TRIBUS - Jahrbuch des Linden-Museums Stuttgart
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 52 - Oktober 2003
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 2003
L/iUz.'l- П?. ZOoS
Herausgeber:
Linden-Museum Stuttgart
Staatliches Museum für Völkerkunde
Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart - Germany
Redaktion:
Prof. Dr. Thomas Michel
Koordination:
Ursula Knöpfle
Fachbezogene Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums
Stuttgart
Fotos des Linden-Museums: Anatol Dreyer
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer
Beiträge allein verantwortlich.
Einige Beiträge sind mit der alten Rechtschreibung übernommen worden.
Redaktionsschluss jeweils 1. Mai
Titelbild:
Buddha des Goldenen Rades
Ichiji Kinrin Butchö, Hängerolle, anonym,
Tusche, kräftige Farben, geschnittenes Blattgold
(kirikane) und Silber auf Seide, Maße: 39,3 x 35,4
cm. Japan, Ende Heian-/Anfang Kamakura-Zeit
12./13.Jh., Inv.-Nr. OA 25.209 L
Satz und Repro:
TEBITRON GmbH, Gerlingen
Druck:
Maisch + Queck GmbH, Gerlingen
Copyright:
Linden-Museum Stuttgart
Oktober 2003
ISSN 0082-6413
27 ~ /П- Od- ZOOtf
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum im Jahr 2002
(Thomas Michel) ......................................................9
Jahresbericht 2002 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd- und
Völkerkunde zu Stuttgart e.V. .......................................17
Berichte über Erwerbungen im Jahr 2002 des Linden-Museums
(Thomas Michel), Afrika-Referates (Hermann Forkl), Südasien-Referates
(Gerd Kreisel), Ostasien-Referates (Klaus J. Brandt), Südsee-Referates
(Ingrid Heermann), Nordamerika-Referates (Sonja Schiede) ............19
Bericht des Referates Museumspädagogik 2002
(Sonja Schiede / Doris Kurella) .....................................32
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2002
(Martin Otto-Hörbrand) ..............................................40
Organisationsplan....................................................45
In Memorian Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Annemarie Schimmel
7.4.1922-26.1.2003 ................................................. 46
Aufsätze
Amborn, Hermann: Kare: Der Ernst ist ein blutiges Spiel...........48
Baier, Martin: Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak -
einige Schwerpunkte zwischen 1690 und 1942
Brinkmann, Charlotte: Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“ .... 73
Bujok, Elke: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart;
Das „Männliche unnd Ritterliche Thumier nnd Ringrennen“
zu Fastnacht 1599 ................................................ 80
Knüppel, Michael: Zur jeniseischen Bibliographie................... 111
Korn, Lorenz: Datierung durch Metallanalyse? Eine vergleichende
Studie zu Bronzeobjekten und Kupfermünzen aus Ostiran
und Zentralasien ...................................................118
Kozok, Uli; Batak-Handschriften aus der Sammlung des
Linden-Museums .....................................................166
Kuebler, Hans / Wachendorff, Elke: Cui bono - in der Tat!
Quelle Don Quichoterie!.............................................206
Riederer, Josef / Forkl, Hermann: Metallanalyse und typologische
Reihen von Messingobjekten aus dem Reich Benin (Nigeria) im
Linden-Museum Stuttgart.............................................210
Witt, Jürgen: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River in
the North-Eastem Transvaal..........................................236
Buchbesprechungen
Allgemein
Antweiler, Christoph: Ethnologie lesen - Ein Führer durch den
Bücher-Dschungel. (rhard / D’Errico, Francesco / Schiller, Petra:
Die gravierten Frauendarstellungen von Gönnersdorf (A.Schulze-Thulin) . 249
Auffermann, Bärbel / Orschiedt, Jörg: Die Neandertaler-
Ein Spurensuche (A.Schulze-Thulin) .................................250
Boetzkes, Manfred / Schweitzer, Ingeborg /
Vespermann, Jürgen (Hrsg.): EisZeit — Das große Abenteuer
der Naturerscheinung (A.Schulze-Thulin).............................252
TRIBUS 52, 2003
Bosinski, Gerhard / D’Errico, Francesco / Schiller, Petra:
Die gravierten Frauendarstellungen von Gönnersdorf (A.Schulze-Thulin) . 253
Bucher, Gudrun: „Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche
der Völker“ (L Petersen)............................................255
Chippindale, Christopher / Tacon, Paul S. C. (Ed.);
The Archaeology of Rock-Art (W. Creyaufmüller) .....................256
Damm, Annette et al. (Hrsg.): Faszination Mensch
(A. Schulze-Thulin) .................................................260
Kazama, Shinjiro (Hrsg.): Nanay Folk Tales and Legends, 6
(M. Knüppel) ........................................................262
Müller, Klaus E.; Schamanismus - Heiler, Geister, Rituale
(W. Creyaufmüller)...................................................263
Narr, Karl J. / Weniger, Gerd-C. (Hrsg.): Der Neanderthaler
und sein Entdecker: Johann Carl Fuhlrott und die Forschungsgeschichte
(A. Schulze-Thulin) .................................................264
Afrika
Ivanov, Paola: Vorkoloniale Geschichte und Expansion der
Avungara-Azande (D. Herdin) .........................................265
Szalay, Miklös (Hrsg.); Der Mond als Schuh - The Moon as Shoe
(T. Fillitz).........................................................266
Amerika
Keegan, William F.: Bahamian Archaeology - Life in the Bahamas
and Turks and Caicos before Columbus (A. Schulze-Thulin) ............267
Keegan, William F.: The People Who Discovered Columbus -
The Prehistory of the Bahamas (A. Schulze-Thulin)....................269
Wallisch, Robert: Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci
(A. Schulze-Thulin)..................................................271
Wieczorek, Alfred / Tellenbach, Michael: An Die Mächte der
Natur-Mythen der altperuanischen Nasca-Indianer (C. Clados)..........272
Wilson, Samuel M.: The Indigenous People of the Caribbean
(A. Schulze-Thulin) .................................................274
Südasien
Dominguez, Olga: Der Gewürznelkenhandel in den Nord- und
Zentralmolukken. Kulturelle Auswirkungen des Fremdeinflusses auf
Ternate, Ambon und den Lease-Inseln (A. Sibeth) .....................275
Drüke, Milda: „Die Gabe der Seenomaden - Bei den Wassermenschen
in Südostasien.“ (C. Brinkmann)......................................276
Knapen, Han: Forests of Fortune? The environmental history of
Southeast Borneo, 160 - 1880 (M. Baier)..............................279
Radam, Noerid Haloei: Religi Orang Bukit. Suatu Lukisan Struktur
dan Fungsi dalam Kehidupan Sosial-Ekonomi (M. Baier).................281
Tsing, Anna Lowenhaupt: In the Realm of the Diamond Queen:
Marginality in an Out-of the way Place (M. Baier) ..................281
Ostasien
Das Yunnan-Album Diansheng Yixi Yinan Yiren Tushuo. Illustrierte Beschrei-
bung der Yi-Stämme im Westen und Süden der Provinz Dian der Sammlung
Hermann Freiherr Speck von Sternburg aus Lützschena (B. Riese)......283
Südsee
Wood-Ellem, Elizabeth: Queen Sälote of Tonga. The Story of an Era.
1900-1965 (S. Fenske) ...............................................284
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 52, 2003
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Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart
im Jahre 2002
Am 22.1. besuchten der Botschafter von Indien, Herr Ronen Sen, und der Gene-
ralkonsul von Indien, Herr Ravi, das Linden-Museum. Sie waren dabei in Beglei-
tung des Honorarkonsuls von Indien, Herrn Lapp, der mit seiner Firma hier in
Stuttgart ansässig ist und sich als Sponsor für das Linden-Museum stark enga-
giert. Es konnte bei diesem Besuch der aktuelle Stand der Neueinrichtung der
Dauerausstellung Südasien besichtigt werden.
Im Zusammenhang mit den beiden erfolgreichen Sonderausstellungen zu Afgha-
nistan gab es am 23.1. eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion zur aktuellen
Situation in Afghanistan.
Um die erforderlichen Baumaßnahmen durchzuführen, schloss das Museum vom
28.1. bis zum 8.3. Vor allem die Fußböden wurden im 2. Stock komplett neu ver-
legt. Zudem wurden Bereiche der Dauerausstellung Nordamerika abgebaut und
auch dort Böden neu verlegt. Sehr wichtig für das Museum war die komplette
Neugestaltung und Einrichtung unseres Museums-Shops, der das gesamte Foyer
betraf und letztlich zu dieser Schließung führte.
Vom Bibliotheksservice-Zentrum Baden Württemberg in Konstanz besuchten uns
am 18.2. Frau Dr. Ludewig und die Ltd. Bibi. Direktorin Frau Dr. Mallmann-
Biehler. Inzwischen sind die Bibliotheken fast alle untereinander vernetzt, was zu
einer wesentlich effektiveren Arbeit führt.
Zusammen mit Frau Dr. Magdowski, der Kulturbürgermeisterin von Stuttgart,
wurde am 19.2. die Vertragsgrundlage für eine große Schenkung chinesischer
Graphik und Gemälde geschaffen. Die Tochter des Erblassers Herr Chang steht
mit dem Museum deshalb schon lange in Verbindung.
Im März gab es die ersten Treffen mit dem Architekten Zürn und dem Grafikde-
signer Müller, beide Stuttgart, wegen der Neugestaltung des Nordamerika-Dauer-
ausstellungsbereiches. Wenig später wurden bereits die ersten Pläne vorgelegt.
Am 7.3. wurden die Mitarbeiter der MWK-Kunstabteilung, der Kulturabteilung
der Stadt Stuttgart und die Mitglieder des Fördervereins zu einer Vor-Eröffnung
des Shops und der neu eingerichteten Dauerausstellungen Süd- und Ostasien ein-
geladen. Am 8.3. war dann das Museum - allerdings nun mit Eintrittsgeldern -
wieder für die Öffentlichkeit zugängig.
Der Buddhismus stellt die Verbindung zwischen den beiden Abteilungen Süd- und
Ostasien her. Schwerpunkt der Abteilung Südasien ist der Religionskomplex mit
der Konzentration auf Indien, Südostasien-Festland und Tibet. Nun sind auch die
hervorragenden Neuerwerbungen der letzten Jahre zu sehen. Ein neuer Bereich ist
die Religion der Jainas aus Indien. Vor allem kommen die Plastiken in der neuen
Präsentation mit ausgeklügelter Beleuchtung sehr räumlich zur Geltung. Im Be-
reich Ostasien fallen die Neuerwerbungen zu Grabkult und Rollbildem ins Auge.
Die kostbare Lacksammlung in einem Kabinettraum ist dabei ein Höhepunkt.
Eine Podiumsdiskussion zu Judentum, Christentum und Islam gab die Möglich-
keit zum Kennen lernen dieser drei großen Religionen.
Das Museum wurde kurz nach der Wiedereröffnung, im Rahmen der langen Mu-
seumsnacht am 16.3., vor eine erste Belastungsprobe gestellt, die aufgrund eines
Feueralarms wegen einer geschmorten Leitung bereits kurz nach Mitternacht be-
endet werden musste.
Zu einer besonderen Führung durch die neuen Dauerausstellungsbereiche luden
wir wichtige Multiplikatoren aus Politik und Wirtschaft ein.
Am 22.3. fand im Linden-Museum die Verwaltungsratssitzung statt.
Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Traditionelles und modernes Kunst-
handwerk aus Usbekistan“ waren der usbekische Botschafter Herr Dr. Vladimir
Norov, der Minister für Tourismus Herr Bakhtijor Khusanbaev sowie der Minister
für Kunsthandwerk Herr Shakhalil Shayakubov am 23.3. zu Gast.
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TRIBUS 52, 2003
Vom 15. bis 16.4. besuchte ich das jährliche Treffen der Museurnsdirektoren
deutschsprachiger Völkerkunde-Museen, zum ersten Mal in der Schweiz, im Riet-
berg-Museum Zürich. Exkursionen zu den beiden anderen schweizerischen Völ-
kerkundemuseen in Basel und St. Gallen ermöglichten einen guten Überblick über
die dortige Arbeit. Bei diesen Treffen werden vor allem die zukünftigen Ausstel-
lungen koordiniert.
Mit Herrn Tornow vom Vorstand der American Chamber of Commerce wurde
Kontakt aufgenommen, um ein Sponsoring-Konzept zu erarbeiten.
Am 22.4. wurde im Linden-Museum eine ganztägige Lehrerfortbildung veran-
staltet. Die ca. 120 teilnehmenden Lehrer erhielten dabei einen Einblick in die
vielfältigen museumspädagogischen Angebote.
Ein Aleppo-Abend am 27.4. brachte den Besuchern eine der ältesten Städte der
Welt in Syrien näher. Neben Musik, Filmen, Dias, Gesprächen gab es ein orienta-
lisches Buffet, so dass Aleppo mit allen Sinnen erfahrbar wurde.
Sämtliche Filial-Direktoren der Toto-Lotto GmbH trafen sich zum Abschluss ih-
res Arbeitstreffens am 29.4. in Stuttgart zu einer Führung und Gesprächen im Lin-
den-Museum.
Mit der Dresdner Bank wurde Kooperation im Hinblick auf die kommende Ama-
zonas-Indianer-Ausstellung vereinbart. In der Stuttgarter Filiale werden während
der Ausstellung Vitrinen mit ausgesuchten Objekten ausgestellt, um so auch direkt
an der Fußgängerzone einen Werbeeffekt zu erzielen.
Zur Usbekistan-Ausstellung gab es am 1.6. ein besonderes Ereignis in Form eines
traditionellen Konzerts uigurischer Musik.
Mit dem Direktor des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart, Herrn Jürgensen
wurden zukünftige gemeinsame Ausstellungen zum Thema Kunst erörtert.
Das Jahrestreffen der Volontäre am 4.6. mit über 80 Teilnehmern wurde zum Teil
am Linden-Museum mit einem Blick hinter die Kulissen gestaltet.
Die Zentralfondssitzung fand am 6.6. im Badischen Landesmuseum Karlsruhe
statt. Dabei konnten wiederum herausragende Objekte aus den Bereichen Ost-
asien, Nordamerika, Südsee und Afrika erworben werden.
Am 7. und 8.6. wurde das Symposion zur Sonderausstellung „Usbekistan“ mit
dem Thema: Städte in Zentralasien zwischen Tradition und Fortschritt, durchge-
führt.
Vom 7. bis 9. 6. nahm ich an einer Tagung der Universität Marburg zum Thema
Museum und Universität teil. Anlass dieses alle zwei Jahre stattfmdenden Kollo-
quiums ist das Auseinanderdriften von völkerkundlicher Arbeit im universitären
und musealen Bereich.
Am 13.6. trafen sich zahlreiche Rotarier aller Stuttgarter Clubs zu einer Führung
mit anschließendem gemeinsamem Essen.
Ein Gesprächsabend zu: Islam als Lebensform - Der Alltag der Muslime, am
20.6. kam dem Informationsbedürfnis zahlreicher Museumsbesucher nach.
Anlässlich ihres Treffens in Stuttgart besuchten am 23.6. ca. 40 US-Generäle im
Beisein des Oberbürgermeisters Dr. Schuster unser Museum und wurden dabei
durch die neue Dauerausstellung Süd-/Ostasien geführt.
Schon Tradition haben die „Didge Days“ vom 27. bis 30.6., benannt nach dem
ausgefallenen Instrument Didgeridoo der australischen Aborigines. Neben Tanz
und Musik waren die Workshops zum Erlernen der Spieltechniken ein Renner.
Der neue indische Botschafter Herr Rangachari, besuchte uns am 3.7. in Beglei-
tung vom Honorarkonsul Indiens, Herrn Lapp, und nutzte diese Gelegenheit zu
einer ausführlichen Betrachtung der Indien-Sektion in der Dauerausstellung.
Eine Ausstellung des Instituts für Ethnologie in Tübingen über den ersten Direk-
tor des Linden-Museums, Prof. Krämer, wurde von mir durch ein Geleitwort mit
eröffnet.
Im Juli wurden die ersten Schulungen in Zusammenhang mit der Einführung der
Neuen Steuerungsinstrumente (NSI) durchgeführt. In einem ersten Schritt waren
vor allem verwaltungstechnische Abläufe verändert worden.
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In Verbindung mit einer Veranstaltung des Ministeriums für Wissenschaft und
Kunst konnten dessen Mitarbeiter einen Blick in die Restaurierungswerkstätten
werfen und dabei einen Eindruck von der täglichen Arbeit in diesem Bereich ge-
winnen.
Beim Stuttgarter Kulturmarkt (27.-29.9.) war das Linden-Museum mit einem
Stand beteiligt: Kinderaktionen, ein Quiz mit Katalog-Preisen und allgemeine
Museums-lnformationen wurden angeboten.
Im Oktober veranstaltete das italienische Konsulat einen Kulturtag im Linden-
Museum.
Die Ethnologische Gesellschaft Hannover besuchte uns für zwei Tage.
Bereits zum wiederholten Male richtete der deutsch-mexikanische Kulturverein
im Foyer des Museums eine sehr farbenfrohe Ofrenda - Altar zum Gedenken der
Verstorbenen - ein.
Zum vierten Mal fand auf verschiedenen Stockwerken vom 30.10.-3.11. der
„Markt der Völker“ statt. Vor dem Museum wurde ein Berberzelt errichtet, das ein
Blickfang für viele Passanten war. Insgesamt war diese Veranstaltung wieder ein
Erfolg für die Aussteller, aber auch für unser Museum, das finanziell von solchen
Projekten erheblich profitiert. Schließlich kamen während der vier Tage ca.
15.000 Besucher.
Am 13. 11. besuchten uns die Völkerkundestudenten der Universität Tübingen.
Diese Fortbildungen finden regelmäßig statt, da sich aus dieser Gruppe zahlreiche
freie Mitarbeiter im Bereich der Museumspädagogik rekrutieren.
„Tee Total“ hieß der Thementag in der Süd- und Ostasien-Abteilung am 16.11.
Rund um den Tee wurden das Produkt, die Rituale, Geschichte, Zubereitung aus
der Perspektive mehrer Kulturen beleuchtet.
Der Ausländerbeauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg war am
20.11. zu Gast. Es gab eine Festveranstaltung anlässlich des 50-jährigen Landes-
jubiläums. Prof. Dr. Ulrich Goll als Ausländerbeauftragter und Justizminister hat-
te zahlreiche Vertreter ausländischer Mitbürger eingeladen. Es kam zu einer leb-
haften Diskussion über den Stand der Ausländer-Integration.
Am 3.12. hielt ich im Rathaus Stuttgart einen Vortrag über die aktuellen Aufga-
ben eines Völkerkundemuseums.
Vom 6. bis 8.12. wurde wie jedes Jahr, ein Nepal-Bazar zugunsten der Südasien-Ab-
teilung veranstaltet. Zahlreiche verschiedenartigste Objekte waren im Angebot.
Zum Tag der Menschenrechte am 8.12. gab es in Zusammenarbeit mit amnesty
international im Museum Führungen, Vorträge, Filme.
Die Mitglieder unserer Fördergesellschaft, der Gesellschaft für Erd- und Völker-
kunde zu Stuttgart e.V., waren am 9.12. zu einer Führung durch die Sonderaus-
stellung „Amazonas“ eingeladen.
Zu Ende des Jahres begannen die regelmäßigen Treffen zur Erarbeitung einer Cor-
porate Identity für das Linden-Museum, an denen quer durch alle Abteilungen im
Durchschnitt 30 Personen teilnehmen. Ziel dieser Diskussionen ist die Erarbei-
tung eines Leitbildes, unseres Stellenwertes und unserer Zukunftsvision. In ein
entsprechendes Grafikdesign sollen diese Vorstellungen übersetzt werden und
später auch durch eine Besucher orientierte Darstellung ergänzt werden.
Regelmäßig fanden Dienstgespräche in kooperativer Atmosphäre mit dem ÖPR
(Örtlicher Personalrat) statt. Das Personal beteiligte sich auch zu einem großen
Prozentsatz an Grillfest, Betriebsausflug und Weihnachtsfeier.
Während des ganzen Jahres wurden die Renovierungsmaßnahmen im Linden-
Museum fortgeführt. Am markantesten ist die Neugestaltung des Haupteinganges,
der sich nun wesentlich leichter öffnen lässt. Die Videoüberwachung des Gebäu-
des wurde erneuert und die kompletten Fenster an der Rückseite des Gebäudes
durch neue Fenster ersetzt.
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TR1BUS 52, 2003
Ausstellungen
1. Bis zum 20.1.2002 lief die Ausstellung: Voyageur. Fotografien aus Afghani-
stan. Der Fotograf Irwin Dernier zeigte dabei Aufnahmen von Afghanistan
aus dem Jahr 1972. Die sehr einfühlsamen Bilder fanden großen Anklang und
waren eine passende Ergänzung zu der Ausstellung.
2. Afghanistan - Lebensbaum und Kalaschnikow. Diese Ausstellung, die im
letzten Jahr näher beschrieben wurde, endete gleichfalls mit der Schließung
des Museums Ende Januar 2002. Durch die politischen Ereignisse in Afgha-
nistan waren diese Ausstellungen stark besucht und wurden durch zahlreiche
Begleitveranstaltungen ergänzt, die sämtlich eine große Aufmerksamkeit fan-
den.
3. Rosebud-Sioux. Lebensbilder einer Indianerreservation. Gleichfalls bis Ende
Januar und dann noch nach der Wiedereröffnung bis 14.4.2002 wurde diese
erfolgreiche Dokumentation verlängert. Vor allem wegen der Schließung der
Dauerausstellung Nordamerika (wegen Baumaßnahmen) wurde diese
Sonderpräsentation gerne als Ersatz wahrgenommen. Besucherzahl: 16.279.
4. Es spuckt in den Anden. Kultur und Geschichten rund um das Lama.
(20.11.2001-07.04.2002). Die Bedeutung des Lamas in den unterschiedlich-
sten Dimensionen von Wirtschaft über Religion bis zur Medizin zeigte die
Bedeutung dieses Tieres im Alltag der Indios Perus und Boliviens. Da es auch
viele Objekte zum Anfassen gab, kam diese Art der Präsentation vor allem bei
den jüngsten Museumsbesuchem sehr gut an.
5. Traditionelles und modernes Kunsthandwerk aus Usbekistan (23.3.-
29.9.2002) . Das Besondere an dieser Ausstellung war die Beteiligung von
Kunsthandwerkern aus Usbekistan, die alle 4 Wochen wechselten und so dem
mehrmaligen Besucher die einmalige Gelegenheit gaben, verschiedenste Be-
reiche des hoch entwickelten Kunsthandwerks kennen zu lernen. Die Hand-
werker stellten im Ausstellungsraum ihre Produkte her und man konnte diese
anschließend erwerben. Als Ergänzung wurden traditionelle Objekte aus unse-
rer Sammlung gezeigt, die zu den bedeutendsten der Welt gehört. Die enge Zu-
sammenarbeit mit der Botschaft der Republik Usbekistan in Deutschland und
dem Forschungszentrum für angewandte Kunst in Taschkent ermöglichte die-
sen sonst kaum finanzierbaren Aufwand. Besucherzahl: 8.763.
6. Die Kunst der Traumzeit. (15.4.-24.11.2002). von Aborigines Zentral-
australiens wurden alte, aber auch in der Tradition stehende neue Objekte ge-
zeigt. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf den Blasinstrumenten, der
Didgeridoo.
7. „Von Maisbauern und Bisonjägern“ erzählte die Interimsausstellung (seit
2.5.2002) der Nordamerika-Abteilung. Hierbei wurde die Vielfalt des india-
nischen Alltagslebens und deren Wertvorstellungen deutlich gemacht. Die
Objekte waren auf die Plains- und Prärie-Indianer konzentriert und besonders
für Kinder aufbereitet, so dass diese einen intensiven Einblick in die Welt der
indianischen Kinder erhielten.
8. Sommerinspirationen. Ikebana-Ausstellung (5.7.-7.7.2002) Gezeigt wurden
Arrangements im Stil der Kaden Ryu-Schule der Ikebana-Meisterin Hanne-
lore Störzinger und ihrer Schülerinnen.
9. Sprechende Steine. Moderne Steinkunst aus Zimbabwe (Verkaufs-
ausstellung 18.7.-20.10.2002). Gezeigt wurden Menschen- und Tierskulp-
turen aus Serpentinstein von 30 Künstlern aus Zimbabwe.
10. Amazonas-Indianer: LebensRäume - LebensRituale - LebensRechte
(11.10.2002-31.8.2003). Der Begriff „Amazonien“ bezeichnet ein Gebiet, das
weit über das eigentliche Flussgebiet hinausgeht. Er umfasst ein Kulturareal,
das über den gesamten tropischen Regenwald im Gebiet des Amazonas und
seiner Nebenflüsse bis hin zu den Anden reicht. Die in dieser Region leben-
den indianischen Gruppen verbinden gemeinsame kulturelle Grundvorausset-
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zungen, die jedoch von bedeutenden regionalen Unterschieden gekennzeich-
net sind. Die drei in der Ausstellung gezeigten Gruppen Kubeo, Kaiapo und
Karaja zeigen das breite Spektrum indianischen Lebens in Amazonien. Zur
Ausstellung erschien ein umfassender Katalog. Besucherzahl im Jahr 2002:
16.283.
11. Der Bazar von Kabul. Bilder aus dem alten Afghanistan. (9.11.2002-
13.4.2003). Die Ausstellung zeigte Bilder aus dem Nachlass des afghanischen
Malers Brechna (1907-1974), einem der bedeutendsten zeitgenössischen
Künstler. Bilder vom Land- und Stadtleben, Landschaften, Portraits wurden
ergänzt durch zahlreiche Objekte aus dem Besitz der Familie Brechna und aus
eigenen Beständen.
12. Quadratmalerei. Die Tingatinga-Schule aus Tansania (Verkaufsausstellung
14.12.2002-21.4.2003). Eine große Bandbreite verschiedenster Schüler zeig-
te diese, fast an moderne Comics erinnernde Ausstellung.
Ausstellungsplanungen
• Eröffnung der Sonderausstellung Türkei am 12.9.2003. Konzeption: Prof.
Dr. Johannes Kalter. Wissenschaftliche Mitarbeit: Frau Dr. Schönberger.
Keramikausstellung als Ergänzung zur Türkeiausstellung ab 10.10.2003.
Neuer Ausstellungsteil zur Siedlungsgeschichte im Bereich der Südsee-
Dauerausstellung ab Spätherbst 2003. Konzeption: Frau Dr. Ingrid Heer-
mann.
An Indiens Tempelstätten. Fotoimpressionen der Indologin Betty Heimann.
Ab 15.10.2003 bis Jahresende 2003.
Wiedereröffnung der Dauerausstellung Lateinamerika ca. Mitte Dezem-
ber 2003.
Neue Nordamerika-Dauerausstellung: Eröffnung ca. März 2004, Konzep-
tion: Architekt Zürn, Graphikdesigner Müller. Wissenschaftliche Konzeption:
Frau Dr. Sonja Schiede, Frau Dr. Jutta Steffen-Schrade.
Wiedereinrichtung der Dauerausstellung Vorderer Orient ab Mai 2004.
Sonderausstellung Moderne Afrikanische Kunst ab 15.5.-17.10.2004.
Konzeption: Dr. Hermann Forkl.
Forschungen im Linden-Museum
Ein DFG-Projekt „Untersuchung der Kunst der
Ghasnawiden und Ghoriden im Spannungsfeld
zwischen Zentralasien und dem indischen Sub-
kontinent“ wird seit 1999 von Frau Dr. Margare-
ta Pavaloi durchgeführt. Betreut wird sie dabei
von Prof. Dr. Kalter. Zentrales Anliegen dieser
Arbeit ist die systematische Dokumentation un-
serer Welt bedeutenden Sammlung.
Als Humboldt-Stipendiat forschte Dr. Jangar
Ilyasov (siehe Abbildung) aus Taschkent, Usbe-
kistan, an unserer bedeutenden Usbekistan-
Sammlung. Betreut wird er dabei von den Pro-
fessoren Kalter und Gaube (Uni Tübingen
Orientalisches Seminar). Dauer von 1999-
6/2003.
Frau Dr. Raphaela Veit forscht seit 6/2001 bis vor-
aussichtlich 2004 mit Mitteln der Henkel-Stiftung
über die orientalischen Manuskripte in unserer
Sammlung. Es ist dies ein Kooperationsprojekt zu-
Dr. Jangar Ilyasov, Stipendiat
aus Taschkent/Usbekistan.
Foto: Anatol Dreyer
Linden-Museum Stuttgart
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TRIBUS 52,2003
sammen mit der Orientabteilung der Universitäts-Bibliothek Tübingen. Betreuung durch
Prof. Dr. Kalter.
Leihgaben (alphabetisch nach Orten)
Ausstellungsdauer
Referat
19.04.1999-18.04.2006
Afrika
07.01.2002-03.03.2002
Afrika
Südsee
Lateinamerika
27.09.2002-30.03.3003
Lateinamerika
03.06.2002-31.12.2002
Afrika
17.03.2002-23.06.2002
Südsee
23.11.2002-21.04.2003
Orient
13.02.2002-30.04.2002
18.12.2001
(auf Widerruf) Südsee
07.07.2002-07.09.2002
Südsee
29.05.2002-31.07.2002
Orient
24.03.1988
(auf Widerruf)
Südsee
20.06.1988
(auf Widerruf) Ostasien
01.03.1999
(auf Widerruf)
Afrika
16.03.2002-20.05.2002
Ostasien
17.01.2002-27.01.2002
Nordamerika
22.11.2001-02.04.2002
Lateinamerika
08.05.2002-01.12.2002
Nordamerika
Leihnehmer
Deutsches Drahtmuseum, Altena
5 Objekte für die Dauerausstellung
Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer
Narrenzünfte, Bad Dürrheim
7 Objekte für die Ausstellung
„Baden-Württemberg, das Land der Fastnacht“
Übersee-Museum, Bremen
2 Objekte für die Ausstellung „Die süßen Seiten
Bremens - Kakao - Schokolade - Pralinen“
BRD, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin, Dortmund
8 Objekte für die Ausstellung „Deutscher Arbeitsschutz“
Stadtmuseum im Gelben Haus, Esslingen
6 Objekte für die Ausstellung
„Von der Reichsstadt zur Oberamtsstadt“
Museum der Weltkulturen, Frankfurt am Main
4 Objekte für die Ausstellung „Troubadoure Allahs.
Traditionen der Sufis in Pakistan“
Stadt- u. Universitätsbibliothek, Frankfurt am Main
1 Objekt für die Ausstellung „Madagaskar -
abseitiges Heiligtum der Natur“
Adelhauser Museum, Freiburg
I Objekt für die Dauerausstellung
Galerie Schlichtenmaier oHG, Grafenau
4 Objekte für die Ausstellung „Willi Baumeister -
Dialog der Kulturen“
Völkerkundemuseum der Von-Portheim-Stiftung,
Heidelberg
II Objekte für die Ausstellung „Spiele der Kulturen“
Zoologisches Museum des Instituts der Universität,
Heidelberg
1 Objekt für Dauerausstellung
Badisches Landesmuseum, Karlsruhe
2 Objekte für Dauerausstellung Jugendstil-Sammlung
Bürgermeisteramt (Heimatpflege, Museum, Archiv),
Kernen
1 Objekt für die Dauerausstellung
Museum für Ostasiatische Kunst, Köln
41 Objekte für die Ausstellung „Leuchtend wie
Kristall: Lackkunst aus Ostasien und Europa“
Tourismus Marketing TM GmbH, Ludwigsburg
3 Objekte für das Projekt der Messe GMT 2002
„Best of America“
Archäologische Staatssammlung, München
20 Objekte für die Ausstellung „Magie, Mythos,
Macht - Gold der Alten und Neuen Welt“
Völkerkundemuseum der Universität, Zürich
27 Objekte für die Ausstellung „Rosebud Sioux“
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Geld- und Sachspenden für das Linden-Museum Stuttgart bzw. die Gesell
schaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. erhielten wir
im Jahre 2002 von:
Ade, Herbert H., Stuttgart
Aldinger, Prof. Dr. Fritz, Stuttgart
Balz, Lotte, Stuttgart
Billo, Tudi, Witzenhausen
Blum, Ilse, Stuttgart
Borthmes, Fred und Gabi, Messingen
Brandt, Dr. Klaus J., Stuttgart
Bürkle, H. Peter, Stuttgart
Burwig, Bernd und Ingeborg, Weinstadt
Cronemeyer, Ulrich, Leinfelden
DaimlerChrysler AG, Stuttgart
Deutsche Bundesbank, Stuttgart
Döpfer, Julia, Stuttgart
Dorgerloh, Rotraud, Stuttgart
Ehrhardt, Wolfgang, Leonberg
Eisenbraun, Ingrid, Freiberg
Eigner, Magda, Stuttgart
Eppler, Ulrich, Konstanz
Esche, Joachim und Brigitte, Filderstadt
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Foerster, Dipl.Ing. Winfrid, Herrenberg
Frank, Peter, Stuttgart
Geiger, Dr. Martin, Leinfelden-Echterdingen
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Grau, Hilde, Stuttgart
Hall-Schwartze, Barbara, Musberg
Herkert, Christa, Sindelfmgn
Hörrmann, Ingeborg, Sindelfmgen
Hohgräve-Fischer, Neesken, Berlin
Holzinger, Johann und Louise, Stuttgart
Holzwarth, Ingrid, Marbach
Hotel Unger, Stuttgart
Ileperuma, Ch., Stuttgart
Intoppa, Gianfranco und Hannelore, Bäch
Jäger, Prof. Dr. Volker, Stuttgart
Jourdan, Uwe, Stuttgart
Jung, Olaf, Nürtingen
Junghans, Erhard und Renate, Stuttgart
Kahle, Dr. Günter und Friedegard, Gemmingen
Klein, Dr. Bettina, Oberursel
Knoelke, Berta, Stuttgart
Koschorke, Dr., Netphen
Krais, Dr. Walter und Ingrid, Stuttgart
Kröner, Ulrich, Backnang
Kunzi, Hugo und Sibylle, Stuttgart
Landesbank Baden-Württemberg, Stuttgart
Leitz, Conrad und Inge, Stuttgart
Lerch, Carmen-Cornelia, Uhingen-Baiereck
Marquardt-Eißler, Dr. Gisela, Stuttgart
Maurer-Jansen, Ursula und Jansen, Edgar, Stuttgart
Meridian GmbH, Stuttgart
Merk, Siegfried, Leutenbach
_TRIBUS 52, 2003
MG-Werbung M. Gaul, Haar
Michel, Prof. Dr. Thomas, Stuttgart
Müller-Seitz, Bettina, Markgröningen
Mvuyekure, Jean-Bizoza, Stuttgart
Nagel Auktionen, Stuttgart
Nöth, Doris, Kirchheim/Teck
Paul, Herbert, Asperg
Pichler, Wilhelm, Stuttgart
Renz, Hanna, Stuttgart
Robert Bosch GmbH, Stuttgart
Schierholt, Steinheim
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schmidt, Susanne und Martin H., Stuttgart
Schnaidt, Brigitte, NL-SW Kerkrade
Schütz, Rainer und Ursula, Stuttgart
Schwäbische Bank, Stuttgart
Sparkassenverband Baden-Württemberg, Stuttgart
Staat!. Toto-Lotto-GmbH, Stuttgart
Stickforth, Peter, Göppingen
Strohmaier, Helga, Mössingen
Thiele, Prof. Dr. Peter, Stuttgart
Thierley, Martin / Grimm, Ursula, Stuttgart
Trautmann, Michael, Stuttgart
Umgelter, Monika, und Keller, Frank F., Korntal
Vogt, Dr. Dierk-Christian und Elke, Schwieberdingen
Wanner, Gabriele, Cleebronn
Weber, Wilfried, Reutlingen
Wesser, Klaus Dieter, Stuttgart
Wilhelm, Dr. Peter-Raimond, Stuttgart
Württembergische Versicherung AG, Stuttgart
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Allen Spendern sei an dieser Stelle nochmals herzlichst gedankt.
Thomas Michel
16
Jahresbericht 2002 des Vorsitzenden der Gesellschaft für
Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V
Die „Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V.“ (GEV) konnte als
Förderverein des Linden-Museums und des Institutes für Geographie der Univer-
sität Stuttgart im Jahr 2002 wieder eine Fördersumme i. H. v. 15.000 € den bei-
den Einrichtungen zur Verfügung stellen. Das Institut für Geographie hat den Be-
trag nicht ausgegeben, sondern ihn für ein größeres Forschungsvorhaben „ange-
sammelt“. Eine solche Regelung ist statthaft und wurde auch vom Vorstand der
GEV beschlossen.
Das Linden-Museum hat einen namhaften Betrag für die Anschaffung von Gerä-
ten für die digitale und computermäßige Fotobearbeitung für das Foto-Atelier er-
halten. Mit dieser Modernisierung der Atelierausstattung können die zu Ausstel-
lungen zu erstellenden Kataloge und sonstigen Begleitpublikationen sehr viel
schneller, kostengünstiger und von noch höherer Qualität produziert werden.
Den Förderbetrag für 2003 möchte das Linden-Museum für sein zukünftiges
„Corporate-Identity-Vorhaben“ verwenden.
Die Vorträge der GEV aus beiden Zyklen (Winterhalbjahr 2001/02 und Winter-
halbjahr 2002/03) bezogen sich in ihren Leitthemen auf Südamerika, Ozeanien,
den Orient und Namibia. Die Themen im Einzelnen lauteten:
1. „Tropische Regenwälder im Amazonasgebiet Brasiliens: Interessenkonflikte
bei der Regionalentwicklung und beim Schutz zur nachhaltigen Nutzung“
von Prof. Dr. Gerd Kohlhepp am 11.1.2002
2. „Die ökologische Krise Chiapas - ein Modellfall für Zentralamerika“ von
Prof. Dr. Michael Richter am 18.1.2002
3. „... erwarten Sie vor März 1904 keine Nachricht von mir“ - Theodor Koch-
Grünbergs Forschungsreisen im nördlichen Amazonien“ von Michael Kraus
am 25.1.2002
4. „Amazonien auf dem Weg zur verstädterten Region? Ursachen und Folgen
des Stadtwachstums“ von PD Dr. Martin Coy am 8.2.2002
5. „,Warum helfen uns die Weißen?’ - Entwicklungszusammenarbeit aus Sicht
der Canela-Indianer“ von Andreas F. Kowalski, M.A. am 22.2.2002
6. „Amazonien zwischen Raubbau und Naturschutz. Bauern, Goldschürfer und
Indios im Streit um die natürlichen Ressourcen“ von Dipl.-Geogr. Martina
Neuburger am 8.3.2002
7. „Die Pfeile der jungen Jaguare: Die Vorstellungen zur Menschwerdung und
zum Menschsein bei den Kamayura in Zentralbrasilien“ von Dr. Mona Suhr-
bier am 22.3.2002
8. „Usbekistan. Im Zentrum der ,Großen Seidenstraße’“ von Prof. Dr. Peter
Thiele am 18.10.2002
9. „Phasen der Stadtentwicklung von der industriellen Revolution bis heute -
mit Beispielen aus der Region Stuttgart“ von Dr.-Ing. Dietmar Reinbom am
25.10.2002
10. „Buchara: Stadtform und wichtige Bauten“ von Prof. Dr. Heinz Gaube am
15.11.2002
11. „Stuttgart - Zukunft der Stadtentwicklung“ von Prof. Dr. Franz Pesch am
22.11.2002
12. „Traditionelles Kunsthandwerk in Usbekistan“ von Prof. Dr. Johannes Kalter
am 6.12.2002
13. „Die Ostsahara - Wasserressource und größter hyperarider Raum der Erde“
von Prof. Dr. H.-J. Pachur am 13.12.2002
17
_TR1BUS 52, 2003
Sehr erfreulich ist das Echo bei unseren Gesellschaftsmitgliedem auf die von der
GEV angebotenen Studienreisen und Exkursionen. Hier konnten folgende durch-
geführt werden:
1. Moskau-Exkursion durch Prof. Dr. Roland Hahn vom 18.-25.5.2002
2. Kreta-Exkursion in Zusammenarbeit mit der Auslandsgesellschaft NRW
durch Prof. Dr. Werner Rutz vom 19.3.-1.4.2002
3. Usbekistan-Studienreise durch Prof. Dr. Peter Thiele vom 22.8.-5.9.2002
Auf Wunsch vieler Mitglieder sollen solche Reisen auch zukünftig organisiert und
durchgeführt werden.
Die GEV ist mit rund 1.730 Mitgliedern (Stand 31.12.2002) die größte Förderge-
sellschaft dieser Art in Deutschland. Der Mitgliedsbeitrag beträgt jährlich für Ein-
zelmitglieder 20 €, für Rentner, Studierende und Schüler 10 €, die Anschluss-
karte 10 €, für Firmen und Körperschaften mindestens 70 €.
Peter Thiele
18
Berichte über Erwerbungen im Jahre 2002
Im Jahre 2002 konnte das Linden-Museum insgesamt 416 Neuzugänge verzeich-
nen. Dabei war in diesem Jahr die Südsee wieder vertreten, und zwar mit einer un-
gewöhnlich großen Zahl. Ungewöhnlich zum einen, weil die Südsee-Sammlung
des Linden-Museums sehr umfangreich und international bedeutend ist, d.h. eher
schwer durch sinnvolle Ergänzungen ausbaubar ist. Zum anderen ist der Markt in
Bezug auf museale Südsee-Objekte recht klein und darüber hinaus heiß um-
kämpft. Dies hängt mit Modeerscheinungen auf dem Sammlermarkt zusammen,
der sich z.B. von den früheren Modegebieten Tibet, Indonesien, Zentralafrika, um
nur einige zu nennen, abgewandt hat. Damit erhalten zugleich auch all jene Spe-
kulanten die aus Museumssicht verdiente Quittung für ihre maßlosen Preistreibe-
reien. Ein weiterer Punkt darf nicht unerwähnt bleiben; aus dem afrikanischen und
indonesischen Raum tauchen in den letzten Jahren derart viele und gekonnte Fäl-
schungen auf, dass selbst Museumsfachleute ohne fmanzaufwendige Untersu-
chungen die Echtheit schwerlich bestimmen können.
Der Auflistung folgen die Kommentare unserer Gebietsreferenten.
Afrika-Referat
Südasien-Referat
Ostasien-Referat
Südsee-Referat
Nordamerika-Referat
9 Objekte
135 Objekte
77 Objekte
181 Objekte
14 Objekte
Insgesamt 2002
416 Objekte
Der Staatlichen Toto-Lotto-Gesellschaft, der Museumsstiftung und vor allem den
zahlreichen privaten Spendern sei herzlich gedankt. In diesem Jahr soll mein
Dank ausgeweitet werden auf Sammler-Eländler, einen Missionar und verschiede-
ne Privatsammler, die uns hervorragende Stücke zu niedrigsten Preisen zukom-
men ließen, dies auch in dem Bewusstsein zukünftiger Forschungsprojekte an den
Nachlässen. Gerade diese Vorstellung führt viele Sammler und deren Sammlun-
gen zu uns, vor allem wenn das Sammlerherz eine Aufsplitterung liebgewordener
und über Jahrzehnte zusammengetragener Objekt-Komplexe nur aus finanziellen
Gründen schwer verkraftet. In einer Zeit, wo auch etablierte Museen ständig ih-
ren Stellenwert aufs Neue behaupten müssen gegenüber reinen Ausstellungsbe-
trieben und Kultur-Events, ist es besonders wichtig, die langjährigen Sammlungs-
strategien konsequent weiter zu verfolgen. Aus welchen Materialien könnten wir
sonst unsere historisch tief reichenden Ausstellungen bestücken? Schwerlich wä-
ren wir in der Lage, die immensen Versicherungs- und Transportkosten für größe-
re Ausleihen zu übernehmen. Wo blieben die Orientierungshilfen für die zahlrei-
chen Besucher hinsichtlich Qualität, kultureller Bedeutung und Stellenwert von
Objekten? Woran könnten sich die zahlreichen privaten Sammler hinsichtlich ih-
rer Ankäufe orientieren? Diese Fragen sollen zeigen, wie wichtig der Erhalt von
Mitteln für die museale Ankaufspolitik ist.
In diesem Zusammenhang danke ich den Verantwortlichen im Ministerium für
Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für das Engagement, in
finanzwirtschaftlich schwerer Zeit ausreichende Mittel für unser Linden-Museum
bereitgestellt zu haben.
Thomas Michel
19
TRIBUS 52, 2003
Afrika-Referat
Die von Jahr zu Jahr zunehmende Knappheit der Erwerbungsmittel brachte es mit
sich, daß im Jahr 2002 nur ein einziges Objekt für die Afrika-Sammlung ange-
kauft werden konnte. Bei allen anderen während des genannten Zeitraums in die-
se Sammlung eingegangenen Objekten handelt es sich um Schenkungen, für die
ich mich hiermit bei den großzügigen Spendern nochmals herzlich bedanken
möchte.
Zwei aus der kulturgeographischen Region Oberguinea stammende Geschenke
umfassen ein abstrakt verziertes Goldstaub-Gewicht von der Akan-Gruppe im Sü-
den Ghanas oder der Elfenbeinküste, das nach der Garrardschen Chronologie in die
Zeit zwischen 1700 und 1900 zu datieren ist, und ein weibliches Zwillingsfigür-
chen (ere ihedji) von den Yoruba (Südnigeria) im Stil der nördlichen Igbomina.
Ostafrika ist zum einen mit einer Sammlung von Kinderspielzeug aus Burundi
vertreten, die drei Kraftfahrzeuge (Jeep, Limousine, Bus) jeweils aus Draht, ein
hölzernes Flugzeug mit traditioneller Verzierung in Pyrogravur und eine Fell-
trommel en miniature beinhaltet.
Zwillingsfigürchen
Holz mit brauner Patina und Resten von Waschblau,
Holz- und Glasperlen, Baumwoll-Schnur, Reste roter
Erde (Opferkruste), H; 26 cm, nördliche Igbomina-
Yoruba (Nigeria),
Inv.-Nr. F 55.780
Pfahl mit Aufsatz einer Halbfigur
Holz mit graubrauner Patina, H: insgesamt 143 cm,
H: Figur 44 cm, Zaramo (Tansania),
Inv.-Nr. F 55.779L
20
Grabtopf
Terracotta, H: 52 cm, Dakakiri (Nigeria), Inv.-Nr. F 55.787
Das einzige für die Afrika-Sammlung angekaufte Objekt besteht aus einer weib-
lichen Halbfigur als angeschnitzter Aufsatz auf einem Pfahl von den Zaramo in
Tansania. Diese Skulptur ist in dem an der ostafrikanischen Küste verbreiteten Stil
der mwana-hiti-Figürchen gehalten, steht für das Prinzip der Matrilinearität und
dürfte um das Jahr 1900 entweder im Haus eines Kultbundes, bei Initiationsfeiem
oder als Schutzfigur für ein Dorf aufgestellt worden sein.
Zu der Region Zentralsudan gehört schließlich ein plastisch verziertes, einst auf
ein Grab gestelltes, rituelles Gefäß aus Terracotta von den Dakakiri in Nordnigeria,
Hermann Forkl
21
.TR1BUS 52, 2003
Südasien-Referat
Die Südasien-Abteilung erhielt eine Gruppe von 24 holzgeschnitzten Ritualdosen
und -platten des Shiva-Kultes aus dem nördlichen Indien (Rajasthan?), 11 lamai-
stische Objekte aus Ladakh/Indien sowie 100 Objekte aus Indonesien. Von diesen
135 Gegenständen nahmen wir 111 als Geschenke von vier Spendern entgegen,
die erstgenannte Gruppe konnte aus Spendenmitteln bezahlt werden. Weitere Fi-
nanzmittel für „Eigenerwerb der Abteilungen“ oder für Zentralfonds_erwerbun-
gen standen nicht zur Verfügung. Unabwendbar gingen manche guten Chancen
verloren, dem Museum angebotene wichtige Sammelgruppen und Erweiterungen
zu verschaffen.
Die shivaitischen Platten (Beispiele auf Abb.), von denen zwei komplett mit tor-
ähnlichen Aufbauten (torana) erhalten sind, zeigen Symboldarstellungen en mini-
ature, wie sie an Tempelstätten des hinduistischen Gottes anzutreffen sind; im
Zentrum befindet sich das Linga-Bildwerk auf der runden arghya -Platte, die das
weibliche Geschlechtsteil symbolisiert und das Libationswasser abfließen lässt,
daneben ein Ensemble aus fünf Lingas sowie eine oder mehrere Figuren des Stie-
res Nandin, ferner sind ein Brunnen mit Treppe sowie eine Sonnenscheibe und ei-
ne Mondsichel angedeutet. Die Deckeldosen enthalten eine begrenzte Anzahl sol-
cher Symbolformen. Die Darstellungsart reicht von „realistisch“ bis stark abstra-
hiert. ln der Literatur finden sich keine Vergleichsstücke. Zu Herkunft und Alter
können bisher nur Vermutungen angestellt werden. Angeschnitzte Pferdeköpfchen
könnten auf Rajasthan hindeuten. Dem Zustand nach zu urteilen, befanden sich
die Gegenstände einige Generationen lang im kultischen Gebrauch.
Unter den Ladakhi-Objekten befinden sich vier hölzerne Model-Brettchen
(s. Abb.), wie schon einige in der Sammlung vorhanden sind. Die eingravierten
Symbole und Figuren von Tänzern und Tieren ergeben in der Abformung auf
Teigplatten Flachreliefs, die dem lamaistischen Opferkult dienen. Ihre Ikonogra-
phie ist mit der von gemalten Opfertüchern vergleichbar. Eine Bestandsaufnahme
der in vielen Sammlungen anzutreffenden Objekte wäre eine lohnende Arbeit.
Shivaitische Altäre und Deckeldose
Holzschnitzerei, H des Gestells: 38 cm, B; 30, T: 20 cm, Rajasthan(?), Indien,
Anfang bis Mitte 20. Jh., Inv.-Nr. SA 04390-04413
22
Zahlenmäßig stark vertreten ist in diesem Jahr Indonesien, vor allem durch die
Übernahme von 97 Teilen einer Haushaltsauflösung aus Jakarta (Schenkung Frau
M. Stephan) mit Figuren, Metallgeräten, Truhen und Schränkchen javanischer
und balinesischer Herkunft sowie einer Gruppe Textilien. Ältestes Objekt der
Sammlung ist die Steinskulptur der Durga Mahishasuramardini (s. Abb.) aus Ost-
java, entstanden möglicherweise in der Kediri-Phase (Ende 11. - Anfang 13. Jh.).
Den Spendern sagen wir unseren herzlichen Dank.
Gerd Kreisel
Vier Ritualmodel
Holzschnitzerei, L: von
18 bis 28 cm, Ladakh, Indien,
Anfang bis Mitte 20. Jh.,
Inv.-Nr. SA 04421-04424
Durga Mahishasuramardini
Sandstein, H: 60 cm,
Ostjavanisch (Kediri ?),
Indonesien,
etwa 12./13. Jh.,
Inv.-Nr. SA 04439
23
_TRIBUS 52, 2003
Ostasien-Referat
Die Sammlungsbestände der Ostasien-Abteilung haben sich im Jahr 2002 um
77 Objekte vermehrt, von denen 67 gestiftet und zehn angekauft wurden. Erneut
stammen die meisten Neuzugänge mit insgesamt 63 Objekten aus dem chinesi-
schen Kulturbereich, die alle gestiftet wurden und zeitlich vom Neolithikum bis
in die neueste Zeit reichen, das jüngste Objekt ist eine Kalligraphie aus dem Jahr
2002. Außerdem gehören sie überwiegend zu den beiden traditionellen Samm-
lungsschwerpunkten der Ostasien-Abteilung: chinesischer Grabkult und Keramik.
Die übrigen vierzehn Erwerbungen gehören dem japanischen Kulturbereich an.
Abgesehen von einem modernen, gestifteten Hochzeitskimono aus der Zeit um
1990 handelt es sich dabei ausschließlich um Malerei.
Die wichtigsten Neuzugänge bildet der Erwerb einer Gruppe mit zehn bedeuten-
den japanischen Malereien mit Hilfe der Museums-Stiftung des Landes Baden-
Württemberg aus einer deutschen Privatsammlung. Dieser Erwerb ist Fortsetzung
und Abschluss von Ankäufen des Jahres 1997, ebenfalls mit Mitteln der Mu-
seums-Stiftung, einer Gruppe japanischer Malerei aus dem 14. bis 19. Jahr-
hundert, bei denen nur ein Teil dieser deutschen Privatsammlung erworben wer-
den konnte.
Die erworbene Malerei lässt sich, abgesehen von einem Rollbild aus der Edo-Zeit,
in zwei Gruppen gliedern, die im Wesentlichen zeitlich und inhaltlich homogen in
sich geschlossen sind. Die erste und zeitlich frühere Gruppe besteht aus buddhis-
tischer Malerei mit drei Rollbildern des 13. bis frühen 15. Jahrhunderts, die zwei-
te und größere Gruppe setzt sich aus zen-buddhistischer Tuschmalerei aus der
zweiten Hälfte des 15. bis zur Mitte, zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zusam-
men und beinhaltet vier Hängerollen, einen großen sechsteiligen Stellschirm und
ein Fächerbild. Ein Rollbild mit der Darstellung von Mädchen und Kindern beim
Betrachten eines Feuerwerks ist ein Bei-
spiel der volkstümlichen Genre-Malerei,
Ukiyo-e, aus der Mitte der Edo-Zeit (1603-
1867), deren charakteristische Bild- und
Ausdrucksform der japanische Farbholz-
schnitt bildet.
Daiitoku Myöö
„Der Lichtkönig Daiitoku (Yamanta-
ka)“, Hängerolle, anonym, Tusche,
kräftige Farben und geschnittenes
Blattgold (kirikane) auf Seide,
Maße: 69,1 x 36,5 cm, Japan,
Anfang Muromachi-Zeit,
frühes 15. Jh., Inv.-Nr. OA 25.211 L
24
Monju Bosatsu
Der Bodhisattva Manjushri, Hängerolle,
anonym, Tusche auf Papier, Maße: 68,7
x 32,0 cm, Aufschrift des Abtes Sekkö
Söshin (1408-1486), Japan, Muromachi-
Zeit, vor 1486, Inv.-Nr. OA 25.212 L
ln die Gruppe der frühen, buddhistischen
Malerei, die mit Tusche, kräftigen Farben,
Gold und geschnittenem Blattgold (kirika-
ne, wörtlich „geschnittenes Gold“) auf
Seide ausgeführt sind, gehören die Hänge-
rolle mit einer Darstellung des Ichiji Kin-
rin Butchö, „Buddha des Goldenen Ra-
des“ (siehe Titelbild), hier wurde noch zu-
sätzlich Silber verwendet, aus dem Ende
der Heian-, Anfang Kamakura-Zeit,
12./13. Jh., die Darstellung des Senju Kan-
non, „1000-armiger Bodhisattva der
Barmherzigkeit (Avalokiteshvara)“, und
Shötoku Taishi aus der Nanbokuchö-Zeit,
14. Jh., und die des Daiitoku Myöö, „der
Lichtkönig Daiitoku (Yamantaka)“ (siehe
Abb. S. 24), aus dem Anfang der Muroma-
chi-Zeit, frühes 15. Jh.
Die zweite Gruppe mit zen-buddhistischer Tuschmalerei auf Papier umfasst die
folgenden Bilder: 1. Monju Bosatsu, der Bodhisattva Manjushri, mit einer Auf-
schrift des Abtes Sekkö Söshin (1408-1486), Muromachi-Zeit, vor 1486 (siehe
Abb. oben), 2. eine chinesische, daoistische Unsterbliche, vermutlich die Mond-
göttin Chang E, mit einer Kröte am Flussufer und der Aufschrift und Siegel des
Zen-Abtes Shiken Juin (gest. 1581), Ende Muromachi-Zeit (siehe Abb. S. 26),
3. ein Paar Hängerollen mit der Darstellung der „Shöshö hakkei“ (Acht Motive des
Xiao- und Xiang-Flusses (in China)) mit einigen wenigen leichten Farben und dem
Siegel des Mönchmalers Shükö (tätig Ende 15./Anfang 16. Jh.), um 1500, 4. ein Fä-
cherbild mit der Darstellung des chinesischen Zen-Mönches Xianzi beim Fangen
von Flusskrebsen von einem anonymen Maler der Kanö-Schule aus dem Ende der
Muromachi-Zeit, ca. Mitte, 2. Hälfte 16. Jh. und 5. ein großer, sechsteiliger Wand-
schirm mit der Darstellung einer Winter- und Frühlingslandschaft mit Wildgänsen
(siehe Abb. S. 26), die linke Hälfte eines Wandschirmpaares, ebenfalls von einem
Maler der Kanö-Schule aus dem Ende der Muromachi-Zeit, Mitte 16. Jh.
Das Genre-Bild, eine sehr stimmungsvolle, intime Darstellung junger Frauen und
Kinder, die ein Spielzeug-Feuerwerk am Flussufer entzündet haben (siehe Abb.
S. 27), ist in kräftigen Farben und Gold auf Seide ausgeführt und mit der Signa-
tur und Siegel von Kawamata Tsuneyuki (16767-1741?) bezeichnet.
Das Linden-Museum besitzt durch die Übernahme der sehr umfangreichen Baelz-
Sammlung aus dem Besitz des ehemaligen Württembergischen Landes-
gewerbemuseums, darunter ca. 3.150 Zeichnungen, Skizzen und Rollbilder, zahl-
reiche Beispiele der japanischen Malerei, jedoch fast ausschließlich aus dem En-
de der Edo-Zeit (1603-1867) bzw. den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahr-
hunderts. Durch das Fehlen früher japanischer Malerei, insbesondere der frühen
zen-buddhistischen Tuschmalerei der Muromachi-Zeit (1392-1573) in der Samm-
lung Baelz bildet der Ankauf dieser Gruppe nicht nur eine höchst sinnvolle, son-
TRIBUS 52, 2003
Daoistische Unsterbliche
Darstellung vermutlich der Mondgöttin
Chang E mit einer Kröte am Flussufer,
Hängerolle, anonym,
Tusche auf Papier, Aufschrift und
Siegel des Zen-Abtes Shiken Juin
(gest. 1581), Maße: 80,3 x 32,5 cm, Japan,
Ende Muromachi-Zeit,
2. Hälfte 16. Jh„ Inv.-Nr. OA 25.213 L
dem auch sehr glückliche Ergänzung, die das
bestehende „Ungleichgewicht“ zwischen
Fehlbeständen bzw. Menge und Qualität aus-
zugleichen hilft.
Vier der erworbenen buddhistischen bzw.
zen-buddhistischen Bilder waren zeitweilig
als Leihgaben im Linden-Museum in der gro-
ßen Buddhismus-Ausstellung „Zeit der
Buddhas“ vom 20. Mai 1999 bis 30. Januar
2000 ausgestellt (Ichiji Kinrin Butchö, Mon-
ju Bosatsu, chinesische, daoistische Unsterb-
liche mit Kröte und das Fächerbild mit
Xianzi).
Im Zusammenhang mit diesen Erwerbungen erhielt das Museum ein prachtvolles,
zwölfteiliges Wandschirmpaar von Hara Zaisei (7-1810) gestiftet mit einer Som-
merlandschaft mit Felsen, einem blühenden Biwa-Baum, verschiedenen Blumen
und Vögeln in kräftigen Farben auf einem Blattgoldgrund sowie eine spätestens
1813 entstandene Hängerolle mit der Darstellung der drei klassischen, chinesi-
schen Dichter Wang Zhi, Ho Zhizhang und Wang Bo, eine Gemeinschaftsarbeit
von den drei Mitgliedern der Literaten-Malerei (hunjin-ga) Okamoto Toyohiko
(1773-1845), Oku Bunmei (gest. 1813) und Watanabe Nangaku (1767-1813), und
Winter- und Frühlingslandschaft mit Wildgänsen
6-teiliger Wandschirm, die linke Hälfte eines Wandschirmpaares, anonym,
Tusche auf Papier, Maße (gesamt): 178 x 376 cm (Malerei: 169 x 363 cm),
Japan, Ende Muromachi-Zeit, Mitte 16. Jh., Inv.-Nr. OA 25.216 L
26
Junge Frauen und Kinder Flussufer
Hängerolle, kräftige Farben und Gold auf Seide, Signatur und Siegel von Kawa-
mata Tsuneyuki (1676?-1741 ?), Maße: 39,5 x 55,7 cm, Japan, Mitte Edo-Zeit,
vermutl. Anfang 18. Jh., Inv.-Nr. OA 25.217 L
ein Album mit 22 Albumblättem von Schülern und Nachfolgern von Tani Bunchö
(1763-1840) bzw. Mitgliedern der Kanö-Schule, die alle im späten 18. und frühen
19. Jh. tätig waren.
Die chinesischen Sammlungsbestände wurden, wie bereits erwähnt, ergänzt durch
63 gestiftete Objekte, unter denen dieses Mal, außer den fünf neolithischen und
spät-neolithischen Gefäßen der Yangshao-, Longshan- und Siwa-Kulturen aus
dem späteren 4. bis frühen 2. Jahrtausend v. Chr., die figürlichen Grabbeigaben
aus Keramik besondere Erwähnung verdienen. Hierzu gehören, neben einem Räu-
chergefäß in Entenform aus der West-Han-Zeit (206 v.-8 n. Chr.) und einem Fa-
beltier aus dem 3. Jh. n. Chr., die drei Kriegerfiguren mit einer Rüstung und mit
Schilden und die drei Reiter, einer davon auf einem gepanzerten Pferd, die alle aus
der Ost-Wei-Zeit (534-550) stammen und unterschiedlich gut erhaltene, kalt auf-
getragene Farbfassungen aufweisen. Vier Grabfiguren mit einer Drei-Farben-Gla-
sur (sancai) aus der Tang-Zeit (618-907) bereichern die Sammlungen aus dieser
Blütezeit der chinesischen Kultur, in der auch die drei kleinen, runden Silberdö-
schen, zwei davon mit einem gravierten bzw. teilweise getriebenen und teilver-
goldeten Dekor, entstanden sind.
Eine frühe, dreibeinige Ritualbronze vom Typ jue (siehe Abb. S. 28) aus der Erli-
tou-Periode der Shang-Zeit (15.-14. Jh. v. Chr.), ein Bronzedolch mit Türkisein-
lagen auf dem Griff aus dem 8. bis 7. Jh. v. Chr. sowie ein großer Lackteller mit
einer langen, in das Jahr 8 v. Chr. datierten Inschrift mit 31 Schriftzeichen ver-
vollständigen die Gruppe der frühen Grabbeigaben.
Die weiteren Spenden bestehen aus einem bestickten Umhang mit Haube für ein
Kinderfest, dreizehn mongolischen Essbestecken bzw. Zubehör dazu, einer
Schachtel mit fünf Tuschestücken und fünf weiteren großen, verschiedenfarbigen
Tuschestücken in Kalebassenform, vier Keramikobjekten aus der am 5. Februar
27
.TRIBUS 52, 2003
1822 in der Nähe der Insel Caspar in der südostasiatischen Gasparstrasse gesun-
kenen riesigen, chinesischen Dschunke „Tek Sing“, bei der vermutlich über 1.500
Menschen ums Leben kamen, und acht kleinen Weinschälchen mit einem feinen
Rattangeflecht und versilbertem Metalleinsatz. Alle Objekte stammen aus dem
19. Jahrhundert.
Allen Spendern möchten wir an dieser Stelle nochmals für ihre wertvollen Stif-
tungen herzlich danken.
Klaus J. Brandt
Ritualgefäß vom Typ jue
Bronze, H: 15,6 cm, China, Shang-Zeit, Erlitou-Periode, 15.-14. Jh. v. Chr.,
Inv.-Nr. OA 25.224 L
28
Südsee-Referat
Nach längerer Enthaltsamkeit die Ankäufe betreffend erfüllten sich auch im Jahr
2002 nicht alle Wünsche - so konnte ein schon in der Neubritannien-Ausstellung
gezeigter Tanzaufsatz der Sulka letztendlich nicht angekauft werden.
Trotz weiterhin schlechter finanzieller Lage erfreulich ist deshalb die Anzahl von
181 Objekten, die 2002 inventarisiert werden konnten. Mit 166 Objekten hat die
Sammlung des ehemaligen Missionars Hubert Hüging davon den größten Anteil.
Diese Sammlung von Ethnographica - darunter allein 26 Wertobjekte der Arawe
(Süd-Neubritannien) und 17 Netztaschen von verschiedenen Gruppen Neubritan-
niens, außerdem Schmuck, Steinbeile, Trommeln etc. von Neubritannien und der
Sepik-Region entstand in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, als
Pater Hubert Hüging als Missionar zunächst bei den Tolai und später bei den Ma-
mussi tätig war und außerdem an Expeditionen teilnahm, die die Insel Neubri-
tannien von Nord nach Süd durchquerten. Zu dieser Sammlung gehörten außer-
dem eine reiche Fotodokumentation und verschiedene kürzere Filmdokumente,
die Tänze und Feste, aber auch Alltagstätigkeiten beleuchten. Es ist zu hoffen,
dass nach dem erfolgreichen Ankauf dieser ganz besonderen Dokumente bald
auch die Mittel zur Verfügung stehen, Filme und Fotos zu digitalisieren und zu
bearbeiten. Sie werden zweifellos wesentlich dazu beitragen, die Objekte der zu-
künftigen Dauerausstellung Südsee „lebendiger“ und „sprechender“ werden zu
lassen.
Steinskulptur
Versinterter Kalkstein,
gebrochen, H: 44 cm,
Loloba, Neuirland,
Papua Neuguinea,
spätes 18./frühes 19.Jh.
29
TRIBUS 52, 2003
Steinskulptur mit ikono-
graphischen Anklängen an
die Uli-Tradition
Versinterter Kalkstein,
gebrochen, H: 31 cm,
Loloba, Neuirland, Papua
Neuguinea, vermutlich
18. Jh.
Besonders erfreulich waren die drei Stiftungen, die 2002 zur Sammlung kamen.
Aus dem Nachlass Karl A. E. Vorpahls, der 1904 mit einem kaiserlichen Schiff in die
Südsee gereist war, ging uns eine feine samoanische Matte zu, die einen beson-
deren Platz in unserer Samoa-Sammlung einnehmen wird, außerdem eine weite-
re „einfache“ Matte und vier samoanische Fächer. Aus dem Nachlass des Samm-
lers und Händlers Lüders erhielten wir eine Asmat-Skulptur, einen figürlich ge-
stalteten Bootssteven von den Asmat stiftete schließlich die Galerie Franke in
Stuttgart. Allen Stiftern auch an dieser Stelle unseren ganz besonderen Dank.
Die Museumsstiftung ermöglichte uns schließlich den Ankauf von zwei Stein-
skulpturen eines bisher fast unbekannten Typs aus dem mittleren Neuirland. Sie
können als frühe Verwandte der um 1900 im mittleren Neuirland benutzten Krei-
defiguren angesehen werden, die im Totenkult bedeutsam waren. Beide Skulptu-
ren zeigen Brüche - es kann angenommen werden, dass sie im zeremoniellen
Kontext rituell zerstört wurden. Bei beiden ist das Material - Kreide - versintert,
und sie können mit großer Sicherheit in das 18./frühe 19. Jahrhundert datiert wer-
den. Die Besonderheit der Skulpturen, die vermutlich um die Zeit des 2. Welt-
kriegs in Höhlen bei Loloba aufgefunden wurden, liegt in ihrer ikonographischen
Aussage; Auf einem pfahlförmigen Körper sind jeweils Gesicht und Arme/Hände
im Flachrelief ausgearbeitet, während der Kopf von einer reich gestalteten „Fri-
sur“ bekrönt ist, die bei der kleineren - und vermutlich älteren - Skulptur alle
typischen Merkmale der Kopf- und Frisurengestaltung der berühmten hölzernen
Skulpturen der Uli-Tradition zeigt.
Ingrid Heermann
30
Nordamerika-Referat
Aus Mitteln des Zentralfonds des Landes Baden-Württemberg konnten fünf hoch-
wertige Werke indianischer Flechtkunst aus dem Columbia River Plateau, das in
den heutigen U.S. Bundesstaaten Washington, Oregon und Idaho liegt, erworben
werden.
Es handelt sich dabei um zwei fein geflochtene Korbhüte, die zur traditionellen
Kleidung angesehener Frauen gehören. Typisch für die Hüte der Nez Perce, Uma-
tilla und Yakama sind dreiteilige Zickzack-Muster. Kennzeichnend ist zudem die
Weiterführung des Materialstrangs, mit dem die Flechtarbeit begonnen wurde, als
dekoratives Schmuckelement. Im ausgehenden 19. Jahrhundert trugen Frauen die-
sen traditionellen Kopfschmuck nur noch bei zeremoniellen Anlässen.
Erworben wurden auch drei kunstvoll geflochtene Taschen aus Maishülsen, die
als Vorratsbehälter für getrocknete Früchte, aber auch als persönliche Gegenstän-
de verwendet wurden. Zugleich waren sie ein wesentlicher Bestandteil des rituel-
len Tauschhandels, etwa bei Heirat oder Namensgebung.
Es war Tradition, die beide Taschenseiten mittels der „Falschstickerei“-Technik
mit unterschiedlichen Mustern zu dekorieren. Dabei wurde in der Gestaltung ne-
ben der einzigartigen Kombination geometrischer Dekorelemente auch großer
Wert auf Symmetrie und einen durch Wiederholung erzeugten visuellen Rhyth-
mus gelegt. Wollgarn und „Hopfengam“, das Hopfenbauem verwendeten, waren
neue Materialien, die Frauen in ihre Flechtarbeiten integrierten.
Heute gelten diese Objekte, insbesondere die Korbhüte, als herausragende Status-
gegenstände, die in indianischem Familienbesitz verbleiben. Die genannten
Gegenstände stammen aus einer Privatsammlung, die mit hoher Sachkenntnis
über Jahre angelegt wurde.
Als Geschenke kamen unter anderem ebenfalls aus einer Privatsammlung Stiefel,
Handschuhe und eine Tasche, die aus Robbenleder angefertigt wurden. Diese Ob-
jekte, die um 1960 in Grönland gesammelt wurden, zeigen, wie traditionelle und
handelsübliche Materialien nach überlieferten Handwerkstechniken verarbeitet
wurden. Ebenfalls als Geschenk kam eine Skookum-Puppe mit Baby, die vermut-
lich aus der Zeit um 1940 stammt und heute ein gesuchtes Sammlerobjekt ist, in
die Nordamerika-Sammlung.
Sonja Schiede
Korbhut
Material: Blätter
des Bärengrases
(Xerophyllum tenax),
„Indianerhanf‘
(Apocynum cannabinum),
vermutlich Zedembast,
Lederriemchen, Kauri-
schnecken, Perlen,
Technik: Doppelzwim-
flechten mit Überfang,
H: 18 cm, B 20 cm,
Columbia River Plateau,
ca. 1870-1900,
Inv.-Nr. M 34.891 L
31
TRIBUS 52, 2003
Bericht des Referates Museumspädagogik 2002
Wie schon in den Vorjahren erforderte auch im Jahr 2002 die Nutzung der Dauer-
ausstellungsflächen für Sonderausstellungen die temporäre Schließung von Aus-
stellungsräumen. Allerdings konnten nach Umbaumaßnahmen, die die komplette
Schließung des Museums von 28. Januar bis 6. März notwendig machten, die Ost-
und Südasien-Ausstellungen in neuer Gestaltung am 7. März 2002 wieder eröff-
net werden. Die Schließung der Dauerausstellungen „Lateinamerika“, „Orient“
und „Nordamerika“ bedingten dann auch einen Rückgang der angemeldeten Füh-
rungen von 793 im Jahr 2001 auf 659 in 2002. Bei der rückläufigen Gesamtzahl
aller Führungen von 1042 auf 842 muss an die zahlreichen zusätzlichen Angebo-
te des Linden-Museums im Rahmen der Sonderausstellung „Afghanistan:
Kalaschnikow und Lebensbaum“ als Antwort auf ein großes aktuelles Interesse
der Öffentlichkeit erinnert werden. Eine Bestätigung der museumspädagogischen
Arbeit zeigt sich darin, dass der Anteil der geführten Besucher in Bezug auf die
Gesamtbesucherzahl wie in den vorausgehenden Jahren mit 25 % gehalten wer-
den konnte. Bei einem Rückgang der Gesamtbesucherzahl um 19,8 % im Jahr 2002
ist es bemerkenswert, dass der Anteil der von Interessierten angemeldeten Führun-
gen am gesamten Führungsvolumen mit 76 % im Jahr 2001 sogar auf 77 % im Be-
richtsjahr 2002 gesteigert werden konnte.
Mit 125 Führungen besuchten die meisten angemeldeten Gruppen die Daueraus-
stellung „Afrika“. Etwa zu gleichen Anteilen konzentrierte sich das Interesse auf
die drei Dauerausstellungen „Südasien“, „Südsee“ und „Ostasien“. Auch die Inte-
rimsausstellung „Von Bisonjägern und Maisbauern“ fand mit 102 Anmeldungen
große Resonanz. Diese Ausstellung wurde als kostengünstige Zwischenlösung
eingerichtet, da aufgrund der extrem angespannten Haushaltslage die Neugestal-
tung der Dauerausstellung „Nordamerika“ auf Anfang 2004 verschoben werden
musste.
Sehr positiv war die Führungsnachfrage auch für die Sonderausstellungen „Af-
ghanistan: Kalaschnikow und Lebensbaum“ und „Amazonas-Indianer; Lebens-
Räume - LebensRituale - LebensRechte“. Im letzten Monat ihrer Laufzeit fanden
36 Führungen in der Afghanistan-Ausstellung statt und in den ersten zweieinhalb
Monaten wurden bereits 110 Gruppen durch die Amazonien-Ausstellung geführt.
Die Evaluierung der Statistik zeigt deutliche strukturelle Beziehungen auf, die in
der Nachfrage bestimmter Interessengruppen an einzelnen Ausstellungen zu su-
chen sind. In der nachfolgenden Übersicht werden von Gruppen angemeldete
Führungen und öffentliche museumspädagogische Programme des Linden-Mu-
seums zusammengestellt.
Führungen 2002 und 2001 im Überblick
2002 2001
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Grundschulen 46 80 126 190
Hauptschulen 9 31 40 34
Realschulen 7 49 56 61
Gymnasien 35 72 107 119
Berufsschulen 8 14 22 25
Sonderschulen 1 8 9 30
Ausländ. Schulen - - - 2
Schulen/gesamt 106 254 360 461
32
Außerschulische Kindergruppen
Kindergärten Kindergeburtstage Kinder/Jugendliche Waldheime 50 22 50 6 60 34 53 7
Gesamt 128 154
Sonstige Gruppen
Behinderte 17 12
Kunst-Abo der Kulturgemeinschaft 13 5
Kirchliche Gruppen 12 39
Lehrerfortbildung 20 11
Private Gruppen 67 80
Senioren 18 10
Uni/PH/FH 4 11
VHS 8 8
Hausrundgang - 2
Gesamt 159 178
Öffentliche Führungen
Familienprogramme 8 7
F eri enprogramme 16 13
Kindemachmittage - 7
Publikumsführungen Dauerausstellungen 52 44
Publikumsführungen Sonderausste 1 lungen 117 178
Familienführung 1
Thementag 1
Gesamt 195 249
Gesamtzahl aller Führungen: 842 1.042
Besonders bemerkenswert ist der Rückgang der Nachfrage bei den Grundschulen,
die darauf zurück zu fuhren ist, dass Lehrerinnen und Lehrer die Sonderausstel-
lungen „Usbekistan“ und „Bilder aus dem alten Afghanistan“ im Jahr 2002 nicht
für jüngere Schülerinnen und Schüler auswählten. Auch die verminderte Nachfra-
ge bei Kindergeburtstagen, die in der Regel für Kinder im Grundschulalter durch-
geführt werden, scheint diesen Zusammenhang zu bestätigen. Die handlungs-
orientierte Ausstellung „Es spuckt in den Anden“ hingegen hielten überdurch-
schnittlich viele Sonderschulen für ansprechend. In diesem Zusammenhang ist zu
konstatieren, dass das Bedürfnis, einen Führungsbesuch mit einer kreativen Ak-
tion im Museum zu verbinden, steigt. Dem Wunsch nach einem erweiterten An-
gebot etwa mit der Präsentation von Filmen oder dem Experimentieren mit hand-
werklichen Techniken können wir aufgrund der nicht vorhandenen räumlichen
Möglichkeiten nicht entsprechen. Hier läge ein Potential, das mit entsprechender
Ausstattung hinsichtlich Raum, Personal und Finanzen die Attraktivität der Füh-
rungsangebote spürbar steigern könnte.
Es ist festzustellen, dass die Einführung von Eintrittsgeldern für Schüler ab der
9. Klasse keinen erkennbaren Rückgang bedingt hat. Selbst die rückläufigen Zah-
len vor allem bei auswärtigen Gymnasien und Berufsschulen dürften durch das
herausragende Interesse dieser Gruppen an den Inhalten der zurückliegenden
33
TR.IBUS 52, 2003
Afghanistan-Ausstellung begründet sein. Die Erwartung, dass Berufsschulen
durch die usbekischen Kunsthandwerker, die in der Ausstellung ihr künstlerisches
und handwerkliches Können vorstellten, angesprochen werden, hat sich nicht er-
füllt.
Auffallend ist, dass sich der Anteil kirchlicher Gruppen im Vergleich zum Vorjahr
um zwei Drittel reduziert hat. Aber auch hier waren es die zum Weltgebetstag der
Frauen entwickelte Samoa-Ausstellung und die Afghanistan-Ausstellung, die für
kirchlich orientierte Gruppen besonders attraktiv waren. Dagegen konnte die
Nachfrage im Rahmen des Kunst-Abonnements gesteigert werden, da es ein breit
gefächertes Angebot speziell für Kunstkenner umfasste, das neben dem Kennen-
lernen der Sonderausstellungen „Usbekistan“ und „Kunst der Traumzeit“ auch ei-
ne Einführung in Themenbereiche der neu eröffneten Dauerausstellungen „Ost-
asien“ und vor allem „Südasien“ beinhaltete.
Aufgrund der großen Resonanz musste die Lehrerfortbildung in der Sonderaus-
stellung „Amazonas-Indianer“ wiederholt werden. Gerne wurde diese Einführung
in ein Thema, das im Lehrplan verankert und in der aktuellen Diskussion ist, an-
genommen.
Die Führungsnachfrage hängt zwar entscheidend von der Attraktivität der Aus-
stellungsthemen für einzelne Interessengruppen ab, jedoch genauer noch von der
Erwartungshaltung einer Zielgruppe. So greifen Eltern, Lehrer und andere Päda-
gogen gerne auf gängige Themen zurück, mit denen sie selbst ebenso vertraut sind
wie Kinder und Jugendliche. Das Unbekannte hat es dabei schwer, entdeckt zu
werden, wenngleich der Überraschungseffekt in der Regel weit größer ist.
Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen 2002
Daueraus- stellungen* Publikums- führungen Kinder-, Ferien- Familien- Programme angemeldete Gruppen- führungen
Nordamerika1 6 1 104
Lateinamerika2 — 2
Südsee3 8 4 35
Afrika 11 3 125
Südasien4 15 4 57
Ostasien4 12 2 47
Gesamt: 52 14 370
1 geschlossen, ab 02. 05.2002 Interimsausstellung „Von Bisonjägern und Maisbauern“
2 ab 08. 04. 2002 geschlossen
3 ab 16. 04. 2002 Nutzung von Bereichen der Dauerausstellung für die Sonderausstellung „Kunst
der Traumzeit“
4 ab 07. 03. 2002 wieder eröffnet
34
Diagramm 1; Prozentuale Verteilung der Führungen
auf die Dauerausstellungen
Ostasien
14,00%
Südasien
17,00%
Nordamerika
25,50%
Lateinamerika
0,50%
Südsee
11,00%
Afrika
32,00%
Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen 2002
Öffentliche Führungen Erwachsene/ Kinder Angemeldete Führungen Gesamt
Es spuckt in den Anden 20.11.01 bis 07.04.02 10 21 31
Lebensbaum und Kalaschnikow 14.07.01 bis 27.01.02 11 25 36
Rosebud-Sioux 14.12.01 bis 14.04.02 20 54 74
Usbekistan 23.03.02 bis 29.09.02 42 79 121
Amazonas-Indianer ab 11.10.02 19 91 110
Bazar von Kabul ab 10.11.02 5 9 14
Kunst der Traumzeit 10 10 20
Gesamt 117 289 406
35
TRIBUS 52, 2003
Diagramm 2: Prozentuale Verteilung der Führungen
auf die Sonderausstellungen
Kunst der
Diagramm 3: Verteilung aller Führungen
auf Dauer- und Sonderausstellungen
Museumspädagogische Begleitprogramme
Ferien- und Familienprogramme
Auch im Jahr 2002 war „Nanu Naseweis“ die Hauptfigur der Ferienprogramme.
In bewährter Manier entdeckte er dieses Mal die kulturellen Besonderheiten der
Rosebud-Sioux, traf bei seinen abenteuerlichen Reisen auf Lamas im andinen
Hochland, landete in Australien und erkundete die neue Südasien-Ausstellung. In
Begleitung dieses fiktiven „Naseweis“ tauchten Kinder ab 8 Jahren gerne in frem-
de Welten ein.
Mit dem Sommerferienprogramm wurden erstmals zwei ganztägige Programme
angeboten. Die beiden Museumstage waren Teil eines größeren Kooperationspro-
jekts zum Thema „Tanz“, das durch die Stuttgart 2012 Olympiabewerbung geför-
dert wurde. Unter dem Titel „Wenn die kami auf Reisen gehen“ wurde während
des Museumstags „Ostasien“ die Lebendigkeit japanischer Feste und Volkstänze
erlebt, insbesondere durch die Mitwirkung der japanischen Obon-Tänzerinnen.
Ebenfalls fünf Stunden dauerte der Museumstag „Südasien“, der in Zusammenar-
beit mit der Tanzlehrerin Caroline Gebert-Khan gestaltet wurde. In dem Pro-
gramm „Indien - Land voller Geheimnisse“ lernten Kinder und Jugendliche das
kulturelle Leben Indiens kennen, vor allem in Verbindung mit Tanz, eine Veran-
36
staltung, die durch eine abschließende Vorführung vor Publikum gekrönt wurde.
Nur durch die finanzielle Unterstützung der Stuttgart 2012 GmbH war es dem
Museum möglich, diese Museumstage anzubieten.
Den Kern des Sommerferienprogramms bildeten die Programme „Eine Reise
kreuz und quer durch Afrika“, „Lachende Masken und tanzende Berggeister“ und
„Usbekistan, Karakul und Maulbeerbaum“, die jeweils drei Stunden dauerten und
für Kinder wie für Erwachsene angeboten wurden. Das Erkunden der Afrika-Aus-
stellung entpuppte sich als Entdeckungsreise in die kulturelle Vielfalt Afrikas. In
der Südsee-Ausstellung wurden Masken und Maskengewänder aus Neubritannien
mit Leben erfüllt. Und in der Usbekistan-Ausstellung drehte sich alles um die
Herstellung und Bedeutung von Textilien. Abschließend standen erneut die beiden
Asien-Ausstellungen im Mittelpunkt, wo das Lernen in einer Klosterschule im
Mittelpunkt stand.
Im Januar und März 2002 konzentrierte sich das Familieprogramm mit „Es spuckt
in den Anden“ und „Geschichte(n) der Rosebud-Sioux“ auf die Sonderausstellun-
gen. Ab Herbst stand das Programm dann unter dem Motto „Wenn es bei uns
Herbst ist“. Entsprechend der hiesigen Jahreszeit wurden Vergleiche angestellt, et-
wa in Bezug auf Japan mit „Herbstlaub, momiji und haiku“. Im November stellte
sich die Frage „Was machen Amazonas-Indianer im November?“ und im Dezem-
ber wurden die Vorbereitungen nordamerikanischer Indianer für den Winter ins
Visier genommen.
Der Besuch und die Resonanz auf die Ferien- und Familienprogramme waren
durchweg positiv. Deutlich mehr Eltern wurden durch das Internet und den vom
Referat Öffentlichkeitsarbeit verschickten Newsletter des Linden-Museums auf
die Programme aufmerksam.
Für Familien, die bevorzugt sonntagnachmittags das Museum besuchen, wurde im
Oktober eine einstündige Familienführung neu in das Programm aufgenommen.
Sie findet am letzten Sonntag im Monat statt, ist kindgerecht mit einer kleinen
Aktivität verbunden und soll Erwachsene und Kinder erfahren lassen, dass ein
Museumsbesuch alles andere als langweilig ist.
Ferienprogramm „Karakul und Maulbeerbaum“ am 21. August 2002:
Kinder ab 10 Jahren mit ihren selbst hergestellten Patchwork-Arbeiten und
zwei Mitarbeiterinnen des Linden-Museums, Michaela Hojfmann-Ruf und
Barbara Kiepenheuer.
37
TRIBUS 52, 2003
Museumstag „Südasien Bei dem Programm mit dem Titel „Indien - Land
voller Geheimnisse “ wurden Gesten als Einstieg in den indischen Ausdrucks-
tanz erlernt.
Workshops, Thementag
Der Tanzworkshop „Baum, Beine, Rhythmus“ wurde am Ende der Sommerferien
speziell für Jugendliche angeboten. In dem 2-tägigen Programm standen orienta-
lischer und afrikanischer Tanz, wie der afro-brasilianische Capoeira. Leider fand
dieses Angebot so wenig Resonanz, dass der Kurs abgesagt werden musste. Da-
für war das als Abschluss konzipierte TanzKulturFest mit Darbietungen profes-
sioneller Tänzerinnen ein voller Erfolg.
Im November startete das Linden-Museum mit dem Thementag „Tee Total - viel
Geschmack in einem Blatt“ eine neue Programmreihe, die eine sehr positive Re-
sonanz fand. Mit dem Thementag wird beabsichtigt, Einzelthemen in Verbindung
zu mehreren regionalen Ausstellungen vorzustellen. So verband „Tee Total“ die
Tee-Traditionen Süd- und Ostasiens, zeigte historische Beziehungen auf und gab
Einblick in die Köstlichkeiten aus der Teeküche weltweit. Zu erwähnen ist, dass
es sich dabei um ein kostendeckendes Programm handelt.
Kooperationsprojekte
Neben den zahlreichen Einzelveranstaltungen, gab es wiederum einige Projekte,
die in enger Abstimmung mit Kooperationspartnern entwickelt und durchgeführt
wurden.
Wie in den vorhergehenden Jahren war die Lange Nacht der Museen am 16. März
2002 ein Publikumsmagnet. Ein breit gefächertes Angebot von Kurzführungen
fand erneut sehr guten Zuspruch und hat sich als Veranstaltungsform für diese am
Event orientierte Veranstaltung bewährt.
Im Rahmen der 2. Stuttgarter Buch- und Mediameile im Mai 2002 wurde als An-
gebot für alt und jung mit „Bunt und fantasievoll - Buchkunst nach orientalischem
Vorbild“ ein praktischer Einstieg in die Ebru-Kunst und Buchherstellung gegeben.
Ein ausgesprochen gutes Echo fand die Veranstaltung „Kontakte“ des Kulturam-
tes Stuttgart, die am 22. April im Linden-Museum stattfand und etwa 120 Lehre-
rinnen und Lehrer mit museumspädagogischen Angeboten des Museums vertraut
machte. Beispielhaft erlebten sie die vielseitige Gestaltung von Führungspro-
grammen in den Ausstellungen.
38
Zum Ausklang der Sonderausstellung „Rosebud-Sioux“ war es möglich, den re-
nommierten Lakota-Künstler Arthur Amiotte zu gewinnen, der außer einem Vor-
trag über die Kunsttradition der Lakota, ein Gespräch in der Ausstellung führte
und seine persönlichen Erfahrungen im Rahmen einer Veranstaltung Familien vor-
stellte. Nur in Kooperation mit dem Karl-May-Museum in Radebeul, Sachsen, ge-
lang es, Arthur Amiotte nach Stuttgart einzuladen.
In Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Amerikanischen Zentrum/James-F.-Bymes-
Institut Stuttgart und dem Deutsch-Amerikanischen Institut Freiburg konnte im
Oktober Ken Duncan eingeladen werden, der mit seinen spannend erzählten Ge-
schichten aus der Kulturtradition der Apachen in Verbindung mit Trommel und
Flöte jung und alt begeisterte.
Am 1. September erfreuten sich zahlreiche Besucher an dem facettenreichen
TanzKulturFest, zu dem das Linden-Museum zusammen mit der Stuttgart 2012
GmbH eingeladen hatte. Das Programm umfasste indische, orientalische und afri-
kanische Tanz-Präsentationen mit kulinarischen Leckerbissen in der Pause,
ln Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und unter Vermittlung von Herrn
Dr. Theodor Rathgeber konnte Abadio Green, ehemaliger Vorsitzender der Dach-
organisation aller indigenen Völker Kolumbiens, zu einem Museumsgespräch ein-
geladen werden. Thema der Veranstaltung war die aktuelle politische Situation in
Kolumbien.
Am 8. Dezember 2002 wurde ein spezielles Programm in Zusammenarbeit mit
amnesty international zum Tag der Menschenrechte entwickelt. Im Mittelpunkt
stand die aktuelle Lebenssituation der Amazonas-Indianer, die durch Führung in
der Sonderausstellung, Vorträge und Film einem interessierten Publikum ver-
mittelt wurde.
Die Fortbildung für die freien Mitarbeiter in der Museumspädagogik wurde wie
bereits im Vorjahr von Sabine Marschner und Dagmar Trefz gestaltet. Dieses Mal
lag der Schwerpunkt auf „Stimmbildung und Präsentationsformen“.
Die Tatsache, dass das Linden-Museum trotz temporärer Schließung mehrerer
Ausstellungen die Museumspädagogik eine relativ hohe Nachfrage halten konnte
und mit seinen Veranstaltungen zahlreiche Besucher anzog, ist auch dem großen
Einsatz der freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verdanken, die ihre Ideen,
ihre Zeit und ihre Kenntnisse in die Entwicklung und Ausführung von Program-
men einbrachten. Im Mai lief der Zeitvertrag für Frau Ursula Hüge aus und Frau
Stefanie Lenhard wurde eingestellt, um die Führungsorganisation zu übernehmen.
Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Referat Museumspädagogik danken
wir ganz herzlich für ihre Anregungen und ihr Engagement.
Doris Kurelia
Sonja Schiede
TRIBUS 52, 2003
Bericht des Referates Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2002
Das Jahr 2002 war für das Linden-Museum Stuttgart in mehrfacher Hinsicht ein
Jahr des Neuanfangs; Mit der Südasien- und der Ostasien-Abteilung konnten
gleich zwei Dauerausstellungen nach langer Schließzeit mit neuer Konzeption
und in neuer Gestaltung eröffnet werden. Um die Kräfte im Museum für diese
Aufgabe sowie den Umbau des Museumsshops und die Einrichtung der Usbeki-
stan-Ausstellung zu bündeln, musste das Museum jedoch von 28. Januar bis 6.
März geschlossen werden. Mit der Wiedereröffnung am 7. März wurden im Mu-
seum für die Dauerausstellungen erstmalig Eintrittsgebühren eingeführt. Diese
Maßnahme sowie die sechswöchige Schließung sind sicherlich Gründe für den
Einbruch bei den Besucherzahlen: Im Berichtsjahr verzeichnete das Museum
85.377 Besucher (2001; 106.430), was im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang
von 19,8 % bedeutet. Weitere Erklärungen für den Besuchereinbruch sind sicher-
lich die aus finanziellen Gründen auf 2004 verzögerte Neueinrichtung der Nord-
amerika-Dauerausstellung, der traditionell meist frequentierten Abteilung im Mu-
seum, sowie die desolate Raumsituation, die für die Präsentation von Sonderaus-
stellungen zur Ausräumung und Schließung von Dauerausstellungen zwingt. So
waren 2002 vorübergehend auch die Südamerika-Abteilung und die Orient-Ab-
teilung geschlossen. Die Spitzen im Berichtsjahr stellen wie im letzten Jahr die
Monate März und November dar; Im März lockten die neu eröffneten Daueraus-
stellungen Südasien und Ostasien sowie die vom Stadtmagazin LIFT organisierte
„Lange Nacht der Museen“ am 16. März viele Besucher in die Ausstellungen, im
November waren die Sonderausstellung „Amazonas-Indianer: LebensRäume -
LebensRituale - LebensRechte“ sowie der Markt der Völker (30.10.-03.11.) die
Publikumsmagneten. Eine Schwächephase erlebte das Museum vor allem in den
Sommermonaten: Mit 8.375 Besuchern blieb die Sonderausstellung „Usbekistan:
Kunsthandwerk aus Tradition und Moderne“ unter den Erwartungen.
Die monatlichen Besuchszahlen der Jahre 2002 und 2001 ergeben folgendes Bild:
Diagramm 1: Gesamtbesuchszahlen 2003 und 2001 im Vergleich
Die absolute Zahl der Gruppenbesucher verringerte sich 2002 auf 17.853 Besu-
cher (Vorjahr: 20.923), im Verhältnis zu den Einzelbesuchen ist dagegen ein leich-
ter Anstieg zu konstatieren: Einem Anteil von 19,7 % (2001) standen 2002 20,9 %
Gruppenbesuche gegenüber.
40
Diagramm 2: Prozentualer Anteil der Gruppenbesuche an der
Gesamtbes uchszah l
Mit 40.533 Sonderausstellungsbesuchem wurde die Vorjahresmarke von 41.190
Besuchern zwar knapp verfehlt. In Prozenten machen die Sonderausstellungsbe-
sucher 2001 mit 47,5 % des Gesamtpublikums aber deutlich, wie wichtig Sonder-
ausstellungen für das Linden-Museum sind. Wenn man dabei bedenkt, dass die
Usbekistan-Ausstellung kein „Renner“ war, ist hier vermutlich noch weiteres Po-
tenzial vorhanden. Gleichzeitig zeigt die starke Verschiebung dieses Verhältnisses
hin zu Sonderausstellungsbesuchen (+ 8,8 %), dass das Interesse an den Dauer-
ausstellungen - sicherlich (teil)bedingt durch die Einführung von Eintrittsgebüh-
ren - nachlässt. Vermutlich wurden hier einige Stamm- bzw. Mehrfachbesucher
verloren, was letztlich auch den insgesamt niedrigeren Publikumszuspruch erklä-
ren würde.
Diagramm 4: Anteil der Sonderausstellungsbesuche an der Gesamtbesuchszahl
2002 und 2001 in Prozent
41
.TRIBUS 52, 2003
Die Presseresonanz auf das Linden-Museum war auch 2002 sehr gut: Die Aufla-
genhöhe aller über das Museum erschienenen Artikel konnte um 24,9 % auf eine
neue Rekordmarke von 72 Mio. gesteigert werden. Die Zahl der in der Presse er-
schienenen Artikel war dagegen rückläufig; Mit 1132 Artikeln (2001: 1428) er-
schienen 20,7 % weniger Berichte über das Museum. Dieser Rückgang war aller-
dings vorhersehbar, da das Linden-Museum 2001 mit der zeitlichen Überschnei-
dung der Sonderausstellung „Afghanistan: Lebensbaum und Kalaschnikow“ und
dem Krieg in Afghanistan auf ein mediales Echo stieß, das in diesem Maße nicht
planbar und somit auch nicht wiederholbar ist. Besondere Aufmerksamkeit in den
Medien fanden 2002 die Sonderausstellung „Amazonas-Indianer“ sowie die Neu-
eröffnung der Asien-Abteilungen. Gezielt und letztlich mit Erfolg wurde auch ver-
sucht, den Zeitungen Themen für das „Sommerloch“ anzubieten: Vor allem im
Juli, aber auch im August konnten so sehr beachtliche Ergebnisse in der Pressear-
beit erreicht werden, wie die nachfolgende Grafik verdeutlicht.
Diagramm 5: Außagenhöhe der Presseartikel über das Linden-Museum
(in Mio.)
Sonderausstellungen im Jahr 2002
Afghanistan: Lebensbauni und Kalaschnikow
14. Juli 2001 bis 27. Januar 2002*
Begleitausstellung zu „Afghanistan: Lebensbaum und Kalaschnikow“:
Voyageur. Fotografien aus Afghanistan von Irwin Dermer
18. Oktober 2001 bis 20. Januar 2002*
Es spuckt in den Anden. Kultur und Geschichten rund um das Lama
20. November 2001 bis 7. April 2002*
Rosebud-Sioux. Lebensbilder einer Indianerreservation
14. Dezember 2001 bis 14. April 2002
Besucherzahl im Jahr 2002: 15.487** (gesamt; 16.279)
Usbekistan: Kunsthandwerk aus Tradition und Moderne
23. März 2002 bis 29. September 2002
Besucherzahl; 8.763
Die Kunst der Traumzeit
15. April 2002 bis 24. November 2002*
Sommerinspirationen. Ikebana-Ausstellung
5. Juli 2002 bis 7. Juli 2002*
Sprechende Steine. Moderne Steinkunst aus Zimbabwe
(Verkaufsausstellung)
18. Juli 2002 bis 20. Oktober 2002*
42
Amazonas-Indianer: LebensRäume - LebensRituale - LebensRechte
11. Oktober 2002 bis 31. August 2003 (verlängert)
Besucherzahl im Jahr 2002: 16.283***
Der Bazar von Kabul. Bilder aus dem alten Afghanistan
9. November 2002 bis 13. April 2003*
Quadratmalerei. Die Tingatinga-Schule aus Tansania (Verkaufsausstellung)
14. Dezember 2002 bis 21. April 2003*
* Anmerkung: Bei Sonderausstelhingen ohne separaten Eintritt wurde die Besucherzahl nicht
eigens erfasst.
** Anmerkung: Die Besucher der „Langen Nacht der Museen“ (16.03.) wurden hier den Sonder-
ausstel 1 ungsbesuchern zugerechnet.
*** Anmerkung: Die Besucher des „Marktes der Völker“ (30.10.-03.11.) wurden hier den Sonder-
ausstellungsbesuchern zugerechnet.
Fazit und Ausblick
Bedingt durch die sechswöchige Schließzeit sowie die Einführung des Eintritts für
die Dauerausstellungen bietet das Jahr 2002 sicherlich keinen repräsentativen
Maßstab, der 1:1 mit den Vorjahren verglichen werden kann. Wie sich beispiels-
weise die Eintrittsregelung mittelfristig auswirkt, werden erst die nächsten Jahre
zeigen. Dennoch wäre auch ohne die besondere Situation im Berichtsjahr ein Be-
sucherrückgang zu verzeichnen gewesen, der sensibel für die Zukunft machen
sollte und grundsätzliche Überlegungen, wie das Museum sein Publikum gewinnt,
notwendig macht: Hier müssen sowohl die inhaltliche Ausrichtung (z. B. Ausstel-
lungspolitik) als auch die Kommunikationsstrategien (Werbemedien, Verteiler
etc.) des Museums ehrlich hinterfragt werden.
Das für 2002 gesteckte Ziel, das für das Haus dringend erforderliche Corporate
Design auszuschreiben, musste bedauerlicherweise auf Grund der extrem schwie-
rigen Finanzlage des Museums vorerst verschoben werden. Zur Selbstdefinition
und Positionierung des Museums und letztlich auch als inhaltliche Vorgabe für
Grafiker im Hinblick auf ein Corporate Design wurde von der Öffentlichkeitsar-
beit im September 2002 ein umfangreicher Prozess zur Erstellung eines Leitbilds
initiiert, an dem sich zahlreiche Mitarbeiter aus allen Abteilungen des Museums
beteiligen. Das Leitbild soll bis Ende Juli 2004 formuliert sein.
Mit dem Ziel, Besucher direkter, ausführlicher, aktueller und häufiger über das
Museum zu informieren, startete im Januar 2002 die erste E-Mail-Newsletter-
Ausgabe mit 372 Abonnenten. Der Newsletter erscheint seither regelmäßig im
vierzehntägigen Rhythmus und erreichte bis Jahresende 2002 mit 734 Abonnen-
ten fast eine Verdopplung zur Ausgangsbasis. Die hohe Akzeptanz des Angebots
wurde Mitte des Jahres in einer Evaluation bestätigt, in der 84 % der Befragten
den Newsletter als sehr gutes bzw. gutes Informationsmedium und weitere 14 %
ihn als zufrieden stellendes Medium beurteilten. Über 60 % der Befragten wurden
durch den Newsletter bereits mindestens einmal zu einem Museumsbesuch an-
imiert. Erfreulich ist auch, dass sich durch dieses Angebot viele direkte Kontakte
zwischen der Öffentlichkeitsarbeit und dem Publikum ergeben haben, die vorher
in dieser Fülle und Qualität nicht möglich waren. So erweist sich der Newsletter
als wirkungsvolles Instrument zur Besucherbindung, mitunter sogar im Sinne ei-
nes One-to-One-Marketing. Zusätzlich wurden 2002 E-Mail-Spezial-Verteiler für
bestimmte Zielgruppen (z. B. Schulklassen, Seniorenbegegnungsstätten, am Kin-
derprogramm Interessierte, Tee-Freunde, Didgeridoo-lnteressierte) des Museums
angelegt. Dieser Bereich soll weiter ausgebaut werden, um die jeweiligen (Teil-)Pu-
blika genau mit den Informationen zu versorgen, die gewünscht werden.
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TRIBUS 52, 2003
Bewusst ausgebaut wurde auch das Internet-Angebot des Linden-Museums, was
sich auch in einer verstärkten Nutzung ausdrückt: 2002 wurden 34.970 Besucher
auf der Homepage gezählt, die insgesamt 286.117 Einzelseiten aufgerufen haben,
was im Durchschnitt wiederum acht Seiten pro Besuch bedeutet. Insgesamt ver-
zeichnete die Homepage einen Besucherzuwachs von 18,9 % gegenüber 2001.
Das Internet-Angebot soll sukzessive weiter verbessert werden.
Neue Zielgruppen werden sicherlich auch durch Kooperationsprojekte erschlos-
sen. Ein gutes Beispiel für 2002 war beispielsweise die Zusammenarbeit mit dem
Kulturwerk und dem Didge-Days-Team sowie anderen Partnern bei der Vorberei-
tung des Didgeridoo-Festivals „Didge Days Stuttgart“ (27.-30.06.). Das Linden-
Museum hat zum Gesamtkonzept mit der Ausstellung „Kunst der Traumzeit“ ei-
nen Aspekt beigetragen, den die anderen Projektpartner nicht hätten leisten kön-
nen. Gleichzeitig wurde für die Ausstellung ein junges, musikinteressiertes Publi-
kum gewonnen, das losgelöst von den „Didge Days“ kaum zu erreichen gewesen
wäre. Das Konzert des Australiers Ganga Giri im Linden-Museum am 29. Juni
war (abgesehen natürlich von der „Langen Nacht der Museen“) mit rund 500 Be-
suchern die publikumsstärkste (und finanziell einträglichste) Veranstaltung im
Wannersaal.
An der Arbeit, das Linden-Museum engagiert, kreativ, wirkungsvoll und nachhal-
tig in die Öffentlichkeit zu bringen, beteiligten sich auch 2002 wieder sehr moti-
vierte (unbezahlte!) Praktikantinnen und Praktikanten; Besonderer Dank gilt des-
halb an dieser Stelle Sabine Armbruster, Bettina Keßler, Andreas Maris, Alexia
Pooth, Beate Sander, Viktoria Steinbach und Claudia Wahl.
Martin Otto-Hörbrand
44
Linden-Museum Stuttgart
- Staatliches Museum für Völkerkunde -
Hegelplatz 1, 70174 Stuttgart
Tel. 0711/2022-3, Fax: 0711/2022-590
Organisationsplan
Stand: 1.5.2003
Direktor Prof. Dr. Thomas Michel, Tel.400
1
Sekretariat Rosemarie Thomaschewski, Tel.401
1 1
1 1 1 1
Abteilung I Verwaltung Zentrale Dienste
Prof. Dr. Johannes Kalter Tel.402
Referat 1 Verwaltung,
Haustechnik
Innendienst, Wachdienst
Andreas Gnädig Tel.420
1
Referat 2 Günter Darcis Bibliothek Tel.510
Referat 3 Restaurierungswerkstätten Prof. Dr. Johannes Kalter Tel.402
Referat 4 Anatol Dreyer Fotoatelier Tel.414
Referat 5 Museumspädagogik
Dr. Sonja Schierle Tel.555 Nordamerika, Orient, Ostasien
Grundsätzliches
Dr. Doris Kurella Tel.407 Lateinamerika, Afrika Südsee, Südasien
Abteilung II Wiss.Angelegenheiten
EDV, Haushalt, Personal
Prof. Dr. Thomas Michel Tel.400
Referat 1 Dr. Hermann Forkl Afrika Tel.406
Referat 2 Orient Prof. Dr. Johannes Kalter Tel.402
Referat 3 Dr. Gerd Kreisel Südasien Tel.403
Referat 4 Dr. Klaus J. Brandt Ostasien Tel.405
Referat 5 Südsee Dr. Ingrid Heermann Tel.404
Referat 6 Lateinamerika Dr. Doris Kurella Tel.407
Referat 7 Nordamerika Dr. Sonja Schierle Tel.555
Referat 8 Martin Otto-Hörbrand Öffentlichkeitsarbeit Tel .444
Referat 9 EDV, Dokumentation, Archiv
Iris Müller Tel.423
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TRIBUS 52, 2003
Verleihung der Karl-Graf-von-Linden-Medaille an Frau Prof. Dr Dr Schimmel
am 8.11.1998 im Linden-Museum Stuttgart. V.l.n.r:
Prof. Dr. Dr. Annemarie Schimmel, Staatsminister Dr. Christoph-E. Palmer,
Bürgermeisterin Dr. Iris Jana Magdowski.
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
In Memorian Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Annemarie Schimmel
7.4.1922-26.1.2003
Nach einem langen arbeitsreichen, erfüllten Leben ist Frau Annemarie Schimmel
am 26.1.03 für ihre zahlreichen Freunde viel zu früh an den Folgen eines Unfalls
verstorben. Die Lücke, die ihr Tod aufgerissen hat, wird nie mehr zu schließen sein.
Ihre wissenschaftliche Karriere war so ungewöhnlich wie ihr gesamtes Leben.
Annemarie Schimmel wurde 1922 als Tochter eines Postbeamten geboren. Noch
während ihrer Schulzeit begann sie als Fünfzehnjährige mit dem Studium der ara-
bischen Sprache. Nach dem Abitur, das sie 1939 mit 16 Jahren ablegte, studierte
sie an der Universität Bonn Arabistik und Islamwissenschaften und wurde 1941
zum Dr. phil. promoviert. Im Januar 1946 habilitierte sie sich an der Universität
Marburg in Islamwissenschaften und erwarb 1951 ihren zweiten Doktortitel in
Religionsgeschichte.
Ab 1946 lehrte sie als Dozentin, ab 1955 als außerplanmäßige Professorin an der
Universität Marburg. 1954 erhielt Frau Schimmel als erste Frau und Christin ei-
nen Ruf als Professorin für Religionsgeschichte an die Islamisch-Theologische
Fakultät der Universität Ankara. In ihrer Zeit in Ankara vertiefte sich ihr lebens-
langes Interesse an islamischer Mystik, das u. a. zu zwei Publikationen über das
Werk des Mystikers Rumi (1207-1273) führte.
Ab 1961 war Frau Schimmel als Professor und wissenschaftlicher Rat für Arabis-
tik und Islamkunde an der Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn tätig, bis sie 1967
einem Ruf an die amerikanische Harvard University in Cambridge/MA folgte, wo
sie seit 1970 als Professor of Indo-Muslim Culture tätig war.
Nach ihrer Emeritierung in Harvard lehrte Annemarie Schimmel bis kurz vor ih-
rem Tod wieder an dem Orientalischen Seminar der Universität Bonn.
Das wissenschaftliche Werk Frau Schimmels lässt sich in einem Nachruf nur un-
zureichend beschreiben. Aus ihrer Feder stammen über 100 selbständige Publika-
tionen neben zahlreichen Aufsätzen. Es gibt wohl kein Gebiet islamischer Kultur,
46
Geschichte und Kunst, zu dem sie sich nicht kompetent geäußert hat. Den Kern
ihrer Forschungs- und Publikationstätigkeit bildeten aber Arbeiten zum Thema
der islamischen Mystik. Ihr Buch „Mystical Dimensions of Islam“ (1975) gilt bis
heute als Standardwerk zu diesem Thema. Eine Erklärung dafür findet sich in ih-
rem Lebensmotto, das sie laut ihrer Autobiographie seit ihrem 7. Lebensjahr be-
gleitete: „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie“.
Weitere Schwerpunkte ihres Schaffens waren Publikationen zur islamischen Kul-
tur und Geschichte des indischen Subkontinents und zur vornehmsten Form der
islamischen Kunst, der Kalligraphie. Seit ich Annemarie Schimmel kannte, hatte
sie immer mindestens zwei, häufig drei Publikationen gleichzeitig in Arbeit.
Neben ihrer Unterrichtstätigkeit und der Arbeit an Publikationen war Frau Schim-
mel als unermüdliche Vortragsreisende unterwegs - und ihre Vorträge waren glän-
zend. Man muss erlebt haben, wie sie ans Pult trat, die Augen schloss und - je nach
Vorgabe - zwischen 45 Minuten und einer Stunde brillant formuliert und absolut
stringent druckreif sprach, ohne einmal ins Stocken zu geraten. Auch bei einem
voll besetzten Saal - und die Säle waren bei ihren Vorträgen immer voll - herrsch-
te eine so atemlose Stille in den Pausen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hö-
ren können.
Das Bemerkenswerteste an Annemarie Schimmel war, dass sie alles, was sie tat,
mit vollem Einsatz und absoluter Konzentration tat. Wenn sie, die kleine zierliche
Frau, einen Saal betrat, hatte man den Eindruck, sie fülle ihn. Wenn sie mit einem
einzelnen Menschen sprach, hatte dieser das Gefühl, er sei in diesem Moment der
wichtigste denkbare Gesprächpartner. Bei Gesprächen über den Orient und seine
Menschen war nicht nur ihr immenses Wissen sondern auch ihre tiefe Zuneigung
zu diesen Menschen zu spüren.
Frau Schimmel hat sich ihr gesamtes Leben bemüht, Brücken zu bauen zwischen
Morgenland und Abendland. Dass ihr das gelungen ist, war noch bei ihrer Trau-
erfeier am 4. Februar in der Evangelischen Kreuzkirche in Bonn zu spüren, bei der
Kirchenlieder erklangen, die sie als junge Frau für den religionsgeschichtlichen
Unterricht in Ankara ins Türkische übersetzt hatte und Sheik Saki Yamani in der
Kirche die 1. Sure aus dem Koran verlas.
Frau Schimmels Wirken hat viel Anerkennung erfahren. Sie erhielt die Ehrendok-
torwürde der Universitäten Sind, Islamabad, Peschawar (alle Pakistan), Uppsala
und Konya (Türkei). Sie war Trägerin des großen Bundesverdienstkreuzes sowie
des höchsten pakistanischen zivilen Verdienstordens. Daneben erhielt sie u. a. den
Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt, die Goldene Hammer-Purgstall-
Medaille, Graz, den Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen, die Reuchlin-
Medaille der Stadt Pforzheim, und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Seit 1992 hat Frau Schimmel die Arbeit des Orientreferats im Linden-Museum
mit zahlreichen Vorträgen, Katalogbeiträgen, Gutachten und Lesungen schwieri-
ger orientalischer Inschriften unterstützt. 1998 erhielt sie die Karl-Graf-von-Lin-
den-Medaille und wurde Ehrenmitglied unseres Fördervereins, der Gesellschaft
für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V.
Aus ihrem Nachlass erhielt das Linden-Museum mehr als 70 Kalligraphien, die
zwischen dem 9. und dem 20. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sind. Im
Moment wird die Publikation dieser Sammlung vorbreitet sowie eines kleinen
Aufsatzes aus ihrer Feder zu dieser Sammlung.
Die Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde und das Linden-Museum trauern um
eine hochgeschätzte Unterstützerin ihrer Arbeit. Der Unterzeichner hat eine stets
verlässliche, liebenswerte und hilfsbereite Freundin verloren. Wir werden ihr ein
ehrendes Andenken bewahren.
Johannes Kalter
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TRIBUS 52, 2003
HERMANN AMBORN
Kare: Der Emst ist ein blutiges Spiel
Nur etwa fünf Kilometer landeinwärts vom balinesischen Touristenstrand Candi
Dasa liegt die eigenwillige Gemeinde Tenganan. Noch vor wenigen Jahrzehnten
gestatteten ihre Bewohner nur wenigen Ortsfremden den Zugang, und auch heute
noch dürfen im Kembereich des Siedlungsgebiets Fremde nur in geregelten Aus-
nahmefällen über Nacht bleiben. Tagsüber allerdings ist das malerische Tengan-
an, wo der traditionelle Baustil gepflegt wird und die erlesensten Gewebe von
Bali hergestellt werden, für einige Stunden Tummelplatz für Touristen.
Unter den zahlreichen Besonderheiten Tenganans soll im vorliegenden Beitrag eine
hervorgehoben werden: Während die umliegenden Fürstentümer bis zu ihrer Erobe-
rung durch die Holländer Anfang des 20. Jahrhunderts ständig miteinander in Fehde
lagen, kannte Tenganan seit Jahrhunderten keinen Krieg.1 Über die Dauer dieser Frie-
densperiode gehen die Meinungen allerdings auseinander. Meine Gewährsleute versi-
cherten mir, dass seit der Ortsgründung, die etwa mit der javanischen Eroberung
Balis in der Mitte des 14. Jahrhunderts zusammenfällt, niemals Krieg geführt wurde.2
Historische Forschung, besonders jene von Viktor Kom, einem Juristen der holländi-
schen Verwaltung - dem wir eine ausgezeichnete Dokumentation seiner Forschungen
in Tenganan Mitte der 1920er Jahre verdanken -, datiert die letzten Kämpfe in die Zeit
vor knapp 300 Jahren. Damals begann das expandierende Kleinfürstentum Sibetan
sich fruchtbare, gut bewässerte Reisfelder von Tenganan einzuverleiben, woraufhin
zum Schutz Kestala, ein befestigter Ort nahe der Grenze, angelegt wurde.3 Nach Aus-
kunft meiner Gewährsleute in Tenganan war dies Abschreckung genug, und auch heu-
te noch steht Kestala für die Unantastbarkeit von Tenganan. Doch selbst 300 - statt 650
Jahre - sind eine erstaunlich lange Friedensperiode. Außerdem herrscht Einigkeit dar-
über, dass von Tenganan niemals Angriffskriege ausgingen. Ebenso erstaunlich wie
der lange Frieden ist, dass Tenganan über die Jahrhunderte hinweg seine Selbständig-
keit als eigen verwalteter Distrikt bewahren konnte.
