TRIBUS
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
JAHRBUCH
BAND 46 • 1997
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 46 • Dezember 1997
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1997
Herausgeber: Linden-Museum Stuttgart - Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Redaktion: Prof. Dr. Peter Thiele
Koordination; Ursula Knöpfle
Fachbezogene Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des Linden-Museums Stuttgart: Anatol Dreyer
Ingo Hermann
Ursula Didoni
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer
Beiträge allein verantwortlich.
Redaktionsschluß jeweils 1. Juli
Titelbild: Räuchergefäß (boshanlu)
Bronze, Oberteil und Fuß durchbrochen gegossen, Höhe: 17,5cm.
China, West-Han-Zeit (206 v.-8 n. Chr.). Inv.-Nr. OA 24.771 L
Druck: Offizin Chr. Scheufeie, Stuttgart
Copyright: Linden-Museum Stuttgart
Dezember 1997
ISSN 0082-6413
(faf.V/Q&ih - 7fü^Y
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1996 (Peter Thiele)......... 7
Berichte über Erwerbungen im Jahr 1996 der Abteilungen Afrika (Hermann Forkl),
Islamischer Orient (Johannes Kalter), Südasien (Gerd Kreisel), Ostasien (Klaus J. Brandt),
Südsee (Ingrid Heermann) und Amerika (Doris Kurella)............................. 15
Referat Museumspädagogik (Sonja Schiede)........................................... 46
Referat Öffentlichkeitsarbeit (Dietrich Schleip)................................... 53
Aufsätze
Firla, Monika: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg des 17. und
18. Jahrhunderts................................................................. 57
Leopold, Joest: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den AIsea/Nord-
westküste Nordamerikas............................................................. 81
Róese, Peter M.: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«) zu Beginn des
16. Jahrhunderts................................................................... 95
Schulze-Thulin, Axel: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers 109
Volz, Andreas; Der Blick ins >Verborgene<. Das >Röntgen<-Motiv in der außereuro-
päischen und europäischen Kunst....................................................129
Zwernemann, Jürgen: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Togo...........157
B uchbesprechungen
Allgemein
Altuna, Jesús: Ekain und Altxerri bei San Sebastian (A. Schulze-Thulin)..........189
Burenhult, Göran et al. (Hrsg.): Die Menschen der Steinzeit - Jäger, Sammler und
frühe Bauern (A. Schulze-Thulin)...................................................190
Gvozdover, Mariana: Art of the Mammoth Hunters - The Finds from Avdeevo
(A. Schulze-Thulin)................................................................192
Henke, Winfried / Rothe, Hartmut: Paläoanthropologie (A. Schulze-Thulin)............193
Hildebrandt, Hans-Jürgen; Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung (A. Tunis) . 194
Keefer, Erwin: Rentierjäger und Pfahlbauem. 14000 Jahre Feben am Federsee
(A. Schulze-Thulin).................................................................195
Leakey, Richard / Fewin, Roger: Der Ursprung des Menschen (A. Schulze-Thulin). . . 195
Feroi-Gorhan, Andre: Gesture and Speech (A. Schulze-Thulin)........................196
Lorblanchet, Michel: Höhlenmalerei - Ein Handbuch (A. Schulze-Thulin)..............197
Steuer, Heiko / Zimmermann, Ulrich (Hrsg.): Montanarchäologie in Europa
(A. Schulze-Thulin)................................................................199
Tennenbaum, Jonathan: Die eurasische Fandbrücke (G.Femppel)........................199
Vossen, Rüdiger / Röder, Alexander / Vossen, Gabriele: Das Kreuz. Lebensbaum
oder Marterpfahl? (M. Baier)..................................................... 200
Afrika
Ahr, Christina: Fruchtbarkeit und Respekt. Filmethnologische Untersuchung eines
Geschlechterkonflikts um ein Ritual bei den Maasai (G. Kosack)...................201
Ege, Svein: Class, State, and Power in Africa (M. Kropp).........................202
Fuest, Veronika: »A job, a shop, and loving business« (R. Schäfer)...............204
Hahn, Hans Peter: Die materielle Kultur der Konkomba, Kabyé und Lamba in
Nord-Togo (J. Zwernemann)..........................................................205
Hallier, Ulrich W.: Felsbilder früher Jägervölker der Zentral-Sahara
(W. Creyaufmüller).................................................................205
Herbert, Robert K. (Hrsg.): Not With One Mouth. Continuity and Change in
Southern African Language Studies (A. Fleisch).....................................207
Krapf, Ludwig: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855 (M. Britsch) . . 208
Meier. Barbara: Doglientiri. Frauengemeinschaften in westafrikanischen
Verwandtschaftssystemen (G. Kosack)................................................209
Neumüller, Hagen: Zwei Elefanten. Untersuchung zu den Beziehungen zwischen
Sprache und Kultur (J. Hüttenberger)...............................................210
5
Sauer, Walter (Hrsg.); Das afrikanische Wien (M. Firla).............................211
Schott, Rüdiger; Orakel und Opferkulte bei Völkern der westafrikanischen Savanne
(H. P. Hahn)........................................................................213
Szalay, Miklös (Hrsg.): Afrikanische Kunst aus der Sammlung Han Coray 1916-1928
(C. Stelzig)........................................................................214
Amerika
Becker, Ralph M; Trance und Geistbesessenheit im Candomblé von Bahia
(M. S. Cipoletti)...................................................................219
Dillehay, Tom D. (Hrsg.): Tombs for the Living: Andean Mortuary Practices
(D. Kurella)........................................................................220
Götz, Nicola H.: Obeah - Hexerei in der Karibik - zwischen Macht und Ohnmacht
(D. Kurella)........................................................................221
Haberland, Wolfgang: Ich, Dakota (S. Schierle)......................................221
Kalka, Claudia: Eine Tochter ist ein Haus, ein Boot und ein Garten (R. Schäfer)....222
Müller, Wolfgang: Die Indianer Amazoniens (D. Kurella)..............................223
Schulz, Jochen: Indianerpolitik in Venezuela (P. Schröder)..........................224
Tichy, Franz: Die geordnete Welt indianischer Völker (W. Creyaufmüller)............226
Ostasien
Shôno-Slàdek, Masako: Der Glanz des Urushi (P. Wiedehage)...........................227
Südasien
Conzelmann, Elisabeth: Heirat, Gabe, Status. Kaste und Gesellschaft in Mandi
(O. Stege)..........................................................................229
Hoskins, Janet (Hrsg.): Headhunting and the Social Imagination in Southeast Asia
(M.Baier)...........................................................................230
Schiller, Anne: Small Sacrifices (M. Baier).........................................232
Südsee
Felgentreff, Carsten: Räumliche Bevölkerungsmobilität in Fidschi (M. Dickhardt) . . 233
Juillerat, Bernard: Children of the Blood: Society, Reproduction and Cosmology in
New Guinea (N. Stephenson)..........................................................235
Keck, Verena: Historical Atlas of Ethnic and Linguistic Groups in Papua New Guinea
(B. Hauser-Schäublin)...............................................................237
Strehlow, Wighard: Wüstentanz. Australien spirituell erleben (A. Goppold)...........238
Weiss, Florence: Die dreisten Frauen. Eine Begegnung in Papua-Neuguinea
(C. Felgentreff)....................................................................239
Zee, Pauline van der: Etsjopok: avenging the ancestors (G. Konrad).................240
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 46 ......................................... 242
6
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1996
Fördergesellschaft
Unser Förderverein, die »Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e. V.«
mit inzwischen 1570 Mitgliedern, veranstaltete im Winterhalbjahr 1995/96 insge-
samt 14 Vorträge, die sich regional auf Ostasien, Europa und Deutschland bezogen.
Obwohl die Vorträge freitags jeweils um 19.15 Uhr begannen, konnten wir durchweg
hervorragende Besucherzahlen registrieren. Hier einige Beispiele: G. Voppel/Uni-
versität Köln referierte über »Japan zwischen Tradition und Fortschritt aus wirt-
schaftsgeographischer Sicht«, H. J. Buchholz sprach über »Die asiatischen Wachs-
tumspole Singapore und Hong Kong«, E. Gormsen befaßte sich mit »China im
Wandel«, P. Thiele ging auf »Sri Lanka - Die facettenreiche Juweleninsel« ein,
W. Marschall befaßte sich in seinem Vortrag mit »Töpferinnen und Trancetänzern in
einem mitteljavanischen Dorf«, und G. Kreisel hatte »Puja, Homa, Darshana - die
Tempelkulte Rajasthans« zum Thema.
Die GEV förderte sowohl das »Institut für Geographie der Universität Stuttgart« als
auch das Linden-Museum Stuttgart. Letzteres erhielt wieder einen namhaften För-
derbetrag zur Weiterführung der Inventarisierung der Afrika-Bestände. Die afrikani-
schen Objekte im Dachmagazin sind inzwischen alle EDV-mäßig erfaßt. Die Arbeit
wird planmäßig fortgesetzt. Ich danke an dieser Stelle wieder sehr herzlich allen Mit-
gliedern der GEV, die uns in der Museumsarbeit unterstützen.
Ausstellungen
Im Jahr 1996 (insgesamt 105 457 Besucher) konnten wir folgende Ausstellungen mit
großem Erfolg, d. h., mit einer 10%igen Zunahme an Besucherinnen und Besuchern,
zeigen:
1. Die Ausstellung »Usbekistan - Erben der Seidenstraße«, die, wie bereits berich-
tet, von Bundespräsident Herzog und Staatspräsident Karimov im November 1995
eröffnet worden war, hat 35 000 Besucher angelockt und zählt damit zu den er-
folgreichsten Ausstellungen nach Wiedereröffnung des Linden-Museums 1985.
Wir waren froh und dankbar, daß die Daimler-Benz AG diese Ausstellung gespon-
sert hatte. Auch dafür sei ihr an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Der
umfangreiche Katalog, u. a. von J. Kalter, M. Pavaloi und M. Zerrnickel herausge-
geben, wurde inzwischen ins Englische und ins Russische übersetzt, so daß er in
den entsprechenden Ländern verbreitet werden kann. Die Ausstellung ist im
Anschluß an Stuttgart nach Berlin gewandert, wo sie im Sonderausstellungsraum
der Dahlemer Museen gezeigt wurde. Große Teile der Exponate sind - außer jenen
Leihgaben aus Usbekistan - auch nach Rotterdam gegangen, wo eine entspre-
chende Usbekistan-Ausstellung ebenso präsentiert wurde. Das Projekt »Seiden-
straße« des Linden-Museums hat somit hohe Wellen geschlagen, und der Name
unseres Museums wurde weiter bekanntgemacht.
2. Vom 15.6.-6.10.1996, verlängert bis zum 2.2.1997 wurde im Linden-Museum
die Ausstellung »Mit Haut und Haar - die Welt der Lauteninstrumente« gezeigt.
Diese vergleichende Ausstellung mit ihren »Kulturinseln«, auf denen hochwertige
und prächtige Instrumente der großen Lautenfamilien aus Afrika, Asien, Europa
und (nur mit 1 Exemplar) aus Südamerika zu sehen waren, bildete ein ästhetisch
sehr ansprechendes Ambiente. Neben einem Katalogbuch von R. Vogels und
L. Koch erschien auch - von denselben Autoren - erstmalig eine CD-ROM zu die-
ser Ausstellung im Linden-Museum. Hier wurden neue Wege in der Informati-
onsvermittlung beschritten, die besonders bei unseren jungen Besuchern anka-
men. An der interdisziplinären Ausstellungskonzeption waren auch intensiv Frau
S. Schiede und Frau S. Warndorf sowie etliche Einzelsolisten und Musikgruppen
beteiligt, die u. a. im Hof des Alten Schlosses Konzerte unter reger Beteiligung
der Bevölkerung gaben. Somit bot diese Ausstellung neben dem Augen- auch
einen beeindruckenden Ohrenschmaus. An dieser Stelle sei noch einmal den vie-
TRIBUS 46, 1997
len Leihgebern herzlich gedankt, die mit ihren Instrumenten wesentlich zum
Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.
3. Am Ende des Jahres 1996 wurden sechs japanbezogene Ausstellungen (»Japani-
sche Malerei. Sammlung Erwin von Baelz«, »Gegensätze, Herbstausstellung der
Stuttgarter Ikebana-Schule«, »Keramik von Aisaku Suzuki - Ein japanischer
Künstler in Deutschland«, »Shunga - Erotische Holzschnitte aus Japan«, die
Foto-Ausstellung »Erwin von Baelz. Ein schwäbischer Arzt in Japan« und die
Zinnfigurenausstellung »Shögun - Episoden und Szenen aus der japanischen
Geschichte und Kultur«) eröffnet. Sie laufen noch im Jahr 1997, so daß darüber in
der nächsten Ausgabe des TRIBUS zu berichten ist. Es sei aber hier schon einmal
festgehalten, daß alle diese Ausstellungen durch intensives Einwerben von Spon-
sorengeldern entstanden sind (so wurde der Japan-Zyklus ermöglicht durch die
Spenden von der Südwestdeutschen Landesbank, Stuttgart, und Hans Boehringer,
Ingelheim) und somit nicht aus unseren Etatmitteln finanziert wurden. Hier gilt
neben den Sponsoren ein besonderer Dank Herrn Dr. K. J. Brandt, der sich für
diese Ausstellungen beispielhaft eingesetzt hat.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Linden-Museums für ihren erneuten tatkräftigen Einsatz zum Wohle des Linden-
Museums meinen herzlichen Dank aussprechen. Ohne ihre Mithilfe kann eine Insti-
tution wie das Linden-Museum nicht so gut funktionieren, wie es der Fall ist. Ich
hoffe auch zukünftig, falls die Ausstellungsvorhaben nicht dem roten Sparstift zum
Opfer fallen, daß wir gemeinsam das Haus würdig vertreten dürfen.
Es sind folgende Sonderausstellungen geplant bzw. schon realisiert worden:
1997 1. »Heil-und Körperkunst in Afrika« (Dr. Forkl)
2. »portrait kanak - paroles kanak - Das Bild des
Menschen in Fotografien von Fritz Sarasin«
(Dr. Heermann)
1998 1. »Essen in China« (Dr. Brandt)
2. »Das vielfache Echo« (Dr. Heermann,
Dr. Schiede)
1999 1. »Buddhismus« (Dr. Brandt, Dr. Kreisel)
Auch im Berichtsjahr 1996 konnten im Linden-Museum Stuttgart wieder über 1000
Veranstaltungen aus dem Kulturleben - nicht nur der Region, sondern auch überre-
gional - durchgeführt werden, womit wir unseren kulturvermittelnden Aufgaben voll
gerecht werden.
Besuche und Ereignisse
Am 24.1.1996 besuchte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Kulturausschußmit-
glied Dr. Dietrich Mahlo das Linden-Museum, um sich über laufende Ausstellungs-
und Veranstaltungsvorhaben zu informieren. Am 29.1.1996 nahm der Direktor des
Linden-Museums an der Sitzung der Findungskommission für den neuen Direktor
des Dresdner Völkerkundemuseums in Dresden teil. Als Mitglied des Fachbeirates
Völkerkunde nahm der Direktor an einer Tagung am IWF (Institut für den Wissen-
schaftlichen Film) in Göttingen teil. Am 21.2.1996 fand unter Leitung des Finanz-
ministers, Herrn Mayer-Vorfelder, im Linden-Museum die Einführung des neuen
OFD-Präsidenten statt. Als Mitglied des Kulturausschusses der Landeshauptstadt
Stuttgart nahm der Direktor am 5.3.1996 an der Sitzung im Rathaus teil, wo u.a.
über Mittelverteilung gesprochen wurde. Am 11.3.1996 nahm er an der Aufsichts-
ratssitzung des IWF in Göttingen teil. Am 12.3.1996 fand in Frankfurt/M. die dies-
jährige Direktorenkonferenz der deutschsprachigen Völkerkundemuseen statt, bei
der der Direktor das Linden-Museum vertrat. Am 15,3.1996 besuchte der deutsche
Botschafter in Usbekistan, Herr Dr. Keil, das Linden-Museum, um sich über den
Verlauf der Usbekistan-Ausstellung zu informieren. Die Leiter der Bundesrechts-
anwaltskammern unter ihrem derzeitigen Präsidenten Dr. Ströbele besuchten das
Linden-Museum am 4.5.1996 und wurden vom Direktor durch die Usbekistan-
Ausstellung geführt. Herr Prof. Dr. A. Eggebrecht, Direktor des Roemer-Pelizaeus-
Museums Hildesheim, kam am 8.5.1996 ins Linden-Museum, um die Verhandlun-
gen mit uns über die Indonesien-Ausstellung bzw. deren Begleitprogramm, das vom
Linden-Museum bestritten wird, zu führen. Diese Ausstellung soll in der Stuttgar-
ter LBank stattfinden. Am 20.5.1996 nahm der Direktor des Linden-Museums an
der IWF-Aufsichtsratssitzung in Göttingen teil. Am 12.6.1996 nahm er an der Kul-
turausschuß-Sitzung der Landeshauptstadt teil, bei der es u. a. um Ausstellungspla-
nungen ging. 25 Studenten der Ethnologie kamen am 13.6.1996 ins Linden-Muse-
um, um sich über Museums- und Berufsfragen zu informieren und zu orientieren.
Am 14.6.1996 eröffnete der Direktor des Linden-Museums die Ausstellung »Mit
Haut und Haar - die Welt der Lauteninstrumente«, bei der der SDR - wie auch
mehrmals später - Konzerte aus dem Linden-Museum aufnahm und sendete.
Prof. Obieglo von der FH Reutlingen und Prof. Koren aus Israel besuchten das Lin-
den-Museum am 17.6.1996, um sich über eine Museumskooperation mit Israel zu
informieren. Am 21.6.1996 nahm der Direktor des Linden-Museums am Treffen
des Kulturbeirates Baden-Württemberg in Freiburg teil. Der neue Staatssekretär im
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Prof. Dr. Christoph Palmer,
wurde am 24.6.1996 im Wannersaal des Linden-Museums in sein Amt eingeführt.
Vom 5 -6.7.1996 hielt der Direktor des Linden-Museums seine Lehrveranstaltun-
gen an der Freien Universität Berlin/Institut für Ethnologie ab. Am 8.7.1996 nahm
er als Mitglied des Beirats und des Finanzausschusses der VHS Stuttgart an deren
Mitgliederversammlung teil. Am 21.7.1996 fand im Hof des Alten Schlosses Stutt-
gart ein sehr gut besuchtes Lautenkonzert des Linden-Museums statt. Am
29.7.1996 nahm der Direktor des Linden-Museums an der Aufsichtsratssitzung des
IWF Göttingen teil. Am 1.8.1996 besuchte der Chefrestaurator des Tokyo-Natio-
nalmuseums das Linden-Museum, um über weitere Kooperationen zu verhandeln.
Am 2.9.1996 nahm der Direktor des Linden-Museums als Mitglied des Verwal-
tungsrates des Instituts für Auslandsbeziehungen (IFA) an dessen Sitzung teil. Am
4.9.1996 fand die Zentralfondssitzung und Sitzung der Direktoren der Staatlichen
Museen BW in der Staatsgalerie Stuttgart statt. Am 5.9.1996 besuchte der ehema-
lige indische Botschafter in Deutschland, S.E. Rana, das Linden-Museum, um sich
durch die Südasien-Abteilung führen zu lassen. Am 7. und 8.9.1996 fand im Lin-
den-Museum die Restauratorentagung der Sektion Völkerkunde des ADR statt. Am
8.9.1996 eröffnete der Direktor des Linden-Museums in der Zehntscheuer zu Rot-
tenburg die dortige »Buddhismus-Ausstellung«. Am 10.9.1996 kam der Indianer-
häuptling »Pretty on Top« mit einer Tanzgruppe ins Linden-Museum und präsen-
tierte einen Kulttanz. Der neue indische Botschafter in Bonn, S. E. Lambda, kam zu
einem Antrittsbesuch am 13.9.1996 ins Linden-Museum. Am 18.9.1996 tagte er-
neut der Kulturausschuß der Landeshauptstadt Stuttgart; dabei ging es um Stuttgart
21, wobei der Direktor des Linden-Museums eine Ausstellungskonzeption für das
nächste Jahrhundert vortrug. Der diesjährige Betriebsausflug der Mitarbeiter des
Linden-Museums führte uns am 23.9.1996 zur Landesgartenschau nach Böblingen.
Am 24.10.1996 wurde im Linden-Museum eine »Ikebana-Ausstellung« eröffnet.
Am 5.12.1996 besuchte eine 25köpfige Studentengruppe (Völkerkundler) aus Frei-
burg das Linden-Museum, um sich über das Museum zu informieren. Am
9./10.12.1996 nahm der Direktor zusammen mit zwei weiteren Referenten des Lin-
den-Museums an der Tagung »Marketing im Museum« im Ludwigsburger Schloß
teil.
Personal
1. Frau Ina Schneider, seit fast zehn Jahren als Fremdsprachensekretärin mit halber
Stelle, hat am 30.4.1996 auf eigenen Wunsch das Museum verlassen, um sich
intensiver ihrer künstlerischen Tätigkeit zu widmen.
9
TRIBUS 46, 1997
2. Frau Brigitte Wolfrum, ebenfalls als Fremdsprachensekretärin mit halber Stelle,
hat am 30.6.1996 nach Sjähriger Mitarbeit das Linden-Museum auf eigenen
Wunsch verlassen.
3. Frau Tamara Hannemann, Laborantin im Foto-Atelier des Linden-Museums, ist
am 16.9.1996 auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden, um sich als
Fotografin fortzubilden.
4. Unser langjähriger Magazinverwalter, Herr Hans-Joachim Bless, ist am 31.10.
1996 aus dem Dienst ausgeschieden.
5. Ebenso beendete aus Altersgründen unser langjähriger Haushandwerker, Herr
Hermann Wagner, am 31.8.1996 sein Arbeitsverhältnis am Linden-Museum.
6. Frau Katharina Albrechts Volontärvertrag (Restauration) endete am 31.1.1996.
7. Vom Aufsichtsdienst sind ausgeschieden: Herr Alexandru Cuesdeanu (30.6.
1996), Frau Christiane Pfammatter (31. 7.1996), Herr Nedim Sönmez (31.8. 1996),
Frau Anneliese Hauber (30.9.1996), Frau Waltraud Youvanakis (31.10.1996),
Frau Vanadis Geissbauer (30.11.1996).
Ich danke diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich für ihre vorzügliche und
engagierte Mitarbeit am Linden-Museum und wünsche ihnen vor allem gute Gesund-
heit und Wohlergehen.
Sonstiges:
1. Verlängern konnten wir die Volontärsverträge von Frau Beate Siewert-Mayer und
Herrn Lars Christian Koch und die AB-Maßnahme von Frau Birgit Hofmann.
2. Frau Rosemarie Müller (bisher halbtags in der Verwaltung tätig) arbeitet jetzt als
Fremdsprachensekretärin mit Vollzeit.
3. Frau Silvia Mayer arbeitet jetzt als Vollzeitkraft für die Verwaltung.
Neu eingestellt wurden 1996:
1. Mit Volontärsvertrag (Restaurierung) Herr Daniel Ferber und Frau Rebecca Bade.
2. Im Aufsichtsdienst: Frau Petra Chelmieniecki, Frau Anja Eberhart, Frau Mandy
Schöneck, Frau Elke Thomsen-Greve de Reyes.
3. Aushilfsweise wurden verschiedene Mitarbeiter im wissenschaftlichen Dienst
und bei der Aufsicht beschäftigt.
Am Linden-Museum hatten im Jahre 1996
Wjühriges Jubiläum:
Herr Dr. Hermann Forkl
Frau Ingrid Göggerle
Herr Ibrahim Kocaoglu
Herr Prof. Dr. Peter Thiele
20jähriges Jubiläum:
Frau Anne Katharina Seeboth-Stratz
25jähriges Jubiläum:
Herr Dr. Klaus J. Brandt
Frau Ursula Knöpfle
Peter Thiele
10
Leihgaben 1996
Ausstellungszeit
Referat
Dauerleihgabe
Allgemein
24.9.96-15.11.96
Südasien
04.11.96-14.03.97
Südasien
07.03.96-07.06.96
Ostasien
28.05.96-31.12.96
Orient
14.02.96-15.05.96
Afrika/Orient
20.04.96-20.09.96
Südasien
10.03.89-10.03.99
Südsee
04.03.96-31.05.96
Südasien/Südsee
30.09.96-15.09.97
Amerika
20.12.95- 09.07.96
Ostasien
18.10.95- 15.07.96
Orient
05.01.96-03.04.96
Südsee
28.11.96- 15.04.97
Südasien
Dauerleihgabe
Afrika
Leihnehmer
Kulturamt der Stadt Albstadt
1 Objekt für die Ausstellung »Menschen, Maschen und
Maschinen«
Kulturamt der Stadt Bad Wimpfen
158 Objekte, Ausstellungsmaterialien, AV-Medien-Geräte
für die Ausstellung »Sundari die Schöne. Terrakotta-Kunst
aus Indien«
Iwalewa-Haus, Bayreuth
13 Objekte für die Ausstellung »Indigo-Textilkunst...«
Museum Villa Rot, Burgrieden-Rot
24 Objekte für die Ausstellung »Julius Bissier und Mei-
sterwerke japanischer Malerei«
Stiftung Preuß. Kulturbesitz Berlin
246 Objekte für die Ausstellung »Erben der Seidenstraße -
Usbekistan«
Zeitgeist - Gesellschaft zur
Förderung d. Künste in Berlin e. V.
8 Objekte für die »Afrika-Ausstellung«
Kunst- und Ausstellungshalle
der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
6 Objekte für die Ausstellung »Weisheit und Liebe...«
Städtische Museen Freiburg
5 Objekte für die Dauerausstellung
Landesdenkmalamt Baden-Württ.
Gaienhofen-Hemmenhofen
40 Objekte für die Ausstellung »Pfahlbauten«
Hamburgisches Museum für Völkerkunde
158 Objekte für die Ausstellung »Bisonjäger - Indianer der
Großen Ebenen«
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
1 Objekt für die Ausstellung »Shunga«
Hamburgisches Museum für Völkerkunde
5 Objekte für die Ausstellung »Pakistan-Express«
Stadttheater Heilbronn
1 Objekt für die Ausstellung »Wartesaal Deutschland«
Roemer- u. Pelizaeus-Museum, Hildesheim
29 Objekte für die Ausstellung Indonesien »Versunkene
Königreiche«
Bürgermeisteramt Kernen im Remstal
1 Objekt
11
TRIBUS 46, 1997
01.12.94-30.11.96
Südsee
08.04.96-15.09.97
Südsee
26.10.96-22.4.96
Ostasien / Orient
22.08.96-15.04.97
Orient
01.10.94-15.03.96
Südasien
07.08.96-11.11.96
Orient
10.07.96-31.07.96
Afrika
22.03.94-30.04.96
Amerika
25.10.94-28.02.97
Südasien/Ostasien
01.09.96-20.05.97
Afrika
02.05.96-29.10.96
Afrika
28.05.96-30.10.96
Südsee
15.10.96-25.07.97
Orient
20.10.95-04.01.96
Orient
13.09.96-21.01.97
18.06.96-20.06.96
Amerika
31.08.96-08.02.97
12
Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln
10 Fotos für die Ausstellung »Bilder aus dem Paradies«
Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln
2 Objekte für die Ausstellung »Funktion und Bedeutung
der Kokospalme«
Heimatmuseum Höfingen (Leonberg)
6 Objekte für die Ausstellung »Pesthauch und Himmels-
duft«
Museum Burghof Lörrach
4 Objekte für die Ausstellung »Islamische Keramik«
Los Angeles County of Art
1 Objekt für die Ausstellung »The Peaceful Liberators: Jain
Art from India«
Kula e. V., München
14 Objekte für die Ausstellung »Überleben in der Wüste«
Stadtverwaltung Mosbach
47 Objekte für die Ausstellung »Sprechende Tücher«
Staatl. Museum für Völkerkunde, München
2 Objekte für die Ausstellung »Reise nach Brasilien«
Heimatmuseum Nagold
4 Objekte für die Ausstellung »Heinrich Zeller«
The Museum for African Art New York
5 Objekte für die Ausstellung »Art of the Baga«
Salomon R. Guggenheim Museum, New York
2 Objekte für die Ausstellung »Africa; The Art of a Conti-
nent«
Fondation Cartier pour Fart contemporain, Paris
2 Objekte für die Ausstellung »Les Oiseaux«
Museum voor Volkenkunde, Rotterdam
6 Objekte für die Ausstellung »Het Badhuis - Badcultur in
Oost & West«
Rudolf René Gebhardt, Stuttgart
23 Objekte für die Ausstellung »Unbekanntes Ägypten«
Volkshochschule Stuttgart
Vitrinen des Museums für die Ausstellung »Sri Lanka -
Geschenke der Götter«
Baden-Württembergische Bank, Stuttgart
2 Objekte für den »Brasilientag«
Musikbücherei Stuttgart
4 Objekte für eine Ausstellung
01.03.96-09.08.96 Ostasien The Tokyo Shimbun 2 Objekte für die Ausstellung »Comic Genius: Kawanabe Kyösai«
16.10.95-29.02.96 Afrika Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Wien 4 Objekte für die Ausstellung »Afrikanische Sitze«
09.04.95-30.06.97 Südsee Museum für Völkerkunde, Wien 1 Objekt für die Ausstellung »Mikronesien«
22.1.96-10.05.96 Afrika Völkerkundliches Museum der ev. Mission Wuppertal 10 Objekte, Text und Bildtafeln für die Ausstellung »Spre- chende Tücher«
31.08.95-30.11.97 Südasien Ethno-Expo, Zürich, etc. 4 Objekte für die Ausstellung »Krank warum?«
Geld- und Sachspenden für das Linden-Museum Stuttgart bzw. die Gesellschaft für
Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e. V. erhielten wir im Jahre 1996 von:
Ade, Herbert H., Stuttgart
Allianz Versicherungs AG, Stuttgart
Artscope International, Stuttgart
Auswärtiges Amt, Bonn
Baatz, Dr. Klaus-Peter, Stuttgart
Baden-Württembergische Bank AG, Stuttgart
Bauer, Alfred, Bergisch Gladbach
Boehringer, Hans, Ingelheim am Rhein
Bosch, Robert, GmbH, Stuttgart
Bouvier, Thomas, Kronberg
Breuninger GmbH & Co., Stuttgart
Brüder Kollitz oHG, Erlangen
Ciappetta-Roessler, Brunhilde, Stuttgart
Cronemeyer, Ulrich, Leinfelden-Echterdingen
Deutsch-Türkische Gesellschaft e. V., Stuttgart
Deutsche Lufthansa AG, Stuttgart
Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
DiaService, Stuttgart
Dietrich, Michael und Alice, Stuttgart
Dresdner Bank AG, Stuttgart
Eigner, Magda, Stuttgart
elo Touchsystems, Freising
Energieversorgung Schwaben AG, Stuttgart
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Gehring, Rudolf und Brigitte, Stuttgart
Geze GmbH & Co., Leonberg
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Hagmann, Willy, Odiäxere/Portugal
Hanns-Martin-Schleyer-Halle, Stuttgart
Hoffmann, Ulrich, Stuttgart
Ileperuma, Ch., Stuttgart
Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar, Stuttgart
Jäger, Prof. Dr. Volker, Stuttgart
13
TRIBUS 46, 1997
Jörger, Dr. Wolfgang und Bettina, Braunsbach-Steinkirchen
Jung, Olaf, Nürtingen-Roßdorf
Junghans, Dipl.-Ing. Erhard, Stuttgart
Kempgen, Heinz-Wilhelm, Künzelsau
Klett, Ernst, AG, Stuttgart
Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart
Landesgirokasse, Stuttgart
Landeszentralbank Baden-Württemberg, Stuttgart
Leisner-Bühler, Liesl, Reutlingen
LG-Stiftung: Kunst und Kultur, Stuttgart
Marquardt-Eißler, Prof. Dr. Werner, Stuttgart
m. e. c. c. a. + Sauer, Aachen
Mercedes-Benz AG, Stuttgart
Mineralbrunnen Überkingen, Bad Überkingen
Müller, Clara E., Stuttgart
Museum für Völkerkunde, Berlin
Musik der Jahrhunderte e. V., Stuttgart
Reichel, Friedbert und Elke, Stuttgart
Renz, Hanna, Stuttgart
Rittler, Barbara, Neckartailfingen
Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Ruoff, Brigitte, Stuttgart
Ruter, Rudolf X. und Silvia, Stuttgart
Schatzinsel, Stuttgart
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schnaidt, Brigitte, Stuttgart
Schwichtenberg, Werner, Crailsheim
Seitmann, Dr. Friedrich, Stuttgart
SPB Société de Production Beige PGmbH, Eupen
Spuhler, Dr. Friedrich, Berlin
Staatliche Toto-Lotto GmbH, Stuttgart
STEG Stadtentwicklung Südwest, Stuttgart
Stillfried, Monika Gräfin von, Neuenstadt
Straub, Thomas, Stuttgart
Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart
Südwestbank AG, Stuttgart
SüdwestLB, Südwestdeutsche Landesbank, Stuttgart
Taner, Ali, Brasserie Litfass, Stuttgart
Technische Werke der Stadt Stuttgart
Trautmann, Michael, Stuttgart
Universität zu Köln, Institut für Musikwissenschaft
Wieland-Werke, Ulm
Wohlgemuth, Hiltraut, Ditzingen
Württembergische Hypothekenbank, Stuttgart
Württembergische Versicherung AG, Stuttgart
Württembergische Lebensversicherung AG, Stuttgart
Württembergischer Sparkassen- und Giroverband, Stuttgart
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Ihnen allen sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt.
14
Neuerwerbungen 1996
Der erneute Zwang zu Sparmaßnahmen wirkte sich auch 1996 auf unsere Erwerbun-
gen (leider) aus. Dennoch konnten wieder einige herausragende Objekte erworben
werden, zu denen aus der Afrika-Abteilung die Uniform des letzten äthiopischen
Kriegsministers vor dem Zweiten Weltkrieg ebenso zählt wie eine Silberschale mit
einem niellierten Schriftband in strengem Kufi (10./12. Jh.) und ein Bronzespiegel
aus der Orient-Abteilung.
Die Südasien-Abteilung kann glücklicherweise einen erheblichen Zuwachs an Ojek-
ten melden, die vor allem durch Mittel des Zentralfonds erworben werden konnten:
eine großartige Textil- und eine hervorragende Schattenspielsammlung. Dagegen
wurden alle Ankäufe - obwohl bereits durch Direktorenkonferenz bewilligt (hoch-
wertige Japan-Malerei) - der Ostasien-Abteilung vorläufig zurückgestellt. Auch die
Südsee-Abteilung konnte nur mit wenigen Objekten 1996 aufwarten. In der Ame-
rika-Abteilung wurden 14 Objekte erworben.
Im einzelnen ergaben sich folgende Zugänge:
Afrika-Abteilung: 42 Objekte
Orient-Abteilung: 83 Objekte
Südasien-Abteilung: 1954 Objekte
Südsee-Abteilung: 20 Objekte
Ostasien-Abteilung: 139 Objekte
Amerika-Abteilung: 14 Objekte
Unter den Eingängen befinden sich Geschenke und Stiftungen, wofür ich an dieser
Stelle den Gebern im Namen des Linden-Museums herzlich danke.
Mein Dank gilt aber auch wieder meinen engagierten wissenschaftlichen Mitarbei-
tern, ohne deren hervorragende Recherchearbeit die Objekte nicht hätten erworben
werden können. Ich danke deshalb Herrn Dr. H.Forkl (H.F.), Herrn Prof. Dr. J.
Kalter (J. K.), Herrn Dr. Gerd Kreisel (G. K.), Herrn Dr. Klaus J. Brandt (K. J. B.),
Frau Dr. Ingrid Heermann (I. H.) und Frau Dr. Doris Kurella (D. K.).
Auch in diesem Jahr danke ich trotz der mager gewordenen finanziellen Zuwendun-
gen unseren Finanzträgern, der Landeshauptstadt Stuttgart sowie dem Ministerium
für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.
Peter Thiele
15
TRIBUS 46, 1997
Afrika-Abteilung
Unter dem Zwang von Platzmangel und Sparmaßnahmen sah sich der Afrika-Refe-
rent im Jahr 1996 dazu veranlaßt, die Erwerbungstätigkeit noch mehr einzuschrän-
ken.
Was die Region Oberguinea betrifft, konnte die schon über die letzten Jahre betrie-
bene Erwerbung einer Baule-Sammlung aus der südlichen Elfenbeinküste auch im
Jahr 1996 fortgesetzt werden. Es handelt sich bei dieser Serie um zwei mit Pyro-
gravur verzierte Kalebassenschöpflöffel, einen hölzernen Kamm, eine Goldwaage,
einen Goldlöffel und einen Oberarmring, jeweils aus Messing, fünf rituelle Holz-
skulpturen verschiedener Tiere, einen hölzernen Deckelgriff in Form eines Elefanten
von einem Seelengefäß, eine hölzerne Miniaturmaske, einen getrockneten Elefan-
tenschwanz zum Gebrauch als »Medizin«, ein Schröpfhorn und eine Flöte. Aus dem
Senegal konnte ein Blechköfferchen erworben werden, das aus Getränkedosen her-
gestellt worden war.
Das Südliche Afrika ist im Erwerbsjahr 1996 vor allem mit einer archäologischen
Sammlung polymorpher Sandstein-Geräte aus Namibia vertreten. Davon gehören
dem Middle Stone Age mit einem Alter bis zu 120000 Jahren je zwei Messerklingen
bzw. gestielte Projektilspitzen an, dem Late Stone Age mit einem Alter bis zu 25 000
Jahren 18 gestielte Pfeilspitzen. Ferner ging der Sammlung ein rezenter Tontopf aus
Botswana zu.
Die Erwerbungen aus Ostafrika entstammen sämtlich dem christlich-äthiopischen
Bereich. Zu ihnen zählt ein illuminiertes Gebetbuch aus dem 19. Jahrhundert. Einen
Höhepunkt in der Geschichte unserer Afrika-Sammlung stellt jedoch ohne Zweifel
die Erwerbung der Uniform des ras Mulugetta dar, des letzten äthiopischen Kriegs-
ministers vor dem Zweiten Weltkrieg, der für Äthiopien ja eigentlich schon mit der
italienischen Invasion im Jahr 1936 begann. Die Uniform besteht aus einem diadem-
artigen Kopfschmuck aus Samt und Seide, der mit Haaren von Löwenmähnen und
Schamschurz eines sehr reichen Mädchens
Weberei in Baumwolle mit Glasperlen, Kaurischnecken; Umfang ohne Schnürenden: 49,5 cm.
Kapsiki (Kamerun), vor 1976. Inv.-Nr. F 55.053
16
Schöpflöffel
Kalebasse, Darstellung von Maskentänzern, Tieren und Flugzeugen in Ritztechnik mit Inkru-
station aus Kokosfett-Asche-Gemisch; Länge: 20,5 cm. Baule (Elfenbeinküste), um 1975.
Inv.-Nr.F 55.037
reich mit Edelmetallen verschiedener Art besetzt ist. Der Umhang besteht aus den
gleichen Materialien, das silbervergoldete Brustschild auf ihm, ähnlich wie auf dem
vom Linden-Museum schon 1901 erworbenen samtenen Mantel der Kaiserin Taitu,
steht ganz in der altisraelitischen Tradition, auf die sich die Äthiopische Kirche
beruft.
Der Region Zentralsudan gehören zwei Objekte aus Kamerun an, eine Spießlaute
von den Hausa mit einem lederüberzogenen Resonanzkörper aus einer Sardinen-
büchse und ein mit Glasperlen gewebter Mädchen-Schamschurz von den Kapsiki.
Dagegen dürfte ein Kleid mit dem Aufdruck zum Gedenken an das 100jährige Be-
stehen der Baseler Mission in Kamerun aus dem Grasland stammen.
H.R
17
TRIBUS 46, 1997
Umhang der Uniform von ras Mulugetta, dem letzten äthiopischen Kriegsminister vor dem
Zweiten Weltkrieg
Löwen-Mähnenhaare, Samt, Seide, Silberpailletten, silbervergoldetes Filigran, Messing,
unechte Steine, Gold- und Silberfaden; Lange: 101 cm. Amhara (Äthiopien), vor 1936.
Inv.-Nr. F 55.054a L
18
TRIBUS 46, 1997
Orient-Abteilung
Der Zuwachs der Sammlungen der Orient-Abteilung im Berichtsjahr betrug 83
Objekte. Dieser zahlenmäßig relativ bescheidene Zuwachs hat die islamkundlichen
und die Sammlungen islamischer Kunst jedoch entscheidend verbessert.
Erwerbungen aus Mittelasien bildeten mit 66 Objekten den Schwerpunkt. Es han-
delte sich um Exponate, die uns für die Ausstellung »Erben der Seidenstraße - Usbe-
kistan« dankenswerterweise als Leihgaben zur Verfügung gestellt wurden und die
wir im Berichtsjahr für unsere Sammlung erwerben konnten. Die interessanteste
Materialgruppe enthält in Modeln geprägte Keramiken aus städtischen Produktions-
zentren Mittelasiens und von Hand aufgebaute, mit Manganmalerei auf Engobe ver-
sehene Keramiken, die in Nordafghanistan und den angrenzenden Gebieten Mittel-
asiens zwischen dem 9. und 12. Jh. entstanden sind.
Es handelt sich dabei um Erzeugnisse bäuerlicher Nebenerwerbshandwerkerinnen,
deren Ornamentik noch sehr stark in vorislamischen Traditionen verhaftet ist, die
sich teilweise bis in das 3. Jahrtausend vor Christus verfolgen lassen. Vergleichbare
Stücke sind in westlichen Museumssammlungen bisher kaum vorhanden und waren,
bis zu ihrer Publikation im Begleitbuch zur Usbekistanausstellung durch den Unter-
zeichner, nur aus schwer zugänglichen russischen Fachpublikationen bekannt.
Als besonders ungewöhnliches Beispiel der bemalten Gruppe möchte ich ein Vor-
ratsgefäß mit Kaltbemalung in Beinschwarz auf Engobe hervorheben. Für ein im
offenen Grubenbrand hergestelltes Gefäß hat es eine ungewöhnliche Höhe von
111 cm. Es belegt, daß die Töpferin nicht nur den Aufbau des Gefäßes, sondern auch
die schwierige Brenntechnik perfekt beherrscht hat. Der Dekor ist in horizontalen
Bändern angeordnet und zeigt neben geometrischen Motiven Säugetiere (Esel, Hir-
sche, Steinböcke) sowie einen vierrädrigen Wagen, der in seinem Malstil an Felsbil-
der erinnert. Die TL-Analyse ergab ein Alter von ca. 1000 Jahren.
Aus der Gruppe der in Modeln geprägten Ware möchte ich zwei Beispiele hervorhe-
ben: Es handelt sich zum einen um einen Henkelkrug mit frei aufgebautem blüten-
artigen Ausguß mit Siebeinsatz im Hals. Schulterbereich und das untere Drittel der
Laibung zeigen eine lotusartige Rosette. Ein Kufi-Schriftband wird von Kreisme-
daillons mit Tierdarstellungen (Hasen, Löwen, Sphingen) unterbrochen, 10.-11. Jh.;
zum anderen eine Kanne, die aus fünf Teilen zusammengefügt wurde. Der Dekor
ist in Modeln geprägt. Der Ausguß besteht aus einem frei modellierten Tierkopf
(Stier ?). Auf der Schulter findet sich ein Schriftband und ein Lotusrand, darunter
Kreismedaillons mit Katzendarstellungen zwischen Dreiblattmotiven: im Basisteil
ein Fries mit Greifvögeln und Widdern. Im Zusammenhang mit dieser Erwerbung
wurden uns für die Studiensammlung 30 weitere geprägte und gemodelte Keramiken
geschenkt.
Auch die Sammlung Islamische Metallarbeiten aus Khorasan und Mittelasien, die
schon heute zu den besten der Welt gehört, konnte um sechs Objekte ergänzt werden.
Besonders eingehen möchte ich auf eine Silberschale mit einem nieliierten Schrift-
band im strengen Kufi, das von vier Kreismedaillons mit Vogeldarstellungen unter-
brochen ist. Niellierte Silberarbeiten aus der Zeit zwischen dem 10. bis 12. Jh. sind
außerordentlich selten. Ebenfalls sehr ungewöhnlich ist ein Bronzespiegel. Der im
Relief gegossene Dekor der Rückseite zeigt Kreismedaillons mit Tierdarstellungen
und einen Keulenträger.
Die wichtigsten Erwerbungen im Bereich der islamischen Kunst Irans sind zwei
Goldbrokate des 12./13. Jh. Einer von ihnen zeigt Kreismedaillons mit gegenständi-
gen Adlern, wie sie zum klassischen Repertoire der seldschukischen Textilkunst
gehören. Die Grundstruktur des Ornaments des zweiten Brokats besteht aus einer
Sterne bildenden Kassettierung, deren Felder mit Rosetten gefüllt sind. Vergleich-
bare Stücke wurden in den letzten Jahren des öfteren in buddhistischen Klöstern
Tibets gefunden und bilden insofern einen interessanten Beleg für den Osthandel
Irans auf der Seidenstraße.
Buchkunst und Kalligraphie sind ein relativ junges Sammelgebiet der Orient-Abtei-
lung, dem in den kommenden Jahren unsere verstärkte Aufmerksamkeit gelten soll.
20
Spiegel
Rückseite mit in Relief gegossenem Dekor, fünf Kreismedaillons mit Tierdarstellungen und
einem Keulenträger, Durchmesser: 7cm, Transoxanien, 12./13. Jh.
Zu diesem Themenbereich konnten wir erwerben: eine Miniaturmalerei, Iran, 18. Jh.,
auf der Salomon als Herr der Tiere dargestellt ist, zwei Gebetbücher, Iran, 18 Jh., von
denen eines für den Kadscharen-Prinzen Jamin-ud-dullah 1862 in Teheran hergestellt
wurde, sowie osmanische Kalligraphien des 19. Jh., bei denen die Schrift teilweise in
bildliche Darstellungen, wie z. B. ein Prinz auf einem Pferd, umgesetzt ist.
Kalligraphien dieser Art erfreuen sich nach einigen türkischen Publikationen der
letzten Jahre eines großen Interesses bei Sammlern und Museen. Um so erfreulicher
ist es, daß wir sehr gute Beispiele dieses Genres zu vernünftigen Preisen für unsere
Sammlung sichern konnten.
Die Erwerbung von vier Objekten zum Thema Brautpaar und Hochzeit soll uns
helfen, in der künftigen Dauerausstellung die Geschlechterbeziehung zu veran-
schaulichen. Es handelt sich um zwei Spiegel mit Lackmalerei, die das Thema Braut-
werbung darstellen, sowie die Hochzeitsjacke und die Handtasche einer Braut (alle
18. Jh.).
Architekturteile werden in der Orient-Abteilung seit über 20 Jahre konsequent ge-
sammelt. Eine interessante Bereicherung dieses Sammelgebiets stellt der Türflügel
einer Moschee aus Bey§ehir, Türkei, 15. Jh., dar, mit einem streng geometrisch
kassettierten Dekor und Eisenbeschlägen.
Dankbar können wir feststellen, daß es im Berichtsjahr gelungen ist, seit langem
gepflegte Sammelgebiete qualitativ entscheidend zu verbessern. Vor allem auf die
Bedürfnisse unserer türkischen Mitbürger und Besucher ausgerichtet, haben wir ver-
sucht, verstärkt Exponate aus dem Gebiet der heutigen Türkei zu erwerben. Diese
Bemühungen werden wir in den nächsten Jahren konsequent fortsetzen.
J.K.
21
TRIBUS 46, 1997
Schale
glasierte Irdenware, manganbraune Unterglasurmalerei auf weißer Engobe. Pfauendarstellung.
Höhe: 7,5cm, Durchmesser: 18cm Transoxanien (Afrasiyab?), 11./12. Jh.
Vorratsgefäß
unglasierte Keramik mit Kaltbemalung in Beinschwarz.
Der Dekor ist in horizontalen Bändern angeordnet und
zeigt neben geometrischen Motiven Säugetiere
(Hirsche und Steinböcke?) sowie einen vierrädrigen
Wagen in einem Stil, der an Felsbilder erinnert.
Höhe: 111 cm, Nord-Afghanistan, bei Maimana, 10. Jh.
22
TRIBUS 46, 1997
Henkelkrug
unglasierte Keramik mit in Modeln geprägtem Dekor, ein sich an den Händen haltendes Paar
in zentralasiatischer Tracht des 12. Jh. Höhe: 18 cm, Usbekistan.
24
Kanne
unglasierte Keramik, aus fünf Teilen zusammengefügt, in Modeln geprägter Dekor, am
Ausguß geritzter Dekor. Der Ausguß besteht aus einem frei modellierten Tierkopf (Stier?),
disfunktional, auf der Schulter Schriftband und Lotusrand, darunter Kreismedaillons mit
Katzendarstellungen zwischen Dreiblattmotiven. Höhe: ca. 26,5 cm, Nord-Afghanistan oder
Mittelasien, 12. Jh.
TRIBUS 46, 1997
Südasien-Abteilung
Das Berichtsjahr brachte einen erheblichen Zuwachs an Sammlungsgut - insgesamt
1954 Objekte - und war in dieser Hinsicht eines der erfreulichsten des letzten Jahr-
zehnts. Die große Zahl setzt sich in der Hauptsache aus zwei umfangreichen Grup-
pen zusammen, die dankenswerterweise durch Mittel des »Zentralfonds« finanziert
werden konnten; südostasiatische Textilien (320 Stücke) und indische Schattenspiel-
figuren (insgesamt 1391 Stücke) aus der wissenschaftlichen Sammlung Dr. Seit-
mann.
Die auf mehreren Forschungsreisen zusammengetragene Sammlung indischer Schat-
tenspielfiguren stammen aus Orissa, Andhra, Kerala, Tamilnadu und in der Haupt-
sache aus Karnataka. In den Veröffentlichungen F. Seitmanns (ab 1971, siehe auch
Tribus 23 [1974], 27 [1978] und 36 [1990] mit Bibliographie) sind die wesentlichen
Aspekte des südindischen Schattenspiels anhand der vorliegenden Figuren abgehan-
delt worden.
Des weiteren erhielten wir für die Sammelgebiete Neuzeitliches Indien 20 Objekte,
darunter eine großformatige Kalamkari-Textilmalerei aus Tamilnadu, ein mit der
Umschlagtuch
Baumwolle, Kettikat-Gewebe, 202 x 134cm, Kisar, Süd-Maluku/Indonesien, um 1900.
Inv.-Nr. SA 03655 L
26
Tampon
Baumwolltuch mit Seideneintrag, 68 x 68cm, Krui (Kroe), Süd-Sumatra/Indonesien, Anfang
20. Jahrhundert. Inv.-Nr. SA 03490 L
Figur Shanis besticktes Chamba-Rumal, eine bengalische Wasserfarbenmalerei auf
einer 555 cm langen senkrechten Papierrolle als Erzählvorlage in der Art von Mori-
tatenbildern, ferner Handwerks- und Gebrauchsgeräte aus Rajasthan, drei weitere
Akten bzw. Briefe mit Fotografien aus der britischen Kolonialzeit und eine acht-
eckige, teilvergoldete Ritualplatte aus schwarzem Gestein, graviert mit dem symbol-
verzierten Fußabdruck Vishnus (Durchmesser 27cm), wahrscheinlich aus Bengalen
(19. Jh.?).
Des weiteren erhielten wir aus Sri Lanka einen gedrechselten Fächerstab, aus Nepal
bzw. Tibet 14 Objekte des Haushalts, Handwerks und des Ritus, darunter zwei Rei-
seetuis für Kultgeräte, eine mehrteilige religiöse Handschrift mit kolorierten Abbil-
dungen in Holzblockdruck und eine runde Amulettdose aus getriebenem Silber.
Thailand ist mit einer vergoldeten Buddhabronze der Ratanakosin-Epoche vertreten,
dem Geschenk des Stuttgarter Kunsthauses »Die Schatzinsel«, Myanmar (Birma)
mit einem in Hochrelief beschnitzten Holzpaneel aus Mandalay, eine pastorale Szene
27
TRIBUS 46, 1997
Visnupada
Ritualplatte mit Fußabdruck, teilvergoldeter Stein, Durchmesser: 27cm, Bengalen/Indien,
19. Jh.(?). Inv.-Nr. SA 01770
mit Ochsenkarren darstellend. Zum Sammelbereich Vietnam erhielten wir 27 archäo-
logische Schmuckstücke: Ohrringe aus Glasfluß sowie Perlenhalsketten aus Achat,
Karneol, Bergkristall und Glas der Dong-Son- und der Oc-Eo-/Funan-Kultur aus den
Regionen Thanh-Hoa respektive Mekong-Delta/Südvietnam.
Weitere Objekte von archäologischer Bedeutung sind vier Majapahit-Terrakotta-
Teile, von denen drei einen Miniaturtempel und architektonische Schmuckdetails
zeigen. Das vierte ist eine realistische, meisterlich geformte Fischplastik (fragmen-
tarisch).
Der Bereich Südostasien verzeichnet ferner den Zugang von 10 Werkzeugen und
Werkstücken aus Sagorinde von Seram, Maluku, und - wie erwähnt - der 320 Tex-
tilien, wovon zwei aus Laos, zwei aus den Philippinen und der Rest aus Indonesien
stammen. Hierbei sind alle Hauptregionen vertreten, wodurch sich die bisherigen
Bestände in erheblichem Maße in Variantenreichtum und Qualität verbessern. Anzu-
streben ist nunmehr ein Bestandskatalog, um diesen Sammelschwerpunkt der Öffent-
lichkeit zugänglich zu machen.
Als Stiftungen aus privaten Händen kamen 143 (Sammlung Dr. Wais/Straub) resp. 18
(Sammlung Nägelsbach) indonesische Objekte aus den 20/30er und 50er Jahren des
20. Jh. zu uns, die seinerzeit von deutschen Ansässigen in Sumatra und Hongkong
erworben worden waren. Wir danken an dieser Stelle nochmals herzlich für die Über-
lassung der Objekte sowie der beachtlichen Dokumentationen in Form von Tage-
büchern, Dokumenten und Fotografien.
G.K.
28
Schwertkämpfer
Schattenspielfigur aus Karnataka/Südindien, Pergament, farbig geiaßt, Höhe; 60cm, 20. Jh.
Inv.-Nr. SA 02980 L
29
TRIBUS 46, 1997
Tau-Tau, männliche und weibliche Sitzfiguren
beschnitztes Holz, Höhe: 85,5 cm, Toraja, Sulawesi/Indonesien, 20. Jh. Inv.-Nr. SA 03370 L
und SA 03371 L
30
Ostasien-Abteilung
Im Berichtsjahr 1996 vergrößerten sich die Bestände der Ostasien-Abteilung um ins-
gesamt 139 Neuzugänge, von denen 94 gestiftet und 45 angekauft wurden.
Auch in diesem Jahr bilden 52 chinesische Münzen den Großteil der Stiftungen. Es
handelt sich hierbei im wesentlichen um frühe Spatenmünzen aus dem 7. bis 3. Jahr-
hundert v. Chr. und einige Spaten- und Rundmünzen sowie eine seltene Bronzeguß-
form für Spatenmünzen aus der kurzen Xin-Dynastie des Wang Mang (9-23 n. Chr.).
Mit Ausnahme der letzten Gruppe von Münzen der Xin-Dynastie wurden alle ande-
ren Münzen im Jahr 1993 - hier noch als Privatbesitz - zusammen mit den bereits im
Besitz des Linden-Museums befindlichen Münzen aus der gleichen frühen Zeit in
TRIBUS 41 von Heinz-Wilhelm Kempgen in dem Artikel »Frühe chinesische Münz-
geschichte: Zur Chronologie der Spatenmünzen (7. bis 3. Jahrhundert v.Chr)«
publiziert.
Mit dieser letzten großen Stiftung ist die sich über insgesamt sieben Jahre
erstreckende Reihe von Schenkungen an chinesischen, japanischen, koreanischen
und südostasiatischen Münzen, Amuletten und sonstigen Zahlungsmitteln an die
Ostasien-Abteilung abgeschlossen. Das Linden-Museum dürfte damit durch die
großherzigen Stiftungen heute über eine der vollständigsten Sammlungen ostasiati-
scher Zahlungsmittel von der frühesten Zeit bis zur Gegenwart in Deutschland ver-
fügen. Es ist geplant, in kleineren Einzelausstellungen dieses besondere und interes-
sante Sammelgebiet der Öffentlichkeit vorzustellen und in der neu einzurichtenden
Dauerausstellung der Ostasien-Abteilung in einigen Vitrinen einen kleinen, reprä-
sentativen Querschnitt der numismatischen Sammlungen zu zeigen.
Die restlichen 42 gestifteten Gegenstände setzen sich aus elf chinesischen und 31
japanischen Objekten zusammen. Es handelt sich hier im einzelnen um neun chine-
U-förmige Lackdose
Holz mit Schwarzlack und Dekor in Farblack, Höhe: 8,6cm, Breite: 25,8cm, Tiefe: 11,9cm.
China, Anfang West-Han-Zeit (206 v.-8 n. Chr.). Inv. Nr. OA 24.754 L
31
TRIBUS 46, 1997
sische Keramiken aus einem Zeitraum, der sich vom Neolithikum, Ende 4. Jt. v. Chr.,
mit Gefäßen der Majiayao-, Machang- und Banshan-Kulturen bis zur Song-
Zeit (960-1279) erstreckt, und einer kleinen, runden Lackdose, Anfang Ming-Zeit
(1368-1644) und einer sehr großen, ebenfalls runden Lackdose für Kleider aus der
Qianlong-Ära (1736-95). Von den gestifteten Keramiken sind besonders erwäh-
nenswert eine kleine, sehr fein modellierte und grün glasierte Kanne mit kurzem Dra-
chenkopfausguß aus der 5-Dynastien-Zeit (907-960), ein sehr schönes, dreibeiniges,
grünlich glasiertes Gefäß vom Typ ding mit einem Reliefdekor mit Jagdszenen auf
dem Deckel aus der Ost-Han-Zeit (24-220) und die neolithischen Gefäße, von denen
- neben anderen Leihgaben aus dem Linden-Museum - drei sowie das Deckelgefäß
ding für die Ausstellung »Manger en Chine, Essen in China« in dem Museum Ali-
mentarium in Vevey (Schweiz, 21.3.1997-4. 1.1998) ausgeliehen und in dem gleich-
namigen Katalog publiziert wurden.
Die 31 ebenfalls gestifteten japanischen Gegenstände umfassen im wesentlichen illu-
strierte Holzschnittbücher, überwiegend in mehrbändigen Serien, aus dem 18. bis
frühen 20. Jh., moderne Arrangements, Figuren und Gestelle zu den traditionellen
drei japanischen Jahresfesten (Neujahrs-, Mädchen- und Knabenfest), Teegerät-
schaften, Flöten, Kinderspielzeug, Sandalen usw. aus der Zeit kurz vor dem 2. Welt-
krieg und den sechziger Jahren sowie einem kleinen Porzellanteller mit Schmelzfar-
bendekor, Arita, Kutani-Typ, aus dem 19. Jh.
Die 45 gekauften Objekte stammen alle ausschließlich aus dem chinesischen Kultur-
bereich. Neun von ihnen wurden mit Eigenmitteln erworben, sieben frühe Lackar-
beiten aus der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) und der Han-Zeit (206
v-220 n. Chr.) und zwei Porzellanschälchen aus dem 18. Jahrhundert. Der Großteil,
36 Gegenstände, ist jedoch mit Mitteln des Zentralfonds erworben worden, und alle
Objekte können dem seit Jahren systematisch ausgebauten Sammlungskomplex chi-
nesischer Grabkult zugeordnet werden.
Großer Lackteller
sog. Trockenlack (tuotai), Braunlack mit tlw. reliefartig aufgetragenem Lackdekor und Metall-
fassung am Rand, Durchmesser: 27cm. China, Ende West-Han-Zeit (206 v.-8 n. Chr.), datiert:
8 n.Chr. Inv. Nr. OA 24.753 L
32
Fußkelch
Feuervergoldete Bronze mit punziertem Dekor, Höhe; 6,2cm, Durchmesser: 5,2cm. China,
1. Hälfte Tang-Zeit (618-907). Inv. Nr. OA 24.772 L
Die sehr bedeutende chinesische Lacksammlung konnte durch wichtige Ankäufe
durchweg früher Lackarbeiten ergänzt werden: aus der West-Han-Zeit (206 v.-8
n.Chr.) stammen eine relativ große, U-förmige Lackdose (Abb.) und ein Teller,
Trockenlack, beide mit aufgemaltem Lackdedor, ein kleiner Bronzespiegel, dessen
Rückseite mit einem Lackdekor bemalt ist, und als herausragendes Objekt ein großer,
tiefer Teller (Abb.), Trockenlack (tuotai), mit reliefartig aufgemaltem Lackdekor, der
durch eine lange, eingeritzte Inschrift auf das Jahr 8 n. Chr. datiert ist. Zu dieser
Gruppe gehört noch eine sechsfach eingezogene, monochrome Lackschale aus der
Song-Zeit (960-1279).
Eine kleine, aber vorzügliche Gruppe von Metallgegenständen umfaßt neben dem
bereits erwähnten kleinen Bronzespiegel mit Lackdekor einen weiteren kleinen
Bronzespiegel mit fünf Buddhafigürchen in Relief aus der 2. Hälfte der 6-Dynastien-
Zeit (220-589), ein kleines Deckelgefäß aus Bronze vom Typ ding auf drei Füßen in
Bärengestalt und Deckelaufsätzen in Form von stilisierten Widdern aus der Zeit der
Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.), ein prachtvolles, sehr sorgfältig und aufwen-
dig gearbeitetes Räuchergefäß aus Bronze vom Typ boshanlu (Titelbild), ein flaches,
schalenfömiges Gießgefäß aus Silber mit feinen Gravierungen, beide aus der West-
Han-Zeit (206 v.-8 n.Chr.) und ein sehr seltener kleiner Fußkelch aus vergoldeter
Bronze mit punziertem, figürlichem Dekor aus der 1. Hälfte der Tang-Zeit (Abb.).
33
TRIBUS 46, 1997
Pferdeknecht
Beigeweiße Tonware mit Dreifarben-Glasur (sancai) in Honigbraun, Beigeweiß und Grün,
Höhe: 58cm. China, 1. Hälfte Tang-Zeit (618-907). Inv. Nr. OA 24.758 L
34
Kopfstütze
Rötliche Tonware mit weißer Engobe und Dreifarben-Glasur (sancai) in Grün, Gelb und Weiß
und eingeritztem Dekor, Cizhou-Ware, Hohe: 12cm, Breite: 34,3cm, Tiefe: 24cm. China,
Jin-Zeit (1115-1234). Inv. Nr. OA 24.769 L
Die größte Gruppe bilden jedoch die verschiedenen Keramikobjekte aus der Zeit
der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) bis Liao- (916-1125) bzw. Jin-Zeit (1115 —
1234). Hierzu gehören ein kelchförmiges Gefäß aus Steinzeug mit grüngelber
Aschenglasur und einem dichten, eingestempelten Dekor auf der Bauchzone, das den
gleichzeitigen Bronzegefäßtyp zun nachahmt, aus dem 5. Jh. v. Chr., zwei Reiter in
voller Rüstung aus der West-Han-Zeit (Abb.), das Modell eines Ebers und Hahnes
aus rötlichem Ton, letzterer mit einer silbrig oxydierten, grünen Bleiglasur, aus der
Ost-Han-Zeit (24-220) und einer Gruppe von vierzehn kleinen Krieger- und Die-
nerfiguren aus dem 6. Jh. n.Chr. Aus der Tang-Zeit (618-907) stammen die große
Figur eines ausländischen Pferdeknechtes (Abb.) und ein kleiner Handwärmer, beide
aus Tonware mit einer Dreifarben-Glasur (sancai), und eine ungewöhnliche Kanne
aus schwarzbraun glasiertem Steinzeug mit Drachenhenkel und Ausguß in Form
eines Makara-Kopfes und appliziertem, floralem Dekor (Abb.). Eine ungewöhnlich
große Kopfstütze mit Dreifarben-Glasur, Cizhou-Ware (Abb.) und ein großer, schwe-
rer Schultertopf vom Typ meiping mit Sgraffiato-Dekor, Steinzeug mit dicker, dun-
kelbrauner Glasur aus der Jin-Zeit (1115-1234) sowie zwei kleine Teller mit sancai-
Glasur aus der Liao-Zeit (916-1125) ergänzen die chinesischen Keramikbestände der
Ostasien-Abteilung.
Im Bereich Restaurierung und Konservierung der vorhandenen Bestände wurden die
vier wertvollsten japanischen Schwertklingen, alles wakizashi-Klingen (Kurz-
schwerter), der Ostasien-Sammlung in den Monaten Oktober bis Dezember 1995 und
Oktober 1996 von dem Meister Utaka Matsumura aus Shimada, Präfektur Shizuoka,
35
TR1BUS 46, 1997
Reiter
Graue Tonware mit Resten der kalten Bemalung in Rot, Weiß und Dunkelgrau, Höhe: 37 cm,
Länge: 39,4cm. China, West-Han-Zeit (206 v.-8 n. Chr.). Inv. Nr. OA 24.761 b L
sachgemäß aufpoliert. Herr Matsumura war 1995 von der Japan Foundation nach
Heidelberg geschickt worden, wo er in der v. Portheim Stiftung einige Klingen
polierte und danach auch einen Teil der Klingen des Linden-Museums und des Stadt-
museums Bietigheim-Bissingen aufpolierte. Diese Arbeit wurde dann von Herrn
Matsumura im Herbst 1996 abgeschlossen. Die Schwerter in Stuttgart und Bietig-
heim-Bissingen waren ursprünglich im Besitz des bedeutenden und aus Bietigheim
stammenden Mediziners und Lehrers in Japan, Erwin Baelz (1849-1913).
Von der Sumitomo Foundation, Tokyo, erhielt das Linden-Museum im Rahmen des
Programmes »Projects for the Protection, Preservation and Restoration of Cultural
Properties outside Japan« für 1995 eine Förderung zur Restaurierung und Neumon-
tierung von insgesamt fünf Hängerollen aus der umfangreichen japanischen Male-
reisammlung, die vor 1893 von Erwin Baelz in Japan zusammengetragen und nach
Stuttgart gebracht worden war. Verbunden mit der Förderung war auch der dreimo-
natige Aufenthalt einer Spezialistin, Frau Ayako Koga aus Yokohama, die von dem
Tokyo National Research Institute of Cultural Properties (Tokyo Kokuritsu Bunka-
zai Kenkyü-sho) empfohlen worden war und vom 1. Dezember 1995 bis 1. März 1996
in Stuttgart am Linden-Museum arbeitete und in dieser Zeit auch einen Kompaktkurs
über japanische Restaurier- und Montierungstechniken für Malerei an der Staatli-
chen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart abhielt.
Für das Jahr 1997 erhielt das Linden-Museum erneut eine Förderung durch die Sumi-
tomo Foundation für die Restaurierung und teilweise Neumontierung von fünf oder
sechs weiteren Hängerollen aus der Baelz-Sammlung, die diesmal jedoch in Japan
durchgeführt werden.
36
Kanne
Hellgraues Steinzeug mit dicker, schwarzbrauner Laufglasur und weißblauen Flecken, Huang-
dao- oder Duandian-Ware, Höhe: 23cm. China, 2. Hälfte Tang-Zeit (618-907), 8./9. Jh.
Inv. Nr. OA 24.768 L
Die großzügige Förderung umfaßt nicht nur die Restaurierung einiger Bilder sondern
auch die Anschaffung von geeigneten Aufbewahrungskästen aus Paulowniaholz
(kiribako), die sich erfahrungsgemäß als die optimale Aufbewahrungsmethode für
japanische Malerei erwiesen haben.
K. J.B.
37
Sagosieb »tavia«
Rotangspleisse, Höhe; 45 cm, Waropen, Irian Jaya, 1995. Inv.-Nr. S 42.398
Südsee-Abteilung
Im Jahr 1996 war der Zugang in der Südsee-Abteilung bescheiden. 13 Objekte konn-
ten angekauft werden, darunter bemerkenswert ein sehr schöner Aufhängehaken
vom Mittelsepik, der mit seinem feinteiligen Schnitzdekor eine hervorragende
Ergänzung unserer Sammlung darstellt. Bemerkenswert ist auch eine Gruppe von 9
Flechtarbeiten von den Admiralitätsinseln. Diese Objekte stammen im Gegensatz zu
dem angesprochenen Aufhängehaken aus der gegenwärtigen Produktion von Frauen,
39
TRIBUS 46, 1997
die bis heute Taschen, Gürtel und Bänder im »traditionellen« Stil, aber modifiziert
durch neue Materialien und Musteranpassung für die Tauschfeste herstellen. Diese
Arbeiten wurden im Hinblick auf die ursprünglich für 1996 geplante Manus-Aus-
stellung gesammelt, die aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden konnte. Es
bleibt zu hoffen, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt im entsprechenden Kontext
zusammen mit den bedeutenden alten Beständen aus dieser Region gezeigt werden
können.
Ebenfalls neueren Datums - entstanden vor 1994 - sind drei sog. Dot-paintings, als
Tupfbilder in Acryl auf Leinwand, von Frauen aus Zentralaustralien, die in die
Sammlung aufgenommen werden konnten.
Insgesamt sieben Objekte konnten 1996 als Geschenk inventarisiert werden. Dabei
handelt es sich um zwei Ritualkeulen aus dem Bismarck-Archipel, um drei Stein-
beilklingen aus dem Hochland von Neuguinea, um einen ganz hervorragenden
Nasenschmuck aus Perlmutter von den Salomonen und schließlich um ein Sago-Sieb
von der Waropen-Küste im Norden von West-Irian. Letzteres hat uns ganz besonders
überrascht und gefreut, wurde es doch von Herrn Philippus Ramandei Thamo dem
Museum geschickt, der 1992 als Mitglied einer Delegation des Cultural Centre in
Jayapura unsere Sammlung besichtigte und feststellte, daß unter den annähernd 1000
Objekten der Region als einziges ein Sago-Sieb fehlte. Ihm und allen anderen Stif-
tern sagen wir an dieser Stelle unseren ganz herzlichen Dank.
LH.
Amerika-Abteilung
Im Jahr 1996 konnten für die Amerika-Abteilung insgesamt 14 Objekte erworben
werden. Drei davon stammen aus dem zentralen Andenraum. Es handelt sich hierbei
um zwei Schnupftabletts aus Holz und einen Spatel aus Knochen mit eingelegten
Türkiselementen. Diese Objekte sind alle dem kultischen Bereich zuzuordnen. Sie
Schnupftablett
mit der Darstellung eines Kondors, der auf den Kopf eines Menschen hackt, Chontaholz,
Länge: 21cm, Peru, Siguas, Dept. Arequipa. Huari-Kultur, ca. 800-1000 n.Chr.
Listen-Nr. 4189 L
40
Jaguarfigur auf vier Rädern
Keramik, Länge: 20cm, Veracruz, Mexiko, Spätklassik 550-950 n.Chr. Listen-Nr. 4188 M
Knochenspatel
Knochen, wahrscheinlich Lama, Türkis-
fragmente, rote Farbe. Geschnitzt, Türkisein-
lagen, Reste roter Bemalung, Länge: 20cm,
Peru, Cupisnique-Kultur, ca. 1200-200 v. Chr.
Listen-Nr. 4189 L
TRIBUS 46, 1997
dienten sehr wahrscheinlich dem Genuß von Rauschmitteln bei religiösen Zeremo-
nien. Der der Cupisnique-Kultur (1200-200 v. Chr.) entstammende Knochenspatel
ist besonders aufwendig gearbeitet. Er hat die Form eines menschlichen Beines. Die
Gravierungen zeigen die für die Cupisnique-Kultur typischen volutenartigen Zieror-
namente.
Elf Objekte wurden für die Mesoamerika-Sammlung erworben. Darunter sind zwei
polychrom bemalte Becher sowie ein Teller aus der klassischen Maya-Kultur. Diese
Keramiken waren wichtige Bestandteile religiöser Zeremonien. Ihre sorgfältige Aus-
führung und aufwendige Bemalung zeigen, daß sie im Besitz der Oberschicht des
Mayagebietes waren. Zumeist sind auch Angehörige der Oberschicht auf diesen
Keramiken dargestellt. Die Bemalung eines Tellers zeigt einen Tänzer, geschmückt
mit langen Bändern und einem Kopfputz aus Quetzalfedern. In den drei kleinen
Stützfüßen des Tellers befinden sich Rasselkügelchen. Zeremonialkeramik der Klas-
sischen Maya-Kultur in diesem Erhaltungszustand ist, bedingt durch das subtropi-
sche Klima des El Fetén, der Kernzone des Mayagebietes, selten. Sie gehört somit zu
den Besonderheiten einer jeden Mesoamerikasammlung. Von dem erworbenen
»mammiform«-Gefäß mit stilisierter, polychromer Bemalung gibt es weltweit nur
vier Exemplare. Das für das Linden-Museum angekaufte Objekt bildet selbst in die-
ser Gruppe eine Ausnahme; Es ist sowohl vom Erhaltungszustand als auch von der
Größe und der sorgfältigen Ausführung eine Ausnahme. Es dürfte weltweit das
schönste und best erhaltene Exemplar dieser Keramikgattung sein. Auch die Jaguar-
figur mit vier Rädern aus Veracruz (600-900 n. Chr., Mexiko) gehört in den Bereich
der Kultobjekte. Diese kleinen Figuren wurden zumeist in Gräbern gefunden. Sie
belegen eine der wenigen Verwendungen des Rades, das bekannt war, in Alt-Ame-
rika aber nie als Transportmittel eingesetzt wurde.
Durch die Ankäufe im Jahr 1996 konnten die beiden bisher gepflegten Sammlungs-
schwerpunkte organisches Material Alt-Peru sowie Mesoamerika weiter ausgebaut
werden. Die erworbene Sammlung von Keramik der Klassischen Maya-Kultur stellt
innerhalb der Mesoamerika-Sammlung eine Besonderheit dar.
42
Teller
Keramik, polychrome Bemalung, tripoid. Durchmesser: 36 cm, Guatemala, El Petén, Klassi-
sche Mayakultur, Spätklassik ca. 800 n.Chr. Listen-Nr. 4188 M
43
TRIBUS 46, 1997
Becher
Keramik, polychrome Bemalung, vier Standbeine in »mammiform«, Höhe: 27 cm, Guatemala,
Mayagebiet, Klassische Mayakultur, Späte Präklassik - Protoklassik, 200 v. Chr.-250 n. Chr.
Listen-Nr.4188 M
44
Linden-Museum Stuttgart
- Staatliches Museum für Völkerkunde -
Hegelplatz 1, 70174 Stuttgart
Tel. 0711/2022-3, Fax: 0711/2022-590
Organisationsplan
Stand: 1.2.1997
45
TRIBUS 46, 1997
Referat Museumspädagogik 1996
Führungen und museumspädagogische Programme
Im Jahr 1996 wurden Besuchergruppen in 1307 Führungen durch die Ausstellungen
des Linden-Museums geleitet. Im Vergleich zu 1995 ist dies eine Steigerung um 178
Führungen (=16 %). Die Bewältigung der großen Führungsnachfrage und Betreuung
einer Vielzahl weiterer museumspädagogischer Angebote war nur durch das uner-
müdliche Engagement der im Referat Museumspädagogik tätigen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zu leisten. Susanne Warndorf bewältigte weit mehr als die Organi-
sation und Koordination von Führungen, indem sie bei der Entwicklung und Durch-
führung zahlreicher Programme, nicht zuletzt im Rahmen der Sonderausstellung
»mit Haut und Haar« - Die Welt der Lauteninstrumente mitwirkte.
Die große Führungsnachfrage belegt nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit an
ethnologischen Themen, sie deutet auch darauf hin, daß Besucher eine erste Orien-
tierung in der Ausstellung suchen und bestrebt sind, ihr Wissen zu erweitern. Für
1996 läßt sich sagen, daß nahezu ein Drittel aller Besucher an einem Führungspro-
gramm teilgenommen hat.
Führungen 1996 und 1995 im Überblick
1996 1995
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Grundschulen 57 201 258 291
Hauptschulen 7 45 52 44
Realschulen 12 75 87 102
Gymnasien 36 116 152 168
Berufsschulen 7 10 17 30
Sonderschulen 8 8 16 6
Ausländ. Schulen 4 1 5 9
Schulen/gesamt 131 456 587 650
1996 1995
Kindergärten 99 83
Kindergeburtstag 19 18
Kinder/Jugendl. 36 40
Waldheime 6 8
außerschulische Kinder/ gesamt: 160 149
Behinderte 14 18
Kulturgemeinschaft 6 0
Kirchl. Gruppen 20 20
Lehrerfortbildung 21 21
Private Gruppen 146 59
Senioren 16 15
Uni/PH/FH 19 19
VHS 9 3
Sonstige Gruppen 251 137
Öffentliche Führungen 1996 1995
Familienprogramme 6 14
Kindernachmittage/Kinderführungen 17
Ferienprogramme' 27 27
Publikumsführungen in den Dauerausstellungen 46 42
Publikumsführungen in den Sonderausstellungen 213 92
Öffentliche Führungen/gesamt 309 180
* das Herbstferienprogramm wurde auf einen Kindernachmittag reduziert
Führungen in den Dauerausstellungen 1996 Publikums- Kinder-, Ferien-, führungen Familien- programme angemeldete Gruppen- führungen gesamt %
Amerika*: 12 5 393 410 (51%)
Südsee: 8 5 52 65 ( 8%)
Orient**: 4 3 40 47 ( 6%)
Afrika: 8 6 131 145 (18%)
Südasien: 8 7 68 83 (11%)
Ostasien: 6 8 33 47 ( 6%)
Gesamt: 46 34 717 797
* Die Dauerausstellung zeigte nur die indianischen Kulturen Nordamerikas, da die Sonder-
ausstellungen »Usbekistan« und »Lauteninstrumente« auch in Räumen der Amerika-Aus-
stellung präsentiert wurden.
** In den Räumen der Orient-Dauerausstellung wurde die Sonderausstellung »Usbekistan«
gezeigt. Die Dauerausstellung wurde im September 1996 wieder eröffnet.
Verteilung der Führungen auf die Dauer- und Sonderausstellungen
47
TRIBUS 46, 1997
Führungen in den Sonderausstellungen 1996
Usbekistan - Erben der Seidenstraße (bis 5.5.96) Publikums- führungen 113 Kinder-, Ferien-, Familien- programme 14 angemeldete Gruppen- führungen 187 gesamt 314
»mit Haut und Haar« - Die Welt der Lauten- instrumente (ab 15.6.96) 78 1 87 166
Japanische Malerei - Die Sammlung Baelz (ab 25.10.96) 14 3 17
Keramik von Aisaku Suzuki (ab 25.10.96) 4 4
Shunga - Erotische Holzschnitte aus Japan (ab 22.11.96) 7 2 9
insgesamt 216 15 279 510
Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen
Jap. Malerei
3%
Keramik
1%
48
Führungen
Die Fluktuation bei der Führungsnachfrage der Schulen hat verschiedene Ursachen;
der zahlenmäßige Rückgang bei den auswärtigen Schulen läßt sich insbesondere auf
Sparmaßnahmen zurückführen, die Kosten verursachende, außerschulische Aktivitä-
ten erschweren. Erfreulich ist dafür die verstärkte Nutzung der museumspädagogi-
schen Angebote durch Stuttgarter Schulen. Der hohe Anteil an Gymnasien und
Berufsschulen steht in direktem Zusammenhang mit der Sonderausstellung »Usbe-
kistan«, die zahlreiche Anknüpfungen für den Geschichtsunterricht bot und einen
hervorragenden Einblick in den Bereich »Textiles Werken« ermöglichte.
Auch die rückläufige Nachfrage bei Einrichtungen der Kinder- und Jugendpflege ist
ein Ausdruck der angespannten finanziellen, aber auch personellen Engpässe, die die
Nutzung außerschulischer Angebote erheblich einschränkte.
Das deutlich erhöhte Interesse an Führungen bei privaten Gruppen, Senioren und
Volkshochschulen steht ebenfalls in Verbindung mit der Sonderausstellung »Usbeki-
stan«. In Kooperation mit der Marketingfirma debis wurden Führungen für Beschäf-
tigte des Daimler-Benz-Konzerns angeboten. Der hohe Anteil älterer Menschen bei
den Einzelbesuchern drückt sich auch in der relativ hohen Anzahl an Gruppen-
führungen für Senioren aus, deren besonderes Anliegen es war, mehr über das Thema
»Seidenstraße« zu erfahren. Mit großem Interesse wurde das Kursprogramm aufge-
nommen, das in Kooperation mit dem Treffpunkt Senior in der »Usbekistan«-Aus-
stellung angeboten wurde.
Führungen in der Sonderausstellung »mit Haut und Haar« - Die Welt der Lautenin-
strumente wurden gern von Musikschulen und im Rahmen des Unterrichtsfachs
»Musik« wahrgenommen. Der Erfolg der Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut
für Erziehung und Unterricht drückte sich in der regen Teilnahme an den Fortbil-
dungsprogrammen für Musiklehrer aus.
Handlungsorientierung zwischen Geld und Raum
Auch 1996 war ein zunehmendes Interesse an handlungsorientierten Angeboten zu
verzeichnen. Dieser Wunsch wurde insbesondere von Pädagogen geäußert, die die
Erfahrung gemacht haben, daß langfristige Lernerfolge eine gelungene methodische
Verbindung von kognitivem und affektivem Lernen erfordern. Mit dem Motto »Raus
aus der Schule - Rein ins Museum« fand die Präsentation museumspädagogischer
Vermittlungsformen auf der Interschul-Messe in Stuttgart ein großes Echo.
Trotz des Interesses an handlungsorientierten Programmen war die Resonanz auf
Tagesseminare mit Teilnahmegebühr, die im Rahmen der Sonderausstellung »Usbe-
kistan« angeboten wurden, sehr unterschiedlich. Während Angebote zur Vermittlung
handwerklicher Techniken (z. B. »Ebru: Als die Farben schwimmen lernten«, Werk-
stattangebote zum Lautenbau) ein positives Echo fanden, wurden kinder- und fami-
lienorientierte Seminare kaum angenommen. Bei der Gestaltung von Kursen mit
praktischen Aktivitäten stößt das Linden-Museum allerdings auf ungelöste Raum-
probleme.
Finanzielle und räumliche Enge galt es auch bei der Gestaltung des Abschlußfestes
zur Sonderausstellung »Usbekistan« am 11. und 12. Mai 1996 sowie bei dem ersten
großen Sommerfest des Linden-Museums am 14. und 15. September 1996 zu über-
winden. In allen Räumen konnten Besucher hautnah an museumspädagogischen
Aktivitäten teilhaben: Führungen, Spiele, Filme, Verlosung, Geschichtenerzählen,
Bewirtung, Themengespräche, musikalische Darbietungen und viele praktische
Anregungen ließen das Museum zum Erlebnisort werden.
Zum »Usbekistan-Fest« wurde auch die »Weltreise« in Lose-Blatt-Form eingeführt.
Sie ist eine Einladung an Kinder und Familien, die Ausstellungen näher kennenzu-
lernen und im Museum aktiv zu werden.
49
TRIBUS 46, 1997
»mit Haut und Haar« - Die Weit der Lauteninstrumente
Die Konzeption dieser Sonderausstellung basierte auf museumspädagogischen und
didaktischen Überlegungen und verfolgte das Ziel, Besucher mit allen Sinnen anzu-
sprechen: Durch das Betrachten von Lauteninstrumenten aus aller Welt, durch das
Fühlen der verschiedenen Materialien, die zur Herstellung dieser Instrumente dien-
ten, durch das eigene Spielen bekannter und fremder Lauteninstrumente und durch
das Zuordnen von Klang und Instrument. Die Besucher waren eingeladen, die Klang-
welt von Saiteninstrumenten am Beispiel der Lauteninstrumente spielerisch kennen-
zulernen und sich anhand von Computerprogrammen, die auf die Ausstellungsthe-
men abgestimmt waren, weiter zu informieren. Filme zu betrachten und zahlreiche
Klangbeispiele abzurufen. Ein differenziertes Angebot an Konzerten, Vorträgen,
Gesprächen, Workshops zum Lautenbau und die Aktivitäten international renom-
mierter Lautenbauer aus Indien, Algerien, Nigeria und Deutschland in der Ausstel-
lung ergänzten die Präsentation. Die Gelegenheit zum interkulturellen und musikali-
schen Dialog wurde vom Publikum und einer Reihe von Musikern, die die
Ausstellung besuchten, sehr begrüßt.
Ein Highlight des Projektes war das Festival zeitgenössicher Lautenmusik, das vom
18.-21. Juli 1996 im Rahmen der Stuttgarter Hofkonzerte im Innenhof des Alten
Schlosses stattfand. Die hervorragende Besucherresonanz bestätigte den Erfolg des
Bestrebens, die Vitalität von Lautenmusik durch die Verbindung von traditionellem
und modernem Klangrepertoir hörbar zu machen. Das Festival war nur ein Beispiel
für den hohen qualitativen Anspruch, mit dem das Projektteam die Gesamtkonzep-
tion erarbeitete.
»Mit Haut und Haar« übernahm Birgit Hofmann, M. A., als ABM-Mitarbeiterin weit
mehr als nur das Management für das umfangreiche »Lauten«-Konzertprogramm.
Dr. Lars-Christian Koch, wissenschaftlicher Volontär, und Dr. Raimund Vogels, Assi-
stent an der Universität Köln, brachten ihre Fachkompetenz als Musikethnologen in
die Gesamtkonzeption des Projektes »mit Haut und Haar« ein und beteiligten sich
aktiv an der Vermittlung des anspruchsvollen Themas an die unterschiedlichen Inter-
essengruppen. Die Graphikerin Brigitte Ruoff entwickelte gemeinsam mit allen an
dem Ausstellungsteam Beteiligten die räumliche Gliederung und ästhetische Gestal-
tung.
Die interdisziplinäre Kooperation und die Kontinuität zielorientierten Handelns bil-
deten die Voraussetzung zur optimalen Verwirklichung des gelungenen Wechsel-
spiels von Ausstellung und Veranstaltungsprogramm. Bei der Realisierung war das
Team in der glücklichen Lage, von freiwilligen Helfern und überaus engagierten
Praktikanten unterstützt zu werden. Sie trugen erheblich zu einem reibungslosen
organisatorischen Ablauf und zu einer entspannten, personenorientierten Atmo-
sphäre bei.
Möglich war die Realisierung des Gesamtprojektes jedoch nicht nur durch die pro-
jektorientierte Kooperation innerhalb des Teams, sondern auch durch die Sachlei-
stungen und finanziellen Zuwendungen, durch die Sponsoren gewillt waren, in das
Projekt zu investieren. Die Bereitschaft, mit interessierten Kooperationspartnern
zusammenzuarbeiten, hat erheblich zur Publizität des »Lauten-Projektes« beigetra-
gen.
In der Besucherresonanz zeigte sich deutlich eine Präferenz für das Konzertangebot.
So fanden sowohl das Eröffnungskonzert als auch das Abschlußkonzert in einem
vollbesetzten Wannersaal statt. Musikwissenschaftler und Vertreter von Musikin-
strumentenmuseen waren voll des Lobes über die ästhetisch ansprechende und erleb-
nisreiche Ausstellung. Lehrer begrüßten die thematische und kulturübergreifende
Ausstellung, da sie die seltene Gelegenheit bot, außereuropäische Musik hautnah
kennenzulernen.
Die Journalistin Chris Pohl hat die Vorbereitungen zur Ausstellung begleitet und als
einstündiges Rundfunk-Feature aufgearbeitet.
50
Ferien- und Familienprogramme
Das Sommerferienprogramm »Hallo Kinder« knüpfte mit dem Leitthema »mit Haut
und Haar’ - Lauter Instrumente« an die Sonderausstellung »Die Welt der Lautenin-
strumente« an und stellte die Verbindung von Musik und Kultur in den Mittelpunkt
der Vermittlung. Vertieft wurde die Bedeutung einzelner Lauteninstrumente an fol-
genden Beispielen:
- ngangara, als Instrument der höfischen Sänger in Nordnigeria
- Klangfarben indischer Saiteninstrumente
- shamisen als Instrument musizierender Frauen in Japan
- Laute, als »Sultan« unter den Musikinstrumenten des Orients
Für die Bereiche »Amerika« und »Südsee«, in deren Traditionen Lauteninstrumente
keine zentrale Rolle spielen, ging es um den »Herzschlag der Trommel« und um
»Tänze, Lieder und heilige Stimmen« auf den Inseln der Südsee.
Die Resonanz auf das dreistündige Sommerferienprogramm war auch 1996 wieder
sehr positiv, was sich nicht zuletzt daran zeigte, daß viele Kinder und Erwachsene an
mehreren Programmen teilnahmen. Sehr bewährt hat sich wiederum die Aufteilung
in die drei nach Alter differenzierten Gruppen (ab 8 Jahre, ab 10 Jahre, Erwachsene).
Zu Beginn des Jahres 1996 stand das Programm in den Weihnachtsferien unter dem
Titel »Religionen Asiens« und umfaßte für die drei Altersgruppen die Themen-
schwerpunkte »Hinduismus«, »Buddhismus« und »Islam in Usbekistan«. Das Oster-
ferienprogramm befaßte sich unter dem Leitthema »Fruchtbarkeit« mit dem »Zere-
monialjahr der Hopi-Indianer«, dem »Ahnenglauben in Afrika« und der »Familie
und Gemeinschaft in Neuguinea«. Die kulturelle Beziehung von »Mensch und Tier«
stand im Mittelpunkt des Ferienprogramms im Mai.
Sparmaßnahmen zwangen dazu, diese nach Alter differenzierten zweistündigen Fe-
rienprogramme auf jeweils einen altersmäßig gemischten Kindernachmittag zu redu-
zieren. Zudem wurde eine Teilnahmegebühr in Höhe von DM 2,- pro Kind erhoben.
»Geschichte(n)« standen im Mittelpunkt der Programme, die in den Herbst-, Weih-
nachts- und Osterferien 1996/97 angeboten wurden.
Der erste Samstag im Monat hat sich als Termin für das Familienprogramm bewährt
und ist bereits zu einer festen Einrichtung geworden. Mit den Programmen »Chine-
sisches Schattentheater«, »Afrika; Tanzende Masken« und »Indonesien: Spiel mit
Licht und Schatten« wurde die kulturelle Bedeutung von darstellender Kunst thema-
tisiert.
Als die geplante Sonderausstellung »Manus« aufgrund von Sparmaßnahmen abge-
sagt werden mußte, war das Familienprogramm 1996/97 mit dem Leitthema »Insel«
bereits konzipiert. Mit »Oasen - Inseln in der Wüste« wurde der Zyklus eingeleitet,
gefolgt von »Japan - Land der 4000 Inseln« und »Indonesien - vom Land, wo der
Pfeffer wächst«. Auch für das Familienprogramm 1996/97 wurde eine Teilnahmege-
bühr in Höhe von DM 2,- pro Kind und DM 3,- für Erwachsene eingeführt.
Außerschulische Projekte
Neben zahlreichen schulzentrierten Veranstaltungen wurde eine Reihe außerschuli-
scher Projekte weitergeführt und neu konzipiert. Die Programme der Elterninitiative
für hochbegabte Kinder wurden mit den Themengruppen »Amerika - Coyote, Spinne
und Schildkröte«, »Bauen und Wohnen in Asien« und »Europa und Orient« fortge-
setzt.
Die Projektgruppe besonders befähigter Schüler der Schiller-Realschule Esslingen
hat die Anregungen zum Thema »Indien« mit großem Engagement aufgegriffen und
durch eigenständiges Arbeiten in der Schule vertieft. Auf diesem Hintergrund wuchs
der Wunsch, die Idee von einer gemeinsamen Indienreise Wirklichkeit werden zu
lassen. Durch den Einsatz der Lehrerin in der Suche nach finanzieller und organisa-
torischer Förderung, die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern und die
51
TRIBUS 46, 1997
Unterstützung der Schulleitung wurde die Basis für dieses außergewöhnliche Vorha-
ben gelegt. Stephanie Loväsz, die als freie Mitarbeiterin das Projekt im Linden-
Museum durchführte, die Leiterin des Referats Museumspädagogik, die an der
Konzeption und Organisation beteiligt war, und Frau Gisela Malik, die als Lehrerin
die Projektgruppe leitete, begleiteten die fünf Jugendlichen. Die Reise (23.10. bis
3.11.1996) führte die Gruppe zunächst nach Delhi, wo sie exemplarisch Einblick in
die Kulturgeschichte und -traditionen Indiens erhielt. Im »Land der Könige«, Raja-
sthan, zeigte sich der Kontrast zwischen Stadt und Land. Ajmer als muslimischer
Wallfahrtsort und Pushkar als religiöses Zentrum der Hindus öffneten den Blick für
religiöse Traditionen und deren Vermarktung. Als herausragende Beispiele indischer
Baukunst haben die Residenz Akbars in Fatehpur Sikri und das Grabmal für die
Gemahlin Shah Jahans Mumtaz Mahal, das Taj Mahal, einen bleibenden Eindruck
hinterlassen. Historische Zeugnisse, Alltagsleben, Landschaften haben den Blick für
die Geschichte und gesellschaftlichen Zusammenhänge geschärft, Gespräche inner-
halb der Gruppe und mit Menschen vor Ort ermöglichten es, diese Eindrücke zu the-
matisieren, zu diskutieren und zu differenzieren. Es gelang den Jugendlichen per-
sönliche Kontakte zu knüpfen, die von nachhaltiger Wirkung sein werden.
Mit der Absicht, die Ausstellungen des Linden-Museums unter dem Gesichtspunkt
»Perspektiven des interreligiösen Dialoges« zu erschließen, nahm die Referatsleite-
rin Kontakt zu der Stiftung Weltethos in Tübingen auf. In ersten Gesprächen wurden
Möglichkeiten der Kooperation insbesondere in Verbindung zum Unterrichtsfach
»Ethik« erörtert.
Seminare zur Museumspädagogik
Da sich die Museumspädagogik mit der inhaltlichen Aufschlüsselung der Aus-
stellungsinhalte für die unterschiedlichsten Interessenten befaßt, nimmt sie eine
Schlüsselstellung in der aktuellen Diskussion ein. Dies zeigt auch das zunehmende
Interesse seitens der Hochschulen und anderer Bildungseinrichtungen an museums-
pädagogischen Ansätzen und Erfahrungen.
Tagesseminare wurden veranstaltet für Studenten der Fachhochschule für Öffentli-
che Verwaltung Ludwigsburg zum Thema »Kulturmanagement«, für Studentengrup-
pen der Universität Tübingen als Einführung in die Strukturen und Aufgabenberei-
che des Linden-Museums. Von besonderem Interesse waren dabei Informationen zur
Bedeutung der Vermittlungsarbeit. Pädagogik-Studenten der Universität Erlangen
interessierten sich insbesondere für die Vermittlung des komplexen Themas »for-
male und informelle Sozialisation« anhand der Ausstellungen des Linden-Museums.
In zweitägigen Fortbildungsseminaren erhielten pädagogische Mitarbeiter des
Jugendamtes Einblick in die Themenbereiche »Inseln der Südsee« und »Orient und
Europa«. Ein besonderer Höhepunkt waren Fortbildungsveranstaltungen, die das
Linden-Museum zusammen mit Pädagogen des indianischen »Eagle Vision Educa-
tional Network«, Kalifornien, anbot.
In Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität Stuttgart führte die
Referatsleiterin das Seminar »Kindheit und Familie im interkulturellen Vergleich«
durch. Die Gestaltung museumspädagogischer Projekte stand im Zentrum einer
Seminarreihe, die mit der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen ver-
anstaltet wurde.
Der Verein für Museumspädagogik Baden-Württemberg lud im Juni 1996 zur Mit-
gliederversammlung in das Linden-Museum ein. Die Resonanz auf die didaktische
Führung durch die Sonderausstellung »Die Welt der Lauteninstumente« war ausge-
sprochen positiv und anregend. - Bei der Vorstandswahl im September lehnte die
Referatsleiterin ihre Wiederwahl als Vorstandsmitglied ab.
Es war auch 1996 zu beobachten, daß sich gerade Pädagogen zunehmend für ethno-
logische Themen interessieren, jedoch vor dem Dilemma stehen, Inhalte aufzuberei-
ten, die ihnen selbst nicht bekannt sind. Gerade zum besseren Verständnis interkul-
tureller Beziehungen können Völkerkundemuseen einen wichtigen Beitrag leisten.
Sonja Schierle
52
Bericht des Referenten f. Öffentlichkeitsarbeit
über das Jahr 1996
1996 war ein Jahr der Experimente: Die Ausstellung »mit Haut und Haar - Die Welt
der Lauteninstrumente« verfolgte ein völlig neues Konzept; die Ostasien-Abteilung
zeigte mit dem Japanzyklus erstmals eine Reihe von fünf Ausstellungen, und
gemeinsam mit der Landeskreditbank Baden-Württemberg wurde bei der Ausstel-
lung »Indonesien - Versunkene Königreiche« eine neue Kooperationsform versucht.
Doch zunächst ein Blick auf das Gesamtergebnis. Mit 105457 Besuchen sank die
Zahl gegenüber dem Vorjahr (109155 Besuche) leicht ab, doch insgesamt stabilisiert
sich die Besuchszahl über der »100000-Marke«. Angesichts des bundesweit anhal-
tenden Trends zum Rückgang der Museumsbesuche ist das ein gutes Ergebnis. Der
im folgenden Diagramm dargestellte Vergleich der monatlichen Besuchszahlen von
1995 und 1996 zeigt, daß in den ersten fünf Monaten das Vorjahresergebnis sogar
noch übertroffen wurde, dagegen im zweiten Halbjahr die Zahlen stärker absanken.
Diagramm 1: Gesamtbesuchszahlen 1995 und 1996 im Vergleich
Aus Diagramm 2 wird deutlich, daß in der zweiten Jahreshälfte vor allem die Zahl
der Sonderausstellungsbesuche zurückgegangen ist. Diese Tendenz scheint eine
Folge der Reduktion klassischer Werbung (Plakate, Anzeigen, Faltblätter) zu sein,
die in fehlenden Geldern begründet liegt.
Jan Feb März Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez
Diagramm 2: Wechsel- und Dauerausstellungsbesuche in 1996
53
TRIBUS 46, 1997
Zum Vergleich zeigt Diagramm 3 für die beiden Vorjahreshälften ein genau umge-
kehrtes Verhältnis
Jan Feb März Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez
Diagramm 3: Wechsel- und Dauerausstellungsbesuche In 1995
Die bereits in Diagramm 1 erkennbare Entwicklung schlüsselt Diagramm 4 auf: Hier
wird deutlich, daß die Gesamtbesuchszahlen direkt mit dem Besuch der Sonderaus-
stellungen korrespondieren.
Diagramm 4: Prozentualer Anteil der Sonderausstellungsbesuche an der Gesamtbesuchszahl
Im Jahr 1996 waren folgende Sonderaustellungen bzw. Reihen zu sehen.
1. »Usbekistan - Erben der Seidenstraße«
16. November 1995 - 1. Mai 1996
Besucherzahl (in 1996): 26349
2. »mit Haut und Haar - die Welt der Lauteninstrumente«
15. Juni 1996 - 2. Februar 1997
Besucherzahl (in 1996): 8806
54
3: Ikebana-Sonderschau der Stuttgarter Ikebana-Schule
25. Oktober bis 3. November 1996
Besucherzahl; (ca. 850, geschätzt)
4. »Japanische Malerei aus der Sammlung Erwin von Baelz«
25. Oktober 1996 bis (verlängert) 1. Februar 1998
Besucherzahl in 1996: 3266
5. »Keramiken von Aisaku Suzuki - Ein japanischer Künstler in Deutschland«
(Parallel zur Ausstellung »Japanische Malerei«, Besuche konnten daher nicht geson-
dert erfaßt werden).
6. »Erwin von Baelz - ein Schwäbischer Arzt in Japan«
(in Zusammenarbeit mit der VHS-Stuttgart, ebenfalls parallel zur Ausstellung »Japa-
nische Malerei«)
6. »Shunga - erotische Holzschnitte aus Japan«
22. November 1996 - 20. April 1997
Besucherzahlen in 1996: 1639
7. »Shogun - Episoden und Szenen aus der japanischen Kultur und Geschichte«
(in Zusammenarbeit mit der Klio-Arbeitsgruppe Baden-Württemberg e.V., ohne
gesonderte Besucherzahlen-Erfassung)
Zu den Sonderausstellungen wurden insgesamt 95 Begleitveranstaltungen durchge-
führt; diese außergewöhnlich hohe Zahl ist auf die Ausstellung »mit Haut und Haar
- Die Welt der Lauteninstrumente« zurückzuführen, zu deren Konzept ein umfang-
reiches Veranstaltungsprogramm gehörte. Zu den Dauerausstellungen fanden wei-
tere 18 Veranstaltungen (11 Jour Fixes der Afrika-Abteilung und 7 japanische Tee-
Zeremonien) statt.
Veranstaltungen im Wannersaal
Kooperationen von Linden-Museum und
anderen Kulturinstitutionen 25
Veranstaltungen gemeinnütziger Kulturinstitutionen 27
Veranstaltungen der Stadt Stuttgart und des Landes
Baden-Württemberg (ohne Erhebung von Mieteinnahmen) 14
Kommerzielle Fremdveranstaltungen 23
Gesamt: 89
Durch Vermietungen des Wannersaals und technischer Einrichtungen konnten im
Berichtsjahr Einnahmen von rund 20000 DM erwirtschaftet werden.
Die Ausstellung »Erben der Seidenstraße« war mit insgesamt 34 811 Besuchern die
erfolgreichste Eigenproduktion des Linden-Museums, die bislang in unserem Haus
gezeigt wurde. Anschließend wurde die Ausstellung vom Museum für Völkerkunde
Berlin und Museum voor Volkenkunde Rotterdam gezeigt, wo sie ebenfalls ein her-
vorragendes Echo erhielt. Dieses Projekt hatte jenseits des Ausstellungserfolges
mehrere Ergebnisse;
55
TRIBUS 46, 1997
Für die Wissenschaftler aus Usbekistan bestand erstmals Gelegenheit zur unmittel-
baren Zusammenarbeit mit Fachkollegen aus Europa. In der Folge beauftragte das
Bonner Auswärtige Amt über das Goethe-Institut das Linden-Museum, eine Fotodo-
kumentation über die europäisch-asiatische Begegnung als deutschen Beitrag zu den
Zentralasiatischen Kulturwochen im Oktober 1996 zu erstellen. Außerdem plant die
Universität Tübingen nun mit der Universität Buchara ein gemeinsames For-
schungsprojekt. Das Linden-Museum wirkte erfolgreich als Wegbereiter internatio-
naler Beziehungen.
Ein neues Konzept verfolgte »mit Haut und Haar - die Welt der Lauteninstrumente«.
Parallel zur Ausstellung wurden ein umfangreiches Konzertprogramm, Workshops
mit Lautenbauern und vieles mehr organisiert. Auf diese Weise sollte ein neues
Image von Ausstellungen als »Ort, an dem Kultur Spaß macht« geschaffen und neues
Publikum für das Linden-Museum gewonnen werden. Deshalb wurde auch erstmals
kein Katalog, sondern ein preiswertes Begleitbuch und eine interaktive CD-ROM
produziert. Dieses Konzept fand vor allem in der Presse und bei unseren jugendli-
chen Besuchern ein positives Echo.
Der Japanzyklus präsentierte mit unterschiedlichen kleineren Ausstellungen einen
Eindruck von verschiedenen Aspekten japanischer Kunst und Kultur. Sowohl die
Besuchszahlen als auch die Reaktionen des Publikums zeigen, daß diese Darstellung
als gelungen bezeichnet werden kann. Die Ausstellungsreihe mußte fast ausschließ-
lich mit Spendenmitteln finanziert werden.
Die Landeskreditbank Baden-Württemberg zeigte ab 1. Dezember 1996 die vom Hil-
desheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum konzipierte und organisierte Ausstellung
»Indonesien - Versunkene Königreiche«. Da eine Bank naturgemäß nicht über
museologische Fachkenntnis verfügt, wurde das Linden-Museum um Unterstützung
insbesondere bei der museumspädagogischen Betreuung und Durchführung von
Begleitveranstaltungen (Vorträge, Konzerte, Schattenspiel, Filme etc.) gebeten.
Dadurch wurde das Linden-Museum zum einen bei Presse und Ausstellungsbesu-
chern ins Bewußtsein gebracht, vor allem aber auch anläßlich zahlreicher VlP-Ver-
anstaltungen für Partner der größten baden-württembergischen Geschäftsbank. Dies
ist auch unter dem Aspekt der künftigen Suche nach Sponsoren (was angesichts der
gegenwärtigen Haushaltsentwicklungen immer drängender wird!) zu sehen.
Eine unerfreuliche Tendenz hat sich jedoch auch im Jahr 1996 fortgesetzt. Da infolge
von Haushaltskürzungen bzw. -sperren keine Ausstellung mehr ohne Drittmittel rea-
lisiert werden kann, wird ein Großteil der Arbeitskraft durch Mittelakquisition
gebunden. Die ursprünglich geplante (und wegen der langen Vorlaufzeiten verschie-
dentlich schon angekündigte) Südsee-Ausstellung »Manus« mußte wegen fehlender
Gelder kurzfristig abgesagt werden. Mittelfristig kann durch solche Planungsunsi-
cherheit nicht nur der Ruf unseres Hauses in der Öffentlichkeit, sondern auch bei
nationalen und internationalen Partnern (Museen, Instituten, Kollegen, Sammlern
etc.) Schaden nehmen.
Dietrich Schleip
56
MONIKA PIRLA
Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
des 17. und 18. Jahrhunderts
Zum Gedächtnis an Memphis Minnie (1896-1973)
1. Vorbemerkung
Die Suche nach Vertretern der Afrikanischen Diaspora in Württemberg in den ver-
gangenen Jahrhunderten1 führt immer wieder auch zu Funden von Darstellungen von
Afrikanern, von denen hier eine erste kleine Sammlung für das 17. und 18. Jahrhun-
dert in chronologischer Reihenfolge vorgestellt wird. Außer der Dokumentation
wirklicher, möglicher oder fiktiver Afrikaner sollen die Beispiele anregen, weitere
Darstellungen aufzuspüren, denn die vorliegende Sammlung ist zweifellos nicht
vollständig.
Als Kategorien der folgenden Darstellungen lassen sich unterscheiden:
- zweidimensionale Darstellungen auf Kupferstichen von Prozessionen, Aufzügen
und Balletten im Rahmen höfischer Feste;
- zweidimensionale Darstellungen auf Gemälden und Miniaturen nach dem bekann-
ten Schema >Mitglied(er) des Hauses Württemberg nebst Mohr/Mohrin<
- dreidimensionale Darstellungen als Skulptur oder Kleinplastik.
Zwei weitere Kategorien wären z. B. Portraitzeichnungen und Photographien von
Afrikanern im Württemberg des 19. Jahrhunderts; doch diese sollen aus Platzgrün-
den einem eigenen Beitrag Vorbehalten sein.
2. Die Darstellungen des 17. Jahrhunderts
Die ersten vier Darstellungen des 17. Jahrhunderts stammen alle aus der Kupfer-
stichfolge von Esaias van Hülsen und Matthäus Merian mit dem Titel »Repraesen-
tatio der fvrstlichen Avzvg vnd Ritterspil, so [...] Johann Friderich Hertzog zu Würt-
temberg [...] bey Ihr [...] neuwgebornen Sohn Friderich Tauff [...] den 10.-17.
Martii Anno 1616 inn [...] Stuetgarten [...] gehalten« (Stuttgart 1616). Es handelt
sich dabei, wie der Titel schon sagt, um die Festlichkeiten, die der württembergische
Herzog anläßlich der Taufe des kleinen Prinzen Friedrich in Stuttgart veranstaltete.2
Darstellung 1 (Abb. 1)
Ein afrikanischer Tänzer und ein afrikanischer Tamburinspieler beim »Tanz der
Nationen« bzw. »Kopf-Ballett«, 1616 (van Hulsen/Merian 1616: Stich 3)
Beim »Tanz der Nationen« bzw. »Kopf-Ballett« spazierten zunächst von unsichtbaren
Musikern begleitete vier übergroß geformte Köpfe (durch die in ihnen verborgenen
Personen) aus einer Ecke des Saales hervor, umrundeten diesen zweimal, verneigten
sich vor den Mitgliedern der herzoglichen Familie, stellten sich in einer Reihe auf, und
hervor kamen aus ihnen hintereinander jeweils ein Tänzer und ein Musiker als Ver-
treter der »gegen den vier Hauptecken der Welt/gelegne Nationes« (van Hülsen /
Merian 1979: 6). Nach und nach traten in Erscheinung; England, Schottland, Irland
(l.Kopf); Frankreich, Deutschland, Lappland (2. Kopf); Spanien, Venedig, Polen
(3. Kopf) und Afrika, die Türkei und Amerika (4. Kopf) (ibid.: 6-8). Als »wild« wer-
den der Schotte (ibid.: 6) und der Lappe (ibid.: 7) bezeichnet, nicht aber der Afrikaner.
Über ihren Auftritt schreibt Assum; »Der vierdte vnd leiste Morenkopff/stelte sich/
ausserhalb seiner grossen mechtigen weissen Augen vnd Zänen/mit gar schwartz-
bleicher gleissender färb auch zur arbeit; Vnd man merckte wol / das seinem verbren-
ten außsehen nach/villeicht Haydnische Völcker/möchten bald ausgeschleifft wer-
57
TRIBUS 46, 1997
Abb. 1
Abb.2
den: Wie dann erstlich ein Nacketer langer vnd wolbesetzter Mor/mit einem schönen
Vmbschurtz vmb den Leib/vnd köstlichem Armband/ober dem lincken Einbogen/
vnversehens sich herfür gethon/vnd auff die klein Biscayer Trommel/so voll Schel-
len gehangen/vnd von einem andern Moren/den er mit sich gebracht/geschlagen
worden /einen Morentantz angefangen/auch nicht auffgehört biß er alle zum Aetio-
pischen Sprung vermocht : als ob sie auch alle Moren weren« (van Hulsen/Merian/
1979: 8). »Nackt« bedeutet hier lediglich >spärlich bekleidet^ unerwähnt bleiben die
halbhohen Stiefel - vermutlich sog. ungarische Zischmen und beim »Aetiopischen
Sprung« handelt es sich offenkundig um die Bewegung des Rad-Schlagens.3
Der tamburinspielende Afrikaner war kein wirklicher Afrikaner, sondern der »Jung
Shaulizki« (Frischlin 1979: 438), d. h. ein Mitglied der Familie Schaffelitzki, von der
Firla: Darstellungen von Afrikanern in Württemberg
einige Personen am Hof lebten (Krapf/Wagenknecht 1979: XLIV). Als afrikanischer
Tänzer jedoch trat gar der 34jährige Vater des Täuflings auf, »Herzog Johannes
FRIDER1CH« (1582-1628), und er führte natürlich seinen Part »so ganz fürstlich«
(Frischlin 1979: 438) aus. Es handelt sich auf dieser Darstellung somit um fingierte
Afrikaner. Daß Mitglieder des Hofstaats und des regierenden Hauses bei Balletten
mitwirkten, war nicht nur im 17. Jahrhundert allgemein üblich (Brockpähler 1964: 6).
