Century A.D. A Symposium at Dumbarton
Oaks 7th and 8th October 1989. Dumbarton
Oaks Research Library and Collection, Wa-
shington D.C. 1993, 482 S.
Die Artikelsammlung entstammt einem in Dumbarton
Oaks 1989 abgehaltenen Symposium. Zielsetzung des
Symposiums war es, einen breiten thematischen (Klassi-
sche Maya-Kultur), aber engen zeitlichen Rahmen
(8. Jahrhundert) abzustecken und eine Synthese archäolo-
gischer, historischer und künstlerischer Information zu
bilden. Als Kernfragen werden dabei das Ausmaß und die
Bedeutung regionaler Variabilität innerhalb des Maya-
Gebietes sowie die Prozesse, die im 8. Jahrhundert ein-
setzten und schließlich zu der großen Veränderung der
Maya-Kultur im 12. und 13. Jahrhundert führten, behan-
delt. Die Autoren (Don S. Rice; Patricia McAnany;
Robert J. Sharer; Joyce Marcus; Gary H. Gossen und
Richard M. Leventhal; Gair Tourtellot; Joseph W. Ball;
Daniel R. Potter; Juan Pedro Laporte; David Stuart; Mary
Ellen Miller; David Webster; John S. Henderson und
Jeremy A. Sabloff) geben ein umfassendes Bild des
gegenwärtigen Forschungsstandes und üben gleichzeitig
generelle Kritik an der zu starken Konzentration der
Maya-Forschung auf den Peten sowie der fehlenden
Zusammenarbeit der Disziplinen Ethnohistorie, Archäo-
logie, Epigraphie und Ikonographie. Auch wird ihrer
Meinung nach zu wenig mit Vergleichen zu anderen kom-
plexen Kulturen oder auch mit Analogien gearbeitet, um
so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
Nach einem Kapitel von Don S. Rice (Kap. 2) über die
Umwelt und die wirtschaftlichen Grundlagen der Maya-
Kultur, deren Basis er im 8. Jahrhundert durch Überbe-
anspruchung der ökologischen Ressourcen schwinden
sieht, widmet sich Patricia A. McAnany (Kap. 3) den
Formen wirtschaftlicher Organisation im Mayagebiet.
Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß es sich um eine
pluralistische Wirtschaft handelte, die in unterschiedli-
che ökonomische Sphären unterteilt war. Ein Konzept,
dem die theoretischen Abhandlungen Karl Polanyis
zugrunde liegen, ohne daß er jedoch von der Autorin
zitiert wird, was wünschenswert gewesen wäre. Nach
McAnanys Auffassung gehört die Elite einer anderen
wirtschaftlichen Sphäre an als die Familien am unteren
Ende der gesellschaftlichen Hierarchie und hat dadurch
keinerlei unmittelbaren Einfluß auf das wirtschaftliche
Geschehen. Die Abhängigkeit der »Unterschicht« von
der Elite spielte sich McAnanys Ansicht nach nur im
Rahmen der Religion und des esoterischen Wissens ab:
die Elite gewährleistete durch Opfer die Fruchtbarkeit
der Felder. Die »Unterschicht« selbst sieht sie in cal-
pulli- oder ayllu-ähnliche soziale Einheiten gegliedert,
innerhalb derer es keine soziale Abstufung gegeben hat.
Ein Ergebnis, das mit den Grabungsberichten aus Seibal
299
TRIBUS 43, 1994
(Tourtellot 1988) übereinstimmt. Die soziale Organisa-
tion der Maya hingegen bleibt aus verschiedenen Grün-
den weitgehend im unklaren. Robert J. Sharer kann in
seinem Artikel (Kap. 4) letztlich nur mit Sicherheit fest-
stellen, daß es mindestens zwei Schichten gegeben hat;
die Elite und die »Unterschicht«. Da in den Glyphen nur
über die Angelegenheiten der Oberschicht berichtet
wird, läßt sich auch nur hier eine Feineinteilung vorneh-
men. Sharers Meinung nach handelt es sich hierbei um
patrilineare Deszendenzgruppen, die jedoch von Staat zu
Staat variierten. Weibliche Herrscher waren die Aus-
nahme und sind nur für Palenque und Siedlungen am Rio
Usumacinta belegt.
Der Artikel von Joyce Marcus (Kap. 5) über die »Ancient
Maya Political Organization« stellt ein umfassendes
neues Modell vor. Entwickelt aus drei Quellen, den spa-
nischen Beschreibungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert
über das Leben der Maya in Yucatan und Peten (hier wird
vor allem von Roys [1943 u.a.j ausgegangen), dem
»pepet tsibil« (kreisförmige Karten, auf denen die
autochthone Bevölkerung ihre Territorien beschrieb) und
Termini, die die Maya selbst für ihre eigenen politischen
und territorialen Einheiten gebrauchten (aus Wörter-
büchern der frühen Kolonialzeit), führt es zu einem span-
nenden Ergebnis. Nach Marcus war das Maya-Gebiet in
innenpolitisch stabile, aber nach außen gegeneinander
konkurrierende »provincias« unterteilt, die sich peri-
odisch und in unterschiedlicher Zahl zu großen regiona-
len Staaten zusammenschlossen. Dieser Zusammen-
schluß konnte aus verschiedenen Gründen geschehen,
wobei die Eroberung kleiner Provinzen durch eine stärker
gewordene wohl eine der häufigsten Ursachen gewesen
ist. Nach einiger Zeit, zum Teil nach mehreren hundert
Jahren, zerfielen diese regionalen Staaten wieder in die
kleineren Provinzen, die sie ursprünglich waren. Auch
hier waren die Motive unterschiedlich. Ein verlorener
Krieg, Autonomiebestrebungen ehemaliger Provinzen
und deren Herrscher könnten ein solcher Anlaß gewesen
sein. Ein Modell, das auf viele Gebiete anwendbarzu sein
scheint.
Gossen und Leventhal (Kap. 6) erkennen in ihrem Arti-
kel über die Religion zwei bedeutende religiöse Tradi-
tionen: die »Great Tradition« als offizielle Staatsreli-
gion, vertreten durch die Elite und die »Little Tradition«
mit lokalen Varianten oder auch anderen religiösen Prak-
tiken, ausgeübt von der »Unterschicht«. Als grundle-
gend wird die zyklische Struktur der Religion angese-
hen, die sich innerhalb der »Little Tradition« bis in die
heutige Zeit erhalten hat. Joseph W. Ball (Kap. 8) sieht
die großen Zentren der »Late Classic Maya« eher als
Konsumenten denn als Produzenten von Töpferware. Er
stellt eine zunehmende Regionalisierung von Keramik-
stilen überdas 8. Jahrhundert hinweg fest und sieht in ihr
letztlich sogar den Beweis für den Zerfall und die Zer-
splitterung der Maya-Gesellschaft des 8. Jahrhunderts.
Daniel R. Potter (Kap. 9) kommt in seiner Analyse der
lithischen Artefakte zu einem sehr ähnlichen Ergebnis.
