TRIBUS
Zeitschrift
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ÍDEN-MUSEUM STUTTGART JAHRBUCH
TÄTLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE BAND 53 - 2004
l
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 53 - Oktober 2004
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 2004
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Herausgeber: Linden-Museum Stuttgart - Staatliches Museum für
Völkerkunde, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Redaktion: Prof. Dr. Thomas Michel
Koordination: Ursula Knöpfle
Fachbezogene
Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer
Beiträge allein verantwortlich.
Einige Beiträge sind mit der alten Rechtschreibung übernommen worden.
Redaktionsschluss jeweils 1. Mai
Titelbild: Edward E. Bryant: „ Wie der Rabe das Licht in die Welt brachte“
Rote Zeder mit Reliefschnitzerei, Bemalung und Abalone,
H 100 cm, B 39,5 cm,T 3 cm,Tsimshian (British Columbia, Kanada).
Listen-Nr. M 4.556
Druck: VEBU Druck + Medien GmbH, Bad Schussenried
Copyright; Linden-Museum Stuttgart
Oktober 2004
ISSN 0082-6413
(40L h'v/( Ж)Ок " srS* 4 02
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 2003
(Thomas Michel) 7
Jahresbericht 2003 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd- und
Völkerkunde zu Stuttgart e.V (Peter Thiele) 20
Berichte über Erwerbungenf im Jahr 2003 des Linden-Museums (Thomas Michel),
Afrika-Referates (Hermann Forkl), Orient-Referates (Johannes Kalter),
Südasien-Referates (Gerd Kreisel), Ostasien-Referates (Klaus J. Brandt), Südsee-
Referates (Ingrid Heermann), Nordamerika-Referates (Sonja Schierle),
Lateinamerika-Referates (Doris Kurelia) 22
Jahresbericht 2003 des Referates Museumspädagogik
(Sonja Schierle / Doris Kurella) 40
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2003 (Tobias Wall) 47
Urheberrechtsverletzung im Internet: Das Linden-Museum am Rande
internationaler Verwicklungen (Martin Otto-Hörbrand) 53
Organisationsplan 55
Aufsätze
Bujok, Elke: Errata zum Aufsatz „Der Aufzug der ,Königin Amerika’
in Stuttgart: Das ,Männliche unnd Ritterliche Thurnier unnd Ringrennen’
zu Fastnacht 1599“ in Tribus 52,2003:80-100 57
Knüppel, Michael: Einige Angaben zum Niedergang der Arinen bei Philipp
Johann von Strahlenberg (1677-1747) 63
Oelschlägel, Anett C.; Religion des Alltags. Zur Naturreligion der Tyva im
Süden Sibiriens 69
Richtsfeld, Bruno J.: Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu) 99
Vangheluwe, Sam: In Reply to Dr. Eberhard Fischer’s Review 119
Veit, Raphaela: Einige Beispiele für die Bedeutung und handschriftliche
Ausgestaltung des islamischen Bittgebets du'ä' 127
Veit, Raphaela: 1200 Jahre islamische Kalligraphie:
Die Privatsammlung von Annemarie Schimmel 153
Völker, Andrea: Besucherorientierung im Linden-Museum Stuttgart.
Ausgewählte Ergebnisse einer Besucheranalyse im November 2003 175
Zahorka, Herwig; The „Palang“ Phenomenon and its Historie and
Socio-Cultural Background in Southeast Asia 185
Buchbesprechungen
Allgemein
Eggert, Manfred K. H.: Prähistorische Archäologie: Konzepte und
Methoden (A. Schulze-Thulin) 203
Erlandson, Jon M.: Early Hunter-Gatherers of the California Coast
(A. Schulze-Thulin) 204
Gaudzinski, Sabine / Turner, Elaine, Et Al.: The Role of Early Humans
in the Accumulation of European Lower and Middle Palaeolithic Bone
Assemblages - Ergebnisse eines Kolloquiums (A. Schulze-Thulin) 205
Gründer, Horst: Eine Geschichte der europäischen Expansion -
Von Entdeckern und Eroberern zum Kolonialismus (A. Schulze-Thulin) 206
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TRIBUS 53,2004
Kraus, Michael / Münzel, Mark (Hrsg.); Museum und Universität in der
Ethnologie (C. Brinkmann) 207
Müller-Beck, Hansjürgen / Conrad, Nicholas J. / Schüle, Wolfgang (Hrsg.):
Eiszeitkunst im Süddeutsch-Schweizerischen Jura-Anfänge der Kunst
(A. Schulze-Thulin) 210
Peschlow-Bindokat, Anneliese: Frühe Menschenbilder - Die prähistorischen
Felsmalereien des Latmos-Gebirges (Westtürkei) (A. Schulze-Thulin) 211
Stoczkowski, Wiktor: Explaining Human Origins - Myth, Imagination and
Conjecture (A. Schulze-Thulin) 213
Szmidt, Carolyn: The Mousterian in Mediterranean France -
A regional, integrative and comparative perspective (A. Schulze-Thulin) 214
Weniger, Gerd-Christian; Projekt Menschwerdung - Streifzüge durch die
Entwicklungsgeschichte des Menschen (A. Schulze-Thulin) 214
Wieczorek, Alfried / Rosendahl, Wilfried (Hrsg.): MenschenZeit -
Geschichten vom Aufbruch der frühen Menschen (A. Schulze-Thulin) 216
Afrika
Burtscher, Doris: Geidj Faye: “no and no rimeem” „Ich bin im Wissen geboren“.
Leben und Arbeit eines traditionellen Heilers der Seereer-Siin Senegal
(R. Best) 217
Ceyssens. Rik: Le roi Kanyok au milieu de quatre coins
(Mwin Kanyok, mäköök’ mänääy) (J.F.Thiel) 218
Freeman, Dena: Initiating Change in Highland Ethiopia. Causes and
Consequences of Cultural Transformation (B. Streck) 219
Kröger, Franz: Materielle Kultur und traditionelles Handwerk bei den Bulsa
(Nordghana) (F. Bliss) 221
Smidt, Wolbert: Afrika im Schatten der Aufklärung.
Das Afrikabild bei Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder (Y. May) 222
Amerika
Reuter, Astrid: Voodoo und andere afroamerikanische Religionen (S. August) 223
Südasien
Dahm. Bernhard / Ptak, Roderich (Hrsg.): Südostasien-Handbuch:
Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur (M. Baier) 225
Ramstedt, Martin (Hrsg.): Hinduism in Modern Indonesia.
A minority Religion between local, national, and global interests (M. Baier) 227
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 53 229
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Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im
Jahre 2003
Im Januar wurde die Leitbild-Diskussion im großen Kreis aller Mitarbeiter weiterge-
führt und durch die Zukunfts-Vision des Museums ergänzt. Eine Zusammenfassung
der Ergebnisse wurde dem MWK überreicht, das diese für seine Planungen hinsicht-
lich der Zielvereinbarung mit dem Linden-Museum verwendete.
Am 16.01. gab es ein erstes Treffen der Direktoren der Staatlichen Museen in Stutt-
gart, um über mögliche Kooperationen nachzudenken. Dabei wurden alle Tätigkeits-
felder angedacht und bei weiteren Treffen substantiell ausgearbeitet. Es entstand
eine Liste aus den Einzelvorschlägen, die zu einer gemeinsamen Plattform für kon-
krete Zusammenarbeit führte.
Am gleichen Tag nahm ich am Neujahrsempfang von US-General Ward in den
Patch-Barracks teil.
Am 28.01. gab es ein gemeinsames Treffen der Staatlichen Museen im MWK, bei
dem auch die Museen aus Karlsruhe bzw. Mannheim anwesend waren. Neben den
Kooperationen wurden neue Rechtsformen und die ersten Einschätzungen des Ba-
dischen Landesmuseums als selbständiger Landesbetrieb vorgestellt.
Am 29.01. konnten im Württ. Auktionshaus seltene Originaldokumente aus dem
ehemaligen Deutsch-Südwest-Afrika für das Archiv des Linden-Museums fotogra-
fiert werden. Dies geschah durch freundliche Unterstützung des Inhabers, Herrn Er-
harde Die später für diese Schriftstücke gezahlten Preise waren sehr beachtlich.
Am 08.02. nahm ich an einem Ethnologischen Kolloquium bei Professor Dr. Münzel
in Marburg zum Thema Museum und Universität teil.
Im Rahmen der langjährigen Auseinandersetzungen über die Frage „Echt - Falsch
von Benin-Bronzen“ stellte das Labor Kotalla am 12.02. seine neuesten physikali-
schen Untersuchungsmethoden vor.
Der Direktor der Staatlichen Ethnografischen Sammlungen Sachsens. Dr. Deimel.
besuchte am 13.02. das Linden-Museum, um zukünftige gemeinsame Ausstellungen
zu besprechen.
Am 17.02. erhielten wir eine Schenkung asiatischer Objekte von Herrn Thormann
aus Stuttgart.
Am 20.02. besuchten die Stuttgarter Rotarier die Amazonas-Ausstellung.
Am 07.03. hielt ich im Wannersaal einen Vortrag über meine Forschungen in Nami-
bia.
Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Herrn Dr. Schuster, der
Kulturbürgermeisterin, Frau Dr. Magdowski, und Frau Wang wurde ein Vertragsent-
wurf über deren geplante Schenkung einer großen Sammlung von chinesischer Kunst
an das Linden-Museum gefertigt. Vorwiegend handelt es sich dabei um Gemälde des
frühen 20. Jh. von bedeutenden chinesischen Künstlern.
Am 19.03. hielt ich in der von-Portheim-Stiftung Heidelberg einen Vortrag über mei-
ne Forschungen in Neuguinea. Dabei wurde eine mögliche Kooperation hinsichtlich
des dortigen Asmat-Westneuguinea-Hauses besprochen. Vor allem der Austausch
von speziellen Neuguinea-Ausstellungen wäre für eine gegenseitige Belebung dieser
Region sinnvoll.
Die Vorstandssitzung des Fördervereins, der GEV, fand am 21.03. statt, gefolgt von
der jährlichen Mitgliederversammlung. Vor allem wurde die zukünftige Schließung
des Geographischen Instituts in Stuttgart besprochen und wie die Gesellschaft auf
diese Veränderung reagieren kann. Die Gesellschaft finanzierte eine Apple Compu-
tereinrichtung für die Fotoabteilung und übernahm die Preisgelder für den Wettbe-
werb bei dem neuen Corporate Design des Linden-Museums.
Wieder einen großen Besucheransturm hatten wir während der Langen Nacht der
Museen am 29.03. Besonders eine Musikgruppe mit der Verbindung mit Techno- und
Didgeridoo-Musik fand bei den jüngeren Besuchern großen Beifall. Auch die Dau-
erausstellungen waren stark besucht und zum Glück hatten wir keinerlei Beschädi-
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TRI BUS 53,2004
gungen zu beklagen. Für das Linden-Museum ist vor allem der Besuch der 25- bis
35-jährigen wichtig, die sonst nur schwer ihren Weg in das Museum finden.
Das jährliche Treffen der Direktoren deutschsprachiger Völkerkundemuseen fand
dieses Mal und auch zum ersten Mal bei uns vom 06. bis 08.04. statt. Bei diesem Tref-
fen koordinieren die Häuser ihre Ausstellungen und Programme. Neue Strukturen
und Rechtsformen waren ein weiterer wichtiger Punkt und das Problem von Fäl-
schungen.
Am 10.04. hielt ich am Staatlichen Museum für Völkerkunde München einen Vor-
trag zu Marketing, Sponsoring und neuen betriebswirtschaftlichen Aufgaben der
Völkerkundemuseen.
Im Rahmen der städtebaulichen Planungen nahm ich an Sitzungen zu Stuttgart 21
teil, zu neuen Interaktionen zwischen Boschareal, Universität, Volkshochschule,
Hospitalhof und dem Linden-Museum. Es ist geplant, diese Bildungseinrichtungen
stärker miteinander zu verzahnen.
Ab Mai fanden die Planungen zur Neueinrichtung der Dauerausstellung Nordame-
rika statt.
Im Juni gab es eine erste Besichtigung zusammen mit dem Staatl. Liegenschafts- und
Vermögensamt und dem Württ. Landesmuseum eines Lagergebäudes, das im Rah-
men einer Kooperation zwischen den beiden Museen angemietet werden soll. Eine
gemeinsame Schreinerei und Lagerung der Ausstellungstechnik beider Häuser sind
Bestandteile dieses Projektes.
Ein Besuch bei Herrn Schatz in Baden-Baden nahm alte Kontakte wieder auf, deren
Ziel es ist, seine Sammlung von Schattenspielfiguren dem Linden-Museum zu schen-
ken. Vorerst ist geplant, Teile dieser Sammlung in der Außenstelle Schloss Ettlingen
temporär auszustellen.
Am 25.06. wurde in der Wilhelma eine Sonderausstellung zum Thema „Blätter“ er-
öffnet, zu der das Linden-Museum wesentliche Leihgaben zur Verfügung stellte. Die
Zusammenarbeit mit der Wilhelma ist äußerst positiv.
Am 04.07. fand ein Treffen zwischen mir und Herrn Siebenmorgen vom Badischen
Landesmuseum statt, bei dem geplante, gemeinsame Ausstellungen zu Tunesien und
Kuba besprochen wurden.
Unter starker Beteiligung führte uns der Betriebsausflug am 07.07. dieses Mal nach
Hohenheim. Herr Klocke zeigte uns das Landwirtschaftsmuseum, den Botanischen
Garten, die Versuchskelterei und Brennerei.
Am 08.07. konnten bei der Zentralfonds- und Museumsstiftungssitzung wieder hoch-
rangige Kunstwerke erworben werden.
Eine Museumsdelegation aus dem Ethnographischen Museum St. Petersburg be-
sichtigte am 10.07. das Museum und interessierte sich besonders für die Restaurie-
rungsabteilung.
Nach regelmäßigen Sitzungen fand am 22.07. die Abschlussdiskussion zum Leitbild
des Linden-Museums statt.
Am 10.09. gab es ein erstes Pressegespräch zur Türken-Ausstellung unter zahlreicher
Beteiligung. Zur Eröffnung dieser Ausstellung am 12.09. war der Besucherandrang
derart stark, dass zahlreiche Gäste bis in das Foyer stehen mussten. Ein hervorragen-
des türkisches Essen und ein anspruchsvolles Rahmenprogramm machten diesen
Abend für alle Beteiligten zu einem unvergesslichen Ereignis.
Im September gab es mehrere Treffen mit dem MWK um die Produkte des Muse-
ums auszuarbeiten und eine Zielvereinbarung im Rahmen eines Pilotprojektes für
das Jahr 2004 zu formulieren.
Die inzwischen eingegangenen Bewerbungen für unseren Wettbewerb Corporate
Design wurden ausgewählt und auf vier reduziert, die zu einer letzten Vorstellungs-
runde eingeladen werden.
Am 18.09. war ich beim Mexikanischen Nationalfeiertag in der LB BW eingeladen.
Wir pflegen enge Kontakte über den Deutsch-Mexikanischen-Kulturverein.
Gleichfalls fanden ab September mehrtätige Schulungen zu den Neuen Steuerungs-
instrumenten (NSI) statt.
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Wie jedes Jahr empfing ich im Museum die neuen US-Generäle und deren Mitarbei-
ter der European Comand-Stelle in den Patch-Barracks. Zusammen mit dem Ober-
bürgermeister Dr. Schuster und seiner Gattin gab es anschließend noch einen Emp-
fang der Stadt Stuttgart.
Am 30.09. wurde in Zusammenarbeit mit der Landesbibliothek eine Begleitausstel-
lung zu unserer Türken-Ausstellung in deren Räumen eröffnet, die vor allem die
Buchkunst aus dem Orient zum Inhalt hatte und von unseren Objekten ergänzt wur-
de. In diesem Zusammenhang begrüßte ich die zahlreichen Gäste.
Der türkische Botschaftsrat, Herr Arslan, besuchte am 06.10. die Ausstellung.
Ab 16.10. fand im Leipziger Völkerkundemuseum eine Tagung zu neuen Ausstel-
lungskonzepten von Völkerkundemuseen statt, zu der ich einen Beitrag lieferte.
Der Festakt zum 50jährigen Jubiläum der Deutsch-lndischen-Gesellschaft wurde zu-
sammen mit einer Tagung im Linden-Museum am 25.10. gefeiert.
Wie jedes Jahr fand ab 29.10. der Markt der Völker mit über 30 Ausstellern aus allen
Kontinenten ein großes Besucherinteresse.
Gleichfalls wie in jedem Jahr wurde am 09.11. die Ofrenda (Opfertisch) zum Toten-
gedenken, zusammen mit dem Deutsch-Mexikanischen-Kulturverein aufgebaut und
mit Musik und Tänzen eingeweiht.
Die Stuttgarter Rotarier besuchten die Türken-Ausstellung am 14.11.
Im Hospitalhof nahm ich an einer Gesprächsrunde mit Kulturverantwortlichen aus
Stuttgart teil um über Standortverbesserungen dieser Einrichtungen zu diskutieren.
Mitarbeiter des Katharinenhospitals wurden bei der Besichtigung der Türken-Aus-
stellung am 18.11. begrüßt.
Erste Gespräche zwischen dem Linden-Museum und der deutschen UNESCO hin-
sichtlich einer Kooperation fanden ab dem 24.11. statt.
Die Kuratoriumssitzung, Region Stuttgart, in deren Kreis ich gewählt wurde, war am
01.12.
Zur Weihnachtsfeier im Linden-Museum durfte ich eine große Zahl von Mitarbei-
tern des MWK begrüßen.
Am Tag der Menschenrechte wurde am 10.12. zusammen mit dem SWR bei einer
Filmvorführung und anschließender Podiumsdiskussion von mir der Film „Hotten-
totten-Venus“ den Besuchern vorgestellt.
Zum Weihnachtsempfang von US-General Ward war ich am 13.12. eingeladen.
Grußworte zu einer Veranstaltung von Amnesty International im Linden-Museum
sprach ich am 14.12.
Unsere Weihnachtsfeier war unter Beteiligung auch von ehemaligen Mitarbeitern
ein schöner Abschluss am 15.12.
Bei einem Staatsempfang durch Ministerpräsident Teufel zu Ehren des Präsidenten
von Mali, vertrat ich das Linden-Museum am 17.12.
Am 18.12. wurde eine Vereinbarung zwischen dem Linden-Museum und dem Bibli-
othekszentrum Konstanz hinsichtlich der zukünftigen Aufnahme in deren Service-
zentrum getroffen.
Regelmäßig fanden die Dienstgespräche mit der Verwaltung, den Wissenschaftlern
und dem örtlichen Personalrat (ÖPR) statt.
Ausstellungen
1. Amazonas-Indianer. LebensRäume - Lebens Rituale - LebensRechte.
(11.10.2002-31.08.2003)
Mit dieser Ausstellung wurde der gesamte Kulturraum Amazoniens behandelt.
Von den frühen Zeugnissen bis hin zur ökologischen Belastung und zu funda-
mentalem sozialen Wandel der dort lebenden Bevölkerungsgruppen. Neben
zahlreichen eigenen Objekten, die zum Teil noch aus der Sammlung des Prinzen
zu Wied stammen und somit weit über 170 Jahre alt sind, waren auch Zeugnisse
der modernen Indianer ausgestellt. Die Ausstellung benötigte einige Zeit, bis sie
sich herumgesprochen hatte, aber wurde dann vor allem von Schulklassen stark
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TRI BUS 53,2004
besucht. Deshalb mussten wir die Ausstellung um vier Monate verlängern. Der
hervorragende Katalog wurde jedoch nur schwer verkauft. Sein Preis von 48 €
war offenbar zu hoch und wir haben diese Erfahrung bei unserer weiteren Kata-
logplanung berücksichtigt. Nach Möglichkeit sollten 20 € bei einem Katalogpreis
nicht überschritten werden.
Gesamtbesucherzahl: 41.458, davon 2003:25.175.
2. Der Bazar von Kabul. Bilder aus dem alten Afghanistan.
(09.11.2002-13.04.2003)
Vor allem die Thematik Afghanistans hat dieser Ausstellung eine große Auf-
merksamkeit gebracht. Sehr persönliche Erinnerungen und Erinnerungsstücke,
ergänzt durch eigene Objekte des afghanischen Malers Brechna, eröffneten ei-
nen intimen Zugang in die Lebensweise eines Afghanen.
Gesamtbesucherzahl (wie Besucher der Dauerausstellungen): 13.748, davon
2003:10.837
3. Quadratmalerei: Die Tingatinga-Schule aus Tansania.
(14.12.2002-20.03.2003)
Die nach einem tansanischen Künstler benannte Malschule mit seinen leuchten-
den Farben und an Comic-Figuren erinnernden Malstil war für die Besucher of-
fenbar sehr gewöhnungsbedürftig. Sonst wäre nicht zu erklären, dass diese Ver-
kaufsausstellung bei Preisen von einheitlich 198 € pro Gemälde keinen Erfolg
hatte. Vielleicht passt diese Kunst nicht in unsere heutige Zeit oder unsere eigene
kulturelle Umwelt. Gleichwohl haben Kinder ihre Freude an der Farbenfreudig-
keit.
Gesamlbesucherzahl nicht zu ermitteln.
4. Der lange Weg der Türken. 1500 Jahre türkische Kultur.
(13.09.2003-18.04.2004)
In dieser Ausstellung wurde nicht nur die Region der heutigen Türkei gezeigt
sondern vielmehr das riesige Reich der Türken von ihren Anfängen im Altai-Ge-
birge Zentralasiens bis zu ihrem heutigen Staatsgebiet.
Dieser umfassende Überblick wurde durch zahlreiche hochrangige Ausstellungs-
objekte veranschaulicht und fand vor allem bei unseren türkischen Mitbürgern
ein ungeahntes Echo. Nicht nur wegen der ausführlichen Rahmenprogramme,
zum Teil mit dem Deutsch-Türkischen-Forum zusammen veranstaltet, sondern
auch wegen der immensen Präsens in der Öffentlichkeit wurde die Ausstellung
zu einer der erfolgreichsten während der letzten 20 Jahre. Es freuten uns beson-
ders die zahlreichen Schulklassen und türkischen Familien als Besucher. Zum
ersten Mal war auch ein Katalog ausverkauft. Selbst von der II. Auflage sind nur
noch wenige Exemplare vorhanden.
Gesamtbesucherzahl: 37.377, davon 2003:13.357.
5. Von der Ewigkeit des Augenblicks. Die Entwicklung türkischer Fayencen-Motive
(11.10.03-08.01.04)
Als Begleitausstellung (Verkaufsausstellung) zur Türken-Ausstellung geplant,
zeigte diese Schau von moderner türkischer Keramik die Fortführung und Neu-
interpretation alter Motive und Formen.
Gesamtbesucherzahl nicht zu ermitteln.
6. An Indiens Teinpelstätten. Fotoimpressionen der Indologin Betty Heymann
(ab 26.10.03 - Mitte April 04).
Im Wannersaal, Foyer und Treppenhaus waren diese alten SW-Fotos von 1931/32,
die ein vergangenes Indien zeigen, erstaunlich attraktiv für unsere Museumsbe-
sucher. Wenn die Motive stimmen, ist augenscheinlich die Qualität der Aufnah-
men zweitrangig. Außerdem wird Indien nach vielen Jahren des geringen Inte-
resses immer mehr zu einem Anziehungspunkt. Dies steht natürlich im
Zusammenhang mit dem Boom im Wellnessbereich, wo Ayurveda und allgemei-
ne indische Gesundheitstechniken im Vordergrund stehen. Von solchen Entwick-
lungen kann demnach auch ein Völkerkundemuseum profitieren!
Gesamtbesucherzahl nicht zu ermitteln.
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Ausstellungsplanungen
Ausstellung Dauer
Boten aus dem Jenseits. Afrikanische Kleinfiguren der „Schenkung Anna Erna Graßnick“. bis auf weiteres
Fotografien aus Bolivien 03. März bis 21. Juli 2004
„Die andere Moderne Afrikas“ 15. Mai bis 26. September 2004
Wiedereröffnung Dauerausstellung Orient Eröffnung 02. Juli 2004
Neueinrichtung Dauerausstellung Lateinamerika Herbst 2004
21 zeitgenössische japanische Lackmeister. Japanische Lackarbeiten. (Arbeitstitel) 09. Dezember 2004 bis 03. oder 10. April 2005
Moderne tunesische Keramik (von Khaled Ben Slimane) 16. Dezember 2004 bis Februar 2005
Pierre Fatumbi Verger. Foto-Ausstellung. Mai 2005 bis Juli 2005
Vanuatu (Südsee) 2005
Chinesische Lackarbeiten. Die Sammlung Löw-Beer. (Arbeitstitel) Dezember 2005 bis Februar/März 2006
Polynesien 2006
„Kannibalismus“ ab Sept./Okt. 2006 bis März/April 2007
Neueinrichtung Dauerausstellung Südsee 2007
Forschungen im Linden-Museum
Die Kunst von Ghazni und Ghor (Afghanistan) im Spannungsfeld von Zentralasien
und dem indischen Subkontinent im 10. bis frühen 13. Jh. ist ein langjähriges For-
schungsprojekt im Linden-Museum.
Im Rahmen eines DFG-Projektes arbeitet an diesem Thema seither Frau Dr. Marga-
reta Pavaloi unter Leitung von Professor Dr. Kalter.
Frau Dr. Raphaela Veit arbeitet am Katalog der Orientalischen Handschriften, mit
Schwerpunkt bei den iranischen Objekten. Finanziert wird diese Forschung mit Mit-
teln der Henckel-Stiftung.
Der Humboldt-Stipendiat Dr. Jangar Ilyasov aus Taschkent, Usbekistan, führte seine
Studien an orientalischen Metallarbeiten weiter. Es ist ein Kooperationsprojekt in
Zusammenarbeit mit dem Orientalischen Seminar der Universität Tübingen.
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Betriebsausflug des Personals des Linden-Museums nach Hohenheim
Gruppenbild vor dem Deutschen Landwirtschaftsmuseum in Hohenheim.
Der Museumsdirektor Herr Klocke führt einen alten Heuwender vor.
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Einer der ältesten Traktoren des Museums ...
... wird von Prof. Dr. Michel in Betrieb genommen.
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TRIBUS 53,2004
Leihgaben (alphabetisch nach Orten)
Ausstellungsdauer Referat Leihgeber
11.10.2002-31.08.2003 Lateinamerika Museum der Kulturen, Basel 4 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Orient-Institut der DMG, Beirut 36 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken. 1500 Jahre türkische Kultur“
11.10.2002-31.08.3003 Lateinamerika Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatl. Museen zu Berlin, Berlin 4 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatl. Museen zu Berlin, Berlin 38 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Glassen, Prof. Dr. Erika. Bollschweil 2 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Staatl. Kunstsammlungen, Dresden 11 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
09.11.2002-13.04.2003 Orient Brechna, Prof. Dr. H., Feldmeilen 54 Objekte für die Ausstellung „Der Bazar von Kabul“
22.10.2003-22.01.2004 Südasien Martin-Luther-Universität, Halle (Saale) 1 Objekt für die Ausstellung „An Indiens Tempelstätten - Fotoimpressionen der Indologin Betty Heimann“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Kestner-Museum, Hannover 5 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Völkerkundemuseum der von Portheim-Stiftung, Heidelberg 6 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Grünzner, Reiner, Horb am Neckar 4 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 3 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
09.11.2002-13.04.2003 Orient Breshna, Abdullah, Karlsruhe 46 Objekte für die Ausstellung „Der Bazar von Kabul“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Museum für Angewandte Kunst, Köln 12 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
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Ausstellungsdauer Referat Leihgeber
11.10.2002-31.08.2003 Lateinamerika Amerind Sound Archiv ASA Rudolf Conrad. Leipzig 33 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
11.10.2002-31.08.2003 Lateinamerika Museum für Völkerkunde, Leipzig 6 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Staatl. Museum für Völkerkunde, München 88 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
09.11.2002-13.04.2003 Orient Völkerkundemuseum, St. Gallen 10 Objekte für die Ausstellung „Der Bazar von Kabul“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Rampacher, Gerd, Sindelfingen 44 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
05.05.2003-16.05.2003 Orient Württ. Landesbibliothek, Stuttgart 1 Objekt für Fotoaufnahmen
13.09.2003-18.04.2004 Orient Württ. Landesbibliothek, Stuttgart 23 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
13.09.2003-18.04.2004 Orient Württ. Landesmuseum, Stuttgart 2 Objekte für die Ausstellung „Der lange Weg der Türken“
11.10.2002-31.08.2003 Lateinamerika Koninklijk Museum voor Midden Afrika, Tervuren 29 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
09.11.2002-13.04.2003 Orient Esser, Dipl.Ing. Hans-Jürgen, Werdohl 3 Objekte für die Ausstellung „Der Bazar von Kabul“
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
29.06.2003-28.09.2003 Ostasien Orient Ex oriente Ausstellungsbüro, Aachen 7 Objekte für die Ausstellung „Ex oriente - Isaak und der weiße Elefant“
19.04.1999-18.04.2006 Afrika Deutsches Drahtmuseum, Altena 5 Objekte für die Ausstellung „Masai-Schmuck“
01.07.2003-31.12.2004 Orient Vitra Design Museum, Berlin 43 Objekte für die Ausstellung „Leben unter dem Halbmond“
27.09.2002-30.03.2003 Lateinamerika Übersee-Museum. Bremen 2 Objekte für die Ausstellung „Die süßen Seiten Bremens - Kakao - Schokolade - Pralinen“
17.09.2003-29.02.2004 Südasien Musées Royaux d'Art et d’Histoire/Koninkl.Musea v. Kunst en Geschiedenis, Brüssel 4 Objekte für die Ausstellung „Viet Nam. Art et Cultures, de la Péhistoire à nos jours“
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TRIBUS 53,2004
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
23.08.2003-19.10.2003 Orient Stadtmuseum im Spital, Crailsheim 37 Objekte für die Ausstellung „Marokkanische Keramik 17. bis 20. Jh. aus der Sammlung des Linden- Museums Stuttgart“
10.10.2003-14.02.2004 Südsee Lippisches Landesmuseum, Detmold 28 Objekte für die Ausstellung „Ozeanien - Kult und Vision“
03.06.2002-30.04.2003 Afrika Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 8 Objekte für die Ausstellung „Deutscher Arbeitsschutz“
31.10.2003-22.02.2004 Lateinamerika Firenze Mostre. Firenze 3 Objekte für die Ausstellung „La grande arte dell’anti- co Peru. Capolavori da Chavin agli Inca“
23.11.2002-21.04.2003 Orient Museum der Weltkulturen, Frankfurt am Main 4 Objekte für die Ausstellung „Troubadoure Allahs. Traditionen der Sufis in Pakistan“
18.12.2001 bis auf Widerruf Südsee Adelhauser-Museum. Freiburg 1 Objekt für die Dauerausstellung
10.10.2003-04.01.2004 Lateinamerika Museum für Völkerkunde, Leipzig 74 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
10.10.2002-10.11.2003 Afrika Staatl. Museum für Völkerkunde, München 16 Objekte für die Ausstellung „Christliches Äthiopien“
28.11.2002-23.02.2003 Ostasien Staatl. Museum für Völkerkunde, München 9 Objekte für die Ausstellung „Die Ainu - Porträt einer Kultur im Norden Japans“
02.05.2003-06.07.2003 Nordamerika Galerie Mennonitenkirche, Neuwied 11 Objekte für die Ausstellung „Der edle Wilde - Mythos und Wirklichkeit der Indianer Nordamerikas“
08.05.2002-26.10.2003 Nordamerika The American Federation of Arts, New York 2 Objekte für die Ausstellung “A Rare and Admirable Collection; Masterworks of Native American Art from the Peabody Essex Museum“ (Ausstellungsorte: Stanford, Richmond, Salem))
10.11.2002-14.09.2003 Südasien American Federation of Arts. New York 2 Objekte für die Ausstellung “The Art of Chola Bronzes” (Ausstellungsorte: Washington DC, Dallas, Cleveland)
22.07.2003-07.09.2003 Lateinamerika Ostasien Kulturverein Zehntscheuer e.V, Rottenburg a.N. 2 Objekte für die Ausstellung „20 Jahre Kunst in der Zehntscheuer“
16
Ausstellungsdauer Referat Leihnehmer
03.02.2003-28.03.2003 Lateinamerika Dresdner Bank, Stuttgart 19 Objekte für die Ausstellung „Amazonas-Indianer“
25.06.2003-21.09.2003 Ostasien Lateinamerika Wilhelma, Stuttgart 12 Objekte für die Ausstellung „Blattgestalten“
01.10.2003-17.01.2004 Orient Württ. Landesbibliothek, Stuttgart 40 Objekte für die Ausstellung „Reisen durch das Osmanische Reich“
18.01.2002-30.04.2004 Ostasien Vitra Design Stiftung, Weil am Rhein 7 Objekte für die Ausstellung „Living in Motion - Design und Architektur für flexibles Wohnen“
23.11.2003-27.06.2004 Nordamerika Naturwissenschaft!. Sammlung, Museum, Wiesbaden 10 Objekte für die Ausstellung „Unter heißer Sonne. Leben und Überleben in der Sonora-Wüste“
01.12.2002-30.04.2003 Südasien Museum Rietberg, Zürich 1 Objekt für die Ausstellung „Liebeskunst. Liebeslust und Liebesleid in der Weltkunst“
Personal 2002 und 2003
Einstellungen:
Braun Gabriele (Restaurierung) 2003
Schwaiger, Melanie (Verwaltung) 2003
Wall,Tobias (Öffentlichkeitsarbeit) 2003
Wagner, loan (Haustechniker) 2003
Lindner, Michaela (Verwaltung) 2003
Einstellungen Aufsichtsdienst und Wachzentrale:
Aufsicht:
Bader, Daniele 2002
Calandra, Hayat 2003
Davidson, Rolando 2002
Dekthiar, Alexander 2003
Fänger, Christiane 2002
Konradi, Ludmilla 2002
Krause, Chiara 2003
Küper, Katharina 2002
Lee, Choung Guk 2002
Olloni, Orhan 2003
Rusniok-Senfuma, Slawomira 2003
Sautter, Cornelia 2003
Scheuermann-Bruck, Christa 2003
Wachdienst:
Djalali, Bahman 2003
Schmidt, Andreas 2003
Einstellung Volontäre:
Schönberger, Irene (Orient-Abteilung) 2002+2003
Steffen-Schrade, Jutta (Nordamerika-Abteilung) 2002+2003
Pagel, Christiane (Restaurierung) 2003
17
TRIBUS 53,2004
Sattler, Ursula (Restaurierung) 2002+2003
Krehl, Simone (Restaurierung) 2002
Niere, Katja 2003
Ausgeschieden:
Sohmer, Waltraud (Verwaltung) 2002
Blankenhorn-Atak, Beate (Aufsicht) 2003
Färber, Annemaire (Aufsicht) 2003
Frick, Christoph (Aufsicht) 2003
Garcia. Priego (Aufsicht) 2003
Hagedorn, Kata (Aufsicht) 2003
Manentis, Angelo (Aufsicht) 2003
Neumann, Gerd (Wächter) 2003
Raisch, Wilfried (Wächter) 2003
10-jähriges Jubiläum
Blankenhorn-Atak, Beate (Aufsicht) 2002
Gabriel, Juliana (Aufsicht) 2002
Jauss, Andreas (Aufsicht) 2002
Geld- und Sachspenden für das Linden-Museum Stuttgart bzw. die Gesellschaft für
Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. im Jahre 2003
Ade, Herbert H., Stuttgart
Arnim, Karin von, Stuttgart
Baier, Dr. Martin, Hechingen
Barlin, Todd, Sydney
Bauer, Prof. Dr. Waldemar, Ostfildern
Beischer, Prof. Dr. Wolfgang, Stuttgart
Billmann, Ingeborg, Stuttgart
Billo, Tudi, Witzenhausen
Blum, Ilse, Stuttgart
Borthmes, Fred und Gabi, Mössingen
Bosch, Robert GmbH, Stuttgart
Brandt, Dr. Klaus J., Stuttgart
Burwig, Bernd und Ingeborg, Weinstadt
Cronemeyer, Ulrich, Leinfelden
Deutsche Bundesbank, Stuttgart
Deutsch-Indische Gesellschaft, Stuttgart
Dittrich, Peter und Katia, Stuttgart
Dorgerloh, Rotraud, Stuttgart
Eigner, Magda, Stuttgart
Eppler, Ulrich, Konstanz
ERCO Leuchten GmbH, Lüdenscheid
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Ferneding, Christopher, Volkach
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Gallery Franke, Stuttgart
Geiger, Dr. Martin, Leinfelden-Echterdingen
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Grau, Hilde, Stuttgart
Hall-Schwartze, Barbara, Musberg
Harrer, Erika, Stuttgart
Herkert, Christa, Sindelfingen
Holzinger, Johann und Louise, Stuttgart
Holzwarth, Ingrid, Marbach
Hörrmann, Ingeborg, Sindelfingen
18
Hotel Unger, Stuttgart
Illeperuma, Ch., Stuttgart
Jourdan, Jens, München
Jourdan, Uwe, Stuttgart
Jung, Do-Jun, Seoul
Jung, Olaf, Nürtingen
Junghans, Erhard und Renate, Stuttgart
Kalter, Prof. Dr. Johannes, Stuttgart
Kapitel, Irmgard, Kempten
Knoelke, Berta, Stuttgart
Krais, Dr. Walter und Ingrid, Stuttgart
Kuffner, Ani, Cooper Rock Pictures Inc., Regina/Sask./Canada
Kunzi, Hugo und Sibylle, Stuttgart
Landesbank Baden-Württemberg, Stuttgart
Lapp, U.I., GmbH, Stuttgart
Leitz, Conrad und Inge, Stuttgart
Lerch, Carmen-Cornelia, Uhingen-Baiereck
Lindhorst, Raimund, Berlin
Marquardt-Eißler, Dr. Gisela, Stuttgart
Maur, Paul von, Stuttgart
Merk, Siegfried, Leutenbach
Michel, Prof. Dr. Thomas, Stuttgart
Müller-Seitz, Bettina, Markgröningen
Munck, Uta, Stuttgart
Nöth, Doris, Kirchheim/Teck
Paul, Herbert, Asperg
Pfeiffer, Georg, Esslingen
Renz, Hanna, Stuttgart
Richter, Dr. Klaus, Stuttgart
Richter, Michael, Hannover
Roberty, Mario Jean, Basel
Sapper, Dr. Nico, Stuttgart
Schmid, Christiane, Wangen
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schmidt, Susanne und Martin H., Stuttgart
Schnaidt, Brigitte, NL-SW Kerkrade
Schütz, Rainer und Ursula, Stuttgart
Staatl. Toto-Lotto-GmbH, Stuttgart
Stickforth. Peter, Göppingen
Strohmaier, Helga, Messingen
Thiele, Prof. Dr. Peter, Stuttgart
Thierley, Martin / Grimm, Ursula, Stuttgart
Thormann, Werner, Stuttgart
Trautmann, Michael, Stuttgart
Volz, Edda, Stuttgart
Weber, Alexander, Stuttgart
Weber, Wilfried, Reutlingen
Wesser, Klaus Dieter, Stuttgart
Wilhelm, Dr. Peter-Raimond, Stuttgart
Württembergische Versicherung AG, Stuttgart
Zambito, Antonio, Stuttgart
Ziegler, Eva, Stuttgart
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Allen Spendern sei an dieser Stelle nochmals herzlichst gedankt.
TRIBUS 53,2004
Jahresbericht 2003 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd-
und Völkerkunde zu Stuttgart e.V
Eine Fördergesellschaft für ein namhaftes Museum scheint unerlässlich zu sein. Un-
sere „Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V.“ konnte im Vergleich
zum Vorjahr einen positiven Zugang der Besucherzahlen in den angebotenen Vor-
trägen verzeichnen. Knapp 2.000 Besucher im Jahr 2003 bei unseren Vortragsveran-
staltungen zeigen, dass im Zeichen der Globalisierung auf allen Gebieten auch das
Interesse an außereuropäischen Kulturen enorm zunimmt. Durch unparteiische Wis-
sensvermittlung im Rahmen unserer Themen zu den Völkern und Kulturen dieser
Welt schaffen wir immer wieder eine Informationsplattform, die auch für zukünftige
Entwicklungen ausgebaut werden muss. Bedenken sollten wir hierbei, dass die Ge-
sellschaftsaktivitäten vom Vorstand und deren Erweitertem Vorstand ehrenamtlich
ausgeführt werden, wofür ich an dieser Stelle allen Beteiligten herzlich danke.
Im Rahmen unseres Vortragsprogramms im Jahr 2003 wurden folgende Veranstal-
tungen durchgeführt:
10. Januar 2003 Dr. Margareta Pavaloi, Völkerkundemuseum der von-Portheim-Stif-
tung, Heidelberg: Mit Kompass und Kamera. Die moderne Entdeckung der Seiden-
straße.
23. Januar 2003 Dr.-Ing. Detlef Krön, Stadtplanungsamt Stuttgart: Aktuelle Stadt-
planungs- und Stadtentwicklungsprojekte in Stuttgart.
7. Februar 2003 Dr. Florian Schwarz, Seminar für Orientalistik und Indologie der
Ruhr-Universität Bochum: ßaha ud-Din Naqshband bei Buchara. Geschichte und
Gegenwart eines Heiligtums.
21. Februar 2003 Prof. Dr. Günter Meyer, Geographisches Institut der Universität
Mainz: Tourismus in Ägypten im Schatten des Terrorismus.
7. März 2003 Prof. Dr. Thomas Michel, Linden-Museum Stuttgart: Namibia. Dia-
Vortrag mit Videofilm.
21. März 2003 Prof. Dr. Horst Kopp, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Nürnberg: Wo liegt Arabia Felix? Ölreichtum und Armut auf der Arabischen Halb-
insel.
17. Oktober 2003 Prof. Dr. Claus-Peter Haase, Islamisches Museum Berlin: Sultan
Süleymans des Prächtigen Hofatelier und der neue osmanische Reichsstil.
7. Nov. 2003 Dr. Joachim Eberle, Institut für Geographie der Universität Stuttgart:
Landschaftsformen und Landschaftsentwicklung in SW-Deutschland.
21. Nov. 2003 Prof. Dr. Johannes Kalter, Linden-Museum Stuttgart: Kultur und Ge-
schichte der frühen türkischen Reiche.
28. Nov. 2003 Prof. Dr. Achim Schulte, Geographisches Institut, EU Berlin: Die
jüngsten Hochwasser an Neckar, Rhein und Elbe - Abfluss, Sedimenttransport und
Risikopotential.
Vietnam, Ahnenaltar und
Spiralweihrauch
5. Dez. 2003 Dr. habil. Jürgen Frembgen, Staatl. Museum für Völkerkunde München:
Traditionelle Lebenswelt in der „Walled City“ von Labore.
12. Dez. 2003 Dr. Hermann Behmel, Stuttgart: Stuttgart 21 und ICE Stuttgart-Ulm
aus geologisch-landschaftsökologischer Sicht mit einem Rückblick auf die Eisen-
bahngeschichte des 19. Jahrhunderts.
Auch die Finanzlage der Fördergesellschaft ist nach dem Bericht des Schatzmeisters
und der Rechnungsprüfer für das Jahr 2003 geordnet und ausgeglichen. Dieser posi-
tive Stand hat wieder zu einer - im wirtschaftlichen Sinne - „Ausschüttung“, d.h.
Förderung der beiden institutionellen Begünstigten geführt. Sowohl dem Linden-
Museum Stuttgart als auch dem Institut für Geographie der Universität Stuttgart
wurden jeweils 7.600 € für die satzungsgemäße Förderung zur Verfügung gestellt.
Das Linden-Museum hat die Mittel für 2004 aufgespart. Das Geographische Institut
der Universität Stuttgart zeichnete Herrn Armin Kühler für eine hervorragende wis-
senschaftliche Arbeit aus.
An die GEV gingen - zusätzlich zu den Mitgliedsbeiträgen - Spenden ein. Dafür
danke ich an dieser Stelle allen Spendern und Sponsoren (sie sind im Bericht des
Direktors aufgeführt) ebenfalls herzlich für ihr Engagement. In Zeiten leerer Kassen
ist uns jeder Euro sehr willkommen.
Die GEV hat im Jahre 2003 folgende Reisen und Exkursionen durchgeführt:
1. Rajasthan
2. Usbekistan
3. Usbekistan
4. Usbekistan
5. Athen
6. Plochingen
7. Peru
02.03.-15.03.2003
12.04.-26.04.2003
28.04.-12.05.2003
02.06.-16.06.2003
17.09.-29.09.2003
24.10.2003
03.11.-21.11.2003
(Prof. Thiele)
(Prof. Thiele)
(Prof. Thiele)
(Prof. Thiele)
(Prof. Rutz)
(Prof. Hahn)
(Dr.Kurella)
Es kann nicht genug betont werden, dass durch die gemeinsamen Reisen mit den
Mitgliedern der GEV ein großes Gemeinschaftsgefühl entsteht und damit ein noch
intensiverer Zusammenhalt der Gruppe. Außerdem werden bei solchen Reisen - ne-
ben der enormen Wissenserweiterung - immer wieder neue Mitglieder geworben
und gewonnen. Reisen und Exkursionen, die von diversen Reiseveranstaltern durch-
geführt werden, sollen auch zukünftig angeboten werden. Erfreulicherweise stellen
sich sowohl aus dem Kreise der Mitarbeiter des Linden-Museums als auch des Geo-
graphischen Institutes wissenschaftliche Reiseleiter für diese Unternehmungen zur
Verfügung. Durch vorbereitende Vorträge mit Bildmaterial werden die Reiseteil-
nehmer auf die Exkursionen und Fernreisen eingestimmt.
Die GEV ist im Jahre 2003 mit 1745 Mitgliedern (Stand: 31.12.2003) weiterhin die
größte Fördergesellschaft ihrer Art im deutschsprachigen Raum. Der Mitgliedsbei-
trag in Höhe von 20 € (ermäßigt 10 €) ist auch in diesem Jahr stabil geblieben.
Peter Thiele
21
TRIBUS 53,2004
Berichte über Erwerbungen im Jahre 2003
Im Jahre 2003 hatte das Linden-Museum Stuttgart einen Zuwachs von 649 Objek-
ten.
Überproportional ist dieses Mal Lateinamerika mit 408 Stücken vertreten. Davon
sind 407 Objekte Schenkungen verschiedener Personen mit dem Schwerpunkt auf
Ecuador und Kolumbien. Neben hervorragenden archäologischen Stücken ergänzen
auch Gegenstände aus dem täglichen Gebrauch die Sammlungen. Diese vielseitige
Sammlungsstrategie ist eine wichtige Politik bei Erwerbungen des Linden-Museums:
auf diese Weise können Kulturen chronologisch von sehr frühen Zeugnissen bis heu-
te dokumentiert werden.
Das Afrika-Referat erhielt einige moderne Makonde-Skulpturen als Spende. Gera-
de rechtzeitig vor der Sonderausstellung „Die andere Moderne Afrikas“, die im Mai
2004 eröffnet wird, konnten diese Objekte noch in die Ausstellung integriert wer-
den.
Auch das Orient-Referat hat seine 9 hochwertigen Objekte in die Ausstellung „Der
lange Weg der Türken“ aufgenommen. Gerade diese so sehr erfolgreiche Ausstel-
lung zeigte einmal mehr, wie wichtig ein Sammeln nach Konzept ist. Einmal werden
erst dadurch chronologische Ausstellungen ermöglicht, zum anderen zeigte diese
Präsentation sehr deutlich, wie stark Besucher von der Qualität der Sammlungsstü-
cke angezogen werden. Auch eine gerade abgeschlossene Besucherbefragung im
Linden-Museum ergab ein zunehmendes Interesse der Besucher nach Spitzenstü-
cken aus allen historischen Epochen.
Mit der Zunahme oberflächlicher Kulturberieselung in den neuen Medien und der
2-dimensionalen Digitalisierung gewinnen unsere Originale immer mehr an Bedeu-
tung. Deshalb muss es uns um die Zukunft unserer Sammlungen und Museen nicht
bange sein. Allerdings bedeutet dies auch, die Qualität und den Inhalt der Sammlun-
gen sehr sensibel zu handhaben.
Eine ganz andere Dimension in Bezug auf den Objekt-Erwerb wird u.a. durch die
Neuzugänge des Südasien-Referates deutlich. Hier mussten zunächst einige Stücke
mit Thermolumineszenz-Test geprüft werden. Zu perfekt sind inzwischen die Fäl-
scher, so perfekt, dass selbst erfahrene Spezialisten nicht mehr durch reinen Augen-
schein die Echtheit eines Objektes erkennen können.
Zu den Neuerwerbungen des Ostasien-Referates ist hervorzuheben, dass seit langer
Zeit wieder einmal Stücke aus Korea in das Linden-Museum kamen. Diese Region
zeichnet sich durch einen nur sehr kleinen Markt mit recht hohen Preisen aus. Unsre
Ausstellung zur Kalligraphie Koreas hat uns jedoch mit zahlreichen Koreanern in
Verbindung gebracht, so dass wir hoffen können, in Zukunft dieses wichtige Binde-
glied zwischen China und Japan auszubauen und auch in die Dauerausstellung auf-
nehmen zu können.
Ein seltener Glücksfall ist der Südsee-Abteilung widerfahren; sie erhielt auf aben-
teuerlichen Wegen eine Mimika-Sammlung (Südwest-Küste von Neuguinea), um die
uns jedes Völkerkunde-Museum beneidet. Die Kultur der Mimika ist in den letzten
30 Jahren derart tiefgründig von christlichen, fundamentalistischen Missionsgesell-
schaften verändert worden, dass fast nichts mehr an Traditionen überlebt hat. Die in
Australien während vieler Jahre gelagerte Sammlung stammt noch aus der Zeit un-
mittelbar vor diesen dramatischen Veränderungen.
Die Erwerbungen der Nordamerika-Abteilung zeigen die ganze Problematik dieses
Sammelgebietes. Es gibt fast nichts mehr auf dem Markt. Weniges haben noch Pri-
vatsammler, und ab und zu gelingt es, zu diesen Kontakt zu bekommen. Auch bei den
Dachbodenfunden ist Nordamerika nie vertreten, ganz im Gegensatz zu Asien und
Afrika. Deshalb wird es in Zukunft für diese Abteilung immer wichtiger werden,
auch anspruchsvolle moderne Kunstzeugnisse der indianischen Bevölkerung in die
Sammlung aufzunehmen. Ein solches Kunstwerk ist z.B. anlässlich der Wiedereröff-
nung der Dauerausstellung eigens für uns gefertigt worden.
22
Neuzugänge im Jahre 2003:
Afrika-Referat
Orient-Referat
Südasien-Referat
Ostasien-Referat
Südsee-Referat
Nordamerika-Referat
Lateinamerika-Referat
408 Objekte
52 Objekte
9 Objekte
65 Objekte
65 Objekte
41 Objekte
9 Objekte
insgesamt 2003
649 Objekte
Im Folgenden geben die Referenten noch weiterreichende Hintergründe und Infor-
mationen, die widerspiegeln, wie wichtig eine ständige Marktbeobachtung ist. Dass
wir aber nicht nur als Beobachter tätig sein dürfen, sondern auch gezielt höchste
Qualität erwerben können, ist zum Wesentlichen den Mitteln aus der Museumsstif-
tung und dem Zentralfonds zu verdanken.
Deshalb sei an dieser Stelle noch einmal neben allen privaten Spendern der Staatli-
chen Toto-Lotto-Gesellschaft gedankt sowie dem Ministerium für Wissenschaft und
Kunst.
Thomas Michel
23
TRIBUS 53,2004
Afrika-Referat
Insgesamt konnten im Jahr 2003 für die Afrika-Sammlung 52 Objekte erworben wer-
den, und zwar teils durch Ankäufe, größtenteils aber durch Schenkungen. Allen
Spenderinnen und Spendern sei hiermit nochmals herzlich gedankt.
Die kulturgeographische Region Oherguinea ist mit zwei Halsketten aus Südghana
vertreten, deren Glasperlen im einen Fall von europäischer, im anderen aber von
afrikanischer Produktion (Frittenperlen) sind. Zwei alten Missionarssammlungen
entstammen einige Objekte aus dem Cross-River-Gebiet (vor 1910) und dem Kongo-
becken (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts): ein aus Raffiafasern gewebtes bzw. gehä-
keltes Maskengewand von den Keaka-Ekoi (Kamerun), eine eiserne Glocke ver-
mutlich gleicher Herkunft und ein Messing-Halsring aus Gabun.
Besonders reichlich vertreten war diesmal das Südliche Afrika. Zu zwei elfenbeiner-
nen Zierknöpfen von den Kuanyama-Ambo (Angola), einer Keule und einem Schild
jeweils aus dem Swaziland und drei Schmuckanhängern in Glasperlen-Weberei von
den Ndebele (Südafrika) kamen noch mehrere Objekte aus Zimbabwe hinzu, die
neben zwei Kalebassenfläschchen, drei Körben, einem Korbteller, zwei Tontöpfen,
einem hölzernen Hocker und einer Kalebassenrassel auch noch zwei moderne Sho-
na-Skulpturen aus Serpentin umfassen.
Von besonderer Bedeutung war jedoch, daß es größtenteils dank Spendenmitteln
endlich gelang, aus einer von uns nach und nach zu erwerbenden Sammlung von
etwa 100 sehr ausdruckstarken modernen tansanischen Makonde-Skulpturen aus
afrikanischem Ebenholz die ersten 21 Stücke anzukaufen. In die Zeit um 1970 zu
datieren, können sie, obwohl überwiegend nicht signiert, jeweils den bekannten
Künstlern Edward Vintana, Thomas Valentine, T(h)omasi. Mwanzema und Nwejedi
Dastani oder eventuell auch deren Schulen zugeschrieben werden. Dargestellt sind
jeweils äußerst dramatisch gestaltete Einzelpersonen oder ganze Szenen aus den
Motivgruppen familia, shetani und Noel.
Ebenfalls von Bedeutung war der Ankauf eines Satzes ritueller Paraphernalia von
den Kwere im ostafrikanischen Tansania, dessen Basis ein kleiner hölzerner Hocker
bildet, auf dem ein Medizinfläschchen aus Kalebasse mit einem hölzernen Stöpsel in
Form eines mwana-hiti-Figürchens steht. Die von den benachbarten und verwandten
Doe stammende allgemein bekannte Bezeichnungsvariante mwana hiti bedeutet ja
im Deutschen auch etwa Tochter des (hölzernen) Hockers\
T(h)omasi? [Figur einer Busch-
dämonin (shetani) mit Merkma-
len von Mensch und Vogel mit
Flügeln, von denen einer die Form
einer Madonnenfigur hat.]
Afrikanisches Ebenholz, H 76
cm, Makonde (Tansania), um
1970. Inv.-Nr. F 55.823
24
Wenden wir uns nun noch kurz der Sudanregion zu, aus deren zentralsudanischem
Abschnitt ein anthropomorpher ritueller Topf von den Cham und zwei schön ver-
zierte Wasserkrüge jeweils mit Standring von den Hausa, beide Völker jeweils in
Nordnigeria ansässig, stammen. Außerdem ist der Westsudan mit einem Stück
högdlan-Stoff von den Bambara (Mali) und zwei Stücken aus der Hand von Hami-
dou Coulibaly vertreten, einem Meisterweber der „Dyula“-Malinke im Norden der
Elfenbeinküste, nämlich mit einer Gewebeprobe seiner neuesten Kreation und vor
allem mit einer reich bestickten Herrentobe. Herr Coulibaly hielt hier im Sommer
übrigens einen Kurs in afrikanischer Webtechnik ab, der regen Zuspruch fand.
Hermann Forkl
Auf einem Hocker stehendes Me-
dizinfläschchen mit Stöpsel in
Form eines mwana-hiti-Figür-
chens
Holz mit brauner bzw. schwarz-
brauner Patina, Kalebasse, Roh-
haut, Baumwolle; H Hocker 10
cm, H Stöpsel 17 cm, H Fläsch-
chen 13 cm; Kwere (Tansania),
um 1900. Inv.-Nr. F 55.792a-c
Hamidou Coulibaly: Herrentobe
Bestickte Baumwolle; L 130 cm, B 157 cm; „Dyula“-Malinke (Elfenbeinküste), um
2003. Inv.-Nr. F 55.827
25
TRIBUS 53,2004
Orient-Referat
Der Zuwachs der Orient-Abteilung im Berichtsjahr war mit insgesamt neun Objek-
ten zahlenmäßig äußerst bescheiden, für die Entwicklung der Sammlung aber von
herausragender Bedeutung. Seit 1978 hat das Linden-Museum unter Einsatz von
Zentralfonds- und Museumsstiftungsmitteln, aber auch mit großzügiger Unterstüt-
zung von Mäzenen wie Heinz Breuninger und Sponsoren wie der Landesgirokasse
später LB BW. der Daimler-Benz AG und der Mercedes-Niederlassung Stuttgart die
wohl heute schon weltweit beste Sammlung von Metallarbeiten aus Ostkhorasan,
Transoxanien und Afghanistan des 9. bis frühen 13 Jh. angelegt. Durch die Erwer-
bung von acht herausragenden Objekten aus dieser Region ist es gelungen, diese
Sammlung um bisher fehlende typologisch wesentliche Objekte zu ergänzen.
Im Einzelnen wurden erworben:
• Eine Flasche mit Ausguss in Form eines Ibex-Kopfes, Bronzeguss, 9. Jh. n.Chr.
Die Gestaltung folgt noch den Vorbildern sassanidischer Treibarbeiten.
• Ein Räuchergefäß mit kuppelförmigem Deckel, aus dem Löwenköpfe heraus-
wachsen, die ebenfalls sassanidischen Edelmetallvorbildern folgen, Afghanistan,
frühes 11. Jh.
• Ein Räuchergefäß in Form eines stehenden Löwen, Bronze, im Durchbruch ge-
gossen und graviert. Das ähnlichste Vergleichsstück wurde in Budrach-Usbekis-
tan bei einer Grabung gefunden und ist auf den Anfang des 11. Jh. zu datieren.
• Ein Flacon in Vogelform, Bronze, gegossen, graviert und silbertauschiert aus Ost-
khorasan, Anfang des 12. Jh.
• Ein Zepter, Bronzeguss, graviert und silbertauschiert, vermutlich in Ghazni im
ersten Drittel des 12. Jh. hergestellt. Zepter dieser Form waren bislang nur von
Darstellungen auf Wandmalereien oder in silbergetriebenen Metallschalen be-
kannt. Das vorliegende Stück ist das erste, das diese Darstellungen bestätigt.
• Ein aus Bronzeguss gegossenes Wasserbecken, graviert und silbertauschiert mit
äußerst lebensnahen Tierdarstellungen. Rankendekor und Inschriften. Ein ähnli-
ches Stück mit wesentlich einfacherem Dekor in unserer Sammlung wurde in
Ghazni gefunden und ist wie das neu erworbene Stück in das erste Drittel des 12.
Jh. zu datieren.
Flasche mit Ausguss in Form
eines Ibex-Kopfes
Bronzeguss, H 17 cm, D ca. 8
cm, Ostkhorasan, 9. Jh. n. Chr.
Listen-Nr. 4.543/1
26
• Ein kugeliges Räuchergefäß, Bronze, im Durchbruch gegossen, graviert und sil-
bertauschiert. Diese Form wurde in Anlehnung an chinesische Vorbilder in
Buchara/Usbekistan ab dem 9. Jh. hergestellt. Silbertauschierungen waren erst
ab Beginn des 12. Jh. üblich. Bei unserem Objekt dürfte es sich um eine der frü-
hesten Silbertauschierungsarbeiten aus der Produktion von Buchara handeln.
• Ein Tablett, Messing, getrieben mit silbertauschierter Randinschrift, im Duktus
des „redenden Nashi“. Der Inhalt des Schriftbandes findet sich vergleichsweise
auf Stücken, die aus gesicherten Grabungen in Berat, Merv, Buchara oder dem
Registan in Samarakand stammen. Alle diese Stücke sind in das frühe 13. Jh. (vor
dem Mongolensturm 1220) zu datieren.
Zur Ergänzung der ethnographischen Sammlung konnten wir ein reich verziertes, in
Kelimtechnik hergestelltes Zierband einer turkmenischen Hochzeitsjurte (Nordost-
iran oder Afghanistan) vom Anfang des 20. Jh. erwerben.
Johannes Kalter
Räuchergefäß in Form eines
stehenden Löwen
Bronze im Durchbruch, zwei-
teilig gegossen und versäu-
bert, graviert, H 29,5 cm, B 26
cm, Buchara, 11. Jh.
Listen-Nr. 4.543/3
Wasserbecken mit äußerst
lebensnahen Tierdarstellungen,
Rankendekor und Inschriften
Bronze, gegossen, graviert
und silbertauschiert, H 17
cm, D 59 cm. Ein ähnliches
Stück mit wesentlich einfa-
cherem Dekor in unserer
Sammlung wurde in Ghazni
gefunden und ist wie das neu
erworbene Stück in das erste
Drittel des 12. Jh. zu datieren.
Listen-Nr. 4.543/6
27
TRIBUS 53,2004
Südasien-Referat
Im Berichtsjahr 2003 konnten 65 Objekte für die Abteilung Südasien inventarisiert
werden, davon 17 altindische, 30 neuindische, fünf indo-tibetische, zehn aus Südost-
asien und drei aus Indonesien.
Die Objekte des Altertums sind eine Gruppe von Kupfer- und Silbermünzen aus
Afghanistan, darunter baktrische des Apollodotus und Hermaios, Saka-Münzen des
Azes und Azilises sowie Kushana-Münzen Kujulas und Vima Kadphises’. Ebenfalls
aus Afghanistan stammt eine kreisrunde bronzene Plakette mit Kharosthi-Beschrif-
tung (Lesung in Arbeit). Zum Bereich der Chandraketugarh-Terrakottakunst des 1.
Jahrhunderts v.d.Z. zählen zwei vasenartige Gefäße, deren Oberfläche mit Figuren-
reliefs und Floraldekor vollständig bedeckt ist. Bei dem topfförmigen Gefäß (s. Abb.)
verläuft am Hals eine girlandenartige Reihe von sechs Lotosblumen mit Stielen. Ein
zweites Band von 4.7 cm Höhe umfasst den Bauch. Hier sind 25 frontal gewendete
Personen in aufrechter Haltung abgebildet, davon 21 weibliche die durch vier männ-
liche Einzelgestalten in Gruppen von wechselnder Anzahl gegliedert werden. Alle
Figuren zeigen einen leichten Ausfallschritt und variierte Armstellungen, sodass sich
der Eindruck einer Prozession ergibt. Anfang und Ende der Reihe sind jedoch nicht
markiert.
Beide Gefäße wurden durch TL-Test geprüft, eines davon (s. Abb., SA 04.564) ließen
wir zusätzlich auf eventuelle Klebechemikalien untersuchen, was ein eindeutig nega-
tives Ergebnis brachte. Es handelt sich also tatsächlich um ein vor mehr als 2000
Jahren keramisch gebranntes Objekt (die Untersuchung des zweiten Gefäßes steht
noch aus).
Mit Mitteln des Zentralfonds wurden zwei kleinformatige Ekamukhalingas, phalli-
sche Kultbronzen der Shivaverehrung (s. Abb., SA 04.567 L und SA 04.568 L), erwor-
ben. Eines davon weist in der gravierten Inschrift den Königsnamen Devapala auf,
sodass die stilistische und paläographische Zuordnung zur Pala-Epoche in Bihar,
östliches Indien, auf die Jahre um 820-850 u.Z. präzisiert werden kann. Beide Kult-
objekte zeigen am Rand der runden Linga-Plattform neben dem Stier als Symboltier
des Shiva auch adorierende Beifiguren, darunter eine Schlangengöttin (Nagini) mit
dreiköpfiger Haube. Sie scheint mit dem Zerreiben von Gewürzen oder Drogen mit-
tels eines Reibsteins befasst zu sein.
Aus dem neuzeitlichen Indien stammen eine rajputische Schrifttafel (Schenkungsur-
kunde), einige Silberamulette, Elfenbeindosen und -spielfiguren und textile
SpieUbretter“ (Chaupar/Mensch-ärgere-Dich-nicht). Tribaler Herkunft sind zwei
Eulenfiguren und eine Halskette (Bastar), ferner eine hölzerne Pfahltreppe sowie
eine Sitzfigur der Naga im Osten Indiens.
Der tibetisch-buddhistischen Kultur von Ladakh entstammen eine Lamakrone, zwei
Halsketten, ein Gürtelschmuck sowie eine Amulettdose (gao).
Birma (Myanmar) ist mit einer Deckeldose aus Elfenbein sowie zwei silbergetriebe-
nen Gefäßen. Silberschmuck und Lackobjekten vertreten. Als wertvolle Ergänzung
zu unserem bronzenen Vajra der Khmer-Kultur konnte eine passende Glocke mit
figürlichem Aufsatz erworben werden (s. Abb., SA 04.566).
Aus Indonesien erhielten wir als Geschenk eine Baumrinden-Jacke der Dajak, Kali-
mantan, ferner eine hervorragend geschnitzte, perückenbestückte Rangda-Tanzmas-
ke aus Bali (s. Abb., SA 04.569). Ihre Schnitzweise, bei der die Ohrmuscheln aus dem
Block geschnitzt (und nicht angenagelt) sind, verweist auf ein beträchtliches Alter.
Gerd Kreisel
28
Dekoratives Gefäß
gebrannter Ton, H 11 cm, Chandraketu-
garh, Ostindien, etwa 1. Jahrhundert
v.u.Z. Inv.-Nr. SA 04.564
Priesterglocke
Bronzeguss, patiniert, H 17 cm, Kam-
bodscha, Khmer, Bayon-Epoche, 12.
Jahrhundert. Inv.-Nr. SA 04.566
Ekamukhalingas
Bronzeguss, H 6,9 resp. 5,4 cm. Bihar,
Ostindien, Pala-Epoche, um 820-850.
Inv.-Nr. SA 04.567 L und SA 04.568 L
Tanzmaske Rangda
Holz, Polychromie, menschliches Haar,
H 24 cm (mit Haar ca. 35 cm), Bali, In-
donesien, erste Hälfte 20. Jh.
Inv.-Nr. SA 04.569
29
TRI BUS 53,2004
Ostasien-Referat
Die Sammlungsbestände der Ostasien-Abteilung haben sich im Jahr 2003 um 65 Ob-
jekte vergrößert, von denen 42 gestiftet und 23 angekauft wurden. Wie bereits in den
vergangenen Jahren stammen die meisten Neuzugänge mit insgesamt 48 Objekten
aus dem chinesischen Kulturbereich, dreizehn aus Japan und seit langem erstmals
wieder vier Objekte aus Korea. Und die Mehrzahl der chinesischen Gegenstände
gehören wiederum überwiegend zu den beiden traditionellen Sammlungsschwer-
punkten der Ostasien-Abteilung: chinesischer Grabkult und Keramik. Dieser Zu-
sammensetzung entsprechen auch im Wesentlichen die 29 gestifteten chinesischen
Objekte. Streng genommen sind, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, fast
alle chinesischen Neuerwerbungen dem Grabkult zuzuordnen, seien es nun Objekte
aus Keramik, Metall oder Lack.
Die größte Gruppe darunter bilden jedoch die 25 Keramiken, von denen dreizehn
gestiftet wurden und zwölf angekauft werden konnten, neun mit Hilfe der Museums-
Stiftung des Landes Baden-Württemberg, die restlichen drei mit Eigenmitteln. Un-
ter den Ankäufen ragen heraus eine Gruppe von sechs Kopf- oder Nackenstützen
aus der Song- (960-1279) und Jin-Zeit (1115-1234), die mit floralen Motiven in un-
terschiedlichen Dekortechniken (Sgraffiato, Ritz- und Punztechnik) bzw. mit zwei
spielenden Kindern bemalt sind (s. Abb., OA 25.283 L), sowie eine kleine Kanne,
nördliches Seladon aus dem 11. Jahrhundert (s. Abb., OA 25.277 L), und eine kleine,
birnenförmige Flasche, Cizhou-Ware aus der Jin- oder frühen Yuan-Zeit (1279-
1368), mit einer „marmorierten“, ineinander verlaufenden, dreifarbigen Glasur auf
beigeweißer Engobe. Ein Teller mit einem eingeschnittenen achtblättrigen Lotosblü-
tendekor und einer glasigen, hellgrünen Glasur, aus dem Ende der 6-Dynastien-Zeit
(265-589) und in einem Ofen in Südchina in der Provinz Jiangxi hergestellt, bildet
die letzte der neun Keramikerwerbungen aus Mitteln der Museums-Stiftung.
Aus der gleichen Zeit und ebenfalls aus Südchina, dieses Mal aus der Provinz Zheji-
ang, stammt ein Schultertopf vom Typ ,,/m“, hellgrün glasiertes Steinzeug aus den
Öfen von Yueyao, der gestiftet wurde (s. Abb., OA 25.296). Die übrigen gestifteten
chinesischen Keramiken beinhalten u.a. eine dreibeinige Kanne mit Scheinausguss,
Henkel und Ausguss in Form eines stilisierten Drachens, und einer hell-olivgrünen,
fleckigen Aschenglasur aus der Zhanguo-Zeit (475-221 v.Chr.), Vorläufer des späte-
ren Steinzeugs mit grünen Seladonglasuren, sowie ein Schultertopf aus grauem
Steinzeug mit eingepresstem Rillen- und Flechtwerkdekor aus der gleichen frühen
Zeit, ferner zwei braun bzw. grün glasierte Schultertöpfe aus der Tang-Zeit (618—
907), eine große Meiping-Schulterflasche aus dem 13. Jh., Cizhou-Ware mit einge-
ritztem Dekor aus stilisierten floralen und geometrischen Motiven und eine kleine
Fußschale, ebenfalls Cizhou-Ware mit einem unterglasurbraunen, gemalten Blüten-
dekor aus der Jin-Zeit. Um die Gruppe der gestifteten chinesischen Keramiken ab-
zuschließen, verdienen zwei jeweils über einen Meter große und ein Paar bildende
Kopf- oder Nackenstütze
Mittelgraues Steinzeug mit
schwarzer Bemalung, zwei spie-
lende Knaben, auf der cremefar-
benen Engobe unter der transpa-
renten Glasur, H 14,2 cm, L 34,9
cm. B 18,7 cm, China, Cizhou-
Ware aus den Öfen von Yuzhou,
Provinz Hebei, Jin-Zeit (1115—
1234). Inv.-Nr. OA 25.283 L
30
Kleine Kanne
Hellgraues Steinzeug mit dunkel-
olivfarbener Glasur und einge-
schnittenem Päoniendekor, H
17,1 cm, Nord-China, Yaozhou-
Ware aus den Baofeng-Öfen,
Nord-Song-Zeit (960-1127), Ende
11. Jh. Inv.-Nr. OA 25.277 L
Graburnen aus der Süd-Song-Zeit (1127-1279) besondere Erwähnung,sog. Yingqing-
oder Qingbai-Porzellan mit einer leicht bläulichen, transparenten Glasur (yingqing,
„Schattenblau“ bzw. qingbai, „bläuliches Weiß“) und vielfältigem, plastisch aufmo-
dellierten figürlichen Dekor. Diese reich geschmückten, hohen Urnen wurden in der
Provinz Jiangxi in den Öfen von Jingdezhen hergestellt, dem späteren Zentrum der
chinesischen Porzellanproduktion seit der Yuan-Zeit, und in Südchina während der
Süd-Song-Zeit gerne als aufwendige Grabbeigaben verwendet.
Ein weiteres Sammlungsziel der Ostasien-Abteilung ist der konsequente Ausbau der
großen chinesischen Lacksammlung, die neben den Londoner Sammlungen im Bri-
tish Museum und Victoria & Albert Museum die bedeutendste chinesische Lack-
sammlung in Europa ist. Hier konnten im Berichtsjahr mit Hilfe der Museums-Stif-
tung drei bedeutende, frühe Lackarbeiten erworben werden, ausnahmslos
Grabbeigaben und damit auch den anderen Sammlungsschwerpunkt der Abteilung,
Schultertopf vom Typ „hu“
Hellgraues Steinzeug mit hell-
grüner Glasur, H: 25,2 cm. China,
Yueyao-Ware, Ende 6-Dynasti-
en-Zeit (265-589), 1. Hälfte 6. Jh.
Inv.-Nr. OA 25.296 (Stiftung)
31
TRIBUS 53,2004
den chinesischen Grabkult, abdeckend. Das auch von der Größe beeindruckendste
Objekt ist eine mehrteilige Skulptur aus Holz mit Schwarzlack und aufgemaltem
Dekor in Rot und Gelb, die aus einem kauernden Tiger mit einem darauf stehenden
Phönix besteht, in dessen Rücken ein Hirschgeweih gesteckt ist. Derartige Kompo-
sitwesen wurden als Grabwächter zum Schutze der Verstorbenen mitbestattet. Die
beiden anderen Lackarbeiten sind eine Panflöte (chin. sho) mit dreizehn unter-
schiedlich langen Bambusröhrchen, die mit Schwarzlack und einem geometrisch ab-
strakten Rotlackdekor bedeckt sind, und eine perfekt erhaltene, ovale sog. Ohren-
schale (chin. erhei), Holz mit einem in Rot- und Braunlack auf Schwarzlack
ausgeführten Dekor. Die drei Lacke stammen sehr wahrscheinlich alle aus dem Staa-
te Chu im Süden Chinas, der 221 v. Chr. von dem Qin-Staat als letzten großen Wider-
sacher auf dem Wege zur Einigung des gesamten chinesischen Reiches unter einer
Zentralgewalt erobert wurde. Die Skulptur und Panflöte stammen noch aus dem
Anfang der Zhanguo-Zeit (475-221 v.Chr.), die Ohrenschale bereits aus deren
Ende.
Berglandscha ft mit Tempel, Pavillon und einem Gasthof am Flussufer
Hängerolle, Tusche auf stark gedunkelter Seide, Maße: 103,3 x 57,3 cm, China, Mitte
Ming-Zeit (1368-1644). Inv.-Nr. OA 25.293 (Stiftung)
32
Fächerbild mit der Darstellung eines Fasanenpaares im Winter
Das Fasanenpaar steht auf einer Erdkuppe neben einem blühenden Kamelienstrauch
und einem kahlen Baum.Tusche und Gold (kindei) auf Papier, Maße: 21,3 x 53,7 cm,
Siegel von Kanö Motohisa. Japan, 2. Hälfte 16. Jh. Inv.-Nr. OA 25.271 c L
Unerwartet und gewissermaßen als Ergänzung zu diesen Erwerbungen erhielt das
Linden-Museum im Sommer 2003 von einem Händler und Sammler in Hong Kong
eine Gruppe von mehreren bedeutenden Lackobjekten gestiftet, die im Einzelnen
aus einer Grabskulptur ähnlich der oben erwähnten und ebenfalls aus der frühen
Zhanguo-Zeit stammend besteht, hier ist es ein liegender Hirsch mit einem darauf
stehenden Phönix, das Geweih vom Hirsch fehlt jedoch, und aus der nachfolgenden
West-Han-Zeit (206 v. - 8 n. Chr.) zwei jeweils über 50 cm große stehende Holzfigu-
ren mit Resten der Lackbemalung und Textilfragmenten der ehemaligen Kleidung,
zwei Teller aus Holz mit Schwarzlack und Dekor in Rotlack sowie ein vermutlich
unvollständiger Satz von sechs zum Teil nicht mehr kompletten kleinen, runden, qua-
dratischen und U-förmigen Lackdöschen aus Holz mit verschiedenfarbigem Lackde-
kor und tlw. mit dünnem Silberblech verziert, die ursprünglich Teil einer großen,
runden Kosmetikdose waren, in der sie aufbewahrt wurden.
Die restlichen chinesischen Ankäufe aus Mitteln der Museums-Stiftung bilden ein
Räucherwerkgefäß aus Bronze mit einem langen Handgriff und herausnehmbarem,
becherförmigen Einsatz, das für den buddhistischen Ritus verwendet wurde und aus
dem 5./6. Jh. stammt, und eine ovale Fußschale aus Silber aus der späten Tang-Zeit
(618-907), die innen mit einem Fisch, umgeben von einem doppelten Blattring in
Treibarbeit bzw. gravierten Blütenzweigen auf den Enden und Päonien mit jeweils
einem Mandarinentenpaar auf den Breitseiten dekoriert ist.
Als Abschluss der chinesischen Gegenstände sind besonders erwähnenswert noch
vier weitere gestiftete Objekte, vorwiegend aus Bronze. Aus einer alten deutschen
Privatsammlung, die bereits vor dem 2. Weltkrieg in China zusammengetragen wur-
de, erhielt das Museum zwei archaische Bronzewaffen, beide aus der 2. Hälfte der
Shang-Zeit (13.-11. Jh. v. Chr.), eine ge-Hellebarde mit einem tief eingelassenen tao-
ü'e-Motiv am Heftende, vermutlich ursprünglich mit Türkiseinlagen versehen, und
einer „Tiermaske“ in Relief mit hoch stehenden „Hörnern“ sowie eine muo-Lanzen-
spitze mit Dreieckmotiven mit stilisierten „Zikaden“ und vierteiligen „Wirbelmoti-
ven im Kreis“ in mitgegossenen, eingetieften Linien. Aus der gleichen Sammlung
kam noch eine Hängerolle mit einer in Tusche auf Seide gemalten Berglandschaft
mit Tempel und Pavillon in hohen, steilen Bergen und einem Fluss mit einem Gast-
hof am Ufer (s. Abb.. OA 25.293). Links oben befindet sich ein großes, kaiserliches
Sammlersiegel, dessen Echtheit noch überprüft werden muss. Die Hängerolle trägt
außen auf dem aufgeklebten Titelschild den handschriftlichen Vermerk des Vorbe-
sitzers „...aus der Yüan-Zeit...“. Diese Datierung ist sicherlich zu früh, aber das
großformatige Bild kann etwa in die Mitte der Ming-Zeit (1368-1644), vermutlich
33
TRIBUS 53.2004
um 1500 / 1. Hälfte 16. Jh. datiert werden. Damit wäre diese Landschaftsdarstellung
das bisher älteste chinesische Bild in der kleinen Sammlung chinesischer Malerei
und bildet eine sehr willkommene Ergänzung des Vorhandenen. Dies gilt auch für
die kleine Trinkschale aus innen vergoldeter und außen versilberter Bronze in Form
einer Melonenhälfte, die innen mit gravierten Ranken und Blütenmotiven ge-
schmückt ist und aus der Liao-Zeit (907-1125) stammt.
Die Japan-Sammlungen wurden durch den Ankauf von vier Malereien erweitert,
drei Fächerblättern aus der 2. Hälfte des 16. Jh. aus einer deutschen Privatsammlung
mit Mitteln der Museums-Stiftung (s. Abb., OA 25.271c L) und aus Eigenmitteln eine
Hängerolle von OkamotoToyohiko (1773-1845), einem Mitglied der Literaten-Ma-
lerei (bunjin-go), mit der Darstellung des Gespenstes einer jung verstorbenen Frau,
das aus ihrem Grab aufsteigt. Die Gruppe der Malerei wurde ergänzt durch die Stif-
tung von drei weiteren Hängerollen mit Malereien und einem als Hängerolle mon-
tierten buddhistischen, handkolorierten Holzschnitt von Kanö Hironobu (7-1730)
mit der Darstellung der Geburt des historischen Buddha Shakyamuni. Zwei der drei
Malereien, eine Landschaft mit einer Teegesellschaft (s. Abb.. OA 25.287) und eine
Art Stilleben mit den Teegerätschaften, die man zur Zubereitung des aufgebrühten
Tees (Japan, sencha) benötigt, beide in Tusche und leichten Farben auf Papier, stam-
men von Aoki Mokubei (1767-1833), das Bild mit den Teegeräten ist in das Jahr 1814
datiert. Die dritte Hängerolle aus dem 18. Jh. ist
im Stil der volkstümlichen Genre-Malerei des
Ukiyo-e in Farben und etwas Gold auf Papier
ausgeführt und zeigt eine Kurtisane mit ihrer
Dienerin und einen auf einer Laute über das
Wasser gleitenden chinesisch gekleideten Mann.
Ein Farbholzschnitt von Ichiyüsai Kuniyoshi
(1797-1861) und vier Karpfenbanner aus bemal-
tem Baumwollstoff für das Knabenfest am 5.
Mai beschließen die japanischen Stiftungen.
Zum Abschluss sollen noch die vier gespendeten
koreanischen Objekte erwähnt werden, zwei
frühe Seladon-Steinzeuge mit in weiß und grau
eingelegtem Pflanzendekor (sanggöm-Technik)
aus der Koryö-Zeit (12. Jh.), eine große Schale
und eine kleine Schale auf einem Stand mit Blü-
tenrand, ein würfelförmiger Wassertropfer zum
Anreiben von Tusche aus Blauweiß-Porzellan
aus dem 19. Jh. und eine oktogonale Schwarz-
lackdose mit einem eingelegten Dekor aus Perl-
mutter der Haliotisschnecke mit einem Pfauen-
paar zwischen Felsen und blühenden Strauch-
päonien aus dem Jahr 2003.
Wie immer möchten wir allen Spendern an die-
ser Stelle nochmals für ihre wertvollen Stiftun-
gen herzlich danken.
Klaus J. Brandt
Berglandschaft mit einer Teegesellschaft
an einem Wasserfall
Hängerolle, Tusche und leichte Farben auf Pa-
pier, Maße: 108,6 x 29,1 cm. Japan, Aoki Moku-
bei (1767-1833), vermutlich Anfang 18. Jh.
Inv.-Nr. OA 25.287 (Stiftung)
34
Südsee-Referaf
Im Jahr 2003 konnte die Südsee-Abteilung insgesamt 41 Objekte inventarisieren, die
weitestgehend durch Schenkungen ins Haus kamen.
Als Glücksfall ist der „Erwerb“ von 22 Objekten der Kamoro (Mimika) anzusehen,
die an der Südküste Neuguineas leben. Dazu gehören zwei große Geisterpfosten
mbitoro, die mit ihrer imposanten Höhe von bis zu sechs Metern und ihrem Arran-
gement aus durchbrochen gearbeiteten stilisierten Figuren, Ornamenten und der
weit herausragenden, geschnitzten „Fahne“ zu den beeindruckendsten Kunstwerken
dieser Region zählen. Aufgestellt wurden sie für Totenzeremonien, bei denen die
besonderen Fähigkeiten der Verstorbenen gepriesen wurden. Gleichzeitig sicherte
man die Fortführung seines Febenswerks zu, so dass sich sein Geist entfernen konn-
te. Zusammen mit den Totenzeremonien wurden Initiationen durchgeführt. Wäh-
rend die stilisierte Figur den/die Verstorbene(n) versinnbildlicht, bezieht sich das
ovale Mittelemblem der „Fahne“ auf mopere, den Nabel. Er ist Symbol neuen Le-
bens und verweist damit auf die enge Beziehung zwischen Tod und neuem Leben im
Weltbild der Kamoro.
Glücklich ergänzt wurde dieses Geschenk von Mario Jean Roberty durch die Über-
lassung weiterer 20 Kamoro-Objekte durch den Sammler Todd Barlin, darunter vier
beschnitzte Paddel, zwei Ahnenfiguren, zwei Tanzaufsätze, ein aus Schnur und Bast
gefertigtes Maskenkostüm und 8 Ahnenbretter yamate. Letztere sind rechteckige,
einseitig im Flachrelief oder durchbrochen geschnitzte Bretter, die im unteren Teil
mit einem Zapfen in den Boden gesteckt oder quer im Inneren der Initiationshäuser
angebracht wurden. Die Dekoration besteht im Wesentlichen aus ovalen Motiven
und gewundenen Linien. Zentral scheint auch hier die Verwendung des mopere-Mo-
tivs zu sein. Die yamate stellen verstorbene Angehörige dar und tragen deren per-
sönliche Namen. Während des enakame-Festes, dessen Hauptthema die Entstehung
von Leben aus Tod ist, wurden sie in Reihen vor dem Zeremonialhaus präsentiert.
Mit dieser kleinen Sammlung ist es dem Linden-Museum gelungen, eine gravierende
Lücke in der Sammlung zumindest teilweise zu schließen, sowohl was die oben ange-
sprochene Thematik angeht als auch bezogen auf die besonderen künstlerischen
Ausdrucksformen der Kamoro.
Ebenso selten wie Kamoro-Objekte finden sichTapa-Malereien der Nakanei (Nord-
küste von West-Neubritannien. Papua Neuguinea) in deutschen Sammlungen. Über-
raschend war deshalb die Entdeckung einer solchen Malerei in einer Stuttgarter
Sammlung, und besonders erfreulich die Möglichkeit, dieses Objekt für das Museum
zu erwerben (s. Abbildung). Entstanden ist die auf Baumbaststoff aufgebrachte Ma-
lerei vermutlich in den 60er Jahren als Bedeckung einer der großen Tanzmasken, die
als Teil der Totenzeremonien auftraten.
Aus Neuguinea erhielt das Museum noch eine kleine Sammlung mit Pfeilen und
Speeren, Eberhauer-Schmuck und einem Federstecker. Aus Nord-West-Australien
schließlich konnte eine kleine /mmi-Darstellung aus Rinde erworben werden.
Ingrid Heermann
35
TRIBUS 53,2004
Malerei auf Tapa
Baumbaststoff, Naturfarben, 169 x 103 cm, Nordküste von West-Neubritannien,
Papua Neuguinea. Listen-Nr. L 4.560
36
Nordamerika-Referat
Für die Nordamerika-Sammlung konnten im Jahr 2003 insgesamt neun Objekte er-
worben werden. Darunter ist besonders hervorzuheben ein aus Wurzelfasern ge-
flochtenes Tlingit-Körbchen (D: 12 cm, H: 7 cm), das auf ca. 1890 datiert wird und aus
einer Privatsammlung stammt. Als Geschenk erhielt das Museum drei Inuit-Jagdge-
räte und ein Kajakpaddel in Modellformat. Diese Gegenstände wurden 1963 von
einem Privatsammler in Jakobshaven (heute Ilulissat) erworben. Bei den Jagdgerä-
ten handelt es sich um eine Harpune mit Atlatl (L: 184 cm), einen Harpunenspeer
(L: 81,5 cm) und einen Vogelspeer (L: 80 cm).
Als herausragende Erwerbung ist das für die Eröffnung der neuen Nordamerika-
Dauerausstellung in Auftrag gegebene Kunstwerk des Tsimshian-Künstlers Edward
E. Bryant zu nennen. Es handelt sich dabei um eine Planke aus rotem Zedernholz
(Thuja plicata), auf die in einer Sequenz von drei Darstellungen die Geschichte des
mythischen Rabenwesens Txamsem dargestellt wird, der mit seinen schöpferischen
Kräften das Licht in die Welt gebracht hat (siehe Umschlagseite). Bei den in Halbre-
lief gehaltenen Schnitzereien stellt Edward E. Bryant drei verschiedene Kunststile
vor. Die Gestaltung des ersten Bildes greift auf archäologische Vorbilder zurück, die
darüber liegende, mittlere Darstellung reflektiert den Kunststil, wie er für die Tsims-
hian im ausgehenden 19. Jahrhundert typisch war, und das oberste Bild gestaltete der
Künstler in der ihm eigenen Ausdrucksform. Dabei kombinierte er Schnitzerei und
Malerei mit Einlegearbeiten aus Abalone.
Sonja Schiede
37
TRIBUS 53,2004
Lateinamerika-Referat
Die Lateinamerika-Abteilung konnte auch im Jahr 2003 wieder einen erheblichen
Zuwachs an Objekten verbuchen. Dank der Schenkung Glauner gingen der Samm-
lung 366 archäologische Objekte aus Kolumbien und Ecuador zu. Besonders stark
repräsentiert sind die Tumaco- und Varmo-Kultur (beide ca. 6. Jh. v. Chr. bis 5. Jh.
n. Chr). Die Bandbreite der Objekte erstreckt sich von Goldschmuck über kleine
Tonköpfe hin zu großen Graburnen. Hauptfundgebiet dieser Objekte ist das nord-
westliche Ecuador und das angrenzende südwestliche Kolumbien.
Zwei weitere Stiftungen rundeten die bereits im Linden-Museum vorhandene Wai-
A'rt-Sammlung aus Venezuela ab. Die materielle Kultur der dort lebenden Waika-In-
dianer ist mit den erhaltenen Waffen, Keramiken und Sammelkörben nun recht gut
dokumentiert.
Besonders hervorzuheben ist ein Ankauf aus Eigenerwerbsmitteln, mit dem die Er-
gänzung unserer hervorragenden Alt-Peru-Sammlung durch ausgewählte Textilien
der Nasca- und Proto-Atoscfl-Zeit (3. Jh. v. Chr. bis 7. Jh. n. Chr.) weiter vorange-
bracht werden konnte. Die Atoxcfl-Kultur ist eine der Oasenkulturen an der Pazifik-
küste Perus. Die Bestattungen, aus der die Textilien stammen, wurden immer am
Rande der Oasen, in der Wüste vorgenommen, so dass der Erhaltungszustand der
alt-peruanischen Textilien hervorragend ist. Der erworbene Turban gehörte einem
Hohepriester oder Priesterkönig, denn nur diesen Persönlichkeiten war es gestattet,
derart aufwändig gearbeitete, aus Lama- oder Alpakafaser gewobene Textilien zu
tragen. Neuere Forschungen, in die auch die Textilien des Linden-Museums Eingang
fanden, bezeichnen diese Kleidungsstücke als einen der Schlüssel zum Verständnis
der Küstenkulturen. Sowohl die Farben als auch die Motive beinhalten Botschaften
zur sozialen Stellung und Religion der Träger.
Unsere Sammlung zur materiellen Kultur der Mapuche-Indianer (Argentinien und
Chile), die größtenteils zu Beginn des 20. Jahrhunderts in unser Haus gelangte, fand
eine wertvolle Ergänzung durch ein modernes Textil, wie es heute von den Mapuche
getragen wird.
Doris Kurella
38
Turban-Band
Kamelidenwolle, Kelim-
technik, 120 X 24 cm,
Peru, Nasca-Kultur.
Inv.-Nr. M 35.326 a
39
TRIBUS 53,2004
Jahresbericht 2003 des Referates Museumspädagogik
Auch im Jahr 2003 hielt die Erneuerung der Dauerausstellungen des Linden-Muse-
ums an und zusätzliche Umbaumaßnahmen bedingten die zeitweilige Schließung
einzelner Abteilungen. Trotz dieser Einschränkungen konnte die Anzahl der Füh-
rungen mit insgesamt 912 im Vergleich zum Vorjahr mit 842 Führungen deutlich ge-
steigert werden. Bezogen auf die Gesamtbesucherzahl von 75.000 lag der Anteil der
Besucher, die im Rahmen einer Führung die Ausstellung kennen lernten mit 30%
sogar um 5% höher als im Jahr 2002.
Die Führungsnachfrage angemeldeter Gruppen konzentrierte sich mit 57% auf die
Sonderausstellungen und hier insbesondere auf die „Amazonas-Indianer“. In den
Dauerausstellungen waren es die Bereiche „Afrika“ und „Nordamerika“, die mit je
einem Drittel Anteil die höchste Nachfrage erzielten. Somit wird deutlich, dass Son-
derausstellungen die Attraktivität des Museums stärken und vor allem Einzelbesu-
cher ansprechen, die Dauerausstellungen für die heterogenen Interessen von Grup-
penbesuchern jedoch von großer Bedeutung bleiben.