Im »Tanz der Nationen« treten symbolisch die Völker der Erde in Erscheinung,
natürlich mit beträchtlichen Schematisierungen, denn z. B. ganz Afrika und Amerika
sind jeweils nur eine einzige »Nation«. Und sie kommen, um dem Herzogshaus bzw.
dem Täufling zu huldigen. Diese Funktion erfüllen auch die kontinuierlich in sonsti-
gen Singballetten, Opern etc. auftretenden Vertreter der damals bekannten Konti-
nente Europa, Asien, Afrika und Amerika4, um den universalen Herrschaftsanspruch
des jeweils Gefeierten zu demonstrieren. Nicht nachzuvollziehen ist deshalb Martins
These, die beiden »Mohren« im »Tanz der Nationen« würden den (schwarzen) Teu-
fel symbolisieren (Martin 1993: 70).
Darstellung 2 (Abb. 2)
Ein afrikanischer Heerpauker im Aufzug des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz,
1616 (van Hulsen/Merian 1616; Stich 23)
Die zur Taufe geladenen Potentaten traten, ebenso wie Herzog Johann Friedrich von
Württemberg, der Vater des Täuflings, z. T. mit eigenem Gefolge in sog. Aufzügen
in Erscheinung (van Hulsen/Merian 1979: X-XI), so z. B. Kurfürst Friedrich V. von
der Pfalz (1596-1632). An seinem Aufzug nahm unter anderem »ein natürlicher
Aetiopischer Heerpaucker/mit dem ernsthafften Feldstreich« teil, der nach »seiner
Landsart gemeß/vmb den außgesonnten/verbrannten Leib /mit einem roten/vnd
wegen deß Silberlin eintrags/hübsch glantzendem Vmbschürtzlein/sampt seiner
Heerpaucken behängt geweßt. Zu ihme haben sechs Römische Feld-Trommeter zu
Pferdt/mit langen gewundenen Trommeten/je drey- vnd drey in einem Glied /in
gleicher Liberey vnd grünen Kräntzen auff den Häuptern/tapffer eingestimmet«
(ibid.: 44).
Die Wendung »ein natürlicher Aetiopischer Heerpaucker« läßt schließen, daß es sich
hier nicht um einen fiktiven (wie oben im »Tanz der Nationen«), sondern um einen
wirklichen Afrikaner handelt.
Die Pauker- und Trompeterzunft hatte spätestens unter Kaiser Karl V. im Jahr 1529
ein afrikanisches Mitglied5, und so verwundert auch die Mitwirkung dieses Afrika-
ners in Stuttgart im Jahr 1616 nicht. Hochangesehen war diese Zunft, weil ihre
Mitglieder im Krieg die schlachtenlenkenden Signale gaben (z. B. »Angriff«, »Rück-
zug«, »heimliche Truppenbewegung« etc.) und als Herolde, Botschafter und Kund-
schafter agierten. In Friedenszeiten gehörten sie zur Leibgarde und/oder wirkten als
Hofpauker bzw. Hoftrompeter beim höfischen Zeremoniell (Signaldienste, zur Tafel
rufen, Tafelmusik, Begleitung in der Öffentlichkeit usw.) und den Festen mit (Firla
1996 a: 11-12). Das Zahlenverhältnis von Paukern und Trompetern war in der Regel
1:6. Unter »aetiopisch« ist hier »afrikanisch« zu verstehen, der »ernsthaffte Feld-
Streich« war vermutlich das Signal »Angriff«. Die Kostümierung mit Laubkranz,
»Vmbschurz« und (zweifellos) Zischmen entspricht der der »Mohren« des »Tanzes
der Nationen« und galt, wie man bemerkt, als »Landtracht[.]« (van Hulsen/Merian
1979: 6), d.h. typisch afrikanisch. Allerdings waren die afrikanischen Pauker und
Trompeter in der Regel vollständig bekleidet, entweder genau so wie ihre weißen
Kollegen (vgl. Weiditz 1927: Taf.X) oder wie ihre Kollegen, jedoch mit Turban
(s. hierzu Darstellung bzw. Abb. 12 unten). Die vermeintlich typisch afrikanische
Verkleidung fand dagegen nur bei Balletten, Aufzügen u. ä. statt.
59
TRIBUS 46, 1997
Darstellung 3 (Abb. 3)
Zwei Afrikaner als Elefantenreiter im Aufzug des Kurfürsten Friedrich V. von der
Pfalz, 1616 (van Hulsen/Merian 1616: Stich 26)
Ebenfalls im Aufzug des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz traten nach drei
»Römischen Rittern« zwei »Mohren« mit Elefanten als ihren Reittieren auf. Assum
erklärt hierzu: »Auff diese drey Ritter/seind zwen Moren auß Mauritaniä auff
zwen grossen Elephanten/so auch mit künstlichen/roten Atlasin vnd Silbern
Decken/vberhängt gewesen/gemächlich hernach kommen/vnd haben die Thier art-
lich regiert« (van Hulsen/Merian 1979: 50). Mit Elefanten - allerdings gegen Bezah-
lung seitens der Zuschauer - im deutschsprachigen Raum aufzutreten, war spätestens
seit 1482 nichts Neues (Martin 1993: 61). Und auch 1629 erschien z.B. in Nürnberg
ein Elefant nebst schwarzem Reiter (ibid.: 60 Abb.). Da man in Europa in der Ele-
fantenabrichtung keine Erfahrung hatte, mußte zusammen mit dem Tier natürlich
auch ein heimischer Fachmann beschäftigt werden. Nach der Größe der Ohren zu
schließen, handelt es sich um einen Afrikanischen Elefanten. Bei den beiden »Moh-
ren« handelt es sich ohne Zweifel um wirkliche Afrikaner. Problematisch ist die Her-
kunftsbezeichnung »Mauritania«. Gemeint ist vermutlich das historische Gebiet im
Nordwesten Afrikas, das im Osten an Numidien grenzte (lat. »Mauretania«).
Die Präsentation von gleich zwei Elefanten nebst schwarzen Reitern weist den Kur-
fürsten als Besitzer und Herrn des Alleraußergewöhnlichsten aus, das freigiebig
gezeigt wurde, denn er forderte keine Gegenleistung in Geld. Sie mußte außerdem
beim gebildeten Publikum die Erinnerung an die Kriegselefanten des Hannibal und
des edlen meroitischen Königs Hydaspes aus Heliodors um 300 n. Chr. verfaßtem
Roman »Aithiopika« (vgl. hierzu die Stelle bei Heliodor 1972: 258) hervorrufen,
der für die Barockliteratur von größter Bedeutung werden sollte (Oeftering 1977).
Solche Parallelen entsprachen ganz der politischen Bedeutung des Kurfürsten, trat er
doch seit 1614 als Führer der »Union« der protestantischen Herrscher auf.
Darstellung 4a-b (Abb. 4 = Darstellung 4a = Stich 70)
Sieben Afrikaner als Stallknechte im zweiten Aufzug des Benjamin Buwinckhausen,
1616 (van Hulsen/Merian 1616: Stich 70-73)
Die vierte Darstellung der »Repraesantatio« von 1616 besteht genauer gesagt aus drei
Teilen mit insgesamt sieben »Mohren« nebst ebensovielen Handpferden. Kupferstich
70 zeigt zwei Paare von Afrikaner und Pferd und wird hier abgebildet, Kupferstich
71 zeigt drei Paare und Kupferstich 72 zeigt wieder nur zwei Paare. Die sieben Paare
stammen aus dem zweiten Aufzug des Benjamin Buwinckhausen (van Hülsen/
Merian 1979: XI), und Assum bemerkt zu ihnen, es handle sich um »siben nackate
schwartze Mohren vnd Sclaven/in roten Knie-Stiefelein vnd weiß verbrembten
Vmbschürtzen«, die »siben statliche/vnd/zum Ringrennen/ausserlesene/vnd auß-
gerüste Pferdt nachgeführt« (van Hulsen/Merian 1979: 136). Ob die Stallknechte
wirkliche Afrikaner waren, ist fraglich aufgrund ihrer großen Anzahl. Afrikanische
Sklaven als Stallknechte der Osmanen waren im 17. Jahrhundert im deutschsprachi-
gen Raum jedenfalls bekannt, wie einige Kupferstiche von Susanna Maria von Sand-
rart zeigen6. Am Stuttgarter Hof lebten auch bereits zwischen 1594 und 1603 drei
verbürgte Personen aus dem Osmanischen Reich (sog. Türken, die jedoch auch
Griechen oder Dalmatiner etc. sein konnten) (Pfeilsticker 1957: § 872 Eintrag »Nim-
quitz«), und es ist immerhin möglich, daß auch schwarze osmanische Sklaven nach
Mitteleuropa als Kriegsgefangene gelangten. Dies würde dann die Bezeichnung
»Mohren und Sklaven« erklären, denn in Württemberg praktizierte man zwar die
Leibeigenschaft, aber nicht die Sklaverei.
60
TRIBUS 46, 1997
Darstellung 5 (Abb. 5)
Die »Mohren«-Gruppe im Kupferstich »Carusel-rennen, mit den Vier Elementen zu
Stuetgarten repraesentirt«, 1617 (van Hülsen 1618: Taf. 91)
Ein Jahr nach der Taufe des Prinzen Friedrich im Jahr 1616 fand in Stuttgart im Jahr
1617 ein Doppelfest statt. Anlässe gaben die Taufe des Prinzen Ulrich (Bruder des
1616 getauften Prinzen Friedrich) und die Hochzeit von Herzog Ludwig Friedrich
(1586-1631), dem Bruder des regierenden Herzogs Johann Friedrich, mit Elisabeth
Magdalena von Hessen-Darmstadt. Auch bei dieser Gelegenheit organisierte man
wieder Aufzüge etc., die Esaias van Hülsen (1618) in Kupferstichen festhielt und
Georg Rudolf Weckherlin (1618) beschrieb.
Unter anderem fand ein »Carusel-rennen mit den Vier Elementen« statt (van Hülsen
1618: Taf. 91). Bei einem solchen Karussell-Rennen umrundeten verschiedene Rei-
tergruppen einen dafür dekorierten Platz in maximaler Geschwindigkeit. Die zum
Kupferstich gehörige Beschreibung überliefert eine Gruppe römischer Ritter als Ver-
treter des Elements Erde, eine »Gesellschaft Americaner« als Vertreter des Elements
Wasser, »zwölf edle Mohren«, angeführt von Herzog Julius Friedrich (1588-1635;
Bruder des regierenden Herzogs), als Vertreter des Elements Feuer, und eine Gruppe
von Heiden bzw. »Türken« als Vertreter des Elements Luft. Für die musikalische
Untermalung sorgten zusätzlich jeweils drei Römer, Amerikaner, »Mohren« (diese
spielten Schalmei; Weckherlin 1618: 68) und Türken. Aufzüge, Karusselle oder Bal-
lette mit der symbolischen Darstellung der vier Elemente - wiederum symbolisiert
durch die vier damals bekannten »Erdteile« (Kontinente) - waren im 17. Jahrhundert
sehr beliebt7, und niemand anderer als die »Mohren« aus dem heißen Kontinent
Afrika waren besser geeignet, das Feuer zu versinnbildlichen.
Auch beim Karussell-Rennen sind die Afrikaner, es dürfte sich hier wegen der
großen Zahl wieder um fingierte handeln, mit einem Hüftrock bekleidet, tragen dies-
mal aber statt eines Laubkranzes eine Kopfbinde mit zwei flatternden Enden. Und so
wie im »Tanz der Nationen« der regierende Herzog Johann Friedrich die Figur des
»Mohren« tanzte, so befehligte jetzt sein Bruder die »Mohren«-Truppe, sozusagen
als »Mohren«-Hauptmann8, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil man - so Weck-
herlin - die »Mohren« als Erfinder des Karussell-Rennens betrachtete (Weckherlin
1618: 68) und sie damit noch interessanter schienen.
Darstellung 6 (Abb. 6, Detail)
Der Trompeter Christian Real (um 1643 - nach 1674) beim Leichenzug für Eberhard
III., 1674 (Sechs Christliche Leich=Predigten 1675: zwischen S.2 u.3)
Diese Darstellung zeigt einen wirklichen Afrikaner, der außerdem namentlich
genannt wird. Es handelt sich um einen Kupferstich anläßlich der Leichenprozession
für Herzog Eberhard III. (1614-74), als dessen Sarg 1674 vom Alten Schloß in die
Stiftskirche geleitet wurde. In der Sammlung »Sechs Christliche Leich=Predigten/
Uber dem hoch=seeligen Ableiben/Weiland deß Durchleuchtigsten Fürsten und
Herren/HERRN Eberharden III. [...]. Welche den 19. und 21. Julij Anno 1674 [...]
gehalten worden. Sampt angehängter Historischer Beschreibung Ihrer Hochfürstl.
Durchl. Hoch=ansehnlicher Leich=Procession und Begräbnus« (1675) befindet sich
auch ein Kupferstich von Johann Franck (ibid.: zwischen S. 2 und 3), der die Prozes-
sion wiedergibt.9 Unter der Sammelnummer »11« sehen wir 12 Trompeter in langen
schwarzen Umhängen oder Mänteln mit Hüten nebst Straußenfedern, die ihre fah-
nengeschmückten Trompeten in Händen halten. Die Beschreibung (mit neuer Zäh-
lung) »Pocession und Ordnung/Wie dieselbe bey Fürstlicher Leich=Begängnuß Deß
Weiland Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn /HERRN Eberharden Deß Dritten/
[...] den 21. Julii [...] deß 1674sten Jahrs/in der Fürstl. Haupt= und Residentz=Statt
Stuttgartten gehalten worden« (ibid.: neue Zählung 1) listet die Namen aller Trom-
peter auf und nennt an zweiter Stelle (auf der Darstellung in der oberen Reihe der
zweite von links vom Betrachter aus) »Christian Real Mohr« (ibid.; neue Zählung 5).
62
Fida: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
Abb.5
Abb.6
Überraschenderweise unterscheidet sich Real in Hautfarbe und Kleidung in keiner
Weise von seinen Kollegen.
Er kam um 1643 vermutlich im Grenzgebiet Angola/Zaire auf die Welt, wurde als
ganz kleines Kind geraubt, von Portugiesen an Holländer verkauft, fuhr wohl eini-
ge Jahre zur See bis ihn schließlich der damals in dänischen Diensten an der Gold-
küste stehende Kommandant Joß Kramer aus Lindau am Bodensee 1657 in seine
Heimatstadt mitbrachte. Dort unterrichtete ihn der Prediger Jacob Fussenegger und
taufte ihn am 17. Mai desselben Jahres in der St.-Stephans-Kirche. Ein Exemplar
63
TRIBUS 46, 1997
der gedruckten Predigt mit einem Anhang von 13 Glückwunschgedichten auf Real
und Kramer hat sich einzig in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart
erhalten. Noch 1657 schenkte man Real weiter an den Stuttgarter Herzogshof, wo
er als kleiner »Mohr« in den Dienst der jungen Herzogin Maria Dorothea Sophie
kam (Firla/Forkl 1995: 153-157). 1665 begann er eine Lehre als Trompeter (Firla
1996 a: 21) und erhielt 1668 eine Stelle als Hoftrompeter (ibid.: 22). Im November
1669 wurde er nach dem Besuch einer Besenwirtschaft in Stuttgart überfallen und
verlor dabei ein Auge. Die Täter wurden entsprechend der Hofgerichtsordnung
empfindlich bestraft. Im Anschluß arbeitete Real noch bis 1674 als Hoftrompeter,
ging dann jedoch von Stuttgart weg. Die Gerichtsakten mit sämtlichen
Vernehmungsprotokollen befinden sich im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) in
gut erhaltener Form (HStAS A 210 III Bü 43), und zeigen Real als sozial vollkom-
men integriert, selbstbewußt, extrovertiert, selbstironisch und humorvoll. Er konn-
te anschaulich erzählen und war sehr stolz auf seinen Trompeterstatus. Er und die
Täter waren zur Tatzeit alkoholisiert, letztere hatten den Überfall nicht geplant.
Doch vermutlich brach sich in der Enthemmung der Täter ein nicht eingestandenes
Neidgefühl Bahn, als sie Real plötzlich im Gespräch mit einem Bekannten antrafen
und er vielleicht auch hier wieder in selbstbewußter Manier auftrat, denn sie kann-
ten ihn vom Hof (Firla/ Forkl 1995: 158-162).
Real ist bei der Prozession, wie bereits oben gesagt, als Weißer dargestellt und unter-
scheidet sich nicht von seinen anderen Kollegen. Zieht man Fusseneggers Taufpre-
digt (Fussenegger 1658) und die Gerichtsakten zu Rate, verwundert dies nicht mehr.
Seine Umgebung betrachtete ihn wie ihresgleichen, und das Versehen des Künstlers10
dürfte eine ganz typische Freudsche Fehlleistung sein, die die Sichtweise des Unter-
bewußten zutage fördert.
Darstellung 7a und 7b (Abb. 7a und 7b, jeweils Details)
Die allegorische Figur »Africa« im Ensemble der vier »Erdteile« am Brückenportal
des Stuttgarter Alten Schlosses, zwischen ca. 1684 und 1698 (Staatsgalerie Stuttgart,
Inv.-Nr. A 32282. - Siben Christliche Leich=Predigten 1699: Taf. 6)
Auf dem Kupferstich »Vorstellung deß Hoch Fürstlichen Württ. nach erlittener Feu-
ersbrunst anno 1684 wiederumb auffgerichteten Cantzley Baues Nebst Beifuegung
deß [...] Newen Gesandten Hauses« von Th. Hopfer11 ist auch das Brückenportal
des Alten Stuttgarter Schlosses dargestellt, betrachtet vom Schloß aus (Abb. 7a). Das
Original des Stiches befindet sich in der Staatsgalerie Stuttgart mit dem Bildtext am
unteren Rand, der zum Buchstaben »E« erklärt: »das Portal auff der Schloß Bruck-
hen mit Indianischen Bildern in lebens Gröse« (Staatsgalerie Stuttgart, Inv.-Nr. A
32282). »Indianisch« konnte in jener Zeit sowohl »indianisch« im heutigen Sinn, als
auch »indisch«, »afrikanisch« oder überhaupt »exotisch« im heutigen Sinn bedeu-
ten12, weswegen dieses Adjektiv nicht viel zur Klärung beitragen muß.
Die Figur selbst auf Darstellung 7a (Abb. 7a) bleibt bis auf eine Art Lendenschurz
oder Lendentuch, eine offensichtliche Federkrone und eine von der linken Schulter
zur rechten Hüfte diagonal verlaufende Binde unbekleidet. Die linke Hand hält einen
Speer oder eine Lanze. Mit dem Rücken zu dieser Figur steht eine weitere Skulptur,
die in Schulterhöhe einen länglichen Gegenstand in der Hand hält. Auf der Por-
taloberseite befinden sich fünf Figuren, von denen zwei eine Art Keule über die
Schulter legen. Die in voller »lebens Gröse« sichtbare Figur ist eindeutig eines von
den »Indianischen Bildern«, dies zeigt die Kostümierung mit Lendentuch-Zschurz
und Federkrone.
Eine weitere Darstellung 7b (Abb. 7b) findet sich auf einem Kupferstich der Lei-
chenprozession für Herzogin Maria Dorothea Sophie im Jahr 1698 (Siben Christ-
liche Leich=Predigten 1699: Taf. 6). Auf diesem ist ebenfalls das Brückenportal des
Alten Schlosses zu sehen, diesmal jedoch nicht vom Schloß aus, sondern wie es der
Betrachter des Schlosses in Augenschein nimmt. Auf der linken Seite des Portals
steht eine männliche Figur mit phrygischer Mütze, Pektorale und einer Art Lenden-
tuch mit Streifenrock, der als typisch »römisch« galt13; außerdem scheint die Skulp-
64
Pirla: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
tur eine Art nur die rückwärtige Körperpartie bedeckenden Umhang zu tragen. Mit
der linken Hand hält sie eine über die Schulter gelegte Keule. Diese Hand und der
untere Teil des Keulenschaftes sind deutlich auf Darstellung 7a (Abb. 7a) zu bemer-
ken. Die Figur auf der rechten Portalseite trägt Federkrone, Pektorale, Lendentuch
mit Federrock und als Bewaffnung Pfeil und Bogen. Verstehen wir vor dem Hinter-
grund der Ikonographie der vier in jener Zeit bekannten Kontinente, genannt »Erd-
teile«, nämlich Europa, Asien, Afrika und Amerika14, die drei sichtbaren Skulpturen
als Ensemble, so ist deren Bedeutung zu rekonstruieren. Die Figur mit der Keule
symbolisiert dann Europa, die Figur mit der Lanze oder dem Speer versinnbildlicht
Afrika, und die Figur mit Pfeil und Bogen symbolisiert Amerika. Die nichtsichtbare
Skulptur neben der Figur »Africa« hinter dem offenen Torflügel auf Darstellung 7a
(Abb. 7a) muß dann »Asia« vertreten haben. Die Reihenfolge der »Erdteile«, die in
der Regel der Reihenfolge ihrer sog. Entdeckung entspricht, ist auf dem Portal
abgeändert, denn neben Europa« steht nicht »Asia«, sondern »America«. Vermutlich
wollte man mit der Kombination »Europa«-»Arnerica« (Vorderseite) und »Asia«-
»Africa« (Rückseite) je einen vertrauten (und damit weniger interessanten) Konti-
nent mit einem >exotischen< vereinigen.
Darstellungen der vier »Erdteile« in der Kunst, Literatur und Musik etc. waren im
17. Jahrhundert im »höfisch-imperialen« Bereich sehr beliebt (Köllmann/Wirth u.a.
1967: 1138). Sie symbolisieren »vor allem die Bewohner« (ibid.: 1109) der »Erd-
teile« bzw. die ganze Menschheit, die dem Herrscher entweder huldigen oder ihm zu
Gebote stehen (ibid.: 1141) soll. Wie lange die vier »Erdteile« das Schloßportal
schmückten, ist leider nicht festzustellen.
65
TRIBUS 46, 1997
3. Die Darstellungen des 18. Jahrhunderts
Darstellung 8 (Abb. 8)
Eine jugendliche Afrikanerin auf dem Gemälde von Antoine Pesne, »Erbprinz Fried-
rich Ludwig von Württemberg und seine Gemahlin Henriette Marie [mit Mohrin]«,
um 1715/16 (Staatliches Museum Schwerin, Inv.-Nr. G 230)
Das Gemälde Pesnes ist eine typische Darstellung nach dem Schema >Mitglied(er)
des regierenden Hauses+ Mohr/Mohrin<.
Die Afrikanerin trägt - dies zeigt das farbige Gemälde, das hier leider nur schwarz-
weiß abgebildet werden kann - ein Kleid mit silberfarbenem Oberteil und weißem
Leibchen darunter. Darüber erscheint eine Art moosgrüner Kaftan mit goldfarbener
Einfassung. Als Kopfbedeckung sehen wir eine braun-silbrige Zwischenform von
Turban und Quastenmütze nebst Feder in asymmetrischer, recht kecker Drapierung.
Die Kleidung ist somit >ä la turque< gehalten, wie dies für Afrikaner männlichen und
weiblichen Geschlechts oft üblich war. An Schmuck bemerken wir einen goldfar-
benen Ohrring (der eine eines Paares) und eine engsitzende Perlenhalskette. Die
Afrikanerin sieht Henriette Marie aufmerksam an und reicht ihr eine Untertasse mit
Kaffeetasse, während die Prinzessin dabei verliebt ihren stolz blickenden Ehemann
betrachtet. Der Bildtitel erwähnt die Afrikanerin nicht, so als ob sie gar nicht vor-
handen wäre, was bei Gemälden dieser Art die Regel war.
Vermutlich lebte die Afrikanerin am württembergischen Hof, obgleich man sie bisher
nicht identifizieren konnte. Auffällig ist die Ähnlichkeit ihrer Physiognomie mit der
von zwei anderen Afrikanern auf Gemälden Pesnes, bei denen es sich jedoch um ein
und denselben in verschiedenen Lebensjahren handeln dürfte, denn wir erkennen in
ihm einen kleinen Diener des späteren Friedrichs II. von Preußen und seiner Schwe-
ster.15 Es ist nicht auszuschließen, daß »Mohrin« und »Mohr« auf den drei Gemälden
Pesnes Geschwister waren, da sie sich so ähnlich sehen. Afrikaner allerdings rea-
listisch wiederzugeben, bedeutete für viele Maler eine sichtbare Schwierigkeit. Mög-
licherweise hatte sich Pesne auch ein Schema zurechtgelegt, das er bei männlichen
und weiblichen Afrikanern ausführte.16
Darstellung 9 (Abb. 9)
Ein etwa siebenjähriger Afrikaner auf der Miniatur von Lorenz von Sandrart, »Her-
zogin Johanna Elisabeth von Württemberg, Landprinz Friedrich Ludwig, Landprin-
zessin Henriette Maria, Prinzessin Luise Friederike [mit Mohr]«, 1724 (Württ. Lan-
desmuseum Stuttgart, Inv.-Nr. KK Grau 134)
Obwohl diese Darstellung im Zusammenhang mit der Afrikanischen Diaspora schon
einmal besprochen wurde (Firla/Forkl 1995; 149, 150 Abb. 2), soll sie hier doch nicht
übergangen werden, da sie in einzigartiger Weise die Funktion der kleinen »Mohren«
als Prestigesubjekte verdeutlicht. Mit ihnen dokumentierte man das Verfügen über
Seltenes und ebenso weitreichende Beziehungen bis in die fernsten Länder (Martin
1993: 41).
Auf der (vom Betrachter aus) linken Seite befindet sich Herzogin Johanna Elisabeth,
die verlassene Frau von Herzog Eberhard Ludwig, mit ihrer Enkelin, links von ihr
zeigt sich das Erbprinzenpaar, das wir schon von Darstellung 8 kennen. Dieser Grup-
pe gegenüber befindet sich ein Ensemble von sehr großem weißem Korallenstock,
überdimensionalen Blüten, Ananas und kleinem, etwa achtjährigem Afrikaner. Koral-
len und exotische Pflanzen waren typische Bestandteile fürstlicher Sammlungen und
Gewächshäuser (Firla/Forkl 1995: 184 Anm.2). Dem Ensemble der herzoglichen
Familie stand das Ensemble der wundersamen und seltenen Kunstwerke Gottes, wie
man die Mirabilien der Natur auch verstand (Holländer 1994: 139), zur Seite, und
Landprinzessin Henriette Maria weist stolz und würdevoll mit der Linken auf Koral-
len, Blütenpracht, Ananas - und »Mohren«, der seinerseits den Blick des Betrachters
mit der Linken zum Verweilen einlädt, um dann mit der Rechten zurück zur herzog-
lichen Familie zu weisen. Deutlicher ist das Wechselspiel von Präsentation und Re-
66
Pirla: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
Abb.8
Abb.9
Präsentation nicht auszudrücken. Der kleine Afrikaner trägt übrigens außer dem Turban
die typisch »ungarische Kleidung«, nämlich rot, geschnürte Jacke (Dolman) mit enger
Hose und Halbstiefeln (Zischmen). So war im Alltag nachweislich auch sein älterer Kol-
lege François André in den 1740er Jahren gekleidet (s. unten bei Darstellung 13).
67
TRIBUS 46, 1997
Abb. 10
Darstellung 10 (Abb. 10)
Ein etwa zehnjähriger Afrikaner auf der Miniatur von Lorenz von Sandrart, »Herzog
Eberhard Ludwig im Küraß [mit Mohr]«, 1726 (Privatbesitz)
Diese Darstellung ist ein typisches Reiterbildnis im Küraß (Brustpanzer der Küras-
siere) auf steigendem Schlachtroß. Auch der helmhaltende Afrikaner ist - wie so oft
- dabei und sieht hier wie meist zu seinem Herrn auf. Als Vergleichsstücke lassen
sich z. B. nennen: Peter van Roy, »Joseph Wenzel von Liechtenstein [mit Mohr]«, um
1730 (abgebildet in: Haupt 1990: 218 Abb. 68), und Francesco Solimena. »Der Sieg
Karls von Bourbon in der Schlacht von Gaeta [mit Mohr]«, 1734/35 (abgebildet in:
Prohaska/Spinosa 1993: 279 Abb. 69). »Mohren« begleiteten ihre Herren tatsächlich
68
Firla: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
in den Krieg, so etwa der berühmte Angelo Soliman (um 1721-96), der seinem Für-
sten Johann Georg Christian von Lobkowitz sogar einmal das Leben in der Schlacht
rettete (Pichler 1993: 115). Diese Funktion der Afrikaner, nämlich als Kriegskame-
raden des Hochadels zu agieren, ist noch überhaupt nicht erforscht. Und auch der
sagenhafte soziale Aufstieg Solimans zum Erzieher des Erbprinzen Alois Joseph von
Liechtenstein ab 1773 (Pichler: 116) dürfte nicht zuletzt aufseine militärische Repu-
tation zurückgehen. Ferner muß die glänzende militärische Karriere des Afrikaners
Abraham Petrowitsch Hannibal (er war der Urgroßvater mütterlicherseits von Alex-
ander Puschkin), der es bis zum Gouverneur von Reval brachte (Martin 1993: 307),
in diesem Zusammenhang verstanden werden.
Darstellung 11 (Abb. 11)
Ein etwa 14jähriger Afrikaner auf dem Gemälde von Jan Philipp van Schlichten,
»Herzogin Maria Augusta [mit Mohr]«, um 1735 (Schloß Ludwigsburg, Inv.-
Nr. 2435/02 c)
Abb. 11
69
TRIBUS 46, 1997
Dieses Gemälde zeigt Herzogin Maria Augusta (1706-56), die Frau von Herzog Carl
Alexander (1684-1737, regierte 1733-37). Sie ist dargestellt im roten Kleid mit pas-
sender Kopfbedeckung als Dame des Malteserordens (Malteserkreuz auf Ärmel und
schwarzer Schärpe). Der auf der Schwarz-Weiß-Abbildung schwer erkennbare Afri-
kaner (eine farbige Abbildung befindet sich in Sauer 1995; 53) trägt ausnahmsweise
keinen Turban, aber einen großen tropfenförmigen Ohrring und eine goldbestickte
blaue Samtjacke. Er scheint der Herzogin eine Perlenkette geben zu wollen und
blickt sie von unten mit großen Augen an.
Auch zu dieser - ganz typischen - Darstellung existieren unzählige Vergleichsstücke,
zu denen, um einmal ganz in Württemberg zu bleiben, das Gemälde von W. D. Mayer,
»Friederike von Brandenburg-Bayreuth als Braut von Herzog Carl Eugen [mit
MohrJ«, 1745 gehört.17 Doch auch wenn der »Mohr« auf Darstellung 11 tiefschwarz
ist, vielleicht um die strahlendweiße Haut der Herzogin besonders zur Geltung zu brin-
gen, auch wenn man die kleinen und jugendlichen »Mohren« als ästhetisches Ereignis
schätzte,18 so behandelte man sie doch nicht mit Verachtung. Denn man ließ sie nicht
nur unterrichten, taufen und prächtig einkleiden, sondern verhätschelte sie nicht selten
regelrecht.14 Dies belegt beispielsweise ein anonymer Kupferstich nach William Ho-
garth mit dem Titel »Taste in High Life« (abgebildet in: Dabydeen 1985: 80 Abb. 51),
auf dem ein prächtig ausstaffierter, wohlgenährter und kraftstrotzender kleiner Afri-
kaner, umgeben von Spielzeug auf einem Tischchen sitzt und seine Kulleraugen einer
stehenden Adligen zuwendet, die ihm besorgt ans feiste Kinn faßt.
Gerade Herzog Carl Alexander, der Ehemann von Maria Augusta, favorisierte einen
afrikanischen Günstling, den Bereiter, Kammermohren und Stallmeister Carl von
Commani (um 1694-1757), der dem Stuttgarter Hof von 1723 bis zu seinem Tod ver-
bunden war. Er genoß das herzogliche Vertrauen und schrieb Carl Alexander gera-
dezu kühne Briefe, ohne daß der Herzog es ihm in irgendeiner Weise übelgenommen
hätte. Vermutlich hatten sie beide zusammen im Feld gestanden20.
Darstellung 12 (Abb. 12, Detail)
Ein afrikanischer Pauker in der Heimführungsprozession nach der Eheschließung
von Herzog Carl Eugen von Württemberg mit Elisabeth Friederike Sophie, geb. Mark-
gräfin von Brandenburg-Bayreuth, 1748 (Schönhaar 1748: Taf. 5)
Herzog Carl Eugen (1728-93) und Elisabeth Friederike Sophie hatten in Bayreuth
im September 1748 geheiratet. Am 12. Oktober fand dann die Prozession statt
(Schönhaar 1749: Taf. 5), bei der die frischgebackene sechzehnjährige Ehefrau nach
Stuttgart »heimgeführt« wurde, wie es in jener Zeit hieß (ibid.: Titelblatt, 74). An
dem Einzug nahmen etwa 1000 Personen (meist zu Pferd) teil, und der herzogliche
Sekretär Schönhaar sorgte auch hier für dessen Beschreibung im Kapitel »Solenner
Einzug in die Hochfürstl. Würtembergische Erste Residentz= und Haupt=Stadt
Stuttgart« (ibid.: 74-118), wobei er bei den Höhergestellten auch Namen und Funk-
tion der Personen angibt. Ebenfalls beschreibt er die Kleidung, wodurch er seinen
Text zu einem wertvollen Dokument für die Kostümforschung werden läßt.
An der Prozession nehmen auch Pauker und Trompeter teil, und in der achten Reihe
von unten, vom Betrachter aus gesehen ganz rechts, sehen wir einen berittenen
schwarzen Pauker der Leibgarde (ibid.: 98), der vor vier Trompetern reitet (Abb. 12).
Die dazugehörige Beschreibung erklärt unter der Position LXVIII. 4: »Ein Paucker,
so ein Mohr, mit denen zwey ganz silbernen Paucken, welche mit kostbar von Silber
und Gold, auch gelben Seiden gestickten Banderolen behängt waren« (ibid.; 99).
Dem Kupferstich entnehmen wir zusätzlich, daß der Pauker - dies zeigt der Vergleich
mit noch zwei anderen Kollegen (vgl. Schönhaar 1748: Taf. 5, Nr. XLII. 4 und L11I)
- bis auf den Turban dieselbe Livree trägt wie diese. Die Darstellung verdeutlicht
gut die imposante Ästhetik. Denn die Pauker konnten die Pferde beim Spiel nur mit
den Füßen (die Zügel waren an den Steigbügeln befestigt), Schenkeln und durch
Gewichtsverlagerung lenken. Dies machte angesichts der zusätzlichen Schlagbewe-
70
Pirla; Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
Abb. 12
gungen eine exakt ausbalancierte Körperhaltung nötig. Um die Pauken zum Klingen
zu bringen, bedurfte es zudem weitausholender Schläge, die besonders martialische
Bewegungsabläufe erforderten.
An schwarzen Paukern in der herzoglich-württembergischen Leibgarde sind
bekannt: Ludwig Wilhelm Weiss (aus Madagaskar) und Eberhard Wilhelm in den
1720er Jahren (Pirla 1996a: 30, 32) sowie Dominicus Joseph Deacosta Anfang der
1730er Jahre (ibid.: 36). Eberhard Wilhelm war am 23. Januar 1748 im Alter von 44
Jahren gestorben. Er hatte den Meistergrad erworben und durfte deshalb auch den
Lehrling Louis Alphonse de la Carière von der berittenen Leibgarde ausbilden (ibid.:
33-34). Die Identität des dargestellten afrikanischen Paukers ist allerdings nicht
zweifelsfrei zu belegen. Eberhard Wilhelm war im Oktober 1748 (als die Prozession
stattfand) bereits tot, und de la Carière arbeitete zwar in der Leibgarde, doch ist nicht
erwiesen, daß er ein »Mohr« gewesen war.
Darstellung 13 (Abb. 13)
Zwei »Kammermohren« in der Heimführungsprozession nach der Eheschließung
von Herzog Carl Eugen von Württemberg mit Elisabeth Friederike Sophie, geb.
Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth, 1748 (Schönhaar 1748: Taf. 5)
Zur Heimführungsprozession im Jahr 1748, aus der schon Darstellung 12 stammte,
gehören noch zwei weitere »Mohren«. Sie gehen unter der Position »XCIV« vor den
beiden ersten Pferden der Staatskarosse, in der die junge Herzogin saß. Schönhaar be-
schreibt hier ausführlicher: »Sodann gingen auch neben dem Staats=Wagen, etwas
entfernt auf beeden Seiten, zwey Cammer=Mohren, in prächtiger Livree. Sie trugen
rothe, auf Romanische Art gemachte Kleider, von feinem Ponceau=Tuch, mit eilf
daran hangenden Flügeln, und silbernen sehr breiten Tressen reich bordiert: Romani-
sche Mohren=Schürze von Drap d’argent, mit silbernen breiten Lahn=Spitzen
dreyfach besetzt, und unten von silbernen langen Franzen und Crepinen eingefaßt; wie
auch schwarz=taffetene Escharpen, mit breiten silbernen Spitzen charmirt. Auf dem
Kopf hatte jeder einen rothen Türckischen Mohren=Bund, mit weiß= und schwarzen
Federn, von Silber gestickt, oben mit dergleichen Franzen und Crepinen besetzt, von
71
TRIBUS 46, 1997
Abb. 13
einem feinen Mousseline umwunden und mit Steinen gezieret. An dem Hals trugen sie
ein silbernes Collier, mit verguldten Schildlen, worauf der Hohe Namen GD [stand]
und an den Ohren hatten sie Pandeloquen von grossen Perlen. Sie trugen auch weiß=
seidene Strümpfe, und gelb=Saffian=lederne, mit silbernen Schnüren und Franzen
besetzte Zischmen, mit rothen Absätzen« (ibid.: 107).
Die beiden hier beschriebenen »Cammer-Mohren« arbeiteten in der unmittelbaren
Umgebung des Herzogspaares, dies besagt die Bezeichnung »Kammer«.2' Zieht
man Pfeilsticker (1957: §289-291) zu Rate, dann können es nur die beiden »Moh-
ren« Thomas Alphonsus (am Hof angestellt 1744-75; verstorben am 1. August 1784)
und François André (am Hof angestellt 1747-75; verstorben am 20. Januar 1782)
gewesen sein (vgl. ibid.: §289). Alphonsus (geb. um I699)22 und André (geb. um
1709)23 waren 1748 ca. 49 bzw. 39 Jahre alt.24 Alphonsus hatte zuvor in Diensten des
Erbobriststallmeisters Baron von Roeder gestanden.2:1 André dagegen war aus
Holland nach Stuttgart gekommen.26 Die Besoldung beider dürfte auch damals,
ebenso wie für den »Kammermohren« Christian Andrea, jährlich 200 Gulden »an
Geld und Naturalien nebst der Kleidung«27 betragen haben.
Die »Kammermohren« erschienen nur in Ausnahmefällen, wie einer Festprozession
u.ä., in der beschriebenen Weise kostümiert. François André z.B. war im Alltag
»Ungarisch gekleidet«28, d. h. so wie der kleine Mohr auf Sandrarts Miniatur von
1724 (Abb. 9). Die Kosten der »Staats-Livree«, wie man die Festkleidung nannte
(Schönhaar 1748: 84), überstiegen den Jahresverdienst der »Kammermohren« um
ein Vielfaches. Dies belegt z. B. die Aufstellung für den »Bund [Turban; M.F.] zur
Staats-Livree« des »Kammermohren« Pietro delli Santo Belli, den er während der
Reise Carl Eugens 1767 nach Venedig erhielt. Denn diese Kopfbedeckung kostete
allein bereits gute 50 Gulden.29
Wie die anderen »Mohren« (vgl. Firla 1996a), so hatten auch Thomas Alphonsus und
François André keine Schwierigkeiten, Frauen und Liebhaberinnen zu finden.
Alphonsus30 und André31 mußten sich nämlich beide Ende 1749 wegen Ehebruchs
verantworten. Vielleicht hatte gerade ihr prunkvoller Auftritt ein Jahr zuvor einige
Frauenherzen zuviel zum Schmelzen gebracht.
72
Fida: Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
Abb. 14
Darstellung 14 (Abb. 14)
Ein flirtender Afrikaner auf dem Porzellanfiguren-Modell von Johann Christoph
Haselmayer, »Schreitendes Mädchen mit Gemüsekorb und Mohr«, um 1764 (Württ.
Landesmuseum Stuttgart, Inv.-Nr. 1926/39)
Der mit Turban, gestreiften Pluderhosen und Hüftschärpe wieder ganz orientalisch
gekleidete Afrikaner hält die junge Frau an Schulter und Unterarm und sieht sie mit
lächelnder, umwerbender Miene an.
Bei der Frau dürfte es sich um eine herrschaftliche Küchenbedienstete handeln. Dar-
auf deuten ihr großer Gemüsekorb, ihre knöchelfreie Kleidung nebst Spitzenhaube,
Kehlband mit Anhänger und die Schnallenschuhe hin. Die junge Frau mit einem für
ihre Verhältnisse recht freien Dekollete widerstrebt noch mit dem Körper, doch ihr
73
TRIBUS 46, 1997
Geist beginnt sieh bereits mit dem »Mohren« zu beschäftigen, auch wenn sie ihn
nicht ansieht; dies zeigt ihre dem Afrikaner zustrebende Kopfhaltung und ihre sin-
nende Miene. Auffallend ist die graziöse Fußstellung des »Mohren« im Gegensatz
zur bodenständigen seiner Partnerin. Sie könnte den Unterschied der kulturellen Ver-
feinerung zwischen beiden andeuten, hielt sich doch der Afrikaner vermutlich in der
»Kammer« (der nahen Umgebung der Herzogsfamilie), die junge Frau aber nur in
ihrer weitentfernten Küche auf. Denkt man an die amourösen Abenteuer von Thomas
Alphonsus und François André, dann sind Reminiszenzen des Künstlers an lebende
Vorbilder nicht auszuschließen. »Kammermohren« waren ganz wichtige Prestigeträ-
ger und mußten schon deshalb auf die Damenwelt eine gewisse Wirkung ausüben.
Leider ist mir bisher nur diese Darstellung eines schwarz-weißen Paares in Württem-
berg bekannt. Eine ähnliche Szene gibt die unvollendete Zeichnung von Jacques
André Portail mit dem Titel »Junge Dame mit einem Negerbedienten«, vor 1759,
wieder.32 Vollständig ausgeführt ist dabei ein junges Mädchen aus wohlhabendem
Hause, mehr oder weniger hingegossen mit übergeschlagenem rechten Bein auf einem
Stuhl. Die rechte Hand liegt auf einem aufgeschlagenen Buch, daneben steht eine Kaf-
feetasse. Das Mädchen sieht verschmitzt-versonnen einen jugendlichen Afrikaner an,
von dem nur der Kopf mit einem federgeschmückten Turban und die Finger der rech-
ten Hand ausgeführt sind. Letztere ruht auf der Stuhllehne, ganz nah an der Schulter
des jungen Mädchens, das er ebenfalls wissend anlächelt. Diese Szene drückt gegen-
seitiges Vertrauen und Einverständnis aus und könnte auf einen kleinen Flirt anspie-
len.
4. Schlußbemerkung
Die vorliegende Sammlung läßt sich ohne Zweifel zeitlich wie zahlenmäßig noch
erweitern. Hierzu ist die Suche vor allem in folgenden Bereichen nötig:
- Ausstellungskataloge;
- historische Sekundärliteratur;
- zeitgenössische Festbeschreibungen.
Ein gewisses Problem stellt naturgemäß die Bildinterpretation dar. In diesem Zusam-
menhang sollte zunächst von der stereotypen Unterstellung eines Rassismus abstra-
hiert werden, da dies allzuleicht zu Fehlinterpretationen führen kann.33
Die im vorliegenden Beitrag versammelten Darstellungen dokumentieren vor allem
die Einstellung zu Afrika und den Afrikanern innerhalb der höfischen Kultur. Die Be-
schäftigung von Afrikanern entsprach zwar einem Exotismus und sollte außerdem
die weitreichenden Beziehungen des regierenden Hauses demonstrieren. Doch dabei
erfreuten sich Afrika und die Afrikaner einer ganz deutlichen Idealisierung. Dies
konnte sich die sog. Bürgerliche Emanzipation im 18. Jahrhundert im wahrsten Sinne
des Wortes nicht mehr >leisten<. Denn um sich selbst trotz der Beteiligung am Skla-
venhandel und der Sklavenwirtschaft als integer auszugeben, bedurfte es der Neu-
definition der Afrikaner zu Un-Menschen. Dies zeigt die berühmte Stelle in Montes-
quieus 1748 erschienenem Werk »De Pesprit des lois« ganz deutlich, an der er erklärt,
was er sagen würde, wenn er »unser Recht zur Versklavung der Neger zu begründen
hätte«.34 Während in der höfischen Kultur nicht zuletzt durch die Rezeption von He-
liodors Roman »Aithiopika« (Oeftering 1977), die antike, idealisierende Sichtweise
Afrikas und der Afrikaner (zu dieser vgl. Snowden 1970) wiederbelebt worden war,
entwickelte das sog. Bürgertum eine neue Sichtweise: die des Geschäftsmannes, der
»die Zeichen der Zeit erkennt«, wie man diesen Mechanismus heute nennen würde.
Vordergründig betrachtet, war dies die >progressive< Sichtweise im Gegensatz zur
konservativem. Die weitere Geschichte dieser Art von >Progressivität< ist bekannt.
74
Pirla; Darstellungen von Afrikanern im Württemberg
Anmerkungen
1 Vgl. hierzu Firla/Forkl (1995). - Firla (1996a). - Firla (1996b).
2 Diese Kupferstichfolge wurde zusammen mit dem Text der offiziellen Festbeschreibung (auf
gegenüberliegenden Seiten: links Text, rechts Kupferstich) von Johann Augustin Assum
(vgl. Krapf/Wagenknecht in van Hulsen/Merian 1979: VIII) veröffentlicht als van Hul-
sen/Merian (1979). Aus diesem Nachdruck wird wegen der besseren Zugänglichkeit zitiert.
Ergänzend wird herangezogen die Beschreibung von Frischlin (1979). Abb. 1-4 stammen
jedoch aus der Originalausgabe von van Hulsen/Merian (1616).
3 Zur »Biscayer Trommel« bzw. zum Tamburin, das in jener Zeit auch »Mohrenpäuklein«
hieß, s. Firla (1996a: 17).
4 Vgl. hierzu Köllmann/Wirth (1967). - Hyde (1926). - Hyde (1927). - Fischer (1973: 30). -
Firla (1997a).
5 S. hierzu die Zeichnung von Weiditz (1929: 23, Tat. X). Der Pauker hat übrigens ein typi-
sches >Sokratesgesicht<, wie ich es nennen möchte (Charakteristikum: kurze Knollennase
mit tiefliegender Nasenwurzel). Dies bedeutete eine Notlösung für Künstler, die die Wie-
dergabe negrider Gesichtsproportionen nicht beherrschten.
6 S. hierzu einige Kupferstiche von Susanna von Sandrart (1658-1716; aktive Zeit 1675-83
und 1687-95), die afrikanische Stallknechte in osmanischen Diensten zeigen, in: Paas
(1995: 90-92, Abb. 108, Abb. 111-113).
7 Vgl. z.B. Brockpähler (1964: 89, 137, 326). - Hyde (1927: 19, 22, 23).
8 Auch Ludwig XIV. trat einmal als »Mohrenkönig« mit zwölf ebenso kostümierten Beglei-
tern auf (Hyde 1927: 21).
9 Der bei Schefold (1957: 567 unter Nr. 7802) angegebene Kupferstich »N-Ansicht [von Stutt-
gart] mit Seegassen- und Büchsentor auf der Darstellung der Leichenprozession Herzogs
Eberhard III.« von Johann Andreas Tille bildet in Wirklichkeit die Heimführung von Mag-
dalena Sibylla durch Herzog Wilhelm Ludwig ab. Dies zeigt der Vergleich mit der Darstel-
lung in: Kurtzverfasste Beschreibung (1675: zwischen S. 10 und II). - Vgl. hierzu bereits
Firla (1996a: 13 Anm. 28, 25 Anm. 103 und Anm. 104).
10 Prinzipiell stellte man die »Mohren« sehr wohl als solche auch dar, wie sich an den bisher
behandelten Abbildungen zeigt. Dies belegt außerdem die Wiedergabe des schwarzen Pau-
kers Christian Ferdinand bei der Leichenprozession für Markgräfin Erdmuth Sophie von
Brandenburg-Bayreuth am 23. August 1670 in Bayreuth (Beschreibung Der Procession
1679: Taf. 3). Den Hinweis auf diese Darstellung verdanke ich Herrn Dr. Rainer-Maria Kiel,
Universitätsbibliothek Bayreuth.
11 Entstanden 1685/86. Vollständig abgebildet in Wais (1977; 304 Abb. 277).
12 Vgl. hierzu auch die Aufzählung »indianischer« Objekte in der Stuttgarter Kunstkammer
1616 durch Hainhofer (1979: 351).
13 Vgl. van Hulsen/Merian (1979: 54, 55 Abb. 28).
14 Vgl. hierzu Köllmann/Wirth (1967). - Poeschel (1985). - Zur Darstellung der »Erdteile« in
Ballett und Oper des 17. Jahrhunderts vgl. Hyde (1926). - Ders. (1927). - Firla (1997 a).
15 Diese Gemälde sind: Antoine Pesne, »Friedrich Wilhelm von Preußen und Oranien (sic!)
[mit etwa siebenjährigem Mohren]«, 1712 (abgebildet in Martin 1993: 346 Taf. 21) und ders.,
»Wilhelmine von Preußen und ihr Bruder Friedrich [mit etwa zehnjährigem Mohren]«, 1715
(abgebildet ibid.: 342 Taf. 15).
16 Ein etwa siebenjähriger Afrikaner befindet sich auf der Miniatur von Lorenz von Sandrart,
»Herzog Eberhard Ludwig als Jäger [mit Mohr]«, 1723; abgebildet in; Württembergisches
Landesmuseum Stuttgart/Staatsarchiv Ludwigsburg (1976: 30). Sie stammt aus Privatbesitz,
und leider war vom Eigentümer keine Reproduktionserlaubnis zu erhalten, weswegen sie
hier nicht wiedergegeben werden kann. Der kleine »Mohr« trägt Turban, eine Art Paletot
(wohl ungarisierend) und eine Schärpe um die Taille. In der Hand hält er den Dreispitz des
Herzogs. Auch er, der am württembergischen Hof gelebt haben dürfte, ist bisher nicht zu
identifizieren. Da Sandrart Herzog und »Mohr« ins Zentrum stellt, den Oberkörper des Kin-
des dem Herzog leicht zuneigen läßt, die Gesichter auf gleicher Höhe postiert und beide den
Betrachter frontal ansehen, entsteht der Eindruck einer ganz bestimmten Vertrautheit der
beiden Personen.
17 Abgebildet in Württembergischer Geschichts- und Altertumsverein (1907: zwischen S.60
und S. 70).
18 Zum allgemeinen Usus im 15.-18. Jahrhundert s. Martin (1993: 101-109).
19 Afrikanische Kinder besitzen für den europäischen Betrachter ein besonders ausgeprägtes
Kindchenschema (Pausbäckchen, Schmollmund und Kulleraugen).
20 Ein Aufsatz hierzu ist von mir in Vorbereitung.
21 Zur Unterscheidung von »Kammer«- und »HotVPersonal s. Moser (1754: 211-212).
75
TRIBUS 46, 1997
22 Dies ergibt sich aus der Altersangabe (85 Jahre) im Totenbuch der Stiftskirche Stuttgart vom
1. August 1784 (LkAS KB 129).
23 Dies ergibt sich ebenfalls aus der Altersangabe (75 Jahre) im Totenbuch der Stiftskirche
Stuttgart vom 20. Januar 1782 (LkAS KB 129).
24 Die Altersangaben der Afrikaner wurden aus der Angabe ihres (meist geschätzten) Alters im
Taufschein berechnet.
2:1 HStAS A 202 Bü 1899 (Anstellungsdekret vom 13. März 1744).
26 HStAS A 202 Bü 1899 (Anstellungsdekret vom 31. Januar 1747).
27 HStAS A 202 Bü 1899 (Anstellungsdekret-Konzept vom 12. Juni 1751).
28 HStAS A 202 Bü 1899 (Anstellungsdekret vom 31. Januar 1747).
29 HStAS A 19a Bd.52; 167v (Ausgabenbuch 1766/67).
30 HStAS A 202 Bü 1899 (Brief von ihm an Herzog Carl Eugen vom 6. Oktober 1749).
31 HStAS A 202 Bü 1899 (Extractus Protocolli des Konsistorialsekretariats vom 19. Dezember
1749).
32 Abgebildet in Benesch (1964: Abb. 215).
33 Dies zeigte bei Darstellung 1 bereits die Interpretation Martins (1993: 70). Auch seine Deu-
tung der Darstellung eines beim Nürnberger Schembartlauf tanzenden Paares (Bauer und
Afrikaner) aus dem Jahr 1388 (abgebildet in Martin 1993: 338 Taf. 11) ist fragwürdig. Denn
es dürfte sich bei der Tanzfigur um eine gerade vollendete Drehung handeln und nicht um
die »choreographische[.] Austreibung des Teufels« (ibid.: 71).
34 Montesquieu (1992: 335) schreibt: »Es ist unmöglich sich vorzustellen, daß diese Leute
Menschen seien, denn wenn wir sie für Menschen hielten, müßte man anfangen zu glauben,
daß wir selbst keine Christenmenschen seien«. Ob diese Stelle ironisch gemeint ist (Clo-
stermeyer 1983: 153) oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Kant nahm sie jedenfalls ernst.
- Vgl. hierzu Firla (1997b).
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HStAS A 19a Bd.52 Ausgabenbuch 1766/67
HStAS A 202 Bü 1899 -Anstellungsdekret für den Kammermohren Thomas Alphonsus
vom 13. März 1744;
- Anstellungsdekret für den Kammermohren François André vom
31. Januar 1747;
- Anstellungsdekret-Konzept für den Kammermohren Christian
Andrea vom 12. Juni 1751;
- Nichteigenhändiger Brief des Kammermohren Thomas Alphonsus
an Herzog Carl Eugen vom 6. Oktober 1749;
- Extractus Protocolli des Konsistorialsekretariats vom 19. Dezem-
ber 1749.
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Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen
zu den Alsea/Nordwestküste Nordamerikas
1. Kulturgeschichtliche Einleitung
Unter dem Namen Alsea können sich in Europa nur wenige etwas vorstellen. Er
bezeichnet eine kleine, eher unbekannte Ethnie an der nordamerikanischen Nord-
westküste, zu der lediglich eine Handvoll ethnologischer Publikationen erschienen
ist. Die wenigen Primärquellen stammen von Farrand (1901), Frachtenberg (1920)
und Drucker (1939).
Über die Bedeutung der Stammesbezeichnung gibt es keine Auskunft (Beckham
1974,2; 114/Ruby 1986: 4). Die Alsea gelten als Fischervolk, wie viele andere ihrer
nördlichen Nachbarn. Ihr Lebensraum lag in historischer Zeit im Küstenabschnitt
zwischen den beiden Flüssen >Alsea River< und >Yaquina-River<, sowie an den Ufern
der Flüsse einige Meilen landeinwärts im Staat Oregon (Drucker 1939: 81/Beckham
1974,2: 114/Farrand 1901: 240). Die Alsea bildeten mit den Yaquina eine linguisti-
sche Familie, die Yakonan Family, die als Substitut des Penutian Phyllums angese-
hen wird (Frachtenberg 1917: 64/Beckham 1974,2: 114/Waldman 1985; 68).
Weil die beiden ethnischen Gruppen Alsea und Yaquina in einer Grenzregion zwi-
schen den stärker ausgeprägten Kulturen Kaliforniens und der Nordwestküste lebten,
wiesen sie Spuren mindestens zweier Kulturareale auf (Drucker 1955: 19). Aufgrund
ihrer eindeutigen Abhängigkeit vom Meer und vom Fischfang rechnet man sie zu
den Stämmen der Nordwestküste. Ursprünglich muß die Heimat der Proto-Penutian,
aus denen die beiden Ethnien hervorgingen, im Inneren Oregons gelegen haben. Aus
dieser Region wurden sie wahrscheinlich durch äußeren Druck vertrieben. Dabei
gelangten u. a. die Alsea an die Küste (Thompson u. Kinkade 1990: 45).
Diese Entwicklung erklärt zum Teil die starke Beeinflussung der Küstenkulturen
Oregons durch Kulturen des Willamette-Tales (Ross 1990: 559). Ethnologisch wer-
den die Alsea und Yaquina im allgemeinen als >Alsea-Indians< zusammengefaßt. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts noch 1700 Personen stark, wurden 1875 nur noch 117
Stammesangehörige und 1913 lediglich 5 registriert (Frachtenberg 1917: 64/Zenk
1990: 570)."
Heute gilt der kleine Stamm als ausgestorben, da keine vollblütigen Mitglieder mehr
bekannt sind und versprengte Reste 1956 der Terminationspolitik der USA zum
Opfer gefallen sein müssen (Beckham 1974,2: 116).
Neben dem an der Nordwestküste überall präsenten Lachs wurden auch andere
Fischarten gespeert und gefangen. Den Alsea waren drei große Fischfangzeiten
bekannt, im Hochsommer, im Frühherbst und im Spätherbst. Des weiteren machten
sie Jagd mit Keulen auf Seelöwen, speerten Krebse und Fische bei Ebbe in Tümpeln
und weideten gestrandete Wale aus. Jagd auf Wasservögel wurde häufig durchge-
führt, doch Landtiere, wie den Elch, erlegte man äußerst selten. Für die Jagd im Wald
wurden neben dem Bogen auch Fallgruben benutzt (Drucker 1939: 82ff./Beckham
1974,2: 114f.).
Waren Fischfang und Jagd reine Männersache, so sammelten die Frauen Meeres-
früchte sowie Beeren und Wurzeln. Eine Ausnahme bildete der wilde Tabak, der
von den Männern gepflückt und nur von ihnen in Pfeifen geraucht wurde (Drucker
1939: 89). Die Schnitzkunst der Alsea war weniger filigran und detailliert als bei
ihren nördlichen Nachbarn, doch selbständig hergestellt, wie auch ihre Lederklei-
dung und der typische Bastregenschutz. Das Boot war an der Küste unersetzlich.
Auch die Alsea erstellten einteilige Flußkanus mit Dekorationen, die von den Nach-
barstämmen geschätzt wurden. Große Meereskanus tauschten die Alsea, wie andere
81
TRIBUS 46, 1997
Stämme auch, bei den Nootka, den Spezialisten für solche Fahrzeuge, ein (Drucker
1939: 86ff./Zenk 1990; 569). In den maximal 12 Weilern der Alsea standen winter-
feste Häuser. Ihre nur mit dem Giebeldach aus dem Erdboden ragenden Konstruk-
tionen sind ein Unikum an der Nordwestküste. Man grub sie 4-5 Fuß tief in die Erde,
verschalte die Wände mit Planken oder Bastmatten und versah die Gruben mit vier
Eckpfeilern und einem Plankengiebeldach. Die Häuser waren für mehrere Familien
vorgesehen, die separate Herdstellen und Rauchabzugsöffnungen benutzten. An den
Wänden waren Schlafplattformen aufgebaut, unter denen persönlicher Besitz ver-
staut wurde.
Häufig wurden Fisch und Fleisch unter dem Dach zum Trocknen aufgehängt
(Drucker 1939: 851).
Die Winterdörfer der Alsea bestanden aus mehreren patrilinearen >residence groups<.
Jedes Dorf hatte in der Regel einen >headman<, doch konnten in größeren Dörfern
auch zwei oder drei Anführer regieren (Drucker 1939: 92/Zenk 1990: 569). Neben
der väterlichen Abstammungslinie gab es offenbar keine weitere soziale Zugehörig-
keit wie totemistische Clans oder Geheimbünde (Farrand 1901: 244).
Die Sozialorganisation weist vereinzelt Beziehungen zu den Tillamooks und den
Chinooks im Norden auf (Seaburn u. Miller 1990: 560/Zenk 1990: 568) und läßt
nach Drucker ebenfalls eine Verwandtschaft zu Stämmen im >Great Basin< und auf
dem >Plateau< vermuten. Gemeinsame Merkmale wären demnach eine relativ lose
Gesellschaftsstruktur sowie ein nur schwach ausgeprägtes Zeremonialsystem
(Drucker 1955; 203). Exogamie bestand innerhalb der engeren Verwandtschaft,
wobei diese in der Literatur nicht näher definiert wird. Im allgemeinen war Patrilo-
kalität die Regel; Der Mann hatte den Eltern seiner erwählten Frau einen hohen Preis
an Schnitzwaren oder ein Kanu zu zahlen. Im Laufe der Jahre erhielt er aber mehr
Güter von den Eltern der Frau als Geschenk zurück, so daß eine Art Ausgleich statt-
fand. Starb eine Ehefrau kinderlos, so konnte der volle Brautpreis zurückverlangt
werden. Dabei war auch eine Zahlung in Dentalia, einer Muschelwährung, möglich.
Das Gesellschaftssystem war so aufgebaut, daß erworbener Reichtum höher einge-
schätzt wurde als eine reiche Geburt. Da es keine sozialen Kasten gab, stellte Armut
auch kein Stigma dar (Drucker 1939: 90ff./Beckham 1974,2: 116).
Im Gegensatz zu vielen anderen nordamerikanischen Ethnien weist das überlieferte
Material zum Mondkalender der Alsea keine eindeutigen Anzeichen für eine religiös
motivierte Struktur auf. Die Namen der einzelnen Mondmonate bezeichnen Spiele,
die im jeweiligen Zeitraum durchgeführt wurden (Drucker 1939: 90). Da nicht genü-
gend Informationen über die Bedeutung aller Spiele vorliegen, kann nicht festgestellt
werden, ob wir es ursprünglich nur mit Kultspielen zu tun haben. Alternativ zu den
Spielmonden gab es auch eine rudimentäre wirtschaftliche Bezeichnungsweise nach
Sammel- und Jagdarten.
Die verschiedenen kleinen Hinweise auf Kulturparallelen im Großen Becken und im
Inneren Oregons lassen vermuten, daß der historische Wechsel des Lebensraumes
religionsgeschichtlich nachzuweisen ist. Neben einer Darstellung der religiösen
Ideen der Alsea soll der Versuch unternommen werden, vor allem die Mythologie des
Stammes vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Wurzeln und Einflüsse
zu analysieren.
2. Religionsethnologische Beschreibung
In Stammeskulturen fällt es schwer, eine eindeutige Trennung zwischen den Berei-
chen des Alltags und dem der Religion durchzuführen. Zwar läßt sich eine Trennung
in profane und religiöse Phänomene ziehen, doch es bleiben beide Bereiche mit-
einander verwoben (Eliade 1984: 14 f.). So vermischen sich Elemente der Religiosität
und des Profanen auch im Laufe des Lebens eines Alsea. Eine gebärende Frau erhielt
Hilfe von einer erfahrenen Mutter. An die Geburt schlossen sich für die junge Mutter
fünf Tage Abstinenz von naturbelassener Nahrung und kaltem Wasser an. Dem Neu-
geborenen rieb man Arme und Beine mit der Begründung, daß diese Prozedur zu
82
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
geradem Körperwuchs führe. Es handelt sich dabei um einen Akt des Modellierens
zum Zweck der Integration des Neugeborenen in die menschliche und damit in die
kulturelle Gemeinschaft. Die Stirn wurde mittels eines Brettchens zurückgedrückt
und deformiert. Damit sind die Alsea der südlichste Stamm, der diese Form der
Kopfdeformation durchführte. Sollten einmal Zwillinge geboren sein, so tötete man
den Zweitgeborenen, weil er im Glauben der Ethnie lediglich eine seelenlose Nach-
geburt darstellte. Fünf Tage nach der Geburt gab die Familie ein Fest, in dessen Ver-
lauf dem Säugling die Ohren und die Nasenwand durchbohrt wurden.
Während dieser Feierlichkeit erhielt das Kind seinen ersten Namen (Drucker 1939:
95 f.). Auffällig ist die fünftägige Abstinenzphase der jungen Mutter, in der sie keine
frischen Nahrungsmittel und kein kaltes Wasser zu sich nehmen durfte. Die Gemein-
samkeit liegt in der naturbelassenen Art. Weder frische Nahrung noch kaltes Wasser
sind menschlich bearbeitet oder zubereitet worden. Es handelt sich dabei in jedem
Fall um rohe Nahrung, die auf eine Zeit verweist, in der die Alsea noch keine Koch-
künste kannten. Diese Zeit ist mythisch definiert und wird wissenschaftlich als
prähumane Flux bezeichnt; sie ist durch eine Verwandtschaft von Tier und Mensch
gekennzeichnet. Tiere und Menschen besaßen in jener Zeit die gleiche Form und
Sprache. Erst mit den Schöpfungen der Kulturbringer und Verwandler änderte sich
dies. Die symbolische Ablehnung der mythischen Zeit durch die Mutter, ausgedrückt
durch ihre Abstinenzphase, ist ein Hinweis darauf, daß wir es bei der Geburt mit
einer Reaktualisierung jener kraftvollen Epoche zu tun haben, in der die Kultur-
heroen Menschen noch nicht von Tieren getrennt hatten. Der Schlüssel für die
symbolische Handlung liegt in der Geburt als solche. Während Sprache und Form
keine direkte Beziehung zu Tieren mehr zulassen, stellt die Geburt nach wie vor eine
Gemeinsamkeit aller Lebewesen dar. Das heißt, daß die Gebärende einen kraftvol-
len, schöpferischen Prozeß durchläuft, der einer Reaktualisierung jener mythischen
prähumanen Flux gleichkommt. Der vielerorts ambivalente Charakter des Religiösen
und seiner Phänomene muß hier in Form der Geburt als schöpferisch und gefahrvoll
zugleich angesehen werden: Durch die Geburt könnte die Frau dem Stamm entfrem-
det werden und damit aus dem Bereich der Kultur ausscheiden und in die prähumane
Flux zurückfallen. Die Abstinenz von roher Nahrung, die auch von Tieren aufge-
nommen wird, soll die Mutter symbolisch vor einem Rückfall in die prähumane Flux
schützen und kann als kulturelle Schutzmaßnahme angesehen werden, sozusagen als
Zaun gegen den Kulturverlust (Duerr 1978: 106 ff.).
Nach Angaben von Farrand erhielten J ugendliche zur Zeit der Pubertät ihren richtigen
Namen (Farrand 1901: 243). Bei den meisten naturnahen Völkern kennzeichnet diese
Lebensphase den Übergang in die Erwachsenenwelt (Eliade 1988: 121 f.). Neugieri-
gen Jungen wurde es erlaubt, zur Visionssuche in die Wildnis zu ziehen (Drucker
1939: 96), doch eine institutionalisierte Suche wie bei den Plainsvölkern scheint es
nicht gegeben zu haben. Um wirtschaftliches Unglück abzuwehren, bedurfte es im
Glauben der Alsea eines Erstgeschenks von Erwirtschaftetem an die Alten des Stam-
mes. So hatten Jungen ihren ersten Fisch oder ihr erstes erlegtes Wild und Mädchen
die ersten gesammelten Früchte an die Alten in ihren Haus abzugeben (Drucker 1939:
96). Während Jungen zur Visionssuche gehen konnten, mußten sich Mädchen nach
ihrer ersten Menstruation einer fünftägigen Klausur ohne Nahrungsaufnahme unter-
ziehen. Jeden Morgen wurde ein Reinigungsbad durchgeführt, und am fünften Tag
erhielt das Mädchen von einer älteren Frau Muschelschmuck ins Haar geflochten,
während das Gesicht rot gefärbt wurde. Daraufhin wurde das Mädchen weitere fünf
Tage morgens verschleiert in den Wald geführt, wo es in Abgeschiedenheit saß und
manchmal visionäre Erscheinungen hatte (Drucker 1939: 96). Der Initiationscharak-
ter dieser Prozedur wird deutlich: Die Abgeschiedenheit des Mädchens in der Wildnis,
das Verbot der Nahrungsaufnahme, das rituelle Reinigungsbad sowie der mögliche
Visionsempfang weisen eindeutig darauf hin. Nach Eliade erfüllt die Menstrua-
tionsklausur der Alsea somit den Tatbestand der individuellen Initiation (Eliade 1988:
83f.;121f.). Am Ende der ersten Phase erhielt die Initiandin eine rote Gesichts-
bemalung, die mit dem Leben und dem das Leben symbolisierenden Blut in Verbin-
dung gebracht werden kann. Die Zweiteilung der rituellen Klausur könnte ein Hinweis
83
TRIBUS 46, 1997
darauf sein, daß wir es hierbei wie so oft im nordamerikanischen Raum, mit einer
Stirb-und-Werde-Zeremonie zu tun haben (Müller 1981: 233 ff.). Demnach versinn-
bildlicht der zweite fünftägige Abschnitt die sukzessive Wiedergeburt als erwachsene
Frau. In den ersten fünf Tagen entledigt sich das Mädchen rituell alles Alten durch
Fasten und Waschen, und in den zweiten fünf Tagen erhält es den Haarschmuck, der
es als Frau kennzeichnet sowie höchstwahrscheinlich geheime Instruktionen von ihrer
Mentorin, über die nichts bekannt ist. Schon Eliade betonte die Schwierigkeiten, auf
die Ethnologen in bezug auf weibliche Initiationsrituale stießen. Die Abgeschieden-
heit der Klausur und die strikte Geschlechtertrennung in diesem Ritualtypus führten
häufig zu oberflächlichen, verallgemeinernden Äußerungen in der Literatur. Männ-
liche Ethnologen erhielten keinen Zugang zu den geheimen Teilen der Riten (Eliade
1988: 83f.).
Als letzte alle Alsea betreffende Riten soll die Bestattung erwähnt werden. Verstor-
bene wurden gereinigt und geschmückt in alten Kanus nahe dem Dorf bestattet. Die
Angehörigen unterzogen sich nach der Bestattung einer Waschung im Fluß, die ein
Schamane durchführte. Witwen und Witwer hatten eine fünf Mondmonate dauernde
Trauerzeit einzuhalten, während der sie keinen Schmuck tragen durften (Drucker
1939: 97). Die Beisetzung in Kanus wurde an der Nordwestküste häufig beobachtet.
Yarrows führt eine Reihe von Beispielen an und verweist auf den Zusammenhang
mit der Subsistenzweise (Yarrows 1988: 60ff.). Beisetzungen in Kanus erscheinen
für das Fischervolk der Alsea eine logische Konsequenz zu sein. Vielleicht gelang-
ten ihre Verstorbenen im Glauben der Angehörigen auch nur über den Wasserweg in
das >Land der Totem, über dessen Lokalisation nichts bekannt ist. Der Stamm der
Alsea kannte in historischer Zeit mindestens zwei Schamanentypen. Den Informan-
ten von Drucker und Farrand waren Schamanen mit Heilkräften gut bekannt. Diese
erlernten ihre Fähigkeiten während einer mehrjährigen Lehrzeit von erfahrenen Wür-
denträgern und durch eine intensive Schutzgeistsuche. Im Grunde konnte jeder
männliche Alsea Schamane werden. Über Frauen in dieser Funktion gibt die Litera-
tur keine Hinweise. Farrand gibt lediglich an, daß Novizen durch ein strenges Fasten
und Trainieren in der Abgeschiedenheit des Waldes zum Schamanen reifen konnten
(Farrand 1901: 245), womit er wahrscheinlich eine Visionssuche andeutet. Drucker
widmet sich diesem Thema ausgiebiger und erklärt, daß neben einer Visionserfah-
rung auch eine intensive Lehrzeit nötig war, um in die Geheimnisse schamanistischer
Praktiken einzudringen (Drucker 1939: 97ff.). Ihm zufolge waren vor allem Vögel,
Waldtiere, Gestirne, der Westwind und ein langhaariger weiblicher Waldgeist typi-
sche Schutzgeister, die sich den Novizen während ihrer Visionssuche offenbarten.
Bei den Tieren haben wir es wohl mit den verschiedenen Herren der Tierarten zu tun,
und bei dem weiblichen Waldgeist darf eine Verwandtschaft, wenn nicht Identität,
mit einer Herrin des Lebens vermutet werden. Die Alsea führten schamanistische
Kräfte vor allem auf die Schutzgeister zurück, welche die Novizen heilige Lieder,
Körperbemalungen und Heilungsmethoden lehrten. Besonders starke Schamanen
waren im Kontakt zu mehreren Schutzgeistern (Drucker 1939: 98). Nachdem der
Novize eine visionäre Erscheinung erlebt hatte, erhielt er im Traum den Auftrag,
einen öffentlichen Novizentanz aufzuführen. Es handelte sich dabei um einen eksta-
tischen Tanz mit Gesang und Trommelbegleitung. In solchen Fällen nahmen alle
Dorfbewohner teil, um den Kandidaten durch ihren Gesang zu unterstützen. Im
Laufe der folgenden Jahre wurde der Tanz Winter für Winter wiederholt, bis dem
Novizen von seinem Schutzgeist mitgeteilt wurde, daß er von nun an ein echter Scha-
mane sei (Drucker 1939: 98 f.). Diese winterlichen Kultausübungen muten trotz ihres
individuellen Charakters wie rudimentäre Schatten der weiter im Norden üblichen
Winter-Zeremonien an. Natürlich ist die Ausgangslage im Norden anders, wo, wie
bei den Kwakiutl, die Winter-Zeremonien das alljährliche Werden und Vergehen der
Natur in kollektiven Bundritualen thematisierten. Doch schon ein Blick auf das Kult-
geschehen bei den Tillamook läßt ein mögliches Bindeglied zwischen den ent-
wickelteren nördlichen Zeremonien und denen der Alsea erkennen. Die mit den
Alsea kulturverwandten Tillamook glaubten, daß die >spirits< im Winter aktiver und
den Menschen näher seien. Aus diesem Grund erneuerten ihre Schamanen alljährlich
84
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
im Januar, wohl nach der Winterwende, ihre Kräfte durch eine Winter-Zeremonie, in
deren fünf- bis zehntägigem Verlauf sie Tänze ausführten.
Das winterliche Kultgeschehen umfaßte je nach Anzahl der Stammesschamanen
eine Reihe von Tänzen und gilt als wichtigste Zeremonialreihe der Tillamook. Ihre
Bewertung als Phase der kosmischen Erneuerung unterstreicht die Verwandtschaft
mit den nördlichen Kulttypen (Seaburg u. Miller 1990: 564f.). Durch die individuelle
Ausrichtung einzelner Schamanen nähert sich diese Ritualform aber auch den Novi-
zentänzen der Alsea an, die damit über eine Reihe von Jahren ihre schamanistischen
Kräfte stärkten und erneuerten. So gesehen kann ein kontinuierliches Abflachen der
winterlichen Erneuerungszeremonien an der Nordwestküste vom kollektiven Norden
zum individuellen Süden erkannt werden. Die Novizenjahre der Alsea dienten dem
Erwerb besonderer naturheilkundlicher Verfahren und schamanistischer Tricks, wie
sie an der Nordwestküste üblich waren. Hierfür begab sich der Novize in die Obhut
eines erfahrenen Schamanen, der bereit war, sein Wissen weiterzugeben (Eliade
1975: 286). Zum Einsatz gelangte ein Schamane vor allem bei Krankheiten seiner
Stammesbrüder. Der Schamane begab sich zu seinem potentiellen Patienten und ver-
suchte mittels Tanzekstase, die von rituellen Liedern begleitet wurde, eine Diagnose
zu stellen. Erkannte er die Ursache der Erkrankung, führte er unter Umständen die
entführte Seele in dessen Körper zurück und heilte ihn durch ein rituelles Aussaugen
eines Verursachers. Hierfür hielten die Schamanen kleine Pfeile und andere Gegen-
stände bereit, um sie den Erkrankten nach der Entfernung zu präsentieren. Des Scha-
manen Gesang konzentrierte bei der Heilungszeremonie die Kräfte seines Schutz-
geistes auf den Patienten, so daß eine Heilung eingeleitet werden konnte. Sollte ein
Schamane im Verlauf seiner Ekstase feststellen, daß er nicht in der Lage war, den
Patienten zu heilen, so teilte er dies mit, und ein anderer wurde gebeten (Drucker
1939: 99f.). Der zweite angesprochene Schamanentyp war der eines Priesterscha-
manen. Angehörige dieser spirituellen Würdenträgerschaft besaßen keine Heilkräfte,
sollen aber im Besitz gefürchteter Zauberkräfte gewesen sein (Drucker 1939: lOOf.).
Den Informanten Druckers war über diese Gruppe nichts mehr bekannt, da sie bereits
lange als ausgestorben galt. Daß Schamanen ebenfalls priesterliche Funktionen und
damit eher kollektive Aufgaben wahrnahmen, ist besonders für die Nordwestküste
belegt (Eliade 1975: 286). Bei den direkt südlich der Alsea lebenden Siuslawans und
Coosans wird über diese Gruppe der Priesterschamanen berichtet, daß sie an allen
das Leben begleitenden Übergangsriten, den >rites de passages<, beteiligt waren
(Zenk 1990b: 576). Dieser Hinweis spricht für eine gesellschaftliche Bedeutung
ihrer Profession und kann als Beleg für eine mögliche gleiche Bedeutung der Prie-
sterschamanen bei den Alsea dienen, da beide Stämme kulturverwandt waren.
Die panindianische Institution der Schwitzhütte war auch den Alsea bekannt. Die
Hütte wurde in einen Berghang gegraben und mit Holzplanken abgedeckt (Drucker
1939: 86). Hier reinigten sich die Stammesangehörigen vor und nach besonderen
Aktivitäten, um mit den kosmischen Kräften in harmonischem Einklang zu leben
oder Stärkung für ein bevorstehendes Ereignis zu sammeln. Wahrscheinlich reinigten
sich Mörder ebenfalls in der Schwitzhütte, nachdem sie einen fünftägigen Ver-
söhnungstanz aufgeführt hatten, um eine Vision als Zeichen der Vergebung zu erhal-
ten (Drucker 1939: 95). Inwieweit die an der Nordwestküste üblichen First-Salmon-
Riten Bestandteil des kultischen Lebens der Alsea waren, ist umstritten. Während
einer weiblichen Informantin solche Riten unbekannt waren (Drucker 1939: 85), gab
ein Informant an, die Reste des ersten im Jahr verzehrten neuen Fisches würden in
ein großes Blatt gewickelt und erst, nachdem alle Dorfbewohner gesättigt waren, in
den Fluß geworfen (Drucker 1939: 97). Offenbar war der Ritus, der sowohl an der
Nordwestküste wie in Kalifornien bekannt war, bei den Alsea zur Zeit der Jahrhun-
dertwende nicht mehr so geläufig. Es scheint fast, als hätte es keine ausgeprägten
First-Salmon-Riten gegeben. In jüngerer ethnologischer Literatur wird allerdings
von einem schamanistischen Kult zur Sicherung der Lachsbestände und zur Erzie-
lung guter Fangerträge gesprochen (Beckham 1974,2: 116/Ruby 1986: 4).
Da sich die beiden bezeichneten Autoren ebenfalls auf die Feldnotizen Farrands,
Frachtenbergs und Druckers beziehen, stellen ihre Aussagen eher Vermutungen dar,
85
TRIBUS 46, 1997
die allerdings durch ethnologische Analogien aus anderen Kulturen der Nordwest-
küste abgesichert sind.
Als herausragende astronomische Ereignisse wurden Finsternisse angesehen. Im
Glauben des Stammes bekämpften in solchen Fällen große Raubvögel die Sonne
oder den Mond, dessen Blut während seiner Verfinsterung vom Himmel zu tropfen
drohte. Aus diesem Grund stellten die Alsea Kanus und Gefäße auf den Kopf, um
zu verhindern, daß das Blut des Mondes das Trinkwasser kontaminierte (Drucker
1939: 91).
Betrachtet man die Phänomene des Kultes bei den Alsea, fällt der Stirb-und-Werde-
Komplex, wie ihn Müller bezeichnet hat (Müller 1981: 223 ff.), deutlich ins Auge.
Die Initiationen der Pubertätszeit, das schamanistische Novizentum und auch die an
eine psychische Reinigung erinnernde Bußform der Mörder geben zu erkennen, daß
die Regeneration zumindest der individuellen Art den Kult dominiert. Rudimente
eines First-Salmon-Ritus belegen dazu eine universalistische Form der Regenera-
tion, die gesamtkosmische Bezüge aufgewiesen haben muß, wie so häufig im
nordamerikanischen Kultgeschehen (Leopold 1996). Trotz des Fehlens eindeutiger
Informationen über Kultbünde des Kwakiutl-Stils weisen die schamanistischen
Novizenweihen verwandte Elemente auf, so daß wir in ihnen eine weniger ent-
wickelte Form der Phänomene sehen können. Aus den Bemerkungen über das reli-
giöse System lassen sich bereits mehrere kulturgeschichtliche Wurzeln ablesen. Die
durchweg schwächer als in ihren Kerngebieten ausgeprägten Kulte geben zu erken-
nen, daß die Alsea in der Einflußsphäre mehrerer Großräume standen, von denen kei-
ner ihre Religion dominierte.
3. Die Mythologie
Den eher spärlichen ethnographischen Notizen Farrands und Druckers steht eine
relativ umfangreiche Mythensammlung der Alsea, die Frachtenberg und Farrand
zu verdanken ist, gegenüber. In zwei Veröffentlichungen hat Frachtenberg alle zu-
gänglichen Mythen des Stammes publiziert (Frachtenberg 1917; 1920). Aus diesem
Material sind weitere ethnologische Informationen zu beziehen, die das Bild des
Stammes ergänzen können. Heute wird den Alsea unter anderem eine mythenge-
schichtliche Verwandtschaft zu den südlich von ihnen lebenden Coosans attestiert
(Zenk 1990: 568), was sie näher an das kalifornische Kulturareal anschließt (Drucker
1955: 19). Die Bedeutung der Zahl Fünf in Mythos und Kult der Alsea verweist
auf die gesamte Pazifikküste, doch vor allem auf die kalifornischen Ethnien, deren
Einfluß in Süd- und Zentraloregon spürbar war. Frachtenberg erwähnt ebenfalls eine
sichtbare Verwandtschaft der Alsea zum kalifornischen Raum, die sich in dem
Mythenschatz zu erkennen gibt (Frachtenberg 1920: 12; 14). Darüber hinaus steht die
Mythologie der Ethnie nicht als Sonderform im Nordwesten da, weil viele Elemente
ihrer Erzählungen bei angrenzenden Stämmen im Norden ebenfalls vorhanden sind
(Frachtenberg 1920: 14/Levi-Strauss 176: 656ff.; 667ff.). Durch das Fehlen eines
primären kosmogonischen Mythos unterscheiden sich die kosmischen Vorstellungen
der Alsea von kalifornischen Stämmen, die in der Mehrzahl Schöpfungsberichte
überliefert haben (Bierhorst 1988: 111 ff.; 141). Für eine Verwandtschaft mit Stäm-
men der Nordwestküste spricht die Auflösung einer im kalifornischen Raum zwin-
gend erscheinenden Trennung zwischen einem Kulturheroen und dem Coyoten.
Während die beiden Figuren im Norden zu einer Person verschmelzen, kennen die
Alsea eine Grenzform von lockerer Polarität und zeitweiser Identität. (Frachtenberg
1920: 13) Die Mythologie kann in bezug auf diese Typen als Übergang vom kalifor-
nischen zum Nordwestküstenareal angesehen werden. Eine solche Bewertung wird
auch von der geographischen Lage des Stammesgebietes unterstützt.
Im folgenden sollen die zentralen religiösen Mythen des Stammes dargestellt und
analysiert werden. Da die Reihenfolge in Frachtenbergs umfangreicher Dokumen-
tation offenbar nicht der historischen Entwicklung der Kultur und auch nicht der
Bedeutung für die religiösen Anschauungen der Alsea entspricht, soll hier versucht
86
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
werden, ein historisches Konzept anzudeuten. Dabei spielt auch der historische
Wandel, die Verdrängung aus dem Inland, eine Rolle.
Trotz des Fehlens eines kosmogonischen Mythos sind uns einige zentrale kosmo-
logische Vorstellungen der Alsea bekannt, die darauf schließen lassen, daß es
ursprünglich eine Weltschöpfungsmythe gegeben haben könnte. Die Erde ist in der
Vorstellung des Stammes flach, und sie schwimmt im Ozean. Ihr steht ein spiegel-
gleiches Äquivalent im Himmel gegenüber, in dem ebenfalls Menschen leben, und
zwar jene, die während der großen Transformation von der prähumanen Flux zur
historischen Zeit dort weilten. Als dritte Ebene weist der Kosmos auch eine Unter-
welt auf, die als Refugium der Geister aller schlechten verstorbenen Menschen dient.
Dagegen befindet sich das sogenannte >Land der Totem, das alle positiven Elemente
und Zustände des Lebens aufweist, auf der Erde. Dort gibt es z. B. ausreichend Lachs
und niemals Regen (Farrand 1901: 240L). Eine geographische Zuordnung konnte
Farrand für dieses Totenland offenbar nicht in Erfahrung bringen. Angesichts der
Bestattungen in Kanus kann aber für wahrscheinlich gehalten werden, daß dieses
Land im Westen zu suchen ist und als hinter dem Horizont des pazifischen Ozean
gedacht wurde. Unter Umständen stand der Untergang der Sonne, der vielerorts als
Tod derselben interpretiert wurde, bei der Lokalisation des Totenreiches Pate.
Obwohl das Totenland nicht im Himmel liegt, korreliert das dreigeteilte Universum
mit Unterwelt, Erde und Himmel mit schamanistischen Vorstellungen, was zu den
Kultspezialisten der Ethnie paßt. In dem skizzierten Kosmos spielt sich ein viel-
schichtiges mythisches Geschehen ab, dessen zentrale Handlungen in die Zeit der
Prähumanen Flux fallen, eine Zeit, in der die kulturelle und biologische Grenze zwi-
schen Tieren und Menschen noch nicht gezogen war.
Im Mythos >The man who married a Bear-Womam geht es um die Suche zweier Brüder
nach Lachsen, die offenbar ausgeblieben waren. Die beiden wanderten flußaufwärts
und entdeckten alsbald vereinzelt alte Lachse auf Sandbänken. Eine Bärenspur führt
sie weiter, und je frischer diese Spuren werden, desto mehr Lachse entdecken sie.
Schließlich entdecken sie einen mächtigen Lachsschwarm, bei der ein Bär im
Wasser steht. Der ältere Bruder beschließt, ihn aufzusuchen, und erkennt in ihm
ein weibliches Wesen, das sich vor seinen Augen in ein schönes Mädchen verwandelt.
Es bittet ihn, es zu heiraten, wozu er nach anfänglichem Zögern bereit ist. Die Ehe
wird glücklich und kinderreich, während der jüngere Bruder weinend ins Dorf zu-
rückkehrt. Nachdem er berichtet hat, was ihnen widerfuhr, machen sich die Bewohner
am nächsten Tag auf den Weg, den älteren Bruder zu suchen. Aus Angst vor der Bärin,
die im Ruf steht, Menschen zu fangen, kehren sie jedoch um, beschließen aber von nun
an, an den älteren Bruder zu denken (Frachtenberg 1920: 185 ff.).
Dieser Mythos, von dem Frachtenberg glaubt, daß er abrupt endet, könnte ein uralter
Mythos von einer Herrin des Lebens sein. In einer offensichtlichen Hungersnot
beschläft der Protagonist des Mythos die Bärin, die im Besitz der wichtigen Lachse
zu sein scheint. Die glückliche Ehe der beiden führt dann wahrscheinlich zu einer
besseren Versorgungslage des Stammes. Da die Suche der Brüder flußaufwärts er-
folgt, darf angenommen werden, daß die Alsea zur Zeit der Entstehung des Mythos
keine ausreichenden Vorstellungen vom Meer hatten, um die Quelle der Lachse dort
zu suchen. Folglich kann der Mythos nur im Inland entstanden sein, in einem Raum,
in dem die Laichplätze mit dem Ursprung der Lachse identisch waren. Der Hinweis,
nunmehr immer an den verlorenen älteren Bruder zu denken, kann als Ursprung
eines Kultes, etwa des First-Salmon-Ritus, interpretiert werden, der von den Scha-
manen des Stammes durchgeführt wurde. Die rudimentäre Überlieferung des Ge-
schehens muß in der Unkenntnis des Erzählers zu suchen seien, der offenbar wenig
Einblick in seine schwindende Kultur hatte.
So ist es denkbar, daß ursprünglich eine reichere Ausschmückung des Themas vor-
handen war, aus der mehr über das Wesen der Bärin als Herrin der Tiere oder des
Lebens zu erfahren gewesen wäre. Daß Bären häufig die Rolle eines Herren der Tiere
innehatten, ist ein wichtiges Argument bei der Interpretation dieses Mythos. Dabei
spielen offenbar seine Stärke und die Tatsache, daß sein Leben dem jährlichen Kreis-
lauf von Leben, Tod und Wiederkehr entspricht, eine besondere Rolle. Durch seinen
TRIBUS 46, 1997
Winterschlaf kommt er der winterlichen Starre nahe, und mit seinem Erwachen im
Frühjahr folgt er der allgemeinen Wiederbelebung. Die Analogie seines Rhythmus
zum Rhythmus des Lebens bringt ihm die Stellung eines Herren der Tiere oder Her-
ren des Lebens ein, häufig in weiblicher Form, da das Weibliche neues Leben gebiert.
Im Mythos >Monster-Girl of the Woods< wird von einer Frau gesprochen, die eben-
falls flußabwärts im Wald lebt. Sie gilt als äußerst gefährlich, da sie Menschen raubt,
so daß jeder Angst vor ihr hat. Wer rote Heidelbeeren ißt, so wird berichtet, der ver-
gißt seine Vorsicht und geht unbekümmert in den Wald, wo er unweigerlich von der
Frau entführt wird. Sie hatte dereinst die Heidelbeeren erschaffen und mit ihrer Kraft
ausgestattet. Deshalb verzehren die Menschen diese Früchte nicht. Des Nachts hört
man die furchterregende Frau manchmal sprechen, und wer sie hört, wendet einen
Abwehrzauber an, indem er sagt: »Du bist nichts; dein Name ist Asin (>wohnt
flußaufwärts<), du sollst im Wald bleiben.« Wer von ihr träumt, berichtet der Mythos,
wird zu einem bösartigen Medizinmann, der von seiner Patronin lernt, Krankheiten
zu verursachen. Doch immer wenn ein Mensch stirbt, so endet die Erzählung, weint
die Frau (Frachtenberg 1920: 225 ff.).
Das Monster-Girl der Wälder scheint in erster Linie negativ besetzt zu sein. Einige
Hinweise, wie über ihren Wohnort flußaufwärts im Wald sowie über ihr Unwesen,
Menschen zu fangen, geben zu bedenken, ob wir es bei ihr nicht mit der gleichen
mythischen Gestalt wie in dem Mythos mit der Bärenfrau zu tun haben.
Der Mythos vom Monster-Girl, der nach Frachtenberg eine Entlehnung aus der
Mythologie der Coosan sein könnte (Frachtenberg 1920: 224), kann als negative
Umformung des Alsea-Mythos von der Bärenfrau interpretiert werden, wenn man
sich vor Augen hält, daß positive Mythologeme wohl dämonisiert, negative dagegen
nicht so leicht aufgewertet werden können. Im Falle einer Dämonisierung der Bärin
zum Monster-Girl wäre die Aussage, die Frau würde beim Tod eines Menschen wei-
nen, ein Rudiment der älteren Version. Dieses Rudiment ist ein Indiz für eine ehedem
lebensspendende Funktion, die sie als Herrin des Lebens oder der Tiere innehatte.
Vielleicht wurde ihre Bedeutung beschnitten und ihre Person verdrängt. Möglicher-
weise spielt dabei der Transformer eine führende Rolle, der überall sichtbar in der
Gestaltung der Welt tätig war. Ursachen für eine solche mythologisch-ideologische
Umformung können in der Geschichte der Alsea entdeckt werden. Ihre Verdrängung
aus dem Inland Oregons zur Küste hatte die Subsistenzgrundlage entscheidend
verändert. Neben dem auch im Inland präsenten Lachs spielte das Meer nun eine
bedeutende Rolle im Dasein der jungen Küstenethnie, so daß alte Mythologeme an
Relevanz verloren und im Zuge dessen evtl, dämonisiert wurden. Die patrilokale
Gesellschaftsstruktur während der historischen Küstenzeit kann ebenfalls zur Dämo-
nisierung dieser weiblichen Gestalt beigetragen haben.
Ein weiterer Mythos aus der Zeit der Prähumanen Flux ist >Wind Woman and her
Childrem. Die fünf Kinder einer alten Frau (vier Söhne, eine Tochter) beschließen,
die Welt zu erkunden und in der Fremde zu spielen und zu tanzen. An fünf aufeinan-
derfolgenden Abenden spielen sie mit fremden Völkern Shinny. An den ersten
beiden Abenden gelingt ihnen jeweils ein klarer Sieg. Bei den anschließenden Tanz-
veranstaltungen warnt das Mädchen ihre Brüder vor Intrigen, so daß sie noch recht-
zeitig entkommen können. Das Geschehen wiederholt sich, doch schon am dritten
Spielabend läßt der Sieg lange auf sich warten, und beim vierten Spiel gelingt der
Sieg erst nach vielen Schwierigkeiten.
Mit knapper Not entkommen die Geschwister aus der langsam vereisenden Tanz-
hütte. Der fünfte Spielabend sieht den Sieg der Brüder erst spät in der Nacht, und
während des Tanzes verwandelt sich die Hütte in einen Felsen, aus dem sie nicht
mehr entweichen können. Mittels eines magischen Stockes entkommt das Mädchen,
das Hilfe von ihrer Mutter holt. Auf ihrer Reise nach Hause wird sie von allen fünf
besiegten Völkern verhöhnt. Ein gleiches passiert ihr und der sie begleitenden Mutter
auf der anschließenden Reise zum magischen Felsen, in dem die vier Brüder gefan-
gen sind. Die alte Frau umkreist den Felsen und berührt ihn an den Kardinalpunkten
und an der Spitze mit ihrem Zauberstock. Nach einem Kreistanz um den Felsen öff-
net sich dieser, und ihre Söhne werden befreit. Während der gemeinsamen Rückreise
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
vernichtet die Mutter alle fünf überraschten Völker, wohl durch Erdbeben. Darauf-
hin verwandelt sie sich in einen Zyklon und fährt aufs Meer hinaus. Ihre vier Söhne
werden zu den Kardinalwinden (Frachtenberg 1920: 23 ff.).
Der Mythos scheint wegen der Erwähnung des Meeres und des Zyklones jüngeren Da-
tums als die Erzählung von der Bärenfrau zu sein. Die in vielen Mythen der Nord-
westküste als Rahmen oder gesellschaftliches Beiwerk beschriebenen Spiele erweisen
sich hier durch die Bedeutung der schwindenden Siegchancen als zentraler Gedanke
der Handlung. Analog zu den spielerischen Schwierigkeiten wachsen die Gefahren für
die Brüder, die schließlich in der Gefangenschaft im magischen Felsen gipfeln. Da
dem Spielkalender der Alsea zufolge Shinny als typisches Frühjahrsspiel angesehen
werden kann, ist es denkbar, daß das Spiel im vorliegenden Mythos eine Metapher für
den Frühling und seine lebenserneuernden Kräfte ist. Das abnehmende Spielglück der
vier Brüder kann demnach als Lauf der Jahreszeiten interpretiert werden und als Bild
der nachlassenden Lebenskraft von Herbst und Winter gelten. Dem schmelzbaren Eis-
haus konnten die Brüder noch entkommen und damit den rhythmischen Sieg des Früh-
jahrs über den Winter erklären, doch dem Felsen, einem Symbol der Ewigkeit, entka-
men sie nur durch die Hilfe Wind-Womans, wohl einer Personifikation der Erdmutter.
Im Felsen darf in diesem Fall das Prinzip des ewig wiederkehrenden Winters gese-
hen werden, der zwar im Frühjahr abgelöst oder symbolisch besiegt wird, der aber
nicht für immer überwunden wird, da seine Rückkehr im Rhythmus des Lebens ver-
ankert ist. Es ist möglich, daß sich der Mythos unter dem Einfluß der Erzählung von
den fünf Donnerern an der Küste gewandelt hat. Die Strukturzahl scheint aufgesetzt
zu sein, da die an der Nordwestküste üblichen fünf Brüder hier lediglich zu viert
agieren, unterstützt von einer Schwester, die zum Ende der Handlung nicht nur
bedeutungslos, sondern vergessen wird. Auch Frachtenberg ist der Ansicht, daß bei
den Alsea-Mythen mit fünf Donnerern Salish-Konzepte Pate gestanden haben könn-
ten (Frachtenberg 1920: 90), so daß eine Umwandlung des Wind-Woman-Mythos
ebenfalls in den Bereich der Wahrscheinlichkeit fällt. Ursprünglich mag das mythi-
sche Geschehen lediglich vier Brüder gekannt haben, die bis heute ihren kosmischen
Charakter (Kardinalwinde) behalten haben. So stellt sich die Erzählung von Wind-
Woman als eine versteckte Regenerationsmythe dar, deren Tragweite den gesamten
Kosmos umfaßt, da die vier die Richtungen symbolisierenden Brüder vom Winter
gefangen gehalten werden bis die Erdmutter sie mit kosmischen Tänzen befreit, d. h.
sie zu neuem Leben erweckt.
Der historische Wandel läßt sich auch an weiteren Mythen ablesen. In >The Universal
Change< veranlaßt Coyote eine Zusammenkunft aller Völker, um für sein Volk Nah-
rungstiere auszuwählen. Während der Versammlung werden trickreich Shinny und
Shooting the Target gespielt, und es wird ausdauernd getanzt. Anschließend versucht
Coyote herauszufinden, zu welchem Tier ein Geweih passen würde. Diverse Vier-
beiner und Vögel erhalten das Geweih zur Probe, doch Coyote erkennt, daß es nicht
für sie bestimmt ist. Er weist ihnen daraufhin ihre natürliche Gestalt und Funktion zu
und erkennt die letzten beiden Tierarten, Elche und Hirsche, als Geweihträger an.
Parallel dazu erhalten diese Tiere die Bezeichnung >Nahrung< und >schlanke Nah-
rung< (Frachtenberg 1920; 35 ff.).
Dieser auf den ersten Blick rein ätiologisch anmutende Mythos weist jedoch eine
religiös-kulturelle Tiefe auf, die ihn als eine Reminiszenz auf die Hochwildjagd in
früherer Zeit ausgibt. Auffällig ist, daß der Lachs nicht erwähnt wird. Damit kann
diese Überlieferung als relativ alt angesehen und die Entstehung in eine Zeit zurück-
datiert werden, in der die Alsea noch im Inland, evtl, im Willamette-Tal, lebten, in
der rezente Stämme in historischer Zeit hauptsächlich von der Jagd auf Elche lebten.
Trotz der Verlagerung des Lebensraumes an die Küste veränderte sich die Struktur
des mythischen Geschehens nicht, mit einer prähumanen Flux, aus der die histori-
schen Lebensbedingungen erschaffen wurden. Auch der zweite Mythos des Wandels,
>The Transformer<, thematisiert die Gestaltung der Alsea-Umwelt aus der prähu-
manen Flux. In dieser bemerkenswert inhaltsreichen Erzählung, die Frachtenberg
Farrand verdankt, wird der Einfluß der beiden Küstenprovinzen Kalifornien und
Nordwestküste deutlich sichtbar.
89
TRIBUS 46, 1997
Suku, Biber und Schwarzbär leben zusammen. Zwei Söhne Sukus machen sich auf
die Suche nach anderen Lebewesen und stehlen in einem fremden Dorf einen gehü-
teten Spielball von einer alten Frau. Auf der Flucht wird der ältere Bruder getötet,
doch der jüngere entkommt dank magischer Kräfte. Die Fremden geben seine Ver-
folgung auf, schneiden dem Getöteten den Kopf ab und beginnen im Dorf einen
Tanz. Suku gelangt über einen Fluß in das Dorf der Fremden und rettet den Kopf sei-
nes Sohnes, den er zuhause ins Leben zurückbringt. Auf seiner Flucht wird Suku vor
allem von Coyote bedrängt. Es erfolgt die Trennung Sukus von Biber und Schwarz-
bär, die ihre natürlichen Lebensräume zugewiesen bekommen, und Suku macht sich
mit einem Sohn auf eine Reise in die Welt. Unter Fremden heiratet Sukus Sohn zwei
Frauen, die ihm zwei Söhne gebären. Suku versucht, seine Schwiegertöchter zu
beschlafen, wird aber von seinem Sohn daran gehindert. Dieser besteigt im weiteren
Verlauf einen Baum, um einen Vogel für seine Söhne zu fangen, doch der Baum
wächst mit ihm in den Himmel.
Dort angelangt trifft er fünf Brüder, die ihn in einer magischen Walhaut zurück
auf die Erde bringen. Hier muß er feststellen, daß sein Vater erneut seine Frauen
bedrängt. Suku wird daraufhin in die Walhaut eingeschlossen und ins Meer gewor-
fen. Als Wal durchstreift er die Ozeane, sorgt für regelmäßiges Erscheinen dieser
Tiere an der Küste und steigt an Land, um für die Lachse, andere Tiere und Jagd- und
Fangmethoden zu sorgen: er verwandelt die prähumane Flux in die historische Land-
schaft (Frachtenberg 1920: 67 ff.).
Als Verwandler fungiert hier Suku, der zumindest auf seiner Flucht aus dem fremden
Dorf von Coyote bedrängt wird. Hieraus kann man eine Rivalität der beiden mythi-
schen Gestalten ableiten, deren negativer Pol bei Coyote liegt. Im vorangegangenen
Mythos noch als Verwandler und damit als kulturschaffendes Wesen aktiv, fällt ihm
in >The Transformen die Rolle des Antagonisten zu. Dies wird um so deutlicher,
wenn man den Diebstahl des Spielballes als symbolische Umgestaltung des Mytho-
logems vom Diebstahl des Feuers interpretiert, eine gerade im Küstenbereich geläu-
fige Erzählung, die sich um Trickster- und Verwandlerfiguren rankt und als kultur-
fördernd gilt.
Neben der Abwertung Coyotes bietet der Mythos weitere Themen, die im Küsten-
bereich häufiger auftreten. Die magische Flucht Sukus Sohnes mit dem gestohlenen
Ball ist ein Beispiel für die hohe Wertschätzung der Zahl Fünf:
»Now after five attempts he was not yet overtaken, for he had jumped into the water
once more. And now when (the place) was reached where he had jumped into the
water, then in vain he was looked for.« (Frachtenberg 1920: 71)
Aus der Bedeutung, der hier der Strukturzahl Fünf zukommt, erkennt man evtl, den
Einfluß der Küstenkulturen und damit, daß der Mythos jünger als das Verwandlerge-
schehen um Coyote sein könnte. Als Eigenart der magischen Flucht wird das Ent-
kommen des Helden erst im letzten Augenblick gesichert, quasi nach dem Erreichen
der vollständigen Zeiteinheit, deren Struktur die fünf Wiederholungen sind (Eliade
1961: 150 f.).
Die Zahl Fünf spielt an der pazifischen Küste eine herausragende Rolle und kann
als heilige Zahl angesehen werden. Es ist möglich, daß die prähistorischen Penuti-
Ethnien Oregons ursprünglich die Vier präferierten, da der Großteil ihrer zentralka-
lifornischen Verwandten, die Maidu, Miwok etc., dieser Zahl eine rituelle Bedeutung
beimaßen, obwohl diese Stämme von Gruppen umgeben waren, die die Zahl Fünf als
heilig erachteten (Kroeber 1976; 876f.). Ein schamanistisches Element der Erzäh-
lung ist der Aufstieg in den Himmel, über einen wachsenden Baum:
»So, indeed, he went toward it where that (bird) was perching (on a twig). As he was
about to catch it it moved up a little higher. Then he climbed after it, but again it
moved higher up as before. Then again he went after it in spite of the fact that it was
Suku who caused (the bird) to go (up thus). Now the tree kept on growing taller. And
not long (afterward) the man looked down again, (when) he saw (that) he was already
high up. So he could not do anything for himself. And (it was) not long before the
tree reached high up and went through the sky. Now the bird reached the sky first and
the man came next. Then the tree began to contract downward, while Suku was
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
crying all the while, >The tree moved up to the sky with my son<.« (Frachtenberg
1920: 77 ff.)
Die Trinität von Vogel, Baum und Himmelfahrt gibt Aufschluß über die wahrschein-
liche Bedeutung des Geschehens. Es handelt sich um eine Auffahrt in den Himmel
zur Erlangung schamanistischer Kräfte (Eliade 1975: 143ff.; 157ff.). Tatsächlich
trifft Sukus Sohn im Himmel auf fünf Brüder, wohl Manifestationen der an der Küste
bekannten fünf Donnerer, die ihm die magische Walhaut schenken, mit der er nicht
nur zurück zur Erde gelangt, sondern mit der er auch seinen eifersüchtigen Vater ver-
wandeln kann. Suku soll hier durch sein kulturschädigendes Verhalten gegenüber
seinem Sohn und dessen Frauen zum Übeltäter gestempelt werden.
Seine Verwandlung in einen Wal kommt damit einer Monstervernichtung nahe, wie sie
z.B. bei den Südathapasken erzählt wird (Zolbrod 1988: 173ff.). Der besprochene
Komplex der Auffahrt scheint jedoch umgeformt oder aus Gründen der Integration des
Themas bearbeitet worden zu sein, da Suku den Baum mit seinem Sohn zum Wachsen
bringt. Diese Tat widerspricht der Aussage, Suku würde über das Verschwinden seines
Sohnes weinen. Verwandler und Trickster sind im allgemeinen ambivalente Wesen,
und ihre Bewertung kann innerhalb eines Mythos von quasi-göttlich zu dämonisch
wechseln, in diesem Fall steht die Auffahrt jedoch für eine schamanistische Himmel-
fahrt, so daß es eher unwahrscheinlich ist, daß sie durch eine Straftat ausgelöst wurde.
Die Vorteile und Errungenschaften, die aus der Auffahrt herrühren, sind in jedem Fall
kulturfördernd und geben Sukus Sohn ebenfalls Verwandlerqualitäten. Dieser scha-
manistische Aufstieg findet idealiter im Weltzentrum statt, so daß der Baum zur axis
mundi wird, der Achse, die die drei Sphären des Alsea-Universums miteinander ver-
bindet (Eliade 1986: 46ff./Eliade 1988: 137ff.). Dem Vogel kommt in dieser kom-
plexen Symbolik die Funktion eines Seelenartigen zu. Der Aufstieg des Helden wird
durch das Motiv des Vogels zu einer ekstatischen Auffahrt in den Himmel, in der er
seiner aus dem Körper herausgetragenen Seele folgt.
Der Verwandler Suku sorgt im weiteren Verlauf des Mythos für Nahrungsressourcen,
die eindeutig dem Kulturraum des Meeres zuzuordnen sind;
»Then, indeed, the whale began to go toward the shore, and when he arrived inland,
(suku) stepped out from inside the whale. And after he arrived at the shore he sent
the whale back into the sea, saying: >Thou will just travel in the ocean, only (once)
every year wilt thou usually come ashore, so that the people (may) eat.« (Frachten-
berg 1920: 81 ff.)
Die Bedeutung des Wales ist für die Subsistenz der Alsea eher gering einzuschätzen.
Sukus Tat ist im Zusammenhang mit der Sicherung der jährlichen Lachsströme und
der Erfindung diesbezüglicher Fangmethoden aber als Hinweis auf die Entstehung
des Mythos in einer Zeit, die nach der Verdrängung aus dem Inland Oregons liegt,
anzusehen.
Es fällt nicht leicht, allen Mythologemen der Erzählung das gleiche Alter zu attestie-
ren. Einige Themen, wie die Erschaffung der Nahrungstiere, sind offenbar Umgestal-
tungen älterer Mythen. Vielleicht kann man die Trennung Sukus von seinen beiden
Freunden, dem Biber und dem Schwarzbär, als Metapher für eine geschichtlich veri-
fizierbare Trennung der Proto-Alsea aus dem Inland interpretieren. Die Ambivalenz
Sukus wird noch weiter gesteigert durch seinen Verzehr von roten Beeren, die wir im
Mythos vom Monster-Girl als negativ und zauberkräftig kennengelernt haben:
»Then not long (afterward) he became hungry; whereupon he said: >1 wonder what
shall I eat now? Verily I will first eat kinnikinnic berries.< So he looked around, and
the ground just seemed to be red with kinnikinnic berries. Then he knelt down and
began to munch for a long time. But he did not feel satiated (even) a little, whereupon
he said: >Why is it that 1, on my part, am not getting enough?< So he looked back, and
the kinnikinnic berries merely appeared red right behind him, because (they) just
went through him.« (Frachtenberg 1920: 83)
Suku stellt sich damit in die Nähe der Hexerei und gibt so sein schöpferisches Tun
zumindest als gefährlich zu erkennen.
Levi-Strauss benutzte den Mythos vom Verwandler für seine Theorie, wonach es
einen amerikanischen Basismythos gibt, der sich unterschiedlich differenziert hat.
91
V
TRIBUS 46, 1997
Die Alsea-Version stellt nach seiner Ansicht eine schwache Variante des Vogel-
nestausheberthemas dar, in dem es in symbolischer Form um den Ursprung von
Nahrung und Kochen geht, zentrale Aspekte der menschlichen Kultur (Levi-Strauss
1976; 667ff.). Seine Analyse besticht auch in diesem Fall durch das Aufzeigen ver-
steckter Interdependenzen und bipolarer Gleichgewichte. Demnach ist gebratener
Lachs verdaulich, rohe Beeren dagegen nicht.