Auch er sieht die Zentren als Konsumenten und nicht
Produzenten (eine Annahme, die der früheren Auffas-
sung, daß große Zentren wie beispielsweise Tikal auch
wichtige Produktionsstätten von Gütern gewesen seien,
widerspricht). Er sieht, wie Ball, die »community«, die
kleine Dorfgemeinschaft, als Hauptproduzenten für
Gebrauchsgüter. Mary Ellen Miller stellt in ihrem Bei-
trag die unterschiedliche Entwicklung der Kunst im
Maya-Gebiet heraus. Sie sieht in Tikal einen eher »kon-
servativen« Umgang mit der Kunst, während in Palen-
que im 8. Jahrhundert große Veränderungen erkennbar
sind.
Insgesamt gibt der Band einen hervorragenden Überblick
über den gegenwärtigen Forschungsstand, greift erneut
die Theorie des »Classic Maya Collapse« an und stützt
die Thesen über Regionalisierung und Rivalität innerhalb
des Maya-Gebietes. Darüberhinaus zeigen einige der
Autoren neue Möglichkeiten und Modelle zur Analyse
prähistorischer Gesellschaften auf, deren Anwendbarkeit
weit über das Maya-Gebiet hinausreicht und für alle an
der Diskussion über »chiefdoms« und »pristine States«
Interessierten von Bedeutung sein dürften.
Doris Kurella
Pinkwart, Doris /Steiner, Elisabeth
Bergama Cuvallari. Die Schmucksäcke der
Yürüken Nordwestanatoliens. Stammesge-
schichte, Musterrepertoire, Bestimmungs-
hilfe. Wesel; Hülsey, 1991. 240 Seiten, 43
Tafeln mit 282 Farbabbildungen, 1 farbige
Karte, zahlreiche Musterzeichnungen
Im Gebiet von Bergama, dem alten Pergamon, sind nicht
nur die jahrtausendealten antiken Zeugnisse faszinierend
und interessant. Fast aufregender für den am Leben unse-
res Jahrhunderts Interessierten ist - oder besser war - das
bunte Bild, das die mit ihren Karawanen oder Schaf- und
Ziegenherden ziehenden Nomaden in der Mittelmeer-
landschaft boten und noch selten bieten. Heute sind die
meisten Stämme in Dörfern angesiedelt. Sie haben
gewisse Traditionen beibehalten. Dazu gehört zum Teil
die Kunst des Webens. Davon berichten Doris Pinkwart
und Elisabeth Steiner in ihrem Buch »Bergama Cuvallari.
Die Schmucksäcke der Yürüken Nordwestanatoliens«.
Die Verfasserinnen haben während ihrer Untersuchungen
seit 1975 und Forschungsreisen innerhalb von 10 Jahren
zu mehreren Nomadenstämmen über 1000 Schmuck-
säcke photographisch in Moscheen, Museen und bei
Händlern erfaßt. Sie konnten davon aber nur einen klei-
nen Teil intensiv bei den Nomaden selbst untersuchen.
Denn die meisten der schön mit Mustern verzierten,
handgewebten Säcke, die in den Zelten die Funktion von
Schränken hatten, sind verkauft und in alle Winde zer-
streut worden. Neu gewebt wird nur noch selten und dann
vielfach für Touristen, weniger für die Aussteuer wie in
alten Zeiten. Während der Forschungen der Verfasserin
dieser Besprechung erwiderten die Weberinnen auf Fra-
gen, warum das so sei, lakonisch: Moda gecti (»Die Mode
ist vorbei«).
Doris Pinkwart und Elisabeth Steiner gliedern ihr Buch in
einen ethnographischen Abschnitt (S. 13-23) und dann in
einen historischen (S. 24-50), in dem neben der
Geschichte Anatoliens die Bedeutung der Yürüken für
das seldschukische und osmanische Reich beschrieben
werden. Darauf folgen Erläuterungen über die Ge-
schichte, die Wanderzüge und die Siedlungsgebiete der
einzelnen Stämme. Das geschieht sehr genau aufgrund
von urkundlichen und anderen schriftlichen Quellen.
Besonders interessant sind die Befragungen der
300
Buchbesprechungen Orient
Angehörigen der Stämme selbst. Oft decken sich deren
Auskünfte auch mit der Historie oder sie ergänzen diese.
Die wichtigsten und ausführlichsten Kapitel dieses
Buches handeln über »Die Säcke der Stämme und Regio-
nen« (S. 52-93). Hier gewinnt der Leser viele neue
Erkenntnisse. Sie beinhalten genaue Beschreibungen der
Säcke, der Webarten, Muster und Farben. Gewürzt und
spannend gemacht werden diese Ausführungen durch
immer wieder eingeflochtene Bemerkungen über
Ursprung und Herkunft der Stämme in den verschiedenen
Epochen und durch das Erraten der Bedeutung der Stam-
mesnamen, die den Verfasserinnen oft zu einfach vor-
kommt. Überzeugend werden Verwandtschaften zwi-
schen Großfamilienverbänden durch die Art und Weise
der Musterverarbeitung und der Farben in den verschie-
denen Stücken bewiesen. Geschichtliche Zusammen-
hänge, gemeinsame Wanderungen und Gefolgschaften
werden anhand der Textiluntersuchungen gezeigt, so daß
die Webstücke die geschichtlichen Quellen bestätigen
und umgekehrt.
Die Verfasserinnen bemühen sich auf diese Weise sehr,
jedem Stamm oder mehreren durch die gemeinsame Ver-
gangenheit verknüpften Stämmen ureigene Muster zuzu-
weisen. Jedoch geben sie zu, daß so eine Klassifikation
sehr schwierig ist. Meines Erachtens nach könnte das für
frühere Jahrhunderte zutreffend gewesen sein, kaum aber
für unsere Zeit. Es sind zu viele Einflüsse vorhanden auf-
grund ausgebauter Straßen, der Verkehrsmittel, Radio
und Fernsehen, denen die heute ja in Dörfern wohnenden
Yürüken unterliegen. Darum neige ich dazu, ähnliche
Webstücke einem größeren Raum zuzuschreiben. Letzt-
lich haben die Verfasserinnen das auch gemacht, weil sie
die Schmucksäcke der ganzen Region Bergama zusam-
men untersucht haben.
Die Verfasserinnen ziehen auch Querverbindungen zwi-
schen den Turkvölkern Anatoliens und denen Mittel-
asiens und beweisen Verwandtschaften anhand der Tex-
tilien. Das ist frappierend, weil ja über lange Zeiträume
hinweg keine wesentlichen Verbindungen zwischen den
weit entfernten Ländern stattgefunden haben. Es muß
sich also um einen alten, gemeinsamen Musterschatz
handeln.
Ich möchte noch einmal erwähnen, daß dieses Buch in
sehr verdienstvoller Weise mit ethnologischen, histori-
schen und soziologischen Methoden erarbeitet worden
ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn viele Ver-
öffentlichungen über volkskundliche Textilien zeigen nur
Beschreibungen in kunstgeschichtlicher Manier. Auch in
»Bergama Cuvallari« wird zum Teil so vorgegangen,
aber eben nur zum Teil. So werden Musternamen erfun-
den, wie »Schwalbenflug«, »Bonbonstreifen« usw. War-
um können nicht die türkischen Bezeichnungen gegeben
werden, die doch bildhaft genug sind? Ich denke dabei an
Namen aus meinem eigenen südwesttürkischen For-
schungsgebiet, z. B. an das »Kranichzug-Motiv« (turna
katari) mit seiner sehnsuchtsvollen, religiösen Bedeutung
oder an »Wolfsmaul« (kurt agzi) mit dem abwehrenden
Inhalt.