Die Nachfrage der Schulen hielt sich sehr stabil und auch die der außerschulischen
Gruppen war 2003 relativ ausgewogen. Lediglich bei den Kinder- und Jugendgrup-
pen war ein Rückgang zu verzeichnen, der insbesondere auf die finanziellen Kürzun-
gen bei kommunalen und freien Trägern zurückgeht. Das entstandene Defizit konn-
te durch eine erhöhte Nachfrage von Kindergärten und Kindergeburtstagen
ausgeglichen werden. Ein großer Rückschlag war die Mitteilung des Museumspäda-
gogischen Dienstes, einer Abteilung des Kulturamtes der Stadt Stuttgart, dass für
Stuttgarter Schulen und Kindergärten ab Juli 2003 keine kostenlosen Führungen
mehr angeboten werden könnten. Da der Etat des Linden-Museums keine Kompen-
sation erlaubte, musste von diesen Gruppen die volle Führungsgebühr in Höhe von
EUR 70,- gefordert werden. Für Schulklassen, die außerhalb Stuttgarts ansässig
sind, betrug die Gebühr EUR 40,-. Die bis zum Jahresende ungeklärte Finanzierung
veranlasste viele interessierte Lehrer/innen und Erzieher/innen einen geplanten
Museumsbesuch abzusagen.
Auffällig war das große Interesse privater Gruppen und Studierender an den Son-
derausstellungen „Amazonas-Indianer“ und „Der lange Weg der Türken“. Beide
Ausstellungen sprachen Personen an, die sich für historische Hintergründe und ak-
tuelle Fragestellungen gleichermaßen interessierten.
Der folgende statistische Überblick schlüsselt das Profil der Führungsgruppen de-
taillierter auf und zeigt ihre Herkunft sowie Verteilung auf die einzelnen Ausstellun-
gen.
Führungen 2003 und 2002 im Überblick
2003 2003 2003 2002
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Grundschulen 40 95 135 126
Hauptschulen 13 27 40 40
Realschulen 15 43 58 56
Gymnasien 27 64 91 107
Berufsschulen 9 15 24 22
Sonderschulen 4 5 9 9
Fremdsprachige Schulen 1 4 5 0
Gesamt 109 253 362 360
40
2003 2003 2003 2002
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Außerschulische Kinder/ Jugendliche
Kindergärten 62 50
Kindergeburtstage 30 22
Kinder/Jugendliche 30 50
Waldheim 3 6
Gesamt 125 128
Sonstige Gruppen
Behinderte 17 17
Kunst-Abo der Kulturge- meinschaft 3 13
Kirchliche Gruppen 13 12
Lehrerfortbildung 15 20
Private Gruppen 103 67
Senioren 14 18
Uni/PH/FH 11 4
VHS 8 8
Gesamt 184 159
Gruppenführungen gesamt 671 147
Öffentliche Führungen
Familienprogramme 5
Ferienprogramme 25
Kindernachmittage 3
Publikumsführungen Dauerausstellungen 71
Publikumsführungen Sonderausstellungen 116
Familienführung 11
Thementag 2
Workshop 1
Öffentliche Führungen gesamt 241 195
Gesamtzahl aller Führungen 912 842
41
TRIBUS 53,2004
Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen 2003
Daueraus- stellungen1 Publikumsführungen, Kinder-, Ferien-, Faniilien-Progrannne Angemeldete Gruppen Gesamt Anteil in %
Afrika 26 92 118 30,1 %
Nordamerika2 3 14 98 112 28,6 %
Orient3 1 1 2 0,5 %
Ostasien 22 33 55 14,0 %
Südasien 20 36 56 14,3 %
Südsee 17 32 49 12,5 %
Gesamt 100 292 392 100 %
Südsee 12,5%
Südasien
14,3%
Ostasien 14%
Orient3
0,5%
Afrika 30,1%
Nordamerika2
28,6%
Diagramm 1: Prozentuale Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen
Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen 2003
Publikums- führungen Angemeldete Führungen Gesamt Anteil in %
Amazonas-Indianer (11.10.02-31.08.03) 68 243 311 60 %
Bazar von Kabul (10.11.02-13.04.03) 21 19 40 8 %
Weg der Türken (ab 14.09.03) 49 120 169 32 %
Gesamt 138 382 520 100 %
1 Die Lateinamerika-Ausstellung wurde bis zum 31.8. als Raum für die Sonderausstellung
„Amazonas-Indianer“ genutzt und war dann ab dem 20.12. wieder zugänglich.
2 Die Interimsausstellung „Nordamerika“ war ab 8.9. zur Einrichtung der neuen Dauerausstel-
lung geschlossen.
3 In den Räumen der Orient-Dauerausstellung wurde bis 13.4. die Sonderausstellung „Bazar
von Kabul“ gezeigt. Nach Schließung folgte ab 13.9. die Sonderausstellung „Der lange Weg der
Türken“.
42
Diagramm 2: Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
|
1 i
•h IL fc Eh Eh 1 1
& ^
*• f .J
vvyv'/w
S angemeldete Führungen
□ Angebote des Museums
Diagramm 3: Prozentuale Verteilung der Führungen in den Dauer- und Sonderaus-
stellungen
Museumspädagogische Begleitprogramme
Ferien- und Familienprogramme
Auch im Jahr 2003 beherrschte Nanu Naseweis mit seinen Abenteuern die Ferienpro-
gramme. Seine Reise führte ihn, den Fährten von Entdeckern folgend, zum Amazonas,
dann nach Japan, wo er dem Mondhasen begegnete, und schließlich nach Indien zu
Krishna und den Hirtenmädchen. In den Herbstferien traf er auf Karagöz und lernte
das türkische Schattentheater kennen. Diese zweistündigen Programme für Kinder ab
8 Jahren fanden ebenso guten Anklang wie das Sommerferienprogramm, das 2003 un-
ter dem Motto „Das Leben feiern - Schritt um Schritt“ stand. Ausgehend von der in-
haltlichen Konzeption der Sonderausstellung „Amazonas-Indianer“ wurden Über-
gangsrituale in unterschiedlichen Kulturen in den Mittelpunkt gestellt. Jeweils drei
Stunden konnten Kinder ab acht Jahren, ab zehn Jahren und Erwachsene in fremde
Welten eintauchen und erfahren, wie Indianer am Amazonas das Leben gestalten oder
welche Bedeutung die Weitergabe von geheimem Wissen in der Südsee spielt. In der
Südasien-Ausstellung standen Feste der Hindus im Mittelpunkt und in der Afrika-
Ausstellung Übergänge und Kennzeichen, die den Lebensweg markieren. Die erstaun-
lichen Erfahrungen von Li Ling öffneten den Zugang zum rituellen Leben in China
und das Eintreten in den Kreis des Lebens die Weitsicht nordamerikanischer Indianer.
Auf spielerische Weise näherten sich Kinder einem äußerst komplexen Thema, das bei
den Erwachsenen durch weiterführende Gespräche vertieft werden konnte.
Das Familienprogramm „Wenn es bei uns Herbst wird ...“ wurde 2003 mit der The-
matisierung der Jahreszeiten fortgesetzt. In der Südsee-Ausstellung widmeten sich
Erwachsene und Kinder gemeinsam dem Thema „Das ganze Jahr Sommer“, und in
der Südasien-Ausstellung erkundeten sie mit „Der Ritt auf dem Tiger“ die natur-
43
TRIBUS 53,2004
1
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In der Amazonien-Ausstellung ließen sich Kinder im Sommerferienprogramm vom
prächtigen Federschmuck der Kaiapö inspirieren.
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Hasan Hüseyin Karabag führt Teilnehmer des Karagöz-Workshops in die Herstel
lung türkischer Schattenspielfiguren ein.
44
räumliche und zugleich kulturelle Vielfalt der Region. Unter dem Titel „Wo man sich
über Regen freut“ konzentrierte sich das Programm in der Afrika-Ausstellung auf
den Wechsel von Trocken- und Regenzeit.
Ab Herbst waren Familien dann eingeladen das Zusammenleben von Menschen un-
terschiedlicher Kultur kennen zu lernen. Der Titel „Viele Kulturen - Eine Welt“
führte sie zu Karagöz und dem türkischen Schattentheater, dessen Charaktere die
Multikulturalität der Türkei widerspiegeln. „Der Drache und seine Kinder“ thema-
tisierte ethnische Minderheiten in China und ihren kulturellen Einfluss auf das
„Reich der Mitte“. Mit Blick auf Indien wurde unter dem Titel „Tempel, Kirche und
Moschee“ das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen mit ihren
religiösen Orten, Ritualen und Festen vorgestellt.
Um dem Interesse von Familien entgegen zu kommen, die gerne die Freizeit im Lin-
den-Museum verbringen, aber aufgrund der beengten Raumsituation nur sehr be-
grenzte interaktive Aktionsräume nutzen können, wurden als neues Programm ein-
einhalbstündige Familienführungen aufgenommen. Diese Führungen finden an
einem Sonntag im Monat statt und wenden sich an Erwachsene und Kinder. Im Mit-
telpunkt steht die Vorstellung des Museums und seiner Ausstellungen als Ort, der
Familien einlädt, gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen. Auch dieses Angebot
fand ein großes und positives Echo.
Ein besonderes Familienprogramm wurde von der Jones Benally Familie gestaltet,
die mit Liedern, Erzählungen und Tänzen in die Welt der Navajo-Indianer einführ-
ten. Aufgrund der großen Nachfrage musste das Programm vor vollem Saal wieder-
holt werden. Hier zeigt sich das Interesse der Besucher an der direkten Begegnung
mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen.
Thementage und Themenführungen
Während der Thementag „Von der Ordnung der Welt. Eine Reise durch künstleri-
sche Ausdruckswelten Afrikas und Ozeaniens“ nur eine sehr geringe Nachfrage er-
fuhr. war das Interesse an den beiden Thementagen, die in Verbindung mit der Son-
derausstellung „Amazonas-Indianer“ angeboten wurden, sehr groß. Sowohl das
Programm zum Thema „Wasser - Quelle des Lebens und heilige Gabe. Eine Wasser-
reise durch Amazonien und Indien“ als auch die Veranstaltung „Mit Gold, Seide und
Gewürzen - Handelswege und Kulturaustausch zwischen Südamerika und Asien“
waren ausgebucht. Erfreulich waren die äußerst positive Resonanz und das geweck-
te Interesse, vor allem bei Lehrern, an einer Führung für Schulklassen. Somit bestä-
tigt sich, dass die ganztägigen Thementage, in denen mit einem Thema Ausstellungen
übergreifend vorgestellt werden, gerade interessierte Besucher anspricht, die auch
als Multiplikatoren wirken können.
Als Vorbote der Sonderausstellung „Der lange Weg der Türken“ lud das Linden-
Museum zusammen mit dem Deutsch-Türkischen Forum im Juni zu einem viertägi-
gen Workshop über Karagöz und das türkische Schattentheater ein. Die Leitung
hatte der renommierte Karagöz-Spieler Hasan Hüseyin Karabag aus Istanbul. Seine
Vermittlung der historischen und kulturellen Hintergründe sowie seine Anleitung
zum Bau eigener Figuren war für alle Teilnehmenden ein anregendes Erlebnis. Die
persönliche Begegnung und der interkulturelle Dialog machten den Erfolg dieses
Workshops aus. Mit seinen Karagöz-Aufführungen begeisterte Hasan Karabag im
November dann ein breites Publikum, insbesondere türkisch sprechende Besucher
erfreuten sich am Sprachwitz der einzelnen Charaktere.
Ebenfalls eine sehr positive Resonanz erfuhr der dreitägige Workshop „Afrikani-
sche Webkunst: Weben auf dem Schmalbandwebstuhl“ im Juni 2003. Durch die Ver-
mittlung von Amidou Coulibaly und Koko Fonfana, Webmeister aus der Elfenbein-
küste, konnten Anfänger und Fortgeschrittene ihr Wissen erweitern und neue
Erfahrungen sammeln.
Im Rahmen des Begleitprogrammes zur Sonderausstellung „Amazonas-Indianer“
gab es drei Sonntage, an denen jeweils zu einem der in der Ausstellung repräsentier-
45
TRI BUS 53,2004
ten Indianerstämme (Kaiapö, Karajä und Kubeo) Filme gezeigt, Familien- und Son-
derführungen angeboten wurden. Dies ermöglichte uns, Aspekte der Sonderausstel-
lung weiter zu vertiefen und unseren Besuchern ein umfassendes Bild vom Leben
der letzten verbliebenen indigenen Völker Kolumbiens und Brasiliens zu vermitteln.
Alle drei Sonntage erfreuten sich großer Resonanz und empfehlen damit wiederholt
diese Form der Veranstaltung, die schon in der vorangegangenen „Mandan-Hidatsa-
Arikara“-Sonderausstellung Publikumserfolge feiern konnte.
Mit Beginn der Sonderausstellung „Der lange Weg der Türken“ wurden ab Septem-
ber erstmals Kurzführungen zur Mittagszeit in vierzehntägigem Turnus eingeführt.
Die Resonanz auf das Vorstellen von Einzelobjekten oder Spezialthemen war sehr
unterschiedlich, die Teilnahmezahl konnte bei 30 liegen, aber auch bei nur zwei.
Kooperationsprojekte
In der Afrika-Dauerausstellung fanden in Kooperation mit der Staatsgalerie Stutt-
gart Sonderführungen zu dem Thema: „Ernst Ludwig Kirchner und die außereuro-
päische Kunst“ statt. Kirchner hatte sich im Dresdner Museum für Völkerkunde von
Objekten aus Afrika inspirieren lassen. Um diese Zusammenhänge aufzuzeigen,
widmeten sich unsere Mitarbeiter vor allem den typischen stilistischen Merkmalen
afrikanischer Kunst - und hier insbesondere der Kunst Kameruns.
Im Rahmen der Sonderausstellung „Der lange Weg der Türken“ wurden Fortbildun-
gen für Lehrer und Erzieher angeboten, teilweise in Zusammenarbeit mit dem Ju-
gendamt Stuttgart und dem Staatlichen Schulamt. Während die Nachfrage bei Erzie-
her/innen sehr hoch war, blieb das Interesse seitens der Lehrerschaft überschaubar.
Für die Teilnehmenden waren die Veranstaltungen äußerst informativ und anregend
für ihre alltägliche Arbeit.
In Zusammenarbeit mit amnesty international fanden zum Tag der Menschenrechte
am 14.12. Veranstaltungen im Linden-Museum statt, die sich auf dem sensiblen The-
ma „Menschenrechte in der Türkei“ befassten.
Wie in den vorhergehenden Jahren war die Lange Nacht der Museen am 29.3. ein
Publikumsmagnet. Tausende vorwiegend junger Besucher/innen strömten durch die
Ausstellungen und erfreulich viele nutzten das breit gefächerte Führungsangebot.
Zeitlich parallel fanden in den Ausstellungen etwa 25-minütige Kurzführungen zu
ethnologischen Schwerpunktthemen statt.
Die Gestaltung dieses vielfältigen Angebotes war nur durch die engagierte Mitarbeit
und Kooperationsbereitschaft der in der Museumspädagogik tätigen freien Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter möglich, denen unser besonderer Dank gilt, ebenso -
last but not least - auch Marita Oltersdorf, die bei der Führungsannahme zahlreiche
Anfragen beantwortete und eine erste Orientierung gab.
Sonja Schiede
Doris Kurella
46
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2003
Einleitung: Die Entwicklung der letzten Jahre
Die Besucherzahlen eines bestimmten Jahres erhalten ihre Signifikanz durch den
Vergleich mit den Zahlen der vorausgegangenen Jahre. Aus diesem Grund wollen
wir, bevor konkret auf das Besucherverhalten des Jahres 2003 eingegangen wird,
zunächst einen kurzen Blick auf die Zahlen der vergangenen Jahre lenken.1
160.000
140.000
120.000
® 100.000
§ 80.000
| 60.000
40.000
20.000
0
Gesamt ■ Einzelpersonen -a Gruppen
Diagramm 1: Die Entwicklung der Besucherzahlen des Lin den-Museums
Betrachtet man bei Diagramm 1 die Besucherzahlen2 des Linden-Museums über die
letzten zehn Jahre hinweg, so stellt man fest, dass sie starken Schwankungen unter-
liegen. Diese können auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden. Zum
einen spielt bekanntlich das Wetter im Museumsbereich eine entscheidende Rolle.
Im Allgemeinen werden Museen eher bei schlechtem Wetter besucht als bei Sonnen-
schein. Zum anderen sind vorübergehende Schließungen einzelner Abteilungen
oder gar des gesamten Museums (wie z. B. im Februar 2002) Grund für weniger Be-
sucheraufkommen. Diese Schließungen gründen nicht selten in der Tatsache, dass
das Linden-Museum aufgrund der beengten Raumsituation gezwungen ist, für Son-
derausstellungen die Räume der Dauerausstellungen zu nutzen. (So auch geschehen
bei der Ausstellung „Der lange Weg der Türken“, die in den Dauerausstellungsräu-
men des Orient stattfand).3
Größere Besuchszuwächse sind in den letzten Jahren vor allem auf besondere Akti-
vitäten des Museums zurückzuführen. Als Beispiel hierfür können Sonderausstel-
lungen, neu eröffnete Dauerausstellungen oder aber publikumswirksame Fremdver-
anstaltungen wie z. B. der „Markt der Völker“ oder die Teilnahme an der „Langen
Nacht der Museen“ angeführt werden.
Jahr
1 Die folgenden Zahlen stützen sich auf eine Besucherbefragung, die im November 2003 von
Andrea Völker im Linden-Museum durchgeführt wurde.
2 An dieser Stelle wird bewusst von Besuchen, nicht von Besuchern, gesprochen. Da das Lin-
den-Museum über eine große Anzahl an Stammbesuchern verfügt, ist es sehr wahrscheinlich,
dass Besucher mehrmals pro Jahr ins Museum kommen und somit wiederholt erfasst werden.
Die Schließung der Dauerausstellung wird von den Besuchern als sehr störend empfunden,
was sich u.a. in verärgerten Bemerkungen im Besucherbuch dokumentiert. Auch die Besucher-
befragung von Frau Völker ermittelte dies.
47
TRIBUS 53,2004
Es wurde allein die „Lange Nacht der Museen“ im Linden-Museum im Jahr 1999 mit
knapp 20.000 Besuchern, in den Folgejahren mit jeweils 10.000 Besuchern veran-
schlagt.4 5 Auch der „Markt der Völker“, der seit dem Jahr 2002 im Linden-Museum
veranstaltet wird, führte jeweils zwischen 5.000 und 5.500 Besucher ins Museum. Be-
rücksichtigt man diese Veranstaltungen, so glätten sich die Spitzen in der unten ste-
henden Grafik. Umso deutlicher wird jedoch der Abwärtstrend ab dem Jahr 2002.
Dieser ist wohl vor allem auf die Erhebung von Eintrittspreisen ab März 2002 zu-
rückzuführen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Eintritt in die Dauerausstellungen
frei, nur die Sonderausstellungen waren kostenpflichtig.
Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass seit der Einführung der Eintrittspreise
und einem damit verbundenen neuen Kassensystem im Linden-Museum die Be-
suchszahlen nicht mehr von Hand mit Hilfe einer Zählmaschine erfasst, sondern an-
hand der Kassenabrechnung festgestellt werden. Zwar können aufgrund dieses Vor-
gehens Ungenauigkeiten während der Zählung vermieden werden, allerdings liegen
seit dieser Umstellung keine strukturierten Daten zur Aufschlüsselung der Besucher
in Gruppen- bzw. Einzelbesucher mehr vor. Aus diesem Grund fehlen die entspre-
chenden Daten in den folgenden Abbildungen.
Bei der Diskussion um Besuchszahlen muss allerdings klargestellt werden, dass es
nicht in jedem Fall um das Erreichen höchstmöglicher Werte gehen kann.'1 Überfüll-
te Ausstellungsräume - wie sie im Linden-Museum an Sonntagen in beliebten Aus-
stellungen durchaus anzutreffen sind - können sicher kein Ziel sein, sondern bergen
die Gefahr, die gewonnenen Besucher zu verärgern. Eine überlegte konstante Besu-
chergewinnung und vor allem auch -bindung durch die Gewährleistung von Be-
suchsqualität muss jedoch betrieben werden, um den Bestand der Museen zu si-
chern.
Besucherzahlen und Öffentlichkeitsarbeit 2003
Das Besucherverhalten 2003 im Linden-Museum Stuttgart wurde zum einen von
den beiden großen Sonderausstellungen und zum anderen von dem extrem heißen
Sommer geprägt.
Diagramm 2: Besucherverhalten 2003
4 Die „Lange Nacht der Museen“ fand im Jahr 1999 zwei Mal in Stuttgart statt, in den Folge-
jahren nur noch ein Mal.
5 vgl. auch Helm, S. / Klar, S., a. a. O., S. 36
48
Die Besucherzahlen beliefen sich im Jahr 2003 (incl. Lange Nacht der Museen) auf
81.921. Sie liegen damit trotz der beiden erfolgreichen Sonderausstellungen leicht
unter den Zahlen des Vorjahres (85.377).
Der Hauptgrund hierfür liegt mit Sicherheit vor allem an dem extrem heißen Som-
mer, aufgrund dessen in den Monaten Juni bis August der Besucherrückgang noch
deutlicher war als dies gewöhnlich der Fall ist. Ein weiterer Grund ist in der Tatsache
zu suchen, dass insgesamt drei wichtige Dauerausstellungen ein Großteil des Jahres
nicht zugänglich waren: Die Lateinamerika-Abteilung aufgrund der Sonderausstel-
lung „Amazonas-Indianer“ (sie wurde im Dezember 2003 wiedereröffnet), die Nor-
damerika-Abteilung (Wiedereröffnung im Februar 2004) und schließlich die Orient-
Abteilung, die der Ausstellung „Der lange Weg der Türken“ weichen musste
(Wiedereröffnung im Juli 2004). Leider wird diese Konfliktsituation von Sonder- und
Dauerausstellung, obwohl sie eine deutliche Beeinträchtigung der Museumsarbeit
darstellt, auch in der näheren Zukunft nicht gelöst werden können, da die hierfür
nötige Museumserweiterung auf absehbare Zeit nicht erfolgen wird.
Spitzenwerte des Besucherinteresses lagen 2003, wie auch in den vergangenen Jah-
ren im März und November, d.h. den Monaten mit den Großveranstaltungen „Lan-
ge Nacht der Museen“ (März 2003: insgesamt 15.242) bzw. „Markt der Völker“ (Nov.
2003 insgesamt 9.875).
Folgende Sonderausstellungen wurden 2003 im Linden-Museum gezeigt:
Der Bazar von Kabul. Bilder aus dein alten Afghanistan
9. November 2002 bis 13. April 2003
Quadratmalerei. Die Tingatinga-Schule aus Tansania (Verkaufsausstellung)
14. Dezember 2002 bis 21. April 2003
Amazonas-Indianer: LebensRäume - LebensRituale - LebensRechte
11. Oktober 2002 bis 31. August 2003 (verlängert)
Der Lange Weg der Türken - 1500 Jahre türkische Kultur
13. September 2003 bis 18. April 2004 (verlängert)
Von der Ewigkeit des Augenblicks. Entwicklung türkischer Fayencenmotive
(Verkaufsausstellung)
11. Oktober 2003 bis 8. Januar 2004
An Indiens Tempelstätten. Fotoimpressionen der Indologin Betty Heimann
26. Oktober 2003 bis 30. März 2004
Die beiden wichtigsten Sonderausstellungen des Jahres 2003 waren „Amazonas-In-
dianer“ und „Der lange Weg der Türken“, auf die im Folgenden genauer eingegan-
gen werden soll.
Bis 31. August wurde in der Lateinamerika-Abteilung die Ausstellung „Amazonas-
Indianer“ gezeigt, welche aufgrund ihres großen Erfolges um 4 Monate verlängert
worden war. Nachdem bis Ende des Jahres 2002 16.283 Menschen diese Ausstellung
besucht hatten, schloss die Ausstellung am 31. August 2003 nach 10 Monaten mit ei-
ner beeindruckenden Besucherzahl von 41.458 ab. Damit hatten allein im Jahre 2003
25.175 Menschen diese Schau gesehen. Vor allem in den letzen beiden Monaten war
trotz der gewöhnlich besucherschwachen Sommerzeit ein überdurchschnittliches In-
teresse der Besucher zu verzeichnen (Juli 2003: 2.320 und August: 1.854; zum Ver-
gleich Juni 2003: 1.063). Dies ist u.a. einer gezielten PR-Offensive zum Ende der
Ausstellung zu verdanken, die von der Presse sehr gut aufgenommen wurde (vgl.
Anhang 1). Zwei Monate zuvor, genauer gesagt am 17. Mai, schloss die Sonderaus-
stellung „Bazar von Kabul“ mit einer Besucherzahl von 13.748.
49
TRIBUS 53,2004
Diagramm 3 : Wechselausstellung und Dauerausstellung 2003 im Vergleich
Trotz der regen Ausstellungsaktivität im Sommer ist, wie die Grafik zeigt, eine deut-
liche Besucherflaute in den Sommermonaten zu verzeichnen, ein klarer Tribut an die
Hitze. (Am 1. Juli herrschten z. B. 34,6 Grad, am 13. August gar 37,6 Grad.)
Der Ausstellungshöhepunkt des vergangenen Jahres war mit Sicherheit die Sonder-
ausstellung „Der lange Weg der Türken“, die am 13. September ihre Pforten öffnete.
Schon das Publikumsinteresse bei der Eröffnung war beeindruckend. Fast 600 Men-
schen drängten sich in den Museumsräumen. Insgesamt entwickelte sich diese Aus-
stellung zu einer der erfolgreichsten der vergangenen Jahre.
Am Ende des Jahres, d.h. nach 3,5 Monaten hatten bereits 14.000 Menschen die
Ausstellung besucht. Besonders an Sonntagen gab es zum Teil regelrechte Massen-
anstürme. Am 28. Oktober wurden z.B. allein in der Sonderausstellung 597 Men-
schen gezählt, am 28. Dezember sogar 789. An Tagen wie diesen wurde deutlich, dass
die gegenwärtige Raumsituation des Linden-Museums für wirklich große Ausstel-
lungen nicht ausreicht.
Besonders erfolgreich erwies sich bei dieser Sonderausstellung die Zusammenarbeit
mit dem Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart e.V. Zusammen mit der Geschäftsfüh-
rerin Jale Yoldas konnte ein Begleitprogramm entwickelt werden, das mit seinen
Konzerten, Workshops und Diskussionen hinsichtlich Vielfalt und Qualität äußerst
attraktiv war. Es zeigte sich, dass diese Zusammenarbeit völlig neue Besuchergrup-
pen in unser Museum brachten. Kooperationen wie diese sind in Zukunft - nicht nur
für Sonderausstellungen - noch weiter auszubauen.
Schwerpunkte: Digitale Medien und Corporate Design
Im Jahre 2003 gab es einen (vorübergehenden) Personalwechsel im Referat für Öf-
fentlichkeitsarbeit am Linden-Museum. Martin Otto-Hörbrand verabschiedete sich
im August für 1,5 Jahre den Erziehungsurlaub. Für die Zeit bis November 2004 wur-
de die Stelle mit Tobias Wall besetzt, der nach einer intensiven Einarbeitungsphase
die Arbeit seines Vorgängers weiterführte.
Mit dem Personalwechsel ergaben sich gewisse Schwerpunktverschiebungen im Be-
reich der Öffentlichkeitsarbeit. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung und mittler-
weile fast flächendeckenden Verbreitung von Internet und E-Mail wurde die Presse-
und Öffentlichkeitsarbeit gezielt auf den digitalen Bereich konzentriert. Neben
Textinformationen wurde auch Bildmaterial digital an die Presse verschickt.
Der 2002 eingeführte Newsletter hat sich im Jahre 2003 endgültig als wichtiges Infor-
mationsmedium für die Öffentlichkeitsarbeit etabliert. Die Abonnentenzahlen lie-
gen mittlerweile bei 1.169 (2002: 734). Seit November 2004 wurde er um Abbildun-
gen erweitert.
Von besonderer Bedeutung waren in der 2. Hälfte des Jahres 2003 die grundlegende
Umgestaltung und der Ausbau der Homepage des Linden-Museums in Zusammen-
arbeit mit Andreas Jauss. Die Homepage gehört mittlerweile zu einem der wichtigs-
ten Medien zur Informationsverbreitung des Museums. Während im gesamten Jahr
2002 34.970 Besucher auf der Seite verzeichnet wurden, lag die Zahl der Besuche
50
nach der Neugestaltung der Seite meist wöchentlich bei über 10.000! Die Ausstel-
lung „Der lange Weg der Türken“ wurde in Wort und Bild umfassend im Netz prä-
sentiert. In der Woche, in der diese Seite gestartet wurde, konnten 14.747 Zugriffe
verzeichnet werden. Diese Zahlen unterstreichen die Wichtigkeit, die das Internet
auch in Zukunft für das Museum haben muss.
Die Umarbeitung der Homepage ist ein längerfristig angelegtes Projekt und soll
nach und nach alle Abteilungen des Hauses erfassen. Das Ziel ist eine digitale Prä-
senz, die dem Niveau des Hauses als international anerkannter Museumsinstitution
angemessen ist. Eine besondere Rolle wird hierbei auch das neue Corporate Design
des Linden-Museums spielen, dass bis Herbst 2004 erarbeitet sein soll.
Mit dem neuen Corporate Design soll die Erscheinung des Linden-Museums in der
Öffentlichkeit eine grundlegend neue Qualität erhalten. Die wichtigsten Vorberei-
tungen hierfür wurden ebenfalls im Berichtsjahr 2003 getroffen. Im Herbst fand eine
begrenzte Ausschreibung unter ca. 20 relevanten Grafikbüros statt. Aus den eingela-
denen Grafikern wurden schließlich vier Bewerber ausgewählt, die im Juli 2004 ihre
Entwürfe vorstellen werden. Als inhaltliche Grundlage des Corporate Design dient
das seit 2002 diskutierte Leitbild des Museums, das Ende 2003 unter der Federfüh-
rung von Martin Otto-Hörbrand ebenfalls zu einem vorläufigen Abschluss gekom-
men ist.
Fazit und Ausblick
Das Jahr 2003 war sowohl für die Öffentlichkeitsarbeit als auch das Linden-Museum
insgesamt ein erfolgreiches Jahr, trotz des heißen Sommers und der damit verbunde-
nen Besucherflaute während der Monate Juni bis August. Die beiden Sonderausstel-
lungen stießen auf hervorragende Publikumsresonanz. Die Zusammenarbeit mit
Partnern wie dem Deutsch-Türkischen Forum e.V. verlief äußerst positiv, das Lin-
den-Museum konnte neue Zielgruppen auf sich aufmerksam machen und seine Po-
sition als interkulturelle Bildungsinstitution stärken.
Von besonderer Wichtigkeit für das Museum war eine umfassende Befragung zur
Besucherorientierung am Linden-Museum, die in Zusammenarbeit mit der Fach-
hochschule Pforzheim von Frau Andrea Völker im November 2003 durchgeführt
wurde.
2003 konnten wichtige Weichen für die Zukunft des Linden-Museums, vor allem hin-
sichtlich seiner Position in der öffentlichen Wahrnehmung, gestellt werden: Das Leit-
bild des Museums wurde ausformuliert und das seit langem geplante Corporate De-
sign wurde konkret in die Wege geleitet. Hinsichtlich einer zeitgemäßen digitalen
Präsenz des Hauses konnten wichtige Schritte getan werden: Das Internet-Portal des
Linden-Museums wurde komplett umgestaltet und die Inhalte der Seiten z.T voll-
ständig erneuert.
Auch für das kommende Jahr stehen wichtige Herausforderungen für die Öffentlich-
keitsarbeit des Linden-Museums an. Die Hauptaufgabe wird auf jeden Fall die Ab-
wicklung der Ausschreibung des Corporate Design, die Koordination der Auswahl
des richtigen Bewerbers, vor allem aber die Umsetzung des besten Konzeptes sein.
(Herbst 2004)
Die immer schwierigere finanzielle Lage des Museums zwingt, wie in allen Muse-
umsbereichen, auch bei der Öffentlichkeitsarbeit dazu, noch weitere Einsparungspo-
tentiale ausfindig zu machen: Ein Weg ist eine weitere Verstärkung der digitalen In-
formationsverbreitung. Darüber hinaus müssen im folgenden Jahr unsere Post-Ver-
teiler mittels einer schriftlichen Umfrage auf den neuesten Stand gebracht werden,
um unnötige Ausgaben für „Karteileichen“ zu reduzieren. Eine weitere wichtige
Aufgabe ist langfristig die Erschließung neuer Besuchergruppen. Dies wird zum ei-
nen kurz- und mittelfristig durch eine gezielte PR in zeitgemäßen und „jungen“ Me-
dien und eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Institutionen geschehen (z.B.
Lernfest 2004). Langfristig muss eine Modernisierung unseres Fördervereins erfol-
gen, dessen Potentiale momentan noch nicht ausgeschöpft werden können. Diese
51
TR I BUS 53,2004
Aufgabe wird eine der wichtigsten Herausforderungen für das Linden-Museum für
die nähere Zukunft sein.
Zum Schluss sei noch allen Praktikanten im Referat Öffentlichkeitsarbeit gedankt,
die mit ihrem unentgeltlichen Einsatz und Engagement entscheidend bei der Bewäl-
tigung unserer Aufgaben mitgewirkt haben.
Tobias Wall
52
Urheberrechtsverletzung im Internet:
Das Linden-Museum am Rande internationaler
Verwicklungen
Schilderung eines Sachverhalts
Am 14. und 15. April 2003 erhielt das Sekretariat des Linden-Museums einzelne
E-Mails aus den USA. in denen dem Museum eine USA-feindliche Haltung vorge-
worfen wurde. Wir konnten uns diese E-Mails zunächst nicht erklären und wussten
nicht, worauf diese Vorwürfe fußen sollten. Da uns einige dieser E-Mails ohne na-
mentliche Nennung der Absender erreichten und auf Grund ihrer Wortwahl (üble
Beschimpfungen) einen unseriösen Eindruck machten, gingen wir der Sache zu-
nächst nicht weiter nach. Am 16. April war das Sekretariat nicht besetzt. Am Morgen
des 17. April war die Mailbox dann angefüllt mit vielen weiteren E-Mails aus den
USA (insgesamt 32), die nun auch Aufschluss über die Ursache des Protests gaben:
Die Homepage „http://www.aleppo.ch/german.htm“.
Auf der mehrsprachigen Homepage (arabisch, deutsch, englisch, französisch) stand
auf der Startseite an oberster Stelle der Satz „wir hassen Amerika. Amerika Gott,
Amerika heilige, und Amerika Bibel“. Gleich darunter kam eine Information über
die syrische Stadt Aleppo und den Verein „Freunde der Altstadt von Aleppo e.V“,
zu dessen Vorstand Prof. Dr. Johannes Kalter, Stv. Direktor des Linden-Museums
und Leiter der Orient-Abteilung, zählt. Dieser Verein arbeitet seit Jahren eng und
erfolgreich mit dem Linden-Museum zusammen. So wurden erst kürzlich im Rah-
men der Syrischen Kulturwoche Stuttgart am 12. und 13. April 2003 zwei Abendver-
anstaltungen in Kooperation im Linden-Museum durchgeführt. Vom 11. November
2000 bis 13. Mai 2001 war im Museum die Ausstellung „Damaskus - Aleppo. 5000
Jahre Stadtentwicklung in Syrien“ zu sehen, zu der die „Freunde der Altstadt von
Aleppo e.V.“ maßgeblich beigetragen haben. Aus dem Faltblatt zu dieser Sonderaus-
stellung wurde der Text auf der Homepage übernommen und als Kontaktadresse die
Telefonnummer unseres Sekretariats genannt sowie direkt auf die E-Mail-Adresse
verlinkt. Da auf der gesamten Seite „http://www.aleppo.ch/german.htm“ ansonsten
keine E-Mail- bzw. Telefonkontaktadresse angegeben war, vermittelte die Seite den
fatalen Eindruck, dass sie vom Verein „Freunde der Altstadt von Aleppo e.V.“ bzw.
vom Linden-Museum Stuttgart betrieben wird. Weder der Verein noch das Linden-
Museum Stuttgart hatten mit dieser Seite jedoch auch nur das Geringste zu tun; um
eine Autorisierung unserer Inhalte auf dieser Seite wurden wir nie angefragt, sie
wurden einfach ins Netz und in einen Kontext gestellt, der unserem Selbstverständ-
nis völlig entgegensteht und für uns extrem rufschädigend ist. Problematisierend
kam bei dieser Seite hinzu, dass sie bei der frequentiertesten Web-Suchmaschine
Google unter der Stichworteingabe „Aleppo“ an erster Stelle erschien.
Nach langwieriger Suche erhielt man auf der Linksammlung der Seite einen Hinweis
auf ihren Autor und Inhaber der Domain: Herrn Karzoun, wohnhaft in Basel. Eine
Telefonnummer bzw. E-Mail-Adresse war jedoch nicht angegeben. Herr Prof. Dr.
Heinz Gaube, der Vorsitzende der „Freunde der Altstadt von Aleppo e.V“, recher-
chierte dann die Telefonnummer und bat Herrn Karzoun telefonisch, die Inhalte der
Seite, die in Verbindung mit dem Linden-Museum Stuttgart und dem Verein stehen,
binnen einer Stunde aus dem Netz zu entfernen. Glücklicherweise geschah dies. An-
sonsten hätte uns in den Folgetagen eine sich potenzierende Flut von Protest-
E-Mails in einem nicht abzuschätzenden Ausmaß erreicht.
53
TRIBUS 53,2004
Dennoch bleiben Fragen:
• Was wäre geschehen, wenn Herr Karzoun die uns betreffenden Inhalte nicht frei-
willig von seiner Seite genommen hätte? Welche rechtliche Handhabe hätte es
gegeben?
• Wie kann man sich generell gegen Internet-Seiten schützen bzw. wehren, die un-
autorisierte und in der Sache falsche oder rufschädigende Informationen in der
Öffentlichkeit verbreiten?
Wir beantworteten sofort jedes der 32 E-Mails aus den USA, entschuldigten uns und
klärten den Sachverhalt auf. Zwei E-Mails erreichten uns von Absendern, die ihre
Beschwerde an uns in Kopie an das US Department of State und die deutsche Bot-
schaft in Washington D.C. weiter leiteten. Durch eine schnelle Kontaktaufnahme mit
diesen Stellen konnten wir ein weiteres Nachspiel verhindern und Missverständnisse
ausräumen.
Martin Otto-Hörbrand
54
Linden-Museum Stuttgart
- Staatliches Museum für Völkerkunde -
Hegelplatz 1,70174 Stuttgart
Tel. 0711/2022-3, Fax: 0711/2022-590
Organisationsplan
Stand: 1.5.2004
55
ELKE BUJOK
Errata zum Aufsatz:
Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart:
Das „Männliche unnd Ritterliche Thurnier unnd Ringrennen“
zu Fastnacht 1599
inTribus 52,2003:80-110
Beim Satz ist die Festbeschreibung von M. Jacob Frischlin (1602) an einigen Stellen
durcheinander geraten. Die richtige Abfolge lautet:
S. 85;
Wir also Paar seyndt angelandt /
In einer Insel Ferri gnandt /
Uns zugehörig underwegn /
Sendt ubernacht zur Herberg glegen /
Auß dieser Insel bringen wir /
Ein wunderbarlich Werde herfür /
Nemlich / den Baum von dem allein /
Die Eynwohner / und gantz Gemein
Erholen sich / und ihr gantz Lebn
Erhalten / und auff Erden schwebn;
Dann er das Wasser temperiert /
Welchs von Natur nicht heylsam wirdt /
Und kein Mensch im Landt niessen kan /
Sonder muß sterben jedermann /
Wann der Baum nicht deß Wassers Art /
Verändern thet auff dieser Fahrt /
Diß Edel köstlich Kleinotwundr /
Das führen wir damit jetzundr /
Unser Schwester eine thu begaben /
Oder ein Fürsten hie in Schwaben /
Ein König / Keyser underwegn /
Bey dem wir dann zur Herberg glegen /
Damit wir solcher grosser Herrn /
Mit diesem Wunderwerck verehrn.
S. 85-86:
Drauff kamen Musicanten vier /
Angzogen warn mit aller Zier /
Gieng zween neben einander frey /
Der ein hette ein schön Schalmey /
Der ander ein Krumphorn herbließ /
Der dritt den Zincken hören ließ /
Giengen all wunderbar bekleydt /
Wie nacket Leut bey meinem Eydt.
Der erste hieß Melchior Krauß /
Pfiff artlich zu der Masca hrauß.
Der ander Conradt Erb genandt /
Das Krumphorn führt in seiner Handt.
Der dritt Elias Auff und Hin /
Ist sein Nahm wie ich brichtet hin.
TRIBUS 53,2004
Der vierdt / Daniel Schorndörffer hieß /
Der sich zierlich da hören ließ.
S. 86:
Auff diese Music daher getretten /
die auch gar schöne Kleyder hetten.
Von Hoff Trabanten jhre drey /
Die muß ich auch anzeigen frey /
Hans Christen / der Fürstlich Lackey /
Anzug Federn von Papengay /
Der Fürstlich Trabanten Häuptmann /
Ruodolph Reichardt auff dieser Bahn /
Ließ sich auch sehen dapffer hie /
Wie er sich braucht hat je und je /
In Kriegen / und in frembde Landt /
Rudolphus Reichart ist bekandt.
Der dritt / Enderis Sündlinger war /
Beschlösse der Trabanten Schar.
S. 86-87:
Darauff kamen Trabanten her /
Trugen die Königin so schwer /
Waren auch auff die Manier
Angzogen / als wenns nacket schier /
Daher giengen wie man im Landt
America, geht ohn alle Schandt /
Melchior Dietterlin der erst war /
Blasius Hon / der ander gar /
Die letzte zween Hans Ritz genandt /
Der vierdt Conradt Sittich bekandt /
Neben daher lieffen fein zween /
Mit windtfischen gezieret schön /
Von Farbn und Federn mancherley /
Waren allsampt von Papengäy /
Sie abr von Leder angezogn /
Schier nackent einer sie betrogn /
Als wann einer ist an der Sonn /
Braunschwartz / gleichsam schier verbrennen /
Sein Schenckel / Waden / und die Füß /
Braunlecht ein jeder sehen ließ.
Die Königin war also bkleydt /
Wie ich ungfehrlich dich bescheidt /
Auff ihrem Haupt hatt sie ein Cron /
Auß Federn gmacht / wie ich verstehn /
Von Papengäy / blaw / grün und rot /
Gleich wie ein schöner Krantz auffstoht:
Die Schämen oder Masca war /
Eim schönen Weibsbildt ähnlich gar /
Darnach der Leib und gantze Wath /
Wie eins nackenden Menschen stath /
Leibfarb / mit schönen gülden Stucken /
Verschnürt war / als wer es trucken /
Und glatt an Leib hinan geleimt /
Hat hüpsch von weitem her gescheint:
Die Brüßt der Königin sah man hangn /
Damit sie zierlich thete prangn /
In Händen führt sie einen Stab /
58
Elke Bujok: Erata zum Aufsatz; Der Aufzug der „Königin Amerika“
Das Regiment ich gsehen hab /
Von Papengäy Federn gemacht /
Nach Königlichem Zier und Pracht:
Die Füß gülden Schuch geziert /
Umb den Leib blauwe Zotten führt /
Saß auff eim Stul also formiert /
Von roten Kotzen [= grobe Decke] Sammet ziert /
Der Himmel ubern Stul gebogn /
Ein wenig krumm ist nicht erlogn /
Als wie ein Lotterbettlin sicht /
Kein gantzen Himmel hat doch nicht /
Oben Melohnen und Kürbiß hangn /
Und also ob der Königin prangn:
Beyn Füssen vornen sah es goldtgelb /
Von gmeldten Kotzen / und derselb:
Bedeckt also gar den Schrägen /
Drauff man hat die Königin tragn /
Dahinden sah der Himmel grün /
Undr welchem saß America kühn.
S. 87-88:
Auff diese folgten jhre zween /
Welche also bekleydet gehn /
Wie man in America sonst geht /
Trugen ein Mann fein sittig steht /
An einer Stangen im Leinlach /
Als wer er kranck fein als gemach /
Der erste Träger Barthlin Schmidt /
Steffan Järling / gienge mit /
Der aber in dem Beth getragen /
Einer vom Adel muß ich sagen /
Hans Matthis Baroffski genandt /
Am Würtenberger Hoff bekandt.
S. 89:
Dieweil aber diese Fazan [= Façon],
Unsers Comitats und der Landtsmann /
ln Teutschlandt vor nie gsehen worden /
Beym solchen Ritterlichen Ordn /
Und an ihr selbs was seltzams ist /
Wie ihr seht zu dieser Frist /
So möcht dieselbig auch gefalln /
Weil sie ungwöhnlich für andern alln /
Dem hochlöblichen Frauwenzimmr /
Welchs Fürstlich gzieret her thut schimmrn /
Und gern was news und seltzams sicht /
Welchs selten in den Ländern gschicht /
Und sonderlich das ein Weib soi /
Gantz Rittermässig dapffr und wol /
Erzeigen können / und die Stell
Mantenidors [= Herausforderer zum Turnier] / Martis Gesell /
Vertretten und versehen können /
Ihrs gleichen soit man nicht baldt findn /
Und weil wir nur Bedenckens haben /
Weibliches Standts und schwache Gabn /
Und uns dergleichen Ritterspiel /
Ungwöhnlich / nicht geübet viel /
TRIBUS 53,2004
Und solcher Sachen underfangn /
Jedoch treibt uns ein groß verlangn /
Zu dieser Rittermässign Kunst /
Und hat bey uns ein grosse Gunst /
Daß wir also auff diesen Tag /
Wie man vor Augen sehen mag /
Den drey und zwäntzigsten Hornung [= Februar] /
Erscheinen also schön und jung /
Mit unserm gantzen Comitat,
Der seltzam in der Kleydung gabt.
S. 90-93
Nach dem die schöne frühlings Zeit /
Sich macht herzu / und ist nicht weit /
Spatzieret ich einmal <früehe> im Thaw /
Begegnet mir ein schön Jungfraw /
America war sie genandt /
Wiewol diß Orts mir unbekandt /
Aber ihr schön Holdtseligkeit /
Ihr Weyß / Geberd und Bscheidenheit <=freündtligkeit> /
Dieselbig zeigt mir gwißlich recht /
Daß sie muß seyn von hohem Gschlecht.
Ich wagts und sprach sie der gstalt an /
Sie woll mir nichts für Übel han /
Und fragt was Abentheur vorhandn /
Sie hett gebracht in diese Landn /
Gab sie mir drauff Antwort zu gleich /
Wie sie manch stattlich Königreich
Durchrheyset / wer gantz unbekandt /
Und wolt jetzt auch ins Teutschelandt /
Daselbsten ein Fürst Hochgeborn /
Zu aller Tugent außerkohrn /
Fridrich so wirdt sein Nahm genandt /
Hertzog im Würtenberger Landt /
Von dem sie hett in jungen Tagen /
So viel guts lassen hören sagn /
Und daß er hett zu Gfalln und Ehrn /
Den Anwesenden Fürstn und Herrn /
Grafn / vom Adel / darzu immer
Dem schön Fürstlichn Frauwenzimmer /
Ein Ringrennen gantz wol bestellt /
Selbst sie ihr Heyl versuchen wölt /
Bäht mich umb aller Ritter Ehrn /
Ich wöll sie ihrer Bitt gewehrn /
Und mit ihr reiten selbst dahin /
Auff gut Glück / Verlust und Gewinn.
Solch ihr gantz holdtselige Bitt /
Kundt ich ihr wol abschlagen nit /
Weil ich danne ein junger Heidt /
Beger mich thumbien in der Welt /
Der ich in gantzer Lieb entzündt /
Ohn underlaß mein Hertz mir brennt /
Wie solchs mein Mascarat zeigt an /
Ein brennendt Hertz in heisser Flamm /
Mit Pfeil durchschossen und verwundt /
Hoff zu erleben noch die Stundt /
60
Elke Bujok: Erata zum Aufsatz: Der Aufzug der „Königin Amerika“
Daß solche meine heysse Brunst /
Nicht sol noch werde seyn umbsonst /
Und daß die allerliebste mein /
Mich einmal auß der schweren Pein
Erlösen werd / wie ich vertraw /
Und nächst Gott allein auff sie baw:
Dann ohn ihr Lieb zu dieser Frist /
Mir nimmermehr zu helffen ist.
Derwegen komb ich auff die Bahn /
Zeig mich bey Herren Richtern an /
Mein Nahm bekandt ist überall /
Heyß Wolgemut von Frewdenthal.
61
MICHAEL KNÜPPEL
Einige Angaben zum Niedergang der Arinen
bei Philipp Johann von Strahlenberg (1677-1747)
i.
Von den Völkern, deren Angehörige Sprecher jenisseischer Sprachen (Jenisseier; ver-
altet „Kan-Tataren“ [dies eigentl. nur für die Kotten], „Jenissei-Ostiaken“ [dies eigentl.
nur für die Jugen (Sym-Keten) u. Keten])1 waren und von denen wir vor ihrem „Erlö-
schen“ noch Kenntnis erlangt haben, sind die Arinen - zusammen mit den As(s)anen
und Pumpokolern - diejenigen, die als erste untergegangen, d. h. ihre eigene Sprache
eingebüßt haben und in der Folgezeit in ihren Nachbarvölkern aufgegangen sind. All
die genannten Völker - des weiteren zählen zu den Jenisseiern noch die in der Mitte
des 19. Jh.s erloschenen Kotten2, die in den 1970er Jahren untergegangenen Jugen
(Sym-Keten)3 und die heute noch rund 1.000 Personen zählenden Keten (von denen
50-60 % noch das Ketische als Muttersprache beherrschen)4 - sind bereits bis zur Mit-
te des 18. Jh.s „verschwunden“.
Durch einige glückliche Umstände sind seit dem ausgehenden 17. Jh. Angaben zu die-
sen heute nicht mehr existierenden Völkern gemacht worden: zunächst von russischen
Sibirienreisenden und Siedlern, die über die „Tataren“ am Jenissei berichteten und im
18. Jh. durch die zumeist deutschen Forschungsreisenden, die auch die Siedlungsgebie-
te der Jenisseier aufsuchten. Zu nennen sind hier Johann Eberhard Fischer (1697-1771),
Johann Gottlieb Georgi (1738-1802), Johann Georg Gmelin (1709-1755), Gerhard
Friedrich Müller (1705-1783), Peter Simon Pallas (1741-1811) und Philipp Johann von
Strahlenberg (1677-1747).
Eine der Angaben zur Stärke der Arinen, die sich auf die wohl früheste historisch greif-
bare Zeit bezieht, findet sich bei J. G. Georgi5:
1 Die Zusammenfassung der jenisseischen Völker unter dieser Bezeichnung geht auf J. H. v.
Klaproth (1783-1835) zurück (Klaproth. Julius v.: Asia polyglotta. Paris 1823.166), der Nach-
weis der Verwandtschaft der jenisseischen Sprachen ist das Verdienst M. A. Castrens (1813—
1852) (Castren, Mathias Alexander; Reiseberichte und Briefe aus den Jahren 1845-1849. Sankt
Petersburg 1856 [Nordische Reisen und Forschungen im Aufträge der Akademie der Wissen-
schaften^]. 376). Schon bei J. G. Georgi (Georgi, Johann Gottlieb: Beschreibung aller Nationen
des Russischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und
übrigen Merkwürdigkeiten. St. Petersburg 1776-1780.294 ff.) und später noch in J. C. Adelungs
„Mithridates“ sind unter der Bez. „Jeniseische Ostiaken“ alle Jenisseier zusammengefasst
(Adelung, Johann Christoph/ Vater, Johann Severin; Mithridates oder allgemeine Sprachen-
kunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in beynahe fünfhundert Sprachen und Mundarten
von Johann Christoph Adelung ... aus dessen Papieren fortgesetzt und bearbeitet von Dr. Jo-
hann Severin Vater. Zweyter Theil. Berlin 1809.560-561).
2 So traf M. A. Castren in der Mitte des 19. Jh.s in einer Siedlung am Kan die vermutlich letzten
fünf Sprecher des Kottischen (vermutlich Sprecher mehrerer Dialekte) an (hierzu F. A. Schief-
ners Vorwort zu; Castren, Mathias Alexander: Versuch einer jenissei-ostjakischen und kottisch-
en Sprachlehre nebst Wörterverzeichnissen aus den genannten Sprachen. Sankt Petersburg
1858).
3 Werner, Heinrich: Das Jugische (Sym-Ketische). Wiesbaden 1997 (Veröffentlichungen der
Societas Uralo-Altaica, 50).
4 Werner, Heinrich: Die Keten - ein stark bedrohtes jenissejisches Volk. In: Die ural-altaischen
Völker. Identität im Wandel zwischen Tradition und Moderne. Vorträge des Symposiums der
Societas Uralo-Altaica vom 13. bis 15. Oktober 2002. Hg. v. Gerson Klumpp und Michael Knüp-
pel. Wiesbaden 2003 (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, 63). 107-116, hier 107.
5 Georgi, 1776-1780,296.
63
TRIBUS 53,2004
Durch die Härte der Tataren und besonders durch die häufigen Überfälle der Kirgisen
waren sie dermaßen eingeschmolzen, daß ihr Fürst Tutka als er im Jahre 1608 Rußland
zinsbar ward, nur noch gegen dritthalbhundert Familien herrschte6.
Etwas genauer und daher von einigem Interesse sind die Zahlenangaben, die von frü-
heren Reisenden - vor allem von P. J. v. Strahlenberg - zur Stärke der Arinen gemacht
wurden, dokumentieren diese doch die letzte Phase des Niederganges derselben recht
präzise.
II.
Philipp Johann v. Strahlenberg7 wurde 1677 als Philipp Johann Tabbert im zum Schwe-
dischen Reich gehörenden Stralsund geboren. Nach dem Schulbesuch trat er in die
schwedische Armee ein und machte dort schnell Karriere. 1707 wurde von Karl XII.
zusammen mit seinen Brüdern in den Adelsstand erhoben. Als Offizier nahm er am
Großen Nordischen Krieg teil und gelangte mit der Armee Karls XII. nach Russland,
wo er nach der schwedischen Niederlage bei Poltawa 1709 in russische Gefangenschaft
geriet. Nach einigen „Zwischenstationen“ gelangte er schließlich ins sibirische Tobolsk,
wo er an der Gründung der dortigen Schule beteiligt war. Er selbst verdiente sich -
während seiner rund dreizehnjährigen Gefangenschaft - seinen Lebensunterhalt zum
Teil ebenfalls mit Lehrtätigkeiten. Im März 1721 schloss er sich dem Forschungsreisen-
den Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685-1735) an, mit dem er Süd-Sibirien bereiste.
Hierbei unternahm Strahlenberg - der bisweilen auch das Reisetagebuch führte - auch
eigene „Expeditionen“ - etwa den Ob und den Jenissei abwärts. 1722 trennte er sich
von Messerschmidt und begab sich über Tobolsk und St. Petersburg zurück nach
Schweden (1723). Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er zunächst eine Karte Sibiri-
ens8 - die er während seines Aufenthaltes dort mehrfach hatte anfertigen müssen, da
sie ihm verschiedene Male entwendet bzw. beschlagnahmt wurde. Die von Strahlen-
berg mit dieser Karte festgelegte Grenzziehung zwischen Europa und Asien, ist die bis
heute allgemein anerkannte Grenze. Von weit größerer Bedeutung für den hier behan-
delten Gegenstand war jedoch sein wenig später veröffentlichtes ethnographisch-his-
torisch-geographisches Werk (in das als Nachdruck auch die berühmte Karte Eingang
6 Strahlenberg gibt an, dass die Anzahl der Arinen zur Zeit der Ankunft der Russen rund 7.000
Personen betragen haben soll (s. u.).
7 Zu Strahlenberg liegt eine wahre Flut von Literatur vor, daher hier nur eine Auswahl: Eren,
Hasan: Strahlenberg (Stralenberg), Philipp Johann von. In: Eren, Hasan:Türklük Bilimi Sözlügü.
I: Yabanci Türkologlar. Ankara (TDK, Yaymlan, 705). 302-307; Hämäläinen, Albert: Nachrichten
der nach Siberien verschickten Offiziere Karls XII. über die finnisch-ugrischen Völker. In: JSFOu,
49.1939.1-55 (hier bes. 27-55); Hallendorff, Carl: Peter Schönström och Strahlenbergs karta. In:
Ymer,45.1925.261-265; Henze, Dietmar: Strahlenberg (eigentl.Tabbert), Philipp Johann von. In:
Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. 25. Lieferung: Stoddart-Vadillo. Graz. 249-
250; Jarring, Gunnar: Das Schicksal der zentralasiatischen wissenschaftlichen Erbschaft von Philipp
Johann Strahlenberg. In: CAJ, 21. 1977. 224-228; ders.: Strahlenberg in Schwedischer Literatur
und Wissenschaft. Eine bio-bibliographische Übersicht, ln: UAJb, 48. 1976. 121-123; Krook,
Hans: Strahlenberg, Philip Johan von. In: Svenska Män och Kvinnor. Biografisk Uppslagbok, 7.
Stockholm. 253/c-254/a; Novljanskaja, Marija Grigor'evna: Filipp logann Stralenberg, Jego raboty
po issledovaniju Sibiri. Moskva, Leningrad 1966 (schwed. Übers, [v. Apazidis, Anita]: Novljanska-
ja, M. G.; Philipp Johan von Strahlenbergsforskningsarbeten om Siberien. Karlstad 1968); Sand-
blad, Henrik/ Jarring, Gunnar: Spräkforskaren och Orientalisten Philipp Johann von Strahlen-
berg. Halmstad 1977; Sertkaya, Osman Fikri: Dogumunun 311 ölümünün 240. yil sönümünde
Philipp Johann von Tabbert-Strahlenberg (1676-1747). ImTürk Kültürü,285. Januar 1987.16-27;
Wikander, Stig: Karoliner och spräkforskare Strahlenberg (1676-1747) trehundra är. In: Nordisk
Tidskrift för vetenskap, konst och industri, N. S. 52.1976.227-229.
8 [Strahlenberg, Philipp-Johann v./ Matern, T. A./ Frisch, P. F.]: Nova Descriptio Geographica
Tartariae Magnae tarn orientalis quam occientalis in particularibus et generalibus Territoriis una
cum Delineatione totius Imperii Russici imprimis Siberiae accurate ostensa. Paris 1725.
64
Michael Knüppel: Angaben zum Niedergang der Arinen
fand) „Das Nord und Östliche Theil von Europa und Asia“9, in dem er zahllose - oft-
mals sehr wertvolle - Informationen über verschiedene Völker Sibiriens und deren
Sprachen lieferte (hierunter auch die Arinen)10.
Die Angaben Strahlenbergs - obgleich rund ein halbes Jahrhundert vor Georgi ver-
fasst - beziehen sich (abgesehen von einer Angabe zur angeblichen Anzahl bei der
Ankunft der Russen, die Strahlenberg selbst mit der gebotenen Zurückhaltung wieder-
gibt: 7.000 Personen) auf eine spätere, nämlich Strahlenbergs Zeit; Die ersten Jahr-
zehnte des 18. Jh.s, die Zeit vor dem endgültigen Erlöschen des Arinischen, einem Pro-
zess der zu dieser Zeit schon über ein Jahrhundert - vermutlich jedoch erheblich länger
- angedauert hatte und nur wenig später seinen Abschluss finden sollte. Strahlenberg,
der uns in seinem Hauptwerk „Das Nord und Östliche Theil von Europa und Asia“
auch eine kurze Liste arinischer Wörter im Rahmen der dortigen „Tabula polyglotta“
liefert, macht in diesem Werk an vier Stellen einige Angaben zu jenisseischen Völkern11
(und hier vor allem zu den Arinen). Zwei der Stellen enthalten Angaben zur Stärke der
„Kamatzincischen Tatern“. Diese seien hier der Vollständigkeit halber gegeben12.
Denn es haben mir die Ar int zischen Tatarn, welche unter derer Rußen Bothmäßigkeit
am Jeniscei-Strohme unweit der Stadt Crasnojahr wohnen, erzehlet. Nachdem die Ru-
ßen das Westliche Sibérien bereits eingenommen, und diese Tatarn gesehen hätten, daß
ein Volck nach dem andern unter deren Joch gebracht werde: So hätten sie sich auch
daher billich die Rechnung machen können, es würde die Reihe auch bald an sie kom-
men. Zu dem Ende hätten sie ihre Abgesandten an die Rußen gesandt, welchen sie ei-
nen Pfeil, schwartzen Fuchs, und ein Stück rothe Erde mit gegeben; Wodurch sie ihrer
Gewohnheit nach denen Rußen beydes Friede und Krieg vorstellen wollen. Da aber
diese letztem in ihrem Vorhaben fortgefahren, und sie unversehens überfallen, wäre
ihre Horde dermaßen ruiniret und aufgeopffert worden, (denn sie wären noch 7000.
Mann bey der Rußen Ankunfft gewesen) daß anietzo nach gar wenige von ihnen übrig
wären. Wie sie denn auch nicht mehr als etwa 200. Mann noch starck sind; gleichwohl
aber ihre eigene Sprache noch haben, welche in der Tabula polyglotta unter denen
Sprachen zu ersehen ist....
An der zweiten Stelle liefert Strahlenberg eine etwas gröbere Angabe - ganz offen-
kundig eine „Maximalschätzung“:
Kamatzincische Tatern. Wohnen am Ursprung des Mana-Strohms, welcher zwischen der
Stadt Crasnoyahr und Abakan in Jenisei-Strohm hinein fällt. Sie sind nicht starck, und
können etwa 3. biß 400. Mann ausmachen. Ihre Sprache kan ersehen werden aus meiner
Tabula polyglotta13.
9 Strahlenberg, Philipp Johann v.: Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia: in so weit
solches Das Gantze Russische Reich mit Sibirien und der grossen Tartarey in sich begreiffet.
In einer Historisch-Geographischen Beschreibung der alten und neuern Zeiten, und vielen
andern unbekannten Nachrichten vorgestellet. Nebst einer noch niemahls ans Licht gegebenen
Tabula Polyglotta von zwey und dreyssigerley Arten tartarischer Völcker Sprachen und einem
Kalmückischen Vocabulario, Sonderlich aber Einer grossen richtigen Land-Charte von den
benannten Ländern und andern verschiedenen Kupfferstichen, so die Asiatisch-Scythische
Antiqvität betreffen; Bey Gelegenheit der Schwedischen Kriegs-Gefangenschaft in Russland, aus
eigener sorgfältigen Erkundigung, auf denen verstatteten weiten Reisen zusammen gebracht und
ausgefertigt. Stockholm (in Verlegung des Autoris) 1730 (Neudruck: With an Introduction by J. R.
Krueger. Ed. Judil Papp. Szeged 1975 [SUA, 8]).
10 Strahlenbergs arinische Wortliste ist eine der wenigen Aufzeichnungen arinischen
Sprachmaterials überhaupt.
11 Strahlenberg, 1730,36 f„ 85-87,384 u. 385.
12 Strahlenberg, 1730,84.
13 Strahlenberg, 1730,384.
65
TRIBUS 53,2004
Neben den Angaben in seinem Hauptwerk findet sich jedoch auch noch eine Zahlen-
angabe in einem seiner weithin unbekannten Briefe (an Curt Friedrich von Wreech
vom 28.7.1723), in dem Strahlenberg schreibt14 15:
... In Summa, ich kann die äußerliche Einfalt, und Frömmigkeit dieser Heyden nicht
genug beschreiben, und weil die meisten von Natur so stille vor sich so mag doch auch
einstheils viel dazu contribuiren, weil sie unter der rußischen Pressure leben, die sie so
wenig wie Hunde achten, alle diese Heyden nun so zwischen Crasnoyar Tomski und
Tara wohnen (auch die andern, bey welchen zwar nicht im Vordertheil gegen dem
Eißmeer zu gewesen) sind ohne die Tungusen so auf 70.000 gerechnet werden, und
ihre eigene Sprache haben, in vielen kleinen Völckerschafften zertheilet, da einige 1000,
andere 500, wieder andere 300 Mann, und so fortan ausmachen; welche aber vorzeiten
viel stärcker und zahlreicher gewesen. (aber Gott weiß, woran es liegt) sich immer
mehr mindern als mehren, kann seyn von ihren gar schlechten nutriment, oder ob kein
Segen Gottes bey ihnen ist. Es hat aber fast iedes Völcklein seine eigene Originalmut-
tersprache, die voneinander gantz different, als da ist ein Volck bey Crasnoyar, so
Arintzi genant worden, und nur noch ietzo 30 Mann starck ist, dennoch hats seine ei-
gene Sprache, item die kotowskischen und kistünschen Tattern haben wieder die ihrige,
die ostiakische ist ebenfalls zweyerley etc. Ja es sind von Astracan an bis zum Japanesi-
schen, und Eißmeer zu, über die 25erley Ahrt Sprachen;...
Eine weitere Angabe zur Zahl der Arinen finden wir bei G. F. Müller, der während
seines Aufenthaltes im Siedlungsgebiet der Arinen im Jahre 1735 nur noch einen Spre-
cher des Arinischen antraf. Hierzu J. G. Georgi1“':
... Ihre eigentümliche Sprache ist eine sehr abweichende Mundart der Sprache der
jenisseischen, besonders pumpokolischen Ostiaken. Gegenwärtig reden sie tatarisch
im katschinskischen Dialect. Als unser Staatsrath Müller und der ältere Gmelin sich
1735 am Jenisei befanden, sprach nur noch ein Mann arinzisch, durch welchen der
Herr Staatsrath sein Wörterbuch vermehrte. Bey der Rückkunft dieser berühmten Rei-
senden aus dem östlichsten Sibirien, die 1740 erfolgte, war auch dieser Mann gestorben
und die arinzische Sprache dadurch unter den Lebendigen erloschen.
III.
Die zentrale Frage ist nun weniger diejenige danach, welche Ursachen zum Nieder-
gang der Arinen geführt haben, diese lässt sich noch verhältnismäßig einfach beant-
worten: zum einen die Bedrängung und wohl auch die Ausrottungen durch ihnen mehr
oder wenig feindlich gesinnte Nachbarn („Tataren“, Kirgisen und wohl auch die russi-
schen Eroberer), zum anderen die üblichen Folgeerscheinungen der Landnahme durch
fremde - hier, wie in derselben Zeit nahezu überall auf der Welt, europäische - Koloni-
alisten, d. h. Einschleppung von Krankheiten gegen die keine Immunität besteht, Ein-
führung von Alkohol und dergleichen mehr. Von weit größerem Interesse ist hier aller-
dings die Suche nach einer Erklärung für die recht unterschiedlichen Angaben zur
Stärke der Arinen unmittelbar vor dem Untergang ihrer Sprache: um 1723: 30 Perso-
nen (Strahlenberg), um 1730: max. 200/ 300-400 Personen (Strahlenberg), 1735:1 Per-
son (Müller, [Georgi]), 1740:0 (Müller, [Georgi]).
Da man eine Vermehrung der Population um das Sechs- bis Zehnfache in nur sieben
Jahren (1723-1730) allein schon aus reproduktionsbiologischen Gründen ausschließen
darf, stellt sich die Frage, wie diese Angaben zu werten sind. Auch der völlige Nieder-
gang in nur fünf Jahren (1730-1735) wirft einige Fragen auf. Da Strahlenberg hinsicht-
lich der Stärke der Gruppe 1723 recht genaue Angaben macht, ist hier ein Irrtum eher
14 Winter, Eduard: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert.
Berlin 1953 (Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik, 2), 467-472.
15 Georgi, 1776-1780,297.
66
Michael Knüppel: Angaben zum Niedergang der Arinen
unwahrscheinlich. Man wird davon ausgehen dürfen, dass eine Anzahl von 200 oder
gar 300-400 Personen sich wahrscheinlich auf die Gesamtheit der Arinen bezieht und
im Jahre 1723 noch rund 30 Personen des Arinischen mehr oder weniger mächtig wa-
ren. Wenn Strahlenberg aussagt, dass sie „ihre eigene Sprache haben“16, heißt dies ja
nicht, dass alle Angehörigen des Volkes diese auch beherrscht haben. J. G. Georgi be-
trachtete die Arinen in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s ebenfalls noch als eigenständige
Gruppe (und behandelte sie in seinem Werk auch dementsprechend)17, wenngleich
ihre Sprache zu dieser Zeit bereits seit nahezu einem halben Jahrhundert erloschen
war. Dass das Bewusstsein, eine eigenständige Volksgruppe zu bilden, die Sprache der-
selben überlebt, stellt im nördlichen Eurasien durchaus keine Ausnahme dar. So ver-
stehen sich die mit den Jukagiren verwandten Cuvanen zum Teil noch heute als solche,
obgleich ihre Sprache spätestens seit der Mitte des 19. Jh.s an als ausgestorben gelten
kann (sie wurde wie so oft in diesem Großraum vom Russischen verdrängt).
Ein gänzlich anderes Problem stellt das Zusammenschmelzen der Gruppe von 30 Spre-
chern auf nur noch einen einzelnen in den Jahren 1723-1735 dar. Da für diese Zeit
keinerlei Übergriffe von Seiten der Nachbarn belegt sind und die Jenisseier nach J. G.
Georgi auch die Pockenepidemie des Jahres 1731 vergleichsweise gut überstanden ha-
ben sollen18,...
... Ueberhaupt sind sie nach der Größe ihrer Wildniße gerechnet nicht mannstark. Als
im Jahre 1731 die Pocken das erstemal unter sie geriethen, wurden sie meistens aufge-
rieben, diese Krankheit hat sich auch nachher einigemal bey ihnen wieder eingefun-
den: bey ihrer natürlichen, sorgenfreyen Lebensart aber wachsen sie immer bald wie-
der an, daher man sie gegenwärtig nicht schwächer, als vor den Pocken hält.
... ist daran zu denken, dass entweder die Arinen diese Epidemie weniger gut „ver-
kraftet“ haben als ihre Nachbarn und Verwandten oder aber - und dies ist sehr viel
wahrscheinlicher-die 1723 noch vorhandenen „Muttersprachler“ eine hoffnungslos
überalterte Population darstellten, was bei einem muttersprachlichen Anteil von
höchstens 10-15% der arinischen Gesamtbevölkerung (1730: max. 200/ 300-400 Per-
sonen) sehr naheliegend ist. Die ganz allgemein - auch heute noch - vergleichsweise
niedrige Lebenserwartung der Angehörigen der Völker des nördlichen Eurasiens,
dürfte auf diesen Prozess des Niederganges wohl noch beschleunigend gewirkt ha-
ben.
16 S. o.
17 Georgi, 1776-1780,297.
18 Georgi, 1776-1780,294.
67
ANETT C. OELSCHLAGEL
Religion des Alltags
Zur Naturreligion derTyva im Süden Sibiriens
„Meine Großmutter brachte jeden Morgen
der Erde ein Opfer dar,
sie verspritzte vom ersten Morgentee
mit dem Libationslöffel.
Mit dem Spritzopfer wandte sie sich
auch an alle hohen Berge der Tajga,
an den Wald und an die Flüsse.
Dieser Ausspruch verweist auf ein Selbstverständnis der eigenen Alltagsreligion, das
sich nicht ohne weiteres mit den Begriffen „Schamanismus“, „Animismus“ bzw.
„vorbuddhistische Glaubensvorstellungen“ konsequent wiedergeben lässt, wie dies
bis heute in der russischen, tyvanischen und westlichen Literatur1 2 geschieht.
Eliade gab in seinem Klassiker: „Schamanismus und archaische Ekstasetechniken“
den wesentlichen Gedankenanstoß:
„Die Religionen Zentral- und Nordasiens gehen auf allen Seiten über den Scha-
manismus hinaus, so wie jede Religion über das mystische Erlebnis einiger Privi-
legierter unter ihren Mitgliedern hinausgeht.... Alle diese Elemente (Ideologie,
Mythologie, Riten; A.Oe.) waren früher als der Schamanismus oder gehen ihm
zum mindesten parallel, das heißt sie sind die Frucht des religiösen Erlebnisses
aller und nicht einer bestimmten Klasse von Privilegierten, der Ekstatiker.“
(Hervorhebung im Original)3
Und wirklich zeigten die Beobachtungen des Alltags derTyva4 *, dass diese Religion'’
vom tyvanischen Volk bis heute praktiziert und gelebt wird. Sie bestimmt das alltäg-
liche Leben jedes Einzelnen und zur Umsetzung der vielen, scheinbar nebensächli-
chen religiösen Handlungen sind nur in besonders schwierigen Ausnahmefällen
Schamanen nötig. Auch verfügt ein jeder Tyva über ein gewisses Arsenal an Wissen6
1 Kenin-Lopsaq 1993:66.
2 Z.B.: D’jakonova (u.a. 1976,1977), Taube (u.a. 1981), Potapov (u.a. 1969), Budegechi (u.a.
1994),Tryjarski (u.a. 2001), Vajnshtejn (u.a. 1961,1984,1996) oder Weiss (1997).
3 Eliade (1951) 1975:17.
4 Eine Einführung in die Lebenswelt derTyva findet man in: „Sprechende Steine ... (s.Anm.l)“
sowie in den Aufsätzen: Anett C. Oelschlägel: Deutung und Wahrheit. Zwei Divinationsprakti-
ken bei den Tyva im Süden Sibiriens. In: Nentwig,!. und J. Taube: Festschrift für Erika Taube (im
Druck), und Anett Oelschlägel: Der Weg der Milch - Zur Produktion und Bedeutung von
Milchprodukten bei den West-Tyva Südsibiriens. In: Tribus, Jahrbuch des Linden-Museum
Stuttgart, Bd. 49 (2000), S. 155-171, Anm.3, zu finden. Hier erkläre ich auch meine Gründe für
die Benutzung der Eigenbezeichnung „Tyva“ des in der Literatur als „Tuwiner“ (s. alle Aufsät-
ze von Taube, E.) und unter Musikliebhabern als „Tuva“ bekannt gewordenen Volkes.
2 Folgender Aufsatz umreißt in Kürze meine Gedanken zur Naturreligion derTyva. Wesentlich
ausführlicher und detaillierter möchte ich dieses Thema monographisch vorlegen: „Sprechende
Steine: Naturreligion und Divination bei den West-Tyva im Süden Sibiriens“ (in Vorberei-
tung).
6 Ich spreche hier von „Wissen“ nicht von „Glauben“ oder „Vorstellungen“, da ich den Ge-
brauch des Begriffs „Glaube“ im Kontrast zu unserem „Wissen“, wie die Dinge der Welt Zu-
sammenhängen, als abwertend empfinde. Dabei verweise ich auf Ergebnisse der Diskurstheo-
rie (z. B. Donati 2001), die alles Wissen in den Bereich des Diskurses verweisen. Wenn ich im
Folgenden die Begriffe „Vorstellungen“, „Glaube“ usw. verwende, so geschieht dies im Be-
wusstsein einer Gleichstellung von „Wissen“ und „Glauben“.
69
TRIBUS 53,2004
über diese Religion, wenn auch naturgemäß der Schamane durch seine Seelenreisen
und durch seinen Kontakt mit den Geistern mehr von den Zusammenhängen der
Welt versteht.
Auch der Begriff „Animismus“, der Glaube an die Beseeltheit der Natur, greift zu
kurz. Er kann nicht alle Gesichter einer komplexen Religion, wie ich sie im Alltag
der Tyva finde, erklären. Zwar sehen die Tyva die sie umgebende Natur als beseelt,
doch spielen beseelte Natursubjekte gegenüber den Hierophanien7 eine untergeord-
nete Rolle. Die Tyva gebrauchen ein Wort (ydyk), das einige Natursubjekte aus der
Allgemeinheit der beseelten Natur heraushebt. Meine bisherige Arbeit erlaubt mir
mit einigen Vorbehalten, alle Subjekte, die als „ydyk“ bezeichnet werden, mit Hiero-
phanien gleichzusetzen. Ob sich diese These halten lässt, muss jedoch im Laufe wei-
terer Feldaufenthalte überprüft werden. Sicher ist, dass im Umgang mit diesen Sub-
jekten vermehrt unserem Alltag unbekannte Regeln und Tabus eingehalten und dass
in ihrer Nähe regelmäßig Rituale durchgeführt werden. Daneben sind sie Gegen-
stand zahlreicher Anrufungen, Segenssprüche und Gebete. Mit diesen Merkmalen
möchte ich auch den Begriff „heilig“ in der Alltagsreligion der Tyva operationalisie-
ren (s.u.). Ich tue dies, um das Lesen meiner Arbeit zu erleichtern, man sollte sich
jedoch darüber bewusst sein, dass hier nicht das „Heilige“, wie es uns aus dem Chris-
tentum vertraut ist, auf das „ydyk“ der Tyva übertragen werden kann. Was hinter
dem Attribut „ydyk“ steht, dem kann sich der einfühlsame Leser in den folgenden
Seiten allenfalls annähern, ob es uns aber jemals ganz verständlich sein wird, das sei
dahingestellt.
Ein weiteres Hindernis, das den europäisch erzogenen Menschen am Verständnis
der Alltagsreligion bei den Tyva hindert, ist die gedanklich unbewusste Verdingli-
chung der Natur. Wir „nutzen“ die Natur, wir „gestalten“ die Natur, und wir haben
sie „geformt“, bis wir es für nötig hielten, sie vor uns selbst zu „schützen“. Woran wir
keinen Anstoß nehmen, das klingt für einen Tyva absurd. Während wir als „Subjek-
te“ auf die „Naturobjekte“ einwirken, sieht sich der Tyva als „Objekt“ von „Natur-
subjekten“, die seinen gesamten Alltag gestalten und sein Leben leiten. Sein gesam-
tes Tun ist darauf ausgerichtet, in Harmonie mit den Natursubjekten zu leben, da
eine Störung derselben existenzielle Folgen haben kann. Nicht der Mensch zwingt
der Natur seinen Willen auf oder formt sie nach seinen Vorstellungen, sondern hier
formt die Natur den Menschen, und der Tyva ordnet sich ihrem Willen unter. Es wäre
falsch, hier nur an Naturphänomene, wie Gewitter, Sturm und Überflutungen, zu
denken. Die Natur besteht für die Tyva nicht aus gesetzmäßigen Naturkräften, son-
dern aus einer Vielzahl von intelligenten Wesen, die über einen freien und starken
Willen verfügen. Sie sind in ihrer Art wie Geister und nur ihre Behausungen bzw.
äußeren Hüllen (eine Landschaft, ein Baum, eine Quelle usw.) sind dem Menschen
sichtbar. Der Leser sollte sich an die Flutkatastrophe (2002) in Dresden erinnern. In
dieser Zeit hörte ich oft von Bekannten, die ein leichtes Lächeln auf dem Mund
führten, die Sätze: „Die Elbe hat sich ihr altes Bett gesucht.“, „Die Natur kann man
eben nicht zwingen, sie holt sich zurück, was ihres ist.“ oder „Die Natur hat zurück-
geschlagen.“. Solche Gedanken, die in unseren Breiten nur noch durch Naturkatast-
rophen ausgelöst werden, beherrschen die Tyva in ihrem gesamten Alltag. Die Art
des Sprechens hierbei kommt dem Denken der Tyva am nächsten: „Die Natur hat
Hier ist die Natur Subjekt. Die Tyva führen dabei kein Lächeln auf den Lippen,
sie wissen, dass sich die Natur nicht beherrschen lässt, dass der Natur die Macht ge-
hört, von der die Menschen allenfalls partizipieren können und auch wollen. Ist man
sich darüber im Klaren, scheint der Begriff „Naturreligion“ die einzig wirklich adä-
7 Eine Hierophanie ist für Eliade „jedes Beliebige, in dem sich Sakrales manifestiert“ (ein hei-
liger Gegenstand, ein heiliger Ort, ein heiliges Wesen, die heilige Zeit, ein Gott oder eine Über-
lieferung). Dabei könne „jedes Beliebige“ durch eine Erwählung zur Hierophanie werden, in-
dem es eine neue „Dimension“ annimmt, nämlich die des Sakralen. Sic kann aber diesen Status
auch wieder verlieren. Eliade (1949) 1998:36f.
70
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
quate Bezeichnung für das im Folgenden beschriebene Phänomen zu sein. Er be-
zieht sich nicht auf den zahlenmäßig hohen Anteil von Natursubjekten unter den
verehrten Subjekten überhaupt und erst recht nicht darauf, dass die Tyva in ihrer
Lebensweise der Natur näher stünden als andere Völker, sondern auf dieses für uns
nur schwer nachvollziehbare Weltbild der Tyva. Der Untertitel „Zur Naturreligion
bei den Tyva im Süden Sibiriens“ schließt darüber hinaus das Selbstverständnis ein,
dass alle Geister und Mächte des tyvanischen Weltbildes als Teil der Natur verstan-
den werden, d.h. der Begriff „Natur“ ist wesentlich weiter zu fassen, als wir das ge-
wöhnlich tun.
Meine folgende gedankliche Annäherung an die Naturreligion der Tyva sehe ich als
eine erstrebenswerte Herausforderung. Sie basiert auf drei Feldforschungen (1995,
1997,2002) und auf intensiven Studien der russischen und tyvanischen Literatur8 zu
diesem Thema. In folgendem Aufsatz möchte ich u.a. letztere, im Westen fast unbe-
kannte Quellen präsentieren und diese mit meinen Feldmaterialien und eigenen Ge-
danken ergänzen. Daher halte ich es für notwendig, zunächst einen allgemeinen
Überblick über die Vorgehensweise und die zugrunde liegenden Denkmuster der
sowjetischen und tyvanischen Literatur zu geben.
Die sowjetische und postsowjetische Ethnographie9 bietet reichhaltige Material-
sammlungen auf dem Gebiet der Naturreligion der Tyva. Meines Wissens existiert
jedoch kein zusammenfassendes Werk zu dieser Problematik. Es handelt sich bei
dem bislang veröffentlichten Material um Aufsätze und einzelne Kapitel in Buchpu-
blikationen. Die Arbeiten ähneln sich sehr in methodischer Herangehensweise und
theoretischer Grundlegung. Eingesetzte Methoden sind Beobachtung, gezielte Inter-
views und Beschreibung. Theoretisch liegen vor allem den Werken aus sowjetischer
Zeit, welche den Hauptteil der Quellen stellen, die staatlich anerkannten und geför-
derten Theorien des wissenschaftlichen Atheismus zugrunde. Man ging von einer
Evolution der Religion von Animismus über Totemismus und Polytheismus bis zu
den monotheistischen Religionen aus und bewertete die untersuchten Religionen
nach den theoretischen Grundlagen Ludwig Feuerbachs, nach dessen Ausführungen
die Religion das Gefühl der Abhängigkeit des Menschen auslöst, nicht nur von der
Natur allgemein, sondern vor allem von der ihn umgebenden Natur und von der Si-
tuation, in der er leben und handeln muss.10 In der Darstellung der Daten fällt eine
stark positivistische Einstellung der Autoren auf, im Allgemeinen wird nur direkt
Beobachtbares in der Beschreibung zugelassen. Es wird häufig nicht interpretiert
und auf größere Zusammenhänge, die durch die Distanz des Forschers sichtbar wer-
den, hingewiesen. Diese Art der Präsentation des Materials in Form einer detaillier-
ten Wiedergabe von rituellen Handlungsweisen und vordergründigen Erklärungs-
mustern dieser Handlungen verführt den Leser dazu - was sicher auch im sowjetischen
Interesse lag -, den autochthonen Religionen jede Logik abzusprechen und die da-
mit verbundenen Handlungen leicht ins Feld der Magie und des banalen Aberglau-
bens einzuordnen, was auch teilweise von sowjetischen Wissenschaftlern wörtlich so
s Ich verwende in allen Zitaten die englische Transkription. Zusätzliche Sonderzeichen des Ty-
vanischen habe ich ergänzt mit den Buchstaben ö, ü und q. Problematischer gestalteten sich
jedoch die Übertragungen aus verschiedensprachlichen Quellen. Alle russischen und lyvani-
schen Quellen habe ich in oben genannter Weise transkribiert. Dabei habe ich jedoch immer
die Schreibweise der Namen in der Quelle beibehalten. Deshalb erscheint z.B. der Name „Ke-
nin-Lopsat]“, zitiert aus tyvanischen Quellen, neben demselben Namen in anderer Schreibwei-
se („Kenin-Lopsan“), zitiert aus russischen oder englischen Publikationen dieses Autors, oder
die Schreibweise „Wajnschtejn“, zitiert aus einer deutschen Quelle, neben der Schreibweise
„Vajnshtejn“, zitiert aus seinen russischen Werken. Mit dieser Methode wollte ich den Lesern
das Auffinden meiner verwendeten Literatur erleichtern.
9 Alekseev 1987; Arakchaa 1995; Budegechi 1994; D’jakonova 1976,1977, 1981; Kenin-Lopsa
1993, 1994a, 1994b; Kuular 1959; Mongush 1994; Potapov 1960, 1969,1975; Shukovskaja 1996;
Vajnshtejn 1961,1972,1977,1984,1995,1996; Bajaliewa (1972) 2002.
10 Bajaliewa (1972) 2002:33.
71
TRIBUS 53,2004
formuliert wurde. Auffällig ist weiterhin die deduktive und ethische Herangehens-
weise sowjetischer und häufig auch postsowjetischer Wissenschaftler. Das lebendige
Beispiel im Feld wird oft durch ein Raster wissenschaftlich und politisch anerkann-
ter Theorien betrachtet und zugeordnet.
Gleichzeitig sind diese Arbeiten in ihrer Reinheit der Beschreibung eine ausgezeich-
nete Quelle für darauf aufbauende Untersuchungen. Ich halte es für unbedingt not-
wendig, Zusammenhänge zwischen den teilweise sehr isoliert dargestellten religiö-
sen Phänomenen zu entdecken und zu untersuchen. Den einzelnen Ritualen liegen
komplexe Vorstellungen über die Welt zugrunde, die es anhand einer Feldforschung
zu ermitteln und herauszuarbeiten gilt.
Das Heilige in der Naturreligion der Tyva
In meinen folgenden Ausführungen gehe ich im Wesentlichen auf die wissenschaftli-
chen Ergebnisse von Mircea Eliade ein. dessen Gedanken ich kurz umreißen möchte:
Die grundlegende Frage der vergleichenden religionshistorischen Methode Eliades
heißt: Wie zeigt sich das Heilige? Dabei gehen Eliade und seine Schüler davon aus,
dass für den „homo religiosus“ Heiliges existiert. Methodisch folgt die Eliadeschule
dem Grundsatz, religiöse Phänomene unter religiösen Maßstäben zu erfassen, denn
nur so können sie sich als religiöse Phänomene offenbaren. In seinen Arbeiten ana-
lysiert Eliade vergleichend das Denken und Fühlen des „homo religiosus“. Er bevor-
zugt die emische Perspektive, d.h. er versucht, durch die Augen des religiösen Men-
schen zu schauen. Auch Eliade entdeckt den antagonistischen Gegensatz zwischen
dem Heiligen und dem Profanen. Das Heilige und das Profane bilden dabei „Zwei
Arten des In-der-Welt-Seins“. Die Idee des Heiligen erklärt Eliade damit, dass alles
Besondere und Neue andere religiöse Gefühle auslösen kann. Er bezeichnet dieses
Phänomen als „Selbstoffenbarung“ des Heiligen. Aus der Perspektive des religiösen
Menschen handelt es sich hierbei um „Hierophanien“, um „Manifestationen des
Heiligen in der geistigen Welt derer, die sie empfangen haben“. Der Begriff Hiero-
phanie drückt aus, was seine Zusammensetzung enthält; „dass etwas Heiliges sich
uns zeigt“. Er betrachtet sie als „Gefäße magisch religiöser Kräfte“. So werden hei-
lige Steine oder Bäume nicht als Steine oder Bäume verehrt, sondern weil sie Hiero-
phanien sind, weil sie etwas „zeigen“, was nicht mehr Stein oder Baum ist, sondern
das Heilige, das „Ganz andere“.11
Aus autochthoner Sicht spielen hier die numinosen Gefühle und das Wissen, dass
etwas heilig ist, eine wesentliche Rolle. Doch kann an beidem der Forscher nicht
partizipieren. Woran aber kann der Fremde in der tyvanischen Welt die Heiligkeit
eines Subjektes erkennen? Allein den Begriff „ydyk“ durch das deutsche Wort „hei-
lig“ zu ersetzen, erklärt uns nicht das Phänomen und wäre eine verfälschende Trans-
formation der eigentlichen Zusammenhänge in unser Weltbild. Für den Wissen-
schaftler ist es daher notwendig, den Begriff „heilig“ („ydyk“) durch genaue
Beobachtung des Geschehens zu operationalisieren. Er sucht nach den beobachtba-
ren und erfragbaren Merkmalen, der als „ydyk“ bezeichneten Subjekte. Nur über
diese kann er sich dem Phänomen „ydyk“ in der tyvanischen Welt annähern, die
wirklichen Empfindungen, das irrationale Verstehen von „ydyk“ wird ihm dagegen
immer verschlossen bleiben. So ist und bleibt auch der oben vorgeschlagene Weg
immer unvollkommen und doch scheint er die einzige Möglichkeit des (rationalen)
Erfassens von Heiligem in der Welt der Tyva zu sein.
Anhand des ethnographischen Materials lassen sich Handlungsweisen erkennen, die
sich nur auf eine bestimmte Art von Gegenständen beziehen und bestimmte Gegen-
stände von anderen absondern, denen man mit wesentlich weniger Ehrfurcht begeg-
net und die ohne besondere Umstände den Alltag der Menschen mitgestalten. Die-
ses besondere Verhalten könnte man als ,religiös‘ bezeichnen, es teilt die Welt in
11 Eliade (1949) 1998, (1957) 1990.
72
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
zwei Sphären; die profane Sphäre und die Welt der heiligen Subjekte, zu der wir alle
Hierophanien zählen. Letzteren sind wiederum bestimmte Überzeugungen (Mei-
nungen und Vorstellungen) zuzuordnen, die mittels einer Befragung der Gläubigen
zugänglich sein können und das religiöse Verhalten derselben bestimmen. Dennoch
erschließt sich die Welt der Hierophanien einer Befragung nur punktuell, was den
Wissenschaftler zwingt, sich auch anderen Quellen, so z.B. den gesammelten münd-
lichen Überlieferungen zuzuwenden.
Versucht man nun die Qualität „heilig“ über den Umweg einer operationalen Defi-
nition der Beobachtung zugänglich zu machen12, fallen zunächst die religiösen Prak-
tiken auf. Durch Befragung sowie Konsultation oraler Traditionen können sich dar-
über hinaus die religiösen Überzeugungen erschließen, welche dem religiösen
Handeln der Gläubigen zugrunde liegen. Religiöses Handeln beinhaltet die ver-
schiedenen Rituale sowie bestimmte Verbote und Regeln im Umgang mit den Sub-
jekten und Wesen, während die religiösen Überzeugungen in den vielfältigen Anru-
fungen und Segenssprüchen, aber auch in anderen Beispielen der mündlichen
Tradition des tyvanischen Volkes zum Ausdruck kommen.