Nun gibt es aber in dem wichtigsten Festmonat des Jahres im Ritualzyklus zwei
Tage, an denen sich die Männer von Tenganan keineswegs friedfertig betragen.
Jedenfalls will es so dem außen stehenden Betrachter erscheinen. An diesen Ta-
gen wird ein Kampfritual durchgeführt, bei dem Männer sich mit stacheligen
Palmblättem als Hiebwaffe Duelle liefern, während derer reichlich Blut fließt.
Keiner der daran Beteiligten kommt ohne Wunden davon.
Zwei Fragen möchte ich hier nachgehen: Welche Bedeutung für die Gesellschaft
mag ein derartiges Ritual haben, und könnte dessen Betrachtung und Interpretation
uns einen Zugang zu Denkmodellen bieten, die dem angesprochenen Phänomen
langer Friedensphasen zugrunde liegen? Für meine Betrachtung ist wesentlich,
dass die lange Friedensperiode in der Vorstellung der Betroffenen derart stark ver-
ankert ist, dass sie zu einem Wissen wurde. Unter diesem Gesichtspunkt ist es im
vorliegenden Fall zwar nicht unerheblich, aber doch zweitrangig, ob dieses Wissen
in allen Punkten den in unserem Sinne „objektiven“ historischen Tatbeständen
standhalten kann. Bevor ich zur Schilderung dieses Rituals komme, erscheint es
mir sinnvoll, einen Blick auf einige kulturelle Besonderheiten Tenganans und des-
sen Stellung innerhalb Balis zu werfen; allein schon deswegen, weil dieses Ritual
innerhalb eines größeren Festgeschehens steht, das seinerseits wiederum das all-
tägliche Leben mit seinen Arbeits- und Sozialbeziehungen mitbestimmt.
Die Gemeinde Tenganan
Die heute noch in vielem sichtbare höfische Kultur hat mit ihren vielfältigen For-
men und Farben, Klängen und Riten westliche Ethnologen und Künstler in ihren
48
Hermann Ambom: Kare: Der Emst ist ein blutiges Spiel
Bann geschlagen und zum europäischen Bild Balis als exotischem Paradies bei-
getragen. Im Hinblick auf den „Pomp“ dieser Fürstentümer entwickelte Cliffort
Geertz (1980) seine These vom balinesischen „Theaterstaat“, d.h. einer Staats-
macht, die sich im Ästhetischen ausdrückt und reproduziert. Dieser „Theaterstaat“
war der Endpunkt einer langen Entwicklung, dem die europäische Übermacht an-
fangs des 20. Jahrhunderts in zwei spektakulären Massakern an der Nobilität der
beiden damals bedeutendsten Fürstentümer abrupt ein Ende setzte (c.f. Wiener
1995: 3f., Kap. 9 u. 10).
Vorausgegangen war im 14. Jahrhundert die Eroberung Balis durch die Majapahit-
Dynastie aus Java, die bei der Hinduisierung von Bali dauerhafte Akzente setzte.
Mit der Errichtung eines Zentralstaats ging die Hierarchisierung der balinesischen
Gesellschaft einher. Die Hierarchisierung blieb auch erhalten, ja wurde noch dif-
ferenzierter, als der Zentralstaat in mehrere Fürstentümer zerfiel.4 Größere Erobe-
rungskriege fanden nicht mehr statt, denn unter den Fürstentümern hatte sich im
Lauf der Geschichte ein gewisses Machtgleichgewicht eingestellt, dennoch ver-
suchten rivalisierende Fürstenhöfe ständig mit Intrigen und gewaltsam ihr Jewei-
liges Einflussgebiet in der fruchtbaren Kernregion zu erweitern, wobei es in der
mit arbeitsintensiven Methoden bewirtschaften Nassreisregion mindestens ebenso
sehr um die Kontrolle von Menschen wie um die von Land ging.5 Die Herrscher
kämpften dabei nicht ausschließlich mit materiellen Waffen, sondern setzten zu-
gleich ihre geistig spirituellen Kräfte - ihr so genanntes sakti ein. Max Weber hät-
te gesagt, sie setzten ihr Charisma als Mittel der Herrschaftsausübung ein. Nach
balinesischer Auffassung ist sakti keine persönliche Kraft. Vielmehr wird es auf-
grund tätiger und ständiger Pflege zur unsichtbaren Welt durch eine Person hin-
durch wirksam (Wiener 1995: 58 ff.). Das ursprünglich indische Prinzip von sak-
ti ist in abgewandelter Form in die besondere Ausprägung des balinesischen Hin-
duismus eingebettet.
Betrachten wir innerhalb dieses Umfeldes die Besonderheit von Tenganan. Die
Bewohner von Tenganan werden den so genanten Bali-Aga oder auch Altbaline-
sen zugerechnet. Die These, dass es sich bei den Bali-Aga - wie der Name sugge-
riert - um eine Vorbevölkerung Balis handele, ist heute nicht mehr haltbar.6 Aller-
dings teilen die verschiedenen Bali-Aga-Gruppen nicht die religiösen Vorstellun-
gen, wie sie sich seit der javanischen Majapahit-Eroberung im übrigen Bali durch-
gesetzt haben. Ihre Religion ist neben autochthonen Zügen wesentlich durch
buddhistisch-hinduistische Einflüsse bestimmt, die im 11. Jahrhundert in Bali
Eingang fanden. Auffälligstes und anstößigstes Merkmal für die heutigen Baline-
sen ist die Tatsache, dass die Bali-Aga ihre Toten nicht verbrennen, wie es im übri-
gen Bali religiöse Pflicht ist.7 Die auf Bali gegenüber anderen hinduistischen Ge-
sellschaften ohnehin schwach ausgeprägte Kastenhierarchie tritt bei den meisten
Bali-Aga völlig in den Hintergrund.
In Tenganan sind die aus der Vor-Majapahit-Zeit überlieferten und im Lauf der
Jahrhunderte in spezifischer Weise weiter entwickelten Kosmologien zentraler
Bestandteil der Glaubensvorstellungen. Raumkonzepte - überall auf Bali wichti-
ge Bedeutungsträger (Hauser-Schäublin 1993: 288) - sind hier auf spezifische
Weise entwickelt und verdichtet worden. Der Ort Tenganan gilt seinen Bewohnern
als verkleinerte Kopie von Ur-Bali und, weit wichtiger, als Abbild des Kosmos,
der nach göttlichem Plan sich in Tenganan als Mikrokosmos widerspiegelt.
Die Ortschaft ist als exaktes, an den vier Himmelsrichtungen orientiertes Recht-
eck angelegt. Drei parallele, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Straßen von
ca. 500 Metern Länge teilen sie in drei Quartiere. Diese Straßen markieren zu-
gleich die für ganz Bali wichtigen Richtungen: bergwärts (kaja) zum heiligen
Berg Gunung Agung (im Norden) und seewärts (kelod). Rechtwinklig zu ihnen
führen von Osten nach Westen zwei etwa halb so lange Straßen, den Ort in drei
Abschnitte gliedernd. Parallel zu diesen sind von Süden nach Norden ansteigend
mehrere terrassierte Stufen angelegt, die den Ort wie einen Tempel mit mehreren
übereinander angeordneten Plattformen erscheinen lässt. Geradlinig verlaufende
49
TRIBUS 52, 2003
Mauern schließen Tenganan von der Außenwelt ab, zu der sich jeweils in den Kar-
dinalrichtungen vier Tore öffnen. Diese Tore, denen übernatürliche Schutzfunk-
tionen zugeschrieben werden, behüten den Ort vor schädlichen Einflüssen.
Die Bewohner von Tenganan sehen sich als unmittelbare Abkommen jenes Urel-
tempaares an, das der Gott Indra kraft Yogameditation geschaffen hat. Die über
Indra herrschenden Vorstellungen sind vielfältig und kaum in einen Rahmen zu
pressen, der unseren Vorstellungen eines theologischen Systems entspricht. Im
vorliegenden Zusammenhang erscheint es wichtig, dass er berauschenden Ge-
tränken zugetan ist und von diesen angeregt Schöpfer und Vernichter zugleich
wird. Indra schenkt Fruchtbarkeit und ist Gott des Krieges, ohne aber, wie in der
frühindisch-vedischen Religion, der aggressive „Burgenbrecher“ zu sein. Eher
zeigt seine kriegerische Komponente schützende Funktion. Mit dem Indra des
gegenwärtigen indischen Hinduismus hat er wenig gemein, hingegen liegen den
Vorstellungen in Tenganan offenbar Züge des buddhistischen Indra, Königs über
ein göttliches Pantheon, zugrunde. Letztlich handelt es sich aber um eine eigen-
ständige Entwicklung, deren historische Wurzeln m.E. am wahrscheinlichsten in
der Vor-Majapahit-Zeit zu suchen sind, als in Java sakrale buddhistische Herr-
scher, die den Namen Indra trugen, regierten (vgl. Klokke 1995: 81f. 651). Es sei
angemerkt, dass Indra keineswegs die einzige göttliche Macht ist, die in Tengan-
an verehrt wird, aber sie ist die in unserem Kontext wichtigste.
Aufgrund der mikrokosmischen Abbildung des Makrokosmos wird Tenganan zum
sakralen Bezirk, und seine kraft der Abstammung von Indra auserwählte Bevölke-
rung hat die Heiligkeit des Ortes durch rituelle Handlungen zu perpetuieren. Un-
mittelbar auf die räumliche Ordnung und auf Indra bezogen sind gemeinsame Um-
gänge, mit denen alle wichtigen Zeremonien beginnen und häufig auch beendet wer-
den. Die Umschreitung des Dorfes (innerhalb seiner Mauern) als eines geheiligten
rechteckigen, an der Windrose orientierten Raumes symbolisiert die Einheit Indras,
der alle Himmelsrichtungen und letztlich alle Götter in sich vereint. Das
Leben an einem dermaßen geheiligten Ort verpflichtet alle Bewohner zur ständigen
aktiven Teilnahme an den Ritualen zu Ehren von Göttern und Ahnen. So leisten sie
ihren Beitrag zur Auffechterhaltung und zur Sicherung der göttlich überlieferten Ord-
nung und zur Erreichung der eigenen Reinheit. Wer gegen die überlieferte Ordnung
verstößt, wird aus dem Ritualleben sowie aus den kommunalen Organisationen aus-
geschlossen und hat bei gravierenden Fällen sogar das Land zu verlassen (s.u.).
Ahb. 1: Geringsing isi, Baumwolle, Doppelikat-Färbung, 207 x 44 cm (Detail).
Tenganan Pegeringsingan, Bali, ca. Mitte 20. Jh. Linden-Museum, SA 00299
50
Hermann Ambom: Kare; Der Ernst ist ein blutiges Spiel
Der Überlieferung nach war es auch Indra, der die Muster für die sakralen Textil-
ien entwarf, die in Tenganan gewebt werden. Diese im zeitaufwendigen Doppeli-
kat-Verfahren hergestellten Stoffe (geringsing) gehören, wie Urs Ramseyer
(1991:117) anmerkt; „zu dem spektakulärsten, was die südostasiatische Textil-
kunst hervorgebracht hat“. Es gibt in ganz Bali kaum einen wichtigen Tempel, der
nicht mindesten eines dieser sakralen Gewebe verwahrt. Die balinesischen Herr-
scher brauchten die Schutz und Kraft spendenden Tücher, um ihre Macht zu er-
halten und zu mehren. Heute sind sie weltweit begehrt, und zahlreiche Museen
warten darauf, dass ihre Bestellungen ausgeführt werden.8
Ein Typ, der geringsing wayang (mit zahlreichen Untergruppen) zeigt ein vier-
zackiges Stemmotiv. Die Zacken des Sterns stellen Schaden abwehrende Skor-
pionschwänze dar. Dieses Motiv gilt auch als Symbol für Tenganan mit seinen
vier schützenden Toren.9 (Abb. 1)
Die religiöse Besonderheit von Tenganan wird flankiert von einer spezifischen so-
zialen und ökonomischen Ordnung. Auffallend ist, dass im Gegensatz zum übri-
gen Bali die patrilinearen Abstammungsgruppen zwar für die ortsinternen exoga-
men Heiratsgruppen von Bedeutung sind, nicht aber für den sozialen Status einer
Person. Wesentlich ist hingegen die Zugehörigkeit zu den wichtigen sozioreligiö-
sen Vereinigungen des Ortes, die nach Kriterien des Alters, des Geschlechts und
des Heiratsstatus organisiert sind. Alle Bewohner, Knaben und Männer, Mädchen
und Frauen, sind Mitglieder einer dieser Gruppierungen. Schon im Kindesalter
treten Jungen wie Mädchen in Jugendvereinigungen ein, wo sie in spielerischer
Geselligkeit auf ihre späteren gesellschaftlichen und rituellen Aufgaben vorberei-
tet werden. Was die drei Vereinigungen der Knaben und jungen Männer (teruna)
betrifft, so sind sie nach ihrem sozialen Alter hierarchisch geordnet, die Ältesten
bilden eine Art Führungsgremium, während die Jüngsten darauf warten, in den
Kreis jener aufgenommen zu werden, die nach einem Jahr der Seklusion in den
Status der Junggesellen aufsteigen. Die teruna stehen zu den Mädchenvereinigun-
gen (daha) in einem streng formellen Verhältnis, das den Austausch von rituellen
Gegenständen, Opfergaben, Mahlzeiten und Dienstleistungen einschließt (Ram-
seyer 1985, 157ff.; Kom 1948: 333ff).
Mit der Eheschließung gehört ein Paar dem Gemeinderat (kerema desa) an, einem
Gremium, das fast allabendlich Zusammentritt. Hier werden alle Belange der Ge-
meinde diskutiert, seien es alltägliche Probleme, die Durchführung von Riten,
Forderungen der Regierung oder Verstöße von Gemeindemitgliedem gegen die
geltende, mündlich und schriftlich tradierte Ordnung.10 Die gefassten Beschlüsse
sind verbindlich. Der ständig zusammentretende Rat ist in der Lage, unter Beach-
tung der Tradition, flexibel auf veränderte Gegebenheiten zu reagieren. Dies gilt
im geringen Ausmaß selbst für die weiter unten angeführten religiösen Zeremo-
nien (bei deren Schilderung ich aber nur die synchrone Ebene berücksichtigen
kann). Im Gemeinderat finden nur verheiratete Paare Aufnahme. Kommt es trotz
des Trennungsverbots zur Scheidung oder zur Heirat eines zweiten Partners,
scheiden die Beteiligten aus. Auch beim Tod eines Partners muss der Überleben-
de das Gremium verlassen. Wenn verheiratete Kinder eines Paares in den Rat
kommen, erlischt damit die Mitgliedschaft der Eltern.11 Im lang gestreckten Ver-
sammlungsgebäude (bale agung), das zugleich Kultort ist, sitzen Ehepartner stets
zusammen. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern bilden sie zwei parallele
Reihen, die, von Süd nach Nord aufsteigend, in vier Gruppen unterteilt sind. In
dieser Sitzordnung, die charakteristisch für Bali-Aga-Gemeinden ist, zeigen sich
in auffälliger Weise dualistische Gliederungsprinzipien. In der Anordnung und in
den Beziehungen zwischen den Ratsmitgliedem sowie in den von ihnen zele-
brierten Riten und gemeinsamen Mahlzeiten kommt zugleich die - auch sonst of-
fensichtliche - Verbindung der dualen Struktur mit einer balinesischen Weitsicht
des Ausgleichs von Oppositionen, dem Versuch, polarisierende Kräfte zu harmo-
nisieren, zum Ausdruck. (Damm auch ist Scheidung verboten, da diese das duale
Prinzip und dessen Harmonisierung durchbricht.)
51
TRIBUS 52, 2003
Die vier genannten Untergruppierungen des Rates haben jeweils verschiedene
Kompetenzen, Aufgaben, Privilegien und Funktionen. Idealiter kann jedes Ehe-
paar im Verlauf des Lebens nacheinander alle vier Gruppen durchlaufen. Neu
Hinzugekommene sind solange in der Gruppe der Zuhörenden, bis in der nächst
höheren Gruppe ein Paar ausscheidet oder weiter aufrückt. Das zweitletzte Gre-
mium hat exekutive Befugnis; das letzte zu erreichende Gremium entscheidet
nicht mehr, hat aber beratende Funktion und ist oberste Instanz in Rechtsfragen.12
Von den ehemaligen Mitgliedern aus der obersten Gruppe, die den Rat verlassen
haben, weil ihre Kinder nachrückten, können noch bis zu sechs Personen als Be-
rater hinzugezogen werden. Ökonomische, rituelle und (soweit vom Staat zuge-
lassene) politische Macht liegt ausschließlich bei der kerema desa. Eine leitende
Einzelperson gibt es nicht.13 Die indonesische Verfassung verlangt allerdings eine
derartige verantwortliche Person. Diese stellt Tenganan auch zur Verfügung. Sie
untersteht aber in jedem Fall dem Gemeinderat. Würde sich eine solche leitende
Person - nennen wir sie Distriktchef - den Beschlüssen des Rats widersetzen,
müsste sie mit Landesverweis rechnen, was wiederum den Verlust des Staatspo-
stens bedeutete.
Wir sehen uns in Tenganan einem ausgefeilten System polykephaler Gesell-
schaftsstrukturen gegenüber. In der Ethnologie wird üblicherweise eine Gesell-
schaft ohne zentrale Autorität als akephal bezeichnet. Ich ziehe hier den Begriff
polykephal vor, da in Tenganan - wie auch in den meisten anderen als akephal gel-
tenden Gesellschaften - ein vielköpfiges Gremium, dessen Zusammensetzung sich
zudem ständig verändert, die höchste Instanz bildet (vgl.; Ambom 2002). Der
ebenfalls häufig für vergleichbare Gesellschaften verwendete Begriff „egalitär“ ist
unscharf und irreführend; obwohl er auf die Kemgruppe dieser Gemeinschaft be-
zogen nicht völlig falsch wäre: zum einen aufgrund der Beachtung ausgleichen-
der Dualität und zum zweiten (und damit im Zusammenhang stehend), dass Frau-
en alle Entscheidungen mittragen, was man von den meisten als „egalitär“ apo-
strophierten Gesellschaften nicht behaupten kann. Aber Machtverhältnisse sind
im vorliegenden Fall gewollt. Sie sind jedoch nicht, wie in vielen hierarchischen
Gesellschaften üblich, an zugeschriebene (z.B. erbliche) Gruppen gebunden (mit
der ihnen inhärenten Möglichkeit, Macht zu akkumulieren), sondern an ständig
wechselnde Personengruppen, die ihren Rang in einem fließenden aber geordne-
ten System erwerben und wieder abtreten.
Wer gegen die geheiligte Verfassung verstößt, wird aus der Gemeinschaft ausge-
schlossen. Letztlich handelt es sich stets um rituelle Verstöße, gegen die sich die
Gemeinschaft durch Aus- und Abgrenzung zur Wehr setzt, ln minder schweren
Fällen verlieren die Betreffenden ihren Sitz im Rat und müssen ihren Wohnsitz im
östlichen Teil des Ortes, dem Banjar Pande, nehmen. Heutzutage trifft dies am
häufigsten Personen, die die geltende Lokalendogamie übertreten oder in Polyga-
mie leben. Letztere ist unerwünscht, weil sie dem dualen Prinzip widerspricht.
Bevor der Ortsteil Pande mit Haibausgestoßenen besiedelt wurde, diente offen-
sichtlich Kestala - die ursprüngliche „Festung“ - demselben Zweck. Auch heute
kommt es vor, dass Personen aufgefordert werden, in Kestala ihren Wohnsitz zu
nehmen.
Die Abgrenzung gegenüber der übrigen balinesischen Gesellschaft ist wohl am
ehesten so zu verstehen, dass eine solche als notwendig erachtet wurde, weil -
nach der Eroberung durch Majapahit - andere religiöse Vorstellungen auf Bali
überhand nahmen und die eigene Ritualgemeinschaft gefährdeten. Für die Ten-
ganesen erfuhr diese Abgrenzung ihre Bestätigung, als Mitte des 18. Jahrhunderts
das Fürstentum von Klungkung den von Tenganan nur durch eine schmale
Schlucht getrennten Ort Dauh Tukad (Dauch Tukad) vereinnahmte; wurde doch
dieser Akt auf den Machtverlust Dauh Tukads durch dessen lasche Beachtung der
heiligen Gebote zurückgeführt.14 Selbstverständlich wirken sich die Abgrenzun-
gen auch nachteilig aus. Die Gemeinde ist ständig von Bevölkerungsschwund be-
droht (Breguet a. Ney 1995). Dadurch besteht überdies die Gefahr, bestimmten
52
Hermann Amborn: Kare: Der Ernst ist ein blutiges Spiel
Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. Möglicherweise war diese Entwick-
lungstendenz mit ein Grund dafür, dass es zu einer gesellschaftlichen Arbeitstei-
lung zwischen Nassreisanbau und Gartenbau kam.
Land einschließlich der Waldungen ist in Tenganan kommunales Eigentum. Es
steht unter der Verwaltung des Gemeinderats.'5 Die Nassreisfelder liegen im Tal
jenseits der östlichen Hügelkette und werden heute nahezu ausschließlich von den
expatriierten Familien in Kestala bestellt, die als Pächter gelten. Einige Felder
werden auch von Bewohnern des Panjar Pande und in geringem Umfang von
Pächtern befreundeter Orte, mit denen ein Austauschverhältnis besteht, bearbeitet
(Francais-Simburger 1998: 197ff).
Die Tatsache, dass eine Bali-Aga-Gesellschaft ihr Land von Pächtern bestellen
lässt, hat in der ethnologischen Literatur für Verwirrung gesorgt, galten doch die
Bali-Aga im Gegensatz zu den „elitären“ Landbesitzern Balis, wie wir wissen, als
„egalitär“ (vgl. die in Anmerkung 6 angegebenen Autoren). Ich spreche daher
auch bewusst nicht von einer egalitären, sondern einer polykephalen Gesell-
schaft.16 Zwei Tatsachen sind in diesem Zusammenhang zu beachten. 1. Die Be-
wohner von Kestala sind Tenganesen, wenn auch nicht im engeren Sinn, da dort
z.B. Einheirat nicht verboten ist. Ihr Land gilt zwar als Pachtland, aber die in Fra-
ge kommenden Familien haben ein ständiges und erbliches Besitzrecht.17 Von den
Erträgen ist ein festgelegter Anteil an den Dorfrat abzuführen, der für gemein-
schaftliche Verwaltung und Produktverteilung zuständig ist. Im Gegenzug ist
Tenganan zu rituellen Leistungen verpflichtet. 2. Im Nassreisanbau wäre Landbe-
sitz allein bedeutungslos. Bedingung hierfür ist auf Bali stets die Verbindung von
Mensch, Land und Wasser. Dies führte zu ineinander greifenden Beziehungssys-
temen. Da ist einmal die genannte Beziehung Landbesitzer - Pächter, die in unse-
rem Fall durch die Gemeinschaft des Dorfrats (und eben nicht durch einen „ade-
ligen“ Grundherren) definiert ist, ferner - wie auch sonst auf Bali - die „demokra-
tischen“, für Wasserverteilung, Kanäle und Dämme zuständigen örtlichen Bewäs-
serungsgemeinschaften (subak). In unserem Fall ist das ein von Kestala ausge-
hendes, selbst verwaltetes und selbst organisiertes Gremium, das allerdings, be-
sonders in ritueller Hinsicht, nicht völlig frei ist von der Einflussnahme durch den
Rat von Tenganan (Kom 1984: 326 ff.). An dritter Stelle sind die überregionalen
Wassertempel-Kongregationen zu nennen. Letztere verbinden alle Subak-Organi-
sationen Jener Dörfer, die entlang eines Flusssystems liegen, zu einer rituellen und
produktiven überregionalen Einheit. Lansing (1987), der hierzu intensive Studien
betrieben hat, sieht in ihnen ein zentralisiertes „irrigation management“, das ne-
ben dem des Staates (d.h. also auch neben der Kontrolle durch die Fürstentümer)
besteht. Mit der rituell motivierten Koordination der Wasserverteilung griff dieses
Management direkt in die landwirtschaftliche Produktion ein. Auch die Nassreis-
felder von Tenganan sind technisch, personell und rituell in ein derartiges Gefüge
eingebunden. Die angewandte Anbaumethode vereinigt demnach mehrere Bezie-
hungssysteme miteinander, die jeweils integraler Bestandteil eines komplexen
Systems sind (vgl. Francais-Simburger 1998: 202ff). Die ineinander greifenden,
parallel verlaufenden Organisationen verteilen Machtbefugnisse und wirken einer
Hierarchisierung der Gesellschaft als Ganzes entgegen, zumindest können sie die-
se abmildem. Von einem „feudal-like System“ wie bei Francais-Simburger (1998:
189) kann also im Falle von Tenganan nicht die Rede sein.
Als ihre Hauptaufgabe sehen Tenganesen die Erfüllung ihrer rituellen Pflichten
an. Tatsächlich nehmen diese, besonders während einiger Monate des Jahres, zu-
sammen mit den gleichfalls als heilige Pflicht geltenden Beratungen im Dorfrat
nicht selten den ganzen Tag bis in die Nacht hinein in Anspruch. Letztlich gehö-
ren hierzu auch gewisse landwirtschaftliche Tätigkeiten, so die Herstellung von
Palmwein, der für Libationen benötigt wird, aber selbstverständlich auch dem ei-
genen Genuss dient. Darüber hinaus kümmern sie sich um die Pflege der für hei-
lig angesehenen Wasserbüffel und um die Schweinehaltung. Und sie praktizieren
eine landwirtschaftliche Methode, die unter der Bezeichnung „agroforesting“ fir-
53
TRIBUS 52, 2003
mieti: einen arbeitsintensiven, mit der Hacke betriebenen Gartenbau, der eng mit
der Nutzung und Pflege des Waldes verbunden ist, der Nahrungs- und Zeremo-
nialfrüchte liefert. Auch hier gilt der Grundsatz: gemeinschaftliche Nutzung vor
individueller Nutzung.
Hinsichtlich der weitgehenden Selbständigkeit der verschiedenen Bali-Aga-Ge-
meinden wird üblicherweise argumentiert, sie seien für die Fürsten nicht sonder-
lich attraktiv gewesen. Tatsächlich siedeln die meisten Bali-Aga in gebirgigen Re-
gionen, die sich für den Nassreisanbau wenig eignen. Für die Fürstentümer stell-
ten sie daher eine wirtschaftlich unbedeutende und wenig interessante Peripherie
dar (vgl. Anmerkung 6). Nicht so aber Tenganan. Zwar ist der in einem Talkessel
gelegene Hauptort nur von einer Seite her leicht zugänglich, aber zu Tenganan ge-
hören ausgedehnte, im Nassreisanbau bewirtschaftete Ländereien in offener Tal-
lage.
Es muss also andere Gründe als vordergründig wirtschaftliche oder politische ge-
geben haben, warum das von militärisch weit überlegenen Fürstentümern umge-
bene prosperierende Tenganan seine Autonomie bewahren konnte.18
Tenganesen erklären dies mit ihrer spirituellen Macht, die solange wirken kann,
wie die Gemeinschaft nicht aufhört, ihre sozialen und religiösen Verpflichtungen
zu befolgen. Damit ist das Stichwort genannt, das es mir erlaubt, auf den im Titel
angesprochenen Ritus einzugehen.
Karé
Zur kosmischen Beziehung Tenganans gehört die Bedeutung des Zyklus der Jah-
reszeiten. Dementsprechend wichtig sind kalendarische Bestimmungen. Fähige
Köpfe aus Tenganan verwenden viel Zeit auf die komplizierten Berechnungen der
Festtermine aus mehreren ineinander greifenden Kalendersystemen, die den spe-
zifischen, nur in Tenganan geltenden Kalender ausmachen. Das gesamte Jahr über
finden religiöse Feste statt. Sie kulminieren im fünften Mondmonat eines jeden
Jahres in einem 28tägigen Festzyklus, ln diesen Monat fällt auch die Sonnwende
(unsere Sommersonnwende).19
Tenganesen legten Wert darauf, mir zu verdeutlichen, dass das blutige Kampfritu-
al - karé - stets und ausschließlich innerhalb des gesamten Zyklus zu sehen sei.20
In seiner Gesamtheit ist das Festritual insbesondere auf die spirituelle Reinheit
des Ortes und seiner Bewohner, die kosmische Ordnung und deren Würdigung
und Erhaltung ausgerichtet. Einen von mehreren Höhepunkten bilden die Schau-
kelrituale. Große Radschaukeln (anyunan) werden aufgebaut; ihre Rotation ent-
spricht den kosmischen Bewegungen: sie verbinden Sonne und Erde und die so-
ziale Welt der Menschen zu einer rituellen Einheit. Zugleich demonstrieren sie
den Irdischen durch ihre Bewegung, dass kein Mensch sich dauerhaft über den an-
deren erheben kann. Die Schaukelrituale sind auch einer der Höhepunkte im Le-
benjunger Frauen. Sie bedeuten die Initiation zur Ehefähigkeit.21 Ramseyer hat in
diesem Zusammenhang auf die vedischen Schaukelriten hingewiesen, die eben-
falls zur Zeit der Sonnwende vollzogen wurden und die Indra gewidmet waren
(Ramseyer 1991: 134).
Wie die Schaukeln die kosmischen Bewegungen symbolisieren, so auch die
gegenläufigen tänzerischen Umgänge der verschiedenen männlichen Altersgrup-
pen, die die Kampfrituale einleiten. Am zweiten Tag der Kampfspiele, der noch
feierlicher als der erste gestaltet wird, bilden die Männer der kerema desa (d.h. die
verheirateten Männer) entsprechend der Altersstufung unterschiedliche Gruppen,
die sich in genau vorgegebenen Kreisen gegenläufig bewegen. Sie demonstrieren
damit die Ausgewogenheit zwischen oppositionellen Richtungen und zielen zu-
gleich auf eine Harmonisierung der sichtbaren menschlichen Welt mit göttlichen
und kosmischen Kräften.22
Wenn dann noch während der Umgänge die Libation großer Mengen von Palm-
wein zu Ehren Indras stattfmdet, soll all dies samt den konzentrischen gegenläu-
figen Bewegungen Indra bewegen, herabzusteigen, um an den Zeremonien teilzu-
54
Hermann Amborn: Kare: Der Emst ist ein blutiges Spiel
nehmen. Nach den Libationen drängt man die Zuschauer vom Schauplatz, wor-
aufhin die erfahrensten unter den älteren teruna (Junggesellen) den Ring betreten,
um den Zweikampf zu beginnen. Ausgerüstet mit aus Rotan geflochtenen Rund-
schilden und gebündelten, Dornen besetzten Pandanusspalmblättem nähern sich
die Kämpfer mit Tanzschritten, wobei sie die Vorderseite der Schilde auf Kopfhö-
he waagerecht nach oben halten. (Abb. 2 u. 3) Sie stoßen Kriegsrufe aus, die die
zuschauenden Männer beantworten, während eine bunte Schar noch nicht verhei-
rateter Frauen und Mädchen in Zeremonialgewändem, mit Blumen und goldenen
Kronen im Haar, das Geschehen verfolgen. Ein Eisengamelanorchester (Selon-
ding) begleitet das Geschehen, ruhig spielend oder die Kämpfer mit schnellen
Rhythmen anfeuemd. Die Kombattanten schlagen mit ihren dornigen Waffen auf-
einander ein und versuchen dabei vor allem Schulter und Rücken des Gegners zu
Abb. 2: Kare Kampfritual
Abb. 3: Kare Kampfritual
55
TRIBUS 52, 2003
treffen. (Schläge auf den Kopf oder die Beine sind nicht erlaubt, wenn sie auch in
der Hitze des Gefechts gelegentlich Vorkommen.) Wenn der Kampf vehementer
wird, werfen die Kombattanten, um schneller reagieren zu können, ihre Schilde
weg. Falls der Kampf zu heftig wird, beenden Schiedsrichter ihn auf der Stelle.
Letztere sind keine Funktionäre, sondern finden sich spontan ein. (Abb. 4)
Abb. 4: Schiedsrichter (mit dem Rücken zum Betrachter) trennt die lachenden
Kämpfer
Blut soll fließen, doch dürfen während des Kare Aggressionen nicht aufkommen
oder gar ausgelebt werden. Im zeremoniellen Akt haben sie keinen Raum. Übli-
cherweise kämpft man darum mit Freunden, und die meisten Kämpfe enden un-
ter Gelächter. Sieger und Besiegte gibt es letztlich nicht. Obwohl mancher gute
Kämpfer nach erfolgreichem Kampf triumphierend seine Palmbündelwaffe über
dem Kopf schwingt und von den Zuschauern applaudiert wird. Auch wird nach
dem Kampf häufig darüber diskutiert, wieso der eine den anderen überlisten
konnte. Dass durchaus die Gefahr von aufkommenden Aggressionen besteht, wird
deutlich im Verbot, den Kris - einen Dolch mit Damaszenerklinge - zu tragen. Die
Regel ist deshalb beachtenswert, da der Kris zur Zeremonialkleidung der Männer
in Tenganan gehört. Hat ein Kämpfer keine Wunden davongetragen, wird er sich
in den nächsten Zweikampf stürzen, denn wer keine Wunden abbekommen hat,
gilt nicht etwa als geschickter Sieger, sondern als Feigling. Sind alle Kampfwilli-
gen auf ihre Kosten gekommen, beginnen sie sich gegenseitig mit einer heilenden,
geheiligten Medizin aus pflanzlichen Bestandteilen und Essig die Wunden zu be-
streichen und die Domen herauszuziehen. Es folgt dann um den Kampfplatz ein
erneuter Umgang, schließlich werden die Pandanussblätter in dessen Mitte auf ei-
nen Haufen geworfen und mit Palmwein übergossen. Den Abschluss bildet ein auf
großen Schalen bereitetes üppiges Mahl, das die Männer gruppenweise gemein-
sam am Rande des Kampfplatzes einnehmen.23 (Abb. 5)
Um die Besonderheiten von Tenganan für meine folgende Interpretation klarer
heraussteilen zu können, möchte ich kurz das Kare im Nachbarort Dauh Tukad
erwähnen. Nach Aussage des dort gebürtigen Historikers Dr. Parimartha von der
Universität in Denpasar gehörten beide Orte bis in das 17. Jahrhundert zusammen.
Nachdem sich in Dauh Tukad zahlreiche Zugereiste angesiedelt hatten und die
Bewohner ihre strengen Ritualverpflichtungen vernachlässigten, wagte es der
Herrscher des benachbarten Fürstentums von Gelgel, Dauh Tukad von Tenganan
56
Hermann Amborn: Karé: Der Ernst ist ein blutiges Spiel
Abb. 5: Gemeinsames Essen nach dem Kampf. Rechts oben die benutzten
Pandanusblätter
abzutrennen und unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Die kulturellen Gemein-
samkeiten mit Tenganan sind freilich bis heute nicht zu übersehen. So pflegt man
auch dort das Kare. Das eigentliche Kampfgeschehen unterscheidet sich nur un-
wesentlich von dem in Tenganan. Allerdings beobachtete ich, dass sich hier offen-
bar zumeist Zweikämpfer aus rivalisierenden Jungmannschaften gegenüberstan-
den, während sich in Tenganan die Gegenspieler viel spontaner fanden und, wie er-
wähnt, vor allem Freunde aufeinander trafen. Die deutlichsten Unterschiede zeich-
neten sich aber in der Einbettung des Kare in den Gesamtritus ab. Vor dem Kare
findet auf dem Kampfplatz ein Gottesdienst nach bali-hinduistischen Brauch unter
Mitwirkung von Brahmanen statt, ln Tenganan gibt es zwar Priester, aber keine
Brahmanen. Auch die einheimischen Zuschauer, die ja mit zum Festgeschehen ge-
hören, unterscheiden sich. Anders als in Tenganan sind neben den geschmückten
jungen Frauen viele ältere Jungen in ausgesprochen aufwendiger Festkleidung an-
wesend. Diese Gewänder sind zweifelsfrei Kopien der höfischen Kleidung, womit
bestimmte Familien ihren Reichtum zur Schau stellen wollen. Nach dem Kare zie-
hen die Kampfspieler gemeinsam mit den geschmückten Zuschauern in einen hin-
duistischen Tempel, um dort Zeremonialtänze zu zelebrieren.24
Stark und friedfertig
Im folgenden Bemühen um eine Interpretation des Kampfspiels - d.h. dem Ver-
such, die eingangs aufgeworfenen Fragen nach seiner sozioreligiöser Funktion
und nach einem der friedvollen Geschichte Tenganans zugrunde liegenden Denk-
modell zu beantworten - gehe ich in zwei Schritten vor. Zunächst möchte ich ver-
stärkt die sozialen Komponenten des Ritus und daraufhin die religiösen betrach-
ten. Eine strikte Trennung ist - wie aus dem vorausgegangenen deutlich geworden
sein dürfte - freilich kaum möglich.
Beachtung verdient in unserem Zusammenhang der umfangreiche Festkalender.
Wenn Tenganesen etwa ein Drittel ihrer Zeit auf Zeremonien und mehr oder we-
niger spielerische Rituale verwenden, an denen sie stets aktiv teilnehmen, er-
scheint mir die Annahme gerechtfertigt, hierin einen hervorragenden Bereich zu
sehen, in dem ihre Kultur wirksam wird, wo sie ihre Lebenswelt geformt haben
und allem Anschein nach weiterhin konstruieren. Wesentlicher, als nach dem
Symbolgehalt einer Zeremonie zu fragen oder etwa nach dem Wesensmerkmalen
57
TRI BUS 52, 2003
von Indra zu suchen, ist es m. E., die Aufmerksamkeit auf den Vollzug der Riten
selbst zu lenken. Hierzu möchte ich auf Wilhelm Dilthey verweisen und die Be-
deutung, die er dem Erleben beigemessen hat. Im Erleben sieht er die Möglichkeit
zum Verstehen, dem Verstandenen Ausdruck zu verleihen. Ihm zufolge vollzieht
sich im Erleben der Aufbau der geistigen Welt innerhalb des Subjekts, das sein
Wissen der geistigen Welt möglich macht (Dilthey 1981:235 ff.). Dilthey zu be-
mühen, ist keineswegs zu weit hergeholt, haben mir doch in anderen Worten
Freunde in Tenganan sinngemäß eben dieses erklärt. Sie bezogen sich dabei vor-
nehmlich auf hier nicht von mir erwähnte spielerische Rituale für Halbwüchsige,
deren Sinn es sei, ein Gespür für moralische Werte zu entwickeln. Nur ein Bei-
spiel sei hierfür genannt: Im fünften Kalendermonat müssen zwei Gruppen von
Jungen frisch geschlachtetes Fleisch stehlen. Selbstverständlich werden sie er-
tappt, gefangen genommen und u.a. mit Schweinsblasen und Innereien behängt
mitten durchs Dorf geführt, um schließlich nach einer Zeremonie - bei der sie von
einer Mädchengruppe Kuchen erbitten - entlassen zu werden (Korn 1933: 199,
Abb. S. 200).
Auch der britische Ethnologe Victor Turner (z.B. 1989: 119ff.) bezog sich bei sei-
nen für die Ethnologie richtungweisenden Untersuchungen zu Ritualen auf Wilhelm
Dilthey. Er sah im Ritual Prozesse expressiver Kulturgestaltung angelegt. Insbeson-
dere analysierte er im dabei stattfindenden kollektiven Erleben eine Steigerung des
sozialen Zusammenhalts als Grundlage für die Schaffung von Gemeinschaft. In der
Tat gewann ich nach einiger Zeit in Tenganan den Eindruck, dass die Rituale die
sinnstiftende Mitte bilden, um die herum sich die Gemeinschaft formiert.
Betrachten wir die im Kare zweifellos mit angelegte spielerische Komponente, so
fällt auf, dass, obwohl man es als reglementiertes Kampfspiel auffassen kann-die
Schiedsrichter habe ich erwähnt -, kein Konkurrenzverhalten aufgebaut wird.
Wenn wir von dem Vollzug des Kampfspielrituals ausgehen, so wird deutlich, dass
es in seiner Gesamtheit gesehen, keinen Besiegten und keinen Sieger gibt. Es ist
demnach kein Kampf im uns geläufigen Sinn.25 Hier wird weder ein Wettkampf
noch ein Strategiespiel ausgetragen. Es ist ein ernsthaftes Ritual, das den Beteilig-
ten etwas vermitteln soll. Die Männer kämpfen zwar gegeneinander- auch mit der
Möglichkeit des begrenzten Leistungsvergleichs -, aber der Wettstreit gefährdet
nicht die egalitären Strukturen der Gesellschaft, im Gegenteil, er bestärkt sie: einen
Stärksten darf es nicht geben, das Ziel heißt nicht Sieg, sondern Solidarität. Der
Gleichstand muss hergestellt und zum Erfahrungswert werden. Der Kampf endet,
wenn jeder schmerzhafte Wunden abbekommen hat. Solidarität wird über den von
allen geteilten Schmerz gestiftet und später noch zusätzlich durch seine gemeinsa-
me Linderung, wenn sich nach dem Kampf die Teilnehmer gegenseitig ihre Wun-
den behandeln und anschließend ein gemeinsamen Mahl einnehmen.
Pierre Clastres sieht in schmerzhaften Ritualen einen pädagogischen Effekt mit
der bewussten Einsetzung des menschlichen Körpers: Unter Schmerzen wird das
Ethos der Gruppe eingeschrieben. „Der Körper mediatisiert den Erwerb eines
Wissens, und dieses Wissen schreibt sich auf dem Körper“, der zum Gedächtnis-
träger wird (Clastres 1976: 171f; 174f). Da die Wunden als sichtbares Zeichen
auf allen Körpern der Beteiligten sind, verkünden sie: „du sollst nicht den Wunsch
nach Macht haben, du sollst nicht den Wunsch nach Unterwerfung haben“ (ibid.
178).26 Die Bedeutung des Leibes als eines Erkenntnisträgers-gerade in unserer
westlichen Kultur-wurde für Michel Foucault in seinen späteren Werken zu einem
zentralen Thema. 27
Beim spielerischen Ritual, das keinen Besiegten kennt, werden also von den Indi-
viduen aufgrund ihrer Teilnahme die geltenden polykephalen Strukturen eingeübt
(s.a. Wagner 1999: 124) und in den jährlich wiederkehrenden Festen immer wie-
der von neuem „erkämpft“.
Die darin inhärenten Merkmale verdeutlicht der Vergleich mit dem Kare von
Dauh Tukad. In diesem Ort hat die gemeinbalinesische hierarchische Ordnung-
allerdings in geringem Maße-Wirksamkeit gezeigt, wenn etwa die Kämpfer sich
58
Hermann Amborn: Kare: Der Ernst ist ein blutiges Spiel
aus rivalisierenden Gruppen rekrutieren oder im Wortsinne fürstlich geschmückt
Jungen auf privilegierten Zuschauerplätzen sitzen. Es kommt nicht von ungefähr,
wenn bei westlichen Touristen das farbenfrohe, geordnete Kare von Dauh Tukad
mehr Anklang findet als das anarchische von Tenganan. Letzteres passt weniger
zu unseren Denkmustem.
Die hier dargelegten ethnosoziologischen Überlegungen lassen sich weitgehend
mit jenen Vorstellungen verknüpfen, die die Tenganesen mit dem Kare verbinden.
Dabei zeichnet sich ab, dass mit den geschilderten religiösen Praktiken in erster
Linie eine Korrelation des Menschen mit der unsichtbaren Welt gesucht wird.
Was die Riten allgemein betrifft, so erhalten sie ihre tiefere Bedeutung nicht da-
durch, dass sie Unsichtbares abbilden oder versinnbildlichen, sondern durch die
Rolle, die sie in der performativen Dramaturgie erhalten (Hombacher 2001). Sinn-
gehalt entsteht erst mit dem rituellen Vollzug; es wird ein gesellschaftlich wahrge-
nommenes Verständnis geschaffen, das sich in der rituellen Handlung generiert und
ausdrückt. Wir können deshalb über Dilthey hinausgehen-der auf das persönliche
Erleben abzielte-und eine Analogie zu Wittgenstein (u.a. 1977:43; 421) hersteilen,
der betonte, dass Dinge, Begriffe, Ideen etc., erst durch ihren „Gebrauch“ mit Be-
deutung gefüllt werden. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass das Kare-
wie mir gegenüber stets betont wurde-kein Schaukampf ist sondern integraler Be-
standteil gemeinsam ausgeführter religiöser Praktiken, die sich über einen ganzen
Monat erstrecken: mit ihren häufigen gegenläufigen Umgängen, dem Schaukelritu-
al, der Darbietung von Opfergaben in den zahlreichen Tempeln des Ortes füllen sie
die Vorstellung von der Erhaltung des Kosmos mittels dieser rituellen Handlungen
und die Vorstellung von Tenganan als einem kosmischen Modell mit Bedeutung.
Eine hervorragende Rolle im Ritual spielt Indra als Mittler zwischen Tod und Le-
ben und als der letztendliche Schöpfer von Tenganan. Daher sei, wie mir erklärt
wurde, ein Leitgedanke des Rituals, Indra mit Trankopfem zur Teilnahme am Ge-
schehen zu bewegen und ihn, den Herrn des Krieges, durch die Ausführung des
Kampfspiels zu verehren. Assoziiert sei damit der Wunsch nach möglichst inniger
mythischer Verbundenheit mit Indra. Die hierzu notwendige Hinwendung an ihn
wird mit dem Einsatz des gesamten Körpers eingeleitet. Sinnlich wahrnehmbar
und fassbar wird sie, wenn die Waffen im Tanz nicht lediglich symbolisch ge-
schwungen werden, sondern gemeinschaftlich der Kommunikation mit dem Un-
sichtbaren unmittelbar Ausdruck verliehen wird: mit Mut, Schmerz und Verlet-
zungen bis hin zum Blutvergießen. Durch die mystische Vereinigung mit Indra
werden die Kämpfer selbst Teil seiner Mächtigkeit, die den Sterblichen Furchtlo-
sigkeit verleiht und sie unter seinen Schutz stellt. Die öffentliche Darstellung be-
zieht darüber hinaus jene Mitglieder der Communitas mit ein, die nicht mit den
Pandanusblättem aufeinander einschlagen, aber am Gesamtritual teilhaben, also
Frauen, Kinder und Alte. Das kollektive Erleben schafft nicht nur Gemeinsamkeit,
sondern das Bewusstsein für die eigene spirituelle Potenz.
Noch ein weiterer, eher pragmatischer Aspekt wurde mir genannt, der auf die Er-
haltung der Harmonie in der Gemeinschaft abzielt; Wer von den eigenen Leuten
bis zum nächsten Festzyklus durch unbotmäßiges Verhalten auffällt, dem droht
mehr als die relativ harmlosen Wunden des Kampfspiels. Das Kare hat also für die
Gesellschaft im gewissen Sinne auch rechtssymbolischen Charakter. Es schwingt
die sowohl nach innen wie nach außen gerichtete Drohung mit, dass sich in die-
sem Spiel ein lebensgefährdender Ernst mitzuteilen vermag.
Ein solches Signal wäre nicht notwendig, wenn es die Bereitschaft zur Gewalt in
dieser Gemeinschaft nicht gäbe. Zur romantischen Verklärung eignet sich Teng-
anan jedenfalls nicht. Es verdient daher Beachtung, wie in Tenganan Gewalt und
die Vermeidung von zerstörerischer Gewalt zu einem zentralen Thema wurden,
das performativ stets aufs Neue sinnfälligen Ausdruck findet.
Die polykephale Ritualgemeinschaft und ihre Glaubensinhalte werden im Ritual
weder abgebildet noch widergespiegelt. Aber die verschiedenen Aussagen laufen
parallel und bestärken sich gegenseitig. Sowohl aus Sicht der Tenganesen als auch
TRIBUS 52, 2003
bei einer Betrachtung des Kampfrituals „von außen“ wird anschaulich, dass die-
ses einer Hierarchisierung entgegenwirkt und die auf Solidarität abzielenden
Strukturen unterstützt.
Wir können uns nun der nächsten Frage zuwenden, warum von Tenganan keine An-
griffskriege ausgingen. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass diese Gemeinschaft
wirtschaftlich unabhängig und zudem weitgehend selbstgenügsam war. Auch be-
stand offensichtlich über lange Zeiträume ein demographisches Gleichgewicht zwi-
schen der Zahl der Einwohner und dem für die elaborierte Landwirtschaft notwen-
digen Arbeitszeitaufwand. Von Belang war mit Sicherheit die Wertschätzung rituel-
ler Reinheit, die wesentlich zur erwähnten Ein- und Abgrenzung dieser Zeremoni-
algemeinschaft beitrug. Eine Inkorporation fremder Gruppen, wie sie durch Erobe-
rung eventuell notwendig geworden wäre, hätte diesen Prinzipien widersprochen.
Aus den Untersuchungen von Francais-Simburger (1998: Kap. 1,3) kann man ferner
schließen, dass das Streben nach Harmonie (wie es im Innern galt) auch für die nach
außen gerichteten Beziehungen maßgeblich war und zwar sowohl für andere Bali-
Aga-Gmppen als auch für die Fürstenhöfe. Dem entspricht die religiöse Vorstellung,
derzufolge es die Aufgabe von Tenganan ist, jene kosmischen Kräfte im Gleichge-
wicht zu halten, die zwischen den Menschen und der unsichtbaren Welt herrschen.
Man könnte einwenden, dass dem Streben nach Harmonie die Verehrung eines Got-
tes, der auch Gott des Krieges ist, widerspricht, doch ist zu bedenken, dass die Vor-
stellung von Indra als vereinigender Mitte deutlich im Vordergrund steht und es da-
rum geht, widerstrebende Kräfte ins Gleichgewicht zu bringen. Eben dies wird im
Kare demonstrativ zum Ausdruck gebracht.
Was die Vermeidung von Angriffskriegen anbelangt, ist anzumerken, dass ethno-
logische Untersuchungen gezeigt haben, dass weltweit gesehen polykephale Ge-
sellschaften nur äußerst selten Eroberungskriege führen, niemals aber bewusste
Vernichtungskriege. Dort wo größere Expansionen stattfanden, wie etwa als die
Oromo Südäthiopiens im 17. Jahrhundert immer weiter in Gebiete vordrangen, in
denen das abessinische Kaiserreich ein Machtvakuum hinterlassen hatte, wurde
die dortige Bevölkerung nicht vertrieben oder versklavt, sondern assimiliert, in-
dem sie in die bestehenden Institutionen integriert wurde. Dieser Verhaltensweise
ist es zu verdanken, dass heute die Oromo die bevölkerungsreichste Gruppe in
Äthiopien ist (vgl. Baxter et al. 1996).
Selbst in den heute von Kämpfen zerrütteten Grenzgebieten von Sudan, Uganda,
Äthiopien und Kenia sind für interethnische Konflikte zwischen polykephalen
Gruppen weder Genozide noch Vertreibungen ganzer Bevölkerungen belegt
(Schlee 2000: 68). Allerdings nehmen die Konflikte an Heftigkeit zu und drohen,
den bestehenden tradierten Kontrollinstanzen zu entgleiten (Abbink 2002).
In Tenganan wäre im Gegensatz zu den Oromo selbst eine Inkorporation einer an-
deren Bevölkerung unerwünscht. Die Abgrenzungstendenzen zeigen deutlich,
dass eine Integration Fremder die eigene Reinheit und Identität gefährdete.
Die Frage, warum das wohlhabende Tenganan seine Unabhängigkeit bewahren
konnte und nicht von den mächtigen balinesischen Fürstentümern vereinnahmt
wurde, lässt sich weit schwerer klären, vieles muss hier hypothetisch bleiben.
Gewisse Aufschlüsse erlaubt hierbei allerdings die Herstellung der geringsing-
Stoffe. Tenganan ist in ganz Indonesien der einzige Ort, an dem diese Stoffe an-
gefertigt werden. Überall auf Bali, insbesondere in den Tempeln, werden die sa-
kral aufgeladenen Stoffe geschätzt. Sie waren und sind für Balinesen die materi-
alisierte Gestaltung der Energie von Tenganan. Besonders auffällig wird dies bei
den bereits erwähnten geringsing wayang mit dem vierzackigen Stemenmuster,
das für dieses Dorf steht. Möglicherweise war das Energie spendende, blutige Ri-
tual des Kare auch einer der Gründe dafür, Tenganan nicht anzugreifen. Für An-
hänger des balinesischen Hinduismus bedeutet Blutvergießen in einer auf Götter
ausgerichteten heiligen Handlung eine ungeheuerliche Blasphemie. Menschliches
Blut würde jeden Tempel verunreinigen.28 Dieses tenganesische Bali-Aga-Ritual
stellt eine signifikante Ausnahme unter den auf Bali üblichen Ritualen dar. Wir wis-
60
Hermann Amborn: Kare: Der Emst ist ein blutiges Spiel
sen aber aus ethnographischen Beispielen, dass für den, der einen schweren bewuss-
ten Tabubruch unbeschadet übersteht, daraus ein Machtpotential erwachsen kann.
Offenbar bestand aufgrund des blutigen Rituals Tenganan gegenüber eine aus
Furcht und Abscheu gemischte Haltung. Auf die Spitze getrieben wurde sie mit dem
bis heute nicht verstummenden Gerücht, in Tenganan hätte zum Färben der Stoffe
das Blut geopferter Menschen gedient.29 Dem liegt vermutlich die Fremdwahmeh-
mung des Kare-Rituals zugrunde, das Außenstehende-die früher keinen Zugang hat-
ten-nur vom Hörensagen kannten. Diese ambivalente Haltung Tenganan gegenüber
könnte ein Hinweis darauf sein, warum selbst das einst mächtige Gelgel sich den
Ort mit seiner bedeutenden Handwerksproduktion nicht einverleibte.
Was die Zeit nach dem Niedergang des Zentralstaats von Gelgel betrifft, ist die
Annahme nicht unwahrscheinlich, dass keines der Fürstentümer (aufgrund des
herrschenden Machtequilibriums) riskieren konnte, das für ganz Bali wichtige
Webereizentrum zu annektieren, ohne Gefahr zulaufen, die ebenfalls mächtigen
Rivalen herauszufordem. Es genügten ihnen offensichtlich die bestehenden rela-
tiv losen Beziehungen, die Tenganan mit den Fürstenhöfen unterhielt.
Die Fragen, die hier offen bleiben, berühren die Tenganesen nicht. Für sie ist es
eine Selbstverständlichkeit, dass sie vor äußerer Gewalt Schutz genießen, solange
sie sich an ihre geheiligten Pflichten halten. Zunächst werden auch sie auf die ge-
ringsing verweisen. Im engeren Sinn ist es aber die Verbindung mit Indra, die sie
in diesem Zusammenhang als wesentlich erachten. Das sakrale Kampfspiel, das
die Nähe zu Indra verdeutlicht, hat Schutzfunktion, Feinden führt es die eigene
spirituelle Überlegenheit und körperliche Kampfbereitschaft vor Augen, und sei-
ne Einbettung in den umfassenderen rituellen Kontext schafft spirituelle Energie.
Würde hingegen das Ritual nicht oder nicht zum richtigen Zeitpunkt vollzogen,
verlöre Tenganan eben diese Macht.30 Die Verbindung zu Indra muss immer wie-
der in die Gegenwart hineingetragen werden. Die spirituelle Macht ist hier zwar
in erster Linie bei der Gruppe der Kämpfenden, doch sind diese Kämpfenden ab-
hängig von den am Gesamtritual Beteiligten. Losgelöst von diesem verlöre das
Kampfspiel seinen Sinn, würde zur bloßen Folklore gerinnen. So aber teilt sich
die spirituelle Macht allen mit.
In der Selbstauffassung von der spirituellen Macht Tenganans ist an eine Schnitt-
stelle zu Sakti, der oben erwähnten spirituellen Macht balinesischer Fürsten, zu den-
ken. Ähnliches empfanden wohl auch die Fürsten selbst. Wenn sie-was offensicht-
lich der Fall war-die spirituelle Autorität Tenganans als der eigenen ebenbürtig oder
gar überlegen ansahen, war dies Grund genug, um einen Kampf zu vermeiden. Der
Unterschied zwischen Tenganan und den Fürstentümern liegt also weniger in der
Art der spirituellen Macht selbst, sondern im Umgang mit spiritueller Macht. Der
Fürst als zentrale Autorität legitimiert seinen persönlichen Herrschaffsanspruch
mittels Sakti. Er, der Herrscher, kann über die spirituelle Macht verfügen und damit
seinen Herrschaftsanspruch gegenüber anderen durchsetzen. In Tenganan dagegen
haben alle an der spirituellen Macht teil, sehen aber als geschlossene soziorituelle
Gemeinschaft keine Veranlassung diese nach außen hin einzusetzen.
Anmerkungen
1 Meine Untersuchungen in Tenganan Pegeringsingan (hier verkürzt als Tenganan wiedergegeben)
führte ich im April u. Mai 1999 sowie Mai und Juni 2000 im Rahmen eines von der Volkswagen-
stiftung unterstützten Forschungsprogramms durch.
2 Zur Gründungsgeschichte von Tenganan s. u.a. Koni 1984: 307f.; Ramseyer 1985: 251 f.; Francais-
Simburger 1998; 80ff.
3 Entsprechend der heutigen Forschungslage zeichnet sich folgendes Bild ab; Nach dem Niedergang
des Königreichs von Gelgel in der Mitte des 17. Jahrhunderts erstarkte das ostbalinesische Fürsten-
tum von Karangasem (Schaareman 1986: 9f; 36ff). Doch auch das Kleinfürstentum von Sibetan
nördlich von Tenganan konnte seinen Einfluss stärken. Nachdem Sibetan einige Nassreisfelder von
Tenganan annektiert hatte, sah sich auch Karangasem in seiner Macht bedroht und half Tenganan,
Sibetan zurückzudrängen. Karangasem forderte von Tenganan die Anlage von Kestala als befestig-
61
TRIBUS 52, 2003
ten Grenzort. Es blieb auch nach dem späteren Sieg Karangasems über Sibetan von Tenganan aus
besiedelt. Für seine Hilfe verlangte Karangasem Nassreisgebiete an der Ostflanke von Tenganan
(Korn 1984: 363f.; Francais-Simburger 1998: 168, 171 zitiert Agung Anak A. Ketut 1991). Seit die-
ser Zeit hatte Tenganan keine weiteren Landverluste. Heute gehört diese Gemeinde zu den wohl-
habendsten Balis.
4 In der Fachliteratur werden letztere häufig als Königtümer bezeichnet.
5 Robinson (1995) weist nachdrücklich auf die ständige Gewaltbereitschaft und die soziale Un-
gleichheit hin, die ihm zufolge gerade in der wissenschaftlichen Literatur zu Gunsten einer dem An-
schein nach harmonischen Gesellschaft heruntergespielt wurden.
6 Gegenüber älteren Forschungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die zunächst in den
Bali-Aga eine Altbevölkerung aus Nachkommen polynesischer Bevölkerungsgruppen identifizier-
ten, später in ihnen balinesische Gruppen mit betonter Isolation gegenüber dem Majapahit Einfluss
sahen, weisen neuere Forschungen auf Übergänge und Beziehungsnetze zwischen Bali-Aga und
dem übrigen Bali hin. Die Ausprägung unterschiedlicher Bali-Aga-„Kulturen“ wird aber nicht be-
stritten. Die Frage nach Art und Intensität des Einflusses der (früheren) balinesischen Fürstentümer
steht weiterhin zur Diskussion (vgl. Lansing 1983: Kap. 6; Schaareman 1986; Howe 1989; Hobart
et al. 1998: 69ff.; Francais-Simburger 1998: 54 ff.; Reuter 2002)
Den Begriff Bali-Aga behalte ich bei, da er trotz seiner häufigen negativen Konnotationen auch
nicht schlechter ist als „Altbalinesen“ und weil sich heutzutage Tenganesen mit einem gewissen
Stolz als Träger einer Bali-Aga-Kultur bezeichnen.
7 Außerhalb des „Adels“ hat sich aber auch im übrigen Bali die Totenverbrennung erst im letzten
Jahrhundert allgemein durchgesetzt.
8 Zur sakralen Bedeutung der Doppelikatstoffe s. Ramseyer 1984: 203ff.
9 Ramseyer 1991: 119f, Abbildungen: 9.1 (S. 116 u. 117), 9.12 (S. 130), 9.15 (S. 135); Francais-Sim-
burger (1998, insbesondere: Part I) sieht in diesem Motiv und entsprechend in der Dorfanlage Teng-
anans ein Mandala und verbindet ihre Überlegungen mit den von Tambiah (1985: bes. Kap. 7) ent-
wickelten These der „galactic polity“.
10 Victor Kom (1933: Kap. IV) hat diese 61 Paragraphen umfassende Gemeindeverfassung zweispra-
chig veröffentlicht.
11 Von einer Gerontokratie, wie sie Hobart et al. (1998: 71) für die Bali Aga konstatieren, kann also
nicht die Rede sein; im Gegenteil, ihr ist mit den genannten Regelungen ein Riegel vorgeschoben.
12 Für eine ausführliche Beschreibung dieses Gremiums siehe (u.a.) Francais-Simburger 1998: lOOff;
Ramseyer 1985: 260ff; Kom 1933: Kap. II.
13 Der Rang eines de mangku ist letztlich symbolisch. Er ist so gut wie unerreichbar, besonders wegen
der Regeln, dass Witwer ebenso ausscheiden wie Eltern, deren verheiratete Kinder nachrücken, und
dass jeweils in der Sitzordnung eine Position nur eingenommen werden kann, wenn die Dualität
(rechter Platz und linker Platz) gewahrt ist. Dennoch soll es, wie die Großmutter eines Gewährs-
manns von ihrer Großmutter gehört hat, zu deren Lebzeiten, d.h. etwa zu Anfang des 19. Jahrhun-
derts, einen de mangku gegeben haben.
14 Information: Tenganan 2000, auch von Leuten aus Dauh Tukad bestätigt. Die lokale Chronik von
Dauh Tukad berichtet jedoch von machtpolitischen Auseinandersetzungen: Anlass war der Macht-
zuwachs eines Mangku (Priesters) aus Dauh Tukad, den Klungkung nicht hinnehmen wollte (Fran-
cais-Simburger 1998 138f).
15 Ein Teil des Landes, das zur Gemeinde Tenganan gehört, gilt zwar als Privatland (37 %), doch auch
dieses steht unter der Aufsicht des Rats (Francais-Simburger 1998: 103 f).
1(1 Bisher hat m.W. niemand eine ethnosoziologische Untersuchung dieses Phänomens sowohl aus der
Perspektive Tenganans als auch der Kestalas durchgeführt. Das von Francais-Simburger (1998) für
Tenganan übernommene Mandala-Modell, mit seiner Vereinigung egalitärer und hierarchischer
Achsen, das zur Interpretation südostasiatischer Königtümer entwickelt wurde, kann den vorlie-
genden sozioökonomischen Gegebenheiten bestenfalls ansatzweise gerecht werden-selbst wenn
man von der Problematik einer Übertragung dieses Modells auf Tenganan einmal absieht.
17 Dies kann ihnen nur-wie allen anderen Tenganesen auch-bei Verstößen gegen in Frage kommendes,
geltendes Recht vom kerema desa entzogen werden.
18 Autonomie bedeutet nicht Isolation und auch nicht, dass die Beziehungen zu den Fürstentümern
völlig frei von jeglichen Verpflichtungen gewesen seien (Kom 1933; 90 ff.; Francais-Simburger
1998; 213 ff.).
19 Eine stichwortartige Auflistung der verschiedenen Rituale findet sich in; Mangku Widia et al. 1991.
Die aktuellen Daten für diese Ereignisse werden jährlich bekannt gegeben und sind auch über Inter-
net abzurufen.
20 Kare wird auch makare, kare-kare oder perang pandan genannt.
21 Illustration bei Ramseyer 1991: Abb. 9. 7; Francais-Simburger 1998:114; 200; 239 Anm. 47.
22 Francais-Simburger (1998; insbesondere 113) sieht darin „an expression ofthe mandalic circle.“ Sie
fährt fort: „Tenganese.place great importance on balanced, circular movements in opposite di-
62
Hermann Amborn; Kare: Der Emst ist ein blutiges Spiel
rections in order to recreate the ideal of stasis, thus achieving cosmic unity through the centering of
opposite forces.“ Oder diesbezüglich auf S. 110: the Tenganese consider to be the most ele-
mental expression of centric power, namely the enactment of stasis through the orderly progression
of ritual cycles.“ Es steht außer Frage, dass Francais-Simburger die große Bedeutung der Umgänge
während ihrer langen Forschungsaufenthalte richtig erkannt hat. In wie weit es aber berechtigt ist,
die indische Vorstellung von Mandala als emisches Erklärungsmuster nach Tenganan zu übertragen,
kann ich nur schwer beurteilen. Da in den letzten Jahren einige Tenganesen ihre indische Abstam-
mung (in der sie sich durch genetische Untersuchungen von Breguet a. Ney [1995] bestätigt sehen)
gegenüber anderen Balinesen betonen und es zudem politisch angebracht erscheint, sich auf eine
der „Schriftreligionen“ zu stützen (um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden), besteht
durchaus die Möglichkeit, dass es sich hier um eine von etlichen Intellektuellen in Tenganan pro-
pagierte Indisierung örtlich entwickelter und tradierter Vorstellungen handelt. Es ist freilich nicht
unwahrscheinlich, dass sich diese Sicht in Zukunft durchsetzen könnte.
23 Kare wird hier als R itual und als Kampfspiel bezeichnet. Letzteres soll auf dessen spielerische
Komponenten hinweisen. „Spiel“ ist dabei stets als eingebettet in ein Ritual anzusehen. Das Spiel,
auch das fröhliche, ausgelassene Spiel, steht im komplementären Verhältnis zu der religiösen Ernst-
haftigkeit. (Vgl. a. Münzel 1998; für das auf südamerikanische Mythen bezogene Schauspiel.)
Auch Köpping setzt sich in seinem Beitrag von 1998 (72 ff.) über Ritual und Spiel mit der „Multi-
funktionalität“ des Spiels auseinander. Spieß (Spieß und de Zoethe 1938) ordnet das Kare den auf
Bali mehrfach beachteten Libationstänzen zu (ibid.; 52), stellt es aber auch in die Nähe der Baris-
Tänze mit ihren Scheinkämpfen (252 ff; 254 Tf. 106; 256). Die erste Zuordnung ist berechtigt,
doch besteht m.E. ein grundsätzlicher Unterschied gegenüber Scheinkämpfen, die mit realen Waf-
fen, aber ohne Verletzungsfolge ausgetragen werden, und dem realen Kampf mit nichttödlichen
Waffen. (Zu Scheinkämpfen allgemein siehe Volprecht 1963) Gegenüber der heutigen Durchfüh-
rung hatte das Kare vor einigen Jahrzehnten eine stärker tänzerische Komponente (vgl. Korn 1933:
201), ein Verlust, der von den Älteren in Tenganan bemängelt und dem Einfluss des Fernsehens mit
seinen Raufereien zugeschrieben wird. Jedoch schrieb bereits Spieß, dass diese Art der Kampfspie-
le aufgrund der Schönheit der Bewegungen und der stilisierten Ausführung sowie der Orchesterbe-
gleitung zwar den Tänzen zuzurechnen seien, aber doch eher in deren Randbereich gehörten (Spieß
und de Zoethe 1938: 257).
24 Von Bali führt Spieß (Spieß und de Zoethe 1938) zwei weitere Beispiele an, die sich unmittelbar
mit dem Kare verbinden lassen. In beiden Fällen benutzen die Spieler Rundschilde, die wie in Teng-
anan ende heißen. In Asak (ibid. 256 f.) ist dies zugleich die Bezeichnung für das Kampfspiel. Dort
liefern sich die Spieler mit Blättern der Zuckerpalme ihre Duelle, die ebenfalls wie in Tenganan
innerhalb eines größeren Ritualgeschehens eingebettet sind. Bei dem ende in Karangasem verwen-
den die Kombattanten dagegen „very long, flexible rattan rods, called panjalin, which are apparent-
ly very difficult to manipulate“ (ibid. 257; Tf. 107). Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet derarti-
ger Kampfspiele reichte mit Sicherheit weiter nach Ostindonesien, wie am Beispiel der Manggarai
(Flores) deutlich wird (Film von Ebbo Demant über „Caci-Kämpfer“. 1999 [www.uni-
freiburg.de/ethno/video3.html]).
Gewisse Beziehungen mögen auch zu einem Ritual in Trunyan (einem Bali-Aga-Ort am Batur-See)
bestehen, wo auch eine Schaukel für Feierlichkeiten aufgebaut ist. Hier handelt es sich jedoch um
kein Kampfspiel, dennoch können die Teilnehmer schmerzhafte Verletzungen davontragen, wenn,
wie Spieß (1933: 242 f, mit Abbildungen) anschaulich schreibt, „große runde Blätterkugeln mit
weißen Beinen“, die als „Leibwache der großen Gottheit“ gelten, vier bis fünf Meter lange Peit-
schen schwingend durch den Ort jagen.
Mit diesen wenigen Beispielen, soll nur darauf hingewiesen werden, dass Kampfspiele in der Art,
wie sie in Tenganan aufgeführt werden, kein Einzelfall sind. Da es mir auf die Betrachtung des Ka-
re im Kontext ankommt, will ich mich mit diesem Flinweis begnügen.
25 Korn (1933: 201) ist in seiner Beobachtung des Kare bei dem Sieg Einzelner stehen geblieben. Dies
war seinem Verständnis von Kampf, aus dem ein Sieger hervorgehen muss, geschuldet. Aber da-
durch nahm dieser ansonsten genaue Beobachter nur einen Teil des Rituals wahr und bemerkte
nicht, dass die Spieler immer wieder in den Prozess hinein genommen werden, bis ein Gleichstand
erreicht ist. Erwähnt werden aber die Wundbehandlung wie auch das gemeinsame Essen, und
schließlich: „maakt deze strijt een vroolijken indruk“ (ebda.).
26 Diese Überlegungen von Clastres zu Initiationsriten sind hier auf den vorliegenden Fall übertragen.
27 In der „Wille zum Wissen“ (1976) deckt Foucault, mit seiner „genealogischen“ Herleitung des
abendländischen modernen Erkenntnisbegriffs dessen Verankerung in Praktiken und Techniken des
Leibes auf. Damit stellt er die Ausschließlichkeit des Intellekts (als Mittel der Erkenntnis) in Frage,
indem er das Konzept von Denken um die Dimension des Leibes erweitert.
28 Das Blut bei den balinesischen Hahnenkämpfen, die nicht im, sondern vor den Tempeln stattfinden,
ist ein Opfer an die Dämonen. Meine Gewährsleute in Tenganan betonten, dass-trotz anders lauten-
der Berichte-kare und Hahnenkampf nicht das Geringste miteinander zu tun haben.
63
TRI BUS 52, 2003
29 So z.B. noch 2001 Brahmanen aus Maas. Persönliche Mitteilung Dr. Annette Hornbacher. Siehe
auch Covarrubias 1937; 23f.
30 Aufschlussreich ist, was einer von Francais-Simburgers Informanten ihr zum Einhalten der Festter-
mine mitteilte: „Our identity is linked to our wibawa desa [power of the village] which depends on
the layout of the village, and the houseyards and that the ceremonies are performed to the schedu-
le. ... In other villages, ceremonies can be delayed. ... Here this is not allowed to happen. For exam-
ple, once, there was the request [by the government] to change the timing of the kare-kare ritual [to
accommodate the schedule of a visiting official]. The village refused. Even if the president would
ask, we regrettably would have to refuse. ... The ceremonies here must be performed at the proper
time, no matter what (Francais-Simburger 1998: 265; Hervorhebung und Kommentar in Klammern
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66
Martin Baier: Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak
MARTIN BAIER
Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak -
einige Schwerpunkte zwischen 1690 und 1942
Das südliche Borneo (die heutigen Provinzen Kalimantan Selatan und Kaliman-
tan Tengah) mit dem Stammesgebiet der Nagju-Dayak gehört in Südostasien zu
den Gebieten, die ethno- und historiographisch am längsten und intensivsten er-
fasst sind. Traditionell wird dieses Gebiet nach dem heute in Vergessenheit gera-
tenen, nie in seiner überragenden Bedeutung erkannten Sprachforscher der Ngaju
(1841-45 und 1850-56 in Inner-Borneo tätig) sprachlich (entsprechend den
„Hauptdialecten“) in vier Teile geteilt: Pulopetak, Mengkatip, Mentangai und Ka-
hayan1.
1690 setzte der erste Vorstoß von Europäern2 ins Innere (Mengkatip-Gebiet und
unterer Kapuas) mit brauchbaren Angaben ein. Fr. Bartolomeo Ferro berichtet in
seiner Geschichte der Theatinermission von einem „Porto de Beagius“ (Hafen der
Biaju/ Ngaju3)- Der Aufenthalt Kapitän Cotingos im Pulopetak-Gebiet4 und der
überwältigende Empfang seitens der Ngaju zeigt, dass mit nichtmoslemischen
Dayak Direkthandel durchaus möglich war. Die Ngaju (nicht Bakumpai!) wollten
den Portugiesenkönig als Verbündeten haben und baten die Portugiesen um Hilfe
bei der Errichtung einer bewaffneten „Fortezza“. Aber die Handels- und spätere
Kolonialpolitik des „divide et impera“ europäischer Seemächte akzeptierte nur die
Einflussnahme über die Moslemsultane, und so ist dieser wohl einmalige Versuch
einer handelspolitischen Direktkontaktaufnahme - bei der es natürlich auch um
Militärhilfe gegen Banjarmasin ging - mit Dayaken vom Kapuas-Murong ge-
scheitert. In der gleichen Zeit konvertierten 1 800 Ngaju innerhalb von nur sechs
Monaten oder gar von 3 bis 4 000 Ngaju nach höchstens drei Jahren zum katholi-
schen Christentum5. Dass 1691 die Ngaju die Kapuas- und Kahayanmündung
kontrollierten und in weitem Umkreis Handelsschiffe angreifen konnten, sowie
das ausgedehnte Ausgrabungsgelände von Kuta Batagoh am unteren Murong und
Schwaners Beobachtung von der dichten Besiedlung des Terusan-Gebietes (zwi-
schen Kahayan- und Murongmündung) zeigen6, dass ein gut 50 km breiter Küs-
tenstreifen westlich des Barito bis zum Kahayan von Ngaju bevölkert war, die po-
litisch und kulturell zu Banjarmasin in Konkurrenz standen. Erst mit der Etablie-
rung der Kolonialverwaltung Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich dies zugunsten
von Banjarmasin geändert.
Ab dem Jahre 1835 nahmen die Erforschung der Ngaju und das ethnologische
Interesse gerade für diese Dayakethnie sprunghaft zu. Die ersten protestantischen
Missionare (aus Deutschland) kamen ins Land. 1836 wurden die ersten christ-
lichen Schulen für Dayakkinder gegründet. In den fünfziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts lagen eine gedruckte Ngaju-Bibel, eine Ngaju-Grammatik und ein um-
fangreiches Ngaju-Wörterbuch vor. Seit den 30er Jahren wurden durch Zeit-
schriftenartikel (M.H. Halewijn, J.F. Becker, C. Hupe) und durch das umfassende
Werk C.A.L.M. Schwaners Land und Leute dem kontinentaleuropäischen Leser
nahe gebracht. Die ersten Inseldurchquerungen (H. von Gaffron 1846, C.A.L.M.
Schwaner 1848) schlossen immer unser Gebiet mit ein. Vor allem A. Hardelands
Werke informieren profund über alle Bereiche der Ngaju-Kultur. Bis zum Zwei-
ten Weltkrieg waren die Ngaju-Dayak die durch Veröffentlichungen weitaus be-
kannteste bornesische Ethnie. Durch diese Veröffentlichungen und das entspre-
chende Archivmaterial in Wuppertal und Leiden steht uns von mehr als 160 Jah-
ren Forschungsmaterial aus Südostbomeo zur Verfügung.
Das heißt, nicht nur die christlich-protestantische Missionsarbeit ist uns bestens
bekannt, sondern in hohem Maße auch der Bestand und die Entwicklung der Nga-
ju-Stammesreligion. Die Ngaju-Religion hat einen Prozess durchlaufen vom ani-
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TRIBUS 52, 2003
mistisch geprägten Polytheismus mit zentraler Funktion von Blutopfern (Kopf-
jagd, Menschenopfer) bis hin zu einer Art moderner Hochreligion mit nur einer
Hochgottheit, ln meinem Aufsatz „Die Hindu Kaharingan-Religion als beispiel-
loser Fall eines nachchristlichen Nativismus“ (1998) ist diese Entwicklung be-
schrieben worden. Anhand geschichtlicher Zäsuren (1892/94, 1942-457 , der Be-
ginn der Soeharto-Ära müsste noch hinzugefugt werden) wurden Veränderungen,
Rationalisierung, Akkulturation, Assimilierung bzw. Eliminierung an Einzelbei-
spielen dargestellt. Durch die erreichten Ziele in dem Prozess dieser Religion zog
in der Ngaju-Gesellschaft Humanisierung, Rationalisierung, Modernisierung, Bil-
dungsarbeit und in der Kaharingan-Theologie Normierung, Kodifikation und mo-
68
Martin Baier: Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak
derne Organisation ein. Gerade die Beschäftigung mit der Geschichte zeigt, dass
früher andere Zustände herrschten. Wer dies nicht beachtet, ist von groben Feh-
lern nicht gesichert. Im gegenwärtigen Standardwerk über die Kaharingan-Reli-
gion „Small Sacriftces“8 wird der derzeitige Vorsitzende und ehemalige Ex-Christ
Lewis KDR wohl in der Annahme eines ständig vorhandenen, zeitlosen Huma-
nismus zitiert; „From early times to the present, the Dayak tribe has generally ne-
ver drunk rice wine from the skull of human beings“. Der Naturwissenschaftler
Lumholtz, der Südborneo intensiv bereist hat, berichtet aus den Jahren vor 1920
unter Berufung auf den höchsten einheimischen Beamten vom Katingan9: „On the
Upper Samba the custom still prevails of drinking tuak from human skulls“.
Selbst hochkarätige Borneologen sind gegen solche Ausrutscher nicht gefeit. Den
größten Flop hat sich hierbei der Schweizer Hans Schärer geleistet - obwohl er
sonst verlässlich gearbeitet und publiziert hat. ln seiner „Ngaju Religion“ hat er
sich sklavisch an den niederländischen Strukturalismus (totale Zweiteilung der
Welt; Oberwelt - Unterwelt, Mann - Frau usw.) seines Doktorvaters Josselin de
Jong d. Ä. gehalten. Die Versparallelismen der Ritualtexte werden ganz im Sinne
des Strukturalismus so interpretiert, dass Satz A dem Stammesteil A, Satz B
(meist synonym, aber mit andern Worten als A) dem Stammesteil B zugeordnet
wird. In einem Vorentwurf geht Schärer sogar aufgrund der Sangiang-Stammbäu-
me in der Urmythe und angeblicher Heiratsordnung so weit, dass er behauptet, die
Ot Danum, und über sie die Kahayan-Bewohner - repräsentiert im Dorf Pangkoh
- seien die eine Stammeshälfte, mit der Oberwelt assoziiert; die Ngaju, und über
sie die Murong- und Barito-Bewohner - repräsentiert durch die Stadt Kuala Ka-
puas - seien die andere Stammeshälfte, mit der Unterwelt assoziiert. Sklaven und
Priester, welche Mittlerfunktionen ausüben, fänden sich meist am unteren Kapu-
as, der dortige Hauptort Mandomai repräsentiert sie10. Leider fehlt für diese geo-
graphische Aufteilung jede Art objektiven Beweises. Somit ist auch Schärers Dis-
sertation, die sonst hochgeschätzte „Ngaju Religion“, nur mit Einschränkung wis-
senschaftlich ernst zu nehmen. Die Tragik Hans Schärers ist, dass er über das Ziel
hinausschießt und an der Grenze seines Wissens und der Wissenschaftlichkeit
nicht halt macht. Alles, was Schärer sonst zusammengetragen, interpretiert und
leider nur teilweise publiziert hat, die vielen Sagen, Legenden, Mythen, Ritual-
texte in der Priestersprache, Rechtssammlungen, sowie seine Zeitschriftenaufsät-
ze (vor allem „Das Menschenopfer bei den Katinganem“ und „Der Totenkult der
Ngadju Dajak in Süd-Borneo“) sind wichtige Unikate, die zur Kenntnis des Da-
yaktums nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Nach wie vor ist er der
im 20. Jahrhundert bedeutendste Ethnologe der Kultur der Ngaju-Dayak.
Fundiertes Wissen über die Rolle des Sklavenstandes im 19. Jahrhundert öffnet
den Blick in die Zustände des vorkolonialen Südborneo. Erst ab 1892 waren die
Holländer in der Lage, sämtliche Formen der Sklaverei (Schuldsklaven, von
Nachbarstämmen und Märkten gekaufte Sklaven, Sklaven durch Eroberungskrie-
ge) auch in den nördlichen Grenzgebieten abzuschaffen. Reichtum und Stellung
der Häuptlinge hing vom Sklavenbesitz und von der Sklavenarbeit ab. Haupt-
sächlich durch Sklavenarbeit konnten die hohen und geräumigen, von Eisenholz-
palisaden umgebenen Langhausfestungen („kuta“) errichtet werden. Tichelman11
berichtet, dass noch Mitte des 19. Jahrhunderts jährlich 800 Sklaven aus dem Su-
lu-Sultanat nach Ost-Borneo eingeführt wurden, die kräftigen zur Arbeit, die we-
niger arbeitsfähigen für die Dayakhäuptlinge im Innern als Menschenopfer bei ih-
ren großen Festen. Bei Häuptling Tundans Totenfest am oberen Kahayan sollen
1863 sechzig Sklaven geschlachtet worden sein12. Sklavenhaltung war nötig zur
Wohlstandsbewahrung und -Vermehrung, für religiös bedingte Standesfestlichkei-
ten und Prestigerituale des Häuptlingsadels.
Im Pulopetak-Gebiet waren nach J.F. Becker13 ein Drittel, nach Rheinischen Mis-
sionaren14 sogar zwei Drittel der Pulo-petak-Bevölkerung Sklaven. M.T.H. Pere-
laer berichtet, dass die Kolonialverwaltung zeitweise Sklaven in ihren Kohleberg-
werken eingesetzt hat15. Selbst die Missionare A. Hardeland und Denninger hiel-
69
TR1BUS 52, 2003
ten sich Sklaven, damit diese nach Abarbeitung ihres Handelswertes bzw. ihrer fi-
nanziellen Schulden nach damals geltendem Recht in die Freiheit entlassen wer-
den konnten16.
Mit der Notwendigkeit und Funktion der Sklavenhaltung hängt Gewaltanwen-
dung sowie Bevölkerungsdichte und Besiedlungsart in Inner-Borneo zusammen.
Quellen der Niederländer und Berichte ausländischer Reisender und Missionare17
sind der Überzeugung, dass Kopijagd sowie politische Unruhen mit ständiger Ge-
waltausübung die Emigration fördert und die Bevölkerungszahl konstant niedrig
hält. Somit wäre dies ein Grund für die äußerst dünne Besiedlung der Dayakge-
biete. Manche Landstriche waren total entvölkert (z.B. das westliche Barito-Ufer
nördlich von Mengkatip wegen der Erbfeindschaft zwischen Ngaju und
Dusun/Lawangan18 oder das ganze obere Kapuas-Gebiet West-Kalimantans19.
Man lese nur bei Pijnappel20, wie Hunderte streitbarer Männer gegen Dörfer und
durch Palisaden geschützte Langhäuser zur Plünderung, Einäscherung und Aus-
mordung gezogen sind. Ein bis zwei Wochen lang wurden die Siedlungen bela-
gert, dann im Sturmangriff genommen; wenn machbar und opportun, wurden
auch Gefangene gemacht und als Sklaven gehalten bzw. verkauft. Ganze Dörfer
wurden so ausradiert. Spaan berichtet, dass durch die Kopijagden der Segai das
früher dicht besiedelte Sangkulirang-Gebiet Ost-Bomeos gänzlich entvölkert
wurde.21 Selbst die Missionare hielten es 1842 bei einem bevorstehenden Einfall
des Dusun-Oberhäuptlings Surapati mit seiner gefürchteten Ot Pari-Streitmacht
für ihre Pflicht, die Ngaju darauf militärisch vorzubereiten und die Verteidigung
zu leiten22.
Wer die Reiseberichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts liest23, bekommt den
Eindruck, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein befestigte Langhausanlagen in
Flussufernähe das herrschende Siedlungsprinzip waren; erst ab Ende des 19. Jahr-
hunderts (kontrollierbares Kopfjagdverbot!) kamen verstreut liegende Feldhütten
als Dauerresidenzen in Mode, was natürlich der Effektivität des landang-Reisan-
baues entgegenkam.
Mit der kritischen Haltung ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu Kolonialismus und
Proselytenmacherei europäischer Missionare wurden auch die schriftlichen Auf-
zeichnungen ihrer Repräsentanten nicht mehr beachtet; nicht immer zum Vorteil
einer wissenschaftlich fundierten Darstellung von Ethnologie und Landesge-
schichte. Gerade im Blick auf Südborneo fällt die fruchtbare Symbiose wissen-
schaftlicher Zusammenarbeit bis in die 60er Jahre zwischen etablierten Kultur-
anthropologen und Missionstheologen (gerade Schärers Fehltritt könnte zur hilf-
reichen Lehre werden!) auf. Missionar Sundermann hat es in der Aussprache nach
einem langen, in deutscher Sprache gehaltenen Vortrag 1914 in Leiden vor ver-
sammelten Koryphäen Leidener Indologen auf den Punkt gebracht mit dem
Satz24:
„De resident te Bandjermasin krijgt zoo niet alles te hören, maar wij missionaris-
sen leven onder het volk en zien alzo zelf wat het doet en wat het wenscht.“
(„Dem Gouverneur in Bandjermasin kommt eben nicht alles zu Ohren, jedoch wir
Missionare leben unter dem Volk und sehen mit eigenen Augen, was es tut und
was es wünscht“).
Anmerkungen
1 Hardeland 1858: 8
2 Baier 1995
2 Ferro 1705: 529-633
4 Gemelli Careri 1728: 215-236
5 Gemelli Careri 1728: 216; Valentijn 111: 252
6 Knapen 2001: 168; Riwut 1958: 379,383 u.a.; Schwaner II: 4,5
7 Baier 1998: 51
* Schiller 1997: 5
70
Martin Baier; Studien zur Geschichte der Ngaju-Dayak
9 Lumholtz 1920: 335
10 Schärero.J.; 139-164
" 1949:231
'2 Mallinckrodt 1924/25: 258
'2 1849a: 427
14 Manuskript 197 des Epple-Nachlasses in meinem Besitz
15 1881: 33
16 van Lümmel 1882: 78,98,99
17 Knapen 2001; 107,177,373; I I; Sundermann 1914; Manuskripte Rheinischer Missionare im Besitz
von Historische Documentatie K1TLV: EP Coli. 2 Heft 137: 2
18 Stöhr 1959: 60
19 Sellato 1994: 25
20 1859/60: 338, 339
21 Spaan 1918: 784
22 Kriele 1915: 33,34
23 vor allem Maks 1860 und Braches im Manuskript 197 des Epple-Nachlasses in meinem Besitz
24 1914: 159
Literatur
Baier, M.
1995 Ventimiglia: Indonesia's First Bishop Lost in the Jungles of
Borneo Three Hundred Years Ago. In; King, V.T. and Hor-
ton, A.V.M.: From Buckfast to Borneo. Hull; Centre for
South-East Asian Studies at the University of Hull
1998 Die Hindu Kaharingan-Religion als beispielloser Fall eines
nachchristlichen Nativismus. In: TRIBUS. Linden-Museum
Stuttgart, Jahrbuch Band 47
Becker, J.F.
1849 Reis van Poeloepetak naar de binnenlanden van Borneo,
langs de Kapoeas-rivier. Indiseli Archief 1,1: 421-474.
Ferro, Fr. Bartolomeo
1704 Istoria delle missioni de'chierici regolari Teatini. Roma:
Buagni.
Gemelli Careri, J. F.
1728 Giro del Mondo. Venezia. Part 3, S. 212-243, 254-257.
Hardeland, A.
1858
Versuch einer Grammatik der dajackschen Sprache. Amster-
dam: Frederik Müller.
Knapen, H.
2001
Kriele, E.
1915
Lumholtz, C.
1920
Lümmel, H. J. van
1882
Maks, H. G.
1861
Mallinckrodt, J.
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Leiden: KITLV Press.
Das Evangelium bei den Dajak auf Borneo. Barmen: Verlag
des Missionshauses.
Through central Borneo. New York: Scribner's. 2 vols.
Lief en leed uit de zending onder de Heidenen. Utrecht:
Kern ink & Zoon.
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deeling van Borneo. Tijdschrift voor Indische Taal-, Land-
en Volkenkunde (TBG) 10-5/6: 466-558.
Ethnographische mededeelingen over de Dajaks in de afdee-
ling Koeala Kapoeas. Bijdragen tot de Taal-, Land- en
Volkenkunde 80; 81.
71
TRIBUS 52, 2003
Manuskripte:
Perelaer; M. T. H.
1881
Piinappel; J
1859/60
Riwut, Tjilik
1958
Schären, Hans
o. J.
1938
1963
1966
Schiller, A.
1997
Schwaner, C. A. L.
1853-54
Spaan, A. H.
1918
Stöhr, W.
1957
Sundermann, H.
1914
Tichelman, G. L.
1949
Valentijn, F.
1724-26
Rheinische Missionare. Historische Documentatie KITLV
EP Coli. 2 Heft 137. Rheinische Missionare. Epple Nachlaß
in meinem Besitz Nr. 197.
Borneo van Zuid naar Noord. Vol 1. Rotterdam: Elsevier.
Beschrijving van het westelijk gedeelte van de Zuider- en
Oosterafdeeling van Borneo. In: Bijdragen tot de Taal-,
Land- en Volkenkunde VIII.
Kalimantan Memanggil. Jakarta; Endang.
Die Bedeutung der Schöpfungsmythe in der Kultur der
Ngadju. Dajak (ein Querschnitt durch die Kultur). (Manus-
kript in meinem Besitz)
Das Menschenopfer bei den Katinganern. In: Tijdschrift
voor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde 78/79.
Ngaju Religion. The Hague: Maitinus Nijhoff (KITLV,
Translation Series 6).
Der Totenkult der Ngadju Dayak in Süd-Bomeo. 's-Graven-
hage: Martinus Nijhoff.
Small Sacrifices. Oxford University Press.
M.
Borneo. Amsterdam: Van Kämpen. 2 vols.
De landstreek tusschen Sangkoelirang en Doemaring. In:
Tijdschrift van het Koninklijk Nederlandsch Aardrijkskundi-
ge Genootschap 2e s., XXXV.
Das Totenritual der Dajak. Köln: E.J. Brill.
Borneo vorheen en thans. In: Indisch Genootschap, vergade-
ring van 23 Februari 1914. 's-Gravenhage: Martinus Nijhoff.
Blanken op Borneo. Amsterdam: A.J.G: Strengholt.
Oud en nieuw Oost-Indien. Dordrecht. Vol. III.
Charlotte Brinkmann: Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“
CHARLOTTE BRINKMANN
Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“
Am Museum der Weltkulturen Frankfurt/M. und am Museum für Völkerkunde
Hamburg sind derzeit Ausstellungen über die „Indianer“ Amerikas zu sehen, die
unterschiedlicher nicht sein könnten, und sich dennoch wunderbar ergänzen. Ein
kritischer Vergleich.
Auf dem Kopf die Federhaube, in der Hand Pfeil und Bogen, am Gürtel ein To-
mahawk und im Hintergrund das bemalte Tipi - so sitzt „unser Indianer“ stolz auf
dem Pferd, kämpft unnachgiebig um Gerechtigkeit und seine Existenz. So haben
wir ihn tausendmal gesehen, in unzähligen Bildern und Filmen. So haben wir ihn
selbst in unseren Kinderzimmern nachgespielt. Fast scheint es, als sei diese Figur
des Edlen Wilden ein fester Bestandteil unserer Kulturgeschichte, nicht wegzu-
denken aus jugendlichen Köpfen und europäischen Medien. Wie kam es dazu?
Die Entdecker um Kolumbus, die ihn erstmals um 1500 in der „Neuen Welt“ an-
trafen, gaben ihm den Namen „Indianer“, da sie irrtümlich glaubten, auf dem
Westweg Indien erreicht zu haben - und bekämpften ihn als gottlosen Wilden und
grausamen „Barbaren“. Später wurde er von großen Denkern der Aufklärung, die
über den Ursprung und den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft neu nach-
dachten, als Naturmensch mit ritterlichen Eigenschaften idealisiert und als rheto-
rische Figur im Kampf gegen verkrustete Strukturen verwandt. Manche meinen.
Abb. 1: Plakat der Frankfurter Ausstellung
„Indian Times“ mit einem Ojibwa-Tänzer als
Videokameramann beim Powwow von Leech
Lake, Minnesota, 1989.
Foto: Christian Feest
73
TRIBUS 52, 2003
Abb. 2: Elchhaarbesticktes Nadelkissen der
Abenaki aus dein Umfeld der Mission von Trois Rivières in Québec mit einem
Motiv aus der „heilen Indianerwelt“, ca. 1780.
Foto: Museum der Weltkulturen Frankfurt
er sei der nötige Funken, der in Europa die gesellschaftlichen Umwälzungen an-
regte. In der Zeit des Kolonialismus, dem bürgerlichen Aufbruch zu neuen Reich-
tümem, wurde er nochmals degradiert zum Vertreter der minderwertigen „roten“
Rasse. Rot war in seinem Gesicht jedoch nur der Staub der Prärie. Der sollte nun
abgewischt und der „Primitive“ mittels missionarischer Schulbildung und politi-
scher Verwaltung schrittweise in die Zivilisation geführt werden. Aber schon bald
wurde „der Indianer“ im krisengeschüttelten Europa als Projektionsfläche des
glücklichen Urzustandes wieder entdeckt, wo nun all das gesucht wurde, was im
Zuge unserer eigenen Zivilisierung bereits verloren schien: Gemeinschaftssinn,
Naturverbundenheit, Spiritualität. Bis heute hat das romantische Stereotyp des In-
dianers als „natürlicher Edelmensch“ seine ambivalente Anziehungskraft nicht
verloren und dient der europäischen Jugend zur Entwicklung ihres moralischen
Empfindens und den Erwachsenen als eskapatisches Motiv, als persönliche Le-
bensutopie oder zur produktiven Zivilisationskritik.
Aber gibt es diese „Indianer“ wirklich? Oder ist das in erster Linie „ein Volk, das
vorwiegend in europäischen Köpfen lebt und nicht in transatlantischen Prä-
rien?“1? Das zumindest konstatiert Prof. Dr. Christian F. Feest, ehemals Kurator
am Wiener Völkerkunde-Museum und nun am Frankfurter Institut für Historische
Ethnologie, der mit einer studentischen Projektgruppe und Mitarbeitern des For-
schungskolleges SFB/FK 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ die
Ausstellung „Indian Times. Nachrichten aus dem roten Amerika“ auf der Basis
74
Charlotte Brinkmann: Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“
Ahb. 3: Portraitaufnahme
von Flat Iron (Mäza Blaska)
während des Give-Away-
Festes, Pine Ridge
Reservation, South Dakota,
Juli 1909.
Foto: Frederick Weygold/
Museum für Völkerkunde
Hamburg
der Nordamerika-Sammlung am Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main
entwickelt hat (dort zu sehen seit dem 9.11.2002 noch bis 31.8.2003). Das erklär-
te Anliegen der Ausstellungsmacher ist es, aufzuzeigen, dass die Wirklichkeit des
indigenen Nordamerika zwar wohl Federhauben, Pferde, Totems und Manitu ent-
hält, aber eben noch viel mehr. Mit aktuellen Forschungsergebnissen versucht die
Gruppe um Professor Feest, das gängige Indianer-Klischee zu differenzieren.
So stehen wir im Erdgeschoss zunächst inmitten einer provokativen Eingangsins-
zenierung; der Besucher sieht sich selbst bekrönt mit Federhaube im Spiegel, um-
ringt von Indianerporträts mit Turban, Pickelhaube, Zylinder und Regenhut. Da-
neben ein Porträt Konrad Adenauers mit Federschweif. Wer ist hier der Indianer?
In den folgenden Räumen werden uns dann verschiedene Bevölkerungsgruppen,
die sich in Lebensweise und Wirtschaftsform teilweise enorm voneinander unter-
scheiden, vorgestellt. Dies geschieht anhand von Objekten aus dem 19. Jahrhun-
dert, die mittels Textinformationen in ihren historischen Kontext, einschließlich
ihrer Erwerbsumstände, gestellt werden. Auch Impressionen deutscher Künstler,
die das „Land der Rothäute“ bereisten, belegen, welche enorme Anziehungskraft
das Leben der Indianer bereits im 19. Jahrhundert auf Europäer ausübte. Wir er-
fahren, dass auch russische Pelzhändler Kolonien von Alaska bis Kalifornien be-
gründeten. Dass der bedeutende Steinbruch, der den roten Tonschiefer für die
Pfeifenköpfe der Friedenspfeifen lieferte, im Gebiet der Dakota in Minnesota lag.
Dass die Stämme am Missouri mit ihrer bilderschriftlichen Malerei auf Bisonro-
ben und Tipis wohlhabende Händler waren. Dass die Navajo und die Apachen im
Südwesten, berühmt durch Karl Mays „Winnetou“, sich als rachsüchtige Viehdie-
be hartnäckig allen Zivilisierungsbemühungen entzogen, und dass das Warm
Springs Reservat in Oregon heute ein modernes Wirtschaftsuntemehmen mit Er-
holungszentren, Holzindustrie, Spielkasinos und Fischzucht darstellt. Im Oberge-
schoss der Ausstellung werden wir kulturvergleichend über allgemeine Fragen in-
dianischen Lebens informiert, denn auch bezüglich Geschlechterbeziehungen und
Geheimbünde kursieren viele Vorurteile. Mehrere Räume widmen sich dem
Kunsthandwerk verschiedener Regionen, das unter dem Einfluss der Touristen-
ströme und des europäischen Kunstbegriffs neue Richtungen einschlug. Abschlie-
ßend erhalten wir Informationen über die gegenwärtigen Bemühungen der India-
ner, durch und in den Medien ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren und ins
neue Jahrtausend hinüberzuführen. So ist der Blick in die Zukunft ein optimisti-
scher, sind die „Indianer“ doch eine stetig wachsende Population in Amerika, und
sei es auch durch Selbstzuschreibungen bei der letzten Volkszählung im Jahr 2000
- schöne Aussichten.
Aber für erfahrene Museumsethnologen stellt sich doch die Frage: sind die Besu-
cher der Ausstellung wirklich bereit, ihr Indianer-Bild vom heldenmütigen, natur-
75
TRIBUS 52, 2003
verbundenen Zeltbewohner angesichts differenzierter Informationen aufzugeben?
Sind sie nicht reflektions-resistent und suchen im Museum eine Rekonstruktion
des „ursprünglichen“ und damit „echten“ indianischen Lebens? Von dieser Er-
wartung leben nicht nur die Völkerkundemuseen, die mit Indianerausstellungen in
den Zeiten knapper Kassen wichtige Besucherströme anlocken - auch diese Aus-
stellung wirbt im Titel mit dem Klischee der „Rothaut“ sondern auch die zahl-
reichen „professionellen“ Indianer, die ihre spirituellen, musikalischen und kunst-
handwerklichen Fertigkeiten inzwischen weltweit verkaufen. Der Rubel rollt bei
der Verheißung des Glücks in unverfälschter Tradition. Inzwischen gibt es in
Amerika gerade nach dem 11. September 2001 ein neu entdecktes emotionales
Interesse an der vormals marginalisierten Kultur der „Edlen Wilden“: Sie werden
als noble Gegner den feigen Terroristen gegenübergestellt und mit einer neuen Of-
fenheit in eine gemeinsame Geschichte integriert.2
Und die wird eigentlich auch in Frankfurt erzählt. Leider macht die Ausstellungs-
gestaltung so gar keine Lust, sich das wertvolle Wissen anzueignen: die Raum-
texte mit den Hintergrundinformationen sind im Stil von Zeitungsseiten klein ge-
druckt und textlastig gestaltet und verführen allenfalls zum flüchtigen Lesen der
Überschriften. Beigefügte Karten und Grafiken stiften oft mehr Verwirrung als Er-
hellung, und die äußerst aufschlussreichen Objektbeschriftungen sind nicht selten
unlesbar. Zudem sind die in den Räumen aufgestellten Großvitrinen in unzeitge-
mäßer Weise lieblos und unsystematisch angefüllt, ein Zusammenhang zu den
Ausstellungstexten ist oft schwer zu finden. So entgeht den meisten Besuchern ei-
ne spannende Geschichte, die im Katalog so klar und auch anhand der Objekte
deutlicher hätte erzählt werden können: Die Geschichte der Globalisierung, die
mit der Besiedlung des amerikanischen Kontinent durch asiatische Jäger und
Sammler schon in der Steinzeit begonnen hatte. Sehr viel später kamen die Euro-
päer und fanden bereits hoch entwickelte Kulturen vor. Sie brachten das Rad, das
Pferd und Schafzucht neben Eisengerät, Tuchstoff und Glasperlen mit und stimu-
lierten weitere Kulturentwicklung und Wohlstand. Erst als der Landbedarf auf
Seiten der europäischen Auswanderer im 19. Jahrhundert massiv wuchs, wurde
die indigene Bevölkerung mehr und mehr in Reservate abgedrängt.
Mit der Eisenbahn kamen die ersten Touristen zu den Reservaten, und die ver-
langten nach transportablen Reiseandenken. Bereits um 1780 stellten die Abena-
ki in Quebec Souvenirs für hessische und Braunschweigische Söldner her, die
während der Amerikanischen Revolution hier stationiert waren. Damit sind wir
wieder in der Frankfurter Ausstellung. Überraschend findet sich hier ein sternför-
miges Nadelkissen aus Birkenrinde, noch ungewöhnlicher ist das Stickmotiv aus
Elchhaar; Es zeigt einen im Kanu paddelnden Indianer mit seinem Hund, umrankt
von Blumenschmuck. Dieses nicht sehr indigene Objekt entstand unter Einfluss
des frankokanadischen Ursulinen-Klosters vor den Toren von Quebec, die bis um
1800 mit Souvenirs dieser Art ihre Wohltätigkeiten finanzierten. Die Frauen der
Huronen und Micmac übernahmen schließlich die Produktion dieser Andenken.
Schon bald florierte überall der Reiseandenken-Markt und wurde zu einer wichti-
gen Einkommensquelle für die Indianer in den Reservaten. Auch die heute weit
verbreiteten jährlichen Tanzfeste „Powwows“, so erfahren wir in der Ausstellung,
haben sich aus den selbst inszenierten Wildwestshows während der Kolonialzeit
entwickelt und sind heute eine Art Identitätsbestätigung und Leistungsshow, auf
der Tanz, Musik und Lebensgefühl gepflegt und ausgezeichnet werden. Über 500
Jahre Schicksalsgemeinschaft und europäische Beeinflussung brachte den früher
oft verfeindeten Stämmen eines riesigen Kontinents eine gemeinsame ethnische
Identität als „American Indians“ oder „Native Americans“.
Lange Zeit fanden Museumskuratoren in Völkerkundemuseen Reiseandenken als
Zeugnisse der Kulturbegegnung weder sammlungs- noch ausstellungswürdig,
sondern waren wie die Besucher noch heute vor allem an unverfälschten, „ur-
sprünglichen“ Objekten interessiert. Letztlich stoßen wir hier an das bereits seit
vielen Jahren in der Wissenschaft diskutierte Problem der Repräsentation von
76
Charlotte Brinkmann; Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“
Abb. 4: Ein „Delegationsfoto“ von Fast Walker (Wah-com-mo), ein
Fox-Krieger, das 1868 in Washington aufgenommen wurde.
Foto: A. Zeno Shindler/ Museum für Völkerkunde Hamburg
außereuropäischen Kulturen, bei dem es um die Verknüpfung der Darstellung des
Fremden mit konkret politischen Interessen geht. In diesem Kontext werden die
europäischen Völkerkundemuseen gerade von den Betroffenen immer noch als
„Kolonialmuseen“ mit imperialistische Aura empfunden. Tatsächlich basierte die
Motivation für die Gründung dieser Museen und die damit einhergehende Sam-
melwut um die Jahrhundertwende auf der weit verbreiteten Annahme, dass unter
dem Einfluss der europäischen Expansion „alle Eigenart der Kulturvölker und ih-
rer Erzeugnisse verschwindet wie Schnee vor der Frühlingssonne“3 und daher ei-
ne Dokumentation ihrer materiellen Kultur für die Nachwelt angelegt werden
müsse, auch um im Geiste des Evolutionismus die Genese menschlicher Kultur zu
77
TR1BUS 52, 2003
erforschen bzw. die europäische Überlegenheit zu belegen - der Blick des Tro-
phäensammlers auf eine „aussterbende Rasse“.
Dieser Blick wird ganz besonders deutlich in der Ausstellung „Indianer 1858-
1928. Photographische Reisen von Alaska bis Feuerland“ im Hamburger Museum
für Völkerkunde (zu sehen seit dem 28.4.2002, noch bis 15.6.2003), wo die wis-
senschaftliche Aufarbeitung einer umfangreichen Bildersammlung (durch die
Ethnologin Eva König, mit Mitteln der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius)
früheste Fotografien über den amerikanischen Kontinent zu Tage forderte. Gezeigt
werden Aufnahmen von europäischen und angloamerikanischen Fotografen und
Forschungsreisenden, die in der Frühzeit der Fotografie auf dem gesamten ameri-
kanischen Kontinent entstanden sind. Ob es sinnvoll ist, diese Zeugnisse indige-
nen Lebens neben Stadtansichten von New York oder Rio und archäologischen
Maya-Stätten unter dem Schlagwort „Indianer“ zu präsentieren, mag bezweifelt
werden. Sehenswert sind die Dokumente allemal, zeigen sie doch, wie bedeutend
das neue Medium bei der Erfassung und Eroberung fremder Territorien war. Die
zahlreichen Gruppen- und Porträtaufnahmen sind bei genauerem Betrachten in al-
ler Regel von der kolonialen Distanz des Fotografen zu seinen Objekten geprägt,
was nicht nur dem Stand der damaligen Fototechnik zuzuschreiben ist. Nur selten
strahlen die Porträtierten wie auf den Fotos des deutschstämmigen Einwanderers
Frederick Weygold, der im Auftrag des damaligen Hamburger Museumsdirektors
Georg Thilenius eine Dokumentation der Oglala-Sioux in der Pine Ridge Reser-
vation/South Dakota anlegte und auch die Sioux-Zeichensprache studierte, eine
ungewöhnliche Würde aus, belegen die Aufnahmen eine gegenseitige Annähe-
rung. Diese sucht man vergeblich bei den so genannten „Delegationsfotos“, den
frühesten Indianer-Aufnahmen überhaupt, die anlässlich von Vertragsverhandlun-
gen ab 1857 in der Hauptstadt Washington entstanden. Zwar sind die damals
wichtigsten Indianer-Führer meist mit den Insignien ihrer Macht und in traditio-
neller Festkleidung abgelichtet, dennoch wirken sie in der inszenierten Studio-
Umgebung merkwürdig deplatziert und degradiert. Die Fotos dieser Serie wurden
als „letzte Zeugnisse“ einer totgesagten Rasse schon damals weltweit gehandelt
und getauscht.
Aus dem Bereich der Porträtaufnahmen ist in Hamburg noch eine gute Anzahl an
Fotos erwähnenswert, die im Kontext der sehr beliebten Völkerschauen entstan-
den. Sie gehören zur Sammlung Johan Adrian Jacobsen, dem norwegischen Aben-
teurer und Sammler, der vor allem im Auftrag von Carl Hagenbeck die Völker-
schau-Gruppen in Amerika zusammenstellte und auf ihren Tourneen durch Euro-
pa begleitete - auch fotografisch. Unter seiner Anleitung studierten sie in Leder-
kleidung und Federhaube für den Tierpark das ein, was man von „echten India-
nern“ erwartete: reißerische Shows mit Überfällen, Kriegstänzen und Skalpierun-
gen. Dahinter stehen, wie die Erläuterungen zu den Fotos und der Katalog bele-
gen, immer auch Einzelschicksale, tragische wie das des heimwehkranken Pata-
goniers, der schließlich nach Hause entlassen wurde, aber auch die des Sioux Ed-
ward Two Two, der ein Wildwest-Profi im Zirkus Sarrasani wurde und sich später
in Dresden begraben ließ. Schmunzeln muss man, wenn man erfährt, dass sich
Töchter aus gutem Hamburger Hause nach der Show im Tierpark versteckten und
den gut gebauten „Wilden“ auflauerten. Gerade diese Informationen sind es, die
die Qualität der Ausstellung ausmachen und eines sehr deutlich werden lassen:
Die Konstruktion und Verbreitung des Indianer-Bildes, die Erfindung einer ver-
meintlich einheitlichen Kultur wurde neben Literatur und Reiseberichterstattung
vor allem mittels der Fotografie vorangetrieben, denn kein Volk wurde in der
Frühzeit des Mediums so oft abgelichtet wie die Bewohner Amerikas. Leider sah
man sich in Hamburg genötigt, die Fotoschau durch unerklärte ethnographische
Objekte und „stimmungsvolle“ Inszenierungen zu ergänzen, die den demaskie-
renden Charakter der Bilder und Texte wieder zurücknehmen.
Abschließend bleibt festzustellen, dass wohl bei kaum einem anderen Fach die
Kluft zwischen Universität und Museum so groß ist wie innerhalb der Völker-
78
Charlotte Brinkmann: Auf Spurensuche nach „unseren Indianern“
künde, sowohl was den Stand der Forschung als auch das Interesse aneinander be-
trifft. Die postmoderne Krise, die die Fachdisziplin bereits halbwegs überwunden
hat, erreicht nun die Museen. Die Fragen liegen auf dem Tisch: Bedient man die
exotistischen Erwartungen und ermöglicht weiterhin Reisen zu Tipi-Indianern
oder Paradies-Bewohnern? Oder wird man mehr und mehr zum soziokulturell-
esoterischen Multi-Kulti-Zentrum, wo afrikanisch, indianisch, chinesisch und
pakistanisch getrommelt, getanzt, gekocht und geheilt wird? Oder ist es gar ein
Ort der außereuropäischen Kunst, wo Sammler wertvolle Ethnographika der Ko-
lonialzeit bewundern und sich geschmacksbildend erschließen können? Vielleicht
sollte man zunächst darüber nachdenken, was man erzählen möchte, bevor man
die Objekte zum Sprechen bringt.
Daten:
„Indian Times. Nachrichten aus dem roten Amerika“ am Museum der Weltkultu-
ren in Frankfurt am Main vom 9. November 2002 bis 31. August 2003; Begleit-
katalog (124 S.) 22,00 €; Aktionsheft für Kinder 1,50 €
„Indianer 1858-1928. Photographische Reisen von Alaska bis Feuerland“ am Mu-
seum für Völkerkunde in Hamburg vom 28. April 2002 bis 15. Juni 2003; Aus-
stellungskatalog (352 S.) 25,00 €
Anmerkungen
1 Christian F. Feest im Katalog „Indian Times. Nachrichten aus dem roten Amerika“, Frankfurt 2002,
S. 4
2 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 11.11.02: „Schauplatz USA: Indianische Renaissance?“, S. 17
3 Kurt Lampert 1907, Schriftführer des „Württ. Vereins für Handelsgeographie“, zitiert in Kußmaul,
Friedrich: „Linden-Museum Stuttgart. Staatliches Museum für Völkerkunde, Rückblick- Umschau
-Ausblick.“ TRIBUS 24/1975, S. 24
79
TRIBUS 52, 2003
ELKE BUJOK
Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart:
Das „Männliche unnd Ritterliche Thurnier unnd Ringrennen“
zu Fastnacht 1599
Zu Fastnacht 1599 lud der württembergische Herzog Friedrich I. zu einem sehr
ungewöhnlichen Ringrennen an seinen Hof. Im Mittelpunkt der verschiedenen
Aufzüge stand die Figur der „Königin Amerika“, die der Initiator der Veranstal-
tung selbst spielte. Die Darsteller des Aufzugs trugen amerikanische Kleidung,
Schmuck und Attribute aus Federn, die zu den beliebtesten Ethnographica an eu-
ropäischen Höfen zählten. Ringrennen gehörten im 16. Jahrhundert zu den be-
vorzugten Lustbarkeiten an den Höfen. Sie lösten die Turniere mit Hieb- und
Stichwaffen ab und stellten eine entschärfte Form der Ritterspiele dar. Ziel war es,
dass die Teilnehmer in vollem Galopp einen aufgehängten Ring mit ihrer Lanze
herunter stachen. Dabei zählten die Punktrichter nicht nur die Treffsicherheit, son-
dern auch die Anmut des Wettkampfes, das ritterliche Geschick und die Maskera-
de. Die Ausrichtung eines solchen Ringrennens auf einen Kontinent allein findet
kaum seinesgleichen.
Die „Königin Amerika“ kam als „Schwester“ unter den Erdteilen mit Neugierde
nach Stuttgart. Sie wollte die hiesigen Verhältnisse kennen lernen und das gegen-
seitige Verständnis fördern, so legt es ihr der Autor der Festbeschreibung in den
Mund. Gleichzeitig wollte sie zeigen, was in ihrer Heimat vor sich ging, und dies
nahmen die Stuttgarter wiederum mit Staunen auf. Andere Teilnehmer am Ring-
rennen richteten ihre Auftritte auf Amerika aus, und sie reisten an, um Bekannt-
schaft mit dem fernen Kontinent zu machen. Der Aufzug ist ein Beleg für die Re-
zeption der Neuen Welten in der Frühen Neuzeit mit Staunen und Neugierde - mit
der Curiositas. Gleichzeitig ist er ein Eingeständnis dafür, dass auch Europa für
Amerika eine Neue Welt darstellte.
Das Fremde wurde in der Frühen Neuzeit, nach den sogenannten Entdeckungen,
in aller Regel als gleichwertig zum Eigenen rezipiert. Darin unterscheiden sich
das späte 16. und das 17. Jahrhundert von den folgenden Epochen. Die Kenntnis
über den bislang unbekannten Kontinent Amerika drang ab der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts verstärkt in das Bewusstsein der Europäer und an die Höfe, die
nicht an der Eroberung beteiligt waren. Amerika bewegte die Gemüter in noch
weit größerem Maß als das subsaharische Afrika, und das Weltbild erweiterte
sich. Das Fremde wurde dabei wahrgenommen und beobachtet, jedoch nicht in
Relation zum Eigenen gesetzt.
