TRIBUS
6621
JDEN-MUSEUM STUTTGART JAHRBUCH
TÄTLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE BAND 54 - 2005
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 54 - September 2005
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 2005
LA èLO-j-çu
Herausgeber: Linden-Museum Stuttgart - Staatliches Museum für
Völkerkunde, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Redaktion:
Prof. Dr. Thomas Michel
Koordination: Ursula Knöpfle
Fachbezogene
Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des
Linden-Museums: Anatol Dreyer
Mt-Unire/
'ib*
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer
Beiträge allein verantwortlich.
Einige Beiträge sind mit der alten Rechtschreibung übernommen worden.
Redaktionsschluss jeweils 1. Mai
Titelbild: Krökrökti, großes Federrad mit Kopfplatte
Schwanzfedern des scharlachroten Ara, des Aracangä
und des Königsgeiers, auf Baumwolle aufgebunden, Kaiapö,
Südparä, Brasilien (zwischen Riocinho und Rio Fresco), ca. 1980.
Inv.-Nr. M 35.450 a+b
Herstellung: VEBU Druck + Medien GmbH, Bad Schussenried
Copyright: Linden-Museum Stuttgart
September 2005
Ddxlw1 Zoor- s Z^<o5
ISSN 0082-6413
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 2004
(Thomas Michel) 7
Abschiedsreden für Prof. Dr. Johannes Kalter im Linden-Museum Stuttgart
am 5. Juli 2004 von Prof. Dr. Thomas Michel und Dr. Wolfgang Ostberg 18
Jahresbericht 2004 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd- und
Völkerkunde zu Stuttgart e.V (Roland Hahn) 23
Berichte über Erwerbungen im Jahr 2004 des
Linden-Museums (Thomas Michel), Afrika-Referates (Hermann Forkl),
Südasien-Referates (Gerd Kreisel), Ostasien-Referates (Klaus J. Brandt),
Südsee-Referates (Ingrid Heermann), Nordamerika-Referates (Sonja Schierle),
Lateinamerika-Referates (Doris Kurella) 25
Jahresbericht 2004 des Referates Museumspädagogik (Sonja Schierle /
Doris Kurella) 42
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2004 (Tobias Wall) 49
Zum Gedenken an Dr. Barbara Frank, 16.IV.1936 bis 19.1.2004
(Hermann Forkl) 54
Aufsätze
Baier, Martin; Salzgewinnung und Töpferei der Dayak im nordwestlichen
Ost-Kalimantan (Indonesisch-Borneo) 57
Clados, Christiane: Maisfeld. Affe und Opfertod:
Ein spätnascazeitliches Textil des Linden-Museums Stuttgart 71
Forkl, Hermann: Erwiderung Hans Kuebler/Elke Wachendorff:
Cui bono - in der Tat! Quelle Don Quichoterie. Tribus 52,2003, S. 206-09 89
Ilyasova, Saida / Imamberdyev, Rawschan:
Eine Sammlung glasierter Keramik aus Taschkent 91
Luttmann, Ilsemargret: Kleidermoden als Ausdruck veränderten
Selbst-Bewusstseins: die Neuaneignung der traditionellen Indigo-Stoffe
der Dogon im Kontext lokaler und globaler Einflüsse 103
Schulze-thulin, Axel; Anmerkungen zur ethnologischen Grundlagener-
forschung der Indianer des Christoph Kolumbus (der ersten und zweiten Reise) 133
Spötter, Anke; Der Bildjournalist und Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik 199
Buchbesprechungen
Allgemein
Johnson, Christopher: Claude Lévi-Strauss - The Formative Years (F. Stifel) 207
Meier, Dirk: Siedeln und Leben am Rande der Welt (A. Schulze-Thulin) 208
Mischek, Udo: Leben und Werk Günter Wagners (1908-1952) (V.Harms) 208
Müller, Klaus E. / Ritz-Müller, Ute: Des Widerspenstigen Zähmung -
Sinnwelten prämoderner Gesellschaften (W. Creyaufmüller) 210
Stewart, Pamela J. / Strathern, Andrew: Witchcraft, Sorcery, Rumors,
and Gossip (C. Kalka) 211
Stone, Richard: Mammut - Rückkehr der Giganten?
Expeditionen ins ewige Eis (A. Schulze-Thulin) 211
Wernhart, Karl R.: „Ethnische Religionen. Universale Elemente des
Religiösen“. Grundwissen Religion (H. Mückler) 212
5
TR1BUS 54,2005
Afrika
Biasio, Elisabeth: Prunk und Pracht am Hofe Menileks -
Alfred Ilgs Äthiopien um 1900 (R. Best) 213
Heintze, Beatrix: Afrikanische Pioniere. Trägerkarawanen im westlichen
Zentralafrika (ca. 1850-1890) (P. Ivanov) 215
Mayer-Himmelheber, Clara: Die Regalia des Kabaka von Buganda -
Eine Biographie der Dinge (J. Jensen) 216
Pogge Von Strandmann. Hartmut (Hrsg.): Ins tiefste Afrika. Paul Pogge
und seine präkolonialen Reisen ins südliche Kongobecken (B. Heintze) 218
Amerika
Fogelson, Raymond D. (Hrsg. Vol. 14): Southeast. Vol. 14 des Handbook
of North American Indians, hrsg. v. William C. Sturtevant (A. Schulze-Thulin) 219
Kowalski, Andreas: ,Tu Es Quem Sabe.’ ,Du bist derjenige, der es weiß.’ Das
kulturspezifische Verständnis der Canela von Indianerhilfe. Ein ethnograph-
isches Beispiel aus dem indianischen Nordost-Brasilien (W. Kapfhammer) 221
Kraus, Michael: Bildungsbürger im Urwald: die deutsche ethnologische
Amazonienforschung (1884-1929) (W. Jahn) 222
Quilter, Jeffrey: Cobble Circles and Standing Stones. Archaeology
at the Rivas Site, Costa Rica (I. Paap) 224
Schweitzer De Palacios, Dagmar / Wörrle, Bernhard (Hrsg.):
Heiler zwischen den Welten. Transkulturelle Austauschprozesse
im Schamanismus Ecuadors (S. Cipolletti) 225
Taylor, Walter W: Sandals from Coahuila Caves (I. Paap) 226
Südasien
Henn, Alexander: Wachheit der Wesen. Politik, Ritual und Kunst
der Akkulturation in Goa (H. K. Link) 227
Klokke, Arnoud Hans: Fishing, Hunting and Headhunting in the
Former Culture of the Ngaju Dayak in Central Kalimantan (M. Baier) 229
Zahorka, Herwig: Die Erschließungsfronten auf Borneo (Kalimantan)
1937 bis heute (C. Gönner) 231
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 54 232
6
Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im
Jahre 2004
Am 14.1.2004 wurde ich für das Linden-Museum in die Patch Barracks Stuttgart zum
Neujahrsempfang beim European Command der US-Armee eingeladen. Das Lin-
den-Museum ist bei den Generälen stets beliebt.
Im Januar wurden Gespräche mit der Württembergischen Landesbibliothek geführt,
um eine zukünftige Kooperation herbeizuführen. Vor allem die alten Reisebeschrei-
bungen müssten in den dort wesentlich besser ausgestatteten klimatisierten Räumen
gelagert werden.
Am 27.1. gab es zwischen Vertretern des Landtages und der staatlichen Museen ein
Treffen mit dem Ziel, längere eintrittsfreie Zeiten einzuführen. Auch eine Verbesse-
rung der Ausschilderung unserer Museen wurde besprochen.
Das Kuratorium der Region Stuttgart in der Industrie- und Handelskammer hatte
am gleichen Tag seine konstituierende Sitzung. Das Linden-Museum ist schon seit
längerem Partner in diesem Kreis.
Mehrere Termine im Februar hatten das Thema der Service-Zentren zum Inhalt. In-
itiiert vom MWK überlegten sich die staatlichen Museen mögliche Veränderungen
in ihrer Arbeitsstruktur. Wenngleich einzelne Aufgaben wie z.B. EDV-Betreuung,
zentraler Fahrdienst, Leihverkehr, Teile der Öffentlichkeitsarbeit und Museumspäd-
agogik durchaus in einem Zentrum denkbar schienen, überwog die allgemeine Ab-
lehnung von Zentralisierungsvorschlägen. Stattdessen wurden konstruktive Vor-
schläge zu mehr Kooperation zwischen den Museen erarbeitet. Im Konkreten wird
das Linden-Museum mit dem Württembergischen Landesmuseum eine Zusammen-
legung der Schreinereien und der technischen Ausstellungshilfsmittel vornehmen,
vorausgesetzt, die Anmietung entsprechender Räume wird bewilligt.
Am 6.2. wurde mit der Eröffnung der neuen Dauerausstellung Nord-Amerika eine
mehrere Jahre dauernde Lücke geschlossen. Mit moderner Grafik und Gestaltung bie-
tet sie auch neue Zugänge in die Welt der nordamerikanischen Indianer und Inuit.
Die im letzten Jahr begonnenen Gespräche und Vorbereitungen einer Zusammenar-
beit zwischen dem Linden-Museum und einem neu zu gründenden UNESCO-Club
sind gescheitert. Der Hauptgrund, diese sonst unterstützenswerte Initiative nicht
weiter zu begleiten, lag darin begründet, dass letztlich das Linden-Museum den
Hauptteil des Organisationsaufwandes zu tragen gehabt hätte.
Bis zur Eröffnung der Sonderausstellung Kalligraphie aus Korea von JUNG DO-
JUN am 19.2. war unser Museum tagelang sehr koreanisch geprägt. Der Künstler
brachte seine ganze Familie zum Aufbau mit und jetzt erst sahen wir, wie viele Kore-
aner in Stuttgart und der Region ansässig sind. Der deutsch-koreanische Kulturver-
ein zauberte ein großartiges Essen und gab am Eröffnungsabend eine eindrucksvol-
le Vorstellung der koreanischen Kultur mit Musik und Tanz. Alle Frauen und einige
Männer waren traditionell gekleidet, und das Museum war wieder das, was es so
gerne ist: ein Treffpunkt der Kulturen.
Über mehrere Wochen hinweg gab es Schulungen über den Umgang mit den Neuen
Steuerungsinstrumenten (NSI).
Am 12.3. hielt ich während der Tagung des Museumsverbandes in Karlsruhe einen
Vortrag zum Museum als Ort der Kulturbegegnungen.
Der Kulturausschuss des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst be-
suchte am 18.3. das Museum.
Die Vorgespräche zur Gestaltung des Wettbewerbes für die Erstellung unseres Cor-
porate Design (CD) wurden im März geführt.
Am 20.3. hatten wir die Lange Nacht der Museen. Wieder kamen tausende und er-
freuten sich an den zahlreichen Aktionen und unserer Musik, die bis um 2 Uhr nachts
Tanzfreudige wach hielt.
Vom 22.3. bis 23.3. fand in Freiburg das jährliche Treffen der Direktoren deutsch-
sprachiger Völkerkundemuseen statt. Hauptdiskussionspunkt waren die neuen
7
TRIBUS 54,2005
Rechtsformen für Museen und die zunehmende Entfremdung zwischen universitä-
rer Ausbildung und den Erfordernissen eines Museums.
Am 24.3. erhielten wir von dem bekannten Filmer, Herrn Schlenker, einen Großteil
seiner Technik. Durch diese Hilfe können wir demnächst einen eigenen Raum mit
Schneidetisch einrichten, um unsere alten 16-mm-Archivfilme zu bearbeiten.
Am 30.3. wurde die Kunstabteilung des MWK (Ministerium für Wissenschaft, For-
schung und Kunst) durch die Türkei-Ausstellung geführt.
Am 1.4. gab es zwischen den staatlichen Museen Gespräche über die Konkretisie-
rung der Kooperation.
Mit Herrn Schatz wurden Gespräche wegen der Übernahme und Ausstellung einer
Schattenspielsammlung geführt.
Am 29.4. erhielten wir die Publikation und Präsentierung der Besucherbefragung,
die fast über ein ganzes Jahr hinweg im Linden-Museum durchgeführt worden war.
Am 12.5. lud der koreanische Konsul Göhring alle an der Korea-Ausstellung Betei-
ligten zu einem koreanischen Essen ein.
Lebhaft wurde die Afrika-Sonderausstellung am 14.5. eröffnet, allerdings waren er-
staunlich wenige afrikanische Mitbürger anwesend, die wir auch in den folgenden
Monaten für die doch interessante Ausstellung kaum aktivieren konnten. Schon bei
anderen Gelegenheiten mussten wir feststellen, dass die ca. 6.000 in Vereinen orga-
nisierten Afrikaner im Raume Stuttgart offensichtlich wenig für unser Museum zu
begeistern sind. Die gleiche Erfahrung machten wir am Tag der Menschenrechte mit
dem Schwerpunktthema Südafrika und bei einem Abend über Tanzania.
Der Verwaltungs- und Beirat traf sich am 21.6. zu seiner jährlichen Sitzung. Für den
ausgeschiedenen Prof. Dr. Feest, der sich nach Wien verändert hat, wurde Dr. Clau-
dius Müller, Direktor des Münchener Völkerkundemuseums, gewählt.
Am 2.7. wurde die Dauerausstellung Orient eröffnet, die noch von Prof. Kalter ein-
gerichtet wurde, um während des bevorstehenden Stellenwechsels diesen wichtigen
Bereich den Besuchern anbieten zu können.
Am 5.7. schließlich gab es die Verabschiedung von Prof. Dr. Johannes Kalter, dem stell-
vertretenden Direktor, nach fast 32 Jahren Dienst am Linden-Museum. Für alle Betei-
ligten war dieser Abend ein Ereignis. Neben Tränen, die natürlich flössen, wurde aber
auch viel gelacht und zwei der launigen Reden finden sie im Anhang wieder. Bis zur
Wiederbesetzung seiner Stelle ist uns Prof. Kalter weiterhin bei allen Fragen bezüglich
der Orient-Abteilung und der Betreuung angeschlossener Vereine behilflich.
Gleich am nächsten Tag gab es eine weitere sehr erfreuliche Sitzung: die sog. „Zen-
tralfondssitzung“, bei der das Linden-Museum wiederum sehr großzügig mit Objekt-
ankaufsmitteln ausgestattet wurde. Das Ergebnis sehen sie ausführlich unter der
Rubrik „Erwerbungen“.
Am 8.7. wurden die von zwölf Bewerbungen ausgesuchten besten vier zu unserem
Wettbewerb Corporate Design (CD) vorgestellt. Die Jury von über zwanzig Perso-
nen aus städtischen und Landeseinrichtungen, unseres Fördervereins GEV und Be-
ratern diskutierte lange, bis eine Entscheidung gefällt wurde. Schließlich erhielt das
Team Ossenbrunner + Wagner den Auftrag.
Der Betriebsausflug am 19.7. war dieses Mal sehr anstrengend und führte auf die
Burg Hohenstaufen. Beim Abstieg hatten wir leider einen Fast- und einen Ganz-
Armbruch zu beklagen. Aber da auch die Geschädigten bis zum Ende durchhielten,
war es noch ein schöner Abschluss.
Am 28.7. wurde im Rahmen unserer NSI (Neue Steuerungsinstrumente) das ent-
sprechende Controllingsystem besprochen.
Am 3.8. war ich zu einer Festveranstaltung anlässlich des Nationalfeiertages von Ma-
laysia eingeladen.
Am 1.9. feierte die Völkerkundeabteilung des Niedersächsischen Landesmuseums
Hannover sein 50-jähriges Bestehen. Da ich dort vor meinem Dienstbeginn in Stutt-
gart 10 Jahre als Leiter tätig war. hielt auch ich einen Vortrag.
Lebendig wurde das Linden-Museum am 3.9.: Wir hatten den zahlreichen Künstlern
unter unseren Aufsichtskräften den Sonderausstellungsraum für ihre eigenen Prä-
8
Betriebsausflug 2004
Betriebsausflug 2004
sentationen zur Verfügung gestellt. Besonders die Karaoke-Aktion war sehr lustig,
und viele Bedienstete des Linden-Museums nahmen daran teil, auch der Direktor
mit „House of the Rising Sun“. Dieser Titel war aber eher spontan gewählt, passte
aber irgendwie zu der uns wenig später schockierenden Meldung über den geplanten
Bau eines Versorgungszentrums vom Krankenhaus direkt hinter dem Linden-Muse-
um. Danach werden wir die Sonne nicht mehr aufgehen sehen und auch das so schö-
ne Gebäude des Linden-Museums wird in eine triste Krankenhauslandschaft einge-
schachtelt.
Am 17.9. besuchten uns einige Kollegen und der Direktor des Ethnographischen
Museums von St. Petersburg Vladimir Grusmail. Dieser Besuch steht im Zusammen-
hang mit einer langfristigen Partnerschaft zwischen unseren Häusern.
Für zwei Wochen nahm ich im Oktober an der alle drei Jahre stattfindenden Welt-
konferenz der ICOM (International Commission of Museums) teil. Dieses Mal tra-
fen sich 1.200 Delegierte in Seoul / Korea. Ich selbst war aktiv in den beiden Sektio-
9
TRIBUS 54,2005
nen: „Völkerkundemuseen“ und „Internationales Netzwerk“ beteiligt. Es ergaben
sich zahlreiche Kontakte mit Kollegen aus der ganzen Welt, und die Organisation der
Tagung war großartig. Alle Delegierten wurden fast wie Staatsgäste empfangen und
betreut.
Die harte Wirklichkeit war aber schon kurz nach meiner Rückkehr auf der Tagesord-
nung: Planung, Zeitabläufe, Behinderungen durch das Versorgungszentrum hinter
dem Linden-Museum.
Am 27.10. waren wieder über 30 Aussteller beim „Markt der Völker“ zu Gast.
Ca. 10.000 Besucher kamen an vier Tagen.
Der zuvor erwähnte Tanzania-Abend am 10.11. ist leider von keinem einzigen unse-
rer afrikanischen Mitbürger besucht worden. Da wird man schon nachdenklich.
Unsere Ehrenamtlichen konnten wir am 11.11. (nicht um ll11 sondern erst um 14ü0)
zu einer netten Dankesfeier begrüßen.
Am 17.11. stellte sich die neue Leitung des Württembergischen Kunstvereins Stutt-
gart vor: Herr Christ.
Den zweiten Teil der Zentralfondssitzung konnten wir in der Kunsthalle Karlsruhe
abhalten, am 23.11. Zum letzten Mal war Prof. Himmelein, Direktor des Württem-
bergischen Landesmuseums, dabei, der in den Ruhestand ging.
Tübinger Völkerkundestudenten des 1. Semesters besuchten uns am 24.11. Es ist
dies allerdings als eine Ausnahme zu sehen, denn die universitäre Ausbildung läuft
weitgehend an der Museumsarbeit vorbei und hat auch sonst wenig Berührung.
Die Stuttgarter Rotarier besuchten uns am 26.11., zufällig an meinem Geburtstag,
und so konnte ich mit ihnen (und auch einigen Museumsmitarbeitern) gemeinsam
feiern.
Einige Sitzungen folgten hinsichtlich der Vorsichtsmaßnahmen für den Kranken-
hausbau. Es wurden Vorbereitungen für Schwingungsmessungen und Filtersicherun-
gen der Klimaanlage getroffen.
Den Jahresabschluss kündigte unsere Weihnachtsfeier am 20.12. an, die sich alle ver-
dient hatten und auch entsprechend genossen.
Leihgaben (alphabetisch nach Orten)
Ausstellungsdauer Referat Leihgeber
14.09.2003-19.02.2004 Orient Orient-Institut der DMG. Beirut 36 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatl. Museen zu Berlin, Berlin 38 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Glassen, Prof. Dr. Erika, Bollschweil 2 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Staatl. Kunstsammlungen, Dresden 11 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
22.10.2003-22.01.2004 Südasien Martin-Luther-Universität, Halle (Saale) 1 Objekt für die Ausstellung „An Indiens Tempelstätten - Fotoimpressionen der Indologin Betty Heimann“
10
Ausstellungsdauer Referat Leihgeber
13.09.2003-18.04.2004 Orient Kestner-Museum, Hannover 5 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Völkerkundemuseum der von Portheim-Stiftung, Heidelberg, 6 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Grünzner, Reiner, Horb am Neckar 4 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 3 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Museum für Angewandte Kunst, Köln 12 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln 2 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Staatl. Museum für Völkerkunde, München 88 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Rampacher, Gerd, Sindelfingen 44 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Württ. Landesbibliothek, Stuttgart 23 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Württ. Landesmuseum, Stuttgart 2 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
23.11.2004-15.02.2005 Orient Khaled ben Slimane, Tunesien 99 Objekte für die Ausstellung „Moderne tunesische Keramik von Khaled ben Slimane“
11
TRIBUS 54,2005
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
19.04.1999-18.04.2006 Afrika Deutsches Drahtmuseum, Altena 5 Objekte für die Ausstellung „Masai-Schmuck“
03.09.2004-27.02.2005 Südasien Museum unterm Trifels, Annweiler 15 Objekte für die Ausstellung „Tibet - Geheimnisvolles Dach der Welt“
12.02.2004-20.02.2004 Lateinamerika Südwestrundfunk. Baden-Baden 16 Objekte für Filmaufnahmen für „Tatort“
18.03.2004-26.03.2004 Ostasien Südwestrundfunk. Baden-Baden 1 Objekt für die Sendung „Kaffee oder Tee“
08.07.2004-31.10.2004 Südsee Museu D’Historia de la Ciutat, Barcelona 6 Objekte für die Ausstellung „Der erste Eros“
01.07.2003-31.12.2004 Orient Vitra Design Museum, Berlin 43 Objekte für die Ausstellung „Leben unter dem Halbmond“
17.09.2003-29.02.2004 Südasien Musées Royaux d’Art et d’Histoire/Koninkl.Musea v. Kunst en Geschiedenis, Brüssel 4 Objekte für die Ausstellung „Viel Nam. Art et Cultures, de la Péhistoire à nos jours“
15.06.2004-13.07.2004 Südasien Realschule am Karlsberg, Crailsheim 44 Objekte für die Ausstellung „Leben und Kultur in Indien“
16.10.2004-09.01.2005 Orient Stadtmuseum im Spital, Crailsheim 85 Objekte für die Ausstellung „Vorderasiatische Keramik“
10.10.2003-14.02.2004 Südsee Lippisches Landesmuseum, Detmold 28 Objekte für die Ausstellung „Ozeanien - Kult und Vision“
28.06.2004-15.02.2005 Südsee Stadtmuseum Esslingen. Esslingen 6 Objekte für eine Zusammenschau im Museum für Volkskultur Waldenbuch
31.10.2003-22.02.2004 Lateinamerika Firenze Mostre, Firenze 3 Objekte für die Ausstellung „La grande arte deU’antico Perü. Capolavori da Chavin agli Inca“
18.12.2001 bis auf Widerruf Südsee Adelhauser Museum, Freiburg 1 Objekt für die Dauerausstellung
18.11.2004-10.04.2005 Ostasien Niedersächs. Landesmuseum, Hannover 14 Objekte für die Ausstellung „Jadegrün und bitter - die Welt in einer Schale Tee. Facetten der japanischen Teekultur“
19.09.2004-30.01.2005 Südasien Völkerkundemuseum der v. Portheim-Stiftung, Heidelberg 9 Objekte für die Ausstellung „Porzellane der Qing- Zeit“
12
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
18.12.2004-28.03.2005 Afrika Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 1 Objekt für die Ausstellung „Entlarvt! Von Masken und Maskeraden“
29.03.2004-27.06.2004 Ostasien Staatl. Schlösser und Gärten B.-W., Karlsruhe 1 Objekt für die Ausstellung „Schwartz Porcelain“
10.10.2003-04.01.2004 Lateinamerika Museum für Völkerkunde, Leipzig 74 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
28.03.2004-11.07.2004 Orient Landesmuseum Natur und Mensch, Oldenburg 1 Objekt für die Ausstellung „Rad und Wagen“
31.05.2004-17.12.2004 Afrika Historisches Museum der Pfalz, Speyer 1 Objekt für die Ausstellung „Am Ball der Zeit“
12.03.2004-08.08.2004 Nordamerika St. Louis Art Museum, St. Louis 2 Objekte für die Ausstellung “The Art of the Osage”
03.09.2004-07.11.2004 Orient Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 1 Objekt für die Ausstellung „Von Wüste, Wasser, Brunnen und Kanälen. Gärten des Orients“
01.10.2003-17.01.2004 Orient Württ. Landesbibliothek, Stuttgart 40 Objekte für die Ausstellung „Reisen durch das Osmanische Reich“
04.11.2004-15.03.2005 Nordamerika, Lateinamerika, Afrika, Südsee, Orient Württ. Landesmuseum, Stuttgart 17 Objekte für die Ausstellung „Schwanenflügelknochen-Flöte“
06.07.2004-06.03.2005 Ostasien Tokyo National Museum, Osaka Municipal Museum of Art und Nagoya City Museum 14 Objekte für die Ausstellung „Arts of East and West from World Expositions 1855-1900; Paris, Vienna, Chicago“
06.02.2004-28.03.2004 Lateinamerika Museum Schloss Hohentübingen, Tübingen 1 Objekt für die Ausstellung „Einfälle statt Abfälle“
17.07.2004-02.04.2005 Lateinamerika Weltkulturerbe Völkinger Hütte, Völklingen 50 Objekte für die Ausstellung „InkaGold - 3000 Jahre Hochkulturen. Meisterwerke aus dem Larco Museum Peru“
04.12.2004-30.01.2005 Südasien, Orient, Ostasien Städtische Galerie, Wangen im Allgäu 9 Objekte für die Ausstellung „Spiele im Spiegel der Zeit“
18.01.2002-28.02.2005 Ostasien Vitra Design Stiftung, Weil am Rhein 7 Objekte für die Ausstellung „Living in Motion - Design und Architektur für flexibles Wohnen“
01.03.2004-19.11.2004 Südasien Kunsthistorisches Museum, Wien 3 Objekte für die Ausstellung „Faszination Vietnam - Götter, Helden, Ahnen“
13
TRIBUS 54,2005
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
23.11.2003-27.06.2004 Nordamerika Naturwissenschaft!. Sammlung, Museum, Wiesbaden 10 Objekte für die Ausstellung „Unter heißer Sonne. Leben und Überleben in der Sonora-Wüste“
22.12.-28.12.2004 Afrika Für ein Buntes Miteinander e.V, KTC, Wittenberg 102 Objekte für die Ausstellung „Anton Wilhelm Arno“
04.05.2004-08.05.2005 Afrika Völkerkundemuseum der Universität Zürich, Zürich 3 Objekte für die Ausstellung „Prunk und Pracht am Hofe Menileks - Alfred Ilgs Äthiopien um 1900“
Personal 2004
Neu eingestellt:
Alagöz. Hayrettin (Wachdienst)
Hendrich, Oliver (Hausmeister) 01.06.-10.10.04
Hülsmann. Brigitte (Aufsicht)
Jandl, Angela (EDV/Musis)
Köhler, Katrin (Mupäd)
Otto-Hörbrand, Martin (Öff)
Volontäre:
Beckmann, Nele (Restaurierung)
Frick, Patricia (Ostasien)
Stifel, Florian (Südsee)
Ausgeschieden;
Djalali, Bahman (Wachdienst)
Erhardt, Walter (Schreinerei)
Gargya, Karoly (Aufsicht)
Jenik, Susanne (Aufsicht)
Kalter, Johannes (Abt. Orient)
Lenhard, Stefanie (Abt. MuPäd)
Niere, Katja (Volontärin Restaurierung)
Nowack, Ute (Aufsicht)
Sautter, Cornelia (Aufsicht)
Schönberger, Irene (Volontärin Abt. Orient)
Schwaiger, Melanie (Verwaltung)
Sönmez, Nedim (Aufsicht)
Thomsen-Greve de Reyes, Elke (Aufsicht)
Wedler, Nina (Aufsicht)
Ehrenamtliche Mitarbeiter:
Bastian, Ilse
Brandauer, Gundolf
Brandauer, Waltraud
Cuesdeanu. Hilde
Emami, Gertrud
Gohl, Christine
Heinz, Annemarie
Helmich, Hilde
Holzinger, Johann
Kolbinger, Helga
Maas, Ingrid
Simm. Ingrid
20-jähriges Jubiläum:
Mundorff. Herbert (Wachdienst)
14
Geld- und Sachspenden für das Linden-Museum Stuttgart bzw. die Gesellschaft für
Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. im Jahre 2004
Ade, Herbert H., Stuttgart
Adler, Dr. Hildegard, Stuttgart
Arnold, Dr. Klaus, Stuttgart
Bader, Dr. Franz, Ludwigsburg
Balz, Lotte, Stuttgart
Bauer, Elfi, Stuttgart
Bauknecht, Gertrud, Rottenburg
Baumeister, Dr. O. Gutbrod, Stuttgart
Baur, Dr. Ulrike, Stuttgart
Bayer, Ragen und Elisabeth, Hemmingen
Berger, Hedwig-Uta, Stuttgart
Berner, Elfriede, Calw
Biedenbach, Ingeborg, Stuttgart
Biedermann, Lilo, Sindelfingen
Billo, Tudi, Witzenhausen
Birkhold von Oehsen, Astrid, Esslingen
Blum, Ilse, Stuttgart
Borthmes, Fred und Gabi, Mössingen
Bosch, Robert GmbH, Stuttgart
Brandt, Dr. Klaus J., Stuttgart
Brösel, Ernst und Gisela, Stuttgart
Burwig, Bernd und Ingeborg, Weinstadt
Conradi, Jutta, Ostfildern
Cronemeyer, Ulrich, Leinfelden
DaimlerChrysler, Stuttgart
DART, Stuttgart
Demohn, Veronika, Stuttgart
Deutsche Bundesbank, Stuttgart
Dewall, Dr. Magdalene von, Neckargemünd
Dorgerloh, Rotraud, Stuttgart
Eigner, Magda, Stuttgart
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Fedler, Elfriede, Stuttgart
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Fischer, Waltraud, Stuttgart
Frank, Volker, Sandhausen
Fritz, Irmtraud, Stuttgart
Fügener, Johanna, Tamm
Geiger, Dr. Martin, Plochingen
Gertkemper, Ursula, Stuttgart
Görler, Evelin, Ostfildern
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Grau, Hilde, Stuttgart
Grüner + Jahr, Hamburg
Habighorst, Prof. Dr. Ludwig, Koblenz
Hall-Schwartze, Barbara, Musberg
Hartmann AG, Paul, Heidenheim
Heczko, Brigitte, Stuttgart
Hensel, Alfred, Stuttgart
Hentzschel, Ute, Stuttgart
Hepfer. Ilse, Stuttgart
Holl, Uta, Stuttgart
Holzinger, Johann und Louise, Stuttgart
Holzwarth, Ingrid, Marbach
15
TRIBUS 54,2005
Hörrmann, Ingeborg. Sindelfingen
Hotel Unger. Stuttgart
Ileperuma, Ch., Stuttgart
Johansen, Prof. Dr. Ulla, Frechen
Jourdan, Uwe, Stuttgart
Jung, Olaf, Nürtingen
Junghans, Renate, Stuttgart
Justus-von-Liebig-Schule, Göppingen
Kaiser, Elli, Böblingen
Kempgen, H.-W., Künzelsau
Klein, Dr. Bettina, Oberursel
Knoelke, Berta, Stuttgart
Koch, Eike, Stuttgart
Koch, Ulrich-Michael, Stuttgart
Koerner. Michael. Homburg
Köhler. Dr. Konrad, Reutlingen
Kohlstetter. Gisela, Stuttgart
Kraatz, Dr. Martin, Marburg
Krais, Dr. Walter und Ingrid, Stuttgart
Kraut, Inge, Leinfelden
Kreisel, Dr. Gerd, Stuttgart
Kröner, Ulrich, Backnang
Krüger, Olaf, Stuttgart
Kühnle, Marianne, Sulzbach
Kulturgemeinschaft, Stuttgart
Landesbank Baden-Württemberg, Stuttgart
Langbein, Monika, Dettingen
Laurich, Sigrid, Stuttgart
Lebenshilfe, Rottweil
Leitz, Conrad und Inge, Stuttgart
Lerch, Carmen-Cornelia, Uhingen-Baiereck
Maier, Jochen. Reutlingen
Majuntke, Hans-Dieter, Stuttgart
Marquardt, Dr. Sigrid, Stuttgart
Marquardt-Eißler, Dr. Gisela, Stuttgart
Meixner, Hermine, Stuttgart
Merk. Siegfried, Leutenbach
Morys, Sieglinde. Waiblingen
Motamed, Elfriede, Frankfurt a.M.
Müller. Helmut, Stuttgart
Müller, Mechthilde Maria, Fellbach
Mueller, Norma. Stuttgart
Müller, Wolfgang, Remseck
Müller-Seitz. Bettina, Markgröningen
Nöth, Doris, Kirchheim/Teck
Normann. Frieda, Stuttgart
Orians, Luzia, Stuttgart
Otto. Herta, Waiblingen
Paul. Herbert, Asperg
Piltz, Birgit. Coburg
Randerath, Jeanette, Stuttgart
Rauer, Vida, Stuttgart
Realschule, Crailsheim
Rees. Angela, Stuttgart
Renz, Hanna, Stuttgart
Renz, Reinhold, Stuttgart
Richter, Werner, Schwäbisch Gmünd
16
Richter-Jericho, Charlotte, Stuttgart
Rittberger, Dr. U.E., Remshalden
Rösing, Prof. Dr. Ina, Ulm
Rohe, Simone, Ludwigsburg
Rohner, Prof. Dr. Ludwig, Schwäbisch Gmünd
Salis, Ursula von, Zürich
Sanhaji, Hassan, Stuttgart
Schad, Dr. Hildegard, Esslingen
Schlipf, Thomas, Ilsfeld
Schmid, Brigitte, Stuttgart
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schmidthals, Dr. Wolfgang, Hamburg
Schmolke, Wolf-Ruediger, Illertissen
Schnaidt, Brigitte, NL-SW Kerkrade
Schorndorfer, Ludwigsburg
Schosser, Irmgard, Schorndorf
Schülke, Helma, Stuttgart
Schütz, Rainer und Ursula. Stuttgart
Seitmann, Almuth, Stuttgart
Sieglin, Ernst Alfred, Stuttgart
Sonntag, Edith, Stuttgart
Staatl. Toto-Lotto-GmbH, Stuttgart
Stähler, Johannes Jochen, Stuttgart
Stickforth, Peter, Göppingen
Stitz, Guido, Stuttgart
Stockmayer, Lore, Stuttgart
Störr. Viola, Stuttgart
Strohmaier, Helga, Messingen
SWR, Baden-Baden
Szczepanski, Ina von, Stuttgart
Thiele, Prof. Dr. Peter, Stuttgart
Thierley, Martin / Grimm, Ursula, Stuttgart
Thies, Heiko, Obersbach
Trautmann, Michael, Stuttgart
Trieselmann, Renate, Stuttgart
Ulrich-Nedorn, Dr. Signe, Ludwigsburg
Updike, John und Ellen. Waiblingen
Volck, Dr. Hartmut und Birgit, Grafenau
Wanner, Xaver, Stuttgart
Wasmer, Leonore von, Stuttgart
Weber, Wilfried. Pfullingen
Wegener, Jutta, Stuttgart
Weinbeer, Eduard, Vaihingen
Weller, Gisela, Stuttgart
Wieland. Ruth. Stuttgart
Wilhelm, Dr. Peter-Raimond, Stuttgart
Wittwer GmbH, Konrad, Stuttgart
Wörner, Ursula, Stuttgart
Wolfangel, Dieter, Renningen
Zibulski, Katja, Ludwigsburg
Ziegler, Eva, Stuttgart
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Allen Spendern und unseren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
danke ich an dieser Stelle nochmals ganz herzlich.
Thomas Michel
17
TRIBUS 54,2005
THOMAS MICHEL
Abschiedsrede für Prof. Dr. Johannes Kalter
im Linden-Museum Stuttgart am 5. Juli 2004
Schweren Herzens hat Herr Kalter das Linden-Museum verlassen und sitzt bereits,
allerdings in fröhlicher Runde, vor dem Museum.
Wenn ich die ganze Freundesschar und Belegschaft betrachte, die mit Herrn Kalter
Abschied feiern möchte, sehe ich doch zum Glück nur einige freie Stühle. Sie alle
erwarten meine allerwärmsten Dankesgrüße für all die schönen Jahre. Diesem Be-
gehren kann und möchte ich mich aus tiefstem Herzen anschließen.
Herr Kalter geht in den Ruhestand
dem faulen Ruhebett entgegen in liebholder Gesellschaft.
Den ganzen Tag schnarchend im Bett!
Paradiesische Zustände.
Beneidenswert.
Keine Korrespondenz.
Keine Presse im Genick.
Keine Bau- und sonstigen Maßnahmen.
Keine Begründung jedes einzelnen Schrittes.
Keine Feuerwehr.
Kein Personalrat.
Keine Strukturreform.
Ein Ende hat das Aufräumen, Umräumen, Abräumen, Verräumen, die Raumfrage,
der völkerkundliche Raum, der orientalische Raum, der Magazinraum, der Abstell-
raum, der Parkraum, der Kaffeeraum, der Durchgangsraum, der Raum 109.
Raum 109:
Arbeitszimmer, Studierzimmer, voll gestopft mit ethnographischen Kuriositäten, Ex-
zerpturen, Zigarettenschachteln, einem Schreibtisch, dem seine ursprüngliche Funk-
tion abhanden gekommen ist.
Obenauf liegt ein Brief:
„Sehr geehrter Herr Professor Kalter,
illustrer, respektierter, welt-führender Experte, Weltautorität für orientalische Kunst,
mit Beifall bedachter Autor und Kurator.“
Ein weiterer ungeöffneter Brief vom gleichen Absender aus Indien:
„Möge der Allmächtige dich zu weiterem Sieg und Ruhm führen!“
Am Pinboard:
und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir:
,Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen!’
... und ich lächelte und war froh,
und es kam schlimmer!“
Aus einem Brief an mich:
„Durchlauchtigster Direktor!
Eure Hoheit haben mir die Ehre erwiesen, mich in Kenntnis zu setzen, dass seine
Majestät Herr Teufel, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, allergnädigst ge-
ruht haben, mir das Kommenthurkreuz 8. Klasse mit Kleeblatt zu verleihen.
Ich entnehme dem Schreiben ferner in innigster Dankbarkeit, dass diese Verleihung
mit einer Senkung des Weihnachtsgeldes, der Pensionsbezüge und einer Streichung
des Urlaubsgeldes verbunden ist.
Ich darf für diesen Beweis der Gnade und des Wohlwollens meinem tiefgefühlten
Dank hier Ausdruck verleihen. Gestatten Sie mir aber in aller Bescheidenheit darauf
hinzuweisen, dass ich in Folge meiner Pensionierung der Bezügesenkung und meiner
darauf folgenden Wohnsitzverlegung nach Nord-Afghanistan lieber einen Kühl-
schrank mit Inhalt hätte, als das Kreuz mit Kleeblatt, das mir in der dortigen Hitze
bei 45 im Schatten zu schnell vertrocknet. Vielleicht könnten Sie sich von einem
Ihrer Coca-Cola-Kühlautomaten trennen, mit dem ich dort gleich ein Geschäft grün-
den könnte.
In innigster Erwartung Ihrer wohlwollenden Tatkraft verbleibe ich
Ihr
gehorsamer, dank des Kühlschrankes auch in Zukunft
Kalter“
Ein Interview zwischen mir und Herrn Kalter vom 28.6.2004:
„Was war das Überraschendste für Sie am Linden-Museum?“
„Dass das Linden-Museum kein ruhiger Ort ist, wie es von außen scheint, sondern
eher ein Irrenhaus.“
„Welches ethnografische Objekt würden Sie am liebsten mitnehmen?“
„Die Standartenspitze (vgl. letzte Einladungskarte). Sie versinnbildlicht die islami-
sche Kunst und zeigt die perfekte Verschmelzung von Kunst und Schrift.“
„Was würden Sie uns gerne mit auf den Weg geben?“
„Den guten Ruf erhalten und noch ausbauen. Mehr Biss zeigen, aggressiver wer-
den.“
„Was ist Ihre liebste Erinnerung?“
„Sommer 1978, Nordafghanistan, 45° im Schatten: Extremerfahrung des Lebens in
der Steppe.“
„Ist die Zeit am Linden-Museum schnell oder langsam abgelaufen?“
„In den ersten 8 Wochen langsam und dann mit stetig zunehmender Geschwindig-
keit.“
„Was würden Sie als Minister dem Linden-Museum zukommen lassen?“
„Den Erweiterungsbau mit personeller und finanzieller Ausstattung, wie seit 100
Jahren gewünscht.“
19
TRIBUS 54,2005
„Wo liegt die Zukunft des Linden-Museums?“
„Das Museum wird immer wichtiger, die Welt wird kleiner, 1001 Nacht ist vorbei.
Unser Gebiet ist ganz aktuell.“
„Welche Ecke/Raum ist Ihnen im Linden-Museum am liebsten?“
„Das Magazin. Es gibt dort so vieles zu entdecken. Das werde ich am meisten ver-
missen.“
„Was war die größte Krise des Linden-Museums?“
„Die dramatischen Haushaltskürzungen nach 1996.“
„Was wird die größte Krise des Linden-Museums?“
„Die Personalveränderungen.“
Im Papierkorb von Herrn Kalter habe ich Fragmente einer Diskussionsrunde mit
den Altehrwürdigen unseres Faches und einigen Randfiguren gefunden.
Schimmel: „Werter Kalter, wisse, dass die Völkerkunde nie zu einem Ende kommt.“
Kalter: „Wie das?“
Schimmel: „Das ist nachzulesen in meinem Buch:,Ethnologie und Geschichte’.“
Bischof: „In der Tal, wir müssen in der Zukunft mehr in den Archiven arbeiten.“
Kalter: „Aber verrate mir, nach was trachtet der Ethnologe in den Archiven?“
Karl May: „Nach Geschichte und Geschichten, oh Kalter, nach den Ereignissen und
Gegebenheiten damals, als unsere Welt mit den Primitiven und Barbaren zusam-
menprallte.“
Kalter: „Aber, Vermessener, das ist doch Sache der Historiker.“
Marco Polo: „Nein, ihr Toren, das ist Völkerkunde, das Wissen von anderen Völkern.
In der Geschichte sind noch Entdeckungen zu machen. Was gibt es Interessanteres
als das .Journal of Oriental History’.“
Kalter: „Aber, Marco Polo, musst du nicht zugeben, dass der Wunsch, andere Völker
kennen zu lernen, ein immer bestehender und bleibender sein wird?“
Karl May: „Wenn es die aber nicht mehr gibt, so wie wir sie gern hätten?“
Tschingis Khan: „Es geht doch, oh Freunde, hier um die Auslegung, die Übersetzung.
Gewiss ist, wie Ibn Kaldun schon 1205 sagte, jede Übersetzung sprachlicher Imperi-
alismus. Doch beweist nicht die Völkerkunde, dass in unserer Kultur - welch einma-
liges Phänomen! - fremde Kulturen geistig verarbeitet werden können, aber nicht
umgekehrt? Sicher hat Karl May recht mit seiner Philosophie: ,Das Fremde wird
entfremdet und damit heimisch gemacht’.“
Karl May; „Genau so.“
Kalter: „Ganz genau so.“
Rudi Dutschke: „Also das, was auch Ethnomethodologie und symbolischer Interak-
tionismus als Momente quasi transferischer Verschränkung mit reduziertem Sig-
nalaustausch und nur noch beschränkt reinterpretierbarer Sprachblockade zwischen
Vertretern von Systemen inkommensurabler wie inkompatibler Sinnzusammenhän-
ge herauszuarbeiten im Begriffe sind?“
Kalter: „Dazu sage ich nichts!“
Rudi Dutschke: „Dann muss ich diese Prozesse sinnkonstituierender Optimierungen
intensionaler und operabler Binnenrationalität auf der Basis vertrauter Handlungs-
performanzen gerade nicht interpretativer Erwartungen aus konkurrierenden Ori-
entierungssystemen wohl näher erläutern?“
Kalter: „Das ist nicht nötig!“
Kalter zu Hadschi Halef: „Wo kommen Sie denn her?“
Hadschi Halef: „Aus dem wilden Kurdistan, wo ich Karl May traf, der mir erzählte,
dass Sie dank der Kenntnisse aus einem Roman über dieses Gebiet eine Honorar-
professur an der Universität Tübingen erhalten haben.“
Kalter: „Das bleibt aber unter uns!“
20
Agha Khan: „Darf ich Ihnen auch etwas Gutes tun und Ihr Abschiedsfest spon-
sern?“
Kalter: „Sie? Oh, da muss es eine Namensverwechslung gegeben haben, denn ich
werde bereits von Ihrem Sohn Olli Kahn gesponsert - bis zu meinem achtzigsten
Geburtstag - aber danach habe ich noch Termine für Projekte frei. Aber ein Bak-
schisch
Aus dem Hintergrund mit säuselnden Stimmen Bill Gates, Aldi Nord und Aldi Süd:
„Liebster Herr Professor; vergiss uns nicht!“
Kalter: „... Für den Museumsanbau!“
Totenstille.
Kalter: „Ja, wo seid ihr denn? Ich will doch noch die Grundsteinlegung miterleben.“
Tut ench Amun: „Ich weiß, wie man lange frisch bleibt.“
Kalter: „Das muss doch mal ein Ende haben.“
Schimmel: „Ich sagte doch, es gibt nie ein Ende.“
Kalter: „Das hätte ich auch nicht treffender sagen können, liebe Schimmel. Aber,
liebe Freunde, jetzt muss ich langsam in meinen Ruhestand. All das aus Euren klu-
gen Mündern Gesagte wird mir bei meiner neuen Aufgabe sehr behilflich sein.“
21
TRI BUS 54,2005
WOLFGANG OSTBERG
Professor Dr. Johannes Kalter zum 05.07.2004
Es wird enorm und mit viel Kraft
Hier im Museum stets geschafft.
Ein Lobesvers - heute erschallt er
Zum Preise von Professor Kalter.
Denn nicht nur Ethno-Zeug-Verwalter,
Nein: Völker-kundiger Gestalter
War hier von jung bis jetzt ins Alter:
Professor Doktor Johann’ Kalter.
Das Spannendste aus aller Welt
Wird hier gesammelt, ausgestellt.
Und am Zentral-Museums-Schalter,
Wer sitzt daran? - klar, Doktor Kalter.
Wer ihn über die Jahre kennt.
Schätzt ihn als äußerst kompetent:
Die Schriften, den Koran, die Psalter -
Er kennt sie alle, unser Kalter...
Das Geld ist rar, der Raum ist knapp.
Er findet sich damit nicht ab.
Denn es ist der Professor Kalter
Ein Fuchs als Sammler und Gestalter.
Plakate gibt es da zu machen
Und Kataloge - tausend Sachen
Oder auch Folder - also Falter -,
Auch die macht hold er - dieser Kalter.
Ist irgendwo was nicht genehm.
Ergibt sich irgend ein Problem.
Reißt ihn dies wirklich nicht vom Stuhl.
Wird etwas heiß, bleibt Kalter cool...
Und wenn die Dinge gar nicht laufen,
Die andren nur die Haar sich raufen:
Die Faust schon auf den Tisch mal knallt er.
Er kann auch kämpfen, unser Kalter...
Die Arbeit ist nun Kalter los.
Doch ist er drum nicht arbeitslos.
Jetzt ist im Ruhestande bald er
Sicher höchst unruhig, der Herr Kalter.
Wir wünschen ihm, dass er so bleibt.
Wie er halt ist und lebt und leibt.
Gesund und schaffig auch im Alter,
Vital, umtriebig - halt; „Der Kalter“!
22
Jahresbericht 2004 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd-
und Völkerkunde zu Stuttgart e.V
Die Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. (GEV) versteht sich als
ein Verein zur Förderung der Aktivitäten des Linden-Museums und der Forschungen
des Instituts für Geographie der Universität Stuttgart. Im Jahre 2004 konnten dem
Linden-Museum und dem Institut für Geographie jeweils € 7.670 zur Verfügung ge-
stellt werden. Das Linden-Museum nutzte die Mittel zur Bearbeitung von Fotomateri-
al. In der Geographie wurde ein Forschungsaufenthalt von Herrn Privatdozent Dr. A.
Bräuning in Tibet unterstützt. Dabei ging es um die Sammlung von Hölzern aus Türm-
gebäuden und Privathäusern zur dendrochronologischen Bearbeitung. Unter Mitwir-
kung von Prof. F. Darragon (Paris) konnten Kenntnisse zur Kulturgeschichte erweitert
werden, vor allem dienten die Holzproben zum Ausbau des klimatologischen Proben-
netzwerkes, um den Einfluss der zentralasiatischen Hochgebirgsregion auf das Welt-
klima und auf aktuelle Klimaschwankungen zu erkennen.
Außerdem wurden 2 Diplomarbeiten mit einem Preis von jeweils € 400 ausgezeich-
net: Frau S. Mailänder hat mit der Arbeit „Landschaftswandel auf der Schwäbischen
Alb“ gezeigt, wie sich die dominante Ackernutzung (vor der Industrialisierung um
1830) zu Schafweiden (um 1950) und zur Dominanz von Wald um 2002 in weniger als
200 Jahren grundlegend verändert hat. H. Horoba konnte in seiner Diplomarbeit
unter Anwendung von GIS die optimalen künftigen Gewerbeflächen in der Region
Stuttgart darstellen.
Eine wesentliche Aufgabe der GEV ist die Organisation von Vorträgen zu völker-
kundlich relevanten Themen sowie aktuellen raumrelevanten ökonomischen und
ökologischen Themenfeldern durch ausgewiesene Experten.
Vorträge 2004
09.01.2004
16.01.2004
30.01.2004
13.02.2004
05.03.2004
10.03.2004
17.03.2004
05.11.2004
11.11.2004
12.11.2004
26.11.2004
03.12.2004
Prof. Dr. P. Thiele, Stuttgart
Oman-Sultan. Quaboos Reich an der südarabischen Küste.
Dr. des. I. Schönberger. Stuttgart
Wallfahrtswesen und -orte in und um Istanbul
Dr. Oliver Weigel, Leiter des Olympia-Planungsstabs der Stadt Leipzig
Räumliche Strukturen und Potentiale für die Olympiabewerbung
Stephan Reiß-Schmidt, Stadtplanungsamt München
Region München - Chancen und Risiken einer Wachstumsregion
Prof. Dr. L. Stein, Leipzig
Die Bewohner der Insel Sokotra (Jemen)
Dr. Robert Pütz, Universität Mainz
„Ethnie Business“? Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin
Dr. Volker Höhfeld, Universität Tübingen
Wirtschaftsgroßraum Istanbul - Anatoliens Schmelztiegel zwischen
Asien und Europa
Dr. B. Gardi, Basel
Textile Eleganz in Mali. Eine 1000-jährige Tradition
Prof. Dr. P. Thiele, Stuttgart
Reiseberichte, u.a. Myanmar-Film
Prof. Dr. R. Pütz, Univ. Osnabrück
„Warschau: Transformationsprozesse zwischen lokaler Regulierung
und Internationalisierung“
Prof. Dr. B. Streck, Leipzig
Konflikte zwischen Hirten und Bauern im Sudan aus historischer und
aktueller Perspektive
Prof. Dr. J. Runge, Univ. Frankfurt
Der zentralafrikanische Regenwald. Einblicke und Ausblicke in die
Umweltgeschichte eines tropischen Ökosystems
23
TRIBUS 54,2005
10.12.2004 Prof. Dr. F. Schrenk, Frankfurt
Adams Eltern, Neue Funde. Forschungen, Fragen
17.12.2004 Prof. Dr. R. Wießner, Univ. Leipzig
„Ungarische Regionen im Kontext von Transformation und
EU-Osterweiterung“
Mit den Vorträgen sollen auch Nicht-Mitglieder erreicht werden. Sie sollten die
Vorteile einer Mitgliedschaft erkennen, d.h. kostenloser Eintritt zu den GEV-Vor-
trägen und ins Museum, Teilnahme an Veranstaltungen wie Ausstellungseröffnun-
gen und Exkursionen. So ist beispielsweise eine Exkursion zum Thema „Moderne
Produktionssysteme der Industrie am Beispiel der Montage bei DaimlerChrysler“
geboten worden, allerdings aus betriebsorganisatorischen Gründen nur für eine
kleine Gruppe.
Weitere Exkursionen und Reisen in kulturhistorisch interessante Regionen:
10.01.-27.01.2004
11.02.-23.02.2004
22.02.-28.02.2004
21.03.-04.04.2004
01.05.-16.05.2004
Myanmar ( Burma)
Malta
Kunst und Karneval in Venedig
Kreta
Türkei. Von Istanbul nach
Kappadokien und Ephesus
Prof. Dr. Peter Thiele
Prof. Dr. Werner Rutz
Prof. Dr. Peter Thiele
Prof. Dr. Werner Rutz
Dr. des. Irene Schönberger
Das Interesse von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern soll durch attraktive und span-
nende Angebote gefördert werden, damit der Bestand von derzeit ca. 1700 Mitglie-
dern gesichert und weiter ausgebaut werden kann.
Roland Hahn
24
Berichte über Erwerbungen im Jahre 2004
Mit insgesamt 572 Objekten als Neuzugänge konnte das Linden-Museum Stuttgart
im Jahre 2004 einen überdurchschnittlichen Zuwachs erzielen.
Dabei erhielten alle Abteilungen wichtige Ergänzungen zu ihren Sammlungen. Die
einzelnen Positionen werden anschließend aufgelistet, beschrieben und von den Ge-
bietsreferenten kommentiert.
Afrika-Referat
Orient-Referat
Südasien-Referat
Ostasien-Referat
Nordamerika-Referat
Lateinamerika-Referat
Südsee-Referat
28 Objekte
18 Objekte
28 Objekte
102 Objekte
72 Objekte
7 Objekte
317 Objekte
insgesamt 2004 572 Objekte
Ein außerordentlicher Glücksfall war der Erwerb der Katsina-Sammlung durch die
Nordamerika-Abteilung. Aufbauend auf dem bisherigen hochrangigen Bestand ver-
fügt das Linden-Museum nunmehr über eine der umfangreichsten und bedeutends-
ten Katsina-Sammlungen im europäischen Raum. Dass die Sammlung auch noch aus
der unmittelbaren Nähe stammt und das Linden-Museum vor allen anderen den
Zugriff bekam, ist als eine glückliche Fügung zu betrachten. Diese Objekte sind vor
allem auch für die Museumspädagogik hervorragend geeignet.
Gleichfalls ungewöhnlich und bereits in wenigen Jahren nicht mehr möglich, ist der
Erwerb einer ganzen Neuguinea-Sammlung. Die Traditionen gehen dort derart
schnell verloren, dass solche Objekte bald nur noch im Museum zu finden sein wer-
den.
Allen Geldgebern, hierbei auch wieder die Staatliche Toto-Lotto-Gesellschaft, sei
für die Bereitstellung von Geldern herzlich gedankt. In großem Maße sind in diesem
Jahr auch wieder Schenkungen von ganzen Sammlungsteilen und einzelne Objekt-
spenden zu verzeichnen gewesen.
All dies ist ohne eine langjährige Betreuung von Sammlern, die dem Hause nahe
stehen, nicht möglich. In vielen Fällen gehen hochrangige Sammlungen, die über ein
Leben hinweg aufgebaut wurden und dies auch mit Hilfe beratender Wissenschaft-
ler, wieder an unser Museum zurück.
Dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg sei
dafür gedankt, dass es die Mittel bereitstellte, um hochrangige Werke zu erwerben.
Der Ruf des Hauses und die Bedeutung seiner Sammlungen konnte dadurch weiter
gesteigert werden.
Thomas Michel
25
TRIBUS 54,2005
Afrika-Referat
Insgesamt konnten im Jahr 2004 für die Afrika-Sammlung 28 Objekte erworben wer-
den, und zwar ganz überwiegend durch Schenkungen. Allen Spenderinnen und
Spendern sei hiermit noch einmal herzlich gedankt.
Das Südliche Afrika ist vor allem mit einer Sammlung von vier tansanischen Makon-
de-Skulpturen aus afrikanischem Ebenholz vertreten, die in die Zeit um 1970 zu
datieren sind. Sie lassen sich überwiegend namhaften Künstlern zuschreiben und
Künstler unbekannt [Alter Mann mit Bündel auf
dem Kopf und Kind zu seinen Füßen] Afrikani-
sches Ebenholz, H 95 cm, Makonde (Tansania),
um 1970. Inv.-Nr. F 55.870
Ó o
Oben: Kopfschmuck (nsita) des Oberhaupts eines therapeutisch tätigen Besessenheits-
kult-Bundes (va migavo)
Baumwoll-Fäden, Holz- und Glasperlen, L 104 cm. Inv.-Nr. F 55.854
Unten: Orakelgerät kasanda zur Erstellung der Diagnose
Holz, Baumwoll-Fäden, Glasperlen, Säugetierborsten, Reptilienhaut, F in gestreck-
ter Stellung 52 cm. Inv.-Nr. F 55.853
Nyamwezi (Tansania), wohl um 1890-1901
26
Gewürzdose mit Deckel: Motive aus Ruanda
oder Burundi
Eisenblech, Messing, Farbe, H 25 cm. D außen
23,5 cm, Nürnberg, erste Hälfte 20. Jahrhun-
dert. Inv.-Nr. F 55.851a-b
zeichnen sich, was ihre Qualität betrifft, sämtlich durch besondere Ausdruckskraft
aus. Bei den Künstlern und Motiven handelt es sich im einzelnen um:
1 .Thomasi (signiert); Zwei Männer schneiden einer Schwangeren das Kind aus dem
Feib, während ein junger Mann sich unbeteiligt abwendet.
2. Thomasi (aus dem Stil erschlossen): Ein Heiler zieht einem Patienten, den eine
Frau stützt, einen Zahn.
3. Thomas Valentifnjo (signiert): zwei Köchinnen mit Kindern
4. Künstler unbekannt: alter Mann mit Bündel auf dem Kopf und Kind zu seinen
Füßen. Bei dieser Skulptur beachte man den starken Gesichtsausdruck, der frap-
pierend an den der Karyatide des Thronhockers aus der Schule des Meisters von
Buli (Tuba, Kongo-Kinshasa, 19. Jahrhundert, Inventarnummer 38.229) in der
Dauerausstellung des Linden-Museums erinnert.
Eine weitere Sammlung zweier tansanischer Makonde-Skulpturen von unbekannten
Künstlern stammt aus den 1960er Jahren und ist durch lediglich mäßige Qualität
gekennzeichnet. Sie können als Belegstücke für einen jeweils naturalistischen und
abstrakten Stil stehen und gehören ebenso schon in den Bereich der Souvenirpro-
duktion wie acht Ohrringe aus Mosambik, von welchen fünf aus der Schale der cha-
caranta-Frucht verfertigt sind.
Um einen wichtigeren Beitrag zu unserer Sammlung handelt es sich bei 12 Objekten
aus der ehemaligen Fehrsammlung einer Firma für Medicalprodukte, der dafür
ebenso noch einmal gedankt sei wie für einige weitere Medizingeräte bzw. -beutel
aus dem buddhistischen Bereich von Nepal/Tibet. Bei dem afrikanischen Material
vermutlich aus der deutschen Kolonialzeit handelt es sich im einzelnen für den Be-
reich des Südlichen Afrika (Nordnamibia, wohl um 1884-1915) um Verbandsmateri-
al aus Bananenblättern. Ostafrika zuzuordnen sind zwei jeweils bemerkenswerte, mit
Glasperlen verzierte, Stücke von den Nyamwezi (Tansania, wohl um 1890-1901): ein
zur Erstellung der Diagnose verwandtes storchschnabelartiges Gerät kasanda und
ein Kopfschmuck (nsita) des Oberhaupts eines therapeutisch tätigen Besessenheits-
kult-Bundes. Vermutlich von Wanderheilern der Hausa in Kamerun (wohl um 1901—
16) und damit schon aus der kulturgeographischen Region Zentralsudan stammen
ferner ein hölzerner Zungenspatel, drei eiserne, z.T. messingverzierte Schabemesser,
ein eisernes Skalpell, zwei Schröpfmesserchen (Obsidian?) und zwei Schröpfhörner
aus Rinderhorn. Diese Sammlung bildet eine wichtige Ergänzung der traditionell
reichhaltigen ethnomedizinischen Bestände aus Afrika im Linden-Museum.
Ebenfalls dem Zentralsudan zuzuordnen ist ein im Punzverfahren sehr schön dekorier-
ter, ganz neuer, zeremonieller Aluminiumlöffel von den Nupe im Norden Nigerias.
Schließlich konnten wir aus dem Nachlaß einer aufgegebenen Bäckerei in Adels-
heim (Baden) eine große Gewürzdose aus Blech übernehmen, die mit Motiven aus
den ehemals zu Deutsch-Ostafrika gehörenden Fändern Ruanda oder Burundi ver-
ziert und mit dem Markennamen Mtussi (Nürnberg) gekennzeichnet ist. Zu datieren
ist dieses Stück entweder in die Zeit deutscher Kolonialnostalgie der 1920er-40er
Jahre oder gar schon in die deutsche Kolonialzeit selbst vor 1919.
Hermann Forkl
27
TRIBUS 54,2005
Südasien-Referat
Das Jahr 2004 brachte einen Zugang von 28 Objekten, wovon acht aus Eigenmitteln
und eins mit Spendengeldern angekauft, die restlichen 19 als Geschenke entgegenge-
nommen werden konnten.
Vermutlich aus Nordost-Pakistan oder Kashmir stammt ein schlicht dekoriertes
Bronzegefäß mit Deckel, gefüllt mit 359 Kupfermünzen verschiedener Kashmir-
Herrscher der Post-Gupta- bis Frühmittelalterzeit (ca. 500 bis ca. 1100), deren Münz-
bilder sich noch an die der Spät-Kushanas vom Ende des 3. bis Anfang des 4. Jahr-
hunderts anlehnen.
Dem nach-mittelalterlichen Indien sind 15 Objekte zuzuordnen (fünf aus dem Be-
reich des Kulu-Tales im Vor-Himalaya, zehn aus Rajasthan). Hierbei ragen vier Mi-
niaturmalereien heraus, die unsere Malerei-Bestände bestens ergänzen. Es sind Bil-
der eines Satzes von Illustrationen zur berühmten Versammlung Satsai („die Sie-
benhundert“) des Dichters Bihari Lai. Dem im Jahre 1719 im Rajputstaat Mewar/
Rajasthan entstandenen Satz sind etliche andere in Museen und Sammlungen vor-
Deckeldose aus Bronzeblech mit 359 Kashmir-Kupfermünzen
Höhe ca. 12 cm, Nordost-Pakistan oder Kashmir, von ca. 500 bis 1100 u.Z. Inv.-Nr.
SA 04.588a-b(+Z)
Krishna und Radha mit Vertrauten
Illustration zu Satsai, Deckfarben
auf Papier, 25,1 x 21.4 cm (H x Br),
Mewar/Rajasthan, Indien, aus dem
datierten Satz von 1719. Inv.-Nr. SA
04.593
28
Krishna und Radha,
bei Tag und Nacht
Illustration zu Sat Sai, Deckfarben
auf Papier, 24,6 x 21,4 cm (H x Br),
Mewar/Rajasthan, Indien, aus dem
datierten Satz von 1719. Inv.-Nr. SA
04.594
Medizinbeutel und -löffel,
Schaukasten
Maße des Holzkastens: 36,7 x
50, Höhe 7cm, Tibet, etwa
Anfang des 20. Jahrhunderts.
Inv.-Nr. SA 04.590
handene und publizierte Blätter zuzuordnen. Die Beschriftung mit jeweils einem
Vers der Dichtung lässt die Vermutung zu, dass tatsächlich ursprünglich je ein Bild zu
den insgesamt 709 poetischen Zweizeilern gemalt worden waren. Dem Spender un-
serer vier Blätter, von denen zwei hier abgebildet sind, sagen wir herzlichen Dank.
Aus dem bäuerlichen Rajasthan stammt ein mit eingedrückten geometrischen Mu-
stern und Spiegelchen dekorierter Vorratsbehälter aus filzartigem Textilgrund mit
Lehmschlämmung, der als „Kühlschrank“ fungierte, sowie eine Gruppe Silber-
schmuck mit Amuletten, Arm- und Fußkettchen. Für Kulu typisch sind zwei emal-
lierte Silberamulette und zwei massive Armreifen mit Löwenkopf-Enden, ferner ein
Mundstück einer Wasserpfeife (huqqa) in Form eines Makara-Fabelwesens.
Die Bereiche Nepal und Tibet sind mit zehn Objekten vertreten, darunter zwei
Schaukästen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen sich Medizinbeutel und
-geräte befinden, genannt „Ausrüstung eines Lama-Doktors“. Diese sowie weitere
Kästen mit afrikanischen Objekten entstammen der ehemaligen Lehrsammlung ei-
ner Firma für Medicalprodukte, der hier nochmals gedankt sei. Die kleinen Gruppen
bilden gewiss interessante Studienmaterialien für ethnomedizinische und medizinhi-
storische Forschungen. Vajras, Feuerzeugtaschen, Schmuckketten sowie ein kleines
holzgeschnitztes buddhistisches Relief runden die Tibet-Nepal-Gruppe ab.
Aus Südostasien erhielten wir zwei Objekte, einen sitzenden Buddha aus Silberfolie
über einem Schellackkern (Höhe 14 cm) im Ratanakosin-Stil des 19. Jh. in Thailand
und ein Palmwein-Gefäß aus Bambus mit geschnitztem Holzdeckel von den Batak/
Sumatra.
Gerd Kreisel
29
TRIBUS 54,2005
Ostasien-Referat
Die Sammlungsbestände der Ostasien-Abteilung wurden im Jahr 2004 um 102 Ob-
jekte vergrößert, darunter 64 gestiftete und 38 angekaufte. Erneut stammen die mei-
sten Neuzugänge mit insgesamt 79 Objekten aus dem chinesischen Kulturbereich,
fünfzehn aus Japan und, mit steigender Tendenz, wieder acht Objekte aus Korea, von
denen sieben gestiftet wurden.
Die Mehrzahl der chinesischen Gegenstände gehört in diesem Berichtsjahr in den
Bereich chinesische Malerei mit insgesamt 43 Objekten, von denen 37 gestiftet und
sechs angekauft wurden. Die hohe Zahl relativiert sich jedoch durch die Tatsache,
dass von den 37 gestifteten Malereien 35 kleinformatige, sog. „Reispapierbilder“
sind mit 24 starkfarbigen, figürlichen und elf Vogeldarstellungen. Bei dem sog. „Reis-
papier“ handelt es sich jedoch nicht um ein Papier, das aus Material der Reispflanze
hergestellt wird, sondern es besteht aus dem in Blattform geschälten und getrockne-
ten Mark des sog. Reispapierbaumes bzw. -Strauches Tetrapanax papyrifer (Syn. Ara-
lia papyrifera, Fatsia papyrifera), auch Araliamark genannt.
Eine sehr bedeutsame und substanzielle Bereicherung stellen dagegen die vier mit
Hilfe der Museums-Stiftung des Landes Baden-Württemberg erworbenen Hänge-
rollen aus der Süd-Song- (1127-1279), Yuan- (1271-1368) und frühen Ming-Zeit
(1368-1644) dar. die zeitlich und thematisch eine in sich geschlossene Gruppe bilden
und aus einer alten Privatsammlung stammen. Im Einzelnen handelt es sich um ein
als Hängerolle montiertes Fächerblatt mit der Darstellung einer Uferlandschaft mit
vier Gänsen aus der Süd-Song-Zeit, eine Hängerolle mit einem Korb mit Granatäp-
feln aus der Yuan-Zeit (Abb. OA 25.320 L), vermutlich 14. Jahrhundert, eine große
Hängerolle mit einem Kranich am Ufer eines Sees aus der Yuan- oder frühen Ming-
Zeit, 14./15. Jahrhundert, und eine Hängerolle mit Sperlingen, Finken und Wachteln
zwischen reifen Hirsekolben aus der 1. Hälfte der Ming-Zeit (1368-1644). Eine
glückliche Ergänzung hierzu bilden eine kleine Querrolle mit einer Tuschelandschaft
Stillleben mit einem Korb mit Granatäpfeln
Hängerolle, Tusche und Farben auf Seide, Maße: 33,4 x 41,7 cm, anonym. China,
Yuan-Zeit (1271-1368), vermutlich 14. Jh. Inv.-Nr. OA 25.320 L
30
ft '>
ft i
K .i
ft i
•f 4
& 'S
& -,S ft. A
2$ 4 * ■*
;a ¡a -i- <8
; I * g
1« f £ A
"t * .+ "*
2? 2J i-i 4
2 - 4 ;•; A
4- -f jt,
4 № ft U
A L + -A
+ -ii ,i
/4 4 i-i.
•fi -ii ii. +
H -ft m &
J* ffS
+ fi
'*- -jft
.1 A
* +
tu ?
4 t
«! A
i'i a
/i~ H.
fi i
-- *4'
*so - f-
•JJ i*
A *•
a 4
■f «
,s ¿5
-Ja ’-f
« i 2J.
- < :-) ft
* ft ft:
•* ä ‘4
1 s ;l
« i %
& ■* X
4 fi -ft:
’■* a A
4 1 |
<»* »I
Pi 4 tJ
| ft 2
? *1
4 ■«■f*
ft i| Ä
i •-, 3.
e ;U -t
■Sit '?
■;I 'i1, ft-
+ A V4 *jf
Ä -tf )ll .
* * A .7
-J a ;A %
ft
■ £
■i ■/-
2 1
■ ft
-i lä
-ft
? + n
i 4 ft
| 2 |
Ä Ä f
-■•> .* «
•j ,-f
ft i'f ft
1 * I
4 A 4
4 -4 «-
-.ft 4 a -a a
.4 f f ( A
(5 ä # :-t #
* + 4 t Af
-i ¿r. ‘' Jft .■«
ii
-ft?)' ■•*№
/3! * -g-, vt
:[\ 4 •:/ i?
1* s *
h -\ S iS.
iS*
II
1-i ,l\ -4 ■••£-
» ? «
« -k ;i «ir
•If ..4 « 4
4 i- «1. ft -Ji
ff ft -■* 1A ft
'S * “4 tf 'ii
\ || 3 I
1U11
f a
« -j
fl 4
fti >.
4 tl
ti- i
<i « 4 tÄ
;| » |«
№ '4 -i
äff + f-
||( if L
* f « ■>}
l •? i
4 1 fti
•*5 4
A -«i <4
J4 -'2 ft
i i 4
* * * ■
Querrolle mit einer Tuschelandschaft und einer langen Kalligraphie
Tusche auf Papier, Maße (Landschaft): 23,0 x 80,0 cm, (Kalligraphie): 23,0 x 74,0 cm,
Malerei signiert von Shao Mi (tätig um 1594 - ca. 1642) und zwei Siegel des Künst-
lers, rechts zwei Sammlersiegel, Text datiert 1578, China, Anfang 17. Jh. Inv.-Nr. OA
25.314 a+b (Stiftung)
Kopf- oder Nackenstütze
Beigefarbenes Steinzeug mit weißem Beguss, cremefarbener Glasur und einer lan-
gen Aufschrift, H X L X B: 14,2 x 29,9 x 16,2 cm, Nord-China, Cizhou-Ware, Prov.
Hebei, Jin-Zeit (1115-1234), Anfang 13. Jh. Inv.-Nr. OA 25.324 L
mit einem See und fernen Bergen und einem Gelehrten am Ufer und einer langen,
separat geschriebenen Kalligraphie (Abb. OA 25.314 a+b) von dem gegen Ende der
Ming-Zeit tätigen Maler Shao Mi (um 1594 - ca. 1642) sowie eine Hängerolle mit
einer Berglandschaft aus der späteren Qing-Zeit (1644-1911), die beide gestiftet
wurden und aus der gleichen alten deutschen Privatsammlung stammen, die bereits
vor dem 2. Weltkrieg in China zusammengetragen wurde, und aus der das Museum
bereits im vergangenen Jahr zwei archaische Bronzewaffen, beide aus der 2. Hälfte
der Shang-Zeit (13.-11. Jh. v. Chr.), und eine große Hängerolle mit einer in Tusche
31
TRIBUS 54,2005
Gieß ge faß vom Typ „li“
Beigerötliche Tonware, H:
24,2 cm, China, Neolithi-
kum. Dawenkou-Longs-
han-Kultur, ca. Mitte/2.
Hälfte 3. Jtsd v.Chr. Inv.-Nr.
OA 25.366 (Stiftung Hotel
Unger, Stuttgart)
Hängerolle mit
Kalligraphie
Koreanische und chine-
sische Schrift, Tusche auf
Papier, Maße: 225 x 138 cm,
Korea, dat. 1999, 2 Signa-
turen und 3 Siegel von Jung
Do-jun. In der Mitte steht
ein Gedicht von Yun Sun-
do in koreanischer Hangul-
Schrift, rechts und links ein-
gerahmt von chinesischer
Schrift (in xingshu-Schreib-
stil, Kursivschrift) mit Kom-
mentaren. Der Gedichttext
lautet: ..Als ich die verges-
sene Kayagum wieder mit
Saiten bespannte und sie
anschlug, erklang wohltö-
nend ihre klare Stimme aus
vergangenen Zeiten. Ach,
meine Musik versteht kei-
ner mehr. Ich räume die
Kayagum besser wieder
weg.“ Inv.-Nr. OA 25.329
(Stiftung des Künstlers)
32
•TM***
** *
-1") ^
/T
v* i
mf*
% $ %
% J *
£
% \ \
5 f ■*-
* *
%
Xi*
4 T
& %
T.
¿I
A
* .* *
«f yh
li;?
> *)r A
4' *- i7>i
4-1 3
4 I 4*
fff
Ú iV
f ^,'T
4' «
5; * je
* , A-, »
A .*
/) t.
Teller mit Meeres-
muscheln und -
Schnecken
Blauweiß-Porzellan,
Arita, Kakiemon-
Ware (sometsuke),
H; 2,9 cm; D; 22,1 cm,
Japan, Genroku-Ära
(1688-1703). Inv.-Nr.
OA 25.340
Spiegel
Bronze, gegossen,
mit einem stilisierten
„Drachenband-De-
kor” und volutenför-
migen Aufrollungen
in leichtem Relief,
durch acht Bogen-
segmente gegliedert,
D; 14,2 cm, China,
Ende Zhanguo-Zeit
(475-221 v.Chr.), 3.
Jh.v.Chr. Inv.-Nr. OA
25.326 L
auf Seide gemalten Berglandschaft mit Tempel und Pavillon aus der Mitte der Ming-
Zeit erhalten hatte.
Zwei großformatige Hängerollen mit Ahnenporträts aus dem 19. Jahrhundert kom-
plettieren die kleine Gruppe der erworbenen und gestifteten chinesischen Bilder.
Die beiden traditionellen Sammlungsschwerpunkte der Ostasien-Abteilung, der chi-
nesische Grabkult und die Keramik, sind weiterhin ausgebaut worden durch drei-
zehn gestiftete und elf angekaufte Keramiken sowie vier Bronzeobjekte, drei davon
gestiftet, darunter ein kleiner Becher vom Typ zhi aus der West-Zhou-Zeit (10./.9. Jh.
v.Chr.) mit einer im Boden mitgegossenen Inschrift und ein Fußbecher und eine
Schale aus der frühen Tang-Zeit (7. Jh.). Das vierte Bronzeobjekt, ein hervorragend
erhaltener Spiegel (Abb. OA 25.326 L) mit einem stilisierten „Drachenband-Dekor“
33
TRIBUS 54,2005
Schultertopf mit Drachendekor
Blauweiß-Porzellan, auf Vorder-
und Rückseite des Gefäßes ist
ein Drache zwischen stilisierten
Wolken dargestellte, der dem
Wunschjuwel nachjagt, H; 55,6
cm. D: 36,0 cm, Korea, Ende Yi-
Zeit, 19. Jh. Inv.-Nr. OA 25.327 L
(Stiftung)
Fächerblatt (senmenga) als Albumblatt montiert
Das Motiv ist eine Szene aus dem „Heike monogatari“ mit Kampfszenen, anonymer
Maler der Tosa-Schule, Tusche, kräftige, opake Farben und Gold auf Papier, Maße,
H x B; 11,5 x 24,4 cm (Blattmaße kpl.: 24,2 x 26,8 cm), Japan; 17. Jh. Inv.-Nr. OA
25.328 a L (Stiftung)
34
aus der späten Zhanguo-Zeit (475-221 v.Chr.), wurde zusammen mit drei Keramiken
mit Mitteln des Zentralfonds erworben, eine Weinkanne aus weißem, porzellanar-
tigen Steinzeug, Qingbai-Ware aus der Nord-Song-Zeit (960-1127), und zwei Kopf-
oder Nackenstützen (Abb. OA 25.324 L), beide Cizhou-Ware und aus der Jin-Zeit
(1115-1234). Die restlichen Erwerbungen, sieben Porzellanteller und -schalen aus
dem Ende der Ming-Zeit und dem 18. Jahrhundert sowie eine Tonvase vom Yixing-
Typ aus dem späten 19. Jahrhundert, wurden aus Eigenmitteln getätigt.
Die dreizehn gestifteten Keramiken beinhalten sieben neolithische Gefäße aus dem
6. bis zum späten 2. Jahrtausend v.Chr., fünf Gefäße aus der Han-Zeit (206 v.Chr. -
220) und ein kleines Gießgefäß, braun glasiertes Steinzeug, aus Changsha, Provinz
Hunan, aus der späten Tang-Zeit (618-907).
Sieben Textilfragmente aus der Zeit um 1900 und dem 20. Jahrhundert, bestickte
Besatzstücke von Ärmeln, Revers und Rücken der traditionellen Frauenkleidung
der südchinesischen Miao-Volksstämme in der Provinz Yunnan, beschließen die Er-
werbungen der chinesischen Sammlungen.
Die Zugänge der Japan-Sammlungen belaufen sich nur auf fünfzehn Objekte, von
denen zwölf aus Eigenmitteln erworben werden konnten und drei gestiftet wurden,
zwei kleine, delikat mit kräftigen Farben und Gold im Stil der Tosa-Schule gemalte
Fächerblätter aus dem 17. Jahrhundert, die als Albumblätter montiert wurden, mit
Szenen aus dem mittelalterlichen Heldenepos „Heike monogatari“ (Abb. OA 25.328
a L), und eine stehende Figur des Amida Nyorai (Buddha Amitäbha) aus der 2. Hälf-
te der Edo-Zeit (1603-1867), komplett mit Lotossockel und Mandorla, aus Holz mit
Lack- und Blattgold bedeckt. Die Ankäufe umfassen eine Hängerolle mit Genrema-
lerei, zwei Frauen in einem Innenraum, im Stil des Ukiyo-e aus dem 18. Jh., drei
Teller (Abb. OA 25.340) und eine tiefe Schüssel, Blauweiß-Porzellane aus dem frü-
hen 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, ein auf das Jahr 1800 datierter, vierteiliger,
hexagonaler Stapelkasten mit Lackdekor, eine Sakekanne (chöshi) aus Eisen mit
Goldlackdekor aus dem 19. Jh., drei Albumblätter, eines aus dem frühen, die ande-
ren aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit volkstümlichen Alltagsszenen, die bei-
den letzteren mit scherzhaften Kurzgedichten (waka), und eine Gewürz- oder Tee-
mühle aus Eisen aus dem frühen 20. Jh. sowie ein Untersatz aus Schwarzlack für eine
Teeschale im chinesischen Stil (temmoku-dai) aus dem Ende des 20. Jahrhunderts.
Vom 20. Februar bis zum 18. April 2004 wurde im Linden-Museum Stuttgart die
Sonderausstellung koreanische Kalligraphie von JUNG Do-jun mit dem Titel
„ JUNG Do-jun - Schriftkunst aus Korea“ gezeigt und mit teilweise veränderter Zu-
sammenstellung erneut im Zweigmuseum im Schloss Ettlingen vom 16. Mai bis 4.
Juli 2004. Für die im Aufbau befindliche Koreasammlung wurde deshalb aus dem
Sonderfonds für zeitgenössische Kunst des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
Baden-Württemberg eine Hängerolle aus dem Jahr 2000 mit Kalligraphie des Schrift-
künstlers JUNG Do-jun erworben und dem Linden-Museum als Dauerleihgabe zur
Verfügung gestellt. Von dem Künstler hat dann das Museum eine zweite, im Jahr
1999 entstandene Hängerolle mit Schriftkunst als Geschenk erhalten (Abb. OA
25.329).
Außerdem wurden noch sechs koreanische Keramikobjekte gestiftet, darunter ein
großer (Abb. OA 25.327 L) und ein kleiner Schultertopf aus Porzellan mit Drachen-
darstellungen zwischen Wolken in Unterglasur-Kobaltblau aus der späten Yi-Zeit
(19. Jh.), als früheste Keramik aus der Silla-Zeit (6.-8. Jh.) ein bauchiges Gefäß aus
grauem Steinzeug mit hohem, ausladenden Hals und auf einem hohen Standring mit
rechteckigen Öffnungen, zwei Seladon-Steinzeuge, ein Kendi und eine kleine Glo-
cke, aus der Koryo-Zeit (12./13. Jh.) sowie eine Flasche aus Steinzeug mit einer di-
cken. grauweißen Glasur aus der frühen Joseon- oder Yi-Zeit (ca. 16. Jh.).
Auch dieses Jahr möchten wir allen Spendern an dieser Stelle nochmals für ihre
wertvollen Stiftungen herzlich danken.
Klaus J. Brandt
35
Südsee-Referat
Im Jahr 2004 konnten insgesamt 317 Objekte neu in die Südsee-Sammlung aufge-
nommen werden. Die große Zahl an Einzelobjekten ergab sich vor allem durch den
Erwerb von fünf Dema-Kostümen der Marind Anim, die an der Südküste von West
Irian (Neuguinea) leben.
Skulptur
Holz, ohne Farbfassung, Höhe
42 cm, Bosmun, Ramu Fluss-
lauf. Papua Neuguinea, vor
1960. Inv.-Nr.S 4.618/16 L
Bisher besaß das Linden-Museum nur zwei Marind-Anim Objekte, so dass der Er-
werb vollständiger Dema-Kostüme als eine Besonderheit zu werten ist. Mit diesen
Kostümen verwandeln sich Tänzer nach und nach mit Hilfe vieler Einzelelemente -
Perücke, Brustbänder, Penisschmuck, Armbänder, Brustschmuck, Kopfschmuck.
Schurz, Armreifen und Armverkleidungen, Körperschilden, Totememblem und
schließlich Federaufsatz, ergänzt durch Gesichtsbemalung und Blattschmuck - in
Abbilder derjenigen Totem-Ahnen, die als kreative Schöpferwesen eine zentrale
Rolle im Weltbild der Marind Anim spielen und deren Schaffen durch die zeremoni-
ellen Auftritte der Dema-Tänzer verbildlicht wurde.
Um 1950 brach die Tradition der öffentlichen Auftritte ab. Erst 1993/94 gab es eine
Wiederbelebung, verbunden mit einer Initiation auch vieler bereits älterer Marind
Anim und der Gewissheit für die Alten, ihren Verpflichtungen gegenüber den Ahnen
zur Weitergabe der Tradition Genüge getan zu haben. Dass nicht nur Einzelteile,
sondern die gesamten Kostüme erhalten blieben, verdanken wir dem engagierten
Sammler Todd Barlin. der die Zusammenstellung nicht nur genau dokumentierte,
sondern auch ihre Anfertigung, die Auftritte der Tänzer und Aspekte der Initiation
in Fotos und auf Video-Film festhielt. Zweifellos zeigen einige Einzelteile der Ko-
stüme die Auswirkungen des technologischen und gesellschaftlichen Wandels. So
wurde das Holz für die Grundstruktur der Totem-Embleme maschinell bearbeitet
und der Muschelschmuck zusätzlich mit einem (christlichen) Kreuz bemalt. Durch
die Verwendung der traditionellen Abrus-Samen in Kombination mit Hiobstränen
blieb die traditionelle Anmutung jedoch erhalten - auch in der heutigen Gestalt sind
die Dema-Kostüme authentisch und unverwechselbar.
37
TRI BUS 54,2005
Die fünf Kostüme werden ergänzt durch Einzelteile und Totemdarstellungen wei-
terer vier Dema-Varianten, durch Trommeln, Tanzschmuck der Frauen, einem höl-
zernen Tanzaufsatz in Fischform und einigen Ethnographica, die Herr Todd Barlin
dem Museum zum Geschenk machte, so dass die Sammlung insgesamt 240 Einzel-
teile umfasst.
Ein Glücksfall war auch die Möglichkeit, die alte und bedeutende Ramu-Sammlung
des Linden-Museums (Sepik-Provinz. Papua Neuguinea) um Masken und Skulp-
turen zu ergänzen, die von Herrn Paul Seger Ende der fünfziger Jahre in Bosmun am
unteren Ramu zusammengestellt wurde. Sie enthält sowohl Masken und Skulpturen
nach traditionellem Vorbild als auch solche, die zweifelsohne die größere Öffnung
nach außen und die zumindest indirekten Einflüsse der Mission verdeutlichen. Die-
nen die Masken zusammen mit hohen Federaufsätzen und einer Vielzahl von
Schmuckteilen dazu, die wichtigen Schöpferwesen und ihre besondere Kraft den
Festteilnehmern vor Augen zu stellen, deutet die Darstellung eines Menschen mit
vorgehaltener Maske bereits auf einen Perspektivwechsel hin. Die Mischung ver-
schiedener traditioneller Elemente in anderen Skulpturen schließlich belegt, dass
zumindest einzelne Künstler zu diesem Zeitpunkt mit neuen Ausdrucksformen ex-
perimentierten.
Auch hier kamen zu den 14 Masken, 19 Skulpturen und 8 ethnographischen Ob-
jekten weitere Beispiele von größerer dokumentarischer Bedeutung und eine Aus-
wahl von Diapositiven und Schwarz-Weiß-Fotos als Geschenk von Herrn Seger
dazu.
Bedacht wurde die Südsee-Sammlung auch durch eine Schenkung von Herrn Pro-
fessor Thiele, der der Sammlung sechs Objekte, darunter einige Steinobjekte der
Dani (West Irian. Neuguinea) überließ.
Ingrid Heermann
38
Nordamerika-Referat
Der Höhepunkt der Erwerbungen für das Jahr 2004 war der Ankauf einer kom-
pletten Privatsammlung von 72 Katsina-Figuren der Hopi (Arizona) aus Mitteln der
Museumsstiftung Baden-Württemberg. Diese Sammlung mit Figuren von höchster
Qualität und großer Formensprache ergänzt die bereits um 1906 erworbene und 17
Figuren umfassende Katsina-Sammlung des Linden-Museums. Sie erlaubt es, die Be-
deutung der transzendenten Katsina-Wesen, die als Träger von Regen und Frucht-
barkeit den Wachstumszyklus begleiten, im Zeremonialleben der Hopi zu veran-
schaulichen.
Im Zuge von Recherchen über eine potentiell aus dem Besitz von Max Ernst stam-
mende Katsina-Figur, führte der Weg zum Erwerb einer einzelnen Hemis-Katsina,
die nachweislich Teil der Katsina-Sammlung des Surrealisten Max Ernst war. Dieses
Objekt aus der Kultur der Hopi stammt aus dem frühen 20. Jh., ist aus Pappelholz
geschnitzt, polychrom mit Mineralfarben bemalt und hat eine Höhe von 55 cm. He-
mis-Katsina-Tänzer treten bei der Heimkehrzeremonie in Erscheinung, in der sie
feierlich die ersten Feldfrüchte verteilen und die Katsina-Wesen verabschieden. Die
erworbene Katsina-Figur ist auf einen Holzsockel mit einer Original-Druckplatte
montiert, deren Gestaltung auf der künstlerischen Arbeit Max Ernsts basiert. Sie
beruht auf einer Max-Ernst-Collage, die der Illustration des ersten Titelblattes der
1942 von Surrealisten, die im amerikanischen Exil lebten, gegründeten Zeitschrift
VW diente. Auch dieses herausragende Objekt wurde mit Mitteln der Museumsstif-
tung Baden-Württemberg erworben, die zudem dem Ankauf eines Birkenrindenka-
nus der Ojibwa aus Ontario zustimmte.
Das 3,68 m lange Rindenkanu ist in der traditionellen Bootsbautechnik gefertigt mit
einem Bootsgerippe aus Tannenholz und Birkenrinde für die äußere Hülle. Zum
Schließen der Nähte wurden Fasern aus Tannenwurzeln verwendet, zum Abdichten
Tannenharz. Mit Eisennägeln wurden die Rahmenleisten am oberen Bootsrand be-
festigt. Im Bootskiel des Kanus befindet sich noch ein Harzklumpen, mit dem sich im
Notfall ein Leck abdichten ließ. Noch um 1915 nutzten in Ontario lebende Ojibwa
dieses Kanu zur Jagd und Wildreisernte, danach gelangte es in den Besitz eines an-
glo-kanadischen Farmers, dessen Erben es an ein „Indianermuseum“ in Oregon ab-
gegeben hatten, das nach 1992 geschlossen und aufgelöst wurde.
Hemis-Katsina
Aus Pappelholz geschnitzt und
polychrom mit Mineralfarben
bemalt, Montierung auf Holzso-
ckel mit metallenem Druckstock
als Standfläche, Höhe: 55 cm,
Hopi, Arizona, Anfang 20. Jh.
Inv. Nr. M 35.452
39
TRIBUS 54,2005
Birkenrindenkanu
Tannenholz, Birkenrinde,Tannenharz und -wurzeln. Maße: Höhe: 30 cm, Länge: 368
cm. Breite: 80 cm, Ojibwa, Ontario, Kanada um 1920. Inv.Nr. M 35.444
Mit dem Erwerb konnte eine Sammlungslücke in der Darstellung des kulturellen
Lebens von Indianern der Großen Seen geschlossen werden.
Erfreulich ist zudem, dass auch 2004 einige Objekte als Geschenk in die Nordameri-
ka-Sammlung aufgenommen werden konnten. Darunter zwei Tanzbretter des Ma-
raw-Frauenbundes,einer Zeremonialgesellschaft der Hopi,sowie Keramikfragmente
aus einer Arikara-Siedlung des frühen 19. Jahrhunderts, eines geschnitzten und be-
malten Paddels der Haida, das auf etwa 1850 datiert wird, und eine zeitgenössische
Flagge der Comanche-Nation. Allen Personen, die Gegenstände aus ihrem persön-
lichen Besitz dem Nordamerika-Referat als Geschenk haben zukommen lassen, gilt
mein ganz persönlicher Dank.
Aus Spendenmitteln konnten von der renommierten Zuni-Künstlerin Jolene Eu-
stace die aus Sterlingsilber gearbeitete Halskette „Sacred Zuni Sunrise“ mit Gold-
Montierungen und gefassten Steinen (Türkis. Lapislazuli, Koralle) sowie zwei Paar
silbernen Ohrringen mit Golddesign bzw. Gold und roter Koralle erworben werden.
Zudem wurde von dem San Carlos Apache-Künstler Douglas Miles die Originaltu-
sche- und Farbstiftzeichnung „Three Apache Warriors“ aus dem Jahr 2001 angekauft.
Jolene Eustace und Douglas Miles waren im Dezember 2004 im Linden-Museum,
um ihre gemeinsame Ausstellung „Augenblicke zwischen den Welten“ zu eröffnen.
Sonja Schiede
40
Lateinamerika-Referat
Das Lateinamerika-Referat konnte für seine Sammlungen im Jahre 2004 insgesamt
13 Objekte erwerben.
Ein Teil der Objekte, Federschmuck der Kaiapó Zentralbrasiliens, war für die neue
Dauerausstellung gedacht. Es handelt sich hierbei um ein Krokrökti-Federrad (siehe
Abb.l), das von den Kaiapó-Frauen zur bep-Namensgebungszeremonie getragen
wird. Es ist aus Schwanzfedern des scharlachroten Ara, des Aracangá sowie Federn
des Königsgeiers gearbeitet. Weiter konnte ein kleineres, auf ein aus Buriti-Palmfa-
sern gearbeitetes Gestell aufgezogenes Federrad, ein Akkati, angekauft werden. Zu
dieser Sammlung gehören des Weiteren zwei Federkopfbänder in Rot und Gelb so-
wie zwei Basthauben mit Federkopfschmuck, die bei der Maiszeremonie von Mit-
gliedern des Männerbundes getragen werden. Alle Objekte sind in der neuen Dau-
erausstellung zu sehen. Sie ergänzen die Altbestände an Kaiapö-Objekten hervorra-
gend und zeigen die kulturelle Kontinuität dieser Gruppe. Es wäre wünschenswert,
diesen Grundstock weiter ausbauen zu können.
Eine weitere, wertvolle Ergänzung der Tiefland-Bestände stellt die Erwerbung von
Federschmuck und Halsketten der Ayoreodé-Indianer des bolivianischen Chaco dar.
Die Ayoreodé gehören zur Sprachfamilie der Zamuko; sie sind schlecht dokumen-
tiert. Nach Angaben der Confederación de Pueblos Indígenas de Bolivia leben heute
ungefähr 1570 Ayoreodé im bolivianischen Chaco. Die ehemals in nomadischen
Gruppen umherziehenden Ayoreodé sind heute in 11 Dörfern angesiedelt. Sie leben
unter eher schlechten Bedingungen, da ihnen jede Zukunftsperspektive fehlt. Ge-
genwärtig leben sie von der Ausbeute einiger weniger Salzvorkommen an der bolivi-
anisch-paraguayischen Grenze. In den Museumssammlungen sind die Ayoreodé
stark unterrepräsentiert, wenn sie überhaupt vertreten sind. Meist finden sich in
Chaco-Sammlungen Mataco, Chamacoco. Pilaga oder Toba, wie auch in der Samm-
lung des Linden-Museums.
Der Federkopfschmuck ist ein Ausnahmestück. Er besteht aus acht zopfartigen
Strängen in Grün-Gelb-Rot von ungefähr 40 cm Länge. Die Halskette ist aus Käfer-
flügeln und Fruchtschalen gearbeitet. Doris Kurelia
Krökrökti, großes Federrad mit
Kopfplatte
Schwanzfedern des scharlachro-
ten Ara, des Aracangä und des
Königsgeiers, auf Baumwolle
aufgebunden. Kaiapö, Südparä,
Brasilien (zwischen Riocinho
und Rio Fresco), ca. 1980. Inv.-
Nr. M 35.450 a+b
41
TRIBUS 54,2005
Jahresbericht 2004 des Referates Museumspädagogik
Wie bereits in den vorhergehenden Jahren waren Umbaumaßnahinen und Schlie-
ßung einzelner Ausstellungsbereiche aus unterschiedlichen Gründen notwendig. Um
so erfreulicher ist es. dass insbesondere die Sonderausstellung „Der lange Weg der
Türken"' und die Neueröffnung der Nordamerika-Ausstellung dazu beitrugen, die
Gesamtzahl der Führungen, die 2002 noch 842 betrug und 2003 bei 905 lag, auf 932
zu steigern. Allerdings ist bei den angemeldeten Führungen ein leichter Rückgang zu
verzeichnen, der sich schwer fassen lässt, da er sich auf keine bestimmte Interessen-
gruppe bezieht. Bei einer Gesamtbesucherzahl von 81.187 liegt der Anteil der ge-
führten Besucher nach wie vor bei knapp 30 %.
Trotz der vom Stuttgarter Gemeinderat beschlossenen Einführung einer Führungs-
gebühr in Höhe von 15 Euro für eine Führungsstunde, blieb das Interesse der Stutt-
garter Schulklassen an Führungsgesprächen erhalten. Insbesondere bei Schulen
zeigte sich erneut eine steigende Nachfrage an 90-minütigen und zweistündigen Pro-
grammen. in denen die Schüler/innen mit kreativen Tätigkeiten aktiv werden konn-
ten. Der Museumspädagogische Dienst der Stadt Stuttgart erhebt für eine 2-Stun-
den-Führung 25 Euro, wohingegen auswärtige Klassen dafür 80 Euro bezahlen.
Während wir auf den großen Besucherandrang in der Sonderausstellung „Der lange
Weg der Türken“ mit zusätzlichen Publikumsführungen reagieren mussten, blieb das
Interesse an Führungen durch die Sonderausstellung „Die andere Moderne Afrikas“
hinter den Erwartungen zurück. An Afrika interessierte Gruppen bevorzugten eine
Führung durch die Afrika-Dauerausstellung mit ihrem klassischen Themenspekt-
rum.
Sehr positiv war das Echo auf Veranstaltungen mit Seminarcharakter, wie Themen-
tage und Workshops, aber auch die Familien- und Ferienprogramme waren gut be-
sucht, mit Ausnahme des Sommerferien-Programms, wofür es keine eindeutige Er-
klärung gibt. Ebenfalls gut etablieren konnte sich die neue Erzählreihe „Die weite
Welt der Worte“ mit ihren 30-40-minütigen ausdrucksstarken Vorstellungen.
Die nachfolgende Zusammenstellung der statistischen Erhebung dokumentiert die
Struktur der Nachfrage an Gruppenführungen sowie die Verteilung der Führungen
auf die Dauer- und Sonderausstellungen.
Führungen 2004 und 2003 im Überblick
2004 2004 2004 2003
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Grundschulen 48 75 123 135
Hauptschulen 12 24 36 40
Realschulen 7 48 55 58
Gymnasien 25 64 89 91
Berufsschulen 4 10 14 24
Sonderschulen 5 9 14 9
Fremdsprachige Schulen 6 3 9 5
Gesamt 107 233 340 362
42
Außerschulische Kinder/Jugendliche
Kindergärten 52 62
Kindergeburtstage 22 30
Kinder/Jugendliche 39 30
Waldheime 0 3
Gesamt 113 125
Sonstige Gruppen
Behinderte 9 17
Kunst-Abo der Kulturgemeinschaft 17 3
Kirchliche Gruppen 18 13
Pädagogische Fortbildung 11 15
Private Gruppen 92 103
Senioren 20 14
Uni/PH/FH 10 11
VHS 10 8
Gesamt 187 184
Angemeldete Gruppenführungen gesamt: 640 671
Öffentliche Führungen
Familienprogramme 6 5
Ferienprogramme 22 25
Kindernachmittage 0 3
Publikumsführungen in den Dauerausstellungen 93 71
Publikumsführungen in den Sonderausstellungen 152 116
Familienführung 8 11
Thementag 2 2
Workshop 2 1
Weite Welt der Worte 7
Öffentliche Führungen gesamt: 292 234
Gesamtzahl aller Führungen: 932 905
43
TRI BUS 54,2005
Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen 2004
Dauerausstellungen Öffentliche Programme des Linden- Museums1 Angemeldete Gruppen Gesamt Anteil in %
Afrika 9 115 124 20 %
Lateinamerika1 2 13 30 43 7 %
Nordamerika3 20 219 239 39 %
Orient4 13 62 75 12 %
Ostasien 13 36 49 8 %
Südasien 21 39 60 9 %
Südsee5 14 17 31 5 %
Gesamt: 103 518 621 100 %
Ostasien
8%
Nordamerika
46%
Afrika
20%
9%
Diagramm 1: Prozentuale Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen
1 Für die beiden Thementage wurden alle vier Ausstellungsbereiche erfasst, daher weist diese
Gesamtzahl der Führungen zwei Punkte mehr auf.
2 Nach über einjähriger Schließung wurde „Lateinamerika“ im Dezember 2003 wieder eröff-
net.
3 Nach Umbau erfolgte am 7.2.04 die Neueröffnung der Dauerausstellung „Nordamerika“.
4 Bis 19.4. „Türken-Sonderausstellung“ in Räumen der Dauerausstellung. Nach Schließung
wurde die neu gestaltete Dauerausstellung „Orient“ am 2.7.04 wieder eröffnet.
5 Die Dauerausstellung „Südsee“ war im Mai und Juni 2004 komplett geschlossen.
44
Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen 20046
Publikums- führungen angemeldete Führungen Gesamt Anteil in %
Der lange Weg der Türken (14.9.03-18.4.04) 82 140 222 71 %
Jung Do-jun (20.2.04-18.4.04) 18 0 18 6 %
Moderne Afrikas (15.5.04-26.9.04) 53 19 72 23 %
Vorsicht Aufsicht (4.9.04-26.9.04 und 1.12.04-6.2.05) 1 0 1 0 %
Gesamt 154 159 313 100 %
Diagramm 2: Prozentuale Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen
Museumspädagogische Begleitprogramme
Ferien- und Familienprogramme
Mit Erfolg entdeckte Nanu Naseweis auch 2004 unbekannte Welten. Er lernte, sich
im Stillen Ozean zu orientieren, öffnete eine rätselhafte Kiste, durch die er indigene
Kulturen Nordamerikas kennen lernte und erfuhr, dass ein Samurai über sehr viel
Wissen verfügen musste, bevor er sein Schwert zücken konnte.
Das Sommerferienprogramm griff das zentrale Thema der Sonderausstellung „Die
andere Moderne Afrikas“ auf und stand unter dem Motto „Moderne Zeiten - welt-
weit“. Gruppen von Kindern ab 8 Jahren und ab 10 Jahren ebenso wie Erwachsene
erhielten Einblick in Prozesse kultureller Veränderung, die sich auf die Lebensweise
von Menschen weltweit auswirken. In den dreistündigen Programmen konnten sie
erfahren, wie indianische Künstler Nordamerikas in der Tradition der europäischen
Kunst traditionelle Inhalte gestalten, etwa Kojote mit Sonnebrille. Oder wie europä-
ische Eroberer die Welt der Indianer Lateinamerikas auf den Kopf stellten, mit tief
greifenden Folgen. In Südasien gibt es Regeln für die Darstellung des Buddha auf
dem Lotusthron. Wie diese das künstlerische Schaffen beeinflussen, konnte selbst
mit Pinsel und Farbe erfahren werden. Schon der Titel „Gamehoy trifft Geisha“ ver-
6 Aufgrund von Umbaumaßnahmen konnte im Oktober und November keine Sonderausstel-
lung gezeigt werden.
45
TRIBUS 54,2005
weist auf das Leben in zwei Kulturen, wie es in Japan weit verbreitet ist. Wie wichtig
Überlieferungen in der modernen Gesellschaft der Baining auf Neubritannien sind,
konnten Kinder und Erwachsene am Beispiel des Schlangentanzes und der vung-
vung Masken erfahren.
Die Teilnehmer hatten große Freude an den einzelnen Programmen und waren
ebenso überrascht wie die Veranstalter selbst, dass das Besucherinteresse im Ver-
gleich zu früheren Sommerferienprogrammen verhältnismäßig gering war. Es ist un-
möglich, eine Ursache für das verhaltene Echo zu benennen. Die steigende Konkur-
renz von Veranstaltungen gerade in den Sommerferien könnte ebenso abträglich
gewesen sein wie sinkende Geburtenraten und sommerliche Temperaturen, mögli-
cherweise wurde das Thema als zu anspruchsvoll eingeschätzt oder im Vorfeld zu
wenig Werbung betrieben.
Familienprogramme
Wie im Herbst 2003 standen auch im Winter 2003/2004 und Frühjahr 2004 die Fami-
lienprogramme unter dem Thema „Viele Kulturen - Eine Welt“. Erwachsene und
Kinder tauchten gemeinsam ein in die vielfältigen Kulturen Afrikas, Nordamerikas
und Lateinamerikas. Gemeinsam lernten sie die Kulturregionen Afrikas zu unter-
scheiden, die Verbindung moderner Technik und indianischer Überlieferungen ken-
nen und die Begegnungen von Indianern des andinen Hochlands und des Amazo-
nas-Tieflands schätzen, die den Austausch von zahlreichen Früchten förderte, Früch-
ten. die wir nicht missen möchten. Die Familienprogramme wurden wie die monat-
lich angebotenen 90-minütigen Familienführungen sehr gut angenommen.
Im Herbst und Winter 2003/2004 widmeten sich die Familienprogramme dem „Le-
ben unter einem Dach“ und luden Familien ein, verschiedene Formen des Wohnens
kennen zu lernen. Ihre Erlebnisreise führte sie zunächst in die Häuser Indiens und
Sri Lankas, wo sie erfuhren, wie es sich ohne Tisch und Stuhl gut leben lässt. Wie
unterschiedlich Wohnformen im Orient sein können, zeigte der Besuch der Woh-
nung eines Bauern im Gegensatz zum mobilen Haus einer Nomadenfamilie. Bei In-
dianern Nordamerikas wurden Häuser der Tshimshian vorgestellt, die auf Reisen
gehen, im Gegensatz zu den Lehmhäusern der Indianer des Südwestens.
Das Thema „Wohnen“ bildet zusammen mit „Kleidung“ und „Essen“ einen muse-
umspädagogischen Schwerpunkt, den das Linden-Museum für die Schulen ausbauen
wird. Da der neue Bildungsplan für die Grundschulen insbesondere im Unterrichts-
fach „Mensch, Natur und Kultur“ interkulturelles Lernen betont, wurden die ge-
nannten drei Grundthemen ausgewählt, um sie in ihrem vielfältigen kulturellen Kon-
text vorzustellen. Familienprogramm und Pilotprojekte dienen zur konzeptionellen
Konkretisierung und Entwicklung pädagogisch relevanter Materialien, die später
auch als Handreichung für Lehrer und Schüler verwendet werden.
Thementage und Themenführungcn
Fand der Thementag „Handelswege und Kulturaustausch entlang der Seidenstraße“
im März eine eher verhaltene Nachfrage, so war der Thementag „Alter und Tod“ im
November mit 22 Teilnehmern ausgebucht. Diese Veranstaltung greift ethnologische
Inhalte auf und stellt sie unter Einbeziehung mehrerer Ausstellungen in einen größe-
ren, Kultur vergleichenden Kontext.
Wie bereits im Sommer 2003 war der Workshop „Afrikanische Webkunst“ ein sehr
großer Erfolg. Unter der Leitung von Zimako Coulibaly und Koko Fofana, die aus
„Dyula“-Weberfamilien vom Volk der Malinke, Elfenbeinküste, stammen, lernten
Anfänger und Fortgeschrittene das traditionelle Weben auf dem afrikanischen
Schmalbandwebstuhl. Es war ein großes Erlebnis für Lehrer, Teilnehmer und Besu-
cher, die interessiert zuschauten.
Zu der Sonderausstellung „Der lange Weg der Türken“ hatte das Deutsch-Türkische
Forum ein umfassendes und vielseitiges Begleitprogramm angeboten. Es beinhaltete
46
Musik, Lyrik, Filme, Vorträge, Tanzdarbietungen, Diskussionen, Malworkshops, Ge-
sprächsrunden und eine Finissage. Für die Führungen wurden museumspädagogi-
sche Materialien eingesetzt, um Schulklassen auf spielerische Weise Objekte entde-
cken zu lassen und entsprechende Kenntnisse zu vermitteln. Dieses Angebot wurde
sehr gerne angenommen.