Darüber hinaus werden Musterentwicklungen aufgezeigt
(z. B. S.78 oder Abb. 15 und 16 u. a.) und von älteren und
jüngeren Formen gesprochen, wie es für unsere westliche
Kunst durchaus zutreffend ist, aber meines Erachtens
nach nicht für die Volkskunst der Türkei. Dort gibt es
nämlich nicht eine Entwicklung in unserem Sinn. Man
bleibt in der Tradition, wie es ja auch das noch heute vor-
handene gemeinsame Mustergut Mittelasiens und Anato-
liens beweist. Und dennoch ist die Kunst des Individuel-
len variierend stark ausgeprägt. Sie erfolgt aber immer im
Rahmen der Tradition. Sie beinhaltet keine Entwicklung
im westlichen Sinn. Letztlich ist es in der türkischen
Webkunst genauso wie in der Volksmusik und in der
Volksdichtung. Jedes Lied und jedes Gedicht läßt sich
zurückführen auf ein melodisches und dichterisches
»Modell«. Das ist eine Melodie-Idee oder Gedicht-Idee,
die im Kopf eines jeden traditionsgebundenen Volks-
künstlers lediglich als Gerüst gespeichert ist. Bei jeder
Realisation wird dieses Melodie-Gedicht - oder im Fall
der Webkunst die als Gerüst im Kopf vorhandene Web-
Idee - anders, nämlich individuell, zutage gebracht und
nach dem Belieben und der Begabung des oder der Aus-
führenden erweitert, abgewandelt und gesteuert. Für alle
diese Vorgänge gibt es bei den türkischen Musikern ent-
sprechende Termini, ein Beweis für die Existenz dieser
Tradition. Auf diese Weise fällt das »componere« eines
Liedes, eines Gedichtes, eines Webstücks jedes Mal ver-
schieden aus. Und dennoch kann man die entsprechende
Tradition erkennen.
Mit diesen Ausführungen möchte ich keinesfalls das
große Verdienst dieses Buches schmälern. Ich möchte nur
einen Denkanstoß geben, sich nicht nur von westlichen
Vorstellungen leiten zu lassen, sondern der orientalischen
schöpferischen Geisteshaltung und Mentalität gerecht zu
werden.
Das Buch von Doris Pinkwart und Elisabeth Steiner ist
eine große Bereicherung für die vorhandene Fachlitera-
tur, nicht zuletzt auch wegen seiner schönen Aufma-
chung, der ausgezeichneten Reproduktionen und Bilder,
durch die die nomadische Realität äußerst lebendig wird,
auch für die Nichtkenner der türkischen Yürüken.
Ursula Reinhard
Zschoch, Barbara:
Deutsche Muslime: Biographische Erzählun-
gen über die Konversion zum fundamentali-
stischen Islam. (Kölner Ethnologische
Arbeitspapiere, Bd. 6).
Bonn: Holos Verlag, 1994. 80 Seiten.
Die Untersuchungsmethode, biographische - oder ge-
nauer gesagt autobiographische - Erzählungen zu einem
bestimmten Thema zu analysieren, ist in den letzten Jah-
ren in der Ethnologie immer mehr in Mode gekommen.
Die Arbeiten zeigen aber alle, daß es sich hierbei nur um
eine ethnologische Quelle zur Erfassung des jeweiligen
Themas handelt. Der Untersuchungscorpus muß durch
andere Quellen, seien dies Daten durch teilnehmende
Beobachtung, gezielte Interviews, Archivforschung oder
zumindest durch eine Kontextualisierung ergänzt werden.
Bleibt es bei der reinen Analyse der biographischen
Erzählungen, so befindet sich die Forschung erst in einem
Anfangsstadium. Dies trifft auf die vorliegende Studie
zu, die 1992 als Magisterarbeit an der Philosophischen
Fakultät der Universität Köln eingereicht wurde.
Basis waren 12 ein- bis dreistündige Interviews mit deut-
schen Konvertiten zum fundamentalistischen Islam. Unter
»fundamentalistischem Islam« versteht B. Zschoch ganz
301
TRIBUS 43, 1994
allgemein einen Islam, »der sich nur an Koran und Sunna
als Fundamenten orientiert, ihre Aussagen als obligatori-
sche Lebensregel begreift - im Gegensatz zum Beispiel
zum mystischen, sufistischen Islam, der zusätzlich noch
die Regeln der Orden, in denen er organisiert ist, bzw. die
Aussagen von spirituellen Führern dieser Orden aner-
kennt« (S. 3). Die Autorin wählte ausschließlich »deutsche
Muslime«, die nicht als Muslime geboren und sozialisiert
wurden, sondern erst im Erwachsenenalter zum Islam kon-
vertierten. Sie schloß damit eingebürgerte Muslime aus-
ländischer Herkunft und die als Muslime geborenen Kin-
der konvertierter Deutscher oder eingebürgerter Muslime
aus (S.3). Die Befragten waren acht Männer und vier
Frauen im Alter von 24 bis 66 Jahren, die sich zwischen
1V: und 15 Jahren zum Islam bekannten.
Mit einer ausführlichen Interviewphase und einer an-
schließenden telefonischen Befragung der Informanten
versuchte die Autorin die Vorgeschichte, die Konversi-
onsabläufe und den gegenwärtig gelebten »islamischen«
Alltag der deutschen Muslime zu erfassen. Das Alter zum
Zeitpunkt der Konversion schwankte zwischen 17 und 56
Jahren. Sie hatten ganz unterschiedliche Lebensgeschich-
ten, stammten aber alle aus einem christlichen Kontext.
Der formale Bildungsstand reichte von mittlerer Reife bis
zum abgeschlossenen Hochschulstudium. Im Gegensatz
zu den Vorgeschichten konnte die Autorin eine hohe Ähn-
lichkeit bei den Konversionsgeschichten feststellen
(S.25, 59). Bei fast allen war der freundschaftliche Kon-
takt mit gläubigen Muslimen der erste Anstoß zur Kon-
version. Es entstand ein Interesse am Islam und eine
intensive Auseinandersetzung mit der Religion. Nach B.
Zschoch gründete sich die Konversion auf die rationale
und emotionale Anziehungskraft des Islam und die
Ablehnung bestimmter Aspekte des Christentums und
der deutschen Gesellschaft (vgl. S. 25-26, 59).