In der Art, wie diese Handlungen durchgeführt werden, deuten sich dem aufmerksa-
men Beobachter durchaus auch die von Otto13 beschriebenen religiösen Gefühle an,
die der Mensch dem Numinosen entgegenbringt. Es zeigen sich schauderndes Zagen
und bestrickende Faszination im Umgang mit dem Ziel der Verehrung.
Hält man beim Verkehr mit einem Subjekt bestimmte Regeln ein und befolgt mit
ihm verbundene Verbote, zelebriert man für dieses Subjekt Rituale, die mit Opfern
verbunden sind, und wird es schließlich sogar zum Gegenstand von Anrufungen und
Segenssprüchen, so muss man davon ausgehen, dass es für die betreffende Gruppe
von Menschen eine Hierophanie darstellt, dass sie es als heilig betrachten, und dies
trifft auf alle Phänomene zu, die von den Tyva als „ydyk“ angesehen werden.
Betrachtet man nun die Welt der heiligen Subjekte bei den Tyva, so lässt sich anhand
des ethnographischen Materiales feststellen, dass sie sich in einem Schema darstellen
lässt, nämlich als eine Vielzahl von konzentrischen Kreisen, die sich um den Mittel-
punkt der Jurte anordnen (s. Abb.l). Die Jurte aber ist der Mikrokosmos, der den
Makrokosmos symbolisiert und ihr Zentrum, die Linie zwischen Herd und Rauch-
öffnungsreifen, stellt die axis mundi dar.
Abb. 1: Die Welt der heiligen Subjekte bei den Tyva. Zeichnung: Anett C. Oelschlägel.
12 Zu den Begriffen „theoretisches Konstrukt“ und „operationale Definition“ siehe Seiffert
1996:206f.
13 Otto (1917) 1997.
73
TRIBUS 53,2004
Anregungen zu einem solchen Schema erhielt ich durch Shukowskaja14, die sich in
ihrem Werk „Kategorien und Symbolik in der traditionellen Gesellschaft der Mon-
golen“ u.a. mit der Erschließung des Raumes durch die Mongolen beschäftigte.
Spricht man jedoch von einer „Erschließung“ des Raumes, so muss es auch einen
„erschlossenen Raum“ geben und hinter diesem einen „unerschlossenen Raum“.
Der „erschlossene Raum" ist das heimatliche und vertraute Gebiet einer Gemein-
schaft, in dem sich die Menschen selbstverständlich bewegen. Er ist durch die Benen-
nung aller seiner geographischen Gegebenheiten in eigener und fremder Sprache
organisiert und systematisiert. Die zentralasiatischen Völker nehmen ihre Vertraut-
heit mit ihm in Form konzentrischer Kreise, die nach außen hin schwächer werden,
wahr. Alles, was über ihn hinausgeht, sind die unerschlossenen Welten, die von frem-
den Menschen und noch weiter entfernt von nichtmenschlichen Lebewesen besie-
delt sind.
Die Begriffe „erschlossen“ und „nicht erschlossen“ sollten jedoch nicht missverstan-
den werden. Sie bedeuten nicht das „Erschließen“ im Sinne der Kolonisierung oder
Eroberung, sondern „erschlossen“ als begangen, vertraut, erfahrbar.
Systematisiert man die Bestandteile der erschlossenen und der nicht erschlossenen
Welt bei denTyva mit Hilfe der eingangs entwickelten operationalen Definition und
sucht nach heiligen Subjekten, so erschließt sich folgendes Bild (s. Abb. 2). Der ge-
samte nicht erschlossene Raum wird als heilig verehrt, dazu gehören der Wald als
Ganzes, die Tajga15 als Ganzes, die irdische Welt als Ganzes, der Himmel mit Sonne,
Mond, Sternen und Sternbildern, die Erde als Ganzes und nicht zuletzt die obere
und die untere Welt. Im nicht erschlossenen Raum gibt es keine profanen Dinge.
Seine Subjekte werden in Ritualen verehrt, ihnen werden Opfer dargebracht, und es
gibt eine Vielzahl von Anrufungen und Segenssprüchen, die sich ihnen widmen.
Regenbogen
Jurtenplatz Jurte
Fluß Mittlere Welt
Untere Welt
Abb. 2: Das Weltbild der Tyva aus westlicher Sicht. Zeichnung: Anett C. Oelschlägel.
14 Shukowskaja 19%.
15 Tajga steht bei den Tyva für alle Arten von Gebirgen, ob bewaldet oder unbewaldet.
74
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
Im erschlossenen Raum, dem von der Sippe direkt erfahrenen, weil durchwanderten
Gebiet, könnte man dagegen zwischen Profanem und Heiligem differenzieren. Hei-
lig nenne ich dabei nur das, worauf sich meine operationale Definition anwenden
lässt. Danach muss man sich die profane Welt als unbedeutend klein und von Hiero-
phanien durchwachsen vorstellen. Denn der gesamte Alltag derTyva ist von der im-
merwährenden Beeinflussung durch heilige Wesen und Subjekte geprägt, mit denen
ein Tyva ständig in Berührung kommt. Hier finden sich im Umkreis der Jurten be-
stimmte Berge, bestimmte Pässe, markante Gelände, bestimmte Gewässer und be-
stimmte Bäume, die als heilig verehrt werden und die somit Hierophanien darstellen.
Auch dem Jurtenplatz, der Jurte und dem Herdfeuer gelten Rituale, und sie sind
Gegenstand von Anrufungen und Segenssprüchen. Diese vermeintlich profanen Ge-
genstände des Alltags sind Hierophanien, mit denen der Mensch Tag für Tag in Kon-
takt kommt. So lässt sich bei den Tyva keine völlige Trennung des profanen Berei-
ches von den heiligen Subjekten finden, wie Dürkheim16 sie postuliert. Die Grenzen
zwischen Heiligem und Profanem scheinen dem Beobachter bei den Tyva zeitlich
und räumlich fließend.
Ähnlich der Zeichnung in Abb. 2 stellte sich mir die Welt der West-Tyva in der
Möpgün Tajga dar. Alle eingezeichneten Subjekte sind ydyk, sie bilden jedoch nur
einen kleinen Bereich der Welt des Heiligen. So fehlen u.a. die Geister, welche alle
Weltschichten bevölkern und die Menschen immerfort umgeben. Die Zeichnung ist
eine Vorstudie und ich publiziere sie nur unter Vorbehalt. In meinen weiteren Feld-
aufenthalten, möchte ich meine Gesprächspartner selbst ihre Welt zeichnen lassen.
Setzt man sich mit den Hierophanien der erschlossenen Welt auseinander, fällt eine
Gemeinsamkeit aller dieser auserwählten heiligen Subjekte auf. Die Tyva nehmen
an, dass sie einen Herrengeist haben, den sie ee (wörtl. Herr) nennen. Es handelt sich
hier um einen Geist, der über etwas Herr ist. Diese Art Geist haust in speziellen
Natursubjekten, die durch seine Gegenwart heilig werden. Sie sind von ihm beses-
sen. So ist er nicht mit dem Natursubjekt identisch, aber doch mit ihm verbunden.
Neben den verschiedensten Natursubjekten haben der Jurtenplatz und die Jurte
selbst einen Herrengeist, dem die Bewohnern der Jurte regelmäßig opfern und Ritu-
ale widmen. Das Heiligste derTyva befindet sich im Zentrum der Jurte, das die axis
mundi zugleich für den Mikro- als auch für den Makrokosmos symbolisiert. Es ist
das bereits erwähnte Herdfeuer. Auch darin lebt ein ee, dem das religiöse Handeln
der Menschen gilt. Herrengeister verfügten nicht nur über fass- und sichtbare Sub-
jekte, sondern auch über Märchen und den traditionellen tyvanischen Kehl- und
Obertongesang (khöömej). Nach dem Willen des ee sangen Mädchen früher z.B.
nicht khöömej.
Es zeigte sich im Vorangegangenen, dass man die Heiligkeit eines Subjektes in der
erschlossenen Welt in Verbindung mit der Existenz eines Herrengeistes sehen muss,
der dieses Subjekt behaust. Denn nur in diesem Fall wird das Subjekt, im Gegensatz
zu den „nur“ als beseelt vorgestellten Subjekten, von religiösem Handeln umgeben.
Regeln und Verbote gibt es allerdings im Umgang mit allen Natursubjekten, d.h.
bereits die Beseeltheit eines Subjektes legt den Menschen Zwänge auf, wie sie mit
ihm umzugehen haben. Wenn man aber bereits die Regeln im Umgang als Kriterium
für die Heiligkeit eines Subjektes annimmt, so stehen wir vor der Situation, die be-
reits in der Einleitung erwähnt wurde. Es gäbe keine Welt des Profanen, wie Dürk-
heim17 sie festgestellt hat, da alles als beseelt vorgestellt wird und da der Mensch in
der Begegnung mit allem, was ihm in seiner Welt gegenübertritt, bestimmten Regeln
unterworfen ist. Aus dieser allumfassenden Welt des Heiligen würden dann einige
Natursubjekte als besonders heilig herausragen, da man im Umgang mit ihnen nicht
nur Regeln beachtet, sondern sie auch in Ritualen verehrt und ihnen Opfer dar-
16 Dürkheim (1912) 1999:66.
17 Ebd.: 62f.
75
TR1BUS 53,2004
bringt. Dies wiederum sind die Behausungen der Herrengeister (¿¿). Wie bereits er-
wähnt, werde ich mich mit diesem Problem im Verlaufe weiterer Feldforschungen
beschäftigen.
Darüber hinaus gibt es nach Vorstellung der Tyva noch andere Geistwesen, welche
die Grenzen zwischen dem erschlossenen und dem nicht erschlossenen Raum über-
schreiten. Sie sind nicht an Lokalitäten gebunden, und man zelebriert für sie nur
selten Rituale. Eine Ausnahme bilden die so genannten eeren, die Hilfsgeister der
Schamanen und Schutzgeister der Familien, für die man Behältnisse herstellt, um
ihnen einen Wohnplatz zu schaffen, an dem man ihnen dienen kann. Diese werden
an festgelegten Plätzen innerhalb der Jurten aufbewahrt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Welt der Tyva in zwei große Berei-
che gliedert, die erfahrbare und erschlossene Welt einerseits und die nichterfahrbare
und nicht erschlossene Welt andererseits. Während letztere in ihrer Gesamtheit und
mit allen ihren Bestandteilen als heilig verehrt wird, lässt sich erstere in profane und
in heilige Elemente zergliedern. Die heiligen Subjekte der erfahrbaren Welt sind
Wesen, Natursubjekte sowie geistige Phänomene, wie Lieder, Gesang und Märchen,
die sich dadurch auszeichnen, Wohnsitz eines Herrengeistes zu sein, den die Tyva
¿¿nennen. Seine Gegenwart macht die Wohnsitze zu Subjekten der Verehrung, was
sie von den gewöhnlichen Gegenständen unterscheidet. Ee ist demnach eine Perso-
nifizierung des Heiligen in Form einer Vielzahl von Herrengeistern, die der Vielzahl
der verschiedenen Natursubjekte und Lokalitäten entspricht. Wird ein solches Sub-
jekt als Sitz eines Herrengeistes erkannt, so ist es eine Hierophanie und wird mit
religiösem Handeln umgeben.
Die unerschlossene Welt
„ Oran delegej“ heißt die dreigliedrige Welt bei den Tyva. Sie ist zum einen eine per-
sonifizierte Gottheit, ein Numen, und wird zum Gegenstand von Anrufungen und
rituellen Handlungen. Zum anderen ist sie die räumliche Welt, ein regional geglie-
dertes Gebiet, wie wir sie mit unserem Verständnis von Geographie begreifen. Das
Universum setzt sich aus der oberen Welt (üstüü oran) oder Himmelswelt, der mitt-
leren Welt (ortaa oran) oder irdischen Welt und der unteren Welt (aldyy oran) oder
unterirdischen Welt zusammen.18 Sie liegen wie drei große Scheiben übereinander,
wobei die mittlere Scheibe die Erde ist.19 Alle drei Welten gelten als bewohnt, nicht
nur die irdische. In ihnen leben Menschen und ihnen ähnliche Wesen sowie verschie-
dene Geister mit ihren spezifischen Besonderheiten.20 Die obere und die untere
Welt gliedern sich wiederum in verschiedene Schichten, wobei die Anzahl dieser
Schichten bei den Tyva lokal variiert.21 Alle zusammen, aber auch die einzelnen
Himmelsschichten, nennt man tengeri oder tengri.22 23 Die Himmelswelt wird be-
herrscht von Kurbustu KhanP Sein Name geht auf die altiranische Religion zurück
und ist die Bezeichnung des Lichtgottes.24 In der oberen Welt ist auch der Schöpfer
der Welt, Burkhan, angesiedelt, was mit dem Wort „Gott“ übersetzt wurde.25 Der
Herrscher der gesamten Unterwelt ist Erlik Lovun Khan, wobei jede einzelne Schicht
wiederum von einem Herrn namens Erlik beherrscht wird.26 Erlik Lovun Khan oder
einfach Erlik Khan ist auch das Oberhaupt aller in allen unteren Welten lebenden
Geister und Wesen.27
18 Budegechi 1994:12.
19 Harva 1938:24f.
20 Potapov 1969:347.
:| Harva 1938:56; Alekseev 1987:65; D'jakonova 1976:275; Wajnschtejn 1996:253.
22 D’jakonova 1976:275.
23 Wajnschtejn 1996:253.
24 Taube, E. 1974:591 f.
25 Alekseev 1987:65.
26 Harva 1938:56; Alekseev 1987:87; Wajnschtejn 1996:253.
27 Alekseev 1987:87.
76
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
Die wichtigsten Mächte der irdischen Welt sind Himmel und Erde, wenn man sie wie
die Tyva als intelligente Wesen begreift, von denen das Wohlergehen und das Schick-
sal der Erdenbewohner abhängen.
Sowohl der Himmel als auch die Erde sind für die Tyva heilig. Den Himmel (deer)
stellt man sich männlich vor, er gilt als Vater der Menschen, während die Erde {eher)
weiblich und die Mutter der Menschen ist. Der Himmel bringt Licht, Wärme und
Feuchtigkeit, die Erde gebiert und schenkt allen Lebewesen Fruchtbarkeit und Nah-
rung.2* So sagen die Tyva: „Deer adam!“28 29 - „Mein Vater Himmel!“ und „Cher iem!“30
- „Meine Mutter Erde!“ und sie sprechen voller Ehrfurcht: „Ich bin ein Mensch, ich
habe einen Vater - den Himmel, eine Mutter - die Erde.“31
Von vielen Familien wurde und wird bis in die heutige Zeit täglich dem Himmel und
der Erde ein Opfer dargebracht. Sie erbitten Wohlergehen für die Menschen, indem
sie etwas vom ersten Morgentee in den Himmel verspritzen. Dazu ruft man: „Deer
khajyrakan, örshee/“32 33 - „Erhabener Himmel, beschütze (uns)!“ oder andere Anru-
fungen und Segenssprüche. Der Himmel und die Erde gelten in diesem Zusammen-
hang als Beschützer der Menschen. Dem Himmel schreibt man in erster Linie die
Verantwortung für das Wetter zu, und so versuchen die Menschen, durch Opfer und
Bitten den Himmel günstig zu stimmen, damit er für die Erdenbewohner vorteilhaf-
tes Wetter schicke. Jedoch nicht nur das Wetter, sondern das gesamte Schicksal des
Einzelnen sieht man in der Verantwortung von Himmel und Erde, wie folgende An-
rufung an die Erde zeigt:
„Mutter Erde, ich bitte, gib uns Glück.
Mutter Erde, ich bitte, gib uns Erfolg.
Mutter Erde, ich bitte, behüte meine Kinder.
Mutter Erde, ich bitte, beschütze meinen gesamten aal-y.“34
Den Himmel sehen die Tyva jedoch auch als Gebiet, das von den verschiedensten
Wesen besiedelt ist. Dazu gehören die Sonne, der Mond, die Sterne und die Sternbil-
der. Auch ihnen gilt das religiöse Handeln der Tyva. Was für uns schwer verständlich
ist, scheint den Tyva möglich und logisch. Nicht nur Himmel und Erde, sondern auch
Mond und Sonne sind das Elternpaar der Tyva. So erzählte ein Informant:
„‘Diese Erzählung entstand in alter Zeit. Die Sonne, das ist die Mutter, so sagt
man. Allen lebenden Geschöpfen auf der Erde schenkt die Sonne Wohlergehen.
Man sagt, wenn es keine Sonne gäbe, dann gäbe es auf der Erde auch keine Frau-
en, die Mütter wären, und dann würden auch keine Kinder geboren. Die Sonne
oder die Mutter besitzt auch eine einzigartige Kraft für das Leben, deshalb sagen
die Menschen khün iem, was soviel bedeutet wie, meine Mutter Sonne.'“35
Es scheint der tyvanischen Hausfrau freigestellt zu sein, wem ihr morgendliches
Spritzopfer gilt. Jede Frau setzt hier ihre eigenen Prioritäten. Folgende Anrufung
begleitete das Libationsopfer einer Frau, wie sich ein Informant erinnerte. Sie zeigt,
wie breit die Funktion und die Einflussnahme der Sonne auf das Leben der Men-
schen von dieser Frau gesehen wurden:
28 Weiss 1997:257: Budegechi 1994: 13:Harva 1938:248.
24 Kenin- Lopsap 1994a: 67.
30 Ebd.: 70.
31 Kenin- Lopsan 1993:63.
32 Ebd.
33 Jurtengemeinschaft auf einem Weidelager.
34 Kcnin-Lopsan, M. 1993:66.
35 Kenin-Lopsan 1993:60.
77
TRIBUS 53,2004
„Alciaj Taijdym sirtinden.
Ajas khünürn ünep keldi.
Ak oruum chyryt khünürn.
Ak chem elbek bolzun, khünürn.
Aksym-kezhiin bolgaa, khünürn.
Arbaj-taraa chaagaj bolzun, khünürn.
Ashka-chutka kirbes bolzun. “36 37
Aldyn khünnüg örtemchejim.
Vom Gebirgskamm meines Altai Tandy
kam meine klare Sonne hervor.
Meinen weißen Weg erhelle,
meine Sonne.
Glück möge (über uns) kommen,
meine Sonne.
Das Gersten-Getreide möge
gut gedeihen, meine Sonne.
Die „Weißen Speisen“36 mögen
reichlich werden, meine Sonne.
Meine Welt, die (Du) die
goldene Sonne hast,
Hunger möge nicht in Dich eindringen.
Wie die Sonne als weiblicher Ahne der Menschen gilt, so stellen sich die Tyva den
Mond als Vater vor und nennen ihn „aj adam“38 - „Mein Vater Mond!“ Dazu erzähl-
te Körgen-oolom Chalchiikovich Mongush:
„Das erzählte meine Großmutter. Die Tyva, welche auf der weißen Welt leben,
haben als Ahnen den Mond. Die alten Tyva nannten bekanntlich die Sonne Mut-
ter der Menschen. Deshalb lebt die tyvanische Mutter allezeit mit dem großen
Hausherrn in einer Jurte, erzieht Kinder und arbeitet von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang. Die Tyva betrachten den Mond als Vater, weil der tyvanische
Vater ständig auf Reisen ist und sich nur sehr selten in der eigenen Jurte aufhält
und auch der Mond ist nicht jede Nacht am Himmel. Wie festgelegt, mal strahlt
er und mal verschwindet er in den himmlischen Gebieten.“39
Wie dieses Zitat zeigt, betrachtet man Sonne und Mond als Wesen, die ein dem
menschlichen Leben ähnliches Schicksal erfahren. Der Alltag der Menschen wird
direkt mit dem von Sonne und Mond verglichen, wobei beiden geschlechtsspezifi-
sche Tätigkeiten zugeordnet werden.
Die Vorstellungen der Tyva über Sterne und Planeten haben nicht nur mythologi-
schen sondern auch religiösen Charakter. Die südlichen Tyva ordnen z.B. die ver-
schiedenen Sternbilder und Sterne der ersten Himmelsschicht zu. Abends, wenn alle
Sterne am Himmel leuchten, kann man ihnen Opfer darbringen - indem man von
der am Abend gemolkenen Milch etwas verspritzt. Besondere Beachtung gilt dabei
häufig dem Sternbild Chedi Khan (Sieben Khane)40. Diesem Sternbild gelten eigene
Rituale, die jährlich durchgeführt werden. Stellvertretend möchte ich an dieser Stel-
le einen Segensspruch beim abendlichen Teeopfer anführen.
Behüte, behüte (uns)!
Meine Sterne,
die ihr immerzu über meiner Jurte strahlt.
Von allen Sternen
ist mir Chedi Khan am teuersten.
Ihr seht alles,
ihr kennt alles mit Namen,
ihr seid ruhmreich und stark.
Gewährt meinen Segen und mein Glück,
gewährt Segen und Glück für alle,
Ihr, unsere Ahnen - Chedi Khan.41
36 Milchprodukte; dazu Oelschlägel 2000.
37 Kenin-Lopsai] 1994a: 66.
38 Kenin-Lopsan 1993:61.
39 Ebd.
4(1 Im Westen ist dieses Sternbild unter den Namen „Großer Bär“ oder „Großer Wagen“ be-
kannt.
41 Ebd.: 12f.
78
Anett C. Oelschlägel; Religion des Alltags
Die eben beschriebenen wesentlichsten Hierophanien der unerschlossenen Welt
sollten beispielhaft für diese kaum erfahrbare Ebene in der Kosmologie stehen. Die-
se Beispiele machen das Verhältnis der Menschen zu den Teilen der Welt deutlich,
die über das von der Sippe durchwanderte Gebiet hinausgehen. Alle diese Sphären
umrahmen den der Sippe bekannten Raum. Personifiziert oder als von Geistern,
Göttern und Menschen und menschenähnlichen Wesen besiedelte Gebiete gedacht,
stellen sie Hierophanien dar. die in Ritualen verehrt werden und Gegenstand von
Anrufungen und Segenssprüchen sind. Die Tyva sehen sich in enger Beziehung, so-
gar in Verwandtschaft mit diesen Bereichen des Universums. Immer wieder taucht in
Erzählungen das Ahnenpaar der Menschen auf. Himmel und Erde, Mond und Sonne
stellen Vater und Mutter der Erdenbewohner dar und werden als solche in den Ge-
beten der Tyva angerufen. Somit sind diese Hierophanien ein Teil der menschlichen
Welt, wie auch die Menschen ein Teil der heiligen Welt sind, von der sie abhängig
sind. Gebete an den Himmel bewirken besseres Wetter. Opfer vom ersten Morgen-
tee und andere Rituale sichern die Gunst der Gestirne, des Himmels und der Erde,
so dass Menschen und Vieh gedeihen.
Die erschlossene Welt
Die Mittel- oder Menschenwelt gilt als besiedelt von einer Vielzahl vor allem schäd-
licher Geister. Fast jede Jurte hat bis heute einen Geisterschutz, und die Bewohner
vollführen verschiedene kultische Handlungen, um ihre Beziehung mit ihnen zu ge-
stalten. Eng verflochten ist die Existenz dieser Geister mit dem Wissen der Men-
schen über Krankheiten, worauf ich im Rahmen dieser Studie nicht eingehen kann.
Die Tyva suchen jedoch gegen die von bestimmten Geistern ausgehenden Gefahren,
Schutz und Segen bei denjenigen Geistern und Göttern zu finden, die dem Men-
schen in positiver Haltung gegenüberstehen.42 Als Vermittler zwischen der Men-
schenwelt und der Welt der Geister spielt an dieser Stelle der Schamane seine wich-
tigste Rolle. Er ist Spezialist auf diesem Gebiet und sorgt bei Bedarf für die
Wiederherstellung des Gleichgewichtes zwischen beiden Welten. Er vermittelt, über-
listet und kämpft auf der Seite der Menschen und im Auftrag der Geister, die ihn
einst für sein wichtiges Amt auswählten. E. Taube versuchte, sowohl die Hilfsgeister
als auch die Schadensgeister näher zu charakterisieren:
„Die Vorstellungen von den Geistern, mit denen die Schamanen umgehen, und
von den Geistern überhaupt, orientieren sich - abgesehen von ihrer äußeren Er-
scheinungsform - stark am Menschen und an menschlicher Art: Sie brauchen
Speise und Trank, sie rauchen, und sie sind mit der Fähigkeit zur sinnlichen Wahr-
nehmung ausgestattet, können also zum Beispiel durch Farben (Rot als abweh-
rende Farbe) oder unangenehme Gerüche ferngehalten oder vertrieben werden.
Außerdem sind sie täuschbar, zum Beispiel durch das Wechseln der Bekleidung
oder des Namens.“43
Diese Geister sind genauso Teil der Natur, wie die uns bekannten Phänomene, die
ich im Folgenden als Natursubjekte vorstellen möchte.
Wie bereits oben angedeutet, besteht ein wesentliches Kriterium für den erschlosse-
nen Teil der Tyva-Welt in der Unterscheidung zwischen heilig und profan, die sich
besonders am Beispiel der Verehrung von Natursubjekten feststellen lässt. Russische
Wissenschaftler sprechen hier von einer Personifizierung der Naturobjekte, in Form
von „Herren“, wodurch sie zum Objekt der Verehrung wurden. Mir scheint jedoch,
dass die Heiligkeit bestimmter Natursubjekte nicht allein einer Personifizierung zu
verdanken ist. Dagegen sprechen zwei Gründe. Zunächst werden alle Natursubjekte
als beseelt gedacht. Die Personifizierung besteht also schon in ihrer Beseeltheit, wo-
42 Ebd.;Taube. E. 1972:137.
43 Taube, E. 1981:54f.
79
TRIBUS 53,2004
Tafel 1
Sommerweidelager des Kuular Aldyn-ool Shagdyrovich am Kargy Fluß der Möqgün
Tajga. Foto: Autorin (29.08.1997)
Herbstweidelager des Doqgak Aldyn-ool Kosh-kulakovich am Toolajlyg-Fluß in der
Möqgün Tajga. Foto; Autorin (27.08.1997)
80
Tafel 3
Die Schamanin Akaazhyk Zoja Khomushkuevna bei einer Reinigungszeremonie ih-
res Herbstweidelagers am Fluß Toolajlyg. Fotos: Autorin (15.09.1997)
Aneti C. Oelschlägel: Religion des Alltags
Tafel 2
81
TRIBUS 53,2004
rauf die besondere Beziehung der Tyva zur Natur beruht. Die Seele ist dabei ein Teil
des Natursubjektes. Wird dieses vernichtet oder zerstört, so zerstört und vernichtet
man auch seine Seele. Die Herrengeister {ee sing., eeler pl.) spielen hier noch keine
Rolle. Zum zweiten werden nicht alle Subjekte der Natur, wenn auch beseelt, zum
Gegenstand der Verehrung, die sie als heilig aus den gewöhnlichen Natursubjekten
herausheben. Erst hier bekommen die eeler ihre tragende Rolle in der Religion der
Tyva. Denn nur Natursubjekte, denen ein solcher Herrengeist zugesprochen wird,
gelten als heilig, werden zur Durchführung von kultischen Handlungen aufgesucht
und sind Gegenstand von Gebeten, Anrufungen und Segenssprüchen. Dabei handelt
es sich aber um eine Auswahl aus der Masse der durch ihre Beseeltheit bereits als
persönlich gedachten Natursubjekte, und angebetet wird das Natursubjekt in Ver-
bindung mit dem in ihm lebenden Herrengeist. D.h. nicht die Personifizierung von
Natursubjekten allein, sondern das Erkennen der Qualität „heilig“ anhand der Her-
rengeister ist m.E. das tragende Element der tyvanischen Verehrung von Natursub-
jekten. Dabei sind die Herrengeister nicht mit dem Subjekt oder seiner Seele iden-
tisch. Sie sind solitäre Geister, die dieses Objekt auf Dauer als Behausung gewählt
und so mit ihm verbunden sind. Wird das Subjekt entweiht oder gar zerstört, so kann
es der Herrengeist verlassen und sich ein neues Subjekt suchen, in welches er ein-
geht, ohne dabei größeren Schaden zu nehmen.
Diesen Herrengeistern wird keine bestimmte Gestalt zugesprochen, dennoch denkt
man sie sich manchmal in tierischer oder menschlicher Gestalt. Die Tyva stellen sie
auch nicht dar. Man hält sie für sehr empfindlich, sie sind leicht und oft gekränkt.
Andererseits lieben sie die verschiedenen Geschenke der Menschen, die Opferga-
ben, und vergelten sie mit Hilfeleistungen, um die sie während der Riten gebeten
werden. Gewöhnlich dulden sie nicht das Eindringen in ihren Herrschaftsbereich
und erzürnen bei der Entweihung ihres Gebietes. So glaubt man, dass sie auf alle
Bereiche des menschlichen Lebens negativ oder positiv Einfluss nehmen können.
Natursubjekte, denen solche Herrengeister bis in die heutige Zeit zugesprochen wer-
den, sind bestimmte Berge, Wälder, Bäume, Gewässer und verschiedene Plätze, wie
Waldstücke, Bergschluchten und Pässe. Man glaubt, dass die Herrengeister der Ber-
ge und Pässe über die größte Kraft verfügen. Es gibt jedoch keine Hierarchie unter
ihnen. Im Zentrum des menschlichen Lebens haben sowohl der Jurtenplatz als auch
das Herdfeuer ihren Herrengeist. Auch die Gebirgstajga (oran taqdy), in der die
Menschen ihre Weidelager aufsuchen, sowie die irdische Welt als Ganzes gesehen
{oran delegej) verfügen jeweils über einen ee.44
Im Folgenden möchte ich das Phänomen der Herrengeister verbunden mit Natur-
subjekten an den Beispielen heiliger Pässe und der Schamanenbäume kurz umrei-
ßen. Eine ausführliche und bis ins Detail gehende Darstellung erlaubt der derzeitige
Forschungsstand leider noch nicht.
44 Dazu D’jakonova 1976; 281 f; D'jakonova 1977: 174, 181; Wajnschtejn 1996: 244IT; Vajnshtejn
1984: 354.
82
Anett C. Oelschlägel; Religion des Alltags
Wir können nach ihren Aufenthaltsorten zwei Arten von Herrengeistern unterschei-
den. Die einen verfügen über eine Behausung, während den anderen eine Behau-
sung in Form eines ovaa geschaffen wird. Feste Wohnstätte haben u.a. die Herren-
geister des Feuers (den Herd), die Herrengeister der Jurtenplätze, die Herrengeister
der Quellen und schließlich die Herrengeister der heiligen Bäume. Letztere hausen
in den Natursubjekten, denen sie zugeschrieben werden.
Anders ist es bei Herrengeistern bestimmter Gegenden, Täler, Schluchten, Pässe,
Berge, Gebirge, Ebenen, Flüsse, Seen und anderer Gewässer. Sie halten sich zwar in
ihrem Herrschaftsbereich auf, doch sind sie an keine bestimmte Lokalität gebunden,
was die Ausführung von regelmäßigen größeren Ritualen und die Kommunikation
mit ihnen erschwert. Opferzeremonien bedürfen eines festen Platzes. Man könnte
vermuten, dass aus diesem Grund ovaa errichtet werden. Wie mir meine Gesprächs-
partner erklärten, sollen sie dem Herrengeist einer bestimmten geographischen Er-
scheinung eine Art Residenz bieten, bei der nun die Rituale durchgeführt werden
können.
Zwei Varianten von ovaa finden sich in Tyva. Zum einen der dash ovaa (Stein-ovaa
(s. Tafel 4; Abb. 3)). Er besteht aus Steinen, die zu einer konischen Form aufeinander
geschichtet wurden. In dieser Steinaufschüttung stecken Holzstangen und Äste, die
mit Stoffbändern geschmückt sind. Zum anderen der aus langen Holzstangen, Ästen
und Reisen zu einem konischen Gebilde zusammengestellte chadyr4* ovaa (ovaa aus
Holz). In dessen Zentrum befindet sich eine lange Stange, an deren oberem Ende ein
geschnitztes Gebilde angebracht ist (s. Abb. 4). Der Eingang dieses ovaa ist generell
nach Osten ausgerichtet. Welche dieser beiden Arten errichtet wird, richtet sich da-
nach, ob sich in der Umgebung genügend Steine befinden, die zu einem ovaa aufge-
schichtet werden können. Handelt es sich um eine steinarme Gegend, so wird ein
chadyr ovaa (ovaa aus Holz) errichtet.
Abb. 4: Chadyr-ovaa (ovaa aus Holz-
stangen). Zeichnung: Anett C. Oel-
schlägel.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass ich auf allen Pässen des Möqgün Tajga (Sil-
bernes Gebirge), die ich 1997 passierte, Stein-ovu« vorfand, denen die Tyva entspre-
chend der alten Überlieferungen begegneten. Der Pass ist die höchste Stelle eines
Weges durchs Gebirge, und er ist ein heiliger Platz, denn auf ihm wohnt ein starker
Herrengeist. Deshalb wird auf den Pässen weder Holz geschlagen, noch pflückt man
dort Blumen. Bis in die heutige Zeit wird auf jedem Pass ein ovaa errichtet. Er zeigt
dem Wanderer die genaue Stelle an, ab der sein Weg wieder abwärts verläuft, und er
ermöglicht ihm bei einer kurzen Rast, die an einem solchen Ort unumgänglich ist.
45 cadyr- mit Rinde bedecktes konisches Stangenzelt der Ost-Tyva.
83
Dash-ovaa (Stein-ovaa) des
Berges Khajyrakan (hinten),
der ca. auf halber Strecke der
großen Straße von Kyzyl in
den Westen der Republik gele-
gen ist. Diesen ovaa besuchte
1994 der Dalai Lama. Fotos:
Autorin (22.08.1997)
TRIBUS 53,2004
Tafel 4
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
Tafel 5
Bajyjash (Reicher Baum) oder baj dyt (Reiche Lärche). Bei diesem Beispiel handelt
es sich um einen Baum mit sieben Stämmen aus einer Wurzel. An seinem Fuße findet
ein Wacholder-Rauchopfer statt. Der Baum steht fern von menschlichen Siedlungen
bei Chadan (Platz: Artar-tösh). Der heilige Bezirk um dem Baum wird durch vier
Holzpfähle begrenzt. Innerhalb dieses Gebietes darf man sich nur mit dem Gesicht
zum Baum bewegen.
Opfergaben für den Geist-
herrn des Baumes auf ei-
nem großen Opferstein
und Chalama, das belieb-
teste Opfer an Natursub-
jekte.
Fotos: Autorin (22.08.1997)
85
Der iilug aijchy (Großer Jäger; Chambal Aleksandr Tülüshevich) des Ulug Khemskij
Gebietes. Foto: Autorin (13.09.1995)
Der ak sagal (ehrfürchtige Be-
zeichnung für alte Männer, wörtl.
Weißbärtiger; Khomushku Oo-
lak Demir-oolovich) des Toolaj-
lyg-Tales mit einem Walkgerät
(dalgyg).
Foto: Autorin (04.10.1997)
Anett C. Oelschlägel; Religion des Alltags
sich bei dem Herrengeist über das glückliche Passieren des bisherigen Weges zu be-
danken und um einen guten, ungefährdeten und glücklichen weiteren Weg zu bit-
ten.
Wo genau der ovaa zu errichten ist, legt der Schamane fest, nachdem er sich von der
Existenz eines Herrengeistes überzeugt hat. Die Tyva sagen dazu: „Cher eezi bar.“
(Es gibt einen Ortsherrn.). Der Herrengeist eines Passes hält sich am liebsten an
dessen höchstem Punkt auf. Während der ersten Errichtung des ovaa und später in
regelmäßigen Abständen finden für den Herrengeist Rituale statt, die verbunden
sind mit einer Schamanenseance und mit einem sap-Opfer (Brandopfer/Rauchop-
fer). Die Rituale werden von einem großen Fest begleitet. Später wird der ovaa wie
von Zauberhand wachsen, denn jeder Passant legt einen oder mehrere Steine hinzu.
Im Zentrum jedes ovaa steht eine Holzstange (chaijgyysh), die nach Harva45 46 die axis
mundi symbolisiert und wie eine Gottheit verehrt wird. Sie und andere im ovaa be-
festigte Stangen sind mit Stoffbändern (chalama) geschmückt, die eine der beliebtes-
ten Opfergaben an Natursubjekte darstellen.
Gelangt ein Wanderer zu einem ovaa. könnte er zum Beispiel sprechen: ,.Örshee kha-
jyrakan!“ - „Beschütze (mich). Erhabener!“ Bei dem Wort khajyrakan handelt es
sich um eine Umschreibung des Namens eines Herrengeistes. Es wird nach E.Taube
auf die verschiedenen höheren und verehrungswürdigen Wesen angewendet, deren
Namen tabu sind.47 Möglich ist auch der Ausruf: „Örshee burgan/“ - „Beschütze
(mich) Gottheit!“. Seltener verwendet man die Namen des Berges, des Gebirges
oder der Taiga allgemein. Man legt nun einen oder mehrere Steine auf den ovaa. die
man bereits auf der letzten Wegstrecke gesammelt hat. Außerdem bindet man bei
solchen Anlässen Stoffbänder an die im ovaa steckenden Stangen.
In früherer Zeit umkreiste man darauf den ovaa drei Vi-mal, indem man im Osten,
wo die Sonne aufgeht, seinen Weg begann und im Westen, wo die Sonne untergeht,
seinen Weg beendete. Mir wurde jedoch von dieser Sitte aus älterer Zeit nur noch
erzählt, selbst konnte ich sie nicht mehr beobachten.48
Am ovaa macht man eine obligatorische Pause und isst etwas. Meist befindet sich in
der Nähe des Kultplatzes eine Herdstelle, wo man seinen Tee kochen kann, von dem
man den ersten Teil dem Herrn des Ortes durch Libation opfert. Auch von den mit-
gebrachten Speisen wird der erste Teil geopfert. Als Opfergaben beliebt ist der araka
(Milchbranntwein), den man verspritzt, weitere Opfergaben sind dalgan (grob ge-
mahlenes Mehl), kamt (Trockenquark), selten gekochtes Fleisch von Fettsteiß oder
Brustbein (keinesfalls rohes Fleisch), Brot u.a.m. Durch die Opfergabe würde der
Geist auf seinen Besucher aufmerksam, erklärte man mir. Seine Aufmerksamkeit
zeigt sich, wenn plötzlich ein leichter Windstoß den Anwesenden trifft.
Wo ein ovaa steht, wohnt ein Geist, der Herr des Ortes, bzw. die Lokalgottheit. Ihm
gelten die Opfer, und er macht den Weg frei oder gewährt die Wünsche, die ihm vor-
getragen werden. Meist handelt es sich hier um einen leichten und offenen weiteren
Weg, der sich dem Wanderer unbeschwerlich und sicher zeigt. Bringt man keine Op-
fergaben dar, so wird der Herrengeist des Ortes gekränkt sein und der weitere Weg
des Wanderers wird gefahrvoll. Man kann einen ovaa auch aufsuchen, um besondere
private oder öffentliche Wünsche vorzutragen. So besucht man einen ovaa in Dürre-
zeiten, um den Himmel zu weihen, wie folgendes Beispiel einer ovaa-Weihe zeigt:
„Ak-la deerim, kök-le deerim! Mein weißer Himmel, mein blauer Himmel!
Ajas turgar, khünnep turgar. Seid klar, erstrahlt vor Sonne!
Albaty chon chyglyp keldi, Das untertänige Volk hat sich versammelt,
45 cadyr - mit Rinde bedecktes konisches Stangenzelt der Ost-Tyva.
46 Harva 1938:46.
47 Taube, E. 1974: 592.
4<s E. Taube teilte mir mit, dass sie auf einer 1993 durchgeführten Reise durch Tyva, das Umkrei-
sen des ovaa noch beobachtete.
87
TRIBUS 53,2004
A gyn chashty, kögün tuttu.
Kara bulut dirgetpeijer.
Karzhy diijmit khölzetpetjer.
Ovaa-Tejni dagyj berdi.
Orgu chonum khöglej berdi.
Cherim-churtum kaatjnaj berze,
Che di khondur cha’stadytjar
Taraan taraa chaagaj bolzun.
Dazyr shölder chechektelzin.
Arga-aryg nogaan bolzun.
Aijnar-meijner özer bolzun.
Ak-la déérim, kök-le déérim!
Algan tur men, choréén tur men. “5l)
Es hat sein „Weißes“ (flüssige Milchspeisen,
A.Oe.) verspritzt und sein „Blaues“ (khadak4y,
A.Oe.) überreicht.
Lasst schwarze Wolken sich nicht versammeln.
Lasst heftigen Donner nicht über den Himmel
rollen.
Wir haben den ovofl-Hügel geweiht.
Mein Orgu-Volk hat sich vergnügt.
Wenn mein Land zu verdorren beginnt,
dann lass es sieben Nächte lang regnen.
Das ausgesäte Getreide möge gedeihen.
Die kahlen Felder mögen blühen.
Die Wälder mögen grünen.
Das Wild möge heranwachsen.
Mein weißer Himmel, mein blauer Himmel!
Ich preise (Euch), ich rufe (Euch) an.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass diese Kultstätten, welche die Residenz einer
Lokalgottheit markieren, über diese Funktion hinaus Tore zu noch wesentlich mäch-
tigeren Gottheiten, wie z.B. dem Himmel, sind. Sie dienen als Orte, an denen man
Verbindung zu den höchsten und fernsten Mächten der unerschlossenen Welt auf-
nehmen kann, und dies gilt m.E. für alle heiligen Natursubjekte der erschlossenen
Welt. Sie bilden Fenster der Heiligkeit in der profanen Welt, die aufgrund dieses
Zustandes in dauernder Verbindung mit der insgesamt heiligen unerschlossenen
Welt stehen. Dies gilt auch für heilige Bäume. Ihnen zu Füßen finden Zeremonien
statt, die dem Himmel gelten und das Wetter beeinflussen sollen, wie Kenin Lopsan
berichtete.49 50 51 Durch unsere räumliche Wahrnehmung sind Natursubjekte, wie Bäume
als Tor zum Himmel, schwer vorstellbar, dennoch lassen sie sich mit Motiven aus
unserem Kulturkreis vergleichen. Zum Beispiel Kirchen, obwohl von profanem
Raum vollständig umgeben, gelten als heilige Räume mit direkter Verbindung in die
Welt des Heiligen. Ein beliebtes mythisches Motiv ist bis heute der Spiegel als Tor
oder Fenster zum Jenseits. Der abendländische, rational denkende Geist wird fest-
stellen, dass sich hinter dem Spiegel nur die Wand befindet und doch hängen ihn
viele Familien bis heute im Trauerfall zu, damit die Seele des Verstorbenen nicht in
das Haus zurückfindet. Denn das Wesen des Spiegels selbst ist der Übergang.
Heilige Bäume bestehen jedoch auch unabhängig vom Himmelskult. Sie haben ihre
eigenen Funktionen und Spezifika. Bäume gelten bei denTyva allgemein als beseelt.
Ein Tyva würde niemals einen noch im Saft stehenden Baum als Brennholz fällen
oder grüne Äste von ihm abbrechen. Allein trockenes Geäst wird zum Verheizen
aufgesammelt, und trockene Bäume werden zersägt und zerkleinert. Die Tyva sind
auf Holz als Brennmaterial nicht angewiesen, da sie zu diesem Zweck getrockneten
Dung bevorzugen.
Einige Bäume haben nach Vorstellung der Tyva einen Herrengeist. Sie gelten damit
als heilig. Ihnen bzw. ihrem Herrengeist werden regelmäßig Rituale abgehalten, und
sie werden zum Gegenstand von Segenssprüchen und Anrufungen. Bäume, die
Wohnort eines Herrengeistes sind, erkennt man an ihrem Aussehen oder an ihrem
Standort. Es handelt sich dabei um so genannte ydyktyg yjash (geweihter Baum),
kham yjash (Schamanenbaum), baj yjash (reicher Baum s. Tafel 5) und tel yjash
(nicht übersetzbar). Der Begriff ydyktyg yjash (oder einfach ydyk yjash) steht für
alle geweihten Bäume, wozu auch die oben genannten Arten heiliger Bäume zählen.
Über diese hinaus zählen zu den ydyktyg yjash einzeln stehende Bäume, von impo-
santem Wuchs, die auf Bergen, in der Steppe, an Quellen oder Flusszusammenläufen
49 Geweihtes Tuch.
50 Kenin-Lopsarj 1994a: 113.
51 Kenin-Lopsan 1993:64,68.
88
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
wachsen. Man sucht sie jährlich zu einem Ritual auf, und der Wanderer, welcher an
einem ydyktyg yjash vorüberkommt, verweilt ein wenig in seiner Nähe, opfert von
seiner Wegzehrung, hängt Stoffbänder oder Haare aus dem Schweif seines Pferdes in
seine Zweige und spricht einen Segensspruch, mit dem er um eine weitere erfolgrei-
che Reise bittet. Heilige Bäume müssen nicht unbedingt Lärchen sein. Auch Zirbel-
kiefern, Tannen, Zedern, Birken, Pappeln, Espen und Weiden können, wenn sie die
nötigen Merkmale aufweisen, als heilige Bäume, d.h. als Wohnsitz eines Herrengeis-
tes, erkannt werden.
Zu den ydyktyg yjash gehört u.a. der kham yjash, der Schamanenbaum. Er trägt sei-
nen Namen, weil er einem Schamanen gehört, der dessen Herrengeist zu seinen
Hilfsgeistern zählt. Es handelt sich hierbei um Bäume, die in ihrem Äußeren Beson-
derheiten aufweisen. Sie haben kugelförmige Zweiggeflechte und dichte Wucherun-
gen in der Krone oder sehr grüne Zweige. In MöpgünTajga sah ich eine Schamanen-
lärche, deren gesamte Krone kugelförmig gewachsen war und die dichtes Zweigwerk
hatte, was für Lärchen sehr untypisch ist. Sie war mit Stoffbändern behängt, und bei
ihrer Wurzel lagen die verschiedenartigsten Opfergaben. Mein Begleiter bat mich
jedoch, mich der Lärche nicht allzu sehr zu nähern, da man davon ausgeht, ihr Her-
rengeist könne den Fremden, der sich ihr arglos nähert, mit der Schamanenkrankheit
schlagen. Das Berühren solcher Bäume oder gar das Abbrechen von Ästen und
Zweigen ist nicht gestattet. Es rufe den Zorn seines Herrengeistes hervor, erklärte
man mir. Man geht davon aus, dass ein Mensch, der den Baum beschädigt, sicher er-
kranken wird. Der Schamanenbaum ist nicht nur für den Schamanen von Bedeu-
tung, sondern für alle Menschen, die in seinem Umkreis leben. Dies zeigt sich in den
vielfältigen religiösen Handlungen, welche man ihm zu Ehren durchführt und die
Zahl der Opfergaben, die man ihm zu Füßen findet.
Ein Informant Kenin-Lopsaps erzählte über einen Schamanenbaum:
„‘Soviel ich weiß, ließen die Leute dieser Gegend die Schamanenlärche durch
einen Schamanen weihen, als der Klassenkampf herrschte. Mein Vater erzählte,
dass man den Schamanenbaum weiter weihte. Wenn die Leute dieser Gegend das
Tapsy (-Tal) hinaufgingen oder abwärts zogen, hielten sie am Fuße dieser Scha-
manenlärche, verspritzten ihre Milch, verspritzten ihren araka, legten das Beste
der Nahrungsmittel nieder, diese Ausübung ihres Glaubens blieb so wie immer.
Wenn ein Reiter sich auf dem Weg durch Tapsy befand und auf diese Schama-
nenlärche traf, stieg er vom Pferd, sagte seinen Segensspruch, rauchte seinen
Pfeifentabak und ließ irgend etwas von den Dingen, die er mitgenommen hatte,
neben den Opferstreifen zurück.*“52 53
Wenn der Schamanenbaum einging, so sagte man, der Herrengeist habe ihn verlas-
sen. Wenn dies zu Lebzeiten des Schamanen geschah, so meinte man, dass er seine
Schamanengabe verlieren würde. Man erklärte sich gewöhnlich das Eingehen des
Schamanenbaumes damit, dass ein Schamane oder irgend eine andere beliebige Per-
son ihm Schaden zugefügt habe, wodurch der Herrengeist des Baumes seinen Zu-
sammenhalt mit ihm verlor, dass aber der Urheber mit dem Eingehen des Baumes
um den Verstand käme. Wenn ein Herrengeist einen bestimmten Baum bewohnt,
kann er ihn auch zeitweilig verlassen und später wieder zurückkehren. Als Hilfsgeist
nahm er an den Seancen des Schamanen teil, half, Kranke zu heilen und begleitete
ihn auf seinen verschiedensten Schamanenreisen.'13
Viele Wissenschaftler, die sich mit dem Paar „heilig-profan“ beschäftigen, betonen
die Unvereinbarkeit beider Zustände. Das Profane darf sich ohne rituelle Vorberei-
tung, die es selbst in einem gewissen Maße heilig macht, dem Heiligen bei Gefahr
gegenseitiger Verunreinigung nicht nähern. Dürkheim begründet diese Sichtweise
mit dem numinosen Gefühl, das „ganz anders“ ist als alle Gefühle, die von Profanem
ausgelöst werden. Entsprechend würde Heiliges auch „ganz anders“ gedacht und
52 Kenin-Lopsai] 1994a: 107.
53 D’jakonova 1977:199.
89
TRIBUS 53,2004
Tafel 7
Jurte und Jurtenplatz mit Pferdeanbinde (baglaash) im Chedi Khöl Gebiet. Schwei-
ne gibt es erst seit der Sowjetisierung in der Republik Tyva. Foto: Autorin
(05.10.1995)
dürfe mit Profanem nicht in Berührung kommen.54 Ähnlich formuliert Eliade diesen
Antogonismus und verweist dabei auf Caillois55: das Sakrale ist dem Profanen entge-
gengesetzt.56 Wie das Sakrale den Menschen sowohl anzieht als auch abstößt, so ist
es auch zugleich „sakral“ und „unrein“ oder in anderen Worten, was unrein ist, ist
auch geweiht. Das Sakrale unterscheidet sich von allem Profanen. Daher ist es dem
profanen Lebenskreis verboten, und der profane Mensch kann sich ihm nicht gefahr-
los nähern, solange er in profaner Verfassung, d.h. nicht rituell vorbereitet ist.57 Ich
habe hier nur zwei, wenn auch bedeutende Vertreter dieser weit verbreiteten Mei-
nung angeführt. Eliade sieht in dem Antagonismus zwischen „heilig“ und „profan“,
der völligen Trennung zwischen beidem, das einzige Allgemeingültige, was man über
das Heilige sagen kann. Nach meinen Feldstudien gibt es Regeln im Umgang mit
allen Hierophanien, bis hin zum Verbot einer Annäherung an bestimmte Natursub-
jekte, und doch ist unter bestimmten Umständen eine Annäherung möglich. Am
Auffälligsten ist der alltägliche Umgang mit Hierophanien an den Beispielen des
Jurtenplatzes und des Herdfeuers. Folgt man meiner operationalen Definition auf
der einen Seite und übersetzt man auf der anderen Seite das tyvanische Wort „ydyk“
als „heilig“, dann gehören beide Phänomene eindeutig zu den Hierophanien. An
beide möchte ich in meinen weiteren Ausführungen heranführen.
Nur wenige Informationen gibt es über den Herrengeist des Jurtenplatzes. Sie be-
schränken sich lediglich auf das Gebiet des Altai. E. Taube schreibt darüber:
„Auch dem .Herrn des Jurtenplatzes4 (baj khonash) werden Opfer dargebracht,
das heißt dem Herrn der Stelle, auf welcher die Jurte steht und ihrer unmittelba-
ren Umgebung, wo verschiedene Dinge des Haushalts aufbewahrt sind, zum Bei-
spiel Säcke mit Wolle, Salz, Holz, Trockenmist, und das Stück Erde, wo die Jung-
tiere angehängt werden; dieses Areal wird khonash genannt.“58
54 Dürkheim (1895) 1999.
55 Caillois (1950) 1988.
56 Eliade 1949:14.
57 Ebd. 39.
58 Taube, E. 1972:122.
90
Anett C. Oelschlägel: Religion des Alltags
Galsan Tschinag erzählt über das Schlachtopfer, welches dem Herrn der Jurte darge-
bracht wird:
„Ist ein Hammel geschlachtet, wird das Fleisch nach bestimmten Regeln zerlegt.
Nachdem die Innereien gekocht sind und ehe man anfängt zu essen, trennt man
als erstes das Herz von der Lunge, macht darin zwei tiefe Längsschnitte, schnei-
det vom dünnen Fettansatz des Magens eine Scheibe ab, und die kommt nun ins
aufgeschnittene Herz. So gelangt es dann auf die Truhe im Norden als Opfer für
den Jurtengeist. Dann opfert man von dem gegarten, dampfheißen Fleisch noch
zwei Scheiben dem Feuergeist, indem sie in den Herd gelegt werden. Erst jetzt
darf der Vater als erstes vom Fleisch kosten.'459
Umfangreicher sind die Informationen über die Herdgottheit, den Herrengeist des
Feuers (suugu eezi). Jede Jurte hat ihren Herd (suugu) und in dem Herd ist der Sitz
des Herrengeistes (ee) des Feuers. Es handelt sich hier nicht um eine allgemeine abs-
trakte Feuergottheit, sondern um den individuellen Herrengeist des Feuers in jeder
Jurte. Dieser Geist hat seine Behausung nicht nur im Zentrum des Mikro- und des
Makrokosmos, nämlich im Zentrum der Jurte, er gehört auch zu den meistverehrten
Geistwesen der Tyva. Regelmäßig vor jeder Mahlzeit wird dem Herrengeist des Feu-
ers der erste Teil geopfert. Seine Opfer bestehen in erster Linie aus „Weißen Spei-
sen'4. Bringt ein Gast Lebensmittel als Geschenk mit, so wird vor deren Verzehr zu-
nächst der Herdgottheit ihr Anteil gegeben. Außerdem ist das Verhalten der
Jurtenbewohner gegenüber ihrer Herdgottheit bis heute mit Ge- und Verboten ver-
bunden. So darf man nicht die Füße mit den Sohlen zum Herd strecken und sein
Messer oder andere scharfe Gegenstände nicht mit der Spitze zum Feuer ausgerich-
tet ablegen. Beides gilt als Beleidigung des sehr empfindlichen Herrengeistes und
kann negative Konsequenzen für die Familie der Jurte haben.60 Die mit dem Feuer
in Verbindung stehenden Tabus fasst folgender tyvanischer Spruch zusammen:
„Otche dükpürüp holbas - aksy buzhartaar Ins Feuer darf man nicht spucken -
sonst wird der Mund desjenigen ver-
unreinigt.
Ins Feuer schüttet man kein Wasser
- sonst wird das Feuer die Seele des-
jenigen erlöschen.
Ins Feuer schüttet man keinen Keh-
richt - sonst werden die Augen des-
jenigen erblinden.
Otche sag kutpas - sünezinining odu özher.
Otche bok oktavas - karaa sogurarar.
Ottu arta khalyp holbas -
churtun karartyr jadaraar.
Ot ornun bazyp holbas - kezhii chajlaar.
Köshken kizhi odunuij ornun aryglap kaar
setkili ak bolur.
Ot khajyrakan, ôrshéèzin!
Ot chajaachy bolgaazyn!“61
Das Feuer darf man nicht übersprin-
gen - man verdüstert dadurch sein
Land und wird arm.
Das Feuerbett darf man nicht nie-
dertreten - sonst geht das Glück
desjenigen fort.
Der, der weiterzieht, säubert das
Bett seines Feuers - seine Seele wird
weiß werden.
Feuer Erhabenes, mögest Du (uns)
beschützen!
Feuer, möget Ihr (uns) geruhen Feu-
ergeist zu sein!
39 Schenk und Tschinag 1999: 117f. Einen ähnlichen Brauch beschreibt E. Taube in bezug auf
das Herdfeuer. Dazu Taube, E. 1972:130.
60 E. Taube beschreibt diese Tabus bei den Aldaj Dyva. Dazu E.Taube 1972:131.
61 Kenin-Lopsaq 1994a: 104.
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TRI BUS 53,2004
Das Feuer wird regelmäßig im Herbst geweiht (ot dagyyry). Damit soll der Herdgeist
gegenüber der Familie positiv gestimmt werden. Werden die zeremoniellen Vor-
schriften eingehalten, so hilft das Feuer, dass es im Winter keinen Hunger gibt, dass
die Kinder gesund und stark aufwachsen und dass alle Jurtenbewohner einen „Wei-
ßen Weg“, d.h. ein glückliches Schicksal haben und gesund bleiben. Über Jurten, die
ihr Feuer nicht weihen, kommt dagegen Unglück, denn der Herr jedes Jurtenfeuers
ist zornig und launisch, schreibt Kenin-Lopsaq.62
D’jakonova (1977) und Potapov (1969: 365f) beschrieben sehr detailliert mehrere
Weihezeremonien für den Herrengeist des Feuers in den unterschiedlichen Gebie-
ten Tyvas.
Das vorangegangene Kapitel sollte die Hierophanien des erschlossenen Raumes
kurz umreißen. Als erschlossenen Raum betrachteten wir die von Menschen be-
wohnten Gegenden, am Fuße der Berge, im Vorland der Wälder, das Ahnenland. Im
Gegensatz zur nicht erschlossenen Welt sind diese Gebiete nicht in ihrer Ganzheit
heilig. Es gibt in ihnen aber heilige Wesen und Subjekte. Die heiligen Wesen sind
dabei nicht allein auf die erschlossene Welt beschränkt, sie dringen aus den unbe-
kannten Räumen in die Menschenwelt ein und erweisen sich dieser als hilfreich oder
richten allerlei Schaden an. Bei den heiligen Natursubjekten handelt es sich meist
um bestimmte Berge, Wälder oder Waldgebiete, Gewässer. Bäume, Bergschluchten
und Pässe, aber auch der Jurtenplatz und das Herdfeuer gehören dazu. Sie sind den
Bewohnern der Umgebung bekannt, man hält im Umgang mit ihnen bestimmte Re-
geln ein, sie werden in Ritualen verehrt und sind Gegenstand von Segenssprüchen
und Anrufungen. Ihre Heiligkeit besteht in einer Art Herrengeist, der ihnen inne-
wohnt. D.h. sie sind Aufenthaltsort eines Herrengeistes, und durch seine Gegenwart
werden sie heilig. Einen solchen Herrengeist schreibt man nicht jedem natürlichen
Ding zu, wenngleich man alles Natürliche als beseelt betrachtet. Nur für besondere
Subjekte, meist durch Äußerlichkeiten zu erkennen, nimmt man einen solchen an.
Der Herrengeist ist demnach nicht mit dem Natursubjekt identisch, sondern das Na-
tursubjekt ist seine Behausung. Fügt man der Behausung Schaden zu, so bereitet
man auch dem Herrengeist Ungemach und ist seinem Zorn ausgesetzt. Vor allem in
der Verehrung des Feuers zeigt sich, wie wenig ausgeprägt die Grenzen zwischen
Heiligem und Profanem sein können. Das Herdfeuer ist ein gewöhnlicher Alltagsge-
genstand, der von allen Personen der Familie, besonders aber von der Hausfrau ge-
nutzt wird. Täglich kocht und bäckt sie auf ihm und die von ihm erzeugte Heizwärme
ist im Herbst, Winter und Frühjahr für die gesamte Familie lebenswichtig. Er befin-
det sich im Zentrum des profanen Bereiches, im Zentrum des Mikro- und des Ma-
krokosmos, nämlich in der Mitte der Jurte. Dennoch wird er als heilig verehrt, ja er
ist geradezu das Heiligste der Familie. Ihm gelten vielerlei Rituale, Ver- und Gebote
schützen vor Entweihung, und täglich werden ihm Opfer zelebriert. Wie der Herd so
wird auch der Jurtenplatz als heilig verehrt, ihm wird ein Herrengeist zugesprochen,
dem bis in die heutige Zeit das tägliche Morgenopfer dargebracht wird. Dennoch
handelt es sich hier um ein Gebiet, auf dem man alle Verrichtungen des Tages durch-
führt, wo man Gäste empfängt und Vieh schlachtet. Im Gegensatz zu heiligen Orten,
die man nur unter Vorkehrungen und mit besonderer Vorsicht betritt, findet hier der
Alltag statt.
Es zeigt sich uns an diesen Beispielen, dass die Grenzen zwischen Heiligem und Pro-
fanem innerhalb einer Religion stärker und schwächer ausgebildet sein können, dass
sie zeitlich und räumlich fließend sind, was nicht bedeuten muss, dass es eine solche
Unterscheidung nicht gibt.
62 Ebd.
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im Süden Sibiriens. In: Mahlke, R. et al. (Hg.), Living faith. Lebendige
religiöse Wirklichkeit. Festschrift für Hans-Jürgen Greschat. Frankfurt
am Main. S.251-262.
97
BRUNO J. RICHTSFELD
Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu)
I. Einleitung
Dominik Schröder (4. 9. 1910 - 25. 12. 1974) gelang es 1948/49 bei den Monguor
(chin:Tu bzw.Tuzu) im Osten der chinesischen Provinz Qinghai (schriftmong.; Köke
nayur muji, tib.: A-mdo) 11999 Verszeilen eines Gesar/Geser-Epos1 nach dem Vor-
trag des Sängers Guän-bo-sdzia aufzuzeichnen. Diese 11999 Zeilen umfassen nach
Schröders Angaben nicht das gesamte Epos, es fehlt noch etwa ein Drittel. Schröder
konnte nur die ersten 2450 Verszeilen übersetzen, die sich anschließenden 2123 Zei-
len liegen in einer Rohübersetzung vor,2 der Rest aber blieb unübersetzt.3 Ein Teil-
stück einer weiteren Version, das gleich dem von Schröder übersetzten Abschnitt die
Vorgeschichte bis zum öffentlichen Auftreten Gesars erzählt, wurde 1988 in chinesi-
scher Übersetzung von dem Monguor Li Youlou nach dem Vortrag des Monguor-
BardenTenzin Gyatso (chin. Transkription: Danzeng Jiacuo) publiziert. Die Inhalts-
angaben aller bei den Monguor bekannten Teile des Gesar-Epos sowie zusätzliche
Informationen zu ihren Sängern und deren Vortrag bietet der Artikel „Gesar rnam-
thar“ von Wang Xiangxian (1988). Weitere Informationen zu dem Epos bei den
Monguor und seinen Barden bieten die Veröffentlichungen von Yang Si (1987), Yang
Enhong (1988) und Xiang Bo (1988).4
Auch andere Formen der Monguor-Erzähltradition haben sich des Gesar-Stoffes be-
mächtigt: „Im Monguor-Gebiet finden sich nicht nur zahlreiche Sänger des Gesar-
Epos, sondern es sind auch viele Lokalsagen in Umlauf, die mit Gesar in Verbindung
stehen. In diesen Sagen wird Gesar als Gott verehrt, wie dies z.B. für den Platz mit
dem Pfahl zutrifft, an den Gesar sein Pferd band. 15 61 Es gibt auch einen Felsen, auf
dem er einen Abdruck hinterließ, als er sich setzte,^ eine Stelle, an der er sein Pferd
tränkte, sowie einen schiefen Berg, den Gesar in diese Lage brachte, als er sich nach
1 Schröder schreibt “Geser“. Chinesische Textausgaben transkribieren dagegen mit Gesa‘r, d.i.
Gesar.
2 Die Zeilen 1-822 liegen als „1. Fassung“ in Rohübersetzung vor, die eingearbeitet wurde in
eine „2. Fassung“, eine flüssig zu lesende Übersetzung der Zeilen 1-1661. Es folgt eine weitere
Rohübersetzung der Zeilen 1662-2450. ln Heissig (Hrsg.) 1980 bilden sie die Teile A, B und C
(S. 383—451). Heissig erwähnt weiters eine Rohübersetzung der Verszeilen 2451^1574, die er auf
S. 18f zusammenfasst, nicht aber, wie die anderen Teile, in vollem Wortlaut abdruckt (ebda.).
Vgl. auch Burgmann 1975:3.
3 Heissig 1977; 1980:7-9,11,18f. Heissigs Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Aufzeich-
nungen Schröders (Heissig [Hrsg.] 1980) wurde ins Chinesische übersetzt und in Band 2 der
Zeitschrift Gesa’ryanjiu (Gesar-Studien) veröffentlicht (Heissig [Haixixi] 1986; Peking: Zhong-
guo minjian wenyi chubanshe). Auch in Band 1 dieser Zeitschrift (Peking 1985) erschien eine
Übersetzung eines Beitrags von Heissig, der im Chinesischen den Titel „Duominike Shiluode
yu shishi <Gesi’r> (qianyu)“ („Dominik Schröder und das Heldenepos ,Geser‘ [Vorwort]“)
trägt (Übersetzer: Zhao Zhenquan). Dieser Titel ist jedoch irreführend, denn es handelt sich
nicht um eine Übersetzung von Ausführungen Heissigs über Dominik Schröder, sondern um
Heissigs Vorwort seines Werkes „Geser-Studien“ (Opladen 1983: 1-6), in dem Schröder nicht
erwähnt wird.
4 Vgl. auch Heissig (Hrsg.) 1980:25f. - Eine Zusammenstellung des Materials sowie die Über-
setzung des von Tenzin Gyatso vorgetragenen Teilstücks des Epos sind in Vorbereitung.
5 Vgl. Richtsfeld 2002:Anm. 30 und 48.
6 Evtl, die von Schröder erwähnte Sitzbank des Gesar: „Nahe des Klosters Man-t’ou-szu zeigte
man Gesars Sitzabdruck in Dorguo-hsia, wobei Gesers Knöchel, Unterschenkel. Penis und Ho-
den zu sehen waren. Der Ort hieß Geser sodzan uoröq, der Platz, wo Geser saß“‘ (Heissig
[Hrsg.] 1980:32; 1986:258).
99
TRIBUS 53,2004
einem Feldzug ausruhte und erleichtert einen tiefen Seufzer ausstieß.17 8I Zwei Hügel
sind aus dem Staub entstanden, den Gesar aus den Ärmeln schüttelte. In der Nähe
einer ,Südtor1 genannten Klamm steht ein Berg, dessen Gipfel von einem Kanonen-
stein des Gesar durchbohrt wurde und an einem unweit davon gelegenen Ort befin-
det sich eine Höhle im Fels, die mit einem mächtigen viereckigen Fels zugestopft ist;
es heißt, dies sei der Ort, an dem Gesar seine Rüstung versteckt habedsl ln Zusammen-
hang mit letzterer Sage wird in der betreffenden Gegend des Weiteren berichtet,
dass der König [tust] Qi Yanxi hier nach der Rüstung gegraben habe. In der über 200
Verszeilen umfassenden epischen Monguor-Dichtung von ,Yanxi aus der Familie Qi1
wird erzählt, wie Yanxi, der Vorfahre des Königs Qi von Huzhu für die Dynastie der
Ming Unruhen im Grenzgebiet niederschlug und die Einheit des Reiches wahrte. Als
er auszog und durch diese Gegend kam, grub er nach der Rüstung des Gesar, hatte
aber keinen Erfolg. Aus all dem geht hervor, dass einst das Gesar-Epos in dieser
Gegend sehr verbreitet war, ja, dass das Volk die hiesigen Berge, Flüsse und Felsen
in seinen Erzählungen mit Gesar in Verbindung brachte und sein Einfluss sich somit
auf die Werke der Erzähltradition der Monguor ausgedehnt hat.“9
Neben diesen Hinweisen auf Lokalsagen wurde 1992 in chinesischer Übersetzung
auch eine ausführliche, standardisierte Gesar-Erzählung veröffentlicht, deren Vari-
anten bei den Monguor der Autonomen Monguor-Region Huzhu (Huzhu Tu Zizhi-
zhou\ tib.: Gonlung), Provinz Qinghai, und inTianzhu, Provinz Gansu, aufgezeichnet
wurden:10 Sie berichtet von Gesars Geburt und seinem Kampf gegen ein Menschen
fressendes Ungeheuer und dessen Helfer im Dienst des Aku Qiaotong, des Herr-
schers über das Land Chawo Lang, d.h. sie enthält Partien, die wir auch aus den oben
genannten Epen-Varianten kennen.
II. Inhaltsangabe der Gesar-Erzählung11
In dem Reich Chawo Lang (Schröder: Tsawu Glang) herrscht als König (tust) der
über alle Maßen grausame Aku Qiaotong (Schröder: Aka Tsidong [Tsiedong]). Er
hat den Oger Wude12 großgezogen, der Tag für Tag auszieht, um Mensch und Vieh zu
fressen und die Felder zu verwüsten. Die Bewohner des Reiches leiden infolgedes-
sen große Not.13
Vor Aku Qiaotong herrschte der weise und gütige König Aluo Charigan (Schröder:
Hamluo tsiergan [tsargän, hsierganj), der bereits seit mehreren Jahren tot ist. Im
Jenseits erfährt er von dem Leid seiner einstigen Untertanen und macht sich deshalb
als „wandernde Seele“ (hun you sifang; „seine Geistseele [hun] wanderte in alle vier
Himmelsrichtungen“) auf die Suche nach einem Recken, der Aku Qiaotong abstra-
fen und die Menschen retten kann.14 Im Himmel lebt eine „gütige Familie“ mit Bu-
7 Vgl. Richtsfeld 2002:Anm. 67.
8 Möglicherweise handelt es sich um einen auch von Schröder erwähnten Ort: „In den Bergen
bei Man-t’ou-szu war der örtlichen Überlieferung zufolge, eine Schatzkiste Gesers, beim Her-
eintreten [in eine Höhle?] gab es Donner und Blitz.“ (Heissig [Hrsg.] 1980:33.)
9 Yang Enhong 1988:3f; weitere Sagen s. Heissig (Hrsg.) 1980:32f.
10 Ohne Angabe der Erzähler bzw. der Zeit der Aufnahme, gesammelt und bearbeitet von Wang
Dian, veröffentlicht in Zhu Gang u.a. (Hrsg.) 1992:49-55.- In Huzhu lebten zur Zeit der Auf-
nahme der Erzählung ca. 300.000 Personen;Tibeter, Monguor (Tu), Chinesen, Hui und Mongo-
len. Die Monguor machten mit 47.000 Volkszugehörigen etwa 15% der Bevölkerung aus.
11 Alle Namen sind in der chinesischen Transkription in Pinyin-Umschrift wiedergegeben und,
wenn möglich, Schröders Wiedergabe der Namen gegenübergestellt. Das Zeichen p in Schrö-
ders Text wurde dabei zu „ng“ verändert. Eine Zusammenstellung der verschiedenen Namens-
schreibungen s. auch in Yang Si 1987:30f.
12 Schröder: Ut. Im Epos Name des Landes der Menschen fressenden Ungeheuer (Heissig
[Hrsg.) 1980:26,31); Schröder verwendet auch die Formen Utud und Bdud.
13 Vgl. die entsprechenden Epenstellen in Heissig (Hrsg.) 1980:421-426, s. auch 431 f.
14 Die Entsprechungen im Epos s. Heissig (Hrsg.) 1980:426^129.
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Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Uberlieferungen der Monguor (Tu)
dang (Variante: Bodang) Laqian1'' als Vorstand. Er hat drei hünenhafte Söhne, von
denen insbesondere der jüngste, Gari Matun (Variante: Mazhun), sich durch beson-
deren Mut und außergewöhnliche Klugheit auszeichnet.15 16 Aluo Charigan nimmt die
Gestalt eines alten Mannes an und sucht Budang Laqian auf. Er bittet ihn, einen der
Söhne nach Chawo Lang zu senden. Dieser weigert sich zuerst, ist aber nach dreima-
liger Bitte bereit, seine Söhne entscheiden zu lassen. Diese sind sofort einverstanden,
die Aufgabe zu übernehmen.17 Aluo Charigan weist darauf hin, dass nur einer von
ihnen gehen könne. Er schlägt vor, sie sollten zur Probe eine magische Rüstung aus
seinem Besitz anlegen, mit einem mit magischen Kräften ausgestatteten Bogen
schießen und sein Zauberpferd reiten. Die beiden älteren Brüder scheitern, da die
Rüstung sie einschnürt und bewegungsunfähig macht, und sie weder den Bogen
spannen noch das Pferd reiten können. Nur dem jüngsten Bruder, Gari Matun,18
gelingt dies auf Anhieb und die Rüstung sitzt wie angegossen. Sein Vater schenkt
ihm einen Jagdhund. In dieser Weise gerüstet, ist er einverstanden, sich in die irdi-
sche Welt hinab zu begeben, bittet aber seine Brüder und seine ältere Schwester19,
ihm beizustehen, wann immer er sie benötige. Seine Geschwister sagen zu. Mit dem
Zauberpferd, dem Jagdhund sowie dem magischen Bogen, den fünf magischen Pfei-
len und einem zweischneidigen Schwert, das „den Dämonen das Haupt abschlägt,“20
löst sich Gari Matun zusammen mit Aluo Charigan in blauen Rauch auf.21
In Chawo Lang lebt eine kinderlose alte Frau namens Magazha22. Eines Nachts träumt
sie, dass ein göttliches Wesen mit goldglänzender Stirn in ihren Schoß eingeht. Am
darauf folgenden Tag fühlt sie sich schwanger und gebiert nach zehn Monaten ein kräf-
tiges Kind mit weißer Haut. Zur gleichen Zeit bekommt ihr Pferd ein Fohlen und ihr
Hund einen Welpen.23 Aluo Chagan begibt sich in Gestalt eines Lamas zu ihr, fragt
nach der Zeit der Geburt des Kindes und gibt ihm den Namen Gesar24.
15 Im Schröderschen Epos ist, gleich dem Eposteil des Tenzin Gyatso, der Vater des zukünftigen
Gesar der oberste Himmelsgott Sdenglatsien Sang bzw. Shidang Laqian (latsien = Laqian).
Yang Si gibt den Namen des Vaters des zukünftigen Gesar mit Dela zansang wieder (1987:30).
10 Im Epos ist der jüngste Sohn des Himmelsherrn drei Jahre alt und kriecht noch auf allen
Vieren, als Hamluo im Himmel ankommt (Heissig (Hrsg.) 1980:431; Li Youlou 1988:48).
17 Vgl. die entsprechenden gegenteiligen Stellen im Epos in Heissig (Hrsg.) 1980:430-435.
18 Im von Schröder aufgezeichneten Epos heißt der jüngste Sohn des Himmelsfürsten Sgerma
Duändzew, in Tenzin Gyatsos Version Gama Dongzhu und nach Yang Si (1987:31) Gema dun-
zhu. Auf Erden wiedergeboren, erhält er den Namen Rentsien sili (Renqin xili), vgl. Heissig
(Hrsg.) 1980:30,431. In der Version des Monguor-Sängers Li Shengquan heisst Geser im Him-
mel Duoma Dongzhu, nach seiner Wiedergeburt auf Erden Diqian xili (Yang Si 1987:31).
19 Vgl. zu dieser Schwester Heissig (Hrsg.) 1980:30f. Ergänzend s. Hummel 1993:99-109. An
dieser Stelle endet die Übersetzung Schröders (Heissig [Hrsg.] 1980:447-451). Die Fortsetzung
(Zeile 2451-4574 des Schröderschen Manuskripts) wird von Heissig nach dem von Schröder
verfassten „Entwurf einer Rohübersetzung“ zusammengefasst (ebda:18f).
20 zhanyaojian (Zhu Gang 1992:50);
21 Im Eposteil des Tenzin Gyatso begibt sich der jüngste Sohn des Himmelsherrn gleichfalls
zusammen mit Aluo Chagan sofort auf die Erde hinab (Li Youlou 1988:60), in dem von Schrö-
der aufgezeichneten Epos sollte der zukünftige Gesar drei Jahre nach der Rückkehr des Ham-
luo auf die Erde herabkommen, tatsächlich aber folgt er nach sieben Jahren (Heissig [Hrsg.]
1980:17,447-449).
22 Schröder: Mangkäg,Tenzin Gyatso: Gangji. In der Amdo-Version des tibetischen Gesar-Epos
heißt die Mutter Mn-agags-thza Iha-mo, aGags-thza Iha-mo oder aGags-thza (Hermanns
1965:418).
23 Mot. T589.7.1. (Simultaneous birth of [domestic] animal and child). Nicht mehr erkennbar
der Bezug zu Mot. B311 (Congenital helpful animal. Born at same time as master and [usually]
by same magic means). - Das Motiv der gleichzeitigen Geburt des Helden und seines Pferdes
findet sich außer im Gesar/Geser-Epos auch in der tibetischen Erzähltradition, vgl. die Erzäh-
lung „Väterchen Eisensalzhammer“ aus dem Autonomen Tibetischen Bezirk Aba (Ngawa),
Nordwestsichuan: Einem über 60jährigen Paar werden plötzlich Zwillinge und ihrer Stute
Zwillingsfohlen geboren, um sie im Kampf gegen ein Ungeheuer zu unterstützen (Xiao Chong-
su 1983:93).
24 Zu der Namensgebung „Gesar“ s. Heissig (Hrsg.) 1980:30.
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TRIBUS 53,2004
Gesar kann bereits bei der Geburt gehen, am darauf folgenden Tag kann er laufen
und am dritten Tag sprechen.2'' Er erklärt seiner Mutter, dass am folgenden Tag Aku
Qiaotong mit Butter und Pulostoff kommen werde. Die Mutter solle es dem Aku
nicht verwehren, ihr Kind in die Arme zu nehmen.
Die Nachricht von Gesars Geburt verbreitet sich schnell. Als Aku Qiaotong davon
hört, stellt er mittels eines Fingerorakels fest („er zählte an seinen Fingern ab“), dass
dieses Kind sein ärgster Widersacher werden wird, und beschließt, es zu töten. Er
begibt sich mit vergifteter Butter und Gift getränktem Pulostoff25 26 zu dem Zelt der
Magazha. Bei seinem Eintritt wiehert das Fohlen und der Welpe bellt. Magazha ist
gewarnt und steckt den Pulo in den Ofen, worauf schwarzer Qualm aus dem Rauch-
loch dringt. Diesen erblickt Gesars Schwester im Himmel. Sie nimmt die Gestalt ei-
nes Adlers an, stößt herab und schnappt die Butter aus Magazhas Hand. Erzürnt
packt Aku Qiaotong Gesar und versucht, ihn zu erwürgen, Klein-Gesar aber kackt
und Aku Qiaotong ergreift vor dem bestialischen Gestank die Flucht.27
Aku Qiaotong berät sich mit dem Ungeheuer Wude, das verspricht, den „General
Rabe“ zu entsenden, damit er Gesar auffresse. Gesar prophezeit seiner Mutter, dass
ein Gast kommen werde. Sie solle zuvor reichlich feuchtes Holz ins Herdfeuer legen,
den Tragkorb in den hinteren Teil des Zeltes stellen und sich dann in den Bergen
verstecken. Als der Rabe kommt und ins Zelt eindringt, kann er wegen des Qualms,
den das feuchte Holz verbreitet, Gesar nicht sehen. Dieser spannt hinter dem Korb
verborgen seinen magischen Bogen und erlegt mit einem der Zauberpfeile den Ra-
ben.
Aku Qiaotong ist sicher, dass der Rabe Gesar gefressen hat, und kommt, dessen
Knochen zu sammeln. Er muss aber hören, wie Gesar im Zelt der Mutter rät, den
toten Raben dem Berggott zu opfern.
Aku Qiaotong läuft zu Wude, der wutentbrannt dem Wolfsgespenst (langjing) be-
fiehlt, am folgenden Tage Gesar zu fressen.
Am selben Abend rät Gesar seiner Mutter, sie solle ihn anderntags dem „Gast“ in
einer Schale vorsetzen. Gesar schrumpft auf die Größe einer Walnuss. Als der Wolf
kommt, setzt ihm die Mutter zitternd die Schale vor. Gesar bittet den Wolf, ihn nicht
zu beißen, da er doch so klein sei. Der Wolf macht sich darüber lustig, schließlich
könne er mit einem Biss ein Rind oder Schaf töten; mit etwas derartig Kleinem wür-
de er sich nicht lang aufhalten, sondern es sofort schlucken.
In dem Bauch des Wolfs verwandelt sich Gesar wieder zurück und schlägt mit Ar-
men und Beinen um sich. Der Wolf wälzt sich vor Schmerzen auf dem Boden und
verendet schließlich. Gesar nimmt wiederum Zwergengestalt an und kriecht aus dem
Maul des Wolfes. Er zieht diesem das Fell ab und verwendet es als Sitzfell.
Als Aku Qiaotong sieht, dass Gesar neuerlich überlebt hat, läuft er wieder zu Wude.
Dieser will nun seinen Zauberyak (shenniu) gegen Gesar senden.
25 Motiv des schnellen Wachstum sowie der beispiellosen Kraft des Helden, vgl. Rincindorji
1992:49f.
26 Pulo (chin. Umschrift: Pulu): Tibetisches Wolltuch.
27 Vgl. Heissig (Hrsg.) 1980:18f. Das Motiv des Erwürgens/Erdrückens des Kindes, einer Be-
drohung, die durch dessen Abgabe von Kot verhindert wird, wird in Schröders Zusammenfas-
sung nicht erwähnt. Dagegen malt die Version des Tenzin Gyatso diesen Vorgang eindrucksvoll
aus (Zusammenfassung): Chaotong nahm das Kind, blickte um sich um festzustellen, ob ihn
jemand beobachtete, und drückte das Kind in böser Absicht mit aller Kraft. Gegen dieses aber
hatte er keine Chance: Es schiss und pisste den Chaotong von oben bis unten voll! Der Kot
drückte ihn gleich einem mächtigen Berg zu Boden und der Urin schwappte wie das Wasser
eines weiten Sees über ihn hinweg, so dass er keine Luft mehr bekam. Chaotong schrie aus
Leibeskräften, man solle ihn von dem Kind befreien. Die Mutter aber ging die Sache langsam
an und nahm erst, nachdem sie etwas gewartet hatte, das Kind von ihm. Nun hätten Kot und
Urin den Chaotong erdrücken und ertränken sollen, jedoch die Mutter war zu schnell gewesen,
so dass er wider Erwarten überlebte. Chaotong sprang auf und rannte fort. (Li Youlou
1988:65.)
102
Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Uberlieferungen der Monguor (Tu)
Gesar rät am Abend seiner Mutter, ihn hinter einen großen Felsblock abseits des
Zeltes zu legen und sich selbst zu verstecken.
Als am folgenden Tag der Stier kommt und Gesar auffordert, aus dem Zelt zu kom-
men, lockt ihn dieser. Der Stier merkt, dass Gesar nicht im Zelt sondern hinter dem
Felsen steckt, und rennt gegen diesen an. Durch die Wucht des Aufpralls zersplittern
seine Hörner. Der Stier dreht sich vor Schmerz brüllend im Kreis, und Gesar tötet
ihn mit einem seiner magischen Pfeile. Er häutet ihn und verwendet sein Fell eben-
falls als Sitzunterlage, seine Mutter heißt er, das Fleisch zu braten.2 * * 28
Aku Qiaotong muss Zusehen, wie Gesar auf dem Fell sitzend genüsslich das Fleisch
des Stiers isst. Wieder eilt er zu Wude. Als der Oger hört, dass keine seiner „drei
Kostbarkeiten“ davongekommen ist, beschließt er rasend vor Wut, selbst zu gehen
und Gesar zu töten.
Sobald er dies verkündet hat, rollt der Donner, und Gesar steht in einen Riesen ver-
wandelt vor ihm. Beide beginnen verbissen miteinander zu kämpfen. Als Gesar der
ersten Attacke ausweicht, bringt der Oger eine riesige Schlange hervor, die sich in
die Lüfte erhebt und auf Gesar herabstößt. Der haut sie mit seinem magischen
Schwert in der Mitte durch. Der Oger speit nun Feuer, aber Gesar bleibt unbeein-
druckt und schießt ihm einen seiner Pfeile in das linke Auge. Vor Schmerz brüllend
flieht der Oger.
Gesar ist entschlossen, das Ungeheuer zu vernichten: Er nimmt Abschied von der
Mutter, schwingt sich aufs Pferd und verfolgt den Oger mit seinem Jagdhund. Nach-
dem er Bergketten und Flüsse, Strapazen und Mühen überwunden hat, kommt er in
das Gebiet Juemulang (Variante: Jiaomulang). Dort seufzen und klagen gramge-
beugt die Menschen. Gesar fragt eine alte Frau nach dem Grund, und sie erzählt,
dass ein Jahr zuvor ein Ungeheuer ins Land gekommen sei, das Mensch und Tier
auffrisst und die Saaten zertrampelt. Sie warnt Gesar vor dem Unhold und berichtet,
dass dieser sogar die Tochter des Königs entführt habe. Sie zeigt ihm den Weg zur
Höhle des Ogers, an deren Eingang ein neunköpfiges Ungeheuer Wache hält. Gesar
sendet seinen Hund gegen den Wächter. Der Hund steigt zum Himmel auf und stürzt
sich auf das Ungeheuer, wobei mit einem Mal goldenes Licht von der Stirn des Hun-
des nach allen Seiten ausstrahlt. Vor Angst lässt das Ungeheuer Harn und Kot ab
und verharrt wie versteinert.29 Nachdem der Hund das Monster getötet hat, betritt
Gesar die Höhle und tastet sich vorwärts. Plötzlich tut sich dort eine eigene Welt vor
ihm auf mit herrlichen Landschaften, mit Vögeln, Blumen und duftenden Blüten.
Während er diese Szenerie anstaunt, kommt ein feengleiches Mädchen auf ihn zu. Es
erschrickt bei seinem Anblick, da es sich nicht erklären kann, wie er hierher kommen
konnte. Gesar erkennt in dem Mädchen die entführte Prinzessin. Diese erzählt, sie
heiße Mayizhamuxin und sei bereits vor zwei Jahren von dem Ungeheuer in diese
Höhle entführt worden.
Gesar lässt sich von ihr zu dem Oger führen, der in tiefem Schlaf liegt. Auf seiner
Brust flackert eine feurige Kugel, die die „Wurzel seines Lebens“30 ist. Mayizhamu-
xin erklärt ihm, dass der Oger lediglich an der Brust verwundbar sei, worauf Gesar
auf diese schießt. Der Pfeil wird aber von der rollenden Feuerkugel abgewehrt.31
2S Vgl. dazu eine Amdo-Version der Geseriade, nach der Gesar als Kleinkind einen den Göttern
geweihten Yak sowie einen Wildyak tötet. In der Amdo-Version aber hat dies den Sinn, seine
Mutter mit Fleisch zu versorgen (Hermanns 1965:425).
29 Im Epos ist es der Wächter des Himmelstores, der in Ohnmacht fällt und Harn ablässt, als
Hamluo Sicrgän ihn mit seinem Pfeil bedroht (Heissig [Hrsg.] 1980:430).
30 Minggenzi■ - Siehe z.B. Hermanns 1965:456, 458: Auf der Stirn des Dämonenherrschers des
Nordlandes zeigt sich ein „kleiner Kristallfisch und flimmert ein Licht“. „Wird in der Zeit,
wenn das Licht flimmert auf mich ein Pfeil geschossen, dann sterbe ich.“ Gesar schießt dem
Ungeheuer seinen Pfeil mitten in die Stirn. Vgl. dazu Richtsfeld 2002: Anm. 37, S. 213.
31 Vgl. Causemann 1986:208f.
103
TRIBUS 53,2004
Der Oger hört das Geräusch des Pfeils und fragt Mayizhamuxin schlaftrunken nach
dem Grund. Diese antwortet, es sei nicht das Geräusch eines Pfeils, sondern das des
Türvorhangs, der im Winde flattert. Auch ein zweiter Pfeil vermag ihn nicht zu tref-
fen, und wieder fragt der Unhold. Neuerlich beruhigt ihn Mayizhamuxin, indem sie
erklärt, dies sei das Geräusch des Windes, der durchs Zelt streiche. Gesar beißt sich
nun in den Finger und bestreicht die Pfeilspitze mit Blut. Als er diesen Pfeil ab-
schießt, erlischt die Feuerkugel und der Pfeil bohrt sich in die Brust des Oger, der
aufschreit und zusammenbricht. Gesar schlägt ihm mit dem Schwert den Kopf ab,
der in Richtung Höhleneingang kullert. Mayizhamuxin treibt Gesar an, den Kopf zu
spalten. Aus dem gespaltenen Kopf hüpft eine Kröte, die zum Eingang flieht. Als
Gesar ihr den Bauch aufschlitzt, springt eine rote Maus heraus, und auch diese flieht
in Richtung Höhleneingang. Gesar tötet sie und holt aus ihrem Bauch ein Schlangen-
ei, das er zu Boden schmettert. Schwarzer Rauch quillt aus dem Ei und der Leichnam
des Ogers ist verschwunden. Mayizhamuxin frohlockt, denn sie weiß, dass der Un-
hold damit endgültig vernichtet ist.32
Gesar führt die Prinzessin aus der Höhle. In Juemulang und Chawolang herrschen
nun Frieden und Aku Qiaotong wagt nicht mehr, gegen Gesar vorzugehen. Die Men-
schen aber können von nun an in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen.
III. Kommentar
Die Erzählung wurde u.a. in der Autonomen Monguor(Tu)-Region Huzhu (Hu-chu)
aufgezeichnet, wo auch Dominik Schröder seine Epos-Version aufnahm (Heissig
[Hrsg.] 1980:8). Dies verleiht ihr einen besonderen Stellenwert, da somit ein direkter
Vergleich der Handlung der Erzählung mit der epischen Überlieferung ein und des-
selben Gebietes ermöglicht wird:
Abweichend von dem von Schröder aufgezeichneten Epos setzt die Erzählhandlung
in der Zeit ein, in der Aku Qiaotong33 bereits die Herrschaft über das Land Chawo
Lang (Schröder: Tsawu Gling [Glang]) angetreten hat und in der sein Vorgänger
Aluo Charigan den Sohn eines Himmelswesens aussucht, um ihn gegen seinen Nach-
folger zu mobilisieren. Der Schöpfungsbericht, der auch in dem von Tenzin Gyatso
vorgetragenen Epos fehlt, sowie das durch die Herrschaft des Aluo Charigan hervor-
gerufene Goldene Zeitalter des Landes Chawo Lang bleiben unerwähnt, wodurch
Aku Qiaotong weitaus weniger akzentuiert als Gegenspieler dieses Urkaisers zu er-
kennen ist, als in dem Schröderschen Epos (vgl. Heissig [Hrsg.] 1980:25,29; 398-403;
420-426). Damit entfällt für die Erzählung auch das charakteristische Merkmal des
Monguor-Epos34, das es von anderen Gesar/Geser-Epen unterscheidet und das die
32 Das Motiv erinnert entfernt an die Vernichtung der neun Leben des Nordriesen (“Teufelskö-
nigs“) der ladakhischen Gesar-Erzählung in Francke 1968 (Wintermythus);45f (zitiert in Hoff-
mann 1965:31 und Gruschke 1996:71 f). Es fällt auf, dass sich diese „Seelen“ im Körper des
Ungeheuers selbst befinden und es sich nicht, wie im mongolischen Geser-Epos, um externe
Seelen handelt (vgl. Rincindorji 1992:46ff).
