TRIBUS
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
JAHRBUCH
BAND 45 • 1996
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 45 - Oktober 1996
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 1996
Herausgeber;
Redaktion;
Koordination:
Fachbezogene
Beratung:
Linden-Museum Stuttgart - Staatliches Museum für Völkerkunde,
Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Prof. Dr. Peter Thiele
Ursula Knöpfle
Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des Linden-Museums Stuttgart: Ursula Didoni, Anatol Dreyer
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer Beiträge
allein verantwortlich.
Redaktionsschluß jeweils 1. Juli
Titelbild: Tanzskulptur
Holz, Baummark, Fasern, Federn, Naturfarben, Kalkbewurf,
Muschelschalen, Schildpatt; Höhe 192 cm, Tolai, Neubritannien,
Papua Neuguinea, vor 1900. Inv.-Nr. S 42.394
Herstellung: VEBU Druck GmbH, Bad Schussenried
Copyright: Linden-Museum Stuttgart
Oktober 1996
ISSN 0082-6413
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1995
(Peter Thiele)....................................................................... 7
Referat Museumspädagogik (Sonja Schiede) ........................................... 16
Referat Öffentlichkeitsarbeit (Dietrich Schleip).................................... 23
Berichte über Erwerbungen im Jahr 1995 der Abteilungen Afrika (Hermann ForkI),
Islamischer Orient (Johannes Kalter), Südasien (Gerd Kreisel), Ostasien (Klaus J. Brandt),
Südsee (Ingrid Heermann) und Amerika (Axel Schulze-Thulin) ......................... 26
Aufsätze
Frembgen, Jürgen W.; Ein uzbekischer Kampfwidder und seine Beschirrung ........... 47
Plaeschke, Ingeborg und Herbert: Das Blatt- und Volutenornament der
Gupta-Zeit in Sand ................................................................. 51
Puhl, Stephan: Uyguren als Opfer chinesischer Agrarpolitik in der Autonomen Region
Xinjiang der VR China............................................................... 59
Roese, Peter M./Rees, Alun R.: Early English Voyages to the Kingdom of Benin in the
16th and 17th Centuries........................................................... 64
Schroeter, Willy: Das Vorkommen des Bumerangs außerhalb Australiens .............. 80
Spennemann, Dirk H. R.: Ein javanisches Zeremonialbeil (candrasa) mit Fundortangabe
Waldalgesheim, Rheinland-Pfalz, Deutschland: ein Beitrag zur Typologie und Chronologie 93
Spranz, Bodo: Die Zeichen Hand und Fuß in Mesoamerika ............................ 119
Spranz, Bodo: Totimehuacan und Xochitecatl. Zwei Plätze in Puebla und Tlaxcala,
Mexiko, in präklassischer Zeit .................................................... 138
Tunis, Angelika: Ein Brief aus der Kolonie Togo................................... 151
Tunis, Angelika: Geliebte Ferne - gefürchtete Nähe ............................... 159
Buchbesprechungen
Allgemein
Burenhult, Göran et al. (Hrsg.): Die ersten Menschen - Ursprünge und Geschichte
des Menschen bis 10.000 v. Chr. (A. Schulze-Thulin) .............................. 167
Glottes, Jean/Courtin, Jean: Grotte Cosquer bei Marseille - eine im Meer
versunkene Bilderhöhle (A. Schulze-Thulin).......................................... 168
Hansen, Klaus P. (Hrsg.): Kulturbegriff und Methode. Der stille Paradigmenwechsel
in den Geisteswissenschaften (P. Drechsel) ....................................... 169
Hansen,Klaus P: Kultur und Kulturwissenschaft (P. Drechsel)
Hauschild, Thomas (Hrsg.): Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich
(H. Basu).......................................................................... 173
Johanson, Donald/Shreeve, James: Lucys Kind -
Auf der Suche nach den ersten Menschen (A. Schulze-Thulin) ....................... 174
Kraft, Ingo: Studien zur Kultur und Umwelt im Mittelpleistozän Europas
(A. Schulze-Thulin) ............................................................... 175
Marschall, Wolfgang (Hrsg.): Klassiker der Kulturanthropologie (U. Greifenstein) ... 176
Pützstück, Lothar: »Symphonie in Moll«. Julius Lips und die Kölner
Völkerkunde (B. Riese)............................................................. 180
Roller, Franziska: Hilfe als Herrschaft? Über den Umgang mit Kranken
in einer protestantischen Missionsanstalt (J. Piepke).............................. 181
Trinkaus, Erik/Shipman, Pat: Die Neandertaler - Spiegel der Menschheit
(A. Schulze-Thulin) ............................................................... 182
Afrika
Arbeitskreis für Internat. Wissenschaftskommunikation: Afrikanische Plastik.
Konfrontation und Annäherung (L. Hornberger)................................. 183
Gebre-Igziabiher, Elyas: Prowess, Piety and Politics. The chronicle of Abeto lyasu
and Empress Zewditu of Ethiopia (1909-1930) (M. Kropp)............................ 186
Heintze, Beatrix; Alfred Schachtzabels Reise nach Angola 1913-1914 und seine
Sammlungen für das Museum für Völkerkunde in Berlin. (C. Seige)................... 187
Kultur- und Stadthistorisches Museum Duisburg (Hrsg.): Kissipenny und
Manilla - Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung aus Anlaß der 19. Duisburger
Akzente 1995 »Afrika - Wurzeln und Visionen« (A. Schulze-Thulin).................. 188
5
Ferner, Conradin: Living on Earth in the Sky: The Anyuak (G. Best)................. 189
Trost, Franz: Ethnoarchäologie in Südwest-Burkina Faso (W. Creyaufmiiller) ........ 190
Amerika
August, Sabine: Die Indianer im Spiegel der brasilianischen Gesellschaft (D. Kurelia) .... 191
Dixon, E. James: Quest for the Origins of the First Americans (A. Schulze-Thulin) . 192
Helbig, Jörg (Hrsg.): Brasilianische Reise 1817-1820 (S. Cipolletti)............... 193
Smith, Eric Alden: Inujjuamiut Foraging Strategies (A. Schulze-Thulin)............. 194
Ostasien
Twitchett, Dennis: The Writing of Official History Under the T’ang (R. Th. Kolb)... 195
Südasien
Frederic, Louis/Nou, Jean-Louis: Borobudur (J. K. Bautze).......................... 197
Fürer-Haimendorf, Christoph von: Life among Indian tribes (L. Icke-Schwalbe) ...... 198
Koch, Ebba: Mughal Architecture (J. K. Bautze)..................................... 199
Anschriften der Mitarbeiter von TRUBUS 45.......................................... U3
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Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 1995
Wie jedes Winterhalbjahr, so hatte auch 1994/95 unsere Fördergesellschaft, die mittler-
weile 1540 Mitglieder umfaßt, wieder ein Leitthema für die völkerkundlich-geographi-
schen Vorträge ausgewählt. Der ethnologische Schwerpunkt der Veranstaltungen der
GEV lag regional auf Südasien. Der Zyklus wurde am 21, Oktober 1994 mit dem Vor-
trag von Clara B. Wilpert »Bah- Ein Paradies und seine Künstler« eröffnet. Es folgte
der Vortrag »Schmucktradition und sozialer Wandel bei den Hochland-Papuas in
Neuguinea« von Peter Thiele. Danach hörten wir den Vortrag »Asmat-Holzschnitzer
im Wandel von der steinzeitlichen Tradition zur Moderne« von Gunter Konrad sowie
von Brigitte Hauser-Schäublin »Kulthaus und Initiation. Das Beispiel der Abelam in
Neu Guinea.« Ingrid Heermann referierte über »wanggar und tjukurrpa - zum Kon-
zept der Traumzeit der Aborigines in Zentral- und Nordaustralien,« sowie Dietrich
Schleip zum Thema »Westsamoa - Ein Inselstaat zwischen Tradition und Moderne.«
Finanziell hat unsere Fördergesellschaft das Linden-Museum in seiner Inventarisie-
rungsarbeit, d.h. bei der EDV-Aufnahme der Afrika-Bestände wieder mit einem nam-
haften Betrag unterstützt, wofür ich an dieser Stelle herzlich danke. Sicherlich wird uns
diese gründliche Inventarisierung »hinter den Kulissen« noch einige Zeit und auch
Geld kosten, aber die Vorteile dieser computergestützten Arbeit liegen auf der Hand.
Allmählich ziehen auch die anderen Abteilungen am selben Strang.
Das Jahr 1995 bot folgende, äußerst erfolgreiche Ausstellungen im Linden-Museum;
1. MADAGASKAR - Land zwischen den Kontinenten (26. 10. 1994-30. 4. 1995). Diese
Ausstellung, die zu 90 % aus den Beständen des Linden-Museums bestückt war, wurde
von dem Ethnologen Dr. Roth/Tübingen konzipiert und organisiert. Neben afrikani-
schen waren es vor allem Elemente aus dem südasiatischen Raum, die diese Kultur
prägten. Daneben beeinflußten in jüngerer Zeit aber auch Europäer die Völker dieser
viertgrößten Insel unserer Erde. Neben geographisch-naturkundlichen wurden vor
allem kulturhistorische Objekte der verschiedenen Ethnien Madagaskars präsentiert.
Diese Ausstellung über die »Rote Insel« hat mit ihren facettenreichen Beständen, die
erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden, vor allem die Sammlungen Henry
O’Swalds und Alfred Voeltskows gezeigt. Der umfangreiche und graphisch sehr schön
gestaltete Katalog stieß auf breites Interesse bei unseren Besuchern. Die Ausstellung
wurde vom 25. 6.-16. 7. 1995 auch in Bielefeld gezeigt.
2. Vom 3. Juni - 8. Oktober 1995 zeigte das Linden-Museum Stuttgart die vielbeach-
tete Ausstellung »RAJASTHAN - Land der Könige.« Die Ausstellung, die über 17.000
Besucher anzog, wurde von unserem Südasien-Referenten, Herrn Dr. Gerd Kreisel,
konzipiert und organisiert. Am 2. Juni 1995 wurde sie u.a. von seiner Hoheit, dem
Maharaja Jaj Singh of Marwar-Jodhpur, feierlich eröffnet. Der Besucherandrang war
so stark, daß leider nicht alle geladenen Gäste im Wannersaal Platz fanden. Die Aus-
stellung bot in ihrer Vielfalt der Objekte eine große Palette traditioneller Kulturdoku-
mente aus Indiens Nordwesten. Die Schwerpunkte der Präsentationen lagen im bäuer-
lichen, städtischen und höfischen Bereich. Der 280 S. umfassende Katalog bietet eine
Fülle an detaillierten Hintergrundinformationen, die z.B. auch bei Reisen durch
Rajasthan eine wichtige Orientierungshilfe bilden. Die umfangreichen und zahlreichen
Pressestimmen zeugen von dem großen Interesse und Zuspruch dieser Ausstellung in
unserem Hause.
3. Am 15. November 1995 wurde durch unseren Bundespräsidenten, Herrn Prof. Dr.
Roman Herzog, und dem Staatspräsidenten von Usbekistan, S.E. Islam Karimov, die
Ausstellung »USBEKISTAN - Erben der Seidenstraße« eröffnet. Auch Oberbürger-
meister Manfred Rommel sowie der Vorstandsvorsitzende der Daimler Benz AG, Herr
Jürgen Schrempp, waren zu der Ausstellungseröffnung erschienen. Letzter deswegen,
weil diese Ausstellung von der Daimler Benz AG gesponsert wurde. Ich werde über
diese Präsentation in der nächsten Ausgabe des Tribus detaillierter berichten, ln der
Vorbereitungsphase dieser Ausstellung war Professor Dr. Johannes Kalter, Orient-
Referent und stv. Direktor am Linden-Museum, u.a. mit Herrn Bundespräsident Prof.
Dr. Roman Herzog in Usbekistan, um vor Ort Kontakte zu knüpfen bezüglich der
Ausleihe wertvoller und thematisch wichtiger Objekte zur Ausstellung.
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TRI BUS 45, 1996
Ausstellungen, Publikationen und Begleitveranstaltungen können nur erfolgreich sein,
wenn eine geschlossene Mannschaft dahinter steht und diese Aktivitäten gemeinsam
entwickelt. Ich danke deswegen sehr herzlich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
sowie den Sponsoren unseres Hauses für ihr Engagement, ihre Mitarbeit und ihren
Einsatz bei der Realisierung unserer Vorhaben. Nur so können wir die Öffentlichkeit,
die ja unser Museum finanziert, mit unseren Aktivitäten beeindrucken und für weitere
Hilfe gewinnen.
Mit über 1000 Veranstaltungen (Ausstellungen, Führungen, Vorträgen, Präsentatio-
nen, Tanzaufführungen, Diaschauen, Konzerten etc.) im Jahre 1995 konnte das Lin-
den-Museum Stuttgart in seiner kulturvermittelnden Funktion der Öffentlichkeit wie-
der ein breites und weites Spektrum aus vornehmlich außereuropäischen Gesellschaf-
ten bieten und damit seinen kulturellen Auftrag im Zuge der Globalisierung auch auf
kulturellem Gebiet leisten.
Am 4. E 1995 besuchten Vertreterinnen der Triennale 1995 das Linden-Museum, um
über die Einbindung unseres Hauses in dieses bedeutende Ausstellungsereignis 1995 zu
verhandeln.
Vom 12.-18. 1. 1995 unternahm der Direktor des Linden-Museums eine Reise nach
Nepal, um Fotomaterial zu einem Vortrag der CMT am 22. 1. 1995 zu sammeln. Der
Nepalabend wurde im Rahmen der CMT im Linden-Museum durch das Kgl.
Honorarkonsulat Nepal unter Beteiligung von zahlreichen Vertretern des diplomati-
schen Corps, der Wirtschaft und Kultur veranstaltet.
Am 23. 1. 1995 drehten Kameraleute der Deutschen Welle zusammen mit der Journalistin
Frau Walz einen Kurzfilm im Linden-Museum, der als Kulturbeitrag weltweit ausge-
strahlt wurde. Am 23. 1. 1995 hielt der Direktor des Linden-Museums im Schloß Ettlin-
gen, dem Zweigmuseum des Linden-Museums, einen Vortrag über »Die Seidenstraße.«
Am 26. 1, 1995 besuchte uns der Botschafter von Burundi, um sich über unsere Afrika-
Sammlungsbestände zu informieren.
Am 29. 1. 1995 veranstaltete der »Verein Entwicklungshilfe e.V« eine Matinee unter
dem Titel »SRI LANKA HEUTE« im Linden-Museum.
Am 2. 2. 1995 referierte der Direktor des Linden-Museums im Rahmen der IFA-Fort-
bildungsveranstaltung in der Diözese Rottenburg über »Konfuzius und seine Auswir-
kungen auf die heutige Wirtschaft in Ostasien.«
Vom 16. 2.-26. 2. 1995 nahm der Direktor des Linden-Museums an einer Indienreise
mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel teil. Dabei konn-
ten nützliche Kontakte zu indischen Kultureinrichtungen und Museen geknüpft wer-
den, die dem Linden-Museum zugute kamen.
Am 13./14. 3. 1995 fand in Frankfurt/Main die diesjährige Direktorenkonferenz statt,
bei der es hauptsächlich um die finanzielle Situation in den einzelnen Häusern, vor
allem um die überall gravierenden, massiven Etatkürzungen, ging. Auch Ausstellungs-
planungen sowie Konzeptionen im Ausstellungswesen wurden erörtert. Breite Diskus-
sionen nahmen Verkaufsgalerien und Museumsshops in den jeweiligen Museen ein.
Am 19. 4. 1995 besuchte uns Frau Prof. Tülin Bumin, Kulturattaches am türkischen
Generalkonsulat, um eine weitere kulturelle Zusammenarbeit zwischen Deutschen und
unseren türkischen Mitbürgern zu vereinbaren.
Am 26. 4. 1995 fand die diesjährige Verwaltungs- und Beiratssitzung des Linden-
Museums unter Vorsitz von Herrn Ministerialdirigenten Müller-Arens statt. Themen
waren u.a. die Vermietung des Wannersaals, die Haushaltssituation, Ausstellungspla-
nung, Besucherentwicklung und die mögliche Erhebung von Eintrittsgeldern. Zu letz-
terem Punkt wurde beschlossen, für das Linden-Museum in seinen Dauerausstellun-
gen vorerst kein Eintrittsgeld zu erheben.
Am 28. 4. 1995 hielt der Direktor des Linden-Museums im Leipziger Völkerkundemu-
seum einen Japan-Vortrag im Rahmen einer dortigen Japan-Porzellan-Ausstellung.
Am 7. 5. 1995 wurde der im Linden-Museum gedrehte Tatort-Kriminalfilm »Bienzle
und die Feuerwand« bundesweit und über die Grenzen Deutschlands ausgestrahlt.
Eine bessere Werbung für unser Haus dürfte es wohl kaum geben.
Am 8. 5. 1995 fand unser diesjähriger Betriebsausflug in das Reiss-Museum Mann-
heim statt, wo der Direktor des Linden-Museums die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter durch die China-Ausstellung führte. Anschließend besuchten wir die Deutsche
Greifvogelwarte auf Burg Guttenberg. Am 13. 6. 1995 besuchte uns einer der lokalen
Herrscher von Zaire, um sich über die Afrikabestände zu informieren.
Am 21. 6. 1995 besuchte Herr Ministerpräsident E. Teufel die Rajasthan-Ausstellung.
Im Anschluß daran waren Mitarbeiter des Linden-Museums zu einem indischen Gar-
tenfest ins Staatsministerium eingeladen.
Vom 29. 6.-1. 7. 1995 hielt der Direktor des Linden-Museums seine Lehrveranstaltun-
gen im Lach Ethnologie an der Lreien Universität Berlin ab.
Am 5. 7. 1995 fand eine große Veranstaltung (Jahresversammlung) der IHK Region
Stuttgart im Linden-Museums statt.
Am 11.7. 1995 besuchte der indische Außenminister Mukherjee mit Gefolge das Lin-
den-Museum, um sich die Rajasthan-Ausstellung anzusehen. Am selben Abend fand
ebenfalls in unseren Räumen die offizielle Verabschiedung des indischen Botschafters,
S.E. Mr. Rana, statt. Neben etlichen Honoratioren aus Stadt und Land war das diplo-
matische Corps in Baden-Württemberg vertreten. Herr Honorarkonsul Helmut Nanz
hielt die Eestrede.
Am 21. 9. 1995 nahm der Direktor des Linden-Museums an der Sitzung des Kultur-
beirates Baden-Württemberg im Staatsministerium teil. Dabei wurden vor allem die
kulturellen Notwendigkeiten am Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg mit dem
Ministerpräsidenten Erwin Teufel diskutiert.
Am 28. 9. 1995 besuchten uns ca. 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lufthansa.
Sie wurden durch die Rajasthan-Ausstellung geführt.
Am 2. 11. 1995 nahm der Direktor des Linden-Museums an der Eröffnung der vielbe-
achteten Ausstellung »Africa - The Art of a continent« in der Royal Academy of Arts
in London teil. Das Linden-Museum war an der Ausstellung mit etlichen Leihgaben
beteiligt.
Herr Dr. Okada, ein anerkannter Buddhismus-Spezialist aus Japan, besuchte uns am
5. 10. 1995. Die Kontakte zu solchen Fachleuten sind im Vorfeld zu unserer 1999
geplanten Buddhismus-Ausstellung äußerst wichtig.
Bei der Eröffnung der diesjährigen Antiquitäten-Messe im Haus der Wirtschaft erhielt
der Direktor des Linden-Museum für seine Eröffnungsrede für das Linden-Museum
ein wertvolles peruanisches Objekt geschenkt.
Vom 12.-15. 10. 1995 fand im Linden-Museum eine kleine Ikebana-Ausstellung mit
z.T sehr modernen Blumengestecken der in Stuttgart ansässigen Ikebana-Gesellschaft
statt.
Vom 15. 10.-20. 12. 1995 hat Herr Utaka Matsumura, Schwertpoliermeister aus
Japan, Schwertklingen für die Ostasien-Abteilung des Linden-Museums bearbeitet.
Am 19. 10. 1995 fand im Naturkundemuseum unter Vorsitz von Dr. Rieppel eine Sit-
zung über »Museums-Marketing« statt, an der die Vertreter der Staatlichen Museen
Baden-Württembergs teilnahmen.
Frau Ayako Koga, Malerei-Restauratorin aus Tokyo, hat vom 1. 12. 1995 bis 1. 3. 1996
fünf Rollbilder der Baelz-Sammlung für die Ostasien-Abteilung restauriert und neu
montiert. Ihr Aufenthalt wurde von der Sumitomo Foundation Tokyo finanziert.
Am 13. 12. 1995 fand eine zweite Sitzung des Verwaltungs- und Beirats des Linden-
Museums unter Vorsitz von Kulturbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster statt. Dabei
ging es im wesentlichen um eine Neukonzeption »Wechselausstellungen« und um eine
Marketingkonzeption für das Linden-Museum.
Am 18. 12. 1995 konnten wir unsere Weihnachtsfeier wieder unter sehr reger Beteili-
gung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses im Wannersaal abhalten, nach-
dem ihr eine Personalversammlung vorangegangen war. Dem Örtlichen Personalrat
sowie allen beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei an dieser Stelle nochmals
herzlich für ihre Hilfe bei der Ausrichtung der sehr stimmungsvollen Feier gedankt.
Personal
Im Jahr 1995 gab es folgende Veränderungen im Personalbestand des Linden-
Museums:
1. Frau Ulrike Buhl, ABM-Kraft am Linden-Museum, ist zum 14. 1. 1995 wieder
ausgeschieden. Frau Buhl hatte als ausgebildete Soziologin die Besucherbefragung
durchgeführt.
2. Frau Erdmann war als ABM-Kraft in der Bibliothek tätig bis zum 30. 9. 1995.
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TR1BUS 45, 1996
3. Herr Dr. Rolf Roth, ABM-Kraft im wissenschaftlichen Bereich (Betreuung der
Madagaskar-Ausstellung), ist am 14. 10. 1995 wiederausgeschieden.
Allen drei ABM-Kräften danke ich herzlich für ihre engagierte Mitarbeit am Linden-
Museum.
4. Frau Silvia Mayer konnte durch einen Zeitvertrag vom 1. 8. 1995 bis zum 1. 8.
1996 als vollbeschäftigte Kraft in der Verwaltung eingesetzt werden.
5. Frau Rosine Kitzinger-Ihm konnte ab 1. 7. 1995 als Regierungsinspektorin und
stv. Verwaltungsleiterin am Linden-Museum eingestellt werden.
6. Der langjährige Amerika-Referent am Linden-Museum, Herr Dr. Axel Schulze-
Thulin, ist zum 31.6, 1995 in den Ruhestand versetzt worden.
7. Frau Ursula Didoni, unsere langjährige Fotografin, ist zum 1.2. 1995 in den Ruhe-
stand getreten.
8. Herr Kurt Rosshirt, der als Volontär in der Südasien-Abteilung beschäftigt war, ist
zum 15. 4. 1995 ausgeschieden.
9. Herr Dr. Lars-Christian Koch ist seit dem 1. 8. 1995 bei uns als Volontär beschäf-
tigt.
10. Frau Beate Siewert-Mayer M.A. ist als Volontärin bei uns seit dem 15. 10. 1995 in
der Orient-Abteilung beschäftigt.
11. Frau Birgit Hofmann ist seit dem 1. 12. 1995 als ABM-Kraft bei uns beschäftigt.
12. Herr Anatol Dreyer ist seit dem 1. 9. 1995 als Fotograf halbtags am Linden-
Museum beschäftigt.
13. Zum 1.4. 1995 konnte unser neuer Öffentlichkeitsreferent, Herr Dietrich Schleip
M.A., im Zeitvertrag angestellt werden.
14. Frau Susanne Warndorf konnte am 1. 5. 1995 im Referat Museumspädagogik mit
einem Zeitvertrag angestellt werden.
Für die Usbekistan-Ausstellung wurden mit Zeitvertrag sechs Aufsichtskräfte am
Linden-Museum zusätzlich eingestellt.
Peter Thiele
Leihgaben 1995
Ausstellungszeit Leihnehmer
Abteilung
Dauerleihgabe Kulturamt Albstadt 1 Objekt für die Ausstellung »Menschen, Maschen und Maschinen« allg.
31.7.-18. 8. 95 SWF Baden-Baden 19 Objekte für Filmaufnahmen Afrika
29. 8.-8. 10. 95 dito Afrika
18. 12.-22. 12. 95 7 Objekte für Sendung über Ethnologie Südsee Südasien
19. 6.-21. 7. 95 Historisches Museum Bielefeld 117 Objekte für die Ausstellung »Madagaskar« Afrika
10. 1.-30. 4. 95 Museum Bochum 2 Objekte für die Ausstellung »Armenien - Wiederentdeckung einer alten Kulturlandschaft« Orient
10
6. 2.-30. 8. 95
Dauerleihgabe
Dauerleihgabe
6. 2.-15. 4. 95
9. 5.-15. 10. 95
12. 12. 95-30. 6. 96
1. 8. 95-30. 4. 96
12. 11. 95.-14. 4. 96
Dauerleihgabe
9. 5.-20. 6. 95
1. 12. 94-30. 9. 96
4. 10. 95-21. 1. 96
1. 10. 94-15. 3. 96
10.1.-25.6.95
Deutsches Hygienemuseum, Dresden
4 Objekte für die Ausstellung
»Krank warum? Vorstellungen der
Völker, Heiler, Mediziner«
Zweigmuseum Schloß Ettlingen
290 Objekte für Dauerausstellung
Städtische Museen Freiburg
5 Objekte für Dauerausstellung
Trägerverein »Jüdisches Regional-
museum Mittelfranken in Fürth e.V«
7 Objekte für die Ausstellung
»tanzil fidda - jüdisches
Metallhandwerk«
Landschaftsmuseum Westerwald,
Hachenburg
3 Objekte für die Ausstellung
»Westerwald und Amerika -
Prinz Max zu Wied ...«
Hamburgisches Museum f. Völkerkunde
5 Objekte für die Ausstellung
»PakistanExpress«
Roemer- und Pelizaeus-Museum,
Hildesheim
4 Objekte für die Ausstellung
»Versunkene Königreiche Indonesiens«
Heimatmuseum Höfingen (Leonberg)
6 Objekte für die Ausstellung
»Pesthauch und Himmelsduft«
Badisches Landesmuseum Karlsruhe
2 Färberschablonen für die
Dauerausstellung
Werbe GmbH TREND, Knittlingen
21 Objekte
'19 Objekte
für Fotoaufnahmen für Schmuckkatalog
Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
10 Fotos für die Ausstellung
»Bilder aus dem Paradies ...«
Royal Academy of Arts, London
8 Objekte für die Ausstellung
»Africa - The Art of a Continent«
Los Angeles County Museum of Art
1 Objekt für die Ausstellung
»The Peaceful Conquerors:
Jain Art from India«
Reiß-Museum der Stadt Mannheim
Südasien
Ostasien
Südsee
Orient
Amerika
Orient
Südasien
Ostasien
Ostasien
Südasien
Ostasien
Südsee
Afrika
Orient
Südasien
26 Objekte für die Ausstellung
»China - eine Wiege der Weltkultur«
Ostasien
TRIBUS 45, 1996
17. 8.-1. 12. 95
1.9. 95-10. 1.97
19. 1.-30. 4. 95
23. 6. 94-30. 11. 95
22. 3. 94—30. 4. 96
2. 12. 94-12. 3. 95
28. 1.-23. 4. 95
Dauerleihgabe
18. 8.-21. 8. 95
Dauerleihgabe
31.7.-3.8.95
Städtisches Museum Schloß Rheydt,
Mönchcngladbach
3 Objekte für eine Ausstellung
Museum für Mensch und Natur,
München
9 Objekte für die Ausstellung
»Bärenstark«
Villa Stuck, München
4 Objekte für die Ausstellung
»Afrikanische Sitze«
Staatliches Museum für Völkerkunde,
München
8 Objekte für die Ausstellung
Elefanten« im Zweigmuseum Seefeld
2 Objekte für die Ausstellung
»Reise nach Brasilien«
Stadt Rastatt
22 Objekte
2 Objekte
für die Ausstellung
»Von erfarung aller land ...«
Große Kreisstadt Rottweil
50 Objekte für die Ausstellung
»Ein Arzt und Sammler in China.
Kunst und Kunsthandwerk aus vier
Jahrtausenden aus der Sammlung
Dr. Eckert.«
Universität Hohenheim, Stuttgart
1 Objekt für die Ausstellung
»Unkrautbekämpfung in trad.
Produktionssystemen«
Vereinigung Indonesischer
Studenten in Deutschland e. V,
Stuttgart
20 Objekte für einen Kulturabend
Stadtarchiv Stuttgart
7 Gemälde/Drucke für eine
Ausstellung
SDR Stuttgart
7 Objekte
21 Objekte
für Filmaufzeichnung »Disney-Club«
20. 10. 95^4. 1.96
Orient
Amerika
Afrika
Afrika
Amerika
Amerika
Ostasien
Ostasien
Afrika
Südasien
allg.
Südsee
Südasien
12
Galerie unterm Turm, Stuttgart
23 Objekte für die Ausstellung
»Unbekanntes Ägypten« (R. Gebhardt)
Orient
1. 5.-15. 9. 95 Kunstmuseet Trapholt/Dänemark
4 Objekte für die Ausstellung Afrika
»Afrikanische Sitze«
15. 12. 95-15. 2. 96 Österreichisches Museum für
Angewandte Kunst, Wien
4 Objekte für die Ausstellung Afrika
»Afrikanische Sitze«
Geschenke 1995
Bornholt, Kiel
Design-Center im Haus der Wirtschaft, Stuttgart
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Grämlich, Gertrud, Vallenda, Rh.
Hauke, Doris, Holzgerlingen
Heissig, Prof. Dr. Walther, Rheinböllen
Ileperuma, Ch., Stuttgart
Kempgen, H.-W, Künzelsau
Kempgen, Prof. Dr. Sebastian, Stegaurach
Kempgen-Jörger, Bettina u. Dr. Wolfgang, Braunsbach-Steinkirchen
Kreisel, Dr. Gerd, Stuttgart
von Kolczynski, Galerie, Stuttgart
Pulverer, Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard, Köln
Schmidthals, Dr. Wolfgang M., Hamburg
Thiel, Gisela, Überlingen
Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart
Yamaguchi, Akira, Japan
Geldspenden an die Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde
bzw. an das Linden-Museum im Jahre 1995
Agtmael, Willem G. van, Stuttgart
Allianz Versicherungs AG, Stuttgart
Baatz, Dr. Klaus-Peter, Stuttgart
Baden-Württembergische Bank AG, Stuttgart
Bankhaus Ellwanger & Geiger, Stuttgart
Böhm, Christian, Kempten
Bosch, Robert, GmbH, Stuttgart
Breuninger GmbH & Co., Stuttgart
Ciappetta-Roessler, Brunhilde, Stuttgart
Cronemeyer, Ulrich, Leinfelden-Echterdingen
Deutsche Linoleumwerke AG, Bietigheim-Bissingen
Deutsche Lufthansa, Stuttgart
Deutsche Verlags-Anstalt GmbH. Stuttgart
Dresdner Bank AG, Stuttgart
Eigner, Magda, Stuttgart
Energie- und Verfahrenstechnik GmbH, Stuttgart
Energieversorgung Schwaben AG, Stuttgart
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Evang. Missionswerk, Stuttgart
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Freytag, Dipl.Ing Klaus, Stuttgart
Gasversorgung Süddeutschland, Stuttgart
Gehring, Rudolf und Brigitte, Stuttgart
Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot, Wüstenrot
TRIBUS 45, 1996
Glaser-Gallion, Dr. Fritz, Stuttgart
Goethe-Institut, München
Handle, Dipl.Ing. Frank, Mühlacker
Hanseatische Assekuranz Vermittlungs-AG, Stuttgart
Hengstenberg, Dr. Helmut, Esslingen
Hesse, Johannes, KPMG, Stuttgart
Hofmeister, Dr. Rainer, Heidelberg
Holl, Manfred, Sindelfingen
Holy GbR, Uwe und Jochen, Metzingen
Hotel Royal, Stuttgart
Huber, Rolf und Franziska, Stuttgart
Industrie- und Handelskammer Mittlerer Neckar, Stuttgart
Jauch, Dr., Kunz, Dr., von Wahlert & Partner, Stuttgart
Jung, Olaf, Nürtingen-Roßdorf
Junghans, Dipl.-Ing.Erhard, Stuttgart
Kempgen, Heinz-Wilhelm, Künzelsau
Klett, Ernst, AG, Stuttgart
Klostermann, Dieter und Irmgard, Stuttgart
Knauer, Dipl.-Ing. Jürgen, Stuttgart
Knorr, Margarete, Heilbronn
L-Bank Baden-Württemberg, Karlsruhe
Landesgirokasse, Stuttgart
Landeszentralbank Baden-Württemberg, Stuttgart
LG-Stiftung: Kunst und Kultur, Stuttgart
Mannheimer Versicherung AG, Mannheim
Marquardt-Eißler, Prof.Dr.Werner, Stuttgart
Maschinenfabrik Gehring, Ostfildern
Mercedes-Benz AG, Stuttgart
Mineralbrunnen Überkingen, Bad Überkingen
Müller, Clara E., Stuttgart
Nanz, Helmut, Stuttgart
Pulvermüller, Lothar, Stuttgart
Renz, Hanna, Stuttgart
Rittler, Barbara, Neckartailfingen
Ruter, Rudolf X. und Silvia, Stuttgart
Schaller + Partner, Lampertheim
Scharf, Erwin, Ludwigsburg
Schill, Ulrich, Stuttgart
Schmid, Günter, Ohmden
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schnaidt, Brigitte, Stuttgart
Selig GmbH & Co., Stuttgart
Siemens, Stuttgart
Stadt Stuttgart
STEG Stadtentwicklung Südwest, Stuttgart
Steinbrück, Prof. Dr. Klaus, Stuttgart
Stihl, Hans-P, Waiblingen
Stuttgarter Bank, Stuttgart
Süddeutsche Kühlerfabrik, Stuttgart
Sumitomo Foundation, Japan
Technische Werke der Stadt Stuttgart
Uhl, Reinhard E., Stuttgart
Umweltministerium, Stuttgart
Weinbeer, Eduard und Clarissa, Vaihingen/Enz
Wieland-Werke, Ulm
Württembergische Versicherung AG, Stuttgart
Württembergische Lebensversicherung AG, Stuttgart
Württembergischer Sparkassen- und Giroverband, Stuttgart
Zöller-Unger. Susanne, Stuttgart
14
Linden-Museum SiunGAFfr
- Staatliches Museum für Völkerkunde -
Hegelplatz 1,70174 Stuttgart
Tel. 0711/2022-3, Fax: 0711/2022-590
Organisationsplan
Stand: 1.10.1996
TRIBUS 45, 1996
Referat Museumspädagogik
Jahresbericht 1995
Die Sonderstellung des Linden-Museums als staatliches Museum, das freien Eintritt
zu den Dauerausstellungen und kostenlose Führungen für Schülerinnen und Schüler
gewährt, wurde von Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen sehr begrüßt.
Der Anstieg der Führungen bei Grundschulen und Kindergärten ist nicht zuletzt auf
die Nutzung dieses freien Angebotes zurückzuführen.
Führungen und museumspädagogische Programme
Führungen 1995 und 1994 im Überblick
1995 1994
Schulen: gesamt Stuttgart auswärtig gesamt
Grundschulen 291 66 225 161
Hauptschulen 44 4 40 65
Realschulen 102 10 92 94
Gymnasien 168 27 141 155
Berufsbild. Schulen 30 8 22 42
Sonderschulen 6 2 4 18
Ausländ. Schulen 9 9 13
Schulen/gesamt: 650 117 533 548
Kindergartengruppe 83 48
Kindergeburtstage 18 17
Kinder/Jugendl.* 40 50
Waldheim-Gruppen 8 5
außerschulische Kinder/gesamt: 149 120
* 1995 wurden die 1994 einzeln erfaßten Kategorien Kindertagesstätten, Jugendgruppen und
Gruppen städtischer Einrichtungen zusammengefaßt
1995 1994
Behindertengruppen 18 18
Kulturgemeinschaft - 3
Kirchliche Gruppen 20 13
Lehrerfortbildung 21 13
Private Gruppen* 59 28
Senioren 15 23
Studentengruppen von Uni/H/FH 19 18
VHS 3 12
Sonstige Gruppen/gesamt 155 128
* 1995 wurden die 1994 einzeln erfaßten Kategorien Betrieb, Verein, Städtische Einrichtungen
zusammengefaßt
Öffentliche Führungen
Familienprogramme* 14 8
Ferienprogramme 27 26
16
Publikumsführungen in
den Dauerausstellungen Publikurnsführungen in 42 54
den Sonderausstellungen 92 112
Öffentliche Führungen/
gesamt: 175 180
* Kindernachmittage wurden durch Angebote für Familien ersetzt
Führungen in den Dauerausstellungen
Publikums- führungen Kinder-, Ferien- Familienprogramme und angemeldete Gruppenführungen gesamt
Amerika*: 6 389** 395 (35,0%)
Südsee; 6 91 97 ( 8.6%)
Orient*: 14 150 164(14,6%)
Afrika: 7 160 167(14,8%)
Südasien: 3 61 64 ( 5,6%)
Ostasien: 6 46 52 ( 4,6%)
* Die Orient-Dauerausstellung und der Alt-Peru-Ausstellungsraum wurden ab Mitte Septem-
ber für den Aufbau der Usbekistan-Ausstellung geschlossen
** davon 4 Alt-Peru
Führungen in den Sonderausstellungen 1995
Publikums- führungen Kinder-, Ferien- Familienprogramme und angemeldete Gruppenführungen gesamt
Madagaskar: 35 16 51 ( 4,5%)
Rajasthan: 44 53 97 ( 8,6%)
Usbekistan: 13 29 42 ( 3,7%)
gesamt: 92 98 190(16,8%)
17
TR1BUS 45, 1996
Verteilung der Führungen auf die Ausstellungen des Linden-Museums 1995
Im Jahr 1995 wurden 1129 Gruppen durch die Ausstellungen des Linden-Museums
geführt. Im Vergleich zum Jahr 1994 erhöhte sich diese Gesamtzahl um 13%.
Über die Hälfte der Führungen entfiel auf Schulklassen, die das Führungsangebot des
Museums bevorzugt nutzen, um Unterrichtsthemen zu vertiefen oder Akzente im Rah-
men außerschulischer Aktivitäten zu setzen. Der interkulturelle Schulalltag bedingt
ein großes Interesse an Themen, die sich mit »dem Fremden« befassen. Fortbildungs-
veranstaltungen boten Pädagoginnen und Pädagogen die Möglichkeit, Ausstellungsin-
halte und handlungsorientierte Vermittlungsmethoden kennenzulernen.
Deutlich angestiegen ist die Führungsnachfrage bei Grundschulen, Kindergärten
sowie kirchlichen und kommunalen Einrichtungen. Auffallend ist das zunehmende
Interesse an Programmen, in denen die Objektbetrachtung durch praktische Aktivitä-
ten ergänzt wird. Durch den Mangel an räumlichen, personellen und finanziellen Res-
sourcen werden einer Vermittlungsarbeit, die alle Sinne anspricht, jedoch deutliche
Grenzen gesetzt. Eineinhalb- bis zweistündige Führungen können somit nur im Aus-
nahmefall angeboten werden und bleiben beschränkt auf außergewöhnliche Projekte,
die in Zusammenarbeit mit dem Linden-Museum entwickelt wurden.Das Arbeitspen-
sum ließ sich nur bewältigen durch das große Engagement von Frau Susanne Warn-
dorf, die 1995 Karin Mochnatzki als Mitarbeiterin im Referat Museumspädagogik
ablöste. Mit der Führungsorganisation und -koordination sowie der Vorbereitung von
Projekten war auch sie voll ausgelastet.
Neben zahlreichen thematischen Führungen wurde 1995 eine Reihe von museums-
pädagogischen Pilotprojekten entwickelt, die neue Formen der inhaltlichen Vermitt-
lung und Präsentation vorstellen. Drei Beispiele sollen kurz skizziert werden;
/. Außerschulische Förderung hochbegabter Kinder
In Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Gruppe der Initiative zur Förderung hochbe-
gabter Kinder wurde ein Pilotprojekt für hochbegabte Kinder entwickelt, das kognitive
Vermittlung mit sozialem Lernen und der Entfaltung kreativer Fähigkeiten verbindet.
Für die drei Altersgruppen wurden folgende Themenschwerpunkte ausgewählt:
»Nordamerikanische Indianer: Bär, Bison, Schildkröte und Rabe« für die Fünf- bis
Siebenjährigen
- »Indonesien« für die Acht- bis Zehnjährigen
»Arabische Kulturtradition« für die Zehn- bis Dreizehnjährigen.
18
Das Projekt begann im Oktober 1995 und wurde für acht Monate konzipiert. Im drei-
wöchigen Turnus nehmen die Schülerinnen und Schüler freiwillig an dem Programm
teil. Alle Beteiligten sind aufgefordert, strukturiert, flexibel und kreativ zu denken und
zu handeln, um Entwicklungen innerhalb der Gruppe in der inhaltlichen und prakti-
schen Programmgestaltung aufzugreifen. Die Resonanz der Kinder und Eltern auf
diese zweistündigen Museumsbesuche ist überaus positiv und zeigt das hohe Potential,
das Museen gerade auch in der außerschulischen Bildung besitzen.
2. Langzeitprojekt für besonders begabte Schülerinnen und Schüler
Modellcharakter hat ein Langzeitprojekt für besonders begabte Schüler, das die Real-
schule Esslingen in Zusammenarbeit mit dem Linden-Museum im Herbst 1995 zu rea-
lisieren begann. Unter dem Motto »der Weg ist das Ziel« erarbeiten sich Schülerinnen
und Schüler der 8. und 9. Klasse das Thema »Indien«. Etwa im dreiwöchigen Turnus
besucht die Gruppe die Südasien-Ausstellung und lernt in den zweistündigen Führun-
gen spielerisch und anschaulich das Alltagsleben Indiens kennen. Die Dokumentation
der erworbenen Kenntnisse erfolgt durch die Gruppenmitglieder in der Schule. Auf-
grund des großen Interesses werden bereits Pläne für eine gemeinsame Indienreise
geschmiedet.
3. Europa und der Orient: Städtepartnerschaft Stuttgart - Kairo
Aus der Absicht der Grundschule Sillenbuch, ein fächerverbindendes Projekt mit dem
Linden-Museum durchzuführen, wurde das Thema »Europa und der Orient« gewählt
und am Beispiel der Städtepartnerschaft Stuttgart - Kairo konkretisiert. Auf einer Art
historischen Zeitreise begaben sich die Viertklässler auf Spurensuche. In jedem Zeit-
horizont wurden sie von einem Jungen und einem Mädchen »abgeholt«, um den Schü-
lerinnen und Schülern das jeweilige Alltagsleben und die Entwicklung dieser beiden
Städte nahezubringen. Ausgehend vom heutigen Leben entdeckten die Sillenbucher
Kinder im zweiten Zeithorizont zahlreiche orientalische Traditionen, die die mittelal-
terliche Kultur Europas nachhaltig prägten, ln einem weiteren Zeitsprung versetzten
sich die Kinder in die Römerzeit. Berichte von Reisenden dokumentieren Verflechtun-
gen und Beziehungen, die die heutigen Städtepartner bereits vor zweitausend Jahren
verbanden.
Dieses fächerverbindende Projekt muß trotz des positiven Echos voraussichtlich bis
Herbst 1996 »auf Eis« gelegt werden, da die »Usbekistan«-Ausstellung auch in den
Räumen der Orient-Dauerausstellung präsentiert wurde.
Öffentliche Führungen
Die Publikumsführungen insbesondere in den Sonderausstellungen waren durchweg
sehr gut besucht und weisen auf das große Interesse der Öffentlichkeit hin, sich die
Ausstellungsthemen unter sachkundiger Leitung zu erschließen. Bewährt haben sich in
diesem Zusammenhang auch thematische Führungen. Ebenfalls großen Anklang fan-
den 1995 die Ferien- und Familienprogramme.
Ferienprogramme
Wie schon in den vergangenen Jahren konzentrierten sich die Ferienprogramme auf
einen Themenschwerpunkt, der kulturvergleichend für Kinder ab 8 Jahren, für Kinder
ab 10 Jahren und für Erwachsene vermittelt wurde.
Zur Sonderausstellung »Madagaskar: Land zwischen den Kontinenten« fand im
Januar 1995 das Ferienprogramm »Madagaskar - Arche Noah im Indischen Ozean«
statt, das die Einflüsse indonesischer und afrikanischer Traditionen auf die Kultur der
Madagassen thematisierte. Die drei Besuchergruppen wurden während des Programms
zunächst getrennt in die jeweiligen Kulturen eingeführt, um danach beim gemeinsa-
men Treffen in »Madagaskar« ihre kulturellen Beiträge auszutauschen.
In der Passionszeil lag es nahe, sich mit der Bedeutung »innerer Werte« zu befassen.
Das übergreifende Thema für das Osterferienprogramm lautete »Die Reise zur Innen-
welt« und konzentrierte sich auf »Das Sandmandala als Meditationsbild«, »Zen-
Buddhismus und der Mensch« und »Mystik und Islam: Auf der Suche nach Gott«.
19
TRIBUS 45, 1996
Ausgewählte Exponate halfen, diese komplexen Themen auf den jeweiligen kulturellen
Kontext bezogen zu visualieren.
Im Herbst 1995 stand das Ferienprogramm unter dem Motto »Spiele«. Mit großer
Begeisterung erlernten Erwachsene und Kinder Spiele der Südsee, Indiens und der
nordamerikanischen Indianer. Darüberhinaus erhielten sie einen Einblick in die kultu-
relle Bedeutung dieser Spiele.
Sein 10-jähriges Jubiläum feierte das »Hallo Kinder«-Programm, das große Sommer-
ferienprogramm des Linden-Museums. Beginnend mit der Wiedereröffnung
bestimmte von 1985 bis 1989 eine Vielzahl von Themen das »Hallo Kinder«-Pro-
gramm. Seit 1990 steht ein zentrales Thema im Mittelpunkt, das kultur-vergleichend
in allen Ausstellungen vermittelt wird. Die dreistündigen und stark handlungsorien-
tierten Ferienprogramme sind ein wichtiger Bestandteil der museumspädagogischen
Arbeit für Kinder und Erwachsene am Linden-Museum geworden. Sie greifen nicht
nur grundlegende Fragestellungen der Ethnologie auf, sie bieten auch die Möglich-
keit, in der Programmgestaltung zu experimentieren und das Führungsrepertoire zu
bereichern.
Die Sonderausstellung »Rajasthan - das farbenfrohe Gesicht Indiens« legte es nahe,
das Thema »Kunst und Handwerk« in den Mittelpunkt des »Hallo Kinder«-Pro-
gramms zu stellen. So wurde in der Afrika-Ausstellung mit »In Kano sind die Häuser
bunt« die Verbindung von Architektur und Kultur thematisiert. In der Amerika-Aus-
stellung ging es mit »Der Rabe und die Menschen« um die künstlerischen und ästheti-
schen Gestaltungsprinzipien der an der amerikanischen Nordwestküste lebenden Indi-
aner. Das künstlerische Schaffen der Handwerker und ihr Lebensalltag wurde im Pro-
gramm »Handwerk in Neuguinea: Schnitzen, Töpfern, Flechten« vorgestellt. Die in
Vergessenheit geratene Kunst der orientalischen Buchgestaltung wurde mit »Schön-
heit auf Papier gezaubert« aufgegriffen. Um die Kunst des Schönschreibens ging es im
Ostasien-Programm »Auf der Suche nach den vier Kostbarkeiten«. Alle Programme
wurden parallel angeboten für Kinder ab acht Jahren, für Kinder ab zehn Jahren und
für Erwachsene.
In der »Rajasthan«-Ausstellung wurde das Thema »Kunst und Handwerk« zusammen
mit Gästen aus Rajasthan gestaltet, was als besonderes Erlebnis erfahren wurde.
Familienprogramme
Da die Familienprogramme ein sehr positives Echo fanden und die Altersgrenze für die
Kindernachmittage von 8 Jahren häufig unterlaufen wurde, lag es nahe, das Pro-
grammangebot auf Erwachsene und Kinder abzustimmen. Die Familienprogramme
im Winter 1995 vermittelten kulturvergleichend das Thema »Familienleben« am Bei-
spiel der Inuit, der Familie im Orient und in Japan. Die Resonanz auf diese zweistün-
digen Programme war sehr positiv, da sie Familien Gelegenheit boten, gemeinsam
fremde Lebensweisen kennenzulernen und durch praktische Aktivitäten zu vertiefen.
Selbst ohne Kinderbegleitung beteiligten sich Erwachsene gerne an diesen handlungs-
orientierten Programmen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoben hervor, daß die
Attraktivität dieser Programme in ihrer interessanten Thematik, ihrem hohen inhalt-
lichen Anspruch und ihrer anschaulichen Vermittlung liege.
Die Anwesenheit von Gästen aus Rajasthan legte es nahe, im September 1995 zusätz-
liche Familienprogramme anzubieten. Frau Tripti Pandey aus Jaipur wirkte an der
Gestaltung des Programms »Familienleben in Rajasthan« und Herr Mahendra Singh
aus Jodpur zeigte wie vielfältig sich »Der Turban in Rajasthan« gestalten läßt. Auf
Ausstellungsthemen bezogen sich auch die Programme »Miniaturmalerei; Bilder
erzählen Geschichten« und »Helden: von Musikern besungen und von Puppenspielern
zum Leben erweckt«.
Bei dem zweitägigen Rajasthan-Fest hatten Besucher jeden Alters nochmals Gelegen-
heit, das farbenfrohe Gesicht Indiens zu entdecken. Führungen, thematische Pro-
gramme für Kinder und Erwachsene, kreative Aktivitäten, indische Spezialitäten und
eine Tombola waren Bestandteil dieser sehr gut besuchten Abschlußveranstaltung.
Die Familienprogramme im Herbst/Winter 1995/96 verbindet das Thema »Theater
und Kultur«. Sie wurden eingeleitet mit einem Gastspiel des Krick-Krack-Theaters,
Frankfurt a.M. und der Aufführung »Er sah aus wie ... Gefiederte Schlange«.
20
In der »Usbekistan«-Ausstellung wurde vom Leitthema abgewichen, um auch in der
Gestaltung des Familienprogramms den roten Faden der Ausstellung »Usbekistan:
Die zahlreichen Wurzeln einer Kultur« aufzunehmen.
»Erben der Seidenstraße« - Usbekistan
Am 15. November 1995 wurde die Sonderausstellung »Erben der Seidenstaße - Usbe-
kistan« eröffnet. Mit speziellen Informationsangeboten wurden Schulen, Volkshoch-
schulen und Senioreneinrichtungen auf den Beitrag hingewiesen, den gerade diese
Sonderausstellung zum aktuellen Thema »Begegnung der Kulturen« leistet. Die zahl-
reichen Aktivitäten in der Adventszeit dürften ein Faktor für das begrenzte Interesse
der Bildungseinrichtungen gewesen sein. Dafür wünschten zahlreiche private Gruppen
eine Führung durch die Ausstellung. Um der großen Nachfrage bei den Publikums-
führungen zu entsprechen, wurden in der Regel zwei Parallelführungen angeboten.
Kooperationsprojekte
Stadtbücherei Stuttgart: »Spektakel schwarz-weiß«
Zahlreiche Bildungseinrichtungen suchen die Zusammenarbeit, um Projekte, die im
Linden-Museum entwickelt wurden, in ihr Angebot zu integrieren. Ein solches Koope-
rationsprojekt war das »Spektakel schwarz-weiß« der Stadtbücherei Stuttgart im
Januar und Februar 1995. Das Linden-Museum beteiligte sich an diesem Projekt
durch Fortbildungsprogramme für Bibliotheken und Schulen zum Thema »Indonesi-
sches Schattentheater«. Großes Echo fand auch der Kulturnachmittag mit indonesi-
schem Tanz, Schattentheaterszenen und dem ersten öffentlichen Auftritt der Gamelan-
Gruppe im Linden-Museum.
Landeszentrale für politische Bildung: »Türkei - Tor zu Europa«
ln Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung wurde im Juni 1995 das
dreitägige Familienseminar »Türkei - Tor zu Europa« durchgeführt. Die Kultur-
geschichte der Türkei, die heutige sozio-politische Situation und die Bedeutung der
Handelsstraßen, die seit vielen Jahrhunderten den Orient mit Europa verbinden, stan-
den im Mittelpunkt des Seminars. Um das Programm informativ und anschaulich zu
gestalten, wurden in der Konzeption und Gestaltung museumspädagogische Überle-
gungen zugrunde gelegt.
Katholisches Bildungswerk: »Frauen in China«
Ein weiteres anspruchsvolles Kooperationsprojekt wurde zusammen mit dem Katholi-
schen Bildungswerk Ludwigsburg realisiert. Ausgehend von der Weltfrauenkonferenz
in Beijing wurden im Oktober 1995 Führungen zur »Kulturgeschichte der Frau in
China« in Verbindung mit einem Einführungsvortrag zum Thema »Frauen in China -
heute« angeboten.
Museumspädagogik und interkultureller Dialog
Das Referat Museumspädagogik führte eine Reihe von Tagesseminaren durch, die das
Aufgabenspektrum von Museen unter besonderer Berücksichtigung der Vermittlungs-
arbeit zum Inhalt hatten. Es zeigt sich, daß die Diskussion neuer Führungs- und Finan-
zierungsmodelle im Kulturbereich das Interesse an Museen als besucher-orientierte
Einrichtungen fördert. Während sich Studentinnen und Studenten des Ethnologischen
Instituts der Universität Tübingen für die internen Strukturen des Linden-Museums als
Völkerkundemuseum interessierten, konzentrierte sich das Seminarprogramm für Stu-
dentinnen und Studenten der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Ludwigsburg
auf die Darstellung museumspädagogischer Angebote und deren kulturpolitische Rele-
vanz. Im Rahmen einer Lehrstuhlvertretung wurden Studentinnen der Hochschule für
Bibliotheks- und Informationswesen Stuttgart im Wintersemester 1995/96 mit Theorie
und Praxis der Museumspädagogik vertraut gemacht. In Plenar- und Gruppensitzun-
gen erhielten sie eine Einführung in die Ausstellungen des Linden-Museums sowie in die
Grundlagen der Kommunikations- und Interaktionsforschung. Eigene Projektskizzen
forderten die angehenden Bibliothekarinnen auf zur multidimensionalen Vermittlung,
die auch im Hinblick auf Bibliotheksbesucher von Interesse ist.
21
TRIBUS 45, 1996
Die Aktualität der besucherorientierten Umsetzung und verständlichen Darstellung
von Forschungsergebnissen führt dazu, daß die museumspädagogische Vermittlungs-
arbeit verstärkt diskutiert wird. In einem Beitrag zum Thema »Indianerklischee und
Völkerkundemuseum« thematisiert das Deutsche Welle TV die Frage, welchen Beitrag
Völkerkundemuseen im Umgang mit »dem Fremden« leisten. Eine Fragestellung, die
zunehmend in Magisterarbeiten und Dissertationen diskutiert wird.
Einen besonderen Beitrag zum Jahr der Toleranz leistete das Interkulturelle Forum,
dessen Mitwirkende sich seit 1993 im Linden-Museum treffen. Das Ausstellungspro-
jekt »ARTgenossen: Die erste Begegnung« (22. 5. 1995-17. 6. 1995) wurde im Team
konzipiert und in den Räumen der Landesbildstelle Württemberg realisiert. 13 Künst-
lerinnen und Künstler mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zeigten mit
ihren Werken die Vielschichtigkeit des Themas »Begegnung«. Das umfassende Begleit-
programm und eine interaktive »Koffer-Installation« regten Besucherinnen und Besu-
cher an, eigene Erfahrungen, Gedanken und Zukunftsvorstellungen im Dialog mit den
»ARTgenossen« zu reflektieren.
Mit dem Ausstellungsprojekt »ARTgenossen: Die erste Begegnung« wurde ein Thema
aufgegriffen, das weltweit von Bedeutung ist. So lud die University of South Africa
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt nach Pretoria ein. Das inter-
disziplinäre Treffen sollte Beiträge liefern, um umfassende Bildungskonzepte zu ent-
wickeln, die der kulturellen Heterogenität Südafrikas Rechnung tragen. Auf dieser
internationalen Konferenz »Education and Change« (16. 9. - 27. 9. 1995) präsentierte
ich meine Forschungsergebnisse zur Situation der indianischen Bevölkerung zwischen
Tradition und Moderne. Der Beitrag stieß auf sehr große Resonanz und veranlaßte die
Phalaborwa-Foundation, mich zum Expertengespräch über ethnopädagogische For-
schungen nach Phalaborwa einzuladen. Dort konnte ich meinen Beitrag noch durch
aktuelle Forschungsergebnisse ergänzen, die ich im April 1995 bei den Yaqui-India-
nern in Tucson gesammelt hatte.
Der Erfahrungsaustausch mit international renommierten Kulturwissenschaftlern ist
für die Vermittlungsarbeit ebenso bereichernd wie der Erfahrungsaustausch mit indi-
genen Kulturexperten. Während des Besuchs des religiösen und kulturellen Beraters
der Crow-Indianer Montanas, John Pretty On Top, und seiner Mitarbeiter konnten
wertvolle Hinweise zu einzelnen Exponaten der Amerika-Sammlung gegeben werden.
Mit der Cherokee-Indianerin Cathy White Eagle vom Eagle Vision Educational Net-
work, Kalifornien, wurde ein indianisches Kulturprojekt konzipiert, das insbesondere
Jugendliche anspricht. Hierzu stellte sie dem Linden-Museum die vom Eagle Vision
Educational Network erarbeiteten Informationsmaterialien zur Verfügung.
In Zusammenarbeit mit dem Verein für Museumspädagogik Baden-Württemberg e.V.
wurden Fortbildungen erarbeitet, die den 30 freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
im Referat Museumspädagogik Gelegenheit gaben, Erfahrungen auszutauschen,
Neues zu erfahren und Anregungen zu erhalten. Im Linden-Museum wurde im
Dezember 1995 das bereits 1994 erfolgreiche Seminar »Wie bring ich’s gut ‘rüber« mit
dem Themenschwerpunkt »Die Kunst des Erzählens« fortgesetzt.
Sonja Schiede
Bericht des Referats Öffentlichkeitsarbeit über das Jahr 1995
Gegenüber dem Vorjahr hat der Museumsbesuch wieder zugenommen. Mit insgesamt
109.155 Besuchern stieg die Gesamtzahl um fast 10 Prozent. Damit ist das Linden-
Museum das einzige staatliche Museum in Baden-Württemberg, welches keinen mas-
siven Einbruch der Besucherzahlen vermelden muß. Dies liegt sicherlich zum großen
Teil an dem Verzicht auf Eintrittsgebühren, die alle anderen Museen im vergangenen
Jahr eingeführt haben. Ein Vergleich der monatlichen Zahlen von 1994 und 1995 ist in
Diagramm 1 dargestellt. Dabei fällt auf, daß vor allem in den Sommermonaten Juni bis
August die Besucherzahl höher ausfiel; dieses Ergebnis ist zweifellos der Anziehungs-
kraft der Ausstellung »Rajasthan - Land der Könige« zuzuschreiben.
Diagramm 2 zeigt den jeweiligen Anteil der Sonderausstellungsbesuche (32.682) am
Gesamtergebnis, das entspricht rund 30 Prozent. Die tatsächliche Zahl der Daueraus-
stellungsbesucher liegt allerdings höher, denn aus zähltechnischen Gründen werden nur
die Gesamtbesucherzahl und die der Sonderausstellungsbesucher erfaßt. Die Differenz
dieser beiden Zahlen vernachlässigt all jene Besucher, welche neben der Sonderausstel-
lung auch andere Abteilungen im Haus besichtigen. Dadurch erklärt sich der schein-
bare Rückgang der Dauerausstellungsbesuche bei starkem Sonderausstellungsbesuch.
Diagramm 2: Verteilung der Sonder- und Dauerausstellungsbesuche
TRIBUS 45, 1996
Das Verhältnis von Einzel- und Gruppenbesuchen ist gegenüber dem Vorjahr unver-
ändert geblieben, die Gruppen machen genau 33 Prozent der Besucher aus (Vgl. Dia-
gramm 3).
16000U"
Jan Feb März Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez
Diagramm 3: Verhältnis der Einzel- zu den Gruppenbesuchen
Zu allen Sonderausstellungen wurde wieder ein umfangreiches Begleitprogramm -
u. a. mit Künstlern aus diesen Ländern - veranstaltet, was zwar teilweise mit erhebli-
chem finanziellen und personellem Aufwand verbunden war, jedoch beim Publikum
großen Anklang fand. Die Zahlen im einzelnen:
»Madagaskar Land zwischen den Kontinenten«
(Gesamtlaufzeit vom 26.10.1994 - 30. 04.1995; die folgenden Zahlen beziehen sich nur
auf 1995)
Besucher: 7.037
Veranstaltungen: 10
»Land der Könige - Rajasthan«
Besucher: 17.203
Veranstaltungen; 16
»Erben der Seidenstraße - Usbekistan«
(Gesamtlaufzeit vom 16.11.1995 - 12.05.1996; die folgenden Zahlen beziehen sich nur
auf 1995)
Besucher: 8.462
Veranstaltungen: 3
Das Afrika-Referat führte 8 Jours Lixes durch. Außerdem fanden 48 öffentliche Gast-
veranstaltungen im Hause statt.
Die Sonderausstellungen über Rajasthan und Usbekistan wurden mit aufwendigen
Veranstaltungen und prominenten Gästen (Maharaja Gaj Singh von Jodhpur bzw.
Bundespräsident Herzog und Staatspräsident Karimov) eröffnet. Damit gelang es, den
Ausstellungen bereits in der Anfangsphase eine große Publizität zu verleihen, die
dadurch initiierte Mund-zu-Mund-Propaganda wirkte sich auf die gesamte Laufzeit
positiv aus.
Wegen des allgemeinen Rückgangs der Besucherzahlen in den letzten Jahren (der aller-
dings keine Besonderheit des Linden-Museums sondern ein bundesweiter Trend ist)
hat der Verwaltungs- und Beirat das Museum im April 1995 beauftragt, eine langfri-
stige Ausstellungs- und Marketingkonzeption zu erarbeiten. Gemeinsam mit Vertre-
tern des Ministeriums für Lamilie, Trauen, Weiterbildung und Kunst sowie des Kultur-
amtes der Stadt Stuttgart wurden entsprechende Vorschläge erstellt. Sie reichen von
ausstellungsbegleitenden Maßnahmen über bauliche Veränderungen (Ausstellungs-
24
fläche, moderne Medien, Foyer, Museumsshop) bis hin zu verstärkten Werbemaßnah-
men. Soweit zur Umsetzung dieser Maßnahmen allerdings finanzielle Mittel erforder-
lich sind, besteht in nächster Zukunft kaum Hoffnung auf ihre Realisierung. Den stei-
genden Erwartungen des Publikums stehen räumliche, personelle und massive finan-
zielle Einschränkungen des Museums gegenüber.
Dietrich Schleip
25
TRI BUS 45, 1996
Neuerwerbungen 1995
Im Jahr 1995 gingen die Erwerbungen des Linden-Museums zahlenmäßig zwar um
40 % zurück, dafür konnten wir jedoch qualitativ einige Spitzenstücke erwerben. Diese
sind vor allem für die Südsee-Abteilung eine als maravot bezeichnete Skulptur des Iniet-
Geheimbundes aus Neubritannien (Tolai, Papua Neuguinea, vor 1900) sowie eine Maya-
Graburne mit 15 Totenköpfen (Guatemala, ca. 500 n. Chr.) für die Amerika-Abteilung.
Insgesamt haben wir 1995 für das Linden-Museum 623 Zugänge zu verzeichnen, die
sich folgendermaßen aufgliedern:
Afrika-Abteilung: 15 Objekte
Orient-Abteilung: 102 Objekte
Südasien-Abteilung: 109 Objekte
Ostasien-Abteilung: 390 Objekte
Südsee-Abteilung; 1 Objekt
Amerika-Abteilung: 6 Objekte
In der Anzahl der Neueingänge sind auch wieder etliche Stiftungen, für die ich im
Namen des Linden-Museums an dieser Stelle den Gebern herzlich danke. Leider sind
die Eigenmittel des Museums erheblich gekürzt worden, so daß sich auch hieraus der
Rückgang an Ankäufen erklären läßt. Zu den beiden großen Sonderausstellungen
1995 (Rajasthan, Usbekistan) wurden systematisch Objekte erworben, die dann sofort
der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Später sollen einige von ihnen auch in den
Dauerausstellungen gezeigt werden.
Meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Herrn Dr. Hermann
Forkl (H.F.), Herrn Prof. Dr. Johannes Kalter (J. K.), Herrn Dr. Gerd Kreisel (G.K.),
Herrn Dr. Klaus-J. Brandt (K.-J.ß.), Frau Dr. Ingrid Heermann (LH.) und Herrn Dr.
Axel Schulze-Thulin (A.S.-T.) gebührt mein aufrichtiger Dank für ihren intensiven und
erfolgreichen Einsatz bei der Bewältigung der umfangreichen Recherchen, Vorarbei-
ten, der Auswahl und Bearbeitung der erworbenen Objekte.
Gleichzeitig danke ich unseren Finanzträgern, der Landeshauptstadt Stuttgart sowie
unserem zuständigen Ministerium für die Bereitstellung der Mittel, durch die wir die
Objekte erwerben konnten. Peter Thiele
Afrika-Abteilung
Im Jahr 1995 konnten für die Afrika-Abteilung zwei Sammlungskomplexe erworben
werden. Der eine besteht in einer Baule-Sammlung (südliche Elfenbeinküste), die
neben drei geschnitzten Lehnstühlen für Notabein eine Reihe von Figuren aus dem
religiösen Bereich umfaßt. So weist eine auf einem Pferd reitende Mutter-Kind-Figur
vermutlich auf die matrilineare Ahnenreihe hin, und ein kleiner Stierkopf stellt den
Totengott Guli dar, während eine besonders schöne und alte androgyne Figur noch so
manche unserer Fragen zum religiösen Weltbild der Baule unbeantwortet läßt. Bei drei
Tierfiguren handelt es sich zum einen um den in Form einer Maus geschnitzten Deckel
eines Seelengefäßes, zum anderen um Träger der Seelen Verstorbener oder Sitze von
Dämonen: einen vierbeinigen Pflanzenfresser und einen auf einer Schildkröte stehen-
den Vogel mit reichlicher, von Hühneropfern herrührender Opferkruste.
Zum anderen Komplex gehören, abgesehen vom Geschenk eines Werkzeugkastens mit
Inhalt, wie ihn ein Schuhputzer in Cotonou (Rep. Benin) benützte, fünf gemalte Fri-
seurschilder. Diese sind z. T. signiert, in jedem Fall jedoch durch den Sammler so gut
dokumentiert, daß auch sonst der jeweilige Künstler namentlich bekannt ist. Im ein-
zelnen handelt es sich dabei um das Schild eines Herrenfriseurs von Besse Sow aus
Dakar (Wolof, Senegal), um ein ebensolches des Ghanaers Charles für einen Fulbe-
Friseur aus Bamako (Mali) sowie das Schild einer Damenfriseuse von Martin O. Okore
(Mombasa) für einen Salon in Shanzu (Kenia). Zwei Schilder stammen aus den Ate-
liers zu Recht über ihren lokalen Wirkungsbereich hinaus bekannter Künstler: das
Schild eines Herrenfriseurs von Joel aus Abidjan (Elfenbeinküste) und das eines
Damenfriseurs mit allerlei technischen Details von Bikok T. Pierre aus Libreville
(Gabun). Die Schilder wurden im Hinblick auf die für den Sommer 1997 vorgesehene
Ausstellung »Heilkunst und Körperpflege in Afrika« erworben.
H. F.
26
TRIBUS 45, 1996
Schild eines Herrenfriseurs
Öl auf Sperrholz, 65 x 100 cm. Künstler: Joël, Abidjan (Elfenbeinküste), 1985, Inv.-Nr. F 54.891
Schild eines Herrenfriseurs
Tempera und Öl auf Sperrholz, 55 x 66,5 cm. Künstler: Charles (Ghana), Friseur; Jean Assar
Sidibe, Ful in Bamako (Mali), 1990. Inv.-Nr. F 54.894
28
TRIBUS 45, 1996
Orient-Abteilung
Im Berichtsjahr konnten wir für die Orient-Abteilung insgesamt 102 Objekte erwer-
ben. Vier mongolische Filzarbeiten, eine kleinere, noch nicht vollständig bearbeitet
Gruppe von Ethnografica aus Usbekistan sowie ein einachsiger Wagen mit ca. 2 m
hohen Rädern (»arba«) gingen als Geschenke ein.
Die Erwerbungen erstrecken sich auf alle bislang gepflegten Sammelgebiete.
Für die Sammlung aus vorislamischer Zeit konnten wir eine Gruppe von 60 Kerami-
ken des 2. u. 1. Jt. v. Chr. günstig erwerben, die eine interessante Ergänzung einer zeit-
gleichen Gruppe anatolischer Keramiken darstellen, die wir vor einigen Jahren aus
einem Nachlaß erhielten.
Unsere Sammlung islamischer Metallarbeiten wurde durch zwei gravierte Bronzen aus
Zentralafghanistan, 12./13. Jh. abgerundet.
Auch das relativ junge Sammelgebiet »Türkei« entwickelt sich kontinuierlich. Den
wichtigsten Zuwachs bilden hier vierzehn seltene anatolische Kelims des 18. und 19.
Jh. aus allen wichtigen Produktionszentren zwischen West- und Ostanatolien. Erfreu-
licherweise konnten wir mit dem Erwerb eines im typisch osmanischen Stil eingelegten
Saiteninstrumentes, einer Kanun, eine Lücke in unserer Musikinstrumenten-Samm-
lung schließen.
J. K.
Armreife aus Buchara
Links: Silber, teilweise feuervergoldet, durchbrochen, Listen-Nr. A/4134/7. Mitte: Silber, durch
einen Pcrlstab gefaßte V-förmige Glieder, emaillierte Verschlußplatte, Listen-Nr. A/4134/8.
Rechts: Silber durchbrochen und emailliert. Listen-Nr. A/4134/9.
Alle: B: 2,8 -4,5 cm. D; 6 6,6 cm; Buchara, 80er Jahre des 19. xJh.
Susani
Die Verwendung des Kanda-Chayal-Stichs spricht für die Zuordnung ach Schahr-e Sabz. Grund- ►
material: hausgewebter Baumwollstoff; Stickgarn: Seide, Baumwolle; Technik: Flächen basma,
kanda chayal und Kettenstich, Stielstich und offener Kettenstich. 158 x 230 cm. Listen-Nr.
A/4134/6.
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TRIBUS 45, 1996
Hochzeitskleid
Ikatreps, Mischgewebe aus Seide und Baumwolle; Bordürenbesatz: Tambouristickerei aus Seide
auf Baumwolle; L: 126 cm, B: 197,5 cm, Samarqand (?), um 1900. Listen-Nr. A/4134/5
32
Südasien-Abteilung
Das Jahr 1995 brachte der Südasien-Abteilung einen Zuwachs von insgesamt 109
Objekten bzw. Objektgruppen, von denen bis auf sieben alle aus Indien hiervon 100
aus Rajasthan - stammen. Der Sammelschwerpunkt Rajasthan erklärt sich aus der
diesjährigen Sommerausstellung des Linden-Museums »Rajasthan - Land der
Könige«, zu der gezielt Desiderata angekauft wurden. Auch bei der Sammelerwerbs-
reise im Herbst 1994 konnten noch einige kulturhistorisch und völkerkundlich wich-
tige Gegenstände zur Abrundung der Exponatgruppen erworben und im jetzigen
Berichtsjahr inventarisiert werden.
Hierbei handelt es sich im einzelnen um rajasthanische Textilgruppen, dörflichen und
höfischen Schmuck, hinduistische und jinistische Ritualobjekte sowie Devotionalien
des Srinath-Kultes, ferner Waffen, Werkzeug und Hausrat. Vom Kunsthandel wurden
ein jinistisches Manuskript »Trailokya dipika« mit bemalten Deckblättern von 1727
u.Z., vermutlich aus Gujarat, zwei historische Werke zur Geschichte der Königtümer
Bundi (»Vigrahavilasa«) und Jaipur (»Ram sujas sagar« des Sundarlal) sowie ein aus
13 Teilen bestehendes, mehrere hundert Seiten umfassendes Manuskript des Bhagavata
Purana aus dem Jahr 1832 u.Z. erworben, des weiteren eine aus 112 Blatt bestehende
Parsmnatha
Sandstein, Höhe 65,5 cm. Rajasthan, Nordwest-Indien, datiert 1030 n.Chr. Inv.-Nr. SA 01727 L
TR1BUS 45, 1996
Dokumentensammlung aus Jurisdiktion, Verwaltung und Politik im Zeitraum von der
Kaiserin Victoria bis in die Unabhängigkeit Indiens in den frühen fünfziger Jahren.
Schon bei der bisherigen Durchsicht erwies sich die Sammlung als interessantes Quel-
lenmaterial zur Zeitgeschichte und dürfte bei der anstehenden Bearbeitung in bezug
auf Rechtsprechung, Eigentums- und Alltagsproblemen in diversen Staaten des kolo-
nialen Indiens ergiebig sein.
Als weitere Schriftdokumente gelangten zwei Kupferplatten mit vielzeilig gravierten
Texten zu uns. Dies sind Schenkungsurkunden an religiöse Institutionen aus dem 18.
Jahrhundert, gemäß alter indischer Tradition.
Das einzige altindische Werk, das in diesem Jahr erworben werden konnte, ist eine her-
vorragend gearbeitete jinistische Tempelskulptur, den Tirthankara Parshvanalha in
Meditationssitz darstellend. Die Sockelinschrift enthält die Vikrama-Jahresangabe
1087 (1030 u.Z.). Die kleine, aber hochrangige Gruppe der jinistischen Exponate der
Rajasthan-Ausstellung erhielt durch diese Figur eine weitere qualitative Spitze.
Noch nicht ausgestellt werden konnte ein restaurierungsbedürftiger jinistischer Thron-
altar des 19. Jh., dessen einzelne bronzene Horizontalschichten ein turmartiges
Gebilde von über zwei Meter Höhe ergeben, bekrönt von einem kleinen Pavillondach
(bangaldar) über einer Altarplattform. Das filigrane, vergoldete Bauwerk dürfte aus
dem südlichen Rajasthan stammen.
Ebenfalls dieser Zeit und Herkunft zuzuordnen ist eine Gruppe Zeremonialobjekte,
allgemein »mahi maratib« genannt (mahi muratib, laut Dr. Nawal Krishna, Jodhpur).
Sie besteht aus einem kugelförmigen Seeungeheuer-Kopf (makara, bzw. mahi) mit
offenem Rachen, einem flachen Dreizack (trisula), einer scheibenartigen, offenen
Hand (panja) und zwei kugeligen Knäufen (Maße von 20,5 bis 64,5 cm), die einst auf
langen Bambusstangen montiert waren. Solche Zeremonialsymbole wurden seit dem
Zeremonialstandarten Mahi Maratib
Gelbguß bzw. Kupfer, Höhen von 20,5 bis 64,5 cm. Rajasthan. Nordwest-Indien, Mitte des 19.Jh.
Inv.-Nrn. SA 01722 L bis SA 01726 L
34
Jinistischer Altarthron
Vergoldete Bronze, Glasschmuck, Höhe 205 cm. Rajasthan, Nordwest-Indien, 19. Jh. ►
Inv.-Nr. SA 01728 L
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TRIBUS 45, 1996
Zwei Stiftungstafeln
Kupfer, Höhe 36 und 61 cm. Südliches Rajasthan, Nordwest-Indien, mit Datierungen in die Jahre
1761 und 1758 u.Z. Inv.-Nrn. SA 01712 und SA 01713
36
Bhang-Mörser mit StößeI
Hellbrauner bzw. gelbgrüner Kalkstein, Höhe 9,4 cm, Länge 24,7 cm. Rajasthan, Nordwest-
Indien, datiert 1819 (?). Inv.-Nr. SA 01707 a+b
17. Jh. von den Moghulkaisern einigen Rajputkönigen für deren Verdienste überreicht.
Ursprünglich nahm ein Fischkörper (mahi) den Platz des Makara ein. Wie der Fisch
weist auch die gestreckte Handfläche auf die muslimischen Bezüge dieser rajputischen
Regalia hin, die noch gegenwärtig - wie an den Rathor-Höfen von Jodhpur und Bika-
ner - bei festlichen Anlässen eingesetzt werden.
Aus Jodhpur erhielten wir eine Sammlung von 27 Turbantüchern (20 davon stabil
gebunden) in Bandhani- und Lahariya-Färbung. In ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten
Jahreszeiten, Regionen und sozialen Ständen umspannen sie ein breites Spektrum an
Formen und Farben der rajasthanischen Turbane (siehe dazu den Ausstellungskatalog
»Rajasthan - Land der Könige«),
Aus dem tibetischen Kulturraum stammen eine Mahakala-Maske des Cham-Tanzes
und ein bemaltes Ritualtuch, aus Birma ein vergleichbares Tuch mit gemalten Bud-
dhafiguren (19. Jh.). Als Geschenke wurden uns drei balinesische Objekte überlassen:
ein vierteiliger, beschnitzter und bemalter Stellschirm mit Szenen aus dem Epos
Ramayana, ein auf Leinwand gemaltes Kalendarium und eine Öllampe auf einem höl-
zernen Hängegestell für das Schattenspiel. Der Stifterin gilt unser herzlicher Dank.
G.K.
37
TRIBUS 45, 1996
Ostasien-Abteilung
Im Jahr 1995 konnte die Ostasien-Abteilung insgesamt 390 Neuzugänge verzeichnen,
von denen 355 gestiftet und 35 angekauft wurden.
Wie schon in den vergangenen sechs Jahren bilden 298 chinesische Münzen, Sonder- und
Gedenkmünzen, Amulette und Banknoten den Großteil der Stiftungen. 63 der Münzen
und Amulette stammen aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten, der kurzlebigen
Xin-Dynastie des Wang Man (9-23 n.Chr.) sowie den nachfolgenden Jahrhunderten. Die
restlichen Münzen und Banknoten gehören dem 20. Jahrhundert an und sind überwie-
gend Prägungen und Ausgaben der Volksrepublik China. Außerdem ergänzten Buchs-
penden die auf Asien bezogene numismatische Fachliteratur der Bibliothek.
Bei den übrigen 57 gestifteten Gegenständen, von denen 24 aus dem chinesischen Kul-
turraum und 33 aus Japan stammen, handelt es sich um elf chinesische Keramiken aus
der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v.Chr.) bis in das späte 20. Jahrhundert, fünf
kleine Bronzegegenstände aus der West-Zhou- (ca. 1027-771 v.Chr.) bis Han-Zeit (206
v. 220 n.Chr.), drei Holz- und Lackobjekte der Han- bzw. späten Ming-Zeit
(1368-1644) und fünf Alben mit Blumen-, Vogel- und Genredarstellungen aus dem
späten 19. Jahrhundert. Unter den Stiftungen für die chinesischen Sammlungen ragen
zwei Keramikobjekte hervor: ein dreifarbig glasierter (sancai) Tuschereibstein aus der
Liao-Zeit (907-1125), die hellbraun glasierte Unterseite ist konkav gewölbt und diente
zum Auswaschen des Pinsels, und eine kleine Teeschale, Jizhou-Ware aus der Süd-
Song-Zeit (1127-1279), mit einem blühenden Pflaumenzweig als Dekor.
Die 33 japanischen, gestifteten Objekte setzen sich zusammen aus siebzehn illustrierten
Holzschnittbüchern; ein Band, um 1830 herausgegeben, trägt den Titel Shöga jo und
enthält Kalligraphien und Malereien verschiedener Schriftkünstler und Maler, die
sechzehn übrigen Bände sind Musterbücher für Textilherstellung u.dgl. und wurden in
der Meiji-Ära (1868-1912) gedruckt, sowie aus sieben modernen Keramiken, drei
modernen Lackschalen, vier Nachdrucken von Ukiyo-e-Holzschnitten des späten 18.
Jahrhunderts, einer Rolle in der Yüzen-Technik gemusterter Seide für einen Frauenki-
mono und einem nachgewebten Nö-Gewand mit Fächermuster.
Von den insgesamt 35 gekauften Objekten wurden dreizehn mit Mitteln des Zentral-
fonds erworben, die übrigen 22 Gegenstände konnten aus Eigenmitteln bzw. den im
Laufe der letzten Jahre angesammelten Spendenmitteln angekauft werden.
Abgesehen von einem vorzüglich erhaltenen, bestickten Mandarin-Gewand, vermut-
lich noch um 1800 zu datieren, und einer Gruppe von fünf Kacheln aus Blauweiß-Por-
zellan aus dem 17. Jahrhundert, die sicherlich für den europäischen Markt angefertigt
worden sind, gehören alle erworbenen Objekte letztlich in den Sammlungskomplex
chinesischer Grabkult.
Es sind im wesentlichen 21 Keramikobjekte aus der Zeit der Streitenden Reiche (475 - 221
v.Chr.) bis Song-Zeit (960-1279), ferner drei han-zeitliche Bronzeobjekte ein Becken auf
drei kleinen, menschenähnlich gestalteten Füßen und zwei sog. Ohrenschalen - und vier
Bronzespiegel aus der Zeit der Streitenden Reiche bis zur Zeit der Drei Königreiche
(220-280), die die vorhandene Bronzespiegelsammlung vorzüglich ergänzen, sowie eine mit
einem Ritzdekor versehenen Lackschale aus der Ost-Han-Zeit (24 - 220).
Unter den Erwerbungen aus Zentralfondsmitteln sind neben den bereits erwähnten
Bronzespiegeln und der Lackschale aus sog. Trockenlack (tuotai) besonders hervorzu-
heben die beiden hohen, pfeilerartigen Pfosten, oben jeweils mit einem vollplastisch
modellierten, menschenähnlichen, hockenden Wesen versehen, die als Schutz beidsei-
tig vor dem Zugang eines han-zeitlichen, unterirdischen Grabes aufgestellt waren
(Abb. 13), ferner zwei Kopfstützen aus der Song-Zeit, die ebenfalls die kleine, aber
wichtige Sammlung chinesischer Kopf- oder Nackenstützen ergänzen (Abb. 14). Eine
kleine, grün glasierte Kanne mit Deckel, Yueyao-Ware aus dem 10. Jahrhundert, ist
mit einem feinen, unter der Glasur eingeritzten Blüten- und Rankendekor geschmückt
und bereichert die Gruppe von Seladonkeramiken der Ostasien-Abteilung (Abb. 15).
Bei den aus Eigenmitteln erworbenen Objekten verdienen ein Ochsenkarren mit Och-
sen aus der Tang-Zeit (618-907) besondere Erwähnung, der als Exponat in der großen,
vom 16. 11. 1995-12.5.1996 im Linden-Museum gezeigten Sonderausstellung »Usbe-
kistan. Erben der Seidenstraße« zu sehen war und in dem begleitenden Katalog publi-
ziert wurde. Das gleiche gilt auch für den aus Lottomitteln erworbenen großen Spiegel
mit figürlichem Reliefdekor aus der Ost-Han-Zeit (Abb. 16). K. J. B.
38
Geschweifte, blattförmige Kopfstütze
auf einem figürlichen Sockel mit Wächterfigur und Löwen, weißliches Steinzeug mit transparen-
ter Glasur, tlw. mit Eisenbraun, Maße (H x B x T): 13 x 30,2 x 15 cm. China, Süd-Song/Jin-Zeit,
12./13. Jh. Inv.-Nr. OA 24.636 L
Modell eines zweirädrigen Ochsenkarrens
Beigefarbene Tonware mit Farbresten, Höhe (Karren): ca. 30 cm, Länge (gesamt): ca. 44 cm.
China, Anfang Tang-Zeit (618 - 907). Inv.-Nr. OA 24.624 a-d
41
Südsee-Abteilung
Die Südsee-Abteilung hatte im Jahr 1995 den Zugang von nur einem Objekt zu ver-
zeichnen. Dabei handelte es sich um ein ganz besonderes Objekt, nämlich eine Tanz-
wand von Neubritannien, die aus Mitteln der Museumsstiftung erworben werden
konnte. Die als marawot bezeichnete Skulptur, die bereits um die Jahrhundertwende
von Parkinson gesammelt wurde und ehemals dem Völkerkunde-Museum Dresden
gehörte, ist ein herausragendes Beispiel ihres Genres - und mit 192 cm Höhe auch eine
der größten erhaltenen Skulpturen dieser Art.
Verwendet wurde die Skulptur bei Zeremonien im Rahmen des Iniet-Geheimbundes
der Tolai und stellt vermutlich einen wohlmeinenden Totengeist dar. Die Skulptur
“lebt” von ihrem eindrucksvollen Kontrast zwischen dem langen, in Form einer
Schlange stilisierten Unterkörper und dem farbig abgesetzten Brustbereich, auf dem
der das Gesicht umgebende Bart direkt aufliegt. Das Gesicht wird durch den »lachen-
den« Mund und die in Tolai-Manier mit Muschelscheiben und Schildpatt betonten
Augen geprägt. Fransen der Faserperücke, mit Federn geschmückt, reichen fast bis zu
den Augen. Die weiß gekalkten Hände und Arme sind in Adoranten-Stellung erhoben.
Gezackte Baummarkstreifen, die vom Sockel bis zu den Armen und darüberhinaus rei-
chen, rahmen die Figur ein. Für die Sammlung des Linden-Museums war der Erwerb
dieser Figur ein besonderer Glücksfall: Das Museum besitzt eine recht detaillierte
Tolai-Sammlung mit kleineren Tanzskulpturen und Tanzhandhaben, die durch dieses
Kunstwerk einen Mittelpunkt erhalten hat, der die gesamte Sammlung akzentuiert
und wesentlich bereichert.
I. H.
43
TRI BUS 45, 1996
Tanzskulptur
Holz, Baummark, Fasern, Federn, Naturfarben, Kalkbewurf, Muschelschalen, Schildpatt; Höhe
192 cm, Tolai, Neubritannien, Papua Neuguinea, vor 1900. Inv.-Nr. S 42.394 L
44
Amerika-Abteilung
Der Erwerbungsbericht für 1995 kann nahtlos an den für das Jahr 1994 angeschlossen
werden, in dem über die Zurückstellung einer mesoamerikanischen Sammlung
geschrieben wurde. Da sich die seinerzeit geäußerten Bedenken als haltlos herausstell-
ten, wurden die Stücke im jetzigen Berichtsjahr erworben. Es handelt sich um fünf
Spitzenobjekte aus der Maya-Periode Guatemalas sowie eine Metate aus Basalt mit
Greifvögel köpf, die den Azteken zugerechnet wird. Die Maya-Stücke (klassische Zeit)
bestehen im einzelnen aus folgenden Keramiken; einer bemalten Graburne mit 15
modellierten Totenköpfen und zwei flankierenden, reliefierlen Dekorbändern; zwei
bemalten Kriegerfiguren (Okarinas), eine mit Schild, die andere einen Trophäenkopf
haltend; zwei mit einer Kriegsszene, einem Kormoran und anderem Dekor reliefierte
Becher.
Mit dieser Erwerbung hat die Amerika-Abteilung 1995 erneut einen bedeutsamen
Schritt auf dem Weg eines kontinuierlichen Aufbaus der Mesoamerika-Bestände
zurückgelegt. Schon heute kann gesagt werden, daß das Linden-Museum Stuttgart
jetzt - neben Nordamerika und Alt-Peru - ein drittes publikums- und ausstellungs-
wirksames Standbein der Amerika-Sammlungen besitzt - Mesoamerika.
A. S.-T.
Graburne aus gebranntem Ton
Bemalt. Höhe; 75 cm. Maya, Guatemala, um 500 n.Chr. Inv.-Nr. M 34.354 L
45
JÜRGEN W. FREMBGEN
Ein uzbekischer Kampfwidder und seine Beschirrung
In Uzbekistan, Afghanistan und benachbarten Regionen Mittel- und Südwestasiens
stellen Zweikämpfe unter Tieren bei der männlichen Bevölkerung genauso beliebte
Vergnügungen dar wie etwa Ringkämpfe oder andere traditionelle Sportarten. Es wer-
den Kämpfe zwischen Hähnen, den Männchen der Wachteln und Rebhühner sowie
zwischen Hunden, Kamelhengsten und Widdern veranstaltet. Solche Ereignisse sind
allgemeine Volksbelustigungen, bei denen oft sehr hohe Geldwetten abgeschlossen
werden1. Die Eigentümer der Tiere - meist wohlhabende Großgrund- und Viehbesitzer
- bieten ein Ehrenkleid oder den Widder selbst als Einsatz. Tierkämpfe gehören zum
festlichen Rahmen anläßlich von Hochzeiten, Beschneidungen, Empfängen hoher
Gäste, des y<xs/7c«-Unabhängigkeitsfestes in Kabul usw. Man bezeichnet sie - wie
Musik- und Tanzdarbietungen, sportliche Wettkämpfe und Spiele - als tamjsha-
Unterhaltungen.