Mit einem Afrika-Fest fand die Sonderausstellung „Die andere Moderne Afrikas“
ihren Abschluss. Führungen, Filme, Musik, kulinarische Leckerbissen und eine sene-
galesische Modenschau lockten zahlreiche Besucher ins Museum. Die Ausstellung
wurde während ihrer gesamten Laufzeit durch ein differenziertes Programmangebot
begleitet. Dieses umfasste wissenschaftliche Vorträge ebenso wie Filme zu den in der
Ausstellung präsentierten Künstlern und Werkgruppen, zu deren Entsprechungen in
der modernen Schönen Literatur Afrikas sowie darüber hinaus zu weiteren, in der
Ausstellung nicht gezeigten Themen moderner Bildender Kunst aus Afrika
Die halbstündige „Kultur zur Mittagspause“ gehörte auch 2004 zum Führungsreper-
toire und fand insbesondere in den Ferien ein großes Echo bei jung und alt. Als neue
Veranstaltung wurde der Erzählzyklus „Weite Welt der Worte“ eingeführt. Es ist be-
absichtigt, an einem Samstagnachmittag im Monat die Dauerausstellungen durch
Geschichten zu beleben. Um 15 und 16 Uhr sind Besucher jeden Alters zu dem etwa
halbstündigen Erzählprogramm eingeladen. Uschi Erlewein und Simone Leister
vom Bildertheater Mär & mehr, Heilbronn und Stuttgart, führen mit ihren lebendi-
gen Darbietungen in unterschiedliche Erzähltraditionen ein. Den Auftakt machten
Coyote-Geschichten nordamerikanischer Indianer, gefolgt von Erzählungen aus Af-
rika.
Kooperationsproj ekte
Mit „Lernen - ein Leben lang“ lud das Lernfest (19.-23. Juli) die Öffentlichkeit ein,
sich an ausgewählten Beispielen über den Erwerb von Wissen und Kompetenz zu
informieren. Gemeinsam mit den größten Stuttgarter Bildungsinstitutionen (Volks-
hochschule, Kirchliche Bildungswerke, Universität und Stadtbücherei) veranstaltete
das Linden-Museum diese äußerst facettenreiche Veranstaltung. Mit 24 halbstündi-
gen Präsentationen wurden politische, historische, rituelle, religiöse und künstleri-
sche Dimensionen interkultureller Bildung in allen Ausstellungen thematisiert, ein
Angebot, das sehr große Resonanz fand.
Thematisch und organisatorisch gut abgestimmte Kurzführungen im gesamten Haus
hatten sich bereits bei der Langen Nacht der Museen sehr bewährt, so auch wieder
am 20. März 2004, als Tausende durch die Ausstellungen strömten und den etwa 25-
minütigen Vorstellungen ethnologischer Inhalte mit großem Interesse folgten,
ln Kooperation mit dem Kommunalen Kino und James-F.-Byrnes-Institut in Stutt-
gart sowie dem Filmpodium und Nordamerika Native Museum in Zürich veranstal-
tete das Linden-Museum „Indianer & Inuit: Das Nordamerika Film Festival“ mit
renommierten Gästen aus der Filmbranche. In Zusammenarbeit mit der Konrad-
Adenauer-Stiftung wurden im Linden-Museum Fortbildungen für Lehrer angebo-
ten. Jennifer und Tamara Podemski, Alex Rice, Michael Smith und Daniel Golding
diskutierten über die Bedeutung von kultureller Identität in multiethnischen Gesell-
schaften und stellten sich den Fragen der Pädagogen. Einige Schulklassen nutzten
zudem die Gelegenheit, sich im Gespräch mit den indianischen Gästen über deren
Geschichte und aktuelle Lebensweise zu informieren.
Dank der Kooperation der Galerie Kokopelli in Mönchengladbach war es zudem
möglich, den Künstler Douglas Miles (San Carlos Apache/Akimel O'odham) und
die Silberschmiedin Jolene Eustace (Zuni/Cochiti) im Dezember 2004 nach Stuttgart
einzuladen. An zwei Tagen standen sie Besuchern als Gesprächspartner zur Verfü-
gung, führten Schulklassen durch die Sonderausstellung „Augenblicke zwischen den
Welten“ und stellten ihre ausgestellten Werke vor.
Die zahlreichen Veranstaltungen, die die Museumspädagogik des Linden-Museums
im Jahr 2004 konzipiert, organisiert und gestaltet hat, spiegeln das Bedürfnis der
47
TRI BUS 54,2005
Ferienprogramm Nordamerika: Kinder- mit Raben- und Wolfsmasken.
Öffentlichkeit nach besucherorientierter Vermittlung. Diese Aufgabe war nur durch
den enormen Einsatz und die kontinuierliche Zusammenarbeit aller Beteiligten
möglich. Daher gilt unser Dank auch in diesem Jahr allen freien Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die viel Zeit und kreative Ideen in die Programmgestaltung einge-
bracht haben. Marita Oltersdorf, die schon bei der Führungsannahme auf Wünsche
und Bedürfnisse der Gruppen eingeht, und Katrin Kobler, die seit Mai das Organisa-
tionsmanagement der umfassenden museumspädagogischen Programme übernom-
men hat.
Sonja Schierle
Doris Kurelia
48
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2004
2004 war ein Jahr der einschneidenden Veränderungen und Neuerungen für das Lin-
den-Museum in positiver, aber auch negativer Hinsicht. Erfreulich waren die enormen
Ausstellungsaktivitäten in diesem Jahr und die Erarbeitung einer Corporate Identity,
die alle Bereiche des Museums betraf und ihren visuellen Ausdruck in einem neuen
Corporate Design fand, das Anfang 2005 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Äußerst
unerfreulich für das Museum war die endgültige Absage eines Erweiterungsbaus so-
wie die Großkrankenhauspläne der Stadt Stuttgart am Hegelplatz.
Das Linden-Museum befindet sich im permanenten Umbruch. Neben den Sonder-
ausstellungen werden die festen Sammlungen des Hauses regelmäßig umgearbeitet
und neu gestaltet, um neue aktuelle Schwerpunkte zu setzen und die enormen
Sammlungsbestände des Hauses nach und nach zu präsentieren.1
Im Jahre 2004 wurden im Linden-Museum zwei große Sonderausstellungen gezeigt
und zwei besonders beliebte Abteilungen der Dauerausstellung in neuer Gestalt
wieder eröffnet: Die Orient-Abteilung und die Abteilung Nordamerika. Letztere
war seit Jahren nur noch in stark reduzierter Form der Öffentlichkeit zugänglich, was
zu zahlreichen sehnsüchtigen Bemerkungen im Besucherbuch führte. Umso größer
war der Andrang, als am 2. Februar eine vollständig neu konzipierte Nordamerika-
Abteilung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Ähnlich rege war die Resonanz, als
fünf Monate später dann die neue Orient-Abteilung mit ihren weltweit einzigartigen
Schätzen wiedereröffnet werden konnte. Die Neueinrichtung der Orient-Abteilung
war ein letzter Höhepunkt der Museumsarbeit von Prof. Dr. Johannes Kalter, der
sich im August 2004 von seinem langjährigen Posten als Orientreferent in den Ruhe-
stand verabschiedete.
2004 war auch eines der seltenen Jahre, in denen im Linden-Museum zwei große
Sonderausstellungen gezeigt wurden: Noch bis 18. April lief die äußerst erfolgreiche
Schau „Der lange Weg der Türken“ (Eröffnung 13.9.2003), die allein in den vier
Monaten im Jahre 2004 über 18.000 Besucher anlockte. Beeindruckend war auch die
hohe Zahl an Besucherführungen in dieser Ausstellung (222 in 2004) Am 15. Mai
eröffnete dann die zweite große Sonderausstellung „Die andere Moderne Afrikas“.
Anders als in den vorhergehenden Jahren lief diese Ausstellung nicht im Herbst und
Winter, sondern über den Sommer. Erwartungsgemäß blieb die Besucherresonanz
dieser Ausstellung mit 6.679 gezählten Besuchern auch weit hinter den früheren
Herbstausstellungen zurück. Neben diesen groß angelegten Ausstellungen zeigte das
Museum noch eine Reihe kleinerer Schauen, die in ihrer Unterschiedlichkeit die
enorme Bandbreite der Präsentationsmöglichkeiten unseres Museums deutlich
machten. Einen gewissen Schwerpunkt stellte die zeitgenössische Kunst dar, etwa in
Form einer Ausstellung des koreanischen Schriftkünstlers Jung Do-jun oder der
Foto-Ausstellung „Roadmovie La Paz“ des jungen Stuttgarter Fotografen Andreas
Langen. Im Herbst wurde eine Ausstellung des modernen marokkanischen Kerami-
kers Khaled Ben Slimane gezeigt. Noch ein weiteres, eher ungewöhnliches, wenn-
gleich überraschend erfolgreiches Ausstellungsprojekt widmete sich der zeitgenös-
sischen Kunst: „Vorsicht - Aufsicht. Künstler aus dem Linden-Museum stellen aus“,
bei der Künstler, die als Aufsichten im Museum arbeiten (das Linden-Museum hat
eine lange Tradition von Künstler-Aufsichten), ihr Werk zeigten. Abgesehen von der
sehr positiven Resonanz der Ausstellungsbesucher im Museum konnte diese Aus-
stellung besonders die Aufmerksamkeit der Stuttgarter Kunstszene auf das Linden-
Museum lenken.
1 Das Linden-Museum verfügt über mehr als 160.000 Objekte, von denen nur ca. 2%, d.h. 3.200
dauerhaft gezeigt weiden können.
49
TRIBUS 54,2005
Die Eröffnung der Ausstellung „Vorsicht - Aufsicht“.
Die Besucherzahlen dieser kleinen Ausstellungen wurden nicht speziell erfasst, da
hierfür jeweils kein gesonderter Eintritt erhoben wurde. Die Zahl all dieser Besu-
cher ging ein in die Gesamtbesucherzahl im Jahre 2004 von 84.404. Hierin einge-
schlossen sind auch die Besucherzahlen des Zweigmuseums Ettlingen (3.127).
Die Zahl aller Besucher liegt damit höher als im vergangenen Jahr 2003 (81.921),
kann allerdings die Marke des vorletzten Jahres nicht überschreiten (85.377).
Dennoch lässt sich sagen, dass das Besucherinteresse seit 2002 insgesamt zuzuneh-
men scheint. Der (noch) verhältnismäßig gemäßigte Besucheranstieg in 2004 liegt
daran, dass die große Sonderausstellung, die gewöhnlich in der besucherstärksten
Herbst- und Winterzeit stattfindet, in diesem Jahr in den Sommermonaten gezeigt
werden musste.
Die Spitzenwerte des Besucherinteresses lagen 2004, wie auch in den vergangenen
Jahren im März und im November, d.h. denjenigen Monaten, in denen publikums-
wirksame Großveranstaltungen im Museum stattfinden: Die „Lange Nacht der Mu-
seen“ (20. März 2004) bzw. „Markt der Völker“ (27. Oktober-1. November 2004).
Entsprechend lag die Besucherzahl im März bei 14.283 (im Vergleich April: 6.428)
und im November (incl. Besucher von „Markt der Völker“) gar bei 17.225 (Oktober;
8.218). Die besucherschwächsten Zeiten waren wie gewohnt die Sommermonate
Mai bis September. Die niedrigste monatliche Besucherzahl wurde 2004 im Juni ver-
zeichnet: 3.629, die jedoch aufgrund der Dauerausstellung deutlich über dem Juni-
Wert 2003 (2.559) lag.
Im Folgenden eine Auflistung der Ausstellungsprojekte des Jahres 2004:
bis 18.4.:
ab 7.2.:
20.2.-18.4.:
ab 20.4.:
3.3.-3.5.:
13.5.-26.9.:
Der lange Weg der Türken - 1500 Jahre türkische Kultur
Neueröffnung der Nordamerika-Ausstellung: „Expeditionen
zu Indianern Nordamerikas und Inuit“
JUNG DO-JUN- Schriftkunst aus Korea
Göttliches und Menschliches -
Katsinapuppen der Hopi-Indianer
„Roadmovie La Paz“ Fotografien von Andras Langen
Die andere Moderne Afrikas. Moderne afrikanische Kunst
aus den Sammlungen des Linden-Museums Stuttgart
50
2.7.: Neueröffnung der Orient-Abteilung: Orient: Annäherung an
eine Weltkultur
4. 9.-26. 9.: Vorsicht - Aufsicht. Künstler aus dem Linden-Museum stellen
ihre Arbeit vor, Wiedereröffnung: 1.12. 2004-6.2.2005
7.12.04-6.3.2005: Augenblicke zwischen den Welten - junge indianische Kunst
17.12.2004-8.2.2005: Von der Erde bis zum Himmel. Khaled Ben Slimane:
Keramik und Malerei aus Tunesien.
Auch im Jahr 2004 wurde an einer Optimierung der PR-Instrumente im Museum
gearbeitet. Wie bereits im Jahr 2003 anvisiert, wurde die digitale Verbreitung unserer
Informationen ausgebaut und der Postverteiler grundlegend aktualisiert. Hierbei
wurde deutlich, dass immer mehr Museumsinteressierte ihre Informationen über
Newsletter, Mails und besonders das Internet beziehen. Als Folge eines Aktualisie-
rungsmailings konnte unser Postverteiler fast halbiert werden. Nicht wenige der An-
geschriebenen entschieden sich für digitales Informationsmaterial. Dies war für uns
der Anlass zum Aufbau und Ausbau eines Mail-Informationsverteilers, der via E-
Mail mit Infomails beschickt wird, die allerdings von unseren Grafikern dem Medi-
um entsprechend attraktiv und lesbar gestaltet werden. Auch die Homepage wurde
weiterentwickelt und umfangreicher. Sowohl die Inhalte der Sonderausstellungen
als auch diejenigen der Dauerausstellung wurden zusammen mit Andreas Jauss in
z.T. sehr aufwendigen Internetpräsentationen zugänglich gemacht. Besonders her-
vorzuheben ist die digitale Präsenz der neuen Nordamerika-Abteilung, die u.a. mit
den Homepages aller in der Ausstellung präsentierter indigenen Völker verlinkt ist.
(http://www.lindenmuseum.de/inhalt/dauerob/nord/framenord.html)
Ld i ,« v -J*-| i£w.| *>■! .^c.j 4fcw| &p.| jjn.| jff.\ b>.| j>.| in.! ifrl a]s.| B]L.j a>.[ ijz.| j>.| «4 9 i*»
Die Internetseite der neuen Nordamerika-Abteilung. Gestaltung: A. Jauss.
Die Hauptaufgabe des Referats für Öffentlichkeitsarbeit lag im Jahre 2004 in der
Koordination und Organisation der Entwicklung eines Corporate Design für das
Linden-Museum. Der Diskussions- und Kommunikationsbedarf im Vorfeld der Jury-
Entscheidung, die Koordination zwischen den verschiedenen an dem Projekt betei-
ligten Parteien erwies sich als äußerst interessant, wenn auch zeitaufwendig.
Die Wahl der Jury fiel am 16. September endgültig auf den Entwurf des Büros
Ossenbrunner und Wagner Gestaltung. Die Darlegung des Entwurfs mit seinen Um-
51
TRI BUS 54,2005
Setzungsmöglichkeiten kann hier nicht erfolgen, da die endgültige Veröffentlichung
des neuen CI für den März 2005 geplant ist. (Näheres hierzu im Bericht der Öffent-
lichkeitsarbeit 2005)
Seit der Jury-Entscheidung an widmet sich das Referat für Öffentlichkeitsarbeit in
intensiver Zusammenarbeit mit dem Grafiker-Büro der Umsetzung der über die
Monate entwickelten Entwürfe. Alle Bereiche des Hauses werden nach und nach im
Sinne des neuen CI umgestaltet mit dem Ziel, Anfang 2005 der Öffentlichkeit das
Linden-Museum in neuem Gewand zu präsentieren.
Der komplette Neuaufbau der bestehenden Homepage wurde als eines der vor-
dringlichsten Arbeitsziele definiert. Für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Pro-
jekts konnten wir als Partner neben Ossenbrunner und Wagner Design das Unter-
nehmen ARANEX gewinnen, das u. a. die Internet-Auftritte für den Entertainer
Harald Schmidt gestaltet und betreut. Die neue grafische Gestaltung versteht sich
als die sichtbare Oberfläche einer intensiven Auseinandersetzung mit den Leitge-
danken des Linden-Museums, die im kommenden Jahr auf Kernpunkte konzentriert
als Leitbild ebenfalls veröffentlicht werden sollen.
All dieses Engagement, alle diese positiven und hoffnungsvollen Aktivitäten sowohl
im Bereich des Ausstellungswesens als auch im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit
wurden von Anbeginn des Jahres 2004 von unerfreulichen Entwicklungen im Um-
feld des Museums überschattet.
Am 27. Januar 2004 wurde von der Stadt Stuttgart der Beschluss gefasst, das seit
Jahrzehnten gegebene Versprechen, das Linden-Museum um einen angemessenen
Anbau zu erweitern, nicht einzulösen. Stattdessen soll das an das Museum angren-
zende Katharinenhospital zu einem riesigen zentralen Krankenhauskomplex ausge-
baut werden, der das Gebiet um den Hegelplatz in ein einziges Hospitalquartier mit
umfassendem Versorgungszentrum für alle Stuttgarter Krankenhäuser verwandeln
wird. Die Folgen dieses Milliarden-Projekts, das bis 2012 vollendet werden soll, sind
für das Linden-Museum katastrophal. Verständlicherweise bestanden unter Kura-
toren und Restauratoren zunächst primär Sorgen um die hochempfindliche Samm-
lung des Hauses. Objekte von unschätzbarem Wert sollten durch die Baumaßnah-
men über Jahre hinweg umfangreicher Staubentwicklung und Erschütterungen aus-
gesetzt werden. Auf der Grundlage aufwendiger Messverfahren wurde ein Früh-
warnsystem entwickelt, das sofort Alarm auslöst, wenn die Belastung des Hauses
und seiner Bestände durch die Bauaktivitäten zu groß wird. Die Bedenken bzgl. der
unmittelbaren Zerstörung unserer Schätze durch das Katharinenhospital konnten
damit gedämpft werden.
Unvermindert jedoch ist die Sorge bzgl. der Schäden, die der Standort des Museums
durch die neue bauliche Situation nehmen wird. Schon heute hat das Linden-Muse-
um gegenüber anderen Stuttgarter Museumsinstitutionen einen deutlichen Stand-
ortnachteil, es befindet sich weit entfernt von der Museumsmeile oder dem Stadt-
zentrum an einer mehrspurigen Kreuzung. Mit der Ausbreitung des Großkranken-
hauses wird sich das Linden-Museum als Fremdkörper in einem Krankenhaus-Areal
wieder finden, das noch nachhaltiger vom kulturellen Stadtzentrum Stuttgarts abge-
schnitten ist.
Die Herausforderungen, die sich in Zukunft aus dieser prekären Situation für das
Museum ergeben, sind enorm. Soll die Arbeit des Hauses weiterhin öffentlich prä-
sent bleiben, muss nicht nur die Ausstellungstätigkeit und Vermittlungsarbeit in-
tensiviert werden, es muss daneben jedoch vor allem der Bereich der Öffentlich-
keitsarbeit ausgebaut und ein professionelles Marketing im Linden-Museum eta-
bliert werden. Sowohl Stadt als auch Land sollten sich der Verantwortung für diese
traditionsreiche Stuttgarter Institution bewusst sein und in den kommenden Jah-
ren verstärkt finanzielle und personelle Ressourcen für das Linden-Museum be-
reitstellen.
Andernfalls droht der allmähliche Bedeutungsverfall eines international renom-
mierten Museums, das mit seiner Arbeit wie keine andere Stuttgarter Institution den
globalen Kulturaustausch und die Völkerverständigung fördert.
52
Fazit und Ausblick
2004 war ein besonders vielfältiges und lebendiges Jahr für das Linden-Museum, ein
Jahr mit verschiedenartigsten Sonderausstellungen und der Wiedereröffnung zweier
zentraler Dauerausstellungsbereiche. Mit Projekten und Ausstellungen, die z.T. über
die Ethnologie im engeren Sinne hinausgingen und mit neuen Impulsen im Bereich
von Öffentlichkeitsarbeit und Marketing konnten wir neue Besuchergruppen auf
unsere Institution aufmerksam machen. Die Besucherzahlen konsolidieren sich im
Vergleich zu den vergangenen Jahren in einem Bereich, der das Linden-Museum in
die Spitzengruppe der deutschen ethnologischen Museen setzt. Vor diesem Hinter-
grund ist die Arbeit des Linden-Museums in diesem Jahr sowohl für die Öffentlich-
keitsarbeit als auch das Linden-Museum als ein insgesamt erfolgreiches Jahr einzu-
stufen, trotz der relativen Besucherflaute während der Sommermonate.
Im Jahre 2004 wurden entscheidende Weichen für die Zukunft des Hauses gestellt,
hinsichtlich der Form seiner öffentlichen Erscheinung, aber auch hinsichtlich seiner
inhaltlichen Ausrichtung. Unabhängig von den regelmäßigen Neugestaltungen der
Dauerausstellungen wird die feste Sammlung des Hauses und deren Präsentation in
Zukunft an Bedeutung gewinnen. Es ist geplant, mit regelmäßigen Quartalsschwer-
punkten unter dem Titel „Fokus“ die Inhalte unserer Ausstellungen themenorien-
tiert und abteilungsübergreifend noch lebendiger zu vermitteln. Die Vermittlungsar-
beit im Hause soll außerdem durch ein Audioguidesystem erweitert werden, das in
der Lage ist, auf verschiedenste Alters- und Interessensgruppen einzugehen. Die Zu-
sammenarbeit mit anderen Institutionen, Museen, Bildungseinrichtungen, aber auch
Medienpartnern wird in Zukunft für die Arbeit des Linden-Museums eine immer
größere Rolle spielen. Die zentrale Hauptaufgabe der Öffentlichkeitsarbeit wird
2005 die Einführung und Umsetzung der ersten Schritte des CI sein. Die Veröffent-
lichung der zentralen Elemente der neuen Erscheinung, das Logo und erste Umset-
zungen sowie die neue Homepage werden im März 2005 erfolgen. Noch im Laufe
des Jahres soll das umfassende Projekt eines Leitsystems innerhalb des Hauses ange-
gangen werden. Das erklärte Ziel ist es, bis 2006, dem Jahr, in dem die Öffentlichkeit
Stuttgart ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit schenken wird, diese Projekte
umgesetzt zu haben.
Das Linden-Museum formiert sich; innerlich wie äußerlich. Wir sind jedoch noch am
Anfang eines langen, aber auch sehr interessanten Weges.
Zum Schluss sei noch allen Praktikanten im Referat Öffentlichkeitsarbeit gedankt,
die mit ihrem unentgeltlichen Einsatz und Engagement entscheidend bei der Bewäl-
tigung unserer Aufgaben mitgewirkt haben.
Tobias Wall
53
TRI BUS 54,2005
Zum Gedenken an Dr. Barbara Frank
16.IV.1936 bis 19.1.2004
Barbara Frank wurde 1936 in Goßfelden bei Mar-
burg/L. als vierte Tochter von Erika Frank und dem
bekannten expressionistischen Maler Franz Frank
(1897-1986) geboren.
1956-63 studierte sie in Marburg, Frankfurt/M. und
München Ethnologie, Geographie. Vorgeschichte so-
wie Volkskunde und promovierte 1963 an der Frank-
furter Johann Wolfgang Goethe-Universität bei
Adolf Ellegard Jensen mit dem Thema Die Rolle des
Hundes in afrikanischen Kulturen unter besonderer
Berücksichtigung seiner religiösen Bedeutung (veröffentlicht Wiesbaden 1965).
Die nächsten eineinhalb Jahrzehnte waren ausgefüllt von den teilweise simultan aus-
geübten Tätigkeiten als Wissenschaftliche Assistentin am Frankfurter Frobenius-In-
stitut, als Lehrbeauftragte in der Afrikanistischen Abteilung der Marburger Philipps-
Universität und als DFG-Stipendiatin für mehrere Feldforschungs-Aufenthalte
1971-75 bei den Ron und Kulere im Middle Belt von Nigeria.
Seit 1980 arbeitete sie als Wissenschaftliche Angestellte am Institut für Völkerkunde
und Afrikanistik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Unterbrochen wur-
de dieser lange Abschnitt ihres wissenschaftlichen Lebens durch einen erneuten For-
schungsaufenthalt in Nigeria 1986, zwei Semester als Gastdozentin an der State Uni-
versity of Kansas in Manhattan/Kansas im Jahr 1996 und durch die Fortsetzung ihrer
schon 1956 begonnenen Studienaufenthalte in bzw. im ehemaligen Jugoslawien, zu-
letzt 1997 in Slowenien.
1998 trat Barbara Frank den Ruhestand in ihrem Marburger Elternhaus an, nahm
aber auch bis 2003 wieder einen Lehrauftrag am Völkerkundlichen Seminar der
Marburger Universität wahr. Dort entstand im Jahr 2000 die zusammen mit ihren
Studenten durchgeführte Ausstellung Nigeria in Form und Farbe.
Konsequent entwickelte Barbara Frank als Schülerin Ad. E. Jensens dessen theore-
tisches Hauptinteresse weiter, nämlich die Prägung weiter Bereiche der Religion ei-
ner Gesellschaft durch deren Wirtschaftsform. Dabei ist ihre nach wie vor sehr le-
senswerte Dissertation noch ähnlich wie bei Jensen vor allem auf die Mythologie
ausgerichtet, während Barbara Frank später diese Fragestellung holistisch auf die
gesamte Kultur einer ethnischen Gruppe, besonders die der Kulere, erweiterte.
Schließlich übertrug sie diesen Ansatz auf die moderne Entwicklung in Nigeria mit
ihrer zunehmenden sozio-ökonomischen Ungleichheit, die bei den Ron Glaubens-
vorstellungen von dem im westlichen Afrika weit verbreiteten rezenten Mami-Wata-
Typ entstehen ließ.
Barbara Franks Feldarbeit in Nigeria kam zugute, daß sie perfekt Hausa sprach und
gute Kenntnisse des Kulere aufweisen konnte. Für das Linden-Museum wie für das
Frobenius-Institut legte sie 1973 jeweils eine ebenso umfassende wie gut ausgewähl-
te Ron-Sammlung von über 100 Objekten an.
Abgesehen von ihrem regionalen Schwerpunkt Mittelnigeria verfügte Barbara Frank
über hervorragende Kenntnissse über das gesamte Subsaharische Afrika, dessen
Ethnologie sie in ihren Lehrveranstaltungen kompetent vermittelte. Dazu galt ihr
Interesse bis zum Schluß einem zweiten regionalen Schwerpunkt, nämlich der Eth-
nologie südslawischer Gesellschaften, zu der sie ebenfalls Lehrveranstaltungen hielt.
Beeindruckt hat mich darüber hinaus immer wieder ihre profunde Kenntnis der „ei-
genen Ethnographie“ ihrer geliebten Marburger Gegend, zu der sie sich zeitlebens
stark hingezogen fühlte.
Barbara Franks Ratschläge zu allen möglichen Fragen der Ethnologie Afrikas und
Europas waren stets von bemerkenswerter Sicherheit und hielten jeweils, was sic
versprechen sollten. Sie war dabei nicht nur mir, der ich sie über 22 Jahre lang als
54
Freund und Kollege begleiten durfte, oft von unschätzbarer Hilfe. Gelegenheit zu
derartigen Erörterungen bot sich bei unseren zahlreichen gemeinsamen Wande-
rungen in Oberbayern. Württemberg und nicht zuletzt in „ihrer“ Marburger Gegend
genug.
Bemerkenswert war bei Barbara das Fehlen jeglicher Aggressivität, das in Verbin-
dung mit ihrer scharfen Objektivität und ihrer intellektuellen Geradlinigkeit so
manchen Kollegen herauszufordern schien. Tapfer ertrug die bekennende, gleich-
wohl der Mission gegenüber kritisch eingestellte Lutheranerin entsprechende Aus-
einandersetzungen ebenso wie zuletzt ihre schwere Krankheit.
Veröffentlichungen von Barbara Frank
Abkürzungen: Af = Africa (London)
An = Anthropos
T = Tribus
1964 Der Hund als Opfertier und Kulturheros in Afrika. In: Haberland, Eike/
Schuster, Meinhard/ Straube, Helmut (Hrsg.): Festschrift für Ad. E. Jensen.
München, S. 135-44.
1965 Die Rolle des Hundes in afrikanischen Kulturen. Wiesbaden.
1973 Besprechung: Sundström, Lars: Ecology and Symbiosis: Niger Water Folk.
Studia Ethnographica Upsaliensia 35,1972. T 22, S. 265-66..
1974 Handwerk und Handelsbeziehungen im Ron-Gebiet (Benue-Plateau-Staat,
Nigeria).T 23, S. 91-130.
1976 Initiation, Verdienstfeste und Kultbünde bei den Ron und Kulere. Paideu-
ma 22, S. 123-50.
1978 Besprechung: Wente-Lukas, Renate: Die materielle Kultur der nicht-isla-
mischen Ethnien von Nordkamerun und Nordostnigeria. Wiesbaden 1977. T
27, S. 163-64.
1978 Historical Traditions of the Ron. Africana Marburgensia 11:1, S. 19-42.
1979 Besprechung: Kröger, Franz: Übergangsriten im Wandel - Kindheit, Reife
und Heirat bei den Bulsa in Nord-Ghana. Hohenschäftlarn 1978. T 28, S.
171-72.
1979 Besprechung: Peukert, Werner: Der atlantische Sklavenhandel von Dahomey
1740-1797 - Wirtschaftsanthropologie und Sozialgeschichte. Wiesbaden
1978. T 28, S. 165-66.
1981 Zur Bedeutung des Pferdes bei den Ron oder Challa.T 30, S. 135-43.
1981 Die Kulere. Bauern in Mittelnigeria. Wiesbaden.
1982 Diskrepanz zwischen Kultur- und Sprachzugehörigkeit der Kulere im Nige-
rianischen „Mittelgürtel“. ln: Jungraithmayr, Herrmann (Hrsg.): The Chad
Languages in the Hamitosemitic-Nigritic Border Area. Berlin, S. 144-49.
1983 Ron. in: Müller, Klaus E. (Hrsg.): Menschenbilder früher Gesellschaften.
Ethnologische Studien zum Verhältnis von Mensch und Natur. Gedächtnis-
schrift für Hermann Baumann. Frankfurt/M.. S. 204-21.
1987 Besprechung: Neyt, François/ Désirant, Andrée (Mitarb.): The Arts of the
Benue to the Roots of Tradition. Nigeria. Ottignies 1985. An 82, S. 321-22.
1988 Besprechung: Biebuyck, Daniel: The Arts of Zaïre. Bd. 1: Southwestern Za-
ïre. Berkeley 1985. An 83, S. 235-36.
1990 Besprechung: Lange, Dierk. A Sudanic Chronicle. Stuttgart 1987. Orientalis-
tische Literaturzeitung 85, S. 727-29.
1990 From village autonomy to modern village administration among the Kulere
of Central Nigeria. Af 60, S. 270-93.
1992 Besprechung: Weingarten, Sabine: Zur materiellen Kultur der Bevölkerung
des Jos-Plateaus. Stuttgart 1990. An 87, S. 640-41.
55
TRIBUS 54,2005
1995 Besprechung; Braukämper, Ulrich/ Schlottner, Michael (Hrsg.): Kulturent-
wicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne.
Bd. III. Berichte desSonderforschungsbereichs 268. Frankfurt/M. 1993. T 44,
S. 286-87.
1995 Permitted and Prohibited Wealth: Commodity-Possessing Spirits, Econom-
ic Morals, and the Goddess Mami Wata in West Africa. Ethnology 34, S.
331-46.
1997 Besprechung: Danfulani, Umar Habila Dadem: Pebbles and Deities. Pa Div-
ination among the Ngas, Mupun, and Mwaghavul in Nigeria. Frankfurt/M.
1995. An 92, S. 596-98.
2001 A Postscript To Frederick J. Simoons: Dogflesh Eating by Humans In Sub-
Saharan Africa (Ecology Of Food And Nutrition, 34:251-292,1996). Ecol-
ogy of Food and Nutrition 40, S. 85-90.
2002 Besprechung: Tunis, Angelika (Hrsg.): Faszination der Kulturen. Für Ar-
mand Duchäteau zum 70. Geburtstag. Berlin. T 51, S. 214-15
2004 Gendered Ritual Dualism in a Patrilineal Society: Opposition and Comple-
mentarity in Kulere Fertility Cults. Af 74, S. 217^10.
Hermann Forkl
56
MARTIN BAIER
Salzgewinnung und Töpferei der Dayak im nordwestlichen
Ost-Kalimantan (Indonesisch-Borneo)
1. Die Lun Dayeh-Dayak
Der Dayakstamm, der die Salzgewinnung betreibt und die Töpferei im 20. Jahrhun-
dert noch mehrheitlich praktizierte, sind die Lun Dayeh-Dayak. Ausführlich behan-
delt AMSTER'l Geschichte, Verbreitung und Abgrenzung dieser Dayakgruppe, die
1 1995:26-31;30
57
TRI BUS 54,2005
in der Literatur seit den späten 1970er Jahren allgemein als „Lun Dayeh“ bezeichnet
wird. SCHNEEBERGER (1950: 41) ist der erste, der auf diesen Namen hinweist. In
einem Gespräch am 26.08.1980 erklärt WERNER SCHNEEBERGER mündlich,
die Bezeichnung Lun bzw. Ulun Daye würde sich nur auf die „Putuk-Leute“ bezie-
hen, also auf die Bewohner des Dorfes Wailaya/Terang Baru und seiner näheren
Umgebung. AMSTER1 fasst zusammen: „Although the people on the Indonesian
side call themselves Lun Bawang, they are officially classified as Lun Dayeh-Keray-
an by the Indonesian authorities, though many see themselves as constituting a single
group together with the Lun Bawang of Sarawak“. Heute (2004) haben sich diese
Bezeichnungen für diesen Dayakstamm durchgesetzt: in Malaysia Lun Bawang, in
Indonesien Lun Dayeh.
Abb. 1: Luftbild des Kera-
yan-Gebiets, Blick von
Norden ins Bawan-Tal.
Vorne das Dorf Pa Ke-
buan, links davon die fre-
quentierteste Salzquelle
des nördlichen Kerayan:
„Main Kabuan”. Im Hin-
tergrund die Hauptstadt
Long Bawan, davor mehr
rechts die Hochschulsied-
lung Kampung Baru.
Abb. 2: Die durch einen
ausgehöhlten Baumstamm
gefasste Salzquelle von
Long Api mitten in einem
Nassreisfeld. Wegen star-
ker Verunreinigung wird
das Salzwasser nur für und
von Tieren verwendet.
Abb. 3: Sawah-(= Nass-
reis-)Felder westlich von
Pa Betung. In deren Mitte
die durch eine zementier-
te Röhre gefasste Salz-
quelle mit dem angeblich
reinsten und bestbezahl-
ten Salz des Kerayange-
biets. Links vorne Schutz-
dach mit Salzsiederei,
rechts auf Strohmatten
ausgebreitetes Salz zum
Trocknen.
58
Martin Baier: Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
2. Das Kerayan-Kelabit-Gebiet
Die Lun Dayeh bewohnen den Kreis („kecamatan“) Kerayan im Nunukan-Regie-
rungsbezirk („kabupaten“) Ost-Kalimantans (künftiges „Nord-Kalimantan“). Es ist
ein Gebiet von der Größe des halben Württemberg am Dreiländereck Sarawak-Sa-
bah-Kalimantan. Es ist ein Hochland zwischen 650 m und dem Murud, dem höchsten
Gipfel in Sarawak nahe Long Midang mit 2.530 m Höhe. SCHNEEBERGER (1950:
85) charakterisiert: „Die Reife der Landschaft... äußert sich vor allem in dem mäßi-
gen Relief und den breiten, beckenähnlichen Tälern, die weitgehend mit Alluvium
aufgefüllt sind”. Die Dörfer befinden sich meist auf diesen Alluvialflächen; ihre
Höhe beträgt 650 bis 970 m Höhe. Insgesamt sind es an die 10.000 Bewohner. Nur
hier und im angrenzenden malaysischen Kelabit- und Pa Kelalan-Hochland kommt
auf Borneo originäre Sawah-Kultur (Reisanbau auf durch Irrigation bewässerten
Feldern) ohne Pflug- und Eggeneinsatz vor. Auf Karte Fig. 2 hat SCHNEEBER-
GER2 die genaue Verbreitung dieses Nassreisanbaus 1939 dargestellt. Heute ist sie
wesentlich ausgedehnter, z.B. im Umung- und Pa Raye-Gebiet. Die Sawahs (Nass-
reisfelder) sind ausschließlich auf den Alluvialböden der Täler (also nicht an terras-
sierten steilen Hängen) angelegt. SCHNEEBERGER (1950: 59) beschreibt3: „Die
Arbeiten an den Sawah beginnen etwa „Anfang Oktober“ und bestehen im Ausbes-
sern der Kanäle und Deiche, Zuleiten des Wassers und dem Aussäen des Reises in
Saatbeten. Zuletzt werden Wasserbüffel über die Felder getrieben“, wodurch die
durchweichte Erde aufgelockert wird. Mit Hacke („cangkul“) und etwa 1,50 m lan-
gen Einbäumen werden in den überschwemmten Feldern die tiefer gelegenen Stel-
len mit Erde eingeebnet. Dann werden die jungen Reispflanzen ausgesetzt. Etwa im
März/April wird die Wasserzufuhr abgedrosselt, damit der Boden austrocknen kann.
Daraufhin wird der Reis „mit dem bekannten indonesischen Reismesser geschnit-
ten“4 5. SCHNEEBERGER folgert (1950:60): „Das isolierte Vorkommen von Sawah-
bau in diesem Teil Zentralborneos, jedoch ohne Anwendung des Pfluges, zusammen
mit der ebenfalls isolierten Zucht von Büffeln ... neben ihrer Bedeutung als Wert-
messer, in Kombination mit einer starken megalithischen Tradition'1.... weist darauf-
hin. dass wir hier ein Relikt einer einst blühenden Megalithkultur haben“.
Wegen dieser einzigartigen Lage im Gebirge und der Isolation von der Küste und
von anderen Inlandstämmen wegen der Sawah-Kultur und der körperlich-rassischen
Besonderheit seiner Bewohner (helle Haut, wohlgeformte Gesichtszüge) stellt die-
ses Gebiet im Vergleich zum übrigen Borneo schon etwas einmalig Besonderes dar.
Nicht umsonst hat TOM HARRISSON seine Monographie über das Kelabit-Gebiet
und die Kelabit-Dayak „World Within“ betitelt, also eine Art eigene Welt für sich.
3. Salzgewinnung
SCHNEEBERGER (1950: 61-64) beschreibt: „Eine interessante Salzindustrie, die
in der Literatur noch kaum Erwähnung gefunden hat, ist diejenige ... im Kerayan-
Kelabit-Hochland. Begünstigt durch das Vorkommen zahlreicher natürlicher Salz-
quellen hat sich dort eine in ihrer Art einzigartige Salzgewinnung entwickelt, aus der
die umwohnende Bevölkerung Salz für den Eigenbedarf und ... für den Export6 in
benachbarte Gebiete gewinnt”. 1939 werden sieben Salzquellen „auf die Salinität“
untersucht. „Nur in einem Fall hegt die Konzentration bedeutend über derjenigen
von Meerwasser, währenddem in zwei Fällen sie ungefähr damit gleichkommt... Jod
2 1979:50
3 vgl. BAIER 1979:81
4 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird zwischen dem 20. Juni und dem 21. Juli geerntet. Pflanz-
zeit ist im Januar.
5 vgl. BAIER 1979:74-81
6 2004 besonders in die Küsten- und Ölstädte am Südchinesischen Meer, wo das Salz als „ga-
ram Bario“ geschätzt und begehrt ist.
59
Abb. 5: Feuerstelle unter dem
Schutzdach zum Kochen des Salz-
wassers in zwei halbierten Ben-
zinfässern. Darüber die „Herd-
ablage“, auf der Holz und
ebenfalls Salz in Bambusköchern
zum Trocknen deponiert wird.
Abb. 6: Originalfoto WERNER SCHNEEBERGERs aus dem Jahre 1939. Er schreibt
dazu (zu Abb. 63): „Salz (siak) in Stangenform, in Palmblätter eingerollt und mit
Rottanstreifen verschnürt, fertig für den Handel. Die Verpackung der einen Stange
ist zum Teil geöffnet, um das grobkörnige, etwas angebrannte Salz zu zeigen.“ Dem
Lindenmuseum wurde eine solche Stange mit Salz von Pa Betung überreicht.
60
Martin Baier: Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
Ahb. 7: Frau Saran, die letzte Töpferin
Indonesisch-Borneos/Kalimantans, 70
Jahre alt, verwitwet, 7 Kinder, „viele“
Enkel. Wohnhaft in Terang Baru (=
„Neues Licht“, Dorfname vor ca. 30 Jah-
ren „christianisiert“, früher „Wailaya“
oder „Walayah“). In der linken Hand
hält sie den ovaloiden Stein, der in den
hohlen Innenraum des Zylinders aus
Lehm gesteckt wird zum Weichklopfen
des Lehms mit der Holzspatel in der
rechten Hand.
Abb. 8\ Eine der Töchter Frau Sarans,
verheiratet, wohnhaft im selben Haus
mit der Mutter, an die 40 Jahre alt. Ty-
pisch die helle Haut und die wohlge-
formten Gesichtszüge der Lun Dayeh-
Dayak.
ist in“ keiner der Proben „nachgewiesen ... Um eine solche Quelle auszubeuten, wird
ein enger Schacht von mehreren Metern abgeteuft, worauf ein ausgehöhlter Baum-
stamm (klemang) senkrecht (in einem Fall waagrecht in den Abhang) eingelassen
wird, um das Einstürzen zu verhindern und dem Wasser freien Austritt zu gewähren.
Wenn nötig, wird noch ein zweiter Baumstamm von kleinerem Durchmesser einge-
baut, der tiefer als der äußere reicht. Die Siederei“ befindet sich meist in unmittelba-
rer Nachbarschaft beim Quellenaustritt. Ein Schutzdach (früher 1939 eine „Hütte“,
opoh main7) ist dort errichtet, darunter die Feuerstellen (rang), „die aus drei aus
Flussgeröllen aufgeschichteten Wänden bestehen. Auf diese werden“ heute längs-
seits halbierte Ölfässer gelegt, die mit Salzwasser gefüllt sind. „Wenn die Sole zur
Hälfte eingedampft ist, wird Salzwasser nachgegossen, was in der Regel fünf Mal
geschieht, bis das Salz auszukristallisieren (encheng) beginnt, wonach die Hitze re-
duziert wird, indem die brennenden Holzscheite herausgezogen und in eine andere
Feuerstelle eingeschoben werden. Ist das Wasser vollständig verdampft“ (in Pa Be-
tung nach zwei Tagen!), wird das auskristallisierte Salz zum Trocknen an der Sonne
auf Matten gelegt oder in etwa „30 cm lange und 4 cm dicke Bambusrohren (nan-
soh)“ gelöffelt. Diese werden „über dem Feuer auf einem Gestell zum Trocknen
(merang) gelegt, und zwar schief, mit der Öffnung etwas tiefer, um das Abfließen des
7
SCHNEEBERGER 1950:62.
TRIBUS 54,2005
Abb. 9: Kirche und Dorfplatz Terang Barus. dem Heimatdorf Frau Sarans.
letzten Restes Wasser zu erleichtern. Nach einiger Zeit sind die Bambusrohren durch
die Hitze angekohlt, sie werden vom Feuer genommen und das Salz durch Schütteln
daraus entfernt”. Dieses hat jetzt „die Form einer“ etwa „30 cm langen und 4 cm
dicken harten Stange“ (siak, je nach Salzqualität weiß bis rötlich braun), „die in
Palmblätter gerollt (emfu) und mit schmalen Rottanstreifen umwunden wird. In die-
ser Form werden sie verkauft“ (2004 zum Preis zwischen 5.000.- und 10.000.- Rupi-
ah. was nicht ganz einem Euro entspricht).
ST. JOHN war der erste, der auf diese Salzgewinnung und -Vermarktung hingewie-
sen hat8. Immerhin, im Laufe von 150 Jahren ist diese Art Industrie gleich geblieben
und hat sich mit Ausnahme des Wechsels von „flachen, gusseisernen Pfannen“9 zu
längsseits halbierten Ölfässern nicht geändert.
TOM HARRISSON (1911-1976) wird derjenige Europäer gewesen sein, der sich
am längsten im Kerayan-Kelabit-Gebiet aufgehalten hat: von Mitte 1945 bis August
1946. Nur er berichtet über das Kelabit-Kerayan-Salz als Zahlungsmittel10 11: das nied-
rigste „Zahlungsmittel“ ist der borak-Schnaps, dann das „salt“ und schließlich der
Büffel. Als Bezahlung für einen „tail“ Frischfisch („Kerayan-Wels“, in dieser Größe
im Kelabit-Gebiet nicht vorkommend!) mussten „twenty salt per tail“ gegeben wer-
den11.
4. Die Töpferei
Merkwürdig ist, dass SCHNEEBERGER mit keinem Wort auf die Stammeskeramik
der Lun Dayeh und Kelabit eingeht. Bis in die 1980er Jahre konnte man in allen
Kerayan-Dörfern noch die schwarzen Töpfchen mit dem waagrecht abgeflachten
Aufsatzfuß (zum Aufstellen!) finden. Heute gibt es nur noch eine Frau, die die Töp-
8 1862: II, 116
9 SCHNEEBERGER 1950: 62. Dr. Barbara HARRISSON ergänzt in einem persönlichen
Brief vom 28.07.04: „Tom Harrisson sagte (und beschrieb), dass die Entdeckung von Salzquel-
len der Beobachtung von Vögeln (als Omen wichtig) zugewiesen wurde, die sich auffällig an
Orten der austretenden Quellen ansammelten. Ich war an den Bario-Quellen etwa 1965. Zu der
Zeit gebrauchte man noch alte, gusseiserne Pfannen (China-Importe). Man sagte mir, sie seien
kostbar und schwer zu ersetzen.“
10 Leider teilt HARRISSON den Fachausdruck dafür nicht in der Stammessprache mit.
11 HARRISSON 1959: 83. HARRISSON macht hier eine nicht nachprüfbare, ungenaue Ge-
wichtsangabe. Nach RICHARDS 1981: 360 wäre ein tail 39 Gramm, nach GRAAFF-STIBBE
1918:688 bestenfalls 55 Gramm!
Abb. 10, 11, 12: Der für den Topf bereitete Lehmklumpen wird mit einem runden
Holzknüppel weich geschlagen.
Martin Baier: Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
Abb. 10,11,12,13,14,15,16,17: Lehm-
bearbeilung in genauer zeitlicher Rei-
henfolge.
Abb. 13: Der Lehmklum-
pen wird mit Hilfe eines
Holzspatels zur Walze ge-
formt.
Abb. 14: Mit einem dün-
nen, langen, spitz zulau-
fenden Holzstecken, der
mit Wasser in der roten
Plastikschale angefeuch-
tet wurde, wird ein Loch
in den Lehm der Walze
gebohrt.
63
TRIBUS 54,2005
Abb. 15: Mit dem Holz-
stecken wird der Hohl-
raum in der Lehmwalze
erweitert.
Abb. 16, 17: Ein runder, kürzerer Holzknüppel wird in den Zylinderhohlraum ge-
steckt als Unterlage, um den Lehm mit einer Holzspatel weich zu klopfen. Danach
folgt zeitlich Abb. 7.
ferei beherrscht und praktiziert. Es ist die verwitwete, circa 70-jährige Saran in Wai-
laya/Terang Baru. Sie ist in Indonesisch-Borneo die letzte Töpferin der Dayak. Be-
sonders verbreitet war diese Fertigkeit nie in Kalimantan. Bis Ende der 1930er Jahre
wurde sie noch im Apo Kayan- und Pujungan-Gebiet praktiziert (bei den Lepo Ke-
Kenyah und benachbarten Kenyah-Stämmen12), bis etwa zur vorletzten Jahrhun-
dertwende bei den Ma Suling und den UmaTepai (Bahau-Dayak) am oberen Maha-
kam13. NIEUWENHUIS berichtet, dass derartige Stammeskeramik Ende des 19.
Jahrhunderts von den Ma Kulit-Kenyah des Apo Kayan-Gebiets als „Tauschartikel“
(also auch als eine Art „Zahlungsmittel“) auf Handelsreisen verwendet wurde14.
12TILLEMA 1938:190-192
13 NIEUWENHUIS 1904:358; 1907:215-217
14 NIEUWENHUIS 1907:216
64
Martin Baier: Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
Abh. 18, 19: Frau Saran in ihrer „Werkstatt“ vor ihren Produkten und Werkzeugen.
Vorne unten sind diese ausgelegt: von links nach rechts, wie sie zeitlich nacheinander
gebraucht werden. Zunächst wird der kleinste Stein ganz oben in die Höhlung ge-
steckt und die Lehmwand bearbeitet, dann der jeweils untere bis zum größten ganz
unten.
Die drei Töpfe links müssen noch getrocknet werden, die drei Lehmzylinder oben
werden noch mit den Steinen und dem Spatel bearbeitet, bis sie die fertige Topfform
erhalten. Die vier Töpfe ganz oben sind fertig luftgetrocknet und können gebrannt
werden (mindestens eine Stunde im Holzfeuer außerhalb des Dorfes in sicherem
Abstand von den Häusern). Rechts die beiden fertig gebrannten und bereits benütz-
ten Töpfe zeigen, dass Frau Saran zwei Topfformen hersteilen kann: 1. die meisten
Töpfe mit waagrecht abgeflachtem Unterteil zum Hinstellen. 2. einige wenige nach
Art der Iban-Töpfe: kugelförmig ganz rund. Dem Linden-Museum wurde ein sol-
cher Topf überreicht.
65
TRIBUS 54,2005
Anders in Ost-Malaysia: Angefangen bei den Dusun im Norden bis zu den Iban im
Süden war Stammestöpferei bei vielen Stämmen verbreitet, selbstverständlich auch
bei den Kelabit und Lun Bawang. Bei den meisten wird sie nicht mehr praktiziert,
aber vor allem bei den Iban ist sie noch üblich15. Hier zeigt sich - wie in vielen Ele-
menten der Kultur (Religion, Hausbau. Sprache u.a.) - die anhaltende Verwurzelung
in Tradition und Stammesidentität der mittleren und südlichen Sarawak-Dayak -
ganz im Gegensatz zu den christianisierten Kelabit und Lun Bawang sowie zu den
Ost-Kalimantan-Dayak. Die beeindruckende Ornamentik, mit der die Töpfe bei den
Iban an der gesamten Außenseite verziert sind, zeigt die Hochschätzung und Anwen-
dung künstlerischer Ästhetik auch bei alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Aus-
schmückung durch Verzierungen ist bei den Lun Dayeh unbekannt. Die Lepo Ke-
Kenyah des Pujungan-Gebiets haben die Außenwand gleichmäßig mit senkrechten
Strichen leicht verziert, indem sie die noch feuchten Lehmtöpfe mit den Zacken ei-
nes Kammes von oben nach unten bestrichen haben. Nur bei den Mahakam und Apo
Kayan-Stämmen des 19. Jahrhunderts war eine einfache Ornamentik aufgrund der-
selben Technik wie bei den Iban üblich16.
5. Quellenbezug : Nieuwenhuis, Morrison, Freeman, Dunsmore
LING ROTH17 ist der erste, der Hinweise auf die Topfbearbeitung bei der Stammes-
keramik gibt. Kurz danach beschreibt NIEUWENHUIS die Herstellung ausführlich.
Da die wichtigsten englischsprachigen Darstellungen hierauf keinen Bezug nehmen,
soll NIEUWENHUIS hier zitiert werden18:
Die Frauen „gebrauchen hierzu eine besondere Lehmart, die nur an einigen Orten
am Mahakam und Kajan zu finden ist. Der Lehm wird in der Sonne gut getrocknet,
im Reisblock feingestampft und dann durch Sieben von kleinen Steinen und anderen
groben Bestandteilen gesäubert. Dann feuchten ihn die Frauen an und mengen ihn
mit Reisspelzen, um seine Festigkeit zu erhöhen. Aus dieser Masse formen sie mit
der Hand, indem sie den Lehm um einen runden Stein von der gewünschten Größe
pressen, die Töpfe, die sie dann in die Sonne zum Trocknen stellen. Zur Bearbeitung
der Außenseite dient ein mit Schnitzfiguren19 versehenes Brettchen; die Töpfe sind
daher von außen nicht glatt, sondern mit einfachen Figuren verziert,... Das Härten
der in der Sonne getrockneten Töpfe geschieht mittelst Harzpulver20, mit dem in
sehr dicker Schicht die innere und äußere Oberfläche überzogen wird. Werden nun
die Töpfe einem starken Feuer ausgesetzt, so verbrennt ein Teil des Harzpulvers und
dient zur Härtung der Oberfläche, während der schmelzende Teil des Harzes in die
poröse Lehmmasse eindringt und so die Dauerhaftigkeit des Gefäßes bedeutend er-
höht. In derartigen Töpfen lassen sich sehr gut Reis und andere Speisen kochen.“ In
ihren Grundzügen wird die hier beschriebene Technik überall angewendet.
LING ROTH21 berichtet von den Dayak am Skrang-Fluss, dass auch sie bei der
Lehmzubereitung Reisspelzen beimischen. Bei den Lun Bawang-Dayak ist dieser
15 Prof. CLIFFORD SATHER teilte in einem persönlichen Schreiben vom 31.05.2004 mit;
„Iban pottery is still made, but by only a few potters.Two years ago (we)... went to a longhouse
called Nanga Sumpah in the Batang Ai', and photographed and documented pottery making as
it is now being done...”.
16 NIEUWENHUIS 1907:216
17 vgl. Sarawak Museum Occasional Paper No. 5, Seite 3
18 NIEUWENHUIS 1907: 216,217. NB: NIEUWENHUIS tut sich schwer mit der deutschen
Sprache!
19 Die Nachprüfung anhand von NIEUWENHUIS 1907 Fig. 19Tafel 51 zeigt, dass der Ausdruck
„Figur“ unzutreffend ist. Es handelt sich um die einfachste Form einer Schachbrettornamen-
tik.
20 Indonesisch: „damar Agathis“, Lun Dayeh-Sprache: „tumu“
21 vgl Sarawak Museum Occasional Paper No.5, Anmerkung 5
66
Martin Baien Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
Ahb. 20: Drei Töpfe der Lun Dayeh-Dayak: der linke ausTerang Baru, jetzt im Besitz
des Linden-Museums. Der in der Mitte wurde im Mai 2004 frisch gebrannt von Frau
Saran ohne Benutzungsspuren. Der rechte wurde 1989 in Pa Raye erworben.
Ahb. 21: Zwei unten abgerundete Töpfe der Lepoh Ke-Kenyah. der rechte mit einem
Rattan-Geflecht zum Aufstellen und Aufhängen. Der Holzuntersatz des linken Top-
fes ist chinesisch. Am rechten Topf sind leicht die Kratzspuren von den Zacken des
Kammes zu sehen. Beide wurden 1986 in Long Tobulo/Pujungan-Gebiet erworben.
Dort wurden zur Ausformung des bauchigen Innenhohlraumes nicht Steine, sondern
entsprechend geformte Holz-“Eier“ verwendet. Nach der Japanerzeit wurden im Pu-
jungan-Gebiet keine Töpfe mehr hergestellt.
67
TRIBUS 54,2005
Zusatz unbekannt. Ebenfalls MORRISON erwähnt nichts darüber; jedoch weist er22
auf den Zusatz von zu Pulver zerriebenen alten Töpfen hin, was auch bei den Lun
Dayeh beigemengt wird. Nach MORRISON wird der noch feuchte, fertig bereitete
Lehm auf die Ablage über dem Leuerplatz in der Küche gelegt. Nach zwei bis drei
Tagen soll er trocken sein. Unklar ist, ob der so „getrocknete“ Lehm wirklich in die
gewünschte Topfform geknetet werden kann. MORRISON war der Stammesspra-
che nicht mächtig, und in den 1950er Jahren wurde Malaysisch/Indonesisch noch
nicht als Zweitsprache im Innern Borneos gesprochen, daher ist bei entsprechenden
Aufsätzen mit Lehlinformationen zu rechnen. Immerhin beweisen MORRISONs
Aufsatz und Lotos, dass bei Lun Bawang und Lun Dayeh zwei Topfformen üblich
waren und damals im Pa Kelalan-Gebiet Primitiv-Ornamentik angebracht wurde.
Die fertig geformten Lehmtöpfe werden wiederum auf der Herdablage bei ständig
(!) brennendem Herdfeuer drei Wochen lang getrocknet. Nach NIEUWENHUIS
und auch bei Lrau Saran werden die Topfformen etwa zwei Wochen lang an der Son-
ne getrocknet. Von einer Harzbehandlung der noch nicht gebrannten Töpfe berich-
tet MORRISON nichts. Diese wird - ähnlich wie bei den Lun Dayeh-Dayak - erst
bei den fertig gebrannten, noch heißen Töpfen angewandt.
Die ausführlichste Beschreibung liefert der bekannte neuseeländische Anthropolo-
ge DEREK LREEMAN23. Seine Beobachtungen stammen vom Oberlauf des Mu-
jong-Llusses im Kapit-Bezirk aus dem Jahr 1949, als die Iban-Kultur noch wenig von
westlicher/malaysischer Zivilisation beeinflusst war. Hochinteressant sind bei FREE-
MAN die Beziehungen der Iban-Töpferei zur „Analogie rein äußerlicher Phänome-
ne“24, zur Iban-Religion und zu bedrohlichen Adatverboten („Pali“, Tabus). Auch
hier wird der Lehm in der Sonne mindestens 24 Stunden lang getrocknet, die fertig
geformten Töpfe auf der Herdablage. Mit einem Rattansieb herausgefiltert werden
nur die feinsten Lehmteile zur Weiterverarbeitung verwendet. Diese Teile, mit Was-
ser vermischt (sonst keinerlei Beimischung!), werden zu Klumpen bestimmter Grö-
ße geknetet; jeder Klumpen wird ein Topf. Beim Lormen der Töpfe (gegen die Hohl-
raumwände werden „ovaloide“ Steine gehalten) wird der Lehm der Außenwände
mit einem paddelförmigen Holzbrett weiter weich geschlagen. Zwölf solcher Holz-
bretter bildet LREEMAN ab. jedes auf der Klopffläche mit verschiedenen, teilweise
phantasievollen Ornamenten eingeschnitzt, welche beim Bearbeiten der Außenwän-
de die kunstvollen Verzierungen der Iban-Töpfe eindrücken. Minutiös wird dieser
Arbeitsvorgang beschrieben. Wie erwähnt, werden die zum Brennen bereiten Töpfe
auf der Herdablage etwa elf Tage lang getrocknet. Nach dem Brennen werden die
Töpfe in eine Härteflüssigkeit (tempering fluid) getaucht, der die zerstoßene Rinde
des samak-Baumes25 beigemischt wurde. Dadurch werden die Töpfe wasserdicht.
LREEMAN und DUNSMORE26 halten es für eine Art Gerbrinde, die offensichtlich
mit dem Damar-Harz der anderen Stämme nichts zu tun hat.
Lrau Susi DUNSMORE geb. Heinze ist 1959 LREEMANs Spuren gefolgt und hat
am selben Ort von derselben Töpferin dieselben Arbeiten ausführen lassen und zu-
sammen mit einer (Pädagogik-?)Studentengruppe die Topfherstellung beobachtet.
Ihr Bericht ist im Vergleich zu LREEMAN um einiges magerer ausgefallen; der Her-
stellungsprozess wird nicht durchgängig beschrieben; die Lehmbearbeitung und
Austrocknung fehlen; die eigentliche Topfformung steht ganz im Vordergrund. Aller-
dings weist sie in einem kleinen Abschnitt auf LING ROTHs, NIEUWENHUIS'
und MORRISONs Berichte kurz hin. LREEMAN erwähnt sie nur in der Literatu-
rangabe und bringt auch - mit Ausnahme der Rattan-Halterung der kugelförmig run-
den Töpfe - nichts Neues im Vergleich zu ihm. Offensichtlich ist Frau DUNSMOREs
Aufsatz in erster Linie für interessierte Museumsbesucher und Hobby-Töpfer abge-
fasst worden.
22 MORRISON 295
231957:153-176
24 BAI ER 1977: 63
25 RICHARDS 1981:321 übersetzt: “plants yielding tannin”
26 Sarawak Museum Occasional Paper No.5 1985:9
68
Martin Baier; Salzgewinnung und Töpferei der Dayak
Aufgrund einer liberalen Bildungspolitik und weit entwickelten Bildungsangeboten
sowie der effizient ausgebauten Tourismusinstitutionen in Ost-Malaysia hat die
Stammestöpferei dort durchaus noch Überlebenschancen, vielleicht sogar die Mög-
lichkeit, in der Tourismusbranche sich einen festen Platz zu erobern. Leider trifft von
dem allem nichts auf Indonesisch-Borneo zu. Unruhen, Instabilität und schlecht ent-
wickelte Infrastruktur halten Touristen vom abgelegenen Kerayan- und Pujungan-
Gebiet fern; Stammeskultur ist in der Ausbildung der Jugend kein Thema, und so
wird die einst bewunderte Stammestöpferei zum Aussterben verurteilt sein.
Vorliegender Bericht mit reichhaltigem Fotomaterial soll die Erinnerung daran wach
halten.
Literatur
Amster, Matthew H.
1995 Communtity, Ethnicity, and Modes of Association Among the Kelabit of
Sarawak, East Malaysia. Waltham/Massachusetts: Brandeis University,
Ph.D. thesis.
Baier, Martin
1977 Das Adatbußrecht der Ngaju Dayak. Tübingen. Eberhard-Karls-Unversi-
tät, Ph.D. Dissertation.
1979 Zur Steinsetzung und Steinbearbeitung Innerborneos. In: TRIBUS. Veröf-
fentlichungen des Linden-Museums Nr. 28. Stuttgart: Linden-Museum. Sei-
te 70-82.
Freeman, J. Derek
1957 Iban Pottery, ln: Sarawak Museum Journal, Vol.VII, No. 10 (25): 153-176.
Graaff, S. de und Stibbe, D.G.
1918 Encyclopaedic van Nederlandsch Indie. Tweede deel. 's-Gravenhage: Mar-
tinus Nijhoff.
Harrisson,Tom
1959 World Within. London: The Cresset Press.
Morrison, Alastair
1955 Murut Pottery. In: Sarawak Museum Journal, Vol.VI, No.5 (26): 295-296.
Nieuwenhuis, A.W.
1904 Quer durch Borneo. Erster Teil. Leiden: E.J. Brill.
1907 Quer durch Borneo. Zweiter Teil. Leiden: E.J. Brill.
Richards, Anthony
1981 An Iban-English Dictionary. Oxford: Clarendon Press.
Roth. Henry Ling
1896 The Natives of Sarawak and British North Borneo. 2 vols. London:Truslove
and Hanson.
Sarawak Occasional Paper
1985 Iban Pottery. Sarawak Occasional Paper No.5 (Autorin: Susi Dunsmore).
Kuching: Sarawak Museum.
Schneeberger, Werner F.
1950 Zentral Nordost-Borneo und seine Bewohner. Eine geographisch-ethnologi-
sche Studie. Bern: Geographisches Institut der Universität Bern, Institutslei-
ter: Fritz Gygax (unveröffentlicht, Manuskript im Besitz von M. Baier).
1979 Contributions to the Ethnology of Central Northeast Borneo. Berne; The
University of Berne, Institute of Ethnology.
St. John, Spencer
1862 Life in the Forrests of the Far-East. 2 vols. London: Smith, Elder.
Tillema, H.F.
1938 Apo Kajan. Amsterdam: von Munster's Uitgeverij Maatschappij.
69
CHRISTIANE CLADOS
Maisfeld, Affe und Opfertod:
Ein spätnascazeitliches Textil des Linden-Museums Stuttgart
Abstract
Corn Field, Monkey and Death: A Nasca Textile of the Linden-Museum Stuttgart
This article is an anlysis of an extraordinary Nasca textile of the Ancient Americas
collection of the Linden-Museum Stuttgart, inv.-no. 119.196 (Fig. 1).The textile whose
design was probably produced by more than one needier consists of a black ground
weaving with embroidered decoration in dark and light yellow covering completely
the surface of the textile. The dimensions of the textile resemble those of a “manto”,
a coatlike garment of the former Paracas culture. The overall decoration of the tex-
tile of the Linden-Museum follows principles of a specific type of a Paracas manto
done in the so-called block color style. Those garments generally show a checker-
board-like design consisting of blocks with the representation of complex figures
that alterates with those without any representations. In contrast to a Paracas manto
the presented textile shows a continuing sequence of blocks with figural representa-
tions (Fig. 3).Two basic motifs can be identified. Motif A shows a scene including five
figures, all very prominent figures of the Nasca pantheon (Fig. 4). Figure A can be
identified as a “fat” version of the so-called Harvester, a mythical being that is typical
for representations on ceramics of the Nasca 5-7 phases (Fig. 5). In contrast to the
traditional (skinny) Harvester, Fat Harvesters generally are characterized by a tall
body dressed with a tunic that is covered with cultigens (Fig. 7). Figure A of the tex-
tile shows a body with plants growing out of it as Fat Harvesters do also have in
scenes on ceramics of the Phases Nasca 5-7 (Fig. 8). Figure A is adorned with a dia-
dem and depicted in a sitting position. The legs are not visible and covered by the
tunic. Because of the cultigens growing out of the body the author offers an interpre-
tation of figure A (and fat harvesters en general) as a personification of the field and
the rich harvest itself. At the base of figure A a bird can be seen (Fig. 11). On ceram-
ics birds like the one on the textile are often connected with the Fat Harvester and
can be identified as loros, small-sized macaws, that appear year by year when the
harvest on field is starting (Fig. 12). In front of figure A a ritual is going on including
figures B, C, D and E. Figure E can be identified as warrior wearing a conical helmet
and a fox skin on the back (Fig. 20). Interpreted as a gesture of physical conflict and
capture he is grabbing a naked person, figure D, that is lying on the ground. Because
of being grabbed by a warrior and being undressed figure D is identified as war cap-
tive and sacrifice victim (Fig. 22). Hairdoo and body gesture of figure D both are
characteristic of men and woman in Nasca iconography. A second sacrifice victim,
figure C, is lying beside figure D grabbing its hair (Fig. 27). Figure C and D can be
compared with a prominent theme presented on ceramics of the Late Nasca time
that depicts two sacrifice victims grabbing the hair of each other (Fig. 28). In complex
scenes on ceramics pairs of sacrifice victims are part of rituals including the consume
of corn beer (chicha) (Fig. 29, Fig. 30). Following results got out of the analysis of
complex scenes on ceramics figures C and D can be interpreted as war captives sac-
rificed in a chicha ritual that is based on a dualistic concept and is to secure a rich
field harvest. Finally figure B is identified as Mythical Monkey, a monkey character
that is typical for the Late Nasca and Early Wari times (Nasca 5-9) (Fig. 13). On ce-
ramics of the Late Nasca time the Mythical Monkey generally is characterized by its
elonged snout, a horizontally benched body, a rolled tail and a helmet with feather
tufts. Known as “thumbed animal” on early Wari ceramics, the Mythical Monkey of
the Late Nasca ceramics often carries feathered speers and trophy heads. (Fig. 18, Fig.
19). It clearly is connected with the principle of war and normally appears in scenes
71
TRIBUS 54,2005
depicting warriors and battlefields (Fig. 17). Figure B on the textile attends the chicha
ritual conducted by the warrior figure E. Base motif B, a simple motif, shows four
times the representation of the Mythical Monkey (Fig. 31).
To summarize: The Nasca textile of the Ancient Americas collection of the Linden-
Museum, Stuttgart, is a manto of the Late Nasca period. Its design is ordered in
blocks showing a ritual conducted in honor to the “Fat Harvester”. The ritual in-
cludes the sacrifice of a pair of war captives and is probably connected with the
consume of chicha. The representation of a Fat Harvester, a warrior figure, the Myth-
ical Monkey and two male or female war captives are Standing for basic religious
elements of Nasca liturgy namely war, sacrifice, death and rieh harvest.
1. Einleitung
Mit dem Beginn unserer Zeitrechnung entwickelt sich an der Südküste des heutigen
Peru eine der Aufsehen erregendsten Kulturen der Südzentralen Anden: Die Kultur
der Nasca. Aufbauend auf den Errungenschaften der Paracas-Kultur gelingt es den
Nasca innerhalb kurzer Zeit weite Teile der südperuanischen Küstenwüste mit Hilfe
komplizierter Bewässerungssysteme urbar zu machen. Zentrales Siedlungsgebiet
dieser Regionalkultur war das weit verzweigte Flusssystem des Rio Grande de Naz-
ca. Der Einfluss der Nasca-Kultur reichte im Hochland bis weit in das Gebiet von
Ayacucho, an der Küste zeigt er sich im Tal von Chincha an der peruanischen Zen-
tralküste bis in das Tal von Chala im heutigen Nordchile. Seit dem 1. nachchristlichen
Jahrhundert entstehen Zeremonialzentren und urbane Siedlungen, einige von ihnen
wie das frühnascazeitliche Cahuachi von beträchtlichen Ausmaßen.1 Mehrere Jahr-
hunderte später jedoch, mit der Expansion des Wari-Imperiums im 7. Jahrhundert,
verliert die Nasca-Kultur zunächst im Hochland, später auch in ihrem zentralen
Siedlungsgebiet an der Küste an Einfluss. Sie hinterlässt eine reiche materielle Kul-
tur. Neben Monumentalbauten aus ungebrannten Lehmziegeln, einst in leuchtenden
Farben bemalt, Scharrbildern und der vielfarbig bemalten Keramik, sind es v.a. die
prachtvollen Textilien, die das überlieferte Bild dieser Kultur bestimmen. Von beson-
derer Bedeutung sind dabei aufwendig gearbeitete Kleidungsstücke wie Mäntel,
Turbanbänder, Tuniken und Lendenschurze, deren gewebte und gestickte Motive
eine reiche Ikonographie aufweisen.
2. Das Textil des Linden-Museums: Technik und Struktur des Dekors
Das Linden-Museum in Stuttgart besitzt eines der außergewöhnlichsten Textilien
der späten Nasca- Kultur (Fig. 1). Es handelt sich um ein Tuch, dessen aus schwarzer
Baumwolle gefertigtes Grundgewebe flächendeckend mit Stickereien überzogen ist.
Für die in Platt- und Kettstichen ausgeführten Stickereien wurde ein Wollgarn in
zwei verschiedenen Gelbtönen benutzt.
Obgleich in vielerlei Hinsicht an Gewebe der 600 Jahre älteren Paracas-Kultur ange-
lehnt, dürfte das Textil in die späte Nasca-Zeit (ca. 650 n. Chr.) datieren. Die Maße
des Textils (225 cm x 105 cm) erinnern an die als mantos bezeichneten Mäntel der
klassischen Paracas-Zeit. Vermutlich handelt es sich um eben ein solches Kleidungs-
stück, das analog zum Paracas-Vorbild, wenn getragen, einst um die Schultern gelegt
wurde und auf beiden Seiten bis fast auf den Boden herab fiel (Fig. 2).
Ungewöhnlich ist nicht nur die Verwendung von nur zwei Farben für die Stickereien
- die Textilien der Vorgängerkultur von Paracas weisen bis zu 190 verschiedene Farb-
töne auf - ungewöhnlich ist v.a auch das Schema, dem die Verteilung der Motive
folgt. Zwei Basismotive (A und B) sind auf insgesamt zehn Horizontalen abwech-
selnd angeordnet. In der ersten Reihe zeigt sich eine Verteilung der Basismotive, die
als A-B-A-B-Abfolge beschrieben werden kann. Die nächste Reihe beginnt mit Ba-
sismotiv B, während die darauf folgende wiederum mit Basismotiv A beginnt. So
1 Silverman 1993 ; Reindel 2001
Christiane Ciados: Ein spätnascazeitliches Textil
Fig. I: Das Nasca-Textil der Altamerika
Sammlung des Linden-Museums Stutt-
gart.
TRIBUS 54,2005
ergibt sich eine schachbrettartige Anordnung, in der sich Basismotiv A und B immer
nur in der Diagonale entsprechen (Fig. 3). Insgesamt bedecken 40 Basismotive das
Textil.
Die schachbrettartige Anordnung von Motiven hat ihren Ursprung in den Textilien
der Paracas-Kultur. insbesondere in jenen Textilien, die im so genannten Farbblock-
stil (block color style) ausgeführt sind.2 Jene Textilien sind ebenfalls durch das oben
beschriebene Verteilungsschema gekennzeichnet, wobei sich im Falle der Paracas-
Textilien jedoch figürlich verzierte Felder (oder so genannte Farbblöcke) mit unver-
zierten abwechseln. Dass das vorliegende Nasca-Textil im Gegensatz zu den Paracas-
Textilien einen flächendeckenden Dekor aufweist, ist vermutlich der Stilentwicklung
der späten Nasca-Zeit geschuldet, die zweifelsohne ganz allgemein zu Textilien mit
flächendeckendem Dekor tendiert. Die sich wiederholenden Motive weisen leichte
Veränderungen in der Ausführung auf, was ein Hinweis darauf ist, dass die Stickerei-
en des Textils vermutlich von mehr als nur einem Sticker ausgeführt wurden.
A B A B
B A B A
A B A B
B A B A
A B A B
B A B A
A B A B
B A B A
A B A B
B A B A
Fig. 3: Schema der Anord- Fig. 4: Motivblock A. Er zeigt eine Szene mit fünf Ge-
nung der Basismotive. stalten. Gestalt A: „fetter Schnitter“, Gestalt B: Mythi-
scher Affe, Gestalt C: Opfergefangener, Gestalt D; Op-
fergefangener, Gestalt E: Krieger.
3. Ikonographie
Von großer Außergewöhnlichkeit ist ohne Zweifel der Bildschmuck des Textils.
Kaum ein anderes Textil der späten Nasca-Zeit, das sich erhalten hat, zeigt so viele
Entsprechungen mit der Ikonographie der Keramik dieser Zeit. Und auch nur unter
Zuhilfenahme von Darstellungen in Keramiken ist es möglich, den Bildschmuck des
Textils zu verstehen. Die frühe und späte Nasca-Keramik ist durch die Abbildung
vielfiguriger Szenen charakterisiert, die in einigen Fällen auch die Darstellung hel-
denartiger Gestalten cinschließt. Dabei handelt es sich um Szenen, d.h. um die Dar-
2 Anne Faul 1991: 59 ff.
Christiane Clados: Ein spätnascazeitliches Textil
Stellung von Handlungsabläufen, die mehrere Akteure einschließen können. Hand-
lung zeigt sich v.a. in dem Tatbestand, dass die Gestalten innerhalb eines Bildes mit-
einander interagieren. Diese Interaktion drückt sich durch Gesten aus (z.B. das
Haarschopfpacken), die eine direkte Beziehung zwischen den Gestalten signalisie-
ren und damit Handlung anzeigen. Basismotiv A des Textils zeigt mehrere Gestalten,
die miteinander interagieren. Dieser Motivblock umfasst insgesamt 5 Gestalten, de-
ren Identität im Folgenden durch das Heranziehen von Informationen aus zeitglei-
chen Vasenmalereien ermittelt werden soll (Fig. 4).
Die Identifikation der Gestalten auf dem Textil wird durch die Tatsache erschwert,
dass die Stickereien in nur zwei Farben ausgeführt wurden. Ferner sind die gestick-
ten Figuren meist nur in ihren Konturen wiedergegeben oder aber das Innenleben
der Figuren wurde unberücksichtigt gelassen bzw. einfach ausgestickt. Dies führt
dazu, dass die Gestalten weniger kennzeichnende Merkmale aufweisen als dies für
Gestalten in Vasenmalereien der Fall ist. Dagegen liefern Gestalten in Vasenmalerei-
en eine Fülle kennzeichnender Merkmale, sei es durch den Einsatz einer größeren
Farbpalette oder aber durch ein stärker ausgezeichnetes Innenleben der Figuren.
Nichtsdestotrotz können alle Gestalten auf dem Textil eindeutig identifiziert wer-
den. Die mit dem Buchstaben A bezeichnete Gestalt zeigt ein Wesen mit tonnenför-
migem Körper und einem Kopf, den ein dreiteiliges Diadem schmückt. Der obere
Rand ihres Körpers ist mit einer Reihe gefiederter Elemente besetzt. Vier fadenarti-
ge Elemente, die in runden Scheiben enden, fallen über die Schultern auf die Brust
herab. Auf der unteren Körperhälfte sind zwei horizontale Bänder mit Reihen auf
dem Kopf stehender Dreiecke zu sehen (Fig. 5).
Gestalt A ist ein Wesen, das auf anderen Nasca-Textilien nur selten anzutreffen ist.
Umso mehr lässt sich seine Präsenz aber in den Vasenmalereien der mittleren und
späten Nasca-Zeit nachweisen. Vasenmalereien eben dieser Zeit einbeziehend kann
das mit dem Buchstaben A benannte Wesen als eine besondere Variation des so ge-
nannten „Schnitters“ identifiziert werden, ein Wesen das mit den Prinzipien der
Fig. 6: Der „ Schnitter“ in einer Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit. Deutlich sind
die spitze Kappe und die hervortretenden Rippen zu erkennen.
75
TRI BUS 54,2005
Fruchtbarkeit und den auf dem Feld geernteten Kulturpflanzen in Verbindung ge-
bracht wird.3 In Vasenmalereien sind „Schnitter“ in der Regel durch eine spitze Kap-
pe wie auch durch einen unbekleideten Körper mit hervorstehenden Rippen ge-
kennzeichnet, tragen also alle Anzeichen von Hunger (Fig. 6).
Natürlich zeigt Gestalt A desTextils nur wenig Übereinstimmung mit den beschrie-
benen, von Hunger gezeichneten „Schnittern" der Vasenmalereien. Ein eingehende-
rer Blick auf Vasenmalereien der späten Nasca-Zeit zeigt aber, dass es neben der so
oft beschriebenen „mageren“ Version des „Schnitters“ auch eine beleibte Version
gibt, eine Tatsache, die bislang völlig unberücksichtigt blieb. „Fette Schnitter“ zeich-
nen sich im Gegensatz zu „mageren Schnittern“ durch Fettleibigkeit und einen
prachtvollen Ornat aus. Ein weiteres Merkmal dieser Gestaltenkategorie ist ein ton-
nenförmiger Körper, aus dem Pflanzen wachsen (Fig. 7). In vielen Vasenmalereien ist
deutlich ist zu sehen, wie der äußere Körperrand mit Maisstauden und Pfeffer-Scho-
ten (aji), die oft wie gefiederte Farnzweige wirken, bewachsen ist (Fig. 8).
Fig. 7: Der „Fette Schnitter“ in einer
Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit.
Deutlich zu erkennen sind ein ton-
nenförmiger Körper und ein pracht-
voller Ornat.
Fig. 8: „Fetter Schnitter“ in einer Vasenmalereien der späten Nasca-Zeit. Aus dem
oberen Körperrand wachsen Maisstauden.
3 siehe zur Definition des « Schnitters « Seler 1923, Schlesier 1959, Roark 1965, Wolfe 1981,
Proulx 1992, Carmichael 1994, de Bock 2004.
76
Christiane Ciados; Ein spätnascazeitliches Textil
Fig.9: Aus dem Rücken eines
„fetten Schnitters“ wachsen
Maisstauden mit Maiskolben in
Form von Kopftrophäen mit
Haarlocken.
Viele der Maiskolben haben dabei die Form von Kopftrophäen mit Haarlocken an-
genommen, ein Hinweis darauf, dass Kopftrophäen wie Maiskolben gleichermaßen
„geerntet“ werden können (Fig. 9).
Darstellungen auf Keramiken zeigen ferner, dass der „fette Schnitter“ meist eine
hockende Position einnimmt, was die tonnenhafte Form des Körpers erklärt. Gestalt
A desTextils nun zeigt alle Körper- und Trachtenmerkmale eines „fetten Schnitters“.
Die gefiederten Elemente am oberen Körperrand können als Pflanzen, vermutlich
Maisstauden, identifiziert werden, die aus dem Körper wachsen. Wie der „fette
Schnitter“ nimmt auch Gestalt A eine hockende Position ein. Beide an den Körper
herangezogene Beine werden von einer Tunika verdeckt. Dass Gestalt A eine Tunika
trägt, ist an jenen horizontalen Bändern mit Reihen auf den Kopf stehender Dreie-
cke zu erkennen. Dabei handelt es sich um Hemdbordüren, Schmuckbordüren aus
gestickten Kopftrophäen, eine Bortenform, die, wie noch erhaltene Bortenfragmente
belegen, in jeder Phase der Nasca-Kulturentwicklung sehr beliebt waren (Fig. 10).
Die fadenförmigen Elemente, welche in Scheiben enden, können mit großer Wahr-
scheinlichkeit als Kupfernadeln identifiziert werden. V.a. in der späten Nasca-Zeit
zeigt sich ein intensiver Gebrauch von Kupfernadeln (tupus), die eine Scheibe als
Nadelkopf besitzen. Meist sind sie ein wichtiger Bestandteil der weiblichen Tracht,
sie werden aber auch entgegen der bisherigen Meinung von Männern getragen.
Der Bortenrand der Tunika der Gestalt A wird durch die Darstellung eines Vogels
unterbrochen, der wie durch ein Tor oder Höhleneingang in den „fetten Schnitter“
hinein zu fliegen scheint (Fig. 11). Ob es sich bei der torartigen Unterbrechung um
77
TRIBUS 54,2005
einen Eingang handelt, ist nicht klar zu sagen. Jedoch sind „fette Schnitter“ in Vasen-
malereien auch durch das Vorhandensein von Vogelschwärmen gekennzeichnet, die
oftmals in blasenartigen Gebilden eingeschlossen, in die Schnittergestalt hinein zu
fliegen scheinen (Fig. 12). Bei den in den Vasenmalereien dargestellten Vögeln han-
delt es sich vermutlich um loros, kleine Zwergpapageien, die wie auch noch heute
immer dann in Schwärmen in Erscheinung treten, wenn die Ernte auf dem Feld kurz
bevorsteht. Die Darstellung eines einzelnen Vogels auf dem Textil mag stellvertre-
tend für die Darstellung eines ganzen Schwarms stehen, der sich auf Gestalt A zube-
wegt.
Am Fuße der Gestalt A findet ein Ritual statt, das die Gestalten B, C, D und E ein-
schließt. Gestalt B ist ebenfalls ein überaus bedeutendes mythisches Wesen des Nas-
ca-Pantheons und auch, wie von Patricia Knobloch nachgewiesen (persönliche Mit-
teilung), für die Nasca-Wari-Übergangszeit überaus typisch (Fig. 13).4
Es handelt sich dabei um ein affengestaltiges Wesen, das sich in Vasenmalereien stets
durch einen waagrecht gehaltenen, aber leicht gekrümmten Körper, einen langen
Schwanz und eine längliche Schnauze charakterisiert (Fig. 13). Besagte Körpermerk-
male lassen an einen Kapuzineraffen als Vorbild denken. Ein Blick auf seine Darstel-
Fig. 11: Eine einzelne Vogelgestalt, die sich auf Gestalt A zu-
bewegt.
Fig. 12: Ein „fetter Schnitter“ auf einer Vasenmalerei der mittleren Nasca-Zeit. Meh-
rere Vögel, eingeschlossen in Blasen mit Zackenrand, fliegen auf ihn zu (unten rechts
und links).
Fig. 13: Gestalt B, der Mythische Affe.
4 Knobloch 2004
78
Christiane Clados: Ein spätnascazeitliches Textil
lung in Vasenmalereien zeigt, dass er sich halb aufrecht auf den Hinterbeinen be-
wegt, während die vorderen Gliedmaßen manchmal als Greiforgane dienen und
Waffen, Pflanzen (aji) und Kopftrophäen halten (Fig. 14). Den „Mythischen Affen“
kleidet zumeist ein Diadem oder ein Helm mit mehreren Federfächern. Ebenfalls
charakteristisch ist eine Aureole aus Pflanzen, die sich über Rücken und Schwanz
zieht (Fig. 15,16).
Insbesondere zeichnet dieses Affenwesen, das seit der mittleren Nasca-Zeit in Er-
scheinung tritt, einen engen Bezug zum Kriegsgeschehen aus. In einigen Vasenmale-
reien der späten Nasca-Zeit ist der Mythische Affe inmitten eines Schlachtgetüm-
mels abgebildet (Fig. 17) oder aber er hält einen befiederten Speer (Fig. 18) oder eine
Kopftrophäe in den Händen (Fig. 19).
Fig. 15: Mythischer Affe auf einer Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit. Seinen Kopf
bedeckt ein Helm mit mehreren Federfächern.
Fig. 16: Zweimal die Darstellung des Mythischen Affen auf einer Vasenmalerei der
späten Nasca-Zeit. Eine Aureole aus dreigliedrigen Pflanzen bedeckt den Rücken.
79
TRIBUS 54,2005
Fig. 17: Mythischer Affe auf einer
Vasenmalerei der späten Nasca-
Zeit. Er befindet sich am Rande
einer Schlachtszene, die vier
prachtvoll geschmückte Krieger
zeigt.
Fig. 18: Mythischer Affe auf einem hölzernen Federhalter. Er hält einen gefiederten
Speer in der linken Hand.
Fig. 19: Mythischer Affe auf einer Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit. Er hält eine
Kopftrophäe in der Hand.
Das Textil des Linden-Museums zeigt den Mythischen Affen mit einem konischen
Helm, drei darin aufgesteckten Federfächern und einer Aureole aus dreigliedrigen
Pflanzen, die sich über Rücken und Schwanz ausbreitet. Er wendet sich einer Grup-
pe von drei Menschen, den Gestalten C, D, und E, zu, die im Begriff sind, ein Ritual
zu vollziehen. Gestalt E kann dabei als Krieger identifiziert werden, der einen kap-
penartigen Helm mit zwei langen Quasten sowie einen Lendenschurz trägt, in dessen
Gürtel an der Rückseite ein Fuchsbalg gesteckt ist (Fig. 20).
Darstellungen von Kriegern mit nahezu identischer Tracht sind auf einem Gefäß des
Museo Nacional de Antropología, Arqueología y Historia in Lima zu sehen (Fig. 21).
Besagte Keramik zeigt eine Schlacht, in der die siegreiche Gruppe die unterlegenen
Feinde an den Händen als Gefangene abführt.
80
Fig. 21: Krieger auf einem Gefäß des Museo Nacional de Antropología, Arqueología
y Historia in Lima. Die Krieger tragen Fuchsbälge, die in den Gürtel gesteckt wur-
den. Die unterlegenen Feinde werden an den Armen gepackt. Einige von ihnen sind
von Speeren getroffen.
Die Geste des Haarschopf- oder Armfassens deutet in der späten Nasca-Zeit stets
die Niederwerfung des Gegners an und signalisiert damit eindeutig ein dramatisches
Geschehen. Gestalt E auf dem Textil packt eine menschliche und unbekleidete Ge-
stalt, Gestalt D. deren Haartracht und die gespreizten Beine sie auf den ersten Blick
als Frau in Gebärhaltung ausweisen könnte (Fig. 22).
Ein Blick auf Vasenmalereien zeigt aber, dass breite, auf die Brust fallende Haarlo-
cken durchaus auch für Männer charakteristisch sein können (Fig. 23). Die gespreiz-
ten Beine der Gestalt D erinnern zwar an vollfigurige Keramikgefäße der späten
Nasca-Zeit (Fig. 24), die unbekleidete Frauen in Gebärhaltung zeigen, weisen aber
bei einer tieferen Durchsicht des keramischen Materials ebenfalls nicht eindeutig
81
TRIBUS 54.2005
Fig. 23: Krieger mit auf die Brust
fallenden Haarlocken, eine Fri-
sur wie sie auch für Frauen ty-
pisch ist.
Fig. 24: Vollfiguriges Gefäß der
späten Nasca-Zeit. Es zeigt eine
Frau in Gebärhaltung.
Fig. 25: Gefallener und enthaupteter Krieger mit gespreizten Beinen (links oben zwi-
schen zwei Kriegergestalten). Er liegt auf einem Schlachtfeld inmitten rennender
Krieger, die prachtvoll geschmückt sind. Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit.
auf eine Frau hin. Vasenmalereien zeigen männliche Gestalten mit der gleichen Kör-
perhaltung. Dabei handelt es sich meist um im Kampf gefallene und ihrer Rüstung
beraubte Krieger (Fig. 25) oder aber um männliche und betrunkene Teilnehmer ei-
nes Trinkrituals (Fig. 26).
82
Christiane Ciados: Ein spätnascazeitliches Textil
Fig. 26: Betrunkener Teilnehmer eines
Trinkrituals. Er ist auf den Boden lie-
gend und mit gespreizten Beinen dar-
gestellt.
Fig. 27: Gestalt C, ein weiterer Opfergefangener.
Fig. 28: Eine Vasenmalerei der späten Nas-
ca-Zeit. Sie zeigt zwei unbekleidete Gestal-
ten, die einander an den Haaren packen.
Gestalt D des Textils weist keine Bekleidung auf, was vermutlich damit zu erklären
ist, dass es sich um einen Kriegsgefangenen handelt, dem man ganz nach Nasca-
Brauch die Rüstung abgenommen hat. um sie als Kriegstrophäe zu präsentieren.
Gestalt D wird als Zeichen ihrer Gefangennahme von Gestalt E gepackt. Gleichzei-
tig packt Gestalt C, ebenfalls eine menschliche Gestalt, sie an ihrem Haarschopf. Die
Geste des Haarschopfpackens deutet einen weiteren kämpferischen Konflikt an, der
möglicherweise zu der „Inbesitznahme“ durch die Kriegergestalt E zeitgleich oder
zeitlich versetzt erfolgt. Wie Gestalt D weist auch Gestalt C keine Kopfbedeckung
auf, ist ebenfalls unbekleidet und mit gespreizten Beinen dargestellt (Fig. 27).
Analog zu den beiden liegenden und unbekleideten Gestalten C und D gibt es in
Vasenmalereien der mittleren und späten Nasca-Zeit die Darstellung zweier liegen-
den unbekleideten Gestalten. Dabei handelt es sich um zwei menschliche formal
identische Gestalten, die stets unbekleidet auf dem (Sand-)Boden oder auf der Was-
seroberfläche treibend dargestellt sind (Fig. 28).
Das gelöste Haar beider Gestalten liegt in langen Strähnen auf dem Boden. Beson-
ders bezeichnend aber ist, dass beide Gestalten einander an den Haaren packen, eine
Form der Interaktion, die auch für die Gestalten C und D des Textils des Linden-
Museums zu beobachten ist. Ein Gefäß des Museo Nacional de Antropología, Ar-
queología y Historia in Lima zeigt dieselben Gestalten zu Füssen einer großen men-
schengestaltigen Gottheit liegend (Fig. 29).5 Die geschlossenen Augen zeigen, dass
beide Gestalten, wohl Kriegsgefangene, bereits tot sind, sich jedoch noch im Tod an
eine Gottheit, die dem „fettem Schnitter“ formal sehr nahe steht, siehe Clados 2001:
83
TRIBUS 54,2005
Fig. 30: Eine Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit zeigt ein spitzbodiges Gefäß, aus
dem große Mengen von chicha-Schaum überlaufen.
84
Christiane Ciados: Ein spätnascazeitliches Textil
Fig. 31: Basismotiv B. Es zeigt viermal eine Darstellung des Mythischen Affen.
den Haaren fassen. Beide Gestalten sind unbekleidet und liegen seitens einer Ge-
stalt, die vermutlich im Anschluss an die Opferung der beiden Kriegsgefangenen aus
einem spitzbodigen Gefäß Flüssigkeit entnimmt.
Dass dergleichen Gefäße schäumendes Maisbier (chicha) enthielten, ist einer weite-
ren Vasenmalerei zu entnehmen, die Becher tragende Gestalten seitens eines großen
spitzbodigen Gefäßes zeigt, aus dem große Mengen von chicha-Schaum überlaufen
(Fig. 30).
Die Gestalten C und D desTextils teilen mit den oben beschriebenen Opfergefange-
nen viele der genannten Merkmale, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei
ihnen um Kriegsgefangene handelt, die vor oder während eines c/r/c/ro-Rituals im
Paar geopfert wurden.
Basismotiv B ist im Gegensatz zu Basismotiv A von einfacher Struktur. Es zeigt vier-
mal den bereits oben beschriebenen Mythischen Affen (Fig. 31). Eingedenk der Tat-
sache, dass dieses Wesen in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen gedacht werden
muss, wirkt die viermalige Wiederholung des Affen wie eine mehrfach wiederholte
Beschwörungsformel für den Krieg.
Fig. 32: Eine Vasenmalerei der späten Nasca-Zeit. Sie zeigt eine Darstellung von
Kopflrophäen, aus denen Pflanzen wachsen.
85
TRIBUS 54,2005
3. Diskussion
Ein Vergleich mit den Vasenmalereien der mittleren und späten Nasca-Zeit zeigt, dass
die beiden Gestalten C und D des Textils des Linden-Museums ohne Ausnahme in
Verbindung mit chicha-Ritualen stehen. Es ist davon auszugehen, dass die Opferung
von Menschen - Frauen und Männern - Teil eines Rituals zu Ehren von Gottheiten
der Gestaltenkategorie der „Fetten Schnitter“ war, die vor dem Ausschank von Mais-
bier stattfand. Bei beiden Opfern dürfte es sich um Kriegsgefangene handeln, die, wie
aus dem Basismotiv A des Textils des Linden-Museums hervorgeht, von einem Krieger
(in der Schlacht) „in Besitz“ genommen und wahrscheinlich im betrunkenen Zustand
geopfert wurden. Dabei ist auffallend, dass sowohl die Vasenmalereien als auch das
Textil eine Opferung im Paar zeigt. Dem Opferritual scheint also ein duales Konzept
zugrunde zu liegen und man erinnert sich dabei an Nasca-Gräber, in welchen iden-
tische Gefäße paarweise niedergelegt wurden. Die Szene des Basismotivs A steht ohne
Zweifel auch in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen. Dies ist der Anwesenheit des
Mythischen Affen zu entnehmen, der zur linken Seite beider Opfergefangenen er-
scheint. Das Ritual, das nicht nur die Opferung von Menschen sondern vermutlich
auch die Ausgabe von chicha impliziert, findet zu Füßen des „Fetten Schnitters“ statt,
der gleich einem Feld üppig mit Kulturpflanzen bewachsen ist und im engeren Sinne
als Personifikation des Feldes, im weiteren Sinne als Personifikation der reichen Ernte
gedeutet werden kann. Krieg, Opfer, chicha und reiche Ernte sind stets wiederkehren-
de Themen der Nasca-Ikonographie. Untrennbar sind sie nach den religiösen Vorstel-
lungen der Nasca in einem ständigen Kreislauf miteinander verbunden gewesen.6 Der
Tod des Opfergefangenen als Garant für eine reiche Ernte manifestiert sich u.a. in der
Darstellung von Kopftrophäen, aus deren geöffneten Mündern Kulturpflanzen wach-
sen (Fig. 32). Der Ausschank von Maisbier dürfte ein mit der Bewässerung der Felder
korrespondierender Akt gewesen sein. Der ursprüngliche Eigentümer des Textils war
ein hochrangiges Mitglied der Nasca-Gesellschaft, das vermutlich an Ritualen partizi-
pierte, wie sie das Textil des Linden-Museums abbildet. Keramiken der späten Nasca-
Zeit zeigen, dass Männer wie Frauen aufwendig gearbeitete Mäntel trugen. Einige
dieser Personen können ohne Zweifel als Verkörperungen von Schnittergestalten ge-
deutet werden (Fig. 33).
Die späte Nasca-Zeit war von großen politischen Veränderungen geprägt, die, teil-
weise hervorgerufen durch die Expansion des Wari-Imperiums, auch zur Intensivie-
rung von Konflikten innerhalb des Nasca-Territoriums führte. Es ist daher nicht ver-
wunderlich, dass Darstellungen von kriegerischen Auseinandersetzungen und auch
solche des Mythischen Affen überaus häufig sind. Ebenfalls verwundert es nicht,
dass der Mythische Affe die Nasca-Zeit überdauert, mit nur geringen formalen Ver-
änderungen in die Wari-Ikonographie Eingang findet, und dort letztlich zu einer der
bedeutendsten Gestalten des Wari-Pantheons avanciert (Fig. 34).7
Viele Elemente wie die Darstellung des
Mythischen Affen, des Kriegers und der
im Paar Geopferten lassen das Textil ein-
deutig in die späte Nasca-Zeit datieren.
Fig. 33: Hochrangige Person mit Trach-
tenmerkmalen eines Schnitters.
6 siehe auch Carmichael 1994:85
7 Menzel 1964: lam. XXVI, fig. 33
Fig. 34: Mythischer Affe auf einem Ge-
fäß der Wari-Zeit. Er zeigt die gleichen
Körpermerkmale wie sein Vorgänger in
der Nasca-Zeit.
86
Christiane Clados: Ein spätnascazeitliches Textil
Gleichzeitig lassen sich aber die Wiederaufnahme alter Gestaltungsprinzipien, näm-
lich der der mehr als 600 Jahre älteren Paracas-Kultur, erkennen, und belegen eine
Renaissance alter Traditionen.
4. Schluss
Der „barocke“ Dekor des faszinierenden Textils des Linden-Museums, ein manto der
späten Nasca-Zeit, entpuppt sich als die Darstellung eines mit der reichen Ernte in
Verbindung stehenden Wesens, dem „Fetten Schnitter“, und eines ihm zu Ehren vollzo-
genen Rituals, das die Opferung von Kriegsgefangenen und den Ausschank von Mais-
bier impliziert. Die einzelnen Bestandteile der zwei Basismotive - Krieger-Opfergefan-
gene. Mythischer Affe und Schnittergestalt - stehen stellvertretend für die religiösen
Konzepte Krieg, Menschenopfer, Bewässerung und reiche Ernte. Diese Konzepte bil-
deten die machtpolitische Grundlage der Nasca-Gesellschaft. Das Tragen jenes pracht-
vollen Textils war nicht nur ein Ausdruck für die Hochrangigkeit seines Trägers, sondern
führte zugleich entscheidende Kernaussagen der Nasca-Liturgie bildlich vor Augen.
Abbildungsverzeichnis
Fig. 1. Photo Archiv Referat Altamerika, Linden-Museum
Fig. 2-7,9,10-16,18-32. Zeichnungen Clados
Fig. B.Tello 1959, Fig. 92
Fig. 17. Rossel Castro 1977:157, Fig. 31
Fig. 33. Seler 1923, VI, 264, Nr.209-10
Fig. 34. Menzel 1964, lam. XXVI, fig. 33
Literatur
Baessler. Arthur
1902/03 Altperuanische Kunst. Beiträge zur Archäologie des Inka-Reiches nach sei-
nen Sammlungen. 4 Voln. Berlin: K. Hiersemann und A. Fischer
Carmichael. Patrick
1994 The Life From Death. Continuum in Nasca Imagery. Andean Past 4: 81-90.
Clados, Christiane
2001 Der Nasca-Ikonenkomplex. Seine mythischen Gestalten und ihre Entwick-
lung, erschlossen aus den Darstellungen gegenständlicher Bildwerke. Un-
veröffentlichte Diss. Microfiche. Lateinamerika-Institut, Freie Universität
Berlin.
Knobloch. Patricia
2004 Monkey Saw, Monkey Did. A Stylization Model For Correlating Nasca And
Wari Chronology. Andean Past 7.
Lieske, Bärbel
1989 Studien zu Darstellungsprinzipien in den Gefäßmalereien der Altperua-
nischen Moche-Kultur. Berlin.
1992 Mythische Erzählungen in den Gefäßmalereien der altperuanischen Moche-
Kultur. Bonn.
2001 Göttergestalten der altperuanischen Moche-Kultur. LAI. Freie Universität
Berlin. Berlin.
Lyon, Patricia
1966 Innovation Through Archaism. The Origins Of the lea Pottery Style. Nawpa
Pacha, 4:31-62.
Menzel, Dorothy
1964 Style And Time in the Middle Horizon. Nawpa Pacha, 2:1-105. New Data on
the Huari Empire in Middle Horizon Epoch 2A. Nawpa Pacha, 6: 47-114.
Berkley: Institute of Andean Studies.
87
TRIBUS 54,2005
Paul, Anne
1991 Paracas Ritual Attire. University of Oklahoma Press. Normand (London).
Paulsen, Allison
1964 A Middle Horizon Tomb, lea Valley, Peru. Nawpa Pacha. Vol.4. Berkeley:
1-13.
1983 Huaca del Loro Revisited: The Nasca-Huarpa connection. In: Sandweiss, an
(Hrsg.): Investigations of the Andean Past: 98-112. Latin American studies
Program. Ithaca; Cornell University.
Proulx, Donald
1992 Die Ikonographie von Nasca. Inka-Peru. 3000 Jahre indianische Hochkul-
turen. Ausstellungskatalog. Berlin: Haus der Kulturen der Welt.
Reindel, Markus / Cuadrado, Johny Isla
2001 Los Molinos und La Muña. Zwei Siedlungszentren der Nasca-Kultur Bei-
träge zur Allgemeinen und Vergleichenden Archäologie. Bd. 21. Mainz:
Philipp von Zabern Verlag.
Roark, Richard P.
1964 From Monumental to Proliferous in Nasca Pottery. Nawpa Pacha 3: 1-92.
Berkeley.
Rossel Castro, Alberto
1977 Arqueología Sur del Peru. Lima, 1977.
Sawyer, Alan R.
1961 Paracas and Nasca Iconography. In: Essays on Pre-Columbian Art ans Ar-
chaeology: 269-316. Cambridge.
1997 Early Nasca Needlework. London.
Seler, Eduard
1902-23 Gesammelte Abhandlungen zur Amerikanischen Sprach- und Alterthums-
kunde. Bd. IV. Berlin: Behrend & Co.
Silverman. Heiaine
1993 Cahuachi in the Ancient Nasca World. Iowa City.
Tellenbach. Michael
2002 An die Mächte der Natur. Mythen der altperuanischen Nasca-Indianer. Pu-
blikationen der Reiss-Engelhorn Museen. Bd. 5. Mainz: Philipp von Zabern
Verlag.
Tello, Julio C
1959 Paracas. Primera Parte. Lima.
Wolfe, Elizabeth P.
1981 The Spotted Cat and the Horrible Bird, Stylistic Change in Nasca 1-5 Cera-
mic Decoration. Nawpa Pacha 19:1-62. Berkeley.
88
HERMANN FORKE
Erwiderung auf Hans Kuebler/Elke Wachendorff: Cui bono
- in der Tat! Quelle Don Quichoterie. Tribus 52,2003, S. 206-09.
1. Was die in der Pforzheimer Ausstellung präsentierte Reiterplatte aus Messing im
Benin-Stil angeht (Kuebler/Wachendorff 2003: 207), so bezog sich mein Hinweis auf
den nicht vorhandenen mitgegossenen Steg zur Absicherung nie auf den Zügel an
dem abgebildeten Pferd, sondern immer nur auf das von dem Zügel selbst zu unter-
scheidende Zügelkettchen (vgl. Forkl 2002a: 92-93). Auf diesen Unterschied hat
Herr Professor Michel Herrn Dr. Kuebler schon mehrmals hingewiesen, zuletzt in
meinem Beisein anläßlich eines Besuches von Herrn Dr. Kuebler im Linden-Muse-
um am 10.VII.2002.
2. Herr Hornberger hat mich nie darauf hingewiesen, daß er in Zürich seinerzeit in
den Räumen der Galerie Wahl eine ganz andere Ife-Halbbüste gesehen und kommen-
tiert hätte, als diejenige aus dem Besitz der Stiftung (Kuebler/Wachendorff 2003:207).
Vielmehr wies er mich darauf hin. daß in der Galerie Wahl in der Zwischenzeit meh-
rere solcher Torsi im Ife-Stil aufgetaucht seien. Aus diesem Grund warnte er mich
ferner davor, daß diese Tatsache von interessierter Seite dazu benützt werden könn-
te, sowohl ihn als auch mich in unserer Argumentation zu verunsichern. Und genau
das haben Kuebler und Wachendorff in ihrem Beitrag gegen mich zu unternehmen
versucht.
3. Mit ihrem Vorwurf meiner angeblich irrelevanten Detailkritik in meinem Rezensi-
onsartikel über Huntingtons Clash of Civilizations (Forkl 2002b) riskieren Kuebler
und Wachendorff (2003: 209) den Eindruck zu erwecken, daß sie nicht nur das in
jeglicher Wissenschaft unverzichtbare Handwerk der Quellenkritik, sondern auch
Völkermorde wie die an den südafrikanischen San oder im bosnischen Srebrenica
bagatellisieren wollten.
4. Wer sich mit Syntagmen aus fremden Sprachen schmücken will, wie Kuebler und
Wachendorff (2003: 206) schon im Titel ihres Beitrags, sollte die entsprechende
Fremdsprache beherrschen oder wenigstens ein Wörterbuch konsultieren. Nicht
Quelle Don Quichoterie müßte es heißen sondern korrekt französisch Quel donqui-
chottisme. Nur donquichottisme findet sich in französischen Wörterbüchern. Donqui-
chotterie (österr. Donquichoterie) dagegen wiederum nur in Wörterbüchern der
deutschen Sprache. Ist doch Donquichotterie nichts weiter als eine französieren-
de Kunstwort-Schöpfung der deutschen Sprache des 19. Jahrhunderts, vergleichbar
den vielen Neologismen, wie sie uns mit dem ..Denglischen“ unserer Tage ständig
zugemutet werden.
Zitierte Literatur (Abkürzung: T = Tribus)
Forkl, Hermann
2002a Cui Bono? - Kritische Anmerkungen zu Datierungsverfahren für die
Sonderausstellung Ife, Akan und Benin im Schmuckmuseum Pforzheim
(2000). T 51, S. 90-105.
2002b Über den Umgang mit Phantomdaten und den Rückschritt in den Sozial-
wissenschaften. T 51, S. 106-13.
Kuebler, Hans / Wachendorff. Elke
2003 Cui bono - in der Tat! Quelle Don Quichoterie. T 52, S. 206-09.
89
SAIDA 1LYASOVA und RAWSCHAN IMAMBERDYEV
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann und Maryam Ilyasova.