33 Eine Charakterisierung der Gestalt des Aka Tsidong im Gesar-Epos der Monguor s. in Heis-
sig (Hrsg.) 1980:29. In der von Yang Si vorgestellten Epos-Variante des Monguor Li Shengquan
wird der Name mit Ake Chaotong transkribiert (1987:30).
34 Yang Si wendet sich gegen den Begriff „Monguor-Epos“, da seinen Erfahrungen zufolge bei
den Monguor der Barde die gereimten Teile in Tibetisch vortrug und anschließend in Monguor
erklärte und die Sujets erläuterte. „Dies bildete eine Vortragsform des Epos, bei welcher ge-
reimte Teile und Prosateile in zwei Sprachen ausgedrückt wurden.“ Daher solle man besser von
„der Überlieferung des Königs Gesar im Gebiet des Monguor-Volkes sprechen“ (Yang Si
1987:28f; vgl. auch Yang Enhong 1988:1, Anm.). Es überrascht jedoch bei der akribischen Ar-
beitsweise Schröders (s. Burgmann 1975:2f), dass ihm dieser Umstand entgangen sein soll, au-
ßerdem sind die Verszeilen, d.h. „die gereimten Teile“, seiner Aufzeichnung in Monguor vorge-
tragen. Siehe dazu auch die Beschreibung der Aufnahme der von Schröder gesammelten
Erzählungen und des Geser-Epos in Schröder 1959:11-14, insbesondere S. 13: „Der Alte [Tuo
Ifula] fügte noch hinzu, die Gesersage enthalte den ganzen Sprachschatz der Monguol,...“
104
Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu)
Monguor glauben lässt, dass sie die „größte [längste] Fassung des Geser“ besitzen
(Heissig 1980:26): Die ausführliche „Vorgeschichte der Geschehnisse im Himmel
und auf der Erde, die zur Geburt des irdischen Geser-Khan führen“.35 Diese Vorge-
schichte wird von der Erzählung nur sehr kursorisch wiedergegeben. Sowohl im
Schröderschen Epos als auch in vorliegender Erzählung ist Aka Tsidong/Aku Qiao-
tong, abweichend von den Epen und Erzählungen der Mongolen und Tibeter sowie
dem von Tenzin Gyatso vorgetragenen Monguor-Eposteil, nicht der Onkel des irdi-
schen Gesar.
Die Erzählung hat mit dem von Schröder aufgezeichneten Monguor-Epos und den
bekannten mongolischen und tibetischen Gesar/Geser-Epen zwei Sujets gemeinsam:
Gesars Geburt sowie den Kampf gegen den „Nordriesen“. Weiters tauchen auch ein-
zelne Motive in gleicher oder ähnlicher Weise im Epos auf, so das Orakel der magi-
schen Rüstung, des Zauberbogens und Zauberpferdes, die gleichzeitige Geburt des
Helden, seines Pferdes und seines Hundes in der irdischen Welt, die himmlischen
Helfer36, die Versuche des Aku Qiaotong, den kaum geborenen Gesar z.T mit Hilfe
von Tierhelfern des Aku bzw. des Ungeheuers in seinen Diensten zu töten, das Ver-
schlingermotiv37 sowie die vom Oger geraubte Frau, die Tötung des Ogers mit Hilfe
der (geraubten bzw. dessen eigener) Frau und die Seelensubstanz, die sich als Licht
oder als leuchtende Manifestation (Fisch, Schlange etc.) auf der Brust (in vielen Ver-
sionen auf der Stirn) des schlafenden Ungeheuers zeigt und die verwundbare Stelle
des Ogers darstellt bzw. markiert.38
Weist der Abschnitt, der von den Nachstellungen des Aku Qiaotong berichtet, enge
Beziehungen zu den Versionen des Epos (Heissig 1980;18f; Li Youlou 1988:65ff), zu
Gesar/Geser-Erzählungen der Yuguren39 und Parallelen zu tibetischen Epen- und
Erzählversionen auf, so ist der Zug gegen den Oger (AaTh 300) sowohl als Sujet als
auch in seinen Einzelheiten unabhängig formuliert. In den mongolischen und tibeti-
schen Gesar/Geser-Epen zieht der Heros gegen das Nordungeheuer, nachdem er
König von Ling geworden ist, z.T. deswegen, weil eine seiner Gemahlinnen von die-
sem geraubt wurde. In der Monguor-Erzählung und im Epos dagegen steht das Un-
geheuer im Dienste des Aku Qiaotong bzw. ist mit ihm verbündet, und Gesar be-
zwingt es infolge der Abwehr eines Angriffs, den dieses, von Aku Qiaotong
aufgestachelt, gegen den neugeborenen Heros unternimmt. Dieser Teil der Erzäh-
lung stellt eine Art Zwischenglied zwischen den entsprechenden Abschnitten der
verschiedenen Epen-Varianten dar, indem er die Gestalt der geraubten Prinzessin
einführt, die, so darf man folgern, nach bestandenem Abenteuer Gesars Frau wird.
Diese Figur verbindet das Motiv der geraubten Gattin des Gesar mit dem der Frau
des Ogers,40 die Gesar hilft, den Unhold zu bezwingen. Die sonst übliche Burg/der
befestigte Aufenthaltsort des Ungeheuers wird durch das Motiv von der Welt in ei-
ner Höhle ersetzt bzw. neu gestaltet, einem Motiv, das in China bereits seit dem spä-
35 Vgl. Heissig (Hrsg.) 1980:13-17 sowie die gesamte Übersetzung des von Dominik Schröder
aufgenommenen Epenteiles; s. ebda.:26.
36 In der Erzählung wie auch im Epos des Tenzin Gyatso handelt es sich um die beiden älteren
Brüder und die ältere Schwester des künftigen Geser, im Schröderschen Epos hat Gesar zwei
ältere Brüder und drei Schwestern, von denen die älteste Schwester seine Schutzgöttin wird
(Heissig [Hrsg.] 1980:18,26,30f). Heissig weist darauf hin, dass im Gegensatz zu den mongoli-
schen Epen im Monguor-Epos - wie auch in der Erzählung - nicht eine Trias von Schwestern
oder weiblichen Helferinnen dem Helden bzw. Gesar zur Seite steht (ebda.:31).
37 Vgl. dazu Richtsfeld 2002:Anm. 47.
38 Vgl. die Inhaltsangabe in Heissig (Hrsg.) 1980:13—19.
39 Vgl. Bruno J. Richtsfeld, „Gesar-Erzählungen der Yuguren (VR China)“, in Central Asiatic
Journal 2005 (im Druck).
40 Diese ist selbst eine Dämonengestall und wird nicht als entführt beschrieben; vgl. z.B. die
ladakhischen Gesar-Versionen.
105
TRIBUS 53,2004
ten 3. oder frühen 4. Jahrhundert schriftlich belegt ist.41 Auch ahnt man Verbindun-
gen zu AaTh 301 uThe Three Stolen Princesses“ (insbesondere Nr. IV. -VI.)42, einem
Typ, der z. B. im osttibetischen Erzählgut häufiger zu finden ist. Diesem Typus zufolge
rettet der Held die entführte Prinzessin aus der Oger-Höhle, wird aber von seinem
Helfer (seinen Helfern) in betrügerischer Absicht in der Höhle zurückgelassen,
nachdem er (sie) die Prinzessin herausgezogen hat (haben). Dem Helden gelingt es
schließlich, die Höhle zu verlassen und zu beweisen, dass er der wahre Retter ist. Zu
diesem Typus gehört oft, dass die Prinzessin mit Hilfe eines Wirbelwindes entführt
wird, in den sich das Ungeheuer verwandelt. Dieser Passus fehlt in unserer Erzäh-
lung, es ist jedoch möglich, dass eine umfangreichere Erzählung diesen enthielt, bzw.
er ausgelassen wurde, weil dem Zuhörer diese Art der Entführung geläufig war und
er sie bei der Erwähnung der vom Ungeheuer entführten Prinzessin assoziierte. Die-
se Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die Beschreibung eben dieser
Entführungsart in der Amdo-Version des tibetischen Gesar-Epos (Hermanns
1965:435; Wang Yinuan/Shangguan Jianbi 1985:24).43
Abweichend vom Epos geht die Erzählung nicht darauf ein, dass Aku Qiaotong das
Land durch seine Verschwendungssucht allen Reichtums beraubt und es an verschie-
dene Ungeheuer ausliefert, darunter an einen König der Menschen fressenden Un-
geheuer. Der Oger der Erzählung ist dagegen ein vom König aufgezogenes Unge-
heuer, das mit seiner Billigung das Land verwüstet.
Der Urkaiser Hamluo tsiergan/Aluo Charigan44 ist ungleich dem Epos - dort weilt
er seit seiner Abdankung in Meditation auf dem Lotosberg (Heissig [Hrsg.] 1980:423-
428) - bereits verstorben und begibt sich als “Geistseele“ (hun) in den Himmel, um
dort den Helden zu suchen, der sein ehemaliges Reich vom Gegenherrscher befreit.
41 Vgl. Bauer 1971:265-282. Die in Ostasien berühmteste Darstellung dieses Themas findet sich
im „Bericht über den Pfirsichblütenquell“ (taohuayuanji) von Tao Qian (Tao Yuanming, 365 -
427) (s. Karl-Heinz Pohl [Hrsg.], Tao Yuanming, Der Pfirsichhlüten-Quell, Gesammelte Gedich-
te, [Diederichs Gelbe Reihe; 58: China] Köln 1985:202-208, und Ernst Schwarz [Hrsg.], Tao
Yüan-ming, Pfirsichblütenquell, Gedichte, [Insel-Bücherei Nr. 1091] Frankfurt/M., Leipzig
1992). Siehe ergänzend Schmidt-Glintzer 1990:187-192.
42 Mot. F102.1. (Hero shoots monster and follows it into lower world), N773 (Adventure from
following animal [hier: Oger] to cave [lower world]), F92 (Pit entrance to lower world; entrance
through pit, hole, spring or cavern) F80. (Journey to lower world), RI 1.1. (Princess [maiden]
abduced by monster [ogre]). Rill.1.3. (Rescue of princess [maiden] from dragon). Rill.2.1.
(Princess[es] rescued from lower world).
43 Vgl. dazu die entsprechende Stelle der in Guide (tib.: Trika), östliches Qinghai, Autonomer
Tibetischer Bezirk Hainan [Hainan Zangzu Zizhizhow, schriftmong.: Qainan-u Tobet ündüsü-
ten-U öbertegen Jasayu Jeü]), aufgezeichneten Variante: Gesars zweite Frau Meisa (* Mesa[r])
will Gesar, der mit seiner ersten Frau Zhuma (Zhoi’ma = tib.: sgrol-ma, Dolma) auswärts weilt,
besuchen, da sie schlecht geträumt hat und sich den Traum deuten lassen will; sie wird jedoch
von Zhuma durch eine List abgewiesen. Sie kehrt in das obere Lingga zurück „und machte sich
daran, am Eingang ihres Zeltes Tuch zu weben. Da blies plötzlich, genauso, wie sie es im Traum
gesehen hatte, vom oberen Felsental her ein roter Wind, vom unteren her ein schwarzer Wind,
in deren Mitte sich ein schwarzes und bösartiges Ungeheuer befand. Es packte aus diesem
Wind heraus Meisa, riß sie in die Lüfte empor und flog mit ihr nach Norden. Dieser Dämon war
ein böser Drache [Naga?] mit langen Armen, er hieß Luzan und lebte im Norden. Er war stets
darauf erpicht, den Menschen Schaden zuzufügen. Die Magd Malei Guigui hatte beobachtet,
wie Meisa von dem Dämon entführt wurde und ritt in Windeseile zu Großkönig Gesar, dem sie
laut heulend zurief: .Großkönig, Großkönig, es ist etwas Schlimmes passiert! Meisa Bengji wur-
de von einem Ungeheuer entführt!'“ (Wang Yinuan/Shangguan Jianbi 1985:24.) In der von
Hermanns übersetzten Variante wird das Ungeheuer im Sturmwind dagegen als „ein großer,
schwarzer Mann von seltener Schönheit“ beschrieben (1965:435).
44 Yang Si 1987:30: Aluo Chagan.
106
Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Uberlieferungen der Monguor (Tu)
Die sowohl im Epos wie der Erzählung für die Suche nach einem geeigneten Recken
bedeutsame, mit magischen Kräften ausgestattete Rüstung besteht nach der Be-
schreibung des Epos aus einem eisernen Helm, einem eisernen Panzer sowie aus
Beinschienen (gestärkte Stiefel?), dazu kommt der eiserne Zauberbogen mit den
fünf magischen Pfeilen aus Eisen.45 In der Erzählung ist von der Gefährlichkeit des
ebenfalls zur Probe zu reitenden Pferdes lediglich eine Andeutung durch die Be-
zeichnung „Zauberpferd“ (oder: übernatürliches Pferd/Götterpferd [,shenma]) vor-
handen, während im Epos dessen Gefährlichkeit genau beschrieben wird (Rohüber-
setzung durch Schröder): „Das nicht so [sic; zu?] reitende Pferd ist ein geweihtes
Pferd,/ Wenn Dein Vater es gebraucht, dann frisst es Menschen, / die Felsen bersten
unter seinem Tritt, / Wie kannst du jenes Pferd reiten? / Wenn du es reiten kannst,
dann reite es! Gehe!“ (Heissig [Hrsg.] 1980:437.) Unwillkürlich wird man an das
Menschen fressende Pferd Bukephalos der Alexanderüberlieferung erinnert, das
den jungen Alexander den Großen bei der ersten Begegnung sogleich als seinen
Herrn anerkennt.46 47 Im Epos sind diese Proben eingebaut in die im Himmel zu be-
wältigende Aufgabe, einen Wahrsager zu holen, der die von Rüstung und Pferd ge-
troffene Wahl bestätigen soll (Heissig [Hrsg.] 1980:437-446), ein Abschnitt, der der
Erzählung fehlt.
Der Erzählung fehlt weiterhin die Episode, nach der die irdische Mutter des zukünf-
tigen Gesar/Geser auf Betreiben von Aka Tsidong während ihrer Schwangerschaft
verleumdet und in eine einsame Gegend gejagt wird, um sie auf diese Weise mit ihrer
Leibesfrucht zu töten. Schröders Übersetzung erreicht nicht diese Stelle, seine Zu-
sammenfassung geht nicht näher auf diese Episode ein (Heissig [Hrsg.] 1980:18),
aber nach dem von Tenzin Gyatso vorgetragenen Teil enthält das Monguor-Epos
sehr wohl diesen Abschnitt (Li Youlou 1988:62f). Gleich anderen innerasiatischen
Gesar/Geser-Epen findet sich auch im Monguor-Epos das mit Gesars/Gesers Geburt
verbundene Motiv der Erneuerung der Natur (Heissig [Hrsg.] 1980:18; Li Youlou
1988:63), ein Motiv, das in der Erzählung ebenfalls nicht zu finden ist.
Während sich im Epos in der Gestalt des Aka Tsidong die Züge eines Unheil wir-
kenden Herrschers und eines Mangus-Ungeheuers mischen (Heissig [Hrsg.] 1980:29),
sind in der Erzählung diese Wesenszüge jeweils deutlich geschieden auf Aku Qiao-
tong und den von ihm großgezogenen Oger Wude (Ut) verteilt; letztere Gestalt ver-
weist - Schröders Rohübersetzung nach zu schließen - zudem auf die Ungeheuer-
Gestalten Utud tsedzäl redziawu4 und Süewna sieg-rong (sürop) (ebda.:19, 31),
Wesen, die dem mongolischen Mangus oder dem tibetischen Bdud-Dämon entspre-
chen. Im Epos wird auf Bitten des Aka Tsidong von Utud tsedzäl redziawu das Un-
geheuer Süewna sürop ausgesandt, um den neugeborenen Geser zu töten. Es kommt
aus Bdud, dem Land der Menschen fressenden Dämonen, nach Ling, nimmt dort
Vogelgestalt an und wird von Gesar mit einem Pfeil erschossen (Heissig [Hrsg.]
1980:19, 31, 50). In der Erzählung finden wir das Ungeheuer als „General Rabe“
45 Heissig (Hrsg.) 1980:51, 56, 435^138; Li Youlou 1988:52-55. Zur Erklärung der magischen
Macht der Rüstung s. Heissig (Hrsg.) 1980:436, Anm., wobei Heissigs Hinweise auf einen „Krie-
gerschamanismus“ einer Definition mit ausführlicher Beweisführung bedürfen. Vgl. Richtsfeld
2002; Anm. 26.
46 Kirsch 1991:21f; Thiel 1983:19/21, 23, 25. Ergänzend s. Bächtold-Stäubli/Hoffmann-Krayer
1987,VI:1598-1652.- Im Epos wird das Pferd außerdem als „feuerschnaubend“ charakterisiert
(Heissig 1980:438, Zeile 1715).
47 Yang Si 1987:31: Wutu cizan. In dem Epenteil von Tenzin Gyatso heisst das Ungeheuer Chi-
zan, in der Version des Sängers Li Shengquan Duduzan (Yang Si 1987:31). - Nach Schröders
Eposversion lädt Aka Tsidong diesen Fürsten ein, da dieser aber bei ihm nicht satt wird, schenkt
Aka Tsidong dem Fürsten von Ui jährlich 360 Menschen, damit er täglich einen verzehren kann
(S. 405 [Vers 53, 58] 423, 431). In dem Eposteil des Tenzin Gyatso zahlt Ake Chaotong dem
Herrscher der Dämonen (chin.: mo) sowie den Herrschern von Hör Tribut, um sich deren Un-
terstützung zu sichern. Dadurch wird aller Reichtum von Chawu Lang aufgebraucht (Li Youlou
1988:44).
107
TRIBUS 53,2004
wieder, den Wude (UtlUtud) gegen den kaum geborenen Gesar sendet. Keine Paral-
lele in den von Schröder übersetzten Teilen des Epos haben das Wolfsgespenst und
der Zauberyak, die Wude gleichfalls gegen Gesar sendet, bevor er selbst versucht,
diesen zu töten. Die Ungeheuer finden sich dagegen, mit Ausnahme des Yaks, in der
Version des Tenzin Gyatso wieder (Li Youlou 1988:66-78). ln letzterer Version lässt
Gesar jedoch den König von Ut am Leben, als dieser einsieht, von Ake Chaotong
getäuscht worden zu sein (Li Youlou 1988:80-82). Diese zoomorphen und anthropo-
morphen Ungeheuergestalten erinnern auch an den Bergadler und den großen
schwarzen Hund bzw. den Dämonenherrn Rabe, die Dämonenherrin Schwarze Hün-
din sowie den schwarzen Oger zweier Gesar/Geser-Erzählungen der Yuguren. In
einer dieser Erzählungen muss Geser zudem gegen einen Wildstier kämpfen, er ist
aber zu diesem Zeitpunkt bereits ein junger Mann, und der Stier steht in keiner er-
kennbaren Beziehung zu Aku Qiaodong.48 Der Giftanschlag des Aku Qiaodong
selbst findet sich in nahezu identischer Form sowohl in der Erzählung als auch in den
Monguor-Eposversionen (Heissig [Hrsg.] 1980:18; Li Youlou 1988:64f) sowie in einer
der erwähnten yugurischen Erzählungen.
Die in dem von Tenzin Gyatso vorgetragenen Epos beschriebene Episode der Wahl
der irdischen Eltern des Gesar sowie die Gestalten der Frau des Aka Tsidong und
des irdischen Pflegevaters des Geser fehlen in der Erzählung. Bei seinem Herabstieg
in die irdische Welt löst Gesar sich der Erzählung zufolge lediglich in blauen Rauch
auf, während er in den Epen sehr genau seinen zukünftigen Geburtsort aussucht,
indem er in Vogelgestalt verschiedene Personen prüft. Sein himmlischer Leib ver-
bleibt in einem Turm (Stupa?) und wird von den Verwandten geschützt, während er
sich in Wespen-, dann in Taubengestalt bzw. in Gestalt eines wundersamen Vogels auf
die Erde hinab begibt (Heissig [Hrsg.] 1980:18; Li Youlou 1988:60f).
An die Schilderungen verschiedener mongolischer und tibetischer Versionen der
Geseriade von dem Eingehen des Sohnes des Himmelsherrn in seine irdische Mutter
erinnert der Traum der Magazha, in dem sie ein goldglänzendes männliches Wesen
erblickt. In dem von Schröder aufgenommenen Epos dagegen träumt Mangkäg von
einer Sternschnuppe, der in der Erzählung fehlende künftige irdische Vater von ei-
nem Sonnenstrahl (Heissig [Hrsg.] 1980:18). In dem Epenteil des Tenzin Gyatso fehlt
dieses Motiv. In der Erzählung ist der himmlische Vater des zukünftigen Gesar nicht
als Himmelsherr ausgewiesen, sondern es heißt lediglich, dass der Held aus einer
„gütigen Familie“ im Himmel kommt.
Die im Epos beschriebene, aus den Anschlägen des Aka Tsidong/Ake Chaodong auf
den neugeborenen Geser resultierende Flucht der Eltern des Geser mit ihrem Kind
nach Tibet (Heissig [Hrsg.] 1980:19; Li Youlou 1988:90) findet sich nicht in der Er-
zählung. Überhaupt spielen in dieser Erzählung die in den Epen- und Erzählgutver-
sionen der Tibeter, Mongolen und Yuguren signifikante Gestalt der Mutter des Hel-
den, die von Aka Tsidong veranlasste Verbannung von Mutter und Kind an einen
unwirtlichen Ort mit dem Ziel ihrer Isolierung oder gar Tötung sowie das Auftreten
des jugendlichen Gesar/Gesers in Gestalt einer an den „Heiligen Narren“ bzw. zu-
mindest den Schelmen gemahnenden Figur („Joro-Verwandlung“) keine Rolle.
Ein weiteres, in der Erzählung nicht genauer erklärtes und im Epos nicht erscheinen-
des Motiv ist das Bestreichen der Pfeilspitze - der Pfeil gehört zu dem Set der fünf
magischen Pfeile - mit Blut, mit dem Ziel einen Gegenzauber zu brechen.49 Ein ver-
48 Vgl. dazu Richtsfeld, „Gesar-Erzählungcn der Yuguren (VR China)“ in Central Asiatic Jour-
nal 2005 (im Druck).
49 Zu ähnlichem, Hexerei bannenden Blutzauber in Europa s. Bächtold-Stäubli/Hoffmann-
Krayer 1987:1438; vgl. Frick 1951 (insbesondere S. 967: Blut von Frauen oder weißen Hunden
bricht den Zauber der „Unverwundbaren“), Guo Licheng 1983:165-168 und Hastings
1909,11:714—719. Sich bis aufs Blut in den Finger beißen gilt in China als Ausdruck von Ent-
schlossenheit und als besonders entschiedene Schwurgeste, vgl. z.B. Kuhn 1953:314f, 320. Zu
mongolischen Parallelen s. Heissig 1983:17, Anm. 33.
108
Bruno J. Richtsfeld; Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu)
wandter Blutzauber ist aus Nordchina belegt: Ist man nachts noch unterwegs und ist
einem das Schicksal nicht günstig, so kann man auf ein guidaqiang treffen, eine „von
Geistern errichtete Mauer“. Dieser Ausdruck aus dem Peking-Dialekt umschreibt,
was man profan „sich nachts verirren“ nennt. Beißt man sich dann den Mittelfinger
blutig und verspritzt das Blut, so vertreibt man damit die bösen Geister und findet
auf den richtigen Weg zurück. Trifft man Untote oder Wiedergänger, kann man sich
ebenfalls mit Hilfe dieser Maßnahme von ihnen befreien. Als Erklärung wird ange-
geben, dass der Mensch dem T/wg-Prinzip zugehört, die Gespenster hingegen dem
Yin; da das Yin nicht das Yang überwinden kann, wird das Unreine (xie) auch nicht
das Reine (zheng) besiegen (Guo Licheng 1983:167).
In besonders ausgeprägter Weise wird in der Erzählung die Vernichtung der Seele
bzw. der verschiedenen Seelensubstanzen des Ungeheuers geschildert,50 wobei ein
Vergleich nicht möglich ist, da bisher diesbezügliche Epenteile nicht übersetzt sind
bzw. nicht aufgenommen wurden und die Zusammenfassungen auf diesen Punkt
nicht ausführlicher eingehen.
Yang Enhong vermutet, dass der chinesische Roman „Die Reise nach dem Westen“
(.Xiyouji) sowie mit ihm in Zusammenhang stehende Erzählungen das Gesar-Epos der
Monguor beeinflusst haben (1988:13). Wiewohl durch die Gleichsetzung Gesars mit
dem chinesischen Gott Erlang bei den Monguor derartige Einflüsse generell durchaus
möglich sind (s. unten), lassen sie sich für die Erzählung nicht nachweisen. Einzig die
Verwandlung Gesars in die Gestalt eines Riesen während seines Kampfes gegen das
Ungeheuer Wude könnte mit der Beschreibung des Kampfes zwischen Erlang und
Sun Wukong in genanntem Roman in Verbindung gebracht werden: Der göttliche
Held Erlang versucht seinen Gegner zu bezwingen, indem er sich in einen 10000 Klaf-
ter großen Riesen verwandelt, worauf Sun Wukong mit ihm gleichzieht (Wu Ch’eng-
en 1976:47; 1977-1983, Bd. I, S. 159; 1980:87; 1982-1986, Bd. I, S. 105 ). Abgewandelt
finden wir diese Taktik auch in dem historisch-mythologischen Roman Fengshen yanyi
beschrieben: Der Held Yang Jian, der ebenfalls mit Erlang in Verbindung gebracht
wird (s. unten), verwandelt einen Grashalm in einen Riesen und lässt diesen gegen den
Riesen Wu Wenhua antreten (Xu Zhonglin/Zhong Xing 1980:858f; Gu Zhizhong 1992,
11:382)71 In letzterem Roman findet sich eine weitere Parallele zu der Erzählung:
Gleich Gesar, der sich von dem Wolf verschlingen lässt, lässt sich Yang Jian von dem in
einen weißen Elefanten verwandelten Mungo (huahudiao)52 des späteren Weltenhü-
ters Mo Lishou verschlingen und tötet ihn in der Nacht, als der Mungo bereits wieder
seine ursprüngliche Gestalt angenommen hat. indem er sein Herz zusammendrückt.
Dann bewirkt er, dass sein eigener Körper wieder hergestellt wird und wächst bis der
Bauch des Tieres aufreißt und er heraus steigen kann (Grube 1912:524; Gu Zhizhong
1992,1:438; Xu Zhonglin/Zhong Xing 1980:359). Das in die Luft steigen des Mungos
und auf den Feind herabstoßen (ebda.) ähnelt der Taktik des Hundes des Gesar bei
seinem Angriff auf den neunköpfigen Wächter der Ogerhöhle.
50 AaTh 302, Unterpunkte II, III, dazu Mot. RI 1.1., evtl. G530.1. (Help from ogre’s wife [mis-
tress]), E711.1. (Soul in egg), E713 (Soul hidden in a series of coverings), in Maßen K956 (Mur-
der by destroying external soul), R. 111.1. (Princess [maiden] rescued from captor). Ergänzt
werden darf sicherlich, wenn auch nicht expressis verbis ausgesprochen, das happy end\ L161.
Lowly hero (bis dato) marries princess!
51 In der von Herbert Müller vorgenommenen Zusammenfassung der von Grube nicht über-
setzten Fengshen-yanyi-Stellen ist es Yang Jian selbst, der sich in den Riesen verwandelt (Gru-
be 1912:623); vermutlich handelt es sich um eine Unachtsamkeit Müllers, denkbar ist aber auch,
dass Grube und Müller eine von den heutigen Standardausgaben des Romans abweichende
Ausgabe vorlag.
52 Grube übersetzt mit „Zauberratte Hua-hu-tiao“, Gu Zhizhong mit „gefleckter Hermelin“
(1992,1:431,437,438). Es handelt sich bei dem huahudiao jedoch um einen Mungo (Ichneumon,
„Pharaonenratte“). Im Fengshen yanyi begleitet er Mo Lishou, den Grube mit dem aus dem
Buddhismus bekannten Weltenhüter Dhrtaräshtra identifiziert (1912:643). Andere Zuordnun-
gen der Attribute der vier Weltenhüter statten hingegen Vaishravana (Mo Lihai) mit dem Mun-
go aus, s. z.B. H.W. Schumann, Buddhistische Bilderwelt, Köln 1986:170.
109
TRIBUS 53,2004
Der Vergleich obiger Erzählung vom Helden Gesar mit den bekannten Teilen des
Monguor-Epos ergibt, dass bis zu der Stelle, an der Schröders Aufzeichnungen en-
den, nur vage Parallelen zwischen Erzählung und Epos bestehen und sich eine be-
reits in Zusammenhang mit Geser-Sagen des Köke-nor-Gebietes geäußerte Be-
obachtung bestätigt, dass im Falle der Gesar/Geser-Überlieferung Epos und
„Heldensage“/„Heldenmärchen“ zwar Motive und Bauteile gemeinsam haben kön-
nen, die Inhalte ihrer Sujets jedoch weitgehend unabhängig voneinander aufbauen
und ausführen (Richtsfeld 2002:188-190). Die Monguor-Erzählung beweist wieder-
um, dass wir im Falle der Heldenerzählungen („Heldenmärchen“, „Heldensage“)
keineswegs pauschal annehmen können, gesunkene, ehemalige Heldenepen vor uns
zu haben. Wenn auch die Existenz solcher Formen der Heldenerzählung von Heissig
in einer ausführlichen Studie überzeugend nachgewiesen wurde (1991), kann den-
noch die Frage der Entwicklung der Heldendichtung im weitesten Sinne (Heldene-
pos, Heldenmärchen, Heldensage) nicht unilinear beantwortet werden, sondern es
müssen differenzierte und komplexe Entwicklungslinien berücksichtigt werden.
IV. Anhang: Gesar - Erlang
Dominik Schröder weist darauf hin, dass die Monguor und Qinghai-Chinesen Gesar/
Geser mit dem chinesischen Kulturheros Erlang (Erh-lang) gleichsetzen (Heissig
[Hrsg.] 1980:31-34; 1986:258-260).53
Im Folgenden seien daher zur Ergänzung der Schröderschen Angaben das Monguor-
Lied „Bericht von der Geburt des Erlang“ (Erlang shengzhuan) (I) sowie einige den
Gott Erlang betreffende Monguor-Überlieferungen (II) nach den Zusammenfassun-
gen in der „Enzyklopädie der Mythen und Glaubensvorstellungen der Völker Chi-
nas“ (Zhongguo ge minzu zongjiao yu shenhua dacidian) hinzugefügt:54
(I) „Das von den Fashi55 der Monguor (Tu) in der Gemeinde Zhongchuan des Krei-
ses Minhe56, Provinz Qinghai, gesungene Lied ,Die Geburt des Erlang1 umfasst in
etwa 50 Verszeilen. Sein Inhalt ist zusammengefasst folgender: In weit zurückliegen-
der Zeit kamen am 13. Tag eines jeden Monats die drei Prinzessinnen Goldwolke
(Jinxiao), Silberwolke (Yinxiao) und Wolke Drei (Sanxiao) vom Himmel herab, um
auf Erden ein Bad zu nehmen. Ein Rinderhirt namens YangTianyou hatte heimlich
ihre schönen Leiber erblickt und entwendete unbemerkt das Gewand von Wolke
Drei, dem schönsten der Mädchen. Er verbarg das Gewand im dichten Gras. Nackt
wie sie war, konnte Wolke Drei nicht zurück in den Himmel fliegen. So musste sie
einwilligen, Yang Tianyous Gemahlin zu werden. Hundert Tage später war Wolke
Drei schwanger und gebar ErlangJ57! Der Jadekaiser befahl dem Berg- und dem
53 Zu weiteren Identifikationen des Gesar/Geser mit chinesischen und lamaistischen Gotthei-
ten s. Crossley 2002:119f, Pema Tsering 2003 (insbesondere Anm. 6), Rintchen 1958 und Tucci/
Heissig 1970:405-411.
54 Siehe Literaturverzeichnis Autorenkollektiv 1990. Für die Zusammenfassung des Liedes
zeichnen die Mitarbeiter Xin Huaizhi und Xi Yuanlin verantwortlich, für die Überlieferungen
Xi Yuanlin und Ma Guangxing.
55 Fashi, „ehrwürdiger Meister“, „Meister der magischen Künste“, in Monguor bo, (chinesische
Transkription; Schram 1957:77 schreibt bö), sind religiöse Spezialisten, die im Dienste der
Schutzgottheiten, des Drachenkönigs und der Niangniang-Gottheiten stehen. Nach Schram
handelt es sich um Vertreter eines vom Daoismus beeinflußten Schamanismus (1957:76-90).
56 Im Kreis Minhe waren die Monguor besonders stark der Sinisierung ausgesetzt, weshalb dort
dem Daoismus zugeordnete Glaubenslehren weit verbreitet waren (Tan Guangguang u.a.
1988:94).
57 Vgl. dazu Sun Wukongs Anspielung auf Erlangs Geburtsgeschichte in dem Roman „Die Rei-
se nach dem Westen“ (Xiyouji). ln der deutschen Übersetzung wird der Name des „Sterblichen
aus der unteren Welt“ nicht erwähnt (Wu Ch’eng-en 1980:86), im chinesischen Original heißt es,
dass sich die jüngere Schwester des Jadekaisers mit einem Herrn Yang der irdischen Welt ver-
mählt habe (Wu Ch’eng-en 1976:46; 1977-1983, Bd. I, S. 158; 1982-1986, Bd. 1, S. 104; vgl. Wil-
helm 1973:Nr. 100, S. 367).
HO
Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu)
Erdgott, gewissenhaft für Erlang zu sorgen. Beide empfingen ehrerbietig den Befehl
und schickten Großwolf {dalang) und Kindwolf (erlang) aus, Nahrung zu beschaffen
und Erlang zu füttern. Insgesamt fütterten sie ihn 12 Jahre lang, dann war Erlang
groß. Eines Tages kam der Vollkommene Heilige des Polarsterns {Taiyi zhenren)t58l
bei Erlang vorbei und stellte fest, dass dieser von außergewöhnlicher Herkunft war.
Er nahm ihn mit und brachte ihn in die Goldglanzhöhle des Mondberges/des Berges
(des Gottes) des Höchsten Yin {taiyinshan jinguangdong), wo er ihn ausbildete und
ihn in den 72 Verwandlungskünsten unterrichtete. An dem Tag an dem Erlang die
Vollendung (das Dao) erlangt hatte (dedao), verlieh ihm der Jadekaiser die Flam-
menkappe der drei Berge (sanshan huoyanmao)t59l und die Robe mit den acht Dia-
grammen und den neun fünfklauigen Drachen (bagua jiulong hao) sowie den die
Dämonen sichtbar machenden Spiegel (zhaoyaojing), den Dreizack und das Pferd
Weißer Drache (hailongma) und befahl ihm, zum Wohle der Menschen gegen Unge-
heuer und Dämonen vorzugehenJ60! Da einstens Großwolf und Kindwolf den Er-
lang gefüttert hatten, nannte man ihn Erlang.“ (S. 576f.)61
(II) Eine der auf Erlang bezogenen Überlieferungen erzählt, dass der Kult des Got-
tes {Erlang shen) von Sichuan nach Hezhou (heute: Linxia Huizu Zizhizhou, Auto-
nomer Hui[Dunganen]-Bezirk Linxia, SW-Gansu) in Gansu gekommen sein soll,
von wo aus er sich verbreitete und zu den Monguor in Minhe und in anderen Gegen-
den gelangte: In dem Dorf der Familie Zhu (Zhujiacun, Gemeinde Zhongchuan,
Kreis Minhe, Ost-Qinghai) stand ein Tempel dieses Gottes; die darin befindliche Eh-
rentafel trug die Aufschrift Qingyuan miaodao huchongmi zhenjun chuanshu dadi
weiling xianhua tianjun (Das Geheime beschützender und verehrender Unsterbli-
cher des erlesenen Weges vom reinen Quell, erhabene Gottheit [Großherrscher] Si-
58 Zu der Gottheit Taiyi, „Großer Einer“ bzw. „Große Einheit“, s. Dore 1915:557-562 (insbe-
sondere S. 562), 570,573,574f, 576,578-580; vgl. auch Grube 1912:649 und Wilhelm 1973:Nr. 18.
Zu dem Titel zhenren s. Dore 1915:62f.
59 Weitere mögliche Übersetzungen: „Kappe mit drei Bergen und Flammen“ oder „dreispitzige
Flammenkappe“. Nach dem Xiyouji trägt Erlang eine sanshan feihuangmao (Wu Ch'eng-en
1972:46), was mit „the hat (...) had three peaks and phoenixes flying“ (ebda. 1982-1986, Bd. I,S.
103) bzw. „a cap of Three Mountains“ Phoenix flying“ (ebda. 1977-1983, Bd. I, S. 157; die Stelle
fehlt in 1980) übersetzt wird. - Sanshan, „drei Berge“, „Dreierberg“ verweist hier vermutlich
auf die Sanshan oder Sanhu genannten Berge bzw. Inseln der Unsterblichen: Penglai, Fang-
zhang und Yingzhou. - Trifft dagegen die Übersetzung „dreispitzige Flammenkappe“ zu, so
stünde die Kappe des Erlang gemäß dem Monguor-Licd in Verbindung mit der dreispitzigen
Kopfbedeckung Gesars sowie Padmasambhavas bzw. der der Barden des Gesar-Epos“, die zu-
dem - wenigstens teilweise - die Embleme von Sonne, Mond und Flamme aufweisen. Siehe
hierzu Stein 1959:342-347,355-377,381-383,386f, 394-399.
60 Vgl. zu der Ausrüstung des Erlang ein von Stuart/Hu verzeichnetes Lied, das während der
von ihnen beschriebenen nadun-Feste in der Guanting/Sanchuan-Region gesungen wird
(1993:20f), sowie Wu Ch’eng-en 1977-1983, Bd. I. S. 157; 1982-1986, Bd. I, S. 103. Den „die Dä-
monen sichtbar machenden Spiegel“ beschreibt in seiner Wirksamkeit Wu Ch’eng-en (1976:46,
49; 1977-1983, Bd. I, S. 156 und 162; 1980:86,90; 1982-1986, Bd. I, S. 102 und 108; s. auch Wilhelm
1973:367,369), hier ist dieser jedoch Eigentum des Vaishravana (Li Tuota).
61 Die Parallele zu Ursprungslegenden türksprachiger Völker Zentralasiens, nach denen der
Ahn und Heros als Säugling von einer Wölfin/von Wölfen versorgt wird, ist unübersehbar. Der
Name Erlang bedeutet „Zwei-lang“, wobei lang, „Junker“ bzw. „junger Herr“, homonym ist zu
lang, „Wolf“ (beide werden im Hochchinesischen im zweiten Ton ausgesprochen). Erlang,
„Junker Nr. Zwei“, wird somit von den Monguor gedeutet als „zwei Wölfe“ bzw. „[von] zwei
Wölfen [Versorgter]“.
111
TRIBUS 53,2004
chuans, Himmelsgott der majestätischen Offenbarungen und Wandlungen)62. Von
dieser Tafel heißt es, dass ein Kaufmann aus Linxia (Hezhou) nach Sichuan ging, um
dort Handel zu treiben. Damit ihm dabei das Glück hold sei, verehrte er den Gott
Erlang. Schließlich entwendete er die Ehrentafel und brachte sie in seine Heimat
Hezhou/Linxia, wo er dem Gott zu Ehren einen Tempel baute. Als 1928 in Nordwest-
China Unruhen ausbrachen, brannte der Tempel ab. Angehörige der acht Haushalte
des Dorfes der Familie Zhu brachten die Ehrentafel von Linxia in ihr Dorf, wo sie
ein Bildnis des Gottes aus Zypressenholz schnitzten und im Dorftempel aufstellten.
Bis auf den heutigen Tag ist Erlang in dieser Gegend als Hezhou didi (Hezhou-Vä-
terchen) bekannt.63 In der Periode der Tempelfeste (Nadun) vom 12. Tag des 7. Mo-
nats bis zum 15. Tag des 9. Monats nach traditioneller Zeitrechnung macht die Figur
die Runde durch alle Dorftempel der Sanchuan-Gegend und kehrt erst am letzten
Tag, dem Tag des Tempelfestes im Dorf der Familie Zhu, wieder in ihren Heimattem-
pel zurück.64
Im Kreis Tongren verehren die Monguor Erlang und den Berggott in ein und dem-
selben Tempel. Während eines drei bis fünf Tage dauernden Festes (luruo), das am
21. Tag des 6. Monats beginnt, bitten die Fangshi mit folgender Anrufung die Götter
um Segen für Mensch und Tier; „Gnädiger Herr Erlang der südlichen Richtung, gnä-
62 Zeichenkombination nach Matthew’s Chinese-English Dictionary: 1171-7728-4474-6136-
2190-1528-4464-297-1715-1439-5901-5943-6204-7051-4071-2692-2211-6361-6884. Die Überset-
zung ist ein mangels Hintergrundinformationen nicht gesicherter Versuch. - Die Gestalt des
Kulturheroen Erlang wird mit einer Reihe historischer Personen in Verbindung gebracht, eine
von ihnen ist Zhao Yu (Zhao Jing), der während der Sui-Zeit lebte und einen Flutdrachen be-
siegt haben soll. In der Song-Zeit wurde ihm der Titel Qingyuan miaodao zhenjun (Unsterbli-
cher [Wahrer Gebieter] des erlesenen/geheimen Weges vom reinen Quell [Ursprung]; Zeichen-
kombination nach Matthew‘s: Nr. 1171-7728-4474-6136-297-1715) verliehen, ein Titel, den im
Roman Fengshen yanyi auch Yang Jian trägt (Grube 1912:524 (hier unübersetzt]; Gu Zhizhong
übersetzt den Titel mit “Divine Immortal of Purity and Decency“ [1992,1:438; vgl. Xu Zhonglin/
Zhong Xing 1980:359]). Er taucht auch im ersten Teil der Aufschrift der Ehrentafel auf, so dass
der Erlang von Zhujiacun wohl mit einer dieser beiden Gestalten zu identifizieren ist. - Erlang
wird von den Chinesen außer mit Zhao Yu auch mit weiteren historischen Persönlichkeiten
verbunden: mit Deng Xia (4. Jh.), mit Li Bing (3. Jh. v. Chr.) bzw. seinem, ihm von der Sage zu-
geschriebenen zweiten Sohn „Li Erlang“, mit Yang Jian („Yang Erlang“; 12. Jh.), oder Zhang
Xian (Meng Chang [10. Jh. / Dore 1916:981-989; Giles Nr. 1514; Ma Shutian 1995:339-343]).
Eine weitere Tradition bringt ihn mit Dujian, dem zweiten Sohn des Pishamen (Vaishramana/
Vaishravana), des buddhistischen Weltenhüters des Nordens, in Verbindung („Erlang Dujian“).
Siehe Dore 1915:587-593; Lü Zongli/Luan Paoqun 1991:620-637 (zu ZhaoYus. ebda.:628-633),
Wu Ch’eng-en 1977-1983, Bd. I, S. 510, Anm. 2, und Wu Luxing u.a. 1995:21f; zu Pishamen vgl.
ergänzend Dore 1915:553-556 sowie Meier 1988:559-562, 635-637. Zu Li Bing vgl. auch Yuan
Ke 1990:284-287, zu Yang Jian s. Grube 1912:654. - In dem Roman „Die Reise nach dem Wes-
ten“ (Xiyouji; s. Dudbridge 1970 und Schmidt-Glintzer 1990:433-435) ist dagegen der zweite
Sohn des Pishamen (Li Tuota, Li Tianwang bzw. Devaräja Li) der Diener der Göttin Guanyin
mit dem Mönchsnamen Huiyan xingzhe („Bettelmönch Huiyan“) bzw. Huiyan und dem ur-
sprünglichen Namen Mucha (Mocha), während Erlang der Neffe (Schwestersohn) des Jadekai-
sers bzw. „Makellosen Erhabenen Souveräns“ (Yühuangdi) ist (Wu Ch’eng-en 1976:45; 1977-
1983, Bd. I, S. 153,155,158; 1980:84; 1982-1986, Bd. I, S. 101,104; s. auch Wilhelm 1973;Nr. 100,
S. 367, wo Erlang aber fälschlich als Enkel des Yühuangdi bezeichnet wird). Zu Mucha als Sohn
des Generals Li Jing (= Li Tuota; gleich Mo Lihai mit Vaishramana identifiziert [vgl. oben Anm.
52]) vgl. auch die Angaben des Romans Fengshen yanyi (Grube 1912:156-158, 643; Gu Zhiz-
hong 1992,1:131-133; Xu Zhonglin/Zhong Xing 1980:107f; zu dem Roman selbst s. Schmidt-
Glintzer 1990:32f und Wan Pin Pin 1994). - Eine weitere Sage von Erlang, die ihn mit dem
Motiv der 10 Sonnen verbindet, findet sich in Wilhelm 1973:Nr. 17.
63 Eine weitere Erzählung zu der Überführung des Gottes Erlang in das Minhe-Gebiet s. in
Stuart/Hu 1993:16 (“Account Two“). Nach dem Bericht von Stuart/Hu soll der Erlang-Tempel
im Dorf der Familie Zhu erst nach der Kulturrevolution, d.h. nach 1976, errichtet worden sein
(ebda.:18). Vgl. auch Schram 1957;102f.
64 Vgl, zu den nadun-Fesien der Guanting/Sanchuan-Region Start/Hu 1993; den Kalender der
einzelnen Festtage s. ebda.: 17.
112
Bruno J. Richtsfeld: Gesar-Überlieferungen der Monguor (Tu)
diger Herr Erlang der nördlichen Richtung, gnädiger Herr Erlang der östlichen
Richtung, gnädiger Herr Erlang der westlichen Richtung, steige herab in die irdische
Welt und freue dich mit den Menschen!“
Eine weitere Überlieferung berichtet, dass Erlang ein berühmter Feldherr gewesen
war, den der Kaiser vor langer, langer Zeit in die von den Monguor bewohnten Ge-
biete schickte. Da er das Gebiet gut und weise regierte, stellte man nach seinem Tod
Statuen nach dem Bild des Generals her und verehrte sie (ebda.:572,576).
Kevin Stuart und Hu Jun erwähnen in ihrem Artikel über die nachm-Feste der Mon-
guor in der Guanting/Sanchuan-Region, dass Monguor der Huzhu-Gegend die Ver-
ehrung des Erlang ablehnen, “arguing that Erlang is the same as Gesar and that
Gesar representsTibetans whom, they feel, killed many Monguor ancestors.Thus, to
venerate Erlang is to venerate one who killed many of their grandfathers“ (1993:17f.).
Ähnliches konnte die Folklore-Forscherin Yang Enhong beobachten: „In dem von
Tu besiedelten Gebiet sind insbesondere folgende Abschnitte des ,Gesar1 bekannt:
Das Vorspiel im Himmel, die Geburt des Helden auf Erden, die Unterwerfung des
Ungeheuers [Nordriesen], die Hochzeit mit Zhumu (Zhoi’ma/Dolma), die Übernah-
me der Königswürde im Anschluss an ein Pferderennen und der Kampf zwischen
Hör und Ling. Was nun die Episode des Kampfes Hör gegen Ling anbetrifft, so ge-
hen bei den Tu die Meinungen auseinander: Zum einen heißt es, dass die Tu Bewoh-
ner des Hor-Landes sind und deshalb nur der erste Teil des Abschnitts gesungen
werden soll, welcher erzählt, wie Hör in das Gebiet von Ling einfällt. Zu vermeiden
sei aber, vom Untergang des Königs von Hör zu singen. Andere glauben, der Herr
der weißen Zelte der Hör sei der Schutzgott der Tu und es zieme sich somit nicht,
vom Untergang des eigenen Schutzgottes zu singen. Man trifft noch immer Perso-
nen, die in dem im Youning-Tempel (Youningsi)65 verehrten Standbild des Schutz-
gottes den König der Hör sehen, den sie deshalb mit Eifer verehren.“ (1988:10.)
Auch von ihren Nachbarvölkern werden die Monguor mit den Hör in Verbindung
gebracht: „Die zahlreiche Beeinflussungen der tibetischen Kultur aufweisenden Tu
des Kreises Huzhu werden von den Mongolen und Tibetern ,Wo Huo’r‘ genannt, was
soviel bedeutet wie ,tibetisierte Mongolen1. Die Tu der Region Sanchuan im Kreis
Minhe, die stark unter chinesischem Einfluss stehen, werden dagegen ,Jia Huo’r1,
,sinisierte Mongolen1 genannt.“ (Tan Guangguang u.a. 1988:93.) Diese Haltung ent-
spricht der der Yuguren, die gleichfalls der Meinung sind, sie seien Nachfahren der
von Gesar besiegten Hör.
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SAM VANGHELUWE
In Reply to Dr. Eberhard Fischer’s Review
To a freshly graduated M.A., the opportunity to publish is a blessing indeed. Getting a
reaction, or feedback, is no less desirable. I have been twice blessed, although not ex-
actly as I had dreamed.
In my paper on P.J. Vandenhoute’s investigation of the Dan sculptor of Côte d’Ivoire
(2001), I critically compare some findings from field research gathered by (among
others) Eberhard Fischer and Hans Himmelheber, to those collected by P.J. Vanden-
houte. The resulting text has met with anger, bitterness and scorn on the part of Dr.
Eberhard Fischer. On January 16, 2002, he sent a copy of his detailed review to Prof.
Dr. Elze Bruyninx, demanding that we should meet in the offices of Prof. Dr. Elze
Bruyninx, in the presence of the latter and of Prof, emeritus Herman Burssens. The
meeting duly took place on Thursday February 3,2002.
During this, Dr. Fischer repeated point by point the objections he had raised in his (by
then still unpublished) review. I answered all of these objections, and pleaded my case.
I also made clear to Dr. Fischer that 1 would ask for a right to reply, should he publish
his review as it was then. In fact, Dr. Fischer made very little changes to his original text.
Because not only my own honorable intentions have been called into question, but also
those of the Research Unit of Ethnic Art at Ghent University, I feel obliged to reply
publicly to Dr. Fischer’s angry attack. Excepting some minor changes, the following
text is the same that Dr. Fischer received in February 2002.
Before presenting my main text, I should like to point out the considerable number of
mistakes made by Dr. Fischer. In quoting my text, he makes seven spelling errors, thrice
omits a word, once adds one, thrice changes punctuation, twice misspells my name,
once changes the name of an author completely, and frequently omits ellipsis points.
Almost all of these errors were already present in the first version of his review
(2002).
Dr. Eberhard Fischer’s reaction to my paper on P.J. Vandenhoute’s investigation of
the Dan sculptor of Côte d'Ivoire, dropped from the clouds like a thunderbolt.
Evidently, I did expect some feedback following my criticisms of certain aspects of
his work and that of his father, the venerable scholar Hans Himmelheber. I am truly
astonished, however, at the virulence and the very personal nature of his response.
As he himself says in the opening sentence, he wrote his review in anger.
I understand and, indeed, welcome the fact that Dr. Fischer has taken the trouble to
severely criticize my work. However. I do not understand why, despite his illustrious
reputation and a lifelong experience in the field, he feels compelled to discredit the
editors, and to launch a personal and hurtful attack on a (as he likes to repeat) ‘young’
M.A.
The Title
I am not clear what ‘dilemma’ Dr. Fischer is referring to, in his criticism of the title of
my paper. The full title of the working paper is: “The Artist Himself in African Art
Studies: Jan Vandenhoute’s Investigation of the Dan Sculptor in Côte d’Ivoire.” It is
obvious to all that a 67-page article cannot condense either the first or the second
part of the title. Dr. Fischer unduly suggests that this was my goal. As I made clear in
the preface, introduction and conclusion, my two main aims are (1) to acquaint the
reader with the Vandenhoute’s work; (2) to open up a discussion on the subject of
sub-Saharan artistry.
1 can hardly be blamed for the fact that Dr. Fischer has had no, or insufficient, access
to Vandenhoute’s writings. Firstly, the object of this paper is precisely to acquaint a
broader public with Vandenhoute’s work, to plead for its publication. Secondly. I am
119
TRIBUS 53,2004
not responsible for the limited access which Dr. Fischer seems to have had to the
unpublished doctoral dissertation. His portrayal of Vandenhoute’s pupils and ‘intel-
lectual descendants' as having for years ransacked Vandenhoute’s unpublished dis-
sertation for spare parts, is disingenuous. None have been more vociferous in plea-
ding for its publication, or frustrated at the lack of interest. I believe that Dr. Fischer
is well aware of this.
Vandenhoute is by no means “played off against” Hans Himmelheber and Dr. Eber-
hard Fischer: their work and findings are compared. As Dr. Fischer states, both Hans
Himmelheber and Jan Vandenhoute, and indeed Dr. Fischer, have their great profes-
sional merits. I agree with the reviewer, that it remains meaningful to search for what
is noteworthy in their work. I agree fully, unless “noteworthy” means only that which
is positive and deserving of praise.
I personally believe that Vandenhoute’s research is more refined, more comprehensive,
stated more clearly than most others I know of, and that his scientific attitude is uncom-
monly inspiring. I cannot see how the expression of this view could be slanderous.
I am quite mystified at Dr. Fischer’s interpretation of my choice of expressions
(“Himmelheber made an attempt at,” “believes that”) as being derogative.They are
an expression of the scientific attitude which I hold dear, and which 1 praise, particu-
larly in Vandenhoute (2002:56-57). “Vandenhoute set out to”, “has tried”, “wants to
demonstrate” (2002:17), “believes” (2002:18), clearly belie Dr. Fischer’s claim that 1
have somehow reserved these “derogative” expressions for Hans Himmelheber.
“During the 1960s, fieldwork focused on documenting diverse artistic activities, in
certain sub-Saharan areas” (2002:3). As Dr. Fischer must surely agree, I am talking
here about fieldwork that happened during the 1960s, not any publication of (the first
years of) that decade.
Anonymity
Himmelheber’s abbreviation of informant’s names is duly mentioned, as is his list of
the full names: not “hardly noted,” as Dr. Fischer wants to make out. I also note the
way in which researchers such as Cordwell, d’Azevedo and Brett-Smith name (or do
not name) their informants. 1 have not singled out Himmelheber, but merely pointed
out that, contrary to others, Vandenhoute refers to his informants by their full names.
It is abundantly clear from my text that both Himmelheber’s and Vandenhoute’s
method is preferable to that of others mentioned.
I do in fact clearly state that “Himmelheber too, quotes his informants” (2002:23).
Whether he does this copiously is a matter of opinion. Personally, I find that Vanden-
houte quotes his informants more frequently and more fully.
As for Himmelheber’s pioneering work in this domain, I would be hard-pressed to
draw the veil over a fact of common knowledge (see also Eidetics).
Gender
Ganz weit gefaßt ist ein Angeborensein im negativen Sinne dadurch schon gege-
ben, daß die Frauen sichtlich unfähig sind, Kunstwerke zu fertigen. Und dies
nicht, weil das Schnitzen zum großen Teil religiösen, den Frauen verbotenen
Zwecken dient, sondern weil sie tatsächlich keine künstlerlischen Fähigkeiten zu
besitzen scheinen (Himmelheber 1935:9).
This is, as Dr. Fischer rightly protests, not an opinion, but apparently the representa-
tion of a widely held view. However, Himmelheber does not question this view. On
the contrary, he adds;
Gewisse Handwerksgebiete, die ihnen Vorbehalten sind, müßten sonst davon
zeugen, so die Töpferei, die aber nur schüchterne, konventionelle Verzierungen
aufweist, oder die Bemalung der Guro-Hauswände, die ebenfalls ausschließlich
von Frauen ausgeführt wird und in der äußerst geistlos Band an Band vom Dach
zum Bodem zieht (Himmelheber 1935:9).
120
Sam Vangheluwe: In Reply to Dr. Eberhard Fischer’s Review
This is an opinion, and I do not want to deny Himmelheber’s right to an opinion. I
can only conclude that Vandenhoute seems to have been more objectively interested
in this subject. Again in Negerkunst und Negerkünstler. Himmelheber explicitly sta-
tes: “Die Negerfrauen sind nicht als bildende Künstlerinnen tätig” (1960:25). African
women are artistically incapable; their pottery shows that “sie es nicht verstehen, aus
diesem leicht zu formenden Material mehr als hübsche Formen zu bilden, und
schüchterne Formen darauf anzubringen” (1960:26).
However many clauses Himmelheber might have added to these statements, he has
never recanted them. I repeat, the point here is not that he should have, but that
Vandenhoute never made such utterances.
Had Dr. Fischer not disregarded the first chapter of my paper, he would have noticed
the interesting comparison of two German scholars (Ernst Vatter and Paul Ger-
mann) from the first decades of the 20th century, showing two diametrically opposed
views or attitudes towards sub-Saharan artistry. All this to put the question, can one
accept the ideological background of any scientist in any time, as a valid excuse for
unsound views.
I have not concealed the fact that Himmelheber researched female sub-Saharan art-
istry. On the contrary, I draw attention to his discovery of the wife of Sra (Xra/Zlan/
Zla) (“I could find only three other authors who discovered or studied female wood
sculptors [...]” (2002:26)). That I was not aware of Dr. Fischer’s mention of this dis-
covery in his dissertation (1974:360) is regrettable, not a sign of ill will. Moreover, I
am not aware that his dissertation was published. As to “ideological background,” I
should think that none of us are exempt of one.
Quite contrary to what Dr. Fischer writes in his review, the answers of Vandenhoute’s
informants to his question - Why are there no women wood sculptors? - are indeed
provided in my text (2002:26).
Finally, Dr. Fischer urges me to “admit that Vandenhoute had used Himmelheber’s
questionnaire,” even though, quite voluntarily, I quote Burssens (1983:25,27), saying
that “the questionnaire which Himmelheber had used during his research served as
a basis for Vandenhoute’s own questionnaire, but it was considerably expanded on
the spot, in so far as this was necessary and possible” (2002:14).
Dream Inspiration
In his introduction to Four Dan Sculptors (Johnson 1986), Thomas K. Seligmann
states:
In these [dreams] they receive, or learn of, a spirit helper (Neme among Vai and
Gola, dii among the Dan). It is these spirit helpers that inspire the artist [...]
(1986:xiv-xv).
Firstly, I believe that Seligmann wrongly equates the concept of neme (a kind of ge-
nius) with that of dü (a kind of force vitale). And as dreams are the channel through
which dü communicates with humans (Johnson 1986:3), one is led to believe that
sculptors are inspired by their dreams.
Johnson (1986:3) actually states explicitly that, “it was revealed to them [nearly all the
carvers she interviewed] in dreams, as well, how to carve and what to carve." However,
she mentions only one mask maker, Dro (Tro), as being inspired by a dreamt mask
(1986:46), and in this particular case, Dro was ordered by the creature of his dream (he
called it a devil), to don the mask, which he steadfastly refused. To me, it is unclear
whether the mask form was inspired to him as a sculptor or as a performer.
Himmelheber (1960:159, 174) and Fischer (1962:163) mention two sculptors who
dream the masks they make (or who have done so once or twice): Sra and Tro (see
Johnson 1986). However, both are strictly speaking We, and not Dan (2002:29).
In my text, I write: “[...] research done by Himmelheber (I960), Fischer (1962) and
Johnson (1986),concludes that Dan sculptors are inspired by their dreams” (20002:28).
What I should have written is that Johnson (1986) makes this conclusion, and that
Himmelheber (1960:159) and Fischer (1962:163) seem to suggest this, for when
121
TRIBUS 53,2004
dreams are mentioned in relation to the carving of masks, one of the only two excep-
tions, Dro (Tro), is repeatedly quoted.
If I have wrongly presumed that this was Himmelheber’s and Fischer’s thesis, then I
apologize for my mistake, and will add only that my presumption arises from the fact
that Vandenhoute’s conclusions concerning this subject are unambiguously clear.
Portraiture
As for my “premature disavowing” of the notion of ‘portrait’, I should think it a mi-
nimal prerequisite of a scientific attitude to question the definition and use (in the
context of artistry) of terms such as ‘anonymity’, ‘status’, ‘inspiration’, ‘portrait’,
‘copy’, to name but a few. And even should a comparable tradition of portraiture
have been discovered in sub-Saharan Africa, would this prevent the concept from
“being firmly embedded in the Western researcher’s frame of mind” (2002:29)? Dr.
Fischer seems intent upon seeing malevolent intentions in even the most innocent
and open-ended formulations.
From my research of the literature, and of Vandenhoute’s evidence from fieldwork, 1
have concluded that; (a) the concept of portrait(ure) is unclear, and the term is often
used indiscriminately; (b) that there seems to be little evidence of such a tradition in
sub-Saharan sculpture in general, and in Dan sculpture in particular. The findings
with regard to Baule and Senufo traditions are very likely of great value to this re-
search, but, as noted earlier, this 67-page working paper (with 9 pages of bibliogra-
phy) does not aspire to be comprehensive, let alone exhaustive.
Furthermore, I do not “have to” mention the familiarity of the Dan with the notion
of ‘likeness’, as Dr. Fischer implies: I eagerly want to, for as I try to make clear, there
is in my understanding, an important difference between ‘portrait’ and ‘likeness’. I
found this distinction in Vandenhoute’s dissertation, not in Dr. Fischer’s findings.
With regard to the Dan of Côte d’Ivoire, I have reason to accept that there is no
tradition of portraiture in the Western (art historical) sense of the term. Concerning
the Liberian Dan, I am not sure what to think. Tire recurrent use of the word ‘port-
rait’ leads me to believe that such a tradition was hypothesized.
Eidetics
As noted earlier, nowhere in my article do I claim a comprehensive representation of
all the available literature (even my 425 page M.A. thesis does not aspire to such an
unattainable goal). Again, my main aims are: (1) to acquaint the reader with
Vandenhoute’s work; and (2) to open up discussion on these highly interesting mat-
ters. I do know that there is more to be found about this subject in the literature.
Even if I had wanted to, I could not have mentioned it all.
My reference to Himmelheber’s research into the subject of eidetics is not the first
without a negative remark, as Dr. Fischer contends. Throughout the article, I duly
note his pioneering work (2002:3,11,14,22,23,34).
“Himmelheber was the first researcher to report eidetic ability, without however na-
ming it as such [...] (2002:34).”The second part of this sentence is not, unless one is
ill-willed, a “polemic statement.”The simple fact is that Vandenhoute has named and
defined the phenomenon (“beelding”), when he encountered it. whereas Himmelhe-
ber did not. I should think that the former is objectively preferable.
Apparently, it is Dr. Fischer, who by all means wants to interpret this comparison of
empirical research as a competition between two eminent scholars. I would gladly
have welcomed a thorough questioning of the subject(s) at hand. Instead, the review-
er has decided to take my criticisms as a personal attack, and to evade the academic
exchange of ideas.
Socialization
Yes, I have omitted to mention Himmelheber’s and Fischer’s observations on the
subject of the artist's training, mea culpa. Still, why has he not convinced me of the
122
Sam Vangheluwe: In Reply to Dr. Eberhard Fischer’s Review
value of their findings, and of my neglect in not mentioning them, instead of once
again retiring from the debate. Besides, in discussing “aesthetic socialization”
(2002:38-43), I have decided not to focus on the sculptor’s training, but on the broa-
der and far more imponderable concept of‘a lifetime of exposure to sculpture’ and
everything that is involved.
Technique
To complete the partial quote by Dr. Fischer in his review:
So wird im großen und ganzen hartes Holz verwendet, weil dieses sich verhältnis-
mäßig gut hält. Dessen sonstige Vorzüge, gute Polierbarkeit, Annahme einer
schönen Alterspatina, die Möglichkeit detaillierter Arbeit ignoriert man dabei
völlig. [...] So kommt es, daß die größte Zahl der Figuren meiner Sammlung star-
ke Risse aufweisen; daß sich solches durch langsames Austrocknen vermeiden
ließe, scheint hier unbekannt oder es wird kein Wert darauf gelegt (Himmelheber
1935:27).
Himmelheber does not give his informants much credit, judging from this. He does
not tell us whether “the majority” of sculptures in loco show cracks, nor whether this
is important. Should both questions be answered positively, then surely these sculp-
tors must be incompetent.
My suggestion that “it might well be that climatic change was to blame for the degra-
dation of Himmelheber's collection” (2002:47), is anything but a “totally futile
attempt at dishonoring” Himmelheber’s collection.
I must, at this point, admit a shortcoming; I should have presented my compilation of
research findings on this very subject (as I did in my M.A thesis), which leads to the
conclusion that the literature provides no conclusive evidence to prove that the use
of fresh or ‘nontempered’ wood necessarily leads sculptures to crack. Too many con-
tradictions prevent such an extrapolation. This led me to propose the possibility of
other reasons for the works in Himmelheber’s collection to crack. No malevolence,
merely conjecture.
Tradition and Artistic License
Jeder Stamm hat seinen Stil. Der Künstler hält sich ziemlich streng an die ihm
von diesem Stammesstil vorgeschriebenen Formen. Darin liegt ohne Zweifel
eine Beschränkung der künstlerischen Freiheit. Andererseits ist wohl gerade die-
ses Verharren im Überkommenen, das in Afrika zu reinen, geläuterten Stilfor-
men geführt hat, wie wir sie heute dort antreffen (1960:43).
This is what Himmelheber wrote in Negerkunst und Negerkünstler, in his chapter on
“Bindung und Freiheit.” This quote is followed by four summary examples of the
mixing of “tribal styles”. From the quote above, I do not see that Himmelheber has
challenged the notion of unitary tribal styles. Whether that does or does not make
him an exponent of the ’one tribe, one style’-notion, is, at the very least, a matter of
discussion.
I do not see how I have misquoted Himmelheber’s warning not to acclaim just any
African piece of art, since it might well be “daß der betreffende Künstler es nicht
verstanden hat oder nicht die Freiheit hatte, ein individuelles Kunstwerk zu schaffen,
so daß dieses nur der Wert einer Kopie hat” (1960:46). And yes, it is surely paradoxi-
cal that all the quotes from the informants in Negerkünstler (1935:64-66) contradict
the assumption that many artists “do not know how, or do not have the license to
create individual works of art.” Are we to choose between Himmelheber’s word and
that of his informants?
And yet again. Dr. Fischer disregards the point. In my paper, I have tried to make as
clear as possible that, judging from the available literature, the term ‘copy’ is very
often used without defining it. Even from Dr. Fischer’s review, I still cannot make out
what he means with “Selbstkopie” and “Fremdkopie,” besides what I understand it
123
TRIBUS 53,2004
to mean. But what is the point? The point is that I fundamentally disagree with the
use of the term 'copy’ in the context of sub-Saharan sculpture (with the possible ex-
ception of tourist art), as it presupposes a mindless and servile chore. What Western
artist would accept such a description of his work?
No, I do not impute the antithesis Western artist vs. African artisan (2002:52-3) ex-
clusively to Dr. Fischer. We express this assumption, this ‘atavistic doubt’, in the very
terms we use (e.g. ‘copy’, ‘unique, individual work’, ‘license’ etc.), and in our whole
attitude. Even Jan Vandenhoute set out to prove that the Dan artist does (did) not
differ fundamentally from his Western counterpart. Are we ever ‘scientifically’ cer-
tain that something is art, and on what grounds?
Tire reviewer himself uses the word ‘replica’ (“Repliken”) to indicate “further versi-
ons of existing prototypes.” Personally, I understand ‘replica’ to mean; ‘a more or less
exact copy’. The fact that the gau pede mask was commissioned to replace a lost ori-
ginal does not, in my view, rule out that it is “a new work, based in a tradition”
(2002:52). It was not replicated, but made again, from memory, with all the complex
aesthetic and emotional sensibilities that such ‘memory’ implies. Even a completely
‘new’ form of mask, must have its aesthetic roots in the same fertile ground, in the
material, in the ‘socialized’ repertory of forms, and in the sensible universe around.
I readily grant that Dr. Fischer has tried to document the subtle moments in a creati-
ve process. What malevolence could there be, in my translation of “seelisch labilen
Zustand (beim Schaffen)” into “mental instability” (2002:53). What are the alternati-
ves? ‘Psychological imbalance’? ‘Imbalanced state of mind’?. However tactful and
delicately Dr. Fischer has intended to approach his subject, I cannot protest strongly
enough against the equation of creativity (or creation) with any kind of mental ab-
normality. It is my personal conviction that this notion is ethnocentric (as are such
vaguely defined concepts as ‘copy’ or ‘portrait’), and negative. In my view. Dr. Fischer
is not doing artists - Dan or otherwise - any service by situating the genesis of art in
a state of non compos mentis. Why should more or less irrational processes automati-
cally indicate ‘psychological imbalance’? The reviewer has rightly noticed my indig-
nation at this all too common notion, but he wrongly believes that I have tried to ri-
dicule him. Any reader of my paper and Dr. Fischer’s review, will see that it is quite
the reverse.
In conclusion
It is regrettable that the venerable Dr. Fischer seems so utterly convinced that the
editors or I are seeking quarrel with him. 1 regret that the reviewer has used so many
words to say so little of the ideas expressed in the article (any reader of the review
would think that my paper was about the work of Himmelheber and Fischer).
I gather that Dr. Fischer respects Jan Vandenhoute’s work as I do. I suppose that he too
regrets its very limited dissemination. I do not expect Dr. Fischer to agree with my view,
that Vandenhoute’s work is more thorough, more refined in many ways. I wish that Dr.
Eberhard Fischer could agree to disagree. I am not going to beg to differ.
Antwerp, June 2003
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124
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1945 Het masker in de kunst en de cultuur van het Boven-Cavallygebied
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Vatter, Ernst
1926 Religiöse Plastik der Naturvölker. Frankfurt: Frankfurter Verlags-An-
stalt AG.
125
Raphaela Veit
Einige Beispiele für die Bedeutung und handschriftliche
Ausgestaltung des islamischen Bittgebets du'ä'*
I. Einführung zum Gebet im Islam:
“Lob sei Gott, dessen Milde allumfassend und dessen Barmherzigkeit allumgrei-
fend ist, der Seine Diener für ihr Gedenken an Ihn durch Sein Gedenken an sie be-
lohnt, denn Er - erhaben ist Er - hat gesagt: ‘Gedenket meiner, und ich will euer ge-
denken’ (Sure II, 147); der sie zu Bitte und Gebet anspornte, da Er sprach: ‘Rufet
mich an, ich will euch erhören ' (Sure XL, 62); und der den Gehorsamen und Unge-
horsamen, den Nahen und Fernen Sehnsucht danach eingegeben hat, sich in der
Gegenwart Seiner Majestät zu freuen, indem sie ihre Wünsche und Nöte vor Ihn
bringen, da Er sprach: Wahrlich, ich bin nahe; ich antworte dem Ruf des Rufenden,
wenn er mich anruft* 1 (Sure II, 182).5,1
Im Islam wird zwischen freiwilligen Gebeten und solchen, die jedem Muslim als
Pflicht auferlegt sind, unterschieden. Fünfmal am Tag werden die Muslime von ih-
rem Muezzin zum Gebet gerufen, und das zu diesen Zeiten zu verrichtende Gebet,
das salât, ist jedem Gläubigen fest vorgeschrieben.2 Das salât hat eine rituelle Form
mit streng festgelegten Wort- und Gebärdenfolgen. Neben dem Glaubensbekennt-
nis, dem Almosengeben, dem Fasten im Monat Ramadän und der Pilgerfahrt nach
Mekka zählt es zu den sogenannten fünf Säulen des Islam. Ausnahmen von der salät-
Pflicht werden nur für Frauen in Zeiten ritueller Unreinheit, Kinder und Kranke
gemacht, aber selbst letztere müssen, insofern sie in ausreichender Verfassung sind,
auf dem Krankenlager das salât beten und sind nur von den begleitenden körperli-
chen Übungen befreit. Als weitere religiöse Pflicht ist das Gebet bei der Versamm-
lung der muslimischen Gemeinde am Freitag, dem Feiertag der Muslime, zu nen-
nen.3
In der wissenschaftlichen Literatur stehen Formen des persönlichen Gebets meist im
Schatten des salât, wodurch der Aspekt der persönlichen Frömmigkeit, die von An-
fang an sehr stark war und nach wie vor ist, vernachlässigt wird.4 Für das individuel-
le Zwiegespräch mit Gott gibt es aber neben dem salât eine große Zahl weiterer
* Dieser Artikel wurde von der Gerda-Henkel-Stiflung / Düsseldorf gefördert, dafür vielen
Dank. Ebenfalls danke ich Prof. Dr. Johannes Kalter (Linden-Museum / Stuttgart) und Dr.
Margareta Pavaloi (Völkerkunde-Museum der von Portheim-Stiftung / Heidelberg) für all ihre
Unterstützung. Aus redaktionellen Gründen musste die Umschrift der arabischen Begriffe lei-
der vereinfacht werden: Wir verwenden hier weitgehend die in der EI2 (The Encyclopaedia of
Islam: New Edition, Leiden / London, 1960-2002) gebrauchten Zeichen unter Verzicht auf die
Hervorhebung von Sonderzeichen mit einem Punkt unter der Linie. Damit wird die Fachwelt
die Terminologie problemlos erkennen, für den interessierten Laien ist eine genauere Um-
schrift nicht von Belang.
1 Zitiert aus Schimmel, Annemarie, Denn Dein ist das Reich - Gebete aus dem Islam. Frei-
burg, 1978, S. 10.
2 Zum salât: Watt, W. Montgomery / Welch, AlfordT, Der Islam I: Mohammed und die Früh-
zeit - Islamisches Recht - Religiöses Leben, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz, 1980, S. 262-84;
Monnot, Guy, Artikel “salât“, in; EI2 VIII, Leiden, 1995, S. 925-34; Padwick, Constance E.,
Muslim Dévotions: A Study of Prayer-Manuals in Common Use, Oxford, 1961, ND 1996, S. 6-9;
Schimmel, Annemarie, Mystische Dimensionen des Islam - Die Geschichte des Sufismus, Köln,
1985, S. 215-23.
3 Watt / Welch, Islam I. S. 296-99.
4 Dazu auch Schimmel, Denn Dein, S. 105-6 (Nachwort ). Allgemein zum Gebet vom religions-
historischen Standpunkt aus vgl. Heiler, Friedrich, Das Gebet - Eine religionsgeschichtliche
und religionsphilosophische Untersuchung. München, 1918, 1968 (ND der fünften Auflage).
127
TRIBUS 53,2004
Tafel la: Inv.-Nr. L4328/21
Manuskript (Leder, Papier), 20 x 11,8 cm, datiert 1097 /1685-6, Iran, 147 Blatt, Lack-
einband auf Papier mit geprägtem Leder und Goldmalerei
Inhalt: As-sahifa al-kämila (schiitische Gebetsammlung), Autor: Zayn al-'Äbidin,
der vierte Imam der Schia (38 / 658-9 - wohl 117/ 735)
Kalligraph (f. 145r genannt): Muhammad Ridä ibn 'Ali Ridä al-'Abbäsi
Edition: Zayn al-'Äbidin, al-Sahifat al-kämilat al-sajjädiyya, Chittick, William C.
(Hg.), Oxford, 1988.
Vergleichsstücke: Die gleiche Gebetsammlung liegt in drei weiteren Manuskripten
des Linden-Museums vor (Inv.-Nr. L4328/20,Inv.-Nr. L4328/22 und Inv.-Nr. L4328/23),
zwei Exemplare sind im Besitz des Völkerkunde-Museums der von Portheim-Stif-
tung Heidelberg, schließlich ist ein Manuskript beschrieben im Katalog Sotheby‘s,
Arts of the Islamic World, 22 April 1999, Nr. 35.
Bemerkung: Die Reihenfolge der Gebete weicht von der in der Edition von Chittick
ab, indem Gebet Nr. 61 zwischen Nr. 56 und Nr. 57 steht.
128
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Tafel 1b: Inv.-Nr. L4328/21
Titelseite (f. 2v-3r) desselben Manuskripts wie Tafel la; aufwendig ausgeschmückt
mit Kopfillumination und vegetabilem Randdekor unter Verwendung von zwei ver-
schiedenen Goldtönen; der Text in schwarzem Naskhi-Duktus befindet sich in wei-
ßen Wolken vor goldenem Hintergrund.
Gebetsformen, auf die die Muslime nach Bedarf und nach Belieben zurückgreifen
können. So steht es ihnen frei, die fünf täglichen vorgeschriebenen salät-Verrichtungen
zu zusätzlichen Tages- oder Nachtzeiten ganz oder teilweise zu wiederholen (vgl. Ta-
feln 7a-b).5 Zu den freiwilligen Gebeten gehört auch das “du'ä'” genannte Bittgebet.
Die arabische Bezeichnung “du'ä'” bedeutet wörtlich “Anrufung”.6 Konkret verbin-
det sich damit eine an Gott gerichtete Bitte für sich selbst oder jemand anderen aber
auch gegen jemand anderen, denn der Inhalt dieser Anrufung drückt je nachdem
einen Segen oder einen Fluch aus. Neben dieser ausgesprochen persönlichen Aus-
richtung des Bittgebets kann der Gegenstand des du'ä' auch das gemeinsame Gut
und das Wohlergehen der muslimischen Gemeinschaft betreffen. Die Tradition des
du'ä' geht zurück auf den Koran sowie auf in den Hadithen gesammelte Aussprüche
des Propheten.7 In islamischen Gelehrtenkreisen wurde das Problem der Vereinbar-
keit der göttlichen Prädestination und des menschlichen Bittgebets kontrovers dis-
kutiert angesichts der Frage nach dem Wert einer Bitte an Gott, wenn alles nach
göttlichem Willen vorherbestimml ist. Die meisten Religionslehrer verteidigten je-
doch das Bittgebet mit Bezug auf den Koran, in dem die Menschen ausdrücklich zur
Anrufung Gottes aufgefordert werden.8 * Besonders originell sind die Rechtfertigun-
gen des du'ä' aus mystischen Kreisen: Nach al-Ghazzäli (450 / 1058 - 505 / UH6)
kann man durch das Gebet Übel abwenden, so wie man einen Schild gegen Pfeile
5 Watt / Welch, Islam I, S. 285-87.
6 Gardet, Louis, Artikel “duä'“, in: EI2 II. Leiden / London, 1965, S. 617-18 und Padwick. De-
votions, S. 12-13. Vgl. auch die Verwendung von „rufen“ / „Ruf“ im eingangs zitierten Gebet.
7 Im Detail mit Zitaten zentraler Stellen dargestellt bei Gardet, “du'ä'“, S. 617 und Zayn al-
'Äbidin, al-Sahifat al-kämilat al-sajjädiyya, CurmCK, William C. (Hg.), Oxford. 1988, Vorwort
S. xxii-xxvi (S. xxv außerdem mit schiitischen Aussagen zum Gebet). Für einige Beispiele an
Koran-Belegen vgl. das eingangs zitierte Gebet.
8 Zu dieser Diskussion Schimmel, Mystische, S. 224-27.
4 Hier wie im Folgenden sind die Jahreszahlen der islamischen Zeitrechnung denen nach
christlicher mit Schrägstrich vorangestellt. Zur jeweiligen Gleichsetzung stehen tabellarische
Werke zur Verfügung wie Wüstenfeld-Mahler'sche Vergleichungstabellen zur muslimi-
schen und iranischen Zeitrechnung mit Tafeln zur Umrechnung orient-christlicher Ären, Wies-
baden, 19613 (verbesserte und erweiterte Auflage von Bertold Spuler).
129
TRIBUS 53,2004
Tafel 2: Inv.-Nr. L4328/22
Manuskript (Leder, Papier), 16,1 x 9 cm, frühes 18. Jahrhundert, Iran, 124 Blatt,
Lackeinband auf Papier mit Pflanzenmalerei in mehreren Farben und Gold in tep-
pichartiger Anordnung
Inhalt: As-sahifa al-kämila (siehe Tafel la)
Kalligraph (f. 123v): nicht genannt außer mit der für Süfls typischen Selbstbezeich-
nung al-faqir ilä-lläh („Der Arme bei Gott“)
Edition / Vergleichsstücke: siehe Tafel la
Bemerkungen: Reihenfolge der Gebete wie in der Chittick-Edition; bei Gebet Nr. 55
fehlt aber das zusätzliche Gebet im Anschluss an die vorausgehenden Lobpreisun-
gen; mit persischer Interlinearübersetzung.
einsetzt.10 Ar-Rümi (604 / 1207-8 - 672 /1273) zufolge lässt Gott den Menschen bit-
ten, um ihn durch das Gebet zu sich zu führen, oder auch einfach, weil er seine Stim-
me so gerne hört.11 Für Rondi (733 / 1333 - 792 / 1390) hat Gott das Bittgebet nicht
empfohlen, um dem Menschen dadurch göttliche Gaben zu gewähren, sondern um
das Knechtsverhältnis des Menschen zu Gott zum Ausdruck zu bringen.12 Zur besse-
ren Ein- und Abgrenzung des du'ä' werden im Folgenden kurz weitere Formen des
freiwilligen Gebets im Islam vorgestellt. Wir beschränken uns dabei auf die Angabe
10 Schimmel, Mystische, S. 225.
11 Ebd., S. 227 sowie Schimmel, Denn Dein, S. 109-10 (Nachwort) jeweils mit Textbeispielen.
12 Ritter. Hellmut, Das Meer der Seele - Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fari-
duddin Attar, Leiden, 1978 (erweiterte Ausgabe des Erstdrucks 1955), S. 55-56. Zum Verhältnis
des Menschen zu Gott im Islam vgl. unten Anm. 15.
130
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Tafel 3; Inv.-Nr. L4328/23
Manuskript (Leder, Papier), 9,7 x 6 cm. Anfang 19. Jahrhundert, Iran, 163 Blatt,
Lackeinband auf Papier mit dem populären Gol-e Bolbol (Rose und Nachtigall-
Motiv in Farben auf Blattgold-Hintergrund
Inhalt: As-sahifa al-kämila (siehe Tafel la)
Kalligraph (f. 149v genannt): Muhammad 'Ali ibn Fattäh
Edition / Vergleichsstücke: siehe Tafel la
Bemerkung: Reihenfolge der Gebete wie Tafeln la-b
der Grundbedeutung des jeweiligen Gebets, die teilweise beachtlichen Differenzie-
rungen in der Form wie in unterschiedlichen inhaltlichen Formulierungen sind an-
dernorts ausführlich erläutert.13
dhikr: Wörtlich “Erinnerung” oder “Erwähnung”; die innerliche (= stille, geistige)
wie äußerliche (= laute, ausgesprochene) Erwähnung oder Anrufung eines oder
mehrerer Namen Gottes (teilweise als unablässige Wiederholung), häufig auch kora-
nischer Formeln wie “Oh Barmherziger, oh Erbarmer”, “Es gibt keinen Gott außer
Gott”, “Lob sei Gott”, “Ruhm sei Gott” oder “Gott ist groß”.14
'ibäda: Ein Gebet, das die Beziehung des Menschen zu Gott thematisiert, die man
sich im Islam als das Verhältnis eines Knechts oder Dieners (abd; von der gleichen
13 Siehe im Einzelnen die Angaben zu der jeweiligen Gebetsform.
14 Zu der großen Bandbreite an Formulierungen je nach Bedarf sowie zu den zahlreichen De-
tailbedeutungen je nach Kontext Padwick, Devotions, S. 13-20 sowie Schimmel, Mystische, S.
238-53. Sehnsucht nach Gott und die Suche nach seiner Nähe spielen bei der Beurteilung von
dhikr bei den Mystikern eine wichtige Rolle, galt doch dhikr als der erste Schritt auf dem Weg
der Liebe zu Gott (vgl. Schimmel, ebd., S. 240).
131
TRIBUS 53,2004
Tafel 4a: Inv.-Nr. L4328/26
Manuskript (Leder, Papier), 17,7 x
10,4 cm, Mitte 18. Jahrhundert, Iran,
177 Blatt, ausgefallener Lackein-
band des Meisters Abü Tälib: im
Zentrum ein schwarz-gefiedertes
Marmorpapier als Hintergrund; das
mehrfarbige Muster wurde mit Hil-
fe von feinen Kämmen ausgestaltet
Inhalt: Schiitische Gebetsammlung
ohne Titel- oder Verfasserangabe,
auf acht Koransuren folgen Bittge-
bete und Litaneien
Kalligraph: nicht genannt
Teiledition: 'Ali ibn AbiTälib (Amir
al-mu minin), Supplications (Du'ä'),
Chittick, William C. (Hg.), London,
[1985], S. 6-41 (vgl. im Manuskript
die beiden Gebete auf f. 23v-37v).
Bemerkungen: Teilweise mit persi-
scher Interlinearübersetzung; das
Morgengebet des 'Ali auf f. 33r-37v
wurde für diesen Artikel übersetzt.
Tafel 4b: Inv.-Nr. L4328/26
Titelseite (f. 2v-3r) desselben Manuskripts wie Tafel 4a; aufwendig gestaltet mit zwei
identisch ausgeführten Kopfilluminationen für Sure 1 (f. 2v) und Sure 36 (f. 3r). Der
Platz für den Text von Sure 1 wurde nicht ausgefüllt, bei Sure 36 fehlt hier die persi-
sche Interlinearübersetzung, für die die schmäleren Zeilen zwischen dem Text vorge-
sehen waren. Die Rubriken sind im Thuluth-Duktus. der Text ist in Naskhi gehalten.
132
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'â'
Wortwurzel ist ibäda abgeleitet) zu seinem Herrn vorstellt (im Christentum dage-
gen: Kind-Gottes-Verhältnis).15
sudjüd; Niederwerfung im Gebet, wobei die Stirn den Boden berührt; auch die Be-
zeichnung für ein Gebet, das diesen Gedanken der Prosternation zum Ausdruck
bringt, ohne dass es von der tatsächlichen körperlichen Ausführung begleitet wird.16
Hirz; Wörtlich “Festung”, “Zufluchtsort”; ein Gebet, das den Gedanken “Zuflucht
bei Gott” ausdrückt; hirz bedeutet außerdem Amulett.17
munâdjât; Ein stilles Gebet, eine vertrauliche, intime Unterhaltung mit Gott, auch
spirituelles Streben.18
wird: Wörtlich “Wasserstelle” / “Tränke”; auch die Bezeichnung für eine Koranein-
teilung sowie für die Unterscheidung von Tag und Nacht oder für zusätzliche Ge-
betszeiten zu den fünf vorgeschriebenen des salât; im Kontext “Gebet” bedeutet
wird eine Litanei der Annäherung an Gott.
hizb: Wörtlich “Partei”, “Teil”, “der 60. Teil des Korans”; im Kontext “Gebet” bedeu-
tet hizb Litanei und wird als Synonym für wird verwendet.19
wazîfa / râtib: Ein festes tägliches Zusatzgebet, z. B. mehr Prosternationen als für das
salât vorgeschrieben und ähnliches mehr.20
fikr: Wörtlich “Denken” / “Gedanke”, im religiösen Kontext “Meditation”.21
Diese verschiedenen Arten und Ausgestaltungen islamischen Gebets sind nicht strikt
voneinander getrennt, im Gegenteil: Häufig werden mehrere Gebetsformen kombi-
niert oder ineinander verwoben. So ist beispielsweise dhikr ein typischer Bestandteil
von du IT. Von islamischen Religionsgelehrten wurden variierende Rangfolgen für
die Bedeutung der einzelnen Gebetsarten erstellt; dabei stehen in der Regel salât
und dhikr über du'â',22 während die Muslime allgemein diese drei Möglichkeiten des
Gebets am meisten schätzen.23
Die islamische Geistlichkeit befasste sich darüber hinaus mit den Bedingungen, die bei
der Verrichtung eines Gebets beachtet werden sollten. Wie schon bei den einzelnen Ge-
betsformen zwischen ‘verpflichtend’ und ‘freiwillig’ unterschieden wurde, so fallen auch
die für das Sprechen eines Gebets aufgestellten Regelungen in diese beiden Bereiche:
Verpflichtende Voraussetzungen für die Verrichtung des salât sind die rituelle Rein-
heit des Körpers,24 25 der Kleidung und des Gebetsplatzes, die Einnahme der richtigen
Gebetsrichtung, das Einhalten der Gebetszeiten und die Absicht zur Verrichtung des
Gebets. Der Islam kennt außerdem Speisevorschriften: Blut, Schweinefleisch und
das Fleisch von verendeten oder nicht ordnungsgemäß geschlachteten Tieren sowie
berauschende Getränke sind den Muslimen verboten.23 Besonders die von Vertre-
15 Padwick, Devotions, S. 3-6. Die Idee einer Gotteskindschaft wurde im Islam mit der christli-
chen Lehre von Jesus als dem Sohn Gottes in Verbindung gebracht, was mit Bezug auf Sure
CXI1,3 [Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden.) striktest abgelehnt wurde. Mehr zum
Verhältnis des Menschen zu Gott im Islam bei Ritter. Das Meer, S. 65.
16 Padwick, Devotions, S. 9-11.
17 Ebd., S. 25.
18 Ebd., S. 11-12 sowie Schimmel, Mystische, S. 223-24.
19 Padwick, Devotions, S. 23-25.
20 Ebd., S. 22.
21 Gardet, “du'ä’”, S. 617.
22 Ebd.
23 Zayn al-'Äbidin, al-Sahifat, Chittick, Vorwort S. xxiii.
24 Die rituelle Reinheit des Körpers wird je nach Zustand des Muslims durch eine kleine oder
große Waschung erreicht. Als sogenannte kleine Reinheitsverluste gelten Urinieren, Stuhlgang,
Windlassen, Schlaf und Beeinträchtigung des Verstandes z. B. durch Ohnmacht oder Trunken-
heit. Eine rituelle Vollkörperreinigung wird erforderlich bei größerer Unreinheit, so nach Sa-
menerguss, Menstruation, Beischlaf und Entbindung. Je nach Rechtsschule gibt es weitere Vor-
schriften zur rituellen Reinheit; vgl. im einzelnen Reinhart, A. Kevin. Stichwort “tahära”, in:
EI2 X, Leiden, 2000, S. 99.
25 Vgl. im einzelnen Rodinson, Maxime, Stichwort “ghidhä”’. in: EI211, S. 1057-72, vor allem S.
1061-72.
133
TRIBUS 53,2004
Tafel 5a: Inv.-Nr. L4328/27
Manuskript (Leder, Papier), 22 x 14,3 cm, datiert 1159 / 1746-7, Iran, 115 Blatt, au-
ßergewöhnlicher Lackeinband mit einem Hintergrund aus Metallspänen in rötlich-
braunem Lack, Medaillons mit farbiger Blütenmalerei, am Rand eine in Thuluth
gehaltene Schriftleiste mit Lobsprüchen des Propheten Muhammad und seines
Schwiegersohns 'Ali auf das Bittgebet duT
Inhalt: Schiitische Gebetsammlung ohne Titel- oder Verfasserangabe, auf zwei Ko-
ransuren (VII und VIII) folgen Litaneien und Bittgebete in arabischer und persi-
scher Sprache, die arabischen Gebete sind teilweise mit persischer Interlinearüber-
setzung und mit persischen Kommentaren versehen
Kalligraph (f. 112r genannt): Muhammad Hasan Isfahäni
Tafel 5b: Inv.-Nr. L4328/27
Doppelblatt zu Beginn (f.
2v-3r) desselben Manus-
kripts wie Tafel 5a mit der
Eröffnungssure al-fätiha
in rotem Thuluth-Duktus
auf goldenem Hintergrund
in zwei zentralen Sternen
umgeben von farbigem
Blütendekor.