Diese Art der Rezeption resultierte aus der Geisteshaltung der Zeit, dem Zu-
sammenspiel von Staunen und Neugierde (Daston/Park 1998: 303-328, Daston
2001, Bujok 2002: 56-64). Das Staunen rührte aus dem Mittelalter her und galt als
Beleg für den Respekt vor der Schöpfung, gleichzeitig als Eingeständnis der
menschlichen Unkenntnis. Die Neugierde dagegen war eine verpönte Eigenschaft
und die Kirchenväter verdammten sie. Nach mittelalterlicher Auffassung galt die
Neugierde mit ihrem Wissensdurst als hochmütig und stand dem Respekt vor der
Schöpfung entgegen. Um 1600 löste sich dieses Tabu auf und wich den Bestre-
bungen, sich die Welt anzueignen und zu verstehen. Die Neugierde wurde nun zur
regelrechten Tugend und gesellte sich dem Staunen hinzu, der Erkenntnisdrang
kam einer Form des Gottesdienstes gleich. Die Neugierde war in der ersten Hälf-
te des 17. Jahrhunderts eine Folge des Staunens und lenkte die Aufmerksamkeit
auf das Ungewöhnliche, Seltene und Kuriose. Es wurde beobachtet und gewisser-
maßen gesammelt, aber nicht ausgewertet und systematisiert. So konnte das Ku-
riose und auch das Fremde in das bestehende Weltbild integriert werden, ohne
dass es einer Hierarchie der Werte standhalten musste. Der Blick war noch nicht
80
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
von Vergleichen und dem Nachweis der eigenen Überlegenheit begleitet, wie er
sich im ausgehenden 17. Jahrhundert herausbildete (Bujok 2002:3lf., 222). Für
die Wahrnehmung des Fremden im Sinne der Curiositas ist der Stuttgarter Aufzug
Amerikas von 1599 ein beredtes Beispiel.
Außereuropäische Teilnehmer bei Hoffesten in der Frühen Neuzeit
Aufzüge und Turniere an den Höfen hatten meist die antike Mythologie zum
Gegenstand. Nicht selten wurden aber auch die fremden Kontinente und ihre Be-
wohner thematisiert. Der Auftritt von Nicht-Europäem oder als solche kostümier-
ten Europäern diente einerseits, wie auch die Ethnographica und Mohren an den
Höfen, der Repräsentation des Fürsten und belegte seine ausgedehnten Beziehun-
gen. Das Thema stellte aber auch die Vorliebe für das Ungewöhnliche, Rare und
Kuriose zufrieden. Die Feste und Aufzüge zeigen das grundsätzliche Interesse an
den Neuen Welten, die Neugierde und zumindest rudimentäre Kenntnisse, die den
Reiseberichten entnommen wurden.
In aller Regel kam den Nicht-Europäern eine respektable Rolle zu. Sie waren mit
unterschiedlicher Intention in die Aufzüge eingebunden, konnten Szenen beglei-
ten, spezifische Eigenschaften oder ihren Kontinent repräsentieren. Häufig waren
die vier Erdteile Thema oder Teil eines Aufzuges. Als Begleiter traten Mohren
beispielsweise in zwei Szenen eines Ringrennens von 1580 in Innsbruck auf. Das
Fest fand zur Hochzeit zwischen dem Kämmerer Ferdinands II., Johann Lip-
steinsky von Kolowrat, und dem Kammerfräulein der Philippine Welser, Kathari-
na von Boymont und Payrsberg, statt. Im dritten Aufzug begleiteten Mohren die
Szenen der Ceres und des Saturn (Abb. in Scheicher 1981; 123, 126). Ceres, die
Göttin der Feldfrucht, trug die Beinamen Africana und Nigra (Hederich/Schwabe
1770: 682) und verweist somit auf die reichen Kornfelder Afrikas in der Zeit der
römischen Kolonien. Saturn personifizierte die Zeit, vor allem aber war er der Va-
ter von Ceres und wurde mit dem alttestamentarischen Cham, dem Stammvater
der Schwarzen, in Verbindung gebracht (Hederich/Schwabe 1770; 2169). Die Be-
deutung der Ceres als Afrikanerin und des Saturn als ihr Vater und Cham erklärt
den Auftritt der Mohren in ihrem Gefolge.
Bei der Hochzeit des Herzogs Johann Friedrich mit Barbara Sophia in Stuttgart
1609 verkörperten Afrikaner und Indianer mit den ihnen zugesprochenen Eigen-
schaften den Gegenstand der Szenen oder traten als Repräsentanten ihres Konti-
nents auf. So ritten im zweiten Aufzug Mohren mit Federröcken und Tatauierun-
gen auf Pferden in die Bahn (Abb. in Küchler 1609, unpaginiert). Der Beschrei-
bung des Aufzugs „Von den Mohren“ (Oettinger 1610: 112, 209) ist zu entneh-
men, dass sie nicht den Kontinent Afrika repräsentierten, sondern die Tugend der
Einträchtigkeit verkörperten: „Das ist aber insonderhait dieser Invention Intent
und Mainung / das sie uns die holdseelige Tugend Concordiam oder die Ein-
trächtigkeit commendieren und wol einbilden will [...]“ (Oettinger 1610: 209).
Dies war das Thema der Invention und wurde durch die den Mohren zugrunde ge-
legte Eigenschaft vermittelt:
Dann welche [die Mohren] also gesinnet sein / das sie in allen Fällen und fürfallenden Gele-
genhaiten / auß einem Hertzen und Gemüth ratschlagen / zugleich und mit einander zusamen
halten / und ihre Vorhaben zumahl ins Werck setzen / dieselben werden allezeit einen gliik-
klichen Fortgang haben / vieljürtreffliches außrichten / und nicht bald einen Fühler thun / noch
leichtlich durch einige Macht können zertr ennt und überwunden werden / wie solches auch hie-
oben in der ersten Invention der Concordia zum galten thail ist angezeigt / und mit nothwendi-
gen Exempeln [ungebildet worden.
Amerikaner ritten im zehnten Aufzug mit dem Titel „Von den Wunderbarlichen
Americanischen Leutten“ (Oettinger 1610; 140) ein, es handelte sich um „drey
ungewöhnliche und seltzame Monstra [...] / gantz nackend / haben keine Köpff
/ und die Angesichter auff den Brüsten gehabt“ (Abb. in Küchler 1609, unpagi-
TRIBUS 52, 2003
niert). Im Gegensatz zu dem Aufzug der Mohren ging es bei dem der Amerikaner um
den Kontinent selbst, er wurde von Kopflosen repräsentiert. Die Annahme, dass der-
artige Wesen und andere Monstren jenseits der erreichbaren Grenze lebten, stammt
noch aus der mittelalterlichen Vorstellungswelt. Jedoch finden in der Beschreibung
des Aufzugs sehr wohl geographische Kenntnisse über Amerika Verwendung, bei-
spielsweise „das Gebürg Andes“ und „Aravuaca“, eine Region im Nordosten des
südamerikanischen Kontinents. Auch von der weiten Reise der Amerikaner nach
Stuttgart wird ausführlich berichtet. „Wegen grawsamer weittin des Wegs“ erschie-
nen allerdings nur drei Vertreter, die „unsere seltzame Leut / als die die Angesichter
auff der Brust haben / sehen lassen wollen“ (Oettinger 1610: 140).
Ein Aufzug der vier Erdteile fand beispielsweise 1571 in Wien anlässlich der
Hochzeit Erzherzog Karls II. von Österreich mit der Herzogin Maria von Bayern
statt (Sommer-Mathis 1992: 136, 145). Thema war der Streit zwischen den beiden
Göttinnen Europa und Juno, wobei Europa durch ihre Töchter Italien, Spanien,
Frankreich und Deutschland unterstützt wurde, Juno durch die Gefolge der Köni-
ge Asiens, Amerikas und Afrikas. Europa ging aus diesem Kampf siegreich her-
vor und besiegelte somit die Vorherrschaft der Erdteile. Die Absicht von Aufzü-
gen und Darstellungen der vier Erdteile war in der Regel, jedenfalls bei den Habs-
burgem, die politische und kulturelle Überlegenheit Europas gegenüber den an-
deren Kontinenten zu bekunden.
Ein Teil der Ritterspiele, die 1596 am Kasseler Hof des Landgrafen Moritz dem
Gelehrten anlässlich der Tauffeierlichkeiten seiner Tochter Elisabeth veranstaltet
wurden, war ebenfalls den vier Erdteilen gewidmet (Dilich 1598: 41-56, Nieder
1999: 79-92). Genau umgekehrt zu der sonst üblichen hierarchischen Reihenfol-
ge wurde dieser Aufzug allerdings von Amerika eröffnet, es folgten Afrika, Asien
und Europa (Abb. 6 und in Nieder 1999; 80, 89, 90, 93).
Das „Männliche unnd Ritterliche Thumier unnd Ringrennen“ (Frischlin 1602, Ti-
tel) in Stuttgart 1599 nimmt eine Sonderstellung bei den Hoffesten ein, da es al-
lein auf den Aufzug Amerikas ausgerichtet war. Es war einer der ersten Auftritte
von Indianern überhaupt (Sommer-Mathis in Polleroß/Sommer-Mathis/Laferl
1992: 280). Umso deutlicher kommt hier die Auseinandersetzung mit den Neuen
Welten zum Ausdruck.
Der Anlass für den Aufzug Amerikas 1599 und seine Beschreibung
Der Stuttgarter Aufzug Amerikas ist durch Zeichnungen aus den Kunstsammlun-
gen zu Weimar (Abb. 1/1-8. Inv.-Nr. KK 202-209), Aktennotizen und die Be-
schreibung M. Jacob Frischlins (1602. Für den freundlichen Hinweis auf die
Quelle danke ich Sabine Hesse, Stuttgart) ungewöhnlich ausführlich überliefert.
Frischlin dokumentierte das Ringrennen nach der Veranstaltung, wie er selbst
schreibt (S. I):
Damit der Leser hett ein Bericht /
Welcher daher möcht kommen nicht /
Und alle Ding vor Augen sehen /
Was seihen Tags zu Stutgart gschehen /
Damit er nicht durch falsch Geschrey /
Welchs ojft außgeht gar mancherley /
Betrogen und bethöret werd /
Wie ojft geschieht auff dieser Erd.
Der Bericht ist von hohem Dokumentationswert, wenn auch in einer recht be-
mühten Reimform verfasst. Frischlin war Schulmeister in verschiedenen würt-
tembergischen Städten, bezeichnete sich selbst als „Poeta et Historicus Würtem-
bergicus“ (Frischlin 1602: Titelblatt) und beschrieb viele fürstliche Hochzeiten
und andere Hoffeste. Er gilt als unkritischer Autor zahlreicher Werke (Allgemei-
ne Deutsche Biographie). Jedoch ist bei der Beschreibung des Festzugs von einer
objektiven Beobachtung auszugehen, die nicht viel Raum für Interpretation ge-
währte. Zudem bestätigt sich die getreue Berichterstattung Frischlins durch den
Vergleich mit der graphischen Darstellung. Krapf/Wagenknecht (1979, Bd. 2: 6f.)
82
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
erwähnen, dass Frischlin anlässlich der Stuttgarter Tauffeierlichkeiten von 1616
ebenfalls eine Beschreibung verfasst hatte, die ungedruckt blieb. Mit „literarisch
ambitionierter Schulmeister“ beurteilen sie Frischlin milder. Seine Beschreibung
sei „tiefverwurzelt in literarischen und höfischen Traditionen der Vergangenheit“,
die überholt waren, und „für die sich noch wenige Jahre zuvor ein förderungswil-
liger Gönner und dann ein Verleger gefunden hätte“.
Das Ringrennen fand am 23. Februar 1599, zu Fastnacht, im fürstlichen Lustgar-
ten unter Herzog Friedrich I. (reg. 1593-1608) statt. Anlass zu den Aufzügen wa-
ren nicht, wie sonst üblich, Tauffeierlichkeiten oder ein Hochzeitsfest. Nach Fri-
schlins (1602: 2f.) Auskunft hatte Herzog Friedrich I. „sein gantze Landschafft“
nach Stuttgart eingeladen, wo sie „schier sechs Wochn [...] blieb“, um über Regie-
rungsgeschäfte zu beraten. Unter den Gästen befanden sich Prälaten, zwei Bürger-
meister, auch schickte „jede Statt ihren Amptmann“. In diesem Rahmen veranlas-
ste Friedrich I. das Ringrennen mit dem Aufzug Amerikas, „daß Ihn nicht werd die
Weil zu lang / Vertrieb hiermit den Müssiggang“ (Frischlin 1602: 3). In den Ak-
tennotizen findet sich ein Hinweis auf die Fastnacht und die anbrechende Früh-
lingszeit als Anlass für den Aufzug (HStA Stuttgart, A 20 Bü 39, unfoliiert);
Nachdem die Fröliche Faßnacht abermals vorhanden, darbey auch die lustige Friielingszeitt ge-
gen dem lieblichen Sommer sich nähren scheint, da man dann allem löblichen gebrauch und her-
khommen nach, solche Zeitt mitt Ritterlichen Kurtzweilen und ergötzungen zuzebringen pflege
[■■]■
Die Fastnachtszeit bot sich für Aufzüge mit Maskeraden ohnehin an. Die Bevöl-
kerung konnte dann an der Veranstaltung teilnehmen, das Geschehen durch die
Verbindung mit dem alljährlichen Fest ausgedehnt werden.
Der erste Teil des Festes bestand aus einem Fußturnier, auf das verschiedene Auf-
züge zum Ringrennen folgten. Diese wurden von dem Aufzug Amerikas eröffnet,
den Herzog Friedrich I. inszeniert hatte (Frischlin 1602: 21):
Der Erste Königliche Auffzug zum Ringrennen. Deß Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten unnd
Herrn /Herrn Friderichen Hertzogen zu Würtenberg unnd Teck [...]: In Format / Gestalt /Zier /
unnd Habit /wie die Königinn in America sich erzeigt /mit nackenden Leuten /grossen Kolben /
und Kleydern / von Papengäy / mancherley Farben, vor niemals in Schwaben also präsentiert
und gesehen worden.
Es folgten unter anderem Aufzüge des assyrischen Königs Ninus, des persischen
Königs Cyrus, Alexanders des Großen und Julius Cäsars, auch Aufzüge von Tür-
ken, schwäbischen Bauern, Kapuzinermönchen und der des Herzogs Joachim
Carlin von Braunschweig.
Frischlins Beschreibung des Aufzugs Amerikas entspricht der Darstellung auf den
Zeichnungen aus Weimar (Abb. 1/1-1/8) bis auf einige Abweichungen in der Rei-
henfolge und Kostümierung. Auch die Namen der Darsteller, Bedienstete des
Stuttgarter Hofes, und ihre Funktion am Hof stimmen weitgehend überein. Der
Text Frischlins (1602; 44-53) wird im Folgenden vollständig wiedergegeben.
Der Aufzug Amerikas in der Beschreibung M. Jacob Frischlins und den
Weimarer Zeichnungen
Nachdem alle Gäste versammelt waren, „sechs tausent Mann / Mit Weib und Kin-
der ungezehlt“ (43. Frischlin 1602 wird im Folgenden lediglich mit der Seitenzahl
nachgewiesen), wurde die Ankunft Herzog Friedrichs I. beziehungsweise der Kö-
nigin Amerika durch Heertrommeln, -pauken und -trompeten angekündigt (43f):
Vide pomp /pimp /pom / wider / Pomp /pim /pom / Hertzog Friderich komt /pom /pim /
pom / Hertzog Friderich / Friderich / Friderich kompt / er kommet / er kompt / America
kompt /sie kompt /sie kommet / America kompt / die Könige /Könige /Könige kompt /sie
kompt / sie kompt / das pimperle pom / das pimperle pom / pom / pom / pom / Vide pomp /
Vide pom / das pomperle pom /pomp /pimp / pomp / etc.
83
TRIBUS 52, 2003
und Friedrich I. erschien mit seinem Aufzug (44):
Darauf folgt Hertzog Friderich / Von neuwen Königlichen Portall /
Der durchlauchtig ließ sehen sich / Zu Stutgart sihst dus überall /
Mit seim Auffzug in solcher Gstalt / Oder wie ich da bschreiben wil /
Wie auffdiß Fürsten Hoffthor gmahlt / Merckt au jf ihr Würtenberger /still.
Eröffnet wurde der Aufzug von drei europäischen Patrinen (44f. Abb. 1/1):
Erstlich seyndt gritten drey Patrin /
Wacker seyndt sie zogen dahin /
In schwartzem Sammet die Rossz weiß /
Die Federn auch /die Stäb mit fleiß /
Mit Silberfarben angstrichen /
Also die Sporn waren ihn verglichen /
Sarnmettin Stieffel trugen gar schön /
Die Wammes schneeweiß Ermel zween /
Von Atlaß warn verstochen sie /
Führten Speerlantzen je und je /
Die zwo mit Silberfarh angstrichen /
Die Mittel mit schön Goldt verglichen /
Welche Sebastian Welling führt /
Und die Patrinen also ziert.
Der ander Schauelißkj war /
Welcher auch ziert die gantze Schar /
Dieser zu Brackenheym jetzt ist /
Ein Obervogt und wolgerüst /
Ein wacker dapjfer Edelmann /
Der sein Standt ziern und führen kan /
Gantz weit erfahrn wol beredt /
Diß Stell er wolversehen hett.
Der ander neben ihm thet prangn /
Aujf rechter Seit mit silber Stangn /
Der von Anweyl Fridrich Jacob /
Hat darvon sein gebührlich Lob.
Auf diese Patrinen folgten Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci. Sie be-
gleiteten Amerika auf ihrer Reise nach Europa, wie sie selbst berichtet (33):
Derowegen wir [...] / Christophorum Columhum & Vespucium Americum [...] beruffen lassen /
mit dem Begeren / [...] daß sie uns [...] als erfahrne Pelotten zu unser Schwester hegleyten wol-
len / welches sie ohn einig Beschweren bewilligt.
Frischlin nennt nicht den Namen Amerigo Vespucci, sondern nur den seines Darstel-
lers. Er schreibt über den Auftritt der beiden Amerika-Reisenden (45f. Abb. 1/1):
Aujf diese folgten ihre zween /
Die wunderbarlich kleydet gehn /
Ein frembde Landts Art und Monier /
Den Indianern ähnlich schier /
Trugen gar seltzam Kappen aujf /
Gelb und blaw Tajfet underm Hauff./
Der erst Columbus sich nennet /
Auß America sonst erkennet /
Juncker Philip von Lamersheym /
Führt mit sich und in gleichem Schein /
Dann Carle Egen war der andr /
Americam welchr thet durchwandrn /
Weil er drey Jahr drinn gwesen ist /
Und alls gsehen was zugerüst /
Groß Kolben an den Stecken trugn /
Damit sie ihre Feindt erschlugen /
Ihr Kleydung Menschenfärhig sah /
Fein hraunlecht und an Knie darnah /
Mengen ihr Siberweisse Schildt /
Rings umb die Schenckel fürgebildt /
Ihr Mäntel waren mancherley /
Von Farben / als von Papengäy /
Rot Striemen uberzwerch / und blaw /
Darnach auch gelb / und dann
Liechtgraw.
Warlich es sähe visierlich schön /
Als vorher giengen diese zween.
Die Namen der Darsteller sind im Text und auf der Zeichnung vertauscht und die
Beschreibung der Kleidung stimmt nicht mit der graphischen Vorlage überein.
Auch tragen sie dort nicht die von Frischlin erwähnten Kolben oder Keulen mit
sich, sondern Degen. Keulen mit einem ovalen Kopf führen die Darsteller der
nächsten Szene mit sich (Abb. 1/2). Nach der Überlieferung dienten sie bei Zere-
monien der Tupinambä Ostbrasliliens zum Töten des Opfers und waren in Euro-
pa ein Symbol für Amerika schlechthin. Deswegen leuchten sie als Attribute für
Kolumbus und Vespucci nicht ein.
Dem Auftritt Kolumbus und Vespuccis folgten vier indianische Patrinen mit ei-
nem Wasserbaum (46f. Abb. 1/2).
Neben her die Patrinen kamen /
Aujf Indianisch / und mit Nahmen /
Von Aichenberg Juncker Johann /
Ein Postjung und ein Edelmann:
Der ander aber war genandt /
Caspar Lattojfskhj wolbekandt.
Hierauffein gar schöner Bomb /
84
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Mit grünem Laub ein Brunn darumb /
Das Laub hat breyte Blättr und Näst /
Graßgrün fürwar auffs aller best /
Damitten lag ein Balten weiß /
Gleich wie ein Wolck / sah ich mit
fleiß /
Derselbig tropft in Brunnen neyn /
Macht süß / und gschlacht das Wasser-
fein /
Damit die Leut solchs können gniessn./
Sonst die Eynwohner sterbn müssn /
Wie man lißt von America,
Der Insel / und dem Brunnen da.
Nun dieser Bomb / mit seinem Wolck /
Verwundert hat das gantze Volck /
Darunder war ein Brunnen Käst /
Von Moß und Wasser / der sich fast /
Beweget / und gieng selbst daher /
Daß man sich hat verwundert sehr /
Wie dieser Brunnen Käst gieng fort /
Mit seinem Baum vom Orth zu Orth /
Mitten im Kasten stundt ein Mann /
Welcher das Wasser pompen kan /
Daß solches ubersich fein lofft /
Und wider von dem Baum abtrofft:
Fürwahr das war ein Wunderwerck /
Vor nie gesehn in Würtenberg.
Den Wasserbaum hatte Amerika als Geschenk für ihre Schwester Europa und den
schwäbischen Fürsten mitgebracht. Er stamme von den Kanarischen Inseln, die
sie auf ihrer Reise nach Europa besucht hatte, und wandle das ungenießbare Was-
ser in Trinkwasser um (33f):
da wir unter Wegen in einer unser zugehörigen Insel / Ferri genandt / einer auß der Canarien
angeländet /auß deren wir das verwunderlich Werck der Natur /nemhlich den Baum /auß wel-
chem sich die Eynwohner deß Wassers einzig und allein erhalten / mitgenommen haben / mehr
besagte unser Schwester eine / oder der underhabende König oder Fürsten / damit zu verehren.
Der Gebrauch des Wasserbaums wird im einleitenden Text zum Aufzug ausführ-
lich beschrieben (24f.), als Grundlage diente de Bry (n. Sievernich 1990: 244);
Wir also Paar seyndt angelandt /
In einer Insel Ferri gnandt /
Uns zugehörig underwegn /
Sendt ubernacht zur Herberg glegen /
Auß dieser Insel bringen wir /
Ein wunderbarlich Werck herfür /
Nemlich / den Baum von dem allein /
Die Eynwohner / und gantz Gemein
Erholen sich / und ihr gantz Lebn
Diß Edel köstlich Kleinotwundr /
Das führen wir damit jetzundr /
Unser Schwester eine thu begaben /
Oder ein Fürsten hie in Schwaben /
Erhalten /und auffErden schwehn:
Dann er das Wasser temperiert /
Welchs von Natur nicht heylsam wirdt /
Und kein Mensch im Landt messen kan /
Sonder muß sterben jedermann /
Wann der Baum nicht deß Wassers Art /
Verändern thet auff dieser Fahrt /
Ein König / Keyser unden\>egn /
Bey dem wir dann zur Herberg glegen /
Damit wir solcher grosser Herrn /
Mit diesem Wunderwerck verehrn.
Frischlin schildert nun die Kostümierung der letzten beiden indianischen Patrinen,
die sicherlich auch auf die ersten zutrifft (47). Die Darsteller waren in Leder ge-
kleidet, um den Eindruck der Nacktheit zu vermitteln. Es erstaunt, dass Frischlin
nicht die Federmäntel, Keulen und den Schmuck erwähnt:
Auff diesem Baum gefolget seyn /
Zween Patrin Indianisch fein /
Anzogen glatt von Leder warn /
Gleich auff der Haut die gantze Schaarn /
Daß einer meynt sie nacket giengn /
Voll weisser Schildtlin dSchenckel hiengn /
Der Cammer Secretarj hieß /
Der sich also bekleyden ließ /
Jacob Rothgeh ist er genandt /
Bey Würtenberg gar wol hekandt /
Nebn ihm Fridericus Linck gieng /
Ein Hqffjuncker / voll Schildtlin hieng.
In der nächsten Szene traten vier Musikanten mit europäischen Musikinstrumen-
ten in die Bahn (47f. Abb. 1/3). Ihre Reihenfolge weicht im Text von der graphi-
schen Darstellung ab, und als Darsteller des ersten Musikanten, Melchior Krauß,
wird auf der Zeichnung ein gewisser Brejssel[?] genannt;
Drauff kamen Musicanten vier /
Angzogen warn mit aller Zier /
Gieng zween neben einander frey /
Der ein bette ein schön Schalmey /
Der ander ein Krumphorn herbließ /
Der erste hieß Melchior Krauß /
Pfiff örtlich zu der Masco hrauß.
Der ander Conradt Erb genandt /
Das Krumphorn führt in seiner Hundt.
Der dritt Elias Auffund Hin /
85
TRI BUS 52, 2003
Der dritt den Zincken hören ließ /
Giengen all wunderbar bekleydt /
Wie nacket Leut bey meinem Eydt.
Ist sein Nahm wie ich brichtet hin.
Der vierdt / Daniel Schorndörffer hieß
Der sich zierlich da hören ließ.
Es folgten nun drei Leibgarden mit Pfeilen, Bogen, Köcher und Kolben (48. Abb.
1/3). Frischlin beschreibt sie mit Federkleidung, auf der Zeichnung tragen sie je-
doch nur Federkopfschmuck:
Auff diese Music daher getreuen /
die auch gar schöne Kleyder heften.
Von Hoff Trabanten jhre drey /
Die muß ich auch anzeigen frey /
Ruodolph Reichardt auff dieser Bahn /
Ließ sich auch sehen dapffer hie /
Wie er sich braucht hat je und je /
In Kriegen / und in frembde Landt /
Hans Christen / der Fürstlich Lackey /
Anzug Federn von Papengay /
Der Fürstlich Trabanten Häuptmann /
Rudolphus Reichart ist bekandt.
Der dritt / Enderis Sündlinger war /
Beschlösse der Trabanten Schar.
Der folgende Teil des Aufzugs besteht aus 12 Personen, die Frischlin in zwei
Gruppen von jeweils fünf Personen und zweimal einer Person beschreibt (48f.
Abb. 1/4-5). Sie gehen unmittelbar der Königin Amerika voraus. Die Reihenfol-
ge dieser Gruppen weicht in der Beschreibung stark von der in der Zeichnung ab,
wenn die Figuren und Namen auch dieselben sind. Beispielsweise lief die Figur
mit Papagei und Federmantel nach Frischlin als letzte dieser Szene direkt vor der
Königin Amerika, in der graphischen Darstellung geht sie an zweiter Stelle.
Auff diese noch fünff trauen her /
Uber die müssen zierlich sehr.
Der erste / Juncker Adam gnandt /
Von JoJSmundt / ein Spießjung bekandt.
Der ander / Sigmundt Reinhart hieß /
Von Dortleben sich sehen ließ /
Gantz wunderbarlich angezogn /
Mit Köcher / Pfeiler und Bogen /
Wie dann die Indianer seyn /
Schier nacket gangen in gemein.
Der dritt / war Martin Krack genandt /
Der Einspänniger wol bekandt.
Michael Fischer war der vierdt /
Ein Lackey / der den Hauffen ziert.
Der fiinfft stundt hie auff dieser Schaw /
Der Juncker Peter von Lindaw.
Darnach gieng einer nur allein /
Wie ein König erzeigt sich fein /
Heinrich von Lest ein Kammerjung /
Ist gut vom Adel sein Uhrsprung.
Auff diese wider fünff herkamn /
Die Heissen also mit ihrm Nahmn /
Martinas Heygel der Erst hieß /
Der sich am Reygen sehen ließ /
Christof] von Heckei an der Schaar /
Der ander an der Zahle war /
Der dritt kam auch daher nicht wenig /
Als wie ein Indianer König /
Der war Heinrich Rummel genandt /
Ein Cammerjuncker wol bekandt /
Juncker Sigmundt war der vierdt /
Von Tüngen der genennet wirdt /
Der fiinfft Hans Nallinger Lackey /
Drauff folgt ein lehndiger Papengäy /
Welchen Matthceus Binder trug /
Auff Indianisch kleydet klug /
Sein Mantel von Farben rot /
Den Papengäy auff der Handt hat /
Zog also zierlich nur allein /
Vor der Königin America fein.
Nun betrat der Flöhepunkt des Aufzugs die Bahn, die Königin Amerika. Sie wur-
de von vier Personen in einer Sänfte unter einem Baldachin getragen und von
zwei Fächerträgern begleitet (49-51. Abb. 1/6). Federfächer galten bei den Azte-
ken als Rangabzeichen, vor allem aber als Symbol für Reisende, Boten und Bot-
schafter (Feest in Feest/Kann 1992; 223). In der Hand hielt sie ein Szepter, wie
der Baldachin ein Zeichen ihres Regiments. Der Darsteller Amerikas, Herzog
Friedrich I., ist nicht benannt. Es war jedoch üblich, dass der Fürst selbst die
Hauptrolle in dem von ihm präsentierten Aufzug übernahm. So tanzte auch der
Nachfolger Friedrichs I., Herzog Johann Friedrich (reg. 1608-1628), bei den
Tauffeierlichkeiten von 1616 die Hauptrolle des Mohren (Firla 2001: 31). Die Ko-
stümierung Amerikas weicht in der Beschreibung wieder von der in der Zeich-
nung ab, beispielsweise beschreibt Frischlin sie mit einer Federkrone:
Darauf]'kamen Trabanten her /
Trugen die Königin so schwer /
Waren auch auff die Manier
Angzogen / als wenns nacket schier /
Auß Federn gmacht / wie ich verstehn /
Von Papengäy / blaw / grün und rot /
Gleich wie ein schöner Krantz auffstoht:
Die Schämen oder Masca war /
86
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Daher giengen wie man im Landt
America, geht ohn alle Schandt /
Melchior Dietterlin der erst war /
Blasius Hon / der ander gar /
Die letzte zween Hans Ritz genandt /
Der vierdt Conradt Sittich bekandt /
Neben daher lieffen fein zween /
Mit windtfischen gezieret schön /
Von Farbn und Federn mancherley /
Waren allsampt von Papengäy /
Sie abr von Leder angezogn /
Schier nackent einer sie betrogn /
Als wann einer ist an der Sonn /
Braunschwartz / gleichsam schier verbrennen
Sein Schenckel / Waden / und die FUß /
Braunlecht ein jeder sehen ließ.
Die Königin war also hkleydt /
Wie ich ungfehrlich dich bescheidt /
Aujf ihrem Häupt hatt sie ein Cron /
Ein wenig krumm ist nicht erlogn /
Als wie ein Lotterbettlin sicht /
Kein gantzen Himmel hat doch nicht /
Oben Melohnen und Kürbiß hangn /
Und also ob der Königin prangn:
Beyn Füssen vornen sah es goldtgelb /
Eim schönen Weibsbildt ähnlich gar /
Darnach der Leib und gantze Wath /
Wie eins nackenden Menschen stath /
Leibfarb / mit schönen gülden Stucken /
Verschnürt war / als wer es trucken /
Und glatt an Leib hinan geleimt /
Hat hüpsch von weitem her gescheint:
Die Brüßt der Königin sah man hangn /
Damit sie zierlich thete prangn /
In Händen führt sie einen Stab /
Das Regiment ich gsehen hab /
Von Papengäy Federn gemacht /
Nach Königlichem Zier und Pracht:
/ Die Füß gülden Schuch geziert /
Umb den Leib blauwe Zotten führt /
Saß aujf eim Stul also formiert /
Von roten Kotzen [= grobe Decke] Sammet ziert /
Der Himmel ubern Stul gebogn /
Von gmeldten Kotzen / und derselb:
Bedeckt also gar den Schrägen /
Draujf man hat die Königin tragn /
Dahinden sah der Himmel grün /
Undr welchem saß America kühn.
Der Königin Amerika folgten drei Schildträger (51/Abb. 1/6):
Auff die Königin folgten frey /
Mit schönen Panischen ihre drey /
Der Wendel Reischle der erst war /
Welcher hergieng an dieser Schaar /
Hans Eckhardt ein Trommeter gieng /
Mit einem Pfeifflin / ihm anhieng /
Sein Tartschen Pflitschen / Bogen /
Pfeil /
Michael Klocker schoß in eyl /
Ein Boltz als ubern andern auß /
Als kämen sie auß India hrauß.
In der nächsten Szene trat eine Gruppe von vier Frauen mit Körben auf, die den
Reichtum Amerikas repräsentierten (51 f. Abb. 1/7):
Auff diese folgten jhre vier /
Mit Körble und mit schöner Zier /
Dann sie Früchte jhres Landts trugen /
Männiglich thet auff diese lugen /
Da sah man Feygen und Cytronen /
Pomerantzen / Cybeben [=
Weintrauben] /Melonen /
Sie trugen auch Thaler und Gelt /
Ein Körblin voll / auß jhrer Welt:
Dann diese Königin ist reich /
Drumb bracht sie auch Gelt mit jhr
gleich.
Nun wie diese mit Nahmen hiessn /
Dasselb wir auch anzeigen müssn /
Frantz Lang der erst genennet worden /
Der ander war an diesem Orden /
Philip Nestel / und wol bekandt /
Thomas Wiek der dritte genandt /
Hans Buchhouer der war der vierdt /
Der den Reygen mit Gelt hat gziert.
Die folgende von Frischlin beschriebene Szene erscheint in den Zeichnungen erst
am Schluss. Jedoch befindet sich dort an der Stelle, wo sie laut Frischlin platziert
war, ein langer Tuschestrich mit der Nummer 43. Wahrscheinlich handelt es sich
hier um eine Regieanweisung, mit der die Umstellung der Szenen gekennzeichnet
wurde. Sie ist jedoch durch die Nummerierung nicht ganz nachzuvollziehen, da
einer der drei Schildträger in der vorletzten Szene mit der Nummer 43 gekenn-
zeichnet ist und nach Frischlin auch an dieser Stelle auftrat, ln der vorgezogenen
Szene wird ein Mann in einer Hängematte getragen (52. Abb. 1/8):
Auff diese folgten jhre zween /
Welche also bekleydet gehn /
Wie man in America sonst geht /
Trugen ein Mann fein sitlig steht /
Der erste Träger Barthlin Schmidt /
Steffan Järling / gienge mit /
Der aber in dem Beth getragen /
Einer vom Adel muß ich sagen /
87
TRIBUS 52, 2003
An einer Stangen im Leinlach / Hans Matthis Baroffski genandt /
Als wer er kranck fein als gemach / Am Würtenberger Hoff bekandt.
Der Aufzug wurde von vier Frauenfiguren beschlossen (52f. Abb. 1/7-8), deren
Reihenfolge in der Zeichnung wiederum abweicht. Nach Frischlin traten sie auf
Pferden in die Bahn oder führten sie mit sich. Die Pferde sind in der Zeichnung
nicht wiedergegeben. Dort findet sich lediglich der Vermerk „berittner jung“ bei
den Figuren, Frischlin schreibt stattdessen „Breiter Jung“. Auch die von Frischlin
genannten Keulen finden sich in der Zeichnung nicht. Dort führen die Figuren ei-
nen Kürbis als Wassergefäß, Speere, Pfeile und Schwerter mit sich. Die Namen
der Darsteller stimmen jedoch mit den von Frischlin genannten überein:
Die vier letzten welche beschliessen Hans Glück mit jhnen / war der vierdt /
Den Reygen / wir auch nennen müssen / Haben all grosse Kolben gführt /
Daniel Bletzger der letzte war / Giengen wie Riesen / geschleckter
Mit Christqff Sorg an dieser Schaar / Heer /
Jürg Mayer alle Breiter Jung / Doch nacket braun / wie all ungfehr.
Welche die Gaul / thumlen im Sprung /
Der Aufzug Amerikas zog zweimal um die Bahn, wie Frischlin abschließend be-
richtet (53):
Diß war die gantz Procession / Hessen hernider ein wenigin /
Americae zierlich und schön / Und stellten sie baldt auff die Füß /
Zweymal in Schrancken gierigen umb / Die sich zu Rossz baldtsetzen ließ /
Daß man sie sähe nach der Sumb / Sie sprang freudig und gar nicht faul /
Darnach stellten sich an ein Ort / Auff einem schön schneeweissen Gaul /
Daß andre Aujfzüg kundten fort / Verzog also am selben Ort /
Die Träger der grossen Königin / Biß jede Proceß giengen fort
Der Beschreibung des Aufzugs stellte Frischlin zwei einleitende Texte mit Erläu-
terungen voran, die inhaltlich identisch sind. Der erste ist in Reimform verfasst,
der zweite findet sich fast wortgleich in den Akten (HStA Stuttgart, A 20 Bü 39,
unfoliiert). Es handelt sich dabei vermutlich um Aufzeichnungen zum Ringrennen
aus der Zeit seiner Planung, möglicherweise dienten sie Frischlin als Vorlage für
die Erläuterungen. Es wird hier jeweils die um nur weniges ausführlicher oder
leichter verständliche Fassung bei Frischlin in Auszügen zitiert, wenige Ergän-
zungen aus den anderen Fassungen zum besseren Verständnis eingefügt. Die Auf-
zeichnungen geben Aufschluss über die Rezeption und Wertschätzung der Köni-
gin Amerika am Stuttgarter Hof.
Zunächst wird Amerika den Gästen des Festes im Kontext der vier Kontinente
vorgestellt, sie erscheint dabei als gleichwertige und geschätzte, „aufrechte
Schwester“ (22):
[...] America,
Groß Königin in India,
Die jüngste ander unserm Gschlecht /
Und Schwestern / welche sich
auffrecht /
Erzeiget und verhalten hat /
Under den Schwestern auffrecht gabt.
Die erste ist Europa gnannt /
Welche begreifft auch das
Teutschlandt /
Die andern zwo seyndt Asia,
Und weitberühmpte Africa,
Welche vier Schwestern die gantz Welt
Abtheilen / wie sie seyndt vermeid!.
Nach Amerikas eigener - oder ihr in den Mund gelegter - Aussage war ihr Be-
weggrund für die Reise nach Europa Neugierde, Pflege der guten Beziehung und
gegenseitiges besseres Verständnis (32f ). Nicht nur sollten in Europa die Kennt-
nisse über Amerika vermehrt werden, auch wollte Amerika das, was sie bislang
über Europa erfahren hatte, in Augenschein nehmen. Gerade in diesem gegensei-
tigen Austausch und Kennenlemen wird die offene Rezeption Amerikas am Stutt-
garter Hof im Sinne der Curiositas belegt. In Begleitung von Christoph Kolumbus
und Amerigo Verpucci trat Amerika die Reise nach Europa an, um ihren Konti-
nent, seine Bewohner und Natur in Stuttgart vorzustellen:
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Ob wir wol innerhalb hundert Jaren / durch vielter Nationen zu unsern angestellten Schifffahr-
ten obgesagte unsere <drei> Schwestern /und deren Eynwohner, guter massen bekandt worden,
wir auch hinwiderumh jhres Wesens und Zustandts /guten Bericht von gedachten deren Under-
thanen erlangt: So haben wir doch endtlich nicht underlassen mögen / zu bemeldten unsern
Schwestern selbsten ein Rheyß ein mal anzustellen / und sie zu wahrer Fortsetzung biß daher ge-
habter guter Correspondentz zwischen unser allerseits underhabenden Völckern / in der Person
freunddich zu besuchen / damit nicht allein jnen und jren Eynwohnern unser Gelegenheit desto
besser bekandt werde / sondern auch wir hingegen augenscheinlich sehen und erfahren / was
von Jhrem rühmlichen Thun und Wesen <uns> mehrmahlen fürkommen ist. Derowegen wir vor
etlich abgewichenen Monaten / Christophorum Columbum & Vespucium Americum (deren Um-
bra: noch zu unsern Zeiten in unserm Theil der Welt ummschweyffen) beruffen lassen / mit dem
Begeren / weil sie die ersten /so uns der Welt bekandt gemacht /daß sie uns auch als erfahrne
Pelotten zu unser Schwester begleyten wölten /welches sie ohn einig Beschweren bewilligt: dar-
auff wir auch uns sampt einem ehrlichen Comitat [= Reisegesellschaft], und etlichen wunder-
bar liehen Sachen /so die Natur in unserm Theil der Welt hie für bringt / aujf die Fahrt gemacht
/ und den Cursum nacher Europam, als unser nächsten Genachbarten gebürt / angestellt.
Amerika war über die Kanarischen Inseln, England und Frankreich nach Europa
gereist (27):
Durch Franckreich die fiirgnommne
Rheyß /
Gestern vollbracht mit grossem
Schweiß /
Weil jetzt der Passz am Rhein verlegt /
Und Niderlandt wirdt gar erschreckt /
Der Unruh halben / so entstandn /
Erst kürtzlich in denselben Landn /
Dort erfuhr sie von den bevorstehenden Festlichkeiten am Stuttgarter Hof und ließ
es sich nicht nehmen, daran teilzunehmen und ihre Lebensart in Stuttgart vorzu-
stellen. Dass die Hauptrolle beim Ringrennen von einer weiblichen Figur über-
nommen wurde, wird als sehr außergewöhnlich hervorgehoben (27f.);
Dieweil aber diese Fazan [= Façon],
Unsers Comitats und der Landtsmann /
ln Teutschlandt vor nie gsehen worden /
Beym solchen Ritterlichen Ordn /
Und an ihr selbs was seltzams ist /
Wie ihr seht zu dieser Frist /
So macht dieselhig auch gefalln /
Weil sie ungwöhnlich für andern alln /
Dem hochlöblichen Frauwenzimmr /
Welchs Fürstlich gzieret her thut
schimmrn /
Und gern was news und seltzams sicht /
Und uns dergleichen Ritterspiel /
Ungwöhnlich / nicht geübet viel /
Und solcher Sachen underfangn /
Jedoch treibt uns ein groß verlangn /
Zu dieser Rittermässign Kunst /
Und hat bey uns ein grosse Gunst /
Daß wir also auf diesen Tag /
Welchs selten in den Ländern gschicht /
Und sonderlich das ein Weib sol /
Gantz Rittermässig dupjfr und wol /
Erzeigen können / und die Stell
Mantenidors ]= Herausforderer zum
Turnier] / Martis Gesell /
Vertretten und versehen können /
Ihrs gleichen solt man nicht baldtfindn /
Und weil wir nur Bedenckens haben /
Weibliches Standts und schwache
Gabn /
Wie man vor Augen sehen mag /
Den drey und zwäntzigsten Hornung
[= Februar] /
Erscheinen also schön und jung /
Mit unserm gantzen Comitat,
Der seltzam in der Kleydung gabt.
In den Akten findet sich der Zusatz, dass Amerika derartige Ritterspiele aus Spa-
nien bereits geläufig waren und sie sich deswegen auch zu der Teilnahme ent-
schließen konnte (HStA Stuttgart, A 20 Bü 39, unfoliiert):
Jedoch weil es vonn unnss, so innständig unnd beharrlich gesuecht, auch immer einzig Vorha-
ben dahie gerüchtet ist, unnß gegen alles Chur- und fürsten, so unnder unnserer Schwester Eu-
ropa geseßen, mit allermüglicher Wilfharung, der gebur nach, zu accommodieren [= sich an-
passen], bevorab, weil unß dergleichen rittermäßige Hebungen, inn Hispannia, auß zimblicher
erfahrung, nicht unbekhandtt. So haben wir dem Ritterlichen Orden, Adenlicher Ritterschaf t,
unnd hochlöblichem Frauwenzirnmer hierinn freundtlich zu willfharen, endtlich bewilligt, seyen
auch hierauf endtschloßen [...].
Schließlich werden die Regeln für das Ringrennen, die „Articul“, und die Preise
- die „Dänck“ - verkündet (28-32).
89
TRIBUS 52, 2003
Die Ausrichtung anderer Teilnehmer auf die Königin Amerika
Dass die Veranstaltung auf das Thema Amerika ausgerichtet war, geht sowohl aus
Frischlins Beschreibung als auch aus den Aktennotizen zu den Festlichkeiten her-
vor. Die Erklärungen zum Aufzug Julius Cäsars und des Herzogs Joachim Carlin
von Braunschweig, im Aufzug selbst als Wolgemuth von Freudenthal benannt, le-
gen davon ein beredtes Zeugnis ab. Sie belegen darüber hinaus, dass Amerika den
Anlass für die eigene Teilnahme an dem Ringrennen gab und unter den damals be-
kannten vier Kontinenten als gleichberechtigt angesehen wurde.
Der Aufzug Julius Cäsars war Teil des Auftritts der vier Monarchen, zu denen
noch Ninus, Cyrus und Alexander der Große zählten. Julius Cäsar kündigt in ei-
nem Brief seinen Aufzug bei den Ritterspielen an (76-87) und benennt den Auf-
tritt Amerikas als Motivationsgrund für seine Reise nach Stuttgart. Der Text fin-
det sich fast wortgleich in den Akten (HStA Stuttgart, A 20 Bü 39, unfoliiert),
sie lagen Frischlin als Kopie vor (76); „Wie dz Schreiben per Copias von Wort zu
Wort gelautet habe“. Der Beweggrund für die Reise Julius Cäsars war, wie auch
bei Amerika, Neugierde. Er wollte mit eigenen Augen sehen, was sich in den letz-
ten 1600 Jahren in Deutschland verändert hatte (77). Er sei angereist:
unnd zwar einzig auß denen Ursachen / daß wir das löbliche Teutschland / so sich seider dem
/ wir es Vor sechtzehen hundert Jahren gesehen / in viel Weg geändert hatte / auch perlustrieren
und besichtigen möchten.
Jedoch verstärkte die Anwesenheit Amerikas seinen Wunsch, nach Stuttgart zu
kommen (79f):
Und da nun unlängst [...] ein Gerücht erschollen /daß an dem Hochlöblichen Fürstlichen Wür-
tenbergischen Hoff ein ansehenlicher trefflicher Conuentus [...] solle gehalten /und darbey löb-
liche / und Rittermässige Übungen der gantzen Versamblung Zu Ergetzligkeit angestellet unnd
gepflogen werden /unnd daß benendtlich ander andern America, die new erfundene /das vierd-
te unnd gröste Theil der Welt / mit ihren unerschöpflichen Schätzen unnd Reichthumben / da-
selbst auch anlangen / und Ritterspiel üben würde: So hat sich oberwehnte Begierde so viel mehr
in uns angezündet / und endtlich so viel bey uns vermocht / daß wir also fort bey uns entschlos-
sen / abermals eine Rheyse nacher Teutschlandt zu nemmen / und zu Stutgart bey solchem an-
sehenlichen tapfferen Conuento auch zu erscheinen.
Julius Cäsar hatte sich vor seiner Abreise mit Alexander dem Großen, Cyrus und
Ninus beraten. Sie befürworteten nicht nur die Reise, sondern boten sich freimü-
tig als Begleiter an. Der Grund dafür war wiederum die Anwesenheit Amerikas.
Durch die Erkenntnis der Neuen Welt sei der Herrscherwille der drei Monarchen
geweckt worden, jedoch vergeblich. Julius Cäsar schreibt (80), sie hätten
nicht allein unser Vorhaben sich wolgefallen lassen /sonder sich auch fort erbietig gemacht /in
solcher Rheyse uns zu comitieren / und Gesellschafft zu leysten: Zumal da sie der Americce, und
einer neuwen Welt gedencken hören: dann dardurch gleichsam in jener die alte ambitio regnan-
di, bevor ab in dem Alexandro Magno, (dem auch die Zehern [= Tränen] / widerumb auß den
Augen jHessen wollen /eben als jhme an seinen Lebzeiten widerfahren /da ein Philosophus in
seiner Gegenwart fürgah / daß mehr als eine Welt were) doch vergebenlich aujfs new erwecket
worden.
Auch das Schreiben zum Aufzug des Herzogs Joachim Carlin von Braunschweig
findet sich bei Frischlin (129-131) und fast wortgetreu in den Akten (HStA Stutt-
gart, A 20 Bü 39, unfoliiert). Es stellt wiederum die Ankündigung seines Auf-
zuges dar. Als Grund für seinen Auftritt beschreibt Joachim Carlin, wie er der
schönen „Jungfraw“ Amerika begegnete, die er aufgrund ihrer „Holdtseligkeit“,
ihrer „Weyß / Geberd und Bescheidenheit“ als „von hohem Gschlechf ‘ erkannte.
Sie hätte ihm von ihrer Reise nach Deutschland und Stuttgart berichtet, ihrer Teil-
nahme am Ringrennen und ihn gebeten, sie als Ritter zu begleiten. Er gewährte ihr
die Bitte und entbrannte in „gantzer Lieb“ zu ihr:
Nach dem die schöne frühlings Zeit /
Sich macht herzu / und ist nicht weit /
90
Von dem sie hett in jungen Tagen /
So viel guts lassen hören sagn /
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Abb. 1/1-8: Der Aufzug Amerikas in Stuttgart zu Fastnacht 1599. Zeichnung auf
Bütten in Feder mit Bister, mit Aquarell-, Deckfarben und Gold koloriert,
1598/99. Fl. 29,6-30,5 cm, B. 38,6-56,3 cm. Stiftung Weimarer Klassik und
Kunstsammlungen / Museen, Schloßmuseum, Graphische Sammlung,
KK 202-209.
Fotos: Roland Dreßler
91
TRIBUS 52, 2003
92
Elke Bujok; Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Spatzieret ich einmal <früehe>
im Thaw /
Begegnet mir ein schön Jungfraw /
America war sie genandt /
Wiewol diß Orts mir unbekandt /
Aber ihr schön Holdtseligkeit /
Ihr Weyß / Geberd und Bscheidenheit
<=freündtligkeit> /
Dieselbig zeigt mir gwißlich recht /
Daß sie muß seyn von hohem
Gschlecht.
Ich wagts und sprach sie der gstalt an /
Sie woll mir nichts für Übel han /
Und fragt was Abentheur vorhandn /
Sie hett gebracht in diese Landn /
Gab sie mir drauff Antwort zu gleich /
Wie sie manch stattlich Königreich
Durchrheyset / wer gantz unbekandt /
Und wob jetzt auch ins Teutschelandt /
Daselbsten ein Fürst Hochgeborn /
Zu aller Tugent außerkohrn /
Fridrich so wirdt sein Nahm genandt /
Hertzog im Würtenherger Landt /
Und daß die allerliebste mein /
Mich einmal auß der schweren Pein
Erlösen werd / wie ich vertraw /
Und nächst Gott allein auff sie haw:
Dann ohn ihr Lieb zu dieser Frist /
Und daß er hett zu Gfalln und Ehrn /
Den Anwesenden Fürstn und Herrn /
Grafn / vom Adel / darzu immer
Dem schön Fürstlichn Frauwenzimmer /
Ein Ringrennen gantz wol bestellt /
Selbst sie ihr Heyl versuchen wölt /
Bäht mich urnh aller Ritter Ehrn /
Ich wöll sie ihrer Bitt gewehrn /
Und mit ihr reiten selbst dahin /
Auff gut Glück / Verlust und Gewinn.
Solch ihr gantz holdtselige Bitt /
Kundt ich ihr wol abschlagen nit /
Weil ich danne ein junger Heidt /
Beger mich thumbien in der Welt /
Der ich in gantzer Lieb entzündt /
Ohn underlaß mein Hertz mir brennt /
Wie solchs mein Mascarat zeigt an /
Ein brennendt Hertz in heisser Flamm /
Mit Pfeil durchschossen und verwandt /
Hoff zu erleben noch die Stundt /
Daß solche meine heysse Brunst /
Nicht sol noch werde seyn umbsonst /
Mir nimmermehr zu helffen ist.
Derwegen komb ich auff die Bahn /
Zeig mich bey Herren Richtern an /
Mein Nahm bekandt ist überall /
Heyß Wolgemut von Frewdenthal.
93
TRIBUS 52, 2003
Die Zeichnungen des Aufzugs und die Vorlagen aus den
Amerika-Berichten de Brys
Die graphische Darstellung des Aufzugs (Abb. 1/1-8) ist während der Konzeption
entstanden, Frischlin (1602) lieferte hingegen die Beschreibung des tatsächlich statt-
gefundenen Ereignisses. Die acht Zeichnungen sind auf Bütten in Feder mit Bister
ausgefuhrt und mit Aquarell-, Deckfarben und Gold koloriert. Sie sind zwischen
296 und 305 mm hoch und zwischen 386 und 563 mm breit. Das Papier war zu ei-
nem langen Streifen von knapp 4 m Länge zusammengefugt, der später in Blätter
von handlichem Format auseinander geschnitten wurde. Dies zeigt sich an den zahl-
reichen senkrecht verlaufenden, sorgfältig vor der Zeichnung ausgeführten Klebeli-
nien, sowie an den ebenfalls senkrecht verlaufenden Falt- und Rollspuren. Auch
setzt sich der Schattenwurf der Figuren am jeweils rechten Bildrand auf dem fol-
genden Blatt fort, mit Ausnahme der Figur 4 (Abb. 1/1-2). Die feinen Tuschesprit-
zer auf dem fünften Blatt unten links (Abb. 1/5), die sich auch auf dem vierten un-
ten rechts (Abb. 1/4) finden, zeugen ebenfalls von späterem Auseinanderschneiden.
Die fortlaufenden Bleistiftziffem an den oberen Ecken kennzeichnen die Reihen-
folge der Blätter. Die unterschiedliche Höhe lässt sich durch nachträgliches Be-
schneiden der Ränder erklären, an einigen Stellen wurden sogar Teile der Zeichnung
und Schrift entfernt: bei den Figuren 1-3 unten (Abb. 1/1), im oberen Bereich des
Wasserbaums (Abb. 1/2) und bei dem Baldachin der Amerika (Abb. 1/6).
In Kniehöhe der Figuren findet sich durchgehend eine sorgfältig gezogene Linie,
die den Bodenhorizont bezeichnet und mit einer vorgestellten Bühne in Zu-
sammenhang gebracht werden kann. Die starken Gebrauchsspuren auf den Blättern
weisen daraufhin, dass es sich um den Entwurf und die Regievorlage des Aufzugs
handelt. Das Papier ist eher von schlechter und uneinheitlicher Qualität, es ist stark
abgegriffen, falzig und knitterig. Die Zeichnung wurde demnach während der Re-
giearbeiten benutzt, sie wandelte durch verschiedene Hände, wurde abgelegt und
erfuhr gewiss keine sorgsame Behandlung. An vielen Stellen finden sich Restau-
rierungen, sie sind größtenteils älteren Datums. Auch könnte die Zeichnung aufge-
hängt worden sein, da sich an verschiedenen Stellen kleine Löcher, wie von Reiß-
zwecken, befinden. Einige Partien sind von Tuscheklecksen geradezu verschmiert,
die bei Korrekturen während der Regiearbeiten entstanden sein könnten.
Die Schrift, mit der die Darsteller benannt und beziffert wurden, ist keine Rein- oder
gar Schönschrift, sie ist regelrecht wie in Eile geschmiert. Es sind unterschiedliche
Tuschen auszumachen; eine hellere, meist etwas sorgfältiger geschriebene, und ei-
ne dunklere. Die dunklere Tusche könnte von einer anderen Hand stammen und
wurde während der Regiearbeiten benutzt. Mit ihr sind neue Namen notiert, ganze
Figuren oder Requisiten ausgestrichen und Umstellungen markiert.
Korrekturen, die eine Regiearbeit mit Hilfe der Blätter belegen, sind an mehreren
Stellen auszumachen. Die erste findet sich auf dem dritten Blatt (Abb. 1/3). Dort
ist die Spitze des Instruments von Figur 13 ausgestrichen, und zwischen dem In-
strument und dem Rock von Figur 14 sind Verbindungsstriche eingetragen. Auf
dem folgenden Blatt (Abb. 1/4) sind die Ausbesserungen deutlicher. Bei Figur 20
ist die Stelle unter der rechten Hand mit deckender weißer Farbe ausgebessert,
ebenso eine Stelle senkrecht darunter neben dem Knie. Bei Figur 21 wurde ein
Wedel ähnlich dem, den Figur 29 (Abb. 1/5) in ihrer rechten Hand trägt, mit der-
selben weißen Farbe übermalt und durch einen Zweig ausgetauscht. Am auffällig-
sten ist jedoch die komplette Ausstreichung dieser Figur mit groben Tuschestri-
chen, die geradezu einem Gekrakel gleichen. Über die alte Bezeichnung des Dar-
stellers „Spießjung“ wurde „weiße Kopf [?]“ mit dunkler Tinte geschrieben. Fri-
schlin (1602; 49) überliefert den Darsteller „Juncker Peter von Lindaw, Spieß-
jung“. Die Figur 21 scheint komplett ausgetauscht worden zu sein, möglicher-
weise so kurzfristig, dass der Name des Darstellers nicht mehr eingetragen wurde.
Sie fügt sich auch nicht in die von Frischlin (1602; 48f.) beschriebene geschlosse-
ne Gruppe von 5 Waffenträgern ein, zu der die Figuren 25, 19, 23 und 24 zählen.
94
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Auch auf den folgenden Blättern finden sich Korrekturen. Über der rechten Hand von
Figur 25 (Abb. 1/5) ist eine weiße Ausbesserungsstelle, das verbreiterte Ende der
Waffe ist mit Tusche flüchtig markiert. Das Blasinstrument von Figur 27 ist ausge-
strichen, am Mund von Figur 28 befinden sich Tuschekleckschen, die aber eher durch
Unaufmerksamkeit entstanden sein dürften. Auf dem folgenden Blatt wurde bei dem
Schildträger nach Figur 36, fortlaufend gezählt wäre es Nr. 37 (Abb. 1/6), weder eine
Nummerierung noch der Name des Darstellers eingetragen. Zudem ist die ganze Fi-
gur mit einer senkrechten Linie ausgestrichen. Nach Frischlins Beschreibung
(1602: 51) müsste es sich um „Hans Eckhardt ein Trommeter [...] / Mit einem Pfeif-
flin / ihm anhieng“ handeln. Eine Pfeife ist auf der Zeichnung allerdings nicht zu er-
kennen. Wendel Reischle, der von Frischlin als erster dieser Dreiergruppe beschrieben
wird, trägt die von der Chronologie abweichende Nummer 43. Sein Schild ist mit ei-
nem Kreuz durchgestrichen. Ein weiterer Hinweis auf die veränderte Reihenfolge des
Aufzugs gegenüber dem ersten Entwurf findet sich auf dem nächsten Blatt (Abb. 1/7).
Dort ist eine senkrechte, nicht näher erläuterte Tuschelinie mit der Nummer 43 zu er-
kennen. An dieser Stelle beschreibt Frischlin (1602: 52) die in der Zeichnung am
Schluss dokumentierte Szene, in der ein Mann in einer Hängematte getragen wird.
Frischlin beschreibt häufig auch andere Attribute und Kleider als auf den Zeich-
nungen zu erkennen sind. Er verfasste den Bericht als Dokumentation des Auf-
zugs, nachdem er ihn gesehen hatte, und gibt den Endzustand wieder. Da weder
der erste Entwurf noch die Korrekturen auf den Blättern exakt mit der Beschrei-
bung Frischlins übereinstimmen, dokumentiert die Zeichnung lediglich Arbeits-
schritte bei den Proben zum Aufzug, nicht jedoch den Endzustand.
Wie die Blätter in den Bestand der Weimarer Kunstsammlungen gelangten, ist un-
geklärt und nicht nachprüfbar, da die alten Inventarbücher nicht mehr existieren
(mündliche Mitteilung von Emese Doehler, Weimar). Renate Barth (1987; 99)
vermutet, dass die Zeichnungen „an einen Ehrengast zur Erinnerung an den Fest-
zug verschenkt wurden“. Es ist allerdings fraglich, ob Zeichnungen in einem der-
art gebrauchten Zustand als Ehrengeschenk weitergereicht wurden. Viel eher ist
vorstellbar, dass die Zeichnungen als Vorlage für einen geplanten Aufzug weiter-
gereicht wurden. Friedrich I. war mit Sibylla Fürstin von Anhalt verheiratet, so
dass ein Weg durchaus denkbar ist.
Die Vorlagen für die Szenen sind größtenteils in Theodor de Brys weit verbreite-
ter Kompilation von Amerika-Reiseberichten zu finden, die er ab 1590 herausgab
(s. Sievernich 1990). Viele Figuren des Aufzuges sind in ihrer Körperhaltung, mit
ihren Attributen, Kleidungen und Tatauierungen getreu wiedergegeben. Einige
Bände von de Bry sind seit 1654 im Bestand der Kunstkammer unter den Büchern
nachzuweisen (HStA Stuttgart, A 20a Bü 6; 72f):
11. daß vierte Buech von der Newen Welt. Christophori Columbi. 1492.
12. Americae, Achter theyl. Augustini Cassiodori Reinij. 1599.
[...]
22. Sibender, 8. 9. und lO.ter theyl der Orientalischen Indien darinnen zwo underschiedtliche
Schiffarten begriffen. 1605.
Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich auch die übrigen Bände am
Stuttgarter Hof befanden. Von den genannten Bänden ist aufgrund des Erschei-
nungsdatums nur der erste für den Aufzug relevant. Es handelt sich dabei um das
1594 erschienene Vierte Buch, das den Reisebericht Girolamo Benzonis enthielt;
„Americae Pars Quarta. Sive, Insignis & Admiranda Historia de reperta primüm
Occidentali India ä Christophoro Columbo Anno M. CCCCXCII. Scripta ab
Hieronymo Bezono [sic!] Mediolanense [...]“ (n. Sievernich 1990:148-181).
Benzoni war zwischen 1541 und 1556 mehrmals nach Amerika gereist, sein Be-
richt diente auch dem Fünften und Sechsten Buch de Brys als Vorlage.
In einem 1708 datierten Verzeichnis von Büchern aus der Stuttgarter Kunstkam-
mer (HStA Stuttgart, A 20a Bü 30, Bl. 3v) sind noch immer Bände von de Bry
zu ermitteln: „Dieterichs de Bry Americanische Raißbeschreibung in zweyen bän-
TRIBUS 52, 2003
den“. Auch in dem Verzeichnis des Tübinger Schlosshauptmanns Niclas Ochs-
senbach, aus dessen Sammlung aller Wahrscheinlichkeit nach die im Aufzug mit-
gefuhrten Federschilde (Abb. 7) stammten, finden sich Hinweise auf einige Bän-
de de Brys. Sie sind unter der Rubrik „Raiß Büecher in Indiani“ aufgeführt (Ochs-
senbach 1625, Ms., WLB Stuttgart, Bl. 58r);
Ain groß Raißbuch miti Kupfferstückh kost 8 R. darin underschidliche huecher.
Hieronimus Renzo
Holländische Schiffarten
Ludwig di Bartema.
Hispanier Türannei in India mitt Kupferstücken.
Meerhanen /= mehr?'], alß ettlicher Obersten raißen in Indiani.
Die meisten Vorlagen für den Aufzug finden sich im Ersten und Zweiten Buch de
Brys. Im 1590 erschienenen Ersten Buch wird Virginia vorgestellt, die Kupfersti-
che de Brys gehen auf die Aquarelle des Malers John White zurück. White hatte
sich in den Jahren 1585 und 1588 im Auftrag von Walter Raleigh und mit Unter-
stützung der englischen Krone in Virginia aufgehalten. Das Zweite Buch erschien
1591 und handelt von Florida, de Bry benutzte dafür die Aquarelle von Jacques
Le Moyne de Morgues als Vorlage. Le Moyne hatte an der zweiten französischen
Florida-Expedition der Hugenotten in den Jahren 1564/65 teilgenommen und gilt
als erster namhafter europäischer Künstler, der in Nordamerika arbeitete. Große
Teile seiner Aquarelle sind nicht mehr im Original erhalten und lediglich durch
die Kupferstiche de Brys überliefert. Die Aquarelle von White und Le Moyne be-
sitzen einen recht hohen Dokumentations- und Realitätswert, der in der Kompila-
tion de Brys weitgehend erhalten blieb.
Weitere Vorlagen für die Figuren des Stuttgarter Aufzugs finden sich im Dritten
Buch de Brys. Es war 1592 erschienen und beinhaltet die Aufzeichnungen Hans
Stadens von seinem Aufenthalt als Gefangener bei den Tupinambä an der Ostkü-
ste Brasiliens im Jahr 1553 (s. Staden 1557 n. Maack/Fouquet 1964). Das Vierte
und Sechste Buch erschien 1594 und 1596, beide dienten als Vorlage für den Auf-
zug und enthalten die Berichte Benzonis.
Die meisten Vorlagen sind bis auf die Farbigkeit detailgetreu wiedergegeben. Bei
de Bry sind die Stiche eher zurückhaltend koloriert, während die Weimarer Zeich-
nungen klare, teilweise grelle Farben aufweisen. Einige Figuren und Szenen las-
sen sich im Wesentlichen auf de Bry zurückführen, wurden jedoch stark verändert.
Für andere Figuren wiederum lässt sich keine Vorlage bei de Bry finden. Einzel-
ne Attribute, die de Bry darstellte, wurden nach freier Handhabung in die Szenen
und Figuren des Aufzugs eingefügt. Die meisten sind reale Americana, wie die
beiden Federschilde (Abb. 1/6, 7), die sich heute im Württembergischen Landes-
museum befinden.
Die Figuren und Attribute des Aufzugs werden im Folgenden summarisch ihrer
Vorlage bei de Bry gegenübergestellt:
96
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Figur im Aufzug (Nr. /Abb.) Vorlage de Bry (Buch-Nr. / Seite n. Sievernich 1990) Bemerkungen, Verweise auf Attribute bei de Bry (Buch-Nr. / Seite n. Sievernich 1990) Thema bei de Bry
1-3 / 1/1 keine Vorlage europäische Figuren
4 / 1/1 4 / 181 weitgehend übernommen Randillustration einer Amerika-Karte, Vespucci
5 / 1/1 4 / 180 weitgehend übernommen, seitenverkehrt Randillustration einer Amerika-Karte, Kolumbus
6-7, 10-11 / 1/2 keine Vorlage Keulen; 3/140 oder reale Vorlage, Tupinarabä Kopfschmuck/Haartracht: 2/81 Tupinambä, Töten von Gefangenen Timucua, Florida, Krieger
8-9 / 1/2 6 /244 Wiedergabe fast detailgetreu Wasserbaum der Insel Hierro
12-15 / 1/3 keine Vorlage europäische Musikinstrumente
16-18 / 1/3 2/81 (Abb. 2) detailgetreue Wiedergabe, Tatauierungen von Nr. 18 hinzugefügt Timucua, Florida, Krieger
19 / 1/4 1/18 (Abb. 3) detailgetreue Wiedergabe Mann von hohem Rang, Virginia
20 / 1/4 keine Vorlage Federmantel reale Vorlage, Tupinambä
21 / 1/4 4 / 149 mögliche Vorlage, seitenverkehrt Wedel: 1 / 38f., Federhaube reale Vorlage, Tupinambä Titelblatt; Hispaniola Wedel: Ritual in Virginia
22 / 1/4 keine Vorlage Fächer reale Vorlage, Azteken
23 / 1/4 1 / 18 (Abb. 3) detailgetreue Wiedergabe. Tatauierung am linken Schulterblatt: 1 /48 Mann von hohem Rang, Virginia
24 / 1/5 1 / 13 Körperhaltung, Kleidung und Attribute detailgetreue Wiedergabe, Tatauierungen und Schmuck geändert Titelblatt: Virginia
25 / 1/5 3 / 145 (Abb. 4) Körperhaltung gleich, Schmuck und Attribute geändert, seiten- verkehrt, Keule reale Vorlage, Guyana Tupinambä, Töter des Gefangenen
26 / 1/5 keine Vorlage Fächer reale Vorlage, Azteken
27 / 1/5 3 / 138 Vorlage für Kleidung und Attribute Tupinambä, Man i okzubereitung
28 / 1/5 3 / 147 Vorlage für Kleidung und Attribute, Körperhaltung ähnlich, Federhaube, -umhang, Rassel und Blasrohr reale Vorlage, Tupinambä, Tupinambä, Schamane
29 / 1/5 keine Vorlage
30 / 1/5 1 / 38f. Vorlage für Wedelschmuck, Wedel und Rassel, Tatauierung ähnlich Ritual in Virginia
97
TR1BUS 52, 2003
Figur im Aufzug (Nr. /Abb.) Vorlage de Bry (Buch-Nr. / Seite n. Sievernich 1990) Bemerkungen, Verweise auf Attribute bei de Bry (Buch-Nr. / Seite n. Sievernich 1990) Thema bei de Bry
31-36 / 1/6 2/61 und 104 (Abb. 5) eindeutige Vorlage, leichte Ände- rungen; die Figuren im Aufzug sind bekleidet, Haltung, Kopfschmuck und Attribute sind vergleichbar. Fächer verschieden, reale Vorlage, Azteken. Tatauierungen, Schmuck und Körperhaltung der Königin fast identisch. Im Aufzug ist sie mit einem Tuch lose bekleidet und trägt ein Szepter in der Hand. Reihenfolge folge wird eingehalten: vor der Köni- gin gehen Musiker, hinter ihr Frauen, die Körbe tragen. Fig. 31-34; Kopf- schmuck/Haartracht; 2/81. Fig. 36; Federhaube reale Vorlage, Tupinam- bä. Fig. 31, 32, 35, 36: Feder- kleidung reale Vorlage, Azteken? S. 61: Titelblatt: Florida S. 104: Königin, Florida
[37] / 1/6 keine Vorlage Schild reale Vorlage, Azteken, heute im Württembergischen Landesmuseum (Abb. 7) Kopfschmuck/Haartracht: 2/81
43 / 1/6 1 /51 Wiedergabe fast detailgetreu, seiten verkehrt, Attribute unterschiedlich zugeordnet Schotte
38 / 1/6 keine Vorlage Schild reale Vorlage, Azteken, heute im Württembergischen Landesmuseum (Abb. 7) Kopfschmuck/Haartracht: 2/81
39 / 1/7 keine Vorlage Rassel und Korb reale Vorlage?
40 / 1/7 keine Vorlage Rassel und Korb reale Vorlage?
41-42 / 1/7 2 / 104 (Abb. 5) Vorlage leicht verändert Körbe reale Vorlage? Gefolge der Königin, Florida
44 / 1/7 1 /25 detailgetreue Wiedergabe reale Vorlage? Frau von hohem Rang, Virginia
45 / 1/7 1 / 19 detailgetreue Wiedergabe, seitenverkehrt Frau von hohem Rang, Virginia
46 / 1/8 1 /55 detailgetreue Wiedergabe Schottin
47 / 1/8 1 /53 detailgetreue Wiedergabe, Schwert vome, seitenverkehrt Schottin
48-50 / 1/8 keine Vorlage Hängematte: 3/130 oder reale Vorlage? Fig. 50; Federhauben reale Vorlage, Tupinambä
98
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Der Kasseler Aufzug Amerikas von 1596 im Vergleich
Am Kasseler Hof des Landgrafen Moritz dem Gelehrten fanden 1596 anlässlich
von Tauffeierlichkeiten der Tochter Elisabeth ebenfalls Ritterspiele statt, bei de-
nen Amerika in einer der Stuttgarter vergleichbaren Szene auftrat (Abb. 6). Das
Fest wurde von Wilhelm Dilich (1598) beschrieben, Horst Nieder (1999) widme-
te ihm eine ausführliche Untersuchung. Der Kasseler Aufzug Amerikas war Teil
der Erdteilallegorien „Von den vierTheilen deß Erdtkreises“ (Dilich 1598: 41-56).
Amerika trat dabei zuerst in die Bahn, es folgten Afrika und Asien, Europa bilde-
te den Schluss. Die Reihenfolge war genau umgekehrt zu der üblichen, in der Eu-
ropa den Anfang bildete und damit die politische und kulturelle Hierarchie zum
Ausdruck brachte. In dieser herausragenden Stellung Amerikas ist der Kasseler
Aufzug dem Stuttgarter vergleichbar, wenn auch der Stuttgarter eine Sonderstel-
lung einnimmt, da nur Amerika vertreten war. Auf die übliche, mit den Erdteilal-
legorien verbundene herrschaftliche Repräsentation wurde in beiden Aufzügen
verzichtet.
Der Kasseler Aufzug Amerikas (Abb. 6) bestand aus einer wesentlich kleineren Sze-
ne als der Stuttgarter. Es erschienen drei Musikanten, auf die Amerika folgte. Wie
in Stuttgart trugen vier Männer sie in einer Sänfte (Abb. 1/6). Die Kasseler Ameri-
ka-Szene orientierte sich zwar deutlich an der Darstellung bei de Bry (Abb. 5), die
Stuttgarter hielten sich aber getreuer an die Vorlage. Die Figur der Amerika war in
Kassel mit Attributen als Zeichen ihrer Herkunft ausgestattet, die in Stuttgart nicht
in dem Maße beigegeben waren. Sie fielen in Kassel dennoch vergleichsweise mo-
derat aus: die Brüste Amerikas waren nackt, sie war mit Federrock und -kopf-
schmuck bekleidet, trug einen Papagei in der rechten Hand und ihre Begleiter führ-
ten Affen mit sich. In ihrer linken Hand hielt sie ein Szepter zum Zeichen ihres Re-
giments, das auch die Stuttgarter Amerika bei sich trug (Abb. 1/6).
Im Kasseler Aufzug folgte nach der Szene Amerikas Atahualpa. Er war ebenfalls
mit einem Szepter ausgestattet (Abb. in Nieder 1999:80). Über das Schicksal Ata-
hualpas während der Eroberung Perus, seine Gefangennahme und Ermordung
durch die Spanier berichtet Dilich (1598: 43):
Abb. 2: Werkstatt Theodor de Bry, America Zweites Buch, Krieger, Florida.
Kupferstich, 1591. Aus; Sievernich 1990:81.
TR1BUS 52, 2003
Abb. 3: Werkstatt Theodor de Bry, America Erstes Buch, Männer von hohem
Rang, Virginia. Kupferstich, 1590. Aus; Sievernich 1990: 18.
Unnd wiewol er ein uherauß grossen Schatz und Ransion vor sein Leben bezahlet / muste er nach
dieser erlegung wieder recht von der Spanier blutigen unnd geitzigen Henden umbkommen unnd
sein Leben enden.
Dilichs Festbeschreibung enthält neben der reinen Schilderung über Amerika
auch Kommentare. Besonders deutlich wird dies bei den vier Pferdeknechten, die
den Kasseler Aufzug beschlossen (Abb. in Nieder 1999: 80). Sie trugen Stäbe aus
Brasilienholz mit sich, auf denen symbolhaft Kannibalismus, Trägheit, Reichtum
und Nacktheit als Eigenschaften der Indianer genannt werden: „Tyranis Caniba-
lum“, „Inertia Brasiliana“, „Divitiae Mexicensis“, „Nuditas Virginiensis“. Dilichs
Beschreibung schwankt zwischen neutraler Aufzählung und einer bewertenden
Form, wenn er diese Eigenschaften kommentiert. Er beschreibt zunächst ausführ-
lich den Kannibalismus (Dilich 1598: 44), wie ihn auch Hans Staden (1557, n.
Maack/Fouquet 1964) in ähnlicher Form überlieferte. Unter der Devise „Inertia
Brasiliana“ verweist Dilich (1598: 45) auf die Wehrlosigkeit der Indianer während
der Eroberung und unterstellt ihnen dabei Ungeschicklichkeit, zudem hätten sie
mit Naivität ihre Reichtümer veräußert. Bei „Divitiae Mexicensis“ berichtet Dilich
(1598: 45) von den Reichtümem und der Lebensweise Amerikas, bei „Nuditas
Virginiensis“ (Dilich 1598; 46) über die Schriftlosigkeit der Indianer. Schließlich
stellt er ihre Güte ins Licht und ermahnt dagegen die Europäer zur Tugend:
Dieses aber war ihr [der Indianer] allgemeine art und nicht unlöbliche Sitten / nemlich /sie wa-
ren nicht Diebisch oder geitzig /sondern gutthetig. [...] Und wolte Gott /daß wir /so uns Chri-
sten rühmen / die zergengliche dinge und guter gleich ihnen in acht heften / und der schendtlich
geitz / so einen geringen zutrit zu uns haben mäste: warlich als dann wer zu hoffen / es würden
viel mehr Heydnische Völcker auch durch unser exempel sich zu recht bringen lassen. Dieweil
aber das wiederspiel an uns zu ersehen /werden wir nicht allein von denselben gehasset /son-
dern müssen auch teglich der straff und furcht unterworffen sein und bleiben.
In Dilichs Kommentierung und Beschreibung von Gewohnheiten unterscheidet
sich die Rezeption des Kasseler Aufzugs von dem Stuttgarter. Frischlin beschreibt
beinahe kritiklos und euphorisch die Schönheit Amerikas und hebt ihre Fremdheit
100
Elke Bujok; Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
Abb. 4: Werkstatt Theodor de Bry,
America Drittes Buch, Die Tupinambä
bereiten ihr Opfer zu
(Ausschnitt). Kupferstich, 1592.
Aus: Sievernich 1990: 145.
mit Bewunderung hervor, während Di-
lich viel eher Inhalte vermittelt. Fri-
schlin betont aber auch die guten Bezie-
hungen, die Europa und Amerika pfleg-
ten. Gerade hierin liegt die Botschaft des
Stuttgarter Aufzugs, denn Frischlin be-
nennt das Verhältnis zwischen den bei-
den Kontinenten. Er bezeichnet sie als
gleichwertige Partner, als „Schwestern“,
die sich gegenseitig vorstellten. Andere
Gäste, wie Julius Cäsar, reisten sogar
aus purer Neugierde nach Stuttgart, um
Amerika kennen zu lernen. Frischlin bringt die Wertschätzung für Amerika auch
durch ihre Benennung als „Königin“ zum Ausdruck.
Amerika nimmt in beiden Ringrennen eine zentrale Position ein, und Dilich be-
schreibt den Aufzug unter den Erdteilallegorien mit fünf Seiten am ausführlich-
sten -Afrika stellte er auf lediglich vier, Asien und Europa auf drei Seiten vor. Die
Würdigung Amerikas wird in Kassel zwar an einigen Stellen durch Kommentare
und Klischees überschattet, sein Grundtenor bleibt aber durchaus positiv. Darüber
hinaus prangert Dilich mit der Figur des gewaltsam ermordeten Atahualpa die
Brutalität der Spanier während der Eroberung an. Diese antispanische und -ka-
tholische Flaltung prägt auch die Reiseberichte de Brys. Im Stuttgarter Aufzug
war die Rezeption Amerikas dagegen durch Neugierde, die Curiositas, bestimmt.
Frischlin beschreibt die reichen Schätze und die andersartigen Gewohnheiten
selbstverständlich und mit Bewunderung. Beispielsweise findet sich lediglich ein
neutraler Verweis auf die Nacktheit der Indianer (Frischlin 1602; 49):
Waren auch auff die Manier
Angzogen / als wenns nacket schier /
Daher giengen wie man im Landt
America, geht ohn alle Schandt.
In Stuttgart war der entscheidende Motivationsgrund für den Aufzug Amerikas die
Neugierde an dem fremden Kontinent. Es wurden keinerlei hierarchische Absichten
verfolgt. Dies zeigt sich auch daran, dass der Aufzug nicht in die Inszenierung von
Erdteilallegorien eingebunden war. Besonders deutlich bringt Frischlin (1602:80)
die gleichberechtigte Position Amerikas und Europas in der Stellungnahme Julius
Cäsars zum Ausdruck. Er lässt ihn sagen, dass durch die Kenntnis Amerikas der
Herrscherwille der Monarchen zwar aufgeflammt sei, jedoch ohne Erfolg:
[...] Zumal da sie der America;, und einer neuwen Welt gedencken hören: dann dardurch gleich-
sam in jener die alte ambitio regnandi, bevorah in dem Alexandro Magno, (dem auch die Zehern
/ widerumb auß den Augen fliessen wollen / eben als jhme an seinen Lebzeiten widerfahren / da
ein Philosophus in seiner Gegenwart flirgab / daß mehr als eine Welt were) doch vergebenlich
aujfs new erwecket worden.
Die drei Schotten (Abb. 1/6, Fig. 43, Abb. 1/8, Fig. 46, 47) scheinen diese Gleich-
berechtigung zunächst in Frage zu stellen. Sie gehen auf die Vorlagen de Brys zu-
rück (s. Abb. in Sievernich 1990; 51, 53, 55), der mit ihnen beweisen wollte, „daß
die Engelländer vor Jahren ebenso wild, als die Virginischen gewesen sind“ (zit.
101
TRIBUS 52, 2003
n. Sievernich 1990: 49). Die Publikationen des Protestanten de Bry standen im
Zeichen der Glaubenskriege und waren von seiner anti-katholischen und anti-spa-
nischen Haltung geprägt. Er idealisierte die Indianer - und hier auch die Schotten
- und setzte ihre Friedfertigkeit den Gräueltaten der Spanier entgegen. Eine ähn-
liche Auffassung von „Naturzustand“ und „Zivilisation“ lässt sich bei Michel de
Montaigne in seinem Essay „Des Cannibales“ von 1580 (s. Kohl 1986; 23f.) zei-
gen. Auch er prangert die Grausamkeit der Spanier an und glorifizierte die India-
ner in der Figur des Guten Wilden. Beide stellten damit die Indianer der eigenen
Gesellschaft als Wunschbild gegenüber.
Abh. 5: Werkstatt Theodor de Bry, America Zweites Buch, Königin, Florida.
Kupferstich, 1591. Aus: Sievernich 1990:104.
Es ist nicht nachzuweisen, ob sich die Stuttgarter Inszenierung der Königin Ame-
rika von 1599 am drei Jahre früheren Kasseler Aufzug orientierte. Beziehungen
und verwandtschaftliche Verbindungen zwischen den beiden Höfen gab es auf al-
le Fälle. Herzog Georg von Württemberg (1498-1558) war mit Barbara, Landgrä-
fin von Hessen (1536-1597), verheiratet, und Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-
Kassel (1532-1592) war der Schwiegersohn Herzog Christophs von Württemberg
(1515-1568) (Fleischhauer 1976: 3f.). Landgraf Moritz der Gelehrte hielt sich
wiederum 1602 bei Herzog Friedrich I. in Stuttgart auf und besichtigte dessen
Kunstkammer (Fleischhauer 1976: 3), 1613 präsentierte Herzog Johann Friedrich
von Württemberg bei Ritterspielen, die Moritz der Gelehrte am Kasseler Hof aus-
richtete, die Vier Erdteile (Nieder 1997: 145). Ob in diesem Rahmen ein Austausch
von Entwürfen und Requisiten stattfand, ist nicht belegt, jedoch durchaus denkbar.
Die Ausstattung des Stuttgarter Aufzugs der Königin Amerika
Der Aufzug Amerikas war mit außerordentlich vielen Federwerken ausgestattet. Sie
zählten in den Kunstkammem wegen ihres irisierenden Glanzes und ihrer aufwen-
digen Herstellung zu den begehrtesten und wertvollsten Ethnographica. Mit ihnen
konnte sich der Fürst repräsentieren. Über die Herkunft der Ausstattung zu dem
Stuttgarter Aufzug kann nur spekuliert werden. Erwiesen ist lediglich, dass sich die
102
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
beiden aztekischen Federschilde (Abb. 1/6) heute im Württembergischen Landes-
museum befinden (Abb. 7. Inv.-Nr. KK 6 und E 1402 (KK)) und zur Zeit des Auf-
zugs mit größter Wahrscheinlichkeit der Sammlung des Tübinger Schlosshaupt-
manns Niclas Ochssenbach (1562-1626) angehörten. Sie sind im Bestand der Stutt-
garter Kunstkammer nicht nachzuweisen. Monika Kopplin (1987:2 97f.) wies be-
reits daraufhin, dass die Federschilde bei dem Aufzug mitgeführt wurden und sich
demnach bereits um 1600 im Stuttgarter Raum befanden. Derartige Federschilde
waren dem aztekischen Adel und der Priesterschaft Vorbehalten, sie wurden vor al-
lem bei rituellen Festen benutzt. Das Federmosaik ist auf ein aus Baumbast herge-
stelltes Papier geklebt, der Leim wurde aus einer Orchideenart gewonnen. Stabile
Holzstäbchen, die mit feinen Baumwollfaden dicht zusammengebunden sind, die-
nen als Unterlage für das Federmosaik. Der Schild ist mit Leder eingefasst, auf der
Rückseite sind stärkere Holzstäbe für die Halterungen befestigt.
Es gibt keine sicheren Nachweise dafür, wem die Schilde zu welchem Zeitpunkt
gehört hatten. Kopplin (1987: 297 und 303, Anm. 9) vermutet mit Verweis auf
Fleischhauer, dass sie Bestandteil der Sammlung des Tübinger Schlosshaupt-
manns Niclas Ochssenbach (1562-1626) waren. Ihm könnten sie „als Geschenk-
oder Tauschobjekte aus der an Exotica reichen Kunstkammer des Johann Jakob
Guth von Sulz-Durchhausen“ übergeben worden sein. Kopplin selbst vermutet
eher, dass sie als „Geschenke aus herzoglichem Besitz“ an Ochssenbach über-
reicht worden seien. Beide Möglichkeiten sind denkbar, denn Ochssenbach hatte
von Guth von Sulz-Durchhausen (1543-1616) einige Objekte erhalten, wie
Fleischhauer (1978; 179) nachweist. Und auch Herzog Johann Friedrich hatte
Ochssenbach beschenkt, sogar mit einer außereuropäischen Waffe, wie aus dessen
„Beschreibung meiner Rüstcamer wie ich dieselbig Anno 1625 beyhanden ge-
habt“ (Ochssenbach 1625, Ms., WLB Stuttgart, BI. 3r) hervorgeht: „Ein Indiani-
sche wehr von Ebenholz so mier Herzog Joan Fridrich zu Württemberg verehrt“.
In dem Verzeichnis Ochssenbachs (1625, WLB Stuttgart, Bl. 6v) findet sich fol-
gender Eintrag, der sich sehr wahrscheinlich auf die beiden Schilde aus dem
Württembergischen Landesmuseum bezieht: „Ain Türcken schiltt und Moren
schiltt in Württenbergischen Ritterspielen gebraucht“. Eine sichere Identifizie-
rung dieser Beschreibung mit den Schilden ist jedoch aus zwei Gründen nicht
möglich. Zum einen erwähnt Ochssenbach nicht, dass die Schilde aus Federn be-
standen. Gerade Federn werden aber in den meisten zeitgenössischen Beschrei-
bungen aufgrund ihrer eindrucksvollen Farben, ihres Glanzes und ihrer aufwendi-
gen Verarbeitung hervorgehoben. Zum anderen erstaunt es, dass die Herkunft so-
wohl mit „türkisch“ als auch mit „möhrisch“ angegeben wird, denn die gemein-
same Herkunft der beiden Federschilde muss doch offensichtlich gewesen sein.
Die Bemerkung, dass sie in Ritterspielen gebraucht worden waren, verlockt zur
Identifizierung, belegt sie allerdings nicht.
Wie die beiden Federschilde zu Ochssenbach gelangten, ist nicht herauszufinden.
Sowohl das Guthsche Inventar von 1624 als auch die Verzeichnisse der Stuttgar-
ter Kunstkammer datieren zu spät, um eine Identifizierung und eine Schenkung an
Ochssenbach vor 1625 zu belegen. Ochssenbach nennt in seinem Verzeichnis kei-
nen Überbringer für die Schilde, während er bei vielen Objekten sehr genau ver-
merkt, von wem er sie erhalten hatte. Es ist also auch denkbar, dass die Schilde
auf direktem Weg zu ihm gelangten, und er sie im Jahr 1599 für den Aufzug ver-
lieh. Niclas Ochssenbach war dem Stuttgarter Hof insofern verbunden, als Herzog
Friedrich I. ihm 1597 „die sehr ehrenvolle Tübinger Schlosshauptmannschaft“
übertrug (Fleischhauer 1978: 179).
Die spätere Wanderschaft der Kunstkammer Ochssenbachs stützt den Verdacht,
dass die beiden Federschilde zu seiner Sammlung gehörten. Der einzige Sohn und
Erbe Ochssenbachs, Johann Friedrich, übernahm die Kunstkammer seines Vaters
und erweiterte sie. 1654 trat er in das Benediktinerkloster Weingarten ein und
übertrug diesem durch testamentarische Verfügung seinen gesamten Besitz und
auch die Sammlung (Fischer 1975: 98f). Johann Nepomuk Hauntinger (1964: 37)
103
TRIBUS 52, 2003
Abb. 6: Ritterspiele zur Taufe der Tochter des Landgrafen Moritz dem
Gelehrten am Kasseler Hof, 1596. Achter Aufzug „Von den vier Theilen
deß Erdtkreises“, erster Teil; Amerika. Radierung in Dilich 1598.
Aus: Dilich 1598 (1986), nach S. 43.
sah bei seiner Reise im Jahr 1784 „die Hinterlassenschaft eines württembergi-
schen Hofbeamten“, also Ochssenbachs, und zählt darunter „türkische Schilde“
auf. Da die Herkunftsangabe „türkisch“ der Beschreibung Ochssenbachs in sei-
nem Inventar von 1625 entspricht, handelt es sich sicherlich um dieselben Schil-
de. Nach der Säkularisierung ging das Kloster 1806 aus bayrischem in württem-
bergischen Besitz über, ein Teil der Sammlungsbestände wurde nach Stuttgart
überführt und 1809 dem Königlichen Kunstkabinett übergeben. Darunter befan-
den sich zwei Federschilde (HStA Stuttgart, A 20a, Bü 161, unfoliiert):
Conßguration derjenigen Stüke, welche auf Aller Höchsten Befehl Sr Majestät des Königs an
das Kunst Cabinet Stuttgardt abgeben wird. Von Schloß Weingarten.
[■■■]
2 Schild von Stroh mit Federn.
Die Bezeichnung „von Stroh“ trifft zwar nicht auf das Material der Schilde zu,
kann aber von einer nur flüchtigen Beschreibung der Rückseiten aus dünnen
Holzstäben und Baumwollfäden herrühren. Für die Herkunft der Schilde aus
Weingarten spricht auch ihr ausgezeichneter Erhaltungszustand. Die Federwerke
aus der Stuttgarter Kunstkammer sind nicht mehr erhalten, wie es das Schicksal
fast aller Federarbeiten aus Kunstkammerbeständen ist.
In den Stuttgarter Inventaren finden sich ebenfalls einige Federschilde. Die frühe-
sten werden im Schlossinventar von 1634 (HStA Stuttgart, A 21, Bü 18b, Bl.
42r) erwähnt: „3 alte schildt von Pfauen und Vögel federn“. Die unspezifische Be-
schreibung lässt keine Identifizierung zu, und der Vermerk, dass es sich um „alte“
Schilde handelt, ist mit dem guten Erhaltungszustand derjenigen im Württember-
gischen Landesmuseum nicht zu vereinbaren.
Bei der Inventur der Stuttgarter Kunstkammer im Jahr 1642 (HStA Stuttgart,
A 20a, Bü 5:8) wird ein weiterer Federschild aufgelistet: „Ein runde Indianische
Tartsche, von gefärbtem Federwerckh“. Weitere Schilde an derselben Stelle be-
standen aus Holz: „Ettliche hülzine Schildt, zum Carosel Rennen“. Sie wurden bei
dem „Carusel-rennen mit den Vier Elementen zu Stuetgarten repraesentirt“ von
1617 (Firla 2001: 32f.) verwendet. Ob dies auch für den Federschild gilt, ist nicht
festzustellen. Dieser erscheint wieder im Inventar von 1654 (HStA Stuttgart,
A 20a, Bü 6: 4) als „ein ronde Indianische Tartsche, von gefärbtem Federwerk -
kh“, im Schmidlinschen Inventar von 1670-92 (WLM Stuttgart: 397) als „ein
runde Indianische Tartschen von gefärbten federn“. Dass Schuckard in seinen In-
ventaren aus den Jahren 1705-1723 (HStA Stuttgart, A 20a, Bü 16-28) die Schil-
104
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
de nicht mehr aufführt, macht ihre Identifikation mit denen im Württembergi-
schen Landesmuseum kaum möglich. Viel eher denkbar ist der Weg dorthin über
Nielas Ochssenbach und Weingarten.
Nicht nur die beiden Federschilde, fast sämtliche bei dem Aufzug mitgeführten
Gegenstände waren reale Americana. Es fehlt allerdings der Nachweis über ihren
damaligen Aufbewahrungsort und ihren heutigen Verbleib. Die vier Federfächer
(Abb. 1/4-6) stammen von den Azteken. Sie sind, wie auch die beiden Schilde,
auffallend frontal dargestellt. Die wertvollen Objekte sollten so mit ihrer ganzen
Fläche präsentiert und gezeigt werden. Zwei der Fächer (Abb. 1/4-5) entsprechen
dem Typ, den der Augsburger Christoph Weiditz in seinem Trachtenbuch von
1529 überliefert (s. Abb. in Hampe 1927, Taf. XXII). Weiditz hatte am Hof Karls
V. die Azteken gesehen, die Cortés im selben Jahr aus Mexiko mitgebracht hatte.
Seine Zeichnungen zählen zu den wenigen Indianerdarstellungen des 16. Jahr-
hunderts, die ethnographische Einzelheiten, Schmuck, Kleidung und Besonder-
heiten der Physiognomie realistisch und nicht europäisiert wiedergeben. Um wei-
tere aztekische Federwerke handelt es sich bei Gürteln, Röcken, Mänteln, Anzü-
gen, Arm- und Beinschmuck, die Weiditz ebenfalls in ähnlicher Weise darstellte.
Allerdings kann bei einigen eine europäische Herstellung nach amerikanischem
Vorbild oder eine Umarbeitung nicht ausgeschlossen werden.
Der rote Federmantel (Abb. 1/4, Fig. 20) stammt von den Tupinambá Brasiliens,
ebenso die roten Hauben (Abb. 1/4-6,8). Sie wurden aus den Federn des Ibis her-
gestellt. Zwei solcher Mäntel und drei Hauben sind unter anderem im Kopenhage-
ner Nationalmuseum aus Kunstkammerbestand erhalten (s. Abb. in Dam-Mikkel-
sen/Lundbask 1980: 27, 30). Einige Darsteller des Aufzugs tragen Hauben dersel-
ben Art aus gelben Federn (Abb. 1/6,8), für die kein Vergleichsstück erhalten ist.
Ihre brasilianische Herkunft ist zweifelhaft. Die Hängematte (Abb. 1/8), die Keu-
len mit rundem Kopf (Abb. 1/2,3) und die Rasseln (Abb. 1/5,7) überlieferte Hans
Staden 1557 (Abb. s. n. Maack/Fouquet 1964, Abb. 36, 42, 41), sie stammen eben-
falls von den Tupinambá. Die flache Keule (Abb. 1/5), deren Schlagende sich re-
gelmäßig verbreitert, kommt aus Guyana (Zerries 1966/67). Bei den Körben und
dem Krug (Abb. 1/7) handelt es sich vermutlich um brasilianische Objekte.
Die Americana sind bis auf eine Ausnahme in den Stuttgarter Kunstkammer-Inven-
taren nicht zu finden. Seit 1654 ist eine Hängematte inventarisiert (HStA Stuttgart,
A 20a, Bü 6:44); „Ein Brassilianisch Beth, von gras gemacht, welches dieselbige
einwohner an zwey bäum pflegen an zubinden, und darinnen ruhen und schlaffen“.
Abb. 7: Azteken, Mexiko, Federschilde. Federmosaik auf Baumbastpapier,
Gitter aus Holzstäbchen und Baumwollfäden, Leder, Holzstäbe als Halterungen,
16. Jahrhundert. Dm. 75 cm. Kunstkammer Niclas Ochssenbach, Tübingen.
Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, Inv.-Nr. KK 6 und E 1402 (KK).
105
TRI BUS 52, 2003
Sie stammt aus der Kunstkammer des Johann Jakob Guth von Sulz-Durchhausen
(Bujok 2002; 130), die 1653 zu großen Teilen in die Herzogliche Kunstkammer über-
ging. Im gleichen Inventar (HStA Stuttgart, A 20a, Bü 6:5) erscheint eine weitere
Hängematte: „Ein gestrickht Indianisch Beth“. Ob es sich bei einer der beiden um
dieselbe handelt, die beim Aufzug Verwendung fand, muss offen bleiben.
Sofern die amerikanischen Requisiten für den Aufzug aus herzoglichem Besitz stamm-
ten, liegt ihre Herkunft aus der 1585 gegründeten Kunstkammer des niederländischen
Arztes Bemhardus Paludanus (1550-1633) in Enkhuizen nahe. Herzog Friedrich I.
hatte Teile dieser Sammlung übernommen, darunter „allerley Kleydungen und fremb-
de Sachen auß [...] Ost unnd West Indien [...] zu ettlichen hunderten“, wahrscheinlich
auch „Kleidungen von Federn auß Brasyl“ (Rathgeber 1604:54v., Bujok 2002:120f).
Eine weitere Quelle für die Stuttgarter Ausstattung könnte aber auch der Kasseler Hof
gewesen sein. Im Inventar der Kasseler Kleiderkammer von 1638 sind unter anderem
die Kostüme des Aufzugs von 1596 aufgelistet, die im Bedarfsfall „an befreundete Hö-
fe verliehen“ worden seien (Nieder 1997: 31). Ihre Verwendung in Stuttgart ist also
durchaus vorstellbar. Die Durchsicht des Inventars der Kasseler Kleiderkammer (StA
Marburg, 4b 231) ergab über einen Verleih jedoch keinerlei Aufschluss.
Auch in den Stuttgarter Archivalien findet sich eine Liste mit „Allerley Kleider zu
den Uffzügen“ aus dem Jahr 1634 (HStA Stuttgart, A 20 Bü 38a, unfoliiert und
A 21 Bü 18b, Bl. 81 v-92r), darunter eine Rubrik mit indianischen Kleidern. Es han-
delt sich dabei um eine unkommentierte Liste von Mänteln, Schürzen, Feder-
büscheln und anderen Objekten, und über ihre Verwendung im Aufzug von 1599
kann nur spekuliert werden. So wird wohl einer der beiden „Mäntel von roth und et-
licher anderen Farben, Pappengai Federn, sambt 1 daran stehenden Hauben“ (HStA
Stuttgart, A 21 Bü 18b, Bl. 90v) mit jenem der Figur 20 (Abb. 1/4) identisch sein,
die Haube wird von Figur 21,28, 36 oder 50 (Abb. 1/4-6, 8) getragen worden sein.
Einer von „2 Gürttel von Pappengai Federn gantz roth“ (BI. 9Ir) könnte der Klei-
dung von Figur 27 (Abb 1/5) entsprechen, die „4 Armbänder von gantz rothen
Pappengai Federn“ (Bl. 91v) denen von Figur 25, 48 oder 50 (Abb. 1/5, 8).
Schluss
Der Stuttgarter Aufzug Amerikas von 1599 besitzt einen hohen Quellenwert für die
Rezeption des Fremden an den europäischen, besonders den deutschsprachigen Hö-
fen des 16. und 17. Jahrhunderts. Die fiktive Amerika wird als „Königin“ ange-
sprochen, und entsprechend spielte auch Herzog Friedrich I. selbst die Hauptrolle.
Amerika tritt in einer Sänfte unter einem Baldachin auf und hält ein Szepter zum
Zeichen ihrer Herrschaft in der Hand. Die vier Kontinente Amerika, Afrika, Asien
und Europa werden als „Schwestern“ bezeichnet und sind somit nicht in eine Hie-
rarchie eingebunden. Sie erscheinen als gleichwertige Partner. Die Wertschätzung
Amerikas kommt auch darin zum Ausdruck, dass andere Teilnehmer des Ringren-
nens angereist waren, um den Kontinent kennen zu lernen. Und Amerika war nach
Stuttgart gekommen, um sich selbst vorzustellcn und sich ein Bild von dem hiesi-
gen Leben zu verschaffen. In diesem Austausch, der Begegnung mit Neugierde und
der Pflege von gegenseitigem Verständnis liegt die Botschaft des Aufzugs. Gerade
das gegenseitige Kennenlemen und Beobachten, wie es M. Jacob Frischlin in der
Festbeschreibung formuliert, entspricht der Geisteshaltung der Frühen Neuzeit.
Staunen und Neugierde über das Kuriose spielten zusammen, und es konnte be-
trachtet werden, ohne gegeneinander abzuwägen und zu kategorisieren.
Die Darsteller des Aufzugs trugen ungewöhnlich viele reale Americana, wie sie
sich in den Kunstkammern der Höfe befanden. Es handelt sich somit auch um ei-
ne einzigartige Quelle für die Erforschung der Sachkultur, die im 16. Jahrhundert
nach Europa kam. Nur im Fall der beiden aztekischen Federschilde aus dem Würt-
tembergischen Landesmuseum (Abb. 1/6, 7) ist die Provenienz und ihr späteres
Schicksal belegt. Wenige Objekte wie der rote Federmantel der Tupinambä
106
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
(Abb. 1/4) lassen sich in den Stuttgarter Inventaren nachweisen. Alle anderen
Americana hinterließen keine weiteren Spuren und müssen wie die meisten aus
Kunstkammerbeständen als verloren gelten. Ihre bildliche Dokumentation im
Rahmen des Aufzugs ist deswegen umso aufschlussreicher für die Forschung.
Archivalien und Handschriften
Diakritische Zeichen bei der Transkription:
[?]: unsichere Lesweise
<...>: Einfügung einer inhaltlichen Variante
Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStA Stuttgart)
A 20, Bü 38a:
A 20, Bü 39:
A 20a Bü 5:
A 20a Bü 6;
A 20a Bü 16-28:
A 20a Bü 30:
A 20a, Bü 161:
A 21, Bü 18b:
Hessisches Staatsarchiv Marburg (StA Marburg)
4b 231: Verzeichnis der in der s. g. Inventions-Kammer im fürst-
lichen Marstall befindlichen Kleider und sonstigen Sachen.
1638.
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart (WLB Stuttgart)
Ochssenbach, Nicias
1625 Beschreibung meiner Rüstcamer wie ich dieselbig Anno
1625 beyhanden gehabt (Ms.).
Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (WLM Stuttgart)
Adam Ulrich Schmidlin
Inventarium Schmidlianum der herzoglich Württemb.
Kunstkammer. 1670 bis 1692 (Apeco-Kopie, 13.9.1967, oh-
ne Signatur, das Original im Staatlichen Museum für Natur-
kunde Stuttgart gilt als verschollen).
Anlaagen, Hofgebäude. Darin Inventare. Um 1634.
Schauspiele (Ringrennen und dergleichen Ritterstücke).
1575-1747.
Protocoll-, Inventar-, Decret-, Quittir-, Lifferungs-Sachen.
1642-1665.
Bei Inventur und Übergabe an Antiquar Johann Betz aufge-
stelltes Inventar der Kunstkammer zu Stuttgart. 1654.
Inventare des Prof. Schuckard. O. D. [1708?, zwischen
1705 und 1723].
Katalog der im obem Turm am Lusthaus der Rennbahn zu
befindlichen, zur fürstl. Kunstkammer gehörigen Bücher,
sowie derjenigen Bücher, die sich in der Kunstkammer
selbst befinden. O. D. [1708].
Übernahmen in die Kunstkammer, das Münzkabinett bzw.
das Münz- und Kunstkabinett von Herzog bzw. Kurfürsten
und König, von Mitgliedern des Herrscherhauses, Hof- und
Staatsbehörden (auch Bezirksbehörden). 1770-1777, 1792-
1817.
Hofstaat der Herzoginnen, Inventar über alles im Schloß zu
Stuttgart befindliche (= Reinschrift des Inventars in A 20,
Bü 38a). 1634.
107
TRIBUS 52, 2003
Literatur
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leuchtigen Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Fride-
richen / Hertzogen zu Würtenberg und Teck [...] In der Faß-
108
Elke Bujok: Der Aufzug der „Königin Amerika“ in Stuttgart
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des Durchleuchtigen Hochgebomen Fürsten und Herren
Herrn Johann Friderichen Hertzogen zu Württenberg und
Teckh [...] Und Durchleuchtigen Hochgebomen Fürstin und
Freulin Frewlin Barbara Sophien gebome Marggrauin zu
Brandeburg Hochzeitlich Ehmfest den 9. Nouemb. A. 1609.
in der Fürstl. Hauptstat Stutgarten mit grosser Solennitet ge-
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zeit / und deß Hochansehnlichen Beylagers / So Der Durch-
leuchtig Hochgebom Fürst unnd Herr / Herr Johann Fride-
rich Hertzog zu Würtemberg und Teck / [...] Mit Der auch
Durchleuchtigen Hochgebomen Fürstin unnd Frewlin /
Frewlin Barbara Sophia Marggrävin zu Brandenburg / [...]
109
TRIBUS 52, 2003
Anno 1609. den 6. Novembris [...] Celebriert und gehalten
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Polleroß, Friedrich, Andrea Sommer-Mathis und Christopher F. Laferl (Hg.)
1992 Federschmuck und Kaiserkrone. Das barocke Amerikabild
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Rathgeber, Jacob und Schickhart von Herrenberg, Heinrich
1603/04 Warhaffte Beschreibung zweyer Raisen: welcher Erste (die
Badenfahrt genannt) der [...] Herr Friderich Hertzog zu
Württemberg unnd Teckh [...] im Jahr 1592 [...] in das weit-
berühmbte Königreich Engellandt: hernach im zuruck zie-
hen durch die Niderlandt [...]. [T. 1, Rathgeber 1604]. Die
ander / so Hochgemelter Fürst [...] im Jahr 1599 in Italiam
gethan [...]. [T. 2, Schickhart 1603]. 2 Teile. Tübingen.
Scheicher, Elisabeth
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Die ‘Entdeckung’ eines Kontinents in 346 Kupferstichen.
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Zerries, Otto
1966/67 Einige alte ornamentierte Keulen aus Guayana im Staat-
lichen Museum für Völkerkunde zu München, ln: Folk 8-9:
403-408.
110
Michael Knüppel: Zur jeniseischen Bibliographie
MICHAEL KNÜPPEL
Zur jeniseischen Bibliographie
Stellte das nahezu völlige Fehlen1 einer Bibliographie der Arbeiten, in welchen
die jeniseischen Völker und Sprachen behandelt oder womöglich auch nur er-
wähnt werden, ein ständiges Ärgernis für jeden an diesen Gruppen Interessierten
dar, so änderte sich dies jüngst mit dem Erscheinen eines entsprechenden Werkes
aus der Hand des Linguisten und bekannten Ketologen Edward J. Vajda.2
In seiner Arbeit liefert der Vf./Hrsg. - an das Inhaltsverzeichnis (S. VII-VIII) sowie
eine Einleitung, in der die Jeniseier, ihr Siedlungsraum, ihre Sprachen und der
(wenngleich dürftige) Stand der bisherigen bibliographischen Erfassung der Litera-
tur skizziert werden, (S. IX-XIX) anschließend - zunächst einen historischen Über-
blick über die Forschungen zu den jeniseischen Völkern und Sprachen (S. 1-I7).3
Diesem voran gehen eine Danksagung (S. XXI-XXII), ein Abkürzungsverzeichnis
(S. XX1I1-XXVI) sowie 3 Karten, auf denen die Siedlungsverhältnisse zwischen Ob
und Baikalsee um 1600 (Karte I), die jeniseischen Toponyme des Großraumes zwi-
schen Irtysch, Jenisei und Angara (Karte II) sowie die ketischen Siedlungen nach
1930 (Karte III) dargestellt sind (S. XXVII-XXIX, nicht paginiert).
Auf diese einleitenden Teile des Werkes folgt die Bibliographie, in der versucht
wurde, alle Publikationen über die jeniseischen Völker und Sprachen (oder auch
nur einzelne von ihnen) zu erfassen (S. 18 ff.). Jedem aufgeführten Titel ist hier-
bei ein kurzer Abriss beigegeben worden, in dem auf den Inhalt eingegangen wird.
Ferner wurden bei Werken, deren Thema im Grunde nicht die jeniseischen Völker
und/oder Sprachen sind, die Textstellen - in der Regel unter Angabe von Seiten-
zahlen, Nummern usw. - genannt, in denen Angaben zu jeniseischen Völkern
und/oder Sprachen gemacht werden. Auf die Bibliographie der veröffentlichten
Werke lässt der Vf./Hrsg, eine Aufstellung der unveröffentlichten Materialien zu
jeniseischen Völkern und Sprachen, die in die Rubriken Dissertationen (S. 335
ff.), Archivmaterialien (S. 341 ff.), „andere unveröffentlichte Materialien“ (S. 349
ff.), Sammlungen (S. 352 ff.) und Internet Ressourcen (S. 356) unterteilt ist, fol-
gen. Gerade auch diese Zusammenstellung der unveröffentlichten Materialien ist
von einigem Interesse, da sie einerseits deutlich über die Hinweise dieser Art in
früheren Arbeiten hinausgeht4 und andererseits für das Auffinden der betreffenden
Materialien eine bedeutende Hilfe darstellt. Vieles, worauf in älteren Werken ver-
wiesen wird, befindet sich schließlich heute an vollkommen anderen Standorten -
dies schon allein durch die Auswirkungen politischer Entwicklungen im 20. Jahr-
hundert.
Den Schlussteil der Arbeit bilden verschiedene analytische Indices, in denen auf
den bibliographischen Teil verwiesen wird. Diese sind zunächst grob in themati-
sche Indices zu den Werken, die die jeniseischen Sprachen zum Gegenstand ha-
ben (S. 357 ff), vor allem die jeniseischen Völker behandeln (S. 376 ff.) und sol-
che Publikationen, die eher „wissenschaftsgeschichtlicher“ Natur sind (S. 288 ff),
gegliedert. Dieser Grobeinteilung untergeordnet sind die betreffenden Indices, die
zu einzelnen, mitunter speziellen Themenstellungen angelegt sind, im Falle der
„wissenschaftsgeschichtlichen“ Beiträge z. B. „History of scholarship“, „Biblio-
graphies“, „Biographie information on scholars“, „Published travel notes or data
on expéditions“, „Descriptions of archivai sources“ und „Descriptions of muséum
collections“. Unter diesen Eintragungen finden sich dann auch die Verweise auf
die jeweiligen Titel im bibliographischen Teil der Arbeit.
In der eigentlichen Bibliographie sind die Werke nach ihren Verfassern alphabe-
tisch geordnet, wobei die Namen der Autoren, Co-Autoren und Herausgeber auch
bei jedem weiteren von ihnen stammenden Titel aufgeführt werden. Die Vorna-
men hingegen werden bei jedem folgenden Titel abgekürzt. Eine Zitierweise, die
TRIBUS 52, 2003
weder auf die Beschaffenheit der Titelei der jeweiligen Arbeiten Rücksicht nimmt,
noch konsequent eingehalten wird - häufig sind die Namen schon bei den Erst-
zitaten abgekürzt, obwohl sie problemlos zu ermitteln gewesen wären.
Recht „unökonomisch“ wurde hinsichtlich der analytischen Indices verfahren:
hier wurde zu jeder Rubrik (etwa „Historical linguistics“, „Extinct Yeniseian lang-
uages“ usw.) eine Auflistung der Arbeiten - unter Nennung des Verfassemamens
und gegebenenfalls des Erscheinungsjahres -, in denen die betreffenden Gegen-
stände behandelt werden, vorgenommen. Eine durchgehende Nummerierung der
aufgeführten Titel hätte nicht nur die Zitierfähigkeit der Bibliographie ermöglicht,
sondern vielmehr auch die analytischen Indices vereinfacht und deutlich verkürzt.
Ein weiteres Problem stellen die in der Arbeit erfassten Besprechungen dar. Sie
werden - was durchaus sinnvoll ist - jeweils unter den Namen der Rezensenten
aufgeführt. Ein Verweis auf die betreffenden Besprechungen findet sich jedoch
nicht immer unter dem Eintrag des besprochenen Werkes, was nicht nur inkonse-
quent ist, sondern auch zu Lasten des praktischen Nutzens der Bibliographie geht.
So findet sich beispielsweise unter einer aufgeführten Arbeit K. Donners5 ein
Querverweis auf eine Besprechung bzw. eine Arbeit, in der K. Bouda an diese an-
knüpft (und welche unter dem Rezensenten Bouda erscheint),6 nicht hingegen auf
jene von R. P. Austerlitz, die bei Vajda ebenfalls erfasst wurde.7 Nach welchen
Kriterien diese - vermutlich zufällige - Auswahl getroffen wurde, bleibt dem Be-
nutzer verborgen. Im Übrigen hätte auch hier eine durchgehende Nummerierung
die Handhabung der Bibliographie erheblich vereinfacht.
Ähnlich inkonsequent verfährt der Vf./Hrsg, hinsichtlich der Verweise auf Co-Au-
toren- und Herausgeberschaften. So findet sich zwar in dem „Abstract“ zu K.
Donners „Ketica“ - um beim vorherigen Beispiel zu bleiben - ein Hinweis dar-
auf, dass das Werk von A. J. Joki - mit einem Vorwort versehen - herausgegeben
(und beschlossen) wurde (S. 93), allerdings unter den Arbeiten A, J. Jokis kein
Verweis dieser Arbeit - ebenso wie im Falle von „Ketica II“8 (eigentlich ein Nach-
trag von Joki zu Donners „Ketica“).
Ein ganz anderes Problem stellt die erfasste Literatur dar. Während R. Jakobson,
G. Hüttl-Worth und J. F. Beebe Mitte des 20. Jahrhunderts lediglich 166 Titel
(einschl. 11 anonymer Arbeiten u. 7 unveröffentlichter Archivalien) in dem Ab-
schnitt „The Yeniseian Group (Ket - Kot - Asan - Arin)“ ihrer „Paläosibirischen
Bibliographie“ aufführten (S. 202-217) und sich bei V. Toporov immerhin schon
rund 300 Titel finden, sind es bei Vajda nahezu 1700, darunter eine Reihe von äl-
teren Arbeiten, die in den genannten Werken von 1957 und 1969 fehlen.9 Die jün-
gere Literatur ist beinahe vollständig aufgenommen. Auffälligerweise fehlen je-
doch ausgerechnet solche älteren Publikationen, die auch in den gängigen
Bibliographien nicht erscheinen, d. h. weder bei Jakobson/Hüttl-Worth/Beebe
noch bei Toporov, noch in der Artic Bibliography oder der Bibliographie lingui-
stique aufgeführt werden.10 Hervorzuheben ist, dass es dem Vf./Hrsg, gelungen
ist, vermutlich die gesamte Literatur, welche Vergleiche jeniseischer Sprachen mit
entfernteren Sprachfamilien oder Einzelsprachen (Jeniseisch - Sino-Tibetisch, Je-
niseisch - Baskisch, Jeniseisch - Kaukasisch usw.) sowie die Zuordnung zu di-
versen „Macrofamilien“ oder „(Super-)Phylen“ (z. B. „nostratische Sprachen“,
„Eurasil“, „dene-finnische Sprachen“) behandelt, zu erfassen.