Der vorstehende Transformer-Mythos gehört in den Zyklus der Suku- oder Shiok-
Mythen, wie Farrand den Namen überliefert (Farrand 1901: 245). Offensichtlich hat
Farrand seinerzeit von umfangreicheren Mythen, die sich um diese Gestalt ranken,
gehört, denn er erwähnt, daß der gesamte Zyklus den Erzählmonat Januar ausfüllte.
Ihm zufolge durften diese Erzählungen nur im ersten Mond nach der Wintersonnen-
wende vorgetragen werden, und zwar als fortlaufende Serie in den Nächten (Farrand
1901: 246): Die winterliche Erzählphase erscheint durch ihre rhythmische Wieder-
kehr und den festen zeitlichen Rahmen als kultisches Geschehen. Da es sich bei den
Suku-Mythen um schöpferische Erzählungen handelt, kann die Rezitation als Form
der Welterneuerung interpretiert werden, die das neue Jahr einleitet. Daß es sich
bei Shiok und Suku um die gleiche Gestalt handelt, wird aus Farrands Beschreibun-
gen des Charakters Shioks deutlich. Er gilt als ambivalent, ist nicht ausschließlich
Verwandler, sondern auch Trickster und Schöpfer. Bevor er seine schöpferische Ver-
wandlung beginnt, tötet Shiok Farrand zufolge viele Monster, die das Leben der
anderen Wesen beträchtlich gefährden. Im Anschluß an seine kulturfördernden Taten
und die Verwandlung bestimmter Wesen in Menschen, entschwindet er im Himmel
und bekommt den Namen >Diewit<, was mit Schöpfer übersetzt werden kann. Dieser
Begriff befindet sich gleichfalls im Vokabular Frachtenbergs und sichert damit
Farrands Notizen ab (Farrand 1901: 242/Frachtenberg 1920: 296). Da Diewit zwar
verehrt wird, aber keinem eigenen Kult zugeordnet werden kann, muß man ihn als
eine Form des >deus otiosus< betrachten, als eine in unerreichbare Ferne gerückte
göttliche Gestalt. Diese Interpretation scheint jedoch der Bedeutung Sukus oder
Shioks zu widersprechen. Die Rezitation seiner Taten im Januar spricht eher gegen
eine Verschmelzung Sukus und Diewits. Es ist durchaus möglich, daß die Diewit-
Vorstellungen von kalifornischen Schöpfergestalten beeinflußt worden sind, die sol-
che Formen annehmen.
Als letzter Mythos soll die historische Herkunftssage der Alsea dargestellt werden.
Der Mythos mit dem Titel >Origin of Yakonan and Siuslawan Tribes< stellt den
Stamm der Alsea in ein intertribales Bezugssystem:
Lange nach der Erschaffung der Welt versammeln sich alle Menschen vor ihrem
Schöpfer, der ihnen erklärt, daß es zu viele Menschen an einem Ort gibt. Er erteilt
ihnen deshalb den Auftrag, sich paarweise (männlich-weiblich) in alle Richtungen zu
verstreuen. Den Alsea und Yakwina gibt er die gleiche Sprache mit auf den Weg, die
auch den Siuslawan geläufig sein soll. Im weiteren Verlauf schenkt er den Völkern
Nahrung und sichert deren Erhalt zu. Nachdem die Alsea ihren ihnen zugewiesenen
Lebensraum erreicht haben, träumt ein alter Mann, daß ein großer Regen kommen
wird, der die Welt vernichtet. Der Mann beginnt eine Reihe von Kulttänzen zur
Sicherung des Gleichgewichts von naß und trocken, doch schließlich steigt der
Ozean über seine Ufer, und die große Flut beginnt (Frachtenberg 1920: 109ff.). Das
Ende der Überlieferung ist eher ein Abbruch denn ein vollendeter Schluß, doch es
lassen sich kulturelle Wurzeln in dem Mythos ausmachen. Da von Menschen die
Rede ist, fällt das Geschehen in die Zeit nach der Verwandlung der prähumanen Flux.
Hinter der Gestalt des Schöpfers vermutet Frachtenberg Maidu-Einflüsse aus Kali-
fornien. Da die Maidu ebenfalls zur Sprachfamilie der Penuti gehören und da sie
zusammen mit anderen nord- und zentralkalifornischen Ethnien ähnliche Schöpfer-
vorstellungen haben, liegt Frachtenbergs Ansicht im Bereich des Möglichen. Das
insgesamt christlich anmutende Geschehen des Mythos, mit dem Vermehrungsauf-
trag an die Paare und der großen Flut könnte von spanischen Missionaren in Kali-
fornien beeinflußt und in native Bildsprache verkleidet nach Oregon gelangt sein.
Eine abschließende Bewertung mag ich aber nicht darüber abgeben, da sehr häufig
indigene Mythologeme christlichen ähneln, aber eigenständige Entwicklungen sind.
92
Leopold: Kultur- und religionsgeschichtliche Bemerkungen zu den Alsea
Symbolische Welterfahrung wählt oft gleiche oder ähnliche Bilder für die Realitäts-
bewältigung, was uns voreilig auf Verwandtschaft oder Akkulturation schließen läßt.
In jedem Fall scheint der Mythos in einer späten Phase entstanden zu sein, in der die
historischen Beziehungen der Alsea mit den Yakwina und Siuslawan zum einen und
zwischen diesen und Nordkaliforniern und den nördlichen Salish zum anderen
bereits existiert haben.
Die Mythologie der Alsea stellt sich demnach als ein Spiegel ihrer historischen
Entwicklungen und Wanderungen dar und weist neben den Symbolen der nordwest-
pazifischen Küstenvölker ebenfalls Spuren einer älteren Inlandphase auf. Gerade an
Oregons Küste, einer Nahtstelle zwischen den dominanten Kulturen der Nordwestkü-
ste und Kaliforniens, verbinden sich verschiedene Mythologeme unterschiedlicher
Kulturräume in der Mythologie ihrer Bewohner, so daß die Alsea schon früh in den
Strom multikultureller Beeinflussung gerieten. Ihre mythischen Konzepte können als
Ergebnis dynamischer Prozesse angesehen werden, die durch Migration und Anpas-
sung eingeleitet wurden. Am Rande der vielschichtigen Assimilierung entstanden
Dämonisierungen von Ideen und Gestalten, die in das vorherrschende Gefüge nicht
mehr zu integrieren waren. Ein Beispiel können wir wahrscheinlich in der Um-
gestaltung der Bärenfrau in das Monster-Girl des Waldes sehen. Die Transformer-
Erzählungen, die sich um die Nahrungstiere ranken, weisen ebenfalls Umgestaltungen
auf, die auf den veränderten Lebensraum und seine Anforderungen an die Menschen
zurückzuführen sind.
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94
PETER M. ROESE
Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Einleitung
Eines der markantesten Ereignisse in der langen Geschichte des ehemaligen König-
reiches Benin stellt der Angriff der Igala, zusammen mit deren Verbündeten, den
Idoma, zu Beginn des 16. Jh. dar. Die Feinde stießen, offenbar ohne großen Wider-
stand anzutreffen, bis nach Benin City vor. Erst vor den Toren ihrer Hauptstadt
gelang es den Edo schließlich, den Angriff abzuwehren und die Feinde in die Flucht
zu schlagen. Eine prominente Rolle spielten ganz offensichtlich einige Portugiesen,
die Esigie, den regierenden Monarchen, während des Krieges begleiteten. Der Ein-
satz ihrer, bis zu diesem Zeitpunkt weder den Igala noch den Edo bekannten Feuer-
waffen, ermöglichte ganz offensichtlich den entscheidenden Anstoß zum Sieg Be-
nins über Idah. Sowohl die zeitgenössischen portugiesischen Unterlagen als auch die
lokalen Überlieferungen enthalten ausreichend Material, um eine Analyse der aus-
lösenden Faktoren, die zu diesem Krieg führten, und der militärischen Operationen
vorzunehmen.
Introductory
One of the most prominent events during the long history of the former Benin King-
dom was the invasion by the Igala, together with their allies, the Idoma, at the begin-
ning of the 16th Century. The enemies advanced, obviously without meeting much
resistance, up to Benin City. Only at the very gates of their capital city were the Edo
able to halt the onslaught and drive back the enemies. Some Portuguese accompany-
ing the then ruling monarch, Esigie, were obviously involved in the war. The use of
their firearms, until then not known to either the Igala or the Edo, allowed the Edo to
vanquish the invaders. Contemporary Portuguese sources and local oral traditions
contain sufficient material to attempt an analysis of this war and its military opera-
tions.
Das Königreich Benin vom Ende des 15. bis zu Beginn des 16. Jh.
Mit Oba Ewuare (ab etwa Mitte des 15. Jh.), der den Ehrentitel »der Große« erhielt,
begann das goldene Zeitalter Benins. Die durch ihn eingeleiteten Vorstöße nach den
Handelszentren des von Yoruba bewohnten Ekitilandes, ermöglichten Benin den
Zugang zu den Märkten des Nordens, die ihre Waren über den Trans-Sahara-Handel
erhielten. Dies war auch der Grund dafür, daß die Edo weder wirtschaftlich, und
damit eventuell auch politisch, von den Europäern abhängig wurden.
Als nächster mögliche Herrscher wäre Ezoti zu nennen. Allerdings ist fraglich, ob er
tatsächlich den Thron bestieg, denn er soll während der Krönungsfeierlichkeiten
ermordet worden sein. Ihm folgte Olua, dessen Herrschaft insofern bemerkenswert
ist, da sein Sohn nach Süden zog und Herrscher der an der Küste lebenden Itsekiri
wurde. Die Itsekiri verblieben dann bis etwa Mitte des 17. Jh. unter der Herrschaft
Benins.
Mit Ozolua (»der Eroberer«) tritt dann gegen Ende des 15. Jh. die nächste bemer-
kenswerte Herrschergestalt auf. Ozolua erweiterte die Herrschaft Benins erheblich,
indem er weiter nach Nordwesten und Westen vorstieß.
95
TR1BUS 46, 1997
Einiges deutet darauf hin, daß bereits unter Ewuare Kontakt mit dem Portugiesen
aufgenommen wurde. Es ist bekannt, daß Ruy de Sequeira 1472 an der Küste weilte.
Sehr wahrscheinlich war Ozolua jener Herrscher, den der Portugiese Joao d’Aveiro
1485 oder 86 bei seinem Besuch in Benin City antraf.
Der rechtmäßige Nachfolger Ozoluas war Aruanran, ein Mann von gigantischer
Gestalt. Das Recht auf den Thron wurde ihm jedoch durch seinen nur wenige Stun-
den später geborenen Bruder Esigie streitig gemacht. Nach dem Tode des Vaters kam
es zu blutigen Auseinandersetzungen. Esigie konnte schließlich durch List den Thron
für sich sichern. Nach diesen dramatischen Ereignissen folgte der Angriff der Igala
und Idoma, der auf den folgenden Seiten analysiert wird. Esigie konnte auf eine
lange Regentschaft zurückblicken, bis er schließlich um die Mitte des 16. Jh. ver-
starb.
Die Igala
Das Siedlungsgebiet der Igala liegt unterhalb der Mündung des Benue in den Niger
(Kworra, Ohinmwin). Die Igala gaben ihrem Königreich den Namen Idah, ebenso
der Hauptstadt. Die Edo bezeichneten das Land als Igha oder Idah, und ein Bewoh-
ner Idahs wurde Ighonmighon genannt. Die Yoruba nannten sie Igara. Im Osten
grenzte der Herrschaftsbereich Idahs an das Land der Idoma. Die südlichen Nach-
barn waren Ibogruppen und die ibaji. Über letztere liegen nur sehr spärliche Infor-
mationen vor. Obwohl bislang nur wenige linguistische Studien durchgeführt wur-
den, kann man davon ausgehen, daß Igala mit dem Yoruba verwandt ist.
Die Legenden im Zusammenhang mit der Gründung des Königreiches und dessen
Herrscher, dem Attah, sind sehr komplex. Sie deuten auf Nupe, Benin und eventuell
Yoruba. Fest steht jedenfalls, daß die Urbevölkerung Akpoto genannt wurde (siehe
auch die Idoma). Die Komplexität der Thematik macht es unmöglich, in der vorlie-
genden Arbeit auf jedes Detail einzugehen, und es kann deshalb nur ein grober
Überblick vermittelt werden. Dies gilt auch im Hinblick auf die Idoma.
Eine der frühesten Aufzeichnungen stammt von Crowther und Schön aus der Mitte
des vergangenen Jahrhunderts. Danach begab sich der König der Yoruba nach Raba,
der Hauptstadt des Nupereiches. Er bat den dort residierenden Attah um ein Stück
Land, wo er sich niederlassen konnte. Der Attah erlaubte ihm, bei den Akpoto zu
residieren. Offensichtlich hatte der Attah großen Einfluß dort.1
Eine andere Erzählung, die ebenfalls von den oben genannten Autoren festgehalten
wurde, besagt, daß der König der Akpoto Igala hieß. Der erste Attah war ein Jäger,
der aus Ado (westlich des Niger) kam. Der Attah hatte zunächst ein gutes Verhältnis
zu Igala, bald gab es jedoch Streit, und der Neuankömmling vertrieb Igala. Neben
dem Attah sollen auch die Könige von Nupe und Aboh (Ibo im Nigerdelta) aus Ado
gekommen sein.2
Laut Nadel war Nupe einst dem Attah tributär.3 Das Königshaus der Igala soll, so
berichtet G.T Mott, ein District Officer, nicht aus Jukun, sondern aus Benin stam-
men.4
Der Attah selbst sah sich als von Gott eingesetzt. Jeder der Herrscher wurde durch
die neun Räte Igala (Gala) Mela und den Ratgeber Ashadu aus vier Herrschaftslinien
ausgewählt. Möglicherweise hatte die Königinmutter, ähnlich wie in Benin, einst
einigen Einfluß. Über die Aufgaben und die Bedeutung des Kronprinzen liegt kaum
verwertbares Material vor.
Der erste Ashadu war der Ehemann von Ebele Ejaunu, die einigen Quellen zufolge
als die Gründerin der A/ta/i-Dynastie angesehen wird. Nach deren Tode rief der
Ashadu den Bruder seiner verstorbenen Gattin, Agenebpoje, zu sich, »heiratete« ihn
und machte ihn somit zum ersten Attah.
Die königlichen Räte wurden, wie bereits erwähnt, Igala Mela genannt. Mitglieder
waren die Titelhalter Onohe Ogbo, Onode, Ashadu Kekele Ukwaji (Ashadu Kenlilik-
waja), Aleje usw. Daneben gab es noch eine Reihe wichtiger Würdenträger, wie z. B.
den bereits erwähnten Ashadu (ursprünglicher Name Omeppa), ein Ratgeber des
96
Roese: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
Attah, dessen Vorfahren möglicherweise Herrscher der Akpoto waren. Der Ubwela
stellte die Verbindung zwischen dem Attah und dem Ashadu her. Der Ikabe war eine
Art Herold, der zusammen mit dem Kronprinzen bestimmte Zeremonien durch-
führte. Für die königlichen Insignien, Schätze und das Finanzwesen war der Aku ver-
antwortlich.
Am Hofe des Attah spielten auch verschiedene Eunuchen (onoji) eine wichtige Rolle.
Ogbe war deren Führer, und laut Clifford war er einer der wichtigsten Männer nach
dem Ashadu,5 Weitere Titelhalter waren Orhata, Ocheje (Acheje), Elaku, Ogbala und
Enunkadugbo.
Neben den genannten Personen gab es auch eine Reihe wichtiger Priester. An der
Spitze stand der Atebo (Atabor), der im Auftrag des Attah an die Seelen der Ahnen
appellierte. Dieser Titelhalter führt den Zeremonialstab akute mit sich. Der Ugwalla
kümmerte sich um die königlichen Gräber. Der oberste Wahrsager war der Ohega.
Auf der Führungsebene der Armee fand sich eine ganze Reihe von Befehlshabern,
wie z. B. die Titelhalter Ogbe, Ochiyi, Orata, Ubwela, Ochata, Oboluwa etc. Der
Okwja verwahrte die Kriegstrommel olibi. Der Priester Obiga begab sich zwar nicht
mit den Truppen ins Feld, brachte jedoch Opfer dar und betete für den Erfolg des
Attah6.
Wichtig im Zusammenhang mit der Ausrüstung der Soldaten waren die königlichen
Eisenschmiede Ohiji mit ihrem Anführer Aleji. Bekannt waren auch die Eisen-
schmiede aus Ogbobolo (Obabolo).
Die Idoma
Das Siedlungsgebiet der Nachbarn und damaligen Verbündeten der Igala, der Idoma,
grenzt im Norden an den Benue. Die Nachbarn im Osten sind die Tiv und im Süden
die Ibo. Es scheint, daß die Idoma einst ein wesentlich größeres Gebiet bewohnten,
d.h. vor allem in Richtung Osten. Die Etulo am westlichen Ufer des Katsina River
mögen ein letzter Außenposten des einst größeren Idomalandes sein. Auch Teile des
Königreiches Idah könnten einst von Idoma besiedelt gewesen sein. Das Land der
Idoma wurde damals Akpoto genannt.
Es muß vorausgeschickt werden, daß über die Idoma wenig Material vorliegt. Von
politischen Strukturen sind nur geringe Spuren erkennbar, und man kann eigentlich
nur von losen kulturellen und sprachlichen Verbindungen einzelner Gruppen zuein-
ander sprechen. Es gab keine zentrale Autorität, und nur bei den Agala (Agila, Agla)
existiert ein wohl organisiertes hierarchisches System (zivil, militärisch). Dies mag
früher anders gewesen sein, Informationen fehlen jedoch.
Einen Platz für sich nehmen die Stadtstaaten Keana und Doma ein, die nördlich des
Benue, oberhalb Makurdi, liegen. Beide scheinen, laut Armstrong, recht alt zu sein.
Die Gründung von Doma erfolgte vor etwa 700 Jahren.
Wie Armstrong weiter ausführt, war Idoma früher wegen seines eisenverarbeitenden
Handwerkes weithin bekannt.8 Dieses einst blühende Gewerbe scheint aber stark
zurückgegangen zu sein.
Es ist möglich, daß Teile Idomas unter der direkten Herrschaft des Attah von Idah
standen. Armstrong vermutet, daß z. B. in Otukpa ein Resident des Attah lebte.9
Nach Armstrong können folgende Idoma-Gruppen differenziert werden:
a) aus Jukun (Apa)
Agatu, Adoka, Boju (Ugbooju), Oglewu (Ogleu), Ochobo (Ocoobo), Oturkpo
(via Tiv), Igumale (Igwaale), Yangedde (Onyagede) (eventuell auch aus Idah?),
Ocheku (Ocekwu) (via Tiv?), Arago (Alago) (aus Jukun und eventuell Idah?),
Etulo (Teile aus Jukun)
b) aus Idah
Okwoga (Okpoga), Ichama (Icaama) (zumindest Teile kamen aus Idah), Otukpa,
Orokam (Orokamu, Okam), Agala (Agla, Agila), Fdumoga
97
TRIBUS 46, 1997
c) keine auswertbare Angaben
lyala, Afu, Ijigbam (Ijugbam), Ulaji, Orukpa (Olukpa, Otukpo).10
Wie bereits angemerkt, heben sich die Agala insofern ab, als sie eine wohlorgani-
sierte Hierarchie aufweisen. Von Interesse für die vorliegende Arbeit sind hier die
von Armstrong erwähnten »war chiefs« mit dem Titel Otokpa (»spear-thrower«), die
den spitzen Hut ogoglo tragen."
Die Vorgeschichte des Krieges
Es existieren mehrere, von Egharevba aufgezeichnete Erzählungen, die besagen, daß
eine junge Frau namens Imaguero durch ihr Verhalten diesen Krieg auslöste.12 Der
Oliha Odiase, Führer der Uzatna Nihinwn (Kurfürsten), seinerzeit einer der mäch-
tigsten Männer des Reiches, hatte ein Auge auf die hübsche 12jährige Imaguero
geworfen und sich in sie verliebt. Er hielt um ihre Hand an und heiratete sie schließ-
lich. Dieses Ereignis soll sich 1515 zugetragen haben.
Zunächst schien das Glück des Paares ungetrübt zu sein. Der Oliha hatte jedoch nicht
damit gerechnet, daß es Unruhe in seinem Harem geben würde, als er Imaguero zu
seiner Lieblingsfrau (amwenbo) machte. Vor allem fühlte sich seine Hauptfrau, Prin-
zessin Adighan, eine Tochter Esigies, zurückgesetzt. Sie könnte bei den folgenden
Ereignissen ihre Hand im Spiel gehabt haben.
Der Oliha war so glücklich, daß er jedem davon erzählte, er liebe Imaguero über
alles, und sie wäre die treueste Ehefrau. Ähnlich äußerte er sich auch gegenüber
König Esigie. Dieser meinte jedoch, Frauen seien prinzipiell nicht treu. Insgeheim
wollte Esigie dem Oliha dies beweisen und beauftragte einen Diener (uke), mit Hilfe
von Geschenken, bestehend aus Korallen- und Achatperlen, Imaguero zu verführen.
Der Diener ging zu Imaguero, und tatsächlich verfehlten die wertvollen Geschenke
ihre Wirkung nicht. Die Frau des Oliha begab sich unter einem Vorwand in das Haus
ihres Vaters, um dort mit ihrem Liebhaber zusammenzutreffen.
Nach einiger Zeit berief der König eine Versammlung ein, an der auch der Oliha teil-
nahm. Esigie forderte ihn auf zu wiederholen, was er über die Treue Imagueros ver-
breitet hatte. Der Oliha bestätigte die seinerzeit ausgesprochenen Worte. Daraufhin
wurde der heimliche Liebhaber seiner Gattin gerufen. Dieser berichtete von dem
über Wochen andauernden Verhältnis, obwohl er wußte, daß Ehebrecher normaler-
weise mit dem Tode bestraft wurden. Anschließend holte man Imaguero herbei, und
sie gestand ebenfalls ihre Verfehlungen ein.
Der Oliha war so in Rage, daß er die Ehebrecherin töten ließ. Nun verlangten andere
hohe Würdenträger wie Edohen, Eson und Ezomo, daß der Liebhaber Imagueros
ebenfalls getötet werden mußte. König Esigie lehnte dies jedoch ab und brachte
damit seine Ratgeber gegen sich auf. An anderer Stelle erwähnt Egharevba die Mei-
nungsverschiedenheiten zwischen dem Oha und dem lyase Odia, ohne den Grund zu
nennen.13 Es scheint, als ob sich generell eine Kluft zwischen den höchsten Würden-
trägern und ihrem Souverän aufgetan hatte.
Mittlerweile war der verzweifelte Oliha nur noch von Rachegefühlen gegenüber Esi-
gie besessen, der ihm diesen üblen Streich gespielt hatte. Nun faßte er seinerseits
einen teuflischen Plan. Zuerst ließ er Prinzessin Adighen, seine Hauptfrau, töten.
Dann rief er seinen Vertrauten Aigbovuleghe und gab ihm den Befehl: »[...] go to
Idah (Ighan) and teil the Attah (King) of Idah, that Esigie [...] is preparing to invade
his country [...]«14 Er werde die Truppen des Attah unterstützen.
Soweit die von Egharevba gesammelten Überlieferungen. Es ist allerdings kaum vor-
stellbar, daß diese, an sich trivialen Ereignisse, zu einem Krieg führen konnten.
Erfreulicherweise liegt jedoch noch anderes Material von verschiedenen Seiten vor,
das zur Aufhellung des Hintergrundes beitragen könnte.
Zunächst wäre es ohne weiteres möglich, daß der Krieg gegen Idah ganz einfach eine
Fortsetzung der Kämpfe gegen die rebellischen Ishan war. Dort hatte sich, laut Egha-
revba, der Ogie (Onoje) von Uromi etwa 1503 gegen König Ozolua erhoben. Da ein
98
Roese: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
Gegenschlag der Edo sicher war, begab sich Ogie Agba nach Idah und bat den Attah
um Hilfe. Dieser lehnte das Ansinnen jedoch ab.
Wie zu erwarten war, marschierte König Ozolua mit einer Armee in Ishan ein. Er
tötete den Ogie von Uzea (Uzia) und attackierte anschließend Uromi. Es folgten
erbitterte Kämpfe, die drei Monate andauerten, bis Agba sich schließlich gezwungen
sah, zu kapitulieren. Er beging anschließend Selbstmord. Auf dem Rückweg nach
Benin City wurde Ozolua schließlich von seinen eigenen, des Kampfes überdrüssi-
gen Soldaten, ermordet.15
Eine weitere Überlieferung, die Seton festhielt, besagt, die Igala wären im 16. Jh.
durch den König von Benin aus dem Yorubaland westlich des Niger vertrieben wor-
den.16 Es ist durchaus denkbar, daß die Igala dort Landstriche besetzt hatten. Auf der
anderen Seite ist diese Information möglicherweise im Zusammenhang mit dem
Angriff auf Benin zu sehen.
Wie eingangs bereits erwähnt, könnte die Dynastie der Attah ihren Ursprung in Benin
haben. Diesbezüglich schreibt Talbot: »Esigie is [...] stated to have defeated his
younger brother named Aji-Attah of Idah. It may be that this actually occured, and
that Idah had been previously conquered and that the brother, who had been in
Charge, rose against Esigie. It seems more probable, however, that the story refers to
the conquest of Idah and placing of a younger brother on the throne [...] »17
Egharevba bestätigt, daß der erste Attah der Sohn eines Oba war, der von seinem
Vater nach Idah geschickt wurde.18 Denjenigen Attah, der gegen Esigie kämpfte,
nennt der gleiche Autor allerdings Ogele.19
Im Hinblick auf eine mögliche dynastische Verbindung zwischen Idah und Benin
hat Boston substantielles Material gesammelt.20 Wichtige Informationen erhielt er
von dem Ochai Ata, einem hohen Würdenträger am Hofe des Attah. Dieser schil-
dert, wie die Geburt des Sohnes eines Oha (Omi iBini) nicht bekanntgegeben wurde
und man den nach ihm geborenen als Thronfolger anerkannte. Nach dem Tode des
Oba kam es zu Kämpfen um die Nachfolge. Um das Blutvergießen zu beenden,
entschloß sich der jüngere Sohn, auf den Thron zu verzichten, und verließ Benin
City.
Der Prinz wurde von seinen Leuten begleitet, die sich teilweise in Asaba (Achaba)
und Kukuruku (Ingele) niederließen. Schließlich begab er sich nach Idah, und die
Igala waren erstaunt über die Dinge, die er mit sich führte. Hierbei handelte es sich
vermutlich vorrangig um die heute noch im Besitz des Attah befindliche Messing-
maske ejubejailo (»the face that brings fear to other faces«). Dieser klassische
Kunstgegenstand stammt mit Sicherheit aus der Werkstatt eines Meisters in Benin
City. Eine Datierung erfolgte durch W. Fagg und K.C. Murray, wobei ersterer den
Beginn des 16. Jh. und letzterer als groben Rahmen dieses Jahrhundert für den Zeit-
raum der Herstellung annimmt.
Nachdem der Prinz nun den Thron in Idah eingenommen hatte, sandte er seinen Sohn
(?) nach Benin City, der seinem Onkel die Nachricht überbrachte, er solle den Thron
der Oba besteigen. Sein Vater wäre mit dem Titel Attah zufrieden. Die Verbunden-
heit beider Dynastien wurde dadurch demonstriert, daß der Oba nach der Krönung
acht Sklaven nach Idah schickte, wovon der Attah vier behielt und die anderen
kastrieren ließ, die zurückgeschickt, als Eunuchen im Harem des königlichen
Palastes in Benin City Dienst taten. Weiterhin sandte der neu gekrönte Oba Kokos-
nüsse, die von den Igala unoba (»Oba’s nuts«) genannt wurden. Auch heute noch
wachsen auffallend viele Kokospalmen rund um den Palast des Attah. Der Attah sei-
nerseits schickte ebenfalls Geschenke.
Der Angriff der Igala
Der denkwürdige Krieg, der fast mit der Einnahme Benin Citys durch die Feinde
endete, fand, laut Egharevba, zwischen 1515 und 1516 statt.21 Die Truppen der Igala
und Idoma stießen, von Nordosten her kommend, durch Etsako und Ishan bis in das
Edo-Kernland vor.
99
TRIBUS 46, 1997
Unklarheit herrscht darüber, ob Esigie die Truppen Benins als Prinz oder regierender
Monarch führte (siehe z. B. Jungwirth).22 Die Mehrzahl der Informanten tendiert
jedoch dahin, daß Esigie den Thron bereits bestiegen hatte. Es darf als sicher ange-
nommen werden, daß sein Vater Ozolua entweder selbst ins Feld gezogen wäre oder
den kampferprobten Aruanran mit dem Oberbefehl betraut hätte. Somit ist klar, daß
Ozolua und Aruanran bei Ausbruch der Feindseligkeiten bereits nicht mehr lebten.
Interessanterweise besagen die mündlichen Überlieferungen, das Volk hätte sich
zunächst geweigert, an dem Kampf gegen die Eindringlinge teilzunehmen, denn
»[...] Oba Esigie was very selfish.«23 Das Verhalten der Würdenträger weist eben-
falls darauf hin, daß es zu einem Zerwürfnis gekommen war und Esigie zunächst
alleine dastand. Er wurde offensichtlich nur von seiner Mutter unterstützt (mehr
davon an anderer Stelle).
In zahlreichen Orten, die damals durch die Kriegsereignisse unmittelbar betroffen
waren, existieren, wie Bradbury bemerkt, Überlieferungen in diesem Zusammen-
hang.24 Dies betrifft jedoch fast ausschließlich den Rückzug der Igala, denn über
deren Vormarsch ist wenig Material vorhanden.
Auch ein Teil der äußerst umfangreichen Wall- und Grabenanlagen dürfte in Verbin-
dung mit diesem Krieg und den vorangegangenen Kämpfen in Ishan stehen. Sie
wurden entweder neu errichtet, ergänzt oder verstärkt. Diese teilweise gewaltigen
Erdwerke erstrecken sich in nordöstlicher Richtung von Benin City bis Ikpoma in
Ishan. Die innerste Wall- und Grabenanlage der Hauptstadt soll, laut Aussagen
gegenüber englischen Beamten 1897, auf Befehl von König Oguola (13./14. Jh.)
errichtet worden sein. Die Informanten sagten weiter: »[...] we do not know why it
is strenger and deeper on the northern side of the town [,..]«25 Es könnte also sein,
daß man dieses Bollwerk im Hinblick auf den drohenden Angriff der Igala ausbaute.
Nähere Details fehlen über den Vormarsch der Igala bis zu dem Moment, wo diese
kurz vor Benin City standen. Wir sind, wie bereits angedeutet, nur über den Rückzug
besser informiert. Auch über Verteidigungsmaßnahmen der Edo entlang des Vor-
marschweges fehlen bislang Informationen. Es ist wohl anzunehmen, daß sich lokale
Kräfte verteidigten, sich schließlich aber ergeben mußten, nachdem keine Hilfe aus
der Hauptstadt kam. Möglicherweise wurden die Igala in Ishan sogar willkommen
geheißen.
Obwohl die Feinde immer näher rückten, zeigten das Volk und die Würdenträger in
Benin City immer noch kein Interesse, die Waffen aufzunehmen. In dieser ausweg-
losen Situation empfahl man dem Oba, nachts durch die Straßen zu gehen, um alle
Einwohner der Hauptstadt lautstark daran zu erinnern, ihre Pflicht zu tun. Jungwirths
Informanten zufolge tat Esigie dies auch. Er rief, während er inkognito durch die
Straßen lief: »You should not mind the stinginess of an ungenerous person because it
is one’s fatherland that should be defended at all cost. If a war kills a king the sub-
jects become captives of a foreign ruler. You should protect your fatherland.«26
Am nächsten Tag kamen die Würdenträger zusammen. Es stellte sich heraus, daß alle
nachts die Stimme gehört hatten und man meinte, es wäre wohl an der Zeit, sich end-
lich ernsthaft auf die Verteidigung des Vaterlandes vorzubereiten.
Die Schlacht bei den Oregbeni Hills
Die entscheidende Schlacht des Krieges fand bei den Oregbeni Hills (Okenogban-
Uwa), am östlichen Ufer des Ikpoba River, statt. Der Vorstoß der Igala und Idoma
konnte buchstäblich in letzter Minute vor den Toren der Hauptstadt abgewehrt wer-
den. Ganz offensichtlich hatten die portugiesischen Freunde Esigies erheblichen
Anteil an dem Sieg, denn sie unterstützten die Edo mit ihren bis dahin in Benin un-
bekannten Feuerwaffen. Nach diesem, für die Armee Idahs völlig überraschenden
Schlag, gab es kein Halten mehr, und die Edo konnten sich an die Verfolgung der
fliehenden Feinde machen.
Vorangegangen waren Ereignisse, die sich teilweise nur schwer interpretieren lassen.
Die Situation spitzte sich dramatisch zu, denn es hieß, die Armee Idahs rücke bereits
100
Róese: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
Angriff und Rückzug der Igala zu Beginn des 16. Jhs.
CIV) Wall- u. Grabenanlagen
X Gefechte
+ ungefähre Position des Oro
______ Vormarsch der Igala
— — Rückzug und Verfolgund durch die Edo
101
TRIBUS 46, 1997
von Eyan-en und Aho her vor.27 Da riefen die Würdenträger die Igbesanmwan
(königliche Holzschnitzer), und man fällte einen iroko-Baum (Chlorophora excelsa).
Daraus wurden drei lebensgroße Soldaten in voller Ausrüstung geschnitzt. Man
nannte sie emuemue.29.
Man stellte die drei emuemue am Fuße der Oregbeni Hills auf, und die Edo postier-
ten sich in der Nähe. Die Igala erreichten diese Position, sahen die Figuren, die sie
für echte Soldaten hielten, und schossen mit Pfeilen (ifenmwen) auf sie. Anderen
Informanten zufolge warfen sie Keulen (itakpo).29 Selbstverständlich zeigten die
Figuren keinerlei Reaktion, und die Igala dachten wohl, die Edo wären unverwund-
bar.
Zwischenzeitlich hatte man offensichtlich ein Orakel befragt, denn am vierten Tag
sandte Esigie eine ganze Schar Männer von den Ihogbe (Hofchronisten und Priester)
zum Ikpoba River, die dort eine nicht näher definierte Zeremonie abhalten sollten.
Die Ihogbe trugen weiße Gewänder und hielten Figuren in den Händen. Im Mund
hatten sie Papageienfedern und Blätter (eb-ahe). Sie marschierten schweigend hin-
tereinander, und als sie fast den Ikpoba River erreicht hatten, feuerte ein Portugiese
»[...] a stroke of cannon into the midst of the enemy suddenly, which killed many of
them.«30
Diese Art von »psychologischer Kriegsführung« und die völlig unbekannte Waffe
waren wohl zuviel für die Igala, denn sie sagten: »For these four days, we have been
shooting at this three Bini soldiers and cannot capture them and now the ghosts of the
people have come up us. We are done for.«31
Bezüglich der hölzernen Soldaten emuemue gibt es einige interessante Aspekte. Im
Benin Museum befindet sich eine Gruppe von drei Messingfiguren, die eindeutig
portugiesische Bewaffnete darstellen. Egharevba beschreibt diese folgendermaßen:
»The three figures 14« each, wearing round steel helmets [...] represent a Portuguese
officer and two Missionary soldiers with the [...] gun or cannon called blunder-buss
[...]. The [...] figures were originally carved in wood and greatly helped the defeat
of the Idah troops in 1515-1516.«32
Die Messingfiguren kamen ursprünglich aus Udo und wurden vom dortigen lyase als
Leihgabe an das Museum gegeben. Sie weichen stilistisch von ähnlichen Stücken aus
Benin City ab.33
Der Rückzug der Igala und der Vormarsch der Edo
Die Ihogbe kehrten nach Benin City zurück und berichteten dem Oha, daß sich die
Feinde auf der Flucht befänden. Esigie brach sofort mit seiner Leibgarde auf, um die
Igala zu verfolgen. Wie bereits erwähnt, hatten sich ja nun auch die Würdenträger
und das Volk besonnen und eilten herbei, um sich an dem Kampf zu beteiligen.
Bemerkenswert ist die Rolle, die Esigies Mutter Idia während des Krieges spielte.
Vor der Regentschaft Esigies war es Brauch, die Mutter des Herrschers zu töten,
sobald deren Sohn den Thron bestieg. Die Edo meinten, man könne keine zwei
gekrönten Häupter über sich haben. Esigie wollte verhindern, daß seine Mutter das
gleiche Schicksal ereilte, und es gelang ihm durch allerlei geschickte Schachzüge,
Idia vor dem Unheil zu bewahren. Allerdings mußte er in Kauf nehmen, daß es
wegen dieser Angelegenheit einige Verstimmung gab.
Esigie verlieh seiner Mutter den Titel lyoba, d. h. Königinmutter. Dies geschah wohl
auch wegen der Verdienste, die Idia sich im Kampf gegen die Igala erworben hatte.
Von nun an schickte jeder Herrscher drei Jahre nach der Thronbesteigung seine Mut-
ter, versehen mit dem Titel lyoba, nach Uselu, wo deren Residenz (Eguae-Iyoba) lag.
Verstarb die Mutter vor der Thronbesteigung, wurde ihr Leichnam konserviert. Dies
geschah über einem schwach brennenden Feuer, ein Verfahren, das der Holländer
David van Nyendael schon gegen Ende des 17. Jh. beschreibt.34 Nachdem die Krö-
nungsfeierlichkeiten abgeschlossen waren, konnte der Sohn seiner verstorbenen
Mutter den Titel verleihen und sie feierlich beisetzen.
Die lyoba residiert auch heute noch in Uselu. Von dem einst umfangreichen Palast
102
Roese: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
sind allerdings nur noch wenige Gebäude erhalten. Das Gelände, auf dem der Palast
stand, nannte man früher Uselu n’evbo lyoba, d.h. »Uselu, das Land der Königin-
mutter«.35
Angeblich wollte Idia den Feldzug gegen die Igala selbst führen. Esigie war dage-
gen, jedoch ließ sich seine streitbare Mutter nicht beirren und zog in den Kampf.
Einige der Informanten Jungwirths sagten sogar: »[...] Esigie habe den Krieg nicht
gefochten. Seine Mutter Idia hätte den Krieg für ihn gewonnen. Er hätte nur die flie-
hende Armee verfolgt.«36
Eine weitere wichtige Person in diesem Kriege, von der die Überlieferungen heute
noch berichten, ist der Sklave Oro, der die Truppen Idias führte. Dieser tapfere Mann
soll sogar den Oberbefehlshaber der Igala getötet haben. Als er die Kleidung des
Gefallenen an sich bringen wollte, wurde er durch einen Hufschlag von dessen Pferd
getötet.37
Während eines Gefechtes bemühten sich die Igala offensichtlich um eine Waffen-
pause und führten, um Idia friedlich zu stimmen, den Tanz ekassa auf. Dies gefiel der
Königinmutter so gut, daß sie die Tänzer mitnahm und später in Ogbelaka, einem
Stadtviertel in Benin City, ansiedelte.38 Der Tanz wird heute noch, anläßlich der
Beerdigungsfeierlichkeiten für die verstorbene Königinmutter, dargeboten.
In Egharevbas Werken finden sich, von einer Ausnahme abgesehen, keine weiteren
Hinweise auf die Befehlshaber der alten militärischen Hierarchie Benins. An der
Spitze stand der lyase als Premier und oberster Befehlshaber der Armee. Er war
gleichzeitig Führer der Eghaevbo n ’Ore, der Stadtchiefs. Weitere wichtige Generäle
waren Ologboshere, Imaran, Edogun, Ezomurogho, Agboghidi von Udo und Ogie
Ebne?9
Der unter Esigie amtierende lyase hieß Odia. Er soll ebenfalls eine hervorragende
Rolle in diesem Kriege gespielt haben. Er erhielt für seine Verdienste die Trommel
em’ighan, die man den Igala abgenommen hatte. Diese Trommel brachte ein gewis-
ser Atakparhakpa 1516 nach Benin City. Atakparhakpa war möglicherweise ebenfalls
ein General, der aber nicht aus der oben erwähnten Hierarchie hervorgegangen war.40
Solche Fälle gab es in der Geschichte Benins mehrfach.
Der weitere Verlauf des Kampfgeschehens läßt sich nur fragmentarisch rekonstru-
ieren. Es gibt jedoch einige Orte entlang des Rückzugweges der Igala, über die Nach-
richten vorliegen, wie z. B. Iguovbiahianmwe. Dort soll der Okokomo (Militärkoch)
fu-fu für die Soldaten zubereitet haben.41 Iguovbiahianmwe könnte in einem oder
zwei Tagesmärschen erreicht worden sein, und man schlug dort ein Lager auf.
Ein denkwürdiges Ereignis, das noch heute in der Oro-Zeremonie {Ugie Oro) nach-
klingt, trug sich etwa 30 km nordöstlich von Benin City zu. Als die Edo die Feinde
verfolgten, hörten sie den Oro-Vogel von einem Baum herabrufen Oya o, oya o,
oya o (»Punishment, punishment, punishment«).42 Der Ruf dieses Tieres wurde als
böses Omen angesehen, und die Soldaten weigerten sich, weiter vorzustoßen. König
Esigie tötete den Oro und befahl seinen Soldaten, die Verfolgung wieder aufzuneh-
men. Er meinte, das Omen sei gegen den Feind und nicht gegen ihn und seine Leute
gerichtet.
Ben-Amos beschreibt Ugie Oro folgendermaßen: »As pari of the ceremony, chiefs
dance in a circle beating with a rod the beak of a cast brass bird in remembrance of
the prophetic bird Esigie had killed on his way to success against the Igala people.«43
Der Vorstoß der Edo führte weiter nach Okuo (heute Okhuo I und II). Es kann als
sicher angenommen werden, daß diese Ortschaft während eines Krieges {okhuo) ent-
standen ist. Dort befinden sich auch Wall- und Grabenanlagen, die möglicherweise
im Zusammenhang mit einem ehemaligen Kriegslager (eko) stehen.
Als nächstes wäre Igieduma zu nennen. Dort befinden sich ebenfalls verschiedene
Wall- und Grabenanlagen. Interessant ist in diesem Fall, daß schon Ozolua, der Vater
Esigies, den Befehl zur Errichtung gegeben haben soll, da er einen Angriff der Igala
erwartete.44
Der weitere Vormarsch führte über Ahor (Ehor). Dort dürfte eine große Schlacht
stattgefunden haben, denn Darling berichtet über eine Zisterne (oghodo), die er für
ein »[...] mass-burial of many soldiers from the Idah army [...]« hielt.47’
103
TRIBUS 46, 1997
Die Truppen Benins erreichten möglicherweise auch Eko-Ugiolen. Wie der Name
besagt, könnte hier ein Kriegslager bestanden haben.
Die mündlichen Überlieferungen berichten über das weitere Vordringen der Edo:
»As they (die Igala, Anm. d. Verf.] were ruming away Esigie and his soldiers persued
them via Uhunmwode (Ishan Road) and they started to shoot guns to frighten the Ata
and his people away farther and farther.«46
Auch in Igueben und Urohi finden sich Spuren des Krieges, denn »[...] the traditions
of Igueben und Urohi say that they were founded by warriors who followed the Oba
to the war against the Ata [...].47
Die Edo erreichten, offensichtlich ohne auf größeren Widerstand zu stoßen, Etsako
und standen schließlich am Ufer des Niger, direkt gegenüber der Hauptstadt der
Igala. Es wurde ein Lager errichtet, das man »[...] Ago-nibode [...] camp of the
Royal guard [...]« nannte.48 Ago dürfte mit eko (Kriegslager) identisch sein.
Die Edo wollten zwar den Fluß überqueren, hatten jedoch keine Boote. Egharevba
berichtet, was weiter geschah: »They, therefore, pitched firmly at the bank of the
river Niger and began to arrange for the crossing.«49 Dies steht allerdings in krassem
Gegensatz zu der Aussage Punchs: »It was contrary to Bini fetish to go on the
water.«50 Der genaue Grund, warum man den Niger nicht überschritt, ist noch offen.
Jungwirths Informant hat aber hierfür eine interessante Erklärung: »[...] Esigie could
not cross the river. He felt that if he did not go over to fight the Ata his people would
complain that if it were his father Ozolua he would go. So he gave a condition that if
the people were able to drain the river Niger he would cross. But when they could not
do so he cursed the river and said that the Niger shall not kill a Benin man. That is
why in case of any boat-wreckage no Bini man has ever been reported to be drowned
[,..]«51
Die zahlreichen Hinweise in den Überlieferungen belegen eindeutig, daß Esigie bei
einem Feldzug von Portugiesen (Edo = ikpotoki) begleitet wurde, die mit ihren Feu-
erwaffen eine entscheidende Rolle spielten. Daneben existieren sogar schriftliche
Belege in diesem Zusammenhang. Es besteht zwar Unsicherheit, ob sich diese Infor-
mationen auf den Krieg gegen Idah oder eventuell auf den vorangegangenen Feldzug
Ozoluas in Ihan beziehen, bei dem dieser ja ermordet wurde. Falls nun portugiesi-
sche Bewaffnete Ozolua dorthin begleiteten, wie der Inhalt des Briefes von 1516
(siehe nachfolgend) interpretiert werden könnte, hätten diese sicher über den Tod des
Monarchen berichtet. Deshalb ist anzunehmen, daß die Portugiesen Esigie auf sei-
nem Feldzug gegen Idah unterstützten.
Zunächst gibt es, Ryders Recherchen zufolge, eine kurze Anmerkung eines portu-
giesischen Kapitäns vom Beginn des Jahres 1516. Dieser schreibt; »[...] white men
are with the Oba at war [,..]«52 Die bemerkenswerteste Nachricht stammt jedoch aus
der Feder des Duarte Pires, der seinem Herren, dem König von Portugal, mitteilte:
»[...] when these priests arrived in Benjm, the delight of the king of Benjm was so
great [...] they remained with him for one whole year in war [...] the king of Benjm
hopes to finish this war this summer, and I shall give your highness an account of
everything that happens [...] I Duarte Pires, and Joham Sobrynho [...] and Grygory
Lorenco, a black man [...] Done in this war, on 20 October 1516.«53
Es existieren noch weitere Hinweise im Hinblick auf Esigie und portugiesische
Bewaffnete. So gibt es in Benin City, wie Bradbury berichtet, »[...] a ward known as
Iwoki whose members had, among other functions, that of looking after the Oba’s
guns and cannon. The Iwoki date their foundation to Esigie’s reign and some claim
to be descendends from Europeans called Ava and Uti. Ava and Uti are said, on one
occasion, to have protected the Oba by standing with guns, one of each side of him
and up to the present day, on ceremonial occasions, the Oba is flanked by two Iwoki
with guns. The shrine of the god of iron at which the Iwoki worship is called Ogun-
Esigie. It seems likely then that Iwoki was founded to look after guns when they were
first introduced, according to the pattern by which Benin City was divided into
wards, each of which had special duties to perform for the Oba.«54
Macrae Simpson hält es für möglich, daß Ava mit Joao Affonso d’Aveiro identisch
104
Roese: Der Krieg zwischen Idah und Benin (»Idah war«)
ist.55 Dieser Portugiese war der erste Europäer, der Benin City besuchte. Auch Talbot
bestätigt das oben Gesagte, denn er schreibt: Esigie »[...] was helped by the Portu-
guese, most of whom lived at Ugwato but some became captains of the guard and in
Charge of the guns, as their descendants were up to recent years.«56
Bemerkenswert ist auch, daß der König abwesend war, als 1516 portugiesische Kauf-
leute in Benin City eintrafen. Sie wurden vom damaligen Stellvertreter des Herr-
schers empfangen.57 Dies war der Oshodin von der Palastgesellschaft Ibiwe.
Wie bereits erwähnt, feuerten die Portugiesen während der Schlacht bei den Oreg-
beni Hills mit einer Kanone auf die Igala. Die Edo selbst waren im Besitz von Kano-
nen, wie die Engländer 1897 bei der Besetzung Benin Citys feststellen konnten.
Wann sie allerdings die ersten Feuerwaffen erhielten, ist nicht sicher. Einige der
Kanonen befinden sich heute in verschiedenen Museen, wie z. B. im Museum of
Mankind in London. Dort wurde 1994 anläßlich einer Ausstellung über Benin eine
Kanone (Af 1899, 0610.1) gezeigt. Es handelt sich dabei um einen Hinterlader aus
Bronze, der 1897 vor dem Königspalast in Benin City gefunden wurde.
Hinterlader kamen etwa ab der Mitte des 14. Jh. auf. Sie besaßen eine krugförmige,
einsetzbare Pulverkammer mit Zugloch, die durch einen Keil gegen das Verschluß-
stück gedrückt wurde. Die Kanone im Museum of Mankind ist 162 cm lang und hat
ein Kaliber von 5 cm.
Bezüglich der Datierung und Herkunft der Waffe war vom Museum of Mankind
zu erfahren, daß diese etwa aus der Zeit zwischen 1495 und 1523 stammen dürfte.
Als Herstellungsland wird Portugal angegeben.58 In seinem in Vorbereitung befind-
lichen Artikel über diese Kanone kommt Smith vorläufig noch zu keinem konkreten
Ergebnis über die genaue Datierung, d. h. seiner Meinung nach könnte diese Waffe
irgendwann zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16. Jh. hergestellt worden
sein.59
Falls diese Waffe tatsächlich bereits Ende des 15. oder zu Beginn des 16. Jh. nach
Benin gelangte, wäre es möglich, daß sie im Krieg gegen die Igala eingesetzt wurde.
Von welcher Art Lafette oder Unterlage diese Kanone abgefeuert wurde, ließ sich
bislang nicht ermitteln. Im Zusammenhang mit den aus Benin bekannten Kanonen
sind z. Zt. weitere Nachforschungen im Gange.
Der Friedensvertrag
Wie bereits geschildert, standen die Edo nun am Ufer des Niger, während der Feind
entkommen war. Ob die Igala und Idoma den Fluß gegenüber Idah überquert hatten,
mag dahingestellt sein, denn Boston erhielt 1960 von dem seinerzeit amtierenden
Attah die Information, daß Teile der fliehenden Armee den Niger unterhalb Idah mit
ihren Booten passiert hatten und sich unter den Ibaji niederließen. Die Niederlage
schrieb der Attah dem Umstand zu, daß die Igala mit ihren Frauen, die sie während
des Feldzuges begleiteten, Geschlechtsverkehr hatten und damit ein Verbot brachen.
Dadurch wurde die »Kriegsmedizin« wirkungslos.60
Um die offensichtlich drohende Invasion abzuwehren, wollten die Igala auf Weisung
eines Orakels Opfer darbringen. Boston meint, daß sich Inikpi, die Tochter des Attah,
bereit erklärte, diesen schweren Gang anzutreten. Die Stelle, »[...] where she was
buried and where the ritual is supposed to have been performed is at the edge of the
Niger, dose to the landing place for the main Crossing to the west«.61
Die Igala nahmen wohl an, die Edo würden den Fluß überqueren und deshalb suchte
der Attah um Frieden nach, um eine Invasion Idahs zu vermeiden. Angeblich trafen
sich König Esigie und dev Attah am Ufer des Niger.62
Der Attah meinte, er habe den Krieg nicht gewollt. Vielmehr sandte der Oliha seinen
Vertrauten Aigbovuleghe, der sagte, der König von Benin habe Idah den Krieg
erklärt. Aigbovuleghe empfahl dem Attah, sich auf die Verteidigung seines Herr-
schaftsgebietes vorzubereiten. Der Attah bat Esigie um Verzeihung. Esigie versi-
cherte sich nochmals, daß der Oliha diese falsche Information verbreitet hatte. Dies-
mal bestätigte der Premierminister Idahs (der Ashadul), daß dies die Wahrheit wäre.
105
TRIBUS 46, 1997
Die triumphale Rückkehr der Sieger nach Benin City
An der Spitze seiner siegreichen Truppen zog Esigie, reich mit Beute beladen, ver-
mutlich im Jahre 1517 in die Hauptstadt ein. Ihm wurde von seinen Untertanen ein
begeisterter Empfang bereitet. Das Volk rief den Willkommensgruß
»lyareyare chorus lyare
lyareyare lyare
lyareyare lyare
Omo noba lyare
Edo mwen lyare
Osa mwanwe. " lyare.«
Es folgten zahlreiche Feiern, während deren Verlauf man vor allem die Verdienste
Esigies, seiner Mutter und des lyase Odia würdigte. Verschiedene Lieder, die damals
gesungen wurden, leben heute noch im Volksmund weiter. Der Text eines dieser Lie-
der lautet: Oba I gha e rogi Attah Ogele, Oba I gha e rogi Attah Ogele (»I will serve
the Oba and not the Attah of Idah Ogele«).64 Letztlich scheint man Esigie sein Fehl-
verhalten vor dem Ausbruch des Krieges verziehen zu haben, und er wurde nun vom
Volk und den Würdenträgern voll akzeptiert.
Nachdem die Feiern beendet waren, wandte sich Esigie dem Oliha Odiase zu. Er
entzog ihm alle Privilegien, die dieser bislang genossen hatte. Egharevba berichtet
weiterhin: »Indeed there were no friendly terms between Oba Esigie and Odiase [...]
throughout the rest of their lives.«65
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2 ibid. 1855, 174
3 Nadel, 73
4 Forde, 81
5 Clifford, 402
6 Monckton, 156-61
7 Forde, 91
8 ibid., 94
9 ibid., 116
10 Forde, 91-150
11 ibid., 120
12 Egharevba 1949, 7-22; 1968, 27-28
13 Egherevba 1947, 13
14 ibid. 1949, 22
15 ibid. 1968, 25
16 Seton, 149
17 Talbot I, 157
18 Egharevba 1968, 28
19 ibid. 1949, 35
20 Boston 1962, 378-80
21 Egharevba 1968, 27-28
22 Jungwirth, 183-84
23 Egharevba 1949, 23
24 Bradbury 1959, 280
25 Roth 1898, 236
26 Jungwirth, 182
27 Egharevba 1949, 24
28 ibid. 1949, 24; Jungwirth, 182
29 Jungwirth, 182
30 Egharevba 1949, 26
31 Egharevba 1949, 26
32 ibid. 1969, 20
33 Wille«, 16
34 Bosman, 238
35 Ebohon, 52
36 Jungwirth, 306
37 Egharevba 1968, 28; ibid. 1949, 27
38 Ebohon, 24
39 Egharevba 1968, 80; Roese 1988, 1992, 4
40 Egharevba 1947, 12
41 Jungwirth, 183
42 Egharevba 1969, 35
43 Ben-Amos, 75
44 Bradbury, Field Rotes, M 510
45 Darling, pers. Mitteilung, Okt. 1982
46 Jungwirth, 183
47 Bradbury 1970, 63, 66, 67
48 Egharevba 1949, 35
49 ibid. 1949, 30
50 Roth 1968, 84
51 Jungwirth, 183
52 Ryder, 49
53 Bla. Ke, 123-24
54 Bradbury 1959, 279
55 Macrae Simpson III, 11
56 Talbot, I, 157
57 Ryder, 44-45
58 The British Museum, Brief vom 02.11.94
59 Smith; Royal Armouries, Brief vom
22.09.94
60 Boston 1962, 381
61 ibid. 1962, 380
63 Egharevba 1949, 30
64 ibid., 35
65 ibid., 33
108
AXEL SCHULZE-THUL1N
Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft
des Paläo-Indianers
Vorbemerkung
In den gut 500 Jahren seit Kolumbus kamen immer wieder die fantastischsten Theo-
rien über die Herkunft der Ureinwohner Amerikas »auf den Markt«, der während der
ersten nachkolumbischen Jahrhunderte klein war und nur aus einigen Eingeweihten
bestand, wie Missionaren und anderen Kirchendienern, Handels- und Seeleuten,
Geo- und Kartographen sowie interessierten Laien mit einer gewissen Bildung. In
unserem Medienzeitalter werden solche, heute von jedem seriösen Wissenschaftler
als Hirngespinste verworfenen Ansichten zwar immer wieder einmal als Sensation
»verkauft«, doch die meisten der an solchen Fragen Interessierten erkennen doch die
Absicht, sehen, hören und lesen manches vielleicht mit einiger Aufmerksamkeit und
glauben nicht mehr jeden Unsinn. Wir brauchen auf die Thematik hier nicht einzu-
gehen, weil sie schon oft behandelt wurde.
Was wissen wir nun aber nach dem heutigen Kenntnisstand der Archäologen und
Prähistoriker, die sich mit der amerikanischen Urgeschichte befassen, tatsächlich
über die Herkunft der Indianer? Antwort: Bereits einiges, doch immer noch nichts
Genaues. Doch soviel steht fest;
Irgendwann im späten Pleistozän wanderten europide Gruppen, im Besitz von Stein-
und Knochengeräten im Stil des Jungpaläolithikums, von Zentralasien nach Ostsi-
birien und weiter über Beringia, die während der Eiszeiten bestehende Landbrücke
zwischen dem asiatischen und dem amerikanischen Kontinent, nach Alaska. Bereits
gegen Ende des 16. Jahrhunderts gelangte übrigens der spanische Jesuit Joseph
(José) de Acosta durch reine Deduktion zu der Ansicht, daß die Besiedelung Ameri-
kas nur über eine Meeresenge bzw. von Insel zu Insel vonstatten gegangen sein
könne, wobei der Norden Amerikas als naheliegend angegeben wurde. Allerdings
verschätzte er sich in der Einwanderungszeit der Uramerikaner ordentlich. Er nahm
eine relativ kurze Zeitspanne um 500 v. Chr. an (Fagan 1993: 30). Nur eineinhalb
Jahrhunderte später äußerte der 1745 gerade 21jährige Immanuel Kant, daß die
Besiedelung Amerikas vom nordöstlichen Asien aus erfolgt sein müsse (Ubelaker/
Jantz 1986: 9).
Während ihrer langen Wanderjahre über zahlreiche Generationen vermischten sich
diese frühesten Proto-Paläoindianer mit asiatischen Einheimischen, durch deren
Gebiete sie zogen und in denen sie sich bestimmt auch oftmals über längere Zeiten
aufhielten, und wurden so nach und nach zu Mongoliden mit teilweise rest-europi-
den Zügen. Wie auch immer dieser Prozeß ablief, jedenfalls kam auf diese Art und
Weise das mongolische Element in die spätere amerikanische Urbevölkerung.
Diese Wanderungen nahmen insgesamt Jahrtausende in Anspruch. Auch war der
Weg nicht geradlinig, sondern vollzog sich je nach Umweltverhältnissen und der ver-
fügbaren Jagdbeute mit vielen Unterbrechungen und auf Umwegen. Wie das alles
vonstatten ging, liegt nach wie vor weitgehend im dunkeln. Archäologisch gesichert
ist jedoch, daß sich vor ca. 13 000 Jahren einige dieser Jäger- und Sammlergruppen
von Alaska aus nach Süden wandten und zwischen den sich allmählich - infolge
eines wärmeren Klimas - zurückziehenden Eisschilden mit ihren Gletschern auf dem
Gebiet des heutigen Kanada Wege in das Innere des Kontinents fanden. Auf diese
Einwanderungsrouten, wobei auch die Pazifikküste eine gewisse Rolle spielen kann,
soll hier nicht eingegangen werden - vielleicht später einmal. Was uns jetzt interes-
siert, ist die Frage nach dem asiatischen Ursprung bzw. den Aufenthaltsregionen in
Nordost- und eventuell Ostasien der später so genannten Paläo-Indianer.
109
TRIBUS 46, 1997
Schon recht bald nach Beginn wissenschaftlich fundierter Forschung an Indianern
beider Amerikas im 19. Jahrhundert hatten Anthropologen festgestellt, daß die
Ureinwohner der Neuen Welt keineswegs reine Mongolide sind, wobei es selbstver-
ständlich immer wieder auch Gegenstimmen gab. Die als Indianide in die Rassen der
Welt Eingestuften zeichnen sich sowohl durch altmongolide als auch durch alteuro-
pide Rassenmerkmale aus. Sie wurden deshalb einem Seitenzweig der Mongoliden
zugeordnet, im Gegensatz zu den Eskimo, die reine Mongolide sind.
Was ihr sichtbares Äußeres anbelangt, so besitzen alle Indianer zwar eine gleiche
Basis, wie zum Beispiel glatte schwarze Haare, wenig sonstige Körperbehaarung, ein
breites Gesicht sowie den sogenannten Mongolenfleck bei Kindern. Doch bereits bei
der Hautfarbe gibt es gravierende Unterschiede, die nicht nur durch die geographi-
sche Lage der jeweiligen Wohnsitze erklärt werden können. Unterschiedlich in ihrer
Verbreitung sind weiterhin die Mongolenfalte, die Körpergröße, die Schädelform
(Kurz- und Langschädel) sowie die Nase. Die Ansicht, daß alle Indianer zusammen
eine einheitliche (homogene) Rassengemeinschaft bilden, wie sie insbesondere in
der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von Hrdlicka und Wissler vertreten wurde,
wonach Unterschiede im körperlichen Äußeren der rezenten Indianer auf jeweils
unterschiedliche Umweltbedingungen zurückgehen sollen, ist heute Wissenschafts-
geschichte und wird nicht mehr vertreten.
Die Frage, die sich stellt, ist die, ob die aufgezeigten Variationen der indianischen
Bevölkerung des amerikanischen Kontinents auf unterschiedliche Ursprungsgebiete
der Ersten Amerikaner in Asien zurückzuführen sind, oder ob sie altersbedingt sind,
das heißt, ob die Urahnen der Indianer bereits zu einer Zeit in die westliche Hemi-
sphäre gelangt waren, als sich die Rassen noch nicht voll ausgebildet hatten. Dies
wäre dann allerdings bereits vor mindestens 20 000-25 000 Jahren der Fall gewesen.
Bis heute ist die Frage nicht beantwortet. Zunehmend spricht jedoch einiges für die
Möglichkeit einer Mischung beider Varianten.
Anhand der vorliegenden Skelettreste kann allerdings schon jetzt festgehalten
werden, daß die präindianischen Spätankömmlinge in der Neuen Welt, das heißt
während des frühen Holozäns (ab etwa 8000 v. Chr.) ausgeprägte mongolide Ras-
senmerkmale besaßen. Diese Tatsache steht nicht - im Hinblick auf die erwähnten
europiden Elemente etlicher rezenter Indianergruppen - der These entgegen, daß es
Einwanderungswellen auch vor Ausbildung der Rassen gegeben hat. Die bisher
gefundenen Skelettreste sind allerdings zu gering, um hier beweiskräftige Aussagen
machen zu können.
Bei der Diskussion um den asiatischen Ursprungsort der ersten Paläo-lndianer wird
seit einigen Jahren nicht nur Nordost-Asien genannt. Neben dem Großraum Sibirien
mit dem Gebiet um den Baikal-See sowie dem Flußsystem der Lena kristallisierten
sich vor allem Nordost-China und das nördliche Japan, insbesondere Hokkaido, her-
aus. Werfen wir zunächst einen Blick auf China.
Ausgewählte Fundregionen des chinesischen Jungpaläolithikums
Seit Öffnung des pragmatischen chinesischen Sozialismus gegenüber dem Westen
nach 1976 und verstärkt seit dem Zusammenbruch der UdSSR sind zwischen markt-
wirtschaftlich orientierten Staaten und China nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet
Fäden geknüpft worden, sondern - vielleicht noch wesentlich stärker - in kulturellen
Bereichen. Hierzu gehört auch als geisteswissenschaftliche Disziplin die Archäolo-
gie. Das heißt, der Informationsstand über das urgeschichtliche China ist zur Zeit
recht gut.
Was den uns interessierenden Zeitabschnitt des späten Pleistozäns anbelangt, so sind
hier vor allem verschiedene Löß-Stationen in Nordwest-China, der Provinz Gansu,
zu erwähnen, die von chinesischen und amerikanisch/kanadischen Archäologen-
teams untersucht wurden und werden. Da ist zum Beispiel die zwei Kilometer lange
Löß-Ablagerung von Cuijiaai, westlich der Landeshauptstadt Lanzhou in Gansu.
Hier wurden 1988 kanadische und chinesische Archäologen 26 Meter unter der Löß-
110
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
Oberfläche fündig (Wilson 1990: 51). Zwölf Abschläge, ein Kernstein, alle aus
Quarzit, sowie ein Knochenfragment wurden ausgegraben. Von dem Kern war ein in
Levallois-Technik vorbereiteter Abschlag abgelöst worden. Ein kleiner Abschlag
ließ sich außerdem an einer Kernseite problemlos einpassen. Aufgrund von Pollen-
analysen wurde die Fundschicht in ein mittleres Jungpaläolithikum (30000-20000
v. h.) datiert, allerdings mit etlichen Unsicherheiten.
Die Ausgrabungen in Cuijiaai sind nur ein Beispiel von mehreren in den zurück-
liegenden Jahren. Begleitendes Ziel eines jeden dieser Projekte ist es meist, mög-
licherweise der Ursprungsregion der Ersten Amerikaner auf die Spur zu kommen.
Typologische Vergleiche zwischen chinesisch-jungpaläolithischem Steinwerkzeug
und demjenigen der frühesten Stationen in Nordamerika haben bisher noch keinen
bzw. sehr geringen Erfolg erbracht.
Die Gansu-Provinz liegt geographisch genau südlich der Mongolei. Nördlich von
dieser befindet sich der Baikal-See, in dessen Einzugsbereich mehrere spätpleisto-
zäne Fundstellen entdeckt wurden und der bei der Suche nach der paläoindianischen
Herkunft an erster Stelle rangiert. Hierauf wird weiter unten eingegangen.
Neben den möglichen innerasiatischen Ursprungsregionen der amerikanischen
Paläolithiker sind unter Archäologen auch Gegenden in Ostasien im Gespräch, in
denen Wanderungsbewegungen des Menschen der jüngeren Altsteinzeit auf mehr
küstenorientierten Wegen in Richtung Beringstraße stattgefunden haben können.
So beispielsweise in den nordostchinesischen Provinzen Hebei, Liaoning, Jilin und
Heilongjiang. Die in diesen Provinzen bis 1996 entdeckten rund 25 Stationen, die
noch längst nicht alle ausgegraben sind, haben bisher sowohl Steinwerkzeuge als
auch Skelettreste von Mensch und Tier erbracht. Die Zahl der Artefakte geht in die
Tausende, darunter auch einige aus Knochen sowie etwas Schmuck.
Wie bei den nordwestchinesischen und sonstigen ostasiatischen Fundstellen konnten
auch in dem erwähnten jungpaläolithischen Werkzeugbestand Nordost-Chinas keine
oder kaum Merkmale entdeckt werden, die entwicklungsmäßig Verbindung mit ame-
rikanischen Steingeräten aufweisen. Doch etwas anderes fasziniert Archäologen am
chinesischen Nordosten. In der Region befinden sich die höchsten Berge Chinas. Das
Klima ist selbst heute noch rauh. Die Winter während des späten Paläolithikums
brachten Schnee und Eis, und sogar in den Sommern hielt sich ein Permafrostboden,
der sich in Resten noch heute nachweisen läßt. Die Menschen des nordöstlichen
China lebten während der jüngeren Altsteinzeit in einer periglazialen Umwelt. Als
ein mittleres Alter für diesen Zeitabschnitt werden 30000 Jahre genannt (Jiang 1987:
15). Die Jungpaläolithiker des chinesischen Nordostens waren also an ein harsches
Klima gewöhnt.
Fauna und Flora waren weiter im Norden Ostasiens nicht wesentlich verschieden
von den Tieren und Pflanzen der nordostchinesischen heimatlichen Gefilde. Hier
wie dort existierten während des ausgehenden Pleistozäns Mammut, Wollnashorn,
Hyäne, Pferd und Bison. Pollenanalysen haben ergeben, daß Birke, Fichte und Kie-
fer die häufigsten Bäume waren. Die Umwelt wird einer Kombination aus Tundra
und Steppe, mit Taiga an den Flußläufen und anderen Gewässern, entsprochen
haben.
Manche Befunde nordostchinesischer Stationen des Jungpaläolithikums erinnern
an diejenigen Osteuropas derselben Kulturperiode. So wurde beispielsweise bei der
chinesischen Stadt Harbin, Provinz Heilongjiang, rund 500 km Luftlinie nach Osten
von der Mongolei entfernt, ein Lagerplatz jungpaläolithischer Jäger und Sammler
entdeckt, der offenbar durch eine Art Windfang aus Bison-Langknochen (Bison
exiquus) geschützt war. Die Lage der Skelettreste ließ vermuten, daß die einzelnen
Knochen mit Sehnen zu einem Gerüst verbunden waren (Jiang a. a. O.; 16). Dieser
Befund läßt an etliche jungpaläolithische Wohnhütten am Don und in Mähren
denken, deren Grundgerüste aus Mammut-Langknochen und -Stoßzähnen bestan-
den. In beiden Fällen waren die Knochenbauten mit Tierhäuten abgedeckt worden,
hier vom Bison, dort vom Mammut stammend.
Dieser nordostchinesische Fundplatz mit dem klingenden Namen Yanjiagang ist nur
ein Beispiel von mehreren Hundert aus dem Paläolithikum, die im Norden Chinas
111
TRIBUS 46, 1997
seit 1949 entdeckt worden sind (Ho/Li 1987: 7). Bis Anfang der 90er Jahre ist ledig-
lich gut ein Dutzend von ihnen ausgegraben worden. Die dabei angefallene Menge
an archäologischem Material ist allerdings jetzt schon so gewaltig, daß eine relativ
gesicherte Rekonstruktion des nordchinesischen Paläolithikums gewagt werden
kann.
Wie auch sonst bei Ausgrabungen von altsteinzeitlichen Jagd- und Siedlungsplätzen
überall auf der Welt besteht das chinesische Fundmaterial hauptsächlich aus Steinar-
tefakten. Interessant ist. daß die chinesischen Archäologen auf zwei unterschiedliche
Werkzeugtypen stießen, die eventuell für zwei verschiedene Traditionslinien stehen.
Grundlage der einen sind Großgeräte, wie Grobschaber oder Haumesser (choppers),
aus großen Abschlägen gefertigt, sowie Faustkeile und dreispitzige Geräte, die als
Leitartefakte für diese Tradition gelten können. Diesen Werkzeugformen stehen
Kleingeräte gegenüber. Sie bestehen hauptsächlich aus Schabern und Sticheln, aus
flüchtig bearbeiteten Abschlägen hergestellt.
Beide Formenkreise lassen sich zwar nicht hundertprozentig sauber voneinander
trennen, da Kleingeräte auch bei dem großformatigen Inventar gefunden wurden
und umgekehrt, doch weist die Tendenz in Richtung auf zwei unterschiedliche Tra-
ditionen, die Jahrzehntausende auseinanderliegen mögen. Fossile Knochen, die mit
den Großgeräten vergesellschaftet waren, zeugen von einem warmen Klima, das bei-
spielsweise während der ausklingenden letzten Zwischeneiszeit (Riß/Würm bzw.
Fern), etwa vor 90000 Jahren, geherrscht hat. Eine Zeitstellung für die Großgeräte-
tradition ist aber noch nicht gesichert.
Dagegen zeigen die Schichten, aus denen die meisten Kleingeräte gehoben wurden,
faunistisch ein jungpaläolithisches Gepräge, wie die oberen Schichten von Chou-
kou-tien (Zhoukoudian). Die Maße des kleinsten hier gefundenen Steingerätes be-
tragen 2,1 x 0,9 x 0,4 cm, Gewicht 1 g. Diese kleinen und winzigen Steinobjekte
können zum Teil bereits Pfeilspitzen gewesen sein. Pferde und Esel waren die vor-
wiegende Jagdbeute der damaligen Menschen.
Diese Tiere weisen auf eine Steppenlandschaft mit kälterem Klima hin. Für niedrige
Temperaturen sprechen auch die durchgeführten Pollenanalysen. Selbst heute noch
ist das Klima im nordwestlichen, nördlichen und nordöstlichen China trocken und
kalt, die Landschaften bestehen oft aus weiten Grasfluren, teilweise unterbrochen
von Halbwüsten.
Wir werden auf die Steingeräte-Industrien in Nordost-Asien noch weiter unten zu
sprechen kommen. Wichtig ist zunächst, daß sich in Nordchina bereits im jüngeren
Altpaläolithikum, im Mittel- sowie im Jungpaläolithikum Kleingeräte nachweisen
lassen. Das hat Auswirkungen auf die Suche nach dem Ursprung der frühen Paläo-
Indianer.
Wenden wir uns nun Japan zu, einer Region, die im Zusammenhang mit der Herkunft
der Ersten Amerikaner erst seit wenigen Jahren ernsthaft im Gespräch ist.
Das nördliche Japan
Die japanische Archäologie hat in den zurückliegenden Jahren erkenntnisreiche
Fortschritte zu verzeichnen. Regional am interessantesten für die uns am Herzen lie-
genden Fragen ist das nördliche Japan, insbesondere die Insel Hokkaido. In den Jah-
ren von 1983 bis 1988 sind Ausgrabungsergebnisse von mindestens 20 pleistozänen
Stationen Japans publiziert worden. Tausende von Quadratmetern wurden fach-
männisch ergraben, und Abertausende von Steinartefakten wurden ihrem jahrtau-
sendelangen Schlummer entrissen. Die regionalen Kulturabfolgen der japanischen
Prähistorie liegen klarer als je zuvor zutage, dennoch gibt es viele ungelöste Rätsel
(s.Keally 1988: 13).
Keiner der im Norden Japans liegenden Fundstellen wird ein höheres Alter als
24000 Jahre zugesprochen, mit der möglichen Ausnahme einiger weniger in der
pazifischen Präfektur Miyagi im Nordosten von Honshu, der größten japanischen
Insel. Die erste steinzeitliche Kulturperiode wird in Japan »Frühes Paläolithikum«
112
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
genannt (a.a. O.: 14). Ähnlich wie in der Archäologie des amerikanischen Doppel-
kontinents gibt es in Japan Kontroversen über die erste Einwanderung des Menschen
in das Inselreich. Die zeitliche Grenze liegt hier bei 30000 Jahren.
Alle Funde, die früher eingruppiert werden, stoßen bei japanischen Prähistorikern
auf Skepsis. Dabei wird entweder die Datierung des Fundmaterials oder überhaupt
die artifizielle Herstellung der Steinobjekte in Frage gestellt.
Die Zeitspanne des »Frühen Paläolithikums« von Miyagi reicht von 30000 bis über
350000 Jahre (Keally 1987: 19). Einiges Material der Miyagi-Industrie soll mittel-
paläolithischen Steinwerkzeugen Europas und Chinas gleichen. Doch mit der typolo-
gischen Methode in der Archäologie ist das so eine Sache. Zweifel an einem hohen Al-
terdesjapanischen Paläolithikums sind wohl berechtigt. Die vorherrschende Meinung
japanischer Archäologen ist die, daß das Miyagi-Material einem späten Paläolithikum
zuzurechnen ist, zumal auch die Exaktheit der vorgelegten hohen Datierungen der
betreffenden Funde bezweifelt wird.
Die 30000-Marke für den Beginn des japanischen Paläolithikums wird dagegen
weitgehend akzeptiert. So gibt es mittlerweile mehrere japanische Artefaktsamm-
lungen, deren Alter aufgrund der jeweiligen geologisch gesicherten Fundsituation
und der kulturellen Sequenz mehrerer benachbarter Fundstellen ±30000 Jahre
beträgt. Eine dieser an paläolithischen Stationen reichen Gegenden Japans liegt
ca. 30 km westlich von Tokio (Keally/Hayakawa 1987: 463). Ziehen wir lediglich die
Zeitstellung in Erwägung, ist es also durchaus möglich, daß ein Zweig der urameri-
kanischen Siedler der japanischen Altsteinzeit entsproß.
Daß die Besiedelung selbst der Insel Honshu sehr früh erfolgte, zeigt das erwähnte
Alter mancher jungpaläolithischer Funde. Während Hokkaido im späten Pleistozän,
während unserer (europäischen) Würm-Eiszeit, unter Einschluß der Insel Sachalin
mit Sibirien durch eine Landbrücke verbunden war, führte die Tsugaru-Straße zwi-
schen Hokkaido und Honshu immer Wasser, das allerdings für Elch und Braunbär
kein Hindernis darstellte, auf die letztgenannte Insel einzuwandern (Keally 1990:
143). Auch dem eiszeitlichen Menschen wird es nicht allzu schwergefallen sein, die
Tsugaru-Straße zu überqueren.
Hokkaido, die nördlichste der großen japanischen Inseln (81 513 qkm), ist noch heute
klimatisch eine südöstliche Fortsetzung Sibiriens. Mit Blick auf glaziale Verhältnisse
ist es daher naheliegend, daß einzelne jungpaläolithische Hokkaido-Gruppen, die
Jahrtausende zuvor aus dem Norden über Sachalin südwärts gezogen waren, während
wärmerer glazialer Phasen im küstennahen Bereich allmählich wieder nordwärts wan-
derten, Ostsibirien erreichten und schließlich Beringia. Dabei haben wir zu bedenken,
daß sich diese Süd-Nord-Bewegungen zwischen einem Stadial und einem Interstadial,
höchstwahrscheinlich während der (vorerst) letzten Eiszeit, abgespielt haben werden
(in absoluten Daten etwa um 35 000 v. h. und dann um 17 000 v. h.). Diesen Überle-
gungen stehen allerdings die zur Zeit vorliegenden Datierungen der Funde auf
Hokkaido entgegen. Die Altersangabe zu paläolithischen Hokkaido-Stationen bewe-
gen sich in der Regel zwischen 10000 und 15 000 Jahren. Sollte es bei dieser Datie-
rung bleiben, würde das dafür sprechen, daß ein Zweig der ostasiatischen Jungpaläo-
lithiker in Höhe des heutigen ochotskischen Meeresküstenverlaufes südöstlich in
Richtung Hokkaido, ein anderer nordöstlich in Richtung Beringia wanderte.
Ein wenn auch nicht zweifelsfreier Lichtblick für eine frühe Besiedelung Hokkaidos
aus dem Norden bieten Altersangaben von 24000 Jahren aus dem Süden der Insel
(Keally 1990: 143). Diese älteren Fundstellen sollen nach japanischen Angaben aller-
dings nicht auf Wanderungen aus dem Norden, sondern aus dem Süden zurückgehen,
das heißt auf ein Zurückfluten paläolithischer Honshu-Ethnien, die ihr Territorium
über die Tsugaru-Straße in den Süden von Hokkaido ausdehnten. Typologische Ver-
gleiche des Gerätebestandes aus Südhokkaido mit Steinobjekten aus entsprechend
alten Fundplätzen auf Honshu sprechen für diese Annahme. Allerdings müßten die
Honshu-Paläolithiker ja auch irgendwo hergekommen sein, auf jeden Fall aus dem
Norden.
Für eine Verwandtschaft des Hokkaido-Jungpaläolithikums mit demjenigen Sibi-
riens sprechen die zahlreichen »Mikrolithen« (im japanischen Sinne) aus den nörd-
113
TRIBUS 46, 1997
lieber gelegenen Hokkaido-Stationen. Typologisch gleichen sie denen aus sibiri-
schen Fundplätzen. In jedem Fall spricht diese Hokkaido-Steinindustrie für die
Annahme eines Vordringens jungpaläolithischer Menschen aus Sibirien nach Süd-
osten mit der Endstation Hokkaido vor 14000 oder 15 000 Jahren. Mit »Mikrolithen«
werden in der japanischen Archäologie nicht, wie zum Beispiel in Europa, Objekte
einer Kleingeräteindustrie verstanden, sondern Steinwerkzeuge, oft Stichel, deren
Ausgangsformen Kerne und Klingen sind. Diese »Mikrolithen« zeichnen sich also
nicht durch eine geringe Größe aus. Sie können im Gegenteil ziemlich groß sein.
Jede der vorgestellten Wanderungsthesen muß leider mit einer geologischen Gege-
benheit leben. Die Fundplätze, die tatsächliche Beweise liefern könnten, liegen jetzt
alle (nach dem heutigen Forschungsstand) unter dem Meeresspiegel, da die eiszeit-
liche Landbrücke zwischen Hokkaido und Sibirien über Sachalin sehr breit war. Sie
bestand aus einer endlos erscheinenden Tundra. Paläolithische Stationen müßten sich
allerdings am Rande der Bergketten, die heute das Ochotskische Meer begrenzen,
finden lassen, zumeist unter dem Meeresspiegel, vielleicht die eine oder andere sogar
außerhalb des Wassers. Möglicherweise entpuppt sich die Region in Zukunft als
prähistorisches Dorado für russische Archäologen. Die Fundstellen auf Hokkaido
sind jedenfalls vielversprechend.
Nach rund zwei Jahrzehnten intensiver archäologischer Arbeit auf der Insel gehört
Hokkaido gegenwärtig zu den am besten erforschten Gegenden der Welt. Die hier
gemachten Funde betreffen sowohl die aus Nordchina als auch die aus Sibirien stam-
menden in quantitativer und qualitativer Hinsicht (Keally a. a. O.). In jedem Fall soll-
ten sie bei der Frage nach dem asiatischen Ursprung der Ureinwohner Amerikas stär-
ker als bisher berücksichtigt werden.
Liegt der Schlüssel in Sibirien?
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit der ostasiatischen Region zu, die hinsicht-
lich der möglichen Heimat der Paläo-Indianer unter amerikanischen Archäologen
die größte Anhängerschaft besitzt - Sibirien. Seit etlichen Jahren wurde insbeson-
dere das Fundgebiet der Diuktai-Höhle* mit etlichen Freilandstationen östlich von
Yakutsk am ostsibirischen Aldan, einem Nebenfluß der Lena, als Herkunftsregion
der amerikanischen Ureinwohner in die engere Wahl gezogen.
Bei allen Überlegungen, wann und von wo genau sich einst paläosibirische Jäger und
Sammler in Richtung Beringia aufmachten, um schließlich Amerika zu erreichen,
spielt bei vielen Archäologen noch heute - wenn auch mit allerlei Abstrichen - die
sogenannte Diuktai-Kultur, benannt nach der erwähnten Höhle und weiteren Statio-
nen am genannten Fluß, eine gewisse Rolle.
Diese durch ihre Artefakte (Klingen, von vorbereiteten Kernen geschlagen und
doppelseitig flächenretuschiert) bestimmte Kultur bzw. Tradition soll von Süden in
die Region am Aldan eingewandert sein, eventuell von der Angara in Südsibirien
oder aus Nordchina (Goebel et al. 1991: 76). Die dieser Kulturperiode zuzurechnen-
den Steinwerkzeuge (s. zum Beispiel Struwe/Wolf 1990: 208) fanden sich nicht nur
in der genannten Höhle, sondern auch an weiteren Fundorten, meist - wie erwähnt -
Freilandstationen, so Ust’Mil, Verkhne-Troitskoe, Ust’Diuktai I, UsLBikir, Ikhine I
und II, Ezancy, und Uski, weiterhin auf Kamtschatka sowie an einer Fundstelle am
Fluß Berelech. Der Fundplatz Uski weist mit seinen Stielspitzen, die sonst in Sibi-
rien nicht vertreten sind (Valoch 1985: 285), auf Japan und Amerika.
Im Laufe der jüngeren Forschungsgeschichte wurde mehr und mehr davon Abstand
genommen, daß tatsächlich Diuktai-Gruppen die ersten Siedler auf amerikanischem
Auch Diouktai, Djuchtai, Djuktaj und Dyuktai. Aus Gründen der Einheitlichkeit und Ver-
wendung sonstiger anglistischer Begriffe wird hier das in der amerikanischen Literatur
gebräuchliche »Diuktai« benutzt. Zu unterscheiden ist die Diuktai-Höhle von den ebenfalls
in der Aldan-Region gelegenen Diuktai-Stationen (meist Freiland) mit typologisch ver-
wandten Artefakten.
114
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
Boden waren. Heute geht die Mehrzahl der Prähistoriker davon aus, daß ostsibiri-
sche Jungpaläolithiker unterschiedlicher lokaler und kultureller Herkunft Beringia
zu verschiedenen Zeiten betraten. Einzelne Lokalgruppen solcher eng begrenzter
Regionen, von denen bereits seit mehreren Jahren eine stattliche Anzahl bekannt sind
(Valoch a. a. O.), kamen dann auch nach Alaska.
Seit der russische Archäologe Yuri A. Mochanov zum erstenmal 1969 in Yakutsk das
Material der Diuktai-Höhle vorlegte, ist es in zahlreichen Publikationen überarbeitet
und verschiedenen Revisionen unterworfen worden, auch von ihm selbst. Dabei hat
es hinsichtlich der ursprünglichen Datierungen kaum Änderungen gegeben. Auf-
grund archäologischer, geochronologischer und archäozoologischer Befunde, immer
unter Einbeziehung von l4C-Daten, wurde die Siedlungsdauer aller Diuktai-Statio-
nen im Schnitt auf 25 000 Jahre, nämlich von 35 000 bis 10 000 v. h., festgelegt. Diese
Zeitspanne ist nahezu zeitgleich mit dem gesamten westeuropäischen Jungpaläoli-
thikum.
Die ersten Datierungen lieferte Ust’Mil, beginnend mit 35 000 und endend bei 12 000
v. h. Weit in die Vergangenheit reicht auch Ikhine II mit einer Spanne von 31000 bis
24000 v. h. Im Hinblick auf stratigraphische und 14C-Verläßlichkeit ist Verkhne-
Troitskoe die Top-Station. Die Datierungen reichen hier bei bester Stratigraphie von
18 300 bis 14 530 v. h. Die Fundstelle schließlich, die dem gesamten Komplex, der in
Richtung Besiedelung Amerikas weist, den Namen gab, die Diuktai-Höhle nämlich,
weist lediglich eine Spanne von 14000 bis 12000 v. h. auf (Clark 1988: 4).
Das Einmalige an der Diuktai-Höhle ist, daß ihre Siedlungsschichten verläßlich sind,
ohne Störungen durch irgendwelche witterungsbedingten oder geophysikalischen
Erdbewegungen, zusätzlich mit einer Fülle an Artefakten, die mit Faunenresten
vergesellschaftet sind. Leider repräsentieren diese Höhlenschichten einen ziemlich
jungen und engen Horizont, im ausgehenden Jungpaläolithikum lediglich besagte
2000 Jahre.
Während die Diuktai-Freilandstationen zwar sehr viel weiter in die Vergangenheit
reichen als die namengebende Höhle und auch stratigraphisch viele Jahrtausende
umfassen, sind ihre Daten aufgrund der besonderen klimatischen Verhältnisse der
Arktis doch nicht sonderlich verläßlich. Verantwortlich hierfür sind Erosion, Kryo-
turbation, Bodenfließen und weitere Beeinträchtigungen der chronologischen
Schichtenfolgen, beispielsweise durch Eiskeile. Dies alles mag dazu beigetragen
haben, daß Artefakte aus oberen (das heißt also jüngeren) Schichten in tiefere (ältere)
gelangt sein können. Umgekehrt kann Holz, besonders wertvoll für l4C-Datierungen,
in einer aktiven arktischen Landschaft aus älteren in jüngere Sedimente umgelagert
werden.
Alle diese Gegebenheiten und die sich hierauf stützenden Überlegungen haben dazu
geführt, daß das ursprünglich hoch angesetzte Alter der frühen Diuktai-Artefakte aus
den Aldan-Freilandstationen etlichen Prähistorikern suspekt geworden ist. Wie dem
auch sei, die von Mochanov angenommene Eingruppierung in das Boutellier-lnter-
val! ist auf jeden Fall unwahrscheinlich. Was heute weitgehend akzeptiert wird, ist
ein maximales Alter der sogenannten Diuktai-Kultur von 18 000 Jahren, wobei
13 000-14000 Jahre wahrscheinlicher sind (Clark 1988: 5).
Fazit für Beringia und die früheste Begehung Nordamerikas; Diuktai muß hierfür
ausscheiden und kann eigentlich nur noch für nachfolgende Einwanderungswellen
in Betracht gezogen werden. Diejenigen Paläo-Sibirier, die in die Fußstapfen der
frühesten Einwanderer nach Amerika traten, können unter Umständen Angehörige
der Paläoarktischen Tradition gewesen sein. Hier würde die Fundregion stimmen -
Alaska -, hier wäre auch die richtige Zeitspanne der Besiedelungsphase - 13 000
bis 11000 v. h. -, hier würde die Umwelt passen und ebenfalls der Gerätebestand, die
sogenannte Mikroklingentradition, die Ähnlichkeiten mit Diuktai-lnventaren auf-
weist (Clark ebenda). Doch ist uns damit im Hinblick auf die asiatische Herkunft der
Paläo-Indianer nicht geholfen ... die erwähnten paläoarktischen Hinterlassenschaf-
ten sind kaum, wenn überhaupt, älter als die der Clovis-Periode (Entsprechendes
kann hinsichtlich des Nenana-Komplexes Alaskas gesagt werden; Haynes [1987:
83-93] hält hier noch nicht einmal etwas von einer Diuktai-Verwandtschaft).
115
TRIBUS 46, 1997
Clovis ist die bisher älteste, zeitlich gesicherte Periode Amerikas. Ihre Artefakt-
Datierungen reichen bis 12 850 Jahre zurück, das heißt bis an den Beginn der Paläo-
arktischen Tradition. Doch zwischen ihren beiden Großräumen liegen 2000 Kilo-
meter. Die Paläo-Indianer, die Clovis schufen, müssen bereits einige Jahrtausende
vor den paläoarktischen Gruppen den Norden Amerikas durchquert haben. Diese
Überlegungen laufen auf einen Zeitraum von mindestens 15 000/16000 Jahren hin-
aus, als der erste Mensch seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte.
Kehren wir also nach Sibirien zurück, in eine Zeit um 30000 v. h.: Die Zeiten eines
jahrtausendealten Interstadials gehen allmählich zu Ende. In Nordamerika sollte
diese wärmere Periode, das Port-Talbot-Interstadial, noch etliche Jahrtausende
andauern. In Nordost-Asien zieht sich die sumpfige und für den Menschen nicht
verlockende Taiga nach Süden zurück. Statt dessen gewinnt der unendlich erschei-
nende Tundrengürtel mit Steppencharakter an Fläche, vor allem in Ost-West-
Richtung. Je nach topographischen Gegebenheiten wechselte die Breite dieses
Trockengebietes zwischen 500 und 2000 km. Es lag etwa zwischen dem 50. und dem
68. Grad nördlicher Breite. Hier fanden die Herden grasfressender Großsäuger,
Mammut, Pferd, Ren, zum Teil wollhaariges Nashorn und Saiga-Antilope, ihre Nah-
rung. Sie zogen wiederum den Menschen an, der von ihrem Fleisch lebte und ihnen
auf ständiger Wanderschaft folgte.
Einer der Lebensräume jungpaläolithischer Sibirier befand sich am Baikal-See. Die
Fundstätte von Mal’ta am Fluß Angara nahe der Stadt Irkutsk ist wegen ihrer alt-
steinzeitlichen Knochen- und Mammutbeinschnitzereien weltberühmt. Weniger
bekannt ist die Station Tolbaga, am Fluß Khilok südöstlich des Baikal-Sees gelegen,
deren paläolithische Schichten 14C-Daten von 34 860 ± 2100 v. h. sowie 27 210 ± 300
v. h. geliefert haben. Neben Steinartefakten sind besonders die aufgefundenen Werk-
zeuge und Waffen aus Knochen interessant. Für die Baikalsee-Region ist außerdem
noch Ust’Menza II zu nennen, deren Schichten von der Bronzezeit bis ins mittlere
Jungpaläolithikum herunterreichen. Außer den üblichen Steingeräten wurden Kno-
chenfragmente gefunden und Reste von Wohnanlagen mit Herdstellen freigelegt. Bis
in die jüngste Zeit sind an beiden der letztgenannten Fundplätze Ausgrabungen vor-
genommen worden.
Ein vor 20000 bis 25 000 Jahren bewohntes Gebiet zog sich bis an den Jenissei hin,
wie reichhaltige Stationen, die zum Teil bereits in den 1920er Jahren ausgegraben
wurden, bezeugen. Im oberen Jenissei-Tal grub im Jahr 1989 der russische Archäo-
loge A. A. Bokarev an der Station Kashtanka I mit einer typischen endpleistozänen
Fauna sowie jungpaläolithischen Artefakten. Im selben Jahr wurde am Fundplatz
Listvenka, am Rande der Stadt Divnogorsk nahe Krasnoyarsk, archäologisch ge-
arbeitet. Insgesamt 19 Siedlungsschichten sind hier mittlerweile freigelegt worden.
Herdstellen in der Schicht 8 ähneln solchen von Kokorevo I, ebenfalls im Jenissei-
Tal gelegen. Die untersten und obersten Lagen (2-6 und 14-19) lieferten Funden-
sembles, die der »Afontova-Gruppe« zuzuordnen sind, während die mittleren Hori-
zonte (7-13) Artefakte vom »Kokorevo-Typ« erbrachten. l4C-Datierungen liegen
bisher nur für die beiden unteren Schichten der letztgenannten Gruppe vor. Sie be-
wegen sich altersmäßig zwischen 12750 und 14 750 v. h.
Neben der Jenissei-Region war während des Jungpaläolithikums ebenfalls das
Flußsystem der Lena Siedlungsgebiet. Hier sind die Stationen Shishkino I und II
zu erwähnen. Deren Siedlungsphasen reichen vom mittleren Jungpaläolithikum bis
zur Eisenzeit. Das Alter der ältesten Funde, insbesondere Kerne, Blattspitzen und
Schaber, wurde auf 16000 bis 18 000 Jahre festgelegt. Ein weiterer Fundplatz an der
oberen Lena ist Balyshovo III. Die Station liegt 16 bis 17 m über dem Fluß am west-
lichen Ufer. Die Funde entsprechen denen von Shishkino I und II und sollen dem
späten Letztglazial angehören.
Interessant sind die ostsibirischen Funde insbesondere deshalb, weil hier erstmals
vermeintliche Verbindungen mit Alaska sichtbar werden. So wenigstens glauben
einige Archäologen. Da ist beispielsweise die Station Bol’shoi El’gachkhan I am
Omolon, ca. 35 m über dem Fluß gelegen. Das steinerne Fundmaterial besteht aus
Kernen, unretuschierten Klingen und Abschlägen, zweiseitig bearbeiteten Spitzen,
116
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
Schabern und Grobschabern. Der zuständige Archäologe vergleicht das Fundensem-
ble mit demjenigen der untersten Schicht von Ushki I in Zentralkamtschatka und mit
Stücken des Nenana-Komplexes Zentralalaskas.
Fazit
Noch immer ist die Diskussion um die indianische Herkunft nicht beendet. Fest steht;
über die Beringstraße aus Ostasien, aber von wo? Wir sind dieser Frage hier hinsicht-
lich Sibiriens, des nördlichen Japan und Nordwest- sowie Nordost-Chinas nachge-
gangen. Weitere Großräume mögen sich in Zukunft herausstellen. Doch Sibirien wird
seine überragende Stellung in der Diskussion über die Herkunft des Paläo-Indianers
behalten.
Neben den nicht sonderlich aussagekräftigen anthropologischen Studien (die quanti-
tative Vergleichsgrundlage ist einfach nicht ausreichend) kommt dem Kulturver-
gleich besonderes Gewicht zu. Hierbei bleibt den Prähistorikern - in Ermangelung
anderer Vergleichsobjekte - nichts anderes übrig, als sich des Hilfsmittels der in
diversen Stationen Nordost-Asiens und des gesamten amerikanischen Doppelkon-
tinents gefundenen Steinartefakte zu bedienen, das heißt der auf mehrere Arten zuge-
schlagenen Werkzeuge unterschiedlichen Typs. Doch selbst intensivster Forschungs-
tätigkeit ist es bis heute nicht gelungen, direkte Verbindungslinien zwischen
ostasiatischen und amerikanischen Steingeräten nachzuweisen. Das Ergebnis aller
dieser vielfältigen Bemühungen kann in zwei Sätzen zusammengefaßt werden: Es
gibt keine asiatischen Parallelen zu den (gesicherten, von allen Seiten anerkannten)
frühesten paläoindianischen Speer- und Lanzenspitzen, das heißt den gekehlten Clo-
vis-Spitzen. Alle möglicherweise älteren Artefakte, wie die kulturellen Hinterlas-
senschaften einer nach wie vor nicht bewiesenen Prä-Clovis-Periode, die Ähnlich-
keiten zu ostasiatischen Steingeräten zeigen, nämlich Schaber, Klingen und
Blattspitzen, beruhen auf entsprechenden Techniken der Steinbearbeitung diesseits
und jenseits des Pazifik.
Letzteres ist für jeden an der Prähistorie Amerikas interessierten Wissenschaftler
besonders mißlich, muß jedoch bis zum Beweis eindeutiger kultureller Zusammen-
hänge zwischen Asien und Amerika bestehenbleiben. Rufen wir uns die Zeiträume,
die hier berücksichtigt werden müssen, ins Gedächtnis und denken wir an die räum-
lichen Entfernungen, immerhin Tausende von Kilometern, die oftmals in den archäo-
logischen Diskussionen keine Rolle zu spielen scheinen, so ist es vermutlich nahezu
aussichtslos, daß dieser Beweis je erbracht werden kann.
Um dem Ursprung der amerikanischen Urbevölkerung näherzukommen, müssen
andere Wege eingeschlagen werden. Einer ist die geographische Überlegung im
allgemeinen und die topographische im besonderen. Wo auch immer der ostasiati-
sche Ausgangspunkt der Wanderungsbewegungen in Richtung Beringstraße gelegen
haben mag, die Routen müssen durch das nordöstliche Sibirien geführt haben. Reine
Entdeckerfreude der Paläo-Sibirier, die zu Paläo-Indianern werden sollten, dürfen
wir wohl (weitgehend) ausschließen. Was die eiszeitlichen Menschen vorangetrieben
hat, war die Suche nach Eßbarem, das heißt Wildherden, die - selbst auf der Suche
nach Nahrung - in Richtung Beringia und deren unermeßlichen Grasfluren zogen.
Alle diese Wanderungen, ausgelöst durch Hunger, gingen nicht von heute auf morgen
vonstatten, sondern erfolgten in langen Zeiträumen, die sicherlich schon auf asiati-
schem Gebiet Jahrtausende beanspruchten. Die einzelnen Jäger- und Sammlergrup-
pen, wo immer sie hergekommen sein mögen, haben also sicherlich Nordost-Asien
nicht schnell durchquert, um »Amerika zu erreichen«. Wie eingangs gesagt, haben
sie sich vielmehr auf ihrem Weg in Richtung Beringia in etlichen sibirischen Regio-
nen über längere Zeiten aufgehalten.
Ebenfalls ist davon auszugehen, daß sich die eiszeitlichen Sibirier auf ihrem Weg
nach Osten auch auf der Landbrücke Beringia, die als solche - bei einer maximalen
Breite von 1500 km - allerdings nicht zu erkennen war, so lange aufgehalten haben,
wie es die Jagdverhältnisse zuließen. Eine zeitweilige Rückbewegung in Richtung
TRIBUS 46, 1997
Westen, nach Sibirien, ist auch nicht auszuschließen, so daß sich die Überquerung
der Landbrücke zwischen den Kontinenten Jahrhunderte, ja Jahrtausende hingezo-
gen haben kann.
Während langer Zeitspannen gibt es bei Jäger- und Sammlergruppen erfahrungs-
gemäß keine bedeutsamen Kulturwandelprozesse, sofern nicht von einer dominan-
ten, benachbarten Bevölkerung hervorgerufen. Trotz dieser mit Recht angenomme-
nen kulturellen Beharrung während der paläosibirischen Perioden dürfen wir doch
über die Jahrtausende einen gewissen Kulturwandel, wenn auch langsam voran-
schreitend, voraussetzen. Rechnen wir nämlich alle Wanderzeiten der ostasiatischen
Paläolithiker, die schließlich - spätestens zwei bis vier Jahrtausende vor Ende der
Wisconsin-Eiszeit (Würm/Weichsel) - zu Paläo-Indianern geworden waren, zusam-
men, so ergeben sich gut und gerne 20000 Jahre. In so langen Zeiträumen kann sich
auch bei Wildbeutern und Jäger/Sammlern kulturell einiges verändern. Fazit: Es
ist müßig, unter typologischen Aspekten nach Verbindungslinien zwischen ostasia-
tischen und amerikanischen Artefakten aus glazialer Zeit Ausschau zu halten.
Bestenfalls lassen sich Ähnlichkeiten zwischen den ersten, eindeutig anerkannten
paläoindianischen Steinwerkzeugen und denjenigen älterer (als Clovis) Stationen auf
der/den Route(n) von Ost nach West, das heißt »auf dem Weg zurück«, feststellen.
Doch auch hier zeigt sich bisher, wie gesagt, in der archäologischen Forschung nicht
viel. Der Schlüssel liegt also nicht mehr in Sibirien, sondern eher in Alaska und dem
nordwestlichen Kanada. In diesen riesigen Gebieten gibt es sicherlich noch zahlrei-
che Forschungslücken.
Lichtblicke gibt es bereits. Einer ist auf neue physikalische Datierungsmethoden
zurückzuführen. Seit 1978, dem Entdeckungsjahr der Mesa-Station auf den Nordab-
hängen der Brooks Range in Alaska, hatten die dort gefundenen Steinwerkzeuge ein
Alter zwischen 7000 und 8000 Jahren erbracht, zu jung, um sie in Verbindung mit
Clovis-Geräten bringen zu können. Doch im März 1993 konnte der Entdecker der
Fundstelle, Michael Kunz, ein Archäologe, der sich jahrelang mit der Erforschung
dieser Station und ihren Funden beschäftigt hatte, auf einer Pressekonferenz in Was-
hington stolz berichten, daß es ihm und dem Anthropologen Richard Reanier gelun-
gen sei, mittels eines Massenspektrometers die 8000er Marke auf 11700 Jahre zu
erhöhen. Diese Zahl ist ausreichend, um sie als Zeitspanne, in der Vorfahren eines
Teils der Clovis-Leute auf ihrem Weg in den Süden in Alaska gelebt haben können,
allseits anzuerkennen. Und so gab es denn auch wissenschaftlichen Beifall. Wohl-
weislich hatte Kunz nicht von einem Prä-Clovis gesprochen. Und hier setzten nun
gleich auch die Kritiker ein. Sie meinten, daß die Mesa-Objekte nicht genau Clovis-
Formen entsprächen. Und der berühmte Archäologe George Frison von der Wyo-
ming-Universität präzisierte, daß die Werkzeuge der Mesa-Station solchen des Agate
Basin-Komplexes (liegt später als Clovis) aus dem östlichen Wyoming nahekämen.
Um die Wanderungsbewegungen der Paläo-Indianer »zurück« zu verfolgen, beob-
achten die in diesem Bereich tätigen Prähistoriker insbesondere die Topographie der
für die Einwanderungsrouten in Frage kommenden Regionen. Dabei sind nicht nur
die Großräume des nordwestlichen Nordamerikas, sondern auch diejenigen einstigen
Bergspitzen Beringias, die heute die kleinen Inseln der Beringstraße bilden, in die
archäologischen Überlegungen einzubeziehen. Da es sich hierbei leider nur um
kleine Flächen handelt, sollte besonders intensiv Zentimeter für Zentimeter abge-
sucht und versuchsweise gegraben werden. Die diesbezüglichen, seit Jahrzehnten
sporadisch immer wieder durchgeführten Forschungen haben bis heute zwar etliche
Kulturbezüge zu Eskimo, Protoeskimo und Aleuten erbracht, doch hinsichtlich der
Paläo-Indianer ist immer noch kein Durchbruch zu verzeichnen.
Herrn Dr. Jörg Helbig, Institut für Völkerkunde München, danke ich für seine Unter-
stützung beim Besorgen von zwei Abbildungen. Herrn Franz Schilling, Staatliches
Museum für Völkerkunde München, gebührt Dank für die Umzeichnung der Karte
(Nr. 3).
118
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Palao-Indianers
Summary
This paper presents new views on the question where the Asian origin of the earliest
Americans can be located. Most of these views rely on worldwide studies by geolo-
gists, paleontologists, and prehistorians published in reports of the Center for the
Study of the First Americans at Oregon State University, Corvallis.
There are four East Asian areas selected for the possible origin: Northwest China,
Northeast China, Northern Japan, especially Hokkaido, and Sibiria with Baikal Sea
and Lena areas. In Northwest China Cuijiaai, two kilometers from the Capital Lan-
zhou in the province of Gansu, must be under consideration. Its findings present a
middle period of Upper Paleotithic times (30,000-20,000 b.p.).
Due to the question from where in East Asia the Proto-Americans came from is also
Northeast China, especially the provinces Hebei, Liaoning, Jilin, and Heilongjiang.
Today there are known almost 30 Upper Paleolithic locations. Particularly interesting
are the former temperatures in those areas which are even today very low. In glacial
times they must have been hardened enough to go farther North.
Archeologists in Japan have made enormous progress in recent years. Especially
interesting for the question of Paleo-Indian origins is Hokkaido which was one land
together with Sachalin and Sibiria in the Wisconsin glacial. There are well founded
considerations that some bands of Upper Paleolithic people, after their migration to
Eastern Asia, settled down on Japanese islands, and others were going further North
to Eastern Sibiria and finally to Beringia. Sites from Southern Hokkaido are dated to
as long as 24,000 b.p. In the future it will be Russian archeologists’ turn to look for
Paleolithic sites at and under the Sea of Okhotsk.
The most interesting and long known area concerned with those Asiatic people who
became the first Paleo-Indians is Sibiria. In the article two of the Sibirian regions
which come into question are discussed: (1) the Diuktai sites east of Yakutsk at the
East Sibirian river Aldan, a tributary of the river Lena; (2) the Baykal Sea and Yeni-
sey river areas.
On point (1): In 1969 Diuktai material was presented first. After two decades of
intensive research on those sites prehistorians decided against Diuktai as place of ori-
gin of those Paleo-Sibirians who were going becoming the first Paleo-Indians. Some
prehistorians admit however that Diuktai could be the original area of the second or
third Paleo-Indian wave across Beringia.
On point (2): Upper Paleolithic sites of the Baykal Sea and Yenisey regions are
known since the twenties of this century. Several of the most important of those
places are presented in the article. Although some Archeologists believe that they
have found connections in stone material between some of those East Sibirian sites
and Alaska there is no definitive evidence for this thesis. Although hunter/gatherer
societies show but little cultural change in the short run they change nevertheless in
the long run. Concerning the long times of migration of those Paleolithic bands
through Sibiria and Beringia we have to consider acculturation processes with those
Asiatic people who finally became Paleo-Indians. Under those circumstances isn’t it
idle to search for cultural connections between Upper Paleolithic peoples separated
thousands of years ago?
119
TRIBUS 46, 1997
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Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
, . . , Eisschild und
Eisfreies Land Gletschergebiete
Abb. 1 Beringia mit Ostsibirien (links) und Nordamerika während des Höhepunktes der Wis-
consin-Eiszeit (ca. 20000 v. h.). Die feinen Linien zeigen den heutigen Küstenverlauf.
Zeichnung aus Pielou 1991.
Abb. 2 Zeichnung von Beringia in einer eindeutigeren Sicht, aus der die große Landfläche
der eiszeitlichen Verbindung von Asien mit Amerika eindrucksvoll hervorgeht.
Zeichnung aus Chartkoff & Chartkoff 1984.
121
TRIBUS 46, 1997
i KhÌALÌN .
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OCEAN
w
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[Volkaho Islands]
Minami Tori Shima
(Marcus)
Japan
TROPIC OF CANCtR
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Ókino Tori Shima
(Parece Vela)
Japan
I+o-
TRUST TERRITORY OF
THÎ PACIFIC ISLANDS
United State s
JAPANESE POSSESSIONS
’j’l"" .500 ,
O ml 500
Abb. 3 Die japanischen Inseln mit der russischen Insel Sachalin im Norden.
122
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
i*
Abb. 4 Durch solche Täler in Ostsibirien werden die Jäger und Sammler des Jungpaläolithi-
kums den Großsäugerherden nachgezogen sein und schließlich Beringia erreicht haben.
Tschukotka zwischen Provideniya und New Chaplino, Ost-Sibirien; Juni 1995.
Foto: Vladimir Bychkov (durch freundliche Vermittlung von Jean-Loup Rousselot).
/vs
\%'shnrv~\
Moskau
r-V'- Tobolsk
Ami See .
__Jrkutst
S* 'A. J s r r- X
*-***vv£s
..— 11500 km1
Abb. 5 Sibirien mit den im Artikel angegebenen geographischen Örtlichkeiten.
123
Abb. 6 Nordost-Asien mit den im Artikel erwähnten spätpleistozänen und frühholozänen
Fundstellen: (1) Mal’ta; (2) Ikhine; (3) Ezancy; (4) Verchne Toitskoe; (5) Ust’Mil; (6) Diuktei;
(7) Berelech; (8) Uski. Teil einer Zeichnung aus Bonnichsen/Turnmire 1991.
Die Wisconsin-Eiszeit im Überblick
Port-Talbot- Iowa- Tazewell- Gary-
Interstadial Stadial Stadial Stadial
50 000 24 000 20 000 15 000
Beginn
vor
heute
Früh-
Wisconsin
90 000
Mankato- Two-Creek- Valders- Holozän
Stadial Interstadial Stadial (mit Anathermal zu Beginn)
14 000 12 000 11 000 10 000
Im Wisconsin-Glazial enthaltene Intervalle
Boutellier Duvanny Yar Birken
vor
heute 60-30 000 30-14 000 14-8500
Abb. 7 Die nordamerikanische Wisconsin-Eiszeit (Würm / Weichsel) mit ihren Stadialen,
Interstadialen und langfristigen Intervallen.
124
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
Abb. 8 Gesamtüberblick über die mittel- und jungpaläolithischen Stationen in Sibirien.
□ Mousterien: l.Kaminnaia, Denisova-Höhle, Sibiriachikha, Strashnaia-Höhle, Ust’Karakol
I; 2.Tiumechin I und II, Ust'Kanskaia; 3. Dvuglazka-Höhle; 4. Mokhovo II.