Schon der berühmte Forschungsreisende Henri (Heinrich) Moser berichtet 1888 in sei-
nem Buch »Durch Central-Asien«, daß der Widderkampf (qoch-jang_) das National-
vergnügen der Uzbeken sei, und im Hinblick auf das Khanat Khiva ergänzt er: »Man
kann im ganzen Chanate kein reiches Haus betreten, ohne einen großem oder kleinern
Widder an einer Kette befestigt zu sehen« (1888: 251). Eine ähnliche Bedeutung hatten
Widder {qoch, kojh) bei den Uzbeken Nordafghanistans und Tajikistans zumindest bis
gegen Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Wertschätzung dieses Tieres zeigt sich nicht
zuletzt auch anhand der vielfältigen Darstellung seiner Hörner in der Ornamentik der
Volkskunst, der Anbringung von Wildschafgehörnen an Heiligengräbern und des
Gebrauchs von widderhornförmigen Amuletten aus dem Holz des Hagedorns. Mit den
Widderhörnern sind Kraftvorstellungen verbunden, die u.a. auch auf die Beobach-
tung der unglaublichen Stoßkraft der Tiere im Zweikampf zurückgehen mögen.
»Gesenkten Kopfes stürzen die Widder aufeinander«, schreibt Moser, »der Krach,
welchen ihr Zusammenstoß hervorbringt, gleicht dem Fallen eines schweren Hammers
auf einen Amboß; man begreift nicht, daß ihr Schädel unter der Wucht des schreckli-
chen Stoßes, dem sofort ein zweiter folgt, nicht zertrümmert wird« (1888: 251-252).
Anlaß, in der vorliegenden Notiz den mehr als spärlichen Literaturangaben über
Kampfwidder nachzuspüren, ist ein seltenes Geschirr, das in der Orient-Abteilung des
Staatlichen Museums für Völkerkunde München magaziniert ist und zur Sammlung
Gottfried Merzbachers (1843-1926) gehört (Inv.-Nr. 26-35-71). Es handelt sich um ein
2,3 kg schweres Halsband mit zwei beweglichen Ringen, an denen eine Glocke und
eine mit einem eisernen Pflock verbundene Kette befestigt sind. Ist der Widder ange-
schirrt, so werden die beiden Ringe mit Hilfe eines kleinen, schön geformten Vorhän-
geschlosses zusammengehalten. Vor Beginn eines Kampfes wird dieses Schloß geöffnet
und das Halsband abgelegt. Das - ohne Ringe und Schlaufen - an jeder Seite etwa 20
cm lange und oben 17,5 cm breite Band ist mit Baumwolle gepolstert und innen mit
einer »Blöße«, d.h. einer noch ungegerbten, aber enthaarten Tierhaut, abgefüttert. Die
Außenseite besteht aus Rindsleder, das umgebugt und mit dem Futter in groben Sti-
chen (Vor- und Stielstich) vernäht ist.
Als eigentliche Besonderheit dieses Geschirrs ist sie mit aus Messing gegossenen
Schmuckscheiben und -ringen reich besetzt. Insgesamt handelt es sich um 19 Metall-
appliken, die in drei Reihen längs über das jochartige Band verlaufen. Die je sieben
Besatzstücke der beiden äußeren Reihen bestehen aus einer achtblättrigen, punktierten
Rosette (Dm. 4,8 5 cm), die mittels einer zentrierten Öse im Polster verankert ist. An
der Öse hängt ein beweglicher, ebenfalls punktierter Ring (Dm. 3,8 cm) in Form eines
Achtpaßmedaillons. Die fünf Appliken der Mittelreihe sind demgegenüber größer und
zeigen unterschiedlich geformte Zierscheiben und Ösen; letztere besitzen ein Schraub-
gewinde. Das oberste Besatzstück besteht aus einem zwölfzackigen Stern (Dm. 6,5 -
6,8 cm) und einem - ähnlich wie bei manchen Derwisch-Stäben - schlangenförmig
gebogenen Griff (H 5 cm, B 6,5 cm). Flankiert wird dieser Knauf von zwei als Loch-
scheiben gestalteten 13-blättrigen Rosetten (Dm. 5,5 cm), in deren birnenförmigen
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TRIBUS 45, 1996
Abb. Geschirr eines Kampfwidders, Leder mit Messingbeschlägen und Messingglocke, gegos-
sen, und Eisenkette zum Anpflocken mit Hering und Schloß. Widderkämpfe gehörten im 19. Jh.
in Turkestan zu den beliebtesten Volksvergnügen. Die Zuschauer verwetteten oft hohe Einsätze
auf den Sieger. Turkestan, zweite Hälfte 19. Jh. H.: ca. 41 cm. Foto: Museum für Völkerkunde,
München.
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Frembgen: Ein uzbekischer Kampfwidder
Ösen (H 6,8 cm, B 4,5 cm) ein bewegliches, einem Sichelmond ähnelndes Zierglied
hängt (fehlt bei einer Öse). Die beiden untersten Appliken der Mittelreihe zeigen wie-
derum einen Stern, dessen zwölf Zacken jeweils durch eine Punktierung akzentuiert
wurden. Die Ösen sind hier länglich oval geformt (L 4,5 cm, B 4 cm). - Über ihre
Schmuckfunktion hinaus könnten diese Ösen sowohl als Haltegriffe als auch zur Befe-
stigung von Stricken bei der Bändigung eines ungestümen Kampfwidders gedient
haben. Form und Verzierung der Scheiben und Ösen zeigen, daß sich der Metallhand-
werker offenbar durch Gestaltungsprinzipien von Männer- und Frauenschmuck,
Amuletten und möglicherweise von Standartenaufsätzen und Derwisch-Gerätschaften
hat anregen lassen.
Die mit einem S-förmigen Eisenhaken an einem der beiden großen Ringe (Dm. 6 cm)
befestigte halbkugelige Glocke (Dm. 8,8 cm) ist aus Messing gegossen und mit einem
grob aus Eisen geschmiedeten Klöppel versehen. Das erwähnte Vorhängeschloß ist
oval (L 4,4 cm. B 3,5 cm) und besitzt an der verbreiterten Längsseite einen Spreizfe-
dermechanismus (L des Schlüssels: 3,3 cm). Die an dem anderen der beiden Ringe
befestigte Eisenkette aus ovalen Gliedern ist 154 cm lang und an den Enden jeweils mit
einem S-förmigen Haken versehen; etwa in der Mitte sind zusätzlich ein Ring und eine
Öse eingefügt. Der Pflock (L 23,3 cm) ist über mehrere bewegliche Teile (Bügel, Öse,
Ring) mit der Kette verbunden2. Unterhalb des Bügels finden sich an den Kanten in
einer 5 cm langen Zone ornamentale Einkerbungen. Von dort bis zum zugespitzten
unteren Ende sind die vier Kanten abgeschliffen.
Während des zu Ehren Henri Mosers in Khiva veranstalteten Tierkampfes waren »in
einer Umzäunung etwa 20 Widder mit ihren Ketten an die in den Boden eingerammten
Pfähle angebunden« (1888: 251). Vor dem Kampf nimmt man dem Tier Halsband und
Fesseln ab und drei oder vier Männer halten es an den Hörnern fest, bis es auf ein
gegebenes Zeichen hin auf seinen Gegner losgelassen wird. Um einen Eindruck von
der Dramatik eines solchen Widderkampfes zu geben, möchte ich eine Szene aus
Joseph Kessels Buch »Die Steppenreiter« (München 197l)3 herausgreifen, die im zen-
tralafghanischen Hindukush spielt. Auf den Seiten 172-190 seines Romans beschreibt
der Autor mehrere Widderkämpfe, erwähnt die Wetteinsätze und vermittelt anschau-
lich die Atmosphäre in der Kampfarena. Kessel konnte in Afghanistan selbst einen sol-
chen Kampf beobachten und die Ereignisse daher sehr lebendig und eindrucksvoll
schildern. Die folgende Szene bietet lediglich einen Ausschnitt aus dem Beginn eines
Kampfes, nachdem die Kontrahenten vorsichtig aufeinander zugegangen sind: »End-
lich blieben die Tiere stehen, etwa fünfzehn Schritt voneinander entfernt. Einen, einen
winzigen Augenblick nur - dann rasten sie so unvermittelt, so blitzschnell aufeinander
zu, daß bereits das donnernde Krachen ihrer aufeinanderprallenden Stirnen ertönte,
ehe die Zuschauer überhaupt begriffen hatten, daß sie zum Angriff übergegangen
waren. Und schon waren beide Tiere zurückgewichen und stürzten erneut, aus noch
größerer Entfernung aufeinander zu. Der schnellere, der wendigere war der rötlich
gestreifte Widder: um eine Sekunde, um einen Sprung war er dem anderen voraus. Dies
genügte, um ihm einen - wenn auch nur geringen Vorteil zu verschaffen. Als die bei-
den Stirnen mit den spindelförmigen Hörnern aufeinanderprallten. wurde der
gefleckte Satan (Name dieses Tieres, Anm.d.V.) zurückgeschleudert. Die Menge stieß
einen schrillen Schrei aus. Doch der weiß-schwarze Widder fiel nicht zu Boden, stol-
perte nicht. Er behielt das Gleichgewicht, ja er war nicht einmal benommen, sondern
blieb völlig konzentriert. Denn als der rote Blitz (Name des anderen Widders,
Anm.d.V.) sofort, ohne auch nur Atem zu holen, wieder auf ihn losging, wich er
geschickt zur Seite aus. Sein Gegner verfehlte ihn - er glitt seitlich an seiner Flanke ent-
lang. Und jetzt versuchte der gefleckte Satan, den anderen zu überraschen: doch ver-
geblich. Noch bevor er ihn angreifen konnte, hatte der andere sich schon wieder umge-
dreht und stand fest mit den Hufen auf der Erde, den Kopf gesenkt. Seine Stirn und
die des Gegners schienen wie aus Stein gemeißelt« (Kessel 1971: 179). Ein solcher
Kampf ist zu Ende, wenn eines der Tiere nach einem Zusammenstoß dem Gegner den
Rücken zukehrt oder Anstalten macht davonzulaufen4. Die Zuschauer pfeifen den flie-
henden Widder aus und zollen dem Sieger Beifall.
Nach dem Roman Joseph Kessels wurde ein gleichnamiger Spielfilm (»The Horse-
man«, USA 1970; Regie: John Frankenheimer) an Originalschauplätzen in Afghani-
stan gedreht. Dabei wird neben Kamel- und Wachtelkämpfen ebenfalls ein authenti-
scher Widderkampf unter Beteiligung eines einhörnigen Tieres gezeigt. Zu einer sol-
49
TRIBUS 45, 1996
eben besonderen Lage vermerkt Moser allerdings in seiner Schilderung des Khivaer
Kampfes: »... dem Urgentscher Widder war beim 27. Zusammenstöße ein Horn abge-
brochen worden; trotzdem wollte er nochmals zum Sprunge ansetzen, als ein Theil der
Versammlung in die Rennbahn sprang, um ihn zurückzuhalten, weil unter solchen
Umständen der Tod des andern Thiers fast gewiß ist, denn der Stumpf des gegneri-
schen Hornes dringt ihm in den Schädel ein« (1888: 252).
Widderkämpfe sind übrigens nicht nur aus Mittelasien bezeugt, sondern wurden
früher auch im Norden des indo-pakistanischen Subkontinents veranstaltet. Auf offe-
nen, freien Plätzen in Lahore etwa ließ man Widder sowie Hähne, Wachtelmännchen
und Nachtigallen gegeneinander kämpfen5. Basawan, der talentierte Maler des
Moghul-Kaisers Akbar, malte um 1585 in Agra einen mit einer Eisenkette an einem
Baumstumpf oder hölzernen Pflock festgebundenen Widder, »... perhaps a Champion
admired for its strength in combat«, wie Stuart Cary Welch schreibt (1985: 173, 175;
Nr. 108). An dem roten Halsband des Tieres hängen vier Glöckchen herab. - Bei den
Widderkämpfen in dieser Region könnte es sich um ein mittelasiatisches Erbe der
Moghul-Herrscher handeln, deren Dynastiegründer Babur (1483-1530) aus Transoxa-
nien stammte.
Anmerkungen
1 Moser 1888; 252; vgl. Klimburg 1966: 118, 162.
2 Ein Foto von H. Moser aus den Jahren 1889/90 zeigt einen angepflockten Widder auf einem
Viehmarkt vor Samarkand (Balsiger & Kläy 1992; 135, oben rechts).
3 Französische Originalausgabe »Les Cavaliers« (Paris 1967).
4 Moser 1888: 252
5 Latif 1892: 266
Literaturverzeichnis
Balsiger, Roger N. & Ernst J. Kläy
1992 Bei Schah, Emir und Khan. Henri Moser Charlottenfels
1844-1923. SchalThausen
Kessel, Joseph
1971 Die Steppenreiter. München
Klimburg, Max
1966 Afghanistan Das Land im historischen Spannungsfeld Mittelasiens. Wien.
Latif, Syad Muhammad
1892 Lahore: Its History, Architectural Remains and Antiquities. Lahore.
Moser, Heinrich
1888 Durch Central-Asien. Leipzig.
Welch, Stuart Cary
1885 India. Art and Culture. 1300-1900. New York.
50
INGEBORG UND HERBERT PLAESCHKE
Das Blatt- und Volutenornament der Gupta-Zeit in Sand
Die Daten der guptazeitlichen Bauten und Bildwerke auf dem Klosterhügel von Sanci
(Bhopal Distrikt, Madhya Pradesh) wurden bisher nur verhältnismäßig grob
geschätzt. Sofern diese Denkmäler aber mit dem Blatt- und Volutenornament des 5.
und 6. Jahrhunderts verbunden sind, läßt sich ihre zeitliche Ansetzung inzwischen
beträchtlich genauer bestimmen. Es handelt sich in Sanci dabei um den kleinen Tem-
pel Nr. 17, das Kapitell der Säule Nr. 26, die vier Buddhabilder an den Kardinalpunk-
ten der Basis des Stupas Nr. 1, das sitzende Buddhabild im Tempel Nr. 31 und ein Por-
talgewände im Museum von Sanci, dessen Fundlage leider nicht registriert worden ist.
Das vegetabile Ornament der Gupta-Epoche entfaltet sich nach rein künstlerischen
Gesichtspunkten ohne Bindung an etwaige inhaltliche Vorschriften des Auftraggebers.
Nur dem Geschmack des Künstlers unterworfen, ziert es das Gewände eines Portals,
das Rund eines Nimbus, die Oberfläche eines Pilasters, oder es läuft im Schwanz eines
Tieres oder eines Mischwesens aus und gestattet so, scheinbar unvergleichbare Dinge
in einen sinnvollen chronologischen Zusammenhang zu bringen. Aber es ist kein indi-
viduelles Ornament, sondern dem Zeitstil unterworfen. An Hand datierter Beispiele
konnte bewiesen werden1, daß dieses anmutige Ornament eine logische Stilentwick-
lung durchläuft und in allen Landesteilen Indiens auf gleicher Zeitstufe eine analoge
Ausbildung erfährt.
Die im Jahre 375 n.Chr. erstmalig in Devnimori2 auftretenden neuen Zungenblätter
des Gupta-Ornaments - einzelne aufrechtstehende und sich in den Spitzen einrollende
Blätter einer Blütenpflanze - verschmelzen am kleinen Tempel Nr. 17 in Sanci (Abb. 1)
in endloser Reihung und ziehen sich im Rapport um die Portalöffnung. Trotz dieser
jetzt ornamentalen Gestaltung bleibt das Blatt aber in seiner charakteristischen
Grundform mit einer Hauptzunge und zwei kleineren Nebenzungen voll erkennbar.
Die wechselseitigen plastischen Windungen dieser Blätter mit den sich einmal nach
rechts und einmal nah links einrollenden Zungen treten in einer fast identischen Form
auch in der Portalumrahmung der Höhle Nr. 6 (Abb. 2) im benachbarten Udayagiri
aus dem Jahr 82 der Gupta-Ära (402 n. Chr.) auf, einer hinduistischen Stiftung, der der
buddhistische Tempel Nr. 17 von Sand stilistisch und damit auch zeitlich nahesteht.
Der Tempel Nr. 17 galt bisher immer schon als einer der frühesten Bauten der Gupta-
Zeit, der um 400 n. Chr. oder zu Beginn des 5. Jahrhunderts errichtet worden ist, ein
Datum, das durch die Analyse seiner Portalornamentik bestätigt wird.
Während die Künstler der Frühphase des neuen Gupta-Ornaments, die sich etwa mit
der Regierungszeit Candraguptas II. und den frühen Regierungsjahren Kumaraguptas
1. (ca. 380-433 n. Chr.) deckt, das Blatt in Größe und Umriß seiner natürlichen Form
entsprechend verwenden und es in immer neuen Windungen und Einrollungen vari-
ieren, tritt in der Hochstufe dieses Ornaments, die den späten Jahren Kumaraguptas
und den ersten Regierungsjahren Skandaguptas (ca. 433 - 460 n. Chr.) entspricht, ein
auffälliger Wandel ein. Die Blätter haben sich jetzt auf ihre Schmalseite gelegt, und die
Wirkung des Ornaments wird nicht mehr durch die Biegungen und Windungen der
Blattfläche, sondern durch die Bögen der scharfen Blattkanten bestimmt.
In Sanci ist diese Stilphase des Ornaments durch die Nimbusfriese der vier großen sit-
zenden Buddhas an den Kardinalpunkten der Basis des Stupas Nr. 1 vertreten, die
einer Stiftungsinschrift nach vor dem Jahr 451 n. Chr.geschaffen worden sein müssen3,
und durch das Kapitell der Säule Nr. 26, die eine undatierte Inschrift aus der Zeit
Kumaraguptas I.4 trägt. In den Nimbussen der Buddhabilder im Prozessionspfad des
Stupas Nr. 1 (Abb. 3) werden diese neuen Blattrollen in den Verlauf einer ondulieren-
den Ranke mit großblättrigen Kelchen eingebunden. Kleinteilig und eng angeordnet,
sind die noch vorhandenen Blatteile und die Blattrollen nicht mehr mit einem Blick
überschaubar. Auch die Rankenkelche beginnen sich auf dieser Stilstufe einzurollen,
Kelchblatt und Blattrolle sind in ihrer Verteilung sorgfältig aufeinander abgestimmt.
An der Säule Nr. 26 (Abb. 4) handelt es sich um den ornamental gestalteten, in Blatt-
werk aufgelösten Schwanz eines Vogels, ein Thema, bei dem in der Frühphase, z.B. auf
51
TRIBUS 45, 1996
Abb. 3 Lukas Nickel, Sañci, Stupa I, Nord-Buddha.
einem Kudu aus Mukundarra5, das Zungenblatt in seiner typischen Form in die Fläche
gebreitet wurde. In Sand dominieren dagegen die Kreisbögen der scharfkantigen Rol-
len den optischen Eindruck. Asymmetrisch und bewußt unübersichtlich angeordnet,
füllen die Wirbel der neuen Blattrollen in rhythmischer Gegenbewegung den Relief-
grund.
ln den sechziger Jahren des 5. Jahrhunderts tritt im Ornament ein erneuter Wandel ein.
Die bisher kreisförmigen Einrollungen des Zungenblattes haben sich jetzt in ellipti-
schen Kuren zu schräg in die Relieftiefe verlaufenden schalenartigen Voluten geöffnet,
die mit einer Ranke verbunden oder in rhythmischem Wechsel unmittelbar aneinan-
dergereiht werden. Diese Spätphase des Blattornaments des 5.Jahrhunderts, die in den
späten Jahren Skandaguptas beginnt und sich unter Budhagupta bis zum Ende des
Jahrhunderts zieht, ist in Sand durch den Nimbusfries des Buddhabildes vertreten
(Abb. 5), das heute im kleinen Tempel Nr. 31 steht. Die ehemaligen Blattrollen haben
sich hier wieder geöffnet und legen sich in großzügigen Schwüngen in die Fläche. Der
Zusammenhang dieser neuen Schalenvoluten mit der das Ornament gliedernden
Ranke ist nicht an allen stellen erkennbar. Neu ist die kleeblattartige Auffächerung der
Spitzen des ehemaligen Zungenblattes, die in ihrem temperamtentvollen Einrollen dem
Ornament eine gewisse Unruhe und Bewegtheit verleihen. Diese Bewegungstendenz,
die dem Auge unwillkürlich aufgezwungen wird, wenn es an den relativ scharfen Kan-
ten der Voluten entlanggleitet, haben alle Beispiele dieser Stilphase gemeinsam.
Aus den Volutenschalen der Budhagupta-Zeit entwickelt sich in Indien das Voluten-
Noppen-Ornament des 6. Jahrhunderts. Die Voluten haben sich jetzt vom Blattwerk
gelöst und jede gegenständliche Form abgestreift. Sie werden zu Beginn des Jahrhun-
derts als reine Ornamentform mit wellenartigen Stegen kombiniert, eine Friesform, die
am kleinen Siva-Tempel von Bhumara6 ihre schönste Ausbildung gefunden hat. In den
folgenden Jahrzehnten vereinigen sich diese beiden Elemente, die abstrakte Volute und
die wellenförmigen Zwischenstege, zur »gestelzten Volute", für die die Portalumrah-
mung aus Sand (Abb. 6) ein gutes Beispiel bildet. Die sich in Bhumara noch diagonal
zur Friesrichtung ziehenden Stege haben sich inzwischen aufgerichtet und mit der
Volute organisch verbunden. Der hier im 3. Viertel des 6. Jahrhunderts hoch aufstei-
gende Ast der Voluten hat sich am Ansatz der Rundung in zwei schmale Streifen
gespalten. Der äußere Streifen rollt sich zur Volute ein, der innere folgt der Bewe-
Abb. 4 Franz, H. G.: Buddhistische Kunst Indiens. Leipzig 1965, T.3. Sanci, Säule Nr. 26. ^
54
TRIBUS 45, 1996
Abb. 5 Lukas Nickel. Sañci, Tempel 31.
56
TRIBUS 45, 1996
gungsrichtung, unterfangt die Spitze der Volute schalenförmig und führt ihre Drehbe-
wegung wieder nach außen zurück. Neu sind im 6. Jahrhundert die kleinen Noppen,
die die Kanten der Voluten und der Stege verunklärend auflockern. Obwohl es sich um
ein abstraktes Ornamentmotiv handelt, wirken diese Voluten in ihren geschmeidigen
Biegungen oft wie Blüten, die an dünnen Stengeln schwer herabzuhängen scheinen.
Damit scheint, soweit man es aus der Ornamententwicklung ablesen kann, die
Bautätigkeit in Sand vorerst beendet worden zu sein. Das Teppichmuster des späten
6.Jahrhunderts, für das der Höhlentempel Nr. 3 Badami aus dem Jahr 578 n. dir. die
schönsten Beispiele liefert, und die Wellenbandornamentik des 7. Jahrhunderts treten
in Sand nicht mehr auf. Das Ornament des Tempels Nr. 45 von Sand gehört dann
schon dem hohen Mittelalter an.
Fußnoten
1 Plaeschke, Ingeborg: Das indische Blatt- und Volutenornament des 5. bis 7. Jahrhunderts. In:
Hallesche Beiträge zur Orientwissenschaft 9 (1986), S. 5-78. Mit 68 Abbildungen
2 Plaeschke 1986, Abb. I nach Indian Archaeology 1959-60, T. 22 B
3 Stiftungsinschrift auf dem Zaun des Stupas Nr. aus dem Jahr 131 der Gupta-Ära (451 n. Chr.),
in der die vier Buddhabilder schon erwähnt werden. Fleet. J. R: Inscriptions of the early Gupta
kings and their successors. Calcutta 1888, S. 260-62, Nr. 62
4 Marshall. Sir John u. Alfred Foucher.: The Monuments of Sand. Calcutta 1940, Bd. 1, S. 391,
Nr. 835
5 Plaeschke 1986, Abb. 8 nach Härtel, H. u. J. Auboyer: Indien und Südostasien. Berlin 1971,
Abb. 52
6 Plaeschke 1986, Abb. 26 nach Banerji, R. D.: The Temple of siva at Bhumara. Calcutta 1924.
T. 7 c
58
STEPHAN PUHL
Uyguren als Opfer chinesischer Agrarpolitik in der Autonomen
Region Xinjiang der VR China
Xinjiang wurde durch den Vertrag von Kaschgar im Jahre 1884 dem Chinesischen
Reich einverleibt. In der VR China bildet es die Autonome Region Xinjiang, nachdem
es sich 1933 als Republik Ost-Turkestan unabhängig gemacht hatte, 1949 jedoch wieder
von chinesischen Truppen der Volksbefreiungsarmee zurückerobert worden war. Die
Uyguren, die traditionell größte Bevölkerungsgruppe in diesem Gebiet, leben vor allem
in Oasen von Landwirtschaft, Handwerk und Handel. Die Uyguren, ein zentralasiati-
sches Turkvolk, hatten im 8. Jahrhundert ein großes Reich errichtet. In dieser Zeit
waren sie Anhänger des Nestorianismus oder des Manichäismus, zweier Religionen,
die aus Persien nach Zentralasien vorgedrungen waren, oder sie waren Buddhisten. Als
1218 die Mongolen unter Chingis Khan das Reich der Uyguren eroberten und zerstör-
ten, rotteten sie auch die vorhandenen Religionsgemeinschaften aus. Erst als die Mon-
golen im Tschaghatai-Khanat den Islam angenommen hatten, wurden auch die Uygu-
ren Muslime und sind es bis auf den heutigen Tag1. Ihr Lreiheitsdrang gegenüber der
chinesischen Vorherrschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts hat sich in den vergangenen
Jahren, vor allem seit der Demokratiebewegung in Peking, die im Juni 1989 blutig nie-
dergeschlagen wurde, und seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion immer wie-
der artikuliert und fand auch in gewaltsamen Ausbrüchen gegen die Unterdrückung,
Atomteste in Xinjiang, wie zuletzt am 5.10. 1993 auf dem Testgelände in Lop Nor, und
Menschenrechtsverletzungen durch die Chinesen seinen Niederschlag.
Die chinesische Regierung hat alle Bestrebungen der Uyguren nach mehr Autonomie,
ähnlich wie bei den Tibetern, Mongolen und anderen ethnischen Minderheiten im
Land, mit Gewalt unterdrückt und kriminalisiert. Streben nach mehr Autonomie wird
von Peking mit Sezession gleichgesetzt und strafrechtlich geahndet2. Die Errichtung
von Moscheen und Koranschulen ohne staatliche Genehmigung ist ebenfalls strafbar
und hat in den vergangenen Jahren einige muslimische Geistliche der Uyguren ins
Gefängnis gebracht3. Berichte über wachsende Unruhen in Xinjiang, an denen sich
neben den Uyguren auch Kirgisen und Kasachen beteiligen, dringen über Kyrgistan,
Tadschikistan, Kasachstan und die Türkei heute eher an die Weltöffentlichkeit4, da
Nachrichten leichter ins Ausland gelangen, seit die zentralasiatischen Länder und die
Mongolei unabhängig geworden sind.
Xinjiang macht mit 1,6 Mio qkm ein Sechstel des Territoriums der VR China aus, aller-
dings leben in diesem Gebiet nur ca. 1,3 % der Bevölkerung des Landes. Der Süden der
Autonomen Region ist geographisch hauptsächlich identisch mit dem nördlichen
Tarim-Becken, das sich durch ein extrem arides Klima mit Steppen und Wüsten aus-
zeichnet. Das Tarim-Becken ist eine von Gebirgen begrenzte abflußlose Senke, was zur
folge hat, daß sämtliche Grundwasserströme und Llüsse, da sie keinen Abfluß zum
Meer haben, verdunsten und versickern.
Die traditionelle Oasenwirtschaft trug den extremen geologischen, geographischen
und klimatischen Bedingungen des Gebietes und den damit verbundenen besonderen
Gefahren der Bodenversalzung dadurch Rechnung, daß sie kleinflächig und in ange-
paßter Weise (Mischkulturen) mit nur sehr sparsamer Bewässerung Leid- und Obstan-
bau (Weintrauben, Melonen. Weizen, Mais, Baumwolle, etc.) betrieb. Diesen landwirt-
schaftlichen Anbau kombinierte die einheimische Bevölkerung geschickt mit nomadi-
scher Nutzung der Steppen als natürliche Weiden für die Viehhaltung. Garten- und
Leldbau und mäßige Nutzung der Baum-, Strauch- und Steppenvegetation trugen zu
einem Erhalt eines ökologischen Gleichgewichtes bei, das es der Bevölkerung gestattete
zu überleben, ohne der Regenerationsfähigkeit der Vegetation oder der Nutzung der
natürlichen Ressourcen zu schaden.
Der deutsche Sinologe und Politikwissenschaftler Thomas Hoppe - hat in seinen in der
zweiten Hälfte der 1980er Jahre durchgeführten Leldstudien in Xinjiang festgestellt, in
welchem Maße eine sinozentrische Agrarentwicklung der einheimischen Bevölkerung
dieses Gebietes schadet und einseitig den Interessen der chinesischen Zentralregierung
59
TRIBUS 45, 1996
auf Kosten insbesondere der Uyguren und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen dient.
Im Jahre 1949 lebte eine Gesamtbevölkerung von 4,3 Millionen Menschen in Xinjiang.
1986 waren es 13,8 Millionen Menschen6. Leider ist ein Vergleich der Entwicklung der
ethnischen Zusammensetzung über diesen Zeitraum nicht exakt möglich, allerdings
hegen Zahlen für ungefähr obigen Zeitraum vor: 1940/41 lebten in Xinjiang 2,9 Mio.
Uyguren, 1982 waren es 5,9 Mio. In demselben Zeitraum wuchs die Anzahl der Han-
Chinesen in Xinjiang von 294.000 auf 5,2 Mio! Während also der Bevölkerungsanteil
der Uyguren in diesem Zeitraum um 202,3 % wuchs, betrug die Wachstumsrate bei den
Han-Chinesen 1.789,1 %7. Die Tatsache, daß die Uyguren vor der Machtübernahme
durch die Kommunisten in China im Vielvölkergemisch von Xinjiang die absolute
Mehrheit der Bevölkerung bildeten, heute aber fast so viele Han-Chinesen wie Uygu-
ren Xinjiang besiedeln, geht auf eine intensive und ständige Siedlungspolitik der
Regierung in Peking zurück, die in den letzten vierzig Jahren die Ansiedlung von Han-
Chinesen in Xinjiang wie auch in anderen Siedlungsgebieten ethnischer Minderheiten
förderte, um deren Sinisierung systematisch voranzutreiben. Daß Peking diese Sied-
lungspolitik auch heute noch fortzusetzen gedenkt und damit die bestehende Unruhe
unter den Uyguren weiter anheizt, geht daraus hervor, daß von den über eine Million
Menschen (Han-Chinesen), die für das geplante gigantische Staudammprojekt an den
drei Schluchten des Yangtze in der Provinz Hubei umgesiedelt werden müssen, bis zu
einer halben Million Menschen nach Xinjiang umgesiedelt werden sollen8.
Die chinesischen Zuwanderer prägen heute nicht nur das Bild in den Städten Xinj-
iangs, wo sie beim Militär und der Polizei, in der Verwaltung und in der Industrie tätig
sind, die Zuwanderung geht vielmehr auch einher mit der Besetzung von Land durch
meist chinesisch dominierte Staatsfarmen, Hand in Hand mit einem immer stärker
werdenden Landerschließungsdruck, der dazu führte, daß 1985 3,1-4 Mio. ha Land
in Xinjiang als Ackerland genutzt wurden, während es 1949 noch 1,21 Mio. Hektar
waren9. Diese Staatsfarmen sind oft militärische Einrichtungen (Korpsfarmen). Mit
diesen Militärfarmen setzt die heutige VR China die Tradition des kaiserlichen China
mit seinen sogenannten Militärkolonien fort, die sich bis zur Chin-Dynastie (3. Jahr-
hundert v. Chr.) zurückverfolgen läßt. Diese Militärkolonien im Westen und Norden
des Reiches hatten den Zweck, die vom expandierenden Kaiserreich unterworfenen
Völker zu kontrollieren, erobertes Land urbar zu machen und zu bewässern, den Han-
del zu sichern (Seidenstraße!) und unter gleichzeitiger Entlastung des Militärhaushal-
tes lange Nachschubwege zu verkürzen10.
Die heute in Xinjiang nach amerikanischem und sowjetischem Modell betriebenen chi-
nesischen Großfarmen dienen vor allem dem Anbau von Getreide, Ölsaaten, Baum-
wolle, Zuckerrüben und Melonen. Das zaristische Rußland hatte in der zweiten Hälfte
des neuzehnten Jahrhunderts während seiner Kolonisationsbemühungen in Zentral-
asien bereits großflächigen Anbau von Baumwolle in Westturkestan eingeführt. Schon
Anfang dieses Jahrhunderts waren die verheerenden ökologischen Schäden aus dieser
Landwirtschaftspolitik festzustellen11. Xinjiang ist der flächenmäßig größte und seiner
Ressourcenausstattung nach bedeutendste Teil des Nordwestens China, so daß dieses
sehr dünn besiedelte Gebiet natürlicherweise das Augenmerk der Zentralregierung auf
sich zieht, wenn es um die drängende Frage geht, wie man den enormen Bevölkerungs-
druck in den überbevölkerten Provinzen vor allem in den Küstengebieten Chinas bes-
ser verteilen und ihm ein Ventil verschaffen kann. Aus der Sicht der einheimischen
Bewohner Xinjiangs ist viel schlimmer, daß die Zielsetzung der Entwicklungsplanun-
gen für ihr Gebiet sich nicht an diesem selbst und an den dort lebenden Menschen ori-
entiert, sondern im wesentlichen außenbestimmt ist. Nach den Plänen der Regierung
soll Xinjiang nämlich im land- und viehwirtschaftlichen Bereich Überschüsse erzielen
und diese an andere Provinzen und Autonome Gebiete liefern, um auf diese Weise der
Industrialisierung dieser Gebiete Chinas zu dienen12. Gleichzeitig soll die Autonome
Region weiterhin in der Nahrungsmittelversorgung einer aus Gründen der Bevölke-
rungspolitik und der beabsichtigten industriellen Erschließung Xinjiangs stark wachsen-
den Einwohnerzahl der Region autark bleiben. Dies führt zu einem enormen Lander-
schließungsdruck und zu einer bedrohlichen Vernutzung der natürlichen Ressourcen.
Als Folge dieser Politik erstrecken sich in Xinjiang immer mehr riesige Farmen mit
ihren Anbauflächen in die weite Landschaft, die ehedem hauptsächlich als Weide-
fläche für die Herden der Einheimischen genutzt wurde. Die für den Ackerbau erfor-
derliche übermäßige Nutzung der spärlichen Wasserressourcen verursacht Bodenver-
60
Puhl; Uyguren als Opfer chinesischer Agrarpolitik
salzungen und -alkalisierungen und z. T. eine ständige Senkung des Wasserspiegels, der
letztlich zu einer Desertifizierung führt13. Die chinesische Landwirtschaftspolitik für
Xinjiang und die sie begleitende chinesische Fachliteratur gehen von dem völlig ver-
fehlten präjudizierenden Axiom aus, die uygurische Landwirtschaft sei primitiv und
rückständig und die Chinesen brächten durch ihren Entwicklungseinsatz als Kultur-
bringer den Uyguren und ihrem Land eine höhrere Stufe an Kultur und Wirtschafts-
form, für die die Einheimischen eigentlich gar nicht dankbar genug sein könnten. Die
Chinesen scheinen blind zu sein für die Vielseitigkeit und Angepaßtheit traditioneller
zentralasiatischer Agrarkultur, die sie verdrängen und zerstören14. Diese Blindheit
erstreckt sich auch und gerade auf die kulturelle und religiöse Befindlichkeit. Han-
Chinesen z. B. essen sehr gern Schweinefleisch, für die muslimischen Uyguren jedoch
ist die Schweinehaltung ein Greuel. So kann es nicht ausbleiben, daß es in Xinjiang in
den vergangenen Jahren wegen der von Chinesen betriebenen Schweinehaltung z. T.
sogar zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Chinesen kam15.
Die uygurische Landwirtschaft hat bei der Anlage und Bestellung von Gärten und Fel-
dern immer zwei Aufgaben im Auge behalten; Sie legte kleinflächige Mischkulturen an
und vermied dadurch Sickerverluste der äußerst knappen Ressource Wasser, dessen
Benutzung auf diese Weise sehr wirksam kontrolliert werden konnte. Zum anderen
wurde durch diese Form des Wirtschaftens dafür gesorgt, daß durch Transpiration
statt Evaporation des Wassers Salze nicht im Boden abgelagert wurden, sondern mit
der Biomasse zirkulierten (Boden - Pflanze - Tier/Dung - Boden)16. Gleichzeitig hielt
diese Anbauweise durch häufigere Brachen den Grundwasserspiegel kontinuierlich
unter seiner kritischen Tiefe17, so daß die Verdunstung von Wasser auf ein Mindest-
maß beschränkt bleiben konnte. Die vor allem in den Oasen seßhaften Uyguren betrie-
ben traditionell Ackerbau, während die Nomaden - meist Mongolen und Kirgisen - in
den Hochtälern und Bergen Viehhaltung betrieben. Beide Wirtschaftsformen ergänz-
ten einander und waren aufeinander abgestimmt18. Die Oasenwirtschaft hing dabei im
wesentlichen von einem Bewässerungssystem ab, das neben oberirdischen auch unter-
irdische Bewässerungsanlagen verwendete. Diese unterirdischen Bewässerungsanlagen
sind wohl wie ihr Name keryz persischen Ursprungs19. Sie haben den Vorteil, daß sie
nicht nur das Grundwasser für die landwirtschaftliche Bearbeitung stärker nutzen,
sondern auch die Verdunstung des Wassers erheblich mindern.
Gerade in den von Klima und geologischer Ausgangssituation Xinjiangs vorgegebenen
Bedingungen darf der Spiegel des Grundwassers je nach örtlichen Verhältnissen nicht
zu stark schwanken. Sinkt er zu stark ab, stirbt die Vegetation. Steigt er zu stark über
die »kritische Tiefe« an, zerstört die verstärkte Salzanreicherung aus Grund- und
Bodenwasser ebenfalls die Vegetation20. Die übermäßige Bewässerung riesiger An-
bauflächen von Baumwolle auf den chinesischen Staatsfarmen in Xinjiang ohne ent-
sprechende Dränung hat jedoch zu erheblichen Salzanreicherungen durch Verdun-
stung geführt21, so daß inzwischen große Anbauflächen wieder stillgelegt werden muß-
ten22. Im Gegensatz zur chinesischen Landwirtschaft, die für die Boden-, Wasser- und
Klimaverhältnisse Xinjiangs eine Überproduktion bedeutet und die Versalzung der
Böden begünstigt, ist also die lokale und auf Selbstversorgung ausgerichtete Land-
wirtschaft ein ausgewogener Umgang mit den natürlichen Ressourcen: ein klassisches
Beispiel einer standortgerechten Landnutzung.
Eine schematische Gegenüberstellung der Produktionsweisen und Merkmale der uygu-
rischen und der chinesischen Landwirtschaft, wie sie Hoppe bei seinen Feldstudien in
Xinjiang beobachtet und beschrieben hat, läßt sich wie folgt zusammenfassen:
Uygurische Agrarkultur:
Chinesische Agrarpolitik:
Extensive Landnutzung
Ziel: Selbstversorgung
und Autarkie
Mäßige Bewässerung
Gewinne gehen an
örtliche Oberschicht
und islamische Geistliche
Intensive Landnutzung
Ziel: Höchsterträge
und Export in andere Teile Chinas
Massive Bewässerung
Gewinne gehen an
Zentralstaat
61
TRIBUS 45, 1996
Über den Anbau wird örtlich
entschieden
der Anbau wird zentral
geplant
umweltverträglich
Umwelt zerstörend
Gewerbe als Nebenerwerb
wird gefördert
Gewerbe ist rückläufig
Kleinflächig: dem
Bodenrelief angepaßt,
Großflächig; Böden
verbraucht
Oasenklima, Erosionsschutz
größere Hitze, stärkere
Versalzung und Erosion
Mischkultur
Monokultur
Grundwassersenkung
Grundwasserhebung
Ungeometrische Siedlungs-
und Anbauflächen (Nutzung
von Schatten und Wind)
Geometrische Siedlungs-
und Anbauflächen (direkte
Sonneneinstrahlung)
Die angeblichen Segnungen, in deren Genuß nach chinesischer Darstellung die Uygu-
ren dank chinesischer Kultur- und Anbautechniken gelangen, kommen zumindest
nach der Darstellung von Hoppe einer Zerstörung der Umwelt und der Lebensgrund-
lage für die Uyguren gleich. Der in der VR China seit Ende der 1970er Jahre forciert
vorangetriebene Ansatz der »Vier Modernisierungen« wird von der Regierung im
ganzen Land völlig unkritisch verfolgt. Es ist nicht zu erwarten, daß ausgerechnet im
Falle der ethnischen Minderheiten in absehbarer Zeit von chinesischer Seite mehr
Rücksicht auf ökologische Schäden, die mit diesem Modernisierungsmodell verbun-
den sind, gezeigt wird. Erschwerend kommt hinzu, daß die Han-Chinesen keinerlei
Gespür für kulturelle Eigenarten und berechtigte Wünsche nach mehr Autonomie bei
den Uyguren oder anderen Minderheiten aufbringen.
62
Puhl: Uyguren als Opfer chinesischer Agrarpolitik
Fußnoten
1 Vgl. hierzu Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt a. M. 1979, S. 239 und 518; Lud-
wig Golomb, SVD, Die Bodenkultur in Ost-Turkestan, in: Studia Institut! Anthropos, Vol. 14,
Freiburg, Schweiz, 1959, S. 23 und 26.
2 Allerdings ist der Regierung in Peking bei dieser Einschätzung zugute zu halten, daß die in
Alma Ata angesiedelte Uygurstan Liberation Front tatsächlich von einem unabhängigen Ost-
Turkestan oder »Uygurstan« als ihrem politischen Ziel spricht, vgl. Asia Week vom 9. Oktober
1992, S. 38, China News Analysis No. 1469, S. 8, und NZZ vom 11 ./12. Oktober 1992.
3 Vgl. China News Analysis No. 1469, S. 8.
4 Vgl. FAZ vom 18. September 1993
5 Thomas Hoppe, Chinesische Agrarpolitik und uygurische Agrarkultur im Widerstreit, Ham-
burg 1992.
6 Hoppe, S. 27.
7 Hoppe, S. 29. L. Golomb, der von 1922 bis 1939 als Missionar in Ost-Turkestan lebte, gibt noch
an, nur etwa 10% der Einwohner seien Han-Chinesen gewesen. S. Golomb, Die Bodenkultur in
Ost-Turkestan, S. 26.
8 Vgl. Bericht von Petra Kolonko, »In Xinjiang werden Unruhen befürchtet«, in: FAZ vom 12.
Dezember 1992.
9 Hoppe, S. 27 und 38.
10 Gernet, Die chinesische Welt, insbes. S. 105, 1 lOf, 128, 216 und 348. Ebenso hat die massen-
weise Umsiedlung von Han-Chinesen in neu eroberte Gebiete eine lange Tradition; so siedelte
Kaiser Wu in seiner Regierungszeit von 141 bis 87 v. Chr. 2 Mio. Chinesen im damaligen Nord-
westen des Reiches an, Ebda., S. 110.
11 Vgl. hierzu Constantin Graf von der Pahlen, Im Auftrag des Zaren in Turkestan 1908-1909
(herausgegeben von der Bibliothek Klassischer Reiseberichte, Dr. Georg A. Narziss), Stuttgart
1969, S. 149 und 158 f. Als Schäden wurden damals bereits genannt: Übermäßiger Wasserent-
zug am Oberlauf des Amudarja mit damit verursachtem Wassermangel am Unterlauf; Auslau-
gung der Böden mit der Folge, daß die Erträge um die Hälfte zurückgingen; katastrophale Fol-
gen bei Mißernten bei großflächigen Monokulturen; Abhängigkeit der Kleinbetriebe von
Wucherern und letztlich ihr Verlust des Eigentums an Grund und Boden; daraus resultierende
Zerstörung der übernommenen Wirtschafts- und Sozialstruktur.
12 Hoppe, S. 71.
13 Hoppe, S. 77.
14 Hoppe, S. 152 f. Zu dieser Verachtung der Han-Chinesen für die traditionelle Agrarkultur in
Yinjiang paßt es, daß Hoppe, S. 152, im Rahmen seiner Untersuchung auf keine zusammen-
hängende Darstellung der uygurischen Landwirtschaft in der chinesischen Literatur stieß. Ihm
ist nur eine Arbeit bekannt, und diese stammt aus der Feder eines katholischen Missionars aus
dem Westen: Ludwig Colomb, SVD, Die Bodenkultur in Ostturkestan, Studia Instituti Anthro-
pos 14 (1959).
15 Hoppe, S. 65
16 Hoppe, S. 154.
17 Hoppe, S. 91-95 und 186 ff.
18 Golomb, S. 103 und 108.
19 Golomb, S. 62 f.
20 Hoppe, S. 91.
21 Hoppe, S. 88 f.
22 Hoppe, S. 42-47, errechnet die Landverluste in Xinjiang seit 1950 auf 1,4 Mio. ha.
PETER M. ROESE, LAUTERTAL & ALUN R. REES, RUST1NGTON
Early English Voyages to the Kingdom of Benin
in the 16th and 17th Centuries
Introductory
Accounts of early visits by English merchants to the Kingdom of Benin have been
quoted in the relevant literature many times. They comprise, to our present knowledge,
the ill-fated venture of Thomas Windham (1553), and the two voyages of James Welsh,
John Bird, and John Newton (1588-9 and 1590-1). Those voyages were well documen-
ted by contemporary writers. However, a thorough analysis of all aspects involving
Benin has not been attempted until now. In addition to these reports, some other
incomplete pieces of information indicate that at least one other voyage to Benin took
place some time before 1582. The period between the middle of the 16th to the middle
of the 17th century is crucial because little European material about Benin has survi-
ved. It would cover the gap between the decline of the Portuguese influence and the
early activities of the Dutch. The present work attempts to analyse the collected mate-
rial.
Einleitung
Die Berichte der ersten englischen Kaufleute, die das Königreich Benin besuchten,
werden in der Fachliteratur mehrfach erwähnt. Diese umfassen, unseren derzeitigen
Kenntnissen zufolge, das unter einem unglücklichen Stern stehende Unternehmen des
Thomas Windham (1553) und die beiden Reisen von James Welsh, John Bird und John
Newton (1588-89 und 1590-91). Diese Unternehmen wurden durch zeitgenössische
Autoren eingehend beschrieben. Eine eingehende Analyse aller Aspekte im Hinblick
auf Benin wurde jedoch noch nicht durchgeführt. Zusätzlich zu diesen Berichten exi-
stieren Informationen die vermuten lassen, daß noch eine weitere Reise nach Benin in
der Zeit vor 1582 stattgefunden hatte. Der Zeitabschnitt zwischen der Mitte des 16.
und der des 17. Jhs. ist insofern problematisch, als darüber wenige zeitgenössische
europäische Unterlagen im Zusammenhang mit Benin vorliegen. Weiteres Material
würde die Lücke zwischen dem schwindenden Einfluß der Portugiesen und den frühen
Aktivitäten der Holländer schließen. Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, das
gesammelte Material zu analysieren.
The Kingdom of Benin in the 16th and I7th centuries
Randall Shawe (see next chapter) wrote in his instructions for English merchants in
1582 about the king of Benin: »... demanding what commodities he will have out of
our countrie to serve for his warres against other kings ...«.' Shawe is correct in refer-
ring to wars against other kings because the 16th century saw the climax of military
expansion by Benin (in this context see also ROESE & ROSE for detailed informa-
tion).2
The glorious times for the kingdom were initiated by King Ewuare (»The Great«) and
followed by one of his sons, Ozolua (»The Conqueror«) (middle to end of the 15th cen-
tury). They fought great campaigns to the East (Ika-lbo; Ibo west of the Niger), the
South, North and North-west.
During the latter wars, the important Yoruba-speaking Ekiti was gained and with it
control of important trade routes to the North and West.
As will be seen later, Ewuare was possibly the first king of Benin to come into contact
with the Portuguese. They visited the coast of Benin under the leadership of Ruy de
Sequeira in 1472. Ozolua was most certainly the one who received Joäo Affonso
d’Aveiro, who actually reached Benin City in 1485 or 86.
The next king, Esigie (approx, early to mid-16th century), already ruled over a rapidly
expanding empire. Under his rule the only great threat up to the end of the 19th cen-
tury developed when the Igala with their allies, the Idoma, invaded Benin from the
64
Róese: Early English Voyages
Northeast. Esigie avoided possible defeat only by calling on his Portuguese friends for
aid. The enemy was stopped right at the gates of Benin City by gunfire, unknown pre-
viously in the area. With the successors of Esigie, Orhogbua and Ehengbuda (approx,
middle of the 16th to beginning of the 17th centuries), the most glorious era of Benin
came to an end. Orhogbua (ca. 1550-78) is reputed by the oral traditions of the Edo to
have founded (or conquered) Lagos, which the Edo called Eko (war camp). This was
confirmed by the German traveller Andreas Josua Ultzheimer who visited Lagos in
1603 (for further details see ROESE).3
A further campaign during Orhogbua's reign was directed to the East. As far as can be
gathered from oral traditions, a war was fought against the Eka-Ibo (Iboland west of
the Niger).
Judging from the information James Welsh obtained in 1589, King Orhogbua must
have died some time before the arrival of the English merchants (see chapter »The 1st
voyage to Benin by James Welsh ...«). This is in accord with Benin oral traditions.
Ehengbuda (ca. 1578-1606) succeeded Orhogbua and under the new king, several wars
were fought. There was a great campaign against the famous Yoruba Kingdom of Oyo.
Furthermore, the Eka-Ibo rebelled again and had to be subdued. Other campaigns
were waged in the Lagos area at the beginning of the 17th century.
The 17th century can be termed as the »dark age« of Benin history. The period from
the beginning of the century to the middle is poorly described by oral traditions. There
was only one important event around 1640 when the vassal Kingdom of the coastal
Itsekiri broke away from Benin. Shadowy kings like Ohuan, Ahenzae, Akenzae and
Akengboi ruled and the weakness of the monarchy was obvious.
As can be gathered from the preceding, the Kingdom of Benin underwent tremendous
changes. It expanded in all directions and extensive campaigns were fought. Therefore,
it is astonishing that Portuguese and English documents covering the period between
the end of the 15th to the end of the 16th century are not very informative on these far-
reaching changes. There is only one significant Portuguese source from 1516 and the
English one already mentioned at the beginning of this chapter from 1582, to give us a
hint about wars.4 Otherwise, we have to rely on oral traditions of the Edo and neigh-
bouring peoples.
This unsatisfactory situation comes to an end only at the beginning of the 17th century.
First, there is the already mentioned Ultzheimer in 1603-4, some Dutch reports and
then Olfert Dapper in 1668.5’6 The latter provides in his huge volume on Africa descrip-
tions of events, some of which, as far as can be judged, may have taken place in the pre-
vious century.
A short historical background to the discovery of the Kingdom of Benin and the first
English voyages to the West African Coast
This subject is actually too large to go into detail, but the short description below should
help the reader understand the background to the voyages to the West African Coast.
The first Portuguese voyage through the Bight of Benin was in 1472 under the com-
mand of Ruy de Sequeira. He may have made contact with the Edo by visiting Gwato
(Ughoton), the port of the Benin Kingdom, which is suggested by the legends about
Olokun, the god of the sea and wealth (further details are provided later).
The first recorded visit to Benin City was that of Joao Affonso d'Aveiro in 1485 or 86.
This Portuguese voyager came through Gwato and was obviously the first in a long line
of Europeans to die there. Gwato became a trading post, because of its ideal situation
providing access by water to the sea and by land to Benin City itself. It was a short-
lived venture because it seems the factory (headquarter and store of an agent or factor)
there was closed down around the end of the 15th or beginning of the 16th century.
There are several reasons for this, mainly the high death rate among the Portuguese, the
disappointment in the slow spread of Christianity, the high but unfulfilled hopes for
trading, etc. It seems that trade with Europeans was not considered essential for Benin
and the long established trade with the interior was more important to the Edo. The
situation was such that Benin had no desire to be drawn into the Portuguese political
and commercial system.
Further trading voyages to Benin were organized from Sao Jorge da Mina (Elmina),
Principe and Sao Tomé. Trade concessions were granted particularly to Portuguese
65
TRIBUS 45, 1996
living on Sao Tomé who required slaves for their sugar plantations. Trading items inclu-
ded pepper, ivory, cotton cloth, palm oil, akori beads, etc.
There was a further attempt to convert the Edo to Christianity in 1538 when three
Catholic fathers went to Benin City. However, their efforts were frustrated and they
were held for about a year as prisoners until a Benin ambassador visited Portugal in
1540.
In the meantime, the French showed a presence along the West African Coast. There
are some claims that merchants from Dieppe and Rouen had sailed along the coast as
early as the 14th century.7
After the Portuguese and then the French interlopers, the English appeared as the next
European nation in the waters of the Bight of Benin. Unfortunately, no official reports
were written for the Government since the merchants worked for private companies.
We are indebted to Richard Hakluyt for his efforts to collect information on at least
some of the voyages.
We are at a loss about the exact date of the first visit by English seamen and merchants
to West Africa. However, there is a report indicating that the English may have been
quite early visitors there, for J. R. Spears writes; »In 1370 Robert Machín, an English-
man, eloped from Bristol with his sweetheart, and was driven to the Madeiras by a
north-east storm. There he and the lady died, but the sailors crossed to Africa in a
small boat, where they were enslaved by the moors.
Later, another slave there ransomed them, and one of them carried their story to Por-
tugal, where Prince Henry heard it.«8 Robert Machín may, however, have landed at
Madeira by accident, he might also have gathered information from the French mer-
chants of Dieppe and Rouen.
The picture changes in the 15th century. There must have been some English activities
on the West African Coast for in 1481 the Portuguese king sent an ambassador to Eng-
land to try to persuade King Edward IV to forbid merchants to trade in Guinea.9
The first documented voyage was in 1553 when Captain Windham set sail on 12th
August from Portsmouth. It will be described in this article.
The list below shows the recorded voyages that followed Windham's.
11th October 1554
The ships »Trinitie«, »Bartholemew«, »John Evangelist« and two pinnaces set sail
with Sir George Barne, Sir John Yorke, Thomas Locke, Edward Castlelyn, and
some survivors of Windham's crew on board.10
It seems that the profits from Windham's ill-fated journey were considerable, other-
wise there would have been no incentive to repeat the voyage to Guinea only one
year later. However, only places where gold could be obtained were visited.
30th September 1555
The two sailing vessels »Hart «and »Hinde« under the command of Captains John
Ralphe and William Carter left England for Guinea. This was the first voyage of
William Towrson, merchant of London.11
On July 1556, Queen Mary issued a proclamation, forbidding all her subjects from
undertaking voyages to »Guyne, Bynie and the Mina«. It was obviously instigated by
the Portuguese crown.12 This prohibition obviously did not deter the Queen's subjects
as the following shows.
14th September 1556
The »Tiger« (120 tons), »Hart« (60 tons), and a pinnace (16 tons) started the
second voyage under direction of William Towrson to Guinea.13
30th January 1557
The ships »Minion«, »Chrystopher«, »Tyger« and the pinnace »Unicorne« raised
anchors for a trip to Elmina. This was the third voyage of the merchant William
Towrson.14
February 1558
There is a report (17th April 1558) by Christoph Raiser, the factor at Sevilla of the
German trading house of the Fugger, that four English ships had been at the
Canary Islands. They intended to sail on to Elmina.15
There must have been quite a number of English ships in the area, because Ryder wri-
tes: »... in April 1559 the governor of Sao Jorge da Mina reported considerable English
activity along the coast every year from July onwards«.16
66
Roese: Early English Voyages
1561
According to Ryder, in this year an English fleet sailed to the Costa da Mina with
the intention to build a fort there. However, bad weather forced the ships back.17
1562
Ryder states that 12 English ships made successful voyages to Elmina this year.18
October 1562
The famous John Hawkins sailed to Sierra Leone to buy slaves and subsequently
crossed the Atlantic to sell them in Hispaniola.19
October 1562
The first voyage by Robert Baker to Guinea in the ships »Minion«, and »Prim-
rose«. Others in the party were William Garrard, Sir William Chester, Thomas
Lodge, Anthony Hickman, and Edward Castelin.20
November 1563
Robert Baker started his second voyage to Guinea.21
18th October 1564
The second sailing of John Hawkins with the ships »Jesus of Lubeck«, »Salomon«,
and »Tiger« to Guinea. On their way they met a number of other English vessels,
like the »Minion« (Captain David Carlet), »John Baptist«, »Merline«, etc.,
obviously all bound for Guinea.22
October 1567
John Hawkins started his third journey to Guinea and South America, trading in
slaves.23
No records have yet been found of other English voyages to Guinea until 1588, when
James Welsh, John Bird and John Newton started their first journey. However, as will
be shown later, Randall Shawe's letter of 1582 implies strongly that there must have
been voyages in the 1570s and 1580s.
From 1593 onwards the Dutch became a prominent trading partner with Benin, al-
though as will be shown in the last chapter, some English merchants were also present.
In 1593 merchants from Zealand and Holland sent ships to West Africa and in Novem-
ber 1599, eight Dutch trading houses with experience in West African trade joined to
form the Guinea Company.
The first fully documented voyage by English merchants to Benin in the year 1553
This voyage was instigated by a group of merchants and other distinguished persons,
including Sir George Barnes, Sir John Yorck, Mr. Garrand, Captain Thomas Wind-
ham (Wyndham, Wyndam, etc.), and the Lord Mayor of London, Francis Lambert
(Lambart). The son of the latter was among those who died in Benin later on.24 The
voyage was described by Richard Eden. Closer examination on the report reveals little
material contributing to knowledge about Benin.
The small fleet consisted of »The Lion« (150 tons), »The Primrose«, and »The Moon«,
a pinnace. Thomas Windham was in command, with Anthonie (Antonio) Anes Pin-
teado, a renown Portuguese pilot who hailed from Porto, as his deputy. Because Pin-
teado had made some powerful enemies in his own country, he was forced to flee to
England. There was also another Portuguese pilot, called Francisco Rodrigues. The
party further included the already mentioned Nicolas Lambert, Martin Frobisher
(later to become a famous mariner), and other merchants. Altogether, the crew num-
bered »... seven score ...« (140 men).25
The ships sailed on 12th August 1553 from Portsmouth. It is not the purpose of the
present article to describe the journey from Portsmouth to the Benin coast in detail,
although it should be mentioned that Windham behaved very badly towards Pinteado
and even took away the power of command bestowed on the Portuguese pilot by the
London merchants.
After obtaining gold, pepper, and other precious merchandise near the Portuguese fort
of Elmina (in present day Ghana), Windham wanted to press on further. However,
Pinteado warned him about the late time of the year and wanted to persuade the cap-
tain to turn back. In an outbreak of rage, »Windham not assenting hereunto ... reviling
the sayd Pinteado, calling him Jew, with other approbrious words, saying. This whore-
son Jew hath promised to bring us to such places as are not: but if he do not, I will cutt
off his eares and naile them to the maste.«26
67
TRIBUS 45, 1996
Following this incident, the ships sailed on and finally reached the mouth of the Benin
River and anchored there. The pinnace »The Moon« was sent up the river for »... 50 or
60 leagues ...«(roughly 200-330 km) with Pinteado, Rodrigues, Nicholas Lambert, and
some of the merchants.
From there, they were conducted to Benin City, a further »... ten leagues from the river
side ...« (about 40-50 km).27 The discrepancies in connection with the league will be
discussed later. Although, Eden does not mention Gwato, the party almost certainly
landed there as this town had been the port for Benin for some decades.
As will be described in the next chapter in detail, the merchants were certainly led by
chiefs of the Iwebo palace society to Benin City. On arrival there they went to the court
to meet the king »... who being a blacke Moore (although not so blacke as the rest) sate
in a great huge hall, long and wide, the wals made of earth without windowes, the roofe
of thin boords, open in sundry places, like unto levers to let in the aire.«28
The description of the audience hall depicts an atrium-type building, well known from
other contemporary reports, bronze plaques, and chests (for further details see
ROESE).29 During excavations in the early 1960s a large number of nails were found
which could well have been used to fix wooden shingles to their position.30
The king was greatly revered by his people and »... it is such, that if we would give as
much to our Saviour Christ...« (about divine kingship and the position of the monar-
chs see ROESE).31 Interesting details are disclosed by Eden on how the high-ranking
chiefs behaved in presence of their sovereign. After entering the audience hall, they sit
down on the floor, place their elbows on the knees, and cover their faces with their
hands while looking down. Only if the king speaks directly to them, they dare to look
at him. When leaving, they do not turn their backs on the king »... but goe creeping
backward with like reference.«32 This procedure was followed by Bird people (even
senior chiefs) in the presence of the Oba until quite recently (early 1960s) as one of the
authors observed when he visited Oba Akenzua II in his palace.
The astonished English merchants found that the king »... himselfe could speake the
Portugall tongue, which he had learned of a child.«33 This is in accordance with the
contents of a letter written on 20th October 1516 by Duarte Fires to the Portuguese
King Manuel. Pires reports: The king of Benin »... gave his son and some of his noble-
men ...« to the missionaries »... so that they might become Christians ... and also they
are teaching them to read ...«34 There is no doubt that the king whom Windham's peo-
ple met was Orhogbua, the successor of Esigie.
There is not much information on the commodities the English wanted to acquire and,
of the articles they brought for exchange, we know nothing at all. Pepper seems to have
been the main item for »The king then having of old lying in a certain store-house 30
or 40 kintals of Pepper (every kintall being a hundred weight) willed them to look
upon the same, and againe to bring him a sight of such merchandizes as they had
brought with them.«35 The store-house was at this time most probably already supervi-
sed by the Amagizemi (from the Portuguese magazem = store) who belonged to the
palace society Iweguae.
The king wanted to see the merchandise of his guests and organized for transport from
the pinnace anchoring at Gwato to Benin City. He obviously was satisfied about what
he saw and undertook to supply enough pepper to load the ships within 30 days. The
king even went further by telling them »... in case their merchandizes would not extend
to the value of so much pepper, he promised to credite them to their next returne ,..«36
The credit system was not a new invention but it is surprising that the king should
extend it to a European people that he, according to our present knowledge, had never
contacted in Benin before. The above strongly implies that there had been earlier
contacts between English merchants and the Edo, for the Oba to be so trusting. He
kept his promise and supplied »... fourescore tunne ...« of pepper within 30 days.37 This
would be 80 tons, not in weight, but in volume, 1 »tunne« being 40 cubic feet.
In the meantime, things on board the ships had completely gone wrong, because »...
our men partly having no rule to themselves, but eating without measure of the fruits
of the countrey, and drinking the wine of the Palme trees ... caused them to die some-
times three & sometimes 4 or 5 in a day.«38 This is an indication how little was known
about causes of illness and even death, due mainly to dysentery, malaria, etc.
After the time enough pepper had been collected to Windham's estimate he sent a note
to Pinteado to hurry up and come back to the ships. But Pinteado's written reply to
68
Roese; Early English Voyages
Windham reported that pepper was coming in from the countryside in great quantities
and a fortune was to be expected at home. Windham was not satisfied and, seeing his
men dying daily, threatened to sail away, leaving the merchants behind in Benin City.
Pinteado, after receiving this news from Windham rushed to the ships in company of
the Benin court officials (most probably chiefs from Iwebo). Before Pinteado's arrival,
however, Windham went mad, broke into the pilot's cabin, destroying everything. After
this bout, he suddenly died.
Pinteado arrived on board and was badly received and even threatened with death by
some of the crew. However, the men finally calmed down because they realized that
they needed the services of the Portuguese pilot to sail back home. Pinteado tried in
vain to return to Benin City to fetch the others left behind there or at least leave them
a boat to get away. But the crews of the ships would not agree to his proposal. Pinteado
wrote a letter to Benin City, promising the merchants that, if he arrived safely in Eng-
land, he would hurry back as soon as possible.
Before the ships departed, one of the vessels had to be sunk for lack of crew-men. Pin-
teado died 6 or 7 days after the ships set sail. Of the 140 men originally on board the
ships only 40 were left on arrival in Plymouth.
What became of the Europeans left behind in Benin City? The oral traditions of the
Edo provide no clue whatsoever about their fate. There is no doubt that they were trea-
ted well by the Edo and if they did not succumb quickly to the climate and disease and
did actually live for some more years, they could have supplied the Edo with a variety
of European know-how. The Edo might even have obtained from them the first fire-
arms which the Portuguese obviously had been witholding.
A very interesting letter written in 1582 by Randall Sltawe providing instructions for a
planned journey to Benin
Randall Shawe wrote a letter to E. Cotton on 8th May 1582 (post scriptum bears the
date 13th May). It is obviously intended as guidance for a man named Bingham, a rela-
tive of Cotton, who wanted to undertake a journey to Benin. Shawe further mentions
William Rose who »... hath byne uppon the coste, and in one of the Rivers ...«39 The
following pages are based on Ryder's imprint and not on the hardly readable original,
available at the Public Record Office, State Papers, vol. 12, no. 153, London.
Shawe's instructions appear to be based on first hand information. He obviously had
never been to Benin otherwise he would have said so. As far as can be gathered from
the material provided, his descriptions are basically correct.
The letter starts with instructions on how to reach the Kingdom of Benin by ship.40
The first possibility was anchoring the vessel(s) 3 leagues distant from the coast. Before
going any further with Shawe's letter, one has to consider the inacurracy of distances
indicated in leagues because this unit of measurement fluctuates, according to source,
in the range of 4,00-5,55 km. Therefore, the indicated leagues can serve only as a rough
guide.
The following interpretation of Shawe's instructions was attempted with the help of a
sailing handbook for West Africa of the former German Navy.41 According to this
source, there was a good anchoring place, positioned 3 1/2 Sm (German sea miles =
approx. 5,60 km) from the bar and 5 1/2 Sm (approx. 10,20 km) inland from the mouth
of the Benin River, with a water depth of 8 m. The above description accords quite well
with Shawe's.
The second possibility would be to enter the river and go up for 20 leagues to anchor
there. Shawe does not mention that there was a bar at the river mouth which could be
dangerous for English vessels which had a larger draught than the lighter Portuguese
caravels. The main rivers on this part of the coast, R. Primeiro, R. Benin (Fermoso), R.
Escravos, R. Forcados and R. Ramos, each has a shallow bar across its mouth. The bar
is of hard sand extending several km out to sea, and the water over the bar is shallow,
with high, strong breakers, foam and spray. Crossing of the bar is hazardous because
of the strong sea current (lowing south and east and the rough, shallow water which
meant that even small boats could scrape bottom on the bar before entering the river
proper.
From the above anchoring place, it was 9-10 leagues to the town of »gattoo«.42 The lat-
ter is identical with Gwato (Ughoton), the old port of Benin, situated on the eastern
TRIBUS 45, 1996
bank of the creek with the same name, being actually the outlet of a bigger river, the
Osse.
There is something wrong with the distances indicated by Shaw. The actual distances
are: mouth of Benin River to entrance of Gwato Creek approx. 30 km (Shawe; 20 lea-
gues = 80-111 km); entrance of Gwato Creek to Gwato approx. 44 km [Shawe: 9-11
leagues = 36(50)-40(55,5) km].
Because of the inaccuracies concerning the leagues as a unit to measure distances,
there is a faint possibility that the river described is not the Benin River (Rio Fermoso
= »Beautiful River«), but either the Rio dos Escravos (»Slave River«) or even the Rio
Forcados (»Swallowtail River«). However, one of those rivers could also be identical
with »... the other river ...« being 4 leagues (16-22 km) from the first as Shawe writes.43
The Escravos River has, as does the Benin River, a dangerous bar (already described).
It was first indicated by Pereira at the beginning of the 16th century, that the Escravos
is difficult to enter because of shallow waters, rough seas and the bar.44 The situation
was still the same 400 years later.45
This leaves us with the Forcados River, still the best navigable of the already mentio-
ned. Even today, larger sea-going vessels can pass it and the usual way to reach the
Benin River (and the modern port of Sapele) is by entering the Chanomi Creek, cros-
sing the Escravos, entering the Nana Creek which leads to the Benin River.
Coming back to the position proposed as an anchoring point in the Benin River, this
was surely at the entrance of the Gwato Creek and was known for a long time as Ureju
Bay. Shawe advised to continue the journey with a pinnace which should be as large as
possible and manned with 10 or 12 oarsmen to overcome the strong current.46 This was
a very wise recommendation especially at the time the rains had ceased, i.e. at the start
of the dry season, the river being in flood from the previous rainy season.
Shawe continues by reporting that the king's »... subjects will convey them ...«(the mer-
chants) from Gwato to Benin City.47 The »subjects« are surely the so-called fiadors
(Portuguese = guarantor) mentioned many times by other European visitors. They
actually were chiefs (Eghaevbo n'Ogbe) of the palace society Iwebo, responsible to the
king in view of trading matters with Europeans. The leader of Iwebo was the Uwangue
and his deputy the Eribo. How far the well-known Ohen-Olokun of Gwato, the priest
of Olokun (god of the sea and wealth), was involved in trading activities with Europe-
ans has not yet been established. There is an old tradition among the Edo that King
Ewuare (ca. 1440-73) stole corals and scarlet cloth from the palace of Olokun. This
could eventually be brought into context with the wealth obtained by the contact with
European traders.
During the 16th century, the king seems to have personally supervised the dealings
with Europeans because Shawe wrote: »You have to traffyke with none other; for he
will geve for your Commodities pepers.« This statement also shows that the main tra-
ding item at this time was pepper. Besides this article »... read, yellow, and white cop-
pal ...« are mentioned. A further item was »... the Balme, yt ys a precyous thing.«48
Pepper was once a much desired article. The Arabs and Portuguese had a monopoly of
pepper and other nations tried to find sources as well. As a substitute for Asian pepper,
Benin pepper (Piper guineense) was much in demand for some time.
»Coppal« is certainly identical with copal. This resin is extracted from the living tree or
from the soil as a fossil hence the different colours (for further information see ROESE
& REES).49 Several species of Daniella produce copal, including D. similis and D. thu-
rifera. A further source of copal is Copaifera, of which there are several West African
tree species.
»Balme« is most probably identical with the Edo »oziya«, described as »... frankin-
cense, a kind of aromatic gum resin produced by the, oziya tree (Daniella thurifera)
which is burned as incense, and also by hunters on their hunting trips.«50 It is also cal-
led »Ogea gum« (Sierra Leone), »Illorin gum«, and »Balsam of Copaiba«. The tree it-
self is indigenous to Africa. Recent researches indicate that in Gabun, Copaifera wood
was used in rituals and magic as far back as 5,600-4,000 years ago.M Shawe’s proposal
of trading items destined for Benin:
»first of Roan canvas brown, (a.)
Roan canvas whit good, (b.)
Holland cloth not above 2s9d unto 14d the eln. (c.)
Corrall pfytt in braselette and in braunches not much of yt. (d.)
70
Roese: Early English Voyages
other Corrall in flaunders some as big as a smalle nutt, and so downward d...d
round ... or both, and to make them in beads, (e.)
Other counterfaite Corrall made in beads with some counterfait pearles between
everye corrall. (f.)
Margaritas of read green and yealow for armes and neckes. (g.)
Read cloth. Corse broad cloth, (h.)
Read cottons, (i.)
Read cappes. (j.)
Kettells and pannes of sorts, (k.)
Belts, knyves and hatchetts. (1.)
Shertts and mayle not many, (m.)
Sawes great and smawle not many, (n.)
Manyles of copper, (o.)
Horse tayles most blacke. (p.)
Some small daunying bells, (q.)
Paynted Calycut cloath that cometh from the indies, to be had in London, (r.)
Many other things which I have not in memorye.«52
Further trading items mentioned elsewhere:
From »... flaundres ... correll, yt is counterfaict, yt is Blewe ... putt it uppon grene,
read and yellow lase and make a braslett of it.«53 (s.)
»... glass beads of read, yellow and grene; and between every corrall putt one of the
beads of glasse.«54(t.)
»... a feawe drinkynge glasses ..., but 6, and lett them be of dyvers sortes ...«55 (u.)
»... 3 or 4 looking glasses of christall for the kinge ...« 56(v.)
»... some small flaunders glasses of 2d or 3d the pece.« 57 (w.)
Analysis of the articles mentioned:
a.-c.: Cloth from Rouen in France and from Holland was well known at the time,
d.-f., s.- t.; The »correll«, »beads of glasse«, etc., obviously came from Flanders.
Some were fastened to »lase« (lace) and made into »braslett« (bracelet). It seems
these beads and bracelets were much appreciated by the Edo. The Portuguese had
already sent large quantities of glass beads to Benin. Shawes description is some-
what confusing and space does not permit a full statement (for an analysis on
»beads« see ROESE).58
g. : »Margaritas« (marguerite, margarite: a pearly-lustred mineral, lime-alumina
mica of which beads are made) are pearls or beads. According to Ryder, the Dutch
made two distinctions as follows; »... madrigetten - the commonest type of bead;
small transparent glass beads in all colours; made in Venice and northern Nether-
lands ... magrieten - like madrigetten, but larger ,..«59
h. , i., j.; Red cloth was a sign of royalty in Benin and could be worn only by the king
and some nobles as part of the ceremonial dress. This applies to red caps as well.
k. : The English metal industry was not much developed in the 16th century to pro-
duce large amounts of such articles as pans, kettles, manillas, etc., from iron, cop-
per, bronze, and brass. Careful research shows that most of this merchandise came
from Nuremberg, Cologne, Aix-la-Chapelle and Dinant in Belgium. Sources of
raw materials and semi-finished articles are found in Hungary, Carinthia, Tyrolia
and Thuringia where the Tugger of Augsburg controlled mines, metal producing
works and forge hammers.
The merchandise was sent to England through the Fugger factory in Antwerp. It is
interesting to note that the English received the same articles for trade in West
Africa as the Portuguese.60
l. , n.; The above also applies partly to such tools, knives, etc.
m. : Shirts of mail were known in Benin, according to oral traditions, from the time
of King Ozolua (ca. 1481-1504). The outfit of this monarch during wartime con-
sisted among other things of ewu-ematon (ewu = dress, ematon = iron) end erhu-
ematon (helmet).61
o. : Manillas were used as currency but many may have found their way to the mel-
ting pot to be used for the famous Benin brass-castings.
p. : Horsetails have also been important items of ceremonial dress, obviously used
mostly by warrior chiefs, fixed to caps and hanging down the back. In Dapper's
book a panorama of Benin City shows a procession headed by the king and his
71
TRIBUS 45, 1996
retinue. It possibly depicts part of the annual Isiokuo ceremony (of warriors, dedi-
cated to Ogun, the god of iron and war) showing nobles on horseback with horse-
tails on their caps.62
q. : Small bells could have been used on warrior's leather doublets, to ward off devil
spirits and enemy weapons.
r. : Cloth from India, most probably brought by the Portuguese to Europe and sold
there to the English.
u. , w.: During Connah's excavations at the beginning of the 1960s, no drinking
glasses were discovered.63
v. : The »looking glasses« are probably telescopes. In this context Egharevba writes:
»Tradition says that he (King Ehengbuda, 1578-1606) possessed a certain glass
through which he could see many things which were invisible to the human eye. In
reality it was a telescope presented to the Oba by ... James Welsh, in 1590.«64
English merchants and seamen would surely have learned from previous voyages to the
West Coast of Africa, since Shawe did not forget to include instructions about health
and diet. However, the victuals listed provided only a very poor diet (for further infor-
mation see ROESE).65
Shawe's first instruction is very precise for he writes: »You must be ther the first of
december and at the farthest you have not to tarry if it be possible not past the 5 off
februarye for saulfegard of your men.« This time period falls within the dry season, the
healthiest of the whole year. The men should not eat fruits from the countryside, nor
drink water there for »....yf they do, they die for yt.« Instead they should drink cider
every morning and eat »... between 4 and 5 heads of garlicke and a pynt of sacke (light
white southern wine; remark by the authors)... They must be merry and keep them
from sleep; and to keep as many cloathes on their heads as they can.«66 It was further
advised to eat only hens and other meat.
The list below shows the victuals which should be carried on board of vessels going to
Benin.
»The victualls
good Bisquett. (biscuit)
good wyne
good oyle and vinaicre (oil and vinegar)
great abundance of cyder
Rice
Stockfishe
Butter
Beefe
honnye (honey)
pork in pyckle
Aquavita
garlicke
other dry fishe without salt
Backon in flythchs (sides of bacon)
pesen and beanes (peas and beans (dried).«67
This well meant instructions reflect the medical knowledge of the time and were not at
all sufficient to keep the men healthy in a murderous climate. Only a few articles had
some nutritional value, such as pork and beef, dry fish without salt, honey, garlic, and
beans. The diet seems low in carbohydrates - no bread being possible - rich on rice,
apart from peas and beans. Not without reason was West Africa known by Europeans
up to the end of the 19th century as the »white man's grave«.
From all the information gathered, one is of the impression that there must have been
English merchants in Benin between Windham's visit in 1553 and that of Welsh in
1588.
72
Roese: Early English Voyages
The first voyage to Benin by James Welsh, John Bird, and John Newton in the year
1588-9
So far, there have been no indications how the London merchants John Bird and John
Newton, who made the journey, first became interested intrade with Benin. Two
reports cover the events of the journey and provide some information on Benin. One is
by Captain James Welsh and the other is by the chief factor Anthony (Anthonie)
Ingram.
The ship chosen was the »Richard of Arundell«, together with a pinnace, setting sail
on 13th October 1588 from Ratcliff. However, bad winds kept them in England until
they could finally set sail in earnest on 14th December from Plymouth.
Welsh provides us with a list of the »... commodities that we carried in this voyage ...
cloth both linnen & wollen,
yron worke of sundry sorts,
Manillios or bracelets of copper glasse beads,
and corrall.«68
The above articles are not described in sufficiant detail to follow up further on origins
and uses.
After a more or less uneventful voyage, the ship dropped anchor at the mouth of the
Benin River on 13th February 1589. Attempts to cross the bar were unsuccessful.
The merchants went up the Benin River with their goods loaded on board the pinnace
and a ship-boat on 18th February. They arrived at »Goto« on the 20th, »... being the
nearest place that we could come to by water to go for Benin.« Ingram obviously sent
locals to the king to inform him of the arrival. The messengers returned with »...a noble
man... to bring us to the Citie, and with 200 Negroes to carrie our commodities ,..«69
The »noble man« was most probably either the Uwangue or the Eribo from the palace
society Iwebo mentioned in the previous chapter. The absence of royal messengers
available upon arrival of the English party at Gwato indicates that no European ship
has been in the Benin River for some time.
The merchants arrived in Benin City on 25th February »... where we were well enter-
tained ...« They were most probably lodged at the guest house near the Gwato gate, set
aside for Europeans. Next day they went to court to see the king but this was not pos-
sible »... by reason of a solemne feast then kept amongst them ...«70
Official state festivities (ugie) were held all year round; at most of these the king and
his bearers played a prime role. Judging from the date of the English arrival in Benin
City - at the end of February - the »solemne feast« could have been that of Ugie Ague
(Agwe), the feast of new yams, i.e. festivities following it, like Ugie Ague Osa dedica-
ted to Osa (Osanabua), the Edo high-god, Ugie Ague Oghene, in collaboration with
the Oni of Ife and the Ododua cult and maybe with Eho Ihiekhu, the festival of the
cult of the hand (obo).
Although the king was not available »... we spake with his Veadore or chiefe man, that
hath the dealing with the Christians ...« Judging from the above, this official must have
been the Uwangue. He promised Ingram pepper and ivory.71
At last, on 1st and 2nd March they were allowed audience and were courteously recei-
ved by the king. The Uwangue showed them green and dry pepper and they agreed that
the pepper should be plucked from the stalks and cleaned before delivery. The Uwan-
gue added, that in a year's time the Edo would be better prepared. The reason for their
unprepearedness was »... in this kings time no Christians had ever resorted thither to
lade pepper.«72
On 3rd March, a load of 12 baskets of pepper was handed over and every day more
came in. On the 9th, deliveries comprised already »... 64 serons of pepper, and 28 Ele-
phants teeth.«73
As was to be expected in view of prevailing climatic conditions, all the men fell ill and
the captain decided to return Ingram with the men and the accumulated cargo to
Gwato. When they arrived Ingram saw that the crew of the pinnace were also ill. Fortu-
nately, in this difficult situation, the ship's boat arrived at the same time and the goods
were soon loaded. Ingram arrived on board the »Richard of Arundell« only to learn
that »... many of our men died; namely, Master Benson, the Cooper, the Carpenter &
3 or 4 more ...« Ingram himself was too weak to go back to Benin City. Instead, he sent
Samuel Dunne and the surgeon.
73
TRIBUS 45, 1996
The latter had to look after the sick. However, »... at their comming to Benin found the
Captaine (of the pinnace?; remark by the authors) and your sonne William Bird dead,
and Thomas Hempsteede very weake, who also died within two dayes ...«74
The pinnace arrived on 16th March alongside the »Richard of Arundell« with Ingram
and »... 94 bags of pepper, and 28 Elephants teeth.« On the 19th, the pinnace again
went up the river with the purser and the surgeon and returned on the 30th, loaded
with »... 159 Cerons or sackes of pepper and Elephants teeth.«75
Welsh writes about »... the commodities that we brought home ...
pepper and (a.)
Elephants teeth, (b.)
oyle of palme, (c.)
cloth made of cotton wooll curiously woven, (d.)
and cloth made of the barke of palme trees.«76 (e.)
Analysis of the above articles:
a. : Pepper has already been described.
b. ; Elephants had obviously been quite numerous in the old kingdom. However, in
contrast to the savannas of East Africa, the rain forest was the home of the small
forest elephant (Loxodonta africana cyclotis). In the past, Ivbiosakon, a province
peopled by the Northern Edo, was known up to the 1950s for its abundance of ele-
phants. Interestingly, even the forests around Gwato had elephants as reported by
Punch at the end of the past century. According to him, »Elephants were shot with
poisoned darts fired from the ordinary 'Long Dane' gun.« (a gun from Denmark,
supplied to West Africa from the 18th century on).77
There was a very much honoured group of hunters, the Ogbeni or royal elephant
hunters, living at Oregbeni (»town of the elephant hunters«), a few kilometres
south of Benin City.
c. : The oil from the oil palm (Elaeis guineensis) had always been a valued compo-
nent of the local diet and was used for skin care in West Africa.
d. : The Edo words »ukpon« for cloth and »ukpookha« for cotton cloth may derive
from the Portuguese pano, cloth. Benin was particularly known for blue and white
striped cotton cloth, which was sold to India even up to the end of the 19th century,
and known there as »Guinea« (for more details see ROESE).78
Cotton was grown especially in the province of Ishan (northeast of Benin City).
Cotton of the species Gossypium vitivolum is still popularly known as »Ishan« cot-
ton.79 Another source of »Benin cotton cloth was obviously Ijebu, parts of which
once belonged to the Kingdom of Benin.
e. : Those articles were most certainly made from the leaves of palm trees from
which fine matting, baskets, and rope can be made. The Benin women have been
known to be experts in weaving mats.
Welsh provides us with other interesting details, as follows;
»Their money is pretie white shels ...«80
It shows that cowries were already well established as a currency in Benin. The
shells were supplied by the Portuguese from the Indian Ocean and the English at
this time had no access to the sources. Cowries were widely used in Nigeria until the
beginning of the 20th century and to some extend later.
»... their bread is a kind of roots, they call Inamia ... the roote thereof is as bigge as
a mans arme ,..«81. This clearly describes yams (Dioscorea spp.), the staple food in
West Africa, before the Portuguese introduced other plants from South America
(cassava, etc.) and Asia. Several species are indigenous to West Africa, such as D.
rotundata (white yam), D. cayenensis (yellow yam), D. dumentorum (bitter yam),
etc. (for further information on plants see ROESE & REES).82
»There are great store of palme trees, out of which they gather great store of wine
,..«83 The wine palm (Raphia vinifera) is abundant in the swampy areas around
Benin. The mention of palm wine shows that this drink was already well establis-
hed. Wine has also long been tapped from the oil palm (Elaeis guineensis), also
abundant around Benin.
»They have ... sope,... it smelleth like beaten violets.«84 Soap is made from palm oil
by saponification.
Roese: Early English Voyages
»... many pretie fine mats and baskets ,..«85 Those articles have already been descri-
bed under e.
»... and spoones of Elephants teeth ... with divers proportions of foules and beasts
made upon them.«86 The guild of the Igbesanmwan (wood and ivory carvers) with
their leaders Eholo, Inen, and Obasoyen, is very old. According to oral traditions,
it was founded by the Ogiso (kings) of the 1st dynasty (approx. 900 to 12th/13th
century).87 Some carved ivory spoons and salt cellars found their way to Europe
quite early and are on display in several museums.
»... earthen pottes ... of two gallons, full of hony combes for 100 shelles.«88 Honey
was collected from the hives of wild bees. Those insects are sometimes quite aggres-
sive as the authors have observed and it is no easy task for the collector to take the
honey away without suffering attack.
»... Oranges and Plantans ...«89 No citrus are native to Africa and they may have
been brought by the Portuguese to Benin. »Plantans« are identical with plantains
(Musa spp. ABB) which is starchy, in contrast to the sweet banana (Musa spp.
AAA). Both most probably originate from South East Asia.
Welsh has only positive things to say about the Edo. »The people are very gentle and
loving, and they goe naked both men and women untill they be married, and then they
goe covered from the middle downe to the knees.«90
The English merchants left the Benin River on 13th April 1589 for the trip home. They
arrived safely at London on 2nd October the same year.
The 2nd voyage to Benin by James Welsh, John Bird, and John Newton in the year
1590-1. Undeterred by the severe losses of men during the first voyage, the same party
planned another trip to Benin. The »Richard of Arundell« set sail from Ratcliff on 3rd
September 1590. The journey was uneventful, apart from the theft of the pinnace on
15th December by the crew of a French ship from the Normandy port of Honfleur.
Since the Edo had captured or founded Lagos and the kingdom therefore extended
even beyond there, we start with Welsh's report of events at Ardrah. On 29th Decem-
ber, Welsh and his men captured a Portuguese caravel there. However, it was not impor-
tant booty because it had only a little palmoil and »... a few roots ...« on board.91 The
roots are presumably yams or cassava, the staple diet in West Africa.
On 30th December, Welsh and the merchants met the people in command of the cap-
tured Portuguese vessel who promised to supply bullocks' horns and elephant tusks in
exchange for their ship. The Portuguese actually supplied these items, but no final
agreement was reached and the English set fire to the caravel. There is some discre-
pancy about this because there is later further mention of the caravel (see below).
The »Richard of Arundell« sailed to »Villa longa« and anchored there. The »Rio de
Lagoa« was reached on 3rd January but although the crew went ashore, the water see-
med too shallow for the ship to enter the mouth of the river. For Portuguese ships,
being much smaller, there were no such problems. The ship sailed on. anchoring every
night at the wooded shore and finally reached a river called »Jaya«.92
»Villa longa« cannot be identified. However, it seems from old maps that it could be
identical with Lagos. The »Rio de Lagoa« is certainly identical with the Ogun River
descending into Lagos lagoon and further thence to the sea. River »Jaya« also cannot
now be identified.
Important outlets between Lagos and the Benin River (Rio Fermoso) are the Lekki
Lagoon near Abejamure. Mahin Lagoon (Ofara Creek), and Apata Creek. It is not
quite clear which of the latter was named by the Portuguese the Rio Primeiro.
The Benin River was finally reached on 7th January 1591. On the 10th January at 2
p.m., Welsh went on board a »shallop« (sloop) towards Gwato. The »Richard of Arun-
dell« obviously did not enter the Benin River but dropped anchor in the river mouth,
outside the bar.93
Fortunately, Welsh included in his report a list of »The commodities that we carried ...