Rezensionen wurden jedoch häufig nicht berücksichtigt - obwohl die betreffen-
den Zeitschriften vom Vf./Hrsg, offensichtlich ausgewertet wurden. So fehlt etwa
G. Doerfers Besprechung zu H. Werners „Die ketische Sprache“ (1997),11 wäh-
rend die übrigen Beiträge zu den jeniseischen Sprachen, welche sich im CAJ fin-
den, erscheinen.12 Andere Besprechungen desselben Werkes wurden hingegen be-
rücksichtigt.13 Darüber hinaus fällt in Anbetracht des „Fehlens“ zahlreicher Re-
zensionen (deren Erfassung aufgrund der weiten Streuung des Materials kaum
112
Michael Knüppel: Zur jeniseischen Bibliographie
möglich sein dürfte) auf, dass andererseits gelegentlich bloße Anzeigen mitbe-
rücksichtigt wurden - aber wer möchte schon beurteilen, wann eine Rezension
vorliegt oder doch „nur“ eine Anzeige?
Es liegt dem Rezensenten fern, hier eine kleinliche Aufstellung der „fehlenden“
Literatur vornehmen zu wollen. Einerseits wird kein seriöser Bibliograph ernst-
haft eine Erfassung der „gesamten“ Literatur zu einem so unübersichtlichen The-
ma wie dem vorliegenden für seine Arbeit beanspruchen können - auch Vajda tut
dies nicht -, andererseits würde dies dem großartigen Werk Vajdas und der mühe-
vollen Kleinarbeit, welche diesem zweifellos zu Grunde liegt, nicht gerecht. Ab-
gesehen davon hat der Vf./Hrsg, der Bibliographie ausdrücklich Mitteilungen ihm
entgangener Literatur durch den Leser erbeten (S. XIX) - ein lobenswerter An-
satz, der jede Unterstützung verdient und nicht durch zahlreiche „Ergänzungen“
in nicht minder zahlreichen Rezensionen zerredet werden sollte.
Dennoch möchte der Rezensent an dieser Stelle auf „Textstellen“ in zwei Werken
hinweisen, die in der Bibliographie nicht aufgeführt wurden, obgleich sie aus dem
18. Jh. stammen (und als hinreichend bekannt gelten dürfen)14 und für den
wissenschaftsgeschichtlich interessierten Leser durchaus von einigem Interesse
sein könnten. Es handelt sich hierbei um zwei frühe „Klassifizierungsversuche“
der jeniseischen Sprachen, die - sieht man einmal von den Übersichten in Strah-
lenbergs „Tabula Polyglotta“ (1730)15 oder den Aufstellungen in Pallas' „Lingua-
rum totius orbis vocabularia comparativa“ (1786/9),16 bei denen man wohl noch
nicht von „Klassifizierungen“ sprechen kann, ab - zu den frühesten ihrer Art zäh-
len dürften.17 Die eine dieser beiden „Klassifizierungen“ findet sich in F. Ade-
lungs „Uebersicht aller bekannten Sprachen ...“. Da diese im Rahmen einer Auf-
stellung aller Adelung bekannten paläoasiatischen Sprachen18 - einem Begriff der
erst von L. v. Schrenck Ende des 19. Jh.s geprägt wurde - erfolgt, wird hier der
Vollständigkeit halber der gesamte Abschnitt wiedergegeben:19
UI. Völker von verschiedenen unbekannten Stämmen, im nord-östlichen Asien
1. Jeniseische Ostiaken.
a. Inhazkische.
b. Lumpokolische Ostiaken.
c. Arinzen, Aralen.
a. Lumpokolische, am Ket.
ß. Inhazkische, am Jenisei.
j. Assanische, am Taseewa.
e. Arinzen zu Krasnojarsk.
2. Jukagiren.
a. Um Werchneikowümsk.
b. Am Kowüma.
c. Um Ustjansk.
3. Koräcken.
a. Sprache der sitzenden Koräcken.
Dialekte:
a. In dem westlichen Theile von Kamtschatka,
ß. Am Kolyma und dem Penshinskischen Meerhusen,
y. Um Ishiginsk.
5. In der Nachbarschaft der Tschuktschen.
e. Der Elutoren, am Flusse Olutora.
f. An den Mundungen des Flusses Karaga und auf der Insel
gleiches Namens.
h. Von Tumana bis Aklan.
b. Nomadisierende Koräcken.
Zwey Dialekte bis jetzt bekannt.
113
TRIBUS 52, 2003
4. Tschuktschen
a. Rennthier-Tschuktschen. Schelagi.
b. Aiwamski.
c. Auf der Insel Achüchalät.
d. Auf der Insel Pejeskoli.
5. Kamtschadalen.
a. Nördliche Dialekte.
Werchnej-Kamtschadalisch.
b. Mittlere Dialekte.
a. Am Tigil, zwey Mundarten.
ß
y. Am Kamtschatka-Flusse, vier Mundarten.
ö.
e.
77-
c. Südliche Dialekte.
a. Nishnej-Kamtschadalisch.
ß. Am Bolschaja- oder Kytschka-Flusse. Zwey Dialekte.
Y-
5. Zwischen Kyktschik und Belogolowo.
s. Kolofskisch.
6. Oestliche Inseln.
a. Kurdische. Drey Dialekte.
b. Aleutische. Zwey Dialekte.
c. Insel Aliaksa.
d. Andreano ff sehe.
e. Fuchs-Inseln,
a. Atcha.
ß. Unalaschka
y. Nagunalaschka.
Die andere Klassifizierung findet sich im mehr als einem Jahrzehnt zuvor erschie-
nenen zweiten Band des „Mithridates“.20 Hier liegt uns das Ausgangsmaterial für
die zuvor aufgeführte Aufstellung unter Angabe der Quellen vor. Wenngleich auch
sie - gegenüber den zitierten Werken (Pallas, Fischer, Müller, Strahlenberg) -
nichts Neues zu bieten hatte, stellt sie doch eine Zusammenfassung des an der
Wende vom 18. zum 19. Jh. verbreiteten - auf den vergleichsweise zugängliche-
ren Materialien beruhenden - Kenntnisstandes dar.
3. Völker von verschiedenen unbekannten Stämmen im nord-östlichen Asien.
A. Die Jeniseischen Ostiaken.
Zu beyden Seiten des Jenisei, von der obern Tunguska an, an und unter den
Samojeden, in äusserst rauhen und kalten Wildnissen. Ihre Sprache ist von der der
Obyschen und Narymschen Ostiaken, so wie von allen übrigen Sibirischen völlig
verschieden. Sie theilen sich in zwey Stämme und Mundarten, die Imbatzkischen
und Pumpokolischen Ostiaken, letztere am Flusse Ket. Von beyden befinden sich
Wörter in dem Vocabul. Petropol. No. 151 und 152. Zwölf Wörter nebst den Zahl-
wörtern hat auch Fischers Sibir. Gesch. Th. 1, S. 139, 170. Eben dieselbe Spra-
che, aber in abweichenden Mundarten reden auch:
Die Arinzen oder Araler, im Krasnojarsehen Bezirk am Jenisei. Aber sie sind dem
grössten Theile nach von den Kirgisen aufgerieben worden, daher nur noch ein
kleiner Theil von ihnen übrig ist, welcher unter den Katschinskischen Tatarn woh-
net, und auch deren Sprache angenommen hat. Als Müller und der ältere Gmelin
Michael Knüppel: Zur jeniseischen Bibliographie
1735 am Jenisei waren, fanden sie nur noch einen Mann, welcher die Sprache
kannte, durch dessen Hülfe Müller sein Wörterbuch vermehrte. Einige Wörter lie-
fern Strahlenberg in der Tab. polygl. Fischers Sihir. Th. 1, S. 139, 170, und das Vo-
cabul. Petropol. No. 148. Eben so ausgestorben sind ihre ehemaligen Stämme der
Jariner, Buktjiner und Kaidiner.
Die Kotowzen, oder wie die Russen sie nennen, Kanski, weil sie am Kan-Flusse
im Osten des Jenisei wohnen, sind auch nur noch ein schwacher Überrest eines
grossem Stammes, der aber doch seine Sprache erhalten hat, welche von den
übrigen Mundarten sehr abweichen soll. Wörter derselben liefern Fischers Sibir.
S. 139, 170, der sie mit den Koibalen für ein und dasselbe Volk hielt, und das Vo-
cabul. Petrop. No. 149.
Die Assanen oder Asanen am Flusse Ussolka im Jeniseischen Gebiethe. Auch sie
sind grössten Theils aufgerieben, selbst der Sprache nach; denn die wenigen, wel-
che noch unter den Krasnojarschen Tatarn übrig sind, reden schlecht Tatarisch.
Einige Wörter sind in Fischers Sibir. S. 139, 170 und dem Vocabul. Petropol. No.
150.
Pumpokol. Arinzisch. Kotowisch. Assanisch.
Vater Obo. Bjab. Op. Op.
Wie schon erwähnt, bietet dieser Abschnitt des „Mithridates“ gegenüber der älte-
ren Literatur nichts Neues. Dessen ungeachtet ist er jedoch - ebenso wie der vor-
angestellte Auszug aus der „Uebersicht aller bekannten Sprachen ..." - für eine
noch immer ausstehende Geschichte der Paläoasiatik ebenso bedeutsam, wie für
die der Klassifikation der jeniseischen Sprachen, welche ebenfalls ein Desidera-
tum darstellt.
Zumindest einen Überblick auch hierüber liefert der Vf./Hrsg, in dem eingangs er-
wähnten historischen Überblick über die jeniseischen Studien (S. 1-17), ein Über-
blick, der vorbildlich - und gemessen am zur Verfügung stehenden Raum - auf-
fallend differenziert ausgeführt ist. Es wird hierbei auf die Anfänge der jenisei-
schen Ethnographie (verstreute Aufzeichnungen in der Folge der russischen Land-
nahme durch und nach der Eroberung Sibiriens im 16. Jh.) ebenso eingegangen,
wie auf die ethnologischen und linguistischen Arbeiten in den Zentren der sowje-
tischen jeniseischen Studien und den Niedergang derselben nach dem Zu-
sammenbruch der Sowjetunion. Auch werden an dieser Stelle einzelne For-
schungsrichtungen - wenngleich recht knapp - unter Aufführung ihrer wichtig-
sten Vertreter (mit Verweisen auf die Bibliographie) Umrissen.
Ein wenig befremdend wirkt hier nur das nachdrückliche Zurückweisen der
„Zugehörigkeit“ der jeniseischen Völker (und vor allem deren Sprachen) zu den
paläoasiatischen Völkern/Sprachen (S. 4; „For most of the twentieth Century, Ket
was conventionally included in a ,, Paleoasiatic “ language group, although most
linguists clearly realize that it shared nothing common with the other „Paleoasi-
atic “ languages “). Ist die Bezeichnung „paläoasiatisch“ doch heute nichts weiter
als eine Sammelbezeichnung, mit der alle nicht-uralischen, nicht-altaischen und
nicht-sino-tibetischen Völker Sibiriens (sowie der nordostasiatischen Inselwelt)
und ihre Sprachen ohne Behauptung einer anthropologischen definierten Einheit
oder Zusammengehörigkeit i. S. einer genetisch begründeten Sprachverwandt-
schaft zusammengefasst werden. Allerdings scheint der Wunsch, die betreffende
paläoasiatische Gruppe oder deren Sprache, welche man gerade zu seinem Ar-
beitsgebiet auserwählt hat, von den übrigen paläoasiatischen Gruppen und Spra-
chen zu separieren, weiter verbreitet zu sein: So möchten andere Autoren gern die
Nivchen/das Nivchische von den „übrigen“ paläoasiatischen Völkern/Sprachen
trennen (auch für die Ainu und ihre Sprache lassen sich zahllose Beispiele finden)
oder beschränken die paläoasiatischen Völker/Sprachen auf die Jeniseier, Jukagi-
ren (einschl. Euvanen u. Omoken), Eukeen, Itelmenen, Korjaken u. Nivchen, wie
Jakobson/Hüttl-Worth/Beebe dies getan haben.21
115
TRIBUS 52, 2003
Trotz der „Beanstandungen“ des Rezensenten - die der Vf./Hrsg, diesem hoffent-
lich nachsehen wird - sei an dieser Stelle noch einmal auf die große Bedeutung
des Werkes hingewiesen. Vajdas Bibliographie stellt sicherlich einen der Höhe-
punkte der Ketologie in den letzten Jahren dar und wird künftig einen besseren
Überblick über diese höchst interessante „Sonderdisziplin“ ermöglichen. Dies
wird nicht nur vielen Interessierten zu einer schnelleren Orientierung - und vor al-
lem zu einem bibliographischen Zugang zu zahlreichen weithin unbekannten Ar-
beiten - verhelfen, sondern sicher auch - und dies ist als ein besonderes Verdienst
E. J. Vajdas zu werten - vielen derer, die künftig über die jeniseischen Völker und
Sprachen arbeiten werden, den Einstieg in diese so spannende Materie erleichtern.
Es ist zu hoffen, dass dieser so verdienstvollen Arbeit recht bald eine weitere
vervollständigte und aktualisierte Auflage folgen wird, in der vielleicht die eine
oder andere an dieser Stelle gegebene Anregung (und nur als solche möchte der
Rezensent die oben gemachten Ausführungen verstanden wissen) Berücksichti-
gung finden wird.
ln seinem historischen Überblick verleiht der Vf./Hrsg, seiner Hoffnung Aus-
druck, dass sein Werk „eine Anregung und Hilfe für die jeniseischen Studien im
21. Jh.“ sein wird (S. 17), eine Hoffnung, die ganz gewiss nicht enttäuscht werden
wird, stellt doch das Werk Vajdas schon jetzt eines der wichtigsten Kompendien
der Ketologie - ja selbst darüber hinaus der Paläoasiatik - dar. Wofür dem
Vf./Hrsg, der Dank und die Anerkennung eines hoffentlich breiteren Publikums -
hierunter der Rezensent - gebühren.
Anmerkungen
1 Sieht man einmal von der vor nahezu einem halben Jahrhundert erschienenen „Paläosibirischen
Bibliographie“ (Jakobson, Roman/ Hiittl-Worth, Gerta/ Beebe, John Fred: Paleosiberian peoples and
languages: a bibliographical guide. New Haven 1957 [Behavior Science Bibliographies]) oder der
schon etwas umfangreicheren Bibliographie V. Toporovs im II. Band der „Studia Ketica“ (1969) ab.
2 Vajda, Edward J.: Yeniseian peoples and languages: a history of Yeniseian studies with an annota-
ted bibliography and a source guide. Richmond: Curzon Press, 2001. XXVI [XXVIII] + 391 S.,
ISBN 0-7007-1290.
3 Zum historischen Überblick s. u.
4 Hierzu vgl. unten.
5 Donner, Kai: Ketica. Materialien aus dem Ketischen oder Jenisseiostjakischen. Helsinki 1955
(Mémoires de la Société Finno-Ougrienne, 108).
6 Bouda, Karl: Über Ketica. Materialien aus dem Ketischen oder Jenisseiostjakischen, von Kai Don-
ner, Helsinki 1955. In: ZDMG, 108 (2). Leipzig 1958. 430-444.
7 Austerlitz, Robert; Ketica. Materialien aus dem Ketischen oder Jenisseiostjakischen, von Kai Don-
ner, Helsinki 1955. Rez. in; Word, 15. 1959. 403.
8 Donner, Kai: Ketica II. Supplement. Helsinki 1958 (Mémoires de la Société Finno-Ougrienne, 108
(2). 1-35).
9 Erfreulicherweise sind bei Vajda auch die Arbeiten ausgenommen worden (vgl. S. XVI-XVII), die
sich irrtümlich in der „Paläosibischen Bibliographie“ fanden (etwa verschiedene Beiträge, in denen
die samojedischen „Ket-Ostiaken“ behandelt werden oder auch „Fehlzitate“ [z. B. Nr. 5: 91 a -
K. Rychkov]).
10 Zu nennen sind hier nur etwa ältere Arbeiten zum sibirischen Schanianismus, in denen auch die
Jeniseier - hier zumeist die Keten - angesprochen werden (z. B. Charuzin, V. N.; Primitivnye for-
my dramatièeskogo iskusstva. In: Ëtnografija, 1928 ( 1 ). 32-42 [behandelt auch „Schamanismus“ bei
den westafrikan. Ewe; Material von Anuèin übernommen]; Podgorbunskij: Samany y ich misterii.
In: Michajlovskogo, V, M.: Samanstvo. Sravnitel'no ëtnografièeskij oèerk. Bd. I. Moskva 1892).
11 Doerfer, Gerhard: Werner, Heinrich: Die ketische Sprache. Wiesbaden 1997 (Tunguso-Sibirica, 3).
Rez. in; CAJ, 42 (2). 1998. 325-326.
12 Zu erwähnen wären hier nur die Aufsätze V. Bla eks und J. D. Bengtsons (CAJ, 39 (I). 1995. 9-10;
39 (1). 1995. 11-50; 39 (2). 1995. 161-164).
13 Etwa Stachowski, Marek: Heinrich Werner: Die ketische Sprache. In; Studia Etymologica Craco-
viensia, 3. Krakow 1998. 195-196.
116
Michael Knüppel; Zur jeniseischen Bibliographie
14 Zumindest eine der beiden (Adelung, Johann Christoph/ Vater, Johann Severin: Mithridates oder all-
gemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in beynahe fünfhundert Sprachen
und Mundarten von Johann Christoph Adelung... aus dessen Papieren fortgesetzt und bearbeitet von
Dr. Johann Severin Vater. Zweyter Theil. Berlin 1809) ist übrigens auch schon bei Jakobson/Hüttl-
Worth/Beebe berücksichtigt worden (hier Nr. 1.2).
15 Strahlenberg, Philipp Johann v.: Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia: in so weit sol-
ches Das Gantze Russische Reich mit Sibirien und der grossen Tartarey in sich begreiffet. In einer
Historisch-Geographischen Beschreibung der alten und neuern Zeiten, und vielen andern unbe-
kannten Nachrichten vorgestellet. Nebst einer noch niemahls ans Licht gegebenen Tabula Polyglot-
ta von zwey und dreyssigerley Arten tartarischer Völcker Sprachen und einem Kalmückischen Vo-
cabulario, Sonderlich aber Einer grossen richtigen Land-Charte von den benannten Ländern und an-
dern verschiedenen Kupfferstichen, so die Asiatisch-Scythische Antiqvität betreffen; Bey Gelegen-
heit der Schwedischen Kriegs-Gefangenschaft in Russland, aus eigener sorgfältigen Erkundigung,
auf denen verstatteten weiten Reisen zusammen gebracht und ausgefertigt. Stockholm (in Verlegung
des Autoris) 1730 (Neudruck; With an Introduction by J. R. Krueger. Ed. Judit Papp. Szeged 1975
[SUA, 8]).
16 [Pallas, Peter Simon]: Linguarum totius orbis vocabularia comparativa = Sravnitel’nye slovari vsech
jazykov i narecij/ [augustissimae cura coli. P. S. Pallas], Sectio prima: Linguas Europae et Asiae
complexae. Pars prior. Petropoli 1786; Pars secunda 1789.
17 Eine nicht näher bestimmte „sprachliche Zusammengehörigkeit“ dieser Gruppen ist natürlich schon
zuvor angenommen worden, jedoch war auf diese vor allem aus „kulturellen Übereinstimmungen“
geschlossen worden. Bis zur „Beweisführung“ sollten jedoch auch nach dem Erscheinen der Arbei-
ten der beiden Adelungs noch Jahrzehnte vergehen.
18 Das Nivchische etwa, das ebenfalls zu den genetisch nicht miteinander verwandten paläoasiatischen
Sprachen gerechnet wird (auch Adelung behauptet mit seiner Aufstellung keine Zusammengehö-
rigkeit der „verschiedenen“ paläoasiatischen Sprachen), führt der Vf, an anderer Stelle auf.
19 Adelung, Friedrich; Uebersicht aller bekannten Sprachen und ihrer Dialekte. St. Petersburg 1820.
40-41(43),
20 Adelung, 1809, 560-561.
21 Vgl. hierzu Angere, Johannes/ Menges, K[arl] H[einrich]: Eine Bibliographie der paläoasiatischen
Sprachen. In; UAJb, 32. 1960. 133-135 (Bespr. v.; Jakobson, Roman/ Hüttl-Worth, Gerta/ Beebe,
John Fred: Paleosiberian Peoples and Languages. A Bibliographical Guide. New Haven 1957).
117
TRIBUS 52, 2003
LORENZ KORN
Datierung durch Metallanalyse?
Eine vergleichende Studie zu Bronzeobjekten und Kupfermünzen
aus Ostiran und Zentralasien
Einleitung: Problemstellung und Methode
Khurasan-Bronzen und ihre Datierung
Die so genannten „Khurasan-Bronzen”1 stellen eines der wichtigsten Produkte der
iranisch-zentralasiatischen Kunst in islamischer Zeit dar. In ihnen wurden bedeu-
tende Leistungen in der Entwicklung von Objektformen, Dekorformen und -tech-
niken verwirklicht, die sich auf andere Gebiete der islamischen Kunst (z. B. bei
den Mossulbronzen) auswirkten.
Mit dem Begriff „Khurasan-Bronzen” werden im Sprachgebrauch der islamischen
Kunstgeschichte Gebrauchs- und Repräsentationsobjekte aus Buntmetall bezeich-
net, deren Herkunft im ostiranisch-zentralasiatischen Raum (der islamischen Pro-
vinz Khurasan) zu lokalisieren ist und bei denen überwiegend Kupfer den Haupt-
bestandteil der Legierung bildet. Als Khurasan-Bronzen im engeren Sinne gelten
die Objekte von der frühislamischen Zeit bis ins 7./13. Jh., während spätere Ar-
beiten aus denselben oder benachbarten Regionen meist anders klassifiziert wer-
den (z. B. timuridische Metallarbeiten).
Objekte dieser Art befinden sich in fast allen größeren Sammlungen islamischer
Kunst im Vorderen Orient, in Europa und Nordamerika. Khurasan-Bronzen haben
(ähnlich wie die etwas späteren Mossuler Bronzearbeiten) aufgrund ihres anspre-
chenden Erscheinungsbildes schon lange das Interesse der Kunstwissenschaft auf
sich gezogen. Einige besonders bedeutende Arbeiten sind relativ früh Gegenstand
monographischer Behandlung geworden (Vesselofski 1910). Das Interesse galt
dabei zunächst der Feststellung inschriftlich datierter und signierter Objekte (z. B.
Herzfeld 1936; Ettinghausen 1943; zusammenfassend: Mayer 1958). Daneben
analysierte man den Dekor und die bildlichen Darstellungen auf den Objekten
nach formgeschichtlichen und ikonographischen Gesichtspunkten (z. B. Rice
1955; Ettinghausen 1957; Härtner 1973-74). Außerdem stellte sich die Frage nach
den Ursachen für das Aufkommen der für die späteren Werke so charakteristi-
schen Technik der Silbertauschierung und ihrer Verbreitung im Vorderen Orient
(Allan 1976).
Weitere Arbeiten befassten sich mit der chronologischen Einordnung einzelner
Objekte oder ganzer Gruppen. Sie griffen dabei auf stilistische Kriterien und auf
technische Herstellungsmerkmale zurück. Als Bezugspunkte für eine absolute
Chronologie dienten dabei die seltenen inschriftlich sicher datierten Objekte (z. B.
Marshak 1972; Melikian-Chirvani 1974-79). Auch Wortlaut und epigraphischer
Stil der Inschriften sowie die Entwicklung der Gefaßformen wurden zur Klassifi-
zierung ostiranischer Bronzen herangezogen (z. B. Melikian-Chirvani 1982). In
seiner umfassenden Untersuchung zur Technologie iranischer Metallarbeiten zog
Allan (1979) auch Metallanalysen heran, die aber zahlenmäßig auf einer schma-
len Basis standen und kaum im Hinblick auf Datierungen ausgewertet wurden
(Allan 1979, pp. 141-146, und Kaczmarzyk - Hedges 1979).
Durch die Publikation von Sammlungen und Grabungsfunden (Fehervari 1976;
Allan 1982 a-b; Atil 1985; Dahncke 1992-1997; Bumiller 1993) ist ein relativ um-
fassendes Bild vom Umfang und der Diversität der Metallarbeiten Ostirans und
Zentralasiens vom 2./8. bis 7./13. Jh. zustande gekommen. Doch sind die Datie-
rungen durch Stilvergleiche nur unvollkommen abgesichert; geographische Zu-
ordnungen lassen sich innerhalb des Großraumes „Khurasan” bzw. „Ostiran und
118
Lorenz Korn; Datierung durch Metallanalyse?
südliches Zentralasien” - über die nicht immer verlässlichen Provenienzangaben
des Kunsthandels hinaus - nur schwer begründen. Verwertbare archäologische
Kontexte fehlen zumeist. Die Aussagekraft einer Einordnung aufgrund von Stil-
vergleichen, begrenzt durch die Subjektivität des Betrachters, ist nur selten an-
hand externer Kriterien verifizierbar. Für ein besseres Verständnis der Khurasan-
Bronzen und der mit ihnen verknüpften Aspekte (ihrer formalen Entwicklung im
Vergleich zu anderen Strömungen in der islamischen Kunst, dem Übergang zwi-
schen Gebrauchs- und Luxusartikeln) sind verbesserte Datierungsmöglichkeiten
unerlässlich.
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung waren Messungen der Metallge-
halte von Kupfermünzen, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Mittelalter-
liche Münzprägung in Bergbaugebieten” an der FINT (Forschungsstelle für isla-
mische Numismatik, Universität Tübingen) Vorlagen. Bei den 533 untersuchten
Kupfermünzen zeigten sich Regelmäßigkeiten in der Metallzusammensetzung,
die darauf hindeuteten, dass in den jeweiligen Münzstätten in einer Periode be-
stimmte Legierungen verwendet wurden. Daraus leitete sich die Erwartung ab,
dass sich charakteristische Profile von Legierungs- und Spurenelementen für die
ostiranischen Münzstätten zu bestimmten Zeiten darstellen lassen.
Angesichts der Schwierigkeiten, auf die die Datierung und Lokalisierung von
Khurasan-Bronzen nach kunsthistorischen Kriterien bisher gestoßen ist, sollte die
Möglichkeit geprüft werden, anhand des Vergleichs zwischen der Metallzusam-
mensetzung der sicher datierten und lokalisierten Münzen und der Bestandteile
der Bronzeobjekte zu einer genaueren Bestimmung der Khurasan-Bronzen zu ge-
langen.
Als Material für die Untersuchung wurden zum einen bereits vorhandene Mess-
werte verwendet: 368 aus den oben erwähnten Analysen von Kupfermünzen, da-
zu Analysen von über 300 Bronzeobjekten aus der Bumiller Collection in Bam-
berg. Zusätzlich wurden 34 Bronzeobjekte aus dem Linden-Museum in Stuttgart
einer Analyse unterzogen. Der Hauptteil der Arbeit bestand in der computerge-
stützten Auswertung der Messdaten. Sie wurden in verschiedenen Kategorien
(Münzstätten, Objektarten, Legierungsmetalle, Spurenelemente) zusammenge-
stellt und miteinander verglichen. Auf diese Weise wurden die Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in der Metallzusammensetzung von Münzen und Objekten her-
ausgearbeitet. Postuliert wurde eine weitgehende Übereinstimmung der metalli-
schen Komponenten von Stücken, die in zeitlicher und geographischer Nähe ent-
standen. Diesem Ansatz lag die Prämisse zugrunde, dass die strukturellen Gege-
benheiten des mittelalterlichen Metallhandwerks eine technologische Überein-
stimmung von Metalleigenschaften in der Münzprägung und in der Herstellung
von Objekten förderten.
Materialgrundlage der Untersuchung
An den Universitäten Basel, Freiburg und Tübingen wurde 1996 bis 1998 das von
der VW-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Mittelalterliche Münzprägung in
Bergbauregionen” durchgeführt. Im Rahmen dieses Projekts waren ca. 5.000 isla-
mische Münzen - vorwiegend Silberdirhams - aus Ostiran und Zentralasien aus
dem Bestand der Tübinger Universitätssammlung (FINT) einer Metallanalyse
unterzogen worden (vgl. Ilisch / Schwarz, in Vorbereitung). Die Analysen wurden
1996 und 1997 vom geochemischen Labor (Mineralogisch-petrographisches Insti-
tut) der Universität Basel unter der Leitung von Prof. Dr. W. B. Stern durchgeftihrt.
Als Analysemethode kam die energiedispersive Röntgenfluoreszenz (EDXRF) zur
Anwendung (vgl. Stern 1998, pp. 3-9). Dabei wurden die Elemente Ag, Au, Cu, Cr,
Fe, Co, Ni, Zn, As, Pd, Cd, Sn, Sb, Pt, Hg, Pb, Bi, Se und Mo analysiert. Zählsta-
tistische und systematische Fehler wurden durch Nachmessungen und Kontroll-
messungen korrigiert bzw. abschätzbar gemacht (vgl. ebd., pp. 9-13).
119
TRIBUS 52, 2003
Aus diesem Material stammten auch Messdaten an 533 „Kupfermünzen”, d. h.
überwiegend aus Buntmetallen bestehenden Münzen der islamischen Zeit aus
Münzstätten in Ostiran und Zentralasien. Daraus wurden aufgrund ihrer geogra-
phischen Lage und historischen Bedeutung Münzen aus folgenden Städten zur
weiteren Bearbeitung ausgewählt; Bukhara (121 Stück), Samarqand (46), ash-
Shash (28), Balkh (94), Marv (6), Herat (6), Nishapur (6), Qunduz (31), Tirmidh
(24). Damit entstammen von 368 ausgewerteten Kupfermünzen 195 aus den drei
großen Städten Mittelasiens (Transoxanien) undl73 Stücke aus den Gebieten
Nordostirans bzw. am oberen Oxus.
Die „Bumiller Collection”, d. h. die Sammlung Manfred Bumiller, die seit den
1980er Jahren aufgebaut und seit den 1990er Jahren als Museum für frühislami-
sche Kunst in Bamberg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, enthält
mehrere tausend Objekte aus der islamischen Welt. Der Schwerpunkt der Samm-
lung liegt auf iranischen Bronzeobjekten bzw. „Khurasan-Bronzen”. Davon war
ein Teil im Zuge der Katalogisierung und Publikation in den 1990er Jahren
metallanalytisch untersucht worden. Die Untersuchungen wurden nach der Atom-
Absorptionsmethode (ICP-Analyse) vom Rathgen-Forschungslabor der Staat-
lichen Museen preußischer Kulturbesitz in Berlin unter der Leitung von Prof. Dr.
J. Biederer durchgeführt. Sie erstreckten sich auf folgende Objektgruppen: Öl-
lampen (104 Stück), Flügelschalen und Flakons (90), Tierkopf- und Öllampen-
kannen (33)2, Spritzflaschen (92), Tabletts bzw. Tischeinlagen (18). Insgesamt
wurden also 337 Stücke metallanalytisch untersucht. Außer den Tabletts sind
sämtliche Objekte in den Katalogen des Museums publiziert (Bumiller 1993,
Dahncke 1992, 1995, 1997). Die Analysedaten der Kannen und der Spritzflaschen
wurden mit den Objekten veröffentlicht (Biederer 1995, 1997).
Die Analysedaten lagen als Ausdrucke in Tabellenform Ende 1998 in Tübingen
vor. Sie enthielten Analysewerte der folgenden Elemente: Cu, Sn, Pb, Zn, Fe, Ni,
Ag, Sb, As, Bi, So, Au und Cd, ausgedrückt jeweils in % mit einer Genauigkeit
von 2 Dezimalstellen (bei Cd 3 Dezimalstellen; entsprechend 100 bzw. 10 ppm).
Die Tabellen wurden in Dateien umgewandelt und für die Einbeziehung in die
Untersuchung aufbereitet3.
Vom Staatlichen Museum für Völkerkunde (Linden-Museum) in Stuttgart wurde
in den 1970er und 1980er Jahren ein umfangreicher Bestand an „Khurasan-Bron-
zen” erworben. Als unmittelbare Provenienz war bei der Mehrzahl von ihnen Af-
ghanistan angegeben. Aus diesem Bestand wurden 34 Stücke ausgewählt. Aus je-
dem von ihnen wurden in der BestaunerungsWerkstatt des Museums ein bis drei
Materialproben im Umfang von mehreren mg (bis maximal ca. 0,1 g) entnom-
men4, so dass insgesamt 42 Proben Vorlagen. Die Proben wurden am geochemi-
schen Labor (MPI) der Universität Basel metallanalytisch untersucht. Dabei kam,
wie bei den Münzen, die EDXRF-Methode zur Anwendung. Untersucht wurden
die Elemente Cu, Sn, Zn, Pb, As, Cr, Mn, Fe, Ni, Ag, Se, Sb, Au, Hg, Bi, Pd, Pt,
Co, P und S. Zum Vergleich der Messmethoden wurden außerdem die Elemente
Cu, Sn, Zn, Pb und Ag noch per ICP-Analyse untersucht.
„Die Übereinstimmung der Ergebnisse ist für die meisten Proben gut; für vier be-
stehen zum Teil wesentliche Unterschiede [Nr. 14, 18A, 21A, 22A], die nicht nur
bei Blei und Kupfer, sondern auch Zink und Silber ein beträchtliches Ausmaß an-
nehmen können. Drei der Ausreißer zeichnen sich durch einen hohen Eisengehalt
aus.” (Stern 1999, p. 2).
Möglicherweise beeinflussen also hohe Fe-Gehalte die Messdaten auch anderer
Komponenten insofern, als sich bei drei Stücken mit hohem Fe-Gehalt stärkere
Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen der XRF- und der ICP-Analyse feststel-
len lassen. Andererseits kommen abweichende Werte im Vergleich der beiden
Analysemethoden auch bei Objekten vor, deren Fe-Gehalt im gewöhnlichen Rah-
men liegt, so dass eine Kausalität nicht unbedingt anzunehmen ist:
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Proben-Nr.
14
14
ISA
21A
21A
22A
22A
Fe |%] Element 1%) (XRF) Element 1%) (ICP)
5,47 Pb 4,79 Pb 0,66
5,47 Sn 9,81 Sn 18,78
7,30 Cu 68,82 Cu 31,26
0,42 Cu 67,16 Cu 91,50
0,42 Pb 6,63 Pb 3,12
17,19 Cu 37,66 Cu 74,14
17,19 Pb 43,76 Pb 2,10
Die Messwerte der Analysen waren jeweils in % angegeben, ihre Genauigkeit
reichte bis zur zweiten Dezimalstelle (= 100 ppm)5. Für die weitere Auswertung
wurden die Daten der XRF-Analysen verwendet. Bei ihrer Interpretation ist
selbstverständlich in den Fällen, wo stark abweichende Daten aus der ICP-Ana-
lyse vorliegen, Vorsicht geboten.
Kanon der analysierten Spurenelemente
Fe Sb Bi Ni Pt Au Mo Cr Co Hg Se Cd Pd Mn p S
Münzen FINT X X X X X X X X X X X X X
Slg. Bumiller X X X X X X X
Linden-Mus. X X X X X X X X X X X X X X
Der grundsätzlichen Problematik des Vergleichs von Daten, die mit verschiedenen
Analysemethoden gewonnen wurden, ist sich der Bearbeiter bewusst. Die mögli-
che Abweichung der Messdaten aus ICP-Analysen von solchen aus XRF-Analy-
sen ist bekannt. Ihr wurde z. T. durch die Kontrollmessung an Objekten des Lin-
den-Museums begegnet, bei denen beide Analyseverfahren zur Anwendung ka-
men (s. oben); die Ergebnisse stimmten in der Mehrzahl der Fälle gut überein.
Dennoch könnten unterschiedliche Kalibrierungen von Messgeräten dazu führen,
dass beispielsweise die Messdaten aus ICP-Analysen eine größere Homogenität
aufweisen als diejenigen aus XRF-Analysen.
Daneben sind noch weitere Aspekte zu berücksichtigen, die zur Verzerrung oder
Verfälschung von Messergebnissen führen können: Zum einen findet bei stark
bleihaltigen Legierungen keine vollständige Vermischung der verschiedenen
Metallbestandteile statt; d. h. das Blei kann in sehr unterschiedlichen lokalen Kon-
zentrationen vorliegen. Diese Schwankungen wirken sich bei der Analyse einer
Oberfläche von 4 mm2, wie sie bei den Münzen vorgenommen wurde, sicherlich
weit geringer aus als bei der Analyse kleinster Proben, wie sie den Objekten des
Linden-Museums entnommen worden waren. Insofern können Ungenauigkeiten
bei den Pb-Werten dieser Objekte nicht völlig ausgeschlossen werden. Schließlich
sind noch die Nachweisgrenzen zu beachten, die für die XRF-Analyse allgemein
bei 200 ppm angesetzt werden kann. Elemente, deren Messwerte diese Grenze
unterschreiten, sollten selbstverständlich in die Interpretation nur mit Vorsicht und
geringster Gewichtung einbezogen werden. Die technischen Grenzen der Analy-
severfahren bestimmen also auch hier die Auswertung der Daten wesentlich mit.
Auswertung des Materials
Die Auswertung der Messdaten erfolgte durch computergestützten Vergleich cha-
rakteristischer Merkmale. Wichtigstes Instrument war die grafische Veranschauli-
chung in Diagrammen. Damit konnten Korrelationen zwischen Legierungsmetal-
len und Spurenelementen erkannt und die chronologische Veränderung von Le-
gierungen verfolgt werden. Dabei wurden zunächst alle Messdaten bearbeitet und
121
TRIBUS 52, 2003
erst in einem zweiten Schritt die Detail Untersuchung auf als charakteristisch er-
kannte Kombinationen eingeschränkt.
Innerhalb der nach Münzstätten gegliederten Münzdateien wurden alle analysier-
ten Elemente in separaten Tabellen gegen die Prägejahre aufgetragen und die Er-
gebnisse in Diagrammen sichtbar gemacht. Dasselbe geschah auch mit den nach
den zwei großen Regionen „Transoxanien” und „Cisoxanien” zusammengefassten
Daten. Für diese Datenreihen wurden auch Legierungselemente und Spurenele-
mente gegeneinander abgetragen, um Korrelationen zwischen einzelnen Elemen-
ten in Diagrammen darzustellen. Für ausgewählte Elementkombinationen (etwa
Spurenelemente versus Pb oder As) wurden die Korrelationen in ihrer chronolo-
gischen Entwicklung verfolgt; hierzu wurden Abfragetabellen erstellt, die die
Quotienten aus beiden Elementen für jede Münze anführen, und die Werte dieser
Tabelle gegen die Prägejahre abgetragen.
Die nach Objektarten aufgeteilten Analysewerte der Sammlung Bumiller wurden
wie die Münzdaten nach Elementen analysiert: Die einzelnen Legierungs- und
Spurenelemente wurden in Diagrammen gegen ein grobes chronologisches Raster
abgetragen. Für die überwiegende Zahl der Objekte wurden hierfür die Datierun-
gen aus den Katalogen (Dahncke, 1992-1997, Bumiller, 1993) verwendet. Für die
Tabletts wurde eine eigene relative Chronologie entworfen, die die Kriterien der
o. a. Werke mit einbezieht. Für einige Objektarten wurden auch Mittelwerte für
Legierungsmetalle berechnet. Die Legierungs- und Spurenelemente wurden
wiederum gegeneinander abgetragen und ihr Verhältnis jeweils in Diagrammen
dargestellt.
Die Messdaten an den Objekten aus dem Linden-Museum wurden ebenfalls in
Diagrammen bearbeitet. Eine vorläufige chronologische Einordnung der Objekte
wurde erstellt. Jeweils separat für gegossene und gehämmerte Objekte (hier flös-
sen bereits Ergebnisse aus der Auswertung der Bumiller-Objekte ein) wurden die
einzelnen Legierungs- und Spurenelemente chronologisch abgetragen. Wiederum
wurden auch die Korrelationen von Legierungs- und Spurenelementen in Dia-
grammen sichtbar gemacht.
Eingrenzung der Fragestellung und Hypothesenbildung
Wie oben ausgeführt, liegt der vorliegenden Studie als Problemstellung die
Schwierigkeit in der Datierung und geographischen Zuordnung der so genannten
„Khurasan-Bronzen” zugrunde.
Den Anstoß zur vorliegenden Untersuchung gab die Tatsache, dass erstmals Mess-
daten an Kupfermünzen aus Ostiran und Zentralasien in größerem Umfang zur Ver-
fügung standen. Hier wurde beobachtet, dass die Kupfermünzen in ihrer Metallzu-
sammensetzung Unterschiede und Übereinstimmungen aufwiesen, die von Präge-
ort und -datum abzuhängen schienen. Islamische Münzen bieten generell den un-
schätzbaren Vorteil, dass in der Regel durch ihre Aufschriften der Prägeort und das
Prägedatum angegeben sind. Unter diesen Bedingungen können Beobachtungen
zur stofflichen Zusammensetzung islamischer Münzen ohne Schwierigkeiten in
ein chronologisches und geographisches Raster eingeordnet werden.
Aus den geschilderten Bedingungen ergeben sich für die Untersuchung folgende
Leitfragen:
1) Sind die Unterschiede und Übereinstimmungen in der Zusammensetzung der
Münzen mit ihrem Prägeort und -datum in Verbindung zu bringen (mit ande-
ren Worten: liegen bei den Metallgehalten chronologisch und/oder geogra-
phisch bedingte Muster vor)?
2) Sind bei den Objekten Unterschiede in der Metallzusammensetzung festzu-
stellen, die von Herstellungsort und -zeit abhängig sein könnten?
3) Stimmen Metallzusammensetzungen von (Gruppen von) Objekten und Mün-
zen so weit überein, dass auf eine zeitlich und örtlich nahe Entstehung ge-
schlossen werden kann?
122
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Anhand dieser Fragen lassen sich Flypothesen bilden, die die Auswertung der
Messdaten leiten:
l a) Hypothese: Die Metallzusammensetzung der Münzen ist von Prägeort und
-datum in charakteristischer Weise abhängig.
Überlegung: An verschiedenen Orten und in verschiedenen Epochen variierten
jeweils die Quellen des Münzmetalls. Andererseits erfolgte eine Veränderung der
Quellen vermutlich nicht permanent, sondern nur über größere Zeiträume, so dass
die Uniformität der Zusammensetzung über mehrere Prägejahre hinweg gewahrt
blieb. Auch die handwerkliche Praxis der Schrötlingsherstellung, die Kenntnis,
Geschick und Übung erforderte, sorgte als Werkstatttradition dafür, dass sich die
technischen Merkmale der Münzen zwar von Ort zu Ort und über die Zeit hinweg
verändern konnten, jedoch an einem Ort innerhalb einer Generation zur Behar-
rung neigten6.
1 b) Gegenhypothese: Die Metallzusammensetzung der Münzen ist von Prägeort
und -datum unabhängig.
Überlegung: Metalle, die zur Herstellung von (Kupfer-)Münzen verwendet wur-
den, waren mobil und relativ haltbar. So konnten z. B. Metallobjekte über weite
Strecken gehandelt werden, oder Münzen konnten über längere Zeit aufbewahrt
werden, bis sie dann möglicherweise zur Schrötlingsherstellung eingeschmolzen
wurden. Die Herstellungspraxis für Münzschrötlinge war so flexibel, dass sie mit
Metallen aus unterschiedlichen Quellen auskam; sie konnte dem verfügbaren Ma-
terial angepasst werden.
2 a) Hypothese: Unterschiede und Übereinstimmungen in der Metallzusammen-
setzung von Objekten deuten auf unterschiedliche bzw. identische Herstellungs-
orte und/oder -Zeiten hin.
Überlegung; Analog zu 1 a).
2 b) Gegenhypothese: Unterschiede und Übereinstimmungen in der Metallzu-
sammensetzung von Objekten sind zufällig oder lassen sich aus anderen Parame-
tern erklären; dabei spielen vor allem der Gebrauchszweck bzw. die Art des Ob-
jekts, ästhetische Merkmale und die Herstellungstechnik eine Rolle.
Überlegung: Bei Metallobjekten bestimmt auch die Zusammensetzung ihrer Le-
gierung den Gebrauchswert und den ästhetischen Wert: So sollte z. B. das Metall
von Spiegeln polierfähig sein; Geschirre sollten nicht zu schwer wiegen, also ei-
ne dünne Wandung aufweisen, dabei aber formstabil sein, also eine gewisse Fes-
tigkeit oder Elastizität besitzen. Daneben war eine möglichst goldähnliche oder
bunte Farbigkeit sicherlich für die meisten Objekte erstrebenswert. Unabhängig
davon stellte eine möglichst rationelle Herstellungstechnik ihrerseits Anforderun-
gen an das Material: Grundsätzlich zog man sicherlich billiges Material dem teu-
reren vor. Das Recycling von Altmetall spielte wahrscheinlich eine bedeutende
Rolle. Schließlich forderte die Herstellung von gegossenen Objekten dazu heraus,
der Legierung schmelzpunktsenkende Bestandteile zuzusetzen.
3 a) Hypothese; Zwischen den Metallzusammensetzungen von Münzen und Ob-
jekten besteht ein chronologischer und/oder geographischer Zusammenhang.
Überlegung: Metallhandwerk und Metallhandel hatten in Ostiran in den ersten is-
lamischen Jahrhunderten sicherlich keinen unüberschaubaren Umfang, so dass
persönliche Kontakte und Werkstatttraditionen als Verbindung zwischen Münz-
prägung und Herstellung von Objekten, mindestens aber der Bezug von Rohme-
tall aus denselben Quellen a priori angenommen werden können.
3 b) Gegenhypothese: Zwischen den Metallzusammensetzungen von Münzen
und Objekten besteht kein chronologischer oder geographischer Zusammenhang.
Überlegung; Münzen und Metall gegenstände sind zwei verschiedene Arten von
Objekten, deren Produktion nicht notwendig zusammenhing; vielmehr scheint es
plausibel, dass die Herstellung von Münzen wegen ihrer hoheitlichen Funktion
streng von den kommerziellen Handwerken des Bazars abgeschirmt war.
Jede dieser Hypothesen erfordert zu ihrer Bestätigung oder Widerlegung einen
statistischen Abgleich der Metallzusammensetzungen mit anderen Kategorien.
123
TRIBUS 52, 2003
Für 1) sind die Metallgehalte der Münzen mit ihrer örtlichen und chronologischen
Zugehörigkeit zu vergleichen. Für 2) sind die Zusammensetzungen der Objekte
gegen die Objektarten und Herstellungstechniken, schließlich auch gegen ihre
vermutete Zeitstellung abzugleichen. Für 3) ist ein statistischer Abgleich der
Metallzusammensetzungen und (vermuteten) Zeitstellung von Münzen und Ob-
jekten nötig.
Die Hypothesen 2) und 3) können wahrscheinlich nur im Verbund geklärt werden,
weil die bisher existierende Chronologie für die Bronzeobjekte, zumindest die
früheren unter ihnen, umstritten und auf schwacher Basis aufgebaut ist - die iso-
lierte Betrachtung der Objekte liefert auf der Grundlage einer hypothetischen
Chronologie möglicherweise fälsche Ergebnisse für den Zusammenhang von
Metallgehalten und Datierungen. Die Objekte und Objektgruppen müssen daher
nach ihrer Metallzusammensetzung daraufhin untersucht werden, ob sie in das
Schema der durch die Münzen vorgegebenen Chronologie sinnvoll eingeordnet
werden können. Letztlich könnten die Fragen 2) und 3) also auch der Generierung
neuer Hypothesen zur Zuordnung der Bronzeobjekte dienen.
Ergebnisse
Münzen
Vorausgeschickt seien zwei grundlegende Tatsachen, die für die Auswertung zu
beachten sind und ihre Aussagekraft gelegentlich einschränken können: Von den
Münzstätten der untersuchten Region liegen bei weitem keine „flächendecken-
den” Reihen von Messdaten von Kupfermünzprägungen vor, etwa kontinuierlich
Jahr für Jahr über mehrere Jahrhunderte hinweg (Abb. 1). Diese Tatsache spiegelt
nicht nur die Auswahl von Analyseobjekten in der FINT im Rahmen des Projekts
„Mittelalterliche Münzprägung in Bergbauregionen” wieder. Die Lückenhaftig-
keit der Analysedaten liegt vielmehr schon im numismatischen Material begrün-
det. Aus bestimmten Münzstätten ist die Kupfermünzprägung für bestimmte Zeit-
abschnitte schlecht oder überhaupt nicht überliefert. Dies ist z. T. aus Gründen
schlechter Erhaltung zu erklären (mangelndes Interesse von Sammlern an Kup-
fermünzen), z. T. aber auch daraus, dass über weite Strecken keine Kleingeld-
(d. h. Kupfermünz-)Prägung stattfand.
Im Gegensatz zur Edelmetallprägung mit ihrem Charakter als staatliche „Dienst-
leistung” war die islamische Kupfermünzprägung mit dem Charakter einer Steu-
er (Verrufung von Kupfermünzen und Umtausch älterer gegen neue Kupfermün-
zen zu niedrigem Kurs) naturgemäß sporadisch. Lückenlose Datenreihen wie bei
Edelmetallmünzen sind also nicht zu erwarten. Möglicherweise resultierten aus
dieser Eigenheit der Kupfermünzprägung auch Diskontinuitäten in der Werk-
statttradition. So macht sich z. B. eine Lücke in den Messreihen ab 620 H. in al-
len Münzstätten Ostirans und Zentralasiens bemerkbar, die mit dem Zusammen-
bruch der Münzprägung nach der mongolischen Eroberung zu erklären ist. Gegen
Ende des 7./13. Jh. setzt die Münzprägung dann wieder ein (vgl. Schwarz 1995,
pp. 60 f. für Ghazna; Mayer 1998, pp. 50 f. für Shash/Tashkent). Auch die gerin-
ge Anzahl von Kupfermünzen aus Marv bedeutet nicht, dass eine ehemals vor-
handene, mit den anderen großen Münzstätten vergleichbare Materialfülle nur
mangelhaft repräsentiert ist, sondern wahrscheinlich kann für Marv in der Tat ei-
ne geringe Kupfermünzproduktion angenommen werden. Daneben sind in den
Analysedaten aber auch Schwankungen zu erkennen, die das Bild gegenüber der
vermutlichen Münzprägung verzerren: So sind die Mzst. Nishapur und Herat, ge-
messen an der politischen und ökonomischen Bedeutung dieser Städte, zu
schwach vertreten.
Bei den Legierungsmetallen sind einige grundsätzliche Beobachtungen festzu-
halten, die für die Gesamtheit der Münzen zutreffen. Kupier und Blei zeigen
Abbildung 1
Prägejahre [A.H.
X BLH
■ HER
♦ MRW
• NAY
o QUN
TIR
o BUH
□ SAM
A SAS
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
TR1BUS 52, 2003
Abbildung 2
eine umgekehrte Korrelation (Abb. 2), d. h. ein höherer Bleianteil hatte einen nie-
drigeren Kupferanteil zur Folge (oder umgekehrt). Ähnlich, aber nicht so klar
stark ausgeprägt, stellt sich das Verhältnis von Kupfer und Arsen dar, deren An-
teile ebenfalls in umgekehrter Korrelation zueinander stehen. Dagegen lässt sich
bei den beiden anderen bedeutenden Legierungselementen Zinn und Zink kein so
klarer Zusammenhang mit anderen Legierungselementen erkennen. Von schla-
gender Deutlichkeit ist hingegen die umgekehrte Korrelation von Zink mit Silber
(Abb. 3), die sich als Legierungselemente quasi gegenseitig ausschließen.
Bei den einzelnen Elementen stellt sich die chronologische Entwicklung folgen-
dermaßen dar:
Kupfer (Abb. 4), der Hauptbestandteil der überwiegenden Zahl der Münzen,
weist in den ersten Jahrhunderten (bis ins erste Drittel 5./11. Jh.) eine sehr breite
Streuung auf, die von über 90 % bis 40 % hinabreicht, in einem Fall sogar noch
darunter. Die breite Streuung ist in allen Münzstätten zu beobachten (eindrucks-
voll die Verteilung der chronologisch eng beieinander liegenden sechs Münzen
Abbildung 3
126
Lorenz Korn; Datierung durch Metall analyse?
Münzen: Cu nach Prägejahren
X BLH
□ HER
o MRW
o NAY
O QUN
+ TIR
O BUH
□ SAM
A SAS
0 200 400 600 800 1000
100 300 500 700 900 1100
Prägejahre
Abbildung 4
aus Marw, deren Cu-Anteile zwischen 50 % und 100 % gestreut sind). Allerdings
sind um 400/1000 bei den Münzen aus Bukhara konstant höhere Cu-Werte im Be-
reich um 80-90% zu beobachten, ln den späteren Phasen der Münzprägung geht
die Tendenz eindeutig zur Erhöhung des Cu-Anteils. Die Münzen des 6./12. Jh.
und frühen 7./13. Jh. aus Samarqand, Balkh, Tirmidh und Qunduz bleiben meist
im Bereich zwischen 60 % und 80 %. Die übrigen Legierungselemente sind hier
also schon zurückgedrängt. Überdeutlich ist die Tendenz zu hohen Cu-Gehalten
dann bei den Münzen vom späten 7./13. bis ins 10./16. Jh., bei denen der Cu-An-
teil fast durchweg über 95 % liegt.
Blei (Abb. 5), das zweitwichtigste Legierungselement, ist in den cisoxanischen Mün-
zen des 1./7. bis 3./9. Jh. mit variablen Anteilen in breiter Streuung von 0 % bis um
40 % enthalten. Von den Münzen des 6./12. Jh. aus Samarqand enthalten die früheren
bis 30 %, die späteren nur noch maximal 8 % Blei; auch in den Münzen aus Tirmidh
und Balkh konzentrieren sich um 600/1200 die Werte im Bereich bis 15 %. Die Ten-
denz zu niedrigen Pb-Werten verstärkt sich noch bei den Münzen der späteren Jahr-
hunderte, so dass die Münzen des 10./16. Jh. praktisch kein Blei mehr enthalten.
Zink (Abb. 6) lässt sich in den Münzen erst ab einem bestimmten Zeitpunkt nach-
weisen, der allerdings jeweils von Münzstätte zu Münzstätte variiert. Die ältesten
Münzen der cisoxanischen Münzstätten aus dem 278. Jh. sind praktisch Zn-frei:
ln Marw erscheint Zn in den H. 150er Jahren mit Anteilen um 4 % und 11 %; in
Nishapur und Berat bleiben die Münzen bis um 200 H. praktisch Zn-frei, während
in Balkh die „Einführung” von Zn mit den Münzen von 187 H. mit Anteilen um
4 % und 9 % erfolgt. Bei den Münzen aus Bukhara taucht Zn erst ab dem 4710.
Jh. auf, während die älteren Münzen praktisch Zn-frei sind. In Shash hingegen lie-
127
TR1BUS 52, 2003
Münzen: Pb nach Prägejahren
0 200 400 600 800 1000
100 300 500 700 900 1100
X BLH
□ HER
<s> MRW
o NAY
o QUN
+ TIR
o BUH
□ SAM
A SAS
Prägejahre
Abbildung 5
gen Zn-Anteile von Münzen bereits ab dem 2. Viertel des 3./9. Jh. zwischen 5 %
und 10 %. Auch in Samarqand enthalten die Münzen um die Mitte des 3./9. Jh.
zwischen 5 % und 8 % Zn. Auf die breite Streuung der Zn-Werte zwischen 0 %
und 12 % um 400/1000 folgt ein steiler Abfall der Zn-Gehalte unter eine Grenze
1 %, die nur von einzelnen Samarqander Exemplaren durchbrochen wird.
Zinn ist bei den Münzen des 2./8. bis 5./11. Jh. in Anteilen zwischen 0 % und 8
% (in vier Einzelfällen auch darüber) regelmäßig gestreut. Samarqander Münzen
des frühen 6./12. Jh. erreichen noch 2,7 %, während schon im späteren 6./12. Jh.
die Münzen derselben Münzstätte nur noch einen verschwindend geringen Sn-Ge-
halt aufweisen. Auch bei den Münzen aus Balkh, Tirmidh und Qunduz aus der
Zeit um 600/1200 liegt er fast ausschließlich unter 0,5 %. Nur wenige Ausreißer
aus Balkh und Samarqand durchbrechen die Grenze von 1 %, unter der der Sn-
Gehalt aller späteren Münzen liegt.
Auch Arsen kann bei den Münzen auf weite Strecken als Legierungselement gel-
ten: Im 2./8. Jh. sind die As-Anteile zwischen 0 % und 10 % verteilt. Vom 3./9.
bis ins frühe 5./11. Jh. erreichen sie Werte bis zu 15 %, in vier Fällen noch darü-
ber; auffällig ist dabei eine Zweiteilung in „cisoxanische” Münzstätten mit Wer-
ten zwischen 4 % und 15 % und transoxanische Münzstätten, bei denen sich das
Gros zwischen 0 und 10 % verteilt. Bei letzteren liegen die As-Anteile seit dem
6./12. Jh. kaum noch über 5 %, während sie in Balkh und Qunduz noch häufig
Werte zwischen 5 % und 10 % erreichen. Gemeinsam ist beiden Regionen wiede-
rum der weitere Rückgang der Anteile in den späteren Jahrhunderten. Anders als
etwa Blei oder Zink verschwindet Arsen aber nicht völlig aus dem Spektrum der
späten Münzen, sondern bleibt häufig im Prozentbereich erhalten.
128
Lorenz Korn; Datierung durch Metallanalyse?
Münzen: Zn nach Prägejahren
0 200 400 600 800 1000
100 300 500 700 900 1100
Prägejahre
X BLH
□ HER
# MRW
o NAY
o QUN
+ TIR
o BUH
□ SAM
A SAS
Abbildung 6
Silber muss schon deshalb zu den Legierungselementen gezählt werden, weil es sich
bei den Münzprägungen des späteren 6./12. Jh. und frühen 7./13. Jh. währungstech-
nisch um (Silber-) Dirhams handelt, deren Silberanteil im Laufe mehrerer Jahrhunder-
te einer stetigen Verschlechterung unterworfen war. Die relativ hohen Ag-Werte sind si-
cherlich die Folge von Weißsieden (Säurebehandlung der Münze, um durch Ag-Anrei-
chemng an der Oberfläche ein silbriges Aussehen zu erzielen); in der XRF-Oberflä-
chenanalyse fällt daher der Ag-Anteil höher aus als in der durchschnittlichen Legierung
der jeweiligen Münze, ln Samarqand lag der Silberanteil um 570 H. zwischen 10 %
und 22 %. Bei den Münzen aus Balkh um 600 /1200 ist die Streuung zwischen 0 %
und 22 % noch breiter. In Tirmidh erreichen die Werte vor 600/1200 bis zu 14 %, da-
nach noch bis 6 %. Die Münzen aus Qunduz aus den Fl. 610er Jahren liegen nicht über
9 %. In den vorangehenden und nachfolgenden Jahrhunderten ist Ag in den Münzen
praktisch nur als Spurenelement enthalten. Der Ag-Gehalt liegt meist zwischen 0,1 und
0,5 % (1.000-5.000 ppm); nur bei wenigen Stücken aus Bukhara über 4 %.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Münzen nach ihren Legie-
rungsbestandteilen chronologisch in drei große Gruppen einteilen lassen: Vom
2./8. bis ins frühe 5./11. Jh. spielen neben dem Hauptbestandteil Kupfer die
Metalle Zinn, Zink, Blei und Arsen eine bedeutende Rolle (Zinn nimmt aufgrund
seines leicht verspäteten Eintritts in das Spektrum der Legierungsmetalle eine
Sonderstellung ein). Das Bild weicht also von der klassischen Zinnbronze in er-
heblichem Maße ab; die Anteile der verschiedenen Metalle liegen in einer solchen
Größenordnung, dass man die verwendete Legierung in Analogie zur Metallver-
arbeitung außerhalb des numismatischen Bereichs als „quarternary alloy” be-
zeichnen kann (zu diesem Begriff vgl. Allan 1979, pp. 39, 46 und Index).
TRIBUS 52, 2003
Die Gründe für die Wahl dieser Mehrstofiflegierung, insbesondere für die hohen
Anteile von Pb und As sind noch unklar, wie überhaupt die Schrötlingsherstellung
islamischer Kupfermünzen nicht im Detail erforscht ist (zur Herstellung von
Schrötlingen und zur mittelalterlichen Münztechnologie allgemein vgl. Hammer
1993, pp. 43-54). Zunächst kann vermutet werden, dass man Blei und Arsen zu-
setzte, um den Schmelzpunkt zu senken und den Guss von Schrötlingen zu er-
leichtern. Andererseits zeigt die Betrachtung der hier untersuchten Münzen, dass
bei den meisten von ihnen die Schrötlinge offenbar nicht in Form gegossen wur-
den, sondern dass man zunächst Metallbarren oder -Stangen zu Blechstreifen aus-
walzte oder hämmerte, um dann aus diesen so genannten Zainen die Schrötlinge
auszuschneiden oder gar auszustanzen. Unebenheiten der Zaine wurden offen-
sichtlich mit einer groben Feile oder ähnlichen Werkzeugen abgeschliffen; die
Spuren dieser Bearbeitung sind bei vielen Münzen auch durch die Prägung nicht
vollständig verschwunden. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Schröt-
linge nicht nur an der Oberfläche, sondern auch am Rand befeilt wurden. Bei den
Münzen des 3.-6./9.-12. Jh. ist diese Technik am häufigsten anzutreffen. Hierbei
dürfte sich die versprödende Wirkung, die Blei und Arsen in der Legierung mit
Kupfer kennzeichnet, sehr negativ ausgewirkt haben. Offenbar nahm man diesen
Effekt in Kauf, weil andere Gründe für die Verwendung der Mehrstofflegierung
sprachen. Ausgenommen hiervon sind die Bukharischen Münzen der H. 350-
370er Jahre Münzen mit ihren relativ niedrigem Pb-Gehalt und dafür relativ ho-
hen Cu- und Zn-Werten. Bei ihnen wirkte sich die Zusammensetzung des Metalls
für die Verarbeitung zu Schrötlingen wahrscheinlich günstig aus.
Die zweite Gruppe bilden die Münzen des 6.-7./12.-13. Jh., deren relativ hoher
Silbergehalt ihre währungstechnische Herkunft aus abgewerteten Dirhams verrät.
Pb und As sind in diesen Münzen noch reichlich enthalten, während Zn und Sn
nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. In dem letzten Abfallen der Ag-Wer-
te bei den Münzen aus Tirmidh und Qunduz nach 600/1210 wird bereits die Ein-
führung des Jaital als neuer, aus dem nordindischen Münzwesen stammender
Kleingeldmünze bemerkbar. Diese Münzen haben auch äußerlich nichts mehr mit
dem Dirham gemein (vgl. Schwarz 1995, p. 9; Schwarz 2002, pp. 152-157).
Die Münzen des 8.-10./14,-16. Jh. schließlich bestehen zu etwa 95 % aus Kupfer;
die übrigen Metalle sind bis auf geringe Anteile zurückgedrängt. Die Ursachen für
die Dominanz von Cu in diesen Münzen sind bisher nicht untersucht worden.
Denkbar sind verbesserte Techniken der Metallraffmierung oder die Erschließung
neuer Metallquellen (aus Bergbau oder Import).
Zu beachten ist, dass die chronologische Abstufung der Metallgehalte ungefähr
mit einer zeitlichen Abfolge in der Technik der Schrötlingsherstellung einhergeht:
Gegossene Schrötlinge und gegossene Münzen kommen im 2. -3./8.-9. Jh. vor,
während ab der Mitte des 3./9. Jh. Schrötlinge aus geschmiedeten Zainen herge-
stellt wurden; die Produktion von Schrötlingen aus geschmiedeten Stangen, von
denen Stücke abgesägt und ausgeschmiedet wurden, überwiegt dagegen bei den
untersuchten Münzen ab dem späten 6./12. Jh. (vgl. Taf. 1-4).
Im Gegensatz zu diesen markanten chronologischen Entwicklungen erscheint das
Bild der Legierungselemente im Blick auf die verschiedenen Münzstätten bemer-
kenswert homogen. Eine Differenzierung der Legierungsmetalle nach Münzstät-
ten ist kaum zu beobachten. Eine Ausnahme bilden die je nach Münzstätte ver-
schiedenen Zeitpunkte der Einführung von Zink. Auch die Gruppe der Bukhari-
schen Münzen der H. 350-370er Jahre weicht mit ihrem relativ hohen Cu- und
niedrigen Pb-Gehalt vom Gesamtbild ab.
Im Hinblick auf die Fragestellung nach der Zuweisung von Bronzeobjekten, die die-
ser Untersuchung zugrunde liegt, kann somit folgende vorläufige Schlussfolgerung
gezogen werden: Die numismatischen Vergleichsdaten bieten für die geographische
Lokalisierung von Objekten wohl nur wenige Erfolg versprechende Ansatzpunkte;
dagegen liegen in chronologischer Perspektive durchaus Werte vor, die differenziert
genug sind, um als Ausgangspunkt für die Datierung von Objekten zu dienen.
130
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Tafel 1): Münzen, deren Schrötlinge aus Zainen ausgeschnitten wurden.
Die Schleifspuren auf der Oberfläche sind deutlich zu erkennen. Bei einigen
Stücken zeigt der gerade Abschnitt des Randes die Kante des Zains an.
a) Shash 254 H., 3,01 g, EINT 94-1-9
b) Binkat (= Shash) 306 H., 2,55 g, EINT Inv.-Nr. LI-2081
c) Samarqand 329 EL, 2,98 g, EINT Inv.-Nr. EB5 B2
d) Samarqand 404 EL, 2,95 g, EINT Inv.-Nr. 92-2-22
e) Bukhara 304 EL, 2,76 g, EINT Inv.-Nr. 90-27-2
f) Bukhara 352 EL, 2,01 g, EINT Inv.-Nr. EB10 C3
g) Bukhara 357 EL, 2,39 g, EINT Inv.-Nr. EC1 D3
h) Bukhara 380 EL, 1,99 g, EINT Inv.-Nr. EC4 E5
i) Balkh 345 EL, 3,25 g, EINT Inv.-Nr. EB10 B5
Fotos; EINT
Die obige Hypothese 1 a) wird damit in Bezug auf chronologische „Muster” in
eindrucksvoller Weise bestätigt. Im Hinblick auf geographisch, nach Münzstätten,
bedingte Charakteristika hingegen wird sie durch die vorliegenden Daten nicht
gestützt.
Bei den Spurenelementen sind als Aspekte der Untersuchung wiederum die ab-
soluten Werte und die Korrelationen zwischen Elementen zu unterscheiden. Als
methodischer Vorbehalt hat für beide Methoden zu gelten, dass die Größenord-
nungen, in denen die Spurenelemente vorliegen, z. T. so gering sind, dass die Mes-
sungen erheblich an Genauigkeit einbüßen und die Werte nicht bis zur letzten
Stelle zu Vergleichen herangezogen werden dürfen. Zu einer so weitgehenden
Interpretation der Messwerte bestand allerdings in der vorliegenden Untersuchung
kein Bedarf.
Die Ergebnisse der Spurenelement-Analyse können hier nicht im Einzelnen dar-
gestellt werden. Die Elemente Eisen, Antimon. Bismut, Nickel, Platin und Gold
131
TR1BUS 52, 2003
Tafel 2): Münzen, deren Schrötlinge von einer Stange abgesägt wurden.
Typisch ist vor allem bei der Münze aus Bukhara die beträchtliche, unregel-
mäßige Stärke des Schrötlings.
a) Tirmidh um 600 H„ 2,71 g, FINT Inv.-Nr. FB3 Dl
b) Bukhara 832 H., 6,63 g, FINT Inv.-Nr. HI4 D6
Fotos: FINT
a b
Tafel 3): Münzen aus gegossenen Schrötlingen.
Am Rand sind noch Reste der Gusszapfen erkennbar.
a) Balkh 182 H„ 3,11 g, FINT Inv.-Nr. AL4 Bl
b) Shash 265 H„ 3,65 g, FINT Inv.-Nr. 94-1-13
Fotos: FINT
Tafel 4): Vollständig gegossene Münzen.
Die Oberfläche zeigt die typische Rauheit des Gussmetalls.
a) Bukhara 209 H, 2,64 g, FINT Inv.-Nr. 272 C3d
b) Bukhara 2(5)3 H, 3,77 g, FINT Inv.-Nr. LI-1235
Fotos: FINT
sind über größere Zeiträume in signifikanten Mengen vertreten. Dagegen kommen
die Elemente Molybdän, Chrom, Kobalt, Quecksilber, Selen, Cadmium und Pal-
ladium in so geringen Spuren in den Münzen vor, dass quantitative Aussagen hier
nur unter Vorbehalt möglich sind (Nachweisgrenze!). Zusammenfassende Aussa-
gen über die Spurenelemente sind wegen des vielfältigeren Bildes schwieriger zu
treffen als bei den Legierungselementen. Allgemein verringert sich die Streuung
der meisten Werte wesentlich ab dem 6.-7./12.-13. Jh. Damit stimmt die Beob-
achtung überein, dass viele Spurenelemente mit Blei korrelieren, das ja in den
Münzen der ersten Jahrhunderte wesentlich stärker vertreten war und ab dem 6.-
7./12.-13. Jh. deutlich abfiel (Abb. 7).
Die Mzst. Balkh und Bukhara sind mehrfach mit höheren Werten vertreten als die
übrigen Mzst., während in Marv einige Spurenelemente überhaupt nicht Vorkom-
men. Bei der Bewertung dieses Faktums ist allerdings schon deshalb Vorsicht ge-
boten, weil Balkh und Bukhara die zahlenmäßig am stärksten vertretenen Mzst.
sind und bei ihnen a priori häufigere Extremwerte zu vermuten sind; umgekehrt
könnten auch die niedrigen Werte bei der nur in sechs Exemplaren repräsentierten
132
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Abbildung 7
Mzst. Marv zufällig sein. Auch bei den Spurenelementen weisen die Profile der
Bukharischen Münzen des 4./10. Jh. markante Besonderheiten auf, z. B. hohe Pt-
und Se-Werte sowie niedrige Cr-Werte. Allerdings beziehen sich die auffälligen
Werte nicht immer auf dieselben Exemplare und fallen auch nicht immer mit den
durch ihre Legierung klar abgegrenzten Münzen der Jahre 349-377 H. zusammen
(die hohen Pt-Werte kommen schon ab 302 H. vor und dauern auch nach 377 H.
noch an; die niedrigen Cr-Werte halten sich bis 433 H.; die überhöhten Se-Werte
kommen nur bei einem Teil der Münzen von 349-377 H. vor).
Die Spurenelemente erweisen sich, verglichen mit den Legierungselementen, als
weniger geeignet zur Überprüfung der Hypothesen über die Zeit- und Ortsabhän-
gigkeit der Materialzusammensetzung. Als wichtig könnte sich aber besonders für
den Vergleich mit den Bronzeobjekten die Charakteristik der Elementkorrelatio-
nen erweisen.
Objekte der Sammlung Bumiller
Anhand der Legierungen lässt sich bei den im Berliner Rathgen-Labor untersuchten
Objekten eine klare Scheidung in zwei Gruppen beobachten, die aber nicht etwa chro-
nologischen Linien7 folgt, sondern sich nach der Herstellungstechnik richtet: Die Le-
gierungen gegossener Stücke weisen fast immer eine grundlegend andere Zu-
sammensetzung auf als die Legierungen aus Blech gehämmerter Objekte, für den
Guss wurden prinzipiell eher bleireiche Legierungen verwendet, während die gehäm-
merten Bleche meist aus Messing mit geringen Pb- und Sn-Anteilen bestehen.
In grober Verallgemeinerung besteht die Legierung gegossener Objekte aus ca.
60-80 % Cu, ca. 20 % Pb, ca. 10 % Zn und ca. 3 % Sn, wobei der Zn-Anteil mit
Werten zwischen 5 % und 20 % den stärksten Schwankungen unterworfen ist.
Diese Zusammensetzung (Riederer 1995-97: „Mehrstoffbronze”, „Zinn-Blei-
Messing”; Allan 1979: „quarternary alloy”) lässt sich bei der Mehrzahl der Öl-
lampen, Llügelschalen und Llakons, Kannenkörper und Spritzflaschen beobach-
ten (Abb. 8) (vgl. Riederer 1995, p. 156; Riederer 1997, p. 340). Arsen und Sil-
ber kommen im Allgemeinen nur in so niedrigen Anteilen vor, dass sie nicht zu
den Legierungselementen gezählt werden können.
Dagegen weisen gehämmerte, also aus Blech hergestellte, Objekte einen relativ
hohen Cu-Gehalt um 80 % und einen hohen Zn-Gehalt auf; hier liegt also eine
Messinglegierung vor (vgl. Riederer, in: Dahncke 1995, p. 156). Der Unterschied
133
TRIBUS 52, 2003
Kannen Bumiller- Legierungen
Gefäßkörper
120
Abbildung 8
Abbildung 9
134
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
zwischen den gegossenen und gehämmerten Objekten ist innerhalb der Gruppe der
Tabletts der Sammlung Bumiller auf den ersten Blick zu erkennen (Abb. 9); Die
beiden gegossenen Tabletts heben sich markant von den 16 gehämmerten Stücken
ab und stimmen mit dem Schema der gegossenen Objekte anderer Gruppen über-
ein.
Bei genauerer Betrachtung muss die obige Aussage zu den Legierungen differen-
ziert werden. Die Legierungen der Öllampen passen insgesamt recht gut in das be-
schriebene Bild der „Mehrstoffbronze”. Doch fallen sie auch hier für einzelne
Stücke stark abweichend aus: So liegen die Pb-Gehalte bei den Stücken BC 428
und 2213 nur bei 3 bis 4 % - hier handelt es sich um klassische Zinnbronzen. Der
Sn-Gehalt, der normalerweise zwischen 2 und 5 % liegt, ist bei den Nm. BC 1157,
1808 und 1927 auf 7-8 % gesteigert. Der Zn-Gehalt schwankt am stärksten, er
liegt bei den Nrn. BC 279, 428, 1159, 1997, 2012 und 2211 über 15 %, bei den
Nrn. BC 718, 1051 und 2355 nur um 1 %.
Von den Flügelschalen und Flakons besteht nur ein, wenn auch bei weitem über-
wiegender, Teil aus der beschriebenen Vierer-Legierung (ca. 5/6 des Gesamtbe-
standes), während der Rest aus fast reiner Zinnbronze hergestellt ist. Diese schar-
fe Trennung geht nicht mit markanten Unterschieden in der Typologie oder dem
Stil der Objekte einher, so dass eine chronologische Differenzierung als Erklärung
zunächst nicht Frage kommt.
Auch bei den Kannen ist zu beobachten, dass der Cu-Anteil der Legierungen tenden-
ziell in umgekehrter Korrelation zum Pb-Anteil steht, d. h. ein höherer Bleigehalt der
Legierung geht auf Kosten des Cu-Gehaltes, während die Sn- und Zn-Anteile davon
weitgehend unberührt bleiben. Reine Zinnbronzen kommen bei den Kannen aber
nicht vor; auch bei den Stücken, bei denen der Sn-Anteil 5 % übersteigt, liegt der Pb-
Anteil noch deutlich höher. Vom Schema der Vierer-Legierung weichen auch manche
Kannenhenkel ab (z. B. BC 038, 200, 734, 1529, 2242), die z. T. als Messing ange-
sprochen werden können. Bei den Böden zeichnet sich eine klare Trennung ab: bei ei-
nigen kommen die Elemente Pb, Sn und Zn mit wesentlichen Anteilen vor (BC 338,
757, 1364, 2348), während die anderen neben Cu kaum nennenswerte Bestandteile
aufweisen (BC 201, 270, 734, 1238). Bei letzteren ist vermutet worden, dass es sich
um moderne Ergänzungen handelt (Dahncke, 1995, pp. 44, 57, 80, 91; zu den Kan-
nenlegierungen allgemein vgl. Riederer, in: Dahncke 1995, pp. 150-152, 155).
Die Spritzflaschen folgen fast durchweg dem oben dargestellten Legierungssche-
ma8. Davon heben sich mit teilweise stark abweichenden Werte die eingesetzten
Böden ab, die sich teilweise als Zinnbronze, teilweise als Messing mit hohem Zn-
Anteil darstellen (BC 199, 333, 451, 1503, 1669, 2220). Sie sind z. T. als moder-
ne Ergänzungen erkennbar, wobei jedoch auch altes Material verwendet worden
sein kann (vgl. Dahncke 1997, pp. 47, 55, 165, 185, 265, 288). Riederer hat bei
den Spritzflaschen die Trennung in eine bleireiche und bleiärmere Gruppe beob-
achtet, bei denen der höhere und niedrigere Pb-Anteil auch jeweils mit einem ent-
sprechenden Sn- und Ni-Anteil einhergeht, während sich der Fe-Anteil umgekehrt
verhält (Riederer, in: Dahncke 1997, p. 334). Diese Beobachtungen spiegeln sich
in den Element-Diagrammen nur unvollkommen wieder.
Bei den Spurenelementen gilt auch für die Untersuchung der Bumiller-Bronzen die
Schwierigkeit, dass quantitative Aussagen angesichts der geringen Anteile nur unter
Vorbehalt möglich sind. Bei sehr niedrigen Elementgehalten liefert die ICP-Analy-
se offenbar „Standardwerte”, die quasi nur die Größenordnung des Vorkommens an-
zeigen. Bei den Öllampen und Spritzflaschen ist für einige Spurenelemente zu be-
obachten, dass ihre Werte mit fortschreitender Chronologie nach oben tendieren.
Arsen liegt bei den meisten Objekten in Anteilen zwischen 0,2 % und 1 % (2.000-
10.000 ppm), gelegentlich auch darüber, vor. Tendenziell kann ein Ansteigen der
Werte bei den späteren Stücken beobachtet werden; Bei den Öllampen und bei
den Spritzflaschen, die Dahncke (1992, 1997) in das 3./9. Jh. und später datiert,
liegt As kaum noch unter 0,5 %. As korreliert bei allen Objektarten außer den Ta-
bletts deutlich mit Blei.
135
TR1BUS 52, 2003
Objekte Bumiller- Eisen
ln ungefährer Chronologie - rezente Ergänzungsteile nicht dargesteilt
X ÖLL
SPR
o FLS
KAN
□ TAB
Abbildung 10
Eisen (Abb, 10) kommt in breiter Streuung in Werten zwischen 0,1 % und etwas
über 1 % (1.000-10.000 ppm) vor. Ausgenommen davon sind die gehämmerten
Tabletts, bei denen der Fe-Gehalt eine Dezimale niedriger, zwischen 0,01 und 0,1 %
eingegrenzt ist. Bei den Flügelschalen bzw. Flakons, deren Fe-Werte unter 0,1 %
liegen (BC 298, 353,728, 1617, 1620, 1621, 1963,2376, 2449, 2468) ist die Ab-
weichung weniger leicht zu erklären. Jedenfalls gehören diese Stücke ganz ver-
schiedenen Stil- und Typengruppen an (vgl. Bumiller 1993, pp. 81 f., 99 f., 127 f.,
137 f, 155, 166). Bei den Kannen sind Werte unter 0,1 % nur an Zusatzteilen wie
Henkeln und Böden, die evtl, neueren Datums sind, zu beobachten. Fe korreliert
bei Öllampen, Flügelschalen/Flakons und Spritzflaschen deutlich mit Zn, bei Flü-
gelschalen/Flakons und Tabletts schwach mit Pb.
Antimon (Abb. 11) ist in den Objekten in breiter Streuung bis 1 % (0-10.000
ppm), bei den Öllampen gelegentlich auch darüber, enthalten. Nur bei den (ge-
hämmerten) Tabletts fallt der Sb-Anteil mit 0,2 % fast durchweg erheblich niedri-
ger aus. Außer bei den gehämmerten Tabletts ist die Korrelation von Sb mit Pb bei
allen Objektarten gut zu beobachten.
Für Nickel (Abb. 12) liegt die Obergrenze im Allgemeinen um 0,2 % (2.000
ppm), wird aber bei einzelnen Stücken erheblich überschritten (um 2 %); die
Untergrenze liegt bei ca. 0,05 % (500 ppm), beträgt aber wie bei anderen Spuren-
elementen bei den Öllampen und Spritzflaschen ab dem 3./9. Jh. etwa das Dop-
pelte. Bei den gehämmerten Tabletts sind die Ni-Spuren mit 0,01-0,04 % (100-
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
400 ppm) dagegen deutlich geringer. Eine Korrelation von Ni mit Pb ist bei den
Flügelschalen und Flakons sowie bei den Kannenkörpern sichtbar.
Die Werte für Silber streuen im Bereich zwischen 0,05 und 0,2 % (500-2.000
ppm). Bei den Spritzflaschen, die ins 3./9. Jh. und später datiert werden, ist ein
Anstieg der Untergrenze für Ag auf 0,1 % zu bemerken. Ag korreliert bei allen
Objektgruppen (selbst bei den Tabletts) deutlich mit Pb, bei den Öllampen und
Kannen auch mit Sn.
Bismut liegt in Anteilen zwischen 0,01 % und 0,1 % (100-1.000 ppm) vor, gehäuft
bei 0,025-0,05 %. Die Tabletts liegen mit ihren Bi-Werten von 0,025 % (250
ppm), im Gegensatz zur Situation bei anderen Spurenelementen, durchaus in die-
sem Rahmen. Die beiden Ausreißer unter den Flakons, BC 2353 mit 0,3 % und
BC 2142 mit 0,63 %, lassen sich nicht ohne weiteres erklären. Bei den Öllampen
und Kannen, in eingeschränktem Maß auch bei den Spritzflaschen, ist eine Kor-
relation von Bi mit Pb erkennbar.
Kobalt kommt in einem Bereich um 0,01-0,03 % (100-300 ppm) vor; gelegentlich
wurden höhere, sehr selten (nur bei Spritzflaschen) niedrigere Werte gemessen.
Eine Ausnahme bilden wieder die Tabletts, deren Co-Werte um 0,005 % (50 ppm)
liegen. Gold ist in allen Objekten mit einem konstanten Anteil von 0,01 % (100
ppm) gemessen worden. Das am schwächsten vertretene Element, Cadmium, liegt
bei fast allen Objekten, auch bei den Tabletts, um 0,001 % (10 ppm). Ein Ausrei-
ßer ist der Flakon BC 2216 mit 0,018 % (180 ppm). Korrelationen mit anderen
Objekte Bumiller - Antimon
ln ungefährer Chronologie - rezente Ergänzungsteile nicht dargestellt
X ÖLL
4- SPR
O FLS
KAN
□ TAB
Abbildung 11
137
TR1BUS 52, 2003
Objekte Bumiller - Nickel < 0,8 %
ln ungefährer Chronologie - rezente Ergänzungsteile nicht dargestellt
X ÖLL
+ SPR
FLS
KAN
6 7 8 9 10 11 12 13
Jh. [A.D.]
Abbildung 12
Elementen lassen sich für diese drei Elemente, bei denen offenbar die Messge-
nauigkeit die quantitativen Aussagemöglichkeiten stark einschränkt, nicht in sinn-
voller Art und Weise angeben.
Zusammenfassend kann für die Mehrzahl der untersuchten Bronzeobjekte aus
der Bumiller-Collection eine beeindruckende Homogenität der Legierungen fest-
gestellt werden. Die als „quarternary alloy” bzw. „Mehrstoffbronze” bezeichnete
Zinn-Blei-Messinglegierung fand bei den meisten Objekten Verwendung. Diese
Aussage muss aber im Hinblick auf die Herstellungstechnik modifiziert werden,
da die Gruppe der aus Blech gehämmerten Tabletts durchgehend eine abweichen-
de (Messing-)Legierung aufweist. Diese deutliche Scheidung nach Herstellungs-
techniken bzw. nach Objektarten macht es zunächst unwahrscheinlich, dass ein
Zusammenhang zwischen der Materialzusammensetzung und der vermuteten Zeit-
stellung der Objekte gezeigt oder postuliert werden kann. Aus dem Rahmen fallen
dabei die Zinnbronzen, die einen Teil der Flügelschalen und Flakons ausmachen;
ihre Abweichung vom allgemeinen Schema ist weder nach chronologischen Krite-
rien noch aus der Objektart und Herstellungstechnik ohne weiteres erklärbar.
Auch die Spurenelemente geben nur schwache Hinweise auf chronologische Fakto-
ren: Bei den Öllampen, Kannen und Spritzflaschen liegen die Untergrenzen für eini-
ge Spurenelemente ab dem 3./9. Jh. (nach Dahnckes Datierung) höher als davor.
Bei den Flügelschalen und Flakons sind Tendenzen im Gleichklang mit der rela-
tiven Chronologie aber nicht zu beobachten. Auch innerhalb der Tabletts lassen
138
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
sich keine Unterschiede in den Werten von Spurenelementen mit unterschied-
lichen Datierungen in Verbindung bringen.
Was die Korrelationen von Legierungs- mit Spurenelementen angeht, so deutet
die Tatsache, dass die Spurenelemente in den bleiarmen gehämmerten Tabletts um
eine ganze Größenordnung niedriger enthalten sind als in den bleireichen gegos-
senen (Ausnahmen bilden die Spurenelemente Bi, Au und Cd), auf ein Zu-
sammengehen der meisten Spurenelemente mit Pb hin. Von den anderen Legie-
rungselementen weisen nur Zn mit Fe (bei Öllampen, Flügelschalen/Flakons und
Spritzflaschen) und Sn mit Ag (bei Öllampen sowie Tierkopf- und Öllampen-Kan-
nen) deutliche Zusammenhänge mit Spurenelementen auf. Von den Legierungs-
elementen ist Cu praktisch nicht in Korrelation mit Spurenelementen, von den
Spurenelementen Bi so gut wie überhaupt nicht in Korrelation mit Legierungsele-
menten zu sehen.
Zwischenergebnis
Überträgt man das Ergebnis der Münzanalyse auf die Objekte, so würde aus der
chronologischen Abfolge der Legierungsarten bei den Münzen folgen, dass auch
bei den Objekten die Mehrstoffbronzen früher zu datieren wären als die aus Mes-
sing hergestellten - gegossene Gegenstände also früher angesetzt werden müssten
als gehämmerte. Diese Schlussfolgerung erscheint auf den ersten Blick unsinnig:
Wurde doch die Herstellungstechnik eines Gegenstandes wesentlich von seinem
Verwendungszweck bestimmt, so dass sich hier eigentlich keine chronologischen
Entwicklungen abzeichnen dürften.
Dennoch bestätigt die Betrachtung der Objekte selbst den Schluss, dass die Mehr-
zahl der gegossenen Gegenstände den gehämmerten zeitlich vorausgegangen sein
muss, bzw. dass umgekehrt gehämmertes Blech in größerem Umfang erst ab dem
5.-6./11.-12. Jh. verwendet wurde. Diese grobe chronologische Einteilung stimmt
mit früheren Beobachtungen an islamischen „Bronzen” überein (Allan 1976; Al-
lan 1979, pp. 45, 63 f.). Sie ergibt sich aus den Formen der Gegenstände ebenso
wie aus ihrem Dekor (sie gilt aus den oben angeführten Gründen der Zweckmä-
ßigkeit natürlich nur tendenziell). So zeichnen sich die gegossenen Stücke unter
den Tabletts der Slg. Bumiller (BC 1639, 2504, 2907, 2984, 3539) durch den ins-
Tafel 5).'Tablett BC 2504 (Guss)
Foto: Lorenz Korn
TRIBUS 52, 2003
gesamt sparsameren Dekor als bei den gehämmerten Tabletts aus (Taf. 5); die De-
kormotive der dichten Spiralranken und Darstellungen von Lebewesen, die letzte-
re auszeichnen, kommen auf den gegossenen Objekten überhaupt nicht vor. Auch
die Schrifttypen der gravierten Inschriften auf den gegossenen Tabletts weisen
Züge auf (insbes. BC 2907, 3539), die einer früheren Stufe der Epigraphik zuge-
ordnet werden können als das bei den Inschriften auf den blechernen Tabletts der
Fall ist (Taf. 6). Außerdem kommt die Form des halbrunden Tabletts fast aus-
schließlich gegossen vor (BC 2504, 2984, 3539)9.
Die gehämmerten Tabletts hingegen stehen mit ihrem Dekorstil fast durchweg im
5.-6./11.-12. Jh. (Taf. 7); Darauf weist nicht nur der routinierte Naskhi-Duktus der
Inschriften hin; auch das Vorkommen der Gabelblattranke wäre vor dem 5./11. Jh.
im äußersten Osten der islamischen Welt kaum denkbar. Schließlich hat die aus-
geprägt plastische Ausführung von Dekorelementen, Tieren und Fabelwesen so-
wie der mit Ringpunzen ausgefüllte Hintergrund (Taf. 8) ihre enge Parallele auf
datierten Stücken, wie z. B. dem prachtvollen gehämmerten Kerzenständer in der
Sammlung des Linden-Museums, dessen Herstellungsdatum inschriftlich auf
561/1166 fixiert ist. Für einige Tabletts, bei deren Gestaltung eindeutig chinesi-
sche Vorlagen mitgewirkt haben, kann ein noch späteres Datum, in der ersten
Hälfte des 7./13. Jh., angenommen werden.
Tafel öj.Tablett BC 2907 (Guss), Detail
Foto: Lorenz Korn
Für die kleine Gruppe der Tabletts lassen sich also schon in der groben Unter-
scheidung der Legierungsarten, die eine Entsprechung in der Datierung findet,
Übereinstimmungen mit den Münzen Festhalten. Auf andere Objektgruppen trifft
dies nicht ohne weiteres zu: Die Öllampen mit ihrer relativ gleichförmigen stoff-
lichen Zusammensetzung erstrecken sich chronologisch vermutlich über mehrere
Jahrhunderte. Stücke, die nach dem Stil ihres Dekors ins 6./12. Jh. datiert werden
können (z. B. BC 1792, 2324), bleiben in ihrer Legierung gänzlich unauffällig.
Die wenigen Stücke, deren Messdaten aus dem Rahmen fallen (z. B. BC 2213),
liegen nach ihrem Stil zu urteilen nicht in chronologischen Extrempositionen.
Hier deutet nichts auf eine Entsprechung zwischen Metallgehalt und chronologi-
scher Einordnung hin.
Im Einzelnen vergleichen sich die Messwerte der Münzen mit den Objekten der
Sammlung Bumiller wie folgt10: Die Cu-Gehalte der Objekte liegen in einer Grö-
ßenordnung, die denjenigen der Münzen bis ins 7./13. Jh. ungefähr entspricht.
Dasselbe gilt für die Bleiwerte, die allerdings bei den transoxanischen Mzst. bis
140
Tafel 7): Tablett BC 343 (gehämmertes Blech)
Foto; Lorenz Korn
Tafel 8): Tablett BC 422 (gehämmertes Blech)
Foto: Lorenz Korn
Anfang 4710 Jh. (nicht unter 15 %) oftmals höher ausfallen als bei den Objekten,
hingegen in Bukhara in der 2. H. 4710. Jh. (unter 10 %) durchweg unter denen der
gegossenen Objekte bleiben. Im Zn-Gehalt können die gegossenen Objekte, deren
Werte zwischen 5 und 20 % variieren, am ehesten mit den Münzen bis 400/1000
verglichen werden, bei denen die Werte von 0 bis 12 % streuen; bei gänzlich Zn-
freien Objekten wäre auch eine Datierung ins 1.-277.-8. Jh. zu erwägen, da Zn in
den Münzen dieser Zeit noch nicht aufgetreten ist. Die späteren Münzen mit ih-
ren geringen Zn-Anteilen müssten dementsprechend ihr Pendant in den Objekten
des 5.-6711.-12. Jh. finden - doch gerade hier bestehen grundlegende Differenzen,
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
141
TRIBUS 52, 2003
denn die Objekte, die mit relativ großer Sicherheit in diese Zeit datiert werden kön-
nen (die gehämmerten Tabletts), liegen mit ihrem Zn-Gehalt durchweg über 10 %.
Bei den Sn-Anteilen entsprechen die gegossenen Objekte wiederum den Münzen
bis zum 5./11. Jh., während die danach stark gesunkenen Sn-Gehalte ihr Gegen-
stück in den gehämmerten Tabletts besitzen. Grundsätzliche Unterschiede zwi-
schen Münzen und Objekten bestehen wiederum bei den Metallen Silber und Ar-
sen: Die meisten Münzen enthalten wesentlich mehr Ag als die Objekte, selbst
wenn man die „Dirhams” des 6.-7./12.-13. Jh. außer Betracht lässt. Die As-Antei-
le liegen bei den Münzen im Schnitt zehnmal höher als bei den Objekten.
Bei den Spurenelementen sind im Vergleich folgende Beobachtungen hervorzu-
heben:
Für Eisen stimmen die Unter- und Obergrenzen der Messwerte jeweils ungefähr
überein; allerdings finden sich bei den Objekten keine so extremen Ausreißer wie
bei den Münzen aus Balkh und Bukhara. Bei den Münzen korreliert Fe mit Sn, bei
den Objekten mit Sn und Pb.
Auch die Grenzwerte für Sb stimmen zwischen Objekten und Münzen vor
600/1200 etwa überein (danach fallen sie bei den Münzen ab); die Objekte wei-
sen aber wiederum keine so extremen Ausreißer auf wie die Münzen aus Balkh
und Bukhara. Der Korrelation von Sb mit As und Pb bei Münzen steht bei den Ob-
jekten die Korrelation Sb-Pb gegenüber.
Bi liegt bei den Münzen in einer Größenordnung von Null bis mehreren tausend
ppm vor, bei den Objekten beträgt die Spanne nur etwa ein Zehntel davon.
Bei Ni stimmen sowohl die Streuung der Werte als auch die Korrelation mit Pb
überein. Co und Cd liegen bei Münzen und Objekten etwa in derselben Größen-
ordnung. Gold hingegen ist in den Münzen wieder etwa um den Faktor 10 stärker
nachgewiesen als in den Objekten. Die Korrelationen von Elementen stimmen in
drei Fällen überein.
Korrelationen von Legierungslementen mit Spurenelementen
As Ag Fe Sb Bi Ni Pt Au Mo Co Se
Cu (+) +
Pb X X X # x+ # X # X # # #
As — # #
Zn x+ # # +
Sn X # # +
Ag — #
Korrelationen von Legierungs- mit Spurenelementen erkennbar
# - bei Münzen
x - bei Objekten Sammlung Bumiller
+ - bei Objekten des Linden-Museums
Fettdruck - besonders deutliche Korrelation
Bei den Spurenelementen Cr, Flg, Cd und Pd waren keine Korrelationen erkenn-
bar.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Hypothese 2 a) von den
Daten der Bronzeobjekte nur für den Fall der Tabletts bestätigt wird. Bei den übri-
gen Objektgruppen spricht alles für die Gegenhypothese 2 b), dass die Zu-
sammensetzung der Objekte primär von anderen Faktoren als ihrer Entstehungs-
zeit bestimmt wurde.
Der Vergleich der Messdaten von Objekten und Münzen ergibt Anhaltspunkte für
die Datierung von gegossenen und gehämmerten Objekten nach groben Ordnungs-
kriterien; insbesondere zeigt sich eine Übereinstimmung der Legierungstypen der
Tabletts in einer sinnvollen chronologischen Anordnung mit dem Bild der Münzle-
142
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
gierungen. Auch für einzelne Elemente stimmen die Größenordnungen, in denen ih-
re Anteile liegen, teilweise recht gut überein. Aus ihrer chronologischen Entwi-
cklung könnten somit Rückschlüsse auf die Datierungen von Objekten gezogen
werden. Der genauere Vergleich der Legierungen und Spurenelemente macht aber
deutlich, dass die Unterschiede in den Metallen von Münzen und Objekten so ge-
wichtig sind, dass an keiner Stelle eine wirkliche „Werkstatttradition” postuliert
werden kann, die sich in der dauerhaften Verwendung derselben Legierung äußerte.
Schon die Größenordnungen, in denen As und Ag Vorkommen, zeigen an, dass die
Zusammensetzung von Münzen und Objekten grundsätzlich nicht dieselbe ist -
selbst wenn in Einzelfällen die Werte übereinstimmen. Hier wirkt sich aus, dass
„stoffliche Ähnlichkeit [sc. der Metalle von Bronzeobjekten] mit z. B. gewissen
Münzmetallen eine wesentlich geringere argumentative Aussagekraft hat als ein
ausgeprägter stofflicher Unterschied - die Falsifizierung ist aus grundsätzlichen
Überlegungen viel eher möglich als eine Verifizierung.” (Stern 1999, p. 2). Statt ei-
ner Bestätigung der Hypothese 3 a sprechen die Messdaten stark für die Gegenhy-
pothese 3 b.
Objekte des Linden-Museums
Da es sich bei den Objekten aus dem Linden-Museum, deren Analysen im Fol-
genden ausgewertet sind, überwiegend um unpublizierte Stücke handelt (zur Pu-
blikation einiger jüngerer Erwerbungen vgl. Kalter 1993), seien sie hier in Kurz-
beschreibungen vorgestellt und mit den Besonderheiten ihrer Materialzusammen-
setzung charakterisiert (auf die Proben-Nr. der Analyse folgen die Objektbezeich-
nung und in Klammem die Listennummer und Inventamummer des Museums).
Die Reihenfolge der Objekte folgt der Nummerierung der entnommenen Proben
und sagt nichts über eine vermutete chronologische Abfolge aus.
1) Schale (L 4191 L, VE 96/4; Publikation: von Gladiß 1995, p. 125 f, fig. 204);
Die flache, aus Blech gehämmerte Schale von bescheidenen Maßen ist mit einem
gravierten Dekorband verziert, das um den undekorierten Spiegel der Innenseite
umläuft. In dem Band werden die vier Inschriftkartuschen durch Medaillons mit
Tierdarstellungen getrennt. Nach stilistischen Kriterien kann die Schale in das
5./11. Jh. datiert werden. Die Analyse bestätigt die äußere Erscheinung der Scha-
le als Silberobjekt (87 % Ag, 12 % Cu).
2) Öllampe (L3154L a/5, A 37 236 L): Mit ihrem bimenförmigen Coipus (mit seit-
lichen Noppen) auf konischem, facettiertem Fuß und dem ovalem Handgriff, der
hier von einem vollplastischen Vogel gekrönt wird, folgt diese Lampe einem weit
verbreiteten Typ. Die einzelnen Teile sind gegossen, der Dekor ist graviert und teil-
weise tauschiert. Für eine Datierung kommt schon deshalb am ehesten das 6./12. Jh.
in Frage. Bei der Legierung handelt es sich, der Analyse zufolge, um ein „quarter-
nary alloy”; von den Spurenelementen weisen As und Cr relativ hohe Werte auf.
3) Vase [?] (L 4191 L, VE 96/5; Publikation; von Gladiß 1995, p. 128 f, fig. 210)
(Taf. 9): Die geschwungene Form mit weit ausladendem Rand ist in durchbro-
chenem Guss hergestellt. Der Dekor ist in horizontalen Bändern organisiert, von
denen das obere, ein Pseudo-Schriftband in Durchbruchsarbeit, von oben zu se-
hen ist. Daneben bestimmen einfache Flechtband- und Kreismotive das Reperto-
ire des Dekors. Die kreisförmigen Vertiefungen, die die Auswölbung des Bauches
in mehreren Reihen schmücken, können mit gegossen sein. Eine Datierung ins
4./10. Jh. erscheint sinnvoll. Die Vierer-Legierung dieses Stücks ist extrem blei-
reich (37 %); Antimon übersteigt mit 1,1 % den üblichen Bereich.
4) Vase [?] (L 2986 Lc/A 36 040 L; Publikation: von Gladiß 1995, p. 128 f, fig.
208): Mit seiner achtfach gerieften Wandung, der stark bewegten Silhouette und
der organischen Gliederung ist dieses Gefäß in Anlehnung an pflanzliche Vorbil-
der gestaltet. Die Beschränkung auf durchbrochene Rosetten und wenige gravier-
te Elemente lässt die plastischen Werte des Objekts voll zur Geltung kommen. All
143
TR1BUS 52, 2003
Tafel 9): Vase (?).
Linden-Museum
Stuttgart,
LM VL 96/5
Foto: Anatol Dreyer,
Linden-Museum
Stuttgart
dies spricht für eine Datierung in das 3.-479.-10. Jh. Das Gefäß ist aus einem
„quartemary alloy” gegossen. Von den Spurenelementen weist Co mit 0,06 % ei-
nen relativ hohen Wert auf.
5) Schale (L3154L a/9, A 37 240 L) (Taf. 10): Die bauchige Schale mit angelöte-
tem Ringgriff ist in dünnem Guss hergestellt, der Dekor aus Kreismotiven gra-
viert. Nach dem noch vorislamischen Gefäßtyp und der Kargheit des Dekors kann
eine Datierung in das 2.-378.-9. Jh. angenommen werden. Die Schale besteht aus
einer Kupfer-Blei-Zinn-Legierung fast ohne Zink.
6) Türbeschlag (L29216-L1, A 35 397 L): Die gegossene Scheibe, die mit der kon-
zentrischen Stufe und dem zentralen Buckel zur Mitte hin aufsteigt, ist mit gravier-
tem Dekor fast völlig bedeckt. Inschriften laufen als Bänder bzw. Kartuschen auf je-
der der drei Zonen um und werten von Flechtband- und Knotenmotiven unterbro-
chen und eingefasst. Darauf stützt sich die Datierung in das 5.-6711.-12 Jh. Der
Guss ist mit einer beinahe zinnfreien Kupfer-Blei-Zink-Legierung hergestellt.
7) Gefäß oder Schaftelement (L2986L c/37, A 36 076 L; Publikation: von Gladiß
1995, p. 128, Fig. 209) (Taf. 11): Das durchbrochen gegossene Objekt steht in sei-
ner Herstellungstechnik Nr. 3 und Nr. 28 nahe. Von den horizontalen Bändern
zieht das auf der Ausbuchtung umlaufende mit seinen geschwungenen Halbpal-
metten die Aufmerksamkeit auf sich; das geflochtene Band in der Wölbung des
Fußes ist mit den Flechtbändern von Nr. 28 vergleichbar. Die Dekormotive legen
eine Datierung in das 4710. Jh. nahe. Bei der Legierung handelt es sich um ein
„quartemary alloy”; von den Spurenelementen liegt Mn mit 0,05 % relativ hoch.
8) Kanne (L3382L /2, A 38 633 L); Der Körper der Kanne ist in drei Zonen ge-
gliedert, von denen die obere und untere mit halbplastisch ausgehämmerten, radi-
alen Blättern belegt sind, während um die mittlere ein graviertes Kufi-Schriftband
umläuft, das von Medaillons mit Kupfereinlagen unterbrochen wird. Der bauchi-
ge Körper kontrastiert mit dem schmalen Hals, der in einen hochgezogenen, brei-
144
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Tafel 10): Schale. Linden-Museum Stuttgart, A 37 240 L
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
Tafel 11): Lampe (?). Linden-Museum Stuttgart, A 36 076 L
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
145
TRIBUS 52, 2003
ten Schnabel ausläuft. Ein schmales Schriftband läuft um den Halsansatz, weite-
re Teile des Halses sind mit geometrischen und vegetabilen Motiven dekoriert.
Schriftstil und Dekor sprechen für eine Datierung in das 5./11. Jh. Im Gegensatz
zu dem aus gehämmerten Hälften zusammengesetzten Körper sind der Hals mit
Schnabel und der Henkel gegossen. Die Probe wurde aus dem Hals entnommen,
dessen Material sich als „quartemary alloy” darstellt.
9) Weihrauchschale (L3154L a/6, A 37 237 L): Die kleine, flache Schale zeichnet
sich durch den durchbrochenem Rand und den graviertem Dekor im Spiegel aus.
Die Analyse ergibt eine Kupfer-Blei-Legierung, einen relativ hohen As-Gehalt
(1,2 %) und verhältnismäßig hohe Anteile von Ni (0,3 %) und Hg (0,07 %).
10) Schale (L3488L /4, A 39 427 L; Publikation: von Gladiß 1995, p. 130, ftg.
211): Diese gegossene Schale weist ein ungewöhnliches Relief auf, das den Guss
und vor allem die Nachbearbeitung aufwendig gestaltete: Innerhalb des achtpäs-
sigen, flachen Randes läuft ein hoher Wulst um. Im Spiegel ist mittig in Halbre-
lief ein bewaffneter Reiter dargestellt, den acht kleine Sphingen in kreisförmiger
Anordnung umgeben; sie werden von einem dünnen Achtpass eingefasst. Kleine-
re Flächen sind mit graviertem Dekor gefüllt. Die bildliche Darstellung hat ihre
motivischen und stilistischen Parallelen in der iranischen Keramik um 600/1200.
Bei dem Material handelt es sich um Messing mit hohem Zinngehalt und einer
starken Zugabe von Blei. Die aufwendige Gestaltung der Schale wird durch die
Feuervergoldung der Oberfläche noch unterstrichen.
11) Kanne (L2899L /45, A 35 203 L): Der kugelige, aus starkem Material ge-
hämmerte Körper der Kanne sitzt auf einem hohen, konischen Fuß; ein Wulstring
verbindet ihn mit dem hohen, sich ausweitenden Hals. Die waagerechte Randlip-
pe ist neben dem Halsansatz zu zwei kleinen Schnäbeln gespitzt. Oben auf dem
Henkel sitzt eine Daumenrast in Form eines Granatapfels. Das Gefäß kann nach
seinen Formen in das 4.-5./10.-11. Jh. datiert werden, während der gravierte De-
kor später, vielleicht im 6./12. Jh., hinzugefügt wurde. Die verwendete Messin-
glegierung enthält über ein Drittel Zink.
12) Weihrauchgefäß (L2831/110A, A 34 410): Die langstielige, zylindrische Pfan-
ne steht auf drei kurzen Füßen. Aufwendig gearbeitet ist der durchbrochene De-
ckel mit seinem vegetabilen Dekor. Die Formen der Ranken und Rosetten werden
durch die gravierten mittigen Linien noch unterstrichen. Diese Art der Gestaltung
steht ganz in vorislamischer Tradition; als Datierung wird das 2.-3./8.-9. Jh. vor-
geschlagen. Als Material für den Guss wurde ein „quartemary alloy” verwendet.
Von den Spurenelementen liegen Platin (0,76 %) und Selen (0,13 %) in relativ ho-
hen Anteilen vor.
13) Schale (L2899L /47, A35 205 L): Die rundliche, schwere Schale mit feiner
Randlippe ist mit einem Netzmuster aus eingeschliffenen kurzen Strichen, kreis-
förmigen Gruben und gezirkelten Ringeln dekoriert. Die Beschränkung auf diese
Motive legt eine relativ frühe Datierung, etwa ins 4./10. Jh., nahe; andererseits
könnte die Gestaltung mit geometrischen Mitteln auch als Merkmal einer eigenen
Stilrichtung gewertet werden, die vielleicht sehr viel später anzusetzen ist. Die
Schale besteht aus einer Bronze mit hohem Zinngehalt (13,5 %) und sehr gerin-
gem Bleizusatz. Von den Spurenelementen sind Antimon und Kobalt überhaupt
nicht nachweisbar, dafür liegen die Werte für Phosphor (0,19 %), Bismut (0,13
%), Selen (0,12 %), Quecksilber (0,07 %) und Mangan (0,04 %) relativ hoch.
14) Schale (L 2986 Lc/A 36 077 L): Die dünn gehämmerte, flach gerundete Scha-
le ist innen mit gravierten Linien, gezirkelten Kreisen und Ringpunzen verziert.
Sie bilden einen achtzackigen Stern, der mit seinen Spitzen und anschließenden
Rauten in einen Achtpass eingreift, der seinerseits von der Randleiste eingefasst
wird. Zeitlich dürfte das Objekt in der Nähe von Nr. 13 anzusetzen, seine genaue
Datierung daher ebenso umstritten sein. Die Analyse zeigt, dass es sich bei der Le-
gierung um eine Zinnbronze (8 % Sn) mit geringem Bleizusatz handelt. Bemer-
kenswert hoch sind die Anteile von Eisen (5,5 %) und Gold (2,3 %). Daneben sind
auch die Spurenelemente Quecksilber (0,43 %), Nickel (0,34 %) und Selen (0,13
146
Lorenz Korn; Datierung durch Metallanalyse?
Tafel 12): Schale. Linden-Museum Stuttgart, A 38 636 L
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
%) mit hohen Werten vertreten.
15) Schale (L3382L /5, A 38 636 L) (Taf. 12): Die Wölbung der gegossenen Scha-
le wird außen durch die radialen Riefen betont, zwischen denen drei vertikale
Schriftbänder eingefügt sind; sie verbinden das am Rand umlaufende Schriftband
mit dem Dekormotiv des Bodens, das aus einem zentralen Flechtknoten mit um-
laufendem Rankenfries besteht. Charakteristisch ist der Schriftstil, dessen wulstig
verbreiterte Buchstaben zwar als „kursiv” bezeichnet werden können, jedoch mit
dem sonst üblichen Naskhi-Duktus wenig gemein haben. Für die Datierung
kommt am ehesten das 5./11. Jh. in Frage. Die Schale besteht aus einem „quar-
temary alloy”, weist aber daneben einen Goldanteil auf, der mit 3,3 % den des
Zinns noch übersteigt.
16) Schale (L2986L, A 36 078 L): Die halbkugelige Schale ist dünnwandig ge-
gossen und evtl, nachträglich ausgehämmeit. Ihre Außenseite ist mit kurzen Stri-
chen dekoriert, die paarig zu Sechsecken gruppiert ein Netzmuster ergeben. Das
verwendete Material ist ein „quartemary alloy”.
17) Schale (L2773L /1, A 33 689 L): Die breit ausladende Schale ist gegossen, der
Dekor der Außenseite graviert und eingeschliffen: Gezirkelte Kreise, Punkte und
sich kreuzende Linien sind in horizontalen bzw. konzentrischen Registern organi-
siert. Bei dem Material handelt es sich um eine Zinnbronze mit extrem niedrigen
Zink- und Blei-Anteilen. Auch Arsen ist mit 0,3 % nur schwach vertreten, der
Selen-Gehalt ist sehr gering (0,01 %); Gold überhaupt nicht nachgewiesen.
18) Schale (L 3382L /10, A 38 641 L; Publikation: von Gladiß 1995, p. 126, fig.
206) (Taf. 13): Die elegant geschwungene und geriefte Schale ist aus sehr dün-
nem Blech gehämmert und, wie die Horizontalnaht am Bauch zeigt, aus minde-
stens zwei Stücken zusammengesetzt. Der reich gravierte und mit Silber- und
Kupfereinlagen hervorgehobene Ranken- und Flechtmusterdekor ist in Jedem
Feld separat gerahmt; oben läuft, durch einen Steg abgesetzt, ein Schriftband um.
Stilistische Parallelen zu diesem Dekor sind rar; als Entstehungszeit kann das spä-
te 6./12. Jahrhundert angenommen werden. Der Gefäßkörper (Probe 18A) besteht
aus Messing mit einem Zusatz von 4,3 % Silber; von den Spurenelementen sind
Bismut (0,24 %) und Palladium (0,04 %) mit hohen Werten vertreten. Die in ei-
nem Tauschierungsgraben entnommene Probe 18B besteht aus einer etwa hälfti-
gen Kupfer-Silber-Legierung.
19) Vase [?] (L2986L c/4, A36 079 L): Das Gefäß in Form einer Flasche mit sehr
weitem Hals besteht aus starkem Blech. Der Dekor aus kreisförmigen Eintiefun-
147
TR1BUS 52, 2003
Tafel 13): Schale. Linden-Museum Stuttgart, A 38 641 L
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
gen und gezirkelten Kreisen bedeckt nahezu die gesamte Außenfläche des Kör-
pers. Stilistisch steht das Objekt damit den Nrn. 13, 14 und 17 nahe; möglicher-
weise ist seine Entstehung trotz des schlicht scheinenden Dekors erst in das 6./12.
Jh. zu datieren. Von den beiden entnommenen Proben stellen sich beide als Zinn-
bronzen dar, wobei aber die eine (19A, vom oberen Rand) starke Blei- und Sil-
berzusätze aufweist, während die andere (19B, vom unteren Teil des Körpers) fast
nur Kupfer und Zinn enthält. Bismut fehlt in beiden Proben.
20) Rosenölflasche (L 3853 L; Publikation: Kalter 1993, p. 86 f., fig. 85): Die
bauchige Flasche erhält ihre zierliche Erscheinung durch den hohen Fuß und den
extrem dünnen und langen Hals. Sie ist aus sehr dünnem Blech gefertigt; der De-
kor aus vegetabilen Motiven und Schriftbändern im Naskh-Duktus in repousse-
Technik ist in horizontalen Bändern angelegt. Die Flasche ist in die zweite Hälfte
des 6./12. Jh. zu datieren. Bei der Legierung handelt es sich um Messing, dem
aber relativ hohe Anteile von Blei und Zinn beigegeben sind. Bei den Spurenele-
menten ragen die für Blechobjekte relativ hohen Gehalte von Gold (0,91 %), Pla-
tin (0,84 %), Arsen (0,71 %), Selen (0,13 %) und Phosphor (0,1 %) heraus.
21) Kanne (L 3853 L): Der bauchige Krug, dem Henkel und Deckel fehlen, ist aus
sehr dünnem Blech gehämmert und mit einem dichten Dekor in repousse-Technik
versehen. Bestimmend wirkt die breite Dekorzone auf der oberen Hälfte des Bau-
ches mit gegenständigen Sphingen. Wie bei der (zeitlich eng benachbarten) Ro-
senölflasche Nr. 20 stellt sich die Legierung als Messing mit starkem Blei- und
Zinn-Zusatz dar.
22) Schale (L 3853 L): Technisch und stilistisch ist diese Schale den beiden vor-
angegangenen Objekten eng verwandt und ebenfalls ins spätere 6./12. Jh. zu
datieren. Der bauchige Körper auf niedrigem Fuß ist mit einem Netz getriebener
Gabelblattranken (Arabesken) dekoriert. Die Messinglegierung weist in der XRF-
Analyse bei Probe 22A einen extrem hohen Bleianteil auf (der sogar den Anteil
des Kupfers übersteigt), während die ICP-Analyse hier gemäßigtere Werte liefert.
In Probe 22B ist fällt der Bleigehalt nicht so hoch aus. Die Probe 22A liefert auch
bei manchen ’’Spurenelementen” Extremwerte: Eisen (17,2 %), Arsen (1,74 %),
Kobalt (0,63 %), Mangan (0,57 %), Quecksilber (0,4 %), Palladium (0,05) und
Chrom (0,06 %) weisen hohe bis sehr hohe Werte auf.
23) Tablett (L3323L /1, A38 272 L): Das rechteckige Tablett mit achteckig einge-
tiefter Mitte zeichnet sich gegenüber anderen Tabletts durch den heruntergezoge-
nen Rand und die aufwendigen Silber- und Kupfereinlagen aus. Sie bilden den
Dekor als umlaufendes Schriftband, Arabesken und Flechtbänder. Nach dem
148
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Dekor ist das Tablett in das späte 6./12., vielleicht sogar in das frühe 7./13. Jh. zu
datieren. Während ein Stück der Tauschierung (Probe 23B) sich als guthaltiges
Silber (89 %) erwies, stellt sich das Grundmaterial als Messing fast ohne Zinn-
und Bleizusätze dar. Auch die meisten Spurenelemente sind nur mit relativ gerin-
gen Anteilen vertreten.