Eine Sammlung glasierter Keramik aus Taschkent
In der Liste der Waren, die im 10. Jh. aus Chorasan und Mäwarä al-Nahr eingeführt
wurden, hält der arabische Reisende Abu ‘Abd Alläh Muhammad bin Ahmad
Muqaddasi fest, dass es „nichts gibt, was [...] mit den Bogen aus Chorasm, der Ton-
ware aus Schäsch und dem Papier aus Samarkand vergleichbar wäre“ (Muqaddasi
1994, S. 287; Barthold 1977, S. 236; Materialy 1939. S. 202). Dieser kurze Hinweis auf
die Tonware ist grundsätzlich bemerkenswert (Schischkina 1979, S. 69), erhält hier
aber insofern besonderes Gewicht, als sich Muqaddasi durchaus auf die glasierte
Keramik aus der Taschkenter Oase und seiner mittelalterlichen Hauptstadt Binkath
(das heutige Taschkent) beziehen könnte.
Die glasierte Keramik aus Schäsch (oder Tschatsch) ist bereits Gegenstand verschie-
dener Artikel und einer speziellen Monographie gewesen (Brusenko 1973, S. 86-101;
Brusenko 1975, S. 121-127; Brusenko 1976. S. 80-114; Brusenko 1986). Hinzu kommen
neuere Materialien, denen eine Konkretisierung unserer Vorstellungen von der Viel-
fältigkeit und der hohen Qualität des glasierten Geschirrs aus Schäsch zu danken ist.
Um das Töpferhandwerk dieser Region, das in der einschlägigen Literatur des We-
stens kaum bekannt ist (Pope 1939. S. 1475-1481), vorzustellen, wurde bereits eine
kleinere Sammlung glasierter Keramik aus Binkath veröffentlicht, die im Museum
für Orientalische Kunst in Moskau aufbewahrt wird (Ilyasova, Wischnewskaya 2002,
S. 114-126). Die vorliegende Arbeit will daran anknüpfen, indem hier Funde, die im
Gebiet Taschkents bei Bauarbeiten gemacht wurden und in der Sammlung der
Künstlerstiftung Usbekistans waren, publiziert werden.
Nachdem die Gefäße vollständig mit weißer Engobe überzogen worden waren, wur-
de eine ein- oder mehrfarbige Engobe-Bemalung aufgetragen, bevor die Stücke
dann glasiert wurden. Die Glasur ist farblos und reicht an der Außenseite aller Ge-
fäße, außer der Schale Nr. 17, bis zum Fußteil. Die Verzierung erlaubt eine Untertei-
lung in drei Gruppen: Keramik mit epigraphischem, mit zoomorphem und mit
Mündungsdurchmesser (D) = 15 cm, Boden-
durchmesser (d) = 5 cm, Höhe (H) = 6 cm.
Dunkelbraune Bemalung, Einkrat-
zungen.
Inschrift in einfacher kufischer Schrift:
harakatun wa ni‘ma[tun wo] salämatun
lisähibihi
(„Segen und Güte und Sicherheit
dem Besitzer“1)
Die Spitzen der Buchstaben weisen zur
Gefäßmitte. Anfang und Ende der Inschrift
werden durch einen vertikalen, schnurar-
tigen Streifen markiert. Es handelt sich um
eine typische Segensformel auf der Kera-
mik der samanidischen Periode (Bolscha-
kov 1958, S. 27-30, Abb. 4; Bolschakov
1963a, S. 73-79). O.G. Bolschakov vergleicht die Schrift des Stücks mit den kufischen
Schriften der Korane und datiert Gefäße mit entsprechenden Inschriften ins 9. Jh.
(Bolschakov 1963b, S. 38). Die Schale datiert ins 9. Jh.
pflanzlich-geometrischem Ornament.
Gefäße mit epigraphischem Ornament
1. Konische Schale (Abb. 1).
Ahh. 1
1 Lesen und Übersetzung der Inschriften von Dr. Jangar Ilyasov.
91
TRIBUS 54,2005
2. Konische Schale (Abb. 2).
D = 20 cm, d = 9 cm, H = 6,6 cm. Dunkel-
braune Bemalung, Einkratzungen.
Inschrift in einfacher kufischer Schrift
und mit allen diakritischen Zeichen.
al-hirsu 'aläniyatu l-faqri
(„Gier ist die Äußerung der Armut“).
Die Spitzen der Buchstaben weisen zur
Gefäßmitte. Anfang und Ende der In-
schrift werden durch einen schmalen ver-
tikalen, schnurartigen Streifen markiert.
Sowohl dieser Aphorismus wie auch seine
Variante „Gier ist das Kennzeichen der
Armut“ (al hirsu 'alämatu l-faqri) werden
dem Imam Ali ibn Abi Talib zugeschrie-
ben. Im 9.-10. Jh. zierte er etliche Gefäße
Abb. 2 im Staat der Samaniden, so in Mäwarä al-
Nahr und im östlichen Chorasan. Solche
Stücke begegnen in Binkath, Achsikath, Chudschand,Tschaghanian, Samarkand und
Nischapur (Bolschakov 1963b, S. 45, Taf. 4, i; Zeimal 1985, S. 327, Nr. 838; Brusenko
1986, Abb. 23,5,35,2; Ghouchani 1986, Nr. 1,18,71,122; Ilyasov 1992, S.32; Ilyasova u.
a. 2000, S. 235, Abb. 4,3; Ilyasov, Ilyasova 2001, S. 25; Ilyasova, Ilyasov 2002, S. 114)2.
Das Stück datiert ins 9. Jh.
3. Große konische Schale (Abb. 3).
D = 44 cm, d = 19 cm, H = 14 cm. Inschrift
in einfacher kufischer Schrift auf weißem
Untergrund.
Die Inschrift besteht aus zwei Sätzen, die
im Kreis angeordnet und durch zwei trop-
fenförmige Figuren voneinander getrennt
sind. Die Spitzen der Buchstaben weisen
zur Gefäßmitte. Das Stück ist fast voll-
ständig erhalten.
lä Imin fi l-mäli idhä lam yakun ‘inda
hawwä dhä likaffi wahhäbu, bil-yumni
[wa] l- barakatu
(Vorgeschlagene Übersetzung: „Es gibt
kein Heil im Reichtum, wenn er nicht
freigiebigen Händen gehört. Mit Glück
Abb. 3 und Segen“) (Ilyasov, Ilyasova 2001, S.
29; Ilyasov, Imamberdiev 2002, S. 125—
126, Abb. la,2).
Ein analoger Aphorismus findet sich auch auf dem glasierten Gefäß mit Reliefverzie-
rung, das im Irak oder im Südwesten des Iran im 9. Jh. hergestellt wurde. Dieses Stück
wurde bei Sotheby‘s zum Verkauf angeboten (Sotheby's 1996. S. 24f, Nr. 38).
Die Form, Art der Verzierung und der Schriftstil erlauben eine Datierung der Schale
aus Binkath ins 9. - Beginn des 10. Jh. (Schischkina 1979, S. 53; Brusenko 1986, S. 54).
2 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Bolschakov die Inschrift auf der Kanne aus Samarkand als
mit orthographischen Fehlern behaftete Kopie der Inschrift „Großzügigkeit ist die Seelenei-
genschaft der Paradiesbewohner“ auffasst.
92
Saida Ilyasova und Rawschan Imamberdyev: Eine Sammlung glasierter Keramik
4. Konische Schale mit Ringfuß (Abb. 4).
D = 35 cm, d = 14 cm, H = 14,4 cm. Schwar-
ze und rote Bemalung.
Inschrift in einfacher kufischer Schrift,
die Spitzen der Buchstaben weisen zur
Gefäßmitte.
al-güdu min ahläqi ahli ‘l-ganna, al-
salä[matu]
(“Großzügigkeit ist die Seeleneigen-
schaft der Paradiesbewohner. Sicher-
heit“). Das Wort al-salä[matu] („Si-
cherheit“) wird von der übrigen In-
schrift durch zwei schmale tropfenför-
mige Figuren abgesetzt.
Vier kurze Inschriften in roter Farbe, die
in Bodennähe ausgeführt sind, stellen
Abb. 4 eine willkürliche Wiederholung von zwei
bis drei Buchstaben dar.
Der Aphorismus „Großzügigkeit ist eine (der) Seeleneigenschaft(en) der Paradies-
bewohner“ ist vielfach auf der Keramik der samanidischen Periode anzutreffen
(Bolschakov 1963b. S. 37-46, Abb. 2, Taf. 2-4; Ghouchani 1986. Nr. 3, 27, 41, 55, 68,
101,126,139)3 und begegnet auch auf der Keramik aus Binkath (Ilyasova u. a. 2000,
5. 233, Abb. 4,1; Ilyasova, Wischnewskaya 2002, S. 121, Abb. 4).
Auf Grund der Form und des Schriftstils (Schischkina 1979, S. 53. Taf. 14,13; Brusen-
ko 1986, S. 54,Taf. 29) kann die Schale Nr. 4 ins Ende des 9. - Beginn des 10. Jh. da-
tiert werden.
5. Große, konische Schale, dessen Boden nicht erhalten ist (Abb. 5 - Gefäßinneres;
Abb. 6 - Seitenansicht).
D = 40 cm. H = 9 cm. Bemalung in dunkel-
braunen und roten Farbtönen, zudem
grüne Flecke.
Den Flintergrund der Inschrift nehmen
Figuren unterschiedlicher Form ein, de-
ren Umrisse von einer dünnen roten Li-
nie gebildet werden. Ihr Inneres ist mit
einem ,Augenornament4 (oder einem
.Pfauenauge4) und kleinen dunkelbrau-
nen Tupfen verziert, was für die Keramik
Schäschs aus der zweiten Hälfte des 9. -
ersten Hälfte des 10. Jh. charakteristisch
ist (Brusenko 1986, S. 47,50,55).
Abb. 5
3 M. Rogers datiert die Schale mit diesem Aphorismus aus der Sammlung Nasser D. Khalilis
unter Hinweis auf Parallelen zu entsprechenden Handschriften ins 11. Jh. (Vrieze 1999, S. 88f,
Nr. 23). Dagegen ließe sich einwenden, dass dieses Gefäß mit einer Inschrift in einfacher kufi-
scher Schrift versehen ist und in Form und Verzierung uneingeschränkt den Schalen aus dem 9.
Jh. entspricht. Zudem haben archäologische Untersuchungen gezeigt, dass am Ende des 10. -
Beginn des 11. Jh. lange gebundene Inschriften oder Aphorismen völlig in Vergessenheit gera-
ten sind (Schischkina 1979, S. 53-56.).
93
TRIBUS 54.2005
Die Mündung ist mit einer Borte aus alternierenden, roten und dunkelbraunen Za-
cken verziert. Für diese sehr seltene Form der Verzierung lässt sich eine Analogie zu
der großen Schale aus dem 10. Jh. aus der Sammlung der Freer Gallery of Art in
Washington ziehen (Atil 1973, S. 36f, Nr. 12; Ghouchani 1986, Nr. 23). Darüber hinaus
lassen sich beide Gefäße gut in Form, Größe, in der Art der Ornamentierung und der
farblichen Gestaltung sowie durch die Aufbringung hellgrüner Flecken vergleichen.
Auffällig ist allerdings die Verzierung der Außenseite in Form großer ovaler und
rhombenförmiger Figuren, die mit „Schuppen“ mit großen dunkelbraunen Flecken
ausgefüllt sind (Abb. 6).
Die Schale stellt ein für die glasierte Keramik der samanidischen Ware aus Mäwarä
al-Nahr seltenes Exemplar dar. Sie ist mit zwei Inschriften verziert, die Buchstaben-
spitzen weisen zur Gefäßmitte. Die erste Inschrift ist in einfacher kufischer Schrift in
dunkelbrauner Farbe ausgeführt. Der Aphorismus lautet:
idhä l-mukärimu fi a[hlih?]äfamä as[ra?]ka fimä yadrihu l-masalu
(„Wenn jemand großzügige Leute rühmt, hat er recht“) (Ilyasov, Ilyasova 2001, S. 29;
Ilyasov, Imamberdiev 2002, S. 126f, Abb. l,b, 3,a-c).
Die zweite Inschrift ist in roter Farbe in der sogenannten ,keramischen Kursive1 ge-
halten:
harakatun li-ahiga'far bin ‘aziz
(„Segen dem Abu Dshafar bin Aziz“) (Ilyasov, Ilyasova 2001, S. 27, 29; Ilyasov,
Imamberdiev 2002, S. 126f, Abb. l,b, 3,d).
Die beiden Inschriften werden durch eine mandelförmige Figur voneinander abge-
setzt. Das Gefäß ist insofern einmalig, als hier erstmals ein Segensspruch ausgeführt
ist, der auf eine konkrete Person referiert. Aber auch der Aphorismus ist für die
bisherige samanidische Keramik aus Chorasan und Mäwarä al-Nahr nicht belegt. Es
bleibt zu hoffen, dass neue Funde das Lesen und die Übersetzung dieses Aphorismus
weiter präzisieren werden.
Das Gefäß datiert in die erste Hälfte des 10. Jh.
6. Schale mit umgebogener Wand und leicht eingezogenem Fußteil (Abb. 7).
D = 40 cm, d = 15 cm. H = 11,5 cm.
Am Boden ist in dunkelbrauner und
ocker-roter Farbe eine einzeilige Inschrift
in keramischer Kursive ausgeführt. Bei
ihr dürfte es sich um einen Namen oder
ein Epitethon mit dem Element Abu
(„Vater“ oder „Besitzer“) handeln.
Das Stück datiert ins 10. Jh.
Abb. 7
94
Saida Ilyasova und Rawschan Imamberdyev: Eine Sammlung glasierter Keramik
7. Kanne mit breitem Hals, Inschrift und geometrisch-pflanzlicher Verzierung
(Abb. 8).
D = 14 cm, d = 8 cm. H = 19,5 cm. maxima-
ler Durchmesser des Körpers = 16,5 cm.
Dunkelbraune und rote Bemalung auf
weißem Untergrund bei anschließender
Glasierung. Einkratzungen.
Die Inschrift in „blühendem Kufi“ bedeu-
tet: „Großzügigkeit ist die Seeleneigen-
schaft der Paradiesbewohner“.
Das Motiv - Palmetten und eine Wellenli-
nie mit Knoten - wurde im 10. Jh. häufig
für die Verzierung von Gefäßen aus Bin-
kath, Samarkand und Nischapur gewählt
(Wilkinson 1973, S. 112, Abb. 12; Brusenko
1986, Taf. 11,2; 23,8; Schischkina 1986, Abb.
25,2,6, 26,3; Ghouchani 1986, Nr. 3. 10, 49;
Folsach 1990, S. 84, Nr. 69; 70; Ilyasova, Wi-
Ahb. 8 schnewskaya 2002, S. 118, Abb. 1, 2). Auch
die „blühenden Kufi“-Inschriften waren
ausgesprochen populär, um die Keramik aus Binkath zu verzieren (Ilyasova, Wisch-
newskaya 2002, S. 114-120, Abb. 1-3).
Kannen von dieser oder ähnlicher Form mit epigraphischer Verzierung wurden in
Chorasan und Mäwarä al-Nahr während der samanidischen Periode hergestellt
(Ghouchani 1986, Nr. 95, Schischkina, Pavchinskaja 1992. S. 30, 55, 91, Nr. 134. 145—
147). Im Irak wurde im 10. Jh. Lüsterkeramik mit vergleichbarer Form hergestellt
(Grube 1976, S. 63, Nr. 23).
Die Kanne aus Binkath kann ins 10. Jh. datiert werden.
Gefäße mit zoomorphen Darstellungen
8. Halbkugelige Schale mit flachem Fußteil (Abb. 9).
Abb. 9
D = 26 cm, d = 11 cm. H = 6,4 cm. Bema-
lung mit verschiedenen Brauntönen und
zerflossenen grünen Flecken.
Bei der Darstellung handelt es sich um
einen stilisierten Vogel (Pfau?), dessen
Schwanz und Flügel fächerartig darge-
stellt sind. Für die Borte am Mündungs-
rand sind bislang keine Vergleiche be-
kannt. Die Art der Verzierung erinnert
insgesamt stark an die von Schale Nr. 5,
wurde doch auch hier ein Streifen entlang
der Mündung mit Punkten ausgefüllt, das
Motiv des „Pfauenauges“ für die Verzie-
rung des Vogelkörpers gewählt und grüne
Flecke aufgetragen. Für die Keramik aus
Schäsch ist zudem die Verzierung des
Hintergrunds mit Strichen charakteri-
stisch, wie sie hier für den Körper und
Schwanz des Vogels gewählt wurde
(Schischkina 1979, S. 54; Brusenko 1986. S.
47,50,55). Die Schale datiert ins 10. Jh.
95
TRIBUS 54,2005
9. Konische Schale mit scheibenförmigem Fußteil (Abb. 10).
D = 22 cm, d = 9,6 cm, H = 6,2 cm. Bema-
lung in olivgrünen Farbtönen. Details und
die Konturen sind durch dunkle rotbrau-
ne Linien widergegeben.
Die Darstellung zeigt einen Vogel mit
Doppelschopf, einem großen blattartigen
Flügel und gespaltenem Schwanz, der
dem eines Fischs ähnelt. Um die Figur he-
rum sind Flalbpalmetten und ein Kreis
mit in zwei Richtungen abgehenden
Dreiblättern ausgeführt, den sonstigen
Hintergrund nehmen mit „Augen“ und
Punkten versehene Figuren ein. Die Mün-
dung ziert eine Borte aus Halbkreisen
und Flechtwerk. Vor dem Aufträgen der
Glasur wurde die Bemalung zur Verzie-
rung eingekratzt. Die Außenseite ist mit
schwarzen Halbkreisen und roten Tropfengebilden versehen, die in vertikalen Rei-
hen angeordnet sind.
Analoge, in olivgrünen und dunkelbraunen Tönen gehaltene Vogeldarstellungen fin-
den sich auf einzelnen Fragmenten aus Taschkent (Zilper 1976, S. 54, Abb. 22, 1,6;
Brusenko 1975, Abb. 1, la; Brusenko 1986,Taf. 46,1,4).
Die Schale zeigt abermals, wie beliebt dieses Motiv bei den Töpfern in Binkath war.
Darüber hinaus sind aus dieser Gegend Gefäße mit anderen Vogeldarstellungen be-
kannt, die in olivgrünen Tönen ausgeführt sind und eine vergleichbare Verzierung
des Hintergrunds aufweisen (Brusenko 1986, S. 72, Taf. 45,3; Abdullaev u. a. 1991, S.
182, Nr. 715).
Die Schale datiert ins 10. Jh.
Abb. 10
10. Fragment vom Bodenteil einer Schale mit Vogeldarstellung und leicht angedeu-
tetem Ringfuß (Abb. 11).
D = 11 cm. Bemalung in Braun- und Rot-
tönen.
Der Körper ist mit Strichen verziert, in
diese sind Blätter und Spiralen einge-
streut. Bislang sind uns keine anderen
vergleichbaren Vogeldarstellungen be-
kannt.
Aufgrund der Art der Verzierung kann
die Schale ins 10. Jh. datiert werden.
Abb. 11
96
Saida Ilyasova und Rawschan Imamberdyev: Eine Sammlung glasierter Keramik
Abb. 12 a, b, c
11. Kleine Schale mit Vogeldarstellung (Abb. 12a).
D = 11,5 cm, d = 4,6 cm, H = 4,4 cm. Bemalung in roter, dunkelolivgrüner und dun-
kelbrauner Farbe.
In der Mitte ist eine schematisierte Vogeldarstellung ausgeführt, in die ein roter
Kreis mit weißen Punkten integriert ist. Um die Darstellung zieht sich Flechtwerk.
Die Mündung des Gefäßes ist mit einer gezahnten Borte versehen.
Verschiedene Elemente der Verzierung wie beispielsweise die Ausfüllung eines Seg-
ments mit Spiralen datieren das Gefäß ins 10. Jh. (Schischkina 1979, S. 60,Taf. 68,6).
Die Vogeldarstellungen auf Erzeugnissen der angewandten Kunst aus Mäwarä al-Nahr
hatten offenbar nicht nur eine dekorative, sondern auch eine apotropäische Funktion.
Sie greifen ferner auf traditionelle Vorstellungen zurück, denen zufolge Tiere Segens-
bringer sind. Die Quellen zahlreicher zoomorpher Kompositionen auf glasierter Kera-
mik sind in den Sujets der Lüsterkeramik aus dem Irak und dem Westiran des 9.-10.
Jh. zu suchen (Kühnei 1925. Abb. 36; Grube 1976, S. 63,67,69, Nr. 23,29,30,32; Schisch-
kina 1979, S. 60; Caiger-Smith 1985, Abb. 7,8a, 13,Taf. III;ßrusenko 1986, S. 74).
Die Vogeldarstellungen auf der Keramik aus Schäsch können durchaus variieren
und weisen nach L.G.Brusenko bestimmte lokale Besonderheiten auf (Brusenko
1986, S. 75).
Die hier veröffentlichten Exemplare zeigen, wie die Meister aus Binkath ihre Stücke
weiter entwickelt haben und welche lokalen Varianten es für die Gestaltung der or-
nithomorphischen Verzierung gegeben hat.
Gefäße mit pflanzlich-geometrischem Ornament
12. Miniaturbecher mit auskragender Mündung (Abb. 12b).
D = 10 cm, d = 4,4 cm, H = 2,8 cm. Bemalung in roten und dunkelbraunen Farbtönen.
Das Gefäß ist mit vier miteinander verflochtenen Ovalen und an der Außenseite mit
roten Wellenlinien verziert. Das Motiv von zwei miteinander verflochtenen Ovalen,
der sogenannte Salomon-Knoten, ist für die Keramik und Toreutik aus dem 10. — 11.
Jh. ausgesprochen charakteristisch. Die aufwendigere Variante mit vier Ovalen gibt
es auf dem Gefäß aus Taschkent aus der zweiten Hälfte des 10. - Beginn des 11. Jh.
(Brusenko 1986, Taf. 37,2). Außerdem kann man das gleiche Motiv auf einer Schale
aus dem 10. Jh. aus der Freer Gallery of Art erkennen (Atil 1973, S. 32f, Nr. 10).
13. Halbkugeliger Becher (Abb. 12c).
D = 13,4 cm, d = 5,4 cm. H = 4,8 cm. Dunkelolivgrüne Bemalung. Verzierung des
Hintergrunds mit Punkten.
Die Innenseite des Gefäßes lässt die Darstellung von schmalen, miteinander ver-
flochtenen Ovalen und schematisierten Palmetten erkennen. Ein ähnliches Motiv,
das den Salomon-Knoten und eine Svastika aus Pflanzentrieben miteinander verbin-
det, ist für die Keramik Taschkents aus dem 10. Jh. bekannt (Brusenko 1986, Taf.
23,10,32,21).
97
TRIBUS 54,2005
14. Krug mit flachem zylindrischem Körper auf einem Ringfuß und einem runden, in
einen flachen, rhombischen Zapfen auslaufenden Griff (Abb. 13).
D = 18,0-18,5 cm, d - 10,8
cm, H = 12,2 cm. Dunkelo-
livgrüne und rote Bema-
lung, Einkratzungen.
Bei dem Ornament han-
delt es sich um einen Strei-
fen aus Palmetten, den
Zapfen ziert ein fächerar-
tiges Bouquet. Solche Krü-
ge waren in Schäsch in der
ersten Hälfte des 10. Jh.
verbreitet. Häufig wiesen
sie auch eine epigraphische
Abb 7? Verzierung auf (Brusenko
1986, S. 46,Taf. 30,7; Ilyaso-
va u. a. 2000. S. 229f, Abb. 3,7). Ein Krug aus Otrar mit vergleichbar verziertem Zap-
fen datiert ins 10.-11. Jh. (Baipakov, Erzakovich 1991, S. 106).
Brusenko siedelt das Aufkommen der Gefäße, die eine Bemalung aus olivgrünen
und ocker-roten Tönen zeigen, in Schäsch in der Mitte des 10. Jh. an (Brusenko 1986,
S. 51); damit kann der hier betrachtete Krug in den Zeitraum von Mitte - zweite
Hälfte des 10. Jh. datiert werden.
15. Halbkugelige Schale mit Ringfuß (Abb. 14).
D = 30 cm, d = 12 cm, H =
9,8 cm. Bemalung in dun-
kelbrauner, olivgrüner und
ocker-roter Farbe, Einkrat-
zungen.
Die Innenseite lässt eine
Wirbelrosette mit aufwen-
diger Umrahmung erken-
nen, die Mündung ziert
eine gezahnte Borte, die
Außenseite ein Muster, in
dem einfache Bouquets
und vertikale Streifen ei-
ner Pseudoinschrift alter-
nieren.
Abb. 14 Im 10.-11. Jh. fand das
Motiv der Wirbelrosette in
den nordöstlichen Gegenden Zenlralasiens wie Fergana, Südkasachstan und Tasch-
kent-Oase die stärkste Verbreitung, während es in Sogdien erst in der zweiten
Hälfte - Ende des 10. Jh. aufkam. Die Innenseite der Schale aus Nischapur lässt
eine Rosette erkennen, die Außenseite verschiedene Bouquets und Pseudoin-
schriften; Wilkinson spricht das Stück als Produkt von Meistern aus Samarkand an,
während Schischkina in ihm ein Erzeugnis aus Schäsch sieht (Schischkina 1979, S.
58,Taf. 61.1-3). Brusenko vermutet, dass die Komplizierung des Motivs der Wirbel-
rosette. umrahmt von einem Doppelkreis, in Schäsch seit der zweiten Hälfte des 10.
Jh. geschieht. Und dass am Ende des 10. - in der ersten Hälfte des 11. Jh. der kon-
zentrische Kreis, der die Rosette umrahmt, verschwunden ist und nur noch eine
grob ausgeführte Umrahmung aus zwei Spiralen geblieben war; später wurde die
Außenfläche der Schalen mit vereinfachten Bouquets und Streifen einer Pseudoin-
schrift verziert (Brusenko 1986. S. 56f, Taf. 38,9). Offenbar kann man diese Folge-
rungen nicht für endgültig halten, da man auf der hier betrachteten Schale sowohl
98
Saida Ilyasova und Rawschan Imamberdyev: Eine Sammlung glasierter Keramik
diese Elemente, als auch sorgfältig ausgeführte und fein und kompliziert umrahmte
Wirbelrosetten findet.
Unser Gefäß unterscheidet sich offensichtlich mit seinem Dekor von üblichen Vari-
anten der Schalen mit Wirbelrosetten (Senigova 1972, S. 156, Taf. 11,86-94; Schisch-
kina 1986, Abb. 29,2,4; Brusenko 1986, Taf. 37,3,4; Ilyasova, Wischnewskaya 2002, S.
122, Abb. 8); es kann in das Ende des 10.
16. Teller auf einem Ringfuß (Abb. 15).
Abb. 15
Anfang des 11. Jh. datiert werden.
D = 41,6 cm, d = 15,6, H = 6. Unterglasur-
Bemalung in dunkelbraunen und roten
Farbtönen.
Der Teller ist mit der Abbildung von fünf
Bouquets verziert, die mit zackenför-
migen Bandabschnitten alternieren. Die
Form des Gefäßes und Elemente des De-
kors wie Bouquets mit gestreiften Blu-
menrosetten und Abschnitten mit kleinen
Punkten entlang der Mündung sind für
das 10. Jh. charakteristisch (Schischkina
1979. Taf. 12,7; Schischkina 1986, S. 56,
Abb. 44; Brusenko 1986, S. 51; Ilyasova
2000, S. 62).
17. Halbkugelige Schale mit Ringfuß (Abb. 16).
D = 27,5 cm, d = 11,4, H = 9 cm. Bemalung
in dunkelbraunen und roten Farbtönen.
Einkratzungen.
Auf der Außenseite reicht die Glasur bis
zur Mitte der Schale. Dekor in Form von
sechs stilisierten Bouquets, die aus dem
Zentrum des Gefäßes wachsen. Die sechs-
blätterige Rosette in der Mitte ist origi-
nell. Zwischen Bouquets, entlang der
Mündung, befinden sich Bandabschnitte,
die ihre Zackenformen verloren haben,
und Ketten aus Punkten. Diese Elemente
sind für das Ende des lü.-l 1. Jh. charakte-
ristisch (Schischkina 1986, S. 56, Abb. 44).
Ebenso schlichte Bouquets finden sich
auf Materialien aus dem 11. Jh. aus der
Altstätte Achsikath, Fergana-Tal (Ilyaso-
va 2000, S. 62, Abb. 2,3). Zu den Merkma-
len des 11. Jh. zählt auch, dass die Außen-
seite nur teilweise glasiert ist.
Das Gefäß aus Taschkent kann in den Be-
ginn des 11. Jh. datiert werden.
Die Arbeiten Brusenkos und anderer Wissenschaftler haben gezeigt, dass im 9.- 10.
Jh. die Keramik aus Taschkent der Ware aus Samarkand und anderen Zentren der
Keramikerzeugung im Gebiet der Samaniden sowohl qualitativ als auch von der
Pracht und Vielfalt der Verzierung her gleichwertig war, was die hier vorgestellten
Gefäße klar unterstreichen. Einige der Aphorismen (z. B. auf der Schalen Nr. 3 und
5) begegnen hier erstmals auf samanidischer Keramik. Darüber hinaus bestechen
99
TRIBUS 54,2005
einige Stücke durch ihre individuelle Verzierung (Schale Nr. 5. 8 und 15). Für Ware
aus Taschkent kann die Vogeldarstellung auf der Schale Nr. 9 als charakteristisch
festgehalten werden.
Abschließend sei die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Veröffentlichung
der hier vorgestellten Gefäße auf Interesse stößt und für weitere Untersuchungen
zur glasierten Keramik in Zentralasien von Nutzen sein möge.
Literatur
Abdullaev, K.A. / Rtveladze, E.V. / Schischkina, G.V. (Hrsg.)
1991 Kultura i iskusstwo drewnego Usbekistana / Culture and Art of Ancient
Uzbekistan. Exhibition catalogue. Vol. 2. Moscow.
Al-Muqaddasi
1994 The best divisions for knowledge of the regions. B.A. Collins (Übers.).
Reading.
Atil, E.
1973 Ceramics from the World of Islam. Freer Gallery Fiftieth Anniversary Ex-
hibition 3. Washington.
Bajpakov, K. M. / Erzakowich, L.B.
1991 Orta gasyrdagy Otyrar keramikasi / Keramika srednewekowogo Otrara /
Ceramics of Medieval Otrar. Alma-Ata.
Barthold, W.
1977 Turkestan down to the Mongol invasion. Philadelphia.
Bolschakov, O.G.
1958 Arabskie nadpisi na poliwnoi keramike Srednei Azii IX-XII ww. In: Epi-
grafika Wostoka. 12. Moskwa/Leningrad, S. 23-38.
1963a Arabskie nadpisi na poliwnoi keramike Srednei Azii IX-XII ww. In: Epi-
grafika Wostoka. 15. Moskwa/Leningrad, S. 73-87.
1963b Arabskie nadpisi na poliwnoi keramike Srednei Azii IX-XII ww. In; Epi-
grafika Wostoka. 16. Moskwa/Leningrad, S. 35-55.
Brusenko, L.G.
1973 Chudoshestwennaja keramika Binketa. In; Drewnij Taschkent. Taschkent,
S. 86-101.
1975 Soomorfnyje motiwy w glasurowannoi keramike Binketa X-XII ww. In: Is-
torija materialnoi kultury Usbekistana. 12.Taschkent, S. 121-127.
1976 Produkzija gontscharnogo remesla Binketa. In: Drewnosti Taschkenta.
Taschkent, S. 80-114.
1986 Glasurowannaja keramika Tschatscha IX-XII ww. Taschkent.
Caiger-Smith, A.
1985 Lustre pottery. London/Boston.
Folsach, K. von
1990 Islamic art. The David Collection. Copenhagen.
Ghouchani, A.
1986 Inscriptions on Nishabur pottery. Tehran.
Grube, E.
1976 Islamic Pottery of the Eighth to the Fifteenth Century in the Keir Collec-
tion. London.
Ilyasov, J.Ya.
1992 Arabskije nadpisi na samanidskoi keramike. In: Wklad iranskich narodow
w raswitije mirowoi ziwilisazii: Istorija I sowremennost. Tesisy dokladow
konferenzii. Duschanbe, S. 31-33.
Ilyasov, J.Ya. / Ilyasova, S.R.
2001 Arabskije nadpisi na glazurowannoi keramike Mawerannahra IX-X ww.
In: Epigrafika Wostoka. 26. Moskwa, S. 19-30.
100
Saida Ilyasova und Rawschan Imamberdyev: Eine Sammlung glasierter Keramik
Ilyasov, J. Ya. / Imamberdyev, R.
2002 Nowyje arabskije nadpisi na glasurowannoi keramike Binketa. In: Zapiski
Wostochnogo otdelenija Rossijskogo Archeologicheskogo obschestwa. 1
(26). Sankt-Petersburg, S. 124-133.
Ilyasova, S.R.
2000 Motiw buketa na glasurowannoi keramike IX-XII ww. In: Srednaja Azija.
Archeologia. Istoria. Kultura. Materialy mezhdunarodnoi konferentsii, po-
swiaschennoi 50-letiju nautschnoi deiatelnosti G.W. Schischkinoi. Moskwa,
S. 62-66.
Ilyasova, S.R. / Ilyasov, J.Ya.
2002 Nowye dannye po epigrafike Tschatscha i Fergany. In; Kulturnoe nasledie
Srednej Azii. Taschkent, S. 111-116.
Ilyasova, S.R. / Mirsaachmedov, D.K. / Adylov, Sch.T.
2000 Srednewekowoe steklo i keramika Binkata-Taschkenta IX-XI ww. Rasdel
2. Keramitscheskie izdelija. In: Istorija materialnoi kultury Usbekistana. 31.
Samarkand, S. 228-239.
Ilyasova, S.R. / Wischnewskaya, N.
2002 Glasierte Keramik von Binket (Taschkent) aus der Sammlung des
Staatlichen Museums für Orientalische Kunst. In: Tribus. 51. Stuttgart, S.
114-126.
Kühnei, E.
1925 Islamische Kleinkunst. Berlin.
Materialy po istorii turkmen i Turkmenii
1939 Moskwa/Leningrad.
Pope, A.U.
1939 The ceramic art in Islamic times. In; A Survey of Persian Art. IV. London/
New York.
Schischkina, G.W.
1979 Glasurowannaja keramika Sogda (wtoraja polowina VIII - natschalo XIII
w). Taschkent.
1986 Remeslennaja produktsiya srednewekowogo Sogda. Steklo, keramika.
Wtoraya polowina VIII - natschalo XIII w. Taschkent.
Shishkina, G.V. / Pavchinskaja, L.V.
1992 Terres secrètes de Samarcande. Céramiques du Ville au XHIe Siecle. Par-
is.
Sotheby’s Islamic and Indian Art Catalogue
1996 25th April 1996. London.
Vrieze; J. (Hrsg.)
1999 Earthly beauty, heavenly art. Art of Islam. Exhibition catalogue. Amster-
dam.
Wilkinson, Ch.
1973 Nishapur: Pottery of the Early Islamic Period. New York.
Zeymal, E.V. (Hrsg.)
1985 Drevnosti Tadshikistana. Katalog vystavki. Duschanbe.
Zilper, D.G.
1976 Pamjatniki w doline Salara i Karasu. ln: Drewnosti Taschkenta. Taschkent,
S. 49-71.
Fotos: Konstantin Minajtschenko (Taschkent).
101
ILSEMARGRET LUTTMANN
Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins:
die Neuaneignung der traditionellen Indigo-Stoffe der Dogon
im Kontext lokaler und globaler Einflüsse
Abstract
Fashion is a much neglected field of social and anthropological research especially
with regard to so called traditional societies. This is even more true in the case of the
Dogon whose creation myths and symbolic system inspired so much respect that re-
searchers did not dare for a long time to get interested in their material life. This
study focuses on changes in dressing styles with regard to the so called traditional
indigo cloths which have been re-appropriated and modernized by women and young
men involved in tourism in a very specific manner by each group. My main argument
is that their new dressing behaviour and their creative manual and interpretative
interventions are related to modernization and this in a twofold way. Modernization
in the sense of larger geographical and socio-cultural integration has stimulated
stronger self-consciousness and opens ways for more individual expressions. The Do-
gon as a whole respond to these changes in a rather self-confident manner though
the young tourist guides undergo an identity crisis. Both the women and the young
men use the traditional indigo dress style - though under different conditions and
with different results - to show who they think they are and who they claim to be. By
the way of fashion they express their idea of modernity.
Es ist inzwischen unbestreitbar, welche bedeutende Rolle die Untersuchung des
Kleidungsverhaltens und der Kleidungsstile im Rahmen gesellschaftlicher Verände-
rungen spielt, da sie Indikatoren sozialer Rollenverteilungen und kultureller Werte
sind, Aufschluss geben über das Selbstverständnis der Akteure und Bestandteil der
psychosozialen Identitätsbestimmungen sind1. Das Sich-Kleiden und die individu-
elle Einflussnahme auf die Gestaltung der Kleidungsstücke können besonders dann
von großer Bedeutung sein, wenn sie von einer marginalisierten oder eher zum
Schweigen verurteilten Gruppe genutzt werden, um sich auf diese Weise darzustel-
len und ihrem Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen. In traditionellen Gesell-
schaften ist die Kleidersprache durch die explizite kulturelle Symbolik eingegrenzt
und auch in ihrem materiellen Ausdruck aufgrund der lokalen Ressourcen und hand-
werklichen Herstellungstechniken stark vorgeprägt. Dadurch werden derartige Stra-
tegien der individuellen Inanspruchnahme natürlich nur in sehr dezentem Maße
eingesetzt und sind für Außenstehende nicht leicht entzifferbar. Welch bedeutsame
Veränderungen sich dennoch in scheinbar traditionellen Kleidungsstilen verbergen,
zeigen die neueren Entwicklungen der Kleidermode und des Kleidungsverhaltens in
der Dogon-Gesellschaft (Mali), insbesondere mit Blick auf die Frauen und die Grup-
pe der jungen Reiseführer.
1 Zu den Wegbereitern dieses Forschungsbereichs, der Kleidungsstile in den gesellschaftlichen
Kontext stellte,zählen Eicher (1965,1992,1995)undCordwell und Schwarz (1979)-In Deutsch-
land ist dieser Themenkomplex jedoch lange mit Misstrauen betrachtet worden. So widmete
sich die Zeitschrift für Kulturaustausch (2002,4) erstmalig 2002 dem Thema Mode unter dem
Aspekt der Globalisierung, wobei die einzelnen Beiträge vor dem Hintergrund verschiedener
wissenschaftlicher Disziplinen die vielfältigen Bedeutungsebenen und Verflechtungen vor Au-
gen führen. Afrikanische Textilien und Kleider wurden zuvor nur als ethnisches Beiwerk ge-
dacht, das von Völkerkundemuseen verwaltet, aber eben nicht als Teil der modernen und kul-
turellen Prozesse begriffen wurde.
103
TRIBUS 54,2005
Der Kleidungsstil der Dogon und die einzelnen Komponenten der Körperästhelik
können in enger Verbindung zu ihrer gesellschaftlichen Ordnung gesehen werden,
insofern als die Zuordnung der Stoffe und Rohmaterialien, der Farben und Klei-
dungsstücke im Hinblick auf das Geschlecht, die religiöse und soziale Funktion der
Betroffenen erfolgt. Doch diese genormte Sprache hat sich im Zuge der Modernisie-
rung, verstanden als verstärkte soziokulturelle und ökonomische Einbindung in grö-
ßere regionale Zusammenhänge, Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen
und Individualisierung, weiterentwickelt. Die Veränderungen zeigen eine sehr eigen-
willige, bewusst gestaltete Verbindung lokaler und regionaler bzw. globaler Elemen-
te. Die Dogon-Frauen legen in ihrem Kleidungsstil und ihren eigenen Kreationen
nicht nur ein hohes Maß an schöpferischer Energie an den Tag, sondern sie bringen
damit auch ihr ethnisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck, gekoppelt mit dem Be-
streben.Teil eines größeren Lebenszusammenhangs sein zu wollen. Die jungen Män-
ner im Tourismussektor, in der schwierigen Situation der Identitätsfindung, erschaf-
fen eine Mode, die neotraditionalistischen Charakter hat. darüber hinaus aber einen
innovativen Kern in sich trägt und eine Umkehrung traditioneller Werte und Symbo-
le bedeutet. Kleidung, so soll gezeigt werden, erweist sich als eine kulturell relevante
Form der Aneignung und der Produktion der Moderne.
Die zentralen Themen, mit denen sich die Begründer der empirischen Ethnologie
seit den 30er Jahren in Bezug auf die Dogon beschäftigt haben, kreisten vornehmlich
um das symbolisch-religiöse Gedankengebäude2, wobei Fragestellungen zum politi-
schen und ökonomischen Leben völlig außer Acht gelassen wurden. Infolgedessen
galten auch die materiellen Lebensbedingungen nur als visueller Träger des kosmo-
genetischen Systems. Erst seit einem bis zwei Jahrzehnten zeichnet sich eine vorsich-
tige Distanzierung von der sehr starren Betrachtungsweise der dominierenden Gri-
aule-Schule ab3, wobei die jüngeren Wissenschaftler zu Themen existentieller Le-
bensbereiche gefunden haben. Fragen der Herrschaftsformen und der Identitätsbe-
stimmungen stehen im Vordergrund und werden auf einer regional breiteren Basis
als zuvor untersucht4. Die mehr oder minder eingestandene Faszination für die hoch
komplexe Kultur der Dogon hat Probleme der materiellen Kultur, wozu auch Texti-
lien und Bekleidung gehören, bislang jedoch immer noch zu banal erscheinen lassen.
Hinzu kommt, dass man sicherlich auch von einer generellen Homogenität und Kon-
tinuität des Kleidungsstils ausgehen konnte. Dies hat sich jedoch in den letzten Jahr-
zehnten erheblich verändert, da äußere Einflussfaktoren an Gewicht und Sichtbar-
keit zugenommen haben, worauf die Dogon u. a. durch neue Kleidungsmoden rea-
giert haben. Die Veränderungen, an der die Gesellschaft aktiv beteiligt ist, beruhen
auf einem Zusammenwirken verschiedener Faktoren, die mit Modernisierung um-
schrieben werden können; gestiegene Mobilität der Dogon-Bevölkerung durch tem-
poräre oder definitive Landflucht, Integration in nationale Handelsnetze, Ausbil-
dung in den Städten, Verbreitung der Massenmedien. Islamisierung und Entwicklung
des internationalen Tourismus. Auch wenn sich die materiellen Lebensbedingungen
nicht verbessert haben, so haben dennoch Veränderungen und Erweiterungen des
Konsumangebots stattgefunden. Die Konfrontation mit unterschiedlichen kulturel-
len, sozialen und materiellen Lebensformen ist unweigerlich mit einer verstärkten
Auseinandersetzung lokal-ethnischer Identitäten verbunden und öffnet Wege zu ei-
ner verstärkten Individualisierung.
2 Marcel Griaule (1948). Germainc Dieterlen (1941), Leins (1934), Die bis heute unübertrof-
fene Arbeit von Paulme (1940) über die Sozialstruktur der Dogon stellt eine große Ausnahme
dar.
3 Dabei wären insbesondere van Beek (1991) - als Initiator der kritischen Debatte -, Bouju
(2002 und 2004) und Gaetano (2001a und b, 2003) zu nennen, die sich auch auf wissenschafts-
theoretischer Ebene mit der Methode von Marcel Griaule auseinander gesetzt haben.
4 Vgl. Bouju (1984, 1998/99 und 1995), Jolly (1994, 1995, 1998/99) Martinelli (1995 a und b.
1998/99) und Doquet (1999 und 2002)
104
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Ahb. 1: Zuschauerinnen bei einer kulturellen Veranstaltung: hier sieht man die breite
Palette der Kombinationen von Indigo-Wickelrock - mit den unterschiedlichsten
weißen Mustern - und bunten Oberteilen, deren knallige Farben das besondere äs-
thetische Empfinden der Dogon-Frauen widerspiegeln.
Auf dem Gebiet der Indigo-Färberei zeichnen sich die Dogon weder durch eine be-
sonders hoch stehende Technik noch durch eine herausragende Ästhetik aus. Inso-
fern geht es hier auch nicht um die künstlerische Qualität der Stoffmuster, sondern
eher um die kulturellen und sozialen Bezüge, die in den Produktionsbedingungen,
der Färbetechnik und der Gestaltung der Motive zum Ausdruck kommen. Im Mittel-
punkt unseres Interesses steht jedoch der innovative Umgang mit den Indigo-Stoffen
als Rohmaterial für die diversen Kleidungsstücke. In diesem Prozess erfolgt eine
Umdeutung traditioneller Textilien im Kontext sich wandelnder Identitäten und all-
gemeiner Modernisierungsprozesse. Dieses Argument wird zum einen an den Do-
gon-Frauen vorgeführt, die mittelbar und unmittelbar an der Produktion und Wei-
terverarbeitung der Stoffe beteiligt sind und im Gegensatz zu den Männern einen
lokal gefärbten, aber dennoch modernen und selbst bestimmten Kleidungsstil entwi-
ckelt haben. (Abb. 1) Zum anderen wird es durch Beobachtungen über das neue
Kleidungsverhalten der jungen Dogon-Touristenführer gestützt, die sich auf ihre
Weise die weiblichen Indigo-Stoffe zu eigen machen, um Werte ihrer Gesellschaft
und Kultur nach Außen zu tragen und um sich angesichts ihrer erschütterten Identi-
tät ihrer ethnisch-lokalen Zugehörigkeit zu vergewissern.
Die Untersuchung beginnt zunächst mit einer Einführung in die soziokulturellen
Produktionsbedingungen der Indigo-Färberei, die nämlich durch das Kastenwesen
geprägt sind und auf das ideologische Gerüst der Dogon-Gesellschaft verweisen. Die
anschließende Betrachtung der Design- und Farbästhetik gibt den Weg in die zu-
grunde liegende Symbolik frei, die in Zusammenhang mit religiösen und kosmoge-
netischen Vorstellungen, der Sozialordnung und dem Geschlechterverhältnis gese-
hen werden muss. Im Hinblick auf die zentrale Frage des Aufsatzes werden die tech-
nischen und ästhetischen Neuschöpfungen im Rahmen der Textilherstellung sowie
des damit verbundenen Kleidungsverhaltens vorgestellt. Diese Kreationen erhalten
ihre besondere Bedeutung durch den Bezug auf die sozialen, ökonomischen und
kulturellen Veränderungen, die nicht nur lokaler Art sind, sondern eine regionale
bzw. nationale Dimension besitzen.
TR1BUS 54,2005
1. Die Indigo-Färberei in ihrem soziokulturellen Kontext
Das Färben der Stoffe ist den Frauen einer Kaste5 Vorbehalten, deren Männer tradi-
tionellerweise die Ledergerberei betrieben haben. Die jambe (sing, jam) - so ihre
Bezeichnung in einer der Dogon-Sprachen - stellen eine der nach Berufszugehörig-
keit klassifizierten Kasten innerhalb der Dogon-Gesellschaft dar6. Sie bilden eine
endogene Gruppe, die meistens auch in eigenen Vierteln räumlich getrennt von der
Dorfbevölkerung lebt. Sie haben ihr gegenüber den Status von Gästen, insofern als
sie selber kein Anrecht auf Land haben. Die Beziehungen zu den anderen Dogon
sind vielen Tabus unterworfen, die sich alle aus ihrer symbolischen Unreinheit ablei-
ten. Das generelle Prinzip, dem zufolge sich ihr Blut nicht vermischen darf, bedeutet
zum einen das absolute Verbot sexueller Beziehungen zwischen den beiden sozialen
Gruppen und zum anderen auch den unbedingten Gewaltverzicht, worunter sowohl
der körperliche als auch der verbale Angriff zu verstehen ist.
Als materielle Stütze für das Argument der Unreinheit der jambe dient der strenge
Geruch, in dessen Umkreis die beiden Geschlechter im Kontext ihrer Handwerkstä-
tigkeit wirken. Das Indigo-Bad der Frauen stellt eine fermentierte, mit Schaum be-
deckte Flüssigkeit dar, und auch der Gerber braucht für die Behandlung der Tier-
häute eine streng riechende Säure. Dieser von den anderen Dogon als äußerst absto-
ßend empfundene Sinneseindruck wird mit der Vorstellung von Verwesung und Tod
in Zusammenhang gebracht. Des Weiteren dienen die sich im Laufe der Jahre dun-
kel färbenden Hände der Frauen als Rechtfertigung für ihre soziale Ausgrenzung.
Traditionell waren die Kasten gänzlich vom Zugang zu Boden und der Möglichkeit,
Landwirtschaft zu betreiben, ausgeschlossen. Ihre geistige Unreinheit würde sich auf
den Boden und die Pflanzen übertragen und sie zerstören. Demgegenüber verleiht
ihnen gerade diese Unreinheit die Fähigkeit, mit den eher als gefährlich geltenden
Substanzen - im Fall der jambe handelt es sich um Gärstoffe zum Gerben und Fär-
ben - umzugehen, ohne selber Schaden zu nehmen. Außerdem werden die Hand-
werksprodukte wie z.B. die Indigo-Stoffe und Ledertaschen sowie Gürtel von den
Dogon sehr geschätzt, so dass sie auf ihre Dienste angewiesen sind. Wir finden hier
das für das Denken der Dogon typische Konstrukt der Ambivalenz vor. (Michel-
Jones, 1999) Das zerstörerische Potenzial der jambe auf der einen Seite verwandelt
sich in kreative Energie auf der anderen Seite. Die zwiespältige Haltung der Dogon
gegenüber den Kasten tritt noch krasser bei der sozialen Vermittlerrolle in Erschei-
nung, die sie ihnen zuerkennen. In schwerwiegenden Konflikten, die die Dogon-Fa-
milien nicht mehr selbständig untereinander regeln können, treten Kastenmitglieder
als Schlichter auf, und ihr Wort gilt als unumstößlich und erfordert unbedingte Un-
terwerfung7. Diese sozialrituelle Kompetenz kommt ihnen u. a. aufgrund ihres Au-
5 Die Bezeichnung Kaste für die sozialen Gruppen ist eine Hilfskonstruktion, die besonders auf
die soziale Distanz und symbolisch-rituelle Trennung abhebt. In den verschieden Dogon-Spra-
chen wird der Ausdruck „weiße Personen“ (indepilu) benutzt. Die Farbe Weiß steht für diesen
abgehobenen Status, der die Betroffenen außerhalb des Rahmens des gemeinen Lebens stellt.
- Die Angemessenheit der sprachlichen Bezeichnung wurde neuerdings in einer Untersuchung
von Gilles Holder (2001) kritisch beleuchtet und schließlich verneint. Dem Autor zufolge han-
delt es sich um eine politische Kategorie, mit der das Abhängigkeitsverhältnis von Klienten -
fremden Ursprungs - zur autochthonen Gesellschaft als Schutzpatronin ausgedrückt wird.
6 Daneben gibt es die Schmiede oder Metallarbeiter (sing, iru-ne, pl. irumbe), die neben Hand-
werkszeug aus Metall auch die Holztüren und Fenster schnitzen, die Lederverarbeiter und Mu-
siker (sing, gogo-no.pl. gogombe) und schließlich die Hersteller und Vertreiber der Holzschüs-
seln (segu-ne).
7 Vgl. dazu die eingehende Untersuchung von Martinelli 1998/99.
106
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
ßenseiterstatus - als außerhalb des Verwandtschaftssystems der anderen Dogon8
Stehende - zu, insofern als er ihnen eine bestimmte Neutralität verleiht9.
Die Dogon definieren sich als die, die das Gefühl der Schande oder Scham kennen10 11,
und begründen damit ihre moralische und soziale Überlegenheit. Das mangelnde
Schamgefühl der Kasten wird auf der Oberfläche zunächst mit dem Sprachgebaren
erklärt, das als schmeichelhaft-heuchlerisch, unehrlich und verräterisch gebrand-
markt wird. All diese Eigenschaften lassen sich jedoch auf die Wirtschaftsform der
Handwerker zurückführen, die dem Ideal der Feldarbeit der Dogon-Bauern diame-
tral gegenübersteht. Während die Handwerksprodukte wie Waren nach dem Prinzip
der Gewinnmaximierung gehandelt werden, ernährt sich der Bauer von seiner Hirse,
die nach dem Prinzip der Redistribution an die Produzenten verteilt wird. Daraus
wird das moralische Gegensatzpaar von ehrlichen, schamhaften Dogon und heuch-
lerischen, egoistischen Händlern konstruiert11.
Die ehemaligen Gerber haben sich in der Zwischenzeit zu professionellen Händlern
entwickelt, wobei sie sich weiterhin z. T. im traditionellen Bereich der Handwerks-
produkte bewegen, sich jedoch vielfach schon auf die Zwiebelvermarktung und das
Transportwesen spezialisiert haben. Schon immer war ihnen ein relativer Wohlstand
beschieden, der ihnen von den anderen Dogon geneidet wird. Paradoxerweise ist
gerade die soziale Diskriminierung die Ursache für ihr wirtschaftliches Engagement
und die daraus resultierenden Erfolge. Die Frauen sind demgegenüber ihrer traditi-
onellen Tätigkeit treu geblieben. Die ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen Männern
und Frauen hat zu kulturellen Gegensätzen und räumlichen Trennungen geführt.
Die Mobilität und Nähe zum urbanen Leben bei den Männern kontrastiert mit der
Sesshaftigkeit und der Gebundenheit an einen konservativen Lebensstil bei den
Frauen. Scheinbar im Gegensatz zu der sozialen Unterordnung steht die ökonomi-
sche Unabhängigkeit der Färberinnen, die allerdings mehr einem Zwang zu ökono-
mischer Verantwortung gleichkommt als dass sie eine Grundlage zu eigenständigem,
unabhängigem Handeln bildet. Der Verkauf der Indigo-Stoffe auf den lokalen Märk-
ten und zusätzliche Nebenverdienste durch Viehzucht bzw. Handelsaktivitäten si-
chert ihnen einen großen Teil ihres Lebensunterhalts und der notwendigen Ausga-
ben für ihre Kinder, so dass die Männer ihre Einkünfte in ihre Geschäfte und ihren
Lebensstil reinvestieren können.
2. Weben und Färben in ihrem kulturellen und sozialen Kontext
Der gewebte Stoff
Der gewebte Stoff und damit das Sich-Kleiden besitzen bei den Dogon eine hohe
kulturelle und soziale Bedeutung. Das Weben eines Stoffbandes und der fertige Stoff
werden in enger Beziehung zu dem physiologischen Sprechakt bzw. dessen Organen
und zur Sprache gesehen. Deshalb sagt Ogotemmeli, bedeutender Informant von
Marcel Griaule und Autor des Schöpfungsmythos’, wie ihn Griaule in Dien d'eau
8 Während die konstruierte gemeinsame Abstammung aller Dortbewohner durch einen patro-
nyme, den alle Nachfahren in männlicher Erbfolge tragen, zum Ausdruck gebracht wird, lässt
sich der Kastenstatus durch die spezielle Namensgebung ablesen. Geläufige Namen der jamhe
sind Napo und Nango.
9 Die Bedeutung der Kasten ließe sich vielleicht auch folgendermaßen formulieren: sie bezah-
len ihre große soziale Nützlichkeit, die auf ihrer Schlichtcrrolle beruht, mit dem Preis des sozi-
alen und symbolischen Ausschlusses. Um ihre rituellen Kompetenzen eindeutig zu begrenzen,
sind sie grundsätzlich von jeglicher Machtposition im politischen oder militärischen Bereich
ausgeschlossen.
10 Dögö (Sing.) bzw. dögö nö (PI.) bedeutet in der wörtlichen Übersetzung 'die, die das Gefühl
der Schande kennen’.
11 Die Sozialhierarchie schlägt sich auch in der Abwertung der handwerklichen Produktion als
Tätigkeit (bire) nieder - im Gegensatz zu .Arbeit’, wie sie die Landwirte verrichten. Vgl. Holder
2001.
TRIBUS 54,2005
niedergeschrieben hat: « Etre nu, c’est être sans paroles. » (Griaule 1948:100) (Nackt
sein bedeutet, ohne Wörter, ohne Sprache zu sein.) Nommo, der Sohn des Schöpfer-
gottes Amrna, offenbart den Menschen die Sprache durch den Akt des Webens. Des-
halb werden der physiologische Sprechakt und die Sprache analog zur Webtechnik
und dem Stoff gesehen12. (Calame-Griaule: 95) Die Worte entstehen aus der Ver-
flechtung von Längs- und Querfäden. Die Herstellung eines Baumwollbandes steht
bildhaft für die Vermehrung der Menschen, das Beziehungsgeflecht zwischen den
Menschen. - Die Bezeichnung söy für .Stoff' ist von so abgeleitet, das .das Wort’
bedeutet. Der Ahne Binu Sem war der einzige, der die Aussage verstand, die in dem
Akt des Webens von Nommo lag, und er sagte: Sö i, d. h. .Das ist das Wort’. Daraus
ist söy entstanden.
Der erste gewebte Stoff, so erklärt Ogotemmêli in seiner Version der Kosmogenese,
ist der des Rockes für die Frau. (Griaule 1948:95 ff) Das geschieht zu der Zeit, als die
Männer den Frauen das Furcht erregende Maskenkostüm entwenden, um selbst die
Herrschaft zu übernehmen, die durch den Bastrock gewährt wurde13. Der pagne14,
ein rechteckiges Stück Stoff, besteht aus vier zusammengenähten Baumwollbändern.
Die Zahl Vier symbolisiert die Frau. Drei ist das Symbol des Mannes. Der um die
Hüfte gewickelte Stoff - es gibt keinen Verschluss - reicht vom Bauchnabel bis
knapp zum Knie. Die Stoffbahnen verlaufen horizontal. Die Frau trägt ein offenes
Kleidungsstück analog zu ihrem Geschlechtsteil, das auch geöffnet ist. Demgegen-
über ist das Kleidungsstück des Mannes geschlossen. Es besteht aus einem Mittelteil
mit drei Streifen, das zwischen die Beine durchgeführt wird. Für die Seitenpartien
werden auch jeweils drei Streifen benötigt. Insgesamt wird der Körper also von vier
mal drei Bändern umschlossen, wodurch eine Vereinigung des weiblichen und männ-
lichen Zeichens entsteht. Die Hose wird um die Hüfte durch eine Kordel gehalten
und bildet ein geschlossenes Kleidungsstück, wie es dem männlichen Geschlechtsteil
entspricht. - Die Anzahl der Bänder, aus dem das Hemd des Mannes genäht wird,
bezieht sich auf die vier Ahnenpaare. Die Kopfbedeckung setzt sich aus zwei Streifen
zusammen, die ein Paar darstellen. Der Kleidung der Frau weist Ogotemmêli eine
besondere sozialpsychologische Funktion zu, die auf der Spannung von Offenheit
und Verdeckt-Sein beruht. Dadurch, dass der pagne zum einen den Körper schmückt
und zum anderen den wesentlichen Sexualbereich bedeckt, während er gleichzeitig
zugänglich scheint, weckt er die Neugierde und Lust der Männer. Das Geheimnis
liegt in dem unbekannten Körper ebenso wie in der Sprache des Stoffs. Hinzu kommt
der sonstige Schmuck, der noch wichtiger sei für die Begehrlichkeit der Frau als ihre
Schönheit. (Griaule; 99 f)
Zu Beginn werden die Stoffe nur gelb oder braun gefärbt, um sich der Erde anzupas-
sen. Die schwarze Färbung wird für die Totendecke erfunden, die den Leichnam des
ersten verstorbenen Vorfahren, Lebe, bedeckt.
12 Diese Analogie wird auf sehr poetische Weise von Ogotemmêli - wiedergegeben von Griaule
(1947:90) - folgendermaßen ausgedrückl: « La parole est dans le bruit de la poulie et de la na-
vette. Tout le monde entend la parole; elle s'intercale dans les fils, remplit les vides de l'étoffe. »
Griaule 1947:90.
13 Nach dem Mythos entdeckte eine Frau die Baströcke beim Totenfest der Andumbulum
(wörtl.: kurze Menschen: mythische Vorfahren), den ersten vom Schöpfergott Amma geschaf-
fenen Wesen, und eignete sie sich an. Jedes Mal. wenn sie in dieser Erscheinung ins Dorf trat,
erschraken die Männer und flüchteten. Später entdeckte der Ehemann dieses Geheimnis und
stahl das Kostüm, das die Frau im Speicher versteckt hielt. Damit wurde die Herrschaft der
Männer über die Frauen begründet. Vgl. Griaule 1963:52-61);
14 Die Bezeichnung pagne ist ein im frankophonen Afrika gebräuchlicher Begriff, der das zum
Wickelrock gebundene Baumwolltuch der Frau bezeichnet. Er ist mit der Verwendung bunt
bedruckter importierter Baumwollstoffe aus Europa Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommen.
Ich verwende ihn hier anstelle des Dogon-Wortes soy, das zwar generell für .Stoff steht, aber
ebenso das weibliche Kleidungsstück bezeichnet.
108
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Bis in die jüngste Zeit sind viele dieser Erklärungen gültig geblieben, und die Be-
schreibungen der ursprünglichen Kleidungsstücke sind nicht so weit von den tat-
sächlichen Gepflogenheiten entfernt. Typisch für die Röcke der Dogon-Frauen ist
ihre reduzierte Größe. Im Hinblick auf Länge und Breite unterscheiden sie sich von
den im frankophonen Afrika gemeinhin als pagne bezeichneten Wickelrock, der
demgegenüber sehr großzügig bemessen ist und außerdem ein einheitliches Maß be-
sitzt. Sie enden - bei einer verheirateten und reifen Frau - auf der Höhe zwischen
Wade und Knöchel, und der Teil, wo sich Anfang und Ende überkreuzen, ist knapp
bemessen, so dass sich der Rock im Schritt leicht öffnet und sich die Beine zeigen.
Heutzutage werden die Röcke aus sieben oder acht aneinander gefügten Bahnen
genäht, wobei diese Zahlen selbst wieder auf die Komplementarität von männlich
und weiblich (4 + 3) verweisen oder das Symbol der Weiblichkeit an sich (2 x 4) aus-
drücken. Wesentlich ist der Wert der Bescheidenheit, der hier zum Ausdruck ge-
bracht wird. Das gilt auch für die Männerbekleidung, die allerdings größere Mengen
Stoff verschlingt. Das Stoffvolumen ist immer auch Gradmesser des sozialen Stan-
des. So tragen Kinder und junge Männer kurze Hosen, eine Art Shorts, wohingegen
das hohe soziale Ansehen eines alten Mannes an der stoffreichen weiten Pluderhose
sichtbar wird1-1. Auch die Tunika wird mit zunehmendem Alter des Betroffenen län-
ger. Bei den Jüngsten stellt sie ein langes gerades Stück Stoff mit einer Öffnung in
der Mitte für den Kopf dar; die Seiten bleiben offen. Diese Bluse reicht bis zur Taille.
Die erwachsenen Männer tragen an Markt- und anderen festlichen Tagen einen ähn-
lichen Überwurf, dessen Vorder- und Rückseite nur unten an den beiden Seiten
durch ein kurzes Stoffband verbunden ist. Im reifen Alter fangen die Männer an,
weite lange Hemden mit rechtwinklig angesetzten Ärmeln zu tragen15 16. - Die Kopf-
bedeckung gehört zur korrekten Kleidung in der Öffentlichkeit. (Calame-Griaule:
280). Sie besteht entweder aus der bizarren Stoffkappe, die an die Form eines Fisches
angelehnt ist, oder einem aus Bast geflochtenen Hut der Fulbe.
Als reine Dekoration und Zurschaustellung dient die berühmte schwarz-weiß ge-
musterte Decke, uldebe genannt17, bzw. der schwarze Schal, den Männer und Frauen
eines gewissen Alters, über die eine Schulter geschlagen, zu außergewöhnlichen An-
lässen tragen. Die Decke der Männer ist das mit Mustern besonders reichhaltig ge-
webte Tuch, mit dem eines Tages ihr Leichnam eingewickelt und zur Begräbnisstätte
getragen wird. Die Frauen setzen ihren Schal z.B. beim Tanzen ein, indem sie rhyth-
mische Bewegungen mit ihm vollziehen.
Die Verarbeitung der rohen Baumwolle bis zur Herstellung des Kleidungsstücks er-
folgt in einem arbeitsteiligen Prozess zwischen Mann und Frau, der Ausdruck ihrer
15 Die folgenden Ausführungen über die einzelnen Kleidungsstücke sind dem Aufsatz von G.
Calame-Griaule 1951 entnommen.
16 Bei der Inventarisierung der Kleidungsstücke fällt die Einfachheit der Bekleidung der Frau
im Vergleich zu der Vielfältigkeit der einzelnen Hosen- und Blusentypen der Männer auf. Ca-
lame-Griaule (1951: 154-159) unterscheidet acht verschiedene Tuniken (argoy) und fünf Ho-
senstile (ponnu), die die soziale Hierarchie der Männer je nach Alter unterstreichen und im
Hinblick auf die Funktion (Arbeits- oder Festkleidung) konzipiert worden sind. Argoy tete =
kleine Tunika (für Kinder); argoy kala = freier Raum, (für die Arbeit); argoy leguru = zusam-
mengesetzt, (zu festlichen Anlässen); mungu argoy = Tunika der Mossi (dieselbe Funktion);
barala kay - um das unerhoffte Glück zu essen (für junge Leute zu festlichen Anlässen); argoy
mono (für ältere Männer); argoy sulo (für ältere Männer zu festlichen Anlässen); argoy wann =
weite Tunika (wird von den Dogon der Tiefebene getragen). - Ponnu semu - abgeschnittene
Hose, Shorts (für Jungen); tubo, Pluderhose (für alte Männer);ponnu andern (dieselbe Form,
nur kürzer, für jüngere Männer); ponnu lagu - Hose einer Ellenlänge, lange, enggeschnittene
Hose (nur für alte Männer)\marbo bozo = Gewehrtasche (europäische Hose). - Dieser Gegen-
satz zwischen reduziertem Kleiderrepertoire der Frau und Fülle beim Mann macht die soziale
Überlegenheit der Männer augenfällig.
17 Die uldebe hat aufgrund der komplizierten Webmuster in Schwarz-Weiß einen bedeutenden
Platz in der Textilgeschichtsforschung. Vgl. Clarke (1997), Textiles du Mali (2004: 63-64).
109
TRIBUS 54,2005
vorgestellten Komplementarität ist und - so Ogotemmeli - einen Akt der Liebe dar-
stellt, dessen Resultat der bekleidete Mensch ist. Die ersten Schritte der Verarbei-
tung der rohen Baumwolle erfolgen durch die Frau, die sie von den Kernen befreit
und mit einem stacheligen Brett durchkämmt, um aus dem luftigen Gewebe Fäden
zu gewinnen. Die Webarbeit liegt dann wiederum in der Hand der Männer, die große
Rollen von Bändern in der Breite von 15 bis 20 cm herstellen. Sie sind auch auf das
Zusammennähen der einzelnen Streifen sowie die Anfertigung der Kleidungsstücke
spezialisiert. Das Gewebe enthält im Allgemeinen keine Muster. Das Färben im In-
digo-Bad ist Sache der Frauen.
Die immense Bedeutung der Baumwollstoffe bei den Dogon offenbart sich auch in
rituellen Situationen, wenn nämlich anlässlich der Totenfeiern die Baumwollbänder
vom Hausdach des Verstorbenen herunterbaumeln und Körbe mit roher Baumwolle
ausgestellt werden, um die Aktivitäten und Leistungen des oder der Verstorbenen zu
vergegenwärtigen. Aufgrund der hohen Wertschätzung des Stoffes werden die Klei-
der, auch die vererbten und abgenutzten, bis zuletzt getragen. Sie werden nicht wie
Abfall behandelt. Die übrig gebliebenen Fetzen dienen als Unterlage für Traglasten
auf dem Kopf, nichts wird weggeworfen oder verbrannt, sondern dem Prozess der
Verwesung überlassen.
Das Färben der Stoffe
Das Färben der Stoffe erfolgt in einem Bad aus pflanzlichem Indigo, das mit Potta-
sche angereichert worden ist, um die chemische Reaktion der Reduktion hervorzu-
rufen. Der Farbstoff wird aus dem indigofera suffroticosa-Busch gewonnen, der zu
den indigohaltigsten Pflanzen gehört18. Die Blätter werden mitsamt den Zweigen
abgeschnitten und dann mit einem Stein zu einer breiigen Masse zerrieben, die ver-
goren anschließend zu größeren Bällen geknetet und dann getrocknet wird. Der Fär-
beprozess ist langwierig und erfordert mehrere Tage, um den höchsten Sättigungs-
grad zu erreichen, auf den die Konsumentinnen großen Wert legen. Die Stoffe wer-
den mehrmals ins Färbebad getaucht und zwischendurch immer wieder zum Trock-
nen auf die Steine ausgebreitet.
Der Indigo-Farbstoff auf pflanzlicher Basis wird im heutigen Westafrika nur noch
von den Dogon verwendet. Überall haben bereits die chemischen Färbemittel die
Oberhand gewonnen, weil das Verfahren zum einen weniger zeitaufwendig und die
Farbe zum anderen weitaus waschechter ist.
Der Verkauf der Stoffe erfolgt durch die Färberinnen selbst, bzw. er liegt in der Hand
einer der darauf spezialisierten Gruppe, die so genannten yerun. Sie bilden eine Art
Untergruppe der jambe. Der unreine Charakter der Indigo-Stoffe wird als so „anste-
ckend“ gedacht, dass auch die, die mit ihm handeln, davon erfasst werden.
Neben den Indigo-Stoffen gibt es auch noch andere gefärbte Stoffe in Gelb- und
Brauntönen, die jedoch nur von Männern getragen und auch nur von ihnen mit Hil-
fe von Tonerde, angereichert durch bestimmte pflanzliche Lösungen (aus Blättern
und Rinde), gefärbt werden19.
3. Ästhetik und Symbolik der Indigo-Stoffe
Der Indigo-pagne ist auch heute noch das Bekleidungsstück der Dogon-Frauen par
excellence. Zwar haben auch andere Kleidungsstile in die Dörfer Einzug gehalten,
aber der gala soy - der in Indigo getränkte Stoff - besitzt weiterhin den höchsten
18 Die Botaniker haben insgesamt 350 verschiedene pflanzliche Träger des Indigo-Farbstoffs
ausgemacht. Vgl. Textiles du Mali (2004: 75-81) und Calame-Griaule (1968: 90).
19 Aufgrund ihrer symbolischen Nähe zu Buschland und Natur darf der Erdpriester, der hogon,
als Vertreter des Schöpfergottes Ammei und Verkörperung der Kultur, keine braunen Kleider
tragen. Zu ihm gehören Weiß, Schwarz und ein gewisses Rot, das nicht mit dem Rot der Mas-
kenröcke verwechselt werden darf, da ihnen der Wert der Unreinheit anhaftet.
110
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Wert als Träger ethnischer Zugehörigkeit und ästhetischer Präferenzen. Eine hand-
genähte Bluse aus buntem Baumwollstoff oder eine importierte Bluse in den ent-
sprechenden auffälligen Farben bilden das Oberteil. Im Gegensatz zu den heutigen
weit verbreiteten ganzheitlichen Kostümen, in Mali auch complet genannt, hat dieses
Modell bei den Dogon keine Tradition und ist daher seltener anzutreffen. Wenn je-
doch ein entsprechendes Oberteil zum Indigo-Rock getragen wird, dann hat es die
Form eines kurzen houbou, der an den Seiten weitgehend offen bleibt. Daneben
findet man Kleider aus der moslemischen und städtischen Bekleidungskultur wie
den boubou und den grand Dakar. Der boubou (Gardi 2000: lOff) ist der typische
islamisch geprägte Kleidertypus, der auch die Bezeichnung für das männliche Pen-
dant ist und ein weites rechteckiges Gewand darstellt. Es wird aus importiertem, lo-
kal gefärbtem Damast angefertigt. Der grand Dakar bezeichnet ein von oben weit
fallendes Kleid mit großzügigen Spitzenapplikationen. Diese Kleiderstile besitzen
Neuheitswert und werden mit Wohlstand, Urbanität und Modernität assoziiert20,
wobei sie jedoch immer nur als Ergänzung zu der lokalen Kleidungskombination
gedacht werden.
Auch für Männer ist die Indigo-Kleidung bedeutungsvoll und nicht aus dem sozialri-
tuellen Leben wegzudenken. Durch sie werden die ethnische Besonderheit und der
ethnische Stolz21 zum Ausdruck gebracht. Außerdem stehen die unterschiedlichen
Kleidungsstile und die Menge an Stoff in engem Zusammenhang mit dem Sozialsta-
tus. Alte Männer, die die soziale, wirtschaftliche und rituelle Kontrolle über die jun-
gen Männer und Frauen ausüben, symbolisieren ihre Macht durch die Stofffülle und
die langen, weiten Kleidungsstücke. Die jüngeren Männer dagegen begnügen sich
mit kürzeren Hosen und ärmellosen Hemden. Und ein Familienchef achtet darauf,
dass er in der Öffentlichkeit angemessen - in Form und Fänge - gekleidet ist, um
nicht der Fächerlichkeit ausgesetzt zu sein.
Farbsymbolik
Die dunkle Farbe des Indigo-Stoffs wird im Gegensatz zu Weiß als der natürliche
Ausdruck des Febens betrachtet. Weiße Stoffe tragen die Dogon nur in rituellen
Kontexten wie z. B. während der Initiationsphase eines Priesters, wo sie als Sinnbild
für die Abkehr vom alltäglichen aktiven Gemeinschaftsleben stehen. Der Eintritt ins
Priesteramt bedeutet eine Art Vergeistigung, aber auch Sterilität, denn es ist mit ei-
ner Reihe von Tabus verbunden, die den Betroffenen vom physischen und sozialen
Zusammenleben mit den Mitmenschen trennen. Der Feichnam einer schwangeren
Frau wird ebenfalls in ein weißes Tuch - anstatt des sonst üblichen indigofarbenen
- gewickelt, wodurch der doppelte Tod sinnfällig zum Ausdruck kommt.
Worin liegt nun die besondere Bedeutung der Indigo-Stoffe begründet? - Die dun-
kelblaue Farbe, die wie alle dunklen Farbtöne unter Schwarz subsumiert wird, steht
im Zusammenhang mit dem Bild der Feuchtigkeit und der Fruchtbarkeit, das aus
den dunklen Wolken während der Regenzeit, dem nassen Boden oder den tief dun-
kelgrünen Hirsefeldern zum Zeitpunkt der Reife herrührt. Die mit indigofarbenen
Röcken bekleideten Dogon-Frauen demonstrieren also ihre potentielle Fruchtbar-
keit. Das leere dunkelblaue Feld zeigt die Möglichkeit eines sich füllenden Bauches
an22. - Neben der positiven Konnotation der Farbe besitzt das Indigo allerdings auch
20 Insbesondere die nach verschiedenen Schnittmustern gearbeiteten Kleider sind beliebt und
sollen bekunden, dass die Trägerin Beziehungen zur Hauptstadt Bamako hat. Verschiedene
Elemente der von den Bamana geprägten Stadtkultur werden herausgegriffen - so z. B. dieser
Kleiderstil, bestimmte Nahrungsmittel, einige Wörter, Festbräuche -, um als modern anerkannt
zu werden.
21 Zur Bedeutung der ethnisch-kulturellen Abgrenzung in Bezug auf die soziale Identitätskon-
struktionen vgl. Bouju (1995 b und 2002) und van Beek (2003 passim).
22 Die folgenden Interpretationen der weiblichen weiß gemusterten Indigo-Stoffe sind durch
die Analyse von Brett-Smith (1990/91:164-166) angeregt worden.
111
TRIBUS 54,2005
die abweisende Eigenschaft des Geruchs, der die Assoziation von Verwesung und
Tod hervorruft. Die Fäulnisgerüche werden im Übrigen der Sphäre des Weiblichen
zugeschrieben (Calame-Griaule 1987:294-5 und passim), wo die Kraft der Rekreati-
on unlösbar mit dem Geruch des abgestorbenen Blutes in der Phase der Unfrucht-
barkeit verbunden ist2’. Die Doppelwertigkeit des Indigo-Stoffs könnte also auch
mit dem übel riechenden, aber produktiven Dünger verglichen werden, der die Ver-
heißung einer reichen Ernte ausströmt.
In Anbetracht dieser Ambivalenz erklärt sich auch die Tatsache, dass die einfarbigen
schwarzen Stoffe von zwei so entgegen gesetzten Gruppen getragen werden wie die
jungen gebärfähigen Frauen einerseits und die alten Frauen und Männer jenseits der
biologischen Fortpflanzungsperiode andererseits. Allerdings muss hier jetzt ange-
merkt werden, dass die potenziell produktive Energie in unterschiedlichen Formen
auftritt. Die erste Gruppe ist zwar im Vollbesitz ihrer physischen Fortpflanzungska-
pazität, dafür hat aber die alte Generation als Vorläuferin der zukünftigen Ahnen im
Zuge der überstandenen Lebenskrisen enorme geistige Energien akkumuliert, mit
denen sie entscheidenden Einfluss auf das Leben der Nachgeborenen und auf die
rekreativen Chancen der Frauen ausüben. Die jungen Frauen und zukünftigen Müt-
ter müssen sich also mit großem Respekt und voller Ehrerbietung den Alten gegen-
über verhalten, um ihren Segen zu bekommen; andernfalls sind alle Schwangerschaf-
ten zum Scheitern verurteilt. Also ergibt die schwarze Farbe als Zeichen für kreative
Macht für beide Altergruppen Sinn.
Die Männer sind ausnahmslos mit einfarbigen Stoffen bekleidet. Demgegenüber
zeichnen sich die Röcke der Frauen, insbesondere die der jüngeren Frauen, durch
die regelmäßigen weißen geometrischen Muster aus, die die gesamte Fläche überzie-
hen. Insofern als Weiß die Farbe der Sterilität und der Welt der Ahnengeister vor-
stellt, spiegelt sich in ihnen die enge Beziehung der Frauen zu den Vorfahren. Für die
erfolgreiche Durchsetzung ihrer Fortpflanzungskraft sind sie nämlich vom Wohlwol-
len und Schutz der vorhergehenden Generationen abhängig, und außerdem gelten
die neugeborenen Kinder oftmals als die Reinkarnation gewisser Ahnen. Die klei-
nen weißen Zeichen inmitten der großen dunklen Fläche können also als die ständi-
gen Bewegungen der Frau hin zu den sie kontrollierenden Geistern der Verstorbe-
nen und wieder zurück zu der Welt der Lebenden interpretiert werden (Brett-Smith
171). Während die Stoffe der jungen Mädchen aufregende weiße Muster in dichter
Folge zeigen, verringern sich die weißen Unterbrechungen auf den Röcken mit zu-
nehmendem Alter der Betreffenden. In dem Maße, wie sich im Laufe des Lebens die
biologische Kraft verringert, steigert sich die spirituelle Energie der Menschen, und
analog zu diesem Prozess konzentrieren sich die weißen Zeichensymbole in der ers-
ten Lebenshälfte, um dann allmählich vom Indigo ganz aufgesogen und verdrängt zu
werden.
Formensprache: ästhetische Konzeption und Bedeutung
Die ästhetische Konzeption der weißen Motive, die aus dem dunklen Untergrund
hervorleuchten, ist trotz ihrer scheinbar so einfachen und banalen Formen sehr kom-
plex. Bei der Betrachtung der Stoffe müssen mehrere Sinnebenen unterschieden
werden: die Symbolik der Farben Weiß und Schwarz, das technische Herstellungs-
verfahren. das Formenrepertoire der weißen Muster, die Beziehung zwischen den
weißen Linien und der schwarzen Fläche und der übertragene Sinn der Motive, der
sich aus ihrer Anordnung in Bezug auf den gesamten Stoff ergibt23 24.
23 Die Frauen sind in vielerlei Hinsicht mit Ambivalenzen umgeben: Vgl. insbesondere Michel-
Jones 1999: ch. 3: Ambivalence de la femme-mère, S. 133-146 und Calame-Griaule (1987: Index,
passim).
24 Eine kurze Anmerkung zu den ebenfalls weit verbreiteten gestreiften Stoffen, auf die hier
nicht weiter eingegangen wird, findet sich in der Anmerkung 29.
112
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Zunächst muss auf die formal-technische Besonderheit der weißen Grafik hingewie-
sen werden, die durch die tiefblaue Umgebung zum Vorschein gebracht wird. Das
Muster tritt nicht durch eine dunkle .Schrift’ auf hellem Grund zu Tage, sondern
durch die Produktion von .Leerstellen’; die Färbeflüssigkeit wird daran gehindert,
den gesamten Stoff zu durchdringen, und damit bleiben einige Stellen des hellen
Grundstoffs unberührt. Allein hierin kann ein spezifisch weibliches Ausdrucksmittel
gesehen werden, das sich von den Zeichensymbolen der Männer unterscheidet, die
durch Aufträgen - wie bei der Felsmalerei und Wanddekoration (vgl. Griaule 1963:
603-698) - oder Einkerben - bei der Holzskulptur - hergestellt werden. In diesem
System liegt der Sinn übrigens in den einzelnen Zeichen selbst, während in der weib-
lichen Formensprache der so genannte leere Raum, die Indigo-Fläche, ebenso be-
deutsam wird25.
Die angewandte Technik basiert auf der Stickereireserve, d. h. die Muster werden mit
einem Faden in die Stoffe eingenäht, bevor sie ins Färbebad getaucht werden, und
dann wieder entfernt. Die Stickereien bringen verschiedene Formen hervor: Dreie-
cke, Kreise, gestrichelte Linien und am häufigsten horizontal und vertikal gelagerte
V-Elemente, die separat oder in Kombination von zwei Typen verwendet werden.
Die Motive sind so angelegt, dass sie in Längsrichtung gelesen werden können, in der
der Stoff eben um den Körper der Frau geschlungen wird. Meistens verlaufen sie in
horizontaler Richtung, aber nicht ausschließlich.
Das Muster setzt sich aus fortlaufenden geometrischen, gradlinigen Figuren zusam-
men. die mit Bezug auf die Fläche konzipiert werden, deren Grundeinheit der einzel-
ne Baumwollstreifen ist. Es wird durch die Grundstruktur gebildet, die in einem oder
zwei Streifen enthalten ist und sich dann wiederholt. Gleiche oder ähnliche Formen
in unterschiedlicher Größe und Flächenaufteilung beruhen also auf verschiedenen
Gestaltungsprinzipien und besitzen somit ganz eigene Bedeutungen. Dieses visuelle
Denken möchte ich an zwei Stoffen erläutern, die sich beide durch horizontal aufein-
ander folgende Reihen von Kästchen auszeichnen, die versetzt zueinander stehen.
Das als .Teppich’26 (Abb. 2) bezeichnete Muster enthält drei Reihen Kästchen pro
Baumwollband. während der Name .Zwei Parallelen' (Abb. 3) sich auf einen Stoff
□
DD
Abb. 2: Hier das .Teppich’-Muster in einer seiner Vari-
anten. Es unterscheidet sich von dem Motiv .Parallelen’
bzw. .Verschobene Parallelen" (Abb. 3) dadurch, dass
die einzelnen Stoffbahnen durch drei Reihen Vierecke
ausgefüllt werden statt nur durch zwei.
2:5 Dieses Argument wird in den folgenden Absätzen entwickelt.
26 Dabei ist die Bezeichnung jedoch nicht das Ausschlaggebende, denn die Namen sind nicht
zwingend an eine Form gebunden. So bezieht sich z. B. das ‘Teppich'-Muster - wie viele andere
auch - auch noch auf andere Formen. Eine Färberin stellte mir unter diesem Namen einen Stoff
vor, der 2 Reihen von hochgezogenen Kästchen pro Band zählte, wobei die einzelnen Stichfor-
men aus aufrecht stehenden V bestanden, während die Formen der oben genannten Stoffe lie-
gende V bilden.
113
llsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
bezieht, dessen Bahnen je zwei Reihen Kästchen aufweisen. Trotz der scheinbar glei-
chen oder ähnlichen formalen Gestaltung werden die beiden Stoffe von ihrem Zei-
chensystem her unterschiedlich wahrgenommen.
Die Regelmäßigkeit der kleinen Muster, die sich über den ganzen Stoff fortsetzen, ist
nur ein Charakteristikum unter anderen. Zum einen ist die Musterung immer auf
den gesamten Stoff bezogen, so dass sie immer in seinem Zentrum liegt und sich zu
den Seiten hin durch einen freigelassenen oder anders markierten Rand abgrenzt.
Zum anderen kann der regelmäßige Rhythmus durch eine übergeordnete Raumauf-
teilung unterbrochen werden (Brett-Smith: Abb. 4, S. 172 und Abb. 7, S. 176). Die
rechte Kante des Stoffs, die ,Nase des Stoffs’, wird gewöhnlich durch ein Muster ab-
geschlossen, wofür eine der Varianten des Pfeils oder Hahnentritt-Motivs gewählt
wird27. Dieser dekorative Abschluss bildet das äußere sichtbare Ende des Rocks.
Die Aussage der Motive liegt auf zwei Ebenen: in den Formen der Zeichen selbst
und in den Zwischenräumen. Zunächst einmal lassen sich die Einzelfiguren isoliert
betrachten. Ihre Bezeichnungen sind nicht einheitlich, sondern variieren je nach lo-
kalen Gepflogenheiten. Oftmals ist die Namensgebung jedoch im Hinblick auf die
grafische Gestalt nachvollziehbar, auch wenn es sich um sehr abstrakte formale Ge-
bilde handelt: Das Motiv ,Zwiebelfelder’ (Abb. 4), dargestellt durch auf der Spitze
stehende Quadrate, spielt auf die kleinen, rechtwinklig angelegten und mit Steinen
umsäumten Erdflächen für den Zwiebelanbau an; die Heuschreckenschwärme, die
die Hirsefelder überfallen und sie zerstören können, finden sich auf dem pagne durch
eng gedrängte parallele Reihen von einzelnen Dreier-Ketten aus Pfeilen oder lie-
genden V dargestellt (Abb. 5); und das weit gefächerte Blatt des Neem-Baumes lässt
sich leicht in dem gleichnamigen Motiv (Abb. 6) wieder entdecken. - Einige Namen
sind inhaltlich äußerst dürftig, so z. B. wenn sie sich nur auf die äußere Form des
Motivs beziehen:,Vierecke’, ,in geraden Linien gestickt’ oder .9’.
Die verschiedenen Zwischenräume oder Negativräume sind ebenfalls sinnstiftend,
wenn sie nicht sogar die zentralen Sinnträger sind. Bei dem Motiv der Zwiebelfelder
symbolisiert die dunkle Fläche innerhalb der weißen Außenlinien das Bezeichnete,
Abb. 6: Die starke Verästelung
des 'Neem-Blattes’ wird durch
diese intensive geometrische
Struktur wiedergegeben.
27 Brett-Smith (1991: 171) gibt dafür die Bezeichnung 'Ich habe die Füße meiner Mitehefrau
festgebunden' an.
115
TRIBUS 54,2005
nämlich die Zwiebeln. Und die senkrechte Zickzack-Linie in der Mitte des Stoffs
(,Ein Mann mit seinen beiden Frauen' Brett-Smith; S. 172) erhält ihre Bedeutung
durch ihre zentrale Position auf dem Stoff, durch die sie die rechte von der linken
Hälfte trennt. Der Ehemann steht zwischen seinen beiden Frauen und wird aufgefor-
dert, das Gleichgewicht zu halten, durch eine gerechte Gleichbehandlung den Fami-
lienfrieden zu gewährleisten. Dieselbe Zackenlinie beinhaltet aber bei einem ande-
ren Stoff (,Zwiebelfelder', Brett-Smith, Abb. 5: S. 174) eine andere Aussage, denn
hier ist sie quer angelegt und wird vielfach untereinander wiederholt.
Doch inwieweit spiegeln die Namen bzw. die dargestellte Form als Hinweis auf den
Gegenstand die reale Bedeutung der textilen Zeichensprache wieder? Nach Cala-
me-Griaule (1968:255) verbergen sich hinter den Zeichen und ihren Referenzobjek-
ten schwer zu entziffernde Rätsel, Parabeln und Fabeln, und auch Brett-Smith (1991:
172) argumentiert, dass die wahre Aussage sich nicht auf die Bedeutung der isolier-
ten Symbole reduzieren lässt. Der Sinn des Gesamtbildes erschließt sich erst, wenn
die ausgewählten grafischen Zeichen und Motive im Kontext der besonderen Rolle
der Frau in der Dogon-Gesellschaft gesehen werden. Als Ergänzung zu der dominie-
renden Farbe als symbolischer Träger für Fruchtbarkeit und Wasser sprechen die
verschiedenen Muster über konkrete Faktoren, die in positiver oder negativer Bezie-
hung zur Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben der Frauen stehen. Sie sind die
wesentlichen Agentinnen der Reproduktion der Gesellschaft, indem sie einerseits
für die biologische Fortpflanzung prädestiniert sind und andererseits auch mit der
Erziehung der Kinder und der Ernährung der Familie betraut werden. Als Entschä-
digung für ihren Beitrag zur Agrararbeit erhalten sie von ihrem Vater oder Ehemann
einen Teil der Hirse- und Zwiebelernte, über den sie frei verfügen können. Das heißt,
sie verkaufen ihn, um mit dem Erlös die ,Zutaten' für die Soße und Kleidung für sich
und die Kinder zu erwerben (van Beek 1999: 100-106). Demgegenüber liefert der
Mann das Getreide für die tägliche Essensration und kommt für die medizinische
Versorgung auf. In dieser Aufgabenverteilung zeigt sich, wie sehr das Schicksal der
Frau mit dem Verlauf des Agrarzyklus verknüpft ist und in welch starker Abhängig-
keit sie sich von der Großzügigkeit des Ehemanns befindet. Demgegenüber steht die
relative Freiheit der Frauen, sich ihren Mann selbst auszusuchen, ihn jederzeit zu
verlassen und sich einen neuen Ehemann zu suchen. Diese Lage bedeutet eine große
Unsicherheit für die Männer, die sie als Angst vor dem Verlassen-Werden erleben.
Die Abkehr der Frau bedeutet eine soziale Erniedrigung für den Mann und darüber
hinaus eine erhebliche wirtschaftliche Einbuße (Paulme 1940:388-390, Michel-Jones
1999; 111-113, Parin und Morgenthaler 1970:142).
Unter dem Blickwinkel dieser allgemeinen Lebensbedingungen und kulturellen
Werte erhellen sich die Bedeutungen einiger Muster28. So erzählt der Stoff,Gerader
Weg' (Abb. 7), auf dem eine Unzahl weiß gestrichelter Bahnen, dicht an dicht ge-
drängt, in Längsrichtung verlaufen und fast eine sinnliche Verwirrung stiften, von
dem Weg, den die Mädchen zur Wasserstelle zurücklegen müssen. In der Tat, Wasser
ist die wichtigste Ressource zum Überleben, und das Bedürfnis danach ist nie end-
gültig befriedigt, so dass die Frauen schier endlose Wege zurückzulegen scheinen.
2f< Brett-Smith (1991: 171-175) stellt insbesondere die Thematik der Eifersucht im Kontext po-
lygyner Ehen als zentrales Anliegen in der Kommunikation durch Stoffmuster heraus. Dazu
führt sie zwei Muster an, die auf das Konfliktpotenzial zwischen zwei Mitehefrauen verweisen
und die sie als offene Kampfessprachc der einen an die Adresse der anderen bzw. an den Mann
interpretiert. Dieser Deutung möchte ich folgende Argumente entgegenhalten, die diese Deu-
tungsmöglichkeit relativieren: 1. Die Polygynie ist traditionell bei den Dogon nicht sehr stark
ausgebreitet, obwohl sie in den islamisierten Regionen an Bedeutung gewinnen kann. Insofern
kennzeichnet die Eifersucht auf Mitehefrauen das Lebensgefühl der Frauen nicht in dem Maße,
wie es durch die behauptete Wichtigkeit des Stoffes den Anschein hat. 2. Diese direkte, wenn
auch kodifizierte Art der Kommunikation in Bezug auf einen Konflikt widerspricht den Kon-
ventionen und der generellen Scheu der Dogon, gegensätzliche Positionen zu benennen und in
einer aktuellen Situation auszusprechen.
116
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Abb. 8: Dieses Muster trägt den Namen ,9’
und bezieht sich auf die Multiplikation von 3
x 3, die in der einen oder anderen Weise in
den einzelnen Kästchen oder in einer Drei-
erreihe enthalten ist (hier zwei Beispiele).
Das Thema der Heuschrecken vergegenwärtigt die Gefahr, der die Hirsefelder aus-
gesetzt sind und die die Ernte ruinieren kann. Die immer wieder betonte komple-
mentäre Beziehung zwischen Mann und Frau und das Bedürfnis nach Harmonie und
Vollständigkeit kommen in den Mustern .Mann und Frau' und ,9’ (Abb. 8) zum Aus-
druck. Die Zahl Neun setzt sich aus 3x3 zusammen und wird durch Kästchen mit je
drei mal drei V bzw. drei untereinander angeordneten Kästchen mit je drei Reihen
abgebildet. Neun kann als eine Zahl der Unvollständigkeit im Vergleich zu Zehn
gedacht werden, gleichzeitig stellt sie das männliche Zeichen in dreifacher Anzahl
dar, wobei dennoch das weibliche Element fehlt. In dem Symbol .Mann - Frau'
kommt die Kombination von Drei und Vier vor. Diese Darstellung könnte übrigens
auch in Beziehung zu der oben zitierten idealtypischen Kleidung der Geschlechter
gesetzt werden. Die drei Stoffbahnen, die bei den Männern in Längsrichtung zwi-
schen die Beine verläuft, finden ihre Entsprechung in den drei Längsstrichen, die
durch untereinander gesetzte Dreiecke gebildet werden. Die quer verlaufenden
Baumwollbänder des Rockes werden durch vier untereinander liegende Querstriche
angedeutet. - Die relative Freiheit der Frauen, die sich im Bewusstsein der Männer
wie eine immerwährende Bedrohung verankert hat. findet sich in einem Stoff mit
dem harmlos klingenden Namen .Für die Reise bestimmt' wieder29. Die Mobilität ist
eine der Privilegien, derer sich die Frauen erfreuen, aber eine Reise kann auch die
definitive Trennung bedeuten.
29 Abb. in Textiles an Mali (2004: 64). Es handelt sich hier um einen gestreiften Stoff, dessen
Muster auf der Verwendung schwarzer und weißer Webfäden beruht. Er wird als fertiger Stoff
noch einmal gefärbt, wodurch die dunklen Streifen noch dunkler und die vormals weißen mit-
telblau werden. Die helleren Streifen werden mit Bleichmittel bearbeitet, um eine hellblaue
Farbe zu erzeugen. Der Name des Stoffes steht in keiner sichtbaren Beziehung zum Muster.
117
TRIBUS 54,2005
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Textilsprache der Dogon-Frauen durch
ihre Unbestimmtheit und Kontextabhängigkeit geprägt ist. Diese diskrete Form der
Kommunikation entspricht ganz und gar dem generellen kulturellen Verhaltensko-
dex, der zum einen keinen offenen Widerspruch duldet und zum anderen die Strate-
gie der bewusst produzierten Ambivalenzen beinhaltet (Bouju 2002).
4. Ästhetische Neuerungen und Umdeutungen als Ausdruck eines neuen Selbstver-
ständnisses unter globalen Einflüssen
Heutzutage haben sich unter dem Einfluss der Touristenströme und unter den allge-
meinen Bedingungen der Modernisierung, worunter hier u. a. erweiterte Konsuman-
gebote, aber auch Identifikationskrisen und eine sich verstärkende Individualisie-
rung verstanden wird, signifikante Veränderungen im Kleidungsstil der jungen Män-
ner und auch - auf sehr bemerkenswerte Art - der Frauen vollzogen. Sie finden statt
in einem Kontext der Verklammerung lokaler und globaler Realitäten, die ein neues
Selbst-Bewusstsein hervorruft und z.T. auch das Verlangen nach einer sozialen Neu-
positionierung - im Fall der Touristenführer - zur Folge hat. Auch wenn keine mate-
riellen und ökonomischen Verbesserungen eingetreten sind, so sind die soziokultu-
rellen Einflüsse umso weitreichender und gravierender. Auffällig ist der Gegensatz
von der fast als archaisch zu bezeichnenden Lebensweise der Dogon, wenn man bei-
spielsweise ihre spartanische Hausausstattung betrachtet, und dem Einzug überregi-
onaler und internationaler Einflüsse, was die Lebensweise, Werte, Glaubensinhalte
und Ästhetik anbetrifft, denen die Menschen ausgesetzt sind und auf die sie perma-
nent reagieren. Die Integration in größere regionale Zusammenhänge ist dabei der
entscheidende Faktor. Die Mobilität der Bevölkerung zwecks temporärer Arbeits-
migration oder als Bestandteil des nationalen Handelsnetzes bringen neue soziale
und kulturelle Werte und Handlungsmuster in die Dörfer. Die wirtschaftliche und
politische Dominanz der Hauptstadt und der Bamana-Region fordert zu einer Aus-
einandersetzung mit der eigenen ethnisch-kulturellen Identität heraus und macht
Anpassungsstrategien notwendig, die das Überleben und die Anerkennung zum Ziel
haben.
In wieweit sind die Frauen von diesen Prozessen betroffen? Auch wenn in erster Li-
nie die jungen Männer in die Städte abwandern, um die Subsistenzkrise der Familie
zu entschärfen bzw. um für sich selber eine neue Zukunft zu suchen, so sind auch
immer mehr Mädchen und junge Frauen der Verlockung der Stadt erlegen, die ihnen
ein besseres Leben und eine moderne Kultur verspricht. Jeder Dogon möchte einmal
die große Stadl gesehen haben, sich an den künstlich erleuchteten Nächten ergötzen,
den Komfort der Busse und Taxen genießen und gut, d. h. viel essen, die Sprache der
Privilegierten verstehen und sprechen lernen. Aus diesem Grund ist es auch oppor-
tun. sich zum Islam zu bekennen und in der Moschee zu beten, da dies die Religion
der Städter und des nationalen Handels ist.
Wirtschaftlich bedeutsam für die Frauen einiger Dörfer des Plateaus und der Falaise
ist der Gartenbau, sowohl was den Gemüse - als auch den Zwiebelanbau anbetrifft.
Vielfach haben sie die Möglichkeit, sich daran zu beteiligen und kleine Einnahmen
zu erwirtschaften, obwohl die Männer die oberste Kontrolle über den Arbeitseinsatz
und die Erträge ausüben. - Die Tourismuswirtschaft liegt ausschließlich in der Hand
der Männer, so dass Frauen nur in äußerst begrenztem Rahmen in direkten Kontakt
mit den ausländischen Besuchern treten.
Die kritische soziale Lage der Touristenführer ist an anderer Stelle ausführlich be-
handelt worden (Luttmann 2002), so dass ich mich hier mit einigen kurzen Zusam-
menfassungen begnüge. Einige Jungen aus den Dogon-Dörfern nutzen die Chancen
des Tourismus, um sich wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen. Verglichen mit dem
Einkommen der Subsistenzbauern, verdienen sie mit geringem Aufwand ein Vermö-
gen, auch wenn die Einkünfte sehr unregelmäßig und saisonal bedingt sind. Auf-
grund ihrer kulturellen Interpreten- und Vermittlerfunktion leben sie in engem Kon-
takt mit den europäischen und amerikanischen Besuchern, wodurch sich auf längere
118
SfiS
■Wr
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Sicht komplizierte, ambivalente Beziehungen zu ihnen und zur lokalen Gesellschaft
entwickeln, die sich auch in entsprechenden Identitätskonstruktionen niederschla-
gen. Die Touristenführer, gewöhnlich sehr junge Leute, übernehmen gewisse externe
Konsummuster und Werte und beginnen, ihre eigene Kultur so zu sehen bzw. sie so
darzustellen, wie es den Erwartungen der nach Exotik hungernden Kunden ent-
spricht. Der Begriff der Authentizität spielt dabei eine große Rolle, wobei das Bild
einer starren, von der Mythologie stark geprägten Gesellschaft entworfen wird, das
weit von der Realität entfernt liegt. Die nur partielle Zugehörigkeit zur europäi-
schen Kultur einerseits und die gleichzeitige Entfremdung vom ethnisch-lokalen Mi-
lieu andererseits sind die Ursache unerfüllter Hoffnungen und Frustrationen. Fast
als tragisch zu bezeichnen ist der Widerspruch zwischen der Selbstwahrnehmung der
Männer und der Fremdwahrnehmung. Sie betrachten sich als die soziale Vorhut und
die kosmopolitische Spitze, was aber im Widerspruch zu ihrer realen Situation liegt,
die durch Marginalisierung geprägt ist. Ihnen haften ähnliche Makel wie den Mit-
gliedern der Kasten an. Die Unstetigkeit, das schmeichelnde, verräterische Wort und
der egoistische, unsoziale Umgang mit ihren Einnahmen, den sie in verschwenderi-
schen Konsum umsetzen, dienen als Argumente der Anprangerung. Ihr wahres .Ver-
gehen' liegt aber vor allem darin, dass sie sich der sozialen und wirtschaftlichen Kon-
trolle durch die Alten entziehen.
Ihr Auftreten in der Öffentlichkeit und ihr Verhalten in den familiären Beziehungen
sind äußerst widersprüchlich und ambivalent. Auf der einen Seite legen sie auf pro-
vozierende Art eine gewaltige Arroganz und Überheblichkeit an den Tag; sie zeleb-
rieren ihr Anderssein. Auf der anderen Seite haben sie aber große Angst, ihre sozio-
kulturellen Bezüge zu verlieren, und sind daher mit Strategien der Reintegration
beschäftigt.
Das neue Selbst-Bewusstsein der Frauen
Der Kleidungsstil und das Kleidungsverhalten sind eine Projektionsfläche, auf der
sich neue Werte und persönliche Wahrnehmungen hinsichtlich der sich verändern-
den Welt im wahrsten Sinne des Wortes abzeichnen. Dies trifft umso mehr für die
Frauen zu, als ihnen traditionell kein öffentlicher Raum zur Mitsprache und Artiku-
lation gewährt wird. (Calame-Griaule 1987: passim) Kleidung ist ein Rohstoff, den
sie selber weiterverarbeiten können und über den sie volle Kontrolle haben. Es liegt
also nahe, dass sie sich in erster Linie dieses Mediums bedienen, um Aussagen über
die veränderte Lage und über ihr neues Selbst-Bewusstsein zu machen.
Die Frauen bekennen sich weiterhin zu den klassischen Indigo-Stoffen, deren Mus-
ter und Ästhetik ihnen vertraut ist, mit denen sie sich identifizieren können. Schon
allein über die Muster bieten sich enorme Gestaltungsmöglichkeiten. Es werden
Themen aufgegriffen, die für sie von Belang sind und in Bezug zu ihrer konkreten
Lebenssituation stehen. Die Frauen machen Aussagen über selektiv herausgestellte
technische Neuerungen und soziokulturelle Veränderungen. Dazu werden neue Zei-
chen kreiert, oder die alten Motive mit neuen Namen belegt. Das Motiv der Zwiebel-
felder hat vom Plateau aus, wo es aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Zwie-
belhandels und der partiellen Teilhabe der Frauen an dieser individuellen Wirt-
schaftsform seinen Ausgang genommen hat. zunächst die Dörfer der Falaise erobert,
bevor es dann auch in die entlegenere Tiefebene vorgedrungen ist. Da die Bedingun-
gen der Frauen in den einzelnen Dörfern sehr unterschiedlich sind - hinsichtlich der
Arbeits- und Ertragsbeteiligung -. hat das Motiv also keine klare Aussage, sondern
ruft je nach lokalem Kontext spezifische Assoziationen hervor. Es kann Neid oder
Stolz. Unzufriedenheit oder Verlangen ausgedrückt werden. Auf jeden Fall ist das
Thema „Zwiebeln" von Aktualität und hat daher Eingang in den öffentlichen Dis-
kurs (wie z. B. durch die textile Formensprache) gefunden. Glaubensfragen kommen
auch zur Sprache. Neuerdings sieht man Stoffe mit großflächigen Dreiecken, die sich
jeweils aus einer Vielzahl kleiner weißer Pfeile zusammensetzen. Sie repräsentieren
die Moschee (Abb. 9) und tragen damit der zunehmenden Islamisierung Rechnung.
119
TRI BUS 54,2005
Abh. 9: Das Dreieck steht als
Symbol für die Moschee.
Abh. 10: Das sehr abstrakte Bild
der Uhr wird durch die Zeiger
hergestellt.
Die Wahl dieses Stoffes kann als Glaubensbekenntnis sowie als eine Aufforderung
zur Glaubenspraxis verstanden werden. Die Uhr als Zeitmesser und/oder Zeichen
des Fortschritts, die vornehmlich zu den Besitzgütern der Männer zählen, wird durch
die beiden Zeiger symbolisiert und auf den Stoff übertragen. (Abb. 10) Auch hier
wieder gibt es mehrdeutige Interpretationen.
Besonders das Dorf Sangha, ein relativ reiches Dorf aufgrund seiner günstigen na-
türlichen Wasservorkommen30, die in eine sehr dynamische Landwirtschaft und ei-
nen intensiven Zwiebelanbau investiert werden, ist der Entstehungsort für neue
Symbole des Reichtums und des guten Lebens. Das neueste Motiv ist moto-chame,
.Motorradkette’ (Abb. 11), als Hinweis auf die große Anzahl von Männern mit Mo-
torrädern, die der Stolz des Dorfes und gleichzeitig Objekt der weiblichen Begierde
sind. Dieses Muster ist auch in technischer Hinsicht eine Erneuerung, denn hier
kommt eine bis dahin unbekannte Reservestickerei zur Anwendung.
30 Dieses Dorf war jahrzehntelang der bevorzugte Forschungsort der französischen Ethnolo-
gen, woraus sich ein gewisser Stolz hinsichtlich seiner kulturellen Bedeutung und Authentizität
entwickelt hat.
120
Ilsemargret Luttmann; Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Abb. 11: Das neueste Motiv in
der Dogon-Textilproduktion:
‘Motorradkette’.