- Broad cloth, (a.)
- Kersies, (b.)
- Bayes, (c.)
- Linnen cloth, (d.)
- Yron unwrought, (e.)
- Bracelets of Copper, (f.)
TRIBUS 45, 1996
- Corail, (g.)
- Hawks belles, (h.)
- Horsetails, (i.)
- Hats, (j.)
- and such like.«94
Comments on some of the articles mentioned;
a. , d.: These items can be omitted.
b. : »Kersies« are surely identical with kersey, a coarse woolen cloth.
c. ; Since positions a., b., and d. are clothes, it can be assumed that »Bayes« are also
such material. The only word which faintly resembles the above is Baladram, accor-
ding to Strieder a type of cape made of London cloth.95
e.: Iron, according to oral traditions, was first imported from Awka and Nkwere
(Iboland east of the Niger). With the arrival of the Europeans, there was an abun-
dance of unwrought iron, bars, wire, etc. (for more information see ROESE).96 The
guild of the iron smith's (Igun-ematon) in Benin is very old and was established
before that of the brass-smiths (approx. 14th century).
f: Could be either used for ornamental purposes or consigned to the melting pot.
g. : There is doubt whether they are real corals or only glass beads (in this context
see Shawe's proposal for trading items, chapter »A very interesting letter written in
1582 ...«).
h. : As already mentioned, small bells were part of soldier's outfits.
i. : Horsetails have also been mentioned previously.
j. : These items can be omitted as well.
M. Hassald went to Gwato on 21st January to seek news of the where-abouts of the
captain. Two days later »... came the Caravell, and Samuell in her, and she brought 63
Elephants teeth, and three bullocks.«97 It is not clear, from where the caravel came, nor
if the vessel is the same as the one allegedly burnt at the end of the previous year.
The boat, presumably the one on which M. Hassald went to Gwato, came back late in
the afternoon of 28th January. From this date until the 24th of February, Welsh gives
no information on what was going on.
On 24th February, Welsh reports »... we tooke 298 Cerons, or sackes of pepper, and 4
Elephants teeth ...« The remaining goods were put on board the caravel and M. Has-
sald went with her to Gwato two days later.
He returned on 5th March and brought back »... 21 Cerons of pepper, & 4 Elephants
teeth.«98
Altogether, the commodities bought in Benin included
»589 sacks of Pepper,
150 Elephants teeth, and
32 barrels of oile of Palme trees.«99
The mention of palm oil is one of the earliest reports of this commodity which became
a very important trade item during the 19th century, especially after the abolition of
the slave trade.
It was then time to make preparations for the return journey, so fresh water was bro-
ught by the caravel on 9th April. The same day, the sloop was lost. On 26th April Welsh
wrote: we »... victualed our caravel to go with us to the sea.« On 27th April the ships
set sail, arriving on 18th December 1591 at »... Limehouse in the Thames ...« where
they discharged their goods.100
Some hints on further English trading activities with Benin up to the middle of the
17th century.
Unfortunately, no further detailed descriptions of English voyages to, trading activities
there, have so far been discovered, despite searches in this direction. There are only
fragments of information, for which we are indebted to Ryder.
During the 17th century, there was a shift in trading procedures because the Europeans
did not frequent Benin City as before and new trading centres developed on the rivers.
Chief among them were Gwato and Arbo (Arbon, Arebo, Oriboo, etc.), the latter
situated somewhere on the Benin River. This may have had to do with the decline of
the monarchial power in Benin at this time. For the officials involved in trade with
Europeans it was ideal because they could work without close control or supervision.
At Arbo the Dutch and English even set up permanent factories (trading posts). Benin
76
Roese: Early English Voyages
officials also resided there to inform the king of the arrival of ships and to supervise
trading activities such as loading of vessels, etc.
Ryder discovered several documents indicating that the Dutch at Arbo were joined by
English traders first in 1633 and more strongly in 1645.101 He continues: »... the Dutch
and English factories at Arbo were still in existence in 1652 .,.«102
Benin cloth seems to have played a prominent part in trading during the 17th century.
It was sent to Elmina to be bartered for gold and slaves.
»In November 1646 a ship of the Royal African Company arrived at Arbo carrying, in
the words of a Dutch skipper 'a well-chosen cargo' with which it was able to buy up all
the best cloth ...« The English seemed to be quite innovative and even introduced such
items as »... a new kind of bead decorated with spirals of white and yellow.«103 These
beads seem, at least for some time, to have sold quite well.
The ill-fated Capuchin mission to Benin in 1651-2 provides us with another glimpse of
English presence there. The mission, headed by father Angel de Valencia went to Benin
City to see the king. However, discussions were not fruitful and eventually there were
clashes with high officials. The missionaries were held as prisoners without provisions.
Fortunately, some English traders visiting Benin City let them have »... a barrel of
cowries ...«, so at least the missionaries did not die from want of food.104
The fathers were finally thrown out of Benin City, taken to Gwato and thence to Arbo.
The end of the sad story was that they stayed there for »... five months cared for by ...
two ... Dutch and two English, who were trading with the negroes ...« At last they left
on board an English vessel for the Portuguese island of Principe.105
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sätze, Aloys Schulte zum 70. Geburtstag gewidmet von Schülern und Freunden. Düssel-
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1930 Aus Antwerpener Notariatsarchiven. Quellen zur Deutschen Wirtschaftsgeschichte des
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Willian, T.S.
1959 Studies in Elizabethan Foreign Trade. Manchester.
78
Róese: Early English Voyages
Anmerkungen
1 Ryder 1969, 339-40
2 Róese & Rose
3 Róese 1987
4 Blake, 123 ff.
5 Róese 1987
6 Dapper
7 Burns, 65
8 Spears, 60
9 Burns, 67
10 Hakluyt 1965,1,89
" ibid. I, 98
12 Ryder 1969, 79
13 Hakluyt 1965,1, 112
14 Hakluyt 1965,1, 120
15 Strieder 1927, 185
16 Ryder 1969, 79
17 ibid., 79
18 ibid., 79
19 Spears, 124
20 Hakluyt 1965,1, 130
21 ibid. I, 135
22 Hakluyt 1965, II, 523
23 Spears, 125
24 Ryder 1969, 76
25 Hakluyt 1927, 39
26 ibid. 1927,41
27 ibid. 1927, 42
28 Hakluyt 1927,42
29 Róese 1990b
30 Connah, 138, 160 FIG. 47
31 Róese 1988
32 Hakluyt 1927,41
33 ibid. 1927,42
34 Blake, 124
35 Hakluyt 1927, 43
36 ibid. 1927,43
37 ibid. 1927,43
38 Hakluyt 1927,43
39 Ryder 1969, 342
40 ibid. 1969, 337
41 Oberkommando der Kriegsmarine. 426-39
42 Ryder 1969, 339
43 Ryder 1969, 339
44 Pereira, 136-8
45 Oberkommando der Kriegsmarine, 431
46 Ryder 1969, 339, 341
47 ibid. 1969, 339
48 Ryder 1969, 339-40
49 Róese & Rees
50 Agheyisi, 117
M Oslisli et. al., 25-6
52 Ryder 1969, 340
54 ibid. 1969, 342
55 Ryder 1969, 342
56 ibid., 1969, 342
57 ibid., 1969, 342
58 Róese 1990a
59 Ryder 1969, 98
60 Strieder 1930, XXIII-XXV1; 1927, 185
61 Jungwirth, 51
62 Dapper
63 Connah, 147-179
64 Egharevba, 31
65 Róese 1992a
66 Ryder 1969, 341
67 Ryder 1969, 341
68 Hakluyt 1927, 297
69 ibid. 1927, 298
70 Hakluyt 1927, 289
71 ibid. 1927, 289
72 ibid. 1927, 289
73 ibid. 1927,289
74 Hakluyt 1927, 299
75 ibid. 1927, 295
76 ibid. 1927, 297
77 Roth, 144
78 Róese 1991,416
79 Information Department, 34
80 Hakluyt 1927, 297
81 Hakluyt 1927, 297
82 Róese & Rees
83 Hakluyt 1927, 297
84 ibid. 1927, 297
85 ibid. 1927, 297
86 ibid. 1927, 297
87 Egharevba 1968, 1
88 Hakluyt 1927, 297
89 ibid. 1927, 297
90 ibid. 1927, 297
91 ibid. 1927,297
92 Hakluyt 1927, 303
93 ibid. 1927, 303
94 Hakluyt 1927, 305
95 Strieder 1932. 17
96 Róese 1992b
97 Hakluyt 1927, 303
98 ibid. 1927, 304
"ibid. 1927, 305
100 Hakluyt 1927, 394
101 Ryder 1969, 91 ^4
102 ibid. 1969, 99
103 Ryder 1969, 95, 96
104 ibid. 1969, 104
105 ibid. 1969, 106
TRIBUS 45, 1996
WILLY SCHROETER
Das Vorkommen des Bumerangs außerhalb Australiens
Einleitung
Früheste Darstellungen des Bumerangs und archäologische Bumerangfunde in Au-
stralien.
Davidson, dem Schiatter folgt1, ist der Ansicht, der australische Bumerang sei in Au-
stralien entstanden, da der Bumerang bei der Ankunft der Europäer in Australien an
der Einwanderungspforte im Norden des Kontinents, beispielsweise auf der Cape
York-Halbinsel. unbekannt war.
Nach Davidsons Meinung entwickelte sich das Wurfgerät in Australien aus einfachen
Hölzern, und Schiatter teilt diese Meinung, weil er der Ansicht ist, der Rückkehrbu-
merang sei einzig und allein in Australien vorgekommen2. Beider Ansichten sind irrig.
Dem Bumerang kam nämlich gerade im Norden Australiens in relativ früher Zeit eine
große Bedeutung zu, und der Rückkkehrbumerang war nicht nur in Australien
bekannt.
Das frühe Vorkommen des Bumerangs in Nordaustralien beweisen alte Felszeichnun-
gen mit Bumerangs in den Carnavon Ranges von Südost-Queensland3 und die erst
1960 bei Laura, ungefähr 300 km nordwestlich von Cairns bei Straßenarbeiten ent-
deckten Felsbilder. Diese wurden in der Folgezeit von dem australischen Amateurfor-
scher und Piloten P. J. Trezise aus der Luft untersucht. Er entdeckte Felsbildgalerien,
in denen sich nicht wenige Bumerangdarstellungen befinden, beispielsweise im Hann-
River-Gebiet, wo Umrißgravierungen der Wurfwaffe mit rotem Ocker ausgemalt sind.
Er schätzt ihr Alter sehr hoch.
»It is certain that rock engraving has been a dead art on Cape York for many hundreds
and perhaps thousands of years.4«
Als in der Laura-Region die Felsbildgalerien entdeckt wurden, untersuchte im zentra-
len Arnhem Land - in der Gegend des East Alligator River und Deaf Creek zwischen
Oenpelli und Katherine - der Ethnologe Brandl länger bekannte Felszeichnungen.5
Seine Untersuchungen belegen zusätzlich, daß der Bumerang nicht erst in Australien
entstanden sein konnte, sondern mit einer Immigrationswelle hierher gelangte. Aller-
dings wurde er hier größtenteils modifiziert, denn Brandl fand unter den am Stil
erkennbaren ältesten Abbildungen des Bumerangs Wurfgeräte des einfachen oder
gewöhnlichen Typus. Deutlich erkennbar ist ihre Benutzung als Waffe neben dem
Speer in diesem Gebiet, wobei allerdings die Speerschleuder noch nicht vorhanden ist.
Hinzu kommt noch, daß die Bumerangabbildungen sehr häufig mit Darstellungen
längst ausgestorbener Beuteltiere assoziiert sind, nicht aber mit Abbildungen des
Dingo (Canis lupus familiaris dingo).
Der australische Dingo ist ein verwilderter Haushund6 und eng mit dem um 1910 aus-
gestorbenen javanischen Tenggerhund verwandt. Er gelangte vor etwa 5 000 bis 4 000
Jahren mit einer Einwanderungswelle nach Australien. Das Fehlen von Dingo-Dar-
stellungen beweist, daß besagte Felsbilder vor dieser Zeit entstanden sein müssen.
Auf Tasmanien war der Bumerang völlig unbekannt. Die Insel wurde vor ungefähr 13
500 bis 12 000 Jahren durch die Bass-Straße vom Festland getrennt.
»Zu dieser Zeit dürfte der Bumerang noch nicht bis zur australischen Südküste vorge-
drungen sein, da er sonst höchstwahrscheinlich auch von den Tasmaniern übernom-
men worden wäre. Demnach muß der Bumerang vor 10 000 bis 12 000 Jahren mit
Angehörigen einer der letzten Einwanderungswellen den australischen Festlandsblock
erreicht haben.«7
Etwa 3 000 Jahre später aber war der Bumerang in den Süden gelangt, genauer ausge-
drückt, in den Südosten des Landes.
Dort fanden sich 1974 bei Grabungen in einem Torflager im Wyrie Swamp neben drei
gut erhaltenen Bumerangs und anderen Artefakten, von denen einige nicht identifiziert
werden konnten, auch Bumerangfragmente. Das Alter der Fundstücke beträgt nach
der Radiocarbon-Methode ungefähr 9 000 Jahre.
Schroeter: Das Vorkommen des Bumerangs
»Düring excavation in a South Australian peat quarry in January 1974, a wooden tool
industry was found buried in a basal peat formed between 10.200 150 BP (ANU-1,
292) and 8.990 120 (ANU-1, 293). Chert tools and chipping debris associated with
swamp side encampment were also recovered from shoreline clays and underlying
muds. Three implements associated with the industry are complete boomerangs..., sus-
pected of being made from casuarina stricts (Drooping Sheoak), a species growing
above the swamp today. Although exact ages for the boomerangs are still to be deter-
mined, the finds provide the oldest evidence boomerang in the world and the Collection
as a whole is one of the most technologically complete in the Australian archaeologi-
cal record«.8
Aus dem bisher Mitgeteilten wurde bereits deutlich, daß das Vorkommen des Bume-
rangs sich nicht auf Australien beschränkte. Er war stets, insbesondere auch in der
Vorzeit, global bekannt und wurde immer - in mannigfacher Weise - global verwendet.
Der Bumerang außerhalb Australiens
I. Europa
Nach Bretfeld wurde vor noch nicht allzu langer Zeit in Südpolen ein 28 000 Jahre alter
Bumerang gefunden.9 Braem erwähnt den Fund ebenfalls:
»Ein funktionstüchtiger Bumerang wurde unlängst im südlichen Polen ausgegraben.
Er besteht aus Mammutelfenbein und besitzt ein Alter von 28 000 Jahren.«10
Deutlicher wird Evers, der von der »Polnischen Akademie in Krakau«11 den For-
schungsauftrag erhielt, die Flugtüchtigkeit dieses zum Bumerang gestalteten Mam-
mutzahnes, der nach ihm in einer in den Karpaten gelegenen Höhle gefunden wurde,
festzustellen, dessen Alter, wie er mitteilt, von der Universität Oxford auf ungefähr
18 300 Jahren v.d. Ztr. angegeben wurde, der also wesentlich jünger ist, als Bretfeld und
Braem angeben.12
Bislang galt als ältester europäischer Bumerang ein Fund, der aus einem Kjökkenmö-
dinger13 Jütlands stammt.14 Sein Alter beträgt etwa 4 500 Jahre.15 Der Bumerang ist in
vier Teile zerbrochen und ähnelt dem australischen vom Kimberley-Typus. Dieser ist
nach Peter16 heute noch in Gebrauch. Im Querschnitt ist er nach dem gleichen Autor
in der Regel plankonvex, sehr selten bikonvex und einfach gekrümmt. Seine Winkel-
größe bewegt sich um 120° und seine Enden laufen spitz zu. Der Schlagteil dieses
Bumerang-Typus unterscheidet sich nicht vom Griffteil. Seine Länge variiert zwischen
0,40 bis 0,70 m.
Einige Bumerangs vom Kimberley-Typus, von dem sowohl symmetrische als auch
asymmetrische Formen benutzt werden, eignen sich zur Rückkehr und sind Spiel- und
Sportgeräte. Außerdem benutzt man den Typus noch zum Fischfang und als
Vielzweckgerät. Hervorzuheben ist, daß es sich bei ihm um den breitesten Bumerang-
Typus handelt. Seine Breite beträgt in der Krümmung 0,10 m bis 0,12 m, und er ist der
einzige Bumerang, der manchmal zickzack- oder rautenförmig kanneliert ist.
Es muß erwähnt werden, daß Höhlenzeichnungen in Frankreich und Spanien, die rela-
tiv alt sind, Darstellungen von zumindest stark an Bumerangs erinnernde Wurfwafifen
aufweisen. E. Anati weist darauf hin, daß bei Capo di Ponte in Italien wesentlich jün-
gere Bumerangabbildungen - sie sind etwa 2 000 bis 3 000 Jahre alt - zu finden sind.17
Ferner entdeckte Evers in Skandinavien auf Felsbildern zahlreiche Darstellungen von
Bumerangwerfern und einzelnen Bumerangs.18
Anzutreffen sind letztere stets in kultischem Zusammenhang, d.h. sie schweben über
Ahnenbooten. Was allerdings die Werfer betrifft, so sieht Evers in ihnen Schamanen,
deren Wurfgeräte gemäß ihrer kultischen Bedeutung überzogen dargestellt sind.
Ritzzeichnungen von wenigstens bumerangähnlichen Geräten finden sich auf Dolmen
und Menhiren der Bretagne, Englands und Galiziens. Genannt seien hier nur die
Fundorte Gav'rinis (Insel im Golf von Morbihan), Moustier, Moustoirac, Petit Mont,
de Lizo, Kerveresse, Mané Lud, Mané Rutual, de Couedic und Stonehenge, auf die
auch Braem hinweist.19
Meyer20 ist der Ansicht, die in iberischen Megalithgräbern, z.B. in Antade Marquesa
und Herdade das Antas als Grabbeigaben gefundenen »Krummstäbe« seien keine
Bumerangs. Ich möchte ihm widersprechen und behaupten, daß es sich bei ihnen um
in einem Kult benutzte Bumerangs handelt. Denn:
»Sie tragen», worauf Meyer besonders hinweist,« an der Seite ihrer äusseren Krüm-
mung gewöhnlich Dreieckszacken. Zählt man sie, zeigen sich Masse des Monden-
81
TR1BUS 45, 1996
rhythmus wie vierzehn, achtundzwanzig (....) und dergleichen. Die Zacken werden hier
also als Tage gerechnet oder als Nächte. Das Wolfzahnmuster ist nichts anderes als die
Begegnung von Licht und Finsternis wie im Wechsel von Tag und Nacht«.21
Benutzt wurden diese Bumerangs meines Erachtens als Musikinstrumente, eventuell
um den Tag zu begrüßen und auch zu verabschieden, und die Wolfzähnung diente der
Resonanz.
Mit großer Wahrscheinlichkeit könnten meiner Meinung nach die Tierkopfstäbe, die in
neolithischen Grabanlagen auf der Insel Oleni Ostrow im Onegasee im nordwestlichen
Rußland und an anderen Orten in Karelien gefunden wurden, als Bumerangs verwen-
det worden sein. Vielleicht sind es Grabbeigaben für bedeutende Schamanen. Sie wer-
den übrigens in den Händen von Menschen, die durchaus Schamanen sein könnten,
immer überdimensioniert wiedergegeben. In Wirklichkeit sind sie 0,28 m bis 0,35 m
lang.22 Evers als auch Braem23 bilden zwei solcher Tierkopfstäbe ab, die aus Elch-
schaufeln geschnitzt wurden. Es handelt sich bei ihnen - ihrer Form entsprechend - um
Hakenbumerangs.
In den Niederlanden fand man 1962 in einer Düne einen in drei Teile zerbrochenen
Bumerang aus Eichenholz.
»Dieser Bumerang hat einen flachkonvexen Querschnitt und weist sogar einen Drall
auf, von dem man allerdings nicht mit Sicherheit sagen kann, daß er auch ursprünglich
vorhanden war. Felix Hess, der davon ein Modell anfertigte, erzielte mit diesem bei
einem Testwurf einen Rückkehrflug.«24
Das Lagobalon altgriechischer Hirten war eventuell ein Bumerang, auf jeden Fall ein
diesem sehr nahestehendes, d.h. weiterentwickeltes Wurfholz. Ebenfalls ein stark
bumerangähnliches Wurfgerät ist die gallische cateia gewesen.27
Erwähnt wird sie schon von altrömischen Autoren wie Flaccus und Virgil, aber noch
im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung von Isidorus, Bischof von Sevilla und um 1000
n. Chr. schilderte sie der angelsächsische Bischof Aelfric, der sie teutonia nennt.26 Nach
Odin oder Wotan war Donar oder Thor als Gott der Ackerflur und des Bauernstandes
der bedeutendste Gott der Germanen.
Er schwang den Hammer Miölnir (Mjölnir), der immer wieder in seine Hand zurück-
kehrte und erzeugte so Blitz und Donner.
Thor vertrieb den Frost, indem er die Eisriesen mit Miölnir zerschmetterte, und er war
der Regenspender. Außerdem schützte er durch seinen Hammer, der noch bis ins hohe
Mittelalter im Norden als Fruchtbarkeitssymbol galt, die heilige Ordnung.
Nachgewiesen ist übrigens in Nordeuropa eine hammerschwingende Gestalt bereits
seit dem Neolithikum.27
Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Thors Hammer ein mythologischer Hinweis
auf Rückkehrbumerangs ist. Zu finden ist er in der Edda, die aus zwei Teilen besteht:
aus Prosa- und Lieder-Edda.
Der Verfasser der Prosa-Edda ist der Dichter, Staatsmann, Geschichtsschreiber und
Rechtsprecher Snorre Sturluson (1179 - 1241), ein Christ, der sie 1230 niederschrieb.
»Snorre schöpfte sein Wissen... aus mündlichen Überlieferungen und Liedern, die er
vereinzelt zitiert. Diese Lieder galten als verschollen, bis im Jahre 1643 der Bischof
Brynjulf Swendson eine alte Handschriftensammlung mit über hundert Götter- und
Heldenliedern unbekannter Dichter fand - und feststellte, daß er zumindest einen Teil
von Snorris Quellenmaterial entdeckt hatte. Diese Sammlung wird heute Lieder-Edda
genannt. Einzelne Verse stimmen fast wörtlich mit den in der Prosa-Edda zitierten
Strophen überein, und viele Lieder ergänzen das von Snorre in seiner mythischen
Reportage gebotene Bild der Göttersagen. Alle Lieder... sind in Stabreimen abgefasst,
in der traditionellen altgermanischen Reimform mit gleichklingenden Anlauten:
»Windzeit, Wolfszeit, eh die Welt zerstürzt.« Die Götterlieder sind unterschiedlich alt.
Viele entstanden um die Jahrtausendwende oder später, einige früher, knapp nach der
Landnahme Islands, die im Jahre 874 begann.«28
Dieses Zitat verdeutlicht, über welch lange Zeit die mythische Erinnerung an Thors
Hammer weitergegeben wurde.
In der Nähe der Stadt Swerdlowsk, die heute wieder Jekaterinburg genannt wird, im
Ural, fand man einen ungefähr 4 000 Jahre alten Bumerang in einem Grab.
Nicht weit entfernt von der Fundstätte, 150 km nordwestlich der Millionenstadt, fin-
82
Schroeter: Das Vorkommen des Bumerangs
den sich Felszeichnungen, auf denen die Jagd auf den Ur (Bos primigenus), also auf
die Stammform heutiger Hausrinder, dargestellt ist.
Die Jäger sind mit Speeren, der Bogenwaffe, aber auch mit Bumerangs ausgerüstet.29
Nun war es sicher unmöglich, einen Ur mit einem Bumerang zu töten, weshalb ich
annehme, daß der Bumerang hier als eine dem Jagderfolg dienende Ritualwaffe anzu-
sehen ist.
2. Asien
Musgrove ist der Ansicht, daß allen alten Zivilisationen Westasiens der Rückkehrbu-
merang bekannt gewesen sei.30
Er war aber meines Erachtens hier in erster Linie Ritualgerät. Auf jeden Fall galt er
den Babyloniern als Waffe des Weltschöpfers und höchsten Gottes Marduk31, und
auch den Hethitern ist er bekannt gewesen.
Peter bildet ein Relief aus Ninive ab32, auf dem nach seiner Ansicht ein Jäger in seiner
rechten Hand einen S-förmigen Bumerang hält.
Ich vertrete diese Meinung nicht, sondern glaube vielmehr, daß es sich hierbei nicht um
ein Wurfgerät handelt, sondern eher um ein Sichelschwert. Sichelschwerter waren,
allerdings sehr viel später, in Zentralafrika in Gebrauch.33 Ich werde auf sie später
noch einmal zurückkommen.
Nach meiner Ansicht handelt es sich bei der abgebildeten Gestalt auch nicht um einen
Jäger, sondern um einen Krieger oder um einen Priester.
»In Central and Eastern Asia, there is no certain evidence of which I am aware for any
weapons resembling the boomerang. The only hint that the boomerang may have been
used is contained in some Chinese literature dating from about A.D. 300. 1t may - or
may not - be relevant that the Chinese helicopter top, which dates back many centuries
in China and inspired nineteenth-century European model helicopter designs, closely
resembles the cross boomerang.«34
Leider wertet Peter, der diese Passage ebenfalls zitiert,35 Musgroves Erkenntnis ein
wenig ab, indem er schreibt;
»Musgrove will 36 aus der chinesischen Literatur Hinweise auf den Gebrauch von
Kreuzbumerangs entnehmen.«37
Es stimmt allerdings, daß der Bumerang überhaupt für Zentral- und Ostasien nur
gering belegt ist, immerhin jedoch machte Okladnikow darauf aufmerksam, daß
»Bilder und Vorstellungsinhalte, wie sie zum Beispiel in den Wäldern Sibiriens, am
Fluss Tom oder an der Angara entstanden, häufig bis in die kleinsten Einzelheiten...«38
mit Bildern oder gar ganzen Motivgruppen der Felsbilder Kareliens und Skandina-
viens übereinstimmen.
Hieraus wird deutlich, daß der Bumerang, allerdings nur an wenigen Orten, auch in
Sibirien bekannt gewesen sein muß, wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach nur als
Ritualobjekt. Warum sollte man in Alt-China nicht den Kreuzbumerang benutzt
haben? Meines Erachtens war er dort Spiel- und/oder Sportgerät und eventuell nur bei
marginalen Gruppen in Gebrauch, denn der Kreuzbumerang ist der Rückkehrbume-
rang par excellence.
In Australien, wo er heute fast nicht mehr verwendet wird, war nach Peter39 das Gebiet
zwischen Cairns und Townsville im Nordosten Queensland sein einziges Verbreitungs-
gebiet. Sein Querschnitt ist biconvex, und was seine Krümmung angeht, so bilden zwei
mit Lianen zusammengebundene Hölzer ein Kreuz, also vier vertikal zueinander ste-
hende Schenkel. Ein Schlagteil ist nicht erkennbar. Der Kreuzbumerang ist symme-
trisch und 0,30 bis 0,50 m lang.40
In Mittelasien war ein dem Bumerang sehr ähnliches Wurfholz zumindest in der Mon-
golei bekannt.
In Südindien wurde der Bumerang von den Bhil in der Kadi-Region verwendet und
Katar genannt41, und die Kol im Gujerat (Nordwest-Indien) nutzten ein dem Katar
ähnliches Gerät, das sie Kataiya nannten.42
In Japan und auf den Philippinen war der Bumerang völlig unbekannt, ln Indonesien
scheinen mit einer Ausnahme lediglich relativ einfache Wurfstöcke benutzt worden zu
sein.43
Diese Ausnahme betrifft einige Teile Sulawesis (Celebes), wo der Kreuzbumerang seit
langem ein Spielgerät ist.44
83
TR1BUS 45, 1996
3. Ozeanien
Ehe ich mich dem Vorkommen des Bumerangs in Afrika und Amerika zuwende,
möchte ich sein Vorkommen in Ozeanien abhandeln.
Er kam und kommt hier nur im melanesischen Raum vor; und in diesem, sieht man von
einfachen Wurfhölzern in Papua-Neuguinea (Neubritannien)45 ab, einzig und allein in
Vanuatu (vormals Neue Hebriden), und in dieser Inselgruppe wiederum lediglich in
den Küstengebieten des Nordens und des Westens von Espiritu Santo vor.
Die Talilu leiten ihre Herkunft von ihm her, den sie Tioki nennen.
Der Bumerang war hier anscheinend niemals eine Jagd- und Kriegswaflfe, sondern nur
ein Ritualgerät, das, wie ich in den sechziger Jahren noch selbst erlebte, zur Kawa-
Zeremonie verwendet wurde, bei der die alten Männer einer Gemeinschaft Kawa zu
sich nahmen, die jungen aber auf eigens dafür hergerichteten Plätzen ihn im sportli-
chen Wettbewerb warfen.
4. Afrika
Überall in Nordafrika finden sich Felsbilder teilweise sehr hohen Alters mit Darstel-
lungen einfacher Wurfhölzer sowie Bumerangs.
In Alt-Ägypten verwendete man in der Regel Bumerang-Typen, die denen Mesopota-
miens mitunter bis ins kleinste Detail glichen.46 Es ist deshalb anzunehmen, daß hier
wenigstens ein reger Ideenaustausch stattfand.
Gefunden wurden alt-ägyptische Bumerangs vor allem in den Mastabas von Theben in
Oberägypten, und in einem Grab der Nekropole von Theben ist eine Vogeljagd mit
Bumerangs dargestellt.47
Im Grab Tuk-ank-amuns (1330 - 1322 v. d. Ztr., 18. Dynastie) fanden sich mehr als
zwanzig Bumerangs. Sie sind zum Teil aus Elfenbein geschnitzt und an den Enden mit
goldenen Beschlägen versehen.48
Einige von ihnen gleichen australischen Typen, andere sind jedoch c- und auch s-för-
mig gekrümmt.49
Ich nehme an, daß es sich bei diesen Bumerangs nicht unbedingt um Waffen, sondern
vielmehr um Rhythmusinstrumente handelte oder daß sie möglicherweise auch als
Raumdekoration dienten.
Hinsichtlich der Rhythmusinstrumente ist mitzuteilen, daß insbesondere libysche
Söldner in ägyptischen Diensten den Bumerang als Waffe und gleichzeitig als Rhyth-
musinstrument benutzten.
Darstellungen von ihnen sind namentlich aus der Regierungszeit der Hatschepsut
(1479 - 1457 v. d. Ztr., 18. Dynastie) bekannt, d.h. aus jener Epoche der alten ägypti-
schen Geschichte, in der die Machtentfaltung des Neuen Reiches (1550 - 1085 v. d.
Ztr.) ihren Höhepunkt erreichte, Ägypten zur Weltmacht der damaligen Zeit wurde
und Nubien eroberte, nachdem die Hyksos50 aus Nordägypten - dies geschah 1570 v.
d. Ztr. - wieder vertrieben worden waren.
Es benutzten zur Zeit von Pharaonin Hatschepsut meiner Ansicht nach aber wohl
nicht allein Libyer in ägyptischen Diensten den Bumerang als Rhythmusinstrument,
sondern auch Soldaten des regulären Heeres. Dabei waren allerdings in den Jahren, in
denen die genannte Pharaonin über Ober- und Unterägypten herrschte, der »Tanz der
Libyer«, bei dem Bumerangs aneinander geschlagen wurden, sehr beliebt, wie zahlrei-
che Darstellungen und auch schriftliche Mitteilungen beweisen.51
Ich möchte noch darauf hinweisen, daß in Abydos (Abodu), das allerdings nicht mit
der antiken Stadt in Kleinasien verwechselt werden darf, die durch den Brückenschlag
des Perser-Königs Xerxes I. (519 465 v. d. Ztr.)52 bekannt wurde, auf einer etwa 5 000
Jahre alten Steinplatte Jagdszenen mit Bumerangs eingraviert sind.
Am oberen Nil war ein tromhush genannter Bumerang-Typ bis wenigstens ins letzte
Jahrhundert hinein in Gebrauch, desgleichen im nördlichen Äthiopien. Im Süden
Äthiopiens jedoch kam er selten vor. Wo man ihn aber dort kannte, benutzte man ihn
ebenfalls bis vor noch nicht allzu langer Zeit.53
Informiert sind wir auch über die Verwendung von Bumerangs in Nigeria54, insbeson-
dere am Oberlauf des Niger. Lenoch55 vertritt die Meinung, daß einige der dort benutz-
ten Typen des Bumerangs dem australischen Lil-lil-Typus sehr ähnelten. Dieser ist in
Australien nicht mehr in Gebrauch und wurde in New South Wales sowie vereinzelt in
Victoria benutzt, und zwar als Schlag- und WurfwafTe. Er kehrte nicht in die Hand des
84
Schroeter; Das Vorkommen des Bumerangs
Werfers zurück. Sein Querschnitt war bi-konvex, und er war, wobei er in der Regel
einen gestreckten Winkel aufwies, einfach gekrümmt. Lief sein sehr stark verbreitetes
Schlagteil stumpfwinkelig zu, dann war sein Griff spitz. Bumerangs dieses Typus
waren 0,50 bis 0,80 m lang und asymmetrisch.56
Lenoch und ihm folgend Peter irren sicher nicht, wenn sie meinen, die südlichste Ver-
breitungsgrenze des Bumerangs in Afrika sei das Zaire-Becken (Kongo-Becken).57
Es wurden hier aber auch einfache Wurfhölzer benutzt; insbesondere im nördlichen
Zentralafrika. Erwähnen möchte ich hier die oft mit Ritzungen (Zickzack im Doppel
und dreifach) verzierten und mit geschnitzten Griffen am unteren Ende versehenen
Wurfhölzer der Gaberi vom Shari:
»Die Flugeigenschaft des Wurfholzes der Gaberi...wird verbessert durch den trag-
flächenähnlichen Bau...Beim Auftreffen wirkt das Wurfholz durch seine Schlagkante.
Der leicht vorstehende Schnabel an einem Ende kennzeichnet es als reine Kriegswaffe;
Beim Auftreffen auf einen harten Schild verlagert sich der Schwerpunkt sogleich auf
diese Spitze und das Wurfholz schwingt um den Schild herum.«58
Aus diesen hölzernen Wurfgeräten entwickelte sich das Wurfeisen, das nur in Afrika
vorkommt.
Von ihm sind fünf Typen bekannt, von denen Typ 1 noch stark an das Wurfholz oder
an einen echten Bumerang erinnert.
Typ 1 kam mit den Typen 2 und 3 um den Tschadsee und Tibesti im Osten bis Kordo-
fan vor. Diese drei Typen reihte man in die Nordgruppe der Wurfeisen ein, die beiden
restlichen in die Südgruppe.
»Die Wurfeisen des südlichen Typs kommen in den Savannengebieten nördlich der
Regenwaldgrenze vor. Nur in offenen Landschaften konnten Wurfeisen als Jagd- oder
Kriegswaffe eingesetzt werden59. Wo man das Wurfeisen als Waffe kaum benutzte, ent-
wickelten sich Sonderformen, die kaum flugfähig, vor allem als Tauschmittel eine
Rolle spielten...«60
Das Wurfeisen wurde sehr oft auch als Allzweckgerät benutzt und einige Völker Zen-
tralafrikas, beispielsweise die südwestlich der Fulbe siedelnden Fali nutzten es zur
Fruchtbarkeitsmagie.61
Weitere Entwicklungen - allerdings als Schlagwaffen - aus Bumerang und Wurfholz
sind in Zentralafrika die noch stark an Bumerangs erinnernden Sichelschwerter, und
meines Erachtens gehen auch die sogenannten Sichelmesser auf Wurfholz und Bume-
rang zurück.
Im Museum der Kanareninsel Palma sah ich vor einiger Zeit Bumerangs.
Wie es den Anschein hat, war das Wurfgerät den Guanchen auf den meisten Inseln des
Kanarischen Archipels bekannt, allerdings wohl niemals als Waffe, sondern immer nur
als Kultgerät.
5. Amerika
a. Nordamerika
»It is interesting that the Anasazi, the pre-Columbian ancestors of the hopi, used S-
shaped throw-sticks.«62
Diese Feststellung könnte beweisen, daß im Südwesten Nordamerikas vor Jahrhun-
derten ein Bumerang gebraucht wurde, der einigen alten ägyptischen und auch meso-
potamischen Exemplaren geglichen haben mag, der - aus welchem Grund auch immer
- von den Hopi und sicher auch anderen Pueblo-Indianern entweder nicht übernom-
men oder gar aufgegeben wurde.
Die Hopi benutzen noch heute Wurfhölzer und Wurfkeulen.
»Sie nennen sie pütshkohu.6i Wir kennen sie unter der amerikanischen Bezeichnung
»rabbitsticks« und nicht selten spricht man unter den Euro-Amerikanern des Südwe-
stens auch von Bumerangs.
Doch auch ein »rabbitstick« ist lange nicht so präzise gearbeitet wie ein Bumerang,
obgleich ihn die Hopi in gleicher Weise werfen.
Während des Fluges dreht sich das Wurfgerät der Hopi, mit dem sie vorrangig Vögel
und Kleinsäuger jagen, mehrmals in Zielrichtung. Trifft es das Ziel nicht, geht es etwa
einen Meter davon zu Boden,...
Die Hopi-Wurfkeule wird aus dem Holz der Gambell-Eiche hergestellt. Sie kann
bemalt oder mit eingeritzten Verzierungen versehen sein, die oft ein Kaninchen dar-
stellen.64
85
TRIBUS 45, 1996
Die Waffe ist ursprünglich ein Ritualgerät gewesen, das bei zeremoniellen Kaninchen-
jagden eingesetzt wurde. Erst später ist sie dann, ohne ihren sakralen Charakter einge-
büsst zu haben, auch bei allgemeinen Jagden eingesetzt worden.«65
Fast gleiche Wurfkeulen wie die Hopi benutzten die südostkalifornischen Gabrielenos.
Im nordamerikanischen Südwesten könnten einstmals von den Apachen, worauf mei-
nes Erachtens mindestens eine ihrer Mythen hinweist, Rückkehrbumerangs verwendet
worden sein. Besagte Mythen berichten von Coyote, der mit einer stets zu ihm zurück-
kehrenden Keule nach der Eule wirft.66
Es ist leider nicht zu klären, ob diese Mythen erst nach der Einwanderung athapaski-
scher, also Vorfahren der heutigen Apache und Navajo, entstanden oder schon bevor
diese den Südwesten erreichten. Wir wissen also nicht, ob die Apache den Rückkehr-
bumerang - falls sie ihn überhaupt kannten - eventuell nach dem Vorbild von Wurf-
keulen der Pueblo-Indianer entwickelten oder ihn mitbrachten. Es besteht allerdings
die Möglichkeit, daß sie ihn noch während der Wanderung entwickelten.
Aus den Berichten Coronados geht hervor, daß Apache, die von ihm »Querechos«
genannt werden, Quivira am Ostrand der Plains besuchten und ganze Winter dort am
Arkansas River im Süden des heutigen Kansas zubrachten. Daneben besuchten Apa-
che auch die Pueblo in New Mexico, trieben mit ihnen Tauschhandel und verbrachten
bisweilen auch die Winter bei ihnen.
Das heißt, daß um 1542 die südlichen Plains in ihrer gesamten Breite und von Nord-
Texas bis zum Arkansas und möglicherweise noch weiter nördlich von Apache kontrol-
liert wurden. Erst ab 1762 fehlen Nachrichten über sie am Arkansas oder in Kansas.6'
Zu der Zeit, in der sich in den genannten Gebieten Apache aufhielten, lebten in einigen
von ihnen bereits Comanche.68 Und es stellt sich die Frage, ob die Comanche den
Bumerang kannten, die Apache also ihre eventuelle »Kehrwiederkeule« von ihnen
übernommen haben könnten.
In der 1927 erschienenen Arbeit »The American Indian« von Verriß bildet der Autor
einen »Boomerang Comanche Indian« ab.69 Es gibt dafür aber
»...einen sonst nirgendwo verifizierbaren Beleg für den Gebrauch von Bumerangs bei
den Comanchen, weshalb ein gewisses Mass an Skepsis über die Korrektheit dieser
Angabe angebracht ist.«70
Verriß bildet aber eindeutig einen Bumerang ab, obgleich in der gesamten sonstigen
Comanche-Literatur kein einziger Hinweis über dessen Benutzung zu finden ist.
Anders verhält es sich dagegen mit Kalifornien, wo Wurfgeräte nicht allein im Süd-
osten in Gebrauch waren, sondern auch von Völkern im Süden und im Südwesten des
Landes Vögel und Niederwild mit Bumerangs erledigt wurden.'1
Einer der sensationellen archäologischen Bumerangfunde der Welt erfolgte vor knapp
vierzig Jahren in Florida.
Der Fundort war ein 60 m tiefes »Sinkhole« in Little Salt Spring im Südwesten der
Halbinsel.72 Es wurde von Tauchern 1959 entdeckt, die darin Artefakte, Nahrungs-
überreste etc. fanden, die einer paläo-indianischen Kultur zuzuordnen sind.
Bald darauf führte man hier systematische archäologische Forschungen durch und
förderte dabei
»... unter anderem das Bruchstück eines Gegenstandes zutage, das als Rest eines
Bumerangs vom Typus des Hakenbumerangs identifiziert werden konnte.«73
Ich möchte darauf hinweisen, daß in Australien das Ursprungsgebiet des Hakenbume-
rangs in der Region der Walbiri und Waramunga im Norden Zentralaustraliens liegt.
Von dort aus verbreitete er sich über das übrige Zentralaustralien. Über das Northern
Territory gelangte er in Teile von West-Queensland und auch in den Norden West-
australiens.
Der Hakenbumerang war niemals häufig, wird aber heute noch verwendet. Er ist ein
Kampfbumerang par excellence, und zwar als Wurf- wie als Schlagwaffe. Bisweilen
wird er auch zeremoniell als Rhythmusinstrument benutzt.
Sein Querschnitt ist bi- oder plankonvex. Er ist mehrfach gekrümmt, sein relativ klei-
ner Schenkel bildet mit dem Schenkel des Griffteils in der Regel einen Winkel von 90°,
wobei der Schenkel des Griffteils in gestrecktem Winkel eine Krümmung aufweist.
Seine Länge bewegt sich zwischen ungefähr 0,70 bis 0,90 m. Hakenbumerangs weisen
meist eine reiche Dekoration auf und kehren nicht zurück.74
Das Alter des Hakenbumerangs von Florida wurde durch die C-14 Methode auf etwa
10 000 Jahre bestimmt. Als man ihn rekonstruierte, also Modelle von ihm anfertigte,
erzielte man damit Flugweiten von bis zu 60 m. Von ethnologischer und kulturhistori-
Schroeter: Das Vorkommen des Bumerangs
scher Bedeutung aber ist die Tatsache, daß der Hakenbumerang bis zum Zeitpunkt des
Fundes von Little Salt Spring als eine ausschließlich auf Australien beschränkte Son-
derform des Bumerangs galt.
b. Mesoamerika
»Zu den uralten Waffen des mexikanischen Hochlandes... rechnet Krickeberg (1922)
auch den Bumerang.«75
Betrachten wir in diesem Zusammenhang den sogenannten Palast von Zacuala in Teo-
huacan: Hier erhielten sich im Portikus zwei Wandmalereien aus der klassischen Peri-
ode (Teotihuacan IV, um 650/750 d. Ztr.). Auf einer Wandmalerei fallen zwei sehr stark
gekrümmte Bumerangdarstellungen auf, zwischen denen sich eine menschliche Figur
befindet.76
Aus Los Corahillos, Guanacaste, Costa Rica, besitzt das Museum für Völkerkunde
Berlin ein Doppeltecomate,77 Das Gefäß stammt aus der Zond Bi Chrom-Periode (5. -
1. Jh. v. d. Ztr.).
Tecomaten sind übrigens halslose, auf floristische Vorbilder zurückgehende kugelige
Gefäße mit verengtem Ausguß. Doppeltecomaten sind äußerst selten und werden mei-
nes Wissens fast ausschließlich in Panama gefunden.
Das Berliner Gefäß ist mit mehreren gleichschenkeligen Kreuzen, die zwar durchaus
den Lebensbaum symbolisieren dürften, aber wegen ihrer Gleichschenkligkeit auch
Kreuzbumerangs sein können, versehen.
c. Südamerika
Für die rezente Zeit erwähnt Dieck78 weder Wurfholz noch Bumerang. Meines Erach-
tens dürften aber Wurfhölzer auch in Südamerika in Gebrauch gewesen sein. Was den
Bumerang angeht, so ist es mir nicht möglich, mich dazu grundsätzlich zu äußern.
Allerdings mit einer Ausnahme: Auf der Rückseite der Tiahuanaca-Stele 10, dem Ben-
nett-Monolithen (Tihuanaca, Bolivien), der möglicherweise eine weibliche Gottheit
darstellt79, könnten Bumerangs oder wenigstens Wurfkeulen dargestellt sein.
Anmerkungen
1 Davidson 1936:167 ff; Schiatter 1985:72
2 Schiatter 1985:73
3 Elkin 1940:114
4 Trezise 1971:11
5 Peter 1986:136
6 Grzimek 1979:211
7 Peter 1986:189
8 Luebbers 1975:39
9 Bretfeld 1987:168 in: Wilpert 1987
10 Braem 1994:159
11 Evers 1995:26
12 ibid.
13 Muschel- (Knochen)Haufen
14 History of Technology; vol.1:154, Musgrove 1975:13, Peter 1986:177
15 Musgrove 1975:12
16 Peter 1986:55
17 Anati 1974:24
18 Evers 1995:17-26
19 Braem 1994:163
20 Meyer 1974:85f.
21 ibid.
22 Evers 1995:17; Braem 1994:168
23 ibid.
24 Peter 1986:177
27 Schroeter 19957 (Erstauflage 1987):68
26 Peter 1986:178
27 Döbler 1975:135
28 Hansen 19932 (Erstauflage 1985): 10
29 Mongait 1961: 112; Peter 1986:178
30 Musgrove 1975:12; Peter 1986:181
87
TRI BUS 45, 1996
31 Schröder 19957 (1987):69
32 Peter 1986:181, Fig. 157
33 Strauss/Aghte 1985:69, Abbildungen 66-69
34 Musgrove 1975:13
35 Peter 1986:182
36 Hervorgehoben von mir
37 Peter 1986:182
38 Okladnikow 1972:55, 64, 105; siehe auch Evers 1995:26
39 Peter 1986:61
40 ibid.
41 Walker 1924:205; Peter 1986:181,Schroeter 19957 (1987):68
42 Musgrove 1975:12; Peter 1986:181; Schroeter 19957( 1987):68
43 Lenoch 1949:136; Peter 1986:186
44 Lenoch 1949:134
45 Schroeter 19957 (1987);68
46 Peter 1986:179
47 ibid.
48 Desroches-Noblecourt 1963:271; Peter 1986:179
49 ibid.
50 Volk unbekannter Herkunft, das um 1650 v. d. Ztr. Nordägypten, Syrien sowie das Gebiet des
heutigen Israel unterwarf.
51 Lenoch 1949:58; Peter 1986:180
52 In der Bibel Ahasverus genannt. Sohn von Darius I. Er unterdrückte Aufstände in Ägypten
sowie in Babylonien und versuchte Griechenland zu erobern. Wurde vom Anführer seiner Leib-
wache ermordet.
53 Musgrove 1975:14; Peter 1986:180
54 Peter ibid
55 Lenoch 1949:54
56 Peter 1986: 180
57 ibid: 60,180, Lenoch 1949; 55, 60f.
58 Strauss/Aghte 1985:1985, 22, fig.8,47; Abb. 3
59 Wie die einfachen Wurfhölzer und der Bumerang ebenfalls
60 Strauss/Aghte 1985:23
61 ibid.
62 Musgrove 1975:13
63 Zitat von mir geändert
64 Im Südwesten Nordamerikas kommen an Hasentieren der kalifornische Eselhase (Lepus cali-
fornicus), der Antilopenhase (Lepus allenis) und der Mexiko-Hase (Lepus mexicanus) vor. Es
handelt sich also bei dem im Zitat erwähnten »Kaninchen« um einen Vertreter dieser drei
Hasenarten.
65 Schroeter 1995 7 (1997);69 f.
66 Peter 1986:184
67 Hotz 1960:117
68 Fehrenbach 1975:37
69 Verrill 1927:181
70 Peter 1986:184
71 ibid; Handbook of the Indians of California 1925:632 f.
72 Clausen/ Cohen/ Emiliani/ Holman/ Stipp 1979: passim; Peter 1986:183
73 ibid.
74 ibid:57
75 Schmidt/Koppers 1924:454
76 Willey 1985; Farbtafel II
77 ibid: Farbtafel XX
78 Dieck 1916:9-20
79 Willey 1985; Abb. 402 und 406 b
Literatur
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Anati. E. Forschungszentren der Steinzeichenkunst um Valcamonica. Campo di Ponte 1974.
Braem, H. Die magische Welt der Schamanen und Höhlenmaler. Köln 1994.
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88
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Willey. G.R. Das alte Amerika. Berlin 1985.
Wilpert, C. (Hrsg.): Der Flug des Bumerangs. Hamburg 1987.
Danksagung.
Entscheidende Anregungen für diese Arbeit erhielt ich von dem inzwischen leider verstorbenen
Dr. Hanns Peter (Wien), dem ich hiermit posthum danke.
Danken möchte ich ebenfalls Herrn Dr. Hermann Schöppl von Sonnwaiden (Wien), Frau Dr.
Renate Schukies (Hamburg) und Herrn Professor Josef Otto (Stonewatch, Warmsroth).
89
TRI BUS 45, 1996
Abb. I Bumerang aus Jutland (nach »A History of Technology« und Peter).
90
Schroeter: Das Vorkommen des Bumerangs
Abb. 6 Vogeljagd mit Bumerangs in einer Mastaba bei Theben (nach »A History of Techno-
logy« und Peter).
91
Abb. 8 Südkalifornische Bumerangs (nach Peter).
Abb. 10 Bruchstück des in Little Salt Spring, Florida, gefundenen Bumerangs (nach Clausen et
al. und Peter).
92
DIRK H. R. SPENNEMANN
Ein javanisches Zeremonialbeil (candrasa) mit Fundortangabe
Waldalgesheim, Rheinland-Pfalz, Deutschland: ein Beitrag zur
Typologie und Chronologie
Neben den großen Kesselgongs (»Kesseltrommeln«) sind die großen Zeremonialbeile
eines der herausragendsten Erzeugnisse der südostasiatischen Metallzeit. Verfasser
stieß bei der Durchsicht der Literatur auch auf zwei Exemplare, die angeblich aus
Gau-Algesheim oder Waldalgesheim, Kr. Mainz-Bingen, Deutschland, stammen soll-
ten. Eines der beiden Stücke ist inzwischen verschollen, das andere befindet sich im
Besitz des Naturhistorischen Museums Mainz. Beide Beile wurden 1984 durch K. Kib-
bert im Rahmen seiner Erfassung aller Bronzebeile aus Hessen, Rheinland-Pfalz und
Nordrhein-Westfalen vorgelegt (Kibbert 1984: 179 f, Kat. No. 920-921; Taf. 67,
920-921). Kibbert bezweifelt zwar die Authenzität des Fundortes, möchte es jedoch
nicht vollständig ausschließen. Dies begründet er vor allem mit der Annahme einer
generellen Gleichzeitigkeit zwischen der Latene-Kultur Mitteleuropas und der Dong
So'n-Kultur Südostasiens sowie der sich daraus ergebenden Möglichkeit, daß diese
Stücke, bedingt durch die »weiträumigen Beziehungen der Kelten« schon während der
vorrömischen Eisenzeit nach Waldalgesheim gelangt sein könnten (Kibbert 1984: 179).
Die pontische Wanderung, die 1951 von R. v. Heine-Geldern in Erwägung gezogen
worden war, um die Ähnlichkeiten der südostasiatischen Bronzezeit mit der mitteleu-
ropäischen Hallstattkultur zu erklären (Heine-Geldern 1951; 1972), zeigt in diesem
Gedankenansatz noch ihre Nachwirkungen. Diese ungewöhnliche Spekulation gab
Anlaß, die Datierung dieser Beile erneut zu beleuchten. Im folgenden werde ich zuerst
eine Beschreibung der Beile und deren Fundgeschichte vorlegen. Danach soll dann die
typologische und chronologische Stellung dieser Zeremonialbeile abgehandelt werden.
Fundgeschichte
Gemäß einer Eintragung im Ankaufsbuch des Altertumsvereins Mainz (heute Mittel-
rheinisches Landesmuseum Mainz) sind beide Beile im Winter 1845 mit der Fundort-
angabe Waldalgesheim von einer nicht genannten Person erworben worden. Zum glei-
chen Zeitpunkt wurden keine weiteren Funde aus Waldalgesheim angekauft;
Verzeichnis der von dem Verein bis zum 3ten Dezember 1845 käuflich erworbenen
Gegenstände. A Römische Altertümer II. Bronzen; [Position] Nr. 2: 2 Geräte mit
beilähnlicher Schneide, deren Form und Bestimmung noch nirgend sonstwo veröffent-
licht und erklärt worden ist. Vielleicht Waffen. [Eintrag in Fundortspalle:] Waldalges-
heim. [Daneben Vermerk in anderer Handschrift;] sind javanische Bronzewaffen!
AuhV I, V, 3, 5-6' Diese beiden Stücke wurden 1864 von L. Lindenschmitt unter ande-
rer Fundortangabe-Gau-Algesheim statt Waldalgesheim - in den von ihm herausgege-
benen Alterthümern unserer heidnischen Vorzeit erstmals publiziert (Lindenschmidt
1864: Band I, 5.;Taf. III, 1-2). Die Authenzität dieser beiden in der mitteleuropäischen
Formenlandschaft auch 1864 zweifelsohne exotisch anmutenden Stücke wurde noch
1917 von Flinders Petrie akzeptiert (Flinders Petrie 1 gl 7: 11; Taf. VI, 188). Diese
Zuweisung erfolgte, obwohl daran schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts von A. Voss (zitiert in Worsaae 1879: 3100, J. J. A.Worsaae (1879: 31 Of; 1883: 197
Anm. 2) und C. Leemans (zitiert in Schmeltz 1889: 230) Zweifel geäußert worden
waren. Vor allem Leemans machte geltend, daß alle bis dahin bekannten Funde dieser
Zeremonialbeile aus Java (Indonesien) stammten - eine Feststellung, an der sich trotz
einer ungefähren Verdreifachung der publizierten Fundmenge bislang nichts geändert
hat (z. B. Glover 1979; 181; Bernet Kempers 1986). Folgerichtig korrigierte P. Reinecke
in seinem 1900 erschienenen Ergänzungsheft zu Bd. I-IV der Alterthümer unserer
heidnischen Vorzeit die Herkunftsangabe und spricht sie als altjavanische Bronzewaf-
fen an (Reineke 1900: 1, 11). Wohl infolge dieser Zuweisung wurden die Beile vom
Altertumsverein an das Naturhistorische Museum abgegeben,- das zu dieser Zeit über
eine größere ethnologische Sammlung verfügte (Jungk 1934: 22). ln seiner Arbeit über
93
TR1BUS 45, 1996
Abb. 1: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Verschollenes Exemplar. (Umzeichnung des Verfassers nach A.u.h.V.).M. ca. 1:3.
94
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 2: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Vorderseite, a) Ausdehnung der Tülle (Umzeichnung einer Röntgenaufnahme), b) Abbildung
des heutigen Zustandes (Zeichnung des Verfassers), c) Tülle mit ehemals ansitzender Öse
(Umzeichnung des Verfassers nach A.u.h.V). M. 1:3.
Abb. 3: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefunden.
Rückseite. Heutiger Zustand. M 1:3. (Photographie J. Bahlo, Römisch-Germanische Kommis-
sion, Frankfurt am Main).
95
Abb. 4: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. a) Vorderseite, b) Rückseite. (Photographie J. Bahlo. Röm.-German.Kommission, Frankfurt
a. M.).
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
südostasiatische Bronzen bildete O. R. T. Janse 1931 das heute noch erhaltene Stück
mit der Fundortangabe Java ab (Janse 1931; 106 u. Taf. VI, 8). Dieselbe Abbildung fin-
det sich nochmals 1942 bei J. G. Huijser in dessen Abhandlung über die Verzierungs-
technik indonesischer Bronzen (Huijser 1942; 149 Abb. 1,8), jedoch ohne Angabe eines
Herkunftsortes. Die bislang letzte Vorlage des Stückes geschah in der schon oben ange-
führten Arbeit K. Kibberts (1984).
Fundbeschreibung
Stück 1: Zeremonialbeil. - Angeblicher Fundort Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen,
Rheinland-Pfalz, - verschollen (Beschreibung und Zeichnung nach A.u.h.V). Beil mit
langer, dünner Tülle und asymmetrischer, weit aufschwingender Schneide. Das Exem-
plar war nur fragmentarisch erhalten, beide Klingenenden waren abgebrochen. Die
schmale Schäftungstülle besitzt einen spitzovalen Querschnitt. Der Tüllenmund war
konkav eingezogen und zipfelte an den beiden Enden aus. Auf der von Lindenschmit
veröffentlichten Zeichnung scheint parallel zur Schäftungstülle eine schmale Rippe zu
verlaufen, die vermutlich den verbliebenen Rest einer umfangreicheren Schaftverzie-
rung darstellt (vgl. hierzu die Ausführungen zu Stück 2). Etwas oberhalb dieser Rippe
ist an der dem kürzeren Schneidenseite zugewandten Seite der Tülle eine Öse ange-
bracht. Das Beil bestand aus einer Bronze-Legierung unbekannter Zusammensetzung.
- Maße: Klingenlänge: noch ca. 40,5 cm; Klingenbreite: ca. 3,5-7,5 cm: Länge des
Schaftes vom Tüllenmund bis zur Schneide: ca. 36 cm; kleinste Breite der Tülle ca. 2
cm; Durchmesser der Öse: ca. 0,5 cm; Länge der Schäftungstülle: 14,5 cm; Breite der
Schäftungstülle; ca. 2 cm (Abb. 1). Stück 2: Zeremonialbeil. - Angeblicher Fundort
Waldalgesheim, Kr. Mainz-Bingen, Rheinland-Pfalz. - Beil mit langer, dünner Tülle
und asymmetrischer, weit aufschwingender Schneide. Die längere Schneidenseite ist
abgebrochen; die Spitzenpartie der kürzeren Schneidenseite ist eingebogen, die Spitze
selbst abgebrochen. Die Schäftungstülle besitzt einen spitzovalen Querschnitt und
zieht sich bis an die Basis der Schneidenpartie heran (Abb. 2 a u. Abb. 8). Die Tülle ist
an mehreren Stellen beschädigt; so am oberen Ende (vgl. dazu die Abbildung bei L.
Lindenschmidt 1864), im Mittelteil (nach 1931 entstanden, Kriegseinwirkung?) und
am Tüllenmund. Die am Tüllenmund angebrachte, dem kürzeren Klingenende zuge-
wandte Öse ist abgebrochen, die Ansatzstellen sind noch erkennbar. Auf der von Lin-
denschmit veröffentlichten Abbildung ist diese Öse noch vorhanden (Abb.2 c). Der
Tüllenmund ist konkav eingebogen und zipfelt an beiden Enden noch geringfügig aus;
eine Seite des Mundes ist leicht beschädigt. Auf der Vorderseite des Zeremonialbeiles
finden sich noch geringe Spuren einer Verzierung (siehe unten). Die lang ausgezogene
Beilschneide weist mehrere kleine Gußfehler auf; Vor allem können kleine, rundliche
Hohlräume festgestellt werden, die von Luftblasen herrühren. Die Schneide selbst ist
scharfkantig, der Schneidenschliff liegt etwa 1 cm vor der Schneidenkante. Die Ober-
fläche des Beiles ist von Korrosion angegriffen - vermutlich als Folge der Feuereinwir-
kung im 2. Weltkrieg. Eine metallanalytische Untersuchung mittels der Neutronenak-
tivierungsanalyse und der Atom-Absorbtions-Spektroskopie vorgenommen von Dr.
D. Hollmann und Dr. G. Wolf ermittelte die Zusammensetzung der Bronzelegierung
(siehe unten). Die Patina des Beiles ist dunkelgrau-grün. Maße: Klingenlänge: 50,0 cm;
Schneidenlänge (Bogenlänge): 55,3 cm; Klingenbreite (gemessen am abgebrochenen
Ende); 3,0 cm; Länge des Schaftes vom Tüllenmund zur Schneide: 30,5 cm; kleinste
Breite des Schaftes: 2,1 cm; Durchmesser der Öse; ehemals 0,5 cm; Länge der Schäf-
tungstülle: 13,3 cm; Breite der Tülle: 2,3 cm (ehemals 2,6 cm); Tiefe der Tülle: 21,3 cm;
Aufbewahrungsort; Naturhistorisches Museum, Mainz. Inventarnummer 1956/16.
Diskussion der Waldalgesheimer Beile
Beide vorstehend beschriebenen Beile sind unvollständig. Wie auch bei den meisten
anderen der erhaltenen Beile ist die weiter aufschwingende Schneide abgebrochen (vgl.
Abb. 11, Liste der Beile Nr. 4.15.17-25.27-31).
Lediglich ein einziges Beil in dieser Fundliste (Nr. 16), das in der Desa Ci Hondje,
Distrikt Bandjaran, Residentie Bandung gefunden wurde, kann als vollständig angese-
hen werden (vgl. Abb. 11, Liste Nr. 16; Janse 1938; Taf. VI, 7; Huijser 1942; 149 Abb.
1, 7; van der Hoop 1941: 191; Abb. 56, drittes Beil von links). Die Schneide dieses in
97
TR1BUS 45, 1996
Abb. 8: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Röntgenaufnahme der oberen Tüllenpartie. Die Aufnahme zeigt deutlich den kantigen
Abschluß der Tülle. Der tiefschwarze, runde Fleck stellt die Bohrung zur Entnahme der Materi-
alprobe dar. Technische Daten der Aufnahme: Film; Du Pont Cronex Safety Film; Belichtungs-
dauer: 90 mAs.; Strahlungstärke: 100 kV. Röntgenaufnahmen D. Steffel, Universitätskliniken
Frankfurt am Main, M. ca. 1:1.
98
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 5: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Rekonstruktion des erhaltenen Zeremonialbeiles, basierend auf einem vollständigen Exem-
plar gefunden in der Desa Ci Hondje, Distrikt Badjaran, Residentie Bandung, Java, Indonesien.
(Siehe Liste Nr. 16).
Abb. 6: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Rekonstruktion der auf der Tülle angebrachten Verzierung, basierend auf einem in der
Umgebung von ßogor, Java, Indonesien, gefundenen Zeremonialbeiles. a) Vorderseite, b) Rück-
seite.
99
TRIBUS 45, 1996
Fragmente zerbrochenen Beiles ist insgesamt 133,7 cm lang. Die auf diesem Beil basie-
rende Rekonstruktion auf Abbildung 5 zeigt, wie das Waldalgesheimer Beil wohl ein-
mal ausgesehen haben könnte. Nur ein einziges Beil, das Exemplar aus der Umgebung
von Bogor (Nr. 23) scheint auch ursprünglich eine kürzere Klinge besessen zu haben -
wenn es nicht nach dem Abbrechen der Klinge einen neuen Anschliff der Spitzenpar-
tie erhalten hat. Wie schon bei der Beschreibung angedeutet, sind auf der Tülle des
erhaltenen der beiden Waldalgesheimer Beile noch geringe Reste einer ehemaligen Ver-
zierung zu erkennen. Im allgemeinen besitzen alle großen Zeremonialbeile eine ver-
zierte Tülle, wobei die Verzierung von Vorder- und Rückseite unterschiedlich sein
kann. Im Gegensatz zur Rückseite, die häufig unverziert ist oder nur ein einfaches, an
Flechtwerk erinnerndes Ornament zeigt, ist die Vorderseite reicher verziert (Ci Hondje,
Bandjaran, Bandung, Java (Nr. 13): van Heekeren 1958: Abb. 5.; Umgebung von
Bogor, Java (Nr. 23): Victoria & Albert Museum, London). Das ursprüngliche Erschei-
nungsbild der Tülle des Waldalgesheimer Beiles kann an einem anderen Beil, dessen
Verzierung sehr gut erhalten ist, demonstriert werden (Abb.6 a + b), da sich noch
geringe Reste derselben Verzierung an dem Waldalgesheimer Beil feststellen lassen (Ci
Hondje, Bandjaran, Bandung, Java (Liste der Beile Nr. 13): van der Hoop 1941: 191;
Abb. 57; Dasselbe Muster auf einem Beil mit Herkunftsangabe Java (Liste der Beile
Nr. 29): Huisjer 1942: 153 Abb. 4, sowie bei einem Exemplar aus der Umgebung von
Bogor (Liste der Beile Nr. 23): Victoria & Albert Museum, London; desgl. Java (Liste
der Beile Nr. 28): Schmeltz 1889: 169 f; Taf. 12, 5). Der Tüllenschaft ist durch hori-
zontale, aus punktgefüllten Doppellinien bestehende Bänder in sechs Felder geteilt.
Den unteren Abschluß der ornamentalen Zone bilden drei oder vier dieser Bänder, die
Zone um den Tüllenmund selbst ist unverziert. Die unteren fünf der von den Bändern
eingefaßten Felder zeigen alle dasselbe Muster: zwei gegeneinandergestellte und in der
Mitte auseinandergezogene Doppelspiralen. Der Stellungswinkel der Spiralen wird mit
abnehmender Tüllenbreite immer steiler. Die Felder sind mit einem girlandenförmigen
Punktmuster gefüllt, das die Konturen der Doppelspiralen nachzeichnet. Das oberste
Feld zeigt zwei konzentrische Kreise, unter denen je ein spitzovales Augenmotiv ange-
bracht ist. Dieses Ornament stellt die Reduktion des Maskenmotives dar, das auch auf
anderen normalen Tüllenbeilen auftritt (van Heekeren 1958: Abb. 3.; van der Hoop
1949; 100 f. Siehe auch auf extrem großem Tüllenbeil von Macassar: van Heekeren
1958: Abb. 4). Diese Verzierung wurde, wie auch bei den großen Bronzetrommeln, mit-
gegossen und nicht nachträglich eingepunzt (Marschall 1968).
Herstellung der Beile
Schon bei der Betrachtung der Oberfläche, insbesondere aber in der Röntgenaufnahme
(Abb. 7) läßt sich erkennen, daß die Klinge nicht massiv, sondern mit einer großen
Anzahl von Luftblasen durchsetzt ist, die beim Guß des Stückes entstanden sind. Der
Guß derartig großer Gegenstände ist sehr kompliziert, da die Bronze so lange flüssig
gehalten werden mußte, bis sie die ganze Gußform ausfüllte. Wie die vielen Luftblasen
andeuten, ist die Bronze beim Guß des Waldalgesheimer Exemplares zu früh erstarrt;
das Gußergebnis war aber dennoch ausreichend. Daß die javanischen Bronzehandwer-
ker durchaus in der Lage waren, die Bronze lange genug flüssig zu halten, belegen die
im allgemeinen mit drei Formteilen gegossenen großen bronzenen Kesseltrommeln
(Marschall 1968; 45 ff.; van der Hoop 1936: 88 ff; 1938: 77; Abb. 60), welche zweifels-
ohne die technologischen Meisterwerke der südostasiatischen Metallzeit darstellen
(Heger 1902; Bunker 1972; Goloubev 1940 Ning Sheng 1978; Sheng 1974; Spenne-
mann 1984; 1985; Weiqing 1979; Zengqing, 1964). Um das Metall lange genug flüssig
zu halten, wurde der für den Trommelguß verwendeten Bronzelegierung zumeist ein
hoher Anteil von Blei als Flußmittel zugesetzt, der bis zu 27,8% betragen konnte (Holl-
mann & Spennemann 1985a; 1985b).
Im Rahmen eines größeren paläometallurgischen Untersuchungsprogramms (Jocken-
hövel und Wolf 1984; Hollmann & Wolf in Schlott u.a. 1985) ergab sich die Möglich-
keit, auch das hier beschriebene javanische Zeremonialbeil auf seine Zusammenset-
zung hin zu untersuchen. Das Ergebnis der Analyse ist wie folgt:
Kupfer: 90,09%
Blei: 0,5%
Zinn: 9,33%
100
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 7: Javanisches Zeremonialbeil, angeblich in Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen, gefun-
den. Röntgenaufnahme der Schneidenpartie. Technische Daten der Aufnahme; Film: Du Pont
Cronex Safety Film. Belichtungsdauer; 80 mAs.; Strahlungsstärke: 70 kV. Röntgenaufnahmen D.
Steffel, Universitätskliniken Frankfurt am Main, M ca. 1:1.
Eisen; <0,002%
Silber: 0,030 %
Zink; 0,038%
Arsen 0,002%
Antimon: 0,0002%
Kobalt: <0,00004
Nickel: < 0,004%
Gold: 0,00001%
Selen: 0,0065%
Auffallend ist für ein solches, in einer relativ komplizierten Form gegossenes Stück, der
geringe Gehalt an Blei. Die Bronze wurde bei schneller Abkühlung zwar dickflüssiger,
was die Gußtechnik erheblich kompliziert haben muß, das fertige Werkstück insgesamt
aber härter und widerstandsfähiger wurde. Hiervon abgesehen liegen die Werte für Blei
und Silber im Rahmen der Ergebnisse von bisher bekannten Analysen von javanischen
Zinnbronzen (Werner 1972). Die Gehalte an Nickel, Eisen, Arsen, Antimon, und Gold
sind jedoch sehr gering.
Gußformen stellen einen seltenen Bestandteil des Fundgutes der südostasiatischen
Metallzeit dar, und bislang wurden noch keine Gußformen gefunden, die für die Her-
stellung von Zeremonialbeilen gedient haben. Ein Guß in der verlorenen Form ist
jedoch angesichts der Länge der Klingen der Zeremonialbeile ausgeschlossen.
Aber auch bei der Verwendung einer Gußform wirft die extreme Länge mancher Klin-
gen (bis zu 133 cm) große Probleme auf. Es kann, wie auch bei den Trommeln (Mar-
schall 1968), mit mehreren Eingußtrichtern gerechnet werden. Auffällig ist. daß die
Klingen der meisten Zeremonialbeile an mehr oder minder derselben Stelle abgebro-
chen sind. Sollten hier zwei Ströme flüssigen Metalls aneinandergetroffen sein, die
schon zu abgekühlt waren, um noch zu einer belastungsfähigen Verbindung zu ver-
schmelzen? Die runden Luftblasen zeigen deutlich an, daß die Klinge nach dem Guß
nicht noch getrieben oder geschmiedet wurde.
Im Zusammenhang mit den metallurgischen Beobachtungen am Waldalgesheimer
Exemplar sei noch auf den inneren Abschluß der Tülle hingewiesen, der im Röntgen-
bild (Abb. 8; Umzeichnung siehe Abb. 2a) eine eckig abgesetzte und spitz zulaufende
Begrenzung zeigt. Um einen Hohlraum zu erstellen, ist die Verwendung eines Kernes
101
TR1BUS 45, 1996
unumgänglich. Dieser kann aus Ton bestehen, aus einem anderen, aber auch aus dem-
selben Metall wie das zu gießende Stück. In letzterem Falle muß jedoch die Legierung
des Kernes einen höheren Schmelzpunkt besitzen als die des Gußstückes. Da es sehr
unwahrscheinlich ist, daß bei der Verwendung eines Tonkernes zur Herstellung der
Schäftungstülle auf einen derart exakten und kantigen Abschluß Wert gelegt wurde,
kann geschlossen werden, daß der Formkern aus einem anderen Material, vermutlich
Metall bestanden hat. Welches Objekt als Formkern gedient hat, beziehungsweise
warum das Ende des Kernes kantig abgesetzt war, ist allein anhand des Waldalgeshei-
mer Beiles ebensowenig zu klären wie die Art der Fixierung des Kernes in der Guß-
form. Im Inneren der Tülle lassen sich jedenfalls keine Spuren von Abstandhaltern (für
den Kern) feststellen, ohne die eine gleichmäßige Wandstärke der Tülle nicht erreicht
werden kann (Ehrenberg 1981; Rynne 1983).
Zur Schäftung
Bei der ersten Vorlage der besprochenen Beile nahm L. Lindenschmit aufgrund der
schmal-ovalen Tülle des Schaftes an, daß dieser allein bei der Form und der Weite sei-
ner Öffnung nicht zur Befestigung eines langen Schaftes, höchstens eines krückenarti-
gen Heftes geeignet sei (Lindenschmit 1864; Band I. 5). Auf der Schneidenseite des
Zeremonialbeiles aus Tuban, das im Wald von Alas Malang, Desa Gegnung, Unter-
distrikt Montang, Distrikt Tuban, Res. Djapara-Rembang, gefunden wurde (Nr. 22),
befinden sich mehrere flachplastische Verzierungselemente, darunter auch die Darstel-
lung eines Hühnervogels mit aufgerichtetem Kamm und weit aufgerissenem Schnabel
(Anonymous 1937: 101; 109.; Stutterheim 1936; van der Hoop 1941: 193 f.; Abb. 56,
Stück unten rechts; Abb. 58.; Bernet Kempers 1959: 28; Taf. 7; van Heekeren 1958: 10;
Abb. 6; Taf. 3). Dieser Vogel hält ein geschäftetes, großes Zeremonialbeil in seinen
Krallen (Abb. 9), dessen Schäftung, wie von Lindenschmit vorhergesagt, einen
krückenartigen Holm aufzeigt. Die von der Tülle abgewandte Seite des Holmkopfes
scheint mit dreieckigen Zacken versehen zu sein, die dem Kamm des Vogels gleichen.
Eine solche zackenartige Verzierung am Holmkopf wiederholt sich an einem der bei-
den noch vorhandenen - samt Schaft in einem Stück gegossenen - Zeremonialbeile aus
dem Beildepot von Landu, im Norden der Insel Roti, Indonesien (van der Hoop 1938:
65; 77; 81; Abb. 47-49; 1941: 197 ff; Bernet Kempers 1959: Taf. ll.;van Heekeren 1958:
10; Abb. 7.; Teillers 1940;Taf. 7-9). Eine Bestätigung für die Schäftung mittels eines
krückenartigen Holmes findet sich an einem aus Java stammenden und im Rijksmu-
seum in Leiden aufbewahrten Exemplar, bei welchem noch ein Teil des Schaftes mit in
Bronze gegossen wurde (Abb. 10; Nr. 30; Worsaae 1883: 196 Abb. L; Juynboll 1909:
194 KatNr. 2558; PleyCe 1901: 181 Abb. oben).
Verwendung
Seit dem Bekanntwerden dieser Beile wird über ihre Verwendung spekuliert. Die Über-
legungen reichen von Geräten zur Bodenbearbeitung (Juynboll 1909), zum Zerschla-
gen von Baumwurzeln (Juynboll 1909), zur Gerberei beziehungeweise zur Bearbeitung
von Leder (Lindenschmidt 1864), bis hin zum griechisch-römischen Helmbusch (Flin-
ders Petrie 1917). Ebenso wie die Interpretation als Waffen (Lindenschmit 1864;
Reinecke 1900) erwiesen sich auch die anderen Deutungen sowohl wegen der langen
und dünnen und damit kaum widerstandsfähigen - Ausführung der Tülle als auch
wegen der extremen Länge der Schneide und der schlechten Materialqualität der mit
Luftblasen durchsetzten Klinge als falsch. Vielmehr ist eine Verwendung als Zeremo-
nialwaffen oder Statussymbole anzunehmen eine Deutung, die von der Forschung
seit längerem akzeptiert wird (Juynboll 1909; Stutterheim 1936; van der Hoop 1941;
van Heekeren 1958; Bernet Kempers 1986: 292 passim).
Herkunft der Beile
Bei der Frage nach der Herkunft der beiden Waldalgesheimer Stücke bieten sich drei
Möglichkeiten an;
1. Die Fundstücke sind mit falscher Herkunftsangabe aus dem Kunsthandel erworben
worden. Obwohl eine Fundortangabe Waldalgesheim in Anbetracht des bekannten
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 9: Ausschnitt aus der Verzierung eines javanischen Zeremonialbeiles aus der Desa Gegun-
ung, Distrikt Tuban, Res. Djapara-Rembang, Java, Indonesien. 1) Umzeichnung des Hühnervo-
gels mit einem Zeremonialbeil in den Klauen. 2) Detailzeichnung des Zeremonialbeiles. Maßstab
unbekannt. (Umzeichnung einer Photographie bei van der Hoop 1941; Abb. 58.)
Abb. 10: Javanisches Zeremonialbeil mit
mitgegossener Schaftpartie aus Bronze.
M 1:6. (Umzeichnung des Verfassers nach
Worsaae 1883; 196 Abb. I.)
103
TR1BUS 45, 1996
keltischen Fürstengrabes verdächtig ist, kann eine Unterschiebung aus diesen Beweg-
gründen ausgeschlossen werden, da dieses Grab erst 1865 gefunden wurde (aus'm
Werth, E. 1870).
2. Die Fundstücke sind mit falscher Herkunftsangabe von einem Privatmann erworben
worden. Es ist anzunehmen, daß der ehemalige Besitzer dieser Stücke sich in Java auf-
gehalten und die Stücke mitgebracht hat. Eine derartige Deutung gibt auch C. Lea-
mans, der sich auf eine diesbezügliche Mitteilung L. Lindenschmits beruft (Schmeltz
1889: 230). Seit dem 10. August 1845 besaß die Rheinisch Naturforschende Gesell-
schaft (R.N.G.) eine kleine ethnologische Sammlung - Waffen, Kleidungsstücke und
Kopfputz (Jungk 1934: 22), die ein Herr Schwab, Oberleutnant in den Kgl. Nieder-
ländischen Kolonialtruppen, Militär- und Zivilkommandant zu Wanii auf der zu den
Molukken gehörigen Insel Ceram, ein Mainzer, der R. N. G. zum Geschenk gemacht
hatte. Gerade die augenfällige Deckungsgleichheit der Jahresangaben macht eine Her-
kunft der beiden Beile aus dieser Quelle sehr wahrscheinlich.3
3. Die Fundortangabe ist korrekt. Dies erscheint unwahrscheinlich, auch wenn K.
Kibbert die Möglichkeit eines vorrömischen Importes nicht ganz ausschließen möchte
(Kibbert 1984: 179). Eine Interpretation im Sinne K. Kibberts verbietet sich jedoch -
wie im folgenden aufzuzeigen ist - durch die Datierung und durch die enge Verbreitung
vergleichbarer Zeremonialbeile.
Zur Dong So'n-Kultur Indochinas
Ausgangspunkt für die Betrachtung der Beile muß die Dong So'n-Kultur Indochinas
bilden. Die in den dreißiger Jahren ergrabene Siedlung Dong So'n, Provinz Thanh
Hoa, Annam, heute SR Viet Nam, bildet die namengebende Fundstelle für die späte
Bronzezeit Indochinas (Goloubev 1929; Janse 1958). Der Fundbestand dieser Kultur
konnte durch datierende Funde aus der Fundstelle Dong So'n selbst (Bezacier 1972;
Chien und Dian 1983; Nguyen Phuc Long 1975; Tran van Tot, 1969, 5 ff.) sowie vor
allem durch das Fundmaterial der in den fünfziger Jahren ergrabenen Gräberfelder der
Dian-Kultur Südchinas chronologisch abgesichert werden (Yunnan Sheng Bowuguan
1959; Zhang Zengi und Wang Dadao 1975; Bunker 1972; von Dewall 1967; 1972;
1979a; 1979b; Pirazzoli-t’Serstevens 1974). Als besonders gut geeignete chronologische
Indikatoren, Leitfossilien sozusagen, dienten die großen bronzenen Kesselgongs, die
herausragendsten und wohl auch bekanntesten Erzeugnisse der südostasiatischen
Bronzezeit. Die vietnamesische Forschung ist heute durch mehrere gut beobachtete
Grabungen in der Lage, den Fundstoff aller bronzezeitlichen Kulturerscheinungen
Indochinas zeitlich zu gliedern. Dies war umsomehr vonnöten, als der Begriff Dong
So'n, über den in der gleichnamigen Fundstelle vorhandenen beziehungsweise den an
diesen eng anschließbaren Fundstoff hinaus auch auf andere Metallfunde desselben
Raumes ausgedehnt und in den fünfziger Jahren so stark verwässert und entwertet
wurde, daß er schließlich synonym mit der allgemeinen südostasiatischen Metallzeit
verwendet wurde (Heine-Geldern 1945: 143; zur Kritik am Topos Dongson siehe Mar-
schall 1968: 65 f). So spricht etwa H. R. van Heokeren von Dong So'n, wenn er die
metallzeitlichen Einflüsse und die bronzezeitlichen Kulturen in Indonesien abhandelt
(van Heekeren 1958). Er ist sich jedoch dieses über die Gebühr gequälten Begriffes
(Marschall 1968: 65) bewußt und führt darum den Kunstbegriff Bronze-Iron age ein
(van Herkeren 1958: 1), der jedoch nicht befriedigte und sich auch nicht vollkommen
durchsetzen konnte. Während diese Begriffsinkohärenz dem mit der südostasiatischen
Materie vertrauten Prähistoriker bekannt ist, kann sie, verbunden mit der Erinnerung
an die heute überholte Theorie der pontischen Wanderung (Solheim 1980) einen
außenstehenden Prähistoriker zu falschen Schlußfolgerungen verleiten. Es ist von Fall
zu Fall zu prüfen, in welchen Abschnitt der Dong So'n-Kultur bzw. der südostasiati-
schen Metallzeit die herangezogenen Parallelen nun eigentlich datieren. Einem sich aus
dieser geschilderten Begriffeinkoherenz ergebenden Mißverständnis ist auch K. Kib-
bert zum Opfer gefallen, als er aufgrund der Zuweisung der javanischen Zeremonial-
beile zur Dong So'n-Kultur (van Heekeren 1958: 9 f.) eine Datierung dieser Stücke in
das 4. Jhd. vor bis 1. Jhd. nach Chr. vornahm und ihm aus diesem Grunde ein vorrö-
mischer Import als möglich erschien.4 Im folgenden soll nun versucht werden, diese
Beile in topologischer, typologischer und chronologischer Hinsicht zu fixieren. Zur
typologischen Fixierung der javanischen Zeremonialbeile: Alle bislang vorhandenen
104
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 11: Verbreitung der javanischen Zeremonialbeile. Dreieckssignatur: Kleine Form. Punkt-
signatur: Große Form. (Kleine Punkte: Einzelfunde. Große Punkte: Mehrere Belege). Eingetra-
gen ist auch die Lage der Tempelanlagen von Borobudur und Candi Sukuh. Die Nummern bezie-
hen sich auf die Fundliste
großen Zeremonialbeile mit bekanntem Fundort stammen aus Java (Tabelle 1 und
Abb. 11), ein Faktum, das auch in der neueren Literatur hervorgehoben wird (Glover
1979: 181. Talon-Noppe & Fauconnier 1983; Bernet Kempers 1988, 295). Sämtliche
Exemplare sind Einzelfunde ohne jeden datierenden Kontext. Häufig ist die Herkunft
der Exemplare lediglich mit »Java« angegeben. Ihr Auftreten konzentriert sich vor
allem auf den Westen der Insel (Abb. 11), während die Verbreitung im Osten ausdünnt.
Zur typologischen Fixierung der javanischen Zeremonialbeile.
Es ist hier nicht der Ort, eine Revision der Typologie sämtlicher südostasiatischer
Bronzebeile zu versuchen. Die folgende Typologie versucht zum einen eine hypotheti-
sche Ableitung der javanischen Zeremonialbeile von den Dong So'n Beilen darzulegen,
und zum anderen den Unterschied zwischen den Dong So'n Beilen und den javani-
schen Zeremonialbeilen zu belegen. Sowohl in der Dong So'n Kultur (sensu strictu, d.
h. Phase II nach Van Trong; Solheim II 1983 9 ff.) als auch in der Dian-Kultur
Südchinas treten Beile mit aufschwingender asymmetrischer Schneide auf (v. Dewall
1979: 142f.; Spennemann 1985: 158 Abb. 13). Schon 1958 postulierte O. R. T. Janse bei
der Besprechung der bootsförmigen Beile der eponymen Fundstelle Dong So'n, Thänh
Hoa Provinz, SR Viet nam, daß die javanischen Zeremonialbeile eine lokale Entwick-
lung der Dong So'n Beile darstellen mögen (Janse 1958; 53).
Abbildung 12 zeigt eine typologische Seriation der Beile, deren Grundlage die Hypo-
these darstellt, daß alle asymmetrischen Beile aus den bootsförmigen oder fußförmi-
gen Tüllenbeilen (haches peediformes) der Dong So'n Kultur hervorgegangen sind.
Fußförmige Tüllenbeile weisen eine Schneide auf, die eine ausschweifende und eine
eckig abgesetzte Seite aufweist (Abb. 12A). Solche Beile sind von mehreren Fundstel-
len der Dong So'n Kultur in Viet Nam bekannt.5 Zudem wurden derartige Beile auch
in Fundstellen der Dian Kultur angetroffen (v. Dewall 1979: 157), u.a. Shichai-shan in
Yünnan, China,wo diese Beile mit Kesselgongs des Typs Heger I vergesellschaftet sind
(Yunnan Sheng Bowuguan 1959). Darstellungen ähnlicher Beile finden sich auch auf
den Mänteln der großen Kesselgongs des Typs Heger I (z. B. Hä-nöi Trommel, Golau-
bev 1929: 15 Fig. 4a-c; g-g2; - siehe Abbildungen in Spennemann 1985: 161) und bie-
ten, neben Informationen über die Schäftungsweise, einen weiteren verläßlichen
Anhaltspunkt zur Datierung der fußförmigen Dong So'n-Beile. Die Tendenz zu einer
steigenden Überbetonung der asymmetrischen Schneide ist innerhalb der Dong So'n
Kultur (sensu strictu) deutlich festzustellen.
Dieser Typ leitet zu den entwickelten fußförmigen Beilen über, bei denen die eckig
abgesetzte Schneidenseite abgerundet ist, was dem Beil eine fast halbmond-förmige
Schneide verschafft (Abb. 12B).
Solche Beile treten parallel zu den fußförmigen Beilen auf, sind aber nur in Viet Nam
verbreitet.6 Eine Perforierung dieser Schneide führt zu den bootsförmigen oder pur-
halbmondförmigen Beilen (Abb. 12C), welche zwar in der Dong So'n Kultur (Janse
105
TRIBUS 45, 1996
Tabelle 1: Verbreitung der javanischen Zeremonialbeile.