24) Lampenständer (L3323L/1, A35 210 L; Publikation: Kalter 1982, p. 67): Der
Lampenständer in Form eines Tischchens mit rundem Teller und dreibeinigem
Fußteil besitzt ein markantes Mittelstück aus einem Vierkantstab zwischen zwei
Knäufen mit abgeschrägten Ecken. Als Datierung kommt das 4.-5./10.-11. Jh. in
Frage. Bei der Legierung handelt es sich um ein „quarternary alloy”.
25) Mörser (L2986L c/1, A 36 054 L); Der zylindrische Körper ist oben und un-
ten mit einer Kehle verbreitert und dazwischen mit tropfenförmigen Noppen be-
setzt. Seitlich ragen zwei Rinderköpfe als Halter für zwei Ringe hervor. Der
Dekor (Kartuschen mit Ranken) kann auch nachträglich eingraviert sein. Als Ma-
terial für den Guss wurde ein „quarternary alloy“ verwendet. Der Kobalt-Anteil
liegt mit 0,05 % für gegossene Objekte relativ hoch.
26) Tierkopf-Kanne (L2899L /42, A 35 200 L): Der birnenförmige Körper der
Kanne ist im Oberteil in acht Facetten gebrochen, die auf der Höhe des größten
Umfangs in einer Stufe jeweils halbrund nach unten abschließen. Den oberen Ab-
schluss der Kanne bildet ein stilisierter Rinderkopf, in dem sich die Einfüllöff-
nung befindet und dessen Maul als Tülle dient. Der Henkel setzt relativ hoch an
und gehört eventuell nicht ursprünglich zu dieser Kanne. Der gravierte Dekor mit
gezirkelten Kreisen unterstreicht z. T. die Formen des Gefäßes. Umlaufende Bän-
der wirken als horizontale Gliederung. Auf den Facetten des Körpers sind Flecht-
knoten-Medaillons mit runden Vertiefungen kombiniert. Diese Elemente sprechen
für eine Datierung in das 4.-5./10-11. Jh. Für den Guss des Körpers wurde ein
„quarternary alloy” verwendet.
27) Öllampe (L 3829/A 41 251 La), Publikation: Kalter 1993, p. 86 f, fig. 86; von
Gladiß 1995, p. 127 f, fig. 207); Die große Öllampe bildet zusammen mit dem
Lampenständer Nr. 28 ein beeindruckendes Ensemble, das um 400/1000 datiert
werden kann. An den zylindrischen Körper schließen drei scharfkantig geschnit-
tene, geschwungene Schnauzen an. Hinten sitzt ein Ringgriff mit Daumenrast.
Der konisch einschwingende Fuß und der gewölbte Deckel sind mit durchbroche-
nem Rankenwerk dekoriert, das mit den glatten Flächen kontrastiert. Gravierte
Schrift- und Ornamentbänder und Medaillons sowie eingelegte Scheiben aus sil-
brig scheinendem Metall ergänzen den Dekor. Bei der Legierung handelt es sich
um ein „quarternary alloy” aus 65,1 % Kupfer, 19,1 % Blei, 7,5 % Zink und 4,3
% Zinn. Der As-Gehalt beträgt 1 %, Gold ist mit 0,6 % in einem relativ starken
Anteil nachgewiesen. Auch die Werte für Schwefel (0,8 %), Kobalt (0,06 %) und
Palladium (0,02) liegen verhältnismäßig hoch.
28) Lampenständer (L 3829/A 41 251 Lb); Publikation wie Nr. 27): Zusammen mit
der Öllampe Nr. 27 wurde der Lampenständer vermutlich für einen fürstlichen
Haushalt hergestellt. Die verschiedenen Teile - gewölbter Sockel mit drei Füßen,
röhrenförmiger Schaft und flacher Teller - werden durch Zwischenstücke, die als
Knauf mit zwei gekehlten Flanschen ausgebildet sind, mit Bajonettverschlüssen
verbunden. Durchbrochenes und graviertes Flechtwerk ziert die Wölbung des
Sockels und der Knäufe, den Schaft und den Rand des Tellers; hinzu kommen gra-
vierte Bänder mit geometrischen und vegetabilen Dekormotiven. Alle Teile sind aus
einem „quarternary alloy” hergestellt, wobei aber die Anteile der Legierungsele-
mente schwanken: Bei dem Teller (28C) tritt Silber als Legierungselement (6,3 %)
hinzu. Das Mittelstück (28B) weist die höchsten Blei- und Zinngehalte (19,2 %, 9,1
%) und hohen Anteil von Antimon (1,2 %) und Schwefel (0,91 %) auf, liegt aber bei
Quecksilber deutlich niedriger als die beiden anderen Teil (0,01 versus 0,04 %).
29) Tablett (L3382L /1, A 38 632 L): Das große, runde Tablett mit aufgebogenem
Rand ist aus dickem Blech gehämmert. Der Dekor beschränkt sich auf ein zentra-
les Medaillon mit einem Flechtknoten und Rankenwerk sowie ein umlaufendes
149
TRIBUS 52, 2003
Schriftband mit Segenswünschen. Der Naskhi-Duktus und der Rankenhintergrund
des Schriftbandes datieren das Stück ins 5./11. Jh. Die Analyse identifiziert die
Legierung als Messing mit 85,1 % Kupfer und 10,7 % Zink, mit einem hohen An-
teil Platin (0,93 %). Der Antimon-Gehalt (0,13 %) liegt für gehämmerte Objekte
relativ hoch.
30) Lampenständer (A 40 192): Der gestufte und hochgewölbte Sockel, aus dem
drei Katzenköpfe hervorragen, die Abfolge mehrerer Knäufe und Kehlen im
Schaftbereich und der abgeschrägte Tellerrand verleihen dem Lampenständer ei-
ne bewegte Silhouette. Schrift- und Ornamentbänder sowie gravierte Kartuschen
mit Rankenwerk sind locker auf den Oberflächen gruppiert; auf der Wölbung des
Sockels sind die plastischen Köpfe durch gravierte Körper der Raubkatzen er-
gänzt. Eine Datierung ins 11.-12. Jh. erscheint sinnvoll. Bei der Legierung handelt
es sich um ein „quarternary alloy”.
31) Vogelfigur (L 2986 c/A 36 043 L; Publikation: Kalter 1993, pp. 79, Abb. 76):
Die wohl im 4./10. Jh. entstandene Figur bildet einen Hühnervögel nach und war
nach dem abgeflachten Rücken zu schließen als Stütze für ein Becken o. ä. kon-
zipiert. Auf dem voluminösen Körper deuten gravierte Linien die Flügel an, be-
reichert durch geometrische Muster und einen Flechtknoten. Die gegossene Figur
besteht aus beinahe reinem Kupfer (95,4 %) mit geringen Zuschlägen von Blei
(2,4 %), Eisen (1 %) und Arsen (0,4 %).
32) Schale (L3882L /3, A 38 634 L): Die bauchige Schale auf niedrigem Fuß ist
aus dünnem Blech gehämmert. Der getriebene Dekor Rankendekor (mit Rinpun-
zen-Hintergrund) wird durch schmale vertikale Rippen in acht Felder geteilt, in
denen die Ranken mit einem zentralen herz- bzw. mandelförmigen Motiv jeweils
symmetrisch angelegt sind. Technik und Dekor sprechen für eine Entstehung in
der zweiten Hälfte des 6./12. Jh. Das verwendete Material ist Messing mit einem
relativ hohen Zinkgehalt (21,6 %).
33) Hängelampe (L 3853; Publikation: Kalter 1993, pp. 83, 86 f, fig 84): Der zy-
lindrische Körper der Lampe wird über dem glockenförmigen Abschluss von einem
rundlichen Knauf bekrönt. Aus dem sehr dünnen Blech ist der Dekor flächende-
ckend getrieben und z. T. durchbrochen; in rechteckigen Feldern stehen heraldische
und szenische Tiermotive (Sphingen, Raubkatzen) und Kandelaber in Kombination
mit Masken vor einem dichten Rankenhintergrund. Nach dem Dekor ist die Lampe
in das 6./12. Jh. zu datieren. Bei der Legierung handelt es sich um Messing.
34) Kerzenständer (L 3853; Publikation; Kalter 1993, pp. 82-85, figs. 82-83): Ein
Prunkstück der Sammlung des Linden-Museums bildet der aus Blech getriebene
Kerzenständer, dessen konische Basis mit einem reichen Repertoire von Tier-
kampfszenen in Waben geschmückt ist. Auf der Oberseite leitet eine eingetiefte
Rosette zum gerieften Hals über, auf dem der eigentliche Kerzenhalter mit seinen
Schuppen einem Koniferenzapfen nachgebildet ist. Auf der Schulter läuft eine
tauschierte Inschrift um, die die ausführliche Titulatur des fürstlichen Auftragge-
bers, Muhammad ibn Abi Sa’d11 und das Jahr 561/1166 nennt. Das Material, von
dem zwei Proben entnommen wurden, stellt sich als Messing mit einem Zinkge-
halt von 18,5 % dar. Die Probe vom oberen Rand (34A) weist hohe Anteile von
Platin (1,0 %), Gold (0,66 %) und Bismut (0,27 %) auf, während die Probe aus
dem Standring (34B) in dieser Hinsicht nicht von den anderen gehämmerten Ob-
jekten abweicht.
Die Bronzeobjekte aus der Sammlung des Staatlichen Museums für Völkerkunde
(Linden-Museum) in Stuttgart zeigen in den Analysewerten große Diversität
(Abb. 13): „Von den 42 untersuchten Proben sind drei als Silber anzusprechen
[Nr. 1, 18B, 23B], Bei neun handelt es sich um Messing mit Zn»Sn und Pb<5
Gew.-%, bei vier um Bronze mit Sn»Zn und Pb<5. 32 Proben weisen einen ho-
hen bis sehr hohen Bleigehalt aus, wie dies für antike Guss-Buntmetalle häufig ist.
Auch hier überwiegen Zink-reiche Legierungen. Insgesamt zeichnen sich die
untersuchten Buntmetalle demnach durch ihren Messingcharakter aus. Hohe bis
sehr hohe Bleigehalte herrschen vor.” (Stern 1999, p. 2).
150
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Die Art der Legierung richtet sich dabei offensichtlich nicht nach dem Typ oder
dem Verwendungszweck des Objekts: Die Gruppen der Schalen, Lampenständer
oder Krüge lassen sich nicht mit einer bestimmten Legierung in Verbindung brin-
gen. Hingegen ordnen sich Legierungen und Herstellungstechniken besser zuein-
ander: Die Gruppen von Objekten, die in massivem und durchbrochenem Guss,
mit dicken und dünnen Blechen hergestellt wurden, weisen jeweils in sich keine
allzu großen Schwankungen der Messwerte auf (Abb. 14 a, b).
Bei den gegossenen Objekten entsprechen die Legierungselemente im Durchschnitt
dem von den Objekten der Sammlung Bumiller bekannten Bild des „quartemary al-
loy”: Cu ist im Mittel mit 69 %, Sn mit 4 %, Zn mit 7 % und Pb mit 17 %
vertreten. Bei den blechernen Objekten betragen die Durchschnittswerte für Cu 72 %,
Sn 3 %, Zn 15 % und Pb 5 %, was wiederum den Metallgehalten der entsprechend
hergestellten Objekte in der Sammlung Bumiller nahe kommt. Allerdings machen
sich einige Abweichungen bemerkbar, die dieses Bild modifizieren:
Von den gegossenen Objekten besitzt Nr. 3 (Vase L 4191 L, VL 96/5) einen extrem
hohen Pb-Anteil von 37 %, dem nur noch 47 % Cu gegenüberstehen. Nr. 5 (Schale
A 37 240 L) ist praktisch Zn-frei. Die Nm. 13 und 17 (Schalen A 35 205 L und A 33
151
TRIBUS 52, 2003
Objekte Linden-Museum Guss
Legierungen - chronologisch aufsteigend
120
(NI^CDincOtDNnNNCOmiO'iCDin^OlOCOOCM
T- CM t- i- T- CMoOOOOO'-CM CM CO 00 T-
cm cm <N
Proben-Nr.
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 14 a, b
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Objekte Linden-Museum Guss
As [%] - chronologisch aufsteigend
CM^(DincOtDNONN<0(Illfi'i(DinX:0)Oa)OOJ
r— cm T- t— T- cm ¿0 ¿0 oo cm cm co n t-
CM CM cm
Proben-Nr.
Objekte Linden-Museum Blech
As [%] - chronologisch aufsteigend
2 ---------------------------
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34 B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 15 a, b
689 L) bestehen aus regelrechter Zinnbronze und sind praktisch Pb-frei. Nr. 31 (Vo-
gelfigur, A 36 043 L) besteht zu über 95 % aus Cu und einem geringen Pb-Anteil.
Bei den Blechobjekten fällt Nr. 1 (L 4191 L, VL 96/4) als Silberschale ganz aus
dem Rahmen; dasselbe gilt für die Proben Nr. 18B (Tauschierungsgraben in der
Schale A 38 641 L, mit 42 % Ag) und 23B (Tauschierung im Tablett A 38 272 L,
mit 89,7 % Ag. - Die Messwerte dieser Objekte sind schon im Diagramm Abb. 27
nicht enthalten). Die Nrn. 14 und 19 (Schale A 36 077 L, Vase A 36 079 L) wei-
153
TRIBUS 52, 2003
Objekte Linden-Museum Guss
Fe [%] - chronologisch aufsteigend
CM^(Dinn(DNnNN<;OCOli>^(Din^O)OCOOt\l
■>- CM T- T- T- CNJoocOOO-'-<M CM CO CO T-
CM CM CM
Proben-Nr.
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34 B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 16 a, b
eben als Zn-freie Zinnbronzen von dem vorherrschenden Bild der Messinglegie-
rung ab. Auch bei Nr. 20 und 21 (Rosenölflasche und Krug aus L 3853 L) sind
nennenswerte Sn-Anteile zu erkennen, die weit über dem Durchschnitt liegen,
aber hier noch vom Zn-Anteil übertroffen werden. Bei Nr. 22 (Schale aus L 3853
L) klaffen die Messwerte der beiden Proben weit auseinander.
154
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
6
5
rv(^-CDlOCOCDSnSN<Oa]in'i(Dini-0)OOOOCM
T- cm T-T-T- cm ¿o oo oo cm cm co oo t-
CM CM cm
Proben-Nr.
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34 B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbi Idling 17 a, b
Stellt man die gegossenen und gehämmerten Objekte separat in eine relative
Chronologie nach stilistischen Kriterien, so ergeben sich für die Legierungsele-
mente keine wirklich markanten Entwicklungskurven. Ausgenommen ist viel-
leicht Sn, dessen Kurve bei beiden Objektgruppen eine fallende Tendenz zeigt
(allerdings bei den Blechobjekten mit einem „Loch” niedriger Werte im Mittelbe-
155
TRIBUS 52, 2003
reich). Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass in der vorläufig erarbeiteten
chronologischen Abfolge die gegossenen Objekte am Anfang, die gehämmerten
am Schluss überwiegen, und dass demgemäß die Messinglegierungen zumeist
später als die Mehrstofflegierungen einzuordnen sind.
Bei den Spurenelementen zeigen sich folgende Merkmale:
Arsen (Abb. 15 a, b) kommt bei den gegossenen Objekten in Anteilen zwischen
0,3 und 1,2 % (3.000-12.000 ppm) vor. Bei den blechernen Objekten schwanken
die Werte stärker, nämlich zwischen 0,03 und 0,71 % (300-7.100 ppm), ein Aus-
reißer liegt bei 1,74 % (17.400 ppm; Proben-Nr. 22A, Schale aus L 3853 L).
Der Eisengehalt (Abb. 16 a, b) scheint sowohl bei den gegossenen als auch bei
den gehämmerten Objekten mit fortschreitender Chronologie immer stärker zu
schwanken: Betragen die Werte bei den stilistisch ca. bis zum 4./10. Jh. einzuord-
nenden Gegenständen noch zwischen 0,1 und 0,6 % (1.000-6.000 ppm), so liegen
sie bei den später anzusetzenden Objekten zwischen 0,03 und 1,03 % (300-10.300
ppm). Bei den gehämmerten Objekten liegt der Fe-Gehalt meist unter 1 %, doch
kommen bei drei Stücken extrem hohe Fe-Anteile von mehreren Prozent vor (Nr.
22A: 17,19 %!).
Silber (Abb. 17 a, b) ist in den meisten Objekten als Spurenelement mit Anteilen
zwischen 0 und 0,7 % (7.000 ppm) enthalten; gehäuft liegen Werte im Bereich
von 0,1 % (1.000 ppm) vor. Abgesehen von den schon äußerlich erkennbar als
Silber oder mit Silber in Verbindung stehenden Stücken Nr. 1, 18B, 23B (s. o.)
stellen sich auch die Nrn. 28C (Lampenständer-Teller A 41 251 Lb, mit 6,3 % Ag),
18A (Schale A 38 641 L, mit 4,4 % Ag) und 19A („Vase” A 36 079 L, mit 2,1 %
Ag) als deutlich Ag-haltig mit Anteilen im Bereich von mehreren Prozent dar.
Gold (Abb. 18 a, b) kommt im Bereich zwischen 0,1 und 0,9 % (1.000-9.000
ppm) vor. Bei einem gehämmerten (Nr. 14) und einem gegossenen Stück (Nr. 15)
liegt der Wert sogar über 2 %. Bei den blechernen Objekten scheint sich ein Ab-
sinken des Au-Gehalts abzuzeichnen.
Die Antimon-Gehalte (Abb. 19 a, b) liegen bei den gegossenen Objekten generell
höher als bei den gehämmerten; bei ersteren erreichen sie zwei Fällen über 1 %
(Nm. 3, 28C), während die Extrema bei letzteren mit 0,13 und 0,14 % (Nrn. 11,
29) die gewöhnliche Streuung der gegossenen Objekte nicht überschreiten.
Platin kommt gehäuft mit Anteilen um 0,4 % (4.000 ppm) vor, liegt aber bei eini-
gen Stücken weit niedriger oder fehlt ganz. Die Spitzenwerte halten Nr. 34A mit
1 % und Nr. 15 mit 0,83 % Pt.
Nickel (Abb. 20 a, b) liegt meist in Anteilen zwischen 0,04 und 0,4 % (400-4.000
ppm) vor, selten auch darunter (Nr. 21A, B: 0,01 und 0,02 %). Bei den gehäm-
merten Objekten könnte man eine Tendenz zur Abnahme des Ni-Gehaltes mit
fortschreitender Chronologie ablesen.
Bismut (Abb. 21 a, b) ist nur in wenigen gegossenen, aber in der Mehrzahl der
gehämmerten Objekte nachweisbar. Die Werte liegen zwischen 0,05 und 0,1 %
(500-1.000 ppm), gelegentlich auch darüber (Nr. 34A: 0,27 %).
Quecksilber-Werte streuen bei den gegossenen Stücken mehrfach um 0,05 % (500
ppm), während von den wenigen gehämmerten Objekten, die überhaupt Hg ent-
halten, zwei bereits um 0,4 % (4.000 ppm) aufweisen (Nrn. 14, 22A). Kobalt ist
meist in geringen Spuren zwischen 0,01 und 0,2 % (100-2.000 ppm) vorhanden;
Nr. 22A stellt mit 0,63 % wiederum einen Ausreißer dar. Mangan ist nicht in al-
len untersuchten Objekten nachweisbar. Die Anteile schwanken zwischen 0,01
und 0,13 %, in einem Fall erreicht der Wert 0,57 % (Nr. 22A). Selen liegt im Be-
reich zwischen 0 und 0,15 %, mit einer Häufung um 0,05 % (500 ppm), vor.
Chrom ist nur in gut der Hälfte der Proben überhaupt nachgewiesen, wobei sich
die Werte zwischen 0,01 und 0,06 % (100-600 ppm) bewegen. Auch Palladium ist
nur etwa bei der Hälfte der Objekte, und nur in geringen Spuren unter 0,05 % (500
ppm) nachweisbar. Phosphor kommt nur bei knapp der Hälfte der Objekte vor und
erreicht selten mehr als 0,1 % (1.000 ppm); Schwefel lässt sich fast in jedem Ob-
jekt nachweisen, wobei die Anteile zwischen 0,1 und 0,5 % schwanken; einige
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
3.5
3
2.5
2
1.5
1
0,5
0
Objekte Linden-Museum Guss Au [%] - chronologisch aufsteigend
-
(N^<Ûinm(ONnNN<OCÛin^®inr:roO(OOM
■<- CM T-T-T- CNcOOOOOT-CN CM CO CO T-
CM CM CM
Proben-Nr.
Objekte Linden-Museum Blech
Au [%] - chronologisch aufsteigend
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 18 a, b
157
TRIBUS 52, 2003
Objekte Linden-Museum Guss
Sb [%] - chronologisch aufsteigend
C\J CM CNJ
Proben-Nr.
■ Sb
Objekte Linden-Museum Blech
Sb [%] - chronologisch aufsteigend
0,15
04 CO CO CM CN CM CM
Proben-Nr.
Abbildung 19 a, b
158
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
Objekte Linden-Museum Guss
Ni [%] - chronologisch aufsteigend
CNJ CN OJ
Proben-Nr.
■ Ni
Objekte Linden-Museum Blech
Ni [%] - chronologisch aufsteigend
0,4 --------------------------
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 20 a, b
159
TRIBUS 52, 2003
Stücke weisen bis zu 1 % S auf, und die Spitze bildet Nr. 19 mit 2,26 % S. Wel-
che Rolle Korrosionsprozesse für die P- und S-Gehalte spielen, ist schwer abzu-
schätzen; hohe Anteile dieser Elemente gehen jedenfalls nicht mit äußeren Anzei-
chen stärkerer Korrosion einher.
Die Korrelationen von Spuren- mit Legierungselementen fallen insgesamt nur
schwach aus. Ablesbar sind Korrelationen von Au und S mit Cu (evtl, auch Bi-
Cu), Se mit Sn, Fe und Co mit Zn sowie Sb und S mit Pb.
Insgesamt unterstreichen die Messdaten an den Objekten des Linden-Museums
noch einmal das Ergebnis aus der Untersuchung der Objekte der Sammlung Bu-
miller: Es herrschen zwei Legierungen vor, von denen die eine („quarternary al-
loy” oder „Mehrstoffbronze” mit Cu, Pb, Zn und Sn in absteigender Reihenfolge)
bei gegossenen, die andere (Messing) bei gehämmerten Objekten verwendet wur-
de. Die nach Stilmerkmalen erstellte vorläufige Chronologie der Stuttgarter Ob-
jekte bestätigt den schon bei den Objekten der Sammlung Bumiller gezogenen
Schluss, dass die gegossenen, aus Mehrstoffbronze bestehenden Objekte in den
meisten Fällen früher anzusetzen sind als die aus Blech gehämmerten.
Allerdings kommen bei den Objekten aus dem Linden-Museum bedeutende Ab-
weichungen von dem Legierungsschema vor, wie es an den Objekten der Samm-
lung Bumiller beobachtet worden war: Für den Guss einiger Stücke wurde auch
Zinnbronze, reines Kupfer oder eine Cu-Pb-Sn-Legierung verwendet. Bei den ge-
hämmerten Objekten kommen stellenweise sehr hohe Zinngehalte vor.
Die nach den Messdaten aus der Sammlung Bumiller postulierte Untergrenze für
Ag bei den Spritzflaschen nach dem 3./9. Jh. wird von den Messungen nicht be-
stätigt. Ansonsten widersprechen die Daten nicht den chronologischen Aussagen,
die aus der Untersuchung in der Sammlung Bumiller abgeleitet wurden.
Auch bei den Spurenelementen können z. T. Abweichungen festgestellt werden:
Auffällig sind die verhältnismäßig hohen Werte, die die Edelmetalle in den Ob-
jekten des Linden-Museums erreichen. Bei Silber liegt der Bereich der gewöhn-
lichen Streuung der Werte bei beiden Gruppen etwa gleich, aber von den Stutt-
garter Objekten zeichnen sich drei durch überhöhte Ag-Gehalte im Prozentbereich
aus. Bei Gold liegen die Messungen an den Objekten des Linden-Museums eine
ganze Größenordnung höher - in der Regel zwischen 0,1 und 1 %, während bei
den Objekten der Sammlung Bumiller jeweils 0,01 % gemessen wurden. Extrem
hohe Fe-Werte lagen bei den Objekten der Sammlung Bumiller selbst als Ausrei-
ßer nicht vor. Auch bei Kobalt lagen die Werte der Stuttgarter Objekte im Allge-
meinen etwas höher als bei den Bumillerschen Bronzen.
Das Bild der Objekte der Sammlung Bumiller wird also durch die Stuttgarter Ob-
jekte einerseits bestätigt, andererseits in seiner Homogenität modifiziert; die Da-
ten der Objekte des Linden-Museums weisen in den meisten angesprochenen
Punkten - Ausreißer bei Silber und Eisen, höherer Goldgehalt - größere Ähnlich-
keit mit den Messdaten an den Münzen als mit denen der Sammlung Bumiller auf.
Ein Grund für einen Teil dieser Unterschiede könnte in den unterschiedlichen
Messmethoden oder in unterschiedlicher Kalibrierung der Messgeräte liegen, die
vielleicht dazu führen, dass Au in den Ergebnissen aus den ICP-Analysen durch-
gehend mit geringeren Anteilen erscheint.
Bei den Spurenelementen, die nur in der XRF-Analyse gemessen wurden (wo ein
Vergleich mit den Objekten der Sammlung Bumiller also nicht möglich ist), fal-
len die Messwerte der Stuttgarter Objekte im Durchschnitt höher aus als die der
Münzen. Auch im Hinblick auf die Elementkorrelationen stellen sich die Objekte
des Linden-Museums anders dar als die der beiden anderen Gruppen - allerdings
wiesen auch die Messungen an den Objekten der Sammlung Bumiller nur wenige
Korrelationen in Übereinstimmung mit den Daten der Münzen auf.
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
CM^COin«(DSOh-S<OüD|fi^CDinr:0)OOOOCM
'T- CM -r- T- T- CM ¿0 <X> 00 <M CM CO CO t-
CM CM cm
Proben-Nr.
Objekte Linden-Museum Blech
Bi [%] - chronologisch aufsteigend
0,3
19A 14 29 34A 33 22A 21A 20
19B 11 23A 34B 32 22B 21B 18A
Proben-Nr.
Abbildung 21 a, b
161
Zusammenfassung
Die vergleichende Studie von Buntmetall-Münzen und -Objekten des islamischen
Mittelalters aus Ostiran und Zentralasien sollte Aufschluss darüber geben, ob in
ihrer Materialzusammensetzung charakteristische Elementkonfigurationen fest-
stellbar sind. Chronologisch und/oder geographisch bedingte Muster in der Zu-
sammensetzung der (meist sicher datierten und einer Münzstätte zugewiesenen)
Münzen zusammen mit dem Nachweis der entsprechenden Komponenten in den
Objekten würden eine verbesserte Datierung und/oder Lokalisierung so genannter
„Khurasan-Bronzen” erlauben.
Untersucht wurden 368 Kupfermünzen und 371 Bronzeobjekte aus den Beständen
der Forschungsstelle für islamische Numismatik der Universität Tübingen, der
Bumiller-Collection in Bamberg und des Linden-Museums in Stuttgart. Mit XRF-
und ICP-Methode wurden Legierungs- und Spurenelemente quantitativ ermittelt.
Die Messdaten wurden grafisch und rechnerisch ausgewertet. Dabei wurden die
Metallzusammensetzungen der verschiedenen Gruppen untereinander, mit den
Objektarten und ihrer Herstellungstechnik sowie mit der jeweiligen örtlichen und
chronologischen Zugehörigkeit bzw. vermuteten Zugehörigkeit verglichen.
Bei den Münzen zeichnet sich eine deutliche chronologische Entwicklung ab, die
vor allem die Legierungselemente betrifft: Bis ins 5./11. Jh. liegt meist eine Mehr-
stofflegierung aus Kupfer, Blei, Zink, und Zinn sowie Arsen vor. Im 6.-7./12.-13.
Jh. überwiegen Münzen mit einem deutlichen Silbergehalt, in denen Blei und Ar-
sen noch relativ mit relativ hohen, Zink und Zinn nur noch mit geringen Anteilen
enthalten sind. Die späteren Münzen (8.-10./I4.-16. Jh.) bestehen dagegen aus fast
reinem Kupfer. Unterhalb dieser chronologischen Größenordnung, d. h. im Be-
reich von Jahrzehnten oder gar Einzeljahren, sind merkliche Veränderungen in
den Legierungen allerdings nur sehr vereinzelt feststellbar. Gegenüber der chro-
nologischen Differenzierung bleiben die Unterschiede zwischen den Legierungen
nach Münzstätten gering. Bei den Spurenelementen zeichnet sich eine chronolo-
gische Entwicklung ebenfalls ab und äußert sich in einer relativ größeren Streu-
ung der Werte vor dem 6.-7./12.-13. Jh. Als Nebenergebnis kann für die Münzen
festgehalten werden, dass ihre Metallzusammensetzung in Übereinstimmung mit
optisch beobachtbaren Merkmalen auf eine klare zeitliche Abfolge verschiedener
Techniken der Schrötlingsherstellung hinweist.
Die Objekte lassen sich nach den Messdaten deutlich in zwei Gruppen einteilen,
die sich auch in ihrer Herstellungstechnik durch Guss oder gehämmertes Blech
klar voneinander abgrenzen. Bei gegossenen Objekten wurde fast immer eine
Mehrstofflegierung aus Kupfer, Blei, Zink und Zinn (seltener reine Zinnbronze)
verwendet, während bei den gehämmerten Objekten Messing überwiegt. Diese
Abgrenzung geht oft sekundär mit einer Unterscheidung nach der Objektart, also
dem Verwendungszweck, einher.
Die weitgehende Übereinstimmung der Mehrstofflegierung und der Spurenele-
ment-Konfiguration gegossener Objekte mit den Münzen vor dem 5./11. Jh. legt
eine frühe Datierung dieser Objekte nahe. Gegen diesen Schluss spräche zwar die
Annahme, dass die Herstellungstechnik von Objekten primär von ihrem Verwen-
dungszweck abhängt, also nicht oder kaum chronologisch bedingt sein kann. Je-
doch unterstützt die Beobachtung von Stilmerkmalen die Zuordnung der meisten
gegossenen Objekte zu einer früheren Zeitstufe als der der gehämmerten Objekte.
Neben dem allgemeinen Charakter der verwendeten Legierung können die Ge-
halte einzelner Elemente Anhaltspunkte für eine genauere chronologische Ein-
ordnung bieten. Dieses Potential könnte aber wohl nur anhand einer nochmals
verbreiterten Datenbasis ausgeschöpft werden.
Grundsätzliche Differenzen in der Zusammensetzung von Münzen und Objekten
dürfen allerdings nicht übersehen werden: Schon die um eine Größenordnung ver-
schiedenen Arsengehalte machen deutlich, dass auch bei den auf den ersten Blick
übereinstimmenden Mehrstofflegierungen der ersten Jahrhunderte das Münzmetall
Lorenz Korn: Datierung durch Metallanalyse?
nicht demselben handwerklichen Prozess entstammte wie das Metall der gegosse-
nen Objekte. Diese Beobachtung schränkt die Vergleichbarkeit der Werkstoffe er-
heblich ein. Eine im Einzelfall übereinstimmende Legierungs- und Spurenele-
mentkombination von Objekt und Münze darf nicht zu dem voreiligen Schluss ver-
leiten, dass beide in Datierung oder gar Lokalisierung übereinstimmen.
Die Untersuchung hat die Möglichkeiten und Grenzen deutlich gemacht, die im
Vergleich von Münzen und Metallobjekten aufgrund naturwissenschaftlicher
Analyse ihrer Zusammensetzung liegen. Einerseits zeigen die sich strukturelle
Übereinstimmungen, die für einen Vergleich nutzbar gemacht werden können; an-
dererseits sind die Differenzen zu groß, um auf unmittelbare Zusammenhänge im
Produktionsprozess von Münzen und Objekten zu schließen und eine chronologi-
sche Einordnung einzelner Objekte in das Datenraster der Münzen zuzulassen.
Für eine Bestimmung von Objekten bleibt in jedem Fall eine genaue Analyse nach
kunsthistorischen Gesichtspunkten unerlässlich.
Anmerkungen
1 Der Begriff ist unscharf: Der geographische Terminus „Khurasan” bezeichnet nicht nur die heutige
gleichnamige Provinz in der Islamischen Republik Iran, sondern eine Landschaft, deren Abgren-
zung in der islamischen Geschichte einigen Schwankungen unterworfen war und die sich über die
heutigen Staatsgebiete von Iran, Afghanistan und Turkmenistan erstreckt; für die Provenienz von
„Khurasan-Bronzen” kommen darüber hinaus noch Teile Transoxaniens in Frage, die heute zu den
Staaten Usbekistan und Tadschikistan, bzw. auch Kasachstan und Kirgistan, gehören. „Bronze”
meint streng genommen die aus ca. neun Teilen Kupfer und einem Teil Zinn bestehende Legierung,
die so bei den Khurasan-Bronzen praktisch nicht vorkommt; vielmehr handelt es sich meist um Le-
gierungen, in denen (neben Kupfer) auch Blei und Zink einen hohen Anteil einnehmen (vgl. die
nachfolgende Analyse). Da er allgemein eingeführt ist, wird der Begriff aber auch im vorliegenden
Text gebraucht.
2 Von den meisten Kannen wurden mehrere Proben (aus Corpus, Henkel und Boden) genommen, so
dass die Anzahl der Datensätze noch wesentlich höher liegt. - Dahncke, 1995, p. 146, gibt an, dass
34 Kannen (und 6 einzelne Henkel) analysiert wurden. Tatsächlich handelte es sich aber nur um 33
Kannen: In der Tabelle der Analysewerte auf p. 148 erscheint Nr. 338 doppelt (Zeile 2 und Zeile
10), wobei sich der zweite Datensatz auf den Henkel, nicht den Kannenkörper bezieht; vgl. die Ge-
samttabelle pp. 146 f. mit den korrekten Angaben.
3 Zweifelhafte Zuordnungen von Objektnummern wurden durch die Überprüfung der fraglichen Ob-
jekte bei einem Besuch in Bamberg geklärt.
4 Die Proben wurden mit einem Spiralbohrer aus gehärtetem Stahl in einer regelrechten Bohrung ent-
nommen oder in Einzelfällen von der Oberfläche abgeffäst. Eventuelle Patina wurde dabei meist
mitgenommen.
5 Zur Messmethode und zu den möglichen Fehlerquellen vgl. W. B. Stern: „Chemische Analyse von
Buntmetall-Mikroproben Kom/Tübingen”, schriftl. Mitteilung, Incella (CH), 25. Juli 1999.
6 Zur Schrötlingsherstellung bei islamischen Edelmetallmünzen vgl. Ehrenkreutz 1953; Hammer
1993, pp. 43-54. Eine entsprechende Untersuchung zur Herstellung von Kupfermünzschrötlingen
existiert m. W. bisher nicht. Zu einigen Beobachtungen an den in der vorliegenden Studie analy-
sierten Münzen vgl. unten.
7 Zugrunde gelegt wurde die Chronologie nach Bumiller 1993 und Dahncke 1992, 1995, 1997. Selbst
wenn den dort postulierten absoluten Datierungen Zweifel bestehen, so erscheint doch die relative
Chronologie für die Zwecke der vorliegenden Studie verwertbar. Für die bislang unpublizierten Ta-
bletts wurde nach stilistischen Merkmalen eine vorläufige Chronologie erstellt.
8 Entgegen Riederer, in: Dahncke 1997, p. 334, kann die Spritzflasche BC 1669 nicht als Zinnbron-
ze angesprochen werden, da hier vermutlich der Boden, nicht der Körper untersucht wurde; vgl.
auch Dahncke 1997, p.289.
9 Das einzelne gehämmerte Beispiel (BC 3545) weist mit dem quer über den Spiegel geführten
Mittelsteg bereits eine Besonderheit auf, die es später erscheinen lässt als die gegossenen Stücke.
1(1 Die Vergleichsmöglichkeiten werden natürlich durch den unterschiedlichen Kanon der gemessenen
Elemente einschränkt. Dagegen mindern die unterschiedlichen Messmethoden die Aussagekraft der
Daten nicht prinzipiell; vgl. oben.
11 Vermutlich der Ghuride Ghiyath ad-Din Muhammad ihn Sam (st. 599/1202).
163
TRIBUS 52, 2003
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TRIBUS 52, 2003
ULI KOZOK
Batak-Handschriften aus der Sammlung des Linden-Museums
Das Linden-Museum beherbergt die zweitgrößte Sammlung von Handschriften
(Hss.) der Batak (Sumatra, Indonesien) in Deutschland und besitzt damit wahr-
scheinlich weltweit die fünftgrößte Sammlung von Batak Hss., die mit über
60 Batak Hss. beinahe ebenso umfangreich ist wie die der Nationalbibliothek der
Republik Indonesien.1 Ein Teil der Stuttgarter Sammlung ist im Verzeichnis der
orientalischen Handschriften in Deutschland (Manik 1973) aufgenommen.2 Wie
aus der folgenden Tabelle ersichtlich, ist aber nur ein Teil der Hss. in das Ver-
zeichnis aufgenommen worden, da zum Zeitpunkt der Aufnahme ein Teil der
Sammlung ausgelagert war. Manik hat die Hss. nur kurz beschrieben, aber keine
Transliterationen oder Übersetzungen angefertigt. Ausführlicher bearbeitet und
übersetzt wurde ein Teil der Stuttgarter Sammlung vom Autor in einer früheren
Publikation, die sich ausschließlich mit Klagen der Karo Batak befasst (Kozok
2000a). Zusammen mit den 14 Stuttgarter Hss., die Gegenstand dieses Artikels
sind, bleiben nur noch einige wenige Hss. auf Bambus und Knochen unübersetzt.3
Dies umfasst eine Schreibübung (4077), drei Knochenamulette mit fragmentari-
schen Zauberformeln (4176, 4177, 121512), drei Kalender (65909, 65910, 78549)
und einige sehr kurze oder unvollständige Orakeltexte und Zauberformeln (78550,
78551, 96837, 119676, 1 19677). Diese Hss., die entweder unübersetzbar sind
oder bei denen sich eine Übersetzung nicht lohnt, sind in Maniks Verzeichnis hin-
reichend beschrieben. Es verbleiben somit lediglich zwei Hss. (110207, 121513),
die es möglicherweise Wert wären, übersetzt zu werden, von denen mir aber kei-
ne Fotos vorliegen.
Katalog Nr. Material Genre Schrift/ Sprache Manik 1973 Kozok 2000a
1 4144 Bambus Drohbrief kbt/kbt 427
2 4147 Bambus Drohbrief kbt/kbt 428
3 2326 Bambus Brief sbt/sbt 418
4 VE.323 Bambus Orakel kbt/pda
5 3894 Bambus Orakel kbt/pda 419
6 3944 Bambus Orakel kbt/kbt 423
7 A30832 Bambus Orakel kbt/pda
8 4082 Bambus Orakel kbt/pda 426
9 4178 Bambus Orakel kbt/pda
10 110206 Bambus Orakel kbt/pda
11 A30831 Bambus Orakel kbt/pda
12 4149 Bambus Adattext kbt/kbt
13 121516 Bambus Adattext kbt/kbt 437
14 A30826c Knochen Mantra kbt/mal
3921 Bambus Klage kbt/kbt 422
118842 Knochen Klage kbt/kbt 443 77
3895 Bambus Klage kbt/kbt 420 73
3896 Bambus Klage/Orakel kbt/kbt 421 74
3994 Bambus Klage kbt/kbt 424 75
166
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Katalog Nr. Material Genre Schrift/ Sprache Manik 1973 Kozok 2000a
4077 Bambus Schreibübung kbt/kbt 425
4105 Bambus Klage kbt/kbt 113
4176 Knochen Amulett kbt/kbt 439
4177 Knochen Amulett kbt/kbt 440
65909 Bambus Kalender 429
65910 Bambus Kalender 430
78423 Knochen Klage ? kbt/kbt 4414
78549 Bambus Kalender 431
78550 Bambus Orakel 432
78551 Bambus Orakelstäbchen 433
96837 Knochen M antra kbt/kbt 442
105649 Bambus Klage kbt/kbt 114
109566 Bambus Klage kbt/kbt 434 76
110207 Bambus Orakel 435
119676 Knochen Orakel ? 444
119677 Knochen Orakel ? 445
121512 Knochen Amulett 446
121513 Knochen Orakel / Mantra 447
121515 Bambus Klage/ Schreibübung kbt/kbt 436 78
121517 Knochen Klage kbt/kbt 438 79
A30818 Bambus Klage kbt/kbt 80
A30819 Leder Klage kbt/kbt 81
A30825 Knochen Klage kbt/kbt 82
kbt = Karo Batak, sbt = Simalungun Batak, pda = Poda-Sprache
Transliteration
ln der Regel habe ich ftir jede Handschrift zwei Transliterationen angefertigt. Die
kritische Transliteration gibt jedes Schriftzeichen der Hs. originalgetreu wieder,
allein sind die Wörter durch Leerstellen voneinander abgesetzt worden. In der
diplomatischen Transliteration sind dagegen Schreibfehler korrigiert, Text-
passagen ergänzt und der Text in semantische Einheiten strukturiert worden. Bei
der Transliteration habe ich mich an das von mir entwickelte Transliterationssy-
stem gehalten, das hier nicht weiter erklärt wird, da es in früheren Publikationen
hinreichend beschrieben wurde (Kozok 1999; Kozok 2000a).
Hs. 2326 stammt aus der Landschaft Simalungun und ist in simalungun-batak-
scher Schrift und Sprache verfasst. Alle anderen Hss. stammen aus der Landschaft
Karo und sind ausnahmslos in der karo-batakschen Schrift geschrieben worden
und in der Regel auch in der karo-batakschen Sprache; die einzige Ausnahme bil-
det Hs. A30826c, die, von wenigen karo-batakschen Wörtern abgesehen, in ma-
laiischer Sprache verfasst ist.
Alle Orakeltexte sind in einer Sprache verfasst, die van der Tuuk und Voorhoeve
als Sprache der Unterweisung (hata poda) bezeichnen. Es handelt sich hierbei um
einen „Sub-Toba-Dialekt“, der dem modernen Toba-Batak eng verwandt ist, aber
zahlreiche archaische Wörter wie auch viele Lehnwörter aus dem Malaiischen
167
TRIBUS 52, 2003
und immer auch viele Wörter aus der Sprache der die Handschrift verfassenden
Autoren enthält. Diese Poda-Sprache war die Schriftsprache der Magier und Hei-
ler, der guru, die in Simalungun und Toba auch datu genannt wurden. Unter die-
sen gab es stets viele hemmwandernde guru, die ihr Wissen in andere Gegenden
brachten. Die guru waren auch die Schriftkundigen ihrer Gesellschaft. Ihr Wissen
über magische und heilerische Praktiken sowie ihre Orakelkunde legten sie in den
pustaha genannten Rindenbüchem nieder und gelegentlich auch auf Bambusab-
schnitten und Knochen des Wasserbüffels.
Die Radikalzeichen wie die diakritischen Zeichen sind in den Transliterationen
wie folgt wiedergegeben:
Radikalzeichen;
Simalungun Transliteration
1 2
a a
— ha/ka ha/ka
CD ba ba
— pa Pa
na na
CD wa wa
— ga ga
<5- ia ja
C da da
-== ra ra
'TC ma ma
5? ta ta
o IT 'T- sa sa
ya - ya
< na nga
la la
— I i
JL U u
Karo Transliteration
1 2
v/i ha a, ha
99 9D ka ka
CD ba ba, mba
, , pa pa, mpa
-ö'b ö na na
CD wa wa
ga ga, ngga
«5- ja ja, nja
da da, nda
o = ra ra
xc "Cc ma ma
tOVl ta ta, nta
sa sa
ya - ya
< ha nga
la la
o~ <?- •<* ca ca, nca
'T' vZx nda nda
CD <S> O mba mba
— I i
— U u
Diakritische Zeichen:
Karo
Transliteration
1. 2. Name Beispiel
Go i i Kelawan ka -> ki *77 o Variante; 99 -
o> e e Kebereten ka d ke •79 > Schwa
o e e Ketelengen ka -> ke 99
> O 0 0 Ketolongen ka -> ko 99 > Variante: 99 >
ox U u Sikumn ka -> ku 99 X
ö 1} ng Kebincaren ka -> kang 99 '
d h h Kejeringen ka -> kah 99 '
o- Penengem ka -> k 99- Privativzeichen
168
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Simalungun
Transliteration
2.
Name
Beispiel
i Hainan ka -> ki
Karo Toba
ö e e Hatalingan ka ké «r:
A
O X 0 0 Sihorlu ka -> ko 0
Ha •77
o> u u Haboritan ka -> ku rr\
Ka "77 77
ö 0 ng Hamisaran ka -> kang 0
......7 h h Hajoringan ka -> kah — ’
-> ou ou Hatulungan ka -> kou - >
0- Panongonan ka -> k —- Privativzeichen
Unter den in dieser Arbeit bearbeiteten Handschriften stammt zwar keine aus
Toba, da aber das Toba-Bataksche der Poda-Sprache am engsten verwandt ist, ist
es sinnvoll auf Besonderheiten der toba-batakschen Schrift und Sprache einzuge-
hen, die auch die Schreibweise der in Poda-Sprache verfassten karo-batakschen
Handschriften beeinflusst haben.
Die karo-bataksche Schrift kennt acht, die toba-bataksche Schrift aber nur sechs
diakritische Zeichen. Dies liegt daran, dass das Toba-Bataksche weder ein aus-
lautendes /h/ noch ein unbetontes /e/ (Schwa) aufweist. Das Schwa des Karo-
Batakschen korrespondiert mit dem /0/ des Toba-Batakschen, manchmal wird es
aber auch zu /a/, während auslautendes /h/ im Toba-Batakschen stets entfallt.
Während in der Schrift der Karo der Radikal '■o sowohl /a/ als auch /ha/ reprä-
sentieren kann, ist sein Wert in der Schrift der Toba eindeutig /a/. Zweideutig ist
in der Toba-Schrift allerdings der Radikal7?,
welcher sowohl für /ha/ als auch /ka/ stehen
kann, während das gleiche Schriftzeichen bei
den Karo stets als /ka/ gedeutet wird.
Die anderen Radikalzeichen sind weitgehend
identisch, ln der Schrift der Toba gibt es aller-
dings keine Zeichen für /nda/, /mba/ und /ca/.
Das Radikalzeichen für /ca/ hat hier den Wert
/nya/.
Interessanter sind jedoch die Unterschiede bei den diakritischen Zeichen (demon-
striert am Radikal /ka/):
kè ke ki ko ku kar) kah k
Karo 77 > ■79 77 0 > -79 77 X 77 ’ ^ ’ 77-
Toba 77 77 0 77 X 77' 77 N.
Karo Toba(Poda)
bèras boras
tèndi tondi
rumah ruma
bèlgah balga, bolga
Deutlich ist, dass die diakritischen Zeichen für /u/ im Karo-Batakschen (sikurun)
und für /0/ im Toba-Batakschen (sihora, siala) identisch sind. Das diakritische
Zeichen für /e/ im Karo-Batakschen und /11/ im Toba-Batakschen haben nicht nur
den gleichen Namen (kbt kebereten, tbt haborotan - kbt /e/ korrespondiert regel-
mäßig mit tbt /0/, initiales /k/ mit /h/, und Prefix /-en/ mit /-an/), sondern auch die
gleiche Form. Das haborotan geht allerdings in vielen Fällen eine Ligatur mit dem
Radikalzeichen ein.
169
TRIBUS 52, 2003
Problematisch ist die Transliteration von karo-batakschen Handschriften, die in
der Poda-Sprache geschrieben sind. Da im phonetischen Inventar der südlichen
Dialekte das Schwa unbekannt ist, wird das kebereten grundsätzlich weggelassen
- sogar dann, wenn es sich um ein karo-bataksches Wort handelt. Das kebereten
/è/ wird dann in der Regel durch das siala /0/ ersetzt, was durchaus schlüssig ist,
da kbt /è/ mit tbt /0/ korrespondiert (z.B. kbt bèni, tbt boni). Nun haben die Ver-
fasser aber häufig auch auf das karo-bataksche Zeichen für /0/ (ketolongen) ver-
zichtet und stattdessen das karo-bataksche sikurun /u/, welches dem toba-batak-
sche siala /0/ gleicht, verwendet. Dies führt natürlich zu abstrusen Schreibweisen
wieox;=5xburu (Toba:csx?=% borir, Karo:o>*=>xheru), welches entweder als
/buru/ oder/boro/ transliteriert werden kann, je nachdem ob man es nach der nörd-
lichen oder nach der südlichen Schreibweise liest. In diesem Fall wurde das sia-
la/sikurun in der Transliteration gelegentlich durch ein neutrales Zeichen, nämlich
ein /x/, wiedergegeben.
Problematisch ist auch die Wiedergabe des Radikalzeichens77, das im Karo-Ba-
takschen den Wert /ka/ hat, im Toba-Batakschen jedoch /ha/ und /ka/. Da die Hss.
in Poda-Sprache auch immer zahlreiche karo-bataksche Wörter enthalten, wird in
der Regel als /ka/ transliteriert - allerdings mit einer Ausnahme; (kbt.
lako ,um zu’, tbt. laho ,gehen’) habe ich stets als laho transliteriert (Hss. A 30832
und 4178), da die Bedeutung hier eindeutig ,gehen’ ist.
Zeichen, die in der Hs. vom Verfasser ausgestrichen wurden, sind mit 0, unle-
serliche mit X wiedergegeben. Ist das ausgestrichene Zeichen noch lesbar, wird
ein Schrägstrich und das 0-Symbol rechts und links neben das ausgestrichene
Zeichen gesetzt: /0na0/ bedeutet, dass der Radikal /na/ ausgestrichen wurde. Un-
deutliche oder schlecht lesbare Zeichen sind unterstrichen; in einigen Fällen war
es schwer zu entscheiden, um welches Zeichen es sich handelt. Die in Frage kom-
menden Alternativen sind in Schrägstriche eingefasst: /hé/ka/ bedeutet, dass es
sich entweder um /hé/ oder um /ka/ handelt.
Die 14 bearbeiteten Hss. aus der Sammlung des Linden-Museums können - ab-
gesehen von der Frage nach ihrer Provenienz, auf die weiter unten eingegangen
werden wird - in fünf Gruppen eingeteilt werden:
Drohbriefe 4144,4147
Briefe 2326
Orakeltexte V.L.323, 3894, 3944, 4082, 4178, 110.206, A30.831, A30.832
Adattexte 4149, 121.516
Mantra A30826c
Wie bereits oben erwähnt, sind die Klagelieder bereits in einer früheren Publika-
tion abgehandelt worden. Um dennoch ein Beispiel einer karo-batakschen Klage
in diesen Artikel aufzunehmen, habe ich eine kurze Klage aus einer britischen Pri-
vatsammlung, von der mir jüngst Fotos zugeschickt wurden, als fünfzehnte Hand-
schrift in diesen Artikel aufgenommen.
1. Drohbriefe
Die Drohbriefe der Karo-Batak, bekannt als musuh berngi ,Feind in der Nacht’,
sind stets in karo-batakscher Schrift und Sprache verfasst. Brandbriefe dieser Art
finden sich in großer Anzahl in diversen Museumskollektionen. Sehr häufig rich-
ten sie sich an einen Verwalter der europäischen Pflanzungen an der Ostküste
Nordsumatras mit der Forderung zur Bezahlung ausstehenden Lohns. Der erste
Assistent-Resident der Karo Hochfläche Westenberg (1914) hat die Tradition der
Drohbriefe zwar recht ausführlich beschrieben, jedoch leider keine Originaltexte
vorgestellt. Manik (1973) hat etwa 30 Drohbriefe aus verschiedenen deutschen
Sammlungen beschrieben, aber keinen einzigen Text vollständig abgedruckt. Es
170
Uli Kozok: Batak-Handschriften
sind bislang nur wenige Drohbriefe in Transliteration und Übersetzungen publi-
ziert worden. Zwei Texte finden sich bei Müller (1893:72ff.), Voorhoeve (1952)
hat einen Drohbrief der Simalungun und in einer späteren Publikation
(1975:200ff.) zwei weitere Drohbriefe, einen aus Toba und einen weiteren aus Ka-
ro, veröffentlicht. Petra Martin (1990) hat sieben Drohbriefe aus der Sammlung
des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden übersetzt; diese Übersetzun-
gen sind später vom Autoren korrigiert und ergänzt worden (Kozok 2001). Letz-
terer hat auch den kurzen Drohbrief 4147 des Linden Museums übersetzt (Kozok
1990:114). Alles in allem ist die Quellenlage immer noch sehr bescheiden und
wird durch diese Publikation nur geringfügig verbessert.
1. Katalog Nr. 4144
Die Hs. ist offensichtlich vom gleichen Schreiber verfasst wie Nr. 4147. Wie es bei
den musuh berngi üblich ist, sind auch dieser Hs. verschiedene Miniaturwaffen bei-
gegeben, u.a. eine Fußangel, eine Lunte mit Zunder und ein Messer aus Holz.
Der Verfasser droht, er werde töten, Feuer legen und Anpflanzungen zerstören,
wenn seine Forderungen, die nicht näher dargelegt sind, nicht erfüllt werden. Der
Verfasser begründet seine Tat „wegen meines Kindes und meines Brautpreises“.
Tukur emas heißt außer „Brautpreis“ auch „Ehefrau.” Offensichtlich ist ihm Un-
recht geschehen in Bezug auf Frau und Kind oder seines Kindes (wahrscheinlich
die Tochter) und des Brautpreises.
Transliteration 1
1. heda suratku nina musuh berhi su
2. rat nuluhi gatgati ma ku munuh ma
3. ku nina sabap hanakku ras tukur
4. hemasku nina haku ni delep si magun
5. hagun.
Transliteration 2
Enda suratku nina musuh berngi. Surat nuluhi, gatgati, ma ku munuh ma ku nina,
sabap anakku ras tukur emasku nina aku ni deleng si mangun-angun.
Übersetzung
Dies ist mein Brief, sagt der Feind in der Nacht. Der Brief [der ankündigt, ich wer-
de] Feuer legen, [Fruchtbäume oder andere Anpflanzungen] klein hacken, auch
töten werde ich, sagt er. [Dies werde ich tun] wegen meines Kindes und dem
Brautpreis, sage ich [der sich verborgen hält] in den schwankenden Bergen.
2. Katalog Nr. 4147
Bambusabschnitt ohne Ornamente, an dem ein Büschel zusammengebundener
Palmfasern, die Zunder darstellen sollen, und ein dünnes Bambusstäbchen als
Speer befestigt sind. Offensichtlich der gleiche Schreiber wie Hs. 4144.
Transliteration 1
1. heda surat musuh berhi musuh suwari
2. ma ku nina sabap hupahku la nigalar tuwan
3. nina musuh berhi heda ma ku nuluhi gat
4. gati kutabah bako kusuluh baijsal ku
5. bunuh jelma ras tuwan pe kubunuh
6. karina musuh ku nina haku ni teruh la'it
7. — ni babo tanuÖ hi delei si magun ha
8. gun nina.
171
TR1BUS 52, 2003
Transliteration 2
Enda surat musuh berngi musuh suari ma ku nina. Sabap upahku la nigalar Tuan,
nina musuh berngi enda. Ma ku nuluhi, gatgati, kutabah bako, kusuluh bangsal,
kubunuh jelma ras Tuan pe kubunuh. Karina musuhku nina aku ni teruh langit, ni
babo tanuh i deleng si mangun-angun.
Übersetzung:
Dies ist ein Brief des Feindes in der Nacht, des Feindes am Tage, sage ich. Der
Grund ist, dass der Tuan meinen Lohn nicht bezahlt hat, sagt der Feind in der
Nacht.6 Ich zündele, zerhacke, ich zerstöre die Tabakpflanzen, ich zünde die Ta-
bakscheunen an, ich töte Menschen, auch den Tuan töte ich. Alle sind meine Fein-
de, sage ich, unter dem Himmel, auf der Erde, in den schwankenden Bergen.
2. Briefe
Obgleich sich in den verschiedenen Museumssammlungen meist auch einige
Briefe befinden, ist dieser Textgattung fast überhaupt keine Beachtung geschenkt
worden. Ein karo-batakscher Brief ist von Müller (1893:72ff.) und ein weiterer
von Brenner (1894:95) publiziert worden. Hinzu kommen, neben einigen Kurz-
beschreibungen in Manik (1973), noch einige toba-bataksche Briefe publiziert
von Voorhoeve (1975:203f). Etwas mehr Beachtung haben die Briefe des batak-
schen Hohenpriesters Si Singamangaraja XII gefunden, die von verschiedenen
Autoren meist recht unvollständig beschrieben oder übersetzt worden sind - sie-
he hierzu die Verweise in Kozok (2000b).
3. Katalog Nr. 2326
Simalungun-bataksche Schrift und Sprache mit einigen malaiischen Sätzen. Brief
des Herrschers (tuan) der simalungunschen Landschaft Dolok Kahean an den
Kontrolleur der malaiischen, an Simalungun grenzenden Landschaft Padang. Der
Tuan Dolok Kahean, der von sich sagt, er habe sich seit längerem der Kolonial-
regierung unterstellt, bittet den Kontrolleur, ihm etwas (einmal als balanja ,Geld’,
dann als barang ,Ware’ bezeichnet) vermittels des Tuan Dolok Merawan zu ge-
ben. Der Tuan Dolok Kahean scheint sich in einer schwierigen Lage zu befinden:
„Ich habe weder zu essen, noch zu rauchen.“ Offenbar hat er oder zumindest be-
absichtigt er der niederländischen Verwaltung Land zur Verfügung zu stellen,
möglicherweise für Plantagen. Infolgedessen hat das den Holländern feindlich ge-
sinnte Reich Raya den Tuan Dolok Merawan aus seinem Reich vertrieben und
Dolok Kahean geplündert. Er erhoffte sich Hilfe vom Tuan Bandar, der sie ihm
aber versagte. Es gelang ihm auch nicht, das Volk von Dolok Kahean zu bewegen,
ihm zu folgen und sich der Kolonialregierung, die als „Kompanie“ bezeichnet
wird, zu unterstellen.7 Nun bittet er den Kontrolleur, ihm zu helfen, wieder Raja
zu werden.
Transliteration 1
Linke Spalte:
1. tabi bani tuwan gintilir on surat ni
2. tuwan dolok kaheyan bani gintolir
3. padaq /hu/wu/lai] lolos bani parpadananni mukkahni
4. -yon 0 di ahu na mahadu bani gintolir di
5. kalou mati kato tuwan matila kalou Idup kato
6. tuwan Idupla ahu on roh ma sin raya got
7. ma di dolok marawan Ibayen sin raya al
8. mase hubayen surathu bani tuwan gintolir
9. — sedo ahu na marapas bani gintolir na
10. dot] bol hubayen mardalan al mase surat
172
Lili Kozok: Batak-Handschriften
11. huberehon domma hum bandar ahu mahin
12. dou tolol bal tuwan bandar nadop dibere mabi
13. yar do halani domma marraja bal gamponi
14. ahu al ma ase mintak tolop kalou kasih tuwan
15. gintolir bakku Iberehon Iboba tuwan
16. dolok marawan balanjahu al pe apgo deyar
17. do hukur ni gintolir lahou ahu lahou ahu mabi
18. yar do ahu sahurap ahu nadop kawanhu kata ni gin
19. tolir mulak do ahu hu dolok kaheyan mulak bak
20. — ku pakkon rayat dolok kaheyan nini gin
21. tolir on sada pe laO rohhon ahu.
Rechte Spalte:
1. al ma ase hulap lap Ibotoh gintolhir apgo holop do
2. ate ni gintolir lyalop ma sagala rayat dolok
3. — kaheyan ase Iberehon bakku karana domma a
4. hu marraja bal gamponi sonin nini gamponi
5. sonin do nikku al ma ase hulaplap Iberehon bal
6. tuwan dolok marawan barap sonaba ma dop hukur
7. ni gintolir on manan pe nadop maOisop pe
8. nada dop be ahu al ma ase dasuhuthon bani tuwan
9. gintolir al pe domma ahu marhabah IXtahon
10. gintolir makkabahhon /bu//bi/we hutik ni hugas
11. -- dolok kaheyan na bol hayan sin raya al
12. -/pada/ma/ manat ni na marraja bani gamponi ta
13. noh pe dipindou gintolir tanoh pe huberehon do
14. tapi algo hubal raja tanjup nadop ahu mambere ta
15. noh hubal gintolir do pamiñatanhu al
16. mapittor ni hukurhu bal gintolir ta
17. /0ta0/ n /da/de/ ni mam ni mamiñat marraja ba
18. ni tuwan gintolir
Transliteration 2
Linke Spalte:
Tabi bani Tuan Gintolir.
On surat ni Tuan Dolok Kahean
bani Gintolir Padang.
Ulang lolos bani parpadananni mukkahni ondi.
Ahu na mangadu bani Gintolir.
Jikalou mati kata Tuan, mati la[h],
kalou idup kata Tuan, idup la[h] ahu on.
Roh ma sin Raya, got ma di Dolok Marawan ibaen sin Raya
Ai mase hubaen suratku bani Tuan Gintolir.
Sedo ahu na marapas bani Gintolir
nadong boi hubaen mardalan,
ai mase surat huberehon.
Domma hum Bandar ahu mangindou tolong bai Tuan Bandar,
nadong dibere, mabiar do halani domma marraja bai Gamponi ahu.
Ai ma ase minta tolong
kalou kasih Tuan Gintolir bakku
iberehon iboba Tuan Dolok Marawan balanjaku
Ai pe, anggo dear do uhur ni Gintolir lahu ahu
lahou ahu mabiar do ahu, saurang ahu nadong kawanku.
Hata ni Gintolir mulak do ahu hu Dolok Kahean
mulak bakku pakhon rayat Dolok Kahean nini Gintolir,
on sada pe lang rokkon ahu.
Ai ma ase ulang lang ibotoh Gintolir
TRIBUS 52, 2003
anggo holong do ate ni Gintolir
ialop ma sagala rayat Dolok Kahean ase iberehon bakku
karana domma ahu marraja bai Gamponi
sonin nini Gamponi, sonin do nikku.
Ai ma ase ulang lang iberehon bai Tuan Dolok Marawan barang,
sonaha ma dong uhur ni Gintolir.
On, mangan pe nadong, mangisop pe nada dong be ahu.
Ai ma ase dasuhuthon bani Tuan Gintolir
ai pe domma ahu marhabar ihatahon Gintolir
makkabarkon bue hutik ni ugas Dolok Kahean
na boi bayan [=bois baen?] sin Raya
Ai ma manat ni na marraja bani Gamponi.
Tanoh pe dipindou Gintolir,
tanoh pe huberehon do.
Tapi anggo hubai Raja Tanjung
nadong ahu mambere tanoh.
Hubai Gintolir do parningatanhu.
Ai ma pittor ni uhurhu bai Gintolir tanda ni na marningat marraja bani
tuan Gintolir.
Übersetzung
Gegrüßt sei der Tuan Kontrolleur
dieser Brief ist vom Tuan Dolok Kahean
an den Kontrolleur von Padang.
Vergiss nicht das Versprechen, das du mir gegeben hast.
Ich wende mich an den Kontrolleur.
Leben und Tod liegen in den Händen des Tuan.
Aus Raya kommend, wurde Dolok Marawan von Leuten aus Raya umzingelt.
Daher schreibe ich meinen Brief an den Tuan Kontrolleur,
Ich bin nicht dem Kontrolleur gegenüber anmaßend
[aber] ich kann nicht selbst kommen,
deshalb schicke ich einen Brief.
Bereits aus Bandar (?) habe ich den Tuan Bandar um Hilfe gebeten
er hat sie mir nicht gewährt,
er fürchtet sich, da ich mich der Kompanie unterworfen habe.
Daher bitte ich um Hilfe,
wenn der Kontrolleur mir geneigt ist
gebe er dem Tuan Dolok Merawan mein Geld mit
wenn der Kontrolleur mir gut gesinnt ist,
ich fürchte mich zu gehen, bin allein, habe keine Freunde.
Es sagte der Kontrolleur: „Gehe zurück nach Dolok Kahean,
bringe mir das Volk von Dolok Kahean zurück“, sagte der Kontrolleur.
Niemand ist mit mir gegangen.
Dies möge der Kontrolleur wissen.
Wenn der Kontrolleur mir geneigt ist,
hole er das ganze Volk von Dolok Kahean und übergebe es mir,
denn ich habe mich schon der Kompanie unterworfen,
was die Kompanie sagt, sage ich auch.
Deswegen gebe dem Tuan Dolok Merawan unbedingt die Sachen
wie denkt der Kontrolleur darüber?
Zu essen habe ich nichts, auch nichts zu rauchen.
Daher wende ich mich an den Kontrolleur.
Daher habe ich auch schon dem Kontrolleur Nachricht gegeben,
ein wenig mitgeteilt, von den Schätzen von Dolok Kahean,
die von denen aus Raya vernichtet/weggenommen wurden
Daher sind diejenigen vorsichtig, die sich der Kompanie unterworfen haben.
174
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Der Kontrolleur fragte nach Land,
Land habe ich gegeben,
aber dem Raja Tanjung habe ich kein Land gegeben.
Ich gebe dem Kontrolleur ein Versprechen,
ich bin ehrlichen Herzens dem Kontrolleur gegenüber,
als Zeichen meines Versprechens, mich dem Herrn Kontrolleur zu unterwerfen.
3. Orakeltexte
Eine große Anzahl von Orakeltexten sind im Verzeichnis von Manik (1973) be-
schrieben worden, aber es gibt nur wenig vollständige Transliterationen und Über-
setzungen. Eine Ausnahme machen nur Voorhoeves Kataloge von Handschriften in
dänischen und irischen Sammlungen, in denen einige Texte vollständig übersetzt
wurden (Voorhoeve 1961; Voorhoeve 1975). Überhaupt sind unsere Kenntnisse die
bataksche Wahrsagerei und Astrologie betreffend trotz der einschlägigen Arbeiten
von Tobing (1956) und Winkler (1925; 1956) immer noch sehr unzureichend.
4. Katalog Nr. V.L. 323
Karo-bataksche Schrift, Poda-Sprache. Die Tagesnamen wie auch die Namen der
Monate sind dem karo-batakschen Kalender entlehnt, der sich aber im Prinzip
nicht von dem der Toba unterscheidet. Es handelt sich bei dieser Hs. um ein Ora-
kel über bestimmte Tage, die in den zwölf Monaten des Batakkalenders ungünstig
sind. An diesen Tagen dürfen keine Feste abgehalten werden.
Die einzelnen Textabschnitte sind durch ein Ornament (bindu) voneinander abge-
setzt. Jeder Textabschnitt bezieht sich auf einen Monat, beginnend mit dem ersten
Monat. Die Texte ähneln sich sehr und bestehen in der Regel aus folgenden sechs
Teilen;
1. Wenn im ersten (zweiten, dritten...) Monat
2. Jaha di bulan si pahasada (dua, tolu...)
der erste (zweite, dritte...) Tag
3. mangan si anggasa oder mangan ompu ni hala
4. jahat bulan inon
schlecht ist dieser Tag
5. ulang morhorja
halte kein Ritual ab
6. ale amang gunmami
О unser Vater, der Magier.
Anggasa ist lexikographisch nicht nachweisbar. Mangan ompu ni hala könnte hei-
ßen „essen/verschlingen den Großvater des Skorpions (das Sternbild)”. Die be-
treffenden Tage scheinen also daher ungünstig zu sein, da sie „den Großvater des
Skorpions verschlingen“. Was nun damit gemeint ist, d.h. wie diese Termini astro-
logisch ausgedeutet wurden, ist unklar.
Aus dem Orakel geht hervor, dass der erste Tag des Kalendermonats im ersten
Monat ein ungünstiger Tag, der zweite Tag im zweiten Monat ein ungünstiger Tag
ist usw. Die Namen der Tage des batakschen Kalenders sind nach indischem Vor-
bild benannt und beziehen sich auf die Sonne (aditya), den Mond {soma) und die
fünf sichtbaren Planeten Mars (anggara), Merkur (budha), Jupiter (brhaspati),
Venus (Sukra) und Saturn (sanaiscara). Die Tagesnamen werden in der zweiten
Woche mit verschiedenen Zusätzen wie naik ,aufgehen’, na siwah ,der neunte
[Tag]’, sepuluh ,der zehnte [Tag]’, etc. versehen. Gleichermaßen werden die Tage
der ersten Wochen gelegentlich (wie in dieser Hs.) mit dem Zusatz poltak ,zu-
nehmen ’ versehen, und der sechste Tag eukera ist hier (vertobascht) als eukora na
onom ,der sechste’ eukera bezeichnet.
175
TRIBUS 52, 2003
Karo Toba Karo Toba
1. Aditia Artia 8. Aditia naik Antian ni aek
2. Suma Suma 9. Suma na siwah Suma ni mangadop
3. Nggara Anggara 10. Nggara sepuluh Anggara sampulu
4. Budaha Muda 11. Budaha ngadep Muda ni mangadop
5. Beraspati Boraspati 12. Beraspati tangkep Boraspati tinangkop
6. Cukera Singkora 13. Cukera lau Singkora pumama
7. Belah naik Samisara 14. Belah purnama Samisara purnama
Die Monate haben, von den letzten beiden abgesehen, keine Namen und werden
einfach als ,der Erste, Zweite, Dritte etc.’ bezeichnet. Die beiden letzten Monate
werden in dieser Hs. als luwi und luwi kukurung bezeichnet.
Anmerkung zur Transliteration
Transíiteriert habe ich diese Hs., als handelte es sich um eine toba-bataksche Hs,
d.h. ich habe jaka als jaha, tulu als tolu (tbt), nicht telu (kbt) und murkurja als
morhorja wiedergegeben (wie üblich bei Hss. karo-batakscher Provenienz, die in
der Poda-Sprache verfasst sind, kann das diakritische Zeichen für /ul der karo-ba-
takschen Schrift (sikurun) für /u/, /0/ bzw. lei stehen. In der toba-batakschen
Schrift gibt es ein gemeinsames Radikalzeichen für /ha/ und /ka/, während es in
der karo-batakschen Schrift ein gemeinsames Radikalzeichen für /a/ und /ha/ gibt.
Die Transliteration nach dem Toba-System ermöglicht es allerdings nicht, die spe-
zifisch karo-batakschen Bezeichnungen korrekt wiederzugeben. So handelt es
sich beim cukora si onom borngi um den sechsten Tag des karo-batakschen Ka-
lenders cukera enern berngi, welcher im Toba-Batakschen allerdings singkora be-
nannt ist.
Transliteration 2
1. la di bulan [pa]hasada aditia poltak mangan si anggasa jahat bulan inon.
2. Jaha di bulan si pahadua suma poltak mangan si anggasa jahat hari inon ulang
murhorja.
3. Jaha di bulan si pahatolu gara mangan si anggasa ulang morhorja jahat hari
inon alé amang guru nami.
4. Jaha di bulan si pahaompat budaha poltak mangan si anggasa jahat hari inon
ulang morhorja.
5. Jaha di bulan si pahalima boraspati poltak mangan si anggasa ulang morhorja
na jahat hari inon.
6. Jaha di bulan si pa[ha]onom cukora si onom bomgi mangan si anggasa jahat
hari inon alé amang guru nami.
7. Jaha di bulan si pahapitu bolah n[a]ik mangan ompu ni hala ulang kita mur-
tomu (kbt erdemu) bayu jahat hari inon alé amang guru nami
8. Jaha di bulan si pahaualuh aditia n[a]ik mangan si anggasa mangan ompu
9. Jaha di bulan si pahasiwah suma na siwah mangan ompu ni hala ulang kita
morhorja hari inon jahat alé amang guru nami
10. Jaha di bulan si pahapuluh gara si sapuluh mangan ompu ni hala ulang kita
morhorja hari inon jahat alé amang guru nami.
11. Jaha di bulan si pahapupuluh di bulan luwi tangtang budha ngadop mangan si
ompu ni hala ulang kita morhorja hari i[non] jahat alé amang guru nami.
12. Ja[ha] di bulan luwi kukurung pariama kurung bi[n]tang hala mangan ompu
ni hala ulang kita morhorja hari inon jahat alé amang guru nami ulang lupa
podah ni parubulan si motoh mara si motoh suada mara alé amang guru nami
podah ni porhalaan podah ni pandatangi bulan jahat ma ulang.
176
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Übersetzung:
1. Im ersten Monat ist der Tag aditia poltak ein schlechter Monat.8
2. Im zweiten Monat ist der Tag suma poltak ein schlechter Tag, halte kein Fest
ab.
3. Im dritten Monat ist der Tag tolu gara ein schlechter Tag, halte kein Fest ab,
der Tag ist schlecht, O unser Vater, der guru.
4. Im vierten Monat ist der Tag budaha poltak ein schlechter Tag, halte kein Fest
ab.
5. Im fünften Monat ist der Tag boraspati poltak ein schlechter Tag, halte kein
Fest ab.
6. Im sechsten Monat ist der Tag cukera si enem berngi ein schlechter Tag, O
unser Vater, der guru.
7. Im siebten Monat ist der Tag belah naik ein schlechter Tag, halte nicht das er-
demu bayu -Ritual (eines der Heiratsrituale) ab, O unser Vater, der guru.
8. Im achten Monat ist aditia naik ein schlechter Tag.
9. Im neunten Monat ist sumana siwah ein schlechter Tag, halte kein Fest ab, O
unser Vater, der guru.
10. Im zehnten Monat ist gara si sapuluh ein schlechter Tag, O unser Vater der
guru.
11. Der elfte Monat ist der Monat luwi tangtang, der Tag budaha ngadep ist ein
schlechter Tag, halte kein Fest ab, O unser Vater, der guru.
12. Im Monat luwi kukurung (der 12. Monat) ...?...9 ist hurung (der 29. Tag) ein
schlechter Tag, halte kein Fest ab, O unser Vater, der guru. Vergiss nicht die
Vorschriften über die Monate, [sagt der, der] die Gefahren kennt, der die
Nicht-Gefahren kennt, O unserVater, der guru. Die Vorschriften über den por-
halaan (den Kalender) die Vorschriften darüber, dass das Kommen der
schlechten Monate verhindert (?) wird.
5. Katalog Nr. 3894
Bambusdose mit hölzernem Deckel. 22,5 cm hoch. Bei dieser Hs. aus der Samm-
lung von Georg Meissner10 handelt es sich um ein Orakel zur Wahl der Tageszeit
(pinangan ni ari). Es dient der Bestimmung eines günstigen Zeitpunktes zur Rei-
se in eine fremde Gegend (banua ni halak). Der erste Textabschnitt lautet: „Dies
sind die Vorschriften der Weihrauch-Mantren zur Wahrsagerei“. Im zweiten Ab-
schnitt wird der Gegenstand des Textes be-
schrieben: „Dies sind die Vorschriften für
die sieben Tage (ari na pitu), [die wir be-
folgen müssen], wenn wir in eine fremde
Gegend reisen, sagt unser guru“.
Der siebte Tag wird in dieser Handschrift
samisara genannt. Nach Neumann (1951)
ist die eigentliche Bedeutung als siebter Tag
bei den Karo nicht allgemein bekannt. Der
Bambusbüchse (hawal hawal sira), zum
Aufbewahren von Salz, mit Karoschrift
bedeckt und mit eingeritztem Kalender,
verzierter Holzdeckel, dicht schließend,
H: 23 cm, D: 7,5 cm, Sumatra, Deli, Karo
Batak, Inv.-Nr. 3894. Foto: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
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TRIBUS 52, 2003
7. Tag heißt bei den Karo allgemein beleih ,Hälfte’. Belah naik ,aufsteigende Hälf-
te’ (1. Viertel) ist der 7. Tag, belah purnama raya , Vollmond’ der 14., belah turan
,herabsteigende Hälfte’ (3. Viertel) der 21. und maté bulan ,Neumond’ ist der 28.
Tag. Für die Bezeichnung der Tagesnamen werden in dieser Handschrift die karo-
batakschen Termini bevorzugt. Es ist üblich, dass in karo-batakschen Hss., die in
der Sprache der Toba geschrieben sind, auch bei den karo-batakschen Wörtern auf
das diakritische Zeichen für das Schwa (kebereten) zugunsten des diakritischen
Zeichens für /u/ (sikurun) verzichtet wird. Ebenso wird /ca/ häufig durch /sa/ er-
setzt. Daher kann boraspati durchaus auch beraspati gelesen werden und sukura
als eukera. Allerdings wird in Abschnitt 5, Zeile 2 ciger mit dem Radikalzeichen
/ca/ geschrieben und das kebereten wird hier durch das diakritische Zeichen für /i/
(kelawan) ersetzt. Das Toba-Bataksche kennt den Laut und das entsprechende Ra-
dikalzeichen für /ca/ ebenso wenig wie das Schwa. Für den 4. Tag findet sich ei-
ne Mischform von budaha und muda, nämlich mudaba.
In dieser Hs. werden die sieben Tage und die sechs Tageszeiten beschrieben in
Hinblick auf Gunst oder Ungunst einer bevorstehenden Reise. Nach Winkler
(1925) wird der Tag bei den Toba-Batak in fünf Tageszeiten aufgeteilt, die jeweils
einem der fünf pormamis zugeordnet sind, die je eine Tageszeit beherrschen. In
dieser Hs. werden aber - entsprechend der karo-batakschen Tagesgliederung -
sechs Tageszeiten aufgeführt.
Hs. 3894 Toba Karo Tageszeit
1. murpagi-pagi / sogot sogot-sogot erpagi-pagi frühmorgens
2. pangului pangului pengului vormittags
3. tongah arian / ciger hos ciger mittags
4. guling guling geling frühnachmittags
5. linge guling linge spätnachmittags
6. bobot bot ben abends
Ungewöhnlich ist in dieser Hs. die Bezeichnung tongah arian ,Mitte des Tages’
als Synonym zu ciger sowie die lexikografisch nicht nachweisbare Form bobot -
wahrscheinlich wurden hier versehentlich die ersten beiden Buchstaben zweimal
geschrieben. Die Vermischung karo- und toba-batakscher Termini ist für eine ka-
ro-bataksche Hs. in Poda-Sprache nicht unüblich. In den Hss. - besonders denen,
die nicht von einem toba-batakschen guru verfasst wurden - finden sich stets ei-
nige Wörter, die der guru seiner Muttersprache entnommen hat.
Die Tageszeiten werden jeweils als jahat ,ungünstig, schlecht’ oder marulih
,günstig, Gewinn versprechend’ bezeichnet. Gelegentlich heißt es auch marulih
ma hita ,wir werden Erfolg haben’. Dieses Orakel findet Anwendung, wenn je-
mand in eine fremde Gegend reisen will, um einer Tätigkeit (Handel, Glücksspiel)
nachzugehen. Das Orakel bezieht sich auf den Erfolg bei der Ausübung der Tä-
tigkeit, der davon abhängig ist, an welchem Tag und zu welcher Tageszeit jemand
eine Reise antritt.
Die Tageszeiten 4.5, 5.5., 6.3,6.4., 6.5. und 7.5 sind nicht benannt. 5.4. und 6.2. wer-
den zuerst als „günstig“ und dann als „ungünstig“ bezeichnet. Die folgenden Ta-
geszeiten sind in diesen Fällen nicht aufgeführt, so dass angenommen werden kann,
dass sich „ungünstig“ auf die nicht genannten Tageszeiten 5.5. und 6.3. bezieht.
Im Einzelnen ergibt sich folgendes Bild:
1. Tag (Aditia)
1. ungünstig, (wir) werden Schulden machen.
2. günstig
178
Uli Kozok: Batak-Handschriften
3. ungünstig (wir) werden Schulden machen.
4. ungünstig (wir) werden Schulden machen.
5. günstig
6. (wir) werden einen Feind treffen.
2. Tag (Suma)
1. (wir) werden Schulden machen.
2. günstig
3. ungünstig
4. ungünstig
5. günstig
6. ungünstig
3. Tag (Anggara)
1. ungünstig
2. günstig
3. es wird ein glücklicher Zufall sich ereignen
4. — [wohl versehentlich wurde hier jaha tongah arian wiederholt]
5. günstig
6. günstig
7. günstig
4. Tag (Mudaha)
1. günstig, schnell werden wir zurückkehren
2. ungünstig
3. ungünstig
4. ungünstig
5. —
6. günstig
5. Tag (Boraspati)
1. günstig
2. wir werden eine Last (Frachtgut, Waren) verlieren
3. ungünstig
4. günstig
5. ungünstig
6. (wir) werden uns freuen
6. Tag (Singkora)
1. ungünstig
2. günstig
3. —
4. — ungünstig (kann sich auf 3., 4. oder 5. beziehen)
5. —
6. günstig
7. Tag (Samisara)
1. günstig
2. ungünstig
3. ungünstig
4. günstig
5. —
6. ungünstig
Am Ende eines jeden Abschnittes befindet sich ein Satz, der in der Regel mit pin-
angan ni ari beginnt. Pinangan leitet sich vonpangan ,essen’ ab, das Infix ,in’ hat
partizipisch-passivischen Charakter.11 Neumann (1951:234) gibt folgende Defini-
tion von pinangen uari: „ungefähr wie perbekaten [Druckfehler, es muss hier
perberkaten heißen], eine Blume, ein Huhn oder etwas Ähnliches, was nach ei-
nem bestimmten Tag verlangt, um sich eines guten Tages zu versichern”. Perber-
179
TRIBUS 52, 2003
katen (ebd.S.47) ist „ein günstiger Zeitpunkt eines Tages, um etwas zu unterneh-
men”. Unter perberkatenken und perberkat-berkatenken heißt es: „Ein bunga-
bunga oder etwas Ähnliches, das man als ,AufbruchsmitteT in das Kopftuch
steckt, wenn man sich auf eine Reise begibt.“ (Bunga-bunga ist die Hibiskusblü-
te, Hibiscus rosa sinensis L. Malvaceae (ebd.S.59).
In unserer Hs. finden wir pinangan ni ari in folgenden Kontexten:
• pinangan ni ari na padang toguh...
• pinangan ni ari ta nodang di anakboru...
• pinangan ni ari na pahu haiinan...
• pinangan ni ari na bulung nar panganan...
• pinangan ni ari ta ragas-ragas...
• pinangan ni ari na bunga-bunga...
Bei dem auf das Wort ari folgende na kann es sich sowohl um das Relativprono-
men als auch um das Personalsuffix für die 3. Person handeln. Wahrscheinlich ist
letzteres der Fall, da auch die Form arita vorkommt, wobei ta das Personalsuffix
für die 1. Person Plural ist. Allerdings könnte ta auch zu nodang gehören (even-
tuell Schreibfehler für tondang, dann könnte es tondang di anakboru ,die Braut-
nehmer besuchen’ heißen). Ebenso könnte es taragas-ragas heißen, in dem Fall
wäre ta Bestandteil des passivischen Präfixes tar-,
Padang Teguh (kbt) ist eine Grasart (Eragrostis unicloides Nees.; Farn. Gramineae).
Pahu bzw. paku (kbt) ist der Oberbegriff für verschiedene Farnarten, pahu haiinan
könnte eine bestimmte Famart sein (haiinan ist lexikographisch nicht nachweisbar).
Bulung nar: Hier scheint eine Silbe ausgelassen worden zu sein, es sollte wohl eine
bestimmte Sorte eines Blattes (bulung) benannt werden. Ragas-ragas ist nicht nach-
weisbar. Ranggas12 (tbt und kbt); ,dünne trockene Zweige’, ranggas-ranggas (kbt)
,eine Insektenart’, bunga-bunga ,Hibiskus’. Es könnte sich hier also um Pflanzen
etc. handeln, die als „Aufbruchmittel“ des jeweiligen Tages dienten.
Voorhoeve (1975:185) beschreibt ein ähnliches Orakel und übersetzt pinangan ni
ari als the offering for the day. Demnach würde es sich also bei den genannten
Pflanzen um Opfergaben für die Gottheiten der fünf Tageszeiten handeln. Als
pinangan ni ari werden in der von Voorhoeve beschriebenen Hs. Erdnüsse, leere
Reiskörner, geschälter Reis, Steine aus der Mitte eines Flusses und sieben Wur-
zeln des padang toguh-Grases genannt.
Im Weiteren sind die letzten Sätze der einzelnen Abschnitte nicht übersetzbar. Ei-
nige dieser Sätze enden, wie üblich, mit dem Ausruf ale amang guru (datu) nami
,0 unserVater, der Magier’.
Die Texte sind illustriert durch Tafeln, an denen offensichtlich die Orakel zur Aus-
führung kommen sollen. Es finden sich zwei Orakeltafeln von je 5x5- und 7x7-
Kästchen zur Bestimmung der fünf Tageszeiten - obschon im Text jedoch von
sechs Tageszeiten die Rede ist - und der sieben Tage. In der Orakeltafel der fünf
Tage findet sich in jedem Rechteck ein Radikalzeichen in folgender Anordnung;
Das /ma/ im Eckfeld oben rechts ist um 90 Grad im
Uhrzeigersinn gedreht. Alle anderen Schriftzeichen
sind um 45 Grad im Uhrzeigersinn gedreht, so dass
die Tafel wohl diagonal gelesen wird. Die erste Rei-
he besteht dann aus nur einem Zeichen (das Eckfel
rechts oben), nämlichxc /ma/. Die zweite Reihe
steht aus zwei'ö/na/. Die dritte Reihe besteht aus
drei"?" /sa/, die vierte aus vier?? /ka/, und die fünf-
te Reihe (die Diagonale von links oben nach rechts
unten) aus fünf o/ba/. Danach verringern sich die
Reihen, und es folgen vier /ma/, drei /na/, zwei /sa/ und ein /ka/. Man hat also
neun Reihen, in denen jedes Zeichen fünf Mal vorkommt. Die Schriftzeichen ste-
hen als Abkürzungen für die die fünf Tageszeiten beherrschenden Geistermächte,
die fünf pormamis. Dasxc/ma/ steht hier für Mamis, die den Morgen (sogot) be-
o •79 TT "ö xc
xc O 79 ir "ö
"ö xc o 79 ir
TT "ö xc O 79
■79 -¿r "ö xc o
180
Uli Kozok: Batak-Handschriften
herrschende Geistermacht, das /na/ repräsentiert Bisnu, die Gottheit des Vormit-
tags (pangului), /sa/ ist die Abkürzung von Sori, der Gottheit der Mittagszeit
(hos), /ha/ steht für Hala, der den Nachmittag (guling) beherrscht, und /ba/ reprä-
sentiert Bisnu, der den Abend (hot) beherrscht. Da es zwei Geistermächte gibt, die
mit dem Buchstaben /b/ beginnen hat der Autor Bisnu mit einem /na/ abgekürzt,
welches von der Form her dem /ba/ am ähnlichsten sieht. Das pormamis-Orakel
ist ausführlich von Winkler (1925) beschrieben worden.
Ferner finden sich einige antropomorphe Figuren, den raja sulaiman ,König Salo-
mon’ darstellend, eine Abbildung des pane na bolon ,der große Pane’ (eine astrolo-
gische Gottheit), eine stilisierte Zeichnung, bei der es sich wohl um ein Huhn han-
deln soll, sieben Sonnen, die wohl die sieben Tage darstellen, sowie dreizehn klei-
ne Ovale, die von einer Linie umschlossen sind und deren Sinn nicht erkennbar ist.
Transliteration
Karo-Bataksche Schrift, Poda-Sprache mit einigen karo-batakschen Wörtern.
Transliteriert habe ich, als handele es sich um eine toba-bataksche Hs., d.h.
wird als /a/ und n wird als /ha/ bzw. /ka/ transliteriert. Das sikurun wurde alter-
nierend als loi und /u/ entsprechend des jeweiligen Lautwerts transliteriert. Dane-
ben findet sich auch das diakritische Zeichen für /0/ (ketolongen), das hier - ent-
sprechend der simalungun-batakschen Transliteration für das betreffende Zeichen
- als /ou/ wiedergegeben ist. Das den nördlichen Bataksprachen und Simalungun
eigentümliche auslautende /h/ (z.B. in tongah arian), das es im Toba-Batakschen
nicht gibt, wird hier durchweg verwendet. Die einzelnen Textabschnitte sind in
der Hs. durch durchgezogene Linien voneinander abgesetzt.
Transliteration 1
1. Abschnitt:
1. poda ni hata tabas pandaupa ni tondut] ma inon
2. Abschnitt:
1. poda ni hata hata nu surat ari na pitu hita lahou tan
2. — dar) ku banuwa ni halak alé amar) guru nami o13 jaha di
3. adintiya murpagi pagi jaat salah sou maté ukusah
4. utarj dataq jaha paOfmluwi marulih hita jaha toñah ariyan
5. jaat salah sou maté husah utag datar) jaha gulig jaat salah sou ma
6. té utaq datar) jaha liñé maruluh jaha bobot jupan musuh pina
7. fian ni ari na pa /daî//dah/ /ho//to/goh /I//U/jombahon lo asé dabuwat hapi
8. linanna nap ta /di//li/
3. Abschnitt:
1. jaha di suma murpagi salah sou maOté uhosah u
2. -taî dataq jaha pafiuluwi marulih ma hita jaha toñah ariyan jaat
3. jaha gulig jaat jaOha liñé marulih jaha naboubot jaat pina
4. ñan ni ari ta no dag di anakboru soupé haliyaman lobé maman ha
5. piñan naptapai
4. Abschnitt:
1. jaha di yag gara sogot sogot jaat jaha pa
2. ñuluwi maruli jaha toñah ariyan jupa baratan ni paruhuran
3. jaha hoñah ariyan jaha gulig marulih jaha liñé marulih jaha bobot ma
4. rulih piñan ni ari na pahohalinan nagarot lobé sé hita lahou amaq
5. guru nami
5. Abschnitt;
1. jahañi mudaba sogot marulih hita girah do hita mu
2. lak jaha pañuluwi pé jaat jaha cigir pé jaat jaha na gulig pé jaat
3. - jaha na bobot marulih ma hita lya pinañan ni ari na bolognarpaña
4. nan hapiliñanna naptapi hapilinanna
181
TRIBUS 52, 2003
6. Abschnitt;
1. boraspati sogot so
2. got marulih ma hita jaba di pañaluwi agowan boban jaha di to
3. -ñah ariyan jaat jaha di na gulip marulih pé jaat jaha na bobot
4. — Jupaan hamalasan ni paruhuran lya pinañan ni ari tara
5. gas ragas hapilinnan na mardom hapilinan na mardom hapilinanna
7. Abschnitt:
1. jaha di
2. sukura sogot jaat jaha pañuluwi marulih jaat jaha li
3. -na bobot marulih ma hita asa amap guru nami lya pinañan ni ari
4. -na buñabuña hapilani na ma na ra yi hapilinanna
8. Abschnitt:
1. jaha di samisara so
2. got sogot marulih ma hita jaha pañuluwi jaat jaha toñh
3. ariyan pé jaat jaha na gulop marulih jaha di na bobot jaatX
4. yap nañan ni ari na léyoh pinañan ni ara alé amap guru nami.
Transliteration 2:
Poda ni hata tabas pandaupa ni tondung ma inon.
Poda ni hata-hata nu surat ari na pitu
hita lahu tandang ku banua ni halak, ale amang guru nami.
Jaha di aditia murpagi-pagi jahat salah so mate ukusah utang datang
jaha pangului marulih hita
jaha tongah arian jahat salah so mate husah utang datang
jaha guling jahat salah so mate utang datang
jaha linge marulih
jaha bobot ju(m)pan musuh
pinangan ni arina padang toguh
ijombahon lo ase dabuat hapilinanna naptapi
Jaha di suma murpagi-pagi salah so mate uhosah utang datang
jaha pangului marulih ma hita
jaha tongah arian jahat
jaha guling jahat
jaha linge marulih
jaha na bobot jahat
pinangan ni ari ta nodang di anakboru sope haliaman lobe mangan
hapingan naptapi
Jaha di anggara sogot-sogot jahat
jaha pangului maruli
jaha tongah arian jumpa baratan ni paruhuran
jaha tongah arian
jaha guling marulih
jaha linge marulih
jaha bobot marulih
pi[na]ngan ni arina pahohalinan nagarot lobe se hita laho amang guru nami.
Jaha di mudaba sogot marulih hita girah do hita mulak
jaha pangului pe jahat
jaha ciger pe jahat
jaha na guling pe jahat
jaha na bobot marulih ma hita
ia pinangan ni arina bolong narpanganan hapilinganna naptapi hapilinanna.
Boraspati sogot-sogot marulih ma hita
jaha di pangului agoan boban
jaha di tongah arian jahat
182
Uli Kozok; Batak-Handschriften
jaba di na guling marulih
[linge] pe jahat
jaba na bobot jumpan hamalasan ni paruhuran
i a pinangan ni ari ta
ragas-ragas hapilinan na mardom hapilinan na mardom hapilinanna
Jaba di sukura sogot jahat
pangalui marulih
[tongah arian oder guling] jahat
jaba li[nge]
[jaba] na bobot marulih ma hita
asa amang guru nami
ia pinangan ni arina bunga-bunga hapilani na ma na ra i hapilinanna
Jaha di samisara sogt-sogot marulih ma hita
jaha pangului jahat
jaha tongah arian pe jahat
jaha na guling marulih
jaha di na bobot jahat
[i]a p[i]nangan ni arina leoh pinangan ni ari
ale amang guru nami.
6. Katalog Nr. 3944
Bambusdose mit hölzernem Deckel. Der Text ist, wie bei Orakeltexten üblich, in
der Poda-Sprache geschrieben. Das sikumn repräsentiert auch hier wieder sowohl
/0/ als auch /u/. Der Verfasser hat auch einige Male das ketolongen bemüht, und
in Zeile 1 der Abschnitte 3, 4, 5 sogar beide Zeichen zusammen gebraucht: v^x.l
Ich habe das sikumn hier mit einem x transferiert. Die Handschrift ist an einigen
Stellen unleserlich und, wie bei Orakeln üblich, unvollständig. Der Text ist in ei-
ne achtstrahlige Orakelfigur hineingeschrieben, wodurch in jedem der acht so ent-
stehenden Dreiecke nur wenig Text hineinpasst, so dass die meisten Texte unvoll-
ständig sind. Orakelfiguren dieser Art sind als desa na waluh bekannt, die acht
Himmelsrichtungen und somit die kosmische Ordnung symbolisierend.
Wenn sich in solch einer Kompassrose Texte befinden, dann handelt es sich in der
Regel um Orakeltexte, wie dies auch bei der Hs. A 30832 weiter unten und bei den
von Singarimbun behandelten Texten der Fall ist.
ln dieser Hs. und in der folgenden Hs. A 30832
handelt es sich um Orakelfiguren, mit deren Hilfe
es möglich sein soll, die Bereitschaft einer Person
festzustellen. Genannt werden Klannamen von
Frauen, so dass es sich entweder um eine Art von
Liebeszauber handelt bzw. um ein Orakel, das in
Zusammenhang mit der Brautwerbung steht.
Kalkdose (Tagan) aus Bambus mit Karo-Schrift
versehen und sternförmigen Ornamenten auf dem
hölzernen Deckel, H: 10,5 cm, D; 6,2 cm, Suma-
tra, Deli, Karo Batak, Inv.-Nr. 3944.
Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
183
TRIBUS 52, 2003
Wie auch in Hs. А 30832 beginnt jeder der acht Texte mit ^xoxxcw. transfe-
riert als „hxlxmakx”. Manik (1973:208) liest dies als olo maku. Da maku aber lexiko-
grafisch nicht nachweisbar ist, halte ich Maniks Lesweise für unwahrscheinlich. Ich
vermute, das es sich bei „hxlxmakx“ um drei Wörter handelt, nämlich olo (tbt Ja’),
та (tbt ,Nachdruck verleihendes Partikel’), und ho (tbt ,2. Person Singular’). Diese
Interpretation wird durch den Umstand gestützt, dass diese Phrase in der Regel gefolgt
wird von kaka gurunami,unser Bruder Magier’ und nina ,spricht’, an welchem sich
anschließt turangta ,unsere Schwester’ oder heru + Klanname ,Frau vom N.N. Klan’.
Dieser Satz lässt sich in etwa übersetzen: ,Wohlan, Bruder Magier, spricht unsere
Schwester vom X-Klan’. Genannt werden in dieser Hs. die fünf Klane der Karo, näm-
lich Sembiring, Karo-Karo (2x), Peranginangin, Ginting (2x) und Tarigan. Hinzu
kommt eine Nennung einer Frau, deren Mutterklan (bere) Peranginangin ist.
Im ersten Abschnitt (die Defmierung als „erster“ Abschnitt ist willkürlich getrof-
fen, da es keine erkennbare Reihenfolge gibt - dieses gilt auch für Hs. А 30832)
ist die Frau vom Sembiring Klan „aufgeregt vor Freude“. Allerdings ist der Zu-
sammenhang mit dem darauf folgenden Satz asa nibawa ,um gebracht zu werden’
nicht deutlich. Im zweiten Abschnitt habe ich aus den nur schwer lesbaren Schrift-
zeichen mari kujenda ,komm her! ’ rekonstruiert. Auch im dritten Abschnitt muss-
te ein bisschen Phantasie helfen, um aus den Schriftzeichen /txda kx/ tunduk beu-
gen’ zu deuten. Diese Deutung liegt allerdings nahe, denn es fehlt lediglich ein
kurzer horizontaler Strich, um zu meiner Lesart zu gelangen. Die folgenden Ab-
schnitte sind alle recht unklar, und es ist erst der letzte Abschnitt, bei welchem
sich wieder ein Sinn einstellt.
1. Abschnitt:
1. 1. hxlx ma kx Olo ma ho ...
2. -tojaî na y a ne Gila ateku nina beru Sembiring.
3. gila hâté Asa nibawa.
4. kx nina
5. berx si
6. birip Wohlan, [Bruder Magier]
7. hasa Ich bin aufgeregt vor Freude,
8. ni spricht die Frau vom Sembiring
9. ba Klan.
10. wa
Abschnitt:
1. hxlx ma kx ka Olo ma ho kaka
2. ka nina txrap nina turangta beru Karo-Karo
3. ta berx ka Mari kujenda ...
4. ro karo ma
5. ri kx jap
6. da ma"a Wohlan, Bruder, spricht die Frau
7. be vom Karo Klan. Komm her!
8. be
Abschnitt:
1. hxlxmakx Olo ma ho kaka gurunami
2. kaka gxrxna ni[na] beru Peranginangin
3. mi ni beru Ula merawa nge kamu maka
4. perahaniii tunduk beru Pe[ranginangin],
5. hanih Ula
184
Uli Kozok: Batak-Handschriften
6. merawa he
7. kamx ma
8. ka tx
9. da kx
10. berx
11. - pe
4. Abschnitt:
1. hxlx ma kx kaka
2. gxrxnami ni
3. -na berx gi
4. tiq pa la me
5. -rawa he
6. kamx
7. hale
8. X
Wohlan, Bruder Magier, spricht
die Frau vom Peranginangin
Klan. Zürne nicht, dann wird sich
die Frau vom Peranginangin
Klan beugen!
Olo ma ho kaka guru nami
nina beru Ginting.
Ola merawa nge kamu, ale.
Wohlan, Bruder Magier, spricht
die Frau vom Ginting Klan.
Zürne nicht!
5. Abschnitt:
1 hxlx ma kx
2 Ix kx nina
3 berx X gi
4. -tig
Olo ma ho ...
nina beru Ginting ...
Wohlan, spricht die Frau vom
Ginting Klan ...
die folgenden Zeilen sind unleserlich
6. Abschnitt:
1. hxlx ma hx nina
2. berx tarigan
3. hola kamuX
4. XxgxlaX
5. kx XX
6. rxbati
7. XXX
8. XXX
9. XX
10. X
7. Abschnitt:
1. hxlx ma hx ni
2. -na bera kara
3. rx rx tx ra
4. ti sibari X
5. tedxhi
6. la he_rag kaka
7. gxrxnami
8. - sibxX
9. XXXX
10. XXXX
11. gari
Olo ma ho
nina beru Tarigan.
Ola kamu ...
Wohlan, spricht die Frau vom
Tarigan Klan. Du sollst nicht .
Olo ma ho
nina beru Karo-Karo
kaka gurunami ...
Wohlan, spricht die Frau vom
Karo-Karo Klan, ... unser
Bruder, der Magier...
185
TRIBUS 52, 2003
8. Abschnitt:
1. halx ma hita
2. nadañi txraq
3. ta beré pera
4. ñin hola
5. kamx
6. hi
7. ja
Olo ma kita nandangi turangta
bere Perangin[angin]
Ola kamu i ja.
Wohlan, lasst uns die Frau, deren
Mutterklan Peranginangin ist,
besuchen. Du sollst dort nicht...
7. Katalog Nr. A 30832
Bambusdose mit drei Textabschnitten in karo-batakscher Schrift und Poda-Spra-
che. Text 1 befindet sich in einer der Hs. 3944 ähnelnden Orakelfigur. Diese be-
steht aber aus zehn und nicht acht strahlenförmig angelegten Textabschnitten. Die
Abschnitte 7, 8 und 9 sind, da der Bambus gebrochen ist, aber auch wegen der
schlechten Qualität der mir vorliegenden Fotos, nicht bzw. kaum lesbar. Im
Mittelpunkt ist eine stilisierte anthropomorphe Figur, wobei es sich aber auch um
eine Mensch-Tierfigur handeln kann, gezeichnet.
Die Texte beginnen ohne Ausnahme mit Olo ma ho kaka gurunami, nina turang-
ta... , Wohlan, Bruder Magier, spricht unsere Schwester vom [es folgt der Name
des Vater-, bzw. des Mutterklans]’. Es werden alle fünf Klane der Karo, nämlich
Karo-Karo, Tarigan, Sembiring, Peranginangin und Ginting genannt und zwar je-
weils einmal als Klan (beru) und einmal als Mutterklan {beré). Dies scheint der
Grund zu sein, weshalb sich hier 10 statt 8 Textabschnitte finden. Bei diesem Text
könnte es sich um einen Liebeszauber handeln bzw. um ein Orakel, das in Zu-
sammenhang mit der Brautwerbung steht, d.h. aus dem Orakel geht hervor, ob der
Tag ein günstiger oder ungünstiger ist, um eine Liebesbeziehung einzugehen.
Text 2, der ebenfalls in eine Kompassrose geschrieben ist, ist weitgehend
unverständlich. Jeder Textabschnitt beginnt mit jaha barita datang ,wenn die
Kunde kommt’, danach folgen einige Wörter, von denen verständlich sind: kata
,Wort’, guraha ,Streit’, kuta ,Dorf’, pagian ,morgen, der nächste Tag’, kaka fi-
terer Bruder’ - wobei es sich sicher um den Magier (guru) handelt. Zeile 2 lässt
sich dann in etwa wie folgt rekonstruieren: „Wenn die Kunde kommt, wird es am
folgenden Tag Streit im Dorf geben, (sagt unser) Bruder, (der guru)”. Verständlich
sind ferner kita ,wir’, dekah ,lange, seit’ und
alé amang (guru nami) ,0 Vater (unser Ma-
gier)’. Aus diesen wenigen Worten, die recht
zusammenhanglos im Text stehen, lässt sich ein
Sinn nicht mal erahnen.
Gravierte Bambusbüchse,
H: 16,6 cm, D: 7,4 cm, Batak, Inv.-Nr. 30.832.
Foto: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
186
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Text 3 besteht aus einer Auflistung der Stände {bangsä) in der Gesellschaft der
Karo. Genannt werden: Die Alten (bangsa si tua), die Vielen (hangsa na godang),
die Häupter (raja), die Feldherren (ulnbalang) und die Reichen (pareme muss hier
statt parume gelesen werden).
In welchem Zusammenhang die drei Texte zueinander stehen, weiß wahrschein-
lich nur der Verfasser dieses Textes. Auf dem Bambusabschnitt befinden sich au-
ßer den Texten verschiedene Figuren und Symbole, die allerdings auf dem Foto
schlecht erkennbar sind. Deutlich wird bei der Betrachtung der Zeichnungen aber
der Orakelcharakter; Ein Rechteck, das in sieben Teile unterteilt ist, diente si-
cherlich zur Tageswählerei. Der guru scheint sich dabei eines komplizierten Ver-
fahrens bedient zu haben, denn in jedem der sieben Abschnitte befinden sich
wiederum sieben bzw. zehn pfeilförmige Zeichen, die folgendermaßen angeord-
net sind:
< < < <
< <
< < < <
<<<<<<<
> > >
< < < <
<<<<<<<
> > >
> > > > >
> > >
< < < <
< < <
> > >
Die aus sieben Zeichen bestehenden Zeilen beziehen sich sicher auf die ari na pi-
tu ,die sieben Tage’, während sich die aus zehn Zeichen bestehenden Zeilen auf
die Einteilung des Monats in drei mal zehn Tage beziehen könnte. Gleiches könn-
te für die zwei Reihen von jeweils zehn kleinen Kreisen gelten.
Transliteration 1
Text 1
1. hxlx ma kx kaX/gxrx nami nina tx/rapta bxrx ka/ro Xro mari kxje/da mxrca-
kap/cakap kita/kxjeda pi/nip hari/ta batx/karaX
2. hxlx ma kx kaka gxrx/nami nina txrapta babx/re karo karo xlx giya nikx/ka-
ka gxrx nami pi/na~an ni hari ta mx/dxm maka ki/ta lako ma ki/ta la na
3. hxlx ma kx kaka gxrx/nami nina txrapta bx/rx tarigan xla ka/mx kajeda
hakx/dxdo marawa ha/kx hatedx/pinahan/ni hari/tiX/ha.
4. hxlx ma kx kaka gxrx/-nami nina txrapta/babxre tarigan xlx/giya nikx txm
dx/kah kita mxrcakap/—cakap maka hate/Xx jadi pinaiian/ni hari ta kx ma/h
i xla Ixpa pagi/-pxdah nina gx/-rx mxr/lajar ni/taki hx/wari
5. hxlx ma kx kaka gxrx na/mi nina txrap bxrx si/-birip mari kx jeda/di jadi
kiyan hate/dx hakx pe jadiX/tekx pinahan/ni hari dx hi/-jamak na/he di ka-
was/maha ki/ta lako
6. hxlx ma kx kaka/gxrx nami nina tx/-rapta babxre sibi/ip txrxti si/- bagi ha-
tedx ka/mx nari sx/kxnan pina/han ni hari....?????
7. hxlx ma kx kaka gxrx na/mi nina txrapta bxrx parahinhahin sar/xtxh.....????
8. [weitgehend unleserlich]
9. [weitgehend unleserlich]
10. hxlx ma kx kata gxrx/-nami nina txrap/ta babxre gitip ma/nari kxjeda
txr/pxda sa pa hxla/ki ma rx/pinahan.
Text 2
1. jaka bari/ta datap/tx ki/-kata/gxp/ka/ta/na
2. jaka barita/datap//gxraha kina/ta na kxta/pagiyan/—ka/ka
3. jaka barita datap//kata bx/-ba hxp ki/-nata na/pagiyan
4. jaka barita datap//kata txha Xx/-kita/na pagi/yan
5. jaka barita/datap/ kata/dxkah ki/nata na papagi
6. jaka barita da/tap ta kita/kikina/tana ha/le ha/map
7. jaka barita/datap si [oder di] ka/lxk mx/-iixmo/do ki/nata/na
8. jaka barita/datap kata/dxp kina/ta na pa/giyan/—
187
TRIBUS 52, 2003
Text 3
1. basa si txwa
2. bapsa na gxdag
3. bagsai] raja
4. bapsa hxlxbalap
5. bapsa parxmé
Transliteration 2
Text 1
1. Olo ma ho kaka gurunami,
nina turangta beru Karo-Karo.
Mari kujénda morcakap-cakap kita kujénda,
pinangan arita batu kara[ng]
2. Olo ma ho kaka gurunami,
nina turangta beberé Karo-Karo,
olo gia ningku kaka gurunami
pinangan ni arita mudum (?)
maka kita laho ma kita la na
3. Olo ma ho kaka gurunami,
nina turangta beru Tarigan,
ula kamu kujénda aku du do marawa aku aténdu
pinangan ni ari ti?nga.
4. Olo ma ho kaka gurunami,
nina turangta beberé Tarigan
olo gia ningku tum (?) dekah kita murcakap-cakap maka aténdu jadi,
pinangan ni arita kumangi
ola lupa pagi pedah,
nina guru murlajar ni taki uari.
5. Olo ma ho kaka gurunami,
nina turang beru Simbiring
mari kujénda, di jadi kian aténdu aku pé jadi atéku
pinangan ni ari du hi jamak na é di kawas maka kita laho.
6. Olo ma ho kaka gurunami
nina turangta beberé Simbiring
turuti si bagi aténdu kamu nari sungkunan
pinangan ni ari..
7. Olo ma ho kaka gurunami
nina turangta beru Peranginangin.
8. [unleserlich]
9. [unleserlich]
10. Olo ma ho kaka guru nami
nina turangta beberé Ginting
mari kujénda tur puda sa pa
ula kimaru
pinangan
Text 2
Jaha barita datang tu kinata gung katana
Jaha barita datang guraha kinata na kuta pagian kaka
Jaha barita datang kata bu ba hung kinata na pagian
Jaha barita datang kata tunga tu (?) kita na pagian
Jaha barita datang kata dekah kinata na papagi
Jaha barita datang tu kita kinata na alé amang
Jaha barita datang si/di kaluk mu ngumo do kinata na
Jaha barita datang kata dung kinata na pagian.
188
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Text 3
Bangsa si tua
Bangsa na godang
Bangsa raja
Bangsa ulubalang
Bangsa pareme
Übersetzung von Text 1
1. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester vom Karo-Karo-Klan. Komm
her, lass uns plaudern. Das Opfer für den Tag ist Koralle.
2. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester Karo-Karo als Mutterklan. Ja,
sage ich, Bruder Magier. Das Opfer für den Tag ist... Auf dass wir gehen...?
3. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester vom Tarigan-Klan. Komm
nicht hierhin, ich zürne. Das Opfer für den Tag ist ??
4. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester Tarigan als Mutterklan. Ja, sa-
ge ich. Schon lange plaudern wir, bis dass dein Herz begehrt. Das Opfer für
den Tag ist Kumangi (Basilikum). Vergiss den Rat nicht, sagt der Magier, der
die Tageswählerei beherrscht.
5. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester vom Sembiring-Klan. Komm
her, wenn dein Herz begehrt, so begehrt auch das meine. Das Opfer für den
Tag ist ??...links, damit wir fortgehen.
6. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester, Sembiring als Mutterklan.
Folge deinem Herzen, nur du bist es, an die ich mich wende. Das Opfer für
den Tag ist...
7. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester vom Peranginangin-Klan....
10. Wohlan, Bruder Magier, sagt unsere Schwester Ginting als Mutterklan.
Komm her, ...??.. Das Opfer für den Tag.
8. Katalog Nr. 4082
Dieses Bambusgefäß, das unten durch den natürlichen Knoten des Bambus ver-
schlossen ist und an der Oberseite einen hölzernen sauber geschnitzten Deckel
trägt, ist mit großer Sorgfalt hergestellt worden. Am oberen Ende finden sich fei-
ne geometrische Ornamente, und ein geflochtener Rattanring bildet den Übergang
zwischen dem ornamentalen Teil der Dose und ihrem Holzdeckel. Die karo-ba-
takschen Schriftzeichen sind in der Regel __________________________________
gut lesbar und von einheitlicher Größe in
die Bambushaut eingeritzt und mit Ruß ge-
schwärzt. Der Verfasser der Handschrift hat
sich größte Mühe gegeben, dieses Bambus-
gefäß (von der Form her ähnelt es den tagan
perkapuren ,Betelkalkdosen’) so anspre-
chend als möglich zu schaffen.
Bambusbüchse für Geräte zur
Zahnbehandlung,
H; 30 cm, D: 4,8 cm, Sumatra,
Deli, Karo Batak,
Inv.-Nr. 4082.
Foto: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
189
TR1BUS 52, 2003
Umso verwunderlicher ist es also, dass der Text beinahe vollständig unverständlich ist.
Es handelt sich um das porbuhitan-Ovdke\, bei dem aus der Fallrichtung eines getöte-
ten Büffels geweissagt wird. Auch diese Handschrift ist in der Poda-Sprache, der Ge-
heimsprache der Magier, verfasst, aber mit zahlreichen karo-batakschen Wörtern
durchsetzt. Dieser archaische Sub-Toba-Dialekt enthält viele Wörter, die sich in
der gesprochenen Sprache nicht finden. In den Wörterbüchern von Warneck
(1906; 1977) und insbesondere Van der Tuuk (1861) sind jedoch viele Termini
dieses Dialektes aufgenommen, so dass es in der Regel möglich ist, zumindest
grob den Inhalt des Textes zu erfassen. Bei dem Text dieser Hs. war mir aber
selbst dies nicht immer möglich.
Aufgrund des bemerkenswerten Kontrastes eines fast vollkommen unverständ-
lichen Textes, der aber in gut leserlicher Schrift auf eine mit viel Mühe und Sorg-
falt hergestellte Bambusdose geschrieben ist, kann vermutet werden, dass es sich
bei dem Text möglicherweise nur um eine ornamentale Zugabe handelt. Dies ist
durchaus nicht ungewöhnlich und weist daraufhin, dass die Dose möglicherweise
als Souvenir hergestellt wurde. Bereits Ende des letzten Jahrhunderts fanden ba-
taksche Kunstobjekte Eingang in den lokalen und internationalen Kunst- und Sou-
venirhandel (Sibeth 2000:159). Es ist daher möglich, dass der Künstler, der diese
Bambusdose herstellte, den Text von einem anderen Text übertragen hat. Die zahl-
reichen Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten des Textes sind also möglicher-
weise auf einen mangelhaften Kopiervorgang zurückzuführen.
An der linken Seite des Textes befindet sich die Zeichnung eines menschlichen
Gesichts. Dieses Ornament zeigt die erste Zeile des Textes an. Der Text beginnt
als Orakel, nach dem aus der Richtung des Fallens eines geschlachteten Büffels
geweissagt werden kann: Jaha horbo mangarobo mangadop agu (?) buhit dang
ga fing tur „Fällt der Büffel (mit den Füßen?) in Richtung eines Hügels...“ (die
letzten vier Wörter sind unverständlich). Hiernach folgt ein bindu oder Absatzzei-
chen. Der nächste Absatz beginnt mit; Ja [ha] horbo mangaroboh mangadophon
pastima pasomana i sidayang bunga tualang... „Fällt der Büffel in Richtung
Westen, so sind die Opfergaben sidayang (eine Pflanze zum Rotfärben von Garn)
und bunga tualang (die Blüte des Honigbaums)“ (es folgen vier unverständliche
Wörter) tondi dijolma manusia ma noh ku ni ompu debata „Die Seelen der Men-
schen bis zu Großvater Gott“. Dem folgenden Text ist noch schwerer zu folgen.