Die Tatsache, dass Stoffe umbenannt werden, um aktuelle Phänomene mit einzube-
ziehen, zeigt die Dynamik und Vielschichtigkeit der Zeichensprache, wodurch dem
\ndigo-pagne Modernität und Zeitgemäßheit verliehen wird. Das zeigt zum Beispiel
der mit ,Blatt des Neem-Baumes’ betitelte Stoff, der parallel dazu auch ,Disko’ ge-
nannt wird. Und in der Tat, das flimmerige Design ist sehr geeignet, die Lichtspiele
in einer Diskothek wiederzugeben. Ein anderes abgewandeltes klassisches Motiv
trägt den Namen .Stickerei von Segou’, worin wiederum verschiedene Bedeutungse-
benen enthalten sind. Die in parallelen Linien angeordneten weißen Pfeile suggerie-
ren die Ähnlichkeit mit den bunten gewebten Baumwoll-pag/res, wie sie in der Regi-
on um Segou hergestellt werden und als sehr attraktiv gelten. Sie werden meistens
unten einem boubou getragen und sind nur dann sichtbar, wenn die Frau bei be-
stimmten Bewegungen ihr Kleid raffen und anheben muss, um sich nicht in ihm zu
verfangen. Sie besitzen also neben der praktischen auch eine sinnlich-erotische
Funktion. In diesem Vergleich, dem der Gedanke der Ebenbürtigkeit sowie der mo-
dischen gegenseitigen Befruchtung zugrunde liegt, kann aber auch eine Anspielung
auf die potenzielle Mobilität der Frau enthalten sein. - Es scheint, als ob die Frauen
wie Fische in einem nicht leicht zugänglichen Universum mit wechselnden Sinndeu-
tungen schwimmen und sich durch die Zeit lavieren. Auch an diesen Beispielen lässt
sich wieder feststellen, wie die Textilsprache der Dogon-Frauen in ihrer Unbestimmt-
heit und Kontextabhängigkeit ganz und gar den Kommunikationsregeln entspricht,
die zum einen keinen offenen Widerspruch dulden und zum anderen auf die bewuss-
te Produktion von Ambivalenzen abzielen. (Bouju 2002)
Eine weitere Möglichkeit, sich über die Textilfläche auszudrücken, besteht darin, die
einfarbigen Indigo-Stoffe mit sehr bunten, auffälligen Stickereien zu dekorieren.
Diese Dekoration erfolgt durch die Betroffenen selbst, indem sie industriell gefertig-
te Baumwolle in grellen Farben, insbesondere Rot, Gelb und Blau verwenden. Der
Farbkontrast zu dem schweren Dunkelblau ist verblüffend, und es stellt sich die Fra-
ge nach der Bedeutung bzw. der Herkunft dieser ästhetischen Präferenz, insbesonde-
re wenn man die ansonsten vorherrschenden gedämpften Töne der natürlichen Ma-
terialien und manuell produzierten Gegenstände betrachtet. Bei näherer Betrach-
tung lassen sich allerdings eindeutige Verbindungen zu traditionellen Vorläufern
hersteilen, wie sie sich bei der symbolhaften Dekoration der Tempelfassaden, Holz-
masken und Bastkostüme darstellen (Dieterlen 1981: 45). Sie basieren auf den
Hauptfarben „Rot“, „Gelb“, „Weiß“ und „Schwarz“. Mit ihnen verbinden die Do-
gon die Elemente „Feuer“ - repräsentiert durch das Rot -, „Erde“ - in der gelben
Farbe verkörpert - und ..Wasser“, das durch Blau bzw. Schwarz wiedergegeben wird.
Weiß ist das Symbol für .Luft'. Rot, eine allgemein bevorzugte Farbe bei den Dogon,
kommt in unterschiedlichen Kontexten mit dementsprechend differenzierten Be-
deutungen vor. Bei der Felsmalerei und den Ornamenten der Masken sowie den
Baströcken der Tänzer gilt das Rot als Ausdruck für Unreinheit, die durch die Be-
121
Ahh. 12 a, h, c: Maske, Felszeichnung, Fassadenmalerei.
TRIBUS 54.2005
rührung mit Blut und Tod entsteht31. (Abb. 12 a, b, c) Gleichzeitig trägt der oberste
Priester der Dogon, der hogon von Arou, als bedeutsame Paraphernalie die rote
Kappe (Dieterlen 1981: 45). Er selber steht als Gegenpol zum Tod, nämlich für den
Frieden, die Fruchtbarkeit und das Leben. In Beziehung zu seiner Person bekommt
das Rot die Bedeutung von Macht und Glück. Durch die Art und Weise, wie die
Frauen in der Stickerei diese in den Männerkulten sehr bedeutsamen Farben wieder
aufgreifen, zeigen sich also zwar einerseits gewisse formale Kontinuitäten, anderer-
seits sind aber die Verfremdungen offensichtlich, denn der ursprüngliche rituelle
Kontext wird übersprungen. Die Frauen benutzen die zentralen Farben für ihre eige-
nen sozialen und ästhetischen Zwecke, indem sie sich deren emotionales Gewicht
zunutze machen32.
Die Lust an den neu gewonnenen lauten Farben führt zu einer stetigen Erweiterung
der Palette, wobei der Effekt des starken Kontrasts bewusst gesucht wird. Die ge-
stickten Muster werden im Gegensatz zu den Leerstellen bzw. den im Färbeprozess
ausgesparten Linien, die den Grundstoff durchblicken lassen, nach einem entgegen
gesetzten Prinzip aufgetragen: Die gestickten geometrischen Formen werden dieses
Mal auf den dunklen Untergrund aufgetragen, vergleichbar der männlichen .Schrift’
beim Zeichnen der Wahrsagetafel auf Sand (Paulme 1937) oder der Symbole auf den
Felswänden. Die dargestellten Motive entstammen z.T dem Formenrepertoire, das
31 Die äußerst komplexe Farbsymbolik von Rot bei den Dogon, die sich auf sichtbare und spi-
rituelle Eigenschaften bezieht, ist in großartiger Weise von Calame-Griaulc (1987: Index, pas-
sim) untersucht worden. Ihre Arbeit über die Dogon-Sprache enthält eine unendliche Fülle von
Beispielen, die die intensive Farbdeutung im pflanzlichen, mineralogischen und kosmischen
Bereich belegen.
32 Es gibt außer dieser freien, fantasiebetonten Stickerei auch noch einen Typ Schal, der auch
verziert wird. Er stellt einen Hochzeitsschal dar, der mit verschiedenartigen, kodifizierten
Stickmustern versehen ist. Ihn beziehe ich hier nicht in meine Untersuchung ein, da er erstens
eine Art rituelles Kleidungsstück darstellt, das keine große Bedeutung für das Alltagsleben
mehr hat und daher auch nicht Gegenstand innovativer Veränderungen ist; zweitens liegen
kaum empirische Daten - mit Ausnahme der Arbeit von Brett-Smith (1991) - darüber vor. Es
gibt keine fundierten Kenntnisse über die Autoren der Stickerei; es könnten die Männer der
Kaste sein oder auch Dogon-Frauen. Die Autorin geht in ihrer Untersuchung auch nicht auf die
Farben ein.
122
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Abb. 13: Bestickter pagne mit dem Motiv der kanaga-Maske.
beim Färben angewandt wird, so z.B. die Zickzack-Linie von oben nach unten am
Saum des Rockes oder die Linien in horizontaler Richtung. Später sind dann Ele-
mente aus der eindeutig männlichen Formensprache hinzugekommen. Das Emblem
der kanaga-Maske (Abb. 13) - als kulturelles Markenzeichen der Dogon schlechthin
(Kande 2000) - wäre als das verbreitetste Zeichen zu nennen. Doch darüber hinaus
sind die Frauen ganz neue Wege gegangen, indem sie lateinische Schriftzüge - zu-
nächst für ihre Namen und dann für kurze Devisen - und kleine Rechenaufgaben
eingearbeitet haben! (Abb. 14) Gemeinhin gehören Frauen zu der Bevölkerungs-
gruppe. die nie oder nur kurze Zeit zur Schule gegangen ist. Doch auf diese Weise
begehren sie auf und demonstrieren ihren Anspruch bzw. die Tatsache, dass sie sich
der Moderne und der globalen Welt zugehörig fühlen. Durch solche Zeichen haben
sie eine Sprache gewählt, die universell gültig ist und verstanden wird. Für die Schrift-
sprache haben sie ein ihnen zu Verfügung stehendes und von ihnen beherrschtes
Medium gewählt.
Die weibliche Kleidungskombination setzt sich aus mehreren Teilen zusammen, auf
die Frauen in unterschiedlicher Weise Einfluss nehmen: der Rock, das Oberteil, das
Babytragetuch und die Accessoires. Weitaus üblicher als der kleine boubou ist die
weit geschnittene bunte Bluse - ganz in der Farbkomposition wie die knalligen Sti-
ckereifäden. Seit kurzem werden gerne Konfektionsblusen - im Gegensatz zu den
aus bunt bedruckten Baumwollstoffen handgeschneiderten Blusen - gekauft, die
weitgehend aus Asien importiert werden. Es handelt sich dabei keineswegs um eine
pragmatische Lösung, sondern um eine bewusst gewählte Ergänzung zum lokalen
Produkt. Da das Mutterdasein die höchste Form der sozialen Erfüllung darstellt,
zeigen sich Frauen in der Öffentlichkeit immer mit einem Baby auf dem Rücken,
auch wenn es nicht das eigene ist. Insofern wird dem Babytragetuch auch eine beson-
dere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Ausgestaltung geschenkt. Neuere Versionen
bestehen aus einem einfarbigen industriellen Baumwollstoff - oftmals in Weiß, Rot
oder Hellgelb - , der mit den verschiedenartigsten Motiven einer exotischen Welt
bestickt wird: Blumen, Vögel, Schmetterlinge und andere Tiere, dekorative abstrakte
Ornamente oder sogar, wenn die Begabung ausreicht, eine Szenerie mit islamischen
Bezügen (Moschee, Teekanne mit Teegläsern). Eine weitere, kostspielige Stickerei-
123
TRI BUS 54,2005
Abh. 14: Dieser pagne ist origineller-
weise mit Stickerei aus Schriftzei-
chen und Rechenaufgaben verse-
hen.
Abh. 15: Eine junge Frau mit einem
Babytagetuch, für das sie das belieb-
te gestreifte Frotteehandtuch ausge-
wählt hat.
technik produziert eine sehr dicke, teppichartige Oberfläche, die große Ähnlichkeit
mit einem Frotteestoff besitzt und sich in der Form eines einfachen Emblems von
der gesamten Textilgrundfläche abhebt. Ersatzweise dienen auch Frotteehandtücher
diesem Zweck. In den letzten Jahren wurden mit Vorliebe die breit gestreiften Frot-
teehandtücher in den Grundfarben gewählt. (Abb. 15)
Die hier nachgezeichnete Kleiderinszenierung der Frauen ist ein Beleg ihrer beson-
deren Kreativität, mit der sie ihr eigenes Verständnis einer durch lokale Werte ge-
124
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
prägten Modernität zum Ausdruck bringen. Dabei schöpfen sie aus dem Reservoir
traditioneller Materialien, Formen und Werte und rekurrieren gleichzeitig auf im-
portierte Produkte, bei denen jedoch weniger ihre Herkunft eine Rolle spielt als
vielmehr ihre Tauglichkeit, den spezifischen weiblichen Sinn von Ästhetik umzuset-
zen. Das Streben nach individuellem Ausdruck im Kleidungsstil und die Dynamik
der Konkurrenz sind wesentliche Züge dieser modernen Entwicklung. Orte und
Zeitpunkte der Selbstdarstellung sind in erster Linie die Markttage, die in einem
fünftägigen Rhythmus abgehalten werden, aber auch Totenfeiern während der Tro-
ckenzeit und moderne, d. h. nach moslemischem Vorbild ausgerichtete. Namensge-
bungsfeiern. Neue Muster verbreiten sich wie ein Lauffeuer in andere Dörfer, und
der Wunsch, selber Urheberin eines beneideten neuen Motivs zu sein, ist stark. An-
stöße zu weiterem kreativen Schaffen kommen auch von den Stoffen, die die Mig-
ranten aus der Elfenbeinküste für ihre Frauen mit nach Hause bringen.
Die Identitätskrise der jungen Touristenführer und ihre Selbstinszenierung im neotra-
ditionalistischen Stil
Die innovativen Veränderungen des Kleidungsstils der jungen Männer stehen
ebenfalls im Zusammenhang mit ihrer neuen Grenzerfahrung, die auf der verstärk-
ten und weitreichenden Konfrontation mit regionalen und globalen Einflüssen be-
ruht, wobei die stark ethnisch-kulturell geprägte Identität der Dogon den Bewusst-
seinshorizont bildet. Eine Art Sonderfall stellt die Gruppe der Reiseführer dar. die
sich aufgrund ihrer beruflichen Spezialisierung im Zentrum der Kulturkonfronta-
tion befindet und eine schwere Identitätskrise durchlebt. Diese zumeist sehr jun-
gen Männer befinden sich in der schwierigen Lage, sich zum einen gegenüber den
ausländischen Touristen und ihren exotischen Bildern zu definieren und zum ande-
ren ihren Platz in ihrer eigenen Gesellschaft neu zu finden, nachdem sie in gewisser
Weise hinausgetreten sind und durch ihre Arbeit der Kulturvermittlung ein ande-
res Bewusstsein von sich selbst gewonnen haben, ln dieser Situation der sozialen
und kulturellen Neudefinition spielt auch die Kleidung eine große Rolle. Ihre rela-
tive wirtschaftliche Macht und Überlegenheit gegenüber den Hirsebauern sowie
ihre veränderte Sicht auf ihre eigene Kultur stellen den Ausgangspunkt für ihre
Selbstinszenierung dar. die ihre widersprüchliche und problematische Identität
sehr gut widerspiegelt. Sie verfügen über zwei sehr unterschiedliche Kleidungssti-
le; zum einen handelt es sich um eine Art Arbeitskleidung im Ethno-Look, und
zum anderen sind sie Anhänger der europäisch-amerikanischen Jugendmode, ln
ihrer Rolle als Scharnier zwischen den Kulturen müssen sie zwei voneinander ge-
trennte Welten in sich vereinigen. Auf der einen Seite suchen die ausländischen
Besucher in ihnen das Ähnliche, um die Kommunikation zu erleichtern; auf der
anderen Seite wollen sie aber in ihnen auch das Andere sehen, das Fremde, von
dem sie sich abgrenzen können. Entsprechend dieser Erwartungshaltung hat auch
die Kleidung der Touristenführer zwei unterschiedliche Gesichter. Indem sie sich
der globalen Jeans-Mode verschreiben - die sie allerdings durch einige weibliche
oder lokal-ethnische Accessoires exotisieren33 -, appellieren sie an die Gemein-
samkeiten zwischen sich und ihren Kunden. Ihre „Tauglichkeit“ als „echte“ Dogon
stellen sie durch den ethnischen Kleidungsstil unter Beweis. Sie treten selbstbe-
wusst und stolz in Anzügen oder Kombinationen auf, die aus langer gerader Hose
und rechtwinklig geschnittener Tunika mit angesetzten Ärmeln zusammengesetzt
sind und aus weiß gemusterten Indigo-Stoffen genäht werden. Diese „Tracht“ wird
von ihren Gästen als Ausdruck ihrer Authentizität wahrgenommen. (Abb. 16) Er-
gänzt wird das Ensemble durch weitere ethnische Accessoires, die ihre Überein-
stimmung mit den lokalen Gewohnheiten und ihre traditionelle Lebensweise do-
33 Den Reiseführern gelingt es, ihr europäisches Outfit durch die Zugabe einiger Accessoires so
zu präsentieren, dass den Besuchern auch das Bekannte geheimnisvoll und verheißungsvoll
erscheint. Dazu gehören traditionalistische oder auch feminine Beigaben.
125
TRI BUS 54,2005
Abb. 16: Die stolzen jungen Tou-
ristenführer in ihrer sogenann-
ten authentischen Kleidung.
kumentieren sollen. Dazu gehören z. B. ein geschnitzter Wanderstab, die Kopfbede-
ckung mit den abstehenden beidseitigen Fischflossen (goro pöli), ein Ledersack
etc. Der Schnitt dieser Anzüge entspricht etwa dem der in ganz Westafrika übli-
chen Männer-Kombinationen, die aus bunten Baumwollstoffen geschneiderten
werden. Er bedeutet im Vergleich zu den verschiedenartigen Hosenmodellen und
Tunika-Formen des lokalen Dogon-Kleidungsstils eine erhebliche Vereinfachung
und Ausmerzung jeglicher kultureller Besonderheiten. Vor dem Hintergrund der
oben beschriebenen geschlechtsspezifischen Färb- und Musterzuweisung ist die
Verwendung des als weiblich definierten Stoffes - mit der weißen Musterung -
überraschend und ziemlich verwirrend. Wie mag es zu dieser Aneignung durch die
jungen Männer gekommen sein? Und wie reagiert die Gesellschaft auf solche Wer-
teumdeutungen?
Es stellt sich die Frage, wie die Übernahme der ursprünglich allein den Frauen zuge-
schriebenen Stoffe möglich ist, ohne Proteste hervorzurufen oder lächerlich zu wirken.
Zunächst einmal könnte auf eine gewisse Verwandtschaft zu dem im symbolisch-my-
thologischen Denken der Dogon verwurzelten kulturellen Phänomen der Zweige-
schlechtlichkeit und Komplementarität der Geschlechter (androgyne Ahnen, männli-
che und weibliche Wesenszüge der Priester) hingewiesen werden. So kommt es in be-
stimmten rituellen Kontexten auch zu einer Umkehrung der männlichen und weibli-
chen Rollen (van Beek 2001: 86-87). Ausschlaggebender für den Rückgriff auf die
weiblichen Stoffe und den vereinfachten Anzugschnitt ist jedoch die verschobene Be-
deutung der einfarbigen, stoffreichen Kleidungsstücke der älteren Männer. Je seltener
nämlich der so genannte traditionelle Kleidungsstil im Alltagsleben in Erscheinung
tritt - aus verschiedenen ökonomischen und soziokulturellen Gründen, desto mehr
gewinnt er an symbolischer Bedeutung im Hinblick auf die sozialen und rituellen
Machtverhältnisse. Die typisch männliche Garderobe ist heutzutage an strengere Re-
geln gebunden und gilt als Privileg der wahren Repräsentanten der Macht und Kultur,
d. h. der Alten. Die jungen Touristenführer sind ihnen nicht nur vom Alter her sozial
unterlegen; ihre gesellschaftliche Marginalisierung ist vor allem eine Folge ihrer gering
geachteten Tätigkeit und ihres als egoistisch gebrandmarkten Verhaltens. Zum einen
entziehen sie sich nämlich durch ihre selbständigen Einnahmen der Kontrolle der Al-
ten, und zum anderen machen sie sich gemäß der gesellschaftlichen Ideologie der Ver-
nachlässigung ihrer ökonomischen Verpflichtungen der Familie gegenüber schuldig.
Vor diesem sozialen Hintergrund betrachtet wäre also das Tragen bestimmter indigo-
farbener Kleidungsstücke eine ungebührliche Anmaßung, die die jungen Männer
wohlweislich vermeiden. Auch wenn sie sich nicht bewusst durch die Wahl der Stoffe
auf die unterlegene soziale Stufe der Frauen stellen, so ist dennoch eine symbolische
Angleichung erfolgt; und aus der internen Sicht haben sie damit ungewollt eine ihnen
zugeschriebene soziale Degradierung vollzogen.
Die Touristenführer haben den weiblichen Stoff zu einem Zeichen ihrer ethnischen
Identität umgedeutet, was jedoch nicht nur im Hinblick auf die ausländischen Touris-
ten bedeutungsvoll ist, sondern auch und sogar erst recht im lokalen gesellschaftli-
chen Kontext einen Sinn erfüllt. Wie bereits ausführlich dargestellt, leben die Touris-
tenbegleiter in einer unsicheren psychischen und sozialen Lage. Sie haben sich in
126
llsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
gewisserWeise von ihrer Herkunft-bedingt durch die Verführung durch den Reich-
tum und die daran gekoppelte teilweise Übernahme westlicher Verhaltensweisen -
entfremdet und auch bewusst distanziert, wodurch sie mit Marginalisierung bestraft
werden. Auf der Suche nach einer erneuten sozialen Anbindung konstruieren sie ein
Identitätsbild aus Elementen der traditionellen Dogon-Kultur, wie sie sich ihnen in
ihrer Lage als Außenseiter darstellt. Ihr neotraditionalistisches Produkt entspricht
zum einen den Erwartungen der Touristen, und zum anderen dient es aber besonders
als psychologisches und sichtbares Mittel, um sich ihrer Zugehörigkeit zu ihrer eige-
nen Gesellschaft zu vergewissern und ihre Anerkennung als Teil der Gesellschaft
vielleicht sogar einzuklagen. Mit ihrer innovativ gedeuteten Kleidung tragen sie ihr
ethnisches Bewusstsein zur Schau und zeigen ihren Stolz auf eine Kultur, die von der
ganzen Welt bewundert wird. Dabei haben sie die Außendarstellung der Dogon-Kul-
tur nach eigenen Zielen und Vorstellungen arrangiert.
Wenn man nun nach den Folgen und Erfolgen ihrer Selbstdarstellung fragt, so lassen
sich dazu aufgrund des zu kurzen zeitlichen Abstands noch keine fundierten Aussa-
gen machen. Dennoch können z. B. im Kleidungsverhalten anderer Jugendlicher ge-
wisse Spuren entdeckt werden. Indem sie den neotraditionalistischen Kleidungsstil
in Teilen übernehmen, bekunden sie damit zwar ihre Nähe zum Tourismussektor,
aber das bedeutet eben auch, dass sie sich mit der beruflichen und sozialen Rolle
dieser Gruppe identifizieren. Auch wenn andere erwachsene Männer ein weiß ge-
mustertes Hemd oder eine entsprechende Hose tragen, liegt darin immer ein Hin-
weis auf deren wenn auch nur indirekte Zugehörigkeit zum Kreis der Tourismus-
agenten. Allerdings trägt das Kleidungsstück für sich gesehen nicht den sozialen
Makel wie die Autoren selbst, sondern wird erstaunlicherweise als legitimes kulturel-
les Repräsentationsstück für die Fremden anerkannt.
Neben dem neu gedeuteten Umgang mit Indigo-Stoffen durch die jungen Reisefüh-
rer gibt es noch weitere stilistische Weiterentwicklungen im Rahmen der so genann-
ten traditionellen Kleidungskultur, die von anderen Jugendgruppen vorangetrieben
werden. So haben sich im Laufe der letzten Jahre Metallstickereien entfaltet, die auf
die Indigo-Kostüme der Tänzer und Tänzerinnen appliziert werden. Das Rohmateri-
al wird aus den importierten Konservenbüchsen gewonnen, die für die Bewirtung
der Touristen in den Raststätten regelmäßig benötigt werden und dann als Abfall-
produkte herumliegen. Zur Weiterverwendung zerschneiden die Handwerker sie in
schmale Streifen und führen sie wie Fäden in den Stoff ein. Mit Hilfe dieser Technik
entstehen großartige dekorative Verzierungen, die in der Sonne funkeln und blinken
und von Ferne sehr kostbar wirken34. (Abb. 17) Obwohl die entsprechenden Klei-
dungsstücke vornehmlich in traditionellen kulturellen Festen in Erscheinung treten,
sollen sie dennoch auch durch die Applikationen von importierten Industriemateri-
alien den Wert von Modernität vermitteln. Das gilt sowohl für die Kostüme selbst als
auch für die Institution des Tanzes. Die Bedeutung von modern und zeitgemäß be-
stätigt sich übrigens in der Tatsache, dass dieselbe Technik in abgeschwächter Menge
auf ausgewählte Kleidungsstücke des Alltags, insbesondere Kopfbedeckungen, ange-
wandt wird35. Die Gestaltung der lokalen Stoffe mit total fremden glänzenden Mate-
34 Diese Stickerei hat sich vornehmlich im Hinblick auf die Indigo-Stoffe durchgesetzt, obwohl
die ersten Versuche bei den braunen .Jäger'-Stoffen zu beobachten waren. Die Wahl des Indigo
erklärt sich durch die Tatsache, dass hier Mädchen und Jungen vereint tanzen und Frauen
grundsätzlich aufgrund ihrer symbolischen Identifikation mit Fruchtbarkeit keine braunen
Stoffe tragen.
35 Da es in dieser Untersuchung ausdrücklich um die Neudeutungen der traditionellen Indigo-
Stoffe geht, sei nur am Rande auf die Neuschöpfungen der so genannten bogolan-Stoffe hinge-
wiesen, die auch einen bedeutenden Platz im Rahmen der sich verändernden Kleidungsmode
einnehmen. Die Dogon haben sich von der durch die Bamana begründete bogolan-Mode (ge-
färbte Stoffe mittels einer Schlammfärbetechnik) inspirieren lassen, um darauf ihre eigenen
Muster abzubilden und ihre eigene Ästhetik zu entwerfen. Die jungen Dogon-Männer nutzen
die hinzu gewonnenen Möglichkeiten, um individuelle Aussagen und Bekenntnisse durch Bil-
der und Schrift zu machen.
127
TRIBUS 54,2005
Ahh. 77: Tänzer in mit Blechstreifen bestickten Kostümen, die als modern gelten.
nahen mag ihren Ursprung in der touristischen Präsenz und der touristischen Nach-
frage nach kulturellen Darbietungen haben, aber das Produkt ist kein Fremdkörper
geworden, sondern hat sich in die örtlichen Gepflogenheiten eingepasst.
In den beiden dargestellten Fällen zeigt sich die enorme Dynamik, die sich in der loka-
len Kleiderkultur verbirgt. Die Betroffenen gestalten sie nach ihren Bedürfnissen und
Werten so um, dass sie ihrem Sinn von Modernität entsprechen. Diese Art von Neotra-
ditionalismus ist somit weit davon entfernt, zur Folklore zu erstarren oder zum Ethno-
Look entfremdet zu werden. Stattdessen beweist er eine erstaunliche Lebendigkeit,
die den traditionellen Handwerkstechniken einen neuen Aufschwung verleiht.
5. Kleidung als eine sozial und kulturell relevante Form der Aneignung der Moderne
Die Untersuchung hat gezeigt, wie auch Kleidung und Stoffe wesentlich an sozialen
und kulturellen Prozessen partizipieren. In ihnen lassen sich Werte, Ambitionen und
Identitätsbilder ablesen. Außerdem eignen sie sich als Sprachrohr, um Urteile. Be-
kenntnisse, Selbstbewertungen in die Öffentlichkeit zu tragen, insbesondere für die
Gruppen, die gesellschaftlich unterrepräsentiert sind. Das ist der Fall bei den Dogon-
Frauen sowie bei der Gruppe der aufsässigen, aber marginalisierten Reiseführer.
Am Kleidungsverhalten der Frauen und ihren eigenen kreativen Eingriffen in das
„Rohmaterial“ zeigt sich ihr verändertes Selbst-Bewusstsein. Die Frauen reflektie-
ren auf dieser Fläche die erweiterten Bezüge ihrer lokalen Kultur zu nationalen und
internationalen Rahmenbedingungen. Sie wählen Importprodukte aus. um sie mit
den vorhandenen Materialien und Ausstattungen zu kombinieren oder diese eventu-
ell auch zu ersetzen. Die ausgesparten weißen Muster und die Stickereien bemächti-
gen sich relevanter Themen, die sich aus ihren Lebensbedingungen und ihrer sozia-
len Rolle ergeben. Dabei machen sie auch Anleihen an die männliche Zeichenspra-
che und holen sich Teile der formalen Bildung heraus, von der sie bislang noch weit-
gehend ausgesperrt sind. In diesem selbstbewussten Umgang mit lokalen kulturellen
Ressourcen und globalen Materialien zeigt sich auch ein hohes Maß an Modernität,
wenn man bedenkt, wie weit sich die Frauen in Punkto Individualität vorgewagt ha-
ben. Und sie haben den Mut, an ihre eigenen lokalen Muster anzuknüpfen, um sie
dann nach ihrem eigenen Verständnis den veränderten Bedingungen anzupassen.
Ihre Körper- oder Textilsprache begnügt sich nicht nur mit allgemeinen Feststellun-
gen und Beobachtungen, sondern sie enthält auch gezielte Hinweise auf Themen, die
Diskussionsstoff liefern und als solche gedacht sind.
Erstaunlicherweise greift gerade die Gruppe, die von ihrem Lebensstil und ihren
deklarierten Ambitionen her am weitesten von den traditionellen Werten entfernt
128
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
ist - denn sie behaupten, von den Weißen „angesteckt“ zu sein und nicht mehr ohne
sie leben zu können36 zu den klassischen Indigo-Stoffen, um sich darzustellen und
wichtige Aussagen über sich zu machen. Die Transformation eines als weiblich dekla-
rierten Stoffes in ein Symbol ethnischer Zugehörigkeit und kulturellen Stolzes ist
aber nicht nur als innovative Leistung der jungen Männer im Rahmen ihrer Identi-
tätskrise zu bewerten, sondern sie ist auch bezeichnend für die Dogon-Gesellschaft
insgesamt. Die Tatsache, dass diese neuen Kleidungsstücke zu anerkannten Reprä-
sentationsobjekten ihrer Kultur werden, ist eben auch Ausdruck ihres neuen Selbst-
verständnisses. Im Zuge des sich intensivierenden Tourismus’ ist die Frage der Au-
ßendarstellung immer in den Vordergrund gerückt, und die Dogon haben selber
auch die Initiative ergriffen, um ein Bild nach ihren Vorstellungen zu entwerfen.
Die Touristenbegleiter bringen durch die selbst kreierte Mode - je nach Kontext
könnte sie als Tracht, Berufskleidung oder als Outfit bezeichnet werden - ihren
Wunsch nach kultureller Reintegration und Anerkennung durch die lokale Gesell-
schaft zum Ausdruck und empfinden ihre Neubewertung und Umgestaltung der tra-
ditionellen Stoffe gleichzeitig als höchst modern. Allerdings bezieht sich die Bedeu-
tung von Modernität auf einen begrenzten räumlichen Rahmen. Wie bei den Frauen
so kann man auch hier feststellen, dass der neotraditionalistische37 Kleidungsstil nur
in den Grenzen des Dogon-Gebiets als angemessen und zeitgemäß empfunden wird.
Begeben sich die Betroffenen auf eine weite Reise oder bereiten sich auf einen län-
geren Aufenthalt in der Stadt, insbesondere Bamako, vor, dann schlüpfen sie in eine
neue Haut. Die jungen Männer steigen in Jeans und die Frauen ins grand Dakar.
Trotz der unterschiedlichen Entwicklungen der Kleidermode bei den beiden vorge-
stellten Gruppen, was die Ästhetik und Verwendung lokaler kultureller Ressourcen
sowie die sozialen Bestrebungen anbetrifft, ist ihnen dennoch das Ausdrucksmittel
gemeinsam, das sie benutzen, um eminente soziale Veränderungen in ihrem Umkreis
und ihr neues Selbstverständnis auszudrücken.
Literatur
Beek. Walter van
1991 Dogon restudied. A field evaluation of the work of Marcel Griaule. Current
Anthropology, 32,2:139-167.
1999 Building dams in Dogon, in Bernhard Venema, Hans van den Breemer
(Hrsg.), Towards negotiated co-management of natural resources in Africa,
Münster; Lit-Verlag, pp. 87-113.
1993 Processes and limitations of Dogon agricultural knowledge, in Mark Ho-
bart (Hrsg.), An Anthropological Critique of Development. The Growth of
Ignorance, London - New York: Routledge, pp. 43-60.
2001 Dogon. Africa’s People ofthe Cliffs, New York: Harry N. Abrams.
2003 African tourist encounters; effects of tourism on two West African societies.
Africa, 73,2: 251-289.
36 In dem Film von Alexandre Bonche (Mali-Frankreich 1999) .Tchoumpa' Les enfants du tou-
risme sagt ein junger Touristenführer: «On ne peut plus vivre sans les Blancs, parce qu'on est
contaminé. Parce que ça fait un bout de temps qu'on vit avec les Blancs, alors qu’on ne connaît
que le système des Blancs, on ne pourra plus travailler, on ne pourra plus faire autre chose. Parce
que les Blancs se sont intéressés à nous et nous on s’est intéressé aux Blancs. Donc, on n 'a plus de
choix, quoi. On est obligé de vivre avec eux, donc on est contaminé.» Zit. nach Collin und Diawa-
ra (2001:83).
37 Um den wesentlichen Unterschied zwischen der Erneuerung der Frauen- und der Männer-
mode zu verdeutlichen, schlage ich den Begriff .neotraditionell’ zur Charakterisierung der ers-
teren vor. Der neotraditionalistische Stil der Männer dagegen beruht z. B. auf einer gewissen
Stilisierung und Sinnentleerung der Muster, während die Frauen neue Muster hinzufügen oder
sie neu deuten. In ihrem Fall könnte man eher von einer Erneuerung und Wiederbelebung der
Tradition sprechen.
129
TRIBUS 54,2005
Boujou, Jacky
1984 Graine de l'homme, Enfant du mil, Société d'ethnographie, Paris : Coll. So-
ciétés Africaines.
1995 a Fondation et territorialité. Instauration et contrôle rituel des frontières, in
Vincent, J.-F.; Dory, D.; Verdier, R. (Hrsg.), La construction religieuse du
territoire, Paris: L’Harmattan, pp. 352-365.
1995 b Tradition et identité. La tradition dogon entre traditionalisme rural et néo-
traditionalisme urbain. Enquête (Usages de la tradition), 2:95-117.
1998/99 Tutelle clientéliste, despotisme et Patrimonialisme: quelques figures de la
chefferie dans les traditions orales dogons. Clio en Afrique, 5, http://www.
up.univ-mrs.fr/~wclio-af/.
2000 Clientélisme, corruption et gouvernance locale à Mopti (Mali). Autrepart,
14:143 -163.
2002 Se dire dogon. Usages et enjeux politiques de l’identité ethnique, in Ethno-
logies comparées, http://alor.univ-montp3.fr/cerce/revue.htm.
2004 La culture dogon: de l’ethnologie coloniale à l’anthropologie réciproque con-
temporaine. Etudes maliennes. Institut des Sciences Humaines, 57:25^-7.
Brett-Smith, Sarah
1990/91 Empty space: the architecture of Dogon cloth. Res, Anthropology and Aes-
thetics’. 162-177.
Calame-Griaule, Geneviève
1951 Le vêtement dogon, confection et usage. Journal de la société des africanis-
tes, 21:151-162.
1968 Dictionnaire dogon. Dialecte toro. Langue et civilisation, Paris: C. Klinck-
sieck.
1987 Ethnologie et langage. La parole chez les Dogon, Paris: Institut d’Ethnologie.
Ciarcia, Gaetano
2001 a Dogon et Dogons. Retours au pays du réel. L’homme, 157:217-230.
2001 b Exotiquement vôtres. Les inventaires de la tradition en pays dogon. Ter-
rain: carnets du patrimoine ethnologique, 37:105-122.
2003 De la mémoire ethnographique: l’exotisme du pays dogon, Paris: Ed. de
l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales.
Clarke, Duncan
1997 The Art of African Textiles, San Diego: Thunder Bay Press.
Collin, Jean-Paul / Diawara, Manthia (Hrsg.)
2001 Mali kow. Un monde fait de tous les mondes, Ausstellungskatalog, Montpel-
lier: Indigène éditions.
Cordwell, Justine M. / Schwarz, Ronald A. (Hrsg.)
1979 The Fabrics of Culture: The Anthropology of Clothing and Adornment, The
Hague: Mouton.
Dieterlen, Germaine
1941 Les âmes des Dogon, Paris : Institut d’Ethnologie.
1982 Le titre d’honneur des Arou, Paris ; Société des Africanistes.
Doquet, Anne
Masques dogon: ethnologie savante et ethnologie autochtone, Paris: Karthala.
2002 Se montrer dogon. Les mises en scène de l’identité ethnique. Ethnologies
comparées, 5, http://alor.univ-montp3.fr/cerce/revuc.htm.
Eicher, Joanne Bubolz (Hrsg.)
1995 Dress and Ethnicity. Change Across Time and Space, Oxford-Washington:
Berg.
Eicher, Joanne Bubolz / Barnes, Ruth (Hrsg.)
1992 Dress and Gender: Making and Meaning in Cultural Contexts, New York-
Oxford: Berg.
Eicher, Joanne Bubolz / Roach, Mary Ellen (Hrsg.)
1965 Dress, Adornment, and the Social Order, New York-London-Sydney: John
Wiley.
130
Ilsemargret Luttmann: Kleidermoden als Ausdruck veränderten Selbst-Bewusstseins
Gardi, Bernhard (Hrsg.)
2000 Boubou - c’est chic. Gewänder aus Mali und anderen Ländern Westafrikas,
Basel: Merian Verlag.
2003 (Hrsg.), Textiles du Mali, Bamako : Edition Musée National du Mali.
Griaule, Marcel
1948 a Valeur symbolique du vêtement Dogon. Revue d’esthétique, I, avril-juin: 195.
1948 b Dieu d’eau. Entretiens avec Ogotemmêli, Paris; Editions du Chêne.
Holder, Gilles
1998 Esclaves et captifs au pays dogon. La société esclavagiste sama. L’homme,
145:71-108.
2001 “Gens de caste” ou “personnes blanches”? Journal des Africanistes, 71,1:
121-148.
Jolly, Eric
1994 Diffusion de trois cultes dans le sud du pays dogon: juru, ina et ara-monu-
na. Journal des Africanistes, 64,2: 3-38.
1995 La bière de mil chez les Dogon, thèse de doctoral, Paris:Nanterre.
1998/99 Chefs sacrés et chefs de guerre dogon; deux pôles du pouvoir. Clio en Afri-
que, 5, http://www.up.univ-mrs.fr/~wclio-af/.
2002 Récits dogon au passé recomposé. Ethnologies comparées, 5. http://alor.
univ-montp3.fr/cerce/revue.htm.
Kandé, Sylvie
2000 From Bandiagara to Paris: reflections on the travels of a Dogon sign. Re-
search in African Literatures, 31,4:21-28.
Leiris, Michel
1934 L’Afrique fantôme, Paris; Editions Gallimard.
Luttmann, Ilsemargret
2002 Kulturerhalt trotz Tourismus - ein Widerspruch? - Der Umgang der Dogon
(Mali) mit dem internationalen Tourismus. Baessler-Archiv, 50:169-192.
Martinelli, Bruno
1995 a Les forgerons et la statuaire dogon, in Ndiaye, F. (Hrsg.), L’art du pays do-
gon dans les collections du Musée de l'homme, Zürich: Rietberg Museum,
pp. 76-81.
1995 b Trames d'appartenance et chaînes d’identité. Entre Dogon et Moose dans
le Yatenga et la plaine du Séno. Cahiers des scieneces humaines, 31,2: 365-
405.
1998/99 Entre interdit et pardon. Le pouvoir des forgerons chez les Moose et les
Dogon. Clio en Afrique, 5, http://www.up.univ-mrs.fr/~wclio-af/.
Michel-Jones, Françoise
1999 Retour aux Dogon. Figures du double et ambivalence. Paris: L'Harmattan.
Parin. Paul / Morgenthaler, Fritz
1970 Les Blancs pensent trop, Paris : Payot.
Paulme, Denise
1937 La devination par les chacals chez les Dogon de Sanga. Journal de la So-
ciété des Africanistes, 7:1-13.
1940 Organisation sociale des Dogon, Paris : Institut d'Ethnologie.
Zeitschrift für Kulturaustausch
2002 4, Die Welt als Laufsteg. Mode und Identität.
131
AXEL SCHULZE-THULIN
Anmerkungen zur ethnologischen Grundlagenerforschung der
Indianer des Christoph Kolumbus1
(der ersten und zweiten Reise)
Überblick und materielles Substrat
Statt eines Vorwortes
Seit über 500 Jahren ist die Geschichte der Ureinwohner des amerikanischen Dop-
pelkontinents, die wir Indianer nennen, ein noch immer nicht beendeter Prozess des
Leidens. In zahllosen Schriften ist in den zurückliegenden Jahrhunderten darüber
berichtet und geklagt worden. Dem braucht nichts hinzugefügt zu werden. Die nach-
folgenden Zeilen sind der Versuch, die Forschungsgrundlagen einer Rekonstruktion
indianischer Gemeinschaften des karibischen Raums vor und während der Zeit ihres
ersten Kontaktes mit Europa vorzulegen. Das unsägliche Leid selbst, das Europäer
über diese und andere Erste Amerikaner brachten, ist unbeschreibbar.
1. Einführung
1.1. Zur Forschungslage
Innerhalb der deutschen Amerikanistik führen die Indianer der Antillen und der
Bahamas ein Schattendasein. Das gilt sowohl hinsichtlich von Sammlungen in Mu-
seen (als Beispiel sei das bedeutendste deutsche Ethnologie-Museum in Berlin ange-
führt; hierzu Fischer 1992:257 ff) als auch für die ethnologische Forschung (nur we-
nige Ausnahmen sind zu nennen, beispielsweise Frauke Gewecke, Frankfurt/M. und
Heidelberg 1981, 1984,1986, 1992; im Rahmen der Ur- und Frühgeschichte als Ein-
zige Hansjürgen Müller-Beck,Tübingen, und Gerd Elvers, Fürth, bei deren Arbeit es
um die stratigraphische Erfassung und Datierung der frühesten Hinterlassenschaften
des Menschen auf Kuba geht;per.v. Min.). Doch selbst unter nordamerikanischen hi-
storisch orientierten Ethnologen spielen die ersten Indianer, auf die Europäer stie-
ßen. keine maßgebliche Rolle. Zu finden sind sie eigentlich nur in der umfangreichen
1 Natürlich ist mit der Titelwahl nicht gemeint, hier handele es sich um die Indianer, die eventu-
ell Christoph Kolumbus gehörten, beispielsweise als Sklaven. Auch wenn der Genuese als ein
Kind seiner Zeit generell ein heute nicht nachvollziehbares Verhältnis zu nichteuropäischen
Autochthonen und speziell zur Sklaverei hatte, so besaß er doch selbst keine Sklaven, auch
keine indianischen, es sei denn, die Lucayo, die er in einer Aktion des Kidnapping gefangen
nahm, würden als Sklaven betrachtet. Eine solche Meinung wäre aufgrund der Gegebenheiten
zwar legitim, trifft aber nicht den Kern der Sache. Auf die erwähnte Gefangennahme ist in dem
vorliegenden Artikel eingegangen worden. Der Titel dieses Aufsatzes ist wegen seiner sprachli-
chen Einprägsamkeit so gewählt worden und müsste umständlich eigentlich lauten; Die India-
ner Westindiens in der Zeit des Christoph Kolumbus.
133
TRI BUS 54,2005
Ahb. /; „Kolumbus“ von Karl von Piloty (1826-1886), Öl auf Leinwand. Bayer.
Staatsgemäldesammlungen, München. Inv.-Nr. 11443,316 x 229,5 cm.
Alle bildlichen Wiedergaben von Christoph Kolumbus sind lange nach seinem Tod
entstanden und basieren auf der Fantasie (auch die aus dem 16. Jahrhundert). Piloty
hat den Seefahrer mit seinem Sendungsbewusstsein und fanatischem Willen gut ge-
troffen. Auch das christliche Kreuz (ßrustschmuck) und der Sternenhimmel (Naviga-
tion) fehlen nicht.
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Abb. 2: Der karibische Raum. Aus; Blume, H., Die Westindischen Inseln. Braun-
schweig 1968.
(auch deutschen) Kolumbus-Literatur2, die vor allem zur 500. Wiederkehr der so
genannten Entdeckung Amerikas auf den Markt kam. Allerdings gab und gibt es in
den USA und der Karibik sowie in Kanada einige Forscher und Institute, die sich auf
das eine oder andere Gebiet Westindiens spezialisiert haben (zum geschichtlichen
Hintergurnd der Namensgebung „Westindien und Antillen“ s. beispielsweise Mori-
son 1942:381 f). Relativ isoliertes Ergebnis solcher sporadischer Interessen war die
Ausstellung des Museo del Barriol997 in New York (s. Bercht, Fatima / Estrellita
Brodsky et al. im Literaturverzeichnis). Frühe Forschungsansätze in diesem Bereich
reichen freilich bis in die Zeit vor 140 Jahren zurück. Um die Wende vom 19. zum 20.
2 Bei der Schreibweise fremdsprachiger Namen. Begriffe und Bezeichnungen habe ich mich,
ausgehend vom deutschen „Amerika“ und „Mexiko“ (letzteres in der deutschsprachigen Fach-
literatur oft „Mexico“ geschrieben), an die Duden-Vorgaben (beispielsweise Peru statt Perú)
und dabei - so weit dies durch vorliegende Eindeutschungen möglich war - an die Regel „keep
to conformity“ gehalten. Die dadurch oftmals ungewohnten und gewöhnungsbedürftigen Be-
zeichnungen müssen in Kauf genommen werden. Somit wurde auch für den „italienischen“
Seefahrer und Entdecker Cristoforo Colombo (ital.) oder - da in spanischen Diensten - Cristó-
bal Colón die deutsche (latinisierte) Namensgebung Kolumbus und nicht die Version „Colum-
bus“ gewählt. Angehörige von außereuropäischen Ethnien, sofern ihre Bezeichnungen nicht
eingedeutscht sind (zum Beispiel: Endung mit „en“ wie bei Arawaken), werden - in Überein-
stimmung mit der unter deutschen Ethnologen vereinbarten Diktion - ohne „s“ am Ende ge-
schrieben, wie beispielsweise Lucayo. Diese werden in der Literatur manchmal auch mit Luca-
ya bezeichnet - was nur auf eine Lucayo-Frau zutreffen würde - oder Lucayan (letztere
Schreibweise ist falsch, sofern nicht die Sprache bzw. der Dialekt der Lucayo gemeint ist, wobei
dann der Terminus „Lucayan Amerinidian“ akzeptabel wäre) oder in amerikanischen Veröf-
fentlichungen Lucayans. was sogar idiotisch ist. Um voraussehbaren Einwänden zur Schreib-
weise im Vorhinein zu begegnen, habe ich allerdings Ausnahmen von der Eindeutschung ge-
macht. So ist die indigene Hauptgruppierung der Karibik nicht eingedeutscht worden, das heißt
nicht Taino (so auch im Englischen) geschrieben, sondern - wie im Spanischen - Taino. Ähnlich
wurde das spanische „Lucayo“ beibehalten und nicht „Lucayer“ verwendet. Auch bei nament-
lich bekannten Indianern und indianischen Begriffen aus der Primärliteratur ist entsprechend
verfahren worden, da davon auszugehen ist, dass die ersten Spanier in der Karibik das Gehörte
phonetisch einigermaßen (wenn auch nicht immer) richtig umgesetzt haben.
135
TRIBUS 54,2005
Jahrhundert und besonders in den 1930er sowie -40er Jahren wurden wissenschaft-
liche Arbeiten über die Autochthonen der karibischen Inseln intensiviert. Zu erwäh-
nen sind hier The New York Academy of Sciences, insbesondere Irving Rouse mit
Julian H. Steward und ihre Publikationen im Rahmen des Bureau of American Eth-
nology, Washington, DC, auf die sich jeder Autor seither stützt, oder das “Caribbean
Anthropological Program” der Yale University in New Haven, CT (Yale Peabody
Museum) ab 1933. Froelich G. Rainey ist dabei vor allem zu nennen. Auch Jesse Wal-
ter Fewkes mit seinem Klassiker über die Eingeborenen von Puerto Rico und be-
nachbarter Inseln (erschienen 1907) darf nicht unerwähnt bleiben. Er schrieb vor
allem zu Anfang des 20. Jahrhunderts grundlegende Arbeiten zum indigenen Westin-
dien in den „Annual Reports“ des erwähnten Bureau of American Ethnology. Dies
ist allerdings mittlerweile alles Geschichte. Für die Gegenwart sind beispielweisend
William F. Keegan und Samuel M. Wilson und deren wissenschaftliche Begleiter(innen)
anzuführen. Sie sind jedoch wenn auch rühmliche, so doch wenige Ausnahmen. Und
deshalb kann von einer nachhaltigen Konzentration auf die westindischen Indigenen
selbst in den USA heute kaum gesprochen werden (an dieser Einschätzung ändert
auch die oben erwähnte Ausstellung nichts). Verglichen mit dem großen Interesse,
das beispielsweise den Indianern Nord- und Mesoamerikas entgegengebracht wird,
ist das an den Indianern des Kolumbus nicht nur in Europa, sondern auch in Nord-
amerika minimal.
Auf den Großen sowie teilweise sogar auf den Kleinen Antillen und selbst auf den
Bahamas stellt sich dieses Bild, unter Berücksichtigung der verfügbaren Möglichkei-
ten, schon positiver dar, auch wenn dem Außenstehenden nach vergeblichen Versu-
chen der Koniaktaufnahme der Eindruck von „Wissenschaftlern im Elfenbeinturm“
vermittelt wird. Immerhin gibt es hier etliche Institutionen, wie das Museo del Hom-
bre Dominicano und die Fundación García Arévalo. beide in Santo Domingo, Domi-
nikanische Republik; das Museo Arqueológico Regional in La Romana, ebenfalls
Dominikanische Republik; das Centro de Estudios Avanzados de Puerto Rico y el
Caribe in San Juan, Puerto Rico, und das Museo de Historia, Antropología y Arte
der Universtität von Puerto Rico in Rio Piedras; und schließlich das Museo Antro-
pológico Montané der Universität von Havanna und das Museo Arqueológico in
Chorro de Malta, beide Kuba. Im Hinblick auf wissenschaftliche Publikationen und
Veranstaltungen wäre für die Vergangenheit auf den Inseln unter dem Wind (Erklä-
rung s. unten) noch das Archaeological-Anthropological Institute of the Netherlands
Antilles in Willemstad, Curasao, und für die Bahamas das recht rührige Department
of Archives (Dr. Gail Saunders) in Nassau zu nennen. Das Erstgenannte existiert
nicht mehr, und Letzterem fehlt es oft an den erforderlichen Forschungsmitteln, um
die Indianer der Karibik und Bahamas über einige Spezialisten hinaus bekannt zu
machen. Auch die verschiedenen historischen Gesellschaften, wie beispielsweise die-
jenige in Nassau auf den Bahamas oder die auf den Jungferninseln sollen nicht uner-
wähnt bleiben.
1.2. Christoph Kolumbus - Entdecker, Fanatiker, Psychopath ... oder was?
Christoph Kolumbus wurde zwischen dem 25. August und 31. Oktober 1451 als Sohn
des genuesischen Wollwebers Domenico Colombo und dessen Frau Susanna gebo-
ren (Großvater Giovanni; die vornehmlich auf Madariaga 1966 zurückgehende an-
geblichjüdische Abstammung von Kolumbus ließ sich nicht erhärten; s. insbesondere
Paz et al. 2000:49, Fußnote 19). Als Berufe des Domenico Colombo werden zusätz-
lich auch Schankwirt sowie Torwächter genannt, so etwa von Nöstlinger, der sich
weitgehend auf Morison 1942 und Fuson 1987 stützt (1997/91:10). Christophs Brüder
waren Bartolomé (*1460, t 1514) und Giacomo bzw. auf Spanisch Diego (*1468,
t 1515). Seine erste Handelsfahrt trat der Genuese 1466 an. Im Jahr 1479 heiratete er
Felipa Monez de Perestrello, Tochter des 1. Gouverneurs der portugiesischen Insel
Porto Santo (zu Madeira gehörend). Der Sohn aus dieser Ehe war Diego (*1478 [?],
11526). Nach dem Tod von Felipa ging Christoph eine Verbindung mit Beatrice Hen-
136
Axel Schulze-Thulin; Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
riquez de Arana ein. Ihr gemeinsamer, nichtehelicher Sohn war Fernando bzw. Fer-
dinand (*1488, | 1539), der in diesem Artikel noch mehrmals erwähnt wird. Der zu
Lebzeiten keineswegs berühmte Seefahrer Kolumbus starb am 20. Mai 1506 in Val-
ladolid. Seit der epochalen ersten Reise über den Atlantik und dem sich daran an-
schließenden Eintritt der so genannten Neuen Welt in die Geschichte dieser Erde
gehört der geniale (anderer Meinung Sale 1991 als Ausnahme) Seefahrer zu den
Personen mit weltgeschichtlicher Bedeutung, über die Forscher aller Herren Länder
in den verflossenen fünf Jahrhunderten eine Fülle an Material hinterlassen haben (s.
zum Beispiel zur Kolumbusforschung Pleticha 1987:343-345). Es erübrigt sich daher
an dieser Stelle, auf das Ereignis, das die Welt verändern sollte, selbst einzugehen,
auch nicht auf die politischen und ökonomischen Hintergründe (sie werden in ande-
rem Zusammenhang eine gewisse Rolle spielen) und selbst nicht auf die nautischen
Gegebenheiten am Ausgang des Mittelalters, die dem Unternehmen zusätzlich einen
abenteuerlichen Charakter verliehen. Das soll uns hier aber weniger interessieren
als vielmehr bestimmte Charaklerzüge des Christoph Kolumbus und sein Verhalten
gegenüber den Autochthonen, die er „entdeckte“, wobei uns die vorhandene Litera-
tur gut zur Seite steht.
Christoph Kolumbus wird im Allgemeinen als der Entdecker Amerikas angesehen.
Dies ist selbstverständlich eine Definitions- und Standortfrage. Der Begriff „Entde-
ckung“ geht sicherlich mit dem Bewusstsein einher, etwas Neues „entdeckt“ zu haben.
Dieses Wissen hatten die Vorfahren der Ersten Amerikaner nicht, die vor ca. 42-44.000
Jahren über die während der vorerst letzten Eiszeit trocken gelegte Beringstraße erst-
mals in den Doppelkontinent einwanderten (s. beispielsweise Schulze-Thulin 1995:41
ff; zum Begriff der „Entdeckung“ im Zusammenhang mit Amerika ausführlich und
beispielhaft Bitterli 1991:11-17,23,483 ff mit Anm. 1 ff; zu den Folgen der Entdeckung
Amerikas für Europa etwa Elliott 1992:13 ff). Diese Kenntnisse um einen „neuen“
Kontinent konnte Kolumbus zunächst auch nicht haben, waren die geografischen In-
formationen über die im 15. Jahrhundert bekannte Welt doch höchst dürftig. Selbst die
Umrisse Europas waren nicht genau bekannt. So war zum Beispiel Nordeuropa auf
der Weltkarte von Henricus Martellus Germanus (1489/90; s. Wolff 1992:14) überhaupt
nicht erfasst. Damit ist der Vorwurf, der nur aus einer weit verbreiteten, seit längerem
populären negativen Einstellung gegenüber Kolumbus zu verstehen ist, eigentlich
leicht zu erklären, dass nämlich der Seefahrer doch fast bis zum Schluss seines Lebens
davon überzeugt gewesen sei, den westlichen Seeweg nach Indien, womit vor 500 Jah-
ren nahezu das gesamte Ostasien umfasst wurde, gefunden zu haben (über die ersten
Berichte zur „Entdeckung Amerikas“ ab 1493 und ihre Verbreitung innerhalb Euro-
pas s. beispielsweise Morison 1942:375 ff; ebenfalls Elliott 1992:19). Auch wenn dies im
Großen und Ganzen stimmt, muss doch gerechterweise darauf hingewiesen werden,
dass Kolumbus bereits nach seiner dritten Reise vermutete, ausgelöst durch die „Ent-
deckung“ der Orinoco-Mündung (s. u.a. Paz et al. 2000:41 f), „dass sich südlich des
heutigen Venezuela ein otro mundo erstrecke“ (Wallisch 2002:36, Anm.8; Paz et al.
2000:27,42; s. außerdem Taviani 1989:212-214, der hier auch aufzeigt, dass der Begriff
„Neue Welt“ auf Kolumbus zurückgeht). Zu letztgenanntem Punkt gibt es natürlich
unterschiedliche Ansichten wie die, Peter Martyr von Anghiera (Näheres zu ihm spä-
ter) habe diesen Ausdruck bereits vier Jahre vor Kolumbus gebraucht, und zwar in
seinem vierten „Brief“ (nach Salvador de Madariaga 1966:328 f, so auch schon Mori-
son 1942:383). Eine weitere Version vertritt Keegan, der den Terminus „Neue Welt“
dem „Italiener“ Amerigo Vespucci zuschreibt, womit Letzterer jedoch nur Südameri-
ka nach seiner Reise 1501 ohne Einschluss der zirkumkaribischen Region gemeint
hatte (s. hierzu Morison a.a.Q: 384).
Es ist nicht sicher, wer Südamerika als einen Kontinent erstmals erkannte, entweder
Vespucci 1497 oder Kolumbus 1498 (Paz et al. a.a.O.:42, 44; zu Vespucci in diesem
Kontext s. beispielsweise auch Bitterli a.a.O.:l 1). Taviani (a.a.O.:29) verweist darauf,
dass der Begriff der Entdeckung mit der Berichterstattung über das Entdeckte ein-
hergeht, so dass andere die Erfahrungen des Entdeckers nutzen können. Damit wäre
Christoph Kolumbus eindeutig als Entdecker Amerikas festzuklopfen (anderer Mei-
137
TRIBUS 54,2005
nung u.a. Knefelkamp 1992:96). Dabei spielt es auch keine Rolle - wie Keegan. der
anlässlich der 500-Jahr-Feier 1992 die historische Bedeutung des Genuesen herun-
terzuspielen und seine Persönlichkeit aus durchsichtig-opportunistischen Gründen
lächerlich zu machen versuchte, meint (1992b:3) ob Seefahrer anderer Nationen
kurz nach Kolumbus an Amerikas Gestaden gelandet wären oder nicht. Überall gibt
es einen Ersten, danach kommen die Zweiten und Dritten. In diesem Zusammen-
hang ist noch erwähnenswert, dass der Begriff „Kontinent“ erst ab dem 17. Jahrhun-
dert gebräuchlich wurde (Wolff 1992:159). Christoph Kolumbus (wie auch Amerigo
Vespucci) war noch 1501 der Meinung, dass Mittelamerika und die karibische Regi-
on ein Teil Ostasiens seien und „Südamerika sei jenes ‘Unbekannte Land4, das nach
Ptolemaios den Indischen Ozean im Osten abschließe“ (Wallisch 2002:43, Anm. 29).
Trotz der vorausgegangenen Einschränkungen kann Christoph Kolumbus „seine Ent-
deckung der Neuen Welt“ also nicht abgesprochen werden (zusammenfassend zur
Leistung von Kolumbus s. zum Beispiel auch Bitterli 1991:23; in einer anderen Publi-
kation werde ich auf die Problematik um den Namen „Amerika“ eingehen). Mit Blick
auf einige Wikinger, die ja mindestens einen Vorläufer in der Person des legenden-
umwobenen irischen Mönchs St. Brendan im 6. Jahrhundert hatten (s. etwa Knefel-
kamp a.a.O.:88; Severin 1977), und weitere Angehörige seefahrender Nationen vor
Kolumbus, wie den Hildesheimer Dietrich Pining, der mit dem Portugiesen Vaz Corte
Real 1471 an Neufundlands Küsten gewesen sein soll, muss noch einmal definitiv fest-
gehalten werden, dass die Verbindung zwischen dieser „Neuen“ und der „Alten Welt“
nach 1492 nie mehr abriss. Einer der wesentlichen Gründe hierfür war, dass auswande-
rungswillige Europäer den amerikanischen Kontinent als das Einwanderungsland par
excellence betrachteten, das bis auf „ein paar Wilde“ unbewohnt schien. Wie auch im-
mer die „Entdeckung“ von Kolumbus zu bewerten ist, jedenfalls muss wohl jeder den
Mut des Genuesen bewundern, der - sich der Risiken und Gefahren voll bewusst - das
unbekannte Meer im Westen in einer Nussschale überquerte. Sicherlich hatte Kolum-
bus einiges über seine Vorgänger einer Atlantiküberquerung in Erfahrung bringen
können (s. Knefelkamp a.a.O.:96), doch wie viel und ob es ihm tatsächlich half, ist noch
immer ungewiss. Instinktiver Spürsinn, logisches Denken aufgrund gegebener Er-
kenntnisse und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit gehörten zu den grundlegenden
Charakterzügen von Christoph Kolumbus. Bezeichnend für seine oftmals gezeigte
kühle Überlegung und mutige Entschlossenheit ist die Episode, die sich am 3.12.1492
an Hispaniolas3 Nordwestküste ereignete (Hispaniola im Arawak der Taino - Näheres
zur linguistischen Unterscheidung s. unter 1.3.2. - laut Bordbuch „Hayti“, das heißt
„Hochland“, s. Grün 1983:112, bzw. „Aiti“ mit der genannten Bedeutung, oder „Bo-
hio“ gleich Haus, auf den mythologischen Ursprung der Taino hinweisend, oder aber
„Ouisqueya“ für Hauptland, vgl. Rouse 1948(c):522; ich bevorzuge die von Peter Mar-
tyr latinisierte Schreibweise Hispaniola statt des Española). Obwohl den Tod durch
hunderte indianischer Speere vor Augen, überlegt der Genuese eiskalt: wenn er, wie
ihm der begleitende Lucayo bleich vor Angst rät, mit seinen paar Begleitern jetzt zu
seinen Booten flieht, hat er ein für alle Mal bei den Eingeborenen seinen Nimbus als
Unsterblicher verloren. So nimmt er einige Glasperlen in die Hand, geht auf die Krie-
ger zu und fordert sie auf, ihre Speere gegen die - wie er inzwischen weiß - von den
Indianern begehrten Perlen zu tauschen. In sein Bordbuch schreibt er als Abschluss
dieser Begebenheit; „Als wir in die Boote stiegen, besaßen die Indianer keinen einzi-
gen Speer mehr“ (Grün 1983:109).
An dieser Stelle erscheint es erforderlich, kurz die Daten der ersten beiden Kolum-
busreisen und die von ihm für Europa entdeckten Inseln aufzuführen.
3 Die Insel der Großen Antillen „Haiti“ bzw. Hispaniola beherbergt heute zwei souveräne Staa-
ten - zum einen Haiti, zum anderen die Dominikanische Republik. Um nicht in Konflikt mit
geopolitischen Einordnungen zu kommen, bleibe ich bei Nennung der erwähnten Insel bei dem
(spanischen) ursprünglichen Hispaniola. was Kleinspanien bedeutet. Kaum jemand weiß
schließlich mit der Taino-Bezeichnung Quisqueya (eine der drei ztrawiA-Bezeichnungen für
Hispaniola) etwas anzufangen.
138
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Erste Reise
04.08.1492: Abfahrt von Palos de la Frontera, in der Regel nur „Palos“ genannt,
Südwestspanien, mit der Näo Santa Maria, dem Flaggschiff von Chris-
toph Kolumbus (Eigentümer und Kapitän Juan de la Cosa, Werftbesit-
zer aus Galizien; 42 Mann Besatzung, nach Nöstlinger 1997/91:43 waren
es 39). den Karavellen Pinta (Kapitän Martin Alonso Pinzón; 26 Mann
Besatzung, nach Nöstlinger a.a.0.27) und Niña (Kapitän Vincente Pin-
zón, 34 Mann Besatzung, Nöstlinger ebenda). Niña und Pinta gehörten
der Gemeinde Palos (Kagan 1991:61, Anm. 6). Neben dem Genuesen
waren drei weitere Männer aus „Italien“ sowie ein Portugiese an Bord.
Die übrige Mannschaft stammte aus Palos, einige wenige aus dem be-
nachbarten Palos de la Moguer und weiteren andalusischen Dörfern
(Brinkbäumer / Höges 2004:187).
06.09.1492: Aufbruch von Gomara (Kanarischen Inseln).
12.10.1492: Donnerstag, 2.00 Uhr. Ankunft vor Guanahani (San Salvador, von Ko-
lumbus so benannt; bis 1926 als Watling's Island bekannt) bzw. beim
„Volk der kleinen Inseln“, auf Arawak Lukku Kairi (laut Rouse
1948(c):522), bezeichnet als Lucayo oder - im Deutschen Lucayer; der
Seefahrer taufte auch viele weitere Inseln, die er während seiner vier
Reisen nach Westindien berührte, auf spanische Namen um (meist nach
Personen des Königshauses), die aber oft keinen Bestand hatten und im
Laufe der Zeit wieder in andere Bezeichnungen geändert wurden. Gua-
nahani, eines der östlichen Eilande der Bahamas, wurde kurz nach 2 Uhr
Ahb. 4: Eine etwas romantisierte Wie-
dergabe einer Lucayo-Familie. Aus: Al-
bury 1975:15.
Abb.3: Die Stelle, an der Christoph Kolumbus zum ersten Mal auf Bewohner der
so genannten Neuen Welt stieß, ist eine (für Touristen) eher schlicht gekennzeich-
nete Stelle an der Long Bay der Bahama-Insel San Salvador bzw. Guanahani
(Westküste). Die ehemals in der Nähe gelegenen Lucayo-Dörfer haben von Ar-
chäologen die Bezeichnungen Long Bay Village „SS-9“ und 3 Dog Site „SS-21“
erhalten (Aarons 1991:25). Die meisten Besucher nehmen diesen geschichtsträch-
tigen Ort, anders als der Autor (Foto), eher gelassen zur Kenntnis.
139
TRIBUS 54,2005
14.10.1492
15.10.1492
16.10.1492
20.10.1492
24.10.1492:
27.10.1492:
28.10,-
05.12.1492:
21.11.1492:
05.12.1492:
morgens erreicht. Zu 90 Prozent war es tatsächlich Guanahani, auf die
Kolumbus als erste Insel gestoßen war, alle anderen erwogenen erfüllen
nicht in diesem Maße die geo- und insbesondere topografischen Voraus-
setzungen, wie sie von dem Genuesen selbst geschildert wurden.
Neun Inseln wurden in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten für
Guanahani gehalten (Paz et al. 2000:49). Der so genannte „landfall“
ereignete sich in der Long Bay (Westküste von Guanahani). Aus Aus-
grabungen kennen wir die Lokalitäten der beiden Lucayo-Dörfer, de-
ren Bewohner die europäischen Seefahrer erstmals gesehen haben
dürften. Es sind Long Bay Village „SS-9“ und die 3 Dog Site „SS-21“
(Aarons 1991:25). Unter der zahllosen Literatur zu diesem Thema sei
zusammenfassend auf Vorsey / Parker 1985 verwiesen. Auf die Urein-
wohner der Bahamas, die Lucayo, wird weiter unten eingegangen. Alle
Daten rechnen sich nach dem damaligen Julianischen Kalender. Nach
dem heutigen Gregorianischen Kalender verschieben sich die Daten
um zehn Tage, das heißt für den 12.10.1492, dass Kolumbus eigentlich
am 21.10.1492 Amerika erreichte (das erste Datum wird in die zehn
Tage eingerechnet). Erinnert werden soll hier auch an den Matrosen
auf der Pinta, Rodrigo de Triana aus Lepe, der als erster um 2 Uhr mor-
gens des 12.10.1492 Land des „neuen“ Kontinents gesehen hatte (um
22 Uhr des Vortages hatte Kolumbus unregelmäßige Lichter bemerkt,
hervorgerufen wahrscheinlich durch Heben und Senken von Matten
über offenen Feuern zur Rauchentwicklung gegen die Mückenplage).
Abends Abfahrt von Guanahani.
Ankern vor Santa Maria de la Concepción (heute Rum Cay).
Ankern vor Fernandina (heute Long Island).
Ankunft vor Isabela (heute Crooked Island) und Long Cay. Mit der von
Kolumbus so umbenannten Insel Isabela hatte er, ohne es zu wissen, das
Reich des von ihm gesuchten „Königs“ Saomet (Samaot) gefunden, denn
diese hakenförmige Insel direkt nordwestlich vor der sich anschließenden
Acklins-Insel mit ihren Eilanden war Saomet mit seinem von den Spani-
ern so sehr begehrten Gold, das dort allerdings wie auch andernorts nicht
zu finden war (s. Keegan 1984:34 f und 38, der außerdem daraufhinweist,
dass oft sowohl auf den Bahamas als auch auf den Großen Antillen die
Bezeichnung einer Insel und eines Territoriums gleich lautend mit dem
Namen des zuständigen Oberkaziken war). An anderer Stelle wird da-
rauf zurückzukommen sein. Aus Hinweisen früher Reisender und „Ent-
decker“ wissen wir, dass der Name des Häuptlings oft gleich lautend auf
den seiner Gruppe oder auch den der Region umgesetzt wurde, wie bei-
spielsweise in Südamerika, wahrscheinlich auch auf anderen Konti-
nenten. Für Europäer war ein Häuptling mangels eines anderen Begriffes
oftmals ein „König“. Granberry hat allein für die Lucayo-Inseln 40 der
ursprünglichen AravraA-Namen herausgefunden (1991:3).
Abfahrt von Isabela.
Passieren von Gay Santo Domingo; Verlassen der Bahamas; Erreichen
Kubas. Kolumbus „tauft“ die größte Insel der Antillen nach dem spa-
nischen Infanten Don Juan auf den Namen „Juana“. Die Bezeichnung
hat keinen Bestand. „Kuba“ ist aruakxsehen Ursprungs.
Kreuzen vor der Nordost-Küste Kubas.
Die Pinta unter Kapitän Martín Alonso Pinzón verlässt die Kolumbus-
Flotte für Erkundigungen (Suche nach Gold) auf eigene Faust. Nach ca.
sechs Wochen stößt er vor Hispaniola wieder auf die Kolumbus-Schiffe.
Kolumbus erreicht den östlichsten Punkt von Kuba - Baracoa (1t. Mo-
rison 1942; gemäß Albury 1975 kommt Kolumbus an diesem Tag bereits
in Hispaniola an).
140
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Abb. 5: Die obige kleine Kartenskizze von der Nordwestküste Hispaniolas soll nicht
auf Kolumbus, wie verschiedentlich berichtet wurde (beispielsweise von Bitterli
1991:15 oder auch Wolff 1992:146), sondern auf einen seiner Matrosen zurückgehen.
Zur Veranschaulichung ist ebenfalls der Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Karte
wiedergegeben (Morison 1942:287).
06.12.1492:
09.12.1492:
12.12.1492:
21.12.1492:
24.12.1492:
25.12.1492:
26.12.1492:
04.01.1493:
16.01.1493:
Kolumbus befindet sich 12 Meilen nordöstlich vom Kap St. Nicolás /
Nordwest-Hispaniola (die kleine Kartenskizze von der Nordwestküste
Hispaniolas, heute Haiti.
Kolumbus tauft die zweitgrößte Insel der Antillen auf den Namen „Es-
pañola“ (bzw. Hispaniola).
Kolumbus ergreift offiziell Besitz von Hispaniola für die spanische
Krone.
Kolumbus trifft nahe der Bay de Acul auf Kanus, ausgesandt von Gua-
canagari, Oberkazike des Territoriums Marien auf Hispaniola.
Kolumbus befindet sich in der Weihnachtsnacht bei Cap Haitien. west-
lich des nahe gelegenen, späteren Forts La Navidad.
In der Nacht zum 1. Weihnachtstag läuft die Santa Maria aus Unacht-
samkeit der Wache auf ein Riff und sinkt, westlich des Barrier Riffs,
nordwestlich des späteren La Navidad.
Kolumbus ankert in der Bay de Acul, Nordküste Hispaniolas, und trifft
hier Guacanagari.
Verlassen der Nordwestküste Hispaniolas (von La Navidad aus; nach
Nöstlinger 1997/91:60 war es der 9.1.). Ein Teil der Mannschaft bleibt in
der kleinen Eestung als erste europäische Kolonisten auf indianischem
Boden zurück.
Abfahrt vom Golfo de las Elechas und der Bucht von Samaná, (Ost-
Hispaniola) und damit aus den karibischen Gewässern. 19.1.1493: End-
gültig auf der Rückreise über den Atlantik.
141
TRIBUS 54,2005
19.01.1493:
04.03.1493:
15.03.1493:
28.05.1493:
Endgültig auf der Rückreise über den Atlantik.
Ankunft in Restelo (heute Beiern), dem in der Nähe Lissabons an der
Tejo-Mündung gelegenen Hafen (nach Paz et al. 2000:34 inTagus, eben-
falls Portugal; nach Nöstlinger 1997/91:65 in Cascais an der Tejo-Mün-
dung).
Ankunft in Palos de la Frontera.
Christoph Kolumbus wird zum Admiral des ozeanischen Meeres er-
nannt.
Zweite Reise
25.09.1493
12.10.1493
03.11.1493
22.11.1493:
27.11.1493:
02.01.1494:
24.04.1494
30.04.1494
14.05.1494
14.06.1494
19.08.1494
10.03.1496
11.06.1496
142
Aufbruch von Cádiz.
Abfahrt von Hierro (Kanarische Inseln).
Ankunft bei den Kleinen Antillen (Aufzählung nach dem Reisever-
lauf):
Vor Dominica (auf Galibi Oüáitoucoubouli; zum Galib s. unter 2.2.1.),
Ankern vor Maria (heute Marie) Galante.
Weitere Inseln, wo Kolumbus ankerte bzw. an Land ging:
Guadalupe (heute Guadeloupe; auf Arawak Karukera, ähnlich dem ga-
libischen Kaloukaéra, auch Turuqueira, wie Allaire, in Wilson 1997:179
unter Berufung auf Martyr sowie die Franzosen des 17. Jahrhunderts
berichtet). San Martin (heute Nevis; diese und das angrenzende St.
Kitts sollen ursprünglich die Bezeichnung Liamuiga gehabt haben,
wahrscheinlich aus dem Galibi abgeleitet).
Martinique (auf Galibi loüanacaéra bzw. Iguanacairi; nach Arrom, in
Bercht et al. 1997:38 nicht Matinimo bzw. Matinimó, wie Paz et al.
2000:34 nach Morison 1942 meinen). Santa Cruz (heute Ste. Croix; auf
Arawak Ayay, auf Galibi láhi; nach Cooper, in Wilson 1997 :186 späte-
rer Kariben-Name Cibuqueira).
Danach eine Inselgruppe der nördlichen Kleinen Antillen (Leeward-
Inseln), nördlich von Ste. Croix, östlich von Puerto Rico (Letztgenann-
te in Arawak Burenquen oder Burenwuen, nach Bartolomé de Las Ca-
sas: Boriquén bzw. Borinquén, die Eingeborenen Boriquéño). Diese
Inselkette tauft der Admiral auf den Namen „Jungferninseln“.
Kolumbus verlässt Puerto Rico und erreicht das östliche Hispaniola am
Cabo Engano (in Englisch Cape Mistake), Higuey-Territorium (nach
anderen Angaben war es der 23.11.1493, (so Paz et al. 2000:36).
Ankunft am mittlerweile zerstörten Fort La Navidad an der Nordost-
Küste Hispaniolas mit der gesamten, von Indianern getöteten Mann-
schaft (ca. 30 Matrosen).
Gründung von Isabela an der Nordküste Hispaniolas, der ersten euro-
päischen Stadt auf indianischem Boden; nach zwei Jahren wieder auf-
gegeben.
Kolumbus verläßt Isabela in Richtung Kuba, um „China“ zu finden.
Kolumbus erreicht die Guantanamo-Buchl in Süd-Kuba.
Kolumbus kommt an der westlichsten Kuba-Provinz Pinar del Rio an.
Kolumbus beendet an der Bay of Cortés seine Kuba-Erkundung, um
über Jamaika („fruchtbares Land“ in Arawak) nach Hispaniola zu-
rückzufahren. Zu diesem Zeitpunkt macht er sein berühmtes State-
ment mit Androhung hoher Strafen bei der Behauptung, dass Kuba
eine Insel und nicht Festland sei, unterzeichnet von allen drei Schiffs-
besatzungen. Mit seiner Behauptung, die befahrenen Küsten gehör-
ten zu einer Halbinsel Chinas, hat er sich wahrscheinlich selbst etwas
vorgegaukelt.
Kolumbus verlässt Jamaika.
Kolumbus verlässt Isabela in Richtung Europa.
Ankunft in Spanien.
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
An dieser Stelle soll im Hinblick auf die Kleinen Antillen konzis auf einige geogra-
fische Begriffe eingegangen werden, die immer wieder zu Verwirrungen führen. An
die östlichste Insel der Großen Antillen, das heißt Puerto Rico, schließen sich in ei-
nem nach Südosten verlaufenden Bogen die Kleinen Antillen an. Die nördlichen
und östlichen dieser Inseln werden im Deutschen „Inseln über dem Wind“ ohne
Barbados und damit selbstverständlich auch ohne Trinidad und Tobago (angeblich
nach dem galibischen „Tobaco“ so genannt), die südlichen vor der Nordküste Süda-
merikas gelegenen „Inseln unter dem Wind“ genannt. Allerdings werden Barbados
sowie Trinidad/Tobago im Allgemeinen zu den Kleinen Antillen insgesamt gerech-
net (Haas 1992:17). Im Englischen werden die „über dem Wind“ liegenden unterteilt
in die so genannten Leeward- (das sind die nördlichen Kleinen Antillen: mit „lee“
wird die dem Wind abgewandte Seite bezeichnet) sowie die Windward-Inseln (das
sind die südlichen dieser Inseln, aber ohne die „unter dem Wind“). Alle diese Eilan-
de waren einst britische, französische und niederländische Kolonien, was noch heute
an verschiedenen Lebensformen festgestellt werden kann, auch wenn sich die Inseln
teilweise zu eigenständigen Staaten oder assoziierten Teilstaaten gewandelt haben.
Die zu den Leeward- gehörenden Jungfern-Inseln zählen zum Einflussbereich der
USA. Die Windward-Inseln sind schnell aufgeführt: Saint Lucia. Saint Vincent, die
Grenadinen, Grenada sowie im Osten Barbados (letztere jedoch nicht, wie gesagt, zu
den Inseln über dem Wind rechnend). Alle anderen, weiter nördlich gelegenen Ei-
lande gehören zu den Leewards.
Zurück zum Charakter von Christoph Kolumbus. Immer wieder wird bei Betrach-
tung seines Lebens die starke familiäre Bindung deutlich, die ihn auszeichnete, ihm
aber oft auch große Unannehmlichkeiten bereitete, insbesondere hinsichtlich seiner
beiden Brüder, denen er in den kolonialen Anfängen auf Hispaniola hohe Ämter
verschaffte. Selbst weit entfernte Verwandte in Genua bedachte er in seinem Testa-
ment mit stattlichen Geldbeträgen (Krum 1985:29), was darauf hinweist, dass sowohl
Großzügigkeit als auch familiäre Verbundenheit zu seinen Charakterzügen gehör-
ten. Mehrmals wird in der Kolumbus-Literatur geschildert, dass und inwiefern er ein
schlechter Menschenkenner war und dass er sich von seiner Überschwänglichkeit
oftmals mitreißen ließ, ohne Realitäten genügend zu berücksichtigen. Er war ein
Schwärmer, der - wenigstens in den Anfängen - in seiner Begeisterung für die Indi-
aner und ihre Ländereien mit herrlicher Natur total versinken konnte (Gewecke
1992:63; Walker 1992:103). Andererseits bewies er in etlichen Situationen durchaus
auch Realitätssinn, wahrscheinlich jedoch weniger im Umgang mit Menschen, von
denen ihm viele zu ernst zu nehmenden Gegnern erwuchsen. Zeit seines Lebens war
Kolumbus durch und durch Seefahrer mit herausragenden navigatorischen Fähig-
keiten und großem meteorologischem Erfahrungsschatz, um nicht zu sagen Instinkt
(von den seinerzeit üblichen Navigationsinstrumenten soll Kolumbus fast ausschließ-
lich den Quadranten benutzt haben). In der entsprechenden Literatur werden im-
mer wieder die Geschehnisse am 24.6.1502 wiedergegeben, als der Genuese einen
Hurrikan vor der Küste von San Domingo voraussagle, der damalige Gouverneur
von Hispaniola, Nicolás de Ovando, für entsprechende Ratschläge jedoch nur ein
verächtliches Lächeln übrig hatte. Der verhehrende Sturm (140-280 km/h) kam wie
vom Admiral angekündigt, und von den 28 Schiffen, beladen mit Gold für Spanien,
sanken innerhalb kürzester Zeit 19. Neben Francisco de Bobadilla, dem Erzfeind
von Kolumbus, starben 500 Seeleute und Reisende. Nur ein betagtes Schiff, die Agu-
ja, erreichte Spanien, und dieses hatte das Gold unseres Seefahrers an Bord (Paz et
al. 2000:46).
Der Kapitän eines Segelschiffes muss nicht nur viel von Navigation, Ozeanografie
und Meteorologie wissen, er muss Spürsinn. Intuition und die Gabe besitzen. Vorah-
nungen in Taten umsetzen zu können, um sein Schiff sicher über die unberechenba-
ren Meere zu führen (zur Entwicklung der transatlantischen Schifffahrt vgl. bei-
spielsweise Böndel 1992, speziell im Hinblick auf Kolumbus die Angaben von Coin
Cuenca ebenda). Während der hohen Zeit der Segelschifffahrt waren dies die Eigen-
schaften. die dem Navigator die Achtung und das Vertrauen seiner Mannschaft ein-
143
TRIBUS 54,2005
KARTE
DER INSEL HAITI
(ESPAÑOLA)
idePaix
Abb. 6: Hispaniola (Haiti) mit den einstigen indianischen Territorien. Aus: Klingelhö-
fer, H. (Martyr von Anghiera, R) 1972.
brachten, nicht diplomatisches Auftreten und politische Umsicht. Es ist daher schon
eine Überlegung wert, ob Kolumbus es tatsächlich nötig hatte, auf der ersten Reise
über den Atlantik ein zweites Bordbuch mit falschen Angaben der zurückgelegten
Strecke zu führen, nur um die Mannschaft zu beruhigen, was ja gleichzeitig eine Täu-
schung seiner Leute bedeutete. Jedenfalls bezweifelt Keegan (1992a: 181 f) diese Ge-
schichte unter Verweis auf Kelley (1987:127) aus mehreren Gründen und sieht alles
als ein Märchen an, das auf den Kopierer Bartolomé de Las Casas, den berühmten
Dominikanermönch und späteren Bischof von Chiapas, zurückzuführen sei.
Solche Zweifel an der Glaubwürdigkeit Las Casas’, insbesondere im Hinblick auf die
im wahrsten Sinne des Wortes unglaublichen Grausamkeiten der Spanier gegenüber
der westindischen Urbevölkerung, sind zeit seines Lebens und in den Jahrhunderten
nach ihm oft geäußert worden. Immer und immer wieder hat der Dominikaner da-
rauf verwiesen, dass seine Kenntnisse auf eigener Anschauung und eigenem Erleben
beruhten (vgl. hierzu beispielsweise Gutiérrez 1990:17 f; zur Glaubwürdigkeit von
Las Casas ebenda:32 f, Lußn. 14, weiterhin 33 und 65 ff).
Wenn wir nun im vorliegenden kleinen Fall die Fehleinschätzung unseres Seefahrers
über die Strecke, die er bis nach Japan zurückzulegen hatte (nach seiner Meinung
4.445 km), mit der tatsächlichen vergleichen, nämlich knapp 20.000 km (Gründer
2003:37 f; Paz et al. 2000:48, Fußnote 8), und seine psychische Verfassung berücksich-
144
TRIBUS 54,2005
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
KARTE
DER INSEL HAITI
(ESPAÑOLA)
t-vSaona
Ahh. 6: Hispaniola (Haiti) mit den einstigen indianischen Territorien. Aus: Klingelhö-
fer, H. (Martyr von Anghiera. R) 1972.
brachten, nicht diplomatisches Auftreten und politische Umsicht. Es ist daher schon
eine Überlegung wert, ob Kolumbus es tatsächlich nötig hatte, auf der ersten Reise
über den Atlantik ein zweites Bordbuch mit falschen Angaben der zurückgelegten
Strecke zu führen, nur um die Mannschaft zu beruhigen, was ja gleichzeitig eine Täu-
schung seiner Leute bedeutete. Jedenfalls bezweifelt Keegan (1992a:181 f) diese Ge-
schichte unter Verweis auf Kelley (1987:127) aus mehreren Gründen und sieht alles
als ein Märchen an. das auf den Kopierer Bartolomé de Las Casas, den berühmten
Dominikanermönch und späteren Bischof von Chiapas, zurückzuführen sei.
Solche Zweifel an der Glaubwürdigkeit Las Casas’, insbesondere im Hinblick auf die
im wahrsten Sinne des Wortes unglaublichen Grausamkeiten der Spanier gegenüber
der westindischen Urbevölkerung, sind zeit seines Lebens und in den Jahrhunderten
nach ihm oft geäußert worden. Immer und immer wieder hat der Dominikaner da-
rauf verwiesen, dass seine Kenntnisse auf eigener Anschauung und eigenem Erleben
beruhten (vgl. hierzu beispielsweise Gutiérrez 1990:17 f; zur Glaubwürdigkeit von
Las Casas ebenda:32 f, Fußn. 14, weiterhin 33 und 65 ff).
Wenn wir nun im vorliegenden kleinen Fall die Fehleinschätzung unseres Seefahrers
über die Strecke, die er bis nach Japan zurückzulegen hatte (nach seiner Meinung
4.445 km), mit der tatsächlichen vergleichen, nämlich knapp 20.000 km (Gründer
2003:37 f; Paz et al. 2000:48, Fußnote 8), und seine psychische Verfassung berücksich-
tigen, als das Ziel seiner Träume einfach nicht auftauchen wollte, dann können wir
uns schon vorstellen, dass er seine aufgeregte Mannschaft mit einer Täuschung beru-
higen wollte. Wie auch immer - nur ein Bruchteil dessen, was über den genuesischen
Seefahrer zu Papier gebracht wurde, führt dazu, den Menschen Kolumbus leichter zu
verstehen. Doch ist ihm mancher seiner Fehler nachzusehen.
Viele Anekdoten und Geschichten um Kolumbus lassen seinen Charakter sogar po-
sitiv deuten. So hebt Taviani (1989:72) sein Geschick hervor, einflussreiche Kreise
des spanischen Hofes für sich zu gewinnen, sie von seiner Idee eines westlichen See-
weges nach Indien zu überzeugen und die so genannten Katholischen Könige (Isa-
bella von Kastilien, 1451-1504. und Ferdinand II. von Aragon, 1452-1516) für sein
Vorhaben einzunehmen, so dass ihm schließlich nach dem Fall von Granada (Kapi-
tulation 30. Dezember 1491; s. beispielsweise Madariaga 1966:9; offizielle Übergabe
durch den maurischen König Boabdil am 2. Januar 1492; s. u.a. Paz et al. 2000:24) die
erforderlichen finanziellen Mittel für die gewünschte Ozeanüberquerung bewilligt
wurden (Einzelheiten des Vertrages zwischen der spanischen Krone und Kolumbus
lassen sich etwa bei Irving 1828:114/5 finden; weitere Auflagen 1842,1851). Sein um-
gängliches und angenehmes Wesen scheinen Kolumbus manche Tür geöffnet zu ha-
ben. Bei der Verfolgung seines Ziels schreckte er offenbar auch nicht vor intensiven
Schmeicheleien zurück. Gegenüber den Katholischen Königen hob er deren messia-
145
144
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
tigen, als das Ziel seiner Träume einfach nicht auftauchen wollte, dann können wir
uns schon vorstellen, dass er seine aufgeregte Mannschaft mit einer Täuschung beru-
higen wollte. Wie auch immer - nur ein Bruchteil dessen, was über den genuesischen
Seefahrer zu Papier gebracht wurde, führt dazu, den Menschen Kolumbus leichter zu
verstehen. Doch ist ihm mancher seiner Fehler nachzusehen.
Viele Anekdoten und Geschichten um Kolumbus lassen seinen Charakter sogar po-
sitiv deuten. So hebt Taviani (1989:72) sein Geschick hervor, einflussreiche Kreise
des spanischen Hofes für sich zu gewinnen, sie von seiner Idee eines westlichen See-
weges nach Indien zu überzeugen und die so genannten Katholischen Könige (Isa-
bella von Kastilien, 1451-1504. und Ferdinand II. von Aragon, 1452-1516) für sein
Vorhaben einzunehmen, so dass ihm schließlich nach dem Fall von Granada (Kapi-
tulation 30. Dezember 1491; s. beispielsweise Madariaga 1966:9; offizielle Übergabe
durch den maurischen König Boabdil am 2. Januar 1492; s. u.a. Paz et al. 2000:24) die
erforderlichen finanziellen Mittel für die gewünschte Ozeanüberquerung bewilligt
wurden (Einzelheiten des Vertrages zwischen der spanischen Krone und Kolumbus
lassen sich etwa bei Irving 1828:114/5 finden; weitere Auflagen 1842,1851). Sein um-
gängliches und angenehmes Wesen scheinen Kolumbus manche Tür geöffnet zu ha-
ben. Bei der Verfolgung seines Ziels schreckte er offenbar auch nicht vor intensiven
Schmeicheleien zurück. Gegenüber den Katholischen Königen hob er deren messia-
145
TRIBUS 54,2005
nische Ambitionen hervor, gegenüber Ferdinand II. speziell dessen Vision, Vorreiter
der weltweiten Christianisierung zu sein (vgl. zum Beispiel Kagan 1991:60). Bei dem
besonderen Verhältnis zu Isabella sahen etliche Biografen sogar einen erotischen
Hintergrund (Nöstlinger 1997/91:30, der sich auf Morison 1942 stützt), doch beim
Geld hört bekanntlich die Liebe auf, wenn es denn überhaupt solche Gefühle gab.
Jedenfalls beteiligte sich das spanische Königshaus nur etwa zur Hälfte an den Ko-
sten der Expedition, die andere Hälfte übernahmen verschiedene Kaufleute aus Se-
villa sowie Kolumbus selbst (Kagan ebenda:61, Anm. 6).
Auch auf Hispaniola zeigte Kolumbus im Umgang mit Eingeborenen, zumindest an-
fangs, durchaus Verhandlungsgeschick. Hierzu zwei Beispiele: Als die Frau eines Be-
zirkskaziken, deren Schönheit weithin gerühmt wurde, zusammen mit dem Territori-
alkaziken Mayobanex (von Ciguaia, nördliches Küstengebiet von Hispaniola) von
den Spaniern gefangen genommen wurde, konnte der Admiral erreichen, dass der
Ehemann für die Rückgabe seiner Frau mit 5000 seiner Untertanen spanische Felder
bestellte und so die spanische Versorgung, wenigstens für die nächste Zeit, sicher-
stellte (Martyr 1972:97 f). Zweites Beispiel: Für das Versprechen, seine durch india-
nische Länder des Territoriums Cibao (Zentralhispaniola) marodierenden Soldaten
zukünftig zurückzuhalten, sagten die verhandelnden indianischen Notablen dem
Admiral zu, alle drei Monate einen bestimmten Betrag Goldes sowie landwirtschaft-
liche Produkte an die Spanier zu liefern (ebenda: 67 f). Alles in allem - die geschicht-
liche Größe dieses Mannes liegt in dem für manchen schon fast psychopathischen,
auf jeden Fall fanatischen Glauben an die Richtigkeit seiner Idee (Pleticha 1987:175)
und der Kraft, diese Idee Realität werden zu lassen (nach jahrelangen Rückschlägen
und Enttäuschungen konnte er schließlich seine Verhandlungen mit den Königen am
17. und 30. April 1492 erfolgreich abschließen; vgl. etwa Paz et al. 2000:26).
Was uns im Zusammenhang mit dem Wesen des Genuesen am meisten interessiert,
ist seine Einstellung zu den westindischen Autochthonen, die sich einerseits aus den
arawakischen Taino auf den Großen und zum Teil (bis zu ihrer Vertreibung durch die
ihnen nachrückenden Kariben) auch Kleinen Antillen sowie auf den Bahamas zu-
sammensetzten, andererseits aus den Kariben auf den südlichen und in geringem
Maße nördlichen Kleinen Antillen sowie teilweise auf Trinidad (Einzelheiten weiter
unten). Der Terminus „Taino“ für die Antillen-Arawaken ist nicht originär, kein
Taino hätte mit dem Wort etwas anfangen können. Es ist eigentlich ein künstlicher
Begriff und wurde erstmals zu Anfang des 19. Jahrhunderts in die Literatur einge-
führt sowie meist nur auf die Arawaken der Großen Antillen ohne Jamaika bezogen.
Ich verwende „Taino“ im Grundsatz für alle Insel-Arawaken, falls erforderlich mit
speziellen Ethnienbezeichnungen (Näheres bei Rouse 1948(c):521. Fußn. 9).
Nach Dr. Diego Chanca, der sich durch seine Teilnahme an der zweiten Kolumbus-
reise ausgezeichnete Kenntnisse auch über die Antillen-Indianer aneignen konnte,
hieß „gut“ im Arawak auf Hispaniola „tyno“. Die Spanier benutzen das Wort als
Begrüßungs- und Beruhigungsfloskel, wenn sie sich Eingeborenen näherten, indem
sie riefen „tyno, tyno“. Nach Peter Martyr soll „Taino“ mit „gute Menschen“ oder
nach anderen Chronisten auch mit „Vornehme“ gleichbedeutend sein (Walker a.
a.O.: 160; Keegan 1992a:2, 11). Auch mit „Edle“ wird das Wort „Taino“ oft erklärt.
Martyr gibt allerdings als „Edle“ die Arawa/c-Bezeichnung „Mitaini“ an, womit je-
doch hier „hervorragende Männer“, wie beispielsweise Feldvermesser, gemeint sind
(1972:288). Soviel zur Erklärung von „Taino“.
Im Verhalten gegenüber den Eingeborenen gibt es bei Kolumbus zum einen zeitliche
Differenzen, zum anderen ethnische. Zu ersteren: Grundsätzlich soll der Admiral die
Eingeborenen selbst als den Reichtum der karibischen Inseln gehalten haben (Viola
/ Margolis 1991:13), wobei er wohl in erster Linie an deren Arbeitskraft zur Produk-
tion von Nahrungsmitteln und (später) von Gold aus den Bergwerken gedacht ha-
ben wird (bei den in der Literatur immer wieder erwähnten „Bergwerken“ handelt
es sich - zumindest in der Anfangszeit der europäischen Plünderung der Antillen -
um ausgetrocknete Flussbetten). Infolge gewisser Vorkommnisse hatten sich die
Taino Hispaniolas später nicht mehr so friedlich verhalten, wie sie anfangs von Ko-
146
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
lumbus geschildert worden waren, zunächst verursacht durch den nie restlos geklär-
ten Überfall durch Indianer auf und den Untergang des ersten spanischen Forts La
Navidad an der Nordwestküste der genannten Insel. Laut Bordbuch von Kolumbus
war die Tragik von La Navidad durch spanische Plünderungen und Vergewaltigungen
indianischer Frauen ausgelöst worden; eine gute Zusammenfassung der Hintergrün-
de in Walker 1992:176 ff; noch nicht gelöste Fragen spricht Keegan 1992a:226 f an,
der in 1992b:4 auf die spanische Verletzung indianischer mythischer Voraussagen als
Grund für die Ermordung der Navidad-Besatzung hinweist. Später gab es weitere
durch die europäischen Invasoren herbeigeführte Anlässe zu indianischen Aufstän-
den in der Region um die Niederlassung Isabela, insbesondere durch die unbarmher-
zige Unterdrückung der Indianer, die gravierend 1494/95 ihren Anfang nahm. Durch
diese neuen Gegebenheiten hatte sich die zunächst positive Einstellung des Genue-
sen gegenüber den Indigenen gewandelt. Sein Verhalten gegenüber den Taino ent-
sprach zunächst, während seiner ersten Reise, dem von Erwachsenen gegenüber
Kindern. Er verbot seinen Leuten, die Indianer bei ihren Tauschgeschäften übers
Ohr zu hauen, lobte ihre Freigiebigkeit, verglich sie gleichzeitig aber auch mit Tieren,
nannte sie „absolut primitive Leute“ und hob ihre Feigheit hervor, die sie zu nütz-
lichen Arbeitern prädestinierten (Gutiérrez 1990:26,Fußn.4und27).Wahrscheinlich
erster Kritiker des Admirals in dieser Hinsicht war Las Casas (ebenda: 28). Doch es
gibt auch eine andere Seite der Medaille. So ließ Kolumbus zunächst keine Gewalt-
taten gegenüber Indianern zu und bestrafte Übergriffe. Zahlreiche Eintragungen in
sein Bordbuch bezeugen das (einige Beispiele in Grün 1983:126 für den 20.1.1493;
ders.:163, 197, 223, 302). Doch schon bald nach der ersten Phase der zweiten Reise,
ab dem Zeitpunkt als die Ermordung der spanischen Kolonisten von La Navidad
durch Indianer zur Gewissheit geworden war, trat der Admiral für harte Bestrafung
selbst bei kleineren „Vergehen“ und rücksichtslose Versklavung der Indianer ein. Es
gab keine Skrupel mehr, wenn es hieß, Indianer unnachsichtig zu verfolgen, zu töten
(Grün 1983:184) und sie in ein unerträgliches Tributsystem zu zwingen (ebenda; 186;
Collier 1963:57 und viele andere). Das Verhältnis von Kolumbus, der in den Jahren
vor 1492 zeitweise selbst Sklavenhändler war, zur Sklaverei entsprach der im Mittel-
alter, nicht nur in Europa, üblichen Einstellung gegenüber „farbigen Völkern“. So
hatte unser Seefahrer sogleich nach der Landung auf Guanahani in seinem Bord-
buch notiert, dass die dortigen Bewohner leicht als Sklaven gehalten werden und
auch nach Kastilien gebracht werden könnten. Sechs von ihnen hatte er in eigener
Ermächtigung gefangen genommen, von denen ein Indianer auf der Überfahrt nach
Europa starb. Vier der übrigen inzwischen getauften fünf Taino (einer mit dem
christlichen Namen Don Juan de Castilla war als königlicher Diener in Spanien ge-
blieben und starb zwei Jahre später) fuhren mit Kolumbus auf seiner zweiten Reise
wieder in Richtung ihrer Heimat, doch nur zwei erreichten sie lebend. Der eine von
ihnen, inzwischen mit dem Namen Diego Colon, diente Kolumbus während dessen
zweitem Aufenthalt in der Karibik als Dolmetscher (in der Literatur gibt es unter-
schiedliche Versionen zu diesen ersten indianischen Sklaven, so zum Beispiel bei
Walker 1992:155; s. ebenfalls Albury 1975:32). Bezeichnend für die Einstellung von
Kolumbus und seinen Zeitgenossen gegenüber dem Sklaventum im Allgemeinen
und Sklaven als „Sache“ ist eine Eintragung vom 14.2.1493 während eines schreck-
lichen Sturms auf der Rückfahrt der ersten Reise im Bordbuch (Grün 1983:128),
nach der dem Navigator die geraubten Bahamas-Indianer, das heißt Lucayo, leid
taten, weil sie unter den Auswirkungen des Orkans besonders litten. So tun einem
auch Hunde leid. Im Epilog dieses Artikels wird auf die Versklavung der Indianer
zurückzukommen sein.
Zur oben angesprochenen ethnischen Unterscheidung bei der Behandlung der Indi-
aner durch Kolumbus, das heißt seiner Einstellung gegenüber den nichtarawakischen
Eingeborenen: Während die Taino den Spaniern, die von diesen Indianern anfangs
für gottähnliche Wesen gehalten wurden, zunächst freundlich gegenübergetreten
waren, hatten deren Feinde auf den Kleinen und Teilen der Großen Antillen, die
Kariben, die von den Taino als Menschenfresser eingestuft wurden, von Beginn an
147
TRIBUS 54,2005
gegenüber den Spaniern ein aggressives und feindliches Verhalten an den Tag gelegt.
Entsprechend wurden sie von den Spaniern verfolgt, getötet oder versklavt, übrigens
bis zum 16.8.1494 (Taviani 1989:189) gegen den Willen der spanischen Könige.
Kaum jemals ist so viel über den zwiespältigen Charakters eines weltberühmten
Mannes der Geschichte geschrieben worden wie über den des Christoph Kolumbus.
Als tief religiöser Christ war er der Nächstenliebe verbunden, andererseits fanatisch
in seinem Bestreben, reich zu werden, allerdings mit der Ergänzung - wie bereits
oben gesagt dass er dabei weniger an sich selbst dachte als an seine Angehörigen,
egal ob sie ihm sehr nah oder entfernter standen. In einem erweiterten Zusammen-
hang ist seine Besessenheit auf der Suche nach Gold zu sehen, das er schon längst vor
seiner zweiten Reise als das Mittel zur Erlangung von Ansehen und Macht erkannt
hatte. Bereits am ersten Tag nach dem „landfall“ auf Guanahani hörte Kolumbus
von einem „König“ mit viel Gold, der auf einer Insel namens Samaot residieren
sollte (zu Samaot s. oben unter „Erste Reise“). Keegan schreibt, dass dieser erste
Hinweis auf Gold bisher von den Kolumbusforschern unterschätzt worden sei, habe
er doch die weiteren Unternehmungen des Genuesen maßgeblich beeinflusst
(1992a:197). Leider führte der wachsende Erfolgsdruck auf der Suche nach dem gel-
ben Metall, der auf unserem Seefahrer lastete, zu exzessiver Goldgier, anders lässt es
sich nicht bezeichnen, und damit zu Ungerechtigkeiten gegenüber, ja zu Ausbeutung,
Versklavung und Tod zahlreicher karibischer Indianer. Das Paradoxon ist, dass in
der Gedankenwelt von Kolumbus der Erwerb von Gold der Erlangung des christ-
lichen Paradieses dienen sollte, eine Vorstellung, die sich schon bald als der unchrist-
lichste aller menschlichen Charakterzüge heraussteilen sollte. Nach 1493 Unterzeich-
nete der Admiral mit seinem berühmten lateinischen „Christopher Kolumbus, Chri-
stus-Träger“ (bzw. Überbringer dessen Botschaft; vgl. zum Beispiel Kagan 1991:60).
Eventuell stand tatsächlich im Hintergrund seines Handelns die Vision der „Wieder-
eroberung Jerusalems und der Christianisierung der Welt“, worauf u. a. auch Horst
Gründer verweist (2003:41). Georg Friederici, der sich sehr kritisch über Christoph
Kolumbus geäußert hat, meinte, dass der Genuese „als erster die verheerende Saat...
des amerikanischen Goldfiebers ausgesät“ habe (Pleticha 1987:174). In der einschlä-
gigen Literatur ist an dem Admiral viele Male Kritik geäußert worden. Eine neuere
Beurteilung hat unter anderen Keegan (1992a:175 ff) abgegeben, die allerdings nicht
recht überzeugen will, da ebenfalls aus dem Zusammenhang gerissene Stellungnah-
men anderer Autoren wiedergegeben werden.
Es ist erwiesen, dass Kolumbus ehrgeizig und unduldsam war und oftmals von seinen
heftigen Leidenschaften fortgerissen wurde. Nur ein Fanatiker mit einer bestimmten
Art von Sendungsbewusstsein konnte wahrscheinlich die Widerstände überwinden,
die sich ihm in all den Jahren vor 1492 entgegengestellt hatten. Sich selbst hat der Na-
vigator übrigens ein Mal (1501) als unwissend und leichtfertig hingestellt (Taviani
1989:74), ein anderes Mal soll er aber auch gesagt haben, dass ihm Gott „die Kraft des
Verstandes gegeben“ habe (Pleticha 1987:169).Tatsache ist, dass er sich als Autodidakt
viel lexikalisches Wissen angeeignet hatte, das ihn wahrscheinlich so manches Mal
auch zu Fehlschlüssen führte, da ihm der Unterbau seiner Kenntnisse fehlte. Doch
seine Genialität und Intuition machten das Fehlen grundlegenden Wissens bei weitem
wett. So wie dieser größte Sohn Genuas schon zu Lebzeiten oft verkannt wurde, so
wurde er auch nach seinem Tod an nicht wenigen Stellen der historischen Forschung in
ein schiefes,ja verzeichnendes Licht gestellt (s. hierzu beispielsweise Gewecke 1981:327
f). Mit Sicherheit war er einer der ungewöhnlichsten Menschen der europäischen Ge-
schichte, aber - um mit Taviani (1989:198) zu sprechen - er war kein Heiliger.
1.3. Priniärquellcn und Forschungsansatz
1.3.1. Kolumbus, Pane und andere Berichterstatter
Ziel dieser Untersuchung ist es, neben einigen Hinweisen auf die ethnologische
Grundlagenforschung auch einen ersten Überblick über die materielle Kultur der
148
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
westindischen Indianer zur Zeit des Christoph Kolumbus zu geben. Dabei wird so-
wohl der soziale (gesellschaftliche) als auch wirtschaftliche Hintergrund gestreift,
vor dem und in dem sich das Leben dieser Autochthonen zur genannten Epoche
abspielte. Dies erscheint notwendig, da - wie oben gesagt - im deutschsprachigen
Raum ein auch für eine mittlere Zukunft kaum zu überbrückender Mangel an Publi-
kationen über die Autochthonen der Antillen und der Bahamas herrscht.
Die überwiegende Zahl der Autoren, die über Kolumbus und seine Zeit geschrieben
haben, stand der Geschichtswissenschaft nahe. Dabei interessierte meist besonders
das Leben des Genuesen mit seinen Erfolgen und Niederlagen, die Zeit des ausge-
henden Mittelalters und die damalige Seefahrt, weniger jedoch ethnologische oder
allgemein lebensbezogene Bereiche der ehemaligen Karibik-Indianer. Doch gab es
auch Ausnahmen. Grundsätzlich und fundiert wandten sich erst gegen Ende des 19.
sowie im 20. Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen Ethnologen in Nordamerika und
auf den Großen Antillen der indigenen Bevölkerung zu, worauf weiter oben hinge-
wiesen wurde.