■ Frühes Jungpaläolithikum: 5. Ust’Karakol II, Anui I und II; 6. Kara-Bom; 7. Maloialoman-
skaia; 8. Kara-Tenesh; 9. Malaia Syia; 10. Arembovskogo; 11. Varvarina Gora; 12. Sannyi Mys;
13. Tolbaga.
• Mittleres Jungpaläolithikum: 14. Tomskaia; 15. Achinskaia; 16. Tarachikha, Shlenka,
Afanas’eva Gora, Kurtak IV; 17. Ui I; IS.Ust’Kova; 19. Igeteiskii Log I; 20. Mal’ta, Büret’;
21. Priiskovoe.
A Ausgehendes Jungpaläolithikum: 22. Chernoozer’e II; 23. Shul'binka; 24. Mogochino I;
25.Srostki; 26. Ushlep III; 27. Shumikha I; 28.11’inka II, Bedarevo II, Shorokhovo I; 29. Be-
riozovyi Ruchei I; 30. Afontova Gora I-IV; 31. Druzhinikha; 32. Pereselencheskii Punkt,
Bol’shaia Slizneva, Listvenka; 33. Strizhova Gora; 34. Biriusa I; 35. Kokorevo I-IV, IVa und
VI, Novoselovo I—VIII, Kurtak III, Aeshka I und II, Tashtyk I und II, Chegerak; 36. Mainin-
skaia, Ui II, Dzhoi, Kantegir; 37. Golubaia I und IV, Sizaia VIII; 38. Fediaevo, Shamotnyi
Zavod, Sosnovyi Bor; 39. Krasnyi lar I; 40. Verkholenskaia Gora I und II; 41. Makarovo II und
III, Shishkino II; 42. Kurla I-IV; 43. Oshurkovo; 44. Studenoe I, Ust’Menza I. V; 45. Tanga;
46. Sokhatino IV; 47. Diuktai-Höhle; 48. Ezhantsy.
Aus Vasil’ev 1993.
125
TRIBUS 46, 1997
VJ
w
Abb. 9 Karibu (Rangifer tarandus).
Aus: Pilou 1991.
V':£A
Abb. 10 Die Nutzung der Häute erjagter Herdentiere,
hier die Tschuktschin Nyna Tevliygirgina beim Schaben
einer Renhaut, ist Jahrhunderttausende alt. Die Bearbei-
tung der Häute hat sich über diesen Zeitraum nicht
grundsätzlich geändert. Die Rohhaut mußte schon immer
mit Kratzern und Schabern von Fett und Blut gereinigt,
dann gewalkt und mit natürlichen Mitteln, wie beispiels-
weise Hirn und Urin, gegerbt werden.
Getlyangen Laguna, Tschukotka, Ost-Sibirien; Septem-
ber 1995.
Foto: Vladimir Zhuravkov (durch freundliche Vermitt-
lung von Jean-Loup Rousselot).
0 12 3*5
Abb. 11 Typologische Verbindungslinien zwischen
Artefakten der ersten, wissenschaftlich anerkannten
Besiedelungsperiode Amerikas, das heißt Clovis (hier
verschiedene Steingeräte dieser Periode von der Fund-
stelle Big Bone Lick in Kentucky), und solchen Ostasiens
wurden bis heute nicht entdeckt. Wo kulturelle Ähnlich-
keiten vermutet werden, handelt es sich um Parallelen,
die auf gleiche Herstellungstechniken der Werkzeuge
zurückzuführen sind.
Zeichnung aus Tankersley 1987.
126
Schulze-Thulin: Zur Eingrenzung der ostasiatischen Herkunft des Paläo-Indianers
Abb-12 Landschaft am Baikalsee. Im ausgehenden Jungpaläolithikum zogen hier Bisonher-
den (Bison exiquus) über die Hügel zur Tränke am See.
1 oto: Aleksei Freidberg. Planeta Publishers, Moskau. Mit freundlicher Unterstützung des
Staatl. Museums für Völkerkunde, München (M. Weidner-El Salamouny).
127
TRIBUS 46, 1997
Abb. 13 Die Jagd auf Großwild ist für einfache Jäger, wie sie auch für den größeren Zeitraum
des ostasiatischen Jungpaläolithikums anzunehmen sind, von jeher gefährlich gewesen. Von
frühesten Zeiten an wurden daher einfallsreiche Jagdlisten angewendet. Schwere Tiere wie
Mammuts wurden sicher manchmal mit getarnten Fallgruben gejagt.
Abb. 14 Landschaftlich einladend war Beringia sicherlich nicht. Doch die paläolithischen
Jäger und Sammler suchten auch keine schönen Aussichten, sondern waren nur an den Groß-
säugern als Jagdbeute interessiert, die Beringia bevölkerten, wie Ren-, Mammut- und gegen
Ende des Pleistozäns Altbisonherden.
Dem Meer vorgelagerte Süßwasserstellen. Getlyangen Laguna, Tschukotka, Ost-Sibirien;
September 1995.
Foto: Jean-Loup Rousselot.
128
ANDREAS VOLZ
Der Blick ins >Verborgene<. Das >Röntgen<-Motiv
in der außereuropäischen und europäischen Kunst
Dem Auge des Betrachters eigentlich Verborgenes zu offenbaren, ist eine künstle-
rische Ausdrucksform, die in zahlreichen bildnerischen Arbeiten vieler Kulturen
der Welt zu finden ist. Im allgemeinen wird diese Darstellungsform als >Röntgen-
stil< beziehungsweise als >X-ray-style< bezeichnet und in der Regel mit der Kunst
Australiens in Verbindung gebracht. Diese Darstellungsweise ermöglicht es dem
Betrachter, innere Strukturen und Formen des wiedergegebenen Objektes zu erken-
nen, sozusagen eine nach außen gekehrte Anatomie zu identifizieren. Man findet das
>Röntgen<-Motiv auf Felsbildern, Felsgravuren, Rindenbildern, Webarbeiten, Zeich-
nungen und auf Schnitzereien. Abgebildet werden in ihrer Mehrzahl anthropomor-
phe und zoomorphe Gestalten, aber auch mythologische Wesen oder Mischwesen.
Dem Komplex der >Röntgen<-Darstellungen können jedoch meines Erachtens eben-
so Arbeiten mit szenischen (Mensch-Tierdarstellungen) und technischen Inhalten
(Mensch-Technikdarstellungen) zugeordnet werden, die wiederum dem Betrachter
an sich Verborgenes zu erkennen geben (u. a. Menschen durch Bootswände hindurch,
technische Details; s. Abb. 8 a, b, 11 ; 22 a; 27; 32).
Die Intention, ins >Innere< zu blicken und dies bildnerisch auszudrücken, ist jedoch
nicht auf außereuropäische Kulturen beschränkt. So weisen auch Arbeiten europäi-
scher Künstler des 20. Jahrhunderts diese Darstellungsform auf, ebenso präferieren of-
fensichtlich Kinder in einer bestimmten Altersphase die Abbildung im »Röntgenbild«.
Ein besonderes Augenmerk sollte solchen Kulturen gelten, die eine offenkundige
Kontinuität dieser Darstellungsweise aufzeigen, eine Form der künstlerischen Tradi-
tion, die durch Beispiele aus prähistorischer Zeit sowie der rezenten traditionellen
Kunst dokumentiert werden kann. Doch auch in zeitgenössischen Arbeiten auto-
chthoner Künstler Amerikas, Australiens und Papua-Neuguineas fand das >Rönt-
gen<-Motiv seinen Eingang.
Von grundlegender Bedeutung für die Analyse, Interpretation und Beurteilung der
>Röntgen<-Darstellungen ist die Hypothese, daß es sich nicht um einen Stil handelt,
wie unter anderem Lommel (1961, 1965, 1987) ausführte, sondern um ein Motiv,
das als Teil einer jeweiligen spezifischen Kunsttradition angesehen werden kann.
Folgende Überlegungen untermauern diese Annahme und sprechen zugleich gegen
die Verwendung des Terminus Stil:
1. Gemeinhin wird als Stil ein Komplex von gleichen oder gleichzusetzenden forma-
len Elementen bezeichnet, die für eine bestimmte Periode - Stilepoche - als Norm für
den Künstler respektive die Gesellschaft gelten. Motive hingegen sind Bildinhalte -
inhaltliche und formale Elemente -, die als unentbehrliche Bestandteile zur Erschlie-
ßung des Dargestellten abgebildet werden, Bildinhalte, die sowohl eine eigene sym-
bolische Aussagekraft besitzen, als auch zu eigenständigen Themen werden können.
2. Zwischen den weltweit gefundenen Darstellungen liegen eine doch erhebliche
räumliche Distanz (von Norwegen bis Australien) und zeitliche Diskrepanz (von ca.
18 000 v. Chr. bis ins 20. Jh. n. Chr.).
3. Das Vorkommen zahlreicher Beispiele von stilistisch fast identischen Arbeiten
derselben Region und Zeitperiode, die einerseits mit >Röntgen<-Darstellungen, ande-
rerseits ohne diese geschaffen wurden (u. a. auf Felsbildern in Australien, Amerika,
Felsgravuren in Skandinavien, Schnitzarbeiten der Inuit und Nordwestküsten-In-
dianer).
4. Eine vielfache Verwendung der >Röntgen<-Darstellung im weltanschaulichen und
profanen Kontext, bei szenischen Inhalten, aber ebenso in zeitgenössischen Arbeiten
(u. a. >Röntgen<-Abbildungen von Motorfahrzeugen in Australien).
129
TR1BUS 46, 1997
Es erscheint somit sinnvoller, von einem >Röntgen<-Motiv zu sprechen, einem
Motiv, das in der Regel als ein Bestandteil eines wesentlich umfangreicheren Kunst-
programmes zu verstehen ist. Chaloupka (1993: 162) schreibt in seiner Arbeit über
die Felsmalereien des Arnhem-Landes zu Recht von »X-ray-mode«, eine Ansicht,
die auch von der Untersuchung Tacons (1989) in Australien gestützt wird. Tacon
beschreibt Felsbilder von vielfach identischer Gestalt, die nicht in der »X-ray-form«
ausgeführt, sondern mit schraffierten oder voll ausgemalten Teilen ausgefüllt wur-
den, oftmals direkt neben >X-ray<-Figuren: »In this sense it is important to wider-
stand >X-ray< as a motif applied to some paintings and not to confuse it as a style, as
many have done in the past. Aborigines recognize that X-ray paintings are a part of
a wider System of representation, andpoint out that X-ray images represent creatures
in a different state of being from the creatures depicted without internal details.«
(ebd.: 238).
Bisher wurde sowohl in der kunstethnologischen als auch in der kunsthistorischen
Literatur der weltweiten Verbreitung des >Röntgen<-Motivs wenig Aufmerksamkeit
zuteil. Der >Röntgenstil< wurde einzig in Lommels (1961, 1966, 1987) Untersuchun-
gen genauer erforscht und zum einen dessen Verbreitung im pazifischen Raum
beschrieben, zum anderen die globale Verbreitung von >Röntgen<-Darstellungen auf
Felsbildern dargelegt.
Zahlreiche Arbeiten liegen zur prähistorischen und traditionellen Kunst vor, in
denen das >Röntgen<-Motiv zumeist nur am Rande erwähnt wird (u. a. Ucko 1977;
Morphy 1989; Bahn, Rosenfeld 1991). Mehr Beachtung fand diese Art der Darstel-
lung in regionalen Untersuchungen (für Amerika u. a. bei Norona 1955; Holm 1965,
1987; Grant 1967; Wellmann 1976; Schaafsma 1980; 1992; Ray 1981; Carlson
1983; Borden 1983; Young 1990; für Australien u.a. bei Brandl 1973; Taylor 1989;
Jelinek 1989; Tacon 1991, 1993; Layton 1992; Chaloupka 1993). >Röntgen<-Bild-
nisse finden sich ebenfalls in der Arbeit zur Felsbildkunst Neuguineas von Röder
(1959).
Ältere Untersuchungen, die sich mit der paläolithischen sowie mit der Kunst der
»Primitiven« beschäftigten, gingen oftmals von einem diffusionistischen Ansatz aus.
Sie schlossen von der Verbreitung formaler Eigenarten (Motive) auf Kontakte oder
genetische Verbindungen. C. Schuster (1951) beispielsweise, ein Vertreter dieser
Schule, beschäftigte sich mit der Verbreitung des Gelenkmotives im zirkumpazifi-
schen Raum. Zugleich sah er das Zentrum der weltweiten Verbreitung der figuralen
Ornamentik im antiken Orient (1964). Auch Lommel (1966) brachte die Verbreitung
der Felsbildkunst und die des >Röntgen<-Motivs mit der globalen Diffusion früh-
jägerischer Kulturen in Verbindung. Die in neuerer Zeit entstandenen Arbeiten
beschränken sich bei der Diskussion der Verbreitung von Motiven zu Recht auf
kleinräumig angelegte Untersuchungen.
Geht man von der Motiv-Hypothese aus, kann auch nicht von einer diffusionisti-
schen Verbreitung des >Röntgenstils< gesprochen werden. Generell ist davon auszu-
gehen, daß kulturelle Entlehnungen verkommen, primär aber sollte der Schwerpunkt
auf das inhärente Schaffensvermögen, auf die Kreativität der Menschen in den ver-
schiedenen Kulturen, gelegt werden. Dennoch bleibt es ein Desiderat kleinräumiger
Untersuchungen, die wechselseitige Beeinflussung zu erforschen, wie zum Beispiel
die Verbreitung der sogenannten >Herzlinie<. Dieses Motiv tritt im nordamerika-
nischen Raum sowohl bei Bauern (Zuni) und Jägern (Apachen) im Südwesten der
USA sowie im algonkinschen Bereich des östlichen Waldlandes auf, eine Region, die
als wahrscheinliches Ursprungszentrum angesehen wird (Wellmann 1976:60). Des-
gleichen lassen - trotz einer zeitlichen Diskrepanz - offensichtlich stilistische Ähn-
lichkeiten zwischen alten Felszeichnungen des MacCluer-Golfs und neuzeitlichen
Rindenstoffbemalungen am Sentani-See Irian Jayas auf motivische Verbindungen
schließen (Abb. 19a, 20). Brentjes und Vasilievsky (1989; 57) verweisen auf eine
erstaunliche Analogie zwischen der Ornamentik und den Motiven der heutigen
Nanai (Region Chabarowsk, Russische Föderation) und alten Felsbildern des Amur-
Gebietes (bis zu 5000 Jahre alt), die neben anderen Motiven auch Hirsche mit klar
erkennbaren Rippen aufweisen.
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Die bislang verwendeten unterschiedlichen Interpretationsansätze zur Deutung des
>Röntgen<-Motivs verdeutlichen auch die zahlreichen Funktionen, die dieser Form
der Wiedergabe zugemessen wurden und werden. Doch geben diese eindrücklichen
Darstellungen nicht nur Ereignisse oder ästhetische Präferenzen der Menschen, die
sie geschaffen haben, wieder, sondern ebenso Aspekte der Wirtschaft, der sozialen
Beziehungen und des mythisch-religiösen Weltbildes. So sah man die Abbildungen
im wesentlichen im Dienste der Jagdmagie, einem Tötungszauber, einer magischen
Tötung sowie in Verbindung mit Fruchtbarkeits- und Vermehrungszauber (Bandi,
Maringer 1952: 148 ff). In den die Diskussion bestimmenden Arbeiten Lommels
(1961, 1966, 1967, 1987) wurde die weltweite Verbreitung der >Röntgen<-Darstel-
lungen als ein weit verbreiteter Ausdruck frühjägerischen Denkens und schamani-
stischer Auffassung gedeutet: »Der Röntgenstil ist ohne Zweifel ein Ausdruck der
frühjägerischen und schamanistischen Auffassung, daß man Tiere aus bestimmten
lebenswichtigen Teilen Wiedererstehen lassen könne.« (1966: 794) In diesem Zusam-
menhang soll nicht auf die in der ethnologischen Forschung kontrovers geführte
Schamanismus-Diskussion eingegangen werden. Daß viele der Arbeiten eng mit
dem Weltbild der Jäger verbunden sind und magische, religiöse und mythische Funk-
tionen innehaben, ist offensichtlich. So ist ein direkter Bezug zum Schamanismus
in Darstellungen aus dem arktischen Raum (u.a. Okladnikov 1972; Ray 1981) und
Nordamerika (u.a. Carlson 1983; Fürst 1973/74) offenkundig.
Ein Bezug zu schamanistischen Vorstellungen liegen auch den Betrachtungen
und dem Modell von Lewis-Williams und Dowson (1988) über die entoptischen
Phänomene der altsteinzeitlichen Kunst zugrunde. Faulstich (1988: 224 f), dessen
Überlegungen auf diesem Modell basieren, sieht in einer Kombination von entop-
tischen und ikonographischen Phänomenen ein Erklärungsmodell für die >X-ray<-
Kunst des Arnhem-Landes (Australien). Schon die frühe >X-ray<-Felsbildkunst
(vgl. Ausführungen über Australien) könne man wahrscheinlich von mentalen Bildern
ableiten, als die letzte Stufe eines sich wandelnden Bewußtseins, in dem entoptische
Bilder während eines halluzinogenen Zustandes entstehen. So habe eine kognitive
Verbindung zwischen gitterförmigen entoptischen Formen und der Skelettgestalt
stattgefunden, eine künstlerische Ausdrucksform, die sich zu den komplexeren Dar-
stellungen späterer Stile entwickelte, bis hin zu zeitgenössischen Rindenmalereien.
Die Frage der sozio-ökonomischen und religiösen Kausalität dieser Darstellungs-
weise drückt sich aber auch in der Beziehung zwischen Abbild und Inhalt, in der
Bestimmung der jeweiligen Funktion des Dargestellten innerhalb der Gesellschaft
sowie in der Interpretation der Abbildungen aus. So lassen sich >Röntgen<-Darstel-
lungen folgenden verschiedenen Bedeutungsebenen zuordnen, Bereiche, die sich
zwar überlappen und ergänzen, bislang aber in der Literatur häufig nur ungenau
unterschieden wurden: a) dem Jagdzauber; b) dem Tötungszauber; c) dem Vermeh-
rungszauber; d) dem Geisterkult; e) dem Totenkult; f) den Schutz- oder Hilfsgeistern;
g) der Weitergabe von Wissen (u.a. bei Strong 1945:245ff; Bandi, Maringer
1952:110ff, 197; Eliade 1957:161 ff; Lommel 1967; Wellmann 1976:18 ff, 59; Tay-
lor 1989: 371 ff).
Für die Bestimmung und Interpretation des >Röntgen<-Motivs ist weiterhin von
erheblicher Signifikanz, daß binäre Betrachtungsebenen eines bestimmten Wesens
künstlerisch herausgearbeitet werden: Eine äußere Oberfläche und eine innere Struk-
tur. Oftmals vereint ein Element das Innere mit dem Äußeren wie etwa die schon
erwähnte sogenannte >Lebenskraft<. Diese bildnerische Ausdrucksform, die dem
>Röntgen<-Motiv zugeordnet wird und vorwiegend in Amerika anzutreffen ist, wird
auch als >Herzlinie< oder >Lebenslinie< bezeichnet. Sie führt zumeist vom Mund
eines anthropomorphen Wesens oder Maul eines Tieres durch den Hals zum Herzen,
zur Lunge oder zum Magen. Man sah darin zum einen Hinweise auf einen Tötungs-
oder Vermehrungszauber (Lommel 1967; Bandi, Maringer, s.o.), zum anderen gilt
die >Herzlinie< als symbolische Wiedergabe des Ursprungs beziehungsweise als
>Atem< des Tierlebens (Young 1990: 82). Des weiteren diente die >Herzlinie< zur
Hervorhebung, zur Betonung magisch-religiöser Kräfte des Tieres. Besondere Weis-
heit oder übernatürliche Kräfte verdeutliche die >Herzlinie< in Darstellungen der
131
TRIBUS 46, 1997
sogenannten Donnervögel und bei Menschen (Wellmann 1976: 59 f). Bei den Ojibwa,
die solche Zeichnungen muzzin-ne-neen nannten, waren sie Teil jagdmagischer Zere-
monien (Hoffman 1888: 209 ff; Grant 1967: 67), zugleich galten die so dargestellten
Tiere als magisch (Ojibwa, Zuni) (Ritter D. u. Ritter E. 1976: 65).
Die bildnerische Wiedergabe des Körpers kann aber auch als Analogie zeremoniel-
len Wissens verstanden werden, wobei wiederum eine binäre Betrachtungsweise
erkennbar wird: Eine Außenseite, einer schnellen Wahrnehmung verfügbar, sowie
eine Innenseite, die nur durch Wissen (u. a. durch Initiation) erfaßbar wird. In diesem
Sinne hat Taylor (1989) die Felsmalereien der Kunwinjku (Gunwinggu) im westli-
chen Arnhem-Land interpretiert und hervorgehoben, daß die essentielle Bedeutung
der >Röntgen<-Malerei die Wissensvermittlung über das eigene Weltbild ist: »The
primary function of X-ray paintings is the communication of knowledge about the
ancestral beings.« (ebd. 374). Somit kann der Felsbildkunst in Australien des weite-
ren eine soziale Funktion zugemessen werden: Sie dient dem jeweiligen Künstler,
der dieselben Traditionen wie die Gruppe teilt und oft über ein großes Wissen über
die Gesetze, Mythen. Rituale und Zeremonien besitzt, dies auch bildnerisch aus-
zudrücken. Gemalt wird jedoch auch, um mittels dieser Darstellungen Kinder zu
lehren und um wichtige Ereignisse für die Gemeinschaft, wie zum Beispiel eine
erfolgreiche Jagd oder Erzählungen, zu illustrieren. Kunst muß somit als integraler
Teil des religiösen und sozialen Lebens verstanden werden (Tacon 1989: 236 ff; Has-
kovec & Sullivan 1989: 71 ff; Chaloupka 1993: 23, 25, 238-41).
Viele der >Röntgen<-Darstellungen können, so bisherige Erhebungen, in Zusammen-
hang mit jägerischen Bevölkerungen gebracht werden. Deutlich wird in diesen
Kulturen die enge wirtschaftliche, mythische sowie magische Beziehung zwischen
Mensch und Tier. Diese Tatsache führte dazu, monokausale Erklärungsmuster zu
postulieren (vgl.Lommel; Fürst 1973/74). Da sich >Röntgen<-Motive sowohl bei
spezialisierten Jägern (Inuit, Nordwestküsten-Indianer) und einfachen Jägern und
Sammlern (Australien), vereinzelt aber auch in bäuerlichen Bevölkerungen (Zuni,
Huichol, Otomi) finden, kann man daraus schließen, daß verschiedene Deutungs-
möglichkeiten vorstellbar sind. Dies belegen wiederum nachdrücklich Taylors
(1989) Untersuchungen bei den Kunwinjku, die >Röntgen<-Motive verwenden, ohne
jedoch einfache magische Praktiken damit in Verbindung zu bringen.
Für die Bewertung und Interpretation erscheint es somit unabdingbar, daß eine klare
Trennung zwischen Darstellungen, die eindeutig dem Schamanismus zugeordnet
werden können, solchen, die damit in Verbindung stehen können und Arbeiten, die
keinen Bezug zum Schamanismus haben, getroffen wird.
Die Vielzahl der Darstellungen, die das >Röntgen<-Motive aufweisen, können auf-
grund ihrer Inhalte sowie der jeweils praktizierten künstlerischen Techniken wie
folgt unterschieden werden:
Anthropomorphe Darstellungen: Generell kann man feststellen, daß in allen Ver-
breitungsgebieten bei anthropomorphen Bildnissen in der Regel auf die Wiedergabe
der inneren Organe verzichtet wird (dies hätte genaue anatomische Kenntnisse vor-
ausgesetzt, die nur durch das Sezieren des menschlichen Körpers erlangt werden
können). Man beschränkt sich zumeist auf die Abbildung des Skelettes, überwiegend
den Thorax mit Rippen. Eine Ausnahme sind Arbeiten brasilianischer Indianer, die
Menschen mit eingezeichneten Mägen zeigen (Wilbert 1963: 209 ff). Auch weist eine
dem frühen >X-ray<-Stadium zugerechnete Abbildung einer anthropomorphen Figur
des Arnhem-Landes innere Organe auf (Chaloupka 1993: 104). Die in Amerika vor-
kommende >Herzlinie< findet sich bei anthropomorphen und zoomorphen Bildnis-
sen. Auf die Wiedergabe schwangerer Frauen (eingezeichnetes Kind) trifft man
jedoch selten (Amerika) (Abb. 6). Bei menschlichen Figuren ist in der Felsbildkunst
Australiens eine starke Betonung der äußeren Sexualmerkmale erkennbar (2/3 sind
weiblichen Geschlechts) (Tacon 1989: 239).
Zoomorphe Darstellungen: Abbildungen von Tieren zeigen im Unterschied zu an-
thropomorphen Darstellungen entweder eine Skelettstruktur oder innere Organe wie
auch die anatomisch korrekte Verbindung beider Inhalte (Australien). Das Geschlecht
der so dargestellten Tiere scheint in Australien von sekundärer Bedeutung gewesen zu
Volz: Der Blick in >Verborgene<
sein. Genaue anatomische Kenntnisse des Künstlers verrät etwa die Abbildung eines
Krokodils, dessen Augen sowie die beiden Sehnerven eingezeichnet wurden, wie auch
die Felszeichnung eines Känguruhs, die wiederum die beiden Augen, die Sehnerven
und auch das Gehirn des Tieres aufzeigt (Australien, Arnhem-Land) (Abb. 25a, b)
(Chaloupka 1993: 164, 225). Meistens werden nur Jagdtiere oder mythische Tiere
abgebildet, Bildnisse von domestizierten Tieren fanden sich bislang nicht (z. B. der
Dingo in Australien). Verbreitet sind Abbildungen trächtiger Tiere mit deutlich iden-
tifizierbaren Jungtieren (Abb. 10).
Einen weiteren Unterschied zwischen Tier- und Menschendarstellungen erkennt man
in Australien überdies in der Verwendung der Perspektive: Menschen und mythische
Wesen werden üblicherweise in Frontalsicht oder von oben, gelegentlich aber auch
im Profil gezeigt, die meisten Tierarten jedoch im Profil, eine Darstellungsform, die
auch in der Nicht->Röntgen<-Malerei üblich ist. Trotz der Profildarstellung werden
oft beide Augen des Tieres wiedergegeben (Arnhem-Land).
Darstellungen anthropomorph gezeichneter Geisterwesen, Misch- oder mythischer
Wesen: Diese Abbildungen stehen häufig in Verbindung mit der Jagd oder dem
Fischfang (Keyser 1992: 88 f). Ein verbreitetes Thema in der Oenpelli-Rinden-Male-
rei (Australien) der letzten Jahre, die normalerweise in >X-ray<-Weise ausgeführt
wird, ist das eines Mimi-Jägers, der ein Känguruh mit einem Speer erjagt und so den
Menschen die Jagd und das Aufteilen der Beute lehrt (Carroll 1977: 123).
Eine Petroglyphe nahe eines Wishram-Dorfes (Nordwestküste der USA, bei Spedis,
Washington) zeigt einen der Schutzgeister der reichen Fischgründe (Lachs) mit deut-
licher Rippenstruktur, der bei Hochwasser vom Wasser überspült, bei Niedrigwasser,
wenn die Zeit der Netzfischerei kommt, wieder hervorzukommen scheint (Strong
1945; 250f).
Szenische Darstellungen: Fast unbeachtet blieben in bisherigen Betrachtungen sze-
nische Abbildungen, die in der >Röntgen<-Form ausgeführt wurden. Unterschieden
werden können:
1. Tier-Mensch-Darstellungen. Reiterabbildungen (Mensch und Pferd) zeigen in der
Regel keine inneren Organe, Knochen oder die >Herzlinie< (eine Ausnahme ist u. a.
eine Felszeichnung im südlichen Alberta, s. Abb. 8 a). Kennzeichnend ist, daß beide
Beine der Reiter beziehungsweise die Reiter durch den Tierkörper sichtbar sind
(Abb. Sab, 14; 22b);
Alle indigenen Reiterdarstellungen in Nordamerika stehen mit der Einführung des
Pferdes durch die weißen Eroberer in Verbindung und werden der sogenannten >post-
contacL-Periode zugerechnet.
2. Mensch-Technik-Darstellungen. In diesen Darstellungen werden Menschen u.a.
im Lager oder in Booten (Abb. 11) abgebildet, deren Tätigkeit durch das eigent-
lich für das Auge undurchlässige Material (u. a. Holz, Fell, Stoff) erkennbar wird.
Zugleich können technische, von außen nicht sichtbare Einzelheiten wahrgenommen
werden (u. a. eine Schiffsantriebswelle, Neuguinea; Schiffsdarstellung der sog. Kon-
takt-Periode, Arnhem-Land, Australien; Abb. 22 a; 27). Diese Art der Wiedergabe
kommt sowohl in prähistorischen als auch in rezenten Kulturen vor.
Von großer Bedeutung ist in Australien außerdem die jeweilige Wahl der Farben
und die entsprechende Ausführung. Durch Farbkombinationen ist es möglich, anato-
mische Einzelheiten genauer darzustellen, wie abstrakte Ideen und Vorstellungen
zu vermitteln (u. a. Traumzeit, heilige Orte). So verdeutlicht der Gebrauch kräftiger
Farben und die Schraffierung der Muskelpartien (schraffierte Bänder) die Macht
der Ahnen. Sich dieser Macht auch weiterhin zu versichern, diente nicht zuletzt die
Wiederauffrischung oder Übermalung der Bildnisse (Tacon 1991: 197).
Die Detailgenauigkeit respektive die Abstraktion sowie die künstlerische Ausarbei-
tung der Abbilder und Bildnisse variieren deutlich und hängen von der jeweiligen
lokalen Kunsttradition ab. Man sollte sich aber auch die Frage nach der Motivation
der Künstler stellen. Es wird zu diskutieren sein, ob Elemente, dargestellt mit >Rönt-
gen<-Motiven, die nicht zu einem tradierten Formenkanon gehören, nicht auch einer
spontanen Inspiration des Künstlers zugerechnet werden können. Unter Berücksich-
tigung der Vielfalt der Darstellungen und deren Kombinationen sollte in Betracht
133
TRIBUS 46, 1997
gezogen werden, daß einige Arbeiten mehr dem kreativen Ausdruck des Künstlers
entstammen, als einem festgeschriebenen Stil- und Formenkanon. Auch darf die
Bedeutung einzelner Künstler für eine Region nicht unterschätzt werden, was die
zahlreichen Felszeichnungen Najombolmis in der Felsbildkunst des Arnhem-Landes
nachdrücklich belegen, dessen individuelle Ausdrucksweise nicht nur innovativ,
sondern ebenso für zahlreiche ihm nachfolgende Künstler prägend war (Haskovec &
Sullivan 1989: 66 ff).
Ungewiß ist bislang, inwieweit ornamentale Abstrahierungen zoomorpher oder
anthropomorpher Gestalten, die jedoch kein genaues Erkennen innerer Strukturen
erlauben, generell als eine künstlerische Weiterentwicklung des >Röntgen<-Motivs
anzusehen sind oder auf anderen Kunsttraditionen basieren. Beispiele finden sich
u.a. auf Felsbildern im Südwesten der USA (Grant 1978: 192; Schaafsma 1980:
255 f, 1992; Grant, Baird, Pringle 1987; 38; McCreery, Malotki 1994: 121) sowie
auf Tierbildnissen (Hirsch) mit komplizierten ornamentalen Details und konzen-
trischen Kreisen in Norwegen (Felsgravuren) (Cervicek 1976: 233, Nr. 328, 332)
oder im Gebiet des Amurs (Sibirien) (Okladnikov 1972, Brentjes, Vaslilievsky
1989: 54 ff). Auch viele der neueren >X-ray<-Figuren in Australien weisen komple-
xe, rhombenartige Muster auf ihren Brustkästen und Gliedmaßen auf (Tacon 1989:
239 f).
Die im folgenden getroffene Auswahl der Beispiele mit >Röntgen<-Motiven soll
einen Überblick über die Vielfalt der Abbildungen ermöglichen, sie kann und will
jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Räumlich geschlossene Vorkommen mit >Röntgen<-Darstellungen findet man bis-
lang im Arnhem-Land Nord-Australiens sowie im Nordwesten der USA und Kana-
das, partielle Vorkommen treten in Skandinavien, Sibirien, Alaska und im Norden
Kanadas, in den USA, in Mexiko, Brasilien, Indonesien, Papua Neuguinea und Ozea-
nien auf (auch in Indien, so Lommel 1961; 230). Es bleibt offen, weshalb in Afrika
mit seinen vielfältigen Kunsttraditionen bislang keine eindeutigen >Röntgen<-Motive
gefunden wurden.
Trotz der zahlreichen bekannten Felsbildfunde in Frankreich und Spanien aus der
paläolithischen Zeit wurden bislang keine Darstellungen entdeckt, die zweifelsfrei
das >Röntgen<-Motiv aufweisen (Glottes 1989: 49 f). Umstritten bleibt, ob die Abbil-
dung eines Mammuts mit rotem Fleck in der Höhle von Pindal in Asturien (Spanien)
als ein eingezeichnetes Herz zu interpretieren ist (Lorblanchet 1997: 51). Lommel
(1965; 149) zufolge weisen Knochengravierungen des Jung-Magdaléniens in Süd-
frankreich (13 000-6000 v. Chr.) >Röntgen<-Motive auf.
Amerika: Ein signifikantes Merkmal der prähistorischen Kunst der Nordwestküste
Nordamerikas ist das Rippenmotiv. Aufgrund der in diesem Gebiet durchgeführten
archäologischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte entdeckte man zahlreiche
Arbeiten, die eine deutliche Hervorhebung von Skeletteilen - zumeist des Thoraxes
- aufweisen (Abb.4b). Neben anthropomorphen Felsritzungen mit abgebildeten
Rippen, deren Hauptverbreitungsgebiet British-Columbia ist (Strong 1945), fand
man das Rippenmotiv auf Glyphen (Abb. 1), hölzernen anthropomorphen Figuren,
auf anthropomorphen und zoomorphen Steinfiguren (Abb. 2) (die ältesten Funde der
sogenannten Climax-Periode am Lower Fraser River sind ca. 3000 Jahre alt) und
Knochen (Abb. 3) (Strong 1945: 244ff; MacDonald 1983: 89 ff; Borden 1983: 135 ff;
Holm 1987: 30 f). Die Anzahl der wiedergegebenen Rippen und Wirbel entspricht in
der Regel nicht dem anatomischen Vorbild (Keyser 1992: 90 f). Neben der Darstel-
lung von Seesäugern sind Felsritzungen von Fischen, die eine sichtbare Grätenstruk-
tur aufweisen, gefunden worden (Abb. 4a).
Die Funde im Gebiet der Nordwestküste lassen stilistische wie motivische Gemein-
samkeiten von der prähistorischen Kunst bis hin zur historischen Kunst (19. Jh.)
deutlich werden (u.a. Strong 1945; Holm 1965; Wingert 1976; Macnair 1984). Die
bildnerische Wiedergabe der jeweiligen inneren Strukturen wird auch von Franz
Boas (1955) in seiner Untersuchung über die Kunst der Nord-Pazifikküste dargelegt.
Er beschreibt anschaulich die Segmentierung des Objektes in Einzelelemente, die
sich dann in den Bildnissen in ihrer jeweiligen Positionierung wieder zu einem
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Gemeinsamen vereinen, wobei ein charakteristisches Element wie etwa die innere
Struktur des Tieres herausgestellt wird (Abb. 5).
Die >Herzlinie<, ein verbreitetes Motiv in der Kunst Nordamerikas, wird zum Bei-
spiel in der Felsbildkunst des südlichen Albertas (Felsritzungen) (Magne, Klassen
1991: 392) und Minnesotas (Donnervogel) (Wellmann 1976: 59), auf Jagdtaschen der
Menominee (Wisconsin) oder bei den Ojibwa (Ritzungen auf Birkenrinde) (Hoffman
1888; 215 ff, Norona 1955; 9 ff) dargestellt. Hirsche mit >Herzlinien< werden bei den
Zuni auf Felsritzungen (Abb. 7a), Wandmalereien und als Motiv auf Töpfereien
abgebildet (Abb. 7b) (Young 1990: 83, 132, 161, 165, 205). Auch eine Felszeichnung
der Apachen weist dieses Motiv auf (Grant 1967: 39, Fig. 68).
Auf die Darstellung eines Bergschafes mit eingezeichnetem Jungtier (ca. 1000
n. Chr.), neben zahlreichen flächig ausgeführten Felszeichnungen desselben Tieres,
stieß man in Kalifornien (Coso Range) (Grant, Baird, Ringle 1987; 21).
Kennzeichnend für die vielen dem szenischen Bereich zuzuordnenden Reiterszenen
ist, daß auch das zweite Bein des Reiters durch den Tierkörper zu erkennen ist. Bei-
spiele findet man u.a. im südlichen Alberta (Abb. 8 a) (Keyser 1977: 67 ff; Magne,
Klassen 1991: 392,400, 407), auf historischen Piktogrammen aus derZeit nach 1700
des Lower Pecos in Texas (Turpin 1990: 269, 276), auf Felszeichnungen aus Mon-
tana (Wellmann 1976: 86, Tafel 17) sowie bei den Micmac (Abb. 8 b) (Molyneaux
1989: 200, 204). Ein bemerkenswertes Beispiel der neueren Zeit stammt von Swift
Dog, einem Hunkpapa Krieger und Künstler, der auf seiner Aquarellzeichnung
»Swift Dog kills a Crow«, ca. 1870, eine Kampfszene darstellte, in der sein Pferd das
Crow-Pferd zu überreiten scheint (McCoy 1994: 68).
Dem Komplex der szenischen Darstellungen ist auch ein weiteres Felsbild der Mic-
mac (datiert 1877) zuzurechnen. Es zeigt nicht nur zwei Jäger im Kanu auf Tümm-
lerjagd, sondern auch deren Jagdglück: Einen Fisch im Kanu, den der Betrachter
durch die Bootswand hindurch sehen kann (Molyneaux 1989: 208).
Wiederum eine >Lebenslinie<, die vom Mund zu den inneren Organen führt, weist
eine Felszeichnung eines Tierprofils in Diamantina (Minas Gerais, Brasilien) (Anati
1991: 63) auf. Indianerzeichnungen aus Brasilien mit >Röntgen<-Motiven sammelte
Koch-Grünberg (1906), der diese Arbeiten, die Knochen und Gräten von Tieren,
Schiffsbilder und Menschen zeigen, als »Röntgenaufnahmen« bezeichnete. Bemer-
kenswert ist eine Arbeit, die den Forscher mit eingezeichnetem Herzen darstellt
(Abb. 9). Auch in Zeichnungen von Indianern der Region Orinoco-Ventuari tritt das
>Röntgen<-Motiv auf (Wilbert 1963: 209ff).
Nordeuropa und zirkumpolarer Raum: Zahlreiche >Röntgen<-Bildnisse wurden im
mittleren und nördlichen Skandinavien gefunden. Die Gravierungen und Malereien
zeigen in ihrer Mehrzahl Darstellungen von Tieren, darunter Rentiere. Hirsche und
Elche, mit >Röntgen<-Motiven (Rippen. Herz- oder Lebenslinie) (Bandi, Maringer
1952: 150). Seltener trifft man auf Abbildungen trächtiger Elchkühe mit deutlich
gezeichneten Kälbern (Abb. 10) (Cervicek 1976: 237, Nr. 337; Feist 1985; 31). In den
szenischen >Röntgen<-Darstellungen (Alter ca. 5600-4700 Jahre) werden einfach
ausgeführte Strich-Menschen in ihren Booten wiedergegeben. Ihre jeweiligen Tätig-
keiten sind deutlich durch die transparent erscheinenden Bootswände zu erkennen
(Abb. 11) (Feist 1985: 37).
Stilistisch und inhaltlich gleichzusetzende Felsbilder von Hirschen (Elchen), die eine
Rippenstruktur und innere Organe aufweisen, fand man auf Bildnissen in Sibirien
(Abb. 12 a, b). Eine anthropomorphe Gestalt, gefunden an dem Fluß Oka (Sibirien),
mit angedeuteten Rippen bringt Okladnikov (1972: 57 f) in Beziehung mit Schama-
nenkostümen, die durch Applikationen ein Skelett symbolisieren (Eliade 1957;
159 ff). Von den Nanai stammt eine kunstvoll gearbeitete hölzerne Figur (Abb. 13)
(Drost 1971: 51). Eine in Stein geritzte Reiterdarstellung (3.-6. Jh. n. Chr.) aus
Sulek/Minusinsk läßt wiederum den Unterkörper des Reiters durch den Körper sei-
nes galoppierenden Pferdes sichtbar werden (Abb. 14) (Snoy 1961: 70).
Zahlreiche, zumeist zoomorphe Schnitzereien (Elfenbein) oder Tierzeichnungen
(z. B. auf Löffeln) die eine Rippenstruktur (sogenanntes Skelett-Motiv) aber auch
innere Organe aufzeigen, kommen bei den Inuit vor (Abb. 15 a, b) (Ray 1981; 201 ff)-
TRIBUS 46, 1997
Einen offenen Thorax weist eine seltene anthropomorphe Holzschnitzarbeit der
Pribiloff-Inseln auf (Abb. 16) (Fürst 1982: 156).
Indonesien, Neuguinea, Ozeanien: Sporadische Vorkommen von >Röntgen<-Darstel-
lungen treten im indonesischen Raum auf. Diese für Ost-Sumba als typisch beschrie-
bene Darstellungsweise weist sowohl einen Frauen-Sarong mit nackten männlichen
Figuren und deutlich erkennbaren Rippen (Abb. 17), als auch einen Männer-
Umhang, (hinggi kombu), ebenfalls mit nackten männlichen Figuren mit Rippen,
sowie mit Magen und Muskelgewebe, auf (Taylor, Aragon 1991: 221). Eine anthro-
pomorphe Figur mit sichtbarem Rippenmuster wurde auf einem Knochen-Amulett
der Batak auf Sumatra dargestellt (Abb. 18).
Röder (1959) stieß bei seiner Untersuchung der Felsbilder des MacCluer-Golfes in
Irian Jaya auf zahlreiche Abbildungen sowohl anthropomorpher (Matutuos) und
zoomorpher Gestalt als auch von Mischwesen, die innere Strukturen aufwiesen
(Abb. 19a, b). Neben zahlreichen Bildnissen von Fischen beschrieb er Eidechsen-
und Krokodilabbildungen mit Innenzeichnung und Knochengerüst. Röders Vermu-
tung, daß die Felsbilder des Golfes auch als motivische Anregung gedient haben,
scheinen ähnliche Darstellungen auf Rindenstoffen (>Maro<) am Sentani-See zu stüt-
zen (Abb. 20) (ebd.: 85 ff). Zu berücksichtigen bleibt jedoch die zeitliche Diskrepanz,
die zwischen den beiden Arbeiten liegt.
Als ungewohnte Darstellungsweise wird eine Tierdarstellung (Schwein) der Abelam
(Papua-Neuguina) beschrieben, in der innere Organe angedeutet werden (Hauser-
Schäublin 1989: 47). Klar herausgearbeitet wurden in einer Holzschnitzarbeit aus
Neu-lrland die Gräten eines Fisches (Abb. 21).
Arbeiten, die direkt oder indirekt durch Europäer angeregt wurden, werden von
Thurnwald (1913) und Haddon (1904) wiedergegeben. So beschreibt Richard Thurn-
wald in seiner während der deutschen Kolonialzeit auf dem Bismarck-Archipel und
den Salomonen-lnseln durchgeführten kunstsoziologischen Untersuchung Zeich-
nungen, die das Innere von Schiffen zeigen (u.a. sichtbare Schiffsschrauben)
(Abb. 22 a). Ein Bild eines reitenden Europäers, dessen Unterkörper durch das Pferd
hindurch sichtbar ist, findet sich bei Haddon (Abb. 22b) (1904: 36).
Menschenfiguren mit Rippendarstellungen treten in Ozeanien sporadisch auf: Eine
Rindenritzung auf den Chathaminseln, ein Tatauierungsmuster auf den Marquesas
(Abb. 23 a, b). Hingegen sind die bekannten skelettartigen, ausgemergelt erscheinen-
den Holzfiguren, >Moai kavakava<, der Osterinsel (Rippen, Wirbelsäule) nicht ein-
deutig dem >Röntgen<-Motiv zuzuordnen.
Australien: Auf ein geschlossenes Vorkommen von Abbildungen mit >Röntgen<-
Motiven trifft man in Arnhem-Land im Norden Australiens. Tacon (1993: 133)
datiert die ersten >Röntgen<-Bilder aus der sogenannten Periode des >Yam-Figuren-
Stils< (einfache Gestalten mit Bumerang) auf ca. 8000-6000 Jahre. Hingegen
datiert Chaloupka (1993: 89) die ersten >Röntgen<-Bildnisse (monochrom rot) der
sogenannten >naturalistischen Phase< auf 20000 Jahre, den >X-ray<-complex auf
4000 Jahre. Gekennzeichnet wird die spätere Phase, >Röntgen<-Phase, durch auffal-
lende regionale Eigenheiten, einen großen Themenreichtum sowie eine kunstvolle
Ausarbeitung der Bildnisse. In der Regel beschränkt man sich bei der Darstellung
von Menschen auf die Wiedergabe der Skeletteile (Abb. 24 a) - eine Ausnahme ist
eine anthropomorphe Figur, die mit inneren Organen gemalt wurde (von Chaloupka
der frühesten Phase zugerechnet). Bei Tieren dagegen werden zusätzlich die
inneren Organe, Fett und Muskelmasse teilweise sehr detailliert abgebildet
(Abb. 24 b). Am häufigsten stellten die Künstler das Rückgrat dar (96,4%), als
Einzelmotiv den Fisch (62%) (Abb. 26), gefolgt von anthropomorphen Figuren,
Großtieren (Känguruh, Emu, Ameisenigel), Schildkröten, Schlangen und Eidech-
sen (Tacon 1989: 238). Tiere mit >Röntgen<-Motiven werden oft als lebend be-
schrieben, im Unterschied zu jenen, die ohne anatomische Details gemalt wurden
und als tot oder als zubereitete Nahrung gelten (Tacon 1989: 245, 1991: 197; Taylor
1989: 378).
Zu beobachten ist, daß in der sogenannten dekorativen Phase (Chaloupka 1993: 165)
einige Künstler weniger an der genauen anatomischen Wiedergabe des Objektes
136
Volz; Der Blick in >Verborgene<
interessiert sind, sie die Körper hingegen in die wesentlichen Komponenten auftei-
len, die dann durch den Einsatz dekorativer Elemente ausgestaltet werden.
Chaloupka (1993: 104, 162 ff) hebt zu Recht hervor, daß - im Unterschied zu ande-
ren Gebieten der Welt - mit >Röntgen<-Darstellungen sich in Australien eine Ent-
wicklung von einfachen (monochrom) zu komplexen (u. a. polychrom, detailliert)
>Röntgenbildern< nachweisen läßt. Felsbilder entstanden in Australien bis in die 80er
Jahre unseres Jahrhunderts. Najombolmi (1895-1964), der im Gebiet des heutigen
Kakadu-Nationalparks (Nord-Australien) lebte, war einer der letzten Maler, der die
Tradition der Felsmalerei ausführte. Er blieb mit seinen Bildern jedoch eng dem tra-
ditionellen >Röntgen<-Motiv verhaftet. Man konnte ihm 46 Fundstellen mit über 604
individuellen Malereien zuschreiben (Haskovec & Sullivan 1989: 70). Haskovec und
Sullivan machen am Beispiel dieses Künstlers deutlich, daß auch einige wenige
Künstler für eine große Anzahl von Arbeiten einer bestimmten Kunstform verant-
wortlich sein können. Kunst wird von Individuen gemacht, die durch ihre Innovatio-
nen auch stilistische Änderungen bewirken können: »Art is not necessarily produced
by individuals who slavishly follow normative values but by individuals who, through
their innovative action, are effective in stylistic change.« (ebd.: 73), was das Beispiel
Najombolmi eindrücklich belegt.
Die Verwendung des >Röntgen<-Motivs in zeitgenössischen Arbeiten autochthoner
Künstler läßt sich unter anderem in Australien, in Papua-Neuguinea und Amerika
nachweisen.
Die Tradition der >Röntgen<-Darstellungen fand in Australien ihre Fortsetzung in der
Rindenmalerei des Arnhem-Landes (Groger-Wurm 1977; Sutton 1988; Taylor 1989).
Die gewählten Bildthemen, die in der Rindenmalerei verwendet werden, sind
zumeist identisch mit jenen der Felsbildkunst der Region (Abb. 28). Ein verbreitetes
Thema der Oenpelli-Rinden-Malerei der letzten Jahre zeigt >Mimi-Jäger<, die Kän-
guruhs mit Speeren jagen. Ausgeführt werden die Bilder in der Regel mit >Röntgen<-
Motiven.
Den >Röntgen<-Bildnissen zugerechnet werden Arbeiten von Aborigines-Künstlern
des Arnhem-Landes, in denen bei Tieren und Menschen die Gelenke durch beson-
dere Betonung oder Markierungen hervorgehoben werden (Abb. 29) (Sutton 1988:
74 ff).
Die Arbeiten moderner autochthoner Künstler Australiens - wie auch die von Künst-
lern aus anderen Teilen der Welt - sind oftmals geprägt von den persönlichen Erfah-
rungen einer sich wandelnden Umwelt. Zum einen wechselt man von der traditio-
nellen Malunterlage (Rinde) auf Leinwand oder Sperrholzplatten, zum anderen
fanden neue Themen und Dinge wie Motorfahrzeuge, Gewehre oder Schiffe Eingang
in die tradierte Bildersprache. Jedoch behält man die traditionelle Darstellungsweise,
trotz Verwendung neuer Techniken und Materialien, bei. Zeitgenössische Künstler,
die über Australien hinaus Beachtung erlangten, sind u. a. Dick Nguleingulei Murru-
murru, Gumbalgo und Yirawala (Abb. 28). Heute erfolgt die völlige Vermarktung der
Kunst der Aborigines, und es werden unter anderem T-Shirts und Shorts mit >Rönt-
gen<-Motiven - dem sogenannten Ethnolook - angeboten. 1994 wurde eine B747 der
australischen Fluggesellschaft Quantas mit dem Namen »Wunala Dreaming« vorge-
stellt, die mit Känguruh->Röntgen<-Motiven bemalt wurde.
Auch in Neuguinea praktizieren Künstler wie Agion oder Mathias Kauage diese Art
der Darstellung auf Holzschnitten (Abb. 30) (Tingting bilong mi 1979: 143).
Analog der Entwicklung in Australien blieb das >Röntgen<-Motiv in der traditio-
nellen Kunst der Nordwestküste Amerikas bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts
lebendig. Nach dem fast völligen Niedergang der alten Kunsttradition kam es Mitte
unseres Jahrhunderts zu einer Revitalisierung (Macnair 1988: 139 ff). Das >Röntgen<-
Motiv wird nun einerseits in traditionell gehaltenen, andererseits in modernen Arbei-
ten verwendet. Deutlich wird dies in den Werken von Bill Reid (Haida), Roy Henry
Vickers (Tsimshian) oder Tony Hunt (Kwakiutl). Bill Reid, der auch eigene Stilana-
lysen durchführte, spielte eine zentrale Rolle bei der Revitalisierung der Kunst der
Haida. Tony Hunts Arbeiten, die stark von der Kwakiutl-Mythologie beeinflußt sind,
zeichnen sich zum einen durch eine Verbindung von traditioneller Bildersprache mit
TRIBUS 46, 1997
modernen Techniken aus, zum anderen sind sie zugleich innovativ (Duffek 1988:
250 f).
Eigene Befragungen ergaben, daß einige der interviewten indianischen Künstler der
Nordwestküste wohl das >Röntgen<-Motiv in ihren Arbeiten verwenden, jedoch
wenig oder keine Kenntnisse über dessen Bedeutung besitzen.
Als ein Charakteristikum tritt das >Röntgen<-Motiv des weiteren in Werken von
Künstlern des Waldlandes Kanadas auf. Deutlich wird dies in den Arbeiten von Saul
Willimans (Ojibwa), Carl Ray (Cree) (Abb. 31), einem der bedeutenden Maler der
Legenden der Algonkin, und Norval Morrisseau (Ojibwa), der sich intensiv mit den
Überlieferungen der Ojibwa beschäftigt (Patterson 1976; 53 ff; Warner 1978: 60 ff;
McLuhan 1988: 313 ff).
Auch in Arbeiten von Künstlern aus dem Südwesten der USA fand das >Röntgen<-
Motiv Eingang. In dem Aquarell »Hunting Gwund« von Helen Hardin (Santa Clara
Pueblo) aus dem Jahre 1968 wird ein Hirsch mit eingezeichneter >Herzlinie< abgebil-
det, der in Zusammenhang mit ähnlichen Darstellungen auf Zuni-Töpfereien gesehen
werden kann (American Indian Art Magazine 1995: 66). Gleichwohl erkennt man
dieses Motiv ebenso auf zeitgenössischen Zuni-Keramiken, unter anderem auf einer
Arbeit von Anderson und Aurelia Peynetsa aus dem Jahre 1990 (Eaton 1990: 31).
Weitere Beispiele zeitgenössischer Werke mit >Röntgen<-Motiven findet man in
Mexiko bei Eligio Carillo (Huichol), der auf seinen Garnbildern Menschen und Tiere
(Hirsch) mit Rückgrat und Brustbein abbildet (Gerhards 1985: 60f).
Auch in Werken moderner afrikanischer Künstler kommt das Motiv vor, inwieweit
jedoch Aussagen einzelner dieser Künstler Glauben geschenkt werden kann, daß ihre
Arbeiten auf traditionellen Wurzeln basieren, muß kritisch hinterfragt werden. Ein
bemerkenswertes Beispiel sind Geisterbilder (So’ore) der Gbato-Senufo (Elfenbein-
küste), die ursprünglich für Mitteilungen aus dem Bereich des Poro-Geheimbundes
dienten, heute jedoch auch Motive aus der technischen Umwelt aufzeigen, wie bei-
spielsweise moderne Verkehrsmittel, die dem Betrachter Einblick in das jeweilige
Transportmittel erlauben (Abb. 32) (Krieg, Lohse 1981: 125 ff).
Eigentlich Verborgenes dem Betrachter zu offenbaren, ist auch eine in der europäi-
schen Kunst angewandte Form der Wiedergabe, ln der spätmittelalterlichen Kunst
wurde Maria mit sichtbarem Christuskind beziehungsweise Elisabeth mit Johannes
abgebildet. Die Abbildung der ungeborenen Kinder diente der Verdeutlichung der
Gottessohnschaft Jesu und der Gottesmutterschaft Marias. Die sichtbaren Kinder
wurden in Brusthöhe oder im Schoße der beiden Frauen dargestellt (vgl. Darst. der
ungeborenen Kinder, oberrh. Teppich um 1400, Freiburg, städt. Sammlung).
Weniger Beachtung fanden bislang Arbeiten europäischer Künstler des 20. Jahrhun-
derts mit Darstellungen, die innere Strukturen aufweisen. Marc Chagall stellt in sei-
nem Bild >Der Viehhändler (1912), das dem analytischen Kubismus zugerechnet
wird, das trächtige Zugtier des Viehhändlers dar, in dessen Leib deutlich das auf
dem Rücken liegende Kalb gemalt wurde (Abb. 33). Chagall war der erste, der, so
Schmidt (1981: 226 f), den analytischen Kubismus für die Wiedergabe der psychi-
schen Mehrschichtigkeit des Erlebens der Gegenstandswelt nutzte.
Paul Klee, der großes Interesse an spezifischen Aspekten der >Stammeskunst< zeigte
und sich kunsttheoretisch mit der sogenannten >primitiven Kunst< sowie mit Zeich-
nungen von Kindern und Geisteskranken beschäftigte (Schreyer 1956: 169 f; Klee
1957: 274 f), malte in seinem Bild >Bilderbogen< (1937) in einer Umrißzeichnung
einen Fisch, dessen Rückgrat und Gräten deutlich hervortreten. Im Œuvre Klees
erinnern auch seine transparent erscheinenden Tierformen an die >Röntgen<-Malerei.
Klee nutzte die »Röntgen-Technik« primär dazu, um Wunschphantasien auszu-
drücken. ln einem Gespräch mit Lothar Schreyer betonte Klee, daß Kinder und
Naturvölker eine besondere Wahrnehmungskraft haben. Diese besäßen die Fähig-
keit, das bildnerisch auszudrücken, was ungehindert zwischen Innen- und Außenwelt
fließt (Laude 1984: 499, 505). Mit seiner Aussage; »Der Gegenstand erweitert sich
über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres«, gerät Klee, so
Bilang (1989: 214 f), in die direkte Nähe zum australischen >Röntgenstil< bezie-
hungsweise zum >Röntgen<-Motiv.
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Abb. 1 Abnahme einer Glyphe, Ringbolt Island, Kitselas Canyon,
River, British Columbia. (Aus; MacDonald 1983, Abb. 6: 38, S. 119)
Abb. 2 Steinskulpturen auf oder nahe Sauvies Island, Columbia River, Ore
gon. (Aus: Strong 1945, Abb. la, b, c, S. 249)
Abb. 3 Geschnitzte anthropomorphe Figur, Chinook, Multnomah (Sauvies
Island), Oregon; >precontact<, Elchgeweih, 19x5x5 cm, Burke Museum,
Seattle. (Aus: Flolm 1987, 3, S.31)
TRIBUS 46, 1997
Abb. 4 a) Flunder und Lachs mit eingeritztem Grätenmuster, Jack’s Point bei Nanaimo, Van-
couver Island, British Columbia. (Aus: Wellmann 1976, Tafel A)
Abb. 4 b) Anthropomorphe Gestalt, Felsritzung, Nanaimo, Vancouver Island, British Colum-
bia. (Aus: Hill, R. u. H„ 1974, S. 270)
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Abb.6 Menschliches Paar, Felsgravierung der Plateau-Anasazi (Rosa-Stil) im Gobernador
Canyon, Farmington, New Mexico. (Aus: Wellmann 1976, S.36)
Abb. 7a) Ritzzeichnung, Hirsch mit >Lebenslinie<, 15 x, Zuni, ZRAS site 7, New Mexico.
(Aus: Young 1990, Abb. 79, S.205)
◄ Abb.5 Elemente zur Darstellung eines Kwakiutl-Wolfes: 1. Kehle; 2. Oberarmknochen in
Verbindung mit dem Unterarm; 3. Schlüsselbein; 4. Rückgrat; 5. Rücken mit Haaren; 6. Rip-
pen; 7. Brustbein; 9. Hinterbein; 10. Zehen (Krallen); 11. Fuß; 12. Verbindung zw. Rückgrat und
Schwanz; 13. Schwanzhaare; 14. evt. ein zweites Schwanzgelenk; 15. Schwanz; 16. Ohren.
(Aus: Boas 1955, Abb. 196, S.206)
145
TRIBUS 46, 1997
Abb. 7 b) Töpferei der Zuni, nach 1850, H.ca. 24 cm, Smithsonian Institution, Washington
DC. (Aus: Fürst 1982, Abb.56, S.70)
Abb.8a) Anthropomorphe Felszeichnung, südliches Alberta. (Aus: Magne, Klassen 1991,
Abb. 13, S.407)
Abb. 8 b) Micmac-Frau im Damensitz auf einem Pferd, McGowan Lake, Kanada. (Aus:
Molyneaux 1989, Abb. 8.5, S. 204)
146
Abb. 9 Dr. Koch-Grünberg nach der Handzeichnung eines Bare-Indianers und Zeichnung
einer Frau, Brasilien. (Aus: Koch-Grünberg 1906, Abb. 6, S.25, Tafel 19)
Abb. 10 Elchkuh mit Kalb, Alta, Finnmarken, Nordnorwegen. (Aus: Feist, E. u. I., 1985, S. 31)
Abb. 11 Bootsdarstellung mit Menschen, Alta, Finnmarken, Nordnorwegen. (Aus; Feist,
E.u.I., 1985,8.37)
Abb. 12 a) Gepunzte Darstellung aus Sakatschi (Amur-Ussuri-Gebiet). (Aus; Lommel 1961,
Abb. 5, S. 229)
Abb. 12 b) Fels-Punzung aus Schalabolino. (Aus: Lommel 1961, Abb. 6, S.229)
147
TRIBUS 46, 1997
Abb. 13 Hölzerne Figur, Hilfsgeist eines Scha-
manen, Nanai, H. 37 cm, Museum für Völker-
kunde, Leipzig. (Aus: Drost 1971, S.51)
Abb. 14 Reiter, Sulek/Minusinsk, 3.-6. Jahr-
hundert n. Chr. (Aus: Snoy 1961, Abb. 7, S. 70)
Abb. 15 a) Motive auf Holzpaddel, Kuskokwim
River, vor 1890, Sheldon Jackson Museum,
Sitka. (Aus; Ray 1981, Abb. 189a, S. 201)
Abb. 15 b) Seehund-Amulett, Elfenbein. 4,4 x
0,8 x 0,5 cm, späte Dorsetkultur (500-1000
n.Chr.), Canadian Museum of Civilization,
Ottawa. (Aus: Hoffmann 1988, Abb. 17, S.440)
148
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Abb. 16 Hölzernes Amulett, Pribiloff
Islands, 19. Jh., ca. 14,6 cm, Peabody
Museum of Nat. History, Yale Univer-
sity. (Aus: Fürst 1982, Abb. 149, S. 159)
Abb. 17 Frauen-Sarong, lau, Ost
Sumba, L. 151 cm, Barbier-Mueller
Museum, Genf. (Aus: Barier, Newton
1988, Abb. 48, S.289)
149
TRIBUS 46, 1997
Abb. 18 Amulett, Knochen, Batak (Sumatra), Museum of Anthropology and Ethnography
Leningrad. (Aus: Museum of Anthropology and Ethnography Leningrad 1973, Abb. 77/78)
Abb. 19a) Felsmalerei in Rot, Matutuo mit Kopfputz, Manga-Stil, MacCIuer Golf, Irian Jaya;
b) Fisch mit Innenzeichnung, H. 37 cm, MacCIuer Golf, Irian Jaya. (Aus; Röder 1959, S. 124)
150
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Abb. 20 Rindenstoff (Maro), Sentani-See, Irian Jaya, 1926-30, 64 x 37 cm, Tropen Museum
Amsterdam. (Aus: Greub 1992, Abb. 9, S. 133)
Abb. 21 Fisch, Neu Irland, 19. Jh., Holz bemalt, L. 154 cm, Museum für Völkerkunde, Leip-
zig. (Aus; Bilang 1989, Abb. 194)
151
TRIBUS 46, 1997
Abb. 22a) Schiffszeichnungen. (Aus: Thurnwald 1913, Tafel X, Abb. 133)
Abb. 22 b) Reitender Europäer, gemalt von Misi, einem Bewohner von Port Moresby, Papua
Neuguinea. (Aus: Haddon 1904, Abb. 24, S.36)
Abb. 23a) Rindenritzung der Chatham-Islands. (Aus; Lommel 1966, S. 799)
Abb. 23 b) Tatauierungsmuster der Marquesas. (Aus: Lommel 1966, S.799)
Abb. 24a) Felsmalerei, Frau in Rönt-
gendarstellung. Cadell River, Australien.
(Aus: Brandi 1973, Abb. 59, S.30)
Abb. 24b) Felsmalerei, männliches
Känguruh, Deaf Adder Creek, Bala-Ulu,
Australien. (Aus: Brandi 1973, Abb. 166,
S. 78)
152
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Abb. 25 a) Kopf eines Salzwasserkro-
kodils im Profil; Birradak, Arnhem-
Land, Australien. (Aus: Chaloupka 1993,
Abb. 259, S. 225)
Abb. 25b) Kopf eines Känguruhs, H.
25 cm, Namarrgon-Felsbildstelle, Arn-
hem-Land, Australien. (Aus: Chaloupka
1993, Abb. 172, S. 164)
Abb. 26 Barramundi, Oenpelli-Gebiet,
Australien. (Aus: Brandi 1973, Abb. 117,
S. 58)
153
TRIBUS 46, 1997
Abb.27 Schiff, Awunbarrna, Arnhem-Land, Australien. (Aus: Chaloupka 1993, Abb.213,
S.190)
Abb.28 Yirawala (1903-1976), Emu, 1966, Ocker auf Eukalyptusrinde, 76 x 44,5 cm, Nat.
Gallery of Australia, Canberra; Region: West-Arnhem-Land, Sprache: Kuninjku, Australien.
(Aus: Aratjara 1993, Abb. 12, S. 148)
154
■4 Abb. 29 Timothy Nadjowh >Lightning Figure<, 1986,
Ocker auf Rinde, 55,5 cm x 18,5 cm; Western Arnhem-
Land, Australien. (Aus; Sutton 1988, Abb. 119, S.76)
Volz: Der Blick in >Verborgene<
Abb. 30 Mathias Kauage >Nach Beendigung eines Kon-
traktes kommen die Männer nach Hause und werden am
Flugplatz von ihren Freunden hegrüßt< (ohne Daten).
(Aus: Tingting bilong mi 1979, S. 143)
Abb. 31 Carl Ray (geb, 1943) >Spring Awakening<,
1975, Lewin Collection. (Contemporary Native Art 1976,
S. 32)
155
TRIBUS 46, 1997
^9 ¡¡¡Q
Abb. 32 Geisterbilder der Gbato-Senufo, Elfenbeinküste; a) Polizei-Jeep; b) Lastauto mit
Passagieren; c) Flugzeug mit Ziege; d) Hubschrauber. (Aus: Krieg / Lohse 1981, Abb. 36,
S. 129; Abb. 37, 40, 42, S. 130)
Abb. 33 Marc Chagall (1887-1985) >Der Viehhändler, 1912. Öl auf Leinwand, 97 x
220,5 cm; Kunstmuseum Basel. (Aus: Schmidt 1981, S.227)
156
JURGEN ZWERNEMANN
Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Togo
Anläßlich einer Vortragsreise durch Westafrika weilte ich 1966 zwei Tage in Nord-
Togo. Dabei sah ich im Gehöft des Kantonshäuptlings von Kantindi, wenige Kilo-
meter ostnordöstlich der Distrikthauptstadt Dapaong, außen an der Wand eines
Rundhauses zwei etwa 30 bis 40 cm hohe, sehr einfache Holzfiguren lehnen. Direkt
davor lagen zwei umgedrehte Tonschalen, deren jede in der Mitte durchlöchert war.
Der sehr einfache Figurentyp war mir aus der Sammlung der Afrika-Abteilung des
Linden-Museums, die ich damals leitete, als »Ahnenfiguren« der Moba wohlbe-
kannt. Nun sah ich sie also im Gehöft eines Gurma-Häuptlings und fragte selbstver-
ständlich nach dem Zweck. Der Sohn des Häuptlings sagte mir, die Figuren seien der
Erinnerung an Ahnen gewidmet, die in Kämpfen Feinde getötet hatten. Der sehr
kurze Besuch erlaubte es mir nicht, die Angelegenheit zu vertiefen. Immerhin war
mir der persönliche Eindruck wichtig genug, eine kurze Notiz zu verfassen, in der ich
auch einige Literaturstellen zitierte, die in diesen Zusammenhang gehörten (Zwer-
nemann 1967).
Die frühe Literatur bietet nur wenig Information. Alle Angaben beziehen sich auf die
Moba, für die Gurma fand ich überhaupt keine Hinweise auf Figuren. Die erste mir
bekannte Literaturstelle stammt von Graf Zech (1904: 131). Es ist nur eine kurze
Bemerkung, in der die Holzplastik »mit religiösen Vorstellungen (Ahnenkult?)« in
Zusammenhang gebracht wird. Wir erfahren ferner, daß die imposanten Figuren oft
bei den Gehöften aufgestellt werden. Zech bildet den damaligen Häuptling von Tami
neben einer großen Figur ab (1904, Abb. 11). Wegen ihres historischen Dokumenta-
tionswertes ist diese Abbildung hier reproduziert (Abb. 1). Adolf von Seefried (1911,
Taf. 1, Fig. 2) bildet eine weitere große Figur ab, die er vor dem Gehöft des Häupt-
lings von Kpatua photographierte. Leider gibt er in seinem Aufsatz keine weiteren
Informationen. Eine Erwähnung von Ahnenfiguren der Moba durch Hans Meyer
(1910: 105) geht wohl auf die Erwähnung und Abbildung bei Graf Zech zurück.1
Etwas mehr Information bietet ein Absatz, den Leo Frobenius (1913: 430) in seinem
Kapitel über die Moba veröffentlichte:
»Ahnenbilder kommen vor. Ihr Name ist kikirri (Sgl.: kikirriga). Wenn jemand
häufig Ahnenopfer verrichtet hat, diese ihm aber nichts genutzt haben, so daß seine
Verhältnisse sich ständig verschlechtern, statt sich zum Guten zu entwickeln, so wen-
det der bedrängte Mann sich zuletzt an einen gut beleumundeten Erdorakler. Der gibt
ihm dann wohl den Rat, eine Holzfigur, eine Kikirriga, nach dem Bilde seines ver-
storbenen Vaters oder seiner toten Mutter herzustellen und über dieser Figur dann ein
Ahnenopfer zu verrichten. Der Mann kommt dem Rate dann sicher nach und schnitzt
eines der rohen Gebilde, die man in vielen Gehöften auf den Opferplätzen, auf den
Pudere, herumliegen sieht. Ihre Eigenschaft als Ahnenfigur ist unleugbar. Ihnen wird
als Vertreter der Toten geopfert. (B.)«2
Ein interessanter Hinweis findet sich ferner bei Cardinall (1922/23: 45)3, der in sei-
nen Notizen über die Moba, die ihn sichtlich beeindruckt haben, schreibt:
»Most remarkable is Poyonna, a wooden idol carved from the fanpalm. It resembles
a man, and is about five feet high with arms and legs. It has no features to its face and
is the ‘fetish’ to which all sacrifice before going hunting in the bush.«
Das Wort »Poyonna« läßt sich gut identifizieren. Es muß richtig pwo cong4 heißen,
das für ungeübte Ohren durchaus wie po yong klingen kann. Vermutlich hat ein zu
einer anderen ethnischen Gruppe gehöriger Dolmetscher noch das Nominalsuffix
seiner eigenen Sprache angehängt, und schon ist aus pwo cong »Poyonna« gewor-
den. Die angegebene Größe von ca. 1,50 m trifft auf die großen Figuren zu, die oft
pwo cong genannt werden und mit der Jagd in Verbindung gedacht sind.
157
TRIBUS 46, 1997
Abbildungen von Moba-Figuren finden sich ohne Kommentare bei Hermann Bau-
mann (1940: 360) sowie bei Garnier und Fralon (1951: 53). Eckart von Sydow (1954:
63 u. Taf. 130c) hat die ihm zugänglichen Informationen des Museums für Völker-
kunde in Berlin und des Linden-Museums zusammengestellt und die Hinweise von
Graf Zech und Leo Frobenius ausgewertet. Auf seine Arbeit ist noch bei der Diskus-
sion des Stils der Figuren zurückzukommen. Eine ganz kurze Erwähnung der Moba-
Figuren findet sich schließlich bei Jean-Claude Froelich (1963: 152).5 Dagegen
erwähnt er die Figuren in dem sehr kurzen Abschnitt desselben Buches über die
Gurma nicht (1963: 182ff.). Dies erstaunt mich etwas, denn Froelich war immerhin
einige Zeit Verwaltungsbeamter dieses Gebietes, müßte die Figuren also eigentlich
auch bei den Gurma gesehen haben. Kurt Krieger (1965; 27f. u. Abb. 28-30)
beschreibt drei Moba-Figuren, die nicht mit den bei Baumann und von Sydow abge-
bildeten Skulpturen des Berliner Museums identisch sind. Schließlich zeigt Bau-
mann (1969: 9) eine Moba-Figur des Linden-Museums. Rezente Abbildungen finden
sich bei Herbert M. Cole und Doran H. Ross (1977: 118), Zwernemann (1980 gegen-
über S. 37 u. 52; 1985: 58) und bei Christine Müllen Kreamer (1987).
Nach meiner ersten Bekanntschaft mit den Statuetten der Gurma hatte ich 1969/70
während einer Forschungsreise zu den Moba in Nord-Togo6 Gelegenheit, mich inten-
siver mit den Figuren und ihrem Hintergrund zu befassen. Sechs Figuren der Gurma
und zwei der Moba konnte ich für das Linden-Museum erwerben.
Man begegnet diesen Figuren wohl in jedem Gehöft. Sie sind in Verbindung mit
Ahnenaltären (Abb. 2 und 3) und stehen oft neben der Tür des Eingangshauses
(Abb. 4 u. 5), durch das man in das Gehöft gelangt. Manchmal steht oder liegt eine
Figur auch im jingl, dem als Opferplatz dienenden Steinkreis schräg rechts vor der
Tür des Eingangshauses im äußeren Hof des Gehöftes (Abb. 6). Jener cicilg1 reprä-
sentiert nach de Surgy (1983; 185) den Gründerahnen der Lineage8. Wenn sich
zwei cicili im jingl befinden, ist die zweite Figur mit der Frau oder der Mutter des
Gründerahnen assoziiert. In einem Fall sah ich zwei kleine cicili-Figuren über einem
Topf mit magisch wirksamem Schutzmittel (?) in einem Baum im äußeren Hof eines
Gehöftes hängen (Abb. 7). Große Figuren sind im äußeren Hof des Gehöftes manch-
mal bis zu den Hüften in den Boden eingelassen (Abb. 8 u. 9), hin und wieder stehen
sie auch auf einem zylindrischen Podest (Zwernemann 1980, Abb. bei S. 37). Aufbe-
wahrungsort für die persönliche cicilg-Figur ist das Eingangshaus oder das eigene
Wohnhaus (Abb. 10).
Ahnenfiguren, Buschgeister oder Schutzgeister?
Es ist erforderlich, zunächst festzustellen, welche Funktion die cicili und ihre Figu-
ren haben. Zumindest die älteren zitierten Quellen sprechen von »Ahnenfiguren«.
Thierry bezeichnete sie allerdings als »Hausgötzen« (nach Krieger 1965: 28). Wenn
man die von Krieger zitierte Aktenangabe durchliest, kommt man allerdings zu dem
Ergebnis, daß letzten Endes ebenfalls Ahnenfiguren gemeint sind, denn es heißt dort:
»Stets Vater und Mutter, Großvater und Großmutter zusammen. Jedoch auch für
noch lebende Familienmitglieder solche Figuren aufgestellt, z. B. bei Geburt von
Zwillingen.« Die Charakterisierung als Ahnenfiguren ist bei Figuren, deren Funktion
man nicht kennt, in der ethnologischen Literatur bekanntlich nicht ungewöhnlich.
Wie in so vielen anderen Fällen trifft sie auch auf die Figuren der Moba und Gurma
sicher nicht zu. Christine Müllen Kreamer (1987; 52) fühlt sich mit dieser verallge-
meinernden Zuordnung offensichtlich ebenso unwohl wie ich. Sie schreibt; »In fact,
though all tchitcheri are shrine figures, not all are ancestors. For that reason, I favor
the more general descriptive term, shrine figure.« Dies ist sicher eine neutrale, für die
Figuren als solche auch akzeptable Bezeichnung. Letzten Endes geht es aber nicht
nur um die Figuren als solche, sondern um das geistige Konzept, dem wir zunächst
auf die Spur kommen müssen, wenn wir die Funktion dieser Figuren einigermaßen
verstehen wollen.
Cardinall (1931: 77 f. u. 81) sieht sie als Unheil bringende, männliche und weibliche
158
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. I Große cicilg-Figur vor dem Gehöft des Häuptlings. Moba, Tami. Reproduktion einer
Abbildung bei Graf Zech (1904, Abb. 11).
Abb. 2 Ahnenaltar mit ««'//-Figuren. Die Spuren einer Libation mit in Wasser gelöstem Hir-
semehl sind an der Wand, an den Figuren und an den Töpfen zu erkennen. Moba, Karsome,
Kanton Dapaong.
159
TRIBUS 46, 1997
Abb. 4 c/ci/g-Figur und magisch wirksame Schutzmittel neben der Tür eines Eingangshau-
ses. Die ca. 50 cm hohe Figur steht dort angeblich, weil das Gehöftoberhaupt Wahrsager ist.
Moba, Touguebim, Kanton Tami.
Abb. 5 Etwa 60 cm hohe cici/g-Figur und magisch wirksame Schutzmittel neben der Tür des
Eingangshauses eines Gehöftes. Moba, Tami.
Abb. 3 cici/i-Figuren am yendu-Altar von Labig Duut und seinem Vater. Am Altar im äuße-
ren Hof des Gehöfts lehnen vier cicili. Der links dahinter befindliche Topf ohne Boden war
ursprünglich als Schutz über Altar und Figuren gestellt. Er wurde auf Wunsch des Verfassers
abgehoben. Moba, Nok, Kanton Nano.
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Buschgeister an. Sie sollen zahlreich sein und vor allem von Jägern oft gesehen
werden können. Sie werden vor allem mit auffälligen Bäumen, Felsen und Teichen
in Verbindung gebracht. Man sagt von ihnen, daß sie nachts an kahlen Stellen tanzen,
auf denen kein Gras wächst. Wer an einem solchen Ort einschläft, der wird verrückt
oder erblindet. Hier hat Cardinall mehrere Arten von Geistern miteinander ver-
mischt. Denn er spricht den cicili hier Züge zu, die auf die sampola genannten Busch-
geister1' und auf die Wassergeister, die kpungkpali, zutreffen. Cardinall bezieht seine
Ausführungen allerdings nicht ausschließlich auf die Moba, sondern verallgemei-
nernd auf die Bewohner des nördlichen Ghana.
Eine Charakterisierung der cicili10 ist nicht ganz einfach, und die Angaben, die ich
bekam, sind sehr unterschiedlich. Einige Gewährsleute sahen die cicili als Busch-
geister an und assoziierten, wie Cardinall, »Geisterplätze« im Busch mit ihnen.
Andere Alte meinten, daß die cicili normalerweise »aus dem Haus« kommen, denn
wenn der cicilg aus dem Busch kommt, wird der betreffende Mensch verrückt.
Dieser zweite Hinweis erinnert an die entsprechende Bemerkung von Cardinall, der
allerdings als Voraussetzung für die Erkrankung angibt, daß der Mensch am Geister-
platz schläft. Ein Gewährsmann, der die cicili mit dem Busch assoziierte, sagte mir,
daß sie das Wild »führen«, denn alles Wild hat seine Wächter, die es beschützen.
Nur »schlechte« Tiere kann man erlegen, d. h. Tiere, die sich der Herde gegenüber
asozial verhalten oder die cicili nicht genügend respektieren. Dieser Gewährsmann -
Kombat Tambat, Chef de Canton von Nanergou - unterschied kleine cicili, die im
Wasser leben, und große, die im Busch wohnen. Bei den im Busch befindlichen cicili
beschrieb er zwei Arten, solche mit rotem Haar und nach hinten zeigenden Füßen
und andere mit schwarzem Haar und normal stehenden Füßen. Wenn jemand oder
ein Dorf ein Unglück befällt, dann sind die rotköpfigen cicili daran schuld. Hier
wird man wieder an Cardinall (1931: 77) erinnert, der die cicili als >mischief-loving
dwarfs< charakterisiert. Die im Wasser lebenden cicili entsprechen m. E. den schon
erwähnten kpungkpali, und die rot- und schwarzhaarigen cicili des Busches den
sampola. Offensichtlich ist das Wort cicili hier als Oberbegriff verwendet worden.
Ein anderer Gewährsmann aus demselben Ort sagte, daß Zwillinge in einer besonde-
ren Beziehung zu den cicili stehen. Dieser Gewährsmann sagte mir auch, eine andere
Bezeichnung für cicili sei nindam.
Dem Begriff nindam bin ich selbst nicht weiter nachgegangen, weil ich ihm seiner-
zeit keine besondere Bedeutung beimaß, sondern ihn lediglich als alternative
Bezeichnung der cicili auffaßte. Albert de Surgy (1983; 64 ff.) berichtet sehr aus-
führlich über mandaan-niib^ und nindam-niibn, Geistwesen, die als unsichtbare
Zwillingspaare gedacht sind und den Menschen bis in die Häuser folgen. Auf Ein-
zelheiten der sehr komplizierten Vorstellungen von diesen Geistwesen kann hier
nicht näher eingegangen werden.13 Nur soviel sei gesagt: Jedem Menschen ist ein
mandaan-niib und ein nindam-niib zugeordnet. Die mandaan-niib sorgen dafür, daß
die Seelen geboren werden und bringen sie nach dem Tod zu Yendu zurück, dem mit
der Sonne assoziierten Himmels- und Schöpfergott, von dem sie auch gekommen
sind. Sie lassen das Leben der Menschen ihrem vorgesehenen - d. h. dem pränatal
erwählten - Schicksal14 entsprechend verlaufen und wirken positiv auf die produkti-
ven Aktivitäten ein. Die nindam-niib machen die Menschen zu denkenden Wesen.
Sie sorgen dafür, daß diese ihre Arbeit besser verrichten können, lenken sie unter
Umständen aber auch durch übertriebene Überlegungen von der Durchführung von
Arbeiten ab. mandaan-niib und nindam-niib arbeiten während des Lebens der ihnen
zugeordneten Menschen zusammen. Eher beiläufig setzt de Surgy (1983: 266) die
Begriffe mandaan-niib und cicili gleich.15 Für die nindam-niib, die mein Gewährs-
mann als cicili bezeichnete, habe ich keinen entsprechenden Hinweis bei de Surgy
gefunden. Man kann aber wohl davon ausgehen, daß beide, mandaan-niib und
nindam-niib, den cicili entsprechen. Albert de Surgy (1983: 266, Anm. 45) stellt
nämlich fest, daß für ein niib-Faar eine einzige Figur genügt, um beide zu repräsen-
tieren. Diese Figur hat das Geschlecht des betreffenden Menschen. Hier liegt mög-
licherweise der Grund dafür, daß meine Gewährsleute fast immer nur von einem
cicilg sprachen.
161
TRIBUS 46, 1997
Jeder Mensch hat also seinen cicilg bzw. seine cicili, die von Yendu kommen. Man
kann die cicili als Schutzgeister bezeichnen, die im allgemeinen bei ihren Menschen
sind. Alles, was jener denkt und tut, entspricht normalerweise auch dem Denken und
Handeln des (dominierenden?) cicilg. Gelegentlich handelt der Mensch aber anders,
als es der cicilg möchte, und dann hat die betreffende Person Unglück. Als Beispiel
wurde mir genannt; Wenn jemand während einer Reise stirbt, hat er sein Heimatdorf
gegen den Willen seines cicilg verlassen, der zu Hause geblieben ist und ihn daher
nicht beschützen kann. Beim Tod des Menschen bleibt der cicilg bei der Familie.
Dies widerspricht nicht der Angabe von de Surgy, daß die mandaan-niib die Seelen
nach dem Tod zu Yendu zurückbringen.
Vor der Diskussion der Figuren sollen noch die Angaben der Gurma über die cicilimu
bzw. cicila16 kurz zitiert werden. Swanson (1985: 163ff.) berichtet, daß die Gurma
wenig über die cicilimu wissen, abgesehen von der Tatsache, daß sich jeder bewußt
ist, einen ciciliga zu haben. Der ciciliga »geht in den Körper, wenn die Frau schwan-
ger wird«, »wenn ein Baby geboren wird« oder »als Gott das Kind schuf«, sagten
Gurma-lnformanten zu Swanson. Er ist direkt mit dem Schicksal des Menschen asso-
ziiert. Swanson meint daher, der ciciliga sei das »which is within the human body
which realizes one’s prenatal destiny in the course of one’s life.« Er achtet also dar-
auf, daß sich das pränatal erwählte Schicksal erfüllt. Deswegen bezeichnet Swanson
den ciciliga als >guiding spirit<. Einige Leute meinen, daß der Mensch zwei cicilimu
hat: Einer ist für alles zuständig, was schlecht ist, einer für alles, was gut ist. Aller-
dings ist der ciciliga nicht absolut an den betreffenden Menschen und seinen Körper
gebunden. Er kann ihn verlassen. Dann gerät der Mensch blindlings in Probleme.
Weiter heißt es (Swanson 1985: 170): Der ciciliga sitzt im Kopf des Menschen und
ist mit dem Sehvermögen der Augen, aber auch mit der Wahrnehmung, der Voraus-
sicht und den Gedanken verbunden. Er kann den Menschen in Krankheit und
Unglück führen, aber auch von schlechten Dingen fort und zum Guten bringen. Der
ciciliga repräsentiert aber auch den »Tierahnen« des Subklans, d. h. den Ahnen des
Tiers, das der Gruppe einst half und daher weder getötet noch gegessen werden darf
(Swanson 1985: 175 f.). Beim Tod geht der ciciliga zu Tienu zurück (Swanson 1985;
179 f.), der dem Yendu der Moba entspricht.
Wenn auch einzelne Unterschiede bestehen mögen, so sind die Glaubensvorstellun-
gen, die die Gurma von den cicilimu haben, offensichtlich in wesentlichen Zügen
denen der Moba zumindest sehr ähnlich.
da/i-Figuren und ihre Gestalt
Statuetten gibt es nicht für jeden cicilg, sondern eine Figur wird nur dann geschnitzt,
wenn der Wahrsager herausfindet, daß der cicilg dies verlangt. Im allgemeinen
geschieht das zu Lebzeiten des Menschen, dem der cicilg zugeordnet ist. Gelegent-
lich verlangt aber auch der cicilg eines Verstorbenen, daß eine Figur geschnitzt wird.
Christine Müllen Kreamer (1987: 53) erfuhr, daß der Wahrsager auch die Größe und
das Geschlecht der Figur bestimmt. Sie berichtet ferner, daß cicili-Figuren nur von
einem Schnitzer angefertigt werden dürfen, dessen Vater Wahrsager ist oder war;
»Blindness or insanity or both are to strike those who dare to carve them without
proper authority.« Dies kann jedoch durch ein Schutzmittel verhindert werden, das
bestimmte Wahrsager besitzen und ggf. abgeben. Meine Gewährsleute sagten, daß
jedermann einen cicilg schnitzen darf, der die handwerkliche Fähigkeit dazu besitzt.
Es wurde nicht erwähnt, daß der Schnitzer Sohn eines Wahrsagers sein oder andern-
falls ein spezielles Schutzmittel erwerben muß. Allerdings wurde darauf hingewie-
sen, daß man den Schnitzer bezahlen muß, wenn er nicht zur Familie gehört. Ohne
Entlohnung würde er erblinden. Für Frauen werden normalerweise keine cicili-Figu-
ren hergestellt, aber es gibt Ausnahmen, zu denen vor allem Urmütter von Lineages
oder Klanen gehören.
Der Wahrsager gibt an, aus welchem Holz die Figur hergestellt werden soll. Mir wur-
den nur zwei Holzarten genannt, die in Betracht kommen. Eine davon ist offenbar
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. 6 In einem als Opferplatz dienenden Steinkreis lehnt eine cicilg-Figur am Stamm eines
kleinen Baumes. Nur bei diesem Gehöft sah ich einen in den Steinkreis einbezogenen Baum.
Moba, Nok, Kanton Nano.
Abb. 7 cicilg mit frischen Opferspuren in einem Baum beim Gehöft von Kombat Jakperg.
Moba, Tami.
163
TRIBUS 46, 1997
Abb.9 Im äußeren Hof des Gehöftes von
Candaog Nawang ist eine große dd/g-Figur
in den Boden eingelassen. Moba, Tougue-
bim, Kanton Tami.
Abb. 8 Im äußeren Hof eines Gehöftes
befindet sich am Fuße eines kleinen Baumes
ein Ahnenschrein, neben dem eine große,
eine mittlere, Reste einer weiteren sowie
zwei kleine dd/i’-Figuren in den Boden ein-
gelassen sind. Zwei Figuren liegen dahinter
am Boden. Alle Figuren sind stark verwittert.
Der Baum dient als magischer Schutz - mög-
licherweise gegen Blitz. Moba, Konkouagou,
Kanton Bombouaka.
V*
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164
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. 10 Daog Findib bewahrt seine persönliche dc/7g-Figur in seinem Wohnhaus auf. Sie ist
im Dachgebälk vor der Oberkante der Wand aufgehängt. Links im Bild Kalebassenflaschen
und -löffel des Hausherrn. In der kleinen Flasche sowie im Beutel befinden sich vermutlich
Medizinen. Rechts neben dem cicilg lehnt ein Speer. An der Wand hängen die Trinkschale
(Kalebasse) und der aus einem Ziegenbalg hergestellte Fellsack des Hausherrn, schräg davor
an einem im Gebälk befestigten Haken sein Hut, Bogen und Rückenschurz. Moba, Nanergou.
Abb. 11 Kleine cicili des Wahrsagers Candaog Nawang. Die cicili aus Holz sind 15 und
16 cm hoch. Einer davon ist männlich und repräsentiert den cicilg von Lambong, der andere ist
weiblich und stellt den von Nyagma dar. Die Eisenfigur soll der cicilg von Gub sein, dem Sohn
von Nyagma, die nicht mit Lambong verheiratet war. Alle drei sind verstorbene Mitglieder der
Familie von Nawang. Moba, Touguebim, Kanton Tami.
165
TRIBUS 46, 1997
Afzelia africana, die andere konnte ich nicht identifizieren. An dem ausgesuchten
Baum wird zuerst ein Opfer gebracht. Dann wird ein kräftiger Ast abgeschlagen und
nach Hause getragen. Schnitzwerkzeuge sind Haumesser und Dechsel.
Nachdem die Figur hergestellt worden ist, wird dem cicilg geopfert. Die dafür erfor-
derlichen Einzelheiten hat der Wahrsager zuvor angegeben. Dieses Opfer findet im
Steinkreis des Gehöftes statt. Danach verbleibt die Figur dort drei Tage lang. An-
schließend wird sie im Eingangshaus oder im Haus ihres Besitzers aufbewahrt. Vor
jedem Opfer wird sie mit Wasser gewaschen. Wenn der Besitzer einer cicilg-Figur
verstorben ist und die Trauerriten abgeschlossen sind, wird dem cicilg immer dann
geopfert, wenn man dem Toten opfert. Nach jedem Opfer an die cicili der Ahnen blei-
ben die Figuren eine Nacht im Steinkreis. Alte und völlig unbrauchbar gewordene
cid/i-Figuren werden im Steinkreis bestattet, nachdem man den neuen und den alten
cicilg nebeneinandergelegt und dann über beiden gemeinsam geopfert hat.
Kreamer (1987: 52) bezeichnet die Form der cicili als »hoch standardisiert«, obwohl
stilistische Varianten vorhanden sind: »Generally, the head is ovoid and Stands in
sharp contrast to the vertical axis of the figure.« Dies trifft übrigens auch auf den bei
manchen Figuren vorhandenen, ringförmigen Halswulst zu, auf den sie selbstver-
ständlich ebenso hinweist wie auf die parallel zum Körper verlaufenden Arme und
die im allgemeinen stummeligen Beine. Insgesamt ist die menschliche Gestalt, die
bei allen Figuren unverkennbar ist, stark abstrahiert. Ganz so einfach ist die Kopf-
form übrigens nicht zu charakterisieren. Sicher ist sie gelegentlich als ovoid zu
bezeichnen (z. B. Kreamer 1987: 53, Fig. 5). Der Kopf kann aber auch kugelförmig
(Abb.5), wie eine abgeplattete Kugel (Abb. 11), ein oben abgerundeter Konus
(Abb. 12), zylindrisch (Abb. 8) oder wie ein Pilzhut (Abb. 18) aussehen. Er kann
sogar fast zu einer Scheibe reduziert sein (Abb. 3). Bei allen Plastiken sind die Hüf-
ten stark betont, bei manchen ist die Schulterpartie deutlich gegen den Rumpf abge-
setzt. Selten sind Geschlechtsmerkmale dargestellt oder Gesichtszüge angedeutet.
Eckart von Sydow (1954: 63) charakterisiert die Arme der Skulpturen als »ungeglie-
derte Stäbchen«, die Beine als »lange oder kurze Stummel«.
Hermann Baumann (1969: 8 u. Abb. Id) rechnet die Moba-Figuren zur Pfahlplastik,
ein Begriff, den er (1929: 104) offensichtlich in Anlehnung an Frobenius (1897: 4ff.)
prägte.17
Baumann (1969: 8) charakterisiert diesen Stil: »Es ist die oft kubisch aufgelöste
lange Walze, welche aus dem roh als Menschenbild gekerbten heiligen Pfahl ent-
standen sein könnte. Die Glieder sind kaum betont, ebenso der Kopf. Alles ist streng
symmetrisch geordnet.«
Frobenius (a. a. O.) hat eine Entwicklungslinie vom verzierten Pfahl über den Pfahl
mit Kopf zur Figur im Bild dargestellt, den »Weg vom Geisterpfahl zur Ahnenfigur«
(Frobenius 1897: 13 u. 16). Der Pfahlplastik stellt Baumann (1969: 10) die Voll-
Rundplastik gegenüber, wobei es selbstverständlich genauso Übergänge zwischen
beiden gibt wie zwischen dem einfachen Pfahl und der Pfahlplastik. Die Spitzenlei-
stungen der Rundplastik setzt er noch als Untergruppe der »hohen Plastik« ab (Bau-
mann 1969: 13). Ob diese letzte Untergliederung gerechtfertigt ist, sei dahingestellt.
Die Unterscheidung von Pfahl- und Rundplastik erscheint mir jedoch als brauchbare
Arbeitshypothese.
Die drei Gruppen der cicili-Figuren
Christine Müllen Kreamer unterscheidet nach der Größe drei Gruppen dci//-Figuren,
nämlich kleine, mittlere und große. Jeder Gruppe entspricht eine bestimmte Funk-
tion,
Die kleinen, unter 25 cm hohen Plastiken18 werden yendu cicili genannt (Abb. 11).
Sie stehen im Zusammenhang mit dem Altar des persönlichen yendu. Jeder Mensch
hat einen persönlichen yendu, der sich vor der Geburt beim Himmels- und Schöpfer-
gott Yendu befindet. Wenn der yendu sich auf die Erde begibt, um geboren zu wer-
den, muß er Yendu erklären, was er als Mensch auf der Erde tun will. Dies ist das
166
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
pränatal erwählte Schicksal.19 Beim Tode geht yendu zu Yendu zurück, bleibt aber
gleichzeitig in einem ebenfalls yendu genannten Schrein präsent. Der yendu-Altar
wird hergestellt, wenn der Wahrsager dies für erforderlich hält. Das kann bald nach
der Geburt, aber auch zu einem späteren Zeitpunkt sein.20 Die yendu cicili werden
ebenfalls auf Empfehlung des Wahrsagers hergestellt, wenn dieser es für nötig befin-
det. Sie können nach Kreamer (1987: 53) über dem Altar aufgehängt oder auf diesen
gelegt werden. Sie meint, daß diese kleinen Figuren keine bestimmte Person oder
einen Ahnen repräsentieren. Dem widerspricht jedoch meine Information zu den
cicili auf Abb. 11, die der Besitzer eindeutig mit den cicili ganz bestimmter Ahnen in
Verbindung brachte. Kreamer scheint sich übrigens selbst nicht ganz sicher zu sein,
denn sie schreibt in diesem Zusammenhang:
»It may be, though it was never expressly stated by my informants, that a concept of
ancestral protection is evoked through the carving of a human form. This argument
is strengthened by the fact that the other two categories of shrine figures represent
ancestral spirits.«
Ganz kann ich auch dieser Feststellung nicht zustimmen, denn die Figuren repräsen-
tieren die cicili der Ahnen, nicht aber die Ahnengeister selbst.
Kreamer (1987: 55) stellt für die kleinen Figuren das Fehlen von Geschlechtsmerk-
malen heraus. Obwohl ich mir nicht sicher bin, kann es sein, daß die Kerbe in Ver-
längerung des Schritts der mittleren Figur auf Abb. 11 die Schamspalte andeuten
soll.21 Die Kopfform beider Plastiken entspricht einer abgeplatteten Kugel. Eine
kleine Einkerbung deutet den Hals an. Die Arme sind durch relativ flache senkrechte
Kerben vom Rumpf abgesetzt. Die Hüften sind deutlich hervorgehoben. Die stum-
meligen Beine haben die Form eines auf dem Kopf stehenden V.
Vermutlich gehört die auf Abb. 7 gezeigte Figur ebenfalls zu diesem Typ. Der Hals
ist wiederum durch eine Kerbe angedeutet, die allerdings hinter den weißen Federn
des letzten Hühneropfers verborgen ist. Die Arme liegen am verwitterten und mit
Opferspuren bedeckten Körper an. Der Übergang zu den Hüften ist nicht so abrupt
wie bei anderen Figuren. Rechts über der im Vordergrund befindlichen Figur ist
auf dem Bild ein zweiter cicilg zu sehen. Beide hingen in einem Baum über einem
geschlossenen Tongefäß, auf dem sich ebenfalls Opferspuren befanden. Bedauer-
licherweise habe ich keine Notiz über dessen Inhalt. Ob es sich um einen yendu han-
delt, wage ich nicht zu entscheiden, da der yendu eigentlich im Gehöft aufbewahrt
wird und nicht im äußeren Hof. Trifft diese Annahme zu, dann dürfte es sich bei dem
Inhalt des Topfes um ein magisch wirksam gedachtes Schutzmittel handeln. Mögli-
cherweise sind auch die recht gedrungenen Figuren auf Abb. 3, deren Gestalten wal-
zenförmig wirken, dieser Typ-Gruppe zuzuordnen. Zumindest bei der einen Figur
erscheint der Kopf, wie schon zuvor erwähnt, fast wie eine Scheibe gestaltet. Der
Hals ist bei allen Figuren durch einen ringförmigen Wulst angedeutet, die Hüfte nur
durch eine Kerbe.
Leider gelang es mir nicht, eine Figur dieses Typs für das Linden-Museum zu er-
werben.
Als mittelgroße cicili bezeichnet Kreamer (1987: 53 f.) Figuren von 25-90 cm Höhe.
Sie sind in Verbindung mit dem »household shrine« gedacht, also dem Hausaltar.
Diese Figuren lehnen oft an der Außenmauer des Eingangshauses, liegen im jingl,
dem Steinkreis oder sind in dessen Nähe oder bei Töpfen in den Boden eingelassen.
Sie repräsentieren rezente Ahnen des Gehöftoberhauptes, die maximal drei oder vier
Generationen von ihm entfernt sind. Kreamer nennt sie bawoong cicili. bawoong soll
die Bezeichnung des Hausschreins sein. Ich habe diesen Begriff nie gehört und ihn
auch bei de Surgy nirgendwo gefunden. Vielleicht ist bawoong aber mit dem Wort
baong identisch, baong nennt man die Zeremonialbank, die der ältesten Ahnfrau
geweiht ist,22 die in besonderer Beziehung zur Jagd steht. Was aber könnte mit dem
»household shrine« gemeint sein? Ich vermute, daß es sich um das ngaagdaan
(Gehöftherr) oder dieogdaan (Hausherr) genannte Kultobjekt handelt, das meist in
Kugelform aus Erde vom Ahnenschrein des Klans oder der Lineage außen unter dem
167
TRIBUS 46, 1997
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Abb. 12 c/ci/g-Figur, 22 cm hoch. Moba, Ende 19. Jh. Kat.-Nr. 8532. Slg. Gaston Thierry/
Ernst Sieglin. (Foto: Ursula Didoni)
Abb. 13 cicilg-Figur, 37 ein hoch. Moba, Ende 19. Jh. Kat.-Nr. 8958. Slg. Gaston Thierry/
Ernst Sieglin. (Foto: Ursula Didoni)
168
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Dach des Eingangshauses aufbewahrt wird - gelegentlich in einem Buckeltopf, oft
aber auch als einfache Kugel. Rechts neben der Tür des Eingangshauses sind die
Altäre der verstorbenen Männer in den Boden eingelassen. Sie sind an flachen Stei-
nen zu erkennen, die jedoch gelegentlich mit Topfscherben abgedeckt sind. Vielfach
befindet sich dort auch der Altar des Gehöftgründers, sofern er nicht im Eingangs-
haus ist. Für alle diese Altäre habe ich nie den Begriff bawoong gehört. Auf Abb. 2
liegen die cicili eindeutig in Verbindung mit Altären von Männern, bei den Abbil-
dungen 4 und 5 stehen sie vermutlich unter dem dieogdaan. Dagegen steht die sehr
stark beschädigte cicilg-Figm von Abb. 6 im Steinkreis.
Bei dem mittelgroßen Figuren-Typ sind die Arme meistens vom Rumpf losgelöst,
sie können aber auch direkt mit ihm verbunden sein. Die Bemerkung von Kreamer
(1987: 55), daß Gesicht und Geschlechtsmerkmale oft dargestellt sind, möchte ich
auf »gelegentlich« reduzieren. Ich habe nur einen einzigen Beleg dafür, nämlich
die Figur auf Abb. 13. Zwei Figuren dieser Gruppe gehören zum Altbestand des Lin-
den-Museums. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Gaston Thierry23 gesam-
melt, damals Stationschef von Sansanne-Mango. Thierry bot dem Grafen Linden
im November 1899 eine umfangreiche Sammlung aus Nord-Togo zum Preis von
30000,- Mark an. Graf Linden hielt ihn zunächst hin (Brief vom 14.11.1899), um bei
Felix von Luschan in Berlin Erkundigungen einzuziehen. Dieser antwortete am
16.11.1899, daß die Sammlung 1700 Nummern umfaßte, der Preis jedoch absurd sei.
Neben vielen guten Stücken sei »eine erdrückende Menge von Doubletten« vorhan-
den. Zunächst fehlten auch noch alle Angaben zu den Gegenständen. Inzwischen
hatte Thierry von Luschan gegenüber seine Preisvorstellung auf 6000,- bis 8000,-
Mark herabgesetzt. Auch diese Summe sah von Luschan noch als zu hoch an. Er
schlug vor, daß das Stuttgarter Museum 1400 Stück kaufen und dem Berliner
Museum 300 Gegenstände schenken sollte. Diesem Vorschlag stimmte Linden am
22.11.1899 zu. Nachdem Thierry dem Berliner Museum einen Teil der Sammlung
geschenkt hatte, schrieb von Luschan am 17.1.1900, daß der Preis für nunmehr 1000
Nummern 5000,- Mark betragen sollte. Die inzwischen angefertigte Liste entsprach
von Luschans Vorstellungen. Schließlich schrieb von Luschan am 3.2.1900, daß er
Thierry überredet habe, dem Stuttgarter Museum rund 600 Stücke für 2500,- Mark
zu überlassen. Weitere Teile wurden Leipzig und Hamburg angeboten. Zu dieser
Sammlung, deren Erwerb der Fabrikant Ernst Sieglin dem Museum ermöglichte,
gehören die beiden Plastiken:24
Kat.-Nr. 8532 (Abb. 12). Der Kopf der 22 cm hohen cicilg-Figur wirkt wie ein oben
abgerundeter Konus. Er könnte aber vielleicht auch als abgeplattete Kugel bezeich-
net werden, obwohl diese Form nicht ganz gelungen erscheint. Seine untere Hälfte
kann man zusammen mit der Schulterpartie als doppelkegelförmig bezeichnen.
Durch einen markanten Absatz ist die Schulter gegen den Rumpf abgegrenzt. Die
Arme verlaufen parallel zum Körper, von dem sie gelöst sind. Die Hüftpartie ver-
breitert sich kegelförmig. Die Beine sind sehr kurz, der Schritt ist wie ein auf dem
Kopf stehendes U gestaltet.
Kat.-Nr. 8958 (Abb. 13). Diese 37 cm hohe cicilg-Figur hat einen ovoiden Kopf, an
dem Augen, Nase und Mund ausgearbeitet sind. Er ist durch eine sehr Bache Kerbe
gegen die kurze Schulterpartie abgesetzt. Die Arme sind frei vom Körper dargestellt.
Die Hüftpartie ist kegelförmig verbreitert. Die Beine sind sehr kurz und zeigen im
Schritt die Form eines umgedrehten V. Die Plastik erweckt den Eindruck, daß sie bei
der Erwerbung neu war.
Von diesem Figuren-Typ konnte ich weitere Beispiele für das Linden-Museum
erwerben, und zwar alle im Dorf Nakitindi-Est, dem Hauptort des gleichnamigen
Gurma-Kantons:
Kat.-Nr. F 51188 (Abb. 14). Diese Statuette ist 54 cm hoch. Der Kopf wirkt wie ein
abgeplattetes Ovoid. Seine untere Hälfte bildet zusammen mit dem Schulteransatz
einen Doppelkegel. Die Schulterpartie ist tief heruntergezogen. Die Hüften sind sehr
stark betont. Die stummeligen Beine sind im Schritt wie ein umgedrehtes V gestal-
tet. An den Beinen und am Kopf sind Beschädigungen durch Insektenfraß. Am Kopf
ist auch ein Stück herausgebrochen.
169
Abb. 14 ciciliga-Figur, 54 cm hoch. Gurma, Nakitindi-Est, vor 1970. Kat.-Nr. F 51188. Slg.
Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
Abb. 15 ciciliga-Figur der Frau Koabe, 30 cm hoch. Gurma, Nakitindi-Est, vor 1970. Kat.-
Nr. F 51192. Slg. Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
TRIBUS 46, 1997
Zwernemann; Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Kat.-Nr. F 51192 (Abb. 15). Der Kopf dieser 30 cm hohen Figur ist zylindrisch gestal-
tet und leicht nach vorne geneigt. Eine tiefe Kerbe setzt ihn gegen die relativ gedrun-
gen gestaltete Schulterpartie ab. Die Hüften sind sehr betont, die Beine recht lang
und im Schritt in Form eines umgedrehten V gearbeitet. Die Plastik repräsentiert den
ciciliga einer Frau namens Koabe, die dem Jarb-Klan der Gurma angehörte. Sie ver-
starb kinderlos und war mit Baginab verheiratet, dessen cicilg die Kat.-Nr. F 51193
hat.
Kat.-Nr. F 51193 (Abb. 16 a u. b). Die ciciliga-Figur ist 23,5 cm hoch. Der sehr grob
gestaltete Kopf wirkt fast konisch. Eine tiefe Kerbe bildet den Hals. Die Schulter-
partie ist nicht sehr breit. Die Hüften sind sehr betont, die kurzen Beine wirken wie
ein umgedrehtes V. Der Figur ist eine halbkugelige Kalebassenhälfte von 10,5 cm
Durchmesser als Schild umgehängt. Am Rand ist die Kalebassenhälfte an zwei Stel-
len durchbohrt und mit einer 2s-z-gezwirnten Pflanzenfaserschnur versehen. Vorne
sind drei Kaurischneckengehäuse auf das Kalebassenstück aufgenäht. Kalebasse und
Kauri sind stark patiniert. - Die Figur repräsentiert den cicilg eines Sklaven namens
Baginab. Sein erster Herr soll ein arabischer Sklavenhändler gewesen sein, mit dem
Baginab schon vor Ankunft der Deutschen mehrfach in Nakitindi-Est gewesen sein
soll. Er beaufsichtigte andere Sklaven, die sein Herr zum Kauf anbot. Bei einem Auf-
enthalt gab es viele erschöpfte oder kranke Sklaven. Der Händler forderte Baginab
auf, sie zu töten. Als er sich jedoch weigerte, ärgerte sich sein Herr derart, daß er
Baginab an Karg verkaufte, den ersten Häuptling des Klans Jarb in Nakitindi-Est.
Karg herrschte bei der Ankunft der Deutschen. Als der frühere Herr von Baginab
wieder einmal in die Gegend kam, bat Baginab Karg um Waffen, die er auch wegen
seiner inzwischen erprobten Treue erhielt. Er schlug den Sklavenhändler in die
Flucht und befreite die Sklaven. Wegen seiner Tapferkeit und Treue gab Karg ihm ein
Mädchen aus seiner Familie zur Frau, Koabe, deren ciciliga die Kat.-Nr. F 51192 hat.
Als Karg starb, ging Baginab ins Gehöft von dessen Bruder Bogt, dem Großvater
meines Gewährsmannes Kombat Jato. Baginab zog dort Bogt Kombat auf, den Vater
von Jato. Er betrachtete Kombat als seinen Sohn. Dieser stellte die cicilimu-Figuren
für Baginab und Koabe her (oder ließ sie hersteilen?). Es ist unbekannt, zu welcher
ethnischen Gruppe Baginab gehörte.
Kat.-Nr. F 51195 (Abb. 17). Bei diesem 39,5 cm hohen ciciliga ähnelt der Kopf einem
oben abgerundeten Konus, wenn er auch flacher ist als bei der Figur Kat.-Nr. 8532
(Abb. 12). Sein unterer Teil bildet mit der gedrungen wirkenden Schulterpartie einen
Doppelkegel. Die Hüften sind sehr stark betont. Der Schritt erscheint als umgedreh-
tes V. Der Rücken sowie die obere Partie des Unterkörpers und der Beine sind durch
Insektenfraß stark zerstört.
Kat.-Nr. F 51196 (Abb. 18). Der sehr konische, oben abgerundete Kopf sieht wie ein
Pilzhut aus. Ein scharfer Absatz grenzt ihn gegen den Hals ab, der zusammen mit
dem Oberteil der tief herunter gezogenen Schulterpartie ebenfalls einen Konus bil-
det. Die Arme liegen direkt am Rumpf an, von dem sie nur durch Kerben abgesetzt
sind. Auf ihren Außenseiten sind Rindenreste belassen. Auch die Hüfte greift die
Konusform wieder auf. Die sehr kurzen Beine enden spitz und bilden im Schritt ein
umgedrehtes V. Die auf den Armen befindliche Rinde ersetzt einen schwarz-weiß
gemusterten Stoff, mit dem nur die cicilimu von Vornehmen bekleidet werden. Die
Figur war bei der Erwerbung neu, aber beopfert.
Obwohl die folgende Figur völlig aus dem Rahmen füllt, muß sie wohl als Untertyp
der Gruppe der mittelgroßen Figuren gelten:
Kat.-Nr. F 51194 (Abb. 19). Diese ungewöhnlich wuchtig wirkende Frauenfigur
mit einem Kind vor dem Leib ist 33,5 cm hoch. Der Kopf hat die Grundform eines
oben abgerundeten Zylinders. Eigenartig ist die an seinem unteren Ende angedeutete
Nase. Der Kopf ist gegen den Hals scharf abgesetzt, der konisch in die Schulterpartie
übergeht. In diesem Bereich sind auch die Brüste angedeutet. Die Arme sind seitlich
am Rumpf angedeutet. Sie sind nicht vom Rumpf gelöst. Bei dem aus dem Leib der
Figur herausgearbeiteten, quer liegenden Kind sind Augen, Mund und Nase darge-
stellt. Ungewöhnlich ist, daß die Stummeligen Beine in Füßen enden, von denen der
linke abgebrochen war. Der Schritt der Figur ist wie ein umgedrehtes V gearbeitet.