Es scheint sich darum zu handeln, was für Folgen es hat und was gemacht werden
muss, wenn der Büffel in Richtung Westen fällt. Im weiteren wird von Menschen
gesprochen, die getötet haben (halak si onggou munuh), von Menschen, die einen
Überfall ausüben (halak si onggo ngumo niimou halak), von Schulden und dem
Einfordern von Schulden, ohne dass aber ein Zusammenhang sichtbar wäre.
Anmerkung zur Transliteration;
Der in Poda-Sprache verfasste Text enthält einige karo-bataksche Wörter. Das
sikurun gibt auch hier /o/ und /u/ wieder. Daneben findet sich auch einige Male
eine Variante des sikurun, die in der simalungunschenen Schrift als hatulungan
bezeichnet ist. Dieses ist in Übereinstimmung mit der simalungunschenen Trans-
literation des betreffenden Zeichens mit /ou/ transliteriert. Die Radikalzeichen
(kbt /a/ und /ha/, tbt. /a/) und r? (kbt /ka/, tbt /ha/ und /ka/) sind so translite-
riert, als handele es sich um eine toba-bataksche Hs. Die Radikalzeichen für /“/
(1) und /-=-/ (U) wurden als Majuskeln transliteriert, um sie von den entsprechen-
den diakritischen Zeichen, die als Minuskeln gesetzt sind, abzusetzen. In der fol-
genden Transliteration finden sich einige lexigraphische Anmerkungen in eckigen
Klammern. Bei Wörtern, die meines Erachtens nicht korrekt geschrieben sind, ha-
be ich Korrekturvorschläge durch ein vorangehendes Gleichheitszeichen ge-
kennzeichnet. Wörter bzw. Zeichen in Klammem beziehen sich auf das vorange-
hende Wort bzw. Zeichen und weisen auf eine alternative Lesart, wenn das ent-
sprechende Zeichen nicht eindeutig identifiziert werden konnte.
190
Uli Kozok; Batak-Handschriften
Transliteration:
Jaha horbo mangarobou mangadop ago [=gago] buhit dang ga ting tur.
Ja[=jaha] horbo mangaroboh mangadophon postima [=pastima] pasomana I si-
dayang bunga tualan [=tualang?] I gaho (=gao?) go togo tondi di jolma manusia
ma noh hu [=ku (kbt) bzw. tu (tbt)] ni hompu [=ompu (kbt) bzw. kempu (pbt)] de-
baa [=debata], Di pastimma ro monsit-tonsit maka nuhun [=nungkun (kbt) sung-
kun (tbt) oder neben, (kbt)] patirta rumah morhata-hata boras di pawi di rumah
[=beraspati ni rumah (kbt)] di hon di lehon ato kayu ratang [=ratah] mangón dé
kayu matasak to [=tu] kayu ratah morsorap-sorak [=marsorak-sorak] ompung de-
bangta [=debata] di pastima. Jaha di hasuhutan si agou turuk [toruk (tbt); temk
(kbt)] ni moru hi halak si onggou [enggo (kbt)] munuh ni noh halak si onggo [eng-
go (kbt)] ngumo [=ngemo (kbt)] ni Imou halak si onggo talu pingonang bure-bu-
re si nompo bureyan asa ma nah. Jaha di hasuhutan jaha mortahan Itang [=utang]
monang motunggu Udo [=ido] talu jaha rasonna di halo[=halonh] pasannajaha
hong [=hung?] wah na di lyopna ad(l)ophon sahali di haraong towah na iya sasar
na bulung tanggiyang arosam kapilan na halala galoh si tabar sangjan na sang ha-
sa ma pilot malli [=mauli] pijan(r)u holong tarah nasita.
9. Katalog Nr. 4178
Elf Bambusstäbchen, die auf der einen Seite durchbohrt und auf der anderen leicht
angespitzt sind, sind mit einem Band zusammengebunden. Jedes der Bambus-
stäbchen enthält einen abgeschlossenen kurzen Orakeltext. Die Stäbchen sind der
Reihe nach, wie sie an dem Band hängen, nummeriert. Keiner der Texte kann da-
bei als Anfangstext gelten. Jedoch gibt es bestimmte Textgruppen von zwei bis
vier Stäbchen, die sich inhaltlich ähneln. Dies sind die Texte 1 bis 4, 5 und 6, 7
und 8, sowie 10 und 11.
Es handelt sich um ein Orakel, das aussagt, ob es günstig oder ungünstig ist, sich
auf die Reise in eine fremde Gegend {banua ni halak) zu begeben. Es handelt sich
hierbei jedoch nicht um ein Zeitorakel, denn bei einem solchen würde die Gunst
bzw. Ungunst von den Eigenschaften der sieben Tage und der fünf Tageszeiten ab-
hängen. Es kann angenommen werden, dass derjenige, der sich auf die Reise be-
geben will und dazu vorher den Magier und Heiler (guru) aufsucht, von diesem
aufgefordert wird, eines der Stäbchen zu ziehen, auf dem dann geschrieben ist, ob
es ratsam ist oder nicht, sich auf den Weg zu begeben. Dieses Orakel ähnelt dem
tondung sahala-Orakel (Voorhoeve 1977:68; Winkler 1925:187). In diesem Text
findet sich der Ausdruck tondung Jabatan, ich bin mir nicht sicher, wie jabatan
hier zu übersetzen ist. Jabatan leitet sich von jahat ab, was eigentlich „nach etwas
greifen“ heißt; so könnte tondung jabatan „Greiforakel“ heißen. Ich halte aber ei-
ne andere Übersetzung für wahrscheinlicher; Jabatan (tbt) bzw. jabaten (kbt)
heißt: „Arbeit, Beschäftigung, Amt, Beruf’. Mit erjabat-jabaten werden bei den
Karo die „Amtsträger“, nämlich die raja, guru und Musiker bezeichnet. So ist ei-
ne Übersetzung als „Orakel eines Kundigen“ möglich und meines Erachtens
wahrscheinlicher. Ich nehme an, dass dieses Orakel sich auf den morgigen Tag be-
zieht, da in den meisten Texten das Wort pagian ,später, morgen’ vorkommt. Bei
der untenstehenden Übersetzung habe ich dies nicht berücksichtigt.
Anmerkung zur Transliteration:
Karo-bataksche Schrift und Poda-Sprache, vermischt mit einigen karo-batakschen
Wörtern. In der ersten Transliteration wurde so transliteriert, als handelte es sich
um einen karo-batakschen Text. Das sikurun, das stellvertretend für /o/, /u/ und
bei Wörtern aus dem Karo sogar für das Schwa steht, wurde stets als /u/ translite-
riert, stets als /ka/ und ^ als /a/. Die karo-bataksche Transliteration wurde u.a.
deswegen gewählt, weil in dieser Hs. auch zwei weitere diakritische Zeichen der
karo-batakschen Schrift, nämlich ketolongen lol und kejeringen /h/ Vorkommen.
191
TRIBUS 52, 2003
Das kebereten für das Schwa kommt jedoch nicht vor. Bei Wörtern aus der Karo-
Sprache, die ein Schwa enthalten wie lebé, beré und sitek wurde das kebereten
durch das sikurun substituiert. Bei der Transliteration 2 wurde der Text dann mit
Rücksicht auf das überwiegende Vorkommen von Wörtern toba-batakscher Pro-
venienz so transliteriert, als handele es sich um einen toba-batakschen Text.
Transliteration 1
1. haku ma saké ni tundup jabatan mamlih ma kita sapur
2. bur na ma hulihta ni purtadafian pagiyan guru
3. haku ma hulubalap ni tundup jabatan hulis ma hu
4. lihta ni purtadafian pagiyan halé guru nami
5. haku ma débata ni tundup jabatan mamlih ma hita ni
6. purtadangan jaka di sakit bégu si tuwa manaki
7. hasa si buré ha ma hi pagiyan
8. haku ma raja ni tundup jabatan mamlih ma kita ni pa
9. tadarian jadi sakit jinujup manakiti murpaiiir
10. — ma kita lubé hasa kita lako ta banu ni kalak
11. ma sakit haté mu situk hulanp ma kamu lako tu
12. banuwa ni kalak pagiyan halé gum nami
13. hadup maiiabati hulap ma kamu lako tu banuwa ni kalak
14. murpafiir ma kamu lubé hasa mahuli halé
15. mabulun ma gura hamu murdalan tu banuwa ni kal
16. paTibalap manakiti hu maka lako tu banuwa ni kalak
17. mabulun ma gura hamu murdalan tu banuwa ni
18. kalak pariulubalap manakiti pagiyan ha gum
19. maka lut ma kata ni tundup jabatan hulap ma ka
20. mu lako tu banuwa ni kalak pagiyan halé gu
21. sayi mara mu murdalan parulihan mu pé lahap
22. gura hamu pé laha na murjalan pagiyan halé
23. surup ma kamu lako tu banuwa ni kalak pam
24. liban mu pé lahap guraha pé lahap pagiyan datu
Transliteration 2
1. Ahu ma sahé ni tondung jabatan mamlih ma hita saporbor na ma ulihta ni por-
tandangan pagian [alé] guru [nami],
2. Ahu ma ulubalang ni tondung jabatan ulis14 ma ulihta ni portandangan pagi-
an alé gum nami.
3. Ahu ma débata ni tondung jabatan mamlih ma hita ni portandangan jaha di
sahit bégu si tua manahi[ti] asa si buré (=kbt beré) ama i pagian.
4. Ahu ma raja ni tondung jabatan mamlih ma hita ni p[or]tandangan ja[ha] di
sahit jinujung manahiti murpangir ma hita lobé (=kbt lebé) asa hita laho tu ba-
nu[a] ni halak.
5. Masahit até mu situk (=kbt sitik oder sitek) ulang ma hamu laho tu banua ni
halak pagian alé gum nami.
6. Adong manga[m]bati ulang ma hamu laho tu banua ni halak murpangir ma
hamu lobé asa mahuli alé [gum nami].
7. Mabolon ma gora hamu murdalan tu banua ni hal[ak] pangulubalang mana-
hiti hu maka laho tu banua ni halak.
8. Mabolon ma gora hamu murdalan tu banua ni halak pangulubalang manahiti
pagian a[lé] gum [nami].
9. Maka lit ma hata ni tondung jabatan ulang ma hamu laho tu banua ni halak
pagian alé [gum nami].
10. Sai mara mu murdalan pamlihanmu pé lahang gora hamu pé laha[ng] na mur-
jalan pagian alé [gum nami].
11. Sumng ma hamu laho tu banua ni halak pamlihanmu pé lahang gora ha[mu]
pé lahang pagian datu.
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Übersetzung
1. Ich bin der sähe (?) der Orakelkunde. Wir werden Erfolg haben unser Er-
folg in der Fremde, [O unser] guru.
2. Ich bin der Vorkämpfer in der Orakelkunde. Wir werden ein Tuch aus der
Fremde mitbringen, O unser guru.
3. Ich bin der Gott in der Orakelkunde. Wir werden Erfolg in der Fremde haben.
Wenn der begu si tua (der Ahnengeist des Vaters [?]) gekränkt ist und [daher]
Krankheiten verursachen kann, dann sollten wir dem Vater [Opfergaben] ge-
ben.16
4. Ich bin der Raja in der Orakelkunde. Wir werden Erfolg in der Fremde haben.
Wenn der Schutzgeist17 gekränkt ist und [daher] Krankheiten verursachen
kann, dann sollten wir das Reinigungsritual pangir abhalten, bevor wir uns in
ein fremdes Land begeben.18
5. Dein Gemüt ist verstimmt, gehe nicht in ein fremdes Land, O unser guru.
6. Es gibt Flindemisse, gehe nicht in ein fremdes Land. Halte erst das Reini-
gungsritual pangir ab, auf dass [die Situation] sich bessern werde, O \guru\.
7. Groß ist die Gefahr wenn du in ein fremdes Land gehst. Der pangulubalang
verursacht Krankheit wenn du in ein fremdes Land gehst.19
8. Groß ist die Gefahr wenn du in ein fremdes Land gehst. Der pangulubalang
verursacht Krankheit, O guru.
9. Die Orakelkundigen sagen dir, gehe nicht in ein fremdes Land, O [unser gu-
ru].
10. Die Gefahr ist gebannt, du kannst gehen. Erfolg wirst du keinen haben, aber
gefährlich ist es auch nicht, wenn du gehst, O [unser guru].
11. Wenn du in ein fremdes Land reist, wirst du keinen Erfolg haben, aber ge-
fährlich ist es auch nicht, [O unser] datu.
10. Katalog Nr. 110.206: Orakel
Bambusabschnitt mit einigen geometrischen Ornamenten. An der linken Seite ist der
Bambus durch den natürlichen Knoten verschlossen, die rechte Seite ist offen. Am
Knoten ist der Bambus durchbohrt und durch das Loch ein Band gezogen, das um
ein Hölzchen gebunden ist. Mir ist die Funktion dieses Holzes nicht bekannt; even-
tuell diente es dazu, den Bambus aufzuhängen. Toba-bataksche Schrift und Sprache.
Die Textabschnitte sind durch durchgezogene Linien voneinander getrennt. In der
Handschrift wird in den ersten fünf Abschnitten das südliche /ta/ (^o ) verwendet,
während ab Abschnitt 6 nur noch das /ta/ der nördlichen Schriften ( 5*) verwendet
wird.
Transliteration 1
1. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari na roa do I tu do bada di si jala ro do sa
2. hit tuq Uli di parhalaan sae pe di paharambul lyapgo so man
3. dokhon do bulan dohot ari simadahadap na tupa marulaon
4. — di ari Inon
2. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari na ro do 1 ala lyaqgo rnahupa jadi do
2. Inon
3. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari I saline Uli ma I tubu do anak
2. do di si Inon dohot boru dohot sinamot horas
4. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari Inon salina Uli tubu anak si ru jala
2. horas
193
TRIBUS 52, 2003
5. Abschnitt
1. jaba marulaon horas suhuti matean huta Inon
6. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari Inon matean matean do huta Inon
2. dohot tondog suhuti jala ro do gora na so hirim on a
3. lal mamulka ku gäbe ma Inon jala mamora ja ma torop ma sere jolma
4. na di huta Inon
7. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari non matean do suhuti horas do tondon ni su
2. huti
8. Abschnitt
1. jaha marulaon di ari non mate anak sonduhan dohot boru pi
2. nasondukhon
Transliteration 2
1. Jaha marulaon di ari na roa do i tu[bu] do bada di si jala ro do sahit. Tung uli
di parhalaan sae pe di pangarambui ianggo so mandokhon do bulan dohot ari
si madang-adang na [so] tupa marulaon di ari inon.
2. Jaha marulaon di ari na ro [=roa?] do i alai anggo mangupa jadi do inon.
3. Jaha marulaon di ari i sali na uli ma i tubu do anak do di si inon dohot boru
dohot sinamot horas.
4. Jaha marulaon di ari inon sali na uli tubu anak si ..ru.. jala horas.
5. Jaha marulaon horas suhut i matean huta inon.
6. Jaha marulaon di ari inon matean-matean do huta inon dohot tondong [ni] su-
hut i jala ro do gora na so hirimon alai mamungka hu [=tu?] gäbe ma inon ja-
la mamora ja[la] matorop masere jolma na di huta inon.
7. Jaha marulaon di ari [i]non matean do suhut i horas do tondong ni suhut i.
8. Jaha marulaon di ari [i]non mate anak sonduhon dohot boru pinasondukhon
Übersetzung
1. Wenn ein Fest an diesem ungünstigen Tag abhalten wird, wird es dort Streit
geben und Krankheiten werden kommen, ist der Tag auch günstig nach dem
porhalaan (Kalender) und dem pangarambui (Orakel, bei dem aus Zeichen
am Himmel gewahrsagt wird), wenn jedoch der Monat (Mond) nicht beach-
tet wird und die unbestimmten Tage, dann darf man kein Fest an diesem Tag
geben.20
2. Wenn ein Fest an diesem ungünstigen Tag abgehalten wird, [so muss man zu-
vor] die Seele füttern (mangupa tendi).21
3. Wenn ein Fest an diesem Tag abgehalten wird...22 so ist dies gut, es wird
ein männliches und ein weibliches Kind geboren und auch das finanzielle
Auskommen wird günstig sein.23
4. Wenn ein Fest an diesem Tag abgehalten wird... so ist dies gut, es wird
glücklich ein...Kind geboren werden.
5. Wenn ein Fest abgehalten wird, wird der Festgeber wohlauf sein, es wird
[aber] im Dorf zu Todesfällen kommen.
6. Wenn ein Fest an diesem Tag abgehalten wird, wird es Todesfälle sowohl im
Dorf als auch innerhalb der Verwandtschaft des Festgebers geben, und es wird
zu unerwartetem Streit (bzw. Krieg) kommen, jedoch hiermit beginnend wer-
den die Leute im Dorf zu Wohlstand, Reichtum und Vermögen kommen.
7. Wenn ein Fest an diesem Tag abgehalten wird, so wird einer der Festgeber
sterben, die Verwandtschaft des Festgebers wird jedoch wohlauf sein.
8. Wenn ein Fest an diesem Tag abgehalten wird, dann werden unser Adoptiv-
kind und das Mädchen, das wir in die Obhut anderer gegeben haben, sterben.
194
Uli Kozok; Batak-Handschriften
Bambusdose (hawal hawal),
mit Holzdecke, ganz mit Schrift und
Zeichnungen bedeckt,
H: 23,5 cm, D: 9 cm, Sumatra, Deli, Karo
Batak, Inv.-Nr. 3896. Foto: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
11. Katalog Nr. A 30.831
Karo-bataksche Schrift und Poda-Sprache. Vier Bambusstäbchen, die durchlocht
und zusammengebunden sind. Es handelt sich um ein so genanntes Hühnerorakel.
Das Foto dieser Hs., das mir zur Bearbeitung vorlag, wurde von einem Mitarbei-
ter des Linden-Museums nach Vorlage des Originals „nachgearbeitet.” Die Schrift
ist in den Bambus eingeritzt, ohne anschließend wie üblich mit Ruß ein-
geschwärzt zu werden. Aus diesem Grund war auf dem Foto die Schrift nur sehr
schwach zu erkennen. Nach dem Original ist dann die Schrift von einem Laien re-
konstruiert worden. Offensichtlich haben sich dabei einige Fehler eingeschlichen,
so dass die unten stehende Transliteration wahrscheinlich nicht ganz korrekt ist.
Dieser Umstand erschwert ein Verständnis dieses Textes. Ich habe daher auf eine
Übersetzung verzichtet.
Transliteration 1
1. Bambusstäbchen;
1. jaha manuk di mapmaiii tur ku dap pa ha ra
2. rapl simagot ni ompu ni horja ulap
3. malmahi baral pada horja jahat inon.
2. Stäbchen:
1. jaha manuk diburaphon hak so dadop na
2. tarhona mahalohon si iya magorak la
3. wut na so mar /pahi/si/ si barap pada horja ja
4. hat
3. Stäbchen
1. jaha manuk mOula di mapmahi lun li
2. datu iya manukhon ulang dabunuO utap
3. ni datu barap pada horja jahat
4. Stäbchen
1. ro ma nina mulak ma inon barang pada hör
2. ja hör ga won iya mahayak nadop lahu mu
3. lak ma nadop lahu ale datu guru nami.
195
TRIBUS 52, 2003
4. Adattexte
12. Katalog Nr. 4149
Diese Handschrift befindet sich auf einem Bambusabschnitt, auf dem sich keine
weiteren Ornamente finden als ein Kreuzband, das den Textanfang markiert und
das am linken Ende in eine antropomorphe Gestalt übergeht. Karo-bataksche
Schrift und Sprache. Die Handschrift ist sauber geschrieben und es finden sich nur
wenige Schreibfehler. Der Text handelt vom adat naki-naki, dem Brauch (adat)
der Brautwerbung. Diese Handschrift ist in ihrer Art ungewöhnlich. Die traditio-
nelle Literatur kennt keine Texte, die sich mit der Adat auseinandersetzen oder
diese beschreiben. Es kann als sicher angenommen werden, dass ein Dritter, mit
den Gebräuchen der Karo nicht vertraut, an den Verfasser mit der Bitte herange-
treten ist, diese zu beschreiben. Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Drit-
ten höchstwahrscheinlich um einen Europäer. Der Sprachstil entspringt der oralen
Tradition und entbehrt der Konventionen der Schriftsprache. In dieser Hs. wird
nur das Adat der informellen Brautwerbung beschrieben. Selbst durch das Über-
reichen des tanda kata wird noch kein formelles Heiratsversprechen geschlossen.
Dass die Hs. einigermaßen unvermittelt abbricht, ist nicht verwunderlich, denn
der Verfasser hat sie auf einem anderen Bambusstück fortgeführt. Dieses befindet
sich unter der Nr. 121.516 in der Sammlung des Linden-Museums und beschreibt
den Brauch der formellen Brautwerbung.
Transliteration 1
1. haturen bas batak karo hadat naki naki
2. hanak perana man dibem siñudañuda hepgo me
3. gajai] bulan maka baci dé gelap bulan retedap
4. maka baci hé pé bas turé peiiulu ma baci maka hep
5. go nitennahken hanak perana siñudañuda 00
6. retutur hepgo baci nina diberu hentah ni le
7. sup hentah ni turé maka nidahi hanak perana me
8. maba kapil seh turé redalen kapil ku ru
9. map lebé maka hepgo mulih kapil ku turé maka si
10. sukun lebé beOruna ni jé hentah hentap di pa/tj/tas
11. diberu talu dilaki sibar piso kapil huwis
12. bulap bulap dé talu diberu sibar huwis hen
13. tal bura burana maka hentap mehuli peOrarihna
14. repudun ka lebé maka seh me pudun jupa di
15. ñenna haténa pelépar hadatna di mido diberu
16. tada kata dilaki nibabana lebé tuwa tuwa peképar man
17. kelep kelap maka hepgo duwana nisukun tuwa tuwa
18. hepgo haténa hentabeh peképar niberéken ta
19. da kata dilaki piso sukul taduk rempu pirak
20. di let serpi huwaluh nibalut ras bulap bulap ma 0
21. lé malé maka hepgo nipedalen man tuwa tuwa maka re
22. pudun jupa nibahan tuwa tuwa maka seh pudun
23. ni jé harih me giya duwana maka hepgo mehuli harihna
Transliteration 2
Aturen bas Batak Karo adat naki-naki anak perana man diberu singuda-nguda.
Enggo meganjang bulan maka banci. Dé gelap bulan ertendang maka banci, é pé
bas turé pengulu ma banci. Maka enggo nitenahken anak perana ras singuda-ngu-
da ertutur, enggo banci nina diberu. Entah ni lesung entah ni turé. Maka nidahi
anak perana me. Maba kampil seh turé. Erdalan kampil ku rumah lebé. Maka eng-
go mulih kampil ku turé maka si sungkun lebé beruna, ni jé entah entang di pan-
196
Uli Kozok: Batak-Handschriften
tas diberu. Talu dilaki, sibar piso, kampil, uis bulang-bulang. Dé talu diberu, sibar
uis entah bura-burana. Мака entang (entah) mehuli perarihna, erpudun ka lebe
maka seh me pudun jumpa. Di ngena aténa pelépar, adatna, di mindo diberu tan-
da kata dilaki, nibabana lebé tua-tua peképar man kelang-kelang. Мака enggo du-
ana nisungkun tua-tua enggo aténa ntabeh peképar, niberéken tanda kata dilaki pi-
so sukul tanduk rempu pirak. Di lit serpi ualuh nibalut ras bulang-bulang malé-
malé. Мака enggo nipedalen man tua-tua maka erpudun jumpa nibahan tua-tua.
Мака seh pudun. Ni jé arih me gia duana maka enggo mehuli arihna.
Übersetzung
Die Vorschriften der karo-batakschen Adat für die Brautwerbung. Steht der Mond
hoch am Himmel ist dies gestattet. Bei Neumond jedoch nur mit einer Fackel. An
der turé pengulu ist es nicht gestattet.24 Ein Dritter vermittelt zwischen dem Jun-
gen und dem Mädchen, erfragt die Zustimmung des Mädchens, ob sie sich durch
das ertutur (das gegenseitige Erfragen der Familien- bzw. Klanverhältnisse zuein-
ander) bekannt machen können. Dies kann an der Reisstampfe (lesung) oder an
der Veranda {turé) stattfinden. Der Junge begibt sich zum Mädchen. Mit seiner
Beteltasche geht er zur turé. Dort lässt er die Beteltasche zunächst ins Haus [der
Familie des Mädchens] gehen. Wenn die Beteltasche zur Veranda zurückgebracht
worden ist, fragt man zunächst nach ihrem Klan (beni), versucht herauszufinden,
ob es passend ist. Bekommt der Junge einen Korb, riskiert er nicht mehr, als dass
ein Messer, eine Beteltasche und ein Kopftuch verlustig gehen. Das Mädchen ver-
liert nicht mehr als ein Tuch oder eine Halskette.25 Verstehen sie sich gut, so ver-
abreden sie sich, um sich gegenseitig zu versprechen. Sind die Beiden sich zuge-
neigt - so ist der Brauch -, erbittet das Mädchen ein Zeichen des Heiratsverspre-
chens, wobei sie sich an einen Älteren als Vermittler wendet. Hat dieser die Bei-
den gefragt, ob sie sich zugeneigt sind, so gibt der Junge dem Mädchen ein Mes-
ser mit einem Heft aus Hom, das mit Silber beschlagen ist. Hat er acht Dollar, so
wickelt er sie in ein verschlissenes Kopftuch. Hat der Vermittler dies soweit gere-
gelt, so wird er die Beiden zusammenbringen. So treffen sie sich dann. Dort plau-
dern dann die Beiden, damit sie sich gut verstehen.
13. Katalog Nr. 121.516
Bei dieser Handschrift handelt es sich um die Fortsetzung von Hs. 4149. Während
in Hs. 4149 vom Brauch der informellen Brautwerbung oder besser, dem Schlie-
ßen von Liebesbeziehungen die Rede ist, handelt diese Hs. vom formellen Teil der
Brautwerbung, der in die verschiedenen Bestandteile der Heiratszeremonie mün-
det. Interessanterweise gebraucht der Verfasser in dieser Handschrift nicht das
arabisch-malaiische Lehnwort adat sondern das ältere Wort bicara, ursprünglich
sanskritischen Ursprungs. Da die Schrift in beiden Hss. sehr ähnlich ist, kann an-
genommen werden, dass beide vom gleichen Schreiber verfasst wurden.
Transliteration 1:
1. dé bicara batak héda neruh hego Isukun bapa nadé si hepo bapa nadé si
2. nereh dé hego haténa hetabuh hibahan pudun ñebahken manuk rulu pulup ha
3. nakberu senina ras peñulu peképar dé hego pulup hé maka nipedalen ma
4. nuk rulu harah hanakberu senina ras peñulu peképar man bapa nadé si
5. nereh dé hego redalen manuk rulu hé maka Ibahan pudun cincin ra
6. kupen taruhna pé Ibahan dé la pap nereh rutar) hepat rigit dé la pap
hepo rutap he
7. nem serpi Xé pap peképar hé maka redemu bayi nibunuh babi man patupna ni
8. dakan nakan dé hego manan redalen hemas sebelah batap hujuken si
9. mecuma pé redalen karina hulu hemas serpi sada derahamna sada
10. pa retuduhen serpi sada derahamna sada hiket beré beré serpi
197
TR1BUS 52, 2003
11. da derahamna sada perbibi binna sada serpi sada deraham perse
12. ninanna sada serpi deraham sada perebah 0 hepat serpi man hanak
13. beruna paremek txxna man peiiulu hepat serpi peminin
14. na lebig pehihittenna sira serigit kepel sepuluduwa peju
15. juren redalen de hego redalen nahanna makul papagina hobah
16. /ku//tu/ tarn hé maka mulih hanakberu seninana karina hé me bicara
17. bas batak héda.
Transliteration 2
De bicara Batak ónda nereh,
enggo isungkun bapa nandé si empo, bapa nandé si nereh,
dé enggo aténa ntabeh ibahan pudun ngembahken manuk rulu.
Pulung anakberu-senina ras pengulu peképar.
Dé enggo pulung, é maka nipedalen manuk rulu arah anakberu-senina
ras pengulu peképar man bapa nandé si nereh.
Dé enggo erdalen manuk rulu, é maka ibahan pudun.
Cincin ra(ng)kupen taruhna pé ibahan.
Dé la pang nereh rutang empat Ringgit,
dé la pang empo rutang enem Serpi.
Dé pang peképar, é maka erdemu bayu.
Nibunuh babi man patungna, nidakan nakan.
Dé enggo mangan erdalan emas sebelah batang unjuken.
Si mecuma pé erdalen karina.
Ulu emas serpi sada derahamna sada,
pertudungen serpi sada derahamna sada,
iket beré beré serpi [sa]da derahamna sada,
perbibin sada serpi sada deraham,
perseninanna sada serpi deraham sada,
perembah empat serpi man anakberuna,
pertektekna man pengulu empat serpi,
pernininna lebing pengingitenna sira seringgit.
kepel sepuludua, pejujuren erdalen.
Dé enggo erdalen, nahanna mukul, papagina ngobah tutur.
E maka mulih anakberu seninana karina.
E me bicara bas Batak énda.
Übersetzung
Der Heiratsritus der Batak.26 Die Eltern der Frau, die heiraten will, und des Man-
nes, der heiraten will, werden gefragt. Sind sie einverstanden, so macht man einen
Termin für das ngembahken manuk rulu.21 Die anakberu und senina und der pen-
gulu (Dorfhaupt) kommen als Vermittler zwischen den beiden Familien zusam-
men.28 Bei der Zusammenkunft übergeben die anakberu und senina und der pen-
gulu als Vermittler das Huhn an die Eltern der Braut. Ist das Huhn übergeben wor-
den, wird ein Ring als Zeichen des Versprechens übergeben ...?...29
Ist die Frau nicht mehr Willens zu heiraten, hat sie eine Schuld von vier Ringgit
zu bezahlen. Ist der Mann nicht mehr Willens, zu heiraten, muss er eine Schuld
von sechs Serpi bezahlen.
Sind sich die Beiden einig, findet die erdemu 6avw-Zeremonie statt.30 Ein Schwein
wird für das Festmahl geschlachtet, und es wird Reis gekocht. Nach dem Essen
wird ein Teil des Brautpreises übergeben, und die Kosten für das Fest werden
überreicht.
[Es folgt die Auflistung des Brautpreises, wie er an die verschiedenen Verwandt-
schaftsgruppen verteilt wird. Jeder Teil des Brautpreises besitzt eine eigene Be-
zeichnung:]
Als ulu emas ein Serpi und ein Deraham31 (an den kalimbubu. WFMB32)
Als pertudungen 1 Serpi und 1 Deraham (nach Neumann 1951:333 an FZ).
Uli Kozok: Batak-Handschriften
Als iket here-bere 1 Serpi, 1 Deraham (an MB)
Als perhihin 1 Serpi, 1 Deraham (an WMZ).
Als perseninanna 1 Serpi, 1 Deraham (an ?).
Als peremhah 1 Serpi an seinen anakberu (gemeint ist der anakberu von WF,
nämlich WFZ’s Familie. WFZ nimmt bei der Zeremonie das Geld in Empfang).
Als pertektekna 4 Serpi an den pengulu.
Als perninin ...?...einen Ringgit als Salz zur Erinnerung (an WMMB)33
? 34
Am Abend findet das mukul und am folgenden Tag das ngobah tutur statt.35 Da-
nach kehren alle anakberu und senina nach Hause zurück. So ist es Brauch bei
den Batak.
5. Mantren
14. Katalog Nr. A 30826c
Karo-bataksche Schrift. Die Sprache ist Malaiisch mit einigen karo-batakschen
Wörtern. Auf der einen Seite dieses dreieckigen Knochens befinden sich zwei an-
thropomorphe Gestalten, Raja Sulaiman - König Salomon - genannt, sowie das
Bindu Matoga-Motiv und andere Ornamente. Die andere Seite ist mit einer Be-
schwörungsformel zur Beherrschung des Bleis versehen. Der bataksche guru
,Heiler und Magier’ bezieht seine magischen Kräfte unter anderem aus dem Wis-
sen um den mythologischen Hintergrund von verschiedenen Phänomenen. Kennt
er die Geschichte von der Entstehung eines Phänomens, so hat er damit das Mittel
zu seiner Beherrschung in der Hand. Dieses Mantra ist hierfür ein klassisches Bei-
spiel. Es diente vermutlich dazu, jemanden unverwundbar zu machen, die Kugeln
von ihm abzulenken. Bei diesem Knochen handelt es sich sicherlich um das be-
kannte sarang timah-Amulett zur Abwehr von Gewehrkugeln.
Transliteration 1
1. heda ha kata wuhasala husul
2. -mula jadi hasap menjadi
3. ken hembun bun men
4. diken hahir hahir men
5. —jadiken pasir pasir
6. menjadiken batu batu
7. -menjadi napal napal
8. menjadiken besi kur
9. —sani besi hataren
10. malekat besi mirah be
11. si putih besi hitam
12. menjadiken timah
13. na ma ma/0no0/horah maiiorah aiie
14. na ma mu buwah sore bu
15. -sore himbap lawanku
16. nipapku kanan buwah
17. sore himbaq lawanku
18. nipaqku kiri ni
19. papku kanan ter
20. kuwatas turun
21. —ku bawah buwah
22. sore himbaq lawan
23. kumakajaiian
24. ko makan kutil
25. —kuja
199
TRIBUS 52, 2003
Transliteration 2
Enda kata asal-usul mula jadi asap menjadiken embun
embun menjadiken air
air menjadiken pasir
pasir menjadiken batu
batu manjadiken napal
napal menjadiken besi kursani
besi hantaren malekat
besi mirah, besi putih, besi hitam
menjadiken timah
nama mangorah mangorah nge namamu
buah sore bu[ah] sore
imbang lawanku ni pangku kanan buah sore
imbang lawanku ni pangku kiri ni pangku kanan
ter ku atas turun ku bawah buah sore imbang lawanku
maka jangan ko makan kutil
kuja
Übersetzung:
Dies sind die Worte von der Entstehung
wie am Anfang Dampf zur Wolke wurde
die Wolke wurde zu Wasser
Wasser wurde zu Sand
Sand wurde zu Stein
Stein wurde zu Mergel
Mergel wurde zu Khorasan-Eisen
gesandt von den Engeln
rotes Eisen, weißes Eisen, schwarzes Eisen
wurde zu Blei
der Name ist Mangorah, Mangorah ist dein Name
Sore-Frucht, Sore-Frucht
gleichstark ist mein Gegner auf dem rechten Schoß, Sore-Frucht
gleichstark ist mein Gegner auf dem linken Schoß, auf dem rechten Schoß
Nach oben, steige herab, Sore-Frucht meines gleichstarken Gegners
so dass du keine Warzen isst.
Dort hin.
Anmerkungen:
Besi kursani ist ein hochwertiger Stahl aus dem persischen Khorasan stammend, der
zur Herstellung von Gewehren verwendet wurde. Mit Blei sind die Gewehrkugeln
gemeint, die hier den Namen Mangorah tragen. Grundwort von mangorah, das lexi-
kografisch nicht nachweisbar ist, könnte korah sein. Ich halte es für wahrscheinlich,
dass es sich um ein arabisches Lehnwort handelt, welches von kora ,BalE abgeleitet
ist. Somit wäre eine logische Verbindung vorhanden zwischen der runden Form ei-
nes Balles und der Gewehrkugel. Imbang heißt,ausgewogen, gleich schwer’, lawan
ist der Gegner oder Feind. Imhang lawan könnte hier aber auch ein stehender Aus-
druck für „Gegner“ sein. Eine 5b/V-Frucht ist mir nicht bekannt. „So dass du keine
Warzen isst“ könnte bedeuten, dass die Kugeln die Haut nicht penetrieren können.
Das malaiische makan hat neben „essen“ auch die weitere Bedeutung „verletzen.”
6. Klagelieder
15. Privatsammlung D. Hubble
Die bataksche Klage ist unlängst vom Autor in mehreren Publikationen beschrie-
ben worden (Kozok 1989; Kozok 1990; Kozok 1992/1993; Kozok 1995; Kozok
200
Uli Kozok: Batak-Handschriften
2000a; Kozok 2003 [forthcoming]). In meiner Doktorarbeit (Kozok 2000a) habe
ich die Klagen der Sammlung des Linden-Museums umfassend beschrieben. Um
dennoch ein Beispiel einer Klage hier aufzuführen, werde ich hier ein bislang un-
beschriebenes karo-bataksches Klagelied aus der Privatsammlung von Dave Hub-
ble aus Hampshire (England) beschreiben, von dem mir Mr. Hubble jüngst Fotos
geschickt hat. Die meisten Klagelieder sind auf Bambusdosen niedergeschrieben,
aber dieses ist auf einen Rippenknochen des Wasserbüffels geschrieben. Dieses
Klagelied besteht ausschließlich aus Versatzstücken, die auch in anderen Klage-
liedern verwendet werden. Dies beginnt bereits mit der Auftaktformel, die sich in
beinahe identischer Form in einer Hs. aus dem Tropenmuseum Amsterdam
(Inventar Nr. 137-646) findet: „Makana enda kal me kuturi-turiken turinna ateta
mesui“. Auch im Weiteren finden sich deutliche Parallelen mit anderen Klagelie-
dern, wie der Vergleich mit einer weiteren Hs. des Tropenmuseums (Inventar Nr.
1117-1) zeigt:
1. e makana entah i ja kal gia kari labuhna kata bilang-bilang enda
2. e kal me kari si man lantasenndu
3. di kurangsa kari tambahi
4. di mbuesa kari uraki
5. mama teman seninaku
Diese Zeilen sind fast wortgleich identisch mit Zeilen 3 bis 7. Auch die verzwei-
felte Bemerkung des Verfassers, dass sein Feid nicht mehr erzählbar sei, gehört
zum Standardrepertoire der Klagelieder, wie hier in Hs. 1147 der Chester Beatty
Fibrary in Dublin „e makana la ne nge kubeteh nuri-nurikenca“ (daher weiß ich
nicht mehr, wie ich es erzählen kann).
Transliteration 1
1. ma 26. latasenndu
2. ka 27. -di kurapsa
3. na he 28. nitabahi di
4. nda kal 29. -buwesa hi
5. —me 30. huraki ma
6. -ku 31. ka bage kin
7. turi 32. pe niku di
8. -tu 33. haku la ne kal
9. riken 34. —he kidah
10. -hate 35. kuweteh
11. ku me 36. nuri nu
12. suwi 37. riken
13. hi bas 38. ca si ma bo
14. raprap ker 39. min lit
15. bo si piduk 40. — man
16. —kenda ho 41. turin
17. mama teman 42. —ken
18. —senina 43. ho bibi
19. he maka hen 44. -nande
20. tah hi ja kal 45. ku ka
21. giya kari la 46. rina si be
22. buhna hata bi 47. lap me
23. -Iah bilap he 48. -te
24. ndah e kal me 49. -rem
25. -kari man 50. —
201
TR1BUS 52, 2003
Transliteration 2
1. Makana enda kal me kuturi-turiken ateku mesui
2. i bas rangrang kerbo si piduk enda
3. mama teman senina.
4. E maka entah i ja kal gia kari labuhna kata bilang-bilang enda
5. e kal me kari man lantasenndu.
6. Di kurangsa nitambahi
7. di mbuesa iuraki.
8. Maka bage kin pe ningku
9. di aku la ne kal nge kidah kueteh nuri-nurikenca
10. si ma bo min lit man turinken
11. bibi nandeku karina si mbelang meterem.
Übersetzung
1. Hier erzähle ich von meinem leidenden Herzen
2. auf dem Rippenknochen eines Wasserbüffels mit einem weiß geringtem Auge,
3. Freunde und Klangenossen.
4. Sollten die Worte dieses Klagelieds Fehler enthalten,
5. so mögt ihr sie übergehen.
6. Wo etwas fehlt, fuge es hinzu,
7. wo etwas überflüssig ist, das streiche.
8. Es ist so, sage ich,
9. da ich nicht mehr weiß, wie es zu erzählen ist,
10. das, was nicht erzählbar ist,
11.0 meine zahlreichen Tanten und Mütter.
Anmerkungen
1 Umfassendere Sammlungen existieren lediglich im Völkerkundemuseum Berlin, das mit fast 200
Handschriften eine der größten Sammlungen von Batak-Handschriften aufweist, sowie in den
Niederlanden, insbesondere in der Bibliothek der Universität Leiden und im Tropenmuseum Ams-
terdam.
2 Manik zählte 20 Rindenbücher (pustaha) sowie 21 Bambus- und neun Knochenhandschriften.
3 Gegenstand dieses Artikel sind ausschließlich Hss., die auf Bambusstücken und Rippenknochen des
Wasserbüffels niedergeschrieben wurden. Die etwa 20 Rindenbücher der Linden-Museums-Samm-
lung bleiben unberücksichtigt.
4 Ich halte es für möglich, dass Manik die Beschreibung dieser Hs. mit der von 118842 verwechselt
hat. Bei Hs. 118842 handelt es sich um eine kurze Klage, die abrupt endet. Maniks Beschreibung
der Hs. 78423 und auch deren Abmessung passen auf 118842 zu.
5 Allen konsonantischen Radikalzeichen ist auslautendes /a/ inhärent. Die Vokallosigkeit des konso-
nantischen Charakters wird durch das penengen angezeigt (k = /ka/ k- = /k/).
6 Anrede an Europäer.
7 Obwohl die Verenigde Oostindische Compagnie bereits in 1798 aufgelöst wurde, hat sich der Na-
me (sbt gamponi, kbt gempeni, tbt gumponi) noch lange Zeit gehalten.
8 Hier sollte es statt Monat wohl „Tag“ heißen wie auch in den folgenden Textabschnitten.
9 Panama bzw. Bintang (Stern, Sternbild) Panama ist das Sternbild der Plejaden. Unsicher ist hier,
ob sich humng (tbt) bzw. kurung (kbt) auf den 29. Tag des toba-batakschen Kalenders, der hurung
heißt, bezieht, da dieser Tag aus der Reihenfolge der Tage herausfällt (es müsste sich hier ja eigent-
lich - führte man die Liste konsequent weiter - um den 12. Tag des karo-batakschen Kalenders,
nämlich heraspati tangkep handeln). Bintang hala mangan ompu ni hala könnte heißen „Das Stern-
bild des Skorpions frisst den Großvater des Skorpions“, wobei der Sinn dieses allerdings unklar
bleibt.
10 Meissner hielt sich um 1890 in Deli, Nordsumatra, auf.
11 Vgl. z.B. pinangan ni roha „wonach man sich sehnt“, wörtlich; „das vom Herzen Gegessene“
(Tuuk 1861).
12 In der Schrift der Karo ist es üblich, inlautende Nasalverbindungen im Schriftbild zu ignorieren.
Dies ist allerdings in der Regel nicht der Fall bei karo-batakschen Hss., die in der poda-Sprache
geschrieben sind. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass ragas anstelle von raNgas
geschrieben wurde.
202
Uli Kozok: Batak-Handschriften
13 An dieser Stelle befindet sich ein hindú ,Absatzzeichen’.
14 Ulis ist lexikographisch nicht nachweisbar, es handelt sich hier aber sicherlich um eine Variante von
kbt uis ,Tuch’ (vgl. pbt olis und oles, tbt ulos).
15 Sähe und saporbor sind unverständlich.
16 Wenn man die bégu lange Zeit vernachlässigt hat, können sie auf sich aufmerksam machen, indem
sie Krankheit oder Unglück in der Familie verbreiten. Sahit ,krank, gekränkt’, da ihm lange Zeit
nicht geopfert wurde.
17 Jinujung (kbt) ist der Schutzgeist eines Menschen. Jeder guru, aber auch viele andere Personen be-
sitzen einen solchen. Es kann sich sowohl um Ahnen-, als auch um Naturgeister handeln.
18 Beim pungir wäscht man sich die Haare mit Wasser von einer bestimmten Quelle, welches mit ver-
schiedenen Blüten und dem Saft einer Limonenart versehen wurde.
19 Der pangulubalang ist der magische Anführer und Kriegsherr einer Gemeinschaft und häufig ver-
sinnbildlicht in einem Stein, der in geringer Entfernung zum Dorf aufgestellt wurde (bzw. sich dort
schon immer befand). Diese Steine sind gelegentlich kunstvoll behauen, oft aber nur roh bearbeitet
oder sogar vollkommen unbearbeitet. Im Allgemeinen beschützt der pangulubalang die Gemeinschaft,
kündigt Gefahr an etc. Ein pangulubalang kann auch in einer geschnitzten Holzfigur residieren.
20 Ari si madang-adang, wörtl. „die umherziehenden Tage“ - es ist unklar, um welche Tage es sich
handelt.
21 Hier sind auch andere Übersetzungen möglich, z.B.: „Wenn man an diesem Tag ein Fest geben will,
so ist dieser Tag dafür ungünstig, das mangupa-Ritual jedoch kann man abhalten.” Noch andere
Übersetzungen sind möglich, da hier ari na ro ,der (die) nächste(n) Tag(e)’ lautet. Da es im ersten
Abschnitt allerdings ari na roa heißt, halte ich ro für einen Schreibfehler.
22 Sali tbt; marsali,borgen’ und kbt: salih ,verändern’ ergeben hier keinen Sinn.
23 Sinamot bedeutet sowohl ,Vermögen, Lebensunterhalt’ als auch ,Brautpreis’.
24 Das traditionelle Achtfamilienhaus (rumah si waluh jabu) besitzt an beiden Giebelseiten eine Ver-
anda aus Bambus {turé). Die unverheirateten Frauen sitzen des Abends in der Regel auf der turé und
weben oder flechten. Die turé ist einer der Plätze, wo sich unverheiratete Männer und Frauen tref-
fen können. Das Haus ist in acht Abschnitte eingeteilt, die von je einer Familie bewohnt werden (das
Wort jabu bedeutet sowohl Hausabschnitt als auch Familie). Die Häuser liegen entweder in West-
Ost-Richtung oder in Richtung des Wasserlaufes. Eine der beiden jabu, die an der nach Westen bzw.
stromabwärts gerichteten Giebelseite liegen, nämlich die linke oder nordwestliche jabu ist die jabu
des Klans, der das Haus errichtet hat. Diese jabu nennt sich jabu bena kayu oder jabu pengulu. Die
sich an der westlichen bzw. stromabwärts gerichteten Giebelfront befindliche Veranda heißt entspre-
chend turé pengulu.
25 Diese Passage ist schwer zu übersetzen. Talu ,verlieren (im Krieg, Wettkampf, Spiel, in einer De-
batte)’, dilaki ,unverheirateter Mann’, diberu ,unverheiratete Frau’, sibar ,das Maß von etwas,
Grenze, bis zu’. Talu bedeutet hier, dass das Bemühen, die Zuneigung des Anderen zu erreichen,
von diesem abgelehnt wurde. Bekommt der Junge einen Korb, so riskiert er, dass er einige Wert-
stücke, die er dem Mädchen als Zeichen seiner Zuneigung überreicht hatte, verliert. Bricht der Jun-
ge die angefangene Liebesbeziehung ab, so riskiert das Mädchen nicht mehr als einige geringe
Wertstücke. Sibar soll hier wohl heißen, dass das Risiko, seiner Wertstücke verlustig zu werden, in
der traditionellen Gesellschaft begrenzt war auf einige nicht allzu wertvolle Gegenstände. Es
scheint, der Verfasser will hiermit darauf aufmerksam machen, dass „in den alten Tagen“ die Men-
schen nicht so weit gingen, wegen einer Liebesbeziehung viel zu riskieren.
26 Nereh ist der Terminus für ,heiraten’, der sich auf die Frau bezieht. Etymologisch ist nereh (Grundwort
sereh) mit dem malaiischen serah ,etwas/sich übergeben’ verwandt. Das Heiraten eines Mannes heißt
dagegen empo und ist etymologisch verwandt mit empu (Besitzer), vgl. mal. empunya, tbt ompu.
27 Wörtlich: ,ein Huhn übergeben’. Dies bezieht sich auf die Mahlzeit, die für die Zeremonie gleichen
Namens zubereitet wird. Es ist dies der Besuch der Familie des Mannes bei der Familie der künfti-
gen Braut, bei dem die notwendigen Angelegenheiten für die Heirat besprochen werden.
28 Die anakberu sind die Brautnehmer, die senina die Klangenossen.
29 Rakupen bzw. rangkupen ist mir unbekannt. Taruhna pé ibahan heißt wörtlich „es wird eine Wette
gemacht“, was hier sicher bedeutet, dass ein Vertrag geschlossen wird (bei dessen Bruch eine Stra-
fe zu zahlen ist).
30 Erdemu bayu, wörtlich: ,die Frau treffen’, ist nach dem „Karo-Bataks - Nederlands Woordenboek“
(Neumann 1951): „Die Zeremonie, bei der die Familien von Braut und Bräutigam Zu-
sammenkommen und die Heirat offiziell bekannt gemacht wird, wobei die unterschiedlichen Geld-
beträge an die Betreffenden übergeben werden. Früher wurde diese Zeremonie manchmal lange
nach dem Abschluss der Heirat abgehalten, heutzutage ist es Pflicht, sie vor dem Abschluss der Hei-
rat und zusammen mit dem erdalin mas abzuhalten.”
31 Serpi ist die karo-bataksche Bezeichnung für den ropij (mal. holl.), nämlich der spanische und me-
xikanische Dollar waren die gängigsten Währungen im Karoland vor der Währungsreform 1908.
Deraham ist eine Goldmünze aus Aceh.
203
TRIBUS 52, 2003
32 Die kalimbubu sind die Brautgeber. Das ulu emas bekommen die kalimbuhu des Vaters der Braut.
Hier und im Folgenden habe ich die Verwandten, die Anteil am Brautpreis haben, durch die gän-
gigen englischen Kürzel angegeben (das EGO ist der Bräutigam): M=Mother, F=Father, B=Brother,
W=Wife.
33 „Zur Erinnerung“, da dieser zur entfernten Verwandtschaft gehört, wahrscheinlich gerade deshalb,
da derjenige, der das perninin in Empfang nimmt, wahrscheinlich ein Nachkomme vom schon ver-
storbenen WMMB ist. „Salz“ daher, da er die Erinnerung „schmecken“ soll, es soll eine bleibende
Erinnerung an die bestehenden Familienbande sein.
34 Dieser Satz ist unverständlich. Kepel sepuludua sind ,zwölf Päckchen Reis, die vom Fest mit nach
Hause genommen werden’. Pejujuren erdalen ist mir unverständlich.
35 Das mukul ist die eigentliche formelle Heiratszeremonie, bei der sich Braut und Bräutigam gegen-
seitig füttern. Die Idealheirat bei den Karo und anderen Batakvölkern ist die Kreuzbasenheirat. Wird
eine Frau geheiratet, die nicht die Kreuzbase (MBD) ist, so wird nach der Heiratszeremonie das
Verwandtschaftsverhältnis dem Ideal angepasst, d.h. die Braut erhält einen neuen Klan. Dieses
nennt sich ngohah tutur ,Anpassen des Verwandtschaftsverhältnisses’.
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205
TRIBUS 52, 2003
HANS KUEBLER / ELKE WACHENDORFF
Cui bono - in der Tat!
Quelle Don Quichoterie!
Anmerkungen zum Artikel von Dr. Forkl in: „Tribus“, Band 51/2002, „ Cui bono?
- Kritische Anmerkungen zu Datierungsverfahren für die Sonderausstellung Ife,
Akan und Benin im Schmuckmuseum Pforzheim (2000) “
Mit dem rechtsgültigen Vergleich vom 19. März 2002 vor dem Landgericht Stutt-
gart in der Streitsache René David, Inhaber der Galerie Walu, gegen Dr. Hermann
Forkl, c/o Linden-Museum Stuttgart, hatte sich der Beklagte (Herr Dr. Forkl)
rechtskräftig verpflichtet,
„es zu unterlassen, folgende Behauptungen in Bezug auf den Kläger aufzustellen
und/oder zu verbreiten:
a) Ein großer Teil der nigerianischen Exponate der Ausstellung im Pforz-
heimer Schmuckmuseum sei gefälscht und im Katalog würden Angaben
über die genaue Herkunft sowie die Fundumstände unterdrückt; “ ....
“und/oder
b) Die Galerie Wahl gehöre zusammen mit Herrn Dr. Eisenhofer und dem
Labor Kotalla zu einem Krakenkartell’das inzwischen von Mailand bis
an die Tore von Frankfurt/Main reicht
und/oder“...
Dr. Forkl verpflichtete sich weiterhin:
„Für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen diese Unterlassungspflichten
verspricht der Beklagte die Bezahlung einer Vertragsstrafe an den Kläger in
Höhe von 5.050,-€. “
„Die Kosten des Rechtsstreites trägt der Beklagte “ (und somit, soweit uns be-
kannt, das Linden- Museum bzw. das Regierungspräsidium des Landes Ba-
den-W ürttemberg)
In dem o.g. Artikel des Herrn Dr. Forkl in Tribus 51/2002 werden jedoch - in gan-
zen Passagen sogar wortgleich - dieselben Behauptungen erhoben, welche derzeit
das Labor Kotalla, Haigerloch, einerseits, sowie die Galerie Walu, Zürich, ande-
rerseits dazu veranlasst hatten, gegen Herrn Dr. Forkl ein Rechtsverfahren einzu-
leiten, und welche im Laufe der Verfahren auch vor Gericht offensichtlich keines-
wegs überzeugen konnten.
Herr Dr. Forkl präsentierte diese Thesen - wie er zu Recht schreibt (S. 100) - in
einem Brief vom 2. Juli 2000 auf Briefpapier des Linden-Museums an die Regie-
rung von Oberbayern in München, allerdings nicht auf Grund deren Ersuchens,
sondern eines durchaus eigenen Bestrebens, Einfluss zu nehmen, und - so wurde
es der Stiftung mitgeteilt - zur Überraschung des zuständigen Referates der Re-
gierung von Oberbayem. Entsprechend beginnt dieses Schreiben auch mit „Sehr
geehrter Herr Smagon, von verschiedenen Seiten musste ich erfahren, dass Herr
Dr Stefan Eisenhofer demnächst von Ihnen als Sachverständiger für afrikanische
Kunst vereidigt werden soll. Diese Nachricht hat in mir schwerwiegende Beden-
ken betreffs der Eignung von Herrn Dr. Eisenhofer wachgerufen,“! Die Stiftung
Vergessene Kulturgüter SVK erhielt seinerzeit allerdings keinerlei Mitteilung, ge-
schweige denn Kopie, dieses Textes (wie auch anderer) von seinem Autor zuge-
sandt, obwohl der Inhalt durchaus die Stiftung auch betrifft.
Der Stiftungsrat der SVK sah sich in diesem Kontext veranlasst, ihre Kuratoren
um die Erarbeitung einer entsprechenden Stellungnahme zu bitten, um diese an
die involvierten Personen und Behörden zu senden. Aus Sicht der SVK ist dieses
Thema mit dieser Stellungnahme ihres Kuratoriums vom 18. Januar 2001 ausrei-
chend diskutiert.
206
Hans Kuebler / Elke Wachendorff: Cui bono - in der Tat!
Was soll man auch noch sagen, wenn immer wieder und nun erneut Behauptun-
gen erhoben werden, wie zum Beispiel jene, der Zügel auf einer Benin-Reiter-
platte weise keine Abstützung auf (und dies als Fälschungsbeweis!), wenn jedoch
die unabweisliche Existenz einer solchen allein schon auf den Photos der Publi-
kationen (im Katalog zur Ausstellung in Pforzheim wie zur gegenwärtigen Aus-
stellungsserie in Japan) eindeutig sichtbar ist und wenn besagte Reiterplatte sogar
im Sommer 2002 Herrn Dr. Forkl in natura und persönlich in den Räumen des
Linden- Museums (auf Veranlassung und in Gegenwart von Herrn Prof. Dr. Mi-
chel) vorgestellt wurde zum eindeutigen Hinweis auch auf den vorhandenen Ab-
stützungssteg?
Auch ist Herrn Dr. Forkl beispielsweise mehrfach und mit Nachdruck - auch sei-
tens des von ihm genannten Gewährsmannes - zur Klarstellung unmissverständ-
lich mitgeteilt worden, dass Herr Hornberger vom Museum Rietberg in Zürich sei-
nerzeit in den Räumen der Galerie Walu eine ganz andere Ife-Halbbüste gesehen
und kommentiert hatte, als diejenige aus dem Besitz der Stiftung (wie auf Seiten
91 und 94 erneut behauptet), welche in Pforzheim war und gegenwärtig in Japan
ausgestellt ist!
Der Text dieser Stellungnahme war ohne Wissen, Genehmigung oder Ermächti-
gung durch die SVK von einer (der Stiftung auch nicht näher bekannten) Galerie
ins Internet gestellt worden; die Löschung des Textes ist mittlerweile erfolgt. Aus
gegebenem Anlass scheint es nun doch notwendig geworden zu sein, den Text zu
veröffentlichen (in der deutschen Version der Homepage der Stiftung www.art-
svk.de). Interessenten können den Text aber auch gerne auf Anfrage entweder
über die internationale Homepage der Stiftung (www.art-svk.org) direkt per mail
an info@art-svk.org oder über die Schweizer Repräsentanz der Stiftung selbst zu-
gesandt bekommen (CH-8702 Zürich-Zollikon, Dufourstr. 58).
Im Text der Stellungnahme wurde auch auf das von Dr. Forkl im zweiten Kapitel
seiner neuerlichen Ausführungen wiederum angesprochene Thema der Rolle na-
turwissenschaftlicher Methoden zur Untersuchung von Kunst- und Kulturobjek-
ten eingegangen.
Dass sich Dr. Forkl (der Nicht-Physiker auch er) „mit den Naturwissen-
schaftler/innen in einer Einmütigkeit verbunden weiß, wie sie wohl heutzutage ih-
resgleichen sucht“ (S. 90), liegt wohl vornehmlich an einer allzu selektiven Wahr-
nehmung seinerseits, wie er sie pikanterweise auf Dr. Eisenhofer zu projizieren
versucht (S. 100).
Die von Dr. G. Feucht in seinem Aufsatz im Ausstellungskatalog (Pforzheim
2000) knapp skizzierten neuesten physikalisch-chemischen Untersuchungsmetho-
den und deren metallurgische wie historische Interpretationen werden von Herrn
Dr. Forkl nicht erwähnt. Gerade diese Verfahren zur Oberflächen- und Patina-
Untersuchung von Metallobjekten (LineScan) lassen nach dem gegenwärtigen
Standpunkt der Forschung sehr präzise Aussagen über die Entstehungsprozesse
einer Patina zu. Da diese Verfahren nur den entsprechenden Spezialisten bekannt
sind, wird Herrn Dr. Forkl empfohlen, in Kontakt und Gespräch mit diesen seine
entsprechenden Kenntnisse zu erweitern, um das Thema differenzierter behandeln
zu können, ohne vom „methodisch bedenklichen Gebrauch“ von Methoden spre-
chen zu müssen, die man nicht kennt, und um nicht mehr pauschalisierend von
„den Naturwissenschaftler/Innen“ schreiben zu müssen. Insgesamt hat die Präzi-
sion der Aussagemöglichkeiten modernster Analyseverfahren für eine Altersbe-
stimmung von Kunstobjekten stark zugenommen. Es ist kaum einzusehen, warum
solche Fortschritte an der Ethnologie gänzlich Vorbeigehen sollten? Herrn Dr.
Forkls Zeilen zeigen erneut die dringende Notwendigkeit auf, die Kenntnisnahme
von Diskussion über und Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Unter-
suchungsmethoden in der Ethnologie zu intensivieren, allein schon um auch die
verschiedenen Thermolumineszensverfahren genauer unterscheiden zu lernen.
Im Rahmen der o. g. Gerichtsverfahren gegen das Linden-Museum beim Landge-
richt Baden-Württemberg schrieb der geschäftsführende Stiftungsrat der SVK
207
TRIBUS 52, 2003
dem Vorsitzenden Richter, Herrn Henrici, mit Datum vom 3. Okt. 2001 einen
Brief, aus dem hier im Hinblick auf die Darstellung von Dr. Forkl (S. 101 f) zitiert
werden soll;
„Als geschäftsführender Stiftungsrat der „Stiftung Vergessene Kulturgüter (SVK)“ hat mich die
Anfrage von Herrn Professor Dr. Riederer überrascht. Ich weiß zwar um die Behauptungen des
Lindenmuseums zu dem Experten, der die Ausstellung der SVK in Pforzheim begleitete und um
die Behauptungen zu einzelnen dort ausgestellten Objekten; ich hatte aber die Schritte Dritter,
die sich ebenfalls von diesen Behauptungen betroffen fiihlen konnten, nicht mehr weiter verfolgt.
Die SVK ist in der o. g. Rechtssache weder klagende noch beklagte Partei; ich frage deshalb an.
nach welchen rechtlichen Grundsätzen das Landgericht eine Verfügung ausgesprochen hat, dass
Herr Professor Dr. Riederer von Objekten der Stiftung in Zürich Proben zur Untersuchung neh-
men soll. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Art. 271 des Schweizer Gesetzbuches
hinweisen, der Handlungen auf schweizerischem Gebiet für einen fremden Staat bzw. für eine
ausländische Justizbehörde unter Strafe stellt.
Aus den oben genannten Gründen konnte ich Herrn Professor Riederer den von ihm angestreb-
ten Termin leider nicht bestätigen (siehe Anlage).
Freundlicherweise bekam ich Einblick in einige der Unterlagen, die in dieser Rechtssache aus-
getauscht wurden. Ich habe hier natürlich nur einen flüchtigen Eindruck bekommen, der even-
tuell auch falsch sein kann. Aber es stellt sich für mich doch die Frage, wieso wird eine in die
Rechtssache nicht engagierte ausländische Stiftung aufgefordert, mit dazu beizutragen, den Be-
weis der Behauptungen der beklagten Partei gegebenenfalls zu erbringen. Ist es nicht Sache der
Partei, die Behauptungen aufgestellt hat, die die klagenden Parteien als zu ihrem Nachteil gerei-
chend ansehen, auch dann diese Behauptungen zu belegen. Dabei geht es m. E. gar nicht ur-
sächlich um die Objekte der SVK in der Ausstellung in Pforzheim; sonst hätte sich das Linden-
museum entweder mit dem Schmuckmuseum Pforzheim oder der Stiftung in entsprechender Weise
befaßt; es geht doch primär um die Behauptungen zu dem Experten Dr. Eisenhofer, zu der Gale-
rie Wahl und den Laboratorien Kotalla und anderen. Aus meiner Sicht erscheint das Problem ei-
nen eher regionalen Charakter zu haben.
Die SVK hat primär internationale2, nicht regionale Interessen. Die Meinung des Lindenmu-
seums halten wir international für nicht sehr relevant; wir hatten den Eindruck gewonnen, daß
die Erkenntnisse des Lindenmuseums nicht einmal mehr in der nur rund 200 km entfernten bay-
rischen Hauptstadt Gewicht haben.
Als Stiftungsrat habe ich auf mehreren Wegen eine Lösung der Problematik versucht. Ich hatte
nach ersten unfruchtbaren Telefongesprächen des Kuratoriums der SVK mit Herrn Professor
Thiele, sowohl Herrn Professor Thiele als Herrn Dr. Forkl selbst angeschrieben und schon aus
wissenschaftlichem Interesse nach den Belegen zu den aufgestellten Behauptungen gefragt, ohne
eine inhaltliche Antwort erhalten zu haben. Z. Teil wurden die Briefe gar nicht beantwortet. Da
Herr Dr. Forkl stets in seinen Schreiben an die Regierung von Oberhayern die wissenschaftliche
Sicht betonte, habe ich das Kuratorium der Stiftung gebeten, eine wissenschaftliche Ausarbeitung
sowohl zu den Beurteilungskriterien des Lindenmuseums als auch zu deren Behauptungen über
die einzelnen Objekte zu erstellen, die dann auch im Januar dieses Jahres dem Lindenmuseum
zugestellt wurde. Leider wurde nicht einmal der Posteingang bestätigt. Ich habe deshalb keine
Veranlassung mehr in dieser Sache mit dem Lindenmuseum zu korrespondieren. “
Auch der Hinweis, die Stiftung hätte die Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Dr. Rie-
derer abgelehnt, ist unzutreffend. Dazu aus dem Schreiben vom 28. September
2001 des geschäftsfuhrenden Stiftungsrates an Herrn Prof. Dr. Riederer anlässlich
der Anfrage Herrn Prof. Dr. Riederers wegen eines Besuches zur Entnahme von
Untersuchungsproben:
„Ihr Schreiben vom 21. September war für mich eine Überraschung in zweierlei Hinsicht! Zu-
nächst freue ich mich sehr, auf diese Weise mit Ihnen in Kontakt zu kommen; ich habe schon viel
von Ihnen über Frau Leuzinger, einer sehr guten Freundin meiner Mutter und Herrn Hornberger,
den ich seit langer Zeit kenne, gehört. Zusätzlich hin ich aber doch überrascht über den Inhalt
des Briefes, da mir ein Auftrag des Landgerichts Stuttgart mit dem Inhalt einer Verfügung über
Objekte der Stiftung nicht bekannt ist; die Klagen Dritter (Herr Kotalla ist mir nicht einmal per-
sönlich bekannt) sind für die Stiftung nicht relevant und der Stiftungsrat ist auch nicht über die-
sen Vorgang informiert.
Ihrem Schreiben entnehme ich, daß Sie einigen Objekten Proben entnehmen wollen. Dabei ist mir
unklar welche Objekte Sie meinen. Rein formal ist ein Eingriff in die Objekte in der Stiftung
nichts, was eine Person alleine entscheiden kann. Wir müssen dazu den Stiftungsrat befragen, der
natürlich weitere Fragen stellen wird, um zu beurteilen, ob ein solches Vorgehen im Sinne der
208
Hans Kuebler / Elke Wachendorff: Cui bono - in der Tat!
Stiftung ist. Wir haben uns stets fiir Untersuchungen zur Förderung der wissenschaftlichen Er-
kenntnis engagiert, haben jedoch im Einzelfall sehr genau überlegt, ob eine Untersuchung sinn-
voll ist, und welchen Gefahren die Objekte ausgesetzt sind. Aus diesem Grunde wäre ich Ihnen
sehr dankbar, wenn Sie mir weitere Informationen über Ihr intendiertes Vorgehen im Rahmen Ih-
res Auftrages von dem Landgericht Stuttgart zukommen lassen könnten, damit ich dem Stiftungs-
rat berichten kann. Normalerweise interessiert uns dabei, welche Objekte auf welche detaillier-
ten Fragen hin, nach welcher Methode, bzw. nach welchen kombinierten Methoden, mit welcher
technischen Ausrüstung (welcher technischen Generation) und mit welchen Auswertungskriterien
(etwa Höhe des Zinkgehaltes, Konzentration von Verunreinigungen etc.) untersucht werden.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diese Informationen zukommen lassen könnten, um
mit dem Stiftungsrat das weitere Vorgehen zu klären. Eine sachgerechte Klärung der anstehen-
den Fragen würde ich sehr begrüßen. “
Dieses Schreiben wurde ebenfalls nicht beantwortet.
Es ist Herrn Dr. Forkl selbstverständlich unbenommen, seine persönliche Mei-
nung und Auffassung darüber zu haben, wie, wann, wo eine Stiftung sich zu kon-
stituieren habe; darüber, wie, wann, wo sich eine solche sodann zu präsentieren
habe. Doch wird er dennoch hinnehmen müssen, dass es diesbezüglich auch dif-
ferierende Auffassungen und Entscheidungen geben kann und geben wird, vor-
nehmlich dann, wenn diese nicht Herrn Dr. Forkls Heimatboden teilen.
Zu einem gewissen Grade kann es aber auch ehrenvoll sein, in die Kritik des
Herrn Dr. Forkl zu geraten. In seinem Artikel „Über den Umgang mit Phantom-
daten und den Rückschritt in den Sozialwissenschaftengleich anschließend im
selben Band von Tribus 51/2002 publiziert, wird das bekannte und vieldiskutierte
Buch von Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of
World Order einer gleichermaßen uns beckmesserisch anmutenden Detailkritik
unterworfen, welche mit einer für die Gesamtaussage des Autors u. E. erschre
ckend mangelhaften Wahrnehmung einhergeht.
Stil und Ton beider Texte erinnern uns schmerzlich an Diskussionen in Seminaren
erster Semester geisteswissenschaftlicher Studien, geprägt vom Duktus selbst-
herrlicher und eifernder Empörung. Eine ernst zu nehmende akademisch sachli-
che Information und Kritik sollte solcherlei nicht mehr nötig haben.
Anmerkungen
1 Die Vereidigung von Herrn Dr. Stefan Eisenhofer als Sachverständiger erfolgte trotz Herrn Forkls
„Bedenken“ im Februar 2001. Es sei hier betont, dass die Regierung von Oberbayem Herrn Dr. Ei-
senhofer erst zur Prüfung zuließ, nachdem sämtliche Vorwürfe, die Herr Dr. Forkl gegen ihn erho-
ben hatte, ausführlich geprüft und als absolut unbegründet zurückgewiesen worden waren. Der Auf-
forderung der Regierung von Oberbayern, seine Vorwürfe zu belegen, konnte Herr Dr. Forkl jedoch
in keinem einzigen Punkt auch nur ansatzweise überzeugend entsprechen. Herr Dr. Eisenhofer ist
seit Februar 2001 als Nachfolger von Frau Dr. Kecskesi Leiter der Afrika-Abteilung am Staatlichen
Museum für Völkerkunde in München.
2 Eine Ausstellung mit über 200 Exponaten der Stiftung SVK ist unter dem Titel „Power, Wealth and
Art in West Africa“ im Laufe dieses Jahres in 5 staatlichen Museen (u.a. auch dem „National Mu-
seum of Modern Art“, Kyoto) in Japan zu sehen. Das Projekt wird - nach eingehender Prüfung -
offiziell seitens der nigerianischen Regierung unterstützt; die nigerianische Botschaft in Tokyo hat
die Schirmherrschaft übernommen und Prof. Dr. Omotoso Eluyemi, Generaldirektor der „National
Commission for Museums and Monuments“, begleitet das Projekt im Katalog mit einem ausführ-
lichen Grußwort (ISBN 4-901357-38-7 c3071)
209
TRIBUS 52, 2003
JOSEF RIEDERER / HERMANN FORKE
Metallanalyse und typologische Reihen von Messingobjekten aus
dem Reich Benin (Nigeria) im Linden-Museum Stuttgart
Einleitung
Da wir für die Erstellung einer Chronologie der höfischen Metallkunst im alten
Reich Benin (Südnigeria) nur wenig auf die klassischen historischen Methoden
der Auswertung zeitgenössischer schriftlicher Quellen und oraler Traditionen zu-
rückgreifen können, sind wir umso mehr auf archäologische Methoden angewie-
sen. Da uns jedoch von diesen wiederum, wegen ebenfalls nur sporadisch durch-
geftihrter Grabungen und noch spärlicherer Beobachtungen in situ, weder eine
umfassende Vertikal- noch eine Horizontalstratigraphie zur Verfügung stehen,
bleiben uns von den archäologischen Methoden lediglich die der typologischen
Reihe und naturwissenschaftlicher Datierungsverfahren.
Die Methode der typologischen Reihe versucht auf Grund der Klassifizierung von
Stil und Herstellungstechnik eine schlüssige Entwicklungsreihe untereinander
vergleichbarer Objekte und damit eine relative Chronologie aufzustellen. Wenn
wir dabei über keinerlei Anhaltspunkte zum Anfang oder Ende einer Entwi-
cklungsreihe verfügen würden, könnten wir jedoch nicht einmal einschätzen, in
welche Richtung diese verlaufen sollte.
Doch auch die Bandbreite der uns zur Verfügung stehenden naturwissenschaft-
lichen Datierungsverfahren ist bei den Versuchen einer Datierung von Metallob-
jekten aus dem Reich Benin Einschränkungen unterworfen. Die in diesem Zu-
sammenhang von Laien gerne beschworene Radiocarbon-Methode („Cl4“) muß
hier mangels organischen Materials von vom herein ausfallen. Die Thermolumi-
neszenz-Methode („TL“) kann zu dem Zweck einer richtigen Datierung nur grei-
fen, wenn ein geschlossener Grabungsfund mit sachgemäßer Beobachtung in situ
und sachgemäßer Bergung vorliegt. Andernfalls müssen so viele fehlende Para-
meter (vernünftig) angenommen werden, daß lediglich ein sog. Echtheitstest
durchführbar ist, vorausgesetzt, daß bei einem Metallobjekt überhaupt noch ein
tönerner Gußkern vorhanden ist. 0 Lind um schließlich vernünftige Aussagen zum
„Wachstum“ einer Patina treffen zu können, müssen uns ebenfalls Beobachtungen
in situ vorliegen. (Vgl. zu dieser Problematik Forkl 2002: 95ff, 99)
Bleibt die Metallanalyse, deren Auswertung mit dem Prinzip der typologischen
Reihe eng verwandt ist, indem hier wieder auf Grund der Herstellungstechnik
klassifiziert wird. Gestatten doch auch ihre Ergebnisse für sich allein genommen,
ebensowenig wie z.B. die Beobachtung, daß eine Figur unsorgfältiger als eine an-
dere gearbeitet wurde, Schlüsse auf eine relative oder gar absolute Chronologie.
Auch hier bedarf es wieder von außen herangezogener Anhaltspunkte aus unse-
rem, wenn auch oft spärlichen, Vorrat an geschichtlichen Daten. So einmal auf
den Weg gebracht, kann die Metallanalyse, wie alle naturwissenschaftlichen Da-
tierungsverfahren in der Archäometrie, unsere typologische Reihe stützen - oder
stürzen. Was sie, auf Grund der Abweichungen von an sich zeittypischen Legie-
rungszusammensetzungen und diverser Fälschungsmöglichkeiten, (noch?) nicht
leisten kann, ist das Erbringen allein auf sich selbst gestellter positiver Datierun-
gen. (Vgl. zu dieser Problematik Forkl 2002: 97ff.)
Doch wie sinnvoll Metallanalysen von Legierungszusammensetzungen eine auf
Grund stilistischer Untersuchungen und oraler Traditionen erstellte Chronologie
abstützen können, hat erst neulich die wirklich einmal bahnbrechende Untersu-
chung von Willett und Sayre (2000) erwiesen: Die von Dark (1973: 8ff., Abb. 1;
1975) aufgestellte Chronologie der Köpfe, die für den königlichen Ahnenkult des
Reiches Benin zum Gedenken an Könige und Königinmütter aus Messing gegos-
210
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
sen worden sind, konnte durch die Daten aus den Metallanalysen von insgesamt
74 Köpfen, die Sammlungen aus drei verschiedenen Kontinenten angehören, eine
bemerkenswerte Bestätigung finden.
Leider lagen zu dem Zeitpunkt der Untersuchung von Willett und Sayre noch kei-
ne Ergebnisse von Metallanalysen der drei Gedenkköpfe im Linden-Museum
Stuttgart vor. Die entsprechenden Ergebnisse können nun endlich in dieser Arbeit
veröffentlicht werden, zusammen mit denen fast aller anderen Messingobjekte aus
der Benin-Sammlung des Linden-Museums.
Was die Vermeidung von Fälschungen anbelangt, d.h., daß Objekte fälschlich der
präkolonialen Zeit des Reiches Benin (vor 1897) zugeschrieben werden könnten,
ist die Ausgangssituation in der Sammlung des Linden-Museums vielverspre-
chend. Konnte diese Benin-Sammlung doch, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
noch im 19. Jahrhundert vom Linden-Museum erworben werden.
Tab. 1: Objekte des Linden-Museums, an denen Josef Riederer im Jahr 2002
Metallanalysen durchgeführt hat. Datierungsvorschläge von Hermann Forkl.
Inventar- Objekt Datierungs-
nummer Vorschlag
Sammlung Professor Dr Hans Meyer, Leipzig, Schenkung 1899
4.667 Platte: Heerführer mit Panzer, Helm, Glocke, Halskette aus Leopardenzähnen, Perlen- Halskrause und Dolch 2. Hälfte 16. Jh
4.668 Platte: zwei Heerführer mit Perlenhemden, -Halskrausen und -hauben, Glocken, Hals- ketten aus Leopardenzähnen und Ende 16./
Zeremonialschwertem eben. Anfang 17. Jh.
4.669 Platte: Mann mit Stab und Halbmonden 2. Hälfte 16. Jh.
4.670 Platte: Mann mit Kugel in den Händen, Perlen-Brustband, -Halskrause und -haube, Ende 16./
einem Paar Armmanschetten und Sonnen Anfang 17. Jh.
Sammlung Karl Knorr, Heilbronn, Schenkung 1899
5.360 Osun-Stab vor 1897
5.361 Osun-Stab vor 1897
5.365 Platte: Musikant mit Quertrompete, Halskette Ende 16./
aus Leopardenzähnen und niedriger Mütze Anfang 17. Jh.
5.366 Platte: Europäer mit manilla 2. Hälfte 16. Jh.
5.367 Platte; Vogel 2. Hälfte 16. Jh.
5.369 Platte: Mann mit vier Zöpfen 2. Hälfte 16. Jh.
5.371 Platte: Krokodil 2. Hälfte 16. Jh.
5.372 Platte: Heerführer mit Panzer, Helm, Glocke, Halskette aus Leopardenzähnen, Zeremonial- schwert eben und Sonnen 2. Hälfte 16. Jh.
5.373 Gedenkkopf: Königinmutter 2. Hälfte 18./ Anfang 19. Jh.
5.374 Zierteil vor 1897
5.375 Platte: Musikant mit Quertrompete, Halskette aus Leopardenzähnen und hoher Mütze 2. Hälfte 16. Jh.
5.379 Gedenkkopf; König mit Federhaube um 1815/16-50
211
TRIBUS 52, 2003
5.380
5.382
5.383
Platte; Leopard
Platte: Mann mit Perlen-Halskrause, Helm
und Buch (?)
Platte: Mann mit Stab, einem Paar Arm-
manschetten, Perlen-Halskrause und
-haube sowie Krokodil
2. Hälfte 16. Jh.
2. Hälfte 16. Jh.
2. Hälfte 16. Jh.
5.387 Platte; Mann mit Perlen-Tutulushaube, -Halskrause und -Brustband 2. Hälfte 16. Jh.
5.391 Platte: (Lungen-?) Fisch 2. Hälfte 16. Jh.
5.392 Platte: Pythonschlange mit deutlichen Zierkartuschen 2. Hälfte 16. Jh.
5.396
5.399
5.400
5.401
5.402
5.403
5.405
5.406
5.407
5.409
5.410
5.411
Statuette: Stehender
spätes 19. Jh.
Platte: Mann mit Schlangengürtel, Perlenhemd,
-Halskrause und -haube 2. Hälfte 16. Jh.
Platte; Mann mit zwei Zöpfen 2. Hälfte 16. Jh.
Platte: Heerführer mit Federmantel und -kröne,
Glocke, Halskette aus Leopardenzähnen, Perlen-
Halskrause und Zeremonialschwert eben 2. Hälfte 16. Jh.
Platte: Europäer mit Stäbchen 2. Hälfte 16. Jh.
Platte; Heerführer mit Panzer, Helm, Glocke,
Halskette aus Leopardenzähnen, Hiebschwert
und (Lungen-?) Fischen 2. Hälfte 16. Jh.
Platte; Mann mit Stab und Dolch 2. Hälfte 16. Jh.
Platte: Pythonschlange mit undeutlichen
Zierkartuschen
Platte: Mann mit Zeremonialschwert eben, 2. Hälfte 16. Jh.
Perlen-Halskrause und -haube 2. Hälfte 16. Jh.
Kopf einer Schlange
Gedenkkopf: König
Platte: Zitterwels
vor 1897
2. Hälfte 18./
Anfang 19. Jh.
2. Hälfte 16. Jh.
Sammlung N.N., Kauf 1903
33.378 Statuettengruppe; König Ewuare (?) mit zwei
Würdenträgern um 1900
Sammlung Professor Dr. Hofft, Berlin, Schenkung 1904
37.231 Osun-Stab
37.232 Gürtelmaske: Leopardenkopf
Sammlung Dr. Hans-Joachim Runge, Hamburg, Kauf 1985
F 53.443 Kupferbarren, Slowakei
Sammlung Dr. Hans-Joachim Runge, Hamburg, Kauf 1988
F 53.979 Messingbarren, Slowakei
vor 1897
vor 1897
2. Hälfte 16. Jh.
2. Hälfte 16. Jh.
Sammlung Professor Dr. Martin Graßnick, Baden-Baden, Schenkung 2000
F 55.629 Statuette: alter Würdenträger nach 1840
212
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Wir haben uns flir diesen Aufsatz zwei Aufgaben gestellt. Zum einen sollen sämtliche
Ergebnisse der von Josef Riederer vom Berliner Rathgen-Forschungslabor an den
Stuttgarter Messingobjekten aus dem alten Reich Benin vorgenommenen Metallana-
lysen veröffentlicht werden. Zur weiteren Bearbeitung chronologischer Systeme kann
dann auf diesen Fundus für den Vergleich mit Daten in Sammlungen außer- und inner-
halb des Finden-Museums zurückgegriffen werden. Zum anderen wollen wir für drei
ausgewählte Objektgruppen aus der Benin-Sammlung des Finden-Museums dieses
Ziel schon selbst verwirklichen, indem wir chronologische Aussagen auf Grund von
Stil und handwerklicher Qualität, aber auch „klassischer“ historischer Quellen, mit
den entsprechenden Werten der Legierungszusammensetzung vergleichen.
Um diese beiden Ziele, erstens die Charakterisierung der verschiedenen Objekte
und Objektgruppen durch ihre Zusammensetzung und zweitens die Prüfung einer
Beziehung zwischen den auf Stilmerkmalen aufbauenden chronologischen Aus-
sagen und den Materialmerkmalen des Messings zu erreichen, wurden von 38 Ob-
jekten der Benin-Sammlung des Finden-Museums Metallanalysen nach dem
Atomabsorptionsverfahren ausgeführt. Diese Untersuchungen setzen die Arbeiten
von Bauer (1975), Craddock (1985, 1986), Shaw (1966, 1969), Werner (1972,
1975, 1978) und Willett (1964, 1994, 2000, 2001) fort, bei denen die Fragen nach
den Möglichkeiten einer Datierung der Objekte durch ihre Zusammensetzung und
der Herkunft des Messings bereits angesprochen wurden.
Zur Analyse verwendet wurden Proben von 5-10 mg, die mit Hilfe eines 1 mm star-
ken Bohrers entnommen wurden. Der Bohrer erreichte eine Tiefe von 5 mm, so daß
die Analyse nicht durch eine eventuelle Veränderung der Zusammensetzung an der
Oberfläche sowie Schwankungen der Zusammensetzung durch Inhomogenitäten im
Metallgefüge, etwa lokale Bleianreicherungen, an Aussagekraft verlieren konnte.
Die Elemente Zinn, Blei, Zink, Eisen, Nickel, Silber, Antimon, Arsen, Wismut, Ko-
balt, Gold und Cadmium wurden quantitativ bestimmt. Die Konzentration des Kup-
fers wurde als Differenz der Summe der Konzentrationen der quantitativ bestimm-
ten Elemente zu 100% berechnet. Wenn in den folgenden Tabellen die Konzentra-
tionen einzelner Elemente nicht aufgeführt sind, so lag sie bei allen Objekten der
entsprechenden Tabellen unter der Nachweisgrenze des Atomabsorptionsverfahrens
(Wismut: 0.025%, Kobalt: 0.005%, Gold: 0.01%, Cadmium: 0.001%).
Bei den o.g. drei ausgewählten Objektgruppen handelt es sich im einzelnen um;
1. 26 rechteckige Platten mit Darstellungen jeweils im Relief, die zunächst an den
Pfosten der Veranda des königlichen Palastes angenagelt und später in dessen In-
neren aufbewahrt wurden (Inventamummern 4.667-70, 5.365-67, 5.369, 5.371-
72, 5.375, 5.380, 5.382-83, 5.387, 5.391-92, 5.399-400, 5.403, 5.405-07, 5.411).
2. Drei Gedenkköpfe, davon je zwei für Könige (Inventarnummern 5.379,
5.410) und einer für eine Königinmutter (5.373).
3. Drei figürliche Darstellungen von jeweils geringer Höhe (25,5, 46 bzw. 22
cm) und auffällig schlechter Gußqualität: die Statuettengruppe vermutlich des
Königs Ewuare mit zwei Würdenträgern (Inventamummer 33.378), die Sta-
tuette eines Stehenden (5.396) und die Statuette eines alten Würdenträgers
(F 55.629).
Die Platten
Insgesamt etwa 900 Stücke sind von den rechteckigen Platten bekannt, auf denen
jeweils eine Abbildung im Flach- oder Hochrelief zu erkennen ist. Die Autoren,
die sich an ihrer stilistischen Entwicklung versucht haben, sind sich darin einig,
daß hier eine Entwicklung vom Flach- zum Hochrelief stattgefunden haben muß
(v. Sydow 1932; Dark 1973: Abb. 1; Tunis 1983: 48). Dem ist zwar prinzipiell
ebenso zuzustimmen wie in etwa Tunis4 (1983: 52) absoluter Datierung ca. 1550-
1608 für den Herstellungszeitraum all dieser Platten insgesamt, jedoch auf Grund
ganz anderer Argumente, als v. Sydow und Tunis sie ins Feld geführt haben.
213
TRIBUS 52, 2003
Ahb. 1: Platte: Europäer mit
manilla, 42 x 29,5 cm,
2. Stilepoche, 2. Hälfte
16. Jh., Inv.-Nr. 5.366.
Ahb. 2: Messingbarren,
37,5 x 12 cm, aus den
Produktionsstätten der Augs-
burger Fugger in der Stadt
Neusohl/Banskä Bystrica
(rechts Wappenstempel),
Ungarn (heute Slowakei),
2. Hälfte 16. Jh.,
Inv.-Nr. F 53.979
Photo: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
Am Anfang von v. Sydows (1932: 123) Überlegungen steht nämlich Heinrich
Wölfflins Theorie zur Entwicklung des Reliefs während der Renaissance und des
Barock in Italien im Sinne von Fortschritt im räumlichen Tief eng efü hl. Es
muß wohl kaum noch eigens begründet werden, daß dieser ebenso unilinear-evo-
lutionistische wie eurozentristische Ansatz auf die Gesellschaft der Edo (so die
ethnische Bezeichnung der Bewohner der Stadt Benin) im Subsaharischen Afrika
mit ihrem völlig anders strukturierten gesellschaftlichen wie historischen Kontext
nicht angewandt werden darf.
Tunis (1983: 52) wiederum gesteht mit seiner absoluten Datierung um 1550-1608
den Messingplatten aus dem Reich Benin insgesamt nur eine kurze Herstellungspe-
riode zu, die sich über die Regierungszeiten der Könige Esigie, Orhogbua und
Ehengbuda erstrecke. Er begründet dies mit einer kulturell bedingten Weigerung der
Edo-Gießer, immer wieder westliche, fremde Stilmittel einzusetzen, als da seien die
europäische Proportion vom Kopf zum Rumpf, Verkürzungen, Seitenansicht und
Dreiviertelprofil. Deshalb seien diese Stilmittel bald wieder aufgegeben worden und
damit auch der auf westliche Anregung zurückzulührende Guß dieser Platten.
Ich (H.F.) glaube zwar ebenfalls, daß die mangelnde Akzeptanz dieser und ande-
rer Stilmittel schließlich zur Aufgabe des Plattengusses führte und die Kunst des
Reiches Benin damit wieder in die Form der traditionellen afrikanischen Plastik
214
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Ahb. 3: Platte: (Lungen-?)
Fisch, 42 x 17 cm,
1. Stilepoche,
2. Hälfte 16. Jh.,
Inv.-Nr. 5.391.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
Abh. 4: Platte: Mann mit
Perlen-Halskrause, Helm
und Buch (?); 33 x 19,5 cm,
2. Stilepoche,
2. Hälfte 16.
Jh., Inv.-Nr. 5.382.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
215
TRIBUS 52, 2003
Abb. 5: Platte: Mann mit
Zeremonialschwert eben,
Perlen-Halskrause und
-haube; 32 x 19 cm,
2. Stilepoche,
2. Hälfte 16. Jh„
Inv.-Nr. 5.407.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
Abb. 6: Platte: Heerführer
mit Federmantel und -krone,
Glocke, Halskette aus
Leopardenzähnen, Perlen-
Halskrause und Zeremonial-
schwert eben;
45 x 30 cm, 3. Stilepoche,
2. Hälfte 16. Jh„ Inv.-Nr.
5.401. Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
216
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Abb. 7: Platte: Heerführer
mit Panzer, Helm, Glocke,
Halskette aus Leoparden-
zähnen, Hiebschwert und
(Lungen-?) Fischen;
47,5 x 23,5 cm,
3. Stilepoche,
2. Hälfte 16. Jh„ Inv.-Nr.
5.403.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
Abb. 8: Platte: zwei Heer-
führer mit Perlenhemden,
-Halskrausen und -hauben,
Glocken,
Halsketten aus Leoparden-
zähnen und Zeremonial-
schwertem eben;
39 x 32 cm, 4. Stilepoche,
Ende 16./Anfang 17. Jh.,
Tnv.-Nr. 4.668.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
217
TRIBUS 52, 2003
Abb. 9: Platte: Mann mit
Kugel in den Händen,
Perlen-Brustband, -Hals-
krause und -Haube, einem
Paar Armmanschetten und
Sonnen; 44 x 18,5 cm,
4. Stilepoche, Ende 16./
Anfang 17. Jh.,
Inv.-Nr. 4.670.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
Abb. 10: Gedenkkopf:
König, H 41 cm, Typ 4B,
2. Hälfte 18./Anfang 19. Jh.,
Inv.-Nr. 5.410.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
218
Josef Riederer / Hermann Forkl; Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Abb. 11: Gedenkkopf:
Königinmutter,
H 56 cm, Typ 8B1,
2. Hälfte 18./ Anfang 19. Jh.,
Inv.-Nr. 5.373.
Photo: Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
Abb. 12: Gedenkkopf:
König, H 54 cm, Typ WCla,
um 1815/16-50, Inv.-Nr.
5.379. Photo; Ursula Didoni,
Linden-Museum Stuttgart
219
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Abb. 15: Stehender,
H 46 cm, spätes 19. Jh.,
Inv.-Nr. 5.396.
Photo: Anatol Dreyer,
Linden-Museum Stuttgart
mit ihrer uneingeschränkten Betonung der Dreidimensionalität mündete. Doch
gibt es keine immanenten Regeln oder gar Gesetzmäßigkeiten, die es erlauben
würden, Aussagen über die Dauer solch eines Entwicklungsprozesses zu treffen.
Somit hätte sich dieser noch weit bis in das 17. Jahrhundert hinein fortsetzen kön-
nen - immerhin jedoch nicht in noch spätere Zeit, da nach Tunis (1983: 52) die
Zusammensetzung der Legierungen von inzwischen etwa 20 % der weltweit
untersuchten Platten mit ihrem vergleichsweise niedrigen Zinkanteil ganz denen
europäischer Legierungen des 16./17. Jahrhunderts entsprechen, deren sich die
Edo-Gießer bekanntermaßen ja auch bedienten.
Bevor wir feststellen, ob die Hypothesen v. Sydows und Tunis4 nicht mit Hilfe
ganz anderer Argumente bestätigt werden können, sollte Tunis4 absolute Datie-
rung noch ein wenig entschärft werden. Wenn er 1550 als Todesjahr von König
(oba) Esigie angibt, mag dies noch mehr überzeugen als 1608 für das von Orhog-
bua. Beide Jahreszahlen hat er aus Egharevbas 4. Auflage (1968) von A Short his-
tory of Benin übernommen, der in seiner 3. (1960) für Orhogbuas Tod einmal noch
ca. 1606 (Egharevba 1960; 34) und einmal ca. 1608 (ibid.: 92) angibt. Auf Grund
von Bradburys (1959) Untersuchung zur Chronologie des Reiches Benin - man
beachte da besonders die Synopse auf S. 266, auf der Talbots Königsliste das Jahr
1610 für Orhogbua Tod vermerkt - sollten wir derartige, den mündlich überlie-
ferten Königslisten entnommene Jahreszahlen nur im Sinne von Annäherungs-
werten verstehen. Somit ist die von Tunis vorgeschlagene Herstellungszeit der
Platten besser wiederzugeben als von der Mitte des 16. bis zum Beginn des 17.
Jahrhunderts.
221
TRIBUS 52, 2003
Am Anfang meiner (H.F.) eigenen Argumentation möchte ich die Tatsache beto-
nen, daß die Darstellungen auf unseren Platten in der Form von Reliefs gehalten
sind, damit also den Sinn des Betrachters eher in Richtung Zweidimensionalität
lenken, und daß diese Platten alle eine rechteckige Form aufweisen. Schon be-
dingt durch die Konstruktion des Giebeldachs in der Architektur und durch die
Webtechnik kann der rechte Winkel als Element vorkolonialer Gestaltung im Sub-
saharischen Afrika nicht ganz fehlen, doch sollten wir andererseits erwägen, daß
die Grundrisse der seit dem 13. Jahrhundert errichteten Steinbauten von Great
Zimbabwe, wo eben kein solcher technologisch bedingter Zwang vorliegt, ohne
einen einzigen rechten Winkel auskommen. Wo der rechte Winkel nicht technolo-
gisch bedingt in der vorkolonialen Gestaltung südlich der Sahara auftritt, sollten
wir schon alten christlichen (z.B. Äthiopien, Skulptur an der Oberguineaküste und
am Cross River) oder islamischen (z.B. Grundrisse der Lehm- und Backsteinar-
chitektur in der Sudanzone) Einfluß in Erwägung ziehen; zumal dann, wenn er
noch mit der, südlich der Sahara etwas häufiger als der rechte Winkel vorkom-
menden, zweidimensionalen Darstellung kombiniert ist.
Christentum und Islam aber sind Buchreligionen, in deren Gesellschaften das
Buch, und damit seine rechten Winkel wie auch Zweidimensionalität, einen fes-
ten Bestandteil der Ästhetik bildet. In diesem Zusammenhang wird es für uns von
Bedeutung sein, die sozio-religiösen Wertvorsteilungen im Reich Benin des
16./17. Jahrhunderts zu rekonstruieren, die sich hier vorübergehend in einer weit-
gehend neuen Ästhetik niedergeschlagen haben. Schon v. Luschan (1919 I: 18)
zog übrigens europäische Buchdeckel aus Metall als Vorbilder für die Benin-Plat-
ten in Erwägung.
Betrachten wir noch kurz die Quellen, die uns für die Rekonstruktion des ge-
nannten Zeitraums in der Geschichte des Reiches Benin zur Verfügung stehen.
Zum einen handelt es sich dabei um eine orale Tradition, die im Jahr 1897 von
zwei Briten anläßlich der sog. Strafexpedition britischer Truppen nach Benin auf
Grund der Aussagen des dortigen Hofhistorikers, zweier Priester und von vier
Handwerks-Meistern aufgezeichnet wurde (Read/Dalton 1973: 4). Diese Überlie-
ferung berichtet eher Ereignisgeschichte und ist von unseren beiden afrikanischen
Quellen die „härtere“.
Bei der anderen afrikanischen Quelle handelt es sich um das schon erwähnte Werk
Egharevbas (1960) aus dem 20. Jahrhundert, eine Kompilation aus oralen Tradi-
tionen und zeitgenössischen schriftlichen Berichten, der leider viel zu oft die
Quellenangaben mangeln. Eine gewisse Glaubwürdigkeit für den uns hier inter-
essierenden Zeitraum erhält sie dadurch, daß sie, die mehr länger andauernde Ent-
wicklungen schildert, in der Tendenz von der vorher erwähnten, noch im 19. Jahr-
hundert aufgezeichneten mündlichen Überlieferung sowie von den zeitgenössi-
schen portugiesischen Quellen bestätigt wird. Das damals am Hof von Benin vor-
herrschende sozio-religiöse Milieu schildern alle drei genannten Quellengattun-
gen ähnlich.
Die hier diskutierten Quellen berichten zu dem uns interessierenden Thema fol-
gendes. Während der Regierungszeit König Ozoluas (reg. Ende 15. bis Anfang 16.
Jh.) besuchte der portugiesische „Entdecker“ Joäo Afonso d’Aveiro um 1485/86
zum ersten Mal die gleichnamige Hauptstadt des Reiches Benin (ibid: 23; Ryder
1961: 231). König Esigie (reg. Anfang bis Mitte 16. Jh.) waren die Weißen dann
schon bekannt, gab er doch vor, einst selbst einmal als Weißer geboren worden zu
sein [sic!], weshalb er vor seinem Tod gerne noch einmal weiße Menschen sehen
würde (Read/Dalton 1973; 5). Tatsächlich kamen sie noch zu seinen Lebzeiten
(ibid.: 6), nach Egharevba (1960: 28) nämlich in Form eines zweiten Besuchs
d’Aveiros, der nunmehr in Benin die katholische Mission aufbaute. So lernte Esi-
gie portugiesisch sprechen und schreiben (ibid.: 30).
Diese Darstellungen mögen in vielem verkürzt sein, werden aber in ihrer Tendenz
von den portugiesischen Quellen bestätigt: 1514 bat der König von Benin Portu-
gal um die Entsendung von Missionaren, die 1515 eintrafen (Ryder 1961: 233ff).
222
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Zudem förderte und verbesserte gba Esigie die in Benin allerdings schon länger
bekannte Messingbearbeitung (Egharevba 1960: 30). Nach der oralen Tradition
kam noch unter diesem Herrscher zusammen mit den Weißen ein gewisser Aham-
mangiwa, der für ihn Messingarbeiten ausführte und darin viele Lehrlinge ausbil-
dete (Read/Dalton 1973: 6).
Den Hintergrund zu diesen Berichten dürften die enormen Mengen an Messing
darstellen, die die Portugiesen besonders während der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts (Ryder 1969: 40ff. passim) nach Benin ausführten. So transportierte z.B.
1517 ein einziges Schiff 13.000 manillas (Geldringe) aus Messing dorthin, davon
je 45 manillas für einen Elefanten-Stoßzahn von 80 Pfund Gewicht oder 57 für ei-
nen Sklaven (ibid.: 53, 40). Bei diesem Handel zogen die Edo manillas aus Kup-
fer solchen aus Messing vor. Die Portugiesen ihrerseits bezogen diese Geldringe
über ihre Faktorei in Antwerpen (Ryder 1959: 302 Anm. 1).
Unsere Messingplatte der Inventarnummer 5.366 zeigt einen Europäer, der eine
solche manilla in der Linken hält (Abb. 1). Damit dokumentierte der König von
Benin die Quellen seines Reichtums.
Die beiden für diese Studie ebenfalls analysierten Barren aus Kupfer (F 53.443)
und Messing (F 53.979; Abb. 2) stammen übrigens aus von den Augsburger Fug-
gern gepachteten Kupferminen bzw. -hütten im Ungarn (heute Slowakei) der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wurden von dort auf dem Wasserweg ausge-
führt und gingen schließlich 1622 mit einem Schiff in der Elbe bei Hamburg un-
ter (Bracker 1987: 98, 101-02). Vermutlich waren diese Barren, ähnlich wie auch
sonst bei damals von den Fuggern produziertem kupferhaltigen Metall üblich, für
den Guß von manillas bestimmt, die in das Gebiet des heutigen Südnigeria aus-
geführt werden sollten (vgl. Scheer 1981).
Esigies Sohn Orhogbua herrschte von der Mitte bis in die zweite Hälfte des 16.
Jahrhunderts. In seiner Jugend hatte er eine der portugiesischen Schulen im Lan-
de besucht und war getauft worden (Egharevba 1960; 30). Eine portugiesische
Quelle gibt für die Taufe und den erfolgreichen Leseunterricht des Sohnes eines
gba das Jahr 1516 an. Dieser Königsohn sei von seinem Vater zu diesem Zweck
eigens zu den Missionaren geschickt worden (Ryder 1961: 235).
Bei dem Königsohn dürfte es sich um den späteren König Orhogbua handeln.
Esigie mag sich dann im Alter noch entschlossen haben, dem Beispiel seines Soh-
nes zu folgen und ebenfalls die Missionsschule zu besuchen.
Orhogbua führte als König Krieg gegen das unweit des Niger gelegene Igbon und
nahm seinen König sowie viele von dessen Untertanen gefangen. Nachdem diese
Gefangenen angekommen waren, rief Orhogbua den Meister Ahammangiwa mit
seinen Lehrlingen. Er fragte sie, ob sie seine Gefangenen in Messing abbilden
könnten. Sie antworteten ihm, daß sie es versuchen würden, und es gelang ihnen
schließlich. Diese Bildwerke nagelte der König an die Mauer seiner Residenz.
Weitere Platten stellten Weiße und Freunde des Königs, aber auch Ahammangi-
was dar (Read/Dalton 1973: 6). Hier wird also schon die Darstellung von Euro-
päern und einheimischen Würdenträgern auf den Platten erwähnt.
Auf Orhogbua folgte sein Sohn Ehengbuda, der von der zweiten Hälfte des 16. Bis
zum Beginn des 17. Jahrhunderts regierte. Für die Zeit ab Ehengbuda berichten we-
der Egharevba (1960: 32ff.) noch die portugiesischen Quellen (Ryder 1961: 240flf )
irgendetwas über getaufte Könige von Benin oder deren Ausbildung im Lesen und
Schreiben, wohl aber über einen, trotz portugiesischer Bemühungen, langsamen
aber stetigen Niedergang der katholischen Missionsarbeit im Reich Benin.
Somit läßt sich zusammenfassen, daß unter dem Einfluß der mit dem Reich Be-
nin Handel treibenden Portugiesen und insbesondere durch deren katholische
Missionsschulen das Medium Buch sich zumindest am königlichen Hof verbrei-
tet hat, und damit eine neue, westlich beeinflußte Ästhetik, die sich im rechten
Winkel und in der Tendenz zur Zweidimensionalität ausdrückte. Somit taucht
auch wieder einmal die Frage auf, ob es sich bei dem rechteckigen Gegenstand,
den die Figur auf der Platte mit der Inventarnummer 5.382 in der Rechten hält,
223
TRIBUS 52, 2003
nicht um einen Brief (v. Luschan 1901: 42) oder ein Buch handelt (Abb. 3). Je-
denfalls wurden die am Hof tätigen, hochangesehenen Messinggießer damit be-
auftragt, jene neuen Formen in die uns bekannten Platten umzusetzen.
Ihr Formgeftihl für die traditionell dreidimensionale afrikanische Rundplastik
blieb jedoch unter der Oberfläche bestehen und wartete nur darauf, sich bald wie-
der verstärkt Ausdruck verleihen zu dürfen. Dafür wurden mit dem Niedergang
des portugiesischen Missionsprojektes im Reich Benin die Gelegenheiten immer
häufiger. Denn nun verschwanden die neuen sozio-religiösen Wertvorstellungen
wieder vom Hof und damit das Bedürfnis, sie in künstlerische Formen umzuset-
zen. Die klassische afrikanische Plastik hatte sich damit wieder ihr altes Recht
verschaffen können. Somit dürften die Platten in der Tat nur von der Mitte des 16.
Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts gegossen worden sein.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die stilistische Entwicklungsreihe an Relevanz,
wie sie v. Sydow einst, übrigens vielfach auch anhand der Platten des Linden-Mu-
seums, entwickelte.2^ Er teilt diese Reihe in insgesamt vier Epochen ein, die dann
auf den oben angesetzten Zeitraum von etwa 60 Jahren verteilt werden müßten.
Die 1. Epoche wartet vorwiegend mit flächenhaft-zeichnerischen Darstellungen
auf (v. Sydow 1932: 124). v. Sydow hat dafür zwar keine Beispiele aus der Samm-
lung des Linden-Museums herangezogen, doch gehören m.E. (H.F.) zu dieser
Epoche die meisten, sehr flach gehaltenen, Tierdarstellungen aus unserer Samm-
lung (Fische, Krokodil, Vogel, Pythonschlangen), die die Inventarnummern 5.367,
5.371, 5.391 (Abb. 4), 5.392, 5.406 und 5.411 tragen. Da diese Platten jedoch
schon häufig den gravierten Hintergrund aus Blütenstemen aufweisen, den v. Sy-
dow (1932; 124) erst der 2. Epoche zuschreibt, mögen sie das Ende der 1. Epoche
einleiten.
Die 2. Epoche läßt schon eine Entwicklung zu stärkerer Plastizität erkennen
(ibid.: 124). Die meisten Platten mit Europäerdarstellungen gehören dazu. Die Fi-
guren sind nicht mehr so gleichmäßig flach, und die Gesichter mit ihren Haken-
nasen ragen schon beträchtlich nach vom über die Körperfläche hinaus. Eine grö-
ßere Plastizität wird den Figuren auch durch die nach vorn gedrehten Füße ver-
liehen. (Ibid.: 124-25)
Die von den Figuren mitgeführten Attribute, wie z.B. Schwerter, ruhen noch auf
dem Plattengrund auf (ibid.: 125).
An heute noch im Linden-Museum vorhandenen Beispielen für die 2. Epoche
führt v. Sydow (1932: 125) die Platten der Inventarnummern 5.366 (Abb. 1),
5.382 (Abb. 3), 5.383 und 5.407 (Abb. 5) an. Ich (H.F.) möchte sie noch durch die
Platten der Nummern 4.669, 5.369, 5.387, 5.399-400 und 5.402 ergänzen.
Die 3. Epoche ist gekennzeichnet durch eine beginnende Loslösung der mit den
Figuren abgebildeten Attribute vom Plattengrund. So hebt sich das Zeremonial-
schwert eben, das der Würdenträger auf der Platte der Inventamummer 5.401
(Abb. 6) schwingt, durch seine Schrägstellung z.T. schon vom Plattenboden ab.
(Ibid.: 125-26) Wir erleben hier eine Verschmelzung von Plastischem
mit Malerischem (ibid.: 127-28). Ergänzen möchte ich (H.F.) das von v. Sy-
dow gewählte Beispiel noch durch die Inventamummem 4.667, 5.372, 5.375,
5.380, 5.403 (Abb. 7) und 5.405.
Es folgt die 4. Epoche,
in der sich der Prozeß der fortschreitenden Plastizität durch die vollkommene
Loslösung der Waffen und sonstigen Attribute vom Plattenboden vollzieht. (Ibid.:
126)
v. Sydow (1932: 126) zieht dafür die Platte der Inventarnummer 5.403 als Beispiel
heran, das m.E. (H.F.) unglücklich gewählt ist, da sich das darauf abgebildete
Hiebschwert völlig nur zu insgesamt etwa einem Drittel von seinem Hintergrund
beiderseits abhebt. Dementsprechend möchte ich dieses Stück lieber noch der,
wenn auch schon späten, 3. Epoche zuweisen, und als Beispiel für die 4. Epoche
lieber 4.668 (Abb. 8), 4.670 (Abb. 9) und 5.365 vorschlagen, auf denen die Attri-
224
Josef Riederer / Hermann Forkl; Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
bute schon weit deutlicher vom Plattenboden abgehoben sind. Besonders beein-
druckend ist dabei das Beispiel der Nummer 4.670, auf dem ein Mann in seinen
Händen eine Kugel vor sich her hält. Spätestens hier ist die Form des Reliefs sinn-
los geworden und mußte der Rundplastik weichen.
Die Zusammensetzung der Platten
Das Linden-Museum besitzt 26 Platten, deren Zusammensetzungen, nach Stil-
epochen der Platten geordnet, in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind:
Tab. 2
Inv.Nr. Objekt St.Ep Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5.367 Vogel 1. 80,63 1,97 6,57 9,42 0,66 0,16 0,06 0,33 0,19
5.371 Krokodil 1. 84,63 2,14 4,58 6,61 0,83 0,19 0,07 0,72 0,23
5.391 Fisch 1. 77,33 1,28 6,95 13,29 0,45 0,24 0,05 0,26 0,16
5.392 Python 1. 88,87 1,30 2,70 6,25 0,22 0,10 0,07 0,32 0,17
5.406 Python 1. 84,28 2,02 4,05 8,65 0,35 0,16 0,07 0,28 0,14
5.411 Zitterwels 1. 86,69 1,31 4,15 6,75 0,51 0,16 0,05 0,24 0,13
4.669 Mann mit Stab 2. 74,11 1,95 7,14 16,01 0,39 0,13 0,04 0,23 <0,10
5.366 Europäer 2. 69,42 <0,25 11,92 17,46 0,48 0,19 0,04 0,38 0,11
5.369 Mann mit 4 Zöpfen 2. 84,72 1,57 4,86 7,62 0,52 0,18 0,06 0,31 0,17
5.382 Mann m. Perlenhals- krause 2. 67,25 0,77 11,19 19,30 0,61 0,17 0,04 0,54 0,13
5.383 Mann mit Stab u. Krokodil 2. 70,10 0,55 11,36 16,92 0,53 0,16 0,05 0,33 <0,10
5.387 Mann mit Perlentutulush. 2. 68,52 1,48 16,30 12,38 0,42 0,16 0,08 0,55 0,11
5.399 Mann mit 2. 68,24 0,58 10,33 19,99 0,44 0,14 0.04 0,24 <0,10
Schlangen- gürtel
5.400 Mann mit 2 Zöpfen 2. 80,88 2,36 6,18 9,52 0,50 0,17 0,06 0,33 <0,10
5.402 Europäer 2. 83,68 1,46 5,09 8,55 0,58 0,16 0,06 0,26 0.16
5.407 Mann mit eben 2. 71,37 1,07 9,61 16,54 0,55 0,24 0,06 0,45 0,12
4.661 Heerführer mit Helm 3. 80,21 2,66 11,14 3,80 0,17 0,25 0,09 1,30 0,38
5.372 Heerführer mit eben 3. 79,83 3,48 5,81 10,01 0,39 0,15 0,05 0,28 <0,10
5.375 Musikant 3. 82,78 2,47 5,79 7,61 0,59 0,17 0,07 0,37 0,16
5.380 Leopard 3. 84,15 2,96 5,28 6,35 0,45 0,16 0,07 0,48 0,11
5.401 Mann mit Federmantel 3. 80,80 1,20 7,13 9,76 0,45 0,17 0,05 0,24 0,21
5.403 Heerführer mit Fischen 3. 74,62 2,39 7,76 14,41 0,36 0,13 0,05 0,28 <0,10
5.405 Mann mit Stab 3. 87,62 2,20 2,93 6,10 0,47 0,12 0,07 0,27 0,23
4.668 2 Heerführer 4. 76,01 0,99 4,31 15,49 0,73 0,83 0,06 1,22 0,36
4.670 Mami mit Kugel 4. 77,76 0,78 4,94 15,40 0,58 0,22 0,05 0,13 0,15
5.365 Mann mit Quertrompete 4. 72,31 2,36 9,33 14,85 0,58 0,17 0,05 0,35 <0,10
225
TRIBUS 52, 2003
Die Tabelle 2. zeigt, daß alle Platten aus Messing bestehen, deren Hauptbestand-
teile in relativ weiten Grenzen schwanken, wodurch eine Zuordnung zu Legie-
rungsgruppen mit ähnlichen Eigenschaften möglich wird. Auffallend ähnlich sind
die Spurenelementkonzentrationen, wobei die Anteile an Wismut, Kobalt, Gold
und Cadmium bei allen Platten unter den oben genannten Nachweisgrenzen liegt,
also sehr nieder sind. Bemerkenswert einheitlich sind die Eisenkonzentrationen,
die bei den meisten Platten bei 0.4-0.6% liegen. Einheitlich sind auch die Silber-
werte, die vor kaum von Werten um 0.04-0.06% abweichen. Dies deutet auf eine
Herkunft des Messings aus einem Produktionsgebiet hin, auch wenn drei der ins-
gesamt neun quantitativ analysierten Spurenelemente in weiteren Grenzen
schwanken; Nickel im Bereich zwischen 0.10-0.25%, Antimon im Bereich zwi-
schen 0.1-0.3% und Arsen im Bereich zwischen <0.1 und 0.4%.
Ordnet man die Platten nach Materialgruppen, so wird ein Zusammenhang mit
den Stilepochen deutlich, wobei es Abweichungen gibt, die auf die Verwendung
von alten Lagerbeständen in einem mehr oder minder langen Abstand nach der
Lieferung zurückzuführen sein mögen.
Gruppe I (Platten mit geringen Blei- und Zinkgehalten und
entsprechend erhöhten Kupferwerten):
Die meisten Platten der Stilepoche 1 bestehen aus einem Messingtyp, der sich
durch relativ hohe Kupfergehalte auszeichnet, da Blei und Zink nur in relativ ge-
ringer Konzentration enthalten sind. Die Zinngehalte liegen im Bereich zwischen
1.3 und 2.2%. Die Spurenelementkonzentrationen zeigen keine Besonderheiten.
Tabelle 3
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5369 Mann mit vier Zöpfen 2. 84,72 1,57 4,86 7,62 0,52 0,18 0,06 0,31 0,17
5411 Zitterwels 1. 86,69 1,31 4,15 6,75 0,51 0,16 0,05 0,24 0,13
5392 Python 1. 88,87 1,30 2,70 6,25 0,22 0,10 0,07 0,32 0,17
5406 Python 1. 84,28 2,02 4,05 8,65 0,35 0,16 0,07 0,28 0,14
5371 Krokodil 1. 84,63 2,14 4,58 6,61 0,83 0,19 0,07 0,72 0,23
5405 Mann m. Stab u.Dolch 3. 87,62 2,20 2,93 6,10 0,47 0,12 0,07 0,27 0,23
A 1 86,14 1,76 3,88 7,00 0,48 0,15 0,07 0,36 0,18
Gruppe II (Platten mit geringfügig erhöhten Blei- und Zinkwerten):
Drei Platten unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung von den Platten der
Gruppe I durch geringfügig erhöhte Bleigehalte, die jetzt über 5% liegen, und
durch leicht erhöhte Zinkwerte, die im Bereich von 8 -9% liegen, wodurch der
Kupfergehalt auf Werte um 80-83% absinkt. Die Spurenelementkonzentrationen
sind fast identisch.
Tabelle 4
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5367 Vogel 1. 80,63 1,97 6,57 9,42 0,66 0,16 0,06 0,33 0,19
5401 Mann mit Federmantel 3. 80,80 1,20 7,13 9,76 0,45 0,17 0,05 0,24 0,21
5402 Europäer 2. 83,68 1,46 5,09 8,55 0,58 0,16 0,06 0,26 0,16
A 2 81,79 1,54 6,26 9,24 0,56 0,16 0,06 0,28 0,19
226
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Gruppe lila (Platten mit relativ hohen Zinngehalten
und sehr niederen Arsenwerten):
Sechs Platten fallen durch relativ hohe Zinngehalte und einen sehr geringen Ar-
sengehalt auf. Gegenüber der Gruppe I sind die Blei- und Zinkwerte leicht erhöht.