Die Erzählungen über den »islamischen« Alltag zeichne-
ten sich nach Zschoch durch eine Orientierung des
Lebens an Koran und Sunna aus (S. 37 ff.). Ein Teil nahm
neue (islamische) Namen an, fast alle benutzten der For-
scherin gegenüber den Gruß »Salom aleikum«, andere
islamische Redeformeln wurden von der Befragten dage-
gen in unterschiedlicher Häufigkeit verwendet. Als wei-
tere Aspekte einer fundamentalistischen Grundeinstel-
lung arbeitete die Autorin u. a. die Kleidung, die Kin-
dererziehung, die Wohnungseinrichtung, den Umgang
der Informanten mit dem anderen Geschlecht, mit Nicht-
Muslimen, mit Alkohol und Schweinefleisch und die Ein-
stellung zu Beten und Fasten heraus.
Es ist das Verdienst der Autorin, dieses interessante
Thema erstmals aus dem Blickwinkel der Ethnologie zu
bearbeiten. Dennoch kann es sich hierbei nur, wie bereits
anfangs erwähnt, um einen Einstieg in eine umfassendere
Forschung handeln. Die Quelle der autobiographischen
Erzählungen erscheint viel zu einseitig. Der Versuch
einer Kontextualisierung fiel zu knapp aus. Eine weitere
wichtige Forschungsmethode, und für eine ausgewogene
Gesamtdarstellung letztlich unerläßlich, wäre nun eine
gründliche (teilnehmende) Beobachtung der Untersu-
chungsgruppe, soweit möglich im Privat- und Berufsle-
ben, bei religiösen Ereignissen und bei Informationsver-
anstallungen oder Zusammenkünften Gleichgesinnter.
Auch eine Befragung des persönlichen Umfeldes der
Betroffenen erscheint sinnvoll. Die Autorin hat aber ohne
Zweifel einen ersten Grundstein gelegt und weitere For-
schungen - auch über Konvertiten zu anderen Religions-
gemeinschaften - angeregt.
Bernd Schmelz
Bawden, Charles R.;
Confronting the Supernatural: Mongolian
Traditional Ways and Means. Collected
Papers. Wiesbaden: Harrassowitz, 1994. 271
Seiten mit Zeichnungen
»Der Urahn Dschingis Khans war ein vom hohen Himmel
erzeugter, schicksalserkorener, grauer Wolf. Seine Gattin
war eine weiße Hirschkuh.«
Mit diesen Worten beginnt die »Geheime Geschichte der
Mongolen« (Aus: »Dschingis Khan - Ein Weltreich zu
Pferde. Das Buch vom Ursprung der Mongolen«), die
1240 auf der im Kerulenfluß gelegenen Insel Kode’e ent-
stand.
Sie ist eine für die Geschichte von Nomaden nicht nur
einzigartige, sondern einmalige Stammeschronik und
wurde noch vor dem Ende der Mongolenherrschaft in
China - also vor 1368 - aus der für die mongolische
Schriftsprache entwickelten Form des tibetischen Alpha-
bets, die nach der Form der Buchstaben »Quadratschrift«
genannt wird, in chinesischen Schriftzeichen niederge-
schrieben. Allerdings wurde diese Stammeschronik
danach nicht ins Chinesische übersetzt, sondern lediglich
mit chinesischen Erläuterungen versehen.
Allein dieser Tatsache verdankt das Dokument seinen
Erhalt bis in unsere Tage. Gleich zu Beginn der Ming-
Dynastie (1368-1644), welche die 1280 von Kublai Khan
begründete mongolische Yüan-Dynastie 1368 stürzte,
vernichteten die Chinesen nämlich sämtliche in mongoli-
scher Schrift niedergeschriebene Literatur.
Ihre Wut auf alles Mongolische ging so weit, daß ledig-
lich wenige Steininschriften in mongolischer Schrift
überdauerten. Unter der Ming-Dynastie ist die »Geheime
Geschichte der Mongolen« für die Regierung gedruckt
worden, doch vom Original blieben nur wenige Blätter
erhalten, da die Chinesen den Inhalt nicht verstanden.
Erhalten aber blieben Abschriften der Übersetzung, die
erst im 19. und 20. Jahrhundert in China kommentiert
wurden.
Nachdem der deutsche Mongolist Erich Haenisch nach
mannigfachen Versuchen, den Urtext zu erhalten und zu
übersetzen, ihn endlich in die Hände bekam, brachte er
ihn schließlich 1937 und seine deutsche Übersetzung
1940 heraus.
Es wäre verfehlt, das Werk als wissenschaftliche Darstel-
lung historischer Ereignisse zu sehen. Es gibt jedoch tiefe
Einblicke in die Lebensweise der Mongolen und mußte
erwähnt werden, weil die in vorliegendem Band zusam-
mengefaßten 11 Aufsätze mehr oder minder darauf fußen.
Das wird schon im ersten Essay deutlich, in dem Bawden
zwei Texte zur Verehrung von Obo, das heißt aus rituel-
len Gründen aufgeschichlete Steinhaufen oder auch Grä-
ber, analysiert.
Nicht minder interessant ist die Abhandlung über die
astrologische Literatur und das Schrifttum, das sich mit
Weissagungen befaßt. Die Abhandlung verdeutlicht in
eindrucksvoller Weise, daß die Astrologie der Mongolen
sich in relativ geringer Weise von der europäischen unter-
Buchbesprechungen Ostasien
scheidet. Was eigentlich logisch ist, da schließlich Baby-
lonien ihr Entstehungs- und Verbreitungszentrum war.
Auch die Skapulimantik, also die Weissagung aus Kno-
chen - insbesondere aus Schulterblättern von Schafen -,
der ein spezieller Aufsatz gewidmet ist, scheint in Eura-
sien archaisch zu sein.
In weiteren Abhandlungen werden das übernatürliche
Element bei Krankheit und Tod in der mongolischen Tra-
dition dargestellt, die Volksreligion anhand eines mongo-
lisch-tibetischen Textes, schamanistische Jagdrituale,
Begräbniszeremonien etc. geschildert.
In Anbetracht der Tatsache, daß wir in Europa kaum über
das traditionelle Denken und Handeln der Mongolen
informiert sind und zu Zeiten der kommunistischen Herr-
schaft diese Traditionen unterdrückt wurden, ist die
Bedeutung dieser Anthologie außerordentlich groß. Sie
verdient eine weite Verbreitung, und es wäre empfehlens-
wert, sie in einige europäische Sprachen zu übersetzen.
Literatur;
Brentjes, Burchard: »Die Ahnen Dschingis Chans«, Ber-
lin (Ost) 1988
Heissig, Walter (Hrsg.): »Dschingis Khan - Ein Welt-
reich zu Pferde - Das Buch vom Ursprung der Mongo-
len«, München 1985 (Neuausgabe)
Willy Schroeter
Okada, Amina/Nou, Jean-Louis/Joshi, M.C.:
Taj Mahal. München; Hirmer Verlag, 1993.
231 Seiten mit einer Bibliographie, einem
Glossar, einer Karte und einem Grund- und
zwei Aufrissen, einem farbigen Frontispiz,
etwa 99, meist ganzseitigen, 28 doppelseiti-
gen, meist flächenfüllenden Farbtafeln und
vier Faltpanoramafarbtafeln, 4°
Der Taj Mahal ist im engeren Sinne das am rechten
Yamuna-Ufer in Agra, Uttar Pradesh, Indien, gelegene
Grabmal der am 17. Juni 1631 in Burhanpur an den Fol-
gen der Geburt ihres 14. Kindes verstorbenen zweiten
Ehefrau des Moghulkaisers Shah Jahan und das Grabmal
ihres am 31. Januar 1666 in Agra verstorbenen Eheman-
nes.