A: Kleine Form
1 Kampong Gobang, Leuwiliang (Mus. Djakarta 4291) (van der Hoop 1941)
2 Umgebung von Bogor (Victoria & Albert Mus. B 45) (Victoria and Albert
Museum, London. Ständige Ausstellung der Samuel Eilenberg Collection)
3 Surabaja (Mus. Djakarta 3744) (van der Hoop 1941)
B: Große Form
4 Desa Cibogohilir, Darangdan, Krawang (Mus. Djakarta 1435) (van der Hoop
1941)
5 Desa Cibogohilir, Darangdan, Krawang (Mus. Djakarta 1432) (van der Hoop
1941)
6 Desa Cibogohilir, Darangdan, Krawang (Rijksmus. Leiden 1693/1) (Juynboll
1909)
7 Desa Cibogohilir, Darangdan, Krawang (Rijksmus. Leiden 1693/2) (Juynboll
1909)
8 Sukabumi (van Heekeren 1958)
9 Sukabumi (van Heekeren 1958)
10 Sukabumi (van Heekeren 1958)
11 Umgebung von Bandung (Mus. Djakarta 1431) (van der Hoop 1941)
12 Ci Hondje, Bandjaran, Bandung (Mus. Djakarta 1432) (van der Hoop 1941)
13 Ci Hondje, Bandjaran, Bandung (Mus. Djakarta 1436) (van der Hoop 1941: 191;
Abb. 56, zweites Beil von links; Abb. 57; van Heekeren 1958, Abb. 5)
14 Indehiang, Priangan (Mus. Djakarta 1438) (van der Hoop 1941)
15 Panjarian, Djeungdjingrigil, Ciloktat, Bandung (Mus. Djakarta 1444) (van der
Hoop 1941)
16 Ci Hondje, Bandjaran,Bandung (Mus. Djakarta 1433) (Janse 1938; Taf. VI,7; Hui-
jser 1942; 149 Abb 1,7; van der Hoop 1941: 191; Abb. 56, drittes Beil von links)
17 Lamadjang, Kowali, Ciamis (Mus. Djakarta 1440) (van der Hoop 1941)
18 Pekalongan (van Heekeren 1958)
19 Semarang (van der Hoop 1938: 9 ff., spez. 63; 65 Abb. 46 unten)
20 Sarakorta (Mus. Djakarta 4333) (van der Hoop 1941)
21 Desa Polbajem, Salang, Rembang (Mus. Djakarta 1439) (van der Hoop 1941)
22 Alas Malang, Gegunung, Montang, Tuban (Mus. Djakarta 2435) (Anonymous 1937:
101; 109.; Stutterheim 1936; van der Hoop 1941: 193 f; Abb. 56, Stück unten rechts;
Abb. 58.; Bernet Kempers 1959: 28; Taf. 7;van Heekeren 1958: 10; Abb. 6; Taf. 3)
23 Umgebung von Bogor (Victoria & Albert Mus. B 1). (Victoria and Albert
Museum, London. Ständige Ausstellung der Samuel Eilenberg Collection)
24 Umgebung von Surakarta (Solo Museum, No. 34) (pers. comm. S. Eilenberg)
C: Näherer Fundort unbekannt
25 Waldalgesheim Beil 1 (dieser Artikel, Abb. 1)
26 Waldalgesheim Beil 2 (dieser Artikel, Abb. 2-A)
27 Java (Mus. Djakarta 5095) (van der Hoop 1941)
28 Java (Rijksmus.Leiden 704/19) (Juynboll 1909)
29 Java (Gemeentemus. s'Gravenhage) (Huijser 1942)
30 Java (Rijksmus. Leiden 2558)
31 Java (Mus. Djakarta 1437) (van der Hoop 1941)
32 Java (S. Eilenberg Collection) (pers. comm. S. Eilenberg)
33 Java (S. Eilenberg Collection) (pers. comm. S. Eilenberg)
34 Java (kleine Form) (S. Eilenberg Collection) (pers. comm. S. Eilenberg)
35 Java (Mus. Delft, die befand sich in einer Ausstellung, weiterer Verbleib unbe-
kannt) (pers. comm. S. Eilenberg)
36 Java (Mus. Delft, die befand sich in einer Ausstellung, weiterer Verbleib unbe-
kannt) (pers. comm. S. Eilenberg)
37 Java (Mus. Delft, die befand sich in einer Ausstellung, weiterer Verbleib unbe-
kannt) (pers. comm. S. Eilenberg)
38 Java (Privatsammlung) (Talon-Noppe & Fauconnier 1983)
39 Indochina (Kleines Zeremonialbeil) (Mus. Djakarta 4468) (van der Hoop 1941)
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 13; Miniaturzeremonialbeile gefunden in der So’n-tay Provinz, Viel Nams (nach Janse
1958: 73; pl. 47, 3-4).
107
TRI BUS 45, 1996
1958: 40 Fig. I, pl. 12,12;28;29,2), aber nicht in der Dian-Kultur auftreten (v. Dewall
1979: 157). An der Schäftungstülle sind kleine Ösen angebracht, die eventuell zur Häf-
tling oder zur Befestigng von kleinen Ratteln dienten (Janse 1958, pl. 28 und Anmer-
kungen ebenda). Es ist hervorzuheben, daß derartige Ösen sich nicht an reinen fußför-
migen Beilen finden. Die Weglassung der kleinen Verbindungsstege der bootsförmigen
Beile führt zu Typ D (Abb. 12D), welche zudem eine geradere Schneide aufweisen als
die Beile vom Typ C. Die Schneidenenden sind eingerollt, zum Teil zu kompletten
Ösen. Wie auch die bootförmigen Beile sind die Beile des Typs D auf die Dong So'n
Kultur beschränkt und kommen nur in Nord Viet Nam vor (Janse 1958: pl. 29,1;
Goloubev 1929: pl. xvii; Bezacier 1972; 140). Typologisch lassen sich vom Typ D noch
die in der Dong So'n Kultur und in Südchina vorkommenden Typen F und G ableiten,
die symmetrische weit ausschwingende Schneiden aufweisen.7
Zwischen diesen Beilen, und den weitausschwingenden Hellebarden Java's (Typ E)
befindet sich eine typologische Lücke, die sich durch zwei Funde aus der So'n-täy Pro-
vinz Viet Nams zumindest teilweise schließen läßt (Abb. 13). Während manche Auto-
ren diese Miniaturbronzen als Pflugscharen ansprechen (Janse 1958: 73; pl. 47, 3-4;
Bezacier 1972; 174 passim) können sie ebenso als geschäftete Miniaturbeile angesehen
werden, eine Interpretation, die von Bezacier (1972: 176) ebenfalls in Betracht gezogen
wurde. In der Fundstelle Dong So'n wurden mehrfach Grabbeigaben in Miniaturform
gefunden, vor allem Kesselgongs (Janse 1958, pl. 12, 4—5; 13, 29; 16,9; 17, 18-19; 42,1
et al.) und situlae oder »spittoons« (Janse 1958, pl. 14, 27.31-35). Hin und wieder wur-
den auch Miniaturbeile (Janse 1958, pl. 16, 11-12; 17, 20) angetroffen, von denen eines
z.B. als fußförmiges Beil des Typs B identifiziert werden kann (Janse 1958, pl. 14, 26).
Für alle diese Miniaturobjekte, mit Ausnahme der »Miniaturpflüge« sind Exemplare
von voller Größe bekannt.
Wie auch die Kesseltrommeln wurden die verzierten fuß- und bootsförmigen Beile der
Dong So'n Kultur wohl als Zeremonialobjekte angesehen, die von der 'realen' prakti-
schen Welt getrennt sind (Bernet Kempers 1988; 292 passim). Daher erscheint es Ver-
fasser unwahrscheinlich, die in Abbildung 13 umgezeichneten Objekte als Miniatur-
pflüge zu interpretieren. Es ist fernerhin von Interesse, daß die Schäftungstülle dieser
Miniaturbeilchen in einem schiefen Winkel zur Beilschneide steht, genauso wie bei den
javanischen Zeremonialbeilen. Die zweite typologische Brücke führt über die auf Java
auftretenden kleinen Zeremonialbeile mit asymmetrischer Schneide (Abb. 14; zur geo-
graphischen Verbreitung siehe Abb 11, 1-3.31) welche formell an die entwickelten
Dong So'n Formen angeschlossen werden können (z. B. Beil von So'n-tay , Provinz Hä
Dong, Viet Nam: Janse 1958; Taf. 31, 16.; Bezacier 1972: 139 Abb. 60). Aus diesen klei-
nenjavanischen Zeremonialbeilen haben sich dann die hier besprochenen Zeremonial-
beile mit exzessiv herausgebildeler Schneide (Typ E) entwickelt.
Zur chronologischen Fixierung der javanischen Zeremonialbeile
Die obige Typologie der Beile erlaubt jedoch keine chronologische Fixierung, mit Aus-
nahme der Annahme, daß die javanischen Zeremonialbeile typologisch, und daher
auch möglicherweise chronologisch, eine späte Form darstellen. Im Gegensatz zu den
großen Kesselgongs, bei denen zur Beurteilung ihrer chronologischen Stellung auch
noch die Form des Profiles als Kriterium zur Verfügung steht, kann eine Datierung der
Bronzebeile nicht allein auf Grund der Verzierung erfolgen. Die Ornamentik der Beile
kann nur als Indikator für die Verzierungstradition dienen, in der diese Beile wurzeln.
Die einzelnen und gegenübergestellten gestreckten Doppelspiralen treten als Motiv
schon in der chronologisch weit vor der Dong So'n Kultur anzusetzenden Phu'ng
Nguyen Kultur auf (Nguyen Ba Khoach 1983: 41; 42 Abb. 13b Mitte; Hän Van Khäu
1976: 16), die von verschiedenen Autoren an das Ende des vierten, dritten oder zweiten
Jtsds. v. Chr. gesetzt wird (Ba Khaoach 1983 43 ff; Solheim 1983: 15) - die chronolo-
gische Diskussion ist hier angesichts spärlicher CI4-Daten noch im Fluß. Gerade in
der Verzierungsweise südostasiatischer Bronzen muß mit einer langen Lebensdauer der
Ornamente bei nur geringer formaler Änderung derselben gerechnet werden (z. B. Wei-
terleben der Doppelspirale: van der Hoop 1949: 36 f; des Maskenmotives: van der
Hoop 1949: lOOf; van Heekeren 1958: Abb. 11).
Einer Datierung des Waldalgesheimer Beiles in die Dong So'n Kultur steht jedoch die
ikonographische Analyse eines Vogels entgegen, der auf dem im Wald von Alas
108
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 14: Zeremonialbeil gefunden in der Umgebung von Bogor, Java, Indonesien. Maßstab
unbekannt. (Photographie Prof. S. Eilenberg, Columbia University, Washington D. C.)
Malang, Desa Gugunung, gefundenen Beil abgebildet ist (Abb. 9). Die Vogeldarstel-
lungen der Dong So'n-Kultur (Bezacier 1972; 193 Abb. 109 e; 194 Abb. 110; Farmen-
der 1918: Taf. 4, a.g. 1) wie der Dian-Kultur (Watson 1963: 92 Abb. 29b. Sheng 1974:
Abb. gegenüber S. 60), wie sie sich z.B. auf den Kesselgongs mit Heger 1-Proftl und
anschließbaren Bronzegefäßen dokumentieren (zum Vogelmotiv; Höltker 1951; zum
Beil aus dem Wald von Alas Malang ebd. 262 f.) können keinesfalls mit dem auf dem
Beil abgebildeten Vogel gleichgesetzt werden (Abb. 15). Diese Vogeldarstellung ist
chronologisch viel jünger anzusetzen und weist schon stilistische Einflüsse auf, die spä-
ter im Wayang-Stil münden. Andererseits können keine direkten Elemente des
Wayang-Stiles erkannt werden, wie sie sich in den frühen Wayang-Reliefs vom Candi
Jago oder Candi Panataran widerspiegeln (Thomsen 1980; 138).
Eine genauere Datierung dieser Beile läßt sich jedoch anhand von Reliefs an einer
Tempelanlage im östlichen Zentral-Java vornehmen. Die drei-terrassige Anlage Candi
Sukuh, am Westhang des Gunung Lawu gelegen (zur Lage siehe Abb. 11), weist vor
dem gestuften Hauptbauwerk einige mit Reliefs verzierte Pfeiler auf (Bernet Kempers
1959: 101 ff., spez. 102 Abb. 11.; Asmar, 1978: 33 ff). Auf zwei dieser Pfeiler sind
Gestalten dargestellt, die derartige asymmetrische Beile mit ausschwingender Schneide
in der Hand halten (Abb. 16-17). Wie auch bei der Darstellung auf dem Beil aus dem
TRIBUS 45, 1996
Abb. 15. Vogeldarstellungen auf Trommeln und Bronzegefäßen der Dong So'n Kultur, (nach
Goloubev, Bezacier und Janse)
Wald von Alas Malang (Abb. 9) und dem in Leiden aufbewahrten Exemplar (Abb. 10)
ist hier ein kurzer krückenartiger Stiel als Schäftung dargestellt. Die abgebildeten Beile
sind eindeutig identifizierbar und gehören zur kleinen Variante der Zeremonialbeile
(Abb. 11, 1-3). Die Tempelanlagen von Candi Sukuh werden auf Grund der Inschrif-
ten sowie ikonographischer Analysen in die erste Hälfte des 15. Jh. n. Chr. datiert (Ber-
net Kempers 1959: 102). Als frühestes Datum findet sich das Jahr 1416 n. Chr., als
jüngstes das Jahr 1459 n. Chr.; die Hauptmenge der datierten Inschriften liegt jedoch
in dem Zeitraum zwischen 1439 und 1441 n. Chr. (Muusses 1923). Es kann also ange-
nommen werden, daß diese Beile im frühen 15. Jh. in Java verbreitet waren. Derartige
Beile treten jedoch nicht auf den Reliefs der bekanntesten monumentalen Anlage
Javas, dem im 9. Jh. errichteten Borobudur auf (Krom und Erp 1920; Krom 1920; van
Lohuizen- de Leeuw, J. E. 1981; Williams 1981). Auch in der Darstellung der Werkstatt
eines Metallhandwerkers, in der allerlei Waffen und Geräte abgebildet sind (Krom und
van Erp 1920: Taf. Ser. 0,144), fehlen derartige Beile vollkommen.8 Da auf den Reliefs
des Borobudur alle Bereiche des täglichen Lebens ausführlich geschildert werden und
die materielle Kultur Javas in der Zeit des 9. Jhd. reichhaltig abgebildet wird, kann das
Fehlen der Beile wohl als Indikator dafür angesehen werden, daß derartige Beile im 9.
Jhd. noch nicht verbreitet waren. Ein anderer Weg zur Datierung dieser Beile führt
110
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 16; Darstellung eines Zeremonialbeiles auf einem Relief der Tempelanlage von Candi
Sukuh, Java, Indonesien. 1 Photographie des Reliefs. 2 Umzeichnungen des Zeremonialbeiles.
(aus Stutterheim 1936: 167 Abb. 4 und Umzeichnungen des Verfassers)
111
TR1BUS 45, 1996
Abb. 17; Darstellung eines Zeremonialbeües auf einem Relief der Tempelanlage von Candi
Sukuh, Java, Indonesien. (Photographie)
Abb. 18: Bronzespiegel der frühen ostjavanischen Periode mit Schriftzeichen der sog. Kadiri-
Quadratschrift H. 19.9 cm. Linden-Museum Stuttgart SA 36326 L. (Aufnahme U. Didoni, Linden-
Museum, Stuttgart).
112
Spennemann: Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 19: Javanisches Zeremonialbeil der kleinen Form. Maßstab etwa 1:1. (Photographie Prof.
S. Eilenberg, Columbia University, Washington D.C.)
über die javanischen Bronzespiegel. Eines der kleinen Zeremonialbeile, gefunden in der
Umgebung von Bogor (Abb. 14; 11 n° 2), zeigt auf der Vorderseite des Griffes neben
einer Schnurimitation als einzige Verzierung auf der sonst glatten Oberfläche einige
flach reliefierte Rechtecke mit einem halbmondförmigen Abschluß. Dieser Verzie-
rungsstil erinnert überdeutlich an die Schriftzeichen der sog. Kadiri-Quadratschrift,
die in der Kadiri-Phase (1045-1222 AD) für kleine, ornamentale Texte Anwendung
fand (de Casparis 1979: 392 Anm. 19). Derartige Schriftzeichen finden sich u. a. auch
auf Bronzespiegeln mit runder Spiegelfläche und breitem, einziehendem Griff mit
zurückgebogenen Enden und geradem Abschluß (Abb. 18; Thomsen 1980: 83 Kat. Nr.
74.; Juynboll 1909: 171, Kat.Nr. 1657, 1747, 3307 (mit Abb.).; Raffles 1817: Zehnte
Tafel hinter S. 56, Abb. unten rechts (gefunden im District Kedu, Java); van Lohuizen-
de Leeuw 1984: 135-138.). Da jedoch die auf dem Beil angebrachten keine echten Zei-
chen der Kadiri-Quadratschrift sind, sondern deren ornamentale Derivate, kann
davon ausgegangen werden, daß das in Abbildung 13 dargestellte Exemplar gegen
Ende oder kurz nach dem Ende der Kadiri-Phase gefertigt wurde. Weitere ähnliche
Beile finden sich auf den Rama-Reliefs des Candi PanaLaran (Abb. 20-23; Stutter-
heim 1925. Taf. 116 re. oben; 119; 120 re. oben; 121 re. oben; 161 re. unten) Dieser ist
durch eine Inschrift in die Zeit zwischen 1319 und 1347 n. Chr. datiert (Stutterheim
1925: 180 f.)
Alle Datierungsanhaltspunkte zusammenfassend, sind die javanischen Zeremonial-
beile viel jünger als die Dong So'n Kultur Phase II und datieren in die Spätphase der
frühen ostjavanischen Periode. In absolut-chronologischen Daten bedeutet dies den
Zeitraum von etwa 1100 bis 1450 n. Chr., rund tausend Jahre nach dem Ende der Dong
So'n Kultur.
113
Spennemann; Ein javanisches Zeremonialbeil
Abb. 20-23: Darstellungen von
Zeremonialbeilen auf den Rama-
Reliefs
des Candi Panataran (aus Stutter-
heim 1936)
Danksagung
Zu danken habe ich dem Direktor des Naturhistorischen Museums Mainz, Herrn Dr.
Fr. O. Neuffer, für die freundliche Überlassung des Zeremonialbeiles zur Bearbeitung
und für die Genehmigung, Material für eine Metalluntersuchung entnehmen zu dür-
fen. Herrn Dr. G. Wolf vom Institut für Kernforschung (Johann Wolfgang Goethe-
Universität Frankfurt am Main) und Herrn Dr. D. Hollmann, Degussa GmbH (sein-
erzeit Institut für Anorganische Chemie der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main) bin ich für die Untersuchung der Materialzusammensetzung des
Beiles zu Dank verpflichtet. Besonderen Dank schulde ich Herrn Oberkustos Dr. K.-
V. Decker, Mittelrheinisches Fandesmuseum, Mainz, für vielfache Hilfe und Unter-
stützung bei der Beschaffung des Beiles. Die Photographien des Beiles besorgte Herr J.
Bahlo, Röm.-German. Kommission, Frankfurt a.M. und die Röntgenaufnahmen Frau
D. Steffel (seinerzeit Universitätskliniken Frankfurt am Main). Herrn Prof. S. Eilen-
berg (Columbia University, Washington D.C.) habe ich für die Publikationsgenehmi-
gung für das. bis dahin unpublizierte asymmetrische Beil und den Spiegelgriff, beides
aus seiner Privatsammlung, zu danken. Doktoren Brandt und Kreisel, Linden-
Museum Stuttgart, bin ich für kritische und editorielle Kommentare, und Prof. Thiele
für die Annahme zum Druck zu Dank verpflichtet. Prof. Baas Terwiel
(Hamburg/Canberra) danke ich sehr herzlich für die kritische Diskussion und Publi-
kationsunterstützung.
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Anmerkungen
1 Mittelrheinisches Museum, Mainz, Ankaufsbuch Band 1, Seite 19; das Verzeichnis des davorlie-
genden Zeitraumes datiert vom 8. Oktober 1845,
2 Da die Inventarbücher des Naturhistorischen Museums im 2.Weltkrieg vernichtet wurden, kann
nicht mehr eruiert werden, ob nur eines oder beide Beile an das Naturhistorische Museum gelang-
ten. Zum Zeitpunkt der Materialaufnahme durch K. Kibbert befand sich das erhaltene der bei-
den Exemplare zur Restaurierung im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz. - Bei Worsaae
1883: 197 Anm. 2 findet sich der Hinweis, daß sich ein Abguß eines der Waldalgesheimer Beile im
Nationalmuseum in Kopenhagen (Dänemark) befinden solle. Eine Nachfrage ergab, daß derar-
tige Abgüsse heute dort nicht (mehr?) existieren und darüber auch nichts bekannt sei. (Brief vom
19. März 84. Herrn Dr. 1. Wulff, von der ethnologischen Abteilung des National Museums in
Kopenhagen, sei an dieser Stelle herzlich für seine Bemühungen gedankt). Daß derartige Abgüsse
nicht nur in Kopenhagen sondern auch in anderen Museen existiert haben mögen, wird deutlich,
wenn man bedenkt, daß von allen Funden, die L. Lindenschmit in den A.u.h.V. abbildete,
Abgüsse für die Sammlung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums (Mainz) gemacht wur-
den. Bedauerlicherweise ist diese Gußformensammlung des RGZM im 2. Weltkrieg zerstört wor-
den, so daß Beil 1 nurmehr anhand der Abbildung rekonstruiert werden kann.
3 Dies ist aber nicht der einzige Kontakt der R.N.G. zum indonesischen Raum. Ein I. F. Heckler
Adjunct Intendant seiner Majestät des Königs der Niederlande mit Wohnsitz in Batavia (heute
Djakarta, Indonesien), war in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts korrespondierendes
Mitglied der R.N.G., wie ein Brief vom 12. Juli 1843 belegt (Jungk 1934: 27).
4 Ungeachtet dieses Mißverständnisses ist auch die für die Dong So'n-Kultur angenommene
Datierung falsch. Der von Kibbert genannte Zeitraum (300 v. 100 n. Chr.) datiert die Fundstelle
Dong So'n selbst, aber auch nur diese. Die materielle Kultur des Fundortes Dong So'n ent-
spricht jedoch der Phase II der vietnamesischen Metallzeit, die von etwa 400 v. Chr. bis ca. 300
n. Chr. datiert (nach Van Trong 1979, wegen Unzugänglichkeit der Quelle zitiert nach Solheim
II 1983 9 ff.).
5u.a. von Dong So'n (Goloubev 1937; 1938; Janse 1958: PI.13, 12); Day River, So'n-tay Provinz
(Janse 1958; PI.31,9.13); Ha-Döng, Tonkin (Janse 1958: pl. 30); Viêt-Tri Provinz(Bezacier 1972;
138 fig. 59d); Quöc-cai, So'n-täy Provinz (Bezacier 1972: 139); Thach th'at, So'n-täy Provinz
(Janse 1947: 56 fig 55); Phu'o'ng cach, So'n-täy Provinz (Nguyen Phuc Long 1975: 144 x); und
Viêt-Khê, Kiênan, Hài-phông Provinz (Nguyen Phuc Long 1975: 144 ix).
6 u.a. von Dông So'n (Goloubev 1929: PL IX, XVI, A-C; Janse 1958: Pl. 13,11 ); Day River, So'n-
tây Provinz (Janse 1958: P 1.31,8); Quöc-cai, So'n-täy Provinz (Janse 1958, pl. 31, 8); Baô-ng'oai
(Janse 1958, pl. 74, 3); Lào-Kay (Goloubev 1929, pl. IX; Bezacier 1972: 135 fig. 55 b.d.e);
Phùhâu, Viêt Tri Provinz (Bezacier 1972: 134); Hoàng-ly, Thânh-hôa Provinz (Bezacier 1972:
134); Thieu-du'o'ng, Thânh-hôa Provinz (Bezacier 1972: 134); Nui So'i, Thânh-hôa Provinz
(Bezacier 1972: 134); Cau-công, Vinh-Côc Provinz (Janse 1947: 26 fig 36); Nüi-Nùa (Tran van
Tot 1969: PL V,3); Dam-phu'o'ng, Hà-Dông Provinz (Janse 1947: 56 fig 54); und Viêt-Khê,
Kiên-an, Hài-phông Provinz (Nguyen Phuc Long 1975: 144 ix).
Type F; Day River, So'n-täy Provinz (Janse 1958: Pl. 31, 16); Hà-Dông Provinz (Nguyen Phuc
Long 1975: fig. 133); Chinning, Grab 1 (v. Dewall 1979: 143 Abb. 19).-Typ G: Day River, So'n-
tây Provinz (Janse 1958:P 1.31, 10); Som-rong Sen (Janse 1958: PL 8, 1); »Indochina« (Janse
1931, pl. 5, 8; 8, 2).
8 Das Fehlen der Zeremonialbeile in diesem Fall mag jedoch auch damit Zusammenhängen, daß
es sich bei dieser Werkstatt vornehmlich um eine Schmiede handelt, während die Bronzebeile
trotz ihrer langen Schneide gegossen wurden. Auch eine andere, auf einem Relief am Candi
Sukuh dargestellte Schmiede zeigt eine große Variationsbreite von (Eisen-) Geräten und Waffen,
jedoch ebenfalls keine derartigen Beile (Kempers 1959: Taf. 334. - Thamsen 1980: 142 f, spez.
Abb. auf S. 143. - siehe auch Marschall 1968; 198 f. mit Abb. 13). - Es muß allerdings darauf
hingewiesen werden, daß auf Java auch Bronzegegenstände, vor allem Gongs in Form vorgegos-
sen und danach ausgeschmiedet wurden: Marschall 1968; 176 ff.
118
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
BODO SPRANZ
Die Zeichen Hand und Fuß in Mesoamerika
Während der langjährigen Mitarbeit an dem von der Deutschen Forschungsgemein-
schaft geförderten interdisziplinären Mexiko-Projekt in den sechziger und siebziger
Jahren ergab sich die Möglichkeit, zahlreiche Ruinenplätze des Landes zu besuchen
und zusätzliches Material für spätere Ausarbeitungen zu sammeln. Es handelt sich
dabei um Photos, Skizzen und Notizen von Monumenten, die vor allem Bezug zu den
laufenden archäologischen Arbeiten hatten, aber auch von allgemeinem Interesse
waren. Dabei fanden sich - zunächst wenig beachtet - Abbildungen von Händen und
Füßen auf Stelen und auf Reliefs an Bauwerken. Bei der Katalogisierung einer
umfangreichen, später der Stadt Puebla vermachten dortigen Privatsammlung archäo-
logischen Materials aus dem Projektgebiet, das die Bundesstaaten Puebla und Tlaxcala
umfaßte, fanden sich unter anderem ein Gefäß in Form eines menschlichen Fußes und
ein kleines Fußpaar aus grünlichem Stein. Die Frage nach der Bedeutung solcher Dar-
stellungen führte schließlich zu einer intensiven Suche nach Vergleichbarem in der
Literatur und in den Bilderhandschriften. Die Auswertung der Quellen läßt einige
Deutungen zu, zeigt aber auch, daß die Aussagefähigkeit archäologischen Materials
ihre Grenzen hat.
Hand- und Fußdarstellungen in Mesoamerika
Die Hand als wohl wichtigstes »Werkzeug« des Menschen hat oder hatte in fast allen
Kulturen auch eine symbolische Bedeutung. Zu den frühesten Darstellungen der Hand
gehören die Höhlenbilder des späten Paläolithikums z. B. in Frankreich und Spanien.
Meist handelt es sich dabei um negative Abbilder der Hand, entstanden dadurch, daß
die an den Fels gelegte Hand von der freien anderen mit roter oder schwarzer Farbe
umgeben wurde. So ist fast immer nur die linke Hand abgebildet, wenn man voraus-
setzt, daß eben diese Hand mit der Handfläche ausgelegt war. Die Bedeutung dieser
Handbilder läßt sich nur vermuten. Die meisten Höhlenbilder stellen jagdbare Tiere
dar, die Hauptnahrungsquelle der frühen Jäger, die so mit der Abbildung ihres Wildes
auf magische Weise Macht über es zu haben glaubten. Geht man davon aus, daß der
Mensch alles, was er benötigt, mit den Händen ergreifen muß, könnten deren Abbilder
eine Verstärkung dieses Anspruches bedeuten. Andererseits könnten sie auch lediglich
als Anwesenheitsnachweis bei einer stattgefundenen Kulthandlung gewertet werden,
was dann möglicherweise ebenfalls Ansprüche einschließt. Da wir nun einen sehr
begrenzten Einblick in die Vorstellungswelt früher Kulturen haben, sind wir auf Ver-
mutungen, bestenfalls auf Vergleiche mit noch bekannten Erscheinungen angewiesen.
Einfache Zeichen mit der Hand dienen weltweit als von der Sprache unabhängiges Ver-
ständigungsmittel. Erhobene Hände, bei denen die Handflächen jemandem zugewen-
det sind, sind eine Abwehr- oder Schutzgebärde, während die Faust eine Drohung
beinhaltet. Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammengelegt und zum Munde
geführt signalisieren Hunger und Essen, und der Begriff Zeigefinger ist eine eindeutige
Funktionsbezeichnung. Diese Beispiele lassen sich beliebig fortführen, und natürlich
gibt es auch eine ganze Reihe von Handzeichen, die nicht allgemein verständlich sind
(zur symbolischen Bedeutung von Handhaltungen s.Hansmann und Kriss-Rettenbeck
1966; 192 ff).
In den altamerikanischen Hochkulturen kommen Handdarstellungen relativ häufig
vor. Sie erscheinen als Malerei, als Gefäß- oder Textilornament oder an Skulpturen
oder auf Reliefs. Im Mayagebiet finden sie sich als Hieroglyphen oder Bestandteile
davon. Im Gegensatz zu Füßen sind Hände seltener als figürliches Einzelstück darge-
stellt. Das schon frühe Vorkommen von Handdarstellungen belegen Malereien in der
Höhle von Oxtotitlan in Guerrero. Es handelt sich um zwei Negativbilder in Rot, die
hier zusammen mit olmekischen Malereien Vorkommen. Da letztere in Schwarz ausge-
führt sind, schließt Grove die Hände als spätere Zutaten nicht aus. (Grove 1970; 46).
TRIBUS 45, 1996
Abb. 1 Jadeklinge, Fundort unbekannt. L 21 cm. Ehemals Museum für Völkerkunde Berlin.
Nach HMI-3: 748.
Abb. 2 Jadeklinge, Fundort unbekannt. L 35,5 cm. Museum of Primitive Art, New York. Nach
HMI-3: 748.
120
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
Abb. 3 Schematischer Plan der Moundgruppe nördlich der Pyramide von La Venta, Tabasco.
Vgl. Drucker, Heizer, Squier 1959.
Abb. 4—7 Gravierte Gefäßverzierungen. Las Bocas und Tlatilco. Nach Coe, Pina Chan und
Joralemon.
TRIBUS 45, 1996
Als mehr oder weniger stilisierte Figur kommt die Hand oft auf olmekischen Artefak-
ten vor. Ohne erkennbare Funktion finden sich Handgravierungen auf zwei Beilklin-
gen unbekannter Herkunft aus Jade, deren eine aus dem Museum für Völkerkunde
Berlin im letzten Krieg verlorengegangen ist, während die andere im Museum of Pri-
mitive Art New York aufbewahrt ist (Abb. 1; 2). Die Zeichnung auf der Hand der letz-
teren Klinge hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Anordnung der Bauten
(Mounds) in der Nordgruppe von La Venta (Abb. 3). Joralemon deutet diese Zeich-
nung als Symbol für den offenen Mund des Gottes I, eine Deutung, die schwer nach-
zuvollziehen ist (Joralemon 1971: 59). Ein sehr häufiges Motiv olmekischer Symbolik
ist das Hand-Jaguartatze-Flügel-Motiv. Diese drei Elemente gehen in den Darstellun-
gen oft ineinander über und sind dann, wegen der Stilisierung, kaum auf die jeweilige
Grundform zu reduzieren (Joralemon 1976: 47). Beispiele dazu finden sich auf
Gefäßen und Stempeln von olmekisch beeinflußten Plätzen wie Tlatilco, Tlapacoya
und Las Bocas (Abb. 4—7, s. a. Eisleb 1968).
Die abgeschnittene Hand als Trophäe oder als Opfer findet sich z.B. an der großen
Steinplastik der Coatlicue, die um 1790 nahe dem Tempelbezirk der aztekischen
Hauptstadt bei Ausschachtungsarbeiten gefunden wurde. Um den Hals trägt sie ein
Band, das abwechselnd mit Händen und Herzen besetzt ist. Die gleichen Attribute fin-
den sich als Hals- und Kopfband weiter an der Figur Fol.46 des Codex Tudela und der
entsprechenden Figur Fol. 76 des Codex Magliabechiano (s. Tudela 1980: 101. Dort
irrtümlich der Hinweis auf Fol. 64 des Codex Magliabechiano). Die gleiche Kombina-
tion Herz-Hand ziert die Unterseite einer polychromen Räucherpfanne aus Ton, die
zusammen mit zahlreichen anderen Gegenständen um 1900 im gleichen Bezirk gefun-
den wurde (Abb. 9). Vom Träger dieses Halsbandes ist nur das Gesicht gezeichnet, das
Seler als das eines Feuer- oder Sonnengottes deutet. Nicht dafür spricht die von Seler
als Jaguarfellzeichnung um die Mundpartie beschriebene Bemalung, die meines Wis-
sens nicht bei Gottheiten vorkommt (Seler 11:857). In den allerdings nicht-aztekischen
Codices der Borgia-Gruppe findet sich diese Gesichtsbemalung nur bei einer Darstel-
lung des Tepeyüllotl (Spranz 1964:Fig. 499). Ein weiteres Halsband dieser Art trägt die
Figur auf Blatt 46 des Codex Tudela (Abb. 10).
Die Kombination von Herz und Hand bringt diese Darstellungen mit Opferhandlun-
gen in Verbindung. Ein ganzer Unterarm als Opfer ist verschiedentlich in den Bilder-
handschriften zu finden, wie z. B. für einen toten Krieger oder für Mictlantecutli im
Codex Magliabechiano 67 bzw. 73, für Tlaloc im Codex Laud 12.
Die Hand als Bemalung der unteren Gesichtshälfte kommt in den Handschriften der
Borgia-Gruppe bei Figuren vor, in deren Namen die Zahl Fünf enthalten ist. Hier
steht vielleicht die Hand mit ihren fünf Fingern für diese Zahl (Abb. 8), aber auch eine
Verbindung zum Opfer scheint vorhanden zu sein. Im Codex Borgia 50 Mitte steht
eine Gottheit dieser Reihe vor einem Tempel mit einer Speerschleuder in der Hand, auf
der ein Herz liegt. Zwei solcher Figuren, Macuilxochitl und der ihm verbundene
Xochipilli sind im Madrider Sahagün-Manuskript abgebildet. Die Hand als Gesichts-
bemalung fehlt dem Macuilxochitl allerdings oder ist bei dieser Figur zu einer Rosette
verkümmert. Dafür tragen aber beide einen Stab mit einem Herzen, womit wieder die
Kombination Herz-Hand erreicht ist (Abb. 11).
Die Hand als Ohrschmuck kommt z. B. in den Bilderhandschriften der Borgia-Gruppe
bei Mictlantecutli oder sonst mit Schädeln gezeichneten Figuren vor (Spranz
1958:100), ferner in den Codices Magliabechiano 76 und Tudela 44 und 45. Im Codex
Tudela sind es zwei Figuren nach der Reihe der Pulquegötter, nämlich Ixtliltzin (?) und
Techalotl (Tudela 1980:100).
Unklar ist die Bedeutung der Hand als Gesichtsbemalung bei Figuren und als Hiero-
glyphenbestandteil auf Maya-Monumenten, wo diese Figuren bzw. Glyphen für den
Zahlenwert Null stehen (Abb. 12-18) oder einen Zyklus von 144 000 Tagen bezeichnen
(Abb. 19-22). Mit der Hand als Symbol des Tages manik befaßte sich Seler eingehend
in seiner Arbeit über die Tageszeichen in den Bilderhandschriften, wobei er auch im
sprachlichen Bereich versucht, eine Verbindung mit dem mexikanischen Tageszeichen
ma^atl (Hirsch) herzustellen (Seler 1:417).
Die Blätter 25-28 des Codex Dresdensis zeigen die Zeremonien anläßlich des neuen
Jahres. In den oberen Feldern trägt je eine als Opossum verkleidete Figur auf dem
Rücken den jeweiligen Regenten des neuen Jahres, Chac für die hen-Jahre, Jaguar für
die etz'nab-Jahre, Maisgott für die akbal-Jahre, Todesgott für die lamat-Jahre. Die Trä-
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
iiHljHijiMill
Abb. 8 Codex Borgia 15.
Abb. 9 Zeichnung auf der Unterseite einer Räucherpfanne. Bezirk des aztekischen Haupttem-
pels. Nach Seler-II; 857.
Abb. 10 Codex Tudela 46.
Abb. 11 Macuilxochitl und Xochipilli. Sahagün-Manuskript Madrid.
gerfiguren, Bacabs, halten in den Händen einen von einer Hand gekrönten Stab, des-
sen Bedeutung nach Thompson unbekannt ist, und den Seler als Rasselstab chicauaztli
deutet (Thompson 1972:90); Seler 11:701). Auf Blatt 31 des Codex Dresdensis trägt
Chac ebenfalls einen solchen Stab, und der Codex Tro-Cortesianus bildet auf Blatt 89
eine schwarze Figur ab (Gott M?) mit verbundenen Augen, die, in weniger deutlicher
Zeichnung, auch diesen Stab hält (Abb. 23-25). Einen solchen Stab mit der Hand trägt
auch Mictlantecutli auf Blatt 56 im Codex Borgia.
Bei den mexikanischen Stämmen ist der Rasselstab, hier ohne die Hand am oberen
Ende, ein Instrument, das zu den Attributen des Xipe Totec und der Erd-, Wasser- und
Regengottheiten gehört und in deren Kulten verwendet wird. Auch Beyer weist darauf
hin, daß der Rasselstab der betreffenden Figuren im Codex Dresdensis ebenfalls bei
den mexikanischen Stämmen bekannt ist und bei diesen ein Fruchtbarkeitsemblem
war. Zur Symbolik der Hand bei den Maya bemerkt Beyer unter Hinweis auf Seler,
daß der Monat ceh (= Hirsch) durch die Glyphe für Rot bezeichnet ist. Für die Maya
waren die Begriffe Hand-Rot-Hirsch nahe verwandt. »Hierher wird wohl auch die rät-
123
TRIBUS 45, 1996
Abb. 12-13 Copan, Stele D.
Abb. 14 Quirigua, Stele I.
Abb. 15 Palenque, Westhof Haus C.
Abb. 16 Quirigua, Stele A.
Abb. 17 Palenque, Tempel des Blattkreuzes.
Abb. 18 Quirigua, Stele C.
Abb. 19 Quirigua, Stele A.
Abb. 20-21 Quirigua, Stele C.
Abb. 22 Palenque, Tempel des Blattkreuzes. Abb. 12—22 nach Maudsley 1889- 1902.
Photo 1 Handdarstellungen in Rot an der Wand eines kleinen Tempels bei Xel Ha, Quintana
Roo.
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
Abb. 23 Einer der Bacabs bei der Neujahrszeremonie. Codex Dresdensis 25-28.
Abb. 24 Chac mit dem von einer Hand gekrönten Stab. Codex Dresdensis 31.
Abb. 25 Gott M (?) mit einem von einer Hand gekrönten Stab. Codex Tro-Cortesianus 79.
Abb. 26 Inschriftenplatte an der Südplattform. Monte Alban.
Abb. 27 Stele 12 und 13. Monte Alban.
Abb. 28 Läpida de Bazän. Monte Alban.
Abb. 29 Relief aus Macuilxochitl, Tlacolula-Tal, Oaxaca. Nach Bemal 1973; №3.
Abb. 30 Plastische Hand am Ende einer Keramikflöte. Cerro de las Mesas. Nach Drucker 1943.
Abb. 31 Unterarmpaar aus Jade. H 6 cm. La Venta, Tabasco. Nach Drucker 1952.
selhafte rote Hand gehören, die häufig in Mayabauten gefunden worden ist« (Beyer
1934:265 ff). Solche in Rot gemalten Hände finden sich zum Beispiel an der Wand einer
der kleinen Ruinen nördlich von Xel Ha an der Straße nach Tulum, Quintana Roo
(Photo 1).
Weitere Beispiele von Handdarstellungen mit Schrift- oder Zahlencharakter finden
sich auf Reliefs von Monte Albán, so auf einer Inschriftenplatte an der Südplattform
(Abb. 26), auf den Stelen 12 und 13 (Abb. 27), auf dem sogenannten Lápida de Bazán
(Abb. 28) sowie an anderen zapotekischen Plätzen wie Zaachila (HMI-3:857) oder in
Macuilxochitl im Tlacolula-Tal, wo die Hand über einer Szene mit zwei einander
gegenübersitzenden Figuren zu sehen ist (Abb. 29).
Figürliche Handdarstellungen sind weniger häufig. Hände als plastische Verzierung an
Flöten aus Ton sind aus Cerro de las Mesas bekannt (Abb. 30). Eine Steinplastik, eine
sogenannte Palma von der südlichen Golfküste zeigt ein zusammengelegtes Handpaar
in einer Art Gebetshaltung (Cervantes 1978:35). Diese Geste ist in Südasien als
Begrüßung weit verbreitet. Ein Paar Unterarme aus Jade wurde bei Grabungen in La
Venia gefunden (Abb. 31), eine weitere Hand in klassischem Stil stammt aus dem
Maya-Tiefland (HMI-3:570).
125
TRIBUS 45, 1996
Nach den zahlreichen Beispielen, die sich beliebig vermehren lassen, muß dem Abbild
der Hand eine besondere Bedeutung zugekommen sein. Das zeigt nicht zuletzt auch
deren mehrfache Verwendung als Emblem in Kampfschilden (Abb. 32-36). Im
europäischen Rittertum zierte den Schild gewöhnlich das Wappen seines Trägers oder
des Lehnsherren, für den er kämpfte. Bei den mexikanischen Schilden läßt sich eine
solche Zuordnung nicht erkennen. Hier (und auch sonst) scheint die Hand Symbol für
einen übergeordneten Begriff zu sein, wie entsprechende Schilde bei rangmäßig sehr
verschiedenen Trägern vermuten lassen. Auf einem Bild vom Sieg Axayacatl's über
Moquiuix, den König von Tlatelolco, im Codex Cozcatzin, einem Manuskript der
Bibliothèque Nationale in Paris in aztekischer Sprache, trägt König Axayacatl einen
Schild mit einem menschlichen Unterarm (Abb. 32). Im Madrider Sahagün-Manu-
skript ist ein Schild mit einer Hand als Emblem abgebildet, der von Häuptlingen und
Kriegern niederen Ranges getragen wird (Seler-Il:579). Zu diesem macpallo chimalli,
dem »Schild mit der Hand«, fehlt bei Sahagün eine Beschreibung (Abb. 33a,b). Drei
weitere Schilde mit Handdarstellungen finden sich im Lienzo de Tlaxcala (Abb.
34-36). Der letztere zeigt ein stilisiertes Gesicht, bei dem die Augen auf Handflächen
gezeichnet sind. Eine solche Augenumrandung kommt noch auf einem flachen Stein-
kopf (Hacha) im Museum in Oaxaca vor (Abb. 37).
Wenn auch eine wahrscheinlich mit der Hand selbst verbundene Symbolik nicht
bekannt ist, kommt den mit der Hand ausgeführten Gesten sicher eine sprachunab-
hängige Bedeutung zu. So deutet Seler die Handhaltung zweier Figuren auf einem
Maya-Gefäß aus Nebaj, Guatemala, als Zeichen der Unterwürfigkeit bzw. Ergebenheit
(Seler-III: 719). Im ersten Fall hat die eine Gabe darbringende Figur die linke Hand um
den Leib nach hinten gestreckt. Ob dabei das Abspreizen des Zeige- und des kleinen
Fingers aus der sonst geschlossenen Hand eventuell eine zusätzliche Bedeutung hat, ist
fraglich. Im zweiten Fall hat die dahinterstehende Figur die Arme vor der Brust ver-
schränkt, ebenfalls mit unter der Achsel nach hinten gestreckten Händen. Eine andere
Abb. 32 König Axayacatl als Sieger über König Moquiuix von Tlatelolco. Codex Cozcatzin.
Nach Seler-Il :401.
Abb. 33a Kampfschild. Sahagün-Manuskript Madrid. Nach Seler-II; 579.
Abb. 33b Derselbe Schild nach der Ausgabe des Sahagün-Manuskriptes von Del Paso y Tron-
coso 1906/07.
Abb. 34- 36 Kampfschilde aus dem Lienzo de Tlaxcala. Nach Ausgabe von Chavero 1892.
Abb. 37 Flacher Steinkopf (Hacha). Museum Oaxaca. Nach Seler-II: 363. Keine Fundortan-
gabe.
126
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
Abb. 38 Monument 13, La Venta. Nach Drucker 1952: 203.
Abb. 39 Tonstempel in Form eines Fußes. Tlatilco. Nach Noè Porter 1953: Plate 13.
Abb. 40 Endstück einer Flöte aus Ton. Cerro de las Mesas. Nach Drucker 1943: 67.
Abb. 41-42 Fußspuren als Zeichen für Weg, Wanderung. Codex Borgia 35; Codex Tro-Cortesi-
anus 50.
Abb. 43 Fußspuren auf Kleidungsstücken. Codex Dresdensis 25, 26.
Abb. 44 Namenshieroglyphe des Quauhtemoc. Codex Vaticanus A 89.
Ergebenheitsgeste sieht Joralemon im oberen Teil der Jadeklinge Abb. 1, wo bei dem
Armpaar der ausgestreckte Zeigefinger der rechten Hand dem linken Oberarm auf-
liegt. Diese Geste beinhaltet neben der Ergebenheit auch eine Abgrenzung gegenüber
einer hier höhergestellten Person, während die gleiche Geste, die man bei uns häufig
vor allem bei jüngeren Frauen sieht, wohl mehr als eine unbewußte allgemeine Abgren-
zung oder Abwehr zu verstehen ist.
Beachtenswerte Studien über die Haltung und Gestik sitzender Personen bei den Maya
finden sich bei Kurbjuhn (Kurbjuhn 1980: 117 ff und 1990; 277 ff). Nach eigenen
Beobachtungen beschreibt sie eine Fülle von Gesten, die nach dem derzeitigen Stand
der Kenntnisse zum größten Teil noch nicht zu interpretieren sind (s.auch Benson
1974: 109 fl).
Nur am Rande sei noch erwähnt, daß bei verschiedenen Dokumenten des 16. Jahr-
hunderts europäisches Papier mit dem hier behandelten Symbol »Hand« als Wasser-
zeichen verwendet wurde (Codex Magliabechiano, Kommentar).
Gegenüber der Hand hat der Fuß als körpereigenes Organ eine mehr eindeutige, wenn
auch nicht minder wichtige Funktion. Daneben hat er aber auch, wie die Hand, seine
symbolische Bedeutung, nicht zuletzt als besitzergreifendes Organ. Beispiele sind dafür
der auf die Jagdbeute oder auf den besiegten Gegner gestellte Fuß. Zahlreiche Bild-
werke aus dem Bereich der altweltlichen Hochkulturen zeigen solche Siegerposen.
In Mesoamerika weitverbreitet sind Darstellungen von Fußspuren als bildhafte
Bezeichnung von Wanderungen oder Wegen. Sie finden sich in Bilderhandschriften
(Abb. 41-42) und vereinzelt auch auf Wandbildern wie im Palast der Jaguare in Teoti-
huacän (Miller 1973:52) und auf Reliefs. Im Codex Vaticanus A:93 besteht die
Namenshieroglyphe des Quauhtemoc (herabstoßender Adler) aus der Zeichnung eines
127
TRI BUS 45, 1996
Photo 2/3 Fußgefäß, olmekisch. Fl 10,5 cm. Tlapacoya.
Photo 4 Fuß aus grünlichem Stein, ursprünglich ein Paar. Guerrero oder Las Bocas?
Adlers neben abwärtsgerichteten Fußspuren (Abb. 44). Auf den Blättern 25-28 des
Codex Dresdensis, die die Neujahrszeremonien enthalten, ist jeweils unten eine Szene
abgebildet, in der eine Gottheit oder die Verkörperung einer solchen einem Idol opfert,
das auf Blatt 25 als Chac kenntlich ist. Die restlichen drei Bilder zeigen einen Pfosten mit
Trachtstücken, einer Schlange und einer Pflanze. Auf allen vier Blättern sind die Tracht-
stücke mit Fußspuren dekoriert, die auf die Wanderung oder den Weg der Chacs über
den Himmel zu Beginn der Regenzeit hinweisen (Abb. 43) (s.Thompson 1972: 89 ff).
Auf Weg oder Wanderung könnte sich auch die einzelne Fußspur hinter einer Figur
auf Monument 13, einem Relief aus La Venta, beziehen (Abb. 38). Auf eine besondere
Bedeutung des Fußes weisen erstmalig in der olmekischen Kultur und ihrem Einfluß-
bereich vorkommende plastische Fußdarstellungen als Teil von Flöten, als Stempel, als
Anhänger oder als Gefäße in Fußform hin (Abb. 39-40; Photos 2 und 3; weitere
Gefäße s. Pina Chan 1958: Lamina 32; Coe 1965: Fig. 46). Fußgefäße sind weiter
bekannt u.a. bei Zapoteken und Mixteken (Caso/Bernal 1952:126), aus Veracruz (Ave-
lera 1964), Teotihuacän (Pina Chan 1960: 90), Chupicuaro (Katalog 1975: Nr. 28).
Zwei Schmuckstücke aus Jade in Fußform fanden sich unter den Beigaben im Grab
unter dem Tempel der Inschriften in Palenque (Ruz Lhuillier 1973: Fig. 217). Sie
mögen, wie ein weiterer Anhänger aus grünlichem Stein in Form eines Fußes mit San-
dale, als Amulett gedient haben. Letzterer stammt aus einer Privatsammlung in
Mexiko und könnte nach dem Sammlungsumfeld eine olmekische Arbeit aus Guerrero
oder Las Bocas sein (Photo 4).
128
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
Abb. 45 Stele von San Juanito, Oaxaca. Nach Caso/Bernal 1952: 213.
Abb. 46 Lápida de Bazán. Monte Albán.
Abb. 47 Relief an der Südplattform. Monte Albán.
Abb. 48 Relief am Montículo J. Monte Albán.
Abb. 49 Reliefs am Fries. Xochicalco.
Abb. 50 Glyphen von der Piedra Seler (links u. Mitte) und von der Piedra del Palacio. Xochi-
calco. Nach Seler 11:154 und Caso 1967: 168.
Abb. 51 Rückseite der Stele I. Xochicalco. Nach Heyden/Gendrop 1875: 236.
Fußabdrücke als Teile von Inschriften finden sich verschiedentlich auf Reliefs von
Monte Albán und anderen zapotekischen Plätzen. Da bei Zapoteken das Punkte-
Strichsystem zur Bezeichnung von Zahlen bekannt ist, werden Hand und Fuß keinen
Zahlenwert haben. Auf der Stele von San Juanita, Oaxaca, ist ein Fußpaar in seitlicher
Richtung unter dem Zeichen für das Jahr (xiuitl), Trapez und Strahl abgebildet. Es
könnte hier eine zeitliche Bewegung ausdrücken, wie Beginn oder Ende eines Jahres
bzw. Ankunft oder Abgang eines Jahr-Trägers (Abb. 45). Bewegung bedeutet wohl
auch der Fuß über Stufen auf Relief 14 am Montículo J auf dem Monte Albán (Abb.
48). Schließlich ist noch je eine Fußspur und ein Fuß in den Inschriften auf der Lápida
de Bazán enthalten (Abb. 46) und ein Fußpaar auf einem Relief vom Cerro de Buena
Vista, oberhalb von San Juan del Estado, ebenfalls Oaxaca (Abb. 52).
Auf einem der beiden Reliefs an der Südplattform des Monte Albán befindet sich
unter dem Bild eines Jaguars in einer Höhle (?) ein abwärts gerichtetes Fußpaar (Abb.
47). Diese Darstellung könnte man als das Erscheinen der Jaguare deuten, die das erste
der vier Weltalter ocelotonatiuh beendeten. Das dazugehörige Datum wäre naui ocelotl
= vier Jaguar. Hier aber ist über dem Bild angegeben 18 Türkis (?), eine Monatsglyphe,
da die Zahl 18 über die möglichen 13 des tonalpohualli hinausgeht, und unten sieht
man die Glyphe A (Caso 1967:172) mit dem Koeffizienten 3. Andererseits ist der Jagu-
arkopf nach Caso die Tageszeichenglyphe B. aber die beiden Füße stehen wohl kaum
für die Zahl 4.
Füße auf dem Rand eines Wassergefäßes bzw. auf Reptilköpfen finden sich auf den
Reliefs des Baues der Federschlange in Xochicalco, sowie als Glyphen auf der Piedra
Seler, auf der Piedra del Palacio und auf der Rückseite der Stele I, ebenfalls in Xochi-
calco (Abb. 49-50). Die drei Glyphen auf der Piedra Seler und der Piedra del Palacio
zählt Caso als Glyphe K zu den Tageszeichen und verweist dabei auf den toltekischen
Kalender;
»También se nos han conservado informes de que existía en el calendario tolteca el día
'Pie' o 'Pierna', pues tenemos el nombre calendarico Nacxitl, del rey de Tula que tradu-
cimos por 4 Pie y entre los quichés existe el día Cabra Kan que quiere decir también 4
Pie y el de Hu ra can que se traduce por 1 Pie o 1 Pierna (Caso 1967: 173).«
129
Spranz; Die Zeichen Hand und Fuß
Der Fuß wird also hier mit Nacxitl-Quetzalcoatl in Verbindung gebracht - wieso ist
unklar. Aber auf ihn im Zusammenhang mit der oben erwähnten Siegerpose weist eine
Passage im Chilam Balam von Titzimin hin. Dort heißt es:
»In der Periode des 8. ahau geschah es in Chi ch'en Itza...daß Chac Xib Chac zu Boden
getreten wurde durch Nacxit Kukulcan« (Chilam Balam de Titzimin 11 verso, nach
Seler I: 676),« und
»Entonces ocurrió que se puso pintura al Señor de Uxmal y vino a imponer la huella
de sus pies en las espaldas del Chac Xip Chac...en donde imperaba Ah Nacxit Kukul-
kan...«(Barrera Vasquéz/Rendón 1948:147).«
Die Bedeutung der zwei Fußpaare als Suffix von zwei Glyphen auf der Stele I in
Xochicalco ist unklar. Als Zahlzeichen kommen sie nicht in Frage, da beide Glyphen
mit entsprechenden Koeffizienten versehen sind (Abb. 51).
Bilder von Füßen als Textillustrationen kommen in den Maya-Handschriften nur im
Codex Tro-Cortesianus 36 vor (Abb. 54). Im oberen Feld sind beide Füße mit Schlei-
fen versehen, während im unteren Feld auf beiden Füßen ein Tier (Hund?) sitzt. Die
Bedeutung ist auch hier unklar. In den erhaltenen Partien des Codex Peresianus fehlen
die mehrfach in den beiden anderen Codices vorkommenden Fußspuren.
Von der Außenverzierung des Tempels der Inschriften in Palenque stammt der Stuck-
kopf eines Hirsches mit einem Fuß als Auge (Abb. 53). Auch dieses Bild trägt kaum
noch etwas zur Deutung bei. Sonst scheint es Fußdarstellungen auf Reliefs der Maya
nicht zu geben, dagegen kommt die Pose mit dem Aufsetzen des Fußes auf den Besieg-
ten verschiedentlich vor: Leydener Platte; Naranjo, Stele 12; Quiriguä, Monolith 3;
Palenque, Sonnentempel; Piedras Negras, Stele 12, um nur einige Beispiele zu nennen.
Dazu gehört auch die auf zwei Hockenden sitzende zentrale Figur des Tablero de los
Esclavos in Palenque.
Ein Jäger in ähnlicher Pose ist im Codex Dresdensis 30 unten abgebildet. Hier sitzt
Chac, den Pfeil oder Speer in der Hand, auf einem erlegten Hirsch (Abb. 55). Eine ähn-
liche Szene auf Blatt 45 hat eine andere Bedeutung, sie symbolisiert hier mit der vor
Durst heraushängenden Zunge des Hirsches große Trockenheit (Thompson 1972;
106). Obwohl im Codex Tro-Cortesianus mehrfach Jäger mit ihrer Beute abgebildet
sind (Blatt 38-41) kommt eine Darstellung wie im Codex Dresdensis nicht in den bei-
den anderen Handschriften vor.
Die Mexikaner kennen diese Siegespose der Maya nicht, zumindest nicht in ihren Bild-
werken. Die oben zitierten Passagen aus den Libros de Chilam Balam, wo Nacxit-
Kukulcan den Chac Xip Chac zu Boden tritt', mag eine Maya-Version des Besiegens
sein, andererseits ist Kukulcan aber auch ein Eroberer aus dem zentralen Mexiko. In
den mexikanischen Darstellungen eines Sieges, wie z. B. auf dem Stein des Tizoc, wird
der besiegte Gegner an den Haaren gepackt.
Eine weitere Gruppe dieser Darstellungen bilden die Füße von Tieren. Da es sich dabei
ausschließlich um Raubtiere wie Raubkatzen und Greifvögel handelt, muß diesen Bil-
dern ebenfalls eine symbolische Bedeutung zugrundeliegen. Wie schon oben erwähnt,
wird auch hier das Motiv der Besitzergreifung, des Besiegens eine Rolle spielen. Dieser
Vorstellung entspricht auch die Existenz der mexikanischen Adler- und Jaguarkrieger.
Für den Bereich der in weitestem Sinne olmekischen Kultur wurde schon auf die häu-
figen Gefäßverzierungen hingewiesen, deren Stilisierung eine Zurordnung zu Hand,
Fuß, Kralle oder Pranke oft nicht zuläßt. Raubkatzen- und Raubvogeldarstellungen,
besonders erstere, kommen in der olmekischen Kunst als Tier oder Tiermensch häufi-
ger vor. Details wie Pranken oder Krallen scheinen sich fast ausschließlich auf Kera-
mikverzierungen zu beschränken. Eine sehr fein gearbeitete Figur eines Greifvogel-
fußes aus grünlichem Stein könnte, da sie wahrscheinlich aus Guerrero stammt, eine
olmekische Arbeit sein (Photo 5).
Während Tierfüße auf zapotekischen Reliefs nicht vorzukommen scheinen, gibt es
dort eine Reihe von Gefäßen in Form von Raubtierpranken. In den beiden Standard-
werken über zapotekische Keramik findet sich kein Hinweis auf solche in Form von
Raubvogelfüßen (Caso/Bernal 1952; Caso/Bernal/Acosta 1967). Dafür gibt es jedoch
etliche Gefäße, die als Fuß der Fledermaus gestaltet sind (Abb. 56 u. 57).
Von den Relieffragmenten von Xochicalco bildet Seler eines ab mit dem Fuß eines
Raubvogels. Dabei kann es sich aber um das Bruchstück einer ganzfigurigen Darstel-
lung handeln, wie sie in Xochicalco auch vorkommt (Seler II; 149).
Zu den schon erwähnten Funden aus dem Umkreis des Tempelbezirkes in Mexiko-
Stadt (Calle de las Escalerillas) gehört eine Räucherpfanne, deren Stiel in einen Raub-
TRIBUS 45, 1996
Photo 5 Raubvogelfuß. Graugrüner Stein. Guerrero?
vogelfuß endet (Seler 11:856). Vor allem aber finden sich Raubtierfüße in Zentralme-
xiko als Schildemblem. Unter den Insignien des los Señores bildet Sahagún zwei
Schilde ab, einen mit einer Jaguarpranke und den anderen mit einem Adlerfuß. Sie sind
sicher als Abzeichen der aztekischen Elitetruppen, der Adler- und Jaguarkrieger, zu
deuten (Abb. 58-59).
In den mexikanischen Bilderhandschriften sind Füße vom Jaguar und von Raubvögeln
verschiedentlich abgebildet. Meist auf Gefäßen liegend sind sie als Opfergaben anzu-
sprechen (Abb. 60-61). ln den Codices Fejérvary Mayer, Faud und Vaticanus B ist bei
den entsprechenden Abbildungen oft kaum zwischen Hand und Tierfuß zu unterschei-
den (Abb. 62).
Als Beutel oder Tasche verarbeitete Jaguarpranken tragen die unbestimmte Figur auf
Blatt 55 des Codex Borgia sowie drei schwarzgemalte Priesterfiguren auf den Blättern
4, 10 und 81 des Codex Nuttall, in dem auf Blatt 60 noch eine solche Tasche neben
einer weißen Figur abgebildet ist (Abb. 63-64).
Auf Blatt 22 des Codex Bologna mit dem schwarzen Tezcatlipoca ist, wie bei den ande-
ren Blättern der Rückseite, eine Reihe von Zeichen abgebildet.Von oben nach unten
sind es hier Biene (?), Skorpion, Spinne (?), Pfeil und zwei Jaguarkrallen. Nur die unte-
ren drei könnten als Tageszeichen gedeutet werden. Im übrigen bleiben diese Reihen,
wie auch die eher wie Raumfüller wirkenden, nach Art der Maya geschriebenen Zah-
len, ziemlich rätselhaft. Von den Zeichen nimmt Seler an, daß sie zauberische Bedeu-
tung haben (Seler I: 341 ff).
Im Codex Bodley erscheint der Jaguarfuß als Teil der Namenshieroglyphe 'acht Hirsch
Jaguarpranke'(8 Venado Garra de Tigre), einer der bedeutendsten Herrscher aus der
Dynastie von Tilantongo, Mixteca. Von dieser Glyphe ist der Tag 8 Hirsch (Im Jahre
12 Rohr = AD 1011) der Geburtstag, die Jaguarpranke der Beiname.
Vor den Truthahnfiguren Borgia 64 und Vaticanus B 65 ist je ein Vogelfuß abgebildet,
der im Borgia der Fuß eines Truthahnes zu sein scheint, da er denen der Vogelfigur ent-
spricht. Im Vaticanus kann es der Farbe wegen auch eine Jaguarpranke sein. (Abb.
67-68).
Bei den Maya kommen ganzfigürliche Darstellungen von Raubkatzen und Raubvö-
geln, besonders in den Handschriften, häufig vor. Bilder von Füßen dieser Tiere fehlen
jedoch.
Zur Bedeutung der Krallen von Fehden und Raubvögeln bei den Maya gibt es Hin-
weise im Popol Vuh, dem »Buch der Gemeinde« der Quiché und im »Memorial de
Sololä«, den Annalen der Cakchiquel Guatemalas.
132
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
Abb. 56 Pranke eines Fehden als Gefäß. Monte Albán. Nach Caso/Bernal 1952: Fig. 92.
Abb. 57 Fuß einer Fledermaus als Gefäß. Monte Albán. Nach Caso/Bernal 1952: Fig. 119c.
Abb, 58-59 Kampfschilde mit Tierfußemblem. Sahagiin-Manuskript Madrid.
Abb. 60 Jaguarpranken als Opfergaben, a) Codex Borgia, vor Tlaloc. b) Codex Vaticanus B 42,
vor Xochiquetzal. c) Codex Vaticanus B, über Tlaloc.
Abb. 61 Vogelfuß als Opfergabe. Codex Borbonicus 16, vor Xolotl.
Abb. 62 Verschiedene Füße (auch Hände?) als Opfergaben. Codices Fejérvary Mayer, Laud und
Vaticanus B.
Die Krallen gehören hier zu den Insignien der Herrschaft, zu deren Anerkennung und
Bestätigung diese Maya eine Gesandtschaft zu Nacxit (Quetzalcoati), dem Herrscher
von Tollan, ihrer eigenen ursprünglichen Heimat, schickten. Von ihm, »von dem alle
Würden und Macht ihren Ursprung haben« empfingen sie die königlichen Würdezei-
chen. Dazu heißt es im Popol Vuh:
»Da kamen sie vor das Angesicht des großen Königs... Der gab ihnen die Insignien der
Herrschaft, alle ihre äußeren Abzeichen. Da kamen die Abzeichen der ahpop und der
ahpop-carnha-'Würde... Folgendes sind ihre Namen: Baldachin, Thron, Flöten und
Trommeln, Gesichtsschminke und Markassit, Krallen vom Löwen und vom Tiger,
Kopf und Hufe des Hirsches... Schneckengehäuse und Schellen (?), Wiege und Wickel-
bänder (?), caxcon-chiyom, und zusammengeballte Masse (Haube) von Reiherfedern
(Seler III; 576).«
In einer späteren Ausgabe der Übersetzung des Popol Vuh durch Seler steht statt der
Krallen »Ausdünstung des Pumas, Ausdünstung des Jaguars« und in der Übersetzung
von Schultze-Jena heißt es »Puma-Riechstoff, Jaguarkopf« (Kutscher 1975: 145;
Schultze-Jena 1944: 145). Von dem Quiche-Wort caxcon-chiyom bei Seler (Caxeon,
Chiyom bei Schultze-Jena) gibt es keine Übersetzung sondern lediglich den Hinweis,
daß es zu den Abzeichen der Herrschaft gehört. Was in diesen Übersetzungen Aus-
dünstung oder Riechstoff bedeutet, ist unklar.
Jaguarkrallen und dazu solche vom Adler als Teil der Herrschaftsinsignien erwähnen
auch die Cakchiquel-Annalen:
133
TRIBUS 45, 1996
Abb. 63-64 Jaguarpranken als Tasche. Codices Borgia 55, Nuttall 9.
Abb. 65 Jaguarkrallen. Codex Bologna 22.
Abb. 66 Namenshieroglyphe des Herrschers »8 Hirsch Jaguarpranke«. Codex Bodley 30.
Abb. 67 Truthahnfuß. Codex Borgia 64.
Abb. 68 Jaguarpranke? Codex Vaticanus B 65.
"LLegó Qocaib y dio cuenta de su comisión. Traía los empleos de Ahpop, Ahtzalam,
Tzamchinimitaly otros muchos; expuso los signos que debían distinguir las dignidades
y eran uñas de tigres y de águilas, pellejos de otros animales, y también piedras, palos,
etc.« (Memorial de Sololá 1950: 223).
Ein bildlicher Beleg dazu findet sich auf einer der Goldblechscheiben aus dem Cenote
in Chichón Itzá. Ein Maya wird dort von einem toltekischen Adlerkrieger angegriffen.
Der auch sonst reichgeschmückte Maya trägt in seinem Kopfschmuck eine Raubvo-
gelkralle, die auf seine gehobene Stellung hinweisen mag. (Willey 1966/1: 167).
Es ist bezeichnend, daß in vielen Kulturen Raubtiere als Herrschaftssymbole eine Rolle
spielen, denn Löwe und Adler sind häufig verwendete Hoheits- und Wappenzeichen. Da die
Gesandten der Quiché und der Cakchiquel ihre begehrten Hoheitssymbole vom Herrscher
in Tollan holten, hatten die Krallen auch bei den mexikanischen Stämmen Bedeutung.
Hand, menschlicher und tierischer Fuß als Kleinplastiken können, wie im altweltlichen
Bereich, auch in den mesoamerikanischen Kulturen Amulettcharakter gehabt haben.
Es liegt wohl in der Natur des Menschen, daß er in seiner Abhängigkeit vom oder sei-
nem Verhältnis zum Numinosen versucht, aktiv oder passiv Einfluß zu gewinnen.
Neben der kanalisierten Form religiöser Systeme oder Dogmen bietet der Aberglaube
ein reiches Betätigungsfeld, selbst in unserer rational bestimmten Welt. Amulett und
Talisman sind allgemein bekannte (und oft gebrauchte!) Mittel, um Schutz zu
gewähren oder Glück zu bringen. In ihrer erhofften Wirkung sind beide Begriffe nicht
scharf zu trennen, da man von beiden auch Schutz erwartet. Die irrationale Welt des
Magisch-Zauberischen hat ihre eigene Logik. So können magische Maßnahmen auf
eine gleichartige (homöopathische) oder gegensätzliche (allopathische) Wirkung aus-
gerichtet sein, z. B. Kreuz oder Zahn gegen Böses - Igelstacheln gegen Bruststechen,
Augenamulette gegen Bösen Blick usw., also passiver Schutz - aktive Abwehr. Daß ein
bekanntes Attribut der Hexe, nämlich der Besen, auf dem sie reitet, auch gleichzeitig
ihrer Abwehr dient, zeigt die Ambivalenz mancher Zaubermittel. Nur aus dem augen-
scheinlichen Befund dürfte es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, den Hintergrund
solcher Erscheinungen zu erhellen. Hätten wir nicht zeitgenössische Quellen wie die
eben zitierte der Quiché und der Cakchiquel, könnte man die Bedeutung der Krallen
nur erraten. Wie aber sollte man darauf kommen, daß z. B. bei Netsilik-Eskimo
Eulenklauen als Kinderamulett kräftige Fäuste und jene des Schneehuhnes schnellen
Lauf bewirken sollen, gäbe es dazu nicht Berichte der Forscher (Birket-Smith 1948:
Abb. 63)?
134
Spranz: Die Zeichen Hand und Fuß
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BODO SPRANZ
Totimehuacan und Xochitecatl
Zwei Plätze in Puebla und Tlaxcala, Mexiko, in präklassischer Zeit
Anfang der 60er Jahre begann ein von den Professoren Paul Kirchhoff (Mexiko) und
Franz Termer (Hamburg) mit dem Instituto Nacional de Antropologia e Historia in
Mexiko vereinbartes interdisziplinäres Forschungsprojekt in den Bundesstaaten Pue-
bla und Tlaxcala. Eine zentrale Aufgabe dieses deutsch-mexikanischen Projektes war
die archäologische Forschung. Auf Grund einer sich auf diesen Raum beziehenden
frühen Chronik, der anonymen Historia Tolteca Chichimeca von 1545, wurde die
Pyramidenanlage von Totimehuacan südöstlich der Stadt Puebla als erster Grabungs-
platz ausgewählt. Nach dem Zerfall des Toltekenreiches im Jahre 1 tecpatl (nach
Krickeberg 1168) wanderte nach dieser Chronik ein Teil der Tolteken in den Raum
Puebla ab und besiegte mit Hilfe der Totomiuaque, denen sie Land zusicherten, die
Olmeca-Xicalanca von Cholollan, dem heutigen Cholula. Die Totomiuaque besetzten
die ihnen zugewiesenen Landstriche in Tlaxcala und Puebla, und in dem Ort Totime-
huacan vermutete man das alte Kultzentrum der Totomiuaque und hoffte, mit den
Ergebnissen der Grabung eine gesicherte Verbindung zwischen überlieferter
Geschichte und archäologischem Befund zu bekommen. Aber schon zu Beginn der
Grabung stellte sich heraus, daß diese Pyramiden wesentlich älter waren und nicht das
gesuchte Kultzentrum sein konnten. Schon die ersten Anzeichen deuteten daraufhin,
daß es sich um eine Anlage des Präklassikums handelt (Spranz 1970).
138
Spranz; Totimehuacan und Xochitecatl
Cerro Xochitecatl. Tlaxcala
(l-V Probegrabungen)
139
TR1BUS 45, 1996
Während der Grabungen in dieser Pyramidenanlage 1964/65 und 1966/67 wurde das
Gebiet um die Pyramiden, der ostwärts anschließende Cerro Navajas und der westlich
des Ortes liegende Cerro Chiquihuite auch nach Oberflächenfunden abgesucht. Die
Barranca zwischen den Pyramiden und dem als Viehweide genutzten Cerro Navajas
erwies sich durch ihren Erosionscharakter als wenig ergiebig. Aus dem nicht abgesuch-
ten Ort selbst könnten einige Stücke stammen, die von den Einwohnern erworben wur-
den (s. Karte Totimehuacan).
Als wichtigste, weil einigermaßen datierbare Funde sind ca. 200 Köpfe von kleinen
Tonfiguren anzusehen, von denen hier 195 klassifiziert werden. Ein Teil davon wurde
Spranz: Totimehuacan und Xochitecatl
bereits in einer früheren Veröffentlichung behandelt (Spranz 1968). Tabelle 1 zeigt
diese Funde nach Typengruppen und Anzahl geordnet. Eine Einzelaufstellung nach
Typen und Fundnummern enthält der Anhang.
Die frei modellierten Tonfiguren des Präklassikums zeigen bestimmte Merkmale, die
eine zeitliche Einordnung ermöglichen (Tafel 1). Grundlegend für diese Typisierung
und Einordnung sind die Ergebnisse der Grabungen von George C. Vaillant Ende der
20er und Anfang der 30er Jahre in Zacatenco, Ticomän und El Arbolillo bei Gua-
dalupe am Nordrand der Hauptstadt und in Gualupita, Morelos (Vaillant 1931-35).
Die Abfolge dieser nach ihren Fundplätzen benannten Kulturen enthält die Tabelle 2.
Als Ergebnis der Auswertung seiner stratigraphischen Grabungen auf den genannten
Plätzen stellte Vaillant die in dieser Tabelle angeführte Abfolge zusammen. Seine sehr
weitgehende Differenzierung der Tonfiguren und deren chronologische Einordnung
spielten dabei eine nicht unwesentliche Rolle, wie die Zusammenfassung seiner vier
Grabungen zeigt (Vaillant 1935; 297 ff).
Die von Vaillant als archaische oder Mittelkulturen bezeichneten Kulturen bilden nach
heutiger Terminologie das Präklassikum. Spätere Überarbeitungen und Ergebnisse
weiterer archäologischer Forschung haben die von Vaillant erarbeiteten Phasen, wie
aus Tabelle 2 ersichtlich, den drei Abschnitten des Präklassikums zugeordnet (z.B.
Pina Chan 1955; 90; Willey 41966: 97).
Tabelle 1
Typen insgesamt davon Cerro Navajas
Anzahl % Anzahl %
E-Gruppe 96 49,23 27 47,37
C-Gruppe 41 21,03 18 31,58
G-Gruppe 4 2,05 2 3,51
2 B 4 2,05 1 1,75
= F 5 2,56 1 1,75
H4 5 2,56 2 3,51
= 1 1 0,51 — 0
— L/P 3 1,54 1 1,75
Tiere 13 6,67 2 3,51
Fraglich 12 6,15 1 1,75
Sonstige 4 2,05 2 3,51
»Chiquihuite« 7 3,59 - 9,99
Gesamt 195 99,99 57 99,99
Tabelle 2
Spätes Präklassikum spät. Zacatenco spätes Ticomän Übergang Ticomän Gualupita II
Mittl. Präklassikum Frühes Präklassikum mitt. Zacatenco früh. Zacatenco frühes Ticomän El Arbolillo II- mitt. Zacatenco spät. El Arbolillo II- früh. Zacatenco früh. El Arbolillo I Gualupita I
Das Präklassikum umfaßt den Zeitraum vom Übergang der noch nicht seßhaften
Wildbeuter, also Jägern und Sammlern, zum Anbau von Nutzpflanzen bis zum Beginn
der eigentlichen Hochkulturen. Der Übergang zum Anbau von Nutzpflanzen und zur
Seßhaftigkeit begann um die Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Ökono-
misch-ökologisch günstige Bedingungen ließen kleinere weilerartige Siedlungen am
141
TRIBUS 45, 1996
Ufer des alten Sees in El Arbolillo und Zacatenco im frühen Präklassikum entstehen.
Das mittlere Präklassikum ist gekennzeichnet durch Einflüsse der ältesten Hochkultur
Mesoamerikas, der an der mittleren Golfküste und in Guerrero beheimateten Kultur
der Olmeken. Die Träger dieser Kultur und ihre Herkunft sind nicht bekannt. Der
Name stammt aus der sehr viel späteren aztekischen Zeit, in der die mittlere und süd-
liche Golfküste als Olman, Land des Kautschuks, bezeichnet wurde. Von hier bezog
man das Rohmaterial für die Bälle des weitverbreiteten Ballspieles. Die Olmeken sind
berühmt für ihre Kunst der Steinbearbeitung, sie unterhielten weitreichende Handels-
beziehungen und beeinflußten nachhaltig die Kulturentwicklung in Mesoamerika.
Im Verlaufe des Präklassikums werden die Anbaumethoden verbessert, die Siedlungen
werden größer, und die ersten Zeremonialbauten entstehen, die auch Anzeichen einer
sozialen Differenzierung sind. Im späten Präklassikum geht diese Entwicklung weiter.
Die verbesserten und damit produktiveren Anbaumethoden führen zu einem Wachs-
tum der Bevölkerung, sichern deren Ernährung und stellen Arbeitskräfte für verschie-
dene Handwerke frei. Vorgänge, die auch die gesellschaftliche Organisation nachhaltig
beeinflussen.
Gegen Ende des Präklassikums entwickelt sich eine Kultur, die für über ein halbes
Jahrtausend das folgende Klassikum bestimmt - die Kultur von Teotihuacan.
Für das späte Präklassikum ist Totimehuacan die wohl größte Pyramidenanlage im
zentralen Hochland. Ihre Anfänge gehen in das mittlere Präklassikum zurück. Die
Gänge und Kammern im Inneren der Hauptpyramide mit der großen Basaltwanne
wurden nach der C14-Datierung zwischen 595 und 495 vor Chr., also gegen Ende des
Mittleren Präklassikums, verschlossen und zur Vergrößerung der Pyramide überbaut.
Die Datierungen wurden vom Landesamt für Bodenforschung in Hannover vorge-
nommen:
Probe Hv 1714: 2645 + 90 Jahre = 695 vor Chr. + 90
Probe Hv 1947: 2430 + 60 Jahre = 480 vor Chr. + 60
Mittlerer Wert 2495 + 50 Jahre = 545 vor Chr. + 50
Für die Endstufe der Pyramide ergab die Analyse:
Probe Hv 1151: 2150 + 125 Jahre = 200 vor Chr. +125
Der Boden der Kammer mit der Wanne liegt 16 m über der Basis der Pyramide. In
einer späteren Grabungskampagne war die Untersuchung dieses unteren Teiles der
Pyramide vorgesehen, konnte aber wegen neuer, nicht erfüllbarer Bedingungen nicht
mehr durchgeführt werden (s. unten). Die obige Datierung (545+50 vor Chr.) zeigt mit
dem Verschließen der Gänge und Kammern das Ende einer Bauphase und den Beginn
einer weiteren an. Es ist nicht auszuschließen, daß darunter noch älteres zu finden ist.
Die Oberflächenfunde zeigen, daß der Hauptteil der zu dieser Anlage gehörenden
Siedlung im Bereich des heutigen Ortes gelegen haben dürfte. In der Tabelle 1 sind die
Figurenfunde auf dem Cerro Navajas getrennt aufgeführt, da hier der Anteil der
frühen C-Typen prozentual um ca. 1/3 höher liegt als im übrigen Bereich. Das könnte
bedeuten, daß hier die Anfänge der Niederlassung im frühen und mittleren Präklassi-
kum zu finden sind, die sich dann im späten Präklassikum weiter in den Bereich des
heutigen Ortes ausdehnte, denn die späten Typen, vor allem E, kommen hier überall
vor. Nicht in die Klassifizierung einbezogen sind sonstige Bruchstücke von Figuren wie
Körper und Körperteile, von denen 156 Stück gefunden wurden.
Ein bisher stilistisch und zeitlich nicht einzuordnender Figurentyp ist in sieben Exem-
plaren vertreten. Die vorläufige Typenbezeichnung »Chiquihuite« ist nach einem am
Cerro Chiquihuite gefundenem Exemplar gewählt worden, das am besten erhalten ist.
Es wurde 1,5 m neben einer stark gestörten Bestattung ausgegraben, die ihrerseits 1,0
m südlich eines Teotihuacan 11-Grabes freigelegl wurde. Dieser Figurentyp zeichnet
sich aus durch eine stark vorspringende Nasenpartie, geradlinige Kerben für Augen
und Mund sowie nicht bei allen erhaltene rote Bemalung der oberen Gesichtshälfte.
Die Nähe zu den Gräbern legt eine Datierung in das frühe Klassikum nahe. In der
Umgebung wurden hier weitere fünf solcher Köpfe gefunden (Tafel 2). Da jegliches
Vergleichsmaterial fehlt, könnte es sich bei diesem Typ um eine Lokalform handeln
(pers.Mitteilung Lorenzo u. Pina Chan).
Spranz: Totimehuacan und Xochitecatl
Weitere Gegenstände aus Ton sind 414 massive Ohrpflöcke mit leicht eingezogener
Kante, von denen einer verziert ist, und von einem ringförmigen Ohrpflock existiert
ein Bruchstück (Tafel 2). Nach Vaillant sind diese Ohrpflöcke typisch für das späte
Zacatenco und für Ticoman, also für das späte Präklassikum (Vaillant 1934: 98).
Von sechs gefundenen Spinnwirteln sind zwei verziert, ein größerer mit geometrischem
Muster und einer der kleineren mit der plastischen Figur eines Affen. Die Formen sind
gleich, die Unterseiten sind flach, die Oberseiten gewölbt, in der Mitte befindet sich das
Loch für den Spindelstab. Der letztere Spinnwirtel wurde in einer Form (molde) her-
gestellt. Von durchbohrten, rundgeschliffenen Keramikscherben abgesehen scheinen
Spinnwirtel im Präklassikum des Hochbeckens von Mexiko unbekannt gewesen zu
sein (Tafel 2). Rundgeschliffene Keramikscherben (4 Stück, D. 3-5 cm) dienten viel-
leicht als Spielsteine, während der Verwendungszweck von Tonkugeln (2 Stück, D. 3
und 5 cm) unbekannt ist.
Zum Körperschmuck (Bemalung) gehören wahrscheinlich die Bruchstücke von zwei
Tonstempeln, wie sie im benachbarten Hochbecken von Mexiko im späten Präklassi-
kum verkommen (Tafel 2). Durchbohrte Stein- und Tonperlen (2 bzw. 3 Stück) sind
zeitloser, schon früh verwendeter Schmuck. Im engeren Pyramiden bereich fanden sich
Bruchstücke von wahrscheinlich fünf Gesichtsmasken aus Ton (Tafel 3).
Die 49 gefundenen Steingeräte sind zeitlich nicht einzuordnen, dürften aber nach dem
Umfeld hauptsächlich präklassisch sein. Die acht Pfeilspitzen sind trotz unterschiedli-
cher Formen - nur die frühen blattförmigen Spitzen fehlen hier im ganzen Präklassi-
kum und darüber hinaus vertreten, ebenfalls geschliffene Beilklingen (3 Stück) mit
rechteckigem oder ovalem Querschnitt (Tafel 3). Die Pfeilspitzen sind hier nach ent-
sprechenden Funden aus den Grabungen in Tehuacan, Puebla, klassifiziert (MacNeish
1967: 52 ff). Mörser (1 Exemplar) und Reibsteine (manos, 8 Stück) sind ebenfalls zeit-
los und teilweise noch heute in gleicher Form in Gebrauch.
Das Fundmaterial von Totimehuacan wurde nach der vorläufigen Beendigung der
Grabungen dem INAH übergeben. Dabei war die abschließende Bearbeitung der
Funde vom Cerro Chiquihuite zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehen, konnte dann
aber wegen der vom Departamento Monumentos Prehispänicos verfügten Auflagen,
die praktisch die Grabungen beendeten, nicht mehr durchgeführt werden. Von den
Chiquihuite-Funden waren zu diesem Zeitpunkt neben einzelnen Stücken lediglich die
zahlreichen Pfeilspitzen bearbeitet. Die 32 Exemplare aus den Oberflächenfunden und
sieben komplette bzw. klassifizierbare Bruchstücke aus Probegrabungen auf den Plät-
zen E und F (s. Karte Chiquihuite) sowie zwei Beilklingen zeigen die Tafeln 4 und 5.
Die Klassifizierung und die zeitliche Zuordnung der Pfeilspitzen (Tabelle 3) beruht auf
den Ergebnissen der Tehuacän-Grabungen (MacNeish 41967; 52ff).
Merkwürdigerweise wenig vertreten scheint das Klassikum zu sein, es sei denn auch
hiervon liegen Spuren unter dem Ort. Ende 1966 fanden sich beim Bau eines Hospitals
am Nordrand von Totimehuacan einige Teotihuacangefäße, ohne daß diese Funde zur
weiteren Untersuchung des Platzes gemeldet wurden. Bei Probegrabungen am Cerro
Chiquihuite legten unsere Arbeiter auf Platz A ein Hockergrab mit typischer Teoti-
huacän-11-Keramik frei. Weitere Probegrabungen auf den Plätzen B-F ergaben, neben
den Oberflächenfunden, ebenfalls Hinweise auf das Klassikum und Postklassikum.
In der 1958 bei einem Erdbeben weiter stark zerstörten Ruine eines im 16. Jahrhundert
gegründeten Franziskanerkonvents, einem beliebten Platz für Schatzgräber inmitten
des Ortes, finden sich unter dem Boden der großen Halle alte Stuckböden und Scher-
ben klassisch-nachklassischer Zeit. Einiges spricht dafür, daß hier das alte Kultzen-
trum der chichimekischen Totomiuaque, der ersten historisch belegten Ethnie in die-
sem Raum, zu suchen ist, das dann nach der Eroberung von den Spaniern zerstört und
mit dem Konvent und der danebenliegenden Kirche überbaut worden ist.
Da nach der Historia Tolteca-Chichimeca die Tolteken den Totomiuaque für ihre
Unterstützung beim Kampf gegen die Olmeca-Xicalanca Land zugesichert haben,
müssen die Totomiuaque in nachklassischer Zeit sich mit einer älteren, hier ansässigen
Bevölkerung in irgendeiner Weise auseinandergesetzt haben. Wer das war, ist zur Zeit
archäologisch nicht nachweisbar, und auch in anderen Quellen finden sich keine Hin-
weise. Die wenigen Teotihuacän-Spuren gegen Ende des Klassikums könnten auf Ein-
flüsse dieser Kultur auf eine hier ansässige Bevölkerung hindeuten oder auf nach dem
Niedergang ihrer Metropole zugewanderte Teotihuacän-Leute. Um 800 geriet dann
dieses Gebiet unter die Herrschaft der Olmeca-Xicalanca. Diese hatten sich nach
143
TR1BUS 45, 1996
r—1 LZJ
Ohrpflöcke
r Igpj
|f
Stempel
Eroberungen im östlichen Hochland vor allem in Cholula und im Raum Cacaxtla nie-
dergelassen. Auf dem Cacaxtla, einem dem Xochitecatl benachbartem Hügel, hat man
Mitte der 70er Jahre Bauwerke freigelegt mit sehr gut erhaltenen Malereien im Maya-
Stil. Das könnte ein archäologischer Beleg für die Vermutung sein, daß der Kern der
Olmeca-Xicalanca mayaisierte Mexikaner von der südlichen Golfküste gewesen sind
(Näheres dazu s.Spranz 1988; 67 ff)- Der Cacaxtla wurde um diese Zeit befestigt,
anscheinend von den Olmeca-Xicalanca, wenn auch nicht auszuschließen ist, daß es
zunächst gegen sie geschah.
Die ungewöhnliche, einseitig gestufte Form der Hauptpyramide von Totimehuacan
veranlaßte die Suche nach ähnlichen Bauformen an anderen Plätzen des Projektgebie-
tes. Eine solche fand sich in der großen Pyramide auf dem Cerro Xochitecatl am
144
Spranz: Totimehuacan und Xochitecatl
Südrand des Bundesstaates Tlaxcala. Die Grabungen begannen hier 1969 mit Schnit-
ten in diese Pyramide und in einen flachen Montículo vor der Westseite der Pyramide.
Während das überaus reiche Fundmaterial aus dem Montículo aus der Übergangs-
phase vom Klassikum zum Postklassikum stammt, erbrachte einer der beiden Schnitte
auf der Hauptpyramide in den Schichten II (1,0 - 3,10 m) und III (bis 4,0 m) präklas-
sische Scherben (Spranz, Dumont, Hilbert 1978). Die C14-Datierung einer Holzkoh-
lenprobe aus Schicht II durch das Landesamt für Bodenforschung in Hannover ergab
Probe Hv 4429 2300 + 55 vor 1950
gern. Kommentar; 480^410 vor Chr.
145
TRIBUS 45, 1996
Diese Schicht II stammt also aus dem Beginn des späten Präklassikums. Aus der von
ihr durch eine 0,40m dicke Steinpackung abgesetzten Schicht III fehlt eine Datierung.
Wegen Raubgrabungen im Montículo mußte die restliche Arbeitszeit zur Sicherstel-
lung dieser Funde verwendet werden. Eine zweite für den Xochitecatl vorgesehene
Grabung konnte wegen unverständlicher Auflagen durch den damaligen Direktor der
Abteilung Monumentos Prehispánicos des INAH nicht mehr durchgeführt werden.
Nach ihm sei es nicht gestattet, Funde zu bergen(!) und Pyramiden mußten vollständig
ausgegraben und rekonstruiert werden. Das widersprach allen Vereinbarungen zwi-
schen den Initiatoren des Mexikoprojektes und dem INAH. Da die Freilegung und
Rekonstruktion von derartigen Bauwerken Zeit und Mittel des Projektes bei weitem
überschritten hätten, konnte die Grabung nicht fortgeführt werden. Wie zutreffend
146
Spranz: Totiinehuacan und Xochitecatl
Ensor
Teotihuacan
Texcoco
Tula
Tafel 5
Morhiss
Harrel
I Beile
unsere Annahme einer Parallelität zwischen Totimehucan und dem Xochitecatl jedoch
war, zeigten spätere Grabungen des INAH, bei denen in oder an der großen Pyramide
des Xochitecatl drei Wannen gefunden wurden (Mitteilung von Kollegen. Berichte
oder Veröffentlichungen darüber sind noch nicht verfügbar). Diese Wannen dürften
wohl ähnlichen Zwecken gedient haben, wie die Wanne in der Pyramide von Totime-
huacan, nämlich dem vermuteten Kult einer Wasser-ZRegengottheit.