134
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets duT
Tafel 5c: Inv.-Nr. L4328/27
Detailaufnahme zu Tafel 5b
(f.2r).
tern der islamischen Mystik, den Sûfîs, verfassten Traktate zeichnen sich durch das
Aufstellen weiterer empfohlener, nicht vorgeschriebener26 Regeln aus. Bezogen auf
das du'â' versprach die penible Einhaltung dieser Anweisungen eine möglichst gro-
ße “Erfolgsgarantie” in Bezug auf den Inhalt des Bittgebets. Grundsätzlich werden
dabei äußerliche Bedingungen und das richtige Verhalten (adab) beim Gebet selbst
unterschieden. Ibrâhîm ibn Muhammad al-Bâdjûrî (1198 / 1783 - 1276 / 1860), einer
der großen Religionsgelehrten des 19. Jahrhunderts von der al-Azhar-Universität in
Kairo, gibt beispielsweise folgende Anleitung:27
Zu den bei der Verrichtung eines du'â' zu beachtenden äußerlichen Bedingungen
zählt das Essen von ausschließlich rechtlich erlaubten Speisen, das Beten in der
Überzeugung, dass das Gebet Erhörung findet, keine Ablenkung während des Ge-
bets, der Gegenstand der Bitte darf nicht zu einem sündigen Akt führen oder Anlass
zur Feindschaft zwischen Menschen desselben Bluts geben oder islamisches Recht
verletzen, keine Bitte um etwas Unmögliches, denn dies würde einen Mangel an Re-
spekt gegenüber Gott darstellen. Beim adab fordert al-Bâdjûrî die Wahl der besten
Zeiten zum Gebet, die Fortsetzung des du'â' mit rituellen Waschungen, dem salât
und dem mit einem Akt der Reue verbundenen Sündenbekenntnis, während dem
Gebet die Einhaltung der Gebetsrichtung nach Mekka, das Heben der Hände zum
Himmel sowie zu Beginn, in der Mitte und am Ende des du a' das Sprechen der bei-
den dhikr “Lob sei Gott” und “Segen auf den Propheten”.
Demnach hatten die Betenden mit einer entsprechenden religiösen Haltung die bes-
ten Aussichten, dass ihr Gebet Erhörung fand. So wurde auch Sûfî-Meistern die Fä-
26 Zu Diskussionen und Streitigkeiten um die Verwendung bestimmter Gesten in verschiede-
nen Zusammenhängen Gardet, “du'â'“, S. 617. Zu al-Ghazzâlîs ausführlichen Klassifizierun-
gen und Vorschriften für Gebete vgl. Schimmel, Mystische, S. 225.
27 Im Folgenden werden die Angaben nach al-Bâdjûrî kurz paraphrasiert, vgl. Ibrâhîm ibn Mu-
hammad al-Bâdjûrî, Hâshiya 'alâ Djawharat at-tawhîd. Kairo 1353 /1934, S. 90-91.
135
TRIBUS 53,2004
Tafel 6a: Inv.-Nr. L4328/24
Manuskript (Leder, Papier), 24,2 x
15,8 cm, das Manuskript selbst ist
aus Isfahan und trägt die Datierung
1132 / 1719-20 (f. 55r), der Einband
ist auf 1131 / 1718-19 datiert, 55
Blatt, ausgezeichneter Lackeinband
mit Pflanzenmalerei in Farben und
Gold vor einem schwarzen Hinter-
grund, am Rand eine in weißem
Thuluth gehaltene Schriftleiste mit
Lobsprüchen des Propheten Mu-
hammad auf das Bittgebet du'ä'
Inhalt: Schiilische Gebetsammlung
ohne Titel- oder Verfasserangabe,
auf Sure XXXVI folgen arabische
Bittgebete und Litaneien mit persi-
scher Interlinearübersetzung und
persischen Kommentaren zu den
einzelnen Gebeten
Kalligraph (zweimal genannt: auf
der Vorderseite des Einbands in der
Schriftleiste und auf f. 55r):Text und
Einband sind vom bekannten spät-
safawidischen Kalligraphen und
Lackmaler Ahmad an-Nayrizi
Illuminator: Manches spricht für Muhammad Hadi, mit dem Ahmad an-Nayrizi wohl
auch für ein fast zeitgleich entstandenes Gebetbuch zusammengearbeitet hat (s. u. Ver-
gleichsstücke).
Teiledition: 'Ali ibn Abi Tälib (Amir al-mu'minin), Supplications (Du'ä'), Chittick,
William C. (Hg.), London, [1985], S. 6-15 (vgl. im Manuskript das Gebet auf f. 8v-14v).
Vergleichsstücke: Ein in der Ausführung sehr ähnliches Manuskript ist beschrieben im
Katalog Sotheby‘s, Arts of the Islamic World, 12 October 2000, Nr. 58: Es handelt sich
um ein Gebetbuch mit 80 Seiten, der Kalligraph des Manuskripts wie der Schriftleisten
auf dem Lackeinband ist Ahmad an-Nayrizi. der Illuminator vermutlich sein Zeitge-
nosse Muhammad Hadi: das Manuskript ist auf Isfahan, 1127 /1715 datiert, der Lack-
einband auf 1132 / 1719-20. Aus den knappen Angaben im Sotheby's Katalog ergibt
sich, dass diese Handschrift und das Linden-Museums-Manuskript inhaltlich nur in
Bezug auf die Einband-Schriftleiste und die Medaillons zu Beginn (vgl. Tafel 6b) iden-
tisch sind. Die beiden Manuskripte mit ihren Einbänden sind fast zeitgleich entstan-
den, Ahmad an-Nayrizi steht als Kalligraph für beide fest, Muhammad Hadi kann mit
guten Gründen als Illuminator für beide vermutet werden (vgl. Tafeln 6a-c mit den
Abbildungen im Sotheby's Katalog).
Ein weiterer, früherer Lackeinband von Ahmad an-Nayrizi ist beschrieben im Katalog
Bonhams & Brooks, 2nd May 2001, Nr. 180: Der Einband ist datiert auf 1120/1708 und
besteht aus einem zentralen Medaillon mit Anhängern gefüllt mit Text sowie umlau-
fenden Schriftleisten; der Text ist ein anderer als der in dem Linden-Museums- und
dem Sotheby‘s-Manuskript, auch das Dekor ist stark abweichend.
Ein Beispiel aus der Korankalligraphic Ahmad an-Nayrizis findet sich bei Lings. Mar-
tin.The Quranic Art of Calligraphy and Illumination, Westerham / Kent, 1976, Abb. 32
(datiert 1126 /1714).
Bemerkungen: Sehr festes arabisches Papier in den Farbtönen grün, rosa, rot, braun
und beige; das Morgengebet des 'Ali auf f. 8v-14v wurde für diesen Artikel über-
setzt.
Tafel 6b: Inv.-Nr. L4328/24
Illuminierte Doppelseite (f. lv-2r) desselben Manuskripts wie Tafel 6a, in den Me-
daillons Lobsprüche auf das du'ä' aus dem Koran (XL, 60 und II, 186) und aus der
Hadith-Literatur in goldenem Thuluth auf farbigem Grund; freier Raum ist gefüllt
mit einem goldenen Weintrauben- und Weinblatt-Dekor, am Rand florales Goldde-
kor; vgl. die Abbildungen im Katalog Sotheby‘s (siehe Tafel 6a).
Tafel 6c: Inv.-Nr. L4328/24
Illuminierte Doppelseite (f. 2v-3r) desselben Manuskripts wie die Tafeln 6a-b mit
dem Beginn von Sure XXXVI; Kopfillumination mit feinem floralem Dekor, der
Text in schwarzem Naskhi befindet sich in durch goldenen Hintergrund angedeute-
ten weißen Wolkenzeilen, um den Schriftspiegel florales Golddekor ähnlich wie auf
f. lv-2r (Tafel 6b).
Ml
137
TRIBUS 53,2004
higkeit zugeschrieben, dass ihr Gebet besonders wirksam sei, und als Folge beauf-
tragte man sie damit. Bittgebete für andere zu verrichten.28
Im Gegensatz zum salät sind die Muslime bei der Wortwahl ihres Bittgebets grund-
sätzlich völlig frei. Wie in anderen Religionen auch haben sich aber im Laufe der
Jahrhunderte bis heute feste Gebete herausgebildet, die in alten wie modernen Ge-
betsammlungen zusammengestellt wurden und werden und auf die früher wie heute
gerne zurückgegriffen wird.29 Beliebte Bestandteile eines du'ä' sind neben persönli-
chen Formulierungen Koranzitate (vgl. unten bei den Übersetzungen die in kursiv
gesetzten Koranauszüge sowie die Angaben zu Gebet Nr. 54 bei as-sahifa al-kämila),
dem Propheten und anderen religiösen Autoritäten (bei den Schiiten in erster Li-
nie ihren Imämen30) zugeschriebene Aussprüche, bereits bestehende traditionelle
Gebete die ganz oder in verkürzter Form integriert werden, sowie adhkär (PI. von
dhikr).31 Ein langes oder kurzes du'ä' kann folglich sowohl spontan formuliert und
ausgesprochen - oder je nach Situation ausgerufen - wie auch ohne einen konkreten
Anlass für die jeweilige Bitte planvoll und sorgfältig ausgestaltet und für einen wie-
derholten oder späteren Gebrauch in teilweise bemerkenswerter Länge niederge-
schrieben werden. Liier ist beispielsweise daran zu denken, dass religiöse Lehrer auf
Wünsche ihrer Schüler hin Bittgebete für unterschiedliche Anliegen abfassten.32 Ge-
rade Werke schiitischer Frömmigkeit charakterisieren sich durch ausgesprochen
tiefgehende du'ä'-Texte.33 Wie oben erwähnt ist der Inhalt eines du'ä' entweder per-
sönlich oder auf das Allgemeinwohl der muslimischen Gemeinde ausgerichtet. Zu
Letzterem zählt die Bitte um Regen oder das Totengebet. In diesen Fällen nimmt es
eine festgesetzte, rituelle, von allen anerkannte Form in Wortwahl und Gestik an,
womit wiederum eine möglichst hohe Garantie der Wirksamkeit erreicht werden
soll.34
Für die Gebetsammlungen selbst wurden häufig unterschiedliche Formen des isla-
mischen Gebets, Kompositionen verschiedener religiöser Autoritäten wie auch
ganze Koransuren nebeneinander gestellt (vgl. besonders Tafeln 4a-b, 5a-b-c, 6a-
b-c und 7a-b), es gibt aber auch Gebetbücher, die allein auf eine Art des Gebets
wie beispielsweise das du'ä' konzentriert sind (vgl. Tafeln la-b, 2 und 3 zu der
du'ä'-Sammlung as-sahifa al-kämila sowie Tafeln 8a-b für eine Sammlung sehr kur-
zer Bittgebete).
Im Folgenden sollen nun Beispiele für das islamische Bittgebet - soweit bekannt
erstmals in deutscher Sprache - in Wort und Bild vorgestellt werden.35 Text- und
Materialbasis sind die künstlerisch erstrangigen Exemplare vor allem schiitischer
Gebetbücher in der Sammlung des Linden-Museums.36
28 Schimmel, Mystische, S. 230.
29 Vgl. die Zusammenstellung unterschiedlicher Gebetbücher von den Anfängen des Islam bis
in die Moderne bei Padwick, Devotions, S. 289-97 (Appendix I).
30 Zu den Imämen der Schia siehe unten. Das wohl am weitesten verbreitete und umfangreichs-
te schiitische Gebetbuch mit einer Zusammenstellung von Bittgebeten aller Imäme für jegliche
denkbare Gelegenheit ist der ‘Schlüssel zu den Gärten des Paradieses’ (Mafätih al-djinän) von
'AbbAs QuMMi (gestorben 1359 /1940); die Gebetsammlung liegt in zahlreichen Editionen vor,
die momentan aktuellste dürfte Beirut, 1992 sein.
31 Dazu auch die Ausführungen bei Schimmel. Mystische, S. 226-27.
32 Vgl. die Praxis des Propheten Muhammad dargestellt bei Zayn al-'Äbidin, al-Sahifat, Chit-
tick, Vorwort S. xxvi.
33 Gardet, “du'ä'”, S. 617.
34 Ebd. nähere Ausführungen für den Ritus des Regengebets.
35 Es ist leider unvermeidlich, dass stilistische Besonderheiten der arabischen Sprache (Wort-
spiele. Reimpaare, etc.) bei einer Übersetzung verloren gehen; vgl. zu diesen Problemen eines
Übersetzers auch Schimmel, Denn Dein, S. 108 (Nachwort).
36 Für Beispiele des Ausdrucks sunnitischer Frömmigkeit im Gebet vgl. die ausführliche Dar-
stellung bei Padwick, Devotions.
138
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Tafel 7a: Inv.-Nr. L4328/28
Manuskript (Leder, Papier), 17,3 x 11,5 cm, 18. Jahrhundert, Iran, 33 Blatt, Lackein-
band auf Papier mit Rankenmalerei in Gold auf schwarzem Hintergrund und Me-
daillons mit farbiger Blütenmalerei auf Blattgold
Inhalt: Schiitische Gebetsammlung ohne Titel- oder Verfasserangabe, auf ein 'Ali
zugeschriebenes Morgengebet folgen sieben Bittgebete zu den einzelnen Wochenta-
gen, dann sechs zusätzliche Gebete zum täglichen salät gefolgt von einem nach je-
dem Gebet zu rezitierenden weiteren kurzen Gebet, schließlich ein dem 'Ali-Schüler
Kumail ibn Ziyäd zugeschriebenes Bittgebet
Kalligraph: nicht genannt
Teiledition: 'Ali ibn AbiTälib (Amir al-mu'minin), Supplications (Du'ä'), Chittick,
William C. (Hg.), London, [1985], S. 6-41 (vgl. im Manuskript die beiden Gebete auf
f. Iv—6v und 17r-33r).
Bemerkungen: Das letzte Gebet ist mit einer persischen Interlinearübersetzung ver-
sehen; die Gebete zu den Wochentagen entsprechen nicht denen in as-sahifa al-kä-
mila; das Morgengebet des 'Ali auf f. lv-6v wurde für diesen Artikel übersetzt.
139
TRIBUS 53,2004
Tafel 7b: Inv.-Nr. L4328/28
Doppelseite (f. lv-2r) desselben Manuskripts wie Tafel 7a mit schöner Kopfillumina-
tion, der Text - des in diesem Artikel übersetzten Morgengebet des "Ali - ist hier wie
im ganzen Manuskript in schwarzem Naskhi in weißen Wolken auf goldenem Hin-
tergrund ausgeführt.
Die Schia unterscheidet sich von der Sunna zunächst bei der Frage nach der recht-
mäßigen Leitung der muslimischen Gemeinde nach dem Tod des Propheten Mu-
hammad (11 / 632); später ergaben sich auch Differenzen in theologischer Hinsicht.
Unter seinen ersten vier Nachfolgern, den rechtgeleiteten Kalifen, konnte die Ein-
heit der Muslime noch bewahrt werden; der letzte in ihrer Reihe war "Ali, der
Schwiegersohn des Propheten. Nach dessen Ermordung (40 / 661) kam es zum Schis-
ma, denn eine Partei (shi'a, davon abgeleitet die ‘Schiiten’) wollte in der Frage der
Führung der Muslime ausschließlich Nachkommen aus der Ehe der Propheten-
Tochler Fätima mit "Ali anerkennen. Uneinigkeiten über die Akzeptanz männlicher
Nachkommen von 'Ali bedingten wiederum Spaltungen innerhalb der Schia. Allen
Schiiten ist aber gemeinsam, dass die Linie der männlichen Nachkommen 'Alis, der
sogenannten Imäme, irgendwann endet, wobei der letzte Imam in der Reihe nicht
stirbt, sondern entrückt wird, um einst als Mahdi, als eine Art Messias-Gestalt, wie-
derzukehren. Die Bezeichnung für die einzelnen schiitischen Gruppierungen richtet
sich nach dem Imam, den sie als letzten dieser Linie anerkennen: So lässt die zahlen-
mäßig am stärksten vertretene Gruppe der Zwölfer-Schiiten, die beispielsweise im
Iran vorherrscht, die Reihe der Imäme mit der Entrückung des zwölften Imam en-
den, während die der Siebener-Schiiten sie bereits mit dem siebten abbricht.37 Die
Wertschätzung der Familie des Propheten, die in der in den Gebeten stets wieder-
kehrende Formel “segne Muhammad und seine Familie” ihren Ausdruck findet, be-
schränkt sich aber nicht auf schiitische Kreise, sondern ist allen Muslimen eigen.38
37 Zur Geschichte der Schia und zu ihren einzelnen Gruppierungen vgl. Halm, Heinz, Die
Schia, Darmstadt, 1988.
38 Allgemein zum Herabflehen des göttlichen Segens auf Muhammad in islamischen Gebeten
Schimmel, Denn Dein, S. 111—12 (Nachwort) sowie Dies., Mystische, S. 230, S. 303-21 und am
ausführlichsten Dies., Und Muhammad ist sein Prophet - Die Verehrung des Propheten in der
islamischen Frömmigkeit, Düsseldorf, 1981, München, 19953.
140
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Tafel 8a: Inv.-Nr. L4328/25
Manuskript (Leder, Papier),
10 x 6,3 cm, Anfang 19. Jahr-
hundert, Iran, 28 Blatt, Dun-
kelbrauner Ledereinband mit
aufgeprägter Leinenstruktur
auf den Deckeln; als Mittel-
feld ist ein geprägtes, vergol-
detes Leder mit Vögeln und
Rankenmotiv aufgeklebt
Inhalt: Sammlung kurzer Ge-
bete ohne Titel- oder Verfas-
serangabe
Kalligraph: nicht genannt
Tafel 8b; Inv.-Nr. L4328/25
Doppelseite (f. 8v-9r) aus demselben Manuskript wie Tafel 8a; wie im ganzen Manu-
skript sind die Rubriken in weißem, schnörkeligem Naskhi und der Text in Gold-
Naskhi auf blau gefärbtem Grund gehalten.
141
TRIBUS 53,2004
Die hier folgenden Beispiele für das islamische Bittgebet werden 'Ali selbst bezie-
hungsweise seinem Enkel, dem vierten Imam Zayn al-'Äbidin (38 / 658-9-95 / 713—
4 (oder 94 / 712-3)) zugeschrieben;39 sie wurden danach ausgewählt, einen möglichst
repräsentativen Eindruck des du'ä' zu vermitteln.
Zunächst wird ein relativ langes Morgengebet vorgestellt, für das in der schiitischen
Tradition 'Ali selbst als Autor genannt wird (tradiert in den Manuskripten der Tafeln
4a-b, 6a-b-c und 7a-b). Gebete dieser Länge finden sich auch in der Gebetsamm-
lung as-sahifa al-kämila (Das vollendete Buch) des Zayn al-'Äbidin. As-sahifa al-
kämila stellt die älteste Gebetsammlung in islamischen Quellen dar und ist eines der
ertragreichsten Werke islamischer Spiritualität der frühen Epoche (1. / 7. - 2. / 8.
Jahrhundert). Von frühesten Zeiten an bis heute erfährt sie in schiitischen Kreisen
höchste Verehrung.40 Diese Wertschätzung tritt auch in der kunstvollen Ausgestal-
tung von vier Manuskripten aus der Sammlung des Linden-Museums zutage (as-
sahifa al-kämila wird unter anderem tradiert in den Manuskripten der Tafeln la-b, 2
und 3).41 Da wir in diesem Artikel unterschiedliche Themen islamischen Gebets vor-
stellen möchten, wird unser Interesse bei as-sahifa al-kämila auf mehreren kürzeren
Ausformulierungen liegen. Zur Veranschaulichung der Breite des islamischen Bitt-
gebets wird von as-sahifa al-kämila außerdem das vollständige Inhaltsverzeichnis in
Übersetzung vorgelegt.
II. Textbeispiele:
Zum besseren Verständnis wurden gelegentlich zusätzliche Angaben in eckigen
Klammern [ ] ergänzt. In kursiv gehaltene Passagen sind Koranzitate; ihr Wortlaut
folgt der Edition von Rudi Paret (Hg.), Der Koran 2 Bde (I: Übersetzung, II. Kom-
mentar und Konkordanz), Stuttgart / Berlin / u. a., 19967; 2001 auch als CD-ROM
erschienen.
A. 'Ali ibn AbiTälib: Bittgebet für den Morgen42
Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Erbarmers43
Oh Gott, oh Er, der die Zunge des Morgens mit der Sprache dessen Dämmerung
zum Vorschein bringt,
der die Bruchstücke der dunkeln Nacht mit der Düsterkeit ihres Gestammels schickt,
der die Strukturen der sich drehenden Himmelssphäre gemäß ihres Erscheinens festigt,
und der das Strahlen der Sonne mit dem Licht ihrer Glut glänzen lässt.
Oh Er, der Sein Wesen durch Sein Wesen erkennen lässt,
der erhaben ist über die Artverwandtschaft mit Seinen Geschöpfen,
und der zu groß ist für die Übereinstimmung [Seiner Geschöpfe] mit Seinen Qualitäten.
39 Zum Autor wie zum Werk vgl. im einzelnen Zayn al-'Äbidin, al-Sahifat, Chittick, Vorwort S.
xv-xx.
40 Mehr zu ihrer herausragenden Bedeutung Ebd. sowie Padwick, Devotions, S. 310 (Index).
Allgemein stellt sich bei Fragen zur persönlichen Frömmigkeit der Muslime das Problem, in-
wieweit schiitische Gebete über die eigentlichen schiitischen Kreise hinaus Verbreitung fanden
und finden und benutzt werden. Aus den Quellen gehen keine Angaben hierzu hervor, eine
diesbezügliche Untersuchung steht noch aus.
41 Die künstlerische Ausgestaltung von Manuskripten mit islamischen Gebelsammlungen ori-
entiert sich an den für die Koranillumination herausgebildeten Standards, vgl. dazu Veit, Ra-
phaela, Die Kunst der Korankalligraphie - dargestellt an Beispielen aus dem Linden-Museum
Stuttgart (Staatliches Museum für Völkerkunde), Tribus 51 (2002), S. 162-87. Allgemein zur
Interpretation von Koran-Illuminationen vgl. Lings. Martin, The Quranic Art of Calligraphy
and Illumination, Westerham / Kent, 1976, S. 73-77.
42 Die Übersetzung basiert auf der Edition 'Ali ibn Abi Tälib (Amir al-mu'minin), Supplicati-
ons (Du'ä'), Chittick, William C. (Hg.), London, [1985], S. 6-15.
43 Mit dieser Anrufung beginnen auch alle Suren des Korans außer Sure IX.
142
Raphaela Veil: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Oh Er, der dem [menschlichen] Denken von Meinungen nahe ist,
der entfernt ist von den Blicken der Augen,
und der weiß, was sein wird, bevor es eintritt.
Oh Er, der mich in der Wiege Seiner Sicherheit und Seines Schutzes zur Ruhe legt,
der mich weckt für das Wohlwollen und die Güte, die Er mir zuteil werden lässt,
und der die Klauen des Bösen von mir zurückhält mit Seiner Hand und Seiner Macht!
Segne, oh Gott, den Führer zu Dir in der dunkelsten Nacht [= Muhammad],
ihn, der von [all] Deinen Stricken sich am Seil des längsten Adels festhält,
ihn, dessen Ruhm offensichtlich ist auf der Höhe von kräftigen Schultern,
ihn, dessen Füße fest stehen trotz schlüpfriger Plätze in alter Zeit,
und [segne] seine Familie, die vortreffliche, die auserwählte, die fromme.
Und öffne für uns, oh Gott, die Türflügel des Morgens mit den Schlüsseln
des Erbarmens und des Gedeihens;
kleide mich, oh Gott, mit den ausgezeichnetsten Kleidern der [rechten] Führung
und der Rechtschaffenheit;
pflanze, oh Gott, mit Deiner Gewalt die Quellen der Demut im Wasserplatz meines
Herzens;
lass fließen, oh Gott, Tränen des Seufzens aus den Winkeln meiner Augen aus Ehr-
furcht vor Dir;
und züchtige, oh Gott, den Leichtsinn meiner Ungeschicklichkeit mit den Zügeln
der Zufriedenheit.
Mein Gott, wenn Erbarmen von Dir nicht mit schönem Erfolg für mich beginnt,
wer kann mich dann zu Dir nehmen auf dem deutlichen Weg?
Wenn Deine Besonnenheit mich dem [Ver-]Führer von Hoffnung und Wünschen
übergibt, wer fängt dann mein Straucheln beim Fehltritt der Begierde auf?
Wenn Deine Hilfe mich verlässt im Kampf mit der Seele und dem Satan, dann wird
Dein Verlassen mich Not und Entbehrung anvertraut haben.
Mein Gott, siehst Du, dass ich nicht zu Dir kam, es sei denn auf dem Weg der Hoff-
nungen,
oder nicht an den Enden Deines Seils festhielt, es sei denn meine Sünden führten
mich vom Haus der Vereinigung [mit Dir] weg?
Was für ein übler Berg, auf den meine Seele aus ihrer Begierde heraus stieg!
Wehe ihr, da sie versucht wurde von ihren eigenen Meinungen und Wünschen!
Vernichtung sei ihr ob ihrer Dreistigkeit gegenüber ihrem Meister und Beschützer!
Mein Gott, ich habe an die Tür Deiner Barmherzigkeit geklopft mit der Hand mei-
ner Hoffnung,
bin zu Dir geflohen auf der Suche nach Zuflucht vor meiner übermäßigen Begierde
und habe die Finger meiner Liebe an die Enden Deiner Seile geheftet.
Deshalb verzeih, oh Gott, die Ausrutscher und Fehler, die ich begangen habe,
und befreie mich von den Fußstricken meines Gewands.
Denn Du bist mein Meister, mein Beschützer, meine Stütze und meine Hoffnung,
der Gegenstand meiner Suche, meine Sehnsucht in meinem letzten Ende und sichere
Behausung.
Mein Gott, wie könntest Du einen armen Bettler abweisen, der bei Dir Zuflucht
sucht vor Sünden, fliehend?
Oder wie könntest Du einen Führung Suchenden enttäuschen, der sich an Deine
Schwelle begibt, rennend?
Oder wie könntest Du einen durstigen Mann zurückweisen, der zu Deinen Wasser-
becken kommt, um zu trinken?
Niemals! Denn Deine Teiche sind voll im Elend der Dürre,
143
TR1BUS 53,2004
Deine Tür ist offen für Ersuchen und Eindringen,
Du bist das Ziel von Bitten und der Gegenstand von Hoffnungen.
Mein Gott, dies sind die Zügel meiner Seele -
ich habe sie mit den Banden Deines Willens gebunden.
Dies sind die Lasten meiner Sünden -
ich habe sie abgewehrt mit Deinem Vergeben und mit Deiner Barmherzigkeit.
Und dies sind meine Begierden, die irreführen -
ich habe sie Deiner Sanftmut und Deiner Freundlichkeit anvertraut.
So lass diesen meinen Morgen, oh Gott, mit dem Strahlen der [rechten] Leitung auf
mich herabkommen und mit Sicherheit in der Religion und in dieser Welt.
Und [mach] meinen Abend zu einem Schild gegen die Täuschung der Feinde
und zu einem Schutz gegen die Schläge der Begierde.
Wahrlich Du bist fähig zu was immer Du willst.
[Sure 111,26-7:]
Du gibst die Herrschaft,
und Du entziehst sie, wem Du willst.
Du machst mächtig,
und Du machst niedrig, wen Du willst.
(All) das Gute (was man sich wünschen kann) liegt in deiner Hand.
Du hast zu allem die Macht.
Du lässt die (Nacht übergehen in den Tag,
und den Tag in die Nacht.
Du bringst (in der Natur) das Lebendige aus dem Toten hervor,
und das Tote aus dem Lebendigen.
Und Du bescherst, wem Du willst, (Gutes) ohne abzurechnen.
Es gibt keinen Gott außer Dir,
Ruhm sei Dir, oh Gott, und Lob.
Wer kennt Dein Maß, ohne Dich zu fürchten?
Wer weiß, was Du bist, ohne Ehrfurcht vor Dir?
Durch Deine Macht hast Du ungleiche Dinge zusammengefügt,
durch Deine Sanftmut hast Du den Tagesanbruch abgespalten [von der Nacht],
und durch Deine Großzügigkeit hast Du die schwarzen Schleier der Nacht erhellt.
Du hast die Wasser, süßes und salziges, fließen lassen von harten, strahlenden Steinen,
[Sure LXXVI11,14:] und von den Regenwolken Wasser in Strömen (auf die Erde)
herabkommen lassen,
und [Du hast] die Sonne und den Mond zu einer brennenden Lampe bestimmt für
die Geschöpfe,
ohne bei dem, was Du hervorbrachtest, Müdigkeit oder Anstrengung zu erfahren.
Deshalb, oh Er, der allein ist in Macht und Fortdauer,
und [der] Seine Sklaven beherrscht mit Tod und Vernichtung:
Segne Muhammad und seine Familie, die gottesfürchtige,
höre mein Flehen und antworte auf mein Rufen [= Bittgebet],
vernichte meine Feinde und verwirkliche meine Hoffnung und meine Sehnsucht
durch Deine Freigebigkeit.
Oh Bester von all denen, von denen es heißt, sie entfernen Bedrängnis,
und Gegenstand der Hoffnung in jeder Schwierigkeit und Leichtigkeit!
Ich habe mein Bedürfnis genannt,
so weise mich nicht zurück, versagend ob Deiner herrlichen Gaben.
Oh Wohltäter! Oh Wohltäter! Oh Wohltäter!
Durch Deine Barmherzigkeit, oh Barmherzigster der Barmherzigen!
Und Gott segne das beste Seiner Geschöpfe, Muhammad, und seine ganze Familie.
144
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
B. Die Gebetsammlung as-sahifa al-kämila des vierten Imam Zayn al-'Äbidin:44
1. Eine Übersicht der Gebete in as-sahifa al-kämila:45
Die Gebete des Propheten-Urenkels Zayn al-'Äbidin sind ein ausgezeichnetes Bei-
spiel dafür, dass den Muslimen nichts zu unbedeutend ist, um Gott vorgetragen zu
werden. Die insgesamt 68 Gebete (54 + 14 Gebete im Anhang, siehe im einzelnen
unten) verteilen sich wie folgt; Für sich selbst (gottgefälliges Leben, gute Ergebnisse,
momentane Bedürfnisse, Vollendung einer Koranrezitation), für seine Familie und
seine Leute, seine Nachbarn sowie die Grenzbewohner verfasste Zayn al-'Äbidin
zehn Gebete (Nr. 5,11,13,20,24,25,26,27,33,42). Dem Thema „Zuflucht bei Gott“
sind ebenso viele Gebete gewidmet (Nr. 8,10,17,28,41,49,51,52,53, [61]). Die Bitte
um Sündenvergebung für sich und andere haben neun Gebete zum Inhalt (Nr. 9.12,
16,31,32,34,37,38,39). Einen sehr großen Raum nehmen mit 14 Gebeten Bitten in
misslichen Lebenslagen ein wie Beunruhigung, Missgeschick, Betrübnis, Angst, Sor-
gen, Feinde, Beleidigungen, Kummer, Elend, Mühsal, Schwierigkeiten, Sorge um den
Lebensunterhalt, Schulden, Krankheit, Dürre, Gewitter oder Tod (Nr. 7,14,15,19,21,
22,29,30,36,40,50,54, [59], [60]). Ebenfalls 14 Bitten sind gewissen Zeiten Vorbehal-
ten, so religiös bedeutsamen Zeiträumen (der Fastenmonat Ramadän (Nr. 44,45,46),
die Pilgerfahrt Hadjdj (Nr. 47, 48)), dann dem Morgen, dem Abend und dem Neu-
mond (Nr. 6, 43) sowie den sieben Wochentagen (Nr. [62-68]). Zu einem du'ä' und
damit auch zu einer Sammlung dieser Gebete gehört außerdem das Lob Gottes und
seiner Geschöpfe (5 Gebete: Nr. 1,3, [55], [56], [58]), das Herabtlehen des Segens auf
Muhammad und seine Familie (3 Gebete: Nr. 2,4, [57]) und der Dank für bisherige
Gewährungen durch Gott (3 Gebete: Nr. 18,23,35).
1. Lob Gottes zu Beginn eines Bittgebets
2. Danach Segen auf Muhammad und seine Familie
3. Segen auf die Träger des Throns und jeden nahe gestellten Engel46
4. Segen auf die Gefolgsleute der Gesandten47 und diejenigen, die ihnen Glauben
schenken
5. Sein Bittgebet für ihn selbst und für die Leute unter seinem Schutz
6. Sein Bittgebet am Morgen und Abend
7. Sein Bittgebet bei einer beunruhigenden Aufgabe oder einem Missgeschick und
bei Betrübnis
8. Sein Bittgebet beim Zufluchtsuchen vor Widerwärtigkeiten, schlechten Wesens-
arten und tadelnswerten Handlungen
9. Sein Bittgebet beim Verlangen nach Vergebung von Gott
10. Sein Bittgebet beim Zufluchtsuchen bei Gott, dem Erhabenen
11. Sein Bittgebet für gute Ergebnisse
12. Sein Bittgebet beim [Sünden-] Bekenntnis und beim Verlangen nach Reue bei
Gott, dem Erhabenen
13. Sein Bittgebet beim Verlangen von Bedürfnissen von Gott, dem Erhabenen [in
diesem Gebet sollen gegen Ende die einzelnen Bedürfnisse, um die es dem Be-
tenden in diesem Moment geht, konkret genannt werden; danach soll man sich
niederwerfen und die Schlussworte des Gebets sprechen]
14. Sein Bittgebet, wenn ihm mit Feindseligkeiten begegnet wurde oder wenn er bei
Übeltätern Ungerechtigkeiten sah
44 Die Übersetzung basiert auf der Edition Zayn al-'Äbidin, al-Sahifat, Chittick.
45 Die Übersetzungen folgen den ausführlicheren Rubriken aus dem Text selbst und nicht der
verkürzten Form im Inhaltsverzeichnis.
46 Die “Träger des Throns” sind vier Engel, die an den vier Ecken des göttlichen Throns postiert
sind; zu den Engeln im Islam Murata, Sachiko, “The Angels”, in: Nasr, Seyyed Hossein (Hg.),
Islamic Spirituality: Foundations, New York, 1987, S. 324-44.
47 Gemeint sind Muhammad und seine prophetischen Vorgänger, vgl. Watt / Welch, Islam 1, S.
222-23.
145
TRIBUS 53,2004
15. Sein Bittgebet, wenn er krank war oder von Betrübnis oder Unglück heimge-
sucht wurde
16. Sein Bittgebet, wenn er um Vergebung seiner Sünden bat oder um Verzeihung
seiner Makel nachsuchte
17. Sein Bittgebet, wenn Satan erwähnt wurde, um Zuflucht vor ihm, vor seiner
Feindschaft und seiner List
18. Sein Bittgebet, wenn Gefahren von ihm abgewendet oder Bitten schnell gewährt
wurden
19. Sein Bittgebet bei der Bitte um Wasser während einer Dürre
20. Sein Bittgebet nach edlen moralischen Zügen und Gott gefälligen Taten
21. Sein Bittgebet, wenn ihm etwas Kummer machte und ihn Beleidigungen beunru-
higten
22. Sein Bittgebet im Elend, bei Mühsal und schwierigen Angelegenheiten
23. Sein Bittgebet, wenn er Gott um Wohlbefinden bat und ihm dafür dankte
24. Sein Bittgebet für seine Eltern
25. Sein Bittgebet für seine Kinder
26. Sein Bittgebet für seine Nachbarn und Freunde
27. Sein Bittgebet für die Leute an den Grenzen
28. Sein Bittgebet beim Fliehen zu Gott, dem Mächtigen und Erhabenen
29. Sein Bittgebet, wenn sein Lebensunterhalt knapp wurde
30. Sein Bittgebet für Hilfe bei der Rückzahlung von Schulden
31. Sein Bittgebet bei der Erwähnung und Bitte um Reue
32. Sein Bittgebet für sich selbst beim Bekennen von Sünden nach der Beendigung
des Nachtgebets
33. Sein Bittgebet beim Bitten um das Beste für sich
34. Sein Bittgebet, wenn er heimgesucht wurde oder jemanden sah, der von der
Schande der Sünde heimgesucht wurde
35. Sein Bittgebet in Zufriedenheit, wenn er die Gefährten dieser Welt betrachtete
36. Sein Bittgebet, wenn er die Wolken und Blitze betrachtete und den Laut des
Donners hörte
37. Sein Bittgebet, wenn er sein Unvermögen beim Danksagen bekannte
38. Sein Bittgebet beim Bitten um Verzeihung für Missetaten gegenüber den Die-
nern Gottes und für [sein] Unvermögen bei ihren Rechten und dass sein Hals
vom Feuer frei werde
39. Sein Bittgebet beim Verlangen nach Verzeihung und Gnade
40. Sein Bittgebet, wenn ihm der Tod von jemandem angezeigt wurde oder wenn er
des Todes gedachte
4L Sein Bittgebet beim Bitten um Schirm und Schutz
42. Sein Bittgebet zur Vollendung einer [vollständigen] Koranrezitation
43. Sein Bittgebet, wenn er den Neumond betrachtete
44. Sein Bittgebet beim Kommen des Monats Ramadan [dem Fastenmonat der Mus-
lime]
45. Sein Bittgebet beim Abschied vom Monat Ramadan
46. Sein Bittgebet am Tag des Fastenbrechens und am Freitag [das Fastenbrechen
am Ende des Monats Ramadan ist einer der beiden höchsten Feiertage der Mus-
lime, der Freitag ist ihr heiliger Wochentag]
47. Sein Bittgebet am Tag 'Arafa [dies ist der letzte Tag der Pilgerfahrt nach Mekka
(hadjdjl. wenn die Pilger am Berg 'Arafa beten]
48. Sein Bittgebet am Opfertag und am Freitag [der Opfertag folgt auf den Tag 'Ara-
fa und beschließt die hadjdj. er ist neben dem Fastenbrechen der zweitwichtigste
Feiertag der Muslime]
49. Sein Bittgebet zur Abwehr der List von Feinden und zur Zurückweisung ihrer
Stärke
50. Sein Bittgebet in Angst
51. Sein Bittgebet beim Bitten und Sich-Erniedrigen
52. Sein Bittgebet beim Flehen zu Gott, dem Erhabenen
146
Raphaela Veit; Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
53. Sein Bittgebet beim Sich-Erniedrigen vor Gott, dem Mächtigen und Erhabenen
54. Sein Bittgebet für die Abwendung von Sorgen [vor dem Beten der Schlussworte
folgt hier die Anweisung zur Rezitation des Thronverses (II, 25548) sowie der
beiden ,Suren der Zufluchtnahme1 (CXIII49, CXIV50) und der ,Sure der Einheit'
(CXII51)]
[Hier endet as-sahifa al-kämila; bei einigen Manuskripten - so auch bei denen des
Linden-Museums - folgen aber noch 14 weitere Gebete;]
55. Einer seiner Lobpreise
56. Ein Bittgebet und eine Verherrlichung von ihm
57. Sein Bittgebet bei der Erwähnung von Muhammads Familie - Friede sei mit ih-
nen
58. Segen auf Adam
59. Sein Bittgebet bei Betrübnis und beim Verlangen nach Erleichterung
60. Sein Bittgebet gegen das, wovor er sich in acht nimmt, und was ihn ängstigt
61. Sein Bittgebet beim Sich-Erniedrigen
Seine Bittgebete für die Wochentage:
62. Sonntag
63. Montag
64. Dienstag
65. Mittwoch
66. Donnerstag
67. Freitag
68. Samstag
[In manchen Handschriften folgen weitere Anhänge, die nicht mehr zur sahifa im
engeren Sinn gehören und auch von den Linden-Museums-Manuskripten nicht tra-
diert werden.]
2. Ausgewählte Einzelgebete von as-sahifa al-kämila:
a. Sein Bittgebet bei der Bitte um Wasser während einer Dürre (Nr. 19):
Oh Gott,
tränke uns mit Regen,
entfalte über uns Deine Gnade
durch Deinen reichlichen Regen
aus den geballten Wolken,
auf dass Deine ansehnliche Erde an allen Horizonten wachse.
48 Gott (ist einer allein). Es gibt keinen Gott außer ihm. (Er ist) der Lebendige und Beständige.
Ihn überkommt weder Ermüdung noch Schlaf. Ihm gehört (alles), was im Himmel und auf der
Erde ist. Wer (von den himmlischen Wesen) könnte - außer mit seiner Erlaubnis - (am jüngsten
Tag) bei ihm Fürsprache einlegen? Er weiß, was vor und was hinter ihnen liegt. Sie aber wissen
nichts davon - außer was er will. Sein Thron reicht weit über Himmel und Erde. Und es fällt ihm
nicht schwer, sie (vor Schaden) zu bewahren. Er ist der Erhabene und Gewaltige.
49 Sag: Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht vor dem Unheil (das) von dem (ausgehen
mag), was er (auf der Welt) geschaffen hat, von hereinbrechender Finsternis, von (bösen) Wei-
bern, die (Zauber)knoten bespucken, und von einem Neider, wenn er neidisch ist.
50 Sag: Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der
Menschen, (ich suche bei ihm Zuflucht) vor dem Unheil (das) von (jeder Art von) Einflüsterung
(ausgehen mag), - einem (jeden) heimtückischen Kerl (?), der in die Brust der Menschen (böse
Gedanken) einflüstert, sei es ein Dschinn oder ein Mensch.
51 Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, durch und durch (der Nothelfer (?)). Er hat weder gezeugt,
noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig. Diese Sure wird auch zitiert im für
diesen Artikel übersetzten Gebet „für die Abwendung von Sorgen" (Nr. 54 in as-sahifa al-kä-
mila).
147
TRIBUS 53,2004
Zeige Deinen Dienern Güte
durch das Reifen der Frucht,
belebe Dein Land
durch das Blühen der Blumen,
und lass Deine Engel - die vornehmen Schreiber - Zeugen sein
einer nützlichen Tränkung von Dir;
andauernd in ihrer Fülle,
reichlich in ihrem Fluss,
heftig, schnell, sofort,
wodurch Du wiederbelebst, was entschwunden war,
vorwärts bringst, was am Kommen ist,
und reichlich Essen lieferst
durch sich ballende, gesunde, heilsame Wolken in reflektierenden Schichten,
[durch] des Regens Herunterströmen nicht ohne Ende,
[durch] des Blitzes Blinken nicht ohne Frucht.
Oh Gott,
tränke uns mit Regen,
helfendem, fruchtbarem, ertragreichem,
ausgiebigem, weitreichendem, reichlichem,
durch den das Aufgestiegene zurückgebracht
und das Gebrochene wiederhergestellt wird.
Oh Gott,
sättige uns mit einer Tränkung, durch die Du
die Steinhügel strömen lässt,
die Zisternen füllst,
die Flüsse flutest,
die Bäume wachsen lässt,
in allen Ländern die Preise herabsetzt,
die Tiere und Kreaturen belebst,
für uns die angenehmen Dinge der Versorgung vervollkommnest,
für uns die Felder wachsen,
für uns die Zitzen fließen lässt
und für uns Stärke zu unserer Stärke hinzufügen wirst.
Oh Gott,
verwandle nicht den Schatten [der Wolken] über uns in einen brennenden Wind,
erlaube seiner Kälte nicht, schneidend zu sein,
lass sein Herabströmen auf uns keine Steinigungen sein,
und mach uns seine Wasser nicht bitter.
Oh Gott,
segne Muhammad und seine Familie,
und versorge uns mit den Segnungen der Himmel und der Erde.
[Sure III, 26:] Du hast zu allem die Macht.
b. Sein Bittgebet für Hilfe bei der Rückzahlung von Schulden (Nr. 30):
Oh Gott,
segne Muhammad und seine Familie,
und befreie mich von einer Schuld,
die mich das Gesicht verlieren lässt,
meinen Geist verwirrt,
mein Denken unterbricht,
und meine Beanspruchung verlängert, mich damit befassen [zu müssen].
148
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets du'ä'
Ich suche Zuflucht bei Dir, oh Herr,
vor Sorgen um und Denken über Schuld,
vor der Beanspruchung und Schlaflosigkeit bei Schuld;
segne Muhammad und seine Familie,
und gib mir Zuflucht davor [d.h. vor Schulden].
Ich suche Beistand bei Dir, oh Herr,
vor ihrer [d.h. der Schuld] Erniedrigung im Leben
und vor ihren Auswirkungen nach dem Tod;
segne Muhammad und seine Familie,
und gib mir Zuflucht davor
durch eine reichliche Fülle oder durch fortwährend zum Leben Genügendes.
Oh Gott,
segne Muhammad und seine Familie,
bewahre mich vor Verschwendung und Übermaß,
bringe mich auf den Weg zu großzügigen Ausgaben und Mäßigkeit,
lehre mich eine ausgezeichnete Verteilung,
halte mich durch Deine Freundlichkeit von Verschwendung zurück,
ermögliche mir, meinen Lebensunterhalt durch legale Mittel zu erwerben,
lenke meine Ausgaben zu den Toren der Ergebenheit,
und nimm jeden Besitz von mir,
der Stolz in mir hervorrufen, zu Unrecht führen
oder mich zu Unterdrückung leiten wird.
Oh Gott,
lass mich die Gesellschaft des Armen lieben
und hilf mir. mit ausgezeichneter Geduld ihr [d.h. der Schuld] Gefährte zu sein.
Wann immer Du die Güter dieser vergänglichen Welt von mir nimmst,
bewahre sie für mich in Deinen unvergänglichen Schatzkammern.
Mach die zerbrochenen Stücke dieser Welt, die Du mir verliehen hast,
und ihre Güter, die Du mir schnell gewährt hast,
zu einem Weg, um Deine Nachbarschaft zu erreichen,
zu einer Verbindung zu Deiner Nähe
und zu einem Mittel zu Deinem Garten.
Wahrlich Du bist der Besitzer überreichlicher Fülle,
und Du bist der Freigebige, der Großzügige.
c. Sein Bittgebet für die Abwendung von Sorgen (Nr. 54):
Oh Zerstreuer von Sorgen!
Oh Zerstreuer von Kummer!
Oh Barmherziger in dieser Welt und in der nächsten
und Mitfühlender in beiden!
Segne Muhammad und seine Familie,
zerstreue meine Sorgen,
und vertreibe meinen Kummer!
[Sure CXII, 3-4:]
Oh Einer, oh Einziger, oh Gott, durch und durch (der Nothelfer (?))!
Oh Er, er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden.
Und keiner ist ihm ebenbürtig!
Bewahre mich, läutere mich und nimm hinweg meine Bedrängnis!
149
TRIBUS 53,2004
Literatur
Zum Thema „Gebet im Islam“ liegt eine wahre Flut an Literatur vor allem aus dem
Bereich der islamischen Geistlichkeit vor, vgl. im Einzelnen die Angaben bei Con-
stance E. Padwick (Muslim Devotions: A Study of Prayer-Manuals in Common Use,
Oxford, 1961, ND 1996) und William C. Chittick (Hg. von Zayn al-'Âbidîn, al-
Sahîfat al-kâmilat al-sajjädiyya, Oxford, 1988, S. 293-94: Select Bibliography).52 Für
diesen Artikel wurden folgende Untersuchungen und Editionen herangezogen:
'Abbâs Qummî
1992 Mafâtih al-djinân, Beirut (und zahllose weitere Editionen).
al-Bâdjûrî, Ibrâhîm ibn Muhammad
1353/1934 Hâshiya 'alâ Djawharat at-tawhîd, Kairo.
[Katalog] Bonhams & Brooks
2001 2nd May 2001.
Chittick, William C. (Hg.)
[1985] 'Alî ibn AbîTâlib (Amîr al-mu'minîn), Supplications (Du'â'), London.
1988 Zayn al-'Âbidîn, al-Sahîfat al-kâmilat al-sajjâdiyya, Oxford.
Gardet, Louis
1965 Artikel “du'â'“, in; El2 (The Encyclopaedia of Islam: New Edition) II,
Leiden / London, S. 617-18.
Halm, Heinz
1988 Die Schia, Darmstadt
Heiler, Friedrich
1918 Das Gebet - Eine religionsgeschichtliche und religionsphilosophische
Untersuchung, München, 1968 (ND der fünften Auflage).
Lings, Martin
1976 The Quranic Art of Calligraphy and Illumination, Westerham / Kent.
Monnot, Guy
1995 Artikel “salât”, in: EI2 (The Encyclopaedia of Islam: New Edition) VIII,
Leiden, S. 925-34.
Murata, Sachiko
1987 “The Angels”, in: Nasr, Seyyed Hossein (Hg.), Islamic Spirituality;
Foundations, New York, S. 324^14.
Padwick, Constance E.
1961 Muslim Devotions: A Study of Prayer-Manuals in Common Use, Ox-
ford, ND 1996.
Paret, Rudi (Hg.)
19967 Der Koran 2 Bde (I: Übersetzung, II. Kommentar und Konkordanz),
Stuttgart / Berlin / u. a. 2001 auch als CD-ROM erschienen.
Reinhart, A. Kevin
2000 Stichwort “tahära”, in: EI2 (The Encyclopaedia of Islam: New Edition)
X, Leiden, S. 99.
Ritter, Hellmut
1978 Das Meer der Seele - Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des
Fariduddin Attar, Leiden (erweiterte Ausgabe des Erstdrucks 1955).
Rodinson, Maxime
1965 Stichwort “ghidhä'”, in: EI2 (The Encyclopaedia of Islam: New Edition)
II, Leiden / London, S. 1057-72.
Schimmel, Annemarie
1978 Denn Dein ist das Reich - Gebete aus dem Islam, Freiburg.
1981 Und Muhammad ist sein Prophet - Die Verehrung des Propheten in der
islamischen Frömmigkeit, Düsseldorf / München, 19953.
1985 Mystische Dimensionen des Islam - Die Geschichte des Sufismus, Köln.
52 Schimmel, Denn Dein, S. 112 (Nachwort): “Eine Anthologie, die alle Formen islamischen
Gebetes umfasst, ist ein Desideratum.”
150
Raphaela Veit: Beispiele für die Bedeutung des Bittgebets duT
[Katalog] Sotheby’s
1999 Arts of the Islamic World, 22 April 1999.
[Katalog] Sotheby’s
2000 Arts of the Islamic World, 12 October 2000.
Watt, W. Montgomery / Welch, Alford T.
1980 Der Islam I: Mohammed und die Frühzeit - Islamisches Recht - Religi-
öses Leben, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz.
Wüstenfeld-Mahler’sche
19613 Vergleichungstabellen zur muslimischen und iranischen Zeitrechnung
mit Tafeln zur Umrechnung orient-christlicher Ären, Wiesbaden, (ver-
besserte und erweiterte Auflage von Bertold Spuler).
Veit, Raphaela
2002 Die Kunst der Korankalligraphie - dargestellt an Beispielen aus dem
Linden-Museum Stuttgart (Staatliches Museum für Völkerkunde), Tri-
bus 51 (2002), S. 162-87.
151
Raphaela Veit
1200 Jahre islamische Kalligraphie:
Die Privatsammlung von Annemarie Schimmel
Die bedeutende Orientalistin Annemarie Schimmel hatte zwei große Vorlieben in
ihrem breiten wissenschaftlichen Werk: Die islamische Mystik und die Kalligraphie.
Beide Bereiche stehen sich näher, als es spontan scheinen mag, denn die islamische
Buchkunst entwickelte sich ursprünglich aus einem dem Wort Gottes, niederge-
schrieben im Koran, angemessenen Zierbedürfnis. Die dem Propheten Muhammad1
übermittelte Offenbarung Allahs konnte nicht kunstvoll genug dargestellt werden,
so dass die Kalligraphie schon bald als die edelste aller Künste galt. Es ist evident,
dass sich daraus eine herausragende Rolle für den Kalligraphen ergab. Nicht nur auf
seine handwerkliche und künstlerische Ausbildung wurde großen Wert gelegt, auch
seine innere Haltung hatte dem Schreiben der heiligen Worte angemessen zu sein.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass gerade Koran-Kalligraphen häufig islami-
sche Mystiker, Süfis, waren, die sich durch ein besonderes Streben nach der Nähe
Gottes bis hin zum Wunsch nach Entwerden in Gott auszeichnen. Für die Süfis war
die intensive Beschäftigung mit der Offenbarung Gottes in Wort und Schrift ein zen-
traler Aspekt auf ihrem mystischen Weg. Die kalligraphische Ausgestaltung von
Worten Allahs bot ihnen eine intensive nicht nur Beschäftigung sondern Auseinan-
dersetzung mit dem Koran und damit verbunden ein tiefes, inneres, religiöses Erleb-
nis.2
Am 26. Januar 2003 verstarb Annemarie Schimmel nach kurzer Krankheit im Alter
von 80 Jahren. Ihre erstrangige Privatsammlung zur islamischen Kalligraphie ver-
machte sie testamentarisch dem Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für
Völkerkunde, dessen Orient-Abteilung sie wiederholt mit Rat und Tat zur Seite
stand und mit dessen Orient-Referenten sie eine jahrzehntelange Freundschaft ver-
band. Im Folgenden soll diese Sammlung mit repräsentativen Beispielen erstmals
der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Die kalligraphische Sammlung Annemarie Schimmels zeichnet sich durch ihre große
Geschlossenheit aus: Sie umfasst ca. 100 Schriftbeispiele auf Pergament, Papier und
Stoff von der Zeit um 800 bis heute, deckt geographisch den islamischen Kulturraum
von Indien bis Marokko ab und repräsentiert alle für die islamische Kalligraphie
wichtigen Schriftstile. Ungefähr zwei Drittel der Objekte stammen aus dem 20. und
aus den Anfängen des 21. Jahrhunderts. Bei ihnen handelt es sich zum einen häufig
um Schmuckblätter, die sie als Dank für Vorträge oder als Gastgeschenke in islami-
schen Städten entgegen nahm, hervorzuheben ist zum anderen Annemarie Schim-
mels Freundschaft mit international angesehenen, zeitgenössischen Kalligraphen,
die ebenfalls ihre Privatsammlung bereicherten. Zentral für die Bewertung der Ge-
samtsammlung sind die älteren Schriftbeispiele (9.-19. Jahrhundert), die teilweise
von Annemarie Schimmel selbst planmäßig erworben wurden, ihr aber auch als Ge-
schenke freudig willkommen waren. Diese historischen Schmuckblätter charakteri-
1 Aus redaktionellen Gründen musste die Umschrift der arabischen Begriffe leider vereinfacht
werden: Wir verwenden hier weitgehend die in der EI2 (The Encyclopaedia of Islam: New Editi-
on, Leiden / London, 1960-2002) gebrauchten Zeichen unter Verzicht auf die Hervorhebung von
Sonderzeichen mit einem Punkt unter der Linie. Damit wird die Fachwelt die Terminologie pro-
blemlos erkennen, für den interessierten Laien ist eine genauere Umschrift nicht von Belang. Die
Namen der Kalligraphen wurden in der jeweils üblichen Schreibweise wiedergegeben.
2 Zu Kalligraphie und Mystik vgl. die ausführlichen Darstellungen bei Schimmel, Annemarie,
Islamic Calligraphy (Iconography of Religions, Section XXII; Islam. Fascicle 1, Leiden, 1970
und Dies., Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln, 1985.
153
TRIBUS 53,2004
Abb. 1*:
Inv.-Nr. L4545/0001
Einzelblatt aus einem
Koran (Sure XXIX,
33-40), Pergament (3,5
x 7 cm), Küfi, um 800,
Syrien / Irak; Rahmen
(Papier): 9,6 x 10,8 cm
sieren sich als nicht nur klassische sondern ausgesprochen kunstvolle Ausführungen
des jeweiligen Zeit- und Lokalstils. ’
Bereits vor der Offenbarung des Korans durch den Engel Gabriel an Muhammad
verfügten die Araber über eine kursive Schrift, die vorwiegend den praktischen Be-
dürfnissen der damaligen Händlergesellschaft diente.3 4 Mit Muhammad und der Ver-
breitung des Islam änderten sich neben den religiösen auch die politischen Verhält-
nisse. Die in zerstrittene Stämme gespaltenen Araber wurden geeint und beherrsch-
ten fortan nicht nur die Arabische Halbinsel sondern ein Großreich von Spanien bis
nach Indien. Auf das über den Koran entwickelte Zierbestreben bei der Schrift wur-
de bereits verwiesen, parallel dazu bildete sich auf politischem Gebiet ein Bedürfnis
nach Repräsentation heraus, die beispielsweise in Urkunden und Münzen einen Ort
finden sollte. Eine erste Vervollkommnung der arabischen Schrift stellt das nach der
irakischen Stadt Kufa benannte Küfi dar. Ob es wirklich dort erfunden wurde, muss
offen bleiben, denn zeitgleich, wenn nicht früher, finden wir diese Schrift auf umayy-
adischen Münzen in Syrien. Das Küfi charakterisiert sich durch seine gedrungenen,
blockigen Buchstaben und erweckt einen sehr hierarchischen Eindruck. Deshalb bot
es sich für Koranniederschriften aber auch für offizielle Staatsurkunden an.5 Spätere,
verspieltere Entwicklungen sind das so genannte blühende Küfi oder das Knoten-
Küfi. Aus der Zeit ab dem achten Jahrhundert haben sich zahlreiche Koran-Einzel-
blätter erhalten, die in Küfi auf dem damals typischen Beschreibstoff Pergament
ausgeführt sind.6 Auch in der Sammlung von Annemarie Schimmel finden sich drei
wertvolle Pergamente, die sie während ihrer Zeit in den USA erwerben konnte:
Ein Pergament gehört in die Zeit um 800 und ist in Miniaturschrift ausgeführt (Abb.
1 *: L4545/0001; Maße: 3,5 x 7 cm). Es kommt aus Syrien oder dem Irak und tradiert
Sure XXIX, 33-40. Der Text ist in 14 Zeilen mit brauner Tinte geschrieben; zur Vers-
3 Vgl. im einzelnen die Ausführungen von Annemarie Schimmel im Appendix; die im Appen-
dix von Annemarie Schimmel selbst erwähnten Schmuckblätter wurden für die folgenden Be-
schreibungen mit einem Stern (*) versehen.
4 Grohmann, Adolf, Arabische Paläographie I, Graz, 1967 (Anhang).
5 Im Kunsthandwerk war Küfi noch bis in die Neuzeit hinein beliebt, da man diese schweren
Buchstaben gut in Stein oder Holz umsetzen kann, vgl. Kühnel, Ernst, Islamische Schriftkunst,
Graz, 19863 , S. 10-22.
6 Zur Geschichte und zu den einzelnen Stilen des Küfi Grohmann, Adolf, Arabische Paläogra-
phie II (Das Schriftwesen. Die Lapidarschrift), Graz, 1971, S. 71-231.
154
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Abb. 2*:
Inv.-Nr. L4545/0002
Einzelblatt aus einem
Koran (Suren LXXVI-
II, 39 - LIXXX, 35),
Pergament (24,6 x 33,6
cm), Küfl, 9. Jh., Syrien /
Irak
Abb. 3*:
Inv.-Nr. L4545/0003
Doppelblatt aus einem
Koran ohne zusam-
menhängenden Text
(Suren XC, 19 - XCI,
11 und Suren XCV, 7 -
XCVI, 12), Pergament
(12,5 x 18,5 cm), östli-
ches Küfi, 10. Jh., Irak
oder Iran
trennung und als Diakritika zur näheren Bestimmung der einzelnen Buchstaben
wurde rote Tinte verwendet. Später hat man das Pergament in ein Blatt Papier ein-
gelassen (Maße: 9,6 x 10,8 cm) und mit Gold, Blau und Grün gerahmt. Wohl bei
dieser Verfertigung eines “neuen” Schmuckblatts ist die Rückseite des Pergaments
bis zur Unleserlichkeit abgewaschen worden. Auf dem Papier verlaufen unten und
oben je ein weiterer Rahmen in Rot und Gold, der obere ist beschädigt.
Zwei weitere Küfi-Pergamente konnte Annemarie Schimmel bei der bedeutenden
New Yorker Privatsammlerin Adrienne Minassian erwerben, mit der sie durch Ver-
mittlung ihres Kollegen S. Gary Welch7 bekannt wurde. Das eine ist wegen seiner
ausgesprochen schönen Goldrubrik ein herausragendes Stück der Sammlung. Dieses
Einzelblatt (Abb. 2*; L4545/0002; Maße: 24,6 x 33,6 cm) stammt aus dem neunten
Jahrhundert und ist von seiner Herkunft her in Syrien oder im Irak zu verorten. 15
Zeilen schwarz-braunes Küfi (Suren LXXVII1, 39 - LIXXX. 35) wurden mit roten
Diakritika versehen. Zur Verstrennung dienen goldene Rosetten, die teilweise mit
schwarzen und roten Punkten verziert sind.
7 Mit S. Cary Welch arbeitete Annemarie Schimmel zunächst in Harvard und dann auch am
Metropolitan Museum in New York zusammen, vgl. Schimmel, Annemarie, Morgenland und
Abendland: Mein west-östliches Leben, München, 2002, S. 194-202.
155
TRIBUS 53,2004
Abb. 4*:
Inv.-Nr. L4545/0010
Tiräz-Streifen (Aufdruck:
al-mulk li-lläh/“die Herr-
schaft gehört Gott”),
Baumwollstoff (8 x 14
cm), blühendes Küfi, 10.
Jh., Ägypten
Abb. 5*:
Inv.-Nr. L4545/0005
Einzelblatt aus einem Moschee-Koran
(Sure VII, 71-88), Papier (75,5 x 54,5 cm),
Muhaqqaq. 14. Jh., Ägypten
Bei dem zweiten Pergament handelt es sich um ein zierliches Doppelblatt (Abb. 3*;
L4545/0003; Maße: 12,5 x 18,5 cm), das jedoch, bedingt durch die ursprüngliche Hef-
tung des Manuskripts, keinen zusammenhängenden Text bietet (Suren XC, 19 - XCI,
11 und Suren XCV, 7 - XCVI, 12). Es wurde im zehnten Jahrhundert im Irak oder
Iran in einer Sonderform des Küfi geschrieben. Die hier vorliegende Schriftform
bildete sich seit dem neunten Jahrhundert im östlichen islamischen Raum heraus
und charakterisiert sich dadurch, dass die Hasten der Buchstaben länger werden,
während die langen, dicken, horizontalen Linien abnehmen. Diagonalen wie dreie-
ckige Buchstaben bestimmen nunmehr das Bild, das beim Betrachter einen leichte-
ren, eleganteren Eindruck hervorruft. Sie wird als “östliches Küfi” oder “Qarmaten-
Küfi” bezeichnet, ohne dass Zusammenhänge zwischen der Entwicklung dieser
Schriftform und der religiösen Gruppierung der Qarmaten nachweisbar wären.8 Auf
jeder Seite wurden sieben Textzeilen mit schwarzer Tinte ausgeführt und später rote
Vokalisierungszeichen nachgetragen. Bekanntlich werden im Arabischen in der Re-
gel nur die langen Vokale geschrieben. Da jedoch das Fehlen der kurzen Vokale zu
- vor allem grammatikalischen - Missverständnissen führen kann, ist es spätestens
seit dem zehnten Jahrhundert üblich, den Koran durch kleine Zeichen über und un-
ter der Zeile vollständig zu vokalisieren.9 Die hier wiederum in goldenem Küfi aus-
8 Bei den Qarmaten handelt es sich um eine im neunten und zehnten Jahrhundert am persi-
schen Golf (Bahrain) aktive sozial-revolutionäre Bewegung der extremen Schia.
9 Watt, W. Montgomery / Welch, Alford T., Der Islam I: Mohammed und die Frühzeit - Isla-
misches Recht - Religiöses Leben, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz, 1980, S. 182-84.
156
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
geführten Rubriken haben eine Verlängerung auf den Rand hinaus in Form eines
Medaillons (Sure XCI) bzw. einer Blüte (Sure XCVI), die in Gold und Lapislazuli
gehalten sind. Zwei weitere Medaillons in dieser Ausführung schmücken die Ränder
zum Text. Die Farben wie die Motive sind bereits sehr typisch für Koran-Illuminati-
onen und halten sich bis in die Neuzeit. Die Kombination der Farben Gold und Blau
war zur Schaffung eines feierlichen Eindrucks von Heiligkeit äußerst beliebt. Mit
goldenen Medaillons oder Rosetten verband man die Sonne, das Symbol für Licht.
Florale Ornamente dagegen wie Palmetten und Blüten oder auch Ranken (Arabes-
ken) stehen als Symbol des Lebens.10 Das Gold und das Lapislazuli dieses Perga-
ments sind bereits stark abgeblättert, die Rubriken sind aber dank ihrer - bei Gold-
schrift üblichen - schwarzen Umrandung noch zu lesen.
Häufig tritt Schrift auch als Stoffdekor zutage.11 Das arabische Wort tiräz bezeichnet
ursprünglich Stickereien, besonders solche in Form von Schrift. Schließlich entwi-
ckelte es sich zum Fachbegriff für eine eingewebte, auf einen Stoff gestickte oder
aufgedruckte Inschrift. Häufig wurden Tiräz-Streifen im Rahmen einer Auszeich-
nung verliehen. Dies hat antike Tradition, bestimmend für den islamischen Kultur-
raum dürfte aber die Geschichte des Propheten Muhammad sein, wie er seinen Man-
tel dem Dichter KaT ibn Zuhayr verlieh.12 Begünstigt durch das trockene
Wüstenklima haben sich vor allem in Ägypten neben anderen Textilien auch Tiräz-
Streifen erhalten. Drei Tiräz-Beispiele sind Bestandteil der Sammlung von Annema-
rie Schimmel, davon soll einer hier vorgestellt werden (Abb. 4*: L4545/0010; Maße: 8
x 14 cm): Der Streifen aus dem zehnten Jahrhundert stammt aus Ägypten. Auf einen
gewebten Baumwollstoff wurde eine rot-braune Textzeile in blühendem KüfT, das
heißt mit floralen Dekorelementen als Bestandteile der Schrift, gedruckt. Die Buch-
staben haben eine schwarze Umrandung und lassen die Reste einer Goldauflage
erkennen. Der Schriftzug beinhaltet die zweimalige Wiederholung des Ausspruchs
al-rnulk li-lläh mit der Bedeutung “die Herrschaft gehört Gott”. Der Stoff hat kleine
Löcher und Flecken, ist ausgebleicht und an den Rändern ausgefranst; auf der Rück-
seite wurde er durch das Aufkleben von Stoffstücken verstärkt.
So feierlich die von Küfi hervorgerufene Wirkung auch ist, in der Praxis ist diese
doch auch schwerfällige Schrift nur begrenzt einsetzbar. Parallel zu Küfi hatte sich
deshalb immer auch die bereits oben erwähnte altarabische Kursive in Varianten
und Fortentwicklungen gehalten. Am Abbasidenhof von Bagdad wurde schließlich
im zehnten Jahrhundert eine dieser kursiven Formen von einer schlichten Alltags-
schrift zu einer runden, klaren Schönschrift ausgeformt, zum Naskhi. das bis heute
die gängige arabische Schrift bildet (so in den meisten modernen Druckerzeugnis-
sen, Beispiele zum Naskhi auch hier unten v. a. ab Abb. 10*).13 Im Laufe des zehnten
Jahrhunderts ist außerdem eine weitere Neuerung in der Kalligraphie zu konstatie-
ren: Die vermehrte Verwendung von Papier, das das Pergament schließlich ganz ver-
drängen sollte.14 Alle im Folgenden vorgestellten Schmuckblätter haben Papier als
Beschreibstoff.
Da das Naskhi in seiner Ausführung streng reglementiert ist und dem Kalligraphen
nur wenig gestalterische Freiheit ermöglicht, kam es bald zu künstlerischen Weiter-
entwicklungen dieser Kursive.15 Zwei äußerst elegante Beispiele von Naskhi-Ablei-
tungen in Form von Koran-Einzelblättern des 14. Jahrhunderts stellen weitere Höhe-
1(1 Zur Interpretation von Koran-Illuminationen Lings, Martin,The Quranic Art of Calligraphy
and Illumination, Westerham / Kent, 1976, S. 73-77.
11 Zu Beschreibstoffen Grohmann, Arabische I, S. 66-115.
12 Zur Technik und Geschichte von tiräz vgl. die Beiträge in: Saum, Muhammad 'Abbas (Hg.),
Islamische Textilkunst des Mittelalters: Aktuelle Probleme, Riggisberg, 1997.
13 Zur Geschichte des Naskhi Grohmann, Arabische II, S. 233-38.
14 Zur Einführung und Herstellung von Papier in den islamischen Raum Ders., Arabische I, S.
98-105.
15 Kühnel, Islamische. S. 29 und Lings, The Quranic, S. 99-100.
157
TRI BUS 53,2004
punkte der kalligraphischen Sammlung von Annemarie Schimmel dar; sie selbst
zählte die beiden Blätter zu ihren persönlichen Favoriten. Von der Ausführung des
Randdekors her deuten beide Exemplare in den mamlukischen, wohl ägyptischen
Raum.16
Das eine Blatt stammt aus einem Moschee-Koran und überliefert Sure VII, 71-88
(Abb. 5*: L4545/0005; Maße: 75,5 x 54,5 cm). Die elf Textzeilen sind in schwarzem
Muhaqqaq gehalten, das sich durch seine schlanken, hohen Hasten, die flachen Bö-
gen unter die Linie und die in einem scharfen Haarstrich auslaufenden Kurven vom
Naskhi unterscheidet. Die Verstrennung wird durch goldene Rosetten mit einem
grünen Mittelpunkt geleistet. Als Randdekor wurde auf der verso-Seite ein großes
goldenes Sonnen-Medaillon mit blauer Umrandung, kurzen blauen Strahlen und
dem in der Mitte eingeschriebenen Wort “Allah” angebracht. Die Goldauflagen sind
bereits stark abgeblättert, und das sehr dicke Papier fächert sich an den Seiten auf.
Beim zweiten mamlukischen Einzelblatt ist der Text in Rihäni, einer noch feineren
und eleganteren Ausführung von Muhaqqaq, ausgeführt (Abb. 6*a/b: L4545/0004;
Maße: 34,7 x 25 cm). Das Blatt tradiert in fünf Zeilen pro Seite die Suren CIX, 3 -
CXI, basmala (Vers 1 fehlt bereits). Beim so genannten basmala handelt es sich um
die Abkürzung der Anrufung hi-smi-lläh ar-rahmän ar-rahim, “Im Namen Gottes,
des barmherzigen Erbarmers”, mit der alle Suren außer Sure IX einsetzen und die
über den eigentlichen Korankontext hinaus bis heute eine große Rolle im Alltag
muslimischer Gesellschaften spielt.17 Auf beiden Seiten des Blatts befindet sich je-
weils ein Rubrikfeld mit einer auf den Rand hinaus weisenden Palmette in Sonnen-
form. eine bei Koran-Illuminatoren sehr beliebte Verschmelzung der Symbole Licht
und Leben.18 Das Dekor der Rubrikfelder ist in Gold und Blau gehalten, die Suren-
Titel stehen in weißem Thuluth. einer weiteren Ableitung von Naskhi. die sich durch
ihre schwungvolle Ausführung charakterisiert.19 Auf der recto-Seite hat die Surenü-
berschrift (CX) einen goldenen Hintergrund, auf der verso-Seite wurde sie (CXI) in
eine goldene Wolkenzeile auf Lapislazuli-Grund geschrieben. Die Verse sind durch
goldene Rosetten mit einem blauen Mittelpunkt voneinander getrennt, der Rand
der recto-Seite wurde außerdem mit einer goldenen Palmette mit blauer Rahmung,
blauen antennenarligen Verlängerungen und dem in ihr eingeschriebenen Wort “Al-
lah” verziert.
Die einzelnen arabischen Schrifttypen sind nicht so streng voneinander getrennt, wie
die Klassifizierung nach unterschiedlichen Namen vermuten ließe. Aus Indien
stammt ein Koranblatt des 15. Jahrhunderts, das eine Mischform aus Thuluth und
Muhaqqaq präsentiert und das Annemarie Schimmel wiederum von Adrienne Mi-
nassian erwerben konnte (Abb. 7*; L4545/0006; Maße: 28,7 x 18,5 cm).20 Drei Zeilen
aus dem Koran (Sure V, 53-54) werden von einer interlinearen persischen Überset-
zung begleitet, die in schrägem, kleinem Naskhi gehalten ist. Die in schwarzer Tinte
ausgeführten Verse werden durch goldene Rosetten mit einem roten Mittelpunkt
und grünen Randpünktchen voneinander getrennt. Die ursprüngliche Doppelseite
wurde später mit einem breiten Rahmen aus feinen Goldarabesken versehen, die
16 Vgl. Lings. The Quranic, Plates to Chapter 4.
17 Ein frommer Muslim beginnt kein ihm wichtiges Werk ohne diese Anrufung Allahs.
18 Vgl. Lings, The Quranic, S. 74-75.
19 Zu Thuluth Kühnel, Islamische, S. 28-29 und Lings, The Quranic. S. 99-101.
20 Zu diesem Koran Raeuber, Alexandra, Islamische Schönschrift, Zürich, 1979, S. 47.
158
Abb. 6*b:
Inv. Nr. L4545/0004
Verso-Seite zu Abb. 6*a
TRIBUS 53,2004
den Hintergrund für ein umlaufendes Schriftband mit Aussagen des Propheten Mu-
hammad (Hadith) in rotem (recto) bzw. blauem (verso) Küfi bilden. Auf der verso-
Seite befinden sich zusätzlich rote Knoten und Schlingen über der Schrift, um den
Raum über den Buchstaben ohne Hasten zu füllen. Die Ecken sind als Teil dieses
Rahmens mit einer großen Rosette in Gold, Rot und Blau ausgeschmückt. Nicht alle
Blätter dieses indischen Korans wurden mit diesem aufwendigen Rand versehen.
Seine Einzelblätter verteilen sich auf unterschiedliche Sammlungen, eines davon be-
findet sich bereits im Linden-Museum (Abb. 7: L4328a/0047; Maße: 28,9 x 18,6 cm)
und ist wie das von Annemarie Schimmel Bestandteil der fünften Sure (V, 22-23).
Das Randdekor des Linden-Museums-Exemplars entspricht der recto-Seite der
Schimmel-Kalligraphie (mit Knoten und Schlingen zum Ausfüllen von Leerräu-
men).
Im 15. Jahrhundert entwickelte sich Herat (heute Afghanistan) unter der Dynastie
derTimuriden zu einem Zentrum für islamische Buchkunst. Vor allem der in Herat
entstandene feine Illuminationsstil und die delikaten Miniaturmalereien sind bis
heute berühmt. Der letzte große Timuriden-Herrscher Sultan Husayn Bayqarä (reg.
1470-1506) schrieb selbst Gedichte in seiner türkischen Muttersprache. Diese wur-
den in einem Diwan (Gedichtsammlung) gesammelt und kopiert.21 Annemarie
Schimmels Lieblingskalligraphie (Abb. 8*: L4545/0007; Maße: 23,5 x 15,2 cm, Schrift-
spiegel: 12,7 x 7,1cm) ist ein Blatt aus diesem Diwan, das um 1500 gestaltet wurde.
Als seine Vorlage diente die Handschrift des zur Zeit von Sultan Husayn Bayqarä
berühmten Kalligraphen Sultan 'Ali Mashhadi. Sultan 'Ali Mashhadi schrieb in fei-
nem, elegantem Nasta'liq, das heißt in dem Schrifttypus, der gegen Ende des 14. Jahr-
hunderts in Tebriz entwickelt worden war und mit schrägem Schreibrohr von oben
nach unten ausgeführt wird. Im Vergleich zum Naskhi werden im Nasta'liq die Buch-
staben vereinfacht und damit kursiver gestaltet. Nasta'liq ist bis heute vor allem im
Abb. 7*: Zwei Einzelblätter aus einem Koran, Papier, 15. Jh., Indien; mit persischer
Interlinearübersetzung und einem später ergänzten Schriftband mit Texten aus der
Hadith-Literatur, rechts (28,9 x 18,6 cm): Inv.-Nr. L4328a/0047 (Sure V, 22-23), links
(28,7 x 18,5 cm): Inv.-Nr. L4545/0006 (Sure V, 53-54)
21 Brandenburg, Dietrich. Herat - Eine timuridische Hauptstadt, Graz, 1977.
160
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Abb. 8*:
Inv.-Nr. L4545/0007
Einzelblatt aus dem
Diwan von Sultan Hu-
sayn Bayqarä, Papier
(23,5 x 15,2 cm, Schrift-
spiegel: 12,7 x 7,1cm;
später auf Karton auf-
geklebt), Nasta'liq in
qit'a-Technik, kalligra-
phische Vorlage: Hand-
schrift von Sultan 'Ali
Mashhadi, um 1500. Be-
rat
persischen Raum weit verbreitet.22 Bei dem uns vorliegendem Beispiel wurde die
Schrift des großen Kalligraphen aber nicht einfach mit Tinte kopiert sondern sorgfäl-
tig aus weißem Papier ausgeschnitten und auf farbigen Hintergrund geklebt. Diese
ausgefallene Technik nennt sich qit'a oder qata'i (von arabisch qata'a für “schnei-
den”) und wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Herat entwickelt.23 Auf unse-
rem Blatt werden acht Zeilen ausgeschnittenen Textes von einem Rubrikfeld unter-
brochen, das alle für die Herat-Illuminationen typischen Merkmale aufweist:24
Mehrere weiße, sich teilweise überschneidende Medaillonrahmen gliedern das Feld,
dessen Leerräume mit goldenen Ranken und bunten Blümchen auf einem Lapisla-
zuli-Hintergrund gefüllt wurden. Der Text der Rubrik (arabisch wa aydan lahu für
22 Zu Nasta'liq Kühnel, Islamische, S. 28-29.
23 Weitere Beispiele dieser Technik mit Diwänhlättern von Sultan Husayn Bayqarä finden sich
in den Freer and Säckler Galleries (datiert auf um 1490). Die Blätter der Galleries sind vom
Dekor her sehr ähnlich wie das Beispiel aus der Sammlung Annemarie Schimmels, sie sind aber
etwas kleiner (17,6 x 12,5 bzw. 22,5 x 14,2 cm), was von einer späteren Randbeschneidung her-
rühren kann. Ob unser Blatt ursprünglich zum gleichen Manuskript gehörte, muß durch einen
genaueren Vergleich geklärt werden.
24 Vgl. die Beispiele in Lenz,Thomas W..Timur and the Princely Vision. Persan Art and culture
in the fifteenth Century, Los Angeles, 1989, S. 270.
161
TRI BUS 53,2004
“und ebenfalls von ihm [ist das folgende Gedicht]”) steht in einem zentralen Feld in
weißer Tinte auf goldenem Grund mit grünen Blattranken. Gerade für Herat als
Werkstatt dieses Schmuckblatts spricht die Art der Untergliederung durch dünne
Ornamentrahmen und die ausgesprochen feine, zarte Ausführung des Dekors. Der
Schriftspiegel und das Rubrikfeld sind mit Blau, Gold und Grün gerahmt, der Schrift-
spiegel als ganzes wurde in grünes Papier mit dicken Goldsprengseln eingelassen.
Das Blatt ist durch Wasserflecken leicht beschädigt.
Zur Zeit von Sultan Husayn Bayqarä wurde im persisch-sprachigen Raum die An-
fertigung von so genannten Alben zur Sammlung von Malereien und Schriftbeispie-
len beliebt. Auch hierfür war das Timuridische Herat ein Zentrum, später hielt sich
diese Mode vor allem unter den Safawiden im Iran und den Moghuln in Indien. Das
persische Wort für Album ist moraqqa' und bedeutet eigentlich “geflickt”. Auch der
aus Lumpen und Flicken zusammengenähte Rock eines islamischen Mystikers heißt
moraqqaIn Bezug auf ein Kalligraphiealbum wurden ursprünglich wohl wirklich
mehr oder weniger zufällige Schriftbeispiele in einem Album zusammengestellt, die
späteren Alben waren aber alles andere als Flickwerk sondern vielmehr fein durch-
komponierte Kunstwerke.2"1
Ein außergewöhnlich schönes, ursprünglich aus einem Album stammendes Schmuck-
blatt, stellt das folgende Beispiel aus der Sammlung Annemarie Schimmels (Abb. 9*:
L4545/0009; Maße: 26,2 x 16,4 cm, Schriftspiegel: 13,6 x 7,3 cm) dar: Geographisch
und zeitlich ist es in den Iran des 17. Jahrhunderts einzuordnen, inhaltlich gehört es
in den Kontext persischer Poesie. Es setzt sich aus einem Schriftspiegel mit fünf Zei-
len Text und einem breiten, mit Miniaturen verzierten Rand zusammen. Bei der
Schrift handelt es sich um schwarzes Nastaliq, der Hintergrund des Schriftspiegels
ist beige mit Goldblumen, die Ecken oben rechts und unten links wurden mit roten
Arabesken auf goldenem Hintergrund ausgeschmückt. Der Schriftspiegel ist mehr-
fach gerahmt in Rot, Blau und Gold. Der jüngere äußere Rahmen (wohl 19. Jahrhun-
dert) wurde durch Blumenranken und Fabeltierköpfe in aufwendiger Goldmalerei
auf Schwarz kunstvoll ausgestaltet; diese Motive werden durch mehrere Schriftkar-
tuschen sowie bildlich-dekorative Medaillons unterbrochen, in denen Löwen und
ein junger Mann dargestellt sind. Der Schriftspiegel ist stark brüchig und zeigt Spu-
ren von alten Reparaturen; auch das Gold der Miniaturen ist gefährdet.
Ein weiteres, im 16./17. Jahrhundert in Indien geschriebenes Koran-Einzelblatt mit
dem Wortlaut von Sure XVIII, 17-22 dokumentiert, wie verschiedene Schrifttypen
aus dekorativen Gründen kombiniert wurden (Abb. 10*: L4545/0008; Maße: 36,7 x
27,8 cm, Schriftspiegel: 29,5 x 20 cm). Bereits oben sahen wir Beispiele für das Ne-
beneinander unterschiedlicher Schriften in einem Manuskript, in den genannten
Ausführungen war aber das Textcorpus selbst stets einheitlich, ein abweichender
Schrifttypus gehörte zum Rubriken- oder Randdekor oder stellte eine andersspra-
chige Übersetzung dar. Seit dem zwölften Jahrhundert gibt es aber auch Beispiele
für Texte mit zeilenweise oder nach einer bestimmten Zeilenzahl alternierenden
Schriften. In größerem Rahmen verbreitet wurde diese Praxis jedoch erst unter den
Timuriden. und sie erfreute sich in erster Linie bei Persern,Türken und Indern, kaum
dagegen bei Arabern, großer Beliebtheit.25 26 Beim hier vorliegenden Einzelblatt mit
13 Zeilen Text pro Seite sind die Zeilen 1,7 und 13 in Gold und die Zeilen 4 und 10
in Rot gehalten, dazwischen stehen jeweils zwei Zeilen in Schwarz. Die schwarzen
Zeilen repräsentieren ein relativ eckiges Naskhi, die roten und die goldenen Zeilen
sind in Thuluth gehalten. Zwischen den Zeilen befindet sich außerdem eine persi-
sche Übersetzung in kleinem, rotem Nastaliq. Durch mit Gold gefüllte Kreise sind
die Verse voneinander getrennt. Der Schriftspiegel hat einen Goldrahmen, zusätz-
25 Thackston, Wheeler M., Album Prefaces and Other Documents on the History of Calligra-
phers and Painters, Leiden / Boston / Köln, 2001, Preface S. VII.
26 Lings, The Quranic, S. 171. Vgl. auch Veit, Raphaela. Die Kunst der Korankalligraphie - dar-
gestellt an Beispielen aus dem Linden-Museum Stuttgart, in:Tribus 51 (2002), S. 162-187,Tafeln
7-9.
162
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Abb. 9*:
Inv.-Nr. L4545/0009
Kalligraphisches Schmuck-
blatt mit persischer Dich-
tung, Papier / Karton (26,2 x
16,4 cm, Schriftspiegel: 13,6
x 7,3 cm). NastaJiq, 17. Jh.,
Iran; Rahmen sekundär
Abb. 10*:
Inv.-Nr. L4545/0008
Einzelblatt aus einem Koran
(Sure XVIII, 17-22), Papier
(36,7 x 27,8 cm, Schriftspie-
gel: 29,5 x 20 cm), Naskhi und
Thuluth. persische Interline-
arübersetzung in NastaJiq,
16./17. Jh., Indien
I
163
TRIBUS 53,2004
lieh gibt es einen äußeren Rahmen mit einer roten Doppellinie. Als Glossen findet
man auf der verso-Seite den Hinweis nisf al-qur'än, “die Hälfte des Korans”, und
außerdem eine kurze persische Randnotiz.
Wohl kaum ein westlicher Islamwissenschaftler fühlt sich mit dem modernen Orient
derart verbunden, wie dies bei Annemarie Schimmel der Fall war. Einen großen Teil
ihres Lebens verbrachte sie auf Reisen, unermüdlich hielt sie Vorträge in Ost und
West mit dem Ziel, religiös bedingte Differenzen abzubauen und Verständnis für die
jeweils andere Kultur zu schaffen. Dieses Engagement wurde teilweise missverstan-
den, doch sie “war vielleicht [die] beste Botschafterin [des Islam] in der westlichen
Welt. Mit ihrem Tode hat er hierzulande einen wichtigen Fürsprecher verloren.”27
Hochgeschätzt und verehrt war sie in Teilen der islamischen Welt, vor allem in der
Türkei und in Pakistan. Sie pflegte engen Kontakt zu den dortigen gelehrten und
künstlerischen Kreisen, was auch in ihrer Sammlung an Kalligraphien seinen Aus-
druck findet.
Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Kalligraphen Pakistans ist zweifelsohne
Rasheed Butt.28 Er lebt in Islamabad und widmet sich seit 1961 seiner Leidenschaft.
Unter Verwendung der klassischen Schrifttypen und Illuminationsmodelle gibt er
inhaltlich Koranauszüge (ganze Suren oder einzelne Verse), überlieferte Aussagen
des Propheten Muhammad (Hadith), traditionelle Anrufungen und Gebete sowie
Arabische und Persische Dichtung wieder. Sein Werk findet international Beach-
tung, wie Ausstellungen nicht nur in Pakistan sondern auch in Iran, Irak, England,
China und Malaysia verdeutlichen. Insgesamt sechs seiner Werke befinden sich, teil-
weise von ihm mit herzlichen Widmungen versehen, im Nachlass von Annemarie
Schimmel, die ihn sehr schätzte:29 “For years I have been an admirer of Rasheed
Butt‘s calligraphies. At a time when many calligraphers strive to create new and unu-
sual forms, he has perfected the classical style in an unsurpassable way. His naskh is
masterly, and the combination of naskh and küfi, as e.g. in his superb rendering of
Sürat ar-rahmän, is unique. [...] We hope that the Pakistani master calligrapher will
live for many many years to fill the world with the beautiful designs of his miracle-
working pen so that we can admire through him the quintessential Islamic art, that of
calligraphy, which developed due to the wish to write the word of God as beautifully
as possible. Does not the tradition state: ‘Verily God is beautiful and loves beauty?’
It is this beauty which can be sensed through Rasheed Butt’s art, the cultural back-
ground of the spectator notwithstanding.”
Die in diesem Zitat angesprochene kalligraphische Darstellung von Sure LV ar-
rahmän (“Der Barmherzige”) ist Bestandteil der Sammlung von Annemarie Schim-
mel (Abb. 11*: L4545/0030; Maße: 45,3 x 62,8 cm). Auf dem Blatt steht oben rechts in
verschlungenem rotem Thuluth das die Sure eröffnende basmala. Links wurde mit
großen Schriftzügen in Knoten-Küfi der Vers “Welche von den Wohltaten Eures
Herrn wollt ihr beide [= die Menschen und die Dschinnen] denn leugnen?” geschrie-
ben, der in dieser Sure 31 Mal wiederholt wird. Rechts davon liest man in 33, in
Naskhi ausgeführten Zeilen den restlichen Suren-Text unter Auslassung dieser 31
Verse. Die Verse wurden durch variierend bunte Rosetten voneinander getrennt.
Links unten hat Rasheed Butt seinen Namen in stilisierter Form und die Datierung
1416 h. (1995-6 n. Chr.) angebracht.
15 kalligraphische Schmuckblätter im Nachlass von Annemarie Schimmel stammen
von dem Iraner Shams Anwari-Alhosseyni; zum Teil sind sie mit einer persönlichen
Widmung versehen.30 1937 in Teheran geboren, studierte er Kunst. Philosophie, Ori-
27 So Volker S. Stahr in seinem Nachruf auf Annemarie Schimmel in der Neuen Zürcher Zei-
tung vom 29. Januar 2003.
28 Schimmel, Morgenland, S. 316.
29 Dieses Zitat findet sich mit der Angabe „Bonn, August 1999“ auf der Homepage von Ra-
sheed Butt: www.rasheedbutt.com
^’Schimmel, Morgenland, S. 309.
164
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Abb. 11*: Inv.-Nr. L4545/0030
Kalligraphisches Schmuckblatt von Rasheed Butt (Pakistan): Sure LV ar-rahmän
(“Der Barmherzige”), dünner Karton (45,3 x 62,8 cm), datiert 1416 h. (1995-6 n. Chr.)
Abb. 12*: Inv.-Nr. L4545/0052
Kalligraphisches Schmuckblatt von Shams Anwari-Alhosseyni (Iran / Deutschland);
hic (“nichts”), Papier (24,9 x 34,1 cm), datiert 1380 sh. (2001-2 n. Chr.)
165
TRIBUS 53,2004
entalistik, Ethnologie und Musikwissenschaft an verschiedenen akademischen Ein-
richtungen in Teheran, München und Köln. Seine kalligraphische Ausbildung erfuhr
er als Schüler von Amirkhani (geb. 1939), der wohl größte iranische Kalligraph der
Moderne und langjährige Vorsteher des höchsten Rates der Gesellschaft iranischer
Schönschreiber. Von 1976 an war Anwari-Alhosseyni Lektor für persische Sprache,
Literatur und islamische Kalligraphie an der Universität Köln. 1985 promovierte er
im Fach Orientalische Philologie. Inzwischen lebt er im Ruhestand. Seine vorwie-
gend in Nasta'liq ausgeführten Kalligraphien, die mehrfach in Deutschland und in
der Schweiz ausgestellt wurden, charakterisieren sich durch einen äußerst eleganten
Duktus. Inhaltlich geben seine Schmuckblätter in erster Linie Verse aus der persi-
schen Dichtung oder Einzelwörter aus dem Umfeld der islamischen Mystik wieder.31
Sehr typisch für sein Werk ist ein in seiner Schlichtheit bemerkenswertes Blatt (Abb.
12*: L4545/0052; Maße: 24,9 x 34,1 cm): Mit bräunlicher, nicht ganz deckender Tinte
steht zentral in großem, leichtem, schon fast flüchtigem Nasta'liq das persische Wort
hic für “nichts”. Darunter signiert der Kalligraph und gibt die Datierung 1380 sh.
(2001-2 n. Chr.). Das Papier wurde mit schwachen braunen Streifen eingefärbt.