Welche Quellen standen und stehen den Forschern zur Verfügung, die sich mit dem
Dasein ehemaliger Völker beschäftigen? Fünfhundert Jahre Vergangenheit, wie in un-
serem Fall, sollten eigentlich ein nicht unüberwindbares Hindernis für die Rekonstruk-
tion einstigen kulturellen Lebens sein. Um wieviel schwerer hat es da der Urgeschichts-
forscher, dem einzig und allein Rückschlüsse aus seinen Grabungsbefunden und even-
tuell sehr vorsichtig angewandte Analogien zur Verfügung stehen. Wir haben demge-
genüber ja schriftliche Zeugnisse, Aussagen von Männern „der ersten Stunde“, auch
von geistig Gebildeten. Rouse hat die Berichte der alten Chronisten in ihren späteren
Nachdrucken sowie Literatur des 18. bis 20Jahrhunderts in einem seiner Hauptwerke
zusammengestellt (1948(c):520 f). Wissenschaftler, die sich mit der frühen Geschichte
der europäisch-indianischen Kontakte beschäftigten, haben sich verschiedentlich kri-
tisch über den Wert spanischer Berichte geäußert, selbst über solche Nachrichten, hin-
ter denen Augenzeugen der ersten Entdeckungsfahrten in der „Neuen Welt“ stehen
(so beispielsweise in neuerer Zeit Keegan 1992a:XVIII, 102; dieser weist auch auf die
Eigeninteressen von Kolumbus hin, was bei Aussagen des Genuesen zu berücksichti-
gen sei, vgl. 1984:34; s. auch Elliott 1992:16 f zur Bewertung der spanischen Literatur
hinsichtlich der Erforschung Amerikas). Leroi-Gourhan sieht in frühen Reiseberich-
ten grundsätzlich mangelhafte Quellen, da das Denken der Menschen und damit auch
der Berichterstatter vorwissenschaftlich gewesen sei (1988:15). Es ist klar, dass vieles
hinterfragt und anhand zeitgenössischer Erkenntnisse überprüft werden muss. Ich
habe versucht, dies so weit wie möglich zu beherzigen. Dazu tritt ein weiterer wesent-
licher Punkt: Nahezu alle diese alten Chronisten urteilten ja aus der Sicht ihrer Kultur
- selbstverständlich, und dabei je nach individueller Persönlichkeit unterschiedlich,
wie das in unserer Zeit dialogische Ethnografien deutlich machen können (Kohl
1993:125). Gewecke bemerkt hinsichtlich früher Berichterstattung und für den hier
maßgeblichen Bereich - Ausnahmen bestätigen die Regel - richtig, dass nicht festge-
stellt wurde, „wie die Fremdkultur beschaffen war, sondern wie sie nicht beschaffen
war“ (Gewecke 1992:63). Auch Kolumbus ist dabei mit seinen Bordbucherläuterungen
zu nennen (dazu gleich mehr), in denen oftmals - ohne Zweifel, muss doch der Admi-
ral als Europäer am Ende des Mittelalters gesehen werden - eine „eurozentrische
Sichtweise“ durchscheint (Gewecke 1981:322; vgl. auch Elliott a.a.O.:28 und 52). Para-
debeispiele sind in dieser Hinsicht allerdings die Beschreibungen des Amerigo Vespuc-
ci (Gewecke 1992, ebenda; s. auch Wallisch 2002). Bei Benutzung von Primärquellenist
also besondere Vorsicht geboten.
Als uns vorrangig interessierender Prototyp sei auf die bedeutendste Primärquelle
verwiesen, das soeben erwähnte Bordbuch von Christoph Kolumbus, das bei aller
Einschränkung, die gleich erläutert wird, dennoch die einzige Primärquelle über Gu-
anahani ist, was besonders wichtig bei der Suche nach dem ersten „landfall“ des ge-
nuesischen Seefahrers war. Die erwähnten Dokumente bleiben trotz aller Vorbe-
halte erste Berichtquellen. Bei ihrer Einordnung und Beurteilung helfen uns die bis
heute zahlreich vorliegenden Erläuterungen von Historikern.
149
TRIBUS 54,2005
Hier nun einige ergänzende Bemerkungen zum berühmten Bordbuch von Christoph
Kolumbus. Das Original dieses sicherlich bedeutendsten Dokuments der Kolumbus-
Forschung ist seit den Tagen der Weitergabe durch unseren Navigator an die spanische
Königin Isabella verschollen. Doch existiert ein Auszug in Notizen, verfasst von dem
schon erwähnten Bartolomé de Las Casas, der 1492 achtzehn Jahre alt war und von
dem immer wieder die Rede sein wird. Der berühmte Kämpfer für indianische Rechte
stützte sich auf das so genannte Barcelona-Manuskript, das ebenfalls als verschwun-
den gilt. Die Niederschrift von Las Casas beginnt mit dem 12. Oktober 1492 und endet
mit dem 25. desselben Monats, als sich die Kolumbus-Schiffe auf den Weg in Richtung
Kuba begaben (Judge 1986:568). Dieser Auszug bzw. die „Kopie des Bordbuchs“, wie
sie allgemein bezeichnet wird, wurde erst 1791 von dem spanischen Historiker Martin
Fernandez de Navarette im Keller einer Bibliothek aufgefunden und 1825 vollständig
publiziert (Molander 1982:4), so dass das heutige Bordbuch, Grundlage für die welt-
weiten Übersetzungen in etwa zwanzig Sprachen, eine Drittfassung darstellt. Im üb-
rigen unterscheiden sich alle Übertragungen offenbar in wichtigen Details (Keegan
1992a: 179; weitere Kritikpunkte am Bordbuch auf den Seiten 180 f). So manche Unge-
reimtheit wird auch auf Übersetzungsfehler zurückzuführen sein. Ein gutes Beispiel
hierfür sind Entfernungsangaben. Zur Zeit des Kolumbus wurde auf See, zumindest
auf spanischen und portugiesischen Schiffen, in leguas gerechnet. Nach Klingelhöfer
(1972) heißt die legua bzw. {engl.) league auf Deutsch Leuge. Als iberisches und süda-
merikanisches Längenmaß bewegt sich die Umrechnung zwischen 5 km (Portugal)
und 6,687 km (Spanien), dazwischen die südamerikanischen leguas; darüber hinaus
wird in der Literatur manchmal die „kurze legua“ von 2,62 (amerikan.) Meilen ange-
führt (s. in diesem Zusammenhang auch Molander 1982:8, Anm. 32). Dem amerika-
nischen Kolumbus-Chronisten Samuel E. Morison hat Keegan (1992a:193) beispiels-
weise einen Fehler nachgewiesen, der sofort verschwindet, wenn statt der angegebenen
englischen „leagues“ Meilen verwendet werden. Über alle diese Unwägbarkeiten hi-
naus haben etliche Kolumbusforscher die Fähigkeiten von Las Casas zu exaktem Ko-
pieren bezweifelt (Keegan a.a.Q: 179), was allerdings auf Quellen spanischer Kritiker
- und deren gibt es nach wie vor nicht wenige - an dem bis heute konsequentesten
Freund der amerikanischen Ureinwohner zurückgehen kann. Einer der ersten Kom-
mentatoren der Taten rebellierender Mönche (vor Las Casas) war nach Gutiérrez
(1990:38) übrigens Diego Kolumbus, erstgeborener Sohn des Genuesen und zur Zeit
des Kampfbeginns für indianische Menschenrechte 1510/11 Gouverneur Westindiens
(ebenda: 32; Beginn des Kampfes Las Casas’ 1516; dortselbst 62 und 165-182). In einer
anderen Publikation werde ich auf die Arbeit von Las Casas zurückkommen (zum
Beginn des Ringens um indianische Rechte dieses und anderer Dominikaner vgl. Gu-
tiérrez a.a.O.:30-33 mit Fußn. 11 und 13). Kolumbus selbst muss - auf der Grundlage
damaligen Wissens und mit der beschriebenen Einschränkung eurozentrischen Den-
kens - außerordentlich genaues Beobachten zugestanden werden, wie insbesondere
anhand seiner geo- und topografischen Beobachtungen noch heute nachgewiesen wer-
den kann (Walker 1992:78; Elliott 1992:27; Keegan 1984:35; Keegan/Kelly 1991:31).
Auf direkte Berichte unseres Navigators und wahrscheinlich auch auf die erwähnte
erste Abschrift des Bordbuchs stützte sich ebenfalls der zweitgeborene Sohn des Ad-
mirals, Ferdinand, bei seiner Biografie des Vaters, die erstmals 1571 in Venedig er-
schien, wobei er allerdings als Autor, abgesehen von seinem Bericht über die vierte
Reise von Kolumbus, manchmal in Zweifel gezogen und Las Casas die Urheberschaft
zugeschrieben wird (Paz et al.2000:48. Fußnote 1; s. auch Colón 1984). Alles in allem
überwiegt jedoch die Meinung, dass sich anhand dieser Publikation erkennen ließe,
wie Las Casas Wort für Wort und damit sehr wohl exakt kopierte. So viel zum Bord-
buch von Christoph Kolumbus.
Für die Karibik gibt es leider keine Aussagen „weißer Indianer“, wie sie glücklicher-
weise aus der Kolonialzeit Nordamerikas vorhegen. Doch existieren Erklärungen,
allerdings sehr vereinzelt, aus dem Mund westindischer Indianer, die indes bei ein
und derselben Sache oftmals gegensätzliche Aussagen enthalten oder aber in der
Schilderung menschlicher Schreckensgestalten bezüglich ihrer Feinde mittelalter-
150
Axel Schulze-Thulin; Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
liehen Romanciers Europas in nichts nachstehen. Es soll nun auf einen Berichter-
statter über die karibischen Eingeborenen aufmerksam gemacht werden, der - wenn
auch nicht zu den erwähnten „weißen Indianern“ zu rechnen - jedoch mit den Taino
zeitweise zusammenlebte und ihre Sitten und Gebräuche in einem Zeitraum von
vier Jahren aufschrieb. Es handelt sich um den Katalanen und hieronymitischen
Mönch Pater Ramón Pané, der Kolumbus 1493 auf dessen zweiter Reise nach West-
indien begleitete und von diesem gebeten wurde, die Tafno-Sprache zu lernen, um
möglichst viel von der Kultur der Indianer auf Hispaniola in Erfahrung bringen zu
können. Seine ersten Sprachstudien absolvierte Pané bei den nach Granberry nicht
Arawak sprechenden Macori in Nordwesthispaniola nahe der spanischen Siedlung
Isabela (nicht zu verwechseln mit den Macorix bzw. Maçoriges im Nordosten der
Insel) und später bei klassischen Taino im Territorium Magua (Granberry 1991:4).
Der 1497 als Brief Nr. 177 von Martyr erschienene Bericht Panés mit Aufzeich-
nungen unter anderem von Taino-Mythen wird als das erste ethnografische Doku-
ment aus der Neuen Welt ( Arrom. in Bercht / Brodsky et al. 1997:33) und das einzige
über die Taino zur Zeit des Kolumbus bezeichnet, das uns glücklicherweise sowohl in
der bereits erwähnten Schrift von Ferdinand Kolumbus über das Leben seines Vaters
(1571) als auch in den Publikationen von Las Casas und - wie gesagt - Martyr erhal-
ten blieb (s. auch Rouse 1948(c): 520). Seit diesen frühesten Anfängen völkerkund-
licher Amerikanistik haben sich zahllose Ethnologen und Historiker auf die Aussa-
gen dieser drei erwähnten Autoren aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und
damit ebenfalls auf die Studienergebnisse Panés gestützt. Es kann daher keine Rede
davon sein, dass Ramón Pané als Informationsquelle vor 1974 vernachlässigt worden
sei, wie Arrom annimmt (a.a.O.; s. auch dens. 1988). Da Initiator des einzigartigen
Pané-Werkes Christoph Kolumbus war, wird der Genuese manchmal, sicherlich zu
enthusiastisch, auch der Gründer der amerikanischen Ethnologie genannt (Walker
1992:62; zu den ersten ethnologischen Erhebungen im indianischen Amerika s. auch
Elliott 1992:38 und 41). Wir werden auf die Darstellungen dieses Ordensbruders
noch öfters zurückkommen. In Rouse (a.a.O.) findet der Interessierte die Autoren
aufgeführt, die sich zwischen 1492 und 1530 über das Leben und den Untergang der
Taino, insbesondere auf Hispaniola, schriftlich zu Wort meldeten. Trotz Pané und
dieser Zeitgenossen ist die Zahl an autochthonen Äußerungen doch gering, und so-
mit hilft uns auch die so genannte polyphone Ethnografie (Kohl 1993:126) nicht wei-
ter. Uns bleibt nichts weiter übrig, als das in den Primärquellen Niedergelegte, vor-
nehmlich aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammend, sehr sorgfältig zu prüfen und
zu versuchen, möglichst vieles in ein zeitgemäßes ethnologisches Gerüst zu übertra-
gen.
An Primärquellen stehen uns weiterhin neben dem Bordbuch von Kolumbus und
anderem Schrifttum, worauf weiter unten noch zurückgekommen wird, vor allem die
Dokumente des erwähnten Peter Martyr von Anghiera zur Verfügung, die er in sei-
nen acht „Dekaden“ niedergelegt hatte (die ersten vier waren 1516 erschienen). Die-
ser vor allem innerhalb Europas weit gereiste italienische Humanist, sein eigent-
licher Name ist Pietro Martire d‘Anghiera, stand in Diensten der spanischen Krone
und war zur Zeit des Kolumbus und danach offizieller Chronist am königlichen Hof
sowie Mitglied des „Indienrates“. In dieser Funktion hatte er Zugang zu allen Mel-
dungen über die spanischen Entdeckungen ferner Länder und fremder Völker. Zum
Teil war er mit den Reiseteilnehmern und Kapitänen persönlich bekannt, wie bei-
spielsweise auch mit Christoph Kolumbus (Coin Cuenca 1992:102). „In Briefen an
hochstehende Freunde und Förderer, u.a. an Papst Leo X., vermittelte er zwar nicht
als Augenzeuge, wohl aber als glaubwürdiger, kritisch abwägender Berichterstatter
die eintreffenden Informationen weiter“ (Gewecke 1992:63). Trotz einiger Fehler in
seinen Texten, die aus der Distanz zu den Ländern seiner Berichte verständlich so-
wie schon vor langem von Historikern erkannt und niedergelegt wurden, sind seine
„Dekaden“ Nachrichten aus erster Hand. Meldungen dieser Art aus der „Neuen
Welt“, sofern sie Äußerungen über die dortigen Eingeborenen enthalten, sind für
unsere Arbeit selbstverständlich von besonderem Interesse, allerdings unter der
151
TRIBUS 54,2005
oben gemachten Einschränkung, was ebenfalls bei Peter Martyr als einem Kind sei-
ner Zeit zu berücksichtigen ist.
Ein für die Erforschung der westindischen Autochthonen besonders wichtiger Chro-
nist ist der Arzt Dr. Diego Chanca, insbesondere im Hinblick auf den ersten Teil der
zweiten Kolumbusreise (Walker 1992:159). Er hatte als Teilnehmer der genannten
Fahrt für die medizinischen Belange der Seeleute und Reisenden zu sorgen und in
den Jahren seines Aufenthaltes offenbar genügend Muße, um seine Eindrücke sach-
lich und exakt schriftlich niederzulegen. Die Beobachtungen dieses Arztes, die bis zu
seiner Ankunft auf Hispaniola und der Gründung der Siedlung Isabela reichen, sind
auf uns überkommen und in zahlreiche Werke über Kolumbus und sein Leben ein-
gegangen (s. in unserem Zusammenhang insbesondere Jane, Cecil 1930-33). Ein wei-
terer bedeutsamer Primärinformant ist Andrés Bernáldez, Gemeindepfarrer von
Los Palacios in der Nähe von Sevilla von 1488 bis zu seinem Tod (Geburts- und To-
desjahr sind nicht bekannt) und der beste Berichterstatter über die Verhältnisse auf
Jamaika um 1500 n.Chr. (in Arawak heißt die Insel Yamaye; s. Paz et al. 2000:34, auf
Seite 47 wird die Insel allerdings, ebenfalls in Arawak, Janahica genannt: Ausdeh-
nung Jamaikas 80 mal 225 km, die Fläche der Insel damit gut 40 Prozent derjenigen
Siziliens). Als Freund des Admirals hatte dieser Geistliche bereits 1496 nach der
zweiten Reise direkte Informationen von Kolumbus erhalten. Vermutlich starb der
Priester 1513 (nach Paz et al., a.a.O.:50, Fußn. 30 im Jahr 1523). denn sein großes
Werk „Historia de los Reyes Católicos“ (Die Geschichte der katholischen Könige)
endet in diesem Jahr abrupt. Zeitlich schließen seine westindischen Texte an die Nie-
derschriften von Chanca an. Er ist das für Kuba und Jamaika, was der Arzt für die
Kleinen Antillen sowie für die Gegend von La Navidad und Isabela auf Hispniola ist.
Anders als Chanca war Bernáldez jedoch nie in Amerika gewesen. Hierin ist er Peter
Martyr vergleichbar. Der „Amerikaentdecker“ hatte ihn nach seinem zweiten Auf-
enthalt in der Neuen Welt besucht. Es ist bekannt, dass der Geistliche auch schriftliche
Informationen, eventuell sogar eine Abschrift des Bordbuchs der zweiten Reise, direkt
von Kolumbus erhalten hatte, verbunden mit zahlreichen Erläuterungen und Erzäh-
lungen der überseeischen Erlebnisse des Seefahrers (Walker, a.a.O.: 232 f; s. auch Jane,
Cecil 1930). In seiner Eigenschaft als direkter Gesprächspartner des Genuesen war er
auch ein wichtiger Informant für Peter Martyr (Keegan 1992a:179), auch wenn dieser,
wie gesagt, ebenfalls mit Kolumbus persönlich kommuniziert hatte.
Allerdings gibt es auch solche die „Entdeckung Amerikas“ betreffenden Äuße-
rungen aus dem frühen bis mittleren 16. Jahrhundert, die wir mehr oder weniger
vernachlässigen können, weil sie lediglich Teile des Lebens von Kolumbus, nautische
Angaben zu seiner legendären ersten Reise und missverstandene bzw. allzu fantasie-
volle, die Wahrheit entstellende Angaben über die Indigenen in Art der 1544/50 er-
schienenen Cosmographia von Sebastian Münster enthalten. Gemäßigter aber doch
für die Zeit bezeichnend sei die Niederschrift des Dominikanermönchs und später
auf Korsika tätigen Bischofs Agostino Giustiniani bzw. lateinisch Augustinus Justini-
anus von 1516 erwähnt, die Ferdinand Kolumbus nur ein Jahr später in mehreren
Punkten kritisiert hat (Hilgers 1992:106-109). Es soll an dieser Stelle aber auch eine
Lanze für eine nicht geringe Zahl an Missionaren gebrochen werden, die aus ihrer
oft jahrelangen Einsicht in die Lebensgewohnheilen „ihrer“ Eingeborenen der
Nachwelt realistische Schilderungen der jeweiligen ethnischen Gegebenheiten hin-
terlassen haben.
Anders als die überkommenen Schriften wie die des Giustiniani, die eher den Zeit-
geist des ausgehenden Mittelalters widerspiegeln (wie übrigens - nach Gewecke
1992:67 - auch die Publikation von Ulrich Schmidel 1567 über die brasilianischen
Tupí-Guaraní), sind die Nachrichten des Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdéz zu
beurteilen, der ebenfalls ein offizieller Chronist der spanischen Krone und ein guter
Naturbeobachter war, allerdings nie mit Indianern zusammenlebte (Granberry
1991:4). Doch im Gegensatz zu Peter Martyr hatte er sich der Rechtfertigung der
spanischen Grausamkeiten gegenüber den Autochthonen verschrieben, wobei „be-
reits bewaffneter Widerstand gegen Christen als Zeichen ihrer ,barbarischen1 Gesin-
152
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
nung und Gesittung und als Legitimation für ihre Unterwerfung und „Bestrafung1
galt“ (Gewecke 1992:66; zur wissenschaftlichen Einschätzung des Oviedo-Werkes s.
auch Elliott 1992:41). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich sowohl
Las Casas als auch Oviedo bei einigen ihrer Mutmaßungen vor allem über die Gua-
nahatabey auf Diego Velázquez de Cuellar, den Gouverneur auf Kuba von 1510/11
bis 1923 (gestorben 1924), gestützt haben sollen (Keegan 1992a:4, 7; Klingelhöfer
1973:365, Anm. 59).
1.3.2. Von Analogien und Vergleichen
Neben der Auswertung des in den frühen Dokumenten Niedergelegten ist es erfor-
derlich, mit Analogien zu arbeiten, wobei uns das umfangreich vorliegende Material
ab dem 19. und vor allem aus dem frühen 20.Jahrhundert hilfreich zur Seite steht.
Unter den zahlreichen deutschen Südamerikanisten mit Weltruf seien beispielhaft
Carl Friedrich Philipp von Martius (als neuere Publikation s. Helbig 1994) und natür-
lich Alexander von Humboldt (beispielsweise Löschner 1992:247 ff) genannt, doch
werden wir uns je nach Notwendigkeit auch auf neuere Quellen bei den erforder-
lichen Analogien stützen. Unter diesem Aspekt sei besonders auf die Aussagen von
Meggers und Evans (1983/78:328), Max Schmidt (1917) sowie Otto Zerries (insbe-
sondere 1977) hingewiesen. Wegen seiner zahlreichen Entdeckungen auf südameri-
kanischem Gebiet wurde von Humboldt ja in seiner preußischen Heimat als „zwei-
ter Kolumbus“ gefeiert und sollte schon von dort her - nomen est ornen - hier heran-
gezogen werden. Außerdem hat sich der weltberühmte Gelehrte selbst recht infor-
mativ über den Genuesen geäußert (Heydenreich, in: Ette 1992:130. 139). Die sich
auf der Grundlage von Analogien und Vergleichen zeigenden Ergebnisse können
anschließend mit archäologischen Befunden aus Grabungsstationen auf den Baha-
mas und den Antillen, wie sie mittlerweile in teilweise großer Anzahl existieren,
überprüft werden (s. hierzu zum Beispiel Taylor, in Bercht et al. 1997:41 f; zu den
Anfängen der Archäologie in Westindien vgl. Alegría, in Wilson 1997:17). Allein auf
den Bahamas gibt es heute (2005) über 500 Stationen bzw. archäologische Fundstel-
len mit Lucayo-Objekten.
Zur Zeit des Kolumbus setzte sich die Bevölkerung auf den karibischen Inseln aus
drei großen ethnischen Gruppierungen zusammen. Neben einigen kleinen Resten
einer Altbevölkerung, deren Herkunft noch nicht völlig geklärt ist, stammten alle
Autochthonen der Antillen (und Bahamas), das heißt vornehmlich Taino und in ge-
ringerem Maße Kalino (Insel-Kariben; zu den Eigenbezeichnungen und der Kari-
ben-Linguistik s. unter 2.2.1.), ursprünglich aus zwei großflächig verbreiteten und
bedeutenden Sprachfamilien und - grob gesagt - Kulturregionen Südamerikas,
hauptsächlich aus den nordöstlichen Orinoko- und Amazonasgebieten sowie weiter
südlich gelegenen Ausläufern (für eine Einwanderung aus Südamerika in die Insel-
welt der Antillen und damit den sprachlichen und teilweise kulturellen Ähnlich-
keiten zwischen den beiden südamerikanischen Großräumen und der Karibik sind
nach Rouse 1966:234 auch die für eine Seefahrt nach Norden günstigen Windverhält-
nisse anzuführen). Bei den erwähnten Regionen Südamerikas handelt es sich zum
einen um den postkolumbischen Lebensraum der Kariben, zum anderen um denje-
nigen der begrifflich von Amerikanisten, vornehmlich von Karl von den Steinen, so
benannten Arawaken bzw. Aruaken oder Aruak (früher auch Arowaken; die Be-
zeichnung Nu-Aruak ist seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht mehr gebräuchlich),
eine hauptsächlich im nördlichen Südamerika mit Zentralgebiet des Orinoco-Deltas
weit verbreitete Gruppe sprachverwandter Ethnien (zur Segmentierung primitiver
Gesellschaften und zu Begriffen wie Horde, Gruppe u.Ä. s. König 1962/58:97 f und
105). Rouse beispielsweise spricht daher hinsichtlich der karibischen Arawaken-Kul-
tur vom südamerikanischen bzw. Amazonas-Typ (1948(c):507). In der ethnologischen
Fachliteratur werden die Taino der Sprachfamilie der Arawaken, teilweise auch mit
noch kulturell erkennbarem Zusammenhang, zugerechnet. In Anlehnung an Stöhr
(1972) habe ich mich zur besseren begrifflichen Unterscheidung auf Folgendes fest-
153
TRI BUS 54,2005
gelegt: Mit Атак wird die Sprachfamilie bezeichnet (im Amerikanischen wäre das
Arawakan). mit Arawaken die ihnen kulturell (teilweise) und sprachlich angehö-
renden Ethnien sowie mit Arawak das Idiom der betreffenden Einzelgruppe, für das
es jeweils eine schwankende Anzahl von Dialekten gab. Immerhin konnte sich bei-
spielsweise der Kolumbus-Dolmetscher von Guanahani mit den Indigenen auf Kuba
verständigen (Granberry 1991:3), was allerdings auch auf einen intertribalen Um-
gangs- und Handelsjargon zurückgeführt werden kann.
Die Kenntnisse über die sprachlichen Zusammenhänge während der mittleren und
späten Einwanderungsphasen von Arawaken-Gruppen in die Karibik sind zwar im-
mer noch schwankend, doch können dieTaino mit Sicherheit dem vor allem in Ama-
zonien weit verbreiteten Атак zugerechnet werden (s. auch mit etwas anderer Ter-
minologie Highfield, in Wilson 1997:155, der auch nähere Literatur angibt). Einen-
gend nennt Granberry das Maipuran von Arawaken-Ethnien Nordost-Südamerikas
als nahe verwandtes Idiom des Arawak der klassischen Taino (1991:4). Es ist klar,
dass sich wegen der langen Trennungszeit sowohl das Arawak als auch das kulturelle
Umfeld der Insel-Arawaken bzw. Taino von demjenigen der Festland-Arawaken un-
terschied, zumal es in beiden Gruppierungen in den Jahrhunderten nach der Tren-
nungsphase durch die Übernahme fremder Kulturelemente und fremdsprachlicher
Kategorien jeweils sogar innerhalb ihrer ethnischen Räume Abweichungen gab und
gibt (zu den Divergenzen innerhalb der Insel-Arawaken vgl. Granberry ebenda:4;
Keegan 1992a:ll;zu den zahlreichen Sprachen/Dialekten des rezenten Атак s. Max
Schmidt 1917:102.105). Der ArawaUDialekt des Territoriums Xaragua auf Hispani-
ola war das Idiom mit dem größten Prestige, das klassische Arawak der Taino die
Lingua franca auf den Großen Antillen (Granberry a.a.O., der sich auf Las Casas
beruft). Beispielsweise hieß Gold bei den arawakischen Ciguayo (Nordost-Hispani-
ola) „Tuob“, im klassischen Arawak jedoch „Caona“ und weit im Norden auf Gua-
nahani und benachbarten Inseln „Nozay“ bzw. „Nucay” (Granberry dortselbst:5,
nach Las Casas). Auf Granberry, der sich um das ehemalige Arawak der Großen
Antillen und der Bahamas sehr verdient gemacht hat, geht eine Gegenüberstellung
der heutigen Inselnamen der Bahamas mit den Bezeichnungen zur Zeit der Lucayo
zurück (ebenda:9). Ähnliche sprachliche Aufteilungen wie im Arawak gab es auch
im Galibi, der Sprache der Kalino (Näheres später). Selbst in einem relativ eng be-
grenzten Raum wie dem der nördlichen Karibik wurden mehrere Sprachen und in-
nerhalb dieser verschiedene Dialekte gesprochen (Keeganl992a:102; s. auch bei-
spielsweise Nau 1855).
Hinsichtlich der kurz angemerkten und speziell für unsere Zwecke in Frage kom-
menden Kulturgebiete Südamerikas können wir auf umfassendes und.bedeutendes
Schrifttum vor allem aus der Feder deutscher Forscher zurückgreifen, die - nach
Etablierung der Ethnologie als Wissenschaft - auf theoretisch sicherer Basis in den
erwähnten südamerikanischen Regionen seit etwa der Mitte des 19., eher vielleicht
Anfang des 20. Jahrhunderts Feldforschung betrieben haben. Wegen ihrer Unzu-
gänglichkeit kann mit Vorbehalt davon ausgegangen werden, dass sich im Hinter-
land des Amazonas das kulturelle Gepräge mancher Ethnien über viele Jahrhun-
derte bis in rezente Zeiten kaum verändert hatte. Bereits zu Beginn des ver-
gangenen Jahrhunderts waren unter anderen die dortigen Arawaken ethnologisch
gut erfasst, während es in archäologischer Hinsicht noch ziemlich dunkel war und
noch ist. Für uns ist jedoch der völkerkundliche Bereich im Hinblick auf die dor-
tigen Kariben- und Arawaken-Gruppen ausschlaggebend, beispielsweise die ara-
wakischen Tukano im nordwestlichen Amazonien sowie die Manao in der unteren
Rio Negro-Region, weiterhin Zentralbrasilien (Manäos) oder die Vapidiana (bzw.
Wapischana), die arawakischen Nachbarn der karibischen Waiwai im amazonischen
Guayana (Zerries 1969:76; d. h. Franz. Guiana). Aarons nennt die arawakischen
Lokono in den Guianas (gemeint ist wohl mehr Guyana als westlich von Surinam
sowie Franz. Guiana gelegener Staat) und Nordost-Venezuela sogar die „Verwand-
ten“ der kubanischen Taino (1991:24). Was weitere Festland-Kariben anbelangt,
kommt auch das Quellgebiet des Orinoko in Venezuela für unsere Untersuchung
154
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
in Frage. Hier wäre in den Makiritare bzw. Maquiritare (Dekwana / Yekwana; s.
Müller 1984:74) eine für die materielle Kultur der Insel-Kariben interessante Ver-
gleichsethnie zu sehen (s. Schlenker et al. 1974). Für Letztere sind jedoch vor allem
die Kariben-Regionen in den Guianas (ebenfalls die Heimat einiger Arawaken-
Gruppen wie der Taruma) in Betracht zu ziehen, wie zum Beispiel die ostkari-
bischen Wajana und Aparai in Guyana (Französisch-Guyana; s. Zerries a.a.O.:75;
auch Taylor, in Bercht et al. 1997:41). Was nun die Taino oder Antillen-Arawaken
und ihre zum Vergleich herangezogenen südamerikanischen Verwandten speziell
betrifft, ist vornehmlich das umfassende Material des bereits erwähnten Max
Schmidt heranzuziehen. Mit seinem Buch über die Festland-Arawaken (1917) hat
er Grundlegendes über diese Gruppierung publiziert, wobei er selbst angibt, dass
die Forschungslage bezüglich dieser Ethnien - wie schon angedeutet - bereits um
1900 günstig war (a.a.O.:106 f).
Bei Arbeiten mit Analogien ist nicht nur entsprechende grundlegende sowie neue-
re Literatur heranzuziehen, sondern auch die Berichterstattung von Augenzeugen
aus der frühen Entdeckungszeit, wie zum Beispiel die Aussagen von Hans Staden,
einem hessischen Landsknecht, dessen Schilderungen (1557) seiner Gefangen-
schaft bei den brasilianischen Tupinambä (von Mitte Januar bis Ende Oktober
1554; s. Lehmann-Nitsche 1929:18) und speziell über den dort praktizierten Kanni-
balismus in „sachlicher, detaillierter Darstellungsweise“ (Gewecke 1992:68; Sta-
denl557:65,105, 144 ff) mit vier Auflagen eine verhältnismäßig breite Öffentlich-
keit erreichten.
Bei allen Vergleichen müssen von Fall zu Fall selbstverständlich auch Einschrän-
kungen vorgenommen bzw. Voraussetzungen berücksichtigt werden, wie beispiels-
weise die nicht von vorneherein gegebene Grundlage, dass Angehörige einer Sprach-
familie auch kulturelle Ähnlichkeiten und/oder Beziehungen in mehr oder weniger
deutlicher Ausprägung aufweisen. Angemerkt werden muss außerdem, dass oft auch
die so genannte Kulturhöhe innerhalb einer Sprachfamilie von Ethnie zu Ethnie sehr
unterschiedlich sein kann, so auch innerhalb des Aruak. Andererseits wird den An-
gehörigen besonders dieser Sprachfamilie eine „kulturelle Überlegenheit ... über
ihre Nachbarstämme“ (Schmidt 1917:20.49) bescheinigt, die für die Ausbreitung ge-
rade der Arawaken innerhalb Südamerikas und auf die Antillen mitbestimmend
war.
Zu den südamerikanischen Regionen der Arawaken und Kariben treten bezüglich
unseres Vergleichsmaterials diejenigen des karibischen Großraums, der ja nicht nur
aus den Antillen besteht, sondern ebenfalls - wie erwähnt - aus den Küstengebieten
des nördlichen Südamerika sowie einzelnen Küstenräumen des östlichen Meer ori-
entierten Zentralamerika. Auch aus letztgenannten Kulturgebieten liegen umfang-
reiche Forschungsergebnisse schon aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor,
verfasst hauptsächlich von US-amerikanischen Ethnologinnen und Ethnologen (s.
beispielsweise Steward 1948:22 ff), wobei jedoch ebenfalls auf den Deutschen Wolf-
gang Haberland aufmerksam gemacht werden darf.
Um es kurz zu machen: Die materielle Kultur der westindischen Autochthonen reiht
sich nahezu nahtlos in diejenige des zirkumkaribischen Raumes ein (Steward 1948:24
f), insbesondere was ihre Grundlagen wie Kulturpflanzen (zum Beispiel an der süd-
amerikanischen Nordküste; s. Martyr 1973:285 f; Klingelhöfer 1973: 376, Anm. 80-
86), künstliche Bewässerung und damit zusammenhängendes Produktionskapital
anbelangt. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel, und so sei darauf verwie-
sen, dass die Taino wohl den Mörser einsetzten, aber keine Metates (Steward eben-
da:25). Allerdings weist Rouse (1966:237) darauf hin. dass auf Kuba Funde meso-
amerikanischer Metates gemacht wurden, was jedoch ein Indiz für einen intensiven
Seehandel sein mag.
Wenn Forscher, bei denen gesunder Menschenverstand vorausgesetzt werden kann,
zu dem Ergebnis kommen, dass kulturelle Gemeinsamkeiten bei Ethnien in vonein-
ander entfernt liegenden Räumen und Zeiten vorliegen, ist das eine Aussage, die wir
anzuerkennen haben, wie etwa die festgestellten Übereinstimmungen äußerer
155
TRIBUS 54,2005
Abb. 7: Metate, Taino, wahrscheinlich Kuba (vgl. Rouse 1966 :237 ), Stein, L: 28 cm,
15. Jh., Ethnologisches Museum Berlin, Inv.-Nr. IV Cb 1335, Foto: W. Schneider-
Schütz. Dargestellt ist ein Zemi oder eine Gestalt aus der Taino-Mythologie. In der
Literatur werden mit gutem Grund manchmal Metates auch als Duhos angesehen (s.
beispielsweise Morison 1942:260).
Lebensumstände bei in Meernähe lebenden, in etliche Sprachräume gegliederten
Ethnien Zentralamerikas mit solchen auf Kuba und Hispaniola (Stone 1966:209.
211). Im Hinblick auf die erstgenannten Gruppen reicht der beschriebene Zeitraum
von 1502 bis an das Ende des 17. Jahrhunderts (ebenda), also wesentlich weiter als
für die beiden erwähnten Karibikinseln, auf denen die einheimische Bevölkerung
ja bereits um die Mitte des 16. Jahrhundert so gut wie ausgelöscht war. Doch hilft
uns das alles noch nicht allzu viel weiter. Gravierender ist, dass das Leben der
Autochthonen im ländlichen, oftmals schwer zugänglichen Zentralamerika der er-
sten postkolumbischen Jahrhunderte von europäischen Einflüssen wesentlich
weniger berührt wurde als in Meso- oder gar Nordamerika (als Beispiel sei in die-
sem Zusammenhang noch einmal auf Steward 1948 hingewiesen). So konnten hier
Ethnologen mit Forschungsergebnissen aus rezenten Zeiten aufwarten, die auch
Blicke in die Vergangenheit erlauben.
1.3.3. Kulturrelativismus als „methodisches Prinzip“
Es soll nun etwas näher auf die Forschungsansätze eingegangen werden, die der vorlie-
genden Arbeit zugrunde liegen. Prinzipiell ist zunächst festzuhalten, dass hier schon
durch die literarische Ausgangslage die ethnohistorische Methode (mit Schwerpunkt
auf der vergleichenden historischen Ethnologie) als Basis vorgegeben ist, was nicht
ausschließt, dass die Erkenntnisse beispielsweise des Strukturalismus, des Kulturrelati-
vismus oder des Neoevolutionismus im einzelnen Fall ebenfalls Erklärendes beitragen
können. Über diese ethnologischen Theoriebereiche hinaus ist es sinnvoll, aus dem
umfangreichen Feld der Wissenschaften vom Menschen weitere Disziplinen bei der
Suche nach Erklärungen heranzuziehen, wie Aussagen der Soziologie, der Psychologie,
insbesondere der Sozialpsychologie, und der Wirtschaftswissenschaft.
Das vorgegebene Erfordernis dieser Publikation, nämlich das Arbeiten mit Analo-
gien. wird nicht nur in der Ethnologie seil langem, spätestens seit der so genannten
Konvergenzlehre, praktiziert, sondern ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil inner-
halb der Geschichtsforschung. Manche Methoden, wie sie in der Ethnologie im Lauf
156
vj-
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
ihrer Historie entwickelt wurden, müssen für uns von vorneherein ausgeschlossen
werden, weil das „lebende Objekt“ nicht mehr gegeben ist (bis auf einige Kariben-
gruppen wurde die indigene Bevölkerung Westindiens - wie schon angedeutet - in-
nerhalb weniger Jahrzehnte von Europäern direkt oder indirekt ausgerottet; im Epi-
log wird darauf näher eingegangen). Und so kann auch manche ethnologische Ar-
beitsweise nur im Analogon benutzt werden, wie die Methode der „teilnehmenden
Beobachtung“ innerhalb der Feldforschung des Ethnologen, der sie bei den hier lite-
rarisch herangezogenen Vergleichsethnien praktizierte (Näheres hierzu beispiels-
weise bei Kohl 1993:110, 119 f). Demgegenüber kann und soll „die ganzheitliche
Perspektive als ein Grundsatz ethnologischer Forschung“ (ebenda: 111) durchaus be-
achtet werden. Da ich mich in dieser Arbeit wesentlich auf ethnosoziologische An-
sätze im Sinne Bronislaw Malinowskis und Richard Thurnwalds stütze, spielt der
insbesondere von Letztgenanntem und Alfred Reginald Radcliffe-Brown vertretene
Funktionalismus in seinerWeiterführung als Social Anthropology eine bestimmende
Rolle, ohne dass immer wieder hierauf ausdrücklich hingewiesen würde (auf die Dis-
kussion, wie sie Sahlins offenbar am Herzen liegt, wird hier aus nahe liegenden
Gründen nicht eingegangen, ob nämlich „die kulturelle Ordnung als Kodifizierung
des aktuellen zweckgerichteten und pragmatischen Handelns des Menschen zu ver-
stehen“ (1981:85 ff) sei oder umgekehrt; solche Fragestellungen sind wie die nach Ei
oder Henne - was war zuerst da?). Ähnlich wie die frühen Funktionalisten mit der
Südsee sowie angrenzenden Regionen und ihren ethnografischen Objekten haben
wir es bei der Karibik ebenfalls mit Inselkulturen zu tun. Allerdings wird hier nicht
nach den Ursachen gefragt, warum Kulturbereiche und -elemente bei unterschied-
lichen Ethnien übereinstimmen, wie das Funktionalisten interessierte, sondern wir
nehmen jede Kultur als gegeben hin (zum Kulturbegriff in diesem Sinne s. Kohl
1993:130 ff). Insofern bewege ich mich nicht streng innerhalb einer theoretischen
Schule. Am ehesten sehe ich meine Ausführungen vor dem Hintergrund eines entwi-
ckelten Kulturrelativismus als „methodischem Prinzip“ (Kohl 1993:150), wie er in-
nerhalb der Cultural Anthropology zu sehen ist, historisch orientiert, wie oben er-
wähnt. ohne das Verlangen, „hinter historischen Abläufen bestimmte Gesetzmäßig-
keiten aufzudecken“ (Kohl 1993:146), jedoch zum einen Ähnlichkeiten erkennend,
zum anderen von der universalen Vernunft, Erkenntnis- und Lernfähigkeit des
Homo sapiens auf der Grundlage einer weltweiten Allgemeinethik überzeugt, aber
realistisch genug, um ebenfalls zu sehen, dass Angehörige einer bestimmten Kultur
die Mitglieder einer anderen nur allzu oft, ja meistens lediglich aufgrund ihrer eige-
nen Wertmaßstäbe beurteilen können, wie menschliches Verhalten gegenüber den
„kulturell Anderen“ bis heute überall auf der Welt ständig zeigt.
Wo es um Wissenschaften „vom Menschen“ geht, können - einschränkend sei ver-
merkt: unter Umständen - auch mathematisch-theoretische Modelle zur Veran-
schaulichung hilfreich sein, sie können aber niemals Erklärungen zu historischen
Abläufen liefern. Keegan scheint der Psyche des Menschen mittels abstrakter Über-
legungen näher kommen zu wollen, was oft allzu schnell im Hypothetischen endet,
ohne wirklich zu handfesten Erkenntnissen beigetragen zu haben (s. insbesondere
1992a:l 15-124). Das soll nicht heißen, beispielsweise die Ansätze verschiedener Wis-
senschaften zur Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens in frühen Gesellschaften
(dortselbst:113 f) zu verwerfen oder auch nur in Frage zu stellen. Sicher machen
Theorien zu Subsistenzwirtschaften Sinn, aber dann kann nicht mit Begriffen gewinn-
orientierter Gesellschaften operiert und können nicht Zeiteinheiten kostenmäßig
erfasst werden, denn das Rechnen mit Zeitmaßen - sei es Minimierung oder Maxi-
mierung - spielt in „frühen“ Gemeinschaften keine Rolle. Der Begriff der Arbeit
zum Beispiel ist ja in Gemeinschaften mit rudimentärer Wirtschaft von demjenigen
in Industriegesellschaften vollkommen verschieden, wenn er überhaupt vorhanden
ist. Dann ist auch das Argumentieren, dass rationales Verhalten in keiner Gesell-
schaft eine konstante Größe sei (ebenda:! 14), irgendwie fehl am Platz. Es heißt also,
die Kirche im Dorf zu lassen, und hinsichtlich der Karibistik ist danach auch in der
Regel von Keegan und etlichen anderen Forschern in den USA. Kanada und einigen
157
TRIBUS 54,2005
Karibikstaaten gehandelt worden, womit der diesbezügliche Forschungsstand in den
vergangenen drei Jahrzehnten wesentlich weiterentwickelt werden konnte.
Wissenschaftliche Gliederungen und Grenzziehungen haben immer auch etwas Ge-
waltsames an sich. So ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass eine Trennung
von materieller und immaterieller Kultur eigentlich nicht vollzogen werden kann,
weil sich beide Bereiche gegenseitig bedingen. Dies zeigt sich auch in etlichen Sek-
toren dieses Artikels (dort wo es erforderlich erschien, habe ich die strikte Teilung
- hier materiell, dort immateriell - nicht beibehalten). Dennoch hat die gedankliche
Trennung ihre Berechtigung, und Zurechnungen sind zur Veranschaulichung oft er-
forderlich (zum soziologischen Hintergrund s. beispielsweise König 1962/58:155). In
unserem Fall hat die Verwendung des „materiellen Substrats“ im Untertitel rein
praktische Gründe. Der vorliegende Aufsatz soll nur der Auftakt zu umfangreicheren
Arbeiten über die Autochthonen des karibischen Raums sein. So ist hier das sehr
wichtige Gebiet des Numinosen. das ja „dem Immateriellen“ zuzurechnen wäre, be-
wusst ausgeklammert worden, weil es wegen seiner Bedeutung eine eigene Abhand-
lung verlangt. Der erwähnte Begriff im Untertitel ist der sozialen Morphologie ent-
nommen worden, wie sie bereits von Emile Dürkheim in die Soziologie eingeführt
und später von Marcel Mauss und Lucien Febvre erweitert sowie von der Ethnologie
als Hilfsmittel für vergleichende Beobachtungen benutzt wurde (König a.a.O.: 257 f).
Kulturelle Hinterlassenschaften vergangener Völker oder besser Ethnien lassen sich
konkret nur im Materiellen feststellen, über Immaterielles können höchstens Rück-
schlüsse auf der Analogieschiene gezogen werden. Dabei dient nun wiederum das
Gegenständliche dem Verständnis. Gleiche oder sich ähnelnde Objekte aus unter-
schiedlichen archäologischen Grabungen können zu Schlüssen auf einen sich ent-
sprechenden kulturellen Hintergrund, vielleicht sogar auf einen weitgehend einheit-
lichen Kulturraum führen. Das geht jedoch nicht so weit, dass ohne weiteres von
materiellen Übereinstimmungen bei verschiedenen Ethnien auf einen gemeinsamen
Ursprung oder einen einstmals bestehenden kulturellen Zusammenhang geschlos-
sen werden kann. Eine ähnliche Basis ist gegeben, wenn wir sich gleichende Materi-
alien zum einen aus einer Grabung, zum anderen aus einer rezenten Umgebung (wo-
bei uns der Gebrauch geläufig ist) vorliegen haben. Löffelförmige Geräte aus Jahr-
tausende auseinander liegenden Zeiten sind höchstwahrscheinlich Essbestecke, ob-
wohl sie auch als eine Art Schleuder zu gebrauchen sind, wie wir aus unserer Jugend-
zeit noch wissen.
2. Zwei Welten stoßen zusammen
Zwar waren die Wikinger rund 500 Jahre vor Christoph Kolumbus auf einige der
Ersten Amerikaner an den Küsten des heutigen Neufundland und eventuell auch
etwas weiter im Süden getroffen, doch sind die Berichte hierüber legendenhaft und
beeinflussten in keinster Weise die Weltgeschichte. Anders ab 1492. Trotz der Nord-
männer kann gesagt werden, dass vor dem 12. Oktober 1492 sowohl Europäer als
auch Indianer keine Ahnung voneinander hatten, dass die Angehörigen beider Ras-
sen nichts von der Welt der jeweils anderen wussten, dass die Autochthonen Ameri-
kas nicht im Mindesten darüber informiert waren, dass es Kontinente gab, ja dass sie
selbst auf einem solchen Erdteil lebten. Auch die Europäer gingen zur Zeit des Ko-
lumbus von nur drei Kontinenten aus. deren Umrisse im 15. Jahrhundert noch weit-
gehend im Dunkeln lagen - wenn auch nicht mehr lange. Einige wenige Wissen-
schaftler ahnten zwar, dass es über die bekannten hinaus weitere Landmassen geben
müsse, doch waren diese Vermutungen weit davon entfernt, Allgemeingut selbst in
gebildeten Kreisen zu sein. Kolumbus und seine Männer waren natürlich nicht über-
rascht, auf Menschen mit bräunlicher Hautfarbe sowie asiatisch anmutenden glatten
Haaren und Gesichtszügen zu stoßen. Schließlich wollte der Genuese ja einen west-
lichen Seeweg nach China und Japan bzw. am ausgehenden L5.Jahrhundert „Cathai“
und „Zipangu“ (auch Cipangu) finden, was damals in dem Sammelbegriff „Indien“,
wie weiter oben bereits erwähnt, eingeschlossen war (eine Erklärung zum Begriff
158
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
„Zipangu“ geben Paz et al. 2000:48, Fußnote 5, wonach das Wort auf das chinesische
Jih-Pen-Kuo gleich „Land der aufgehenden Sonne“ zurückgehen soll). Das Aussehen
der Menschen, die unser Seefahrer nun nach der Atlantiküberquerung sah, bestätigte
ihm sogar, dass er das gesuchte Land bzw. dessen vorgelagerte Inseln erreicht habe und
„Indien“ nicht mehr weit sein könne. Diesen Glauben hat er - vielleicht sogar gegen
eigene Zweifel - bis an sein Lebensende verteidigt. Eine vollständig andere Sicht
mussten die Indianer von den weißhäutigen und bärtigen Männern haben, unabhängig
von ihrem religiösen Weltbild. Denn sie wussten ja nichts von der Erde, von deren
Oberfläche und Aufteilung in Länder und Ozeane, von Menschen anderer Hautfarbe,
die in großen Schiffen auf der Grundlage nautischer Kenntnisse über die Meere fuh-
ren, von außeramerikanischen fremdartigen Zivilisationen und deren kulturellen Er-
rungenschaften. Die Spanier machten sich über diese Unwissenheit der Eingeborenen
von Anfang an lustig und nutzten sie zu ihrem Vorteil aus, wie beispielsweise den
„Zauber des Schreibens“ (Martyr 1972:304 f). Die Indianer kannten sich allerdings mit
Naturgewalten aus, die sie jedoch auf übernatürliche Kräfte zurückführten, sie hatten
Kenntnisse über das karibische Meer (zur legendenhaften Erklärung des ersten Was-
sers auf der Erde und zur Sintflut beispielsweise bei den Kalino s. Rouse 1948(d):564),
über die westindische Inselwelt, über das große Land im Süden, eventuell auch im
Norden, einige sicherlich über das im Westen, und einige meso- und zentralamerika-
nische Autochthone wussten auch, dass im Westen ein weiteres großes Wasser begann.
Insgesamt gesehen, befanden sich jedoch selbst kulturell hoch stehende Gruppen
Meso- und Südamerikas 1492 noch in einem vorwissenschaftlichen Zustand. Interes-
sant ist in diesem Zusammenhang, dass die Romantisierung der amerikanischen Au-
tochthonen, insbesondere der nordamerikanischen über die Jahrhunderte bis heute,
schon in den ersten Jahren nach 1492 begann, und zwar in der Verbindung der Indianer
mit dem aus der Antike übernommenen Glauben an das einstige Goldene Zeitalter.
Besonders Peter Martyr von Anghiera ist hier zu nennen (Gerbi 1986:53 f).
Bei Verständigungsschwierigkeiten zwischen Europäern und einheimischen Bewoh-
nern anderer Erdteile werden meist vornehmlich sprachliche Probleme angeführt.
Doch liegt die Grundlage der Misere wesentlich tiefer. Angehörige zweier unter-
schiedlicher Kulturen, auch wenn sie die jeweils andere Sprache bestens beherrschen,
können sich oft trotzdem nicht verstehen. Zwar können sie sich natürlich über
menschliche Grundbedürfnisse austauschen, doch wenn es - im weitesten Sinne -
um geistige Bereiche geht, tauchen die bekannten Missverständnisse auf. So ist es
kein Wunder, dass es nach der ersten Kulturberührung meist schnell zum Kulturzu-
sammenstoß kommt (Bitterli 1976:96). wie in unserem Bereich gleich zu Beginn der
spanischen Kolonisierung auf Hispaniola. Salvador de Madariaga (1966:268) stellt
den Leser für einen Augenblick auf die Seite der Eingeborenen, die zum ersten Mal
Europäer zu Gesicht bekommen, in unserem Fall bei der ersten Begegnung zwischen
Indianern und Europäern, das heißt den Lucayo von Guanahani und der spanischen
Besatzung der Kolumbus-Schiffe:
„Inzwischen betrachteten die Inselbewohner die Menschen genauer, die von den
Karavellen (Anm. des Verf.: die Santa Maria war eine Näo. Pinta und Niña waren
Karavellen) gekommen waren. Sie boten einen Anblick und benahmen sich in einer
Weise, daß das Staunen gar kein Ende mehr nahm. Wie seltsam waren sie! Ihre Haut
war bleich und kränklich, und sie waren behaart wie Tiere. Einige von ihnen hatten
allerdings gar kein Haar auf dem Kopf, und es schien, als sei bei ihnen der Haar-
schopf unter das Kinn gerutscht.... Der Mann, über den sie am meisten staunten, war
der große Kazike; denn sein Gesicht war ganz weiß, wie die Milch der Kokosnuß, und
manchmal verfärbte es sich und wurde gelb oder rot. Seine Augen hatten die Farbe
des Himmels, gewiß weil er von irgendeinem göttlichen Ort herkam.“
Abgesehen von dem Fehler mit der Kokosmilch ist die erste Besichtigung der Frem-
den recht anschaulich nachempfunden (Kokosnusspalmen wurden frühestens um
die Mitte des 16. Jahrhunderts in die Karibik eingeführt; s. Patterson 2002:9; zu Pal-
men in der Karibik allgemein Krum 1985:369 ff; über ihre heutige Nutzung etwa
Pinck 1996:1801').
159
TRI BUS 54,2005
In neuerer Zeit hat Gewecke die psychokulturellen Hintergründe des europäisch-
indianischen Kulturkontaktes gut dargelegt (1992:61 ff; über die Schwierigkeit des
Verstehens fremder Kulturen allgemein s. beispielsweise auch Elliott 1992:23 f; zur
frühen Begegnung zwischen Europa und Indianern generell vgl. ebenfalls Bitterli
1991:20 f mit weiteren Literaturhinweisen).
Christoph Kolumbus hatte schnell eingesehen, dass er hinsichtlich der westindischen
Inselbewohner mit seinen Kenntnissen aus Marco Polos Reiseberichten nichts an-
fangen konnte. Alles was er sah. hörte, fühlte war ihm fremd, und nicht anders erging
es selbstverständlich seiner Schiffsbesatzung, die zum größten Teil selbst für mittel-
alterliche Verhältnisse vollkommen ungebildet war. Auch seine Epigonen glichen
später diesen ersten europäischen Neuankömmlingen auf dem amerikanischen Kon-
tinent. Mit Recht lässt sich feststellen: „Die Begegnung Europas mit der Neuen Welt
war eine Begegnung mit dem Fremden“ (Gewecke 1992:61). Wie fremd, zeigt schlag-
lichtartig, dass den Bewohnern der Neuen Welt erst Jahrzehnte nach der ersten Be-
gegnung mit Europa „durch päpstliche Bulle der Charakter von veri homines, von
wirklichen, vernunftbegabten Menschen, zugesprochen wurde“ (a.a.O:64).
2.1. Die spanische Welt des ausgehenden Mittelalters
Bevor wir uns der indianischen Welt Westindiens zuwenden, müssen wir einen Blick
auf den Teil Europas werfen, der als erster mit den Autochthonen Amerikas in Kon-
takt trat. Wie bekannt, waren dies Spanien und wenig später sein Konkurrent Portu-
gal. Die Rivalität zwischen diesen beiden sich seit dem 13. Jahrhundert wirtschaftlich
entwickelnden und im Laufe des 15. Jahrhunderts mächtig gewordenen iberischen
Nationalstaaten war der Treibstoff, der ihre Expansionen nach Übersee und damit
auch nach „Indien“ antrieb. Dabei hatte Portugal zunächst die Nase vorn. Bereits zu
Anfang des 15. Jahrhunderts, nach der schnellen Überwindung der Erbfolgekrise
zwischen 1383 und 1385, waren es die portugiesischen Handelshäuser, die den Ton
angaben. Durch deren überseeische Aktivitäten kam Geld in die Kassen des Königs-
hauses, was wiederum zu einem Interessengleichklang zwischen Politik und Wirt-
schaft führte. Nach der Eroberung des maurischen Ceuta in Nordafrika 1415 konnte
sich Portugal seinen Expansionsgelüsten entlang der afrikanischen Westküste nach
Süden widmen. Zunächst waren es jedoch die vor Afrika liegenden atlantischen In-
seln, die wirtschaftlich genutzt, besser gesagt ausgebeutet wurden. Der Seeweg um
Afrika herum nach „Indien“ lag noch in einiger Entfernung. Heinrich der Seefahrer
ist für diese Zeiten der Name, der in die Geschichte einging.
Es soll und kann hier nicht näher auf die geografischen Kenntnisse der ausgehenden
Antike und des frühen Mittelalters sowie auf die darauf gründenden Ursachen ein-
gegangen werden, die Christoph Kolumbus mit seinem Plan, „Indien“ über den At-
lantik zu erreichen, in Portugal scheitern ließen (s. hierzu beispielsweise Taviani
1989:63 f; Näheres zur Kenntnis des Westweges nach Asien und über die Kugelge-
stalt der Erde zum Beispiel bei Gründer 2003:37), Spanien sich ihm jedoch nach dem
Sieg über das maurische Granada öffnete, wozu Voraussetzung die Vereinigung von
Kastilien und Aragon war (in der Literatur wird als Zeitpunkt 1469,1474 und 1479
- je nach Grundlage - angegeben). Die Konkurrenz der beiden iberischen Mächte
zeigte sich, besonders im Laufe des 15. Jahrhunderts, in zahlreichen Scharmützeln
und Überfällen auf hoher See und übertrug sich abl493, nach der Rückkehr von
Kolumbus von seiner ersten Reise, auch relativ schnell nach Übersee. Je mehr frem-
de Ländereien von Europa okkupiert und zu Kolonien degradiert wurden, desto
mehr nahmen Gewalttätigkeiten von Angehörigen der beteiligten Staaten gegen die
jeweils „nicht Berechtigten“ zu, dies insbesondere nach der Einbeziehung der west-
indischen Inseln in spanische Oberhoheit und die ersten Gerüchte von wesentlich
größeren Landmassen im Süden und eventuell sogar im Norden.
Forderungen nach Festlegung der Interessensphären in Form eines Staatsvertrages
zwischen Spanien und Portugal wurden nicht nur von Kolumbus erhoben. Und da
die, die sich da ständig überfielen, oft für sich in Anspruch nahmen, im christlichen
160
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Auftrag zu handeln, sollte die mächtige Kirche im Namen Gottes ihren Segen zu
allem geben. Der daraufhin in Madrid entworfene und in Rom ausgefertigte Vertrag,
mit dem die Aufteilung der Welt westlich der iberischen Halbinsel beschlossen wer-
den sollte, wurde in Tordesillas, einer Stadt östlich des Flusses Gailego, nahezu auf
dem 42. Breitengrad nördlich von Zaragoza im Nordosten Spaniens gelegen, am 7.
Juni 1494 unterschrieben. Grenzlinie der Teilung war der 48. Grad westlicher Länge
(La Raya genannt; unterschiedliche Angaben zum Längengrad - so wird in der Lite-
ratur meist der 46. genannt - hängen mit der anschließenden Korrektur dieses Auf-
teilungsvertrages zusammen). Papst Alexander VI. (Borgia), „der wie kein anderer
die Dekadenz und Korruption innerhalb der Kirche verkörperte“ (Konstam 2000:21),
fiel dabei offenbar nicht die entscheidende Aufgabe zu, wie sie ihm in der Literatur
üblicherweise zugeschrieben wird. Nach Schliessler stimmte er im Zusammenhang
mit dem Teilungsvertrag „lediglich der Errichtung eines Kirchenlehens zu“ (1984:39;
eine knappe Zusammenfassung des Vertrages von Tordesillas ist zum Beispiel in Mo-
rison 1942:374 zu finden). Portugal erhielt alle (noch nicht entdeckten) Ländereien
östlich des genannten Längengrades (zunächst war nur Ostbrasilien betroffen, spä-
ter wurde dann Gesamtbrasilien portugiesisch), Spanien den westlichen Teil ab die-
ser Grenzlinie. Fest steht, dass Portugal bei dieser vertraglichen Aufteilung der Inte-
ressenbereiche durch Spanien ausmanövriert worden war, denn das Ergebnis war für
die Katholischen Könige (s. oben) weitaus günstiger ausgefallen als für den portugie-
sischen Konkurrenten (Pietschmann 1992:39). Es braucht nicht besonders betont zu
werden, dass kein Gedanke daran verschwendet wurde, ob die Völker der aufgeteil-
ten Ländereien mit dieser Teilung der Welt wohl einverstanden wären. Das Gesetz
des Stärkeren im ständigen Wechsel beherrschte die große Politik. Und so wundert
es auch kaum, dass der Vertrag von Tordesillas nicht dazu beitrug, die Streitigkeiten
zwischen Spanien und Portugal ad acta zu legen, im Gegenteil verstärkten sie sich
noch (Taviani 1989:202).
Zu der geschilderten Zeit gingen die politisch Handelnden davon aus, dass lediglich
Inseln unter den beiden herrschenden Mächten aufgeteilt werden müssten. Noch
1500 war Pedro Alvares Cabral überzeugt, mit Brasilien eine Insel entdeckt zu ha-
ben. Dieses „Inseldenken“ kam den politischen Absichten Portugals, das sich ja
durch den Vertrag von Tordesillas benachteiligt fühlte, recht gelegen, konnte es doch
damit Landansprüche gegenüber dem kastilischen Konkurrenten bis ins 17. Jahrhun-
dert hinein begründen (Wallisch 2002:50 f, Anm. 45).
Soviel zur politischen Situation vor und während der Kolumbuszeit.
Wie war nun das geistige Umfeld am Ausgang des Mittelalters und - enger - das
Wissen über den Planeten, auf dem wir leben. Abgesehen von immer wieder auftau-
chenden Gerüchten, verbunden mit Legendenbildung, um Länder westlich der Azo-
ren waren das Ausmaß des Atlantiks und überhaupt die Kenntnis eines größeren
Westmeeres selbst der Wissenschaft ein Buch mit sieben Siegeln. Daran ändert auch
die Meinung des Florentiner Arztes, Astronomen und Geografen Paolo dal Pozzo
Toscanelli (1397-1482) nichts, der 1474 dem portugiesischen König Alfons V. brief-
lich seine Vorstellungen eines Seeweges über den Atlantik erläutert hatte (s. bei-
spielsweise Zögner 1992:122). Dieser Vorstoß Toscanellis führte, wie bekannt, zu
keiner politisch-praktischen Resonanz. Doch fielen die Überlegungen des Florenti-
ners an anderer Stelle auf fruchtbaren Boden. In Diensten der während des 15. Jahr-
hunderts an führender Stelle innerhalb der Nautik sowie ihrer praktischen Umset-
zung stehenden Portugiesen (s. oben) befand sich der Nürnberger Kaufmann und
damals so genannte Kosmograf Martin Behaim. Er hatte von den Ausführungen
Toscanellis erfahren und erarbeitete sein kartografisches Modell der Welt in Form
eines „Erd“-Apfels. Zweck dieses „Globus aus Nürnberg“ (Zögner. a.a.O.) war zu-
nächst. süddeutsche Kaufleute anhand dieses Anschauungsmittels zur Finanzierung
einer portugiesischen Expedition nach Asien zu gewinnen. Ein Kuriosum soll dabei
nicht unerwähnt bleiben. Im Juli 1493, das heißt über ein halbes Jahr nachdem Ko-
lumbus in der „Neuen Welt“ gelandet war. unterbreitete der Astronom Hieronymus
Müntzer, ebenfalls ein Nürnberger, der portugiesischen Krone brieflich einen Vor-
161
TRIBUS 54,2005
schlag zum Erreichen „Indiens“ auf dem Westweg, wie ihn der große Genuese ein
Jahrzehnt vorher dem portugiesischen Königshaus gemacht hatte (Morison 1942:379;
Gewecke 1981:329). - Wir können nun diese interessanten Geschehnisse hier nicht
weiterverfolgen, doch darauf hinweisen, dass das Engagement von Kolumbus auf
handfesten Überlegungen fußte, die der Allgemeinheit bis in die höchsten spanischen
Stellen unbekannt, unserem Seefahrer jedoch durch die Schriften Toscanellis geläu-
fig waren.
Der Eintritt eines vierten Kontinents (zunächst war es lediglich Südamerika) in das
damalige Weltbild ist als die „größte Revolution der Geographie“ bezeichnet wor-
den (Taviani 1989:209). Tatsächlich ging dieses Ereignis über einen solchen wissen-
schaftlichen Umbruch jedoch weit hinaus, als nämlich Kolumbus auf seiner dritten
Reise an der Nordostküste Südamerikas erkannte (auch wenn er sich innerlich wei-
gerte, die neue Lage zu akzeptieren), dass dieses Land im Süden und Südosten des
Karibischen Meeres kontinentale Ausmaße haben müsste, worauf weiter oben in an-
derem Zusammenhang bereits hingewiesen wurde. Festzustellen bleibt, dass mit dem
Entdecker Christoph Kolumbus die mittelalterliche Welt in ein neues Zeitalter ein-
trat, das in der Folge die Europäisierung unseres Planeten mit sich brachte. Dieser
Vorgang mit all seinen technischen Errungenschaften, doch auch seinen schreck-
lichen historischen Ereignissen wie dem Untergang zahlloser autochthoner Völker-
schaften ist heule nahezu abgeschlossen.
2.2. Die indianische Welt der Karibik und der Bahamas um 1500 n. Chr.
2.2.1. Grundlagen und Besonderheiten
Es ist hier nicht der Platz, auf spezielle Bereiche der karibischen Autochthonen ein-
zugehen. das heißt in unserem Fall der westindischen Arawaken und Kariben, wie
beispielsweise ihre Herkunft aus Südamerika, Fragen der Einwanderungsperioden
in die Inselwelt Westindiens, die Abfolge präarawakischer und arawakischer Kultur-
phasen auf den Kleinen und Großen Antillen (s. Rouse (1948(c);509; Literatur zum
Archaikum der Antillen und Weiteres zur Einwanderung aus Südamerika sowie der
Besiedelung der westindischen Inseln einschließlich der verschiedenen präkolum-
bischen Kulturphasen zum Beispiel bei Wilson 1997:5 und Allaire, in Wilson 1997:21
ff), des Weiteren die ethnischen Verhältnisse in dieser Region während der vorspa-
nischen Zeit und im Detail, die gesellschaftliche Schichtung einschließlich der Rolle
verwandtschaftlicher Strukturen (über Letztere wird u.a. in TRIBUS Bd. 55 infor-
miert), die sprachliche Situation im Einzelnen um 1500 n. Chr. (im Überblick s. oben),
unterschiedliche kulturelle Entwicklungen sowie im Gefolge die jeweilige mikrokul-
turelle Lage verschiedener Ethnien in der Karibik und angrenzender Landstriche.
Dabei spielt es keine Rolle, ist jedoch erwähnenswert, dass sich der Erkenntnisstand
hinsichtlich der tatsächlichen historischen Abläufe und kulturellen Gegebenheiten
auf den karibischen Inseln fortlaufend ändert (s. hierzu Keegan 1992a:l ff). Insbe-
sondere scheint die Komplexität der Kulturgeschichte dieses Großraums erst all-
mählich durchschaubar zu werden (ebenda: 3).
Stützen wir uns auf ein theoretisches Gerüst einer wie auch immer zu definierenden
„kulturellen Entwicklung“, so kann die amerikanische Urbevölkerung in drei Kate-
gorien gegliedert werden. Nach den peruanischen und mesoamerikanischen Hoch-
kulturen folgen die Indianer der Karibik zusammen mit östlich der Anden lebenden
Sammler- und Jägergruppen mit „rudimentärer Landwirtschaft“ (Pietschmann
1992:35) in der zweiten Kategorie. Dabei sind jedoch nicht die kulturellen Unter-
schiede auf den Großen Antillen selbst sowie zu den Randgebieten des karibischen
Raumes berücksichtigt und vor allem nicht die Vielfalt westindischer Kulturpflan-
zen, die ja keinesfalls mit „rudimentärer Landwirtschaft“ zu identifizieren ist. In der
dritten Kategorie werden alle schweifenden Jäger und Sammler zusammengefasst
(ebenda). Das bringt zwar nichts an Erkenntnis, bietet aber immerhin einen gewissen
ersten Anhaltspunkt. Ein zweiter wäre für die uns interessierende Region, dass sich
162
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
die westindischen Inselkulturen an ihre Umwelt so gut angepasst hatten, dass bereits
von einer Überspezialisierung gesprochen werden kann, die - wenn Auswege fehlen
-bestenfalls in Sackgassen oder bei Kontakt mit Zivilisationen wie der europäischen
in Katastrophen enden.
Viele der nachfolgend beschriebenen Fakten beziehen sich in erster Linie auf die
autochthonen Ethnien Hispaniolas (dreimalige Fläche von Sizilien) und Puerto Ri-
cos (ca. ein Drittel der Größe Siziliens), dürfen jedoch mit kleineren Abstrichen
ebenfalls für die Gesamtheit der Großen Antillen, mit etwas größeren auch für die
Randgebiete des karibischen Raums, wie den Bahamas, verallgemeinert werden
(eine Zusammenfassung der Entwicklung der Taino-Kultur auf Hispaniola und Pu-
erto Rico findet sich bei Keegan (1992a:16 ff; zur Geo- und Topografie sowie Geo-
und Ökologie u. a. s. beispielhaft Albury 1975:1 ff; vgl. auch de Hostos 1948). Die
Arawaken auf Puerto Rico waren denen auf Flispaniola sehr ähnlich und werden
daher seit Fewkes 1922 zu den Taino gerechnet (de Hostos 1948:540). Auf Arawak
hieß Hispaniola „Bolfo“, das nicht nur für die dortigen Taino, die sich als ein „auser-
wähltes Volk“ (Oliver, in Wilson 1997:143) betrachteten, sondern auch für die Lu-
cayo der Bahamas noch nach Jahrhunderten nach ihrer Loslösung von Hispaniola
das Vaterland schlechthin war. Um 1492 glaubten die Bahamas-Indianer, dass die
Kariben ihre Heimat Bolio eingenommen hätten (Morison 1942:277), was eigentlich
nicht recht nachvollziehbar ist, wenn wir lesen, dass immer wieder Männer aus dem
karibischen Raum, wahrscheinlich jedoch den nördlicheren Inseln, dem Liebreiz der
Lucayo-Frauen erlagen und sich auf den Bahamas niederließen. Die Lucaya sollen
die schönsten Frauen der gesamten Großregion und von besonders feiner Lebensart
gewesen sein (Martyr 1973:176). Dies weist - neben dem regen Handel zwischen den
Inseln - darauf hin, dass ein Archipel wie die Bahamas keine abgeschlossene Welt
für sich war. Vielleicht hatten es die Männer Hispaniolas aber nicht nötig, sich nach
Frauen anderer Inseln umzuschauen, denn Morison weist darauf hin. dass die Einge-
borenen Hispaniolas von Gestalt schöner als beispielsweise diejenigen auf Kuba ge-
wesen seien (1942:284).
Mir kommt es hier, wie in anderem Zusammenhang bereits angedeutet, vornehmlich
darauf an, die indianische Welt des karibischen Raums im Überblick und speziell -
mit Blick auf das „materielle Substrat“ - im Unterschied zur europäischen, insbeson-
dere spanischen, vorzuführen. Selbstverständlich wird dabei über etliche bedeutsame
indianische Bereiche auch detailliert berichtet.
Die westindischen Inseln einschließlich der Bahamas waren bis in das 16. Jahrhun-
dert hinein weitgehend von Urwäldern, im Küstenbereich teilweise auch von Man-
groven bedeckt (Krum 1985:363; zum präkolumbischen Waldbestand auf den Baha-
mas s. KeeganI992a:34 f). Die Bergwelt von Puerto Rico, Hispaniola, Südkuba sowie
Jamaika wird von heutigen Touristen wegen ihrer Schönheit ebenso bewundert wie
von den Seeleuten des Christoph Kolumbus. Neben verschiedenen Mahagoni-Arten,
beispielsweise dem Madeira, dem Mahagoni der Bahamas (Saunders 1983:76), von
über 30 Meter Höhe und vier Meter Durchmesser waren die Santa Marias recht
verbreitet, die Jacarande bzw. der Palisander (Brasilholz), der amerikanische Bal-
sambaum sowie Ebenholz und Gummi bzw. Harz liefernde Guttiferen, zu den Cu-
peybäumen gehörend, außerdem Zedern, wegen der vor Holzwürmern schützenden
Inhaltsstoffe von den Indianern gerne zum Kanubau genutzt (Martyr 1973:286; als
verwendete Holzart für Einbäume wird auch Mahagoni erwähnt, eventuell dieses
jedoch nur für den Bau von Zeremonial- bzw. Begräbnis-Kanus), weiterhin der so
genannte Bay-Rum-Baum sowie Kaneelbäume verschiedener Art (Krum a.a.O.:365
f; Walker 1992:265; Wolters 1996:184 f; Klingelhöfer 1972:388, Anm. 62,115,117 und
392). Allein für die Bahamas zählt Keegan dreizehn verschiedene einheimische
Hartholzarten auf, darunter die Spanische Zeder, die Gelbe Pinie, das Eisenholz und
Brasiletto (1992a:33, Tab. 2.4; weitere Pflanzen der Region bei Krum ebenda:396).
Die Zerstörung der ursprünglichen karibischen Waldbestände über fünfhundert Jah-
re, insbesondere während der Loyalisten-Periode auf den Bahamas (ca. 1783-1805),
hat sich auch wirtschaftlich als besonders schmerzlich erwiesen. Ähnliches ließe sich
163
TRI BUS 54,2005
ebenfalls von anderen Inselgruppen Westindiens sagen. Auf Hispaniola begann der
Raubbau an wertvollen Hölzern bereits 1494 (Martyr 1972:73). Auf den Bahamas
beispielsweise können zahlreiche Baumbestände niemals mehr rekultiviert werden,
da sich mittlerweile sogar die Böden stark verändert haben (Keegan a.a.O.: 33 f). So
viel zur Umwelt.
Allgemein werden die Arawaken gegenüber anderen südamerikanischen Waldland-
gruppen als kulturell hoch stehend eingestuft (Schmidt 1917: 90;Stöhr 1972:35). Auf
den Großen Antillen, insbesondere auf Puerto Rico, Hispaniola sowie dem östlichen
Kuba, fand „die Kultur der Arawaken ihre größte Entfaltung“ (Stöhr, a.a.O.; Meg-
gers 1979:108), wobei unsicher ist. ob und wie weit Taino-Ethnien ebenfalls auf den
nördlichen Kleinen Antillen siedelten (Allaire 1985:370 f; Petersen, in Wilson
1997:127; Keegan 1984:38 verweist mit anderen außerdem darauf, dass Kuba nicht
die Komplexität der Taino-Kultur Hispaniolas und Puerto Ricos aufwies). Für diese
Kleinen Antillen in ihrer Gesamtheit ist die Lage bis heute nicht völlig durchschau-
bar, vor allem nicht in der Zeit des frühen bis späten 16. Jahrhunderts. So ist über die
Kalino (Weiteres zu ihnen s. unten) aus der Periode vor 1650 kaum etwas bekannt
(Petersen, ebenda). Anfang des 17. Jahrhunderts soll sich die einheimische Bevölke-
rung von Martinique, Dominica, St. Vincent und Guadeloupe selbst als Kalino be-
zeichnet haben (Cooper, in Wilson 1997:194). Historisch gesichert ist die Besetzung
zahlreicher, meist südlich gelegener Inseln der Kleinen Antillen, weiterhin der Jung-
Fortsetzung des obigen
Kuba-Ausschnittes (Ost)
Ahh. 8: Kuba mit den einstigen indianischen Territorien und Regionen. Aus: Rouse
1948b:502.
164
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
ferninseln, südöstlicher Teile von Hispaniola und Küstenregionen von Puerto Rico
durch Kalino gegen Ende des 15. Jahrhunderts, was nicht ohne Kämpfe mit den dort
ansässigen Taino abgegangen war und worüber Kolumbus von Letzteren mehrmals
klagend unterrichtet wurde. Unabhängig von diesen unruhigen Zeiten durch Über-
fälle karibischer Krieger in den Jahrhunderten vor Kolumbus, was auch seinen kul-
turellen Niederschlag fand, wird ein vereinzelt vorkommendes kulturelles Minus
südöstlicher arawakischer Inselbewohner gegenüber ihren entfernten Verwandten
im nordöstlichen Südamerika auch auf den Einfluss präkeramischer Gruppierungen
der ersten Antillen-Siedler zurückgeführt (zu Wirtschaft und Gesellschaft der Präke-
ramiker s. aus neuerer Zeit Petersen a.a.0:121 ff). Von diesen sind die Guanahatabey
die bekanntesten (früher Ciboney genannt; mehrere Literaturangaben in Rouse
1948(b):503; s. auch Rouse 1948(c):496, Fußn. 3, in der die unterschiedliche Verwen-
dung von Ciboney und Guanahatabey in der Literatur erläutert wird; außerdem 515
f, 521 und 1966:234; weiterhin Kozlowski 1974;Alegria 1981 meint, dass sich der Ter-
minus „Ciboney“ lediglich auf eine Gruppe von Taino auf Zentral-Kuba beziehen
lasse). Diese frühesten Einwohner von vornehmlich Hispaniola und Kuba wurden in
den vergangenen Jahren auch auf den Bahamas, so der Hauptstadt-Insel New Provi-
dence, nachgewiesen (s. Bahamas Archaeological Team 1982/3:7). P. G. Hahn eruierte
in seiner Dissertation von 1961 fünf Kulturperioden dieser Indianer (Rouse 1966:238).
Diese wahrscheinlich ersten Eingeborenen Westindiens sollen Höhlenbewohner ge-
wesen sein und keine Keramik gehabt haben (Sven Löven bezweifelte allerdings den
Hinweis von Las Casas. dass die Guanahatabey in Höhlen gewohnt hätten; 1935:22).
Auf jeden Fall waren sie einfache Jäger/Fischer- und Sammlergruppen, die späte-
stens um 7000 v. Chr. aus Florida über die Bahamas in die Karibik eingewandert sein
sollen (Keegan 1992a:3.6). Über ihre Sprachzugehörigkeit ist nichts bekannt, außer
der Annahme, dass sie weder dem Атак noch dem Karibischen zuzurechnen ist. Die
Bezeichnung „Ciboney“ entstammt dem Arawak und setzt sich aus „siba“ (Fels)
sowie „eyeri“ (Mensch) zusammen (Valdes 1948:503). Werfen wir einen Blick auf
den technischen Entwicklungsstand im europäischen Holozän, so sind unter Um-
ständen Ähnlichkeiten im Gerätebestand und Nahrungserwerb dieser frühen India-
ner Westindiens mit Angehörigen der Ertebplle-Kultur (5000-2000 v. Chr.) der süd-
lichen Ostseeküsten festzustellen. Muschelhaufen an Stränden der Großen Antillen,
ähnlich denen des europäischen Mesolithikums, sollen auf diese Indianer zurückge-
hen (zur Periodisierung s. beispielsweise Bosch-Gimpera 1975:600). Als Kleidung
der Guanahatabey, wenn überhaupt, werden Lendenschurze oder Gürtel aus Pflan-
zenfaser angenommen. Anders als die Taino deformierten sie nicht ihre Schädel.
Auch ihre Glaubensvorstellungen waren von denen der späteren Insel-Arawaken
und -Kariben verschieden (Keegan a.a.O.:6), sofern archäologische Ausgrabungen
und die wenigen Angaben spanischer Chronisten solche Schlüsse überhaupt zulas-
sen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Diego Veläz-
quez de Cuellar in einem Brief an die spanische Krone vom 1.4.1514 mit Ergän-
zungen von Las Casas; der aber nie einen einzigen Guanahatabey zu Gesicht bekom-
men haben soll (nach Sauer 1966:184 in Keegan 1992a:4 f). Um 1492 lebten nach
Gonzalo Fernändez de Oviedo Resteinheiten der Guanahatabey nur noch im Süd-
westen von Hispaniola (von Las Casas, der in der Region wohnte, aber zurückgewie-
sen; Martyr [1972:303] gibt den Bezirk Zaväna bzw. - in anderer Schreibweise - Sa-
vana an, was mit Oviedos Erwähnung übereinstimmen würde). Außerdem sollen
Kleingruppen dieser Indianer teilweise noch in Rückzugsgebieten im äußersten We-
sten Kubas gelebt haben, wo ihnen Kolumbus begegnete (Walker 1992:255 f; Keegan
1992a:5 f), sowie auf einigen winzigen, nördlich und südlich von Kuba gelegenen In-
seln. den so genannten Jardines (nach „El Jardin de la Reina“).
Das kubanische Territorium Habana (vom Westen gerechnet das vierte) ist wahr-
scheinlich nie von Guanahatabey besiedelt gewesen. Obwohl die Spanier kaum in
die Rückzugsgebiete dieser Ethnien auf Kuba gelangt sind, haben sie es doch ge-
schafft, diese indianischen Jäger/Sammler auszurotten (Rouse 1948(b):503). Sicher-
lich über zwei Jahrhunderte lang waren die Guanahatabey, auch auf Kuba, immer
165
TRIBUS 54,2005
wieder einmal von Taino gefangen und als Sklaven gehalten worden (Keegan eben-
da). Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Sklavenhaltung bei den Taino um
1500 n. Chr. bereits eine jahrhundertealte Gepflogenheit war, denn die Kolonisie-
rung Kubas durch Insel-Arawaken wird für eine Zeitspanne von 1000 bis 1200 n.
Chr. angesetzt (Keegan dortselbst:53). Während dieser Periode hatten sich die Kazi-
kazgos auf Hispaniola bereits weitgehend etabliert. Je nach Fläche soll ein solches
Territorium nach Taylor (in Bercht et al. 1997:42) zwischen einigen Hundert und
mehreren Tausend Einwohner gehabt haben. Zu dem Begriff „Kazikazgo“ hier ein
klärendes Wort: in Lateinamerika wird von Kazike, einem Aruakwort, statt von
Häuptling gesprochen. Entsprechend heißt der Regionaldistrikt mit einem Kaziken
an der Spitze Kazikentum bzw. Cacicazgo, hier eingedeutscht in Kazikazgo (in TRI-
BUS Bd. 55 wird auf die soziopolitische Organisation der Taino einschließlich der
regionalen Gliederung in Territorien und Bezirke eingegangen). Bereits 1921 hatte
M. R. Harrington die Ergebnisse seiner Ausgrabungen einer akeramischen Schicht
im erwähnten westlichen Kuba veröffentlicht. Im Jahr 1935 folgte Sven Loven, der
sich bei seiner Erforschung der Guanahatabey auch auf Diego Veläzquez de Cuellar
und Las Casas stützte. Zur Erforschung dieser „wilden Indianer“ sind weiterhin
noch Cornelius Osgood (1942), J. A. Cosculluela (1946) und Irving Rouse (1948(b),
1966) zu erwähnen (Keegan 1992a:5). Zusammen mit den Lucayo der Bahamas (teil-
weise unter Einbeziehung der Arawaken im zentralen Teil von Kuba und derjenigen
auf Jamaika; vgl. die obige Erklärung zum Begriff „Taino“) werden die Guanahata-
bey auch als Sub-Taino bezeichnet, selbst wenn sie keine Taino waren. Als Fazit
bleibt, dass abgesehen vom archäologischen Nachweis der Guanahatabey die Nach-
richten über diese Indianer sehr unsicher und die Meldungen einzelner Chronisten
einschließlich Kolumbus unzuverlässig sind (Keegan 1992a:6-8 in mehreren Bemer-
kungen).
Die Taino stellten, und dies bis zur Konquista, den Hauptteil der autochthonen Be-
völkerung der karibischen Inselwelt. Die ihnen zahlenmäßig nachfolgende Gruppie-
rung waren die so genannten Insel-Kariben, die den Taino in der Materialkullur nahe
standen, wie auch die Festland-Arawaken kulturell vieles mit ihren Kariben-Nach-
barn verbindet, und die Christoph Kolumbus für Landsleute des Großen Khans ge-
halten hatte (Paz et al. 2000:34). Über die beiden Hauptgruppierungen der westin-
dischen Indianer sind wir vergleichsweise gut informiert, was neben archäologischen
Forschungsergebnissen auch, unter den oben festgestellten Einschränkungen, auf
historische Grundlagen wie zeitgenössische Berichte zurückzuführen ist.
Da sie gerade erwähnt wurden, sollen an dieser Stelle zunächst ein paar Worte über
die einheimischen Konkurrenten der Taino, die berühmt-berüchtigten Kariben (Ka-
raiben, Kaniben, Cariben) folgen. Weitere Angaben zu diesen Ethnien werden je
nach Gelegenheit im laufenden Text gegeben. Im Gefolge der Arawaken waren die
ersten Kariben-Ethnien bereits vier Jahrhunderte vor Kolumbus vornehmlich auf
die südlichen Kleinen Antillen eingewandert. Dieser Zuzug hielt in etwa bis zur
Konquista an. Während der Zeit der zweiten Kolumbusreise soll es auf Ste. Croix,
der größten Insel der Jungferninseln, zwanzig Eingeborenendörfer mit je rund sech-
zig Bewohnern gegeben haben, in der Mehrzahl wahrscheinlich Arawaken, denn die
Insel gehörte zum Einflussbereich der Taino (Rouse 1948(c);544), was aber bis heute
strittig ist (Cooper, in Wilson 1997:186 meint, dass es eher Insel-Kariben bzw. Kalino
waren). Sieben Jahre später, um 1500, lebten auf dieser Insel etwa 3500 dieser - mit
Fragezeichen - Indianer. Um 1590 waren sie, Taino und/oder Kariben, ausgerottet
(Cooper ebenda). Dieser Autor zählt die Inseln auf, die im 16.und 17. Jahrhundert
von Kariben besetzt waren und die bis auf ein Eiland südöstlich von Puerto Rico alle
zu den Kleinen Antillen gehören (a.a.O.).
Zur exakten Herkunft dieser südamerikanischen Waldlandindianer gibt es zahl-
reiche Vorstellungen und Theorien. Neuere Aussagen hierzu machten Davis / Good-
win (1990:37 und 43), die sich auf die Untersuchungen von D. Taylor (1977 und 1980,
letztere Veröffentlichung zusammen mit B. J. Hoff) stützen und für die Insel-Kariben
drei Sprachen annehmen; auf den Seilen 39 f meinen sie sogar, dass es sich bei diesen
166
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
„Kariben“ um Arawaken handelt, eine Ansicht, die wahrscheinlich mit der Frauen-
sprache der Taino-Sklavinnen bei den Kariben zusammenhängt. Bis heute wird die
Sprache der Insel-Kariben kontrovers diskutiert. Diese Indianer (nach Davis / Good-
win a.a.O.:39 - „Insel-Kalina“) wurden auch, auf ähnlich klingende Eigenbezeich-
nungen zurückgehend, lediglich als Kalina oder aber Galibi, Calino bzw. Calinago be-
zeichnet (gleich „Männer“; Martyr [1973:284] gibt die Bedeutung des Wortes „Karib“
mit „tapferer als die anderen“ wieder), ihre Frauen waren die Calliponam bzw. Calli-
puna (Davis / Goodwin a.a.O.:43; Stöhr 1972:57; Krum 1985:325; Louis Allaire, in Wil-
son 1997:180). Nach Highfield, in Wilson a.a.0:156, ist der Terminus „Galibi“ jedoch
bereits für das Inselkaribisch besetzt, das sich seinerzeit zu einer rituellen Männer- und
verbreiteten Handelssprache - Pidgin-Karibisch - entwickelt hatte (laut Cooper, in
Wilson 1997:192 soll das Galibi mit dem Arawak so verwandt gewesen sein wie Fran-
zösisch mit Portugiesisch). Nur der Vollständigkeit halber soll hier auch kurz die be-
kannte Geschichte erwähnt werden, dass nämlich der Terminus „Kannibalen“ und die
synonyme Verwendung dieses Wortes für die westindischen Kariben auf den Verstän-
digungsfehler von Kolumbus zurückzuführen ist, der aus „Kalinago“ und /oder „Kali-
no“ „Caríbales“ o.Ä. machte, aus dem sich dann für „Kariben“ auch „Kannibalen“
entwickelte (zum Beispiel Rouse 1948(d):549). Im vorliegenden Artikel wird als Be-
zeichnung für die Insel-Kariben „Calino“ bzw. eingedeutscht Kalino gebraucht (bei-
spielsweise schreibt Roget, in Wilson 1997:100 ff „Kalinas“). Alle erwähnten Namen
galten für die Gesamtheit der Antillen-Kariben. Dagegen hatte jede einzelne Kalino-
Ethnie noch ihre eigene Bezeichnung (Stöhr, a.a.O.;57), was oft zu Verwirrungen in
Berichten und Dokumentationen führte. Zur Bezeichnung einer Karibengruppe wur-
de an deren Heimatinsel ein Suffix angehängt, zum Beispiel für die Kalino von Domi-
nica, auf Galibi „Oüaitoucoubouli“, ein „ri“, so dass die Bewohner dieser Insel „Oüai-
toucoubouliri“ hießen (Rouse ebenda). Die Lage wird noch darüber hinaus kompli-
ziert, weil einige Taino die Lebensweise und Aggressivität der Insel-Kariben übernom-
men hatten und somit für Kalino gehalten wurden (als Beispiel wären die Ciguayo von
Nordost-Hispaniola zu nennen). Es sei deshalb darauf hingewiesen, dass die hier ge-
nannten Kalino ausschließlich Insel-Kariben sind.
Etwas kurios klingt der Hinweis von Rouse (1948(c):510 f), dass es bis Ende der
1940er Jahre keine archäologischen Ausgrabungen auf den Kleinen Antillen gege-
ben hat. Unterlagen für wissenschaftliche Untersuchungen waren bis zu diesem Zeit-
punkt neben den Berichten der ersten Chronisten und den Nachforschungen ethno-
graphisch Interessierter während der postspanischen Kolonialphasen ab Ende des
18. Jahrhunderts nur Oberflächenfunde, meist in Muschelhaufen. Die materielle Kul-
tur der Insel-Kariben war - wie schon angedeutet - derjenigen der Taino recht ähn-
lich. nicht aber die immaterielle (Steward 1948:25; s.auch Rousel966:235). Auch die-
se Indianer gingen größtenteils nackt. Die wenigen Unterschiede in der Materialkul-
tur lagen vor allem in der intensiven, wenn nicht sogar ausschließlichen Verwendung
des bitteren Maniok bei Kalino und dessen Zubereitung mittels Metate und Schlauch-
presse oder Pressschlauch zur Maniokentgiftung (auf Arawak Tipiti; nach Olazagasli
[in Wilsonl997:131], der allerdings Begriffe ebenfalls aus anderen, nichtamfl/dschen
Sprachen ohne Herkunftsangabe verwendet, auch „Cibucán“ genannt). In präko-
lumbischer Zeit sollen die Taino über keine Metates verfügt haben (so Rouse
1948(c):523), allerdings meint dieser Autor später, dass es auf Kuba und anderen
Inseln mesoamerikanische Metates gegeben und ein Handel mit diesen Steinreiben
bestanden habe (1966:237). Kaum zu glauben wäre im Übrigen, dass die Kalino wohl
Metates hatten, nicht aber die Taino, obwohl es noch einige weitere Unterschiede als
die genannte ausschließliche Verwendung des bitteren Maniok zwischen den beiden
Gruppierungen gab: bei den Kalino kein Gebrauch von Salz bei der Nahrungszube-
reitung, Nikotineinnahme ausschließlich mittels Rauchen von Zigarren (s. auch wei-
ter unten) sowie ausgezeichnete Navigationskenntnisse, die diejenigen der Taino
übertrafen (Steward 1948:26). Martyr berichtet von Bartzupfern, mit denen sich Ka-
lino ihre wenigen Gesichthaare entfernten (1973:284). Zur Zeit des Kolumbus sollen
diese Kariben ihr Kopfhaar lang den Rücken herabfallend getragen haben, doch hin-
167
TRIBUS 54,2005
ten zusammengebunden und in eine Art Netzwerk mit Papageienfedern eingeknüpft
(Walker 1992:149). Diese Haartracht scheint sich jedoch nur auf die Kalino von Gu-
adeloupe bezogen zu haben, denn auf Ste. Croix beispielsweise wurde das Haar kurz
getragen, mit geschorenen Mustern, je nach Belieben (s. Allaire, in Wilson 1997:184,
der diesen Haarschnitt mit dem rezenter Mehinaku im südlichen Amazonas-Gebiet
vergleicht). Die Taino trugen ihr Haar kurz (Rouse 1948(d):552), oft mit einer Art
Pony-Schnitt (Haar über die Stirn bis zu den Augenbrauen). Es wird aber auch von
langem Haar, über Schultern und Rücken fallend, berichtet, wahrscheinlich vor
allem bei solchen Taino-Gruppen, die in der Nähe von Kalino siedelten, dann sicher-
lich in mehreren Variationen (Martyr 1972:94 spricht von „auf vielerlei Weise fri-
siert“).
Schmuck aus Papageienfedern sowie entsprechend verziertes Zeremonialgerät war in
weiten Bereichen des präkolumbischen Meso- und Südamerika und ist noch heute in
etlichen südamerikanischen Regionen verbreitet. Teilweise sollen Kalino ihren Penis
hochgebunden getragen haben (Martyr 1973:284). Ein weiteres äußeres Unterschei-
dungsmerkmal zwischen diesen und den Taino seien Bandagen aus einem Korbge-
flecht mit Baumwolle gewesen, die Calliponam an jedem Bein unterhalb des Knies
oder über dem Enkel als Beinschmuck trugen (Rouse a.a.O.:553; auch Walker ebenda:
162), ähnlich einem schmalen bayerischen Stutzen. Auch Oberarmschmuck aus Bän-
dern war beliebt, den ebenfalls Männer trugen (Rouse dortselbst). Die Karibenfrauen
sollen mit Pfeil und Bogen ebenso gut umgegangen sein wie Männer, was jedoch nicht
heißt, dass sie in allen Haushaltsdingen, ehelichen Pflichten und der Kindererziehung
nicht perfekt gewesen seien, wie uns frühe Missionare berichten (Walker a.a.O.: 167).
Die ehelichen Verhältnisse bei diesen Indianern können als patriarchalisch bezeichnet
werden, was auch durch die Invasion der Spanier, später der Briten und Franzosen in
die Karibik ausgelöst worden sein kann (Cooper, a.a.O.: 194 f).
Weitgehend einig sind sich Ethnologen und Historiker hinsichtlich der kriege-
rischen Einstellung aller Kariben. Ihre Kriegspraktiken sollen nach Steward ähn-
lich denjenigen der südamerikanischen Tupf gewesen sein (1948:25). Für die
Kampfkraft der Kalino spricht, dass sie als einzige Indianer Westindiens ohne Aus-
nahme Pfeil und Bogen hatten (die Pfeile mit feuergehärteten und zum Teil vergif-
teten Holzspitzen; Tippenhauer 1893:372; Steward ebenda;26). Die Meinung, dass
die Taino generell nicht über Pfeil und Bogen verfügten, ist wohl auf die frühe
Einwanderung der mit ihnen sprachlich und kulturell verwandten Gruppen in die
Karibik zurückzuführen, wohingegen die Vorfahren der Kalino Spätankömmlinge
auf den Antillen waren. In rezenten Zeiten waren die Festland-Arawaken jeden-
falls mit Pfeil und Bogen bestens ausgerüstet, ja Schmidt hebt sogar die Verschie-
denartigkeit „dieser Waffen ... bei den einzelnen Aruak-Stämmen“ hervor
(1917:101). Vergleichbares lässt sich auch über die Verbreitung des Blasrohrs bei
rezenten Arawaken (s. Schmidt, a.a.O.) anführen, wobei dieses als tropische Wald-
landwaffe in einer Meer orientierten Jagd- und Sammelkultur ohnehin nichts zu
suchen hat. Allerdings scheint es Ausnahmen gegeben zu haben. So sieht Allaire
(in Wilson 1997:183) das Blasrohr bei den Kalino vertreten, was ein zusätzliches
Indiz für deren Herkunft vom südamerikanischen Festland sei und - so ist anzufü-
gen - ein weiterer Hinweis für ihre jüngere Einwanderung in die Antillenregion.
Steward (1948:31) weist den Cuna als westlichen Indianern des karibischen Raums
das Blasrohr mit vergifteten Pfeilen zu. Für die Großen Antillen ist schließlich
noch anzumerken, dass Autochthone im Grenzgebiet zu den Kariben-Inseln wie
die arawakischen Ciguayo in Nordost-Hispaniola (nach Granberry 1991:4 sollen
Letztere kein Arawak gesprochen haben), insbesondere der Halbinsel Samanä,
und Taino auf Puerto Rico ebenfalls über Pfeil und Bogen verfügten. Untermauert
wird die Einführung von Pfeil und Bogen in die Inselwelt der Antillen durch die
Kalino auch dadurch, dass es diese Waffe wohl bei den Igneri auf den südlichen
Kleinen Antillen (eine von mehreren Arawaken-Gruppen mit einigen Kulturzügen
der Kalino), nicht aber auf Kuba und Jamaika gab (die Kariben waren im Norden
nur bis in den Osten und Süden Puerto Ricos vorgestoßen).
168
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Erklärungsbedürftig ist die Behauptung, dass die Ciguayo in Nordost-Hispaniola mit
den in der Literatur ebenfalls öfters angeführten Maseriges bzw. Macorix identisch
seien (Rouse 1948(c);522, Fußn. 11; Roget, in Wilson 1997:174), obwohl Keegan
Letztere von den Ciguayo getrennt aufführt (in Wilson 1997:117). Jedenfalls weist
Rouse den Ciguayo einen „somewhat different Arawakan dialect from the Taino“
sowie „a number of peculiarities in customs“ zu, so dass sie meist als eine separate
Kulturgruppe eingestuft werden (1948(c):539). Ihre Kriegsbereitschaft beweist der
oft zitierte Hinweis in der Literatur, dass sie bis zu 15.000 Krieger auf die Beine stel-
len konnten (ebenda).
Die Ciguayo-Gesellschaft war nicht so ausgeprägt geschichtet (nach Rouse „aristo-
cratic“) wie die ihrer Taino-Nachbarn. Namentlich bekannt ist ein Ciguayo-Kazike
um 1500 n. Chr., nämlich Mayobanex, der wahrscheinlich unter der Oberhoheit des
Territorialkaziken Guarionex der Taino stand. Ähnlich wie Kalino und mit Sicher-
heit auf diese zurückzuführen, kannten sie schwarze Körperbemalung, eine Frisur
mit langen Haaren sowie einen ausgeprägteren Federkopfschmuck als die Taino
(Rouse 1948(c):ebenda). Die Pfeile der Ciguayo seien nicht befiedert, aber teilweise
-wie die ihrer entfernteren Taino-Nachbarn im Territorium Higuey in Südost-Hispa-
niola - vergiftet gewesen (Steward a.a.O.:25; Rouse dortselbst:532, 539, der zusätz-
lich darauf hinweist, dass die Benutzung dieser Waffe vornehmlich den Notablen
zukam). Für die Spanier sollen die Ciguayo-Bögen die ersten dieser Waffe gewesen
sein, die sie in Westindien zu Gesicht bekamen (Morison 1942:311). Von Cotubana-
ma, einem Kaziken der Provinz Higuey, wird berichtet, er hätte einen so starken und
langen Bogen gehabt, dass ihn kein anderer Indianer spannen konnte (Walker a.a.O.:
298). Pfeil und Bogen in den genannten Gegenden sind sicherlich auf regionale Dif-
fusion zurückzuführen, wie auch die dortigen Taino infolge der ständigen Kariben-
überfälle wesentlich kriegsgeübter und aggressiver als Insel-Arawaken in anderen
Gegenden waren (ebenda:85). Dies lässt sich ebenso über die Arawaken auf Puerto
Rico, die Borinqueno, sagen, die wie andere Taino in der Nähe von Kalino über
starke Bögen verfügten, aber keine vergifteten Pfeile und keinen Kannibalismus
kannten (de Hostos 1948:542; zum üblichen Ablauf eines Überfalls durch Kariben
und die dabei weit verbreitete Lähmung der Taino s.Albury 1975:18 f;zur Kriegsvor-
bereitung, kriegerischem Verhalten und der Veranstaltung von Siegestänzen s. Rouse
1948(c):533; das Arawak-Wort für Krieg war Guazibara, das nach Highfield. in Wil-
son 1997:166 auch Kriegswaffen einschloss).
Der in der Literatur oft vermittelte Eindruck von den friedlichen Taino trifft, insbe-
sondere mit Blick auf die Ciguayo, generell nicht zu, auch wenn sie in puncto Aggres-
sivität nicht an die Kalino heranreichten. Doch gab es unter ihnen ebenfalls Ra-
chefeldzüge, Krieg um Jagd- und Fischgründe sowie wegen gesellschaftlicher Verstö-
ße, wie der Vorenthaltung einer Braut gegenüber dem Bräutigam. Die Entscheidung
über Krieg oder Frieden oblag den Notablen, die sich bei ihrem Votum unter Rausch-
mitteleinfluss befanden. Kriegsanführer war der Kazike, Subkaziken und höhere Be-
rater seine Beschützer (Rouse ebenda:532).
Trotz vielleicht treffsicherer und starker Bögen sowie teilweise vergifteter Pfeile wa-
ren alle Indianer den Spaniern militärisch haushoch unterlegen. Rein waffentech-
nisch war das Ungleichgewicht noch nicht einmal so groß (so benutzten viele Spani-
er - nach Konstam 2000:96 - im Fernkampf statt Feuerwaffen lieber die Armbrust,
die bekanntlich auch mit Pfeilen bedient wird), doch durch ihre Pferde und den Ein-
satz von Hunden als Kampfmittel schlugen die spanischen Heere auch zahlenmäßig
weit überlegene indianische Truppen in die Flucht. Neben den genannten Ausnah-
men zum üblichen Verhalten der Taino sei noch der Hinweis Stewards (1948:24) er-
wähnt, dass es auf der von Insel-Arawaken (allerdings mit Fragezeichen) bewohnten
Insel Ste. Croix Kriegerinnen gegeben habe. Auch hier sollen die Pfeile, wie teilweise
bei Insel-Kariben. vergiftet gewesen sein. Es sei jedoch wiederholt, dass es bis heute
nicht klar ist, ob es sich bei den Bewohnern von Ste. Croix tatsächlich um Taino oder
doch um Kalino gehandelt hat. Für Letztere spricht, dass Ste. Croix während des 16.
Jahrhunderts als Ausgangspunkt der Raubüberfalle durch Kariben galt (vgl. Allaire,
169
TRI BUS 54,2005
in Wilson 1997:180, der sich auf den Chronisten Girolamo Benzoni stützt). Das Gift
für die Pfeile gewannen jedenfalls die Kalino und sicher auch die Ciguayo aus einer
Frucht namens „manchineel“ oder - auf Spanisch - „manzanillo“ (Steward dort-
selbst:159). Von einem Spanier wird berichtet, dass er nach vorausgegangenem
Kampf mit Insel-Kariben vor Ste. Croix am 23.11.1493 durch einen Giftpfeil starb
(a.a.O.: 170,173). Die Ciguayo und benachbarte Taino ähnelten nicht nur in ihrem
Verhalten den Kalino, sondern auch teilweise in ihrer äußeren Erscheinung (s. die
oben erwähnte Haartracht).
Der angegebene Eigenname der Insel-Kariben soll, wie gesagt, auf Tapferkeit und
Wildheit hindeuten. Von Dr. Diego Chanca, der insbesondere als Augenzeuge der
Verhältnisse auf Guadeloupe und Ste. Croix auftreten konnte, stammt eine sehr ein-
drucksvolle Beschreibung des Mutes von Kalino-Frauen und -Männern, die von ei-
ner spanischen Übermacht in die Enge getrieben worden waren (Walker 1992:169).
Die Bezeichnung „Kannibalen“ für Kalino ist das Synonym für Menschenfresser,
was auch nicht gerade eine auf Friedfertigkeit weisende Bezeichnung darstellt. Auch
wenn es bei den Taino keinen Kannibalismus (offenbar mit wenigen Ausnahmen)
und auch keine Menschenopfer gab (s. zum Beispiel Steward 1948:24), muss doch
darauf hingewiesen werden, dass die Unterscheidung der Spanier in den ersten Jah-
ren nach 1492 in „hier die friedvollen Taino“ und dort „die kannibalischen Insel-Ka-
riben“ sehr realistische ökonomische Gründe hatte. Kolumbus schwebte von Anfang
an ein Sklavenhandel mit den „Wilden der neu entdeckten Länder“ vor, aus dem
Spanien so großen Gewinn ziehen sollte wie Portugal aus dem lukrativen Geschäft
mit westafrikanischen Eingeborenen. Deshalb sollten die widerspenstigen Kalino als
die „widerwärtigen Kannibalen“ mit allen Mitteln verfolgt und versklavt werden
(Keegan 1992a:9). Dass auch die Taino das Schicksal der spanischen Sklaverei ertra-
gen mussten, steht auf einem anderen Blatt (zur Versklavung der westindischen Be-
völkerung mehr an anderer Stelle). Bei den oft dargestellten Greueltaten der Kari-
ben ist auch deshalb Vorsicht geboten, weil die entsprechenden Berichte aus dem
Mund ihrer Feinde stammten, die natürlich immer ein Interesse daran hatten, ihre
Gegner in ein schlechtes Licht zu stellen (Taino und Spanier, später auch Angehörige
anderer europäischer Nationen; vgl. zum grausamen Bild der Kariben beispielsweise
Davis / Goodwin 1990:38). Allerdings gab es einen wahren Hintergrund. Kannibalis-
mus und grausame Folterungen ihrer Gefangenen sowie die Haltung erbeuteter
Arawaken-Frauen zur Zeugung weiblicher Nachkommenschaft waren durchaus Re-
alität (mit der aus der Ethnologie altbekannten Erscheinung der so genannten „Wei-
bersprachen“, das heißt die geraubten Arawakinnen sprachen in ihrer Kalino-Um-
gebung weiterhin ihr Arawak-Idiom, das sich im Laufe weniger Jahrzehnte als selb-
ständige Sprache unter den Insel-Kariben etablierte und Jahrhunderte später wis-
senschaftliche Dispute mit entsprechender Publikationsfülle hervorrief). Eine allge-
meine Darstellung dieser Gegebenheiten mit ethnologischer Erklärung lieferte bei-
spielsweise Haensell (1955:161 ff; auf Seite 163 wird auch auf die Kariben eingegan-
gen; s. beispielsweise auch Cracknell 1974:44 f). Zum Kannibalismus der Kalino
können wir uns auf die glaubwürdigen Aussagen von Dr. Diego Chanca stützen so-
wie auf die Niederschrift aus zweiter Hand von Peter Martyr, die Grundlage zahl-
reicher späterer Publikationen über den Kannibalismus der Kalino war (s. als Bei-
spiele dazu Steward 1948:25, der auch über die arawakischen Sklavinnen und den
damit verbundenen Kannibalismus bei Insel-Kariben berichtet; aus neuerer Zeit
Walker 1992:160-164,169). Selbst der größte Indianerfreund der Geschichte, Las Ca-
sas im 16. Jahrhundert, oder auch Pater Brenton ein Jahrhundert später haben zuge-
geben, dass Kannibalismus praktiziert wurde (Allaire, in Wilson 1997:184, der auch
darauf hinweist, dass sich Wissenschaftler, wie in Wilson a.a.O. geschehen, hüten
sollten, heutige Nachfahren der Kalino zu diesen Gegebenheiten zu befragen - aus
nahe liegenden Gründen). Die männlichen Säuglinge der arawakischen Kalino-
Frauen wurden übrigens getötet und vielleicht teilweise aufgegessen.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, einen Blick auf das südamerikanische Fest-
land zu werfen, insbesondere da feststeht, dass die religiösen Vorstellungen der Ka-
170
Axel Schulze-Thulin; Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
lino denjenigen in ihrer ehemaligen Heimat, der südamerikanischen Waldlandkultur,
noch ähnelten (Steward, ebenda; verschiedene Aspekte des Kannibalismus in Süda-
merika populär zusammenfassend Schliessler 1984:76 f, 151). Über den Glauben bei-
spielsweise der Karina (Süd-Venezuela bis zum Orinoco), dass sich Geister verstor-
bener Menschen in bestimmte Vögel verwandeln können und dass Erstere wie Letz-
tere zerstören, was sie essen, ist als „eine alte kannibalische Anschauung der Kariben
im Hinblick auf ihre Feinde“ zu verstehen (Zerries 1977:287; s. auch für weiter west-
lich gelegene Regionen Südamerikas zum Beispiel Conklin 2001:246; ähnlich argu-
mentiert Petersen, in Wilson 1997:129, der meint, dass der Kalino-„Kannibalismus“
mehr ritueller als gastronomischer Art gewesen sei). Bereits der große Las Casas
hatte versucht, anhand von europäischen Analogien, so mit der griechischen und
römischen Mythologie, der Praxis des Kannibalismus näher zu kommen (Alegria, in
Wilson 1997:15). Um in dem uns gesetzten Rahmen zu bleiben, sei zu weiteren Glau-
bensvorstellungen der Kalino über mythische Kräfte, über Sonne, Mond und Sterne
sowie Kulturheroen im Himmel, ihre Erdbestattungen und ihre Riten um verstor-
bene Kaziken, über Wächtergeister und Ahnenverehrung auf Steward (1948: insbe-
sondere 26) und Rouse (1948(d);564) verwiesen. Vor diesem Hintergrund und im
Zuge allgemeiner ethnologischer Erkenntnisse sind die Berichte über die Insel-Ka-
riben in der neueren Literatur realistischer und durchschaubarer geworden (bei-
spielsweise bei Krum 1985:325). Anzumerken bleibt noch, dass die erbitterte Geg-
nerschaft der Kalino gegenüber ihren Feinden und ihr mutiger Widerstand gegen
jegliche Art der Unterwerfung dazu geführt haben, dass Teile von ihnen bis heute -
und zwar als Einzige der westindischen Urbevölkerung - überlebt haben.