Die Bestattungen und Depots von Opfergaben aus dem Monticulo gehören in die
Übergangszeit vom Klassik um zum Ostklassikum, mit Ausnahme eines kolonialzeitli-
chen Depots vom Ende des 18. Jahrhunderts (Spranz, Dumont, Hilbert 1978). Die
Oberflächenfunde vom Cerro Xochitecatl und seinem Umfeld enthalten mit Totime-
huacan zeitgleiches Material. Abgesucht wurde die Ebene am Westfuß des Xochitecatl
147
TRIBUS 45, 1996
Tabelle 3
1.540
Venta Salada
700-1540 1.000
Palo Blanco
200v.-700n.Chr, 0
Santa Maria
900-200
AJalpan 1.000
1500-900
Purrón 2,000
2300-1500
Abejas 3.000
3500-2300
Coxcatlán 4.000
4900-3500
5.000
El Riego 6.000
6500-4900
7.000
Ajuereado 8.000
10000-6500
9.000
10.000 -
Abasóle La Mina Matamoros Teotihuacán
Placeo San Nicolás Tehuacán Tula
Nogales Shumla Ensor Texcoco
Tortugas Pelona Horhiss Harrell
Chronologie der Pfeilspitzen nach den Grabungen in Tehuac&n, Puebla
(MacNeish 1967:52ff).
sowie der Ort Xochitecatitlan (s.Karte Xochitecatl). Die gefundene Keramik (Scher-
ben) entspricht in Gefäßform und Verzierung weitgehend jener in Totimehuacan. Auf-
fallend häufig sind massive Ohrpflöcke aus Ton, während die in Totimehuacan so zahl-
reichen Bruchstücke von Figuren hier am Xochitecatl weniger häufig sind. Unter den
17 Fundstücken gibt es nur je ein Köpfchen Typ K und ein Typ B-ähnliches. Auch
Pfeilspitzen sind kaum vertreten. Es fand sich nur je eine Teotihuacän- und eine
Tula(?)-Spitze, beide aus schwarzem Obsidian (Tafel 6).
Das spärliche Vorkommen späteren Materials läßt fast vermuten, daß sich an beiden
Orten ein lebenskräftiges Präklassikum, zumindest in seiner materiellen Hinterlassen-
schaft, besonders lange gehalten hat.
Mit der Xochitecatl-Grabung mußte also unsererseits 1970 die Untersuchung zumin-
dest des Präklassikums in Puebla und Tlaxcala abgeschlossen werden, da weitere Gra-
bungen durch die genannten Bedingungen praktisch unmöglich gemacht waren. Vor-
gesehen waren jedenfalls nochmal Totimehuacan und Xoxhitecatl sowie die Pyramide
in Amalucan.
148
Spranz: Totimehuacan und Xochitecatl
Abgesehen von dieser glücklicherweise erst gegen Ende des Projektes erfolgten Behin-
derung archäologischer Feldarbeit hat die deutsch-mexikanische Zusammenarbeit
wesentliche neue Erkenntnisse über Zusammenhänge der vorspanischen Kulturen im
zentralen Hochland erbracht, aber auch neue Fragen aufgeworfen und damit interes-
sante Perspektiven für die künftige Forschung eröffnet.
Bibliografie
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Willey, Gordon R.
1966 An Introduction to American Archaeology, Vol. I, North and Middle America. Engle-
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150
ANGELIKA TUNIS
Ein Brief aus der Kolonie Togo
Vorwort
Nach Kapitel VI, Artikel 35 der Generalakte der Berliner Kongo-Konferenz von 1885
anerkennen die Signatarmächte »die Verpflichtung, in den von ihnen an den Küsten
des afrikanischen Kontinents besetzten Gebieten das Vorhandensein einer Obrigkeit
zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte und, gegebenenfalls, die Handels-
und Durchgangsfreiheit unter den Bedingungen, welche für letztere vereinbart worden,
zu schützen«.
Das führte in der Folgezeit zu einem Wettlauf um Kolonien, weil sich jede Kolonial-
macht bemüßigt fühlte, die besten Stücke aus dem »herrenlosen« Afrika zu ergattern.
Um den Schutz deutscher Interessen in den noch unbesetzten Gebieten Afrikas zu
übernehmen, wurden »Schutzgebiete« errichtet, in denen die einheimische Bevölke-
rung vor den Handelsinteressen der anderen europäischen Kolonialstaaten geschützt
wurde.
»Was die europäischen Mächte heute bewegt, ist selbstverständlich und gerechterweise
dasselbe, was sie vordem nach Amerika und Asien geführt hat; in erster Linie Handels-
und Staatsinteresse«, kommentierte »Das Ausland« 1885 »Die afrikanische Konferenz
in Berlin«.
Unter dem Druck der Hamburger und Bremer Kaufmannschaft an der Küste Togos
und Kameruns zur Sicherung und Ausweitung ihrer Handelskapazitäten sah sich auch
die deutsche Reichsregierung veranlaßt, Expeditionen zur Gründung von Stationen ins
Hinterland ihres Küstenbesitzes zu schicken, obwohl es den ursprünglichen Intentio-
nen Bismarcks diametral entgegenstand. Er hielt das Reich nämlich noch für zu arm
und zu schwach, um sich eine kostspielige Kolonialpolitik leisten zu können. Anstelle
des »königlichen Beamten« sollte der »königliche Kaufmann« in den Kolonien die
Geschäfte machen, aber auch alle Kosten dafür tragen (vgl. Noske 1914: 23 ff). An sei-
nem 80. Geburtstag resümierte der Kanzler; »Ich habe mir das immer so gedacht, daß
man, sobald die Grenzen unserer Kolonien durch Verträge festgelegt seien, das Innere
einstweilen sich selbst überlassen, die Küste dagegen durch ausgiebige Kultivierung
mit Plantagen fest für uns sichern sollte, wie es ja auch die Holländer auf Java gemacht
haben« (Zöller 1930: 362).
Bald nach der Kongo-Konferenz beschloß die »Afrikanische Gesellschaft in Deutsch-
land« - gegründet 1878 zur Förderung der Afrikaforschung - ihre Selbstauflösung
(1887). Sie sah ihre wissenschaftlichen Bestrebungen durch den Umstand beeinträch-
tigt, daß die Reichsregierung nur noch Interesse an der »Erschließung der deutschen
Schutzgebiete« hatte. Afrikaforschung im engeren wissenschaftlichen Sinne und kolo-
nialpolitische Interessen waren in der Folgezeit untrennbar miteinander verflochten.
Afrikaexpeditionen im Reichsauftrag wurden nun aus dem »Fonds zur Erforschung
Afrikas und anderer Erdteile« bezahlt. Dieser ist aber 1878 für die Zwecke der Afrika-
nischen Gesellschaft eingerichtet worden und sollte demzufolge rein wissenschaftli-
chen Zielen dienen. Die »praktische Wissenschaft« - Wissenschaft im Dienste der
Kolonien - war geboren. In dieser Periode war der »Forscher« in erster Linie Kolonia-
leroberer. In den besetzten Gebieten wurden »wissenschaftliche« Stationen als »wich-
tige militärische Operationsbasis« eingerichtet.
Enthusiastisch begrüßt und gefördert wurde die Ausweitung der Kolonien eigentlich
nur von den kolonialen Kreisen im Mutterland sowie von den in den Kolonien tätigen
Kaufleuten und Missionaren. Es kam 1882 zur Gründung des »Deutschen Kolonial-
vereins«, der 1885 schon 15.000 Mitglieder zählte. Seit 1884 gab es die »Gesellschaft
für deutsche Kolonisation«. Beide vereinigten sich 1887 zur »Deutschen Kolonialge-
sellschaft«. Denn durch die halbherzige Unterstützung von offizieller Seite, die zur
unheiligen Allianz von »praktischer Wissenschaft«, wie sie jetzt gefragt war, und Kolo-
nialeroberung führte, »boten die meisten deutschen Kolonien in der ersten Zeit ein Bild
planloser, unrentabler Mißwirtschaft« (Ansprenger 1967: 21t)- Die wirtschaftliche
151
TRIBUS 45, 1996
Entwicklung der Schutzgebiete stockte schon nach wenigen Jahren fast vollständig. Im
Reichstag kam es alljährlich zu lebhaften und ausgedehnten Kolonialdebatten (Noske
1914: 67).
Einleitung
Vor zehn Jahren gab die Hundertjahrfeier zum Eintritt Deutschlands in den »illustren«
Kreis der Kolonialmächte Anlaß zu einer wahren Flut von Publikationen von politi-
scher wie wissenschaftlicher Seite, neben authentischer Erinnerungsliteratur.
Vor allem an der »Musterkolonie« Togo schieden sich die Geister. Befürworter wie kri-
tische Gegner der vorherrschenden Kolonialpraxis1 versuchten, ihren Standpunkt
durch zeitgenössische Quellen zu untermauern. Wissenschaftler aus dem Ostteil
Deutschlands genossen den Vorteil, direkten Zugang zu den Akten des Reichskoloni-
alamtes zu haben, die reichhaltiges Material für jahrelange kritische Aufarbeitung
boten (z.B. Sebald 1972, 1988). Viel Archivmaterial wurde in Ost und West gewälzt,
doch eine ergiebige Quelle - der zeitgenössische Schriftverkehr im Museum für Völ-
kerkunde Berlin - wurde nur am Rande gestreift (Essner 1986: 77).
Getrieben von der Idee, daß das Ende jeder ethnologischen Sammeltätigkeit nahe
bevorstand, drängte bekanntlich A. Bastian Regierung und Reisende, die letzten Zeug-
nisse der Kulturen vor ihrer Vernichtung durch den Einfluß europäischer Waren und
Wertvorstellungen, möglichst vollständig für »sein« Museum zu sichern. So erwirkte er
schon am 17. August 1888 einen Erlaß vom Auswärtigen Amt bezüglich der Ethnogra-
phica aus den mit Reichsmitteln finanzierten Expeditionen von Eugen Zintgraff in
Kamerun und Ludwig Wolf in Togo, zur »Vervollständigung der Sammlungen des hie-
sigen Museums für Völkerkunde« (Kultusminister von Goßler an die Generalverwal-
tung).
Da nicht alles Kulturgut zu erwerben und zu verschicken war, hat das Museum schon
frühzeitig Fragebögen und Anleitungen zum wissenschaftlichen Sammeln und Beob-
achten an alle in den Kolonien Tätigen verschickt (1875 von G. Neumayer, 1899-1903
von v.Luschan).
Sehr geschickt und erfolgreich verstand es v. Luschan, bei den auf Staatskosten in die
Kolonien entsandten ethnologischen Laien Neugier und Verständnis für die Vorgefun-
denen Gegebenheiten zu entwickeln. Hartnäckig bohrte er mit immer neuen Fragen
und Objektwünschen, wo es ihm erfolgversprechend erschien. Dadurch entspann sich
mitunter ein sehr vertraulicher Gedankenaustausch, der durch die persönliche Bewer-
tung der Ereignisse vor Ort Einblicke in die Begleitumstände der Kolonialerwerbung
gibt.
Die Wissenschaftler im Museum, welchem schließlich per Gesetz (Bundesratsbeschluß
von 1889) alle Sammlungen aus den Kolonien »eigentümlich überlassen werden«, haben
diesen »historischen« Anlaß nicht genutzt, um das wertvolle schriftliche Begleitmaterial
zu den eingegangenen Sammlungen zugänglich zu machen. Diesem Versäumnis will ich
mit einem Beispiel, deren es noch viele gibt, nachkommen, weil es mir auch ein Bedürf-
nis ist, zu verdeutlichen, daß nicht alle, die im Dienste der kolonialen Eroberung tätig
waren, als schießwütige, menschenverachtende »Herrenmenschen« handelten.2
Der Brief, Akte E 1235/88, vom königlich sächsischen Stabsarzt Dr. Ludwig Wolf:
Adeli, den 10. October 1888
Hochverehrtester Herr Geheimrat
Ich schulde Ihnen immer noch Nachricht über die »Götzenfabrik Biasse« Wenn ich bis
jetzt damit gezögert habe, so liegt der Grund dafür darin, daß ich auf eine günstige und
sichere Gelegenheit wartete, um zugleich einige ethnographische Gegenstände mit-
schicken zu können. Doch wird sich eine solche, wie ich nun sehe, wohl kaum eher bie-
ten, als im Februar n. J. wenn Hr. Pr. 1t. Kling sich nach der Küste begeben wird, um
einen frischen Nachschub von Wei Leuten zu holen. Die Verbindung zwischen hier und
der Küste, welche vor meiner Reise noch nicht bestand, läßt für Karawanen ohne
europäische Begleitung noch manches zu wünschen übrig, wird jedoch immer besser.
Während meines kurzen Aufenthaltes an der Küste machte ich meinem Versprechen
gemäß einen Abstecher, um die von Hr. Zoeller in der Kölnischen Zeitung vom 1.
Januar 1888 angegebenen »Biasse, Fabrik von Götzenbildern« aufzusuchen. Vorher
war dem Vertreter des Hauses Woelber und Brohm in Lome, Hr. Amerding, der Zweck
152
Tunis: Ein Brief aus der Kolonie Togo
meines Besuches mitgeteilt u. derselbe von seinem Chef in Klein Popo, Hr. Randad,
beauftragt, meinen Bestrebungen förderlich zu sein u. alles vorzubereiten. Als ich in
Lome ankam, erzählte mir Hr. Amerding zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß
ihm, obschon er bereits längere Zeit in Lome ansässig sei, ein Ort Biasse gänzlich unbe-
kannt sei, auch hätten alle seine Erkundigungen nichts über das Vorhandensein eines
solchen ergeben, alle Töpfereien pflegten aus Towe zu kommen. Nach der Skizze von
Hr. Zoeller sollte Dorf Biasse bekanntlich nicht weit von Lome an der Straße von dort
nach Aguewe hin liegen. Von mir, zusammen mit Hr. Amerding wurden nun einige
zwanzig Eingeborene, welche an derselben ansässig waren u. von Aguewe kamen über
Biasse befragt, doch niemand konnte mir etwas darüber sagen. Alle behaupteten ein-
stimmig, die Töpferwaren kämen aus Towe. Ich machte mich dann selbst mit Hr.
Amerding, Dolmetschern u. einigen 20 Leuten auf die Reise. Wir kamen bis Aguewe,
also nach Zöller über das angebliche Biasse hinaus. Alle Ortschaften wurden zu beiden
Seiten des Weges abgesucht, doch es war kein Biasse zu finden. Einstimmig überall die
Auskunft über die Vorgefundenen Töpferwaren, Töpfe Fetische kämen aus Towe. In
der Nähe von Towe soll nach in Aguewe erhaltenen Mitteilungen ein Dorf von etwa
30-40 Hütten sich befinden, wo besonders Töpferwaren gemacht werden - u. dieser
Ort Bia ze heißen, wohl von Bia roth und ze Topf abzuleiten. Dieses Bia ze soll von
Lome etwa 70 km entfernt liegen. Ähnliche Angaben erhielt ich auch in der »Fetisch-
stadt« Be. Leider war es mir wegen meines damals bevorstehenden Aufbruches mit der
Expedition nicht möglich, mich persönlich nach Towe zu begeben, hoffentlich bietet
sich hiezu später eine Gelegenheit.
Hier geht alles im Großen und Ganzen nach Wunsch u., was mir eine besondere
Genugthuung ist, auf friedlichem Wege. So hat es der Expedition nicht an den lan-
desüblichen Schwierigkeiten gefehlt. Man hat versucht, uns mit Gewalt aufzuhalten,
Überfälle vorbereitet u. dgl. Doch hat sich schließlich alles günstig gestaltet u. die For-
schungs Station besteht.
Das Vorgehen der über 100 Mann zählenden Expedition mußte natürlich bei den auf
den Zwischenhandel äußerst eifersüchtigen Volksstämmen auf großes Mißtrauen
stoßen u. eine mächtige Bewegung unter denselben hervorrufen. Hätte ich den Versuch
machen wollen, mit gewaltsamer Hast vorzugehen, so wäre ein feindlicher Zusammen-
stoß u. auch wohl eine Katastrophe unvermeidlich gewesen. Diese Art Eingeborene
sind nicht mit jenen des südlichen Kongobeckens gleichzustellen, sie sind kriegerischer,
u. der Europäer, auch wenn sie ihn zum ersten Male in ihrem Leben sehen, pflegt ihnen
keineswegs soviel Respect einzuflößen, als daß sie ihn für unüberwindlich halten.
Einen kleinen afrikanischen Krieg kann man hier sofort haben, man braucht nicht
lange nach einem Grund dafür zu suchen. Nichts dürfte aber der Afrika Forschung,
besonders der nationalen mehr schaden, als ein kriegerisches Vorgehen. Der Afrikarei-
sende darf nicht vergessen, daß seine Mission eine friedliche ist u. er soll keine Mittel
unversucht lassen, um sich mit den Eingeborenen auf freundlichen Fuß zu stellen. Ich
bin deshalb auch langsam vorgegangen und ich habe mir nicht verdrießen lassen an
einem Orte länger als ich beabsichtigte zu bleiben, um die Eingeborenen zu besänftigen
u. friedlich zu stimmen.
Jemand, der einige Erfahrung in Afrika gesammelt hat, weiß, welch schwere Folgen
blutige Zusammenstöße mit Eingeborenen nach sich ziehen u. daß diese, wenn sie nun
gar mit dem Rückzug der engagierten Reisenden enden, die spätere Erforschung der
betreffenden Gebiete außerordentlich erschweren, wenn nicht unmöglich machen.
Ich mußte zunächst einen geeigneten Platz für eine Station finden, welcher außer der
lokalen Forschung, der Expedition als Stützpunkt, als Operationsbasis für weitere
Unternehmungen dienen sollte. Dieses ist geschehen. Ich glaube, wenn ich die ver-
schiedenen zur Anlage der Forschungsstation mich bestimmende Gesichtspunkte ins
Auge fasse, daß ich keinen günstigeren Platz hätte finden können. Sobald die Station
möglichst ausgebaut u. gesichert ist, ich meinem Aufträge gemäß, meine größere Reise
antreten, vorher mich auf kleinere Recognisierungstouren beschränken müssen, die bis
jetzt nicht befriedigend ausgefallen sind u. nach allen Seiten hier freundschaftliche
Beziehungen anknüpfen. Hoffentlich wird unsere Arbeit hier später nicht von Reisen-
den mit »zu schneidiger Veranlagung« gestört. Ich bin in der Auswahl meiner Beglei-
tung vorsichtig gewesen und damit auch sehr zufrieden.
Wißmann sagte mir: »Nimm nur keinen Lieutenant mit!« Nun, Ausnahmen bestätigen
die Regel. Im Allgemeinen ist übrigens seine Meinung gewiß richtig u. umso mehr zu
153
TRIBUS 45, 1996
beachten, als von ihm, der selbst als Lieutenant seine Afrikareise antrat, ausgeht. -
Indem ich hoffe, daß diese Zeilen trotz der unsicheren Beförderung Sie im besten
Wohlsein antreffen mögen, bitte ich, mich Herrn Geheimrath Virchow, Dr. Neist (oder
Reist, Anm.d.Verf.) u. Dr. von Luschan gütigst empfehlen zu wollen und verbleibe
mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener
Dr. Ludwig Wolf,
Stabsarzt
RS. Ich habe seiner Zeit ein paar Töpfe in Be erstanden. Hr. Amerding, Vertreter des
Hauses Woelber u. Brohm in Lome, hat übernommen, dieselben nach Berlin zu
schicken. Sie sind inzwischen wohl angekommen.
Erläuterungen
Herr Geheimrat:
Dieser Brief ist an den Direktor des Museums gerichtet. Bastian verfügte seit 1886 über
den Titel »Geheimrat« und somit über das Recht, Ordensempfänger vorzuschlagen.
Götzenfabrik Biasse:
Lt. Schulze fügt dem Bericht seiner Schiffsreise nach Kamerun im 2. Halbjahr 1884
eine Karte, die Kiepert »nach Schulzescher Skizze über die Grenzen des dt. Protekto-
rats« gezeichnet hat, bei. Auf dieser Karte ist Biasse südöstlich von Aguewe eingetra-
gen (a. a. O.; 275). Diese Information über einen Ort Biasse datiert also mindestens
drei Jahre früher als Zollers Beobachtung. Auf eine ähnlich frühe Quelle muß sich
auch Heichen stützen, der »Biasse = kleines Industriedorf im Togogebiet« in sein Lexi-
kon 1885: 1332, aufgenommen hat.
Fetischstadt Be:
Schon Zöller hatte 1885 »eine der größten Städte des Togo-Landes, welche ... nur vier
Kilometer von Lome entfernt liegt ... die heilige Fetisch-Stadt Be« besucht (1885:
92-98; 1930: 134). Der Name heißt »Versteck«, was darauf deutet, daß dieser Ort am
westlichen Ende des ganzjährig befahrbaren Lagunensystems als eine Flüchtlingsnie-
derlassung der Ewe aus den östlichen Nachbargebieten entstanden ist. (Sebald 1988: 15)
Klings Reise zur Küste:
Er hatte erfolgreich rekrutiert, denn am 22.4.1889 brach Dr. Wolf an der Spitze einer
Karawane von 32 Mann, darunter 18 Lagos- und 8 Wei-Neger nach Mopti auf
(Mitt.a.d.Dt.Sch. 1891; 3). Pr. Lt. Kling ist es auch »gelungen, von der Küste über
Agbenda und Do Koffe wieder nach Bismarckburg zu gelangen und dabei die prakti-
kabelste Karawanenstraße zwischen Klein-Popo und der Station aufzufinden« (Glo-
bus 56, 1889: 16).
Wölber und Brohm:
Mit dieser Hamburger Firma waren die ersten Kaufleute der Togoküste mit einer Fak-
torei in Baguida, wo Dr. Nachtigal am 5. Juli 1884 den Schutzvertrag abschloß. Der
Firmenvertreter, Herr Heinrich Randad, der schon lange dort ansässig war, wurde zum
Konsul ernannt. Ein Reichskommissar mit ständigem Amtssitz in Togo sollte erst nach
einem Jahr eintreffen. Die Konsulargeschäfte in Lome führte bis 1887 der Generala-
gent der Firma Wölber und Brohm, H. Randad, von da ab Ammerding. Letzterer ist
»ein wahrhaft alter Afrikaner ... klein, nur Haut und Knochen. Niemals habe ich die-
sen Mann seine Ruhe verlieren sehen. Dabei war er ein geborener Flumorist...« (Küas
1939:91).
Töpferwaren aus Towe: Ernst Baumann, »unstreitig der beste Kenner der näheren
Umgebung von Misahöhe«, erbeutete während des Aufstandes der Towe-Leute im März
1895 eine ziemlich umfangreiche Kollektion von Tonfetischen, die er dem Museum über-
sandte (a. a. O. 1896; 30). Er nennt Abesia als Hauptort der Topfindustrie.
Die Forschungsstation besteht:
ln der Deutschen Kolonialzeitung 1888; 392 gibt L. Wolf eine weitergehende Erläute-
rung der glücklichen Umstände seiner Stationsgründung in dem »verschrieenen
Fetischland Adeli". Weniger durch seine bewaffnete Hundertschaft, als durch seine
erfolgreiche ärztliche Behandlung eines äußerst schmerzhaften Augenleidens des
Häuptlings und weiterer Heilerfolge in der Häuptlingsfamilie wurde der anfängliche
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Tunis: Ein Brief aus der Kolonie Togo
Widerstand ausgeräumt. Bismarcksburg wurde auf einer steilen Bergkuppe, 730 m
über dem Meeresspiegel, errichtet und bot einen herrlichen Blick über das Gebirge.
Curt v.François (1972: 62-65) gibt eine anschauliche Beschreibung der Station und
stellt anerkennend fest: »Eine gewaltige Arbeit hatte Wolf in den 6 Wochen seines
Hierseins geleistet".
Die Beurteilung der Vorgefundenen Verhältnisse und die Bewertung seiner Aufgaben
zeigt, daß diese ersten »staatlichen Forschungsreisenden« noch von einem kolonialen
Ethos beseelt waren. In solchen Beschreibungen spürt man deutlich das Bemühen um
eine faire Beurteilung der Vorgefundenen Bevölkerung und das ehrliche Bestreben nach
einem »friedlichen Kontakt«, dem durch gegenseitiges Vertrauen eine solide Basis
gebaut wird. Auch sein Mitkämpfer Curt v. François war bemüht, »Ohne Schuß durch
dick und dünn« zu kommen.
Der Autor
Der Stabsarzt Dr. Ludwig Wolf aus dem Königreich Sachsen wurde 1850 in Hagen b.
Osnabrück als Sohn eines Tierarztes geboren. Er absolvierte eine militärärztliche Aus-
bildung. »Die Berufswahl des Militärarztes indiziert keineswegs eine militärische Nei-
gung, wie gerade beim Image des Entdeckungsreisenden vermutet werden könnte, son-
dern die Vermögenssituation des Betreffenden. Die vom Staat finanzierte militärärztli-
che Ausbildung bildete für manch einen die einzige Möglichkeit, naturwissenschaftli-
ches Interesse zu realisieren« (Essner 1985: 56). Letzteres ist beim Sohn eines Tierarz-
tes nicht unbedingt anzunehmen. Bemerkenswert bleibt allerdings die Tatsache, daß
ein Arzt als Truppenführer bei der militärischen Gebietserweiterung seine Fähigkeiten
unter Beweis stellen mußte, wenngleich der erste deutsche Arzt an der Togoküste von
der Administration erst 1888 eingesetzt wurde, und bis zur Jahrhundertwende der ein-
zige bleiben sollte. Bis 1914 genügten der deutschen Kolonialverwaltung insgesamt vier
Ärzte, um den Gesundheitsdienst für eine Million Afrikaner und rund 360 weiße Ein-
wohner zu gewährleisten.
Aufgrund seiner Erfahrung in tropischen Gebieten hatte sich L. Wolf 1883/84 im süd-
lichen Kongobecken als Reisegefährte von Curt v.François auf der Wissmann'schen
Kassai-Expedition bewährt. Nach Wissmanns Erkrankung übernahm er im Septem-
ber 1885 deren Leitung. Diese Expedition wurde von 1883-1886 im Auftrag der Inter-
nationalen Afrikanischen Gesellschaft durchgeführt und war mit verschiedenen wis-
senschaftlichen Arbeiten betraut. Dr. Wolf wurden die anthropologischen Arbeiten
übertragen. Sein wissenschaftliches Ergebnis referierte er am 15. Februar 1887 im
Anthropologischen Verein in Leipzig: »Anthropologische und ethnographische Ver-
hältnisse einiger Völker Zentralafrikas« (Baluba, Bakuba und Batua), denen er »Kul-
turfähigkeit« (a. a. O.: 50) bescheinigte. Er besaß somit genug Erfahrung, um vom Aus-
wärtigen Amt - im Hinblick auf die schwebenden Verhandlungen über Abgrenzung
der deutschen und englischen Interessensphäre - als »Forschungsreisender« in den hin-
ter der Togoküste gelegenen Gebieten deutsche Ansprüche geltend zu machen. Ihm
wurde die Leitung der wissenschaftlichen Station, die er errichten sollte und der von
dort ausgehenden Expeditionen ins unbekannte Innere des Togolandes, übertragen.
Somit kam er, ebenso wie Hauptmann Curt v.François, in Deutsch-Togo wieder zum
Einsatz. Seine Expedition, begleitet von Premierleutnant Kling und dem Techniker
Bugslag, beide hatten sich schon auf den Expeditionen im Kongogebiet bewährt, hatte
sich Ende Januar 1888 in Hamburg eingeschiflft und landete am 28. Februar 1888 in
Anecho (Klein-Popo). Nach dreiwöchiger Vorbereitungszeit marschierte er Ende
März auf neuen Wegen bis Jegi in der bergigen Landschaft Adele, die sich durch ein
kühles Gebirgsklima auszeichnet, obwohl sie nur etwa zehn Tagesmärsche von der
Küste entfernt ist (Deutsche Kolonialzeitung 48, 1889: 366). Dort gründete er Anfang
Juni 1888 die erste »wissenschaftliche Forschungsstation« im Hinterland, Bismarck-
burg, die 1894 aus kommerziellen Erwägungen aufgegeben wurde (vgl. auch v.Trieren-
berg 1891: 7). Es wird betont, daß Dr.L.Wolf von seiner Station B. aus seinen Einfluß
auf die Häuptlinge der Umgebung in der kräftigsten Weise geltend macht, ohne
irgendwelche Gewaltmittel aufzubieten« (Globus 56, 1889: 16). Ende 1888 ist er bis
Salaga gereist und wohlbehalten auf die Station zurückgekehrt. Mit einer neuerlichen
größeren Exkursion versuchte er dann zum mittleren Niger vorzustoßen. Alle diese
Vorstöße zu den französischen Kolonialgebieten im Norden und Osten waren von dem
deutschen Drang zum Niger und dem Wunsch nach einem Hinterland für Anecho
TR1BUS 45, 1996
bestimmt. Trotz konstant hohen Fiebers konnte Wolf am 25. Juni 1889 noch mit letz-
ter Kraft Ndali, südlich des 10. Breitengrades (an der Bahnlinie nördlich von Paratau
gelegen), erreichen. Dort in Dahomey (heute: Republik Benin) starb er jedoch schon
tags darauf an diesem perniciösen Fieber oder Gift. 1889/90 verwaltete Hauptmann
Kling »die vorgeschobene Station Bismarcksburg so lange, bis ihn eines der hinterli-
stigsten Übel, die afrikanische Dysenterie, nach Hause trieb, dem er auch ... in Berlin
erlag« (Küas 1939: 173).
Nachwort
Seit der 1887 beantragten Selbstauflösung der Afrikanischen Gesellschaft, gegründet
1873, werden die Leiter militärischer Vorstöße immer als »Afrikaforscher und Koloni-
satoren« angesprochen, wobei der Afrikaforscher stets zuerst genannt wird. In wel-
chem Maße die Wissenschaft von der Kolonialpolitik korrumpiert worden war, zeigt
am deutlichsten der allgemeine Widerstand gegen den Sprachforscher Krause, der,
fleißig und erfolgreich, dabei fast völlig mittellos, so sehr den Respekt und das Ver-
trauen der Afrikaner genoß, daß die eigenen Landsleute mißtrauisch und verständnis-
los seine »Forschungsreise« alten Stils verfolgten. So hat der »staatliche Forscher« L.
Wolf im Mai 1888 nach Berlin geschrieben: »Mittellose Reisende schaden der Afrika-
forschung empfindlich, und es ist im Interesse der Sache wünschenswert, daß ihre
Hierherkunft verhindert wird, weil sonst das Ansehen der Europäer eine schwere Schä-
digung erleidet und die Achtung vor der 'weißen Hautfarbe' verloren geht« RKA,
Nr.3328, Bl.32 (Sebald 1972: 87).
Im »Interesse der Wissenschaft« wurde der Vorstoß ins Innere Afrikas vorangetrieben
und »Forschungsstationen«, sprich Militärbasen, errichtet. Die Aufrichtung der Herr-
schaft vollzog sich rasch und zum guten Teil mit Zustimmung der Betroffenen, wenn
Stehend von links nach rechts: Hans Müller, Ludwig Wolf, Curt con François
Sitzend : Hermann Wissmann
(nach einem Foto aus: Im Inneren Afrikas. Leipzig 1891)
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Tunis: Ein Brief aus der Kolonie Togo
auch auf Grund von ziemlich einseitigen Vertragsabschlüssen. Nur sporadisch gab es
offenen Widerstand. Dafür sorgte allein schon die technologische Überlegenheit.
Denn der Mut zerbrach rasch am überzeugenden Einsatz der Gewehre und insbeson-
dere des neu erfundenen Maschinengewehres, das leicht zu transportieren war und töd-
liche Feuerkraft besaß. Ein paarmal angewendet, verbreitet sich die Kunde von dieser
unwiderstehlichen Waffe rasch. Um diese Überlegenheit für alle Zeit zu sichern wird in
der »Landesgesetzgebung des Schutzgebietes Togo« die Einfuhr und der Vertrieb,
einschließlich der Lagerung, von Feuerwaffen und Munition penibel festgeschrieben.
Der »Verkauf von Hinterladern jeder Art und zugehöriger Munition innerhalb des
Togogebietes ist verboten«, heißt es unmißverständlich in der Verfügung des Reichs-
kanzlers vom 29. März 1889.
Togo wurde gern als Musterkolonie bezeichnet, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen
Gründen, sondern auch wegen der friedlichen Verhältnisse, die dort während der gesam-
ten deutschen Kolonialzeit herrschten. Die brutale Gewalt der berüchtigten »25«. die
Norm der Prügelstrafe, allzu schnell und mit offenem Rassismus eingesetzt, war dafür
wohl die Voraussetzung3. »Als entscheidender Trugschluß erwies sich auch die Vermu-
tung, daß sich ... die einheimische Bevölkerung mit der Fremdherrschaft abfinden würde.
Tatsächlich waren die ersten Aufstände nur der Beginn eines Guerillakrieges, den die
Afrikaner ... gegen die unerwünschten weißen Eindringlinge führten und der die Unter-
haltung der Kolonien für den Staat zu einem einzigen Zuschußgeschäft werden ließ.«
(Benninghof-Lühl 1983: 146). Als wirtschaftliches Ideal galt der Ausgleich des Kolonial-
budgets aus eigener Kraft. Dieses Ziel war in Togo 1903 erreicht worden und stand somit
in krassem Gegensatz zu den Besitzungen in Ost- und Südwestafrika.
Anmerkungen
1 Jesco von Puttkamer, 1891-1895 Landeshauptmann von Togo, berichtet ans Reichskolonialamt:
„Wir Deutschen haben im allgemeinen und leider wohl auch nicht ganz zu Unrecht hier an der
Küste den sprichwörtlichen Ruf besonderer Brutalität...“ (RKA, Nr. 4773, Bl. 91)
2 Noske 1814: 85f: „Zur Kolonialkarriere drängten sich zumeist abenteuerlich und gewalttätig
veranlagte Naturen. Hochstehende, einflußreiche Herren hielten die Schutzgebiete für gut
genug, um dorthin mißratene Söhne oder Verwandte abzuschieben.
3 Küas 1939; 173: Küas zitiert Pfeil, der einen Häuptling im Hinterland mit den Worten anfuhr:
„Wenn Du nicht binnen 10 Minuten die deutsche Fahne gehißt hast, hänge ich Dich am Flag-
genmast auf4.
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1888 Über die Verhältnisse des Togogebietes. Deutsche Koloonialzeitung 48: 392
Zöller, Hugo
1885 Das Togoland und die Sklavenküste. Berlin und Stuttgart
1930 Als Journalist und Forscher in Deutschlands großer Kolonialzeit. Leipzig
158
ANGELIKA TUNIS
Geliebte Ferne - gefürchtete Nähe
Wie Völkerkundemuseen mit Fremdenhaß und Rassismus umgehen
Völkerkundemuseen zeigen Kulturgüter fremder Völker in fernen Kontinenten, die
inzwischen in Jetnähe gerückt sind. Nur das Museum zeigt sie weiterhin in exotischer
Ferne, räumlich und zeitlich. Denn die Zeugnisse vom Kulturschaffen dieser Men-
schen sind längst unsere Schätze, inzwischen durch unsere Wissenschaft zur »primiti-
ven Kunst« geadelt. Nur in geringem Maße tritt auch der Mensch, dessen Kulturlei-
stung wir uns zu vermitteln anmaßen, in Erscheinung.
Draußen vor der Museumstür spielt sich der deutsche Alltag ab, mit seinen tradierten
Klischees und »modernen« Bildern vom Fremden, die wir nicht zu korrigieren
imstande sind. Sie wirken sich auf das Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern
aus, bilden mitunter den Humus für Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus
und Nationalismus.
Durch den geduldeten Rechtsextremismus kam es 1990 zu einer Hexenjagd in Ebers-
walde-Finow. Die kleine Industriestadt, siebzig Kilometer nordöstlich von Berlin,
hatte sich seit 1976 Vertragsarbeiter aus Angola und Mozambique für das Walzwerk
und das SVKE, das schweineverarbeitende Kombinat Eberswalde, angeworben. Als sie
im Herbst 1990 zur Rückreise aufgefordert wurden, verließen bald fast alle 800 afrika-
nischen »Gastarbeiter« den gastlichen Ort. Zurück blieben in der Regel nur jene Afri-
kaner, die deutsche Frauen oder Freundinnen hatten. Bis die Schreckensnacht vom
24./25. November 1990 so manchen diesen Entschluß bereuen ließ. Rund 50 Neonazis
wollten damals den »Huttengasthof«, eine Wochenenddiskothek und das einzige
Lokal in Eberswalde, in dem die Schwarzafrikaner noch willkommene Gäste waren,
stürmen; 15 Rechtsextremisten verletzten drei Afrikaner zum Teil schwer und prügel-
ten den Angolaner Antonio Amadeu mit Baseballkeulen, Ketten und Messern so hem-
mungslos, daß er drei Wochen später starb. Die Polizei stand abwartend dabei, nur
einen Steinwurf vom Tatort entfernt. Hartnäckig verschloß die Bevölkerung von
Eberswalde-Finow dann auch die Augen vor den rassistischen Übergriffen auf die
zurückgebliebenen Frauen und Babys, die wiederholt Opfer solcher Hexenjagden wur-
den. Nach dem ersten Schreck war bald wieder der gewohnte kleinbürgerliche Alltag in
die Provinzstadt eingekehrt.
Viele fühlten sich angesprochen, manche schritten zur Tat, indem sie sich sofort »mit
der Darstellung fremder Menschen in der deutschen Alltagskultur in Form einer Aus-
stellung öffentlich auseinandersetzten«. Dazu erschien im Juli 1991 der überzeugende
Katalog »Menschenfresser - Negerküsse; Das Bild vom Fremden im deutschen All-
tag«. Die finanzielle Unterstützung kam vom Kunstamt Berlin-Neukölln, vom Magi-
strat von Berlin und dem Fonds Soziokultur e.V Man sieht also, für Probleme, die
(fast) allen unter den Nageln brennen, ist auch Geld zu bekommen, wenn sie nur ener-
gisch angepackt werden. In diesem Falle zeichneten Marie Lorbeer und Beate Wild als
Herausgeberinnen. Dem Vorwort zu diesem Katalog entnahm ich auch den Titel zu
diesem Beitrag, weil er einen Zwiespalt eklatant aufrollt: »Im Urlaub umschwärmen
wir die Fremde und die Fremden, weil sie anders sind; als Migranten in unserem Land
lehnen wir sie aus genau dem gleichen Grund vehement ab. Der Mittelweg wird selte-
ner besch ritten.«
»In vielen Ländern gibt es rechtsradikale Elemente, die an die primitivsten Instinkte
der Massen appellieren, von Haßgefühlen leben und in Krisen gedeihen. Was ist es, das
in Deutschland doch anders ist ?« fragt der israelische Publizist Uri Avnery 1992 im
Spiegel, Nr. 46, und fahrt dann fort; »Es ist die Gewalttätigkeit, das Morden, die Stille
der stillen Mehrheit, die Gleichgültigkeit der Polizei, die seltsame Barmherzigkeit der
Gerichte, das Versagen des Verfassungsschutzes, die Kapitulation der Politiker«.
Am 26. April 1992 wurde ein Vietnamese von einem 21jährigen, der sich selbst als poli-
tisch rechts bezeichnete, vor aller Augen in einem Einkaufszentrum in Marzahn, ersto-
chen. Nguyen Van tu war der elfte Ausländer, der seit der Maueröffnung von einem
Deutschen ermordet wurde. Damit wurde wiederum blutig deutlich: Wir haben jetzt
TRIBUS 45, 1996
schwere Probleme in Deutschland und in Berlin, und wir können sie nicht mehr igno-
rieren. Der Anschluß der neuen Bundesländer; die Arbeitslosigkeit; das Asylproblem,
denn schließlich hat Deutschland in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr Flücht-
linge aufgenommen als jedes andere westeuropäische Land; die Masseneinwanderung
der Ausländer, die das Straßenbild und ganze Stadtviertel verändern. Eine gesunde
Gesellschaft setzt sich mit solchen Problemen auseinander, debattiert, diskutiert,
demonstriert, streitet sich, faßt gute oder schlechte Beschlüsse, d. h., sie reagiert,
schweigt nicht.
Doch in einer Zeit, in der alles schnell und prompt funktionieren soll, haben wir große
Schwierigkeiten, Prozesse zu erkennen, die sich langsam vollziehen und lange dauern.
Daß sich die Gewalt von rechts in Deutschland über Jahre entwickelt hat, daß es sich
dabei um sehr komplexe und gesellschaftlich vielschichtige Prozesse handelt, haben wir
lange Zeit nicht begriffen. Und plötzlich ging es buchstäblich Schlag auf Schlag:
Rostock, Hoyerswerda, Mölln, Solingen, dann Lübeck, um nur die »prominentesten«
Schauplätze rechtsradikaler Verbrechen zu nennen. Allein zwischen Januar und
August 1992 registrierte das Bundesamt für Verfassungsschutz 650 Gewalttaten mit
rechtsextremistischem Hintergrund darunter fast 200 Brand- und Sprengstoffan-
schläge - und sieben Tote.
Alle waren wir geschockt, entsetzt, fassungslos, daß diese ausländerfeindlichen
Anschläge und Morde nicht irgendwo auf der Welt, sondern mitten unter uns verübt
wurden; daß es unsere verirrten jugendlichen Landsleute waren und sind, die in ihrer
Ziel- und Perspektivlosigkeit auf Ausländer und Schwache einschlagen. Vielleicht des-
halb sind 1992 so viele aktiv geworden.
Intellektuelle in allen Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit fühlten sich zu Gegenaktio-
nen aufgerufen. Spontan kam es zur Gründung von Initiativgruppen gegen Fremden-
haß in Museen, Kunstämtern, Galerien, Theatern, Bibliotheken, Verlagen und ande-
ren Einrichtungen. Durch die Initiative »Museen gegen Fremdenhaß« wurden in eini-
gen Häusern (Bauhaus-Archiv, Berlinische Galerie, Berlin Museum) Informations-
wände zum Thema aufgestellt, die die Museumsbesucher mit dem Problem konfron-
tierten.
Das Kultur Büro Berlin veranstaltete am 21.2. und am 21.3.1992 kostenlose Museums-
und Stadtführungen für nichtdeutsche Mitbürger, die anfangs zögernd, später doch
mit größerer Beteiligung angenommen wurden.
Im Oktober 1992 hatten sich 100 Berliner Unternehmer zur »Initiative Verständigung,
Unternehmer gegen Gewalt von rechts« zusammengeschlossen und begonnen, soziale
Projekte, die sich direkt mit rechtsradikal gefährdeten jugendlichen Beschäftigten, zu
unterstützen. Um den Gedanken der Verständigung in eine breite Öffentlichkeit zu tra-
gen, wurde ein Bechstein-Flügel von Künstlern aus 18 Ländern bemalt und von der
Unternehmensinitiative bei verschiedenen Benefizkonzerten eingesetzt. Am eindrucks-
vollsten kam dieser Flügel, das »Orchester der Kulturen«, im Dortmunder Westfalen-
stadion vor über 40.000 Zuschauern zum Einsatz. Am 5. November 1992 konnte man
in zwei großen Tageszeitungen (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), viertelseitige Anzeigen
mit einem Aufruf zur Teilnahme an der Demonstration am 8.11.1992, unter dem
Motto: »Die Würde des Menschen ist unteilbar«, finden. Von Gewerkschaften, Unter-
nehmensverbänden und der Industrie- und Handelskammer, deren Präsidenten bzw.
Landesvorsitzende persönlich mit ihrer Unterschrift den Text bestätigten, wurden über
Spenden die Kosten dieser Anzeigen finanziert. Wo waren kulturelle Einrichtungen
oder gar die Staatlichen Museen mit ihrem Einsatz für diese Demonstration, die als
»Aufstand des Anstandes in Deutschland« galt, und unter der Schirmherrschaft des
Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers stand ? In derselben Ausgabe appellierte
der brandenburgische Innenminister Alwin Zahl, man müsse den erstarkenden Rechts-
radikalismus und Neofaschismus radikaler bekämpfen. Es sei ein viel »breiteres« Vor-
gehen erforderlich, denn 1992 sind allein in Brandenburg 44 Anschläge gegen Asylbe-
werberheime und gegen den Besitz von Ausländern registriert worden. Daß es sich kei-
neswegs ausschließlich um »Kanaken« handelte, die man partout vertreiben wollte,
bewies der Anschlag am 26. 11. 1992, als ein Molotowcocktail in ein Aussiedlerheim
für Wolgadeutsche flog.
Zur Großdemonstration in Berlin am Sonntag, dem 8. Nov. 1992, sind sie dann mit 250
Sonderbussen und 3 Sonderzügen aus dem ganzen Bundesgebiet gekommen. Mehr als
300.000 Demonstranten gingen gegen die Fremdenfeindlichkeit auf die Straße. Auf
160
Tunis: Geliebte Ferne - gefürchtete Nähe
der Kundgebung am Lustgarten betonte Richard von Weizsäcker dann, daß im Artikel I
des GG nicht stehe »Die Würde des Deutschen ist unantastbar«, sondern »Die Würde
des Menschen ist unantastbar«. Wir Völkerkundler haben durch unsere Abwesenheit
an diesem Tag viel von unserer Glaubwürdigkeit verloren.
Nach den schrecklichen Ereignissen in Mölln organisierte das Linden-Museum Stutt-
gart am 27. 11. 1992 spontan eine sehr gut besuchte Veranstaltung im Wannersaal
unter Teilnahme der Ministerin für Familie, Frauen, Weiterbildung und Kunst, Frau
Unger-Soyka, sowie der türkischen Generalkonsulin in Stuttgart.
Auch in Sachsen ist man bei der völkerkundlichen Museumsarbeit versucht, die öffent-
liche Meinung zu beeinflussen und die geistige Haltung der Besucher zu verändern
nach den dramatischen politischen und ökonomischen Veränderungen im Gefolge der
deutschen Vereinigung im Oktober 1990. Dr.habil. Lothar Stein, Direktor des
Museums für Völkerkunde Leipzig, behandelte unter dem Titel »Museums against
Xenophobia« auf der XVI. Generalkonferenz von ICOM im Sept. 1992 in Quebec,
Kanada, neue Möglichkeiten für Völkerkundemuseen, um gegenseitiges Verstehen
und Toleranz zwischen Menschen verschiedener Rassenzugehörigkeit, Kulturen und
Religionen zu fördern.
Durch kostenfreie Beteiligung von Graphikern, einer Druckerei, etc. bis hin zur Vertei-
lung von 1000 Exemplaren durch eine Werbeagentur wurde das Plakat »Berliner
Museen gegen Fremdenhaß« im November 1992 unter die Leute gebracht. 500 Plakate
wurden durch die Berlinische Galerie und das Bauhaus-Archiv per Post an Museen.
Galerien und andere kulturelle Einrichtungen in Berlin und dem gesamten Bundesge-
biet verschickt. Der gewünschte Schneeballeffekt trat ein: die Hamburger Kunsthalle
und das Von-der-Heydt-Museum Wuppertal wollten daraufhin eigene Aktionen in
Gang setzen. In Berlin reagierten vor allen anderen die Heimatmuseen der einzelnen
Bezirke. An vorderster Stelle ist dabei das Heimatmuseum Neukölln zu nennen. Am 27.
Nov. 1992 hatte die Verantwortliche dieses Museums in einem offenen Brief den Bun-
deskanzler aufgefordert, der Eskalation der Gewalt und den damit verbundenen Kon-
flikten politisch angemessen und der Würde des Menschen entsprechend zu begegnen.
Sie konnte ihren Brief mit über 2000 Unterschriften abschicken, weil zahllose Menschen
gerne unterschrieben und froh waren, ihre Meinung äußern zu können. Auch das
Kunstamt Berlin-Charlottenburg ist bis heute aktiv, ausländischen Künstlern der ver-
schiedensten Medienbereiche für vielfältige Veranstaltungen ein Forum zu bieten.
Die Morde von Mölln im November 1992 hatten zunächst mobilisiert. Drei Menschen
mußten brennen, damit die Lichterketten in München, Hamburg und Berlin möglich
wurden .... In den einschlägigen Museen mit völkerkundlichem und außereuropäi-
schem Sammlungsbestand mußte man jedoch die Erfahrung machen, daß viele Mit-
arbeiter, zumal im wissenschaftlichen Bereich, mit arroganter Gleichgültigkeit auf die
Initiative reagierten, obwohl die einleitende Anzeigen- und Plakataktion gerade die
intellektuelle Mittelschicht zum Handeln bewegen wollte. Die Resonanz der großen
Museen in Gesamt-Berlin war dürftig. Die Diskrepanz zwischen hohem Spendenauf-
kommen und der minimalen Bereitschaft zur tätigen Mitarbeit war vor drei Jahren so
groß wie heute. Auffallend dabei war die Untätigkeit auf Direktorenebene. Allgemein
wurde die Notwendigkeit erkannt, die Initiative von der privaten auf die institutionelle
Ebene zu verlagern. Das heißt: »Die Menschen selbst und ihre verantwortlichen Leiter
müssen motiviert werden, nun auch ihrerseits deutlich Stellung zu beziehen, indem sie
Ausstellungen, Vorträge oder ein Symposion zum Thema veranstalten.« So hieß die
Losung zum Jahresende 1992 für alle, die sich an der Initiative beteiligten und sich viele
Signale ausgedacht hatten, die man mit etwas gutem Willen hätte schnell aussenden
können. So standen Buttons gegen Fremdenhaß anstelle der Eintrittskarten und ein-
schlägige Poststempel zur Debatte. Doch ein Völkerkundemuseum ist ja per se den
Fremden freundlich aufgeschlossen und so steht eben auf dem Poststempel anderer
Kultureinrichtungen ein Bekenntnis zur Gemeinsamkeit: z.B. »Akademie der Künste
gegen Fremdenhaß«. Die Arbeitsgemeinschaft »Ausländer im Museum« hat in der
Wochenzeitung »DIE ZEIT« vom 15. 1. 1993 einen öffentlichen Aufruf »Kultur gegen
Gewalt« von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bundesdeutscher Museen sowie
anderer kultureller Einrichtungen veröffentlicht. Viele einzelne Museen haben ihre
Stimme gegen Ausländerfeindlichkeit, Haß und Gewalt erhoben.
Mir ist es bis heute ein unerfüllter Wunsch, die wichtigsten Hinweise und Informatio-
nen im Völkerkundemuseum zumindest in den Sprachen der größten Volksgruppen
161
TRI BUS 45, 1996
unserer Stadt anzubieten und für sie entsprechende Führungen zum Kennenlernen
ihres traditionellen Kulturgutes zu gestalten, um ihr Selbstbewußtsein für den alltägli-
chen Kleinkrieg zu stärken. Solche Beschriftungen sind aber nicht einmal in Englisch
und Französisch vorhanden. Man hält die wenigen englischsprachigen Führungsblät-
ter für ausreichend.
Etwa 80 Verlage hatten sich zur Gründung eines Artikel-16-Verlags zusammenge-
schlossen. Zur Erinnerung: Artikel 16 des Grundgesetzes lautet: »Kein Deutscher darf
an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Diese
Verlagsinitiative gegen Gewalt und Fremdenhaß hat mit über 50 Geschichten, Roman-
auszügen. Gedichten und Zeichnungen, die von den Autoren und ihren Verlegern
kostenlos bereitgestellt wurden, ein einzigartiges Lesebuch auf den Markt gebracht.
Das »Schweigen ist Schuld« war schon im Januar 1993 für nur 8,- DM zu haben. Es
war schnell vergriffen.
Viele deutsche Völkerkundemuseen verzeichnen einen eklatanten und kontinuierlichen
Rückgang an Besuchern. Diesem bedrohlichen Faktum versuchte man durch Sympo-
sien zu Leibe zu rücken. Im Mai 1990 versammelte das Hamburgische Museum für
Völkerkunde Kulturpolitiker, Universitäts- und Museumswissenschaftler aus
Deutschland. Österreich, der Schweiz und den Niederlanden zu einer Neubestimmung
der Rolle der Völkerkundemuseen. Durch das Symposion »Die Zukunft des Völker-
kundemuseums« wollte man zu Beginn der 90er Jahre den veränderten Bedingungen
Rechnung tragen und sich auf das nächste Jahrhundert vorbereiten. Im Jahr 1992 fand
auch in Frankfurt eine Tagung zahlreicher Mitarbeiter ethnologischer Museen statt.
Ihr Titel erwies sich im nachhinein als programmatisch: »Die Zukunft der Vergangen-
heit". Dieser Gedankenaustausch bestärkte einige Völkerkundemuseen darin, auf
»Kunst« zu setzen, um endlich den von jeher bevorrechteten Kunstmuseen ebenbürtig
zu werden. Diese Taktik ging nur zum Teil auf, indem das Zauberwort »Kunst« die
öffentlichen Kassen tatsächlich weiter öffnete, die Akzeptanz beim Publikum jedoch
scheint dadurch nicht unbedingt gewachsen zu sein. In Hamburg versucht man sich
dezimiert nach den Bedürfnissen unserer Gesellschaft zu orientieren und geht somit in
der deutschen Museumslandschaft einen Sonderweg, dessen einzelne Abschnitte und
Zielsetzungen im Jahresbericht des Museums, erschienen in den Mitteilungen aus dem
Museum für Völkerkunde Hamburg NF. Band 23, 1993, S. 75 ff nachzulesen ist. Wich-
tig in diesem Zusammenhang ist der Bericht des Direktors über »Neue Aufgaben und
Möglichkeiten eines Völkerkundemuseums", weil er die Aktivitäten des Museums als
»nützliches« Institut und bürgernahes »Serviceunternehmen« vorstellt,
ln Berlin fand im Frühjahr 1993 ein Symposion »Museums in Dialogue« statt, das
eigentlich schon für den Herbst 1992 geplant war. Diese Konferenz war als Gedanken-
austausch von Musemsethnologen und anderen Akademikern über die zukünftige
Verantwortlichkeit und Aufgaben der Völkerkundemuseen in der westlichen Welt, spe-
ziell in Deutschland, angelegt. Dabei hat einer der Redner, Brian Durrans vom British
Museum, die gesellschaftliche Rolle des Museums als Übersetzer oder Vermittler her-
ausgestrichen und die Herausforderung durch die Gesellschaft, in der er arbeitet, gese-
hen. Wenn wir uns aber als Mittler zwischen den Kulturen in unserer Gesellschaft anse-
hen, dann bieten wir durchwegs ein beschämendes Bild. Für Durrans ist »die Schlüs-
selidee eines Völkerkundemuseums die Gesamtschau. Ausgehend von einer spezifi-
schen Gegebenheit, zeigt es durch Verallgemeinerung Bedeutungssysteme, die das Ein-
zelobjekt offenlegt«. Ganz allgemein wurde das Unbehagen darüber formuliert, wie-
weit die Gegenstände in den Ausstellungen wirklich noch auf das Handeln der Men-
schen bezogen sind. Doch diese ganze Problematik, die von den einzelnen Rednern
angesprochen wurde und die jeweiligen Diskussionsbeiträge sind in der ZfE 118/1,
1993, nachzulesen.
Aber die Situation in Deutschland hat sich kontinuierlich verschlechtert. Nach dem
Anschlag in Solingen in der Nacht zum 29. Mai 1993 kam es zu weiteren Ausschrei-
tungen in Bremen, Augsburg, Stuttgart und Bonn. Die Tagesthemen-Redaktion hat
daraufhin die Türkin Mevlüde Gene zur Frau des Jahres 1994 ernannt, »weil sie
unendliches Leid erfahren und dennoch immer wieder zur Versöhnung und Verständi-
gung zwischen den Völkern und Generationen aufgerufen hat.« Spätestens nach dem
Mordanschlag in Solingen, bei dem Frau Gene ihre halbe Familie verlor, setzte in
Deutschland eine breite, auch unter Beteiligung der Bundesregierung geführte Diskus-
sion ein. Denn das Schlagwort »Deutschland den Deutschen« ist eine Farce angesichts
162
Tunis; Geliebte Ferne - gefürchtete Nähe
der Tatsache, daß es bei rund 79 Millionen Deutschen auch 9 Millionen »Inländer
ohne deutschen Paß« gibt. Die Voraussetzungen dafür wurden bereits vor 50 Jahren
geschaffen. Als es Mitte der 50er Jahre nicht mehr möglich schien, den wachsenden
Arbeitskräftebedarf der stark expandierenden bundesdeutschen Wirtschaft mit dem
inländischen Arbeitskräftepotential zu decken, entschloß sich die Bundesregierung,
Arbeitskräfte aus südeuropäischen Ländern anzuwerben. Nach Berlin kamen sie
zudem aufgrund der massiven Anwerbung von Arbeitskräften in den Jahren nach dem
Mauerbau, der eine kontinuierliche Abwanderung junger Menschen zur Folge hatte,
aus über 180 Staaten, sprechen ebenso viele Muttersprachen und pflegen die unter-
schiedlichsten Traditionen. Zum Vergleich: Die UNO hat 178 Mitglieder. Einwanderer
aus Osteuropa und Flüchtlinge aus der ganzen Welt sind in Berlin zu Hause - fast 12
Prozent der Bevölkerung haben eine andere als die deutsche Nationalität. Deshalb gibt
es seit September 1994 im SFB den Sendebereich 4 Multi Kulti. Der Sender Freies Ber-
lin hat somit das erste multikulturelle Programm in Deutschland geschaffen. Darunter
ist nicht nur Musik aus vielen Ländern zu verstehen, sondern auch ein Informations-
und Kulturprogramm, das offen Stellung gegen Fremdenhaß und Gleichgültigkeit
bezieht. Das Programm ist vielfältig: es beinhaltet Sendungen in 16 Sprachen und
Nachrichten aus den Heimatländern der Ethnien zu jeder vollen Stunde.
Die Todesspur von Mölln bis Solingen hat alle betroffen gemacht. Dabei schreckt uns
die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen und das Hantieren mit NS-Symbolen genauso
wie die neuen Ziele, die angepeilt werden. Man ist schon wieder versucht, Rechtsradi-
kalismus und Fremdenhaß als deutsche Chimären abzutun. Dabei sind Gewaltakte mit
politischer Sprache keineswegs eine deutsche Spezialität. Die Gewalttätigkeit Jugend-
licher in England ist besonders auffällig. Neben Randale um Fußballspiele hat sich
dort die Jagd auf »Fremde« (Paki-punching) zum wichtigsten Leitmotiv entwickelt.
Damit es bei uns nicht auch soweit kommt, müssen wir bereit sein, Farbe zu bekennen
gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, wo immer sie provoziert werden. Man
spricht in Deutschland mit Recht von einer »unbewältigten Vergangenheit«, denn sie
war leichter zu verdrängen. Leichter und gefährlicher, wie man heute erkennen muß.
Stellen wir uns also der »unbewältigten Gegenwart«, damit das, was jetzt geschieht,
nur eine Übergangserscheinung bleibt auf dem Weg zu einem anderen, neuen Deutsch-
land.
1993 warben große Plakate der Ministerien des Inneren des Bundes und der Länder für
mehr »Fairständigung«, wobei das englische »fair« die deutsche Vorsilbe ersetzte, in
der Erkenntnis, wie schwer es allen fällt, in einem emotionsgeladenen Alltag auch wirk-
lich fair zu bleiben. In den Völkerkundemuseen überwog vielfach die Furcht vor mög-
lichen tätlichen Angriffen der radikalen Randgruppen. Im Mittelpunkt stand also die
Angst vor dem Fremden. Fairerweise muß ich aber darauf hinweisen, daß das Berliner
Junior-Museum im Museum für Völkerkunde, seit dem Frühjahr 1993 Überlegungen
zu diesem beschämenden Thema anstellte und die Sonderausstellung »Fremd, wer ist
das?« erarbeitete, die im Dezember 1993 offiziell eröffnet wurde. Mittelpunkt der Aus-
stellung sind zwei Großvitrinen. Eine davon zeigt eine typische Berliner Straße mit
ihren Bewohnern und Sachinventar aus allen Teilen der Welt. Demgegenüber zeigt die
andere Vitrine die dörfliche Umgebung. Als Beispiel wurde hier Anatolien gewählt,
weil von dort der Großteil der 139.000 Berliner Türken stammt. 30.000 davon leben
allein im Bezirk Kreuzberg. Nicht umsonst nennt der Volksmund einen Teil dieses
Bezirkes »Klein-Istanbul«. Überall im Stadtbild sind sie uns vertraut, die Frauen im
Tschador und mit dem unvermeidlichen Kopftuch, die vierschrötigen kleinen Männer
mit der Gebetsschnur in den klobigen Händen. Moderne Türken, die erst kürzlich in
unsere Stadt kamen, versichern immer wieder, daß Kreuzberg ein falsches Türkenbild
vermittle. Der Unterschied zwischen der realen Türkei und dem Berliner Erschei-
nungsbild erklärt sich durch die Nostalgie. Die Leute sind vor zwanzig, dreißig Jahren
oder noch früher, hierhergekommen, oft aus einer dörflichen Welt. In der fremden
Umgebung haben sie versucht, sich ein Stück Heimat zu schaffen. Daran halten die
ehemaligen Gastarbeiter teilweise bis heute fest. Als ein Stück Identität kann man das
akzeptieren, aber ihre Kinder haben ein anderes Verhältnis zu diesen Traditionen. Sie
wurzeln nicht mehr in der fernen »Nationalitätenheimat«, wie ich es nennen möchte.
In einer Fotogalerie wird dann die Herkunftsvielfalt der Berliner belegt und auf die
wesentlichen Gründe für den Ortswechsel, wie Krieg und wirtschaftliche Not, einge-
gangen. Dagegen steht in zwei kleineren Ausstellungsräumen wieder die Tradition,
163
TRIBUS 45, 1996
belegt mit Objekten aus dem Museumsbestand, im Vordergrund. Ein türkischer
Wohnraum ist nachgebaut und wird zum Rollenspiel mit angemeldeten Kindergrup-
pen genutzt. In kleinen Vitrinen sind außerdem einige typische Objekte aus verschie-
denen Ländern Osteuropas zu sehen. Die Ausstellung wird von einem Film- und
Videoprogramm begleitet.
In diesem Sinne haben auch die Kolleginnen und Kollegen des Museums für Völker-
kunde in Dresden ein Drei-Punkte-Projekl als Schulprogramm für die Zeit der Über-
brückung zwischen den Ausstellungen entwickelt. Ein Punkt behandelt das Thema
»Ausländer in Deutschland«, das zunehmend an Bedeutung gewinnt anläßlich der
wachsenden Zahl ausländischer Kinder in unseren Schulen. Die zentrale Frage hierbei
bezieht sich auf die kulturelle, ethnische und nationale Identität, besonders der Deut-
schen. Deutsche Geschichte sollte an bestimmten regionalen Beispielen dargestellt
werden, unter Betonung der interkulturellen und interethnischen Beziehungen.
In der Nacht zum 17. Sept. 1994 geschah dann wieder ein furchtbares Verbrechen
gegen die Menschlichkeit; Martin Agyare aus Ghana wurde aus einem fahrenden S-
Bahnzug geworfen. Er blieb am Leben, doch ein Bein mußte amputiert werden ... und
wieder sahen Menschen dem Verbrechen schweigend und tatenlos zu. Damit wurde
neuerlich offensichtlich, wie verbreitet Fremdenfeindlichkeit ist und wie sehr Auslän-
der bei uns immer noch als Fremde betrachtet werden - und zwar rechtlich und sozial,
wie im Bewußtsein der Menschen.
Die letzte Konferenz des Internationalen Komitees für Ethnographische Museen
(ICME), die in Zusammenhang mit der 125-Jahrfeier der Gründung des »Museums
für Völkerkunde zu Leipzig« vom 22.-27. 11. 1994 ebendort abgehalten wurde,
beschäftigte sich intensiv mit der Problematik »Xenophobia and Museums«.
Der Museumsverband Baden-Württemberg e.V. versucht die vielen spontanen Aktio-
nen, an denen auch Museen sehr engagiert beteiligt waren als Reaktion auf die Über-
griffe und die stillschweigende Zustimmung von Teilen der Bevölkerung zu koordinie-
ren und museumspädagogisch zu fördern. Im Modellversuch »Begegnung mit dem
Fremden« sollen solche Initiativen nun aufgegriffen, systematisch erprobt und daraus
zeitgemäße Formen der Museumsarbeit entwickelt werden, »Übergreifendes Ziel die-
ses Vorhabens ist es, in der Auseinandersetzung mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit
das museumspädagogische Potential weiterzuentwickeln und damit die Museen und
die Museurnspädagogik in die Lage zu versetzen, ihren Beitrag zur Bewältigung der in
den nächsten Jahrzehnten anstehenden gesellschaftlichen Umbrüche zu leisten.« Denn
das Thema »Begegnung mit dem Fremden« hat jenseits der Tagesaktualität Bezüge zu
Geschichte und Gegenwart. Die Angst vor dem Fremden soll zur Förderung kulturel-
ler Offenheit und Toleranz durch die Begegnung mit Menschen und Objekten fremder
und eigener Kultur nachhaltig abgebaut werden. In diesem Sinne betont der Modell-
versuch in seinem Titel das Positive, denn Begegnung heißt aufeinander zugehen.
Dabei läßt sich das Thema mit seinen völkerkundlichen, kulturhistorischen und histo-
rischen Aspekten mit den Sammlungsbesländen der verschiedenen Museumstypen
verknüpfen. Die »Begegnung mit dem Fremden« ist also keineswegs nur in Völkerkun-
demuseen zu ermöglichen. Mitte Juni 1995 entscheidet eine Jury über die zu fördern-
den Projekte. Für den Modellversuch konnten sich alle nichtstaatlichen Museen in
Baden-Württemberg bewerben.
Als Völkerkundler sollte es für uns vordringlich sein, darum zu kämpfen, daß andere
Lebensformen und anderes Kulturgut in unserer Gesellschaft mit Verständnis und
Respekt in ihrem »So-Sein« akzeptiert werden. Denn selbst die Haltung mancher
Wohlwollender, die auf Nicht-Fremdheit bzw. Ähnlichkeiten verweisen, ist im Grunde
eine xenophile Attitüde, die zu der eigentlich nicht gewollten Forderung nach Integra-
tion, Assimilation und Nivellierung führt, weil sie die Fremdheit negiert und dem
Fremden seine Identität raubt. Der jedoch will anders sein: »Deutsch sein, nein
danke!« Wollen wir dem Fremden aber sein Anderssein zugestehen und erhalten hel-
fen, müssen wir dazu beitragen, daß sich kein Deutscher durch die kulturelle Vielfalt in
seiner unmittelbaren Nachbarschaft als Minderheit im eigenen Lande fühlt. Denn
»Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man
nicht tut", hat schon Laotse gesagt. Gleichermaßen müssen wir uns auch endlich um
die Afrikaner, Asiaten und Europäer auf unseren Universitäten, in den Flüchtlingsla-
gern, den Fabriken und Baustellen kümmern. Warum können Völkerkundler ihren
Landsleuten ihre Forschungsobjekte ferner Regionen nicht als gleichberechtigte und
vor allem gleichwertige Subjekte in der eigenen Gesellschaft vermitteln?
164
Tunis: Geliebte Ferne - gefürchtete Nähe
Museen müssen zur Kenntnis nehmen, daß das radikale und gewaltsame Infragestellen
der multikulturellen Gesellschaft nicht nur ein Problem von faschistisch-terroristi-
schen Minderheiten, sondern auch ein Problem der »politischen Mitte« ist. Wir befin-
den uns mitten im Drama »Biedermann und die Brandstifter«. Aus Fiktion ist aller-
dings längst Realität geworden. Die Zukunft von Völkerkundemuseen wird daher
davon abhängen, wie sie ihre Aufgaben in unserer Gesellschaft sehen, wie das »ethno-
graphische Subjekt« definiert wird, und inwiefern es gelingt, die Ausstellungen als
Kommunikationsforum zu gestalten.
Dem Großteil der Ethnologen fehlt das »handwerkliche« Rüstzeug, um Völker und
Kulturen, die nicht mehr Exoten, sondern Nachbarn, Urlaubsliebschaften und Wirt-
schaftspartner geworden sind, adäquat in ihrer Problematik des Identitätsverlustes zu
präsentieren. Zu sehr sind die Themen noch nach dem Fundus orientiert, stellen Aus-
stellungen die ästhetisch gestylten Ableger der Sammlungen dar, um einem ausgewähl-
ten Kreis von Fachleuten und ihrer Klientel mit den Leistungen der Vorfahren (die sol-
che Sammlungen schließlich zusammengetragen haben), zu imponieren. In den
Führungsetagen fehlen ausgebildete Manager genauso wie Ausstellungsfachleute und
Medienspezialisten. Es genügt schon lange nicht mehr, Fachkollegen, die etwas »über
den Tellerrand« geschaut haben, mit solchen entscheidenden Aufgaben zu betrauen,
die neben der entsprechenden Ausbildung auch jahrelange Erfahrung auf diesem
Gebiet voraussetzen.
Die traditionellen Aufgaben eines Völkerkundemuseums sind;
SAMMELN, BEWAHREN, FORSCHEN und VERMITTELN
bzw. AUSSTELLEN.
Um den heutigen Anforderungen zu entsprechen, muß die Reihenfolge der Aufgaben
meiner Meinung nach umgekehrt werden:
a) AUSSTELLEN, um das Selbstverständnis und den Reichtum anderer Kulturen, die
durch die weltpolitischen Umstände in unsere unmittelbare Nachbarschaft (im wörtli-
chen Sinne!) gerückt sind, zu VERMITTELN. Wir müssen uns offenkundiger den
Herausforderungen der Zeit stellen, und latente Konflikte, die den Medienmarkt
beherrschen, aus den ethnischen Voraussetzungen zu erklären versuchen. Wir können
deutlich machen, wo die Konflikte vorprogrammiert sind, und die betroffenen Völker
in Vergangenheit und Gegenwart präsentieren. Bisher fand ich nur im Jahrbuch III des
Übersee-Museums Bremen, betitelt »Tendenzen 94«, einen Beitrag zu einem gegen-
wärtigen Konflikt; nämlich den Abdruck eines Vortrages (auf S. 145): Land und
Demokratie, über die historischen Hintergründe des Konfliktes in Chiapas und seine
Auswirkungen für Mexico im Jahr der Wahlen 1994.
b. ) FORSCHEN nicht nur im Felde, d.h. im Heimatland eines Volkes einer gegebenen
Frage nachgehen, sondern ethnologische Untersuchungen auch bei den »fremden«
Volksgruppen, die jetzt in Deutschland leben, untersuchen. Z. B. welche Kulturmerk-
male haben sich in der fremden Umgebung als besonders resistent erwiesen bzw. was
wurde als erstes aufgegeben. Oder wie wird die eigene Identität von den Leuten in der
Fremde definiert/bewahrt/verleugnet? Welche Bedeutung hat das alte Kulturgut in
unserer Sammlung noch für sie? Als ein singuläres und sehr positives Zeichen in dieser
Richtung fand ich in der Mundus Reihe Ethnologie Band 65, Bonn 1993, von Peter A.
Menzel »Fremdverstehen und Angst«. Es behandelt »Fremdenangst als kulturelle und
psychische Disposition und die daraus entstehenden interkulturellen Kommunika-
tionsprobleme«. Diese Arbeit ist eine Dissertation der Fakultät für Kulturwissenschaf-
ten der Eberhard- Karls-Universität Tübingen.
c. ) BEWAHREN im Sinne von Erhalten, vor Verfall schützen.
d. ) SAMMELN, ln Anbetracht weltweit steigender Preise bei verringertem Angebot
»authentischer« Stücke, sollte eine Zusammenarbeit im Sinne einer Absprache der
Handvoll Völkerkundemuseen in Deutschland über den Erwerb von Objekten
bestimmter Regionen erfolgen. In Anbetracht dessen, daß die digitale Vernetzung der
Sammlungen in naher Zukunft den Zugriff zu allen einschlägigen Sammlungen
ermöglichen wird, ist es finanziell nicht mehr vertretbar, daß sich die Museen eines
Landes um dieselben Sammlungen bemühen.
TR1BUS 45, 1996
Das Völkerkundemuseum an der Schwelle zum dritten Jahrtausend wird nicht umhin-
kommen, die unterschiedlichen Ausländergruppen, die in der Bundesrepublik leben,
einzubeziehen im Hinblick auf die schwelende Ausländerfeindlichkeit in unserem
Lande und die vielfältigen Probleme, die unsere Entwicklung zu einer multikulturellen
Gesellschaft mit sich bringen. Ich möchte schließen mit einem Zitat aus dem »Rheini-
schen Merkur« vom 3. Feb. 1995; »Ohne Zweifel haben gerade die ausländischen Mit-
bürger viel zur Entwicklung eines multikulturellen Bewußtseins beigetragen - unsere
alltägliche Lebensweise profitiert tausendfach von ihren Eigentümlichkeiten und
Denkweisen. Trotzdem wachsen die Vorurteile und Ängstlichkeiten, sich zum Nach-
barn hin zu öffnen. Die nationalen Abgrenzungen nehmen zu, ethnische Schimpfwör-
ter haben Konjunktur. Auf allen Seiten. Diffuse Meinungen gelten schon als Stand-
punkt.« (Merkur extra: »Europa ist (k)ein Kinderspiel«).
Literatur
Bechtloff, D.
1994 Land und Demokratie, historische Hintergründe des Konfliktes in Chiapas
und seine Auswirkungen für Mexiko im Jahr der Wahlen 1994; in: »Tenden-
zen 94«, Jahrbuch III, Übersee-Museum, Bremen.
1992 Denkschrift 1991 zur Neugestaltung des Museums; Mitteilungen aus dem
Museum für Völkerkunde Hamburg, N. F. Bd. 22; 26^-0.
Koch, Gerd
1993 Gesucht, gefunden und erworben Ethnographica für die Staatlichen
Museen Preußischer Kulturbesitz; Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Band;
87-109.
Köpke, Wulf
1993 Neue Aufgaben und Möglichkeiten eines Völkerkundemuseums I; Mitteilun-
gen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg, N. F. Band 23.
Kroeber-Wolf, G. und Zekorn, B.
1990 Die Zukunft der Vergangenheit, Diagnose zur Institution Völkerkundemu-
seum; interim 10 MIF Rundbrief Nr. 15 der AG Museum, Frankfurt/Main.
Lorbeer, M. und Wild, B. (Hsg.)
1991 Menschenfresser, Negerküsse - Das Bild vom Fremden im deutschen Alltag;
Berlin.
Menzel. Peter A.
1993 Fremdverstehen und Angst; Bonn.
Meynert. Joachim
1993 Sackgasse Museum? Überlegungen zur multikulturellen Verantwortung
historischer und kulturhistorischer Stadt- und Regionalmuseen; Museums-
kunde 58 (2/3): 131-134.
Müller, C. und Schindlbeck, M. (Hrsg.)
1993 Museums in Dialogue; ZfE 118/1; 169-171. Durrans, Brian; The future of
ethnographic exhibitions: 125-139. Köpke, Wulf: Das Verhältnis Museen -
Medien - Öffentlichkeit: 97-102.
Stein, Lothar
1993 Museen gegen Fremdenfeindlichkeit - ein Beitrag aus völkerkundlicher
Sicht; Museumskunde 58 (1): 7-10.
Tiesler, F.
1989 Prinzipien des völkerkundlichen Sammelns unter gegenwärtigen Bedingun-
gen; in: Guhr, G. und Weinhold, R.: Ethnographie im Museum; Dresden.
Tunis. Angelika
1995 Von der Kuriosität zum Studienobjekt, Völkerkundemuseen in der Bundes-
republik Deutschland; Anales del Museo Nacional de Antropologia; Madrid
und in: Die Brücke, Kärntner Kulturzeitschrift 4/1994: 25-28.
Völger, G. und Welck, K.v.
1993 Das Völkerkundemuseum an der Jahrtausendwende; in: Schweizer, Th. et al.
(Hrsg.): Handbuch der Ethnologie; Berlin: 623-645.
166
Buchbesprechungen Allgemein
BURENHULT, GÖRAN ET AL. (HRSG.):
Die ersten Menschen - Ursprünge und
Geschichte des Menschen bis 10.000 v.Chr. In:
Die Illustrierte Enzyklopädie der Menschheit.
(Original: The First Humans The Illustrated
History of Humankind, Sydney u.a. 1993.)
Hamburg: Jahr, o.J. 239 Seiten, zahlreiche
Farbfotos, -Zeichnungen, -karten.
Der Klappentext dieses beeindruckenden Bildbandes zur
frühesten Geschichte des Menschen verspricht viel, und
tatsächlich hat es der Verlag verstanden, weltweit zahlrei-
che Experten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen
als Autoren und Mitarbeiter für diese auf fünf Bände ange-
legte »Illustrierte Enzyklopädie der Menschheit« zu gewin-
nen. Unter den Herausgebern ist neben Göran Burenhult
(als Leitender Herausgeber), Peter Rowley-Conwy, David
Hurst Thomas und J. Peter White auch der Deutsche Wulf
Schiefenhövel, der mit Irenäus Eibl-Eibesfeldt (aus demsel-
ben Institut wie erstgenannter) als einziger die deutsche
Wissenschaft vom Menschen in dieser Reihe vertritt.
Was dem Betrachter des Buches beim ersten Durchblättern
positiv auffällt, sind die vielen ausgezeichneten Abbildun-
gen, von denen besonders die graphischen Darstellungen,
die rekonstruierten Lebensbilder sowie die Karten ins Auge
fallen. Die ganzseitigen Farbfotos sind eine wahre Augen-
weide. Insofern trägt die Reihe die Bezeichnung »illu-
strierte« zu Recht. Dem eiligen Leser wird mit der Textdar-
reichung entgegengekommen. Die Textseiten der einzelnen
Kapitel werden nicht nur durch Abbildungen, sondern
auch von kleineren Aufsätzen aufgelockert, die sowohl
Wissenschaftler als auch Laien, die sich mit dem Thema
befassen, interessieren. Bereiche wie die Entstehung der
Sprache, Menschsein und Krieg, Unterschiede zwischen
Menschenaffe und Mensch. Neandertaler und Religion,
der Zusammenhang zwischen Genen, Sprachen und
Archäologie sowie die Entstehung sozialer Ungleichheit
sind Themen, die auf weitverbreitetes Interesse stoßen.
Allerdings muß hier auch Kritik angemeldet werden. Bevor
darauf eingegangen wird, sei noch auf die Aktualität des
Werkes hingewiesen. So ist auch ein Kurzbeitrag über die
einmalige, unter dem Meeresspiegel gelegene Cosquer-
Höhle aufgenommen worden (s. hierzu die Rezension an
anderer Stelle dieses TRIBUS-Bandes).
Was nun die Texte in ihrer Gesamtheit betrifft, so erkennt
der Leser bald, daß sich die Herausgeber offenbar zunächst
auf Autorensuche begeben hatten und erst danach versuch-
ten, anhand der eingereichten Themenvorschläge eine Kon-
zeption der Publikation zu entwerfen. Dieses Verfahren,
das bei einer international angelegten Reihe vielleicht nur
schwer zu umgehen ist, bringt es mit sich, daß einige Kapi-
tel Themenwiederholungen enthalten. Unter Umständen
wäre die Redaktion gut beraten gewesen, sich entspre-
chende Artikel in einem Kapitel zusammenzubringen, zum
Beispiel diejenigen über die Entwicklung der Sprache, über
Geschlechterfragen, über Datierungsmethoden. Vielleicht
hängt es mit dem vermuteten Konzeptionsverfahren
zusammen, daß die Überschriften etlicher Kapitel Erwar-
tungen wecken, die von den jeweiligen Kurzartikeln nicht
so recht erfüllt werden, ja manchmal enttäuschend sind.
Regelrecht lachhaft ist beispielsweise der Beitrag »Die
Neandertaler«, der zwar ein farbenprächtiges Lebensbild
über zwei Seiten aufweist, aber nur auf einem Seitendrittel
Text (zudem noch mit zwei Fehlern) enthält. Fehlerhafte
Ausdrücke, falsch geschriebene Termini und sogar mangel-
haftes orthographisches Verständnis, wie sie an nicht weni-
gen Stellen des Buches zu bemängeln sind, gehen oftmals
auf Übersetzer und Lektoren zurück. Leider versäumen es
deutsche Verlage nach wie vor, übersetzte Buchtexte
deutschsprachigen Sachkennern zur Überprüfung vorzule-
gen. Bei etlichen Bildlegenden werden die Nachlässigkeiten
im Deutschen von denen in der Sache noch übertroffen.
Abgesehen davon muß bedauerlicherweise auch angemerkt
werden, daß immer wieder Textpassagen Ungenauigkeiten
bzw. so große Zusammenfassungen aufweisen, daß der
Leser ein falsches Bild mancher prähistorischer Zusam-
menhänge erhält. Und so etwas ist nicht auf Übersetzer
zurückzuführen, sondern auf die Verfasser.
Mit Ausnahme von Vor- und Geleitwort sowie einer Ein-
führung ist das Buch in zehn Kapitel unterteilt, wobei
jeweils zwischen drei bis fünf der erwähnten Kurzartikel in
den Hauptbeitrag eingeschlossen sind. Von diesen zehn
thematischen Übersichten gehen allein vier auf Göran
Burenhult zurück. Unter der Überschrift »Was ist die
Menschheit?« wird im ersten Kapitel nach einem geschicht-
lichen Überblick auf die Entwicklung der Sprache, den
Krieg als Teil des Menschseins und die Geschlechterrollen
in der Urgeschichte eingegangen. Ähnliche Themen zum
Hauptbeitrag »Die Ursprünge des Menschen« enthält das
zweite Kapitel: Geschlechtsdimorphismus, die frühesten
Vorfahren des Menschen, Beginn der Sprache und Refle-
xionen über Menschenaffe und Mensch. Kapitel 3 mit dem
Hauptartikel »Dem Homo sapiens entgegen« hat Beiträge
zur Bedeutung der Jagd in der Urgeschichte, über Zhou-
koudian, zur Frage der Neandertaler und über Datierungs-
methoden aufgenommen. Im folgenden Kapitel »Der
moderne Mensch in Afrika und Europa« kommen in den
Untertiteln Naturwissenschaftler zu Wort. Die Eiszeiten
werden vorgestellt, die Fauna während dieser Glaziale
sowie die l4C-Methode. In Kapitel 5 mit dem Kernaufsatz
»Die Anfänge der Kunst« werden die sogenannten Venus-
Statuetten behandelt, sodann Pech-Merle und, wie ein-
gangs erwähnt, die Cosquer-Höhle. In den beiden ersten
Nebenartikeln dieses Kapitels wird selbstverständlich auch
auf die Bedeutung der bekannten Felsbilderstationen des
franko-kantabrischen Raums (dieser Terminus ist offenbar
doch bereits sehr fest in der Urgeschichtsforschung veran-
kert) in Wort und Bild eingegangen.
ln dem gedanklich gegebenen, jedoch nicht als solchen
gekennzeichneten zweiten Teil des Buches wird die Urge-
schichte von Großräumen auszugsweise behandelt. Unter
dem Titel des Hauptaufsatzes und sechsten Kapitels »Die
Verbreitung über die Erde« werden einzelne prähistorische
Regionen Eurasiens vorgestellt, so Südostasien, die
Ukraine, Beringia (dieser Passus hätte besser in dem späte-
ren Kapitel über die Neue Welt Aufnahme gefunden) und
das innere Rußland (Sungir). Außerdem wurde diesem
Abschnitt noch ein Beitrag über Sprachen hinzugefügt. Im
darauffolgenden siebenten Kapitel wird »Die Besiedlung
des Alten Australiens« beschrieben. Die Reihe der Kurzar-
tikel. die hier eingebettet sind, wird von einer Abhandlung
über die TL-Methode eröffnet. Es folgen Aufsätze zur
Kunst, zu den Jägern Tasmaniens sowie zur untergegange-
167
TRIBUS 45, 1996
nen Fauna Australiens. Das achte Kapitel hat einen Beitrag
über »Die ersten Bewohner der pazifischen Inseln« aufge-
nommen. Unter diesem Thema wird in den Kurzartikeln
das Verbringen von Wildtieren in den westpazifischen
Raum durch den Menschen behandelt, sodann die Opti-
mierung von steinernem Rohmaterial durch Hitze (es ent-
stehen schärfere, aber auch sprödere Schlagkanten). An das
letztgenannte Thema schließt sich ein Aufsatz über den
Nachweis organischer Reste an Steinwerkzeugen an. Ein
Bericht über die früheste Besiedlung einzelner pazifischer
Inseln, die bis 30.000 v.H. zurückreicht, beschließt dieses
Kapitel. In Kapitel 9 wird versucht, auf Fragen zum
»Modernen Menschen in der Neuen Welt« einige Antwor-
ten zu finden, beispielsweise mit »Wer waren die ersten
Amerikaner?« und einer Abhandlung über die Waffen der
Clovis-Jäger. An den folgenden Beitrag über die paläoin-
dianischen Bisonjäger schließt sich die Frage nach dem
»Schicksal der frühen Tierwelt Nordamerikas an, die
immer noch Stoff für heiße Diskussionen in sich birgt. Für
das letzte und zehnte Kapitel zeichnet ausnahmsweise ein
einziger Autor (Moreau Maxwell) verantwortlich. Unter
dem Haupttitel »Pioniere der Arktis« schreibt er vom
»Letzten bewohnbaren Land«, das etwa seit 4.000 Jahren
legen wir das rezente Inuit-Gebiet zugrunde - dauerhaft
besiedelt ist. Es folgen Aufsätze über die »Tiere der Ark-
tis«, über »Frühe arktische Kulturen« und zum Schluß als
ein Beispiel für letztgenannte die Beschreibung eines Dor-
set-Lagers.
Ein Glossar für den unbedarften Leser sowie ein siebensei-
tiges Register beschließen den Band. Seltsamerweise fehlt
ein Literaturverzeichnis. Dies ist aus zwei Gründen bedau-
erlich: (1) Bestimmt würde mancher Leser das eine oder
andere Thema anhand eingehenderer Publikationen gerne
vertiefen. (2) Es würde der Eindruck relativiert werden, daß
die internationale Urgeschichtsforschung nur von einem
kleinen Kreis wenn auch namhafter Prähistoriker, die an
dieser »Illustrierten Enzyklopädie der Menschheit« betei-
ligt sind, repräsentiert wird.
»Die ersten Menschen« ist mit seiner Fülle ausgezeichneter
Farbabbildungen ein Bilderbuch im besten Sinne des Wor-
tes. Es bietet darüber hinaus einen Überblick über die
zurückliegenden Jahrzehnte weltweiter Urgeschichtsfor-
schung mit pointierend hervorgehobenen Kurzdarstellun-
gen zu besonders interessierenden Fragen der internationa-
len Prähistorie. Es ist ein umfassender Einstieg in die Wis-
senschaftsbereiche, die uns alle - unsere Vergangenheit und
damit unsere Zukunft - hautnah betreffen.
Axel Schulze-Thulin
Glottes, Jean / Courtin, Jean;
Grotte Cosquer bei Marseille - Eine im Meer
versunkene Bilderhöhlc. Herausgegeben und
mit einem Vorwort von Gerhard Bosinski.
Übersetzt von Kathrin Wüst. Sigmaringen:
Thorbecke, 1995. 197 Seiten, 191 (überwie-
gend) Färb- und SW-Fotos, Zeichnungen,
Karten, Tabellen.
Der Jan Thorbecke Verlag hat es sich zur begrüßenswerten
Aufgabe gemacht, aus dem reichhaltigen Fundus an west-
europäischen Felsbilderstationen mit seiner Reihe »thor-
becke SPELAO« einerseits die bisher weniger bekannten,
andererseits die neuesten und spektakulärsten Höhlen in
prächtigen Bildbänden einer breiten interessierten Leser-
schaft vorzustellen. Nach dem Band »Grotte Chauvet« mit
ihren eindrucksvollen prähistorischen Darstellungen,
deren Datierungen allerdings jüngst drastisch zurückge-
stuft werden mußten, folgte noch im selben Jahr das vorlie-
gende Werk, das dem erstgenannten hinsichtlich exzellenter
Farbwiedergabe der Abbildungen (davon viele im Großfor-
mat) und fundierten Texten in nichts nachsteht.
Neben zahlreichen Einzelheiten sind es insbesondere zwei
Bereiche, die Cosquer so interessant machen; l. die unge-
wöhnliche topographische Lage der Höhle mit ihrem Ein-
gang, der 37 m unter dem Meeresspiegel liegt; 2. die Datie-
rungen der Malereien und Gravierungen, die sich in etli-
chen Fällen an diejenigen vergleichbarer Felsbilder aus dem
Jungpaläolithikum anlehnen, andererseits diese aber alters-
mäßig übertrumpfen sollen. Wenden wir uns zunächst dem
erstgenannten Punkt zu.