Shah Jahan war der dritte Sohn seines Vorgängers Jahan-
gir und dessen Ehefrau Balmati, die die Tochter von Raja
Udai Singh von Jodhpur war. Er wurde am 15. Januar
1592 in Lahore geboren.
Mumtaz Mahal war die Tochter von Asaf Khan und
Enkelin des Premierministers Jahangirs, Itimad al-Daula.
Sie wurde am 15. April 1593 geboren.
Mumtaz Mahal war die Tochter von Asaf Khan und
Enkelin des Premierministers Jahangirs, Itimad al-Daula.
Sie wurde am 15. April 1593 geboren.
Die Verlobung fand am 5. April 1607, die Hochzeit dann
am 10. Mai 1612 statt. Mumtaz wurde nach ihrem Hin-
scheiden zunächst im Zainabad-Garten bei Burhanpur
beigesetzt. Die Überführung des Leichnams nach Agra
erfolgte am 11. Dezember, die Beisetzung in Agra am 8.
Januar 1632. Der Grabkomplex als solcher wurde am 6.
Februar 1643 vollendet.
Der Taj Mahal wurde für den westlichen Reisenden zum
Inbegriff des Fernwehs, war doch schon seine Wirkung
auf den (westlichen) Betrachter seit Jahrhunderten ver-
blüffend, wie etwa folgende Begebenheit illustriert: Als
1835 der Generalsuperintendent zur Unterdrückung der
berüchtigten Raubmördersekte der »Thugs«, W. H. Slee-
man, seine Frau nach Besichtigung des Taj Mahal fragte,
was sie darüber dächte, antwortete diese; »Ich kann dir
nicht sagen, was ich darüber denke, da ich nicht weiß wie
ich ein solches Bauwerk beurteilen soll, aber ich kann dir
sagen, was ich fühle; Ich stürbe morgen, um in solch
einem Bauwerk begraben zu werden«. Sleemans Kom-
mentar: »Das ist zweifellos, was viele Damen fühlen«
(Rambles and Recollections of an Indian Official, Lon-
don, 1844, Vol. 2, p. 32).
Das Buch ist dem im April 1992 bei einem Autounfall
ums Leben gekommenen Jean-Louis Nou gewidmet, der
an über 16 Büchern über Indien in seiner Eigenschaft als
Fotograf mitarbeitete. Das Buch lebt von den Fotos, die
ausschließlich von Nou gemacht wurden und die zu den
besten veröffentlichten Bilddokumenten vom Taj Mahal
überhaupt gerechnet werden müssen. Äußrst informative
Panorama-Ansichten wechseln sich ab mit herrlichen,
meist großformatigen Detailaufnahmen von bestechender
Klarheit. Nou hat als einer der wenigen Fotografen
begriffen, was am Taj Mahal wesentlich ist. und er hat es
geschafft, dies mit seinen Bildern umzusetzen. Es muß
begrüßt werden, daß der Verlag im Hinblick auf die Re-
produktionen kaum Mühen scheute, um das formalästhe-
tische Anliegen des Hauptarchitekten der Anlage in her-
vorragend reproduzierten Farbtafeln umzusetzen. Noirs
Fotos bieten eine Augenweide, die einen Besuch des Taj
Mahal zwar nicht ersetzt, ihm aber näherkommt als alle
anderen zuvor veröffentlichten Bildbände zu diesem
Thema.
Im Verhältnis zur Pracht des Taj Mahal, die hier durch die
Farbtafeln in unerreichtem Maße zur Geltung kommt, bie-
ten die einführenden Zeilen zwischen S.9 und 38 der auf
der Titelseite zuerst genannten Amina Okada, Konservato-
rin der indischen Abteilung im Musée Guimet, praktisch
keine neuen Informationen. Zusammengefaßt wird in
erster Linie lediglich, was Wayne Begley aus Ohio und
andere Gelehrte zu diesem Thema bereits publizierten, was
Okada aber nicht hinderte, wohl eigene Bemerkungen ein-
zufügen. So läßt sich z. B. pauschal nicht behaupten, daß
»die Einlegearbeit der pietra-dura-Technik... gegen Ende
des 17. Jahrhunderts keine Verwendung« mehr fand
(S.33), weil im zwischen 1753 und 1754 errichteten Grab
des Safdar Jang genannten moghulischen Premierminister
Delhis dies in der Grabkammer noch auf den Schwellstei-
nen zu sehen ist. Erfahren wir schon aus dem einleitenden
Text kaum die notwendigsten Daten (verläßliche Maßan-
gaben werden z. B. nicht angegeben), so wurden die auf-
wendig produzierten Farbtafeln nicht mit einer einzigen
Bildlegende versehen. So ahnt der Betrachter z. B. nicht,
daß die doppelseitige Tafel (46-47) einen Teil des unteren
Kenotaphs der Gattin des Moghulkaisers zeigt, obwohl
alle diesbezüglichen vorherigen und folgenden Tafeln die
oberen Kenotaphe illustrieren. Dafür werden den Tafeln
Zitate aus dem Koran bzw. viel zitierte Beschreibungen
Reisender zur Seite gestellt. Es ist verständlich, daß in
einer Publikation, die sich nach der allgemeinen Leser-
schaft richtet, fußnotenlos ist, die Zitate jedoch hätten
gerade in dieser Hinsicht einer Überprüfung bzw. Erläute-
rung vor allem bei der Übersetzung bedurft. Die Zitate der
303
TRIBUS 43, 1994
S. 139, 143, 146-148, 185 und 210 wurden z.B. Louis
Rousselet’s L'Inde des Rajahs, 21877 (pp.322-325; 317)
entnommen. So ist mit dem »Abend des 15.« (S. 139) der
15. November 1866 gemeint. Die Einladung zum Bankett
am Taj Mahal stammt nicht vom Fürsten Gwaliors, wie
angegeben, sondern vom Residenten Gwaliors (Rousselet,
p. 322). Der »Resident« war ein von den Briten eingesetz-
ter, britische Beobachter, der vor Ort etwa die Einhaltung
der mit den Briten geschlossenen Verträge überwachte und
selbst Teil eines entsprechenden Abkommens war. Auf
S. 143 beschreibt Rousselet die Wirkung des künstlich
beleuchteten Taj Mahal gegen 18 Uhr. Diese Beleuchtung
kann nicht, wie auch in der französischen Originalausgabe
angegeben, um sechs Uhr abends stattgefunden haben, da
dies nicht nur dem vorherigen Text widerspräche, sondern
weil es auch im November in Indien um diese Zeit noch
nicht dunkel genug ist. Der Übersetzer und Herausgeber
der 1882 in London unter dem Titel India and its Native
Princes erschienenen englischen Ausgabe, Col. Buckle,
hatte dies erkannt und den Zeitpunkt der künstlichen
Beleuchtung, sicher auch nach Konsultierung der engli-
schen Protokolle, richtiger auf zehn Uhr abends verlegt
(p.287). Auf S. 146 wird ein »Jawad des Taj« zitiert, das
der Leser vergeblich im Glossar suchen wird. In diesem
Gebäude nämlich wurde das »homerische Festmahl« ange-
richtet. Der französische Text liest hier »Jawab«, was aus
dem Hindi kommt und »Antwort«, und zwar auf die Grab-
moschee des Taj, bedeutet. Es ist dasselbe Gebäude, das
auf S.216 »Versammlungshaus« genannt wird. Auf S. 185
wird Rousselet selbst hierzu richtiger zitiert. Auf S. 147 f.