Die Nickel- und Antimon werte sind gegenüber der Gruppe I unverändert, ebenso
die generell sehr einheitlichen Eisen- und Silberwerte.
Tabelle 5
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5380 Leopard 3. 84,15 2,96 5,28 6,35 0,45 0,16 0,07 0,48 0,11
5400 Mann mit zwei Zöpfen 2. 80,88 2,36 6,18 9,52 0,50 0,17 0,06 0,33 <0,10
5372 Heerführer mit eben 3. 79,83 3,48 5,81 10,01 0,39 0,15 0,05 0,28 <0,10
5403 Heerführer m. Fischen 3. 74,62 2,39 7,76 14,41 0,36 0,13 0,05 0,28 <0,10
5365 Mann mit Quertrompete 4. 72,31 2,36 9,33 14,85 0,58 0,17 0,05 0,35 <0,10
4669 Mann m. Stab und Monden 2. 74,11 1,95 7,14 16,01 0,39 0,13 0,04 0,23 <0,10
A 3 77,65 2,58 6,92 11,86 0,45 0,15 0,05 0,33 <0,10
Gruppe Illb:
Zwei Platten stehen der Gruppe lila nahe, weichen aber bei einzelnen Elementen
In der Konzentration merklich ab. Der Heerführer mit Helm besteht aus einer un-
gewöhnlichen Legierung, die viel Blei, aber wenig Zink enthält. Durch den hohen
Zinngehalt nähert sie sich der Gruppe lila, ist aber arsenreich.
Der Musikant setzt sich lediglich durch den leicht erhöhten Arsengehalt geringfü-
gig von der Gruppe lila ab, während der hohe Zinngehalt, ebenso wie die Blei-
und Zinkkonzentrationen gut zur Gruppe lila passen.
Tabelle 6
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
4661 Heerführer mit Helm 3. 80,21 2,66 11,14 3,80 0,17 0,25 0,09 1,30 0,38
5375 Musikant 3. 82,78 2,47 5,79 7,61 0,59 0,17 0,07 0,37 0,16
Gruppe IV (Platten mit hohen Blei- und Zinkgehalten):
Aus einer besonders markanten Legierung, die nur bei Platten der Stilepoche 2
vorkommt, bestehen die folgenden fünf Platten. Ihr charakteristisches Merkmal
sind die hohen Bleigehalte bei gleichzeitig hohen Zinkgehalten. Der Zinngehalt
ist mit Werten von durchschnittlich 0.5% ausgesprochen nieder. Bei den Spuren-
elementen fallt auf, daß trotz der hohen Gehalte an Blei, das gewöhnlich silber-
haltig ist, der Silbergehalt mit Werten um 0.04-0.05 mit einer Ausnahme mit
0.08% Ag recht nieder ist. Nieder sind wieder die Arsenwerte, die bei 0.1% lie-
gen. Auch bei Platten anderer Museen fällt diese Messingsorte als eine von den
Legierungen der anderen Platten völlig verschiedene Legierungsgruppe auf.
227
TRIBUS 52, 2003
Tabelle 7
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5387 Mann mit Perlentutulush 2. 68,52 1,48 16,30 12,38 0,42 0,16 0,08 0,55 0,11
5383 Mann in. Stab u. Krokodil 2. 70,10 0,55 11,36 16,92 0,53 0,16 0,05 0,33 <0.10
5366 Europäer 2. 69,42 <0,25 11,92 17,46 0,48 0,19 0,04 0,38 0,11
5382 Mann mit Perlenhals- krause 2. 67,25 0,77 11,19 19,30 0,61 0,17 0,04 0,54 0,13
5399 Mann mit Schlangen- gürtel 2. 68,24 0,58 10,33 19,99 0.44 0,14 0,04 0,24 <0,10
A 4 68,71 0,53 12,22 17,21 0,50 0,16 0,05 0,41 0,11
Gruppe V (Platten mit erhöhten Nickelwerten):
Zwei Platten, die relativ ähnlich zusammengesetzt sind, fallen durch leicht erhöh-
te Nickelwerte auf, die einen Hinweis auf eine eigenständige Materialgruppe ge-
ben können. Die Zinkgehalte sind erhöht. Die Konzentrationen von Zinn und Blei,
sowie der Spurenelemente zeigen keine Besonderheiten.
Tabelle 8
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
5407 Mann m. eben 2. 71,37 1,07 9,61 16,54 0,55 0,24 0,06 0,45 0,12
5391 Fisch 1. 77,33 1,28 6,95 13,29 0,45 0,24 0,05 0,26 0,16
A 5 74,35 1,18 8,28 14,92 0,50 0,24 0,06 0,36 0,14
Gruppe VI (Platten mit erhöhten Nickelgehalten und
etwas geringeren Zinn- und Bleiwerten):
Zwei Platten, die in ihrer Zusammensetzung den Platten der Gruppe V noch sehr
nahe stehen, sind ebenfalls nickelreich, wobei hier aber die Zinngehalte unter 1%
fallen und auch der Bleigehalt etwas absinkt, also eine Tendenz zum reineren
Messing erkennbar wird.
Tabelle 9
Inv.Nr. Objekt St.ep. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
4670 Mann mit Kugel 4. 77,76 0,78 4,94 15,40 0,58 0,22 0,05 0,13 0,15
1668 2 2 Heerführer 4. 76,01 0,99 4,31 15,49 0,73 0,83 0,06 1,22 0,36
A 6 76,89 0,89 4,63 15,45 0,66 0,53 0,06 0,68 0,26
Betrachtet man die Mittelwerte der sechs Legierungsgruppen, so zeigt sich, daß
ihre Bildung gerechtfertigt ist.
Am eindeutigsten ist darunter die Gruppe IV, die durch die besonders hohen Blei-
gehalte bei gleichzeitig hohen Zinkgehalten auffällt.
Verwandt sind die Gruppen I und II. Sie sind besonders kupferreich, da die Blei-
und Zinkgehalte nieder sind und in der Regel unter 10 % liegen. Sie repräsentie-
ren den Typ der zinkarmen Messingsorten.
Auch die Gruppe III hat zwei charakteristische Merkmale, nämlich einen relativ
hohen Zinngehalt von über 2 %, einen sehr geringen Arsengehalt und auch sonst
relativ niedere Spurenelementkonzentrationen.
228
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Die Gruppen V und VI haben die erhöhten Nickelwerte als charakteristisches
Merkmal. Die nickelreicheren Objekte sind zinkreich und gleichzeitig ärmer an
Zinn und Blei und somit aus einem reineren Messing hergestellt.
Tabelle 10
Gruppe Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As
A 1 86,14 1,76 3,88 7,00 0,48 0,15 0,07 0,36 0,18
A 2 81,79 1,54 6,26 9,24 0,56 0,16 0,06 0,28 0,19
A3 77,65 2,58 6,92 11,86 0,45 0,15 0,05 0,33 <0,10
A 4 68,71 0,53 12,22 17,21 0,50 0,16 0,05 0,41 0,11
A 5 74,35 1,18 8,28 14,92 0,50 0,24 0,06 0,36 0,14
A 6 76,89 0,89 4,63 15,45 0,66 0,53 0,06 0,68 0,26
Zusammenfassend ergibt sich somit aus der Analyse der Platten, daß sie alle aus Mes-
sing hergestellt sind. Das Messing der Platten ist durch Zinkgehalte charakterisiert, die
20 % nicht übersteigen, also deutlich unter den Werten liegen, die beim Messing der
Köpfe Vorkommen. Einzelne Gruppen sind mit Werten, die unter 10 % liegen, ausge-
sprochen zinkarm. Das Messing der Platten läßt sich in sechs gut definierbare Legie-
rungsgruppen einteilen. Die bei den Platten erkennbaren Messinggruppen können Lie-
ferungen oder Lieferphasen von Messing aus einem Herkunftsgebiet repräsentieren.
Nach den Untersuchungen der Platten des Linden-Museums ist eine Übereinstim-
mung der Legierungsgruppen mit den Stilepochen nicht immer deutlich erkennbar, in
einzelnen Gruppen aber deutlich nachweisbar. Denkbar ist, daß ein gleichartiges, ei-
nem Lieferzeitraum entstammendes Messing über längere Zeit, also in mehreren Stil-
epochen, verwendet wurde, so daß in den späteren Stilepochen den Gießern Messing
aus verschiedenen Materialgruppen zur Verfügung stand.
Tabelle 11
Stilepochen Legierungsgruppen
4 lila VI
3 1 11 lila Illb
2 1 11 lila IV V
1 1 II V
Aufschlußreiche Erkenntnisse sind aus dem Vergleich mit Analysen europäischer
Messingerzeugnisse des 16.-19. Jahrhunderts zu erwarten, über deren Zu-
sammensetzung inzwischen sehr detaillierte Informationen vorliegen (Riederer
1991,2002).
Die Gedenkköpfe
Über die beiden anderen Objektgruppen aus der Sammlung des Linden-Museums,
deren chronologische Einordnung auf Grund von Stil und handwerklicher Qua-
lität mit den Ergebnissen der Metallanalyse besonders lohnend verglichen werden
kann, gibt es schon auf Grund ihrer geringeren Anzahl weniger zu erörtern.
Es ist bekannt, daß Dark (1973; 1975) seiner Chronologie der Gedenkköpfe aus
dem Reich Benin sowohl die Methode der typologischen Reihe als auch orale Tra-
ditionen zugrunde legte.
Den Königskopf der Inventarnummer 5.410 (Abb. 10) rechnet er zu seinem Typ
4B (Dark 1975: 42, 72) bzw. IVB (Dark 1973: Abb. 1): Er verfügt über einen ho-
hen Perlenkragen, einen Flansch an der Basis und über kein flaches Narbenpaar
(ikao) auf der Stirn.
229
TRIBUS 52, 2003
Diesem war der Typ 4A2 bzw. 1V2 vorangegangen, und zwar unter den Königen
Eresoyen (reg. erste Hälfte bis Mitte 18. Jh.) und Akengbuda (reg. zweite Hälfte
18. bis Anfang 19. Jh.). Dark (1973: 12) vermutet, daß 4B dann erst unter
Akengbudas Nachfolgern Obanosa (um 1803/04-1815/16) und Ogbebo (um
1815/16) gegossen wurde.
Mir (H.F.) erscheint es plausibler, daß der Beginn von Typ 4B schon früher unter
Akengbuda anzusetzen ist, der sich während seiner offensichtlich recht langen Re-
gierungszeit nicht ausschließlich mit dem Stil seines Vorgängers Eresoyen be-
gnügt haben dürfte. Somit möchte ich den Königskopf 5.410 in den Zeitraum von
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis um 1815/16 eingrenzen.
Den Kopf der Königinmutter (Abb. 11) mit der Inventarnummer 5.373 ordnet
Dark (1975: 88) seinem Typ 8B1 zu (hoher Perlenkragen, Flansch, auf beiden
Stimhälften je drei erhabene Skarifikationen). Er läßt die Laufzeit dieses Typs pa-
rallel zum Typ 4B der Königsköpfe beginnen und sich bis zum Ende des 19. Jahr-
hunderts fortsetzen (Dark 1973: Abb. 1; 1975: 48, 61).
Wir haben schon gesehen, daß wir 4B etwas früher noch während der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen lassen sollten; und dementsprechend auch
8B1. Und sogar Dark (1975: 48) sieht sich versucht, den Beginn von 8B1 früher
anzusetzen, um ihn besser an den vorhergehenden Typ 8A2 der Königinmutter-
Köpfe anschließen zu können. Somit würde sich unser Königinmutter-Kopf der
Inventarnummer 5.373 zeitlich zwischen der zweiten Hälfte des 18. und dem En-
de des 19. Jahrhunderts bewegen.
Der Königskopf der Inventarnummer 5.379 (Abb. 12) schließlich gehört nach
Dark (1975; 76) zum Typ WCla (hoher Perlenkragen, Flansch, Federkappe,
schlangenartiger Perlschmuck an der Schläfe) und damit in die Regierungszeit des
Königs Osemwede (ibid.: 61), also von 1815 oder 1816 bis um 1850.
Die im Vergleich zu den beiden anderen Gedenkköpfen des Linden-Museums be-
merkenswert schlechtere Gußqualität von 5.379 ermutigt uns noch einmal mehr
dazu, unseren Königinmutter-Kopf 5.373 mit seiner erheblich besseren Gußqua-
lität noch in der Zeit vor König Osemwede anzusetzen. Damit läuft dieser Köni-
ginmutter-Kopf dann zeitlich ganz parallel zu unserem Königskopf der Inventar-
nummer 5.410.
Die Zusammensetzung der Köpfe
Aus dem Linden-Museum wurden ein Schlangenkopf, zwei Königsköpfe und der
Kopf einer Königinmutter analysiert. Es ergaben sich folgende Zusammensetzungen:
Tabelle 12
Inv. Nr. Objekt Da- tier. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As Bi
5.409 Schlangcn- kopf 83,91 1,21 6,31 7,08 0,60 0,22 0,06 0,44 0,16 0,025
5.410 Königs- kopf 18.Jh 72,46 <0,25 3,94 23,21 0,20 0,04 0,08 0,04 <0,10 0,029
5.379 Königs- kopf -1830 71,60 <0,25 2,78 25,19 0,18 0,05 0,07 <0,02 0,13 0,025
5.373 Kopf Königin- mutter 18.JH 72,33 <0,25 2,51 24,66 0,25 0,07 0,08 <0,02 0,11 0,025
Der Schlangenkopf besteht aus einem relativ zinkarmen Messing mit 7 % Zink.
Vom Legierungstyp her steht das Messing des Schlangenkopfes der Gruppe II der
Platten nahe, da der Kupfergehalt über 80 % und der Zinkgehalt unter 10 % liegt.
Die Spurenelementkonzentrationen sind weitgehend identisch.
Die drei übrigen Köpfe bestehen aus einem Legierungstyp (GruppeVII), der bei
den Platten nicht vorkommt. Sie sind aus einem Messing gegossen, das durch sehr
hohe Zinkgehalte von über 20 %, sehr geringe, mit Hilfe der Atomabsorptionsa-
230
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
nalyse nicht mehr nachweisbare Zinnanteile, geringe Bleianteile, im Vergleich zu
den Platten geringe Eisenkonzentrationen und sehr niedere Antimonkonzentratio-
nen charakterisiert ist. Cadmium ließ sich bei diesen drei Köpfen nicht nachwei-
sen und liegt somit unter 0.001 %.
Die beiden Königsköpfe und der Kopf der Königinmutter sind somit aus einem
Messing hergestellt, das es in Benin zur Zeit der Herstellung der Platten noch
nicht gab.
Die Kleinfiguren von schlechter Gußqualität
Schließlich soll auch noch kurz unsere dritte Objektgruppe näher betrachtet wer-
den, deren gemeinsames Merkmal in einer griesigen Gußhaut und schon damit in
besonders schlechter Qualität besteht. Während die Plastik des alten Würden-
trägers (Inventarnummer F 55.629; Abb. 13) den Eindruck erweckt, als wäre der
Guß des linken Beines schon von Anfang an mißlungen, erinnert ihr Stil noch
mehr an die naturalistische Tradition des Benin-Reiches als die der Dreiergrup-
pe (33.378; Abb. 14) mit ihren groben Zügen überbetonter Augen und Münder.
Die beiden seitlichen Figuren der Dreiergruppe stellen den Kronprinzen und den
Armeechef des Reiches Benin dar, wie sie einen König in ihrer Mitte stützen, bei
dem es sich um oha Oben (Freyer 1987: 27; 14. oder 15. Jh.?) oder doch eher um
den mit einer entsprechenden Anekdote bedachten oha Ewuare (Blackmun 1983:
64, 66; 15. Jh.) handeln mag. v. Fuschan (1919 I: 333) datiert diese Gruppe spät
auf Grund von Stil wie handwerklicher Qualität und ist sich nur nicht sicher, ob
sie erst nach 1897 schon für Europäer gegossen wurde oder vielleicht doch etwas
älter sein könnte.
Die Figur des Stehenden der Inventarnummer 5.396 (Abb. 15) ordnet v.Fuschan
(1919 I: 329-30) vom handwerklich-technischen Standpunkt aus provisorisch et-
wa in der Mitte zwischen den älteren und den ganz rezenten ein. Vom Stil her
möchte ich (H.F.) sie schon in die Nähe der erwähnten Dreiergruppe rücken.
Die Figur des alten Würdenträgers jedoch gleicht auf Grund des Stils ihrer kap-
penartigen Kopfbedeckung und ihres Gesichtsausdrucks den noch etwas kleineren
Figuren einer Opferszene aus der ehemaligen Sammlung Jacques Kerchache. Die-
se Opferszene erst nach dem Jahr 1840 anzusetzen (Foudmer 1992: 15 mit Abb.
Nr. 36), ist sicher nicht verfehlt und gilt dann auch für unsere Statuette der Inven-
tamummer F 55.629. Zudem sind die Einzelheiten der Körperbildung dieser Fi-
gur so individuell gestaltet, daß sie nur unter europäischem Einfluß zustande ge-
kommen sein können.
Nach den Metallanalysen gehören die beiden Objekte F 55.629 und 33.378 zur
Messinggruppe VII mit den hohen Zinkgehalten von über 20 %, wobei hier bei
beiden Objekten besonders hohe Cadmiumwerte auffallen, wie sie für die späte-
sten Messingarbeiten in Benin oder die Erzeugnisse des 20. Jahrhunderts charak-
teristisch sind.
Tabelle 13
111V. Nr. Objekt Datier. Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As Co Cd
F55.629 Würden- träger n.1840 72,05 1,74 2,43 23,44 0,13 0,16 0,02 0,05 <0,10 <0,005 0,006
33.378 König Ewuare -1900 69,48 0,44 2,96 26,61 0,19 0,06 0,05 0,03 0,18 0,006 0,003
Die Zusammensetzung der Statuette des Stehenden und von Zierteilen
Das Zierteil 5.374 besteht aus einem blei- und zinkreichen Messing, das der Fe-
gierungsgiuppe der Platten entspricht. Auch die Spurenelementkonzentrationen
stimmen so weitgehend überein, dass dieses Zierteil in unmittelbarer Nähe der
Platten der Gruppe IV entstand.
231
TRIBUS 52, 2003
Die beiden übrigen Objekte, der Stehende 5.396 (Abb. 15) und die Miniatur-
maske 37.232, bestehen aus dem zinkreichen Messing der Gruppe VII. Sie sind
zinnfrei, bleiarm und enthalten kein Cadmium.
Tabelle 14
Inv. Nr. Objekt Da. tier Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As Co Cd
5.374 Zierteil 72,10 0,62 10,32 15,68 0,57 0,20 0,05 0,35 0,12 <0,005 <0,00
5.396 Stehender sp.19. 71,35 <0,25 3,27 25,07 0,18 0,07 0,06 <0,02 <0,10 <0,005 <0,001
37.232 Miniatur- maske 68,76 <0,25 3,39 27,62 0,11 0,03 0,10 <0,02 <0,10 <0,005 <0,001
Die Zusammensetzung der Osun-Stäbe
Von den drei ganz oder teilweise aus Messing gefertigten Osun-Stäben im Linden-
Museum besteht einer aus einem zinkarmen Messing mit einem Kupfergehalt um
80 % und einem noch unter 10 % liegenden Zinkanteil. Es steht somit der Mate-
rialgruppe II der Platten nahe, unterscheidet sich von diesen aber durch eine grö-
ßere Zahl von Merkmalen, etwa den hohen Zinnwert, einen geringeren Eisenan-
teil, weniger Nickel und auch sonst von den Spurenelementkonzentrationen her,
unter anderem dem hohen Wismutgehalt, kurz, durch so weit abweichende Werte,
daß hier ein völlig eigenständiger Metalltyp vorliegt.
Die Zusammensetzungen der beiden anderen Osun-Stäbe sind aus dem gleichen
zinkreichen Messing der Gruppe VII hergestellt, aus der die Köpfe der Könige
und der Königinmutter bestehen.
Tabelle 15
Inv. Nr. Objekt Da. tier Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As Bi CO
5.361 Osun-Stab v. 1897 80,50 3.45 7,28 7,65 0,22 0,09 0,10 0,15 0,50 0,064 <0,005
5.360 Osun-Stab v.1897 73,74 <0,25 3,58 22,26 0,11 0,02 0,07 <0,02 0,20 0,028 <0,005
37.231 Osun-Stab v. 1897 70,84 <0,25 4,76 23,99 0,28 0,07 0,05 <0.02 <0,10 <0,025 0,014
Die Zusammensetzung von Metallbarren
Aus dem Linden-Museum konnten zwei Barren analysiert werden, deren entspre-
chendes Metall als Handelsware nach Westafrika gebracht und dort als Rohmate-
rial zur Herstellung von Gußobjekten verwendet wurde.
Der Messingbarren (Inventarnummer F 53.979; Abb. 2), der dem Stempel nach
aus dem späten 16. Jahrhundert aus Neusohl stammt, in der Slowakei, wurde aus
der Elbe geborgen. Er besteht aus einem extrem zinkreichen Messing, das nicht
nach dem alten Galmeiverfahren, sondern durch direktes Legieren von Kupfer mit
metallischem Zink hergestellt wurde. Diese Technologie der Messingherstellung,
die in Indien und China bereits vor 1500 bekannt war, wurde in Europa erst um
1800 entdeckt. Deshalb erstaunt es, daß ein derart zinkreiches Messing bereits im
16./17. Jahrhundert als Handelsware aus der Slowakei in Hamburg verschifft wur-
de. Messing dieser Art kommt im 19. Jahrhundert noch selten vor und wird erst
im 20. Jahrhundert zum üblichen Messingtyp. Ein charakteristisches Merkmal
dieses neuen Messingtyps ist auch der nachweisbare Cadmiumgehalt. Metallana-
lysen von Messingbarren aus der frühen Neuzeit gibt es bisher nicht, so daß die
bemerkenswerte Zusammensetzung des Barrens aus Neusohl nicht mit vergleich-
baren Objekten in Beziehung gesetzt werden kann.
Der Kupferbarren (Inventarnummer F 53.443), der ebenfalls aus der Slowakei (da-
mals bei Ungarn) stammt und im späten 16. Jahrhundert gegossen wurde, reprä-
sentiert ein bemerkenswert reines und spurenelementarmes Kupfer, in dem ledig-
lich Blei und Silber in einem merklichen Anteil enthalten sind.
232
Josef Riederer / Hermann Forkl: Metallanalyse usw. von Messingobjekten ...
Tabelle 16
Inv. Nr. Objekt Cu Sn Pb Zn Fe Ni Ag Sb As Bi Co Cd
F55.979 Messing- barren 64,63 1,52 1,55 31,72 0,33 0,14 0,03 0,07 <0,10 <0,025 <0,005 0.009
F53.443 Kupfer- banen 99,60 <0,25 0,29 0,02 0,01 0,01 0,08 <0,02 <0,10 <0,025 <0,005 0,001
Anmerkungen
1) Wie unzuverlässig Daten aus TL-Echtheitstests sein können, wenn man sie als korrekte Datie-
rungen mißversteht, zeigen sehr anschaulich die von Willett und Sayre (2000: 162-63, 184, 187-
88) zitierten Beispiele.
2) Sämtliche Platten des Linden-Museums befinden sich in der Dauerausstellung, wo sie bis auf zwei
(Inventarnummem 5.366, 5.402) nach dem hier erörterten System zusammen präsentiert sind. Je-
weils von links nach rechts und von oben nach unten betrachtet lautet die Folge der Inventamum-
mern: 1. Epoche; 5.391, 5.411, 5.371, 5.367, 5.406, 5.392; 2. Epoche: 5.399, 5.407, 4.669, 5.369,
5.382, 5.387, 5.383, 5.400; 3. Epoche: 4.667, 5.375, 5.380, 5.372, 5.405, 5.401, 5.403; 4. Epo-
che: 4.668, 5.365, 4.670. Von der Inventamummer 5.365 an (Sammlung Knorr) sind die Platten
abgebildet in v.Luschan (1901: 94-95 Inventarnummem und Abbildungsverzeichnis).
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TRIBUS 52, 2003
JÜRGEN WITT
Primitive Salt Production on the Klein Letaba River in the North-
Eastern Transvaal1
Ku Va Munyu Ni Nyama2
(A little salt and meat)
1. Introduction
Before the Neolithic Age when humans were still hunter-gatherers, they were ab-
le to satisfy their bodily need for salt largely through the consumption of meat and
other basic foods. The growing importance of agriculture, especially the produc-
tion of cereals such as corn, led to the increasing sophistication of human dietry
patterns. This created an additional need for salt as a seasoning agent. The use of
salt as a curing agent also enhanced its rapidly growing importance. It was then
that the production of, and trade in, salt really began.
Salt production in the Alps, for example, greatly influenced the cultural develop-
ment of humans during the Bronze and the Iron Age. The possession of salt was
indicative of wealth and prosperity. In areas of Columbia, the local Indians who
produced salt were found to be richer in gold than those who extracted gold (Bir-
ket-Smith 1941, 132). Roman soldiers were sometimes paid with salt (solarium -
salary) and were also given coins with which they could purchase salt. In Africa,
the Tuareg exported salt to the Sudan in exchange for cloth and other articles.
Barth (1857, 23) writes:
The next article that forms one of the chief staples in Timbuktu, and in some respects even mo-
re so than gold, is salt, which together with gold, formed articles of exchange all along the
Niger from the most ancient times. A single camel-load of salt was reported as having the sa-
me value as six grown-up slaves.
In many parts of the African continent where salt is not obtainable, the inhabitants
collect certain plants which they burn; the ashes are then filtered with the aid of
water and the solution is evaporated to recover the salt from the ash. In coastal re-
gions salt is recovered by evaporating sea water. Another source for the recovery
of salt is the exploitation of salt deposits which occur in salt-pans. This source is
exploited primarily during the winter months when no rain is expected. In the sou-
thern part of South Africa salt-pans are found from Britstown in the south to Vry-
burg in the north and from the South-West African border eastwards as far as
Bloemhof. In the north the best known salt-pan is found at the western end of the
Zoutpansberg in the Northern Transvaal. The whole district is named after the de-
posits which occur there. The extraction of salt from such salt-pans will be des-
cribed below. This involves a process which is widely known in Africa, but one
which has apparently never been fully described in any great detail.
2. Site
The site which is to be studied is a saline spring which is situated on the right bank
of the Klein Letaba River in the Lowveld of the North-Eastern Transvaal. It is the
property of the Tsonga tribe under the rule of Chief Ngobe (aged approximately
one hundred and ten years at the time of writing). The site is known as Sautini
(probably derived from the Afrikaans sout = salt).
1 First drafted in May 1963.
2 Tsonga idiom meaning „inseparable friends“
236
Jürgen Witt; Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
3. Description
This saline spring and its surrounding pan is oval in shape; its long axis runs rough-
ly from west to east and measures about 400 metres by 180 metres. The actual
spring is situated on the north-western end of the pan and measures approximate-
ly 5 metres by 10 metres. During the dry season, this is the only part that displays
water, the other parts being fully covered by reeds. The ground around the spring
is quite resilient. The soil, a relatively loose turf, is greyish to black in colour. The
clear luke-warm water bubbling from the muddy ground indicates that the spring
is continuously fed from below. Fish and turtles live in this saline water. The spring
is located about 5-8 metres above the level of the river bed of the Klein Letaba Ri-
ver, which lies approximately 250 metres away. This pan-like lake is surrounded
mainly by mopane trees and shrubs (Colophospermum Mopane). An analysis of
this saline water has as yet not been undertaken. It would, however, probably be si-
milar in composition to that found in the hot spring situated on the farm Eiland, na-
mely with a relatively high sodium chlorine content (Kent 1942).
4. Season of Salt Production
Salt production usually begins during the first winter month (May) when no furt-
her rain is expected and ends when the first summer rains are due (October). Du-
ring these arid months the whole pan dries up except in the immediate vicinity of
the spring. As the salt-impregnated soil dries, salt crystals cover the soil particles.
This soil-salt-mixture is normally 5-10 cm deep. This mixture is scraped together
and is then carried away to the river-bank where the extraction and production of
salt then takes place.
5. Tools Used
The tools necessary for processing the salt are:
a) Funnel shaped baskets (xirundzu). These are used for transporting the salt im-
pregnated soil and also the clean quartz-rich riversand. These baskets are ge-
nerally carried on the head.
b) One or two scrapers. These usually consist of one section of a shell of a sweet-
water mussel which is spoon-shaped. Pieces of suitable metal are also used
for scraping together the impregnated soil and also for skimming off the dir-
ty scum floating on the brine during the evaporation process. They are also
used to scrape together the salt after the evaporation process is concluded. In
general, the ready-made salt is only handled with these mussel shells.
c) Two clay pots or calabashes to gather the brine flowing from the filter.
d) One calabash for drawing river water.
e) One container (usually an old fuel drum hammered flat to the shape of a flat
saucer about one metre in diameter) in which the brine is heated, or a large
beaker-shaped clay pot with a wide opening for the same evaporating purpo-
se. The outside diameter of one such pot measured 45 cm across the rim
(Tsonga: mbita). It appears that these pots have no special name.
f) One filter (Tsonga: xinjhava)
Frame: The frame supporting the filter consists of four upright wooden sticks
about, 1,30-1,40 metres long and 6-9 cm in diameter whose upper ends are
forked. These sticks are driven about 30 cm into the ground and are spaced in
such a way so as to form a rectangular area of approximately 1 square metre.
Four strong straight branches are then placed in the forks of the uprights. They
are held in position by barkfibre from the Mopane tree. The frame is roughly
cubical in appearance. For the construction of this frame an axe is used.
TRIBUS 52, 2003
Filter: The filter is then built into this framework by arranging and interlacing
twigs, grass or leaves into a mesh-like structure. This arrangement should be
strong enough to support a layer of soil which is plastered loosely over the de-
pression in the centre of this filter. When completed, the filter-structure looks
like a large bird’s nest.
g) One or more pots of about 25 cm in diameter for storing salt.
h) Spoons as referred to under heading 5b for stirring the boiling brine and to
skim the scum and dirt off its surface. It appears that both metal spoons of Eu-
ropean manufacture and wooden spoons have been utilised for this process.
6. Raw Materials
Besides the items for setting up the filter such as wooden poles, twigs, grass, bark-
fibre etc., the following raw materials are also needed:
(1) firewood
(2) salt impregnated soil
(3) riversand
(4) river water
(5) set of fire sticks (now matches are used).
7. The Production of Salt - Its Taboos and Rituals
Salt production is done only by women. At the beginning of winter, after the fields
have been harvested, 10 to 20 women gather to decide which day will be the most
propitious to begin the work. For this purpose they must consult the divining bo-
nes for only the bones can foretell whether their task will be met with success or
not. Divining bones are thrown by the Tsongas customarily if they are uncertain
about the outcome of anything of importance for them. For this purpose a diviner
is consulted. Should the bones answer favourably the women proceed to the salt
pan at dawn, carrying with them their food, blankets, sleeping mats and the tools.
They must reach the pan before the sun rises above the horizon. The women, the-
refore, often spend the preceding night at a place nearby in order to be in time the
following morning.
From a point a few hundred metres away from the pan, no-one may use snuff nor
may babies be nursed. Before leaving the dense bush that surrounds the pan, the
group of women pause. The eldest or most senior woman then approaches the pan.
She takes with her a basket of offerings (Tsonga: xica). She looks towards the ri-
sing sun and kneels. She then removes the lid from the basket and brings out a go-
atskin which she then spreads out on the ground before her. She remains kneeling,
her body resting on her heels and the upper part of her body bent forward with her
elbows resting on her knees. She then removes the offerings from the basket. The-
se consist of vegetables such as maize, beans, millet and also snuff and dagga
(cannabis). The latter being especially preferred by the ancestors. These items are
then placed upon the goatskin. The woman then starts to pray clapping her hands
close to her forehead, and saying:
“N WINASWIUWEMBU HI VANA VA N'WINA - HI TELE KU TA KOMBELA MUNYUN’-
WINA VANYATI N1 VALOVERU, KA VEKILE HANSJ FOLE N1 TIMBEWU TA TINXAKAN-
XAKA NIMBANGI”.
This means: “Ancestors, we are your children, we have come to ask you for salt”.
It is an attempt to invoke the assistance of the ancestors of the:
a) Balobedu - Modjadji’s people;
b) Kalanga or Banyayi;
c) Bandawu and
d) Balemba.
238
Jürgen Witt: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
She also includes the other women in her prayers and must mention those of her
companions who happen to be menstruating.
The favourable acceptance of her prayers by the ancestors is indicated by the ri-
sing of large bubbles in the spring. The signs are even more promising if there is
an indication of smoke rising above the spring. There will be no doubt at all ab-
out a most successful outcome if they hear a thunderclap that makes the ground
tremble. The success of the outcome is measure d by the quality, quantity and whi-
teness of the salt. After the offerings to the ancestors have been made and the ac-
companying rituals are completed, the women set about their respective tasks.
First the women build a temporary camp across the river a kilometre or so away
from the salt pan. This takes up to 3 days. The structures are simple and rectan-
gular in shape. They are about 2 metres long by 80 cm wide and 80 cm high. Bran-
ches and leaves cover these temporary huts. Sometimes, one or two large covers
may be built in which a number of woman are able to find shelter.
Thereafter, the filters are erected (see 5f above). These are constructed near the ri-
ver bed of the Klein Letaba and are approximately 250 metres away from the pan.
Once these tasks have been completed the actual extraction and production pro-
cess of the salt begins. Firstly the women scrape the soil together at the spring,
using the scrapers as described under 5b above. The soil is then placed into ba-
skets (5a) and carried down to the river where the filters have been erected. The
same baskets are subsequently used to fetch the washed-out river-sand, which is
then added in equal parts to the salt-impregnated soil. This ensures that a steadier
percolation of water through the filter is achieved. The mixture of salt impregna-
ted soil and river-sand is then placed into the filter. Water is drawn from the near-
by river in calabashes and is emptied out onto the mixed soil. The water dissolves
the salt which then flows through the mixed soil and the filter and is finally col-
lected by the pot placed underneath the filter to collect this brine. This salty liquid
or brine is called mutshobe and the whole process is referred to as kitsonsa.
From time to time the brine is emptied into the containers (see 5e) which stand on
a few stones and under which a fire is maintained. These containers (or evapora-
ting pans) are called mbita. The scum collecting on the dirty brine is skimmed off
with a spoon or the shell of a mussel (see 5b). Sometimes the boiling mass is stir-
red. The evaporating process serves two purposes; it cleans the salt and concen-
trates the solution. After all the water has evaporated, a brownish coloured detri-
tus or dirty salt remains on the bottom of the container. If so desired clean river
water may be added to this salt which is then reboiled in order to achieve a clea-
ner product. Finally the salt is scraped together in the evaporating pan and is spre-
ad out on cloths or on rock outcrops in the river bed where it is exposed to the sun
for final drying. Alternatively the women form salt balls or blocks which are ge-
nerally the size of one, two or four fists. These being the standard sizes accepta-
ble for trade or exchange. The moist salt is easily moulded into such balls which
are then „baked“ in pots where they become covered by a hard crust. Another me-
thod is to shape the moist salt into a cone about 20 cm high. These cones are co-
vered with grass which is then set alight leaving a crust on the salt. This crust is
hard enough to withstand physical handling.
What dirt remains in the filter is removed with the hands and thrown out around
the filter. After some time this forms a large horseshoe-shaped heap which may
eventually hamper the effective utilisation of the particular filter. Inevitably this
heap may collapse resulting in the erection of a new filter at some nearby spot. So-
metimes new filters are constructed on top of the old mound of debris. This allows
the saltworker more room and height for the disposal of new waste. This explains
the height and size of some of the dumps which can be over three metres high, gi-
ving an indication of the lengthy period as well as the volume of salt production
in the same locality.
It should be mentioned that a common belief among the Tsonga is that if any one
of the women fails to comply with the laid down rituals, a heavy thunderstorm,
239
TRIBUS 52, 2003
Abb. 1: Carrying of salt impregnated soil from deposit to filter site.
Abb. 2: Mixing of salt impregnated soil (dark) with
river sand (light coloured)
240
Jürgen Witt: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
Abb. 3: Pouring mixture
into filter.
Abb. 4: Drawing water
from river.
241
Jürgen Witt: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
Abb. 7; Removing of soil
after salt content was
extracted.
Abb. 8: The brine is
evaporates with the
salt remaining.
243
TRIBUS 52, 2003
accompanied by torrential rains, may arise and wash the salt, deposited in the up-
per layer of soil, away. Such lack of piety causes the anger of the ancestors. Besi-
des adverse weather conditions, disrespect towards the rituals can also lead to wild
animals breaking through the salt-pan and dragging off the women.
Brown salt is called mutshose and should such salt not change its colour even af-
ter repeated refining it could signify that a close relative has perished. If a woman
happens to be menstruating she must chew the root of a plant called nzdaw and
spit it into each of the cooking pots belonging to the other women. This root has
a strong aromatic smell. The cleanest salt is called munyu and is gained when the
moon is at its fullest. This salt has the greatest trade value. During the working
process, none of the objects employed or used may be called by their real names.
Substituted names are used instead. For instance:
salt is called tindluwa (beans);
reed............ swiqivi (spear);
thorns ... tisungunu (grass)
snails... homu (cattle)
stones ... n’wahuva (millet)
fish............ ngwenya (crocodile)
moon ... xivuya (circle)
stars........... maribye (stone)
clouds ... mikumba (blanket) etc.
Another traditional law dictates that the first salt produced may not be sold. In-
stead it is kept as a present for a relative, preferably for the husband’s mother or
the eldest sister of the father of the woman concerned (the most senior women).
8. Possible Variations in Salt Production Today as Compared
with Former Times
The following reports come from old Tsongas and can be relied upon because they
were cross-questioned about various other subjects and have always proven to be a
reliable source of information. The chief of the district where the salt-pan described
above is situated looks upon this pan as his property. Together with his councillors
the chief chooses an „official“. This „official“ looks after the pan, reports on the pro-
duction of the salt and collects the „royalties“. The „official“ is, however, not allo-
wed to come too close to the site as males are not (or were not) allowed near the si-
te. (I witnessed a man shouting from the other side of the river as he was not allo-
wed to come any closer.) After completing the salt production the „official“ requests
his share of salt, presumably a tenth of the whole product, which the women allot to
him. Formerly the women used to offer this chief a present. The chief then gave his
consent and the extraction of the salt was allowed to take place.
They also say that the first fire for evaporating the brine had to be lighted (with fi-
re sticks) by a maiden, the belief being that the salt would then be of greater pu-
rity. For the evaporation process, conical shaped clay pots were used, although su-
itable sections of other broken pots were also utilised. Two informants, also Tson-
gas, told me that during their childhood they had often found fragments of soaps-
tone (serpentine-talc-amphibole-schist) vessels at the place under discussion. Ac-
cording to them, they were very shallow bowls or basins. The writer has not seen
any of these fragments at Sautini, although there is evidence of their existence at
other places where salt was produced (see below).
It also seems that on some former occasions the salt impregnated soil was not car-
ried down to the river for the leaching process, but that the riversand and river-wa-
ter was carried to the workplace close to the pan instead. It also appears that the
pan was originally fed by a second fountain and that the original size of the pan
was much larger.
Jürgen Witt: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
9. Further Uses of Salt as well as Rituals and Taboos which characterise
the Relationship between Tsongas and Salt.
a) Salt may never by presented to people with the bare hand, but must always be
in a container. If this is not observed, enmity may arise between the one who
gives and the one who takes.
b) This ritual is still customary today although it usually suffices to avert trouble
by pinching one another in the palm of the thumb. This demonstrates that the
persons involved have already hurt one another and that no further quarrel is
likely to flare up between them in future.
c) After sunset one may not ask for salt. Death will occur within the family of
the person who gives.
d) Salt may be added to the meal by one person only, eg. by the mother or the
housewife who prepared the food. It is considered very impolite to ask for salt
during a meal.
e) A traveller may not carry salt around with him (unless of course he deals in
this commodity) nor may the hunter as this would result in an unsuccessful
hunt.
f) Crystallised salt forms part of many medicines mixed by herbalists and hea-
lers. It is however not easy to find out from them if it is used for any specific
purpose. The writer has, however, observed how salt mixed with some oily
substance was poured into both ears of a patient suffering from earache.
g) When salt may not be used:
It is remarkable that, traditionally, no salt may be used by those who are suf-
fering from open wounds, or by those who have been deliberately hurt. This
includes, for example, the Tsonga-boys whose earlobes were pricked with a
thorn or small knife. (This ritual was quite common a few years ago, but is ra-
rely carried out today). The same applies to the boys who underwent circum-
cision. For a period of at least a fortnight after the operation no salt may be
consumed. Girls who had the very painful operation of scarification perfor-
med on their abdomens were also prohibited from consuming salt as it was
believed that this may lead to the infection of the wounds. After a nosebleed
no salt may be taken for a certain period to prevent the recurrence of the
bleed.
There are numerous other examples, but to maintain all of them would be beyond
the scope of this essay.
10. Archaeology
An area of about four hectares is covered with mounds of varying heights and
from different periods. The same area is scattered with shards of clay pots. At two
places, erosion gullies have exposed shards to a depth of 1,2-1,5 metres below the
present surface. A preliminary survey carried out at the site, in which approxima-
tely 150 shards were collected from the surface and examined, revealed several di-
stinct pottery traditions. One such tradition appears to belong to the first millen-
nium AD. This could be amongst the earliest known pottery in the Transvaal Low-
veld and would underline the importance of this site from an archaeological point
of view. A few stone implements (Middle Stone Age) were also seen.
Salt had attracted people from far afield for thousands of years. Each group left so-
mething of their presence behind: a stone implement, a pot-shard, a bead, a shell,
a piece of metal, charcoal as well as bones left over from some of their meals. So-
me groups of people appear to have prepared their meals next to their workplace
whereas others did so at their camping places some distance away from the pan. Si-
tes like Sautini give a better indication as to the specific origins and development
of the people who once populated and are still populating the low-country.
245
TRIBUS 52, 2003
11. Discussion and Additional Notes
Since 1960 I have been searching for places where saline springs were used in the
production of crystalline salt by the local population. 1 have visited the following;
a) The farm Eiland near the Groot-Letaba River. This site was already described
by L. E. Kent and Charles W. Bates. Kent (1942, 35) mentioned: “[...] that
salt was obtained by lixiviating the mud through which the water issued and
evaporating the resultant solution over open fire in clay pots“. He did not
mention the use of talc-chlorite bowls in the process. Bates (1947, 365-375)
gave more information on the importance of the archaeological aspect of the
site and mentioned that he had found the fragments of over 100 soapstone
vessels, which he thought came from the Harmony block (about 60 kilome-
tres away as the crow flies, which is very unlikely). He added that none of the
elderly natives had any knowledge regarding these talc carvings.
b) Another site was found on the southern bank of the Selati River near or on the
farm Rhoda, not far from the road leading from Phalaborwa to the Olifant Ri-
ver pump station. This place consists of a small pool of warm water. The sur-
rounding area had a strong smell of sulphur. Only a few shallow mounds of
waste material can be seen. Hundreds of broken soap-stone bowls as well as
a few pot-shards lie scattered on the surface. None had distinct marks of soot
on them, which could indicate that fire was not used to accelerate the evapo-
ration process. It could also be that flood-water from the Selati River, or rain,
had washed off the soot. An old local woman was able to demonstrate the pro-
cess of salt extraction. Soapstone bowls of varying sizes and shapes were ma-
de at an outcrop of Talc-schist nearby. According to a farmer from this area,
Mr Fritz Spangemacher, bowls were still made in the 1930s. The water from
the spring was poured directly into these bowls with calabashes. The bowls
were then placed on rocks in the dry river-bed where the reflection of heat
from the sun, as well as the lack of vegetation which could cast shadows over
the bowls, increased the heat. From time to time water was added from the
spring. The process went on for days before the salt was scraped together with
a shell and put into calabash bowls.
c) Following information received from the people of Sekororo, 1 attempted to
find another fountain where the local people had been extracting salt „long
ago“. The site is supposed to be on the banks of the Makutswi River north-
east from Sekororo. The chief Mathsangwane whom 1 approached about in-
formation told me that his people had also mined for copper at the same pla-
ce with which they would make marale (copper ingots which are similar in
shape to a parson’s pipe). But this was generations ago and no one is able to
tell me anything about it. When I asked him for a guide he declined my re-
quest claiming that the place was taboo and that nobody ever came back ali-
ve. He said the mining took place when the tribe was living on a small hill a
few kilometres to the north from their present situation. This was before the
arrival of Louis Trichardt in 1837. Archaeological research is needed to con-
firm this claim. In January 1962 1 decided to search for this site but failed to
find the salt-making site. Although evidence such as broken pot shards and
fragments of artificially shaped talc-schist abounded. The fountain is now
used commercially. Some kilometres to the north an outcrop of talc-schist was
found where numerous remains of incomplete and broken vessels as well as
„bored stones“ were seen.
Approximately six kilometres from this outcrop, in an easterly direction, I
found a place which was known amongst Europeans as „prospectors dig-
gings“. This site must be researched more closely, but from a superficial in-
spection l have come to the conclusion that this could be the mine Chief Se-
kororo mentioned. 1 am not sure what mineral was mined, but small pieces of
decomposing malachite were found under a stone which had a dimple the si-
246
Jürgen Witt: Primitive Salt Production on the Klein Letaba River
ze of half a tennis ball on the one side. A broken stone hammer was also seen.
I cannot exclude the possibility that European prospectors were also at work
there. It is unlikely that this mine is the same as referred to by Baines (1877,
77) and told to him by Butten, who crossed this part of the country in 1869.
The geographical description is rather vague. It can be added that the local in-
formants believe that mines or mine trenches were filled up again, because
this would make the ore regrow.
d) The Venda living on the eastern and north-eastern areas of their country
claims that they produced salt in the low-country situated to the east from
them. The salt pans belonged to Tsonga chiefs. The pans, however, dried up
a long time ago.
e) Other sites recorded but not visited by me are near Silvana close to the con-
fluence of the Molototsi and Groot Letaba Rivers. Another place is in the Ma-
khuva area. However, one cannot exclude the possibility that the salt extrac-
ted at these sites did not come from saline springs but was, instead, produced
by burning certain vegetable matter. The ashes were then filtered out in a pro-
cess similar to the one described above.
f) Serpentine-talc-schists and related material deposits are quite common in the
low-country. Where this material occurs in a solid form the deposits were of-
ten exploited due to the softness of the stone which allows it to be easily wor-
ked. Troughs for feeding dogs and pigs, bowls of varying sizes and shapes (in-
cluding those used for the evaporation of the brine in the salt extraction pro-
cess) were made as well as „bored stones“ for weighting digging sticks. The-
se „bored“ or „perforated stones“ were mounted on the end of digging stick
which were used by early Bantu agriculturists. Game boards (Tshuha), pipe
bowls for smoking cannabis, amongst other things, were also made. The tech-
nique applied in making these objects was the same as that used in making
objects of wood. The most common tool used was an adze.
According to tradition the bowls were made and traded by the Ba-nyai (or
Lemba) smiths. It is also said that they were the masters of the mines and en-
joyed the protection of the chief in whose area the mine was situated. The
chief supplied the labour force in return for copper ingots. The casting of the
ingots was done in secrecy by the Lemba.
12. Protection of Sautini
Serious thought should be given to provide protection of Sautini as a salt-making
site. The continuous removal of the soil will result in the drying up of the pan. The
water level of the spring-basin will also drop. It should also be preserved from the
point of view that this is the only place where salt is still produced in an ancient
fashion. As an archaeological site it could reveal lots of evidence about the early
inhabitants and their activities in the low-country. To prevent the water level from
decreasing further, the removed soil should be replaced. Such a technique has al-
ready been successfully adopted by the Highland Indians of Guatemala who live
on the southern slopes of the Chuchumatahes Mountains.
At the turn of the century it was confidently predicted that the brownish-coloured
salt produced by the local Tsongas would be superseded by the white and glitte-
ring salt manufactured by the Europeans. Eortunately it has not and this sole re-
maining evidence of a dying but once significant ritual has remained for coherent
observation.
247
TRIBUS 52, 2003
Literature
Baines, T.
1877
Barth, H.
1857-1858
Bates, C. W.
1947
Birket- Smith, K.
1941
Kent, L. E.
1942
The Gold Regions of South-Eastern Africa. London: Edward
Stanford.
Travels and Discoveries in North and Central Africa in the
years 1849-1855. London: Longman.
„A Preliminary Report on Archaeological Sites on the Groot
Letaba River, North-Eastern Transvaal. South African Jour-
nal of Science. Vol XL11I, pp 365-375, Johannesburg.
Kulturens Veje. Copenhagen; Jespersen og Pios.
„The Letaba Hot Spring“. Transactions of the Royal Society
of South Africa. Vol. XXIX, part II, pp 35-47, Cape Town.
____________Buchbesprechungen Allgemein
Antweiler, Christoph:
Ethnologie lesen - Ein Führer durch den Bücher-
Dschungel. In: Arbeitsbücher - Kulturwissen-
schaft, Bd. 1. Münster/Hamburg/London; Eit
Verlag, 2002. 2. erweiterte Auflage, 14 + 353 S.
ISBN 3-8258-5608-9
Der Führer startet mit einem ausführlichen, vierseitigen In-
haltsverzeichnis, gefolgt von zwei Seiten Vorwort und vier
Seiten Einleitung. Diese Seiten sind so gut gegliedert und in-
haltlich aufgebaut, dass sich eine Rezension darauf abstützen
könnte - werden doch viele Einwände, die beim ersten Lesen
entstehen, bereits hier argumentativ aufgefangen. Dies spricht
für ein gehobenes Maß an Selbstkritik und Ehrlichkeit.
Das Buch wendet sich laut Autor an Studierende und Lehrer
der Ethnologie - nach meiner Einschätzung sollte es den Stu-
dienanfängern gewidmet sein. Der eindeutige Schwerpunkt
liegt auf der Literatur der letzten 10 Jahre. Daraus resultiert
vielleicht (und bestimmt auch berechtigt) die Intention, ausge-
bildete (oder „diensttuende“) Ethnologen anzusprechen.
Ein weiteres Ziel war, Bücher aufzunehmen, die zur universi-
tären Lehre oder zum autodidaktischen Studium geeignet sind,
den heutigen Forschungsstand markieren und in deutschen Bi-
bliotheken vorhanden oder im Handel erhältlich und mög-
lichst preiswert sein sollten ( S. XII). Betont wird die Begren-
zung auf Bücher! Zeitschriftenaufsätze finden sich nur in sel-
tenen Ausnahmen. Weiterhin fanden klassische Texte zur Eth-
nologie keine Aufnahme, ebenso wenig Filme und Tonträger
und diverse Fach- oder Regionalgebiete. Ferner fehlen nicht-
westliche Bücher (S. XIII). Ebenso bekennt sich Antweiler zu
einer Vorliebe für deutsche, britische und amerikanische Wer-
ke (S. XXIII). Damit setzt er sich und seinen Lesern Grenzen,
die den Wert des Buches einerseits einschränken, andererseits
aber der heutigen Jugendgeneration und ihren (Sprach-)fähig-
keiten gerecht werden.
Der Schlussabschnitt des Vorworts ist überschrieben mit
.Dank und Bitte um Kritik’ - im Text wird die Bitte um Kritik
und Anregungen ausdrücklich wiederholt: Ich hoffe, es ist
ernst gemeint! Nun denn ...
10 Kapitel sind ins Auge zu fassen: 1) Allgemeine Ethnologie;
Einführungen, Lehrbücher, Zeitschriften. 2) Allgemeine Ethnolo-
gie: Nachschlagewerke, Kompendien, Hilfsmittel. 3) Fachge-
schichte, Theorien, Methoden und Kontroversen. Weiteres später.
Im 1. Kapitel werden 96 Werke in 8 Unterkapiteln aufgelistet:
6 davon stammen aus der Zeit vor 1980, 14 aus den 80er-Jah-
ren, 55 aus den 90em, 21 aus 2000 und später (Redaktions-
schluss war Anfang 2002); 2 Titel sind italienisch, 5 franzö-
sisch, der Rest deutsch oder englisch.
Im 2. Kapitel fanden 48 Bücher Eingang - 4/5/28/11 für die
oben genannten Zeiträume; 4 Titel sind französisch.
Das 3. Kapitel umfasst 461 Publikationen (87/104/215/47);
I Titel französisch, der Rest wie schon erwähnt, deutsch oder
englisch.
In den übrigen Kapiteln sicht die Verteilung in den Zeithori-
zonten ähnlich aus. Das nächste französische Buch fiel mir
fast 200 Seiten weiter auf. Andere Fremdsprachentitel fehlen
völlig (Anmerkung: Ich habe nur einmal durchgezählt und ha-
be mich hoffentlich nicht verzählt!).
Schon hieraus wird deutlich, dass alles, was die französischen
Ethnologen über Nord- und Westafrika zu sagen hatten, unter
den Tisch fallen muss. Die französischsprachige Theorie- und
Philosophiediskussion ebenso, von wenigen Übersetzungen
abgesehen. Der gesamte lateinamerikanische Sprachraum fällt
weg, der russische ebenso usw. Besonders schmerzhaft - für
diese Besprechung müssen einige Schwerpunkte genügen -
fällt dies im 5. Kapitel (Regionen) auf: Im Abschnitt 5.2.3
(Mittlerer Osten und Nordafrika) gibt es erstens keinen fran-
zösischen Titel, zweitens kein Buch über den Maghreb, drit-
tens kein Buch über die vielen Sahara-Völker. Im Unterab-
schnitt .Zentralasien und ehemalige UdSSR’ liegt ein Schwer-
punkt auf der Nach-Sowjet-Ära; alle Bücher sind auf Eng-
lisch. Flier wird ein Bild vermittelt, als gäbe es keine russi-
schen Ethnologie-Publikationen und dabei haben die ostdeut-
schen Kolleginnen und Kollegen die Schränke voll davon. Wie
gesagt, es fällt viel unter den berühmten Tisch, den sich der
Leser jetzt schon als Tafel für mindestens 12 Personen vor-
stellen sollte. Ich will dieses Bild nicht überstrapazieren. Wäl-
der Ersteindruck beim Durchlesen positiv, weil eigentlich nur
deutsche und englische Titel ins Auge fielen, fällt dieses Ele-
ment bei detaillierter Durchsicht als fatales Manko auf!
Was empfinde ich als gut? Zu fast allen Büchern gibt es einen
griffigen Kurzkoramentar. Dies hört sich fast nebensächlich
an, 20 oder 30 derartige Kommentare lassen sich vielleicht
schnell schreiben, aber Hunderte? Nach meiner Abschätzung
sind etwa 3000 Bücher aufgelistet, davon ca. 2500 kommen-
tiert. Das ist eine große Hilfe.
In zwei Unterkapiteln sind über weite Strecken allerdings nur
Titel aufgelistet: Rund 30 Seiten bei .Europa’, rund 7 Seiten
bei .Globalisierung’.
Weiter: Innerhalb der Kapitel finden sich Querverweise, wel-
che Bücher sich ergänzen.
Bei Neuauflagen wird oft das Buch zurückverfolgt, vor allem
wenn ältere Auflagen in anderen Verlagen und/oder unter an-
derem Titel erschienen waren.
Bei Übersetzungen stehen Hinweise auf die Originalausgaben.
Sehr gut gegliedert ist das 4. Kapitel (Sachgebiete). Jedes der
24 Unterkapitel hat prinzipiell folgende Struktur: a) Einblick
(meist nur 2 Werke), b) Grundlagen und Überblick, c) Vertie-
fung und heutiger Forschungsstand, d) Sammelbände, e) Zeit-
schriften. Eine derartige Gliederung hilft dem Anfänger wirk-
lich. Wäre hier nicht eine Rubrik f) Klassiker sinnvoll?
Bei den Zeitschriften sind meist Titel und Ort genannt. Hier
hätte ich mir noch die Angaben „erscheint seit wann“ und „er-
scheint wie oft“ sowie die ISSN gewünscht.
Das 5. Kapitel (Regionen) erscheint mir sinnvoll und fein ge-
nug untergliedert zu sein. Zu zwei Unterkapiteln wnrde oben
schon einiges gesagt. Generell empfinde ich hier die Be-
schränkung auf aktuelle Literatur noch mehr als Einengung als
in mehr theoretischen Kapiteln.
Eigentlich wollte ich nicht zu Einzelwerken Stellung bezie-
hen, obwohl Antweiler im Vorwort den Leser darum ersucht.
Aber: Warum bei Afrika Hermann Baumann’s Sammelband
.Die Völker Afrikas und ihre traditionellen Kulturen’ fehlt,
verstehe ich einfach nicht. Spielt das Alter (1979) eine Rolle?
Dass andererseits Richard Karutz’ Buch (.Die Völker Euro-
pas’, S. 173) von 1926 (!!!) aufgeführt wird, hat mich be-
sonders gefreut. Durch die Nennung wird der einzige namhaf-
te deutsche Ethnologe gewürdigt, der auf der Basis anthropo-
sophischer Vertiefung schrieb und dessen Werke fast vollstän-
dig der Bücherverbrennung im 3. Reich zum Opfer fielen.
Wieso Klaus E. Müllers Buch .Schamanismus’ bei Populäreth-
nologie (8. Kap.) auftaucht und bei Religionsethnologie (Kap.
4.8) verschwiegen wird, ist mir schlichtweg unbegreiflich.
249
____________TRIBUS 52, 2003
Insgesamt möchte ich dem Leser dieses 8. Kapitel ans Herz le-
gen. weil es viele wertvolle Werke enthält, die vielleicht bes-
ser anderswo gewürdigt werden sollten. Möglicherweise wäre
es gut gewesen (oder für eine Folgeauflage angezeigt), dieses
Kapitel insgesamt aufzulösen und die Bücher an den entspre-
chenden Stellen unter „Populäres“ zu listen.
Der gesamte Komplex .Museum und materielle Kultur’ wird
kaum berücksichtigt. Auf S. 271 (.Populärethnologie, Sachbü-
cher’) tauchen dann tatsächlich zwei als solche ausgewiesenen
Museumspublikationen auf (beide von G. Völger/K. v.Welck).
Ansonsten wird die gesamte breite Palette der Museumsveröf-
fentlichungen ignoriert.
Das Kapitel 10 (.Basiswissen’) halte ich für überdimensio-
niert. Warum tauchen ethnographische Weltatlanten (S. 327)
erst hier auf und nicht in den Anfangskapiteln? Manches
kommt bereits spezialisiert im 3. Kapitel vor: Schreibmetho-
den und Lesetechniken (S. 54, 319L). Hier wäre Straffung an-
gezeigt.
Sinnvoll wäre durchaus, das Buch mit den gerafften Basiswis-
sen zu starten und dann erst die allgemeine Ethnologie folgen
lassen.
Kapitel 9 (.Über den Tellerrand hinaus: Einblicke in andere
Wissenschaften’) ist mit 32 S. ebenfalls sehr üppig geraten,
trotzdem aber sinnvoll. Vieles ließe sich ins Basiswissen inte-
grieren. Binders Biologie (S. 309) halte ich wie Antweiler für
ein sehr gutes Schulbuch, aber wer Ethnologie studiert, hat das
Abitur hinter sich und sollte diese Basis also haben. Sollte
nach Antweilers Erfahrung der Kenntnisstand der heutigen
Studienanfänger aber so sein, dass eine derartige Quelle er-
wähnt werden muss - auch Basiswissen hat noch Vorstufen.
Prinzipiell hat das 9. Kapitel die gleiche Struktur in den Unter-
kapiteln wie schon bei Kap. 4 ausgeführt (lediglich Zeitschrif-
ten fehlen), das 10. in veränderter Form auch. Das sollte im
gesamten Buch durchgehalten werden!
Viele Quellen sind über das Internet zu erschließen, auch Zeit-
schriften. Flier wäre für eine Folgeauflage ein weites, lohnen-
des Feld. Sollte das Buch in der 3. Auflage zu dick werden,
könnten einzelne Kapitel billig und sinnvoll auf eine beigeleg-
te CD ausgelagert werden oder als Internet-Textdatei einseh-
bar bzw. abrufbar.
Obwohl eigentlich nur Bücher erfasst werden sollten, durch-
bricht der Autor sein Schema im 3. Kapitel mehrfach: Grund-
sätzlich halte ich die Sammlung von Kontroversen gut, aber sie
passt so nicht zum übrigen Stil. Einige Beispiele (S. 57ff): 1)
.Samoa-Kontroverse: Freeman vs. Mead’ - 17 Titel, davon 9
Aufsätze; 2) .Debatte um die reale Existenz der Tasaday’ - 14
Titel, davon 10 Aufsätze (einer davon schlecht bibliographiert:
Wie soll man „Iten, Oswald, 1986“ nur mit der Titelangabe in
einem ganzen Jahrgang der Neuen Züricher Zeitung ausfindig
machen? Die NZZ hat bekanntermaßen ein gutes Archiv ...); 3)
.Debatte um Aggressivität bei den Yanomami’ - 29 Titel, davon
14 Aufsätze; 4) .Debatte über Rationalität von Bauern (pea-
sants)’ - 16 Titel, davon 11 Aufsätze, alle Titel aus den 70er und
80er-Jahren. Hier wird auch noch die Aktualität missachtet!; 5)
.Kontoverse um Carlos Castañeda’ - 38 Titel, davon 25 Aufsät-
ze. Und dies ist beileibe nicht alles - insgesamt werden 15 Kon-
troversen gelistet. Um es kurz zu machen: hier hat Antweiler
Dschungel produziert und nicht gelichtet. Empfehlung: Beibe-
halten, aber auslagem; Kap. 3.9 ist zu speziell für dieses Buch.
Antweiler wehrt sich zwar im Vorwort (S. X) gegen ein Regis-
ter. Die vorgebrachten Argumente kann ich in keiner Weise
nachvollziehen. Jedes mittelmäßige Textverarbeitungspro-
gramm erstellt ein Register auf Knopfdruck. Und dass es sinn-
voll ist, ein Personenverzeichnis zu haben, will ich nicht wei-
ter begründen - ich halte es gerade bei einem Literaturführer
für unverzichtbar.
Die Stärke des Buches liegt eindeutig in der Erfassung der
jüngsten und aktuellsten Literatur. Missen möchte ich diesen
„Führer durch den Bücher-Dschungel“ nicht. Dass der
Dschungel so manche Brandrodungsfläche enthält und eigent-
lich in Teilen aufgeforstet werden müsste, um überhaupt durch
ihn führen zu können, wurde deutlich. Ich freue mich auf die
veränderte Folgeauflage.
Wolfgang Creyaufmüller
Auffermann, Bärbel / Orschiedt, Jörg:
Die Neandertaler - Eine Spurensuche. Stuttgart:
Konrad Theiss, 2002. 110 Seiten, 146 Fotos,
Karten, Zeichnungen, alle überwiegend in Farbe.
ISBN 3-8062-1514-6
Diese Publikation zeigt, wie ein Sachbuch, nicht zuletzt für
die gewählten Abbildungen im begrüßenswerten Format, an-
gelegt werden kann, um wissenschaftliche Themen gut und
spannend lesbar einer größeren Buchgemeinde verständlich
zu machen. Inhaltlich stellt das Werk eine sehr lobenswerte
Fleißarbeit dar, mit der sowohl auf der Grundlage herkömm-
licher Literaturstudien als auch mit Hilfe zeitgenössischer
technischer Hilfsmittel, insbesondere mit Computer und sei-
nen zahlreichen Möglichkeiten, viele der heute gegenüber der
Vergangenheit exakter fassbaren Forschungsergebnisse vorge-
legt werden. Auch soll gleich zu Anfang dieser Rezension -
mit Anerkennung - nicht unerwähnt bleiben, dass der Termi-
nus „Neandertaler“ (selbst vor dem Hintergrund des Museums
in Mettmann) wieder richtig geschrieben wird. Sicherlich hat
hier der Verlag ein Wörtchen mitzureden gehabt, wozu auch
ich meinen bescheidenen Beitrag geleistet habe.
Neben einem Vorwort von Gerd-C. Weniger, Direktor des
Mettmanner Neanderthal Museums, sowie einem umfangrei-
chen Anhang ist das Buch in fünf Kapitel unterschiedlichen
Umfangs mit jeweils mehreren Abschnitten untergliedert. In
das erste Kapitel sind neben einem kurzen Abriss der Entde-
ckungsgeschichte des Namen gebenden Altmenschen auch
Hinweise auf den Wandel des Neandertalerbildes in den zu-
rückliegenden fünfzig Jahren aufgenommen worden. Außer-
dem wird über die neuesten Funde von Skelettresten (jetzt
auch einer Neandertalerin sowie dem Zahn eines Kindes die-
ser Menschenart) und Steinwerkzeugen, sogar aus dem frühen
Jungpaläolithikum, berichtet (s. hierzu Schulze-Thulin 2002-
a). Das zweite Kapitel enthält in fünf Abschnitten die kurz ge-
fasste Geschichte der menschlichen Evolution, wobei die
Schilderung der genetischen Zusammenhänge vor dem
Hintergrund des „Out-of-Africa-2-Modells“ besonders auf-
schlussreich ist. Hier kann eingeflochten werden, dass wir
mittlerweile mit dem Fund des Sahelanthropus Tschadensis
aus dem Jahr 2001 hinsichtlich des so genannten Tier-
Mensch-Übergangsfeldes bei 6 bis 7 Millionen Jahren gelan-
det sind. Im dritten Kapitel wird das Aussehen der Neander-
taler unter die Lupe genommen. Der nicht unbedarfte Leser
merkt, dass sich der/die Autor(in) bemüht hat, Fragen aufzu-
werfen, die in bisherigen Publikationen zu kurz gekommen
250
___________Buchbesprechungen Allgemein
sind oder sich wegen des Forschungsstandes nicht stellten. Im
ersten Abschnitt „Die ,typischen’ Neandertaler: ein ideales
Konstrukt“ wird auf die körperliche Anpassung an das Klima
des Eiszeitalters, enger Würm/Weichsel, abgestellt. Im näch-
sten Abschnitt „Neandertaler und anatomisch moderne Men-
schen; die unscharfe Trennungslinie“ wird der Nachweis ver-
sucht, diese bisher geltende Linie zu überschreiten bzw. auf-
zuheben, wobei allerdings die drei diesen Passagen beigege-
benen Abbildungen eine andere Sprache sprechen. Eine ein-
deutige Antwort bleibt aus. Mit Spannung wendet sich der Le-
ser ebenfalls der (im dritten Abschnitt gestellten) nächsten
Frage zu; „Sind wirklich alle Neandertaler gleich?“ Selbstver-
ständlich muss hier die Verneinung folgen. Sie wird zum einen
mit zeitlichen (Neandertalerperiode von 200.000 bis 30.000
v.h.), zum anderen mit regionalen Unterschieden begründet.
Auch wird darauf verwiesen, dass „die Neandertaler in ein Ty-
pen-Konzept gepresst (wurden), das noch aus dem 19. Jahr-
hundert stammt...“ (40). Heute scheint festzustehen, dass die
Variationsbreite der Neandertaler recht groß war. Natürlich
war auch der Sexualdimorphismus ausgeprägt, wobei anzu-
merken ist, dass das Titelbild „Neandertaler mit Frau“ dieser
Feststellung nicht sonderlich gut entspricht, scheint doch hier
die Dame den Herrn um etliches zu überragen. In den folgen-
den Absätzen und Abbildungen wird vorgeführt, was heute al-
les mit computergesteuerten Techniken bei Rekonstruktionen
möglich ist. Besondere Bedeutung ist dem letzten Abschnitt
dieses (dritten) Kapitels beizumessen, nämlich der Frage nach
der Sprachfähigkeit der Neandertaler, wird sie doch immer
wieder bis in die jüngste Zeit in Zweifel gezogen. Selbst das
als Beweis für das neandertaloide Sprechvermögen angeführ-
te Zungenbein von Kebara (Israel) lässt Zweifler nicht ver-
stummen, was vermuten lässt, dass die Aussage eines endgül-
tigen Beweises (48) zu optimistisch ist und nicht das letzte
Wort in dieser Geschichte sein wird.
Aus den beiden weiteren Kapiteln „Wie lebten die Neanderta-
ler“ und „Das Ende der Neandertaler“ möchte ich lediglich die
Aussagen herausgreifen, hinter denen neuere Forschungser-
gebnisse stehen bzw. für die es noch keine endgültigen Be-
weise gibt. So ist die Ausschließlichkeit, mit der die Entste-
hung „des Neandertalers“ (Hervorhebung vom Rez.) auf den
Kontinent Europa beschränkt wird - wie hier erneut wieder-
holt -, mit Sicherheit nur auf den „klassischen“ Neandertaler
zu beziehen. Jede andere Aussage ist zur Zeit noch verfrüht.
Die philogenetische Abfolge der mit dem Terminus „Neander-
taler“ verbundenen Menschenformen ist nicht gesichert, und
was in Westeuropa ablief, kann nicht ohne weiteres auf Klein-
asien sowie Ost- und Nordafrika umgesetzt werden. Bei-
spielsweise sind die afrikanischen Verhältnisse während der
Zeit des europäischen Acheuleen längst nicht geklärt (s. in ei-
nem weiter gefassten Zusammenhang zum Beispiel Campbell
1992). Von „Schnittspuren an Bärenknochen“ auf Bekleidung
aus Bärenfellen zu schließen (54), ist etwas schnell geurteilt.
Der Gebrauch von Bärenfellen soll nicht in Frage gestellt wer-
den (selbstverständlich auch nicht von Häuten und Fellen ge-
nerell), allerdings kann die Nutzung von Bärenfellen im All-
gemeinen nur als Schutzunterlage und Auskleidung von
Innenräumen in Betracht gezogen werden (Ausnahmen sind
zeremonielle Umhänge aus Bärenhäuten bei Bärenkulthand-
lungen), nicht jedoch als Kleidungsstücke, weil das Gewicht
von Bärenfellen (insbesondere vom Höhlenbären) keine
durchschnittlichen Bewegungsabläufe erlaubt. Begrüßenswert
realistisch wird in diesem Kapitel darauf verwiesen, dass ver-
meintliche Analogien aus der Völkerkunde immer mit Vorsicht
gesehen werden müssen. Nur bei Vorliegen entsprechender
Voraussetzungen, wie sie der ethnologisch-prähistorische Ver-
gleich fordert (Schulze-Thulin 1991), haben Ähnlichkeitshin-
weise eine gewisse realistische Grundlage. Zum mittelpaläo-
lithischen Höhlenbärenkult im Schweizer Säntis ist anzumer-
ken, dass mittlerweile Stimmen laut werden, die selbst eine
Begehung hochalpiner Höhlen durch den Neandertaler in Fra-
ge stellen (persönliche Mitteilung von Martina Pacher), ge-
schweige denn einen Höhlenbärenkult anerkennen. Weitere
intensive Untersuchungen, ob sich Neandertaler überhaupt in
den Hochalpen aufgehalten haben, sind damit unumgänglich.
An der Existenz eines Höhlenbärenkultes im Paläolithikum,
eventuell erst ab Beginn der jüngeren Altsteinzeit (was jedoch
der mentalen Gleichsetzung Neandertaler-Jetztmensch wider-
spräche), halte ich jedoch fest, nicht zuletzt auf der Grundlage
meiner kürzlich festgelegten Überlegungen (Schulze-Thulin
2002-b). Hinsichtlich des Oberschenkelknochens im Jochbo-
gen eines Höhlenbären im Drachenloch ist auf diesbezügliche
Beschwichtigungsriten bei grönländischen Eskimo (Inuit nur
in Kanada) im 19. Jahrhundert zu verweisen (Schulze-Thulin
1987). Zu den Passagen rund um einen Bärenkult im Allge-
meinen und dem Bärenschädel in der Felsbilderhöhle Chauvet
an der Ardèche im Besonderen ist zu erwähnen, dass das hohe
Alter der dortigen eiszeitlichen Malereien keineswegs gesi-
chert ist, wie immer wieder bedenkenlos weiter getragen wird
(Schulze-Thulin 2001 ). Zum Schluss dieses Kapitels wird das
Thema „Kannibalismus bei Neandertalern“ angeschnitten.
Dazu eine (ethnologisch geprägte) Anmerkung: Ich wundere
mich immer wieder, warum eigentlich alles unternommen
wird, um Neandertalern kannibalistische Praktiken abzuspre-
chen. Menschenfleisch soll doch, insbesondere wenn es von
Kindern, Jugendlichen und Frauen stammt, sehr gut schme-
cken. Jedenfalls wurde es von zahlreichen Angehörigen kari-
bischer und zentralamerikanischer Kulturen als Delikatesse
angesehen und auf Märkten verhandelt. Noch vor wenigen
Jahrhunderten gab es in den erwähnten Regionen spezielle
Methoden, die das Fleisch gefangener Kinder und Frauen be-
sonders schmackhaft werden ließen. Vor allem wurde das zar-
te Fleisch von Säuglingen geraubter Frauen, die eigens zu die-
sem Zweck geschwängert wurden, bevorzugt. Ich möchte den
Leser dieser Rezension nicht überstrapazieren ... Jedenfalls:
Grüazi - Moula-Guercy!
Das letzte Kapitel ist dem seit langem sehr kontrovers disku-
tierten Thema „Ende der Neandertaler“ gewidmet. Dabei gibt
es gegenüber den Ansichten der zurückliegenden Jahrzehnte
eine bestimmte Meinungsänderung, die besagt, dass die in Eu-
ropa um 40.000 v.h. in Europa eindringenden Jetztmenschen
dem Neandertaler technisch nicht überlegen gewesen seien.
Aktuell wird von manchen Wissenschaftlern die Ansicht ver-
treten, dass sich die Industrie des Mittelpaläolithikums bereits
vor Auftreten der Jungpaläolithiker weiterentwickelt habe, mit
„einer gesteigerten Vielfalt der technischen Konzepte bei der
Herstellung von Steinwerkzeugen“ (85; hier muss es im Text
kurz vorher „Jungpaläolithikum“ statt „Mittelpaläolithikum“
heißen). Der Schluss allerdings, dass „diese Entwicklung von
den Neandertalern selbst ausgegangen sein“ müsse (ebenda),
ist nicht zwingend. Es kann sich hierbei auch um ein Phäno-
men handeln, das wir auf allen Kontinenten im Verlauf der
Menschheitsgeschichte feststellen können. Das heißt tech-
nisch entwickeltere Kulturobjekte (gegenüber den eigenen
Produkten) eilen dem Eindringen der Kulturträger aus tech-
251
___________TR1BUS 52, 2003
nisch vorangeschritteneren Gesellschaften voraus, sind längst
angekommen, bevor die Invasoren selbst im Lande sind. Wie
auch immer die sich hier stellenden Fragen beantwortet wer-
den mögen, eines scheint klar zu sein, dass nämlich die so ge-
nannte Übergangszeit (Neandertaler - Jetztmensch) das Au-
rignacien teilweise einschließt. Erst mit dem Gravettien, dem
mittleren Jungpaläolithikum, war dieser Prozess endgültig ab-
geschlossen. Doch Fundlücken bleiben - vorerst. Lagar Velho
allein genügt nicht. Und auch die bisherigen mt-DNA-Unter-
suchungen offensichtlich nicht. Mit dieser Bemerkung muss -
vorläufig - die Frage nach Flybriden („Neandertaler : Jetzt-
mensch“) unbeantwortet bleiben. Auch der Grund für das Ver-
schwinden der Neandertaler bleibt weiterhin im Dunkel der
Geschichte. Alle drei hierzu aufgeführten Hypothesen (96)
überzeugen nicht. Viele Gründe sprechen gegen die Annahme
einer brutalen Verdrängung, insbesondere die geringe Bevöl-
kerungsdichte im späten Pleistozän. Für mich stehen klimati-
sche Veränderungen als Erklärung im Vordergrund, damit ver-
bunden engere Siedlungsräume und Jagdgründe (was das Ein-
sickem des Jetztmenschen eventuell bemerkbar werden ließ),
Nachlassen bzw. sogar Verschwinden bisheriger Beutetier-
quantitäten, somit schwierigere Jagdverhältnisse sowie ... bis
jetzt noch unbekannte Ursachen, beispielsweise von den Neu-
ankömmlingen eingeschleppte Krankheiten, gegen die Nean-
dertaler keine Widerstandskräfte hatten.
Der Band schließt mit einem Anhang, der Folgendes enthält:
Datierungsmethoden in der Archäologie, ein dreiseitiges ge-
gliedertes Literaturverzeichnis, ein Glossar, Bildnachweis, mit
Erklärungen versehene Internet-Tipps, Informationen zum
Neanderthal Museum in Mettmann, Danksagung sowie bio-
grafische Angaben zu den beiden Autoren. Zum Neanderthal
Museum selbst ist noch nachzutragen, dass der ursprüngliche
Fundplatz (Höhlenschutt), der bis vor wenigen Jahren ein „be-
rüchtigter“ Schrottplatz war und auch die erwähnten Neufun-
de erbracht hat, mittlerweile als eine würdige Oase der Besin-
nung, als eine „Erinnerungslandschaft“ mit Steinquadern, Ra-
sen und Markierungsstangen gestaltet wurde.
Das Buch von Auffermann und Orschiedt hätte das Zeug zu ei-
nem Nachschlagewerk über den Stand der Neandertalerfor-
schung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hierzu fehlt jedoch
ein Register. Vielleicht kann ein Index für eine mögliche spä-
tere Neuauflage nachträglich erstellt werden. Schon jetzt lässt
sich auch anhand des Inhaltsverzeichnisses mit der Publika-
tion gut arbeiten, denn sie ist thematisch umfassend, gut ge-
gliedert und geschrieben sowie mit sehr viel ausdrucksstarkem
Bildmaterial bestens ausgestattet. Es ist zu hoffen, dass sie in
zahlreichen Bibliotheken einen Standardplatz erhält
Literatur
Campbell, Amy L.
1992 The Significance of Middle Paleolithic Water Holes
Found at Bir Sahara in the Western Desert of Egypt.
In: Dibble, Harold L. / Mellars, Paul (eds.), The
Middle Paleolithic: Adaptation, Behavior, and Varia-
bility. University Museum Monograph 78, University
of Pennsylvania, Philadelphia.
Schulze-Thulin, Axel
1987 Geschenke für den Bären, ln: TRIBUS, Bd. 36. Lin-
den-Museum Stuttgart.
1991 Erste Ansätze zum ethnologisch-prähistorischen Ver-
gleich. ln: Saeculum Bd. 42, H.l: 44-54.
2001 Grotte der Genies: Zur Datierung der Felsbildkunst in
der Chauvet-Höhle (Leserbrief). In: National Geo-
graphie Deutschland, 10: 42.
2002-a Rezension von Schmitz, Ralf W. / Thissen, Jürgen:
Neandertal - Die Geschichte geht weiter. Heidelberg
- Berlin 2000. In: TRIBUS, Bd. 51. Linden-Museum
Stuttgart.
2002-b Rezension von Rabeder, Gernot / Nagel, Doris / Pa-
cher, Martina: Der Höhlenbär. Stuttgart 2000. In:
TRIBUS, Bd. 51. Linden-Museum Stuttgart.
Axel Schulze-Thulin
Boetzkes, Manfred /
Schweitzer, Ingeborg /
Vespermann, Jürgen (Hrsg.):
EisZeit - Das große Abenteuer der Naturerschei-
nung. Hildesheim - Stuttgart: Roemer- und Peli-
zaeus-Museum; Jan Thorbecke Verlag, 1999.
283 Seiten, zahlreiche Färb- und SW-Fotos,
Zeichnungen, Grafiken, Grabungspläne, Karten.
ISBN 3-7995-3663-9
Dieses Begleitbuch zur gleichnamigen erfolgreichen Ausstel-
lung des Roemer- und Pelizaeus-Museums in Hildesheim 1999
und anschließend in anderen Städten erfüllt inhaltlich weitge-
hend sowohl die Informationswünsche des interessierten Laien
als auch die Anforderungen des wissenschaftlich Forschenden.
Ein wenig Zeitgeist gehört wohl zu dieser Art von Publikationen,
die einen sehr großen Leserkreis erreichen wollen. Umfangreich
und beeindruckend ist die Liste bekannter Archäo-, Paläoanthro-
po-, Klimato- und Geologen (selbstverständlich alle mit dem
Anhängsel „Innen“), die mit ihren Beiträgen über das Pleistozän
im Allgemeinen und verschiedene eiszeitliche Abschnitte im Be-
sonderen das Werk ennöglichten. Sämtliche Abhandlungen ste-
hen auf dem derzeitigen Forschungsstand, sind fundiert und in
sich abgerundet. Das Buch bleibt somit über die Ausstellung hin-
aus wertvoll und lesenswert und wird über einige Jahre hinweg
auch einen gewissen Nachschlagewert behalten.
Wenn auch nicht gekennzeichnet, lässt sich doch eine chrono-
logische Gliederung der Artikel erkennen. Nach einer Über-
sicht von Museumsdirektor Manfred Boetzkes über die Aus-
stellung und ihre erwünschten Auswirkungen auf die Besu-
cher vermittelt Friedemann Schrenk Einblicke in die Zu-
sammenhänge zwischen erdgeschichtlichen Klimaphasen und
der Menschheitsentwicklung. Es folgt eine Übersicht über die
geo- und paläontologischen Grundlagen des Eiszeitalters von
Jürgen Vespermann. Mit dem Klima im Quartär haben sich
gleich vier Autoren beschäftigt: Gerfried Caspers, Holger
Freund, Angelika Kleinmann und Josef Merkt. Auch ein we-
nig Lokalkolorit muss sein, und so schrieb Ludger Feldmann
über Hildesheim im Eiszeitalter mit dem Untertitel „Eine Bil-
derreise“. Wilfried Rosendahl befasste sich mit seiner speläo-
logischen Lieblingsthematik, will heißen der Rekonstruktion
urgeschichtlichen Lebens auf der Grundlage von Funden und
Befunden in Höhlen. Hartmuf Thieme gibt einen Überblick
über die Jagd auf Wildpferdc vor 400.000 Jahren, wobei
selbstverständlich der Fundplatz Schöningen im Mittelpunkt
steht. Einem besonders aktuellen Thema hat sich Stephan Veil
____________Buchbesprechungen Allgemein
gewidmet, nämlich der Frage, ob bereits dem Neandertaler
Kultur (im engeren Sinne; Kultur als solche ist ja selbstver-
ständlich) zuzutrauen ist. In die Zeit des Neandertalers gehört
auch der folgende Aufsatz von Sabine Gaudzinski über ein
mittelpaläolithisches Rentierjägerlager bei Salzgitter-Leben-
stedt. Für „die Kunst der Altsteinzeit“ konnte kein Kompeten-
terer gefunden werden als Gerhard Bosinski. Ähnliches kann
zu dem sich anschließenden Artikel von Linda R. Owen über
Frauen im Paläolithikum gesagt werden. Besonders begrü-
ßenswert ist die Aufnahme des Beitrages von Leonid I. Reko-
vets über Mezin und die dortigen berühmten Wohnstättenge-
rüste aus Mammutknochen und -Zahnbein. Allmählich nähern
sich Ausstellung und Buch dem Ende, und so passt die Ab-
handlung von Klaus Grote über spätpaläolithische bzw. ffüh-
mesolithische Jäger/Sammler in Südniedersachsen gut hier-
her. Gernot Tromnau schließt sich mit einem Bericht über die
Hamburger Kultur an, und Christian Weisker fragt zum
Schluss, was eigentlich von der Eiszeit bis heute übrig blieb,
eine sicherlich jeden historisch Interessierten bewegende Fra-
ge. Gabriele Pieke hat das Glossar zusammengestellt. Mit den
Abbildungsnachweisen, einem Autoren- und Redaktionsver-
zeichnis sowie Danksagungen endet dieses vom Museum und
der Werbeagentur Cem Кос konzipierte sowie vom Verlag in
bekannt gekonnter Weise betreute und mit reichhaltigem Bild-
material ausgestattete Buch.
Damit wären wir bei der Beurteilung des Gesamteindruckes
dieser aus dem Rahmen fallenden Ausstellungspublikation,
insbesondere im Hinblick auf Grafik und Layout. Keine Fra-
ge, es ist den Herausgebern mit dem vorliegenden Werk ge-
lungen, über die Ausstellung hinaus ein Thema allgemeinen
Interesses anzupacken und dafür kompetente Wissenschaftler
zu gewinnen. Und bestimmt war es ziemlich stressig, nicht nur
was die Zahl der Autoren anbelangt, sondern neben diesen und
dem Verlag als Buchhersteller noch zusätzlich mit einer Wer-
beagentur in ständiger Absprache und auf der fortlaufenden
Suche nach Kompromissen alles unter ein Dach und zu einem
guten Ende zu bringen. Da stand sicherlich bereits am Anfang
die Überlegung zum Format des Begleitbuches im Raum, ln
seiner Pressemitteilung bezeichnet es der Verlag als „hand-
lich“. Das stimmt. Es hat in etwa die Größe, wie wir sie von
Romanformaten kennen. Wahrscheinlich stand die Überle-
gung im Vordergrund, dass der Ausstellungsbesucher eher zu
einer kleinformatigen Begleitpublikation greift als zu einem
schwergewichtigen „Wälzer“. Auch das stimmt. Doch die
Kehrseite der „Handlichkeit“ ist, dass es sich bei dem Inhalt
unseres Buches um wissenschaftliche Texte handelt (auch
wenn das Werk selbst als populärwissenschaftlich bezeichnet
wird), deren begleitendes Bildmaterial, insbesondere Gra-
bungsskizzen, Grafiken und Karten, aber auch etliche Zeich-
nungen (zum Beispiel Schnitte durch Sedimentabfolgen, Zeit-
stratigrafien u.ä.), unter dem Format zu leiden hat. Alle diese
Bildunterlagen wurden ursprünglich für größere Publikations-
formate konzipiert. Eine mit diesen Gegebenheiten zu-
sammenhängende Folge ist, dass auch der Schriftgrad der Le-
genden recht klein und diese damit anstrengend zu lesen sind.
Die Mehrzahl der erwähnten Abbildungen hätte durchaus grö-
ßer angelegt werden können, das hätte dem Layout keinen Ab-
bruch getan. Schade, dass nicht auf das bewährte Format der
Thorbecke-Kunstbücher zurückgegriffen wurde. Eine weitere
Formatalternative wären Größenverhältnisse, wie sie zum Bei-
spiel der Ausstellungskatalog „Faszination Mensch“ der Uni-
ted Exhibits Group in Kopenhagen (2000; Rezension in die-
sem TRIBUS-Band) mit verschiedenen Ausstellungsorten
zeigt. Kurz: Bei einem größeren Format des vorliegenden
Ausstellungsbuches wäre vieles vom Inhalt eindrücklicher
und übersichtlicher ausgefallen. Vermutlich hat sich die er-
wähnte Werbeagentur bei den Fragen zur Gestaltung durchge-
setzt, denn an manchen Stellen wirkt der Seitenaufbau zusätz-
lich prospektartig.
Es ist selbstverständlich, dass bei einer Zusammenfassung
vieler Artikel zu einem Buch Schreibstil, Ausdrucksweise und
journalistische Fähigkeiten der Verfasser nicht gleichgeschal-
tet werden können und auch nicht sollen. Das gilt jedoch nicht
bei dem „keep to conformity“ hinsichtlich sich wiederholen-
der Begriffe. Hier hat die Redaktion nicht aufgepasst. Mett-
mann hin oder her, „Neandertaler“ mit „h“ zu schreiben, ist
falsch (erneute Erklärung hierzu s. Rezension Narr / Weniger
2001 in diesem TRIBUS-Band). Und die diesbezügliche No-
menklaturregel ist ja auch von den Autoren beherzigt worden,
allerdings eben mit Ausnahmen, wie beispielsweise auf Seite
20 und 37 (hier sogar trotz der richtigen Schreibweise im Ori-
ginal der Literaturangabe).
Ich gestehe, dass diese kritischen Anmerkungen zu Format und
Layout von einem kommen, der in diesen Dingen nicht ganz
unbedarft ist. Für zukünftige Publikationen sollten auch solche
Rezensentenhinweise hilfreich sein. Im vorliegenden Fall über-
wiegt der Inhalt, und so ist diese Ausstellungspublikation ins-
gesamt als gelungen zu bezeichnen. Derjenige, der das Buch
aus Neugierde oder wissenschaftlichem Interesse zur Hand
nimmt, wird in seinem Lesevergnügen nicht beeinträchtigt,
höchstens ergreift er die Gelegenheit, nun endlich seine neu ge-
kaufte zweite (und stärkere) Lesebrille auszuprobieren.
Axel Schulze-Thulin
Bosinski, Gerhard /
D’Errico, Francesco / Schiller, Petra:
Die gravierten Frauendarstellungen von Gön-
nersdorf. Bd. 8 von „Der Magdalenien-Fund-
platz Gönnersdorf1, hrsg.von Gerhard Bosinski.
Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2001. 364 Seiten
Text, 197 Tafeln SW-Fotos, 233 Zeichnungen,
Grafiken, Karten, Grabungspläne im fortlaufen-
den Text. Einzelanhang „Lage der Platten mit
Frauendarstellungen in der Grabungsfläche“ (in
3. Umschlagseite eingeschoben).
ISBN 3-515-07799-5
Genau 35 Jahre liegt der Tag des ersten Spatenstichs auf dem
Fundplatz Gönnersdorf zurück. In den zurückliegenden Jahr-
zehnten hat sich der erste Eindruck immer mehr verfestigt,
dass diese Entdeckung im Gebiet des rechten Mittelrheinufers
gegenüber von Andernach im Jahr 1968 ein Glücksfall in der
deutschen Archäologie, insbesondere innerhalb der Erfor-
schung des Eiszeitalters, gewesen ist. Über die vergangenen
Jahre verteilt, sind insgesamt 8 umfangreiche Bände zu und
über Gönnersdorf erschienen (der dem vorliegenden voraus-
gegangene Band 7 im Jahr 1983). Es ist klar, dass eine Station
mit so vielen unterschiedlichen Aspekten und von einem rein
quantitativ gesehen enormen Umfang lange Zeiten der wis-
senschaftlichen Bearbeitung beansprucht. Selbst der Bearbei-
ter der Forschungsergebnisse, wie ein Rezensent, muss sich
253
________TRIBUS 52, 2003
nach der lange zurückliegenden „jüngsten“ Buchbesprechung
(Schulze-Thulin 1984) erst einmal wieder in das Thema hin-
einfinden, Daher sei hier kurz in Erinnerung gerufen, dass ne-
ben der erwähnten 1984er Rezension ebenfalls die Bände 3
und 5 in TRIBUS besprochen wurden (Schulze-Thulin 1982
und 1983). Aus dem jetzigen Band 8 geht nicht hervor, ob in
Zukunft noch weitere Werke zu wesentlichen Gönnersdorfer
Komplexen vorgelegt werden sollen. Wahrscheinlich steht das
zur Zeit noch in den Sternen. Sollten sie das Schicksal tat-
sächlich bestimmen und wird ein weiterer Band erarbeitet,
wäre es sinnvoll, die bisher erschienenen Werke einschließlich
ihres jeweiligen Themas in der neuen Publikation kurz auf ei-
ner Seite zusammenzustellen, um damit den Gesamteindruck
dieser bedeutsamen wissenschaftlichen Reihe immer wieder
vor Augen zu führen.
Zur kurzen Orientierung sei erwähnt, dass in Gönnersdorf
über 400 in Schieferplatten gravierte Frauendarstellungen
bzw. Teile von Frauenabbildungen (auch mehrere auf einem
Schieferstück) erkannt worden sind und geborgen werden
konnten. Kurze Angaben zur Zeitstellung sollten eigentlich in
jedem Gönnersdorfer Band der Gesamtreihe erscheinen, selbst
als Wiederholung. Ich muss gestehen, dass ich nach absoluten
Zeitangaben vergeblich suchte, nicht nur in dem hier rezen-
sierten Buch, sondern auch in den mir vorliegenden Bänden 1,
3, 5 und 7. Zwar sind immer wieder einmal etwas vage Anga-
ben wie „Endpaläolithikum“ bzw. „spätjungpaläolithisch“
bzw. „Magdalénien V“ zu finden, doch wurde ich erst mit
dem, was ich eigentlich suchte, in Bosinski 1981 fündig. Die
Voraussetzungen einer exakten Datierung sind bei Gönners-
dorf recht günstig. Der Ausbruch des Laacher-See-Vulkans
konnte auf den Frühsommer des Jahres 9080 v. Chr. festgelegt
werden. Die mit diesem Ereignis zusammenhängende Bims-
schicht lag direkt auf der Fundschicht und schützte den Kul-
turboden bestens. Dieser konnte auf eine Zeit um 10400
v. Chr. datiert werden (Bosinski 1981: 25 f).
Wie der Herausgeber der Reihe in seinem Vorwort erwähnt, wa-
ren die im ersten Jahr der Ausgrabungen (1968) in Gönnersdorf
gefundenen Schieferplatten mit Frauenzeichnungen im 1. Band
„Die Menschendarstellungen von Gönnersdorf der Ausgrabung
von 1968“ (Bosinski / Fischer 1974) veröffentlicht worden. So-
mit stand die Publizierung der während der Grabungen 1970-76
gefundenen Schieferplatten mit gleichen Motiven in den zu-
rückliegenden Jahren immer aus. Dies ist nun mit dem vorlie-
genden Werk nachgeholt worden. Aber selbst auf den bereits
1968 gefundenen Platten sind später noch Frauendarstellungen
erkannt worden, die vorher übersehen wurden. „Weiterhin war
die Lesart einiger bereits im ersten Band publizierten Darstel-
lungen im Laufe der Jahre und mit zunehmender Erfahrung et-
was verändert worden“ (5). Außerdem erbrachten die mikros-
kopischen Untersuchungen der Ritzungen durch Francesco
d’Errico weitere wesentliche Erkenntnisse, insbesondere zur
Herstellungstechnik. Seine Texte sind im Buch (und auch in-
haltlich hier in der Rezension) auf Französisch wiedergegeben.
Auf Petra Schiller gehen die Entzifferung, die Umzeichnungen
und Fotografien der eiszeitlichen Abbildungen zurück. Gerhard
Bosinski hat die Darstellungen selbst sowie ihre Parallelen be-
schrieben. Ihm oblag ebenfalls die Gesamtkonzeption des Bu-
ches. Teilweise überschneiden sich die französischen und deut-
schen Texte, so zum Beispiel bei der Beschreibung der Schie-
ferplattenlage in der Grabungsfläche.
Die Publikation ist in insgesamt sieben Kapitel (ohne Num-
merierung oder sonstige Kennzeichnung) mit jeweils mehre-
ren Abschnitten und hierin wiederum bis zu jeweils drei Pas-
sagen untergliedert. Dem bereits erwähnten Vorwort folgt eine
Beschreibung und technologische Analyse der Bildnisse, wor-
in auch die 1974 publizierten Frauendarstellungen einge-
schlossen sind. Zwei französischsprachige Kapitel schließen
sich an: I. Un modèle d’analyse pour l’étude des plaquettes
gravées mit folgenden vier Abschnitten; Déplacement des pla-
quettes; Reconstitution des actions techniques; La fonction
des plaquettes; Etablissement de la documentation. 2. Resul-
tats des analyses technologiques mit folgenden zehn Ab-
schnitten: Actions techniques; Relations entre les actions tech-
niques; Figures féminines et autres thèmes gravés; Les profils
féminins au sein des plaquettes; Analyse des profils féminins;
Comportements techniques des graveurs; Enchaînement des
gestes; Reconstitution de la chaîne opératoire; Style; Discus-
sion et conclusion. Es folgen die deutschsprachigen Kapitel
„Typen und Proportionen der Einzelfiguren“, in dem auch De-
tails der schematisierten Frauenabbildungen beschrieben wer-
den; sodann „Gruppierungen der Frauendarstellungen auf den
Platten“ mit Erklärungen zu verschiedenen Aspekten der Fi-
gurenanordnungen. Im folgenden Kapitel wird der „Lage der
Frauendarstellungen in der Grabungsfläche“ nachgegangen,
wobei Konzentrationsbereiche von I über II (2.a und b) bis III
sichtbar gemacht werden. Im letzten Kapitel geht Bosinski auf
„Parallelen zu Gönnersdorfer Frauendarstellungen“ ein, die -
besonders wichtig - über die mittelrheinische Region hinaus-
reichen. Ich werde hierauf noch extra zu sprechen kommen.
Es folgt eine Zusammenfassung in Deutsch, Französisch und
Russisch sowie ein Literaturverzeichnis. Ein umfangreicher
Tafelteil mit Schwarzweiß-Fotos und -Zeichnungen (197 Sei-
ten mit teilweise bis zu vier Abbildungen je Seite) beschließen
den beeindruckenden Band. Ein Grabungsplan (Maßstab 1:50)
zur Lage der Platten, die Frauendarstellungen enthalten, ist als
Anlage beigegeben.
Gönnersdorf ist keine regional beschränkte Erscheinung. Auf
der Grundlage dieses späteiszeitlichen Kunststils können wir
heute eine Kulturprovinz erahnen, die sich von Mitteleuropa
(Mähren) bis zum westlichsten Europa (Asturien) erstreckte.
Und hier ist noch vieles in Bewegung. Wie Bosinski schreibt,
wurden während der Drucklegung des vorliegenden Buches
„zwei weitere Bilderhöhlen mit Frauenfiguren vom Typ Gön-
nersdorf entdeckt“ (5). Zum einen wurden in einer Höhle im
Département Lot in Südwestffankreich „mindestens fünf sol-
cher Figuren“ gefunden. Zum anderen wurden in einem Abri,
ebenfalls in Lot, am linken Ende eines drei Meter langen Frie-
ses mit Beinen und Mähnen von mindestens fünfzig Pferden
ein Rind sowie eine Frauenfigur des Gönnersdorfer Typs an-
getroffen (ebenda). In dem Kapitel „Parallelen zu den Gön-
nersdorfer Frauendarstellungen“ erläutert der Herausgeber
mitteleuropäische Funde, die nicht nur Gravuren, sondern
auch Frauenstatuetten aus Mammutzahnbein, Geweih. Schie-
fer und Gagat umfassen. Teilweise reichen diese Objekte bis
in das Azilien des Alleröds herauf. Das erwähnte Kulturgebiet
zieht sich von Tschechien über Deutschland und Ostfrank-
reich bis zur Auvergne und weiter nach Südwesten in die Dor-
dogne hin. Zwei weitere Fundstellen gibt es in Südfrankreich
(Tarn und Tarn-et-Garonne). Auch der Abri Faustin bei Cessac
(Gironde) ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Zusam-
men mit Gönnersdorf sind zur Zeit neunzehn Fundplätze in
Mittel- und Westeuropa mit insgesamt rund achtzig Frauenfi-
guren bekannt. Dabei muss erwähnt werden, dass in den zu-
rückliegenden 120 Jahren zahlreiche Darstellungen von Frau-
254
___________Buchbesprechungen Allgemein
en nicht erkannt wurden, weil die seinerzeitigen Archäologen
die Platten aus verschiedenen Steinmaterialien in etlichen Sta-
tionen gar nicht beachteten. Bis in die jüngste Zeit wurden
Frauenabbildungen auf Steinplatten im Schutt früherer Aus-
grabungstätigkeiten gefunden. Selbst in Museen harren si-
cherlich nicht nur ein paar gravierte Steinplatten ihrer Bear-
beitung. Ein Trost bleibt: Ohne Zweifel ist davon auszugehen,
dass Labormethoden auch in Zukunft weiter verbessert wer-
den, so dass vielleicht in späterer Zeit noch viel mehr Einzel-
heiten und Zusammenhänge, auch kultureller Art, erkannt
werden können. Doch was heute anhand der mobilen Bildträ-
ger noch nicht in allen Einzelheiten und vor allem im kultu-
rellen Kontext interpretiert werden kann, ist vielleicht aus der
immobilen Höhlenkunst zu erschließen. Eiszeitliche Wieder-
gaben von Menschen an Höhlenwänden sind ja seit rund hun-
dert Jahren bekannt. Geografisch lassen sich die diesbezüg-
lichen Fundstätten mit den Funden der entsprechenden mobi-
len jungpaläolithischen Kunst allerdings nur halbwegs in
Übereinstimmung bringen. Natürlich steht das Gebiet der
Dordogne auch bei den Menschendarstellungen an Höhlen-
wänden an erster Stelle. Dazu treten zwei Höhlen im französi-
schen Südosten (Ardèche), eine in den französischen Pyre-
näen (Haute-Garonne), eine bei Santander in Nordwestspa-
nien und eine - völlig aus der Reihe tanzend - im äußersten
Norden Frankreichs (Seine-Maritime). Bei einem stilistischen
und zeitlichen Vergleich sehe ich nun zwischen den beiden
(mobilen / immobilen) Darstellungsgruppen keine Überein-
stimmung. Meistens ist die Linienführung bei der immobilen
Kirnst in Frankreich, wenn überhaupt, kaum wieder zu erken-
nen. Außerdem liegen bis zu 5000 Jahre (und mehr) zwischen
den beiden Zeiträumen, in denen Menschen ihresgleichen auf
Stein gebannt haben. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass
sich gewisse Ähnlichkeiten in der Darstellungsweise erkennen
lassen, so zum Beispiel bei einem Vergleich zwischen Gön-
nersdorf und Les Combarelles oder der Grotte de Fronsac in
der Dordogne. Das kann (und ist sogar nach meiner Meinung)
Zufall sein oder ist in beiden Fällen auf die steinernen Bild-
träger zurückzuführen. Für eine stilistische Verbindung zwi-
schen den beiden Kulturprovinzen und -Zeiten reicht das nicht
aus. Den einzigen Hinweis auf eine mögliche kulturelle Ver-
bindung ließe sich für Pech-Merle (Lot) konstruieren, wobei
hier auch der zeitliche Kontext - großzügig gesehen - stim-
men würde (Magdalénien V). Doch ist dies eine Ausnahme,
die schon aus statistischen Gründen in das Reich des Zufalls
verbannt werden muss. Bosinski kommt denn auch am
Schluss zu dem Fazit, dass es zwischen den Wiedergaben von
Frauen in Gönnersdorf und denjenigen in etlichen französi-
schen Höhlen „wesentliche Bedeutungsunterschiede gab“
(346). Im Gegensatz zur Höhlenkunst kann jedoch hinsicht-
lich der mobilen Eiszeitkunst auf Schiefer- und sonstigen
Steinplatten davon ausgegangen werden, dass wir es hier, am
Ende des Jungpaläolithikums, mit einer relativ einheitlichen
Kulturprovinz zu tun haben, die über heutige staatliche Gren-
zen hinwegreichte.
Das Buch ist sowohl im Hinblick auf seine fundierten und de-
taillierten Texte als auch hinsichtlich der Ausstattung mit einer
Vielzahl von Zeichnungen, Karten und Fototafeln als eine der
beeindruckendsten Spezialmonografien der vergangenen Jah-
re zu bezeichnen. Es ist selbstverständlich, dass es in jede
Bibliothek archäologischer und selbst allgemeinhistorischer
Institute sowie in den Bücherschrank der mit der Materie
betrauten Wissenschaftler gehört.
Literatur
Bosinski, Gerhard
1981 Gönnersdorf - Eiszeitjäger am Mittelrhein. Landes-
museum Koblenz.
Schulze-Thulin, Axel
1982 Rezension in TR1BUS, Bd. 31: G. Bosinski, Die Aus-
grabungen in Gönnersdorf 1968-1976 und die Sied-
lungsbefunde der Grabung 1968. Wiesbbaden: Stei-
ner 1979.
1983 Rezension in TR1BUS, Bd. 32: G. Bosinski / G. Fi-
scher, Mammut- und Pferdedarstellungen. Der Mag-
dalenien-Fundplatz Gönnersdorf. Wiesbaden: Steiner
1980.
1984 Rezension in TRIBUS, Bd. 33: E. Franken / St. Veil,
Die Steinartefakte von Gönnersdorf. Der Magdale-
nien-Fundplatz Gönnersdorf. Wiesbaden: Steiner
1983.
Axel Schulze-Thulin
Bücher, Gudrun:
„Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche
der Völker“. Die Instruktionen Gerhard Friedrich
Müllers und ihre Bedeutung für die Geschichte
der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft.
Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2002 (Quellen
und Studien zur Geschichte des östlichen Euro-
pa, Bd. 63).
Gudrun Bücher will einen Platz in der Ahnengalerie der Eth-
nologie neu besetzen: Sie würdigt in ihrer Dissertation Ger-
hard Friedrich Müller (1705 - 1783) als einen bislang ver-
nachlässigten Gründervater der neuzeitlichen Ethnologie, der
bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Gegenstand
und Forschungsmethoden konzipierte und die Ethnologie von
Geographie, Archäologie und Geschichte abgrenzte.
In ihrer Beweisführung stellt Bücher Müllers Arbeitsanleitun-
gen vor, die Müller für die Zweite Kamtschatkaexpedition
(1733-1743) entwarf. Diese größte staatlich finanzierte Expe-
dition des 18. Jahrhunderts unter der Leitung von Vitus Bering
verfolgte vier große Ziele: Auf drei Seeexpeditionen sollte die
Nordküste Sibiriens sowie der Weg nach Amerika und Japan
erkundet werden. Um Sibirien zu erforschen, reisten Gelehrte
der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Peters-
burg, unter ihnen auch der Akademieprofessor Müller, über
Land nach Kamtschatka.
Eingebettet in den historischen Kontext, betrachtet die Autorin
Müllers Werk unter zwei Fragestellungen; Können Müllers In-
struktionen schon als Auftakt für die neue Wissenschaftsdiszi-
plin Ethnologie bewertet werden? Warum hat bisher niemand
diese Frage gestellt? Beides sind höchst relevante Aspekte für
die Geschichte des Faches - dennoch ist es nicht unproblema-
tisch, beide gleichzeitig zu behandeln. Beide Fragen erfordern
jeweils eine bestimmte Perspektive, eine intrinsische, die den
Wert des Materials in seiner Zeit oder auch heute misst, und
eine extrinsische, die sich mit der Wirkungsgeschichte befasst.
Leider trennt Bücher in ihrer Argumentation nicht klar zwi-
schen beiden Perspektiven, so dass ihre Analysen zu den bei-
den Kernfragen zwar in sich überzeugen, aber nicht zueinan-
der in Beziehung gesetzt werden.
255
____________TRIBUS 52, 2003
Im ersten Teil des Buches stellt Bücher die politischen Hinter-
gründe der Expedition vor, um im Anschluss auf deren Be-
deutung für Müllers Lebensweg einzugehen (Kapitel 2). Als
Müller 1743 nach der zehnjährigen Kamtschatkaexpedition
wieder nach St. Petersburg zurückkehrtc, fand er völlig verän-
derte politische Verhältnisse vor. Die Öffnung Rußlands nach
Westen unter Zar Peter 1. war von seiner Tochter wieder zu-
rückgenommen worden. Dies führte dazu, dass die Ergebnisse
der Zweiten Kamtschatkaexpedition nicht in die wissenschaft-
liche Öffentlichkeit gelangten. Bis heute ist nur ein sehr ge-
ringer Teil von Müllers ethnographischen Arbeiten veröffent-
licht. Bücher sieht hierin den entscheidenden Grund, warum
der gebürtige Westfale, der an der Universität Leipzig Ge-
schichtswissenschaften studierte, in der westlichen Forschung
in Vergessenheit geriet (S. 11). Aber auch in Rußland, wo die
unpublizierten Schriften in Archiven eingesehen werden kön-
nen, beachteten Forscher die ethnographischen Arbeiten über
Sibirien kaum. „Wie so häufig in der russischen Geschichte,
wurde auch während der Sowjetzeit nicht gern gesehen, wenn
ein Autor die Wurzeln einer in Rußland betriebenen Wissen-
schaft auf Ausländer zurückführte“ (S. 12).
Bücher muss mit den wenigen Daten, die ihr in der Sankt Pe-
tersburger Zweigstelle des Archivs der Akademie der Wissen-
schaften zugänglich sind, argumentieren. Sie stützt ihre Ana-
lyse auf den 6. Teil seiner ausführlichen Instruktionen von
1740 mit dem Titel „Unterricht, was by Beschreibung der
Völker absonderlich der sibirischen in acht zu nehmen.“
Begründet Bücher in der Einleitung die Datenauswahl noch
rein pragmatisch, indem sie bedauert, daß sie Müllers unver-
öffentlichtes ethnographisches Material noch nicht einbezie-
hen könne (S. 12), würdigt sie in der Schlussbetrachtung In-
struktionen in Abgrenzung zu Apodemiken als „weitgehend
vernachlässigte, für die Geschichte der Entwicklung des wis-
senschaftlichen Forschens auf Reisen bzw. Expeditionen aber
sehr bedeutsame Textgattung“ (S. 184). Instruktionen seien
viel besser geeignet als der fertige Bericht, um die for-
schungsleitenden Konzepte und das Erkermtnisinteresse des
Forschers zu untersuchen.
In Kapitel 4 untersucht Bücher ausführlich die von Müller ver-
fassten Instruktionen und geht dabei auf verwendete Begriff-
lichkeiten, Themenbereiche und Systematiken ein. Anhand
Müllers methodischen Anweisungen wie die Auswahl von In-
formanten, die Teilnahme an Festen und Riten oder das Anle-
gen eines Reisetagebuches kann Bücher darlegen, dass Müller
nach dem heutigen Verständnis ethnographische Daten erhob
und die Methode Feldforschung aufgrund seiner eigenen For-
schungserfahrungen theoretisch formulierte. Auch argumen-
tiert Bücher plausibel, daß die 923 Fragen, die unter dem Titel
„Beschreibung der Völker“ in Teil 6 der Instruktionen zu-
sammengefasst sind, darauf abzielen, fremde Völker zu be-
schreiben. Müller vertritt damit schon den Gegenstandsbe-
reich, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an
der Göttinger Universität als neue Wissenschaft etablierte.
Müller trennt seinen ethnographischen Fragenkatalog klar von
Fragen zu anderen Disziplinen wie Geographie, Archäologie
oder Statistik und konzipiert damit die ,Völkerbeschreibung’
als eigenständige Disziplin - auch wenn erst August Ludwig
Schlözer später den Terminus „Ethnologie“ einführte.
Mit dieser - sehr überzeugenden - fachlichen Analyse könnte
Bücher einen Platz für Müller in der Ahnengalerie des Faches
einfordern. Doch die fachliche Bewertung reicht Bücher nicht.
In einem zweiten Schritt fragt sie nach der Wirkung von Mül-
lers Werk. In Kapitel 5 sucht sie zunächst nach Müllers Ein-
fluss in den Nachbardisziplinen Geographie und Geschichte,
um dann Müllers „versteckte Wirkung auf ethnologische Ar-
beiten“ (S. 148) nachzugehen. Bücher will also die Instruktion
mit ihrer Aufgabe - der ethnographischen Berichterstattung -
in Beziehung setzen, um die reale Bedeutung von Müllers In-
struktionen auf die Wissenschaft zu untersuchen. Ob Müller
mit der Anleitung zur Völkerbeschreibung auch „konzeptionel-
le Gedanken“ verband, wäre am besten anhand Müllers eigener
Umsetzung seiner Arbeitsanleitungen zu „messen“ (S. 153).
Diesen Anspruch kann sie in Kapitel 6 jedoch nicht gerecht
werden, weil weder Müllers Feldtagebücher noch sein ethno-
graphisches Hauptwerk „Beschreibung der sibirischen Völ-
ker“ veröffentlicht sind. Der (als vorläufig deklarierte) Rü-
ckgriff auf Publikationen von anderen Expeditionsteilnehmem
oder auf die Analysen von Alexander Eiert, der über Müllers
Manuskript in jüngster Zeit arbeitete, reichen nicht, um Mül-
lers Anspruch mit seiner Umsetzung im Feld befriedigend ver-
knüpfen zu können.
Überzeugend sind hingegen die historischen Aspekte in den
Kapitel 5 und 6. Anhand biographischer Details über Freund-
schaften und Feindschaften, Stellenpolitik und Pubiikations-
beschränkungen zeigt Bücher auf, dass Müllers Rezeption an
politischen und persönlichen Verwicklungen seiner Zeit schei-
terte. Auch in Kapitel 7, der Schlussbetrachtung, endet Bücher
mit einer historischen Auseinandersetzung zwischen Müller
und Schlözer, dem Wissenschaftshistoriker bislang eine
Schlüsselrolle in der Konzeption der Ethnologie als neue Wis-
senschaft zusprechen.
Buchers biographische Rekonstruktionen sind plausibel und
nachvollziehbar ebenso wie ihre Untersuchung des wissen-
schaftlichen Gehalts von Müllers Instruktionen. Trotzdem
bleibt nach der Lektüre eine entscheidende Frage offen: Will
Bücher in ihrer Dissertation begründen, warum Müller auf-
grund seiner Instruktionen einen Platz in der Ahnengalerie
verdient, oder will sie argumentieren, warum es nie zu dieser
Würdigung kam? Kurz: Was macht einen Gründervater zum
Gründervater?
Imme Petersen
Chippindale, Christopher /
Tacon, Paul S. C. (ed.):
The Archaeology of Rock-Art. Cambridge / New
York / Melbourne / Madrid: Cambridge Univer-
sity Press, 2000 (reprinted with corrections;
1998 first published). 18 + 373 p.
ISBN 0-521-57256-8 (hardback),
0-521-57619-9 (paperback)
Das vorliegende Buch hat 19 Kapitel, die von insgesamt 20
Autoren geschrieben wurden. Die Herausgeber selbst stehen
gemeinsam für die Kapitel 1 und 6 Pate. Jedes Kapitel hat sei-
ne Abbildungen in den zweispaltig gesetzten Text integriert
und sein eigenes Literaturverzeichnis. Ein sehr fein geglieder-
ter, 27seitiger Index erschließt das Sammelwerk zuverlässig
von hinten, jeweils 4 Seiten Inhaltsverzeichnis und Abbil-
dungsregister von vome.
I. An archaeology of rock-art through informed methods and
formal methods (Tagon/Chippindale; S. 1-10)
____________Buchbesprechungen Allgemein
Die Herausgeber führen in die Gesamtthematik ein und erläu-
tern die Struktur des Buches. An Beispielen wird verdeutlicht,
dass es in Australien eine Tradition gibt, dass die Felsbild-
kunst (die Autoren wählen ,rock-art’ als Überbegriff, differen-
zieren aber durchaus eigentliche Malerei als Auftrag auf die
Felsen und Gravuren, Punzierungen, Schliffe etc. als Abtrag
der Felsoberfläche als Bildträger) vom Eiszeitende bis in die
Gegenwart von Aborigines weitergeführt wird. 1971 gelang
erstmals die Übertragung der Bilder auf flexible Träger mittels
anderer Farben (Leinwand und Acryl).