In den weiter oben und in anderem Zusammenhang erwähnten Grenzgebieten zwi-
schen Insel-Arawaken und -Kariben gab es bereits vor den Europäern eine Misch-
bevölkerung aus Angehörigen beider Gruppierungen, so im Südosten von Hispanio-
la, dem bereits genannten Territorium Higuey. Gefühle der Zugehörigkeit zu einer
ethnischen Gruppe waren zweifellos sowohl bei Taino als auch bei Kalino vorhan-
den, allerdings nicht in dem Maße, hieraus eine Art Nationalgefühl ableiten zu kön-
nen. Das zeigt auch die Tatsache, dass es die Spanier während der Invasionsjahre auf
den Großen Antillen immer mit regionalen Gruppen zu tun hatten, die im eigenen
Namen handelten. Es gab ja kein Volk der Taino (zum Begriff „Taino“ s. oben). Zur
Zeit des Kolumbus waren regionale Bezeichnungen für die einzelnen Ethnien der
Insel-Arawaken gebräuchlich, wie beispielsweise Ciguayo, Macorix u.a. (Keegan
1992a:ll). Dabei spielen die Lucayo der Bahamas eine besondere Rolle, zum einen
weil sie die ersten Indianer waren, die Kolumbus zu Gesicht bekam, zum anderen
weil sie einen geschlossenen Archipel besiedelt hatten, und nicht zuletzt, weil sie den
Prototyp der so genannten Sub-Taino darstellten (s. ebenfalls an anderer Stelle). Die
Lucayo-Region wird, wie auch die südlich der Bahamas gelegenen Nachbarinseln
Turks und Caicos (ab 1799 staatspolitisch zu den Bahamas [Saunders 1983:41], heute
mit Autonomiestatus zum Commonwealth gehörend), zum karibischen Großraum
gerechnet, ebenso wie das südliche Florida (dieses allerdings mit Fragezeichen; vgl.
Sturtevant 1960).
Ein paar Worte noch zum Aussehen der karibischen Autochthonen: Die Hautfarbe
der Ersten Amerikaner überall auf dem Doppelkontinent variiert zwischen einem
dunklen Braun bis zu einem Hellgelb, das ausnahmsweise bis zu „europäischem
Weiß“ reichen kann, wie die Spanier auf Hispaniola bemerkten (Morison 1942:284).
Die Haare sind meist strähnig glatt, der Bartwuchs gering. Die westindischen Einge-
borenen hatten im Durchschnitt gelblich-braune Haut (nach Kolumbus „wie die Be-
wohner der Kanarischen Inseln oder wie Bauern, deren Haut von der Sonne ge-
bräunt ist“; s. Taviani 1989:113). Die Farben der oft von Kolumbus festgestellten
Körperbemalung waren vornehmlich Rot, Weiß, Schwarz, Gelb und teilweise auch
andere. Von den schon mehrmals erwähnten arawakischen Ciguayo in Nordost-Hi-
spaniola wird berichtet, dass sie schwarz bemalte Gesichter gehabt hätten (Morison
1942:311), wahrscheinlich eine besondere Kriegsbemalung, zurückzuführen auf die-
jenige der benachbarten Kariben. Neben Gesichtsfärbung war bei den Taino auch
171
TRIBUS 54,2005
Körperbemalung mit geometrischen und zoomorphen Mustern üblich, die teilweise
sogar mittels Stempeln ausgeführt wurde (Taylor, in Bercht et al. 1997:47). Bei krie-
gerischen Anlässen wurden ebenfalls Schmuckfedern angelegt, zumindest an der
Südküste Jamaikas (Rouse 1948(c):508; Walker 1992:241). Rot wurde aus den Früch-
ten des Annattostrauches der Bixa orellana gewonnen, Schwarz, besonders bevor-
zugt bei der Körperbemalung, aus dem unreifen Obst des Jagua-Baums (Klingelhö-
fer in Martyr 1972:396, Anm. 161und 424; Arrom 1997:35). Auch Weiß war pflanz-
lichen (Walker ebenda: 197), andere Farben mineralischen Ursprungs, wie zum Bei-
spiel Grün, das aus Kupfer bzw. Malachit enthaltendem Gestein gewonnen wurde
(Klingelhöfer a.a.O.:392, Anm. 116). Rote und schwarze Körperbemalung sowie Ta-
tauierung wurde insbesondere in Kriegszeiten, wie schon angedeutet, zur Abschre-
ckung des Feindes angelegt (Martyr 1972:94). In den meisten Fällen diente die Haut-
färbung allerdings dem Schutz vor Sonne und Insekten, die noch heute eine kaum
auszuhaltende Plage sind, weniger einem Schönheitsideal (s. die leidvollen Erfah-
rungen beispielsweise von Keegan auf den Bahamas; 1992a:X V). Letzteres wird auch
oft von demjenigen Europas verschieden gewesen sein. So berichtet Gonzalo Fernán-
dez de Oviedo y Valdéz über Frisuren von Taino-Frauen, dass sie verfilzte Haarbü-
schel von unbeschreibbarer Gestaltung trugen (Walker dortselbst:197 f). Wie bei
zahlreichen autochthonen Gesellschaften scheint es unterschiedliche weibliche Fri-
suren für verheiratete Frauen und für Mädchen gegeben zu haben. Peter Martyr
berichtet, dass die Taino-Jungfrauen auf Hispaniola ihr Haar lang über die Schultern
fallend, über der Stirn mittels einer Fischgräte zusammengefasst, getragen hätten
(Walker a.a.O.:290). Die bereits mehrmals erwähnten Ciguayo sollen ihr strähniges
Haar auf dem Rücken in Netzen, geschmückt mit Papageienfedern, zusammenge-
bunden haben (Morison 1942:311), womit diese Taino einen weiteren Brauch der
benachbarten Kariben übernommen hätten, deren Haartracht ähnlich war. wie be-
reits weiter oben berichtet. Die natürliche Hautfarbe und das glatte schwarze Haar
der Antillen- und Bahamas-Indianer waren für den genuesischen Seefahrer die von
ihm immer wieder hervorgehobene Bestätigung seines Glaubens, wie gewünscht in
Ostasien angekommen zu sein. Tatsächlich sind ja alle Indianer, ein paar eventuelle
Schiffbrüchige des Pazifiks ausgenommen, Mongolide. Auch die Körpergröße ist bei
Indianern sehr verschieden. Waldlandindianer, und zu ihnen gehört die karibische
Bevölkerung von ihrem Ursprung her, sind in der Regel eher kleinwüchsig. Demge-
genüber schildert Kolumbus die Bahamas-Indianer in seinem Bordbuch als „von
ziemlich hohem Wuchs“ und als einen „wahrhaft schönen Menschenschlag“, mit un-
gewöhnlich geraden Beinen und wohlgeformten Bäuchen (nach Pleticha 1987:226;
Taviani 1991:121). Auch sonst äußert sich der Genuese überaus enthusiastisch über
das Aussehen der Lucayo sowie verwundert über ihre Nacktheit und ihre Jugend:
„ich sah niemand, der mehr als dreißig Jahre als war“ (nach Morison 1942:230; Krum
1985:226). Die breite Stirn der Lucayo. die Kolumbus auffiel (Morison, a.a.O.). wur-
de durch künstliche Deformierung des Schädels hervorgerufen, wobei durch Ein-
pressen der Schädelfront mittels eines Bretts im Säuglingsalter eine flache Stirn her-
vorgerufen wird. Diese Sitte war bei vielen zirkumkaribischen Ethnien verbreitet.
Bei den Maya war diese Schädelverformung ein Zeichen vornehmer Abstammung.
Bei den Insel-Kariben wurde als Erklärung für diesen Brauch angegeben, dass sich
die Deformierung positiv auf die Treffsicherheit mit Pfeil und Bogen auswirke (Wal-
ker 1992:54). Wir kennen die geschilderte Sitte auch von manchen nordamerika-
nischen Gruppen.
Mit dem Alltag einher gingen Ernte- und Trauerfeste, die stets auch mit Musik ver-
bunden waren (zu Festgesängen s.zum Beispiel Alegría, in Bercht et al. 1997:11). In
der Literatur werden verschiedene Instrumente genannt, insbesondere verschiedene
Holztrommeln, nach Pané in Arawak als Maiohauay oder Baiohabao, nach Martyr in
diesem Idiom als Maguey bezeichnet (Highfield, in Wilson 1997:167, was nicht stim-
men kann, denn Maguey ist das Arawak-Wort für die Agave, die nach Rouse
1948(c);527, zusammen mit einer Art Hanf, braunem Gras und Baumwolle der Her-
stellung von Kordeln diente; Lovén 1924:4, Anm.2 weist - auch unter Berufung auf
172
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Ahb. 9-10\ Mörser, Zemi-Darstellungen,Taino, Hispaniola, Stein; links: 12 x 9 x 24 cm.
15. Jh., Inv.-Nr. M 34934; rechts: 10x8x5 cm, 15., evtl, frühes 16. Jh., Inv.-Nr. M 34932,
Linden-Museum Stuttgart, Sammlung Hermann Dünkel, Fotos: Anatol Dreyer, 2004.
Abb. 11: Dreispitzstein in Gestalt eines Zemi.Taino. wahrscheinlich Hispaniola, 14./15.
Jh., Ethnologisches Museum Berlin, Inv.-Nr. IV Cb 54, Foto: Martin Franken, 1999.
Martyr, außerdem auf Oviedo - darauf hin, dass unter „Magueys“ eine Vegetabilie
zu verstehen ist. die aber nicht mit der Agave zu verwechseln sei). Weiterhin wurde
auch mit Kürbisrasseln, einer Art Kastagnetten aus kleinen Metallplatten und Schne-
ckentrompeten Musik gemacht (Steward 1948:25; Rousel948(c):534; mit Schnecken
ist Slrombus gigas gemeint; de Hostos 1948:542 spricht für die Arawaken auf Puerto
173
TRI BUS 54,2005
Rico, die Borinqueno, sogar von Militärmusik mit Conch-Trompeten). Letztere ge-
hörten auch zum Kulturgut der Kalino (Steward ebenda: 26; Einzelheiten zum Le-
bensbild der Kalino s. bei Rouse 1948(d):547 ff). Mit Ausnahme von Arm- und Bein-
rasseln aus Schneckenschale durften nur Notable die aufgeführten Musikinstru-
mente spielen (Rouse 1948(c) dortselbst).
Die religiöse Prägung der westindischen Autochthonen durch Animismus und Ani-
malismus, Zeremonialplätze in Höhlen, fromme Ehrfurcht vor Naturgewalten, zere-
moniellen Kannibalismus, Schamanen und Medizinmänner sowie -frauen (in Ara-
wak Behiques, in Galihi Boyez) zeigt in der karibischen Region überall Übereinstim-
mungen, die immer wieder gelegentlich an eine Verbindung zum Beispiel zwischen
Zentralamerika und Kuba / Hispaniola denken lassen (Stone 1966:230 ff;). Materiell
zeigt sich der Zeremonialismus der Taino uns Heutigen in Objekten, die oft als Idole,
aus diversen Grundstoffen bestehend, bezeichnet werden. Sie waren die Wohnsitze
der Zemis (Erklärung nachfolgend). Bei den Taino Hispaniolas, wahrscheinlich auch
sonst auf den Großen Antillen, konnte jede Person bis zu zehn solcher Geisterdar-
stellungen besitzen. Die Kaziken hatten für die Aufbewahrung ihrer Idole eigene
Hütten, meist außerhalb des Dorfes gelegen, während sich die entsprechenden Fi-
guren der Gemeinen in deren Wohnhütten befanden (Rouse 1948(c):535). Der Hin-
weis auf bestimmte Anwesen mit Kaziken-Idolen scheint sogar auf Kolumbus zu-
rückzugehen, der auch von dort abgehaltenen Zeremonien „wie in unseren Kirchen“
sprach (Paz et al. 2000:39). Die Kalino kannten keine gegenständlichen Geisterdar-
stellungen (Rouse 1948(d):563). Anders als bei der großen Ausnahme Albrecht Dü-
rer. der sich mehrmals für Einzelheiten außereuropäischer Kulturen aufgeschlossen
zeigte (bekannt sind seine Ausrufe des Erstaunens und der Bewunderung über einen
Teil der mexikanischen Kunstwerke aus Gold und Silber, die er in Brüssel sehen
konnte), sind die Anmerkungen unseres Seefahrers auf seine missionarische Einstel-
lung zurückzuführen, die ihn in nahezu jedem Eingeborenen einen zukünftigen (bra-
ven) Christen sehen ließ. Interessant ist, dass wir einen ähnlichen Hinweis eines eu-
ropäischen Augenzeugen aus einem nur wenige Jahrzehnte späteren Zeitraum vor-
liegen haben, nämlich von Hans Staden über die brasilianischen Küsten-Tupi. Er
spricht von einer Hütte, „in der sie ihre Abgötter haben“ (1929/1557:64), ohne sich
allerdings näher zu deren Nachbildungen zu äußern, wahrscheinlich weil er sie nicht
erkannte. Neben Stein, dann oftmals in so genannten Steingürteln, Ellbogen- und
nach Haas (1992:19) auf Deutsch so genannten Dreispitzsteinen sichtbar, wurden bei
den Taino zur Herstellung dieser Idole ebenfalls Knochen. Muschel- und Schnecken-
schale, diese in etlichen Fällen auch als Einlagen in Holz, sowie Baumwolle und ge-
brannter Ton verwendet (s. beispielsweise Rouse(c):510; Taylor, in Bercht et al.
1997:45 f; die Mächtigkeit bzw. Dicke in einem gewissen Bereich der Steingürtel
könnte auf die Baumwollpolster zurückgeführt werden, die Ballspieler unter ihren
Lendenschurzen trugen; s. hierzu Carlson 2002:119). Die erwähnten Dreispitzsteine
lassen sich bereits für die Saladoid-Phasen feststellen (mit Saladoid einschließlich
ihrer Endperiode Ostionoid werden die Vorläuferperioden der Taino-Kullur be-
zeichnet, 500 v. bis 700/1000 n. Chr.). Diese dreieckigen Steinskulpturen wurden in
den Folgezeiten zu Symbolen der politischen und religiösen Macht der Taino-Kazi-
ken (Rodriguez, in Wilson 1997:87). Righter (in Wilson 1997:78) nennt darüber hi-
naus noch gelochte menschliche Zähne, beschnitzte und hohle Oberarmknochen
sowie dekorierte Schädel, aus denen rituelle Objekte hergestellt wurden, um die
Kraft des Feindes zu gewinnen oder auch Feinde abzuschrecken. In der Annahme
einer geistigen Kraftübertragung wurden solche Knochensujets in Keramik. Holz
und Stein kopiert.
Im Mittelpunkt der sich dahinter verbergenden Glaubensvorstellungen standen die
erwähnten Zemis (auch Cemis bzw. üemis, Semis oder im Deutschen Zemen; zur
Semantik s. Oliver, in Wilson 1997:152, Anm. 1; in dem vorliegenden Artikel wird der
erstgenannte Begriff beibehalten). Sie werden in der Literatur in vielfältiger Weise
definiert und oft mit ihren Abbildern, den Idolen, gleichgesetzt (Righter
a.a.O.:1997:78). Neben solchen Objekten waren auch Tatauierungen von Zemi-Dar-
174
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Stellungen üblich, ebenso wie das Aufmalen der Idole auf den Körper. Schmuck wur-
de ebenfalls oft in Gestalt von Zemis hergestellt (Rouse 1948(c):526 und Weiteres
533). Bei allen diesen Abbildern sollen oft mesoamerikanische Einflüsse sichtbar
sein, was jedoch wenig wahrscheinlich ist (Rouse 1966:241). Beispielsweise werden
nirgends von den ersten Chronisten die für den mesoamerikanischen Raum ty-
pischen Ohrpflöcke erwähnt. Allerdings sind einige Darstellungen von Köpfen aus
gebranntem Ton mit Ohrscheiben versehen (Rouse 1948(c):526). Doch wird auch
beim Schmuck erneut die ursprüngliche Herkunft der Taino bzw. ihrer Vorfahren aus
Südamerika, insbesondere dem Amazonasbecken, recht deutlich (sehr anschaulich
bei Roe 1982). In der mythischen Welt der Insel-Arawaken spielten Tiere ihrer ein-
stigen südamerikanischen Heimat nach wie vor eine Rolle, wie Affen. Wildkatzen
u.a. (s. beispielsweise zusammenfassend bei Aarons 1990:24).
Dieser gesamte immaterielle Komplex liegt zwar außerhalb unseres Themenbe-
reiches, dennoch sollen noch einige zusätzliche Worte hierüber festgehallen werden.
Gordon R. Willey beispielsweise sagt zu den „Zemi-Steinen“, dass sie „als Sitz eines
persönlichen Geistes angesehen wurden“ (1974:353; s. beispielsweise auch Martyr
1973:233,240 f). Mehr weiß selbstverständlich Keegan (wie etwa in 1997a:92 ff), der
die hinter den Zemis stehende Mythologie der Antillen-Arawaken schon nahezu als
eine Staatsreligion ansieht (ebenda: 92). Er weist zunächst darauf hin, dass sich die
Darstellungen der Vorfahren von Taino-Lineages in Zemis manifestierten (Keegan,
in Wilson 1997b:113). Nach Stevens-Arroyo (1988:89 f) ist Yaya das höchste überna-
türliche Wesen der Taino. Yaya ist jedoch keine Person, weder männlich noch weib-
lich. es ist noch nicht einmal ein Name, sondern die „Reflektion eines Geistwesens“.
Yaya verursachte das Erscheinen des ersten Ozeans bzw. Baguas (Oliver, in Wilson
1997:143 f, 150). Entsprechend der Dichotomie der Geschlechter und der Zweitei-
lung „kulturell /unkulturell“ werden die Zemis als männliche und weibliche „Gei-
ster“ der Fruchtbarkeit Yucahu (Geber des Maniok bzw. auf Arawak des Yuccas, das
in „Yucahu“ steckt; nach Petersen, in Wilson 1997:128 auch Herr des Manioks und
des Meeres). Bei den Kalino war der Kulturheros Louqou der Bringer des Maniok
(s. Rouse 1948(d):564) sowie der Attabeira oder nach Petersen (a.a.O.) der Atabey
(Muttergöttin bzw. Gottheit des frischen Wassers und der Fruchtbarkeit). Auf die
beiden zitierten „höheren Wesen“ passten Zwillingsgeister auf bzw. kümmerten sich
um sie. Neben dieser „jenseitigen“ Welt gab es noch eine „anti-kulturelle“, die von
Maquetaurie Guyaba, dem Herrn der Toten, und Guabancex, Frau der Hurrikane,
beherrscht wurde. Auf diese beiden passten ebenfalls Zwillingspaare auf. Was nun
die Zemis anbelangt, so wird gesagt, dass sie eine aktive Rolle in vielen (allen?) An-
gelegenheiten der Menschen spielten. Sie unterstützten die Menschen bei ihrem Be-
mühen, zwischen dem Menschlichen, Kulturellen und Erfreulichen und dem Nicht-
menschlichen, Anti-Kulturellen und Abscheulichen zu unterscheiden. Wie die er-
wähnten Zwillingspaare zeigen, war den Taino bewusst, dass die Geister dieser Welt
gleichzeitig positive und negative Charakteristika haben können. So wie Regen se-
gensreich für das Gedeihen der Früchte ist, so kann er aber auch zerstörerisch wir-
ken, wenn er zu stark ist und sich mit Stürmen verbindet. Die Welt befindet sich
ständig in einer wankelmütigen Balance, und die Zemis müssen ungehalten werden,
anwesend zu sein, um diese Balance aufrechtzuerhalten oder bei dieser Aufgabe zu-
mindest zu helfen (Keegan 1997a: 93).
Alles in allem kann der Animismus der Taino so interpretiert werden, dass über die
Zemis als Geister, die helfen, das „Universum“ im Gleichgewicht zu halten, auch
Regeln für alltägliches Handeln vorgegeben wurden (Näheres zurTaino-Mythologie
s. Stevens-Arroyo 1988; Einzelnes auch bei Alegría, in Bercht et al. 1997:12 f und
Taylor, ebenda:44 f sowie bei Roget, in Wilson 1997:103 ff).
Zum Schluss dieses Ausflugs in die religiöse Welt der Taino sei doch einschränkend
festgehalten, dass wir uns keineswegs sicher sein dürfen, den geistigen Hintergrund
dieser Antillen-Autochthonen erfassen zu können. Dazu war die Zeit ab dem ersten
Kontakt mit der europäischen Zivilisation bis zum Erlöschen der Taino-Kultur viel
zu kurz und das Denken der Chronisten zu „vorwissenschaftlich“ (Leroi-Gourhan).
175
TRIBUS 54,2005
Doch selbst wenn das zu pessimistisch gesehen ist und vieles aus der Arawak-Spra-
che der Taino auf uns überkommen ist, fehlten den Berichterstattern, selbst einem
Ramón Pané (s. hierzu das Eingeständnis des Paters bei Arrom 1974:26 und dems.
1997:36) doch die linguistischen Feinheiten der einheimischen Sprache, die ja mehr
ist als ein Aneinanderreihen von Wörtern. Beispiel: Wurde das Metaphysische mehr
durch Verben (wie bei etlichen Ethnien Nordamerikas) oder mehr durch Substan-
tive, wie in den europäischen Sprachen, ausgedrückt? Wurde es vielleicht gar nicht
wörtlich erwähnt, sondern umschrieben? Wie wurde das Hintergründige im Taino-
Arawak erfasst? Dies sind nur wenige Fragen zu den vielen Unsicherheiten, die jede
Beschreibung des Immateriellen untergegangener Bevölkerungen mit sich bringt
(vgl. in diesem Zusammenhang Curtis Smith 1963; ähnlich Cooper, in Wilson
1997:193). Ich sage „Unsicherheiten“, die uns aber nicht davon abhalten dürfen, im-
mer wieder neue Versuche der Erklärung zu unternehmen. Wenn wir wie Claude
Lévi-Strauss von vornherein meinen, dass „wir nichts über sie (Anm. d. Verf.; damit
sind die Kulturen gemeint, „die es sowohl in früherer Zeit als auch in einem anderen
Raum gegeben hat“) in Erfahrung bringen können und daß alles, was wir uns von
ihnen vorzustellen versuchen, auf reinen Hypothesen beruht“ (1972:24), dann kön-
nen gleich mehrere Wissenschaften vom Menschen einpacken, wie die Ethnologie,
die Ethnografie, die Geschichtswissenschaften und große Teile weiterer wissen-
schaftlicher Disziplinen. Hier würde also das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Las-
sen wir uns nicht von solchen maßlosen Übertreibungen beeinflussen!
2.2.2. Die materielle Kultur der Taino und Kalino im Überblick
Zur Zeit des Kolumbus waren die Großen Antillen von Insel-Arawaken dicht besie-
delt (neben einigen wenigen der bereits erwähnten präarawakischen Kleinethnien
sowie ersten Siedlungsversuchen der Kalino). Auf die Kolonisierungszeitspanne der
Großen Antillen durch die südamerikanischen Vorfahren dieser Taino kann hier, wie
bereits weiter oben betont, nicht eingegangen werden (s. dazu Keegan 1992a: 16).
Sowohl aus Ausgrabungen als auch aus Beschreibungen der ersten Europäer in
Westindien wissen wir über die materielle Kultur der karibischen Indigenen recht
gut Bescheid, wozu in diesem Zusammenhang auch die Lucayo der Bahamas zu
rechnen sind. Rein äußerlich zeigt die Antillenbevölkerung ein verhältnismäßig ein-
heitliches kulturelles Gepräge. Selbst zwischen den Kalino und den Taino gab es, wie
weiter oben bereits gesagt, zahlreiche materielle Gemeinsamkeiten, wenn auch zum
Teil kulturelle Unterschiede. Solche kamen selbst zwischen den einzelnen Taino-Re-
gionen vor. So sollen die Indianer auf Jamaika nach Peter Martyr im Reden schlag-
fertiger als andere Karibik-Indianer sowie handwerklich, beispielsweise im Kanu-
bau, besonders geschickt gewesen sein (Morison 1942:451 f; Walker 1992:244). Selbst
innerhalb eines Inselbereichs der Großen Antillen. Paradebeispiel ist Hispaniola,
bestanden kleinere kulturelle Variationen (Walker ebenda:278). Martyr spricht so-
gar im Hinblick auf Hispaniola von „einem erheblichen Unterschied zwischen den
Bewohnern der einzelnen Landschaften“ (1972:68). Vor allem existierten jedoch kul-
turelle Abweichungen zwischen den Antillen und den Bahamas, was so offensicht-
lich war, dass es Kolumbus bereits bei seinen flüchtigen Kontakten mit den Auto-
chthonen während der ersten Reise auffiel (Grün 1983:102). Und selbst auf den Ba-
hamas muss es von Insel zu Insel einige kulturelle Deviationen gegeben haben. Je-
denfalls hören wir bereits von dem genuesischen Seefahrer, dass er die Einwohner
von Long Island für intelligenter und mehr auf ihren Vorteil beim Handeln mit den
Spaniern bedacht ansah als die Lucayo von Guanahani (Walker a.a.O:71).
Sowohl Kalino als auch Taino waren Pflanzer mit Brandrodung (Anpflanzen und
Aussaat lagen in Händen der Frauen). Mittels Feuerbohren wurden die Flammen
entfacht. Diese Methode der Hitzeerzeugung bis zum Auflodern der Flammen war
bei Eingeborenenethnien weltweit bekannt und geht mindestens bis in das europä-
ische Mittelpaläolilhikum zurück. Die verbliebene Asche diente ebenso wie mensch-
licher Urin der Düngung. Alle paar Jahre mussten dem Urwald neue Felder abge-
176
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
trotzt werden (Walker 1992:205; ethnologisch kann die Form dieser Art Feldbau mit
„aratorisch“ bezeichnet werden, s. Haensell 1955:75). Der Feldbau wurde begleitet
von saisonalem Sammeln nicht nur von Wildpflanzen (s. zu dem Nebeneinander von
Jagen/Sammeln und Pflanzertum Pryor 1986:884), sondern auch von Muscheln und
Kleintieren wie Insekten (mehr dazu in TRIBUS Bd. 55). Diese Art der Nahrungs-
suche, nicht nur von Hominiden seit ihren frühesten Anfängen praktiziert, beruhte
übrigens in der Regel nie, weder bei Tier noch bei Mensch, auf geschlechtlicher Ar-
beitsteilung. Der Terminus „Sammlerin“, meist in dem Zusammenhang „Jäger und
Sammlerinnen“ gebraucht, ist somit überflüssig (außerdem gab es auch Jägerinnen).
Dagegen spricht auch nicht, dass Frauen in Eingeborenengesellschaften durch ihre
größeren Kenntnisse über Pflanzen diese produktiver sammeln können als Männer
(dazu Pryor a.a.O.:886). Zusammen mit dem Sammeln als Nahrungserwerb spielten
Fischerei und Jagd, im karibischen Großraum vor allem auf Schildkröten und Seekü-
he, eine besondere Rolle (auf Jagd und Fischerei der Taino wird in TRIBUS Bd. 55
näher eingegangen). Die abwechslungsreiche Ernährung, in der Regel ohne Hun-
gersnöte (erst mit den Spaniern sollte sich die Lage dramatisch zum Schlechten wen-
den), trug offenbar dazu bei, dass die Antillen-Autochthonen gut genährt waren und
sich weitgehend bester Gesundheit erfreuten, wie Laboruntersuchungen von Skelet-
tresten auf den Bahamas ergaben (Keegan 1992a:147). Das heißt nicht, dass es in
den frühen Besiedelungsphasen der Antillen nicht zu gelegentlichen Engpässen in
der Versorgung gekommen wäre, wie Linda Budinoff (1987) aufgrund osteologischer
Analysen mit Skelettmaterial von der Nordküste Puerto Ricos feststellte. Eine Er-
klärung hierfür ist mit etlicher Wahrscheinlichkeit in der Ernährungsumstellung auf
eine maritime Basis während der ersten indianischen Kolonisierungsphasen zu se-
hen. Alles braucht seine Zeit. Die in ausreichender Menge aus Gartenbau und Mee-
reswirtschaft gewonnenen Nahrungsmittel werden dazu beigetragen haben, dass sich
die Menschen des karibischen Raums um ihre Zähne ebenfalls nicht sonderlich sor-
gen mussten. Vielleicht waren die Vorderzähne durch gelegentlichen nicht ernäh-
rungsbedingten Gebrauch mehr abgeschliffen als unsere. Angaben hierzu liegen al-
lerdings nicht vor. Die hygienischen Verhältnisse scheinen durch die ständige Berüh-
rung der Inselbewohner mit Wasser (Meer, Flüsse, Lagunen) auch keinen Anlass für
frühe Chronisten gegeben zu haben, darüber zu berichten.
Salz wurde durch Verdunsten von Meerwasser in Salinen gewonnen. In dem Territo-
rium Xaragua (auf Arawak, andere Schreibweise: Jaragua, südwestliches Hispaniola,
auf Deutsch „Seenland“) wurde Salz auch in kristalliner Form in den Bergen gefun-
den (Walker 1992:210). Wie in Zentralamerika wurde die Nahrungsaufnahme oft-
mals von einem Drogenkonsum in Form von Rauchen und Trinken teilweise alkoho-
lischer Getränke begleitet. Der Tabakgenuss war neben der profanen Angelegenheit
ebenfalls in religiöse Zeremonien integriert. Tabakpfeifen waren in präkolumbischer
Zeit auf den Antillen unbekannt. Der Tabak wurde zu Zigarren gerollt. Diese wur-
den offenbar nur von den Kalino „Tobacos“ genannt, denn nur von ihnen soll der
Tabak in dieser Form geraucht worden sein (Steward 1948:26; Rouse 1948(c):534
erwähnt Zigarren jedoch auch für die Taino).
Bei den Taino wurde der Tabak vor allem mittels Y-förmiger Schnupfrohre, auf Ara-
wak Tabacos, direkt durch die Nase eingesogen (dies wäre die zweite Version, worauf
unser Wort „Tabak“ zurückgeführt werden kann; s. beispielsweise Highfield, in Wilson
1997:163; weiterhin Taylor a.a.O.:43 f; Morison 1942:261, der allerdings hier ebenfalls
von Zigarren spricht; zu „Cohoba“: Schnupfen von pulverisiertem Tabak sowie Samen
einer in Südamerika beheimateten Mimosenart, d. h. Piptadenia peregrina). Es sei al-
lerdings darauf hingewiesen, dass die Art der Einnahme von Tabak (Pulver und/oder
Rauch) bei den verschiedenen Autoren durchaus umstritten ist (Rouse a.a.O.:534,
Fußn. 16). Kasiri.ein alkoholisches Getränk aus Cassava- bzw. Manioksaft fermentiert,
war weit verbreitet und hat unter der Bezeichnung „Chicha“, auch Chiza. Eingang in
zahlreiche Sprachen gefunden (s. beispielsweise Mowat 1989 und Hartmann 1990).
Alkohol wurde ebenfalls aus Pfeilwurz, die noch heute teilweise auf Plantagen ange-
baut wird, und Süßkartoffel gewonnen (Department of Archives 1992, unpaginiert).
177
TRIBUS 54,2005
Abb. 12: Y-förmiges Schnupfrohr, auf Ara-
wak Tabaco, mit dem pulverisierter Tabak
und andere Rauschmittel (s. Text) direkt
durch die Nase eingesogen wurden. Aus
Kapfhammer, W.: Große Schlange und
Fliegender Jaguar - Zur mythologischen
Grundlage des rituellen Konsums halluzi-
nogener Schnupfdrogen in Südamerika.
In: Völkerkundliche Arbeiten, Bd. 6, hrsg.
v. H.-J. Paproth. Bonn 1997.
Arbeitsteilung gab es höchstens in geschlechtlicher Hinsicht (allgemein dazu zum
Beispiel Pryor 1986:886). in unserem Fall - wie angeführt - Frauen im Feldbau oder
ebenfalls in der Keramikherstellung, Spinnen der Baumwolle sowie ihrer Verarbei-
tung (vgl. u.a. Taylor ebenda:42) und Männer bei der Rodung, in der Fischerei und
Jagd, beim Hütten- und Kanubau.
Die bereits erwähnten Kopfdeformationen sowie Hautschmuck, wie Bemalen und
Tatauierung, Haartrachten, minimale Kleidung bzw. weitgehende Nacktheit waren
mit regional begrenzten Ausnahmen überall in der Karibik gegeben. Die angespro-
chene Blöße entspricht in der Regel den Gegebenheiten im Wildbeutertum sowie
den in der Karibik vorliegenden klimatisch günstigen Bedingungen. Ansätze zu
Ausnahmen scheinen jedoch Vorgelegen zu haben. So wird über indianische Krie-
ger auf Jamaika berichtet, dass sie Brust und Bauch mit Palmblättern bedeckt hat-
ten (Walker 1992:241 f, 244). Die Ehefrauen von Notablen auf dieser Insel hatten
wohl einen winzigen Schamschurz aus Baumwolle, kleiner als ein Tanga, angelegt
(ebenda:269 f). Nach wie vor zweifelhaft ist, ob Lendenschurze (auf Arawak Na-
gua) generell erst nach 1492 aufkamen. Mädchen einiger Ethnien trugen nach der
Pubertät eine Art Genitalnetz aus Baumwolle, und zwar schon vor 1492. Fest steht,
das die Länge eines Lendenschurzes - sofern überhaupt gegeben - den jeweiligen
Rang einer Frau anzeigte. Hochgestellte Frauen trugen solche Kleidungsstücke,
die bis zu den Fußknöcheln reichen konnten (Rouse 1948(c):525 f). Von Kaziken-
Frauen auf Hispaniola berichtet Peter Martyr, sie hätten ihre Scham mit einer Art
kurzer Hosen aus Baumwolle bedeckt, womit sicher ein kleines Kleidungsstück,
wie die gerade erwähnten Tangas, gemeint ist (ebenda:290). Auf jeden Fall zu en-
178
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
thusiastisch ist Taylor mit seinem Hinweis auf „garments of the finest woven cot-
ton“ (in Bercht et al. 1997:42). Weberei in präkolumbischer Zeit konnte bisher für
die Taino nicht nachgewiesen werden (s. hierzu in mehreren Bemerkungen Ste-
ward 1948:25 f und Rouse 1948(c):509,527). Die als Webgewichte angenommenen
Steinobjekte werden wohl eher Spielsteine o.Ä. gewesen sein. Selbst für die Kalino
ist Weberei vor dem 16. Jahrhundert höchst ungewiss. Da sich die frühesten litera-
rischen Hinweise auf das Weben bei Letztgenannten auf die Kolonialzeit beziehen
(nicht vor 1550), scheint hier europäischer Einfluss sichtbar zu werden. Das von
Rouse geschilderte Weben bei den erwähnten Ethnien geht auf Quellen des 17./18.,
frühestens des späten 16. Jahrhunderts zurück, auch wenn er hierzu keine Angaben
machte. Nach diesem Autor hatten die Kalino hölzerne Spindeln. Die damit herge-
stellten Kettfäden wurden an zwei gegenüberliegenden Hüttenpfosten befestigt,
die Schussfäden per Hand eingewoben. Mit einem schwertartigen Anschlagholz
wurden Letztere heruntergeschlagen. Der so entstandene Stoff wurde vor allem
rot gefärbt. Genäht wurde mit einer Nadel aus einem Palmetto-Dorn (Rouse
1948(d):555; mit Palmetto werden mehrere Palmenarten des südlichen Nordame-
rika und der Antillen zusammengefasst). Zuzustimmen ist Taylor, wenn er schreibt,
dass „caciques and nitainos were further distinguished by their clothing, jewelry.
and other accessories“ (a.a.O.; s. auch Alegría, dortselbstTl). Mit den von Taylor
erwähnten „capes made from the colorful plumage of tropical birds: parrots, tou-
cans, herons, and eagles“ (ebenda:42 f) ist offenbar der von mir an anderer Stelle
erwähnte Rückenschmuck mit eingeflochtenen Federn gemeint, abgesehen von
den genannten Vögeln, die es auf den Antillen nur zum Teil gab. Mit Sicherheit
bestanden zwischen Jamaika und Kuba gewisse kulturelle Beziehungen. Auf letzt-
genannter Insel trugen manche Frauen ebenfalls kleine Baumwollstücke zur Bede-
ckung der Scham, ja es wurden gelegentlich sogar Baumwollhemden gemeldet (Ta-
viani 1991:122; Walker 1992:127), was aber auf die Verwechslung von Flamingos
mit Menschen zurückzuführen ist. Fußbekleidung ist ebenfalls, umweltabhängig
und war daher bei unseren Autochthonen nicht erforderlich.
Gold- und Federschmuck war im gesamten karibischen Großraum verbreitet (Gold
in Aruak Guanin, in Galibi Calloucouli oder Caracoli). Bei „Gold-1 handelt es sich
meist um die in Alt-Amerika einschließlich der Karibik weit verbreitete Gold-
Kupfer-Legierung Guanin - wie erwähnt - bzw. Tumbaga. Roget (in Wilson
1997:171) macht darauf aufmerksam, dass die Antillen-Indianer keine metallur-
gischen Kenntnisse in der Goldbearbeitung hatten, dass das Gold über den Handel
der Kalino mit bestimmten Amazonas-Indianern, die dieses Wissen besaßen, in die
Hände der Taino gelangte, ja dass Festland-Kariben den Goldhandel bis nach Pu-
erto Rico ausgedehnt hatten (a.a.O.:173). Das erscheint etwas zu einseitig betrach-
tet. Im Allgemeinen wird in der Literatur darauf verwiesen, dass es zwar kein
Schmelzen von Edelmetall gab (das selten erwähnte Silber und Kupfer wurde
wahrscheinlich aus Südamerika importiert), dass Taino aber Gold aus Flüssen oder
den vielgenannten Minen, gleich ausgetrocknete Flussbetten, gewannen und Gold-
arbeiten in Kalthammertechnik hergestelll wurden, wenn auch nur zu Schmuckstü-
cken (Rouse 1948(c):528). Dieser Autor weist unter Berufung auf Lovén (1935)
gleichfalls darauf hin, dass im Goldschmuck der Ureinwohner auf Hispaniola und
Jamaika mesoamerikanischer Einfluss sichtbar würde (Rouse 1966:240), was aber
nicht wahrscheinlich ist. Ohrläppchen und Nasenscheidewand waren für entspre-
chende Schmuckstücke aus Gold, mehr jedoch aus Stein, Knochen. Muschel- und
Seeschneckenschale perforiert. Bei Festivitäten wurden außerdem Kopf- und Kör-
perschmuck aus Federn sowie hölzerne und teilweise mit Gold eingelegte Masken
- in Arawak Guaizas - angelegt (Taviani 1991:122; Coe 1998:161; Tippenhauer
1893:376; Taylor. a.a.O.:43). Zum Aufbewahren von Schmuck dienten Körbe mit
doppelter Wand, was sie weitgehend wasserdicht machte, und mit einem Deckel
versehen (Rouse 1948(c);527).
Aus mythischen Gründen betrachteten die Taino Gold als medikamentösen Schutz
gegen Krankheit und Tod. Durch die schon bald erkannte Goldgier der Spanier
179
TRIBUS 54,2005
wurden sie in ihrem Glauben bestärkt, denn schließlich kamen die Fremden ja aus
dem Land der Toten, in das sie ohne den Schutz des Goldes wieder zurückkehren
mussten (vgl. hierzu Roget, in Wilson 1997:171,174). Obwohl die spanischen Ero-
berer oft vom „üblichen Goldschmuck“ der Taino sprachen, war dieser doch eher
gering vertreten (Rouse a.a.O.:508). Dagegen waren Goldarbeiten in Zentralame-
rika wesentlich verbreiteter, ausgeprägter und in der Metallverarbeitung fort-
schrittlicher als auf den Großen Antillen. Nach Andrés Bernáldez haben allerdings
Notable auf Jamaika bei festlichen Anlässen Goldschmuck in Form von Brustplat-
ten getragen, befestigt an Ketten aus Marmorperlen, weiterhin Ohrgehänge aus
Goldscheiben, aufgehängt ebenfalls an Steinperlenketten (in Arawak £ibas), so-
wie Stirn- und Kopfschmuck aus kleinen weißen, grünen und roten Muschel- und
Steinperlen. Außerdem wird von einem Kopfputz aus Federn in Form eines Helms
berichtet. Letzterer hatte ein Stirnschild in der Größe eines Tellers. Auch Hüte aus
grünen und weißen Federn werden von Bernáldez geschildert. Gürtel und Bänder
aus Baumwolle, verziert mit Gold- und Perlenschmuck, scheinen weit verbreitet
gewesen zu sein.
Neben vielen anderen bedeutsamen Einzelheiten zur Kultur der Antillen-Indianer
geht auf Christoph Kolumbus unsere Kenntnis von indianischen Handelsfahrten
zwischen Kuba und der Bahamas-Insel Long Island zurück. Bedeutsames Handels-
gut scheint hier Keramik gewesen zu sein (Keegan 1992a:52; zu eingehenderen
Überlegungen in puncto Keramik als Handelsware zwischen den Bahamas ein-
schließlich der Turks und Caicos und den Großen Antillen s. ebenda:57,110; Peter-
sen, in Wilson 1997:119 nennt verschiedene Autoren, die auf den intertribalen Wirt-
schaftsverkehr im autochthonen Westindien näher eingegangen sind; zu india-
nischen Paddelleistungen s. Schliessler 1984:123). Über verhandelte Keramik auf
Puerto Rico berichtet beispielsweise auch Rouse (1948(c):511), wobei es sich um
Ware aus Trinidad und den Kleinen Antillen handelte (Trinidad in Arawak „Cairi“,
gleich „Insel“; Highfield, in Wilson 1997:156 nennt Trinidad „Chaléibe“; zu den
Idiomen auf Trinidad und den südlichen Kleinen Antillen s. Letztgenannten a.
a.O.). Schon diese Hinweise auf Seereisen mit dem Kanu zeigen, dass es sowohl
einen Tauschhandel mit nahe gelegenen Inseln als auch einen solchen gab, der als
transkaribisch bezeichnet werden kann. Dabei war neben Trinidad auch das süda-
merikanische Festland fast immer im Blick der einheimischen Handelsreisenden
(Walters, in Wilson 1997:89), die hinsichtlich der Kalino mit dem Begriff „Seeräu-
ber“ nahezu identisch waren. Als Handelsware begehrt war oft Feuerstein, der nur
auf bestimmten Inseln vorkam (vgl. Walters dortselbst und 91). Gefragt waren
ebenfalls wertvolle Schmucksteine wie Türkise und Jade, die aus Südamerika im-
portiert wurden. Schmuckperlen wurden sowohl als Fertigprodukte als auch als
Rohmaterial verhandelt, wobei einige Perlenproduzenten auf das Rohmaterial be-
stimmter Inseln spezialisiert waren (ebendort:96 f). Wie in anderem Zusammen-
hang angedeutet, wurde auch Gold im intertribalen Wirtschaftsverkehr weiterge-
geben. insbesondere das aus den Minen Hispaniolas (Steward 1948:25; Rouse
1948(c):530 f). Fertigprodukte aus dem genannten Edelmetall dieser Insel waren
insbesondere auf Kuba und den Bahamas begehrt. Überhaupt kann etwas über-
spitzt gesagt werden, dass die jeweilige Tamo-Insel auf bestimmte handwerkliche
Fertigkeiten spezialisiert war (Rouse a.a.O.:531). Am wichtigsten und neben
Kriegszügen ausschlaggebend für längere Kanufahrten über das Meer wird bei den
Taino wohl Salz als Handelsgut gewesen sein (Keegan 1992a:53). Nach 1492
spielten ebenfalls Objekte europäischen Ursprungs eine gewisse Rolle im intertri-
balen Wirtschaftsverkehr (Keegan ebenda:203), wie wir das auch aus anderen Re-
gionen des autochthonen Amerika kennen (Schulze-Thulin 1973; Kurelia 1993). Es
wird angenommen, dass gleichfalls bestimmte Waren aus organischem Material,
die sich jedoch nicht mehr nachweisen lassen, in den Tauschhandel eingeflossen
waren. Im Hinblick auf einen ausgedehnten Seehandel können sicherlich Verglei-
che zwischen unserem Raum und etlichen pazifischen Gruppen gezogen werden
(Walters ebenda:96 ff).
180
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
3. Epilog oder der westindische Völkermord
Lassen wir einmal alle menschlichen Gefühle außer Acht, so ist festzustellen, dass
infolge des westindischen Holocaust4 auch wissenschaftlich gravierende Folgen zu
verzeichnen sind. Wie weiter oben bereits kurz erwähnt, war die Zeit für umfassende
völkerkundliche Studien, selbst für die Anfänge der Ethnologie, viel zu kurz, auch
für Assimilationsstudien, geschweige denn Akkulturationsforschungen. die in der
den Antillen-Indianern verbliebenen Zeit nicht Platz greifen konnten.
Jeder Ethnologe, und hierin sind auch die TRIBUS-Leser eingeschlossen, weiß, dass
die indianische Urbevölkerung Westindiens bis auf geringe Reste von Kalino-Grup-
pen während der Konquista ausgerottet wurde. Weniger bekannt sind allerdings der
Zeitraum sowie der Ablauf dieses Völkermords. Sie sollen nachstehend präzise in
Zahlen und Daten zusammengefasst werden. An anderer Stelle werde ich ausführ-
licher auf die Hintergründe und Methoden, die zum Untergang der westindischen
Autochthonen führten, eingehen.
Wenn von der Massenvernichtung autochthoner Bevölkerungen in Lateinamerika
die Rede ist, tun sich Spanier, insbesondere Regionalpolitiker, immer noch schwer
mit der Bewältigung der großen Schuld, die dieses Land in der Geschichte auf sich
geladen hat. Bis heute gibt es in Spanien kein Denkmal, das an den großen Sohn und
unermüdlichen Kämpfer für indianische Rechte Bartolomé de Las Casas erinnern
würde. Auch in der Literatur wird Spanien im Hinblick auf seine Rolle bei dem indi-
anischen Holocaust bis heute verteidigt, entschuldigt oder die Vorgehensweisen der
Kolonisten und Kolonialpolitiker relativiert (so beispielsweise auch Gutiérrez
1990:11 f) bzw. nicht erwähnt (so etwa von Rouse/Arrom 1991:513). Geradezu hane-
büchen müssen jedoch Aussagen dieser Art gewertet werden, wenn sie von wissen-
schaftlicher Seite kommen, wie diejenigen von Arrom. der allen Ernstes hinsichtlich
der westindischen Ureinwohner behauptet (ich zitiere im Original), dass die Inva-
soren ,,did not destroy their roots, whether on the mainland (was für Mesoamerika
auch diskussionsbedürftig wäre) or on the islands. Elsewhere 1 have shown that the
Taino were not exterminated ... and after contact these survivors transmitted not
only their genes, but also the principal achievements of their culture” (1997:40; Her-
vorhebung von mir). Das ist Geschichtsklitterung der schlimmsten Sorte. Entschul-
digung, aber da geht einem ja wirklich der Hut hoch! In demselben Buch (Bercht et
al. 1997) kommt von Koautor Alegría wenigsten der Hinweis, dass „the Taino culture
disintegrated in several decades” (1997:11). zwar vornehm verbrämt, aber immerhin.
Wir leben heute doch nicht mehr im 15./16. Jahrhundert wie etwa der schottische
Theologe John Major (1469-1550), der das Hinmorden indianischer Ethnien recht-
fertigte (ebenda:18). Die von mir nachfolgend zusammengestellten Zahlen zum
westindischen Völkermord sprechen eine deutliche Sprache. An den Tatsachen als
solchen ist ja auch nicht im Entferntesten zu rütteln. Zu zahlreich sind die Augenzeu-
gen und deren literarische Hinterlassenschaften. An erster Stelle ist hier der mehr-
mals erwähnte Dominikaner Las Casas zu erwähnen, der seine Vorläufer und Nach-
folger hatte, auch in anderen Orden, so bei den Franziskanern (mit diesen verband
Kolumbus besonders die Vision einer „Befreiung Jerusalems”; s. Kagan 1991:60).
Doch brachte die erstgenannte Kongregation die konsequentesten Ankläger der
Mörder Erster Amerikaner hervor, was im frühen 16. Jahrhundert die spanische
Krone gegen sie einnahm. In einem Schreiben vom 20.3.1512 an Diego Kolumbus,
ältester Sohn des berühmten Navigators und damals Gouverneur von Hispaniola,
wandte sich Ferdinand II. gegen die Kritik der Dominikaner an der spanischen Ko-
lonialpolitik sowie der Versklavung der einheimischen Bevölkerung und versuchte,
den „rebellischen” Mönchen einen Maulkorb zu verpassen (Gutiérrez a.a.O.:39 f).
4 Mit Blick auf bestimmte Diskussionen in Deutschland erscheint es erforderlich, darauf hinzu-
weisen, dass der auf das Griechische und Englische zurückgehende Begriff „Holocaust“ nach
der Definition im Duden für „Tötung einer großen Anzahl von Menschen“ verwendet wird,
was ja auf die Urbevölkerung im westindischen Raum zutrifft.
181
TRIBUS 54,2005
3.1. Bevölkerungszahlen
Die Angaben zur Zahl der einheimischen Bevölkerung Westindiens um 1492 sind
sehr unterschiedlich. Sie schwanken zwischen 800.000 und sechs Millionen (Rouse
1948(c):522), teilweise sogar acht Millionen. Das liegt zum einen an den ungenauen
Kenntnissen der frühen Chronisten, zum anderen an dem rapiden Rückgang der
Autochthonenzahl. Die große Spanne in den Aussagen zur Bevölkerungszahl zeigt,
dass ebenfalls alle nachfolgenden Zahlenhinweise sehr unsicher sind. Daran hat sich
bis heute nichts geändert. Auch der Vergleich mit rezenten Indianerbevölkerungen
im tropischen Waldland Südamerikas bringt uns keine Erkenntnisse. Hier soll die
Bevölkerungsdichte (um die Mitte des 20. Jahrhunderts?) bei 75 Personen je Hektar
gelegen haben (Keegan 1992a;l64). Neuere seriöse Zahlenangaben zur gesamten
indianischen Antillenbevölkerung sind nicht zu erhalten.
3.1.1. Bahamas
Für diesen Archipel nennt Keegan eine autochthone Bevölkerung von 40- bis 80.000
Seelen für das Jahr 1492, wobei die Mehrheit unter 15 Jahre alt war (ebenda:162 f).
In einer anderen Publikation kommt dieser Verfasser bei Annahme von vier Per-
sonen je qkm um 1492 auf eben diese Zahl, wobei er eher den unteren Bereich
(40.000) für realistisch ansieht (1992b:6). Fünf Jahre später nennt er allerdings wie-
der 80.000 Indianer für die Bahamas (1997a:97). Fas Casas, der bei Verteidigung der
Indianer bei seinen Angaben oft über das Ziel hinausschoss, erwähnte in seinen An-
klagen für die Inseln 500.000 Einwohner (Enzensberger 1966:7), während Albury für
die Kontaktzeit zurückhaltend eine Zahl zwischen 20.000 und 30.000 nennt (1975:36).
Hier soll das Mittel zwischen den beiden Keegan-Angaben genommen werden, das
heißt 60.000 Fucayo auf den Bahamas für 1492, was noch immer sehr vorsichtig ist,
wenn wir bedenken, dass in 18 Jahren allein ca. 40.000 Fucayo als Sklaven verschleppt
wurden (s. unten).
3.1.2. Große Antillen
Nach neueren Berechnungen auf mathematischer Grundlage soll allein Hispaniola
(als dicht bevölkertste aller Antillen vor Jamaika) eine autochthone Einwohnerzahl
von 7 bis 8 Millionen gehabt haben (Keegan 1992a: 160; weitere Überlegungen zur
Festlegung der indianischen Bevölkerung Hispaniolas ebenda:158 f; Rouse
1948(c):522 nennt für Hispaniola 100.000 bis 6 Millionen). Alle diese Zahlen gehen
meist weit über die Angaben von Fas Casas hinaus, der für Hispaniola drei Millionen
Indianer annahm (Enzensberger a.a.O.:7; Walker 1992:201). Zwei Seiten später
kommt Keegan (in 1992a) zu einer „recht einleuchtenden“ Zahl für Hispaniola von
ein bis zwei Millionen (dortselbst:162; auch 1992b:6). Das ist natürlich immer noch
eine gewaltige Spannweite. Aber selbst wenn wir mit Personenzahlen pro Quadrat-
kilometer rechnen, die für Hispaniola zur Kontaktzeit mit rund vier angenommen
werden, was bei einer Fläche von 77.300 qkm eine Einwohnerzahl von lediglich rund
310.000 ergäbe, bleiben große Unsicherheiten.
Bevölkerungsrückgang der Indianer auf Hispaniola (nach Keegan 1992a:161,220):
1509 Rückgang auf 61.000, davon 50 bis 65 Prozent männliche und weibliche Skla-
ven über 14 Jahre (ein Jahr später erhöhte sich die Sklavenzahl um 25.760
Lucayo von den Bahamas).
1517 16.000.
Da die erwähnten zwei Millionen in der Literatur immer wieder mit wechselnden
Begründungen in den Vordergrund gestellt werden, soll hier diese Einwohnerzahl
für Hispaniola als weitgehend verbindlich angesehen werden.
Nicht besser sieht es bei der Nachbarinsel aus. Nach Las Casas soll Puerto Rico eine
Einwohnerzahl von 500.000 bis 600.000 gehabt haben (Alegria, in Wilson 1997:9).
182
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Bevölkerungsrückgang der Indianer auf Puerto Rico (nach Rouse 1948(c):540; Wal-
ker 1992:311):
1496 Rückgang auf 200.000.
1511 20.000 Indianer leben noch auf Puerto Rico.
Die Insel war 1508 zum spanischen Eigentum deklariert worden (Walker 1992:311).
Da wir irgendwie Anhaltspunkte finden müssen, soll hier von ursprünglich minde-
stens 300.000 Indianern für Puerto Rico ausgegangen werden, was durch die Fülle an
archäologischen Stationen und kulturellen Hinterlassenschaften eine gute Stütze
findet.
Was Kuba anbelangt, so war die Bevölkerungsdichte sicherlich geringer als auf Hi-
spaniola und Puerto Rico. Die Gesamtzahl soll für die größte Antilleninsel irgendwo
zwischen 16.000 und 600.000 gelegen haben (Enzensberger 1966:22; Rouse
1948(c):542 f; nach Walker a.a.O. wurde Kuba 1512 von Spanien in Besitz genom-
men). Im Hinblick auf die große Fläche Kubas setzen wir hier ebenfalls 300.000 Ein-
wohner zur Kontaktzeit an.
Für das südlich von Kuba gelegene und gut besiedelte Jamaika geben Rouse u.a. eine
Einwohnerzahl zwischen 60.000 bis 600.000 bzw. bis 1 Million an (a.a.O.:543; Enzens-
berger: ebenda; nach Walker a.a.O. wurde Jamaika 1509 von Spanien okkupiert).
Auch hier soll für unsere Zwecke das ungefähre Mittel von 300.000 Einwohnern
gelten.
3.1.3. Kleine Antillen
Was nun die Karibenbevölkerung der Kleinen Antillen anbelangt, ist hier das fest-
zustellen, was bereits in anderer Beziehung erwähnt wurde: es gibt so gut wie keine
fundierten Nachrichten aus den Anfängen der spanischen Kolonisation in Westin-
dien über diese Ethnien und damit auch keine Zahlenangaben, nur allgemeine
Hinweise. So weist beispielsweise Cooper (in Wilson 1997:186) darauf hin, dass die
Urbevölkerung auf St. Croix (zur Erinnerung: auf Arawak Ayay, auf Galibi lähi
bzw. Cibuqueira) 1590 ausgestorben war. Dabei ist es allerdings immer noch unsi-
cher, zu welchen Zeiten diese Insel von Taino und zu welchen von Kalino besiedelt
war. Bei Wilson selbst (1997:7) finden wir beispielsweise zur direkten und indi-
rekten Ausrottung lediglich die zeitliche Angabe „von 1492 bis 1620“ (vgl. auch
Rouse 1948(d):549; zu den Kolonialkriegen in der Region, den heutigen kleinen
Kariben-Reservationen auf Dominica und St. Vincent sowie der Vertreibung von
Kariben auf das zentralamerikanische Festland zusammenfassend Wilson a.a.O.:8;
Weiteres zu den rezenten Kariben auf Dominica beispielsweise in Cracknell
1974:42, 45; Nachfahren von Kalino leben auch auf Aruba, der westlichsten Insel
der Niederländischen Antillen).
3.2. Die Hintergründe des Untergangs
Die Rolle der spanischen Krone beim Untergang der westindischen Autochthonen,
ihr Verhältnis zu den in Westindien tätigen Orden, die Verhaltensweisen der ver-
schiedenen Missionen in der karibischen Region, die Mentalitäten der Kolonisten
und ihre Gräueltaten, die Rolle von Papst Alexander VI. bei der Sklavenfrage, die
Ausrottung der Indianer im Einzelnen und die dabei angewandten Methoden, das
Für und Wider hinsichtlich der Schriften von Las Casas ... dies alles ist eigentlich ein
detailliertes Muss an dieser Stelle. Da es sich jedoch um einen Artikel handelt, der
etlichen Beschränkungen mit Kurzaussagen unterliegt, muss ich die Leser(innen)
hinsichtlich der angesprochenen Themenbereiche auf einen späteren Publizierungs-
ort verweisen. Im Mittelpunkt des umfangreichen Komplexes stehen allerdings die
direkten und indirekten Formen der Ausrottung, die ja Hand in Hand vor sich gingen
und sich nur im Nachhinein in der kritischen Beobachtung der Geschehnisse ausei-
nander halten lassen.
TRIBUS 54,2005
3.2.1. Direkte Ausrottung der westindischen Urbevölkerung
Hispaniola war die erste Insel der Großen Antillen, über die der westindische Holo-
caust hinwegfegte (Zusammenfassung s. beispielsweise in Davis / Goodwin 1990:38).
Hier hatte unter Christoph Kolumbus die spanische Kolonisierung 1493 ihren An-
fang genommen.
Unter den Begriff der direkten Ausrottung fallen Mord und Totschlag, so Verbren-
nen bei lebendigem Leib, Erhängen, Niedermetzeln der Zivilbevölkerung, Vergewal-
tigen, um nur einiges zu nennen (Walker 1992:298 f, 311 f; Enzensberger 1966:18).
Zum direkten Holocaust ist ebenfalls die Unterdrückung der indianischen Bevölke-
rung durch spanische Kolonisten zu rechnen, wenn diese zu Selbstmorden (Erhän-
gen, Vergiften mit unbehandeltem Manioksaft; s. beispielsweise Walker a.a.O.:309),
Tötung der eigenen Kinder und willentlich herbeigeführten Schwangerschaftsabbrü-
chen führte (vgl. zum Beispiel Gutiérrez 1990:51, Fußn. 28; Alegría, in Wilson 1997:14;
Martyr 1973:116 ff; Konstam 2000:94 f; Baer, in Baer et al. 1992:10,12). Unter Unter-
drückung fallen die zahllosen Gräueltaten der spanischen Invasoren gegenüber der
einheimischen Bevölkerung, wie sie insbesondere von Las Casas als Augenzeugen in
zahlreichen Schriften geschildert wurden. In der Primärliteratur tauchen neben Las
Casas auch die Namen anderer Geistlicher als Augenzeugen auf, wie zum Beispiel
Benito Martínez, „ein besonnener Mann“, oder Baccalaureus Alvarez de Castro, ein
Franziskaner (Martyr a.a.O. und 181 mit Fußnote 27:361), oder der erste unter den
Franziskanern, der seine Stimme öffentlich erhob, Antonio de Montesinos. Sicherlich
hat Las Casas teils aus Unwissenheit, teils aus politischen Gründen manches in sei-
nen Aufrufen und Publikationen verfälschend dargestellt, doch an den Tatsachen
selbst kommt niemand herum. Oft nannte der streitbare Mönch die Namen der je-
weiligen Verbrecher, machte auch vor Inhabern hoher Ämter nicht Halt, was ihm
besonders von politischen Kreisen um die spanische Krone verübelt wurde (Näheres
zu den von Las Casas mitgeteilten Grausamkeiten beispielsweise bei Enzensberger
1966: 7,10 ff, 20 ff, 30 ff). Dass sich Spanien als „Mutterland“ seiner Verantwortung
und Schuld durchaus bewusst war, zeigen bestimmte Vorgehensweisen und juri-
stische Erlasse, wie das so genannte „requerimiento“ aus dem Jahr 1513, „ein Schrift-
stück, das den Indianern vorgelesen wurde und in welchem diese auf die Weltherr-
schaft des Papstes hingewiesen und ultimativ aufgefordert wurden, sich den Spaniern
zu unterwerfen“ (Bitterli 1991:16). Auf solche Gedankengänge aus einer anderen
Welt konnten die Betroffenen natürlich überhaupt nicht reagieren. Alles in allem -
trotz der großen Rolle, die durch Europäer ausgelöste Infektionen spielten (s. den
nächsten Abschnitt 3.2.2.) gehört die immer wieder bis heute geäußerte Mär vom
Aussterben der karibischen Indianer „lediglich“ durch eingeschleppte Krankheiten
aufgrund der zahlreichen Augenzeugen und authentischen Berichte zu den Akten
gelegt.
3.2.2. Indirekte Ausrottung der Urbevölkerung
Nicht weniger erbarmungslos lief der indirekte Holocaust ab. Ohne Mord und Tot-
schlag zu erwähnen, führt Gutiérrez in einer Fußnote die Bereiche auf, die nachfol-
gend unter der indirekten Ausrottung zusammengefasst sind: Aus Europa einge-
schleppte Krankheiten, Kriege und Zwangsarbeit (mit Versklavung, Trennung von
Männern und Frauen u. Ä.) sowie durch Kolonisten ausgelöste Hungersnöte (1990:11,
Anm. 3) und Plünderungen (Paz et al. 2000:39; zur grundsätzlichen Ausbeutermenta-
lität der spanischen Kolonisten s. auch Morison 1942:231). Keegan hält alle diese
Komplexe im Hinblick auf den indirekten Holocaust für gleichbedeutend (1992b:7).
Krankheiten:
Den größten Anteil an der indirekten Ausrottung im karibischen Raum hatten ein-
geschleppte Krankheiten wie Pocken, Grippe, selbst einfache Erkältungskrank-
heiten, Typhus, Masern, Cholera, Diphtherie und Gelbfieber (sogar die Pest wird in
der Literatur erwähnt, was für die Spanier allerdings auch entsetzliche Folgen gehabt
184
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
hätte), gegen die Indianer überall auf dem Doppelkontinent keine körpereigenen
Abwehrstoffe entwickelt hatten (Alegría, in Wilson 1997:14; Paz et al 2000:30; Gutié-
rrez 1990:11, Fußn. 3; Department of Archives 1992:38, um nur einiges an Literatur
zu diesem Thema zu erwähnen; s.aber Saunt 2004:128, der hinsichtlich der Pocken
darauf verweist, dass die mangelnde Immunität der amerikanischen Eingeborenen
nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte). Zunächst waren vor allem Kinder
betroffen (Keegan 1997a:98), Erwachsene folgten ihnen schnell. So sollen von Euro-
päern verursachte Epidemien bei den karibischen Autochthonen zwischen 30 und 70
Prozent aller Todesfälle, je nach Region, verursacht haben (Keegan 1992a;160; von
dems. in 1992b:4 werden 30 bis 100 Prozent genannt). Auch in Nordamerika bei-
spielsweise sind in 400 Jahren Kontaktzeit mehr Indianer durch Epidemien als durch
Gewehrkugeln gestorben (Angaben zu den von Europäern vor 1700 eingeschlepp-
ten Krankheiten in diesen Teil der Neuen Welt zum Beispiel bei Keegan 1992a:160).
Hier wie auch im karibischen Raum eilten die Krankheitserreger den europäischen
Invasoren voraus, so dass einheimische Gesellschaften nicht mehr oder nur noch
sehr geschwächt die Verursacher zu Gesicht bekamen. Wie gravierend der Tod durch
Epidemien war, zeigt, dass 1518 nahezu die Hälfte der bis dahin verbliebenen Taino-
Bevölkerung den Pocken zum Opfer fiel (Rouse/Arrom 1991:512 f; obwohl nicht
erwähnt, scheint hier Hispaniola angesprochen zu sein; bei Keegan 1992b:5 wird das
Jahr 1517 mit Bezug auf Hispaniola und den Tod aller Taino bis auf 16.000 Indianer
genannt). Auf Puerto Rico wurde 1527 ein Drittel der indianischen Restbevölkerung
durch diese Krankheit ausgelöscht (Alegría, in Wilson 1997:14 f). Dabei sollen Po-
ckenerreger vor 1517 auf den Antillen, speziell Hispaniola. keine Rolle gespielt ha-
ben (Keegan 1992a:161, 1992b;5). Für die Bevölkerung der westindischen Region
insgesamt hatte die Versklavung zusätzlich verheerende Bedeutung, denn durch die
Schwerarbeit in den spanischen Goldminen waren die männlichen Eingeborenen
körperlich meist bereits so ausgezehrt, dass Krankheiten leichtes Spiel hatten.
Versklavung;
Im Mittelpunkt steht hierbei das in den Jahren um 1500 und erstmals auf Hispaniola
eingeführte, auf Christoph Kolumbus zurückgehende, so genannte System der „en-
comienda“ (Walker 1992:293,299,307; Kolumbus hatte an Stelle des anfangs ausblei-
benden Goldreichtums den Sklavenhandel angeregt, s. zum Beispiel Keegan
1992a:219 f; Paz et al. 2000:42; Roder 2000:52; einer der bekanntesten späteren Händ-
ler mit indianischen Sklaven war Amerigo Vespucci, der als Erster Lucayo ver-
sklavte). Diese „encomienda“, was im Spanischen eigentlich „Auftrag“, erweitert
„Schutzauftrag“ bedeutet, war von Beginn an ein irreführender Begriff, mit dem sug-
geriert werden sollte, dass die Kolonisten die Ureinwohner unter ihren Schutz neh-
men sollten. Realiter war die „encomienda“ das Mittel zur Versklavung der Auto-
chthonen, auch wenn vielleicht anfangs noch andere Vorstellungen mitspielten. Es ist
Folgendes darunter zu verstehen: Ab 1503 wurden Gruppen von 50 bis 300 Taino als
Arbeitskräfte, die „indios de servicio“, per Gesetz auf die Plantagen der spanischen
Kolonisten, die diese im Zuge der so genannten „repartimiento“ von der spanischen
Krone zugesprochen bekommen hatten, verteilt und unter die Oberaufsicht eines
indianischen Notablen, etwa eines Sub-Kaziken, gestellt (Keegan 1997a:79). Letzte-
res sollte dazu beitragen, die einheimische Bevölkerung schnell zu christianisieren
und zu assimilieren, das heißt in diesem Fall zu Untergebenen und gleichzeitig Die-
nern der spanischen Kolonisten zu machen. Auch Vertreter der Kirche erhielten in
diesem System ihre Sklaven (Gutiérrez 1990:30, Fußn. 10; zur Verbindung von Kir-
che und Krone bei der „encomienda“ s. zum Beispiel Rudigier 1992:55 f, auch Walker
a.a.O.;306; zum zeitgeistigen Hintergrund vgl. Elliott 1992:46 f, zum soziologischen
beispielsweise König 1962/58:103). Kurz vorher oder zeitlich zusammenhängend wa-
ren die Ureinwohner zu Untertanen der spanischen Krone erklärt worden. Zunächst
war, wie gesagt, nur Hispaniola von diesen Maßnahmen betroffen. Bereits auf dieser
Insel ging die Bevölkerung infolge der „encomienda“ rapide zurück (Alegría, in Wil-
son 1997:14). Zwischen 1508 und 1512 folgten nacheinander Puerto Rico, Jamaika
185
TRIBUS 54,2005
und Kuba (Alegría ebenda: 14; vgl. auch Paz et al. 2000:39 und Las Casas in Enzens-
berger 1966:19,34) mit den gleichen Folgen für die dortigen Indianer wie auf Hispa-
niola.
Doch ging die Versklavung der karibischen Urbevölkerung nicht nur mit der „enco-
mienda“ einher. Ab 3.5.1509 waren laut königlicher Order (durch Ferdinand II.) in-
dianische Sklaven bei staatlichen Unternehmen einzusetzen (Keegan 1992a:220;
ders. 1997:97). Insbesondere auf Hispaniola wurden indianische Sklaven zur Arbeit
in den Goldminen verwendet, wo sie rücksichtslos bis zum Tod und Selbstmord aus-
gebeutet wurden (Enzensberger 1966:20 f, 26, 30 f). Als die Arbeitskräfte auf der
genannten Insel rapide dahinschwanden, wurden gegen Ende des 15. und vor allem
im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts regelrechte Sklavenjagden auf die Taino und
ihre ethnischen Untergruppen auf allen Inseln, ebenfalls - wie gesagt - den Baha-
mas, unternommen (Morison 1942:240; Gutiérrez 1990:53; Walker 1992:310; Keegan
1997:96 ff; Martyr 1973:180). Zwischen 1502 und 1520 wurden rund 40.000 Lucayo
versklavt (Keegan 1992a:203, ders. nennt in 1992b:5 für diese Zahl das Jahr 1509).
Diese Zahl ist zu niedrig angesetzt, denn in 1997:97 f berichtet dieser Autor über
Sklavenjagdexpeditionen zwischen 1508 und 1512 zu den Bahamas (s. auch Martyr
1973:173) mit einer Ausbeute von sogar 60.000 indianischen Sklaven. Allein diese
Zahl hätte die autochthone Bevölkerung der nördlichen Inselwelt ausgelöscht (vgl.
unsere obige vorsichtige Bevölkerungsangabe und die Aussage von Ponce de León
weiter unten). 1510 lieferte der Archipel 25.760 Lucayo-Sklaven.zunächst zur Arbeit
in den Goldminen Hispaniolas, später zur Perlenfischerei an den Küsten Venezuelas,
insbesondere auf Cubagua und der etwas nördlich davon gelegenen Margarita (Kee-
gan 1997a:98; Department of Archives 1992:37). Sogar nach Panama und Peru wur-
den indianische Sklaven aus den Großen Antillen exportiert (Enzensberger 1966:37).
Nachdem die Autochthonen als exzellente Taucher bekannt geworden waren, stie-
gen die Preise je indianischem Sklaven für die erwähnte Perlenfischerei von anfangs
4 Goldpesos auf 100 bis 150 (Keegan 1992a:221). Um 1520 brachte die Sklavenjagd
auf den Bahamas keinen Erfolg mehr. Sklavenjäger wandten sich ab jetzt Florida zu
(Keegan 1997a:98; Martyr 1973:180 f; zu den verheerenden Folgen dort vgl. auch
Saunt 2004:128 ff). Ähnlich verlief die Sklavenjagd in anderen Regionen der Karibik.
Als Hispaniola und Puerto Rico verwaist waren, wurden Indianersklaven von Trini-
dad auf diese Inseln gebracht (Enzensberger 1966:80).
Schon seltsam, zumindest aber weit hergeholt, mutet an, dass Keegan mit einer völlig
unbewiesenen Behauptung versucht, das Schicksal, das die Lucayo unter der spa-
nischen Herrschaft erleiden mussten, zu relativieren. Die Siedlungen, die Taino aus
Hispaniola ab Mitte des 13. Jahrhunderts auf den Turks und Caicos (wie oben er-
wähnt, südlich der Bahamas; gehören jedoch nicht zu diesen) sowie Great Inagua
errichteten, sollen angeblich der Beginn und Ausgangspunkt für ein Tributsystem
gewesen sein, in das die Genannten die Lucayo zwingen wollten. Dabei wird unter-
schwellig ausgesagt, dass die Bahamas-lndianer sowieso ein ähnliches Schicksal er-
litten hätten, wären nun die Spanier gekommen oder nicht (1997a.:95).
Im Hinblick auf die indirekte Ausrottung der Autochthonen auf Hispaniola sind ins-
besondere zwei spanische Gouverneure zu nennen: Francisco de Bobadilla und Ni-
colás de Ovando (Gutiérrez a.a.O.;27,62, Fußn. 56; Keegan 1992a: 160).
Plünderungen und Hungersnöte;
Bereits an anderer Stelle wurde erwähnt, dass die spanische Soldateska auf ihren
Plünderungszügen nicht nur an Gold allein interessiert war, sondern die Indianer
auch ihrer Nahrungsvorräte beraubte. Die Folge waren Hungersnöte, insbesondere
auf Hispaniola wie 1495/96 (Keegan 1992a: 160), mit teilweise erzwungenem Kanni-
balismus (Las Casas in Enzensberger 1966:10 f, 26,35; Albury nach Martyr 1975:35)
sowie totaler Verarmung und Tod (Martyr 1973:182). Neben Tributzahlungen an
Gold, dadurch Vernachlässigung der Felder, spielten auch erzwungene Nahrungsmit-
telabgaben an die Spanier eine Rolle für die Unterversorgung der Taino (Keegan
a.a.O.:160 am Beispiel des Kazikazgos Xarangua auf Hispaniola bis in 1502 hinein).
186
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Noch schwerwiegender für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung war al-
lerdings die bereits erwähnte Zwangsarbeit in den Goldminen (ebenda:14,30).
Kriege:
Immer wieder versuchten indianische Führer, sich mit Waffengewalt gegen das Sy-
stem der Versklavung und Unterdrückung aufzulehnen, was jedoch wegen der mili-
tärischen Unterlegenheit der Autochthonen jedes Mal in direkten Ausrottungskam-
pagnen durch die Spanier endete (Alegría, in Wilson 1997:14).
5.3. Das Ende
Zwischen 1492 und 1540 ging die Taino-Bevölkerung laut Keegan von einer Million
auf einige Hundert zurück (1992a:2). Nach meinen Recherchen und vorsichtigen
Zahlenangaben müssen jedoch bei der ersten Kontaktaufnahme 1492 auf den Groß-
en Antillen und den Bahamas zusammen 2.960.000, das heißt rund drei Millionen
Menschen gelebt haben und nicht eine Million, wie Keegan angibt, dem ich bei mei-
nen Überlegungen meist gefolgt bin. Für Hispaniola haben wir den zahlenmäßigen
Niedergang der Urbevölkerung vorliegen, so zum Beispiel in Albury (1975:34; s. auch
beispielsweise Henriques 1974:12), der für diese Insel allerdings nur ein Minimum
von 300.000 Menschen in 1492 zugrunde legt: Sechs Jahr später - 1498- waren es nur
noch 20 Prozent (60.000),gut sechzig Jahre später -1550-gerade noch 0,017 Prozent
(500) und nach rund einem Jahrhundert war die Ausrottung der Urbevölkerung auf
Hispaniola vollzogen. Auf der bevölkerungsreichsten Insel Westindiens gab es keine
Indianer mehr.
Für die Gesamtheit der Großen Antillen schreibt Alegría (in Wilson 1997:12), dass
die Autochthonen 1510 fast alle ausgerottet waren, was zu diesem Zeitpunkt so nicht
stimmen kann. Doch 1542 war der Holocaust nahezu vollzogen (ebenda: 11), 1550
war er endgültig (Aarons 1991:24). Ähnlich verlief das Ende für die Lucayo, nur
schneller. Im Jahr 1520 waren alle Bahamas-Indianer ausgerottet oder versklavt
(Keegan 1992a:203,222), an anderer Stelle nennt dieser Autor 1513 als Jahr des Lu-
cayo-Endes (ebenda:223), was mit seiner Bemerkung übereinstimmt, dass Ponce de
León auf seiner Fahrt nach St. Augustine, Florida, beim Durchsegeln der Bahamas
am 2.4.1513 nur noch ein paar alte Leute antraf (ders. 1997:99).
Das Verschwinden der Taino und ihrer Kultur ist nicht wegzudiskutieren. Das be-
zieht sich ebenso auf den linguistischen Bereich. Die Sprache der Taino starb inner-
halb von hundert Jahren aus (Highfield, in Wilson 1997:154), nachdem Christoph
Kolumbus seinen Fuß auf indianisches Land gesetzt hatte. Auch das Kreolische, das
auf europäischen (Französisch, Spanisch, Portugiesisch) und afrikanischen Sprachen
mit etwas Pidgin-Galibi fußt, enthält keine Reste des Arawak der Taino (Cooper, in
Wilson 1997:189). Natürlich existieren noch Idiome des Aruak in Südamerika, auch
Wörter der Taino sind bekannt, worauf an anderer Stelle bereits eingegangen wurde.
Was uns Heutigen bleibt, sind die Vielfalt der indianischen Nutzpflanzen, ohne die
unser Leben überhaupt nicht vorstellbar ist und an deren Kultivierung die westin-
dischen Ureinwohner großen Anteil hatten, wie auch die materiellen Hinterlassen-
schaften, das materielle Substrat der karibischen Indianerkulturen, gleichermaßen
die Forschungsergebnisse der Archäologie und Ethnologie einschließlich verwand-
ter Wissenschaftszweige.
187
TRIBUS 54,2005
Zitierte Literatur
Im Hinblick auf die Platzverhältnisse in TRIBUS kann hier lediglich die zitierte Lite-
ratur veröffentlicht werden. Eine ausführliche Literaturzusammenstellung zum The-
ma kann auf Wunsch kostenlos vom Autor bezogen werden.
Aarons, George A.
1990 The Life and Times of the Lucayans-The First Bahamians. Hrsg. v. Depart-
ment of Archives, Ministry of Education, Commonwealth of the Bahamas.
Nassau, Bahamas.
1991 Reconstructing a Canaye - An Exercise in Experimental Archaeology. In:
Journal of the Bahamas Historical Society Vol. 13, Nr.l. Nassau. Bahamas.
1992 The Settlement of the Bahamas between 1492 and 1648 - Fact or Fiction. In:
Journal of the Bahamas Historical Society Vol. 14, Nr. 1. Nassau, Bahamas.
Albury, Paul
1975 The Story of The Bahamas. London.
Alegría, Ricardo E.
1997 An Introduction to Taino Culture and History. In: Bercht, F. / E. Brodsky et
al, New York, NY.
Allaire, Louis
1985 The Archaeology of the Caribbean. In: The World Atlas of Archaeology.
Boston, MA.
1997 In: Wilson, Samuel M. (Hg.),The Lesser Antilles before Columbus. S. 20-28;
außerdem The Caribs of the Lesser Antilles, S. 177-185. Gainesville, FL.
Amerika 1492 -1992
1992 Neue Welten - Neue Wirklichkeiten. 2 Bde. Hg.: Ibero-Amerikanisches In-
stitut Preußischer Kulturbesitz und Museum für Völkerkunde; Staatliche
Museen zu Berlin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Braunschweig - Ber-
lin.
Arrom, José Juan
1974 Fray Ramón Pané - Relación acerca de antigüedades de los indios - El
primer tratado escrito en América. (8. Auflage 1988.) Mexiko-Stadt.
1997 The Creation Myths of the Taino. In: Bercht, F. / E. Brodsky et al., New
York, NY.
Baer, Gerhard / Hammacher, Susanne / Seiler-Baldinger, Annemarie (Hg.)
1992 Die Neue Welt 1492-1992 - Indianer zwischen Unterdrückung und Wider-
stand. Basel - Boston - Berlin.
Baer, Gerhard
1992 Wo die Invasion begann - die Antillen, ln: Baer et al. (Hg.), Basel - Boston
- Berlin.
Bahamas Archaeological Team
1982/3 Archaeology in the Bahamas - The Bahamas Historical Society. Nassau,
Bahamas.
Benzoni, M. Girolamo
1857 History of the New World. (Originallitel; La historia del mundo novo, Ve-
nedig 1565, übersetzt von W. H. Smyth, mehrere Auflagen.) Hakluyt Society
Works, Nr. 21. London.
Bercht, Fatima / Brodsky, Estrellita et al.
1997 Taino - Pre-Columbian Art & Culture from the Caribbean. El Museo del
Barrio, New York, NY.
Bitterli, Urs (und Hg.)
1976 Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“ - Die europäisch-überseeische Be-
gegnung. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-
überseeischen Begegnung. München.
1991 Die Entdeckung Amerikas - Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt.
München.
188
Axel Schulze-Thulin; Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Böndel, Dirk
1992 Transatlantische Schiffahrt, ln: Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue
Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Bosch-Gimpera, Pedro
1975 Das Neolithikum Amerikas. In: Handbuch der Urgeschichte, 2. Band - Jün-
gere Steinzeit und Steinkupferzeit, Früher Bodenbau- und Viehzuchtkul-
turen, hrsg. v. Karl J. Narr. Bern - München.
Brinkbäumer, Klaus / Höges, Clemens
2004 Die letzte Reise - Der Fall Christoph Columbus. (3. Auflage.) München.
Budinoff, Linda
1987 An Osteological Analysis of the Human Burials Recovered from an Early
Ceramiic Site on the North Coast of Puerto Rico. Paper presented at the
Twelfth International Congress for Caribbean Archaeology. Cayenne,
Franz. Guiana.
Carlson, John B.
2002 Botschaft der Götter - Amerikas frühe Sterndeuter. In: National Geogra-
phie Deutschland, November. Hamburg.
Coe, M. D. (Hg.)
1998 Amerika vor Kolumbus. Augsburg.
Coin Cuenca, Luis M.
1992 Auf den Spuren von Kolumbus und Pinzón - Nautische Aspekte der Ent-
deckung Amerikas. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirklich-
keiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Collier, John
1963 Indians of the Americas - The Long Hope (10. Auflage). New York, NY.
Colón, Ferdinand
1984 Historia del Almirante, hrsg. v. Luis Schneider, übers, von Alfonso Ulloa.
Madrid.
Bei Abschluss des Literaturverzeichnisses war nach zahlreichen vorangegangenen
Meldungen endgültig für den Herbst 2005 eine deutsche Neuerscheinung des Buches
von Ferdinand Kolumbus angekündigt worden.
Conklin, Beth A.
2001 Consuming Grief - Compassionate Cannibalism in an Amazonian Society.
Austin, TX.
Cooper, Vincent O.
1997 Language and Gender among the Kalinago of Fifteenth-century St. Croix.
In: Wilson, Samuel M. (Hg.), S. 186-196. Gainesville, FL. u.a.
Cosculluela, J. A.
1946 Prehistoric Cultures of Cuba. In: American Antiquity Vol.12, S. 10-18. Me-
nasha. Wise.
Cracknell, Basil
1974 Die letzten Karaiben auf Dominica. In; Bild der Völker - Die Brockhaus-
Völkerkunde, Bd. 3: Westindien und die Inseln des Atlantischen Ozeans -
Die Arktis. Wiesbaden.
Davis. David D. / R. Christopher Goodwin
1990 Island Carib Origins - Evidence and Nonevidence. In: American Antiquity
Vol. 55,37-49. Washington, DC.
Department of Archives - Ministry of Education (Hg.)
1992 Lucayans, Columbus and the Encounter 1492. Archives Exhibition - An
Official Quincentennial Event. Nassau, Bahamas.
Ekholm, Gordon F. / Willey, Gordon R. (Hg.)
1966 Archaeological Frontiers and External Connections. Austin, TX.
Elliott, John Huxtable
1992 Die Neue in der Alten Welt - Folgen einer Eroberung 1492-1650. (Original
1970.) Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Berlin.
189
TRIBUS 54,2005
Enzensberger, Hans Magnus (Hg.)
1966 Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder. Von
Bartolomé de Las Casas. (Originaltitel: Brevísima relación de la destruc-
ción de las indias occidentales, übersetzt von D. W. Andrea. Erstmals über-
setzt 1790, Berlin; eine neuere Übersetzung ist 1981 in Frankfurt/M. erschie-
nen.) Frankfurt/M.
Ette, Ottmar
1992 „Unser Welteroberer“; Alexander von Humboldt, der zweite Entdecker
und die zweite Eroberung Amerikas. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten
- Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays.. Braunschweig.
Fewkes, Jesse Walter
1907 The Aborigines of Porto Rico and Neighboring Islands. In: 25th Annual
Report of the Bureau of American Ethnology. Washington, DC.
1922 A Prehistoric Island Culture Area of America. In: 34th Annual Report of
the Bureau of American Ethnology. Washington, DC.
Fischer, Manuela
1992 Amerika aus der Sicht des Sammlers: Die Sammlungen südamerikanischer
Archäologica des Museums für Völkerkunde Berlin. In: Amerika 1492-
1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Fuson, Robert H.
1989 Das Logbuch des Christoph Kolumbus - Die authentischen Aufzeich-
nungen des großen Entdeckers. Aus dem Englischen (Original 1987) von
Andreas Venzke. Bergisch-Gladbach.
1992 The Log of Christopher Columbus. Überarbeitete Ausgabe von 1987.
Camden, MA.
Gerace, Donald T. (Hg.)
1987 Proceedings of The First San Salvador Conference on Columbus and his
World. CCFL Bahamian Field Station. Fort Lauderdale, FL.
Gerbi, Antonello
1986 Nature in the New World - From Christopher Columbus to Gonzalo Fern-
ández de Oviedo. Englische Übersetzung von Jeremy Moyle. Pittsburgh,
PA.
Gewecke, Frauke
1981 Nachwort zu Christoph Kolumbus Bordbuch. Frankfurt/M.
1984 Die Karibik - Zur Geschichte. Politik und Kultur einer Region. Frankfurt/M..
1986 Wie die neue Welt in die alte kam. (Auch als dtv-Taschenbuch 1991.) Stutt-
gart.
1992 Von „guten Wilden“ und „nacketen grimmigen menschenfresser leuthen“
- das Bild des Amerikaners als Fiktion, ln: Amerika 1492-1992. Neue
Welten - Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Giustiniani, Agostino bzw. Augustinus Justinianus (Hg.)
1516 Psalterium Hebraeum. Graecum, Arabicum et Chaldaicum cum tribus Lat-
inis interpretationibus et glossis. Genua.
Granberry, Julian
1955 Survey of Bahamian Archeology. Master’s Paper. University of Florida.
Gainesville, FL.
1991 Lucayan Toponyms. In: Journal of the Bahamas Historica! Society Vol. 13,
Nr.l. Nassau, Bahamas.
Grün, Robert (Hg. und Bearb.)
1983 Christoph Columbus - Das Bordbuch. Leben und Fahrten des Entdeckers
der Neuen Welt in Dokumenten und Aufzeichnungen 1492. Stuttgart -
Wien.
Gründer, Horst
2003 Eine Geschichte der europäischen Expansion - Von Entdeckern und Ero-
berern zum Kolonialismus. Originalausgabe: Brockhaus, Leipzig - Mann-
heim. Stuttgart.
190
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Gutiérrez, Gustavo
1990 Gott oder das Gold - Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas.
Freiburg u.a.
Haas, Susanne
1992 Indianische Altertümer aus Westindien im Museum für Völkerkunde. In:
Baer et al. (Hg.), Basel - Boston - Berlin.
Haberland, Wolfgang
1975 Das gaben sie uns - Indianer und Eskimo als Erfinder und Entdecker. Weg-
weiser zur Völkerkunde, H. 17. Hamburgisches Museum für Völkerkunde,
Hamburg.
Haensell. Fritz
1955 Probleme der Vor-Völker-Forschung - Grundzüge einer ethnologischen
Urgeschichte. Frankfurt/M.-Wien.
Hartmann. Günther
1990 Rezension von Mowat, Linda (1989). In: TRIBUS 39, S. 248 f. Linden-Mu-
seum Stuttgart.
Helbig. Jörg (Hg.)
1994 Brasilianische Reise 1817-1820 - Carl Friedrich Philipp von Martius zum
200. Geburtstag. München.
Henriques, Fernando
1974 Die Menschen der karibischen Region. In: Bild der Völker - Die Brock-
haus-Völkerkunde, Bd. 3: Westindien und die Inseln des Atlantischen Oze-
ans. Die Arktis. Wiesbaden.
Heydenreich, Titus (Hg.)
1992 Columbus zwischen zwei Welten - Historische und literarische Wertungen
aus fünf Jahrhunderten. Frankfurt/M.
Highfield, Arnold R.
1997 Some Observations on the Taino Language. In: Wilson, Samuel M. (Hg.), S.
154-168. Gainesville, FL. u. a.
Hilgers, Robert
1992 Agostino Giustiniani und die früheste Biographie des Kolumbus. In: Ame-
rika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braun-
schweig.
Hostos, Adolfo de
1948 The Ethnography of Puerto Rico. In: Rouse 1948(c), S. 540 ff. Washington,
DC.
Humboldt, Alexander von
1978 Kosmos. Hrsg. v. Hanno Beck. Stuttgart.
1990 Die Reise nach Südamerika - Vom Orinoko zum Amazonas. Nach der
Übersetzung der Bände XXVIII-XXX des 34 Bände umfassenden Hum-
boldt-Werkes „Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent“
(1808-1834) durch Hermann Hauff (1859/1860). Bearb. u. hrsg. v. Jürgen
Starbatty. Göttingen.
Irving, Washington
1828 A History of the Life and Voyages of Christopher Columbus. 3 Bde. New
York, NY.
Jane, Cecil (Hg.)
1930 The Voyages of Christopher Columbus, being the Journals of his First and
Third, and the Letters concerning his First and Last Voyages, to which is
now added the Account of his Second Voyage written by Andrés Bernáldez.
London.
Judge, Joseph / Stanfield, James L.
1986 Tire Island of Landfall. In: National Geographic Vol. 170, Nr. 5, S. 568-599.
Washington, DC.
Kagan, Richard L.
1991 Tire Spain of Ferdinand and Isabella. In: Levenson. Jay A. (Hg.), S. 55-61.
New Haven, CT - London - Washington, DC.
191
TRIBUS 54,2005
Keegan, William F.
1984 Columbus and the City of Gold. In: Journal of the Bahamas Historical So-
ciety Vol. 6, Nr. 1. Nassau, Bahamas.
1992a The People Who Discovered Columbus - The Prehistory of the Bahamas.
Gainesville, FL.
1992b “Columbus Murdered a Continent” - Present, Past, and Future Conse-
quences. In: Journal of the Bahamas Historical Society Vol. 14, Nr. 1. Nas-
sau, Bahamas.
1997a Bahamian Archaeology - Life in the Bahamas and Turks and Caicos before
Columbus. Nassau, Bahamas.
1997b “No Man [or Woman] Is an Island” - Elements of Taino Social Organiza-
tion. In; Wilson, Samuel M. (Hg.), S. 109-117. Gainesville, FL. u. a.
Keegan, William F. / Kelly, Jr., James E.
1991 All the Ships in Christendom. In: Journal of the Bahamas Historical Society
Vol. 13. Nr. 1. Nassau, Bahamas.
Kelly, James E., Jr.
1987 The Navigation of Columbus on his First Voyage to America. In: Proceed-
ings of the First San Salvador Conference “Columbus and his World”, hrsg.
v. Donald T. Gerace, S. 121-140. Fort Lauderdale, FL.
Klingelhöfer, Hans
1972/73 s. hierzu unter Martyr von Anghiera 1972/73.
Knefelkamp, Ulrich
1992 Entdeckungen im Atlantik vor 1492. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten
- Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Kohl, Karl-Heinz
1993 Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung.
München.
König, René (Hg.)
1962/58 Soziologie. Frankfurt/M.
Konstam. Angus
2000 Atlas der großen Entdeckungsfahrten. Augsburg.
Kozlowski. Janusz K.
1974 Preceramic Cultures in the Caribbean. Zeszyty Naukowe - Uniwersytetu
Jagiellonskiego, Prace Archeologiczne, Zeszyt 20. Warschau - Krakau.
Krum, Werner
1985 Florida mit Bahamas, Puerto Rico und Jungferninseln. München.
Kurella, Doris
1993 Handel und soziale Organisation im vorspanischen nördlichen Andenraum.
Mundus Reihe Alt-Amerikanistik, Bd. 9. Bonn.
Lehmann-Nitsche, R.
1929 s. Staden, Hans.
Leroi-Gourhan, André
1988 Hand und Wort - Die Evolution von Technik. Sprache und Kunst. Titel der
Originalausgabe: La geste et la parole, Paris 1964/65. Aus dem Franzöischen
von M. Bischoff. Frankfurt/M.
Levenson, Jay A. (Hg.)
1991 Circa 1492 - Art in the Age of Exploration. New Haven, CT - London -
Washington, DC.
Lévi-Strauss, Claude
1972 Rasse und Geschichte. Frankfurt/M.
Löschner, Renate
1992 Alexander von Humboldt als Initiator eines künstlerisch-wissenschaft-
lichen Amerikabildes. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirk-
lichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Lovén,Sven
1924 Über die Wurzeln der Tainischen Kultur. Teil 1: Materielle Kultur. Göte-
borg, Schweden.
1935 Origins of the Tainan Culture, West Indies. Göteburg, Schweden.
192
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Madariaga, Salvador de
1966 Kolumbus - Entdecker neuer Welten. (1. Auflage 1936.) Berlin - München
-Wien.
Martyr von Anghiera, Peter
1972 Acht Dekaden über die Neue Welt. Übersetzt, eingeführt und mit Anmer-
kungen versehen von Hans Klingelhöfer. 1. Bd.: Dekade I-IV. Darm-
stadt.
1973 Wie 1972.2. Bd.: Dekade V-VIII, Gesamtregister und Bibliographie. Darm-
stadt. (Siehe hierzu auch Arber, Edward [Hg.]: The First Three English
Books on America. Mit: „The Decades of the New World“ von Peter Mar-
tyr, 1555. London 1895.)
Meggers, Betty J.
1979 Prehistoric America - An Ecological Perspective. (1. Auflage 1972.) New
York, NY.
Meggers, Betty J. / Evans, Jr., Clifford
1983/78 Lowland South America and the Antilles. In; Ancient South Americans,
hrsg. v. Jesse D. Jennings, S. 287-335. San Francisco, CA.
Molander, Arne
1982 The Search for San Salvador. In: Journal of the Bahamas Historical Society
Vol. 4, Nr. 1, S. 3-8. Nassau, Bahamas.
Morison, Samuel Eliot
1942 Admiral of the Ocean Sea - A Life of Christopher Columbus. Oxford.
Mowat, Linda
1989 Cassava and Chicha - Bread and Beer of the Amazonian Indians. Shire
Ethnography Nr. 11. Aylesbury.
Müller, Wolfgang
1984 Die Indianer Lateinamerikas - Ein ethnostatistischer Überblick. Berlin.
Nau, Emile
1855 Histoire des caciques d'Haïti - Suivie d'un appendice sur la géographie
primitive d'Haïti, sur la langue des aborigènes et d'une flore indienne. (2.
Auflage Paris 1894.) Port-au-Prince, Haiti.
Nöstlinger, Ernst
1997/91 Den Osten im Westen suchen - Die Lebensgeschichte des Christoph Ko-
lumbus. Weinheim - Basel.
Olazagasti, Ignacio
1997 The Material Culture of the Taino Indians. In: Wilson. Samuel M. (Hg.). S.
131-139. Gainesville, FL. u. a.
Oliver, José R.
1997 The Taino Cosmos. In: Wilson, Samuel M. (Hg.), S. 140-153. Gainesville, FL.
u. a.
Osgood, Cornelius
1942 The Ciboney Culture of Cayo Redondo, Cuba. Yale University Publications
in Anthropology, Nr. 25. New Haven, CT.
Patterson, Jack
2002 Native Trees of the Bahamas. (1.Auflage 1977.) Nassau, Bahamas.
Paz, Octavio et al.
2000 Ritual Arts of the New World - Pre-Columbian America. Mailand - Genf.
Petersen, James B.
1997 Taino, Island Carib, and Prehistoric Amerindian Economies in the West In-
dies -Tropical Forest Adaptations to Island Enrironments. In: Wilson, Sam-
uel M. (Hg.), S. 118-130. Gainesville, FL. u. a.
Pietschmann, Horst
1992 Conquista - die Entstehung des kolonialen Iberoamerika. In: Amerika
1492-1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braun-
schweig.
193
TRIBUS 54,2005
Pinck, Axel
1996 Bahamas. Köln.
Pleticha, Heinrich
1987 Christoph Kolumbus - Der Beginn der Neuzeit. Gütersloh.
Pörtner, Rudolf / Davies, Nigel (Hg.)
1980 Alte Kulturen der Neuen Welt - Neue Erkenntnisse der Archäologie. Düs-
seldorf -Wien.
Pryor, Frederic L.
1986 The Adoption of Agriculture - Some Theoretical and Empirical Evidence.
In: American Anthropologist 88 (4). Washington, D.C.
Righter, Elizabeth
1997 The Ceramics, Art. and Material Culture of the Early Ceramic Period in the
Caribbean Islands. In: Wilson, Samuel M. (Hg.), S. 70-79. Gainesville, FL.
Roder, Hartmut (Hg.)
2000 Piraten - die Herren der Sieben Meere. Katalogbuch zur gleichnamigen
Ausstellung des Übersee-Museums und des Museums für Hamburgische
Geschichte. Bremen.
Rodriguez, Miguel
1997 Religious Beliefs of the Saladoid People. In: Wilson, Samuel M. (Hg.), S.
80-87. Gainesville, FL. u. a.
Roe, Peter
1982 The Cosmic Zygote - Cosmology in the Amazon Basin. New Bunswick,
NJ.
Roget, Henry Petitjean
1997 Notes on Ancient Caribbean Art and Mythology. In: Wilson, Samuel M.
(Hg.), S. 100-108. Gainesville, FL. u. a.
Rouse, Irving B.
1948 The Cicum-Caribbean Tribes. In: Steward, Julian H. (Hg.), Handbook of
South American Indians. Bulletin 143, Vol. 4. Washington, DC.
1948(a) The West Indies. In: wie 1948. S. 495 f.
1948(b) The Ciboney. In: wie 1948. S. 497 ff.
1948(c) The Arawak. In: wie 1948. S. 507 ff.
1948(d) The Carib. In: wie 1948. S. 547 ff.
1966 Mesoamerica and the Eastern Caribbean Area. In; Gordon F. Ekholm /
Gordon R. Willey (Hg.), Austin, TX.
Rouse, Irving B / Arrom, José Juan
1991 The Tainos: Principal Inhabitants of Columbus’ Indies. In: Levenson, Jay A.
(Hg.), S. 509-513. New Haven, CT - London - Washington, DC.
Rudigier, Beate
1992 Das “Heilige Experiment” - der Gott der Weißen. Über die Christianisie-
rung der Neuen Welt. In; Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirk-
lichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Sahlins, Marshall D.
1981 Kultur und praktische Vernunft. Übersetzt von Brigitte Luchesi, hrsg. v.
Dieter Henrich und Niklas Luhmann. Frankfurt/M.
Sauer, Carl O.
1966 The Early Spanish Main. Berkeley, CA.
Saunders, D. Gail
1983 Bahamian Loyalists and their Slaves. London - Basingstoke.
Saunt, Claudio
2004 History Until 1776. In: Handbook of North American Indians, hrsg. v. Wil-
liam C. Sturtevant. Vol. 14: Southeast, spez. Hg. Raymond D. Fogelson. S.
128-138. Smithsonian Institution. Washington, DC.
Schlenker, H. / Andrée, D. / Zerries, O.
1974 Makiritare (Venezuela. Orinoco-Quellgebiet) - Brandrodung, Feldarbeit
und Ernte. In: Encyclopaedia Cinematographica, hrsg. v. G. Wolf. Institut
für den wissenschaftlichen Film. Göttingen.
194
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Schliessler, Martin
1984 Auf verwehten Spuren - Amerika wird entdeckt. Frankfurt/M.
Schmidel, Ulrich
o.J. Wahrhaftige Historie einer wunderbaren Schiffahrt, welche Ulrich Schmidel
von Straubing von 1534 bis 1554 in America oder Neuwelt bei Brasilia oder
Rio della Plata getan. (1. Auflage 1567 bei Sigmund Feyerabend, Frankfurt/
M.;ein Nachdruck von 1602 erschien u.a. 1962 in Graz.) München.
Schmidt, Max
1917 Die Aruaken - ein Beitrag zum Problem der Kulturverbreitung. Leipzig.
Schulze-Thulin, Axel
1973 Intertribaler Wirtschaftsverkehr und kulturökonomische Entwicklung. In:
Studia Ethnologica, Bd. 6. Meisenheim am Glan.
1995 Indianer der Urzeit - Die Clovis-Periode in Nordamerika. München.
Seiler-Baldinger. Annemarie
1992 500 Jahre Kulturimport aus der Neuen Welt, ln: Baer et al. (Hg.), Basel -
Boston - Berlin.
Severin, Timothy
1977 The Voyage of ..Brendan“. In; National Geographie Vol. 152, Nr. 6, S. 769 ff.
Washington, DC.
Smith, Curtis G.
1963 Ancestral Voices - Language and the Evolution of Human Consciousness.
Frontiers of Science. Englewood Cliffs, NJ.
Staden, Hans
1929 Die wahrhaftige Historia und Beschreibung einer Landschaft der wilden
nacketen grimmigen Menschenfresserleuten in der Neuen Welt Amerika
gelegen. Marburg. (1. Auflage 1557.) Bearbeitet von R. Lehmann-Nitsche
als “Ein deutscher Landsknecht in der Neuen Welt”. Leipzig.
Stevens-Arroyo, Antonio M.
1988 Cave of the Jaguar - The Mythological World of the Tainos. Albuquerque,
NM.
Steward, Julian H.
1948 The Circum-Caribbean Tribes - An Introduction; In; Handbook of South
American Indians. Bulletin 143, Vol. 4. BAE. Smithsonian Institution, hrsg.
v. Steward, Julian H. Washington, DC.
Stöhr. Waldemar
1972 Lexikon der Völker und Kulturen. Bd. 1-3. Braunschweig - Hamburg.
Stone, Doris
1966 Synthesis of Lower Central American Ethnohislory. In: Ekholm, Gordon F.
/ Gordon R. Willey (Hg.), Austin,TX..
Sturtevant, William C. (für Handbook Hg.)
1960 The Significance of Ethnological Similarities between Southeastern North
America and the Antilles. In: Yale University Publications in Anthropology
64. (Nachdruck 1970.) New Haven. CT.
2004 Handbook of North American Indians, Vol. 14: Southeast, spez. Hg. Ray-
mond D. Fogelson. Smithsonian Institution. Washington, DC.
Taviani, Paolo Emilio
1989 Das wunderbare Abenteuer des Christoph Kolumbus. (Engl. Übers.: Co-
lumbus-The Great Adventure - His Life, His Times, and His Voyages, New
York, NY 1991; ital. Originaltilel: La meravigliosa adventura di Christoforo
Colombo, 1989; entsprechend der deutsche Titel.) Berlin - Leipzig.
Taylor, Dicey
1997 The Art of the Taino. ln: Bercht, F. / E. Brodsky et al., New York, NY.
Taylor, Davis / B. J. Hoff
1980 The Linguistic Inventory of the Island Carib in the Seventeenth Century :
The Men's Language - A Carib Pidgin? In: International Journal of Ameri-
can Linguistics 46; 301-321. Chicago, Ill.
195
TRIBUS 54,2005
Tippenhauer, L. Gentil
1893 Die Insel Haiti. Leipzig.
Valdes, Pedro García
1948 The Ethnography of the Ciboney. In: Steward, Julian H. (Hg.),The Hand-
book of South American Indians, Vol. 4, Bulletin 143. Washington, DC.
Viola. Herman J. / Margolis Carolyn
1991 Seeds of Change - A Quincentennial Commemoration. Washington - Lon-
don.
Vorsey, Louis de Jr. / Parker, John (Hg.)
1985 In the Wake of Columbus - Islands and Controversy. Detroit, MI.
Walker, D. J. R.
1992 Columbus and the Golden World of the Island Arawaks. Kingston, Jamai-
ka.
Wallisch. Robert
2002 Der Mundus Novas des Amerigo Vespucci. Text, Übersetzung und Kom-
mentar. Wien.
Watters, David R.
1997 Maritime Trade in the Prehistoric Eastern Caribbean. In; Wilson, Samuel
M. (Hg.), S. 88-99. Gainesville, FL. u. a.
Willey, Gordon R.
1974 Kunst der Randgebiete. In: Willey, Gordon R., Das Alte Amerika. Propylä-
en Kunstgeschichte Bd. 18. Berlin.
Wilson, Samuel M. (Hg.)
1997 The Indigenous People of the Caribbean. Gainesville, FL.
Wolff, Hans
1992 America - Das frühe Bild der Neuen Welt. Ausstellungsbuch der Baye-
rischen Staatsbibliothek München.
Wolters, Bruno
1996 Agave bis Zaubernuß - Heilpflanzen der Indianer Nord- und Mittelameri-
kas. Greifenberg.
Zerries, Otto
1969 Entstehung oder Erwerb der Kulturpflanzen und Beginn des Bodenbaues
im Mythos der Indianer Südamerikas. Hermann Baumann zum 65. Ge-
burtstag. In; Paideuma, Bd. XV. Stuttgart.