171
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. 17 ciciliga-Figm, 39,5 cm hoch. Gurma, Nakitindi-Est, vor 1970. Kat.-Nr. F 51195. Slg.
Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
Abb. 18 ciciliga-Figm, 38 cm hoch. Gurma, Nakitindi-Est, vor 1970. Kat.-Nr. F 51196. Slg.
Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
173
TRIBUS 46, 1997
Diese plumpe Figur wurde für den ciciliga einer Zwillingsmutter namens Lemielt
hergestellt, nachdem eines ihrer Kinder gestorben war. Das Kind auf der Plastik soll
der überlebende Zwilling sein. Zu diesem Figuren-Typ gehören die cicili auf den
Abb. 2, 10, 20 und 21. Bei den Figuren auf Abb. 2 hat die querliegende eine ovoide
Kopfform. Eine dahinter liegende Statuette hat offenbar einen zylindrisch gearbei-
teten, oben abgerundeten Kopf. Eine dritte Figur liegt kopfunter in dem Topf. Bei
dieser Figur liegen die Arme direkt am Rumpf an, während sie bei der querliegenden
Figur vom Rumpf gelöst sind. Nach dem frischen Opfer wollte ich das Gehöftober-
haupt nicht veranlassen, die Plastiken gesondert aufzustellen. Der Kopf des cicilg auf
Abb. 10 hat die Form einer abgeplatteten Kugel. Die Arme liegen am Rumpf an und
sind wie die Hüfte durch Kerben hervorgehoben. Die Kopfform der auf Abb. 20
gezeigten Plastik ist nicht zu erkennen, da der Kopf mit einem Stück Stoff umhüllt
ist. Der Übergang zur Schulterpartie ist sehr kurz. Die vom Leib losgelösten Arme
laufen verhältnismäßig dünn aus. Die Hüften sind sehr betont. Die Form des Schrit-
tes liegt zwischen umgedrehtem V und U. Die durch Insektenfraß am Rumpf beschä-
digte Figur ist nicht in situ aufgenommen, sondern sie wurde vom Besitzer aus dem
Gehöft geholt und davor an eine Hauswand gelehnt.
Bei dem gut 20 cm hohen cicilg, den mir sein Besitzer vorzeigte (Abb. 21), hat der
Kopf die Form eines oben und unten abgerundeten Zylinders. Der Hals ist durch eine
sehr tiefe Kerbe dargestellt. Auffällig ist die tief heruntergezogene Schulterpartie,
durch die die Arme stark verkürzt wirken. Sie sind nicht viel länger als die in umge-
drehter V-Form gestalteten Beine. Die Hüften sind deutlich abgesetzt. Der Unterleib
paßt sich in den Proportionen dem Schultergürtel an. In ihrer Schlichtheit macht
gerade diese Plastik auf mich einen sehr ausgewogenen Eindruck. Ungewöhnlich ist
die Bemerkung des Besitzers, daß diese Figur die cicili von fünf seiner Ahnen reprä-
sentiere.
Zwei etwa 50-60 cm hohe Figuren (Abb. 22) fallen durch die hohen, zylindrisch
gestalteten Hälse, die ringförmige Gestaltung der Schultern und Hüften und die stan-
genartig wirkenden Beine auf. Der Kopf der linken Statuette ist fast kugelig, der der
anderen eher zylindrisch. Im Vergleich zu den Körpern sind sie nicht sehr sorgfältig
geschnitzt. Die Arme sind durch tiefe Kerben von den Leibern abgesetzt. Die Figu-
ren lagen neben dem Eingangshaus eines Gehöftes und wurden auf meinen Wunsch
zum Photographieren an die Hauswand gelehnt.
Zum Grundtyp der mittleren Figurengruppe gehören die beiden Moba-Plastiken des
Museums für Völkerkunde Berlin (Kat.-Nrn. III C 13 268b u. III C 12143), die Krie-
ger (1965: 27 f. u. Abb. 28 u. 29) veröffentlicht hat.25 Beide Statuetten kamen um
1900 nach Berlin. Die bei Krieger auf Abb. 29 gezeigte Figur wurde von Thierry
gesammelt und kam 1899 ins Museum (Krieger 1965: 27). Sie entstammt also der-
selben Sammlung wie die beiden Stuttgarter Moba-Figuren (8532 und 8958). Die
Kopfform der Berliner Figur III C 13 268 b entspricht in etwa der Stuttgarter Figur
8 532, während die Figur III C 12143 einen linsenförmigen Kopf hat. Bei beiden
Figuren liegen die Arme direkt am Leib an. Die erstgenannte Figur (Krieger 1965,
Abb. 28) hat kurze, stummelige Beine, die im Schritt wie ein umgedrehtes V wirken.
Dagegen hat die von Thierry gesammelte Figur (Krieger, Abb. 29) lange Beine, die
weit auseinanderstehen und dadurch im Schritt ein langgestrecktes, auf dem Kopf
stehendes U bilden. Die Hamburger cicilg-Figur (Kat.-Nr. 12.1: 177; Zwernemann
1985; 58, Abb. 43; Kreamer 1987: 53, Fig. 3) ist in ihrer Kopfform der Berliner Figur
III C 13268 b und der Stuttgarter Figur 8532 verwandt. Die Arme sind - wie bei der
Stuttgarter Figur - vom Leib gelöst. In diese Figuren-Gruppe ist auch die Skulptur
der Sammlung Lowinsky (Cole u. Ross 1977: 118, Fig. 249) zu stellen. Dort ist der
Kopf ovoid und geht mit einer Einschnürung in eine sehr breite, kegelförmige Schul-
terpartie über. Die Arme stehen parallel zu dem auffällig dünnen Leib. Die Hüften
laden weit aus und die Beine sind bemerkenswert kurz und haben das überwiegend
vorkommende, umgedrehte V als Schritt.
Wie fließend die Übergänge zwischen den Figurengruppen sind, belegen die beiden
dd//-Figuren, die Kreamer (1987: 55, Fig. 8) abbildet. Es handelt sich nach der Bild-
unterschrift um »household shrine figures«. Sie fallen jedoch durch ihre Größe und
174
Zwememann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. 19 ciciliga-Figur der Frau Lemielt mit ihrem Kind, 33,5 cm hoch. Gurma, Nakitindi-
Est, vor 1970. Kat.-Nr. F 51194. Slg. Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
Abb. 20 cZc/Zg-Figur mit verhülltem Kopf. Gehöft von Cantar Dimoyem. Moba, Nanergou.
175
TRIBUS 46, 1997
Abb.21 Familienältester mit ca. 20 cm hoher cicilg-
Figur. Moba, Nakitindi-Ouest.
Abb. 22 cid/i-Figuren vor einem Gehöft. Moba, Tami.
Abb. 23 cicili-Figuren im Gehöft von Candaog
Nawang. Die Plastik auf der rechten Bildseite ist ca. 50
cm hoch. Moba, Touguebim, Kanton Tami.
176
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
ungewöhnliche Gestaltung auf. Die größere, sehr stark verwitterte Plastik ist 106,7
cm hoch. Das übertrifft das Maß, welches Kreamer (1987: 53) für die »household
shrine figures« mit 25-90 cm angibt. Während die eine Figur wegen ihrer starken
Zerstörung keinerlei Einzelheiten mehr erkennen läßt, erscheint mir die andere sehr
bemerkenswert. Sie ist wohl auch zwischen 90 und 107 cm hoch, hat einen zylinder-
förmigen, oben abgerundeten Kopf und einen ungewöhnlich lang gestreckten Leib.
Der Hals ist nur durch eine flache Kerbe angedeutet. Die Schulterpartie ist nicht
ausgearbeitet. Die Arme sind so lang wie der Leib und nur durch Kerben abgesetzt.
Die Hüften sind leicht hervorgehoben. Die Beine sind kurz und der Schritt hat die
Form eines umgedrehten V. Gesichtszüge sind auf der Abbildung nicht deutlich zu
erkennen, aber der Mund ist offensichtlich dargestellt. Der Nabel ist durch eine recht-
eckige Kerbe angedeutet.
dd/LFiguren mit einem ringförmigen Wulst am Hals sehe ich als einen Untertyp an.
Solche Plastiken kommen nicht nur bei dem mittleren Figurentyp vor, sondern auch
bei kleinen (Abb. 3) und großen cicili (z. B. Abb. 8 u. 9). Mittelgroße Figuren sind auf
den Abb. 4, 5 und 6 zu sehen. Auf meinen Wunsch stellte der Besitzer die etwa 50 cm
hohe Plastik von Abb. 4 zusammen mit dem Torso eines zweiten cicilg vor ein bes-
ser beleuchtetes Wandstück (Abb. 23). Der Torso gehört zum »Grundtyp« der Mit-
telgröße. Der Kopf dieser stark verwitterten Figur hat die Gestalt einer abgeplatteten
Kugel. Hals und Schultern sind kegelförmig gestaltet. Die spitz zulaufenden Arme
stehen weit vom Rumpf ab. Eine weitausladende Hüfte ist erhalten, die andere und
die Beine fehlen. Der Kopf des anderen cicilg ist kugelförmig. Unter dem Ringwulst
des Halses findet sich ein relativ schmaler Schultergürtel, der gegen den Leib durch
einen scharfen Absatz abgegrenzt ist. Der linke Arm der Figur steht relativ weit vom
Rumpf ab, während der rechte ihn fast berührt. Die Hüften sind durch einen Wulst
dargestellt, der zu den Beinen hin einen Absatz hat. Die Stummeligen Beine bilden
im Schritt ein umgedrehtes V. Unter dem Hüftwulst ist möglicherweise ein Penis dar-
gestellt. Kopf, Halswulst und Schultergürtel weisen Beschädigungen unterschied-
licher Stärke auf, die sowohl auf Insektenfraß als auch auf Verwitterung zurückzu-
führen sind. Hüften und Beine lassen ebenfalls Verwitterungsschäden erkennen.
Diese beiden Figuren repräsentieren die cicili der Ahnen Bedere und Gub. Dieser
cicilg26 von Gub wird auch durch die Eisenfigur auf Abb. 11 repräsentiert.
Der cicilg auf Abb. 5 erinnert entfernt an die beiden auf Abb. 22 gezeigten cicili-
Figuren, allerdings wirkt er sorgfältiger gearbeitet. Der Kopf ist fast kugelförmig.
Der Ringwulst des Halses hat bei dieser Plastik wie auch bei der Figur auf Abb. 25
einen um seine Mitte verlaufenden Grat. Die zylindrische Schulterpartie ist recht
breit. Sie geht in die vom Körper abgesetzten Arme über. Der auffällig glatte Leib
verjüngt sich nach unten hin und endet in einem Ringwulst, den der Schnitzer eben-
falls mit einem Mittelgrat versehen hat. Die Hüften sind wieder zylindrisch gestaltet
und gehen in die sehr schmalen Beine über.
Verwitterungsspuren zeigen sich bei dieser Figur vor allem als Risse im Holz. Diese
Plastik ist offensichtlich aus dem Stammstück eines Baumes geschnitzt worden. Ihr
Hersteller nutzte das Material optimal aus, indem er z. B. bei der Gestaltung der
Arme und Beine die Außenkante des Stammes unverändert beließ. Eckart von
Sydow (1954: 63) bringt die Moba-Figuren in Beziehung zum Kubismus. Auf keine
der hier diskutierten Skulpturen trifft das m. E. in solchem Maße zu wie gerade auf
die cicili der Abb. 5 und 22. Als letzter cicilg dieses Untertyps ist die stark beschä-
digte Figur auf Abb. 6 zu erwähnen, von der der kugelförmige Kopf und der Ring-
wulst am Hals am besten zu erkennen sind. Arme und Beine der Figur fehlen. Der
Leib ist stark beschädigt. Allerdings ist nicht auszuschließen, daß diese Statuette
überhaupt keine Beine hatte, sondern wie die auf Abb. 24 gezeigte Figur nur ein
pfahlartiges Fußteil.
Aus der Literatur sind für diesen Untertyp ebenfalls einige Beispiele bekannt. Bau-
mann (1940: 360, Abb. 357) bildet eine Moba-Figur ab, deren flacher Kopf an den
der Stuttgarter Figur 8532 erinnert. Diese Statuette hat einen langen, walzenförmi-
gen Hals, der unten in einem Wulst endet. An den Hals ist offenbar ein Gegenstand
gebunden, der auf dem Bild nicht eindeutig zu identifizieren ist. Der Schultergürtel
177
TRIBUS 46, 1997
ist kegelförmig gearbeitet, die Arme stehen weit vom Rumpf ab. Der Leib endet in
einem kleinen Wulst, unter dem die breit ausladenden Hüften zu den Stummeligen
Beinen überleiten, die im Schritt die Form des umgedrehten V haben. An anderer
Stelle bildet Baumann (1969: 9, Abb. Id) eine weibliche Figur des Linden-Museums
ab, die nicht mehr vorhanden ist.27 Sie hatte einen kugelförmigen oder ovoiden Kopf,
an dem Augen und Mund, vermutlich auch die Nase dargestellt waren. Wulstringe
verlaufen um Hals und Hüften. Der Schultergürtel ist sehr schmal. Direkt darunter
sind Brüste ausgearbeitet, auf dem schlanken Leib auch ein deutlich vorstehender
Nabel. Die Arme sind vom Leib getrennt. Die Hüften sind sehr kurz. Die langen
Beine stehen weit auseinander und lassen in der oberen Hälfte das umgedrehte V
noch erkennen, das allerdings wegen der Länge der Beine nach unten zu verändert
ist. Ob die Schamspalte, wie ich vermute, angedeutet ist, läßt sich auf der Zeichnung
nicht eindeutig erkennen. Auch die von Sydow (1954, Abb. 113c) abgebildete Figur
des Berliner Museums gehört hierher, die mit keiner der von Krieger abgebildeten
Plastiken identisch ist. Sie hat einen kugelförmigen Kopf, einen dünnen Halswulst,
einen schlanken Leib, an dem Brüste und Nabel dargestellt sind und der mit einem
Hüftwulst abschließt, ln der Schamgegend ist ein erhabener Streifen. Die Beine sind
lang. Kreamer (1987: 53, Fig 5) bildet eine weitere Statuette dieses Untertyps ab, die
sich im Field Museum of Natural History in Chicago befindet. Sie hat einen ovoiden
Kopf, Wulstringe an Hals und Hüften, einen schmalen Schultergürtel, Brüste und
Nabel. Die Arme haben Abstand zum Leib. Die Beine sind wie bei der Berliner Figur
III C 12143 gestaltet. Von der Größe her (80 cm) leitet diese Figur schon zu den
großen cicili über.
Einen weiteren Untertyp zeigt eine in Dapaong für das Linden-Museum erworbene
Moba-Figur.
Kat.-Nr. F 51084 (Abb. 24). Diese dc/7g-Figur ist 58 cm hoch. Der Kopf hat eine
nicht ganz regelmäßige Kugelform, mit kegelförmigem Übergang zum Hals, der nur
als Einschnürung zwischen Kopf und Schultern dargestellt ist. Der Leib ist sehr
schlank. Der rechte Arm steht vom Leib ab, der linke liegt unten fast am Leib an. Die
Hüftpartie ist flach kegelförmig. Sie bildet das obere Ende eines 25 cm langen, pfahl-
artigen Fußteils, dessen Länge der des Leibes entspricht. Dieser Fußteil läßt vermu-
ten, daß vorgesehen war, die Figur in den Boden einzulassen. Der Platz dafür könnte
der jingl sein. Auch eine Situation wie sie die Figurengruppe auf Abb. 8 zeigt, ist für
die Aufstellung dieser Figur denkbar.
Große cicili werden cicili sakab28 genannt, wörtlich die »Alten der cicili«. Diese Pla-
stiken sind größer als 100 cm und nach Kreamer (1987; 54) meistens bis zur Höhe
der Leiste, manchmal bis zur Taille in den Boden eingelassen. Sie repräsentieren alte
Klanahnen bestimmter Bezirke, Dörfer oder Dorfsektionen und stehen in einiger
Entfernung vor dem Eingangshaus. Die vier von ihr gesehenen cicili sakab waren
alle stark verwittert. Diese cicili stehen in einer gewissen Beziehung zur Jagd. Mir
wurden die cicili sakab unter der Bezeichnung cicili cong oder cicili cieong2i)
bekannt, »große cicili«, »gewaltige cicili«. Man sieht sie fast ebenso selten wie die
kleinen.
Hier sei nochmals auf die große cicilg-Figur verwiesen, die Graf Zech sah (Abb. 1).
Der Kopf dieser Plastik hat die Form einer abgeplatteten Kugel. Der Hals ist als
Ringwulst gestaltet, der einen um seine Mitte verlaufenden Grat hat. An ihn schließt
sich der an seinem oberen Ende kegelförmige Schultergürtel an, der so gewaltig ist,
daß er den Leib teilweise beschattet. Die Arme stehen vom Körper ab. Die Hüften
laden weit aus. Zwischen den kurzen Beinen ist das männliche Geschlechtsorgan
deutlich sichtbar. Um den unteren Teil des Bauches ist offenbar ein Stück Tuch
geschlungen. Kreamer (1987: 83, Anm. 12) meint, daß diese Figur trotz ihrer Größe
auch eine »household shrine figure« sein könnte, weil sie nicht in den Boden einge-
lassen sei. Die Abbildung vermittelt mir jedoch den Eindruck, daß diese Figur sehr
wohl in den Boden eingelassen ist. Eine vergleichbare, allerdings weibliche Figur
sah ich im Dorf Mamproussi (Kanton Bogou), in dem Moba und Mamprusi leben
(Abb. 25)30. Auch dort sind die Beine sichtbar. Die Plastik steht scheinbar auf einem
178
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb. 25 Große cicilg-Figur, gut 150 cm hoch. Die
Figur, deren Kopf Opferspuren aufweist, ist in einen
Lehmsockel eingelassen. Auf dem flachen Stein vor der
Figur liegt vermutlich ein persönlicher yendu. Moba,
Mamproussi, Kanton Bogou.
Abb. 24 c/c/Zg-Figur mit pfahlartigem Fußteil, 58 cm
hoch. Moba, Dapaong. Kat.-Nr. F 51084. Slg. Togoexpe-
dition. (Foto: Ursula Didoni)
179
TRIBUS 46, 1997
zylindrischen Podest, in das sie eingelassen ist. Bei dieser Figur ist der Kopf kugel-
förmig und hat angedeutete Gesichtszüge, die allerdings durch ein frisches Opfer
teilweise verdeckt waren. Unter dem Ringwulst des Halses setzt der sehr rundlich
gestaltete Schultergürtel an, auf dessen Vorderseite die Brüste durch Einkerbungen
angedeutet sind. Die Arme sind massiver als bei der von Graf Zech abgebildeten
Figur. Unter dem schlanken Leib setzen breite Hüften an. Die kurzen Beine lassen im
Schritt ein Rechteck frei. Es ist also absolut nicht unbedingt erforderlich, daß dieser
Figurentyp bis an die Leistengegend in den Boden eingelassen wird. Dies zeigt auch
die von Adolf von Seefried (1911, Taf. 1, Fig. 2) abgebildete weibliche Figur. Sie ent-
spricht den beiden zuvor zitierten Skulpturen. Auch bei ihr sind die Beine sichtbar.
Leider gibt von Seefried in seinem Aufsatz - genau wie Graf Zech - keine nähere
Erklärung.
Die großen cicili auf den Abb. 8 und 9 entsprechen den Angaben von Kreamer: Sie
sind bis an die Hüften (Abb. 8) bzw. die Leistengegend (Abb. 9) in den Boden ein-
gelassen. Der Kopf des großen cicilg auf Abb. 8 hat die Form eines niedrigen Zylin-
ders. Der Ringwulst des Halses hat einen Mittelgrat und ist gegen den Kopf und die im
oberen Teil kegelförmige Schulterpartie durch breite und tiefe Kerben abgesetzt. Die
breite Schulterpartie hat auf der Vorderseite zwei übereinander angebrachte und durch
Kerben gestaltete, unregelmäßige Kreise. Ob sie Brüste andeuten sollen? Auf dem
Leib ist der Nabel durch eine kreisförmige Kerbe gekennzeichnet. Die Arme sind vom
Leib gelöst und reichen bis auf den Boden. Der cicilg cong von Abb. 9 ist etwa 145 cm
hoch. Der Kopf hat im oberen Teil die Form einer abgeplatteten Kugel, unten wirkt er
kegelförmig. Der Ringwulst des Halses hat keinen Grat, ist aber durch tiefe Kerben
von Kopf und Schulterpartie abgegrenzt. Die Schulterpartie ist im oberen Teil kegel-
förmig, darunter war sie wohl zylindrisch. Sie weist eine starke Beschädigung an der
Vorderseite auf. Der Nabel ist auf dem schlanken Leib erhaben dargestellt, der unten
durch einen Ringwulst begrenzt ist. Darunter ist die kegelförmige Hüftpartie sichtbar.
Dieser cicilg wurde für den Großvater von Candaog Nawang angefertigt. Er repräsen-
tiert eine kinderlos verstorbene Frau der Familie, deren cicilg die Anfertigung der
großen Plastik verlangte. Der cicilg steht in Beziehung zur Jagd und soll vor allem bei
Gemeinschaftsjagden Glück und Erfolg bringen.
Im Dorf Tonte (Kanton Tami) sah ich einen in eine aus Gras geflochtene Matte
gehüllten Schutzzauber, als dessen Name mir gberg angegeben wurde. Daran lehnte
ein cicilg cong (vgl. Zwernemann 1980, Abb. gegenüber S.52). Der Besitzer eines
neuen, noch nicht vollendeten Gehöftes hatte gberg und den cicilg daneben aufge-
stellt. gberg sollte zusammen mit dem cicilg vor dem Eingangshaus stehen, sobald
der Bau fertig war. Ohne große Hoffnung erkundigte ich mich, ob ich den cicilg kau-
fen könnte. Zu meinem Erstaunen war der Besitzer ohne lange Verhandlungen ein-
verstanden. Vermutlich lockte ihn das für seine Verhältnisse recht hohe Angebot, das
ihm sicherlich bei der Vollendung seines Baus recht gelegen kam. So befindet sich
diese Plastik heute im Linden-Museum:
Kat.-Nr. F 51273 (Abb. 26). Der zylindrisch geformte Kopf ist oben abgerundet. Das
Gesicht ist dargestellt. Die Nase ist erhaben. Ein Schlitz bildet den Mund. Der Über-
gang zwischen Mund und Nase ist durch Insektenfraß zerstört. Als rechtes Auge
war eine Kaurischneckenschale eingesetzt. Eine zweite Kauri für das linke Auge war
beim Kauf nicht mehr vorhanden und wurde im Museum ergänzt. Der Hals ist als
Ringwulst mit Mittelgrat gestaltet. Tiefe Kerben grenzen ihn gegen den Kopf und die
Schulterpartie ab, die oben einen kleinen konischen Übergang hat und im übrigen
zylindrisch geformt ist. Der schlanke Leib ist seitlich flach gearbeitet. Parallel zu ihm
hängen die Arme herab. Der linke Arm hat einen Astansatz als Auswuchs. Ein Ring-
wulst leitet zur nur angedeuteten Hüftpartie über oder bildet diese. Die Beine sind
sehr kurz und gehen in einen zylindrischen Sockel über. Das Geschlechtsorgan zeigt,
daß es sich um einen männlichen cicilg handelt. Die Plastik ist aus einem Baum-
stamm geschnitzt worden. Dies trifft auch auf die anderen großen cicili zu. Der
Sockel läßt darauf schließen, daß diese Figur beim Gehöft in den Boden eingelassen
werden sollte. Das belegt seinen Charakter als cicilg cong bzw. cicilg sakab.
Cardinall (1922/23: 45) hat als erster die Verbindung einer großen cicilg-Figur zur
180
Zwernemann; Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Abb.26 cicilg-Figur, 114,5 cm hoch. Moba, Tonte, Kanton Tami. Kat.-Nr. F 51273. Slg,
Togoexpedition. (Foto: Ursula Didoni)
Abb.27 Männliche Figur, 28,5 cm hoch. Laut Inventarbuch Moba (?), Togo. Kat.-Nr. 9141.
Slg. Gaston Thierry/Ernst Sieglin. (Foto: Ursula Didoni)
181
TRIBUS 46, 1997
Abb. 28 Weibliche Figur, 20 cm hoch. Laut Inventarbuch Moba (?), Togo. Kat.-Nr. 9140. Slg.
Gaston Thierry/Ernst Sieglin. (Foto; Ursula Didoni)
Abb. 29 Männliche Figur, 20,8 cm hoch. Laut Inventarbuch Moba (?), Togo. Kat.-Nr. 9142.
Slg. Gaston Thierry/Ernst Sieglin. (Foto: Ursula Didoni)
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182
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
Jagd erwähnt.31 Kreamer (1987: 54) wurde dies von Ältesten der Moba bestätigt.
Auch mir wurde gesagt, daß z. B. der große cicilg im Dorf Mamproussi (Abb. 25)
sowie der auf Abb. 9 gezeigte cicilg Jagdglück bringen. Die weiblichen Figuren wur-
den mir gegenüber auch als pwo cong, »große Frau«, bezeichnet. Im allgemeinen, so
erfuhr ich in Tami, handelt es sich dabei um die Mutter des »Großvaters«, d.h. des
Ahnherrn, der die Lineage gegründet hat. Dabei kann es sich um die Lineage insge-
samt oder um eine Sektion davon handeln. Kreamers Angabe kann man entnehmen,
daß große da7/-Figuren überhaupt in Beziehung zur Jagd stehen. Das kann ich nicht
bestätigen, denn mir wurde dieser Zusammenhang nur für weibliche cicili genannt.
Die Jagd ist übrigens nicht der einzige Anlaß zum Opfer, wie Cardinalls Hinweis
interpretiert werden könnte. Nachdem es kaum noch Gelegenheit zur Jagd und schon
gar nicht zu ernstlicher Gemeinschaftsjagd gibt, werden über den großen Figuren
Libationen und Opfer in Zusammenhang mit der Feldbausaison sowie für allgemei-
nes Wohlergehen des Dorfes und Klans gebracht (Kreamer 1987: 54). Leider habe
ich in Mamproussi nicht erfragt, aus welchem Anlaß das Opfer gebracht worden war,
dessen Spuren auf dem Bild zu sehen sind.
In der Sammlung Thierry des Linden-Museums sind noch drei weitere Figuren, als
deren Herkunft im Inventarbuch Moba angegeben ist. Alle drei gehören zur Gruppe
der mittelgroßen cicili. Zwei davon sind in einem völlig anderen Stil geschnitzt
(Kat.-Nrn. 9140 u. 9142), während die dritte (Kat.-Nr. 9141) noch eine gewisse Ähn-
lichkeit zu den bisher besprochenen Figuren aufweist. Jede dieser drei Figuren weist
Opferspuren auf, von denen die Hühnerfedern bzw. deren Reste auch auf den Fotos
gut zu erkennen sind.
Kat.-Nr- 9141 (Abb. 27). Die männliche Figur ist 28,5 cm hoch. Der Kopf hat eine
zylindrische Grundform. Auf der abgerundeten Scheitellinie verläuft ein schmaler
Wulst, der sich mit einem Absatz über das Gesicht fortsetzt und dort offensichtlich
die Nase darstellt. Am unteren Ende hat er eine Kerbe - wohl die Andeutung des
Mundes. Der Hals ist als Ringwulst dargestellt, um dessen Mitte ein Grat verläuft.
Die Schulterpartie setzt darunter waagerecht an. Der Leib ist unter Opferfedern ver-
borgen. An seinem unteren Ende ist offensichtlich der Penis dargestellt. Die Arme
liegen direkt am Leib an, von dem sie durch deutliche Kerben getrennt sind. Anders
als bei den bisher besprochenen Figuren, deren Arme senkrecht herabhängen, sind
die Unterarme nach vorne abgewinkelt. Die Hüftpartie ist nicht besonders hervorge-
hoben. Die Beine sind etwas länger als bei den meisten zuvor besprochenen Figuren.
Die Knie und die Füße sind dargestellt. Nur eine einzige Gurma-Figur (F 51194.
Abb. 19) hat Füße.
Kat.-Nr. 9140 (Abb. 28). Die weibliche Figur ist 20 cm hoch. Sie hat einen im Ver-
gleich zur gesamten Figur sehr großen, ovoiden Kopf. Augen, Nase, Mund und
Ohren sind plastisch herausgearbeitet. Der Hals ist zylindrisch. Die Schultern fallen
zu den Seiten hin schräg ab. Die Oberarme liegen am Leib an, die abgewinkelten
Unterarme ruhen auf Hüften und Oberschenkeln. Finger sind durch Kerben ange-
deutet. Deutlich herausgearbeitet sind die Brüste und die Schampartie. Der Leib steht
weit vor. Seine abgeplattete Spitze soll wohl den Nabel darstellen. Die Beine sind in
den Knien angewinkelt. Der rechte Fuß ist dargestellt, das Vorderteil des linken
Fußes ist nicht erhalten. Auf Kopf und Brust sind Opferspuren vorhanden, u.a.
Federn.
Kat.-Nr. 9142 (Abb. 29). Die männliche Figur ist 20,8 cm hoch. Auch bei ihr ist der
ovoide Kopf im Vergleich zur gesamten Figur sehr groß. Augen, Nase, Mund und
Ohren sind plastisch gestaltet. Der Hals ist zylindrisch. Die Schulterpartie ist oben
gerade und gegen den Leib durch eine waagerechte Kerbe abgegrenzt. Die Arme lie-
gen am Leib an. Die Unterarme sind nach vorne abgewinkelt. Die Hände ruhen auf
den Oberschenkeln. Die Finger sind durch Kerben angedeutet. Der Leib steht vor.
Seine Spitze stellt vermutlich den Nabel dar. Das männliche Geschlechtsorgan ist
dargestellt. Die Beine sind in den Knien angewinkelt, die Füße ausgearbeitet. Die
äußerste Spitze des linken Fußes ist abgebrochen. An der Figur sind Opferspuren,
u. a. Reste von Federn auf dem Bauch.
TRIBUS 46, 1997
Eine weibliche Figur, die den beiden Figuren Kat.-Nr. 9140 und 9142 recht ähnlich
sieht, zeigt Krieger (1965, Abb. 30). Auch diese Plastik des Berliner Museums (Kat.-
Nr. III C 12 145) wurde von Thierry 1899 gesammelt. Über sie und die beiden Stutt-
garter Figuren schreibt von Sydow (1954: 64): »Ein anderer, etwas naturalistischerer
Stil wird durch Figuren der gleichen Museen repräsentiert; diese Werke sind in bezug
auf Kopf- und Körpergliederung ein wenig naturnäher als die Figuren der ersten
Gruppe.« Kreamer (1987: 82, Anm. 7) meint, daß der Schnitzer dieser von Krieger
abgebildeten Statuette von Arbeiten ethnischer Gruppen des Südens, nämlich den
Kotokoli (Tem) der Gegend von Tschaudjo oder auch durch Schnitzer aus der Gegend
von Defale (Lamba) beeinflußt sein könnte. Obwohl eine entfernte Ähnlichkeit zu
einer von Krieger (1969, Abb. 89) veröffentlichten Kotokoli-Figur besteht, bleiben
alle Versuche, die Herkunft dieser Figuren zu bestimmen, vorerst Spekulation. Mir ist
es unwahrscheinlich, daß Kotokoli-Schnitzer Einfluß auf einzelne Moba-Schnitzer
gehabt haben sollten, obwohl das selbstverständlich nicht auszuschließen ist.32 Auch
bei den etwas näher wohnenden Lamba bin ich skeptisch. Wahrscheinlicher ist mir,
daß Thierry die Figuren bei einer den Moba benachbarten Gruppe gesammelt hat.
Krieger (1965: 28) zitiert nämlich eine Aktenangabe zu der Figur III C 12 143, die
offensichtlich auf Thierry zurückgeht. Dort heißt es: »Hausgötzen bei den Moba- und
Nadjäba-Leuten gebräuchlich...« Freilich kann dieser Hinweis genauso bedeuten,
daß die Nacaba den Schnitzstil der Moba haben. Leider kenne ich keine Figuren von
den Nacaba. Auch ist mir nicht bekannt, ob die Ngangam Plastik haben und wie diese
gegebenenfalls aussieht. Bei beiden ethnischen Gruppen müßte zunächst nachge-
forscht werden. Mit Sicherheit kann ich nur das angeben, was ich selbst gesehen habe
und was mir die Mehrheit der Moba bei Vorlage der Bilder sagte, daß die Figuren Kat.-
Nr. 9140-9142 nicht von Moba hergestellt wurden. Lediglich im Dorf Bombouaka
meinten einige Alte, daß diese Figuren von Moba hergestellt sein könnten. Ich fasse
dies aber als eine reine »Gefälligkeitsantwort« auf. So bleibt für diese Figuren
zunächst immer noch ein großes Fragezeichen stehen.
Noch zwei weitere Figuren müssen erwähnt werden, die im Vergleich zum üblichen
Stil der Moba und Gurma ungewöhnlich sind. Die eine Plastik, die Garnier und
Fralon (1951; 53) abbilden, ist als »Image d’ancêtre chez les Mobas« bezeichnet.
Diese Figur hat einen ovoiden Kopf mit konkavem Gesicht, sofern die Zeichnung
nicht täuscht. Augenbrauen, Nase und Mund sind plastisch dargestellt, die Augen
offenbar durch Löcher. Um den vermutlich zylindrischen Hals liegen zwei Perlen-
ketten. Die Schulterpartie wirkt wie eine Scheibe, unter der die Arme ansetzen. Diese
stehen vom schlanken, langen Leib ab, der unten durch einen Ringwulst begrenzt ist.
Die stummeligen Beine enden in kurzen Füßen. Das männliche Geschlechtsorgan ist
dargestellt. Unterhalb der Schulterpartie entspricht die Figur durchaus dem üblichen
Mobastil, wenn man einmal von den Füßen absieht, die normalerweise nicht vor-
handen sind. Auch die Grundform des Kopfes paßt dazu. Die Art der Gesichts-
darstellung hätte ich bei einer Moba-Plastik dagegen nicht erwartet. Außer der Bild-
beschriftung gibt es zu der Figur keine weiteren Erläuterungen.
Die zweite Figur bildet Gudrun Geis-Tronich (1991: 79, Abb. 52) ab. Dazu schreibt
sie allerdings (S.77): »Eine Weiterentwicklung dieser Pfahlplastiken war eine voll-
plastische Holzfigur, die sich im Besitz eines Schnitzers in Pentenga befand und
unter europäischem Einfluß entstanden sein soll.« Diese Plastik paßt stilistisch über-
haupt nicht mehr in den Zusammenhang der hier diskutierten Moba- und Gurma-
Figuren. Deshalb verzichte ich auf eine nähere Diskussion.
Schlußbetrachtung
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die von Christine Müllen Kreamer vorge-
schlagene Einteilung in kleine, mittelgroße und große cicili-Figuren sinnvoll ist,
zumal sie auf der Funktion der Figuren basiert und somit auch einer von den Moba
selbst getroffenen Einteilung entspricht. Die von ihr gemachten Größenangaben muß
man allerdings wohl relativieren. Obgleich ich von dort nur mittelgroße Figuren aus
184
Zwernemann: Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
eigener Anschauung kenne, gehe ich davon aus, daß die Gurma in Nord-Togo eine
entsprechende Einteilung haben. Bei den Gurma sind anthropomorphe Eisen- und
Holzfiguren nur dort und im äußersten Südosten von Burkina Faso anzutreffen, aber
»sonst im Gulmance-Gebiet unbekannt« (Geis-Tronich 1991: 77).33 Wie weit das
Verbreitungsgebiet der Figuren nördlich von Togo nach Burkina Faso hineinreicht,
erfahren wir leider nicht. Sehr weit kann es nach der Bemerkung von Geis-Tronich
nicht sein. Andererseits ist kaum damit zu rechnen, daß die Staatsgrenze zugleich
die Verbreitung der Plastik begrenzt. Auch die Frage, ob die Verbreitungsgebiete in
Nord-Togo und Südost-Burkina eine kontinuierliche Region darstellen, bleibt offen.
Die wenigen Hinweise von Geis-Tronich lassen zwar vermuten, daß die Gurma
im Südosten Burkinas denselben Schnitzstil haben wie die Moba, aber hier bedarf
es noch der Bestätigung. Ferner bleibt die Frage ungeklärt, ob die Verbreitung des bei
beiden Ethnien in Nord-Togo üblichen Stils von den Moba oder von den Gurma aus-
gegangen ist. Kreamer (1987: 82, Anm. 5) hat auf eine Abbildung bei Goody (1962,
Fig. 13) hingewiesen, auf der vier Ahnenfiguren der FoDagaa zu sehen sind, deren
Stil durchaus mit dem der Moba und Gurma vergleichbar ist. Es handelt sich um
Pfahlplastiken mit ovoiden Köpfen. Das Bild läßt vermuten, daß zumindest in eini-
gen Fällen Gesichter dargestellt sind. Die Feiber sind walzenförmig. Keine der Figu-
ren hat Arme. Nur bei einer sind die Beine sichtbar. Sie sind kurz und haben im
Schritt die Gestalt eines auf dem Kopf stehenden V, das allerdings weiter geöffnet ist
als bei den Moba. Bei dieser Plastik endet der Feib unten mit einem Wulst. Ob die
anderen Figuren Beine haben oder einfach pfahlförmig sind, ist nicht zu erkennen.
Eine stilistische Ähnlichkeit dieser Figuren zu den c/c///-Figuren der Moba und
Gurma ist offensichtlich gegeben. Zwischen beiden Ethnien beträgt die Entfernung
rund 320 km. Ob es in diesem Gebiet weitere Belege für Plastik gibt, die ebenfalls
auf eine Verwandtschaft schließen läßt, ist mir nicht bekannt.
Bei der abschließenden Charakterisierung der drei Figurengruppen fasse ich die klei-
nen und mittleren Figuren zusammen, denn die kleinen Plastiken entsprechen in ihrer
Gestaltung im wesentlichen den mittleren Figuren. Die Kopfform der Figuren kann
ovoid, kugelförmig oder zylindrisch sein. Alle anderen Kopfformen sind nach mei-
ner Meinung von den drei genannten Grundformen abgeleitet. Wie die Kopfgestal-
tung gelingt, hängt wohl auch vom Können des Schnitzers ab. Auffällig ist bei den
meisten Figuren die Gestaltung der Schulterpartie, die deutlich gegen den Feib
abgegrenzt ist. Die Arme sind entweder direkt mit dem Feib verbunden und dann nur
durch eine mehr oder weniger tiefe Kerbe hervorgehoben, oder sie stehen vom Kör-
per ab. In jedem Fall verlaufen sie parallel zum Feib. Bei dem kleinen Figurentyp
liegen die Arme immer direkt am Körper an. Mir ist jedenfalls kein Gegenbeispiel
bekannt. Der Feib ist schlank und lang. Die Hüftpartie bildet seinen unteren Ab-
schluß. Man könnte fast von einem Spannungsfeld sprechen, das durch Schulter- und
Hüftpartie gebildet wird. Die Beine sind im Vergleich zu den übrigen Proportionen
der Figuren sehr kurz. Ich habe sie - in leichter Abwandlung der Charakterisierung
von Sydows (1954: 63), der von Stummeln spricht - stummelig genannt. Sie sind im
Schritt überwiegend wie ein auf dem Kopf stehendes V gestaltet, seltener wie ein U
oder wie ein offenes Rechteck. Ein Untertyp weist am Hals und gelegentlich auch an
den Hüften einen Ringwulst auf, der in der Mitte einen Grat haben kann. Gesichts-
züge und Geschlechtsteile sind manchmal dargestellt oder angedeutet, oft aber auch
nicht. Offenbar relativ selten gibt es ferner mittelgroße Figuren, die keine Beine
haben, sondern deren Feib auf einem Pfahl sitzt. Diese Figuren sind dafür vorgese-
hen, in den Boden eingelassen zu werden.
Aus dem Rahmen fallen einige »naturalistischer« gestaltete Plastiken, die im Finden-
Museum und im Museum für Völkerkunde Berlin bewahrt werden. Obwohl ihre Her-
kunft in beiden Häusern als Moba dokumentiert ist, könnten sie durchaus von einer
anderen ethnischen Gruppe Nord-Togos kommen. Hier ist m. E. vor allem an die
Nacaba und die Ngangam zu denken. Die Herkunftsangabe »Moba« möchte ich bei
diesen Figuren jedenfalls mit einem dicken Fragezeichen versehen.
Im wesentlichen gilt die skizzierte Charakterisierung der kleinen und mittelgroßen
Figuren auch für die eindrucksvolle Großplastik der Moba. Große Figuren sind ent-
185
TRIBUS 46, 1997
weder bis zu den Hüften oder bis zur Leistengegend in den Boden eingelassen. Bei
manchen Figuren sind auch die Beine sichtbar, dann dürfte sich darunter noch ein
Sockel befinden, mit dem die Figuren im Boden verankert sind. Diese Großplastiken,
deren Beine gestaltet sind, wirken insgesamt besonders wuchtig. Sie sind entweder
vor bestimmten Gehöften einfach in den Boden eingelassen oder in ein zylindrisches
Podest aus Erde.
Der von Hermann Baumann - wohl in Anlehnung an Leo Frobenius - geprägte
Begriff der »Pfahlplastik« trifft auf die Figuren der Moba und Gurma Nord-Togos zu.
Alle diese Plastiken sind keine »Ahnenfiguren«, wie sie häufig in der Literatur
bezeichnet worden sind, sondern sie repräsentieren die cicili bestimmter Menschen.
Die kleinen und mittelgroßen Statuetten können die cicili Lebender oder bereits Ver-
storbener sein. Großplastiken werden nur für die cicili von Urahnen von Klanen oder
Lineages aufgestellt. Sie befinden sich vor dem Gehöft des Oberhauptes des betref-
fenden Sozialverbandes. Die cicili kann man am besten als Schutzgeister charakteri-
sieren.
Anmerkungen
1 »In Moab hat man hölzerne Ahnenbilder.« Moab bzw. besser Muab ist eine Variante des
Ethnonyms Moba.
2 B. ist die Abkürzung für den Ort Bogou. Nur dort fand ich übrigens einen Hinweis auf eine
Orakelpraxis, die man bei großzügiger Auslegung als Geomantie bezeichnen könnte.
3 Eckart von Sydow (1954: 64) hat zwar mit seiner Vermutung recht, daß die von Cardinall
erwähnte »Poyonna« in diesen Zusammenhang gehört, er hat sich aber beim Quellennach-
weis geirrt. In Cardinalls Buch »The Natives of the Northern Territories of the Gold Coast«,
das von Sydow hier zitiert, werden die Moba gar nicht erwähnt. Die angegebene Seitenzahl
stimmt ebenso wie der Text mit der von mir zitierten Stelle überein.
4 Wörtlich »bedeutende Frau«.
5 «Il existe de bons génies qui veillent sur les hommes, on les représente par des statuettes
anthropomorphiques nommées tcitcire.»
6 Diese Reise wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, der dafür
hier erneut gedankt sei.
7 Zur Orthographie von Moba-Worten: c ist die palatale, stimmlose Affrikata, j ihre stimm-
hafte Entsprechung. Der velare, stimmhafte Nasal wird aus praktischen Gründen durch ng
wiedergegeben, nasaliertes a durch an, nasaliertes i durch in.
8 Leider ist nicht angegeben, ob es sich um eine Kleinst- oder Kleinlineage handelt, denn der
cicilg des Gründerahnen einer Lineage oder Großlineage wird im allgemeinen durch eine
große, in den Boden eingelassene Figur repräsentiert.
9 Zu den sampola vgl. z. B. Zwernemann 1985a: 7, 44f., 47ff. und 65f.
10 Sgl. cicilg. Unter dem Stichwort kyikyilg (so in der damals noch nicht standardisierten
Orthographie des Moba) vermerkt Pierre Reinhard (1972: 23) «Esprit en quelque’un ... Sta-
tuette de bois représentant un ancêtre ...»
11 Wörtl. niib, Besitzer des Lebens, niil, PI. niib bedeutet 1. Mensch; 2. im Plural: Geister.
12 Wörtl. niib, Besitzer des Sehens, der Vison, der inneren Einsicht.
13 Wer weitergehende Informationen über diese Geistwesen haben möchte, sei auf die zitierten
und andere Arbeiten von de Surgy verwiesen.
14 Vgl. hierzu Zwernemann 1960.
15 So auch schon in einer früheren Arbeit (de Surgy 1979: 15).
16 Sgl. ciciliga bzw. cicila. Swanson (1985: 163) leitet das Wort vom Verbum cili >to Start,
begin< ab (Moba: eil, Reinhard 1972: 23). Er macht ferner darauf aufmerksam, daß die
Nominalklasse mit den Suffixen Sgl. -ga, PI. -mu diminutive Funktion hat. Dies trifft auch
auf die entsprechende Klasse des Moba zu, deren Suffixe Sgl. -g, PI. -i sind.
17 Willy Blossfeldt (1961: 19) beruft sich in seinem Kapitel »Die Form Pfahl« übrigens aus-
schließlich auf Frobenius.
18 Für diesen Typ gibt Kreamer keine Größe an. Für die mittelgroßen Figuren gibt sie als untere
Maßgröße 25 cm an. Meines Erachtens sind die Übergänge aber fließend, so daß Größen-
angaben der Typen nur als Hinweise angesehen werden können.
Zwernemann; Schutzgeistfiguren der Moba und Gurma in Nord-Tongo
19 Vgl. hierzu Zwernemann 1960.
20 Für weitere Informationen siehe Zwernemann »Studien zur Kultur der Moba« (in Vorberei-
tung).
21 Leider versäumte ich, zu notieren, welche der beiden Figuren die männliche, welche die
weibliche ist.
22 Dies stellte auch de Surgy (1983: 185) fest.
23 Thierry war seit Juli 1896 in Togo, 1898 Stationsleiter in Sansanne Mango und bis etwa Juni
1899 auf Heimaturlaub (vgl. Deutsches Kolonialblatt, VII, 1896; 441 u. 670; IX, 1898: 587;
X, 1899: 509). 2 Jahre später wurde er nach Kamerun versetzt. Er war zuletzt Resident in
Garua und fiel dort am 16.9.1904: »In einem Gefecht gegen die Mubi-Heiden erhielt er
einen tödlichen Pfeilschuß.« (Schnee, 1920, III: 479.)
24 Korrespondenz und Belege im Archiv des Linden-Museums, Faszikel Thierry. - Die Samm-
lung wurde unter L. 168 vereinnahmt und erhielt die Kat.- Nrn. 8396-9153.
25 Die bei Krieger auf Abb. 28 gezeigte Figur ist von Kreamer (1987; 53, Fig. 4) erneut abge-
bildet worden.
26 Oder repräsentiert jede der beiden Figuren einen anderen cicilgl
27 Dr. Hermann Forkl teilt mir mit, daß diese Figur weder aufzufinden noch etwas über ihren
Verbleib bekannt ist (Brief vom 20. 3.1997). Mit Sicherheit war sie auch während meiner
Stuttgarter Dienstjahre (1960-1971) nicht in der Sammlung vorhanden.
28 sakwa, PI. sakab Alter, alter Mann.
29 Beides sind Varianten des Adjektivs »groß«, »gewaltig«.
30 Farbabbildung vgl. Zwernemann 1980, gegenüber S. 37.
31 »... to which all sacrifice before going hunting in the bush.«
32 Vorkolonialer Einfluß durch die Kotokoli kann auch nicht ausgeschlossen werden.
33 Außer diesem kurzen Hinweis werden »Pfahl- und Brettplastiken« nur noch auf S. 462
erwähnt.
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1985 a Erzählungen aus der westafrikanischen Savanne. (Studien zur Kulturkunde, 81). Stutt-
gart.
188
Buchbesprechungen Allgemein
Altuna, Jesus:
Ekain und Altxerri bei San Sebastian - Zwei
altsteinzeitliche Bilderhöhlen im spanischen
Baskenland. Sigmaringen: Thorbecke, 1996.
200 Seiten, über 200 Farbfotos, Zeichnun-
gen, Karten.
Selbst dem Kenner der jungpaläolithischen Höhlenkunst
Frankreichs und Spaniens werden die beiden Höhlen im
nordspanischen Baskenland nur dem Namen nach bekannt
sein, sind sie doch - aus Gründen notwendiger und wün-
schenswerter Schutzmaßnahmen - lediglich einem klei-
nen Kreis von Fachwissenschaftlern zugänglich. Um so
lobenswerter ist es, daß der Thorbecke Verlag in seiner
renommierten Reihe thorbecke SPELÄO (s. auch die Re-
zension »Cosquer« in TRIBUS 1996: 168) diese beiden
Bilderhöhlen einer breiten Öffentlichkeit vorstellt.
Der Band gliedert sich, wie könnte es anders sein, in zwei
Hauptabschnitte, in denen die beiden Höhlen beschrieben
werden. Darüber hinaus hat der Autor neben dem Vor-
wort des Herausgebers Gerhard Bosinski sowie einer kur-
zen Einleitung in die eiszeitliche Topographie der Region
und die Höhlenkunst allgemein zwei weitere Kapitel in
sein Werk aufgenommen, wobei der Leser kaum zu ent-
scheiden vermag, welchem von beiden er mehr Interesse
zuwenden soll: Dem »Baskenland heute und während
des Magdalénien« oder dem »Verhältnis der Jagdtiere zu
den Tierdarstellungen«. Beide Abschnitte sind nicht nur
lesenswert, sondern sogar spannend. Auf die interessan-
testen Passagen soll weiter unten eingegangen werden.
Ein kurzes Literaturverzeichnis und der Abbildungsnach-
weis beenden das Buch.
Beide Höhlen wurden erst nach 1960 entdeckt. Das ist der
Grund dafür, daß ihre Kunst selbst der Wissenschaft wenig
bekannt ist, wandte sich die Forschung doch seit jeher
mehr den früh entdeckten, das heißt vor und um die
Jahrhundertwende aufgefundenen Höhlenheiligtümern
zu. Während Ekain wegen ihrer überwiegenden Pferde-
darstellungen in Rot und Schwarz als »Höhle der Pferde«
bezeichnet werden kann (diese Malereien sind rund 16 000
Jahre alt), ist es zulässig, in Altxerri aufgrund einer ent-
sprechenden Bilderanzahl die »Höhle der Wisente« zu
sehen, deren Kunst etwas jünger als die von Ekain ist.
Doch Wisentabbildungen gibt es, neben Steinböcken und
Hirschen, ebenfalls in Ekain. Altxerri hat zudem noch eine
Besonderheit aufzuweisen, nämlich einige in der sonsti-
gen Höhlenkunst gar nicht oder äußerst selten wiederge-
gebene Tierbilder, so einen Fuchs, eine Schlange und eine
Saiga-Antilope.
Im Kapitel über »Das Baskenland heute und während
des Magdalénien« wird nach einem Überblick über die
paläolithischen Zeitabschnitte sowie Flora und Fauna des
Magdalénien, in dessen mittlere bis spätere Perioden ja
die Malereien der beiden Höhlen fallen, auch auf die son-
ali611 Funde eingegangen, insbesondere Geschoßspitzen
aus Geweih und Knochen sowie diverse Steinwerkzeuge.
Vor allem jedoch ist es die Kleinkunst, die den Leser in-
teressieren dürfte. Auf sie wird unter Angabe der ver-
schiedenen Fundplätze der Region, nicht nur Höhlen,
sondern auch Freilandstationen, eingegangen. Allerdings
hat von unseren beiden Höhlen nur Ekain mobile Kunst
geliefert, wobei sich deren Zeitangaben sowohl auf das
ältere als auch auf das Spät- und Endmagdalenien bezie-
hen. Alle diese Objekte der Kleinkunst bestehen aus Kno-
chen und Geweih, teilweise aus Sandstein, in einem Fall
sogar aus Bernstein (Isturitz).
Doch zentrales Thema des Buches sind natürlich die
immobilen Kunstschätze, die Höhlenmalereien. Zunächst
wird Ekain mit insgesamt sieben Abschnitten beschrie-
ben, ausgehend von der Entdeckung über die Schutz-
und Sicherungsmaßnahmen (wieder einmal wird hier die
Uneinsichtigkeit zuständiger Behörden in teilweise tragi-
komischer Weise sichtbar), weiterhin die Umgebung der
und eine Übersicht über die Höhle, sodann die Darstel-
lungen selbst bis zum Fundplatz im Eingangsbereich von
Ekain sowie einer gravierten Schieferplatte. Alle Texte
werden von hervorragenden Farbfotos begleitet, die aller-
dings nicht darüber hinwegtäuschen können - und dies
gilt besonders für Altxerri -, daß die Bilder qualitativ
nicht an ihre berühmteren Pendants von beispielsweise
Altamira (Wisente) oder Pech Merle (Pferde) heranrei-
chen. Das soll nicht heißen, daß das eine oder andere
Kunstwerk von Ekain nicht auch beeindruckend ist, wie
zum Beispiel in der Galerie Zaldei das zweifarbige und
gravierte Pferd (Abb. 53) sowie ebenfalls dort die beiden
Pferde, vor allem das untere (Abb. 58/59), und im letzten
Saal (Azkenzaldei) das rote Pferd. Für Altxerri ließe sich
in dieser Hinsicht der Wisent I, 42 (Abb. 153) anführen.
Etliche der Ekain-Bilder erinnern an Santimamine (eben-
falls bei San Sebastian) und Niaux (Ariege), was zu der
Überlegung Veranlassung gibt, ob sich der »franko-kan-
tabrische« Raum nicht vielleicht doch in Kunststilprovin-
zen gliedern ließe.
Eines der interessantesten Höhlenbilder in Ekain sind die
beiden Bärendarstellungen in der »Nische der Bären«.
Bei den in schwarzen Umrißlinien ausgeführten Wie-
dergaben handelt es sich um Braunbären, obwohl es zur
Zeit der Fertigstellung dieses Bildes auch Höhlenbären in
Kantabrien gab, die hier ein Refugium gefunden hatten,
in dem sie länger als im übrigen Europa überlebten.
Altuna weist darauf hin, daß »die Nische der Bären der
zentrale Punkt des Höhlenheiligtums ist« (89), worauf
auch Bosinski in seinem Vorwort eingeht (9). Beide
schreiben, daß die meisten Tiere der Galerie Zaldei und
des letzten Saales (Azkenzaldei) zur »Nische der Bären«
orientiert sind. Bosinski (9): »Die beiden an etwas ver-
borgener Stelle, unter einem niedrigen Felsvorsprung
gemalten Bären stehen im Mittelpunkt der in Ekain wie-
dergegebenen Bildergeschichte«. Während alle anderen
schwarzen Höhlenbilder in Holzkohle ausgeführt wur-
den, hat der eiszeitliche Künstler die beiden Bären mit
Mangan gezeichnet, das einer in der Nähe vorhandenen
Mangan-Linse, also an Ort und Stelle entnommen wurde.
Weder Bosinski noch Altuna versuchen eine Deutung
dieses elektrisierenden Befundes. Wenn ich auch nicht -
was an dieser Stelle zu hochtrabend wäre - das Wort vom
189
TRIBUS 46, 1997
»Bärenkult« anführen will, sei doch die auf hoher Wahr-
scheinlichkeit fußende Vermutung ausgesprochen, daß
der Bär zu bestimmten paläolithischen Zeiten und zahl-
reichen Gegenden seines natürlichen Vorkommens
wegen eine zentrale Rolle in der Tierverehrung gespielt
haben muß. Die Befunde sind erdrückend, aus der Ethno-
logie kennen wir zahlreiche Vergleichsbeispiele.
Leider haben die Höhlenbilder von Altxerri durch die
Jahrtausende sehr gelitten. Zum Teil sind sie nahezu ver-
gangen, zurückzuführen auf die feuchten Höhlenwände,
die in etlichen Fällen zum Verlaufen der Farbe geführt
haben. Fotograf und Litho/Druck-Techniker haben ihr
Möglichstes getan, mit dem Ergebnis ausgezeichneter
Abbildungen. Nach der Beschreibung der Entdeckung
von Altxerri folgt eine Darstellung der Höhle selbst
sowie ihrer Umgebung. Die sich anschließende Vorstel-
lung der Altxerri-Bilder erfolgt in gekonnter detaillierter
Weise. Dabei sind viele Umzeichnungen der auf den
Farbfotos wiedergegebenen Tiere sehr hilfreich.
Im letzten Kapitel »Das Verhältnis der Jagdtiere zu den
Tierdarstellungen« verweist Altuna darauf, daß es nur re-
lativ wenige Bilderhöhlen mit archäologisch bearbeiteten
Siedlungsschichten gibt. Quantitative Grundlage seiner in
den folgenden Passagen niedergelegten Argumente sind
lediglich Ekain, Tito Bustillo, La Lluera und Santima-
miñe. Wie auch aus französischen Höhlen bekannt, stimmt
die Anzahl der Tierbilder in den Höhlen prozentual nicht
im entferntesten mit den ausgegrabenen Tierknochen im
Eingangsbereich von Ekain (Siedlungsfläche) überein.
Diese und zahlreiche vergleichbare Ergebnisse haben zu
der Vermutung beigetragen, daß es sich bei den Höhlen-
bildern nicht um Themen der Jagd (enger: »Ana-
logiezauber«) handeln könne. Ich habe bereits früher an
anderer Stelle daraufhingewiesen, daß es umgekehrt logi-
scher erscheint: Dinge, die der Mensch nur in geringem
Maße sein eigen nennt oder die er nur schwer erwerben
kann, hält er für besonders wertvoll. Das gilt auch für
Nahrungsmittel. Was liegt also näher, den ersehnten Jagd-
erfolg seltener Tiere durch rituelle Handlungen zu unter-
stützen oder herbeizuführen.
In La Lluera und Tito Bustillo gibt es geringe Überein-
stimmungen zwischen der Anzahl der Hirsch-Bilder und
den ausgegrabenen Hirsch-Knochen in angrenzenden
Fundschichten. Diesem Befund steht ein anderer in La
Lluera hinsichtlich der Gemse sogleich entgegen, als die
Jagd auf Gemsen hier häufig war, jedoch kein einziges
Gemsenbild in der Höhle vorhanden ist. In Santimamiñe
sieht es im Hinblick auf das Pferd schon wieder günstiger
aus; hier gleichen sich Darstellungen und Knochen pro-
zentual an. Alles in allem kann behauptet werden, daß
generell Höhlenbilder von Tieren und aufgefundene Tier-
knochen als Reste der Jagdbeute rein zahlenmäßig wenig
bis kaum übereinstimmen. Altuna zieht den Schluß, daß
sich die spezialisierte Jagd im Jungpaläolithikum vor-
nehmlich auf Tiere der näheren Umgebung des Sied-
lungsplatzes erstreckte und nicht oder kaum auf Tier-
arten, die weiter entfernt zu beobachten waren. Ziehen
wir ethnologische Vergleiche mit spezialisierten Jägern
heran, so kann diese Erklärung eigentlich nicht zutreffen,
weil Jagdbeute in der Nähe des Siedlungsplatzes schon
bald vergrämt ist und die Jäger entfernt liegende Jagdre-
gionen aufsuchen müssen. Analogiezauber und ähnliche
Jagdriten werden nicht in jedem Fall die Erklärung für die
eiszeitlichen Höhlenbilder sein, jedoch sind sie mit Ein-
schränkungen nach wie vor die plausibelsten. Bis in die
jüngste Vergangenheit begleiteten Gebete um »unser täg-
lich Brot« den wirtschaftlichen Alltag der Menschen in
ihrer überwiegenden Mehrzahl (heute als Erntedankfeste
noch sichtbar). Noch sind wir weit davon entfernt, die
Höhlenbilder der Eiszeit erklären zu können. Allgemein
menschliches Verhalten gibt zumindest Anhaltspunkte
zum besseren Verständnis. Bis zu weiteren Erkenntnissen
muß es bei der vorläufigen Feststellung des Herausgebers
bleiben, »daß die Tierdarstellungen der altsteinzeitlichen
Kunst sicher keinen repräsentativen Querschnitt der tat-
sächlich gejagten Tiere geben« (9). Dennoch - das vor-
liegende Buch - herrlich bebildert - gewährt einen ersten
und den auf Dauer einzigen Zugang zu den jungpaläoli-
thischen Meisterwerken von Ekain und Altxerri.
Axel Schulze-Thulin
BURENHULT, GöRAN ET AL. (Hg.):
Die Menschen der Steinzeit - Jäger, Samm-
ler und frühe Bauern. In: Illustrierte Ge-
schichte der Menschheit. (Original: People
of the Stone Age - The Illustrated History
of Humankind, San Francisco u.a. 1993.)
Hamburg: Jahr-Verlag, o. J. 239 Seiten, zahl-
reiche Farb-Fotos, -Zeichnungen, -Karten.
Nach dem Eröffnungsband »Die ersten Menschen« der
»Illustrierten Enzyklopädie (jetzt »Geschichte«) der
Menschheit« (s. Rezension in TRIBUS 45, 1996: 167 f.)
liegt nun mit »Die Menschen der Steinzeit« der zweite
dieser auf insgesamt fünf Bände konzipierten Reihe vor.
Der Haupttitel des Buches ist leicht verkürzt, handelt es
sich doch bei den dargestellten Kulturräumen vornehm-
lich um solche des Neolithikums, also der jüngeren bzw.
■Arngsteinzeit. Das graphisch ansprechende Umschlag-
bild unterstreicht diesen kleinen kritischen Hinweis, da
die abgebildeten Keramiken und Steindenkmäler aus
eben diesem jüngsten und kürzesten Abschnitt der Stein-
zeit stammen, wenn nicht sogar aus sich anschließenden
Perioden.
Die Herausgeber haben sich gegenüber dem ersten
Band nicht geändert. Leitender ist weiterhin der Schwede
Göran Burenhult, die anderen Herausgeber sind Peter
Rowley-Convy, David Hurst Thomas, Wulf Schiefen-
hövel und Peter White. Sinnvoll wäre es gewesen, die
Herausgeber und auch die übrigen Autoren in Kurz-
biographien vorzustellen. Wiederum wurden namhafte
Wissenschaftler für diese Publikation gewonnen. Das
Vorwort steuerte Colin Renfrew bei. David Hurst Tho-
mas, neben seiner Herausgeberschaft Verfasser des Ka-
pitels über die frühen Pflanzer des nordamerikanischen
Südwestens, schrieb das Geleitwort, und vom Leitenden
Herausgeber stammt die Einführung.
Wie beim erwähnten ersten Band dieser Reihe ist die
graphische Aufmachung des Buches bewundernswert.
Ganzseitige Farbabbildungen wechseln sich ab mit farbi-
gen Karten, rekonstruierten Lebensbildern und (nun auch
möglich) Farbfotos von Angehörigen rezenter Bevölke-
rungen, mit Detaildarstellungen, Tabellen und Chronolo-
gien sowie aktuellen Textdarbietungen (so durfte »Ötzi«
in dieser Publikation natürlich nicht fehlen). Die Gesamt-
konzeption ist diesmal gelungener als beim ersten Band,
Buchbesprechungen Allgemein
wenn auch die Gliederung diesem ähnelt. Dort wie hier
ist das Buch nach Vor-, Geleitwort und Einführung in
zehn Hauptkapitel unterteilt, die im Anschluß an den je-
weiligen Hauptartikel zwischen einem und maximal vier
Kurzbeiträgen mit besonders interessierenden Themen
enthalten.
Der Inhalt des Buches läßt sich mit wenigen Worten
erfassen: Es ist vornehmlich die neolithische Revolution,
besser wohl der neolithische Prozeß, wie ihn Burenhult
bezeichnet, mit ausgehendem Mesolithikum, und dies
weltweit sowie zu verschiedenen Zeiten. Mittelpunkt ist
immer »das Bauerntum«, bezeichnender wohl »Pflan-
zertum« zu nennen. Im einleitenden Kapitel wird der
Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirt-
schaftsweise anhand einer vorangestellten Gesamtschau
und vier Einzelabschnitten behandelt. Redaktionell un-
sauber ist, daß die Natuf-Periode sowohl in der erwähn-
ten Gesamtschau am Anfang dieses Kapitels als auch als
Einzelbeitrag (sog. Kasten) vorgestellt wird. Es folgen
sodann Einzelartikel über »Die ersten Bauern der Welt«
(Beispiel Abu Hureyra), Ausschnitte aus dem seinerzei-
tigen kultischen Leben mit dem Beispiel £atal Hüyük
sowie »Die größte bekannte neolithische Siedlung«, das
ist ’Ain Ghazal.
An dieses einleitende erste Kapitel schließt sich eines über
Afrika an. Nach einer zehnseitigen Übersicht wird die
Sahara mit den bis heute bekannten Pflanzerkulturen von
ca. 6200 bis 3400 v. Chr. sowie - sie dürfen selbstver-
ständlich nicht fehlen - mit ihren Felsmalereien beschrie-
ben. Es folgen drei Kapitel über das prähistorische Euro-
pa: Zunächst sind dies »Steinzeitliche Jäger, Sammler und
Bauern« mit einem kurzen Überblick und (den Kästen) der
Maglemose-Kultur mit ihren Muschelhaufen, sodann der
»Domestizierung von Tieren« und schließlich mit »Ötzi«,
dem Gletschermann aus dem Ötztal. Anschließend folgt
als nächstes Kapitel »Die Megalithbauern Westeuropas«,
zum einen mit ihren beeindruckenden Steindenkmälern
und ihrer ausgeprägten Kunst, zum anderen mit ihren
Siedlungen und den materiellen Resten ihrer Religionen
sowie ihren Anschauungen über ein Leben nach dem Tod.
Ein weiterer Kurzartikel mit neuesten Forschungsergeb-
nissen über Malta und den Kreis von Brochtorff beschließt
dieses Kapitel. Das dritte Kapitel über Europa »Häupt-
lingstümer der Bronzezeit und das Ende der Steinzeit in
Europa« hat eigentlich mit Steinzeit kaum mehr etwas zu
tun. Nach einem etwas zusammengewürfelten dreiseiti-
gen Hauptartikel folgen die »Kästen« über »die Steinaxt-
Menschen«, über »Eichensarg-Gräber in Dänemark« und
»Valcamonica«, das berühmte Tal mit seinen vornehmlich
bronzezeitlichen Felszeichnungen.
Ein großer Sprung bringt uns zu den »Steinzeitlichen Bau-
ern in Süd- und Ostasien«. Nach dem üblichen Gesamt-
überblick folgen Darstellungen (Kästen) über die Liang-
zhu-Kultur mit ihrer Jade-Kunst, über das neolithische
Dorf Peinan auf Taiwan, »Die austronesische (Indischer
Ozean und Pazifik) Ausbreitung und den Ursprung der
Sprachfamilien« und schließlich über den Reisanbau in
Japan. Im nächsten Kapitel »Die pazifischen Entdecker«
werden der Lapita-Fundort (Salomonen), die Sepik-Regi-
on (Papua-Neuguinea) und - anhand von Obsidian-Werk-
zeug - ein Teil des Handels in Melanesien beschrieben.
Es hätte sich angeboten, hier nun das Kapitel über Au-
stralien anzuschließen, das jedoch erst am Schluß des
Bandes folgt. Wir überspringen statt dessen den Pazifik
und kommen zu den »Bauern der Neuen Welt«. Nach
einer kurzen Auflistung, wieviele Nutzpflanzen die Welt
dem indigenen Amerika verdankt, wird in diesem Kapitel
zunächst auf die Hochkulturen Meso- und Südamerikas,
anschließend dann auf das östliche und südwestliche
Nordamerika eingegangen. Dem Südwesten mit der Ana-
sazi-Kultur wird unter dem Titel »Das Chaco-Phänomen«
ein eigener Kurzbeitrag (Kasten) gewidmet. Auch die
Entwicklung und Bedeutung des Maises wird so gewür-
digt. An dieser Stelle muß leider darauf hingewiesen
werden, daß auch in diesem zweiten Band der Reihe die
teilweise mangelhafte Übersetzung bestimmter Termini
nicht behoben ist. Ebenfalls sind manche orthographi-
schen Fehler zu rügen. Bei den Objektabbildungen soll-
ten in Zukunft Herkunft, Zeitstellung, Maße und durch-
gehend (wird unterschiedlich gehandhabt) das jeweilige
Museum als Aufbewahrungsort in die Legenden einge-
hen.
Nach Amerika wenden sich mehrere Verfasser der Frage
zu, warum nicht alle menschlichen Gemeinschaften den
Weg zur produzierenden Wirtschaft beschritten. Es wer-
den einige der verbliebenen Jäger und Sammler der Erde
angeführt, so Gruppen am Sepik, auf den Andamanen-
Inseln, die Mbuti-Pygmäen im Nordwesten Zaires, einige
Gesellschaften der Malaiischen Halbinsel, die Ainu auf
Hokkaido sowie arktische Jäger und Sammler Nordasiens
und Nordamerikas (hierzu gehört auch der Kurzbeitrag
»Die Inuit-Mumien von Qilakitsoq«), Natürlich dürfen
ebenfalls die Bewohner der Kalahari-Wüste in Botswana
(!Kung-Buschmann-Gruppen) in diesem Kapitel nicht
fehlen. Als Antwort auf die oben gestellte Frage werden
mehrere Faktoren angeführt, vor allem und am überzeu-
gendsten die geänderten Klima- und Umweltbedingun-
gen in den nacheiszeitlichen Jahrtausenden. Einige Un-
gereimtheiten, die gelegentlich in den Texten auftauchen,
werden besonders in diesem Kapitel sichtbar, in dem
auch das Jäger- und Sammlertum zwischen den Zeilen
romantisierend verbrämt wird.
Mit Australien (»Der ganz andere Kontinent«) stellen
vier Autoren das letzte Kapitel des Buches vor. Nach
einem kurzen Überblick über die Aborigines und die
unterschiedlichen Großräume Australiens werden drei
Kurzbeiträge (Kästen) geboten: Zum einen eine archäo-
logische Betrachtung der Selwyn Ranges, zum anderen
die Felsbildkunst im westlichen Arnhem-Land (jeder
der beiden Artikel ist immerhin acht Seiten lang) sowie
zum Schluß die Südwestküste von Kimberley im Nor-
den von Australien mit ihren »Salzwassermenschen«
oder »Gezeitenfahrern«. Das folgende Glossar wird von
gekonnten Zeichnungen optisch unterbrochen, ein Index
beendet den Band.
Insgesamt läßt sich über das Buch das sagen, was bereits
über »Die ersten Menschen« (TRIBUS 45, 1996: 168)
geschrieben wurde - es ist ein beeindruckendes, mit herr-
lichen Farbbildern ausgestattetes Bilderbuch, das einen
zusammengefaßten Überblick über den derzeitigen For-
schungsstand der frühen Menschheitsgeschichte weltweit
bietet.
Axel Schulze-Thulin
191
TRIBUS 46, 1997
Gvozdover, Mariana:
Art of the Mammoth Hunters - The Finds
from Avdeevo. Oxbow Monograph 49.
Oxford: Oxbow Books, 1995. 186 Seiten,
155 SW-Fotos und Zeichnungen.
Wie auch in Mittel- und Westeuropa gehört die osteu-
ropäische, hier russische Eiszeitkunst in das Jungpaläoli-
thikum. Grundlage der »Kunst der Mammut-Jäger« ist
die mittlerweile berühmte Freilandstation Avdeevo am
Fluß Sejm, 40 km von der Stadt Kursk entfernt. Ein
Manko des Buches, das gleich zu Anfang auffällt, ist das
Fehlen einer Karte, zumal im laufenden Text auch weitere
wichtige Fundplätze eine nicht unwesentliche Rolle spie-
len. Den überwiegenden Teil der Publikation nimmt der
Abbildungsteil mit Zeichnungen und Schwarzweiß-Fotos
ein. Der beschreibende Teil gliedert sich - einschließlich
Danksagung, Zusammenfassung, Einführung, Anmer-
kungen und Bibliographie - in insgesamt elf Abschnitte.
Zunächst ist ein für eine Rezension im allgemeinen unüb-
licher Überblick erforderlich, da im Gegensatz zur mittel-
und westeuropäischen Eiszeitkunst diejenige des russi-
schen Raumes nicht so bekannt ist. Avdeevo hat neben
reichhaltigem Stein- und Knochen/Elfenbeinwerkzeug,
Kleingeräten und Schmuck (zum Beispiel Perlen) eine
Fülle an mobilen Kunstwerken geliefert, von denen ein
Teil den bekannten Objekten aus südwestfranzösischen
und nordwestspanischen Höhlen durchaus vergleichbar
ist, während andere keine Pendants aus Westeuropa
haben. Nach den Grabungskampagnen wird das Fund-
material in ein Alt-Avdeevo (aus den Grabungsjahren
1946-49) und ein Neu-Avdeevo (seit 1972) unterteilt.
Die letztgenannte Grabungsfläche liegt 20 m östlich der
erstgenannten. Beide Komplexe sind jedoch stratigra-
phisch nicht zu trennen und fallen in das 21. Jahrtausend
vor heute. Sowohl das Knochen/Elfenbein(Mammutstoß-
zahnbein)- und Steinmaterial als auch die Siedlungs-
struktur und die Kunstwerke ähneln denjenigen von
Kostenki I, Schicht 1 (jüngste Schicht) mit Verbindungen
zu Kostenki XIII und XVII, ja, sind sogar identisch, so
die Autorin. Aufgrund dieser Gegebenheiten sprechen
russische Archäologen von einer Kostenki-Avdeevo-
Kultur.
Die Knochen- und Elfenbeinartefakte (wie bereits er-
wähnt, ist hier - verkürzt und etwas ungenau - Elfenbein
richtigerweise Stoßzahnbein vom Mammut) tragen ein-
fach Ritzzeichnungen und randliche Einkerbungen, die
sich teilweise je nach Werkzeugtyp unterscheiden. Ge-
fährlich ist es, in dieser Hinsicht Entsprechungen zu Eski-
moverzierungen auf vergleichbaren Artefakten zu sehen.
Solche Ähnlichkeiten sind hier (es gibt anders zu beurtei-
lende Fälle) sicher nur auf die Einfachheit der Ausführung
zurückzuführen. Wirklich interessant ist die figürliche
Kunst von Avdeevo, die aus Mammut-, Pferde- und Frau-
endarstellungen in verschiedenen Stadien der Schwanger-
schaft besteht. Die Frauenstatuetten unterscheiden sich
sowohl von denjenigen aus anderen in der Russischen
Ebene gelegenen Stationen als auch von denen des übrigen
Oberen Paläolithikums Europas. Auch innerhalb der
Avdeevo-Figuren selbst gibt es große Abweichungen.
Neben dieser realistischen Kunst ist ein gewisser Sche-
matismus (von Abstraktion zu sprechen, ist wohl zu weit
gegriffen) in der figürlichen Kunst festzustellen, so bei
anthropomorphen und zoomorphen »Köpfen«, die Griff-
enden zum Beispiel an Spateln zieren. Letztere dürften
in der paläolithischen Kunst einzigartig sein. Erwäh-
nenswert ist ebenfalls, daß es während verschiedener
Perioden der jüngeren Altsteinzeit Kulturkontakte, even-
tuell auch Wanderungen, zwischen Avdeevo und Kho-
tylevo wie beispielsweise zwischen Willendorf und
Pavlov (was schon länger bekannt ist) gegeben haben
wird, zurückzuführen sowohl auf bestimmte Ähnlichkei-
ten im Gerätebestand als auch vergleichbare Kunstäuße-
rungen.
Der Aufbau des Buches folgt herkömmlichen Regeln.
Einer allgemeinen Übersicht über die Station Evdeevo
schließt sich die Beschreibung einiger Fundstücke an,
von denen die beiden offenbar herausragenderen und
seltsamerweise als einzige in diesem Abschnitt numerier-
ten Artefakte erwähnt werden sollen: Zum einen ein
»Löffel« aus Elfenbein mit erhaltenem Stielteil, 62 mm
lang (Längen- und Breitenangaben scheinen, nach den
Fotos zu urteilen, verwechselt worden zu sein; S. 13),
zum anderen eine »Schaufel« aus dem gleichen Material
in Form einer Muschel von 95 mm Länge und 55 mm
Breite mit einem Loch (wahrscheinlich zum Befestigen
eines Griffes) am Ende des Gerätes.
Im nächsten Abschnitt wendet sich die Autorin den Orna-
menten etlicher Fundstücke zu, worunter auch ein Teil
der figürlichen Kunst fällt. Die Ritzzeichnungen bestehen
aus einfachen und parallelen, bogenförmigen und Zick-
zacklinien. Kreuzschraffuren sind ebenfalls vorhanden.
Da es sich bei diesen »Kunst«-Trägern vorwiegend um
Geräte handelt, sind auch Schlagmarken und Schnitt-
spuren zu vermerken. Ähnlicher Dekor wie auf den
Gebrauchsgegenständen findet sich auch auf Schmuck
(beispielsweise auf Halsanhängern, Fibeln, Armbändern)
und auf Frauenstatuetten, ln einem Unterabschnitt der
»Ornamental Decoration« werden die Tierplastiken be-
schrieben. Neben den genannten Mammut und Pferd sind
es Nashorn, Bär, Wolf und vielleicht eine Art Steppen-
löwe oder Leopard/Panther.
Im nächsten Abschnitt wird noch einmal auf die Frauen-
darstellungen eingegangen, die im einzelnen (Nummern
1 —14) beschrieben werden. Hier fällt ein ärgerliches
Manko besonders auf; die Skalen, die den Zeichnungen
zum Teil beigegeben wurden, weisen keine Maßeinheit
auf. Auch bei den Artefakten mit »Köpfen«, Spatel und
ähnliche Gegenstände, würden Größenangaben dem Be-
trachter bei der Identifikation der Objekte helfen, zumal
auch im laufenden Text bei den als »shovels« bezeichne-
ten Gegenständen keine Maße angegeben wurden. Viele
der »Köpfe« lassen an Fehde oder Eulenvögel denken.
Der darauffolgende Abschnitt »The characteristics of
Avdeevo art« bringt nicht das im Titel Versprochene. Zu-
fallsbedingte und kaum aussagefähige quantitative Kri-
terien werden angeführt, die den Leser allenfalls in der
Hoffnung weiterlesen lassen, daß Erklärungen noch fol-
gen. Leider wird er enttäuscht. Außer der Beschreibung
äußerer Formen von zum Beispiel figuralen Kunstwerken
sowie Vermutungen werden dem Leser keine Aussagen
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit geboten. Ausnah-
me ist lediglich der immerhin recht interessante Hinweis,
daß die Einbindung der Avdeevo-Kunst in traditionale
Konventionen nicht so stark gewesen zu sein scheint, daß
nicht auch individuelle Ausdrucksformen daneben Platz
gefunden hätten.
192
Buchbesprechungen Allgemein
Im folgenden Abschnitt versucht die Autorin, die Kunst
von Avdeevo zu interpretieren. Sie wendet sich zu Anfang
den Frauenstatuetten mit ihren unterschiedlichen Kör-
perhaltungen zu. Die Interpretation geht allerdings nicht
über eine Beschreibung der verschiedenen »Typen« (?)
hinaus, wobei einige Verbindungslinien zwischen
Avdeevo und Kostenki aufgezeigt werden. Entsprechend
und wenig aussagefähig wird bei den anderen Kunstob-
jekten verfahren.
Zum Schluß des Buches wird auf die Ähnlichkeit der
Funde und Befunde zwischen Avdeevo und Kostenki ein-
gegangen, die an eine jungpaläolithische Kulturregion
auf der Russischen Ebene denken läßt, wobei die Verfas-
serin allerdings Wert darauf legt, die Stationen Gagarino,
Khotylevo II und Molodova V (Schicht 7) auszuschlie-
ßen. Hinsichtlich der Statuetten wird im Gegensatz dazu
eine stilistische Einheit mit Kostenki/Willendorf gese-
hen. Die bekannten Verbindungen zwischen Kostenki
und Willendorf einschließlich verschiedener mährischer
und slowakischer Fundplätze werden angesprochen, auf
die bestehenden Probleme wird hingewiesen.
Insgesamt gesehen, gewährt die Publikation einen -
zumal für Westeuropäer - der nicht allzu häufigen Ein-
blicke in das osteuropäische Jungpaläolithikum mittlerer
Zeitstellung (25-20000 v. h.), aufgezeigt anhand der
Avdeewo-Station mit ihrer engen Verwandtschaft zu
Kostenki I und ihren eventuellen einzelnen Beziehungen
zu mährischen und österreichischen Regionen. Wertvoll
ist der umfangreiche Abbildungsteil, der katalogmäßig
nahezu das gesamte Fundmaterial des Avdeevo-Fund-
platzes vorführt. Das Buch kann als eine kurze Zusam-
menfassung des derzeitigen Forschungsstandes bezeich-
net werden, wobei sichtbar wird, daß noch viel Arbeit
geleistet werden muß.
Axel Schulze-Thulin
Henke, Winfried / Rothe, Hartmut:
Paläoanthropologie. Berlin u. a.: Springer-
Verlag, 1994. 699 Seiten, 304 Zeichnungen,
Tabellen, Karten.
Obwohl als Lehrbuch konzipiert, ist dieses Werk ein
wissenschaftlich fundiertes Sachbuch im besten Sinne
des Wortes. Wer es in seinem Bücherschrank hat, braucht
höchstens noch gelegentlich zu anderen Publikationen
über die Evolution der Hominoidea (Simiae bis Homi-
nidae) zu greifen. Dargestellt sind alle zur Zeit bekannten
Entwicklungen zum Menschen, und dies in sehr über-
sichtlicher und verständlicher Art und Weise. Der For-
schungsstand reicht bis Anfang der 1990er Jahre. Sehr
begrüßenswert ist bereits die detaillierte Gliederung, die
- nach einer Einleitung - von den »Grundlagen der
Paläobiologie« über sechs weitere große Hauptkapitel bis
zum »Ursprung und Entwicklung des modernen Men-
schen (Homo sapiens)« reicht. Diese großen Abschnitte
sind in einen methodischen (Kapitel 2 bis 4) und einen
angewandten Teil (Kapitel 5 bis 8) untergliedert. Kapitel
1 ist die Einleitung. Ein Ausblick, Illustrationen zur
anatomischen Nomenklatur, ein Glossar, ein Register
sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis beenden
den Band. Das Ziel paläoanthropologischer Forschung
sehen die Autoren vor allem darin, »den Prozeß der
Menschwerdung als komplexen psychophysischen Ad-
aptationsprozeß zu verstehen und zum Selbstverständnis
des Menschen beizutragen«, wobei der multidisziplinäre
Ansatz eine wesentliche Rolle spielt (VII). Intention
der Verfasser war, dem Leser ein Mittel an die Hand zu
geben, mit dem er »stammesgeschichtliche Aussagen, die
prinzipiell nur Modellcharakter haben, kritisch bewerten
und eigene Forschungsfragen und -Strategien entwickeln
kann« (ebenda).
Henke und Rothe definieren die Paläoanthropologie als
»Wissenschaft von den fossilen Menschen«, wobei sie
diese als biologische Teildisziplin sehen und Wert auf die
Feststellung legen, daß sie mehr als »Fossilkunde« ist (1).
Nach ihrer Meinung liefern Fossilien keine unmittelbaren
faktischen Informationen über den Ablauf der Evolution,
obwohl sie wichtige Belege der Phylogenese sind. Der
mit diesem neuen Verständnis angedeutete Theorien-
wandel (von einer deskriptiven zu einer analytischen
Funktionsbiologie) wird in der Einleitung dargelegt.
Bedeutsam erscheint, daß die Verfasser den Begriff der
Paläoanthropologie wesentlich weiter fassen als zum
Beispiel den der Humanpaläontologie, das heißt über die
Morphologie des Menschen hinaus auch seine »Kultur-
fähigkeit« (sowohl materiell als auch immateriell) zu
erfassen suchen, und zwar als Anpassungsprozeß. Hier
spielt - neben vielen anthropologischen Teilbereichen
und herkömmlichen Disziplinen als »Zuträger« der
Anthropologie - auch die Ethnologie mittels analoger
Verfahren eine Rolle. Letztere erscheint mir für Erkennt-
nisse zur Hominisation und hinsichtlich von Einblicken
in die von den Autoren so genannte »Kulturfähigkeit«
mindestens so effektiv zu sein wie die Forschungsmetho-
den an nicht-menschlichen Primaten. Einerseits handelt
es sich hier um Analogien im Rahmen »Mensch zu
Mensch«, wenn auch mit großer zeitlicher Verschiebung,
andererseits um Beziehungssysteme von »Affe zu
Mensch«, was - wo immer wir hergekommen sein mögen
- den Geruch vom Apfel-Birnen-Vergleich an sich hat.
Das Buch zeichnet sich insbesondere über das bisher
Gesagte hinaus auch dadurch aus, daß die zum Erkennt-
nisprozeß der Menschwerdung beitragenden Disziplinen
vorgestellt (2. Kapitel; Grundlagen der Paläobiologie)
und anschließend in den folgenden Kapiteln der Verlauf
der Hominisation mit allen Facetten von den »Vorfahren
der Primaten und den »Adaptationen der Primaten« selbst
über die miozänen Hominoidea, weiterhin die Austral-
opithecinen und Homo habilis, sodann Homo erectus bis
zum modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) behan-
delt werden. Naturgemäß ist hier viel Bekanntes zu lesen.
Durch die überblickartigen Zusammenfassungen sind
die Deskriptionen dennoch wertvoll. Das Buch gewinnt
innerhalb dieser Passagen fundierten Nachschlagecha-
rakter, wozu das umfangreiche und aufgegliederte Regi-
ster entscheidend beiträgt. An dieser Stelle seien auch die
zahlreichen Zeichnungen zur Anatomie und Phylogenie
der mittlerweile zahlreich vorhandenen fossilen Men-
schenformen sowie viele Chronologien, Schemata, wei-
tere Übersichten, Tabellen, Modelle, Dia-, Phäno- und
Kladogramme und weiteres positiv angeführt. Alles in
allem haben Henke und Rothe ein Buch geliefert, auf das
sich der Lernende stützen muß, das aber auch dem Leh-
renden bei auftauchenden Fragen Stütze sein wird.
Axel Schulze-Thulin
193
TRIBUS 46, 1997
Hildebrandt, Hans-Jürgen:
Selbstwahrnehmung und Fremdwahrneh-
mung. Ethnologisch-soziologische Beiträge
zur Wissenschaftsgeschichte und Theorien-
bildung. Mammendorf: septem artes Verlag,
1996. 294 Seiten.
ISBN 3-929168-18-9
Das Buch dokumentiert eindrucksvoll die umfassende
Kenntnis des Autors von der einschlägigen Literatur
und deren sorgfältige Ausarbeitung. Er spürt dem histori-
schen Kontext der ethnologischen Problemstellungen
nach und präsentiert ein beachtliches Konvolut von
Primärliteratur. Deshalb ist es begrüßenswert, daß der
Autor wesentliche Literatur am Ende jedes Kapitels
anführt (20 Seiten allein zum Kapitel Rechtsethnologie!).
Es wird dem Leser dadurch die Grundlage der jeweiligen
Ausführungen nachvollziehbar und macht es somit wirk-
lich zu einem Lehrbuch über die wissenschaftlichen
Ursprünge und gegenwärtigen Strömungen in der Sozio-
logie und Ethnologie, die entweder bei den Naturwis-
senschaften oder den Geisteswissenschaften angesiedelt
wurde und wird. Hildebrandt gibt eine tiefgehende Ana-
lyse der beiden Zweige der Gesellschaftswissenschaften
und ihrer historisch bedingten Ausprägungen im deut-
schen und anglo-amerikanischen Raum. Er präsentiert
weiters die neuen Ansätze im Wissenschaftsverständnis,
wie sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten bis 1995
gezeigt haben bzw. von den gegenwärtigen Autoren for-
muliert werden. Hildebrandt ist nicht alleiniger Autor,
sondern Herausgeber, weil er dieses Buch als mosaikarti-
gen Beitrag zu einer allgemeinen, historischen und inter-
kulturell fundierten Theorie der Gesellschaft versteht.
Den Großteil der Themenvielfalt bestreitet der Autor mit
seinen Analysen und Thesen selbst. Für zwei weitere
Aspekte hat er Kollegen zu Wort kommen lassen: Zwei
Artikel im Anhang - von Martin Bennhold über ein
völkisches Deutschtum im 19. und 20. Jahrhundert und
Lothar Pützstück über die nationalistische Völkerkunde
in Köln. Hildebrandt bietet somit eine Reflexion auf
die historischen und kulturellen Grundlagen des eigenen
Denkens. Wann macht man sich schon bewußt, daß das
Wort »Völkerkunde« nicht immer die selben Begriffe
abdeckt? Er verweist darauf, daß Ethnologie, Ethnogra-
phie und Völkerkunde separate Konzepte darstellen, die
sich entwickelt haben (S. 57). Neben den explizit ange-
sprochenen Themen erfährt der Leser so nebenbei viel
über die Veränderungen in der Themenstellung und die
Systematisierung der durch die Feldforschung gewonne-
nen Information.
Hildebrandt analysiert zunächst unsere traditionelle Ge-
schichtsauffassung im 18. und 19. Jahrhundert und die
aprioristische Grenzziehung der Forschungsbereiche der
Gesellschaftswissenschaften Ethnologie und Soziologie.
So befaßt sich die gegenwärtige Soziologie nahezu aus-
schließlich mit den »westlichen Industriegesellschaften«.
Er stellt explizit den eurozentrischen und anglo-amerika-
nischen Ansatz beim Ideal menschlicher Vergesellschaf-
tung, auch noch während der Kolonialzeil, heraus, der
auch noch die Konsolidierungsphase der Entwicklungs-
soziologie prägt. Diese Situation stellt sich bei der Eth-
nologie nicht grundsätzlich anders dar. Das dominierende
Bild der »Naturvölker« bleibt auch über das 19. Jahrhun-
dert hinaus der degradierende Wertansatz. Der Begriff
»Naturvölker« impliziert Geschichtslosigkeit, weil die
Natur damals ihrem Wesen nach statisch begriffen wurde,
im Gegensatz zur dynamischen Geschichte. Doch auf-
grund der realen Erfahrung während der kolonialen
Kontaktsituation wurden die früher absolut gedachten
Differenzen der einzelnen Völker durch die Annahme
gradueller Unterschiede ersetzt. Als Ersatz treten neue
Dichotomien hinzu, z. B. diejenigen zwischen »traditio-
nellen« und »modernen«, »heißen« und »kalten« Gesell-
schaften und Völkern mit und ohne Schriftlichkeit, die
heute alle als wissenschaftlich untauglich erkannt sind.
Hildebrandt präsentiert zum Teil eine beinharte Analyse
der beiden Fächer: »Die mangelnde Dynamik der Ver-
hältnisse, sowie die fehlende Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte legen es nahe, die deutschsprachigen
Ethnologen unter der Rubrik >geschichts!ose Völker< zu
subsumieren« (S.39); »Will die Soziologie nicht in
ihrer Provinzialität verharren, muß sie ihrem Anspruch,
Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft zu
sein, auch einlösen ...« (S. 193). Ausführlich untersucht
er die mangelhafte Beachtung der Rechtsethnologie in
Deutschland. Dieses Thema wurde zum umfangreichsten
Kapitel. Der Autor weist darauf hin, daß dieser Zweig bei
uns lediglich eine Randposition einnimmt im Gegensatz
zu anderen Ländern und der eigenen Wissenschaftsge-
schichte. Die »ethnologische Jurisprudenz« des 19. Jahr-
hunderts war bestrebt, rechtliche Institutionen global zu
erfassen. Bei der »Rechtsethnologie« des 20. Jahrhun-
derts treten wieder dieselben Fragen in den Vordergrund.
»Etwas verständlicher wird das Fehlen einer inhaltlichen
Auseinandersetzung, wenn man berücksichtigt, daß eine
zusammenhängende Geschichte der Rechtsethnologie bis
heute fehlt« (S. 89).
Durch Hildebrandts sorgfältige wissenschaftshistorische
Forschung wurde es möglich, die diversen Implikationen
der eigenen kulturgebundenen Kategorienbildung heraus-
zuarbeiten. Besonders deutlich wird der »Eurozentrismus
in der soziologischen Begriffsbildung« (so der Titel des
entsprechenden Kapitels) angeprangert, wenn Phänomene
untersucht und dargestellt werden sollen, die gängige so-
ziologische Konzeptionen in Frage stellen. Hildebrandt
zeigt das am Phänomen der Gynaegamie = die Heirat zwi-
schen Frauen, das die gängigen soziologischen Konzep-
tionen, also die Gebundenheit der Soziologie an die »west-
lichen Industriegesellschaften«, grundsätzlich in Frage
stellt. Erst durch die Feldforschungspraktiken zu Anfang
des 20. Jahrhunderts konnten diese »unnatürlichen« Prak-
tiken nicht mehr übergangen werden, zumal es sich um
eine relativ häufig vorkommende Institution handelt.
Zum Schluß führt uns Hildebrandt an der »noch immer
grundlegenden Arbeit über >body ritual among the Naci-
rema< von Horace Miner« vor, wie sehr die soziologische
bzw. ethnologische Beschreibung der Ethnien diese glei-
chermaßen verfremdet, wobei er seine öffentliche An-
trittsvorlesung am Fachbereich Sozialwissenschaften der
Universität Osnabrück (Feb. 1995) übernimmt. Die Prä-
sentation von Miners »Nacirema« erlaubt den spezifisch
historischen und kulturellen Kontext der gängigen sozial-
wissenschaftlichen Kategorien in Frage zu stellen. Dieser
wichtige Beitrag macht besonders deutlich, daß eine kri-
tische und differenzierte »Selbstwahrnehmung« die Vor-
aussetzung für eine adäquate »Fremdwahrnehmung« ist.
Angelika Tunis
194
Buchbesprechungen Allgemein
Keeper, Erwin:
Rentierjäger und Pfahlbauern. 14000 Jahre
Leben am Federsee. Führer und Bestands-
kataloge 5. Württembergisches Landesmuse-
um Stuttgart, Archäologische Sammlungen.
Stuttgart: Theiss, 1996. 112 Seiten mit 150
SW- und Farb-Abbildungen.
ISBN 3-8062-1242-2
In seinem Vorwort nennt Volker Himmelein das Feder-
seemuseum in Bad Buchau zu Recht ein »archäologisch
bedeutendes Kleinod Oberschwabens«, beherbergt die-
ses Museum doch Kulturgut aus einer 14000jährigen
Geschichte der Region. Glücklich die Forscher, sowohl
archäologisch interessierte Laien als auch Museumskon-
servatoren, die dank des bewahrenden Landschaftscha-
rakters des Federseemoors so aus dem vollen schöpfen
können! Unschätzbar vor allem das organische Material,
das sich über Jahrtausende erhalten hat. Der Bogen der
Museumsbestände spannt sich von der ausgehenden Eis-
zeit bis zu den Kelten.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts führte eine Privatin-
itiative zu den ersten Grabungen im Federseegebiet, im
20. Jahrhundert, insbesondere in den 20er Jahren, folgten
professionelle archäologische Arbeiten. Seit 1989 ist das
Federseemuseum eines der Zweigmuseen des Württem-
bergischen Landesmuseums Stuttgart, das sein »Kind« bis
1995 sanierte und inhaltlich aufwertete, ohne allerdings
den ursprünglichen Charakter des Hauses am Federsee-
steg zu verändern. Mit der Herausgabe des vorliegenden
Begleitbuches 1996 war die Um- und Neustrukturierung
des Federseemuseums abgeschlossen. Nach wie vor lau-
fende Ausgrabungen in der Region führen zu neuen, un-
erwarteten Entdeckungen, die Voraussagen lassen, daß das
Federseemuseum seinen gewohnt lebendigen Charakter
auch in Zukunft behalten wird.
Neben einem Anhang (Literaturhinweise, eine chro-
nologische Tabelle und Abbildungsnachweise) besteht
das Buch aus 47 Abschnitten, die allerdings nicht weiter
untergliedert sind. Nach einem geologischen und kultur-
historischen Überblick folgen Angaben zur oft beschwer-
lichen Arbeit der Archäologen, zum Museum am Federsee
sowie der dortigen Natur und zum Landschaftsschutz. Der
frühen Entdeckungsgeschichte, die sich insbesondere um
die Pfahlbauten drehte, werden mehrere der folgenden
Abschnitte gewidmet, wobei auch die bekanntesten For-
scher kurz vorgestellt werden. Anschließend wendet sich
der Autor den Menschen der frühesten Geschichte im
Federseegebiet zu, das sind die »Jäger und Sammler der
späten Eiszeit«, wobei zunächst ihre »Werkzeuge aus
Feuerstein« vorgestelll werden. Jagdtier war zu jener Zeit
vor allem das Ren, was zu einer intensiven Nutzung des
Rengeweihs als »vielseitigem Material«, so der Titel des
nächsten Abschnitts, führte. Mit dem Ende der Eiszeit
erscheinen die Spätpaläolithiker des Azilien, die »Land-
schaft ändert ihr Gesicht«, die »Letzten Jäger und Samm-
ler« des Mesolithikums werden anhand verschiedener
Funde und Befunde, »einer neuen Werkzeug- und Waffen-
generation«, den Mikrolithen, erkennbar. Insgesamt fünf
Lager aus der Mittelsteinzeit sind hier rund um den Hen-
auhof in der Nähe des Ortes Reichenbach ausgegraben
worden.
Ab der Mitte des Buches wird dann das Pflanzertum in
allen seinen Facetten behandelt. Den Bandkeramikern
werden als erstem, weitverbreitetem Bauerntum mehrere
der folgenden Abschnitte gewidmet. Haustiere, Haus-
typen und Keramikformen führen den Leser in das dama-
lige Leben der älteren und mittleren Jungsteinzeit, von
der bestimmte Zeitabschnitte als Pfahlbaukultur ideali-
siert wurden. Einzelne Perioden werden nun als »Kultu-
ren«, wie Aichbühl, Schussenried und Pfyn-Altheim, vor
allem anhand der gefundenen Keramik unterscheidbar.
Die Fundstücke, da jünger, werden jetzt zahlreicher und
damit die Kulturperioden als solche faßbarer. In der
späten Jungsteinzeit macht unsere Region einen bereits
dicht besiedelten Eindruck, mit ausgedehnten Rodungen,
befestigten Wegen und Palisadendörfern. Das epoche-
machende Rad, ein, wenn nicht der entscheidende Faktor
auch unserer eigenen industriellen Zivilisation, gehörte
im späten Neolithikum bereits zum Alltagsleben.
Zwischen Jungstein- und Bronzezeit war das Federsee-
gebiet offenbar nicht besiedelt, was aus der Fundleere
von ca. 800 Jahren geschlossen wird. Nach dieser Fest-
stellung kommt der Verfasser zur »Frühen Bronzezeit«,
in der es bereits burgähnliche Anlagen am Federseeufer
gab, von denen der Problematik um die »Wasserburg«
im Egelsee ein Abschnitt gewidmet wird. Haustypen
der Bronzezeit sowie Waffen und Werkzeuge aus der
Zinn-Kupfer-Legierung werden ebenso vorgestellt wie
die »Ersten Perlen aus Glas« und unterschiedliche Kera-
mikstile. Naturgemäß spielte der Fischfang am Federsee
von jeher eine entscheidende wirtschaftliche Rolle.
Beeindruckende Funde, so Reste von Einbäumen, Pad-
del, Angelhaken und Netzschwimmer, machen dies jetzt
so richtig sichtbar.
ln den letzten beiden Abschnitten wird dem Leser die
beginnende Eisenzeit und mit dem »Hortfund von Kap-
pel« um Christi Geburt das schon seit Jahrhunderten
etablierte Zeitalter der Kelten nahegebracht.
Mit seinem lebendigen Layout, seinen zahlreichen Re-
konstruktionszeichnungen, den zahlreichen SW- und
Farbfotos bedeutender Forscher und sensationeller Fund-
stücke macht dieser Führer einen überaus ansprechenden
Eindruck. Er vermittelt fundiertes Wissen auf die leichte
Art, kommt auch dem eiligen Leser entgegen und hat
Vorbildcharakter für ähnliche Publikationen vergleich-
barer Museen.
Axel Schulze-Thulin
Leakey, Richard / Lewin, Roger;
Der Ursprung des Menschen - Auf der
Suche nach den Spuren des Humanen. Aus
dem Amerikanischen von S. Vogel. Original,
New York 1992: »Origins Reconsidered; In
Search of What Makes us Human«. Frank-
furt a. M.: S. Fischer, 1993. 368 Seiten, etli-
che SW-Fotos, Zeichnungen, Karten.
Die Frage, die dieses weitere Buch des bekannten Urge-
schichtsforschers wie ein roter Faden durchzieht, ist die.
ob wir bei Kenntnis unserer Vergangenheit, das heißt hier,
woher wir kommen, wissen oder erkennen, wo unsere
Zukunft liegt. Leakey gibt am Schluß seiner Ausführun-
gen eine Antwort, doch wird die Frage je nach Stand-
punkt von anderen Wissenschaftlern sicherlich unter-
195
TRIBUS 46, 1997
schiedlich beantwortet. Mich fasziniert zwar das Thema
selbst, bezüglich der Meinung des Autors bin ich jedoch
skeptisch. Auch wenn also der Leser dem Verfasser nicht
in allen Punkten folgen will oder kann, so empfindet er
doch die Art und Weise, wie Leakey bei seiner Suche
nach einer Lösung vorgeht, wobei er viel Autobiographi-
sches in seinen Text einfließen läßt, als überaus span-
nend. Wer einmal zu dem Buch gegriffen hat, wird es so
schnell nicht wieder aus der Hand legen. Dies liegt wohl
vor allem daran, daß der Autor über die Paläoanthropolo-
gie hinausführt und oft ins Metaphysische übergleitet -
und das ist etwas, was wesentlich mehr Menschen inter-
essiert als die heute schon längst zu beantwortende Frage,
»ob der Mensch vom Affen abstammt«.
Der archäologische Ausgangspunkt des Buches ist die
Region im Norden Kenias, am Westufer des Turkana-
Sees. Weltberühmt sind die Ostgebiete des Sees. Koobi
Fora ist zu einem Begriff für Homo habilis geworden.
Um so spannender ist es nun, auch das Westufer dieses
Sees vorgestellt zu bekommen. Leakey nimmt den dort
1984 gefundenen jugendlichen Homo erectus zum Aus-
gangspunkt der Frage nach dem Zusammenhang zwi-
schen Homo sapiens und seinen Vorläufern.
Der Verfasser versteht es blendend, seine Leser zu fes-
seln. Gleich zu Anfang erzählt er die fiktive Geschichte,
wie der Turkana-Junge. der besagte Homo erectus vom
Westufer des Turkana-Sees und einst jüngster Jäger einer
fünfköpfigen Gruppe der genannten Spezies, vor 1,5 Mil-
lionen Jahren auf der Jagd nach Antilopen zu Tode kam.
In seine Schilderungen flicht der Autor geschickt Lobge-
sänge auf die afrikanische Natur ein, was seinen Texten
zusätzlich ein romantisches Flair gibt. Auch vergißt er
nicht, Angaben zur Geographie, Geologie, Politik und
Geschichte Kenias sowie zur Forschungsgeschichte Afri-
kas im besonderen und der übrigen Alten Welt im allge-
meinen zu machen.
Der Turkana-Junge ist das nahezu vollständige Skelett
eines etwa zwölfjährigen Homo erectus. Mit der Schilde-
rung dieses sensationellen Fundes schließt der erste Teil
des in insgesamt sechs Teile gegliederten Buches. Es fol-
gen Abschnitte zur Geschichte der Jagd auf menschliche
Fossilien, wobei Leakey immer am Herzen liegt, den gei-
stigen Hintergrund der aufgefundenen oder ausgegrabe-
nen Knochen zu enträtseln. Es liegt auf der Hand, daß bei
diesen Versuchen vieles Spekulation bleiben muß. Immer
wieder kommt der Verfasser auf die Frage zurück, wie
Homo sapiens sapiens entstand und woher er kam. Dabei
wird auch dem Neandertaler, insbesondere vor dem Hin-
tergrund der genetischen Forschung, viel Platz einge-
räumt. Doch eine endgültige Antwort wird nicht, kann
auch nicht gegeben werden. Ein Lichtblick bleibt -
Anthropologie, Archäologie und Molekularbiologie (hier
liegen die Verdienste des Biochemikers Roger Lewin an
dem Buch) befinden sich allem Anschein nach gemein-
sam auf dem richtigen Weg.
Im fünften Teil des Buches, der auch der umfangreichste
ist, widmet sich Leakey ausschließlich seinem eigent-
lichen Anliegen, »den modernen menschlichen Geist«
aufzuspüren. Er beginnt mit der Sprache und ihren anato-
mischen Voraussetzungen, landet beim »Bewußtsein als
Spiegel der Seele« und versucht schließlich, das »Fenster
zu anderen Welten« aufzustoßen. Dieses »Fenster in den
Geist des Paläolithikums« (S. 321) sieht der Autor in der
Felsbildkunst des eiszeitlichen Westeuropas und derjeni-
gen Südafrikas, wobei darauf hingewiesen werden muß,
daß letztere weitgehend rezent ist und somit nicht ohne
gewisse Voraussetzungen der Kunst des Oberen Paläo-
lithikums vergleichbar ist. Bei Erklärung der Bilder
folgt Leakey der gegenwärtig oft vertretenen, allerdings
modernistisch anmutenden Hypothese, wonach Eiszeit-
kunst mit Schamanismus und dem mit ihm verbundenen
Trancezustand der Ausführenden verknüpft werden
sollte.
Im sechsten und letzten und wohl interessantesten Teil
seines Buches sucht Leakey, auf philosophischem Wege
Antworten auf die Frage zu finden, warum es Homo sapi-
ens sapiens überhaupt gibt und wo er enden wird. Vieles
spricht dafür, daß wir, unsere jetzige Art, nur ein Zu-
fallsprodukt bestimmter Umweltbedingungen sind. Es
gibt keine Vorherbestimmung. Ausschlaggebend ist die
Selektion aufgrund von Umweltveränderungen infolge
Klimaverschiebungen. Wären die Konstellationen andere
gewesen, so wären wir anders, nach der äußeren Erschei-
nung und auch nach unserem Seelenleben. Oder es würde
uns gar nicht geben. Dies alles ist einsichtig und nach-
vollziehbar. Einzig bei seiner Zukunftsversion kann der
Leser dem Verfasser nicht ohne weiteres folgen. Für
Homo sapiens sapiens sieht er nämlich keine Chance,
vergleichbar allen vorangegangenen und in insgesamt
fünf großen Massensterben untergegangenen Arten die-
ser Erde. Dem muß entgegengesetzt werden, daß der
Geist des Menschen - so grausam dies auch für die Natur
klingen mag, denn dieser Geist wird sich über sie hin-
wegsetzen - schon heute imstande ist, die bekannten,
zurückliegenden Evolutionsabläufe zu verlassen. Die
Gentechnik ist erst ein Anfang. Darüber hinaus steht der
Mensch im Begriff, sich in den Kosmos aufzumachen.
Wohin ihn das führt? Niemand kann diese Frage beant-
worten. Doch der Mensch wird - sicherlich verändert
durch sich und über sich hinaus - weiterleben, bis zum
Ende der Welt. Die natürliche Selektion hat ausgespielt.
Leakeys Buch geht weit über eine Schilderung des
menschlichen Ursprungs hinaus. Der Untertitel ist aussa-
gekräftiger. Es ist tatsächlich eine Suche nach den Spuren
des Humanen oder nach dem Original »a search of what
makes us human«. Und darüber hinaus ist es überaus
spannend und auch notwendig.
Axel Schulze-Thulin
Leroi-Gorhan, Andre:
Gesture and Speech. Übersetzung aus dem
Französischen von Anna Bostock Berger;
Einführung von Randall White. (Original:
Le geste et la parole, Paris 1964). Cam-
bridge/London: The MIT Press, 1993. 431
Seiten, 153 Zeichnungen.
Obwohl das Lebenswerk Leroi-Gourhans, einem der mar-
kantesten Philosophen unter den Urgeschichtsforschern
(gestorben 1986), etliche Kritiken von kompetenter und
auch von inkompetenter Seite einstecken mußte, haben
seine Forschungsergebnisse nach wie vor und ebenfalls
für die weitere Zukunft Bedeutung und Gewicht. Daran
ändert auch die mittlerweile eingetretene Überalterung
mancher Schlußfolgerungen sowie Passagen in dem
vorliegenden Buch nichts. Insbesondere das rezensierte
196
Buchbesprechungen Allgemein
Werk, hier in englischer Übersetzung, gehört zu den Stan-
dardwerken der Paläanthropologie und prähistorischen
Forschung. Dieser Übersetzung liegt die Originalausgabe
»Le geste et la parole« zugrunde (zwei Bände, Paris
1964/65).
Da dem Leser, der sich für die hier wiedergegebene Be-
sprechung interessiert, die Publikation natürlich bekannt
ist, eventuell sogar in Originalfassung, verbleibt dem
Rezensenten nur, einzelne Punkte, die nach über 30 Jah-
ren nach der Erstausgabe erwähnenswert erscheinen,
herauszugreifen sowie den Aufbau des Buches in Erinne-
rung zu rufen. Letzteres soll, unter freizügiger Verwen-
dung der deutschen Sprache, an den Anfang gestellt
werden.
Der vorliegenden englischen Fassung ist eine Einführung
von Randall White vorangestellt. Insgesamt ist das Werk
in drei Hauptteile (»Technik und Sprache«; »Gedächtnis
und Rhythmen«; »Ethnische Symbole«) gegliedert, von
denen der erste in sechs Abschnitte zerfällt (»Das Bild
des Menschen«; »Hirn und Hand«; »Archanthropus und
Paläanthropus«; »Neanthropus«; »Sozialer Organismus«;
»Sprachliche Symbole«). Der zweite Hauptteil »Gedächt-
nis und Rhythmen« enthält nur drei Abschnitte (»Befrei-
ung des Gedächtnisses«; »Geste und Programm«; »Ex-
pansion des Gedächtnisses«), während der dritte Hauptteil
»Ethnische Symbole« in sechs Abschnitte untergliedert
ist (»Einführung in eine Paläontologie der Symbole«;
»Die physischen Grundlagen der Werte und der Rhyth-
men«; »Funktionale Ästhetik«; »Soziale Symbole«;
»Sprache der Formen«; »Die Freiheit der Imagination und
das Schicksal von Homo sapiens«). Alle aufgeführten
Abschnitte enthalten zwischen 8 und 27 Untertitel. Das
Buch schließt mit erklärenden, längeren Abbildungsle-
genden, einer hinsichtlich des Originals unveränderten
Bibliographie und einem Register.