heißt es dann über das »Festmahl«: »Scindia hat übrigens
für dieses Diner allein zwanzig Millionen Rupien
gezahlt!«, was auch 1866 eine für diesen Anlaß unvorstell-
bar hohe Summe gewesen wäre, die aber sowohl in der
französischen Originalausgabe als auch in der englischen
Überarbeitung auf glaubwürdigere 20000 Rupien
schrumpft.
Der Grundriß und die beiden Schnitte der S. 216 stammen
von Andreas Volwahsen und Gerd Mader, was der Leser
dem entsprechenden Hinweis auf S. 224 nicht zu entneh-
men vermag. Der Grundriß ist für den Erstabdruck in
einer kleinformatigen Publikation akzeptabel (A. Vol-
wahsen: Islamisches Indien, Fribourg, 1969, S.98), ist
aber schon wegen seiner unübersehbaren Unvollständig-
keit für ein prächtiges Ansichtswerk ungeeignet. Das
unter »10« auf S.216 angegebene »Mumtazabad ist dem
Plan z.B. nicht zu entnehmen, da nicht berücksichtigt.
»Der Plan von Agra« (S.218) soll dem »Archaeological
Survey of India, New Delhi« entstammen (S. 224). In der
Tat handelt es sich hier um eine beschnittene Wiedergabe
aus D. Brandenburgs Der Taj Mahal in Agra, Berlin,
1969, S.68. Brandenburg verrät zwar auch nicht direkt,
wer den Plan erdacht hat, kann ihn aber nur E. LaRoches
sechsbändigem Indische Baukunst, Basel, 1921, Band V,
Abb.299, p. 192, entnommen haben. LaRoche gibt dort
an, den Plan »nach Baedeker«, d. h. also nach dem zwi-
schen S. 160 und 161 eingefalzten Plan in Karl Baedekers
Indien, Handbuch für Reisende, Leipzig, 1914, gezeich-
net zu haben.
Der zwischen S.217 und 224 gesetzte Text von
M.C. Joshi, dem Direktor der indischen Denkmalspflege
(Archaeological Survey of India) bringt einige sehr inter-
essante Informationen und Gedanken, die mitunter schon
andere Mitarbeiter der indischen Denkmalspflege äußer-
ten, aber hier endlich einen beachteten Platz finden. Fast
alle Flüsse sind jedoch in Indien weiblich, so auch die am
Taj-Komplex vorbeifließende Yamuna (S.220) und das
Grabmal Jahangirs liegt nicht in Agra (S. 222) sondern
bei Lahore in Pakistan.
Die gutgemeinte Übersicht der S. 225 (»Herrscher und
Bauten«) ist ebenso unvollständig (die größte Moschee
Indiens, die Jama Masjid von Delhi, fehlt in der Liste der
unter Shah Jahan erbauten Monumente, um nur ein Bei-
spiel zu nennen) wie die Bibliographie (S. 230 f.). Beides
hätte, gerade in bezug auf die anvisierte Leserschaft,
wegbleiben können, um dafür etwa ein Detail einer
Blume aus der inneren Bekrönung der Kenotaphumfrie-
dung abzubilden. Doch selbst diese Unvollständigkeiten
vermögen es nicht, den Reiz der Anlage des Taj Mahal zu
vermindern, jenen betörenden Charme, den Jean-Louis
Nou hier dem Betrachter mit seinen Fotos vermittelt. Der
Taj Mahal ist ein Grundstein zur weiteren Beschäftigung
mit der Anlage und ein sehr schöner dazu!
Joachim K. Bautze
Sellato, Bernard:
Nomads of the Borneo Rainforrest: The Eco-
nomics, Politics and Ideology of Settling
Down. Honolulu: University of Hawaii
Press, 1994. 280 Seiten, 12 Karten, 3 Tabel-
len, Index.
Unter den mancherlei aufstrahlenden Sternen der letzten
zehn Jahre am Borneologenhimmel wird man sich den
Namen des dynamischen, ehrgeizigen Südfranzosen Sel-
lato (Jahrgang 1951 ) merken müssen, schiebt er sich doch
unaufhaltsam vorwärtsdrängend an den Platz des Zentral-
gestirns eben dieses Himmels. Anthropologe ist er aus
Berufung. 1973 betrat er als blutjunger Geologe im Dien-
ste eines französischen mineralogischen Unternehmens
(Uran?) erstmalig bornesischen Boden. In der Regen-
waldlandschaft des gebirgigen oberen Mahakam fühlte er
unwiderstehlich den Drang zur Erforschung der dayaki-
schen Stammeskulturen. Seit 1978 konnte er hauptberuf-
lich dieser Neigung nachgehen, weltweit massiv unter-
stützt (u. a. von Elf Aquitaine, von indonesischen
staatlichen Stellen, von der Ford Foundation und vom
französischen Kulturministerium), so daß 1994 bereits 17
Titel (u.a. ein voluminöser Borneo-Bildband) im Litera-
turverzeichnis unter seinem Namen aufgeführt sind.
Unwillkürlich wird man an holländische Kolonialbeamte
erinnert, die vom »Gouvernement« ähnlich unterstützt
uns wichtige Standardwerke hinterlassen haben
(M. T. H. Perelaer, A. W. Nieuwenhuis, J. Mallinckrodt).
Man darf gespannt sein, was bei Sellato herausspringt
und in Zukunft noch präsentiert werden wird.
Vorliegendes Buch sei die Frucht von 13 Jahren Feldfor-
schung, zunächst 1986 in französischer Originalfassung
als Promotionsarbeit unter den Titel »Les Nomades fore-
stiers de Bornéo et la sédentarisation: Essai d’histoire
économique et sociale« erschienen. Die englische Aus-
gabe weist Kürzungen auf in der Stammesgeschichte der
Pnihing und der Ot vom Murung und Ratah; linguistische
Studien über die Punansprachcn sind unverständlicher-
und unverzeihlicherweise ganz eliminiert worden. Wie
der Titel andeutet, bezweckt Sellato Allgemeingültiges
304
Buchbesprechungen Südasien
über die Waldnomaden Borneos (also Wildbeuter, zusam-
mengefaßt unter dem Namen Bunan) mitzuteilen. Als
charakteristisch hat er zwei Ethnien, die im Gebiet des
Müller-Gebirges beheimatet sind, ausgewählt: die Bukat
und die Penyabung. Die Bukat sind typisch für Zerstreu-
ung und Aufteilung vieler Kleinstämme westlich und
nördlich des Müller-Gebirges. Außer in Sarawak finden
sie sich in einem etwa 130 km langen Streifen zwischen
dem Sibau-Fluß (Westkalimantan) und dem oberen
Mahakam (Ostkalimantan). Heute gehören zu dieser
Diasporagemeinschaft nur 600 Mitglieder. Ab 1930, also
länger als drei Generationen, sind alle Bukat seßhaft.