Annemarie Schimmel war eine große Katzenfreundin. Diese persönliche Vorliebe
mag sich durch ihre Beschäftigung mit der islamischen Mystik ergeben oder zumindest
noch verstärkt haben. Schon der Prophet Muhammad schätzte diese Tierchen überaus,
und in islamischen Bekehrungsgeschichten spielen Katzen, oft mit Wundern verbun-
den, eine wichtige Rolle. Der Derwischorden der Heddawa verehrte Katzen außeror-
dentlich, weshalb man die Novizen dieses Ordens als “Katerchen” bezeichnete.32 Im
Nachlass von Annemarie Schimmel fanden sich zwei Kalligraphieblätter mit Katzen-
darstellungen, die sich nach näherer Betrachtung als aus den arabischen Buchstaben
Abb. 13*: Inv.-Nr. L4545/0050
Kalligraphisches Schmuckblatt von Shams Anwari-Alhosseyni (Iran / Deutschland):
Katze, geformt durch die arabischen Buchstaben für “Annemarie Schimmel”, Papier
(29,7 x 42,1 cm), weder datiert noch signiert
31 Zu Shams Anwari-Alhosseyni SCHIMMEL, Annemarie, Profile Shams Anwari-Alhuseyni,
in: Arts & the Islamic World 19 (1990), S. 25-28.
32 Zu Katzen im Sufismus Schimmel, Annemarie, Die orientalische Katze. Mystik und Poesie
des Orients, Freiburg, 19963.
166
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Abb. 14*: Inv.-Nr. L4545/0051
Kalligraphisches Schmuckblatt von Shams Anwari-Alhosseyni (Iran / Deutschland);
18 Kätzchen, jeweils geformt durch die arabischen Buchstaben für ‘Annemarie
Schimmel”, Papier (29,7 x 42,1 cm), weder datiert noch signiert
des Namens “Annemarie Schimmel” zusammengefügte Zeichnungen herausstellten.
Eine in der ganzen islamischen Welt beliebte Besonderheit der Kalligraphie ist die fi-
gürliche Darstellung unterschiedlichster Motive, die aus dem schwungvollen Duktus
der arabischen Buchstaben geformt werden.33 Diese unsignierten kalligraphischen
“Katzen-Sonderanfertigungen” wurden von Shams Anwari-Alhosseyni auf ausdrück-
lichen Wunsch Annemarie Schimmels hin ausgeführt. Annemarie Schimmel war sehr
stolz darauf und liebte es, sie ihren staunenden Besuchern vorzuführen. Das eine Blatt
(Abb. 13*: L4545/0050; Maße: 29,7 x 42,1 cm) zeigt eine Katze, geschrieben mit grauer
Tusche und roter Umrandung; auf dem anderen (Abb. 14*: L4545/0051; Maße: 29,7 x
42,1 cm) tummeln sich 18 Kätzchen in den unterschiedlichsten Farben und Posen. An-
nemarie Schimmel traf sich auch gelegentlich mit Shams Anwari-Alhosseyni, um sich
selbst unter seiner Anleitung in Kalligraphie zu üben.
Feridun Özgören ist ein 1942 in Istanbul geborener türkischer Künstler, der sich seit
den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts um das Wiederaufleben von Ebrü, der traditionel-
len Technik zur Herstellung von farbig marmorierten Papieren, verdient gemacht hat.
Ebrü wurde wohl im 15. Jahrhundert in Zentralasien entwickelt. Von dort verbreitete es
sich rasch nach Indien, in den Iran und in die Osmanische Türkei. Seit dem Ende des 16.
Jahrhunderts gelangten diese Papiere über Händler und Diplomaten auch nach Euro-
pa, wo sie unter der Bezeichnung “Türkisches Papier” sehr geschätzt waren. Heute lebt
und arbeitet Özgören in Boston und gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen
Ebrü-Künstler mit Einzelausstellungen unter anderem in den USA. in der Türkei und
in Bahrain.34 Zur kalligraphischen Sammlung von Annemarie Schimmel gehört eines
seiner Werke aus dem Jahr 1990 (Abb. 15: L4545/0045; Maße: 38,3 x 62 cm): Mit weißem
33 Beispiele finden sich bei Pavaloi, Margareta, Osmanische Buchkunst, in: Kalter, Johannes,
Schönberger, Irene (Hgg.), Der lange Weg der Türken. 1500 Jahre türkische Kultur, Stuttgart,
2003, S. 137-62, Abb. 178-80. Vgl. außerdem Kühnel, Islamische, S. 77-79.
34 Zur Geschichte und Technik von Ebrü Sönmez, Nedim, Klassische Marmoriermuster,Tübin-
gen, 2001.
167
TRIBUS 53,2004
Abb. 15: Inv.-Nr. L4545/0045
Kalligraphisches Schmuckblatt von Feridun Özgören (Türkei / USA): Anrufung ye
hesrat mevlana (“Oh Du ehrwürdiger Mevlana”), Ausführung in Ebrü-Technik, dün-
ner Karton (38,3 x 62 cm), datiert 1990
NastaJiq steht zentral die Anrufung ye hesrat mevlana, “Oh Du ehrwürdiger Mevlana”,
womit Jaläluddin ar-Rümi (gest. 1273), der in der Türkei hoch verehrte Gründer des
Süfiordens der so genannten Tanzenden Derwische, gemeint ist.3'' Den Hintergrund bil-
den Marmorierungen in Lila-, Braun- und Grüntönen.
Bei Ümran Tezcan-Schelling handelt es sich um eine seit 1975 in der Schweiz leben-
de türkische Künstlerin, die neue Wege in der Kalligraphie beschritt. Nach ihrem
Architekturstudium an der Technischen Universität Istanbul und einer mehr als
20jährigen Tätigkeit als Architektin wandte sie sich 1997 der Kalligraphie zu. Ihre
bereits in mehreren Ausstellungen präsentierten Bilder beinhalten religiöse Themen
und bestechen durch ihre schlichte, klare Konzeption, die fast wie technische Motive
anmutet.35 36 Annemarie Schimmel besaß zwei ihrer Werke. Das hier vorgestellte aus
dem Jahr 2002 (Abb. 16*: L4545/0046; Maße; 39,5 x 50,3 cm) zeigt die Kalligraphie
der Wörter “yä hü\ (Das Sein)“,37 die in Art eines schwarzen, kreisförmigen Orna-
ments stilisiert wurden. Den Hintergrund bilden hellgrüne Streifen.
Zur Abrundung sei schließlich ein Schmuckblatt mit einem bislang noch nicht zur
Sprache gekommenen Schrifttyp vorgestellt, das im Westen der islamischen Welt ge-
brauchte Maghribi. Dieser Duktus hatte sich nicht aus der altarabischen Kursive
oder aus dem Naskhi sondern direkt aus dem Küfi entwickelt und wird von einem
Nebeneinander kantiger Ecken und ausgeprägter Bögen bestimmt.38 Zur Sammlung
von Annemarie Schimmel gehört ein Kalligraphieblatt des marokkanischen Künst-
lers Abdelghani Ouida, das auf der Rückseite mit den Angaben “Marrakech 2 / 5 /
96” versehen ist (Abb. 17: L4545/0048; Maße: 49,3 x 31,6 cm). Für seine international
Beachtung findenden Bilder kombiniert Ouida gekonnt Farben, geometrische Ele-
mente aus islamischem Baudekor und Schrift. Im hier vorliegenden Beispiel steht
zentral in Art eines Medaillons der Ausruf al-hamdu li-lläh, “Lob sei Gott” in oran-
35 Zu ar-Rumi Schimmel, Annemarie. Rumi: Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk
des Mystikers, Köln 19844.
36 Dies., Morgenland, S. 323.
37 So die Angabe auf der Kalligraphie selbst; eigentlich heißt hü “Er” und wird im dhikr. das laut
oder schweigend vollzogene Gedenken an Gott islamischer Mystiker, als Anrufung Allahs ein-
gesetzt. Vgl. dazu die Ausführungen in Schimmel, Mystische, S. 238-53.
38 Kühnel, Islamische, S. 57-60,
168
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
1Ürtiw
'ZW2
Abb. 16*: Inv.-Nr. L4545/0046
Kalligraphisches Schmuckblatt von Ümran Tezcan-Schelling (Türkei / Schweiz): An-
rufung “yä hü! (Das Sein)”, dickes Papier (39,5 x 50,3 cm), datiert 2002
TRIBUS 53,2004
ge-brauner Farbe. Die in Maghrib! gehaltenen Textzeilen darunter beinhalten religi-
öse Lobsprüche, die teilweise auf einen namentlich genannten Shaykh zurückgehen.
Auch der Hintergrund dieses Blatts ist kunstvoll gestaltet: Das obere Drittel der
Seite besteht aus Sternen und geometrischen Figuren in braun-oranger Farbe, die
mit Schablonen aufgespritzt wurden. Die Seitenmitte ist weiß, ihr unteres Drittel
wurde mit feinen braun-orangen Spritzern versehen.
Die Kalligraphien aus der Privatsammlung von Annemarie Schimmel ergänzen die
Sammlung zur islamischen Buchkunst des Linden-Museums in ausgezeichneter Wei-
se und sind in jeder Hinsicht ein Gewinn für das Museum. Das Linden-Museum
konnte bereits eine international hochrangige Sammlung zur islamischen Kalligra-
phie in erster Linie aus dem persischen Raum vorweisen, die in den Jahren 1998/99
- auch dank eines von Annemarie Schimmel erstellten wissenschaftlichen Gutach-
tens - erworben werden konnte.39 Das Linden-Museum besaß bereits in Küfi ausge-
führte Koran-Einzelblätter, die jedoch im Dekor von den Schimmel-Pergamenten
übertroffen werden.40 Eine besondere Hervorhebung verdienen die beiden dem
mamlukischen Raum zuzuordnenden Koran-Blätter der Schimmel-Sammlung als
herausragende Beispiele der Korankalligraphie in Bezug auf die elegante Ausfüh-
rung der Schrift wie auch hinsichtlich des feinen, delikaten Dekors. Das indische
Koran-Blatt aus dem 15. Jahrhundert trifft im Linden-Museum auf ein anderes Blatt
dieses Manuskripts. Tiräz-Streifen waren im Linden-Museum bislang noch gar nicht
vertreten, dies gilt auch für moderne Kalligraphien.
Im Nachlass von Annemarie Schimmel fand sich eine kurze Beschreibung der Samm-
lung von ihr selbst in englischer Sprache. Wir wollen die Vorstellung ihrer kalligra-
phischen Schmuckblätter mit ihren eigenen Worten beschließen.41
Appendix
Annemarie Schimmel
When visitors enter my flat they usually exclaim: “Oh you have really got a little
museum!” I confess that I like this remark although the few pieces that wandered
into my home during the last decades are certainly not a major collection. Neverthe-
less, they point to my love of Islamic art and in particular of calligraphy.
The first levha in classical Ottoman Style was given to me in 1953 by the noted Tur-
kish writer, Samiha Ayverdi; it is a fine piece written by Aziz Rifai, the last traditional
calligrapher working in the style of Hafiz Osman. He had left Turkey for Egypt after
the abolition of Arabic letters in Turkey in 1928, and continued his work of training
Arab calligraphers. Samiha’s brother was married to Aziz Efendi’s daughter.42
39 Vgl. Kalter, Johannes, Neuerwerbungen 1998, in: Tribus 48 (1999), S. 19; Ders., Neuerwer-
bungen 1999, in: Tribus 49 (2000), S. 22-26; Veit, Die Kunst, S. 162-187; Dies., Einige Beispiele
für die Bedeutung und handschriftliche Ausgestaltung des islamischen Bittgebets duT, in: Tri-
bus 53 (2004), S. 127-151.
40 Vgl. die Abbildungen in: Kalter, Johannes, Die Unendlichkeit Gottes, in: Damals. Islam, Die
Geschichte einer Weltregligion 3 (2002), S. 36-41, Abb. 6 und Veit, Die Kunst, Tafeln 1 und 2.
41 Der wissenschaftliche Nachlass von Annemarie Schimmel befindet sich unter der Nummer
NL 334 in der Universitätsbibliothek Basel. Auskünfte sind bei der Fachreferentin für Islam-
wissenschaften, Frau Dr. Gudrun Schubert, zu erhalten.
Die erläuternden Anmerkungen zum Text im Appendix wurden von R. Veit für diesen Artikel
ergänzt. Das Manuskript von Annemarie Schimmel zu ihrer kalligraphischen Sammlung wird
auch publiziert in: Islamische Kunst in Deutschland, Mainz, 2004 (Verlag Philipp von Zabern).
42 Mit levha bezeichnet man kalligraphische Schmucktafeln, die gerahmt in den Wohnräumen
aber auch in öffentlichen Gebäuden und Moscheen ihren Platz an der Wand finden; zu ihren
unterschiedlichen Ausformungen Pavaloi. Osmanische, S. 161-62 mit Abb. 175-80. Samiha Ay-
verdi ist eine türkische Autorin des 20. Jahrhunderts (gest. 1993), die Gegenstände der Verwest-
lichung der Türkei und der Osmanischen Geschichte thematisierte. Hafiz Osman (gest. 1698)
war wohl der bedeutendste türkische Kalligraph des 17. Jahrhunderts, sein Einfluss reicht bis
heute. Vgl. auch Schimmel, Morgenland, S. 95-97.
170
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
From Turkey, my way led me to Pakistan and I was lucky enough to become friendly
with the leading calligraphers of that country: the eccentric Sadiqain wrote some
strange lines for me; a work by Aslam Kamal whose religious calligraphies are inspi-
red by Mughal architecture was the honorarium for a lecture in the Lahore Muse-
um.43 A warm friendship developed with Gulgee, probably the most ingenious Pakis-
tani artist, to whom Islamabad owes the beautiful prayer niche in the Faisal Mosque
- a prayer niche in the shape of an enormous book of white marble on whose pages
the Surat ar-rahmdn44 is written in Eastern kufiesque style. This style was used by
Gulgee also to produce a series of the 99 Most Beautiful Names of God, painted in
shimmering relief in eleventh-century Eastern kufi on brownish golden canvas; I
own one of them, as-sami', “The Hearing One”. Besides one of his very colourful
calligraphic paintings there belongs to my little collection a greyish stone plate (dia-
meter 30 cm) on which the Throne verse (Sura II, 255) is chiselled in impeccable
thuluth letters.45 - To return to classical models: Rasheed Butt,46 Islamabad, provi-
ded me with some of his religious texts, among them again the asma' al-husnd,47, and
Sura LV, ar-rahmdn, in masterly naskh with the recurring rhyme in large kufi48. Some
Persian and Urdu texts in fine nasta'liq were also given to me. In Lahore the last
master of khatt-i nakhun. “Fingernail-Script” offered me some specimens of this art
in which the artist writes texts with the thumb-nail of the right hand on the back of
the paper to produce an amazingly fine script, be it naskh. be it nastaliq.
During my stay at Harvard I had the chance to acquire a minute leaf of a kufic
Qur'an (7,0 to 3,5 cm) on vellum with 14 lines of the page in brownish, very legible
kufi (Sura XXIX, 33-39), probably around 800 CE.49 Through S. Cary Welch50 I be-
came acquainted with Adrienne Minassian in New York.51 52 53 I could buy from her a
fine Mir 'Ali Herewi Mir page in Arabic and Persian as well as some medium sized
pages of kufic Qur'ans,32 and also a page of the famous 15th-century Koran whose
pages are found in many collections: three lines in tall thuluth with a Persian interli-
near translation; a border in coloured kufic letters, containing Prophetic traditions,
was added later to many of the pages.33 - A large page of a 14th-century Qur'an in
muhaqqaq (from Sura XVII) is one of my favourites,54 55 as is a slightly smaller page
from about the same period whose three lines contain Sura CX, further the heading
and the hasmala of Sura CXI35. My absolute favourite, however, is a page from the
Divan of Sultan Husayn Bayqara, based on the handwriting of Sultan 'Ali Mashhadi:
the letters are cut out and pasted on coloured cardboard. Although slightly water-
stained, the piece is superb.56 Besides,some 16th and 17th century pages from Qur'ans
in different cursive styles, including a colourful Bihari page,57 are found along with a
43 Sadiqain (gest. 1986) und Kamal begannen beide ihre künstlerische Karriere mit Malen, ver-
fertigten Kalligraphien zu religiösen Themen und erwarben sich einen Namen als Dichter in
Urdu. Sie zählen zu den wichtigsten pakistanischen Künstlern der Gegenwart und finden inter-
nationale Anerkennung.
44 Sure LV.
45 Ismail Gulgee (geb. 1926 in Peshawar) ist Maler und Bildhauer. Er begann zu malen, während
er in den USA als Ingenieur tätig war. Zahlreiche internationale Ausstellungen dokumentieren
seine Bedeutung für die pakistanische Kunst- und Kulturszene. Vgl. auch Schimmel, Morgen-
land. S. 307.
46 Vgl. Anm. 28.
47 Die “99 Schönsten Namen” Gottes.
48 Abb. 11.
49 Abb. 1.
5° Vgl. Anm. 7.
51 Siehe oben die Ausführungen zu Abb. 2,3, und 7.
52 Abb. 2 und 3.
53 Abb. 7.
54 Abb. 5.
55 Abb. 6.
56 Abb. 8.
57 Abb. 10.
171
TRIBUS 53,2004
number of pieces in masterly nastaliq from Iran and Turkey as well as an elegant
example of Deccani nastaliq on slightly marbleized paper. Fragments of safinas58
with poems in minute nastaliq - probably 15th century - and similar fragments are
part of the collection59 as are some fine pieces of contemporary Persian nastaliq,
many of them by Shams Anwari-Alhosseyni, a disciple of Amirkhani.60 A grain of
rice with the basmala written on it as well as some rather torn tiraz-pieces61 are part
of the collection.
During my Harvard days Wasma'a Chorbachi about whom I once published an artic-
le in this magazine was among my students, and thanks to her I own a considerable
number of her ceramics, mainly in turquoise and white, decorated with Arabic reli-
gious sentences of variations on the word baraka, ‘‘Blessing”. Three ceramic plates of
ca. 30 cm diameter are among her finest products; some inscriptions in batik techni-
que on silk and calligraphic drawings inspired by the Chinese style of Arabic calligra-
phy belong to my “Wasma'iyat “.62
The work of the great Egyptian master Ahmad Moustafa (living in London) is rep-
resented by several small prints in which intriguing designs, seemingly three-dimen-
sional, represent both Qur'anic texts as classical Arabic poetry. An intriguing pattern
in blue and gold in interlocking square kufi adorns one of my rooms.63
A highly interesting contemporary development is documented in the work of the
Turkish artist Umran Tezcan-Schelling64 whose training as an architect has inspired
her to create highly sophisticated calligraphic designs from religious texts.65
My collection is small yet, it contains some samples of different styles and from dif-
ferent times and countries, and I am most grateful to all the friends who helped me
building up my little museum.
58 Gedichtsammlungen.
59 Abb. 9.
60 Abb. 12-14; vgl. Anm. 30.
61 Abb. 4.
62 Wasma'a K. Chorbachi ist gebürtige Irakerin. Sie studierte in Beirut und Florenz und erwarb
den Doktorgrad in Geschichte der islamischen Kunst an der Harvard University. Heute lehrt
sie in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge MA. Zahlreiche
Einzel- und Gruppenausstellungen zeigten ihr Werk nicht nur in den USA sondern auch in
Europa und im Nahen Osten. Aus dem Nachlass von Annemarie Schimmel gingen 16 ihrer
Keramiken und zwei ihrer Kalligraphien auf Stoff an das Linden-Museum über. Vgl. auch
Schimmel, Morgenland, S. 212.
63 Ahmed Moustafa wurde 1943 in Alexandria / Ägypten geboren und zählt heute zu den wich-
tigsten zeitgenössischen Künstlern aus dem islamischen Kulturraum. Sein Werk charakterisiert
sich durch abstrakte Kompositionen vor allem koranischer Texte unter Verwendung traditio-
neller Schriftvorbilder. Seit 1974 lebt und arbeitet er in London, 1989 erwarb er den Doktor-
grad mit einer Arbeit zu dem abbasidischen Wezir und Kalligraphen Ibn Muqla, der im neunten
Jahrhundert entscheidend an der Entwicklung des NaskhT Anteil hatte. Ahmed Moustafa findet
internationale Anerkennung, die nicht nur in zahlreichen Ausstellungen (so beispielsweise 1998
als erster muslimischer Künstler im Vatikan) sondern auch in wiederholten Lehraufträgen an
unterschiedlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen zum Ausdruck kommt.
Vgl. Schimmel, Morgenland, S. 306; Ali, Maureen, Profile Ahmed Moustafa, in: Arts & The Is-
lamic World 3, 4 (1986), S. 53-56; Theophilus, Jeremy, An Alchemy of Leiters: The Art of
Ahmed Moustafa. Prestbury, 1993 sowie Ders., Ahmed Moustafa: Expressing the Essential, in;
Arts & The Islamic World 24 (1994), S. 21-24.
Die Seriegraphie im Nachlass von Annemarie Schimmel trägt den Titel “The Perspective of the
Bismillah (1977/78)” und ist farbig abgebildet in: Henzell-Thomas, Jeremy, Where the two
Oceans meeLThe Art of Ahmed Moustafa, London, 1998 (Katalog zu der Vatikan-Ausstellung
“Dove i due oceani si incontrano”).
64 Vgl. Anm. 36.
65 Abb. 16.
172
Raphaela Veit: 1200 Jahre islamische Kalligraphie
Literatur
Ali, Maureen
1986 Profile Ahmed Moustafa, in: Arts & The Islamic World 3, 4 (1986), S.
53-56.
Brandenburg, Dietrich
1977 Herat - Eine timuridische Hauptstadt, Graz.
The Encyclopaedia of Islam
1960-2002 New Edition, Leiden / London.
Grohmann, Adolf
1967 Arabische Paläographie I, Graz.
1971 Arabische Paläographie II (Das Schriftwesen. Die Lapidarschrift),
Graz.
Henzell-Thomas, Jeremy
1998 Where the two Oceans meet; The Art of Ahmed Moustafa, London
(Katalog zur Vatikan-Ausstellung “Dove i due oceani si incontrano”).
Islamische Kunst in Deutschland
2004 Mainz (Verlag Philipp von Zabern).
Kalter, Johannes
1999 Neuerwerbungen 1998, in: Tribus 48 (1999), S. 19.
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174
ANDREA VOLKER
Besucherorientierung im Linden-Museum Stuttgart
Ausgewählte Ergebnisse einer Besucheranalyse
im November 2003
Die Notwendigkeit der Besucherorientierung
Im Laufe der Jahre ist es dem Linden-Museum gelungen, sich als fester Bestandteil
der Stuttgarter Kulturszene und weit darüber hinaus zu etablieren. Durchschnittlich
können hier jährlich etwa 80.000 Besucher in den Dauerausstellungen Nord- und
Südamerika, Südsee, Afrika, Orient, Süd- und Ostasien sowie zahlreichen Sonder-
ausstellungen begrüßt werden.
Doch wie alle kulturellen Einrichtungen muss auch ein traditionsreiches Haus wie
das Linden-Museum, dessen Anfänge auf das Jahr 1882 zurückgehen, ständig darauf
bedacht sein, aktuelle Entwicklungen in der Kulturlandschaft zu verfolgen, die eige-
ne Positionierung zu überprüfen und ggf. anzupassen.
Momentan steht vor allem die sich zuspitzende finanzielle Notlage im öffentlichen
Bereich, von der auch Museen nicht verschont bleiben, im Mittelpunkt der Diskussi-
onen. Von kulturellen Einrichtungen wird zunehmend erwartet, dass sie aktiv zur
Deckung entstehender Kosten beitragen. In einigen Fällen steht sogar die grundle-
gende Legitimation und somit die Existenz der Häuser zur Debatte.
Dies bedeutet, dass auch Museen verstärkt mit anderen Kultur-, Bildungs-, Unterhal-
tungs- und Freizeitinstitutionen im Wettbewerb um knappe Ressourcen stehen, sei-
en dies finanzielle Mittel oder Besucher.1 Traditionelle Geldgeber, aber auch mögli-
che Sponsoren, machen ihre Unterstützung immer stärker von einem messbaren
Erfolg der Institution abhängig. Zuschüsse verlieren an Selbstverständlichkeit, wol-
len legitimiert werden. Nicht selten wird dieser Erfolg an der Gunst der Besucher
festgemacht, die in der Regel über Besuchszahlen gemessen wird.
Die Zahl der Besucher ist es also, die den Stellenwert eines Museums rechtfertigt, da
sie ihm die Chance gibt, einen höheren Selbstkostenbeitrag zu erwirtschaften - durch
die direkten finanziellen Beiträge der Besucher in Form von Eintrittsgeldern oder
durch ihre Anerkennung, die weitere Faktoren (wie z. B. den allgemeinen gesell-
schaftlichen Status des Museums, ehrenamtliches Engagement zugunsten des Muse-
ums etc.) beeinflusst. Die Ansprüche dieser Besucher sind hoch und werden immer
höher. Sie haben auf der einen Seite eine große Auswahl an alternativen Angeboten,
auf der anderen Seite wird ihnen ihre Zeit immer kostbarer, so dass sie sich gut über-
legen, wofür sie diese nutzen wollen. Darüber hinaus geht der Trend momentan of-
fensichtlich weg vom Spartenexperten und hin zum „Kulturflaneur“, dem es nicht
mehr unbedingt um rein inhaltliche Interessen geht, sondern der von Freizeit gestal-
tenden und gesellschaftlichen Motiven geleitet wird.2
Die Auseinandersetzung mit dem heutigen Besucher und seinen Ansprüchen ist da-
mit eine der wichtigsten Herausforderungen für das Museum der Gegenwart. Aus
diesen Gründen müssen neben den klassischen Aufgaben des Museums in den Be-
1 Vgl. zur Wettbewerbssituation der Museen u. a. Schuck-Wcrsig, Petra / Wersig, Gernot; Mar-
keting und konsequente Besucherorientierung - neue Schubkraft für die Museumskultur? In:
Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.); Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone - Drei Jahr-
zehnte deutsche Museumsentwicklung, Schriften des Rheinischen Museumsamtes (Nr. 61), Op-
laden 1996, S. 155 ff.
2 Vgl. Keuchel, Susanne: Kultur im Bürgerurteil - Daten zum Besucherpotential, zur Besu-
cherorientierung und Besucherbindung in Kultureinrichtungen, Arbeitspapiere der Konrad-
Adenauer-Stiftung e. V, online im Internet: URL: http://www.kas.de/upload/kommunalpolitik/
veroeffcntlichungen/Keuchel.pdf [Stand 29.10.2003]
175
TRIBUS 53,2004
reichen Sammeln. Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln zunehmend Stra-
tegien und Methoden berücksichtigt werden, die das Publikum direkt einbeziehen
und ansprechen. Auf diesem Weg können Besucher gewonnen und gebunden wer-
den. Das Museum muss zu einem attraktiven, den Bedürfnissen des gegenwärtigen
Besuchers angemessenen Erlebnisraum werden - sowohl hinsichtlich der Vermitt-
lung der Ausstellungsinhalte als auch des Präsentationsrahmens. Die Museumsinhal-
te selbst jedoch müssen vor einer zu starken Besucherorientierung geschützt werden.
Ausrichtung auf den Besucher darf nicht bedeuten, dass das Museum zu einem rei-
nen Event- oder Unterhaltungsort wird. Nur wenn sie sich vor dem Hintergrund der
Besucherorientierung immer aufs Neue hinterfragt und weiterentwickelt, wird sich
die Institution langfristig legitimieren können.
Museen sind als öffentliche Einrichtungen kulturelle Dienstleister auf einem immer
enger werdenden Markt. Sie müssen demnach angemessene (Marketing-)Maßnah-
men ergreifen, um sich Wettbewerbsvorteile, eine Position am Markt und somit lang-
fristig ihre Existenz sichern zu können.
Die Attraktivität ihres Programms misst sich an der Akzeptanz durch den Besucher.
Damit liegt nichts näher, als den Besucher bei der Gestaltung der Institution mit
einzubeziehen. Allerdings können sich Museen nur dann an den Vorstellungen ihrer
Besucher orientieren, wenn sie konkrete Informationen über diese haben. Es gilt
also zunächst herauszufinden, mit wem sie es zu tun haben. Dann muss ermittelt
werden, wie zufrieden Besucher mit dem Museum und seinem Programm in der bis-
herigen Form sind. Darauf aufbauend ist zu diskutieren, an welchen Stellen noch
Handlungsbedarf besteht. Eine Besucherorientierung, die sich auf systematische
Untersuchungen stützt, sich also nicht lediglich oberflächlich an Moden orientiert,
kann demnach ein probates Mittel nicht nur zur Sicherung der Attraktivität sondern
zur Sicherung der Existenzberechtigung einer Institution sein. Es muss jedoch unter-
strichen werden, dass die Besucherorientierung, ebenso wie andere betriebswirt-
schaftliche Methoden, beim Museum nur unter genauer Berücksichtigung der spezi-
fischen Rahmenbedingungen sinnvoll Anwendung finden kann.
Die Hauptaufgaben des Museums sind laut dem internationalen Museumsrat ICOM
Sammeln, Bewahren, Forschen und Ausstellen bzw. Vermitteln. Ansatzpunkte der
Besucherorientierung sind vor allem in den Bereichen Ausstellen, Vermitteln und
den diese Bereiche begleitenden Serviceleistungen zu finden. Die der Museumsar-
beit zugrunde liegenden Aufgaben Sammeln, Bewahren und Forschen sollen von
Besuchern und Marketing unbeeinflusst in Händen der jeweiligen kunst- oder kul-
turwissenschaftlichen bzw. konservatorischen Fachkompetenz verbleiben. Zwar
müssen die Leistungen, die von Seiten des Museums in direktem Kontakt zum Besu-
cher erbracht werden, zunehmend auf dessen Bedürfnisse abgestimmt sein, die Wah-
rung höchster wissenschaftlicher Standards hinsichtlich der musealen Inhalte muss
dabei allerdings oberstes Gebot bleiben.
Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge hat sich das Linden-Museum Stutt-
gart im Sommer 2003 entschlossen, in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Be-
triebswirtschaft, Schwerpunkt Kultur- und Freizeitraanagement, der Fachhochschule
Heilbronn am Standort Künzelsau eine Besucherbefragung durchzuführen. Diese
wurde im Rahmen einer Diplomarbeit unter der Betreuung von Prof. Dr. Hermann-
Josef Kiel realisiert.
Die Befragung am Linden-Museum
Zur Vorbereitung der Befragung wurden zunächst allgemein zugängliche Informati-
onsquellen, wie z. B. einschlägige Fachliteratur oder frühere Befragungen am Linden-
Museum und anderen Institutionen, gesichtet und ausgewertet. Darüber hinaus wurden
Besucherbücher des Linden-Museums studiert sowie Beobachtungen und Gespräche
mit Mitarbeitern vor Ort durchgeführt, um die Spezifika des Hauses bei der Erstellung
eines Fragebogens berücksichtigen zu können. Daraufhin wurde ein Fragebogen entwi-
ckelt, der den Besuchern am Ende ihres Museumsaufenthaltes ausgehändigt wurde.
176
Andrea Völker: Besucherorientierung im Linden-Museum
Hauptziel der Befragung war es, eine Grundlage für die Optimierung der Besucher-
orientierung im Linden-Museum zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde vor allem die
Zufriedenheit der Besucher mit den momentanen Museumsleistungen abgefragt
und die Ursachen für eventuelle Unzufriedenheit untersucht. Darüber hinaus konn-
ten grundsätzliche aktuelle Informationen und Daten über die Besucher gewonnen
werden.
Während der Befragung galt es, wie bei derartigen Befragungen üblich, folgende
Einschränkungen zu beachten; Es wurden ausschließlich Besucher ab 14 Jahren und
bei Gruppenbesuchern nur zwei Besucher pro Gruppe befragt. Nach dem dreiwöchi-
gen Befragungszeitraum vom 14. November bis 5. Dezember 2003 konnten 505 Fra-
gebögen ausgewertet werden. Auch wenn diese Ergebnisse nicht als statistisch reprä-
sentativ gelten können, da die Befragung u. a. nur über einen relativ kurzen Zeitraum
durchgeführt werden konnte, so war es dennoch möglich, Zusammenhänge und Ten-
denzen herauszuarbeiten, aus denen zutreffende Rückschlüsse gezogen werden
konnten.
Die folgende Tabelle stellt zusammenfassend den Aufbau des entwickelten Fragebo-
gens dar.3
Block Inhalte Frage
1 Hinweise zur Befragung
2 Besucher und Besuchsumstände 6-11,1-5
3 Erwartungen und Motivation beim Museumsbesuch 12-13
4 Informationsquellen 14-16
5 Wahrnehmung bestimmter Angebote wie Führung, Veranstaltung etc. 17-20
6 Beurteilung einzelner Aspekte des Museums sowie des Museumsimages; freie Äußerungen zu Gefallen, Missfallen und Anregungen 21-28
Quelle: Eigene Darstellung
Zusammenfassung der Befragungsergebnisse
Durch die Besucherbefragung am Linden-Museum konnten sehr vielfältige und in-
teressante Informationen gewonnen, Zusammenhänge verdeutlicht und Verbesse-
rungspotenzial für die Zukunft aufgedeckt werden. An dieser Stelle können aller-
dings nur die wichtigsten Ergebnisse dargestellt werden. Für Rückfragen steht die
Autorin gerne zur Verfügung3 4.
Insgesamt verlief die Datenerhebung im Linden-Museum sehr erfreulich. Allein die
große Beteiligung an der Befragung von Seiten der Besucher lässt auf ein sehr offe-
nes und engagiertes Publikum schließen. Neben dem quantitativen Rücklauf an Fra-
gebögen waren auch die konkreten Äußerungen der befragten Besucher sehr auf-
schlussreich, so dass eine Reihe von Ansatzpunkten für eine Intensivierung der
Besucherorientierung im Linden-Museum herausgearbeitet werden konnten.
Als Gesamtergebnis kann hier vorweggenommen werden, dass der Großteil der Be-
sucher des Linden-Museums sehr zufrieden mit seinem Aufenthalt im Museum ist
und dieses auch in Zukunft gerne wieder besuchen bzw. in seinem sozialen Umfeld
weiterempfehlen wird (ca. 90 %). Letzteres ist hinsichtlich der Frage, wie der Besu-
cher auf das Museum aufmerksam wurde, insofern wichtig, als die so genannte
Mundwerbung eine sehr große Bedeutung hat. So wurden die meisten Befragten
3 Der vollständige Fragebogen ist im Anschluss an diesen Beitrag zu finden.
4 Andrea Völker, Neckarsulmer Str. 19/1, D-74196 Neuenstadt, e-mail: andi.voelker@t-online.de
oder Prof. Dr. Hermann-Josef Kiel, FH Heilbronn, Standort Künzelsau, Daimlerstr. 35, D-74653
Künzelsau, e-mail: kiel@flr-heilbronn.de.
TRIBUS 53,2004
auch über frühere Besuche (246 Nennungen) oder Personen im Familien- oder Be-
kanntenkreis (154 Nennungen) auf das Museum aufmerksam. Klassische Informati-
ons- und Werbemittel wie die Zeitung (76 Nennungen) oder Plakate (72 Nennun-
gen) spielen überraschender Weise eine wesentlich geringere Rolle. Dem Internet
wird, wie sich zeigte, als Informationsverbreitungsmedium in Zukunft eine steigende
Bedeutung zukommen. So wollen sich 232 Besucher künftig im Internet über aktu-
elle Angebote des Linden-Museums informieren. Das Museum kann dieser Ent-
wicklung insofern Rechnung tragen als es seine bestehende Homepage auch in Zu-
kunft immer aktuell und professionell gestaltet und stets die digitalen Kommunika-
tionsmittel in diesem Bereich, wie momentan z. B. schon den Newsletter, verstärkt
nutzt.
Als Konsequenz der angeführten hohen Wiederbesuchsquote kann das Museum auf
eine große Zahl an Stammbesuchern verweisen. Mit 37,6 % war der größte Teil der
Probanden schon öfter als drei Mal im Linden-Museum. 28,6 % waren vor dem ak-
tuellen Besuch ein bis drei Mal hier; nur die restlichen 33,8 % sind Erstbesucher.
Dieser Sachverhalt verdeutlicht, dass das Linden-Museum in der Lage ist, sein Publi-
kum zu binden. Hält man sich die aktuellen Entwicklungen im Kultur- und Freizeit-
markt vor Augen, so sind diese treuen Besucher ein wertvolles Kapital. Aus diesem
Grunde sollten die Beziehungen zu diesem Publikum (neben der Museums- und
Ausstellungsgestaltung z. B. mit Hilfe von Aktivitäten des Förderkreises des Muse-
ums, der Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V.) auch in Zukunft
gepflegt werden.
Der wichtigste Anreiz für wiederholte Besuche sind die Sonderausstellungen des
Museums. So gab fast die Hälfte der Probanden die im Befragungszeitraum aktuelle
Sonderausstellung „Der lange Weg der Türken“ explizit als Besuchsgrund an. 73,6 %
der Befragten besuchten diese Ausstellung. In der Befragung zeigte sich, dass hin-
sichtlich der Anziehungskraft der Sonderausstellung der Titel eine entscheidende
Rolle spielte. Die Wahl publikumswirksamer Ausstellungstitel im Zuge der Ausstel-
lungsplanung kann also nicht überschätzt werden. Hervorzuheben ist an dieser Stel-
le auch die Bedeutung von attraktiven Führungen und Begleitveranstaltungen, die
jeweils zur aktuellen Sonderausstellung, aber auch zu den bestehenden Daueraus-
stellungen angeboten werden. Sie stellen ein wertvolles Kundenbindungsmittel des
Museums dar und sind nicht nur bei Wiederholungsbesuchern bekannt und beliebt.
So nahmen knapp 30 % der Befragten an einer Führung teil. 34 % haben schon
(mindestens) einmal eine Veranstaltung im Linden-Museum besucht. Trotzdem
scheint es immer noch Besucher zu geben, die nicht über diese Angebote informiert
sind, so dass auch in diesem Bereich noch ein gewisses Kommunikationspotenzial
liegt. In diesem Zusammenhang wurde außerdem deutlich, dass es sich durchaus
auszahlt, wenn das Führungsangebot bei beliebten Ausstellungen und daraus resul-
tierender hoher Besucherfrequenz kurzfristig ausgebaut wird, wie das im Falle der
„Türken-Ausstellung“ geschah. Dabei muss jedoch darauf geachtet werden, dass die
Qualität jeder einzelnen Führung gewährleistet wird und die räumlichen Kapazitä-
ten nicht durch zu viele parallel laufenden Führungen überreizt werden.
Leider war nicht nur an dieser Stelle festzustellen, dass das Museum in seiner mo-
mentanen baulichen Konstitution immer wieder an seine Grenzen stößt. Wie der
Museumsleitung bereits seit längerem bewusst ist, sollte neben einer Erweiterung
der Ausstellungsräume sowie einer insgesamt besucherfreundlicheren Gestaltung
bei einer zukünftigen Umgestaltung der räumlichen Situation auch der Ausbau des
Parkplatzangebots bedacht werden, da momentan fast die Hälfte der Besucher mit
dem PKW anreist. Solange bezüglich dieser Punkte keine direkte Abhilfe geleistet
werden kann, sollte zumindest versucht werden, einen größeren Anreiz zur Nutzung
der durchaus vorhandenen Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr zu schaffen
und durch klare Informationen zur besseren Orientierung im Haus beizutragen.
Stellt sich das Gebäude bei Wiederholungsbesuchern als überschaubar und aufgrund
seiner angenehmen ruhigen Atmosphäre immer wieder als einladend dar, so könn-
ten doch weitere klare Informationen und Hinweise vor allem im Eingangsbereich
178
Andrea Völker; Besucherorientierung im Linden-Museum
insbesondere dem Erstbesucher die Orientierung erleichtern. Dies betrifft zum ei-
nen die Wegweisung, zum anderen aber auch Informationen hinsichtlich der Preisge-
staltung sowie des aktuellen Ausstellungs-, Führungs- und Veranstaltungsangebots.
Ein Bonus für ausländische Besucher wäre eine in mehreren Sprachen erhältliche
Übersicht.
Um den Besuchern bei der Zahlung der Eintrittsgelder sowie der Einkäufe im Mu-
seumsshop entgegen zu kommen, sollte unbedingt über die Einführung einer Mög-
lichkeit zur Kartenzahlung nachgedacht werden. Die Verlängerung der Shopöff-
nungszeiten um eine halbe Stunde über die Ausstellungsöffnungszeit hinaus sowie
die Kommunikation eventuell erhöhter Preise aufgrund des fairen Handels der an-
gebotenen Waren könnten weitere Anreize zum Einkauf im Shop bieten. Ein Kom-
biticket für Dauer- sowie Sonderausstellungen und auch die Kommunikation der
Mitgliedschaft im Förderverein des Museums als Jahreskarte würden den Besuchern
weitere Besuchsanreize schaffen.
Als besonders positiv wurden in der Befragung das freundliche Museumspersonal
und die Auswahl der zahlreichen faszinierenden Objekte empfunden. Nicht nur von
Erwachsenen sondern auch von Familien mit Kindern sowie Schulklassen wird das
Linden-Museum aufgrund seiner interessanten Ausstellungsschwerpunkte immer
wieder gerne besucht. Aufgrund dieser Tatsache sind insbesondere die originalge-
treuen Nachbauten in den Ausstellungen beliebt, die auf anschauliche Weise einen
Eindruck vom Leben verschiedener Kulturen vermitteln. An diese Darstellungsfor-
men anknüpfend könnten weitere Angebote geschaffen werden, die es vor allem
jüngeren Besuchern ermöglichen, sich aktiv einzubringen oder sich Informationen
über verschiedene Sinne wie Tasten oder Hören anzueignen. Sowohl eine noch le-
bendigere Ausstellungsgestaltung als auch die Optimierung der textlichen und grafi-
schen Darstellungen in den Abteilungen (v. a. hinsichtlich Übersichtlichkeit, Lesbar-
keit, Zuordenbarkeit, Mehrsprachigkeit) kann als eine Herausforderung für die
Zukunft gesehen werden.
Insgesamt darf die Heterogenität der Besucherschaft nie aus den Augen geraten. Es
ist wichtig zu unterstreichen, dass unterschiedliche Besuchergruppen auch eine ent-
sprechend andere Ansprache und Behandlung verlangen. So ließen sich auch bei der
Auswertung der Befragungsergebnisse bei vielen Aspekten Unterschiede in der
Wahrnehmung durch jüngere und ältere bzw. Erst- und Stammbesucher feststellen.
Während ältere Besucher sowie die treuen Stammbesucher insgesamt überzeugter
vom Linden-Museum schienen, zeigten sich die jüngeren Altersklassen und Erstbe-
sucher kritischer und anspruchsvoller. Das Museum sollte sich sein momentanes
Verhältnis zum Besucher also immer wieder von neuem vergegenwärtigen und zeit-
gemäß gestalten.
Im Allgemeinen sollte das Museum auch in Zukunft darauf bedacht sein, in präsen-
tationstechnischer Hinsicht eine durchgängig hohe Qualität sicher zu stellen (z. B.
bei Angeboten wie Filmen, Hörbeispielen etc.), da Mängel in einzelnen Bereichen
auf andere Museumsleistungen oder gar den gesamten Besuch abstrahlen könnten.
Müssen tatsächlich einmal einzelne Abteilungen aufgrund nötiger Umbaumaßnah-
men geschlossen werden, so sollten - wie auch schon erfolgreich praktiziert - Über-
gangslösungen angestrebt und unvermeidbare Schließungen so kurz wie möglich
gehalten werden. Wichtig ist dabei vor allem auch die entsprechende besucher-
freundliche Kommunikation der Umstände.
Nicht zu unterschätzen ist auch ein stetiger, am Besucher orientierter Informations-
fluss unter den Museumsmitarbeitern, um auf aktuelle Gegebenheiten, Schwachstel-
len und Entwicklungen angemessen reagieren zu können. Eine reiche Informations-
quelle, die von allen Museumsmitarbeitern in Anspruch genommen werden sollte,
stellt das rege genutzte Besucherbuch dar.
179
TRI BUS 53,2004
Fazit
Die Befragung am Linden-Museum zielte darauf ab, Anregungen für eine langfristi-
ge Besucherorientierung des Museums zu schaffen. Es konnten Erkenntnisse über
die Besucher des Museums, deren Erwartungen, Besuchsverhalten und Beurteilung
der Museumsleistungen gewonnen werden. Dabei wurden sehr viele positive Ange-
bote identifiziert, die das Museum schon in der Vergangenheit entwickelt und ge-
pflegt hat. Eine Herausforderung auf lange Sicht wird es sicherlich sein, ein ganzheit-
liches, strategisch ausgerichtetes Konzept zur Besucherorientierung voranzutreiben
und umzusetzen. Dies wird einen ständigen Prozess für das Museum darstellen, in
dessen Verlauf es immer wieder aktuelle Erkenntnisse über seine Besucher und den
zeitgemäßen Umgang mit diesen sammeln und verarbeiten muss. Aus diesem Grund
sind schon heute weitere, ergänzende Befragungen von Seiten des Linden-Museum
geplant. Auch das Leitbild sowie die Corporate Identity, die noch im Jahr 2004 ent-
wickelt werden sollen, sind Projekte, bei denen die Ergebnisse einer differenzierten
Besucheranalyse eine entscheidende Rolle spielen werden.
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Neuenstadt.
180
Andrea Völker: Besucherorientierung im Linden-Museum
Besucherbefragung
am Linden-Museum Stuttgart
Liebe Besucherin, lieber Besucher des Linden-Museums,
wir wollen, dass Sie zufrieden sind! Aus diesem Grund möchten wir Ihnen einige
Fragen stellen, um zu erfahren, ob wir mit unserem Angebot Ihre Erwartungen
erfüllen.
Beziehen Sie die Fragen bitte nur auf sich selbst. Sollten Sie eine Frage anhand der
vorgegebenen Antwortmöglichkeiten nicht beantworten können, so lassen Sie diese
Frage bitte unbeantwortet und fahren mit der nächsten Frage fort. Ihre Angaben werden
nur zu Forschungszwecken verwendet und selbstverständlich vertraulich behandelt.
Vielen Dank für Ihre Mithilfe!
Linden-Museum Stuttgart
Staatliches Museum für Völkerkunde
FhhN
KÚNZELSAU
1- Welcher Tag ist heute?
□ i Di □ 2 Mi dsDo □ 4 Fr dsSa de So
2. Wie ist die Witterung?
d 1 sonnig d 3 regnerisch
d 2 bewölkt / wechselhaft d 4 Unwetter
3. Wie oft haben Sie das Linden-Museum (vor dem heutigen Tag) schon besucht?
d i noch nie
d 2 ein- bis dreimal
d 3 öfter als dreimal
4. Mit wem sind Sie heute hier?
d i Alleine
d 2 Mit Erwachsenen (bitte Anzahl angeben)
d 3 Mit Kindern (bitte Anzahl angeben)
d 4 Mit einer organisierten Gruppe (z. B. Schulklasse,
Verein) -> bitte beantworten Sie Frage 5!
5. Nur für Gruppenbesucher!
5a. Zu welcher Einrichtung gehört Ihre Gruppe?
d 1 Schulklasse d 4 Reisegesellschaft
d 2 Kindergarten d 5 Verein
d 3 Volkshochschule / Kurs d 6 Betrieb
d 7 Sonstiges, und zwar
5b. Wie viele Teilnehmer gehören zu Ihrer
Gruppe?
d 1 weniger als 10 d 3 21 bis 30
d 2 10 bis 20 d 4 mehr als 30
6. Von wo aus sind Sie zum Linden-Museum angereist (Heimatwohnort)?
d 1 aus einem Umkreis unter 40 km
d 2 40- 150 km
d 3 Rest BRD
d 4 aus dem Ausland, und zwar
11. Welchen der folgenden Aktivitäten gehen Sie in Ihrer Freizeit häufiger als 4 x im Jahr nach? {Mehrfachnennungen möglich)
d i Besuch von Sportveranstaltungen
d 2 Eigene sportliche Aktivitäten
d 3 Mitarbeit in Vereinen, Kirchen, Parteien usw.
d 4 Wandern in der Natur
d 5 Freizeitparks
de Zoologische / Botanische Gärten
d 7 Kino
d 8 Museen / Ausstellungen
d 9 Theater / klassische Konzerte / Oper
d 10 Pop- / Rockkonzerte / Musicals
d 11 Volkshochschulveranstaltungen o. ä.
d 12 Sonstiges, und zwar
November 2003 Seite 1 von 4
181
TRIBUS 53,2004
12. Was erwarten Sie grundsätzlich von einem Besuch in einem ethnologischen Museum wie dem Linden-Museum?
sehr zutreffend gar nicht zutreffend
Etwas über die Vergangenheit anderer Kulturen erfahren □ □ □ □
Etwas über die Gegenwart anderer Kulturen erfahren □ □ □ □
Möglichkeit zur Besinnung □ □ □ □
Etwas mit anderen Menschen unternehmen □ □ □ □
Mehr Informationen zu völkerkundlichen Themen □ □ □ □
Darstellung fremder Kulturen anhand...
...herausragender Einzelobjekte □ □ □ □
...szenischer Darstellungen □ □ □ □
Interaktivität (Möglichkeit zum Mitmachen) □ □ □ □
Spaß haben □ □ □ □
Einkaufsmöglichkeiten □ □ □ □
Live-Darbietungen □ □ □ □
Angebote für Kinder □ □ □ □
13. Was hat Sie zum heutigen Besuch des Linden-Museums bewogen? (Mehrfachnennungen möglich - aber bitte höchstens drei Nennungen)
□ i Allgemeines Interesse an Museen
□ 2 Ich möchte etwas über andere Kultur(en) erfahren
□ 3 Weiterbildung
□ 4 Empfehlung durch Freunde / Bekannte
□ 5 Einladung durch / Begleitung von Bekannten / Verwandten
□ 6 Kennenlernen des gesamten Museums
□ 7 Sonderausstellung(en)
□ 8 Interesse an einer oder mehreren spezifischen
Sammlung(en), und zwar
□ 9 Interessant für Kinder
□ 10 Unterhaltung / Erholung
□ 11 Touristische Attraktion
□ 12 Ausflug mit Gästen
□ 13 Sonstiges, und zwar
14. Wie sind Sie auf das Linden-Museum aufmerksam geworden? (Mehrfachnennungen möglich - aber bitte höchstens drei Nennungen)
□ i Familien- / Bekanntenkreis
□ 2 Von früheren Besuchen bekannt
□ 3 Über organisierte Gruppe
□ 4 Zeitung / Zeitschrift
□ 5 Plakatwerbung
□ 6 Veranstaltungskalender
□ 7 Rundfunk
□ 8 Touristinformation
□ 9 Reiseführer
□ 10 Über eine Veranstaltung im Linden-Museum
□ 11 Zufällig vorbeigekommen
□ 12 Besuch des Bistros
□ 13 Internet
□ 14 Newsletter des Linden-Museums
□ 15 Sonstiges, und zwar
15. Wenn Sie sich in Zukunft gezielt über Angebote des Linden-Museums informieren wollen... Wo erwarten Sie Informationen über das Linden-Museum? (Mehrfachnennungen möglich - aber bitte höchstens drei Nennungen)
□ 1 Regionale Tageszeitung, und zwar
□ 2 Überregionale Tages- / Wochenzeitung, und zwar
□ 3 Freizeitjournal / Stadtmagazin, und zwar
□ 4 Anzeigen-/Wochenblätter, und zwar
□ 5 Werbeanzeige in folgendem Medium
□ 6 Plakatwerbung
□ 7 Veranstaltungskalender des Linden-Museums
□ 8 Touristinformation
□ 9 Internet
□ 10 Newsletter des Linden-Museums
□ 11 Telefonische Auskunft des Linden-Museums
□ 12 Sonstiges, und zwar
November 2003
Seite 2 von 4
Andrea Völker: Besucherorientierung im Linden-Museum
21b. Ihr erster Eindruck vom Linden-Museum heute
Note nicht genutzt
Übersichtlichkeit des Eingangsbereichs □
Museumsambiente □
Angebot an Orientierungshilfen zur Raumstruktur □
Angebot an Informationen zu den aktuellen Ausstellungen □
Angebot an Info-Material zum Museum (Kurzführer) □
Preis-Leistungs-Verhältnis □
21c. Ausstellungskonzeption
Note nicht genutzt
Wegweisung durch die Ausstellungsräume □
Angebot an Sitzgelegenheiten in den Räumen des Museums □
Erklärung von Zusammenhängen / Inhalt auf den Wandtexten □
Gestaltung der Wandtexte □
Informationsumfang auf der Objektbeschriftung □
Anbringung der Objektbeschriftung □
Lesbarkeit der Objektbeschriftung □
Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme □
Übersichtlichkeit der Objektanordnung □
Vielfalt an Objekten □
Beleuchtung in den Räumen □
Raumklima □
21d. Begleitende Serviceleistungen
Note nicht genutzt
Verfügbarkeit des Personals bei Fragen □
Freundlichkeit des Personals □
Wegweisung zu Kasse, Toiletten, Garderoben, Bistro, Shop etc. □
Sauberkeit der Toiletten □
Präsentation des Shopsortiments □
Attraktivität des Shopsortiments □
Preis-Leistungs-Verhältnis im Shop □
Angebot des Bistros □
Qualität des Bistros □
Preis-Leistungs-Verhältnis des Bistros □
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TRIBUS 53,2004
Wir bedanken uns herzlich für Ihren Besuch und Ihre Unterstützung!
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HERWIG ZAHORKA
Hinggi kombu from Pau village, Southeast Sumba, 1920s.
Collection of Herwig Zahorka
The “Palang” Phenomenon and its Historic and Socio-Cultural
Background in Southeast Asia
1. INTRODUCTION
Ritually used textiles in Indonesia sometimes show a male human figure equipped
with a “palang”. The meaning of that design is generally not interpreted and mostly
unknown even among textile design experts. Tire Indonesian / Malayan word palang
means cross or cross bar. In most cases, the male genital is depicted together with a
horizontal bar forming a cross or with a peculiar protuberance at the end. A special
object seems being applied to the phallus which could only be fixed by means of a
perforation of the member. A collection of original “penis pins” will be shown later.
The hinggi depicted above demonstrates three other unique symbols of penis inserts
that will be explained later.
2. THE ORIGIN OF TEXTILES WITH THE PALANG MOTIF
Most known ceremonial textiles with the palang motif originate from East Sumba
and were produced in the first half of the 20th century. Nearly all are hinggi (ceremo-
nial wrap) or lau pahudu (sarong). In addition, some textiles from other eastern is-
lands, from Sumatra and from Kalimantan, also show that motif. However, on figures,
on pictures, on handicraft objects and even on modern tempayan, symbolic or conc-
rete palang portrayals are spread all over Indonesian islands. That confirms that pa-
lang devices and other penis inserts had a wide distribution particularly in the past.
Nowadays, the use of palang is still an issue with non-Islamic peoples at the outer
islands, particularly in the East.
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3. SOME SELECTED CEREMONIAL CLOTH WITH TYPICAL PALANG
MOTIF
A lau pahudu (ceremonial sarong) of East Sumba. This piece is a combination of a
kett ikat textile in the upper part and a textile woven in the supplementary-warp
technique in the lower part. The right picture shows the male figure typically equip-
ped with a palang and surrounded by symbolic skull trees. Collection of Herwig Za-
horka.
Examples of traditional palang depictions with dancing men on three lau pahudu
(ceremonial sarongs) from East Sumba. The position with raised arms is called ana-
tolomili, and that with lowered arms is the tukakihu motif.
5 photos by Herwig Zahorka
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Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
4. THE CULTURAL-HISTORIC BACKGROUND OF PHALLUS AUGMEN-
TATION AND ITS REPRESENTATION ON ARCHEOLOGICAL MONU-
MENTS
4.1 The oldest reports on penis inserts
Antonio Pigafetta who accompanied Maghellan 's journey to Southeast Asia reported
about 1525 that all men in Cebua have the penis pierced near the head from side to
side. The pin is of gold or tin and the size of a goose quill. On both ends, some have
what likes the head of a cart nail. He also heard that Javanese men place small bells
under the foreskin (cit.BROWN et al.1988:51).
Thome Pires, a Portuguese, who among others visited Sunda Kalapa (today Jakarta)
and Pakuan (today Bogor) about 1515, reported that penis bells are worn in Pegu
made of various metals, and have different tones. All the lords wear them and others
according to their social rank. Reports on penis pins in the 19th century became nu-
merous. Here are two examples.
John Dalton wrote 1837 that the Dayaks in Kutai pierce the center of the glans, so-
metimes crosswise to insert a pin. This pin is a mark of distinction. No woman of
quality would marry a man without it, he reported.
H. von De Wall gives a detailed description from 1855. Peoples of eastern Borneo use
penis pins. It is called kaleng or utang, and usually pierces the penis horizontally, is 34
to 42 mm. long or about the width of three fingers held together, and its diameter is
about that of a pitchfork tang. Generally, at each end of the pin is a little wooden
wheel which can turn. Some Modang and Bahau put a second pin behind the first. It
is particularly for older women that the pins are used. Some even use the inserts as a
gift when making advances. However, no man wears it before he has been headhun-
ting.
A.W. Nieuwenhuis (1900) describes the method of boring the penis. It is done when
young men begin to think of courting. A man with a pierced penis has the right,
shared with headmen or chiefs, of wearing a ring around the penis. 1904-07 he re-
ports that it is particularly brave men who, along with chiefs, have the privilege of
wearing a ring. Wearing the pin is a sign of full manhood.
In 1989, 1 had a discussion on pa längs in the tourist information office in Kupang /
Timor. An unmarried young woman told me, uninhibited, she would prefer a husband
with a penis insert.
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4.2 Religion-based phallus augmentation on archeological monuments of ancient
Hindu temples
4.2.1 Origin Java:
The National Museum in Jakarta hosts some phallus-shaped objects, which are clear-
ly equipped with what we call penis balls. Such balls can only be attached to the penis
by means of a perforating bar. They originate from Hindu temples or from courts of
Hindu kings, respectively.
Photos by Herwig Zahorka
Left: The National Museum in Jakarta stores this 1.98 m tall lingga from Candi Su-
kuh, Central Java.The stele is equipped with crosswise-attached four balls below the
glans.The Jawa Kano inscription flowing down like sperm reads, “The characteristics
of the male sexuality is the essence of the world”. An incised Kris enhances the magic
power of that huge lingga with balls. The last king of the Majapahit Kingdom, Prab-
hustri Suhita established this late Hindu temple at about 1440 AD (1362 Saha). It is
closely linked with the Tantric Hindu “Bhima cult".
Center: This unfinished coarse lingga with four balls at the National Museum is 86
cm high and measures 38-44 cm across. There is no inv.no., however, the Oudheid-
kundige Dienst at Leiden hosts an older photograph of it under the “Fotonummer
14233”. The provenience and the age are unknown.
Right: A Bhima statue at the (now closed) Museum Malik in Jakarta from the 15th
century. Height 108 cm. Under the loin cloth appears an oversized phallus clearly
equipped with four big balls (three visible) just behind the glans. Bhima is one of
the five Pandawa brothers, the hero in the Mahabharata epic, who is gifted with
supernatural mental and strongest physical power. He nearly ranks equal with
Hindu god Siva or is a magical aspect of S/'v«. There exist numerous Bhima statues,
particularly in Museums and Hindu temples, and all are equipped with those more
or less visible penis balls. Bhima in wayang kulit (leather puppet) generally is also
depicted with a ball-shaped propulsion under the loin cloth. On some of the Bhima
sculptures the balls and sometimes even the face of the Bhima have been forcefully
destroyed, maybe due to religious (Islamic) purpose. An example is a part of the
Jalatunda Relief sheltered in the National Museum under the no.inv. 5839.
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Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
Photos by Herwig Zahorka
The Jalatunda Relief originates from the holy spring “Pancuran Air” at Penanggun-
gan, East Java. It was established at about 1100 AD. The face of Bhima has been
forcefully destroyed and the evidently originally existing massive penis balls behind
the glans have been chopped off. Bhima is here depicted in the destructive Bhairawa
attitude, important in tantrism and Hindu-Buddhist syncretism. Phallus augmentati-
on. with the tremendous balls attached, is the typical symbol of resolute physical
prowess, bullying and supernatural power.
Central Java houses two unique terraced mountain temples dedicated to the Bhima
cult. It is Candi Sukuh and Candi Ceto. Both are considered to have been terraced
holy shrines already in pre-Hindu Megalithic times for ancestor worship. They house
a great number of figures and reliefs most from 15th century of male individuals
equipped with penis balls. However, at Candi Sukuh, from eight figures with penis
balls four have been more or less damaged. The temple is situated in 910 m a.s.l. at
the slopes of Mt. Lawu. Here are three more examples from that terraced Hindu
shrine Candi Sukuh.
Photos by Herwig Zahorka
Left: A monumental headless statue with an oversized phallus with four balls (three
visible). It stands at the right side of the pyramid-shaped main building. The meaning
is unknown. By no means it depicts Bhima. When I visited that temple the first time
in 1976,1 did not discover it. Probably, it was not displayed at that time. A photograph
of this object was not published yet.
189
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Center (p.189): This sculptured figure is located at the left wall of the temple. The
head and the upper part of the body are lost. The phallus is clearly equipped with two
balls. Whether it depicts a special individual is not known. A drawing of that torso
was already published by SELTMANN 1975.
Right (p. 189): The location of this erotic sculpture is on the ground of the entrance
hall. The male and the female sexual organs are represented in a very realistic style.
Obviously, three original balls on the phallus just behind the glans have been chop-
ped off. Some dedicated flowers, though already decayed, show that veneration is
still going on. This motif was often published already with regard to the “erotic” Can-,
di Sukuh temple.
Candi Ceto (also Ceta, Cetoh) with its fourteen terraces is also situated at the slopes
of Mt Lawu. however, in an elevation of about 1 500 m a.s.l.
Photos by Herwig Zahorka
Left: This statue of a meditating man sits close to the entrance of Candi Ceto. Below
his loincloth is the foremost part of his phallus visible with attached balls.
Center: On the ground at one of the lower terraces lies this large composition (re-
constructed) with a huge Ungga with four balls (three visible). This motif is often
published.
Right: At the highest terrace stands this elaborate Ungga with three attached flatte-
ned balls. A fourth ball seems to have been lost. Fresh red flower offerings prove of
its veneration. 1 have not yet seen a publication of that phallus.
Photos by Herwig Zahorka
Though, in Sumatra no stone monuments of phalli with balls are found and in Kali-
mantan only wooden statues with palangs of Dayaks tribes exist, some textiles show
male figures with phallus augmentation. On the left side is a cloth of Lampung, Su-
matra, with four standing men wearing palangs below their sarongs. On the right side
is a textile of Iban Dayak, West Borneo.
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Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
4.2.2 Origin Bali:
In Pejeng, once the center of a great kingdom, are two temples which house two
statues equipped with penis balls and one monumental lingga (and a yoni) with ori-
ginally four balls, unfortunately all chopped off. It is the Pura Kebon Edan and the
Pura Pusering Jagat.
Photos by Herwig Zahorka
The Pura Kebon Edan houses the most imposing statue of the island called the “Pe-
jeng Giant” (above). Kebon Edan means “The Mad Bull”. The faceless giant is about
3.96 meters tall. Prancing in an aggressive dance, the giant crushes two human figu-
res, a man lying on a woman, with his snake-encoiled feet. This “Bhima Bhairawa” is
the destructing magic aspect of god Siva. Most startling is his tremendous phallus
which bursts from his loin cloth. Large plugs bisect this monstrous member crosswise
just behind the huge glans. The vertical plug ends with two flat balls upon and below.
At the top the plug appears. At the horizontal perforation the ball is lost and gives a
view to the wide-dimensioned hole which originally kept the bolt. The hole is sur-
rounded by a disk. This monument dates to the 13th or 14th century and originates
probably from Java.
A likewise crosswise perforation with two penis
pins inserted across is seen on this photograph of
the early 20th century. It was taken from a Ngadju
Dayak headhunter in Central Borneo. Due to the
custom of the Dayak the glans not the corpus ca-
vernosum is perforated. However, to pierce the
glans crosswise was a privilege of chiefs and of
successful headhunters.
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The Pura Pusering Jagat harbors two shrines with exceptional examples of phalli
with balls.
Photos by Herwig Zahorka
One of those shrines houses a lingga and a yoni, both very naturally sculptured (abo-
ve). The yoni with a small slit and a little hole on the top is 41 cm high, 68 cm wide
and 80 cm long. The lingga is 120 high with an average diameter of 37 cm. Clearly
visible, the lingga was originally furnished with four balls which were forcefully re-
moved. It seems that the two balls on the sides were bigger than the two in front and
rear. These sculptures belong to the same period as that of Kebo Edan and may have
belonged to a Tantric complex six hundred years ago.
Of that shrine no reliable photographs exist up today, only drawings with incorrect
designs.
The other shrine at Pura Pusering Jagat harbors a dancing Tantric Bhirna in Bhaira-
wa attitude.
Photos by Herwig Zahorka
From left: The shrine with the aggressive dancing Bhirna, the statue in total, and a
detail with an explaining drawing. This Bhima’s phallus is equipped with only two
balls just behind the glans, one on top and one below the corpus cavernosum. Whe-
ther in Bali a penis perforation was executed is still doubtful.
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Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
Photos A and B by Herwig Zahorka
A B C D
A and B: Two demonic figures on reliefs at Candi Sukuh, Central Java. Both charac-
ters wear penis balls.
C: This is a drawing of the Balinese demon “buta engger". It confirms the custom of
wearing small bells on the penis. Collection of Van der Tuunk, Library of the Univer-
sity Leiden, 3390/10.
Photos by Herwig Zahorka
Left: A Balinese painting shows the local type of a special penis application: a ring
with two crescent-shaped barbs. Some wooden Cintya statues in the collection of the
Museum Nasional are equipped with similar shaped barbs on their sexual organ.
Cintya is a symbol for Sanghyang Widi, the creator in Hindu-Bali’s religion.
Center: A Lau Pahudu from the Catholic Mission’s Museum in Ledalero, Flores,
depicting men with palangs. Origin East Sumba?
Right: The penis insert here is disguised as a loin cloth. This is a new ikat textile. Ori-
gin unknown.
4.2.3 More figures and Demons with penis inserts to scare evil spirits
Not only powerful rulers with magic properties and legendary spiritual characters
are often depicted with that scaring symbol of resolute power. Also scaring demons
and protecting figures are equipped with these power and bullying indicting penis
inserts.
193
TRIBUS 53,2004
D (p. 193): A wooden figure placed on a way to a Dayak longhouse in Borneo. With
the extremely long peg across its glans penis, that deterrent figure is destined to scare
away sickness-bearing spirits. Photo by TILLEMA, publ. 1990.
Photos left and right by Herwig Zahorka
Left: A wooden figure with an ithyphallic component of Batak / Sumatra origin in
the collection of the National Museum. The two balls are at the top of the erected
penis.
Center: A lau pahudu of East Sumba. The depicted men wear crowns (lamba) and
typical palangs. Collection of Barbier-Muller-Museum, Geneva, no.inv. 3651-AB.
Right: A Polynesian style stone figure in the National Museum. It is supposed to be
from 3rd or 4th century AD. No.inv. 227/4. H 92, W 37.5, L 30 cm. Probably it is the
oldest figure showing a phallus with two balls on the sides.
4.3 Jewelry with a phallus and balls
A depiction of a miniature phallus with balls was not only displayed and worn on
woven cloths in former times. Small phalli with balls made of precious metal were
also used as a part of the jewelry for example as pendant of a necklace. However,
bearing this jewellery seems to have been limited to individuals of the highest des-
cent. The distinguished men of that high social level only were permitted to wear
these impressive devices, and their ladies proudly showed that privilege in form of a
precious pendant.
Left and Center: Necklace (kalung), gold, 30.5 x 28 x 7 cm. from 8th or 9th century
AD. Origin: Gegerbitung village, Sukabumi, West Java. National Museum no. inv.
194
Photos by Herwig Zahorka
Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
1483. Between the mango-like yoni elements hangs a naturally-shaped phallus on
which an external ring with an attached smaller ring and seven small balls are visible
(one is covered here). One central ball is surrounded by a petal-like design. It is not
sure whether the small balls are thought to be fixed at internal perforating pegs. Pro-
bably they are subcutaneous inserts. This method is still wide spread today in South
and Southeast Asia. The materials generally used for these inserts under the praepu-
tium penis are pearls, glass pearls and golden balls, round cut gems and. in modern
times, even the steel balls from ball-bearings.
Right (p. 194): A bronze phallus from three sides. It is a 4.5 cm long pendant in the shape
of a phallus with three massive balls. For technical reason the fourth ball could not
be cast. Its origin is Patjitan, Central Java. National Museum Jakarta, no.inv. 1483a.
5. PENIS PERFORATION PATTERNS AND INSERT DEVICES
On the hinggi kombu from Pau village in East Sumba which is shown on top of my first
page, three human males are depicted each with different symbols of penis inserts.
Photos by Herwig Zahorka
This hinggi combu (shoulder cloth), 146 cm by 42 cm, I obtained in an antique shop
in Singapore nearly twenty years ago. I traveled with it to Sumba and found out it
was produced in Pau village, Southeast Sumba, in the 1920s, in a house just opposite
the king’s house. Three women were just weaving a hinggi there the same size and
with the same borders like mine, but my male figures were replaced there with three
mamuli, the Sumba symbol for the female sexual organ. They told me that the wo-
men who made my hinggi were already long dead. Fortunately, unrestricted and with
full knowledge, they explained the meaning of those three mysterious symbols bet-
ween the men’s legs. Here is their interpretation;
Left: What looks like a double ring is the symbol of a metallic penis ring. The ring is
fixed with a peg pinned through a horizontal perforation of the corpus cavernosum
generally just behind the glans penis.
Center: This is the symbol of the most common ‘’palang”. The central peg which ge-
nerally perforates the glans penis and the urethra has rounded protuberances on its
ends which can turn. Mostly found in Borneo, known also in Sulawesi, Sumba and
other islands.
Right: This sign with two vertical triangles depicts the typical Toraja / Sulawesi penis
insert called takki or talede. The corpus cavernosum is vertically perforated together
with the urethra just behind the glans penis. The peg ends at both sides with a hemis-
pherical protuberances or with flaps of leather.
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These are the most common perforation patterns and inserts (ZAHORKA 1990,
expanded). Circumcision is not necessary. In case of a phimosis only a short incision
into the praeputium is made.
ABCDEFG H
A shows a penis ring and how it is fixed with a peg through the penis generally just
behind the glans.
B delineates the most common insert of which the “palang” or “ampalang” got its
name. The Kayan and the Iban call it “utang”, the Toraja have the names “Kambi-
ong” and “Kambi”. The wheel-shaped or rounded protuberances on both ends can
spin and often look like flowers, therefore the name “bunga terong” (bunga = flower,
terong = penis-shaped eggfruit, nickname for penis). Men in Borneo with that palang
wear a special flower-like tattoo feature with a coil in the center which is also called
bunga terong.
C This infibulation is rarely reported. However, it is applied with the crosswise doub-
le perforation of Dayak chiefs.
D The phalli of most archeological monuments shown above are equipped with the-
se balls.
E This is a Toraja type of perforation and insert which is of bone, wood or of precious
metal with Anoa leather flaps.
F and G show frenulum inserts (ZAHORKA 1986).The frenulum praeputium is per-
forated. The insert is of soft wood (F), or it exists of the hair of various animals (G),
mostly of a horse. While these inserts are only to enhance the pleasure of coitus of the
woman, the others have the additional function to prevent pregnancy as in most ca-
ses the urethra is perforated by the bar and blocks ejaculation during intercourse.
H These are four examples of the various woven motifs of penis inserts depicted on
ceremonial cloths.
Left and right photo by Herwig Zahorka
Left: This large ikat of East Sumba from the collection of Herwig Zahorka presents
four three-faced male figures obviously equipped with frenulum inserts of animal
hair which there they call it ruihi mjarat or pakilli. This most simple insert is wide
spread in Timor, Flores, Roti, Sumba, and Sumbawa and also applied in Borneo and
Sulawesi.
196
Herwig Zahorka:The “Palang” Phenomenon in Southeast Asia
Center (p. 196): A ceremonial wrap of Flores with the frenulum insert. They name it
lua in Ngada and fu or wulu in Ende.
Right (p. 196): This is the glass sheet of a modern ceiling lamp in Hotel Mahkota,
Pontianak, West Kalimantan. The demonic figure shows a sexual organ probably
with similar hair inserts. It calls the Balinese barbs to mind.
6. THE PURPOSE OF PENIS PINS TODAY
6.1 The first photographs and the inadequate interpretation
When the first photographs of palangs in situ arrived in Europe, shot by Borneo re-
searchers at the end of the 19th century, fanciful interpretations of the purpose of
that pins were discussed. The reason was, those pictures showed a long pin pierced
through the glans. A general interpretation of the pin at that time was, it should inhi-
bit sodomy, it should inhibit masturbation, and it should inhibit intercourse.
Long Ffihiuigei, .ahaua,
Jer .Lnocheri v.ar fsn <
beiden .^nden noch •
asit eine;.; ling von -—
Uaasrhara versehen.1,4.29
*»as
Long i.jani
Bshnue
I>ioe ’-oelan^.Baiiaui;
Xo-4-29
Left: Probably the first photograph of a man with palang in situ. It was published
1968 by APPELL and is supposed to have been made by a member of the Furness-
Hiller Borneo expedition 1897 or 1898.
Center: This photograph is signed “J.Demmeni phot.” The caption reads “Commis-
siereis naar Centraal-Borneo 1898-1900”. That was the great Borneo expedition of
Dr. Nieuwenhuis. He came up the Kapuas river, crossed the Muller mountains, disco-
vered the Apo Kayan and sailed down the Mahakam river. Demmeni was his photo-
grapher who brought into existence excellent quality photographs of that time which
are invaluable today. This photograph is fixed on a copper plate and stored in the
National Museum in Jakarta. A second plate exists in the Netherlands.
Right: The National Museum in Jakarta owns a set of 13 palangs, no.inv. 20608, coll-
ected in 1929 by the German researcher von Kiihlewein in villages of the Bahau tribe
along the upper Mahakam. It seems, all are “placeholders”, not for intercourse. Inte-
restingly, half of this original collection has been brought from Batavia to The Ne-
therlands under the name of the then Dutch director of the museum, not mentioning
the name of the German collector.
The reason for the initial incorrect interpretation of a palang was, that all those thin
long pins were considered to avoiding intercourse. Actually, they were only “place-
holders” or “sleepers” which are supposed to keep the perforation open during the
time of no intercourse. TTie palangs for intercourse are much shorter and look quite
different.
197
TRIBUS 53,2004
6.2 The reason of the palang use and the depicting of palangs - common still today
As was stated before, the wearer of a palang or of another penis insert is considered
a strong and distinguished personality gifted with virility and manliness. In their com-
munity these men are highly respected for their achievement - and admired by the
women. They are eligible partners, much sought-after by girls and women as hus-
bands - or as partners who can prevent unwanted pregnancy by means of the palang.
These men are often community leaders or respected heads of a clan. Every child in
the community knows about that and everybody in the village knows who bears a
palang. And strangers can recognize them by their tattoo. However, the desire to gain
these qualities is decreasing among the younger generation even in the most remote
areas.
This is my palang collection (coll. Herwig Zahor-
ka) which I gathered between 1994 and 1999. From
above; The palangs no. 1 to no. 6 are designated to
block the urethra during intercourse. They are “in-
tercourse palangs”. No. 7 only is a “placeholder”.
The rule below is in cm.
The palangs no. 1 to no. 4 are from Punan Aput
men living in a very remote area on Kayanyot Ri-
ver, Apo Kayan, East Kalimantan. These are so-
phisticated made devices. One rounded end is re-
movable so that the peg can be inserted into the
perforation of the glans. Insertion and removal is
practicable only with flaccid penis. During inter-
course the round protuberances are spinning with
the effect of enhancing the woman’s pleasure of
coitus. The man’s perforation is a sacrifice in favor
of the female gender. The Punan Aput call the pa-
lang acing acat (acing = wheel, acat = penis). They
also know the name palang.
The next two primitive palangs of wood from above, no. 5 and no. 6, are from a Ke-
nyah Uma Ma’ut man living at a tributary of the upper Bahau River, a remote area
too. The shorter palang, possibly, is his placeholder because it was in situ when I met
him and got it in the afternoon. The longer one he had stored in his bedroom. The
Kenyah call the palang adja. The specific tattoo indicating that type of palang is often
a small cross in midst of a circle. All tribes have an own name for their penis inserts.
That proves that penis inserts have already a long history in Asia.
The small palang below, no. 7, is a placeholder from West Sumba. The material is
most probably a part of a porcupine’s spike.
Palang collection of Herwig Zahorka
I had the opportunity to shoot photos of the owner of intercourse palang no. 1 with
his placeholder in situ and photos of the owner of the palangs no. 5 and 6 with palang
no. 5 in situ.
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Herwig Zahorka:The “Palang" Phenomenon in Southeast Asia
Left: The Punan Aput, owner of the small intercourse palang no. 1 (above), wears a
wooden placeholder. At the time when men still wore loincloth (cawat), the placehol-
der usually was a long bar. Nowadays, modern underwear is used which affords a
short pin. The urethra is perforated.
Right: This is palang no. 5 in situ with a Dayak Kenyah Uma Ma’ut man. To remove
this adja carefully needed 20 seconds. The urethra is perforated.
Textiles with palang motifs are still produced, not only in East Sumba. On handicraft
commodities and even on modern tempayan (big ceramic jars) we can still find that
cross bar symbol if we are aware of that phenomena.
Photos by Herwig Zahorka
Left: A modern Tempayan (ceramic jar) with the Sumbanese palang motif seen in
department store Sarinah, Jakarta.
Right: A modern ikat cloth with modified Sumba motifs. The men are equipped with
peculiar penis augmentations.
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7. CONCLUSION
In many museums, in private collections and in antique shops we can find some tra-
ditional Indonesian ceremonial cloths with the “palang motif”. In the voluminous
literature on traditional Indonesian textiles, there are often pictures included of fab-
rics with that motif. However, it seems that most experts have not recognized yet the
meaning of that discrete design. No hints are given by the authors of those books.
Nonetheless, that palang has a great cultural and historic background and a high
symbolic meaning in Southeast Asia.
Palang means “cross” or “cross bar”. The palang motif depicts a human male whose
penis is furnished with a horizontal bar or with protuberances on both sides of the
glans or just behind that. This symbol refers to a perforatio penis with the reason to
attach various augmentations to the bar crossing the corpus cavernosum or the glans
penis. Since 500 years ago, the existence of penis inserts was reported from South and
Southeast Asian countries. It was a privilege for men with the highest social achieve-
ments to be equipped with such a penis insert often in the form of balls of precious
metal.
Several Hindu temples in Java and in Bali accommodate statues and monuments
which show a phallus equipped with two or four sizable balls fixed to the glans or just
behind it. Most are from the tantric period, 14th and 15th century. Statues of Bhirna
always show these balls or bulky protuberances on the phallus. These symbols signify
resolute power, physical prowess, strongest virility, expressive manliness, and sexual
attraction. And due to the palang, these distinguished properties are also associated
with supernatural abilities and magic power, properties which a ruler or a leader has
to have.
No wonder that the female gender adored and desired such illustrious gentlemen.
Wives of these characters wore a miniature phallus with balls made of precious metal
as a pendant on their necklace, to show the people what an estimable husband they
had. The National Museum hosts a golden necklace of the 8th or 9th century with a
phallus-shaped pendant with several small balls and a ring attached to it and there is
also a bronze pendant in the form of a phallus with three voluminous balls. Dayak
chiefs bearing a palang want to be recognized by their distinctive tattoo Ubunga te-
rong". And their wives often adorn the skin of their thigh with a miniature of that
tattoo design.
In the younger past penis inserts were still in use among the non-Islamic population
on the “outer islands” of Indonesia, particularly in Borneo, Sulawesi, Sumba, Nusa
Tenggara and North Sumatra. But the younger generation is no longer fond of it.
Nevertheless, men with palang have still a high social reputation in their community.
In some remote Dayak villages up to one third of the men, most of them seniors and
leaders, bear still a palang.
Using a palang in intercourse has two special reasons. One is to enhance the pleasure
of coitus of the woman. To satisfy the sexual desire of their wives (or girl friends), the
men are ready to sacrifice themselves by undergoing the penis perforation. This is
highly estimated by the society. The other reason is avoiding pregnancy. With the
wide dimensioned pin of the intercourse palang the perforated urethra is blocked.
Sperm can not ejaculate. This is an appropriate technology for “family planning”. I
often heard from Punan and Basap people in Kalimantan “we can not afford to feed
more than two children”. Life in the forest is hard.
2(30
Herwig Zahorka:The “Palang" Phenomenon in Southeast Asia
Photo by Herwig Zahorka
Let us conclude this discourse through the world of ceremonial textiles, historic re-
ports, selected archeology, virility and age-old ethnic customs with these two textiles
above. The left one is from Lampung, Sumatra, woven with the supplementary-warp
technique. It depicts a man with sarong and with the typical palang design. On the
right is a kett ikat from East Sumba with the anatolomili and the palang motifs sided
by symbolic head trees.
ACKNOWLEDGEMENTS
My grateful acknowledgement is given to the Jakarta National Museum's Director,
Dr. Endang Sri Hardiati, to Dra. Ernawati for encouraging me to produce this pre-
sentation, to Ibu Intan Mardiana Napitapulu MSc., Chief of Archeology Department
and Dra. Suhardini Chalid, Chief of Prehistory Department, all with the National
Museum, Jakarta.
Literature
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1968 The Penis Pin at Peabody Museum, Harvard University. Journal of the
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2003 The “Palang’' Design on Ceremonial Indonesian Textiles. The Inter-
national Conference on the Diversity of Nusantara Ikat Wearing: 29-
46. Museum Nasional Jakarta.
202
Buchbesprechungen Allgemein
Eggert, Manfred K. H.:
Prähistorische Archäologie: Konzepte und Me-
thoden. Tübingen / Basel: A. Francke Verlag,
2001. 412 Seiten, 82 SW-Zeichnungen, Tabel-
len, Grafiken, Karten.
ISBN 3-7720-2274-X (Francke)
ISBN 3-8252-2092-3 (UTB)
Ein wissenschaftlich geglücktes und umfassend informie-
rendes Buch liegt vor mir. Bereits die Gliederung des um-
fangreichen Stoffes nach detailliert erfassten Gesichts-
punkten ist beeindruckend. Obwohl das Ziel, das dem
Autor vorschwebte, im Vorwort bescheiden als eine spezi-
elle Einführung in die Konzepte und Methoden der Prä-
historischen Archäologie und nicht in das Fach insgesamt
bezeichnet wird, erfüllt die inhaltlich reichhaltige Ausstat-
tung doch so viele Erwartungen, dass es getrost als eine
Einführung par excellence in die Ur- und Frühgeschichts-
wissenschaft genannt werden darf. Dies wird noch da-
durch unterstrichen, dass andere deutschsprachige Ein-
führungen in die hier exzellent vorgelegte Systematik der
zugrunde liegenden Wissenschaft diese selbst oft vermis-
sen lassen. Auf eine gewisse Einschränkung wird von Eg-
gert in seinem Vorwort allerdings ehrlicherweise hinge-
wiesen: wegen seines persönlichen wissenschaftlichen
Hintergrundes wurden Beispiele vorwiegend aus der jün-
geren Urgeschichte (in Tübingen sind dies Neolithikum
und frühe Metallzeiten) zur Veranschaulichung theoreti-
scher Aussagen herangezogen. Der Anhänger einer vor-
sichtigen Einbeziehung ethnografischer, vielleicht weni-
ger ethnologischer Analogieschlüsse bei der Beurteilung
ur- und frühgeschichtlicher Gegebenheiten wird es begrü-
ßen, dass der Verfasser nach eigenem Bekunden schon
früh erkannte, in welchem Maße die Ethnoarchäologie
Anregungen - zumindest bei Überlegungen zum ur- und
frühgeschichtlichen Geschehen, die über den Grabungs-
hefund hinausgehen sollen - liefern und damit zusätzliche
Erkenntnisse, auf jeden Fall aber Aha-Erlebnisse beisteu-
ern kann. Bei allem hat Eggert nicht übersehen, auch der
historischen Entwicklung der Ur- und Frühgeschichtswis-
senschaft ausgiebig Rechnung zu tragen, ohne mit Kritik,
jedoch nicht kurzfristig-zeitgeistig angelegt, zu sparen,
wobei er diese Einwände als einen Befreiungsschlag aus
einem gewissen Wildwuchs sieht.
Inhaltlich ist der Band so schwergewichtig, dass es kaum
möglich ist, allen Erkenntnissen, Erklärungen, Darlegun-
gen in einer Rezension gerecht zu werden. Es sollen daher
einige thematisch zusammengehörige der insgesamt fünf-
zehn Kapitel in Komplexen erfasst und lediglich einzelne
Aspekte, die auch aus ethnologischer Sicht besonders in-
teressant sind, näher beleuchtet werden. Nach dem er-
wähnten Vorwort des Autors, einem Abbildungsnachweis
und einer Einleitung (zugleich das erste Kapitel) mit zwei
Untertiteln folgen Angaben zur Prähistorischen Archäo-
logie als Wissenschaft mit vier Einzelabschnittcn, eine
Darlegung des Dreiperiodensystems, seiner Bedeutung
entsprechend in sechs Untertitel gegliedert, sowie das
vierte Kapitel mit der Überschrift „Funde und Befunde:
Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen“ mit vier Un-
terabschnitten, wobei der vierte, nämlich über die Haupt-
kategorien urgeschichtlicher Quellen, in die Punkte a)
Einzelfunde bis i) Weitere Quellengattungen unterteilt
wurde. Auch das fünfte Kapitel über Struktur und Kritik
urgeschichtlicher Quellen mit sechs Einzelpassagen ge-
hört zu diesem Komplex. Das sechste Kapitel „Über das
Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwi-
schen Notwendigkeit und Selbstzweck“ mit sechs Ab-
schnitten soll wegen seiner Bedeutung und seiner Verbin-
dung zum Untertitel des Buches gesondert hervorgehoben
werden, während die folgenden (siebentes bis dreizehn-
tes) Kapitel über Datierungsmethoden, von der relativen
und absoluten Chronologie über die stratigrafische und
die „typologische“ Methode sowie über Kombinations-
statistik und andere Seriationsverfahren bis zur „horizon-
talstratigrafischen“ Methode und einer historischen Be-
trachtung des traditionellen Modi absoluter Datierung
sowie einer Abhandlung über synchrone und diachrone
Aspekte von Fund- und Befundbildern einen weiteren,
sehr umfangreichen Komplex bilden. Die vielschichtigen
Beziehungen der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft zur
Ethnologie werden unter dem Stichwort „Das Problem
der Interpretation“ im vierzehnten Kapitel (mit vier Un-
terabschnitten) besprochen, wobei auffällt, dass bei der
Ethnoarchäologie leider nicht genügend differenziert
wurde. Da es innerhalb der so genannten ethnoarchäolo-
gischen Methode Unterschiede in Konzeption und Aussa-
ge gibt, kann die Ethnoarchäologie nicht als ein geschlos-
senes System betrachtet werden. Auf dieses vierzehnte
Kapitel wird gleich noch etwas näher eingegangen. Im
fünfzehnten und letzten Kapitel wird der Stellung der Ur-
und Frühgeschichtsforschung sowohl im Wissenschaftsbe-
trieb der Universitäten als auch in der Öffentlichkeit
nachgegangen. Trotz der oben erwähnten, weitgehenden
Beschränkung auf den persönlichen wissenschaftlichen
Hintergrund Eggerts bei der Heranziehung von Beispie-
len aus der jüngeren Urgeschichte hätten die bedeutsa-
men Diskussionen, wie sie beispielgebend auf den zurück-
liegenden Tagungen der Hugo-Obermaier-Gesellschaft
stattfanden, sicherlich in irgendeiner Form Berücksichti-
gung finden müssen. Wahrscheinlich konnte dies aus Zeit-
gründen nicht geschehen.
Für den Ethnologen allgemein und besonders für den
Ethnoarchäologen ist das vierzehnte Kapitel „Archäolo-
gie als Kulturanthropologie: Das Problem der Interpreta-
tion“ das interessanteste. Inhaltlich geht ja die so genann-
te Ethnoarchäologie über den archäologischen Bereich
hinaus und ist deshalb gezielter mit dem Begriff „ethnolo-
gisch-prähistorischer Vergleich“ (Schulze-Thulin 1991) zu
erfassen. Zunächst ist positiv zu vermerken, dass in Eg-
gerts Abriss der kulturanthropologischen Aspekte inner-
halb der Archäologie richtigerweise zwischen Ethnogra-
fie und Ethnologie unterschieden wird, was leider in
sonstigen Publikationen der Ur- und Frühgeschichtsfor-
schung nicht selbstverständlich ist. Anders sieht es mit
dem Terminus „Parallelen“ aus (ich erlaube mir selbst
nicht, in dem Bemühen nachzulassen, immer wieder dar-
auf hinzuweisen). Es gibt keine Parallelen in dem ange-
sprochenen Bereich, höchstens Ähnlichkeiten, die zu Ver-
gleichen Anlass geben können. Bei aller Einschränkung
der Möglichkeiten, die analoges Interpretieren verlangt,
ist doch auf ein Überprüfen ur- und frühgeschichtlicher
Gegebenheiten mittels Analogieschlüssen (im material-
kulturellen Bereich natürlich wesentlich treffsicherer als
203
___________TRIBUS 53,2004
im immateriellen) nicht zu verzichten. Hier sind die
grundlegenden Aussagen des Autors unter Punkt 2 „Ana-
logie und Erkenntnis“ des betreffenden Kapitels nur zu
unterstreichen. Besonders wichtig erscheint mir, bei der
Beurteilung eines ur- und frühgeschichtlichen Befundes
neben der Betonung der materiellen Kultur als „unbe-
stechlichem“ Ausgangspunkt nicht nur e i n Analogon,
sondern mehrere sowie Alternativen in Betracht zu zie-
hen. Analogieschlüsse können ja selbst bei Gegnern die-
ser Methode gar nicht umgangen werden, denn auch diese
können nicht umhin, ur- und frühgeschichtliche sowie
ebenfalls historische Befunde aus der Sicht ihres Erkennt-
nisstandes als Kinder ihrer Zeit zu beurteilen. Das ist
dann zwar ein unbewusstes komparatives Verfahren, aber
es ist eines.
Die vorliegende Publikation ist mit vollem Recht als ein
Standardwerk der Archäologie einzustufen. Es wird über
viele Jahre seinen Platz sowohl als bedeutsames Nach-
schlagewerk als auch als Lehrbuch behalten. Obwohl die
folgende Betonung überflüssig erscheint - es gehört in
jede Instituts-, allgemein öffentliche und Privatbiblio-
thek.
Literatur
Schulze-Thulin, Axel
1991 Erste Ansätze zum ethnologisch-prähistori-
schen Vergleich - mit einem Beispiel aus dem
Bereich der Bärenverehrung. In: Saeculum Bd.