Nun zu den angekündigten einzelnen Anmerkungen. Das
erste Wort des Buchtitels »Geste/Gebärde« - im weite-
sten Sinne, aber vor allem die mit der Hand vollzogene -
zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die Hand
ist es, die den Menschen zum Menschen macht. Das ist
für den Beginn der Hominisation sicherlich richtig, wenn
die überragende Bedeutung von Daumen und Zeigefinger
herausgestellt wird.
Mit einer Fülle von Beispielen untermauert Leroi-
Gourhan seine zahlreichen und ebenso umfassenden wie
detaillierten Erläuterungen. Diese Beispiele sind aller-
dings selten vollkommen astrein. Dem kundigen Leser
fallen immer wieder Ausnahmen ein, die nicht unbedingt
die Regel bestätigen und die dem Verfasser sicherlich
auch bekannt waren, die er aber unerwähnt läßt. Dies geht
so weit, daß mancher Terminus übergewichtet wird, wie
zum Beispiel im XV. Abschnitt »Die Freiheit der Imagi-
nation und das Schicksal von Homo sapiens« die Defini-
tion der menschlichen Gesellschaft als »sozialer Körper«,
der als einzigartiges Phänomen in der Evolution der
Lebewesen dargestellt wird. Es ließen sich jedoch zahl-
reiche Tiergesellschaften anführen, die ebenfalls als
»soziale Körper« zu bezeichnen wären. Den einen oder
anderen Begriff hält Leroi-Gourhan darüber hinaus nicht
konsequent durch, wie seine Australanthropine (Austral-
opithecinen).
Interessant ist festzuhalten, wie sich der paläontologische
Forschungsstand der 1960er Jahre in gut 30 Jahren ver-
ändert hat. Dies bezieht sich nicht nur auf bestimmte
Fachtermini, sondern auch auf die mittlerweile zu ver-
zeichnende, wesentlich größere Funddichte in zahlrei-
chen archäologischen Bereichen sowie auf geänderte
Sichtweisen durch neue Erkenntnisse. So ist beispiels-
weise die im Buch verzeichnete, weite evolutionäre Ent-
fernung des Menschen vom Schimpansen infolge gen-
technischer Forschungsergebnisse inzwischen relativiert
worden. Schimpansen stehen dem Menschen genetisch
sehr viel näher als den übrigen Menschenaffen, wie dem
Gorilla.
Weiterhin: Viel später als noch von Leroi-Gourhan ange-
nommen, haben sich die Rassen der Menschheit heraus-
gebildet. Die Neanthropinen. vor allem wenn Steinheim
und Swanscombe hinzugerechnet werden, hatten zum
Zeitpunkt (besser wohl Zeitlinie) der Rassentrennung
bereits eine lange (bis zu 200000 Jahren) Entwicklung
hinter sich. Mit Sicherheit müssen die diesbezüglichen
Zeiträume für die verschiedenen Erdteile auch unter-
schiedlich angesetzt werden.
Auch manche in dem Buch niedergelegte Erklärung zur
Evolution ist mittlerweile durch neue Funde überholt.
Diese wenigen Anmerkungen, die fern jeder Kritik sind,
mögen genügen. Sie ändern auch nichts an der Tatsache,
daß das Werk Leroi-Gourhans seine schwergewichtige
Bedeutung weiterhin behalten wird, wobei besonders der
Gesichtspunkt einer Brücke zwischen physischer und
sozialer Anthropologie, die der Autor mit diesem Buch
geschaffen hat, eine maßgebliche Rolle spielt.
Axel Schulze-Thulin
Lorblanchet, Michel:
Höhlenmalerei - Ein Handbuch. Hrsg., mit
einem Vorwort und einem Beitrag zur Wand-
kunst im Ural von Gerhard Bosinski. Über-
setzung von Peter Nittmann (Original: Les
Grottes ornées de la préhistoire - Nouveaux
regards, Paris 1995). Sigmaringen: Jan Thor-
becke, 1997. 340 Seiten, 277 Farb-Abbildun-
gen, Zeichnungen, Karten und Tabellen.
Mit der Reihe »thorbecke SPELÄO« hat sich der Jan
Thorbecke Verlag bereits große Meriten erworben (s. die
Besprechung des Buches »Grotte Cosquer« in TRIBUS
45/1996: S. 168 sowie die von »Ekain und Altxerri«
an anderer Stelle des diesjährigen Bandes). Um so be-
grüßenswerter und auch beeindruckender ist nun die
Eröffnung einer weiteren Publikationsfolge - »die thor-
becke SPELÄOTHEK« mit ihrem ersten Werk, d. h. dem
vorliegenden Buch. In bewundernswerter Aufmachung
und hoher Qualität steht diese Veröffentlichung den
erwähnten Bänden der erstgenannten Reihe in nichts
nach. Doch was noch mehr verdient, hervorgehoben zu
werden, ist der Inhalt des Handbuches »Höhlenmalerei«.
Es ist ungewöhnlich umfassend, sowohl in der Darstel-
lung der geographischen Verbreitung der Höhlenkunst
als auch in der thematischen Vielfalt, und dabei detailliert
in der Beschreibung der einzelnen Fachgebiete. Die
drucktechnisch perfekte Wiedergabe der Farbbildvorla-
gen sollte an dieser Stelle ebenso betont werden wie die
überlegte Plazierung der Farbtafeln am Ende größerer,
thematisch zusammenhängender Textabschnitte, bringen
sie in ihrer geballten Zusammenstellung und kraftvollen
197
TRIBUS 46, 1997
Aussage doch dem Leser die Großartigkeit der Eiszeit-
kunst besonders eindrücklich nahe. Begrüßenswert und
bisher nahezu einzigartig ist darüber hinaus, daß der
Autor, Directeur de Recherche am Centre National de
la Recherche Scientifique (CNRS) und einer der besten,
wenn nicht der beste Kenner paläolithischer Höhlen-
kunst, einerseits über die zahlreichen Bereiche der Ar-
chäologie hinaus auch die Malmittel in seine Darlegun-
gen einbezieht, andererseits an etlichen Stellen des
Buches - bei aller gebotenen Vorsicht - ethnologische
Vergleiche durchscheinen läßt, wozu er durch seine
Arbeiten in Australien und Indien prädestiniert erscheint,
ln einem weiteren, angekündigten Band des Verfassers
soll vor allem das Thema »völkerkundliche Analogien«
vertieft werden. Eine Selbstverständlichkeit ist es dabei,
daß Lorblanchet, der auch viele der Zeichnungen dieses
Buches angefertigt hat, ebenfalls die Maltechnik nicht
zu kurz kommen läßt, wobei er gleichfalls Erkennt-
nisse aus eigenen Experimenten in seine gut verständ-
lichen Erklärungen integriert. Was oft bei Sachbüchern
schmerzlich vermißt wird, ist hier nicht versäumt worden
- zum Schluß werden praktische Hinweise zu öffentlich
zugänglichen Bilderhöhlen, aufgegliedert nach den ein-
zelnen Regionen der Eiszeitkunst unter Einschluß Portu-
gals, Italiens und des Urals (!), sowie zur ausgestellten
paläolithischen Kunst in Museen geboten. Nicht nur der-
jenige, der gerade am Beginn seiner urgeschichtlichen
Interessen steht oder nicht über umfassende literarische
Quellen zur Eiszeitkunst verfügt, wird diese erfreulichen
Zusammenstellungen am Schluß des Buches begrüßen.
Sinnvoll und dem Verständnis des Lesers entgegen-
kommend ist die Aufgliederung des Bandes. Nach einem
Vorwort des weit über die Grenzen Deutschlands hinaus
bekannten Herausgebers und renommierten Urge-
schichtsforschers Gerhard Bosinski sowie weiterer Vor-
worte folgt der äußerst einfühlsam geschriebene Abschnitt
»Traumzeit«. Der völkerkundlich Geschulte denkt dabei
sofort an Australien, und so werden denn auch hier - sehr
vorsichtig - einzelne Verbindungslinien zwischen der
Kunst der Aborigines und der paläolithischen Höhlenma-
lerei gezogen. Solche Gedanken werden an anderer Stelle
des Buches erneut aufgegriffen. Besonders geht der Autor
hier allerdings auf Pech Merle ein, eine der berühmtesten
Bilderhöhlen Frankreichs, der sich Lorblanchet unter
anderen intensiv gewidmet hat. Beim Lesen von »Traum-
zeit« begreift der auch noch unkundige Leser die Gründe
für die Faszination der eiszeitlichen Kunst, die so viele -
Forscher wie Laien - in ihren Bann zog und noch zieht.
Das Einführungskapitel »Traumzeit« endet mit einem
Hinweis auf die Vielfältigkeit der eiszeitlichen Kunst.
Damit geht der Verfasser auf das erste Hauptkapitel über,
in dem er die paläolithische Kunst insgesamt vorstellt. In
zwei kürzeren Passagen behandelt er zunächst die Klein-
kunst. Ihr wird dann in einem Überblick »Die Wand-
kunst« gegenübergestellt. Mit Farbtafeln zur »Wandkunst
in Portugal und Asturien« wird dieses Kapitel abge-
schlossen.
Es folgt das nächste Kapitel »Die Kunst der tiefen
Höhlen«, zunächst mit allgemeinen Betrachtungen, in
denen auch die geographische Verbreitung der Fundplätze
in bezug auf die damalige Ausdehnung der nordeuropäi-
schen Gletscher behandelt wird. Die Schwerpunkte der
Höhlenkunst liegen eindeutig in Spanien (125 Fundplätze;
Portugal 3) und Frankreich (150). Über Italien (21) nimmt
die Zahl der Stationen rapide ab, reicht allerdings über
Südosteuropa bis zum Ural (2). Sehr begrüßenswert ist in
diesem Zusammenhang auch, daß Lorblanchet die neu-
esten Entdeckungen eiszeitlicher Wandkunst in einer
Übersicht zusammengestellt hat. In den darauffolgenden
Abschnitten widmet sich der Autor den Bildinhalten (»Die
Themen«) sowie der Technik der Wandmalerei.
Im dritten Hauptkapitel »Die forschungsgeschichtliche
Basis« mit dem Untertitel »Gedanken und Persönlich-
keiten« werden einige der bedeutendsten Forscher und
ihre Theorien zur paläolithischen Kunst vorgestellt;
Henri Breuil, Max Raphaël, Annette Laming-Emperaire,
André Leroi-Gourhan und Léon Pales. Dieses Kapitel
wird abgeschlossen mit den Farbtafel-Serien »Die Wand-
kunst in Kantabrien und im Baskenland« sowie »Die
Wandkunst in den Pyrenäen«.
Im nächsten Kapitel mit dem etwas ungelenken Titel
»Eine neue Konzeption der werkimmanenten Analyse«
wird über das Rüstzeug des Archäologen und seine tech-
nischen Verfahrensweisen gesprochen. Daran schließen
sich im Kapitel »Die Analysen der Farbpigmente« die
eingangs erwähnten Abschnitte über die Malmittel der
eiszeitlichen Künstler an, die nicht nur wegen ihrer Auf-
schlüsse über die eiszeitliche Malerei bedeutsam sind,
sondern auch wegen des aufgezeigten Hintergrundes der
damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und religiösen
Vorstellungen. Im Anschluß an diese Ausführungen wer-
den dem Leser wiederum zwei Farbtafel-Serien »Die
Wandkunst im Périgord und im Poitou« sowie »Die
Wandkunst im Quercy« in qualitativ hochwertigen Farb-
reproduktionen vor Augen geführt.
Es folgen drei kürzere Kapitel, zum einen über struktu-
ralistische Forschungen, zum anderen über die Höhle als
Bildträger als solchen, und schließlich über die archäo-
logische Bedeutung der Ausgrabungen in und um die
Höhle. Daran anschließend folgen die Farbtafel-Serien
»Die Wandkunst im Rhone-Gebiet und in Nordfrank-
reich« sowie die »Wandkunst im Ural«.
Dem immer bedeutsamer eingestuften Gebiet der Experi-
mentellen Archäologie ist das folgende Kapitel »Experi-
mente« gewidmet. Als Beispiel führt Lorblanchet das
Bildfeld der gepunkteten Pferde von Pech Merle an. Die
mit der experimentellen Methode gewonnenen Ergeb-
nisse, bezogen auf Pech Merle, bestätigen insbesondere
die Erkenntnisse über die gebräuchlichen Techniken der
Eiszeitkünstler, über die Verwendung der Malmittel und
die Beleuchtung innerhalb der Höhle sowie über die auf-
gewendeten Arbeitszeiten.
Mit einem ausführlichen Kapitel über »Die Datierung der
paläolithischen Wandkunst«, einer Zusammenfassung
sowie einer Liste der l4C-Datierungen der Höhlenkunst
endet der beschreibende Teil des Buches, das mit Lite-
raturverzeichnis, Glossar, Personenregister und einem
Verzeichnis der Fundorte vorläufig abschließt. Vorläufig
deshalb, weil die folgenden und eingangs erwähnten
praktischen Hinweise auf öffentlich zugängliche Bilder-
höhlen in Westeuropa und im Ural sowie auf die in Museen
gezeigte paläolithische Kunst den Band endgültig been-
den. Alles in allem ist dieses liebevoll und professionell
aufgemachte Buch nicht nur ein Augenschmaus, sondern
auch eine echte Bereicherung und fundierte Fortführung
der bisherigen Literatur zum Thema »Eiszeitkunst«.
Axel Schulze-Thulin
198
Buchbesprechungen Allgemein
Steuer, Heiko/Zimmermann, Ulrich (Hrsg.):
Montanarchäologie in Europa - Berichte
zum Internationalen Kolloquium »Frühe
Erzgewinnung und Verhüttung in Europa«
in Freiburg i.B. 1990. Sigmaringen: Thor-
becke, 1993. 562 Seiten, 305 SW-Abbildun-
gen.
Insgesamt 60 international bekannte und renommierte
Wissenschaftler stehen hinter diesem beeindruckenden
Band über die »Frühe Erzgewinnung und Verhüttung
in Europa« - so der Titel eines Kolloquiums, das 1990
über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung fand
und das die Berichte zu der vorliegenden Publikation
lieferte. Ziel der Tagung war es, einerseits über For-
schungsschwerpunkte im Rahmen der Archäometallurgie
zu berichten, andererseits die Kongreßteilnehmer über
die neuesten Forschungsprojekte der europäischen Mon-
tanarchäologen in einem vergleichenden und interdis-
ziplinären Rahmen zu informieren.
In nicht weniger als 42 Beiträgen wird der Bogen vom
urgeschichtlichen bis zum frühneuzeitlichen Bergbau
gespannt, immer auf der Grundlage des neuesten For-
schungsstandes (aktualisiert 1992). Wie schon aus dem
Buchtitel ersichtlich, sind ausschließlich Erze berück-
sichtigt, insbesondere Gold und Silber, verschiedene
Buntmetalle sowie Eisen. Dabei wird der Weg vom
Erzabbau über die Verhüttung bis zur Weiterverarbeitung
der Rohmetalle aufgezeigt. Die Einbeziehung gesell-
schaftlicher Aspekte sowie gewisser Umwelteinflüsse
bereichern die thematische Vielfalt.
Die behandelten Regionen reichen von Mitteleuropa, vor
allem Südwest- und Ost-Deutschland, bis nach Polen,
weiterhin von Böhmen über die Ostalpen nach Serbien
und Nord-Italien, von Spanien und Portugal nach Süd-
ost-Frankreich, und schließlich im nördlichen Europa
von Großbritannien bis nach Schweden. Zahlreiche
Abbildungen, wie Zeichnungen, Fotos, Karten, Tabellen
und Grafiken, untermauern anschaulich die jeweiligen
Texte. Ein Autorenverzeichnis und ein Ortsregister
beschließen diesen Band, der in keiner Bibliothek des
Montanarchäologen, wo immer er auch in den angeführ-
ten Bereichen tätig sein mag, fehlen darf.
Axel Schulze-Thulin
Tennenbaum, Jonathan (in Zusammenarbeit
mit Burdman, Mary/Komp, Lothar/Cramer.
Hartmut/George, Konstantin):
Die eurasische Landbrücke. Die »neue
Seidenstraße« als Motor weltweiter wirt-
schaftlicher Entwicklung - Alternative zu
Globalisierung und »nachindustrieller« Ar-
beitslosigkeit. Wiesbaden; Executive Intelli-
gence Review, 1996. 230 Seiten mit Fotos,
Karten, Diagrammen.
Diese wirtschaftspolitisch ideologische Schrift hat drei
Inhalte - die politische Grundlage, Finanzen und
Währungen und den Vorschlag zu einer eurasisch welt-
weiten Planwirtschaft.
ln der Einführung »China und das Schicksal Europas«
steht folgendes (Seite 7); »Auf der einen Seite befinden
sich der gesamte Westen sowie Osteuropa und die Länder
der ehemaligen Sowjetunion in einem unverkennbaren
Prozeß des ökonomischen, kulturellen und moralischen
Zerfalls.«
Osteuropa wurde von der »extremsten Form des Manche-
ster-Kapitalismus überfahren«. Am gefährlichsten sei die
»besorgniserregende geistige Verfassung der westlichen
Führungselite«. Die Gefahr eines allgemeinen Finanzkol-
lapses wachse, keine Nation sei mehr Herr ihrer eigenen
Lage.
»Glücklicherweise findet aber am anderen Pol Eurasiens
eine ganz andere Entwicklung statt. China, mit 1,2 Mil-
liarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der
Welt, erlebt zur Zeit die rasanteste Aufbauperiode seiner
Geschichte. Aus den Ruinen der Kulturrevolution sucht
China mit neuem Optimismus und Selbstvertrauen den
Weg zum modernen, industriellen Nationalstaat.«
»Mit allen seinen riesigen Problemen versucht China
das zu werden, was die europäischen Länder vorläufig
aufgegeben haben: eine souveräne Nation.«
»Die Chinesen haben nicht übersehen, daß keines der
führenden Industrieländer sich nach den Regeln des
radikalen freien Marktes< entwickelt hat.«
»1,2 Milliarden Menschen dürfen nicht den >Spielregeln<
eines vom ultraliberalen >Thatcherismus< geprägten Wir-
schaftskonzepts geopfert werden, das bereits ganze Na-
tionen in den Ruin getrieben hat.«
»Eigentlich müßten wir im Westen uns schämen: Mit
ihrem Beharren auf elementaren Grundsätzen der wirt-
schaftlichen Souveränität hat die chinesische Regierung
- der man so gerne Mißachtung der Menschenrechte
vorwirft - in ihren Taten mehr Verantwortung für die
Zukunft ihrer Bevölkerung gezeigt als die meisten ande-
ren Regierungen der Welt!« - und jetzt kommt die ent-
scheidende Aussage (Seite 10):
»Vor diesem Hintergrund hat die chinesische Regierung
in den letzten Jahren eine außenpolitische Initiative von
erheblicher Tragweite gestartet. Es geht um nichts Gerin-
geres als die Schaffung eines neuen >Wirtschaftswunders<
für ganz Eurasien. Mit Hilfe modernster Technologien
soll auf dem gesamten >Superkontinent< vom Pazifik bis
zum Atlantik ein Netzwerk von schnellen Eisenbahnver-
bindungen sowie Energie- und Kommunikationssyste-
men aufgebaut werden. Damit würde der Aufbauprozeß,
der zur Zeit in China stattfindet, auf gesamt Eurasien
ausgedehnt.«
»Denn zusammen mit der dringend benötigten Reform
des Finanzsystems ist die >Politik der neuen Seiden-
straße< als Lokomotive für Investitionen und Wachstum
die einzige realistische Option, um einen Wirtschafts-
zusammenbruch in globalem Maßstab noch rechtzeitig
abzu wenden.«
Dabei wird Deutschland folgende Rolle zugedacht:
»Deutschland hätte vor allem die Aufgabe, große Men-
gen hochwertiger Investitionsgüter zu liefern, die für die
Modernisierung von Infrastruktur, Industrie und Land-
wirtschaft in den Ländern des sogenannten Ostblocks
dringend benötigt würden. Dazu müßten >dirigistische<
Methoden wie einst beim Wiederaufbau Westeuropas
nach dem Krieg angewendet werden.«
Die Strategie der »Seidenstraße« ist folgende:
»Im Aufbau der eurasischen Landbrücke und damit ver-
199
TRIBUS 46, 1997
bundenen Infrastrukturprojekten sieht die chinesische
Führung ein einzigartiges Mittel, nicht nur eine wahrhaft
positive Außenpolitik zu entfalten, sondern zugleich auch
eines der gravierendsten internen Probleme des Landes
zu lösen. Es handelt sich um die immer unerträglicher
gewordenen Einkommens- und Entwicklungsdefizite der
Provinzen im Innern des Landes gegenüber den reichen
Küstenprovinzen.«
Hochtechnologie soll über Entwicklungskorridore durch
ganz Eurasien Lokomotive eines eurasischen Wirtschafts-
wunders sein. Nicht eine »Überbevölkerung« hemme die
wirtschaftliche Entwicklung in vielen Teilen der Welt,
sondern der Mangel an genügender Bevölkerung.
Entwicklungskorridore sollen von Europa über den Ori-
ent nach Indien, andererseits durch Rußland nach China
führen.
Zusammengefaßt: Diese Schrift ist eine weltverbessernde
Heilslehre, eine Beschimpfung des Westens, eine Verdam-
mung des marktwirtschaftlichen Systems, die Projektion
einer Schuld »böser Mächte«, so wie früher die Frei-
maurer oder das sogenannte Finanzjudentum als inter-
nationale Finanzbösewichter galten.
Es wird eine Crashtheorie aufgezeichnet, nach der die
Situation angeblich zu einem Finanzkollaps führe. Kind-
liche Vorstellungen zeigen eine zentralistische Wirt-
schaftsordnung auf.
Es ist, alles in allem, ein Pamphlet, das voll von haßer-
füllten Angriffen gegen die westliche Welt steckt und
sich für das Ziel Chinas, wirtschaftliche Weltmacht Num-
mer eins zu werden, einsetzt.
Unabhängig von all diesem wird an den Menschen über-
haupt nicht gedacht. Eurasienweit sollen praktisch über
Nacht alle Menschen in allen Kulturstufen unsere heutige
Hochtechnologie beherrschen. Ob und in welchem Um-
fang überhaupt ein Bedarf welcher Produkte gegeben
sein könnte - die Vorstellung eines Zeitplans existiert
überhaupt nicht.
Diese Schrift stellt eine Wunderlehre dar, die, wie mei-
stens, von Halbgebildeten entwickelt wurde und deshalb
nur mit allergrößter Vorsicht und Achtsamkeit zu behan-
deln ist.
Gerhard Femppel
Vossen, Rüdiger/Röder, Alexander/ Vos-
sen, Gabriele:
Das Kreuz. Lebensbaum oder Marterpfahl?
Mit Beiträgen von Markus Pohlmeyer-Jockei
und Wolfgang Guttmann. Bonn: Habelt,
1997. 127 Seiten mit Färb- und SW-Fotos.
ISBN 3-7749-2814-2
Seit Beginn der 80er Jahre werden in Hamburg Ausstel-
lungen über Symbole und Kultmale der christlichen Re-
ligion sowie über christliches Brauchtum veranstaltet.
Im März 1997 wurde die vierte Ausstellung dieser Art
in der Krypta der Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg,
und in der St. Marien-Kirche, Quickborn, eröffnet. Das
Thema dieser diesjährigen Sonderausstellung ist iden-
tisch mit dem Titel vorliegenden Sammelbändchens. Die-
ses Büchlein führt in die Geschichte, die Verbreitung
und die verschiedenen Ausdrucksformen des Komplexes
»Kreuz« ein und stellt eine Art Katalog zu der Hambur-
ger Ausstellung dar. Darüber hinaus bezweckt es, Anstoß
zu konstruktiver und leidenschaftlicher Diskussion zu
geben, »ob das Christentum noch die Kraft hat, sich nach
2000 Jahren unter dem Leitbild >Kreuz als Lebensbaum<
neu zu orientieren und zum Wohle der >ganzen bewohn-
ten Welt< (Ökumene) zu entwickeln« (Seite 8).
Insgesamt fünf Autoren haben dazu Beiträge geliefert;
1. Der Völkerkundler Rüdiger Vossen trug mit gedie-
genem Fachwissen den Löwenanteil (fast 50 Seiten) bei.
Er öffnet den Horizont und die Weite, wo überall das
Malzeichen Kreuz anzutreffen ist. Kompetenzmäßig ist
der arktische Kulturkreis und die nordische Mythologie
für Vossen der Schwerpunkt. In den kulturellen und reli-
giösen Hintergrund etwa südostasiatischer Kreuzesdar-
stellungen (meist apotropäisch!) hat er sich nicht hinein-
vertieft. Erst recht stößt Vossen in der Theologie an seine
Grenzen. Sehr spekulativ ist der Versuch, in Anlehnung
an nordische Mythologie (Odins Selbstopfer an einem
Baum) eine Verbindung zwischen dem Lebensbaum im
Paradies und dem Kreuz von Golgatha aufgrund des
Henochbuches (wahrscheinlich meint Vossen den Äthio-
pischen Henoch) und mittelalterlicher Mystikervisionen
zu konstruieren. Die Henochbücher sind weder »alttesta-
mentarisch« noch »apokryph«. Vielleicht liegt eine Ver-
wechslung mit >apokalyptisch< vor. Nur im Rückgriff auf
außerbiblische rein spekulative Apokalyptik kann von
einer Verbindung Lebensbaum-Kreuz Christi gesprochen
werden. Ernstzunehmende theologische Wissenschaft
kann hier keinen Zusammenhang feststellen, womit zu
einem guten Teil die Tendenz des Büchleins hinfällig
wird. Auch sonst scheint sich Vossen wenig durch Nach-
prüfungen vergewissert zu haben. Bei Latinismen, bi-
blischen Tatbeständen, diakonischen Bezeichnungen und
exakten Buchtiteln kommt er ins Schwimmen und zu
Unrichtigkeiten (vgl. Seite 53, 10. Zeile von unten; S.55,
Zeile 13; S. 60, Zeile 15; S. 61, 11. Zeile von unten). Trotz-
dem sind seine Aufzählungen und Beschreibungen für
den Katalogleser höchst lehrreich und interessant, vor
allem, welche Wege das Kreuzzeichen im Volkstum
Europas und missionierter Stämme in Übersee einge-
schlagen hat. Hier ist Vossen wieder der seriöse Fach-
mann.
2. Gabriele Vossens Beitrag ist mit »Das Kreuz -
Leidbild oder Leitbild« überschrieben. Er ist nicht von
einem ernstzunehmenden wissenschaftlichen, sondern
von einem trotz allem realen Standpunkt von heute weit
verbreiteten Emotionen und vom Zeitgeist aus geschrie-
ben. Irgendwie wecken ihre feuilletonistisch dargestell-
ten Ausführungen in ihrer Naivität auch beim christlichen
Leser Sympathie: ihr Leiden unter der Entchristlichung
vor allem Norddeutschlands, ihr minimales Wissen über
Bibel und Christentum (aus Rowohlt-Büchern Horst
Eberhard Richters und Bertrand Russells geschöpft).
Wo steht in der Bibel das Reizwort »Erbsünde«? Oder
was soll die Einseitigkeit: »Umbenennung des höchsten
kirchlichen Feiertages von Christi Todestag Karfreitag
auf den Auferstehungstag Ostern« bewirken? Meint sie
irgendeine »Umbenennung« oder nur eine Gewichts-
verlagerung? Gabriele Vossen wendet sich nicht verächt-
lich ab - wie die nichtchristliche Intelligenz von Tacitus
(»odium generis humani«) bis B. Russell. Sie engagiert
sich im Kampf gegen das antifeministisch und als männ-
liches Machtsymbol für Staatsgewalt und Militarismus
verstandene Kreuzzeichen. Sie möchte aus dem Kreuz
Buchbesprechungen Afrika
einen Lebensbaum, das Symbol der »frohen Botschaft zu
Selbstbestimmung und Mut«, machen. Wie weit hat sich
Frau Vossen vom zentralen Anliegen biblischer Botschaft
entfernt! Vielleicht liegt es daran, daß alles sich zu sehr
um das »Selbst« dreht, daß es verpönt ist, eine Transzen-
denz ernst zu nehmen und mit ihr zu rechnen. Und genau
dorthin weist der Kurzbeitrag (nur 2'/2 Seiten!) des
katholischen Theologen Wolfgang Guttmann.
3. W. Guttmanns Kurzaufsatz »Haben Kreuz und Chri-
stentum Zukunft?« gibt seitens biblischer und kirchlicher
Theologie die einzig relevante Antwort: nicht ein irgend-
wie geartetes Kreuz eröffnet Zukunftsperspektiven son-
dern einzig der Mann am Kreuz. Von dieser Person
her erhält der Christ Zuversicht, Hoffnung und Freude
(S.81 /82: »solange ... Jesus im Boot der Glaubenden
mitfährt, ... wird das Boot zwar nicht von den Stürmen
der Zeit verschont bleiben, aber auch erst recht nicht
kentern ... Mt 28, 20«),
4. Bleiben noch die verschiedenen Beiträge des pro-
testantischen Theologen Pastor Alexander Röder
(Flauptaufsatz: »Das Kreuz als Symbol des christlichen
Abendlandes«, Seite 17-36). In gebotener Kürze und
einschlägiger Sachkenntnis gibt Pastor Röder einen Ab-
riß der Rolle des Kreuzes in Kirchengeschichte und
Geschichte von Paulus bis zum umstrittenen Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes 1995 über - besser: - eine
mögliche Entfernung der »Kruzifixe und Kreuze« aus
Schulklassen. Leider wird in diesem Aufsatz das Element
eines >heilsnotwendigen< Blutopfers (so vielfach in der
Ethnologie, aber auch biblisch-zentral aufgrund von
Jesaja 53: 5, 10-12) mit keinem Wort erwähnt bzw. ihm
der gebührende Platz eingeräumt. Wäre Pastor Röder
weniger an bestimmte Richtungen deutscher liberaler
Universitätstheologie gebunden, hätte er auf die Linie
Pfarrer W. Guttmanns einschwenken müssen. Pastor Rö-
ders Interpretation ist so nur für einen kleinen Teil der
Weltchristenheit repräsentativ.
Das Büchlein erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständig-
keit und erschöpfende Darstellung von Verbreitung und
Interpretation des Kreuzeskomplexes. Als ausführliche
Einführung in diesen Komplex, erklärender Katalog zur
Hamburger Ausstellung und einschlägige Zusammen-
fassung der wichtigsten Probleme dieses Komplexes im
nördlichen Deutschland der 90er Jahre ist es hilfreich
und gibt dem interessierten Laien sowie dem kritischen
Fachmann einen brauchbaren Überblick in die Hand.
Martin Baier
Ahr, Christina:
Fruchtbarkeit und Respekt. Filmethnologi-
sche Untersuchung eines Geschlechterkon-
flikts um ein Ritual bei den Maasai, Arbeiten
aus dem Mainzer Institut für Ethnologie
und Afrika-Studien. Mainz: Edition Re,
1991. 196 Seiten.
ISBN 3-927636-23-1.
»Die Methoden der Filmanalyse ermöglichen es heute ...,
jeglichen Film wissenschaftlich zu untersuchen und nicht
uur inhaltliche, sondern vor allem auch erkenntnistheo-
retische Fragestellungen zu bearbeiten«, schreibt Beate
Engelbrecht in dem von ihr co-editierten Buch Der eth-
nographische Film (Berlin 1995: 175). Birgit Maier stellt
in demselben Band (S. 234) fest: »Ein bestimmtes erprob-
tes Filmanalyse-Verfahren, diese Konstruktionsweisen
(gemeint ist die >Rede< über die filmische Realität, G. K.)
im Dokumentarfilm zu erfassen und zu offenbaren, liegt
uns bisher (noch) nicht vor. Meines Erachtens sind hier
... hermeneutische Verfahren der werkbezogenen, werk-
immanenten und sinnverstehenden Interpretation und
Deutung (...) unter Anwendung eines strukturanalyti-
schen Instrumentariums (Segmentierung und Analyse
von filmischen Strukturen) am produktivsten.« Birgit
Maier kannte offenbar das Buch von Christina Ahr nicht,
als sie ihren Beitrag schrieb. Denn Ahr hat genau das von
Maier vorgeschlagene Verfahren bei der Analyse von
Melissa Llewely-Davies Film The Women ’s Olarnal. The
Organisation for a Maasai Fertility Ceremony (BBC
1984, 113 min) angewandt; Grund genug, diese bereits
1989 als Magisterarbeit abgeschlossene und 1991 veröf-
fentlichte Arbeit so spät nach ihrem Erscheinen noch
zu besprechen.
In dem im Sinne des seit Ende der siebziger Jahre gefor-
derten »observational approach« (Mac Dougall) realisier-
ten Film wird die Vorbereitung eines wichtigen Frucht-
barkeitsrituals durch Frauendelegationen (den olarnal)
sowie der Verlauf eines in dieser Phase ausbrechenden
Interessenkonflikts zwischen den dafür verantwortlichen
Männern einer Altersklasse und den davon betroffenen
Frauen dokumentiert. Bis zur Lösung des Konflikts
bleibt die Durchführung des Rituals in Frage gestellt. Der
zweite (kürzere) Teil des Films zeigt die Durchführung
dieser bedeutenden, in der Fachliteratur bisher nicht
dokumentierten kollektiven Segnungszeremonie für die
Frauen einer ganzen Maasai-Sektion (Loita).
Diesen Film fand die Autorin »besonders geeignet, Dis-
krepanzen zwischen gesellschaftlichen Normen und so-
zialer Praxis nachzuspüren« (8). Sie war von der »bewuß-
ten Wahl eines subjektiven Zugangs« der Filmautorin
»fasziniert« (ebenda) und erlebte »einen Prozeß des
>Sehen-Lernens<« (9). Eine Selbsterfahrung der Film- und
der Buchautorin also? Was kann Ahr der Leserschaft
darüber hinaus vermitteln?
Zu Beginn der Studie stand der Versuch herauszufinden,
wie und warum die Frauen gegen den Widerstand der
verantwortlichen Männer die Durchführung ihres Frucht-
barkeitsrituals erreichten, obwohl sie ihren eigenen Aus-
sagen über die Rolle der Frauen sowie auch der in
der Fachliteratur vorherrschenden Darstellung der patri-
archalischen Gesellschaftsstruktur zufolge weitgehend
machtlos erscheinen. Die Filmanalyse führte zu der Ein-
sicht, daß hier nicht ein unbedeutender Zwischenfall,
sondern ein grundlegendes Konfliktpotential der Maasai-
Gesellschaft sichtbar gemacht wird. Ahr kommt zu Aus-
sagen über die im Film gezeigten Frauen, wie z. B.: »Die
Frauen sind nicht primär an einer Demonstration ihrer
Macht und deren Anwendung gegen die Männer interes-
siert« (94). Oder: »Die Frauen mißtrauen daher nicht
unbegründet den Behauptungen der Männer...« (83).
Ahr behandelt also den Film als ethnographische Quelle.
Sie hatte feststellen müssen, daß »empirische Interpre-
tationsarbeit an ethnographischen Filmen mit ethnolo-
gischem Erkenntnisinteresse ... bisher - jenseits ihrer
vorwiegend illustrativen Verwendung im akademischen
Bereich - kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersu-
chungen« war (8). An der ethnographischen Literatur
TRIBUS 46, 1997
(vor allem der älteren) kritisiert sie, daß diese mit ihrem
Anliegen, »Gesellschaften in ihren Strukturen und sozia-
len Mechanismen als Ganzes möglichst systematisch und
eindeutig zu erfassen und darzustellen, ... die Sicht auf
die Widersprüchlichkeiten und die Dynamik empirischer
Situationen« verstellt (12). »Wenn die Geschlechterbezie-
hungen thematisiert werden«, so führt sie aus, »erschei-
nen sie in der Regel als statisch, und die Dominanz der
Männer wird unhinterfragt als Status Quo beschrieben«
(ebenda). Nicht so im Film. »Im Unterschied zu einem
reinen Literaturstudium ermöglicht die teilnehmende
Kamera< ... einen direkten und anschaulichen, wenn auch
nicht unmittelbaren, Zugang zur empirischen Situation«
(ebenda). Ahrs Schlußfolgerung aus ihrer Filmstudie
geht so weit: »Das Thema meiner Arbeit und die sich
daraus entwickelnden Fragen hätten in dieser Form ohne
den ethnographischen Film The Women’s Olamal nicht
gestellt werden können - es sei denn durch eigene Feld-
forschung« (107).
Wenn Maier (239) kritisiert, daß in den wenigen ethno-
graphischen Filmanalysen gewöhnlich die jeweilige eth-
nographische Literatur als »Meßlatte« wie eine »verläß-
liche Quelle von Fakten ... zur Verifizierung oder
Falsifizierung der Informationen und Aussagen des Films
... vergleichend herangezogen werden«, dann verdeut-
licht Ahr (8), daß eine Literaturstudie nicht dem Authen-
tizitätsnachweis des Filmes dient, sondern daß sich die
Beantwortung inhaltlicher Fragen (hier nach den Ge-
schlechterverhältnissen der Maasai) aus beiden Medien,
nämlich der Fachliteratur und dem Film, mit ihren ver-
schiedenen Zugangsweisen und ihren spezifischen Qua-
litäten als Informationsquellen speisen können und (wo
möglich) sollten. Die den Film durchziehenden Inter-
views mit vier Frauen, die »einen Ausblick auf kom-
mende Sequenzen geben oder aber vorangegangene
Handlungen erläutern« (63), liefern »wertvolle Informa-
tionen über den situativen und gesellschaftlichen Kontext
der einzelnen Ereignisse und ermöglichen es uns, diese
aus der Sicht der Betroffenen wahrzunehmen« (ebenda).
Durch die Feinanalyse der Gespräche im Film wird
herausgearbeitet, wie der Interessenkonflikt zwischen
den Geschlechtern auch Konfliktpotentiale sowohl unter
den Männern (84f.) als auch unter den Frauen (82, 109)
sichtbar werden läßt.
Wesentlicher Bestandteil des Buches ist der Anhang
bestehend aus ausgewählten Interviewpassagen, einer
Sequenzgraphik und einem 49 Seiten umfassenden Film-
transkript in Form eines Einstellungsprotokolls über die
ersten 68 Minuten des Films. Im Unterschied zu einem
Drehbuch ist ein Filmprotokoll als »Arbeitsmittel nach
dem Film« erstellt worden, was »einen komplizierten
>Übersetzungsprozeß< vom bewegten Bild in geschrie-
benes Wort«, also eine »modellhafte Darstellung« er-
forderte (Anhang II). Da »im Vergleich zum Text ... ein
Film nicht so einfach präsent, schwieriger einsehbar und
ungleich komplexer in seiner >Sprache< und Aussage« ist
(ebenda), ist die Filmanalyse »auf die schriftliche Fixie-
rung des Films angewiesen, um ihn ... kommunizierbar
zu machen« (ebenda). Wenn die Autorin auch bestrebt
war. »das, was der Film zeigt, möglichst genau und sach-
lich zu dokumentieren«, so räumt sie doch ein, daß »ein
Filmprotokoll ... unvermeidlich auch eine Filminter-
pretation, die - nicht zuletzt im Hinblick auf die Fra-
gestellungen und des Erkenntnisinteresses der jeweiligen
Rezipienten - reduzieren muß« (ebenda). Das Protokoll
besteht aus einer tabellarischen Anordnung einerseits
der Bilder mit der Unterteilung in Sequenzbezeichnung,
Zeitanzeige, Einstellungsgröße sowie Kameraeinstel-
lungsperspektive und andererseits des Tons. In dieser
Spalte wird der gesamte Dialog wiedergegeben, wodurch
das Filmgeschehen nachvollziehbar wird. Die Sequenz-
graphik gibt mit graphischen Mitteln, etwa einer farbigen
Markierung, einen Überblick über Aufbau und Montage
des Films und dokumentiert, wie der Film dramaturgisch
konstruiert und strukturiert ist.
Ahr weist darauf hin, daß mit ihrer Arbeit aufgrund des
inhaltlich und formal (M. A.-Arbeit) eingegrenzten Rah-
mens die Forschungsmöglichkeiten an diesem Film bei
weitem nicht erschöpft sind: »Das vorliegende Filmpro-
tokoll enthält eine Fülle von Informationen, die im Rah-
men dieser Arbeit nicht ausgewertet wurden.« Sie würde
wünschen, »daß es als Arbeitsmittel für weitere Analyse-
und Interpretatitonsarbeit verwendet wird« (Anhang III).
So ist dieses Buch eine Anregung, die Konstruktion,
Erzählweise und Filminhalte ethnographischer Doku-
mentarfilme im Hinblick auf die Fähigkeit, eine fundierte
Einsicht in die porträtierte Gesellschaft zu ermöglichen,
kritisch zu untersuchen. Ihr Beispiel ist ein beachtens-
werter Schritt in diese Richtung.
Godula Kosack
Ege, Svein:
Class, State and Power in Africa. A case
study of the Kingdom of Shäwa (Ethiopia)
about 1840. (Aethiopistische Forschungen.
46.) Wiesbaden: Harrassowitz, 1996. XII,
267 Seiten, 9 Karten, 14 Diagramme, 15 Ta-
bellen.
ISBN 3-447-03770-9.
Die Wahl des Haupttitels für das vorliegende Buch und
die aus den bibliographischen Angaben hervorgehen-
de formal-methodische Ausarbeitung kennzeichnen das
Werk; auch des Autors in der Bibliographie (S. 252)
angeführte weitere Veröffentlichung »Fpydalstat og klas-
semakt i Europa og Afrika« in »Studier i historisk
metode« weisen ihn als methodisch arbeitenden Histori-
ker mit einem generellen Konzept und allgemeiner Fra-
gestellung aus, der diese in einer Fallstudie durchführt
und erprobt. Die überarbeitete Bergener Dissertation von
1978 (Literatur bis etwa 1984 wird in der Bibliographie
aufgeführt) füllt eine merkliche Lücke in der Forschung.
Schoa war nach Aksum, dann Lasta unter den Zagwe-
Königen, für vier Jahrhunderte (13. - 16. Jh.) die Zentral-
region des äthiopischen Reiches unter den Salomoniden.
Gebrandschatzt in der islamischen Invasion unter Ahmad
Gran (Mitte 16. Jh.), kaum wieder konsolidiert in den
wenigen Jahrzehnten danach geht es faktisch durch die
Völkerwanderung der Oromos bis auf Inseln dem christ-
lichen Reich und den Amharen verloren. Erst mit Anfang
des 18. Jh. kristallisierte sich am Ostrand des Plateaus
ein Fürstentum heraus, das durch begabte Herrscher
und Glück der Umstände territoriale Expansion verwirk-
lichte, fremde Völker (wie die Oromo) entweder vertrieb
oder eingliederte, letztlich nach Tewodros II. (als Erbe
des Gondarreichs) und Yohannes IV. (als Versuch einer
Buchbesprechungen Afrika
Restauration der Zentrale im Norden) mit Menilek II.
Schoa wieder zum Kern des (seither auch wieder der Ver-
gangenheit angehörenden) äthiopischen Zentralstaats
macht.
Die Zeit um 1840 ist mit dem selbsternannten König
Sahlä-Sellase die erste Periode des Versuchs der Auto-
nomie. Wegen der Suche selbständiger Verbindungen zu
Staaten der Außenwelt besuchten relativ viele europäische
Reisende in verschiedenen Missionen das Land. Deren
Berichte sind Eges wichtigste Quellen, die er souverän
und geschickt mit Berücksichtigung der Idiosynkrasien
der jeweiligen Autoren auswertet. Bemerkenswerterweise
sind ihnen äthiopische Quellen, etwa die dynastische Ge-
schichtsschreibung unter Menilek, nachgeordnet, wenn
auch die Arbeiten etwa eines Mahtämä-Sellase Wäldä-
Mäsqäl den begrifflichen Schlüssel zum Verständnis des
traditionellen äthiopischen Landrechts liefern.
Nach drei einleitenden Abschnitten über Methode und
Begriffsdefinitionen, geschichtlichem Abriß und Human-
geographie, handelt der Autor gründlich den bäuerlichen
Haushalt in der Gemeinde bei den Amharen und den
Oromos in seinen charakteristischen Unterschieden ab.
Es folgt, am Beispiel des königlichen Hofes, in manchem
auf die Unterzentren der Provinzgouverneure und die
weitere Hierarchie etc. zu übertragen, die Darstellung
der Zentrale politischer Macht mit ihren Instrumenten:
Methoden der Abschöpfung der über die zur Erhaltung
dienenden wirtschaftlichen Ressourcen, Monopolisie-
rung von (anspruchvollerem) Handwerk und Handel,
Organisation der Reichsteile und der Armee. Charakteri-
stisch für die schoanische Hierarchie waren die zahlrei-
chen Durchbrechungen der vertikalen Pyramide, sei es,
daß auch höherstehende Einheiten sich direkt aus Teilen
der Basis versorgten, sei es, daß höhere Ebenen direkt
in Verhältnisse der Basis eingriffen. An solchen Be-
rührungspunkten und Scharnieren läßt sich zeigen, daß
mental in wichtigen Wertevorstellungen »oben« und
»unten« kaum unterschieden waren, zumindest im Ein-
zelfall Durchlässigkeit und Mobilität ermöglichten.
Sinnfälliger Ausdruck der Effizienz dieses Staates war
das Heer, das in allen Nachbarn überlegener Zahl aus
»Standessoldaten« aber v. a. bäuerlichem Aufgebot auf-
gestellt wurde. Die Zeiten der regelmäßigen Feldzüge
waren genau auf den jahreszeitlichen Rhythmus der bäu-
erlichen Produktion abgestellt, nutzten zugleich Zeiten
der Schwäche des Hauptgegners, der Oromo, aus, die
wegen der o. a. strukturellen Unterschiede der beiden
Völker einen verschiedenen »Kalender« aufwiesen.
Das vom Autor erarbeitete klare Bild der schoanischen
»Reconquista« oder Binnenkolonisation - ganz wie die
historische Perspektive gewählt wird - fordert zu Ver-
gleichen mit analogen Vorgängen in den afrikanischen
Kolonialstaaten der Zeit, aber auch weiter entfernt mit
der russischen Expansion heraus. Hier wäre es eine reiz-
volle Aufgabe, neben evident gleicher Politik und Vorge-
hen (etwa Gewinnung einer kollaborationsbereiten Elite
bei den Unterworfenen, Einführung neuen Rechts etc.)
doch die Spezifika des äthiopischen Falls herauszuarbei-
ten; und hier wäre wohl v. a. der mentale, missionarische
»reconquista« - Faktor zu nennen.
Neben der genauen Analyse des wirtschaftlichen Faktors,
die dem Buch zugrunde liegt, kommt doch die nicht-
materielle Struktur von Gesellschaft und Staat zu kurz.
Dies wird deutlich im knappen Kapitel »The Christian
king« und etwa einer Feststellung »King and church wor-
ked together, but they represented more or less separate
spheres«. Wenn der Autor an anderer Stelle herausar-
beitet, daß Staat und Gesellschaft weniger durch eine
Infrastruktur denn durch persönliche Bindungen zusam-
mengehalten wurde (vgl. den Personenverbandsstaat der
Mediävisten), dann ist zu fragen, ob die materiellen Ele-
mente solcher Bindungen nicht durch ein ebenso ausge-
arbeitetes und kompliziertes Geflecht mentaler Fäden
ergänzt wurden, ja für ihr Funktionieren genauso wichtig
waren wie die ersteren (vgl. Eges Bemerkungen dazu
S. 195). Dabei spielten die religiösen Vorstellungen sicher
eine große Rolle, und der oben zitierte Satz des Autors
erweist sich eher als Verzerrung der Perspektive eines in
säkularisierter Kultur und Wissenschaft wurzelnden For-
schers denn als Beschreibung der historischen Wirklich-
keit. Die Könige von Schoa nahmen regen Anteil an den
kirchlichen Ereignissen und Streitigkeiten in (Gesamt-)
Äthiopien; die missionarische Komponente in der Aus-
dehnung des schoanischen Staates, die wirtschaftliche
Bedeutung von Kirchen und Klöstern und deren Neu-
gründungen in der territorialen Ausdehnung wären zu
untersuchen etc. Bei dem Mönch Bahrey (vgl. Bibliogra-
phie S. 236 Historia gentis Galla), seinem äthiopischen
wissenschaftlichen Vorgänger in der Soziologie Äthio-
piens, hätte der Autor zudem die Einbeziehung des Kle-
rus in das Geflecht von Klasse und Status und dessen
wirtschaftliche Bedeutung übernehmen können.
Das große Interesse der Studie liegt in dem Faktum be-
gründet, daß das aufsteigende Königreich von Schoa
Mitte des 19. Jh. strukturell durchaus gleichzusetzen ist
mit äthiopischen Reichen früherer Jahrhunderte. Neben
den gleichbleibenden Faktoren der »histoire de longue
durée« (»Geographie, Ethnien, Kultur«) sind der Wandel
der technischen Infrastruktur bis auf Weniges, aber quan-
titätsmäßig nicht Ausschlaggebendes, fast zu vernachläs-
sigen, bzw. erlauben die Ergebnisse Extrapolationen auf
Verhältnisse früherer Zeit. Wo diese Extrapolationen
nachzuprüfen sind - etwa an Texten der mittelalterlichen
Hof- und Bankettordnung -, verblüfft die Deckungs-
gleichheit. Die von Ege herausgearbeitete Struktur von
Staat und Gesellschaft Schoas um 1840 wird dem Erfor-
scher der Geschichte Äthiopiens früherer Zeit von großer
Anregung und Hilfe sein. Zugleich kann Rez. sich vor-
stellen, daß im hermeneutischen Zirkel künftige Ergeb-
nisse solcher Forschungen besonders die vom Autor
zugrunde gelegten Konzepte von »Klasse« und »Status«
und deren Interaktion in einer traditionellen äthiopischen
Gesellschaft und deren Staat in manchem zu ergänzen
und zu korrigieren vermögen.
Zusammenfassend: Ein vorzügliches Buch, das dem
Historiker allgemein mit großem Gewinn Fakten über
einen historischen Einzelfall bietet; der Historiker Äthio-
piens bis zum 20. Jh. findet ein wichtiges Arbeitsinstru-
ment, das er auf vielfältige Weise einsetzen kann und
muß.
Manfred Kropp
203
TRIBUS 46, 1997
Fuest, Veronika;
»A job, a shop, and loving business«. Le-
bensweisen gebildeter Frauen in Liberia. In:
Göttinger Studien zur Ethnologie, Band 1.
Hrsg.; Institut für Völkerkunde der Univer-
sität Göttingen. Münster/Hamburg; Lit-Ver-
lag, 1996. 244 Seiten, 2 Karten.
Neuere ethnologische Forschungen zum Wandel afrika-
nischer Gesellschaften befassen sich auf ganz unter-
schiedlichen Ebenen mit den komplexen Ursachen und
Folgen des Aufbrechens traditioneller gesellschaftlicher
Organisationsformen. Hierbei wird der sozio-ökonomi-
schen bzw. kulturellen Bedeutung der formalen Bildung
große Beachtung gezollt. Lange Zeit galt der Schulab-
schluß als Sprungbrett in den formellen Sektor mit lang-
fristig existenzsichernden Berufs- und Einkommensmög-
lichkeiten. Daher sahen Eltern die Schulausbildung ihrer
Kinder als Investition in die eigene Altersversorgung.
Wegen der wirtschaftlichen Rezession erweist sich je-
doch die Hoffnung auf die soziale Sicherung durch for-
male Bildung in vielen afrikanischen Ländern zuneh-
mend als Illusion.
Die Literatur zur Bildungsproblematik in Afrika argu-
mentiert vor allem auf der Makroebene und hebt dabei
die Dysfunktionalität der vermittelten Kenntnisse hervor,
indem sie den unzureichenden Praxisbezug der Unter-
richtsinhalte kritisiert. In vergleichbarer Weise diskutie-
ren Studien zur Bildungssituation von Frauen, inwieweit
Schulbildung grundsätzlich zur Situationsverbesserung
oder Emanzipation der Frauen beitragen kann. Im Unter-
schied zu diesen Herangehensweisen richtet sich der
Blick von Veronika Fuest auf die Mikroebene. Ihr Inter-
esse gilt den Lebensweisen und Alltagsstrategien ge-
bildeter Frauen in den Städten des liberianischen Bin-
nenlandes. Dabei gelingt es der Autorin in überzeugender
Weise, die facettenreiche Lebenswelt der Frauen zu ver-
anschaulichen und ihre Handlungsrationalität vor dem
Hintergrund der ökonomischen, historischen und kultu-
rellen Rahmenbedingungen zu reflektieren. Die Ergeb-
nisse der nun veröffentlichten Dissertation basieren auf
einer mehrjährigen Feldforschung Mitte der 80er Jahre
sowie auf einer sehr detaillierten Literaturauswertung.
Aus ganz unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven
nähert sich die Autorin ihrem Untersuchungsschwer-
punkt an, indem sie wichtige ethnologische Arbeiten zur
Stadtethnologie in Westafrika sowie zur Frauen- und Bil-
dungsforschung diskutiert. Vor diesem breit angelegten
Hintergrund reflektiert sie ihre eigenen Untersuchungs-
ergebnisse; diese Herangehensweise verdeutlicht die
Multidimensionalität des Themas und erleichtert die Ein-
ordnung in einen weitergefaßten Rahmen.
Durchgängig vertritt die Autorin einen handlungstheo-
retischen Ansatz, indem sie darlegt, inwieweit die gebil-
deten Frauen die innergesellschaftlichen Machtbeziehun-
gen aktiv mitgestalten können. Dabei widmet sie sich
insbesondere der Prozeßhaftigkeit der Interaktionen, um
der Flexibilität der heutigen, meist weiblich geleiteten
Haushaltsformen und der sozialen Beziehungen gerecht
zu werden.
In diesem Zusammenhang ist die formale Bildung kei-
neswegs nur eine positiv oder negativ besetzte Variable
im sehr dynamischen Statussystem, sondern eine Res-
source, die die Frauen strategisch und äußerst flexibel
nutzen. Auch wenn die Unterrichtsinhalte dysfunktional
sein mögen, sind, so die These dieser Arbeit, die sozialen
und kulturellen Funktionen der Bildung von um so größe-
rer Bedeutung. Durch die unterschiedlichen Interaktions-
ebenen an den Schulen lernen die jungen Frauen, eigene
Strategien zu entwickeln, um in weitreichende Klientel-
beziehungen integriert zu werden. Konkret heißt das
etwa, Liebschaften mit Lehrern einzugehen, von denen
sie finanzielle Unterstützung fordern.
Folglich betrachten die Liberianerinnen ihre Schulbil-
dung und das Berufsleben vornehmlich zweckrational,
nämlich zum Erlernen von Manipulationsmöglichkeiten
in den Geschlechterbeziehungen sowie im gesellschaft-
lichen Kräftespiel. Die Autorin kann nachweisen, wie
die Schulbildung zur Erweiterung von Handlungsspiel-
räumen beiträgt, welche Frauen ohne Schulbildung ver-
schlossen bleiben.
Aufgrund der wirtschaftlichen Rezession sind im formel-
len Sektor kaum noch Beschäftigungsmöglichkeiten zu
finden, daher bauen sich die gebildeten Frauen alter-
native Einkommensmöglichkeiten auf, z. B. in Form von
Kleinhandel und der situationsspezifischen Mobilisie-
rung unterschiedlicher sozialer Netzwerke.
Zudem bieten die sogenannten Prestigestrategien, wie die
Investition in westliche Kleidung und Statussymbole
weitere Möglichkeiten zur Existenzsicherung. Im »lov-
ing business« pflegen die Frauen nicht nur sexuelle
Beziehungen zu möglichst wohlhabenden und einfluß-
reichen Männern, sondern bieten ihnen auch häusliche
Dienstleistungen und emotionale Nähe. Da es für den
Status gebildeter Männer im städtischen Milieu notwen-
dig ist, mit einer möglichst gebildeten und gut gekleide-
ten Freundin oder Ehefrau in der Öffentlichkeit aufzu-
treten, kommt den Frauen hier ihre Schulbildung sehr
zugute. Die Differenzen zwischen den Frauen, die durch
die Konkurrenz um die immer knapper werdenden öko-
nomischen Ressourcen entstehen, werden von der Auto-
rin ebenso berücksichtigt wie die Möglichkeiten und
Grenzen zur Konfliktbewältigung.
Auf der Ebene des Wertewandels veranschaulicht die
vorliegende Analyse im Detail, wie die gebildeten Frauen
in den Städten des liberianischen Binnenlandes zwischen
traditionellen und modernen Normensystemen wechseln.
Gemäß ihrer spezifischen Lebenssituation interpretieren
sie ihr Verhalten entlang des Kontinuums unterschied-
licher »Zivilisationsgrade«, wobei sie auf eine Vielzahl
von sozialen und kulturellen Bindungen zurückgreifen
können.
Zusammenfassend sei unterstrichen, daß diese Arbeit
exemplarisch den Blick auf sozio-ökonomische und kul-
turelle Dimensionen der Bildung in Westafrika legt, die in
der sonstigen Literatur unbeachtet bleiben. Mit ihrer hand-
lungstheoretisch begründeten Analyse gewährt die Auto-
rin einen Einblick in die Lebenswelt gebildeter Frauen, die
unter Beachtung von Begrenzungen und Konflikten als
Gestalterinnen ihres Lebens vorgestellt werden.
Rita Schäfer
Buchbesprechungen Afrika
Hahn, Hans Peter:
Die materielle Kultur der Konkomba, Kabye
und Lamba in Nord-Togo. Ein regionaler
Kulturvergleich. Westafrikanische Studien,
Bd. 14. Köln; Koppe, 1996. XII + 432 Seiten,
145 Abbildungen, 6 Karten, zahlreiche Ta-
bellen, Glossar.
ISBN 3-89645-101-4
Der Verfasser ist bereits durch seine früheren Arbeiten
»Die materielle Kultur der Bassar (Nord-Togo)« (Stuttgart
1991) und »Eisentechniken in Nord-Togo« (Münster
u. Hamburg 1993) sowie durch mehrere Aufsätze be-
kannt. Die jetzt vorliegende vergleichende Studie, die Dis-
sertation von Hans Peter Hahn, ist das Ergebnis mehrerer
Feldforschungsaufenthalte, die zusammen über ein Jahr
dauerten. Die Arbeit ist mit den beiden erwähnten frü-
heren Veröffentlichungen eng verknüpft, die bei der Aus-
wertung im vergleichenden Teil herangezogen werden.
Einleitend werden unterschiedliche Aspekte materieller
Kultur diskutiert, ihre Stellung im Funktionalismus, ihre
Bedeutung für Kulturökologie, Technologie, Archäolo-
gie, Semiotik, kulturhistorische Ethnologie und Sprache,
ferner Methodik und Ziel des Vergleichs sowie der regio-
nale Kontext.
Im Hauptteil wird die materielle Kultur der Konkomba,
Kabye und Lamba in gesonderten Kapiteln vorgestellt.
In jedem Kapitel wird zunächst die betreffende ethnische
Gruppe und ihr Lebensraum vorgestellt. Dann folgt die
Darstellung der materiellen Kultur in acht Abschnitten,
die teils von der Funktion und teils von den Materialka-
tegorien und den Herstellungstechniken ausgehen: Sied-
lung und Gehöft, Keramik und Töpferei, Gegenstände
aus Holz und Kalebassen, Körbe und Matten, Gegenstän-
de aus Eisen, Bekleidung, Musikinstrumente und Feld-
bau. Dies ist eine einleuchtende Gliederung. Viele, aber
nicht alle Gegenstände werden abgebildet. Vor allem in
Fußnoten wird auf frühere Veröffentlichungen verwiesen,
wo immer das möglich war. Aus methodischen Gründen
wurde auf Vollständigkeit des materiellen Kulturinven-
tars der drei Gruppen verzichtet.
Eine ausführliche vergleichende Betrachtung, die auf
einer tabellarischen Darstellung basiert, schlüsselt die
gewonnenen Daten auf. Dabei wird auch auf fehlende,
importierte und identische Elemente der materiellen Kul-
tur verzichtet. Hahns Aufschlüsselung kann als Vorbild
für ähnliche Arbeiten dienen. In diesem Teil der Unter-
suchung wird auch das zuvor veröffentlichte Material
von den Bassar herangezogen. Gerade für den Vergleich
ist dies m. E. unverzichtbar gewesen, denn hier arbeitet
Hahn die regionalspezifischen Unterschiede heraus. Ein
wichtiges Ergebnis ist, »daß es trotz der geringen geogra-
phischen Ausbreitung des beschriebenen Gebietes eine
erhebliche regionale Differenzierung der Gegenstände
bestimmter ethnischer Gruppen gibt. Mehr als ein Drittel
der beschriebenen Vergleichselemente (98 Items) sind
überall verschieden und belegen so die ethnischen Unter-
schiede.« Die größten Gemeinsamkeiten gibt es zwischen
Kabye und Lamba einerseits und Konkomba und Bassar
andererseits. Die geringsten Ähnlichkeiten bestehen zwi-
schen Konkomba und Lamba, Konkomba und Kabye
sowie zwischen Bassar und Lamba (S. 361). Hahn macht
auf die unterschiedliche regionale Differenzierung der
einzelnen Bereiche der materiellen Kultur aufmerksam.
die er »in erster Linie als Ausdruck eines ständig fort-
laufenden Prozesses der Herausbildung von Symbolen
ethnischer Identität« ansieht (S.362). Er erinnert ferner
daran, daß bestimmte Dinge überall von Händlern erwor-
ben werden, wie Kleidung, Schmuckstücke, Lederamu-
lette und Medizinpulver.
Abschließend diskutiert der Verfasser nochmals die Ver-
bindungen der materiellen Kultur zu Kulturökologie,
Technologie, ethnischer Identität und Semiotik. Beson-
dere Aufmerksamkeit richtet er auf die Bedeutung der
materiellen Kultur für die Kulturgeschichte. Hier kommt
er zu dem Schluß, »daß die materielle Kultur ... zur
Kenntnis regionaler Kulturgeschichte beiträgt. Als allei-
nige Quelle ermöglicht auch die Gesamtdarstellung
materieller Kultur keine präzisen historischen Aussagen.
Vielmehr sind die Ergebnisse der Dokumentation nur als
zusätzlicher Beleg zu werten.«
Ein paar Kleinigkeiten, die mir auffielen, seien hier an-
gemerkt: Graebners Formkriterium ist m. E. nicht nur
auf Objekte anzuwenden, wie der Verfasser (S. 17) offen-
bar meint. Ich denke, daß beispielsweise Sozialstrukturen
oder auch der im Gur-Gebiet so wichtige Erdherr in sei-
nen verschiedenen Funktionen und Aspekten durchaus
mit dem Formkriterium bewertet werden können. - Die
in Anm. 61 erwähnte Arbeit von Ratzel habe ich im Lite-
raturverzeichnis nicht gefunden. - Das Untersuchungs-
gebiet liegt natürlich nicht zwischen 0°5CT und 1°50’
westlicher Länge, sondern östlicher Länge, und das Sied-
lungsgebiet der Moba reicht nicht nach Burkina Faso
hinein, sondern nach Ghana. -
Diesem Buch kann man nur eine weite Verbreitung wün-
schen. Die Aufmerksamkeit der Museumsethnologen
dürfte ihm sicher sein - und nicht nur als Nachschlage-
werk, sondern auch als Anregung für künftige verglei-
chende Studien, denn Hahn hat ein sehr brauchbares
Konzept entwickelt.
Jürgen Zwernemann
Hallier, Ulrich W.:
Felsbilder früher Jägervölker der Zentral-
Sahara. Rundköpfe - Schleifer - Gravierer -
Punzen Untersuchungen auf Grund neuerer
Felsbildfunde in der Süd-Sahara (3). Stutt-
gart: Steiner, 1995. 198 Seiten. 90 Abbildun-
gen (mit meist mehreren Untergliederungen,
überwiegend Farbfotos u. S/W-Zeichnun-
gen).
Der vorliegende Band von U. Hallier ist der dritte einer
auf insgesamt 4 Bände konzipierten Reihe. Ich habe in
diesem Jahrbuch bereits den zweiten Band besprochen
(Tribus 43, S. 184f.) und teilweise herbe Kritik geübt.
Dies ist Vergangenheit! Der 3. Band ist so aufgebaut, wie
man sich ein Buch nach gegenwärtigen didaktischen und
wissenschaftlichen Kriterien wünscht.
1. Das Äußere: Im Erscheinungsbild hat sich einiges
geändert. Waren die ersten Bände im normalen Buch-
format mit flexiblem Einband, so hat das 3. Buch ein
Breitformat und einen Hardcover-Einband. Dies tut der
Stabilität gut.
2. Das Innere: Das veränderte Format läßt einen dreispal-
tigen Satz zu - so steht beispielsweise in der einführenden
TRIBUS 46, 1997
Zusammenfassung der Text in deutsch, englisch und fran-
zösisch nebeneinander.
Der Aufbau führt generell vom Allgemeinen ins Spezielle
und führt den Leser systematisch in den Wissensstoff
hinein. Ein großer, fast durchgängig farbig bebilderter
Teil verleitet zum Blättern und betrachtenden Verweilen,
was dem Thema des Buches auch entspricht.
3. Im Detail: In einer knappen Einführung erfährt der
Leser das Wesentliche über den geographischen Raum
und die Besiedelungsgeschichte. Hierbei wird das Blick-
feld nicht eng auf Nordafrika begrenzt, sondern bis Ost-
afrika erweitert. Nach zügigem Durchgang liegt dann das
Schwergewicht beim (autochthonen) Neolithikum der
Sahara, also der Epoche, in der die Felsbilder entstanden
sein müssen. In Beziehung mit der Klimaentwicklung
wird die Besiedelung der Sahara nach gegenwärtigen
Kenntnissen geschildert und dann erst die Entwicklung
der Felsbilder (Oberer Nil, Zentral-Sahara, nördlicher
Atlas). Es werden einige Blicke auf die mögliche vordy-
nastische Besiedelung Ägyptens von Westen her, aus der
Sahara, geworfen.
Nach diesem langen Vorspann erfolgt dann die Einleitung
ins eigentliche Thema (S. 27). Hier wird ausführlich auf
die beiden vorausgegangenen Bände reflektiert und diese
werden kurz mit allen ihren Eigenheiten erläutert. Es wird
auch nachvollziehbar begründet, warum welche Bilder
ausgewählt wurden, wie die Numerierungszusaramen-
hänge zu sehen sind und warum auf präzise Ortsangaben
verzichtet wurde (Hinweis, daß Fachkollegen diese In-
formationen zur Verfügung gestellt werden). Die verwen-
deten Hilfsmaßstäbe (z.B. Thermometerhülse, Kugel-
schreiber) werden genau definiert. Alle vom Rezensenten
für den älteren 2. Band angemerkten Mängel sind hier
sichtbar und wohltuend vermieden.
Die Felsbilddarstellungen ordnet Halber nun in vier
große Gruppen, l.Die »Rundköpfe«, 2. die »Schleifer«,
3.die »Gravierer«, 4. die »Punzer«. Für die älteste Peri-
ode gibt Halber überzeugende Beweise der Gleichzeitig-
keit der Punzierungskunst (Abschlagstechnik) und der
Malerei an und verweist gleichzeitig auf den noch nicht
erschienenen Folgeband (S. 34).
Von der Darstebungstechnik im Buch sei hier angemerkt,
daß ab hier an den Stellen, wo die Farbfotografie nicht
zum Erkennen des Bildes ausreicht, eine behutsame
Schwarz/Weiß-Umzeichnung dem Foto beigegeben wird.
Der Betrachter kann sich mit dieser Interpretationshilfe
behutsam in das Bild hineinsehen.
Die »Rundkopf«-Periode wurde in den letzten Jahren
immer besser durch Neufunde belegt und weist Darstel-
lungen mittels Punzierung (alt, voll patiniert) und Male-
rei auf.
Das seitenmäßig umfangreichste Kapitel ist den »Schlei-
fern« gewidmet, also den Menschen respektive ihren Bil-
dern, wo vermutlich vorgepunzte Muster durch Nach-
schleifen vertieft und geglättet wurden. Dies wird z.B.
durch eine als Skizze interpretierte Figur auf demselben
Stein belegt (S.94L). Dargestebt wird insgesamt über-
wiegend Großwild (Elefanten, Giraffen, Büffel), wie es
heute vor allem aus den oslafrikanischen Steppen populär
ist, daneben aber auch Menschen in Jagdszenen (Mensch
jagt Tier, aber auch umgekehrt!!).
Besonders vom Künstlerischen hat mich eine mit meh-
reren Bildern dokumentierte Szene beeindruckt, wo zwei
Jäger einer Giraffe auflauern. Dabei wurde aber das Bild
um die Kante des Steins herumgezogen, d. h. das Tier
läuft in einer (Stein-)Bildebene und die Jäger lauern um
etwa 90° versetzt um die Ecke. Dies läßt durchaus Rück-
schlüsse auf die Imaginationskraft des Künstlers zu!
Mit dem Verflachen des Felsschliffs zieht Halber die
Grenze zum »Gravieren«, wobei vermutet wird, daß die
geschliffenen Vertiefungen insgesamt Vorbereitungen für
einen Farbauftrag waren (S. 110), von dem aber heute fast
keine Spuren mehr vorhanden sind (Foto mit Farbresten
siehe S. 108). Warum sich an anderen Stellen Farbauf-
träge vollständig über Jahrtausende gehalten haben, wird
nicht diskutiert. Generell kann wohl gesagt werden, daß
in der Gravurperiode eine Tendenz zur Abstraktion und
Flüchtigkeit in der Ausgestaltung bemerkt werden kann.
Daß der Übergang vom Schliff zur Gravur (oder umge-
kehrt) fließend ist, hat Halber selbst angemerkt (S. 145),
und er faßt deshalb auch beide Perioden in einer ein-
heitlichen Gruppe zusammen. Die Technik des Punzens
umfaßt Darstellungen, die häufig der Rinderperiode
zugeordnet werden - unter dem Entwicklungsgedanken
kommt Tierzucht nach der Jagd -, nach dem hier zusam-
mengetragenen Material wurde aber in allen Epochen
gepunzt, d. h. die Steinoberfläche mit dem dunklen
>Wüstenlack< abgesplittert, so daß der hebere Untergrund
zutage tritt.
Zum Ende seiner Ausführungen versucht Halber behut-
sam eine gewisse Neuordnung der saharischen Besiede-
lungsgeschichte. Die bisherigen Chronologien gerieten
doch immer wieder in Widersprüche mit neuen Funden.
Halber ist sich durchaus bewußt, daß auch sein eigener
Ordnungsversuch Schwächen hat, weil er auf Vermutun-
gen basieren muß. Es spricht für ihn, dies kenntlich zu
machen.
Das Schlußkapitel ist einem heiklen Thema gewidmet:
»Zum Sinn der Felsbilder und zum Hintergrund ihrer
Anfertigung«. Halber konstatiert, »daß die ältesten und
die jüngsten Bilder eigentlich nur noch den Oberbegriff
>Felsbild< gemeinsam haben - Sinngehalt und geistiger
Hintergrund der Anfertigung haben sich im Laufe der
Zeit ebenso total geändert wie Technik und Stil« (S. 171).
Sie zeigen »den Wandel im Selbstverständnis des stein-
zeitlichen Menschen«, was durch die Gesamtpublikation
durchaus überzeugend belegt wird, z. B. »der Lernvor-
gang des zunehmend analytischen und synthetischen
Sehens« (S. 31).
Am Ende steht ein Teil mit >Literatur und Anmerkungen^
Hier ist alles dokumentiert, auf das sich der Autor be-
zieht. Leider sind die Literalurangaben nicht alphabetisch
geordnet, sondern jeweils in die Anmerkungen integriert.
Das ist ein echter Wermutstropfen! Der Fettdruck der
Autorennamen hilft zwar bei der Suche nach Verfasser
und Titel, aber neun dreispaltige Seiten empfinde ich
schlicht als lästig, wenn man mit dem Buch arbeiten will.
Zudem wird dieser Teil ohne Motivation durch zwei
Farbtafeln unterbrochen; der einzige Grund mag druck-
technischer Natur sein.
Als Appendix werden noch zwei Malereien mit Flußpfer-
den aus dem Tassili-n-Ajjer dokumentiert und bespro-
chen. Sie belegen durch Stil, Szene, Bildgröße ein Sta-
dium der »europäischen Jäger« vor dem 6. Jtsd. v. Chr. in
der letzten großen Feuchtzeit und die wahlweise Darstel-
lungsart als Felsmalerei oder Felsgravur je nach Gege-
benheit des Ortes (?). Es kommt einem Aufruf gleich,
wenn Halber anmahnt, daß die jetzt über 40 Jahre alten
206
Buchbesprechungen Afrika
Malereien (Kopien vor Ort gefertigt) Henri Lhotes immer
noch weitgehend unveröffentlicht im Musée de l’homme
Paris liegen. Durch die Neufunde tut sich der Verdacht
auf, daß die weltberühmten Tassilimalereien insgesamt
neu geordnet bzw. klassifiziert werden müssen.
Es wäre zu wünschen, wenn das Thema des Appendix in
einer eigenen Publikation vertieft werden könnte.
Ein Gesamturteil? Die Darstellung ist überzeugend (die
weniger erfreulichen Kleinigkeiten wurden oben er-
wähnt) und erweckt die Hoffnung, daß die Gesamtbe-
trachtung saharischer Felsbildkunst eine neue Erkennt-
nisstufe erreichen wird.
Wolfgang Creyaufmüller
Herbert, Robert K. (Hrsg.):
Not With One Mouth. Continuity and
Change in Southern African Language Stu-
dies. (African Studies, 52(2); C. M. Doke
Centenary). Johannesburg: Witwatersrand
University Press, 1994. 162 Seiten.
ISBN 1-86814-271 X
Not With One Mouth stellt - begleitet von einer Einlei-
tung des Herausgebers, einer Veröffentlichungsliste Cle-
ment Martyn Dokes und dem >Language Plan of Action
for Africa< der OAU - neun Beiträge verschiedener Auto-
ren vor, die zunächst im Juli 1993 auf einem Kongreß
an der Witwatersrand University anläßlich des >Clement
Martyn Doke Centenary< präsentiert worden waren. Der
entstandene Tagungsband Not With One Mouth verspricht
im Untertitel eine kritische Betrachtung der Sprachfor-
schung im südlichen Afrika; Continuity and Change in
Southern African Language Studies.
Tatsächlich vermittelt das Buch nur einen sehr vagen
Eindruck vom derzeitigen Stand afrikanistischer For-
schung im südlichen Afrika. Im Vordergrund steht eine
sehr weitreichende kritische Würdigung der Arbeit C. M.
Dokes in den Bantusprachen Lamba, Zulu und Shona.
Jeder Beitrag beschäftigt sich mit einem wissenschaft-
lichen Teilgebiet, in dem Doke tätig gewesen ist, und
versucht, das Verdienst Dokes im Rahmen des jeweili-
gen Untersuchungsgegenstandes darzustellen. Dabei sind
unter den stärker akademisch ausgerichteten Arbeits-
feldern vor allem Fragen der Sprachgliederung und
Sprachbeschreibung, unter den stärker angewandten Auf-
gabenfeldern Fragen der Sprachstandardisierung und
Literaturentwicklung behandelt.
Einige der Beiträge sind in wissenschaftshistorischer
Hinsicht aufschlußreich, beschränken sich allerdings auf
diesen Aspekt. Sie tragen zu einem besseren Verständnis
für die Entwicklung der Sprachforschung und -politik
im südlichen Afrika bei. Sie leisten jedoch nur indirekt
Anschluß an aktuell diskutierte Fragen der Forschung in
den süd(öst)lichen Bantusprachen. Gute Darstellungen
des Wirkens von Clement M. Doke liefern die Beiträge
von Fivaz, D.: >C. M. Doke’s Contribution to Translation
Studies<, Fortune, G.; >The Contribution of C. M. Doke to
Written Shona< und Dembetembe, N.C.: >C.M. Doke’s
Contribution to Shona Finguistic Studies<.
Zu denjenigen Beiträgen, die über die Bedeutung Dokes
hinaus in stärkerem Maße die aktuelle Diskussion afrika-
nistischer Themen weiterzuführen versuchen, zählen in
erster Finie: Van Wyk, E. B.: >A Critical Review by a
Believing Outsiders Herbert, R. K./Huffman, T. N.: >A
New Perspective on Bantu Expansion and Classification:
Linguistic and Archaeological Evidence Fifty Years
after Doke<; Gough, D. H.; >A Change of Mood; towards
a Re-analysis of the Dokean Classifications
Van Wyks Beitrag widmet sich der Frage der Wortarten-
einteilung in den Bantusprachen und infolgedessen der
orthographischen Wiedergabe. Das Problem disjunkter
vs. konjunkter Schreibweise stellt sich in der praktischen
Arbeit von Sprach- und Bildungsplanern noch heute.
Hinter der orthographischen Frage, was in Bantusprachen
getrennt bzw. zusammengeschrieben werden sollte, lautet
die wissenschaftliche Frage; Was wird von den Sprechern
als Wort wahrgenommen? Van Wyk verwirft Dokes
Modell der Wortartenklassifikation in Bantusprachen,
da es nach seiner Auffassung zu stark von praktisch-
orthographischen Gesichtspunkten determiniert ist. Doke
gelangte zu seinem Wortartenmodell aufgrund phone-
tisch-phonologischer Einheiten. Nach Auffassung van
Wyks ist dies unzulässig: "It may be possible to establish
phonetic units corresponding to conjunctively written
words, but such units could not justifiably be used as
the basis of grammatical description, just as it would be
unjustified to base grammatical analyses on phonemes,
syllables, rhythm groups or some other phonetic or pho-
nological unit” (Van Wyk 1993: 29). Feider unternimmt
van Wyk keinen Versuch, eine alternative Wortartentheo-
rie, die er fordert, vorzustellen. Dies wäre sicher auch
dann interessant, wenn man sich seiner Art von Kritik
an Doke nicht anschließt. Neben fehlenden eigenen Vor-
schlägen zu einer neuartigeren Wortartentheorie werden
leider auch andere jüngere Entwicklungen in der Bantui-
stik nicht in wünschenswertem Maße berücksichtigt.
Herbert und Huffman wenden sich in ihrem Beitrag
zur Gliederung der Bantusprachen gegen eine häufig
angenommene Klassifikation in westliche und östliche
Bantusprachen, wie sie von Guthrie im Comparative
Bantu (1967-71) angenommen und später in modifizier-
ter Form auf lexikostatistischer Grundlage vertreten
wurde (vgl. z. B. Heine, Hoff, Vossen 1977 in Möhlig,
Rottland, Heine: Zur Sprachgeschichte und Ethnohisto-
rie in Afrika-, Henrici 1973 >Numerical Classification ...<;
African Language Studies 14). Besonders die nach Heine
aus einem Osthochland-Nukleus hervorgegangenen
Sprachen bedürfen nach Herbert und Huffman einer dif-
ferenzierteren Betrachtung. Sie schlagen eine Dreiteilung
in Central Western und Northern Eastern auf der einen,
sowie dem Eastern (in einem engeren Sinne) auf der
anderen Seite vor. Die zentral-westliche Gruppe umfaßt
ungefähr Guthries Zonen H, R, K, L, M und N, die nord-
östliche Gruppe die Zonen J und F sowie Teile von E, G
und P. Die östliche Gruppe beinhaltet die Sprachen aus
Zone S, sowie Sprachen der Zonen N, E, G und P. Sie
stellt einen relativ küstennahen Gürtel aus dem nordöst-
lichsten Bantusprachraum (Swahili) bis zu den Bantu-
sprachen Südafrikas dar.
Eine Umorientierung in der Bantuklassifikation ist
begrüßenswert. Zwei methodologische Gesichtspunkte
verdienen bei Herbert und Huffman jedoch besondere
Aufmerksamkeit: die Beziehungen der Ergebnisse ver-
schiedener (Teil-)Disziplinen und die Verwendung von
Testsprachen zu Fragen genetischer Gliederung.
Archäologische und linguistische Ergebnisse werden
207
TRIBUS 46, 1997
miteinander in Verbindung gebracht, wobei die Zulässig-
keit dieser Korrelation nicht besonders kritisch betrachtet
wird. Inwiefern tatsächlich archäologische Funde mit
Migration bestimmter Gruppen in Verbindung zu bringen
sind, wirft noch immer zahlreiche Probleme auf (vgl.
Möhlig 1980: >Lehnwortforschung und Ethnohistorie<;
Paideuma 26). Dementsprechend behutsam müssen sol-
che interdisziplinären Interpretationen aussehen. Eine
ähnliche Problematik betrifft die Korrelation anthropo-
logischer Merkmale (cultural profiles) mit morphosyn-
taktischen Indizien. Eine stärkere Berücksichtigung
grammatikalischer Hinweise bei einer angestrebten gene-
tischen Klassifikation ist ausgesprochen interessant. Pro-
blematisch wird ein solches Herangehen jedoch, wenn
zum Sprachvergleich lediglich Testsprachen hinzugezo-
gen werden, die auf eine Auswahl von morphosyntakti-
schen Kriterien hin überprüft werden. Schon der Versuch
einer relativ kleinräumigen Rekonstruktion des Gramma-
tikwandels bei in Kontakt stehenden Bantusprachen wirft
oft große Probleme auf. Eine den nahezu gesamten Ban-
tusprachraum betreffende Schlußfolgerung mit geneti-
schem Anspruch würde eine nahezu lückenlose Schritt-
für-Schritt-Rekonstruktion voraussetzen. Ein Vorgehen
mit der Verwendung von Testsprachen oder als ideal
angenommenen Vertretern einer Untergruppe ist nur von
begrenzter Aussagefähigkeit. Es fragt sich im Einzelfall,
wie zwischen typologischer Distanz/Nähe und geneti-
scher Verwandtschaft unterschieden werden soll.
Gough befaßt sich mit Bedeutung Tempus, Aspekt und
Modalität für die grammatische Beschreibung von Ban-
tusprachen. Dieser Bereich ist sowohl für eine kritische
Würdigung von Dokes Beitrag zur Afrikanistik im süd-
lichen Afrika als auch für eine Stellungnahme zur aktuell
geführten Diskussion in der Bantuistik zentral. Dokes
Betrachtungsweise von Modalität hat die praktische
Arbeit an den Bantusprachen des südlichen Afrika in der
Tat nachhaltig geprägt. Wahrscheinlich handelt es sich in
der Bantuistik um den Themenbereich, in dem sich eine
südafrikanische Schule am explizitesten von anderen
afrikanistischen Ansätzen absetzt. Dies geht maßgeblich
auf Doke zurück. Einer Beschreibung des Dokeschen
Modells stellt Gough seinen eigenen Ansatz gegenüber,
der das Funktionieren von Tempus, Aspekt und Modalität
in einem sprachlichen System als in erster Linie pragma-
tisch motiviert betrachtet. Entsprechend ist sein Ansatz
diskurs- bzw. textanalytisch.
Goughs Beitrag zählt in Not With One Mouth zu denjeni-
gen, denen eine kritische Würdigung Dokes auf die inter-
essanteste Weise gelingt - indem er Dokes Modell in
Frage stellt. Dabei bietet er eine interessante Alternative,
die bisher in der Beschreibung von Bantusprachen viel
zu wenig berücksichtigt wurde. Gerade dies betont die
forschungsgeschichtliche Bedeutung von Doke mehr als
eine bloße Ehrerbietung.
Axel Fleisch
Krapp, Ludwig:
Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahre
1837-1855. Unveränderter Neudruck des im
Jahre 1858 mit der Verlagsangabe »Kornthal:
Im Selbstverlag des Verfassers, Stuttgart:
In Commission bei W. Stroh« erschienenen
Buches. Mit einer Einführung hrsg. von
Werner Raupp. (Reihe: Afrikanische Reisen
Bd. 2) Münster/Hamburg; LIT, 1995. Porträt,
20 Seiten Einf.; XII, 506 Seiten (Bd. 1), 522
Seiten (Bd. 2).
Der aus Tübingen stammende evangelische Missionar
Johann Ludwig Krapf (1810-1881) ist aus der Geschichte
der Erforschung Afrikas nicht wegzudenken. Er gilt nicht
nur als Bahnbrecher der ostafrikanischen Mission, son-
dern v. a. auch als einer der ersten großen Afrika-For-
scher. Zu Recht würdigt ihn Henzes »Enzyklopädie der
Entdecker und Erforscher der Erde« als den Eröffner
der Entschleierung Ost-Äquatorial-Afrikas«. Als solcher
hat er sich besonders durch seine geographischen und
sprachwissenschaftlichen Forschungen und ethnologi-
schen Studien hervorgetan. Die breit angelegten Schilde-
rungen seiner 1858 in 2 Bänden erschienenen »Reisen in
Ostafrika«, die Krapf nach Äthiopien und v. a. ins heutige
Kenia und Tansania führten, stellen schon längst einen
Klassiker der Afrika-Literatur dar, der auch mehrere
Übersetzungen ins Englische und in Suaheli erlebte. So
ist es zu begrüßen, daß der Historiker Werner Raupp und
der LIT Verlag dieses wichtige Werk neu zugänglich
gemacht haben.
Dem traditionsreichen württembergischen Pietismus ent-
stammend (Bd. I, S.3-24), trat Krapf in den Dienst der
anglikanischen Church Missionary Society, die ihn 1837
zunächst nach Äthiopien aussandte (S. 25-195). 1844
wandte er sich nach Ost-Äquatorial-Afrika, das damals
von den Europäern noch nicht besetzt war. Zusammen
mit Johannes Rebmann (1820-1876), einem ehemaligen
Weingärtner aus Gerlingen bei Stuttgart, errichtete er
1846 im gebirgigen Hinterland von Mombasa zunächst
eine Missionsstation. Von dort aus unternahmen beide
ausgedehnte Forschungsreisen ins noch unerschlossene
Landesinnere, um die Evangelisierung Ostafrikas vorzu-
bereiten (bes. S. 195ff. u.Bd.2). Dabei »entdeckten« sie
u. a. als erste Europäer die »herrlichen Schneeberge«
Kilimandscharo und Mt. Kenya (II, 30f. u. 167), deren
Existenz unter Schnee und Gletschern am Äquator von
den führenden zeitgenössischen Geographen lange Zeit
bezweifelt worden war.
Daneben gaben die Reisen den unmittelbaren Anstoß
zu weiteren Entdeckungstätigkeiten, bes. zur Suche nach
dem Tanganjika- und dem Victoria-See und den Nilquel-
len (vgl. Raupp, Einl., S.4). Überdies stellen die Reise-
tagebücher eine auch heute noch nicht vollständig ausge-
wertete Quelle für die Verhältnisse in Ostafrika um 1850
dar. Eine unüberschaubare Anzahl von geographischen
Angaben und Schilderungen von Sitten und Gebräuchen,
von Tieren und Pflanzen sind hier aufgezählt, wie man sie
kaum wieder bei einem Afrikareisenden findet. V. a.
Krapfs sprachliche Begabung läßt stupende Einblicke
in das Denken und in die kulturellen und religiösen Ver-
hältnisse zu, die anderen Forschern verschlossen blieben.
So finden sich hier für den Ethnologen aufschlußreiche
Buchbesprechungen Afrika
Beschreibungen, bes. über die Bewohner von Dschagga,
Usambara und Ukambani (Bd. 2, S. 19-55; 98-170 u. ö.)
wie auch über Pygmäen-Völker (Bd. 1, 76ff. u.ö.).
Die im photomechanischen Verfahren hergestellte, hand-
liche Neuausgabe hat Raupp mit einer instruktiven Ein-
leitung versehen. Diese kommt auch kurz auf Krapfs
theologisches Denken zu sprechen (vgl. bes. dessen Vor-
rede, S.IIIff.), das, ganz im Zeichen von biblizistisch-
mythologisch-apokalyptischen Missionsgedanken und
von abendländisch-zivilisatorischem Superioritätsgefühl
stehen, ihn als Wegbereiter des Kolonialismus ausweist
(vgl. Raupps Kritik, bes. S. 5-7). Ergänzt wird die Einlei-
tung durch ein hilfreiches Itinerar und ein ausführliches
Quellen- und Literaturverzeichnis, das Krapfs zahlreiche
Übersetzungen berücksichtigt.
Markus Britsch
Meier, Barbara:
Doglientiri. Frauengemeinschaften in west-
afrikanischen Verwandtschaftssystemen, dar-
gestellt am Beispiel der Bulsa in Nordghana.
In; Kulturanthropologische Studien Band 24.
(Hrsg.: Rüdiger Schott). Münster/Hamburg:
LIT, 1993. 254 Seiten, 22 Abbildungen, 4
Skizzen.
ISBN 3-89473-841-3.
Es ist das unzweifelhafte Verdienst dieser Arbeit, durch
die Beschreibung des Doglientiri-Systems die Bedeu-
tung der Vaterschwester für alle Bulsa, Männer wie
Frauen, hervorzuheben und damit die Position der Frauen
in dieser patriarchalen, virilokalen und patrilinearen
Gesellschaft in ein neues Licht zu rücken.
Bei der ersten Schwangerschaft einer Frau werden le-
bensfördernde Zeremonien durchgeführt, damit ein Kind
auf die Welt kommen kann. In der Regel beruft der
Kindsvater dazu seine älteste Schwester oder eine klassi-
fikalorische verheiratete Schwester. Diese Frau erwirbt
sich dadurch lebenslängliche Rechte über dieses und alle
folgenden Kinder dieser Ehefrau ihres Bruders. Ein
Junge ist ihr stets zu Dienstleistungen verpflichtet. Ein
Mädchen wird ganz und gar ihrer Autorität unterstellt.
Nach dem Abstillen kann sie sie jeder Zeit als doglie in
ihren Haushalt holen, um sie in den häuslichen Pflichten
einzuweisen und ihre Dienste zu beanspruchen. Obgleich
die doglie vom Tag des Einzugs in das Gehöft des Ehe-
mannes der Vaterschwester als dessen Ehefrau angesehen
wird, geht es der Autorin zufolge einer Frau heutzutage
mehr darum, eine Haushaltshilfe als eine Mitfrau zu
gewinnen. Über diese Umfunktionierung besteht das
doglientiri-System auch unter den Stadtmigrantinnen
fort. Die Vaterschwester ihrerseits schuldet der Schutz-
befohlenen Nahrung, Kleidung, Gesundheitsfürsorge und
die Kosten für die Beschneidung, sofern diese noch aus-
steht. Das vielleicht bedeutsamste Vorrecht, das sich aus
dieser »lebenslangen Gemeinschaft zweier Frauen« (200)
ergibt, ist die Tatsache, daß die Vaterschwester das letzte
Wort darüber hat, wen ihre doglie ehelichen soll. Im
Unterschied zu anderen westafrikanischen Gesellschaf-
ten entscheidet hier also nicht der »Vater«, wen eine
Tochter heiratet, sondern die Vaterschwester, die sinnfäl-
ligerweise auch »weiblicher Vater« genannt wird.
Die Autorin beansprucht, die bisherigen Studien über
die Pflegschaftsinstitutionen in Westafrika (nämlich die
von Oppong, E. Goody, Schildkrout, Lallemand und
Steinbrich) zu erweitern, indem sie danach zu fragen
beabsichtigt, »worauf die Rechte und Pflichten in diesen
Pflegschaftsverhältnissen beruhen, und was geschieht,
wenn in Pflegschaft genommene Kinder, bzw. Mädchen
erwachsen werden« (200). Sie argumentiert überzeu-
gend, »... daß in den Augen der Bulsa das Leben der
Nachkommen von der Kooperation der Vaterschwestern
mit ihrem Herkunftsklan abhängt« (200).
Allerdings erfahren wir wenig über die »religiösen Vor-
stellungen«, die, wie die Autorin betont, den Hintergrund
für diese »lebenslange Gemeinschaft zweier Frauen« bil-
den. Beschrieben werden einige Zeremonien zu Beginn
der Schwangerschaft bzw. nach einer Reihe von Fehlge-
burten, doch werden die Bedeutungszusammenhänge der
rituellen Handlungen nicht erläutert. Ein Satz wie dieser:
»Auch bei Fehl- oder Totgeburten müssen >Haustöchter<
kommen und Zeremonien durchführen, die dem bösen
Spuk ein Ende setzen« (200), scheint mir wenig geeignet
zu sein, die Vorstellungswelt der Bulsa zu resümieren.
Nur ganz beiläufig wird das Phänomen »Hexerei« (92,
163, 181) als mögliche Schadensursache erwähnt. Es liegt
nahe zu vermuten, daß sich die nach einer Reihe von
Fehlgeburten fällige Zeremonie insbesondere dagegen
richtet. Daß »die rituellen und profanen Hintergründe
(derr/<7g//e/?£i-Beziehungen) streng unterschieden werden
(müssen)« (85), ist mir angesichts der religiösen Durch-
wirkung des alltäglichen Geschehens im ländlichen
Afrika nicht einleuchtend.
Das doglientiri-System ist, so argumentiert die Autorin,
verglichen mit anderen polygynen Ehen, weniger kon-
fliktreich und wirkt eher stabilisierend, da nämlich hier
die ältere Frau die jüngere aussuchen kann und die beiden
- wie es die Regel ist - bereits vor Vollzug der Ehe
zusammen gelebt und gearbeitet haben. Allerdings ver-
säumt die Autorin es, bei ihrer Untersuchung methodisch
klar zwischen der Ehe im Rahmen des doglientiri-
Systems und der sonstigen polygynen Ehe zu unterschei-
den. So zum Beispiel hätte in dem Fragenkatalog an die
Jugendlichen (248), der den Einstellungswandel erfassen
soll, nach der Polygynie allgemein und nach dem dogli-
entiri-System insbesondere gefragt werden müssen, um
die dort formulierte Kritik an der »zu frühen Verheiratung
der Mädchen« und dem »daraus resultierenden Kinder-
reichtum« (187) tatsächlich auf das doglientiri-System
beziehen zu können, wie es die Autorin tut.
Dem »male bias«, wie er zum Beispiel in Goodys Begriff
der »Restansprüche« von Frauen gegenüber ihren Her-
kunftsfamilien zum Ausdruck komme und auch bei
Radeliffe-Brown (1924) und Fortes (1949) vorzufinden
sei (eine etwas differenziertere Argumentation wäre zum
Verständnis hilfreich), will die Autorin entgegentreten
(108 und 204). Doch wirkt es befremdend, wenn sie gene-
ralisierend von »dem« Forscher (17, 18) spricht, auch
wo sie sich selber meint. Hätte sie den an deutschen Uni-
versitäten herrschenden androzentrischen Blickwinkel
überwunden, dann wäre ihr der Widerspruch in den beiden
aufeinanderfolgenden Sätzen aufgefallen: »Es ist der aus-
drückliche Wunsch der Bulsa, die Witwen in der Sektion
zu halten, und zu diesem Zweck werden sie wiederverhei-
ratet. Wie Schott bereits ausgeführt hat, wählen die Wit-
wen den neuen Ehemann« (183 Hervorhebung G. K.). Ist
209
TRIBUS 46, 1997
der Autorin auch der Sinn eines solchen Satzes entgangen:
»Durch die Befriedung sei! der Kolonialzeit sind heutzu-
tage reichlich Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme zwi-
schen potentiellen Ehepartnern vorhanden«? (204)
Schwer nachvollziehbar ist für mich, wenn die Autorin
nach Monaten der teilnehmenden Beobachtung in einem
Gehöft (insgesamt verbrachte sie 15 Monate im Felde)
schreibt: »Eine unüberwindliche Schwierigkeit für mich
bestand darin, Frauen, besonders junge, intensiver ken-
nenzulernen« (19). Sie arbeitete deshalb ausschließlich
mit jungen Männern, von denen sie bedauerte: »Mein
Arbeitsthema erschien ihnen so völlig nebensächlich, daß
.... in vielen Fällen oft nur die Bezahlung ... mir ihre
Unterstützung sicherte.« Vielleicht konnte die Autorin
deshalb ihren Anspruch nicht erfüllen: »Was es für ein
Mädchen bedeutet, fern von den Eltern aufzuwachsen und
die eigene Zukunft nur sehr eingeschränkt mitgestalten zu
können, ist Thema dieser Arbeit« (3). Diese Mädchen
kommen im weiteren Verlauf des Buches kaum mehr zu
Wort. Im Schlußteil faßt die Autorin die »Vor- und Nach-
teile. die das traditionelle doglientiri-System für alle Be-
teiligten mit sich bringt, zusammen...«, wendet aber ein,
daß »eine solche Aufstellung von den Bulsa selbst nicht zu
erhalten war« (202). Nur ganz gelegentlich werden die
Aussagen über die Frauen durch Beispiele veranschau-
licht (129-132), oft nur in Fußnoten sowie im Anhang. Ich
vermute, daß sich manche Fehleinschätzung der Autorin
eingeschlichen hat. So heißt es: »Fitem geben ihre Töch-
ter auch nur dann in die Familie des Ehemannes der
Schwester, wenn es diesen dort gut geht, d. h. sie gut ver-
sorgt werden ...« (119). Wenig später wird eine Betroffe-
ne zitiert; »Als ich meiner Mutter berichtet hatte, was mir
alles bei der Frau passierte, verprügelte sie mich und
schickte mich umgehend wieder zu ihr zurück« (130). Die
Erklärung der Autorin für solche Widersprüche ist un-
zulässig: »Man muß hierbei aber bedenken, daß die Zeit,
die sie hier beschreibt, schon über vierzig Jahre zurück-
liegt. Zudem schmücken viele Frauen ihr Leid mit allerlei
Übertreibungen aus, um unter anderem zu verdeutlichen,
wie gründlich ihre Ausbildung war« (131). Andere den
durch die Befragungen erhaltenen Daten widersprechende
Aussagen wertet sie als »Gerüchte« ab oder diffamiert sie
als »klischeehafte Vorstellungen« (149), »Geschichten
über andere« und gar »Vorurteile« (164). Eine Ethnogra-
phin müßte tief in die Wesenszüge einer Kultur eingedrun-
gen sein, um Gerüchte von wahren Geschichten, Urteile
von Vorurteilen unterscheiden zu können. Die Autorin
stellt fest: »... viele von ihnen (den befragten Schülerin-
nen) befürworteten ... die Pflegschaftsinstitution als
Haushaltshilfe und als für den Familienzusammenhalt
förderlich. Und das, obwohl 10 der 11 befragten Mädchen
selber als doglieba bei einer Schwester oder Vaterschwe-
ster gelebt hatten. Bis auf eine haben alle die Beziehung
abgebrochen, indem sie weggelaufen sind« (188). Hier
wäre es geraten, nach der Aussagekraft der gewonnenen
Daten zu fragen. Die Schülerinnen hatten die Fragebögen
schriftlich zu beantworten. Bei deren Auswertung hätte
die Autorin ihre eigene Beobachtung übertragen müssen:
»Die Aussagen vieler aller Männer und auch Frauen
spiegeln die normative Auffassung des i/og/iV-Brauches
wider, die aber oft wenig mit den realen Situationen über-
einstimmen« (20).
Ich möchte resümieren, daß dieses Buch viele interes-
sante Informationen enthält. Mit einem Fragezeichen am
rechten Platz versehen, führen sie in eine spannende The-
matik ein, die bislang von männlichen Forschern ausge-
spart wurde, obgleich die »Literaturlage« über die Bulsa
als »vergleichsweise gut« eingeschätzt wird (6). Manche
relevante Fragen bleiben offen, die die Autorin zum Teil
auch selber stellt. Vor allem aber wäre es sinnvoll, das
Thema, wie sie es zu Beginn ihrer Arbeit stellen wollte,
wirklich zu verfolgen und die Erfahrungen der Frauen,
die als doglieba in ein Haus geheiratet haben, sowie ihr
daraus erwachsenes Selbstbewußtsein zu untersuchen.
Godula Kosack
Neumüller, Hagen:
Zwei Elefanten. Untersuchung zu den Bezie-
hungen zwischen Sprache und Kultur anhand
ausgewählter Wortfelder des Kikuyu (East
African Languages and Dialects, Vol.7).
Köln: Koppe, 1996. 303 Seiten, 1 Karte, 18
Tabellen und 25 Graphiken.
ISBN 3-89645-021-2
Die Dissertation Neumüllers stellt m.E. den ersten
umfangreichen Versuch innerhalb der Ethnologie und
Afrikanistik dar, eine Korrelation zwischen den soziokul-
turellen Gegebenheiten einer Sprachgemeinschaft und
der semantischen Struktur des Vokabulars ihrer Sprache
aufzuzeigen. Bei der untersuchten Sprache handelt es
sich um das Kikuyu, eine Bantusprache, welche von etwa
5 Millionen Sprechern in Zentralkenia gesprochen wird.
Anhand der begrifflichen Ausdifferenzierung des Bedeu-
tungsbereichs der Glaubenssysteme der Kikuyu belegt
der Verfasser, daß die Begriffsdichte des Vokabulars in
dem entsprechenden Kulturbereich, die Wichtigkeit und
das Interesse des Sprechers der Sprache widerspiegelt.
Den Hauptteil der Arbeit widmet Neumüller dem Aufbau
eines theoretischen Gebäudes, welches die Wirkungszu-
sammenhänge zwischen Sprache und Kultur, den beiden
Elefanten im Titel, erläutern und verifizieren soll. Er ver-
tritt dabei einen gemäßigten Sprachrelativismus, welcher
den heutigen Stand der linguistischen und philosophi-
schen Kognitionsforschung entspricht (vgl. Lakoff 1987).
Die einst vorherrschende Kontinuumsthese, der zufolge
wir erst mit Hilfe der Begriffe einer Sprache die Mannig-
faltigkeit der gegebenen Eindrücke kategorisieren und
in letzter Konsequenz denken können, wird widerlegt.
Es existiert eine Ebene der menschlichen Interaktion mit
der Umwelt, welche durch Gestaltwahrnehmung, geistige
Bilder und motorische Bewegungen charakterisiert ist.
Auf dieser Ebene werden Diskontinuitäten in der äuße-
ren Welt am effizientesten verarbeitet (S. 86). Nichts-
destotrotz ist sprachlicher Einfluß auf das Denken und
Handeln anzunehmen, insofern Sprache als Kommuni-
kation von Gedanken zwischen Individuen verstanden
wird. Die interagierenden Individuen benutzen Sprache
als Werkzeug, welches so geschliffen sein sollte, daß
die Ausführbarkeit des sprachlichen Handlungsaktes
möglichst präzise und mit wenig Aufwand betrieben wer-
den kann. Die hier aufgezeigte Funktion von Sprache als
ökonomischstes Kommunikationsmittel macht diese zu
einem kulturellen Phänomen. Sprache ist allerdings nicht
nur ein Phänomen innerhalb der Kultur unter anderen,
sondern sie steht in Wechselwirkung zur Kultur, wobei
210
der Autor nur die Wirkung von Begriffen als Teile eines
semantischen Feldes und Kultur untersucht. Kulturelle
Phänomene, Neumüller führt für diese den Begriff Kul-
tureme ein (S.51), besitzen gemäß seiner Theorie je
nach Wichtigkeit für die Gesellschaft und Frequenz der
Kommunikation ein stark bzw. wenig ausdifferenziertes
semantisches Feld, welches das Kulturem auf sprach-
licher Seite repräsentiert. Es bedarf demnach einer
Methode, welche die Größe eines semantischen Feldes
berechnet, um anhand dieser Feldgröße Aussagen über
Bedeutung des Bereiches für die jeweilige Kultur treffen
zu können. Da die begriffliche Ausdifferenzierung eines
Bedeutungsbereiches eine relative Größe darstellt, kön-
nen Aussagen nur kontrastiv, d. h. mit anderen Sprachen
vergleichend, getroffen werden. Als Vergleichssprachen
dienen Neumüller das Englische und das Deutsche. Um
für die Vergleichssprachen kein semantisch strukturiertes
Wörterbuch erstellen zu müssen, eine Aufgabe, die inner-
halb der Anglistik und Germanistik noch nicht bewältigt
worden ist, verwendet er die Thesauri von Roget bzw.
Wehrle. In die 1000 semantischen Felder, die Roget auf-
gestellt hatte, wurde das Kikuyu-Wörterbuch von Benson
eingeordnet. Mittels eines Vergleiches der jeweiligen
semantischen Felder der 3 Sprachen wurde eine positive
Korrelation zwischen der Größe eines Feldes und des
Bedeutungsbereiches für die entsprechende Kultur ermit-
telt und an der Teilgrößenanalyse des Bereiches der Glau-
benssysteme exemplifiziert.
Der Wert dieser Publikation liegt in dem Versuch, die
seit Sapir und Whorf vielfach postulierte These von der
Isomorphie zwischen Sprache und Denken bzw. Kultur
anhand einer Fallstudie kritisch zu hinterfragen. Daß
Neumüller dabei weder dem strengen Sprachdeterminis-
mus noch dem Sprachrelativismus der beiden Gründer-
väter folgt, ergibt sich aus den Forschungen der letzten
Jahrzehnte und spiegelt den heutigen Forschungsstand
wider. Der theoretische Teil des Buches leistet eine
umfangreiche und anregende Einführung in die mög-
lichen Beziehungen zwischen Sprache und Kultur. Die
wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der mit dem
Thema beschäftigten Fachbereiche Ethnologie, Lingui-
stik und Sprachphilosophie ist ausführlich und kompetent
dargestellt. Der theoretische Teil ist überaus lesenswert,
auch wenn keine neuen Erkenntnisse vorgestellt werden.
Die vorgeschlagene Methode ist noch nicht ausgereift
und weist Mängel auf, die dem Autor zum größten Teil
bewußt sind, aber aus verschiedenen Gründen keine wei-
tere Beachtung finden.
Ein offensichtliches Problem liegt im gesamten Ansatz
der Methode. Rogets Thesaurus wurde als praktische Hil-
fe für alle Schreibenden konzipiert. Es zielte nicht darauf
ab, ein lexikalisch-semantisch strukturiertes Wörterbuch
zu liefern, welches die Ansprüche im Sinne der Wortfeld-
theorie oder eines kognitiven Lexikons erfüllt. Die im
19. Jh. erstellten Rogetschen Kategorien sind unwissen-
schaftliche Kategorien seinerzeit, d. h. sie sind mehr oder
wenig willkürlich aus einem eurozentrischen Weltbild
entstanden. Indem Neumülller das Kikuyu-Lexikon in
solche Kategorien einsortiert, unterstellt er diesen Kate-
gorien implizit universellen Charakter, da es sonst un-
möglich wäre, die Kikuyu-Einträge sinnvoll unterzubrin-
gen. Neumüller selbst meint bei exemplarischer Behand-
lung des Teilbereiches der Glaubenssysteme, daß zwei
neue Kategorien für bestimmte rituelle Handlungen im
Kikuyu von Nöten seien, um der semantischen Wirklich-
keit gerecht zu werden, doch zum Zwecke der besseren
Vergleichbarkeit verzichteter auf Neuschöpfungen, wahr-
scheinlich vor dem Hintergrund, daß zwei weitere Spra-
chen, das Chagga und Swahili, mit dieser Methode unter-
sucht werden.
Problematisch erweist sich auch der Verzicht auf eine
nähere Spezifizierung der Sortierungskriterien. Neumüll-
ler deutet an, daß einige Einträge einer Merkmalsanalyse
unterzogen worden sind, der vermutlich größte Teil der
Kikuyuwörter dürfte allerdings mittels der englischen
Übersetzung eingeordnet worden sein. Somit umgeht er
zum einen die Schwierigkeit der exakten Bedeutungs-
zuweisung und zum anderen das Problem der Wortklas-
sen, das zwangsläufig bei einem kontrastiven Vergleich
zwischen einer Bantusprache und dem Englischen ent-
steht. Die Wortklassen der Einträge sind nicht kongruent
mit grammatischen Kategorien und dürften somit nur
schwer in ein größeres semantisches Beziehungssystem
eingefügt werden können, ein Ziel neuerer Wortfeldfor-
schungen (Lehrer, A. & Kittay, E. 1992). Des weiteren
verzichtet er auf die Einsortierung aller regelmäßigen
Verbalableitungen des Kikuyu. Muini, der Sänger taucht
nicht in den Wortfeldern auf, da es sich von kuina (sin-
gen) regelmäßig bilden läßt. Ich glaube nicht, daß ein
kognitiver Ableitungsprozeß bei der synchronen Verwen-
dung solcher Wörter stattfindet. Nomen der Abstrakta-
klasse 14 im Bantu wurden hingegen in den Thesaurus
aufgenommen, obwohl sie ebenso regelmäßig hergeleitet
sind, z. B. ungai (Göttlichkeit) von ngai (Gott). Hier fand
somit eine Verfälschung der Datenmenge statt. Es ließen
sich noch mehrere kleine methodische Ungenauigkeiten
aufzeigen, die aber weniger ins Gewicht fallen.
Trotz der hier angedeuteten methodischen Mängel stellt
die Arbeit einen interessanten und mutigen Versuch dar,
einen zwar oft theoretisierten, aber selten praktisch in An-
griff genommenen Bereich der Linguistik zu behandeln.
Literatur
Lakoff, G.
1987 Women, Fire and Dangerous Things. University of
Chicago Press, Chicago.
Lehrer, A./Kittay, E. (Hrsg.)
1992 Frames, Fields and Contrasts. New Essays in
Semantic and Lexical Organization. Lawrence
Erlbaum Associations, Hillsdale.
ISBN 10-8058-1089-7
Jens Hüttenberger
Sauer, Walter (Hrsg.):
Das afrikanische Wien. Ein Führer zu Bieber,
Malangatana, Soliman (Studien zum Süd-
lichen Afrika, Bd. 2). Wien; Mandelbaum
1996. 320 Seiten mit 150 Abbildungen.
ISBN 3-85476-000-0
Der erste Teil des vorliegenden Bandes versteht Afrika
vor allem als subsaharisches Afrika und beinhaltet vier
Beiträge:
- Walter Sauer: Auf der Suche nach dem afrikanischen
Wien;
211
TRIBUS 46, 1997
- Erwin Ebermann: Afrikaner und Österreicher. Frag-
mente einer Beziehung;
- Rebecca Lamadé: Ethnie Business und African Com-
munity;
- Rafaela Essmeister: Pole ni mwendo. Eindrücke aus
der afrikanischen Musikszene Wiens.