1977 Die Bedeutung des Federschmuckes des südamerikanischen Schamanen
und dessen Beziehung zur Vogelwelt. In: Paideuma. Bd. XXIII. Stuttgart.
Zögner, Lothar
1992 Überseeische Expansion und europäisches Weltbild - die Neue Welt in der
deutschen Kartographie. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue
Wirklichkeiten. Bd. Essays. Braunschweig.
Bedanken möchte ich mich bei
Amerika-Haus München, in dessen Bibliothek ich so manche Stunden mit der
Durchsicht der dortigen Bestände verbringen durfte.
Dr. Peter Bolz für wertvolle Hinweise auf die Karibik-Sammlung im Berliner Ethno-
logischen Museum.
Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart, für die gelungenen Fotografien der dor-
tigen Westindien-Sammlung.
Angelika Fischer, bei der ich in diverse Literatur Einblick nehmen konnte und die
mir mit manchen handwerklich-fachlichen Ausdrücken behilflich war.
Dr. Maria Gaida für Fotos aus der Karibik-Sammlung im Berliner Ethnologischen
Museum.
Gabriele Giehl. die mir beistand. mich im Internet zurechtzufinden und mir damit zu
wichtigen Publikationen verhalf.
196
Axel Schulze-Thulin: Ethnologische Grundlagenerforschung der Indianer
Antonia Gursch für Hinweise auf mir nicht geläufige Bekleidungsbegriffe.
Dr. Jörg Helbig, Institut für Völkerkunde und Afrikanistik, München, für wertvolle
Literaturhinweise.
Peter Jung für Reiseinformationen.
Karin und Theo Kehr für Literaturtipps sowie ihr dauerhaftes Interesse am Fortgang
meiner Arbeit.
Marlene Köhler für wertvolle Publikationshinweise und Leihgaben von Karibik-Bü-
chern.
Dipl.-Ethn. Rolf Krusche, Museum für Völkerkunde zu Leipzig, für seine Hilfe mit
Literaturhinweisen und Objektfotos.
Dr. Horst Künne, TU München-Weihenstephan, für wertvolle Hinweise auf pflan-
zenkundliche Bücher.
Dr. Doris Kurella, Linden-Museum Stuttgart, für ihren Nachweis der neu in das Mu-
seum gelangten Westindien-Sammlung „Hermann Dünkel“ und ihr Einverständnis,
die Objekte für den vorliegenden Artikel fotografieren zu lassen.
Linden-Museum Stuttgart, das mir sowohl in der Bibliothek (Günter Darcis) als
auch im Sekretariat (Ursula Knöpfle, Rosemarie Thomaschewski) als ehemaligem
Museumsreferenten freundliches Gastrecht gewährte.
Prof. Dr. Thomas Michel, Direktor des Linden-Museums Stuttgart, der die Veröffent-
lichung des vorliegenden Artikels in der Museumszeitschrift TRIBUS gestattete.
Petra Müller (geb. Schulze-Thulin) für die Überlassung allgemeiner Literatur zur
Durchsicht.
Dr. Wolfgang Paul, begleitender Lektor während der Atlantiküberquerung auf dem
Fünfmaster „Royal Clipper“ im Oktober 2001, der mir manche Frage zur Nautik
beantwortete und mir wertvolle Literaturtipps gab.
Axel Pinck für Auskünfte über die Bahamas.
Nigel Sadler (Turks and Caicos National Museum) für seine freundliche Unterstüt-
zung bei meinen ersten Schritten auf der Suche nach den verlorenen Stämmen der
Taino.
Dr. D. Gail Saunders und ihren Mitarbeiterinnen im Department of Archives, Mini-
stry of Education, Nassau, Bahamas, für die umfassende Hilfe bei der Durchsicht von
Literatur über die Lucayo.
Dr. Helmut Schindler vom Staatlichen Museum für Völkerkunde München, der mich
ermunterte, diesen Artikel zu schreiben.
Dr. Britta Schulze-Thulin für den ersten Schritt „mit Kolumbus“ im Internet und
linguistische Hinweise.
Hanni Schulze-Thulin, die mir mit etlichen Übersetzungen aus dem Spanischen und
Portugiesischen behilflich war und das „Summary“ ins Spanische übersetzte..
Summary
This is the first part of a paper mainly dealing with the material substance of the
Caribbean Taino and Calino cultures around 1500 AD with plenty of information
based on research conclusions in historical, ethnological, archaeological, sociological
and economic sciences. Primarily there is the native Caribbean in contrast with the
European world, i.e. the Spanish with the Genuese Christopher Columbus in the
center and his conquering successors ending in the first American holocaust. When
archaeological results in Caribbean diggings cannot be helpful getting insight in cul-
tural background anymore, ethnological analogies in South American especially
Amazonian and Guinean recent tribal life must bring support. After years of serious
research all this and beyond with new insights and some revisions of preceding eth-
nohistorical accounts is realized by the author who is a museum’s ethnologist with
archaeological knowledge and a doctor’s degree in social and economic sciences.
With its comprehensive informations this article will be one first step to the new
German ethnoarchaeological Caribbean studies.
197
TRIBUS 54,2005
Resumen
Esta es la primera parte del papel tratando la sustancia matérial de las culturas cari-
be Taino y Calino alrededor de 1500 AD se basa en conclusiones de investigaciones
en las sciencias histórica, etnología, archaeología, sociología y economía. En primer
lugar hay el indígena caribe en contraposición al mundo europeo que quiere decir al
mundo español con el genovés Christóbal Colón en el centro y sus sucesores conqui-
stadores acabando en el primer holocausto americano. Si los resultados archaeológi-
cos de excavaciones en el Caribe ya no pueden ayudar a informarse sobre la base
cultural, analogías etnológicas en América del Sur, especialmente de la vida actual de
los tribus en la Amazonia y Guinea pueden ofrecer ayuda. Después de muchos años
de investigaciones esto es realizado por el autor que es etnólogo de un museo y tiene
conocimientos archaeológicos y además el doctorado en las sciencias sociales y
económicas. Ofrece nuevas ideas y algunas revisiones de declaraciones etnohistóri-
cos precedentes. Con su información comprensiva este artículo es el primer paso a
los nuevos estudios etno-archaeológicos caribeños.
Author’s address:
Dr. Axel Schulze-Thulin, Franz-Liszt-Str. 3, D-85391 Allershausen / Germany
E-Mail: schu-thu@t-online.de
198
ANKE SPOTTER
Der Bildjournalist und Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik
Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten zur Eröffnung der Ausstellung „Mit
anderen Augen, Südsee-Fotografien von Hugo A. Bernatzik, 1932/33“ im Linden-
Museum Stuttgart am 23.2.2005.
In dem Vorwort zu seinem Buch „Südsee“, das 1934 gedruckt wird, umreißt der Fo-
tograf und Ethnologe Hugo A. Bernatzik das Ziel seiner Publikation und damit auch
das seiner Reise. In dem Vorwort heißt es:
„Mein Buch möchte dem Leser unbekannte Fernen nahe bringen. Die Schilderung
der Eingeborenen und ihrer Sitten sind das Ergebnis eigener, gewissenhafter Beo-
bachtung, die Photos sind naturgetreue Dokumente aussterbenden Volkstums. (...)
Am schwersten trifft (...) wohl der Anblick vernichteter, herrlicher Volkskulturen,
deren Zusammenbruch bis heute die unweigerliche Folge des Eindringens der Zi-
vilisation ist. Möge die Zukunft Wege finden, um Kultur durch Zivilisation zu er-
halten, statt sie zu zerstören. “l
Aus diesem Zitat lassen sich bereits wichtige Hinweise ableiten. Bernatzik versteht
sich in erster Linie als ein Ethnologe, der sich gegen die Zerstörung der fremden
Kulturen durch die so genannte Zivilisation stellt. Die sich hierin ausdrückende ne-
gative Sichtweise auf die seit dem 19. Jahrhundert verfolgte Politik des Kolonialis-
mus und auf die hiermit parallel gehende frühe Ethnografie und Ethnologie relati-
viert sich jedoch durch die Formulierung, dass die fremden Kulturen durch die Zivi-
lisation zu erhalten seien. Die Wahrung der Ursprünglichkeit durch die schützende
Haltung der so genannten zivilisierten Welt trägt in sich bereits die Vorherrschaft
ebendieser.
Die Fotografie dient dem zitierten Vorwort zufolge als Instrument der naturgetreuen
Dokumentation aussterbenden Volkstums und der visuellen Aufzeichnung der Beo-
bachtungen des Ethnologen. Letzteres stellt der Verfasser in seinem über ein Jahr-
zehnt später herausgegebenen Beitrag „Methode der Kolonialethnographischen
Forschung, Photographie als dokumentarischer Beweis“ in „Afrika; Handbuch der
angewandten Völkerkunde“ in seinem objektiven Aussagewert über die schriftlich
fixierten Beschreibungen fremder Kulturen.1 2
Doch nutzt Bernatzik die Aufnahmen, die er 1932/33 auf seiner Reise durch die Süd-
see anfertigt, nicht allein als Dokumente für ein ethnologisches Bildarchiv. Sie die-
nen ihm vielmehr zur Illustration eigener Veröffentlichungen. Das Zielpublikum,
das er mit seinen Publikationen erreichen möchte, ist breit gestreut. Bernatzik inte-
griert die Lichtbilder zum einen in seine wissenschaftlichen Publikationen „Über die
Ursache des Aussterbens der Melanesier auf den britischen Salomoninseln“, 19353,
und „Owa Raha“, 1936.4 Zum anderen lässt er die Aufnahmen aber auch in dem
populärwissenschaftlichen Buch der „Südsee“ abdrucken5 und verwendet sie für
1 Hugo A. Bernatzik, Vorwort, in: Südsee, Leipzig 1934, S. 5.
2 Hugo A. Bernatzik, Methode der Kolonialethnographischen Forschung, Photographie als
dokumentarischer Beweis, in: Hugo A. Bernatzik, Afrika. Handbuch der angewandten Völker-
kunde. München 1951, S. 31-35. Hier findet sich auch eine genaue Beschreibung der Funktion
und der Vorteile von Fotografie als Instrument der visuellen Aufzeichnung.
3 Hugo A. Bernatzik, Über die Ursache des Aussterbens der Melanesier auf den britischen
Salomoninseln, in: Zeitschrift für Rassenkunde und ihre Nachbargebiete. 1935, Bd. 1. S. 240-
250.
4 Hugo A. Bernatzik, Owa Raha, Wien/Leipzig/Olten 1936.
5 Vgl. Fußnote 1.
199
TRIBUS 54,2005
bildjournalistische Reisebereichte, die 1934 in mehreren Folgen in der Berliner Illus-
trirten Zeitung erscheinen.6 Derart steht die Fotografie Bernatziks in einem Span-
nungsfeld von wissenschaftlicher Dokumentation und populärwissenschaftlicher
sowie bildjournalistischer Arbeit.
Die Veröffentlichung der Fotografien dient ihm nicht allein zur Verbreitung seiner
getätigten Beobachtungen, sondern auch als Finanzierungsquelle der Reisen. Hierzu
äußert sich der Lichtbildner in seinem 1951 erscheinenden Beitrag „Methode der
Kolonialethnographischen Forschung, Photographie als dokumentarischer Beweis“
folgendermaßen:
„ Eine angenehme Beigabe guter ethnographischer Photos ist auch die Möglichkeit
ihrer kommerziellen Verwertung. Die Photographien erm öglichen auf diese Weise
dem Völkerkundler, sein Forschungskapital zu vermehren. “7
Gerade die publizistisch ein großes Publikum erreichenden Tätigkeiten als Fotograf
und Reiseberichterstatter gehen rein biografisch gesehen Bernatziks Veröffentli-
chungen als Ethnologe voraus.8 9 So ist anzunehmen, dass die Ausgestaltung seiner
Fotografien stark von der Ästhetik der populärwissenschaftlichen Reiseberichter-
stattung beeinflusst wird. Die Sehgewohnheiten des Zielpublikums sind dabei zuerst
von der sich langsam ab den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts durchsetzenden
Fotografie der illustrierten Presse bestimmt, bis sich ab der zweiten Hälfte der 20er
Jahre des 20. Jahrhunderts der Bildjournalismus herausbildet. In seinem Umkreis
entstehen Fotoreportagen über fremde Völker, die in den 20er und 30er Jahren zu
einem viel bedienten Themenkanon der illustrierten Presse gehören.4
Ziel der Pressefotografie ist es, die Ereignisse möglichst authentisch abzulichten.
Durch das Bild soll der Betrachter indirekt an den Ort des Geschehens geführt wer-
den und an diesem visuell teilnehmen können. Die Aufnahmen sollen möglichst aus
dem Geschehen heraus aufgenommen werden, d.h. nicht für die Kamera nachge-
stellt bzw. im nachhinein inszeniert werden.10 11
In den Artikeln, die in den Illustrierten in bezug auf fremde Kulturen erscheinen,
wird der Alltag der fremden Völker beschrieben. Anders als im 19. Jahrhundert und
kurz nach dem Ersten Weltkrieg steht dabei in den Artikeln, die im Umkreis des
Bildjournalismus der 20er und 30er Jahre entstehen, nicht mehr das dem Leser im
Vergleich zu seiner eigenen Kultur exotisch Erscheinende im Vordergrund von Be-
richt und Bild. Vielmehr finden sich immer wieder, wie in dem zitierten Vorwort zu
dem Buch „Südsee“, Warnungen vor dem Verlust der fremden Kulturen durch den
Einfluss der westlichen Zivilisation.11 Somit sind Bernatziks schriftliche Äußerun-
gen und bildlichen Arbeiten eingebettet in ihren zeitlichen Kontext zu verstehen.
Dem entspricht, dass Bernatzik Abstand von der im 19. Jahrhundert verfolgten bild-
nerischen Ausgestaltung nimmt. Weder finden sich bei ihm Lichtbilder der so ge-
nannten physischen Anthropologie wieder, die mittels eines in die Fotografie inte-
grierten Maßstabes die Vermessung der äußeren Merkmale der Menschen ermögli-
chen soll, noch im Studio inszenierte Aufnahmen, die in ihrem Arrangement nicht
der Realität entsprechen, oder aber Arbeiten, die Porträts von Würdeträgern frem-
6 Vgl. hierzu Peter Mesenhöller, Kulturen zwischen Paradies und Hölle, S. 350-379, in: Der
geraubte Schatten, Die Photographie als ethnologisches Dokument, hrsg. von Thomas Theye,
Ausst.-Kat. Münchener Stadtmuseum; Haus der Kulturen der Welt, Berlin, München 1989, S.
374.
7 Hugo A. Bernatzik, München 1951, S. 32f.
s Doris Byer, Der Fall Hugo A. Bernatzik, Ein Lehen zwischen Ethnologie und Öffentlichkeit,
1897-1953, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 29f. verdeutlicht, dass erste mit Fotografien und Berich-
ten begleitete Reisen ab 1924 erfolgen. Erst 1930 schreibt sich Bernatzik an der Philosophi-
schen Fakultät der Universität Wien für Völkerkunde bei Wilhelm Küpper ein. Hier wird er
1932 promoviert, ebd. S. 104.
9 Thomas Theye, Einführung, S. 32, in: München 1989,8.6-59.
10 Vgl. u. a. Beaumont Newhall, Geschichte der Fotografie, München 1998, S. 268f.
11 Theye, in: München 1989, S. 41.
200
Anke Spötter: Der Bildjournalist und Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik
der Völker in starren Posen zeigen. Und auch die um die Jahrhundertwende aufkom-
menden Abbildungen, die die Begegnung einer europäischen Kultur mit einer au-
ßereuropäischen zeigen und dabei deutlich das angestrebte Machtverhältnis der eu-
ropäischen Kultur dokumentieren, entsprechen nicht seinen fotografischen Arbei-
ten.12
In deren Betrachtung ist so der Frage nachzugehen, wie sich der Kultur bewahrende
und zugleich um Dokumentation bestrebte Blick des Ethnologen auf die fremde
Kultur sowie dessen Nähe zum Bildjournalismus auf die Ästhetik seiner Lichtbilder
auswirken. In der Betrachtung seiner Aufnahmen fällt auf, dass der Fotograf immer
wiederkehrende Prinzipien der Gestaltung nutzt, die besonders deutlich im Bereich
der Porträtfotografie hervortreten. Der zu Porträtierende wird jeweils in die Mittel-
achse des Bildes eingestellt. Dabei geht der Lichtbildner relativ nah an den zu Foto-
grafierenden heran und nimmt diesen aus einer leichten Untersicht heraus auf. Der-
art wird der fotografierte Mensch weder zum edlen Wilden stilisiert noch zu einem
dem Fotografen untergeordneten oder gar vom Fotografen verobjektivierten Men-
schen. Bernatzik fertigt Außenaufnahmen bei Tageslicht13 an und nimmt den Porträ-
tierten in seiner natürlichen Umgebung auf. Die Fotografien zeigen zumeist eine
relativ geringe Bandbreite an Grautonwerten. Nur selten heben einzelne Schlaglich-
ter die Plastizität des Körpers hervor und setzen sich kontrastierend von tiefen
schwarzen Schatten ab. Auffällig ist zudem, dass der Fotograf den Porträtierten im-
mer fokussiert in den Bildvordergrund einstellt. Der Bildhintergrund bleibt unscharf.
Bei einem großen Teil seiner Aufnahmen reduziert er den Bildausschnitt nicht auf
die Physiognomie des Abgebildeten, sondern nimmt zudem dessen Körperhaltung
mit in die Fotografie auf. Anders als in den Aufnahmen der typologischen Anthropo-
logie und den inszenierten Porträts, die sich in den Fotostudios des 19. Jahrhunderts
etablieren, zeigt der Porträtierte keine starr eingenommene Pose. Die Haltung
12 Thomas Theye, „Wir wollen nicht glauben, sondern schauen“, Zur Geschichte der ethnogra-
phischen Fotografie im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert, in: München 1989, S. 60-
119.
13 Es ist nicht bekannt, dass Bernatzik zusätzlich Lichtquellen nutzt. Allein bei Innenraumauf-
nahmen ist vermerkt, wenn er zum Blitzlicht greift. Vgl. hierzu Doris Byer, Die Rückkehr des
geraubten Schattens, S. 146, in: München 1989, S. 142-163.
14 Bernatzik 1951, S. 33f.
201
TRIBUS 54,2005
scheint von den Porträtierten selbst gesucht und im Sinne des Bildjournalismus aus
einem Augenblick entsprungen zu sein.
Aus den Quellen, die zu den fotografischen Arbeiten Bernatziks zu finden sind, geht
jedoch hervor, dass dieser nicht all seine Lichtbilder im Sinne des Bildjournalismus
aus einer momentanen Handlung heraus aufnimmt. Ein Teil seiner Fotografien ist
gestellt. Dies widerspricht auf den ersten Blick nicht nur den Maximen des Bildjour-
nalismus, sondern auch den Ansprüchen, die Bernatzik ein gutes Jahrzehnt später
selbst in bezug auf die Fotografie äußert.
So bezieht er in dem Beitrag „Methode der kolonialethnographischen Forschung,
Photographie als dokumentarischer Beweis“ Position für ungestellte Lichtbilder, mit
denen er den Begriff der Dokumentation verbindet. Gleichzeitig weist er jedoch dar-
auf hin. dass gestellte Aufnahmen aufgrund der Vorgefundenen Bedingungen nicht
immer zu umgehen sind. Doch ist die gestellte Fotografie nur dann zu akzeptieren,
wenn das Nachstellen nicht zur Verfälschung führt und wenn der Betrachter darauf
verwiesen wird, dass es sich um ein gestelltes Lichtbild handelt. Wichtig ist dabei der
das Bild begleitende Text, der Aufschluss darüber gibt, in welcher Situation die Auf-
nahme entstanden ist.
,, Oft hört man in Laienkreisen die als vernichtend gemeinte Kritik, daß eine ethno-
graphische Photographie gestellt sei. Ein richtiges ,Stellen' ist aber für den For-
scher oft nicht nur kein Vorwurf er wird sogar manchmal im wissenschaftlichen
Interesse zu einem ,Stellen'geradezu gezwungen sein. Was soll er tun, wenn er ein
Handwerk oder einen Arbeitsvorgang photographieren will, der Ort der Begeben-
heit eine Aufnahme aber nicht zuläßt? (...) Entscheidend bei der,Stellung' ist aller-
dings, daß diese nicht zu einer Verfälschung führt. (...) Im übrigen ist es selbstver-
ständlich, daß auch richtig gestellte Aufnahmen nur einen Notbehelf darstellen, die
ungestellte dokumentarische Photographie immer vorzuziehen ist. Auf jeden Fall
sollte aber im Begleittext zu derartigen Aufnahmen immer die Entstehungsge-
schichte beschrieben werden. “14
Abh. 2: Zwei Mädchen
demonstrieren einen
Tanz, Gupuna, Owa
Riki.
14 Bernatzik 1951, S. 33f.
202
Anke Spötter: Der Bildjournalist und Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik
Welcher Art die Begebenheiten sein können, weswegen eine Fotografie nachgestellt
werden muss, führt Bernatzik nicht weiter aus. Es bleibt offen, ob er sich auf techni-
sche Bedingungen der Fotografie, bildgestalterische Aspekte oder aber interkultu-
relle Unterschiede im Umgang mit der Kamera bezieht.
Letztere kommen im Fall der Aufnahmen zum Inseltanz der Frauen auf Owa Riki,
kakuya, 1933, zum Tragen. Durch mündliche Überlieferung einer der beiden auf dem
Bild zu sehenden Frauen ist bekannt15, dass Bernatzik vor der Aufnahme des Tanzes
einen Würdenträger des Dorfes fragt, ob er die Tanzenden aufnehmen dürfe. Erst
hiernach fotografiert er den zuvor spontan miterlebten Tanz, den die Frauen für das
Objektiv der Kamera wiederholen. Den Frauen ist so vor der Aufnahme bewusst,
dass sie fotografiert werden, und sie inszenieren sich im Tanz für die Kamera.
Dieser bewusste Umgang mit der Kamera ist eine Besonderheit im Bereich der eth-
nologischen Fotografie. Gerade im 19. Jahrhundert und auch noch zu der Zeit
Bernatziks sind Lichtbilder zu finden, die die Skeptik der Aufgenommenen dem Me-
dium der Fotografie gegenüber widerspiegeln. Dieses Moment versucht Bernatzik
bewusst zu umgehen, indem er die Aufmerksamkeit der Aufzunehmenden vom Vor-
gang des Fotografierens ablenkt.16 Bei den Südsee-Fotografien, die er auf den Salo-
moninseln anfertigt, wählt er dabei den Weg der langsamen Heranführung an das
Medium der Kamera.17 Bevor er es wirklich nutzt, macht er sich möglichst mit den
Aufzunehmenden bekannt und nimmt sich die Zeit, die Technik den Menschen zu
erklären, die er später fotografiert. Er gewöhnt sie an den für sie fremden Mechanis-
mus, nimmt Ängste, um so einen natürlichen Umgang mit der Kamera zu erreichen.
So finden sich bei ihm kaum Lichtbilder, die die Unsicherheit der Porträtierten wi-
derspiegeln, wohl aber Fotografien, die zeigen, dass sich die Menschen im Moment
des Fotografierens der Aufnahme bewusst sind.
Dies tritt in den Hintergrund, wenn Bernatzik Bildserien anfertigt, die den Men-
schen in einer Handlung konzentriert zeigen. Die Bildästhetik dieser Aufnahmen
entspricht dabei der seiner Porträtfotografie. Exemplarisch sei auf die Sequenz einer
Schildkrötenjagd verwiesen, die nicht nur in dem Buch „Südsee“18 19, sondern auch in
Form einer Bildreportage 1934 in der Berliner Illustrirten Zeitung veröffentlicht
wird.'1' Gerade die Reihung dieser auf eine Handlung bezogenen Lichtbilder ver-
deutlicht, warum Loke und Nordstrom die optische Wirkung der Arbeiten des Foto-
grafen mit dem Begriff „cinematic“ umschreiben, wobei Loke zudem auf Bernatziks
kurzzeitig um 1927 gemachte Erfahrungen mit Filmaufnahmen verweist.20 Die Ent-
sprechung in der Wahrnehmung von Bildreportage zu Film ist jedoch nicht allein auf
die bildjournalistischen Arbeiten Bernatziks zu beschränken. Die Bildreportage ent-
wickelt sich zeitlich analog zum Film, dessen rasche Verbreitung sich laut Saure auf
die Sehgewohnheiten des Lesers von Illustrierten auswirkt. Das zuvor in der Presse
genutzte Einzelbild wird im Bereich der inhaltlich in sich abgeschlossenen Reporta-
ge durch eine Serie von Aufnahmen ersetzt, wobei die Sequenz eine autonome Funk-
15 Doris Byer, Die große Insel: südpazifische Lehensgeschichten, autobiographische Berichte aus
dem südöstlichen Salomon-Archipel seit 1914, Wien 1996, S. 321.
16 Bernatzik 1951, S. 34. Hier werden die Methoden im Einzelnen beschrieben.
17 Doris Byer, Fremde Frauen, Photographien des Ethnographen HugoA. Bernatzik, Wien 1985,
S. 23.
18 Bernatzik 1934, Abb. 35-41.
19 Hugo A. Bernatzik, Schildkrötenjagd in der Südsee, in: Berliner Illustrirte Zeitung, 43/1934,
Nr. 9, S. 268f.
20 Margaret Loke, Hugo A. Bernatzik: While the Light Lives, in: Bernatzik, Africa, hrsg. von
Kevin Conru, Mailand 2003. S. 10 und S. 16, sowie Alison Devine Nordstrom, Of Art and Eth-
nography: Photographs of Southeast Asia by Hugo Adolf Bernatzik. in: Bernatzik-Southeast
Asia, hrsg. von Kevin Conru, Mailand 2003. S. 43.
203
TRIBUS 54,2005
tion gegenüber dem Text erhält. Anders als die einzelne Abbildung kann sie visuell
unabhängig vom Text in ihrem inhaltlichen Verlauf erfasst werden.21
Wird dem Bildjournalismus im Werk Bernatziks weiter nachgegangen, fällt bei Be-
trachtung der Originalabzüge seiner Fotografien auf, dass dieser sowohl im Bereich
des Porträts wie in dem der gruppen- und handlungsorientierten Aufnahmen zu ei-
ner verstärkten Positivretusche greift. Dabei nutzt er sowohl die Schaberetusche, um
dunkle Partien aufzuhellen, als auch - und das weitaus häufiger - die Retusche per
Abb. 3 et und b: Zwei Männer springen über Bord. Makira (3 a = retuschiertes Foto,
3 b = Retusche).
21 Vgl. Gabriel Saure, Eine neue Künstlergilde? Serielle Bildformen in der illustrierten Presse
1925 bis 1944, in: Photo-Sequenzen, Reportagen, Bildgeschichten, Serien aus dem Ullstein Bilder-
dienst von 1925-1944, Ausst.-Kat. Haus am Waldsee, Berlin, Berlin 1993, S. 19.
204
Anke Spötter: Der Bildjournalist und Ethnologe Hugo Adolf Bernatzik
Farbauftrag.22 Bernatzik arbeitet also die Fotografien noch nach der eigentlichen
Aufnahme aus, gestaltet sie. Die Retusche dient ihm dabei der Kontrastverstärkung
seiner Fotografien und der Betonung von Konturen23, die sonst bei der zumeist ge-
ringen Grautonvalenz der Aufnahmen zu flau wären. Dass der Fotograf dabei die
Positivretusche wählt, erklärt sich aus der weiteren Verwendung seiner Aufnahmen.
Er nutzt sie zur Illustration seiner Veröffentlichungen in Presse und Buch. Nach der
Drucklegung ist dabei die Retusche nicht mehr sichtbar. In der Art der Nachbearbei-
tung der Fotografien weist sich Bernatzik als Bildjournalist aus. So ist das Original
nicht zur Präsentation in der Öffentlichkeit bestimmt, eine später auf dem Positiv
nicht mehr sichtbare Negativretusche wäre aufwendiger und zeitintensiver.
Auch die Tatsache, dass Bernatzik seine Originalfotografien im nachhinein für die
Veröffentlichung im Ausschnitt beschneidet und damit Eingriffe in den Bildaufbau
vornimmt, entspricht der Arbeit eines Bildjournalisten. Deutlich wird dies im Ver-
gleich der Originalaufnahmen zu den abgedruckten Bildern der in der Berliner Illus-
trirten Zeitung herausgebrachten Bildreportage zur Schildkrötenjagd.24 25 Wie im
Bildjournalismus üblich, bringt Bernatzik zudem Markierungen auf den Originalfo-
tografien an, mit denen er den Bildausschnitl der zu veröffentlichenden Aufnahme
angibt.2:1
Trotz der bewussten Ausgestaltung seiner Bilder, die möglichst authentisch und
handlungsbezogen sein sollen, distanziert sich der Fotograf also im Gegensatz zum
künstlerisch orientierten Lichtbildner von dem Begriff der nicht mehr zu verfäl-
schenden Originalaufnahme. So verweisen nicht nur die fotografische Auffassung
Bernatziks, sondern auch sein Umgang mit den Originalabzügen auf seinen vor der
Ethnologie ausgeübten Beruf: den des Bildjournalisten. Eben das Hauptmoment des
Bildjournalismus, möglichst authentische Abbilder der Realität zu schaffen, ohne
dabei die Gestaltung der Fotografie zu vernachlässigen, verbindet er dann als Ethno-
loge mit der Forderung nach möglichst naturgetreuen Dokumenten fremder Kultu-
ren.
Alle Abbildungen © Kevin Conru.
22 Vgl. Abb. 3 b in diesem Aufsatz: Bernatzik führt großflächige Retuschen auf der Fläche des
Wassers durch. Er nutzt erst die Schaberetusche und überdeckt danach die frei gelegten Flä-
chen mit einem Farbauftrag, der dem Grauionwert des Meeres nahe kommt. Was der Fotograf
auf dem Lichtbild mittels der Schaberetusche wegnimmt, ist nicht mehr rekonstruierbar, da das
entsprechende Negativ zur Aufnahme nicht mehr vorhanden ist.
23 Vgl. Abb. 3 b in diesem Aufsatz: Durch flächendeckende Farbretusche des Flimmels kommt
es zur linearen Abgrenzung von Firmament zu Gebirge. Ebenfalls durch Farbretusche hebt sich
das Profil des rechts im Boot sitzenden Mannes linear vom Hintergrund ab.
24 Vgl. Abb. 36 (Abb. 3 a), in: Bernatzik 1934 zu der Abb. Auf S. 268, oben links, in: Berliner Il-
lus trirte Zeitung 1934.
25 Byer 1999, Abb. 55 (gezeigt ist die Seite aus einem von Bernatzik angelegten Fotoalbum mit
Kontaktkopien von der Reise zu dem Volk der Phi Tong Luang, 1936). und Nordstrom, in: Con-
ru 2003, S. 48.
205
Buchbesprechungen Allgemein
Johnson, Christopher:
Claude Lévi-Strauss - The Formative Years.
Cambridge: University Press, 2003.208 Seiten.
ISBN 0-521-01667-3
Claude Lévi-Strauss prägte wie kaum ein anderer die
Ethnologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und
steht deshalb zu Recht noch immer ganz oben auf den
Lehrplänen der Universitäten. Keine bedeutende theore-
tische Richtung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eta-
blierte, konnte sich der Strahlkraft seines Werks entzie-
hen. Lévi-Strauss gilt als Begründer und bedeutendster
Vertreter des französischen Strukturalismus. Bei aller be-
rechtigten Kritik an seinen Prämissen, seinem Vorgehen
und seinen Schlussfolgerungen gelang es Lévi-Strauss mit
seinem Versuch, die Ethnologie mittels linguistischer Me-
thoden auf ein solides Fundament zu stellen, nicht nur im
eigenen Fach, sondern weit über dieses hinaus, nachhalti-
ge Wirkung zu entfalten.
So verwundert es nicht, wenn heute auch außerhalb der
Ethnologie noch intensiv über ihn nachgedacht und ge-
schrieben wird. Christopher Johnson. Französisch-Profes-
sor an der University of Nottingham, der sich bisher in
seinen Arbeiten über Jacques Derrida einem poststruktu-
ralistischen Nachfolger, um nicht zu sagen Überwinder
Lévi-Strauss’, widmete, geht in „Claude Lévi-Strauss -
The Formative Years“ zurück an die Wurzeln des Den-
kens und Wirkens von Lévi-Strauss. Es geht Johnson nicht
darum, der Diskussion über den Strukturalismus ein wei-
teres Kapitel hinzuzufügen. Vielmehr will er die frühe
Schaffensphase Lévi-Strauss’ von den vierziger bis in die
frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in der dieser
seine theoretischen Konzepte entwickelte und formulier-
te, anhand ausgewählter Schlüsseltexte untersuchen und
dabei aufzeigen, wie damit einhergehend der Einfluss von
Lévi-Strauss auf die gesamte französische Ethnologie
wuchs, wie er ihr Programm zu bestimmen begann. Gleich-
zeitig ergibt seine Analyse, dass das Lebenswerk Lévi-
Strauss’ von einem hohen Maß an Kohärenz geprägt ist:
Kohärenz bezüglich seines Vorgehens und seiner Zielset-
zung, sowie Kohärenz bezüglich seiner Persönlichkeit.
Johnson zeigt im ersten Kapitel seines Buches, dass Lévi-
Strauss es mit der Bestimmung des Standorts der Ethno-
logie in Frankreich, die er in der „Strukturalen Anthropo-
logie“ 1958 vornahm, schaffte, diese in den Mittelpunkt
der Humanwissenschaften und vor allem aus dem Schat-
ten der nach dem Zweiten Weltkrieg noch stark von Durk-
heim geprägten Soziologie zu rücken. Bereits die Tatsa-
che, sich für die Bezeichnung Anthropologie statt
Ethnologie zu entscheiden, zeigte den Neuanfang an. Als
allgemeine Kullurtheorie steht die Strukturale Anthropo-
logie im Gegensatz zur damals in Frankreich vorherr-
schenden, empirisch orientierten Ethnologie auf einem
fest gefügten theoretischen Fundament, das sich an der
Linguistik orientiert.
Wie groß die Bedeutung der durkheimschen Soziologie,
von der sich Lévi-Strauss deutlich abgrenzte, für seine ei-
gene Theorieentwicklung dennoch war, zeigt Johnson im
zweiten Kapitel. Vor allem die von Mauss ausgearbeitete
Tauschtheorie in „Die Gabe“ stellt für Lévi-Strauss einen
Anknüpfungspunkt dar. Der Tausch wird als Form der
Kommunikation erkannt und unter dieser Kategorie ge-
fasst. Daraus entwickelt Lévi-Strauss seine Theorie der
Reziprozität, die grundlegend sowohl für seine Verwandt-
schaftsethnologie als auch seine Religionsethnologie
wird.
Den Weg, den Lévi-Strauss dabei beschritt, zeigt Johnson
im folgenden Kapitel ausführlich auf. Dabei macht er
deutlich, wie die in den 50er Jahren aufkommende Kyber-
netik in der Gedankenwelt von Lévi-Strauss ihren Nie-
derschlag gefunden hat und sein linguistisches Modell er-
weiterte.
Im vierten Kapitel geht Johnson nun auf die eigentliche
Zielsetzung der grundlegenden Arbeiten von Lévi-Strauss
ein. An erster Stelle steht die Offenlegung anthropologi-
scher Konstanten, die letztlich erst objektive Aussagen in
den Humanwissenschaften ermöglichen. Nicht die prakti-
sche Anwendbarkeit anthropologischer Forschungser-
gebnisse ist das eigentliche Ziel seiner Arbeit. Diesen Be-
reich überlässt er den „science sociale“, vor allem der
Soziologie. Objektive Aussagen, die unabhängig von den
Zielen des jeweiligen Forschers, von seiner Persönlichkeit
und seiner historischen Situation sein sollen, machen erst
den eigentlichen Wert der Strukturalen Anthropologie
aus.
Interessant ist die folgende Argumentation Johnsons, der,
nachdem er die Theorieentwicklung Lévi-Strauss’ aus-
führlich geschildert hat, auf den autobiografischen Teil
des Werkes zu sprechen kommt. Wenn Lévi-Strauss einer-
seits immer wieder den objektiven Charakter seiner Er-
kenntnisse und der von ihm entwickelten Methode be-
tont. verknüpft sich dadurch seine eigene Person immer
weiter mit diesen. Wie in kaum einer anderen theoreti-
schen Richtung der modernen Ethnologie finden wir des-
halb auch heute noch diese gegenseitige Abhängigkeit
von Werk und Schöpfer, von Slrukturaler Anthropologie
und Claude Lévi-Strauss.
Was Johnson mit der vorliegenden Arbeit schafft, ist es,
diese enge Verknüpfung aufzuzeigen und mittels einge-
hender Textanalyse zu begründen. Er zeigt das systemati-
sche Vorgehen Lévi-Strauss’ in vielen Facetten auf, zeigt,
wie dieser seine Theorie Stück für Stück auf- und ausbaut
und dabei sein Ziel, die Anthropologie als Leitwissen-
schaft zu etablieren, nicht aus den Augen verliert. Neben
den „wissenschaftlichen“ Texten kommt dabei den viel-
fältigen autobiografischen Äußerungen Lévi-Strauss’
große Bedeutung zu. Auch die Verweise auf biografische
Zusammenhänge sind sehr wertvoll. Wie schnell wird
doch vergessen, wenn man über Lévi-Strauss als Vertreter
einer „typisch“ französischen Theorierichtung spricht,
dass er sich seine ethnografischen Kenntnisse als Autodi-
dakt während seines Aufenthalts in New York aneignete
und dass er seine ersten Aufsätze fast durchgehend auf
Englisch verfasste und sie erst später ins Französische
übersetzte.
Insgesamt also eine lohnende Lektüre, die vor allem Stu-
denten, aber auch alle anderen an Lévi-Strauss interes-
sierten Leser wertvolle Einsichten über die frühe Schaf-
fensphase des großen Denkers bietet.
Florian Stifel
207
TRIBUS 54,2005
Meier. Dirk:
Siedeln und Leben am Rande der Welt. Stutt-
gart: Konrad Theiss, 2003. 102 Seiten, 95 Farb-
Abbildungen, Skizzen. Karten.
ISBN 3-8062-1846-3
Was treibt den Menschen dazu, sich in Gebieten dieser
Erde niederzulassen, die eigentlich nicht zum Siedeln einla-
den? Ist es Übervölkerung in seinem bisherigen Lebens-
raum, Flucht vor drohenden Gefahren in der angestammten
Heimat, ist es das ewige Streben nach dem Glück oder die
Suche nach dem Neuen, verbunden mit Abenteuerlust, ist
es mangelnde Einsicht und das unzulängliche Vermögen,
vorausschauend denken zu können, mit einem Wort
Dummheit? Auf diese und weitere Fragen gibt das vorlie-
gende Buch keine Antwort. Aber es liefert die Basis für
eine Abhandlung über die Suche nach solchen Gründen,
die noch geschrieben werden muss. Meier geht mit Mitteln
der Geologie, der Archäobotanik und allgemeinen Archä-
ologie nach eigener Aussage (12) der Frage nach, ob und
wie weit Siedlungen in klimatisch extremen Umwelten auf
Letztere in der Geschichte wirkten. Wenn hier auch nicht in
jedem Fall Erklärungen gefunden werden, hat er mit seinen
Untersuchungen doch historische Grundlagen für heutige
Umweltschutzmaßnahmen innerhalb der Ökologie und
Ökonomie geliefert.
Seit der Entstehung der ersten Kontinente auf dieser
Erde gibt es klimatische Schwankungen, die unter ande-
ren Faktoren, wie Vulkanismus, Land und Meer immer
wieder in ihrer Gestalt veränderten. Die heutige Diskussi-
on - die mögliche Hinweise sehr kurzfristig betrachtet -
um die vermeintlich sichtbar werdende und eventuell ein-
tretende Klimaänderung zeichnet sich bis jetzt in der
Regel nicht durch ein Hintergrundwissen aus, das für ziel-
gerichtetes Handeln erforderlich ist. Das vorliegende
Buch hilft hier bei einem erwünschten Lernprozess. So
sind geschichtliche Hintergründe und Zusammenhänge
vergangener Temperaturschwankungen für jeden wert-
voll, nicht zuletzt für praktizierende Ökologen, und sei es
nur, die oft hochgespielte Aufgeregtheit verschiedener,
auch politisch agierender Kreise herunterzufahren.
Die Publikation ist in drei Haupt- (nachfolgend Kapitel
genannt) und mehrere Unterabschnitte sowie eine Art
Einführung und einen Ausklang gegliedert. Dazu gibt es
ein thematisch unterteiltes Literaturverzeichnis, ein Glos-
sar, eine Kurzbiografie des Autors und ein Abbildungs-
verzeichnis. Nach einem Vorwort mit Danksagungen folgt
die erwähnte Einführung „Am Rande der Ökumene: ex-
treme Lebensräume“. Das erste Kapitel „Schnee und
Berge“ hat fünf Artikel bzw. Unterabschnitte aufgenom-
men, in denen der „Naturraum der Alpen“ und das Leben
der Jäger und Sammler des (vornehmlich) ausgehenden
Paläo- sowie des gesamten Mesolithikums in den Alpen
beleuchtet werden. Für den Übergang vom Neolithikum
zur Bronzezeit gilt „Ötzi“ als Protagonist, dessen Lebens-
raum hier im Zusammenhang mit Nachweisen früher al-
piner Hochweidennutzung beschrieben wird. Von der
Römerzeit bis zum Mittelalter hatte sich dann die Alm-
wirtschaft fest etabliert (vierter Artikel). Auf die Auswir-
kungen dieser und späterer Entwicklungen kommt Meier
im Schlussbeitrag dieses Kapitels „Katastrophen in den
Alpen“ zu sprechen, etwa wie sich der Mensch, haupt-
sächlich während des Hochmittelalters bis zur beginnen-
den Neuzeit, vor Geröll- und Schneelawinen zu schützen
suchte.
Mit dem zweiten Kapitel verlassen wir Mitteleuropa und
begeben uns in den rauen Norden nach Schottland und
Norwegen und historisch in die Zeit der Wikinger, die
sechs der sieben Abhandlungen dieses zweiten Hauptab-
schnittes beanspruchen. Eingeschlossen sind hier selbst-
verständlich die Fahrten und Siedlungen der Nordmänner
nach und von den Orkneys, dem Norden der englischen
Insel, nach Island, Grönland und schließlich nach Nord-
ost-Amerika (Länse-aux-Meadows auf Neufundland). Ob
allerdings der nicht nachhaltige Aufenthalt der Wikinger
in einem winzigen Teil Nordamerikas ohne irgendwelche
Auswirkungen auf Europa, geschweige denn die übrige
Welt, als „Entdeckung Nordamerikas durch die Wikin-
ger“ gefeiert werden kann (62), ist doch mehr als fraglich
(s. hierzu den Beitrag „Die Indianer des Christoph Ko-
lumbus“ in diesemTRIBUS-Band).
Das dritte Kapitel „Nordsee, Flüsse, Seen und Moore“
enthält vier Artikel, in denen zunächst die Pfahlbausied-
lungen behandelt werden. Anschließend wendet sich der
Autor in den beiden folgenden Beiträgen seinem ureige-
nen Metier zu, den Niederlassungen in den Nordseemar-
schen und den Gefahren, denen die Menschen hier ausge-
setzt waren und noch sind. Selbst Sümpfe und Moore
waren und sind vor dem Menschen nicht sicher, wie der
letzte Abschnitt über Mooropfer und Moorkultivierung
zeigt.
In seiner Schlussbetrachtung „Extreme Umwelten: Na-
tur- oder Kulturlandschaften?“ fasst Meier das bisher Ge-
schriebene zusammen und beantwortet die gestellte Frage
mit dem Hinweis, dass der Mensch „in einigen Regionen
- wie den Marschen - die ehemalige Naturlandschaft voll-
kommen in eine Kulturlandschaft umgewandelt“ habe
(90). Nach der Lektüre des Buches ist der Leser über-
zeugt, dass der Autor das Thema sehr anschaulich geschil-
dert und mit vielen historischen Fakten versehen hat. Der
Eindruck einer überblickartigen Zusammenfassung wird
durch das ausgezeichnete Foto- und vor allem das sehr
gut aufbereitete Kartenmaterial gemildert.
Axel Schulze-rFhulin
Mischer, Udo:
Leben und Werk Günter Wagners (1908-1952),
(Veröffentlichungen des Instituts für Ethnolo-
gie der Universität Leipzig). Gehren : Escher
Verlag, 2002.293 Seiten, Index, 9 SW-Fotos.
ISBN 3-932642-21-X
Unter den deutschen Ethnologen und Ethnologinnen.de-
ren fachliche Biographie sich zu einem wesentlichen Teil
mit der Zeit des Nationalsozialismus überschnitt, gehört
diejenige Günter Wagners zu den besonders interessan-
ten. Er promovierte im Jahre 1932 in Hamburg bei Georg
Thilenius, 1940 habilitierte er sich mit maßgeblicher Un-
terstützung durch Diedrich Westermann und Richard
208
Buchbesprechungen Allgemein
Thurnwald in Berlin. Damit war sein auf Deutschland be-
zogener wissenschaftlicher Werdegang mit den zu jener
Zeit bedeutendsten Vertretern der Ethnologie in diesem
Land verbunden. Allerdings besteht das Besondere an
Wagners wissenschaftlicher Biographie darin, dass sie ge-
rade nicht auf Deutschland begrenzt war, sondern er wie
kein anderer deutscher Ethnologe jener Zeit sich seine
akademischen Lehrer/innen zusätzlich unter den wich-
tigsten angelsächsischen Fachvertretern suchte.
Das waren in den USA die an der Columbia University in
New York lehrenden Franz Boas und - an dessen Seite -
Ruth Benedict. In England, speziell in London und Ox-
ford, war es zunächst und zuvorderst Bronislaw Mali-
nowski an der „London School of Economics“ und mit
gleicher, wenn nicht noch größerer Wichtigkeit, im „Inter-
national African Institute“. In Oxford gelangte er in den
Kreis der Strukturfunktionalisten um A. R. Radcliffe-
Brown, Meyer Fortes und E.E. Evans-Pritchard. Wagner
war diesem Kreis keineswegs nur formal assoziiert, son-
dern er gehörte - wenn man dies so ausdrücken darf - un-
mittelbar zur Familie. Das fand seinen Niederschlag ei-
nerseits in Wagners Mitarbeit an dem in jener Zeit als
außerordentlich wichtig angesehenen Sammelwerk „Af-
rican Political Systems“, das 1940 von Meyer Fortes und
E.E. Evans-Pritchard herausgegeben wurde, andererseits
wurde es aber auch in dem Entnazifizierungsverfahren
von Wagner sichtbar, in dem dieser Gutachten über seine
politische Unbedenklichkeit nicht nur von seinen deut-
schen Kollegen bzw. Mentoren Diedrich Westermann.
Richard Thurnwald und Ad. E Jensen beibringen konnte,
sondern auch von Evans-Pritchard, Meyer Fortes und
Siegfried Nadel.
Nicht zuletzt diese und eine große Zahl weiterer Gutach-
ten zugunsten von Wagner aus dem Ausland dürften die
Spruchkammer bewogen haben, Wagner, der zunächst
schon als Mitglied der NSDAP seit 1940 nur unter die
Gruppe der „Mitläufer“ eingestuft worden war, nach des-
sen Einspruch dagegen schließlich der Gruppe der „Un-
belasteten“ zuzuschlagen. Auf den ersten Blick erscheint
dies auch durchaus gerechtfertigt. Die NSDAP-Mitglied-
schaft von Wagner ergab sich aus seinem Habilitationsbe-
gehren, das er im Jahre 1940 ohne ein solches zumindest
formales Bekenntnis zum NS-Staat kaum mit Erfolg hätte
voranbringen können. Als Angehöriger der Wehrmacht
hat er am Krieg als relativ unauffälliges Mitglied einer
Propaganda-Einheit teilgenommen. Gleichwohl entsteht
aus heutiger Sicht ein anderes Bild, wenn man bei Mischek
folgendes liest. Wagner hatte sich, nachdem die relativ
großzügige Finanzierung seiner Forschungen im Nord-
westen des heutigen Kenias durch das „International Af-
rican Institute“ ausgelaufen war, sowohl in England als
auch in den USA erfolglos um eine Anstellung als Wissen-
schaftler bemüht. Dazu gehörte dann aber auch, dass er -
weniger als ein Jahr, nachdem er vergebens seinen Lehrer
und Mentor (u.a. als Beschaffer eines Stipendiums für die
Durchführung von Feldforschungen bei den nordameri-
kanischen Yuchi-Indianern), den deutschjüdischen Emig-
ranten Franz Boas, um Hilfe bei der Suche nach einer
wissenschaftlichen Position in den USA mit dem aus-
drücklichen Hinweis auf die politisch unerträgliche Situa-
tion im NS-Deutschland angegangen war - ausgerechnet
in der „Antisemitischen Aktion“ des Propaganda-Minis-
teriums von Josef Goebbels eine Anstellung annahm. Er
gab diese Stelle, die das Einkommen für ihn und seine Fa-
milie sicherte, auch nicht auf, als er eine mit dem üblichen
Gehalt ausgestattete Dozentur für Völkerkunde an der
Universität Tübingen erhielt, sondern pendelte statt des-
sen zwischen Berlin und Tübingen.
In Parenthese und moralisch gewendet ließe sich das da-
malige Verhalten von Günter Wagner auch folgenderma-
ßen kommentieren: Der „werfe heute den ersten Stein“,
der auch im zweiten oder gar dritten Jahr nach einer mit
summa cum laude bewerteten Promotion im Fach Ethno-
logie sich und seine Familie weiterhin mit Taxi fahren
oder Ähnlichem durchbringt und nicht eine der ausdrück-
lich nur für Ethnologen angebotenen Wissenschaftler-
Stellen bei einem der Geheimdienste der Deutschen Bun-
deswehr annimmt. Diese Stellen gibt es und sie werden
von Ethnologen in einer Zeit eingenommen, die Neoko-
lonialkriege wie den kennt, der derzeit von den USA,
Großbritannien und einigen ihrer Verbündeten im Irak
geführt wird. Ende der Parenthese.
Trotz der Einstufung als „Unbelasteter“ blieb für Wagner
die unmittelbare Nachkriegszeit schwierig. Er entzog sich
dieser Situation, indem er mit seiner Familie nach Südaf-
rika auswanderte und dort eine Anstellung als „Govern-
ment Anthropologist“ fand. Eine solche Anstellung konn-
te in jener Zeit ab 1949 nur ausfüllen, wer bereit war, die
sich immer mehr verschärfende Apartheid-Politik der Re-
gierung von Südafrika mit zu tragen und an der Basis mit
zu gestalten. Dies tat Wagner und setzte damit die Lehren
in die Praxis um, die sein nach Westermann zweiter wich-
tiger Förderer in Deutschland, Richard Thurnwald. in der
Theorie in seinem kolonialethnologischen Werk „Koloni-
ale Gestaltung - Methoden und Probleme überseeischer
Ausdehnung“ im Jahre 1939 entwickelt hatte. (Siehe dazu
Klaus Timm 1977.) Seiner Tätigkeit als Regierungsethno-
loge konnte Wagner allerdings nur wenige Jahre nachge-
hen, da er bereits im Jahre 1952 an den Folgen einer Ve-
nen-Entzündung starb.
Alle diese Informationen über die Wissenschaftler-Karri-
ere des Ethnologen Günter Wagner lassen sich der in vor-
bildlicher Weise edierten Dissertation von Udo Mischek
entnehmen, mit der dieser 1999 an der Universität Leipzig
promovierte, ln dem bis hierher Referiertem fand eine
Konzentration auf den Zusammenhang zwischen dieser
besonderen Biographie und deren Bindung an das nur
angedeutete kolonialethnologische Denken im NS-Staat
statt. Die Arbeit von Mischek geht in ihrem Informations-
gehalt allerdings weit über diese spezielle Fragestellung
hinaus. Der Autor hat seine Daten in außergewöhnlicher
Breite und Tiefe sowohl durch Recherchen in zahlreichen
Archiven Deutschlands, der USA, Großbritanniens und
Südafrikas als auch durch Befragungen von Zeitzeugen in
den genannten Ländern zusammengetragen. Auf dieser
Basis ist es ihm gelungen, in überzeugender Weise eine
Wissenschaftler-Biographie zu rekonstruieren, in der je-
weilige institutioneile Einbindungen und aus den Publi-
kationen der beschriebenen Person entnommene wissen-
schaftliche Überzeugungen so zusammengebracht werden,
dass in exemplarischer Weise ein Stück politisch eingebun-
dener Wissenschaftsgeschichte sichtbar wird.
Damit weist die Arbeit von Udo Mischek weit über die
individuelle Biographie eines deutschen Ethnologen in
209
TRIBUS 54,2005
den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts hinaus und macht deutlich, wie eng verzahnt letzt-
lich sowohl inhaltlich theoretisch als auch personell die
kolonialethnologischen Bestrebungen in der unmittelba-
ren Vorkriegszeit zwischen den zentralen Vertretern des
Faches Ethnologie in Deutschland einerseits und in Eng-
land andererseits waren. Das Wirken als Direktor des in
London ansässigen „International African Institute“
durch den deutschen Linguisten und Ethnologen Died-
rich Westermann bis in das Jahr 1939 konnte bislang als
äußeres Indiz für diese Verzahnung gesehen werden.
Durch Mischeks umfassende Darstellung der wissen-
schaftlichen Vita des deutschen Ethnologen Günter Wag-
ner erfährt dieses Indiz eine deutliche Bestätigung und
inhaltliche Ausfüllung.
Literatur
Timm, Klaus /Thurnwald, R.
1977 Koloniale Gestaltung, ein ,Apartheids-Projekt’
für die koloniale Expansion des deutschen Fa-
schismus in Afrika. In: Ethnographisch-Archä-
ologische Zeitschrift, Jg. 18,1977, S. 617-649
Volker Harms
Müller. Klaus E. / Ritz-Müller, Ute:
Des Widerspenstigen Zähmung - Sinnwelten
prämoderner Gesellschaften. Bielefeld; Tran-
script Verlag, 2004.211 Seiten.
ISBN 3-89942-134-5
Man liest schon im Titel unwillkürlich Shakespeare mit,
sicher kein Zufall. Eigentlich ist gar nichts an der Gesamt-
komposition des Buches zufällig, sondern wohlgesetzt.
Von Klaus E. Müller stammen die allgemeinen und syste-
matischen Kapitel, von Ute Ritz-Müller eine detaillierte
Fallstudie, die an sechster Stelle steht, wenn man das aus-
führliche Vorwort mitzählt. Und dies sollte man, denn
hier wird über den Sinn und seinen Gegenwartsbezug in-
tensiv reflektiert.
Im zweiten Kapitel steht der Mensch auf der prädatori-
schen Stufe im Mittelpunkt, die interessanterweise eigent-
lich eine Überflussgesellschaft war. Dass hier das Tier
eine besondere Rolle in der Geistesauffassung bildete, be-
trachten wir heute (intellektuell rückblickend) als selbst-
verständlich. Müller belegt seine Argumente reichhaltig
durch ethnologische Parallelen. Grundsätzlich musste die
diesseitige und die übersinnliche Welt in Einklang ge-
bracht werden. Diesen Einklang stellten die Menschen
her, die wir heute generell als Schamanen bezeichnen und
die sich in beiden Welten bewegen konnten.
Aller guten Dinge sind Drei und „ Verflucht sei der Acker"
- das dritte Kapitel widmet sich den Anfängen der Acker-
baukulturen weltweit, ihren neuen Techniken wie z.B. Ke-
ramik und der sich verändernden Geisteskultur und der
daraus folgenden Kulte. Denn die Erde muss verletzt, ver-
wundet werden, wenn der Acker bestellt wird. Sühne ist
die Folge. Der Mensch verstrickt sich in Schuld gegenüber
der Geistigkeit der Welt. An zentraler Stelle lesen wir die
Reflektion über die drei grundlegenden Mythenkreise
der Weltkultur, und wir finden darin viele Motive der spä-
teren Hochreligionen.
„Der Palast“ ist die Reflektion über die sich entwickeln-
den Herrschaftsstrukturen überschrieben, denn eine
komplexer werdende Welt muss eingeteilt werden. Und
beim Teilen kommt Streit auf, was wieder gesellschaftli-
che Reaktionen hervorruft: Handel, Stadtmauern, Heere,
Sicherheit! Und Absicherung der weltlichen Spitze nach
oben zu einem Götterhimmel - eine fast kausallogische
Abfolge.
„Der Auszug“: Von den Inseln der Hochkulturen wurde
die Welt durchdrungen. Dieser Prozess hat in der Gegen-
wart sein Ende erreicht. Wir sehen aber die Spuren dieser
Phase allerorten, denn karge Regionen bedürfen beson-
derer Nutztiere, und der Fernhandel brauchte Zuchttiere
wie Pferde und Kamele. Die Herrschaftsform verwandel-
te sich vom sakralen Königtum bis hin zu Superstratiefor-
men geschichteter Gesellschaften der jüngeren Geschich-
te. Hier kommt Müller mit seiner Gesamtbetrachtung im
20. Jahrhundert an, bei den afrikanischen Sozialismusver-
suchen im Osten wie bei Apartheid im Süden.
Logischerweise folgt nun die Fallstudie, ausgehend von
einem Mord in Westafrika im Sommer 2001. Ritz-Müller
analysiert diesen Fall und zeigt die sehr komplexen Ver-
flechtungen einer modernen Welt mit einer durch und
durch traditionellen auf. In Afrika begegnen sich beide
Sphären nahezu ohne Übergangszone, und die Menschen
leben oft in beiden Bereichen gleichzeitig-ein gigantischer
Spagat. Die Autorin vermittelt aber durch ihre exzellente
Studie auch die tieferen Schichten, denn der Kriminalfall
bliebe unverständlich ohne Kenntnis afrikanischer Geistig-
keit. Dafür haben die vorausgehenden Kapitel den Boden
bereitet, und wir können den afrikanischen Spezialfall als
exemplarisch in der Welt stehend betrachten: Es hätte auch
an fast jeder anderen Stelle des Globus sein können. Mit
einer eigenartig (aber nur auf den ersten Blick) anmuten-
den Trickstergeschichte endet dieser Exkurs und leitet über
zum siebten Anschnitt:
„Vom Sinn des Ganzen“: Es ist ein großer Schritt, Weltent-
wicklung und Geistesentwicklung in einem Zusammen-
hang abzuhandeln, aber es spricht für das Autorenteam,
dass dies gelungen ist, ohne in Plattheiten abzurutschen.
Die Genesis ist vollendet.
Vorsicht: Das Buch ist eine Herausforderung für jeden
Leser, es hat viele Querbezüge, aber aus den komprimier-
ten, tiefen Gedanken lässt sich Gewinn für Jahre ziehen.
Man sieht dem Werk an, dass es die reife Frucht eines lan-
gen Forscherlebens ist und die Gedanken wirken beim
Leser nach und bilden Keime, die sich entfalten. 19 Seiten
Literaturverweise bieten zusätzlich Material in Hülle und
Fülle.
Wolfgang Creyaufmüller
210
Buchbesprechungen Allgemein
Stewart, Pamela J. / Strathern, Andrew:
Witchcraft, Sorcery, Rumors, and Gossip. Cam-
bridge / England: Cambridge University Press,
2004.228 Seiten, 2 Figuren, 4 Tabellen.
ISBN 0-521-00473-X
Das Ehepaar Steward/Strathern, Ethnologen an der Uni-
versität von Pittsburgh, USA, ist angetreten, zwei Berei-
che „systematisch zusammenzubringen“ (S. XIV, 194), die
ihrer Meinung nach bislang meist getrennt analysiert wor-
den sind und von denen sie überzeugt sind, dass sie zu-
sammengehören: nämlich Studien über Hexerei und Zau-
berei und solche über Klatsch und Gerüchte. Ihr zweites
Ziel ist es zu zeigen, wie Gewalt, die offene wie die ver-
steckte, mit diesen zwei Bereichen verbunden ist (S.
XIV).
Ihr Buch gliedert sich in acht Kapitel. In der Einleitung
beschäftigen sie sich damit, wie E. E. Evans-Pritchard.
Mary Douglas und Victor Turner in ihren Arbeiten Hexe-
rei und Zauberei verstehen, und führen Beispiele aus Mit-
telamerika, Afrika, Europa und Ozeanien an, die zeigen
sollen, dass Klatsch und Gerüchte mit dazu beitragen,
dass sich ein Verdacht auf Hexerei in eine Anklage wan-
delt (S. 1-28). Im zweiten Kapitel geben sie die Ergebnisse
von Max Gluckman und seinem Kritiker Robert Paine
zum Thema Klatsch und Gerüchte wider und weiten sie
um die Beispiele des Überfalls der Japaner auf Pearl Har-
bor, der Französischen Revolution, der Anschläge vom
11.9.2001, aus der Aeneas von Vergil und aus Afrika aus
(S. 29-58). Dann folgen in Kapitel drei bis sechs Beispiele
aus Afrika, Indien. Papua Neuguinea sowie von der Hexe-
rei in Europa und Amerika (S. 59-169). In Kapitel sieben
geht es um den Zusammenhang zwischen Gerüchten und
Gewalt (S. 168-193), und in Kapitel acht folgt eine Zu-
sammenfassung mit dem Schwerpunkt Konflikt und Zu-
sammenhalt (S. 194-203); beide Kapitel ihrerseits wieder
mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt illustriert.
Nach etwa 200 Seiten und etwa 200 verarbeiteten Litera-
turtiteln kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass
Klatsch und Gerüchte eine wichtige Rolle im Vorfeld von
Hexereianklagen spielen (S. 194), bzw. dass Klatsch und
Gerüchte konstituierende Elemente bei sozialen Prozes-
sen seien und in Netzwerken informeller Kommunikation
vonstatten gehen (S. 203).
Die hohe Anzahl an verwendeten Studien ist löblich, äh-
nelt in der Form ihrer Präsentation aber eher einem
„Wimmelbild“, wie es aus Kinderbüchern bekannt ist. So
finden sich, um nur ein Beispiel zu nennen, im Kapitel
„Indien“ auch noch Beispiele aus Griechenland / Kosovo,
sowie aus den USA und Afghanistan. Hier hätte eine Be-
schränkung gut getan. Dort aber, wo sie erfolgt ist, näm-
lich 1. in der Reduktion der Phänomene des Klatsches
und der Hexerei auf den alleinigen Aspekt der Gewalt
und 2. in der konsequenten Nichtbeachtung nichteng-
lischsprachiger Literatur zum Thema Hexerei in Europa,
wäre ein etwas breiterer Blickwinkel wünschenswert ge-
wesen. Auch unterlassen es die Autoren bewusst, ihr Ver-
ständnis von Hexerei und Zauberei zu definieren: „it is
not worthwile to make and adhere to any rigid definitio-
nal distinctions“ (S. 2). Nur so ist wohl zu erklären, warum
der Begriff der Zauberei im Titel auftaucht, im Buch je-
doch so gut wie gar nicht vorkommt, und warum die Auto-
ren im Verlauf des Buches eine Frau, die einen Fluch bzw.
eine Verwünschung ausspricht, unkritisch als Hexe einstu-
fen (S. 157). Auch sonst steckt, um im Bild der Hexerei zu
bleiben, der Teufel im Detail: seien es unklare bzw. man-
gelhafte Quellenangaben (S. 39, 53, 54, 88, 95, 111) oder
falsche Übersetzungen („pestis manufactum“ ist keine
„diabolically produced disease“ (S. 146)). Auch bleiben
manche Bezüge unklar: Was hat Organ-Handel in Brasili-
en mit Hexerei in Afrika zu tun, außer vielleicht, dass es in
beiden Fällen Gerüchte gibt, und was die in Teilen Afrikas
gebräuchlichen Methoden, Hexen ausfindig zu machen,
mit Cargo-Kulten in Papua-Neuguinea (S. 108)? Erklä-
rungsbedürftig sind auch die zum Teil völlig unvermutet
eingestreuten Sätze, mit denen die Autoren Aktualität
hersteilen wollen: So sehen sie Parallelen zwischen der
historischen Hexerei und dem aktuellen Kindesmiss-
brauch (nämlich in den Ängsten, dass Kindern böse Din-
ge angetan werden) (S. 94, 95), zwischen den Stasi-Akten
und „Zauberei“ (S. 39) oder in der Verwendung der Be-
griffe Hexe (früher) und Terrorist heute (nach dem
11.9.2001) (S. 151).
Fazit: Auf ein Viertel seiner Länge komprimiert und bei
vollständiger Berücksichtigung aller Facetten des Klat-
sches hätte das Buch einen guten Artikel für die „Annual
Review of Anthropology“ abgegeben.
Claudia Kalka
Stone, Richard:
Mammut - Rückkehr der Giganten? Expediti-
onen ins ewige Eis. Aus dem Englischen über-
setzt von C. Panzacchi. Stuttgart: Franckh-Kos-
mos, 2003.271 Seiten, einige SW-Fotos, Karte.
ISBN 3-440-09520-7
Haben Sie bereits ein lebendes Mammut gesehen? Allzu
sehr wundern würde es mich nicht, denn Wissenschaftler
sind schon seit etlichen Jahren auf der Suche nach geeig-
netem Gen-Material, um die „Riesen der Eiszeit“ klonen
zu können. Das Original des vorliegenden Buches „Mam-
moth - The Resurrection of an lee Age Giant“ stammt
aus dem Jahr 2001. Die Recherchen zu dem Werk liegen
also mittlerweile sechs und mehr Jahre zurück. Der Ver-
such des Franzosen Bernard Buigues, 1999 geeignetes
DNA-Material mit intaktem Zellkern eines Mammuts zu
bergen und der von Stone ausführlich geschildert wird, ist
jedenfalls missglückt. In dem mit viel Mühe und finanzi-
ellem Aufwand aus sibirischem Eis herausgeschnittenen
Mammuteisblock befanden sich nur Fell und Knochen.
Der Versuch ging vor Jahren auch durch die hiesige Pres-
se. Doch das Klonen selbst ist eigentlich gar nicht das Pro-
blem. Selbst wenn alle damit verbundenen Hürden ge-
nommen werden, erheben sich etliche Fragen, wie die
nach dem Lebensraum des geschaffenen Tieres. Die eis-
zeitliche Umwelt gibt es nicht mehr, mit Abstrichen
höchstens auf einigen Hochebenen Tibets. Es müsste eine
riesige künstliche Eiszeithalle mit kaltem, trockenem In-
211
____________TRIBUS 54,2005
nenklima gebaut werden. Allzu utopisch ist das allerdings
nicht. Der Mensch hat schon ganz anderes geleistet.
Richard Stone, englischer Wissenschaftsjournalist, hat
sein Buch in zwölf Kapitel (ohne Nummerierung) geglie-
dert. Dazu gibt es noch einen Epilog, eine persönlich ge-
haltene Danksagung vor allem an weltweit arbeitende
Mammutforscher, die Stone konsultiert hatte, sowie ein
Namens- und Sachregister (ohne diese Teilung). Der Au-
tor beginnt mit der Geschichte um den erwähnten Bernard
Buigues. Es folgen kurze kulturgeschichtliche Einblicke,
Hinweise auf die Wissenschaftsgeschichte, sofern das
Mammut betroffen ist, mit einer einleitenden, weitgehend
akzeptierten Erklärung zum Aussterben dieser Rüsseltie-
re (neben einigen unglaubwürdigen). Außerdem erfährt
der Leser etwas über die chemotechnischen Vorausset-
zungen, die erforderlich sind, um Mammuthus primigeni-
us wieder auferstehen zu lassen. In den sich anschließen-
den Kapiteln schildert Stone zunächst seine Erlebnisse in
russischen Instituten für Paläontologie, darauf in Sibirien,
wobei auch die aufregende, fast vierhundert Jahre alte
Geschichte der Mammutsuche nicht zu kurz kommt. Der
Leser erhält weiterhin Einblicke in die Forschung der ver-
schiedenen Labors in aller Herren Länder sowie die zahl-
losen gescheiterten Versuche, sich der neuzeitlichen
Schöpfung des Mammuts zu nähern. Er begleitet den Ver-
fasser auf seinen vielen sibirischen Reisen, ist bei der Öff-
nung Russlands für die westliche Wissenschaft dabei und
erfährt Näheres über Leben und Herkunft des erwähnten
Buigues. In die lebendig geschriebenen Texte wurden
auch die Ureinwohner Sibiriens in Vergangenheit und
Gegenwart eingeschlossen, vor allem die Jugakiren und
Dolganen sowie ihr Glaube, was es mit den aufgefunde-
nen Mammutknochen und -kadavern auf sich hat. Einige
Schwarzweiß-Fotos vermitteln darüber hinaus einen wei-
teren Einblick in das vermittelte Wissen, wenn auch die
schlechte Wiedergabe der Karten auf den Innenumschlag-
seiten für einen renommierten Verlag überraschend ist.
Wie vielseitig Stone schreibt, zeigt ebenfalls, dass er auf
den Handel mit Mammutstoßzahnbein eingeht, durch den
zahllose Fundstätten, die vielleicht schon längst das erfor-
derliche DNA-Material geliefert hätten, unwiederbring-
lich zerstört wurden. Eventuell etwas zu ausführlich wird
mehrmals auf die Arbeit von Buigues eingegangen, an der
teilweise auch Dirk Jan („Dick“) Mol beteiligt war.
Im siebenten Kapitel kommt Stone auf Nordamerika und
dessen erste Besiedelung zu sprechen. Beim Lesen dieses
Textes zeigt sich dem Amerikanisten, dass dem Autor
doch einzelne Fachbegriffe und wissenschaftliche Hinter-
gründe nicht so recht geläufig sind, wenn auch der Ablauf
der Geschehnisse im Großen und Ganzen richtig geschil-
dert wird. Die inzwischen zu den Akten gelegte These
Paul Martins vom Aussterben der amerikanischen Groß-
säuger durch Überjagen erhält in dem Buch noch einmal
übertrieben viel Platz eingeräumt. In den weiteren Kapi-
teln geht Stone verschiedenen Thesen nach, mit denen
sich Wissenschaftler das Aussterben mehrerer Tierpopu-
lationen erklären, wie dem Auftreten von Seuchen, einge-
schleppt von Menschen in vorher menschenleere Konti-
nente oder zumindest Regionen. Der Leser erfährt erneut,
wie Wissenschaft vonstalten geht, welche Zufälle eine
Rolle spielen, wie die „richtigen“ Mitstreiter gefunden
werden, wie sich Hartnäckigkeit auszahlt und wie schließ-
lich Ergebnisse gefunden werden. Diese müssen dann an
die Öffentlichkeit gebracht werden, damit Leute wie
Richard Stone darauf aufmerksam werden und eine grö-
ßere Leserschaft Wissenswertes aus Bereichen erfährt,
die abseits des Alltags liegen. Gegen Ende des Werkes, im
zehnten Kapitel, kommt der Verfasser dann noch einmal
auf die Idee des Mammutklonens zurück. Er erzählt von
den diesbezüglichen Bemühungen insbesondere auf der
nördlichen Hemisphäre der Welt, wie sich Japaner und
Chinesen in dieses wissenschaftliche Gebiet eingeschaltet
haben, dass das Mammut nicht das einzige ausgestorbene
oder vom Aussterben bedrohte Tier ist, das geklont wer-
den könnte, dass sich Angehörige anderer Spezies bereits
in diesem Prozess befinden, vom Riesenpanda bis zur spa-
nischen Bucardo, einer Bergziegenart aus den Pyrenäen,
vom ausgerotteten Beutelwolf Australiens bis zum Huia,
einem neuseeländischen Vogel. Wir lesen, dass heute
Mäuse Eizellen von Elefanten produzieren und Wissen-
schaftler überall auf der Welt bereits begonnen haben,
Sperma und Gewebeproben von Tieren, deren Untergang
vor der Tür steht, zu archivieren, um sie eines Tages wie-
der zum Leben erwecken zu können. Natürlich geht der
Autor auch solchen Visionen wie dem Jurassic Park nach,
ebenso den Problemen, die sich in einer künstlichen Um-
welt für Mammute schon aus der Ernährung, dem damit
verbundenen Anbau eiszeitlicher Pflanzen usw. usf. erge-
ben würden.
Richard Stone hat ein überaus interessantes, spannendes,
detailliertes und umfassendes Buch geschrieben, das nicht
zuletzt Anlass zum Nachdenken über die Zukunft unserer
Erde gibt.
Axel Schulze-Thulin
Wernhart, karl R.:
„Ethnische Religionen. Universale Elemente
des Religiösen“. Grundwissen Religion (To-
pos plus Taschenbücher, Band 545). Kevelaer:
Verlagsgemeinschaft Topos plus,Tyrolia (Inns-
bruck, Wien), 2004. 160 S.
ISBN 3-7867-8545-7.
Der Autor des vorliegenden Buches ist kein Religionswis-
senschaftler. Karl R. Wernhart ist Kulturanthropologe
und Historiker, der im Laufe seiner akademischen Karri-
ere immer wieder die Notwendigkeit erkannt und genutzt
hat, über den eigenen Tellerrand zu blicken und dabei
nicht nur zu einer umfassenderen und gleichzeitig diffe-
renzierteren Sichtweise der Dinge gelangte, sondern im-
mer wieder auf die grundlegenden Fragen der Menschheit
stieß. Fragen, zu deren Beantwortung die Menschen aller
Epochen und Kulturen Antworten in ihren Religionen
suchten. Antworten wiederum, die offenbaren, dass es bei
aller Vielfalt religiöser Ausdrucksformen Grundstruktu-
ren religiösen Bewusstseins geben muss, die eine Ver-
gleichbarkeit und Gegenüberstellung erst ermöglichen.
Darum geht es in diesem Buch. Um universale Elemente
des Religiösen, die weltweit transkulturell, also quer
212
Buchbesprechungen Afrika
durch alle Kultur- und Gesellschaftsbereiche anzutreffen
sind.
Die Vielfalt religiöser Glaubensmanifestationen in einen
komparativen Kontext zu stellen, schwer fassbare Phäno-
mene greifbar zu machen und komplexe Zusammenhän-
ge so darzustellen, dass sowohl Gemeinsamkeiten als
auch regionale Besonderheiten verständlich werden, ist
eine Herausforderung, an der sich zahlreiche Autoren
versucht haben. Meistens sind daraus umfassende, mehr-
bändige Werke geworden, um der Vielfalt einigermaßen
gerecht werden zu können - in diesem Zusammenhang
sei nur an George Frazer und Mircea Eliade erinnert.
Umso mehr ist der Mut Wernharts zu begrüßen, sich die-
ses Themas in einem kompakten einbändigen Werk anzu-
nehmen, welches als Ein- und Hinführung zu verstehen ist
und trotzdem dem Anspruch, in die Tiefe zu gehen, ge-
recht wird. Definitorischen Zugängen und exakter Be-
grifflichkeit ist dabei eingangs breiter Raum gewidmet.
Schließlich wirft bereits der Titel des vorliegenden Buches
Fragen auf. Was sind ethnische Religionen? Wie kann
man regionale und kulturelle Differenzierungen sprach-
lich fassen, ohne in die Falle pejorativ bzw. ideologisch
überfrachteter Zuschreibungen zu fallen. Der Autor
grenzt sich richtigerweise von überholten und häufig dis-
kriminierenden Begriffen wie „Stammesreligionen"1 ab
und verweist u.a. auf die historische Entwicklung dieser
Benennungen. Gleichzeitig wird der Begriff der „ethni-
schen Religionen"' ausschließlich auf jene Glaubensinhalte
und -manifestationen angewandt, die in außereuropäischen
nichtindustriellen Gesellschaften und Schwellenländern
vorzufinden sind. Hier könnte man eine Kritik an der Ein-
grenzung anbringen, da viele der genannten Aspekte bei-
spielsweise in europäischen Formen der Volksreligiosität
ähnlich in Erscheinung treten, wie es der Autor selbst in
einem der letzten Kapitel erwähnt.
Der Autor vermerkt explizit, dass seine Darstellungen im
Glaubensversländnis des katholischen Christentums wur-
zeln. Mögliche Befürchtungen dogmatisch geprägter In-
terpretationen bewahrheiten sich jedoch nicht. Wernhart
gelingt es trotz seinem sehr persönlichen Interesse an der
Thematik, aus seiner langjährigen Tätigkeit als Ethnologe
den Vorteil zu schöpfen, die nötige Distanz wahren zu
können.
Das Buch folgt einer klaren Struktur. Ausgehend von ei-
ner definitorischen Einleitung wird auf grundlegende
Elemente des Religiösen im Beziehungsfeld zwischen
Mensch und Transzendenz eingegangen. Grundorientie-
rung bildet dabei die Unterscheidung zwischen Glaubens-
welt und Menschenwell als Ausgangspunkt für die Veran-
kerungdes Menschen in einer mehr- und überdimensionalen
Welt. Die zentral verwendeten Begriffe der Strukturen und
Universalien werden aus kulturanthropologischer Sicht de-
konstruiert und als geeignete kontextabhängige Parameter
für das Erkennen historischer (und damit dynamischer) so-
wie tiefenpsychologischer Zusammenhänge dargestellt.
Der Verfasser bezieht sich dabei auch auf sein von ihm
selbst entwickeltes Konzept einer „universalia humana et
cultura“, als ein im Menschen verankertes, biologische
und kulturelle Grundstrukturen vereinendes Prinzip.
Uber eine Skizzierung transkultureller Elemente sowie
der Bedeutung von Religion im ethnologischen Verständ-
nis gelangt Wernhart zur Rolle von Mann und Frau in den
Religionen und schließlich zu den großen Bereichen Kult,
Ritual und Opfer. Geschickt versteht es der Autor, hier in
die Diskussion provozierende Begriffe einzubringen,
wenn er beispielsweise von einer „Institutionalisierung“
der Glaubenswelt spricht. Neben den in der Ethnologie
häufig beachteten Übergangsriten (rites de passage) wer-
den zwei separate Kapitel den Dimensionen Raum und
Zeit gewidmet. Über die Welt der Geister und Ahnen
wird zum Thema Seele,Tod und Jenseits übergeleitet. Kri-
tisch werden die Konzeptionen einer singulären Gottheit,
eines Götterpantheons und eines so genannten Höchsten
Wesens hinterfragt. Bei der Darstellung von Schamanis-
mus beispielsweise wird die Frage gestellt, inwieweit es
sich hier (noch) um eine Religion handelt oder „nur“ um
sehr spezielle Formen einer Therapie. Wernhart spart die-
se Grenzbereiche religiöser Praktiken nicht aus und the-
matisiert sie vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden
Bedeutung in einer nach neuen inneren Werten suchen-
den modernen Welt. Von der Bedeutung der Volksreligio-
sität ausgehend, wagt Wernhart abschließend einen Aus-
blick. der auf die pluralistische Struktur von Identität(en)
in einer zunehmend hybridisierten Welt verweist, um zu
dem Schluss zu kommen, dass mit der ungebrochenen
Sehnsucht nach Spiritualität heute neue Formen religiö-
ser Phänomene beobachtet werden können. Selbst gestal-
tete Spiritualität im Sinne von „Patchwork-Religionen“
nimmt dabei Elemente ethnischer Religionen oft im Sin-
ne eines „Religionsersatzes“ auf. Somit wird vom Autor
selbst die Aktualität des Themas und damit auch dieses
Buches noch einmal unterstrichen. Das vorliegende Werk
ist eine gelungene Auseinandersetzung mit grundlegen-
den Elementen religiösen Bewusstseins und behandelt
gleichzeitig tagesaktuelle Fragen, die sich aus dem steti-
gen Wandel religiöser Bedürfnisse ergeben. Das Buch
kann daher sowohl einem akademisch anspruchsvollen
Lesepublikum als auch dem interessierten Laien zum
Kauf empfohlen werden.
Hermann Mückler
Buchbesprechungen Afrika
Biasio, Elisabeth:
Prunk und Pracht am Hofe Menileks - Alfred
Ilgs Äthiopien um 1900. Majesty and Mag-
nificence at the Court of Menilek - Alfred llgs
Ethiopia around 1900. Zürich; Verlag Neue
Züricher Zeitung / Völkerkundemuseum der
Universität Zürich, 2004. 261 Seiten in deut-
scher und englischer Sprache mit 3 Karten, 40
Schwarzweißaufnahmen und 177 Farbabbil-
dungen.
ISBN 3-03823-089-8
Zur Ausstellung „Prunk und Pracht am Hofe Menileks -
Alfred Ilgs Äthiopien um 1900“, die im Völkerkundemu-
seum der Universität Zürich vom 5. Mai 2004 bis 8. Mai
2005 gezeigt wurde, ist ein ausführlicher Begleitband in
deutscher und englischer Sprache erschienen.
213
TRI BUS 54,2005
Der Autorin Elisabeth Biasio geht es weniger um ein bio-
graphisches Portrait von Alfred Ilg als vielmehr um die
Darstellung der Zeit und die Offenlegung der Strukturen
am Hofe von Kaiser Menilek II., der von 1889 bis 1916
regierte. Der erste Teil des Bandes enthält eine Einfüh-
rung in das Leben von Alfred Ilg. der 1854 in Frauenfeld/
Schweiz geboren wurde und 1916 in Zürich verstarb. Für
weitere Details verweist die Autorin auf die in Kürze er-
scheinende ausführliche Biographie aus der Feder von
Bairu Tafla.
Mit seinem fotografischen Werk von ca. 1000 Bromsilber-
gelatine-Trockenplatten und stereoskopischen Glasdia-
positiven wird Alfred Ilgs Blick auf das Äthiopien um
1900 am Hofe Menileks anschaulich gemacht. Kaum Be-
rücksichtigung fanden in Ilgs Werk der Alltag und die Ar-
beit der einfacheren Bevölkerungsschicht.
Im zweiten Teil, dem Katalog, dokumentiert Biasio aus-
führlich die 610 Objekte umfassende ethnographische
Sammlung Ilgs , wobei sie einige Ergänzungen aus dem
Bestand des Züricher Museums und aus anderen Museen,
wie dem Staatlichen Museum für Völkerkunde München,
dem Linden-Museum Stuttgart und dem Museum für
Völkerkunde Wien, hinzufügt. Sie geht dabei sehr aus-
führlich auf Herkunft, Herstellung und Bedeutung der
Objekte ein.
Der Schweizer Alfred Ilg war Ingenieur und folgte 24-jäh-
rig dem Ruf von Kaiser Menilek, der 1878 ausländische
Ingenieure an seinen Hof berief, wo Ilg 27 Jahre bis 1906
lebte und arbeitete. Der Umstand, dass Ilg aus einem
Land ohne koloniale Bestrebungen stammte, ließ ihn seit
Beginn der 90er Jahre immer mehr zum politischen Bera-
ter des Kaisers werden. 1897 ernannte er Ilg zum „Staats-
rat im Range einer Exzellenz“, gleichzeitig erhielt er den
höchsten Orden, den „Stern von Äthiopien“ (S. 14). Die-
ser Darstellung folgt ein kurzer und prägnanter Überblick
zur äthiopischen Geschichte. Danach geht die Autorin auf
die traditionelle Gesellschaftsstruktur im feudal organi-
sierten Äthiopien ein. Durch die zahlreichen Schwarz-
weißfotografien bekommt der Leser einen vielfältigen
Blick auf das Leben am Hofe Menileks bis hin zu einem
privaten Blick auf die Königsfamilie. Dies zeigt, wie ver-
traut Ilg mit der königlichen Familie umgegangen ist.
Im Abschnitt „Kaiser Menilek als Eroberer“ (S. 64-69)
wird die Ausdehnung von Menileks Kaiserreich bis in den
Süden beschrieben. Addis Abäba, „Neue Blume“, von der
Kaiserin Taytu so benannt, wird die neu gegründete
Hauptstadt, deren Aufbau ausführlich beschrieben wird.
Eine spannende Einführung in den Modernisierungspro-
zess des Landes bekommt der Leser im Kapitel „Auf-
bruch in die Moderne“ (S. 80-87). Zu einer der wichtigsten
technischen Errungenschaften, die ebenfalls Ilg zu ver-
danken war, wurde der Bau der Eisenbahn von Djibouti
nach Addis Abäba. Mit dem Bau der Eisenbahn tat sich
Kaiser Menilek zunächst schwer, weil er befürchtete, die
Kolonialmächte würden leichter ins Land gelangen.
Durch finanzielle und politische Probleme wurde die
Bahn erst 1917 bis Addis Abäba fertig gestellt (S. 85). Die
Schlacht von Adwa setzte 1896 mit dem Sieg eines afrika-
nischen Heeres über die europäische Kolonialmacht Ita-
lien ein Exempel für die übrigen Kolonialmächte. Danach
wollten viele Großmächte Handelsbeziehungen zu Äthio-
pien aufbauen und Italien, Frankreich, Großbritannien
und Russland richteten Botschaften in Äthiopien ein (S.
86). Interessant sind auch die lästigen Intrigen, mit denen
Ilg anfänglich zu kämpfen hatte. Z.B. wurde beim Bau der
Wasserleitung im Palast ein Rohr von einem europäischen
Neider verstopft, so dass kein Wasser Hießen konnte. Erst
nach mühsamer Suche konnte Ilg die Ursache finden und
beheben (S. 82). Ilg ließ sich von solchen Begebenheiten
nicht abhalten und gelangte zu immer mehr Einfluss und
Vertrauen am Hofe Menileks.
Im Kapitel Kirchen und Malereien (S. 88-109) wird die
enge Verbindung zwischen Kirche und Kaiser deutlich.
Durch die Malerei wird die Legitimität der regierenden
Elite für das Volk sichtbar gemacht. Dies kommt sehr
schön auf dem Gemälde von Seite 107 zum Ausdruck,
Menilek hat dort in der linken Hand eine mit Kreuz ge-
krönte Kugel und hält damit praktisch die kirchliche und
die weltliche Macht in Händen.
Im Katalog wird die ethnographische Sammlung Ilgs er-
gänzt durch einzelne passende Stücke aus den o. a. Mu-
seen. Hier werden die Sammlungsobjekte unterteilt nach
1. Kleidung, 2. Schmuck, 3. Waffen. 4. Pferde- und Maul-
tierausrüstung, 5. Ess- und Trinkgeräte, 6. liturgische Ge-
räte, 7. Kreuze, 8. Ikonen, Manuskripte, magische Rollen
und 9. Musikinstrumente, nicht nur genau beschrieben,
sondern der Leser wird mit der Bedeutung, Herkunft und
Herstellung vertraut gemacht. Lediglich bei den Säbeln
und Dolchen vermisst man genauere Angaben über die
Werkstätten. Die Kleidung zeigt nicht nur den Rang des
Trägers, vielmehr offenbart sie durch das Hülltuch zu-
gleich dessen Absicht (S. 116). Über Kleidung und
Schmuck werden auch Religionszugehörigkeit und Fami-
lienstand zum Ausdruck gebracht. Durch die Pferde- und
Maultierausrüstung kann sich deren Besitzer ebenfalls
standesgemäß abgrenzen. Interessant ist noch zu bemer-
ken, dass die Mönche Kreuze und liturgische Geräte
selbst herstellten (S.202). Sie wurden dazu speziell ausge-
bildet.
Mit dem hier vorliegenden Band gelingt Biasio ein wert-
voller Beitrag zur kulturhistorischen Dokumentation
über das Leben und Arbeiten am Hofe Menileks in Äthi-
opien um 1900. Ein Gesamtüberblick zur äthiopischen
Kultur möchte der besprochene Band nicht leisten, son-
dern wird seiner Zielsetzung vollauf gerecht: einen detail-
lierten Blick auf die Oberschicht und die Strukturen am
Hofe Menileks II. zu gewähren und kulturhistorisch aus-
zuwerten. Biasio hat durch genaue Recherche und Re-
konstruktion die fotografische Sammlung, von der nur
circa ein Achtel mit einer Legende versehen war, in einen
entsprechenden Kontext eingeordnet: diesem Anliegen
dient auch der ausführliche Katalog. Damit ist ein umfas-
sendes und genaues Spektrum entstanden, welches der
äthiopistischen Forschung ein wichtiges Kapitel hinzufügt
und für künftige Arbeiten ein reichhaltiges Material er-
schlossen hat.
Renate Best
214
Buchbesprechungen Afrika
Heintzh, Beatrix:
Afrikanische Pioniere. Trägerkarawanen im
westlichen Zentralafrika (ca. 1850-1890).
Frankfurt am Main: Lembeck, 2002.319 Seiten
mit SW-Fotos.
ISBN 3-87476-410-9
Das westliche Zentralafrika (Angola und angrenzende
Gebiete) ab etwa 1850; Nach den Jahrhunderten der por-
tugiesischen Präsenz an der Küste und der Beteiligung am
atlantischen Sklavenhandel führte auch hier, wie in ande-
ren Teilen Afrikas, die engere Anbindung an den expan-
dierenden, westlich dominierten Weltmarkt zu einer er-
heblichen Intensivierung und räumlichen Ausweitung des
Handels und zu beschleunigten politischen, ökonomischen
und soziokulturellen Transformationsprozessen, die
schließlich in der Kolonialokkupation mündeten.
Dank relativ zahlreicher, zeitlich weit zurückreichender
Quellen ist inzwischen die Geschichte des westlichen
Zentralafrikas von Autoren wie Jan Vansina, Joseph C.
Miller, Jean-Luc Vellut, Achim von Oppen gut herausge-
arbeitet worden. Im Gegensatz zu den bisherigen Unter-
suchungen der wirtschaftspolitischen Verhältnisse, die
sich auf das 19. Jahrhundert beziehen, konzentriert sich
Beatrix Heintze im vorliegenden Werk auf ein zentrales
Element des Handelssystems, nämlich die immer weiter
ins Innere vordringenden Trägerkarawanen. Untersucht
wird aber nicht der Beitrag der Europäer - der haupt-
sächlich portugiesischen Handelsunternehmer, die die
Karawanen jedoch nur selten ins Innere begleiteten, oder
der europäischen Forschungsreisenden und Vorboten der
Kolonialokkupation. Stattdessen wendet sich die Autorin
der Rolle der Afrikaner und Luso-Afrikaner im Karawa-
nensystem, d.h. der, wie sie im Vorwort schreibt, „bisher
eher 'Unsichtbaren’ oder Unterschätzten“, die aber die
eigentlichen Protagonisten des Handels waren.
Beatrix Heintze hat sich in zahlreichen Arbeiten mit den
Quellen zur Geschichte des westlichen Zenlralafrikas be-
fasst. Erwähnt sei aus jüngerer Zeit vor allem die höchst
informative Studie Ethnographische Aneignungen (1999)
über die deutschen Forschungsexpeditionen in diese Re-
gion. Die Geschichtsschreibung der europäischen Er-
schließung Afrikas bezieht zwar seit Donald Simpsons
Dark Companions (1975) den Beitrag der afrikanischen
Begleiter der Reisenden mit ein. Auch sind einzelne loka-
le Protagonisten besonders des ostafrikanischen Handels
inzwischen hinlänglich bekannt. Beatrix Heintze geht
aber in ihrer Arbeit, bezogen auf ihr Forschungsgebiet,
weit über diese Ansätze hinaus: Gestützt auf ihre hervor-
ragende Beherrschung der schriftlichen Quellen - darun-
ter das bisher kaum verwertete Werk des Portugiesen
Henrique Dias de Carvalho - liefert sie die erste umfas-
sende Beschreibung der afrikanischen Seite eines Kara-
wanen-Handelssystems des 19. Jahrhunderts - aus afrika-
historischer Perspektive die weitaus relevantere Seite. Ins
Zentrum der Aufmerksamkeit rückt damit gerade jene
heterogene Gruppe von Luso-Afrikanern und Afrika-
nern, aus denen sich in der Region die Karawanen haupt-
sächlich zusammensetzten, die aber, da sie außerhalb der
„traditionellen“ politischen und ethnischen Verbände
standen, bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden haben.
Es sind jedoch diese Vertreter einer luso-afrikanischen
Mischkultur (häufig als Ambakisten bezeichnet), die als
Vorreiter der Transformationen des 19. Jahrhunderts als
die eigentlichen „afrikanischen Pioniere“ dieser Zeit be-
zeichnet werden können.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste, „Zur Ge-
schichte einer europäischen Annäherung“, setzt sich mit
den europäischen Wahrnehmungsstrukturen des 19. Jahr-
hunderts auseinander und rückt insbesondere die Dar-
stellung der Forschungsreisenden zurecht, wonach sie
„jungfräulichen Boden“ betraten. Gegenübergestellt wird
der heutige historische Stand; So ist die Umbruchszeit des
19. Jahrhunderts im westlichen Zentralafrika wie auch an-
derswo geprägt durch die Vermehrung und Differenzie-
rung der Exporte infolge des Übergangs zum „legitimen
Handel“, was u.a. mit der Verstärkung der innerafrika-
nischen Sklaverei und des Sklavenhandels, der Individua-
lisierung der kommerziellen Aktivitäten, dem Aufstieg
neuer gesellschaftlichen Gruppen oder ganzer ethnischer
Verbände - vor allem den Chokwe - sowie mit der Er-
schütterung und schließlich dem Kollaps älterer poli-
tischer Organisationen, wie dem Lunda-Reich, einher-
ging-
Im zweiten Teil werden die verschiedenen namentlich be-
kannt gewordenen luso-afrikanischen und afrikanischen
Protagonisten der Karawanen und des Fernhandels in bi-
ographischen Skizzen vorgestellt; die Mitglieder einer
einflussreichen Ambakisten-Händlerfamilie, einzelne
große und kleine Händler unterschiedlichster Herkunft,
Dolmetscher, Träger. Es wird hier deutlich, wie stark die
europäischen Afrika-Forscher von den Kenntnissen die-
ser Karawanenspezialisten nicht nur während ihrer Rei-
sen, sondern auch für die in ihren Werken enthaltenen
Informationen profitiert haben. Leider sind die Nachrich-
ten über die rein innerafrikanischen Unternehmer (haupt-
sächlich Chokwe und Mbangala) sowie über die politisch-
kommerziellen Missionen der Lunda aufgrund der
Quellenlage beschränkt. Immerhin reichen die Daten aus,
um überzeugend das Bild einer Gesellschaft zu entwer-
fen. die sich nicht nur im wörtlichen und im wirtschaft-
lichen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinn - bis
weit ins vermeintlich „unberührte“ Innere hinein - „in
Bewegung“ befand.
Der dritte, systematische Teil der Arbeit vertieft die zen-
tralen Aspekte „Handel, Forschung und Kommunikati-
on“. Klar aufgezeigt wird die herausragende Rolle der
Ambakisten als politischen und kulturellen Vermittlern
zwischen „weißer“ und „afrikanischer“ Gesellschaft. Die
Verbreitung europäischer Güter und Kulturelemente im
Zuge des Handels wird ebenso deutlich gemacht wie die
Komplexität und Flexibilität der von den Akteuren entwi-
ckelten Handelsstrategien, die ihnen ermöglichten, auf
die großräumigen politisch-ökonomischen Entwicklungen
kurzfristig zu reagieren. Einen innovativen Beitrag leistet
im abschließenden Kapitel die Untersuchung der schnel-
len Ausweitung und Verdichtung der Kommunikation im
Zuge des Handels. Die Autorin analysiert, wie durch die
Karawanen als „das Internet“ des 19. Jahrhunderts neue
Kommunikationsräume und -Strukturen entstanden, die
von den afrikanischen Akteuren bewusst in politischem
und handelsstrategischem Sinn manipuliert wurden und
aus denen die Europäer ausgeschlossen waren. Gerade
215
___________TRIBUS 54,2005
wegen der europäischen Herkunft der Quellen ist es aber
leider in diesem Zusammenhang nur in beschränktem
Maß möglich, auf epistemologische und weltanschauliche
Faktoren einzugehen, z.B. auf die Rolle von Vorurteilen in
der Kommunikation oder auf die (auch moralische) Ver-
unsicherung angesichts der „größer“ gewordenen Welt,
die sich u.a. in der Allgegenwart von „Zaubermedizinen“
äußert. Hier stößt man auf eine Grenze des schriftlichen
Quellenmaterials, die sich schwer überwinden lässt.
Der Autorin gelingt es, durch reiches Material eine äu-
ßerst dynamische afrikanische Entwicklung dem Leser
nahe zu bringen, eine Entwicklung, deren Akteure den
Einbruch des Weltmarkts und der europäischen Mächte
nicht passiv erduldeten, sondern aktiv damit umgingen.
Auch waren in diesem Zusammenhang - zu einer viel
früheren Zeit als es mancher heutiger Globalisierungs-
theoretiker vermuten würde - Prozesse kultureller Kreo-
lisierung bereits weit gediehen. Das Werk steht damit in
einer Linie mit neueren Ansätzen vor allem der Untersu-
chung des Sklavenhandels, die den Akzent auf dessen so-
zialen und kulturellen Implikationen legen. Die zahl-
reichen Karten und ein ausführliches Register verschaffen
Orientierung im Dickicht von Namen und Orten. Unver-
öffentlichte Porträtaufnahmen tragen nicht nur zur wei-
teren Individualisierung der erwähnten Personen bei,
sondern stellen wichtige zusätzliche Quellen besonders
zur Sachkultur dar. Es wäre zu wünschen, dass vergleich-
bar detaillierte Studien zu unserer Kenntnis von ähnlich
gelagerten Prozessen in weiteren Teilen Afrikas beitragen
würden.
Paola Ivanov
Mayer-Himmelheber, Clara:
Die Regalia des Kabaka von Buganda - Eine
Biographie der Dinge (Kölner Ethnologische
Studien 28). Münster; LIT-Verlag, 2004. XIX +
278 S„ zahlreiche SW- und Farbabbildungen,
zwei Karten.
ISBN 3-8258-6883-4
Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit einer Ka-
tegorie symbolträchtiger materieller Objekte, den Rega-
lia, im Ritualwesen der traditionellen Herrscher von Bu-
ganda in Uganda. Dabei liegt das Schwergewicht auf
deren schillernden Bedeutungen in der Gegenwart bzw.
in der rezenten Vergangenheit, nachdem das Amt des Ka-
baka - allerdings offiziell ohne politische Machtbefugnis-
se - ebenso wie die entsprechenden Ämter für drei weite-
re Gebiete Ugandas mit dem ganzen zugehörigen Pomp,
Hofämtern und Zeremonien vor kurzem wieder einge-
führt worden war. Die Autorin hat dazu intensive Fcldfor-
schungen sowie Literatur- und Archivrecherchen in
Uganda und England durchgeführt. Die Feldforschungen
bestanden vor allem in Interviews mit Angehörigen der
Elite, darunter sehr vielen Hofamtsinhabern. Dabei ge-
lang es Frau Mayer-Himmelheber in erstaunlichem Maße.
Eliteangehörige für Aussagen zu gewinnen: in der Regel
ist zu führenden Mitgliedern einer Gesellschaft für For-
schungszwecke eher schwer ein Zugang zu erhalten. In
der Arbeit wird vor allem ein Ansatz als Grundlage der
Forschung herangezogen, der in den 1990er Jahren als
„soziales Leben der Dinge“ bezeichnet wurde und der
bisher vor allem die Verbreitung von materiellen Objekt-
gruppen im transkulturellen Feld, also im Zuge der Glo-
balisierung von der Produktion zum Konsum an ganz an-
deren Orten und kulturellen Umgebungen untersucht.
Die übertragene Verwendung des Begriffes „Biographie“
für solche Prozesse hält der Autor für problematisch, was
jedoch der Autorin nicht angelastet werden kann, sondern
Begründern des Ansatzes. Im vorliegenden Fall jedoch
geht es im Übrigen nur marginal um transkulturelle Pro-
zesse, sondern vielmehr um die historische Entwicklung
und die jeweils bestehende Mehrzahl von Bedeutungen
von Regalia je nach Perspektiven unterschiedlicher sozia-
ler Gruppierungen. Dieses ist eine wichtige neue Blick-
richtung, die allerdings in diversen historischen Diszipli-
nen vielfach bereits eingesetzt wurde. Für Buganda ist
bedeutsam, dass das Amt des Kabaka, seine politischen
Funktionen und das Ritualwesen um ihn 1966 abrupt ab-
brachen, aber mindestens hinsichtlich des rituellen Teiles
1993 wieder belebt wurde. Es handelt sich also um die Un-
tersuchung von Aspekten eines Falles von Revitalisierung,
eines Prozesstyps, der in Theorieansätzen zur sozialen Dy-
namik trotz der Häufigkeit seines Vorkommens bisher
keine angemessene systematische Behandlung erfahren
hat. Die Substanz der Untersuchung ist etwas ungleich in
drei Kapiteln des Hauptteils untergebracht: in einem lan-
gen Kapitel werden die am Hofe bedeutsamen Regalia im
Kontext der Inthronisation des gegenwärtigen Kabaka
Mutebi II. 1993 behandelt, also der zentrale Gegenstand;
in einem weiteren Kapitel werden die Regalia verstorbe-
ner Herrscher in den entsprechenden Kultanlagen, die
auch nach der Vertreibung Muteesa’s II. weitgehend in-
takt geblieben waren, besprochen; und in einem weiteren
Kapitel wird die Mediendarstellung der Hochzeit Mutebi’s
II. 1999 behandelt, wobei die Regalia nur marginal er-
wähnt werden. Das letztere Kapitel hätte wohl eher als
Exkurs zum Kapitel über die Inthronisation gepasst; die
Medienverarbeitung der Inthronisation konnte die Auto-
rin nur aus den Quellen und Berichten von Informanten
rekonstruieren, während sie zur Zeit der Hochzeit vor Ort
war und entsprechend intensiv unmittelbar Erhebungen
zu den im Prinzip sehr ähnlichen Vorgängen durchführen
konnte.
Wie dies der Untertitel der Arbeit und die Theorieausfüh-
rungen nahe legen, sollte man eigentlich erwarten, dass
für die einzelnen Regalia durchgehend eine historische
Rekonstruktion bis zu den unmittelbar beobachteten
Phänomenen erfolgen würde. Tatsächlich ist dies jedoch
nur teilweise der Fall, während Verhältnisse im Untersu-
chungszeitraum ganz im Vordergrund stehen. Die Autorin
begründet dies nicht unbedingt überzeugend damit, dass
sich bei Beginn der Feldforschung zeigte, dass die bis 1966
vorhandenen Regalia weitgehend vernichtet worden wa-
ren (S. 3).
Die Ergebnisse aus dem unmittelbaren Untersuchungs-
zeitraum im Umkreis der Inthronisation sind außeror-
dentlich detailliert und überzeugend. Hier wird vor allem
herausgearbeitet, dass es innerhalb der Elite von Bugan-
da und anderen politischen Kräften ganz unterschiedliche
216
Buchbesprechungen Afrika
Einstellungen zum Kabakatum und seinem rituellen Um-
feld einschließlich der besonders herausgestellten Regalia
gab. Es werden zwei große Gruppierungen aufgezeigt, die
in unterschiedlicher Weise den Herrscherkomplex als
zentralen Identitätssymbolismus der Baganda nunmehr
wieder hochhalten und dies auch öffentlich propagieren
können: die Traditionalisten als Förderer überlieferter
Werte und die Monarchisten als mehr zukunftsorientierte
Elite hinsichtlich der Förderung der Machtposition des
Kabaka. Es werden aber auch die teilweise abweichenden
Positionen der Zentralregierung Ugandas, bestimmter
Religionsfraktionen, von ausgesprochenen Modernisten,
indischen Ugandern, Exilbaganda u.a. herausgearbeitet,
und nicht zuletzt natürlich die Haltung des Kabaka selbst.
Es entsteht dadurch ein höchst differenziertes Bild teils
unterschiedlicher, teils sich überschneidender Bedeu-
tungsfelder derselben Symbole, wobei die rekonstruierten
Regalia wichtige Bestandteile sind. Es wird herausgear-
beitet, dass man bei den Inthronisationsritualen ein-
schließlich der Verwendung von Regalia zwischen alt
überlieferten und neueren, also in der Kolonialzeit be-
gründeten Traditionen klar unterscheidet; innerhalb der
alt überlieferten Traditionen werden dann noch öffentli-
che und geheime Traditionen unterschieden, wobei es zu
diesen Kategorien ebenfalls differenziert verschiedene
Einstellungen von Elitegruppen gibt. So werden z.B. be-
sonders die geheimen traditionellen Rituale, die auch der
Autorin unbekannt blieben, von Fundamentalchristen ab-
gelehnt, da grausame und teuflische Dinge vermutet wer-
den. Auch wird herausgearbeitet, dass es angesichts der
Tatsache, dass manches vergessen oder ungenau erinnert
wurde, zu intensiven Aktivitäten der Wiederbelebung ein-
schließlich der Erfindung von Traditionen und des Aus-
handelns von Zuständigkeiten und „richtigem“ rituellen
Handeln vor allem der hier in den Vordergrund tretenden
Klans gekommen ist. ja dass im Auftrag des Kabaka eine
offizielle Kommission feststellen sollte, was angeblich au-
thentisch ist, um damit eine kanonisierte Version von Tra-
ditionen der Hofämter und -rituale in Buchform zu erstel-
len. Auch hinsichtlich der Herrschergräber und ihrer
kontinuierlicher überlieferten Symbolik werden in ähnli-
cher Weise unterschiedliche Einstellungspositionen her-
ausgearbeitet, darunter auch die neueren Bedeutungen
als reines Kulturerbe auf nationaler wie internationaler
Ebene - durch den Vorschlag zur Aufnahme in das Welt-
kulturerbe. Dieses alles ist ungemein beeindruckend von
Frau Mayer-Himmelheber analysiert worden. Es handelt
sich um vorbildliche, differenzierte Behandlungen zum
Thema Revitalisierung.