42, H. 1, S. 44-54.
Axel Schulze-Thulin
Erlandson, Jon M.;
Early Hunter-Gatherers of the California
Coast. New York - London: Plenum Press,
1994. 336 Seiten, zahlreiche SW-Fotos, Zeich-
nungen, Tabellen, Karten.
ISBN 0-306-44421-6
Der Niederschrift dieses Buches ging eine lange Zeit ar-
chäologischer Forschung voraus, insbesondere im westli-
chen Bereich der kalifornischen Santa-Barbara-Küste
sowie des so genannten Kanals gleichen Namens (Meer-
enge zwischen dem südkalifornischen Festland und einer
Inselgruppe westlich von Los Angeles). Während der frü-
hen europäischen Entdeckungsfahrten in Nordamerika,
in diesem Fall war es Juan Rodriguez Cabrillo 1542, lebte
in der Region des „Kanals“ eine der bevölkerungsreichs-
ten, meerorientierten Jäger/Sammler-Gruppen Kaliforni-
ens, die Chumash, dem Amerikanisten aus ethnologischen
Studien bekannt. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen
auf mehreren Ausgrabungsplätzen in besagter Region
legt der Autor hier einerseits archäologische Daten aus
diesen Stationen vor, andererseits jedoch auch Ergebnisse
von Vergleichsuntersuchungen, die teilweise über das ge-
nannte Kanalgebiet hinausgehen, alles aus dem späten
Pleistozän und frühen Holozän. Im Hinblick auf die seit
Jahrzehnten andauernden Querelen zwischen Archäolo-
gen und verschiedenen indianischen Stammesregierungen
und/oder Organisationen ist der Hinweis interessant, dass
Mitglieder der Küstengruppe der Chumash-Nation sowie
der Santa-Ynez-Reservation an den jeweiligen archäologi-
schen Projekten direkt oder indirekt beteiligt waren.
Das Werk ist in zehn Kapitel gegliedert. Ein umfangrei-
ches Literaturverzeichnis und ein Register beschließen
den Band. Während im ersten Kapitel theoretische
Grundlagen der Arbeit dargelegt werden, widmet sich Er-
landson im zweiten der Umwelt der erwähnten Kanalre-
gion sowohl in der Gegenwart als auch im ausgehenden
Pleistozän und frühen Holozän. Im dritten Kapitel sind
Berichte zur archäologischen Forschungsgeschichte Nord-
amerikas, unterteilt in drei Zeitabschnitte, sowie zur Ur-
geschichte der südlichen und mittleren Küste Kaliforni-
ens zu finden. Nachdem der Verfasser im vierten Kapitel,
zusammenfassend, archäologische Methoden in Erinne-
rung ruft, wendet er sich im fünften bis siebenten einzel-
nen Stationen zu, die immer nach gleichen Schemata ge-
gliedert wurden. Nach Angaben zu jeweils vorliegenden
Bodenverhältnissen der Stationen folgen Versuche chro-
nologischer Einordnung, eine Auflistung des jeweiligen
Fundmaterials, gegliedert nach Artefakten (Stein. Mu-
schelschale, Knochen) und unbearbeiteten tierischen
Hinterlassenschaften aus der Jagd- und Sammeltätigkeit,
sowie schließlich eine Zusammenfassung der Befunde. Im
achten Kapitel werden Befundkomplexe aus drei Statio-
nen einschließlich der ersten Besiedelungen von drei der
erwähnten Kanalinseln zusammenfassend vorgelegt. In
das umfangreichste neunte Kapitel wurden die Berichte
über sieben kalifornische Küstenregionen einschließlich
zugehöriger Inseln mit ihren bis zu je fünf Stationen auf-
genommen, wobei Erlandson besonders die kulturökolo-
gischen Verhältnisse am Herzen lagen. Im zehnten Kapi-
tel „Zusammenfassung und Erkenntnisse“ mit drei Ab-
schnitten wird der heutige Forschungsstand zur Archäolo-
gie der kalifornischen Küstenkulturen dargelegt und
ebenfalls der Frage der Einwanderungszeit in diese Regi-
onen nachgegangen.
Auf der Basis seiner langjährigen Ausgrabungstätigkeit
hat der Autor eine optimale Übersicht zur Urgeschichte
kalifornischer Küstenethnien geliefert, die für diejenigen,
die sich mit der Urgeschichte auf dem nordamerikani-
schen Kontinent im Allgemeinen und derjenigen kalifor-
nischer Ethnien im Besonderen beschäftigen, ein unver-
zichtbares Grundlagenwerk ist.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Allgemein
Gaudzinski, Sabine / Turner, Elaine, et
al.:
The Role of Early Humans in the Accumula-
tion of European Lower and Middle Palaeo-
lithic Bone Assemblages - Ergebnisse eines
Kolloquiums. Mainz und Bonn; Römisch-Ger-
manisches Zentralmuseum, Forschungsinstitut
für Vor- und Frühgeschichte in Verbindung mit
der European Science Foundation - In Kom-
mission bei Dr. Rudolf Habelt GmbH, 1999.
396 Seiten, zahlreiche SW-Fotos, Zeichnungen,
grafische Darstellungen, Tabellen, Karten.
ISBN 3-88467-044-1
Hinter dem langen Titel verbirgt sich ein hochinteressan-
tes, wenn auch mit Fragezeichen versehenes Thema - wer
waren die ersten Europäer, wie nutzten sie die während
der jeweiligen pleistozänen Perioden unterschiedliche
Fauna zu ihrem Lebensunterhalt? Die paläontologisch,
allerdings mit archäologischer Zielrichtung angelegte Pu-
blikation geht auf ein Kolloquium in Schloss Monrepos
bei Neuwied zurück, das vom Römisch-Germanischen
Zentralmuseum (Forschungsbereich Altsteinzeit) im Mai
1995 ausgerichtet wurde. Vorausgegangen waren drei
ähnlich gelagerte wissenschaftliche Treffen in Tautavel,
Frankreich, im November 1993, in Arras, ebenfalls Frank-
reich, im November 1994, und nach Monrepos in Dolni
Vestonice, Tschechien, im Oktober 1995. Die Vorträge
(mit Diskussionen) im Mai 1995 standen unter dem Ge-
neralthema „The palaeolithic occupation of Europe".
Das schwergewichtige Buch mit seinen 25 englischspra-
chigen Beiträgen wird nach einem Vorwort von Gerhard
Bosinski und Konrad Weidemann mit einer Einführung in
die Thematik von Sabine Gaudzinski und Elaine Turner
eröffnet. Ich habe diese beiden Autorinnen stellvertre-
tend für alle an dem Zustandekommen der vorliegenden
Arbeit Beteiligten in die Titelei dieser Rezension aufge-
nommen, weil sie die zugrunde liegende Veranstaltung
vorbereitet und organisatorisch betreut und auch die Zu-
sammenstellung der Abhandlungen für die Publikation
übernommen hatten. Die Verfasser(innen) setzen sich aus
Angehörigen Zentral-, West-, Süd- und Osteuropas zu-
sammen. Die auf dem Kolloquium gehaltenen Vorträge
waren in drei Sektionen eingeteilt worden:
(1) Knochenansammlungen bzw. -lager ohne durch Men-
schen verursachte Modifizierung; (2) Stationen des Unteren
Paläolithikums; (3) Stationen des Mittelpaläolithikums.
Vertreten sind beispielsweise so bekannte Fundplätze wie
Orce (Spanien). Kärlich, Miesenheim I, Wallertheim und
Taubach (Deutschland), La Polledrara und Isernia La Pine-
ta (Italien),Terra Amata und La Caune de 1‘Arago (Frank-
reich). Die Gliederung der in das vorliegende Buch aufge-
nommenen Beiträge folgt weitgehend der erwähnten Drei-
teilung. So gehören die ersten fünf Artikel in die erste Sek-
tion. Dass hier die Beurteilung im Einzelfall - Verlagerung
der Knochen durch Naturgewalten, Tiere oder vielleicht
doch durch den Menschen - meist schwierig oder auch gar
nicht möglich ist, weiß jeder Archäologe. Bei den Artikeln
der zweiten und dritten Sektion war die Basis nach dem
heutigen Stand der Forschung klar; hier waren die Einwir-
kungen durch den Menschen eindeutig belegbar.
Generelles Ziel der deutschen Veranstalter war zunächst
einmal, die Nahrungsvorsorge mittels verschiedener Jagd-
methoden und deren Auswirkungen auf die faunistische
Umwelt während des Unteren und Mittleren Paläolithi-
kums zu diskutieren. Spezielle Themen waren hier, mit
welchen Methoden zwischen menschlicher und tierischer
Modifikation der Knochenansammlungen unterschieden
werden kann. Ein Hauptanliegen war insbesondere, dem
Leben der Menschen im Pleistozän insgesamt näher zu
kommen. Für was wurden die durch Jagd, zu allererst mit
Blick auf den Lebensunterhalt, gewonnenen Knochen der
verschiedenen pleistozänen Tiere als Ausgangsmaterial
benutzt? Nur für die Herstellung von Werkzeugen und
zur Markentnahme oder auch für anderes? Gab es zum
Beispiel Jagd nur zur Fellgewinnung? Zu viele Antworten
beruhen noch immer auf Spekulation. Die Mehrzahl der
Beiträge zeigt jedoch, dass den vielen auftauchenden Fra-
gen und den gestellten Ansprüchen Rechnung getragen
wurde, wobei auch immer wieder das Bemühen durch-
scheint, die Weiterentwicklung in den beteiligten Wissen-
schaften während der zurückliegenden 25 Jahre sichtbar
werden zu lassen. Ein bedeutsamer Punkt für die Zukunft
ist, so genannte patterns hinsichtlich der Nutzung der Fau-
na durch den Menschen zu erarbeiten. Heute kann bei-
spielsweise nur grob festgestellt werden, dass die Jagdspe-
zialisierung im Oberen Pleistozän zunahm, doch sicherlich
auch schon früher unter bestimmten Umständen. Schwie-
rigkeiten treten immer dort auf, wo von Grabungsbefun-
den allein auf der Grundlage von Knochenansammlungen
auf das jägerische Verhalten geschlossen werden muss.
Diese Einschränkung muss in Zukunft wenn nicht aufge-
hoben, so doch zurückgefahren werden. Dabei sollte
ebenfalls immer im Auge behalten werden, dass durch
Überspezialisierung einzelner Bereiche der Urgeschichts-
forschung die Taphonomie als Wissenschaftsbereich in
einer Sackgasse enden kann. Heute ist es leider noch so,
dass rein quantitativ gesehen die Ergebnisse aus der
Grundlagenforschung nicht ausreichen, um weitergehen-
de Schlüsse ziehen zu können. Hier liegt eine der Aufga-
ben für die Zukunft, damit nicht für die fraglichen Zeit-
räume bedeutende Stationen weiterhin außen vor bleiben
müssen.
Der Wert der Publikation liegt vor allem darin, dass hier
erstmals auf taphonomischer Grundlage untersuchte
Funde und ihre Hintergründe aus zahlreichen Stationen
des Unteren und Mittleren Paläolithikums Europas ge-
schlossen vorgestellt wurden. Den Veranstalter(inne)n
der Tagung und den Referent(inn)en gebührt entspre-
chender Dank.
Axel Schulze-Thulin
205
TRIBUS 53,2004
Gründer, Horst:
Eine Geschichte der europäischen Expansion
- Von Entdeckern und Eroberern zum Kolo-
nialismus. Originalausgabe: Brockhaus, Leipzig
- Mannheim 1998/99. Stuttgart: Konrad Theiss,
2003.192 Seiten, zahlreiche SW- und Farb-Ab-
bildungen, Karten.
ISBN: 3-8062-1757-2
Die Geschichte des Menschen ist seit jeher mit einem im-
mer schnelleren Vordringen in unbekannte Räume ver-
bunden. Vor rund zwei Millionen Jahren machten sich die
ersten Menschen aus Afrika auf den Weg und wanderten,
immer auf der Suche nach etwas Essbarem, innerhalb von
Jahrhunderttausenden und über zahllose Generationen
hinweg in östliche, nördliche und schließlich auch westli-
che Gebiete der zusammenhängenden Erdteile, ohne dass
dies dem Einzelnen allerdings bewusst war. Nachdem die
Kenntnisse im Bootsbau über die Herstellung von Käh-
nen für die Fluss- und Binnenseeschifffahrt hinausge-
wachsen waren, fing Homo an - inzwischen längst mit
dem nicht recht passenden Zusatz „sapiens“ versehen
benachbarte menschliche Gemeinschaften vom Meer her
zu überfallen, was im Zuge sich schnell entwickelnder
Stadtstaaten in politisch differenzierten Staatsgebilden
und Imperien der europäischen Antike eskalierte und im
Römischen Reich seine höchste Stufe (und Gewalt) er-
reichte. Mit der Ausbreitung des Christentums kamen
über wirtschaftliche Zielsetzungen hinaus ideologische
Verbrämungen hinzu, die sich im Mittelalter, zunächst bei
den meerorientierten Völkern Südeuropas (vorausgegan-
gen waren ihnen im frühen Mittelalter nordeuropäische
Ethnien), mit Handelsinteressen eines erstarkten Bürger-
tums verbanden.
Mit unserem gerafften Überblick über den Expansions-
drang des Menschen sind wir nun bei den Ursprüngen des
Kolonialismus angelangt, das heißt dem so genannten, im-
mer wieder auch romantisierten Zeitalter der frühen Ent-
deckungen, das sich im Hinblick auf seine Folgen vor al-
lem-selbst weltweit betrachtet-und nahezu ausschließlich
mit dem Namen Europas verbindet (in Ostasien gab es
ähnlich gelagerte Überschichtungen benachbarter Völker
durch militärisch erstarkte Gemeinschaften, die sich aber
mit wenigen Ausnahmen auf den regionalen Bereich be-
schränkten). Die Geschichte dieses Prozesses, nämlich die
ersten Schritte einer europäischen Ausdehnung über die
Welt mit allen sie begleitenden und nachfolgenden Er-
scheinungen im wirtschaftlichen, technischen und eben-
falls religiösen Bereich bildet den Rahmen des vorliegen-
den Buches. Angel- und Ausgangspunkt ist dabei die
gegenwärtige, oft kontrovers diskutierte „Globalisie-
rung“, die hier allerdings als Einbahnstraße, ausgehend
von Europa in alle Teile der Welt, behandelt wird, was die-
sen Begriffsehr einschränkl,denn heute hat beispielswei-
se die Alte Welt ja mit starkem Gegenverkehr zu kämpfen
und muss sich, oft verwundert die Augen reibend und in
Teilen der (politisch aktiven) Gesellschaft, wie den Ge-
werkschaften, immer noch unverstanden, so schnell wie
nur irgend möglich auf die neue Situation ein- und um-
stellen, will sie nicht im Trubel dieses Jahrhunderts unter-
gehen. Zwar erwähnt der Autor ebenfalls (9 f) die Einflüs-
se außereuropäischer Kulturen auf Europas Alltag (zum
Beispiel Ernährungsgewohnheiten) und Umwelt (aus
Übersee importierte Pflanzen und Tiere) sowie die an der
Europäisierung aktiv beteiligten Einheimischen in frem-
den Ländern, doch ist selbstverständlich der Terminus
„Globalisierung“ damit nicht erfasst. Dazu kommt, dass
zu dem Thema „europäische Expansion / Globalisierung“
mit seinem starken Anteil wirtschaftlicher Interessen un-
bedingt auch das gehört, was nichteuropäische Länder
und Völker den Europäern gaben. Erinnert sei nur an die
zahlreichen indianischen Nahrungsmittel, mit denen indi-
anische Kulturen die Welt versorgten und ohne die unser
europäisches Leben seit 500 Jahren ja überhaupt nicht
denkbar ist (beispielsweise Kartoffel. Mais, Bohnen, To-
maten, viele Pfeffer- und Kürbisarten, Paprika, Schokola-
de, Vanille, Erdnüsse, Ananas und viele weitere Südfrüch-
te sowie nicht zuletzt Tabak und so weiter und so fort).
Wie der Verlag in seinem Begleittext zur Publikation nach
Vorgabe des Autors meint, sollten mit dem Buch die
Grundlinien und wesentlichen Zusammenhänge der auf-
gezeigten Expansion niedergelegt werden und nicht „eine
vollständige Dokumentation aller europäischen Aktivitä-
ten in Zeit und Raum“. Dies ist Horst Gründer, Professor
für neue und außereuropäische Geschichte in Münster,
sicherlich gelungen. Neben dem reichhaltigen Bild- und
Kartenmaterial spricht zunächst die übersichtliche Glie-
derung des Stoffes an. Dieser ist in drei Kapitel (ohne
Nummerierung) unterteilt, davon die beiden ersten in je
sieben, das dritte in zwei Abschnitte. Das erste Kapitel
„Aufbruch zu neuen Horizonten“ ist der südeuropäischen
Expansion (vornehmlich am Ausgang des Mittelalters)
gewidmet. Nach einer Einleitung zu der bereits erläuter-
ten Globalisierung werden die europäischen Weltreisen-
den des Mittelalters (Stichwort: Marco Polo), sodann das
Streben des italienischen Großbürgertums nach Reich-
tum und Macht mit Hilfe rasch zunehmender Kapitalmit-
tel (Stichwort: Medici; diese allerdings im Buch nicht er-
wähnt) sowie die Navigations- und Schifffahrtsentwicklung
vorgestellt. Anschließend wird im vierten Abschnitt die-
ses Kapitels das Bemühen Portugals beschrieben, einen
östlichen Seeweg nach „Indien“ zu finden (Stichwort:
Heinrich der Seefahrer). Der folgende Kapitelteil hat die
„Entdeckung“ Amerikas und die erste Weltumsegelung
aufgenommen. Die Passagen um Amerika werden weiter
unten noch näher beleuchtet. Es folgt eine Beschreibung
des spanischen Weltreichs unter Karl V. Mit einer Darstel-
lung des Frühkapitalismus in Verbindung mit der europä-
ischen Expansion endet das erste Kapitel.
Im anschließenden zweiten Hauptteil „Europa breitet
sich aus“ wird zunächst das französische und das engli-
sche Kolonialreich in Nordamerika näher betrachtet, wei-
terhin Indien unter englischer Herrschaft, sodann das
holländische Kolonialgebiet sowie Russlands Ausdeh-
nung nach Osten und die Unterwerfung der Völker Sibiri-
ens. Zwei Abschnitte über Australien und die Südsee so-
wie über das „Innere Afrikas“ beenden dieses Kapitel. Im
dritten und letzten Teil „Die großen Mächte und der Im-
perialismus“ legt der Verfasser seine Einschätzung der
imperialistischen Jahrzehnte (1882-1914) mit der nicht so
recht treffenden Frage „Kulturelle Mission oder Platz an
der Sonne?“ vor, auf die keine Antwort gefunden werden
kann. Immerhin wird ein Lösungsversuch unternommen.
206
Buchbesprechungen Allgemein
Ob dazu allerdings die Gegenüberstellung von Realität
und Zeitgeist in Satire und Karikatur während der hohen
Zeit des Imperialismus ausreicht, bleibe dem Leser über-
lassen. Zum Schluss werden am Beispiel Afrikas die deut-
schen Kolonialgebiete und deren kurze Geschichte (Stich-
wort: Herero) vor- sowie die Aufteilung Afrikas auf die
europäischen Einflusssphären dargestellt.
Wie angekündigt, soll nun noch der Abschnitt über Ame-
rika - sozusagen als Pars pro toto - etwas eingehender
betrachtet werden. Begrüßenswert ist hier die Wiederga-
be der Karte „Rekonstruktion der Karte des Toscanelli“
mit Mangi (gleich „Indien“) und Zippangu (in anderer
Schreibweise „Zipangu“ bzw. englisch „Cipango“ gleich
„Japan“) sowie der geografisch exakten Einspiegelung
des nord- und (teilweise) südamerikanischen Kontinents.
Zu bemängeln ist, dass etliche Karten des Buches (bei-
spielsweise in diesem Abschnitt auf den Seiten 39 f) viel
zu klein wiedergegeben sind, was sich auch über die Publi-
kation mancher Dokumentenausschnitte sagen lässt (im
Kolumbus-Abschnitt auf den Seiten 37 und 40). Die klei-
ne Kartenskizze von der Nordwestküste Hispaniolas
(heute Haiti) soll übrigens nicht auf Kolumbus, wie ange-
geben, sondern auf einen seiner Matrosen zurückgehen.
Kolumbus hatte zwei Söhne, den älteren Diego (* etwa
1474) und den jüngeren Ferdinand, der durch seine Publi-
kation über seinen Vater auch literarisch bekannt gewor-
den ist. Aus der Bildlegende auf Seite 40 geht nicht her-
vor, dass der Autor dies weiß, weil er nur von „sein Sohn“
spricht. Auch der Begriff „Neue Welt“ geht nicht eindeu-
tig, wie behauptet, auf Amerigo Vespucci zurück (40). Ko-
lumbus selbst hatte nach seiner dritten Reise einen (süda-
merikanischen) Kontinent vermutet, wie aus einer seiner
Äußerungen hervorgeht, „dass sich südlich des heutigen
Venezuela ein otro mundo erstrecke“ (Wallisch 2002: 36,
Anm. 8; s. außerdem Taviani 1989: 212-214). Taviani ver-
weist hier ebenfalls darauf, dass der Begriff „Neue Welt“
auf Kolumbus zurückgehe; nach anderer Ansicht war es
Peter Martyr von Anghiera, der nach Salvador de Mada-
riaga (1966: 328 f, so auch schon Morison 1942:383, und
zwar im vierten „Brief“ von Martyr) diesen Ausdruck vier
Jahre vor Kolumbus gebraucht haben soll. Die dem Autor
entsprechende Version vertritt Keegan. der den Terminus
„Neue Welt“ ebenfalls dem „Italiener“ Amerigo Vespucci
zuschreibt, womit Letzterer jedoch nur Südamerika nach
seiner Reise 1501 ohne Einschluss der zirkumkaribischen
Region gemeint hatte (s. hierzu Morison a.a.O., 384) und
schon gar nicht inklusive Nordamerika, da dieser Nord-
kontinent um 1500 noch unbekannt war.
Ein Bildquellenverzeichnis, detailliert gegliederte Litera-
turhinweise und ein Namensregister beschließen den
Band, der als eine Zusammenfassung der europäischen
Entdeckungsgeschichte unter Berücksichtigung des Kolo-
nialismus mit besonderem Gewicht auf Afrika betrachtet
werden kann.
Literatur
Madariaga, Salvador de
1966 Kolumbus - Entdecker neuer Welten. Berlin -
München - Wien.
Morison. Samuel Eliot
1942 Admiral of the Ocean Sea - A Life of Christo-
pher Columbus. Oxford.
Taviani, Paolo Emilio
1989 Das wunderbare Abenteuer des Christoph Ko-
lumbus. Berlin - Leipzig.
Wallisch, Robert
2002 Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci
(Text, Übersetzung und Kommentar). Wien.
Axel Schulze-Thulin
Kraus, Michael / Münzel, Mark (Hrsg.):
Museum und Universität in der Ethnologie.
(Reihe Curupira Workshop, Band 8). Marburg:
Förderverein ‘Völkerkunde in Marburg’ e.V,
2003.249 Seiten, SW-Abbildungen.
ISBN 3-8185-0379-6; ISSN 1430-9750
Der im Jahre 2000 erschienene Marburger Tagungsband
„Zur Beziehung zwischen Universität und Museum in der
Ethnologie“ hat nun einen Folgeband, der ebenfalls auf
einem Symposium - zum Thema „Museum und Universi-
tät in der Ethnologie“ (Marburg 2002) - beruht. Beschäf-
tigte sich die erste Schrift vor allem mit dem Verhältnis
der beiden ethnologischen Fachinstitutionen zueinander
im Hinblick auf die Erforschung der materiellen Kultur
und ihrer historischen Manifestation von Forschungs- und
Praxisfeldern, so lenkt der vorliegende Band den Blick
zentraler auf die Institution Museum und ihre Bedingun-
gen. Er ist ein weiterer Baustein des Marburger Instituts
für Vergleichende Kulturforschung/Völkerkunde in dem
Bemühen, der „in eher ritualisierter Form beschworenen“
Zweiteilung von Museum und Universität, so Kraus in
seiner Einleitung (S.7), entgegenzuwirken. Der Initiator
Mark Münzel gibt in seiner Einführung „Museum, Uni-
versität und Marburg“ regionale und biografische Grün-
de zur Entstehung dieser Tagungsreihe an. Ein Symposi-
um zur Inszenierung des Authentischen sei in Marburg
gut angesiedelt, wirke die Stadt doch selbst wie eine The-
aterkulisse. in der Universität und (Instituts-)Museum
ständig zwischen „Show und Analyse“ (S. 22) changieren.
In seinem Berufsleben rieb sich Münzel sowohl an der
„gegenstandslosen Theoriewüste“ der universitären Eth-
nologie als auch an der Arroganz der Museumsethnolo-
gen. Deshalb versteht er sich nun als Brückenbauer, der
die Lebendigkeit und den Austausch beider Institutionen
fördern möchte.
Die Publikation ist in vier Kapitel unterteilt, die bis zu
fünf Aufsätze unter einem spezifischen Aspekt vereinen.
Im ersten Kapitel des Buches werden „Inszenierungen:
Sichtweisen und Kritiken“ mit praxisnahen Reflexionen
über Ausstellungen, das Museumspublikum und die Wis-
senschaftlichkeit von Repräsentationsformen vorgestellt.
So stehen in Till Försters Beitrag („Inszenierte Glaub-
würdigkeiten“) vor allem Fragen zur ästhetischen Rezep-
tion von ethnografischen Objekten im Vordergrund. Zu
wenig habe sich die Museumsethnologie mit der Wirk-
kraft des Bildes beschäftigt, und Förster plädiert für eine
deutliche Sichtbarmachung des Inszenierungs-Charakters
von Ausstellungen.
207
___________TRI BUS 53,2004
Mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigt sich Eva Ch.
Raabe in ihrem Aufsatz „Bild und Bilder als Weg zur Er-
kenntnis?“ Auch sie betont, dass Sehgewohnheiten und
Bilder der eigenen Kultur bei der kontextualisierenden
Präsentation von „fremden“ Objekten stärker berück-
sichtigt werden müssen, um nicht Missverständnissen und
Verzerrungen aufzulaufen. Sie fordert eine fundierte mu-
seumsdidaktische Forschung an den Museen, auch um in-
haltlicher Beliebigkeit (v.a. in museumspädagogischen
Begleitprogrammen) zu entgehen.
Seine Erfahrungen mit Verzerrungen im Umgang mit Ob-
jekten und Ansichten außereuropäischer Religionen
schildert Peter J. Bräunlein anschaulich in seinem Beitrag
„Religion(en) im Museum“. Ständig im Dilemma zwi-
schen Differenzierung und Reduktion, zwischen Abwehr
und Verlangen, sei das Thema Religion nur mit einem be-
wussten Umgang von ethnozentrischen Sichtweisen be-
handelbar. Das Museum müsse provozieren und ein Ort
des Befremdens, der Irritation, der inszenierten Infrage-
stellung des Gewohnten werden, statt wie bisher ein Ort
der Selbstvergewisserung sein.
Sol Montoya Bonilla geht es dann um grundsätzliche Fra-
gen der Repräsentation. In „Rituale und Diskontinuitä-
ten“ vergleicht sie die Produkte der universitären und
musealen Ethnologie: Buch und Ausstellung. Beides seien
Entkontextualisierungen und Übersetzungen von Wirk-
lichkeit, die oft zugunsten einer widerspruchsfreien Ein-
heitlichkeit harmonisiert, geordnet und „gezähmt“ wer-
den. Sie zeigt dies an Beispielen der Ritualforschung und
fordert zu einer „wilden“ und polyphonen (mehrstimmi-
gen) Präsentation auch von Objekten im Museum auf.
Bettina E. Schmidt illustriert in ihrem Aufsatz „Political
Correctness vs. Wissenschaftlichkeit?” am Beispiel des
New Yorker „National Museum of the American Indian“,
wie sich diese Einseitigkeit und Homogenisierung der
Perspektive auswirkt. Auch wenn hier die lange von be-
troffenen Gruppen geforderte Beteiligung an Ausstellun-
gen umgesetzt sei, befriedigt Schmidt das Ergebnis nur
wenig, da nun unreflektierte Selbstdarstellung und einsei-
tige politische Interessen zulasten von Differenzierungen
Ui-d Wissensvermittlung gingen. Oberflächliche Unterhal-
tung und Konfliktvermeidung sollten nicht die Zukunft
der Völkerkundemuseen sein.
So stellen sich angesichts dieser Gedanken auch Fragen
zu den Anforderungen, der Ausbildung und dem Alltag
von Museumsethnologen, denen als nächstes Kapitel ein
Beitrag von Bernd Schmelz gewidmet ist. In seinem Auf-
satz „Anforderungen an Ethnologen im Museum zu Be-
ginn des 21. Jahrhunderts“ berichtet er von seinen Erfah-
rungen am Hamburgischen Museum für Völkerkunde
und skizziert eine idealtypische Beschreibung der Aufga-
ben und Fähigkeiten eines Fachwissenschaftlers am Mu-
seum. Zentral sei seine Fähigkeit zu Teamarbeit, da er
nicht mehr alleinentscheidender Abteilungsleiter, son-
dern nunmehr in den „fruchtbaren Prozess“ von Ausstel-
lungsteams mit Museumspädagogen, Designern und Ar-
chitekten integriert sei. Neben wissenschaftlicher Fun-
diertheit und populärem Generalismus sei von ihm zudem
Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit und Marktorien-
ticrung gefordert. Dies müsste sich auch in der universitä-
ren Ausbildung niederschlagen. Kraus merkt in seiner
Einleitung an. dass dieser Beitrag auf der Tagung äußerst
kontrovers diskutiert wurde, zumal die Ergebnisse des
Hamburger Hauses - wie auch in diesem Tagungsband -
immer wieder scharfer Kritik ausgesetzt sind.
Unter der Überschrift „Konzeptionen: Anordnungen
und Neuordnungen“ sind im Folgenden Pläne und Vor-
schläge zur Neukonzeption einzelner Häuser versam-
melt, die durch Generationswechsel auf Direktorenebe-
ne oder durch Baumaßnahmen möglich wird. So
diskutiert Dieter Kramer in seinem Artikel „Ethnologie
im Zentrum“ an Plänen zur Neugestaltung des Schloss-
platzes in der Hauptstadt Berlin gar eine neue Program-
matik der Ethnologie aus kulturpolitischer Sicht. Die
Ethnologie (und ihr Museum) sei in der globalisierten
Welt mit ihrem Wissen zu interkulturellem Dialog, zu
Akzeptanz von Kulturen und Eurozentrismus schließ-
lich politisch relevant und im Zentrum Berlins bestens
platziert. Als „arbeitendes Museum“ könne es neue
Weltsichten jenseits des evolutionistisch-imperialisti-
schen Denkens vermitteln, wenn es Interpretationen
von Welt und Mensch auf einer symbolisch-ästhetischen
Weise vermittle und somit die Dichotomie zwischen
Abendland und dem „Rest der Welt“ aufhebe.
Nicht ganz so hohe Ziele verfolgt Claus Deimel mit sei-
nen „Fantasien zur Wiedereinrichtung des Museums für
Völkerkunde Leipzig“. Noch ohne konkret zu werden,
fordert er zu offenen Diskussionen und Grenzüberschrei-
tungen auf, um der Ethnologie wieder zu mehr Beachtung
in der Öffentlichkeit zu verhelfen. Jedoch warnt er davor,
Museumsarbeit und -Objekte „spaßig (zu) vermarkten“
(S. 133), wie es Hamburg mit seinen publikumswirksamen
und oberflächlichen Begriffen („Magie“, „Geheim“,
„Schatz“) und seinen esoterischen Begleitprogrammen
vormache. Er fordert eine aktualisierte Darstellung der
wesentlichen Fragestellungen und Arbeitsergebnisse eth-
nologischer Forschung in klassisch-systematischem Auf-
bau. Sein Ansatz ist das „Gefühl für Curiosität“ (S. 135)
im Sinne einer den Objekten entgegengebrachten Faszi-
nation. die den Sammlungen selbst auch immanent sei.
Konkreter ist der aktuelle Planungsstand, den Jutta Beate
Engelhard in „Das neue Rautenstrauch-Joest-Museum
der Stadt Köln“ vorstellt. Um Toleranz und Respekt ge-
genüber anderen Völkern und Relativierung des eigenen
Standpunktes zu fördern, hält man in Köln an dem bereits
erfolgreich in Ausstellungen praktizierten Prinzip des
Kulturvergleiches statt der sonst üblichen geographischen
Gliederung fest. Weltweit relevante Themen sollen in re-
gionalen Verdichtungen inszeniert, aktuelle Problemstel-
lungen über „Kontrapunkte“ angeschnitten und durch
Veranstaltungen unterschiedlichster Couleur ergänzt
werden. Der erste Ausstellungsparcours steht unter dem
Thema „Facetten menschlicher Kommunikation“ und soll
durch partielle Neukonzeption von Unterthemen und
Objektensembles flexibel und als ständige Ausstellung
damit attraktiver gehalten werden.
Sieht man bereits in Köln das Museum als Plattform und
Begegnungsstätte für fremde Kulturen, so wird in Frank-
furt am Main das Museum noch mehr als „kultureller Er-
lebnis- und Lernort“, als „interdisziplinäres Forum für
interkulturelle Dialoge“ gesehen. Annette Rein stellt in
ihrem Beitrag „Fremd gehen - anders sehen. Museum der
Weltkulturen“ die neuen Schwerpunkte des umbenann-
ten Hauses vor, die sich gezielt an ein breiteres Publikum
208
Buchbesprechungen Allgemein
richten. Grundpfeiler ist nun die Museumspädagogik mit
einer Vielzahl an Aktivitäten, die das „Interkulturelle
Atelier“ (IKAT) betreut und das eine explizite Besucher-
orientierung anstrebt. Der vielfältig nutzbare Muse-
umspark, eine ethnographische Sondersammlung zum
Anfassen, musikethnologische Veranstaltungen und ver-
mehrte Fotoausstellungen sollen dazu beitragen. Gleich-
zeitig möchte sie die Kooperation mit der universitären
Ethnologie in Form von Gastdozenturen am Museum
ausbauen.
Ebenfalls um lebendige Museumsarbeit bemüht ist man
auch auf dem afrikanischen Kontinent. Dies zeigt der Bei-
trag von Georgia A. Rakelmann und Stella Rundle „Mu-
seen im südlichen Afrika“. Rakelmann stellt zunächst drei
charakteristische Museumstypen dieser Region vor: nati-
onale Museen als Nachfolger kolonialer Einrichtungen
(incl. deren Blickwinkel von Rückständigkeit und Ent-
wicklungsgedanken), ortsbezogene Museen als touristi-
sche und von außen konzipierte Anlaufstellen und Regio-
nalmuseen als quasi lokal verankerte Kulturzentren.
Stella Rundle illustriert am Beispiel des Regionalmuse-
ums „Supa-Ngwao Museum Centre“ in Francistown
(Botswana) ausführlicher das Besondere dieses jüngeren
Museumstyps. Als nicht geschichtlich verwurzelte Ein-
richtungen leiden sie zwar unter Geldproblemen, einer
fehlenden musealen Infrastruktur und dem Mangel an ei-
ner gesellschaftlich starken Lobby (der bürgerlichen
Schicht), wirken dafür aber inhaltlich und organisatorisch
wesentlich freier und kreativer als Museen in der westli-
chen Welt.
Im letzten Abschnitt des Bandes geht es mit „Entwicklun-
gen: Ausgangspunkte als Ausblick“ um einen historischen
Rück- und Überblick auf Museen der Völkerkunde, der
von universitärer Seite mit reflektierender Distanz gewagt
wird. Volker Harms zeigt in seinem Beitrag „Völkerkunde-
museen als sozio-kulturelle Zentren“ auf, wie sich die
Schwerpunktsetzungen in den vergangenen drei Jahrzehn-
ten verschoben haben und welche aktuellen Tendenzen
sich abzeichnen. Nach dem (wenig erfolgreichen) Slogan
„Solidarität mit der Dritten Welt“ (1970er Jahre) und dem
vorübergehend bewährten Konzept eines „Museums für
außereuropäische Kunst und außereuropäisches Gewer-
be“ (1980er Jahre) hätten in den 1990er Jahren zahlreiche
Völkerkundemuseen angesichts reduzierter Finanzquellen
und rückläufiger Besucherzahlen eine „materiell-pragma-
tische“ (S.195) Haltung eingenommen und auch tatsächlich
Erfolge mit zusätzlichen Aktivitäten und einer erweiterten
Öffentlichkeitsarbeit verbuchen können. Sein „leises Un-
behagen“ angesichts dieser Anpassung an ein Kosten-Nut-
zen-Rechnen wägt Harms am Beispiel des Hamburger
Museums mit seinem Begleitprogramm zur Hexenausslel-
lung (2001/2), innerhalb dessen esoterische Kulte der
„Renner“ waren, ab und gelangt schließlich zu der Ansicht,
dass es zu den „vornehmsten Aufgaben der Institution Völ-
kerkundemuseum“ gehöre, „sich zumindest temporär in
ein sozio-kulturelles Zentrum ... zu verwandeln“ (S.202),
d.h. die Förderung kulturell voneinander verschiedenen
Gruppen (z.B. esoterische Kreise, Kunsthandwerkshändler,
Migrantengruppen) und die Bereitstellung des Hauses für
deren Aktivitäten voranzutreiben.
Eine andere Fragestellung verfolgt Gundula Rentrop in
ihrem Beitrag „Me make him belong seil him white man”,
indem sie die Qualität der in Völkerkundemuseen ange-
häuften Objekte am Beispiel einer Neuguinea-Sammlung
in Bremen untersucht. Ihre Spurensuche über die Er-
werbsumstände dieser Sammlung macht deutlich, dass
bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert das europäische In-
teresse an Ethnographica die Herstellung vor Ort massiv
beeinflusste und heute die Abgrenzung von „echten/ au-
thentischen“ Objekten gegenüber Plagiaten/ Souvenirs
hinterfragt werden muss. Da jedoch, wie sie feststellt, eth-
nografische Objekte in Museen immer auch Belege eines
interkulturellen Kontaktes darstellen, könnten sich mei-
ner Meinung nach daraus neue und interessante Ausstel-
lungsthemen ergeben.
Mit Michael Kraus' abschließendem Aufsatz „Die Flick-
schusterei des Fortschritts“ kann festgehalten werden,
und dies ist auch den einzelnen Beiträgen des Bandes zu
entnehmen, dass sich die Dilemmata und Probleme der
ethnologischen Institutionen seit ihrer Gründung im aus-
gehenden 19. Jahrhundert ständig wiederholen: Auf der
einen Seite steht seit jeher der Wunsch, unabhängig und
ungestört Wissenschaft zu betreiben, auf der anderen Sei-
te steht die (geldgebende) Öffentlichkeit mit ihren Er-
wartungen und Marktgesetzen. Der doch sehr unter-
schiedliche Umgang der einzelnen Institutionen gerade
mit diesen Außenfaktoren sollte nach Kraus stärker mit
ethnologischen Konzepten und Methoden untersucht
werden - erste spannende Ergebnisse zu Forschungsmit-
tel- und Sammlungserwerb führt er an.
Insgesamt lässt sich in dem Buch sehr anschaulich verfol-
gen, wie die einzelnen Museen angesichts der teilweise
konträren Erwartungen von Seiten der Fachwelt und der
Öffentlichkeit um ein neues Profil ringen. Alle Beiträge
der Ethnologen an Museen sind deutlich gekennzeichnet
von einer Suche nach innovativen Konzepten und Präsen-
tationsformen, manchmal auch von Rechtfertigungsstra-
tegien für eine vom Zeitgeist geforderte Publikumsöff-
nung und Marktanpassung. Das Bemühen um eine
relevantere Positionierung ethnologischer Themen und
Museen in der Öffentlichkeit darf sich jedoch nicht in ei-
ner Erhöhung museumspädagogischer Aktivitäten und
didaktischer Überlegungen erschöpfen - so notwendig sie
sind -, sondern sollte sich vermehrt auch um inhaltliche
und sammlungsimmanente Fragen drehen. Hier könnte
ein „Brückenkontakt“ zu der Universität wichtige Impul-
se geben, wenn etwa Forschungsarbeiten und Ausstellun-
gen über ethnografische Sammlungen oder „Ding“-Kul-
tur in gleichberechtigter Kooperation beider Institutionen
entstünden. Auf ein weiteres Symposium kann man je-
denfalls gespannt sein.
Charlotte Brinkmann
209
TRIBUS 53,2004
Müller-Beck, Hansjürgen / Conrad, Ni-
cholas J. / Schüle, Wolfgang (Hrsg.):
Eiszeitkunst im Süddeutsch-Schweizerischen
Jura - Anfänge der Kunst. Mit Beiträgen von
Claus-Stephan Holdermann und Ulrich Simon,
weiterhin von Harald Floss, Martin Porr, Jür-
gen Waiblinger sowie der Herausgeber. Stutt-
gart: Konrad Theiss, 2001.142 Seiten, zahlreiche
Farbtafeln, SW-Fotos, Zeichnungen, Karten.
ISBN 3-8062-1674-6
Wer meint, dass zum Thema „Eiszeitkunst“ bereits alles
gesagt ist, irrt. Und es sind nicht nur die in Wort und Bild
publizierten Neufunde, die den Wert der vorliegenden
Veröffentlichung ausmachen. „Was zusammen gehört...“
- dieser bekannte Satz aus der jüngsten deutschen Ge-
schichte hat zeitlose Gültigkeit. So muss offensichtlich der
sehr früh vom europäischen Homo sapiens sapiens besie-
delte Raum des Süddeutsch-Schweizerischen Jura vom
Mittelland unseres südwestlichen Nachbarstaates bis zum
Ingolstädter Becken sowohl aufgrund seiner geo- und
ökologischen Struktur als auch im Hinblick auf die älteste
Kunst der Welt als Einheit gesehen werden. Dies hatte ja
auch bereits Gerhard Bosinski im Titel eines seiner Bü-
cher entsprechend ausgedrückt (Bosinski 1982). Älteste
Kunst? Tatsächlich stammt die älteste Kunst der Welt
nach den derzeit gültigen und mehrmals überprüften Da-
tierungen aus der genannten Region, allerdings mit der
kleinen Einschränkung, dass die Anfänge von „Kunst“
bereits im Mousterien zu verzeichnen sind. Den Heraus-
gebern, dem (in Deutschland) zuständigen Alb-Donau-
Landkreis und dem Urgeschichtlichen Museum Blaubeu-
ren gebühren Dank, dass sie die erwähnte kulturelle Ein-
heit zur Grundlage einer gleichnamigen Ausstellung so-
wie des vorliegenden Begleitbuches gemacht haben, die
beide auf einer früheren Ausstellung mit verwandter The-
matik fußen.
Das Buch ist in zwölf Kapitel oder Abschnitte (ohne diese
Nummerierung) unterteilt und enthält sechzehn Abhand-
lungen. Einige Autoren haben mehrere Beiträge geliefert.
Die beiden letzten dieser Abschnitte sind einer Auflistung
der Fundorte im zugrunde liegenden Raum gewidmet so-
wie den Fundstücken mit Anführung der jeweiligen Mu-
seen (einschließlich Inventar-Nummern), in denen sie
heute aufbewahrt werden. Claus-Stephan Holdermann,
Hansjürgen Müller-Beck und Ulrich Simon geben zu-
nächst einen Überblick über die „Eiszeitkunst im Süd-
deutsch-Schweizerischen Jura“ (erstes Kapitel). Sinnvoll
und grafisch ansprechend wird auf die jeweiligen Abbil-
dungen sowie die Beschreibung der Fundstücke entweder
mit kleinen (halbfett gedruckten) Zahlen oder Katalog-
Nummern am Rand des fortlaufenden Textes hingewie-
sen. Im zweiten Kapitel schreibt Jürgen Waiblinger über
die „Datierung und Umwelt des Jungpaläolithikums“.
Anschließend erläutert Müller-Beck „Die Rolle des Zu-
falls“ im Kapitel „Was war und was bleibt?“. Der zweite
Beitrag dieses Abschnitts über „Verlorene Kunst“ stammt
aus der Feder von Holdermann. Beiden Artikeln ist der
Tenor gemeinsam, dass die Kultur der jungpaläolithischen
Jäger und Sammler um ein Vielfaches reicher gewesen
sein muss als das, was uns die wenigen Relikte aus Ausgra-
bungen wahrnehmen lassen - Ausführungen, die beson-
ders wertvoll sind und nicht oft genug betont werden kön-
nen. Zu den von Holdermann angeführten „völkerkundli-
chen Vergleichen“ bezüglich der Verwendung roter Farbe
im indigenen Nordamerika ist zu sagen, dass die „Nut-
zung roter Pigmente“ (33, linke Spalte), das heißt Ocker
mit großem Gehalt an Eisenoxyden (Hematit), bei den
nordamerikanischen Autochthonen , insbesondere im Os-
ten, sehr weit verbreitet war, so dass der Hinweis auf ein-
zelne Ethnien ein schiefes Bild vermittelt. Selbst in der
Karibik war der Gebrauch von rotem Ocker bis zur Kon-
quista gang und gäbe. Mit „Stammesidentität“ hat die Be-
malung nur in Verbindung mit den jeweiligen Gruppen-
sowie Individualsymbolen und -Zeichen zu tun. Im Übri-
gen war der eigentliche Grund für das „Bemalen“ meist
der Schutz vor der Insektenplage in wasserreichen Regio-
nen. Die Verwendung von eisenhaltigem und damit rotem
Ocker bei Begräbnissen war so weltweit verbreitet, dass
der Hinweis auf eine nordamerikanische Ethnie ziemlich
deplatziert wirkt, ln Australien wurde der rote Ocker, we-
niger der gelbe, auch als Medizin eingesetzt (Velo 1984),
sicherlich auch in anderen Regionen mit autochthoner
Bevölkerung.
Die Frage „Was ist Eiszeitkunst?“ (viertes Kapitel) wird
von Müller-Beck, Holdermann und Simon dahingehend
beantwortet, dass es Kunst, wie wir sie heute verstehen, erst
seit der Renaissance gibt, dass wir uns heute jedoch der
Kunst des Eiszeitalters (nur auf Europa bezogen) über den
von Leonardo da Vinci geprägten Kunstbegriff der „Wahr-
nehmung und Darstellung“ nähern können. Dieser gilt
denn auch für den „Ursprung der Kunst“, dem die drei so-
eben genannten Autoren im fünften Abschnitt nachgehen.
Es folgen nun die Kapitel, in denen die jeweiligen Ausprä-
gungen von Kunst vorgestellt werden, zunächst im sechsten
Kapitel die „Plastiken“, wobei sich Müller-Beck mit denen
des Aurignacien, Holdermann mit denen aus dem Gravet-
tien und Simon mit denen des Magdalénien befasst (zu der
mit einem Fragezeichen versehenen Legende zum „Nas-
horn“ aus dem Vogelherd [Tafel 7]: für mich ist diese Skulp-
tur schon seit langem sehr eindeutig ein Bär, wobei ich be-
scheiden auf meine Kenntnisse in diesem Bereich verweisen
darf). Im Anschluss werden die „Gravierungen und gra-
vierten Marken“ vorgestellt, ebenfalls zeitlich gegliedert
und von den Autoren wie im vorangegangenen Kapitel zu-
sammengestellt (zur Legende auf Tafel 13 ist das Lesen der
Beschreibung „Kat 11“ anzuraten, denn tatsächlich handelt
es sich nicht um einen Löwen, bestenfalls - wenn Fehde -
um einen Leoparden; vorzuziehen ist allerdings - worauf ja
schon oft hingewiesen wurde, besonders vehement von
Karl-Dietrich Adam - nach wie vor die Darstellung eines
Nashorns, was unter anderem bereits die Ohren anzeigen;
der Vergleich zwischen den erwähnten Tieren ist sogar in
dem vorliegenden Buch leicht zu finden ... nur Umschlägen
zu „Kat 12“!). Im folgenden Kapitel widmen sich Harald
Floss und Nicholas J. Conard der „Malerei in der Eiszeit-
kunst des Süddeutsch-Schweizerischen Jura“, wobei hier
wohl wieder ein Fragezeichen angebracht wäre, zumal die
Verfasser gleich zu Anfang eine eiszeitliche Malerei in Süd-
westdeutschland, die nur auf den so genannten Schwarzen
Stein zurückgeführt wird, aufgrund zahlreicher Untersu-
chungen ablehnen (77 f). Selbst wenn es, wie mehrere posi-
tive Analysen ergaben, einige Fundstücke mit Resten von
Buchbesprechungen Allgemein
Farbe gibt, so kann doch wohl objektiv nicht von einer
„Malerei“ (im Aurignacien) oder gar von „Wandkunst ...
wie sie in Frankreich belegt ist“ (78) gesprochen werden.
Da lachen ja die Flühner. Für das Gravettien gibt es über-
haupt keine Belege für eine wie auch immer geartete Ma-
lerei. und selbst für das Magdalénien sind die Fundstücke
so rudimentär, dass wir von einer Malerei (!) weit entfernt
sind. Damit soll gar nicht ausgeschlossen werden, dass
Farbmittel in gewissen jungpaläolithischen Perioden
verwendet wurden, sicherlich für Körperbemalung und
-schütz, sicherlich zur Verzierung und/oder Konservierung
von Kleidung, sicherlich für Spielsteine o.ä. oder nur, um
Farbmittel auszuprobieren. Was bleibt, ist die Hoffnung ...
sie stirbt bekannterweise zuletzt: vielleicht kommt ja der
große Durchbruch bei den (angekündigten) zukünftigen
Ausgrabungen (87). Aber nach 150 Jahren archäologischen
Arbeitens in Südwestdeutschland müsste Malerei aus dem
Jungpaläolithikum in einer Art Wandkunst längst Realität
sein - wenn etwas dran wäre.
Im neunten Abschnitt beschreibt Holdermann „Musik
und Tanz“ im Jungpaläolithikum, deren Erforschung al-
lerdings schnell an ihre Grenzen stößt. Martin Porr wen-
det sich im nächsten Kapitel einem in der Urgeschichts-
forschung offensichtlich immer erneut faszinierenden
Thema zu - „Schamanismus im Aurignacien“. Vorsichts-
halber versah der Verfasser seinen Beitrag mit dem Un-
tertitel „Eine Annäherung“. Ich habe bereits mehrmals
Schamanismus als Erklärung des zweifellos spirituellen
Hintergrundes eiszeitlicher Kunst ausgeschlossen, sofern
mit dem Begriff „Schamanismus“ derjenige gemeint ist,
wie er in der Ethnologie verwendet wird. Abgesehen von
einer eigenwilligen Terminologie hat der Autor einen rea-
len Ansatz gefunden (96, linke Spalte). Doch der Schritt
vom Animalismus zum Schamanismus ist kein kurzer.
Auch wenn es Schattierungen innerhalb des Schamanis-
mus gibt, je nach Region und Ethnie, so gelten doch die
Grundzüge dieser religiösen Erscheinung weltweit. Die
„schamanistischen Elemente“ (96, rechte Spalte) lassen
sich nicht „bei verschiedenen Gesellschaften unterschied-
lich mischen“ (ebenda). Auch stimmt es nicht, dass die
(schamanistische) „Auffassung vom Universum ... in
Übereinstimmung mit der jägerischen und sammlerischen
Lebensweise“ (dortselbst) steht, denn Schamanismus ist
eine relativ junge Erscheinung und geht eher mit Noma-
dismus (ihn verwechselt der Autor mit schweifender Le-
bensweise) und frühem Hackbau einher. Weiterhin war es
keineswegs so, dass sich Ethnologen „am Beginn dieses
Jahrhunderts (gemeint ist das vorige) ... weder näher und
systematisch mit der völkerkundlichen Realität und Kom-
plexität dieser Phänomene noch mit ihren materiellen
Ausprägungen ... beschäftigt“ (96 f) haben. Zweifel sind
allerdings angebracht, ob die nachfolgend vorgelegten
Beispiele von Schamanenhandlungen mit den (heutigen)
„differenzierten Vorstellungen“ aus der zeitgenössischen
Ethno- und Archäologie (97) übereinstimmen. Sicherlich
kommt es auch innerhalb der letztgenannten Wissen-
schaften immer wieder zu Gemeinplätzen ... Ich erspare
es dem Leser, deutlicher zu werden. Was in dem Beitrag
noch in etwa zu unterstreichen ist, wäre die Anmerkung,
„daß die schamanistische Hypothese keineswegs jede ein-
zelne Darstellung erklären kann und soll. Letztlich ist die-
se Interpretation auch nur ein neuer Ausgangspunkt für
weitere Untersuchungen und keine Erklärung für sich“
(99, linke Spalte). Fazit: Der in der Ethnologie exakt vor-
gegebene Terminus „Schamanismus“ ist keine Grundlage,
um den Hintergrund des Phänomens „Eiszeitkunst“ aus-
zuleuchten. Mit dem Beitrag von Porr endet der Arti-
kelteil. Es folgen die bereits erwähnten Abschnitte mit
der Beschreibung der Fundorte und -stücke. Mit einem
Literaturverzeichnis, einer Danksagung und einem Bild-
nachweis endet die Publikation.
Das Buch ist eine gelungene Ergänzung der bisherigen
Literatur zum Thema und im Hinblick auf die Neufunde
eine publizistische Notwendigkeit. Wie bei Theiss ge-
wohnt, ist die Ausstattung mit Bildmaterial, insbesondere
mit großzügigen Farbtafeln, sehr beeindruckend.
Literatur
Bosinski, Gerhard
1982 Die Kunst der Eiszeit in Deutschland und der
Schweiz. Bonn.
Velo, Joseph
1984 Ochre as Medicine: A Suggestion for the Inter-
pretation of the Archaeological Record. In:
Current Anthropology Vol. 25, No. 5. Chicago.
Axel Schulze-Thulin
Peschlow-Bindokat, Anneliese;
Frühe Menschenbilder - Die prähistorischen
Felsmalereien des Latmos-Gebirges (West-
türkei). Vorwort von Harald Hauptmann, mit
einem Beitrag von Christoph Gerber. Fotos
der Autorin, Kopien der Felsbilder von Murat
Gülyaz. Mainz: Philipp von Zabern, 2003. 108
Seiten, 121 Farbfots, 58 Zeichnungen (mit Ko-
pien, Abrollungen), 2 Karten.
ISBN 3-8053-3001-4
ISBN 3-8053-3136-3 (Museumsausgabe)
Kennen Sie Milet? Na klar, das war doch ... Richtig, die
berühmte Niederlassung der alten Griechen an der Küste
des östlichen Ägäischen Meeres im Südwesten der heuti-
gen Türkei. Östlich von Milet liegt das Latmos-Gebirge
(östlich des großen Bafa-Sees, der noch vor zwei Jahrtau-
senden eine Meeresbucht war). Die Bergkette, höchste
Erhebung 1400 m, spielte einst eine Rolle in der antiken
Götterwelt (namentlich Zeus), doch reichen die Wurzeln
der mit den Bergen verbundenen Mythen und Legenden
viel weiter in die Vergangenheit zurück. Diese Erkenntnis
ist allerdings nicht alt. Während sich das wissenschaftliche
Interesse fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch auf
hellenistische Hinterlassenschaften in der Region kon-
zentrierte, wurde ab 1991 auch gezielt nach präantiken
Spuren gesucht, „was 1994 zur Entdeckung des ersten
prähistorischen Felsbildes führte. Mittlerweile sind 125
Beispiele bekannt“ (18).
Aufgrund im Buch ausgewiesener Ausstellungsdaten für
das Jahr 2003 (auf der Rückseite der Titelei) ist davon
211
___________TRIBUS 53,2004
auszugehen, dass es sich bei der Publikation um ein „Be-
gleitbuch zur Ausstellung“, wie es seit etlichen Jahren et-
was umständlich heißt, handeln muss. Allerdings ist nir-
gends der Name des federführenden Museums erwähnt.
Wenn dieses mit dem erstgenannten Ausstellungsort iden-
tisch ist, dann handelt es sich um das Türkische Haus in
Berlin.
Nach einem Vorwort von Harald Hauptmann, weiterhin
einer Einführung, in der das griechische Erbe auf und um
den Latmos geschildert wird, und einem kurzen Abriss
der Forschungsgeschichte der Region wendet sich die Au-
torin den Felsbildern und damit dem Hauptteil des Bu-
ches zu. Dieser ist in dreizehn Abschnitte unterschiedli-
cher Länge gegliedert. Erst auf der letzten Seite (75)
dieser zentralen Passagen kommt sie auf die wichtige Fra-
ge der Datierung und zeitlichen Einordnung zu sprechen,
um dann gleich allen Spekulationen den Wind aus den Se-
geln zu nehmen: „Eine genaue Datierung der Felsbilder
ist bislang nicht möglich“ (ebenda). Möglich ist lediglich
eine thematische und stilistische Eingrenzung der Entste-
hung der Malereien unter Einbeziehung von Begleitfun-
den. Wir befinden uns außerhalb der Epoche der Jäger/
Sammler. Mit der Sesshaftwerdung und der Bedeutung
der Landwirtschaft (wohl vornehmlich Feldbau) als
Hauptlieferant der Nahrungsmittel ist wie so oft die Frau
in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen und rituellen
Lebens gerückt. So sind es vornehmlich Frauendarstel-
lungen, meist im Gruppenzusammenhang, die auf den
Felsbildern wiedergegeben sind. Eine Vielzahl der bisher
entdeckten Malereien weist auf „Parallelen in der chalko-
lithischen Keramik“ hin (70). Fürs Erste kann damit fest-
gehalten werden, dass wir uns hauptsächlich innerhalb
der Stein-Kupferzeit - und zwar der frühen bis mittleren
- befinden, was für dieses Gebiet das sechste Jahrtausend
v. Chr. bedeutet. Ob es allerdings berechtigt ist, von nur
zwei Steinwerkzeugen eines größeren Ensembles „mögli-
cherweise bis ins Epipaläolithikum“ (dortselbst) zurück-
zugehen, ist zumindest zweifelhaft. So viel also zur Zeit-
stellung der Latmos-Felsbilder.
Es sollen nun die der Datierungsfrage vorangehenden
Abschnitte des Hauptteils aufgezählt werden: Zur Ver-
breitung der Felsbilder (hauptsächlich im westlichen und
östlichen Vorgelände des Latmos-Gebirges) und ihren
Fundstellen (überirdisch, frei zugänglich, nur vier Bilder
befinden sich innerhalb von Höhlen, alle wahrscheinlich
Teile von Naturheiliglümern) wird mit Texten auf den Sei-
ten 19, 20 und 22 (Bildteil 20 bis 24) Stellung genommen.
Auf den Seiten 24,26 und 29 f. folgen Hinweise, dass sich
die Felsbilder fast ausschließlich in der Nähe von Wasser-
stellen in Form von Bächen und Quellen befinden, was
eigentlich die Vermutung eines Wasserkultes nahe legt.
Allerdings geht die Verfasserin hierauf nicht näher ein,
sondern belässt es bei dem Satz „haben die Menschen ...
die Fundstellen der Felsbilder nur zu bestimmten, ver-
mutlich kultischen Anlässen aufgesucht“ (29). Die den
Text ergänzenden Abbildungen befinden sich hier auf den
Seiten 24 bis 30. Über den Erhaltungszustand der Male-
reien (30) erfährt der Leser, dass nur ein Viertel aller Bil-
derstellen noch so zu sehen ist, dass „die Darstellung ver-
ständlich“ wird (ebendort). Die Bildergrößen (31 f)
schwanken zwischen Kleinformaten von 17,5 cm Höhe bis
zu mehrfigurigen Ausführungen von beispielsweise 280
cm Breite mal 130 cm Höhe sowie vollständig bemalten
Höhlenwänden. Im Abschnitt „Farben“ (33, 38 f. dazwi-
schen Abbildungen) wird darauf verwiesen, dass nahezu
ausschließlich rote Farbe verwendet wurde (nur ein Mal
kommt neben Rot auch Gelb vor). Der Farbstoff besteht
aus örtlichem Hämatit (im Buch Hämathit, 33). In dem
Abschnitt „Thema und Ikonographie“ (39, 43 f, 46, 48 f)
wird darauf hingewiesen, dass das Hauptinteresse der lat-
mischen Felsbildkünstler der Darstellung von Menschen
galt, wie ja bereits beim eingangs erwähnten Hinweis auf
die zahlreichen weiblichen Figuren zu vermuten war.
„Daneben kommen verschiedene Ornamente, Zeichen
und Symbole sowie Hände und Füße vor“ (39). Illustrati-
onen hierzu gibt es auf den Seiten 40 bis 49. Zum „Stil“
(49 bis 51) sagt die Autorin, dass unter den beiden Haupt-
richtungen „naturalistisch“ und „schematisch“ haupt-
sächlich letzterer vertreten sei, und zwar „die abstrakt
geometrische Darstellungsweise“ (49). Allerdings ist eine
besonders eindrucksvolle Felsmalerei dem naturalisti-
schen Stil zuzurechnen, nämlich das Göktepe-Bild (51),
dessen Bildträger zusammen mit anderen Felsen einen
kleinen Hofbezirk umschließt und damit „den Eindruck
eines Naturheiligtums erweckt“ (dortselbst). Eindrucks-
volle Farbfotos von diesen Bildwerken befinden sich auf
den Seiten 50 bis 57. Ähnlich wie das Göktepe-“Naturhei-
ligtum“ sieht das Umfeld des Karadere-Felsbildes aus (58
bis 65). Hierbei handelt es sich um dreizehn unterschied-
lich große, vorwiegend männliche Gestalten mit meist an-
gewinkelten Armen und antennenartigem Kopfschmuck
(61 f). Die beigefügten Abbildungen (58 bis 64) unter-
streichen anschaulich die im Text geschilderte magische
Wirkung der Gruppe. Es folgen noch Passagen zu den auf
latmischen Felsbildern sehr selten dargestellten Tieren,
wahrscheinlich Hunde und ein Rind (66 bis 70 einschließ-
lich Bildern), sowie nähere Angaben über die gemalten
Ornamente, Zeichen und Symbole (72 bis 74) wie die
schon erwähnten Hand- und Fußdarstellungen, unter-
schiedlich geformte Linien, Punktreihen, Kreise und Git-
ter, um nur einige zu nennen. Mit dem zu Anfang genann-
ten Abschnitt zur Zeitstellung endet der Hauptteil des
Buches.
Christoph Gerbers Artikel über „die prähistorischen Fun-
de des Latmos“ schließt sich an. Diese umfassen Beilklin-
genteile und weitere Bruchstücke sowie Werksteine aus
Metabauxit, Klingenfragmente und Bohrer, Kratzer so-
wie Geschossspitzen aus Obsidian, des Weiteren Einzel-
stücke aus Basalt. In zwei Karsthöhlen wurde außerdem
Keramik in größerer Menge gefunden, unter der ein
Scherben mit Innenbemalung besonders auffällt. Auf den
Seilen 85 bis 105 folgt ein Katalog der Felsbilder mit wie-
derum zahlreichen Farbfotos und Zeichnungen sowie
eine Auflistung der „prähistorischen“ Funde. Mit einem
Anhang (Bildnachweis und eine ausgewählte Bibliogra-
phie) endet der Band.
Neben der bereits mehrmals gelobten Ausstattung mit
Bildmaterial verdient das Buch über den Kreis der Spezi-
alisten hinaus deshalb Beachtung, weil es die umfangrei-
che Literatur zur weltweiten Felsbildforschung in aus-
führlicher Weise ergänzt und auf eine Region aufmerksam
macht, die in den kommenden Jahren sicherlich noch mit
mancher Überraschung aufwarten wird.
Axel Schulze-Thulin
212
Buchbesprechungen Allgemein
Stoczkowski, Wiktor:
Explaining Human Origins - Myth, Imagina-
tion and Conjecture. Cambridge: Cambridge
University Press, 2002.234 Seiten.
ISBN 0-521-65790
Dieses Buch ist nicht gerade eine Abrechnung mit den
wissenschaftlichen Vermutungen, Erklärungen, Hypothe-
sen und Theorien zur Evolution und Lebensweise (nicht
nur zum Ursprung, wie der Titel vermuten lässt) des urge-
schichtlichen Menschen - dafür fehlt die Festlegung auf
eine realistische Basis -, aber es ist eine über Strecken in-
teressante Zusammenstellung der Irrungen und Wirrun-
gen in der Urgeschichtsforschung über mehr als zwei
Jahrtausende. Der Autor hält nicht viel von Wissenschaft-
lern, die Fakten zum ökologischen und gesellschaftlichen
Umfeld der ersten Menschen sammeln und so zu ihnen
angeblich genehmen Theorien, Paradigmen und Ideologi-
en gelangen. Für ihn ist die Fantasie „die wahre Quelle
wissenschaftlicher Theorien“ (1), jedoch nicht ohne Bin-
dung an vorgegebene Konzeptionen. Dabei weist er dar-
auf hin, dass er das von ihm so genannte „anthropologi-
sche Denken“ nicht herabsetzen will. Er möchte es
vielmehr verständlich machen und seine Mechanismen
erklären. Für Stoczkowski ist das methodische Anzwei-
feln (von Behauptungen) das tatsächlich wesentliche wis-
senschaftliche Denken. Das ist eigentlich recht banal, und
vielleicht macht er sich deshalb selbst über seine Gedan-
ken etwas lustig, wenn er Giovanni Giacomo Casanova
mit einem Satz über seinen ersten Lehrer zitiert: „Er
meinte, dass nichts unbequemer sei als die Ungewissheit,
und deshalb verachtete er das Nachdenken, denn es er-
zeuge Zweifel“ (2).
Die Publikation ist in fünf Kapitel mit anschließender Bi-
bliografie und einem Sach-/Personen-Register unterglie-
dert. Nach einer kurzen Einführung folgt als erstes Kapi-
tel die „Prähistorie und die (mit ihr) verbundene Fantasie“,
wobei hier mit Fantasie unbewiesene bzw. übernommene
Behauptungen gemeint ist. Er beschreibt, angefangen mit
Christoph Kolumbus und der „Neuen Welt“, die ja in
keinster Weise neu war, die Vorstellungen über „Wilde“
in der Antike bis zu den wissenschaftlichen Überlegungen
zu Anfang des 20. Jahrhunderts über das Leben in der frü-
hen Menschheitsgeschichte, die Voreingenommenheit
derjenigen, die über die Ursprünge des Menschen und die
täglichen Abläufe in urgeschichtlichen Gemeinschaften
schrieben, sowie die verschiedenen ideologisch gefärbten
Erklärungen zum Ablauf der Evolution, die fast schon ans
Mythische grenzen. Dabei werden zahlreiche Autoren aus
zweitausend Jahren angeführt. Alles ist recht kurzweilig
geschrieben und mit Aha-Effekten versehen, aber im
Grunde ziemlich ausschweifend und ermüdend. Jeder, der
sich mit der Materie eingehend beschäftigt hat, weiß
schließlich, dass die hier angesprochenen Wissenschaften,
wie auch jede andere, anfangs oft auf irrtümlichen Annah-
men beruhten, dass die jeweils angewandten Methoden in
der Vergangenheit in der Regel unzureichend waren und
dass sich die zutreffende Realität aus vorangegangenen
falschen Voraussetzungen nur allmählich herausschält.
Dem ersten Kapitel entsprechend geht es im zweiten
„Anthropogenese und Wissenschaft“ weiter. Vornehmlich
auf dem Gebiet der Anthropologie und Biologie wird hier
in alle Richtungen zitiert, was auch teilweise wiederum
recht amüsant zu lesen ist, aber im Grunde genommen
inhaltlich nichts Neues bringt, es sei denn, wir sähen im
Zusammentragen einer Fülle anthropologischer, ethnolo-
gischer und historischer Ergebnisse, die sicherlich immer
wieder auch mit Voreingenommenheiten vermischt wa-
ren, eine gelungene Zusammenfassung der Art, wie sich
jede Wissenschaft ihren Weg suchen muss. Im dritten Ka-
pitel sucht Stoczkowski nach den Ursachen vorgefasster
Meinungen, wie der vorausgesetzten geschlechtlichen Ar-
beitsteilung in einer auf Jagd gründenden Wirtschaft. Dies
ist nur eines der zahlreichen Beispiele für die Fragen des
Autors, die jedoch vor ihm viele Male im Laufe der Urge-
schichtsforschung gestellt wurden und auch ihre Antwor-
ten gefunden haben. Unverständlicherweise stellt er diese
Antworten in Frage, wobei er wiederum - im Hinblick auf
das damalige Weltbild leicht zu durchschauen - bei der
Antike anfängt. Sicherlich können auch heute noch einige
Resultate, die in der Vergangenheit gefunden wurden, an-
gezweifelt werden, mit schlagkräftigen Argumenten, die
vorliegende Ergebnisse entkräften. Doch dies hätte eines
Einschränkens des Stoffes bedurft, eines Herauskristalli-
sierens tatsächlicher „Fälle“. Allein wahllos immer mehr
Beispiele für inzwischen historische Fehlurteile und unlo-
gische Umkehrschlüsse vorzulegen, ohne den jeweiligen
Zeitgeist (gegen dessen Berücksichtigung sich der Autor
unbegreiflicherweise auch stellt) zu berücksichtigen, ist
viel zu kurz gegriffen. Die ständig wiederholte Polemik
gegenüber leicht zu erklärenden Abläufen bei der Er-
kenntnissuche in der Vergangenheit ist nicht nur eintönig,
sondern wird allmählich ärgerlich.
Im vierten Kapitel über Mechanismen in der Evolution
sowie im fünften mit dem Titel „Ein doppeltes Spiel“ geht
es im bisherigen Tenor weiter. Sicherlich kann und muss
vieles an Forschungsergebnissen auf allen Gebieten im-
mer wieder hinterfragt werden, dies macht ja Wissenschaft
aus, doch genügt es nicht, lediglich bloß stellen zu wollen,
es müssen auch neue Antworten gegeben werden. Dabei
genügt es nicht, auf die „empirische Realität“ zu verwei-
sen, abgesehen davon, dass es selbstverständlich ist, Hy-
pothesen auf dem Wege zur Theorie faktisch auf Herz und
Nieren zu überprüfen.
Das Buch ist über Strecken anregend zu lesen und even-
tuell anhand des Index gelegentlich als Nachschlagewerk
zu benutzen, doch Antworten, wie Forschung denn nun
effektiver als bisher betrieben werden sollte, gibt es
nicht.
Axel Schulze-Thulin
213
TRIBUS 53,2004
Szmidt, Carolyn:
The Mousterian in Mediterranean France - A
regional, integrative and comparative perspec-
tive. BAR International Series 1147. Oxford,
England; British Archaeological Reports, 2003.
305 Seiten, zahlreiche Tabellen, Grafiken,
Zeichnungen, Karten.
ISBN 1 84171 335 X
Carolyn Szmidt hat ein überaus interessantes Thema ge-
wählt, das - gezielt vorgetragen - für den Bereich des
franko-mediterranen Mousterien bisher sicherlich ein
Desiderat in der englischsprachigen Literatur darstellte.
Wie bereits ein Blick auf das aufgeschlüsselte Inhaltsver-
zeichnis und die umfangreiche, ungegliederte Bibliografie
verrät, hat die Autorin ihre Arbeit sehr breit angelegt und
unter Verwendung zahlreicher, bereits vorliegender ar-
chäologischer Erkenntnisse die fragliche Zeitspanne und
Region nach vielerlei Richtungen beleuchtet. So ist ein
großformatiger, mit vielen Abbildungen versehener, ge-
wichtiger Band entstanden, dessen Durcharbeiten einiges
an Geduld erfordert, um zu den Kernaussagen zu gelan-
gen. In der vorliegenden Rezension ist versucht worden,
dieses Zentrum zu ermitteln und herauszustellen.
Ziel von Szmidt war nach eigenen Worten, Verhaltens-
muster und Variabilitätsformen der Neandertaler im me-
diterranen Frankreich aufzuspüren und dabei sowohl
Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zum Mousterien in
Südwestfrankreich und weiteren Regionen zu entdecken.
Zu diesem Zweck wurden die entsprechenden Schichten
in insgesamt 79 Stationen mit einem Alter zwischen 35.000
und 118.000 Jahren untersucht, wobei sie sich insbesonde-
re auf lithische Typen, deren Herstellungstechniken sowie
Faunenreste konzentrierte. Die meisten herangezogenen
Fundstätten liegen in einem Gebiet entlang der Rhone,
wobei festzuhalten ist, dass der Fluss selbst eine Grenze
zwischen einer östlichen und einer westlichen Region un-
terschiedlicher neandertaloider Verhaltensmuster bildet.
Pferd und Rotwild waren die hauptsächlichen Jagdtiere in
beiden Gebieten. Von besonderem Interesse ist die Fest-
stellung, dass im späten Mousterien dieses Raums keine
Zunahme von Klingen und weiteren Geräten, die dem
Jungpaläolithikum zugeschrieben werden, über das beste-
hende Vorkommen hinaus zu verzeichnen ist. Etliche Un-
terschiede im Gerätebestand zwischen dem Südwesten
und dem mediterranen Gebiet Frankreichs wurden er-
kannt. was zu der Einsicht von Szmidt führt, dass sich die
Kulturverhältnisse der erstgenannten Region trotz eini-
ger Ähnlichkeiten in der Abfolge bestimmter Steinbear-
beitungstechniken nicht in den letztgenannten Raum aus-
gedehnt haben dürften.
Um zu diesem Ergebnis zu kommen, waren umfangreiche
Untersuchungen erforderlich. Sie sowie die jeweils ange-
wandten Methoden und das aus den diversen Arbeitsgän-
gen resultierende Fazit werden in der vorliegenden Publi-
kation in insgesamt zehn gut gegliederten Kapiteln
vorgelegt. Nach einer Einführung (gleichzeitig das erste
Kapitel), in dem unter anderem der Forschungsansatz
und das wissenschaftliche Vorgehen, die Informations-
quellen, die Umwelt im mediterranen Frankreich wäh-
rend des Mousterien im Vergleich zu derjenigen in Süd-
westfrankreich vorgestellt werden, wird der Variabilität
im Gerätebestand während der zugrunde liegenden Zeit-
spanne nachgegangen. Im dritten Kapitel stellt Szmidt das
Mousterien des mediterranen Frankreich mit seinen Cha-
rakteristika in Technik und Typenvielfalt im Allgemeinen
vor, worauf sie im vierten Abschnitt die einzelnen Berei-
che intensiver erläutert. Das fünfte Kapitel hat Modelle
lithischer Variabilität in besagter Mittelmeerregion aufge-
nommen. Darauf folgt in den nächsten beiden Hauptab-
schnitten eine Darlegung der vorgenommenen Untersu-
chungen zur Fauna, wozu im achten Kapitel ein Vergleich
der Variabilitäten im Hinblick auf letztere und den Stein-
gerätebestand erfolgt. Der neunte Abschnitt enthält ver-
schiedene Modelle zur Chronologie des Mousterien unter
Hinzuziehung mehrerer entsprechender Stationen. Mit
einer Schlussbetrachtung wird der Forschungsbericht be-
endet. Etliche Tabellen sowie das erwähnte Literaturver-
zeichnis beschließen das Buch.
Carolyn Szmidt hat unter Berücksichtigung zahlreicher
Gesichtspunkte mit ihrer Arbeit ein ausgefeiltes, fasset-
tenreiches Grundlagenwerk geschaffen. Da das Mittelpa-
läolithikum auch in Zukunft zahlreiche Fragen aufwerfen
wird, ist der vorgelegten Publikation - nicht zuletzt im
Zuge einer Europäisierung archäologischer und prähisto-
rischer Forschung - ein besonderer Stellenwert beizumes-
sen. Für Universitätsinstitute und „Mittelpaläolithiker“
ist die Anschaffung dieses Buches ein unausweichliches
Muss.
Axel Schulze-Thulin
Weniger, Gerd-Christian:
Projekt Menschwerdung - Streifzüge durch die
Entwicklungsgeschichte des Menschen. Mit
Beiträgen von Martin Meister sowie Thomas
Schall. Heidelberg / Berlin: Spektrum Akade-
mischer Verlag, 2001. 168 Seiten, Illustrationen
von Wolf Erlbruch.
ISBN 3-8274-1108-4
Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die Logik im Aufbau
des Inhaltsverzeichnisses zu durchschauen, konnte ich
doch letztlich durchatmen und meine Zweifel zerstreuen,
ob ich nicht selbst noch - mehr als mir lieb wäre - im Pon-
gidenhaften verwurzelt bin. Die fünf Hauptkapitel (ohne
diese Nummerierung) werden nämlich durch grau unter-
legte Einschübe anthropologischen und ethnologischen
Inhalts der beiden in derTilelei erwähnten Koautoren un-
terbrochen, und zwar mit Namensnennung in der Inhalts-
angabe. Darüber hinaus gibt es aber auch Einschübe vom
Verfasser, die nicht namentlich gekennzeichnet wurden.
Der Stein, der mich zu Lesebeginn stolpern ließ, liegt da-
rin, dass die erwähnten Kapitel selbst noch einmal in Un-
terabschnitte aufgeteilt wurden, deren Titel nun allerdings
nicht im Inhaltsverzeichnis erscheinen. Der- oder diejeni-
ge, der/die nach Lesen dieser Rezension mit dieser - zuge-
gebenermaßen etwas kompliziert klingenden - Erklärung
nach dem Buch greift, wird es gerne tun, denn die Publi-
kation selbst gewinnt im Verlauf im Schreibstil und damit
214
Buchbesprechungen Allgemein
in der Verständlichkeit. Alles in allem hat Weniger ein au-
ßergewöhnlich interessantes Werk vorgelegt, das über
den Rahmen sonst üblicher Bücher verwandter Thematik
weit hinausreicht.
Zum Inhalt: Vieles lässt sich bereits aus den Überschriften
der fünf erwähnten Kapitel entnehmen. Sie sollen nach-
folgend aufgeführt und teilweise kommentiert werden.
(1) Leben und Überleben; (2) Mythos und Religion; (3)
Werkzeug und Wissen; (4) Umwelt und Ernährung; (5)
Verständigung und Verträglichkeit. Im Einzelnen; Die
Einleitung ist eine Zusammenfassung der Forschungser-
gebnisse zur Evolution des Menschen (Stand: 1990er Jah-
re). Im ersten Kapitel werden neben einigen Grundfragen
der Anthropologie insbesondere die Unterschiede zwi-
schen Menschen und afrikanischen Menschenaffen vor-
gestellt, wobei zu ergänzen wäre, dass die Gentechnik
nicht generell die Menschenaffen „noch enger an uns
Menschen heranrückte“ (18),sondern lediglich die Schim-
pansen in ihren beiden Erscheinungsformen. Die Letzte-
ren stehen dem Menschen genetisch näher als dem Goril-
la. Unter der Überschrift „Reservate des Humanen“ wird
im ersten Einschub (s. oben) die anthropologische Wis-
senschaftsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung
der Erforschung der Bipedie wiederholt und die Gemein-
samkeiten von Mensch und Schimpanse sowie die grund-
sätzlichen Unterscheidungsmerkmale beider Hominoidea
herausgestellt. Nach diesen Erläuterungen geht es in den
Passagen zur „Afrikanischen Morgenröte“ (25 ff) mit der
anthropologischen Forschungshistorie weiter. Im zweiten
Einschub „Die kleinsten Bausteine der Vergangenheit“
werden die jüngsten Ergebnisse der Molekularbiologie
und die Zusammenhänge rund um die DNA repetiert.
Hieran schließen sich ein zweiter Untertitel „Ein Vierbei-
ner richtet sich auf“ (33 ff) und ein dritter „Der Sprung
über den genetischen Zaun“ (40 ff) an, wobei besonders
der Text über die menschliche Sprache hervorzuheben ist.
Mit einem vierten Untertitel „Das Ende der biologischen
Evolution“ (47 ff) endet das erste Kapitel mit der Beto-
nung, dass der Mensch von nun an - ab dem Neolithikum
- selbst in die (gottgewollte) Evolution von Pflanzen und
Tieren eingriff, was vor allem den Kritikern der heutigen
„Genmanipulation“ ins Stammbuch geschrieben sei. Wie
oben gesagt, sind alle diese und die folgenden Untertitel
nicht im Inhaltsverzeichnis enthalten. Interessant und in
diesem Zusammenhang neu ist das Eingehen auf die
Gründe der gegenwärtigen hohen Lebenserwartung des
Menschen und Ausblicke in die Zukunft der Menschheit
insgesamt. Dabei wird auch kritisch auf mögliche Zusam-
menhänge zwischen Gentechnik und gesellschaftlichen
Umbrüchen eingegangen. Ein Blick in die Soziologie lehrt
uns allerdings - entgegen dem ziemlich pessimistischen
Ausblick dieses Kapitels -, dass die „globale Angleichung
menschlicher Kulturen“ (55) als Reaktion immer wieder
so genannte Subkulturen entstehen lässt, die aus dem kul-
turellen Einheitsbrei auszubrechen versuchen und die
sich (sofern sie Vorteile des Zusammenlebens bieten)
auch im Einzelnen und regional durchsetzen werden.
Im zweiten Kapitel „Mythos und Religion“ wird zunächst
allgemein auf Abgrenzungen und anschließend auf
Grundlagen und Entwicklungen religiöser Systeme einge-
gangen. Untertitel dieses Kapitels sind „Tod und Bestat-
tung“ (58 ff), „Mythen und Bilder“ (69 ff), „Monumenta-
lität und Gedächtnis“ (73 ff) sowie „Rationalität und
Sinnsuche“ (80 f). Einschübe in diesem (zweiten) Kapitel
sind „Der Menschenfressermythos“ (64 ff; vermutlich
vom Verfasser stammend, da nicht autorenkenntlich ge-
macht) sowie „Religion und Sinnfindung heute“ (81 ff;
von Thomas Schall verfasst). In den Passagen über den
„Menschfressermythos“ wird wiederum dem Mythos vom
(historisch-ethnologisch) angeblich nicht existierenden
Kannibalismus angehangen, auch wenn Weniger (?) seine
anfangs vehement vorgetragene Meinung zum Schluss re-
lativiert. Es stimmt einfach nicht, wenn der Autor behaup-
tet, es gäbe „bis heute keinen glaubwürdigen Augenzeu-
gen. der rituelle Anthropophagie als gesellschaftlich
akzeptierte Verhaltensweise erlebt hat“ (64). Ein Blick in
die ethnologische Literatur mit Zitaten von Chronisten,
die selbst „glaubwürdige Augenzeugen“ waren, würde ge-
nügen, um nicht länger den Verzehr von Menschenfleisch
in der menschlichen Geschichte - rituell oder nicht - zu
leugnen (um nur ein Beispiel aus der Amerikanistik anzu-
führen: Hans Staden 1557, dessen realistische Ausführun-
gen über praktizierten Kannibalismus - auf der Grundla-
ge eigener Erlebnisse - von Amerikanisten positiv und
„glaubwürdig“ beurteilt werden; s. zu diesem Thema auch
entsprechende Hinweise in meiner Rezension von Auf-
fermann / Orschiedt: Die Neandertaler - Eine Spurensu-
che. Stuttgart 2002 imTRIBUS Bd. 52,2003:251).
Das dritte Kapitel mit dem Titel „Werkzeug und Wissen“
spricht mit seiner Überschrift für sich selbst. Abschnitte
sind hier „Der Mensch als Techniker“ (86 ff), „Feuer und
Wärme“ (98 ff), „Vom Alleskönner zum Spezialisten“ (101
f) und „Im Wissensstrom“ (105 ff). Der Einschub dieses
Kapitels heißt „Variationen in Stein“ (88 ff). In ihm wird
die Entwicklung der Steinwerkzeuge von den Anfängen
bis zum Ende des Neolithikums bzw. der beginnenden
Bronzezeit geschildert. Auf den letzten Seiten dieser Pas-
sagen wird auch der Schrift und ihrer enormen Bedeutung
für den Fortschritt allen kulturellen Lebens Rechnung ge-
tragen. In dem sich anschließenden Kapitel „Umwelt und
Ernährung“ (112 ff) mit dem Einschub „Herausforderung
des Eiszeitalters“ sowie den Untertiteln „Triumph eines
Allesfressers“ (113 ff), „Jäger und Sammler-ein perfektes
Paar“ (120 ff), „Der produktive Halbgott“ (128 ff) und
„Der Fleiß hat seinen Preis“ (135 ff) sind Texte mit dem
größten Tiefgang enthalten. Hier wird die Bedeutung der
gewandelten Ernährungsbasis vom Jäger/Sammlertum
(das Hirtentum ist lediglich ein Zweig des Jägertums) zum
Feld-/Ackerbau für die kulturelle Entwicklung auf zahlrei-
chen Gebieten gewürdigt. Im erwähnten Abschnitt „Der
Fleiß hat seinen Preis“ geht Weniger begrüßenswerterwei-
se auf die Geschichte der Umweltzerstörung ein und weist
auf die derzeitige globale Bedrohung hin. Es wäre zu viel
verlangt, vom Autor Lösungsmöglichkeiten zu erwarten.
Ein Positivum liefert uns indessen ein Blick in die Ge-
schichte. Immer dann, wenn der Mensch vor einer Bedro-
hung nicht mehr ausweichen konnte, hat er gehandelt.
Ansätze zu diesem Handeln sind seit langem zu erkennen.
Infolge der heute bereits gegebenen weltumspannenden
Informationssysteme wird der Prozess der Bedrohung im
wahrsten Sinn des Wortes immer augenscheinlicher. Noch
folgt das Handeln des Menschen zu sporadisch. Doch cs
wird zunehmen, sich beschleunigen und die momentane
Bedrohung eindämmen.
215
___________TRIBUS 53,2004
Das fünfte und letzte Kapitel „Verständigung und Ver-
träglichkeit“ (140 ff) mit den Untertiteln „Kleine Grup-
pen - große Wirkung“ (143 ff), „Kooperation und Kon-
kurrenz“ (151 ff), „Von der Ungleichheit der Gleichen“
(156 ff) und „Verantwortung im globalen Dorf“ (167 ff)
sowie dem Einschub „Frau und Mann“ (145 ff) kommt
Weniger im Kern auf das zu sprechen, was wir im Allge-
meinen als „soziales Verhalten“ bezeichnen. Zunächst
wird kurz die Geschichte der Entwicklung von Verwandt-
schaftsgruppen zu gesellschaftlichen Institutionen ge-
schildert und dabei auf soziologischer Basis auch auf heu-
tige kulturelle Gegebenheiten in ihrer verschiedenartigen
Gestaltung eingegangen. Fragen der Familie, gesellschaft-
liche Widersprüche und Entwicklungen in so genannten
Stammesgesellschaften werden ebenso angesprochen wie
rein individuelle Charaktereigenschaften und gemeinsa-
mes Handeln in der Gruppe. Mit letzterem wird ein posi-
tiver Schlusspunkt gesetzt. Ein Literaturverzeichnis hätte
dem Ganzen noch eine besonders positive Note gegeben,
doch leider fehlt es.
Das Buch ist weit mehr als der Titel vermuten lässt. Auch
wenn „Neandertaler“ noch immer fälschlicherweise mit
„h“ geschrieben wird, ist dieses Urgeschichtswerk doch
etwas Besonderes, fast philosophisch zu bezeichnen. Die
Kombination von Forschungsergebnissen aus Archäolo-
gie, Anthropologie, Biologie, Anatomie, Neurologie, Lin-
guistik, Ökonomie und Soziologie ist in einer Publikation
vergleichbarer Thematik selten zu finden. Die Bilder von
Wolf Erlbruch werden dem Interessierten im Laufe des
Lesens bewusst und erfüllen ab diesem Zeitpunkt die in
sie gesetzten Erwartungen.
Literatur
Staden, Hans
1557 Die wahrhaftige Historia und Beschreibung ei-
ner Landschaft der wilden nacketen grimmigen
Menschenfresserleuten in der Neuen Welt
Amerika gelegen. Marburg. Bearbeitet von R.
Lehmann-Nitsche als „Ein deutscher Lands-
knecht in der Neuen Welt“. Leipzig 1929 (F. A.
Brockhaus).
Axel Schulze-Thulin
Wieczorek, Alfried / Rosendahl, Wilfried
(Hrsg.):
MenschenZeit - Geschichten vom Aufbruch
der frühen Menschen. Publikationen der
Reiss-Engelhorn-Museen, Bd. 7. Mannheim:
Reiss-Engelhorn-Museen, Mainz; Philipp von
Zabern, 2003. 112 Seiten, zahlreiche Farbfotos,
Zeichnungen, Karten.
ISBN 3-8053-3132-0 (Buchhandel)
ISBN 3-8053-3133-9 (Museen)
Die Zeit war reif, die bedeutenden Fundstücke aus dem
europäischen Paläolithikum, die sich seit vielen Jahrzehn-
ten in den Reiss-Engelhorn-Museen befinden, einer inte-
ressierten Öffentlichkeit vorzulegen. So geschehen in der
Ausstellung „MenschenZeit - Geschichten vom Aufbruch
der frühen Menschen“ von Dezember 2002 bis Mai 2003
in Mannheim. In dem sie begleitenden handlichen Aus-
stellungsführer sind zum einen die Exponate, zum ande-
ren Geschichte und Lebensbilder früher Menschenfor-
men vorgestellt worden. Zusammen mit zahlreichen
Helfern hatten die Herausgeber eine sehr lebendige Aus-
stellung gestaltet - das vorliegende Begleitbuch ist es
nicht minder. Der Versuch erscheint gelungen, das be-
kannte „Fleisch an die Knochen“ zu bringen. Dazu beige-
tragen hat sicherlich die informative Konzeption der Aus-
stellung, die hier in der Museumspublikation ihren
Niederschlag fand, auch wenn bei der Erarbeitung der
letzteren ein chronologisches Schema maßgebend war,
das - laut Vorwort des erstgenannten Herausgebers - für
die Ausstellung nicht im Vordergrund gestanden hatte.
Das Buch ist in insgesamt zehn Kapitel gegliedert, von de-
nen jedes wiederum Abschnitte in wechselnder Anzahl
enthält. Im ersten Kapitel „Der lange Weg zum Men-
schen“ wird die Evolution des Menschen nachgezeichnet,
wird ein Überblick über die paläo- und mesolithischen
Fundstücke der Mannheimer Museen geboten, der Zu-
sammenhang zwischen der Entwicklung des Menschen
und dem Klima / der Umwelt aufgezeigt und eine Kurz-
fassung der Entstehung unserer Erde sowie des Menschen
und seiner Geschichte vorgelegt. Zum ersten Abschnitt
dieses Kapitels ist positiv anzumerken, dass die neuesten
archäo- und anthropologischen Erkenntnisse einbezogen
wurden, wobei eine Karte mit den wesentlichen Fundor-
ten richtungweisender Vor- und Altmenschen das ge-
schriebene Wort unterstützt. Eine Literaturauswahl zur
Evolution des Menschen lädt zum weiteren Einstieg in
die Materie ein. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels
führt dem Leser die bewundernswerte Altsteinzeitsamm-
lung Mannheims vor Augen. Sie besteht aus rund 27.000
Exponaten und stammt von den bedeutendsten Fundplät-
zen Frankreichs und Englands, die von bekannten For-
scherpersönlichkeiten ausgegraben und gesammelt wur-
den. Die in der Vergangenheit immer wieder in Frage
gestellten Funde von Mauer, von Karl Fr. Hormuth in den
Jahren 1924-32 gesammelt, scheinen mittlerweile in der
Weise gesichert, als 29 dieser Stücke als Geräte anerkannt
werden können.