Berechtigterweise erhebt sich die Frage, ob man hier
überhaupt noch von Waldnomaden sprechen darf.
Die zweite Ethnie sind die Penyabung (im Gegensatz zu
Sellato, der die Eigenbezeichnung verwendet, benütze
ich die offizielle indonesische Bezeichnung, vgl. T.
Riwut: Kalimantan Membangun Alam dan Kebudayaan,
1993: 270). Bei ihnen ist obige Frage noch angebrachter.
300 Mitglieder finden sich nur in fünf kleinen Dörfern am
Busang (nördlicher Quellfluß des Barito. Mittelkaliman-
tan), 200 weitere sollen verstreut im unteren Regierungs-
bezirk Nord-Barito zu finden sein. Bereits bei der ersten
Europäerbegegnung (1905 Stolk) bewohnten die Penya-
bung ein Langhaus. Ihre endgültige Seßhaftwerdung fand
nach Hoffman (1983: 16) in den 30er Jahren statt. Die
Beschreibung der Geschichte der Migrationen und des
Prozesses der Seßhaftwerdung vor allem der Bukat ist
hervorragend. Beispielhaft steht sie für die meisten
Stämme vor allem nördlich des zentralbornesischen Mül-
lergebirges. Sowohl schriftliche Quellen als auch Oraltra-
ditionen wurden annähernd erschöpfend ausgewertet.
Weit weniger gilt das für Religion und Adat (vom
Adatrecht wird mit keinem Wort berichtet!) dieser beiden
Kleinstämme. Hier bleiben viele Fragen offen. Stereotyp
findet sich die Feststellung: was bei pflanzerischen Nach-
barethnien an Parallelen zu finden ist, ist übernommen
und nicht ursprünglich, also nicht »punanlike«! Leider
ein Trugschluß mit weitreichenden Folgen für Sellatos
ganzes Werk. Z. B. hätte dem Komplex der Baumbestat-
tung nachgegangen werden sollen, was nun wirklich bei
keinem dieser Nachbarstämme zu finden ist. Aufgrund
von Stolks eigenen Beobachtungen fand sich bereits 1905
bei den Penyabung eine ausgeprägte Stratographie. Ihr
Häuptling hatte auch adatmäßig gewichtige Sonder-
rechte. Das Totenritual war qualifiziert durch verschie-
dene Blutopfer (bis hin zu Menschenopfern bei Häuptlin-
gen!). Im Köpfeschnellen unterschieden sie sich in nichts
von besonders schnellwütigen anderen pflanzerischen
Dayakstämmen. Worauf Sellato gar nicht eingeht: die
Penyabung-Sprache ist identisch mit derjenigen der Rich-
tung Mahakam benachbarten Seputan-Dayak. Sellato
macht es sich wirklich zu einfach! Geschichte, Religion,
Adat wird in ein Korsett gezwängt, damit sie zu den von
ihm aufgestellten Allgemeinplätzen nicht nur passen son-
dern diese auch beweisen. Nachdem offensichtlich die
Penyabung kaum in das Schema bornesischer Wald-
nomaden passen, muß gefragt werden, warum Sellato auf
dem Hintergrund der ihm zu Gebote stehenden Möglich-
keiten nicht andere Punanethnien zu seiner Feldfor-
schung und als Beweisgrundlage für seine »Noma-
denideologie« herangezogen hat. Zunächst war es
Sellatos Ehrgeiz, neben den vielen Monographien über
Sarawakpunan endlich auch Kalimantanpunan ans Licht
anthropologischer Öffentlichkeit zu bringen, was ihm ja
auch gelungen ist. Hätte er jedoch nur seine Forschungen
wenige hundert Kilometer nach Nordosten verlegt, Sel-
lato wäre fündig geworden und hätte der Ethnologie, den
Punan und sich selber einen besseren Dienst getan: im
Pujungan- und Malinau-Gebiet wäre er auf heute noch
schweifende Punan Malinau-Gruppen gestoßen, desglei-
chen im Berau-Regierungsbezirk auf heute noch in
Höhlen lebende wildbeuterische Basap, und im Kelai-
Gebiet, dem ausgedehntesten Punan-Schweifgebiet ganz
Kalimantans, auf Punan Kelai-Gruppen, die erst vor zehn
Jahren seßhaft wurden. Im Gegensatz zu seinen durch
Bukat- und Penyabung-Forschung und die Sarawak-Lite-
ratur aufgestellten Gemeinplätzen hätte Sellato entdeckt;
daß Sago bei den Punan Ostkalimantans eine untergeord-
nete Rolle spielt, ja die Höhlen-Basap gar kein Sago ken-
nen; daß die Kelai-Punan auch heute noch hundelose Jagd
seitens erfahrener Einzeljäger praktizieren; daß sämtliche
Basap an ihren Blasrohren Eisenholzspeerschäfte haben;
daß bei den Punan Batu sehr wohl direkter Inzest getrie-
ben wird (Weiglen/Zahorka: Expeditionen durch Indone-
sien 1986: 73); daß die Kelai-Punan in ihren Lagern Hüh-
ner halten und deren Fleisch sehr wohl schätzen; daß
eben diese Kelai-Punan auch Fleischkonservierung durch
Räuchern kennen. Bei allen drei obgenannten Punan-
gruppen, mit denen ich gelebt habe, konnte ich keine
Reisaversion feststellen. Andererseits leben die Tingga-
lan (Pflanzer und Langhaus-Bewohner des Tidung-
Gebietes, die nichts mit dem Nomadentum zu tun haben)
fast ausschließlich von Maniok; Reis spielt eine unterge-
ordnete, subsidiäre Rolle (W. Schneeberger: Contribu-
tions... 1979; 21, 48). Einer der Hauptsätze Sellatos, die
er, wie er zugibt, selbst bei den Sarawak-Punan nicht zu
100 % bestätigt findet, heißt: »Engaged as they are in
commercial collecting,... they must by necessity turn to
sago for some of their subsistence« (S. 182). In Ostkali-
mantan wäre Sellato eines anderen belehrt worden.