Sauer gibt zunächst einen historischen Überblick über
die Sichtweise gegenüber Afrika vom Mittelalter bis zum
20. Jahrhundert, einschließlich der Darstellungsformen in
der Kunst, um dann Belege für die Afrikanische Diaspora
in Österreich zusammenzustellen. Besondere Erwähnung
verdient dabei nicht zuletzt Sauers zutreffende These, daß
im Mittelalter »ein im Grunde positives, von einer ari-
stokratischen Internationalität bestimmtes Afrikabild«
herrschte (13), die »systematische Abwertung Afrikas und
seiner Menschen« jedoch im Dienste der »Legitimation
kolonialpolitischer Maßnahmen« stand, »um Menschen
und Rohstoffe des Kontinents der europäischen Wirtschaft
zu unterwerfen« (28). Nicht zutreffend ist jedoch seine
Pauschalisierung, gerade die »Ethnologen« hätten im
19. Jahrhundert durch Feldforschung und soziologische
Theorienbildung und die »katholische Missionierung«
durch ihre Beurteilung der ethnischen Religionen dem
Rassismus zugearbeitet. Auch die soziale und juristische
Situation der Afrikanischen Diaspora in den vergangenen
Jahrhunderten beurteilt Sauer, im Anschluß an andere
Autoren, allzu negativ. Doch dies kann auch ihm ange-
sichts der Quellenlage nachgesehen werden.
Eingehende Behandlung erfährt der berühmte Angelo
Solimán (um 1721-96). Hier schleichen sich jedoch
einige Unstimmigkeiten ein. Solimans Frau z. B. war
nicht zweifelsfrei die Schwester des napoleonischen Ge-
nerals Kellermann, wie Sauer (36) schreibt (vgl. hierzu
Wilhelm A. Bauer, Angelo Solimán, der hochfürstliche
Mohr. Ein exotisches Kapitel Alt-Wien. Hrsg. u. eingel. v.
Monika Firla-Forkl. Berlin 1993: 57, 116). Sauer behaup-
tet auch, Solimans »Lebensgeschichte« sei eine »legen-
denhaft ausgeschmückte« und zieht grundlos unter an-
derem seine militärischen Tätigkeiten in Diensten des
Fürsten von Lobkowitz in Zweifel. Und leider fehlt unter
der Abbildung des berühmten Portraitstiches von J.N.
Haid, der Solimán darstellt, der für diesen äußerst
schmeichelhafte Text (vgl. hierzu Bauer 1993: 75). Doch
insgesamt betrachtet ist Sauers Beitrag eine durchaus
brauchbare Einführung in die Thematik des »afrikani-
schen Wien«.
Ebermanns Text vereinigt statistische Angaben zu Her-
kunft und Anzahl der Afrikanischen Diaspora in Öster-
reich, zu ihrer Sprachgewandtheit (Beherrschung von
durchschnittlich 5,2 Sprachen), sozialen Herkunft und
vielfältigen Lebenssituation etc. Verdienstvoll ist auch die
Erläuterung der Kritik seitens der Afrikaner an der »Afri-
ka-Berichterstattung in den österreichischen Medien«
(49 f.), die (wie in Deutschland!) unter anderem »Vorurtei-
le ungeprüft« weitergeben und »verstärken« (49). Origi-
nell und anregend für eine weitere Beschäftigung mit den
afrikanischen Kulturen sind die eingestreuten Bambara-
Sprichwörter in Originalzitat und Übersetzung. Sehr zu
begrüßen sind Ebermanns Erklärungen von Gründen für
mögliche interkulturelle Mißverständnisse (z. B. die un-
terschiedliche Deutung des Nicht-in-die-Augen-Sehens
als Respektbezeugung in Afrika und Zeichen möglicher
Unredlichkeit in Österreich; 43) und seine Ratschläge für
ein unverkrampftes, bereicherndes oder auch freund-
schaftliches Zusammenleben: Aufgrund seiner Datener-
hebung kritisiert er z. B. »selbsternannte Richter oft frag-
würdiger Kompetenz«, die »dazu tendieren, praktisch je-
de [...] Bezeichnung [für Afrikaner] rassistisch zu
nennen« anstatt die Afrikaner nach ihren terminologi-
schen Wünschen zu fragen (62). Er stellt klar, daß »immer
mehr Afrikaner Probleme damit haben, daß - wenn auch
oft in gutgemeinter und solidarisierender Weise - stets auf
ihre Armut hingewiesen wird« (62), wobei sie selbst die
Beschäftigung mit den Inhalten ihrer jeweiligen Kultur
vorziehen (54). Und herzerfrischend äußert er die Worte,
daß man Afrikaner gerade dann als »nicht erwachsene,
wie nicht gleichwertige Menschen« wahrnimmt, wenn
man sie »wie rohe Eier« behandelt (63).
Lamades Beitrag beginnt mit der lebendigen Beschrei-
bung einer eigenen kleinen Tour durch afrikanische
Geschäfte, Lokale und Institutionen, die sich mit Afrika
auseinandersetzen, die zum Nacheifern anregt. Darauf
folgt eine Übersicht über »Ethnische Erwerbstätigkeit
und Integration«, bei der die Autorin aus dem reichen
Material ihrer Diplomarbeit geschöpft haben dürfte.
Essmeister beschäftigt sich mit der Vielfalt der afrikani-
schen Musikszene Wiens. Obwohl sie zunächst erklärt,
das »Hineinquetschen [sie!] von Musiker/innen in Kate-
gorien« lieber den »Musikkritiker/innen und Wissen-
schaftler/innen« überlassen zu wollen (82), entschließt
sie sich eine Seite später glücklicherweise doch für eine
Differenzierung der in Wien zu findenden Stile und Grup-
pen und läßt auch Musiker zu Wort kommen.
Der zweite Teil des Bandes ist dem von Walter Sauer
(unter gelegentlicher Mitarbeit weiterer Autoren) erstell-
ten »Reiseführer durch die 23 Wiener Bezirke« gewidmet
(89-314). Hier wird Afrika als Kontinent verstanden. In
277 Einträgen finden wir, nach Bezirken geordnet und
mit genauer Adressenangabe, eine reich und z. T. farbig
bebilderte Dokumentation zum angekündigten Thema
mit Hinweis auf zahlreiche Bauwerke, Kunstwerke, Mu-
seen, andere wissenschaftliche, kirchliche und künst-
lerische Einrichtungen, Wirkungsstätten einschlägiger
Persönlichkeiten, Straßennamen, Lokale, Geschäfte,
Konsulate usw., deren Vielfalt in einer Rezension nicht
einmal angedeutet werden kann. Die Erläuterungen sind
ebenso kompetent wie kritisch und anregend, oft mit
Zitaten bereichert und immer wieder abgerundet durch
Hinweise »Zum Weiterlesen«.
In einer zweiten Auflage sollten allerdings noch ergänzt
werden: die dienstlichen Adressen des Musikethnologen
Gerhard Kubik und der Philosophen Franz M. Wimmer
und Christian Neugebauer, beide Autoren und Herausge-
ber von Untersuchungen und Zeitschriften zum Thema
Afrikanische Philosophie. Auch Beethovens Freund
George Augustus Polgreen Bridgetower verdient eine
kleine Betrachtung. Er hatte einen afrikanischen Vater
und gastierte als gefeierter Violinvirtuose im Mai 1803 in
der Augartenhalle (vgl. Florian Shyllon, Black People in
Britain 1555-1833. London 1977: 216).
Inhaltlich wie didaktisch gleich wertvoll sind die 57 kur-
zen, prägnanten Zwischentexte und Textzitate zu Themen
wie z. B. »>Rasse<: Ein unwissenschaftlicher Begriff«
(98L), »Der erste Elefant in Wien« (104), »Ein Somali-
dorf [der Völkerschau von 1901] in Wien« (129), »Anti-
Apartheid-Bewegung; Ein Rückblick« (157L), »Die
Wirtschaftskammer und Afrika« (164), »[Der Maler]
Malangatana in der Amtshausgasse« (169L), »Eine ägyp-
212
Buchbesprechungen Afrika
tische Göttin als Verkehrshindernis« (196f.), »Maître
Leherbs Afrika« (206), »Ein österreichisches Schicksal
[Über Otto Bieber]« (244), »Eine tausendjährige Pflanze
aus Südafrika?« (248f.), »Kakao in Westafrika« (278),
»Die >Kongo-Krise<« (298f.), »Okonkwo im Gemeinde-
bau« (304f.), »Unilever und Afrika« (312f.) usw. Dem
Text »>Rasse<: Ein unwissenschaftlicher Begriff« ist
allerdings entgegenzuhalten, daß man »Rasse« durch den
Begriff »Unterart« ersetzen und nicht ersatzlos streichen
sollte, da es ohne Zweifel die europide, negride und
mongolide Gruppe gibt, ohne welche Unterscheidung
auch ein großer Teil des hier rezensierten Bandes nicht
möglich gewesen wäre. Außerdem kann die Physische
Anthropologie als Hilfswissenschaft der Archäologie
nicht nur weibliche von männlichen Schädeln unterschei-
den. sondern auch dort Angehörige der schwarz-afrikani-
schen Diaspora belegen, wo alle anderen Quellen versie-
gen. Sollten einmal die von Sauer zu Recht vermuteten
afrikanischen Legionäre des römischen Wien (Carnun-
tum; 31) ausfindig gemacht werden, dann wohl nur durch
die Schädelanalyse der Physischen Anthropologie.
Die kurzen Zwischentexte sind außerdem hervorragend
geeignet, einen Personenkreis anzusprechen, der noch
den Zugang zum Thema Afrika sucht, da sie (passend zu
im Reiseführer genannten Adressen) eine große Themen-
vielfalt kompetent abdecken und durch die Wahl der
Texte zur Beschäftigung mit ihr anregen. Sehr verdienst-
voll ist auch die kompromißlose Beurteilung der neo-
kolonialen wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die
für die gegenwärtige Situation Afrikas verantwortlich
sind (z. B. 154, 157f., 164, 166, 176, 312f.).
Der von Sauer herausgegebene Band ist trotz der oben
genannten gelegentlichen Kritikpunkte gleichermaßen
ein wertvoller Beitrag zum Einstieg in das Thema Afrika
insgesamt, zur Afrikanischen Diaspora in Vergangenheit
und Gegenwart in Wien, zur Wiener Stadtgeschichte in
der Nachfolge Johann Pezzls und zum Verhältnis Öster-
reich - Afrika vice versa. Der verdiente wirtschaftliche
Erfolg wurde dem Unternehmen bereits beschieden:
Schon Anfang 1997 war »Das afrikanische Wien« ver-
griffen.
Monika Firla
Schott, Rüdiger:
Orakel und Opferkulte bei Völkern der west-
afrikanischen Savanne. (Nordrhein-westfäli-
sche Akademie der Wissenschaften, Vorträge
G, Band 348). Opladen: Westdeutscher Ver-
lag 1997. 76 Seiten mit 31 Färb- und SW-
Fotos.
ISBN 3-531-07348-6
Nur für wenige Dokumentationen zu Gesellschaften in
Afrika trifft das Bild afrikanischer Kulturen, bei denen
mit jedem Alten, der stirbt, zugleich eine Bibliothek ver-
brennt, in so hohem Maße zu wie für das hier zu bespre-
chende Werk. R.Schott legt mit seinem Bericht über
die ethnographische Arbeit ein faszinierendes Dokument
über die Zeichensysteme und Techniken der Orakel bei
den Bulsa in Nordghana und den Lyela in Burkina Faso
vor. Gebannt verfolgt der Leser die präzisen Beschrei-
bungen über den Ablauf der Konsultationen bei Wahr-
sagern der beiden Gruppen. Die einzelnen Abschnitte
der Befragungen, die möglichen Klienten und die Kon-
sequenzen dieser Rituale, die untrennbar den Alltag
mit sakralen Bedeutungen verknüpfen, werden sorgfältig
beschrieben. Mit großer Anschaulichkeit erklärt der
Autor anhand photographierter Orakelzeichnungen die
einzelnen Zeichen und Symbole, die dem Wahrsager hel-
fen, seinem Klienten die Forderungen der Ahnen nahe-
zubringen. Offensichtlich ist das Sandorakel in Burkina
Faso nur bei den Lyela und Mossi anzutreffen (S. 33). Um
so größer ist der Wert dieser Dokumentation, da es sich
damit um eine fast einmalige Gelegenheit handelt, ein
komplexes System von Zeichen und Symbolen kennen-
zulernen. Anzumerken ist auch die hervorragende Qua-
lität der Abbildungen, die über die Anschaulichkeit der
verwendeten Objekte hinaus auch zu einem ästhetischen
Eindruck besonders der Sandorakel beitragen.
R.Schott bringt seine Person dabei immer wieder mit ein
in den Ablauf der Forschungen, die sich über mehrere
Aufenthalte zwischen 1966 und 1988 erstreckten. So
befragt er wiederholt die Wahrsager nach den Forderun-
gen seiner eigenen Ahnen. Dies gibt ihm die Gelegenheit,
plastisch die Bedeutung konkreter Forderungen vorzu-
führen, wenn ihm z. B. aufgetragen wird, einen Hund für
den Vater zu schlachten (S. 29f.). Dem Leser werden bei
dieser Gelegenheit auch eindrucksvoll die Fähigkeiten
des Wahrsagers demonstriert, wenn dieser etwa die fami-
liäre Situation des Autors ohne weiteres richtig zu erken-
nen scheint (S. 12).
Die Begriffe »Zeichen« und »Symbol« werden vom
Autor bei der Beschreibung der für das Orakel gebrauch-
ten Objekte synonym verwendet. Dies ist eine durchaus
gerechtfertigte Vorgehensweise, wenn es nur darum geht,
darauf hinzuweisen, daß die damit bezeichneten Objekte
und Zeichnungen bestimmte Bedeutungen repräsen-
tieren. Nur am Rande ist zu erfahren, daß die in den
Sandorakeln der Lyela enthaltenen Zeichnungen oft nur
von dem Wahrsager, der sie angefertigt hat, interpretiert
werden können (S. 37). Ähnliches gilt für die Wahrsage-
objekte der Bulsa (S.26). Wenn also die Bedeutung der
Objekte sich keinesfalls dem Kunden erschließt, sondern
in der Regel nur dem Wahrsager, der sie geschaffen hat
und weiterhin verwendet, ist es vielleicht präziser, hier
von »mnemotechnischen Hilfsmitteln« zu sprechen.
Damit ist auch eine zweite Frage angesprochen, auf
die man sich als Leser eine Antwort gewünscht hätte: Wie
fassen die Klienten im allgemeinen die Resultate der
Befragungen auf? Ist ein Orakelspruch nicht möglicher-
weise Gegenstand intensiver Diskussionen, sei es, weil
die geforderten Opfergaben unerschwinglich erscheinen
oder weil Betroffene sich nicht mit einem Urteil zufrie-
den geben wollen? Schott selbst beschreibt das Anliegen
seines Beitrags so, daß er eine »objektive Beschreibung
des Tuns der Wahrsager und der Bedeutung dieses Tuns«
geben wolle (S.7). Ist diese Bedeutung nicht auch am
Beispiel von Reaktionen von Betroffenen zu zeigen? Der
Autor bezieht sich für die von ihm verwendete Methode
mehrfach ausdrücklich und mit einem Hinweis auf Ma-
linowski auf die teilnehmende Beobachtung (S. 8,24),
die der richtige Weg sei, um eine so komplexe kulturelle
Institution wie die Wahrsagerei zu verstehen. Gerade
Malinowski unterschied deutlich zwischen kulturellen
Normen, also Forderungen, die sich aufgrund bestimmter
ritueller Regeln scheinbar zwingend ergeben, und der
213
TRIBUS 46, 1997
Praxis, in der jeweils nur ein Teil dieser Forderungen
verwirklicht wird.
Ohne das Verdienst der vorliegenden Dokumentation in
Frage zu stellen, sei noch auf ein weiteres Problem in der
Vorgehensweise hingewiesen. In bezug auf die gefor-
derten Opfergaben stellt R.Schott sehr wohl die Überle-
gung an, ob deren Maß nicht vielleicht auch durch seine
besondere Rolle als Europäer bestimmt ist (S. 29). Immer
wieder ist zu erfahren, daß der Autor während der Sit-
zungen das Tonband mitlaufen ließ, ohne daß über die
Reaktionen des Wahrsagers auf das Gerät berichtet wird
(S. 11, 20). Hier hätte dem Leser ein kurzer Hinweis auf
die eventuellen Vereinbarungen geholfen, die Sichtweise
beider Parteien, der des Forschers und der des Wahrsa-
gers nachzuvollziehen.
Diese Anmerkungen sollen aber in keiner Weise den Wert
des Berichtes von R.Schott schmälern. Es ist nur zu
bedauern, daß in einer Zeit, in der man an afrikanischen
Universitäten damit beginnt, die regionalen Kulturen des
jeweiligen Landes zu dokumentieren, nicht mehr ähn-
liche Arbeiten wie die hier vorliegende existieren. Nur
solche genauen Dokumentationen können den Reichtum
und die Lebendigkeit der afrikanischen Kulturen über-
zeugend belegen.
Hans Peter Hahn
Szalay, Miklos (Hrsg.):
Afrikanische Kunst aus der Sammlung Han
Coray 1916-1928. Völkerkundemuseum der
Universität Zürich. München, New York:
Prestel, 1995. 260 Seiten, 317 Abbildungen,
davon 117 in Farbe, 1 Karte.
Die vorliegende Publikation präsentiert 202 afrikanische
Objekte aus der Sammlung Han Coray des Völkerkunde-
museums Zürich und erschien zur gleichnamigen Aus-
stellung, die außer in Zürich auch noch in Baden-Baden
und Rosenheim gezeigt wurde. Vermutlich handelt es
sich bei diesem Bestandskatalog - ohne daß dies explizit
bestätigt würde - um den 2. Band der von Szalay bereits
in Die Kunst Schwarzafrikas (Zürich 1986) angekündig-
ten Trilogie über afrikanische Kunst: Im Vorwort dieses
Kataloges wies Szalay nämlich darauf hin, daß die
»Mehrheit der [...] veröffentlichten Gegenstände« aus
der Sammlung Han Coray stamme und in »einem der
geplanten Folgebände [...] die Werke aus der Sammlung
[...] wieder aufgegriffen und dann ausführlicher behan-
delt werden [sollen], als dies jetzt hier geschehen ist«
(1986: 6f.). Insgesamt wurden 71 Objekte aus der Pub-
likation von 1986 nun (z.T. unter Wiederverwendung
derselben Photos) erneut veröffentlicht.
Im Vorwort und in dem einleitenden Artikel (»Klassik«)
des Herausgebers werden kurz die Geschichte der Samm-
lung sowie die Persönlichkeit des Sammlers und sein
kulturelles Umfeld skizziert, auch wird eine Zusammen-
stellung der Ergebnisse von Untersuchungen über ästhe-
tische Wertvorstellungen aus der Sicht von Afrikanern
gegeben. Daran anknüpfend äußern sich sechs »Persön-
lichkeiten aus Kunst und Kunstwissenschaft« (S. 8) zum
Thema »Kunst als Kunst«. Sogenannte »Bilder-Repri-
sen« von vier Künstlern geben die praktische Umsetzung
ihrer Auseinandersetzung mit der Sammlung oder Teilen
von ihr wieder. Die Anordnung der Objekte im Bildteil
entspricht im wesentlichen der üblichen regionalen Auf-
teilung: Gezeigt werden Masken, Figuren. Gelbguß- und
Elfenbeinarbeiten, Textilien. Musikinstrumente, Holz-
und Keramikgefäße aus dem Westsudan (Lobi, Bobo,
Bamana), Oberguinea (Nalu, Mende, Torna, Dan, Guro,
Baule, Akan, Yoruba, »Benin-Bronzen«), der Cross-
River-Region (Ibo, Ejagham, Ibibio), dem Kameruner
Grasland (Bangwa, Bamum, Fungom), Äquatorial-
(Fang, Punu, Teke, Bembe, Kongo) und Zentralafrika
(Tetela, Ndengese, Kuba, Pende, Yaka, Chokwe, Songye,
Luba, Lega, Mangbetu) sowie schließlich Ostafrika
(Makonde). Zwei Beiträge befassen sich mit »Kunst im
Diskurs«. Den Schluß bilden ein Kapitel zur Biographie
Han Corays sowie ein »photographisches Inventar aus
den 30er Jahren« von einigen Objekten der damaligen
Sammlung.
Zwei Fragen stellen sich der Rezensentin nach der Lek-
türe des Buches; Warum und für wen wurde es geschrie-
ben? Sie vermag beide nicht zu beantworten. Aber wenn
das verzweifelte Bemühen von Ethnologen, doch bitte
endlich in die Riege der international renommierten
Kunstwissenschaftler aufgenommen zu werden, zu sol-
chen Ergebnissen führt (die im Buchhandel immerhin
98,- DM kosten), dann kann man die Vorbehalte, die
Kunsthistoriker noch immer den »Kunstethnologen«
entgegenbringen, verstehen.
Das Buch ist eine Hommage an den Sammler Han Coray,
der mit Hilfe seiner wohlhabenden Ehefrau in den Jahren
1916-1928 »weltweit« eine der »ersten und wichtigsten«
Sammlungen afrikanischer Kunst zusammengetragen hat
(S.7). Irritierend ist der Titel der Publikation, der nicht
erkennen läßt, daß es sich um einen Bestandskatalog des
Völkerkundemuseums der Universität Zürich handelt:
»Afrikanische Kunst aus der Sammlung Han Coray
1916-1928« und, etwas kleiner gedruckt, dann: Völker-
kundemuseum der Universität Zürich. Dem potentiellen
Käufer wird damit entweder suggeriert, daß sich die
gesamte Sammlung Coray in dem betreffenden Museum
befindet und nur ein Teil von ihr vorgestellt wird, oder
aber, daß das Museum - als erster Veranstaltungsort der
Wanderausstellung - eine allgemeine Publikation zur
Corayschen Sammlung vorlegt. Erst aus dem Vorwort
(S. 7) wird ersichtlich, daß das Museum nur über einen
Teil (nämlich weniger als ein Viertel) der ehemals großen
Sammlung verfügt. Trotz der Bedeutung, die Szalay der
Sammlung und der Person des Sammlers zumißt, unter-
läßt eres, auf solche sich in anderen Museen befindenden
Stücke überhaupt einzugehen. Nur in einer kleinen
Fußnote auf Seite 242 wird preisgegeben, daß mehrere
Schweizer Museen bei der Auflösung einen größeren
Satz von Objekten bekamen: Kunstgewerbemuseum
Zürich - die Objekte gingen dann in den Besitz des Riet-
bergmuseums über - und Sammlung für Völkerkunde
St. Gallen. Die Tatsache, daß andere bedeutende Stücke
der Coray-Sammlung vielfach von weitaus besserer
Qualität sind als die im Katalog vorgestelllen - genannt
seien hier z. B. der Buli-Hocker im Metropolitan Mu-
seum (Vogel 1980) oder die Kongo-Maternitä im
Rietbergmuseum (Museum Rietberg 1982, S. 120) -
bleibt unberücksichtigt. Eine kritische Auseinanderset-
zung mit der damaligen Entscheidung, welche Stücke
als »hochwertige Doubletten« (1995; 7) abzugeben seien,
unterbleibt. So entsteht der Eindruck, als ob sich die
214
Buchbesprechungen Afrika
besten Objekte iin Völkerkundeinuseum Zürich befän-
den, womit dem Leser wiederum eine Auseinanderset-
zung mit der Sammlung an sich verwehrt wird.
Auch wäre es wünschenswert gewesen, in diesem Zu-
sammenhang mehr über die Geschichte der Sammlung zu
erfahren. Im Vorwort zitiert Szalay aus einem Bericht der
Schweizerischen Volksbank von 1938/39, in deren Besitz
sich die Sammlung seit 1931 bis zu ihrem Verkauf 1940
befand, daß die Sammlung den Sammler Coray eine Mil-
lion Franken gekostet habe. Ferner wird berichtet, daß sie
1933 von zwei bedeutenden Pariser Händlern auf ihren
Wert hin geschätzt worden sei und daß 1934/35 ein nam-
hafter deutscher Kunstsammler der Bank ein Angebot
unterbreitet habe, welches diese aber als zu niedrig (»zu
einem derartig reduzierten Preis«) abgelehnt habe. Durch
einen »Vorzugspreis« sei die Sammlung dann 1940 mit
Hilfe privater Spenden veräußert worden. Wer um die
Schwierigkeit weiß, die »Biographie« von ethnographi-
schen Sammlungen zu rekonstruieren - das Zusammen-
spiel von Erwerb vor Ort, dem Transport, europäischen
Moden, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
der Sachkultur von »Primitiven«, der Beziehung von
Händlern und Käufern, der Frage von Angebot und Nach-
frage und nicht zuletzt des Preises -, der ist enttäuscht
von diesen recht oberflächlichen Aussagen. Wie sahen
die Schätzungen von Ratton und Asher denn aus? Wie-
viel wollte Eduard von der Heydt für die Sammlung
zahlen und vor allem: zu welchem Preis ging sie dann
in den Besitz der Universität Zürich über? Zu welchem
Preis oder gegen welche Doubletten anderer Museen
wurden sodann Stücke der Coray-Sammlung verkauft
oder getauscht und Uber welchen Zeitraum hinweg?
Angesichts des offenbar vorhandenen Quellenmaterials
sowie der offenbar guten Kontakte des Corayschen Bio-
graphen Koella noch zu Lebzeiten zum Sammler selbst
und jetzt zu dessen Erben (S. 240f.) kann man hier nur
von einer verpaßten Chance sprechen, mehr über den
Handel mit afrikanischer Kunst, ihren Wert und ihre
Wertschätzung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu
erfahren.
Der Umstand, daß Coray zu Künstlern. Kunstliebhabern
und Kunsthistorikern engeren Kontakt als zu Ethnologen
gepflegt habe, rechtfertigt nach Szalay die starke Präsenz
von Beiträgen von Personen, die den erstgenannten Dis-
ziplinen nahestehen. Alle vom Herausgeber verpflich-
teten Autoren und Künstler (z. B. D. Spoerri, G. Baselitz,
W. Schmalenbach, Cheri Samba) hätten die Coraysche
Sammlung des Museums besichtigt und nähmen in ihren
Beiträgen auf sie oder einzelne Objekte Bezug (S. 8); die
Besichtigung der Objekte schloß eine Berührung dersel-
ben mit ein (S. 23). Erstaunlich, wie sehr dabei Erotik und
Geschlechtlichkeit in der afrikanischen Skulptur zwei
der Autoren zu schaffen macht. Harald Szeemann (Inha-
ber einer »Agentur für geistige Gastarbeit«) besingt die
Fruchtbarkeit der »afrikanischen Mutter« am Beispiel von
Mutter-Kind-Darstellungen: »Diese Figuren sind Ehrun-
gen, Hommagen, voller Respekt an die Frau, an das große
Weibliche, Urheberin des Lebens, Garantin des Fortbe-
standes der Gesellschaft, Quelle der Erotik« (S. 18). Diese
letztgenannte Eigenschaft wird es dann wohl gewesen
sein, die Szeemann beim Anblick eines beschnitzten El-
fenbeinobjekts zu folgendem Kommentar hinreißt: »Wie
delikat und besitzergreifend zugleich wird der Penis auf
dem Elefantenzahnrelief berührt und geführt. Ihm gelten
beider Blicke, die zueinander gefunden« (S. 19). Uner-
quicklich in Szeemans Text ist - und nicht nur bei ihm,
sondern auch bei den Objektbeschreibungen im Bildteil
des Kataloges - die häufige Wiederholung von paterna-
listischen Formulierungen wie »unsere Wilden« oder
»unsere Mutter«. Warum schließlich die Dynamik einer
Mutter-Kind-Figur der Yombe aus der Republik Kongo
»stilistisch und symbolisch über Afrika hinaus nach Japan
verweist, zu einer anderen großen Kultur« (S. 20), bleibt
ein wohlgehütetes Geheimnis des Autors.
Selbstverständlich ist es jedem Autor überlassen, seinen
sexuellen Phantasien bei der Betrachtung und Berührung
der Objekte freien Lauf zu lassen. Wenn es aber wie bei
Gerald Minkoff (Video- und Installationskünstler) in eine
sexistische Bedichtung weiblicher Körperlichkeit ausar-
tet, dann wünscht man, daß der Herausgeber Szalay diese
Peinlichkeit verhindert hätte. Minkoff will ebenso wie
Szeemann »hier den Frauen Afrikas wegen ihrer Schön-
heit, ihres Stolzes und ihrer Unabhängigkeit eine Hul-
digung darbringen« (S.23). Es darf bezweifelt werden,
ob die pornographische Beschreibung einer Nackenstütze
der Yaka in Form einer weiblichen Karyatide von den
Yaka-Frauen geschätzt würde; »Yaka, ins Zentrum des
Jenseits gestellt, wahrscheinlich schwanger mit den Träu-
men des Schlafenden, dessen Nacken Du stützt auf dem
Bogen einer Milchstraße, den Du auf Deiner Stirn balan-
cierst, Du bietest den Begierden des Schläfers weniger
die allerliebsten Papayafrüchte Deiner Brüste dar als
Deine Gesäßbacken, die Du mit den Händen auseinan-
derspreizt und ein kleines - vielleicht mit einem Mes-
singnagel geöffnetes? - Loch bloßlegst, durch das sein
unruhiger Schlaf entweichen wird« (S. 25). Wohl wahr,
daß »die Ethnologie an der Seite der Kunst stehen sollte«
(S. 23). Und angesichts solcher Texte wie dem folgenden,
der die auf einem Chokwe-Stuhl (Angola) dargestellte
Beischlafszene aus dem »Blickwinkel des [europäischen]
Künstlers« beschreibt, scheint dies heute auch notwendi-
ger denn je zu sein: »Unablässiger, endloser Koitus, der
mit seinem Durcheinander die Begierde jenes Dritten
anheizt, der, sein zart erigiertes Glied auf die Sprosse
legend, die das Paar wie ein Schlußstein trägt, wartet (bis
er an die Reihe kommt?)« (S.26). Sowohl Szeemann als
auch Minkoff sei an dieser Stelle Marianna Torgovnicks
Gone Primitive - Savage Intellects, Modern Lives (Chi-
cago 1990) als Bettlektüre ans Herz gelegt, darin vor
allem die Kapitel »Taking Tarzan Seriously« und »The
Many Obsessions of Michel Leiris«.
Auch Muriel Olesen, Lebensgefährtin und Mitarbeiterin
von Minkoff und ebenfalls Künstlerin, setzt sich mit einer
weiblichen Skulptur der Yombe aus der Republik Kongo
auseinander, die an Bauch und Rücken je ein Spiegel-
kästchen trägt. Olesen setzt die Figur in Beziehung
zu europäischen Gemälden des 15. und 16. Jahrhunderts
(Tizian, Memling und Mantegna), auf denen Spiegeln
oder spiegelähnlichen Geräten eine besondere Bedeutung
zukommt. Selbstverständlich bleibt es auch hier der
Autorin unbenommen, das Objekt individuell für sich
zu interpretieren. Immerhin verweist sie darauf, daß mit
Kaolinpulver bestreute Spiegel in der Republik Kongo
zur Beschwörung von Regen eingesetzt wurden und mit
Spiegel versehene Figuren schädliche Mächte abwehrten,
wenngleich die Angabe der Quelle hier für den unkundi-
gen Leser hilfreich gewesen wäre. Weiter hat aber dann
das Interesse an der Skulptur nicht gereicht, bei der es
215
TRIBUS 46, 1997
sich nach Olesen vielleicht auch »bloß um ein mit Spie-
geln versehenes Gerät zum Lerchenfang handelte«
(S.22). Nein, wir müssen nicht, wie die Autorin meint, ä
la Alice im Wunderland einen Spiegel durchschreiten,
um der wahren Funktion dieser Skulptur näher zu kom-
men. Ein Telefonat mit dem Ornithologen eines Zoologi-
schen Gartens und die Lektüre entsprechender Fachlite-
ratur bringt uns zumindest schon das Wissen, was es nicht
ist, nämlich besagtes Gerät zum Fangen von Vögeln.
Zwar gilt Afrika als lerchenreichster Kontinent, doch aus-
gerechnet in der Republik Kongo und angrenzenden
Gebieten kommen Lerchen nicht vor. Oder sollte Olesen
gar von den in Europa bekannten »Lerchenspiegeln« wis-
sen, die im Herbst auf abgeernteten Feldern zum Vogel-
fang aufgestellt wurden? Dann wäre auch hier ein ent-
sprechender Hinweis für den Laien angebracht gewesen,
z.B. Bub 1970: 46 f.
Der ehemalige Düsseldorfer Museumsleiter und große
Freund afrikanischer Kunst Werner Schmalenbach bleibt
»stereotyp« in seinem Beitrag: Demnach sei in der afri-
kanischen Kunst alles typisiert. Es gäbe keine einmaligen
Schöpfungen, alles ist »so und so oft wiederholt«, wobei
der Schnitzer (nie Künstler!) manchmal ein bißchen indi-
viduelle Qualität mitgibt (S. 30). Es sei absurd zu meinen,
»wir müßten diese Werke mit den Augen ihrer Schöpfer
und ihrer Nutzer sehen; Das ist weder möglich noch
notwendig« (S.29). Wir müßten afrikanische Kunst also
mit unseren (eurozentristischen) Augen sehen, denn -
»... die Kunst der alten Ägypter mit den Augen der alten
Ägypter zu sehen [...] ist nicht nur unmöglich, wir wol-
len es nicht einmal« (S.3Ü). Wer will »es« nicht? Daß
große afrikanische Meister zu Beginn unseres Jahrhun-
derts noch lebten und - unbeeinflußt von Mission und
europäisch befrachteter Akkulturation - arbeiteten (z. B.
Olowe von Ise, gest. 1938), daß bedeutende Kunstethno-
logen dies auch wahrnahmen (z.B. William Fagg) und
die Bedeutung des Künstlers in seiner Gesellschaft dar-
stellten, ist offenbar unwichtig: »[es] scheint das ethno-
logische Wissen künstlerisch ohne Belang zu sein [...]
die Wissenschaft ist das eine, das andere ist die Kunst«
(S.30L). Schmalenbachs Ausführungen dann zum Phä-
nomen Part pour Part (»als wüßte nicht jeder, daß in
Afrika Kunst niemals um der Kunst willen hergestelll
wurde«) sind nur nachzuvollziehen, wenn man immer
noch die absurde Meinung teilt, daß an schriftlose Völker
keine ästhetischen Ansprüche gestellt werden dürfen,
oder aber, daß diese selbst keinerlei Qualitätsansprüche
an ihre Künstler stell(t)en: »Ganz abgesehen davon, daß
es hier, in Afrika, problematisch ist, überhaupt vom
Künstler zu sprechen, auch wenn es sich um evidente
Kunstwerke handelt. Sinnvoller ist es, von Schnitzern zu
sprechen und damit soziologisch den Rahmen dessen
nicht zu überschreiten, was Kunst hier ist: ein Handwerk«
(S. 36). Man betrachte einmal die westlichen Künstler des
20. Jahrhunderts. War/ist ihr Schaffen denn wirklich frei
von einer lebensnotwendigen Sorge um die Anerkennung
durch Kollegen, Kritiker, Galerien, Museumsdirektoren?
Wirklich Part pour Part?
Geradezu wohltuend ist der kleine Aufsatz von Daniel
Spoerri, selbst Sammler afrikanischer Kunst. Spoerri,
der - verglichen mit den »wissenschaftlich-ethnologi-
schen« Teilen des Kataloges- keineswegs »dilettantische
Bemerkungen zu den Raphiaplüschen der Kuba« gibt,
versöhnt nach der Lektüre Schmalenbachs: »Ich bin kei-
neswegs einverstanden mit jenen Museumsleuten, die
behaupten, Kunst spreche für sich selbst« (S. 39). Spoerri
läßt den Leser in einer klaren Sprache an der Faszination
teilhaben, die diese Textilien auf ihn ausüben, und er
wirft eine Reihe von Fragen auf, die man sich an anderer
Stelle der Publikation häufiger gewünscht hätte. Führen
sie doch dem Leser die Problematik und Vielschichtigkeit
der Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur Afri-
kas vor Augen. Die gelungene Mischung aus persön-
lichem Empfinden und ethnologischem Wissen machen
Spoerris ehrliches Interesse an dem Sujet deutlich.
Bei den »Bilder-Reprisen« stellt die Aneinanderreihung
von vier Zitaten zum abgebildeten Werk »Mutter und
Kind, endlos variiert« der Künstlerin Irma Breitwieser
den Leser vor einige Probleme (S. 48). Der Fußnote ist zu
entnehmen, daß die Textpassagen dem Aufsatz eines
Kataloges entstammen, der anläßlich einer Ausstellung
der Künstlerin in Wien 1996 verfaßt wurde. Wie ein Text
des Jahres 1996 in eine Publikation des Jahres 1995 ohne
entsprechende Erläuterungen gelangen kann, ist schon
spannend. Unklar bleibt auch, ob es sich bei den Zitaten
um Aussagen Breitwiesers selbst handelt oder um die
Interpretation des Autors genannten Aufsatzes. Das abge-
bildete Œuvre der Künstlerin entstand 1992 und wirkt für
die Rezensentin 90 Jahre nach den »Demoiselles d’Avi-
gnon« uninteressant. Vor allem aber kann der Leser - im
Gegensatz zum Werk des Malers Cheri Samba - nicht
erkennen, auf welche Objekte der Corayschen Sammlung
Breitwieser sich bezieht, wie Szalay im Vorwort ver-
kündet (S.8). Dies läßt zwei Schlüsse zu: Entweder
wurde mit der Vorbereitung zur vorliegenden Publikation
bereits 1992 oder früher begonnen und Breitwieser hat
schon zu jener Zeit die Sammlung besichtigt. Dann ist die
Aneinanderreihung von Zitaten aus einem Werk des
Jahres 1996 eine Unverfrorenheit. Oder aber Szalay legt
die Formulierung von der künstlerischen Auseinander-
setzung mit der Corayschen Sammlung großzügig aus
und meint eigentlich die Beschäftigung mit afrikanischer
Kunst an sich. Dann ist der Hinweis im Vorwort eine
bewußte Irreführung des Lesers. Die Abbildung von drei
Notizzetteln, auf denen Daniel Spoerri Skizzen von den
Objekten der Sammlung angefertigt hat, zu denen er sich
ursprünglich offenbar ebenfalls äußern wollte, vom Her-
ausgeber als »lustbetont und spontan hingesetzt, bezeu-
gen sie das Faszinosum der Sammlung« zu bezeichnen,
kann doch wohl nicht ernst gemeint sein.
Mit Cheri Samba kommt wenigstens ein zeitgenössischer
afrikanischer Künstler zu Wort, wenn auch »nur« in Form
eines Gemäldes - »Hommage aux anciens créateurs« -
sowie einer Vorstudie zu demselben; beide sind anläßlich
der Ausstellung entstanden. Das Bild, auf dem Sambas
Auswahl einiger Objekte der Corayschen Sammlung vor
dem Hintergrund eines Selbstporträts zu sehen ist, wird
von einem Text buchstäblich eingerahmt. Aus diesem
geht hervor, daß Samba sich als Gast im Völkerkunde-
museum befand, dessen heutiger Kustos (Szalay) das
Versäumnis Corays, nie in Afrika gewesen zu sein, »um
jenen Künstlern zu begegnen«, durch eine Einladung
afrikanischer Künstler wiedergutgemacht habe. Bedauer-
lich, daß besagte Künstler nicht weiter zu Wort kommen.
Eine rege Auseinandersetzung mit den Betrachtungs-
weisen so bedeutender afrikanischer und europäischer
Künstler wie Samba, Baselitz und Spoerri z. B. in Form
einer Diskussion über nur zwei oder drei Objekte der
216
Buchbesprechungen Afrika
Sammlung wäre ein spannendes Unterfangen gewesen
und erst das hätte Corays Versäumnis wirklich wettge-
macht. So kann man sich des Eindrucks einer Alibifunk-
tion der Einladung bzw. der Einbeziehung Sambas in den
Katalog oder in die Ausstellung nicht erwehren.
Der Bildteil des Kataloges schließlich hält für den Leser
diverse Überraschungen bereit. Die z. T. sehr kurzen
und daher dürftigen Kommentare zur Verwendung der
Objekte im traditionellen Kontext sind in mehrfacher
Hinsicht befremdlich. Vor allem irritiert der Umgang
mit den Quellen. Am Ende der Bildkommentare wird
nämlich nicht nur die verwendete Fachliteratur zitiert,
sondern auch wenigstens eine der Quellen, in denen das
Objekt bereits einmal publiziert wurde: Szalays Publi-
kation von 1986. Als Zeugnisse afrikanischer Kunst par
excellence gelten die »Benin-Bronzen«, die seit nunmehr
fast hundert Jahren wie wohl keine andere Objektgruppe
Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
sind, sowohl in kunstethnologischer als auch vor allem
in historischer Hinsicht. Es ist daher unverständlich, daß
neuere Untersuchungen zu diesem Komplex nicht beach-
tet wurden. Obwohl bereits seit 1983 ein Aufsatz von
Barbara Winston Blackmun und seit 1993 die Disserta-
tion von Stefan Eisenhofer zum Thema der höfischen
Elfenbeinschnitzerei Benins vorliegen, ist bei Szalay zu
lesen, daß die Messing-Gedenkköpfe Benins »seit dem
16. Jahrhundert beschnitzte Elefantenstoßzähne« trugen.
Blackmun und Eisenhofer weisen dagegen nach, daß eine
solche Verwendung von Stoßzähnen in europäischen
Quellen erst für das 17. und 18. Jahrhundert belegt ist,
wobei es sich darüber hinaus offenbar um unbeschnitzte
Zähne gehandelt hat. Schilderungen über beschnitzte
Zähne datieren erst aus dem späten 18. und 19. Jahrhun-
dert (1983; 59f., 1993: 153ff.). Aussagen über Datierun-
gen für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert sollten daher nur
unter großen Vorbehalten getroffen werden.
Bestürzend ist auch die offenkundige Unkenntnis über
andere grundsätzliche Forschungen. So wird der Text zu
den Dan-Masken mit folgendem Kommentar eingeleitet:
»In den siebziger Jahren, als die meisten Informationen
über die Masken der Dan durch Feldforschung eingeholt
wurden, war ihre Bedeutung und Funktion vermutlich
eine andere als um die Jahrhundertwende; die Masken der
Sammlung Coray stammen aus jener oder sogar früherer
Zeit. Wenn diese relativ gegenwärtigen Daten in Zusam-
menhang mit unseren Dan-Objekten zitiert werden, so
geschieht dies behelfsmäßig und im Bewußtsein, daß die-
ses Verfahren problematisch ist.« (S. 66). Die ersten eth-
nographischen Monographien zur Dan-Region stammen
von E. Donner-Becker, P. Vandenhoute und G. Harley und
entstanden in der Zeit von 1939 bis 1950. H. Himmel-
heber und E. Fischer veröffentlichten kunstethnologische
Grundlagenforschungen zu den Dan in der Zeit zwischen
1957 und 1970 und stützten sich dabei auf das seit langem
vornehmlich aus den Gegenden des liberianischen Hin-
terlandes bekannte Material. Warum also bringt Szalay
obigen Vorbehalt ausgerechnet bei den kunstethnologisch
äußerst umfassend erforschten Dan zum Ausdruck? Die
Ausführungen zu den Guro-Masken sind ähnlich frappie-
rend. Auf Seite 78 des Kataloges erfährt der Leser, daß
die Masken der Guro »... vermutlich [...] in vorislami-
scher und voreuropäischer Zeit im Besitz von Kult- und
Geheimbünden und nicht wie später im >Besitz bestimm-
ter Familien«< gewesen seien. Und weiter, daß der »...da
als wichtigste politische Institution [...] eine besondere
Stellung« unter den Bünden eingenommen haben dürfte.
Als Referenz für diese Behauptung verweist Szalay auf
seine Publikation von 1986, S. 38 und 170. Folgt man nun
dortigen Quellenangaben, so fragt sich der Leser, wie
Szalay zu der Annahme kommt. Zum einen hat der Islam
bis heute bei den Guro nicht Fuß gefaßt. Zum anderen
wird in den bestehenden Quellen zur Ethnographie der
Guro - umfassend bei Fischer und Hornberger (1985)
zitiert - kein Bund namens do erwähnt. Im Jahr 1995 kon-
statiert Szalay nun, daß »eine kunstethnologische Aufar-
beitung der historischen Quellen [...] nach wie vor ein
uneingelöstes Forschungsdesiderat« sei (S.78). Aller-
dings muß von Desideraten gesprochen werden, aber an
anderer Stelle: Wenn nämlich in einem um 1933 angefer-
tigten Album der Sammlung Coray ein Anr/iro-Behälter
der Aschanti in das 18. Jahrhundert datiert wird und
Szalay 1995 nicht mehr dazu sagen kann, als »[z]weifel-
los handelt es sich um ein altes und seltenes Stück«
(S. 88).
Mutig und großzügig sind Szalay und seine Mitarbeiter
(deren Autorenschaft für die jeweiligen Legenden nicht
aufgeschlüsselt wird) auch bei der Beschreibung von Ob-
jekten und ihrer Funktion im sozialen Kontext. Bedenken-
los wird mit der Forschungsgeschichte zu den anthropo-
morph gestalteten Tonkrügen der Mangbetu umgegangen,
die zu den bekanntesten Ethnographica Zentralafrikas
gehören und sich in fast allen ethnographischen Museen
Europas finden. Nach Szalay erlebte die Kunst der Mang-
betu ihre Blüte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
wobei sie sich auf die »plastische Durchformung der
Gebrauchsobjekte für den höfischen Gebrauch und ihre
Ausschmückung mit anthropomorpher Motivik« konzen-
trierte (S. 214). Die wichtige Hypothese von Stößel (1984:
129 ff.), daß die anthropomorphe Gestaltung von Gefäßen
der Mangbetu (die erste Abbildung eines solchen stammt
aus dem Jahr 1912) im 19. Jahrhundert-wenn überhaupt-
nur beschränkt und erst um die Jahrhundertwende ver-
stärkt einsetzte und zwar maßgeblich gefördert durch
das europäische Interesse, findet bei Szalay im Jahr 1995
keinerlei Beachtung. Dies ist erstaunlich, denn zumindest
im Jahr 1986 dürfte ihm die Hypothese Stößels nicht
unbekannt gewesen sein: »Sie [die anthropomorph gestal-
teten Töpfe] sind bei den Mangbetu vermutlich damals
[zur Zeit Schweinfurths] schon vorhanden, jedoch eher
selten gewesen. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts werden
die Tonkrüge in großer Zahl - von männlichen Töpfern -
hergestelll und vor allem auch an europäische Abnehmer
- die manchmal auch auf ihnen dargestellt werden - ver-
handelt« (S. 157). Es berührt daher unangenehm, daß
Stößel in der Bibliographie von 1986 nicht auf geführt wird
und daß in der von Szalay angegebenen Literatur diese
Hypothese an keiner Stelle geäußert wird. Wie kommt er
also zu obiger Aussage, die dann 1995 wiederum keinerlei
Erwähnung findet?
Verallgemeinernd wird auch mit dem Wissen um eine
abgebildete Schlitztrommel der Mangbetu verfahren:
»Schlitztrommel, Doppelglocke und Elfenbeinhorn
waren Symbole der Königsmacht und zum Spielen dem
Hoforchester Vorbehalten. Die Schlitztrommel wurde zu
Tanzanlässen geschlagen, durch sie wurde die Ankunft
des Königs gemeldet. Mit der Übergabe von Trommeln
an seine Brüder und zugleich höchsten Vasallen stattete
der König diese mit herrschaftlicher Autorität aus«
217
TRIBUS 46, 1997
(S.221). Als Quelle wird der Beitrag von D. Demolin
»The Social Organization of Mangbetu Music« in African
Reflections - Art from Northeastern Zaire (Schildkrout
und Keim 1990: 195-208) angeführt. Eine Lektüre des
Demolinschen Aufsatzes sowie des folgenden von T. Mil-
ler »Collecling Culture; Musical Instruments and Musi-
cal Change« (op. cit. 1990: 209-215) ergibt jedoch, daß
es bei den Mangbetu zwei Kategorien von Schlitztrom-
meln gab, die flache, glockenförmig gestaltete und die
mit zwei oder vier Standbeinen ausgestattete Trommel,
denen sehr unterschiedliche gesellschaftliche, politische
und rituelle Funktionen zukamen. Innerhalb der ersten
Kategorie sind wiederum wenigstens drei verschiedene
Typen zu nennen; ndedundu, nemandru und ahiamgama.
Nemandru wurde z. B. bei den z. T. im Verborgenen statt-
findenden mamboli-Riten gespielt, bei denen ein Sänger
die Zukunft Vorhersagen und Kranke heilen sollte. Die
bei Szalay abgebildete Schlitztrommel könnte den nde-
dundi<-Typ verkörpern, der unter anderem die im Zitat
genannten Funktionen erfüllen sollte, doch leider bleibt
ein schlüssiger Beweis aus.
Zu den weiteren Unzulänglichkeiten des Kataloges ge-
hören redaktionelle Flüchtigkeitsfehler wie: Weglassen
von wichtigen Anführungszeichen (S. 13, Bildunter-
schrift), unterschiedliche Schreibweise der Ethnien
(S.29, Text/Bildunterschrift), fehlerhafte Quellenanga-
ben (S.22I. Literatur zu Nr. 197), Fehlen von Textpassa-
gen (S.248, I. Absatz). Trennungs- und Schreibfehler
(fünf allein auf S. 248). Ärgerlich sind auch die häufig
aufgesetzt wirkende und zudem unsachgemäße oder un-
passende Verwendung von Fremdwörtern und Bezeich-
nungen: Warum ausgerechnet die »Ozellen« eines Leo-
parden den Hals eines weiblich gestalteten Tonkruges der
Mangbetu zieren sollen (S.25), weiß der Autor allein,
handelt es sich dabei doch um die einfachen Lichtsinnes-
organe niederer Tiere (Gliederfüßer, Insekten, Spinnen-
tiere), die noch kein Bildsehen ermöglichen. Eine mit
Hörnern und Hauern verzierte Maske der We (Elfenbein-
küste) evoziert kein »feindliches, Furcht einflößendes
Wesen der Wildnis«, sondern allenfalls die Vorstellung
davon (S.70). »Die Halsketten der Luba bestehen ganz
oder teilweise aus Perlen europäischer Herkunft. Was
Angela Fisher allgemein über Kunstperlen in Afrika aus-
führt. gilt weitgehend auch für die Luba« (S. 210). Was
genau sind Kunstperlen? Steht die Bezeichnung synonym
für europäische Perlen? Oder hat es was mit dem Mate-
rial, aus dem sie gefertigt sind, zu tun? Handelt es sich gar
um »künstlerisch« gestaltete Perlen? Worin besteht der
Unterschied zwischen theriomorph und zoomorph gestal-
teten Objekten (S. 76, 126)? Der griechische Begriff »the-
riomorph« benennt die Tiergestaltigkeit von Göttern,
während der vor allem im angelsächsischen Bereich ver-
wendete neutralere Begriff »zoomorph« (gr.) einfach nur
»tiergestaltig« bedeutet und sich somit wesentlich besser
zur Beschreibung tiergestaltiger Objekte eignet. Über-
haupt scheint die Auseinandersetzung mit afrikanischen
Tieren Schwierigkeiten zu bereiten. Bei den Amulettfigu-
ren der Luba (Zaire) u. a. als Materialangabe »Nilpferd-
zähne« anzugeben (S.203), zeugt von keiner eingehen-
deren Beschäftigung mit der materiellen Kultur. Die
deutschsprachige volkstümliche Verwendung der Be-
zeichnung »Nilpferd« ist unkorrekt, denn es handelt sich
um Flußpferde, von denen zwei Arten aus der Familie der
Hippopotamidae, Hippopotamus amphibius und Coerop-
sis Uberiensis (Zwergflußpferd) in Afrika Vorkommen.
Sprachliche Unklarheiten erschweren das Verständnis
des sozialen Kontextes, in den Objekte eingebunden sind.
So wird bei den Elfenbeinobjekten der Lega (S. 212) auf
den Männerbund bwami verwiesen, der streng in fünf
Ranggruppen gegliedert sei. Nur wenige Männer erhiel-
ten die Mitgliedschaft in die beiden höchsten Ränge,
yananio und kindi. »Die Elfenbeinobjekte - Statuetten,
Masken, Löffel u. a. m. - erhielten die kindi anläßlich des
Eintritts in diese Ranggruppe oder während eines Stufen-
aufstiegs innerhalb dieser.« Also steht die Bezeichnung
kindi sowohl für den Rang als auch für das einzelne Mit-
glied dieser Ranggruppe des ¿wara/-Bundes? Und dies
unabhängig davon, in welcher der offenbar mehreren
Stufen (wieviele?) des kindi-Ranges sich das Mitglied
befindet?
Im Kunsthandel bestimmt die Authentizität von Ethno-
graphica maßgeblich deren Wert. Das Vorgehen von
Pariser Händlern und Sammlern zu Beginn dieses Jahr-
hunderts, Ethnographica zu verändern - z. B. durch das
Entfernen der Patina -, um sie dem herrschenden europä-
ischen Geschmack anzupassen, gilt heute als Sakrileg.
Und in Museums- und Sammlerkreisen bestehen sehr
unterschiedliche Auffassungen darüber, ob und wieweit
Objekte überhaupt restauriert bzw. »ergänzt« werden dür-
fen. Solche Skrupel scheint Szalay nicht zu haben, denn
wie sonst ließe es sich erklären, daß sich bei der als
Frauenfigur der Kongo (Yombe?) bezeichneten Skulptur
auf Seite 138 eine Halskette aus Kalabarbohnen und
Eisenringen findet, die auf der Abbildung derselben Figur
in der Publikation von 1986 (S. 112) fehlt? Cheri Samba
zumindest bildet eben diese Figur auf seinem 1994 ent-
standenen o. g. Gemälde noch ohne Halskette ab (S. 50f.).
Die Afrikakarte (S. 56-57) schließlich ist ein Lehrbei-
spiel in fehlgeschlagener »political correctness«: Wäh-
rend der Mai-Ndombe-See zur besseren Orientierung des
Lesers noch den Zusatz des in der Kolonialzeit vergebe-
nen Namens Leopold-II.-See trägt, hielt man dies beim
Mobutu-Sese-Seko-See (Albert-See) schon nicht mehr
für erforderlich. Dafür beließ man den Turkana-See nach
wie vor als Rudolfsee. Im Jahr 1995 aberden Rutanzige-
See/Edward-See allen Ernstes noch als Idi-Amin-Dada-
See zu bezeichnen - wiederum ohne kolonial-zeitliche
Nennung - ist unentschuldbar. Zwar sind die in unmittel-
barer Nähe zum Kivu-See lebenden Lega, von denen
bedeutende im Katalog gezeigte Objekte stammen, ver-
merkt, dafür wird aber der Name des Sees unterschlagen.
Andererseits werden jedoch der Mweru- und Bangweulu-
See aufgeführt, wenngleich aus dieser Gegend keinerlei
Objekte abgebildet sind. Da macht es kaum noch etwas
aus, daß die Zentralafrikanische Republik schlicht ver-
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ISBN 3-8258-2462-4
Die aus afrikanischen Traditionen herzuleitenden Can-
domblé-Kulte von San Salvador do Bahia sind Thema
der Hamburger Dissertation von Ralph Becker, die jetzt
auch als Buch vorliegt, ln Bahia hat der Autor zwei For-
schungen von insgesamt über 15 Monaten (1988-89 und
1990-91) durchgeführt. Diese Stadt ist ein Zentrum des
Candomblé, vor allem der als Sklaven eingeschleppten
Yoruba aus dem Südwesten des heutigen Nigeria und
Südosten des angrenzenden Benin. Die Verankerung die-
ser Kulte in Bahia läßt sich bereits an der Zahl der
Kultzentren (terreiros) ablesen - über 2 300 von ihnen
sind in der FEBACAB (Federaçào Baiana do Culto Afro-
Brasileiro) eingetragen. Ihre Zahl ist jedoch noch größer,
da viele Kultzentren nicht in diesen Dachverband inte-
griert sind.
Bereits in seiner Einführung über den Zusammenhang
zwischen den aus Afrika nach Brasilien eingeschleppten
Personen (geschätzt werden über drei Millionen zwischen
1500 und Mitte des 19. Jahrhunderts) und des Candomblé
bringt der Autor einige hochinteressante Fakten. Ämter,
die in Afrika hauptsächlich von Yoruba-Männern beklei-
det wurden, sind in Brasilien auf Frauen übergegangen.
Der Autor erklärt dies durch die relativ größere Bewe-
gungsfreiheit, die sie als Köchinnen, Dienstmädchen etc.,
im Gegensatz zu den meist auf den Plantagen arbeitenden
Männer genossen. Ein in Afrika wichtiges Amt, das des
babaläwo, des Orakelpriesters, konnte in Brasilien nicht
richtig Fuß fassen. Die hohe Spezialisierung, die langen
Lehrzeiten und der große Zeitaufwand für diese Funktion
waren mit der Lebensweise der Sklaven nicht zu vereinba-
ren. An die Stelle des babaläwo tritt in Bahia der ein
Kultzentrum leitende mäe (oder päe) do santo.
Nach einer Betrachtung der Funktionen der Kultzentren
und der verschiedenen Kultleiterinnen und Kultleiter
folgt eine eingehende Darstellung der unterschiedlichen
Wesenheiten, die das Pantheon des Candomblé bilden,
nämlich Orixâs, Egus und Caboclos - letzteres eine
Bezeichnung für die Geister verstorbener Indianer.
Einer der wertvollen Aspekte dieser Untersuchung ist
gerade die vergleichende Betrachtung der Erscheinungs-
formen der Orixâs in Afrika und in Brasilien und die
Suche nach Erklärungen für bestimmte in Bahia festge-
stellte Verlagerungen. Durch den Freiheitsverlust der
Afrikaner und den Zusammenbruch der alten sozialen
Netze wurden in Brasilien jene Wesenheiten unwichtiger,
die mit den Clanen und den Verwandtschaftsgruppen zu-
sammenhingen. So verschwanden einige Figuren, andere
dagegen, wie die Esü, eine Trickster-Figur der Yoruba,
gewannen in Brasilien, verglichen mit ihrem afrikani-
schen Pendant, an Bedeutung. Die Tatsache, daß die indi-
anischen Mythologien voll sind von Erzählungen über
tricksterartige Figuren, die sogenannten Buschgeister,
wirft m. E. die Frage auf, ob diese Veränderung nicht auf
einen Einfluß indianischer Mythologien auf die afroame-
rikanischen Kulte zurückzuführen ist.
Ebenfalls relevant sind die von Becker ausgearbeiteten
Bedingungen, die ein Überleben bestimmter Yoruba-
Gottheiten in Brasilien erlaubten. Hierzu gehören Gott-
heiten, die eine den neuen Lebensbedingungen entspre-
chende Funktion ausfüllen konnten, die eine über die
engen sozialen Netze hinausgehende Bedeutung besaßen
und die die Möglichkeit zur Synkretisierung mit der
Religion der Herrschenden boten (S. 180 ff.).
Erklärungen zu den Formen der Trance und Besessenheit
während der Rituale bilden den Schwerpunkt des folgen-
den Kapitels. Hierzu hat der Autor die umfangreiche
Terminologie analysiert, mit der die Teilnehmer verschie-
dene Zustände von Besessenheit benennen. Diese lingui-
stische Analyse wirft Licht auf die zugrundeliegenden
Auffassungen. Eine Schlußbetrachtung faßt die verschie-
denen ethischen Erklärungstheorien zu diesen Phäno-
menen zusammen.
Gleich am Anfang teilt Becker mit, daß die für seine Stu-
die notwendige Vertiefung der Gespräche erst möglich
wurde, nachdem er sich selbst initiieren ließ und somit
ein integrierter Bestandteil der Gemeinschaft wurde. Die
mae do santo, die seine Initiation durchführte, wurde
auch sein »Hauptinformant« (sic, S. 3). Die hier geweckte
Erwartung, daß der Autor im Laufe der Arbeit seine per-
sönlichen Erfahrungen näher darstellt, wird jedoch nicht
erfüllt. Da der Leser erfährt, daß die Initiation den Kern
dieser Kulte bildet und dadurch eine besondere Bezie-
hung des Individuums zu einer bestimmten Orixä ent-
steht, die sich durch Besessenheit manifestiert, scheint
mir diese Neugier hier durchaus berechtigt zu sein: Ein
wesentliches Merkmal der Initiation besteht darin, »den
Körper des Mediums für die Gottheit so zu bereiten, daß
dieses sich jeder Zeit in ihm/dem Körper/manifestieren
219
TRIBUS 46, 1997
kann« (S.307). Welche konkreten Auswirkungen hatte
die Initiation also für den Autor? Oder waren sich For-
scher und Kultleiterin im Stillen darüber im Klaren, daß
seine »Initiation« von anderer Art war? Die Scheu der
meisten Ethnologen, über die näheren Umstände ihrer
Feldforschung zu schreiben, ist bekannt. Es gibt sicher
auch andere Themen, bei denen dies nicht zwingend not-
wendig ist. Wenn jedoch die durch die Initiation bedingte
Besessenheit nach Ansicht des Autors die Basis der von
ihm untersuchten Phänomene bildet, kann das Schweigen
über seine eigene Initiation methodisch unsauber und
befremdlich wirken.
Die Analysen auf linguistischer Ebene sind eine der Stär-
ken dieses Buches. So unterscheidet Becker bei den in
den Kulten verwendeten Termini jeweils, ob es sich um
Candomble-Alltagssprache oder Ritualsprache handelt,
und aus welcher Sprache (u.a. Ewe, Portugiesisch) sie
stammen. Diese Termini werden abgekürzt und in einem
ausführlichen und nützlichen Glossar erklärt. Ihre zusätz-
liche Inklusion im Text hinter jeder Bezeichnung (z. B.
CASp, CASewe, CRSa) erschwert die Lektüre aber
unnötig.
Heutzutage müssen Autoren zunehmend jene Arbeiten
übernehmen, die eigentlich dem Verlag zufallen - vom
Layout bis zur Gestaltung von Tabellen und Diagram-
men. Allerdings sollte man meinen, daß ein Lektor immer
noch in jedem Verlag existieren sollte. Im vorliegenden
Fall häufen sich Satzfehler aber derart, daß sich die Frage
aufdrängt, ob der dieses Buch herausgebende Verlag
überhaupt so etwas wie ein Lektorat besitzt. Eine solide -
trotz der angeführten Schwachpunkte - und sorgfältige
Arbeit hätte auch eine sorgfältigere Edition verdient.
Maria Susana Cipolletti
Dillehay, Tom D. (Hrsg.);
Tombs for the Living: Andean Mortuary
Practices.
A Symposium at Dumbarton Oaks 12th and
13th October
1991. Washington D.C.; Dumbarton Oaks
Research Library and
Collection, 1995. 425 Seiten.
ISBN 0-88402-220-X
Dieses Buch, hervorgegangen aus einem Symposium in
Dumbarton Oaks 1991. dürfte unbestritten eine der wich-
tigsten neueren Publikationen zu dem Thema Tod und
Bestattungssitten im Andenraum sein. Es enthält sowohl
archäologische (Moche, Nasca, San Agustin, Chinchorro
u.a.) als auch ethnohistorische (Mapuche, Inka) und
ethnographische (Kallawaya) Kapitel und bietet darüber
hinaus, wenngleich nicht explizit, auch unterschiedliche
theoretische Ansätze (Reflektiert eine Bestattung - nach
Binford 1971 - die soziale Position des Verstorbenen oder
bietet sie vor allem den Lebenden die Möglichkeit durch
Ahnenkulte ihre Machtverhältnisse zu strukturieren?).
Untermauert sind die verschiedenen Thesen mit einer
Fülle an Daten, die größtenteils aus neueren Forschungen
stammen.
Rivera greift bei seiner Diskussion der Chinchorro-Kul-
tur (er hinterfragt nicht, ob es wirklich eine Chinchorro-
Kultur gegeben hat) nochmals die Diskussion auf, ob
nicht zumindest ein Teil der andinen Bevölkerung
aus dem Amazonastiefland eingewandert ist, und glaubt
dafür auch Beweise bei den Grabbeigaben der Chin-
chorro-Mumien gefunden zu haben. Große Ähnlichkeit
mit Kulturen des Amazonasgebietes bei den Waffen
sowie osteoarchäologische Befunde (S. 65) scheinen
seine Annahmen zu bestätigen. Robert Drennan erkennt
in San Agustín Siedlungsmuster kleiner Häuptlingstümer
(■chiefdoms), für die an den Grabstätten praktizierte
Ahnenkulte ein wichtiger Machterhaltungsfaktor waren
(95). Christopher Donnan stellt neue Erkenntnisse über
die Bestattungssitten der Moche-Kultur, begleitet von
detailliertem Datenmaterial, vor: Besonders ausgestattete
Fürstengräber findet man nur in der näheren Umgebung
von Pyramiden (153). Bei den Grabbeigaben besteht die
Tendenz, eher auf eine höhere Variabilität der Gefäßmo-
tive als auf deren Anzahl zu achten. In manchen Fällen
stimmt die Ikonographie der Keramiken mit dem Status
des Bestatteten überein (143). Generell gab es in der
Moche-Kultur große Unterschiede in der Ausstattung der
Gräber, aber es wurde eine »Grundlinie« beibehalten:
Jedem Verstorbenen wurde ein Teller aus Ton unter den
Kopf gelegt, nur bei den Fürsten war es ein Teller aus
Gold. In den Händen fanden sich kleine Kupferplättchen,
bei den Fürsten jedoch große Objekte aus Silber oder
Gold (155). Carmichael stellt bei der Analyse der Nasca-
Kultur die Frage nach der politischen Organisation. Sei-
ner Ansicht nach lassen die Grabbeigaben und auch die
Siedlungsreste nur den Schluß zu, daß es sich hier um
middle-range societies bzw. einfach strukturierte Häupt-
lingstümer (chiefdoms) handelt (181). Tom Dillehay zeigt
am Beispiel der Mapuche, wie die Bestattung eines
Kriegshäuptlings und die darauf folgenden Rituale der
Machterhaltung des Nachfolgers dienten (283). Nie-
derrangige Häuptlinge wurden demnach ohne Rituale
bestattet, ihr biologischer Tod war zugleich auch ihr
gesellschaftlicher Tod. Bei hochrangigen Häuptlingen
errichtete man dagegen einen Grabhügel. Dadurch wurde
sein »sozialer« Tod hinausgeschoben, und man gewann
Zeit, um einen neuen Herrscher einsetzen zu können. Der
Verstorbene wurde zu einem Ahnen, die Grabhügel für
das Abhalten von Ahnenkulten aufgesucht (296). Diese
Bestattungsrituale behielt man bis in das 20. Jahrhundert
hinein bei. Es gibt heute noch Grabhügel, die zu zeremo-
niellen Zwecken genutzt werden (296). Die dort abgehal-
tenen Rituale dienen zwei Zwecken; Sie heben den Kör-
per symbolisch in die Überwelt der Ahnen, den Häuptling
in einen Ahnen verwandelnd, und stellen dadurch die
Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten
her (296). Frank Salomon stellt, nach einer kritischen
Quellenanalyse, ein idealtypisches Bild andiner Ahnen-
kulte und /macö-Verehrungen vor (318). Ausgehend
von schriftlichen Zeugnissen des 17. Jahrhunderts gibt er
detaillierte Beschreibungen der Organisation religiöser
Kulte sowie der Einbettung sozialer Einheiten in das reli-
giöse Geschehen. Bastiens Beitrag basiert auf einer eth-
nographischen Studie eines Begräbnisses bei den Kalla-
waya (355). Er stellt in seinem Artikel zunächst seine
These über die Verehrung von bestimmten Bergen vor.
Tiahuanaco liegt beispielsweise am Illimani, der als die
wichtigste Berggottheit des Altiplano und der umliegen-
den Andenketten am Titicacasee gesehen wird (357).
Berge waren wichtige Metaphern für Fruchtbarkeit (Was-
serspender). In diesem Zusammenhang sind auch die
220
Buchbesprechungen Amerika
Begräbnisstätten der Kallawaya zu sehen. Ein Mitglied
eines ayllus muß am Fuße des Berges bestattet werden, zu
dem sich das ayllu zugehörig fühlt. Der Verstorbene kann
sonst die uma pacha, die Bergspitze, mythologischer
Ursprungs- und Rückkehrort für Menschen, Tiere, Zeit
und Geschichte, nicht erreichen (360). Die dem Ver-
storbenen beigegebenen Textilien enthalten Botschaften
verschiedener Art: Sie erzählen die Biographie der Per-
son, die sie getragen hat und zeigen ihre Zugehörigkeit
zu einem bestimmten ayllu (365). Trophäenköpfe waren
nach John Veranos Ansicht wahrscheinlich keine Kriegs-
trophäen, sondern stammen aus rituellen Opferungen
(215). Eine These, der von Donald Proulx heftig wider-
sprochen wird.
Doris Kurella
Götz, Nicola H.;
Obeah - Hexerei in der Karibik - zwischen
Macht und Ohnmacht. Europäische Hoch-
schulschriften, Reihe 19 B, Ethnologie,
Bd.42. Frankfurt a. M.: Lang, 1995. 256 Sei-
ten.
ISBN 3-631-48271-X
Das Obeah der englischsprachigen Karibikinseln stellt im
Gegensatz zu dem ihm verwandten Vodou Haitis ein bis-
lang sehr wenig untersuchtes Phänomen dar. ln ihrer eth-
nohistorischen Studie, die den Zeitraum von der Mitte
des 18. Jahrhunderts (erster Sklavenaufstand) bis in die
30er Jahre dieses Jahrhunderts (Unabhängigkeit) umfaßt,
versucht sich die Autorin der Materie jedoch nicht über
eine traditionelle ethnologische oder ethnohistorische
Studie zu nähern, sondern sie entscheidet sich, die Ent-
stehung dieser kulturellen Kategorie während des ange-
sprochenen Zeitraumes zu betrachten.
Obeah basiert auf einem grundlegenden Aspekt, der allen
unterschiedlichen Weltanschauungen der karibischen
Religionen und Kulte zugrunde liegt: »dem fest verwur-
zelten Glauben an die Wichtigkeit der Verstorbenen und
deren Einfluß auf die Lebenden« (S. 41). Ein Obeahmann
war und ist in der Lage, die Welt mit Hilfe magischer
Mittel und übermenschlicher Fähigkeiten zu seinem oder
seines Auftraggebers Vorteil zu manipulieren. Um dieses
Ziel zu erreichen, kommuniziert er mit den (Ahnen)-
Geistern. Die Autorin bezeichnet einen Obeahmann je-
doch nicht als Hexer, sondern als Medizinmann, der
gleichzeitig Freund, Pfarrer, Psychiater und Arzt in einer
Person verkörperte, und so der schwarzen Bevölkerung
der Karibik moralischen Rückhalt bot (S. 95). Durch sein
Charisma, auf dem seine Stellung beruhte, erschien er
den weißen Sklavenhaltern häufig als Bedrohung. Es
wurde ihm unterstellt, die Sklaven aufzuhetzen und zum
Aufstand aufzurufen. Er war als prominenter Vertreter
schwarzer Kultur der Inbegriff des schwarzen Rebellen
gegen weiße Werte und Macht (S. 120). Gleichzeitig
machten sich die weißen Großgrundbesitzer jedoch die
Fähigkeiten des Obeahmannes zunutze, um sich vorzeitig
gegen Racheakte entlassener oder bestrafter Sklaven
abzusichern.
Während der gesamten Kolonialzeit wurde Obeah von der
englischen Obrigkeit entschieden bekämpft. Die weiße
Elite sah sich durch diese religiöse Praxis herausgefordert.
und versuchte mittels eigens gegen Obeah erlassener
Gesetze, die schwarze Bevölkerung unter Kontrolle zu
halten, indem sie bestimmte Verhaltensweisen kriminali-
sierte. Das Ganze wurde als Zivilisationsprozeß, der letzt-
lich immer ein Deafrikanisierungsprozeß war, gesehen
(S. 142). So wurde der farbigen Bevölkerung auch der
Niedergang der Zuckerrohrplantagenwirtschaft zur Last
gelegt, denn ihre Rückständigkeit, exemplifiziert an dem
immer noch vorhandenen Obeah-»Aberglauben«. ließ in
den Augen der Weißen keinen wirtschaftlichen, techni-
schen und sozialen Fortschritt zu (S. 163).
Der Obeahmann stand aus der Sicht der Weißen für alles
Schlechte, Rückständige und Aufrührerische, das der
schwarzen Kultur angeblich innewohnte. Er verkörperte
in Zeiten sozialen Aufruhrs und gesellschaftlicher Um-
brüche das Böse an sich. Die Macht des Obeahmannes
lag in den Beziehungen zwischen den beiden Bevölke-
rungsgruppen begründet. Schon alleine die Drohung mit
Obeah löste auf der jeweiligen Gegenseite Angst aus und
zeigte so Konsequenzen. Andererseits war seine Macht
den ständigen Beweis schuldig, daß sein Zauber auch
funktioniert. Und er konnte, obwohl er starken Einfluß
auf die schwarze Bevölkerung hatte, keine Änderungen
im Sozialgefüge zugunsten der Sklaven herbeiführen.
Die Herangehensweise der Autorin erlaubt Einblicke
in die Gesellschaft der englischsprachigen Karibik im
19. Jahrhundert, die Obeah nicht einfach als Hexerei
abtat, sondern es letztlich durch ihre tiefsitzende Furcht
vor sozialen Veränderungen zur kulturellen Kategorie
aufwertete. Die Autorin wird so nicht nur der Darstellung
des eigentlichen Obeah gerecht, die in dem Buch keines-
wegs zu kurz kommt, sondern zeigt es vor allem in
seinem kulturellen Kontext. Die Quellen sind präzise und
in Kategorien unterteilt aufgelistet. Ein interessantes
und spannendes Buch.
Doris Kurella
Haberland, Wolfgang:
Ich, Dakota. Pine Ridge Reservation 1909.
Photographien von Frederick Weygold. Ber-
lin; Reimer, 1986. 147 Seiten
Angeregt durch die hohe Qualität und Aussagekraft der
Photographien, die zur Sammlung Frederick Weygold
gehören, faßte Wolfgang Haberland den Entschluß, diese
visuellen Dokumente einer breiten Öffentlichkeit vor-
zustellen. Es war im Sommer 1909, als der deutsch-ame-
rikanische Maler Frederick Weygold im Auftrag des
Harnburgischen Museums für Völkerkunde die Pine-
Ridge-Reservation besuchte, um vor Ort »völkerkundli-
che Gegenstände zu sammeln, zu zeichnen und zu photo-
graphieren«. Bereits in seinem Antrag zur Durchführung
der Reise nannte Weygold als Hauptbeweggrund, die
photographische Dokumentation der indianischen Zei-
chensprache. An diesen Ausgangspunkt knüpft der Titel
»Ich, Dakota« an, dem die Photographie »Ich, Lakota«
aus der Serie »Zeichensprache« zugrunde liegt.
Im Mittelpunkt der Publikation stehen 150 Photographien
von Frederick Weygold, die einen Einblick in das india-
nische Leben auf der Pine Ridge Reservation zu Beginn
dieses Jahrhunderts geben. Neben Mitgliedern der Oglala
zeigen die Photos auch indianische Personen, die sich zu
221
TRIBUS 46, 1997
der Zeit auf Pine Ridge aufhielten, ein Beleg für weitver-
zweigte Verbindungen zwischen den Reservationen.
Die Photographien werden in drei Themenkomplexen
vorgestellt:
I. Portraits politischer Führungspersönlichkeiten
Weygold konnte sich glücklich schätzen, noch viele der
Oglala kennenzulernen, die sich in den Kämpfen gegen
die Amerikaner als Führungspersönlichkeiten bewiesen
hatten und deren Namen eng mit der Geschichte der
Oglala verknüpft sind. Durch seine Dokumentation wur-
den ihre Namen. Gesichter und Erinnerungen der Nach-
welt überliefert. Die Komposition von Portraitphoto und
Kommentar läßt Bildergeschichten von bedeutenden Per-
sönlichkeiten entstehen, die es dem Betrachter erlauben,
sich den einzelnen Personen zu nähern.
II. Give-away-Fest
Daß es Weygold darum ging, ein photographisches
Zeitbild zu erstellen, zeigen seine Aufnahmen vom Give-
away-Fest, das am 5. Juli 1909 stattfand. Seine Dokumen-
tation gleicht einem Film, der Ereignisse in einzelnen
Sequenzen festhält. Zu sehen sind Aktivitäten, die im
Kontext des Geschenkeverteilens stehen. Das Give-away-
Fest ermöglicht es wirtschaftlich besser gestellten Perso-
nen und Familiengruppen, durch großzügige Geschenke
bedürftigen Menschen zu helfen und gleichzeitig ihr eige-
nes Sozialprestige zu erhöhen. Auch heute ist dieser
Brauch mit seiner integrative!! Wirkung nach wie vor von
großer Bedeutung.
III. Zeichensprache
Die lautlose Verständigung durch Zeichen auf Bildern
festzuhalten war ein langgehegter Wunsch Weygolds.
Tatsächlich ist es Weygold gelungen, diese Art der Kom-
munikation durch einzigartige Photos zu belegen.
Die Photographien Weygolds sind durchweg von großer
historischer Aussagekraft, zeigen sie doch die Plains-
Kultur im Umbruch. Die Überlagerung von Tradition und
Moderne ist spürbar, und abzulesen etwa am äußeren
Erscheinungsbild oder an den für einzelne Personen
beschriebenen Aktivitäten. Für Haberland ist der »Mann
zwischen zwei Welten« ein typischer Vertreter für die
damalige Erwachsenen-Generation.
Obwohl Weygold ohne Stativ photographierte und somit
beweglicher war, wirken zahlreiche Photos gestellt. Bild-
komposition, Körpersprache, und nicht zuletzt Gegen-
stände, die er als Requisiten einsetzte, deuten darauf hin,
daß für Portraitaufnahmen das Erscheinungsbild im vor-
aus festgelegt wurde.
In der Verbindung von ausführlicher Einleitung zur tradi-
tionellen Kultur der Oglala-Sioux und gezielten Erläute-
rungen zu den Photos wird der kulturhistorische Kontext
übersichtlich dargestellt. Allgemeine und detaillierte
Informationen ergänzen sich und vermitteln gezielt
Hintergrundwissen zum Verständnis der indianischen
Lebenswelt, die Weygold 1909 angetroffen hat.
ln zahlreichen Quellen wurden die Geschichte, Religion
und Kultur der Oglala bereits dokumentiert und re-
konstruiert. Die Photographien Weygolds leisten einen
wichtigen Beitrag, da sie geradezu herausfordern, diese
umfangreichen Überlieferungen zu präzisieren.
Sonja Schierle
Kalka, Claudia:
Eine Tochter ist ein Haus, ein Boot und ein
Garten. Frauen und Geschlechtersymmetrie
bei den Warao-Indianern Venezuelas, In:
Ethnologische Studien, Band 25 (Hrsg.: U.
Köhler). Münster/Hamburg; Eit Verlag,
1995. 401 Seiten, 19 Abbildungen.
ISBN 3-8258-2132-3
Zahlreiche Studien zur ethnologischen Frauenforschung
haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, ethno-
graphisch bereits gut erforschte Gesellschaften aus
einer neuen Perspektive zu betrachten. Nicht nur die
Geschlechterbeziehungen, auch die gesamte Gesell-
schaftsorganisation wird mit neuen Fragestellungen ana-
lysiert. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn kann
hierbei beachtlich sein, insbesondere wenn die durch
den sogenannten »male bias« bedingten Forschungsdesi-
derate aufgezeigt und überwunden werden. Eine Revi-
sion der Forschung von männlichen Ethnologen, die vor
allem die Männer als Repräsentanten einer Gesellschaft
betrachteten, öffnet den Blick für das vielerorts facet-
tenreiche Zusammenspiel von Macht und Einfluß der
Geschlechter und Generationen.
Dies ist auch die Intention der vorliegenden Publikation,
einer Dissertation, mit der die Autorin 1994 am Institut
für Völkerkunde in Freiburg promoviert hat. Am Beispiel
der Warao-Indianer im Orinoko-Delta Venezuelas weist
Claudia Kalka nach, wie Frauen und Männer unter-
schiedlichen Alters das wirtschaftliche, gesellschaftliche,
religiöse und politische Leben so gestalteten, daß von
einer geschlechtssymmetrischen Gesellschaft gesprochen
werden kann. Die sehr breitgefächerte Analyse basiert
auf einer umfangreichen Auswertung der ethnographi-
schen Literatur über die Warao-Indinaner, geht aber
anhand eigener Feldforschungsergebnisse, die Ende der
80er und Anfang der 90er Jahre gewonnen wurden, weit
über diese hinaus.
So referiert der erste Teil der Arbeit sehr detailliert die
bereits vorhandenen Erkenntnisse über die unterschied-
lichen Lebensbereiche der Warao-Indianer und stellt sie
den eigenen Forschungserkenntnissen gegenüber. Hier-
bei ist es die Absicht der Autorin, die Lebenswelt der
Frauen stärker in den Mittelpunkt zu rücken, indem sie
den Tagesablauf, den Frauenalltag während der einzelnen
Jahreszeiten eindrücklich beschreibt. Darüber hinaus ist
es ihre Intention, das Verständnis für das spezifische
Zusammenwirken der Geschlechter in der Warao-Kultur
zu verbessern, ln ihrer Untersuchungsmethode, die sie
auch für andere Gesellschaften für richtungsweisend hält,
setzt sie sich sehr genau mit der auf Interdependenz
ausgerichteten Arbeitsteilung von Frauen und Männern
in der Subsistenzproduktion, den Besitzbeziehungen und
der Bewertung einzelner Aktivitäten auseinander.
Im Kontext der familiär-verwandtschaftlichen Bezie-
hungsnetzwerke wird die Bedeutung unterschiedlicher
Formen der ehelichen Residenz und des häuslichen
Miteinanders diskutiert, ebenso der Statuswechsel mit
zunehmendem Alter. Claudia Kalka weist nach, daß die
alle Lebensbereiche verbindende Geschlechtersymmetrie
das im Weltbild verankerte Prinzip der Harmonie und
des Ausgleichs widerspiegelt. Wenngleich Frauen und
Männer unterschiedliche Macht- und Einflußbereiche
Buchbesprechungen Amerika
haben, verschiedene Pole im ehelichen und familiären
Leben bilden, so ergänzen sie sich dennoch in einer auf
Balance ausgerichteten Art und Weise.
Aufbauend auf Ilse Lenz’ richtungsweisendem theore-
tischen Ansatz zur Geschlechtersymmetrie werden hier
gängige Methoden der Gesellschaftsanalyse in Frage
gestellt und einzelne Machtfelder - im Sinne der Verfü-
gungsbereiche über Ressourcen und Entscheidungspro-
zesse von Frauen und Männern - neu zusammengefügt;
So richtet Kalka den Blick keineswegs nur auf die Uxori-
Matrilokalität als Strukturprinzip der Warao-Gesell-
schaft, sondern darauf, wie sich die Lebensphasen und
die sozialen Rollen der Männer durch Haushaltsdynami-
ken und den Wandel der Familienformen verändern.
Das Leben der Männer erscheint - angesichts des auf
die Frauen und die Geschlechterbeziehungen gerichteten
Untersuchungsfokus - in einem neuen Licht, denn ihre
familiäre Stellung und gesellschaftliche Anerkennung
müssen sie sich erst durch die Eheschließung und die
zu übernehmenden Brautdienste erarbeiten. Frauen als
Töchter sind folglich die zentralen Vermittlungsinstan-
zen. auf sie richtet sich die Zukunftorientierung der Müt-
ter und Väter. Eine Tochter wird, wie der Titel der Publi-
kation andeutet, mit einem Haus, einem Boot und einem
Garten gleichgesetzt, wobei die Versorgung der Schwie-
gereltern von den Töchtern und den Schwiegersöhnen in
arbeitsteiliger Pflichterfüllung gewährleistet wird.
Zwar werden die internen Dynamiken der Machtbalan-
cen in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels mobilisiert,
wobei die Geschlechtersymmetrie aber keineswegs
einem patriarchalischen Wertesystem weicht, sondern
weiter fortbesteht - wenn auch mit unterschiedlichen
Gewichtungen, Verschiebungen und Diversifizierungen
der Machtfelder. Dieses überzeugende Fazit ihrer For-
schung hält die Autorin den feministischen Positionen
entgegen, die einen weltweiten Trend zur Männerherr-
schaft postulieren.
Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die sehr umfas-
senden Warao-spezifischen Forschungsergebnisse in-
tensiver mit theoretischen Fragen der ethnologischen
Frauen- und Geschlechterforschung in Beziehung gesetzt
worden wären. Zwar hat die hier zu Grunde gelegte
Aufarbeitung des männlichen Betrachtungsblicks für die
Warao-Forschung sicherlich weitreichende, neuartige
Forschungserkenntnisse geliefert. Förderlich für die eth-
nologische Debatte über Geschlechterbeziehungen wäre
es aber gewesen, wenn die detailliert vorgestellten haus-
haltsinternen Resourcenprozesse und Machtbalancen
mit einem theoretischen Fundament untermauert wor-
den wären. Haushaltsstrukturen und -dynamiken bilden
bereits seit der nicht unumstrittenen, auf Machtbalancen
und die zentrale Rolle der Töchter in einer matrilokalen
Gesellschaft abzielenden Forschungen von Alice Schle-
gel ein zentrales Thema innerhalb der Theoriedebatte.
Auch eine kritische Auseinandersetzung mit den auf
Weltbilder und Gesellschaftsstrukturen ausgerichteten
theoretischen Ansätzen, wie dem von Peggy Sanday,
hätte möglicherweise neue Erkenntnisse zur Geschlech-
tersymmetrie geliefert. Ähnliches trifft auf andere Klassi-
kerinnen der ethnologischen Frauenforschung zu, deren
wichtigste Werke zwar zitiert, aber nur ansatzweise dis-
kutiert werden.
Die von Claudia Kalka am Beispiel der Warao herausge-
arbeiteten Erkenntnisse über Frauenräume als Bereiche
einer Frauenkultur sowie ihre Hinweise auf Gleichheit
und Differenz in den Geschlechterbeziehungen hätten
ebenfalls von einer tiefergehenden theoriegeleiteten Auf-
arbeitung profitieren können. Sicherlich wäre es für die
ethnologische Debatte über Geschlechterbeziehungen
erkenntnisfördernd gewesen, wenn die anschaulich refe-
rierten Interaktionsformen zwischen Frauen unterschied-
licher gesellschaftlicher Stellung im Zusammenhang
mit der Konstruktion von Gender als gesellschaftlichem
Strukturprinzip diskutiert worden wären. Kalkas gelun-
gene Rezeption und Erweiterung von Lenz’ Konzept der
Geschlechtersymmetrie verdeutlicht, in welche Richtung
eine derartige weitere theoretische Orientierung hätte
gehen können. Gleichwohl bietet diese Arbeit eine fun-
dierte empirische Grundlage für die Debatte über
Geschlechterbeziehungen sowie über die soziale Rollen-
zuweisung an Männer, ein Thema, das in der hier vorge-
stellten Betrachtungsperspektive für andere ethnologi-
sche Forschungen richtungsweisend sein kann.
Rita Schäfer
Müller, Wolfgang;
Die Indianer Amazoniens: Völker und Kul-
turen im Regenwald. München: Beck, 1995.
263 Seiten, 55 Abbildungen.
ISBN 3-406-39756-5
Der Autor stellt sich die schwierige Aufgabe, ein einen
großen Themenbereich umfassendes Buch zugleich an
den interessierten Laien als auch an Fachleute zu richten.
Er hat den Anspruch, komplexe Problem- und Sinnkon-
stellationen aufzuschließen und sie allgemeinverständ-
lich weiterzureichen; indigene Kulturen sollen in ihrem
Wirkungsgefüge erklärt werden (S. 10). Ausgewählte
Einzelaspekte, die jedoch in ihrer Gesamtheit ein umfas-
sendes Bild der Geschichte und Kultur der Bewohner des
Amazonasgebietes zeichnen, bilden den »roten Faden«
des Buches.
Der historische Hintergrund, die 1541 durchgeführte
Expedition Francisco de Orellanas, der auf der Suche
nach »El Dorado« den Amazonas entdeckte, bildet das
erste Kapitel. Die Rezeption der Berichte aus Übersee in
Europa, die der »Kulturvolk-Barbaren-Antithese« antiker
Autoren folgt, wird kritisch betrachtet. Im 17. Jahrhundert
begann die Besitznahme Amazoniens durch Portugal
und damit auch die Leidensgeschichte der autochthonen
Bevölkerung. Genießen die Ureinwohner anfangs in den
Jesuitenreduktionen noch einen gewissen Schutz (S. 37),
so wird ihr Lebensraum durch die schnell fortschreitende
Besiedlung im 18. und 19. Jahrhundert entscheidend be-
schnitten. In den letzten hundert Jahren sind es vor allem
der Kautschukboom und nach dem 2. Weltkrieg die Sied-
lungs- und Erschließungspolitik des brasilianischen Staa-
tes, die die Autochthonen in Bedrängnis brachten und
bringen (S. 48).
Das nächste Kapitel (2) ist den »ersten Amerikanern«
gewidmet. Es bietet einen Abriß der (wenigen) archäolo-
gischen Daten über die Einwanderung aus Asien über die
Beringstraße und eine ausführlichere Diskussion über die
möglichen Routen, entlang derer der südamerikanische
Kontinent besiedelt wurde. Den Abschluß dieses Kapitels
bilden Spekulationen zur Besiedlung des Amazonasge-
223
TRIBUS 46, 1997
bietes sowie der Entstehung der drei wichtigsten Sprach-
gruppen (karibische, Tupf und Je) (S. 65-67). Die Aufli-
stung wichtiger Fundplätze und Daten in diesem Kapitel
endet mit der Marajoara-Kultur und weiterführenden
Literaturhinweisen. Glücklicherweise bezieht sich der
Autor hier auf die Standardwerke von Evans und Meg-
gers (1983) und nicht auf die polemische und mißlungene
Neuinterpretation von Anna Roosevelt (1991).
Die Nomenklatur südamerikanischer Stämme ist Ge-
genstand des nächsten Kapitels. Es ist in Abschnitte
gegliedert, die sich an der geographischen Einteilung des
Amazonasbeckens orientieren: Nordamazonien und Ori-
noco-Becken. Anden-Osthang und Westamazonien sowie
Südostamazonien. Er unterteilt nochmals in Unterre-
gionen und beginnt mit einer kurzen geographischen
Beschreibung des Lebensraumes, an die sich die Wirt-
schaftsweise der jeweils dort lebenden Gruppen an-
schließt. Dieser Teil des Buches ist sehr umfangreich und
sehr detailliert. Er enthält linguistische Einteilungen und
teilweise, sofern noch feststellbar, auch Personenzahlen.
In Kapitel 4 folgt eine Beschreibung der geologischen
Entstehung des Amazonasbeckens (S. 127) und die Dar-
stellung des Ökosystems und dessen vielfältige Nutzung
durch die Indianer (S. 136). Den grundlegenden Unter-
schied in der Nutzung des Regenwaldes durch Autoch-
thone und zeitgenössische agrotechnische Bewirtschaf-
tung sieht der Autor in der Schaffung von Monokulturen
durch moderne Techniken, während die indianischen
Bewohner seit alters her Ausschnitte der ökologischen
Vielfalt replizieren (142) und das System so intakt halten.
Das fünfte Kapitel berichtet von der »Kunst des Zusam-
menlebens«. Als Fundament indianischer Gesellschafts-
ordnungen im tropischen Südamerika sieht der Autor
die Klein- oder Kernfamilie (S. 154). Wohnformen und
unterschiedliche architektonische Formgebungen spielen
in den Dorfanlagen eine ebenso große Rolle wie kosmo-
politische Konzepte, die darin umgesetzt werden
(S. 152). Das gesamte soziale Leben eines Dorfes von
der Arbeitsteilung über das Sozialsystem, die Heirats-
ordnungen, Initiationsriten sowie kulturspezifische Resi-
denzordnungen wird erklärt. Einige Anmerkungen zum
Umgang mit dem Tod, zu Jenseitsvorstellungen und Be-
stattungsritualen (168) schließen diesen Themenbereich
ab.
Im sechsten Kapitel geht es um das »Sein zwischen den
Dingen«, Jenseitsvorstellungen, Götter, Schamanismus
und Dämonenbändigungen (S. 191), wobei der Schama-
nismus am ausführlichsten beschrieben und diskutiert
wird (S. 194).
Insgesamt bietet das Buch eine gute Einführung in den
Themenbereich. In einigen Kapiteln (z. B. Kap. 2) ist es
jedoch schwer vorstellbar, daß ein Laie derart detaillier-
ten archäologischen Diskussionen noch folgen möchte.
Es ist eine schwierige Materie, bei deren Bewältigung der
Autor der Fundiertheit seiner Aussagen und der kriti-
schen Betrachtung bisher erhobener Daten Vorrang ein-
räumt.
Literatur
Meggers, Betty J. und Clifford Evans
1983 Lowland South America and the Antilles. In:
Ancient South Americans, hrsg. von Jesse Jen-
nings.
Roosevelt, Anna Curtenius
1991 Moundbuilders of the Amazon: Geophysical
Archaeology on Marajo Island, Brazil. San Diego,
New York: Academic Press.
Doris Kurella
Schulz, Jochen;
Indianerpolitik in Venezuela. Ansätze zur
Mitsprache der Betroffenen? Mit Beiträgen
von H. Dieter Heinen und Carola Kasburg.
(Ethnologische Studien, 5. Hrsg.: Ulrich
Köhler) Münster und Hamburg: Lit Verlag,
1994. XI + 162 Seiten.
ISBN 3-88660-408-x
Diese Arbeit erfüllt ein lange gehegtes Desiderat. Es
gibt in der deutschsprachigen Literatur nur wenige
Überblicksdarstellungen der Minderheitenpolitik einzel-
ner lateinamerikanischer Staaten, und diese Darstellun-
gen wurden häufig nicht von Ethnologen geschrieben.
Die Indianerpolitik Venezuelas und die Probleme der
indigenen Minderheit dieses Landes gehören dabei zu
den in der deutschen Ethnologie bisher wenig behandel-
ten Themen. Eine Ausnahme bildeten die Diskussionen
um das Schicksal der Yanomami, wobei allerdings die
dramatischen Entwicklungen in Brasilien eine stärkere
Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Bei vorliegender Publikation handelt es sich um die über-
arbeitete Version einer Magisterarbeit von 1986, die lei-
der nur wenig aktualisiert wurde. Der Untertitel weist auf
eine besondere Problemstellung hin, auf die jedoch nur
peripher eingegangen wird, so daß er eher den Charakter
eines Zierwerks besitzt. Auch der Umschlagtext sug-
geriert den Lesern/Leserinnen ein Thema, das in Wirk-
lichkeit kaum behandelt wird, nämlich der Aufstieg einer
neuen Gruppe indigener Anführer und die bisherigen
Reaktionen auf diese Entwicklung. Tatsächlich besitzt
die Arbeit keine explizite Problemstellung und behandelt
auch keine theoretische Fragestellung, obwohl dies bei
einigen Aspekten sehr lohnenswert gewesen wäre.
Der Autor entschied sich für eine chronologische Be-
schreibung der venezolanischen Indianerpolitik und ver-
zichtete ausdrücklich auf die Analyse komplexerer Wir-
kungszusammenhänge (S.31). Die Darstellung basiert
auf einem sehr umfangreichen Quellenstudium, welches
sich in den 21 Seiten der Bibliographie mit etwa 240
Titeln widerspiegelt. Zusätzliche Informationen wurden
auf mehreren Reisen in Venezuela gesammelt. Der Text
ist gut gegliedert und erlaubt eine schnelle Orientierung.
Im ersten Teil werden Grunddaten über die gegenwärtige
indigene Bevölkerung präsentiert, z. B. sehr interessante
demographische Daten und eine Kurzvorstellung der grö-
ßeren Ethnien des Landes. Dem schließt sich ein histo-
rischer Abriß der Indianerpolitik von der Ankunft der
ersten Europäer bis in die 8üer Jahre dieses Jahrhunderts
an. Indianerpolitik wird somit implizit als jegliche Bezie-
hung zwischen Kolonialmacht oder politisch unabhängi-
gem Staat einerseits und indigenen Völkern andererseits
begriffen. Auffällig ist dabei in Venezuela die starke
Rolle der verschiedenen Missionen im 20. Jahrhundert.
Hierin ist ein deutlicher Unterschied zur »säkularisier-
ten« Indianerpolitik des Nachbarlandes Brasilien zu
224
Buchbesprechungen Amerika
erkennen. Andere historische Aspekte der Indianerpolitik
besitzen typische Grundmuster, die sich in der Mehrheit
der lateinamerikanischen Länder wiederfinden, etwa der
radikale Wirtschaftsliberalismus des vergangenen Jahr-
hunderts, der praktisch zum Ausverkauf weiter Teile
indianischen Landes führte, oder die Entwicklungsideo-
logie der 60er und 70er Jahre dieses Jahrhunderts (span.
desarrollismo, port, desenvolvimentismo), die in vielen
Indianergebieten eine neue Eroberungswelle einleitete.
Der zweite und dritte Teil der Arbeit behandelt ver-
schiedene Aspekte der Indianerpolitik der Gegenwart:
staatspolitische und Juristische Fragen, administrative
Aspekte, die zwei Hauptrichtungen kirchlicher Politik
gegenüber den Indianern (die katholischen und die radi-
kal-protestantischen Versionen) und die Auswirkungen
auf die indigenen Völker und ihre Kulturen. Dabei wird
insbesondere auf die allgemeinrechtliche, bodenrecht-
liche Gesundheits- und Erziehungssituation eingegangen.
Es zeigt sich, daß eine gravierende Kluft zwischen For-
malrecht und Rechtspraxis besteht, die in vielen Fällen
eine Charakterisierung des venezolanischen Hinterlandes
als fast rechtsfreien Raum zuläßt. Die Produktion an
Programmen, Vorschriften und Paragraphen in bezug auf
die Indianer ist umfangreich, ihre Anwendung scheitert
jedoch überwiegend an der kompletten Ineffizienz der
venezolanischen Bürokratie.
Im dritten Teil behandelt Schulz einige spezielle Aspekte
der Indianerpolitik der Gegenwart, wie die (bisher in-
effektiven) zweisprachigen Erziehungsprogramme, die
wirtschaftliche Ausbeutung einiger Indianergebiete und
beispielhaft die Situation der Piaroa und der Yanomami. In
einem besonderen Abschnitt widmet er sich dem fehlge-
schlagenen Vorhaben der 70er Jahre, die wirtschaftliche
Produktion indianischer Lokalgruppen über indigène Ko-
operativen zu regeln und zu stimulieren (das Programm
der Empresas Indígenas). An Beispielen wie diesem zeigt
Schulz, wie wenig die Besonderheiten indigener Kulturen
von staatlicher Seite berücksichtigt werden und daß in
diesem Zusammenhang ethnologische Expertisen zu kei-
ner praktischen Anerkennung gelangen.
Die venezolanische Indianerpolitik des 20. Jahrhunderts
zeichnet sich neben ihrer engen Verbindung zur Arbeit der
Missionen durch eine starke Formalisierung und Bürokra-
tisierung aus. Zu den wenigen Befunden, die Schulz prä-
sentiert (S.68, 138-139), gehört, daß die venezolanische
Indianerpolitik im Kern konzeptionslos ist. Die Erklärung,
die er hierfür anbietet, lautet, daß Venezuela seine Haupt-
einnahmen aus Gebieten schöpfe, die heute nicht mehr
von Indianern bewohnt werden, so daß durch die gegen-
wärtigen Indianergebiete weniger nationale Interessen
berührt würden als etwa in Brasilien und daß daher eine
geringere Notwendigkeit bestehe, Rechte und Pflichten
der indigenen Bevölkerung sowie die Ziele der Indianer-
politik zu definieren. Ansätze einer kohärenten Indianer-
politik seien noch am ehesten in der Landfrage erkennbar,
sonst hingegen überhaupt nicht. Daraus wird die Folge-
rung abgeleitet, daß das Fehlen eines systematischen Kon-
zeptes in der Indianerpolitik bereits eine Form von Politik
darstelle: inkohärentes Handeln oder Inaktivität seitens
des Staates in der Hoffnung, daß sich »das Indianerpro-
blem« irgendwie von alleine löse. Diese Folgerung ist ei-
gentlich eine These und hätte es verdient, als Untersu-
chungsproblem in den Mittelpunkt gestellt zu werden. Die
Beweisführung wäre allerdings nicht ganz einfach.
Schulz äußert keine pauschale Kritik an der venezola-
nischen Indianerpolitik, sondern betont auch positive
Ansätze und Facetten. Die Konzeptionslosigkeit sei nicht
nur negativ zu betrachten, da es den indigenen Gruppen
meistens besser gehe, solange ihnen keine staatlichen
Programme aufgezwungen würden. Er stellt die venezo-
lanische Indianerpolitik - etwa im Vergleich zur brasilia-
nischen - sogar als relativ positiv dar. Mein Eindruck
nach der Lektüre ist jedoch, daß zumindest die rechtliche
Situation des indianischen Landes in Venezuela schlech-
ter als in Brasilien ist.
Schulz’ Darstellung gehen zwei Beiträge voraus: eine
Chronologie mit Daten zur venezolanischen Indianerpo-
litik im 20. Jahrhundert (H. Dieter Heinen) und ein kurzer
Überblick zur gegenwärtigen Lage der indigenen Völker
des Landes, begleitet von einem historischen Abriß der
Indianerpolitik Venezuelas im 20. Jahrhundert (H. Dieter
Heinen und Carola Krasburg). In letzterem Beitrag wird
vor allem der Frage nachgegangen, inwieweit die Reprä-
sentanten des venezolanischen Staates überhaupt von
der Schutzwürdigkeit ethnischer Minderheiten ausgehen
und inwieweit sie sich um die Gestaltung eines positiven
Minderheitenrechtes bemühen. Der Beitrag ist sehr gut
geschrieben und erläutert gut die politischen und wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen der Indianerpolitik.
Auch Heinen und Kasburg kommen zu dem Befund, daß
die venezolanischen Regierungen keinen ernsthaften Ver-
such unternommen haben, eine klar erkennbare Indianer-
politik zu formulieren und zu betreiben, so daß sich
erneut die Frage stellt, ob sich hinter dem »laissez-faire«
nicht eine andere Politik verbirgt.
Alle Beiträge dieses Buches sind Beispiele für eine poli-
tisch engagierte Ethnologie, die sich offen praxisbezoge-
nen Themen zuwendet. Das Buch ist besonders interes-
sant aus dem Blickwinkel der Entwicklungsethnologie,
da in ihm viele Erfahrungen venezolanischer Kollegen
über ihre Aktivitäten in staatlichen Organen, Program-
men und Projekten eingeflossen sind. Interessant ist in
diesem Zusammenhang vor allem der Abschnitt über die
erwähnten Empresas Indigenas. Deren Scheitern wurde
dadurch mit verursacht, daß den für sie verantwortlichen
Personen in den staatlichen Stellen die indigenen Wirt-
schaftsweisen unverständlich blieben und man stattdes-
sen ein eigenes (ideologisches) Modell indigenen Wirt-
schaftens auf die Indianer projizierte.
Ein besonderes Problem, welches in vorliegendem Buch
nicht angegangen werden konnte, ist die Frage nach den
im urbanen Milieu lebenden Indianern, die noch nicht
einmal durch die nationalen Zensi berücksichtigt werden.
Haben sie überhaupt irgendeine Bedeutung für die India-
nerpolitik ihres Landes?
Das Buch ist in allen Teilen unprätentiös und leicht ver-
ständlich geschrieben und läßt sich damit gut lesen. Eini-
ge Anmerkungen Heinens und Kasburgs zum Gebrauch
des Ausdrucks »Indianer« verdienen jedoch einen Kom-
mentar. Auf den Seiten 9-11 sprechen sie sich für die
Verwendung des Wortes »Indigene« aus, weil »Indianer«
nichtwissenschaftliche Assoziationen mit Wildwestfil-
men und anderen populären Genres erwecke. Warum ist
dann aber im ganzen Buch die Rede von Indianer^olitik?
Ist der erste Gedanke, der einem im Deutschen beim Wort
Indianer kommt, wirklich die Gestalt Winnetous? Das
Wort »Indianer« hat im Deutschen jedenfalls keine pejo-
rative Bedeutung wie »indio« in vielen lateinamerika-
225
TRIBUS 46, 1997
nischen Ländern, in vielen, aber nicht in allen, wie dies
häufig pauschal behauptet wird (auch hier: S. 10). Im größ-
ten Land Lateinamerikas ist »indio« kein Schimpfwort,
genausowenig wie »negro«, sondern wird inzwischen von
den Indianern in affirmativer Weise benutzt (auch durch
die Repräsentanten indigener politischer Organisationen).
Man meidet die Stolperpfade politischer Korrektheit und
versucht lieber, einige Ausdrücke kolonialen Ursprungs
mit positiven Assoziationen zu belegen. Und das hat bis-
her nicht geschadet.
Als Gesamtbewertung läßt sich feststellen, daß das vorlie-
gende Buch ein sehr gutes und nützliches Referenzwerk
ist. Es ist wünschenswert, daß in der deutschsprachigen
Ethnologie weitere Monographien mit Überblicksdarstel-
lungen der Indianerpolitik einzelner lateinamerikanischer
Staaten publiziert werden.
Peter Schröder
Tichy, Franz (mit einem Beitrag von
Johanna Broda):
Die geordnete Welt indianischer Völker. Ein
Beispiel von Raumordnung im vorkolumbia-
nischen Mexiko. In: Das Mexiko-Projekt der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd.21
(Hrsg.: Wilhelm Lauer). Stuttgart: Steiner,
1991. 228 Seiten mit 42 Fotos, 67 Abb., 22
Tabellen, 5 Faltkarten als Beilage.
In Mesoamerika haben wir ein Gebiet vor uns, in dem es
eindeutig Hochkulturen gegeben hat, deren Menschen
Städte und steinerne Tempel bauten, diese offensichtlich
nach einem übergeordneten Schema orientierten und Mit-
teilungen in Bilderschrift hinterließen. Die spanische Er-
oberung im 16. Jahrhundert bildete eine scharfe Zäsur -
viele Anlagen wurden zerstört, andere umgewidmet, auf
Kultzentren Kirchen oder Klöster gebaut.
Der Geograph weiß, daß Fluranlagen und Flurnamen
oft länger überdauern als jede politische Konfiguration.
Obwohl sich die alten Spanier intensiv bemühten, die
großartigen Hinterlassenschaften Mesoamerikas zu nivel-
lieren, blieb genug übrig, das heute rekonstruiert werden
kann. Es wird aus diesen wenigen Bemerkungen vielleicht
deutlich, daß bei diesem Thema der vorliegenden Arbeit
nur ein interdisziplinärer Ansatz erfolgversprechend sein
konnte. Darauf weist Tichy im Vorwort hin, wenn er schil-
dert, wie er ursprünglich von Luftaufnahmen und Karten
und deren Interpretation ausging und sich dann in kos-
mologische Ordnungen, Archäologie, Ethnologie um nur
einiges zu nennen, hineinarbeitete. Er war mit diesen Be-
strebungen seit den 70er Jahren nicht allein, denn seither
entstanden die Forschungsrichtungen, die heute Archäo-
astronomie und Ethnoastronomie heißen. Tichy wirkte mit
seinen Forschungen, Aufsätzen und Vorträgen auf diesem
Sektor mit und legt nach fast 30 Jahren Tätigkeit hier eine
zusammenfassende Arbeit vor.
In drei einleitenden Kapiteln führt Tichy den Leser von
allgemeinen Gedanken ausgehend immer tiefer in das
eigentliche Thema hinein. Das astronomische Weltbild
im alten Mexiko ist die 4. Stufe. Es macht deutlich, daß
sich eine astronomisch orientierte Hochkultur in den
Tropen anders entwickeln muß, als eine solche nördlich
des Wendekreises, wo die Sonne mittags immer im Süden
steht und zirkumpolare Sternbilder ganzjährig den nächt-
lichen Nordhimmel beherrschen. Beides ist innerhalb
der Tropen so nicht gegeben. Tichy führt nun in guter
astronomischer Erklärung in die Eigentümlichkeiten
eines geozentrischen Weltbildes innerhalb der Tropen
ein, beschreibt die möglichen Beobachtungsgeräte, ein
Observatorium zur Zenitbeobachtung und Kalender-
korrektur und gibt eine sinnvolle, nach den Solistitial-
ständen orientierte Interpretation des bekannten Azteken-
Sonnensteines. Er geht also von den Tatsachen aus, daß
Astronomie und exakte Kalender existierten und daß sich
eine Ackerbau treibende Landbevölkerung nach sinnvol-
len Agrarkalendern richten konnte.
Das 5. Kapitel widmet sich den deutlich orientierten
Siedlungen, Flurgrenzen und Bauwerken. Anfangs kon-
zentrierte sich die Forschung auf zentralmexikanische
Beckenräume (Puebla/Tlaxcala, Mexico), von denen nur
teilweise Karten Vorlagen (sie mußten erstellt werden),
dafür aber Luftbilder. Hunderte von Kirchen wurden
bezüglich ihrer Hauptachsen kartiert - immer stellten
sich Übereinstimmungen mit den Flurrichtungen, den
Hauptwegen, den rechteckigen Stadtgrundrissen heraus -
und die Solstitien zeigten sich als richtungsweisende
Planungsgrundlage. Eine Nebenbemerkung sei erlaubt:
die katholischen Kirchen sind also keineswegs geostet,
sondern orientieren sich vollständig nach den vorspa-
nisch angelegten Richtungen.
Nachdem die Raumgliederung als astronomisch orien-
tiert erkannt wurde, widmet sich Tichy einigen bedeuten-
den Bauwerken, z. B. Ballspielplätzen und vor allem
Pyramiden und kann die These der Ausrichtung der Ge-
bäudeachsen oder -kanten nach markanten Sonnenstand-
punkten im Jahreslauf überzeugend darstellen.
Das 6. Kapitel stellt in Detailuntersuchungen das bisher
mehr überblicksmäßig geschilderte vor mit Fotos. Plan-
skizzen und Winkelmeßdaten. Dabei wird weiter erhärtet,
daß z. B. Klostergründungen im 16. Jh. die vorspanische
Pyramidenausrichtung übernahmen. Nur dort, wo die
Hänge der ansonsten ja ebenen Becken zu steil werden,
richten sich Kirchen und terrassierte Felder nach den
Naturgegebenheiten.