Im zweiten Kapitel „Erste Spuren der Menschen“ wird
vor allem der Geologie zum Homo heidelbergensis sowie
der ihn begleitenden Fauna nachgegangen. Im dritten Ka-
pitel „Frühe Menschen in Europa“ weist zunächst eine
ausgezeichnete Karte auf die Fundstätten für die Zeit von
I bis 0,3 Millionen Jahren hin. Im ersten Abschnitt dieses
Kapitels „Die Kultur des Altpaläolithikums“ werden die
Erfindungen des Menschen während des erwähnten Zeit-
raums beleuchtet, von verschiedenen Geröllgeräten über
die Faustkeile, das Feuer, die unterschiedlichen Wohnstät-
ten bis zu den Schöningener Speeren. Sodann wird beson-
ders dem Unterkiefer von Mauer unter Einbeziehung
möglicher Rekonstruktionen dieses Altmenschen Re-
spekt gezollt. Ein weiterer Abschnitt wird der Technik der
Steingeräteherstellung gewidmet. Mit der Beschreibung
einer eigens für die Ausstellung in Mannheim hergestell-
ten Höhle mit Rekonstruktionen faunistischer und homi-
nider Reste endet das dritte Kapitel. Im nächsten wird die
Welt der Neandertaler vorgestellt. Die Karte zum europä-
ischen Mittelpaläolithikum (46 f) weist allerdings Lücken
216
Buchbesprechungen Afrika
auf, zum Beispiel in Wales. Ohne die Erfindungsgabe ein-
zelner Neandertaler in Frage stellen zu wollen, sei darauf
verwiesen, dass der als Nachbildung auf dem Foto (51)
gezeigte Feuerbogenbohrer aus einer sehr viel späteren
Zeit stammt und zeitlich mit dem Erscheinen der Bogen-
waffe in etwa einhergeht. Neandertaler werden Reibungs-
hitze sicherlich durch einfache „Handarbeit“ (Drehen
und Flachreiben) erzeugt haben. Auch das Gerben (54) ist
für das Mousterien ausgeschlossen (realistische Annahme
für roten Ocker in Gräbern s. Seite 57). Tierhäute wurden,
sofern in einzelnen Fällen erforderlich, gekaut, wie die
abgekauten Neandertalerzähne bezeugen. Im fünften Ka-
pitel wird die „Ankunft der modernen Menschen“ ge-
schildert. Zu den immer wieder diskutierten Fragen ge-
hört, warum mit diesem Ereignis die Neandertaler
allmählich von der Bildfläche verschwanden. Ein ursäch-
licher Zusammenhang drängt sich auf. In der vorliegen-
den Veröffentlichung wird eine Ausrottung durch den
Jetztmenschen ausgeschlossen. Doch wie wird Ausrottung
definiert? Eine Ausrottung kann auch indirekt erfolgen,
beispielsweise durch eingeschleppte Krankheiten, gegen
die Neandertaler keine Widerstände entwickelt hatten.
Hierzu gibt es weltweit zahlreiche Vorlagen. Paradebei-
spiel sind die Ersten Amerikaner. Im vorliegenden Text
bleibt die Frage nach den Gründen für das Verschwinden
der Neandertaler offen. Das folgende Kapitel ist dem
Thema „Höhlenmaler und Knochenschnitzer - Kunst der
Eiszeit“ gewidmet. Interessant ist die Auflistung der bis
heute nicht beantworteten Fragen über den Sinn und
Zweck der altsteinzeitlichen Felsbilder (68). In der Tat
darf hier so wie auf kaum einem anderen Forschungsfeld
spekuliert werden. Bei der mobilen Kunst sieht das Bild
schon anders aus. Hier sind die Funktionen der eiszeitli-
chen Darstellungen oftmals bekannt, wenn wir Part pour
Part ausschließen, was sicherlich legitim ist. Ein Ren auf
einem Atlatl-Bruchstück ist wohl eindeutig funktional zu
sehen. Oder? Vielleicht sollten Felsbildforscher einmal
mobile paläolithische Kunst in ihre Überlegungen einbe-
ziehen, als ständig mit Begriffen aus der Ethnologie zu
hantieren, die sie meist noch nicht einmal genau verste-
hen. In dem vorliegenden Führer wird die Frage nach dem
Sinn immobiler Paläolithkunst wohlweislich gar nicht erst
angeschnitten, abgesehen von der erwähnten Frageliste.
Mit einem Hinweis auf praktizierte Musik im Jungpaläo-
lithikum enden diese Passagen. Das siebte Kapitel bringt
uns das „Leben der Mammutjäger“ näher. Die Zeit, in der
sie lebten, war ein bedeutsamer Abschnitt des Jungpaläo-
lithikums, und so wird hier auf einige Lebensbereiche der
jüngeren Altsteinzeit allgemein eingegangen. Dabei wird
auch den „Pferdejägern am Rhein vor 12.500 Jahren“
Platz eingeräumt. Mit der Überschrift eines weiteren Ab-
schnitts dieses Kapitels „Technologie des Jungpaläolithi-
kums“ ist wohl die damalige Technik bzw. das technische
Verständnis der eiszeitlichen Menschen gemeint. Im Hin-
blick auf die „Letzte(n) Jäger und Sammler“, so der Titel
des achten Kapitels, ist ja sicherlich nicht an die letzten,
sondern in diesem Fall an die mesolithischen in Mitteleu-
ropa gedacht worden. Ob die Karte (90 f) tatsächlich die
für das Mesolithikum „wichtigen Fundstellen in Europa“
zeigt, ist zumindest zweifelhaft, denn die hier angegebe-
nen befinden sich alle in Zentraleuropa, vornehmlich
Deutschland. Mit dem neunten Kapitel „Bauern und Hir-
ten gestalten eine neue Welt“ nähern wir uns der Gegen-
wart. Hier wird insbesondere „das bandkeramische Haus“
vorgestellt und was sich in seiner Umgebung so alles tat.
Auch auf „das bäuerliche Leben“, auf „Grabbeigaben“
und „Bauern und Viehzüchter an den Seen“ (nördlich der
Alpen) wird eingegangen. Das zehnte und letzte Kapitel
führt dem Leser „Händler und Bergleute“ vor Augen, die
laut Untertitel in die „spezialisierte Arbeitswelt“ aufge-
brochen waren. Dabei wird dem „Feuersteinbergbau in
Terrassen und Weitungen“ sowie „eine(r) Bestattung der
Glockenbecherkultur“ besondere Beachtung zuteil. Mit
dem Satz „Mitteleuropa ging als Bauernkultur in die
Bronzezeit“ endet das Begleitbuch ziemlich abrupt.
Der Leser spürt auf allen Seiten das Engagement der am
Zustandekommen dieser liebevoll erstellten Publikation
beteiligten Mitarbeiter(innen). So ist eine über die Aus-
stellung hinaus bleibende Übersicht über die früheste
Menschheitsgeschichte entstanden, die flüssig zu lesen ist
und sicherlich immer wieder einmal gerne zur Hand ge-
nommen wird.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Afrika
Burtscher, Doris:
Geidj Faye: „no and no rimeem“ „Ich bin im
Wissen geboren“. Leben und Arbeit eines tra-
ditionellen Heilers der Seereer-Siin Senegal.
Wiener ethnomedizinische Reihe, Bd. 2. Berlin;
VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung,
2002. 286 Seiten mit 28 SW-Abbildungen, 2
Karten.
ISBN 3-86135-325-3
Doris Burtscher stellt die Heilkunde der Seereer im Sene-
gal durch das Leben und das Werk des Heilers Geidj Faye
dar. Die Verfasserin wurde von Professor Armin Prinz
während ihrer Dissertation betreut und benutzte die Me-
thode der qualitativen Sozialforschung. Damit folgt sie
dem bewährten Prinzip der Biographieforschung des ers-
ten Bandes der Wiener ethnomedizinischen Reihe, wobei
Burtscher sich gegen Kutalek, die Autorin des ersten Ban-
des, abgrenzt, indem sie die Bedeutung des Übersetzers
hervorhebt (S. 26).
Die vorliegende Arbeit beruht auf vier Feldforschungspha-
sen. Burtscher lernte Geidj Faye 1997 durch ihren Überset-
zer Louis kennen. Der Heiler hatte eine souveräne Einstel-
lung zur Forscherin und ließ sich auch durch Video,
Fotoapparat und Tonbandgerät nicht aus der Ruhe bringen.
Die Weitergabe seines Wissens war für ihn unproblema-
tisch, und er empfand es als positiv, dass seine Kenntnisse
schriftlich festgehalten wurden (S. 40f.). Die Arbeit mit dem
Heiler wurde gelegentlich durch den dazwischen geschalte-
ten Übersetzer erschwert (S. 42). Burtscher setzt sich auch
kritisch mit ihrer Rolle als Forscherin auseinander. Die
Schilderung ihrer Erfahrungen während der Feldforschung
macht den Leser mit den Schwierigkeiten vertraut.
Indem Burtscher die Bedeutung der traditionellen Medi-
zin aufzeigt, vermittelt sie einen guten Einblick in die all-
gemeine medizinische Versorgung der Bevölkerung, und
217
____________TRIBUS 53,2004
der Stellenwert der traditionellen Medizin wird klar her-
ausgearbeitet.
Es folgt im Hauptteil ein genaues Portrait des Meilers.
Das Aufzeigen seiner Sozialisation und der familiären
Struktur macht seine Berufung zum Heiler deutlich. Erst
mit 41 Jahren, nach dem Tod seines Vaters, der ebenfalls
Heiler war und von dem er sein Wissen übernommen hat,
tritt er in dessen Fußstapfen, wie schon Generationen vor
ihm. Burtscher arbeitet gründlich und recherchiert das
Leben des Meilers ausführlich mit zahlreichen Details (S.
57f.). Geidj hat eine liberale und soziale Einstellung. Er
möchte seine Stellung als Heiler nicht ausnutzen und das
Wohl der Gemeinschaft durch Weitergabe seines Wissens
bewahren. Auch der Übersetzer Louis wird von ihm ange-
lernt. Zudem nimmt er kein oder nur wenig Geld von den
Kranken. Er lässt sich von seinen Prinzipien auch durch
die Kritik der anderen Heiler nicht abbringen. Geidj be-
findet sich als gläubiger Muslim manchmal im Konflikt
mit der Naturreligion der Seereer, weil diese mit dem
Brauchtum und den Riten der Seereer eng verbunden ist
und folglich einen festen Platz in der Gemeinschaft inne
hat (S. 92 f.). Dies kommt besonders im Glauben an die
„Pangool“, die Mittler zwischen Gott und den Menschen,
zum Ausdruck. Auch wenn Geidj lieber direkten Kontakt
zu dem Göttlichen unterhält, beugt er sich doch den ritu-
ellen Bräuchen, wenn er es für nötig hält. Oder er beauf-
tragt, wie im Fallbeispiel von Marie (S. 173 f.), eine Heile-
rin, die das „lup-Ritual“ zur Beschwichtigung der
„Pangool“ für die Patientin ausrichtet. Burtscher geht
noch einen Schritt weiter und gibt folgende Prognose ab:
„Wie die pangool über ihn entscheiden werden, bleibt of-
fen. Es wird ihm aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
gelingen, ihrem Einfluss zu entrinnen“ (S. 103). Diese
Aussage macht deutlich, wie intensiv sich die Autorin mit
dem Heiler auseinandergesetzt hat und welch' großen
Anteil sie an seinem Leben genommen hat. Gerne lässt
Burtscher Geidj für sich selbst sprechen. Dies gibt dem
Portrait des Meilers Authentizität und Lebendigkeit. Mit
den Fallbeispielen wird diese Vorgehensweise sehr an-
schaulich. Die Beispiele sind aus dem Alltag gegriffen und
enthalten große Passagen der wörtlichen Wiedergabe der
Patientengespräche, wobei Burtscher dieses Prinzip hier
etwas überstrapaziert. Danach wird die Diagnose gestellt,
sowie die Ursache der Krankheit und deren Vorgeschich-
te aufgezeigt. Geidj hat oft eine ganz persönliche Sicht-
weise der Krankheit, die er nicht immer direkt dem Kran-
ken gegenüber äußert. Er zeigt dann oft Zusammenhänge
auf. die weder dem Zuhörer noch dem Patienten zunächst
aufgefallen sind, und beweist damit sein Gespür für eine
ganzheitliche Beurteilung des Patienten. Jedoch wird im
Fallbeispiel von Marie deutlich, dass die Ursache für ihre
Geschlechtskrankheit bei ihrer Mutter gesucht wird, die
eine Hexe sein soll, wobei die ständig wiederkehrende
Krankheit höchstwahrscheinlich von Maries Ehemann
übertragen wurde (S. 185). Hier kommt eine patriarchali-
sche Gesellschaftsstruktur zum Ausdruck, die den Mann
als Krankheitsüberträger ausschließt. Leider erörtert die
Autorin diesen Punkt nicht.
Geidj übt hauptsächlich physiotherapeutische Maßnah-
men wie Massagen, Dampfbäder, rituelle Waschungen
und Trinktherapien aus und verabreicht Salben, Pasten
oder Pulver aus Pflanzen zur äußeren und inneren An-
wendung. Er stellt auch Amulette her oder reinigt Häuser
durch Rauch und Gebete. Das Gebet ist sehr wichtig für
das gute Gelingen der Therapie, so dass es alle seine
Handlungen begleitet. Auch betet er, wenn er die Pflan-
zen aus der Erde gräbt. Die Wurzeln sind dabei von be-
sonderem Interesse. Hierin spiegelt sich der alte Glaube
an die Wirkmächtigkeit von (Zauber-)Pflanzen. Über die
Morphologie der Pflanzen werden Rückschlüsse auf ihre
Wirksamkeit gezogen. Die Acacia Senegal z.B. hat so gro-
ße Dornen, dass sich nicht mal ein Vogel darauf nieder-
lässt. Der Heiler benutzt sie zum Schutz vor bösen Mäch-
ten und verwendet sie im Trank gegen Leistenbruch und
Tripper (S. 215). Die Vorbereitungen zur Herstellung der
Medikamente haben ebenfalls eine rituelle Bedeutung
und sind Teil seiner ganzheitlichen Behandlung.
Burtscher gelingt mit der Biographie des Meilers Geidj
ein wertvoller Beitrag über die traditionelle Medizin der
Seereer im Senegal. Die Autorin erstellt gewissermaßen
ein Psychogramm des Meilers. Aus diesem Mikrokosmos
erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zeigt aber
einen Ausschnitt, der in seiner Eindeutigkeit einen wichti-
gen Baustein zur traditionellen Medizin der Seereer dar-
stellt. Sehr gut hat sie den religiösen Konflikt des Meilers
zwischen seinem islamischen Glauben und der Naturreli-
gion der Seereer herausgearbeitet und damit gleichzeitig
die enge Verknüpfung zwischen Religion und traditionel-
ler Medizin aufgezeigt sowie auf deren Veränderungen
durch religiösen Einfluss aufmerksam gemacht. Abschlie-
ßend sollte die positive persönliche Ebene zwischen For-
scherin und Heiler, die zum Gelingen der Arbeit nicht
unerheblich war, erwähnt werden. Das jüngste Enkelkind
von Geidj heißt Doris.
Renate Best
Ceyssens, Rik:
Le roi Kanyok au milieu de quatre coins (Mwin
Känyök, maköök’ mànàày). Studia Instituti
Anthropos, Vol. 49. Fribourg: Éditions Univer-
sitaires, 2003.559 Seiten mit SW-Abbildungen.
ISBN 3-7278-1397-0
Das Werk von Rik Ceyssens ist eine ausgezeichnete Mono-
graphie der politischen Strukturen eines überschaubaren
Reiches am oberen Kasai im Süden der Demokratischen
Republik Kongo. So große Verdienste diese Arbeit für Au-
tochthone wie Spezialisten der Region hat, so schwierig ist
es für jeden, sie zu lesen, der nicht mit Geschichte, Sprache
und ethnischen Verhältnissen dieser Gegend vertraut ist.
Das Werk ist für Fachleute mit lokalen Sprachkenntnissen
geschrieben. Für sie ist es eine wahre Fundgrube an wert-
vollen Informationen, denn der Autor erweist sich auf jeder
Seite als absoluter Kenner der Materie. Er scheute weder
sprachliche noch archivalische Barrieren, um sein Thema
umfassend darstellen zu können. Wer sich noch nicht so in-
tensiv mit den Kanyok auseinandergesetzt hat wie der Au-
tor - und der Rezensent hat dies keineswegs -, wird kaum
auf inhaltliche Fehler hinweisen können. Vielleicht sind
dazu einige Autochthone in der Lage. Aber auch hier sollte
218
Buchbesprechungen Afrika
man Vorsicht walten lassen: ihnen fehlt oft die Distanz, um
kritisch zu urteilen. Ceyssens deutet an, dass er die Aussa-
gen seiner Informanten abzuwägen hatte, da sie nach über-
kommenen Traditionen urteilten und dies oft pro domo
machten (p. 44).
Im Buchtitel taucht bereits eine zentrale Frage der Reichs-
ideologie auf: „au milieu de quatre coins“ - d.h. der König
und seine Residenz befinden sich in der Mitte eines gege-
benen „Universums“. Der Autor zitiert hierzu die Auss-
prüche: «Vers le soleil et la lune; vers l'amont et vers
l’aval» (p. 46). Mich wundert, dass er diese nicht weiter
verfolgt, denn sie weisen doch sowohl auf die zeitliche
(Sonne - Mond als Symbole für Tag und Nacht), wie auch
auf die räumliche Dimension hin; flussaufwärts - flussab-
wärts, symbolisch für den ganzen Raum. Im weiteren Ver-
lauf des Werkes spielen für die Reichsidee gerade Zeit
und Raum eine wichtige Rolle. Wenn auch das Reich sich
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge eines
Bruderkrieges geteilt hat und es später immer wieder Be-
strebungen von Häuptlingen gab, sich in den Vordergrund
zu spielen (p. 183 ff.), so blieb die Ideologie der Mitte trotz
allem erhalten.
Der Autor ist zwar der Überzeugung, „la pensée binaire
jouit d'un succès incontestable...“ (p. 46), aber mir scheint,
er verkennt ein wenig die Wichtigkeit der Vier als Symbol
des Universums, der Erde und des Raumes überhaupt. Er
führt selbst mehrere Beispiele dafür an (p. 46), die hier
nicht aufgeführt werden sollen. Etwas weiter schreibt er:
„Le jeune roi débute son règne en conquérant, s’assagit
en veillissant et se renferme finalement, avec son monde,
derrière la troisième clôture» (p. 46). Hier wird die Reichs-
und Königsideologie wunderbar ausgedrückt:
Die politische Macht muss erobert werden, die Erde aber
nur, sofern sie politisches Territorium ist - als sakrale
Macht gehört sie dem Erstbesitzer. Im Alter mäßigt sich
der König und zieht sich mit seinem Anhang hinter die
dritte Einfassungsmauer zurück. Ist mit der „troisième
clôture“ der Bereich der Männlichkeit gemeint? Die Drei
steht normalerweise im Denken der Ethnien dieser Regi-
on für den Mann, die Vier für die Frau. Der Autor geht
allerdings nicht weiter auf diese Zahlensymbolik ein.
Doch geben wir einen kurzen Überblick über das Ge-
samtwerk. Es besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist
überschrieben: „Le roi des hommes et des femmes“. Das
1 .Kapitel trägt den Titel; „Le citoyen“. Hier wird die abge-
sonderte Rolle des Königs bei den Mahlzeiten, beim
Schlafen und der Darstellung seines Körpers behandelt.
Im 2. wird die königliche Residenz in ihrem Beziehungs-
geflecht beschrieben, im 3. die Investitur und die Fragen
der Nachfolge und im 4. das Land Kanyok. Der Autor ist
stets bemüht, den tieferen Sinn der Riten aufzuzeigen und
sie in Beziehung zu ähnlichen Institutionen in Afrika zu
setzen.
Der zweite Teil hat den Titel „L'entourage royal“; er be-
handelt die Würdenträger, den königlichen Harem, die
Sklaven und Krieger. In einem derart akribischen Werk
gibt es natürlich eine komplette Bibliographie, diverse In-
dices, Königsgenealogien und Photos.
Der Autor erklärt wiederholt, dass es sein Ziel war, «une
image de la société autour du Mwin Kânyôk [König] ca-
ractéristique de la seconde moitié du dix-neuvième siè-
cle» (p. 357) zu geben. Er konsultiert zwar zu diesem
Zweck alle aufbietbaren Quellen, aber die Hauptbeweis-
kraft müssen doch die ein Jahrhundert später lebenden
Informanten liefern, die das 19. Jahrhundert nur aus den
Traditionen kennen. Cleyssens meint hierzu: „Les infor-
mateurs avec lesquels nous avons eu l'honneur de colla-
borer n'ont pas consciemment vécu ce passé. Par contre,
ils ont connu les témoins de première main et ils ont sur-
tout vécu directement et réalisé de leurs mains une culture
matérielle qui correspond en gros à celle de la seconde
moitié du dix-neuvième siècle» (p. 39).
Wie weit dieses Vorhaben gelungen ist, sei dahingestellt.
Jeder, der in Afrika ähnliche Ziele verfolgt hat, weiß, wie
schwierig es ist, Vergangenheit aus dem Gedächtnis zu re-
konstruieren. Die Gesellschaften verändern sich in weni-
gen Jahrzehnten mehr als wir gemeinhin annehmen. Aber
sind alte schriftliche Quellen unbedingt zuverlässiger? Sie
beschreiben Aspekte, die ein Autor zufällig sah oder se-
hen wollte. Cleyssen hat jedenfalls alles getan, um der
Wahrheit, so weit wie möglich, nahe zu kommen!
Josef F. Thiel
Freeman, Dena:
Initiating Change in Highland Ethiopia. Causes
and Consequences of Cultural Transformation.
Cambridge: University Press, 2002.180 Seiten.
ISBN 0521818540
Südwestäthiopien gilt seit den Frobenius-Expeditionen
1934/35, 1950/52 und 1954/55 als ethnographische Fund-
grube bei der Suche nach alten Kulturstrata; unter ethno-
historischer Perspektive wurden diese Forschungen bis
zum Sturz des Kaiserreichs fortgesetzt. Danach w'agten
sich andere Forscher mit anderen Fragen in die Berge und
Ebenen westlich des Grabenbruchs, unter denen Ivo Stre-
ckers Hamar-Studien vielleicht die bekanntesten sind.
Die britische Äthiopienforschung richtete sich eher nach
der imperialen Wahrnehmung Hochäthiopiens (vgl. Syl-
via Pankhurst 1955 Ethiopia. A cultural history. London),
für das diese Peripherie eine zivilisatorische Herausforde-
rung darstellt (s. Thomas Zitelmann 1996 Körperschaft
und Reich. Paideuma 42:37-51). In den Begriffen der so-
cial anthropology ist damit die Frage nach dem social
change aufgeworfen; Dena Freeman, Mitarbeiterin von
Alula Pankhurst, hat das am Beispiel des Hochlandes von
Gamo in der Region Doko untersucht.
Das aus einer Dissertation an der London School of Eco-
nomics hervorgegangene Buch ist sehr theoretisch orien-
tiert. Im Grunde geht es um die schon von Alfred Vier-
kandt 1908 (Die Stetigkeit im Kulturwandel) gestellte
Frage nach den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der
Kulturgüter bzw. nach ihrem Beharrungsvermögen. An-
stelle von Feuerwaffen und Branntwein, denen Vierkandt
damals hohe und leichte Akzeptanz bescheinigen konnte,
untersuchen britische Forscher Institutionen, und da wird
das Beobachtungsfeld komplizierter. Dena Freeman brei-
tet in dem langen Einleitungskapitel ihr Wissen über die
einschlägigen Autoritäten aus, die als Wegbereiter „to-
wards an integrated theory of cultural change“ gelten
können. Am Ende steht dann Antony Giddens, dem zu-
219
____________TRIBUS 53,2004
folge die Individuen in ihrem Bestreben, ihr Los zu ver-
bessern, Strukturen festigen oder modifizieren können.
Nach dieser sicher verkürzbar gewesenen theoretischen
Durststrecke geht es endlich hinauf ins Hochland, wo die
Ensete-Bauern an ihren Einrichtungen des Tieropfers
und der Individualinitiation festzuhalten scheinen und wo
Freeman 21 Monate Feldforschung hinter sich gebracht
hat. Der knappe Blick in die Lokalgeschichte zeigt, dass
es sich hier um kein ethnographisches Isolat handelt, son-
dern um eine stratifizierte Gesellschaft, die sich im 19.
Jahrhundert an Sklavenraub und -handel beteiligt hat
und seit 1875 in den neoäthiopischen Staat zwangsinteg-
riert war. Bis 1936 mussten dann amharische Militärsied-
ler ausgehalten werden, und der Priesterkönig hatte den
Arbeitszwang zu überwachen. Der italienische Faschis-
mus beendete diese Phase und zahlte Löhne für die bis
heute bedeutsamen Strassenbaumaßnahmen. 1941 brach-
ten die Briten bekanntlich den Kaiser zurück, der seine
Herrschaft nun mit regulären Steuern modernisierte und
den Südwesten wirtschaftlich an das Zentrum anschloss.
Religiös-konfessionell gab es schon früher Anschlussver-
suche, die ersten im 15. Jh. Die Leute von Goma antwor-
teten auf die zweite Welle des amharisch-kirchlichen Bin-
nenkolonialismus mit der messianischen Bewegung von
Essa Woga; in den 20er Jahren begannen protestantische
Fundamentalisten mit der Arbeit, fanden aber erst in den
60er Jahren in Gamo Gehör. 1978-91 wurden die Berge
Opfer der Säkularisten und Kommunisten, die den Leu-
ten das blutige Opfer und ihre aufwändigen Amtsinitiati-
onen schlichtweg verboten. Nach der Einführung der Re-
ligionsfreiheit 1991 durch Meies Zenawi waren die
Bräuche wieder erlaubt, aber es kamen auch die Funda-
mentalisten zurück und lockten mit individuellen Auswe-
gen. Dies war das Szenario, in dem Dena Freeman in den
90er Jahren den Kulturwandel studierte.
Das Kapitel drei ihrer gut lesbaren und flüssig geschriebe-
nen Studie führt in Wirtschaft und Gesellschaft ein, die
nach wie vor in Opfergemeinschaften gegliedert zu sein
scheint. Dieses „Sacrificial System“ wird in Kapitel vier
vorgestellt, während Kapitel fünf das „Initiatory System“
thematisiert, also das, was in der Frobenius-Schule Ver-
dienstkomplex (dazu Braukämper 2001 „Der Verdienst-
Komplex“. Zeitschrift für Ethnologie 126:204—36) hieß.
Freeman hat sich zum Ziel gesetzt, beide „Systeme“ auf
ihre Wandlungsfähigkeit hin zu prüfen und damit einen
Beitrag zur ethnologischen Theorie des Kulturwandels
allgemein zu leisten. Im Kapitel sechs („experiencing
change“) und im Schlussteil wird Bilanz gezogen: Die Op-
ferpraxis befindet sich trotz fortdauerndem Geisterglau-
ben in einem Prozess der „Devolution“, d.h. das Prinzip
der streng senioristischen Ahnen- und Geisterverehrung
kann sich nicht ändern, es bleibt allein die abnehmende
Frequenz des Rituals.
Anders sieht es beim Ämterkauf aus. Freeman behandelt
insbesondere die Initiation in das unterste Ehrenamt des
halak'a, das Frauen, Handwerkern und Sklaven verwehrt
war und für das man den wirtschaftlichen Ruin riskierte.
Hier gelang es der Forscherin, zwei Typen der Verände-
rung herauszudestillieren: ein relativ starres, in dem die
Amtszeit zwei Jahre dauert und von aufwändigen Festivi-
täten eingerahmt wird. Überdeutlich ist die Symbolik des
Ganzen: Der Anwärter durchläuft während seiner halak ’a-
Periode einen Ausnahmezustand zwischen dem Status ei-
nes Juniors und dem eines Seniors. Der zweite Typ ist eine
„demokratisierte“ und kostengünstigere Variante, da
mehrere die Last der Verdienstfeste schultern. Sie gilt als
die „weibliche“ Lösung (weil sie sich am üblichen Eintritt
der Braut ins Haus des Bräutigams orientiert) und scheint
bei den „Neureichen“ beliebt geworden zu sein, die statt
über Landbesitz über Handel und Weberei etwas gewor-
den sind. Freeman spricht hier von „transformation“ statt
von „devolution“, weil nicht die Abnahme der Frequenz,
sondern die innere Umgestaltung zählt.
Das vorletzte Kapitel hat Dena Freeman dem sozialen
Ort gewidmet, an dem die unterschiedlichen Wandlungs-
formen debattiert, verworfen oder gebilligt werden. Die
Versammlungsplätze gelten in Gamo als „Sümpfe“ im
übertragenen Sinne; feucht, kühl und fruchtbar. Hier wer-
den die zahlreichen Tabubrüche behandelt, insbesondere
die der „Protestanten“; aber auch Innovationen werden
auf ihre Sozialverträglichkeit hin geprüft, und man disku-
tiert ausgiebig, ob Abweichungen iteriert werden dürfen
oder als Frevel zu sühnen seien. In den Versammlungen
hat nicht jeder dieselbe Stimme, und noch unter den Wür-
denträgern mit ihrer herumgereichten Friedenspfeife und
ihrer Gewalt über Segen und Fluch entscheiden rhetori-
sche Begabung und Aura der Persönlichkeit - „Room
must be left for human idiosyncracy“(S. 129).
Der Schluss gerinnt der Autorin verständlicherweise wie-
der äußerst abstrakt: Es hänge von der systemischen Orga-
nisation einer Einrichtung ab, ob ihr Schicksal Devolution
oder Transformation sei. Ersteres erlitten „pyramidale“
Kultursysteme wie das Opfer, während Netzwerkorganisa-
tionen sich transformieren könnten. Diese Dichotomie er-
innert zwar an die üblich gewordene Scheidung zwischen
Demokratie und Autokratie, die die (auch ethnologischen)
Debatten der Zwischenkriegszeit beherrschte und die spä-
ter als offene versus geschlossene Systeme zum Hauptargu-
ment der Verwestlichung wurde. Doch fragt man sich, ob
zwei so verschiedene Komplexe wie das blutige Opfer und
der Ämterkauf sich überhaupt in diesem Sinne vergleichen
lassen. Das geht wohl nur, wenn ersteres auf seinen soziolo-
gischen Aspekt reduziert wird; als Akt der Seniorität und
Dependenz des Jungbauern von der Gnade der Ältesten
(wie es von den unter der DERG-Herrschaft sozialisierten
Informanten auch dargestellt wurde). Dann erscheint die-
ses System nicht reformierbar, sondern kann nur noch ge-
mieden werden, während im Titelkauf sich die jungen Er-
folgreichen durchsetzen konnten und die „Verweiblichung“
des alten „kriegerischen“ halak’a-Rituals erreichten.Trotz-
dem bleibt die Frage im Raum, warum sich bei rückläufi-
gen Opferhandlungen die Sozialeinheiten immer noch als
Opfergemeinschaften verstehen.
Derna Freemans Arbeit gehört zu den neueren Studien,
die mit großer Akribie und Ortskenntnis herausarbeiten,
wie flexibel „traditionelle Gesellschaften“ sind und war-
um sie das sind. Die ältere Ethnologie konnte dafür noch
keinen Blick haben. Trotzdem hätte die vorliegende Ar-
beit dadurch gewinnen können, wenn sie der ethnogra-
phischen Literatur über Südwestäthiopien etwas mehr
Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Straubes früher Aufsatz
über „Das Dualsystem und die Halaka-Verfassung der
Dorse als alte Gesellschaftsordnung der Ometo-Völker
Süd-Äthiopiens“ (Paideuma 6:342-353, 1954/58) findet
220
Buchbesprechungen Afrika
sich zwar im Literaturverzeichnis, wurde aber nicht verar-
beitet. Auch fehlt in der Studie jeder Bezug zur reichhalti-
gen Gada-Literatur. Die ganz gewiss heute ungeheuer
aktuelle Frage nach Konstanz, Flexibilität und Kombi-
nierbarkeit kultureller Muster kann nicht erschöpfend
beantwortet werden ohne Rücksicht auf die vielen Daten,
die unter als überholt erscheinenden Perspektiven von
Kulturschichtung und Degeneration gewonnen wurden
(und meist in als überholt geltenden Sprachen wie
Deutsch und Italienisch geschrieben sind).
Bernhard Streck
Franz Kröger:
Materielle Kultur und traditionelles Hand-
werk bei den Bulsa (Nordghana). 2 Teilbände
(Forschungen zu Sprachen und Kulturen Afri-
kas, Band 10). Münster: Lit Verlag, 2001. 1107
Seiten, 184 Fotos, viele Zeichnungen, Index,
Glossar.
ISBN 3-8258-5512-0
Beiträge zur materiellen Kultur sind in der Gegenwarts-
ethnologie in Deutschland fast schon eine Seltenheit ge-
worden. Umso mehr fällt eine Arbeit aus dem üblichen
Rahmen, die den Anspruch erhebt, einen Überblick über
das gesamte Spektrum der materiellen Kultur eines Vol-
kes vorzulegen. Dieser Anspruch wird hinsichtlich des
Doppelbandes von Franz Kröger über die Bulsa in Nord-
ghana im Wesentlichen erfüllt, teilweise in großer De-
tailtreue und immer wieder unter Berücksichtigung neus-
ter Veränderungen, die sich während der wiederholten
Feldforschungsaufenthalte des Verfassers zwischen 1973
und 2000 vollzogen haben.
Die folgenden Sachgebiete der materiellen Kultur wer-
den behandelt: „Siedlung und Architektur: Das Gehöft“,
„Töpferei und keramische Produkte“, „Die Flechterei
und ihre Produkte“, „Bearbeitung und Verwendung von
Holz“, „Steinbearbeitung und Steinobjekte“, „Schmiede,
Gelbgießer und ihre Erzeugnisse“, „Kalebassen“, „Felle
und Leder“, „Tuchbekleidung“, ..Kriegswaffen, Jagd und
Fischfang“, „Musikinstrumente“, „Kinderspielzeug und
Kinderspiele“, „Das Gehöft Anyenangdu Yeri: Entwick-
lung. Struktur und Inventar“ sowie „Zeitliche und Räum-
liche Dimensionen: Maße“. Aspekte des Schmucks wer-
den in diesem Kontext nicht als gesondertes Kapitel
behandelt, sondern den Materialien zugeordnet, vor al-
lem im Kontext der Schmiede- und Gelbgussarbeiten und
der Steinbearbeitung (Armreifen) erörtert. Der Körper-
schmuck bleibt ausgeklammert.
Die einzelnen Kapitel sind von der Struktur her leicht un-
terschiedlich aufgebaut, je nachdem, ob der zu behandeln-
de Aspekt von einem einzigen Grundmaterialtyp ausgeht
(z. B. Töpferei) oder eine Funktionsgruppe (z. B. Waffen)
zum Gegenstand hat. Im letzteren Fall wird zunächst der
Hintergrund der Nutzung beleuchtet, bevor die einzelnen
Gegenstände des Inventars beschrieben werden. Dassel-
be gilt für das Kinderspielzeug, das auch als Funktions-
gruppe zu werten ist. Unterschiede bei der Darstellung
durch den Autor resultieren auch daraus, ob eine Hand-
werkssparte ausschließlich oder überwiegend subsistenz-
orientiert ist wie die Flechterei oder vorrangig für den
Markt produziert (Töpferei). Während im ersteren Falle
ökonomische Gesichtspunkte nahezu ausgeklammert
bleiben, dabei leider auch aktuelle Fragen der Substituie-
rung der betreffenden Produktfamilien nicht behandelt
oder ganz am Rande gestellt werden, wird den ökonomi-
schen Aspekten der Töpferei in mehreren Abschnitten
unter Stichworten nachgegangen wie „Verkauf und Pro-
fit“, «Kauf und Eigentumsrechte“ und „Innovationen“.
Wie bei der Behandlung der Flechterei und ihrer Produk-
te endet der Autor auch bei der Töpferei mit einem kur-
zen Ausblick zur Zukunft dieses Metiers.
Für andere Sparten fehlt dieser Ausblick, was beispiels-
weise bei der Tuchbekleidung deswegen zu bedauern ist,
weil sich derzeit im ganzen subsaharischen Afrika ein
Strukturwandel weg vom traditionellen Gewebe hin zur
Altkleiderverwertung (europäische Importe, teilweise aus
karitativen Sammlungen) bzw. hin zur industriellen Tuch-
erzeugung und -Verarbeitung vollzieht, der erhebliche
Konsequenzen für das gesamte Handwerk hat und auch
zahlreiche Schneider/innen in ihrer Existenz gefährdet.
Die Darstellung der neueren Tendenzen im Schmiede-
handwerk macht dagegen sehr gut deutlich, dass sich hier
zwar ebenfalls ein Strukturwandel vollzieht, der aber trotz
einer Reihe von Problemen die Branche an sich nicht in
der Existenz gefährden dürfte, auch wenn mit großer
Wahrscheinlichkeit die ökonomische Zukunft des Metiers
nicht allzu großartig sein wird. Ein wesentliches Argu-
ment, warum es lokale Schmiede auch weiterhin geben
wird, ist dasselbe für einige andere Handwerkszweige, die
gegenwärtig zwar Einbrüche erleiden, aber der Import-
kultur nicht hilflos gegenüberstehen: die Verzahnung des
jeweiligen Handwerks mit der weiterhin ausgeübten
Landwirtschaft als ein zweites ökonomisches Standbein
der beteiligten Handwerker/innen.
In allen Kapiteln wird die geschlechtliche Arbeitsteilung
beschrieben, z.B. bei den Flechtarbeiten die Dominanz
der Männer und die hier im Vergleich mit den Gesell-
schaften nördlich der Sahara eher marginale Rolle der
Frauen. Umgekehrt wird bei der Töpferei das nahezu
völlige Monopol deutlich, das Frauen hier ausüben, und
zwar trotz der Marktbedeutung der späteren Produkte.
Zumindest bei den Bulsa gilt die häufige Regel folglich
nicht, dass im subsaharischen Afrika Männer dann ein
Gewerbe okkupieren, wenn es ökonomisch attraktiv ist
oder wird. Frauen bauen im Töpfergewerbe auch den
Ton selbst ab. Hier fehlt offenkundig die sonst nicht sel-
ten zu beobachtende Trennung zwischen der Materialbe-
schaffung, die z. B. in Marokko oder bei manchen Eth-
nien Malis, des Nigers und des Tschad von Männern
durchgeführt wird, und der Herstellung von Tonwaren.
Mischen sich in den zuletzt genannten Fällen auch Män-
ner wenig in die zeitraubende Tonwarenherstellung
selbst ein, außer bei industriellen Serien, so monopoli-
sieren sie doch die Tonbeschaffung, für die sie von ihren
Frauen (in teilweise erheblichem Umfang) einen Teil des
Ertrages einkassieren.
Kröger berichtet über weitere Gesichtspunkte der Hand-
werkszweige, so im Kontext der Töpferei über das Erler-
nen der jeweiligen Techniken, das sich vor allem innerhalb
der Verwandtschaft, bei Frauen bzw. Mädchen auch unter
Freundinnen, vollzieht.
221
TRIBUS 53,2004
Etwas aus dem Rahmen fallen Schmiedehandwerk und
Gelbguss. Werden sämtliche andere Handwerkszweige na-
türlich von Bulsa betrieben, so wird hierbei deutlich, dass
wir es mit einem Metier zu tun haben, das offensichtlich
von Einwanderern ausgeübt wird, die in mehreren Wellen
in die Region gekommen sind. Hier stehen die Bulsa in der
Tradition anderer saharischer und subsaharischer Ethnien,
bei denen die Eisenbearbeitung überwiegend durch Frem-
de ausgeübt wird, auch wenn diese seit Generationen fester
Bestandteil der Bulsa-Gesellschaft geworden sind.
Bei dem Umfang des in zwei Bänden gedruckten Werkes
ist es sicher sinnvoll, neben einer Präsentation der allge-
meinen Bibliographie am Buchende jeweils nach wichti-
gen Abschnitten eines Kapitels die dazugehörige wich-
tigste Literatur zusammenzufassen. Bei der Töpferei
finden wir z. B. jeweils einige Titel zu „Tonaufbereitung“,
zur „Spiralwulsttechnik“ oder über „wirtschaftliche As-
pekte der Töpferei“ aufgelistet. In anderem Kontext ist
diese zusätzliche Bibliographie etwas zu feingliedrig, etwa
wenn Referenzen über «Klopfeisen» oder spezielle Häm-
mer abgedruckt werden.
Der konsequente Verzicht auf das ethnographische Prä-
sens gelingt dem Verfasser nicht immer, bei den Ausfüh-
rungen über Kriegswaffen ist dieser sicher überhaupt
nicht angebracht. Auch wenn ein Blick auf die jeweils ver-
wendeten Quellen eine Information schnell zu datieren
ermöglicht, so bleibt angesichts der zahlreichen eigenen
Erhebungen, die Kröger bei den Bulsa angestellt hat und
die entsprechend ohne Referenz bleiben, unklar, ob der
jeweils dargestellte Sachverhalt heute noch gilt oder der
Vergangenheit angehört: Auch wenn es stilistisch viel-
leicht etwas stören mag, so wäre es für die Leserschaft
doch häufig wichtig zu erfahren, ob bestimmte Geräte z.B.
«heute», «vor 10 Jahren», um «1970» oder «bis in die erste
Hälfte des 20. Jahrhunderts» verwendet wurden.
Eine weitere Auslassung ist zu kritisieren; Der Bulsa-
Fachmann kennt sich zweifelsohne im Wohngebiet der
Bulsa aus, er ist sicher über die dortigen grundlegenden
ökologischen Bedingungen informiert und weiß über so-
zio-ökonomische Grundlagen der Bulsa-Gesellschaft Be-
scheid. Selbst dem ethnologisch vorgebildeten normalen
Leser fällt es dagegen schwerlich in den Hintergrund des
Buches über die materielle Kultur der Bulsa einzudenken
ohne eine zumindest kursorische Zusammenfassung die-
ses Hintergrundes, der in der Einleitung völlig fehlt.
Der Doppelband ist der Thematik angemessen gestaltet:
zahlreiche Zeichnungen innerhalb des Textes tragen zum
Verständnis der genauen Beschreibungen bei; die 184
Schwarzweiß-Abbildungen in einer qualitativ guten Foto-
dokumentation verfolgen den gleichen Zweck, auch wenn
es etwas störend ist, jeweils am Ende des zweiten Bandes
nachblättern zu müssen. Hier spielte offensichtlich der
Kostenfaktor eine limitierende Rolle. Ein sehr dichter In-
dex mit Glossar erleichtert dem systematischen Leser den
Zugang zu bestimmten Themen, auch zu solchen, die sich
nicht unmittelbar aus dem Inhaltsverzeichnis ergeben.
Weitere Anlagen behandeln Preisvergleiche für Hand-
werksprodukte, dokumentieren die beobachteten hand-
werklichen Techniken, beleuchten den Lebenslauf und
Werdegang eines Schmiedes oder beschreiben einen Ta-
gesablauf in einem typischen (?) Bulsa-Gehöft.
Frank Bliss
Smidt, Wolbert:
Afrika im Schatten der Aufklärung. Das Afri-
kabild bei Immanuel Kant und Johann Gott-
fried Herder. Bonn: Holos Verlag, 1999. 210
Seiten mit SW-Abbildungen.
ISBN 3-86097-345-2
Le problème de la dérogation des peuples non-européens
en général et africains en particulier dans l'histoire des
idées europénne constitue un fait auquel on a fini par prê-
ter la certitude de l'évidence. Or la connaissance actuelle
sur l'origine de ce phénomène résulte très souvent des
spéculations sous couvert d'investigation scientifique
dont le soucis primaire n'est toujours pas la recherche de
la vérité. Un tel constat exige forcément un retour critique
sur un sujet dont les conséquences culturelles, politiques
et sociales prolifèrent sans cesse la pensée moderne.
Soulignant cette implication actuelle du problème, Wol-
bert Smidt se propose dans son ouvrage intitulé „Afrika
im Schatten der Aufklärung. Das Afrikabild bei Immanu-
el Kant und Johann Gottfried Herder“1 (paru en 1999)
non pas de dissiper les préjugés qui caractérisent, jusqu' à
nos jours, la pensée occidentale vis à vis de l'Afrique, mais
de mettre particulièrement à nu les sources de l'image
ambivalente de l'Afrique dans la pensée philosophique
allemande pendant le 18ème siècle.
Le livre de Smidt se base sur l'hypothèse selon laquelle
l'image de l'Afrique, au 18ème siècle, ne résulte pas d'une
vision philosophique unitaire qui serait propre au siècle
dit celui des lumières, mais plutôt des idées et projections
anthropologiques, géographiques ainsi que celles de la
philosophie de l'histoire dont l'origine hétérogène se ca-
nalise dans deux courants de pensée extrêmement con-
currents et quasi juxtaposés, à savoir celui d'Immanuel
Kant et de Johann Gottfried Herder.
S'appuyant sur cette hypothèse qui s'élabore sur
l'ouverture d'une double perspective, Smidt montre dans
la première partie de son ouvrage comment Kant, l'un des
grands penseurs allemands et fondateur de la géographie
anthropologique au début du 18ème siècle, s'enferme, sous
l'emprise des fantasmes d'une vision idéologique et racia-
le, dans l'obscurité d'une utopie de l'Autre absolu que
devrait incarner l'Africain. Selon Smidt qui, dans cette
perspective, rejoint la théorie fondamentale de la science
de l'Autre, la xénologie - initiée par Duala M'bedy-, la
pensée de Kant reste, à ce sujet, figée dans une structure
dichotomique visant d'une part à construire une image
perverse de l'Africain et d'autre part à instaurer et à fonc-
tionaliser la hiérarchisation des races et cultures. La con-
séquence immédiate sera le mythe de la supériorité de la
race blanche et de la culture occidentale qui constituera,
au 19ème siècle, la base idéologique de l'ethnologie et de la
colonisation.
Ce faisant, Kant fonde sa vision de l'Afrique, sans peut
être le savoir, sur un paradoxe qui, à vrai dire, exige une
remise en cause de ce dont il se réclame le plus comme
1 L'Afrique à l'ombre de 1' »Aufklärung » . L'image de
L'Afrique chez Immanuel Kant et Johann Gottfried Her-
der, paru en 1999
222
Buchbesprechungen Amerika
fondement idéel de la pensée occidentale ; la raison et la
rationalité. Dans ce sens il apparaît pertinent, selon Smidt,
de voir que Kant prononce, en s'appuyant exclusivement
sur les récits de voyages , un jugement sur l'Afrique dont
la finalité n'est rien d'autre qu'un colportage et une fixati-
on théorique des légendes les plus absurdes que les épo-
ques obscures de l'histoire occidentale ont pu construire
sur l'Afrique. Ce qui semble être spécifique c'est que Kant
leur revêt d'un manteau rationnel. Or si Kant est fonda-
mentalement raciste, le racisme et la xénophobie exacer-
bés qui se moulent dans sa pensée, ne sont pas une appa-
rition singulière mais plutôt une vision qu'il partage avec
plusieurs de ses précurseurs et contemporains.
La deuxième partie du livre de Smidt est consacrée au
penseur Johann Gottfried Herder. Smidt montre avec
pertinence que le traitement ignomineux de l'Afrique que
Kant propage avec succès ne contaminera pas tous les es-
prits de son temps. Ironie du sort ou coincidence histo-
rique, c'est son élève Herder qui traversera ses desseins de
manière remarquable. Contrairement à celle de Kant, son
père spirituel, la pensée de Herder, que Smidt qualifie de
moderne, est vouée à une remise en question des idées
reçues et dogmatiques du début du siècle des lumières.
Ceci aboutira inéluctablement au rejet du paradigme kan-
tien qui provient de la spéculation sur les idées creuses au
mépris de l'évidence.
Selon Smidt, ce rejet ne se manifeste nulle part avec tant
d'envergure que dans la conception du phénomène « Auf-
klärung » comme un processus universel qui unit peuples
et cultures differents dans un humanisme cosmopolite.
Cette vision équitée entres les cultures peut par consé-
quent être considérée comme revolutionaire car, comme
le montre Smidt, Herder ne se limite pas à une redéfiniti-
on du système épistémique kantien essentiellement hosti-
le à l'Afrique. Il s'attaque également à l'illusion d'une
conception chauviniste de l'Europe comme centre du cos-
mos et origine de la civilisation.
Le contraste est pertinent, le résultat aussi. Kant et Her-
der n'avaient jamais été en Afrique, mais ils révendiquent
explicitement le statut de spécialistes. Deux conceptions
contraires qui correspondent, du point de vue chronolo-
gique, respectivement au début et à la fin du siècle des
lumières en Allemagne, résultent de leur interprétations
antithétiques des récits de voyages à travers lequels ils
perçoivent l'Afrique. Mais considérer la critique de Her-
der comme un dépassement de la philosophie kantienne
sur l'Afrique est une conclusion trop simpliste. En effet si
la globalisation et les recherches contemporaines sur
l'interculturalité donnent raison à Herder, la rhétorique
politique xénophobe est en fait de même conforme avec
l'idéologie kantienne au delà du « political correctness ».
D'autre part la tentative de défendre Kant sur la question
de racisme est une entreprise hasardeuse. Le contraire
étant vrai, il est difficile de trouver une justification scien-
tifique pour une décharge convainquante en faveur de
Kant. Ce qu'on peut finalement reprocher à Smidt c'est
une certaine appréhension dans la prise de position. Ce ci
se traduit par une fréquence de constats certes pertinents
mais plus ou moins neutres.
Malgré ces insuffisances qui accompagnent plus ou moins
naturellement chaque travail de recherche, le livre de
Wolbert Smidt est sans doute l'une des plus importantes
publications consacrées à la question africaine dans
l'histoire des idées allemandes au 18ème siècles, ces derniè-
res années. Son apport scientifique et son originalité
tiennent lieu non seulement d'une approche véritable-
ment interdisciplinaire qui ouvre particulièrement les
perspectives philosophiques, anthropologiques, ethnolo-
giques, xénologiques et historiques mais surtout aussi du
fait qu'en vérifiant les sources de l'histoire des idées au
18ème siècle jusqu'alors inexplorées, l'auteur pose plus de
questions qu'il en cherche les solutions. L'ouvrage offre à
cet égard le cadre herméneutique d'un nouveau débat sci-
entifique.
Dans l'élégance de la simplicité de sa démarche méthodo-
logique Smidt met en évidence d'une part les lacunes de la
recherche scientifique sur le 18ème siècle et d'autre part il
montre, à travers une analyse de l'image de l'Afrique dans
le contexte historique et ses implications dans la pensée
contemporaine, la nécessité d'une mise en cause du siècle
de lumières comme paradigme universel de toute
l'humanité, car il ne s'agit point d'une pensée exclusive-
ment rationelle équitée tel que beaucoup le pensent enco-
re aujourd'hui, mais plutôt de visions ambivalentes et
contradictoires dont Smidt expose les dimensions obscu-
res jusqu'alors mises à l'écart de la réflexion scientifique.
S'il est vrai que Smidt ne fait pas un saut dans l'inconnu, il
reste cependant indéniable qu'il pose, dans son livre, les
jalons d'une réflexion heuristique qui, poursuite avec ri-
gueur et objectivité, est susceptible de provoquer dans
l'avenir une « mutation de paradigme » sinon de contribu-
er à repenser, dans un contexte interculturel et global,
l'histoire des idées allemandes encore hypothéquée par le
vice d'une myopie occidentale à l'égard des flétrissures du
siècle des lumières.
Yomb May
Buchbesprechungen Amerika
Reuter, Astrid:
Voodoo und andere afroamerikanische Reli-
gionen, (aus der Reihe „Wissen“). München:
C.H. Beck, 2003.127 Seiten.
ISBN 3-406-48016-0
Programm der schmalen und preisgünstigen Taschenbuch-
Reihe „Wissen“ ist es, anspruchsvoll und knapp über die
wichtigsten Gebiete aus den Kultur- und Naturwissen-
schaften zu informieren. Als Autoren werden renommierte
Wissenschaftler verpflichtet, die ihr Wissen fächerübergrei-
fend zu vermitteln verstehen und die wesentlichen Frage-
stellungen auch dem interessierten Laien als wichtigster
Zielgruppe verständlich darzustellen vermögen.
Astrid Reuter ist Religionswissenschaftlerin und Ethno-
login, die sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der
afroamerikanischen Religionen beschäftigt.
Der Autorin gelingt das schwierige Unterfangen, auf et-
was mehr als 100 Seiten ein vielschichtiges Thema wie die
unterschiedlichen und variationsreichen Facetten der
afroamerikanischen Religionen gut lesbar und profunde,
detail- und kenntnisreich darzulegen. Eine Beschränkung
war daher in der Tat notwendig. So behandelt die Autorin
223
___________TRIBUS 53,2004
lediglich vier Typen des breiten Spektrums der bis heute
lebendigen afroamerikanischen Religionen, nämlich den
Candomblé und die Umbanda in Brasilien, den Voodoo in
Haiti und die Santería in Kuba. Astrid Reuter, die bereits
durch die Wahl des Buchtitels „Voodoo...“ mit ambiva-
lenten Gefühlen zwischen Faszination und Schrecken den
Leser werbewirksam lockt und neugierig stimmt, will die
fremd gebliebene Welt der afroamerikanischen Religio-
nen verständlicher machen und das allzu Exotische daran
minimieren.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert; Das erste be-
leuchtet die geschichtlichen Hintergründe, die europäi-
sche Präsenz in Afrika, die Kolonisierung Amerikas, die
afrikanischen Religionen sowie die religiösen und gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen in der „Neuen Welt“.
Zur anschaulichen Dokumentation der Transportwege
des Sklavenhandels aus Afrika nach Amerika sowie der
Anzahl und der Herkunftsländer der Sklaven ist der Lek-
türe eine Karte beigefügt. In den nächsten Kapiteln wer-
den die unterschiedlichen Entwicklungen der afrikani-
schen Religionen vor dem Hintergrund der lokalen und
nationalen Kontexte dargestellt. Das letzte Kapitel wid-
met sich der Ausbreitung der afroamerikanischen Religi-
onen Lateinamerikas in die USA und zeigt jüngere Ent-
wicklungstrends auf.
Neben den Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte der
jeweiligen Ausprägungen und Kontexte stellt Reuter
meist noch die besondere Forschungssiluation in den ein-
zelnen Ländern heraus.
Aufgrund der vielen fremdsprachigen Begriffe hat die
Autorin dem Büchlein einen Glossar beigefügt, der auch
als Sachregister dient. Die weiterführenden Literaturhin-
weise beinhalten die einschlägigsten Autorinnen im Be-
reich der afroamerikanischen Religionsforschung sowie
empfehlenswerte Bildbände. Auf der Umschlagseite er-
hält der Leser durch ein Motiv des Künstlers Hector Julio
Paride Bernabò (Carybé) einen visuellen Eindruck von
der äußeren Erscheinung einer im Kult agierenden Gott-
heit, die er gar im Laufe der Lektüre zu deuten versteht.
Kurz zum Inhalt: Nachdem sich in der „Neuen Welt“ die
Indianer für die Arbeit in der Plantagenwirtschaft als „un-
tauglich“ erwiesen, setzte ab Mitte des 16. Jahrhunderts
ein intensiver europäischer Sklavenhandel ein. Schät-
zungsweise bedeutete er für 10-12 Millionen Menschen
afrikanischer Herkunft im Verlauf von knapp 3 Jahrhun-
derten den Verlust ihrer Heimat und damit ihrer religiö-
sen und sozio-kulturellen Wurzeln, für viele gar den Tod.
Insbesondere die in den Städten entstandenen (Laien)-
Bruderschaften erlaubten es nach geraumer Zeit den afri-
kanischen Sklaven, das versprengte religiöse, soziale und
kulturelle Erbe zu reorganisieren. Da diese Vereinigun-
gen einem katholischen Heiligen unterstanden, fanden
Heiligenstatuen und liturgische Elemente und Motive des
Katholizismus schließlich Eingang in die religiösen Arti-
kulationsformen der Afrikaner. Der iberische Volkska-
tholizismus mit herausragender Bedeutung der kulturel-
len Verehrung zahlreicher Märtyrer und Heiliger hatte
dabei den größten Einfluss. So ist der katholische Synkre-
tismus ein typisches Merkmal des Voodoo, Candomblé,
der Santería und Umbanda. Er diente den Sklaven als ge-
schickte „Maskerade“, um ihren Widerstand gegen die
Unterdrückung zu verdecken. Die Santería (Kuba), aber
insbesondere die Umbanda (Brasilien), besitzen darüber
hinaus starke Entlehnungen aus dem Gedankengut des
europäischen Spiritismus. In der Umbanda werden spiri-
tistische Séancen abgehalten, wo die Geistwesen gezielt
herbeigerufen werden. Mit Hilfe eines Mediums werden
ihre Ratschläge und Botschaften übermittelt. Nicht die
Trance eines Kultmitgliedes durch die Geist-Besessenheit
(mit Hilfe von Gesängen und Trommelschlägen herbeige-
führt) ist wichtiger Bestandteil einer Zeremonie, sondern
die bewusste mediale Aktion.
Trotz abweichender Götternamen und erheblicher allge-
meiner Unterschiede besteht eine deutliche Verwandt-
schaft zwischen Candomblé, Voodoo und Santería. Von
Astrid Reuter werden sie auch als „Schwesternreligio-
nen“ bezeichnet (Die Umbanda weist wie oben gesehen
in vielen Aspekten einen Sonderweg auf.). Allen gemein-
sam ist die Vorstellung einer höchsten Gottheit, die sich
bald nach ihrem Schöpfungswerk zurückzieht und den
Kontakt zu den Menschen den (niedrigeren) Göttern und
Geistern überlässt.
Spannend für den Leser ist die derart große Bandbreite
der Götter- und Geisterwelt in den afroamerikanischen
Religionen. Die Gottheiten sind multiple, oft widersprüch-
liche Persönlichkeiten mit ausgeprägten Vorlieben. Sie
werden mit bestimmten Tieren, Pflanzen, Naturgewalten
(Wind, Gewitter, Wasser), sozialen Tätigkeiten/Aktivitä-
ten (Jagd, Landwirtschaft, Krieg, Tänzen, Gesängen), Ma-
terialien (Metallen, Steinen, Muscheln) und Gegenständen
oder mit Liebe, Fruchtbarkeit,Tod, bestimmten Wochenta-
gen assoziiert. Ein paar bedeutende aus der Fülle der Göt-
ter- und Geisterschar werden von Astrid Reuter genauer
beschrieben, um sich ein lebendiges Bild ihrer schillernden
Persönlichkeit machen zu können. Doch würde es den
Rahmen der Beck'sehen Reihe sprengen, sie alle auflisten
und darstellen zu wollen. Gleichzeitig widerspricht es all-
gemein der Entwicklungsdynamik dieser Religionen, da
sie keiner zentralen Kontrollinstanz unterliegen, die über
die wahre religiöse Lehre und den Kult wacht. Wie Astrid
Reuter deutlich darlegt, sind die jeweiligen Ausprägungen
vielmehr den konkreten Bedürfnissen und den sich wan-
delnden, oft problematischen Lebensbedingungen der
Mitglieder/Anhänger der einzelnen Kultstätten flexibel
und schöpferisch-kreativ angepasst. Sie bieten den Men-
schen Identifikationsmöglichkeiten und bringen die jewei-
ligen Lebenseinstellungen zum Ausdruck.
Da der gesamte Alltag von der Macht der Götter und
Geister durchdrungen und der alltägliche Umgang mit
ihnen überwiegend pragmatisch ist, stellen die Kultstätten
echte Beratungs- und Heilzentren dar.
Eine Besonderheit der afroamerikanischen Religionen
ist, dass sie zu den wenigen Religionen weltweit gehört, in
denen die Zahl der Frauen in gehobenen und prestige-
trächtigen Ämtern und Positionen z.B. als Kultleiterinnen
überwiegt. Aber auch bei diesem Aspekt macht die Um-
banda eine Ausnahme.
Mittlerweile hat das globale Netz in den afroamerikani-
schen Kultgemeinschaften in den USA seinen festen Platz
erobert und wird ausgiebig zur Selbstdarstellung und in-
haltlichen Auseinandersetzungen genutzt. Reuter ist zwar
der Meinung, dass das Internet der esoterischen Vereinze-
lung und dem Verlust gemeinschaftlich praktizierter Reli-
gion Vorschub leistet, aber auch virtuell an religiöse Ban-
224
Buchbesprechungen Südasien
de anzuknüpfen erlaubt, die durch die Versklavung
zerrissen wurden.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass Astrid Reuter durch
ihre Zusammenschau der afroamerikanischen Religionen
sowohl dem Laien als auch dem bereits mit dem Thema
Vertrauten einen guten und profunden Überblick zum
Thema gewährt. Doch hätten die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede vor allem zwischen Voodoo, Santería und
Candomblé für den Leser stärker herausgearbeitet wer-
den können. So kommen einige Wiederholungen zustan-
de, die es dem Leser allerdings erlauben, in die einzelnen
Kapitel unabhängig voneinander einzusteigen. Auch wäre
es spannend gewesen, von Astrid Reuter etwas über neu-
ere Entwicklungstrends in Europa - wie sie es deutlich für
die USA aufzeigt - zu erfahren. Interessant wäre die Fra-
ge, ob eine afroamerikanische Religionsszene besteht,
und wenn ja, wie sich diese ausgeprägt hat.
Sabine August
Buchbesprechungen Südasien
Dahm, Bernhard / Ptak, Roderich (Hrsg.):
Südostasien-Handbuch: Geschichte, Gesell-
schaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. München:
Beck, 1999. 684 Seiten, 36 Tabellen, 70 Abbil-
dungen, 12 Karten, 32 Seiten klein gedrucktes
Literaturverzeichnis, 18 Seiten klein gedruck-
ter Index, 4 Seiten Kurzüberblick.
ISBN 3-406-45313-9
Fast 700 Seiten - und dann noch die Bezeichnung “Hand-
buch” - verständlich wird dies auf dem Hintergrund der
immensen geographischen Verbreitung: von der Grenze
Tibets bis nach Merauke (vor Papua Niugini) und vom
Kap Engano (Nord-Luzon) bis zur Insel Enggano, darin
eingeschlossen die zweit- und drittgrößte Insel, das viert-
volkreichste Land sowie die frequentierteste Schifffahrts-
passage der Welt. Beeindruckend ist der ausgedehnte The-
menbereich: sieben “Wissensgebiete” haben dreißig an-
geblich “international bekannte Fachautoren” bearbeitet.
Eingesetzt wird mit geographischen, anthropogeographi-
schen und linguistischen Gegebenheiten. Schwerpunktmä-
ßig breit (da sich hier wohl die Herausgeber profilieren
konnten) wird Geschichte und geschichtlich bedingter Ge-
genwartszustand beschrieben, wobei nur letzteres nach
den heutigen modernen Staaten aufgegliedert ist.
Daraufhin folgt ab Seite 349 die zweite Hälfte mit ausge-
wählten Fachbereichen; noch einmal geschichtliche Ent-
wicklung im Hinblick auf Einflussnahme bestimmter
Großkulluren (Indien, Islam, China, Europa), Religionen,
nur verkürzt: Literatur, “Kunsthandwerk“ und Architek-
tur. Schließlich auf nur 50 Seiten; “ASEAN-Staatenbund“
und “Wirtschaft“.
Können die Abhandlungen der ersten Hälfte noch als flä-
chendeckend und allgemeingültig beurteilt werden, so stel-
len diejenigen der zweiten Hälfte exzerptmäßig Spezialdar-
stellungen aus dem Fachgebiet der einzelnen Autoren dar.
Die Fachleute jener ersten 350 Seiten haben gediegen, mit
großem Überblick und teilweise minutiös ihre Themen be-
arbeitet. Besonders herausheben möchte ich MICHAEL
J.G. PARNWELL und THOMAS O. HÖLLMANN, der
umfassend nach intensiver Einarbeitung “die Völker und
ihre traditionellen Lebensformen“ besprochen hat. Ähnlich
kann auch R. PTAKs Herausarbeitung der “ arbeitsteiligen
Einbettung Südostasiens in die Weltwirtschaft“ im 16. und
17. Jahrhundert hervorgehoben werden. Sehr positiv ist
PTAKs Quellenkritik und die daraus sich ergebenden
Grenzen bei Folgerungen in der Geschichte, Interessant ist
der Vergleich der Arbeit JURRIEN VAN GOORs (18. und
beginnendes 19. Jahrhundert) mit der DAHMs (19. und 20.
Jahrhundert): VAN GOOR hält sich mit seiner Beurteilung
zurück; problematische Entwicklungen (z.B. das “Kultivie-
rungssystem“, holländisch cultuurstelsel) wird in seinen Vo-
raussetzungen und Auswirkungen von verschiedenen Sei-
ten beleuchtet; die Beurteilung ist daher abgewogen, nicht
einseitig negativ (“Akte grober Ausbeutung“) wie bei
DAHM. Beide Darstellungen gehören zu dem Besten, was
das Handbuch bietet. Trotzdem erheben sich Fragen, wo es
um m. E. vorschnelle Verallgemeinerungen geht: VAN
GOORs Folgerung (Seite 146) “die Missionsarbeit bildet...
ein konstantes Element portugiesischer Präsenz in Asien...“
trifft bei der anfangs sehr erfolgreichen Theatinermission in
Südost-Bomeo nicht zu. Die gewaltsame Behinderung sei-
tens portugiesischer Kapitäne hat mit zum Untergang der
katholischen Pionierarbeit im Innern Borneos geführt. Im
18. Jahrhundert fanden die Theatiner nur bei den Briten in
Bengkulen Unterstützung.
Natürlich erlaubt die komprimierte Darstellung der Arbei-
ten keine Nachprüfung anhand des Quellenmaterials. Aber
bei den Literaturverzeichnissen fällt auf, dass einheimische,
nicht-“westliche“ Quellen nur in verschwindend geringer
Anzahl aufgelistet sind: z.B. werden aus Indonesien (in Ja-
karta herausgegeben) nur drei Bücher in englischer Spra-
che angegeben, keine einzige Veröffentlichung in indonesi-
scher Sprache. Dabei werden ab den siebziger Jahren All-
gemeindarstellungen indonesischer Missions- und Kir-
chengeschichte nur in Indonesien verlegt und in indonesi-
scher Sprache publiziert. Eine besondere Rolle in der indo-
nesischen Beamten- und Personalpolitik mit tiefen Ein-
schnitten im Kader der Führungskräfte spielte die Grün-
dung der islamischen Intellektuellenvereinigung ICMI am
7.12.1990 in Malang/Ostjava. Allerdings hat bei der Grün-
dungssitzung (“Symposium") nicht Habibie (so DAHM S.
248) den Vorsitz geführt sondern Präsident Suharto (vgl.
HASAINI; A.: Habibie, Soeharto dan Islam. Jakarta: Gema
Insani Press, 1996. Seite 46, 47). Sukarno hat ab 1963 sein
Volk nicht zum “Kampf gegen den Neo-Imperialismus“
(DAHM, S. 240) sondern gegen den Neo-Kolonialismus
(Nekolim war das große Schlagwort!) aufgerufen. Bei der
Umsiedlung “Hunderttausender Bauern aus dem überbe-
völkerten Java“ auf die Außeninseln sieht DAHM (S. 246)
“erstmals wirkliche Fortschritte“. ROBERT CR1BBS in
seinem hervorragenden Historical Atlas of Indonesia
(London: Curzon 2000. Seite 57. In vielem würde ich
CRIBBS dem Handbuch vorziehen) kommt nur für die
Zeit von 1970 bis 1985 auf die Summe von fast 1,8 Millio-
nen transmigrierter Javanen. Dass die von der Zentral-
regierung verordnete und verantwortete Umsiedlung auch
mit zu den Gewaltausbrüchcn auf den Molukken, auf Kali-
mantan (“Jawanisasi" und “Islamisasi“) und sicher auch in
Aceh geführt hat, wird mit keinem Wort erwähnt.
225
___________TRIBUS 53,2004
Auch MICHAEL VICKERY deutet sehr zurückhaltend
in seinem Kambodscha-Länderprofil (S. 253) die brutale
Massakrierung von wenigstens einer Million Kambod-
schanern durch die Khmer Rouge an: “diese Politik for-
derte eine Unzahl von Menschenleben“. JAN M. PLU-
VIER stellt eindeutig in seinem ebenfalls empfehlenswer-
ten Historical Atlas of South-East-Asia (Leiden: E.J. Brill
1995. Seite 50) fest; “The Khmer Rouge established the
most murderous régime in South-East-Asian history“.
Ganz anders wieder PTAK im Länderprofil über Ost-Ti-
mor; auch hier sehr ausgewogen die Beurteilung: Offen
wird berichtet über “gezielten Terror“ (mehr als 100.000
Einheimische, ein Siebtel der Bevölkerung umgekom-
men), “Greuel“, “schwere Menschenrechtsverletzungen“,
“Massaker an der Zivilbevölkerung“ seitens der indonesi-
schen Besatzer, islamische Einwanderer mit Negativfol-
gen einheimischen Christen gegenüber. Andrerseits wird
auch den USA und Australien Mitschuld an der “tragi-
schen Entwicklung“ angelastet.
Wie bereits erwähnt, geht die zweite Hälfte (ab Seite 349)
über meist fragmentarisch behandelte Einzelschwerpunk-
te nicht hinaus. Entsprechend weniger gewichtig sind die
hiesigen Abhandlungen. Die ersten vier Aufsätze über
den Einfluss fremder Großkulturen sind noch recht
brauchbar und zeichnen sich durch hohe Kompetenz aus.
MONA ABAZA (Islam) bringt trotz der wenigen Seiten
bis jetzt Unbekanntes und Unbeachtetes zu Papier; end-
lich wird auf die Fülle einheimischer - indonesischspra-
chiger - Literatur und auf die gerade heute hochaktuelle
und brisante Beziehung indonesischer Gebildeter zu den
westasiatischen Islamstaaten hingewiesen. Bei GU1LLOT
(“Europäisches Südostasienbild“) vermisst man den Hin-
weis auf die Evolutionisten des 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts, die sich gerade Insel-Südostasien herausge-
sucht haben, um nach dem beschwanzten Menschen oder
doch wenigstens nach einem homo sapiens mit Schwanz-
ansatz Umschau zu halten (so die Skandinavier C.Bock
und C.Lumholtz, bis zu einem gewissen Grad auch der
deutsche Arzt Dr. H. Breitenstein).
RAMSTEDTs Hinduismusaufsatz ist hochaktuell und
weist auf eine ganz neue Situation: Bali war jahrhunderte-
lang von der “neohinduistischen“ Entwicklung auf dem
Subkontinent abgeschnitten (z.B. Kuhverehrung) und er-
lebte in den vergangenen Jahrzehnten eine intensive “In-
disierung“; Einzelheiten beschreibt RAMSTEDT noch
nicht. Offensichtlich sollten sie seiner Monographie “Hin-
duism in Modern Indonesia“ Vorbehalten bleiben. Anders
verhält es sich mit der Darlegung dessen, was “Naturkul-
le“ genannt wird. Schon lange wartet man auf die Fortset-
zung der vor bald dreißig Jahren erschienenen “altindone-
sischen Religionen“ des wahrhaft universalen Ethnologen
WALDEMAR STÖHR. Hier und besonders in jenem
monographischen “Hinduism in Modern Indonesia“ wäre
der Platz dafür gewesen. Aber aus “altindonesischen Reli-
gionen“ sind merkwürdigerweise “Naturkulte“, nicht
Stammes- oder, wenn schon, Naturreligionen geworden.
RAMSTEDT stellt sich hier neben die ihm nicht gerade
sympathischen christlichen Bali-Missionare. Diesen wirft
er vor, den Bali-Hinduismus nicht als “Religion“ angese-
hen zu haben, sondern als “animistisch, oft barbarisch und
dem modernen Zeitalter wenig angemessen“. Eine Quel-
lenangabe (vor allem, was die “chinesischen Missionare“
betrifft) wird nicht gegeben, vielleicht wird hier auf eine
Unterstellung moderner gebildeter Hindu-Balinesen zu-
rückgegriffen. Und jetzt verweigert RAMSTEDT den
Angehörigen der Kaharingan-Religion Kalimantans (fast
200.000 Anhänger in Mittel-Kalimantan nach SIAN JAY
in Borneo Research Council Monograph Series II 1993, S.
13; mit eigener Hochschule, eigenem Offenbarungsbuch
und hunderten praktizierenden Religionslehrern in staat-
lichen Schulen) den Begriff “Religion“ und degradiert sie
zu einem “Naturkult“. In Indonesien kommt RAMSTEDT
auf nur drei solcher Naturkulte zu sprechen. Den meisten
Raum nehmen die Kaharingan-Gläubigen ein. Oberfläch-
lich wird deren Lehre dargelegt. Offensichtlich ist nur
WEINSTOCKs Aufsatz „Kaharingan“ (in KIPP/ROD-
GERS Indonesian Religions in Transition. Tucson 1987:
The University of Arizona Press) zur Hand genommen
worden, der auf einer Feldforschung bei dem abgelege-
nen, kleinen Stamm der Luangan-Dayak östlich des Bari-
to fußt. Manche Angaben (“haring, was...Ursprung be-
deutet“, “kein sakrales Schrifttum“) sind schlichtweg
falsch, vieles einseitig und verzerrt (Trancetechniken wer-
den heute bei den Kaharingan-Ritualen nicht mehr ange-
wendet!). Dann werden noch die hinduistischen Karo-Ba-
tak (angeblich “viele“, nach SILVIA VIGNATO in
Hinduism in Modern Indonesia S. 253 knapp 5.000 der
insgesamt 300.000 Karo-Batak mit abnehmender Ten-
denz) und die Aluk To Dolo-Religion der Sa'dan Toraja
(79.200 Anhänger nach Internet-Angaben) aufgezählt.
Um dem südostasiatischen Rahmen gerecht zu werden,
werden noch die Negrito-Stämme West-Malaysias und
die weiter nördlich beheimateten Karen genannt. Dem
Kenner indonesischer autochthoner Religionen kommen
Zweifel am Sinn einer derartigen Darstellung.
Ernstzunehmender sind die nachfolgenden Kurzaufsätze.
WENDT stellt in seiner Christentumsbeschreibung den
Katholizismus ganz in den Vordergrund , der Protestantis-
mus wird nur am Rand erwähnt, von den Erweckungen
(Timor, Inner-Borneo) wie von den Spannungen und der
Bedrängnis seitens des radikalen Islam erfährt man nichts.
Ähnliche Konzentration auf ein Spezialgebiet findet man
bei SRI KUHNT SAPTODEWO. Bei ihrem “Kunsthand-
werk“ fehlt die Keramik und Mattenflechterei. Bei den
“Literaturen Indonesiens und Malaysias“ werden Auto-
ren West-Malaysias, Sumatras und Javas bekannt gemacht.
Von Ost-Malaysia und den übrigen Inseln (z.B. F. UKUR
in Kalimantan) erfährt man nichts. Im Architekturaufsatz
liest man einiges über die Bauten, die zum Weltkulturerbe
gehören, aber kaum etwas über tropenkonformen Häu-
serbau; die Seri Strategi Arsitektur des Kanisius Verlages
in Yogyakarta/Java würde hierzu wertvolle Hinweise ge-
ben.
Von historischem Ballast befreit werden moderne Ent-
wicklung, Zustand und Zukunftsaussichten südostasiati-
scher Wirtschaft (seit 1960) beschrieben, interessant und
aufschlussreich auf dem Hintergrund reicher wirtschaftli-
cher Ressourcen. Gut ist das Zusammenspiel von Bildung
und Einkommenssteigerung dargelegt und graphisch dar-
gestellt. Auch hier kann es sich die Autorin nicht leisten,
besonders privilegierte Regionen (z.B. die Ölstädte Su-
matras und Borneos) herauszugreifen.
Gebietseinteilung, Schwerpunktverteilung in zeitlicher
und örtlicher Hinsicht stellte für die Herausgeber eine
226
Buchbesprechungen Südasien
kaum zu bewältigende Aufgabe dar. Das Buch wurde kei-
ne Enzyklopädie, es blieb vor allem im zweiten Teil viel-
fach Fragment und damit „Handbuch“. Wegen gewisser
Mängel bei der Behandlung von Einzelbereichen ist es für
schwerpunktmäßige Südostasienbibliotheken unbefriedi-
gend. Minderheitenprobleme, radikaler und militanter
Islam des 21. Jahrhunderts, Tourismus, gerade die in die-
sem Weltteil weit verbreitete Magie und Esoterik, Fach-
und belletristische Literatur in einheimischer Sprache, all
dies vermisst der, der sich in diese Spezialgebiete vertie-
fen will. Wegen seiner fundierten Abhandlungen im ers-
ten Teil tut das Buch trotz aller Oberflächlichkeit und
Einseitigkeit im zweiten Teil für den, der sich rasch infor-
mieren will, gute Dienste.
Martin Baier
Gastdozent in Kampung Baru/
Ost-Kalimantan, Indonesien
Ramstedt, Martin (Hrsg.) :
Hinduism in Modern Indonesia. A minority Re-
ligion between local, national, and global inter-
ests. London: RoutledgeCurzon, 2004. 290 Sei-
ten, 7 Abbildungen, 3 Karten, 10 Seiten Index.
ISBN 0-7007-1533-9
Natürlich ist vorliegendes Buch keine Monographie im
engeren Sinn. Das wäre der Fall, wenn es sich auf das hin-
duistische Bali und seine Nachbarinseln Nusa Penida und
West-Lombok beschränken würde. Aber dieses Hinduis-
musbuch bezieht nichtislamische und nichtchristliche
Gruppen der indonesischen Außeninseln von Nordsumat-
ra bis Ambon mit ein. Weiterhin werden Sondergruppen
(nichtchristliche Theosophen, seit 60 Jahren in Indonesien
nicht mehr vertreten!) und die nichthinduistische Weltre-
ligion des Buddhismus, soweit sie für den Bali-Hindu von
Interesse und in Indonesien vertreten ist, behandelt.
Der Herausgabe dieses Buches ist eine “Konferenz“ des
renommierten “International Institute for Asian Studies“
in Leiden mit dem gleichen Thema am 16./17. September
1999 vorausgegangen. Den Konferenzteilnehmern wur-
den die Vorträge der Referenten in einem nicht zur Veröf-
fentlichung bestimmten Sammelband überreicht; zum
großen Teil wurden sie redigiert, aber auch unverändert in
RAMSTEDTs Buch übernommen. Die 16 Beiträge in
diesem Buch stammen von einem bunt gemischten Team
internationaler Fachleute. Die Mehrheit (neun Autoren)
sind zwar noch im kontinentalen Europa beheimatet.
Aber begrüßenswert ist, dass drei Autoren Indonesier
sind. Obwohl einige wenige (HEFNER!) noch keine in-
donesische Literatur bearbeitet haben, war für die meis-
ten Autoren der Einbezug indonesischer Quellen selbst-
verständlich. Es fällt auf, dass außer dem ehemaligen
Ordensangehörigen und liberalen Katholiken KAREL
STEENBRINK kein Missionstheologe an der Konferenz
teilgenommen und einen Beitrag geliefert hat. Im Hin-
blick auf Nordsumatra, Mentawai und nicht zuletzt Bali
könnte man von Unverzichtbarkeit sprechen. Genauso
werden die Entwicklung und die Religionspolitik wäh-
rend der Japanerzeit vermisst. Gerade bei der größten
außerbalinesischen “Hindugemeinschaft“, der Agama
Hindu Kaharingan in Kalimantan, spielten die Jahre 1943
bis 45 zur Konsolidierung dieser Religion eine entschei-
dende Rolle. Aber dazu müsste u. a. im Archiv von Missi-
on 21/Basel (die Schweiz war auch im pazifischen Krieg
neutral!) intensives Quellenstudium betrieben werden.
Richtig gesehen und in seiner Bedeutung intensiv bear-
beitet wurden die Suharto-Zeit (ab 1966) und die Islami-
sierung in der indonesischen Politik ab 1990. Wie sich die
Hindu-Gemeinschaften in diesen Jahren angepasst haben
bzw. angepasst wurden, ist der Schwerpunkt der meisten
Beiträge.
RAMSTEDTs 34 Seiten lange Einleitung nimmt sich die
Zeit von 1945 bis zum Ende der achtziger Jahre, MICHEL
PICARD die Kolonialzeit und den Beginn der Sukarno-
Ära vor; für NGURAH NALA stehen Erziehung und
Erwachsenenbildung im Mittelpunkt, was in den Jahren
1960 bis zur Jahrtausendwende aktuell war. I GUST1
NGURAH beschreibt die Probleme, die durch die indo-
nesische Staatsideologie in der Suharto-Zeit (Orde Baru)
ausgelöst wurden. Sein indonesischer Text ist stellenweise
zu frei übersetzt. Bali hat sich natürlich auch wirtschaft-
lich nicht zu einer “Industriegesellschaft“ (Seite 84) ent-
wickelt, sondern “verändert sich in Richtung auf eine In-
dustriekultur“ (Konferenz-Sammelband S. 1). Bei der
Einfügung der unbedeutenden Luangan-Dayak (S. 85)
trifft man auf RAMSTEDTs redigierende Hand. YA-
DAV SOMVIR und LEO HOWE kommen in den letzten
beiden Beiträgen auf die Einflüsse des modernen Indien
zu sprechen: Auslandsstudium balinesischer Studenten in
Indien, Pilgerfahrten nach indischen Heiligtümern (Ähn-
liches berichtet IEM BROWNs Buddhismus-Aufsatz über
den Besuch von Balinesen in Thailand) und vor allem die
Verbreitung und Popularität des Sai Baba-Kultes.
Acht Aufsätze behandeln den nichtbalinesischen Hindu-
ismus. ROBERT W. HEFNER beschreibt die Lage im
traditionellen Hindu-Gebiet Tengger Ostjavas und in den
Regionen, die sich hauptsächlich nach 1965 (Religions-
zwang!) vom Hinduismus angezogen fühlten: kleine
Grüppchen in Yogyakarta, Blitan und Kladen (südliches
Zentraljava). Auch hier bildete die Gründung der indone-
sischen Intellektuellen-Vereinigung ICMI 1990 einen
Einschnitt, der zur Bedrängnis nicht-islamischer Minder-
heiten führte: die kleinen Hindugrüppchen wurden mar-
ginalisierl,die hinduistischen Lehrerausbildungsstätten in
Klaten und Tengger geschlossen, das Tengger-Gebiet für
die Islam-Prosyletisierung durch Dakwah-Organisatio-
nen geöffnet. Vor diesen Grüppchen liegt eine unsichere
Zukunft.
Ex-Pater STEENBRINK schreibt sehr komprimiert über
das. was die moderne Missionstheologie “Kontextualisie-
rung“ nennt. Das Hauptgewicht liegt auf Java; dann wird
auch Flores und sehr kurz nur die Minahasa (Nordcele-
bes) gestreift. Weit holt er im 19. Jahrhundert aus. Nur auf
holländische Missionsarbeit (sowohl katholischer- als
auch protestantischerseits) kommt er zu sprechen, inwie-
weit “Hindu-Elemente“ innerhalb der javanischen Kultur
bei der "Proselytisierung“ herhalten mussten. Scharf kriti-
siert er den prominentesten protestantischen Theologen,
HENDRIK KRAEMER.der “unrelenting in his Christo-
Centrism“ ist, und dass sein “religious exclusivism“ ihn
von jedem “deeper exchange between Christianity and
the spirituality of the Javanese culture“ abgehalten hat (S.
227
___________TRIBUS 53,2004
112). Damit sind protestantische Fachleute auf dem Ge-
biet von Missionsgeschichte und Missionstheologie aus
dem ganzen Sammelband ausgegrenzt. RAMSTEDT
greift diese Aversion in seiner Einleitung auf: “fervent
Christians” und christliche Missionare waren nicht in der
Lage, den Hinduismus fair und ausgewogen zu beurteilen
(S. 18, 22). Aus ähnlichem Grund lehnt auch STEEN-
BRINK die Religionspolitik der “Orde Baru“-Epoche ab,
denn sie hat “the mutual exchange of the universal religi-
ons for decades to come” verhindert (S. 122). Wir sehen,
wie die Theologie in diesem Rahmen durchaus ihren legi-
timen Platz hat.
Selbst das leidgeprüfte Ambon scheint für den so notwen-
digen Frieden und Dialog ein solches “Hindu-Element“
in seiner traditionellen Kultur zu haben: die “Pela-Ein-
richtung“, die früher bei Konflikten zum Zuge kam. Na-
türlich, nach den Gewaltausbrüchen von 1999 hochaktuell
- aber gehört “pela” wirklich zu Hinduismus-Einflüssen?
Im Konferenzband hat STEENBRINK über die “pela-
Einrichtung” referiert, im Hinduismus-Band von 2004
wurde dieses Thema TANJA HOHE und BERT REMIJ-
SEN übertragen. Scheinbar sind ambonesische Adat-Ge-
meinschaften bereit, sich dem Bali-Hinduismus anzu-
schließen; RAMSTEDT selber bekennt, dass dies ein
schwieriges Unterfangen wäre und daher nicht weiter un-
tersucht (“leaving aside“, S. 27) wurde.
Damit wären wir bei dem Thema, das an Indonesien inte-
ressierte Ethnologen traditionellen Couleurs besonders
interessiert: Zustand und Zukunft “altindonesischer Reli-
gionen“, also der Stammesreligionen. Sie wurden im Soe-
harto-Regime nicht als Religionen akzeptiert. Ihre An-
hänger hatten sich für eine der anerkannten Religionen
zu entscheiden. Nur in den abgelegensten indonesischen
Gebieten konnten sich wenige Animisten halten. In eini-
gen wenigen Regionen haben diese versucht, unter dem
Dach des Hinduismus Schutz zu finden: in Nord-Sumatra
(Karo-Batak), auf Mentawai, in Süd-Celebes (meist Tora-
jas) und in Zentral-Kalimantan (Ngaju-, Ot Danum- und
andere Dayak). Wie dieser Prozess verlief und wie die ge-
genwärtige Lage aussieht, haben G. PERSOON (Menta-
wai), D1K ROTH (Toraja), RAMSTEDT (Süd-Celebes)
und SILVIA VIGNATO (Karo-Batak) dargestellt. Für
die kleinen Grüppchen (Mentawai, KaroBatak) sehen die
Zukunftschancen schlecht aus. Wegen der beachtlich ho-
hen Zahl von Anhängern (11.228 “Hindus“, aufgeteilt in
drei Gruppen) im Süden Sulawesis können die dortigen
“Hindus” zuversichtlich in die Zukunft gehen.
RAMSTEDT hat in einem gründlich erarbeiteten und be-
achtenswerten Bericht minutiös die Lage, die Probleme,
das Verhältnis der drei Süd-Celebes-Gruppen zu den
Bali-Hinduisten geschildert. Nur zwei Monate lang konn-
te er in den Stammesgebieten Feldforschung betreiben.
Zu seinen Informanten, deren genaue Lebensdaten und
exakte Stellung in der Stammes- und in der staatlichen
indonesischen Gesellschaft er beschreibt, muss er ein en-
ges Verhältnis gehabt haben. Die menschliche Wärme, die
er offensichtlich diesen Angehörigen einer kaum beachte-
ten Minderheit entgegengebracht hat, beeindruckt und
verdient Anerkennung.
Last not least muss noch auf die weitaus größte “Hindu“-
Gruppe eingegangen werden, auf die Hindu-Kaharingan-
Religion Zentralkalimantans, die aber auch in den Grenz-
gebieten Ost- und West-Kalimantans Anhänger hat (vgl.
Buchbesprechung DAHM/PTAK; Südostasien-Hand-
buch). Die Kaharingan sind zu einer “Hochreligion” mit
allem Drum und Dran geworden, wenn auch natürlich
eine außerbornesische Verbreitung fehlt. Unverständlich
ist RAMSTEDTs Feststellung: “I was, alas, not successful
in soliciting a contribution on the adherents of Hindu Ka-
haringan among the Ngaju and Luangan in Central...Ka-
limantan” (S. 27). Ab 1960 sind mindestens sieben Disser-
tationen aufgrund monatelanger wenn nicht jahrelanger
Feldforschung in Zentral-Kalimantan geschrieben wor-
den. Dazu hin noch liegen beachtenswerte Publikationen
einheimischer Anthropologen vor. Möglicherweise steht
auch hier eine weltanschaulich begründete Distanz und
Aversion im Hintergrund.
RAMSTEDTs Sammelband ist ein Standardwerk über
das, was er und seine Freunde sich unter „Hinduismus”
samt allen mehr oder weniger diffusen Hindu-Elementen
in den Stammeskulturen und in abgelegenen Landstri-
chen Javas vorstellen. Wer um RAMSTEDTs weltan-
schauliche Einstellung und die daraus erwachsenen Ein-
seitigkeiten weiß, für den ist das Hinduismus-Buch trotz
des horrenden Preises eine unentbehrliche Informations-
quelle.
Martin Baier
Gastdozent in Kampung Baru/
Ost-Kalimantan, Indonesien
228
Überschrift
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 53,2004
August M. A., Sabine, Historisches und Völkerkundemuseum,
Museumsstr. 50, CH-9000 St. Gallen
Baier, Dr. Martin, Wilhelm-Friedrich-Laur-Weg 6, D-72379 Hechingen
Best M. A., Renate, Niedenau 50, D-60325 Frankfurt am Main
Bliss, Dr. Frank, Sinziger Str. 4, D-53424 Remagen
Brandt, Dr. Klaus J., Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Brinkmann M.A., Charlotte, Eppendorfer Weg 116, D-20259 Hamburg
Bujok, Dr. Elke, Zasingerstr. 8, D-81547 München
Dreyer, Anatol, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Forkl, Dr. Hermann, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Heermann, Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kalter, Prof. Dr. Johannes, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knüppel, Dr. Michael, Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde der
Georg-August-Universität Göttingen, Waldweg 26, D-37073 Göttingen
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1. D-70174 Stuttgart
Kurelia, Dr. Doris, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
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Richtsfeld, Dr. Bruno I, Staatliches Museum für Völkerkunde, Maximilianstr. 42,
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Schulze-Thulin, Dr. Axel, Franz-Liszt-Str. 3, D-85391 Allershausen
Streck, Prof. Dr. Bernhard, Universität Leipzig, Institut für Ethnologie,
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Thiel, Prof. Dr. Josef Franz, Heddernheimer Kirchstr. 30, D-60439 Frankfurt am Main
Thiele, Prof. Dr. Peter, Robert-Bosch-Str. 97, D-70192 Stuttgart
Vangheluwe, Sam, Laaglandlaan 99, B-2170 Merksem
Veit, Dr. Raphaela, Gertrud-Bäumer-Str. 6, D-72074 Tübingen
Völker, Andrea, Neckarsulmer Str. 19/1, D-74196 Neuenstadt
Wall, Tobias, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
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