Im Jahr 1985 entdeckte der Berufstaucher Henri Cosquer
am Cap Morgiou, südöstlich von Marseille, bei einem
Tauchgang den Höhleneingang. Erst sechs Jahre später, im
Juli 1991, bemerkte er die prähistorischen Felsmalereien
und -gravierungen in einem nicht vom Meerwasser überflu-
teten Saal, 150 m vom Eingang der Grotte entfernt. Vor
rund 20.000 Jahren, während des zweiten Maximums der
vorerst letzten Eiszeit (Würm bzw. Weichsel), lag der
Meeresspiegel ca. 120 m tiefer als heute, das damalige
Meeresufer war etwa 10 km von der jetzigen Küste entfernt
und die Höhle dementsprechend trocken. Erstaunlich ist
somit, daß die Grotte dennoch nur zweimal aufgesucht
worden sein soll, zumindest nach Angaben der Autoren,
und zwar in einem Abstand von 8.500 Jahren. Das heißt,
die erste Begehung soll vor rund 27.000 Jahren (im Gravet-
tien bzw. Périgordien), die zweite vor 18.500 Jahren (im
späten Solutréen / frühen Magdalénien) erfolgt sein. Damit
sind wir beim zweiten Punkt, den Datierungen.
Zwar weisen die Verfasser darauf hin, daß die Cosquer-
Datierungen die sichersten seien, die je mittels physikali-
scher Methoden erreicht wurden, doch - die Botschaft hör’
ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, zumal sich die Alters-
angabe von 27.000 Jahren stilistisch nur auf Handnegative
und Fingerkratz- und -eindruckspuren stützen kann. Das
Beispiel Chauvet mit der kürzlich erfolgten Revision hoher
Altersangaben erhebt warnend den Finger. Nicht nur l4C-
Methode, sondern auch andere neuere Varianten der
Nuklearphysik sind immer wieder für Überraschungen gut.
Die mit diesen Datierungsmethoden gewonnenen absolu-
ten Zahlen sind nach wie vor mit Risikofaktoren behaftet.
So ist es beispielsweise nicht nur denkbar, sondern noch vor
kurzem vorgekommen, daß datierte Holzkohle von fossi-
lem Holz stammte, was Rückschlüsse auf das Alter von
Felsmalereien, bei deren Herstellung diese Holzkohle ver-
wendet wurde, ad absurdum führen muß. Es ist zu wün-
schen, und sicherlich wird im Zuge zukünftiger Forschun-
gen in der Cosquer-Höhle auch so verfahren, die von den
Autoren vorgenommene Unterscheidung in zwei Bege-
hungsphasen noch mehrmals kritisch zu überprüfen. Zu
dem neben den physikalischen Methoden ebenfalls ange-
wandten stilistischen Vergleich ist zu sagen, daß dieses Ver-
fahren zwar innerhalb großer Bandbreiten ziemlich sichere
Ergebnisse liefert, aber eben keine Methode für exakte
Altersangaben ist.
Abgesehen von einem Vorwort des Herausgebers der Reihe,
Gerhard Bosinski, Hinweisen auf die Entstehung des
Buches sowie Anmerkungen und Bibliographie ist das
Buch in zehn Kapitel untergliedert. Der Entdeckungsge-
schichte der Höhle folgen Angaben über die Umwelt zu den
Zeitspannen, in denen die Felsbilder entstanden sind, sowie
eine Beschreibung der Höhle. Die jungpaläolithischen Dar-
Buchbesprechungen Allgemein
Stellungen selbst werden unterteilt in »Mit Fingern gezo-
gene Linien und Handdarstellungen«, »Landtiere«, »Mee-
restiere«, »Zeichen« und »Der getötete Mensch«. Die vor-
genommene Deutung der verschiedenen Tierarten wird
sicherlich zu mancher Diskussion führen, insbesondere der
auf Seite 119 abgebildete »Fehde«. Wenn schon ein Raub-
tier, dann ist hier ein - von den Verfassern auch als möglich
angesehen - Bär wiedergegeben, doch selbst diese Deutung
erscheint unsicher. Die »Quallen« wurden zweimal in Farb-
fotos vorgestellt (S. 126 und 136). Das 9. Kapitel ist Anga-
ben zur chronologischen Einordnung der Höhlenkunst
nicht nur von Cosquer, sondern unter Berücksichtigung
vieler bekannter Stationen vor allem des südwestfranzösi-
schen Raumes gewidmet. Hier ist auch ein Abschnitt über
»Die mögliche Bedeutung der Bilder« angefügt, auf den
gleich noch zurückgekommen wird. Im 10. Kapitel wird
auf »Bedeutung und Zukunft der Höhle« eingegangen,
wobei darauf verwiesen wird, daß die Höhle noch längst
nicht völlig erforscht ist und noch etliche Überraschungen
bergen könnte. Beruhigend zu wissen, daß der Höhlenein-
gang durch bombensichere« Schutzmaßnahmen vor dem
Besuch unbefugter Taucher abgeschirmt wurde.
Seit Entdeckung der Felsbildkunst wird über die Bedeu-
tung der Bildinhalte gerätselt. So weisen die Autoren in
dem Abschnitt »Die mögliche Bedeutung der Bilder«
zunächst auf die Schwierigkeit einer Interpretation der
Cosquer-Malereien und -Gravierungen hin. Ohne Wissen
um ethnologische Hintergründe könnte eigentlich keine
Aussage gemacht werden. Was bleibt, sind Theorien, die
auf unsicherem Boden stehen, und ethnologische Analo-
gien bzw. Vergleiche mit rezenten Jäger/Sammler-Gemein-
schaften. Die in die weicheren Höhlenwände von Cosquer
mit Fingern eingedrückten Linien werden ebenso wie die
Handnegative als Besitzergreifung des Raumes betrachtet,
eine Deutung, die bis zu den Anfängen der Felsbildfor-
schung reicht. Interessant ist, daß die Handnegative
während der sogenannten Phase 1 der Höhlenbegehung
entstanden sein sollen, während ihre Zerstörung durch Zer-
kratzen oder Zerschlagen von Sintervorhängen mit Hand-
negativen der Phase 2, das heißt 8.000 Jahre später
während der zweiten Begehung der Höhle, zugerechnet
wird. Die willentliche Vernichtung der Cosquer-Hände
durch den paläolithischen Menschen, der von den Hände-
Künstlcrn zeitlich so weit entfernt war wie wir vom End-
Mesolithikum bzw. frühesten Neolithikum, ist offenbar in
der altsteinzeitlichen Felsbildkunst eine Ausnahme.
Begrüßenswert ist, daß die »ungewöhnlich zahlreichen
langgestreckten, häufig mit Widerhaken versehenen Zei-
chen auf den Tierdarstellungen« (S. 175/177) als Pfeile oder
Lanzen« (Speere wäre wohl der sinnvollere Ausdruck)
gedeutet werden, eine Ansicht, die endlich einem ideologi-
schen Vorurteil eine Unvoreingenommenheit beruhende
Tatsache entgegenstellt. Welcher religiöse oder gesellschaft-
liche Hintergrund mit den Wurfgeschossen angesprochen
sein könnte, ist ja eine völlig andere Frage.
Alles in allem darf die Grotte Cosquer zu den bedeutend-
sten Bilderhöhlen Europas gerechnet werden. Sie wird
bekannte Hypothesen und Theorien zur immobilen Kunst
wiederbeleben, wie die der Handnegative und die einer
mediterranen Kunstprovinz von Paolo Graziosi oder auch
die einer Deutung gefiederter Zeichen als Fern- oder
zumindest als Wurfwaffen. Das vorliegende Werk gewährt
einen ersten faszinierenden Einblick in die paläolithische
Kunstwelt dieser Meeresgrotte. In den kommenden Jahr-
zehnten werden Publikationen mit weiteren Details folgen,
eventuell auch mit der einen oder anderen Revision. Wir
Heutigen schulden dem Jan Thorbecke Verlag großen
Dank, daß wir mit seiner Hilfe ein Leseabenteuer der
besonderen Art erleben dürfen, denn die Höhle selbst wird
abgesehen von einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern
- der Öffentlichkeit immer verschlossen bleiben.
Axel Schulze-Thulin
Hansen, Klaus P. (Hrsg.);
Kulturbegriff und Methode. Der stille Para-
digmenwechsel in den Geisteswissenschaften.
Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1993. 199 Sei-
ten.
Hansen, Klaus R:
Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Ein-
führung. Tübingen/Basel: Francke Verlag,
1995. 221 Seiten.
Im Süden der Bundesrepublik hat sich etwas Epochema-
chendes ereignet. Von der Stadt Passau ist die Rede, ihrer
Universität und dem Amerikanisten Klaus P. Hansen, der
sich als eminenter, vielleicht schon »postmodern« zu nen-
nender Kulturtheoretiker erwiesen hat.
Dem Rezensenten liegen die beiden o. g. Veröffentlichun-
gen vor. Die ältere von 1993 gibt Auskunft darüber wie sich
Hansen über die Thematik »Kultur« interdisziplinär kun-
dig gemacht hat, das 1995 veröffentlichte Buch stellt dage-
gen eine neuerarbeitete Kulturtheorie vor, worüber hier
ausführlicher berichtet wird.
Im Untertitel von »Kulturbegriff und Methode« schreibt
Hansen von einem »stillen Paradigmawechsel in den Gei-
steswissenschaften«. Zur Erläuterung stellt er dazu neuere
Ansätze zum Thema Kultur in den unterschiedlichsten gei-
steswissenschaftlichen Disziplinen vor; Kulturwissenschaft
oder Ethnologie; Volkskunde; Kunstwissenschaft; Roma-
nische Landeskunde; Kulturgeographie; Kulturgeschichte;
Psychologie und Soziologie. Man kennt diese synthetischen
Gebilde, diesmal geben sie Kunde über Inkommunikabi-
litäten zwischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die-
ser »Reader« berichtet vom »Kultur-Turmbau zu Babel«.
Dennoch ist in den Einzelbeiträgen festzustellen, daß der
gesamte Kulturberg kreißt. Hansen scheint diesen Wehen
intensiv gelauscht zu haben, wischte irgendwann in jüngster
Zeit vehement entschlossen den Kultur-Turmbau beiseite
und gebar 1995 ein neues Kultur-Gebirge. Der »stille Para-
digmenwechsel« hat sich zur Kuhn’schen Revolution
gemausert.
Der größte Teil des Buches »Kultur und Kulturwissen-
schaft« (1995) befaßt sich mit neuen paradigmatischen
Grundlegungen zum Thema »Kultur«.
Hansen benennt in Kap. I als zentrales Thema zur Kultur
die vermutlich trivial erscheinenden »Gewohnheiten« eines
Kollektivs. Gewohnheiten implizieren Regeln und generali-
siert-standardisierte Verhaltenserwartungen. Ihr Geheim-
nis besteht nach ihm darin, daß sie kontingent entstanden
sind, zugleich Generalisierungen ausmachen und wie-
derum kontingente Änderungen nicht ausschließen.
In Kapitel II beginnen die systematischen Vorbereitungen
zur Konstruktion einer neuen Kulturtheorie. Es wird das
Verhältnis von Natur zur Kultur behandelt. Hansen emp-
fiehlt eine dimensionale Trennung, analog dem Verhältnis
von Material und Form. Natur ist nicht Kultur, doch Kul-
tur kann sich ohne Natur nicht bilden oder bestehen; den-
TR1BUS 45, 1996
noch hat Kultur mit Natur nichts gemein - diese dimensio-
nale Trennung gilt es zu verstehen.
Im umfangreichen Kapitel 111 behandelt Hansen kategori-
elle Grundelemente der Kultur - der Rezensent würde sie
Dimensionen nennen wollen. Sie bauen auf Generalisie-
rungen (von Gewohnheiten) auf; er spricht von »Standardi-
sierungen«. Er unterteilt in Standardisierungen der Kom-
munikation, des Denkens, des Empfindens, des Han-
delns(Verhaltens). Das Kapitel schließt ab mit Überlegun-
gen zu »Standardisierungen und Kultur«.
In »Standardisierung der Kommunikation« setzt Hansen
damit an, daß Kommunikation an Gemeinschaften gebun-
den ist und über Zeichen verläuft, wobei willkürlich einem
Bedeutungsträger eine Bedeutung zugeordnet wird. Der
Entwicklungsgrad einer Kultur läßt sich an der Größe des
Zeichenvorrats ablesen (S. 46). Wichtigstes Zeichensystem
ist die Sprache. Es gibt geplant und ungeplant eingeführte
Zeichen und Bedeutungen. Die zweite Zeichenart ist nach
ihm für die Kulturwissenschaft die interessantere (S. 41).
Hierzu gehört im Reich der Sprache der »Sprachwandel«.
In Anlehnung an Adam Smith spricht Hansen von einer
»invisible hand« im Wandel. Die spezifische Regelhaftig-
keit von Zeichensystemen läßt Freiräume zu, die die Indivi-
duen für eigene Gestaltung nutzen können. Kultur ist in
dieser Hinsicht kreativ und sorgt für Dynamik.
Willkür und Gewohnheit oder Beliebigkeit und Standardi-
sierung, die Hansen überall im Reich der Kultur am Werke
sieht, sind auch in der Sprache wiederzufinden. Er folgt
Saussure, der die Theorie konzipiert hat, daß Wörter der
Sprache sich nicht auf reale Objekte beziehen, sondern auf
von Menschen geschaffene »Vorstellungen«; auch solche,
denen in der Außenwelt nichts entspricht. Oder: Wörter
beinhalten Vorstellungen, die nicht die Wirklichkeit abbil-
den, sondern sie mit einer Deutung versehen (S. 61). Für
Konstruktivisten vermutlich keine Neuheiten, überra-
schend vielleicht doch, daß Hansen hierbei nicht stehen
bleibt und Willkür und Standardisierungen auch für die
Lüge reserviert, ergo; Kultur ist auch Lüge - die Lüge ist
der Preis der Kreativität und Freiheit (S. 68). Alle Zeichen
können lügen (S. 68).
Über Vorstellungen und Deutungen ist das Denken ange-
sprochen. Beide machen noch kein Denken aus, es muß der
Webmeister hinzukommen, der Ordnung schafft. Schon
Aebli (1980; 1981) sprach vom »Denken als Ordnen des
Tuns«. Hansen führt als kulturspezifisches Denken »kol-
lektives Wissen« und »Mentalität« ein. Unter kollektivem
Wissen versteht er den in einem Kollektiv vorhandenen
Gesamtbestand an Ideen und Ideenkombinationen. Wirk-
lichkeitsdeutungen werden hierüber kulturell vorgeprägt.
Sie machen die »Lebenswirklichkeit« aus. Denken erzeugt
durch Deutungen Lebenswirklichkeit (S. 88). Wenn aber
Denken Lebenswirklichkeit erzeugt, wird ein Teil ihres
Potentials durch Standardisierungen des Denkens garan-
tiert. Standardisierung konstituiert Kollektivität (S. 89).
Derart in einem Kollektiv standardisiertes Denken, das
wissen wir alle, schafft gelegentlich irrtümliche oder gar
furchterregende Lebenswirklichkeiten. Wie die Gegeben-
heit der Lüge, so müßte Hansen folgern, gehören zur Kul-
tur des Denkens ebenso grundsätzlich Irrtum, Dummheit
und Schrecken - auch dies ist der Freiheit in den Regeln des
Denkens zu verdanken. Hansen scheint dies übersehen zu
haben.
Ein »kulturelles Verfahren«, in die Konstruktion von
Lebenswirklichkeit so etwas wie objektive Wahrheit einzu-
führen, beinhaltet laut Hansen die Wissenschaft. Er formu-
liert »daß Erkenntnis eine Interaktion zwischen Subjekt
und Objekt ist und daß Wahrheit dann vorliegt, wenn diese
Interaktion vom Objekt mitgetragen wird« (S. 92). Wissen-
schaft entpuppt sich für ihn als Sonderbereich der Kultur,
in dem »Wahrheit« den Maßstab der Kollektivität (i.e.
Gewohnheiten) durchbrechen kann! (S. 94). Das sollte
dann reflexiv gewendet auch auf die von Hansen neukonzi-
pierte Kulturtheorie zutreffen.
Die Standardisierung des Empfindens behandelt Hansen
analog der im Hinblick auf Kommunikation und des Den-
kens vorgebrachten Argumentation. Auch Empfinden ist
kulturell geprägt.
Im Abschnitt über Standardisierung des Handelns über-
nimmt Hansen überraschenderweise die längst vergessen
geglaubte Institutionenlehre Gehlens. Gewohnheiten und
Standardisierungen eines Kollektivs induzieren Institutio-
nen der Steuerung des gesellschaftlichen Handelns. Institu-
tionen erübrigen Innensteuerung und ersetzen sie durch
kulturelle Außensteuerungen; sie entlasten das Handeln.
Erlernt werden sie während der Sozialisation durch Inter-
nalisierungen. Sie werden zur »zweiten Natur«. Sinn,
Gesinnung und Gefühl werden von Institutionen gleich
mitgeliefert; insofern kann ihre Sinnfrage suspendiert wer-
den. Die von Institutionen mitgeschaffene Lebenswirklich-
keit kann mit der Wirklichkeit selbst verwirklicht werden.
Institutionen sichern die Soziabilität des Einzelnen und den
Zusammenhang des Ganzen (S. 113), sie garantieren Kohä-
sion und Stabilität einer Gemeinschaft (S. 114). Kritische
Hinterfragungen sind damit ausgeschaltet - das war es,
nebenbei gesagt, was Gehlen an den Institutionen faszi-
nierte. Hansen sieht es anders.
Zum Abschluß des Kapitels über Standardisierungen als
Konstituens von Kultur gelangt er zu Einsichten, die zur
Konzeption einer neuen »postmodernen« Kulturtheorie
die Grundsteine legen könnten. Daß Kultur aus Gewohn-
heiten oder Standardisierungen besteht, ist nach ihm noch
keine weitverbreitete Einsicht. Es setzt voraus, daß kollekti-
ves Handeln gewohnheitsmäßig und spontan erfolgt. Nun
fordert aber Hansen, daß derartige Standardisierungen zu
Traditionen werden müssen, die über Generationen hinweg
weitergegeben werden. Das kann man so nicht stehen las-
sen, schränkt er damit doch wieder ein, was er einer neuen
Kulturtheorie eröffnet hat. Weitaus fruchtbarer für eine
neue Kulturtheorie ist folgender von Hansen aufgewiesener
Zusammenhang: Regelmäßigkeiten wie Essen, Schlafen,
sich Fortpflanzen etc, zählen nach ihm nicht zu Gewohn-
heiten, damit auch nicht zur Kultur. Es folgt der gewichtige
Satz; »Nur das kann als Standardisierung gelten, was nicht
der gesamten Gattung zukommt, sondern die Kollektive
voneinander scheidet. Die Nahrungsaufnahme gehört
nicht dazu, wohl aber die Gestaltung eines Frühstücks...
Damit stoßen wir auf das schwer zu verkraftende Grund-
kriterium von Kollektivität und Kultur, nämlich Willkür.
Nur durch sie eröffnet sich die Möglichkeit, verschieden zu
sein.« (S. 115). Willkür ist demnach die Voraussetzung von
Standardisierungen, und sie sind überall dort, wo es
Freiräume gibt.
Man könnte dies als das Fundamentalaxiom der »multi-
kulturellen« Verfaßtheit des Gesellschaftswesen Mensch
bezeichnen. Die Ehre, diese multi-kulturelle Vielfalt der
Menschen zu garantieren, gebührt der »Willkür«! Sie
garantiert Vielfalt generalisierter Standardisierungen,
damit vielfältige Kollektivitäten und ebenso vielfältige Kul-
turen.
Im Kapitel IV behandelt er das Verhältnis von Individuum
zu Kollektiv. Er verweist auf das Paradoxon, daß Kultur
sowohl vom einzelnen abhängt als auch nicht. Zwischen
Individuum und Kultur ist die Kollektivität eingebunden.
Für die Kollektivität gilt dasselbe wie im Grundaxiom für
Buchbesprechungen Allgemein
die Kultur postuliert - sie ist vielfältigst standardisiert.
Insofern bemerkt Hansen schon en passant, daß Kommu-
nikation und Tradition zwar konstitutive Elemente der
Kultur ausmachen und von Individuen getragen werden,
aber nicht von allen, sondern nur von einer Mehrheit, so
daß sich eine Minderheit ruhig verweigern kann, ohne die
Kollektivität schon zerstören zu müssen (S. 122) - wie-
derum ist für Abweichungen die »Willkür« zuständig.
In einem Intermezzo behandelt er die multikulturelle Ver-
faßtheit eines Tennisclubs in Passau: er läßt eine Zahnärz-
tin, einen Schreinermeister, einen leitenden Angestellten
der Passauer Neuen Presse und eine Universitätsassistentin
der Romanistik im Clubhaus Zusammentreffen. Die
Akteure verbindet das Tennisspielen, der Club, die Stadt
und Region Passau, für sich selbst leben sie in disparaten
Lebenswelten, die sich irgendwie überschneiden. Die
Zugehörigkeit zu ihren Kollektiven und Kollektivarten wie
Beruf, politische Ausrichtung und »lifestyle« ist unmittel-
bare Freiwilligkeit. Wegen der Grundvoraussetzung der
Willkür folgert Hansen, daß Kultur(en) nicht auf Zwang
basieren können, sondern auf Freiheit und daß selbst bei
äußerem Zwang eine innere Freiheit fortbesteht (S. 132).
Das führt dazu^daß der Einzelne bei der Wahl der Kollek-
tive wahnwitzige Kombinationen vornehmen und die kul-
turelle Logik (der Standardisierungen!) durchbrechen kann
(S. 132). Dennoch besteht ein wechelseitiges Konstitutions-
verhältnis von Individuum und Kultur, was Hansen zu der
wiederum paradoxen Formulierung führt: Das Individuum
gewinnt Freiheit durch kulturelle Determination (S. 135).
Dennoch ist wegen des Grundprinzips der Willkür die kul-
turelle Determination nicht durchgehend. Er formuliert
deshalb konsequent: Weil Kultur nicht determiniert, kann
das Individuum ihre Spielregeln mißachten.
Nun führt Hansen etwas ein, was er im Buch nicht weiter
ausführt, für eine konsistente Kulturtheorie aber unabding-
bar ist - Politik. Er schreibt: Weil Kultur das Individuum
nicht verläßlich gängelt, wird eine wirkungsvollere Regle-
mentierung nötig, die wir Politik nennen (S. 137). In der
Praxis kann sie von Kultur ununterscheidbar sein, für die
Theorie ist beides säuberlich zu trennen (S. 137). Wir müs-
sen weiter unten darauf zurückkommen.
Eine Kultur setzt sich aus unzähligen und permanent wech-
selnden Gesinnungsgemeinschaften zusammen. Wo Frei-
heit besteht, ist für Individualität gesorgt. Sie kann sich aus
dem immensen Angebot der Kultur bedienen. Diese impli-
zite Offenheit bedeutet deshalb nicht nur Vielseitigkeit,
sondern auch Widerspruch (S. 142). Hansen sei gedankt,
daß er auch das Konzept des »Widerspruchs« in die Kul-
turtheorie eingebracht hat.
In den beiden Unterkapiteln »Die Sonderkollektive Volk
und Nation« (S. 143) sowie »Der Status von Volk und
Nation« (S. 152) erweckt Hansen Geister der Vergangen-
heit zu neuem Leben und erweist sich zugleich als Vernich-
ter vorwaltender Ideologien und der Disziplin Ethnologie?
Er greift zurück in die Mottenkiste der Romantik, holt
»Volk« und »Nation« heraus, und bringt zugleich, mit sei-
nen Worten »die Idee der Ethnizität endgültig zu Fall« (S.
159). Paradigmenwechsel sind gewöhnlich überraschend,
diesmal handelt es sich wahrlich um eine Revolution.
Zunächst geht Hansen wieder auf sein Beispiel der dispara-
ten Lifestyles der Mitglieder seines fiktiven Tennisklubs
zurück. Er findet, daß die empirisch sichtbare Verschieden-
heit des individuellen Verhaltens auf eine teilweise unsicht-
bare Gemeinsamkeit zurückzuführen ist. Die Verschieden-
heiten erweisen sich als Reaktionen, die sich auf einen iden-
tischen Rcaktionsgrund zurückführen lassen. Hansen
spricht von Kohäsion oder Kitt. »Der gordische Knoten
der Kulturdefmition ist damit durchschlagen. Nicht das
konkrete Verhalten der Individuen, nicht das Denken und
Fühlen von Mehrheiten oder Minderheiten macht Kultur
und Kollektivität aus, sondern die überindividuelle, der
individuellen Umsetzung vorausliegenden Verhaltensange-
bote, die sozusagen unsichtbar in der Luft liegen. In Reali-
sierung ihrer Freiheit bedienen sich die Individuen aus die-
sem identischen Angebot und erzeugen so die sichtbare
Divergenz.« (S. 149). Diesen unsichtbaren Kitt sieht Han-
sen in Globalkulturen von Nationen wirken. Nicht nur
Individuen, sondern auch die Gruppierungen und Unter-
kollektive sind davon geprägt. Wiederum dialektisch for-
muliert er; »Wenn bestimmte Gleichartigkeiten des Verhal-
tens und Denkens meiner Akteure (gemeint sind die Mit-
glieder seines Passauer Tennisclubs) in ihrem Deutschtum
begründet waren, ist dies auch bei ihren Unterschiedlich-
keiten der Fall ... bestimmte Unterschiede zwischen meinen
Akteuren waren nationaltypisch.« (S. 152). Hansen gelangt
zu dem Schluß, »daß viele Gruppierungen unterhalb der
nationalen Großformation einerseits durch sie geprägt wer-
den, durch ihre Geschichte, durch ihre Mentalität, durch
ihre besonderen Institutionen und nicht zuletzt durch ihre
Sprache, andererseits aber prägend auf sie zurückwirken.«
(S. 152).
Anschließend fragt er sich, ob diese Gemeinsamkeiten von
Stämmen, Völkern oder Nationen durch das »Ethnische«
geprägt werden oder ob Ethnizität mehr umfaßt als nur
Kulturelles. Er will das nicht bestätigen. Er fragt: »Worin
besteht Ethnizität?« Daraus folgt nach ihm die zweite
Frage, ob es unterschiedliche ethnische Formationen gibt
oder ob nur das Volk eine ethnische Einheit bildet, die
Nation aber nicht (S. 152/3). Hansen diskutiert Theorien zu
»Volk« und »Nation« der Romantik, u.a. vertreten durch
Herder und Wundt und verweist auf die Kritik des ethni-
schen Volksbegriffs durch Boas (bis S. 160).
Im Deutschen wurde zwischen Volk und Nation ein begriff-
licher Unterschied gemacht, Nation zu einem rein politi-
schen Gebilde erklärt. Oder; Nation ist ein politisches
Gebilde ohne inneren Zusammenhang, ein Volk hingegen
auch ein von innen her stabiles Kollektiv (S. 162). Laut
Hansen geht dagegen die Mehrheit der Völker auf das
Steckenpferd der Mächtigen zurück. Am Anfang der
Volksgenese steckt ein Akt menschlicher Willkür. Von der
Kontingenz und Willkür der Entstehung läßt sich laut
Hansen kein Unterschied zwischen Volk und Nation erken-
nen. »Ein Volk, so sehen wir. gründet auf Dauer von Jahr-
hunderten, die junge Nation hingegen nicht. Es ist, damit
haben wir die wichtigste Bedingung erkannt, ganz einfach
der Faktor Zeit, der den Unterschied macht. Er allein sorgt
für die Voraussetzung, daß sich Kollektivität und Kohäsion
entfalten können ... Mit den Erinnerungen formt sich das
kulturelle Gedächtnis, das die Voraussetzung bildet für die
angebliche Krönung des ganzen, die Volksidentität ... Es
wird ein Mythos der Volksgründung ersonnen, und die
Geschichte wird auf die gefundene Identität hin umge-
schrieben.« (S. 163/164).
Es ist laut Hansen die innere Kohärenz, die Volk und
Nation unterscheidet, und diese ist nicht ohne den Faktor
Zeit denkbar. Zur Homogenität eines Volkes gehört aber
Diversität. »Es ist ... gerade dieses Kriterium des kompli-
zierten Miteinanders von Homogenität und Diversität,
welches das Kollektiv Volk allen anderen Kollektiven vor-
aushat (S. 165). Das Dachkollektiv setzt sich aus Unterkol-
lektiven zusammen, die für das Ungleichverhalten der Indi-
viduen mitverantwortlich sind (S. 166). Zur Definition des
Kollektives Volk ist laut Hansen deshalb zu sagen »daß
seine Kollektivität hauptsächlich in Angeboten oder Ver-
TRIBUS 45, 1996
haltensvorgaben gründet, die zwar für alle identisch sind, in
ihrer Auswahl und Umsetzung aber zur Diversität führen.«
(S. 166). Das Individuum mag diese Angebote und Vorga-
ben noch so mischen, wir erkennen sie doch als zum Dach-
kollektiv gehörend. Die Kollektivität eines Volkes besteht
in seinen gemeinsamen geistigen Ressourcen. Diese
Gemeinsamkeit der Ressourcen schmiedet aus den dazu-
gehörigen Individuen einen festen Verband. Der Kitt ist die
Vertrautheit der Verschiedenheit oder ihre Normalität. In
ihr ist die Diversität aufgehoben. Eine Nationalkultur defi-
niert Normalität (S. 168).
Das Konzept der Ethnizität verwirft Hansen in diesem
Kontext, weil es seiner Ansicht nach zu sehr der »Natur«-
komponente, dem Biotischen oder Genetischen verhaftet
wäre.
Damit sind die Hauptstücke des neuen »Kultur-Para-
digma« von Hansen vorgestellt. Zu Beginn wurde diese
Konzeption als schon »postmodern« eingestuft. Warum der
Rezensent zu dieser Formulierung findet, soll zugleich
erläutert werden. Zunächst zur Kritik. Die Ablehnung der
Kategorie »Ethnizität« wird nicht überzeugend dargelegt.
Man hätte den Begriff ebenso von der biotischen Konnota-
tion befreien können wie er den Begriff des »Volkes« vom
Moder der Romantik befreite. Doch wie sollten dann die
Kategorien Ethnizität, Volk und Nation zusammenspielen?
Auf S. 137 führt er die »Politik« ein und betont, daß für die
Theorie Kultur und Politik säuberlich zu trennen sind.
Wenn er aber Volk und Nation mit einem politischen Will-
kürakt entstehen läßt, führt er Politik wieder in Kultur ein.
Die Begriffe sind als Kategorien eingeführt und sinnvoll.
Der Rezensent würde folgende Definition vorschlagen, ana-
log dem Kategoriengerüst von Dux (1978) in seiner Ein-
führung in die Rechtssoziologie. Dux unterscheidet Regeln,
Normen und Rechtsregeln. Volk wird analog als Dachkol-
lektiv durch eine Vielfalt von Regeln konstituiert und besitzt
keine politische Ordnung. Eine Nation wird durch Normen
konstituiert und besitzt eine politische Ordnung. Ein Staat
wird ebenfalls durch Normen konstituiert, zusätzlich exi-
stiert aber eine Durchsetzungsinstanz (plus Sanktionsin-
stanz), die das Normensystem in ein Rechtssystem transfor-
miert und Politik als administratives System erscheinen
läßt. Damit kann ein Volk eine Nation oder einen Staat kon-
stituieren, muß es aber nicht; eine Nation kann ohne Staat
existieren, aber nicht ohne Volk; ein Staat setzt ein Volk
(Völker) voraus, kann aber die Nation übergehen.
Um die Ethnizität zu retten, könnte man sie mit Volk
gleichsetzen, jedoch mit dem Moment der Diversität kop-
peln, welches Hansen so vielversprechend in seine Kultur-
theorie einbindet. Ethnizität wird durch Diversität und
Widerspruch in und zwischen Völkern induziert. Sie arti-
kuliert sich in den vielfältigsten Kollektivierungen und
Standardisierungen. Damit wäre per se jede biotische Kon-
notation vermieden und man könnte auch alle Formen von
»Bewegungen« (Beyme 1991), »lifestyles« oder »styles«
(Bouchet 1995) unter ethnischen Erscheinungsformen sub-
sumieren. Jedes Volk und jede Nation wäre damit (multi)-
ethnisch geprägt, und jeder Staat könnte sich ebenso damit
schmücken, obwohl kategoriell zwischen Volk, Nation und
Staat jeweils eine radikale Trennung besteht (Griggs 1992).
Ethnizität wäre damit generalisiert und dem Erbe des
Kolonialismus sowie der nicht länger haltbaren Gleichset-
zung mit (primitivem) Stamm oder »tribe« entbunden.
Auch Stämme oder »tribes« bilden Völker und Nationen,
ihre Ethnizität beruht auf Diversität. Noch nie, außer als
Fiktion, hat irgend jemand empirisch den singulären,
homogenen Stamm oder »tribe« vorgefunden, auch wenn
es alle Ethnographien verkünden!
Es würde zu weit führen, dennoch den Reiz einer wirklich
neuen »postmodernen« Kulturtheorie ausmachen, wenn
man das neue Paradigma Hansens mit dem neuen Para-
digma der »transversalen Vernunft« in der postmodernen
Philosophie von Welsch (1995) zusammenfügt. Die struk-
turellen Gemeinsamkeiten sind verblüffend und gegeben, es
bedarf nur der Tat, sie auszuführen. Der Amerikanist Han-
sen scheint dazu der richtige Mann zu sein!
Abschließend geht Hansen in Kapitel V auf Aufgaben einer
zukünftigen Kulturwissenschaft ein. Er hat in Passau den
Studiengang des »Diplomkulturwirts« ins Leben gerufen.
Es würde zu weit führen, alle von Hansen angesprochenen
Aspekte einer zukünftigen Kulturwissenschaft zu würdi-
gen. Nur einer sei herausgegriffen, der der »Interkultura-
lität« (S. 1790- Er spricht u.a. im Zusammenhang mit der
Multinationalisierung der Wirtschaft vom Bemühen der
multinationalen Unternehmen um »cultural competency«
durch »intercultural training». Bedeutsam ist sein Hinweis
auf multikulturelle Duldung »Zusammenarbeit impliziert
aber nicht zwangsläufig Verstehen und schon gar nicht
Fremdverstehen». Das gehört auch zur postmodernen
Moderne - Anerkennung der Inkommensurabilität! Das
impliziert jedoch nicht notwendig grenzenlosen Kulturrela-
tivismus. Fremdes muß nicht stets anerkannt und für
gleichwertig befunden werden. Als universellen Maßstab
verweist er vorsichtig auf die Menschenrechte (S. 193).
Dem kann man zustimmen, konsequenter, auch aus seinem
eigenen Ansatz heraus, wäre aber die Forderung nach kul-
turellem Wettbewerb im Sinne des »Wettstreits« auf der
weltweiten kulturellen Agora. Das wäre auch mit der wech-
selseitigen Anerkennung ohne Verstehen kompatibel.
»Wenn ich deine Kultur anerkenne, sollst du auch meine
Kultur im offenen Wettbewerb gelten lassen». Vorauszuset-
zende Inkommensurabilität wäre im Sinne Welch»s mit
»transversaler (Kultur-)Vernunft« zu begegnen. Sie bein-
haltet vieles, nicht jedoch eine ewige Ordnung prästabili-
sierter Kulturmonaden, die sich Eingriffe von außen per se
verbieten. Einmischungen in innere Angelegenheiten ist
wie gegenüber Staaten auch gegenüber Völkern, Nationen
und Kulturen angebracht - warum sollten gerade sie
gegenüber Wettbewerb und Interaktionen immun verblei-
ben, wenn sie als Teil der Weltgesellschaft immer dazu ten-
dieren, sich für das Ganze zu setzen?
Einen semiotischen Kulturbegriff fordert Hansen ein und
verweist dabei u.a. auf Clifford Geertz. Der Rezensent
würde aus hier nicht erläuterbaren Gründen davon abraten
»dichte Beschreibungen« tendieren zu in sich kreisenden
Monaden und statt dessen einen von den Fixierungen auf
die Macht gereinigten Roland Barthes empfehlen, der in
dieser Hinsicht auch von Hansen gewürdigt wird.
Literatur:
Aebli, H.
1981 Denken: Das Ordnen des Tuns. Stuttgart.
Beyme, K. von
1991 Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der
Moderne zur Postmoderne. Frankfurt: Suhrkamp.
Bouchct, D.
1995 Marketing and the Redefinition of Ethnicity. In: J.
A. Costa; G. J. Bamossy (eds). Marketing in a mul-
ticultural world. Ethnicity, nationalism, and cultu-
ral identity. Thousand Oaks; SAGE Pubi., S.
68-104.
172
Buchbesprechungen Allgemein
Dux, G.
1978 Rechtssoziologie. Eine Einführung. Stuttgart.
Griggs, R.
1992 The meaning of Nation and State in the Fourth
World. A Publication of the Center for World Indi-
genous Studies. Occasional Paper 18.
Welsch, W.
1995 Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und
das Konzept der transversalen Vernunft. Frank-
furt; Suhrkamp.
Paul Drechsel
Hauschild, Thomas (Hrsg.);
Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im
Dritten Reich. Frankfurt a. M., Suhrkamp
1995, 223 Seiten.
Schon aus Mangel an geeigneten Studien erwies sich bis-
lang der Versuch, die deutsche Ethnologie im Faschismus
in Einführungsveranstaltungen zu thematisieren, als Pro-
blem. Nach Hans Fischers »Völkerkunde im Nationalso-
zialismus« liegen nun weitere Arbeiten zur Wiedereinset-
zung des kollektiven Gedächtnisses der Ethnologen vor.
Die meisten der hier versammelten neun Beiträge zeigen,
daß es nicht länger um die Suche nach Erklärungen wie
Opportunismus, persönlichen Meinungen oder der ver-
meintlichen »Wirkungslosigkeit« ethnologischen Schrei-
bens geht, sondern um Widersprüchlichkeiten und die
Unmöglichkeit, das Verständnis der deutschen Ethnologie
im Nationalsozialismus auf starre Gegensätze zu reduzie-
ren. Der Titel spielt auf eine Ambivalenz möglicher Hal-
tungen an, die sich in stereotypen Gegenüberstellungen von
Rationalität/Irrationalität, Täter/Opfer oder Mitläufer/
Emigrant nicht erschöpfend behandeln lassen. So geht es
den Autorinnen und Autoren auch nicht um neue Schuld-
zuweisungen; vielmehr ist eine Art »Traumdeutung« beab-
sichtigt, die im Leser ein kathartisches »Nacherleben«
bewirken soll (Hauschild, S. 53).
Thomas Hauschild entwickelt zunächst einen übergreifen-
den thematischen Bezug, in den sich die folgenden Einzel-
beiträge einfügen. Die Aktualität der Beschäftigung mit
der Ethnologie im Nationalsozialismus ergibt sich aus der
Wiederkehr des Verdrängten bzw. in Affinitäten des jeweili-
gen in den 30er und 90er Jahren sich äußernden Zeitgeistes.
Themen der 90er Jahre wie Identität. Suche nach Ursprün-
gen und Körper (u. a. Körpertherapien, Fitness-Training)
waren auch in den 30ern von zentraler Bedeutung. Nach
Hauschild waren es oft nur Nuancen, die rassistische Hal-
tungen von anderen unterschieden. So ging es beispiels-
weise bei Wilhelm Reich um die Entfaltung des Lustpoten-
tials des »eigenen« Körpers, während es H. F. K. Günther
auf Identifikation, Zucht und Auswahl des »anderen« Kör-
pers ankam. Die Ethnologie erwies sich in diesem Kontext
als hilfreich, indem sie wissenschaftliche Begründungen für
die Auswahl der zu vernichtenden Körper lieferte.
Die im Titel angesprochene »Lebenslust« wird etwa von
Frobenius personifiziert, dessen Handlungen Sibylle Ehl
gleichzeitig auf gesellschaftspolitische Verankerungen und
persönliche Momente hin befragt. Gerade als einem aus
dem Rahmen fallenden Repräsentanten des Exotischen war
es Frobenius möglich, finanzielle Ressourcen für sich nutz-
bar zu machen und berufliche Perspektiven zu eröffnen, die
anderen Aspiranten verschlossen blieben. So werden denn
auch Art und Ausmaß seines Erfolges vom männlichen Zei-
chen des Genusses schlechthin repräsentiert: der »Frobe-
nius-Zigarre«, die ein Frankfurter Feinkostgeschäft nach
dem publikumswirksamen Völkerkundler benannte (Ehl.
S. 136). Ohne Frobenius auf seine rassistischen Äußerun-
gen zu reduzieren, kommt es Ehl darauf an, zu zeigen, daß
selbige Rassismen, Sexismen und Anti-Semitismen noch
immer virulent sind.
Die Kehrseite der Lebenslust, geäußert als Vernichtungs-
wille, wird von Reinhard Greve in einem Beitrag über
»Tibetforschung im SS-Ahncnerbe« behandelt. Nach einer
überwiegend personenzentriert und ideengeschichtlich aus-
gerichteten Behandlung des Themas erfährt man hier end-
lich einmal etwas über die Forschungspraxis im Dritten
Reich. Greve beschreibt den Gang des unter Himmlers
Schirmherrschaft durchgeführten interdisziplinären Tibet-
Forschungsprojektes und seinen Verzweigungen in »Pro-
jekt K.«, dessen Gegenstand der Kaukasus und innerasiati-
sche Rassen waren. Diese Forschungen standen allesamt
im Zeichen der erwarteten siegreichen Feldzüge und Erobe-
rungen der deutschen Wehrmacht in Asien; es ging darum,
vorbereitet zu sein auf den Tag, an die »nahen«, »verwand-
ten«, »nordischen« Rassen von den »lebensunwerten« zu
unterscheiden wären.
Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Theorienbildung
werden in Aufsätzen von Doris Beyer und Bernhard Streck
thematisiert. Beyer verweist auf den Ideenfluß von Rasse
und Nation im Kontext zeitgenössischer wissenschaftlicher
Diskurse, woraus sich aber nicht schließen läßt, daß alle
Sprecher zwangsläufig auch nationalsozialistische Ziele
verfolgten. Erst die im Gegensatz zu einer bürgerlich kon-
struierten generative Ethik mit Schwerpunkt auf der rassi-
schen »Zuchtgemeinschaft« verweist auf die spezifische
Rationalität des Nationalsozialismus. An dieser Stelle ver-
mißt man einen Hinweis auf die Arbeit Zygmunt Baumans
zum Holocaust, in der die scheinbare Irrationalität des
deutschen Nationalsozialismus (die »barbarische Judenver-
nichtung«) vielmehr als eine zur Perfektion gesteigerte
Rationalität der Moderne erkennbar wird. Es wäre interes-
sant gewesen zu erfahren, wie der ethnologische Diskurs
jener Zeit dieses Spannungsfeld von Rationalität und Irra-
tionalität reflektierte. Solche und ähnliche Fragen verfolgt
dagegen Bernhard Streck in seinem vergleichenden Beitrag
zweier wissenschaftlicher Institute in Frankfurt; zum einen
das von Horkheimer und Adorno gegründete »Institut für
Sozialwissenschaften« (das »rationale Institut«) und das
völkerkundliche »Frobenius-Institut« (das »irrationale
Institut«), Über alle Gegensätzlichkeiten hinweg erkennt
Streck hier erstaunliche Ähnlichkeiten in der Auffassung
von Kultur, die sich am Begriff der Gestalt festmachen.
Nach Streck befinden sich der kulturmorphologische
Ansatz und die Theorie der Entfremdung in einem komple-
mentären Verhältnis, was sich aus der Notwendigkeit, Ant-
worten auf die besonderen »Schockerlebnisse des 20. Jahr-
hunderts« finden zu müssen, erklären ließe.
Mit der ideengeschichtlichen Vorgeschichte der Ethnologie im
Nationalsozialismus befaßt sich Fritz Kramer im Rahmen
einer Kritik des Begriffs der Einfühlung. Ute Michel dekon-
struiert das Bild von Wilhelm E. Mühlmann als »inneren Emi-
granten« mit »innovativen Forschungsideen«. Michael Preuß
behandelt die Rolle des Museums im Kontext der nationalso-
zialistischen Kolonialpolitik. Der Band schließt mit einer von
Berthold Riese zusammengetragenen (noch unvollständigen)
Liste von verfolgten und emigrierten Ethnologen.
Dieser im ganzen gut recherchierte und durchaus neue Per-
spektiven eröffnende Sammelband hätte durch ein Nach-
173
TRIBUS 45, 1996
wort, in dein die vorgestellten Ergebnisse mit internationa-
len Forschungen zur deutschen Ethnologie im Nationalso-
zialismus in Bezug gesetzt werden, noch gewinnen können.
Wie verhält es sich beispielsweise mit der von Robert Pro-
dor vorgetragenen These, daß die deutsche Ethnologie
nach dem Zusammenbruch des kolonialen Systems (die
»Koloniallüge« im nationalsozialistischen Sprachge-
brauch) ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf den »inneren
Anderen« richtete und dabei einer »therapeutischen Logik«
folgte, die die deutsche Rasse von »inneren Feinden« heilen
sollte? Diese Sicht führt weiter zu der von Conte und Esser
geäußerten Kritik an einer Vorgehensweise, die sich
hauptsächlich auf individuelle Personen konzentriert und
dabei das Studium der Geschichte des ethnologischen Den-
kens (und zwar nicht allein des deutschen) mit ihren zarten
Paradigmenwechseln aus dem Auge verliert. Eine solche
Einbindung in eine nicht nur hierzulande relevante Diskus-
sion hätte sich im Zeitalter einer de facto transnational
gewordene Ethnologie angeboten.
Literatur:
Baumann, Zygmunt
1992: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der
Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Conte, Eduard und Esser, Cornelia
1994; Völkerkunde et nazisme, ou l’ethnologie sous l’em-
pire des raciologues. In: L’Homme 129, XXXIV:
147-173.
Fischer, Hans
1990: Völkerkunde im Nationalsozialismus, Aspekte der
Anpassung, Affinität und Behauptung einer wis-
senschaftlichen Disziplin. Berlin: Dietrich Reimer
Verlag.
Proctor, Robert
1988; »From Anthropology to Rassenkunde in the Ger-
man Anthropological Tradition.« In: George W.
Stocking (ed.) Bones, Bodies, Behavior. Essays on
Biological Anthropology. Madison: The Univer-
sity of Wisconsin Press.
Helene Basu
Johanson, Donald / Shreeve, James:
Lucys Kind - Auf der Suche nach den ersten
Menschen. Aus dem Amerikanischen von
Hainer Kober (Original; Lucy’s Child - The
Discovery of a Human Ancestor, New York
1989). München - Zürich; Piper, 1992. 412
Seiten, 3 Karten, 1 Zeitleiste, 39 SW-Abbil-
dungen, 16 Farbtafeln.
Mit Blick auf den Bestseller »Lucy - Die Anfänge der
Menschheit« von Donald Johanson mit Maitland Edey
(München 1982) haben die beiden Autoren versucht, an
dem literarischen Erfolg, den die 1974 in der Hadar-
Region, Äthiopien, gefundene Australopithecinen-Frau
brachte, anzuknüpfen. Die Idee zu vorliegender Publika-
tion geht auf den Wissenschaftspublizisten Shreeve zurück,
der dem Expeditionsteam Johansons gerade zur Zeit der
Auffindung von »Lucys Kind« 1986 in der Olduvai-
Schlucht, Tansania, einen Besuch abstattete. Dieser Ver-
such erscheint trotz der Titelwahl mit Lucy - wenn nur der
Fund des »Kindes« selbst betrachtet wird - nicht gelungen
zu sein, sowohl was Quantität als auch Qualität der Ske-
lettreste anbelangt. Die Bedeutung des Buches »Lucys
Kind« liegt weniger in dem Fund des (ebenfalls weiblichen)
Homo habilis, der vor rund zwei Millionen Jahren lebte,
sondern in der Darstellung des paläoanthroplogischen und
paläontologischen Umfeldes, das Johanson mit zahlreichen
persönlichen Einblicken in sein Forscherdasein und Schilde-
rung der Archäologenpsyche verbindet. Weiter gewährt das
Werk teils generelle, teils detaillierte Erkenntnisse über die
archäologischen Gegebenheiten in Ostafrika sowie die oft
mit harten Bandagen ausgetragene Konkurrenz unter den
Forschenden mit ihren teilweise extrovertierten Persönlich-
keiten. So ist eine geraffte Forschungsgeschichte nicht nur
Ostafrikas mit Insider-Angaben über die Leakeys und
»ihre« Schlucht Olduvai (im ostafrikanischen Graben), wei-
terhin eine Zusammenfassung der neueren Kenntnisse über
die Evolution des Menschen und auch Nachdenkenswertes
über die Relativität paläoanthropologischer Forschungser-
gebnisse entstanden. Zugleich erfährt der Leser etliches
über das harte bürokratische Geschäft der Archäologen.
Die im Buchtitel angesprochene »Verwandtschaft« Lucys
(als Mutter) mit »ihrem Kind« weist auf die Zeitspanne
hin, die zwischen ihr als einem Australopithecus afarensis
vor ca. vier Millionen Jahren und dem Neufund eines
Homo habilis liegen, nämlich zwei Millionen Jahre. Ein
hochbrisantes Ergebnis wird auf den Seiten 276 bis 278
sozusagen nebenbei präsentiert; Wegen der viel zu kurzen
Spanne zwischen Homo habilis und Homo erectus (Johan-
son gibt 200.000 Jahre an; wahrscheinlich muß eine noch
kürzere Periode angesetzt werden) kann ersterer nicht Vor-
fahre des letzteren gewesen sein. Die Evolutionszeit ist ein-
fach nicht ausreichend, um die gesicherten körperlichen
Unterschiede zwischen den beiden Hominiden zu gewähr-
leisten. Homo erectus muß andere Wurzeln haben. Somit
will auch die Zeichnung auf Seite 8 »Zeitleiste der Homi-
nidenevolution« nicht in das neuere Bild über die menschli-
che Evolution passen. Die Verwendung dieser Abbildung
haben die Autoren allerdings nicht zu verantworten, da sie
13 Jahre vor Erscheinen des vorliegenden Buches publiziert
wurde (Richard Hay: Geology of Olduvai Gorge, Berkeley
1976). Leider ziehen nach wie vor zu wenige Verlage Sach-
kenner bei der Beurteilung wissenschaftlicher Bucherschei-
nungen hinzu, wie auch im vorliegenden Fall manch falsch
übersetzter Fachausdruck aus dem Englischen/Amerikani-
schen zeigt.
Zur Entstehung des Menschen oder genauer - des
Menschseins gibt es zahlreiche Theorien und Hypothesen.
Die auf den Seiten 300 ff' vorgestellte, auf der menschlichen
Nahrungsteilung beruhend, wobei Glynn Isaac in den Vor-
dergrund gestellt wird, hat etliche Mängel. So ist die Ange-
wohnheit, seine Nahrung mit jemandem aus der Gruppe zu
teilen, in keiner Weise auf den Menschen beschränkt. Glei-
ches läßt sich über die Weitergabe des Wissens über Nah-
rungsvorkommen sagen sowie über Gefühle gegenseitiger
Verpflichtung (301). Selbstverständlich sind dies bedeut-
same Elemente des Menschseins, doch auch des Mensch-
werdens? Wie sind diese Charakteristika des Menschen ent-
standen? Außerdem gibt es zahllose weitere Faktoren, die
den Menschen zum Menschen machen (und machten).
»Lucys Kind« schließt mit einem kleinen Literaturver-
zeichnis englischsprachiger Titel und einem ausführliche-
ren Register, durch das diese Publikation nicht nur eine ein-
malige Lektüre bleiben wird, sondern auch als handliches
Nachschlagewerk seinen Wert für eine nähere Zukunft
behalten dürfte.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Allgemein
Kraft, Ingo;
Studien zur Kultur und Umwelt im Mittelplei-
stozän Europas. Universitätsforschungen zur
prähistorischen Archäologie, Bd. 24. Seminar
für Ur- und Frühgeschichte der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster. Bonn: Dr.
Rudolf Habelt, 1994. 186 Seiten, 22 Karten
und Zeichnungen.
ln seiner Einführung weist Kraft auf die Interpretationen
hin, die zur Erklärung der Verschiedenheit/Gleichheit
menschlicher Erzeugnisse von teils gegensätzlichen, teils
mehr oder weniger übereinstimmenden Wissenschaftsrich-
tungen herangezogen werden. Diese »Ansätze« bilden den
weiten Rahmen der Arbeit. Folgerichtig legt der Verfasser
Wert auf die Erstellung eines chronologischen Gerüstes, in
das er die herangezogenen Fundstellen »einzuhängen« ver-
sucht. Daß hier kein endgültiges Ergebnis herauskommen
kann, liegt nicht am Autor, sondern an den auch in opti-
malen Stationen gegebenen meist mißlichen Befunden.
Ehrlich und begrüßenswert ist der Verweis von Kraft dar-
auf, daß das Arbeiten mit den heute in vieler Munde
geführten »ökologischen Grundbedingungen« überhaupt
nichts Neues ist, daß diese vielmehr bereits vor 70 bis 80
Jahren von etlichen Urgeschichtsforschern erkannt und
methodisch genutzt wurden.
Nach der Einführung erläutert der Verfasser zunächst den
neuesten Forschungsstand (unter Einbeziehung der jünge-
ren Forschungsgeschichte) zur pleistozänen Gliederung,
der sich tendenziell von der klassischen Vierteilung durch
Penck und Brückner in Richtung einer vielfältigen Auftei-
lung des Eiszeitalters zu verschieben scheint, was sich ja in
dem seit langem bestehenden, feingliedrigen Schema unter
Einschaltung der unterschiedlichsten Interstadiale bereits
anzeigte. Mit der Feststellung, daß die derzeitigen Kennt-
nisse, trotz beeindruckender Wissensfülle, noch immer
unbefriedigend sind, geht Kraft zur Erläuterung der Fund-
stellen über (Abschnitte 111 bis IX), die in das europäische
Mittelpleistozän gestellt werden und im Mittelpunkt der
Arbeit stehen.
Jedes dieser nachfolgenden Kapitel wird in Stratigraphie,
Chronologie, Klima, Flora, Fauna, Umwelt, Funde und
Befunde sowie zum Teil Wertung der Fundinventare unter-
teilt. Behandelt werden Bilzingsleben (Deutschland), Terra
Amata (Frankreich), Torralba sowie Aridos 1 und 2 (beide
Spanien), Prezletice (Tschechische Republik), Vertesszölös
(Ungarn) und Isernia La Pineta (Italien). Im Anschluß an
die vorgestellten Fundplätze gibt der Verfasser eine tabella-
rische »Übersicht und Einschätzung«, in der er insbeson-
dere die stratigraphischen Gegebenheiten, die Fundstücke
und Umweltbedingungen kurz zusammenfaßt.
Im folgenden XL Abschnitt versucht Kraft, die behandel-
ten Fundstellen nach Typen zu kategorisieren. In Frage
kommen: Steinschlagplatz (»Atelier«), Beuteplatz, Jagdla-
ger und Lagerplatz (kurz- und langfristig). Anhand rezen-
ter Jäger/Sammlergruppen weist er auf die Schwierigkeiten
und möglichen Fehlinterpretationen hin, die ethnoarchäo-
logische Analogien in sich bergen. Bei allen Aspekten eth-
nologisch-prähistorischer Vergleiche (der Begriff »ethnolo-
gische Parallelen« ist überholt) muß bedacht werden, daß
immaterielle Hintergrundinformationen in den seltensten
Fällen erwartet werden können. Doch genügt es nicht
schon, im angeführten Beispiel (101) die sogenannten »love
camps« der Nunamiut Alaskas, die ja nun tatsächlich
(wenn auch spezielle) Jagdlager waren, überhaupt zum Ver-
gleich zur Verfügung zu haben? Es wäre sicherlich verfehlt,
mit dem Rüstzeug heutiger ungemein detaillierter Kennt-
nisse über einzelne Jäger/Sammlergesellschaften darauf zu
verweisen, daß die Ethnoarchäologie (im Sinne eines eth-
nologisch-prähistorischen Vergleichs) der Archäologie
nichts zu bieten hätte. Und wenn es lediglich die »allge-
meingültigen Grundmuster menschlichen Zusammenle-
bens« (103) und die »allgemeineren Aussagen« (104) sind,
die im Vergleich zur Verfügung stehen, so ist doch damit
bereits etliches gewonnen.
Wie oben kurz gesagt, stellt der Verfasser insgesamt vier
Typen von Fundstellen vor, mit Unterteilung in a und b der
Typen 2 und 3, wobei er voraussetzl, daß »die Horizonte
relativ ungestörte archäologische Einheiten« bilden. Wei-
terhin lehnt sich Kraft bei seinen Darlegungen an die in der
angloamerikanischen Forschung weitverbreiteten, jedoch
nicht unumstrittenen »pattem« als Idealtypen an, die er als
Vergesellschaftungsmuster von Funden angibt (104). Typ 1
ist hier der Schlagplatz an oder in der Nähe des Rohstoff-
vorkommens (Beispiel Markkleeberg); Typ 2a der Beute-
platz (Beispiele Aridos 2, Torralba B 4a, 1, Lehringen, Gro-
bem) mit größeren Körperpartien der Jagdbeute im anato-
mischen Verband. Meist kann dieser Typ nur schwer vom
Typ 2b (Mischung aus Zerlegung am Beuteplatz und Jagd-
lager) unterschieden werden. Typ 3a ist das langfristige
Lager (Wohnplatz oder - nach Rust - »Standquartier«) mit
Arealen verschiedener Tätigkeiten, wie Werkzeugherstel-
lung, Zubereitung der Nahrung am Feuer u.a. (Beispiele
Bilzingsleben und Vertesszölös 1, 1). Mit Typ 3b wird das
kurzfristige Lager gekennzeichnet (Beispiel Prezletice). Typ
4 schließlich ist der (meist) kurzfristige Sammelplatz. Er
weist daher kaum aussagefähiges Fundmaterial auf (zum
Beispiel nur wenige untypische Artefakte). Als Beispiel
nennt der Autor Miesenheim I.
Im Anschluß an die Charakterisierung der einzelnen Typen
weist Kraft darauf hin, daß die Unterscheidung und
Abgrenzung zwischen real vorliegenden Fundstellen und
damit die Festlegung auf bestimmte Typen schwierig ist.
Vor allem das Problem der »Überprägungen« ist gravie-
rend. Detailliert legt er die Schwierigkeiten einer Zuord-
nung der Befunde zu den jeweiligen Typen dar. Nach diesen
Erläuterungen wendet sich der Verfasser ausführlicher als
an früherer Stelle der Analogie und Ethno-Archäologie zu.
Er gibt zunächst einen gerafften Überblick über den derzei-
tigen Forschungsstand mit Rückblicken auf die Wissen-
schaftsgeschichte. Mit großem Arbeitsaufwand und Enthu-
siasmus geht er den hier existierenden Problemen nach.
Hcrausgekommen ist eine sehr gute Zusammenfassung der
unterschiedlichen Ansichten, Verfahrensweisen und
Lösungsvorschläge, die besonders auch durch ihre Litera-
turangaben besticht.
Bei der Diskussion um Analogieschlüsse zu Gruppen-
größen und Sozialisationsformen von rezenten Ethnien im
Vergleich zu jenen im Paläolithikum soll hier angemerkt
werden, daß bei allen diesen Überlegungen von den jeweili-
gen wirtschaftlichen Grundlagen, das heißt den verfügba-
ren regionalen oder sogar lokalen Nahrungsressourcen
ausgegangen werden muß. Stimmt hier das »Umfeld«, so
sind auch »composite bands«, wie bei den angeführten
Fundplätzen von Bilzingsleben, Vertesszölös und Isernia,
nicht auszuschließen. Außerdem sei angeführt, daß alle in
der Völkerkunde verwendeten Begriffe, mit denen ethni-
sche Gruppen definiert werden, idealtypischen Charakter
haben. Selbst mit den ausgefeiltesten Methoden, auch nicht
in 100 oder 200 Jahren, wird es gelingen, einen archäologi-
schen Befund mit einer ethnologisch exakt bestimmten,
rezenten Lokalgruppe beispielsweise im Nordamerika des
175
TRIBUS 45, 1996
ausgehenden 18. Jahrhunderts soziologisch zu korrelieren.
Innerhalb der Ethno-Archäologie beschäftigt sich Kraft in
seiner vorliegenden Arbeit besonders mit der Stellung des
Aktualismus. Doch ob »aktualistisches Erklärungsprinzip«
oder »evolutionstheoretische Erklärungsmuster« - der
Kultur (im weitesten Sinne) des mittelpleistozänen Men-
schen kommt die Forschung so nicht näher. (Bei der Gele-
genheit: Vorsicht bei der Übernahme von Soziologenchine-
sisch aus anderen Disziplinen.) Kraft gibt das auch zu,
möchte jedoch die hier besonders zutage tretenden Pro-
bleme nicht einfach übergehen und stellt An- und Einsich-
ten über »Kultur« vor, vorgebracht vor allem von Prähisto-
rikern der jüngeren Vergangenheit. Diese Erklärungs-
ansätze machen offenbar, wie wichtig ein Zusammenwir-
ken von Ethnologen und Archäologen ist, nicht nur auf
dem hier behandelten Gebiet. So zeigt auch der folgende
Exkurs »Anomalie und Urgeschichte?« - den »Kulturüber-
legungen« zuzurechnen -, daß die archäologische For-
schung aus einer Einbeziehung ethnologischer und psycho-
logischer Bereiche Nützliches zu erwarten hätte. Fazit: Es
bleibt viel zu tun.
Auf der Grundlage der heutigen Forschungssituation stellt
Kraft im abschließenden Kapitel die größeren mittelplei-
stozänen. gut dokumentierten Fundstellen tabellarisch in
einem Chronologieschema zusammen, gegliedert in Nord-,
Mittel- und Süd-Europa. Auf den folgenden Seiten kommt
er zu dem Schluß, daß - bedingt durch die unzureichende
Fundsituation »die Erarbeitung einer Besiedelungsge-
schichte ... als nicht möglich erscheint« (138). Auch die
Artefakte selbst, insbesondere der Faustkeil, dessen Proble-
matik Kraft ausführlich darlegt, lassen keinen Schluß auf
»spezifisch räumlich und/oder zeitlich gebundene Stil-Tra-
ditionen« (141) im Mittelpleistozän zu. Zur beschriebenen
Einwanderung nach Europa aus Ost- und/oder West-
Afrika ist anzufügen, daß sie sicherlich über zahlreiche
Generationen vonstatten ging. Die in der vom Autor vorge-
stellten Literatur angegebenen Gründe für »Krisensituatio-
nen« der Neuankömmlinge in Europa greifen so (fremdar-
tige Umwelt) aus diesem Grunde nicht.
Zum Schluß setzt sich Kraft kritisch mit dem Begriff
Adaptation auseinander, wie er bei den Erklärungsversu-
chen zur mittelpleistozänen menschlichen Daseinsgestal-
tung verwendet wird. Er beendet seine Ausführungen mit
dem Hinweis, daß sich trotz aller rudimentärer archäologi-
scher Spuren, die eine Beurteilung des Mittelpleistozäns so
erschweren, mit diesen frühen Menschen, den Archanthro-
pinen, nicht eine »größere Primitivität gegenüber jüngeren
Paläolithikern« (150) verbindet.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis und 22 Abbildungen
(Karten und Zeichnungen) beschließen den Band, der über
den derzeitigen Kenntnisstand in einem wesentlichen
Bereich der urgeschichtlichen Forschung detailliert unter-
richtet und eine fundierte Grundlage für weiterführende
Arbeiten ist.
Axel Schulze-Thulin
Marschall, Wolfgang (Hrsg.):
Klassiker der Kulturanthropologie (Unterti-
tel: Von Montaigne bis Margret Mead), Mün-
chen; C.H. Beck, 1990, 380 S., enthält neben
der Einleitung des Herausgebers Wolfgang
Marschall 13 Aufsätze von zum Teil interna-
tional bekannten Autoren. Alle Aufsätze sind,
bis auf jene von Erdheim und Koepping, in
Leben, Werk und Wirkung der behandelten
Personen aufgegliedert. Dadurch eignet sich
das Buch besonders auch als Nachschlage-
werk. Die Qualität dieses Sammelbandes
besteht neben der fachlichen Kompetenz auch
in der klaren und verständlichen Sprache der
Autoren, wodurch das Buch für Fachleute und
Laien interessant wird.
Der Band beginnt mit Mario Erdheim's »Anthropologische
Modelle des 16. Jahrhunderts«. Der Autor zeichnet in sei-
nem Aufsatz ein differenziertes Bild der Ethnologie des 16.
Jahrhunderts, indem er die anthropologischen Modelle von
Oviedo (1478-1557), Las Casas (1475-1566), Sahagun
(1499-1540) und Montaigne (1533-1592) darstellt. Fernan-
dez de Oviedo beispielsweise ist der Vertreter der von Erd-
heim als »legitimatorisches Modell« bezeichneten Rich-
tung, da er die Herrschaft der Spanier über die Indianer
legitimiert. Der Gegenspieler Oviedos ist Las Casas, der
entgegen den Interessen der Mächtigen sich für die Rechte
der Indianer einsetzt und dessen Modell Erdheim als das
‘idealisierende’ beschreibt. Erdheim weist nach, daß sowohl
bei Oviedo als auch bei Las Casas unbewußte Motive der
Motor ihrer Einstellungen sind, und daß beide Positionen
Ausdruck verschiedener politischer Strömungen der dama-
ligen Zeit waren. Oviedo, der, wenn auch nur für kurze
Zeit, für die Inquisition gearbeitet hat, setzt beispielsweise
die Indianer mit den Hexen gleich, indem er die gleiche
Diktion in ihrer Beschreibung benutzt, die zur Legitima-
tion der Verfolgung von Hexen diente. Erdheim schreibt
dazu: »Die Haltung gegenüber einer fremden Kultur ist
immer auch ein Spiegel der Haltung gegenüber den unter-
drückten Bereichen der eigenen Kultur. Es war dieselbe
Projektion von exzessiver Sexualität auf die Hexen, die
auch das Bild des Indianers bestimmte, und in beiden Fäl-
len wurde damit das Verfallensein an den Teufel erklärt.«
Nach Erdheim scheitert Oviedos Objektivitätsanspruch
auch an seiner Identifikation mit den Mächtigen. Obwohl
es Oviedo nicht verborgen geblieben sein konnte, wie sich
der Adel im eigenen Land benahm (die Bauern wurden
ausgepreßt und unterdrückt), nimmt er dies offensichtlich
nicht wahr, sondern überträgt die Situation der spanischen
Bauern auf die indianische Gesellschaft. Erdheim: »Oviedo
hebt an den indianischen Kulturen immer jene Momente
hervor, deren Abschaffung den Spaniern das Recht geben
sollte, über sie zu herrschen.« Bei Las Casas, der sich für
eine friedliche Evangelisation und Kolonisation einsetzte,
und die Würde und Menschlichkeit der Indianer in seinen
Schriften betont, weist Erdheim nach, daß er im Grunde
das Idealbild, das er von den spanischen Bauern hat, auf
die Indianer projiziert. Las Casas, der im Prinzip die Ver-
elendung der spanischen Bauern beseitigen wollte, scheitert
dann auch mit seinem Projekt, spanische Bauern statt Krie-
ger nach Amerika zu senden. Erdheim; »Las Casas ideali-
sierte die Indianer deshalb, weil nur diese »Idealindianer«
die Verwirklichung seiner ‘utopischen’ Pläne gestattet hät-
ten. Anders gesagt; Hinter dem idealisierten Indianer ver-
Buchbesprechungen Allgemein
steckt sich eigentlich der spanische Bauer mit seinen Pro-
blemen. Weil ‘die’ Indianer diese hätten lösen sollen, muß-
ten sie idealisiert werden. Nur durch die Idealisierung
konnte die Täuschung aufrecht erhalten werden, die India-
ner würden sich gegen das Eindringen der spanischen Bau-
ern nicht wehren.«
Der dritte anthropologische Ansatz ist der von Sahagün,
den Erdheim als den ‘verstehenden’ beschreibt. Sein Kon-
zept war es, mit den Betroffenen selbst zu sprechen, um
deren Standpunkt direkt zu erfahren. Er trieb linguistische
Studien, um die Sprache der Einheimischen zu verstehen.
Auch versuchte er, deren Sicht der Dinge zum Ausdruck zu
bringen, ohne europäische Maßstäbe anzulegen.
Den Ansatz von Michel de Montaigne beschreibt Erdheim
als den kulturrelativistischen Rückbezug auf die europä-
ische Kultur. Montaigne, der im Gegensatz zu den anderen,
seinen Fuß nie aus Europa heraussetzte, schuf, indem er die
neuen, außereuropäischen Erkenntnisse mit denen über
Europa verknüpfte, ein umfassenderes Menschenbild. Für
ihn war der Begriff Kultur mit Überflüssigkeit gepaart.
Während die Kultur Überflüssiges produziere, beruhe der
Naturzustand auf Gleichheit. Damit greift er dem kultur-
kritischen Konzept Rousseaus vor. Montaigne schafft es
auch, im Gegensatz zu Oviedo beispielsweise, seinen Blick
vor Grausamkeiten in der eigenen Kultur nicht abzuwen-
den. So hält er die Kannibalen für weniger barbarisch als
solche, die Menschen bei lebendigem Leib rösten würden,
und spielt damit auf die Hexenverbrennungen an. Erdheim
betont ganz folgerichtig die Stärke von Montaignes Kon-
zept, das zweifellos in der Selbstreflexion liegt, was sich
allerdings, wie wir wissen, nicht durchsetzt, da Descartes’
objektives System des Wissens in Form von Wissenschaften
allgemein angenommen wird. Erdheim zeigt aber auch
deutlich die Schwäche in Montaignes Konzept, die darin
liegt, daß er für seine Selbstreflexion, ebenso wie Rousseau,
den edlen Wilden als äußeren Bezugspunkt braucht, und
daß er weniger eine Systematik sondern eher eine Denk-
weise anbot, die erst durch die Entwicklung der amerikani-
schen Kulturanthropologie unter Boas vertieft wurde. Aber
auch den amerikanischen Kulturrelativisten unterstellt
Erdheim ein idealisierendes Konzept, das er mit der von
Margaret Meads Arbeit über samoanische Adoleszenten
begründet, die eine vom edlen Wilden ausgehende Kritik
an der Erziehung amerikanischer Eltern sei. Nach Erdheim
ist lediglich das von Freud entwickelte moderne Konzept
der Selbstreflexion von Wert, da jenes auf einen äußeren
Bezugspunkt verzichtet. Indem Freud sich auf das Unbe-
wußte bezieht, kann er auf moralische (der edle Wilde, der
viel besser ist als die Europäer) oder theologische (Augusti-
nus’ Selbstreflexion in Gott) Stützen verzichten und
dadurch zu umfassenderen Erkenntnissen gelangen.
Erdheim gelingt es in dem vorliegenden Aufsatz, die indivi-
duellen und gesellschaftlich abhängigen Komponenten der
einzelnen Positionen aufzudecken und so ihre jeweilige wis-
senschaftliche Validität bzw. Nichtvalidität unter Beweis zu
stellen. Er bedient sich dabei der ethnopsychoanalytischen
Methode, die sich hierbei als außerordentlich erkenntnis-
fördernd erweist und uns damit andere Wege der Betrach-
tung eröffnet.
Der zweite Aufsatz des Buches von Eberhard Berg widmet
sich Johann Gottfried Herder (1744-1803). Herder ver-
suchte, eine Gesamtschau des Menschlichen zu entfalten,
indem er menschliche Lebens- und Denkformen historisch
ordnete. Seine Überlegungen unterscheiden sich von den
französischen Naturphilosophen dadurch, daß er nicht die
historische Entwicklung als ein ständiges Fortschreiten in
der Vernunft betrachtet. Vielmehr versucht er Eigenwert
und Eigenständigkeit der verschiedenen Epochen und Kul-
turen herauszuarbeiten. Herder weist absolute Werte von
sich und betont die Gleichwertigkeit der Kulturen. Nach
Berg war die bereits in den Frühschriften Herders erkenn-
bare Einsicht in die Verschiedenheit von Zeitaltern und
Kulturen »ein Akt der Geburtshilfe der modernen Völker-
kunde«. Herder geht von einer Analogie menschlicher
Lebensalter, wie Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und
Greisenalter in bezug auf die Geschichte der Menschheit
aus, wobei jede einzelne Stufe durch ein Volk in einer
bestimmten geographischen Region repräsentiert wird.
Herders universalhistorisches Konzept folgt dem Zeitgeist,
nach dem von einem beständigen Fortschreiten von nie-
deren zu höheren Stufen ausgegangen wird. Ebenso wie
jede Kultur Wachstum und Blüte erreicht, wartet auf sie
auch der Verfall. Nach Berg erhielt Herder jene Idee von G.
B. Vico, was er in »Auch eine Philosophie der Geschichte
zur Bildung der Menschheit« einfließen ließ. Im Gegensatz
zu den meisten seiner Zeitgenossen lehnte Herder es ab, den
Wilden im Gegensatz zum Zivilisierten zu sehen, sondern
er plädierte vielmehr für die ‘Anerkennung der Menschheit
im Menschen unabhängig von Hautfarbe, Lebensweise
und Denkform. Dennoch zeigen viele seiner Beschreibun-
gen von Fremdkulturen deutlich eurozentristische Züge,
indem er z. B. die Menschheitsgeschichte als Stufengang
ansieht vom »Menschen der ans Thier grenzt« bis zum
»reinsten Genius im Menschenbilde«, wobei für ihn Aus-
tralier und Feuerländer zur ersten Stufe zählen.
Trotz seiner von Kant und Goethe zu Recht kritisierten
Systematik hat Herders Werk starken Einfluß auf spätere
Wissenschaftler wie Humboldt, Creutzer, Bachofen,
ebenso wie die völkerpsychologische Richtung von
Bastian, Wundt, Steinthal und Lazarus, bis hin zur ameri-
kanischen Kulturanthropologie um Boas, Mead und Bene-
dict genommen.
Von Dieter Heintze stammt der sehr lesenswerte Aufsatz
über Georg Förster (1754-1794). Heintze hat es verstan-
den, Georg Förster nicht nur in seiner Qualität als wissen-
schaftlichen Ethnographen darzustellen, sondern auch als
politischen Menschen, der versucht hat, seine freiheitlich-
demokratischen Ideen durch direktes politisches Engage-
ment in die Tat umzusetzen (was ihm allerdings nachhaltig
schadete). Heintze macht durch das Beispiel Försters auch
deutlich, daß das Interesse an wissenschaftlichen Werken
weniger durch Objektivität als durch die Suche nach dem
Zeitgeist oder politischer Einstellung und passenden Para-
digmen geprägt ist. Försters Ideen jedenfalls, das zeigt uns
der Aufsatz, haben trotz sich wandelndem Interesse bis
heute einen hohen Wert.
Der vierte, ebenfalls ganz ausgezeichnete Aufsatz stammt
von Burkard Ganzer und ist Lewis Henry Morgan
(1818-1881) gewidmet. Ganzer hebt neben der obligatori-
schen Kritik von Morgans theoretischem Ansatz in
»Ancient Society« auch dessen andere Seiten hervor, wie
etwa dessen Verdienst als Ethnograph, die durch die bis
heute unbestritten beste Abhandlung über die Irokesenge-
sellschaft (»League of Ho-de-no-san-nee«, 1851) doku-
mentiert ist. Er stellt auch klar, daß die evolutionistische
Tendenz der damaligen Kulturrevolutionisten bereits vor
Erscheinen von Darwins »Origin of Species« (1859) vor-
handen war. Außerdem verdeutlicht er die Unterschiede
des kulturrevolutionistischen Ansatzes Morgans im Ver-
gleich zu dem biologischen Darwins, der unter anderem in
der Auffassung von der Abstammung des Menschen liegt.
Im Gegensatz zu Darwin nahm Morgan an, daß der
Mensch als eigene Spezies geschaffen sei. Daraus folgt, daß
er sich auch nicht der zentralen These Darwins, der Selek-
177
TRIBUS 45, 1996
tion, bedient. Morgans ‘struggle for existence’ bezieht sich
deshalb lediglich auf den alltäglichen Kampf um den
Lebensunterhalt. Morgans theoretischer Ansatz ist heute
nur noch im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte relevant.
Der Aufsatz über den Begründer der institutionalisierten
Ethnologie in Deutschland, Adolf Bastian (1826-1905),
stammt von Annemarie Fiedermutz-Laun. Ihr gebührt vor
allem deshalb großes Lob, weil sie, wie nur wenige aus der
Zunft, es unternommen hat, die Fülle von Bastians Werk
anzugehen, und es ihr gelungen ist, die Grundzüge seiner
Theorie zu verdeutlichen.
Bastian geht von einer bei allen Menschen gleichen psychi-
schen Disposition aus. Ganz grundlegend dabei ist sein
Entwicklungsgedanke, mit dem er der Linearität des Kultu-
revolutionismus seiner Zeit entgegentritt. Er teilt die Kultu-
ren zwar in Geschichts- und Kulturvölker, Halbkulturen
(etwa die Hochkulturen Amerikas, Polynesier u. ä.) und
Naturvölker, räumt jedoch ein, daß sie alle aufgrund der
gemeinsamen psychischen Disposition zur Weiterentwick-
lung fähig seien. In seinem Konzept gibt es daher ein Auf
und Ab, und somit auch die Möglichkeit »der sekundären
Primitivität«.
Ein weiterer wichtiger Punkt in seinem theoretischen Kon-
zept ist die Lehre des Elementar- und Völkergedankens.
Während sich die Elementargedanken bei allen Völkern
äußern, bilden die Völkergedanken ganz spezielle Formen,
die nur bei bestimmten Gesellschaften auftreten. Bastian
geht es vor allem darum , die Universalien zu sehen und die
Variationen zu erklären. Dieser Ansatz mündet dann
schließlich in sein geographisch-historisches Konzept der
»geographischen Provinzen«. Die geographischen Provin-
zen bilden »gesetzlich umgrenzte Areale innerhalb welcher
das organische Leben unter einem charakteristischen
Typus erscheint«, wobei mit zunehmender Kulturhöhe
historische Tatsachen zur Abgrenzung von Ethnien wichti-
ger werden.
Nach Fiedermutz-Laun besteht ein Paradox darin, daß
Bastian zwar immer als Begründer der Völkerkunde zu
Ehren kam, seinem Werk gegenüber jedoch Distanz geübt
wurde. Seinen Publikationen eilte der Ruf voraus, es handle
sich um »wüste Materialmassen« von (zu Recht) mangel-
haftem Stil. Fiedermutz-Laun schreibt dazu: »Dies ...
wurde teilweise als Vorwand benutzt, um sich mit dem
Werk Bastians nicht auseinanderzusetzen. Beklagenswerter
aber ist, daß diese Schriften Bastians schon zu Lebzeiten
einigen Zeitgenossen gegenüber der Lächerlichkeit preisge-
geben und die eigentliche Aussage überdeckt haben.
Bleibt zu hoffen, daß die Autorin mit ihrem Beitrag eine
Anregung dafür geschaffen hat, sich stärker mit Bastians
Werk auseinanderzusetzen, und vorhandene Stilmängel
künftig kein Hindernis mehr in der Beurteilung wissen-
schaftlicher Werke sein werden ...
Der zweite Aufsatz Mario Erdheims thematisiert Sigmund
Freud (1856-1939) in seiner Eigenschaft als Kulturtheore-
tiker. Erdheim läßt deshalb bewußt den therapeutischen
Aspekt der Psychoanalyse außer acht, und konzentriert
sich auf den Mittelpunkt von Freuds Theorie, das Unbe-
wußte. Es hat nach Freud eine doppelte Funktion. »Im
ersten Falle ist das Unbewußte der Ort, der wie ein kosmi-
sches ‘schwarzes Loch’ alle Phantasien, Wünsche und
Wahrnehmungen aufschluckt, die das von der Gesellschaft
mitgeprägte Bewußtsein nicht zulassen darf, und im zwei-
ten Fall ist es der Ort, von dem die schöpferischen Impulse
ausgehen, die zur Schaffung neuer Welten führen.« Erd-
heim verweist auf die Parallelität von Ethnologie und Psy-
choanalyse, die beide die Erforschung des Fremden zum
Gegenstand haben. Freud selbst bezeichnete das Unbe-
wußte als »inneres Ausland«. Erdheim geht nicht nur auf
das Unbewußte bei Freud ein, sondern auch auf den
Aspekt der Macht, der sich seiner Auffassung nach wie ein
roter Faden durch seine Werke zieht. Insbesondere bei
Totem und Tabu versucht er die psychischen Mechanismen
zu ergründen, die Herrschaft möglich machen. In »Mas-
senpsychologie und ICH-Analyse« beschäftigt er sich mit
der institutionalisierten Macht am Beispiel von Kirche und
Militär und zeigt auf, daß ein Individuum in den Institutio-
nen regressiv gemacht wird. Der Führer setzt sich an die
Stelle des Über-Ichs und beeinflußt die Realitätswahrneh-
mung. Erdheim faßt zusammen: »Die Macht der Herr-
schaft übt ihre Wirkungen unter Einsatz des Unbewußten
aus, sie nützt die narzistischen, sadistischen, masochisti-
schen, die aggressiven ebenso wie die libidinösen Triebre-
gungen aus.«
Ein weiteres zentrales Thema Freuds, der Antagonismus
zwischen Familie und Gesellschaft, ist zwar von Erdheim
entsprechend dargestellt, hätte meiner Ansicht nach jedoch
noch einiger zusätzlicher Anmerkungen bedurft; daß z. B.
Freuds Ansatz insbesondere dann sehr deutlich wird, wenn
Familie und Gesellschaft rapidem gesellschaftlichem Wan-
del ausgesetzt sind, wie es Erdheim in anderen Publikatio-
nen gezeigt hat. Freuds Rolle als Kulturtheoretiker jeden-
falls, und damit die Psychoanalyse, das zeigt uns Erdheims
Aufsatz einmal mehr, darf im Namen des Erkenntnisinter-
esses auf keinen Fall ignoriert werden.
Von Helmut Straube stammt der Aufsatz über Leo Frobe-
nius (1873-1938). Straube ist es gut gelungen, sowohl die
Schwächen (Paideuma-Gedanke und die anfängliche Kul-
turkreislehre, die sich auf rein materielle Kulturerscheinun-
gen stützte) als auch die Stärken des Frobeniusschen Ansat-
zes herauszustellen. Frobenius’ persönliche Stärke lag nicht
zuletzt darin, daß er sich nicht scheute, Fehler zuzugeben
und seine Ansichten zu revidieren. So veränderte er sein
Konzept dahingehend, daß er später nicht nur eine mecha-
nische Zusammenstellung einzelner Kulturelemente auf
karthographischer Basis herstellte, sondern sich um eine
ganzheitliche Betrachtungsweise bemühte. Zudem benutzte
Frobenius später nur selten den Begriff Kulturkreis, viel-
mehr sprach er nur noch von Kulturen. Den Gedanken an
weit umspannende Kulturkreise hatte er aufgegeben. Nach
Straube sollte Frobenius an seiner Leistung als eine Person
gemessen werden, der das Fach einen immensen Fundus als
Forschungsmaterial zu verdanken hat.
Pierre Centlivre verdankt das Buch seinen Aufsatz über
Marcel Mauss (1872-1950). Centlivre zeichnet ein genaues
Bild von Mauss’ Werk und seiner Person. Er geht in seinem
Aufsatz auf Mauss’ theoretische Ansätze näher ein, indem
er z. B. Schriften über religiöse Phänomene erläutert (Essai
sur la nature et la fonction du sacrifice, Equisse d’une théo-
rie générale de la magie u.a.) sowie ein Unterkapitel, Mauss
wohl berühmtestem Werk, »L’essai sur le don« und ande-
ren zum Thema Verpflichtung zu geben und zu nehmen,
widmet, ln einem weiteren Unterkapitel erklärt der Autor
auch Mauss’ Begriffe von Gesellschaft und Zivilisation.
Obwohl Mauss zeitlebens nie eine Feldforschung unter-
nahm, sondern sein Wissen ausschließlich aus Büchern
gewann, hat er die Entwicklung der modernen europä-
ischen Ethnologie entscheidend mitgeprägt und bedeu-
tende Theoretiker wie Claude Levi-Strauss durch seine
Werke beeinflußt.
Der Beitrag von Klaus-Peter Koepping befaßt sich mit
Edward Sapir (1884-1939) und Benjamin Lee Whorf
(1897-1941). Koepping zeigt in seinem Aufsatz die Unter-
schiede in den theoretischen Ansätzen der beiden oft in
einem Atemzug genannten Wissenschaftler. Jene scheinbar
178
Buchbesprechungen Allgemein
symbiotische Verbindung geht vor allem darauf zurück,
daß Whorf nach dem Tode Sapirs dessen Hypothese des
linguistischen Relativitätsprinzips und des Einflusses der
Sprache auf das Denken veröffentlicht hat, wobei Koep-
ping daran erinnert, daß es sich hier lediglich um »Gedan-
kengänge des frühen Sapirs der Mitte der 20er Jahre und
auch nur auf solche der Sapirschen Linguistik, ohne dessen
große Beiträge zur allgemeinen Ethnologie und zur inter-
kulturellen Psychiatrie zu berücksichtigen«, handelt. So
macht Koepping denn auch mit Sapirs Ansätzen zur allge-
meinen Ethnologie bekannt. Daß er beispielsweise mit sei-
nen Arbeiten die Verflechtung von Psychologie und Ethno-
logie vorwegnahm, ebenso wie das Interesse am Studium
von Subkulturen. Gleichzeitig werden aber auch die Unter-
schiede zwischen Sapir und Whorf herausgearbeitet, wobei
Whorf vor allem auf der Ebene von Weltanschauungen
arbeitet, d. h. auf der Ebene der idealen ‘homogenen
Sprachgemeinschaft’, die aus den Strukturen der Sprache
ersichtlich werden. Sapir hingegen geht weiter und fordert,
daß zum Kulturverständnis nicht nur die in der Sprache
versteckten, sondern die realen, gelebten Verhältnisse
beachtet werden müssen: »Wir können nicht wirklich die
Dynamik von Kultur, Gesellschaft oder Geschichte richtig
verstehen, ohne früher oder später von der tatsächlichen
zwischenmenschlichen Beziehung Kenntnis zu nehmen.«
So zeigt er auch, daß Sprache, Rasse und Kultur nicht
unbedingt miteinander verbunden sind, und führt als
Beweis die Hupa, Karok und Yurok von Nordwestkalifor-
nien an, die trotz sehr ähnlicher Kultur völlig auseinander-
fallende Sprachen sprechen. Als teilweise widerlegt inter-
pretiert Koepping diese These von Whorf-Sapir, indem er
Bright und Bright anführt, die herausfanden, daß in der
Benennung der Bäume das semantische Bezugssystem
größere strukturelle Ähnlichkeiten aufweist als man anneh-
men könnte. Tatsache ist jedenfalls, das zeigt der Aufsatz
von Koepping, daß es sich lohnt, sich mit Sapir und Whorf
als eigenständige und, insbesondere in bezug auf Sapir, als
zu wenig beachtete Wissenschaftler zu beschäftigen.
Karl-Heinz Kohl würdigt in seinem Beitrag Bronislav Kas-
par Malinowski (1884-1942) als denjenigen, der die teil-
nehmende Beobachtung als festen methodischen Bestand-
teil in die ethnologische Forschung eingeführt hat. Ohne
sein wissenschaftlich theoretisches Konzept schmälern zu
wollen, zitiert Kohl zwar Panoff, der Malinowski als
»genialen Ethnographen und mittelmäßigen Theoretiker«
bezeichnet, sowie Malinowski selbst, der bekennt; »Den
wunderbaren Titel der Funktionalen Schule der Anthropo-
logie habe ich selbst in die Welt gesetzt, ich habe ihn mir
gewissermaßen selbst verliehen und er geht zu einem nicht
unerheblichen Teil auf meinen eigenen Sinn für Verantwor-
tungslosigkeit zurück«, um ihm gleichzeitig wieder seine
Verdienste zugute zu halten, etwa als Vorkämpfer eines
theoretischen Konzepts, der Evolutionismus und Diffusio-
nismus zu überwinden sucht. Kohl bescheinigt Malinowski
einerseits, ein Vorkämpfer gegen Rassismus zu sein, in einer
Zeit, in der Kolonialismus und Rassismus gewissermaßen
Hochkonjunktur hatten. Er unterstellt ihm andererseits
aber auch, daß aufgrund seiner paternalistischen Haltung
den Kolonisierten gegenüber sowohl seine Theorie als auch
seine Methode, deren Versuchen gegenüber ihre Geschichte
selbst in die Hand zu nehmen, versagt. Kohl zeichnet in sei-
nem Aufsatz ein durchaus ausgewogenes Bild Malinowskis,
indem er ihn bisweilen zu Recht vom Sockel wirft, ihm
gleichzeitig aber wieder hinaufhilft, indem er seinen Ver-
diensten den gebührenden Platz einräumt.