Nachdem genügend Basismaterial gesammelt war,
konnte auch eine statistische Auswertung beginnen (753
Kirchenrichtungen in den Becken von Mexico, Puebla-
Tlaxcala und Oaxaca). Um es kurz zu machen, es zeigten
sich charakteristische Häufungen bei Vielfachen von
4.5°, also einem Zwanzigstel des rechten Winkels. Dies
wurde durch ergänzende Messungen aus dem Mayage-
biet erhärtet. Von der Hypothese einer mesoamerikani-
schen Basiseinheit des Winkels ('/80 Vollkreis bzw. '/20
Rechter Winkel: 4.5°) ausgehend wurde jetzt der Kultur-
bereich insgesamt auf derartige Spuren durchsucht, Codi-
ces genauso wie Pyramidengrundrisse, Kompositionen
figürlicher Darstellungen auf Stelen usw. Es soll nicht
unerwähnt bleiben, daß Tichy auch die Handspanne mit
18° Winkelöffnung vom Auge aus bei ausgestrecktem
Arm heranzieht, um die Zahlenbasis Mittelamerikas (20)
mit der von ihm herausgearbeiteten Winkelbasis (720 von
90°) in Beziehung zu bringen.
Der Ordnung des Raumes folgt die Ordnung der Zeit -
und das heißt in der Regel Kalender. Von vielen Stand-
orten aus (vorzugsweise Pyramiden) werden die astrono-
mischen Hauptrichtungen untersucht und kalendarisch
zugeordnet. Immer wieder stößt man auf 260-Tage-Ka-
226
Buchbesprechungen Ostasien
lender (Agrarkalender), die Tichy und Broda aber sinn-
voll mit dem geschalteten (!) 365-Tage-Sonnenjahrkalen-
der in Beziehung setzen können. Es gibt Kalender mit
unterschiedlich langen Perioden, aber auch andere mit
regelmäßigen 20-Tage-Abschnittten oder 13-Tages-Peri-
oden. Von Johanna Broda stammt in der Fortsetzung der
mich überzeugenden Rekonstruktion des »Calendario
mexica« ein Beitrag zu den agrarischen Zyklen und
kultischen Festen. Sie dehnte ihre Untersuchungen bis
in die Zeit vor der Conquista aus und arbeitete die Rolle
des Rituals als Brücke zwischen Astronomie und Natur-
zyklen, Wirtschaft und Gesellschaft heraus. Die alten
Rituale wurden durch christliche Feste (z. B. das des
Heiligen Kreuzes; 2./3.Mai; auch Allerheiligen: l.Nov.)
überformt, lassen sich aber bis in die Gegenwart verfol-
gen, was durch ethnographische Arbeiten gesichert ist.
Auf diesen und anderen, von mir hier nicht geschilderten
Angaben basierend, konstruiert Tichy einen hypothe-
tischen Kalender mit 28 Perioden zu 13 Tagen, der mit
dem Basiswinkel von 4.5° und der konkreten Azimut-
abweichung korreliert wurde (das Relief des Horizonts
verändert den Winkel des »eigentlichen« Sonnenauf-
bzw. Sonnenuntergangs).
Ein derartiger Kalender erklärt sowohl im Mayagebiet als
auch in Zentralmexiko die gemessenen Richtungslinien
an Kultbauten und Siedlungsgrundrissen.
Erschwerend zu den bisherigen Darstellungen für unser
Verständnis kommen zu den Kulten der Sonne die der Jah-
reszeiten (Regenzeit und Trockenzeit). Die hohen Berge
lassen die Wolken abregnen und gelten seit alters her als
Sitz der Regengötter. Das 8. Kapitel widmet sich generell
dem System der heiligen Berge. Da diese zwangsläufig
ortsfest sind, müssen Bauwerke, die nach radialen Sicht-
linien gezielt errichtet wurden, durch Winkelmessung
vor Ort (Rückwärtseinschneiden) lokalisiert worden sein.
Durch Fotos, Karten und Skizzen wird eindeutig belegt,
daß heilige Bauwerke derartige Sichtlinien z. B. in ihren
Seitenlinien integrieren. So wurde auch die von der all-
gemeinen astronomischen Orientierung im Becken von
Mexico abweichende Ausrichtung des Gebietes von Tex-
coco erklärbar.
Das 9. Kapitel untersucht die Ordnung des Raumes durch
Maß und Zahl. Man kennt für das 20er-Zahlsystem Mit-
telamerikas genügend Belege um seine Existenz als ge-
sichert anzusehen, aber keine Angaben über irgendwie
fixierte Längenmaße. Tichy wendet nun viel Mühe auf,
um ein solches aufzufinden, kommt aber letztlich doch
zu dem Schluß, daß es wohl kein Normmaß gegeben
hat (die Fußlängen schwanken von 24 bis 27 cm). In der
Landvermessung wurden Meßstangen und Meßschnüre
benutzt, die vom menschlichen Körper abgeleitet wur-
den, aber auch ohne durchgehaltene Normierung.
Das letzte und 10. Textkapitel ist eine hervorragende
Zusammenfassung des ganzen Buches und belegt gerafft
nochmals den Tatbestand von der »vollkommen geordne-
ten Welt Mesoamerikas«, die durch die Forschungen und
Publikationen Tichys und vieler anderer in den letzten 20
Jahren sichtbar geworden ist.
Abschließend folgen ein übersichtlich geordnetes, sehr
ausführliches Literaturverzeichnis, ein Tabellenanhang
mit den gesamten Orientierungsdaten der Kirchenachsen
(der Ort, Distrikt, die Lage im Kartengitter, der Azimut
sind genannt) als Grundlage der beigelegten Faltkarten,
Orientierungsdaten archäologisch bedeutender Orte aus
der Literatur (Theodolitmessungen) und eigene Kompaß-
messungen; Sach-, Orts- und Bergregister sind detail-
lierte Erschließungshilfen, wenn man spezifische Details
im Buch suchen will.
Ein Urteil: Ich war als Rezensent froh, nicht nur Ethno-
loge, sondern auch Geograph und Mathematiker zu sein,
der seit vielen Jahren auch Astronomie und mathema-
tische Erdkunde unterrichtet. So bilde ich mir ein, von
diesen Blickwinkeln her das Buch als eine hervorragende
Studie würdigen zu können. Es ist keine leichte Lektüre,
für Nichtraathematiker kommen vielleicht zu viele Zah-
lenangaben darin vor, aber alles grundlegend wichtige,
auch das für Menschen, die in den höheren Mittelbreiten
wohnen wie wir hier in Mitteleuropa schwer vorstellbare
astronomische Wissen für die Tropen ist didaktisch ein-
fühlsam und mit sehr guten Skizzen aufbereitet. Vom
Inhalt her ist das Gesamtwerk überzeugend, Thesen sind
sorgfältig belegt und mit Beispielen bereichert.
Man kann davon ausgehen, daß die Welt der Völker
Mittelamerikas vor der spanischen Eroberung nach Maß
und Zahl in Raum und Zeit präzise geordnet war.
Wolfgang Creyaufmüller
Shono-Sladek, Masako:
Der Glanz des Urushi. Die Sammlung der
Lackkunst des Museums für Ostasiatische
Kunst der Stadt Köln. Bestandskatalog mit
kulturhistorischen Betrachtungen. Mit einem
Aufsatz von Kazumi Murose zur Behandlung
und Restaurierung von Lackarbeiten. Köln:
Museum für Ostasiatische Kunst, 1994. 627
Seiten mit 50 Färb- und ca. 700 SW-Abbil-
dungen (mit Künstlersignaturen, Zeichnun-
gen, Karten und Röntgenaufnahmen), aus-
gewählte Bibliographie, Index mit ca. 1500
Schlagworten.
Das Museum für Ostasiatische Kunst in Köln besitzt eine
namhafte und vielseitige Sammlung japanischer, chinesi-
scher und koreanischer Lackkunst. Zahlreiche Arbeiten
sind von hoher technischer und künstlerischer Qualität.
Einen Überblick über die Lackbestände des Kölner Mu-
seums zu gewinnen, war bislang kaum möglich, da aus
konservatorischen Gründen die klima- und lichtempfind-
lichen Lackobjekte nur über einen kurzen Zeitraum aus-
gestellt werden können.
Durch das Erscheinen von Masako Shönos Lackkatalog
Der Glanz des Urushi hat sich die Situation nun grundle-
gend geändert. Aber das Buch bietet seinem Leser weitaus
mehr als eine reine Bestandsaufnahme der Lackgeräte.
In ihrer Einleitung gibt die Verfasserin Auskunft über
Sinn und Zweck ihrer Untersuchungen; »Bei der Katalo-
gisierung der ca. 310 Lackobjekte ... ging es nicht nur um
eine geographische sowie zeitliche Einordnung und Hin-
weise auf Vergleichsstücke, sondern viel mehr darum, die
Gegenstände mit dem sozialen Gefüge ihrer Zeit und gei-
stesgeschichtlichen Zusammenhängen zu betrachten.«
So entstand eine Art »Kulturgeschichte der ostasiatischen
Lackkunst«.
Irn Mittelpunkt der ganzheitlichen Untersuchung jedes
einzelnen Gegenstandes steht die Frage nach seiner ur-
sprünglichen Verwendung. Ihre Beantwortung ermög-
227
TRIBUS 46, 1997
licht die Einbindung in den jeweiligen gesellschaftlichen
Kontext und bildet die Grundlage für die Deutung seiner
Dekormotive.
Aus diesem Ansatz heraus ergibt sich die Konzeption des
Kataloges: Anstelle einer Gliederung nach Dekortechni-
ken und Epochen gruppiert die Autorin die Lackgegen-
stände nach Herkunftsländern und Verwendungsberei-
chen. Sie beginnt mit 42 chinesischen Lackarbeiten, es
folgen Korea mit vierzehn Objekten sowie die Ryükyü-
Inseln bzw. Okinawa mit acht Objekten und schließlich
Japan, dessen 248 Objekte den Löwenanteil des Gesamt-
bestandes ausmachen.
Jedem dieser vier Länder-Kapitel stellt die Autorin eine
mehrseitige Einleitung über die Entwicklung der Lack-
kunst voran. Dies ist bei Korea und den Ryükyü-Inseln
um so begrüßenswerter, als bislang kaum etwas über die
Lackkunst dieser Gebiete in deutscher Sprache erschie-
nen ist.
In den Unterkapiteln werden die Lackobjekte unter-
schiedlichen Verwendungsbereichen zugeordnet. Im Lall
der chinesischen Lackarbeiten unterscheidet die Auto-
rin zwischen »Grabbeigaben«, »Rituallacken« sowie
»Lacken für den Alltagsgebrauch und für festliche
Anlässe«. Die koreanischen Lackarbeiten ordnet sie den
Bereichen »Brautausstattung«, »Geräte für die Studier-
stube« und »Lacke für den Krieger« zu. Die Lackarbeiten
der Ryükyü-Inseln faßt sie unter der Rubrik »Geschenk-
und Exportartikel« zusammen, während die japanischen
Lackarbeiten stark spezifiziert als »Rituallacke«, »Aus-
rüstungsgegenstände der Samurai«, »inrö«, »Behälter für
Schreibgeräte und Papier«, »Lacke zur Aufbewahrung
von Schriften und Dokumenten«, »Lackgeräte für den
kultivierten Alltagsgebrauch« (Duft- und Teekunst,
Rauchservice, Spiele und sonstiges), »Lacke für die Mor-
gentoilette«, »Lacke für die Eßkultur« sowie als »Möbel
und Varia« vorgestellt werden.
Der Leser muß folglich damit rechnen, daß ein Gerätetyp
in den verschiedenen Ländergruppen unter unterschied-
liche Verwendungsbereiche gefaßt wird.
Tafelgeschirr findet er in China sowohl im Kapitel
»Grabbeigaben« als auch im Bereich der »Lacke für den
Alltagsgebrauch«. Auf einen koreanischen Schalenstand
stößt er im Bereich der »Lacke für die Studierstube«, und
ein Speisekasten der Ryükyü-Inseln erwartet ihn unter
der Rubrik »Lacke als Geschenk und Exportartikel«.
Chinesische Räucherwerkdosen werden als »Rituallacke«
auf den Seiten 52-67 vorgestellt, japanische Räucher-
werkdosen als »Rituallacke« auf den Seiten 196-203, als
»Lackgeräte für die Duftkunst« auf den Seiten 390-413,
als »Lackgeräte für die Teekunst« auf den Seiten 418-421
und als »Lacke für die Morgentoilette« auf den Seiten 482
und 488 besprochen.
Wer sich beispielsweise speziell über die Kölner Räu-
cherwerkdosen interessiert, wird nicht umhinkönnen, im
Katalog mehrfach hin- und herzublättern.
Eine Hilfe bei der Suche nach einem bestimmten Geräte-
oder Gefäßtyp bietet der umfangreiche Index mit ca. 1500
Schlagwörtern. Dieser bezieht sich jedoch vor allem auf
die japanischen Arbeiten.
Beispiel »Schreibkasten«: Unter diesem Begriff werden
wir nur auf den japanischen Lachterminus suzuribako
verwiesen, der die Katalognummern der japanischen
Schreibkästen angibt. Nicht berücksichtigt werden so
der chinesische Schreibkasten (Kat. 36), der koreanische
Schreibkasten (Kat. 51), der allerdings unter seinem
Fachbegriff yongsan im Index aufgeführt ist. und ein
Schreibkasten der Ryükyü-Inseln (Kat. Nr. 59).
Das Lehlen von Länderbezeichnungen und Kapitelüber-
schriften auf den Buchseiten macht die Orientierung in
dem über 600 Seiten starken Werk nicht einfach. Bei sei-
nem Schmökern wird der Leser jedoch auf viele unge-
wöhnliche und interessante Beobachtungen, Verweise
und Ansichten stoßen, denn die Stärke des Kataloges
liegt in den detaillierten und umfassenden Betrachtungen
zu jedem einzelnen Lackobjekt. In den Einträgen wird
vielfältig auf japanische Forschungsliteratur verwiesen,
westliche Untersuchungen werden weniger berücksich-
tigt.
ln fast allen Fällen gelingt der Autorin eine präzise
Benennung des Gegenstands. Außergewöhnlich diffe-
renziert ist etwa ihre Unterscheidung der vielfältigen
Kastenformen und -typen in Ostasien.
Bei den Kästen für das Studierzimmer unterscheidet sie
zwischen Papier-, Schriften-, Schreib-, Taschenschreib-,
Bücher- und Siegelkästen sowie Briefschatullen. Als
Kästen für die Brautausstattung identifiziert sie Ge-
schenk-, Toiletten- und Reisetoilettenkästen, Kästen
für Zahnschminke-Utensilien sowie Zahnbürsten- und
Spiegelkästen. Sie beschreibt Kästen für Sutra, Kästen
für Schultertrommeln und Kästen für Stimmpfeifen. Im
Bereich der kultivierten Unterhaltung klassifiziert sie
Kästen für Aloe-Holz, Kästen für Geräte zu Duftkunst-
und Tee-Utensilien, Kästen für Spielkarten des Duft-
kunstspieles sowie Kästen für das Muschelspiel. Und sie
führt Speise-, Picknick-, Tabak- und Zigarettenkästen
auf.
Beispielhaft ist ebenso ihre Spezifizierung tablettartiger
Ablagen in Tabletts für Bild- und Schriftrollen, Tabletts
für Weihrauchgeräte, Tabletts als Kleiderablage und Ser-
viertabletts für Speisen.
Sehr ausführlich, bisweilen zu aufwendig, fallen die Ob-
jektbeschreibungen aus. Sie beinhalten u. a. spezielle Aus-
führungen über lacktechnische Fein- und Besonderheiten
ebenso wie aufschlußreiche Angaben zum unsichtbaren
Innenleben der Lackarbeiten (Holzart, Konstruktion, Ab-
folge der Lackschichten), die grundlegende Kriterien für
die Beurteilung der handwerklichen Qualität einer Lack-
arbeit darstellen. Bemerkenswert sind in diesem Zusam-
menhang die Röntgenaufnahmen zu acht Lackobjekten im
Anhang.
Einen weiteren Schwerpunkt der Katalogeinträge bildet
die Deutung des Dekors und seine für die Datierung
wichtige stilgeschichtliche Einordnung. Die Symbolik
der Dekormotive wird im Kontext mit der Funktion des
jeweiligen Gegenstandes entschlüsselt und vielfach an-
hand von Zitaten aus der Dichtung erläutert. Dem Leser
eröffnen sich auf diese Weise unverzichtbare Einblicke in
literatur-, kunst- und sozialgeschichtliche Zusammen-
hänge, deren Erfassen erst die Grundlagen für ein tieferes
Verständnis der ostasiatischen Lackkunst schaffen. Der
Lackkünstler, sein Status und Selbstverständnis im Leben
seiner Zeit kommen dabei weniger zur Sprache.
Ein heikles und kontrovers diskutiertes Thema ist die
Datierung von Lackarbeiten. Erschwert wird ihre zeitli-
che Einordnung besonders durch den Umstand, daß viele
Objekt-, Stil- und Dekorformen von den Lackmeisterfa-
milien über Jahrhunderte und z. T auch über Landesgren-
zen hinweg tradiert und praktiziert wurden. Hinzu kom-
228
Buchbesprechungen Südasien
men eine nicht zu unterschätzende Zahl von Kopien
und Fälschungen antiker Lackgegenstände, die bereits
um die Jahrhundertwende auf den europäischen Kunst-
und Antiquitätenmarkt gelangten.
Um so höher ist es der Autorin anzurechnen, daß sie nicht
davor zurückgeschreckt ist, kurze Zeitabschnitte von
meist ca. 50 Jahren bei ihren Datierungen vorzuschlagen.
Für eine Reihe von Lackarbeiten gibt sie ein z.T. ent-
schiedenjüngeres Entstehungsdatum an, als man bislang
angenommen hatte. Ihre Argumente und Vergleichsbei-
spiele stellt sie ausführlich in Text und Fußnoten zur Dis-
kussion.
Die Katalogeinträge sind reich illustriert. Oft wird der
Gegenstand in mehreren Ansichten gezeigt und seine
Verwendung durch Verweisabbildungen aus Malerei und
Druckgraphik anschaulich belegt. Leider läßt die Qualität
der Fotos vielfach an Glanz und technischer Finesse zu
wünschen übrig.
Manch einer mag sich fragen, ob es wirklich der Mühe
wert war, alle Lackobjekte der Sammlung in solcher Aus-
führlichkeit zu besprechen, nicht nur die Spitzenstücke,
sondern auch die Objekte von mittlerem künstlerischen
Niveau. Tatsächlich wird es dem Leser nicht leicht
gemacht, die Glanzstücke der Sammlung auf den ersten
Blick zu erkennen. Die Auswahl der fünfzig farbig abge-
bildeten Lackobjekte mag ihm als Hinweis dienen. Ande-
rerseits liegt in der gleichartigen Behandlung aller Lack-
arbeiten dieses »Bestandskatalogs ohne ausgewählte
Arbeiten« gerade sein besonderer Wert, kommen so doch
Arbeiten zu Wort und Bild, über die normalerweise hin-
weggesehen wird.
Gerade diese »zweit- und drittklassigen Lacke« aus der
Spätphase der ostasiatischen Lackkunst machen jedoch
den Hauptbestandteil vieler öffentlicher und privater
Sammlungen bei uns im Westen aus. Wo aber finden wir
für diese Gebrauchsobjekte des Alltags Vergleichsstücke
abgebildet und detailliert besprochen? Hilfen zu ihrer
Erfassung, ihrer funktionalen Identifizierung und zeit-
lichen Einordnung sind in den Standardwerken zur ost-
asiatischen Lackkunst und den großen Sammlungskata-
logen Japans, Chinas und Koreas kaum zu finden.
Der auch in englischer Sprache erschienene Kölner Be-
standskatalog leistet damit einen wichtigen Beitrag, diese
Lücke zu verkleinern. Er richtet sich jedoch nicht allein
an den Sammler und Fachmann dieses Spezialgebietes
ostasiatischen Kunstgewerbes und gibt ihm als Nach-
schlagewerk eine Fülle von Lackbeispielen an die Hand,
die ihm bei der Klassifizierung seiner eigenen Bestände
wertvolle Dienste leisten können. Den Laien informiert
er über die Gewinnung des Lacksaftes und über die Pro-
zesse bei der Entstehung einer Lackarbeit. Er vermittelt
ihm einen Eindruck von der Vielfalt lacktechnischer
Dekorarien und der Fülle künstlerischen Einfallsreich-
turnes seitens der Lackmeister. Und er wendet sich
schließlich an all diejenigen, die an der Kultur Ostasiens
interessiert sind.
Die im Katalog vorgestellten Objekte, sei es nun der
Schmuckkamm einer Geisha, der Schreibkasten aus dem
Gelehrtenzimmer oder der Schalenstand eines Teeraums,
begreift die Autorin als stille Zeitzeugen und macht sie
zu aussagekräftigen Tatzeugen vergangener Epochen und
ostasiatischer Lebensformen.
Peter Wiedehage
CONZELMANN, ELISABETH:
Heirat, Gabe, Status. Kaste und Gesellschaft
in Mandi (Nordindien). Indus 3. Das Arabi-
sche Buch. Berlin; Verlag Das Arabische
Buch, 1996. 446 Seiten.
ISBN 3-86093-100-8
Nachdem die ersten beiden Bände der Indus-Reihe aus
dem Verlag Das Arabische Buch das westliche bzw. süd-
liche Indien behandelt haben, wird nun mit dem dritten
Band dieser Reihe >Heirat, Gabe, Status. Kaste und
Gesellschaft in Mandi< von Elisabeth Conzelmann ein
regionaler Schwerpunkt aus Nordindien vorgestellt. Die
vorliegende Arbeit basiert auf einer Feldforschung, die
die Autorin von Oktober 1987 bis Oktober 1988 in Mandi
durchgeführt hat. Aus dem Titel des Buches geht bereits
hervor, daß mit den Aspekten >Heirat, Gabe und Status<
ein Bereich thematisiert werden soll, der im Kontext des
indischen Kastensystems von zentraler Bedeutung ist.
Der Ausgangspunkt der Untersuchung, das Kastensystem
im urbanen Kontext der Stadt Mandi zu untersuchen,
ist insofern ungewöhnlich, als dort kastenspezifische
Abgrenzungen und Restriktionen zum Teil nur noch
unscharf zu erkennen sind und in der Regel das Dorf
gewählt wird, um das Kastenwesen in seiner >reinen<
Form zu beschreiben. Zwar dominiert, wie die Autorin
selber anmerkt, bei ihr eine städtische Perspektive, doch
ist ein weitreichendes Verständnis des urbanen Kasten-
wesens ohne Bezug zum ländlichen Umland und den
historischen Beziehungen zwischen den verschiedenen
Statusgruppen in Stadt und Dorf nicht zu erlangen.
Das erste Kapitel dient der allgemeinen Orientierung; die
Autorin liefert hier sowohl den physiogeographischen
Kontext mit Informationen zu Klima, Vegetation und
Jahreszeiten, als auch die relevanten anthropogeographi-
schen Daten im Hinblick auf Bevölkerungs-, Agrar- und
Sozialstruktur. Die nördlich von Simla gelegene Distrikt-
Hauptstadt Mandi in Himachal Pradesh war vor der
Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 die Hauptstadt des
Fürstenstaates Mandi. Diese frühere Existenz als quasi-
unabhängiger Staat ist insofern von großer Bedeutung,
als das Kastensystem in seiner heutigen Struktur noch
wesentlich von dieser Zeit geprägt ist, als Mandi Haupt-
stadt, Sitz des Rajas und bedeutende Handelsstadt war.
Insbesondere die Rajputen gehen von einer ausgeprägten
Stadt-Land-Asymmetrie aus. Die Stadt repräsentiert als
Sitz des Rajas die Spitze einer Hierarchie, weshalb in der
Regel, auch bei anderen höheren Kasten, hypergame Hei-
ratsbeziehungen dominieren, wobei eine niedrigkastige
Frau aus dem ländlichen Umfeld in eine höherkastige
städtische Familie einheiraten konnte. Generell bestand
bei allen höheren Kasten der Trend zur Stadtendogamie.
Die heutige Distrikt-Hauptstadt Mandi hat etwa 20000
Einwohner und ist damit eine der vier größten Städte
Himachal Pradeshs. Von hier aus wird der gleichnamige
Distrikt Mandi verwaltet, der die ehemaligen Princely
States Mandi und Suket umfaßt. Über 98% der Bevöl-
kerung sind Hindus, wobei sich die hohen Kasten im
wesentlichen in der Stadt Mandi selbst konzentrieren.
Bevor die Autorin zum zentralen Thema ihrer Arbeit,
dem Kastensystem in seiner speziellen Ausprägung in
Mandi, kommt, liefert sie in Kapitel 2 eine Einführung in
die theoretischen Grundlagen des Diskurses zum Kasten-
229
TRIBUS 46, 1997
wesen in Indien. Hierbei kommt es ihr besonders darauf
an, die Beziehungen zwischen verschiedenen Kasten
zu beschreiben und nicht die kasteninterne Interaktion.
Behandelt werden in diesem Kapitel zentrale Begriffe
wie Varna und Jati und ihre Bedeutung im Kontext des
indischen Kastensystems. Darüber hinaus befaßt sich
Conzelmann hier mit dem Problem der »rituellen Hierar-
chie«, in der die verschiedenen Statusgruppen zueinander
stehen, die insbesondere in spezifischen Reinheits- und
Unreinheits-Vorstellungen ihren Ausdruck findet. Nach
dieser, wie ich meine, sehr sinnvollen >Vorbereitung< des
Lesers beginnt mit Kapitel 3 der Schwerpunkt der Arbeit,
die Darstellung des Kastensystems in Mandi. Die zen-
tralen Themen dieses dritten Kapitels sind Status und
Hierarchie, wobei hier unter anderem auf die historische
Entwicklung des Kastenwesens in Mandi eingegangen
wird, die Stellung und Funktion der priesterlichen Kaste,
der Brahmanen, sowie die Position der Handwerker- und
Dienstleistungskasten; in diesem Unterkapitel wird auch
der Aspekt der Unberührbarkeit behandelt.
Sowohl das Kapitel 4 als auch das Kapitel 5 befaßt sich
ausführlich mit dem Komplex Heirat und Status, der im
indischen Kastenwesen einen fast unauflöslichen Zusam-
menhang darstellt. Während in Kapitel 4 insbesondere
Heiratsregeln und -riten im Vordergrund stehen, geht es
im fünften Kapitel um den Bereich der Gaben und Prä-
stationen, also konkret um Mitgift und Brautpreis. Wie
die Autorin selbst anmerkt, sollte das Thema Heirat
ursprünglich nur in kurzer Form abgehandelt werden,
dennoch ist es schließlich zum längsten Teil der Arbeit
geworden, was nicht zuletzt deutlich macht, daß es sich
bei den verschiedenen Heiratsbeziehungen im Kontext
des Kastenwesens um ein hochkomplexes System han-
delt. Die Autorin beschreibt ausführlich und detailliert
den großen Komplex der Heiratsregeln wie Kastenendo-
gamie, Lokalexogamie oder das Arrangement der Heirat.
Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang rele-
vante Themen wie die Beziehung zwischen Frauengebern
und Frauennehmern, die Stellung der Witwen und die
Heiratsriten selbst behandelt. Auch im Bereich der Gaben
und Prästationen wird insbesondere der Unterschied zwi-
schen Mitgift einerseits, die in der Regel immer an den
Statushöheren geleistet wird, und Brautpreis andererseits
sehr differenziert dargestellt.
Von besonderer Bedeutung im Kontext von Heirat und
Status ist die Struktur der Heiratsbeziehungen, also die
Frage, inwieweit hypergame oder isogame (nicht-hyper-
game) Heiratsformen vorherrschen. Zweifellos dominiert
insbesondere in der Stadt-Land-Beziehung die Hyperga-
mie, dennoch kann die Autorin anschaulich nachweisen,
daß die Reduzierung auf eine einzige Form der Heirats-
beziehung der Komplexität des Systems nicht gerecht
wird. Conzelmann kommt zu dem Ergebnis, daß ver-
schiedene Heiratsformen (hypergame und isogame)
nebeneinander existieren und als Teil eines funktionie-
renden Gesamtsystems begriffen werden müssen.
Ein Verdienst dieses Buches liegt nicht zuletzt darin, aktu-
elle Bezüge herzustellen und aufzuzeigen, daß auch in der
heute existierenden Sozialstruktur einer Stadt wie Mandi
nach wie vor erhebliche Statusdifferenzen bestehen und
auf bemerkenswerte Weise auch praktiziert werden, ob-
wohl das Kastenwesen per Gesetz abgeschafft wurde und
die urbane Anonymität und Mobilität, so die verbreitete
Ansicht, dessen Basis langfristig zerstören. Die Autorin
demonstriert, daß trotz vieler Veränderungen im Verhält-
nis der einzelnen Kasten zueinander im urbanen Kontext
die hohen Kasten nach wie vor nicht bereit sind, wirklich
symmetrische Beziehungen mit niederen Kasten zuzulas-
sen. So wird beispielsweise darauf geachtet, daß bei Fei-
ern oder Geschäftsessen, bei denen Angehörige niederer
Kasten anwesend sind, Speisen und Getränke immer von
Mitgliedern höherer Kasten zubereitet und serviert wer-
den und so, wie es die Autorin bezeichnet, eine »fiktive
Kommensalität« konstruiert wird.
Abschließend sei noch daraufhingewiesen, daß das Buch
von Elisabeth Conzelmann im Appendix eine sehr detail-
lierte Beschreibung hinduistischer Todesriten in Mandi
und darüber hinaus ein überaus umfangreiches Glossar
enthält.
Oliver Stege
Hoskins, Janet (Ed.):
Headhunting and the Social Imagination in
Southeast Asia. Stanford, California: Stan-
ford University Press, 1996. 296 Seiten mit
23 Fotos, 5 Karten, Index.
Die Literatur, die im Titel das Wort »Kopfjagd« als Blick-
fang verwendet, ist auch in der Ethnologie spärlich
geworden! In den ersten vierzig Jahren unseres Jahrhun-
derts benützte fast jeder zweite Borneobesucher, der sich
zum Bücherschreiben berufen fühlte, diesen Begriff.
»Kopfjagd« sollte die moralische Berechtigung dieses
Besuchs - bzw. die der holländischen Kolonialverwal-
tung - unterstreichen, denn das »Eingeborenenleben«
war durch Barbarei und unmenschliche Grausamkeit
gekennzeichnet. Nach der Selbständigwerdung Indone-
siens und anderer südostasiatischer Staaten verschwand
schlagartig dieser Begriff aus den Buchtiteln. Diese Staa-
ten sind in die Gemeinschaft des zivilisierten Völker-
verbands getreten, Hochkultur, Fortschritt, Entwicklung
in Technik und Demokratie standen im Vordergrund.
Eigentlich nur eine ernstzunehmende Monographie ist
in dieser Zeit erschienen: Robert McKinley: Human and
Proud of it! A Structural Treatment of Headhunting Rites
and the Social Definition of Enemies (in: G. N. Appell;
Ed.: Studies in Borneo Societies. Center of Southeast
Asian Studies Northern Illinois University 1976). Mc-
Kinley hat sich ein weites, kaum überbietbares Ziel ge-
steckt: von Assam bis Melanesien sollte der Kopfjagd-
komplex unter einen Hut gebracht werden! Mit Hilfe
Levy-Strauss’schem Totalstrukturalismus versuchte er,
dieses Ziel zu erreichen, und es paßte wie angegossen an
den Zeitgeist des sich absolut setzenden Nationalismus
der Entwicklungsländer: “Headhunters...are winning
souls for humanity..., the moral philosophy of the head-
hunter is superior to our one.” (125/126). Verständlich,
daß diese unkritisch positivistische Interpretation so nicht
stehen gelassen werden konnte. Eine junge Ethnologen-
generation aus den USA (Kenneth M. George, Andrew
P. Vayda, Renato Rosaldo) und Australien (die aus den
USA stammende Janet Hoskins, Andrew McWilliam) ist
daran gegangen, von ihrem jeweiligen Feldforschungs-
gebiet aus fußend auf gegenwärtig greifbaren Quellen der
Kopfjagdtradition bzw. des Nachlebens des Kopfjagd-
komplexes das Phänomen von Kopfjagd und Gewalt
230
Buchbesprechungen Südasien
zu erklären. Unantastbar im Zentrum steht nicht mehr
die vom Joch des Kolonialismus befreite Gesellschaft
des Nationalstaates sondern die Einzelethnie, auch wenn
sie nur wenige hundert Mitglieder umfaßt. Nicht mehr
Einzelbeobachtungen aus der gesamten Kopfjagdregion
Nagaland - Neu-Guinea müssen zur Untermauerung
abwegiger Thesen herhalten, sondern Einzeltraditions-
stücke aus den verschiedenen Kulturteilen jeweils des
betreffenden Stammes. Als gewalttätig störend und daher
negativ werden Einflüsse außenstehender politischer,
wirtschaftlicher und kultureller Mächte angesehen:
Nationalstaat, Kirche “frightening new buildings” inter-
nationaler Konzerne (Furcht wegen möglicher Bauopfer!
S.38). In naheliegender Weise werden diese Einflüsse
wie eine Bedrohung durch feindliche Kopfjägerstämme
beurteilt. Logisch, daß eine solche Aufgabe nur durch
Spezialisten, die in Sprache, Geschichte und Kultur eines
Stammes bewandert sind, in Angriff genommen werden
kann. So ist es mit Initiative und unter Federführung
der Melbourner Lehrstuhlinhaberin Janet Hoskins zu vor-
liegendem Sammelband gekommen. Sieben meist ameri-
kanische Anthropologen haben Beiträge dazu geliefert.
Zentrum bildet Borneo mit allein drei Beiträgen, je einer
ist aus dem nördlichen Luzon und südlichen Celebes, die
restlichen zwei aus Nusa Tenggara Timur. Janet Hoskins,
die auch sonst am profundesten arbeitet (völlig unameri-
kanisch: selbst kleinste holländische Aufsätze und indo-
nesische Literatur über Sumba wurden als Quellen heran-
gezogen!), schreibt eine umfassende Einleitung, in der sie
auch kritisch auf McKinley zu sprechen kommt. Sie zählt
die Richtlinien auf, die sie den Mitautoren zur Abfassung
ihrer Beiträge vorgegeben hat (auf die jedoch nicht jeder
eingegangen ist!) und berichtet zusammenfassend über
die Befunde in diesen Beitrügen:
1. Kopfjagd, Sklaverei und Handel. Bei »Handel« ist der
Handel mit den Schädeln gemeint, z. B. als Tauschobjekt
gegen Keramiktöpfe oder Gewehre.
2. Koptjagd und Staatenbildung. Hoskins taucht tief in
die Geschichte ein. Die Reaktion auf die Pazifizierung
der Kolonialmächte wird behandelt, hierbei auf die Be-
deutung des Weiterlebens und der Rolle des Kopfjagd-
rituals hingewiesen.
3. Der Schädel als politisches Symbol. Die Rolle europäi-
scher/nordamerikanischer Sammler und das Deponieren
von Schädeln in Museen sieht Hoskins nicht grundsätz-
lich verschieden vom Aufhängen der Schädeltrophäen in
der Langhausgalerie. Gerade die Zur-Schau-Stellung des
Schädels zeigt den rituellen Charakter der ganzen Kopf-
jagd in ihrer Beziehung zu politischen und sozialen Fak-
toren.
4. Schädel als geschlechtsbezogenes Symbol. Für Mann
und Frau hat die Koptjagd Auswirkungen: einmal als
Initiation zur Heiratsfähigkeit oder als Analogiehandlung
beim Mann, die zur weiblichen Monatsblutung in Bezie-
hung steht. Zweitens die Frau als aktiv handelnd im dörf-
lichen Ritual, das die Kopfjagd initiiert, begleitet und
abschließt.
5. Kopfjagd und Menschenopfer. Hoskins kommt hier
zum eigentlichen Zentrum, dem Akt des Köpfens. Der
Opfergedanke kommt ins Blickfeld. Außer Jules De
Raedt hat keiner der Mitautoren Direktkontakt zu Vor-
kommnissen konkreter Kopfjagd. Hoskins holt hier weit
aus in mythische Vorzeit (Amazonen) und zu südameri-
kanischen Indianern. Leider kommt gerade dieser Teil,
der für Laien am attraktivsten wäre, sehr dürftig weg.
Hätte man etwa Hans Schürers »Das Menschenopfer bei
den Katinganern« (Tijdschrift voor Indische Taal-, Land-
en Volkenkunde, hrsg. durch Koninklijk Bataviaasch
Genootschap van Künsten en Wetenschapen, deel
LXXVIII, 1938, S. 536-578) herangezogen, wäre man
über den Rahmen einer »sozialen Vorstellung« weit hin-
ausgekommen. De Raedts Beitrag (S. 167-183) hätte
genügend Einzelheiten geliefert.
6. Kopfjägerriten ohne Köpfe. Hier befindet sich Hoskins
wieder auf der Höhe ihres wissenschaftlichen Arbeitens.
Der Akkulturationsprozeß mit all seinen Surrogaten für
menschliche Schädel wird beschrieben. Selbst moderne
Greuel werden hier eingeordnet (Enthauptungen bei
Gewaltanwendung und Staatsterror). Zu fragen ist, ob das
in Südostasien bis heute so populäre Bauopfer (Ziegen-,
Büffelkopf) Surrogat des Menschenschädels ist, und ob
das brutale Vorgehen des indonesischen Militäres in Ost-
Timor und Gerüchte über abgehauene Serbenköpfe in
Bosnien-Herzegowina (S. 35) hierher gehören. Wäre bei
Nr. 5 die okkulte Dimension aufgezeigt worden, hätte
man sich diese abwegige Weitgespanntheit ersparen kön-
nen! Gerade beim südostasiatischen Okkultismus und
seinem Blutopfer geht es um gesteigerte Medialität; die
höchste Stufe ist das Menschenopfer, das den Prakti-
zierenden erstaunliche Fähigkeiten vermittelt (angeblich
bis hin zu Totenerweckungen, so auf Nusa Penida, dem
Zentrum der Schwarzen Magie bei Bali). Kopfjagd und
Menschenopfer sind dem indonesischen Bantalsystem
(Bantal = Kissen/Unterlage, das Huhn ist Unterlage für
Schwein/Hund, dieses für den Büffel und dieser für den
Menschen) beizuordnen. Wohlbefinden, Wohlstand und
Ansehen in umfassendem Sinn wird durch Kopfjagd
erworben, genauso wie das (natürlich geheime!) Men-
schenopfer in den Okkultismuszentren Indonesiens.
Würde der westliche Satanismus noch dazugenommen
werden, würde der Zusammenhang mit folgenden Ele-
menten deutlich werden: a) überschaubare, exklusive
Teilnehmerschaft, b) Ekstase bzw. Überspanntheit von
Akteuren, eventuell auch Teilnehmern, c) Blutopfer, d)
Sex. De Raedt berichtet über diese Elemente.
7. Der Kopfjagdkomplex und seine übertragene Anwen-
dung. Die meisten Mitautoren haben kontextualisierend
den Komplex dargestellt “as a traditional practice with а
concrete historical setting and specific local symbolism".
Dieser Komplex hat sich nun ausgeweitet zur modernen
Mythologie über auswärtige Machtträger. Noch einmal
kommt Hoskins zusammenfassend auf ihre Lieblings-
inlention zu sprechen: Zusammenhang zwischen Kopf-
jagd und Ungleichheit, ökonomischer Ausbeutung, sowie
Einflußlosigkeit bei politischen Entscheidungen. Die
Bemühungen solcher auswärtigen Mächte, Ethnien zu
modernisieren und damit zu zivilisieren, werden als Terror
empfunden. Dieses Empfinden trifft man offensichtlich
nur in Südostasien an (S. 41). Die Staatsbürger an der Pe-
ripherie müssen Freiheit und Wohlbefinden opfern, um
für den wirtschaftlichen Aufschwung des zentralen Staats-
gebiets ihren Beitrag zu leisten (S. 42). Was an Diskrimi-
nierung und negativer Verurteilung seitens »zivilisierter
Völker« den Kopfjägerethnien früher angetan wurde, wird
von diesen heute umgedrehl und ihren modernen Unter-
drückern angehängt.
Janet Hoskins’ (S. 216-248) und Anna Lowenhaupt
Tsings (S. 185-215) Beiträge entsprechen am meisten
231
TRIBUS 46, 1997
obigen Richtlinien. Hoskins hat wissenschaftlich exakt
gearbeitet; alle Fachtermini sind in der Stammessprache
mitgeteilt. A.Lowenhaupt Tsings Beitrag ist weit ausla-
dend und im Feuilletonstil verfaßt. Aus zufälligen Äuße-
rungen der Bukit-Dayak, die sich genauso bei Nach-
barethnien finden, wird versucht, stammesspezifische
Verhaltensmuster gegen »Gewaltanwendung« von außen
aufzustellen. J, De Raedts (S. 167-183) einmalig hilfrei-
cher und auf genauen Beobachtungen beruhender Bericht
wurde mehrmals hervorgehoben. Wendungen wie »um
den schädlichen Nebel abzuschütteln« zeigen (S. 180),
wie tief er in Sprache und Vorstellungswelt eingedrungen
ist. Kenneth M. George (S. 50-89) und Allen R. Maxwell
(S. 90-126) haben als quellenmäßigen Ansatz nur be-
grenzte poetische bzw. literarische Einheiten (ein Kopf-
jagdlied bzw. Verse des Brunei-Epos Syair Awang
Simawn). Diese Texte werden (oft allegorisch) exegesiert
und kontextual eingeordnet. Daraus werden Verbindun-
gen zu modernen Verhaltensweisen gezogen. Andrew
McWilliam (S. 127-166) hat sich intensiv und tief in die
Geschichte Südwesttimors eingearbeitet. Entsprechend
differenziert ist sein Ergebnis. Interessant, daß über den
Kopfjagdkomplex eine Ähnlichkeit zu den hinduisierten
Staaten Südostasiens herauskommt (S. 162): Herrschen-
des Zentrum war das Nabuasa-Kriegs-Kulthaus des Na-
buasa-Clans und seiner an der Peripherie lebenden politi-
schen Verbündeten. Peter Metcalf (S. 249-290) holt sehr
weit aus und bietet einen entsprechend ausschweifenden
Beitrag. Kopfjagd hat das Ziel, »den Tod immer weiter
weg vom Dorf zu schieben« (S. 263, 264). Ein Einzel-
todesfall tendiert zu einer Kettenreaktion von Todesfällen
im Dorf. Kopfjagd gebietet dem Einhalt. Wie bei anderen
Autoren (einschließlich J. Hoskins) hat man den Ein-
druck, daß am Ende des Jahrhunderts die zeitliche Di-
stanz zu den Fakten (keine Augenzeugen mehr) einfach
zu groß ist. Selbst Mythen, Redensarten, Gesänge, Teile
des Totenrituals u.ä. geben zu wenig Substanz, um
Tötung jenseits der Stammesgrenze zu erklären.
Wer sich über den aktuellen Stand nordamerikanischer
Diskussion über den Kopfjagdkomplex informieren will,
für den ist vorliegender Sammelband unverzichtbar.
Beachtet muß werden, daß diesem Komplex Gewalt
angetan wird: mit wenigen Ausnahmen sind die Beiträge
in die akut vorgegebenen Richtlinien anthropologischer
Forschung eingezwängt: Einordnung und Auswirkung im
sozialen Mit- bzw. Gegeneinander, in Politik und Wirt-
schaft.
Martin Baier
Schiller, Anne:
Small Sacrifices. Religious Change and Cul-
tural Identity among the Ngaju of Indonesia.
New York/Oxford: Oxford University Press,
1997. 178 Seiten, einige Abbildungen, 2 Kar-
ten, Index.
ISBN 0-19-509558-8
Seit der indonesischen Unabhängigkeit ist es über die
Ngaju-Dayak des südlichen Borneo still geworden ganz
im Gegensatz zu den hundert Jahren vor dem Zweiten
Weltkrieg. Reisende, Forscher, Abenteurer, Missionare
haben diesen leicht erreich- und besuchbaren Stamm ihrer
Publikationen für würdig befunden, zumal Kopfjagd und
Menschenopfer bis Ende des 19. Jahrhunderts diesen
Stamm für europäische Leser attraktiv machten. Die Wer-
ke des Schweizer Missionars Dr. Hans Schärer (1946
und posthum 1966) bildeten gewissermaßen den Höhe-
punkt und Abschluß. Im Zuge des flächendeckenden
Ausschwärmens nordamerikanischer Junganthropologen
in die verschiedenen Flußgebiete Indonesisch-Borneos
hat sich Anne Louise Schiller aus Arlington/Virginia die
Bevölkerung des mittleren Kahayan als Forschungsobjekt
auserkoren. Für Frau Schiller ist diese Forschungstätigkeit
Lebensaufgabe und sind die Kahayaner Freunde und Ver-
wandte geworden (mit einem von ihnen war sie zeitweise
verheiratet). Sie spricht Ngaju fließend, während es mit
dem Indonesischen eher leidlich geht. Nach der (nicht-
veröffentlichten) Dissertation 1987 über den Totenkult
bei den Kahayanern und einigen Zeitschriftenaufsätzen ist
1997 bei Oxford University Press ihr Spitzenwerk »Small
Sacrifices« erschienen, was sie auf den ersten Platz der
Ngaju-Fachleute erhebt. Vorliegendes Buch wird für lange
Zeit das Standardwerk über die moderne Ngaju-Stam-
mesreligion (= Hindu Kaharingan-Religion) in ihrem
sozialen Kontext sein.
Der Titel »Kleine Opfer« weist auf Auswahl, Schwer-
punkt und Rahmen dieser Monographie hin. Mit eigenen
Worten formuliert Frau Schiller Zweck und Inhalt
(S. 145): “...an exploration of rituals, beliefs, and attitu-
des associated with treatment of the dead... I have sought
to relate the rituals to their changing social contexts and
... probe the relationship between religious and social
transformation. To this end, I have focused attention on
the changing form and content of tiwah ...” Tiwah ist
Höhepunkt und Abschlußfest des Totenrituals. Vor 135
Jahren wurden bei einem Häuptlingstotenfest am oberen
Kahayan angeblich 40 Sklaven gemartert und geschlach-
tet, heute genügt ein Rind. In diesem Sinn ist der Titel
gemeint, zugleich tendiert er auch auf ein gewisses Wohl-
wollen und eine Parteilichkeit, die das »sine ira et Studio«
westlicher Wissenschaftlichkeit beiseite läßt. Zu 99% ist
die nichtenglische und nichtindonesische Fachliteratur-
leider typisch amerikanisch - unberücksichtigt, wodurch
vielfach die historische Dimension wegfällt. Fachautoren
über die Ngaju-Kultur werden teilweise mit »Schlägen
unter die Gürtellinie« kritisiert. Natürlich fehlt Missiona-
ren Aufgeschlossenheit und großzügiges Verständnis.
Wenn Frau Schiller Schärer vor Kaharingan-Gläubigen
zitiert, wird mit offensichtlicher Befriedigung registriert:
“I recall quite vividly the good-natured laughter ...“.
Indonesische Autoren, als »Bergungsethnographen« deg-
radiert (S. 31 ohne Einzelfall-Auseinandersetzung), kom-
men besonders schlecht weg, und es klingt fast wie Scha-
denfreude, wenn ein geschätzter Kulturwissenschattler
aus der Provinzhauptstadt mit diesem einen Satz abquali-
fiziert wird: “a local Scholar, known for disparaging his
ancestor<s religion, dies of cancer”. Natürlich muß hier
gefragt werden, welche Quellen und Informanten nimmt
Anne Schiller für ihre Untersuchungen und Beurteilun-
gen ernst. Fachliteraturpassagen kaum, sie werden nur
zur Ergebnisbestätigung herangezogen. Leider hat dies
negative Auswirkungen: letztlich hilflos steht Frau Schil-
ler dem Phänomen »Sandongordal« gegenüber. Den
Knochenschrein Sandong erklärt sie mit »Platz der kon-
zentrierten Lebenskraft der Familie« (S. 103, vgl. dazu
M. Baier 1977: Das Adatbußrecht..., S.369; der San-
232
Buchbesprechungen Südsee
dong-Totenschrein ist nichts anderes als die Residenz
mutmaßlicher Totengeister). Noch abwegiger ist die For-
mel. die Frau Schiller aufstellt; Sandong; Pantarmast =
Gebärmutter: Phallus (S. 107). Alle zeitgenössischen
Kahayaner, die sich (bevorzugt positiv!) zu den zu behan-
delnden Themen äußern, sind solche Informanten mit
verwertbarem »Material«. Der Leser ist so gut wie nicht
in der Lage zu entscheiden, ob solche Äußerungen nur
individuelle Meinungen oder allgemein angenommene
Wahrheiten sind. Besonders geschätzt wird von Frau
Schiller als Informant der Vorsitzende der indonesischen
Hindu Kaharingan-Gemeinschaft, Herr Lewis KDR. Um
den Wechselbezug Ritual - Kulturfortschritt bzw. -wän-
de! (Clifford Geertz ist oberste Autorität in Sachen Kul-
turwissenschaft für unsere Autorin) zu erklären, muß
Lewis’ Äußerung herhalten (vgl. S. 146): Tiwah »berei-
chert Indonesiens nationale Kultur«, Tiwah hat die
»Kraft, Touristen herbeizuführen«. Im Herbst 1996 ver-
anstaltete Lewis KDR das Totenfest seiner Eltern in der
Provinzhauptstadt. Ausführlich berichtete die Presse dar-
über. Nur — Touristen erschienen keine! Oder selbst die
schlechthin falsche Behauptung jenes Vorsitzenden wird
zur besonderen Wertschätzung der Kaharingan-Religion
angeführt (S.5); “From early times to the present, the
Dayak tribe has generally never drunk rice wine from the
skull of human beings” (man beachte: Lumholtz 1920:
Through Central Borneo, S. 335).
Anne Schiller hat sich jedoch derart tief in das Denken
und die Vorstellungswelt der Kahayaner eingearbeitet,
daß diese Defizite letztlich Randerscheinungen sind und
den Wert des Buches wenig schmälern. Besonders her-
vorzuheben sind ihre vollgültigen Ausführungen über
den Adat-Pali-Komplex mit der Bedrohung durch den
»unheilvollen Todesnebel« (S.35, 49, 79-83), den
»unreifen Tod« (S.5, Schärer zu Unrecht kritisiert, da
Schärer 1966: 262-383 nicht gelesen!), über Verwandt-
schaftsbeziehungen und -bezeichnungen (einzigartig in
der gesamten Ngaju-Literatur: S. 94-101) sowie über
Geschichte und »Modernisierung« der Hindu Kaharin-
gan-Religion seit 1971 (S. 109-129). Einschränkend muß
auch hier gesagt werden, daß Frau Schiller das Niveau
Hans Schärers nicht ganz erreicht. Außer Schärers engli-
scher Gottesidee-Ausgabe kennt sie von ihm nichts, und
- wo Anne Schiller keine Schuld trifft - ihre Informanten
der 80er Jahre haben eben nicht das Wissen und die
Erfahrung der Spezialisten in Sachen Stammesreligion
der 30er Jahre (die Priestersprache ist verflacht und wird
nicht mehr voll verstanden, bei der Schöpfimgsmythe
wird auf das 1973 vom Leitungsgremium der Kaharin-
gan-Religion herausgegebene »Lehrbuch« zurückgegrif-
fen). Theologisch ist dieses Lehrbuch und eben dadurch
auch Anne Schillers Darstellung zu einem höchst er-
staunlichen Maß von biblischen Inhalten beeinflußt und
geprägt (so die Satanologie, Hamartiologie und Soterio-
logie aufgrund von l.Mose 3, wenn nicht gar - unter
Auslassung aller Christologie - von Römer 6). Die Ver-
wunderung seitens des Lesers sollte nicht zu hoch an-
gesetzt werden, denn der Vorsitzende Lewis war bis zu
Beginn der 60er Jahre protestantischer Kirchengemein-
derat und Laienprediger in Kuala Kapuas. Auch Organi-
sation, Ausbildung und Gottesdienstformen der Hindu
Kaharingan-Gemeinschaft (das traditionelle Priesterri-
tual steht nicht mehr ausschließlich im Zentrum, Rück-
gang von Besessenheitsphänomenen und okkulten Prak-
tiken) sind ohne protestantisches Gemeindevorbild
undenkbar (S. 114, 117, 122-128). Andrerseits soll das
Fest der »Kreuzesaufrichtung« auf Christengräbern
(S. 129) bei Ngaju-Christen der Mehrstufigkeit des
Dayak-Totenrituals nachgebildet sein, was auf die umfas-
sende Wechselwirkung Religion - Stammesidentität (frei
nach Geertz, S. 149: “The compelling quality of the Kaha-
ringan ethos continues to find vehicles for expression.
ritual or otherwise”) hinweist.
In sieben Kapiteln breitet Frau Schiller ihre Untersu-
chungen, Gespräche, Erfahrungen, Überlegungen und
Ergebnisse aus. Erstes und letztes Kapitel (Einführung
und Epilog) zeigt, wo sie wissenschaftstheoretisch, wenn
nicht gar weltanschaulich, angesiedelt sein möchte und
daß dies sehr wohl zum tieferen Verständnis der Ent-
wicklungen und Prozesse seit den 70er Jahren am mitt-
leren Kahayan verhütt. Kapitel 2 und 3 befassen sich mit
Tod und Totenritual. So wichtige Bereiche in der Ngaju-
Religion, wie Weltbild, Seelenlehre, Stellung und Auf-
gabe des Priesters, Gottheiten im Zusammenhang mit
dem Totenkult, werden hier behandelt. Kapitel 4 ist mit
»Heil (>order<) und Unheil in Natur und Jenseits« über-
schrieben. Hier sind die höchst beachtenswerten Aus-
führungen über den Adat-Pali-Komplex, über Verwandt-
schaftsverhältnisse und über die übrigen Mitglieder des
Ngaju-Pantheon eingefügt. Bei den »Hexen«, die den Ne-
gativgottheiten bzw. -geistern zuzurechnen sind, kommt
es zu Direktverbindungen mit der Menschengesellschaft
der Kahayaner und damit zu »Identitätsbedrohungen«.
Hier müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Auf
dem Hintergrund der daraus erwachsenen Sozialordnung
wird das Tiwah-Totenfest interpretiert. Kapitel 5 und 6
behandeln den inneren und äußeren Werdegang der
Hindu Kaharingan-Gemeinschaft bzw. der Provinz Mit-
tel-Kalimantan im modernen Indonesien, u.a. Rationa-
lisierung, Einsetzung und Durchsetzung eines »Lehr-
amtes«, Organisation. Bildungsarbeit, Normierung und
Kodifikation, Gemeinsamkeiten bzw. Distanz zu andern
Religionen.
Trotz aller Zwiespältigkeit muß - nicht zuletzt in Erman-
gelung eines Besseren - daran festgehalten werden, daß
Anne Schillers »Kleine Opfer« den großen, beachtens-
werten und, was die Ngaju betrifft, unverzichtbaren Dar-
stellungen moderner Dayak-Kultur zuzurechnen ist.
Martin Baier
Felgentreff, Carsten:
Räumliche Bevölkerungsmobilität in Fid-
schi. Eine exemplarische Untersuchung der
Dorfgemeinschaft von Naikeleyaga (Kabara
Island, Lau-Province). Potsdam: Selbstver-
lag des Institutes für Geographie und Geo-
ökologie der Universität Potsdam, 1995. 257
Seiten.
ISSN 09040-9688
Die hohe und vielgestaltige räumliche Bevölkerungsmo-
bilität kann wohl zurecht als eines der auffälligsten und
wichtigsten Kennzeichen des gesellschaftlichen Lebens
der melanesischen Fidschianer angesehen werden, sei es
im Rahmen des Verhältnisses von urbanem und länd-
lichem Raum, sei es im Rahmen von Ausbildung und
TRIBUS 46, 1997
Arbeit, von sozialen Verpflichtungen und gesellschaft-
lichen Ereignissen. Zum einen bietet somit die Betrach-
tung der Bevölkerungsmobilität in Fidschi reiches Mate-
rial für die Mobilitätsforschung. Zum anderen aber ist das
Verständnis der Art und des Umfangs der räumlichen
Bevölkerungsmobilität sowie ihrer ideologischen, sozia-
len, politischen und ökonomischen Bedingungszusam-
menhänge und Konsequenzen ein wichtiger Beitrag zum
Verständnis der fidschianischen Gesellschaft überhaupt.
Mit Carsten Felgentreffs Dissertation liegt nun ein detail-
lierter Beitrag hierzu vor. Dem übergeordneten Ziel ver-
pflichtet, »ein Wanderungssystem in seiner Komplexität
zu beschreiben und Interpretationen und Erklärungen für
das Beobachtete zu liefern, im weitesten Sinne seine
Funktionsweise zu >verstehen<« (S. 6), beschränkt er sich
ganz bewußt auf eine einzige Untersuchungsgruppe,
deren Mitglieder die Herkunft aus dem knapp 200 Ein-
wohner zählenden Dorf Naikeleyaga auf der Insel Kabara
in der Lau-Gruppe im Osten des Fidschi-Archipels ge-
meinsam haben. Die Vorteile genau dieser Untersu-
chungsgruppe liegen für die Mobilitätsforschung in der
im Vergleich zu anderen Regionen Fidschis und des Süd-
pazifiks überdurchschnittlich guten Quellenlage für diese
Region, die nicht zuletzt auf UN-Forschungsprojekte
zurückgeht, und in der über lange Jahrzehnte hin hohen
Mobilitätsrate (Bayliss-Smith et al. 1988; Bedford 1988;
Brookfield 1981). Der Untersuchungsraum, innerhalb
dessen sich die Untersuchung bewegt, ist dabei zwei-
geteilt, da das Wanderungssystem, als das die Untersu-
chungsgruppe und ihre räumliche Verteilung beschrieben
werden, sich im wesentlichen zwischen der Hauptstadt
Suva und dem Dorf Naikeleyaga entfaltet. Um sich der
ganzen Komplexität eines solchen Wanderungssystems
verstehend nähern zu können, hat sich der Autor nicht
nur auf die Auswertung bereits vorhandener statistischer
Daten beschränkt, sondern hat an beiden Orten im Rah-
men einer neunmonatigen Feldforschung 1993 selbst mit
quantitativen und qualitativen Methoden des teilstandar-
disierten Interviews, des vertiefenden Einzel- und Grup-
pengesprächs und der teilnehmenden Beobachtung empi-
rische Daten erhoben, die er sowohl statistisch als auch
qualitativ auswertet.
Durchgeführt wurde diese >Multi-Methoden-Untersu-
chung< (S. 27) auf vier Ebenen, die jeweils einem Kapitel
der Arbeit entsprechen: auf der Ebene sozioökonomischer
Zusammenhänge im nationalen und internationalen Rah-
men, wobei es vor allem um soziale, politische, ökono-
mische und demographische räumliche Disparitäten und
Abhängigkeiten zwischen dem urbanen Zentrum Suva
und dem in der Peripherie gelegenen Dorf geht (Kapitel 2);
auf der Ebene der statistisch faßbaren Daten zu Demogra-
phie und Mobilität der Dorfbevölkerung des betreffenden
Dorfes (Kapitel 3); auf der Ebene von 87 teilstandardisier-
ten Wanderungsbiographien von Dorf- und Stadtbewoh-
nern (Kapitel 4); auf der Ebene von 14 ausgewählten
detaillierten Lebenswegen, die in Textform nacherzählt
werden (Kapitel 5). Diesen Kapiteln geht eine ausführ-
liche und kritische Einführung in Fragestellung, Zielen,
Methodik und Forschungspraxis voran (Kapitel I ). Ihren
Abschluß findet die Arbeit in einer Zusammenfassung der
wichtigsten Ergebnisse sowie einigen Reflexionen und
Ausblicken, die die Ergebnisse in die allgemeine Diskus-
sion der Bevölkerungsmobilität in Fidschi und im Pazifik
stellen.
Vor dem Hintergrund der großen strukturellen Disparitä-
ten zwischen dem urbanen Suva und dem kleinen Dorf
Naikeleyaga wird so auf der Grundlage der quantitativen
Daten eine multilokale Dorfgemeinschaft erkennbar, die,
neben anderen weniger bedeutenden Orten, im wesentli-
chen Suva und Naikeleyaga zu einem Wanderungssystem
zusammenschließt, innerhalb dessen Mobilitätsprozesse
von großer Dynamik ablaufen. Diese führen dazu, daß
die beiden wesentlichen Räume Suva und Naikeleyaga
»nicht als diskrete und autonome räumliche Einheiten«
(S.2I6) angesehen werden können, sondern als in einem
regen Bevölkerungsaustausch aufeinander bezogen be-
trachtet werden müssen. Zu den wesentlichen Charakteri-
stika dieses Wanderungssystems zählen der zumeist tem-
poräre Charakter und das hohe Maß an Zirkularität der
Wanderungen sowie eine bedeutende Remigrationsrate
und eine hohe Fluktuation der zahlenmäßig recht stabilen
Dorfbevölkerung (innerhalb von 10 Jahren emigrierten
46% bzw. 92 Personen der 1983 anwesenden Bevöl-
kerung, während 25% bzw. 48 Personen der 1993 anwe-
senden Bevölkerung seil 1983 in das Dorf immigrierten)
(v. a. S. 141 f.). Besondere Aussagekraft erhalten die quan-
titativen Analysen durch die sich dem Autor bietende
Möglichkeit, ganz unterschiedliches Datenmaterial nut-
zen zu können, dem er sich in einer kritischen und trans-
parenten Weise nähert und so die Grenzen der Aussa-
gemöglichkeiten der statistischen Daten aufzeigt. Neben
einem selbst erhobenen Zensus und eigenen Interviews,
den publizierten Zensusdaten seit 1921 und dem Gebur-
tenregister der die Dorfgemeinschaft bildenden Ver-
wandtschaftsgruppe waren dies auch z. T. unveröffent-
lichte demographische Daten zum Untersuchungsort
Naikeleyaga von R. D. Bedford.
Die >personelle Verflechtung< (S.212) und dynamische
Mobilität zwischen Stadt und Dorf sowie der überwie-
gend temporäre Charakter der Migrationen und die hohe
Anzahl zirkulärer Bewegungen tritt noch deutlicher in
der Analyse der 87 teilstandardisierten Wanderungsbio-
graphien hervor, von denen 56 im Dorf und 31 in Suva
erhoben wurden (v. a. S. 172f). Die Auswertung von 14
ausführlicher in nacherzählender Textform dargestellten
Lebensläufen eröffnet einen Einblick in die Motive
und subjektiv erfahrenen Bedingungszusammenhänge
der Migranten. Hervorstechende Charakteristika sind die
Flexibilität und Offenheit der Wanderungsentscheidun-
gen sowie die Eingebundenheit dieser Entscheidungen
in die kulturellen Wertungen und sozialen Hierarchien
und Pflichten, die wesentlich die Wanderungsbiogra-
phien bedingen und ein Wanderungssystem haben entste-
hen lassen, das als eine Arbeitsteilung zur Ausnutzung
unterschiedlich verteilter Ressourcen verstanden werden
kann und das zwar von der monetären Marktökonomie
bedingt wird, nicht aber in dieser aufgeht (S. 202-209,
S. 217).
Die bewußte Beschränkung auf eine exemplarische De-
tailstudie läßt ein wesentlich dynamischeres und komple-
xeres Bild eines Wanderungssystems in Fidschi entstehen,
als es mit einem groß angelegten Survey oder durch die
Auswertung der in einem Abstand von jeweils 10 Jahren
erhobenen Zensusdaten allein möglich gewesen wäre. Das
zugleich quantitative und qualitative Vorgehen ermöglicht
es, strukturelle Daten der Lebensräume, demographische
Daten und Biographisches aufeinander zu beziehen. Die
strukturelle Bedingtheit von Wanderungsbiographien,
234
Buchbesprechungen Südsee
auch wenn sie immer nur im Nachhinein vom Autor mit
dessen durch Beobachtung und Gespräch gewonnenen
Hintergrundwissen auf der Grundlage von Einzel- und
Gruppengesprächen rekonstruierte Lebensläufe sind,
wird dabei genauso deutlich wie der lebenspraktische
Hintergrund kultureller Wertungen, sozialer Verpflichtun-
gen und ökonomischer Abhängigkeiten des quantitativen
Materials.
Deutlich wird in der Arbeit Felgentreffs aber auch, wie
wenig tauglich einseitig ökonomisierende und reduktio-
nistische Erklärungsmodelle und Begrifflichkeiten im
Rahmen der Mobilitätsforschung sind. Weder sieht Fel-
gentreff die These von der sukzessiven Entvölkerung der
Forschungsregion bestätigt, noch die Auffassungen, daß
eine rurale Region wie die der Lau-Gruppe, die nach den
Kriterien einer nationalstaatlich und international organi-
sierten monetären Ökonomie ungünstigste Bedingungen
aufweist, einseitig als Emigrationsgebiet aufgefaßt wer-
den kann (S.216f.). Das in der vorliegenden Arbeit ge-
zeichnete Bild ist weitaus komplexer und läßt urbane und
rurale Räume mit denen auf sie verteilten Bevölkerungs-
gruppen als komplexe Austauschsysteme erscheinen,
innerhalb derer trotz vorherrschender Emigration aus
dem Dorf immer auch Remigration in das Dorf vor-
kommt und die urbanen Räume immer auch in Abhän-
gigkeit von den ländlichen Gebieten zu verstehen sind,
sei es auf der Ebene der Arbeitskräftereservoirs und
der sozialen Sicherungssysteme, sei es auf der Ebene der
Identität (S.217L). Bemerkenswert ist dabei, daß inner-
halb dieser Wanderungssysteme das Dorf selbst ganz
bewußt von den Akteuren aufrecht erhalten wird, ein Vor-
gang, der in engstem Zusammenhang mit der neotradi-
tionalen Ideologie des >fijian way of life< und der Veran-
kerung der Identität der melanesischen Fidschianer hierin
steht - eine Erfahrung, die sich nicht nur in der Lau-
Gruppe machen läßt, sondern auch in anderen Gebieten
mit hoher Emigrationsrate wie etwa Kadavu im Süden
des Fidschi-Archipels. Kategorien wie >Stadtbewohner<
und >Dorfbewohner< oder wie >temporäre Mobilität*;,
dauerhafte Migration und dauerhafter Wohnsitz< wer-
den in solchen komplexen Systemen in ihrer Eindeutig-
keit fragwürdig. Nur Detailstudien wie die vorliegende
Arbeit, die sich mit anderen Regionen befassen, werden
die sich hinter diesen Kategorien versteckende Komple-
xität und regionalspezifische Bedeutung zunehmend
deutlicher hervortreten lassen und ein tieferes Verständ-
nis der Mobilität und ihrer Konsequenzen für die jewei-
lige Gesellschaft ermöglichen.
Jedoch muß zum Schluß noch ein Wort zu dem Umfang
des beschriebenen Wanderungssystems gesagt werden.
Ausgangspunkt und ständiger Bezugspunkt der Untersu-
chung und der aus ihr resultierenden Schlußfolgerungen
ist immer die >multilokale DorfgemeinschafL Naikeleya-
ga. Der Autor hebt selbst hervor, daß eine Gruppe der
ursprünglich aus diesem Dorf Stammenden aus überzeu-
genden forschungspraktischen Gründen nicht in die Un-
tersuchung einbezogen werden konnte, die Gruppe jener
Stadtbewohner nämlich, die den Kontakt zu der beschrie-
benen mullilokalen Dorfgemeinschaft nur bedingt oder
gar nicht aufrecht erhalten (S. 1461'.). Zwar wird angege-
ben, daß sich bei den Versammlungen der in Suva leben-
den Angehörigen der Dorfgemeinschaft ca. 60 Haushalts-
vorstände einfinden, doch kann man nicht daraus ableiten,
wie viele der insgesamt 575 registrierten Mitglieder durch
diese vertreten werden. Neben dem beschriebenen Wan-
derungssystem der multilokalen Dorfgemeinschaft, die
urbane und rurale Räume in sich vereint, ist deshalb die
Frage nach anderen Gruppen zu stellen, die sich von der
beschriebenen Art von Dorfgemeinschaften absetzen und
sich in Zukunft vielleicht sogar stärker absetzen werden.
Welche Art von urbanen Systemen neben denen der mul-
tilokalen Dorfgemeinschaften im urbanen Fidschi be-
stehen, ist somit ein interessantes Forschungsgebiet für
zukünftige Studien mit einem urbanen Ausgangs- und Be-
zugspunkt.
Die vorliegende Arbeit gewährt so dem Leser einen
detaillierten und vielfältigen Einblick in ein überschau-
bares Wanderungssystem und ermöglicht es, qualitative
und quantitative Daten fruchtbar aufeinander zu bezie-
hen. Die stärkere Betonung dergestaltiger Untersuchun-
gen, von denen es noch immer zu wenige gibt, könnte in
Zukunft nicht nur dazu führen, eine detailliertere Kennt-
nis komplexer Wanderungssysteme auf regionaler, natio-
naler und internationaler Ebene zu ermöglichen, sondern
auch dazu, größer angelegte Untersuchungen und umfas-
sendere Theorien und Konzepte wie die Dependenz-
theorie, das Weltsystem oder das Konzept der MIRAB-
Staaten fundierter vor dem Hintergrund solch detaillierter
und vielfältiger Einblicke zu diskutieren.
Literatur
Bayliss-Smith, Tim/Bedford,
Richard/Brookfield, Harold/Latham, Marc
1988 Islands, Isländers and the World. The Colonial and
Post-Colonial Experience of Eastern Fiji. Cam-
bridge Human Geography. Cambridge u.a.: Cam-
bridge University Press.
Bedford, Richard D.
Population Movement in Post-Colonial Fiji:
Review and Speculation. In; GeoJournal 16 (2):
179-192.
Brookfield, Harold C.
Man, Environment and Development in the Guter
Islands of Fiji. ln: Ambio 2-3: 59-67.
Michael Dickhardt
JUILLERAT, BeRNARD:
Children of the Blood: Society, Reproduc-
tion and Cosmology in New Guinea. (Explo-
rations in Anthropology Series). Oxford/
New York: Berg, 1996 (Französische Origi-
nalausgabe Paris, 1986). 601 Seiten, SW-
Fotos.
ISBN 1-85973-161-9
Über einen Zeitraum von 12 Jahren hat der französische
Ethnologe Bernard Juillerat während insgesamt 33 Mo-
naten bei den Yafar, einer kleinen Ethnie der Amanab-
Sprachgruppe in den Border Mountains der Sandaun
Province von Papua Neuguinea, nahe der Grenze zu Irian
Jaya (dem indonesischen Teil der Insel), gelebt und
geforscht. Die Yafar, die ungefähr 200 Menschen zählen,
haben viele kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten
mit ihren unmittelbaren Nachbargruppen. Zusammen
bezeichnet Juillerat diese als Eri.
235
TRIBUS 46, 1997
Das vorliegende Buch ist die englische Übersetzung der
1986 erschienenen französischen Originalausgabe und
stellt, wie der Autor sagt, eine ganzheitliche Analyse der
Strukturen und der Sozialorganisation sowie der symbo-
lischen Repräsentationen der Yafar-Kultur dar. So schwer
zugänglich wie das Wohngebiet der Yafar ist bzw. früher
war. so verschlüsselt präsentierte sich die Kultur der
Yafar dem europäischen Ethnologen. Etliche Bereiche
oder Dimensionen der Kultur blieben dem Forscher auch
nach langjähriger Arbeit und großer Vertrautheit mit
den Menschen verschlossen oder zumindest unklar, wie
er mehrmals in seinem Text zu verstehen gibt. Diese ehr-
lichen Eingeständnisse vermindern den Erkenntniswert
der Studie aber keineswegs, im Gegenteil, sie erhöhen die
Glaubwürdigkeit seines Textes nachdrücklich.
Juillerat führt seine Leser und Leserinnen über rund 550
Seiten Text auf eine Reise in die Yafar-Kultur hinein,
immer wieder vorbei an den gleichen Punkten (Heirat,
Verwandtschaft, Jagd. Fruchtbarkeit, Ritual, Mythik und
andere), aber immer aus einer neuen, stetig sich vertie-
fenden Optik auf der Suche nach den sinnstiftenden Ver-
knüpfungen zwischen Gesellschaft und Umwelt, Mythik
und Ritual, Symbolik und Handlung sowie zwischen
Natur und Kultur. Die grundlegenden, prokreativen Prin-
zipien der beiden Domänen des Yafar-Kosmos sind die
gleichen, aber die menschliche Kultur ist keine direkte
Spiegelung der sie umgebenden Natur. Es bedarf einer
Transformation. Während die menschliche Gesellschaft
als solche ein integraler Bestandteil des kosmologischen
Systems ist und bleibt, ist es der männliche Teil, der
durch individuelle und kollektive Rituale und der Akti-
vierung deren Symbolik sich der generativen Prinzipien
der Natur bemächtigt und zu kontrollieren versucht und
dabei sich gleichzeitig von derselben abhebt. Die soziale
Reproduktion der Gesellschaft wird erst durch deren
symbolische Reproduktion gesichert. Während bei erste -
rer beide Geschlechter beteiligt sind, tragen die Männer
die Verantwortung für letztere alleine, was unweigerlich
zu einer Reihe von Widersprüchen führt, insofern, als die
Männer zu vereinnahmen gezwungen sind, was ihnen
natürlich nicht gegeben ist: die inhärente Fähigkeit Leben
hervorzubringen. Leitmotive der Yafar-Kultur sind die
gleichzeitige Aufrechterhaltung der geschlechtlichen
Gegensätze und die kontrollierte Vermittlung zwischen
und Überwindung von inhärenten Widersprüchen. In die-
sem Spannungsfeld ist der kulturelle Prozeß, der sowohl
die Gesellschaft als auch die Umwelt der Yafar aufrech-
terhält und mit Sinn versieht, angesiedelt.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die ihrerseits in
Kapitel und Unterkapitel unterteilt sind. Der sprachliche
Ausdruck ist verständlich und präzis, der Einbezug von
vielen einheimischen Begriffen und Umschreibungen
sowie detaillierter Tabellen und Diagramme erfordert
jedoch vom Leser seinerseits Präzision und Geduld.
Ergänzt wird der ethnographisch dichte und ideenreiche
Text mit zwei Anhängen, einem Glossar, einer ausführli-
chen Bibliographie und einem sehr nützlichen Index.
Im ersten Teil liefert der Autor eine Beschreibung und
Analyse der erkennbaren und tragenden sozialen Einhei-
ten der Yafar-Gesellschaft: Stamm (tribe), Dorf, Klan. Li-
neage bis hin zum einzelnen Haushalt. Die Yafar, die
in drei Dörfern oder Weilern leben, setzen sich aus mehre-
ren. flexiblen Patriklanen zusammen und sind sowohl in
soziologischer als auch in räumlicher Hinsicht von einer
beträchtlichen Mobilität und schwachen Ausdifferenzie-
rung gekennzeichnet. Auffallendstes Merkmal und zu-
gleich tragendes Prinzip der Sozialorganisation ist eine
Hälftenteilung, welche die Klane in eine männliche und
eine weibliche Hälfte gliedert. Die einzelnen Hälften
teilen sich ihrerseits in eine jüngere und eine ältere Hälfte,
so daß wir es eigentlich mit einer doppelten Hälftenteilung
zu tun haben. Auf der Reise durch die Yafar-Kultur wird
es bald deutlich, daß die Dualorganisation auf Geschlech-
terbasis nicht auf die Gesellschaftsstruktur beschränkt ist.
sondern das tragende Prinzip der gesamten menschlichen
und natürlichen Ordnung darstellt. Hervor geht diese
Ordnung aus der Kosmogonie der Yafar. in der - in meh-
rere Phasen gegliedert und von mythischen Inversionen
gekennzeichnet - die Welt, in der die Erde als weiblich,
der Himmel als männlich identifiziert wird, aus der ge-
schlechtlichen Vereinigung des primordialen Götterpaa-
res entsteht. Als erste Wesen entstehen die männliche
Sagopalme und die weibliche Kokospalme, die zugleich
als Totems der beiden Hälften der Sozialorganisation gel-
ten. In einer weiteren, entscheidenden Episode der Kos-
mogonie, in der weibliche, von ihren männlichen Gegen-
spielern getrennt lebenden Wesen die Kontrolle über die
reproduktiven Kräfte haben, rauben die Männer den Frau-
en das Geheimnis der Reproduktion (symbolisiert im Be-
sitz des zentralen Kmgfs-Rituals) und beherrschen fortan
sowohl die soziale als auch die symbolische Reproduktion
der Yafar-Gesellschaft. Das KmgA-Ritual ist die wichtig-
ste kollektive Kulthandlung der Yafar. Es beinhaltet die
rituelle Umsetzung der Inhalte der geheimen Ursprungs-
mythik und ist demnach zentral für die Aufrechterhaltung
und Erneuerung sowohl der Gesellschaft als auch der
Natur, der sie entspringt und in der sie eingebettet ist.
Im zweiten Teil seiner Studie beschäftigt sich Juillerat
mit den Interaktionen der Yafar mit ihrer natürlichen und
erweiterten sozialen Umwelt, d. h. mit der wirtschaft-
lichen Produktion und Distribution und den Handels-
und Tauschbeziehungen zu anderen Eri-Gruppen. Bei der
Darstellung der Nahrungsbeschaffung stehen wiederum
die sozialen und symbolischen Dimensionen im Vorder-
grund seines Interesses. Vor allem die Jagd (auf Schweine
und Kasuare) stellt einen Schlüsselbereich dar, nicht nur
weil sie eine Hauptbeschäftigung der Männer ist, sondern
weil im Umgang mit den Beutetieren Leitideen zur Be-
schaffenheit der Welt, der Geschlechtlichkeit und dem
Zyklus von Leben und Tod zum Ausdruck kommen. Die
Tiere entspringen der Mutter Erde und werden von Män-
nern erlegt, aber der Jagderfolg hängt von der Vermitt-
lung der nabasa-Gcister ab, die, wie man später im Detail
erfährt, nichts anderes als die Seelen Verstorbener sind.
Durch ausgedehnte Ritualzyklen versuchen die Männer
die Kontrolle über das labile Dreiecksgleichgewicht
(Erde-Mensch-Totengeister) zu erhalten.
Der dritte ist der komplexeste und dichteste Teil der
Studie. Hier führt Juillerat die Fäden zusammen, die er
in den ersten beiden Teilen ausgelegt hat. Er beginnt mit
einer Beschreibung und Analyse der Sexualität, wobei
keineswegs reale Praktiken oder Verhaltensweisen im
Vordergrund stehen, sondern die gedankliche Veranke-
rung der Geschlechtlichkeit im Kosmos. Zentral ist das
Konzept des hoofuk, der Lebenskraft, die in allen Lebens-
formen vorhanden ist, am konzentriertesten jedoch im
Inneren der Muttererde - dem Sitz des Ur-hoofuk, dem
auch die Jagdtiere entspringen - und im Uterus der Frau.
236
Buchbesprechungen Südsee
Die lebensspendende Kraft haftet dem Weiblichen an und
ist für die Männer gefährlich. Ihnen bleibt die Aufgabe,
durch Ritual und Einhaltung von Meidungsvorschriften
die Kontrolle über diese Macht zu erlangen und zu erhal-
ten, was sowohl bei der Jagd als auch in der Sexualität
gilt. Die nächsten beiden Kapitel sind einer ausführlichen
Darstellung und Analyse des Beirats- und des Verwandt-
schaftssystems gewidmet, aus der zum Schluß die Er-
kenntnis hervorgeht, daß die vordergründig palrilineare
Abstammungsrechnung eigentlich ein verkapptes bili-
neares System darstellt, bei dem die lebensspendende
Kraft durch die weibliche Linie verläuft, die Männer
durch das Heiratssystem jedoch die Kontrolle über diese
Kraft erlangen. Dieser detailreichen Abhandlung folgt
meiner Einschätzung nach das spannendste Kapitel, das
den verschiedenen Dimensionen der individuellen Iden-
tität gewidmet ist. Juillerat macht die Unterscheidung
zwischen einer erworbenen sozialen und einer gegebenen
natürlichen Identität. Vor allem letztere ist von eindrück-
licher Erklärungskraft, weil der Autor die Metamorpho-
sen des Selbst durch Leben und Tod hindurch über-
zeugend mit den dualistischen Grundprinzipien des
Yafar-Kosmos in Verbindung bringt und dabei deutlich
wird, wie letztlich die kulturinhärenten Widersprüche,
die das Leitmotiv der Studie verkörpern, im stetigen
Zyklus von Wachstum und Vergänglichkeit ihre Über-
windung erfahren. Abgeschlossen wird dieser dritte Teil
mit einer Darstellung, wie religiöses und geheimes Wis-
sen ihren Ausdruck in sozialer Differenzierung und poli-
tischer Macht in der Gesellschaft erfährt und wie sich bei
den Yafar Konflikte äußern und unter Kontrolle gehalten
werden. Teil vier der Studie zeichnet den Weg der Yafar
in die Moderne nach und beschreibt ihre Versuche, die
sich ihnen offenbarende neue Welt zu verstehen und unter
Kontrolle zu bekommen.
Juillerat’s Buch ist eine eindrückliche ethnographische
Monographie, in deren Verlauf der Autor durch die
gekonnte Verknüpfung der einzelnen Bereiche einen
gesamthaften, symbolischen Diskurs über die Lebens-
welt der Yafar entstehen läßt. Die Flut der Details und
immer neuer, einheimischer Begriffe ist zwar manchmal
erdrückend, doch Juillerat gelingt es fast immer, den Weg
zurück auf seine Argumentationslinie zu finden. Ledig-
lich in den letzten beiden Kapiteln (13 und 14) des dritten
Teils erreicht man eine gewisse Sättigung, bei der man
sich beim heimlichen, aber bangen Blick auf die wach-
senden Seitenzahlen ertappt. Doch zum Schluß bleibt die
Erkenntnis, nicht nur etwas über eine ethnographisch
wenig bekannte Region Papua Neuguineas erfahren, son-
dern auch einen sehr anregenden Weg, eine Kultur zu
entschlüsseln, verfolgt zu haben.
Nigel Stephenson
Keck, verena;
Historical Atlas of Ethnie and Linguistic
Groups in Papua New Guinea. Vol. 1. Part 3:
Madang. Basel: University of Basel, Institute
of Ethnology, 1995. 399 S., 10 Faltkarten.
ISBN 3-85977-192-2
Wassmann, Jürg;
Historical Atlas of Ethnie and Linguistic
Groups in Papua New Guinea. Vol. 3. Part 4:
New Britain. Part 5: New Ireland. Part 6:
Bougainville. Basel: University of Basel,
Institute of Ethnology, 1995. 185 S., 30 Falt-
karten.
ISBN 3-85977-193-0
Die beiden ersten Bände eines gewaltigen Kartenwerks
über linguistische und kulturelle Gruppen in Papua-Neu-
guinea, das sich seit rund 20 Jahren am Ethnologischen
Seminar der Universität Basel in Bearbeitung befindet,
sind erschienen. Ziel des Gesamtprojektes ist es, mittels 10
Kartenausschnitten (pari I to 10) alle Gebiete des Staates
Papua-Neuguinea bezüglich der linguistischen und kultu-
rellen Gliederung, so wie diese in Quellen zwischen 1873
und 1975 genannt werden, vollständig zu erfassen. Um
dieses Ziel zu erreichen, war es notwendig, einen nahezu
unermeßlichen Fundus an v. a. deutsch- und englischspra-
chiger Literatur, von Missionsblättern über Berichte von
Verwaltungsbeamten bis zu ethnologischen Monogra-
phien, sorgfältig durchzuarbeiten und alle Hinweise auf
Sprach- und Kulturgruppen, sei es auch nur in Fußnoten,
zu notieren. Die lange zeitliche Spanne - 102 Jahre -
machte es notwendig, sie pro Region in 5 chronologisch
geordnete Sequenzen zu unterteilen. Dies geschah nicht
nur wegen der Fülle der Daten, die wohl auf einer einzigen
Karte nicht hätten untergebrachl werden können, sondern
auch deshalb, um die fortschreitende Erweiterung des
Kenntnisstandes über die Bevölkerungsgruppen in Neu-
guinea und darüber hinaus die Veränderungen in den Be-
nennungen und der Lokalisierung der Gruppen aufzeigen
zu können. Für jede zeitliche Sequenz wurde je eine Karte
- so beispielsweise zu Neuirland bzw. zu Neubritannien -
mit linguistischen Gruppen und je eine mit kulturellen
Gruppen angefertigt. Die Eintragungen beschränken sich
dabei auf den Zeitausschnitt, in welchem die Quellen ver-
öffentlicht wurden.
Die Inseln Neubritannien, Neuirland und. als dem zu
Papua-Neuguinea gehörenden Teil der Salomonen, Bou-
gainville, sowie ein Ausschnitt >Madang< (der nicht
deckungsgleich ist mit der gleichnamigen Provinz) der
Hauptinsel Neuguinea liegen jetzt abgeschlossen vor.
Damit sind jetzt vier der insgesamt zehn Teile veröffent-
licht. Die umfangreichen Bände vermitteln einen be-
eindruckenden Einblick in die Dimensionen des Basler
Vorhabens. Was diese Bände - und darüber hinaus das
Gesamtwerk - auszeichnet, ist, daß es sich nicht um
>bloße< Kartenwerke handelt. Vielmehr sind auch alle
Zitate, die sich auf linguistische und kulturelle Gruppen
beziehen, im Originaltext aufgeführt. Auf diese Weise
wird es dem Benutzer möglich, die kartographische
Eintragung mit dem Quellentext zu überprüfen und zu
237
TRIBUS 46, 1997
evaluieren, ob es sich nur eine approximative Angabe des
Autors vom Hörensagen oder um eine eingehende Erkun-
digung vor Ort gehandelt hat. Das ausführliche Literatur-
verzeichnis schließlich erlaubt auch einen Rückgriff auf
die Quellen selbst. Besonders wertvoll sind übrigens die
ebenfalls nach Zeitschnitten geordneten Indices, denn die
Anzahl der Namen ist überwältigend.
Wie Meinhard Schuster, der das Atlasprojekt initiiert
und mit Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit geleitet hat,
in der Einführung betont, verfolgt das Kartenwerk zwei
Anliegen: Zum einen soll es als Nachschlagewerk über
die Verteilung und die geographische Lage der kultu-
rellen und linguistischen Gruppen dienen. Zum andern
soll der Atlas einen Beitrag zur Geschichte Papua-Neu-
guineas, genauer: zu dessen Erforschung beitragen, nicht
zuletzt deshalb, weil v. a. auch deutsche Quellen verwen-
det wurden, die im englischsprachigen und pazifischen
Raum kaum bekannt und zugänglich sind.
Die Handhabung des A4-großen Atlasses mit seinen
nahezu doppelt so großen, gefalteten Einzelkarten ist ein-
fach. Erst wenn man mehrere Zeitschnitte vergleichend
betrachten möchte, ist eine größere Fläche zum Ausbrei-
ten der Einzelkarten erforderlich (für Madang sind es
beispielsweise insgesamt 10 Stück).
Selbstverständlich birgt ein solches Kolossalwerk auch
Probleme, die Schuster zum Teil auch selbst nennt, etwa
die Namen für kulturelle Gruppen, die oft die Namen
für einzelne Dörfer oder Gebiete sind. Das gleiche gilt
auch für die Namen der Sprachgruppen. Überhaupt ist die
Unterscheidung zwischen beiden in den Quellen oft
uneindeutig oder fragwürdig. Auch wird in der Literatur
in den seltensten Füllen von >ethnic groups< gesprochen,
sondern von >Stämmen<, Substämmen, Clanen - aber
auch von Landschaften, Distrikten und ähnlichem.
Wie Schuster darauf hinweist, wäre es wünschenswert
gewesen, den Atlas auf der (eindeutigeren) Ebene von
Dörfern (bzw. Siedlungen im allgemeinen) zu erstellen.
Doch die Datenfülle, die daraus resultiert hätte, wäre ver-
mutlich nicht zu bewältigen gewesen.
Gerade weil die Grundkarten (und der Atlas überhaupt)
nicht nur für diejenigen, die ihn schufen, sondern für die
Benutzer les- und verstehbar bleiben sollten, mußte auf
viele geographische Details verzichtet werden, etwa auf
die Namen von Flüssen und den Verlauf von Grenzen
zwischen den einzelnen Gruppen. Auch tauchen in den
»Legenden«, d. h. in den angefügten Quellentexten, geo-
graphische Bezeichnungen auf, die typisch für die (Kolo-
nial-) Zeit waren, aus der sie stammten, heute jedoch nur
mit riesigem Aufwand eruiert werden können. Gerade für
die geographische Eingrenzung und zur genaueren Loka-
lisierung wären sie für denjenigen, der eine linguistische
oder kulturelle Gruppe ausfindig machen möchte, hilf-
reich gewesen (wo z. B. ist »Kap König«?).
Ein weiteres Moment, dem der Atlas keine Rechnung
trägt (und das auch nicht thematisiert wird), ist die Frage,
inwiefern Dorfverlegungen oder einfach Migrationen,
die im Verlauf von 100 Jahren sicher auch während der
Kolonialzeit teilweise noch stattgefunden haben, sich in
der unterschiedlichen Lokalisierung von kulturellen oder
linguistischen Gruppen widerspiegeln, oder ob es sich bei
unterschiedlicher Lokalisierung immer nur um differie-
rende Meinungen der Autoren handelte.
Ein letzter Punkt: die großen lingustischen Werke, die
Gruppierungen über ganz Neuguinea vorgenommen
haben, sind erst nach dem gesetzten Enddatum, 1975 (das
Jahr der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas), erschienen,
so vor allem der große Sprachatlas von Wurm und Hattori
(1981). Wer also linguistische Gruppen sucht, wird nicht
darum herumkommen, den Atlas dieser Linguisten zu
Rate zu ziehen.
Gesamthaft betrachtet stellt der Atlas ein wichtiges Hilfs-
mittel dar, sowohl zur Lokalisierung einzelner Gruppen
als auch zum Auffinden älterer Literatur. Mit Spannung
werden die weiteren Bände dieses ehrgeizigen Unterneh-
mens erwartet.
Brigitta Hauser-Schäublin
Strehlow, Wighard:
Wüstentanz - Australien spirituell erleben.
Allensbach: Strehlow Verlag, 1996. 237 Sei-
ten mit 56 Färb- und 36 SW-Abbildungen.
Das handliche, leicht verständlich geschriebene und mit
vielen Photos und Zeichnungen illustrierte Buch zur
Kultur der australischen Aranda- und Loritja-Aborigines
ist ein ethnologisches und historisches Dokument mit ei-
ner biographischen Dokumentation der Forschungen von
Carl und Theodor Strehlow. Es gibt einen Einblick
in die Tätigkeit eines außergewöhnlichen deutschen Mis-
sionars im Australien der Jahrhundertwende. Wighard
Strehlow ist ein Enkel von Carl und Frieda Strehlow, die
ab 1894 die Missionsstation Hermannsburg bei Alice
Springs in Zentralaustralien leiteten, als das weiße Aus-
tralien die Aborigines noch in Treibjagden ausrottete. Sie
boten ihnen nicht nur Schutz und eine Angliederungs-
möglichkeit an die westliche Zivilisation, sondern legten
vor allem eine Basis für die emische Erforschung ihrer
Tradition. Theodor Strehlow, einer der Söhne von Carl
und Frieda, setzte das Werk seines Vaters als Ethnologe
fort, und aufgrund seiner Arbeiten wurde 1978 das Gelän-
de von Hermannsburg zum Historie National Heritage er-
klärt. ln der Strehlow Research Foundation werden die un-
ersetzlichen Film- und Tondokumente der allerletzten
Rituale aufbewahrt, die die Aranda-Ältesten dieser Regi-
on 1953 für Theodor Strehlow aufgeführt hatten, um ihre
Tradition vor dem völligen Untergang zu bewahren.
Ein wesentlicher Aspekt des Buches ist, daß es sowohl
für den Nicht-Anthropologen als auch für interessierte
Studierende der Kultur- und Kommunikationswissen-
schaften eine Einführung in einige sonst schwer zugäng-
liche Aspekte der Aborigine-Kultur bietet, die diese Völ-
kerschaften vielleicht einzigartig in der Kulturgeschichte
der Menschheit erhalten haben; Die Songline-Tradition.
Für uns Angehörige der verbal dominierten Schrifltradi-
tion ist ein Kulturgedächtnissystem, das fast exklusiv auf
Überlieferung in episch-kinesisch-musikalischen Formen
(wie der Titel »Wüstentanz« andeutet) basiert, zuerst ein-
mal schwer begreiflich. Nach Strehlow stellen die heili-
gen Tjurungas (gemusterte Holz- und Steintafeln, S. 14)
die einzigen materiellen Gegenstände dar, die überhaupt
eine für uns erkennbare zeichenartige Symbolik tragen,
während die Stammesältesten in ihrem Gedächtnis 6000
Lieder bewahren, deren ungeheure Textmenge allein vie-
le Tage und Wochen der Rezitation beansprucht (S. 166—
167). Wir dürfen aber nicht vergessen, daß hier noch die
vollständige Choreographie und Orchestration der Tänze
238
Buchbesprechungen Südsee
dazukommt. Im Zeitalter der Multimedia können wir
diese ungeheure Gedächtnisleistung der Stammesältesten
in Vergleich zu Multimedia-Computern stellen, die mit
mehreren Gigabyte Plattenkapazität (1 Gigabyte = 1000
Megabyte = ca. 1000 Bücher) von solchen Datenmengen
völlig überfordert wären. Wenn man den Angaben der
Aranda- und Loritja-Ältesten glaubt, so sind diese Über-
lieferungen mehrere zehntausend Jahre alt und werden
mit absoluter Genauigkeit weitergegeben (Auf Verfäl-
schung der Tänze und Gesänge steht Todesstrafe, S. 203).
Diese extrem hochentwickelte Mnemotechnik muß in
25-30 Jahren des Lernens und den äußerst qualvollen
Initiationen erworben werden. Das gesamte Sozialsystem
der Arandas war darauf ausgerichtet, daß die Ältesten
dann nach der langen Lernzeit in der äußerst harten
Umgebung der australischen Halbwüste noch lange
genug am Leben blieben, um ihr Wissen an die nächste
Generation weiterzugeben.
Neben diesem Einblick in einige Details dieser Kultur-
tradition bietet das Buch einen Panorama-Überblick
über die Tänze der traditionellen Lebens- und Kosmo-
logie-Muster der Aranda und Loritja: Tanz des Lebens:
Ursprung von Himmel und Erde; Tanz der Götter: Helden
und Troubadoure; der Schöpfungstanz der Tiere und Ele-
mente; der Tanz von Empfängnis, Kindheit und Jugend;
der schmerzhafte Tanz der Initiation; der Tanz von Liebe,
Hochzeit, Sterben und Tod; der Tanz der Heilung und
Zauberei. Man vermißt in der Buchform nur schmerzlich,
daß uns das Buchmedium leider die essentiellen Ele-
mente der Bewegung und des Klangs vorenthält, die die
wesentliche Tradition der Aranda ausmachen, und es
ist zu hoffen, daß die unschätzbaren Film- und Tondo-
kumente, die Theodor Strehlow aufgenommen hat, in
naher Zukunft als Multimediasystem der akademischen
Forschung und der Allgemeinheit zugänglich werden.
Dies ist zwar vor allem ein finanzielles Problem, aber
an einem solchen Projekt zeigt sich, wo die wirklichen
Potentiale dieser neuen Technologie liegen. Ein leider
nicht mehr im Handel erhältliches Buch von Theodor
Strehlow, »Songs of Central Australia« (1971), kann hier
dem an tieferen Bezügen Interessierten noch wesent-
liches weiteres Material bieten.
Andreas Goppold
Weiss, Florence:
Die dreisten Frauen. Eine Begegnung in
Papua-Neuguinea (Die Frau in der Gesell-
schaft). Frankfurt/Main: Fischer Taschen-
buch Verlag, 1996. (FTB 12831). 288 S.
ISBN 3-596-12831-5
Sepik-Fachleuten und an Ethnopsychoanalyse Interes-
sierten wird dieses Buch bekannt sein; es ist bereits 1991
im Campusverlag erschienen und liegt nun als preisgün-
stige Taschenbuchausgabe vor.
Aussagen zum Erkenntnisziel und zur Methode flicht die
Autorin in den laufenden Text ein; sie klingen darüber
hinaus auch im Vorwort von F. Kretzen an: »Dem hier
vorliegenden Buch geht es um die Vermittlung der Er-
fahrung, wie Verständnis zwischen zwei Frauen aus
unterschiedlichen Kullurräumen erarbeitet werden kann;
die Ethnologin versucht ihr Wissen und ihre Erfahrungen
mit der fremden Kultur als Teleskop zu handhaben, ihr
geschultes Auge bündelt und kehrt zu sich selbst zurück.
So arbeitet sie an der Ferne, indem sie den nahen Blick
behauptet. Je klarer sie die Ferne anerkennt, desto dichter
kann sie die Nähe bestimmen. Eine Ferne, die nicht nahe-
gebracht wird, kann als Fernes und Fremdes nicht erkannt
werden. Ferne kann nur dann deutlich werden, wenn der
Beobachter/die Beobachterin die größte Nähe zu behaup-
ten wagt und bereit ist, der allergrößten Nähe, der zu sich
selbst, ins ferne, unwirsche Auge zu schauen.« (S. 7)
Die Studie basiert auf einer 1986 in der East-Sepik Pro-
vince (PNG) durchgeführten, zweimonatigen Feldfor-
schung. Da es sich bereits um den dritten Aufenthalt der
Autorin bei den latmul handelte, waren die Ausgangs-
bedingungen nahezu ideal: Florence Weiss und ihr Be-
gleiter Milan Stanek konnten an bereits bestehende
freundschaftliche Kontakte anknüpfen.
Die Rahmenhandlung des Buches bildet die Schilderung
des Handlungsablaufes von den Reisevorbereitungen in
der Schweiz bis zum Abschied am Ufer des Sepik. Inso-
fern handelt es sich um einen Reisebericht, der ein
anschauliches Bild der Lebensverhältnisse am Sepik ver-
mittelt. Doch gleichzeitig ist das Buch ein Forschungsbe-
richt, der die (nachträglich, meist am Abend protokollier-
ten) täglichen, einstündigen Gespräche Florence Weiss’
mit der etwa 50jährigen latmulfrau Miat wiedergibt.
Diese Gespräche der zunehmend miteinander vertrauter
werdenden Freundinnen kreisen um den Alltag der lat-
mulfrau, um die Sorgen und Mühen der Ernährerin einer
elfköpfigen Familie, um die Beziehungen Miats zu ihren
Freundinnen und, nicht zuletzt, um die Beziehung zwi-
schen den beiden Frauen. Im Buch lesen sich die Dialoge
dann beispielsweise folgendermaßen (Auszug aus einem
längeren Gespräch):
»(...)
Florence: Ich möchte gern über uns zwei ein Buch schrei-
ben. Was hältst du davon?
Miat: Wenn du ein Buch schreibst, ist das eine gute
Sache.
Florence: ln dem Buch würde ich erzählen, wie wir uns
jeden Tag getroffen haben, was wir gesprochen haben
und was wir für Gefühle und Gedanken hatten. Pause.
Über den Streit, den wir hatten, als ich mit deiner Tochter
sprach, könnte ich auch schreiben.
Miat: Über den Streit soll niemand etwas erfahren.
Florence: Der gehört doch auch zu unserer Geschichte.
Miat: Vielleicht ist das bei euch Weißen möglich, doch
wir Schwarzen behalten solche Dinge für uns.
Florence: Wenn ihr einen Streit habt, dann weiß das
ganze Dorf davon.
Miat: Aber der Streit mit dir war klein, nur über große
Affären wissen alle Bescheid.
Florence: Unser Streit war groß, und alle sprachen darü-
ber. Du hast deinen Kopf durchgesetzt und ich meinen.
(...)« (S.64; Hervorhebungen im Original).
Der Text, in den diese Dialoge eingebettet sind, liefert
(ethno)psychoanalytische Deutungen und Interpretatio-
nen von Miats Gefühlsleben und Weitsicht, wobei die
Analytikerin in einigen Fällen entsprechende Diskussio-
nen mit ihrem als Supervisor fungierenden Begleiter
Milan Stanek einarbeitet. Die Autorin thematisiert auch
ihre eigenen Stimmungen und Gefühle und zeichnet so
ein recht unverblümtes Bild ihrer eigenen Persönlich-
keitsstruktur. Wesentliche forschungspraktische, psycho-
239
TRIBUS 46, 1997
logische und ethische Probleme der Feldforschungssi-
tuation, die sich nicht nur bei der praktischen Umsetzung
der ethnopsychoanalytischen Methode ergeben (können),
sondern feldforschungsimmanent sind, werden ebenfalls
gleichzeitig deutlich.
Auf diese Weise ist ein gleichermaßen unterhaltsames
wie belehrendes Buch entstanden. Interessierten Laien
vermittelt ergänzend ein Glossar und eine kommentierte
Bibliographie das fehlende Hintergrundwissen über Pa-
pua-Neuguinea bzw. die Sepikregion, und wer es genauer
wissen möchte, der findet in der Literaturliste eine umfas-
sende Auswahl.
>Die dreisten Frauen< hebt sich deutlich positiv von
den üblichen Darstellungen und Reiseberichten, die der
Taschenbuchmarkt im Regal >Exotik/Fremde Kulturen<
bereithält, ab. Das Buch gehört nicht zu den zwar außer-
halb der Ethnologie beachteten, aus ethnologischer Sicht
aber eher unakzeptablen Titeln, die das außeruniversitäre
Ansehen der Disziplin - zumindest in Deutschland -
entscheidend (mit)prägen. Der im deutschsprachigen
Raum von professionellen Ethnologinnen und Ethnolo-
gen selten gewagte Spagat, ethnologisches Wissen fun-
diert und gleichzeitig massenwirksam zu publizieren, ist
hier gelungen. Dies ist als verdienstvoll anzuerkennen,
unabhängig davon, wie eng sich die Leserin/der Leser
dem ethnopsychoanalytischen Ansatz verbunden fühlt.
Doch auch hinsichtlich der praktischen Umsetzung die-
ses Ansatzes bietet das Buch einen gut verständlichen
Einstieg in die Materie.
Carsten Felgentreff
Zee, Pauline van der:
Etsjopok: avenging the ancestors. The Asmat
bisj poles and a proposal for a morphological
method. Working papers in Ethnic Art, No. 8.
Ghent: S. E. A., University of Ghent, Depart-
ment of Ethnic Art, 1996. 84 Seiten, SW-
Fotos.
This paper indicates the meticulous care given by the
author in her research of the literature dealing with basic
Asmat beliefs with particular reference to the bisj
myth and ritual. Van Zee presents the material logically
and displays an exceptional aptitude at compiling even
obscure data into an attractive manner but also bearing
rational value to the focus of the paper.
In her work the author arrived at valuable insights, how-
ever, on occasion she errs in her interpretation of the lite-
rature. Nonetheless, she is not to be blamed at all for this
since she neither directly observed nor studied the Asmat
in their environment, much less a bisj feast, nor could
avoid the occasional but faulty interpretation of particu-
lar authors. Consequently, she has overemphasized the
factor of revenge as the core philosophical principle
directing the Asmat people. This is a simplification that
obscures the reality and, unfortunately, belittling to the
Asmat.
The author should have explicitly indicated the contra-
dictions come upon in the literature she studied and ev-
aluated them, or at least indicated the need for additional
serious research and study of the Asmat. In the matter we
feel that it is unfortunate that the author depended upon
particular authors at the expense of others for her conclu-
sions. Notably, she could have questioned the two op-
posing statements: those of Gerbrands and Kuruwaip, or
highlighted them in some way. Gerbrands stales (footnote
No. 23) that “all Asmat sculpture is related to their ances-
tors whose death still has to be avenged”, whereas Kuru-
waip observed (1974: 8, 38, p 13) that not all figures carv-
ed on the bisj pole represent people who were killed
while headhunting but also those who died in more nor-
mal situations.
Factually, Kuruwaip is correct.
Furthermore the Asmat carved room and longhouse
pilings, fireplace poles and smaller figures of ancestors
without the implication of the need for revenge (avenge-
ing). These objects are looked upon as providing strength
(additional animation) and protection to the residents.
In this light the title selection of the author for her paper
is somewhat misleading: “Etsjopok: avenging the ances-
tors” since it directs the focus of the reader to revenge as
the core motivation of headhunting whereas re-establish-
ing equilibrium in a disturbed cosmos should have been
indicated as primary purpose of headhunting. The task of
maintaining equilibrium in the cosmos is a daily one for
the Asmat in all types of relationship to spirits, humans,
and the spirits of nature. It is always considered by the
Asmat as an obligatory and positive principle of life.
Early authors, need to be aware, much more than more re-
cent authors since communication with the Asmat is much
easier and exact, that what they had witnessed or conclud-
ed from conversations with the Asmat of former days
might have been misinterpreted by them. The feasts of the
Asmat are religious rituals, seriously complied to and per-
formed, and based upon fundamental beliefs in their rela-
tionship with the spirits. Headhunting needs to be right-
fully placed in the realm of ritual since its act releases a
soul, entrapped in an intermediate world because of some
mishap, for its journey to the real world of the ancestors.
Therefore, any author who interprets headhunting solely
as an act of revenge misrepresents, even though unin-
tenionally, the Asmat and is factually unfair to them.
Respective of interpretations of the Asmat culture by
authors, a critical evaluation of them is required either
with the help of, or by educated Asmat.
Some examples: Footnote 119: “Nowadays, these bisj
poles, reduced to more manageable size, are made for
commercial purposes.” Although bisj poles are being
reduced in size for commercial purposes, the villages that
celebrate the bisj feast continue to carve large poles to
day for authentic bis feasts. Moreover, the bisj poles of
the Emari Ducur group are traditionally only two meters
long.
Footnote 123: On a bisj pole “the three figures represent
the three generations proceeding the person that will be
revenged.” The statement is totally unlikely since the
Asmat would not have dared waiting three generations to
fulfill an absolute obligation. They would have perform-
ed the bisj ritual, a freeing ceremony, within the same
generation. Moreover, they would not dare to call the
souls (spirits) out of the real world of the ancestors, the
Safan, once they reached the place. The souls of only
those recently deceased, resulting from headhunting or
from some other mishap, are represented on the bisj pole.
Those freed previously are never represented on bisj
poles or any other figure carved.
Buchbesprechungen Südsee
Footnote 132; “The more men they killed, the more re-
spect they would win.” The Asmat did not make any
distinction of worth when killing either men, women or
children. In fact to redeem a soul from its realm was of
much more significance within this ritual.
Even though the author had been misdirected by some of
the literature, her approach remains a specifically worth
while one.
Respective of the bisj pole, the author developed a mor-
phological vocabulary for forms, posture, signs and pro-
portions of figures and their arrangement on the pole. Her
expectations is that her methodology would be of value
for any future works that attempt to provide a morpholo-
gical analysis for describing objects of art in detail. This
was a tremendous task for an object as complex as a bisj
pole. Nonetheless, she succeeds by patiently guiding the
reader through a complexity of terminology for various
forms and their application.
Gunter Konrad/Alphonse A. Sowada
241
TRIBUS 46, 1997
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 46, 1997
Baier, Dr. Martin, Willi.-Fr.-Laur-Weg 6, D-72379 Hechingen
Brandt, Dr. Klaus J., Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Britsch, Markus, Gartenstr. 21, D-75223 Niefern-Öschelbronn
Cipoletti, Dr. Maria Susana, Alemannenstr. 1 b, D-79312 Emmendingen
Creyaufmüller M. A., Dr. Wolfgang, Melatener Str. 145 a, D-52074 Aachen
Dickhardt M. A., Michael, Elliehäuser Weg 3, D-37079 Göttingen
Dreyer, Anatol, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Felgentreff, Dr. Carsten, Universität Potsdam, Institut für Geographie und Geoökologie, Post-
fach 601553, D-14415 Potsdam
Femppel, Dr. Gerhard, Lenzhalde 63, D-70192 Stuttgart
Firla, Dr. Monika, Gaisburgstr. 12 B, D-70182 Stuttgart
Fleisch M. A., Axel. Institut für Afrikanistik, Meister-Ekkehart-Str. 7, D-50935 Köln
Forkl, Dr. Hermann, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Goppold, Andreas, FAW Ulm, Postfach 2060, D-890I0 Ulm
Hahn, Dr. Hans Peter, Lehrstuhl für Ethnologie der Universität Bayreuth, Geschwister-Scholl-
Pl. 3, D-95440 Bayreuth
Hauser-Schäublin. Prof. Dr. Brigitta, Institut und Sammlung für Völkerkunde der Universität,
Theaterplatz 15, D-37073 Göttingen
Heermann, Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz I, D-70174 Stuttgart
Hüttenberger, Jens, Institut für Afrikanistik, Albertus-Magnus-Platz, D-50931 Köln
Kalter. Prof. Dr. Johannes, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Konrad, Priv. Doz. Dr. Gunter, Cranachstr. 13, D-41063 Mönchengladbach
Kosack, Dr. Godula, Brockhausstr. 13, D-04229 Leipzig
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kropp, Prof. Dr. Manfred, Johannes Gutenberg-Universität, Seminar für Orientkunde,
D-55099 Mainz
Kurelia, Dr.Doris, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz I, D-70174 Stuttgart
Leopold, Dr. Joest, Bei den Erlen 11, D-26125 Oldenburg
Roese, Peter M., Nibelungenstr. 227, D-64686 Lautertal
Schäfer, Dr. Rita, Carl-Kistner-Str. 62, D-79115 Freiburg
Schiede, Dr. Sonja, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schleip, Dietrich, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schröder, Dr. Peter, Rua Augusto Bacurau, 7, 63. 100-000 Crato - CE / Brasilien
Schulze-Thulin, Dr. Axel, Nordring 2, D-83624 Otterfing
Stege, Oliver. Dammweg 13, D-69123 Heidelberg
Stelzig, Christine, Museum für Völkerkunde, Arnimallee 27, D-14195 Berlin
Stephenson. Dr. Nigel, Ethnologisches Seminar der Universität Basel, Münsterplatz 19,
CH-4051 Basel
Thiele, Prof. Dr. Peter, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Tunis, Dr. Angelika, Museum für Völkerkunde, Arnimallee 27, D-14195 Berlin
Volz, Dr. Andreas, Bahnhofstr. 23, D-79400 Kandern
Wiedehage, Dr. Peter, Aachener Str. 76, D-50674 Köln
Zwernemann, Prof. Dr. Jürgen, Dieselweg 85, D-21220 Seevetal
242
y
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