Das Feuer in Kult und Glauben der vorgeschichtlichen Menschen
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»Grab und Feuer“ gefaßt haben, stellt offenbar die im Neolithikum einset
zende Sitte der Leichenverbrennung dar. Ihr Vorkommen reicht von Frank
reich (megalithische Bretagne, Marne-Aisnegebiet und Pariser Becken) über
Mitteldeutschland (schnurkeramisches Thüringen) bis nach Südrußland (Plos-
cadkes des Dnjeprgebietes). Es macht den Eindruck, als ob die Sitte in drei
unabhängigen Zentren aufgekommen sei. Nach C. Schuchhardt (1920: 517)
sind die mitteldeutschen Schnurkeramiker, mit Thüringen als Kernland, wohl
Oie ersten Verbrenner, weil in ihrem Kreis einzig alle Stufen der Verbrennung
Vorkommen: Verbrennen in einer Grube, auf offenem Boden mit Überdecken
durch Hügel und Verbrennung mit Bergen der Asche in einer Urne. Ihre
Kultur zeigt sich auch als die beweglichste unter den Steinzeitkulturen. Ob
iu Frankreich ein eigener Entstehungsherd oder das Überspringen eines Fun
kens vorliegt, bleibt dunkel.
Die expansionssüchtige Kultur der Schnurkeramiker führte in den Rand
gebieten ihres Kreises zur Bildung zahlreicher Mischkulturen, die alle die
^ erbrennungssitte übernahmen. In all diesen Randgebieten erscheint die
^ erbrennungssitte nicht autochthon, sondern als Fremdeinfluß (C. Schuch-
Hardt 1920: 504-517).
Den Ursprung der neuen Sitte leitet Schuchhardt (1920; 518-519) aus
dem Bestreben ab, dem Toten eine wohnliche Stätte zu bereiten. Das hatte
in früherer Zeit zur Bestattung in der Wohnhöhle und später im Hause geführt,
kbe Hausbestattung mußte über kurz oder lang zur Teilbestattung führen,
w obei der Kopf als wichtigster Teil des Körpers allein Aufnahme fand, der
übrige Körper irgendwie beseitigt, verscharrt oder Vögeln preisgegeben wurde.
Solche Teilbestattung mußte nach ihm vor allem für wandernde Hilten und
Jäger zutreffen. Er beruft sich auf die Bemerkung von Jakob Grimm, daß
Gn Nomadenvolk viel eher zu Verbrennung gelangen mußte als ein ackerbau-
en des. Zwei Motive scheinen nach ihm zusammen die Leichen Verbrennung
hervorgerufen zu haben: die Neigung zur Hausbestattung und das Wandern.
M ie hoch das religiöse Moment für das erste Auftreten der Sitte einzuschätzen
Se h entziehe sich unserer Beurteilung. Die Funde lassen nach ihm keinen
W echsel der Anschauungen erkennen.
Dagegen ist J. Dechelette (1910; 160-161) der Ansicht, daß die Lei-
ehenverbrennung unter dem Einfluß religiöser Ideen entstanden ist. Wenn
spontan bei verschiedenen Völkern aufkam, bedeute das nicht, daß überall
gleichen Motive bestimmend gewesen sein müssen. Füi ihn erheben sich
zwei Fragen; wem war die Verbrennung von Nutzen, den Lebenden oder den
Toten? Ersteren hätte sie die radikale Befreiung von aller Totenfurcht bcdeu-
können. Dechelette hält es aber für wahrscheinlicher, daß die neue Pro
zedur den Toten selbst galt, um ihre Seele oder ihr Double freizumachen von
Kglicher Bindung an den Körper, frei für die Seelenwanderung. M. Ebert (1922)
k'hnt ebenfalls die apotropäische Deutung der Sitte ab, auch nach ihm ging es
Ui h die Befreiung der Seele aus ihren körperlichen Fesseln, was ihr die Reise in
ei He andere Welt ermöglichte. Dahinter, wie überhaupt hinter dem Totenkult
a %emein, standen weder Furcht noch Liebe, sondern die „soziale Pflicht ,
Welche nach ihm stärker als Liebe und Furcht die Überlebenden bestimmte.
Anthropos 69. 1974