Von Johannes W. Raum stammt der Aufsatz über den Vater
der Kulturökologie Julian Haynes Steward. Steward, der
von Raum als der einflußreichste Kulturanthropologe der
USA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet
wird, verdankt die Ethnologie nicht nur das Konzept der
Kulturökologie, sondern er ist auch für seinen multilinea-
ren Evolutionismus bekannt. Von der Biologie (Steward
studierte Zoologie und Geologie) beeinflußt, unterscheidet
er kulturelle und biologische Evolution. Den unilinearen
Evolutionismus lehnt er ebenso ab wie den universalen, den
er als zu allgemein und daher als zu banal empfindet. Ste-
ward schreibt selbst: »Multilineare Evolution ist im wesent-
lichen eine Methodologie, die auf der Annahme beruht,
daß bedeutsame (significant) Regelmäßigkeiten im Kultur-
wandel Vorkommen. Sie beschäftigt sich mit Kulturgeset-
zen.« Wobei das hervorstechendste Problem für ihn in der
angemessenen Taxonomie der kulturellen Erscheinungen
liegt. Er hielt es daher für notwendig, sich mit klar definier-
ten Kulturtypen zu beschäftigen. Jene Kulturtypen stam-
men wiederum aus seinem Konzept der Kulturökologie,
mit dem er zeigen wollte, daß das menschliche Verhalten
nicht ausschließlich von der Kultur, sondern auch von den
Umweltbedingungen geprägt wird, genauer, daß »schöpfe-
rische Anpassungen an die Umwelt« sich wiederum auf die
Kultur niederschlagen. Raum; »So langsam der Wandel in
einer Kultur auch vor sich gegangen sein mag, Steward
wollte ihn immer auf Neuanpassungen zurückführen, die
Veränderungen in den technischen Mitteln und den Pro-
duktionsweisen nach sich ziehen.« Die Kulturtypen definie-
ren sich durch übereinstimmende Kulturkerne, die in ver-
schiedenen Arealen auftreten. So gehören für Steward
patrilineare Jagdscharen zum gleichen Kulturtyp, einerlei
aus welcher Umwelt sie entstammen, da sie Ȋhnliche funk-
tionale Beziehungen zwischen der Ausbeutung der Nah-
rungsmittelquellen, der Gebietsbeherrschung, der Gesell-
schafts- und Verwandtschaftsstruktur und den Ehefor-
men« haben.
Steward hat der amerikanischen Ethnologie unzweifelhaft
seinen Stempel aufgedrückt und beeinflußte daher nach-
haltig wenn auch mit gewissen Unterschieden - vor allem
die Arbeiten von Marshall D. Sahlins, Elman R. Service
und Marvin Harris. Raum vermittelt dem Leser auch, daß
Steward sich eine Anerkennung nicht nur durch neue Para-
digmen erarbeitet, sondern auch in der Revidierung alter
Lehrmeinungen angesichts neuer Forschung, statt auf sei-
nen einmal aufgestellten zu beharren.
Der Beitrag über Leslie Alvin White (1900-1975) stammt
von Christian E. Guksch. Guksch macht in seinem Aufsatz
vor allem die Position Whites deutlich, der sich als Evolu-
tionist sowohl gegen die Fachwelt als auch gegen die kon-
servative amerikanische Öffentlichkeit zur Wehr setzen
mußte. White, der von Lewis Binford als der »dragon-slayer
of Boasianism« bezeichnet wurde, hatte nicht nur die
damals etablierte Fachwelt gegen sich, da er gegen den Kul-
turrelativismus, den er als »plan-less hodge-podge«
bezeichnete, arbeitete. Er griff auch die Person Boas in
einer Art und Weise an, daß sich sogar die Befürworter sei-
ner theoretischen Konzepte gegen ihn wandten. Der ameri-
kanischen Öffentlichkeit waren seine Thesen offensichtlich
jedoch zu stark kommunistisch angehaucht, wohingegen
die Prawda ihn als ‘Bürgerlichen’ bezeichnete, dessen
Schlußfolgerungen jedoch interessant seien.
Hat Guksch die Konflikte um White sehr gut herausgear-
beitet, hätte er meiner Ansicht nach das theoretische Kon-
zept von White etwas stärker herausheben sollen. Insbe-
sondere den Unterschied zu Whites Konzept und dem von
Steward hätten einiger Worte mehr bedurft. Ebenso ver-
mißt man eine kritische Beleuchtung der von White über-
nommenen Prämissen des klassischen Evolutionismus
179
TRI BUS 45, 1996
sowie die Verwendung von Begriffen aus der physikalischen
Trickkiste, mit der man sicher einige Ethnologen verblüf-
fen, in jedem Fall aber mundtot machen kann, erweisen
sich doch viele Vertreter des Faches, bezogen auf ihre
Kenntnisse der Naturwissenschaften, als außerordentlich
abstinent. Ein Verdienst Whites jedenfalls ist es, und hier
stimme ich mit dem Autor überein, daß er Morgans Arbeit
als Feldforscher stärker in das Bewußtsein rückte.
Der letzte Aufsatz behandelt Margret Mead. Die Verfasse-
rin, Nora Vera Zanolli, zeichnet ein sehr einfühlsames Bild
der Person Meads, deren Leben mit ihrer Arbeit untrenn-
bar verbunden ist. Zanolli sieht klar, daß Margret Mead
nicht die bahnbrechende Theoretikerin ist, der das Fach ein
wichtiges Paradigma verdankt, sondern daß ihr Verdienst
vor allem darin zu sehen ist, daß sie ethnologische Themen
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Validität des
Fachs, die darin besteht, allgemeine menschliche Probleme
zu erhellen, unter Beweis stellt. Mead ging es daher immer
darum, mit Hilfe der Kulturanthropologie die brennenden
Fragen der Menschheit zu lösen. Dies läßt sich sicher zum
einen dadurch erklären, daß sie aus einem sehr aufgeklär-
ten und problembewußten Elternhaus stammte. Zudem
hatte sie in jüngeren Jahren den Wunsch in die Politik zu
gehen, was sie aber verwarf, da sie das unfaire Debattieren,
bei dem es nicht mehr um sachbezogene Dinge geht, son-
dern lediglich darum, wer gewinnt, ablehnte. Zanolli, die
aus ihrer Sympathie für Margret Mead kein Geheimnis
macht, versäumt es zwar nicht, auch deren Kritiker zu
Wort kommen zu lassen, sie erweist sich aber immer als
treue Verteidigerin Meads.
Mit den Klassikern der Kulturanthropologie ist ein guter
Beitrag zur Theoriengeschichte entstanden. Dennoch
erscheint die Auswahl, warum jemand als Klassiker zu deu-
ten ist, nicht immer eindeutig zu sein. Trotz der in der Ein-
leitung erfolgten Begründungen, und durch die Artikel, die
für sich selbst sprechen, bleibt unklar, warum z. B. ein Auf-
satz über Claude Levi-Strauß als der Vertreter des Struktu-
ralismus fehlt, während die amerikanische Social Anthro-
pology dagegen überproportional vertreten ist. Warum
also ein Aufsatz über White, und keinen über den bereits
erwähnten Claude Levi-Strauß oder einen der wichtigsten
Vertreter der strukturalistisch-funktionalen Methode der
britischen Social Anthropology? Sollten jene »Versäum-
nisse« in einem weiteren Sammelband nachgeholt werden,
so wäre es sehr zu begrüßen. Hochschullehrer und Studen-
ten werden es dem Herausgeber danken.
Ute I. Greifenstein
Pützstück, Lothar:
»Symphonie in Moll«. Julius Lips und die
Kölner Völkerkunde. (= Kulturen im Wandel,
herausgegeben von Adam Jones, Ulrich Kne-
felkamp und Stefan Seitz, Band 4). Pfaffen-
weiler: Centaurus 1995. ISSN 0943-0490. 403
Seiten, Register.
Die kritische Aufarbeitung der Geschichte der deutsch-
sprachigen Völkerkunde während des Dritten Reiches ist
seit Hans Fischers Studie von 1990 (Ethnologie im Natio-
nalsozialismus, Dietrich Reimer Verlag, Berlin) zum Lieb-
lingsthema forschungs-geschichtlicher Examensarbeiten
deutscher Ethnologen geworden. War Fischer in kluger
Selbstbescheidung mit regionalem Ansatz an das Thema
herangegangen und hatte es von Hamburg aus beleuchtet.
fanden sich in den folgenden Jahren auch Forscher, die den
Mut hatten, überregionale und nicht personenbezogene
Themen wie den Kolonialismus und NS-Institutionen dar-
zustellen. Diese Versuche scheitern jedoch meist an der
unbewältigbaren Breite der Fragestellung und blieben
daher zu oft sehr allgemein oder versteckten den Mangel
historischer Fakten hinter moralischen Urteilen. Am
fruchtbarsten und machbarsten ist zur Zeit immer noch, so
die Meinung der Rezensenten, der räumlich und bezüglich
der Personen überschaubare Ansatz, den Fischer vorge-
macht hat und den auch Pützstück für Köln befolgt. Aller-
dings ist der Titel des Buches zu eng formuliert. Pützstück
behandelt nämlich ausführlich und nahezu erschöpfend die
gesamte institutionelle Geschichte der Kölner Völkerkunde
von ihren Anfängen um 1890 (Gründung des Rauten-
strauch-Joest Museums) bis in die Zeit der Entnazifizie-
rung von Martin Heydrich, also bis etwa 1950.
Köln war in diesen 60 Jahren gewiß nicht das Zentrum der
deutschen Völkerkunde. Das Kölner Museum rangierte
stets hinter den Museen von Hamburg, Berlin, Leipzig und
Wien in der zweiten Reihe; und auch die universitäre Völ-
kerkunde mußte, was Institutionalisierungsgrad und Perso-
nalstärke betraf, hinter den genannten Städten zurückste-
hen, war doch die Kölner Universität erst 1919 wiederbe-
gründet worden; wenn auch an der Vorgängerinstitution,
der Handelshochschule, mit Franz Thorbecke (1875-1945)
ein Völkerkundler das Fach Geographie vertrat. Dennoch
hat Köln mit seinem ersten Museumsdirektor Willy Foy
(1873-1929) und dessen Assistenten und Nachfolger Fritz
Graebner (1877-1934) eine durchaus tonangebende Stel-
lung eingenommen. Dies herausgearbeitet zu haben und
minuziös mit Dokumenten zu belegen, ist ein hohes Ver-
dienst von Pützstück, denn das Wirken dieser Kollegen in
Köln wurde von der historiographischen Forschung bisher
kaum wahrgenommen. Ursache mag es sein, daß Foy wie
auch Graebner schon im besten Mannesalter durch Krank-
heit gezeichnet aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden
mußten.
Der titelgebende Julius Lips leitete nach diesem ersten
Höhepunkt (der zweite, in den Jahren seit 1970 liegt außer-
halb des zeitlichen Rahmens dieses Buches) den schnellen
Verfall der Kölner Völkerkunde ein. Sicher waren die
prekären Verhältnisse durch das vorzeitige Ausscheiden der
beiden Vorgänger von Lips als Museumsdirektoren und
Hochschullehrer eine Hypothek. Die Armut der Öffentli-
chen Hand in Deutschland als Folge des ersten Weltkrieges
war objektiv ausschlaggebend für den geringen Spielraum
zur Gestaltung einer öffentlich wirksamen und fachlich
anerkannten Völkerkunde in Köln. Mit den prekären Ver-
hältnissen einher gingen scharfe Konkurrenzkämpfe inner-
halb der deutschen Ethnologen, und sie taten ein Übriges,
die Arbeit für Lips nicht leicht zu machen. Gerechterweise
muß man sagen, daß Lips es nicht an fachlichen Aktivitä-
ten fehlen ließ, um das Museum in der Öffentlichkeit zu
präsentieren. Pützstück arbeitet jedoch noch einen bisher
durch die Hagiographie der Witwe des Julius Lips, Eva
Lips (1906-1988), und durch seine eigene Verfälschung sei-
nes Lebenslaufes verdeckten Aspekt heraus: Ein ganz
wesentlicher Faktor für den Niedergang war der streitsüch-
tige, unehrenhafte und opportunistische Charakter dieses
Mannes. Es gelang ihm, sich Feinde nicht nur bei seinen
engen Mitarbeitern (Martin Block und Paul Leser), son-
dern auch in der ganzen deutschsprachigen Ethnologie zu
machen, die ihn mit (heute in der Sache lächerlich anmu-
tenden) Prozessen überzog. Daß das nationalsozialistische
Köln seit 1933 dann kein mögliches Arbeitsfeld für den
(verdeckten) Sozialdemokraten Lips mehr sein konnte, lei-
Buchbesprechungen Allgemein
tete das schnelle Ende seiner Kölner Tätigkeit 1934 ein. Die
restlichen zehn Jahre nationalsozialistischer Herrschaft in
Köln vegetierte das Museum zunächst unter kommissari-
schen parteitreuen Leitern (Kurt Baumgarten, Andreas
Scheller) dahin und fand schließlich in Martin Heydrich
doch noch einen fachlich renommierten aber eben auch in
die nationalsozialistische Ideologie eingepaßten Leiter.
Schließlich erlaubten die Kriegsjahre keine effiziente For-
schung und Öffentlichkeitsarbeit in der schon früh durch
alliierte Bombardierungen geplagten Stadt Köln mehr.
Heydrichs letztlich erfolgreicher Versuch, nach dem Ende
der Naziherrschaft seine nationalsozialistische Vergangen-
heit zu beschönigen (»großer Fehler«, »innere Opposi-
tion«) und damit unter alliierter Besatzung und im bundes-
republikanischen Deutschland seine Museums- und Uni-
versitätskarriere nach kurzer Unterbrechung fortzusetzen,
wird von Pützstück leidenschaftslos dokumentiert und
dürfte ein typisches Beispiel deutscher Vergangenheitsbe-
wältigung in dieser Zeit darstellen, wie es ähnlich wohl
auch in Göttingen (Hans Plischke), München und Wien
(Hermann Baumann) und an anderen Standorten deut-
scher Völkerkunde geschah.
Wenn auch viele Episoden, die Pützstück mit Liebe zum
Detail und Sorgfalt in den Einzelheiten anschaulich berich-
tet, heute 100 oder 50 Jahre nach den Vorfällen nur noch
Staunen und Schmunzeln beim Leser hervorruft, so hat die
Abhandlung durch ihre vorbildlichen Nachweise von
Akten zum Zeitgeschehen einen bleibenden historiographi-
schen Wert und wird hoffentlich Standards setzen bei uns
Völkerkundlern in der Aufarbeitung unserer kurzen aber
bewegten Fachgeschichte. Nach Pützstücks Forschungen
dürfte auch ein Fauxpas, wie die Auszeichnung von Eva
Lips mit der Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesell-
schaft für Völkerkunde, die ihr 1988 gewissermaßen als
Rehabilitation für Verdienste und erlittene Verfolgung ihres
verstorbenen Mannes Julius Lips bei der Tagung in Köln
1987 verliehen wurde, nicht mehr möglich sein.
Berthold Riese
Roller, Franziska;
Hilfe als Herrschaft? Über den Umgang mit
Kranken in einer protestantischen Missions-
anstalt. (Studien und Materialien des Ludwig-
Uhland-Instituts der Universität Tübingen,
Band 15). Tübingen: Tübinger Vereinigung
für Volkskunde e.V, 1995. 149 Seiten.
Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, den eth-
nozentrischen Blick der kolonisierenden Mächte Europas
am Beispiel der von der Herrnhuter Brüdergemeinde gelei-
teten Leprastation Bethesda in Surinam (Niederländisch
Guinea) aufzuzeigen. Die Grundthese lautet, daß »inner-
halb der Kolonien die ‘Äußere Mission’ wesentlich dazu
beitrug, das Bild der kolonisierten Völker in Europa zu
konstruieren.« Das europäische Erziehungsmodell, das auf
die sogenannten Naturmenschen angewandt wurde, diente
neben der militärischen Unterwerfung der kulturellen
Beherrschung. Die Autorin stützt sich dabei auf Archivma-
terial, das schwerpunktmäßig den Zeitraum der Lepra-
station unter deutscher Führung in Betracht zieht
(1889-1928). Hauptquelle ist das monatlich in Deutsch-
land erscheinende Missionsblatt der Herrnhuter Brüderge-
meinde, das die deutsche Leserschaft von den Erfolgen der
missionarischen Arbeit in der Leprastation unterrichten
will. Die Mitteilungen stammen großenteils aus der Feder
der Missionsdirektion, die natürlich daran interessiert ist,
ihre Anstalt in einem möglichst positiven Licht erscheinen
zu lassen, zumal die finanziellen Zuwendungen vom positi-
ven Echo der Leserschaft mit abhängen. Wie die Autorin zu
Recht bemerkt, wird dadurch die Quellenlage einseitig, da
weder das mitarbeitende Personal (vor allem die deutschen
Diakonissen) noch die pflegebedürftigen kreolischen Insas-
sen zu Wort kommen können. Der Blick auf die Situation,
Kultur und Rasse der Insassen ist somit immer »von oben«
eingefärbt und daher der »weiße Blick«. Es läßt sich nur
vermuten, wie die Insassen in ihrer Situation sich gefühlt,
gedacht und reagiert haben.
Die Arbeit gliedert sich in 5 Kapitel. Das erste Kapitel gibt
einen Abriß der Geschichte und Geographie Surinams, der
Lepra und ihrer sozialen Konsequenzen in einer Kolonial-
gesellschaft sowie der Geschichte der Herrnhuter Brüder-
gemeinde und der Gründung der Leprastation Bethesda
(21-35). Im zweiten Kapitel wird die Anstalt Bethesda vor-
gestellt, wobei die räumliche und zeitliche Strukturierung
des Alltags, die Arbeit, die Hygiene, die medizinische
Behandlung, die Freizeit und die Disziplin zur Sprache
kommen (37-77). Das dritte Kapitel untersucht die Bezie-
hungen und Hierarchien, die sich aufgrund der Missions-
ideologie und der Kolonialherrschaft herausgebildet haben
und weitgehend vom beherrschenden Menschenbild des
kolonisierenden Europäers bestimmt sind (78-93). Die hier
involvierten Menschen werden im vierten Kapitel vorge-
stellt; die Missionare mit ihren Idealen und Konflikten, die
Diakonissen in ihrem Dienst, der an Aufopferung grenzt,
sowie die Insassen mit ihren Taktiken der Kollaboration
und Verweigerung (95-124). Ein letztes Kapitel vergleicht
Bethesda mit der in der Nachbarschaft liegenden staatli-
chen Anstalt Groot Chatilion, wodurch die religiös-pieti-
stisch geprägten Eigenheiten der Herrnhuter Mission deut-
licher zum Ausdruck kommen (125-132). Eingerahmt wer-
den diese Kapitel durch eine das Interpretationsmodell
»Herrschaft« festlegende Einleitung (9—19) und eine
Zusammenfassung der Ergebnisse (133-140). Literatur-
und Quellenangaben schließen sich an (141 149).
Die Abhandlung will keine objektive Geschichtsschreibung
anbieten, sondern eine Analyse des »weißen Blicks« der
Kolonialmission anhand der Herrnhuter sozialen Einrich-
tung Bethesda. Die theoretischen Grundlagen liefern dafür
Autoren wie Stuart Hall, Antonio Gransci (und nicht
Antonia G., S. 145!), Michael Foucault, Erving Goffman,
Birgit Rommelspacher und Michel de Certeau. Die Autorin
kommt dabei zu den Ergebnissen, daß Lepra (Morbus
Hansen) aufgrund ihrer (fast) ausschließlichen Verbreitung
in den Kolonien nicht relevant für die europäische Medizin
war und daher sowohl hinsichtlich ihrer Erforschung als
auch Behandlung sträflich vernachlässigt wurde; daß die
medizinische Betreuung den Vorstellungen der damals in
der Wissenschaft führenden Konstitutionalhygieniker
folgte und aufgrund der Indifferenz gegenüber der ärztli-
chen Behandlung der Experimentierfreudigkeit auswärti-
ger Ärzte keine Grenzen setzte; daß die Mission die staat-
lich verordnete Isolation der Kranken für eine intensivere
Missionierung nützte; daß durch die räumliche und zeitli-
che Ordnung der Anstalt eine höchst effiziente Kontrolle
der Insassen gewährleistet war, so daß man Bethesda als
»totale Institution« bezeichnen kann; daß das Elend des
physischen »Aussatzes« die Identifikation mit dem Leiden
Christi nahclegte und damit göttliche Auserwählung
bedeutete; daß die Hierarchie und Machtausübung in der
Anstalt den kolonial-bürgerlichen Maßstäben der Zeit ent-
181
TRIBUS 45, 1996
sprachen, die religiös verbrämt durch eine »Ideologie der
großen Familie«, die reale Machtausübung jeder sozialen
Kritik entzogen; daß vor allem die im Missionseinsatz sich
befindenden Frauen unter der patriarchalischen Macht-
struktur zu leiden hatten und oft genug daran körperlich
wie seelisch zerbrachen. Wohl gesteht die Autorin im
Schlußsatz zu, daß das Asyl als Alternative zur staatlichen
Einrichtung zumindest für die »bereits protestantisch
Sozialisierten« eine Aufwertung ihrer Person beinhaltete
und eine »humanere«, auch sinngebende Einrichtung dar-
stellte, andererseits betont sie aber, daß es sich als »eine wir-
kungsvollere und intensivere Form der Herrschaft als die
offensichtlicher repressiven Methoden der Kolonisatoren«
erwies (S. 139-140).
Damit hat die Autorin die im Titel noch als Frage formu-
lierte These eindeutig beantwortet: die von der Mission
angebotene Hilfe war koloniale Herrschaft, auch wenn
einige Aspekte menschlicher oder christlicher Nächsten-
liebe vorhanden waren. Ein solches Ergebnis ist wissen-
schaftlich gesehen sehr problematisch, vor allem wenn man
die Quellenlage der Arbeit und die Argumentationsweise
der Autorin betrachtet. Da die Quellen ein sehr einseitiges
Bild liefern, sind alle Rückschlüsse darüber hinaus wissen-
schaftlich nichts weiter als Vermutungen und Unterstellun-
gen. Die Argumentationsweise ist durchweg eindimensio-
nal, d. h. sie interpretiert alle vorliegenden Fakten aus-
schließlich unter dem Aspekt des kolonialen Menschenbil-
des (Rassismus, Dominanz, Erziehung zum wahren
Menschsein). So wird die europäische Medizin kritisiert,
sich vorsätzlich nicht um den Morbus Hansen gekümmert
zu haben, weil er eine Krankheit der Kolonien war, d. h.
weil von ihm minderwertige Menschen infiziert waren.
Diese Argumentation wird durch nichts in dieser Arbeit
begründet, und es ist kaum anzunehmen, daß ein ernsthaf-
ter Medizinhistoriker einer solchen Argumentation folgen
würde. Die Mission wird kritisiert, sich nicht um eine ärzt-
liche Behandlung gekümmert zu haben (woher auch sollte
sie diese Behandlung herbeigezaubert haben, wenn die
Medizin, s. o., nichts anbieten konnte?) und gleichzeitig
medizinischen Experimenten freien Lauf gelassen zu haben
(was sonst hätte die Medizin tun können, um der Krank-
heit Herr zu werden?). Das Lepraasyl wird als »totale Insti-
tution« mit Machttechnik der parzellierenden Disziplin«
definiert, wobei die Unterbringung in Einzelzimmern als
Kontrollmaßnahme über alle Lebensbereiche interpretiert
wird. Daß dies genauso gut umgekehrt interpretiert werden
kann, d. h. daß die Parzellierung dem einzelnen mehr Frei-
raum und weniger Kontrolle beschert, weiß der Rezensent,
der bereits 30 Jahre in einer »totalen Institution« lebt, aus
eigener Erfahrung zu belegen. Man könnte die Argumenta-
tionskritik beliebig fortsetzen. Das eigentlich Problemati-
sche an der Arbeit ist der einseitige »antiimperialistische
Blick« der Autorin. Er bezieht sich auf alles: Kolonialpoli-
tik, Gesellschaft, Erziehung, Geschlechterrollen, Medizin.
Religion und Mission. Er übersieht dabei, daß die pädago-
gischen Konzepte der Herrnhuter Brüdergemeinde allge-
meine Bildungs- und Erziehungskonzepte in ganz Europa
waren und in Europa schon jahrhundertelang mit Erfolg
praktiziert wurden. Also konnte Erziehung (und damit
»Hilfe«) nur durch »Herrschaft« Zustandekommen, was
aber nicht bedeutet, daß »Hilfe gleich Herrschaft« war. Lei-
der waren ein Pestalozzi, Piagct oder Rogers mit ihren
alternativen Konzepten noch nicht durchgedrungen bzw.
noch nicht geboren. Das aber sollte man der Herrnhuter
Mission nicht zum Vorwurf machen.
Joachim G. Piepke
Trinkaus, Erik / Shipman, Pat:
Die Neandertaler - Spiegel der Menschheit.
Aus dem Amerikanischen von Julia Beise,
Andrea Galler, Sonja Göttler, Cornelia Stoll
(Original: The Neandertal(e)s - Changing the
Image of Mankind, New York 1993). Mün-
chen: Bertelsmann, 1993. 576 Seiten, 77 SW-
Abbildungen.
Gottlob - das Umschlagbild, das der gängigen Vorstellung
über Neandertaler um die Jahrhundertwende entsprungen
zu sein scheint, zeigt höchstens historische Anklänge auf,
weist aber nicht auf den Inhalt des vorliegenden Buches -
was bei den beiden weltweit anerkannten Autoren auch
verwundert hätte. Und der Titel selbst? Im Original »The
Neandertal(e)s - Changing the Image of Mankind« ist er
inhaltlich insofern korrekt, als das Buch anhand einer
Chronologie der rund 150jährigen Neandertalerforschung
aufzeigt, wie das über sechs Paläoanthropologen-Genera-
tionen gewandelte Bild des Menschen vom Neandertal mit
dem Gang der Hominidenforschung insgesamt einherging.
Demgegenüber erscheint der deutsche Untertitel dem
Inhalt des Buches nach nicht gerecht zu werden.
Eingebettet in die anthropologische Forschungsgeschichte,
schält sich im Laufe der Darstellung in insgesamt zehn
Kapiteln die heutige Sicht des Neandertalers heraus. Ein
Buch über eine Hominidenform so aufzuziehen, hat seine
Stärken historisch angelegter Text mit Beschreibung vie-
ler menschlicher Schicksale und Anekdoten über die betei-
ligten Forscher ~, aber auch seine Schwächen, denn es ist
klar, daß auch international tätige Wissenschaftler nicht
über die Lokalgeschichte jeder kleinen Region überall auf
der Welt Bescheid wissen können und vieles aus der
(manchmal nicht astreinen) Literatur übernehmen müssen.
Richard Leakey hat im Zusammenhang mit dem vorliegen-
den Werk von »wissenschaftlicher Gelehrsamkeit« gespro-
chen. Diese Kennzeichnung trifft zu, sofern der gekonnte
Wurf einer umfassenden und detaillierten Schilderung der
Erforschung des Alt- und Frühmenschen mit allen ihren
schillernden Facetten angesprochen ist. Sicherlich kennt
Leakey nicht alle Einzelheiten der europäischen Urge-
schichte so gut wie die Ostafrikas (abgesehen davon, daß er
das Original las und nicht die deutschsprachige Ausgabe,
die nicht frei von Übersetzungsfehlern ist). So hat er offen-
bar manche Ungenauigkeiten, die sich in die Texte der bei-
den Autoren eingeschlichen haben, nicht erkannt. Bei-
spielsweise ist die Entdeckungsgeschichte rund um das
menschliche Skelett, dem der Formenkreis seinen Namen
»Neandertaler« verdankt, nicht fehlerfrei wiedergegeben.
So wird Fuhlrott als einfältiger Tropf dargestellt, der er kei-
neswegs war. Trotz der zuzustimmenden Ansicht, daß auch
wissenschaftlich fundierte Sachbücher ruhig mit flotter
Feder geschrieben und mit amüsanten Stories versehen
werden können, muß doch der Wahrhaftigkeit immer aller-
erste Priorität eingeräumt werden, zumal wie hier durch
das ganze Buch geschehen - weitgehend bekannte
Geschehnisse aus der paläoanthropologischen und paläon-
tologischen Wissenschaftsgeschichte wiederholt werden.
Als Positivum hervorzuheben ist jedoch, daß die beiden
Verfasser mit einer Fülle an Details der Forschungshistorie
und ihren Irrungen aufwarten, die auch dem Eingeweihten
neue Erkenntnisse vermitteln.
Das Buch beginnt mit der Entdeckung des Neandertalers
1856 (erstes Kapitel »Gott oder Tier?«). In neun weiteren
Abschnitten und einem Epilog gelangen die Autoren
182
Buchbesprechungen Afrika
schließlich zu dem Schluß, daß der Neandertaler »zu den-
selben Verhaltensmustern wie der moderne Mensch fähig
war« (529). Nachfolgend sollen diese Kapitel als Stationen,
die zu dieser Erkenntnis führten, mit der Nennung einer
markanten, die jeweilige Forschungsperiode besonders
charakerisierenden Persönlichkeit aufgeführt werden, mit
dem Hinweis darauf, daß die Auswahl nicht leicht fiel, da
die beiden Verfasser in jedem Abschnitt sehr viele heraus-
ragende Wissenschaftler zu Wort kommen lassen bzw.
deren Lebenswerk vorstellen. Der Leser mag in dieser Auf-
zählung von Namen den chronologischen Aufbau des
Buches erkennen: (1) Fuhlrott; (2) Darwin; (3) Virchow
(Rudolf); (4) Dubois; (5) Boule; (6) Hrdlicka; (7) Weiden-
reich; (8) Coon; (9) WolpotT; (10) Trinkaus.
Der chronologisch-historisch-deskriptive Aufbau des
Buches wird dem Titel »Die Neandertaler« nicht gerecht.
Sinnvoller wäre es gewesen, die neuesten archäologischen
Erkenntnisse zum Thema »Neandertaler« in den Mittel-
punkt zu stellen, was Rückblicke auf die Forschungsge-
schichte nicht auszuschließen braucht. Trotz der gewählten
Konzeption wird dem aufmerksamen Leser vieles über »die
Neandertaler« klarer werden, wozu auch die zahlreichen
Fotos und Zeichnungen im Text beitragen.
Axel Schulze-Thulin
Arbeitskreis für Internationale Wissen-
schaftskommunikation in Zusammenar-
beit mit Institut und Sammlung für Völ-
kerkunde, Universität Göttingen, und
der Göttinger Gesellschaft für Völker-
kunde e.V (Hrsg.):
Afrikanische Plastik - Konfrontation und
Annäherung (Band 1). 1994: Lit Verlag. 150
Seiten, ca. 98 s/w Abbildungen.
Es ist sicherlich erfreulich, wenn fast gänzlich unbekannte
Studiensammlungen durch Publikationen einer breiten
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mit Ausnahme
der vor einigen Jahren vorgestellten Makonde-Masken
und dem Yaka-Maskengewand waren die Göttinger
Afrika-Bestände noch unpubliziert. Verbunden mit einer
Ausstellung (Städt. Museum Göttingen, Januar/Februar
1994) verdient der »intuitive Verdacht, daß die Göttinger
Sammlungsstücke noch nie zu sehen waren«, diesen Kata-
log einer genaueren Betrachtung zu unterziehen: Wohltu-
end schlicht präsentiert sich der vorliegende Katalog in sei-
ner Aufmachung und hebt sich zumindest äußerlich ab
von verschiedenen Hochglanz-Publikationen, die sich in
den letzten Jahren zu afrikanischer Kunst zu Wort melde-
ten. Leider wird der erste positive Eindruck der vorliegen-
den Publikation durch die inhaltliche Qualität zunichte
gemacht,
Alle mit der Herausgabe oder Redaktion beteiligten Perso-
nen treten als Autoren in Erscheinung. Wer für die
Objektauswahl zuständig war, wird allerdings nirgends
ersichtlich. Beim Betrachten dieser Göttinger Auswahl
muß die Aussage, wonach »..wir immer noch ziemlich blind
und tapsend auf unseren Wegen der Annäherung an die
afrikanische Kunst« seien (S. 36), gerade für die vorliegende
Sammlung als richtig taxiert werden.
Gundolf Krüger vermittelt in der Einleitung einen Abriß der
Geschichte des ersten Göttinger Lehrstuhls für Völkerkunde
und der Entstehung der damit verbundenen Sammlung.
Unter der Leitung von Hans Plischke gelangte kurz vor
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine beachtliche Zahl
von Masken in die Göttinger Sammlung. Allerdings bleibt
nicht nachvollziehbar, was der Autor unter »systemati-
schem Ausbau« und »Komplementieren der Afrika-
Bestände« versteht; Die vorgestellte Auswahl, die immerhin
die Hälfte der 150 Skulpturen der Afrikasammlung in
zumeist ganzseitigen Aufnahmen zeigt, könnte kaum hete-
rogener, beliebiger und zufälliger zusammengestellt worden
sein! Zudem wird nicht erläutert, welche Umstände die
Museen in Leipzig und Berlin veranlaßten, eine größere
Anzahl von Objekten nach Göttingen zu geben. Ebenso
bleibt unklar, in welchem Zusammenhang »einige Plastiken
erst während der letzten zwei Jahrzehnte im Rahmen von
Studienreisen und Feldforschungen«(S. 1) in die Sammlung
gelangten. Dabei wäre dies insbesondere bei späteren
Erwerbungen von einiger Aktualität.
Ein ausführlich wiedergegebener Brief der »Afrika-Reisen-
den« Sophie von Uhde aus dem Jahre 1939 soll die »Situa-
tion einer Erwerbung genauer nachvollziehen« lassen. Die-
ses Unterfangen ist keinesfalls wegen der »ethnozentri-
schen Entgleisungen im Sprachgebrauch« fragwürdig.
Aber der vorgelegte Text zu den Yaka-Masken ist in vielen
Teilen dergestalt falsch und verfälschend, daß er als exoti-
sche Fabel völlig allein in der Landschaft steht, ungefähr
so, wie das arrangierte »Feldfoto« mit .Maskengestalt auf
Camping-Platz’ (Abb.l). Tatsächlich aber war schon
damals die Kongo-Region mit hervorragenden ethnogra-
phischen Berichten durch europäische Forscher dokumen-
tiert. Als »typisch« zu bezeichnen, daß noch keine Rede
von »Kunst« und »Künstler« sei, ist eine verallgemeinernde
Unterschiebung: Wenn auch der ausführliche Artikel »Les
masques Bayaka et leur sculpteurs« des deutschen Ethno-
logen Hans Himmelheber, publiziert im selbigen Jahr 1939
in »Brousse« (Organe trimestriel des amis de l'art indigène,
No. 1,3:19-39) nicht bis nach Göttingen gelangte, so muß
der Touristenbericht von Frau Uhde heute wie damals in
anderem Lichte gewertet werden! Wie sagte doch der große
Carl Einstein etwa 20 Jahre zuvor: »Exotismus ist oft
unproduktive Romantik... Hilflos negert der Unoriginelle.
Jedoch wird der Wert afrikanischer Kunst durch Unfähig-
keit belangloser Leute nicht gemindert" (Einstein, Carl:
Afrikanische Plastik, Berlin 1919). Diese Sätze, geschrieben
1919, verlieren gerade bei der Lektüre des vorliegenden
Werkes nichts von ihrer Aktualität.
Wenn Krüger in der Einleitung schließlich rügt, daß man
damals »allenfalls die Stilprovinz einer in sich mehr oder
weniger konsistenten Objektgruppe zu ermitteln ver-
mochte«^. 3), so darf man sich fragen, weshalb heute im
Dokumentationsteil der vorliegenden Publikation eben nur
genau dieses versucht wird!
Zum Schluß erweist sich Krüger als Gegner der Inszenie-
rung sogenannter Erlebnisbereiche in einer Ausstellung.
Dem darf man unter Umständen zustimmen. Doch seine
Begründung hinkt: »Das Objekt wird zu einem Kunstwerk,
ob man will oder nicht« (S. 6). Diese Aussage wirkt in vor-
liegender Publikation geradezu zynisch: Die gezeigte
Sammlung umfaßt Schnitzereien unterschiedlichster
Machart: Wenige authentische und zugleich qualitativ
hochstehende Werke, meist aber Belangloses, Touristen-
kitsch und Fälschungen. Diese Besprechung wird weiter
unten auf einzelne Objekte eingehen und zeigen, daß ein
anderer Umgang mit einem Werk möglich ist und ,es’ eben
nicht wie behauptet zu einem »Kunstwerk werden zu las-
sen, ob man will oder nicht«.
ln ihrem einführenden Essay zur afrikanischen Plastik will
Lydia Haustein zu Beginn eine differenzierte Annäherung
183
TRI BUS 45, 1996
an den Begriff »afrikanische Kunst« vermitteln. Dies kann
mit den in diesem Band gezeigten Objekt-Beispielen von
vornherein kein einfaches Unterfangen sein. Es erstaunt
daher nicht, daß nur ein einziger Satz an die Göttinger
Sammlung verloren wird, allerdings mit der von mir nicht
nachvollziehbaren Aufforderung, die in dieser Ausstellung
gezeigten Objekte als afrikanische Kunst zu sehen!
Die aufgeworfenen Fragen werden hier leider nur theore-
tisch und sehr allgemein abgehandelt. Für die offenbar
bestehenden Vorurteile gegenüber dem Kunstschaffen Afri-
kas verweist sie auf den die Grenzen von traditionell und
modern verwischenden Artikel von Bianchi. Folglich ver-
mischt Haustein ebenso die temporalen Aspekte von
Kunsttraditionen, wenn sie schreibt: »Die afrikanische
Kunst ist viel stärker als das Rückgrat der sozialen und
politischen Ordnung einer Gruppe oder einer ganzen
Lebensgemeinschaft anzusehen, als dies in westlichen
Gesellschaften der Fall ist.« Wie war dies doch mit dem
Kunstschaffen an europäischen Fürstenhöfen zwischen
dem 13. und 18. Jahrhundert?
Ästhetische Werte mit jenen der Ethik aufgrund einer einzi-
gen Studie von Susan Vogel als »untrennbare Einheit« dar-
zustellen, ist eine ebenso unerlaubte Verallgemeinerung wie
ihr Versuch, die Begriffe »schön« und »gut« als deckungs-
gleich zu bezeichnen (S. 9).
Weitere Abschnitte sind der Rezeptionsgeschichte und der
Künstlerindividualität gewidmet. In letzterem wird die
kühne Behauptung aufgestcllt, daß seit Franz Boas die
Rolle der individuellen Kreativität »weder von der Ethno-
logie noch von der Kunstgeschichte bearbeitet worden« sei
(S. 13). Der Umbruch fand entgegen der Meinung der
Autorin vor über 60 Jahren statt: Schon Hans Himmelhe-
ber hat dieses Thema in seiner Dissertation »Negerkünst-
ler« im Jahre 1935 bahnbrechend aufgenommen. Olb-
rechts, Vandcnhoute sowie die Brüder William und Bcr-
nard Fagg folgten. Die zitierten Amerikaner (S. 17) arbei-
ten in ihrem Sog! Und so hat sich heute an den maßgeben-
den Lehrstätten der USA die folgende These durchgesetzt;
Eine Vielzahl von Werkstätten verschiedenster Ethnien
schuf eine erstaunliche Vielfalt an Stilen und Substilen, die
sich zum Teil auf Nachbarregionen übertrugen und eine
genaue Zuordnung verunmöglichen. Regionale und indivi-
duelle Stile sind daher auch in der afrikanischen Kunst von
größerer Bedeutung als ethnisch definierte.
Doch hierorts haben viele Ethnologen und Kunstwissen-
schaftler größte Mühe, diesen Vorstellungen zu folgen. Lei-
der sind diese Theoretiker im Literaturverzeichnis überver-
treten. Trotz der abschließenden Feststellung, daß die
Namen der Künstler oft rekonstruierbar seien (S. 18: »nur
hat das in Zeiten früherer Sammlungs- und Forschungs-
tätigkeit nicht interessiert«), wird »das« in Göttingen bis
zum heutigen Tag nicht einmal annähernd versucht.
Man könnte die langen philosophischen Gedankengänge
der Autorin weiterspinnen; der wohl angestrebte Überblick
über den Stand der Erforschung afrikanischer Kunst ist
nicht gelungen.
Die vielen kleineren inhaltlichen Fehler gründen dabei
ebensowenig wie die Druckfehler (Meanze statt Meauze)
Vertrauen in die Ausführungen. Ärgerlich sind Generalisie-
rungen, die das Künstlertum kastenartig darstellen: Von
»streng geschiedenen Organisationen« wird die Verarbei-
tung von Holz eben gerade nicht vorgenommen (S. 18).
Auch für die Metall- und Tonproduktion gelten diese Vor-
stellungen nicht absolut. Schließlich sei angefügt, daß die
Senufo nur als kleine Minderheit in Mali und Burkina Faso
leben; die großen Bildhauer-Zentren befinden sich
hauptsächlich zusammen mit 80% der senar-sprechenden
Bevölkerung - in der Elfenbeinküste.
Der folgende Beitrag »Verstehen Sie den Nagelfctisch« von
Brigitta Benzing ist ein weiterer »Versuch einer kunsteth-
nologischen Annäherung«; erneut wird versucht, die euro-
zentrische Betrachtung von Kunst aus Afrika zu relativie-
ren. Die Erwartungen an die Autorin von »Ethnokunst«
sind um einige höher: Im Zentrum ihres Beitrages steht der
sogenannte »Nagelfetisch«. Abgesehen von dieser Bezeich-
nung, die eine frühkoloniale Scheußlichkeit ist, sind diese
nkisi nkonde genannten Skulpturen inzwischen sowohl
durch Kunstethnologen recht umfassend beleuchtet. Daß
die jüngsten Arbeiten zu den nkisi (Raoul Lehuard, Robert
Farris Thompson und Wyatt MacGaffey) nicht im Litera-
tur-Verzeichnis genannt sind, ist erstaunlich; oder sind dies
wohl die »ziemlich willkürlichen Interpretationen«, von
denen sich die Autorin dadurch abgrenzen will, indem sie
einen historischen Abriß ohne Antwort auf die im Titel
gestellte Frage gibt?
Zuletzt wird auf die Masken hingewiesen und ihr sakrales
Wesen im besonderen hervorgehoben (S. 36). Wie schon
Hauschild einige Seiten weiter vorn, zeigt die Autorin
erneut den Unterschied zwischen einer Maske im traditio-
nellen Kontext, deren Auftritt durch Kostüm, Orchester
und Tanz wohl mit dem Begriff »Gesamtkunstwerk« am
besten definiert ist, und jenen »Resten«, die von einer
Maske in westlichen Museen übrig bleiben. Sie vergißt
allerdings, daß es immer auch profane Masken gab, deren
Auftritt weder sozial noch religiös eingebunden war, Mas-
kenerscheinungen, die schlicht Freude bereiteten oder den
besten Tänzer erküren ließen. Diese Maskenauftritte haben
mit Religion wenig gemeinsam. Hier von »fließenden Über-
gängen zwischen sakraler und profaner Plastik« zu spre-
chen, entspricht in keiner Weise den Realitäten im afrikani-
schen Dorf.
Wer hoffte, wenigstens in diesem einleitenden Beitrag fun-
dierte Ergebnisse der neueren Afrika-Kunstforschung zu
erfahren oder gar zu neuen Erkenntnissen zu gelangen,
sieht sich enttäuscht.
Die insgesamt 60 Fotos im Bildteil, von denen einige in
mehreren Ansichten oder Details aufgenommen wurden,
sind nicht immer von derselben Bildqualität. Insbesondere
mit dem schwarzen Hintergrund hatte der Fotograf Pro-
bleme. Dennoch lassen sich die meisten Objekte einiger-
maßen erkennen.
Die als Dokumentation betitelten Beschreibungen der
Abbildungen (S. 104-148) von Stefan Hainski bilden das
Schwergewicht des vorliegenden Katalogs. Sprachlich dürf-
tig, von Druckfehlern durchzogen und inhaltlich mit kapi-
talen Fehlern durchsetzt ist dieser Teil gleichzeitig der
schwächste des Büchleins.
Der Großteil der Texte zu den einzelnen Objekten ist ihrer
detaillierten Beschreibung gewidmet. Man geht wohl davon
aus, daß die Fähigkeit zu sehen Voraussetzung für jeden
Umgang mit Kunst beim durchschnittlichen Besucher und
Katalogkäufer nicht mehr vorhanden ist. Beschreibungen
wie »Die gerade Nase beginnt oberhalb der Augen mit den
angedeuteten Überaugenwülsten« (S.105) oder »Die dun-
kel bemalte weibliche Figur fällt durch ihre ganze Gestalt
auf« (S. 112) bieten mühsamen Lesestoff und sind in Anbe-
tracht der ganzseitigen Aufnahmen überflüssig.
Viel gravierender hingegen sind die Fehler in den Legen-
den-Titeln:
Die bekannteste Maske der Dogon heißt nicht Kanga,
sondern Kanaga (Kat. Nr. 7, S. 108).
Die Dogon siedeln nicht in Burkina Faso (Kat. Nr. 9),
sondern in der Bandiagara-Region Malis.
184
Buchbesprechungen Afrika
- Ein »Spiegelfetisch« (Kat. Nr. 23, S. 120) einer Yombe-
Werkstatt (Zaire) wird den Baule(!) in Gabun (!) zuge-
ordnet.
- Eine als »Guro« bezeichnete Figur (Kat. Nr. 25) ist auf-
grund ikonographischer Details (Schläfennarben und
Haartracht) sowie stilistischer Merkmale (flächiges
Gesicht, herzförmige Gestaltung von Augenbrauen und
am Körper anliegende Arme) zweifelsfrei in einer Baule-
Werkstatt entstanden.
- Ein formal unverkennbarer »Fetischstuhl« (richtig wäre:
Altar-Untersatz) einer Werkstatt der westlichen Yoruba-
Region wird als nicht identifizierbar bezeichnet (Kat. Nr.
33, S. 126).
Die Republik Benin (der frühere Staat Dahomey) wird
mit der gleichnamigen Königsstadt in Nigeria (Kat. Nr.
34 und 35) verwechselt; Die Edo leben in Nigeria, das
Figürchen einer Fon-Werkstatt stammt aus Dahomey
und ist frühe »Touristenkunst«.
- Zwei bemerkenswerte Objekte der Gabun-Region wer-
den als »Batanga, Äquatorial Guinea« bezeichnet; die
eine Figur (Kat. Nr. 47) ist richtigerweise der Ogowe-
Flußregion zuzuschrciben, während der figürliche Löffel
(Kat Nr. 48) mit Sicherheit von einem Fang-Schnitzer
(Nord-Gabun oder Süd-Kamerun) hergestellt wurde. Da
beide Werke im selben Jahr gesammelt wurden, kann der
Leser spätestens hier vermuten, daß wohl nur die
ursprünglichen in diesem Beispiel über hundertjährigen
Karteibezeichnungen der Sammler ungeprüft in den
Katalog übernommen wurden. Schließlich ist auch die
Zuordnung von Kat. Nr. 61 als »Bafioti, Angola« ebenso
irreführend wie die derselben Gruppe zugehörigen
Nrn.23 und 49; richtig wäre die Bezeichnung von Kat.
Nr. 51 (also Vili, Republik Kongo).
Solche Fehler stoßen nicht nur einer handverlesenen
Gruppe von Experten auf: Heute sammeln hierzulande
tausende von Kunstbegeisterten Objekte aus Afrika und
die meisten haben mehr Kenntnisse als die Herausgeber
dieses Ausstellungskataloges. Daß schließlich Werke wie
Kat.Nr. 10 und Nr.53 Fälschungen sind, wird nicht gesagt:
Der Leser darf dies nicht unbedingt aus den vagen Äuße-
rungen im Text schließen: »speziell für den Verkauf an Tou-
risten hergestellt« (S.ll 1) und »ob die Figur wirklich den
Luba zugeordnet werden kann, muß offen bleiben« (S.
139). Letztere Feststellung ist immerhin richtig; Diese
Figur könnte auf jedem Touristen-Markt zwischen Dakar
und Mombasa erworben worden sein. Ebensowenig wird
die Tatsache erwähnt, daß eine Holzfigur, »die sich auf die
Ursprungsvorstellungen der Dogon bezieht« (Kat. Nr. 8)
zur Kategorie »Airport-art« gehört und als solches Werk,
aber auch so bezeichnet, durchaus Platz in einer völker-
kundlichen Sammlung verdient; sie würde jedoch wohl
kaum deshalb mit sechs Detailaufnahmen bedacht. Es han-
delt sich dabei um eine schlechte Kopie des berühmten
Werkes des Philadelphia Institute of Art, um jenen Afro-
Kitsch, dem die Kustoden der Völkerkundemuseen fast
täglich gegenüber stehen und dem in derart krasser Weise
jegliche Qualität abgeht, daß man hier nicht einmal von
einer Fälschung sprechen kann.
Wichtigstes, wenn auch wie oben gezeigt mißglücktes Ziel
nebst der langfädigen Beschreibungen war es, die ethnische
Zugehörigkeit der Objekte festzulegen. Dies sagt der Autor
im letzten Satz zur Makonde-Maske (Kat.Nr. 66): »Die
ethnische Zugehörigkeit erkennt man jedoch problemlos.«
So sind wir wieder an der Stelle angelangt, die weiter vorn
(S. 18 oben) durchaus zu Recht kritisiert wird: Alles wie
gehabt; es ist offenbar in der afrikanischen Kunst nicht
möglich, individuelle oder regionale Stilzuschreibungen
vorzunehmen: »Nur Stämme werden überleben ...«, und
mit ihnen vermutlich die »Fetische«!
Schwerwiegende Fehler unterlaufen dem Autor, wen wun-
dert’s, schließlich auch bei den kurzen Beschreibungen zur
Verwendung der Objekte im traditionellen Kontext;
Dies beginnt bereits bei Kat. Nr. 1, einer anuk oder elek
genannten Schreinfigur, die vor allem während der Initia-
tion nicht nur bei den Baga, sondern auch bei den benach-
barten Nalu eine wichtige Rolle spielte. Hier vom »Kopf-
aufsatz einer Maske« (S. 105) zu sprechen, ist falsch.
»Die Figuren der Guro sind Ahne(n)figuren ...« (S. 122) ist
in diesem Fall nicht nur eine ethnographisch unrichtige
Beschreibung: Selbst wenn sie zutreffen würde, ist doch
kein Sinn darin zu finden; sind nicht auch die meisten Figu-
ren der Deutschen (Denkmäler, Apostel- und Heiligen-
standbilder) Ahnenfiguren? In Tat und Wahrheit handelt es
sich bei den nur in der nördlichen Guro-Region bekannten,
zuzu genannten Figuren um Hilfsgeister, die dem Wahrsa-
ger Wissen der Jenseitswelt vermitteln können; dies trifft
bei dieser Skulptur (Kat. Nr. 25) aber nicht zu, da es sich
um eine blolobian- oder azie w.v;/-Figur einer Baule-Werk-
statt handelt, die ebenfalls mit Ahnen nichts zu tun haben.
Vergebens sucht man in diesem Band nach dem Alter der
Objekte. Die Fachwelt ist sich wohl einig, daß der
»Bronze«-Kopf (Kat. Nr. 34, S. 127) aus der Stadt Benin in
Südwest- Nigeria aus einer Gelbguß-Legierung zu Beginn
des 19. Jh. gegossen wurde. Entgegen der Ansicht des
Autors, wonach diese »ohne irgendeine Ähnlichkeit mit
dem Verstorbenen« aufbewahrt wurden, ist längst bekannt,
daß die mit spitzer Perlenkrone versehenen Köpfe als stili-
sierte Portraits einer Königs-Mutter in den Schreinen des
Palastes standen.
Mit solch dürftigen und häufig falschen Informationen
zum geographischen, sozialen und religiösen Umfeld der
Objekte muß dem Leser nach wie vor »die in unserer Kul-
tur selbstverständliche Vertrautheit mit der geistigen und
religiösen Welt« fehlen, wie weiter vorn (S. 19) geklagt wird.
Zudem hätten Kurzbibliographien zu den einzelnen
Objektgruppen dem interessierten Leser eine zusätzliche
Hilfe geboten. Der Autor scheint jedoch nur mit dürftig-
stem Quellenmaterial gearbeitet zu haben.
Zu vielen Objekten werden verdienstvollerweise die Namen
der Vorbesitzer mit den Eingangsdaten festgehalten. In die-
sem Zusammenhang hätte vermutlich nicht nur den Steuer-
zahler interessiert, ob der Begriff »erworben von« Kauf
(S.104) oder Schenkung (S.l) bedeutet. Für viele interes-
sierte Leser wären hier weitere Informationen nützlich
gewesen: Berühmte Sammler und frühe Händler wie Weule,
Speyer und Umlauff, deren Sammlungsbestände in den
Völkerkundemuseen der ganzen westlichen Welt aufbe-
wahrt werden, hätten wohl ausführlichere Erwähnung ver-
dient als der Fälschungslieferant Sonnenberg. Die Namen
jener Sammler, deren Werke 1939 bzw. 1942 aus den Völ-
kerkundemuseen Berlin und Leipzig nach Göttingen
gelangten, bleiben unerwähnt. Im Falle der Liberia-
Objekte (Kat. Nrn. 11-21) liegt die Vermutung nahe, daß
sie durch Paul Germann in Ganta von Dr. Harley aus sei-
ner berühmten »one dollar«-Kiste erworben wmrden. Die
meisten dieser Masken sind Auftragswerke von schwäch-
ster Qualität, teilweise Kopien für Kolonialbeamte, die nie
im traditionellen Umfeld verwendet wurden. Man versteht
die Leipziger, die sie damals loswerden wollten. Auch die
Tshokwe-Figur (Kat. Nr.59) aus Leipzig muß als äußerst
schwach bezeichnet werden. Aus diesem Museum gelang-
ten große Meisterwerke afrikanischer Kunst erst in den
70er und 80er Jahren dieses Jahrhunderts unter denkwürdi-
gen Umständen in den Handel.
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TR1BUS 45, 1996
Heute haben die Mitarbeiter von völkerkundlichen Samm-
lungen den Auftrag, in ihren Sammlungen auch unter
kunsthistorischem Blickwinkel den Weizen von der Spreu
zu trennen. So haben beispielsweise die Kustoden der Völ-
kerkundemuseen in München, Berlin und Tervuren ausge-
wählte Meisterwerke ihrer Afrika-Bestände in Sammlungs-
oder Ausstellungskatalogen aus tausenden von authenti-
schen, aber künstlerisch belanglosen Werken herausge-
sucht und publiziert. Ihre Standardwerke werden auch in
der vorliegenden Publikation als weiterführende Literatur
erwähnt. Auffallend ist andererseits das Fehlen von Him-
melheber’s Schriften; auch Försters Dumont-Taschenbuch
»Die Kunst Schwarzafrikas« (1988) sowie die Publikatio-
nen von Schädler sind nicht vertreten: Man merkt’s.
Die »Frage nach der historischen und kulturellen Realität
von Kunst und Ästhetik« (s.u.) wird in dieser Publikation
in keiner Phase beantwortet. Was bleibt, ist Verärgerung
darüber, daß derart Verfälschtes und Belangloses zu Ende
dieses Jahrhunderts an und durch Hochschulen noch
immer verbreitet wird.
Der vorliegende Katalog, als erster Band zu einer Reihe
von Ausstellungskatalogen gedacht, kann weder als wissen-
schaftlicher Bestandskatalog noch als Ausstellungspubli-
kation bestehen. Es bleibt zu hoffen, daß künftige Samm-
lungsbände mit durchdachterem Konzept und auf einem
einer Hochschulpublikation würdigen Niveau produziert
werden.
Ein Zitat eines Kunstethnologen sei abschließend dieser
Publikation ins Stammbuch geschrieben: »In the end.
however, it is not the tribal characteristics of Negro art nor
its strangeness that are interesting. It is its plastic qualities«
(James Johnson Sweeney, Museum of Modern Art, 1935).
Auch wenn stets das subjektive Auge die Auswahl der
Werke einer Ausstellung beeinflußt, so hätten doch Ethno-
logen und Kunsthistoriker wie v. Luschan, Leo Frobenius,
Carl Einstein, v. Sydow und Himmelheber, um nur die
deutschsprachigen zu nennen, schon vor 50 und mehr Jah-
ren eine Publikation dieser Art nicht zugelassen. Um so
bedenklicher, daß sie heute erscheinen kann.
Weder gelingt eine »Annäherung« für einen »Anfänger«,
noch bietet sich die Möglichkeit für den Wissenschafter,
hier Infos zu einer alten Sammlung zu erhalten.
Auch über viele weitere in den letzten Jahrzehnten erstan-
dene Objekte kann man nur den Kopf schütteln; Hier hat
wie bei vorliegendem Katalog die öffentliche Hand mitbe-
zahlt.
Redliche Lernprozesse sind nach Publikationen wie jener
zur Sammlung Vetsch in Köln, der Sammlung ... in Frei-
burg und, die sich um afrikanische Kunst in Deutschland
bemühen nicht mehr zu erwarten. Nicht einmal von der im
Untertitel versprochenen Annäherung ist etwas spürbar.
Ohne Zusammenhang sind die einzelnen Beiträge aneinan-
dergeflickt und für die Auswahl der Werke will auch nie-
mand gerade stehen.
Künstlerisch ansprechend und qualitätsvoll möchte ich
lediglich folgende Werke der Göttinger Sammlung bezeich-
nen; Nr. 3 (bamana, tshiwara-Aufsatzmaske), Nr. 23 und
vor allem Nr. 49 (nkisi-Figurcn, Zaire), Nr. 44 (Fang-Figur,
Südkamerun), Nr. 45 (Büffelmaske aus dem Kameruner
Grasland), Nr. 48 (Löffel der Fang-Region, Gabun).
Lorenz Homberger
Gebre-Igziabiher, Elyas;
Prowess, Picty and Politics. The chronicle of
Abeto lyasu and Empress Zewditu of Ethiopia
(1909- 1930). Recorded by Alecja Gebre-Igzia-
biher, Elyas. Edited and translated by Reidulf
K. Molvaer. (Studien zur Kulturkunde. 104).
Köln: Rüdiger Koppe, 1994. 596 Seiten.
Reidulf K. Molvaer ist ein vorzüglicher Kenner Äthio-
piens, des (lebendigen) Amharisch und seiner modernen
Literatur, über die er eine grundlegende Studie vorgelegt
hat (Tradition and Change in Ethiopia. Leiden, 1982). Mit
dem anzuzeigenden Werk hat er ein vielschichtiges und in
manchem aus der Art historischer Studien fallendes Buch
veröffentlicht, das eine eingehende und differenzierte
Besprechung erfordert.
Ungewöhnlich ist schon, daß auf Sekundärliteratur fast
vollständig verzichtet wurde; in der Tat findet sich keine
Bibliographie, die Literaturangaben in den über 800
Anmerkungen zur Übersetzung sind äußerst spärlich. Dies
zeigt bereits den Charakter der Studie an: es handelt sich
um ein vielfältiges Quellenwerk: Zu der Hauptquelle, der
Chronik des Gäbrä-Hgzi’abober Elyas (im folgenden G.
E.), im Originaltext herausgegeben und übersetzt, treten in
den Anmerkungen und im postscript eine Fülle histori-
scher Informationen aus mündlicher Überlieferung, die
Molvaer in hingebungsvoller Arbeit mit seinen Informan-
ten aus dem Umkreis der Familie des Autors, aber auch
Augenzeugen der Ereignisse und deren Nachkommen
gesammelt hat. Hier liegt neben der Erschließung des
sprachlich nicht einfachen Textes das Hauptverdienst, frei-
lich auch eine zur Vorsicht mahnende Eigenheit; Praktisch
alle diese Nachrichten sind eindeutig in ihrer Parteinahme
für Lagg lyasu, den unglücklichen Gegenspieler von Ras,
später König Täfäri Mäkonnen, den späteren Kaiser
Haaylä-Sallase 1. (zur Einführung sei die Lektüre des ent-
sprechenden Kapitels bei Bahru Zawde, Modern History
of Ethiopia. Addis Abeba, 1991, S. 121-137 empfohlen; in
den bibliographischen Angaben S. 148-149 wird auch Ms.
Angabe (S. 23) widerlegt, es gäbe sonst keine Quellen oder
Sekundärliteratur). Und eindeutig in seiner Geschichtsin-
terpretation ist ebenso das postscript von Molvaer selbst, in
dem er versucht, die Chronik über das Jahr 1930 hinaus,
zumindest für das immer noch unsichere - Schicksal und
Tod von lyasu fortzuführen. Hier werden die verschiedenen
Versionen über dessen Ermordung im Auftrag von Haaylä-
Sallase während des italienischen Angriffs vorge-
führt. lyasu als der letzte äthiopische Herrscher mit »flair«
beschrieben. »After him, the »technocrats« took over; then
worse came«. Soweit Molvaer (S. 569). Läßt sich dieses sehr
persönliche und temperamentvolle Urteil aus der Chronik
ableiten und belegen, mit der Geschichtsschau ihres Autors
vereinbaren?
Die erste Umdcutung Ms erfolgt durch die Kürzung des
Titels: Der Text spricht eindeutig von einer Chronik lyasus.
Zawditus und Haaylä-Sallase. Der Bericht über letzteren,
in dem die Angaben über Zawditu doch eher im Hinter-
grund stehen, nimmt die Hälfte des Textes ein.
G. E. (1884-1969), Sohn eines bekannten Gelehrten und
Malers, der zu den ersten Äthiopiern gehörte, die von
Menilek zum Studium nach Europa geschickt worden
waren, bekleidete als Aläqa (traditioneller Gelehrter) im
Gefolge der Kaiserin Zawditu von 1920 bis zu deren Tod
1930 das Amt eines Hofchronisten. Damit ist das Schlüs-
selwort für das Werk gegeben: Es steht in der Tradition
Buchbesprechungen Afrika
äthiopischer Hofgeschichtsschreibung seit über 700 Jahren;
man vgl. die Szenen Hofgericht ( 48) - Begräbnis der Prin-
zessin (88) Bankett ( 44), die in jeder mittelalterlichen
Chronik stehen könnten. Lediglich die Sprache (Volks-
sprache Amharisch) ist neu. Neues ergibt sich auch aus
den Ereignissen der Zeit, die zu kommentieren waren.
Dabei urteilt G. E. durchaus positiv über die Reformen von
Haaylä-Ssllase, die als Fortsetzung der »Straße des Fort-
schritts« von Manibk II. gesehen werden. Doch ist seine
auf die Personen des Hofes bezogene Darstellung für das
20. Jh. keine Quelle erster Ordnung mehr; hier hat für die
Geschichtsschreibung die Moderne definitiv Einzug gehal-
ten, muß sich der Historiker an Archive (das des Kanzlers
minister of the pen der Zeit ist immer noch nicht zugäng-
lich), Korrespondenzen etc. halten. So bleibt die Chronik
anekdotisch und provinziell, aber sie gibt das flair der Zeit,
ist für die Mentalitätsgeschichte des beginnenden 20. Jh.
wichtig. Die Modernisierung wird im alten Gewand der
Bibelzitate und religiös-moralischer Geschichtsdeutung
beschrieben, eher dezent und reserviert, ganz im Gegenteil
zum Ms. Urteil. Für Rez. als Mediävisten und Bearbeiter
äthiopischer Chroniken des Mittelalters liegt hier der reiz-
volle und interessante Abschluß einer langen literarischen
und mentalen Tradition.
Die verwickelte Textgeschichte ist von M. an verschiedenen
Stellen verstreut und undeutlich wiedergegeben. Der Autor
schrieb fortlaufend eine erste Fassung, die naturgemäß mit
dem Tod der Auftraggeberin 1930 ihr Ende fand. Über den
Verbleib dieser Hs. ist nichts bekannt. Der Kaiser gab spä-
ter - der Autor war inzwischen Lehrer in der Provinz - eine
weitere Abschrift in Auftrag, die der Autor aufgrund von
Dokumenten im Besitz der Zäwditu anfertigte, diese Doku-
mente aber zugleich, wohl um einen parteiischen Gebrauch
auszuschließen, vernichtete. Diese Fassung ist in der Natio-
nal Library in Addis Abeba. Aufgrund seiner Kladde fer-
tigte G. E. mit Hilfe zweier Freunde eine weitere Rein-
schrift, die Vorlage für Ms. Ausgabe. Diese beiden Freunde
und Kalligraphisten waren Aläqa Dästa Kidanä-Maryam
(Bruder eines Bischofs und Vorgesetzten von G. E.) und
dessen Sohn Bä-ödä-Maryam Dästa. Ersterer griff bei sei-
ner Abschrift sprachlich und inhaltlich in den Text ein (s. S.
11 und Rezension von Ahmed Hassen Omer in Journal of
Ethiopian Studies. 27. 1994, 97-102); letzterer ist der wich-
tigste Gewährsmann für Ms. Studie. Der Leser des Buches
hat die Faksimile-Ausgabe einer weiteren professionellen
Abschrift (z. T. von Hrsg, und einer Mitarbeiterin korri-
giert) vor sich; der äthiopische Text ist in die fortlaufende
Seitenzählung (beginnend mit Titelblatt S. 29) einbezogen,
aber in äthiopischen Ziffern selbständig von 1 bis 287
numeriert. Somit bliebe nach der Kladde zu suchen, den
Text mit der mit Rücksicht auf den Kaiser geänderten
Reinschrift in der National Library zu vergleichen, aber
auch nicht auszuschließen, daß die erste Fassung noch
erhalten ist. Einige Änderungen Destas wurden von
Ahmed Hassen Omer (s. o.) aufgezeigt. Eine kritische Text-
fassung zumindest bei signifikanten Änderungen ist noch
zu erstellen, die aber im großen und ganzen eher für die
sprachliche Seite denn für den Inhalt interessant sein
dürfte.
Die Spuren dieser verwickelten Textgeschichte mit wech-
selnden Auftraggebern sind freilich sonst wenig sichtbar:
die Tradition, in der der Autor wie selbstverständlich steht,
hatte solche Rücksichten internalisiert: nur in diskreten
Auslassungen und Verschweigen findet sich ab und zu ein
Urteil, dann aber, immer wieder das Wohl und die Moder-
nisierung Äthiopiens im Einklang mit den Geboten der
Bibel und Religion als Maßstab der Bewertung politischen
Handelns, nach dem freilich, und ganz gegen die Auffas-
sung Molvaers, lyasu und seine Parteigänger recht
schlecht, Haaylä-Sallase sehr gut abschneiden.
Die englische Übersetzung erschließt dem des Amhari-
schen unkundigen Leser diese interessante Quelle zu Äthio-
pien in den 20er Jahren, über die er sich, unabhängig von
den Ansichten des Bearbeiters, ein eigenes Urteil bilden
kann. Die Umschrift sollte bei aller Vereinfachung eindeu-
tig sein: i und e geben aber jeweils zwei äthiopische Buch-
staben wieder. Ein Großteil der den Lesefluß störenden
Zusätze in eckigen und runden Klammern ist schlicht über-
flüssig, genauso wünschte man sich zuweilen mehr Genau-
igkeit bei sachlichen Angaben, z. B.: Begena (S. 23) ist eine
einsaitige Violine, die zehnsaitige Harfe ist krar; bitwedded
als »beloved« ist volksetymologisch; Icchege ist mehr als
»chief administrator of the Ethiopian church«; die erwähn-
ten Bücher S. 478 wären anhand von Repertorien äthiopi-
scher »incunabula« leicht zu identifizieren gewesen; die
Erklärung von Israel im Zusammenhang mit Ras Ali mit
dem Verweis auf jemenitischen (semitischen Ursprung;
Anm. 832) ist fragwürdig; näher liegt der darin ausge-
drückte Anspruch der Zugehörigkeit zum äthiopischen
Königsadel.
Mit seinem abschließenden Dank an M. für die wertvolle
Quellenarbeit verbindet Rez. den Wunsch und die Hoff-
nung, daß auch eine andere, bisher nur in Amharisch publi-
zierte Quelle auf diese Weise einem weiteren Lesepublikum
erschlossen wird: Zskrä nägär, die historischen Sammlun-
gen des sähafe ts’zaz (minister of the pen) Mahtämä-
Sallase Wäldä-Mäsqäl.
Manfred Kropp
Heintze, Beatrix;
Alfred Schachtzabels Reise nach Angola
1913-1914 und seine Sammlungen für das
Museum für Völkerkunde in Berlin; Rekon-
struktion einer ethnographischen Quelle.
(Afrika-Archiv I) (Veröffentlichungen des
Frobenius-Institutes an der Johann-Wolfgang-
Goethe-Universität zu Frankfurt am Main).
Köln: Rüdiger Koppe Verlag 1995. 378 Seiten,
67 Fotos, 7 Karten.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise von A.
Schachtzabel nach Angola, die zu einem bedeutenden Teil
in dem nur noch fragmentarisch erhaltenen Archivbestand,
in Privatbesitz und im Museum für Völkerkunde zu Berlin
enthalten sind, wurden von B. Heintze kontextualisiert mit
Schachtzabels populärwissenschaftlicher Veröffentlichung
»Im Hochland von Angola. Studienreise durch den Süden
Portugiesisch-Westafrikas« (Dresden 1923) und nach dem
von ihr entwickelten und bereits 1993 vorgestellten Vorge-
hen der integrierten Quellenedition (Baessler-Archiv, Neue
Folge, Band XLI, 1993, S. 323-339) veröffentlicht.
A. Schachtzabel (1887-1981) arbeitete seit 1911 als wissen-
schaftlicher Hilfsarbeiter in der Afrikanisch-Ozeanischen
Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin. 1913
bis 1914 unternahm er eine ethnographische Forschungs-
reise ins Hochland von Angola, in die Gebiete vor allem der
Ngangela, aber auch einiger Ovimbundu-, Cokwe-, Lucazi-,
Mbwela- und anderer Gruppen der Region südöstlich von
Huambo. Der Archivbestand und seine Veröffentlichungen
über diese Reise stellen eine der wenigen bedeutenden
frühen Quellen über diese Region dar.
187
TRIBUS 45, 1996
Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde ein
großer Teil der Feldforschungsmaterialien von A.
Schachtzabel in Angola beschlagnahmt und gelangte spä-
ter verstreut zu verschiedenen Besitzern. Einiges konnte
nach dem Krieg zurückgekauft werden, darunter der über-
wiegende Teil der Fotoplatten und Abzüge. Diese ver-
brannten im Zweiten Weltkrieg, so daß heute nur noch die
veröffentlichten Fotos existieren.
Neben einerweiteren Veröffentlichung mit fast identischem
Text, aber teilweise anderen Fotos und Objektbezeichnun-
gen (»Angola. Forschungen und Erlebnisse in Südwest-
afrika«. Berlin 1926) gibt es über diese Reise heute noch
folgendes Quellenmaterial; Manuskripte, ein Routenbuch
und Routenkarten in Privatbesitz, Akten im Museum für
Völkerkunde in Berlin (mit u. a. Briefen von A. Schachtza-
bel aus Angola und Spanien, Listen seiner fotografischen
Aufnahmen und ethnographischen Sammlungen, einer
Teilliste seiner phonographischen Aufnahmen), Kurzbe-
schreibungen im Inventarverzeichnis des Museums für Völ-
kerkunde in Berlin von den 337 dorthin gelangten ethno-
graphischen Objekten, 80 Ethnographica im Museum für
Völkerkunde in Berlin, zwei komplette und fünf Teile von
insgesamt 19 Ethnographica, die 1921 an das Museum für
Völkerkunde zu Leipzig verkauft wurden, 43 Walzenauf-
nahmen mit Gesängen.
B. Heintze stellte bei der Untersuchung des Quellenmateri-
als fest, daß über eine bearbeitete Kontextualisierung sich
ergänzender zusammengehöriger Angaben aus den unver-
öffentlichten und veröffentlichten Quellenmaterialien
wesentlich komplexere wissenschaftliche Aussagen von A.
Schachtzabel zu den verschiedenen Lebensbereichen der
besuchten Völker ermitteln lassen. Wie B. Heintze vielfach
belegt, werden bei diesem Vorgehen »... die erhaltenen
primären und sekundären Quellenreste einerseits re-indivi-
dualisiert und re-konkretisiert, andererseits auch re-kom-
plexualisiert« (Heintze, 1995, S. 39). Die Veröffentlichung
des integrierten Quellenmaterials erfolgt anhand der bear-
beiteten Buchtextwiedergabe von »Im Hochland von
Angola«. Dabei werden zum Beispiel Textabschnitte, für
die ergänzende Angaben im nicht veröffentlichten Material
vorliegen, durch diese ersetzt. Ferner werden die einzelnen
Kapitel durch die dazugehörige Bilddokumentation von A.
Schachtzabels ethnographischen Sammlungen und Fotos
einschließlich der informativsten Beschreibungen ergänzt.
So weit wie möglich werden zu jedem Objekt die Original-
nummer, die im unveröffentlichten Material Schachtzabels
enthaltene einheimische Bezeichnung - mit neueren lingui-
stischen Forschungsergebnissen kommentiert-, die Objekt-
beschreibung, die Herkunftsangabe, die Inventarnummer,
das dazugehörige Foto oder eine Zeichnung veröffentlicht.
Diese Bild-Textkombination stellt einen der wichtigsten
Bestandteile der Quellenintegration dar. Der Wahrung
historischer Treue als oberstes Prinzip galt dabei die beson-
dere Aufmerksamkeit der Verfasserin.
Der von B. Heintze ergänzte umfangreiche kritische Appa-
rat beinhaltet weitere Informationen aus dem nicht ver-
öffentlichten Quellenmaterial A. Schachtzabels und
bespricht Abweichungen der unterschiedlichen Fassungen.
Den inhaltlichen Aussagen des bearbeiteten Buchtextes
wird anhand fachspezifischer Quellen der neueste For-
schungsstand gegenübergestellt. Eine wesentliche Bereiche-
rung stellen die dem kritischen Apparat eingefügten aus-
führlichen Angaben zur Geschichte bestimmter Ortschaf-
ten (z. B. zu Galange, S. 84f. und zu Tschinge, S. 261) oder
zu Häuptlings- und Herrschergenealogien dar. Wo wün-
schenswert, werden die Zusammenhänge zur Missions-
oder Kolonialgeschichte hergestcllt.
Das von B. Heintze erarbeitete Verfahren der integrierten
Quellenedition stellt eine spezielle Veröffentlichungsart mit
neuem methodischem Ansatz dar. Wenn auch für For-
schungsarbeiten weitere Untersuchungen des Archivbe-
standes vonnöten sein werden, so bietet diese Veröffentli-
chung doch eine detaillierte und wissenschaftlich kommen-
tierte Zusammenstellung der Ergebnisse von A. Schachtza-
bels Reise nach Angola. Als ein wichtiges Anliegen
betrachtet B. Heintze, daß diese Edition ethnographischen
Quellenmaterials von A. Schachtzabel den Völkern Ango-
las, deren kulturgeschichtliche Zeugnisse sie darstellen,
zugänglich gemacht wird. Sie wird daher auch in portugie-
sischer Sprache erscheinen.
Christine Seige
Kultur- und stadthistorisches museum
duisburg (Hrsg.):
Kissipenny und Manilla Begleitband zur
gleichnamigen Ausstellung aus Anlaß der 19.
Duisburger Akzente 1995 »Afrika - Wurzeln
und Visionen«. Stadt Duisburg, 1995. 101 Sei-
ten, zahlreiche SW-Fotos, Zeichnungen, Kar-
ten.
Die vorliegende Publikation zeigt, daß auch ohne größeren
Aufwand, das heißt hier beispielsweise Farbfotos, Informa-
tionen über ein Ausstellungsthema an den Museumsbesu-
cher weitergegeben werden können. Zum Verständnis der
Thematik tragen insbesondere das übersichtliche Layout,
die weitgehend gelungenen Objektabbildungen sowie die
historischen Fotos und viele Zeichnungen/Karten bei. Das
eindrucksvolle Titelbild (Kaurischnecken) täuscht aller-
dings einen anderen Inhalt des Kataloges vor. Es wird fast
ausschließlich Metallgeld behandelt.
Anlaß der Ausstellung waren die 19. Duisburger Akzente
1995, veranstaltet vom Kultur- und Stadthistorischen
Museum unter kundiger Leitung von Gernot Tromnau,
Doch ohne die Köhler-Osbahr-Sammlung, die dem
genannten Museum als Dauerleihgabe überlassen wurde,
wäre die Ausstellung nicht zustande gekommen, hätte sie
keine Grundlage gehabt. Tromnau und den seinerzeitigen
Betreuern der Sammlung, Stefanie Lux und Ralf Althoff
(gleichzeitig die Redakteure der Publikation), ist es gelun-
gen, kenntnisreiche Mitarbeiter für die einzelnen Katalog-
artikel zu gewinnen. An dieser Stelle muß nun allerdings
Kritik geübt werden.
Eine Publikation, auch eine zur Ausstellung, ist etwas
anderes als diese selbst. Ein Katalog muß seine eigene
innere Geschlossenheit haben und einen (unter Umständen
theoretischen) Rahmen besitzen. Leider haben es die
Redakteure versäumt, die verschiedenartigen Artikel in ein
ethnologisches Gerüst, selbst bei der vorliegenden
Beschränkung auf materialkundliche Aspekte vormünzli-
cher Zahlungsmittel, einzuhängen. Wesentliche Grundla-
gen hierfür sind Aufbau und Gliederung einer Schrift.
Diese Voraussetzungen für eine runde Sache fehlen der vor-
liegenden Publikation.
Fast jedem der neun rein deskriptiven Beiträge ist ein Lite-
raturverzeichnis beigegeben. Thomas Lautz vom Geldge-
schichtlichcn Museum der Kreissparkasse Köln gibt eine
Einführung in die »Traditionellen Zahlungsmittel Vor-
münzlichen Zahlungsmittel Kuriosen Geldformen«. Die-
sen Ausführungen folgt der Beitrag von Elisabeth Noll über
»Vorkoloniale Metallfunde im subsaharischen Afrika«.
188
Buchbesprechungen Afrika
Ihm schließt sich der Artikel »Traditionelles Kupfer- und
Eisengeld aus Schwarzafrika« von Horst Kimpel an, der
auch den Schlußartikel »Goldstaub, ein traditionelles Zah-
lungsmittel bei den Ashanti in Westafrika« verfaßte. Der
bereits erwähnte Ralf Althoff schreibt über »Das Kupfer
vom Grund der Elbe«. Den Sammlern früher Wertmesser
und Tauschmittel, die sich in der EUCOPR1NO zusam-
mengeschlossen haben, ist Rolf Denk ein Begriff. Er ist mit
zwei Abhandlungen im Katalog vertreten, die allerdings an
anderer Stelle bereits vor zehn Jahren publiziert wurden:
zum einen »Das Manillen-Geld Westafrikas«, zum anderen
»Die verschiedenen Formen der sogenannten Katanga
Kreuze«. Nicht erst hier, aber besonders bei diesen beiden
Texten wird dem Leser bewußt, daß eine Darlegung über
Abgrenzungsfragen und monetäre Begriffsbildungen
(Wertmesser - Tauschmittel - Geld), eingebunden bei-
spielsweise in einen theoretischen Rahmen des intertribalen
Wirtschaftsverkehrs, hilfreich und sinnvoll gewesen wäre.
Zwischen den beiden Beiträgen von Denk steht der von
Thilo Rehren (Institut für Archäometallurgie) über das
»Kupfer vom Tor zur Welt«, der besser an den Artikel von
Althoff angeschlossen worden wäre (wenn schon nicht ein
einziger Text zu diesem Thema, verfaßt von beiden Auto-
ren, möglich war). Ute Wittich schreibt im Anschluß an die
Katanga-Kreuze über »Brautgeld und Depotschmuck«
(Nordafrikas), und Horst Kimpel beschließt mit dem
erwähnten Beitrag über Goldstaub den Katalog.
Trotz der kritischen Anmerkungen ist dieser Begleitband
zur Ausstellung eine Hilfe und ein Wegweiser bei der Erar-
beitung zukünftiger, ähnlich gelagerter Ausstellungen.
Axel Schulze-Thulin
Ferner, Conradin:
Living on Earth in the Sky: The Anyuak. An
Analytic Account of the History and the Cul-
ture of a Nilotic People. Volume 1. Basel: Hel-
bing & Lichtenhahn, 1994. 278 Seiten, 63 SW-
Fotos, 20 Strichzeichnungen, 3 Grafiken, 1
Karte.
Dieser Quart-Band ist der erste einer auf acht Bänden pro-
jektierten Monographie über die Anuak im Südost-Sudan.
Der Verfasser ist Skandinavist und arbeitet für das Interna-
tionale Rote Kreuz. Während einer Lehrtätigkeit an der
Universität Khartum begann er sich für die Anuak zu
interessieren und führte von 1976 bis 1979 eine Feldfor-
schung in der Nähe von Akobo durch. Er lernte zunächst
ihre Sprache und erhob dann das Quellenmaterial für seine
Monographie; gleichzeitig erwarb und dokumentierte er
eine ethnographische Sammlung, die er dem Museum für
Völkerkunde in Genf schenkte. Im Jahre 1990 wurde seine
Sprachstudie »Anyuak Language« (4 Bdc.) in New Haven
(HRAF) publiziert. Es wäre unfair, diesen ersten Band
nach ethnologischen Kriterien zu besprechen, das bedeutet
nicht das Umgehen einer kritischen Würdigung, sondern
lediglich das Anlegen eines adäquaten Maßstabes.
Der Titel des Werkes wird am einfachsten durch die
Umkehrung des Satzes »... humans ... live ‘in the sky on
earth’« (S. 103) verständlich, da die Menschen ihren Atem
aus dem »Himmel« (Luft) schöpfen, doch ihre physische
Stabilität aus der Erde erhalten.
Ferner verzichtet auf gezielte Fragestellungen oder einen
theoretischen Rahmen, vielmehr bemüht er sich um einen
emischen Ansatz. Die methodische Vorgehensweise beruht
auf der Erhebung, Transkripiton, Übersetzung und Inter-
pretation von Daten aus der oralen Tradition, den Anekdo-
ten, Erzählungen, Liedertexten, Märchen, Mythen und
Sprichwörtern der Anuak.
In der Einleitung führt der Autor in die allgemeinen Rah-
menbedingungen ein. Die Anuak sind Niloten und zählen
etwa 80.000 Mitglieder. Sie leben in einem fruchtbaren
Gebiet im südöstlichen Sudan und südwestlichen Äthio-
pien und betreiben eine Mischwirtschaft, die aus Anbau,
Fischfang und der Jagd besteht. Bevor sie sich vor einigen
Jahrhunderten in ihrem rezenten Territorium niederließen,
waren sie Rindernomaden, die vermutlich aus dem Südsu-
dan emigrierten. Ihre Nachbarn sind die bekannten Nuer,
Dinka und Murle. Das politische System ist traditionell das
sakrale Königtum. Jwök ist der Schöpfergott.
Im ersten Kapitel wird die Mythologie behandelt. Nach-
dem Gott sich selbst, die Welt und die Tiere erschaffen
hatte, schuf er den Mensch. Es waren Zwillinge, die nach
Ansicht der Tiere sehr häßlich waren, deshalb befahl Gott
dem Hund sie zu töten; doch der Hund versteckte und füt-
terte sie heimlich, bis sie groß waren. Als Gott dies erfuhr,
versuchte er selbst wiederholt - jedoch vergeblich - die
Menschen zu töten.
Gott wird im folgenden Kapitel als ein anonymes geistiges
Prinzip beschrieben, das instabil und destruktiv ist; selbst
sein Werk wird als schlecht bezeichnet. Deshalb erlauben
die Menschen Gott nicht den Zutritt auf ihr Gebiet; sollte
er es dennoch wagen, wird er verjagt und möglicherweise
getötet. Das Territorium Gottes ist der Himmel, von dem
der Mensch abhängig ist. Der Wind bringt nicht nur Luft
zum Atmen, sondern auch Sturm und Regen, die gut oder
zerstörerisch sein können; deshalb gilt es den Himmel
genauestens zu beobachten und vor allem das Verhalten
der Vögel zu verstehen. Vögel haben besondere Beziehun-
gen zum Himmel und Kenntnisse der Pläne Gottes; ihr Ver-
halten macht das Unsichtbare sichtbar. Die symbolische
Bedeutung der Vögel läßt sich auf die Bäume übertragen;
Vögel Biegen vom Himmel in die Bäume, wo sie ihre Nester
bauen. Bäume haben ihre Wurzeln in der Erde, doch der
Stamm und die Krone streben dem Himmel entgegen, des-
halb werden Bäume als Bindeglieder zwischen dem Men-
schen und dem Himmel betrachtet.
Ein Kapitel ist der Hexerei gewidmet. Auch mit Hilfe der
Hexerei kann Gott auf die Menschen störend einwirken.
Wie dies im einzelnen geschieht, erfahren wir nicht. Doch
scheint sich Gott bei dieser Einmischung in die menschliche
Existenz Hexen zu bedienen. Bei diesen Frauen und Män-
nern handelt es sich ausschließlich um Menschen, die schon
ohne bzw. mit unvollständigen oder deformierten
Geschlechtsorganen geboren wurden. Es gibt keinen
ersichtlichen Grund, warum eine Hexe eine bestimmte Per-
son behext; Hexerei ist kein menschlicher Akt sondern der
Fluch Gottes.
Die Themen des anschließenden Kapitels sind Krankheit
und Heilung. Auch hier werden - wie so oft in Afrika zwi-
schen profanen (Unfall etc.) und übernatürlichen Krank-
heiten (Hexerei und Fluch) unterschieden; letztere werden
von Heilem und meistens kollektiv behandelt. Die aufge-
führten Erkrankungen und ihre Heilmethoden sind zu
zahlreich, um hier auch nur erwähnt zu werden.
Etwas verdichtet werden die komplexen Themen Tod, Jen-
seits und Ewigkeit referiert. Für die Anuak endet das Leben
mit dem Tod und es gibt kein transzendentes Jenseits. Es
existiert nur ein ewiges Leben, aber dieses Sein gehört Gott
und nicht den Menschen. Allerdings setzt sich nach dem
physischen Tod das Leben in einer anderen Form oder
einem anderen Sein fort. Der Körper wird wieder zu einem
TRI BUS 45, 1996
Teil der Erde. Die Erde symbolisiert das Leben, und aus der
Erde werden Menschen geboren; deshalb lebt der Verstor-
bene als Erde weiter. Darüber hinaus gibt es noch ein Wei-
terleben in der Gemeinschaft, das als eine Form der Rein-
karnation verstanden wird. Voraussetzung dafür ist die
eigene Reproduktion von Nachkommen. Es wird nicht
ersichtlich, ob und für welche Form des Weiterlebens nach
dem Tod sich der Verstorbene entscheiden kann. Im
Gegensatz zu den Menschen sind Könige geistige Wesen,
die - selbst nach sakralem Königsmord - nicht sterben kön-
nen, sondern einfach verschwinden und unsichtbar werden
und dennoch stets anwesend sind. Sie können aber auch zu
Schlangen werden und in Bäumen leben. Deshalb werden
verstorbene Könige im Wurzelreich der Bäume beerdigt,
während die Anuak ihre Toten innerhalb der Dornenum-
zäunung ihrer Heimstätten bestatten. Mit einer kurzen
Ausführung über die Zeit und den Raum endet dieses
Buch.
Bei der Zielgruppe der Leser handelt es sich nicht um Eth-
nologen, sondern um ein Publikum mit Interesse an Afrika,
insbesondere am Sudan. Für sie ist dieses nicht alltägliche,
spannend und verständlich geschriebene Buch eine will-
kommene Lektüre. Diese Leser tangiert es nicht, daß der
Informationsgehalt für Ethnologen nicht sehr hoch ist.
Fachleute vermissen eine präzise Verwendung der ethnolo-
gischen Terminologie, eine Analyse, Schlußbemerkung und
ein Literaturverzeichnis der verwendeten Quellen. Die wie-
derholt auftretende Redundanz der Information hat ihre
Ursache in der wenig differenzierten Gliederung. Leider
sind die Fotos und Strichzeichnungen weder durchgehend
numeriert noch mit Unterschriften versehen, so daß oft der
Zusammenhang zwischen Text und Abbildung nicht
ersichtlich wird. Der englische Text ist gut leserlich
geschrieben; störend sind hingegen nicht übersehbare
grammatische Verstöße, Schreibfehler, Germanismen und
befremdende Formulierungen, so z. B.: »... the Anuyak
asked astonished about the Arab’s fervour« (S. 1209) und
»... whoever has thirsted ...« (S. 34) oder »... the Anuyaks
also exhibit remarkablc intelligence« (S. 24). Nicht zu ent-
schuldigen ist in der Danksagung die fehlerhafte Namen-
schreibung eines bekannten Basler Ethnologen, von dem
Ferner beraten wurde.