Möglicherweise kommt es Sellato nicht so sehr auf die
Gemeinsamkeiten aller Punan im Wildbeuterdasein an als
darauf, was im Prozeß der Seßhaftwerdung im Gegensatz
zu den Pflanzernachbarn sie als eigenständige Bevölke-
rungsgruppe auszeichnet. Für die Aufstellung seiner All-
gemeinplätze (»Punanideologie«) kennt er nur zwei Fak-
toren: Zeit und Profit. Durch Akkulturation, die vor
keiner Punangruppe haltmacht, gewinnen die Nomaden
Zeit, von der reinen Subsistenzwirtschaft vermehrt dem
Sammeln von Buschprodukten nachzugehen. Handelsbe-
ziehungen und moderne Verwaltung legen ihnen Teil-
seßhaftwerdung nahe, meist in Distanz zum Standort von
Sagopalmen. Also müßten sie wie die Pflanzer Trocken-
reis anbauen, aber das wollen sie schlechthin nicht, denn
diese Art Landwirtschaft würde ihnen zu wenig Zeit zum
Sammeln lassen. Merkwürdig, was Sellato gar nicht ins
Blickfeld bekommt, ist menschliches Wohlbefinden und
Lebensqualität. Weil Trockenreisanbau in praller Sonne
ohne Schattenbäume unendlich mühsam ist für Nomaden,
die die Kühle des Regenwaldes gewohnt sind, und weil
bei Reisbauanfängern das Mißerfolgsrisiko viel größer
ist, darum tun sich die Punan mit Reisanbau und Seßhaf-
tigkeit so schwer. Andererseits gehen ausgesprochene
Pflanzerstämme, die primär Trockenreis anbauen, der
nomadisierenden Sammeltätigkeit, der Jagd und dei
Fremdenführer- und Trägertätigkeit bei trekkenden Tou-
risten in zunehmendem Zeitaufwand nach (so die Ot
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TRIBUS 43, 1994
Danum im Schwanergebirge, einem der intaktesten und
ausgedehntesten Regenwaldgebiete Borneos überhaupt;
Punan findet man im Schwanergebirge keine mehr!).
Weiterhin wollen auch Punan älter als vierzig Jahre wer-
den und nicht erleiden, wie jedes zweite Kleinkind stirbt.
Sellato sollte einmal erlebt haben, wie es bei einer Pun-
angruppe steht, die wegen Krankheitsfällen nicht weiter-
ziehen kann und tagelang hungern muß. Auch der Punan
ist ein Mensch und wird, wenn er seine Kinder und Fami-
lie liebt, seßhaft werden, die Ströme hinabziehen und
primär Reis anbauen.
Im Prozeß der Seßhaftwerdung bilden sich drei konstante
Elemente heraus:
1. Über der Familie steht keine politische Organisation -
aber das ist beim modernen Ngaju in den Kultur- und Ver-
waltungszentren Mittelkalimantans genauso!
2. Sie praktizieren Sammeltätigkeit für den Handel -
auch hier gehen zahlenmäßig weit mehr Pflanzer dem
nach als Punan!
3. Als Folge davon kommt nur ein gemischtes Subsi-
stenzsystem in Frage - auch das ist, wie erwähnt, nicht
ausschließlich Punanart, außerdem schafft es eine große
Mehrheit ehemaliger Nomaden, in spätestens zwei Ge-
nerationen Reispflanzer zu werden. Die Punanideologie
ist daher eigenschaftsmäßig: »offen, individualistisch,
pragmatisch, opportunistisch und säkular (kaum an Reli-
gion und Philosophie interessiert)« (S. 208). Die ersten
vier Eigenschaften wird man bei anderen Dayakstäm-
men ähnlich finden; bei der letzten Eigenschaft würde
ich einmal empfehlen, einen Sonntag in einer der Punan
Kelai-Gruppen zu verbringen. Kirchliches Leben ist
Gruppenangelegenheit und wird genauso intensiv wahr-
genommen wie bei den benachbarten Kenyah. Wenn
man sie fragt, warum sie zweimal am Sonntag zum Gott-
esdienst gehen, wird geantwortet: Früher war der Tau-
sendfüßler ihr »höchster Gott«, wenn er über einen halb
zurechtgehauenen Einbaum kriecht, muß das halbfertige
Boot liegen gelassen werden, und der Punan fängt mit
dem Bootsbau von vorne an. Wenn ein Tausendfüßler
sich in ein frisch errichtetes Lager verirrt und entdeckt
wird, muß das Lager verlassen und an anderer Stelle neu
errichtet werden. Wenn ein junges Paar seinen ersten ge-
meinsamen Jagdzug unternimmt und unterwegs auf ei-
nen Tausendfüßler stößt, muß die junge Ehe geschieden
werden. Sellato wird beurteilen, das sei vom Omensy-
stem benachbarter Pflanzer übernommen und wider-
spräche dem Punansäkularismus. Der Punan selber ist
dankbar, daß er von dieser Art »Säkularismus« befreit ist
und einen völlig anders gearteten »höchsten Gott« jetzt
hat.
Von diesem Ergebnis aus hält Sellato Ausschau nach ähn-
lich ausgerichteten Gruppen auf Borneo. Er meint, eine
solche bei den »Pin« in mythischer Vorzeit, die mit den
Ot Danum und Ngaju möglicherweise in Beziehung ste-
hen, gefunden zu haben: kein Reis- sondern Knollenan-
bau, keine Stratophagie, mehr friedliebend, metall- und
steinbearbeitend, breite und ausgefeilte Ritualien anwen-
dend. Weiterhin würde diese Gruppierung mit den Stäm-
men des »nulang-Bogens« (Nordsarawak bis Kerayan-
Gebiet) in Verbindung stehen. Dieser den Punan
nahestehenden Großgruppierung stünde die Kayan-
Kenyah-Gruppe (Reispflanzer, kriegerisch, ausgeprägte
Ständeeinteilung) entgegen und hätte sie aus dem Maha-
kam-Gebiet verdrängt. Zukunftsmusik auf mehr als
wackeligen Füßen, in deren Erforschung Sellato seine
Lebensaufgabe sieht.
Ohne Aufarbeitung der bis jetzt noch gültigen Stammes-
einteilung J. Mallinckrodts und Herausarbeitung hindui-
stischer bzw. hindujavanischer Elemente (Ot Danum,
Ngaju, westliche Kapuas- und südliche Mahakara-
stämme) sowie chinesischer Einflüsse (Kelabit, Lun
Dayeh u.a.) im Gegensatz zu einer gewissen urdayaki-
schen Kultur kann Sellatos ungestümes Vorpreschen
nicht ernst genommen werden.
Aus sehr engem Blickwinkel möchte Sellato einen
ganzen Horizont erfassen. Teilweise sind die Einzelerfor-
schungen bewundernswert und haben für gewisse abge-
grenzte Gebiete und einige wenige Ethnien gültige Prin-
zipien herausgearbeitet. Sellato muß lernen, seine
Grenzen zu sehen und bedächtig nach reiflicher For-
schung und Überlegung seine nächsten Schritte zu setzen.
Martin Baier
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 44, 1995
Amborn, Prof. Dr. Hermann, Marsstraße 70, D-80335 München
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Dombrowski, Dr. Gisela, Museum für Völkerkunde, Arnimallee 23/27, D-14195 Berlin
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Gaida, Dr. Maria, Museum für Völkerkunde, Arnimallee 23/27, D-14195 Berlin
Göbel, Peter, Museum für Völkerkunde, Postfach 969, D-04009 Leipzig
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gin-Luise-Str. 29, D-14195 Berlin
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Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
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Universitätsbibliothek der HU Berlin
009411
00014236
Zweigbibliothek Europäische Ethnologie
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 44 • Oktober 1995
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
63
Stuttgart 1995