Weniger gelungen ist der Aspekt der historischen Ent-
wicklung der Regalia und ihres institutioneilen Umfeldes,
was - wie angedeutet - von ihr selbst entgegen wesentli-
chen Gesichtspunkten ihres Theorieansatzes als weniger
beachteter Aspekt angegeben ist. Dies ist allerdings kaum
auf fehlendes Material zurückzuführen. Dabei ist gerade
die Thematik der Revitalisierung in wichtigen Punkten
durch die historische Perspektive noch besser zu beschrei-
ben und zu verstehen, wenn man nämlich berücksichtigt,
was eigentlich schon vergangen ist, aber revitalisiert wer-
den soll. Und in mancher Hinsicht hat die Autorin durch-
aus wertvolles Material zutage gefördert, nämlich soweit
es die Entwicklung der in der frühen Kolonialzeit aufge-
kommenen. zumeist von kirchlichen wie kolonialen In-
stanzen angeregten neuen Regalia betrifft. Was aber die
sog. traditionellen Regalia und die damit zusammenhän-
genden Rituale betrifft, so ist der historische Aspekt dazu
mit Ausnahme der Behandlung der Trommelregalia nicht
angemessen behandelt worden. Eine wesentliche Lücke
in den Ausführungen besteht darin, dass die quellenmäßig
sehr detaillierten, z.T durch frühe missionarische wie ein-
heimische Ethnographen, aber auch spätere Autoren vor-
genommenen Beschreibungen vorkolonialer Inthronisa-
tionszeremonien und der darin vorkommenden Regalia
wie auch diejenigen sonstiger Regalia, wie des Bestandes
an unbedingt dazuzurechnender schützender Fetische,
kaum ausgewertet wurden; einige wichtige Quellenwerke
wie die von Ashe, Felkin und Gorju fehlen überhaupt im
Literaturverzeichnis; Bezüge darauf, wenn vorhanden,
werden meist über Hinweise in Sekundärliteratur, z.B. in
Schriften von Ray, gegeben. Mit diesem reichlich vorhan-
denen Quellenmaterial hätte vielfach aufgezeigt werden
können, was frühzeitig eliminiert und was offiziell beibe-
halten, 1966 abgeschafft und 1993 dann wieder eingeführt
wurde. Auch würde etwa deutlich werden können, worauf
sich eigentlich die von der Autorin im Interview erhobe-
nen negativen Einschätzungen von Fundamentalchristen
zu vermuteten Inhalten (nämlich solchen traditionellen-
kultischen Charakters) der rezenten geheimen Rituale
beziehen. Besonders die Quellen zur Zeit der inneren
Wirren und der kolonialen Okkupation von 1888-1899
hätten voraussichtlich einiges über Entscheidungen von
Eliminierung und Weiterführung bringen können. Auffäl-
lig ist auch das Fehlen einer ganzen Reihe von Arbeiten
der 50er und 60er Jahre mit Themen zu vorkolonialen und
kolonialen Entwicklungen im Literaturverzeichnis, so z.B.
diejenigen von M.C. Fallers (wegen der Literaturhinwei-
se), Gutkind. Jensen. Mayanya, Pratt, Rusch, Southwold
und nicht zuletzt (mit Ausnahme eines zitierten Titels) di-
verse von Low. Damit wäre die Autorin noch auf manches
Unbeachtete zu unmittelbar zum Thema Gehörigem ge-
stoßen oder sie hätte noch wichtige Anregungen zu den
gesamthistorischen Zusammenhängen bekommen. Es
gibt sogar direkt Falsches im Text. Einmal werden die Rei-
henfolge und damit die wichtigen konfessionellen Stand-
punkte der ephemeren Herrscher Kiweewa und Kalema
1888-1890 vertauscht (S.91). An einer anderen Stelle
heißt es gar: „... die von Ham Mukasa beschriebenen Ob-
jekte, die er im Auftrag Mutesas zur Krönung Edward
VII. überbrachte ...“ (S. 104); an dem Satz ist so gut wie
alles außer dem Namen des britischen Königs falsch; nicht
der längst verstorbene Kabaka Muteesa L, sondern Daudi
Chwa schickte Geschenke, und zwar nicht durch den als
Sekretär fungierenden Berichterstatter Mukasa. sondern
durch den Minister Apolo Kaggwaü An späterer Stelle
wird dieselbe Angelegenheit übrigens noch einmal er-
wähnt und dann durchaus richtig!! (S.158, Fußnote 31) So
ist leider einiges in der Arbeit hinsichtlich der Ausarbei-
tung des historischen Aspektes nicht so recht gelungen.
Insgesamt handelt es sich um eine Arbeit, die unbedingt
wichtige rezente ethnographische Gegebenheiten, die vor
allem mit dem Identitätsbewusstsein der Baganda und da-
zugehörigen Symbolen und Ritualen um den Herrscher
Zusammenhängen, und die auch manches Wichtige zu mu-
sealen Bedeutungen von Symbolobjekten sowie zur Be-
217
___________TRI BUS 54,2005
deutung der Medien in Identitätsdiskursen zur Baganda-
kultur enthält und dabei gleichzeitig einen beachtenswerten
Beitrag als Einzelfall zu Prozessen der Revitalisierung lie-
fert. Aber in der Ausarbeitung wie wohl schon bei der Da-
tenerhebung sind einige Unsicherheiten hinsichtlich der
anzustrebenden Erkenntnisziele - und in der Arbeit noch
andere Diffusitäten, z.B. durch nicht recht zum jeweiligen
Kapitel passende vorangestellte Mottotexte - erkennbar.
Der historische Aspekt - die Biographien der Dinge, näm-
lich der Regalia - ist mindestens teilweise nicht angemes-
sen behandelt. Eine Auseinandersetzung mit Symbol- und
Ritualtheorien hätte übrigens manches noch klarer werden
lassen.
Jürgen Jensen
Pogge von Strandmann, Hartmut (Hrsg.):
Ins tiefste Afrika. Paul Pogge und seine prä-
kolonialen Reisen ins südliche Kongobecken
(Cognoscere Historias, Bd. 14). Berlin: trafo
Verlag, 2004.477 Seiten. Abbildungen.
ISBN 3-89626-323-4
ln der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligte sich
eine ungewöhnlich große Anzahl deutscher Forschungs-
reisender an Expeditionen ins westliche Zentralafrika. Zu
ihnen zählte Paul Pogge (1839-1884), der sich zunächst
nur als Volontär auf eigene Kosten der so genannten Cas-
sange-Expedition angeschlossen hatte, dann aber als ein-
ziger der fünf deutschen Teilnehmer bis zur Hauptstadt
der Lunda gelangte und wenige Jahre später, zusammen
mit Hermann von Wissmann, ein eigenes Forschungsun-
ternehmen an Lulua und Lualaba im Kongobecken führte.
Abgesehen von seinem Buch über die erste Reise, das
durch einen Nachdruck (Kraus Reprint 1973) wieder eine
größere Verbreitung fand, sind seine Briefe und die üb-
rigen Berichte über seine Reisen heute nicht für jeden
leicht zugänglich.
Deshalb ist die Wiederveröffentlichung der meisten von
ihnen in der nun vorliegenden Edition grundsätzlich sehr
zu begrüßen. Leider wird die Auswahl der Texte nicht dis-
kutiert, so dass man sich fragt, warum nicht sämtliche
Briefe und Berichte der ersten Reise und nur zwei Be-
richte von Wissmann über die gemeinsame zweite Reise
hier aufgenommen wurden. Auch fehlt ein Hinweis da-
rauf, dass zwei Drittel des ersten Teils von Wissmanns Un-
ter deutscher Flagge quer durch Afrika (1889) der gemein-
samen Reise mit Pogge gewidmet sind (und nicht bloß,
wie angegeben, die Wiederabdrucke im zweiten Teil).
Wenn schon das gesamte Buch von Pogge über die erste
Reise aufgenommen wurde, hätte man gerne auch diese
wichtige Ergänzung zur Hand. Um so schmerzlicher ver-
misst man daher eine Bibliographie mit allen Veröffentli-
chungen Pogges und Wissmanns (soweit sie die gemein-
same Reise betreffen), um die Lücken wenigstens zu
erkennen und bei Bedarf selber schließen zu können.1
1 Eine ziemlich vollständige Bibliographie findet sich in
Beatrix Heintze: Ethnographische Aneignungen. Deutsche
Forschungsreisende in Angola. Frankfurt am Main 1999, S.
446-447.
Da diese Reihe es sich zur verdienstvollen Aufgabe ge-
macht hat, nicht nur „spannende Lektüre vorzulegen, die
von Fachleuten, wo es notwendig erscheint, sachkundig
aufbereitet worden ist“, sondern auch „der Wissenschaft
wichtige ... Quellen zur Verfügung zu stellen“, sollte man
ein Minimum an editorischer Bearbeitung erwarten kön-
nen, zumal der Herausgeber dieses Bandes - ein Urgroß-
neffe Paul Pogges - Professor für Modern History an der
Universität Oxford ist. Aber diese Erwartung wird ent-
täuscht. So findet sich für die meisten Briefe und Berichte
lediglich der vage Hinweis, dass sie „den Mitteilungen der
Afrikanischen Gesellschaft entnommen“ seien. Zu den
zwei restlichen Texten, bei denen die Herkunft etwas ge-
nauer angegeben ist, fehlen entweder der Jahrgang oder
die Seitenangaben.
Für den wissenschaftlichen Gebrauch als Quelle ist es au-
ßerdem nicht hilfreich, wenn nur mitgeteilt wird, dass die
alte Schreibweise „weitgehend beibehalten worden“ ist,
zumal die Eingriffe offensichtlich keineswegs durchge-
hend erfolgten, etwa die Modernisierung eines doppelten
„aa“ (Waare) zu „a“ oder eines „c“ (Sclave) zu „k“. Hör-,
Schreib-, Lese- oder Druckfehler, wie „Deserra“ (für Be-
zerra)2, „Cassanda“ (für Cauanda) oder das Dalum jenes
Briefes, der angeblich am 6.10.1876 geschrieben wurde (in
dem Pogge aber gleich zu Anfang mitteilt, dass er „gestern
am 7.10. angekommen“ sei), bleiben dagegen unverbes-
sert, abgesehen von den schon in den Errata des Originals
als Hörfehler verzeichneten „Baptisten“, die nun still-
schweigend zu „Ambaquisten“ (warum nicht „Ambakis-
ten“?) korrigiert wurden. Die wissenschaftliche Nutzung
dieser Texte wird ferner dadurch erschwert, dass Hartmut
Pogge von Strandmann keinerlei Unterscheidung zwi-
schen Fußnoten des Autors und seinen eigenen macht.
Das führt z.B. zu der absurden Situation, dass in ein und
derselben Fußnote der erste Satz vom Herausgeber, der
zweite von Pogge stammt, ohne dass dies gekennzeichnet
wäre. Glücklicherweise haben die spärlichen Fußnoten
inhaltlich wenig Gewicht.
Den Texten ist eine Einführung des Herausgebers voran-
gestellt (S. 13-61). Sie hat den Vorzug, dass auch bisher
nicht bekannte, unveröffentlichte Briefe Pogges, weiteres
Archivmaterial und eine Reihe von Zeitungsartikeln her-
angezogen werden konnten, die neues Licht auf einige
Aspekte von Pogges Biographie und seine Reisen werfen.
Dabei steht der deutsche Kontext mit der Geschichte der
nationalen geographischen Forschungen ganz im Vorder-
grund und fördert manche interessanten Details, insbe-
sondere was die Finanzierung und die bürokratischen
Hemmnisse dieser Reisen anbelangt, zutage. Der afrika-
nische Kontext, mit dem der Herausgeber ganz offen-
sichtlich nicht vertraut ist und um den er sich auch nicht
2 Siehe zu diesem bedeutenden Ambakisten, dem Pogge
nahezu sein gesamtes historisches und ethnographisches
Wissen über das ,Commonwealth Lunda‘ verdankte, Bea-
trix Heintze, Afrikanische Pioniere. Trägerkarawanen im
westlichen Zentralafrika (ca. 1850-1890), Frankfurt 2002,
Kap. II.1. Dort findet sich auch ein Kapitel (11.2.) über
den durch Pogge berühmt gewordenen Dolmetscher Ger-
mano.
218
Buchbesprechungen Amerika
bemüht hat, bleibt demgegenüber ganz ausgespart.3 Das
hat leider eine erhebliche Einseitigkeit zur Folge. Der
Wunsch des Herausgebers, seinen Urgroßonkel möglichst
positiv darzustellen und unter anderem gegen überzoge-
ne Rassismusvorwürfe in Schutz zu nehmen, ist verständ-
lich. Er macht es sich dabei aber etwas zu leicht, wenn er
Pogges Beurteilung der Afrikaner lediglich als „damals
übliche negative Urteile und Sehweisen“ beiseite schiebt,
denn es gab damals eben doch auch ganz andere Sehwei-
sen, man denke nur an Hcnrique Dias de Carvalho. Dass
diese in Pogges schriftlichen Zeugnissen auftauchenden
Stereotypen eher „den Eindruck einer Pflichtübung (ma-
chen), die von ihm erwartet wurde“, kann ich jedenfalls
nicht nachvollziehen. Wenn man dann noch für die eigene
Interpretation andere Autoren zu Hilfe ruft, sollte man
diese wenigstens genau zitieren. So behauptet Pogge von
Strandmann, indem er Fabian zitiert (S. 43), dass dieser
seine Interpretation des guten Verhältnisses von Pogge zu
den Afrikanern stütze, unterlässt es aber daraufhinzuwei-
sen, dass hier keineswegs Fabians eigene Meinung, son-
dern die von Pogges Zeitgenossen wiedergegeben wird
(„according to his contemporaries...“).4
Wie sehr diese Einführung ausschließlich die Sicht von
Pogges deutschen (und auch europäischen) Zeitgenossen
widerspiegelt, zeigt seine Einschätzung, dass dieser „be-
wiesen (habe), dass ein Vordringen von Westen in das
Kongobecken möglich sei“, ohne zur Kenntnis zu neh-
men, dass damals bereits Afrikaner, Luso-Afrikaner, aber
auch einige wenige Portugiesen diese Routen längst er-
schlossen hatten und eifrig nutzten.5 Da Hartmul Pogge
von Strandmann keinerlei Kenntnisse von der Geschichte
Zentralafrikas besitzt, kann er auch behaupten (S. 27),
dass Cameron 1874 den Muata Jamwo (Mwant Yav)
„noch als Flüchtling an seinen östlichen Grenzen herum-
irrend getroffen hat“. Tatsächlich war dieser Lunda-Herr-
scher (Umbala Kamong Iswot) jedoch damals schon er-
mordet worden und lebte nur in den Erzählungen der
Bevölkerung weiter, die Cameron in einem Dorf mitge-
teill wurden. Hinzu gesellen sich eine ganze Reihe weite-
rer Ungenauigkeiten: Der „bekannte Geograph Adolf
Bastian“ (S. 16) war promovierter Arzt, der sich in Ethno-
graphie habilitiert hatte; der „Afrikakenner Pechuel-Loe-
sche“ (S. 18) hatte bei seiner Ankunft in Loango noch
keine Vorkenntnisse von Afrika; die hundert Träger, die
„in Mossamedes angeworben" wurden (S. 19), stammten
aus dem Hintexland von Novo Redondo (dem heutigen
Sumbe); das Verdienst, den ersten lebenden Gorilla nach
Deutschland gebracht zu haben, gebührt nicht der Lenz-
Expedition (S. 20) sondern, wie es auch in der angegebe-
nen Quelle (A. Lux) richtig heißt, Julius Falkenstein; und
bei den „Brüder(n) Saturnino“ (S. 25) handelt es sich um
3 Zum afrikanischen Kontext siehe Heintze 2002, op.cit..
sowie dazu und zu den vielfältigen Stressfaktoren, denen
die deutschen Forschungsreisenden im westlichen Zen-
tralafrika besonders im 19. Jahrhundert ausgesetzt waren.
Heintze 1999, op.cit., Einleitung, S. 19-91.
4 Johannes Fabian, Out of Our Minds. Reasons and Mad-
ness in the Exploration of Central Africa, Berkeley, Los
Angeles und London 2000, S. 173.
Siehe hierzu Heintze 2002, op.cit.
die Brüder (Custodio und Satunino) de Sousa Machado.
Wissmann musste auch nicht erst von der Afrikanischen
Gesellschaft „für die Expeditionsteilnahme gewonnen“
(S.34) werden, da er sich nach eigenem Bekunden selber
darum beworben hatte, nachdem er durch die Bekannt-
schaft mit Pogge von dessen Afrika-Begeisterung in Bann
gezogen worden war. Für seine Aufgaben als Geograph
(nicht vorrangig als Militär, S. 44) hatte Wissmann dann
auch eigens die erforderliche Zusatzausbildung absol-
viert.
Pogges ethnographische und andere Berichte über seine
beiden Forschungsreisen im westlichen Zentralafrika sind
eine wesentliche, überaus reiche Quelle, die allerdings ei-
ner sorgfältigen Quellenkritik bedarf und sowohl in ihrem
europäischen als auch in ihrem afrikanischen Kontext
analysiert werden muss. Dies vorausgesetzt, ist sie für un-
ser Wissen über die Geschichte und Kulturen des durch-
reisten Gebietes im 19. Jahrhundert unersetzlich. Deshalb
ist es ein Gewinn, nun einen Großteil der Texte über diese
beiden Reisen so bequem in einem einzigen Band zur
Verfügung zu haben. Gerade weil es sich aber nicht nur
um ein spannendes Abenteuerbuch handelt, sondern die-
ses vorrangig auch heute noch eine große Bedeutung als
wissenschaftliche Quelle besitzt, hätte es eine sorgfältige
und angemessene Edierung verdient, für die es nun wohl
keinen Anreiz mehr geben wird. Dem Verlag ist aber zu
der ansprechenden Gestaltung und dem sorgfältigen
Druck des Werkes zu gratulieren.
Beatrix Heintze
Buchbesprechungen Amerika
Fogelson, Raymond D. (Hrsg. Vol. 14):
Southeast. Vol. 14 des Handbook of North
American Indians, hrsg. v. William C. Stur-
tevant. Washington, DC: Smithsonian Institu-
tion, 2004. 1042 Seiten, zahlreiche SW-Fotos,
Zeichnungen, Karten.
ISBN 0-16-072300-0
Die beeindruckende Reihe des „Handbook of North
American Indians“ hat erneut Zuwachs erhalten. Mit
1042 Seiten schlägt der vorliegende Band „Southeast"
alle bisherigen Rekorde. Neben der Fülle an SW-Abbil-
dungen, wobei auch die Wiedergabe bekannter Größen
aus der amerikanischen Ethnologie auf alten Fotos Auf-
merksamkeit erweckt, ist darüber hinaus die beigegebene
Bibliografie mit 227 Seiten faszinierend, selbst wenn nicht
jede Literaturangabe im laufenden Text mit dem/der je-
weiligen Autor(in) in ihr erfasst wurde. Sogar der Index ist
mit 42 Seiten eine Publikation für sich. Mir liegt also ein
schwergewichtiges Buch vor, das nachfolgend mit Blick
auf seine Gliederung, seine Verfasser(innen) sowie einige
ausgewählte Themen vorgestellt werden soll.
Nach Angaben zur Transkription und Übertragung von
Wörtern, Begriffen u.a. aus indianischen in europäische
Sprachen. Erklärung der Zeichen auf Karten sowie Über-
219
___________TRIBUS 54,2005
tragung in metrische Äquivalente folgt das Vorwort des
Herausgebers der Reihe (William C. Sturtevant) und des
speziellen Editors dieses Bandes (Raymond D. Fogelson).
Mit einer dreizehnseitigen Einführung von Jason Baird
Jackson und dem genannten Spezialherausgeber geht es
dann richtig los mit allgemeinen und einweisenden Arti-
keln wie der Geschichte der archäologischen Forschung
von James B. Stoltman, einem Überblick über die ethno-
logischen und linguistischen Sondierungen durch den er-
wähnten Jackson sowie den beiden Herausgebern, weiter-
hin mit Beiträgen zur demografischen Geschichte aus der
Feder von Russell Thornton, zur Umwelt von Kristen J.
Gremillion und über Sprachen, verfasst von Jack B. Mar-
tin. Alles natürlich immer bezogen auf den Südosten
Nordamerikas.
Das Werk ist neben diesen aufgezählten einführenden
Aufsätzen in sieben Kapitel gegliedert, wobei das über
den Inneren Südosten mit zwanzig Abhandlungen das
umfangreichste ist. Ihm folgt als zweites Schwergewicht
der Abschnitt über das Mississippi-Tal und die Golfküsten-
ebene mit insgesamt dreizehn Arbeiten. Die vier kürzeren
Buchteile am Anfang der Publikation nach der Einfüh-
rung umfassen jeweils drei bis maximal fünf Artikel. In
ihnen beschreiben David G. Anderson, Kenneth E. Sassa-
man und Richard W. Jefferies die so genannte regionale
Prähistorie zwischen 9500 v. bis 1000 n. Chr. Nach US-
amerikanischem Verständnis beginnt die eigentliche Ge-
schichte der indianischen Gruppierungen im frühen 16.
Jahrhundert mit dem Eindringen der ersten europäischen
Entdecker und Abenteurer in den nordamerikanischen
Kontinent und endet ca. mit dem Ende des 19. Jahrhun-
derts. und dies nicht nur, wie im vorliegenden Fall, bezo-
gen auf den Südosten (die Zeitspanne zwischen 1000 und
1513, als Juan Ponce de Leon erstmals an Floridas Küste
landete, ist hinsichtlich des Südostens offenbar histori-
sches Niemandsland). Natürlich können gegen diese Art
der Geschichtsschreibung Einwände erhoben werden,
selbst bei Berücksichtigung eventueller archäologischer
Forschungslücken für die erwähnte Periode. Ein weiteres
Indiz dafür, dass Ethnologie und Archäologie noch vieles
an gemeinsamer Arbeit zu leisten haben! Im vorliegen-
den Werk wird die neuere Historie des gesamten Südos-
tens (1513 - Ende 20. Jh.) bis zu den großen Kapiteln mit
regionaler Gliederung in fünf Beiträgen betrachtet, das
heißt von der Zeit „bis 1776“ über die Periode von der
Unabhängigkeitserklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhun-
derts, sodann seit der Vertreibung mit Blick auf den „Al-
ten Süden“ sowie auf den westlichen Südosten. Abschlie-
ßend werden in diesem Kapitel die kleineren Ethnien im
Westen des dem Buch zugrunde liegenden Kulturraumes
behandelt. Autor(inn)en sind in der Reihenfolge der Arti-
kel: Claudio Saunt, Gregory Evans Dowd, John R. Finger
mit Theda Perdue, Donald L. Fixico sowie Ives Goddard
mit Patricia Galloway, Marvin D. Jeter. Gregory A. Was-
kelkov und John E. Worth.
Mit dem dritten Kapitel folgt Florida. Hier beginnt die
Prähistorie erst nach 500 v. Chr., was natürlich viel zu spät
ist, denn bereits für das Ende des Pleistozäns sind Men-
schen auf der Halbinsel nachweisbar und um 5000 v. Chr.
setzten einige Gruppen nach Kuba über. Dieser zu kurz
greifenden nordamerikanischen Urgeschichte, denn um
eine Prähistorie oder Vorgeschichte handelt es sich ja so-
wieso nicht, folgen Beschreibungen einzelner Ethnien
(Calusa. Timucua) sowie früher Gemeinschaften Mittel-
und Südfloridas. Diese vier Aufsätze über die Autochtho-
nen der südöstlichsten Region unseres Großraums gehen
fast vollkommen auf Jerald T. Milanich zurück, lediglich
ein Beitrag über die Calusa stammt aus der Feder von
William H. Marquardt. Auch im nächsten Abschnitt über
die Atlantische Küstenebene meldet sich noch einmal Mi-
lanich mit einer Abhandlung zur „Prähistorie“ der Unte-
ren Atlantikküste nach 500 v. Chr. zu Wort. Die weiteren
Artikel über die Guale, Yamasee und Cusabo schrieben
John E. Worth und Gene Waddell.
Das wie gesagt längste Kapitel über den Inneren Südos-
ten beginnt mit der Urgeschichte nach 500 v. Chr. und en-
det mit den Choctaw von Ardmore in Oklahoma. Um nur
einige der zahlreichen in diesem Abschnitt behandelten
Ethnien aufzuführen: Tutelo, Catawba, Lumbee, Chero-
kee, Creek, Alabama, Koasati, Yuchi, Seminolen und Mic-
cosukee.Chickasaw und Chakchiuma. Als Verfasser(innen)
zeichnen verantwortlich (in der Reihenfolge der Beiträ-
ge): David J. Hally und Robert C. Mainfort, Jr., Raymond
J. DeMallie, Blair A. Rüdes,Thomas J. Blumer und J. Alan
May, Karen I. Blu, Patricia B. Lerch, Raymond D. Fogel-
son. Duane H. King, Willard B. Walker, Pamela Innes, An-
thony J. Paredes, Stephanie A. May, Jason Baird Jackson,
William C. Sturtevant und Jessica R. Cattelino, Richard A.
Sattler, Kevin Mulroy, Robert A. Brightman und Pamela
S. Wallace, Patricia Galloway, Letztere auch mit Clara Sue
Kidwell, diese ebenfalls als alleinige Autorin, und zum
Schluss Victoria Lindsay Levine.
Das zweitlängste Kapitel, wie oben erwähnt, beginnt zeit-
lich wiederum bei 500 v. Chr., wobei die ..Prähistorie“ hier
das Mittlere Mississippi-Tal und die Ozarks, das Untere
Mississippi-Tal, den Westen des dem Buch zugrunde lie-
genden Kulturgebietes und die Golfküstenebene umfasst.
In neun Abhandlungen folgen Aussagen über etliche be-
kannte Ethnien von den Tunica bis zu den Apalachee. Ge-
schrieben wurden sie von: Martha Ann Rolingson, Trist-
ram R. Kidder, Ann M. Early, lan W. Brown, Jeffrey R
Brain, George Roth und Willem J. de Reuse, Patricia Gal-
loway und Jason Baird Jackson, J. Daniel Rogers und
George Sabo, III, Jack Campisi, Robert A. Brightman, Hi-
ram F. Gregory, Jr.. William W. Newcomb, Jr., George E.
Lankford sowie schließlich Bonnie G. McEwan.
Das letzte Kapitel mit Spczialthemen umfasst neun Ar-
beiten, die von den in der amerikanischen Archäologie
gerne herangezogenen Intcraktionssphären (Stichwort:
Austausch materieller und immaterieller Güter) bis zum
Überleben und zur Wiederbelebung autochthoner Kultu-
relemente, ja tribaler Gemeinschaften und ihrer Aner-
kennung in selbst gewählter Isolation inmitten der ameri-
kanischen Gesellschaft reichen. Dabei handelt es sich
allerdings nicht um Akkulturation und Auferstehung indi-
anischer Gemeinden mit Selbstverwaltung und politischer
Teilautonomie. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass in
diesem Abschnitt Themen überregionalen Charakters be-
handelt werden, die in die anderen Kapitel nicht passen
wollten. So werden neben der erwähnten Thematik auch
Abhandlungen über „Mythologie und Folklore“, „Mu-
sik“, „Zeremonialismus“ vor 1500 und nach 1800 sowie
„Afro-Amerikaner in indianischen Gesellschaften“ vor-
gelegt. Die Verfasser(innen) sind meist identisch mit de-
220
Buchbesprechungen Amerika
nen in den vorangegangenen Passagen, mit folgenden Aus-
nahmen: James A. Brown, Greg Urban, Vernon James
Knight, C. Blue Clark,Tiya Miles und Celia E. Naylor-Oju-
rongbe. - Im Anhang werden alle Wissenschaftler(innen)
mit ihren akademischen Instituten aufgeführt, gefolgt von
der eingangs erwähnten Bibliografie und einem nicht gegli-
ederten Register.
Die Ausstattung des vorliegenden Werkes folgt der beim
„Handbook“ gewohnten Qualität. Jeder Artikel enthält
neben SW-Abbildungen mindestens eine Karte. Eigent-
lich erübrigt sich der Hinweis, dass auch diese Publikation
der auf zwanzig Bände angelegten und seit vielen Jahren
wachsenden Reihe in die Bibliothek jedes Amerikanisten
gehört, wobei nicht nur Ethnologen, sondern auch Sozio-
logen, Historiker und Archäologen angesprochen sind.
Für Universitätsbibliotheken ist das Handbook of North
American Indians sowieso eine Conditio sine qua non.
Axel Schulze-Thulin
Kowalski, Andreas:
,Tu Es Quem Sabe.’ ,Du bist derjenige, der es
weiß.’ Das kulturspezifische Verständnis der
Canela von Indianerhilfe. Ein ethnographi-
sches Beispiel aus dem indianischen Nordost-
Brasilien (Curupira 18). Marburg: Förderver-
ein „Völkerkunde in Marburg“ e.V, 2004. 249
Seiten mit SW-Abbildungen.
ISBN 3-8185-0396-6
Wer im Frühjahr 2004 die Berliner Tagung INDIEGegen-
wart zur aktuellen Lebenssituation der indigenen Gesell-
schaften des südamerikanischen Tieflands verfolgt hat,
dem ist sicher aufgefallen, wie anwendungs- und praxis-
nah die meisten Spezialisten des südamerikanischen Tief-
lands arbeiten wollen. Gleichwohl wurde in vielen Beiträ-
gen deutlich, wie schwierig - so mein Eindruck:
frustrierend - Übersetzung und Umsetzung westlicher,
meist ökologisch inspirierter Anliegen nach wie vor sind.
Möglicherweise kann eine Rückbesinnung auf ethnologi-
sche Kernkompelenzen, nämlich im Sinne der politischen
Ethnologie Erkenntnisse zu Weltanschauung und Soziali-
tät als Quelle von Handlungsmustern zu gewinnen, etwas
mehr Klarheit schaffen über die Vorgänge auf dem
schwankenden „Middle Gmund“ (Conklin/Graham 1995)
zwischen Indigenen und westlichen Partnern. Kowalskis
Beitrag, seine Dissertation, ist ein wichtiger Schritt in die-
se Richtung ethnologischer Forschung des südamerikani-
schen Tieflands. Ende der 90er Jahre war Kowalski in ei-
nem Hilfsprojekt bei den nordost-brasilianischen Canela
als eine Art Berater („Kooperant“), also in einer Mittler-
funktion zwischen westlicher Geberinstanz und den indi-
anischen Empfängern tätig. Wie es leider eben immer
noch zu wenig der Fall ist, war Kowalski als ausgebildeter
Ethnologe aber auch imstande, aus seiner Rolle herauszu-
treten, um so in einer „Ethnologie der kulturellen Zwi-
schenräume“ (33) die Vorgänge auf dem „Middle Gmund“
zu beobachten und zu reflektieren. Kowalski interessierte
sich dabei für das kulturspezifische Verständnis der Cane-
la von „Indianerhilfe“, was er explizit nicht behandeltest,
welche Schlüsse aus deren notorischem Scheitern zu zie-
hen wären.
Kowalski führt sein Buch ein mit einem knapp gehaltenen
ethnographischen Abriss, beschreibt die historisch zuneh-
mende Integration nicht-indianischer Elemente in den
Alltag, wobei die Sozialorganisation, die berühmte Dual-
organisation der Ge-Gesellschaften davon merkwürdig
unberührt geblieben zu sein scheint. Anstatt des dialekti-
schen Widerstreits der moieties als gesellschaftlichem Mo-
tor hebt Kowalski die Synthese, das Streben nach „Ge-
meinschaftlichkeit“ hervor, einer gesellschaftlichen Norm,
die er dann konsequenterweise auch der kulturspezifi-
schen Rezeption externer Hilfsprogramme zugrunde legt.
Neuerungen der politischen Organisation werden er-
wähnt, überraschend wenig erfahren wir über Strukturen
und Geschichte der Wirtschaft der Canela, immerhin -
möchte man meinen - gäbe dies Aufschluss über die
„Hilfsbedürftigkeit“ dieser Gesellschaft. Allerdings geht
es Kowalski - wae gesagt - um das Verständnis der Canela
von „Entwicklungshilfe“ und nicht, wie ihnen zu helfen
ist. Es ist jedoch, mit Verlaub, die zweite Frage, die der
ersten ethisch gesehen Sinn verleiht! Eine gewisse Proble-
matik in der Argumentation Kowalskis liegt meines Er-
achtens darin, ein Problem der politischen Ethnologie,
nämlich das ständige Scheitern von Entwicklungspro-
jekten bei den Canela (was bekanntlich nicht nur für die-
se Tiefland-Gruppe gilt!), sprich die Nicht-Übertragbar-
keit von Handlungsansätzen (Maßnahmen zur
Verbesserung der defizitären Situation im Bereich von
Gesundheit, Ernährung, Bildung etc.), kulturalistisch zu
übertünchen: ich glaube nämlich nicht, dass die Canela
etwa Mangelernährung (das „Scheitern“) als Affirmation
kultureller Eigenständigkeit (127) auffassen und als sol-
che zu schätzen wissen. Kowalski geht hier ein wenig
einem Diskurs auf den Leim, der enthusiastisch die „Rol-
le der Kultur bei der Definition von Entwicklungszielen“
(220) einfordert, wobei unterstellt wird, dass indigene
Kultur immer schon im Gegensatz zur hegemonialen,
westlichen, kapitalistischen etc. Kultur gestanden habe
und deshalb auch aktuell noch gegen letztere in Stellung
gebracht werden könnte. Eine seltsam unhistorische Ar-
gumentation, die nicht sehen will, wie die indigene Kultur
längst von der sie umgebenden hegemonialen affiziert
und modifiziert worden ist. Konkret: das Scheitern von
Projektarbeit ist womöglich nicht unbedingt Ausdruck
kultureller Eigenständigkeit, sondern bereits Anwand-
lung etwa an lokale Korruptionskultur. Ich betone dies, da
es Kowalskis Hauptargument betrifft. Um seine These zu
untermauern, begibt sich Kowalski auf ein Feld, das ich
für außerordentlich fruchtbar halte, um Aufschluss über
gegenwärtig wirkende Handlungsorientierungen zu er-
halten: die Erzähltradition. In der Mythe um den Helden
Anke, die die Verteilung der Kulturgüter (und damit der
relativen Macht) zwischen den Indianern und den Weißen
abhandelt, findet Kowalski die „Dauerstruktur“ (133)
wieder, die das Verständnis der Canela von „Indianerhil-
fe“ prägt, ln Anlehnung an DaMatta sei die Auseinander-
setzung mit dem Fremden das zentrale Thema dieses My-
thos. springender Punkt sei, dass die ungleiche Verteilung
221
___________TRIBUS 54,2005
der materiellen Güter die Nutznießer (die Weißen) dazu
verpflichte, die zu kurz Gekommenen (die Indianer) mit
regelmäßigen Zuwendungen zu entschädigen. Das Kul-
turspezifische am Umgang der Canela mit „Indianerhil-
fe“ liege demnach zum einen darin, durch Sabotage der
guten Absichten kulturellen Eigensinn zu demonstrieren,
jedoch bis es soweit ist, die willkommene Quelle begehr-
ter Güter anzuzapfen. So gesehen halte ich Kowalskis
zweiteilige Argumentation für schlüssig, nicht folgen
möchte ich ihm in seinem Bemühen, die Prozesse ins Po-
sitive zu wenden: sowenig das „Scheitern“ (s.o.) für die
Beteiligten etwas Positives („Eigenständigkeit“) an sich
hat, so wenig gibt meines Erachtens der Aw/cc-Mythos
Anlass, kreativen Umgang mit dem Fremden herauszule-
sen. Dieser „Anti-Mythos“ (DaMatta) beschreibt gerade
den Verlust der sozialen Selbstermächtigung, wie sie in
seinem Gegenstück, dem Mythos vom Raub des Herdfeu-
ers, also der Kultur überhaupt, von Jaguar ausgebreitet
wird (vgl. Terence Turner). Beschreibt letzterer Mythos
Personen- und Gesellschaftswerdung mittels Initiative re-
levanter sozialer Segmente (der jungen Männer),schildert
ersterer den Zusammenbruch der sozialen Maschinerie
der dialektischen Ge-Gesellschaften und die Regression
der gesamten Gruppe auf den Status von abhängigen und
unmündigen Kindern: Mündel der Indianerbehörden
eben. In seinem Schlusskapitel (2l()ff.) stellt Kowalski da-
gegen eine Reihe von Canela vor, die eine bemerkens-
werte Eigeninitiative (Unternehmergeist, politisches Be-
wusstsein, ethnische Affirmation, panindigene Konzepte
etc.) an den Tag legen (vgl. den „Jaguar-Mythos“!), wäh-
rend man bei der „Indianerhilfe“ den Verdacht nicht los
wird (vgl. 214), sie würde genau diese neue-alte Kultur
stören, wenn nicht gar zerstören (vgl. den An/ce-Mythos!).
Aber wie gesagt, dies war nicht Kowalskis Thema.
Trotz meiner Vorbehalte halte ich Kowalskis Buch für le-
senswert, weil es einen sehr lebendigen Einblick in die
aktuelle Lebenswelt brasilianischer Indianer bietet. Den-
noch bin ich überzeugt, um über die Schilderung der Situ-
ation hinaus sinnvolle Perspektiven aufzuzeigen, bedürfte
es theoretischer Diskussionen, auf die sich der Autor nicht
einlassen wollte (33). Aber, um die Verhältnisse noch ein-
mal zurechtzurücken: über die erschreckende ethnolo-
gische Ahnungslosigkeit so genannter Entwicklungsex-
perten (s. Zitat auf Seite 17) ist dieses Buch Lichtjahre
hinaus!
Wolfgang Kapfhammer
Kraus, Michael:
Bildungsbürger im Urwald: die deutsche eth-
nologische Amazonienforschung (1884-1929).
Reihe Curupira, Bd. 19. Marburg: Förderver-
ein, Völkerkunde in Marburg e.V, 2004. 539
Seiten, SW-Abbildungen.
ISBN 3-8185-0397-4
In seiner umfang- und materialreichen Dissertations-
schrift befasst sich Michael Kraus mit einem Forschungs-
zweig der deutschen Ethnologie, der um die Wende zum
20. Jahrhundert einst verheißungsvoll aufblühte, später
aber über Jahrzehnte darniederlag: die Amazonienfor-
schung. Die sie prägenden Forscher-Persönlichkeiten ste-
hen im Mittelpunkt der Darstellung: Karl von den Stei-
nen, Paul Ehrenreich, Konrad Theodor Preuss, Theodor
Koch-Grünberg, Max Schmidt und Fritz Krause. Vom Au-
tor in die .zweite Reihe* gesetzt, weil sie nur am Rande
zum Institutionalisierungsprozess der jungen Disziplin
Völkerkunde in Deutschland beitrugen, werden Hermann
Meyer, Wilhelm Kissenberth, der Schweizer Felix Speiser
und eben auch der überragende Amazonien-Ethnograph
seiner Zeit, der deutschstämmige Gurt Unckel Nimuen-
dajü. Das hohe Ansehen, das diese Pioniere von jeher in
der internationalen Südamerikanistik genießen, kontras-
tiert dabei eigentümlich mit ihrem vergleichsweise gerin-
gen Stellenwert in der deutschen Ethnologie.
Vor diesem Hintergrund will Michael Kraus durch „Ver-
bindung historischer Untersuchungsmethoden mit ethno-
logischen Betrachtungsweisen“ (S.18) zum Ausfüllen ei-
ner weitgehend noch unbearbeitet gebliebenen Lücke der
(deutschen) Fachgeschichte beitragen (S.28). Dabei ge-
lingt ihm eine beeindruckend „dichte Beschreibung“ ei-
ner Forschungs-Epoche, die die Bezeichnung „Ethnogra-
phie“ durchaus verdient, auch - und gerade -, weil hier
einmal Wissenschaftler die Untersuchungsobjekte sind.
Unter den „historischen Selbstzeugnissen“, die dieser
Ethnographie - bezeichnen wir die Arbeit im Folgenden
ruhig als solche - zugrunde liegen, konnte der Autor dabei
auf zum großen Teil noch unbearbeitetes Material, unter
anderem auf den der Universität Marburg übergebenen
Nachlass Theodor Koch-Grünbergs, auf Expeditionsakten
des Ethnologischen Museums in Berlin und Dokumente
anderer Institutionen, auch des Linden-Museums. zurück-
greifen.
Zwischen Prolog und Epilog ist die Arbeit in drei große
inhaltliche Blöcke gegliedert. In Kapitel II werden die in-
stitutionellen Rahmenbedingungen der Amazonienfor-
scher in Deutschland geschildert, was auch über das regi-
onale Forschungsfeld hinaus einen differenzierten
Einblick in den Identitätsfindungsprozess der kaiserzeit-
lichen Völkerkunde zwischen wissenschaftlichen Verei-
nen, Museen und Universität vermittelt. Der im Umfang
mit annähernd 300 Seiten größte Teil (Kapitel III) ist der
Beschreibung und Analyse der Forschungsexpeditionen
gewidmet, wobei drei große Abschnitte den zur Durch-
führung notwendigen Etappen entsprechen: „Der Weg
nach Südamerika“, „Zwischen den Zielen“ (im Sinne der
Zeit- und Raumspanne zwischen der Ankunft in Südame-
rika und dem Erreichen des eigentlichen Forschungsge-
bietes) und den „Forschungen im Indianergebiet“, ln Ka-
222
Buchbesprechungen Amerika
pitel IV schließlich geht es um die „Die Anthropologie
der Ethnographen“. Hier unternimmt es der Autor, den
zugrunde liegenden Methodiken,Themenschwerpunkten,
den theoretischen Grundannahmen sowie dem Weltbild
der Forscher auf die Spur zu kommen.
Zwar werden die Forscher und ihre verschiedenen For-
schungsexpeditionen nicht getrennt, sondern in zahlrei-
chen thematischen Unterkapiteln vergleichend beschrie-
ben und reflektiert, aber dennoch glückt die anvisierte
Wahrung des Einzelfallcharakters (S.21) der Beispiele
durchweg gut. Detailreich schmückt Michael Kraus, darin
ganz den „historischen Selbstzeugnissen” treu, den zeitge-
nössischen Forscherkosmos aus. Das Netz der Unterstüt-
zer und Kontaktpersonen in Südamerika wird dargelegt,
Transportprobleme erörtert. Warten und Langeweile als
wesentliche Merkmale des Reisens gebührend gewürdigt
ebenso wie die gesundheitlichen Beschwerden der For-
schungsreisenden, die Gruppendynamik der in Größe
und Zusammensetzung freilich sehr unterschiedlichen
Expeditionen, schließlich die verschiedenen Formen des
Kontakts mit den Indianern, und selbst Reisekostenab-
rechnungen und Inventarlisten werden wiedergegeben
und dem Leser quasi als Ethnographika vor Augen ge-
malt - womit die Liste der Themen noch nicht vollständig
wiedergegeben ist. Und wie es dem Autor gelingt, mittels
seines flüssigen, dabei ganz und gar unprätentiösen Stils
den Leser bei Laune zu halten, das ist beachtlich und bie-
tet Ethnographie im besten Sinne des Wortes. Durch lan-
ge Zitate aus Korrespondenzen.Tagebuchaufzeichnungen
und Veröffentlichungen lässt der Autor die Protagonisten
selbst immer wieder ausführlich zu Wort kommen, die bis-
weilen köstliche Proben von Witz und Selbstironie geben,
aber auch anrührende Melancholie verströmen.
Darüber hinaus ist die Kraus’sche Ethnographie ein gelun-
genes Beispiel dafür, dass der Vorrang des Konkreten nicht
durch einen Mangel an Reflektion erkauft sein muss. An-
geregt durch die postmoderne „Writing-Culture“-Debatte
entwickelt der Autor einen forschungsgeschichtlichen Me-
thodendiskurs, der demonstriert, dass die Forschungsme-
thodik der Altvorderen und ihre Darstellung auch heute
immer noch (oder wieder) Anregungen bieten können.
Tatsächlich nämlich, so ein Argumentationsstrang, war die
üppige „Schlacke“ der Erhebungsumstände, die von den
Amazonienlörschenden auch in ihren Publikationen so
ausgiebig geschildert wurde, eine bewusst angewandte Me-
thode, um den Kontext der Datengewinnung zu erhalten,
die davor schützte, ein ideales Bild von Feldforschung zu
zeichnen - eine Übung, in der es der (vermeintliche) Erfin-
der der teilnehmenden Beobachtung, Bronislaw Mali-
nowski, zur Meisterschaft gebracht hatte und damit einen
erkenntnistheoretischen Rückschritt vollzog, wie Michael
Kraus konstatiert (S.213). Damit positioniert er sich auch
explizit gegen manch selbstgefällige postmoderne Kritik,
die in der Schilderung der Umstände des Forschens ledig-
lich Strategien zur Untermauerung der ethnographischen
Autorität der Schreibenden zu entdecken vermag (S.206).
Die diesbezüglichen Schilderungen der Amazonienfor-
scher aber seien im Gegenteil eher dazu angetan, sensatio-
nalistischen Beschreibungen und dem „Mythos des For-
schungsreisenden“ entgegenzutreten.
Überhaupt wirken die Amazonienforscher immer wieder
überraschend modern. Michael Kraus zeigt sie u.a. als de-
facto-teilnehmende-Beobachter lange vor Malinowski,
die zum Teil bereits den Wert stationärer Feldforschung
erkannt hatten und die Glaubwürdigkeit der erhobenen
Daten kritisch diskutierten; er verweist auf ihre Interdis-
ziplinärst, entdeckt Ansätze zur kulturrelativistischen
Einschränkung des evolutionistischen Theoriehorizonts
ihrer Zeit (S.421 ff), und last but not least vermag man un-
ter dem Eindruck des Geschilderten nachzuvollziehen,
dass und wie heutige Feldforschung unter einem „zuneh-
menden ,Verlust des Reisens4“ (S.222) leidet.
Bei aller Empathie bleibt Michael Kraus dabei auch ein
distanzierter und kritischer Ethnograph, dem das kleine
Kunststück gelingt, es weitestgehend dem Leser zu über-
lassen, sich einen Reim auf die aus dem Material heraus-
gearbeiteten Widersprüche und Ambivalenzen im Per-
sönlichkeitsbild und Handeln der Forscher zu machen.
Am deutlichsten tritt eine eigene Position in pointierten
Auseinandersetzungen mit heutigen Kritikern hervor,
wenn sie in seinen Augen pauschale und zum Teil unfun-
dierte (Negativ-)Urteile etwa über die „koloniale Ethno-
logie“ (auch) der Amazonienforscher fällen. Michael
Kraus gelingt das Nachzeichnen eines binnenkolonialen
Forschungskontextes, dessen oft gewaltsamen Herr-
schaftsverhältnissen sich die Forscher, gleichwohl nicht
als Vertreter einer Kolonialmacht, durchaus bewusst be-
dienten (ihr Verhalten ganz zeitgemäß u.a. damit rechtfer-
tigend, dass sie die vielleicht letzte Chance zur Dokumen-
tation der dem Untergang geweihten Amazonas-Kulturen
wahrnahmen). Andererseits waren sie im direkten Kon-
takt mit den Indianern oft auch den Launen ihrer Gastge-
ber ausgeliefert (je nach Stärke und bewaffneter Ausrüs-
tung der Expeditionen, die stark variierten). Und die
charakterlichen Eigenarten der Forscher gaben jeder Un-
ternehmung ohnehin einen eigenen Anstrich. Die freund-
lich-burschikose und dabei mitunter hinreißend selbstiro-
nische Art des Karl von den Steinen, der freilich auch
nicht vor massiver Einschüchterung zurückschreckte,
wenn es darum ging, seine Interessen gegenüber den Indi-
anern durchzusetzen, wird jedem Leser sicher nachdrück-
lich in Erinnerung bleiben. Im Typus entgegengesetzt war
der „melancholisch wirkende [...] und oft nachgiebig agie-
rende Speiser“ (S.294), der in Deutschland dafür verhöhnt
wurde, weil er gerade nicht als weißer Herrenmensch auf-
trat. Intensiv auch das Porträt von Theodor Koch-Grün-
berg, dessen forscherischer Enthusiasmus mit einer gehö-
rigen Portion Kulturpessimismus hinsichtlich seiner
eigenen Kultur durchsetzt war und dessen Indianer-Schil-
derungen dennoch zwischen Bewunderung und Abwer-
tung schwankten. Mit einem Wort: Pauschale Urteile über
den kolonialen Charakter der Ethnologie um die Wende
zum 20. Jahrhundert (das ethnographische Wirken in
Amazonien stellte nach Einschätzung des Autors eher ein
Randereignis dar, das das Schicksal der Region nicht zu
prägen vermochte, S.376f) führen zu Einseitigkeiten und
Verzerrungen. Michael Kraus verfällt nicht in den belieb-
ten Fehler, besserwisserisch von einem heutigen Stand-
punkt aus Urteile zu sprechen; die Darstellung sucht sich
ihre Orientierungspunkte im zeitgenössischen Kontext
und Erkenntnisrahmen, und das macht sie überzeugend
und dabei nicht weniger kritisch.
Freilich, nicht jedes Forscher-Porträt fällt gleichermaßen
überzeugend aus. Die Persönlichkeiten Theodor Konrad
___________TRIBUS 54,2005
Preuss1 oder Fritz Krauses beispielsweise bleiben ver-
gleichsweise blass. Das mag der unterschiedlichen Quali-
tät und Menge der jeweils zur Verfügung stehenden Ar-
chivalien geschuldet sein, aber es hätte sich gut gemacht,
wenn Michael Kraus mit ein paar erklärenden Worten auf
dieses Ungleichgewicht zu sprechen gekommen wäre.
Nach viel verdientem Lob sollen noch ein paar weitere
kritische Anmerkungen eingereicht werden. So vermisst
man ein Wort zu der Gefährdung der Indianer durch von
außen eingeschleppte Krankheiten - ein bis heute viru-
lentes Problem des Kulturkontakts insbesondere mit so
genannten „isolierten Gruppen“. Wenn von den mehr
oder weniger großen Wehwehchen der Forschungsreisen-
den die Rede ist, würde man gerne auch wissen, ob die
Forscher selbst eine gesundheitliche Gefährdung für die
Indianer darstellten und wie sie ggf. mit dieser Situation
umgingen. Und dass nicht jeder Abschnitt gleich interes-
sant geraten ist - die Ausführungen über Aufenthaltsdau-
er und Sprachkenntnisse der Forscher (S. 265-82) sind
doch etwas langatmig und trocken geraten -, sei auch er-
wähnt.
Gegen Ende schließlich gerät die Balance zwischen Ein-
zelfalldarstellung und Verallgemeinerung doch noch et-
was in Schieflage. Unversehens ist es Theodor Koch-
Grünberg fast allein, an dem der Autor (in einer in sich
durchaus schlüssigen Einzelfallanalyse in Kap. IV.2.2.)
aufzeigen will, dass das Indianerbild der Amazonien-For-
scher letztlich ein Vexierbild der eigenen bildungsbürger-
lichen Normen und Werte darstellte, die letztlich auch
ihre spezifische Form des Evolutionismus prägte: eben
nicht als „technologisch, wirtschaftlich, rassisch [...] oder
national“, sondern als kulturell begründete Stufenfolge
(S.468), dem die Idee einer grundsätzlichen Wesensun-
gleichheit der Kulturstufen fremd war. Alle weiteren Pro-
tagonisten werden aus diesem Teil der Analyse weitge-
hend ausgeblendet. Das ist als Nachweis zur
Charakterisierung einer ganzen Forschungsepoche viel-
leicht doch etwas dünn, zumal die „Bildungsbürger“ ja
Titel gebend für die Studie sind.
Doch der überaus positive Gesamteindruck bleibt beste-
hen. Michael Kraus hat nicht nur eine anregende und gut
lesbare Ethnographie über den „Stamm der Amazonien-
Forscher“ in Deutschland vorgelegt. Er hat darin auch
gute Argumente zusammengetragen, um ihnen einen an-
gemessenen Platz in der Fachgeschichte (zurück) zu ge-
ben. Er hat ihre Würde und Integrität bewahrt, ohne da-
bei in kritikloser Wiedergabe vermeintlicher „Fakten“ zu
verharren. Das ist nicht wenig und aller Ehren wert.
Wiegand Jahn
Quilter, Jeffrey:
Cobble Circles and Standing Stones. Archaeo-
logy at the Rivas Site, Costa Rica. Iowa City:
University Iowa Press, 2004. 218 Seiten mit
SW-Abbildungen.
ISBN 0-87745-893-6
“Tire name of the central bus station in San José is derived
from Costa Rica’s Coca Cola bottling plant”.
Jeffrey Quilter (Director for Pre-Columbian Studies,
Dumbarton Oaks) legt einen langen Weg zurück, um in
dem vorliegenden Band die Dokumentation und Ergeb-
nisse seiner von 1992-1998 durchgeführten Grabungen
und Kartierungsarbeiten an den Fundorten Rivas und
Panteón de La Reina, Costa Rica, zu präsentieren. Beide
Fundorte datieren in die späte vorspanische Chiriqui Pha-
se (900-1300 n. Chr.).
Kapitel 1 gibt einen kurzen forschungsgeschichtlichen
und theoretischen Abriss zum Stand der Archäologie
Costa Ricas. Quilters Anspruch, durch die Grabung in Ri-
vas zur theoretischen Diskussion um die Frage der Häupt-
lingstümer in Mesoamerika beizutragen, tritt dabei aus-
drücklich zurück zugunsten des Ziels, zunächst eine
fundierte Materialbasis mit regionaler Grundlage und
überregionalen Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen.
In den Kapiteln 2 bis 5 schildert Quilter den Verlauf und
die Ergebnisse der Grabungen in Rivas. Er folgt in seiner
Darstellung dabei der Abfolge der Feldkampagnen von
1992 bis 1997. Die Flächengrabungen in mehreren Area-
len des auf einer lang gezogenen Terrasse gelegenen
Fundortes konzentrierten sich auf einzeln stehende oder
in Gruppen angeordnete Steirtkreise, die Quilter, abhän-
gig von Fundinventar, zunächst als Grundrisse von Wohn-
oder Zeremonialgebäuden deutet. Daneben wurden Grä-
ber in verschiedenen Arealen des Fundortes untersucht.
Kapitel 6 befasst sich mit der Kartierung des bereits stark
beraubten (weil goldreichen) Gräberfeldes von Panteón
de La Reina auf dem Bergrücken oberhalb von Rivas im
Jahr 1998. Daneben stellt Quilter kurz einen Survey im
Gebiet um den Fundort Murciélago, etwa 50 km Luftlinie
von Rivas entfernt, vor. Dort wurden 23 Fundplätze -
Siedlungen und Gräberfelder - kartiert, die Quilter im
Folgenden für die Interpretation der Befunde und Funde
von Rivas als Vergleich heranzieht.
Kapitel 7 behandelt die Analyse der Keramik und der
Steinwerkzeuge aus Rivas. Im Keramikrepertoire fällt der
überproportionale Anteil von Feinkeramik auf, während
das Formenspektrum sehr reduziert ist und nicht das für
eine Siedlung zu erwartende Inventar an Gebrauchskera-
mik abdeckt. Bei den Steinwerkzeugen ist vor allem das
fast vollständige Fehlen von Reibsteinen zur Maisverar-
beitung augenscheinlich. Beides lässt eine Interpretation
von Rivas als permanente Siedlung (analog zum Fundort
Murciélago, s. Kapitel 6) unmöglich erscheinen.
Kapitel 8 fasst die Grabungsergebnisse zusammen und
entwickelt Quilters Interpretation von Rivas als Zeremo-
nialzentrum, in welchem die Begräbnisriten für den ,Elite-
friedhoP Panteón de La Reina durchgeführt wurden. Da-
bei werden ethnohistorische und ethnographische Quellen
aus der Region kritisch zur Diskussion und Präzisierung
herangezogen. Quilter analysiert anhand der Grabung
224
Buchbesprechungen Amerika
von Rivas anschaulich Theorie und Praxis archäologischer
Erkenntnisfindung.
Der Leser dieses Buches darf keine durchgängige archäo-
logische Materialvorlage und Auswertung herkömmli-
chen Stils erwarten: Jeffrey Quilter erzählt in lockerem
Stil die Geschichte eines Grabungsprojektes von den ers-
ten Konzepten über die Beschaffung der notwendigen
Mittel, die Höhen und Tiefen der Feldforschung bis zur
Auswertung. Er versucht dabei aufzuzeigen, wie sehr per-
sönliche Konstellationen, Zufälle, äußere Zwänge, reflek-
tierte und unreflektierte Entscheidungen den Verlauf der
Forschung bestimmen und ihre Ergebnisse prägen. Dieses
an sich ehrliche und nützliche Unterfangen geht aller-
dings teilweise zu Lasten einer wissenschaftlich erschöp-
fenden Darstellung dieses so wichtigen Fundortes: der
von erzählerischen und reflektierenden Passagen durch-
setzte Text folgt weitgehend der Abfolge der Grabungsar-
beiten, die Dokumentation und Auswertung der Grabung
selbst erschließt sich dem Leser dabei etwas mühsam, und
die Lesbarkeit der Karten, die Präsentation der Befunde
sowie die Standards der Funddokumentation dürften
nicht in allen Fällen den Ansprüchen eines archäologi-
schen Fachpublikums entsprechen.
Nichtsdestotrotz stellt das vorliegende Buch einen wichti-
gen Beitrag zur Kenntnis einer ansonsten noch immer zu
unrecht vernachlässigten Region dar. Darüber hinaus gibt
es einen Einblick in die Hintergründe archäologischer
Forschung, der ein annähernd realistisches Bild archäolo-
gischer Arbeit vermittelt, auch wenn Quilter mit seinem
explizit deduktiven Forschungsansatz sicherlich nicht die
Mehrheit seiner nordamerikanischen Fachkollegen reprä-
sentiert.
Iken Paap
Schweitzer de Palacios, Dagmar /
Wörrle, Bernhard (Hrsg.):
Heiler zwischen den Welten. Transkulturelle
Austauschprozesse im Schamanismus Ecua-
dors (Reihe Curupira, Band 15). Marburg:
Förderverein „Völkerkunde in Marburg e.V“,
2003.229 Seiten mit SW-Fotos.
ISBN 3-8185-0381-8, ISSN 0945-8476
Das von Schweitzer de Palacios und Wörrle herausgege-
bene Sammelwerk gehört zu jenen Büchern, die detailrei-
che, bis in Einzelheiten gehende Kenntnisse einer relativ
begrenzten Region vermitteln. Geographisch behandelt
der Band das Land Ecuador. Der thematische Schwer-
punkt der Beiträge liegt auf transkulturellen Austausch-
prozessen im Bereich verschiedener schamanischer indi-
gener Traditionen. Die sechs Autoren (mit Ausnahme des
Arztes Michael Knipper ausschließlich Ethnologen/in-
nen) haben zu diesem Thema entweder ihre Magisterar-
beit und/oder Promotion abgeschlossen und forschen ge-
genwärtig weiter zum Thema Heilung und Schamanismus
in verschiedenen Regionen Ecuadors. Über die Thematik
hinaus vereint die Autoren das Bekenntnis zu den besten
Vorsätzen ethnographischer Praxis: ausgedehnte Feldstu-
dien und eine wortgetreue Wiedergabe und Transkription
mündlicher Mitteilungen ihrer Gesprächspartner/innen,
die dem Leser deren Sprechweisen und Weltanschauun-
gen näher bringt.
Die Otavalenos im Hochland Nordecuadors sind vor al-
lem als erfolgreiche fahrende Händler bekannt, die über
ihr ausgedehntes soziales Netzwerk in den letzten Jahr-
zehnten auch in europäischen Ländern ihre Textilwaren
anbieten. Wörrle untersucht in seinem Beitrag „Wissen,
Macht und fremde Federn. Interethnische Heilerbezie-
hungen in Nordecuador“ die Rolle von Netzwerken bei
der Aneignung fremden Wissens. Seine Untersuchung des
Transfers von Macht und Wissen - u.a. dient im Hochland
die Beziehung zu fremden Heilem viel mehr zur Legiti-
mation des Heilers als im Tiefland - beruht auf einem Teil-
aspekt seiner kenntnisreichen Dissertation (Wörrle
2002).
Am Beispiel der Colorado oder Tsächila des westlichen
Tieflandes zeigt Montserrat Ventura i Oller („Schamani-
sche Austauschbeziehungen und Identität. Das Netzwerk
der Colorados“), dass Austauschbeziehungen verschiede-
ner Art seit der Kolonialzeit ein Charakteristikum der
Tsächila sind. Ihrer Meinung nach bedeuten hier Aus-
tauschbeziehungen weder Akkulturation noch Resultat
irgendeines Globalisierungsprozesses, sondern sind viel-
mehr als Teil einer Tradition zu verstehen.
Elke Mader („Kultur, Raum und Macht im Schamanis-
mus der Shuar“) setzt sich mit den aus verschiedenen Kul-
turen, therapeutischen und spirituellen Traditionen ent-
stammenden Paraphernalia und Machtobjekten einiger
Schamanen der Shuar auseinander und liefert ein leben-
diges Bild von Innovationen der letzten Jahrzehnte.
Michael Knipper war bei den quechuasprechenden Tief-
landindianern als Arzt tätig und promovierte über eine
typische indigene Krankheit, der „mal aire“ (Knipper
2004). In dem hier veröffentlichten Beitrag („Der .Kolle-
ge yachac‘: Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Scha-
manen und Ärzten im Amazonastiefland von Ecuador“)
thematisiert er die oftmals freundlichen Beziehungen
zwischen Arzt und traditionellem Heiler.
Die gleiche Region behandelt Franziska Baumann aus ei-
ner gänzlich anderen Perspektive („Schamanismus und
Tourismus bei den Quichua im ecuadorianischen Tief-
land“). Sie nimmt vor allem die Suche nach „Verwirkli-
chung“ ausländischer „Schamanenlehrlinge“ ins Visier.
Diese suchen einen neuen Weg für sich selbst - ein den
indigenen Heilem fremdes Ziel. Ein genuines Interesse
an der indigenen Kultur und Denkweise fehlt jedoch bei
diesen meist aus der gebildeten Mittelschicht stammen-
den Lehrlingen.
Laut Baumann erfreuen sich diejenigen Heiler, die ihre
Dienste Touristen anbieten, zugleich großen Zuspruchs
von Seiten ihrer einheimischen Patienten (m. E. wird ihre
erfolgreiche Arbeit an Krankheiten aus der Welt der
Fremden als Zeichen von Macht und großer Heilkunst
interpretiert).
Eine vergleichsweise erfolgreiche Beziehung zu Medien
und öffentlichen Auftritten haben die Yachac (indigene
Heiler) einer Region der ecuadorianischen Anden - auf-
gebaut. Dagmar Schweitzer de Palacios („Von Heilem
und Fernsehstars. Die yachac von Cotacachi zwischen ges-
225
___________TRIBUS 54,2005
tern und heute“) stellt die Prozesse dar, die sich in den
letzten Jahrzehnten herausgebildet haben. Die Yachac
sind in Verbänden organisiert und stellen verschiedene
Aspekte der indigenen Kultur, wie zum Beispiel die „lim-
pia con el cuis“ („Reinigung mit dem Meerschweinchen“),
dar. Darüber hinaus nehmen sie sogar an schamanischen
Wettbewerben teil.
Einer der Vorzüge des vorliegenden Bandes besteht da-
rin, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Tradi-
tionen des Hoch- und Tieflands aufzuzeigen. Ein gemein-
sames Merkmal ist die Lokalisierung der schamanischen
Macht als Substanz, die im Körper des Heilers als Phleg-
ma oder in Form unsichtbarer Pfeilchen materialisiert
vorliegt. Die im Hochland verbreitete Auffassung der Be-
rufung zum Heiler ist im Tiefland dagegen viel seltener.
Ein zusätzlicher weitreichender Unterschied besteht da-
rin, dass bei der Krankheitsdiagnose im Hochland keine
oder kaum Halluzinogene verwendet werden, wie dies im
Tiefland üblich ist. So teilte ein Schamane der im Tiefland
ansässigen Schuar Elke Mader seine Verwunderung darü-
ber mit, wie die Heiler aus Otavalo ohne Einahme von
Halluzinogenen überhaupt heilen könnten.
Die spanische Bezeichnung shamän/chaman hat sich po-
pularisiert und ist in den öffentlichen Diskurs eingegan-
gen. Teilweise wird sie heute von einigen indigenen Hei-
lem aus dem Hochland und des Tieflands selbst zur
Eigenbezeichnung benutzt. In ihrer Einleitung begründen
die Herausgeber die Verwendung der Bezeichnung Scha-
mane auch für die andinen Ritualisten, da sie ebenfalls in
enger Verbindung mit den Geistern stehen (S. 9). Obwohl
die Bezeichnung „Schamane“ für die andinen Heiler auch
in der angelsächsischen Literatur üblich ist, handelt es
sich nach Ansicht der Rezensentin um eine zu weit gefass-
te Verwendung des Begriffes. Die für den Schamanismus
charakteristischen Phänomene (u.a. Aussenden der Seele,
Besuch anderer Welten und deren Beschreibung) kom-
men in den Anden kaum - wenn überhaupt - vor.
Alle die Beiträge verdeutlichen, was die Ethnologie in
den letzten Jahrzehnten in verstärktem Maße akzeptieren
musste, dass nämlich die „Isolate“ der Ethnographie nicht
länger isoliert sind. Selbst mit diesem Hintergrundwissen
ist man erstaunt, dass sich bei den Shuar bereits ein Scha-
mane als Sonnentänzer und zu Kasteiungen bekennt -
beide entstammen der Welt der nordamerikanischen
Sioux und werden von der „Iglesia Nativa“ propagiert. In
diesem Zusammenhang wäre es sicher eine Untersuchung
wert, was hier Visionssuche bedeutet. Visionssuche exis-
tiert auch in den Traditionen der Shuar. Es handelt sich
somit offensichtlich um dem Wesen nach verwandte Prak-
tiken, die allerdings aus einem anderen kulturellen Zu-
sammenhang stammen.
Die Aussagekraft der Photos macht die nicht immer opti-
male Druckqualität wett und verdeutlicht zuweilen erfun-
dene Traditionen, wie etwa die Verwendung im Hochland
von Federkronen und Chonla-Lanzen bei der Heilung,
die aus dem Tiefland stammen, aber dort keine Rolle bei
der Heilung spielen. Auch Baströckchen sind zu sehen,
die nie getragen wurden, aber seit jeher als echte „Uni-
form" der Tieflandindianer betrachtet wurden.
Obwohl eine Karte die interethnischen Heilerbeziehun-
gen in Nordecuador darstellt (Wörrle), wäre die kartogra-
phische Kennzeichnung der Wohngebiete der genannten
Ethnien für den nicht auf Ecuador spezialisierten Leser,
der möglicherweise die genaue Lage von Sucüa, Cotacha-
chi oder Coca nicht kennt, von Nutzen gewesen.
Diesem Band sind bereits 14 der der Ethnographie Süda-
merikas gewidmeten Reihe Curupira vorangegangen, die
eng mit dem von Mark Münzel geleiteten Institut an der
Universität Marburg verknüpft ist und dort herausgege-
ben wird. Ein Kommentar der Reihe würde den Rahmen
dieser Besprechung sprengen, gegenwärtig ist sie jedoch
das wichtigste Organ der südamerikanischen Ethnogra-
phie in Deutschland. Wie der bei den Guarani-Indianern
überall präsente Trickster und Waldgeist, der der Reihe
seinen Name geliehen hat, ist sie im deutschsprachigen
Raum nicht wegzudenken.
Literatur
Knipper, Michael
2004 Mal aire und die medizinische Praxis der Na-
poruna. Eine medizinisch-ethnologische Feld-
studie im Amazonastiefland von Ecuador. Lit.
Münster etc.
Wörrle, Bernhard
2002 Heiler, Rituale und Patienten. Schamanismus
in den Anden Ecuadors. Dietrich Reimer Ver-
lag. Berlin
Maria Susana Cipolletti
Taylor, Walter W:
Sandals from Coahuila Caves (Studies in Pre-
Columbian Art & Archaeology, Nr. 35). Was-
hington: Dumbarton Oaks Research Library
and Collection, 2003. 151 Seiten mit SW-Ab-
bildungen.
ISBN 0-88402-303-6
Nach zwei vergeblichen Versuchen 1985 und 1989 konnte
schließlich posthum dieses langjährige Publikationspro-
jekt Walter W. Taylors (1913-1997) verwirklicht werden.
„Sandals from Coahuila Caves“ behandelt exemplarisch
einen Ausschnitt aus dem Fundmaterial des Coahuila
Projects aus den 30er und 40er Jahren des letzten Jahr-
hunderts im Norden Mexikos.
Das Vorwort, noch von Taylor selbst verfasst, deutet die
wissenschaftlichen Verwerfungen nur an, die in den Verei-
nigten Staaten mit dem Aufkommen der .New Archaeo-
logy' in den 60er Jahren einhergingen - einer Entwick-
lung, der er selbst schon 1948 mit seinem Werk A Study of
Archeology im Ansatz vorgegriffen hatte. Er war der An-
sicht, das Potential archäologischen Fundmaterials werde
in der traditionellen Archäologie nur ungenügend ausge-
schöpft. In Opposition zur Zergliederung archäologischer
Kontexte in Einzelmerkmale für regionale und überregio-
nale Vergleichsstudien vertrat er seinen als .conjunctive
approaclT titulierten Forschungsansatz: die archäologi-
sche Interpretation solle sich im Kern auf eine sorgfältige
Analyse kleiner räumlicher Einheiten stützen, innerhalb
derer das Fundmaterial in seiner Gesamtheit zu einer
möglichst umfassenden .ethnographischen' Rekonstruk-
226
Buchbesprechungen Südasien
tion jeweils einer Zeitstufe herangezogen werden könne.
Diachrone und vergleichende Studien waren dabei zu-
nächst nachrangig.
Die Publikation des Coahuila Projects hatte Taylor als
Demonstration dieser Vorgehensweise geplant, war aber
schließlich gezwungen, aus der Gesamtheit der Ergebnis-
se der Grabungen zwischen 1937 und 1947 eine Fundkate-
gorie auszuwählen. Er entschied sich für die im Reper-
toire mit mehr als 950 Exemplaren vertretenen Sandalen
aus Pflanzenfasern. Sie waren stratigraphischen Einhei-
ten zuzuordnen, also tauglich für eine diachrone Analyse,
und sie stellten eine komplexe und für die Lebensweise
ihrer Träger aussagekräftige Fundkategorie dar; „...,san-
dals are probably more closely connected with people as
biological beeings than any other cultural category that
we have at our disposal in north Mexican archaeology“.
Die Kapitel 1-3 geben einen Überblick über die Ge-
schichte des Coahuila Projects von 1937 bis 1947, die Ge-
ographie des Staates Coahuila, und die untersuchten
Fundplätze.
Anhand der Sandalen demonstriert Taylor im Verlauf der
folgenden Kapitel die umfassende Dokumentation und
Analyse einer Fundkategorie nach seinen Vorstellungen:
Kapitel 4 geht ausführlich auf die Dokumentationstechni-
ken und die Auswertungsmethodik Taylors ein. Die Do-
kumentation der Ausgrabung, der Befunde und Funde
erfolgte streng formal mittels eines Systems hierarchi-
scher Stellkarten, deren Zweck in der anschließenden
computergestützten Erfassung und Verfügbarkeit mög-
lichst vieler Daten - ausdrücklich auch für mögliche spä-
tere Bearbeiter - bestand. Es war ursprünglich vorgese-
hen, den vollständigen Datensatz des Coahuila Projects
zu veröffentlichen.
Die verschiedenen Sandalentypen und Variationen von
Sandalenriemen werden in den Kapiteln 5 bis 7 ausführ-
lich beschrieben und analysiert. Taylor stützt sich dabei
auf eine Vielzahl statistisch ermittelter Kombinations-
und Variationsmöglichkeiten von Merkmalen wie Her-
stellungstechniken, Maßverhältnissen oder auch Abnut-
zung der untersuchten Sandalen. Er kommt so zu
detaillierten Aussagen über die Tragweise, die Stärken
und Schwächen einzelner Typen im praktischen Gebrauch
wie auch über Alter und Altersverteilung und Links- oder
Rechtsfüßigkeit ihrer Träger - und belässt es dabei.
Der Leser ahnt, was es bedeutet hätte, das gesamte Fund-
material dieses Grabungsprojektes einer entsprechenden
Analyse zu unterziehen und schließlich daraus eine Ab-
folge .ethnographischer Momentaufnahmen' zu kompi-
lieren. Und er versteht, warum Taylor diesen exemplari-
schen Entwurf über Jahrzehnte zwar immer wieder
aufgegriffen, aber nie zu einem umfassenden Abschluss
gebracht hat. Weiter gehende Schlussfolgerungen Taylors
zur Kultur und Chronologie von Coahuila finden sich zwi-
schen 1956 und 1966 nur verteilt auf kürzere Aufsätze so-
wie zusammengefasst im vierten Band des Handhook of
Middle American Indians.
Die Publikation schließt mit vier ergänzenden Anhängen
zur Nomenklatur der erwähnten Pflanzen und Tiere, einer
Liste der seit den 70er Jahren verfügbaren 14C-Daten aus
der Korbwarenanalyse Adovasios (s.u.) sowie zwei kur-
zen Aufsätzen zur Chronologie des wichtigsten Fundplat-
zes im Coahuila Project, Frightfull Cave (Cueva Esponto-
sa). David L. Browman bzw. James M. Adovasio fassen
dort jeweils kurz ihre (kontroversen) Ergebnisse zur Peri-
odisierung und absoluten Chronologie zusammen und
geben einen Überblick über den wissenschaftsgeschichtli-
chen Kontext von Taylors Arbeit. Insbesondere Adovasio
stellt dabei, basierend auf der von ihm durchgeführten
Neuanalyse der Korbwaren, eine über Jahrtausende unge-
brochene Kontinuität materieller Kultur heraus, eine Be-
obachtung, die sich mit Taylors Ergebnissen zur Chrono-
logie und zum Wandel der Sandalen aus Frightfull Cave
deckt. Ob dies seine Schlussfolgerung einer Bevölke-
rungskontinuität von der späten paläoindianischen bis in
die historische Zeit in diesem Kulturraum rechtfertigt, sei
der weiteren Diskussion überlassen.
„Sandals from Coahuila Caves“ repräsentiert ein Stück
Geschichte der nordamerikanischen Archäologie. Die
Qualität der bildlichen Dokumentation - der Karten,
Zeichnungen und insbesondere der zahlreichen Fotogra-
fien - beeindruckt ebenso wie der Detailreichtum der sich
dem Leser nicht immer einfach erschließenden statisti-
schen Analyse.
Dieser Band gibt auch dem heutigen Forscher eine außer-
gewöhnliche Materialsammlung an die Hand und de-
monstriert nach wie vor beeindruckend den von Taylor
vorgeschlagenen Weg einer archäologischen Analyse.
Iken Paap
Buchbesprechungen Südasien
Henn, Alexander:
Wachheit der Wesen. Politik, Ritual und Kunst
der Akkulturation in Goa (Performanzen: In-
terkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und The-
ater, Bd. 2).
Münster/Hamburg/London: L1T, 2002.253 Sei-
ten mit Farbfotos und 1 Karte.
ISBN 3-8258-5642-9
Erst auf der Seite 210 verrät Alexander Henn, was es mit
dem Titel „Wachheit der Wesen“ auf sich hat: Der Titel
des Buches bezieht sich sowohl auf die menschlichen, als
auch auf die sakralen Teilnehmer von rituell-indischen
Tempelzeremonien, die im Rahmen von Dorffesten in
Goa stattfinden. Die .Wesen’, das sind die Menschen und
die Götter zugleich. Sie bleiben die Nacht über wach und
machen sich durch dieses Exerzitium einander zugäng-
lich.
Heim bearbeitet das Thema in sechs Teilen. Sorgfältig lei-
tet er hin zu seinem Anliegen über einen historischen Ein-
stieg, Schwerpunkt Herrschaft und Gesellschaft im früh-
neuzeitlichen Goa. Der Exkurs zu Religion und Theater
bietet Grundlagen an, die das Buch auch einem Leser zu-
gänglich macht, der kein einschlägiges Vorwissen hat.
Man wird neugierig zu erfahren, wie Henn sein Stück zur
Aufführung bringen wird. Gleich vorneweg: es ist perfekt
inszeniert. Feste werden nicht nur dargestellt und be-
schrieben, sondern auch deren geschichtlicher Hinter-
227
____________TRIBUS 54,2005
grund wird aufgezeigt. Das liest sich ausgesprochen span-
nend, weil man spürt, wie Henn sich in die historischen
Tatsachen hineinbegibt. Ganz gezielt bereitet er den Le-
ser vor auf das, worauf es ankommt, nämlich wie sich Ri-
tual und Akkulturation zusammengeschlossen haben.
Darunter ist zu verstehen; Die Folgen der indisch-europä-
ischen und hinduistisch-christlichen Kulturbegegnung, die
aus der portugiesischen Kolonialgeschichte Goas hervor-
gegangen sind, werden untersucht, nicht allgemein, son-
dern ganz konkret anhand einer Zeremonie namens Ja-
gor/Zagor, die von Hindus und Katholiken gemeinsam
durchgeführt wird. In Ritualen, Tänzen und Theaterspie-
len werden hinduistische Lokalgötter und katholische
Heiligenpatrone zugleich verehrt. Die Jagor/Zagor-Zere-
monien und Feste sind als besonderes Genre goanischer
Religiosität und Kunst im dörflichen Milieu zu sehen. Die
beiden großen Religionen in Goa vereinen sich.
Aus der akkulturativen Beschaffenheit der Jagor/Zagor-
Zeremonien in verschiedenen Dörfern Goas leitet Henn
eine Problematisierung des Kulturbegriffs ab.
Dann, im dritten Kapitel, wird es gleich wieder konkret.
Es gehl um Religion und Theater. Henn erörtert die Fra-
ge: Wie wurde oder ist es möglich, dass Gottesbilder und
Heilige, religiöse Verehrungsformen und künstlerische
Traditionen, Sprachen und Symbole unterschiedlicher
Bedeutungssysteme in einer rituell und künstlerisch ge-
stalteten Tradition und Praxis zugleich distinguiert und
integriert werden? Damit der Leser selbst sich ein Urteil
bilden kann, bzw. selbst in die Lage versetzt wird, einen
Diskussionsbeitrag leisten zu können, beschreibt Henn
ausführlich eine Zagor/Jagor-Zeremonie. Textbeispiele
und Fotos sowie eine detaillierte Beschreibung der Mas-
ken vermitteln die Atmosphäre. Allein Gorased, den
Henn als Trickster bezeichnet, wurde m.E. zu wenig Auf-
merksamkeit geschenkt, ist er doch eine zentrale Figur. Er
ist es, der die sakrale Welt mit der profanen verbindet, er
ist der Mittler zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos.
Wünschenswert wäre eine gesonderte Publikation über
den Mittler der Wellen.
Nach Rekonstruktion der Geschichte der Jagar/Zagor-
Feste diskutiert Henn im Rahmen einer symbolischen
Interpretation die Frage, welche akkulturativen Beson-
derheiten in die Kontexte der Bedeutungssystemc des
Hinduismus, bzw. des Christentums, gestellt worden sind.
Und wie sich diese Besonderheiten im Laufe der sich ver-
schiebenden Machtverhältnisse zwischen Hindus und
Christen verändert haben. Die Aufarbeitung der politi-
schen Geschichte der Feste zeichnet sich durch vorsichti-
gen und sensiblen Umgang mit Datierungen aus. Akribi-
sche Recherchen sind Henns Spezialität. So stellt er
schlüssig dar, wie sich das Jagor/Zagar-Genre trotz allen
politischen Unterdrückungs- und theologischen Purifizie-
rungsversuchen halten konnte.
Konsequent diskutiert Henn weiter: wie werden die
christlichen und hinduistischen Zugehörigkeiten und
Bedeutungen in ein Verhältnis gesetzt, das nicht in den
theologisch-politischen Prozessen von Konversion und
Transformation zwischen Hinduismus und Christentum
aufgeht?
Lassen sich die akkulturativen Phänomene der Jagar/Za-
gor-Zeremonien vielleicht aus dem rituellen und Indi-
schen Geschehen der Feste selbst verstehen?
Henn stellt die These auf, dass die rituell und künstlerisch
inszenierten religiösen Bedeutungen in der Tat in einem
Verhältnis zueinander stehen, das nicht in den theolo-
gisch-politischen Prozessen der Polarisierung oder Trans-
formation zwischen Hinduismus und Christentum auf-
geht. Um diese These belegen zu können, untersucht er,
wie die Rituale zu den nicht-rituellen Gegebenheiten ste-
hen.
Das Ergebnis:
Die rituell-künstlerischen Performanzen sind zwar nicht
aus den sie umgebenden politischen Gegebenheiten her-
auszulösen, sie verleihen jedoch der christlichen und hin-
duistischen Tradition eine signifikant andere Dimension.
Wie um dieses sowieso bereits konsequent hergeleitete
Ergebnis zu stützen, macht Henn uns klar, um was es bei
den Jagar/Zagor-Festen eigentlich geht:
Ludische Darbietungen sind ein Spiel für die Götter und
Heiligen. Die Darsteller spielen hin zur sakralen Öllampe
und präsentieren den Zuschauern die meiste Zeit der
Aufführungen ihre Rücken- oder Seitenansicht. Die sa-
kralen Wesen sollen um Schutz und Hilfe angerufen wer-
den. Sowohl für das ganze Dorf, das mit Stärke, Festigkeit
und Ordnung versehen werden soll, als auch für den Ein-
zelnen, so Henn. Und was ist mit der kosmischen Ord-
nung? Muss diese nicht innerhalb der Rituale gefestigt
und aufrechterhalten werden? Sind denn die Heiligen
und Götter nicht dafür verantwortlich, dass die Gestirne
in ihrer Bahn bleiben und sich keine Naturkatastrophen
ereignen?
Henn zeigt mit seinem Buch, wie man das Thema Politik,
Ritual und Kunst der Akkulturation nicht nur auf einer
abstrakten und wissenschaftlichen Ebene abhandeln
kann. Er gibt dem Leser das Gefühl, teilnehmender Beo-
bachter zu sein - bei den Festen, bei den Ritualen, im Jüdi-
schen Geschehen. Eine wirklich gelungene, hervorragen-
de Performanz!
Hilde K. Link
228
Buchbesprechungen Südasien
Klokke, Arnoud Hans:
Fishing, Hunting and Headhunting in the
Former Culture of the Ngaju Dayak in Central
Kalimantan. Notes from the manuscripts of
the Ngaju Dayak authors Numan Kunum and
Ison Birim. From the legacy of Dr. H.Schaerer.
With a recent additional chapter on hunting by
Katuah Mia. Borneo Research Council Mono-
graph Series Number eight. Phillips, ME; Bor-
neo Research Council, Inc., 2004. 232 Seiten,
zahlreiche Skizzen, 4 Abbildungen, ein Index
zum Abschnitt über das Fischen.
ISBN 1-929900-05-08
Rein äußerlich ist die Aufmachung unscheinbar, eben
eine weitere Borneo-Monographie, herausgegeben von
der wenig anspruchsvollen USA-Anthropologie.
Und doch knüpft vorliegende Monographie an die unver-
zichtbare, von großer Kompetenz geprägten Ethnogra-
phie hochkarätiger Borneo-Forscher während der letzten
50 Jahre der Holländerzeit: NIEUWENHUIS, MAL-
LINCKRODT, ELSHOUT, SCHÄRER. Was ist es, was
diese Borneologen des alten Niederländisch-Indien so he-
raushebt? LOTHAR KÄSER fordert in seinem für den
ethnologischen Einsteiger unentbehrlichen Buch „Ani-
mismus“ (Seite 37); derjenige, „der animistische Weltvor-
stellungen und das dazu gehörige Menschenbild einer
ethnischen Gruppe untersuchen und verstehen lernen
will“, hat „deren Sprache zu erlernen.so daß er in der
Lage ist, auch ihre grammatikalischen Feinstrukturen zu
erfassen und zu analysieren. Dazu brauchen selbst Sprach-
begabte... mehrere Jahre. Ethnologen haben bei ihrer Ar-
beit im Feld... selten so viel Zeit zur Verfügung,.... ein
Grund, warum begriffliche Grundlagen animistischer
Denkweisen bisher so wenig gründlich erforscht und be-
schrieben wurden. Kirchliche Mitarbeiter“ (ich ergänze:
auch seinerzeitige Repräsentanten und Funktionäre der
Kolonialverwaltung im Landesinnern) „sind deutlich bes-
ser gestellt. Ich wage zu behaupten; sie arbeiten unter na-
hezu idealen Bedingungen. Weil sie in aller Regel mehre-
re Jahre, oft sogar Jahrzehnte, im Feld verbringen...,
versetzt sie die lange Zeit ihrer Aufenthaltsdauer in die
Lage, gründliche Sprachkenntnisse in der oben geforder-
ten Form zu erwerben.“
Die heute repräsentativen Ethnologen für die Provinz
Mittel-Kalimantan beherrschen keine Dayaksprache und
haben jeweils weniger als ein volles Jahr in Borneo ver-
bracht (ANNE SCHILLER etwa elf Monate. SRI KUHNT
SAPTO-DEWO sieben Monate). ARNOUD H. KLOK-
KE verbrachte neun Jahre auf Kalimantan und scheint
der einzige Nichtasiate zu sein, der sehr gut Nagju-Daya-
kisch spricht. Offensichtlich weiß er um die Tiefe und Wei-
te einer Kultur und schreibt deshalb nicht seine Erkennt-
nisse und Folgerungen über ein Gebiet dieser Kultur,
sondern lässt erfahrene und herangereifte Landeskinder
zu Wort kommen. So hat es SCHÄRER in seinen Texten
zum Totenkult, in manchen Aufsätzen, in vielen seiner
nachgelassenen Aufzeichnungen und im Anhang seiner
Gottesidee/Ngaju Religion gemacht; bedauerlicherweise
im Gegensatz zu seiner Gottesidee, die in den niederlän-
dischen Strukturalismus hineingezwängt zum Flop in der
Ngaju-Ethnologie wurde (vgl. BAIER 2003a: 69). Bereits
in seinen Ngaju-Tierfabeln, „Eulenspiegelgeschichten“
und in der Ngaju-Stammesmedizin ist A.H.Klokke so vor-
gegangen. Jedoch im drittenTeil der vorliegenden Mono-
graphie über die Kopfjagd kommt etwas vom Geheimnis
und der Tiefe der Dayakkultur zum Vorschein.
„Kopfjagd“ war seit dem 19. Jahrhundert ein Lieblingsthe-
ma der Popularethnographie über Südostasien. PERE-
LAER verbreitete es in seiner Ethnographie (1870: 170 ff
u.a.) und dem in viele europäische Sprachen übersetzten
Roman einer Borneodurchquerung: vom jungen Mann
werden „geschnellte“ Köpfe zur Heirat verlangt. BREI-
TENSTEIN (I 1899: 62,63) macht es in Deutschland pu-
blik und KROHN (1927: 271 ff) verkauft es als Sensation
dem US-Leser; „First a head, then a wife“. Jedoch bereits
SCHWANER betont 1853 (1:191), dass bei Verheiratung
kein Schädel der Braut überreicht werden musste, und
der mit den weitaus besten Kenntnissen über das südliche
Borneo ausgestattete, heute kaum mehr beachtete MAL-
LINCKRODT differenziert in einem 20 Seiten langen
Aufsätzchen (1927: 621), dass ein „geschnellter“ Kopf für
eine Verheiratung nie Bedingung war!
Ganz im Gegensatz dazu spielt in unserem Jahrhundert
die Kopfjagd nur noch eine untergeordnete Rolle. Im tra-
ditionellen Ngaju-Dayakisch heißt „Langhaus“ huma hai,
großes, hohes Haus. Hoch deshalb, um es vor nächtlichen
Überfällen von Kopfjägerbanden zu schützen. In einer
Sendung des ZDF vom 19.01.2005 werden die hoch in den
Bäumen nahe der Baumwipfel errichteten Baumhäuser
der Asmat im südlichen Irian/Papua nicht auf diesem
Hintergrund gesehen, sondern Journalist VON LO-
JEWSK1 meint, diese Baumhäuser auf den Schutz vor
Tsunami-Katastrophen zurückführen zu können. Weiter
wird die dünne Bevölkerungsdichte Borneos nicht auf die
fast bei allen Dayakstämmen üblichen Kopfjagd-Feldzü-
ge und deren Dorfmassaker bezogen, sondern auf un-
günstiges Klima und endemische Krankheiten (vgl. bei
HAN KNAPEN weiter unten).
KLOKKE veröffentlicht in alter Ngaju-Sprache die Auf-
zeichnungen eines Katingan-Dayak aus den 30er Jahren,
der Direktkontakt mit Augenzeugen und Kopfjagdteil-
nehmern (vor 1894) hatte. Der Katingan-Dayak ISON
BIRIM stößt in seinem 35 Seiten langen Beitrag sofort ins
Zentrum der Ngaju-Religion: das Blutbestreichen, „nu-
merologisch“ zunehmend vom Ei bis zum Menschen (vgl.
BAIER 1977: 442; WEINSTOCK bei SMITH KIPP 1987:
94,95). Hierzu ist nicht unbedingt eine Kopfjagd erforder-
lich; Sklavenopfer wäre weit weniger aufwendig! Spezifi-
scher Kopfjagdfeldzug jedoch ist unerlässlich zur Befrei-
ung der Totenseele aus der Sklaverei dessen, der den
betreffenden getötet hat und der diesem jetzt im Toten-
dorf als Sklave dienen muss, zum Geleit dieser befreiten
Seele ins Totendorf seiner Heimatdorfbewohner und zur
Beschaffung eines Sklaven für diesen früher Getöteten
aus dem Dorf der Feinde. Also eindeutig: sukzessive Ra-
che - sprich Kopfjagd-Feldzüge zwischen zwei in Erb-
feindschaft stehenden Dörfern (z.B. zwischen Dörfern des
oberen Katingan-Gebietes mit solchen am oberen Barito
oder am nördlichen Hang des Schwaner-Gebirges). Die
ersten niederländischen Verwaltungsbeamten haben dar-
über sehr wohl gewusst und zu Friedensverhandlungen
Häuptlinge und Abgeordnete gerade solcher Landstriche
229
___________TRI BUS 54,2005
eingeladcn, zwischen denen Erbfeindschaft herrschte
(Tumbang Anoi 1994). Natürlich spielte als Nebeneffekt
eine Rolle, dass der erfolgreiche Kopfjäger (der z.B. als
erster in das feindliche Langhaus eingedrungen ist) als er-
folgreich, angesehen und privilegiert galt. Minutiös be-
schreibt BIRIM die genauen Vorbereitungen, die Aus-
wahl der Teilnehmer, die dazu erforderlichen Rituale
(Blutbestreichung!), das Anrufen der zuständigen Gott-
heiten und die Beschaffung der Erfolg garantierenden
Amulette. Auch im unsichtbaren Geisterbereich findet
zwischen diesen zuständigen Gottheiten mit denen des
feindlichen Dorfes ein Kampf statt. Die Teilnehmer des
Feldzuges treten in einen ähnlichen Zustand ein wie die
amtierende Priestergruppe etwa beim Totenritual. Ein al-
ter Priester („Reisstreubevollmächtigter“, der die zustän-
digen Gottheiten herbeizitieren muss) hält sich für die
Dauer des Feldzuges in einer ganz mit Opferblut bestri-
chenen Ritualhütte auf. Seine Hauptaufgabe aber ist, die
Seele des früher getöteten Dorfgenossen in den Leib des
zu Tötenden einzuführen. Genau werden die Tabus der
Teilnehmer (auch deren Ehefrauen im Dorf) beschrieben.
Ungünstige Vorzeichen unterwegs können zum Abbruch
des Feldzugs führen. (Geheime) Belagerung und plötzli-
cher Überfall des feindlichen Langhauses im Morgen-
grauen, sowie das Abschlachten eventuell flüchtender
Langhausbewohner ist schriftlich fixiert. KLOKKE über-
setzt: „It has happened that they were all killed to the last
man.“
Gerade diese authentische, weit ausholende Beschrei-
bung legt nahe, dass Borneos dünne Besiedlung durch
diese sukzessiven Dorfüberfälle und immer wieder vor-
kommenden Vernichtungen ganzer Dörfer hervorgerufen
wurde; ein weiterer Beweis gegen HAN KNAPEN, der
2001 versuchte, endemische Krankheiten u.ä. für die ge-
ringe Bevölkerungszahl Borneos verantwortlich zu ma-
chen (vgl. BAIER 2003b: 280). In ähnlicher Breite wird
dann die Behandlung des abgeschlagenen Kopfes, die
Heimkehr, die Rituale zur Abwehr eines Rachefeldzuges
seitens des feindlichen Gebietes, der Einzug ins Heimat-
dorf und das Blutbestreichen dabei beschrieben. Letzteres
hebt sämtliche Tabus auf. Dankrituale an die Schutzgeister
schließen die priesterliche Aktion des Rachefeldzuges ab.
Richtlinien für die Entlohnung des Anführers und eine Be-
merkung, dass ähnliche Rituale und Tabuvorschriften bei
der Ermordung von ca. 50 Maduresen und der Vertreibung
von über 80.000 dieser Inselbewohner aus Borneo 2001
zum Erfolg geführt haben, sind beigefügt.
Das einzige Defizit ist die fehlende Begründung der Kopf-
jagdnotwendigkeit aus der reichen Dayakmythologie
(durch einen Heilbringer!). Kann aber nachgelesen wer-
den bei BECKER 1848; 437, 438 und bei SCHÄRER
1946: 162,163; 1966: 143.
Ähnlich exakt, aber wesentlich kürzer und unvollständig
ist NUMAN KUNUMs Beschreibung von Fischfang und
Jagdmethoden (hier noch ergänzt durch KATUAH MIA
2002). Kurz und lückenhaft wird die Jagd behandelt. Über
die vor 1940 häufig erwähnte und beschriebene Krokodil-
jagd findet man nichts; die Jagd mit Giftpfeilen (aus-
schließlich das V/en-Pfeilgift wird genannt, ohne Bezug
zum ipoh-Gift) wird in drei Sätzen abgetan. Unklar ist,
welche Art der „Zauberbrettchen“ zur Bestimmung der
geeigneten Zeit für optimalen Erfolg vor der Jagd Ver-
wendung fand: das Radialsystem (Seite 111, unwahr-
scheinlich) oder das weit verbreitete Schachbrettsystem
(Seite 112).
Auf das mysteriöse, jeden Ethnologen faszinierende
Fischfanggestell „Mihing“ geht KLOKKE nicht ein. 1994
hat er in einem Aufsatz in den Bijdragen darüber ausführ-
lich berichtet.
Gut und brauchbar ist die Einleitung. Trotz kleinerer Un-
richtigkeiten aufgrund einer gewissen Oberflächlichkeit
trifft der Überblick über die Erschließung und Erfor-
schung der Dayakkultur in Indonesisch-Borneo zu. Vor-
liegende Monographie ist für den Forscher, der sich in den
Kopfjagd- und Gewaltanwendungskomplex im Rahmen
des umfassenden Dayak-Animismus einarbeiten will, un-
verzichtbar.
Bei KLOKKE nicht verzeichnete Literatur ;
Baier, Martin
2003a Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak.
Stuttgart: TR1BUS. Jahrbuch des Linden-Mu-
seums, Nr.52. Seite 67-72.
2003b Buchbesprechung Südasien: KNAPEN, HAN:
Forests of Fortune? Stuttgart: TRIBUS. Jahr-
buch des Linden-Museums, Nr. 52. Seite 279-
281.
Becker, J. F.
1849 Het district Poelopetak, Zuid en Oostkust van
Borneo. In: Indisch Archief 1(1). S. 421-473.
Breitenstein, Dr. H.
1899 21 Jahre in Indien. Leipzig: Th. Griebens Ver-
lag.
Käser, Lothar
2004 Animismus. Bad Liebenzell: Verlag der Lieben-
zeller Mission.
Klokke, Arnoud H.
1978 De Slimme en de Domme. s-Gravenhage: Mar-
tinus Nijhoff.
1988 Ngaju-Dayak Dierverhalen. Dordrecht: Foris
Publications Holland.
1998 Traditional Medicine among the Ngaju Dayak
in Central Kalimantan. Phillips ME: Borneo
Research Council, Inc.
Krohn, Williams
1927 In Borneo Jungles-Indianapolis: The Bobbs-
Merrill Companya Publishers.
Mallinckrodt,!
1927 De stamindeeling van de Maanjan-Sioeng-Da-
jaks. Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volken-
kunde van Nederlandsch Indie 83. S. 552-592.
Perelaer, M.T. H.
1881 Borneo van Zuid naar Noord. Rotterdam: “El-
sevier”.
Schwaner, C. A. L. M.
1853 Borneo. Amsterdam: RN. van Kämpen.
Smith Kipp, Rita / Rodgers, Susan
1987 Indonesian Religions in Transition. Tucson:
University of Arizona Press.
Martin Baier
Gastdozent in Kampung Baru/Ost-Kalimantan, Indonesien
230
Buchbesprechungen Südasien
Zahorka, Herwig:
Die Erschließungsfronten auf Borneo (Kali-
mantan) 1937 bis heute. Sozioökonomische,
ethnographische und ökologische Verände-
rungesprozesse unter besonderer Berücksich-
tigung der Stammeskulturen der Dayak (Li-
berias Paper 48). Sindelfingen: Liberias, 2003.
68 Seiten mit 19 Farbfotos und 4 kolorierten
Karten.
ISBN 3-9219-2922-9
Mit der Absicht im Gepäck, alle wichtigen Landesgebiete
und Wirtschaftsbereiche der drittgrößten Insel der Erde
kennenzulernen, durchquerte der Geograf Karl Helbig
1937 Borneo in einem beeindruckenden Marsch über
3000 Kilometer. Helbigs Reiseaufzeichnungen, unter an-
derem festgehalten in seinem zweibändigen Werk: „Eine
Durchquerung der Insel Borneo (Kalimantan) nach den
Tagebüchern aus dem Jahr 1937“ beinhalten jedoch weit-
aus mehr als lediglich wirtschaftsgeografische Daten. Im-
mer wieder berichtet Helbig über spannende Details auch
aus für ihn eher fachfremden Bereichen wie Zoologie,
Botanik oder Ethnologie.
Vor allem letztere haben es auch dem passionierten Bor-
neoexperten Herwig Zahorka angetan. Zahorka, langjäh-
riger Forstdirektor in Wiesbaden, kam knapp vier Jahr-
zehnte nach Karl Helbig zum ersten Mal nach Borneo, wo
er zunächst als forstökologischer Berater des Gouver-
neurs von Ost-Kalimantan und später als Mitarbeiter der
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) lan-
ge Zeit tätig war. Inzwischen ist Herwig Zahorka pensio-
niert, was ihn jedoch in keiner Weise von seinen alljährli-
chen Expeditionen ins Innere Kalimantans abhält, über
die er regelmäßig auch international publiziert. Daher lag
es für die Organisatoren des Hildesheimer Kolloquiums
zum hundertsten Geburtstag Karl Helbigs durchaus nahe,
Herwig Zahorka mit einem Vortragsbeitrag zu betrauen,
aus dem sich inzwischen eine 68 Seiten umfassende, er-
staunlich vielseitige Schrift entwickelt hat. Vom Liberias
Verlag dankbarer Weise in Farbe aufgelegt, schlägt sie ei-
nen Bogen von Karl Helbig bis hin zu den aktuellen Fol-
gen der Dezentralisierung Indonesiens.
Zahorka beginnt mit der historischen Einordnung von
Helbigs Expedition in die lange Reihe der häufig drama-
tischen Inseldurchquerungen, an deren Protagonisten
noch heute die Namen von Gebirgszügen wie Schwaner-
und Müllergebirge erinnern. Kurz vor Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs hatte Helbig jedoch noch mit anderen
Problemen zu kämpfen als seine Vorgänger. Die strengen
Devisenausfuhrbeschränkungen im Dritten Reich er-
schwerten die Logistik ebenso wie der zunehmende Kon-
flikt mit den Niederlanden, der damaligen Kolonialmacht
in „Niederländisch Ost-Indien“.
Der Zweite Weltkrieg und die japanische Besetzung sind
dann auch Zahorkas erster Betrachtungspunkt in seiner
Analyse exogener Einflüsse auf die Dayak-Kulluren. In
der Folge untersucht Zahorka zahlreiche weitere Fakto-
ren und Ereignisse, wie die Missionierungsbemühungen
der verschiedenen Kirchen und Religionen oder den Aus-
bau staatlicher Institutionen. Besonderes Augenmerk er-
hält, vor allem im zweiten und letzten Drittel der Arbeit,
der Wald. Mit dem fachlich geschulten Blick des Forst-
manns und gestützt auf zahlreiche aktuelle Forschungser-
gebnisse zeigt Herwig Zahorka, wie Holzkonzessionen,
Plantagenunternehmen, Kohleminen und staatliche Um-
siedlungsprojekte den einst artenreichen Primärwald Ka-
limantans auf wenige unzugängliche Gebiete zurückge-
drängt haben. Einhergehend mit der großflächigen
Entwaldung, zu der auch die verheerenden Waldbrände
der Jahre 1982/83 und 1997/98 kräftig beitrugen, geriet die
traditionelle Lebensweise der Dayak unter zunehmenden
Druck. Oft marginalisiert und um ihre traditionellen
Rechte auf Land und Waldressourcen geprellt, war die Si-
tuation der Dayak kaum mehr zu vergleichen mit der je-
ner Menschen, die Karl Helbig so bewundernd beschrieb.
Doch trotz all der Landrechtskonflikte und ethnisch-reli-
giösen Auseinandersetzungen, die in den Jahren 2000 und
2001 in West- bzw. Zentralkalimantan blutig eskalierten,
zeigt Zahorka auch positive Entwicklungen auf. So führte
die Dezentralisierung Indonesiens in Kutai Barat und
Malinau dazu, dass wohl erstmals in der Geschichte ein
Dayak zum Distriktoberhaupt (Bupati) gewählt wurde.
Dieser Schritt hat das kulturelle Selbstbewusssein der Da-
yak sichtlich gestärkt und vielerorts zu spürbarem Opti-
mismus geführt. Leider genügt es jedoch nicht, politische
Entscheidungsbefugnisse zu dezentralisieren. Aufgrund
der jahrzehntelangen Benachteiligung der Dayak im Bil-
dungssystem stehen den jungen Distrikten heute noch
nicht genügend gut ausgebildete Fachkräfte zur Verfü-
gung. Und so mischen sich fünf Jahre nach Beginn der
politischen Reform häufig auf fatale Weise Inkompetenz
mit Korruption. Die Verbindung letzterer mit den oft kri-
minellen Machenschaften der Holzwirtschaft zeigt Za-
horka in seiner Besprechung mehrerer Fallstudien aus
zahlreichen Gebieten Kalimantans auf. Obwohl Zahorka
immer wieder auf positive Elemente, wie die erwähnte
kulturelle und gesellschaftliche Stärkung der Dayak, hin-
weist, muss er doch mit dem ernüchternden Fazit schlie-
ßen, dass es das Borneo Karl Helbigs nicht mehr gibt.
Auch wenn die Publikation Zahorkas bereits zwei Jahre
alt ist, so entbehrt sie kaum der Aktualität. Mit ihrer mul-
tidisziplinären Analyse der Veränderungsprozesse ist sie
eine hervorragende Zusammenfassung und Einstiegshilfe
für all jene, die sich für Borneo interessieren. Immer wie-
der flicht Herwig Zahorka eigene Beobachtungen auf
eine angenehm zurückhaltende, mitunter humorvolle
Weise ein und erhält damit die geistige Brücke zu Karl
Helbig. Mit der Einarbeitung aktueller wissenschaftlicher
Borneoliteratur vermag Zahorka seine Aussagen über-
zeugend zu belegen, auch wenn gelegentlich die Eigenbe-
teiligung der Dayak an kulturellem Wandel, Konflikten
und Umweltzerstörung etwas unterrepräsentiert er-
scheint.
Christian Gönner
231
TRIBUS 54,2005
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 54,2005
Baier, Dr. Martin, Wilhelm-Friedrich-Laur-Weg 6, D-72379 Hechingen
Best, Renate, M. A., Niedenau 50, D-60325 Frankfurt am Main
Brandt. Dr. Klaus J., Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Cipolletti, Priv.Doz. Dr. Maria Susana, Weinbergstr. 6, D-53227 Bonn
Clados, Dr. Christiane, University of Wisconsin-Madison, 5240 Social Science,
1180 Observatory Dr, Madison, WI 53706 / USA
Creyaufmüller. Dr. Wolfgang, M.A., Melatener Str. 145 a, D-52074 Aachen
Dreyer, Anatol, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Forkl. Dr. Hermann, Linden-Museum Stuttgart. Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Gönner, Dr. Christian, CIFOR-BMZ Poverty & Decentralization, Überlinger Str. 22,
D-88696 Owingen
Hahn, Prof. Prof.E. Dr. Dr.h.c. Roland, Universität Stuttgart,
Institut für Geographie, Azenbergstr. 12, D-70174 Stuttgart
Harms. Dr. Volker, Universität Tübingen, Institut für Ethnologie,
Schlossburgsteige 11, D-72070 Tübingen
Heermann, Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Heintze. Dr. Beatrix, Wiesenau 4L D-60323 Frankfurt am Main
Ilyasova, Saida, Institut für Archäologie, Ul. Akad. Abdullaeva 3,
703051 Samarkand / Uzbekistan
Imamberdyev, Rawschan, Chilonzor-1,43-9,700115 Tashkent / Uzbekistan
Ivanov. Dr. Paola, Ethnologisches Museum, Fachreferat Afrika, Arnimallee 27,
D-14195 Berlin (Dahlem)
Jahn, Wiegand. Landweg 4. D-24149 Kiel
Jensen, Prof. Dr. Jürgen, Institut für Ethnologie, Universität Hamburg,
Rothenbaumchaussee 67-69, D-20148 Hamburg
Kalka, Dr. Claudia, Manhagener Allee 64. D-22926 Ahrensburg
Kapfhammer, Dr. Wolfgang, Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität,
Institut für Ethnologie und Afrikanistik, Oeltingenstr. 67, D-80538 München
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kurella, Dr. Doris, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Link, Dr. Hilde, Institut für Ethnologie und Afrikanistik, Universität München,
Oettingenstr. 67, D-80538 München
Luttmann, Ilsemargret, Karpfangerstr. 5, D-20459 Hamburg
Michel, Prof. Dr. Thomas, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1,
D-70174 Stuttgart
Mückler, a.o. Univ. Prof. Dr. Hermann, Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
der Universität Wien, Universitätsstr. 7/NIG/IV, A-1010 Wien
Ostberg, Dr. Wolfgang, Kulturamt der Stadt Stuttgart, Eichstr. 9, D-70173 Stuttgart
Otto-Hörbrand. Martin, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1. D-70174 Stuttgart
Paap, Dr. Iken, Archäologisches Projekt Xkipché, Institut für Altamerikanistik
und Ethnologie, Römerstr. 164, D-53117 Bonn
Schierle, Dr. Sonja, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schulze-Thulin, Dr. Axel, Franz-Liszt-Str. 3, D-85391 Allershausen
Spötter, Dr. Anke, Staatsgalerie Stuttgart, Urbanstr. 35. D-70182 Stuttgart
Stifel, Florian, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Wall, Dr. Tobias, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Universitätsbibliothek der HU Berlin
00001101045670
Copyright 4/1999 YxyMaster GmbH www.yxymaster.com VierFarbSelector Standard* - Euroskala Offset