Ungeachtet der erwähnten Defizite ist Perners Veröffentli-
chung zu begrüßen. Mit diesem Band ist es ihm gelungen,
einen weiteren Beitrag zum Verständnis fremder Kulturen
und zur Vermittlung zwischen Ethnologie und einem inter-
essierten Leserkreis zu leisten. Sein Einführungsvermögen
und die Sympathie für die Anuak machen dies möglich. Es
bleibt zu hoffen, daß weitere Bände folgen.
Günter Best
Franz Trost:
Ethnoarchäologie in Südwest-Burkina Faso.
1. Das Fundmaterial. Graz: Akademische
Druck- und Verlagsanstalt (ADEVA), 1993.
ISBN 3-201-01603-9. 179 Seiten, 12 Fotota-
feln.
Franz Trosts Buch über die Ethnoarchäologie ist die
Frucht mehrerer Reisen nach Burkina Faso seit 1971:
Zwölf Jahre später folgte eine weitere, zwischen 1987 und
1992 insgesamt deren drei.
In der kurzen geographischen Übersicht beschreibt Trost
das Land, das geologisch durch ausgedehnte Sandsteinpla-
teaus mit ihren Steilabbrüchen und dem sonstigen For-
menschatz einer derartigen Landschaft charakterisiert ist.
Bis zu 450 m erheben sich Plateaus über das Tiefland.
Grasland und offene Wälder bestimmen das Vegetations-
bild, geprägt von Regenzeiten und ihrem Rhythmus. Diese
Region war schon in früheren Zeiten menschliches Sied-
lungsgebiet. Früher heißt hier wohl Jahrhunderte vor der
»Ankunft« der ersten Europäer im Sudan und Sahel - und
auf die Überreste aus dieser Vergangenheit konzentriert
sich der Autor.
Im 2. Kapitel wird die Forschungsgeschichte zur Prähisto-
rie kurz referiert. Sie beginnt mit ersten Untersuchungen
1922 und endet 1984 mit dem letzten Eintrag in der Liste-
ist dies ein kleiner Hinweis darauf, daß Trost den Stand der
letzten Jahre einfach nicht mehr erfaßt hat? Soweit es mög-
lich war, wurden die Fundobjekte erwähnt und auch deren
Verbleib in privaten oder öffentlichen Sammlungen. Eine
Liste der bis 1984 bekannten Fundplätze lithischen Mate-
rials mit Koordinatenangaben und Literaturverweisen
schließt dieses Kapitel.
Den Hauptteil des Buches nehmen die detaillierten Beschrei-
bungen vierer (eigentlich nur 3, davon später) Fundareale
ein, jeweils mit einer Reihe von Fundplätzen, die dann mit
genauen geographischen Koordinaten lokalisierbar sind,
Trost schätzte die Werte anhand von Luftbildern und Kar-
tenblättern ab mit einer Unsicherheit von 15”. Dieser Winkel
entspricht etwa 400 m Länge in dieser Erdregion. Mit dieser
Genauigkeit sollte es auch anderen bzw. späteren Forschern
möglich sein, die Orte erneut aufzufinden.
Innerhalb des beschreibenden Teils ordnet Trost seine
Untersuchungsergebnisse systematisch:
1) Felsgrotten (Abris)
2) Wüstungen von Siedlungsplätzen, freiliegende Anlagen
3) Fundinventar:
a) Architektur, b) lithisches Material,d.h. Steinwerkzeuge,
c) Keramik, d) Metallobjekte, e) diverse Objekte,
0 Felsbilder, g) Näpfchen und Schalen, Rillen. Tröge, etc.
Man sieht schon an dieser Einteilung, daß ein Schwerge-
wicht auf dem Material »Stein« liegt (b, f, g). Dies liegt
nahe, da der Autor schon früher über Felsbilder der Zen-
tralsahara publizierte.
In den Unterkapiteln zum Fundinventar findet man nun
exakte Schilderungen der Objekte, in Einzelfällen auch
Angaben zur bekannten bzw. rekonstruierten Herstellungs-
weise und zum geschichtlichen Kontext mit Parallelbezü-
gen in der afrikanischen (Prä)Historie. Metall- und Kera-
mikobjekte sind metallurgischen bzw. Thermoluminiszenz-
analysen zugänglich, die am Völkerkundemuseum in Wien
vorgenommen wurden. Trost kommentiert sie zusätzlich.
Besondere Zuwendung (S. 51 - 54) fand ein Kupferarmreif,
von dem ein Vergleichsstück schon lange bekannt war und
dem ein Alter von rund 1000 Jahren zugeschrieben wird.
Wieso ein Messer (S. 54) als Sakralobjekt geführt wird,
bleibt ohne Begründung und Erklärung, ebenso was ein
»punktförmiger Rillenschliff« (S. 57) auf einer Felsfläche
sein soll.
Ein Beispiel im Detail: Im Areal A wurden Oberflächen-
funde in Felshöhlungen gemacht, aber auch Grabungen bis
maximal 90 cm Tiefe (so in Grotte 3). Dabei förderte Trost
eine Reihe von Steinwerkzeugen (Klingen, Querschneider,
Kratzer) ans Tageslicht, weiterhin Abschläge und Nuklei.
Zusätzlich fand er Messerfragmente und einige wenige
Kauris. In der Zusammenfassung (S. 40M6) wurden die
vorher aufgelisteten Funde des lithischen Materials verglei-
chend beschrieben.
Insgesamt kann man schon sagen, daß Trost präzise und
detailliert beschreibt (von obigen Feinheiten abgesehen),
190
Buchbesprechungen Amerika
auch wenn man manchmal den Eindruck hat, er habe sich
ab und zu so in Details verloren, daß ihm der Überblick
verloren ging oder dieser zumindest nicht mehr vermittelt
wurde. Trotzdem besteht noch die Chance, diesen
Überblick ja noch für den Leser herzustellen, denn im Vor-
wort wird bereits auf die Interpretation des Fundmaterials
hingewiesen, die in Band 2 folgen soll. Wieso dann aller-
dings die Beschreibung des 4. Fundareals weitgehend
unterbleibt (genauer: Dem Areal A werden 31 Seiten
gewidmet, für Areal B stehen 15, für C 19 und für D nur 2
Seiten zur Verfügung ... !), wird nur mit der Bemerkung
quittiert, daß man Wiederholungen von Reproduktionen
vermeiden wollte. Aber es sollte doch das hier besprochene
Buch der Materialband sein ... !
Trotz dieser Ungereimtheiten, die den Gesamteindruck trü-
ben (was sagt eigentlich der Lektor der ADEVA dazu?),
gibt der Text einen Einblick in die noch sehr rudimentär
entwickelte Archäologie eines kleinen Gebietes Westafri-
kas.
Der Bildteil umfaßt 62 Tafelseiten mit S/W-Abbildungen
und 12 Seiten mit 25 S/W-Fotos. Er ergänzt die Beschrei-
bungen des ersten Buchteiles und ist in gewohnter
ADEVA-Qualität ausgeführt. Der umgekehrte Blickwinkel
ist bei diesem Buch aber auch gerechtfertigt: Die sehr guten
Abbildungen, meist Umzeichnungen, die die wichtigen
Details hervorheben, werden durch den Textteil beschrei-
bend .ergänzt. Aber immer, wenn der Gedankenstrom
eigentlich weitergehen könnte in Richtung Interpretation,
Zusammenfassung etc. hält Trost inne (ohne es nochmals
zu sagen), der Leser läuft ein wenig ins Leere, aber er hat ja
den Trost des Folgebandes ...
Insgesamt ist das vorgestellte Buch für Menschen mit
besonderem Interesse an westafrikanischer Frühgeschichte
lesenswert, bleibt aber ohne den dem Rezensenten nicht
vorliegenden Band 2 ein unvollständiges Werk. Man kann
für eine Gesamtbewertung eigentlich nicht auf das zweite
Buch verzichten.
Wolfgang Creyaufmüllhr
August, Sabine;
Die Indianer im Spiegel der brasilianischen
Gesellschaft. Frankfurt am Main; IKO-Verlag
für Interkulturelle Kommunikation. 1995. 222
Seiten, 3 Abbildungen.
Brasilien, das in den letzten Jahren besonders in Europa
hinsichtlich seines Raubbaues am tropischen Regenwald
und seiner Indianerpolitik häufig mit negativen Schlagzei-
len bedacht wurde, pflegt im Land selbst den Mythos einer
»Rassendemokratie«. Ein Begriff, der politische Gleichbe-
rechtigung und eine pluriethnische Gesellschaflordnung
impliziert, der der aus europäischen Einwanderern, ehema-
ligen afrikanischen Sklaven und einer Vielzahl kulturell
sehr unterschiedlicher indianischer Gesellschaften beste-
henden Bevölkerungsformation des Landes Rechnung zu
tragen sucht. Zielsetzung des Buches ist es, das Indianer-
bild Brasiliens herauszuarbeiten und damit das Prinzip der
Rassendemokratie auf seine tatsächliche Existenz hin zu
überprüfen. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich
hierbei auf die 10 Jahre (Ende der 60er bis Anfang der 80er
Jahre), in denen die beiden wichtigsten, die Indianerpolitik
bestimmenden Institutionen, gegründet wurden: das
FUNAI (Fundaqäo Nacional do Indio), die Nationale
Indianerstiftung und das CIMI (Conselho Indigenista Mis-
sionärio), der Indianerraissionsrat. Diesem Prinzip folgt
auch der Aufbau des Buches, das in drei große Überkapitel
gegliedert ist. Das erste widmet sich dem Indianerbild Bra-
siliens, das zweite der FUNAI, das dritte dem CIMI.
Die Autorin beginnt mit einer ausführlichen Besprechung
des Romans »Herrenhaus und Sklavenhütte« von Gilberto
Freyre, der als Begründer des Mythos »Rassendemokratie«
gilt. Ihrer Ansicht nach sieht er die Kolonisierung Brasi-
liens auch eindeutig als eine Kultivierung an, die von den
Portugiesen in Gang gesetzt und von der Arbeitskraft der
afrikanischen Sklaven finanziert wurde. Die autochthone
Bevölkerung hingegen wurde lediglich als Sexualobjekt
und Katalysator angesehen (S.30). Freyres Werk spiegelt in
starkem Maße die Ansichten der - bis heute - herrschenden
weißen Oberschicht wider (S.31), er schildert die Entste-
hung der brasilianischen Gesellschaft aus deren Sicht. Der
Analyse des romantisierten Begriffs der »Rassendemokra-
tie« wird in den darauffolgenden Abschnitten die brasilia-
nische Wirklichkeit gegenübergestellt. Statistische Daten
über die Verteilung der indianischen Bevölkerung in Brasi-
lien (die meisten leben im Nordosten, dem Amazonasge-
biet, der ärmsten Region des Landes) sowie die Schilderung
der Lebensverhältnisse münden in Beschreibungen von
Landraub und der Ausbeutung indianischer Arbeitskraft
sowie die langsame Vernichtung der autochthonen Bevöl-
kerung durch entwürdigende Behandlung. Entfremdung
von der traditionellen Lebensweise, schlechte medizinische
Versorgung und wirtschaftlichem Elend (S.43-44). Die
Aussichtslosigkeit indianischer Existenz, die zwischen ver-
schiedenen wirtschaftlichen »Expansionsfronten« (Groß-
grundbesitzer, Sammler, Viehzüchter und Viehtreiber) auf-
gerieben wird, lastet die Autorin zurecht dem brasiliani-
schen Staat, der eine aggressive Ansiedlungspolitik im Nor-
dosten Brasiliens betreibt, an: Vor allem um eine seit vielen
Jahrzehnten fällige Landreform zu vermeiden, wird ver-
sucht, der massiven Migration der armen Landbevölke-
rung in die großen Industriezentren (Rio de Janeiro, Säo
Paolo, Belo Horizonte) durch Umsiedlung der Migranten
in das Amazonasgebiet entgegenzutreten (August 1995: 81;
Wood 1988: 221).
Diese Politik wird massiv vom FUNAI, Gegenstand des
zweiten Kapitels, unterstützt und durch Gesetzgebung legi-
timiert. So werden die Indianer von vornherein als »verwal-
tungs- und entwicklungsbedürftige Wesen« bezeichnet und
ein Indianerschutzgesetz beschlossen, das die »natürlich
verlaufende Hebung der Kulturstufe der Indianer ohne
abrupte Veränderungen anstrebt« (S. 88). Als Beispiel für
die Indianerpolitik ab 1970 wird die Pazifizierung von In-
dianerstämmen durch das FUNAI in seinen einzelnen
Schritten beschrieben: 1. schrittweise Heranführung an
Konsumgüter, Aufzeigen der Rückständigkeit der eigenen
Kultur; 2. Aufgabe der immateriellen Kulturgüter wie
Bräuche, Riten, Schamanentum; 3. Integration in das
nationale Schul- und Erziehungssystem, restliche Zer-
störung der eigenen Identität (S. 126).
Im dritten und letzten Abschnitt des Buches wird das 1972
gegründete CIMI vorgestellt. Es entstand aus der Theolo-
gie der Befreiung und versucht dessen Prämissen in der
Indianerpolitik umzusetzen. Darunter wird vor allem die
Modernisierung des veralteten Missionierungssystems, die
Verbesserung der Kommunikation unter den Missionaren,
die Befreiung und Neugestaltung der Gesellschaft auf der
Grundlage der ethnischen Pluralität und kulturellen
Andersartigkeit sowie die globale und umfassende Befrei-
ung der indianischen Bevölkerung verstanden (S. 147 149).
Das CIMI verlangt die Umorientierung im Umgang mit
den Indianern, z.B. in der Schulpolitik (bikulturelle Erzie-
191
TRIBUS 45, 1996
hung). Es unterstützt die wissenschaftliche Erfassung und
Lehre von Indianersprachen sowie die Geschichtsschrei-
bung aus indianischer Sicht (S. 159).
Die katastrophale Lage der Indianer Brasiliens kann nicht
oft genug öffentlich gemacht werden. Jeder Beitrag zu die-
sem Thema ist wichtig und notwendig. Trotzdem müssen
einige kritische Bemerkungen zu dem vorliegenden Buch
erlaubt sein. Es wäre vor allem wünschenswert gewesen,
noch ein, wenn auch kurzes, Kapitel über die neuere Ent-
wicklung anzufügen. Gerade in den 80er und vor allem
frühen 90er Jahren kam es doch zu Veränderungen, die die
ohnehin schon schlechte Lage der Indianer noch weiter ver-
schlimmerten. Die neue Wirtschaftspolitik der meisten
Länder Lateinamerikas führte größtenteils zumindest
vorerst - zu einer Verschärfung der Massenverelendung,
was in Brasilien zur weiteren Zerstörung des Regenwaldes,
des Lebensraumes der meisten Indianer, beitrug; In den
ersten Wochen dieses Jahres (1996) wurde wieder eine Sied-
lungsoffensive im Amazonasgebiet gestartet.
Zu unkritisch erscheint in dem Buch auch die Präsentation
des C1MI. Ist und bleibt es doch eine kirchliche Einrich-
tung, die, wenn sie sich auch gegen die indianerfeindliche
Politik des FUNAI stellt, doch immer die Missionierung
zum Ziel hat, also das zuvor als »Ablegen der immateriellen
Kulturgüter wie Bräuche, Riten, Schamanentum...« (S.
120) kritisierte Vorgehen der FUNAI lediglich mit anderen
Methoden betreibt. Auch wäre zu überprüfen, inwieweit
sich das an den Thesen der Befreiungstheologie orientie-
rende CI MI überhaupt noch diesen Grundsätzen Folge lei-
stet. Die Theologie der Befreiung ist unter dem neuen Papst
stark unter Druck geraten. Liberale Bischöfe wurden - vor
allem auch in Brasilien - abgelöst und durch konservative
ersetzt, die diesen Thesen ablehnend gegenüberstehen
(Kinzel 1995:22). Häufig wurde den Theologen dieser Aus-
richtung eine zu auffällige Nähe zum Marxismus unterstellt
(Levine 1992:40). Wünschenswert wäre auch das Aufneh-
men neuerer Literatur gewesen, da die jüngste Angabe von
1988 stammt.
Literatur:
Kinzel, Klaus-Michael
1995: Befreiungstheologie in Deutschland? Essen.
Levine, Daniel H.
1992: Populär Voices in Latin American Catholicism.
Princeton.
Wood, Charles H.
1988: The Demography of Inequality in Brazil. Cam-
bridge.
Doris Kurella
Dixon, E. James;
Quest for the Origins of the First Americans.
Albuquerque: University of New Mexico
Press, 1993. 154 Seiten, viele SW-Fotos, Zeich-
nungen, Karten.
Wie und wann kamen die ersten Amerikaner, die soge-
nannten Paläoindianer, nach Amerika? Diese Frage ist
nach wie vor Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen
über die Besiedelung des westlichen Kontinents gegen Ende
des Pleistozäns. Die meisten Anhänger unter Amerikani-
sten und Prähistorikern hat die These, daß in den letzten
zwei Jahrtausenden der Wisconsin-Eiszeit (in Europa
Würm- oder Weichsel-Glazial) einzelne Gruppen ostasiati-
scher Jäger/Sammler über Beringia, die damals noch
trockene Bering-Straße (der Meeresspiegel lag ca. 100 m
tiefer als heute) das sich östlich anschließende Land
erreichten. Während zahlreicher Generationen, zunächst
durch einen »eisfreien Korridor« zwischen den beiden
kanadischen Eisschilden, wanderten diese Gruppen all-
mählich nach Süden. Neben dieser Route wird von einzel-
nen Wissenschaftlern eine andere akzeptiert, nämlich die
entlang der Westküste Amerikas nach Süden, wegen der
weitgehenden Vereisung dieser Küstenstrecke zur fragli-
chen Zeit mittels Booten. Der Autor der vorliegenden
Publikation steht dieser zweiten These nahe.
Der Titel des Buches spiegelt nicht den tatsächlichen Inhalt
wider. Bei seinem Suchen nach den Ursprüngen der ersten
Amerikaner begibt sich Dixon nämlich nicht in das Innere
Ostasiens, sondern bleibt vornehmlich in Amerika, mit
einigen wenigen Abstechern in das nordostasiatische
Küstengebiet. Auch im übertragenen Sinne wäre der Titel
ziemlich hochgestochen. Nach einem kurzgefaßten
Überblick über die Forschungsgeschichte der vergangenen
zwei Jahrhunderte legt der Verfasser eine Zusammenfas-
sung des derzeitigen Wissens über die Paläoindianer vor,
wobei er - bedingt durch die Fundsituation - richtigerweise
die Stationen mit gekehlten Spitzen in Alaska und dem
nordwestlichen Teil des Kontinents in den Mittelpunkt sei-
ner Erläuterungen stellt. Der mit persönlichen Eindrücken
und kleinen Erlebnissen aufgelockerte Text läßt sich gut
lesen, bringt jedoch keine neuen Erkenntnisse. Auch bei sei-
nen weiteren Darlegungen, so über die Umweltverhältnisse
in Beringia während des Endpleistozäns, vermag Dixon
lediglich Bekanntes, unter Angabe verschiedener Quellen,
zu rekapitulieren. Dies läßt sich ebenfalls über die folgen-
den Abschnitte sagen, sei es die Uralt-Frage, ob ein Fund-
objekt artifiziell ist oder nicht, sei es die Darstellung der in
Alaska festgestellten arktischen Traditionen oder Kom-
plexe, oder seien es die Versuche, mit Hilfe der experimen-
tellen Archäologie zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Auch
im Buch selbst wird manches bereits Gesagte an anderer
Stelle wiederholt. Nicht gerechtfertigt ist es, das Kapitel
über Monte Verde in Chile sowie andere angeführte Fund-
plätze ähnlichen Alters nur aufgrund einer neuen Radio-
karbondatierung von 33.000 v.h. einer unteren Schicht in
Monte Verde und den umstrittenen Altersangaben von
Pedra Furada in Brasilien mit »People before Paleoindi-
ans« zu überschreiben, denn die einstigen Bewohner aller
dieser Stationen fallen sämtlich unter den Begriff »Paläoin-
dianer«. »People before Clovis« wäre eventuell passend
gewesen, doch abgesehen davon haben sich bisher alle
extrem frühen Datierungen zur Urgeschichte Amerikas als
falsch erwiesen. Entgegen der Annahme Dixons ist auch
Australien kein Spiegelbild von Beringia (S. 132). Gegen
diesen Vergleich sprechen schon die völlig anders gelager-
ten Umweltvcrhältnisse in den beiden Hemisphären
während des Pleistozäns.
Zum Schluß sei noch einmal kurz auf die Frage der Ein-
wanderung nach Amerika zurückgekommen. Auch die
These der Landroute hat noch immer ihre Schwächen.
Doch bei Abwägung aller Pros und Contras muß sich das
Pendel eher einer Einwanderung nach und in Nordamerika
über Land zuneigen. Fehlende Voraussetzungen verschie-
dener Art, insbesondere die starke Vergletscherung der
Pazifikregionen auch im Endpleistozän, machen die
Küstenroute recht unwahrscheinlich. Erst in den folgenden
(auch schon frühen) holozänen Jahrtausenden wird ein
Buchbesprechungen Amerika
Zugang entlang der Pazifikküste und flußaufwärts in das
amerikanische Landesinnere denkbar. Daran ändern auch
die einzelnen Funde fossiler Faunenreste aus endpleistozä-
nen Zeiten nichts, die in verschiedenen Höhlen nordameri-
kanischer Pazifikregionen gemacht wurden. Denn selbst-
verständlich gibt es auch in unwirtlichen (»eisigen«) Gebie-
ten Nischen, die ein Überleben kälteresistenter Säugetiere
ermöglichen. Knut Fladmarks Eintreten für eine Pazifik-
route in den 1970er Jahren kann so jedenfalls nicht an
Gewicht gewinnen.
Axel Schulze-Thulin
Helbig, Jörg (Hrsg.):
Brasilianische Reise 1817-1820. Carl Frie-
drich Philipp von Martius zum 200. Geburts-
tag. Staatliches Museum für Völkerkunde,
München; Hirmer Verlag, 1994. 280 Seiten,
zahlreiche Abbildungen.
Die vom Hirmer Verlag hergestellten Kataloge bereiten
bereits vor dem Lesen einen ästhetischen Genuß. Dies ist
auch hier der Fall: Sowohl das Layout als auch die Wahl
und die Qualität der Abbildungen bezeugen die hervorra-
gende editorische Zusammenarbeit zwischen dem Heraus-
geber Jörg Helbig und dem Verlag.
Das Buch ist anläßlich einer dem Werk Carl Friedrich Ph.
von Martius gewidmeten Ausstellung erschienen. Als Mit-
glieder einer österreichischen Expedition bereisten der
Botaniker Martius und der Zoologe Johann Baptist von
Spix von 1817 bis 1820 Brasilien. Da Spix wenige Jahre
nach der Rückkehr aus Brasilien starb, war es vorwiegend
Martius, der während seines langen Lebens die aufgezeich-
neten Informationen bearbeitete. Seine naturkundlichen
Leistungen werden im Katalog von Jürke Grau (»Erlebte
Botanik - Martius als Wissenschaftler«) gewürdigt,
während Ernst J. Fittkau (»Johann Baptist von Spix, Zoo-
loge und Brasilienforscher«) an die Bedeutung der zoologi-
schen Forschungen des früh verstorbenen Expeditionslei-
ters Spix erinnert.
Die Aufzeichnungen der beiden Forscher während der
Reise führten zu einem sprunghaften Anstieg der landes-
kundlichen und ethnographischen Kenntnisse über das
damals nahezu unbekannte Land. Sie zogen von Rio de
Janeiro zuerst nach Süden, dann bis Belem und von dort
aus acht Monate den Amazonasstrom abwärts. Während
ihres dreijährigen Aufenthaltes legten sie über 10.000 km
zurück. Zu den bedeutenden Ergebnissen der Reise zählen
sowohl eine Dokumentation der materiellen Kulturausrü-
stung brasilianischer Indianer als auch eine Fülle von eth-
nographischen Informationen über indianische Kulturen,
die damals außerhalb ihres Wohngebietes praktisch unbe-
kannt waren. Dies gilt u.a. für die Tukuna, Mundurucü
und Miranha.
Der Katalog ist Otto Zerries anläßlich seines 80. Geburts-
tages gewidmet, der im Münchner Museum für Völker-
kunde in langjähriger Tätigkeit die von Spix und Martius
gesammelten Ethnographika betreute und beispielhaft
beschrieb (Zerries 1981). Er bezog die inzwischen gewonne-
nen Kenntnisse ethnographischer Forschungen in die
Betrachtung mit ein. die die Bedeutung und den tieferen
Sinn bestimmter Gegenstände der Sammlung, wie z. B. der
Tierdarstellungen in den Tanzmasken der Tukuna, erhellen
(Zerries 1961).
Der Beitrag Gabriele Mauthes (»Die österreichische Brasi-
lienexpedition 1817-1836«) behandelt den Anlaß und die
Durchführung der Reise im Rahmen der großen, von Kai-
ser Franz I. zusammengestellten Expedition österreichi-
scher Wissenschaftler und deren Auswirkungen, während
sich Ludwig Tiefenbacher (»Die Bayerische Brasilienexpe-
dition von J.B. von Spix und C.F.Ph. von Martius
1817-1820«) auf die einzelnen Etappen und Ereignisse der
Reise von Spix und Martius konzentriert, die sich schon
früh von der österreichischen Expedition trennten.
Als vielseitige Persönlichkeit schilderte Martius die Neue
Welt auch aus einer künstlerischen Perspektive, wie sein
posthum erschienener Roman zeigt (Martius 1992). ln sei-
nem Wirken als Hochschullehrer und in seinem gesell-
schaftlichen Milieu stellt ihn Sigrid von Moisy (»Martius in
München. Streiflichter aus dem geselligen und häuslichen
Leben«) unter Heranziehung z.T unveröffentlichten Ar-
chivmaterials so lebendig dar, daß nicht nur die Person
Martius, sondern auch seine Epoche beleuchtet wird.
Zwei andere Beiträge nehmen die ethnographischen Infor-
mationen der Reise und der Sammlung ins Visier: Klaus-
Peter Kästner (»Kulturgeschichtliche und ethnohistorische
Betrachtungen zur ethnographischen Sammlung von J. B.
von Spix und C. F. Ph. von Martius«) steuert eine kulturge-
schichtliche Betrachtung der von den Forschern besuchten
indianischen Gesellschaften bei. Ausgehend von einer
Reihe von Gegenständen der Sammlung, nämlich den mit
dem Schnupfen von Halluzinogenen pflanzlicher Herkunft
verknüpften Paraphernalia, stellt Wolfgang Kapfhammer
(»Schnupfriten in Südamerika«) dieses Phänomen im wei-
teren Kontext der Religionen südamerikanischer Indianer
dar.
Einen Schwerpunkt des Buches stellt das Bildmaterial dar,
das die engagierte Suche des Herausgebers bezeugt. Der
über 100 Seiten umfassende Katalogteil bringt außer den
Gegenständen der Münchner Sammlung und den Abbil-
dungen aus dem Bildatlas der Reise von Spix und Martius
zum Teil bisher unveröffentlichte Ikonographie. Etwas
befremdend wirkt jedoch, daß die Illustration auf dem
Umschlag nicht eine Landschaft Brasiliens, sondern eine
der Montana Perus zeigt (siehe S. 178).
Vermißt habe ich in diesem hervorragenden und für künf-
tige Arbeiten unverzichtbaren neuen Werk über Martius
einen zentralen Aspekt des Wirkens von Martius, nämlich
zumindest eine Erwähnung seiner Theorien zur Entwick-
lung der südamerikanischen Indianer, die er mit seinen per-
sönlichen Erlebnissen, seiner Kenntnis der Chronisten der
Eroberung Amerikas sowie den Ergebnissen der archäolo-
gischen Ausgrabungen in Mexiko und Peru untermauerte.
Martius selbst verstand sich auch als Ethnograph, dessen
Anliegen es war, die Mechanismen der Entstehung und
Zersplitterung der amerikanischen Völker zu analysieren.
Er interpretierte den von ihm konstatierten kulturellen
Tiefstand der Indianer nicht etwa als eine simple Rückstän-
digkeit, die eventuell aufzuheben wäre, sondern als Ergeb-
nis einer sekundären Verarmung und Entartung, für die es
keinen Ausweg geben konnte. Die Ureinwohner seien nicht
wild, sondern verwildert und dies aufgrund von Katastro-
phen, die lange Zeit vor der Eroberung stattgefunden hat-
ten (Martius 1838:6). Die amerikanischen Indianer gingen
seiner Meinung nach schnellen Schrittes ihrem unvermeid-
lichen Untergang entgegen (op. dt.: 40 f).
Die Indizien, auf die er sich dabei stützt, können hier nicht
erläutert werden, jedoch steht fest, daß er das, was uns
heute weniger als Folge endogener als exogener Ursachen,
also als Folge der Kolonisierung und des erzwungenen Kul-
turwandels erscheint, mit einem mit Entschiedenheit ausge-
193
TRIBUS 45, 1996
sprochenen Fatalismus betrachtete. Seine Thesen des Aus-
sterbens und des Untergangs haben ihn so sehr beschäftigt,
daß sie ihm den Blick für andere Interpretationen versperr-
ten. Eine Betrachtung der diesbezüglichen Theorien Mar-
tins und die Klärung ihrer geistesgeschichtlichen Wurzeln
würde unsere Kenntnis des vielseitigen Gelehrten vervoll-
ständigen und darüber hinaus seine Stellung in der
Geschichte des ethnologischen Denkens klären.
Literatur:
Martins, Carl F. Ph. v.
1838: Die Vergangenheit und Zukunft der amerikani-
schen Menschheit. In; Martius, Zur Ethnographie
Amerika’s zumal Brasiliens: 1-42. Leipzig 1867.
1992; Frey Apollonio. Ein Roman aus Brasilien, erlebt
und erzählt von Hartoman. Nach der handschrift-
lichen Urschrift von 1831...herausgegeben von
Erwin, Theodor Rosenthal. Dietrich Reimer Ver-
lag. Berlin.
Zerries, Otto
1961: Die Tanzmasken der Tukuna und Juri-Taboca
Indianer der Sammlung Spix und Martius ... und
ihre Bedeutung im Lichte neuer ethnologischer
Forschung. In: Paideuma, VII (7). Wiesbaden.
1980: Unter Indianern Brasiliens. Sammlung Spix und
Martius 1817 1820. Sammlungen aus dem Staatli-
chen Museum für Völkerkunde München, Bd. 1.
Pinguin-Verlag, Innsbruck, Umschau-Verlag,
Frankfurt/M.
María Susana Cipolletti
Smith, Eric Aloen:
Inujjuamiut Foraging Strategies - Evolutio-
nary Ecology of an Arctic Hunting Economy.
New York: Aldine de Gruyter, 1991. 455 Sei-
ten, diverse Tabellen.
Wer dieses Buch aufmerksam durchstudiert - lesen allein
genügt nicht -, hat viel über das Jagdverhalten heutiger
Inuit (Eskimo Kanadas) gelernt, insbesondere das der Inuj-
juamiut. der Bewohner des kleinen Dorfes Inujjuaq (oder
Inukjuak; engl. Port Harrison) an der Ostküste der Hudson
Bay im Norden Kanadas. Der Verfasser hat sich hier über
ein Jahr (1977/78) aufgehalten, um Inuit-Jagdstrategien zu
studieren. So sind auch persönliche Erlebnisse in seinen
Text eingeflossen.
Als theoretisches Gerüst seiner Arbeit diente dem Verfasser
eine funktionalistische Ökologische Ethnologie, mit deren
Hilfe er mehrere Ziele zu verfolgen versuchte: Zum einen
die Überprüfung hypothetisch-deduktiver Forschungsme-
thoden in der Ökologischen Ethnologie, zum anderen die
Untersuchung optimaler Jagdmodelle und schließlich
Möglichkeiten der Anwendung einer Jagdtheorie auf eine
jägerische Gesellschaft mit monetärem Einkommen. Dar-
über hinaus ist es laut Smith Zweck des Werkes, das Wissen
über eine zeitgenössische Inuit-Gruppe und ihre wirtschaft-
lichen Lebensumstände zu erweitern. Bei der Verfolgung
dieses Zieles geht der Autor äußerst akribisch vor, was sich
bereits in der weitgefächerten Gliederung des Buches zeigt.
So ist das Inhaltsverzeichnis auf den Seiten VII bis IX
lediglich eine Kurzfassung der tatsächlich vorgenommenen
ausgefeilten Aufteilung des fortlaufenden Textes. Zudem
enthält jedes Kapital am Anfang eine Erklärung über den
Aufbau der nachfolgenden Niederschrift sowie über die
Vorgehensweise des Verfassers.
Neben Vorwort, einer Notiz zur Terminologie und Ortho-
graphie des Inuttitut (auch Inuktitut), einem Literaturver-
zeichnis sowie einem Autoren- und Sachregister ist die
Publikation in zehn Kapitel aufgeteilt, ln den ersten beiden
Abschnitten erläutert Smith die theoretischen Grundlagen
seiner Arbeit. Dabei zeigt es sich, daß der Funktionalismus
eine zentrale Rolle spielt, obwohl er nicht ausdrücklich in
den Vordergrund gerückt wird. Für den europäischen Eth-
nologen verbindet sich mit dem Begriff »Funktionalismus«
vor allem Bronislaw Malinowski. Sein Name taucht aller-
dings weder im Text noch im Literaturverzeichnis noch im
Register auf.
Kapitel 3 trägt die Überschrift »Natural History« und ent-
hält Darstellungen der Umweltbedingungen und der
Fauna an der östlichen Hudson Bay. Im darauffolgenden
Kapitel geht Smith auf die Urgeschichte seines Untersu-
chungsgebietes ein. Nach wie vor beginnt für ihn wie für
die meisten Archäologen die »Prähistorie« mit Pre-Dorset.
Doch selbst wenn eine Zeitspanne von rund 300 Jahren
vorgeschaltet wird, nämlich Independence I, erreichen wir
lediglich eine Tiefe von 4000 Jahren. Es ist kaum vorstell-
bar, daß dieser Zeitpunkt tatsächlich mit dem Anfang der
Urgeschichte in der Östlichen Arktis zusammenfällt. Das
Kapitel endet mit einer Beschreibung von Inujjuaq und sei-
ner Bewohner.
Mit dem fünften Kapitel beginnt das eigentliche Thema des
Buches. Doch zunächst stellt Smith seine »Methodologie
der Feldarbeit« vor. Dann folgt eine Definition seiner
»Typen« zeitgenössischer Jagd. Im dritten Abschnitt dieses
Kapitels versucht der Autor dann, seine Methode mit den
von ihm gesammelten Daten im Feld zu korrelieren. Das
Ergebnis sind statistische Angaben anhand von Input-Out-
put-Analysen zur Jagd der Inujjuamiut, wie zu Arbeitsko-
sten, Ernteerträgen und Jagdeffektivität. Die so gewonne-
nen Zahlen gliedert Smith nach Wildarten, Jagdtypen und
saisonalen Jahresabschnitten. Mit dieser Arbeit gewinnt er
die Basis seiner übergeordneten Analysen, die er mit Hypo-
thesen auf der Grundlage seiner ökologisch-ethnologi-
schen Theorie in den folgenden Kapiteln zu verifizieren
versucht. So geht er im nächsten Kapitel von einer Theorie
der Beute-Wahl aus, deren Hypothesen er mit den aus dem
jägerischen Verhalten der Inujjuamiut gewonnenen quanti-
tativen und qualitativen Daten verbindet. Wie immer das
Ergebnis dieses Vorgehens auch ausfallen mag, ist der Weg
- nach den Worten des Verfassers - sicherlich sinnvoller als
die vagen Argumente, die bis dahin zu oft in die ökologi-
sche Theorie Eingang gefunden haben.
Im siebten Kapitel steht die äußerst diffizile Frage im Mit-
telpunkt, ob Entscheidungen der Inujjuamiut über zeitliche
Allokationen so strukturiert sind, daß die Jäger auf geän-
derte Verhältnisse der Jagd in der effizientesten Art und
Weise reagieren können. Der Leser wird bereits an der
Wortwahl dieser Fragestellung erkennen, in welchen
schwer durchschaubaren Bereichen menschlichen Verhal-
tens sich der Autor bewegt. Hier verbinden sich Funktio-
nalismus mit Behaviorismus, wenn auch nicht in einer apo-
diktischen Weise.
In Kapitel 8 kommt Smith wieder auf den Boden des Nach-
vollziehbaren zurück. Die hier behandelten Fragen zu
Kooperationsformen beim Erbeuten von Jagdwild interes-
sieren Ethnologen und Prähistoriker gleichermaßen, spie-
len hier doch vor allem Bereiche wie Nahrungsteilung und
Informationsaustausch vor, während und nach der Jagd
eine Rolle. Über Rückblicke auf soziale Interaktionen von
194
Buchbesprechungen Ostasien
jägerischen Einheiten in Theorie und Praxis analysiert
Smith das soziale Verhalten der Inujjuamiut-Jäger, wobei er
sein besonderes Augenmerk auf die Formierung und
Größe der Jagdtrupps richtet.
Im neunten Kapitel kommt der Verfasser auf die tatsächlich
vorliegenden Verhältnisse zu sprechen, nämlich die
gemischte Wirtschaftsform der Inujjuamiut in der heutigen
Zeit sowie die damit einhergehenden Probleme. Diese Wirt-
schaftsform kann in drei Bereiche gegliedert werden, von
denen einer den beiden anderen diametral gegenübersteht:
das traditionelle Beutemachen (1), das in der kommerziali-
sierten Jagd (2) noch teilweise sichtbar ist, und das Verdie-
nen von Geld (3). Im Vordergrund steht wiederum die Ana-
lyse von Entscheidungen, die von den Jägern unter den
Bedingungen einer gemischten Wirtschaftsform gefällt wer-
den müssen und die vielschichtiger sind als innerhalb der
traditionellen Jagdwirtschaft. Smith arbeitet dabei, wie
bereits bei vorangegangenen Überlegungen, mit Input-Out-
put-Standards, die in Kosten-Nutzen-Analysen münden.
Im zehnten und letzten Kapitel bietet Smith eine Zusam-
menfassung seiner Forschungsansätze, die allerdings kaum
über eine kurzgefaßte Wiederholung des in den vorange-
gangenen Kapiteln Gesagten hinausgeht. Unter Hinweis
auf die Wichtigkeit einer Integration von Theorie und Pra-
xis - wer sollte widersprechen - werden als Grundlagen sei-
ner Arbeit Ökologie, Ökonomie, Evolution und Ethnologie
genannt.
Der Wert der Publikation für zukünftige Arbeiten im
Bereich einer Theorie jägerischen Verhaltens unter unter-
schiedlichen Verhältnissen läßt sich nur schwer ermessen.
Trotz des klaren und detaillierten Aufbaus des Buches fehlt
der eindeutig ersichtliche Bezug zu den bekannten Theo-
riengebäuden der Ethnologie. »Ökologie als Theorie« ist zu
einem modernistischen Allgemeinplatz geworden, und von
Evolution bei immateriellen Kulturelementen zu sprechen,
wirkt geradezu antiquiert. Wenn dann noch von einer evo-
lutionsökologischen Basis der Analysen gesprochen wird,
kann die Gänsehaut bei dem einen oder anderen nicht aus-
bleiben. Abgesehen von diesen terminologischen Monstern
wird dem Leser so manches nicht deutlich vermittelt, was
ihn eventuell gerade interessiert hätte, so beispielsweise,
inwieweit sich das Jagdverhalten heutiger Inuit, offenbar
weitgehend eingebunden in monetäre Denkschemata, von
demjenigen in historischen/prähistorischen Zeiten unter-
scheidet, oder ob zum Beispiel Rückschlüsse von ersterem
auf letztere gezogen werden können und dürfen. Dessen
ungeachtet hat Smith eine weitgefächerte Fleißarbeit gelie-
fert, die bei ähnlich gelagerten Untersuchungen der östli-
chen Inuit und ihres Jagdverhaltens in unserer Zeit nicht
übergangen werden kann.
Axel Schulze-Thulin
Dennis Twttchett:
The Writing of Official History Under the
T'ang. Cambridge Studies in Chinese History,
Literature, and Institutions. Cambridge Uni-
versity Press. Cambridge 1992. 290 Seiten.
Um es gleich vorwegzunehmen - auch mit dieser Monogra-
phie legte D. Twitchett erwartungsgemäß eine sinologische
Glanzleistung vor. Der Autor hat sich längst mit einer Viel-
zahl bedeutender Publikationen wie z.B. Financial Admini-
stration Under the T’ang (1963), dem zusammen mit
Howard L. Goodman verfaßten A Handbook for T’ang
History (2 vols. 1986) sowie als Herausgeber und Autor von
Sui and T’ang China in der Cambridge History of China
(Volume 3, Part 1, 1979) zur führenden westlichen Kapa-
zität auf dem Gebiet der Geschichte und Historiographie
des tangzeitlichen China (619-907) profiliert.
Der Vorsatz Twitchetts, ein Buch über die offizielle Histo-
riographie der Tang zu schreiben, reicht bis in das Jahr
1950 zurück. Mit einer Realisierung konnte jedoch erst
1982 begonnen werden. Seine mit diesem anspruchsvollen
Vorhaben verbundene Absicht ist im »Preface« festgehal-
ten: »It is an attempt to give as clear a picture as our sour-
ces allow of the institutional setting in which official histo-
ries were written, and to explore the varied implications of
history writing practiced as both a bureaucratic and politi-
cal activity. It outlines as far as that is possible for such a
remote period, the limitations and pressures this system
imposed on T’ang historians. And, lastly, it is an attempt to
demonstrate how the T’ang historical sources that survive
came to be written and how they are interrelated« (p. viii).
Damit ist freilich nur ein Aspekt der T’ang-Historiographie
behandelt; doch der Autor war sich bei seiner Darstellung
sehr wohl auch der historiographischen Theorien der Zeit
sowie der »complex and multilayered attitudes of T’ang
scholars and writers to the past« bewußt, zweier weiterer
wichtiger Aspekte, die sich hier nur tangiert finden und
später monographisch abgehandelt werden sollen (ix).
»L’histoire est écrite par des fonctionnaires pour des fonc-
tionnaires« schrieb E. Balazs in seinem Buch La bureaucra-
tie céleste (1968:52). Die offizielle Geschichtsschreibung
Chinas stellte den Bürokratengenerationen im Amt jene
Informationen bereit, die von höchster Stelle als wesentlich
für ihre staatstragende Tätigkeit erachtet wurden
(ibid.:52—53). Folgerichtig beschäftigt sich Twitchett einlei-
tend mit jenen Ämtern innerhalb des bürokratischen
Staatsapparates, die mit der Komposition der offiziellen
Geschichtswerke unmittelbar befaßt waren oder auf sie
Einfluß nahmen (p. 5-30). Deutlich wird, daß die Organisa-
tion der offiziellen Geschichtsschreibung während der
Tang-Zeit noch keine Stabilität aufwies; von ihr kann erst
für die Song-Zeit (960-1127/1127-1279) gesprochen wer-
den, dann allerdings verbunden mit Stagnation, d.h. sie war
»more restricted and less creative in its productions« (Yang
Lien-sheng. »The Organization of Chinese Official Histo-
riography ...«. In: Historians of China and Japan . W. G.
Beaslex, E.G. Puleyblank/eds. 1961:57).
Part II ist übertitelt mit »The compilation of the historical
record« (p. 33-159) und beschäftigt sich zunächst mit fol-
genden Komponenten:
Qijuzhu (The Court Diaries), in denen die Taten und Ver-
lautbarungen des Kaisers festgehalten wurden, vorausge-
setzt sie durchliefen die regulären bürokratischen Kanäle
(p. 38);
Neiqijuzhu (The Inner Palace Diary), einem Tagebuch, das
während der früheren Regierungszeit Kaiser Xuanzongs
(712-755) dessen privates Leben protokollierte und bedau-
erlicherweise längst verloren ist;
Shizhengji (The Record of Administrative Affairs), Auf-
zeichnungen, die den Schreibern der Qijuzhu entgingen,
nämlich mehr oder weniger private Treffen, bei denen der
Kaiser mit seinen leitenden Ministern diskutierte und Ent-
scheidungen traf;
Rili (The Daily Calendar), der die Daten der oben genann-
ten Aufzeichnungen miteinander abstimmte und kombi-
nierte, um daraus später Shilu (Veritable Records) zu kom-
pilieren;
Liezhuan (Biographien), die eine Reihe distinktiver Aufga-
ben innerhalb des historischen Gesamtkonzepts zu erfüllen
195
TRIBUS 45, 1996
hatten und keineswegs unsere Vorstellungen von den Krite-
rien einer Biographie erfüllen. So dienten sie in erster Linie
dazu, Details - insofern relevant/bedeutsam für den Her-
gang der politischen und militärischen Geschichte - zu Per-
sonen aus den Benji (Basic Annals) zu liefern. An umfas-
sende Lebensdarstellungen wurde dabei nicht gedacht.
Dennoch nehmen die »Biographien« den meisten Platz in
den Annalen ein, beispielsweise 3/4 des Korpus des Jiu-
Tangshu (Alte Tang-Annalen).
Weiterhin enthält Part II eine Abhandlung über »Histories
of institutions, historical enzyclopedias, and collections of
documents« (p. 84-118). Die Entstehung dieser Quellen
verdankt sich der Notwendigkeit, das Wissen der Vergan-
genheit nach rationalen Gesichtspunkten zu kategorisieren
und unter bestimmten Topics zu vereinen. Twitchett läßt
hier seine souveräne Beherrschung des Themas in brillan-
ten Zusammenfassungen aufscheinen. Besondere Auf-
merksamkeit erfahren die allgemeinen Enzyklopädien zu
Regierungsgeschäften (z. B. Tang liudian; Tongdian; Tang
huiyaö).
Kapitel 10 von Part II ist betitelt mit »The Veritable
Records (Shih-lu)«, die eine Innovation der Tang-Zeit dar-
stellen. Im Gegensatz zu späteren Dynastien wurden in der
frühen Tang-Zeit einige der »Wahrhaftigen Aufzeichnun-
gen«, historische Quellen ersten Ranges, während der lau-
fenden Ära eines Kaisers angefertigt, um sie zu dokumen-
tieren (p. 120). Bis einschließlich der Ära Kaiser Wuzongs
(841-846) entstanden so 35 dieser »Wahrhaftigen Auf-
zeichnungen«, von denen jedoch nur die der nicht einmal
ein ganzes Jahr währenden Shunzong-Ära überdauerte
(Übersetzung s. Solomon, Bernard S. The Veritable Record
of the Tang Emperor Shun-tsung (February 28, 805 -
August 32, 805) Han Yü’s Shun-tsung shi-lu. Cam-
bridge/Mass. 1955). Deutlich wird in ihnen, daß politische
Verlautbarungen, die ein »coherent judgement on the
events of a recent reign with implications for Contemporary
politics« ermöglichen sollten, im Vordergrund der histori-
schen Arbeit standen (ibid.).
Das nächste Kapitel informiert über »The National
History« (Guo-shih), die das letzte Stadium bei der Kompi-
lation der historischen Aufzeichnungen für eine noch beste-
hende Dynastie darstellten (p. 160). Jede dieser guoshi der
Tang-Zeit beginnt mit der Gründung der Dynastie. Sie
dienten distinktiven politischen Zwecken, indem sie die
Ereignisse der vergangenen Ären so Wiedergaben, daß sie
die gegenwärtige rechtfertigten und legitimierten (ibid.).
Rätselhaft bleibt vorerst, warum gerade die guoshi, denen
die shilu an Bedeutung unterlegen waren, nur eine stief-
kindliche Verwahrung erfuhren und im bibliographischen
Teil des Jiu-Tangshu (Alte Tang-Annalen) keine Erwäh-
nung fanden (p. 163).
Part III des Buches ist zunächst der allgemeinen kompila-
torischen Genese des Jiu-Tangshu gewidmet, einem der 26
dynastischen Annalenwerke der chinesischen Geschichts-
schreibung. Es wurde 945, mehr als drei Jahrzehnte nach
Ende der Dynastie (907), dem Thron vorgelegt (p. 196).
Dem schließt sich eine Abhandlung über die Quellen an,
gegliedert in die »Basic Annals« und »the monographs«.
Der Prozeß der Kompilation selbst wird beschrieben und
»how this process affects its use as a historical source and
how it circumscribes our understanding of the events of
T’ang history« (p. 198). Im Appendix gewährt uns Twit-
chett mittels einer detaillierten Übersicht in Tabellenform
Einblick in die bekannten kompilatorischen Entwicklungs-
stadien der benji (Basalen Annalen) bis hin zur heute vor-
liegenden Version (pp. 239-246). Unter »monographs« sind
Einzeldarstellungen (zhi) der tragenden Komponenten der
»Great Tradition« zu verstehen - man könnte mit Garde-
ner anstatt von »monograph« ebensogut den Begriff
»essay« wählen (Chinese Traditional History 1970: 98). Die
Rede ist von der Bedeutung und dem Reglement der Riten
und Zeremonien (yili), der Musik (yinyue), dem Kalender-
wesen (//), der Astronomie (tianwen), der Interpretation
von Vorzeichen (wuxing), der administrativen Geographie
(dili), den Beamten (zhiguan), den Wagen und der Kleidung
(yufu), der Literatur (Jingji), den Staatsfinanzen (shihuo)
und schließlich der Gesetzgebung (xingfa). Jede dieser zhi
wird vom Autor auf höchst kenntnisreiche und detaillierte
Weise abgehandelt.
Unerklärlich bleibt, warum der Autor die Regionalbe-
schreibung der Tang (X-tuJing, X-tuzhi, X-zhi) weitgehend
unbeachtet ließ. In »The Monograph on Administrative
Geography (ti-li chih)« (pp. 224-229) werden von ihm
erwartungsgemäß nur geographische Quellen im Hinblick
auf ihre kompilatorische Ausschlachtung für das Jiu-
Tangshu vorgestellt, allen voran die Guadizhi (Abhandlung
über das umfaßte Gebiet) aus dem Jahr 641. Der größte
Teil der offiziellen regionalen Quellen bleibt damit uner-
wähnt. Die Wurzeln der Regionalbeschreibungen, später
allgemein als fangzhi bezeichnet, lassen sich bis in die Östli-
che Zhou-Zeit (-770 bis -221) zurückverfolgen (s. Wang
Fuxing. Fangzhixuejichu. 1987:42) und spielten von Beginn
an eine durchaus bemerkenswerte Rolle innerhalb der
staatlich beherrschten Historiographie. Sie wurden auf
offizielle Anordnung hin verfaßt und hatten dem Kaiser
und seiner zentralen Beamtenschaft zur Information bei
politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entschei-
dungen sowie der lokalen Beamtenschaft als Vademecum
für ihre Tätigkeit vor Ort zu dienen. Regionalbeschreibun-
gen allgemeinerer Art boten - wo sinnvoll, stets unter
Berücksichtigung des historischen Aspektes - Zusammen-
fassungen zu Themen wie Politik, Wirtschaft/Steuerwesen,
Demographie, Geographie, Verkehr, natürliche Ressour-
cen, Sitten und Gebräuche, Literatur u.a.m. und stellten
eine Art enzyklopädischen Nachschlagewerkes dar. Ihre
Verfasser/Kompilatoren befanden sich nicht unmittelbar
unter der Fuchtel der Zentralregierung und lieferten daher
weit objektivere Informationen als die historiographisch
tätigen Ämter in der Metropole. Wir haben es mit ganz auf
die praktische Verwendung ausgerichteten Datenfundgru-
ben zu tun. Feste Überarbeitungsfristen sollten die Aktua-
lität der Regionalbeschreibungen garantieren. Während
der Tang-Zeit war vorgeschrieben, daß alle 360 Präfekturen
und 1557 Distrikte (Guadizhi) im Turnus von drei Jahren
(später 5 Jahren) die Überarbeitung ihrer tujing (tu = Kar-
tenmaterial/Illustrationen; jing = Textapparat) vorzuneh-
men und der Zentralregierung, d.h. ihrem Department für
Staatsangelegenheiten (shangshusheng), zu übersenden hat-
ten. Falls sich zwischenzeitlich Bemerkenswertes in den ört-
lichen Gegebenheiten veränderte, war dies unverzüglich
mitzuteilen (Wang Fuxing. ibid.: 51). Aus der Tang-Zeit
stammt im übrigen die älteste erhaltene umfassende
Beschreibung des Reiches, die 813 vollendete Yuanhe jun-
xianzhi (Beschreibung der Präfekturen und Distrikte aus
der Yuanhe-Ära; s. Wang WenchuIZou Yilin. »Woguo xian-
cun zuicao yibu dilizongzhi <Yuanhe junxianzhi>«. Lishi-
dili 1.1981: 231 ff).
Twitchetts Buch gewährt einen ungemein profunden Ein-
blick in die Entstehung offizieller Geschichtswerke
während der Tang-Zeit und liefert damit zugleich das uner-
läßliche Rüstzeug für den kritischen Umgang mit diesen
Quellen, die Bewertung und Nutzung ihrer Daten.
Raimund Th. Kolb
196
Buchbesprechungen Südasien
Frédéric, Louis / Nou, Jean-Louis:
Borobudur. München: Hirmer Verlag, 1995.
225 Seiten, einschließlich Bibliographie, Regi-
ster, Glossar <zuzüglich 2 unpaginierter Sei-
ten mit Danksagung, Translitérations- und
Aussprachehinweisen> und 148 farbigen
Abbildungen <von denen 39 ganzseitig, 8 voll
doppelseitig, 5 halb doppelseitig, 5 mehrseitige
Faltpanoramen>, 6 schwarz-weißen Abbil-
dungen, 2 Skizzen, 1 Aufriß und 8 Plänen, 4°.
»Der Borobudur auf Java ist der größte Sakralbau der
buddhistischen Kunst, das imposanteste historische Bau-
werk der südlichen Hemisphäre und der unerreichte Höhe-
punkt der Architekturgeschichte Indonesiens«, so der vor-
dere Klappentext des farbigen Schutzumschlages dieses
einmaligen, äußerst verschwenderisch produzierten Pracht-
werkes. Das ein Jahr zuvor auf französisch erschienene
Buch wurde von Aline Laubscher für die ebenfalls in
Frankreich gedruckte und gebundene deutsche Ausgabe
übersetzt. Die eindrucksvollen fotografischen Aufnahmen
stammen in erster Linie von Jean-Louis Nou, dem verstor-
benen französischen Lichtbildner.
Der Text versucht, mit viel Sachverstand das Wesen dieses
eindrucksvollen Bauwerkes in mehreren Kapiteln zu ver-
mitteln. Dabei könnte man über die eine oder andere
geäußerte Annahme zur Interpretation einzelner Bauteile
und der Bedeutung des gesamten Bauwerkes geteilter Mei-
nung sein. Der Verfasser, Louis Frédéric, bleibt aber vor-
sichtig genug, um nicht eine Ansicht als »die einzig wahre«
zu vertreten. Frédérics Verdienst ist es, das Panorama der
unterschiedlichen Meinungen vorzustellen, um dem Leser
und Betrachter die Bildung einer Meinung selber zu über-
lassen. Es muß daher festgehalten werden, daß derzeitig
dieses Werk das umfassendste und vermittelndste Buch
zum Thema überhaupt ist.
Frédéric beschreibt, wie der Borobudur durch Stamford
Raffles für Europa <wieder>entdeckt worden ist (S. 35),
weist aber kaum auf den Vertrauten Stamfords, Godfrey
Phipps Baker hin, durch den und unter dem die ersten
europäischen Zeichnungen des Bauwerks kurz nach seiner
»Entdeckung« entstanden. Etliche dieser Zeichnungen
wurden von Henry G. Bohn in seinem Antiquarian, Archi-
tectural, and Landscape Illustrations of the History of Java.
London, 1844, veröffentlicht und sollten einst, in Form
eines Atlasbandes, die zweite Ausgabe von Raffles’s The
History of Java, London, 1817, begleiten. Die zweite Auf-
lage erschien dann 1830 ohne den Atlas, aber wohl schon
mit einigen Zeichnungen Bakers. Die von Baker gesammel-
ten bzw. angefertigten Zeichnungen, von keinem geringeren
Künstler als William Daniell. R.A., gestochen, befinden
sich heute in der Sammlung der Royal Asiatic Society in
London und wurden 1991 katalogisiert (Head, Raymond:
Catalogue of Paintings. Drawings, Engravings and Busts in
the Collection of The Royal Asiatic Society, London, 1991,
p.25ff).
So wie Frédéric die günstigen Aspekte europäischer Ein-
flußnahme auf den Zustand des Bauwerkes beschreibt, ist
es ihm hoch anzurechnen, daß er auch die weniger positi-
ven Tatsachen, wie den Kunstraub, nicht unerwähnt läßt:
Dem aufmerksamen Betrachter der hervorragenden Abbil-
dungen wird nicht entgehen, daß etliche Buddhastatuen im
wahrsten Sinne des Wortes kopflos sind (vergl. etwa die
Abbildungen auf den Seiten 14, 51-53, 78, 179, 181), und
wir z.B. neben der ganzseitigen Farbtafel von S. 19 auf S. 18
in einem der deutschen Sprache weniger gut angepaßten
Satzbau lesen: »Die ... Statuen haben stark gelitten unter
der Plünderung durch gewissenlose Besucher, die die Köpfe
abgebrochen haben, um sie dem internationalen Kunsthan-
del anzubieten«. Die Zerstörung des Monumentes war
somit nicht nur witterungsbedingt; Ȇberdies begannen
gewissenlose Besucher, Skulpturen herauszubrechen und
mitzunehmen. Als einziges Gegenmittel begnügte man sich
damit, den Zustrom der Besucher einzudämmen (S. 35)«.
Jene Köpfe verschwanden nun nicht in den durch kollabie-
rende Sterne entstehenden »Schwarzen Löchern«, viele
sind als Museumsbesitz nachweisbar. Eine Art »Bermuda-
Dreieck« bildet dabei tatsächlich der nordamerikanische
Kontinent mit je einem Kopf in der ehemaligen Sammlung
von C. Humann (P.Pal: The Sensuous Immort als. A Sélec-
tion of Sculptures from the Pan-Asian Collection, Los
Angeles, o. J., no. 144), der Avery Brundage Collection in
San Francisco (R.-Y. Lefebre d’Argence/Terese Tse: Indian
and South-East Asian Stone Sculptures from the Avery
Brundage Collection, Pasadena, 1969, no. 38). der Rockefel-
ler Collection in New York (Handbook of the Mr. and Mrs.
John D. Rockefeller 3rd Collection, New York: Asia Society,
1981, p. 41 links), der Nelson/Atkins Gallery in Kansas
City (Handbook of the Collections in the William Rockhill
Nelson Gallery of Art and Mary Atkins Museum of Fine
Arts, Kansas City, Missouri, Vol. IT. Art of the Orient, Kan-
sas City. Missouri, 1973, p. 150, rechts oben), dem Seattle
Art Museum (B. Rowland: The Evolution of the Buddha
Image, New York: The Axia Society, 1963, no. 35) und der
»Albright Art Gallery, Buffalo, N.Y« (Trubner, H.: The Art
of Greater India, 3000 B.C. - 1800 A.D., Los Angeles: Los
Angeles County Museum of Art, 1950, no. 166). Unter den
europäischen Museen ist mit je zwei Köpfen das Musée
Guimet in Paris (Le Bonheur. A.: La Sculpture Indonési-
enne au Musée Guimet. Catalogue et étude iconographique.
Paris: Presses Universitaires de France, 1971, pp. 260-263)
und das Museum für Indische Kunst Berlin, Berlin
(Museum für Indische Kunst Berlin. Katalog 1971. Ausge-
stellte Werke. Berlin: Staatliche Museen Preußischer Kul-
turbesitz, 1971, Nrn.297-298 = Uhlig. Helmut (Hrsg.): Das
Bild des Buddha, Berlin: Kunstamt Berlin-Tempelhof in
Verbindung mit dem Museum für Indische Kunst Berlin.
1979, Nrn. 151-152) und mit je <mindestens> einem das
Rijksmuseum in Amsterdam (Asiatic Art in the Rijksmu-
seum, Amsterdam, ed. by P. Lunsingh Scheurleer, Amster-
dam: Vereniging van Vrienden der Aziatische Kunst and
Meulenhoff/Landshoff, 1985, no. 180 : Museum van Aziati-
sche Kunst in het Rijksmuseum, Amsterdam, Amsterdam:
Vereniging van vrienden der Aziatische Kunst, o. J., Nr.
270), das British Museum in London (erworben bereits
1859, siehe Zwalf, Wladimir; Buddhism. Art and Faith,
London: British Museum Publications Limited, 1985, no.
265) und das Kurptalzische Museum, Heidelberg
(Plaeschke, Herbert: Buddhistische Kunst. Das Erbe Indi-
ens. Leipzig: Koehler & Amelang, 1972, Nr. 48) vertreten.
Dazu gesellen sich etliche Köpfe in Privatsammlungen
(Coedès, George et alii: Verzameling Krook, ‘S-Graven-
hage: Tijdschrift »Nederlandsch-Indie, Oud en Nieuw«,
o.X, Afb.l; Mode, Heinz: Kunst in Süd- und Südostasien,
Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1979, Abb.224; Museum
van Aziatische Kunst in het Rijksmuseum, Amsterdam,
Amsterdam: Vereniging van Vrienden der Aziatische
Kunst, o. J., Nr. 271) und im Kunsthandel (Loo, CT: An
Exhibition of the Sculpture of Greater India, New York: C.
T. Loo & Co., 1942, cat. no. 50). Vereinzelt werden Köpfe
noch heute auf Auktionen angeboten (Sotheby’s <sale of>
Islande and Indian Art, London, 29th April 1993, lot 347;
TRIBUS 45, 1996
Chrislie's <sale of> Indian, Himalayan, Southeast Asian
and Indonesian Art, Amsterdam, 23 October 1991, lot 246;
Christie’s <sale of> Indian, Himalayan, Southeast Asian
and Indonesian Art, Amsterdam, 16 June 1992, lot 152, um
nur einige zu erwähnen). Mit den heute zur Verfügung ste-
henden Techniken wäre es kein Problem, die Köpfe der
Museen abzuformen, in Kunststein nachgießen zu lassen,
um diese Kopien dann wieder auf die entsprechenden Torsi
zu setzen. Die Probleme sind aber nicht technischer Art,
wenn man bedenkt, daß ein international bekannter, in
London ansässiger Händler südasiatischer Kunst in
Oxford mit einer Arbeit über diejenigen Skulpturen, die er
außerhalb Indiens am meisten verkaufte, angeblich pro-
blemlos promovieren konnte. Und das, obwohl die Univer-
sität über den Lebensunterhalt jenes »Studenten« in
Kenntnis gesetzt worden war. Wenn der (illegale) Kunst-
handel akademische Weihen erfährt, dürfte das nach wie
vor florierende Geschäft mit abgehackten Steinköpfen
gewissenloser Händler, die von einem »sharing of culture«
- zu deren Gunsten und zum Schaden der Länder Südasi-
ens sprechen , kaum verwundern. Was die Bibliographie
(S. 215-217) betrifft, so kann diese naturgemäß nicht kon-
kurrieren mit der bereits 1927 erschienenen »Bibliography
of Barabudur« von N. J. Krom (in: Barabudur. Archaeolo-
gical Description, The Hague, Vol. 2, pp. 333-351). Somit
fehlen sowohl äußerst wichtige Veröffentlichungen, die
schon bei Krom verzeichnet sind, wie z.B. C.M. Pley tes Die
Buddha-Legende in den Skulpturen des Tempels von Börö-
Budur, Amsterdam: J.H. De Bussy, < 1901 > als auch Publi-
kationen neueren Datums, wie z.B. R. Soekmonos Borobu-
dur. Un joyau du patrimoine humaine (in: Le Courrier de
FUnesco, 36e Année, Février 1983, pp. 8-15) oder der Arti-
kel über die Instandsetzungsarbeiten am Monument in der-
selben, immerhin in 26 Sprachen erschienenen Zeitschrift
auf den Seiten 16-23, um nur einige zu erwähnen. Für den
Leser ist diese Straffung der Bibliographie aber kein Makel,
da alle anderen positiven Merkmale überwiegen.
Joachim K. Bautze
Fürer-Haimendorf, Christoph v.:
Life among Indian tribes. The autobiography
of an anthropologist. Delhi, Oxford Univer-
sity Press 1990. ISBN 019562471 8. 186 Seiten,
32 (ungezählte) Abbildungen.
Elwin, Verrier:
Leaves from the jungle. Life in a Gond Village.
Delhi, Oxford University Press 2nd ed. 1958,
special repr. for Vanya Prakash 1991. SBN
019562852 7. 192 Seiten, 10 (ungez.) Abbil-
dungen.
Das renommierte britische akademische Verlagshaus stellte
innerhalb eines Jahres die autobiographischen Werke von
zwei Bahnbrechern in der ethnographischen Erforschung
auf dem indischen Subkontinent z. T. in Neuauflage neben-
einander. Der gebürtige Wiener Christoph von Fürer-Hai-
mendorf (geb. 1909), wissenschaftlich und fachlich geprägt
durch die Wiener Schule der Völkerkunde mit ihren her-
ausragenden missionarischen Ethnologen, und der gebür-
tige Londoner Verrier Elwin (geb. 1902), mit philanthropi-
scher Prägung und ursprünglichem missionarischen Eifer,
hatten nicht nur das gleiche Forschungs- und Arbeitsge-
biet; sie haben gleichermaßen ihr Leben und ihre persönli-
che Tätigkeit in den Dienst der Erkundung von Völker-
schaften und sozialen Gemeinschaften am Rande des
Hauptstromes der gesellschaftspolitischen Entwicklungen
der indischen Staatswesen gestellt und mit persönlichem
Einsatz versucht, Chancen für ein selbstbewußtes ethnisch-
kulturelles Überleben in dem vielfältigen Gesellschaftsge-
bilde Indiens zu sichern. Das Lebenswerk beider Autoren
hat erste umfassende Kenntnisse von unterschiedlichen
Stammesbevölkerungen in deren historischen Rückzugsge-
bieten auf dem südasiatischen Subkontinent erbracht und
die historischen Kenntnisse wesentlich erweitert. Die in
mehrjährigen Feldforschungsaufenthalten teilnehmend
beobachtend entstandenen monographischen Darstellun-
gen zahlreicher ethnischer Gruppen bilden die jeweils
umfassenden Quellen der ethnologischen Erkenntnis und
des historischen Wissens in Bereichen spezifischer gesell-
schaftlicher Entwicklung.
Fürer-Helmendorfs Autobiographie beginnt mit einem
Foto von der Begegnung mit Elwin im Jahre 1944. Das
Buch endet mit dem plötzlichen Tod seiner Ehegefährtin
und engsten Mitarbeiterin während einer wiederholten eth-
nologischen Feldarbeit im Jahre 1987. F.-H. beschreibt 50
Jahre ethnographischer Forschungen in Indien, angeregt
durch seine Frau Betty und in unverzichtbarer Gemein-
schaft mit ihr in einem der Forschung im Feld bedingungs-
los untergeordneten Leben. So gerät die persönliche
Geschichte zum Forschungsbericht mit wissenschaftshisto-
rischem Charakter. Mit wenigen privaten Impressionen
werden die Hintergründe, Umstände und Bedingungen für
das Entstehen jeder seiner monographischen Schriften dar-
gestellt. In Zitaten aus den Tagebüchern seiner Frau Betty
wird auch deren eigenständiger Forschungsanteil deutlich.
Die Chronologie der Monographien über die Konyak Naga
(1939), Chenchu (1943), Reddi (1945), Raj Gond (1948),
Apa Tani ( 1962), Sherpa ( 1964) bis zu den Gond (1987) bil-
det das Gerüst der »Autobiographie eines Ethnogra-
phen/Anthropologen« wie F.-H. seine Selbstbetrachtung
untertitelte. Wiederholte kürzere Besuche in seinen For-
schungsgebieten werden in vergleichenden Studien und
zusammenfassenden Werken reflektiert.
Unterstützung fand er in Nordost-Indien durch den briti-
schen Indian Civil Service, in dessen Schutz und in dessen
Interesse die territoriale Erkundung der unbekannten
Dschungelgebiete vorangetrieben werden konnte. Deputy
Commissionar für den Naga Hill District war Ende der
30er Jahre J. P. Mills, einer der »gelehrten Mitglieder des
Indian Civil Service, die zur Wissensvermittlung in indi-
scher Geschichte, Archäologie und Ethnographie Bedeu-
tendes beigetragen haben«, wie F.-H. einschätzt. In mittel-
indischen Gebieten arbeitete F.-H. als Berater des Nizams
von Hyderabad. Es gelang F.-H., die wohlwollende Auf-
merksamkeit des unter britischer Oberhoheit im Inneren
weitgehend unabhängigen Fürsten eines der reichsten und
größten Staaten Indiens auf dessen zahlreiche Stammesbe-
völkerung zu lenken. F.-H. initiierte Ausbildung und Trai-
ning von Ethnographen an der staatseigenen Osmania-
Universität in Hyderabad. In Nepal konnte er sich der spe-
ziellen Förderung durch König Birendra erfreuen.
Als er nach dem 2. Weltkrieg nach London zurückkehren
konnte, übernahm er den Lehrauftrag an der School of
Oriental and African Studies, wo er die Anthropologie/Eth-
nologie Südasiens mit weltweitem Ruf prägte. Jedoch fand
er wenig Befriedigung in der Ausbildung von Studenten,
die kaum jemals in diesem Beruf und Tätigkeitsfeld
beschäftigt werden würden. Er war zu sehr Pragmatiker
198
Buchbesprechungen Südasien
und kehrte daher immer wieder in seine Forschungsgebiete
zurück, die seit der Unabhängigkeit Indiens im Verlauf der
verstärkten wirtschaftlichen Erschließung und gesellschaft-
lichen Entwicklung schnell voranschreitenden Veränderun-
gen unterlegen waren. Mit wachsender Unruhe mußte er
die Zerstörung des Lebens vieler Gruppen von Menschen
und die gesellschaftliche Mißachtung der ihm vertraut
gewordenen Freunde zur Kenntnis nehmen.
Fürer-Haimendorf verstarb im Sommer 1994. Sein
umfangreiches Lebenswerk zur ethnographischen und
historischen Erforschung Indiens hat in dem vorliegenden
Buch eine eindrucksvolle Zusammenfassung erfahren.
Gleichzeitig vermittelt es das Charakterbild eines uner-
müdlichen Forschers.
Verrier Elwin hat sein Leben gleichermaßen entbeh-
rungsreich und mit außerordentlicher Selbsthingabe der
gesellschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Erkundung
der Stammesbevölkerung in den geographischen oder poli-
tischen Randgebieten Indiens gewidmet. Seine »Blätter aus
dem Dschungel« waren bereits 1936 in London als Tage-
buch eines Indienaufenthaltes veröffentlicht worden, mit
spezieller Widmung an seine Mutter, die selbst einen Teil
ihres Lebens zusammen mit dem Vater in afrikanischen
Dschungeln verbracht hatte. 1958 folgte die mit einer län-
geren autobiographischen Einleitung versehene 2. Auflage
bei Oxford University Press. Das mittelindische Verlags-
haus Vanya Prakash würdigt nun mit dem »special reprint«
jener Ausgabe einen herausragenden Gelehrten, der 25
Jahre seines Lebens in Stammesgebieten von Mandla und
Bastar verbracht und sich mit Gandhischem Verantwor-
tungsbewußtsein in den gesellschaftlichen und politischen
Dienst des jungen unabhängigen Indien gestellt hat. Zahl-
reiche Monographien und Abhandlungen zu Mythen und
künstlerischem Schaffen in Gebieten Indiens mit dominan-
ter Stammesbevölkerung zeugen davon. Das von ihm
gezeichnete menschliche Bild und die sympathische mit-
menschliche Darstellung des täglichen Lebens und Han-
delns in wenig beachteten Schichten der indischen Bevölke-
rung boten einen Weg zum Verständnis fremder Kultur und
Lebensweise in der Nachbarschaft der hinduistischen und
moslemischen Gesellschaften. (Vorwort)
Im Unterschied zu Fürer-Haimendorfs Autobiographie
erfaßt die Publikation von Elwin nur einen zeitlichen Aus-
schnitt seines Lebens am Anfang seiner ethnographischen
Erkundungen. Die »Blätter aus dem Dschungel« sind
weder ein wissenschaftliches noch ein biographisches
Résumée, sondern reflektieren Seiten der Begegnungen mit
dem anderen Menschen, jenseits von Christentum und
Hinduismus und der europäischen Zivilisation. Beein-
druckt und geprägt von Mahatma Gandhis simpler
Menschlichkeit und dessen Bereitschaft, mit den Ärmsten
und wie diese zu leben, wollte E. andere Lebensformen und
Geisteshaltungen teilnehmend verstehen. Dies wird hier in
den tagebuchartig aufgeschriebenen Erfahrungen von 4
Jahren ( 1932-1935), die er in und mit der nicht mehr homo-
genen Stammesgesellschaft der Gond verbrachte, autobio-
graphisch vorgestellt. 1927 kam er als Vertreter der angli-
kanischen Kirche nach Indien. Unter dem Einfluß Gandhis
und der selbstbewußten Befreiungsbewegung separierte er
sich von seinem missionarischen Auftrag und errichtete
Lebens- und Bildungsstationen mit Krankenbetreuung und
Schule zunächst bei den Gond, später auch bei Stammesge-
meinschaften in Bastar und Orissa.
Sein Hauptaugenmerk galt dem Kampf gegen Krankhei-
ten, Seuchen und Epidemien, vor allem Lepra und Syphilis,
der Verbreitung von Grundbildung und schulischer Erzie-
hung in gesellschaftlichen Schichten, die eigene kulturelle
Werte verloren hatten und denen menschliches Leben ver-
wehrt wurde. 1953 berief ihn die unabhängige indische
Regierung als Berater in Stammesfragen für die nordöstli-
che Grenzregion (heute Arunachal Pradesh und Assam).
Elwin fungierte u. a. als Gründer des Anthropological Sur-
vey of India, der in allen Landesteilen vertretenen for-
schenden und beratenden Regierungsinstitution in Fragen
der Stammesbevölkerung.
Die Tagebuchnotizen enthalten Geschichte, Überlieferung,
Lebensgewohnheiten, Denken und Fühlen der Menschen,
mit denen er lebte, oder die sich ihm anvertrauten, reflek-
tieren aber auch die persönlichen Empfindungen des
Autors. Zusammen mit einer knapp 30 Seiten umfassenden
Einführung präsentiert sich das ganze Werk als eine erste
Annäherung an die Gond und ihre Nachbarn in einem
bestimmten Lebensraum, der als charakteristisch für die
Existenzbedingungen dieser mehrere Millionen Menschen
umfassenden Bevölkerungsgruppe gelten kann. Die Selbst-
identifizierung mit jenen Menschen fand letztlich Bestäti-
gung in der Heirat mit einem Mädchen aus der Gemein-
schaft der Raj Gond (1940), die für ihn in mehrfacher Hin-
sicht demonstrativen Charakter hatte (man vergleiche
Elwin, 1 married a Gond. In: Man in India. vol. XX, no. 4.
1940, pp 228-255).
Für E. sind es Lebenserfahrungen, die akzeptiert oder
mißverstanden werden, Quelle für Ärgernisse oder Erheite-
rung sein können, in jedem Falle Reaktionen herbeiführen.
(S. 173/74). In diesem Sinne hatte er der Veröffentlichung
seines ersten Tagebuches zugestimmt, und so hat es bemer-
kenswerte Neuauflagen erfahren, lesenswert wegen seiner
humanistischen Anliegen, auch unabhängig von Zeit und
Raum.
Lydia Icke-Schwalbe
Koch, Ebba:
Mughal Architecture. An Outline of Its
History and Development (1526-1858). Mün-
chen: Prestel-Verlag, 1991, 160 Seiten mit
einem Frontispiz, einem Glossar, einer Biblio-
graphie, einem Index, einer Karte, 21 farbigen
Abbildungen, 118 SAV-Abbildungen und etwa
52 Plänen, Grundplänen bzw. Aufrissen.
Diesen Band hat eine Person geschrieben, die - wie wohl
keine andere - das Wesen der moghulischen Architektur
erkannt hat und darlegt. Es ist, gleich vornweg gesagt, das
beste Buch zum Thema. Koch stellt darin Monumente vor,
die bisher von den wenigsten Autoren erfaßt und zitiert
wurden. Behandelt werden in erster Linie Gebäude »impe-
rialen« Patronats. Eine zu starke Einbeziehung der zahlrei-
chen rajputischen Kopien oder der sog. provinzialen Stile
hätte den Rahmen der Arbeit mit Sicherheit gesprengt.
Endlich lesen wir von einem »weiblichen Patronat«
(»female patronage«, S. 83), und ganz am Rande erfahren
wir. daß das Grab des Shaykh Salim Chishti im Hof der
Freitagsmoschee von Fatehpur Sikri, doch aus der Akbar-
zeit stammt (S. 56). Der Leser erfährt viel Spannendes, viel
Neues, aber leider immer nur in viel zu kurzen Passagen.
Und die Scheu vor zu vielen Fußnoten (oder der vom Ver-
lag vorgegebene Sachzwang?) läßt dann doch einige wich-
tige Bemerkungen etwas ungeklärt im Raum stehen. So
sagt Koch z. B., daß der nördliche Pavillon auf der Fluß-
seite des »Anguri Bagh« innerhalb des Forts von Agra dem
Moghulkaiser als »Vorzeigefenster« (Bangla-i Darshan)
199
TRI BUS 45, 1996
diente und der südlich des Aramgah gelegene Pavillon dann
nach Koch der »Bangla of Jahanara« ist. Catherine Asher
in ihrem »Architecture of Mughal India«, als Teil I, 4 der
»New Cambridge History of India« eben dort 1992
erschienen, behauptet in bezug auf die beiden Pavillons
praktisch dasselbe, bildet aber auf S. 187 ihres Bandes den
südlichen Pavillon ab, von dem sie in der Bildunterschrift
jedoch bemerkt, es sei der nördliche. Verwirrender wird die
Situation noch, wenn wir bedenken, daß im einzigen
brauchbaren Reiseführer zum Fort von Agra, dessen Ver-
fasser sich, wie Koch, auf zeitgenössische Moghulquellen
bezieht, genau das Gegenteil von Koch behauptet wird:
Nach Ashraf Husain war der südliche Pavillon dem Kaiser
Vorbehalten; der Pavillon der ältesten Tochter Shah Jahans,
Jahanara, ist nach ihm der nördliche (»An Historical
Guide to the Agra Fort« <Based on Contemporary
Records>, Delhi: Manager of Publications, 1937, pp.
16-18).
Die herausragenden Pläne von Koch sind eine wichtige
Bereicherung des Bandes, nur leider viel zu klein reprodu-
ziert und mitunter etwas salopp beschriftet. So kann z.B.
auf S.84, beim Plan des Lahore Forts mit der Ziffer »5«
nicht »Shah Jahan's marble building«, wie angegeben,
gemeint sein.
Am wenigsten für eine Architekturpublikation sind die
Fotos geeignet, bei denen stürzende Linien eher die Regel
als die Ausnahme sind. Hinzu kommt eine Optik, die z.T.
eine tonnenförmige Verzeichnung, wie etwa bei Abb. 116,
aufweist. In der Tier- und Landschaftsfotografie fallen der-
artige optische Fehler nicht auf, um so mehr aber bei einer
imperialen Architektur, bei der Symmetrie und Genauig-
keit zu den Merkmalen gehören.
Es mag fraglich sein, ob Adris Banerjis »Late Mughal Pro-
vincial style« (»Journal of the Asiatic Society«, Vol.XIV,
nos. 2-4, 1972, pp. 1 8 + plates) in das Literaturverzeichnis
gehört hätte. Koch ließ es zumindest, wohl aus weiter oben
angeführtem Grunde, draußen. Warum A. Gorhams
»Indian Masons’ Marks of the Moghul Dynasty«, Lon-
don: John M. Watkins, o.J., nicht verzeichnet wurde, ist u.
U. auch noch erträglich.
Zu den Publikationen, deren Nichterwähnung in der
ansonsten umfangreichen Bibliographie den mehr mit der
Materie vertrauten Personenkreis die Stirn runzeln läßt,
sind die zahlreichen ausführlichen Jahresberichte des
»Archaeological Survey of India« zu rechnen. Gemeint
sind hiermit nicht die sog. »Imperial Reports« (ASIAR),
die Koch unter den jeweiligen Verfassern der Artikel auf-
führt, sondern die »Annual Progress Reports«, die jährli-
chen Fortschritts- und Abrechnungsberichte, die für eine
seriöse Beschäftigung mit welch auch immer in Indien vor-
handener Kunst oder Architektur unerläßlich sind. In die-
sen Berichten geben die entsprechenden »Archaeological
Surveyors« exakt Rechenschaft darüber ab, was im laufen-
den Jahr an Arbeiten getätigt wurde (Begehungen, Reno-
vierungen, Restaurierungen etc.), wieviel Geld dafür ausge-
geben wurde <auf den Pfennig bzw. Paisa genau!> und vor
allem, welche Objekte wann und von wem gezeichnet wur-
den. Noch bedeutender ist die Liste der fotografierten
Monumente und Objekte, die darüber Aufschluß gibt, wer
welches Foto wann aus welcher Richtung machte und wie
das Format der Negativplatte ist. Über die jedem Foto bei-
gegebene Nummer lassen sich dann die Fotos in Europa in
der India Office Library and Records, London, betrachten.
Die Negative verblieben in Indien. Etliche Reports sind
daher mitunter sehr reich mit eben jenen Fotos illustriert,
die dann in den »Imperial Reports« oft nicht reproduziert
werden. Ein Report, der für die »North Western Provinces
and Oudh for the Year ending 30th June, 1893«, enthält
sogar 4 eingeklebte Originalfotos mit Monumenten
Fatehpur Sikris.
Was diese mehr internen Jahresberichte - die ersten Jahr-
gänge waren käuflich nicht zu erwerben - noch unerläßli-
cher macht, sind die detaillierten, oft aufwendig gefalteten
Pläne.
In einigen dieser »jährlichen Fortschrittsberichte« werden
die Arbeiten über die Erfassung, Erhaltung und Wieder-
herstellung der Moghulmonumente nur am Rande über die
Entwicklung der einzelnen Publikationen des »Archaeolo-
gical Survey of India«, wie sie Koch in ihrer Bibliographie
anführt, erwähnt. Die Berichte mit umfangreicheren Bildli-
sten, Plänen und Abbildungsmaterial dieser zunächst etwas
verwirrenden organisierten Reihe mit wechselnden Titeln
seien im Auszug hier aufgeführt: »Annual Progress Report
of the Archaeological Survey Circle, North-Western Pro-
vinces and Oudh«, for the year ending 30th June, 1893;
ditto, ditto, 1894; ditto, ditto, 1898; ditto, ditto, 1899; ditto,
for the year ending 31 st March 1900; ditto, ditto, 1901.
»Annual Progress Report of the Archaeological Survey
Circle, United Provinces and Punjab« <sic>, Part I, for the
year ending 31st March 1904. »Annual Progress Report of
the Superintendent of the Archaeological Survey, Punjab
and United Provinces Circle«, for the year ending 31st
March 1904 <part 1I>.
»Report of the Archaeological Surveyor, Northern Circle«,
for the year ending 31st March 1906; ditto, ditto, 1907;
ditto, ditto, 1908; ditto, ditto, 1909; ditto, ditto, 1910.
»Annual Progress Report of the Superintendent, Muham-
madan and British Monuments, Northern Circle«, for the
year ending 31st March 1911; ditto, ditto, 1912; ditto, ditto,
1913; ditto, ditto, 1914; ditto, ditto, 1915; ditto, ditto, 1916;
Von 1917-1919 wurde jeweils nur 1 abgekürzter (abridged),
unillustrierter Bericht veröffentlicht. Die drei Berichte wur-
den dann 1921 in Allahabad unter »Progress Report of the
Superintendent, Archaeological Survey of India, Muham-
madan and British Monuments, Northern Circle, for the
years ending 31st March 1917. Ditto, ditto, 1918. Ditto,
ditto 1919« publiziert. »Annual Progress Report of the
Superintendent, Archaeological Survey of India, Northern
Circle, (Muhammadan and British Monuments)2, for the
year ending March 31st, 190; ditto, ditto, 1921.
Von großer Nützlichkeit erweist sich das Glossar am Ende
des Haupttextes (pp. 137-142).
Als Führer für die erste Indienreise eignet sich der Band
wegen seiner an Manie grenzender Knappheit weniger, und
das will diese Publikation auch nicht sein. Der Leser hat
hier einen Faden vor sich, der die Perlen moghulischer
Monumente zu einem strahlenden Collier zusammenfügt.
Koch stellte einen Appetitanreger für eine hoffentlich
geplante, großangelegte Publikation zusammen, mit der
dann wahrscheinlich selbst die Arbeit eines E. Smith nur als
Appendix zum Lebenswerk E. Kochs, der wohl bedeutend-
sten österreichischen Kunsthistorikerin, die sich mit Indien
befaßt, gezählt werden dürfte.
Joachim K. Bautze
200
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 45, 1996
Basu, Dr. Helene, Institut für Ethnologie, Drosselweg 1-3, D-14195 Berlin
Bautze, Dr. Joachim K., Priv.Dozent, Kantstr. 78. D-10627 Berlin
Best, Dr. Günter, Finkenstr. 66, D-48147 Münster
Brandt, Dr. Klaus J., Linden-Museum Stuttgart. Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Cipolletti, Dr. Maria Susana, Alemannenstr. 1 B. D-79312 Wasser-Emmendingen
Creyaufmüller M.A., Dr. Wolfgang, Melatener Str. 145 a, D-52074 Aachen
Didoni, Ursula, Linden-Museum Stuttgart. Hegelplatz 1. D-70174 Stuttgart
Drechsel, Prof. Dr. Paul, 4 Kloof Heights, 12 Higgo Road, Higgovale 8001, Cape Town/South
Africa
Forkl, Dr. Hermann. Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Frembgen, Dr. Jürgen, Staatl. Museum für Völkerkunde. Maximilianstr. 42, D-80538 München
Greifenstein, Ute, G.-Hauptmann-Ring 70, D-60439 Frankfurt a.M.
Heermann. Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Hornberger, Lorenz, Museum Rietberg, Gablerstr. 15, CH-8002 Zürich
Icke-Schwalbe, Dr. Lydia, Staatliches Museum für Völkerkunde, Japanisches Palais, Palaisplatz 11,
D-01097 Dresden
Kalter, Prof. Dr. Johannes, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kolb, Dr. Raimund Th., Mommsenstr. 32, D-10629 Berlin
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1. D-70174 Stuttgart
Kropp, Prof. Dr. Manfred, Anselm-Feuerbach-Str. 15, D-68723 Schwetzingen
Kurella, Dr. Doris, Obere Dorfstr. 10. D-72108 Wendelsheim
Piepke, Prof. Dr. Joachim, Anthropos-lnstitut, Arnold-Janssen-Str. 20, D-52757 Sankt Augustin
Plaeschkc, Dr.Herbert und Ingeborg, Rathenauplatz 21, D-06114 Halle
Puhl, Stephan, MISEREOR, Mozartstr. 9, D-52064 Aachen
Riese, Prof. Dr. Berthold, Endenicher Allee 27, D-53121 Bonn
Roese, Peter M.. Nibelungenstr. 227, D-64686 Lautertal
Schiede, Dr. Sonja, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schroeter, Dipl.ethn.Willy, Lengerckestr. 34. D-22041 Hamburg
Schulze-Thulin, Dr. Axel, Nordring 2, D-83624 Otterfing
Seige, Dr. Christine, Museum für Völkerkunde. Postfach 969, D-04009 Leipzig
Spennemann M.A., Dirk H.R., Ph.D.. Charles Sturt University, P.O.Box 789, Albury NSW
2640/Australien
Spranz, Prof. Dr. Bodo, Fedelhören 17 A, D-28203 Bremen
Thiele, Prof. Dr. Peter, Linden-Museum Stuttgart. Hegelplatz 1. D-70174 Stuttgart
Tunis. Dr. Angelika, Museum für Völkerkunde. Arnimallee 27, D-14195 Berlin
Universitätsbibliothek der HU Berlin
00941
Zweigbibliothek Europäische Ethnologie