Fünf Kriterien wurden erarbeitet, nach denen vorgegangen
wird;
1) Welches Material liegt vor - Bestandsanalyse
2) Aus welcher Zeit stammt das Bild - Datierung
3) Studium mit Zusatzinformationen (informed methods) -
Kenntnisse aus Nachbarwissenschaften oder besser, aus
ungebrochener Tradition wie in Australien
4) Studium mir formalen Methoden (formal methods) -
Interpretation des Bildes
5) Analogieuntersuchung - manchmal geben Felsbilder an
einem Fundort, den man aufsuchen kann, Informationen
über Bilder, die man nicht besuchen kann.
ln jedem Folgekapitel kommen zumindest einige dieser Krite-
rien zur Anwendung. Die vorgestellten Plätze der Fallstudien
liegen in Australien, Südafrika, Nordamerika, Skandinavien,
West-Europa, Zentralasien, Pazifische Inseln. Ganz ausgelas-
sen wurde beispielsweise Nord- und Westafrika (dies ohne Be-
gründung).
2. Finding min in the desert: landscape, gender andfar
Western North American rock-art (D: S. Whitley; S. 11-29)
In Kalifornien, im Großen Becken und auf dem Columbia Pla-
teau gibt es eine ganze Reihe Felsbilder. Die kalifornischen
sind überwiegend gemalt. Es wurden rote, gelbe, schwarze,
weiße und blau-grüne Pigmente dokumentiert, vom Stil domi-
nieren geometrische Motive. In der Great-Basin-Tradition
herrschen Punzierungen vor. Eindrucksvoll abgebildet ist ein
springendes Big Hom Schaf, das als schamanistischer Tier-
Helfer gedeutet wird. Andere Darstellungen sind u.a. Katzen,
Schlangen, Eidechsen. Als dokumentierte Altersangabe stehen
im Great Basin 16500 B.P. (vor heute) und früher zur Debat-
te. Andere Darstellungen lassen sich durch ethnographische
Vergleiche später einordnen. Vermutlich wurden die meisten
Gravuren innerhalb der letzten 2000 Jahre gemacht.
Über längere Strecken wird die Diskussion verschiedener Mo-
tive wiedergegeben, die einen veränderten Bewusstseinszu-
stand beim Künstler voraussetzt. Andere Darstellungen wer-
den als Initiationsbilder gedeutet, für die es ethnographische
Belege bis ins 19. Jh. gibt. Eine ganze Reihe Fundplätze bele-
gen schamanistische Rituale. Die sehr ausführliche Bibliogra-
phie (4 Seiten) hilft bei Fragen sicher weiter.
3. Towards a mindscape of landscape: rock-art as expression
of world-understanding (S. Ouzman; S. 30-41)
Dieser Aufsatz ist eher ein Überblick und hat drei Fragestel-
lungen: Das kognitive System der prähistorischen Menschen,
ihre Landschafts- bzw. Umgebungswahrnehmung und Scha-
manismus. Zwei Aussagen lassen sich machen: Felsbilder las-
sen sich nicht linearisiercn wie Text und Felsbilder sind aus
dem normalen Kontext herausgehoben. Dies wird durch Ver-
gleich mit der Lebensweise der San (Buschmänner) begrün-
det. Die Bilder könnten nach der zweiten These schamanisti-
schen Ursprungs sein, also einen Bezug zu übersinnlicher
Wahrnehmung haben. Nach einer dritten These sind Felsbilder
Marker für die Übergänge zwischen den Welten. Diese These
favorisiert Ouzman und versucht das durch Schilderungen und
Beschreibungen aus Südafrika zu erhärten,
4. Icon and narrative in transition: contacl-period rock-art
and Writing-On-Stone, Southern Alberta, Canada
(M. A. Klassen; S. 42-72)
Writing-On-Stone am Milk-River ist mit mehr als 280 Fels-
bildem an 93 Plätzen der bedeutendste Fundort in den Great
Plains. Klassen stellt ihn vor, beschreibt und liefert viel Bild-
material. Ungewöhnlich sind Schild-Figuren mit einem kreis-
förmigen, gemusterten Rumpf, winzigem Kopf und winzigen
Beinen. Weil es auch derartige Figuren mit Gewehrdarstellun-
gen gibt, ist eine ungefähre zeitliche Einordnung der Male-
reien möglich. Ein zweiter Bildhorizont enthält Pferde- und
Reiterdarstellungen bis hin zu komplexen Kampfszenen. Die
abschließenden Betrachtungen stellen den Zusammenhang
zwischen den heiligen Plätzen der Blackfoot und den Felsbil-
dem her.
5. Rain in Bushman belief, politics and history: the rock-art
of rain-making in the south-eastern mountains, Southern
Africa (Th. A. Dowson; S. 73-89)
Im letzten Viertel des 20. Jhs. wurden große Fortschritte bei
der Datierung und Entschlüsselung der Felsbilder in Südafri-
ka gemacht. Vor allem Buschmannwissen half bei der Erar-
beitung der spirituellen Dimension und dabei, welche Tiere
mit Regen und Regen-Machen in Verbindung stehen. Eine
ganze Reihe der Regen-Kreaturen (nicht spezifiziert) und Re-
gen-Schlangen werden abgebildet.
6. The ways of dating Arnhem Land rock-art. north Australia
(Ch. Chippindale / P. S. C. Tagon; S. 90-111)
Durch die gute Vorarbeit der ersten Forschergeneration, die
die Felsbilder in Arnhem Land untersuchte, konnte jüngst ei-
ne sichere relative und absolute Chronologie aufgestellt wer-
den. Einige hundert Fundplätze mit mehreren tausend Bildern
sind bekannt. Die Tradition der Felsmalerei ging fort bis ins
20. Jh. hinein. Für einige Bilder konnten die Künstler direkt
nach der Bedeutung und dem Grund des Malens gefragt wer-
den. Auch das Wissen über die Traumzeit half weiter. Um es
kurz zu machen: Alle im 1. Kapitel beschriebenen Methoden
zur Erforschung konnten angewendet werden. Hilfreich war
das Vorkommen von Vielfach-Übennalungen, die in ihrer Tie-
fenstruktur analysiert wurden und von Bienenwachsapplika-
tionen in einigen Bildern, die eine direkte C14-Messung er-
möglichten. In einer Überblickstabelle wurde der Forschungs-
stand festgehalten. Die Wege dorthin sind genau dokumen-
tiert. Eine vorbildliche Arbeit.
7. The , Three Csfresh avenues towards European Palaeo-
lithic art (J. Glottes; S. 112-129)
In den 90er Jahren gab es drei große Entdeckungen: Cosquer
1991 - eine Höhle mit untermeerischem Zugang in den Ca-
lanques, Chauvert 1994 - eine Höhle in den Ardeche-Schluch-
ten (beides Südfrankreich) und Cöa 1994 - Petroglyphen im
gleichnamigen Tal in Nordportugal.
Gemeinsam ist beiden Höhlen, dass Malereien ganz unge-
wöhnlicher Güte entdeckt wurden und dass aufgrund verbes-
serter Methoden direkte Radiokarbon-Messungen vorgenom-
257
____________TRIBUS 52, 2003
men werden konnten. Für Cosquer sind liegen viele Messun-
gen zwischen 18000 und 27000 B.P. Chauvet besticht durch
seine einzigartigen Malereien von Tieren in ungewöhnlicher
Dichte. Einige Malereien wurden zwischen 30000 und 32000
B.P. datiert und stellen einen Altersrekord dar. Im Cöa-Tal
kommen punzierte und gravierte Bilder vor, auch in mehr-
facher Überlagerung. Zum Schluss gibt Glottes noch einen
Überblick über die 32 bisherigen direkten AMS-Altersbestim-
mungen in 9 Höhlen, Insgesamt kommt der Autor zum
Schluss, dass die neuen Funde unser Wissen über die paläoli-
thische Kunst immens vergrößerten.
8. Daggers drawn: depictions of Bronze Age weapons in
Atlantic Europa (R. Bradley: S. 130-145)
Ganz im Westen Europas gibt es eine Reihe von Fundplätzen
- Zentrum des Artikels sind Alentejo (SW-Portugal), Galizien
(NW-Spanien) im Vergleich zu SW-England und W-Schott-
land. Die Motive entstanden wohl in der frühen Bronzezeit
(2300 - 1500 v.Chr.) und stellen Bronzewaffen mit ihren typi-
schen Formen dar: Äxte, Hellebarden, Dolch- und Schwert-
klingen hauptsächlich. Die galizischen Motive sind teilweise
stark abstrahiert. Die Gravuren und ihre Exposition werden
detailliert erörtert. Warum derartige Bilder gerade an der
Westküste Europas zu finden sind bleibt offen.
9. Symbols in a changing world: rock-art and the
transition front hunting tofarming in Mid-Norway
(K. Sognnes; S. 146-162)
Es wird gleich vorausgeschickt, dass die Datierung der freilie-
genden Punzierungen in Skandinavien schwierig ist. Trotzdem
können die Trondheimer Petroglyphen zwischen 4500 v.Chr.
und 400 n.Chr. eingeordnet werden. Felsbilder werden seit ca.
130 Jahren untersucht an etwa 200 Fundstellen. In einer guten
Übersicht werden Tier- und Schiffsdarstellungen mit typischer
Formgebung und ungefährer Zeitskala gegenübergestellt. Da
die meisten Fundplätze in den Fjorden liegen und auf unter-
schiedlicher Höhe, wurde zur Datierung (nur für Skandinavien
so möglich!!) die nacheiszeitliche Landhebung herangezogen.
Ein Foto dokumentiert einerseits die Tatsache, dass die Plätze
nur aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu entdecken sind
und andererseits die gute Qualität der Umzeichnungen, die an-
sonsten verwendet wurden. Insgesamt eine gediegene Arbeit
mit überraschenden Details.
10. Pacific rock-art and cultural genesis: a multivariate
exploration (M. Wilson: S. 163-184)
Wilson präsentiert nicht einzelne Fundplätze, sondern offeriert
die Resultate einer größeren Studie: Felsbilder im Vergleich,
Motive werden mit mathematischen Modellen aufgrund ihrer
Geometrie (z.B. Achsenlängen) korreliert und das über gesam-
ten pazifischen Raum. Intensiv diskutiert werden die verschie-
denen Modelle der Besiedelung des pazifischen Raumes von
Kirch und Green. Die Fclsbilder bieten einen unabhängigen An-
satz. In der Studie konzentriert sich Wilson auf anthropomorphe
und geometrische Motive und gliedert den Gesamtraum in 17
Bezirke von den Oster-lnseln bis Neuguinea. Die Motivauswahl
wird gerechtfertigt, dass sie über 50% der Bildanteile in jedem
Bezirk liefert. Teilweise konnten die Besiedelungsmodelle des
pazifischen Raums bestätigt werden, teils liefern sie neue De-
tails (z.B. gibt es vielleicht 2 unabhängige Kolonisationsperio-
den von Hawaii ca. 1000 und ca. 1300 n.Chr.). Grundsätzlich
bietet die Felsbildkunst einen Forschungsansatz, der aus einer
Nische herauskommt und für die Zukunft wichtiger werden
wird. Ein Artikel mit manch überraschender Einsicht.
11. Spatial hehaviour and learning in the prehistoric
environment of the Colorado River drainage
(south-eastern Utah), western North America
(R. Hartley / A. M. Wolley Vawser; S. 185-211)
Ein interessanter Ansatz, der auf der These beruht, dass Fels-
bilder als Landschaftsmarker benutzt wurden und so das
Raum-Bewusstsein der Menschen beeinflussten. In ihrer Stu-
die gingen die Autoren von drei nahe beieinander liegenden
Ansammlungen von Felsbüdfündplätzen aus, die zusammen
mit Vorratsdepots in den Seitencanyons und -tälem des Colo-
rado Vorkommen. Zudem mussten diese Plätze gut dokumen-
tiert sein und es mussten gute Karten existieren. Mit einem
Geographischen-Informations-System (GIS) wurde ein Gelän-
demodell digitalisiert, die effizientesten Verkehrswege er-
mittelt und die Sichtverbindung auf die Felsbildstationen pro
30m-Rasterquadrat erfasst. Eine schwer einzuschätzende
Schwierigkeit wurde ebenfalls diskutiert - auch potentielle
Diebe können sich an derartigen Marken orientieren, was ihren
Sinn in Frage stellen könnte. Computereinsatz eröffnet wirk-
lich neue Möglichkeiten. Ob die Altamerikaner aber aus Grün-
den, die wir uns ausdenken, ihre Bilder erstellten, bleibt dahin-
gestellt. Trotzdem: Ein begrüßenswerter, innovativer Ansatz.
12. The tale of the chameleon and the platypus: Limited and
likely cholees in making pictures (B. Smith: S. 212-228)
Eine seltsame Geschichte, die aber jedem widerfahren könnte.
Der Autor steht vor dem Bild eines Chamäleons und benennt
es als ein solches. Der einheimische Begleiter aus Malawi
fragt zurück, was ihn sicher mache, dass dies ein Chamäleon
sei. Tiefe Verunsicherung. Szenenwechsel von Afrika nach
Australien. Ein singuläres Bild, fischförmig, aber mit ftinf-
fmgrigen Gliedmaßen und mit nichts vergleichbar. Dies löst
eine tiefsinnige Reflexion über den Bildentstehungsprozess
insgesamt aus. Eine philosophisch orientierte Betrachtung -
aber hilft sie uns, die Überlegungen der Felsbildkünstler wirk-
lich nachzuvollziehen?
13. Pictographic evidence of peyotism in the Lower Pecos,
Texas Archaic (C. E. Boyd; S. 229-246)
Im Lower Pecos Gebiet wurden Hunderte Felsbilder gefunden
und in vier Stile geordnet. Die organischen Bindemittel der
Farben wurden auf ihre DNS geprüft, die AMS-Datierungen
von ca. 4200 bis 2950 B.P. gemacht. Die Autorin beschreibt
die Methoden ihrer Untersuchung und dann die sehr abstrakt
wirkenden Malereien mit anthropomorphen Darstellungen.
Schwenk: Darstellung botanischer Details des Peyote, dann
ein Überblick über den historisch (seit ca. 1560) fassbaren
Peyote-Kult, dann der über den Huichol-Peyotismus. So vor-
bereitet wird das große Bild, das im Zentrum der Betrachtung
steht, als Resultat kultischer Peyote-Séancen interpretiert. Der
Gebrauch des Peyote wird durch 7000 Jahre alte Funde (Pey-
ote-Buttons) bis weit in die Frühgeschichte zurück fassbar. Ei-
ne überzeugende, tiefsinnige Studie, die ein Schlaglicht auf
mögliche religiöse Kulte in ferner Vergangenheit liefert.
14. Modelling change in the contact art of the south-eastern
San. Southern Africa (P. Jolly; S. 247-267)
Die San-Malerei in der Region Drakensberg wurde offensicht-
lich kontinuierlich ausgeübt bis ins späte 19. Jh. hinein. Die
____________Buchbesprechungen Allgemein
Malereien sind so naturalistisch, dass San und andere Ethnien
nach üblicher Interpretation identifiziert werden können.
Durch die AMS-Datierung besteht jetzt die Möglichkeit,
innerafrikanische Migration bzw. ihretwegen auftretende Kon-
flikte vor der europäischen Durchdringung zu datieren. Die im
1. Kap. vorgestellten Methoden werden für diese Fallstudie er-
läutert. Der Wechsel in der rituellen Praxis wird belegt durch
neue Symbole, wobei deutlich wird, dass auch alte und neue
Riten parallel existierten. Die Kernthesen sind durch gutes
Bildmaterial nachvollziehbar belegt.
15. Ethnography and method in Southern Africa rock-art
research (A. Solomon; S. 268-284)
Ging der letzte Artikel geographisch ins Detail, sucht Solo-
mon den Blick auf den gesamten Großraum Südafrika staa-
tenübergreifend mit vielen tausend Fundplätzen auszudehnen.
Sie kommt zu dem Schluss, dass die Tradition der San-Kunst
seit langem tot ist, und wir keine Einsicht in die Praxis der
Malerei haben. Sie stellt sich hiermit in einen gewissen
Gegensatz zu Jolly, auch bezüglich der Wertung der Altersan-
gaben, obwohl sich beide auf dieselben Quellen beziehen.
Hier hätten die Herausgeber einen klärenden Kommentar lie-
fern können. Solomon diskutiert ausführlich die vor 20 Jahren
erstmals aufgestellte schamanistische Interpretation der San-
Kunst, die sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen hatte.
Genauer untersucht sie in ethnographischen Belegen Hin-
weise für Trance-Zustände bei Buschmann-Ritualen und
hinterfragt die vorliegenden Detailstudien anderer Autoren
(nebenbei: nicht jeder Trance-Zustand kann sofort als scha-
manistisches Ritual interpretiert werden und bisher gilt Afrika
als Kontinent ohne Schamanismus!). Ein weiterer Schritt ist
die formale Analyse des Motivs der .Mystischen Frau’, das
quer durch die vorliegende Literatur verfolgt und durch Ab-
bildungen belegt wird in Bezug auf die Darstellungsart; fron-
tal statt lateral, wie sonst üblich. Insgesamt urteilt Solomon,
dass die ethnographischen Analogien in Südafrika bestens zur
Interpretation der Felsbilder geeignet sind. Der teilweise
kämpferisch-kritische Unterton der Studie rührt vielleicht da-
her, dass sie ein Auszug aus einer Dissertation ist.
16. Changing art in a changing society: the Hunters ’ rock-art
of Western Norway (E. M. Walderhaug; S. 285-301)
Gegenstand des Aufsatzes sind 6 Felsbildplätze mit etwa 400
Ritzungen in West-Norwegen. Alle liegen an Fjorden. Überra-
schend war die fortgeschrittene (natürliche) Zerstörung des
weichen Phyllits in Ausevik, einem Fundplatz, der vor 70 Jah-
ren erstmals dokumentiert wurde. Die Tierabbildungen
(hauptsächlich Hirsch, Ren, Elch) werden einer formalen Ana-
lyse unterzogen und nach Darstellungs- bzw. Abstraktionskri-
terien geordnet. Ein Ergebnis war die Rückführung der ab-
strakten Bilder auf den Einfluss der agrarischen Kulturen in
Südskandinavien oder West-Europa.
17. Central-Asian petroglyphs: between Indo-lranian and
shamanistic interpretations (H.-P. Francfort; S. 302-318)
Petroglyphen sind zahlreich in Zentralasien zu finden - meh-
rere hundert Plätze sind bekannt. Anders als in vielen Gebie-
ten der Erde liegt aber hier eine begleitende Fundsituation vor.
Im Permafrostboden des Altai haben sich Textilien in Form
von Kleidungsstücken und Pferdeausstattung genauso erhalten
wie tatauierte Körperornamente. Weit in die Vergangenheit
reichen die Veden und der Avesta als Schriftquellen. Was den
Bildinhalt angeht, konkurrieren zwei Thesen miteinander. Die
indo-iranische Theorie nimmt die Felsbilder als Illustrationen
alter Texte, die schamanistische interpretiert sie als Ausdruck
der alten Glaubensvorstellungen und Rituale. Die einzelnen
Gattungen (Tiere, Waffen, Wagen) diskutiert Francfort aus-
führlich jeweils mit pro und contra, so dass man sich als Leser
bestens informieren kann. Etwas kürzer kommt die schamani-
stische Theorie weg. Beide müssen aber sicher als Möglich-
keiten in Betracht gezogen werden.
18. Shelter rock-art in the Sydney Basin - a space-time
continuum: Exploring different influences on stylistic change
(J. McDonald: S. 319-335)
Dieser Abschnitt basiert auf der unpublizierten Dissertation
des Autors mit wegweisendem Titel: ‘Dreamtimes superhigh-
way’. Im Sydney-Becken mit rund 300000 km2 werden zwei
Arten von Felsbildem gefunden; Gravuren oder Punzierungen
auf ebenem Sandstein und pigmentieret, auch gemalte in
Überhängen. Vom Alter her liegen sie im späten Pleistozän mit
zwei Schüben der Ausbreitung - vor rund 5000 und rund 3000
Jahren. Direkte Altersbestimmungen mittels AMS-Methode
waren möglich (11 Daten sind tabelliert). Zur Auswertung
stand Material aus über 1200 Plätzen mit über 22000 Einzel-
motiven zur Verfügung. Die statistische Analyse zeigt bei den
ebenen Gravuren Fußmotive als numerischen Spitzenreiter,
bei den steilwandigen Handmotive; insgesamt wurden je 26
Rubriken gebildet. Ausführlich referiert McDonald die Ethno-
historie der Aborigines, die mit 4 Sprachgruppen in der Re-
gion vertreten waren. In einzelnen Schritten werden die Zeit-
horizonte ab dem Pleistozän geschildert und tabelliert. Insge-
samt eine Arbeit, die durch ihren Überblick überzeugt.
19. Making sense ofohscure pictures front our own history:
exotic inniges from Callan Park, Australia
(J. Clegg; S. 336-345)
Im Hafengebiet von Sydney gibt es eine Reihe von Gravuren
im Fels aus der jüngsten Vergangenheit, die der Autor seit über
20 Jahren im Blick hat. Darstellungen von Menschen, Schif-
fen, Fischen sind häufig in Verbindung mit kryptologischen
Schriftzügen, die der Autor entziffert oder es zumindest ver-
sucht. Oft ist dies nur über die Lautierung möglich. Ob alles
sinnvoll ist, bleibt offen. Ein Beleg dafür, wie unverständlich
manches Felsbild selbst dem Zeitgenossen bleibt.
Obwohl sich die Herausgeber zu jedem Artikel im Kleindruck
kurz äußern (oder sind es die Autoren selbst?), hätte ich mir zu
manchem Artikel die redigierende oder ergänzende, kommen-
tierende Hand der Herausgeber gewünscht.
Anfangs lobte ich den Index. An einer Stelle allerdings versagt
er völlig; Unter ,AMS radiocarbon dating 6’ findet man nur
Dürftiges im zugehörigen Text. Ich hätte folgende Erweite-
rung;
AMS radiocarbon dating 3, 6, 126, 229, 319, 330f, 333f.
see Accelerator Mass
Spectrometry 180
see Accelerator Carbon-
14 dating method 250
and see radio carbon dating
Jeder Autor hat seinen Abschnitt mit einer so ausführlichen
Bibliographie versehen, dass dies immer eine gute Basis für
weitere Arbeiten sein kann. Generell macht dieser Sammel-
band einen fundierten Eindruck mit einer recht guten Auswahl
259
__________TRIBUS 52, 2003
bezüglich der geographischen Aspekte. Gelungen finde ich die
Mischung aus mehr deskriptiven und eher theoretischen, ver-
gleichenden Kapiteln, ebenso die Einbindung moderner
Untersuchungsmethoden. Dass Nordafrika, speziell die Saha-
ra, ganz fehlt und Asien etwas kurz wegkam. bedaure ich sehr.
Zwei oder drei weitere Artikel hätten das Werk abgerundet.
Trotzdem hat mich diese , Archäologie der Felsbildkunsf sehr
bereichert.
Wolfgang Creyaufmüller
Damm, Annette et al. (Hrsg.):
Faszination Mensch. Katalog zur Ausstellung.
Kopenhagen: United Exhibits Group, 2000. 91
Seiten, zahlreiche Färb- und SW-Abbildungen,
Karten, Zeichnungen, Grafiken.
Diese Publikation ist der Katalog zur gleichnamigen Ausstel-
lung, die in sieben deutschen Städten zu sehen war bzw. bei
Erscheinen des vorliegenden TRIBUS-Bandes laut Katalogan-
gabe noch in Chemnitz zu sehen ist (Schloßbergmuseum 21.2.
bis 13.6.2004). Falls Sie die bisherigen Ausstellungstermine
verpasst haben und auch jetzt nicht die Zeit finden, nach
Chemnitz zu fahren, können Sie sich anhand des hier rezen-
sierten Kataloges über die Thematik der Ausstellung infor-
mieren, ohne allerdings die zeitgenössischen, toppaktuellen
Ausstellungsmedien mitzubekommen, wie Touch-Screens,
Touch-Screen-Computer, Leuchtdisplays, Multimedia-Diora-
men, 3-D-Kino u.a. - die Aussteller haben kaum eines ausge-
lassen. Wie Teit Ritzau, der Präsident der United Exhibits
Group, in einem Vorwort schreibt, soll die Ausstellung und na-
türlich auch der Katalog die „Geschichte über den Ursprung
des menschlichen Bewusstseins erzählen“. Sicher ist das et-
was zu hochtrabend ausgedrückt, denn die Geschichte zu die-
sem Thema würde wahrscheinlich etliche Bände füllen. Doch
ist die vorliegende Publikation eine gelungene Einführung in
den erwähnten Bereich (trotz des vielmals gebrauchten Lieb-
lingswortes „faszinierend“), was manche Kritik an Inhalt und
Layout des Kataloges nicht ausschließt, wie wir sehen werden.
Zum Teil sind die Autor(inn)en mit den Herausgeber(inne)n
identisch, zum Teil kommen bekannte Wissenschaftler ver-
schiedener Disziplinen zu Wort.
Die Veröffentlichung hinterlässt einen zwiespältigen Ein-
druck. Neben Lob, so für die thematische Behandlung des
Stoffes und den Aufbau der Arbeit, rufen verschiedene Berei-
che auch Kritik hervor. Ein maßgeblicher Grund für manche
Mängel liegt darin, dass hier sehr viele am Zustandekommen
des Ergebnisses beteiligt waren (Sie kennen den Sprach mit
den Köchen und dem Brei). Ich werde zunächst den Inhalt der
Publikation vorstellen, sodann auf einige wissenschaftliche
Aspekte eingehen und zum Schluss ein paar Worte zu Layout
und dem damit zusammenhängenden Terrain sagen.
Der Katalog ist in drei Kapitel gegliedert, ohne dass diese so
genannt werden. Dem fortlaufenden Text vorgeschaltet sind
ein Ausstellungszeit- und -veranstaltungsortsplan, eine Dar-
stellung des Ausstellungskonzeptes in drei Teilen, eine kurze
Einführung und Aussagen bekannter, teilweise berühmter For-
scherpersönlichkeiten sowie Salvador Dalis als herausragen-
dem Künstler des 20. Jahrhunderts zur Psyche des Menschen.
Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Was macht uns zum
Menschen“. Dieses Thema wird in sechs Aufsätzen (vier Au-
tor[inn]en) abgehandelt, wobei sich einer der Herausgeber,
Theodor Abt, sowohl in einem Überblick mit dem Titel „Fas-
zination Mensch“ als auch in einer weiteren Abhandlung zur
„Evolution der Psyche“ äußert. Von Jane Goodall stammt der
Beitrag „Schimpansen und Menschen“. John de Vos schrieb
über die „Evolution des Menschen“ (dazu gibt es unter dem
Stichwort „Evolution“ eine Erklärung von Peter Koomen, der
sich auch am Schluss weiterer Artikel zu bestimmten Berei-
chen in lexikalischer Form äußert). Dean Falk folgt mit der
„Evolution des Gehirns“ und Steven Mithen mit derjenigen
des Verstandes. Ob es sich bei den einzelnen Abhandlungen
um Auszüge aus Publikationen der jeweiligen Verfasserfin-
nen) handelt oder um spezielle Niederschriften für die Aus-
stellung, wird nicht ersichtlich. Das nächste Kapitel enthält
drei Aufsätze unterschiedlicher Länge: (1) „Technologie der
Jäger und Sammler“ von David S. Whitley (mit dem hier nicht
zutreffenden Begriff „Technologie“ ist selbstverständlich „an-
gewandte Technik“ gemeint). (2) Von diesem Autor stammt
auch der nächste Artikel „Felsmalerei und das Erwachen des
menschlichen Bewußtseins“, der mit elf Seiten der längste des
Buches ist. (3) „Der innere Weg der Schamanen“ von Jean
Glottes. Das dritte Kapitel heißt „Fundstätten - Felsbilder
Naturgeschichte“. Es enthält sechs Aufsätze. Zunächst tritt er-
neut Jean Glottes mit „Höhlenmalereien während der Eiszeit
in Europa“ auf den Plan. Knut Helskog schließt sich mit den
„Geistern von Alta“ an (neolithische und spätere Felsbilder im
nördlichen Norwegen). Der folgende Aufsatz über die „Fels-
malerei in Huashan“ (südwestliches China) wurde von zwei
Autoren geschrieben, Jiang Zehn-Ming und Wang Jian-Min.
Das nördlichste Australien ist eine Region, in der „ein Ort le-
bendiger Kultur“ existiert, wie George Chaloupka schildert.
Zum Schluss dieses Kapitels gelangt der Leser in „bemalte
Schluchten“ im östlichen Utah (Verfasser: David S. Whitley)
sowie in das östliche Südafrika, wo er die „Bilder in den Dra-
kensbergen“ in Wort und Bild vorgeführt erhält. Der Autor
dieses letzten Artikels ist David Lewis-Williams, der Jean
Glottes bei dessen „schamanistischer“ Deutung europäischer
Felsbilder maßgeblich beeinflusst hat. Ein esoterisch anmu-
tender Epilog sowie ein Foto der indianischen Schauspielerin
Tantoo Cardinal (s. den Film „Der mit dem Wolf tanzt“) mit
Kauri-Armband beschließen den fortlaufenden Text. Die Pu-
blikation selbst endet mit einem Literaturverzeichnis zu den
einzelnen Abhandlungen, Quellenhinweisen zu den Abbildun-
gen sowie kurzen Angaben über die wissenschaftlichen
Hintergründe von Ausstellung und Katalog.
Ich möchte nun zunächst, wie angekündigt, einiges zum Inhalt
und bestimmten Vorstellungen zur Felsbildkunst sagen. Zu-
nächst fällt auf, dass vermutete Zusammenhänge, teilweise
auch Spekulationen, als Tatsachen, als feststehende, bewiese-
ne Erkenntnisse genommen werden, die jedoch lediglich den
Status von Hypothesen besitzen. Betrachten wir zum Beispiel
gleich zu Anfang der Publikation die berühmte Szene in Las-
caux (SeitelO, nicht 12, wie auf Seite 9 angegeben) mit erleg-
tem Wisent, Vogel (auf Stange?), Mensch, wahrscheinlich Jä-
ger des Wildrindes, und weiteren Darstellungen, deren Zuge-
hörigkeit zu der Szene allerdings zweifelhaft ist und auf dem
Ausschnitt (hier seitenverkehrt reproduziert) auch nicht
wiedergegeben wurden. Zahllos sind die Erklärungsversuche
zu diesem magdalenienzeitlichen Felsbild im vergangenen
halben Jahrhundert seit seiner Entdeckung. Zweifellos lässt
die besondere Örtlichkeit des mehrfarbigen Bildes (schwere
260
__________Buchbesprechungen Allgemein
Zugänglichkeit innerhalb der Höhle) darauf schließen, dass
seine Herstellung für den jungpaläolithischen Künstler von
besonderer Bedeutung war. Das ist aber auch schon alles, was
wir reinen Gewissens behaupten können. Von einem schama-
nistischen Hintergrund, ja selbst einem religiösen Anlass für
den Maler kann höchstens spekulativ die Rede sein. Da ist der
immer wieder angeführte vogelartige Kopf der unschwer als
Mann zu erkennenden Gestalt (nebenbei bemerkt - die be-
hauptete Erektion braucht gar keine zu sein), der angeblich -
vor allem in Verbindung mit dem wiedergegebenen Vogel und
auf der Grundlage rezenter Erscheinungen - auf einen Scha-
manen hinweisen würde. Von wegen Vogelkopf und Schama-
ne. Der Jäger des Wisents hatte nur eine besonders große Na-
se. Unter Hinweis auf das außergewöhnliche jägerische Kön-
nen, das bei der Jagd auf dieses wehrhafte Großwild - zumal
mit einem Speer - erforderlich ist (wie die beim getöteten Tier
herausgetretenen Därme sowie die zerbrochene Jagdwaffe
verdeutlichen, hat sich der Kampf offenbar auch lange hinge-
zogen), könnte ich mit demselben Recht behaupten, dass die
Szene einen für die Nachwelt mnemonischen, prestigebezoge-
nen Hintergrund hat. Dabei sollte der versteckte Bildträger vor
der Zerstörung durch einen möglichen innertribalen Rivalen
oder durch außertribale Feinde schützen. Der liegende Jäger,
angeblich gerade bei seinem Flug durch schamanistische Wel-
ten, ruht lediglich vor Erschöpfung aus, der Vogel soll bloß
darauf verweisen, dass nur ein Vogel auf einem Baumast Zeu-
ge des Geschehens war. Vielleicht ist der Vogel auch als Klan-
zeichen des Jägers zu deuten. Meine hier etwas augenzwin-
kernde Erklärung ist bewusst aus der Luft gegriffen, jedoch
nicht mehr spekulativ als jede „schamanistische Erklärung“.
Nächstes Beispiel: Eine ebenfalls reine Annahme ist die Hy-
pothese, dass die europäischen Felsbilder nichts mit Jagdma-
gie zu tun hätten (10). Zwar ist die Erklärung mancher Fels-
bildkunst mit Jagdmagie ebenfalls hypothetisch, doch weisen
die zahlreichen Motive mit abgebildeten Speeren und Pfeilen
in wiedergegebenen Tierkörpern, die ja nun einmal Tatsache
sind, auf eine Art von Analogiezauber hin. Ich bin mir im Kla-
ren, dass ich hier eine (von etlichen als veraltet angesehene)
Position einnehme, die nicht mit der vorherrschenden Mei-
nung übereinstimmt. Ein Aspekt der Ablehnung der Felsbild-
erklärung mit Jagdmagie ist der immer wieder vorgebrachte
Hinweis, dass keine Knochen der dargestellten Jagdtiere in der
jeweiligen Region gefunden worden wären. Das kann mehre-
re Gründe haben. Dass dennoch Jagdmagie über zielgerichte-
te Tierbilder im Spiel gewesen sein kann, zeigt die Überle-
gung, ob nicht die früher saisonal erschienenen und nun seit
einigen Jahren nicht mehr zurückgekehrten Tierherden (auch
hierfür kann es etliche Ursachen geben) mittels Bildzauber
und dadurch aktivierte bestimmte übernatürliche Kräfte wie-
der auf die Bildfläche - im wahrsten Sinne des Wortes - zu-
rückgeholt werden sollten. Für mich ist sicher, dass eine eins-
tige Grundlage als Erklänmg für die Vielzahl der Felsbilder,
selbst innerhalb einer Region, nicht ausreicht.
Ein weiteres Beispiel: Es besteht ein begrifflicher Unterschied
zwischen Medizinmann/-ffau und Schaman(in)e. Der Scha-
manismus ist eine relativ junge Erscheinung, während wir das
Medizinmann/frauwesen für das Jungpaläolithikum auf jeden
Fall voraussetzen dürfen (seine Anfänge reichen sicherlich bis
weit in das Mittelpaläolithikum, wenn nicht gar in das Altpa-
läolithikum hinunter). Whitley setzt bei seiner Erklärung des
Schamanismus den Terminus „Schamane“ mit dem des „Me-
dizinmanns“ gleich (40). Selbstverständlich gibt es realisti-
sche Anhaltspunkte dafür, den Inhalt von Felsbildern so zu er-
klären wie Whitley (insbesondere 35 f, 39). Das Alter der eis-
zeitlichen Höhlenmalerei in Frankreich an Chauvet aufzuhän-
gen, ist jedoch zumindest zweifelhaft, was ich unter Hinweis
auf Christian Züchner an anderer Stelle angeführt habe
(Schulze-Thulin 2001). Auch im Hinblick auf Nordamerika
von einem Alter der Felsbilder von 10.000 Jahren zu sprechen
(37), ist verfehlt. Zum Schamanismushintergrund der franzö-
sischen Felsbildkunst, wie ihn Glottes sieht, möchte ich nicht
erneut eingehen (s. stattdessen Schulze-Thulin 1998). Im Hin-
blick auf neuere Forschungsergebnisse scheinen einzelne
Texte bereits vor Jahren fertig gestellt und nicht auf den neue-
sten Stand gebracht zu sein (Beispiel: Die Trennung von Affe
und Mensch ist wesentlich früher anzusetzen als die auf S. 18
angegebenen fünf bis sechs Millionen Jahre; mindestens drei
(durch den Tschad-Fund mittlerweile sogar fünf) Millionen
Jahre müssen hier zugegeben werden). Manche Angaben, die
nicht den wissenschaftlichen Stand von etwa 1996/97 wider-
spiegeln, sind deshalb angreifbar oder erwecken den Anschein
der Flüchtigkeit. So ist es keineswegs erst eine Erkenntnis der
zurückliegenden zwei Jahrzehnte, dass Felsmalereien „bis vor
kurzem noch von den Eingeborenen angefertigt wurden“ (38).
Flüchtigkeiten sind auch anderenorts festzustellen, so bei-
spielsweise auf S. 11 beim „Stammbaum des Menschen“;
wenn der Terminus H. sapiens sapiens gebraucht wird, muss
auch der Neandertaler seinen sapiens-Zusatz behalten, das
heißt H. sapiens neanderthalensis.
Nun noch ein paar Worte zum Layout und Ähnlichem. Leider
wurde das großzügig große Format des Kataloges nicht ge-
nutzt. Die Abbildungsgrößen sind oft sehr klein ausgefallen,
was vor allem bei Karten negativ zu verzeichnen ist (Beispiel:
Abb. 8, S.17). Die in etliche Zeichnungen einkopierte Schrift
ist nahezu gar nicht mehr zu lesen (Beispiele; Abb. 2 und 3 auf
S. 21; Abb. 1 auf S. 26). Bei Abb. 7 auf S. 17 ist der Neander-
talerschädel nicht „schwarz“ unterlegt. Die halbfette Schrift
der oben erwähnten Zusammenfassungen bzw. Erklärungen
von Begriffen von Peter Koomen (meist am Ende von Arti-
keln) ist viel zu klein. Selbst die Übersetzungen ins Deutsche
sind oftmals nicht zufrieden stellend gelungen. Beispiele;
„Mit Schnüren befestigte Speerspitze“ (Abb. 6, S. 8) oder
„Hörner-Kopfschmuck“ (Abb. 9, S. 40; es handelt sich um ei-
nen Geweih-Kopfschmuck). Ebenfalls stören manche
Deutschfehler sowie die vielen „man“.
Trotz der kritischen Einwände und Hinweise bleibt es bei dem
Gesamturteil einer gelungenen Publikation, insbesondere des-
halb, weil hier einmal der Versuch unternommen wurde, ein-
gefahrene Gleise zu verlassen und mit Hilfe von Erkenntnis-
sen aus nichtarchäologischen Disziplinen anstehende Proble-
me in den Griff zu bekommen. Das ist mutig und nachah-
menswert.
Literatur
Schulze-Thulin, Axel
1998 Rezension von Glottes, Jean / David Lewis-Williams:
Schamanen - Trance und Magie in der Höhlenkunst
der Steinzeit (1997). In; TR1BUS Bd. 47, 287-289.
2001 Stellungnahme zu „Grotte der Genies“ (Chauvet),
National Geographie Deutschland, August 2001. In:
National Geographie Deutschland, Oktober 2001: 42.
Axel Schulze-Thulin
261
___ ___TR1BUS 52, 2003
Kazama, Shinjiro (Hrsg.):
Nanay Folk Tales and Legends, 6 (Publications
on Tungus Languages and Cultures, 15). Kyoto:
Nakanishi Printing Co., Ltd., 2001 (Endangered
Languages of the Pacific Rim, Publications Se-
ines A2-005). 511 Seiten.
Wie bedauerlicherweise viele andere Regionen der Welt, so ist
auch der geographische Großraum des nördlichen Eurasien -
für uns zumindest erkennbar seit dem 18./19. Jh. - vom Aus-
sterben der in diesem Raum beheimateten Sprachen und Dia-
lekte betroffen. Von einigen der im Verlaufe der beiden letzten
Jahrhunderte verloren gegangenen Sprachen und Dialekte sind
nur mehr die Namen erhalten, von anderen - wie dem zur
Gruppe der jukagirischen Sprachen gehörenden Euvanischen
oder dem Omokischen (möglicherweise ein Dialekt des Juka-
girischen) - zeugen nur noch einige Wortlisten aus den Hän-
den von Reisenden, Missionaren oder Kaufleuten (im Falle
der angeführten Beispiele existiert gar nur je eine einzige pu-
blizierte Wortliste). Es ist ausgesprochen betrüblich, dass die-
se Entwicklung, die vermutlich sehr viel weiter zurückreicht,
als nur zwei Jahrhunderte - schon zuvor dürften zahlreiche
Sprachen des nördlichen Eurasien, von deren Existenz wir
niemals Kenntnis erlangt haben, verdrängt worden oder in den
Nachbarsprachen „aufgegangen“ sein - bis zur Gegenwart an-
dauert und kaum Hoffnung auf eine „Umkehrung“ oder zu-
mindest auf Einhalt dieses Prozesses besteht. Viele der Frage-
stellungen, die in der Altaistik, der Uralistik - und der im 19.
und frühen 20. Jahrhundert von verschiedenen Forschern be-
triebenen „Ural-Altaistik“ - als „zentral“ aufgefasst wurden,
konnten damals schon nicht wirklich befriedigend beantwortet
werden - vermutlich aufgrund des Umstandes, dass die zu je-
ner Zeit bekannten Sprachen und Dialekte des nördlichen Eur-
asien nur noch einen „Restbestand“ dessen dargestellt haben,
was in den vorangegangenen Jahrhunderten und Jahrtausen-
den an Sprachen und Dialekten in diesem Großraum verbrei-
tet war. Wer kann schon sagen, ob es nicht eine Sprache oder
Gruppe von Sprachen gab, die eine Verbindung zwischen den
zu den uralischen Sprachen gezählten samojedischen und den
jukagirischen Sprachen bildete und, sagen wir, im 14. Jahr-
hundert untergegangen ist oder ob die - vermutlich ebenfalls
längst ausgestorbene Sprache der Hunnen nicht zur Gruppe
der jenisseischen Sprachen gehörte, wie z. B. das im 18. oder
19. Jahrhundert ausgestorbene Asan(ische) oder das
Arin(ische), für welches das gleiche gilt. Um zu verdeut-
lichen, welche Konsequenzen dieser vielfache Sprachentod im
nördlichen Eurasien hat, sollten wir uns einmal ausmalen,
welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn etwa das Baski-
sche im 13. oder 14. Jahrhundert untergegangen wäre, ohne
dass wir jemals etwas von dieser Sprache oder anderen „iberi-
schen“ Sprachen erfahren hätten. Vor welche Probleme hätten
die baskischen Elemente im Spanischen und Französischen
die Romanistik gestellt? Zu welchen Schlussfolgerungen hät-
ten sie die Forschung verleitet?
Wenngleich sich der fortgesetzte Sprachentod in Nordeur-
asien, wie erwähnt, weder aufhalten, noch nachhaltig abwen-
den lässt - etwa durch die gezielte Förderung der gefährdeten
Sprachen und Dialekte - so gibt es doch inzwischen einige
recht viel versprechende Bemühungen, die im Hinblick auf ih-
re Sprecherzahl kleineren Sprachen des nördlichen Eurasien
zu dokumentieren. Hatten die Ethnographen des Zarenreichs
in Bezug auf die Grundlagen unserer Kenntnis der betreffen-
den Völker und ihrer Sprachen bereits Großartiges geleistet
und stellen die in der Sowjetunion angefertigten Wörterbücher
und Grammatiken - und nicht zuletzt die Versuche zur Schaf-
fung eigenständiger nationaler Literaturen der Völker des
Nordens und Ostens - bei aller Kritik und vielen Mängeln, ei-
ne nahezu unerschöpfliche Quelle dar, so sind die jüngsten
Anstrengungen vor allem japanischer Forscher zur Dokumen-
tation der besonders gefährdeten Sprachen des nördlichen
Eurasien (und Ostasien) gar nicht hoch genug einzuschätzen.
So ist auch der hier besprochene Band des japanischen Tun-
gusologen Shinjiro Kazama, der ein ausgewiesener Kenner
des Nanaischen ist, im Rahmen der Dokumentation der ge-
fährdeten Sprachen der Pazifikküsten (Endangered Languages
of the Pacific Rim) entstanden bzw. publiziert worden. Diese
jüngste Arbeit Kazamas zum Nanaischen - es sind bereits fünf
Bände des Herausgebers/Verfassers mit Erzählungen und Le-
genden der Nanaier vorausgegangen (Bd. 1, Otaru 1995; Bd.
2, Tottori 1996; Bd. 3, Tokyo 1997; Bd. 4, Chiba 1998; Bd. 5,
Tokyo 2000) - ist zugleich der 15. Band der „Publications on
Tungus Languages and Cultures“, die im Rahmen der er-
wähnten Dokumentation entstand und zu der Kazama, neben
seinen „Nanay Folk Tales and Legends“, weitere Publikatio-
nen (etwa zum Ulea [Ulcha folklore materials. Faculty of Edu-
cation, Tottori University. Tottori 1996 (Publications on Tun-
gus Languages and Cultures, 9)]) oder zum Oroeischen [Oro-
chi basic materials. Faculty of Education, Tottori University.
Tottori 1996 (Publications on Tungus Languages and Cultu-
res, 7)]) beigesteuert hat.
In dem an dieser Stelle besprochenen Band liefert uns Kazama
zwölf bislang weitgehend unbekannte Erzählungen, von denen
er auf einige einleitende Bemerkungen in japanischer Sprache
(S. 7-15) folgend, zunächst englische (S. 16-26) und japanische
(S. 27-356) Übersetzungen der Texte gibt, bevor er die Erzäh-
lungen im Original liefert (S. 357-51 I). Zur japanischen Über-
setzung gibt der Herausgeber/Verfasser dabei stets auch die na-
naische Entsprechung, was dem japanischen Leser die Orien-
tierung sehr erleichtern dürfte. Dasselbe hätte man sich aller-
dings auch für die vorangestellten englischen Übersetzungen
gewünscht - nicht jeder Tungusologe ist zugleich auch des Ja-
panischen mächtig! Dem Band, der der Informantin Kazamas,
Niasulta Vomisovna Gejker, gewidmet wurde, ist eine Samm-
lung von CDs beigegeben, auf denen sich die Texte in nanai-
schem Original, von der Informantin vorgetragen, finden.
Bei den Texten handelt es sich im Einzelnen um:
1. „Das Hunde-Ungeheuer“ (inda xociani; engl. S. 16-17,
jap. S. 27-62; nan. S. 357-374),
2. „Der Fetzen des Pelzes“ (ara pasini; engl. S. 17-18, jap.
S. 63-100, nan. S. 375-393),
3. „Es gab einmal zwei Schwestern“ (aika nau ball ixani;
engl. S. 18-19, jap. S. 101-129, nan. S. 394-407),
4. „Es gab einmal zwei Brüder“ (Jua margan ball ixani;
engl. S. 19-20, jap. S. 130-156, nan. S. 408-420),
5. „Es gab einmal zwei Jungen“ (J ua naoni okaan ballxaci;
engl. S. 20-21, jap. S. 157-177, nan. S. 421-430),
6. „Es gab einmal eine Pujin“ (am pul in ball ixani; engl.
S. 21, jap. S. 178-204, nan. S. 431-442),
7. „Es lebte ein Mergen allein“ (am margan amuckaan
ball ixani; engl. S. 21-22, jap. S. 205-233, nan. S. 443-
455),
8. „Die Tochter, die mit den Puppen spielte“ (akoacii arco-
kaan; engl. S. 22-23, jap. S. 234-265, nan. S. 456-469),
___________Buchbesprechungen Allgemein
9. „Es lebten eine Pujin und ein Frosch in einem Haus“ (am
xaraJakali am pulinJi baOixaci; engl. S. 23, jap. S. 266-
273, nan. S. 470-473),
10. „Yurgi Mergen“ (jurgii margan; engl. S. 23-24, jap. S.
274-308, nan. S. 474-489),
11. „Es gab einen Mergen“ (am margan ball ixani; engl. S.
24-25, jap. S. 309-334, nan. S. 490-501) und
12. „Es gab eine Pujin und ihre Sklavin“ (am puJ ini i
kakaJi balJixani; engl. S. 25-26, jap. S. 335-356, nan. S.
502-511).
Der hier besprochene Band Kazamas ist zum einen insofern
von großer Bedeutung, als hier Text-Material einer im aus-
sterben begriffenen tungusischen Sprache gesammelt und mit
Übersetzung gegeben wird. Darüber hinaus sind die zwölf an
dieser Stelle zusammengetragenen Erzählungen weitgehend
unbekannt - sieht man einmal davon ab, dass sich bestimmte
Motive auch bei anderen Gruppen finden, die im nördlichen
Eurasien und eben auch in der Nachbarschaft der Nanaier be-
heimatet sind. Zum anderen ist erwähnenswert, dass hier die
Möglichkeiten der Technik vorbildlich und sinnvoll genutzt
wurden, indem die Texte im Original vorgetragen dem Band
auf CDs beigefiigt wurden, was die Möglichkeit des Ver-
gleichs von geschriebenem Text und Aufnahme ermöglicht.
Nicht wenige Fragestellungen im Zusammenhang mit oraler
Literatur können schließlich überhaupt nur anhand gesproche-
ner Texte bzw. Aufnahmen untersucht werden. Abgesehen da-
von, dass Tungusologen in der Vergangenheit eher begrenzte
Möglichkeiten hatten, gesprochene Originaltexte zu erhalten -
von den Aufnahmen, die im Zuge kostspieliger Feldforschun-
gen entstanden, einmal abgesehen. Das Material, welches von
sowjetischen Forschem in Sibirien gesammelt bzw. aufge-
nommen wurde, war schließlich auch nicht immer ohne wei-
teres zugänglich. Man kann nur hoffen, dass die großartige Ar-
beit Shinjiro Kazamas und seiner Kollegen zur Dokumenta-
tion und Sicherung möglichst umfangreichen Materials der
gefährdeten Sprachen Nord- und Ostasiens weitergeführt wird
und zahlreiche Unterstützer findet. Mit großen Erwartungen
darf man daher hoffentlich weiteren Publikationen des Autors
zu Erzählungen und Legenden der Nanaier entgegensehen.
Michael Knüppel
Müller, Klaus E.:
Schamanismus - Heiler, Geister, Rituale. Mün-
chen: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung,
1997. 128 Seiten.
ISBN 3-406-41872-4
Die Kapitel ,Vorspiel’ und ,Nachspiel’ klammern den Haupt-
teil des Buches. Im , Vorspiel’ wirft Müller einen Blick ins Eis-
zeitalter, indem er die archäologischen Funde und Höhlenbil-
der lebendig schildert und Vergleiche zum bekannten Schama-
nismus herstellt. Das Thema wird auf den letzten Seiten des
Buches nochmals aufgegriffen und mit Argumenten verstärkt.
Abgesehen vom Alter wird das Phänomen des Schamanismus
als außerordentlich flexibel und anpassungsfähig erlebt - was
insgesamt sein Weiterexistieren von der Prähistorie bis zur
Gegenwart erklären könnte. Im ,Nachspiel' ist die Gegenwart
als Zeitgestalt anwesend mit ihren Erscheinungsbildern des
Neoschamanismus, Stadtschamanismus, New Age Heilem
u.ä.
Die dazwischen liegenden 7 Hauptkapitel beleuchten das The-
ma nun aus verschiedenen Perspektiven. Kapitel 1 und 7 ha-
ben einen gemeinsamen Spannungsbogen. Zuerst schildert
Müller das Menschenbild traditioneller Gesellschaften (La-
ger- und Dorfgemeinschaften mit elementarer Wirtschaft-
weise, „Ahnenkult“), nach dem der Mensch dreigegliedert ist
in vergänglichen physischen Leib, etwas resistenterer Vital-
seele (Ätherleib) und unvergänglicher Freiseele (Astralleib
und Ich), die jede Nacht den Leib verlässt, beim Tod für im-
mer. Komplikationen bei der Schwangerschaft führte man auf
Probleme der Freiseele zurück, sich mit dem Leib zu verbin-
den.
Der menschliche Unterhalt durch Jagd war mit den
Ressourcen der Tierwelt verknüpft und die Menschen suchten
die Balance zu halten zwischen Töten und Erhalten, wobei er-
schwerend dazukam, dass Seelen-Verwandte (Tiere) eigent-
lich nicht getötet werden durften.
ln diesem Komplexgefüge übernahm der Schamane die Ver-
mittlerrolle, indem er sich in der physischen und in der geisti-
gen Welt gleichsam sicher bewegte, die seelisch bedingten
physischen Erkrankungen heilte, durch die Pflege der leibun-
abhängigen Freiseele den Bestand der Gruppe sicherte. Für
diese Prozesse referiert Müller im 7. Kapitel Erklärungsversu-
che auf der Basis der Psychologie und Medizin des 20. Jhs.
(arktische Hysterie, Besessenheit, Chorea (Veitstanz), Epilep-
sie, Schizophrenie) und der Ethnologie, die sich mehr der Ver-
breitung und der Differenzierung des Schamanismus widmete
und dies innerhalb verschiedener ethnologischer Modelle zu
erklären suchte.
Kapitel 2 und 6 (,Vorkommen’ und ,Schamanenleben’) hän-
gen ebenfalls zusammen; Auf der einen Erde gibt es den Scha-
manismus in Nordasien, Amerika und Australien, nicht jedoch
in Afrika - in einem Lager oder Dorf gibt es einen Menschen,
der die besonderen Gaben des Schamanen hat (Erde - Scha-
manismus, Dorf - Schamane). Der so genannte Elementar-
schmanismus ist gekennzeichnet durch die Ekstasetechnik,
mittels derer sich Ich plus Astralleib (tw.) entäußern und durch
Einsatz rudimentärer Hilfsmittel. Diese (Drogen, Trachten,
Trommel) finden im Komplexschamanismus vermehrt An-
wendung. Dessen Riten und Rituale sind komplizierter, um-
fänglicher. Vor allem in Ost- und Zentralasien gibt es noch die
Form des hochkulturlich überprägten ,Besessenheitsschama-
nismus’. Das grundsätzliche Weltbild ist dualistisch und unter-
scheidet zwischen direkt erlebtem Diesseits und einem Hinter-
grund im Jenseits. Trotzdem ist auch eine Dreigliederung in
Ober-, Mittel- und Unterwelt geläufig (S. 38). Die W'elt dreht
sich um die Weltenachse wie der Sternenhimmel sichtbar um
den Polarstem.
In der Unterwelt hatten bestimmte Geistmächte (z.B. diejeni-
gen, die für jeweils eine Krankheit zuständig waren) ihren ge-
nau definierten Wohnort, der geographisch beschreibbar war.
Der Schamane musste also diese Topographie exakt kennen.
Eine derartige Topographie hatten auch das Totenreich und die
Region des Himmelsgottes, wo sich die für die Wiedergeburt
bestimmten Kinderseelen befanden.
Am Ende des 20. Jhs. konnte nur noch ansatzweise das topo-
graphische Wissen der jenseitigen Welten dokumentiert wer-
den. Siebzig Jahre zuvor wäre dies präzise möglich gewesen.
Die Sowjetära hat hier viel bewirkt, sodass dieser elementare
Zugang zu geistigen Welten erschwert wurde (S. 48f).
263
____________TRIBUS 52, 2003
Der Kosmologie (Kap. 3) gegenüber steht das Kapitel über die
Praxis, also darüber, was der Schamane tun muss, wie er ge-
kleidet sein muss, welche Ritualgegenstände er benutzt, um
erstens in die geistigen Welten gezielt einzutreten, um sich
zweitens dort aufgrund seiner topographischen Kenntnisse si-
cher zu bewegen und um letztlich wohlbehalten zurückzukeh-
ren. Detailliert beschreibt Müller die Schamanentracht, die am
ausgeprägtesten in Sibirien auftrat. Hier ist zu bemerken, dass
man diese in zwei Typen gliedern kann: Vogelformen (z.B.
Adler, Uhu) und Cervidenformen (Hirsche, Elche und andere
Geweihträger). Zu den wichtigsten Requisiten gehörten Zere-
monialstäbe und insbesondere die Schamanentrommel. Erste-
re dienten in der geistigen Welt als „Reittier“, also zur Fortbe-
wegung, letztere zur Verbindung mit den freundlichen und
feindlichen Geistwesen. Da die Trommel mit dem Hilfsgeist
des Schamanen innigst verbunden war, wurde sie beim Tod
und Begräbnis ebenfalls zerstört und beerdigt.
Die Séance selbst wurde durch eine Reinigungszeremonie vorbe-
reitet, der Ort wurde geweiht. Zur Beschleunigung des Eintau-
chens in die geistigen Welten können Drogen (Pilze, Lianen,
Kakteen usw.) eingenommen oder geraucht werden. Viele dieser
Drogen sind in der Jugendbewegung des 20. Jhs. bekannt gewor-
den - aber anders als bei den Jugendlichen ist von keinem Scha-
manen eine Drogenabhängigkeit nachzuweisen. Die Droge wird
benutzt, bleibt aber Hilfsmittel im Dienst einer höheren Sache.
Betrachtet man das Buch in seinen Zusammenhängen, dann
steht als zentrales Kapitel das vierte, das der Heranbildung’;
Ein Schamane braucht ein Berufungserlebnis, obwohl sich bei
vielen späten Schamanen schon bei der Geburt Besonderhei-
ten zeigten - häufig findet es ab der Pubertätszeit statt bis ca,
zum 30. Lebensjahr.
Nach der Berufung und gegebenenfalls nachfolgenden Beleh-
rung (durch die Geister) kommt es zu einer in der Regel dreitä-
gigen Initiation mit charakteristischen Merkmalen: In der Geist-
welt (Traum bzw. Vision) wird der Kandidat getötet, zerstückelt
und skelettiert. In der darauf folgenden Wiederbelebung wird der
Körper komplett erneuert. Nach der Neugeburt in der Geistwelt
erfolgt eine intensive Belehrung durch und über geistige Mäch-
te und über die Unterweltstopographie. Danach hat der Schama-
ne erweiterte Kenntnisse über Pflanzen, Wasser- und Landtiere,
Krankheiten und Heilmethoden. Vielfach werden Aussagen über
die veränderte Aura gemacht, aber auch über andere übersinnli-
che Fähigkeiten wie z.B. Telepathie, Präkognition und Psycho-
kinese. Der Umgang mit den Geistern Verstorbener auch außer-
halb einer Séance war die Regel, nicht die Ausnahme.
Bei vielen Völkern konnte sich nach Berufung und Initiation
noch eine systematische Lehre und Ausbildung durch einen äl-
teren, erfahrenen Meister anschließen, die Heilkräuterkunde
und medizinische Techniken umfasste, aber auch Gesänge, Ri-
tuale und anderes wurde vermittelt.
Blickt man etwas anders, mehr linear auf das Buch, hat es die
Tendenz vom großen Zeitlichen und Räumlich-Kosmologi-
schen sich spiralförmig zusammenziehend bis zur Initiation
des Individuums. Dann weitet sich die Spirale, auswickelnd
über die Kapitel der Praxis und des Schamanenlebens bis zur
Einbettung in die Weltkulturen des 20. Jahrhunderts. Es geht
also ein Pulsschlag durch das ganze Buch.
Die Auswahlliteratur ist kurz aber gehaltvoll, die Sach- und
Personenregister hilfreich.
Wer einen Einstieg in die Thematik sucht, ist hier bestens be-
dient. Dies war ja auch das erklärte Ziel des Büchleins. Wer
Vertiefung sucht, wird auch nicht im Stich gelassen. Müller
vereinigt die große Kunst, verständlich und gehaltvoll gleich-
ermaßen zu schreiben.
Wolfgang Creyaufmüller
Narr, Karl J. /
Weniger, Gerd-C. (Hrsg.):
Der Neanderthaler und sein Entdecker: Johann
Carl Fuhlrott und die Forschungsgeschichte.
Mettmann: Neanderthal Museum, 2001. 104 Sei-
ten, 6 SW-Abbildungen.
ISBN 3-935624-02-6
Auch wenn es seit 1999 eine (neuere) Publikation über Johann
Carl Fuhlrott als Lehrer und Forscher gibt, haben die beiden
Herausgeber mit der vorliegenden Veröffentlichung ein seit
langem bestehendes Desiderat abgeschlossen. Im Mittelpunkt
dieser Neuerscheinung steht die seit Jahrzehnten vergriffene
Biografie Fuhlrotts von Willy Bürger, hier in Faksimile
wiedergegeben, erstmals 1930 erschienen, 1956 in dritter Auf-
lage. Mit 66 Seiten nimmt dieses Lebensbild Fuhlrotts den
Hauptteil des Mettmanner Buches ein. Nach einem kurzen
Vorwort der Herausgeber kommt der Neandertaler-Entdecker
unter dem Titel „Der junge Fuhlrott über sich selbst“ gleich zu
Anfang zu Wort. Dabei handelt es sich weniger um die Vita
Fuhlrotts, wie angegeben, sondern um die Schilderung seines
Ausbildungsganges bis zum Gymnasiallehrer. Fuhlrott verfas-
ste diesen kleinen lateinischen Bericht 1835, Kurt Vogel über-
setzte ihn 1996. Die Herausgeber der vorliegenden Veröffent-
lichung liefern dazu eine Erklärung zur unterschiedlichen
Schreibweise des zweiten Vornamens Fuhlrotts (mit C und mit
K) sowie zu seinem manchmal unterschiedlich wiedergegebe-
nen Geburtsdatum (31.12.1803 und 1.1.1804). Wolfgang Hoe-
nemann stellt nach dem erwähnten Hauptteil sodann Fuhlrotts
Biografen Willy Bürger vor. Es folgen zwei jeweils sechssei-
tige Beiträge von Karl J.Narr. Zum einen beleuchtet er Fuhl-
rott und die wissenschaftlichen Gegebenheiten während des
19. Jahrhunderts, zum anderen wird dargestellt, was sich in
dem Jahrhundert seit der Entdeckung im Neandertal 1856
innerhalb der Wissenschaften vom Menschen alles geändert
hat. Ebenfalls auf sechs Seiten fragt Gerd-C. Weniger, ob sich
heute innerhalb der Neandertalerforschung ein Paradigmen-
wechsel vollziehe. Ein kleines Verzeichnis ausgewählter älte-
rer und neuerer Literatur beschließt den Band.
Übrigens werde ich immer wieder darauf verweisen, dass die
Schreibweise von Neandertaler mit „h“ gegen die Nomenkla-
turregeln verstößt. Im vorliegenden Fall gibt es über die ge-
nannten Regeln hinaus sogar etwas zu lachen. Genau 29 Jahre
nach der Rechtschreibeumstellung von 1901 schreibt Bürger
1930 Neandertaler richtig ohne „h“, 60 Jahre später und 90
Jahre nach der damaligen Reform wird in Mettmann bis heu-
te - mittlerweile im 21. Jahrhundert - versucht, wieder die seit
100 Jahren veraltete Schreibweise einzuführen. Bedauerli-
cherweise hat dieser Rückgriff auf die ehemalige Schreibe
„Thal“ im Zuge des unausbleiblichen internationalen Be-
kanntheitsgrades des Neanderthal Museums dazu geführt,
dass der falsche Terminus mittlerweile in weite Bereiche der
einschlägigen Literatur (auffällig vor allem bei deutschen
Übersetzungen aus dem Amerikanischen) Eingang gefunden
hat, obwohl Amerikaner sicherlich nicht die englische Recht-
264
Buchbesprechungen Allgemein / Afrika
Schreibung erfanden haben (isn’t this l-derful). Noch ist ja
keine große Diskussion über die Unkenntnis des Unterschieds
zwischen „Neandertaler“ und „Homo (sapiens) neandertha-
lensis“ bestimmter Lokalgrößen im Düsseldorfer Raum ent-
standen. Auch hat sich Gert Kaiser mit der Kuriosität „Nean-
derthaler“ seinen Platz in der Geschichte deutscher Museen
sowieso bereits gesichert. So ist es an der Zeit, dass - ruhig
unter Beibehaltung des Namens „Neanderthal Museum“ - in
den Mettmanner Museumsschriften wieder (klammheimlich)
zur richtigen Schreibweise des armen Neandertalers zurük-
kgekehrt wird. Lichtblicke gibt es ja bereits, wie die Neander-
taler-Neuerscheinung von Auffermann und Orschiedt (s. Re-
zension in diesem TRIBUS-Band) zeigt. Erstere ist immerhin
stellvertretende Leiterin des Neanderthal Museums in Mett-
mann.
Gerd-C. Weniger stellt in seinem Beitrag die Frage, ob der Ne-
andertaler und der anatomisch moderne Mensch tatsächlich
durch eine eindeutige, biokulturelle Grenze getrennt sind, wie
das bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts angenom-
men wurde, heute aber zunehmend bezweifelt wird. Aller-
dings meine ich, dass die bisher noch wenigen, in Zukunft si-
cherlich zahlreicher vorliegenden gentechnischen Daten die
bisherige Ansicht bestätigt haben (s. Schulze-Thulin 2002).
Daran ändern auch das von Weniger angeführte Saint-Cesaire
(Neandertalerbestattungen waren schon lange vorher bekannt)
und Qafzeh nichts (schließlich haben die Ahnen des Jetztmen-
schen Afrika hauptsächlich über Kleinasien verlassen und da-
bei Fundplätze mit altertümlichem Werkzeugbestand, wie in
Qafzeh. hinterlassen). Notwendig ist allerdings, wie der Autor
betont, eine weitgehend gesicherte Untermauerung der geneti-
schen Variabilität des Jetztmenschen über große Zeiträume
hinweg. Diese kann nur die Zukunft bringen. Momentan
scheint mir die Diskussion in eine Richtung über das Ziel hin-
auszuschießen, wenn Weniger schreibt: „Ein technokultureller
Unterschied zwischen den Geräteinventaren der beiden Men-
schenformen (gemeint sind Neandertaler und Jetztmensch) ist
heute nicht mehr erkennbar. Der noch vor zehn Jahren häufig
postulierte technologische Vorsprung des anatomisch moder-
nen Menschen hat sich im Spiegel neuer Funde aufgelöst“
(100). Wir sollten uns hüten, aus dem Neandertaler einen „kul-
tur(ell)-edlen Bruder“ zu machen.
Karl J. Narr verläßt sich in seinen beiden Abhandlungen auf
historisch Fassbares. Sehr informativ sowohl in ihrer Zu-
sammenfassung als auch im Anekdotischen aus eigener Erfah-
rung sind beide Berichte. Erfrischend ist auch immer wieder
der Hinweis Narrs, dass das zu Erklärende oft in der mensch-
lichen Natur liegt oder - wie es Hermann Trirnborn einst sag-
te - „das Menschliche ist gleich im Urgrund aller Kulturen“
und, so läßt sich anfügen, dies nun schon seit mehr als zwei
Millionen Jahren.
Für die internationale Diskussion wäre es sehr hilfreich, wenn
die vorliegende Publikation ins Englische übersetzt werden
könnte (natürlich unter Ausmerzen des besagten „h“). Dann
nämlich würde vielleicht in Zukunft vermieden, dass sich bei-
spielsweise amerikanische Wissenschaftler im Hinblick auf
ihre Ignoranz des Neandertalerentdeckers und Initiators aller
Neandertalerforschung auf ihre Unkenntnis der deutschen
Sprache berufen können (s. als Beispiel Schulze-Thulin 1996;
182).
Angeführte Literatur
Schulze-Thulin, Axel
1996 Rezension in TRIBUS. Bd. 45; E. Trinkaus / P. Ship-
man, Die Neandertaler - Spiegel der Menschheit.
München: Bertelsmann, 1992.
2002 Rezension in TRIBUS, Bd. 51; R. W. Schmitz / J.
Thissen: Neandertal - Die Geschichte geht weiter.
Heidelberg - Berlin: Spektrum Akademischer Verlag,
2000.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Afrika
Ivanov, Paola:
Vorkoloniale Geschichte und Expansion der
Avungara-Azande. Eine quellenkritische Unter-
suchung (Studien zur Kulturkunde Bd. 114.
Hrsg.: Beatrix Heintze und Karl-Heinz Kohl).
Köln; Koppe, 2000. 784 Seiten, 16 Karten, 14
Genealogien, 51 Tabellen, 4 Abbildungen.
ISBN 3-89645-209-6
In der vorliegenden Arbeit, die 1997 in München als Disserta-
tion angenommen wurde, widmet sich die Autorin der Ge-
schichte und der politischen Organisation der Azande. Im
Mittelpunkt stehen dabei ihre Expansion und die Untersu-
chung ihres Herrschaftssystems. Die Avungara - der Herr-
scherklan der Azande - weiteten ab der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts ihren Machtbereich über ein beträchtliches Ge-
biet in der Region der Nil/Kongo-Wasserscheide aus, das heu-
te unter der Zentralafrikanischen Republik, dem Sudan und
der Demokratischen Republik Kongo aufgeteilt ist. Sie brach-
ten dabei keine beständigen politischen Gebilde hervor, son-
dern eine wechselnde Anzahl expandierender Fürstentümer,
deren Existenz an die Person ihres jeweiligen Herrschers ge-
bunden war. Im Zuge der Expansion wurden zahlreiche Grup-
pen unterschiedlicher sprachlicher und ethnischer Herkunft
eingegliedert, und es entstand ein Bevölkerungskonglomcrat,
das man heute unter der kollektiven Bezeichnung „Azande“
kennt. In der tiefer gehenden Auseinandersetzung der Autorin
mit dieser Expansion und Eingliederung erweist sich das gän-
gige Bild einer vornehmlich militärischen Eroberung und der
Azande als wilde Krieger und Kannibalen als Stereotyp, statt-
dessen tritt ein flexibles, von machtpolitischen Strategien ge-
leitetes System hervor, das sich auf persönliche Macht, Alli-
anz- und Klientelbildung gründet.
Das Buch besteht aus einem Textteil von über 600 Seiten und
einem Anhang von 170 Seiten, Im ersten Hauptabschnitt des
Textes behandelt die Autorin die Geschichte der Begegnung
mit den Azande und ihr Bild in den europäischen Quellen. Ih-
re Betrachtung setzt bei den Darstellungen in der arabischen
Geographie des Mittelalters ein. Darin werden „Niam-Niam“
und kannibalische Randvölker erwähnt, die später mit den
Azande gleichgesetzt werden. Im Zuge der Erforschung des
Sudan im 19. Jahrhundert etablierte sich daraus das Niam-Ni-
am-Stereotyp in den europäischen Quellen. Im Weiteren geht
sie auf die ersten Kontakte muslimischer Händler aus dem
nördlichen Sudan mit den Azande ein und setzt sich kritisch
265
____________TRIBUS 52, 2003
mit den Berichten europäischer Reisender über sie auseinan-
der. In einem eigenen Kapitel untersucht sie quellenkritisch
die Berichte italienischer und deutscher Reisender und For-
scher. Sie macht dabei italienische Quellen dem deutschen Le-
ser zugänglich. Auch in der Zeit der ägyptischen Verwaltung
des Sudan trugen weitere Europäer als Verwalter und Reisen-
de dazu bei, das Stereotyp der „kannibalischen Krieger“ zu
etablieren und zu verfestigen.
Die koloniale Eroberung und Verwaltung (1890-1960) setzte
dem Expansionsdrang der Avungara ein Ende und führte zur
Zerschlagung ihrer Macht. Im Zuge der kolonialen Unterwer-
fung begann die wissenschaftliche Erforschung der Azande
mittels Ethnographie und Social Anthropology. Ivanov über-
prüft kritisch die Quellen, die sich auf die Beziehungen zwi-
schen Azande und Kolonialmächten beziehen, und liest her-
aus, dass die Azande weit weniger kriegerisch waren, als dies
in den Kolonialberichten dargestellt wurde, die dieses Kriege-
rische zur Rechtfertigung ihres eigenen Handelns betonten.
Nach den Fakten gestaltete sich der Widerstand der Azande je-
doch eher passiv.
Im zweiten Hauptabschnitt widmet sie sich dem Aufstieg und
der Expansion der Avungara-Azande und der Geschichte der
unter Avungara-Herrschaft gekommenen Gruppen, In diesem
eigentlichen Hauptteil des Buches versucht die Autorin an-
hand der Quellen und der Forschungen über die sprachliche
Gliederung des Gebietes die Geschichte der Avungara-Azan-
de vom Ursprungsmythos bis zur Expansion verschiedener Li-
nien der Avungara zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu konstru-
ieren. Sie geht auf die Herausbildung zentralisierter Organisa-
tionsformen im Azandegebiet ein. Im Detail zeichnet sie die
Avungara-Expansion anhand der verschiedenen genealogi-
schen Linien nach. Sie beschäftigt sich dann mit dem in der
Wissenschaft sehr unterschiedlich interpretierten Problem der
Klan- und ethnischen Zugehörigkeit bei den Azande und ar-
beitet heraus, welche Gruppen schon früh an den Avungara-
Expansionen teilgenommen haben und welche als Fremde im
Laufe dieser Expansion eingegliedert wurden. Sie setzt sich
dabei mit den verschiedenen Autoren ausführlich auseinander.
Dann betrachtet sie die eroberten und eingegliederten Grup-
pen und trägt dabei alle Informationen zusammen, die die
Quellen hergeben. Da die Quellenlage zum Teil sehr unbefrie-
digend ist. müssen ihre Erklärungsversuche an vielen Stellen
spekulativ bleiben.
In ihrer Schlussbetrachtung greift sie noch einmal die Grund-
züge der Expansion und Herrschaft auf und stellt ihre konkre-
ten Ergebnisse vor allem zu den Herrschaftsstrukturen und der
Herausbildung zentralisierter Organisationsformen in einen
theoretischen Rahmen. Sie erkennt dabei Expansionsmuster,
die zur Entstehung immer neuer, fast selbständiger Machtzen-
tren führten und keine beständige Herrschaftsstruktur schufen.
Sie ergänzt ihre Schlussbetrachtungen durch einen Exkurs zu
Ahnenkult und Abstammung. Diese sind für die Avungara von
besonderer Bedeutung, da sie daraus ihre Legitimation zur
Herrschaft ableiten.
Der Anhang enthält zahlreiche Tabellen diverser Art: Vor al-
lem werden Genealogien und biographische Daten zu den
Herrschern tabellarisch aufgearbeitet, dazu gibt es eine Zu-
sammenstellung der Azande-Klans. Der Anhang ist interessant
und notwendig, um die verschiedenen Herrscher in ihrer Ab-
folge einordnen und sich einen Überblick über die beherrsch-
ten Gebiete verschaffen zu können. Auch die Gliederung der
Ubangi-Sprachen findet sich hier. In Tabellenform gibt sie ei-
ne Übersicht über die von der Avungara-Expansion betroffe-
nen bzw. in den Azande-Komplex eingegliederten Gruppen,
Weiterhin gibt es eine Reihe aussagekräftiger Karten zum
Untersuchungsgebiet. Allerdings hätte man sich eine Karte ge-
wünscht, die man herausnehmen oder herausklappen kann, da
man beim Lesen nicht ohne Karte auskommt. Für den Feld-
forscher, der sich vor Ort befindet, wären aktuelle Ortsanga-
ben von großem Wert, um die Informationen aus dem Buch
leichter regional einordnen zu können. Die Bibliographie ist
umfangreich und enthält die für das Thema relevante Literatur.
Sie konzentriert sich dabei auf die Geschichte und Politik der
Azande und ihrer Nachbarn bzw. des Untersuchungsgebietes.
Die Leistung der Autorin besteht in der bewundernswerten
Fleißarbeit, die Puzzlestücke zur Geschichte der Azande und
ihrer Quellen sortiert und strukturiert zu haben. Sie hat enorm
viel Informationen zusammengetragen und versucht, aus vie-
len Fakten und Daten ein Gesamtbild der Azande-Geschichte
zusammenzustellen. Bisher gab es nur Ansätze einer Ge-
schichtsschreibung von einzelnen Fürstentümern. Sie will mit
ihrer Arbeit eine Faktengrundlage schaffen, auf der man auf-
bauen kann. Das Thema wird umfassend behandelt, es werden
sehr viele Aspekte auch außerhalb des Hauptthemas ange-
sprochen. Ivanov vermeidet es, die Azande losgelöst zu be-
trachten, es gelingt ihr vielmehr, sie in ihren gesamten Zu-
sammenhängen in ihrem Umfeld mit ihren Kontakten darzu-
stellen. Sie kommt den Handlungen und Beweggründen der
Avungara-Azande näher, indem sie ihre Geschichte auch im
Kontext ihrer Außenbeziehungen (Reisende, Händler. Beauf-
tragte der turko-ägyptischen Regierung, koloniale Eroberer,
Ethnographen) betrachtet. Das Buch enthält eine große Zahl
von Personen mit ihren genealogischen Linien und topogra-
phische Angaben. Die vielen von der Avungara-Expansion be-
troffenen Bevölkerungsgruppen mit ihren Sprachen werden
ausführlich behandelt. Vermisst habe ich die Erörterung des
Namens Akurongba1, den die Azande, wie ich auch bei mei-
nen Feldforschungen in den 1980er Jahren feststellte, parallel
zu Avungara benutzen. Die Autorin hat versucht, das Quellen-
material und die Literatur vollständig zu sichten und einzuar-
beiten. Man hat jetzt ein für die Azande-Forschung grundle-
gendes Buch, das eine sehr große Materialsammlung enthält,
die auch benachbarte Gruppen umfasst. Um diese Fülle nutzen
zu können, wäre wünschenswert gewesen, das Werk um einen
Index zu ergänzen. Es würde dadurch erheblich zu einem
Handbuch der Azande bzw. ihrer Region aufgewertet. Dies gilt
besonders für die eingegliederten Gruppen. So besteht die Ge-
fahr, dass manche Schätze, die in diesem Buch enthalten sind,
verborgen bleiben. Das Fehlen des Index wird teilweise durch
einige Tabellen im Anhang ausgeglichen.
Doris Herdin
Szalay, Miklös (Hrsg.):
Der Mond als Schuh. The Moon as Shoe. Zeich-
nungen der San. Drawings of the San. Zeichnun-
gen und Aquarelle von DIÄ1KWAIN;/
HAN^KASS'O, 1NANN1; TAMME; / UMA
UND DA. Drawings and Watercolours by
DIÄ1KWAIN; / HANïKASS'O, 1NANNI; TAM-
ME; / UMA AND DA. Mit Beiträgen von Megan
Biesele, Frédéric Bruly Bouabré Elias Canetti,
____________Buchbesprechungen Afrika / Amerika
Janette Deacon, Keith Dietrich, Matthias G.
Guenther, Roger L. Hewitt und Miklös Szalay.
With contributions by Megan Biesele, Frédéric
Bruly Bouabré Elias Canetti, Janette Deacon,
Keith Dietrich, Matthias G. Guenther, Roger L.
Flewitt and Miklös Szalay. Zürich: Scheidegger
& Spiess, 2002. 311 Seiten.
ISBN 3-85881-138-6
Den Kern der vorliegenden Publikation, die auch von einer
Ausstellung begleitet wurde, bilden 229 Zeichnungen und
Aquarelle von sechs San. Die Arbeiten gehören zur Bleek- und
Lloyd-Sammlung, und wurden in der Zeit zwischen 1875 und
1881 auf dem Anwesen von Wilhelm Heinrich Immanuel
Bleek nahe Cape Town geschaffen. Um diese Kunstwerke und
historischen Dokumente der San-Kulturen hat Szalay ver-
schiedene Beiträge geordnet; zum einen allgemeine Informa-
tionen zur Bleek und Lloyd-Sammlung und zu den einzelnen
Künstlern (Szalay). Der ethnographische Teil handelt über
zwei Notationen, einerseits zu den /Xam (Hewitt), zu denen
zwei der Künstler gehörten, und andererseits zu den !Xun
(Biesele), von denen die anderen vier waren. Ferner wird die
Frage der Beziehung zwischen den hier vorgestellten Werken
und den Felsbildem im südlichen Afrika thematisiert (Dea-
con). Unter dem Thema der oralen Überlieferungen gibt es
Ausführungen zu den /Xam (Guenther) und schließlich einen
Text von Elias Canetti, der die San-Kulturen in den weiteren
Kontext der Menschheit führt. Mit einer bildnerischen Paral-
lele rundet Szalay die Publikation ab, indem er künstlerische
Positionen zu den abgebildeten Werken von Frédéric Bruly
Bouabré und Keith Dietrich einbezieht. Der Glossar am Ende
ist klein und fein.
Wie Szalay anmerkt, sind offenbar alle Zeichnungen und
Aquarelle auf Veranlassung von Bleek und Lloyd entstanden.
Abgebildet wurden die Umwelt, Kartenskizzen, Alltagshand-
lungen und außerordentliche Ereignisse (Szalay 14, 24). Inter-
essant scheint zunächst, dass die beiden Mitglieder der /Xam,
Diälkwain und Hanf kass'o davor im Breakwater-Gefangnis in
Cape Town inhaftiert waren, während die vier Mitglieder der
!Xun erst später zu Bleek und Lloyd gekommen waren und
aus dem Grenzgebiet Namibia/Angola waren (Szalay 12f). Al-
le diese Informanten/Künstler hielten sich jeweils eine Zeit
lang bei Bleek und Lloyd auf und kehrten danach in ihre Her-
kunftsgebiete zurück.
Janette Deacon hält fest, dass die Bedeutung der abgebildeten
Arbeiten für die Felsmalereien und -gravierungen nicht un-
mittelbar gegeben ist (Deacon 67). Freilich sind ihres Erach-
tens die Werke von Diälkwain und Hanfkass'o für die For-
schung der Felsbildkunst im südlichen Afrika aus mehreren
Gründen wichtig, so etwa, weil es einen Hinweis gibt, dass der
Vater von Diälkwain Felsbildmaler gewesen sei (Deacon 73).
Hingegen gibt es im Gebiet von INanni, Tamme, /Uma und Da
keine Felsbilder, wodurch ihre Werke mit dieser Kunstform
nicht verglichen werden könnten - die Autorin legt des Weite-
ren nahe, dass deren Arbeiten möglicherweise stärker durch
die Besuche im South Affican Museum beeinflusst worden
seien (Deacon 70). Hochinteressant ist schließlich in Deacons
Beitrag der Verweis auf den Kontext, wodurch die den Abbil-
dungen zugeschriebenen Bedeutungen beeinflusst werden. So
können zur Interpretation der Zeichnungen und der Felsbild-
kunst eben nicht dieselben Kriterien und Metaphern herange-
zogen werden, selbst wenn die Werke mitunter ähnlich er-
scheinen - „der Sinn, der sich mit ihnen verbindet, ist es
nicht“ (Deacon 82).
Die Beiträge von Hewitt, Biesele und Guenther dokumentie-
ren die kulturellen Kontexte der beiden San-Gruppen, auch
wenn es sich nur um einen „flüchtigen Blick auf das Leben“
(Hewitt 52) zweier Gruppen handelt. Hewitt geht eher allge-
mein auf die Alltagskultur ein, während Biesele vermehrt die
Aufzeichnungen von Lucy Lloyd ins Zentrum ihrer Ausfüh-
rungen stellt. Guenther wieder führt den Leser durch Mythen
und die Kultur des Geschichtenerzählens der /Xam. Alles in
allem bieten diese drei Beiträge interessante Vernetzungen zu
den Bildern und zur Bleek und Lloyd-Sammlung insgesamt.
Überhaupt, die Beiträge der vorliegenden Publikation beste-
chen in einem wesentlichen Punkt: Die San-Völker werden
nicht als eine in abgelegener Isoliertheit lebende, so genannte
„Urbevölkerung“ dargestellt. So wird auf ihre Beziehung zu
den Bantu sprechenden Gruppen hingewiesen, vor allem aber
auf die Interaktionen mit den weißen Kolonisatoren. Dadurch
erscheinen die Besonderheiten der /Xam und !Xun lebendig,
als Gestaltung und Neugestaltung ihrer Lebensweisen in den
Beziehungen mit diesen Weißen. Hierzu passt wunderbar
Miklös Szalays Verweis auf die Intention von Wilhelm Bleek,
sein Forschungsvorhaben von Beginn an in den 1970er Jahren
mit der Geschichte Südafrikas zu verknüpfen, indem die /Xam
ebenso einen Teil des kulturellen Kapitals dieses Landes bil-
den (Szalay 1 If). Auf künstlerischer Ebene wird dieser Schritt
durch die Beiträge von Frédéric Bruly Bouabré und Keith
Dietrich auf die abgebildeten Zeichnungen vollzogen. Damit
wird auch der Bogen von Dokumentation, die zu Kunst wird
(die Werke der sechs San-Künstler), über Ethnographie, bis
hin zu Kunst als Dokumentation (Bruly und Dietrich) seiner
ganzen Spannung hingegeben.
Thomas Fillitz
Buchbesprechungen Amerika
Keegan, William F.
Bahamian Archaeology - Life in the Bahamas
and Turks and Caicos before Columbus. Nassau:
Media Publishing, 1997. 104 Seiten, zahlreiche
Zeichnungen, SW-Fotos, Tabellen, Grafiken,
Karten.
ISBN 0-8170-03-4
Was waren das eigentlich für Eingeborene, denen Christoph
Kolumbus nach seiner ersten Atlantiküberquerung zunächst
begegnete? Wie bekannt, erhielten diese Menschen fälsch-
licherweise die spanische Bezeichnung Indios (Indianer), weil
der Seefahrer in spanischen Diensten das im Mittelalter ge-
lobte Land Indien auf dem Westweg zu erreichen suchte und
am 12. Oktober 1492 meinte, an Ostasien vorgelagerten Inseln
angekommen zu sein. Noch heute verweist die geographische
Bezeichnung „Westindien“ auf diesen Irrtum. Wie sahen die-
se Indianer aus, denen Europäer erstmals (dokumentiert!) be-
gegneten, wie lebten sie, welchen Glaubensvorstellungen hin-
gen sie an, kurz - welche Kulturformen besaßen sie? Auf alle
diese und weitere Fragen gibt der bekannte Autor (zum wis-
senschaftlichen Hintergrund s. die Rezension „Keegan 1992“
in diesem TRIBUS-Band) umfassende Antworten. Auf der
Grundlage archäologischer Erkenntnisse der zurückliegenden
Jahre führt Keegan den Leser Schritt für Schritt in die Welt der
- heute so genannten - Lucayo-Indianer ein (im Deutschen wä-
re der von amerikanischen Wissenschaftlern meist gebrauchte
Terminus „Lucayan“ bzw. „Lucayans“ mit „lucayisch“ zu
übersetzen, wenn es ein solches Wort gäbe; daher bleibe ich bei
dem Begriff „Lucayo“ für den Singular und - in Übereinstim-
mung mit der deutschen Ethnologen-Graphie - auch für den
Plural). Der Text des Buches wird von zahlreichen Abbildun-
gen, Karten und Tabellen unterstützt.
Neben einer Danksagung und einem Vorwort ist die Publika-
tion in zehn Kapitel untergliedert. Da ich bei der Besprechung
von Wilson 1997 (in diesem TRIBUS-Band) bereits einen kur-
zen Überblick über die Besiedelung und den archäologischen
Hintergrund der westindischen Inseln vorgelegt habe, ist an
dieser Stelle nur so viel festzuhalten, dass die Bahamas sowie
die südlich gelegenen Nachbarinseln Turks und Caicos zum
karibischen Großraum (wie übrigens auch das südliche Flori-
da) gehören. Ihre ursprüngliche Bevölkerung bestand aus Eth-
nien der großen Taino-Gruppierung mit einem Idiom des
Aruak. In seinem Vorwort lässt uns der Verfasser an einer von
Kolumbus so geschilderten Begegnung am 16. Oktober 1492
zwischen seiner Besatzung und einem Mann teilhaben, der in
seinem Kanu von Guanahani (San Savador, der östlichen Ba-
hama-Insel, an der Kolumbus zuerst landete) auf dem Weg zur
Insel mit dem heutigen Namen Long Island war. Keegan
knüpft an diesem Erlebnis an und weist den Leser anschlie-
ßend auf anschauliche Weise in die Lucayo-Ethnographie ein,
um in einem weiteren Abschnitt des Vorwortes die archäologi-
schen Gegebenheiten dieses kurzen Zusammentreffens zwi-
schen Angehörigen der europäischen und indianischen Welt
zu besprechen. In seiner Einführung (gleichzeitig Kapitel I)
gibt der Autor einen Überblick über die ethnische und linguis-
tische Zusammensetzung der Inselbevölkerungen im großkari-
bischen Raum. Im zweiten Kapitel wird der Ursprungsregion
der Lucayo und ihren Wanderrouten vom südamerikanischen
Festland in die nördlich der karibischen Inseln gelegenen Ba-
hamas ab 500 v. Chr. nachgegangen. Im Zentrum der kulturel-
len Entwicklung steht hier wie auch in der östlichen Karibik
die so genannte Saladoid-Phase, die von dem genannten Zeit-
punkt bis ca. 700 n. Chr. reichte. Diese Zeitspanne ist anhand
der Fülle zeitlich gesicherter Keramiken gut erforscht. Sala-
doid wird als Mutterkultur der Taino angesehen. Spezielle ar-
chäologische Stationen, so auf Grand Turk und Guanahani,
untermauern den allgemeinen Befund. Weitere Erkenntnisse
liefert seit den 1930er Jahren die Linguistik. In Kapitel 3 über
„lucayische“ Archäologie legt Keegan zunächst einen generel-
len Ein- und Überblick über archäologisches Arbeiten vor.
Hierbei werden die zahlreichen Stationen, die es mittlerweile
gibt, nach einzelnen Bahama-Inseln geordnet vorgefiihrt, in
Tabellen zusammengestellt und unter Hinzuziehung einzelner
Beispiele näher erläutert. Wie überall in der Archäologie (jün-
gerer Zeiten) kommt der Keramik ausschlaggebende Beweis-
kraft zu, so auch auf den Bahamas. Sie wird in ihren verschie-
denen Stilen, in Dekor und Bemalung erläutert. Kalibrierte
14C-Daten werden aufgeführt. Im vierten Kapitel liefert der
Verfasser eine Einführung in Geographie, Geo- sowie Klima-
tologie der Bahamas einschließlich der Turks und Caicos, wo-
bei naturgemäß das Interesse an Rückschlüssen auf präkolum-
bische Umweltverhältnisse liegt. In Kapitel 5 über „Dorfleben
und Tod“ (beschrieben werden fast ausschließlich die materiel-
len Seiten kulturellen Lebens der Lucayo) geht der Autor auf
die so genannte Paläoethnographie ein (s. hierzu meine Aus-
führungen in der Rezension „Keegan 1992“ in diesem TRI-
BUS-Band). Sie bedient sich der auch in der europäischen Ar-
chäologie bekannten Methode einer rückschreitenden Betrach-
tungsweise oder ist sogar mit diesem Verfahren identisch. Die
„paläoethnographische“ Arbeitsweise hat also höchstens am
Rande etwas mit der (beispielsweise deutschen) Ethnoarchäo-
logie bzw. dem ethnologisch-paläolithischen Vergleich zu tun.
Die Unwägbarkeiten und Voraussetzungen bei der „Paläo-
ethnographie“ sind einfach zu groß und verschiedenartig, um
exakte Grundlagen für Aussagen „wie es gewesen ist“ liefern
zu können, zumal sich diese Methode - über die Archäologie
hinaus - auch noch auf Aspekte der Verhaltensforschung stützt.
Das sechste Kapitel ist der Ernährung und der durch sie be-
dingten Gesundheit der Lucayo gewidmet. Zunächst werden
die zahlreichen Nutzpflanzen und teilweise ihr Anbau vorge-
flihrt, sodann die Jagd auf Landtiere und abschließend, mit 75
Prozent den weitaus größten Anteil an fleischlicher Ernährung
ausmachend, der Fischfang und das Sammeln von Muscheln
sowie weiterer Meerestiere erläutert. Die Jagd auf Meeressäu-
ger wie Delfine, Mönchsrobben und Seekühe wurde im kari-
bischen Großraum auch praktiziert, ist jedoch für- die letztge-
nannten Tiere auf den Bahamas archäologisch nicht nachge-
wiesen, worauf hier nicht extra hingewiesen wird (s. aber Kee-
gan 1992). Das Nahrangsangebot war so umfassend und aus-
reichend, dass sich die meisten Lucayo offenbar bester Ge-
sundheit erfreuen konnten. An aufgefimdenen menschlichen
Skeletten auf den Bahamas wurden im Gegensatz zu Inselbe-
wohnern der Karibik so gut wie keine Krankheiten festge-
stellt. Im siebten Kapitel behandelt Keegan das gesellschaftli-
che Leben der Taino im Allgemeinen und das der Lucayo im
Besonderen sowie dessen Organisationsformen und psychoso-
zialen Grundlagen. Nach einer theoretischen Betrachtung be-
leuchtet er den Ursprung und das Fundament der Taino-Ge-
sellschaft. Mit Bezug auf die (widersprüchlichen) Aussagen
früher Chronisten verweist der Autor auf das (offenbar) vor-
herrschende Avunkulat mit Matrilinearität auf der Grundlage
mutterrechtlicher Deszendenz bei den Insel-Arawaken. Hier
gibt es allerdings noch viele Unsicherheiten, wie ja auch
grundsätzlich zu „mutterrechtlichen Organisationsformen“
noch immer zahlreiche Fragen offen sind bzw. der Terminus
sogar vollständig verworfen wird.
Das achte Kapitel bringt dem Leser das so genannte Kaziken-
tum und seine regionale Ausprägung als cacicazgos näher. Der
Verfasser zeigt auf, dass Rivalitäten und Kriege mit anschlie-
ßenden Allianzen zwischen den Cacicazgos insbesondere auf
den Großen Antillen an der Tagesordnung waren, was sicher-
lich auch dazu beigetragen hat, dass die Spanier schnell die
Oberhand in Westindien gewannen. In Kapitel 9 „Unter dem
Regenbogen - Taino-Mythologie“ kommt Keegan auf die zu-
nächst verwirrenden Glaubensvorstellungen der Taino zu spre-
chen, die wie überall in ähnlich gelagerten Gesellschaften ne-
ben religiösen Anhaltspunkten - hier über die Zemis (Geister,
die das „Universum“ im Gleichgewicht hielten) - auch Regeln
für alltägliches Handeln vorgabcn. Im zehnten und letzten Ka-
pitel schildert der Verfasser (zu kurz) den Untergang dieser in-
dianischen Welt, die als erste des „neuen“ Kontinents mit Eu-
ropa in Kontakt kam und als erste am ihm zerbrach. Ungefähr
80.000 Lucayo lebten 1492 auf den Bahamas, 1520 gab es kei-
nen einzigen Autochthonen mehr auf dieser Inselgruppe. Es ist
müßig, darüber zu spekulieren - wie auch Keegan mit ver-
___________Buchbesprechungen Amerika
klausulierten Worten an dieser Stelle dass die Lucayo auch
ohne das Erscheinen von Kolumbus in einem Tributsystem der
südlichen Taino untergegangen wären. In diesem Zusammen-
hang: Es ist bedauerlich, dass bei etlichen Wissenschaftlern
immer wieder Tendenzen festzustellen sind, die Verantwort-
lichen (sogar wenn diese selbst längst Geschichte geworden
sind) für den Untergang der westindischen Urbevölkerung aus
der Schusslinie zu bringen. Tatsachen dürfen nicht mit histori-
sierenden Spekulationen vermischt werden, und Fakt ist, dass
die westindischen Indianer sowohl direkt als auch indirekt von
Europäern, in diesem Fall von Spaniern, ausgerottet wurden.
Da gibt es nichts herunterzuspielen und schon gar nichts zu
beschönigen!
Die Publikation endet mit Anmerkungen zur herangezogenen
Literatur und einem zweiseitigen Register. Mein kritischer
Hinweis zu manchen relativierenden Darstellungen in Publi-
kationen über den ersten von Europäern verursachten Holo-
caust auf amerikanischem Boden, so auch hier, ändert nichts
an der Tatsache, dass ich auch dieses Keenan-Buch für eine
ausgezeichnete Zusammenfassung halte, die ausschließlich
dem kulturellen Leben auf den Bahamas vor Kolumbus ge-
widmet ist und mit zahlreichen Einzelheiten und wichtigen
Grundlagen versehen wurde. Es wird für die zukünftige West-
indienforschung unverzichtbar bleiben.
Literatur
Keegan, William F.
1992 The People Who Discovered Columbus - The Pre-
history of the Bahamas. Gainesville u.a.: University
Press of Florida.
Wilson, Samuel M.
1997 The Indigenous People of the Caribbean. Organized
by the Virgin Islands Humanities Council. The Ripley
P. Bullen Series. Gainesville u.a.: University Press of
Florida.
Axel Schulze-ThuliN
Keegan, William F.:
The People Who Discovered Columbus - The
Prehistory of the Bahamas. Gainesville u.a.: Uni-
versity Press of Florida, 1992. 279 Seiten, zahl-
reiche Grafiken, Tabellen, einige Zeichnungen
und SW-Fotos.
ISBN 0-8130-1137-X
Wollten Sie schon immer Fundiertes über die ethnohistori-
schen Hintergründe der autochthonen Amerikaner erfahren,
die als erste den italienischen Seefahrer Christoph Kolumbus
nach seiner spektakulären Atlantikübcrquerung begrüßten?
Hier ist das Grundlagenwerk über die Indianer der Bahamas,
über ihre Geschichte, ihre gesellschaftlichen Organisations-
formen, ihre Lebensweisen und ihren Untergang. William F.
Keegan, ehemals einer der führenden Konservatoren für Eth-
nologie (amerikan.; anthropology) am Florida Museum of Na-
tural History, ist seit vielen Jahren als weithin anerkannte Ka-
pazität für die indianischen Ethnien des nördlich Ost-Kuba ge-
legenen Archipels wissenschaftlich tätig. Abgesehen von eini-
gen neueren Forschungsergebnissen am Rande zur noch lange
nicht exakt durchschaubaren Einwanderung südamerikani-
scher Indianer in die karibische Inselwelt zwischen 4000 v.
und 1500 n. Chr., ist das Buch nach wie vor toppaktuell (und
nicht vergriffen).
Die Publikation ist in zehn Kapitel mit jeweils mehreren Ab-
schnitten gegliedert. Vorgeschaltet sind Auflistungen der zahl-
reichen Abbildungen, Karten, Tabellen sowie ein Vorwort und
eine Danksagung des Autors. Im ersten Kapitel räumt Keegan
mit etlichen der bisherigen Vorstellungen und schriftlichen
Aussagen auf, die uns ein in Teilen verzerrtes Bild des tat-
sächlichen historischen Ablaufs und der kulturellen Gegeben-
heiten im präkolumbischen Westindien vorgaukelten. Zu-
nächst wendet er sich den Guanahatabey oder Guanacabibe
(früher Ciboney) zu, den Indianern des westlichsten Kuba.
Seinen Korrekturen an den bisherigen Beschreibungen dieser
Ethnien und ihrer Geschichte lässt er auf den folgenden Seiten
eine literaturkritische Studie folgen. Ebenso wird mit den In-
selkariben der Kleinen Antillen und den Taino verfahren, der
indigenen Hauptbevölkerung vornehmlich Kubas, Hispaniolas
und teilweise Puerto Ricos, wobei dieser Gruppierung eine
ausführliche kulturhistorische Dokumentation zuteil wird. -
Das zweite Kapitel enthält eine eingehende geologische, geo-
grafische, klimatologische und ökologische Beschreibung der
Bahamas. - Im dritten Kapitel beschreibt der Autor die Immi-
gration von Teilen der Taino in die erwähnte Inselgruppe, wo-
bei er gleich zu Anfang darauf verweist, dass es mit der Da-
tierung archäologischer Funde allein nicht getan ist. Techni-
sche Mittel und Motive der Menschen sowie Voraussetzungen
verschiedener Art im Hinblick auf eine Wanderung müssten
ebenfalls berücksichtigt werden. Und so beschreibt Keegan
zunächst die Navigation der Taino, um anschließend auf die
Einwanderungsrouten in Richtung Bahamas zu sprechen zu
kommen, die an der Nordostküste Mittelkubas und dem öst-
lichsten Kuba sowie der Nordküste des westlichen Hispanio-
las, heute Haiti, ihren Anfang nahmen. Dabei wird auch aus-
führlich auf die Rolle der südlich der Bahamas gelegenen
Turk- und Caicos-Inseln eingegangen. Zu den Motiven, die
zur Besiedelung dieses Archipels führten, widerlegt der Ver-
fasser die bisherigen Ansichten, dass zum einen eine Überbe-
völkerung, insbesondere auf Hispaniola, zum anderen der
Druck der Inselkariben aus dem Süden für die Auswanderung
aus Teilen der Großen Antillen verantwortlich zu machen
seien. Wegen der guten Versorgungslage auf den letztgenann-
ten Inseln verwirft er eine Überbevölkerung als Grund für die
Wanderungsbewegungen. Des Weiteren weist er darauf hin.
dass die Kariben über die Windward-Inseln (die südlichsten
unserer Inseln über dem Wind) nie hinausgekommen seien.
Außerdem hätte sich die Stärke der Insel-Kariben erst ent-
wickelt, nachdem die auswandemden Taino-Gruppen die Ba-
hamas in Besitz genommen hatten und hier schon Jahrhunder-
te siedelten. Weiterhin seien die Taino der Großen Antillen mi-
litärisch gut in der Lage gewesen, sich gegen die Kariben zu
verteidigen. - Zu präkolumbischen Zeiten, insbesondere im
ersten Jahrtausend n. Chr., sah die Umwelt der Bahamas we-
sentlich anders aus als beispielsweise heute. Die Böden waren
überaus fruchtbar, bedeckt von tropischen Wäldern, der Tier-
reichtum sowohl an Land als auch im Meer war überwälti-
gend. Daher waren diese nördlich gelegenen Inseln für Eth-
nien mit Feldhackbau, mit Jagd und Fischfang, sehr attraktiv.
Keegan weist daher die Kolonisierung der südlichen Bahamas
(auch der Turk- und Caicos-Inseln) ethnischen Gruppen mit so
genannter ostionoider Keramik zu (etwa 500 - 1000 n. Chr.).
___________TRIBUS 52, 2003
Dass die Einwanderung auf die Bahamas aus dem Süden vor
sich ging, zeige die abnehmende Bevölkerungsdichte der Lu-
cayo, wie die nördlichen Taino genannt werden, von Süden
nach Norden (abzulesen an der Zahl der Dörfer je Insel; auf-
grund gleicher ökologischer Ausstattung der fraglichen Inseln
in präkolumbischer Zeit und der guten archäologischen Er-
kenntnislage eine realistische Annahme). Dies wird auch von
anderen Autor(inn)en bestätigt. In Craton / Saunders (1992:
23) ist vermerkt, dass die südlich der Bahamas gelegene Insel
Middle Caicos, gemessen an ihrer Landfläche, die meisten in-
dianischen Einwohner hatte (36 Freiland- und acht Höhlensta-
tionen). San Salvador (Guanahani), die Insel, auf der Kolum-
bus erstmals ein Stück des amerikanischen Kontinents betrat,
steht an zweiter Stelle. Die Bahamas-lnsel Long Island hat mit
44 am meisten Freilandstationen, aber auch die größte Fläche
(173 Quadratmeilen).
Im vierten Kapitel legt Keegan zunächst die Bereiche und
Methoden dar, die zur Aufhellung sozialer (gesellschaftlicher)
Systeme längst vergangener Ethnien beitragen können. Um re-
ale Ergebnisse zu bringen, müssen die entsprechenden Untersu-
chungen - mit einem Wort - interdisziplinär angelegt sein, auch
wenn der Autor das nicht so ausdrückt. Grundlage und Ansatz
sind archäologische Befunde. Und so gibt Keegan denn auch
zunächst einen Überblick über die rund 250 bekannten und er-
forschten Lucayo-Fundplätze und -Grabungsstationen auf den
Bahamas, die seit 1877 bis heute ein gutes Bild der archäologi-
schen Situation erbracht haben. Das 21. Jahrhundert werde, ob-
gleich noch immer auf der einen oder anderen Insel gegraben
werde, kaum noch Überraschungen bringen. Kurz gesagt, unter-
scheidet der Verfasser zwischen „Haushalten“ mit bis zu drei
Häusern (Keegan spricht von „houses“; in unserem Sprachge-
brauch sind es mehr Hütten), „Weilern“ mit vier bis acht und
„Dörfern“ mit über acht festen Wohnstätten. Auch Abris und
Höhleneingänge wurden als Aufenthaltsräume genutzt, Flöhlen
in der Regel als Zeremonialplätze und Begräbnisstätten. Die In-
seln mit „Dörfern“ sind in der Minderheit. Aus einer Auflistung
(70 f) geht hervor, dass die Bahamas - abgesehen von der er-
wähnten Süd-Nord-Richtung der Einwanderung - unterschied-
lich dicht besiedelt waren. Neben den erwähnten Wohnstätten
gibt es noch zahlreiche Stationen, die wir im Deutschen als La-
gerplätze bezeichnen. Unter Berücksichtigung nur der dauer-
haften Siedlungen ist die Zeit der endgültigen Inbesitznahme
der Bahamas mit ca. 1200 n. Chr. anzusetzen. Bis heute ist die-
se Annahme recht schwankend, denn es gibt nur wenige l4C-
Daten, um sie abzusichem. Mit Blick auf die oben erwähnte os-
tionoide Keramik kann es sich bei dem Datum 1200 n. Chr. nur
um einen Abschluss der Immigration handeln, was natürlich
nicht ausschließt, dass Bevölkerungsbewegungen auch nördlich
der Großen Antillen noch nach dieser Zeit stattfanden.
Das fünfte Kapitel hat Angaben und Überlegungen zur sozia-
len (gesellschaftlichen) und politischen Organisation der Lu-
cayo in Anlehnung an die diesbezüglichen Formen bei den
Taino im Süden aufgenommen. Über Letztere sind wir auf der
Grundlage spanischer Berichte relativ gut informiert. Auch
wenn wir bei der Darstellung von Gesellungsformen lange zu-
rückliegender Zeiten und bei vergangenen, sprich ausgerotte-
ten Ethnien Vorsicht walten lassen müssen, spricht doch etli-
ches dafür, dass die Taino-Gesellschaft auf mutterrechtlichen
Grundlagen beruht haben muss. Jedenfalls scheint der Mutter-
bruder innerhalb der Verwandtschaftsbeziehungen und in Be-
reichen, die damit Zusammenhängen (Heiratsregeln, Arbeits-
leben, politische Organisation u.a.), das Sagen gehabt zu ha-
ben. Der leibliche Vater hat offenbar keine besondere Rolle
gespielt. Ob wir von der Gesellung der „klassischen“ Taino
allerdings auf diejenige der Lucayo schließen dürfen, ist zu-
mindest unsicher. - Im sechsten Kapitel wendet sich Keegan
der Ernährungsbasis bzw. Subsistenzwirtschaft der Bahamasin-
dianer zu. Es ist schon erstaunlich und nicht oft anzutreffen, wie
der Autor Erkenntnisse anderer Disziplinen, wie beispielsweise
der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen, bei der Suche
nach den ökonomischen Grundlagen in einer einfach struktu-
rierten Feldbauer-Fischer-Gesellschaft ein- und umzusetzen
versucht und wie es ihm gelingt, beim Leser Verstehen, zumin-
dest Aha-Eftekte hervorzurufen. Wie erwähnt, waren Feldbau
und Fischfang die Basis der Ernährung. Hinzu trat gelegent-
liches Jagen auf Landtiere (dazu gleich mehr) sowie das Sam-
meln von Wildpflanzen und -früchten. Von den essbaren Nutz-
pflanzen stand der (bittere und süße) Maniok, während der Jahr-
hunderte langen Wanderschaften mitgebracht aus dem Amazo-
nasbecken und nordöstlichen Küstenregionen Südamerikas, an
oberster Stelle. Daneben gab es zahlreiche (ca. fünfzig; Keegan
146) weitere kultivierte Pflanzen, wie beispielsweise Süßkartof-
feln, mehrere Bohnen- und Kürbisarten, Chili, Mais, Erdnuss
sowie Papaya und andere süße Früchte. Nicht essbar, aber den-
noch bedeutsam waren Baumwolle und Tabak (die Rache der
Indianer). In diesem Zusammenhang muss auch auf die zahllo-
sen Narkotika hingewiesen werden, die das indigene Amerika
der Welt schenkte (s. auch Haberland 1975). Den Hauptanteil
fleischlicher Ernährung auf den präkolumbischen Bahamas lie-
ferten Meerestiere (88 %), darunter nicht nur zahlreiche Fisch-
arten, Muscheln, Meeresschnecken und Krabben, sondern auch
Schildkröten und Meeressäuger wie Delfine, Mönchsrobben
und Seekühe (letztere wurden allerdings auf den Bahamas-
Fundplätzen noch nicht nachgewiesen). Der weitaus geringere
Fleischanteil entfiel auf Landtiere, so Hutia (ein Nagetier; Aus-
sehen etwa wie eine Mischform aus Kaninchen und Ratte),
Iguana (ein zwischen 50 und 120 cm [letzteres Maß mit
Schwanz] langes drachenfonniges Reptil) und weitere Tiere
wie Schlangen sowie verschiedene Vögel, insbesondere Papa-
geien.
Im siebenten Kapitel versucht Keegan, mit mehreren theoreti-
schen Modellen der Bevölkerungsdichte auf den Bahamas zu
verschiedenen präkolumbischen Zeiten näher zu kommen. Da
die Grundlage, eine ausreichende Zahl von l4C-Daten, nicht
gegeben ist, kann selbst die schönste Theorie, welcher Art
auch immer, keine Antworten liefern. Nur auf der Basis von
Ernährungslage, Einwanderungszeiträumen und medizini-
scher Versorgung im weitesten Sinne können Bevölkerungs-
zahlen sowie -Zunahmen und -rückgänge geschätzt werden.
Da es auf vielen Bahamas-Inseln die oben erwähnten Weiler
und Dörfer gleich mehrmals gab, kann von einer recht großen
Bevölkerungsdichte ausgegangen werden. Mit dieser vagen
Angabe müssen wir uns vorerst noch begnügen. Im achten Ka-
pitel über Christoph Kolumbus und seine Suche nach Gold
wird es dann wieder konkreter, denn hierzu liegen etliche his-
torische Dokumente vor, die Aussagen mit Hand und Fuß er-
lauben. Die seit Jahrhunderten immer wieder diskutierte Fra-
ge, auf welcher der zehn möglichen von 25 zur Debatte ste-
henden Inseln denn nun der „Landfall“ des Genuesen erfolg-
te, beantwortet der Autor mit dem Hinweis auf Morison
(1942), dass diese Frage damals endgültig entschieden wurde.
Das heißt Guanahani, heute San Salvador, war der indianische
Boden, auf den Kolumbus seinen Fuß erstmals setzte. Im wei-
teren Verlauf dieses Kapitels wird auch ausführlich auf den
____________Buchbesprechungen Amerika
weiteren Weg des italienischen Seefahrers durch die Bahamas-
Inselwelt eingegangen.
Das neunte Kapitel enthält Stellungnahmen zur Leistung des
Kolumbus und des politischen sowie sozioökonomischen Um-
feldes zu dessen Zeit, Berichte über einige, die in seine Fuß-
stapfen zu treten versuchten, Hinweise auf die aufgefundenen
spanischen Schiffswracks aus dem frühen 16. Jahrhundert, An-
merkungen zum Sklavenhandel mit Afrikanern anstelle der
vorher versklavten Indianer und zu der - hier leider zu kurz be-
schriebenen - Ausrottung der Indigenen selbst. An dieser Stel-
le eine Randbemerkung zur amerikanischen Geschichte; Ame-
rigo Vespucci, dem der indianische Kontinent seinen Namen
„verdankt“, war selbst aktiv am Sklavenhandel mit Lucayo be-
teiligt. Nomen est omen. Insgesamt führten die direkten und in-
direkten Ausrottungsmethoden der spanischen Konquistadoren
allein auf Hispaniola (220) zwischen 1492 und 1509 zu einem
Rückgang der indianischen Bevölkerung von zwei Millionen
auf 61.000. Auch auf den Bahamas wurde ganze Arbeit geleis-
tet. Um 1511 waren die südlichen Eilande sowie die Caicos-
und Turk-lnseln entvölkert, um 1520 der gesamte Archipel bis
zur Küste von Florida. - Im zehnten und letzten Kapitel meint
Keegan, es sei erforderlich, auf manche Begebenheiten im Le-
ben von Christoph Kolumbus, der Ostasien erreichen wollte,
indem er nach Westen segelte, zurückzukommen. Außerdem
fasst er das zusammen, was er zur Erkenntnisbereicherung an
Methodischem als bedeutsam erachtet, wobei er etwas un-
glücklich den von ihm verwendeten und auf David Hurst Tho-
mas (Archaeology 1989) zurückgehenden Begriff „paleoethno-
graphy“ mit Kulturhistorie, im Deutschen wohl besser mit Eth-
nohistorie zu umschreiben, gleichsetzt (227). Da ja Europa,
auch „das alte“, bereits seit Jahrzehnten - oft ohne es zu mer-
ken - von Anglizismen heimgesucht wird, hoffe ich, dass wir
von dem Terminus „Paläoethnographie“ (der ja auch im Sinne
von Keegan nichts mit Paläo[lithikum] zu tun hat) verschont
bleiben. - Das Buch schließt mit einer 38-seitigen Bibliogra-
phie und einem (nicht gegliederten) Register.
Keegan hat in dieses Werk nicht nur die Ergebnisse seiner ei-
genen jahrzehntelangen Arbeit mit der Materie eingebracht,
sondern auch die Erkenntnisse zur präkolumbischen Baha-
masforschung seiner Vorgänger aus einem mehr als hundert-
jährigen Zeitraum verarbeitet. Er hat zudem einen bedeutsa-
men Beitrag zur interdisziplinären Kooperation geliefert, wo-
bei der eine oder andere mehr Wert auf beispielsweise psycho-
logische Methoden legen mag als auf mathematische. Sicher-
lich hat der Autor alle sich bietenden Möglichkeiten geprüft
und die ihm relevant erscheinenden Wissenschaftsgebiete zu
seiner Arbeit herangezogen. Das Werk gehört in jede Univer-
sitätsbibliothek; außerdem in diejenigen von Amerika-Institu-
ten, Völkerkunde-Seminaren, ethnologischen Museen sowie
in den Bücherschrank von jedem am historischen Amerika
Interessierten.
Literatur
Craton, Michael / Gail Saunders
1992 Islanders in the Stream - A History of the Bahamian
People. Vol. I: From Aboriginal Times to the End of
the Slavery. Athen - London.
Haberland, Wolfgang
1975 Das gaben sie uns - Indianer und Eskimo als Erfinder
und Entdecker. Wegweiser zur Völkerkunde, H. 17.
Hamburgisches Museum für Völkerkunde, Hamburg.
Morison, Samuel Eliot
1942 Admiral of the Ocean Sea - A Life of Christopher
Columbus. Oxford.
Axel Schulze-Thulin
Wallisch, Robert:
Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci (Text,
Übersetzung und Kommentar). Wien; Österrei-
chische Akademie der Wissenschaften, 2002.
134 Seiten.
ISBN 3-7001-3069-4
Mit der Veröffentlichung dieses seit langem vorliegenden
Desiderats ist eine schmerzlich empfundene publizistische
Lücke geschlossen worden. Übersetzer und Kommentator des
lateinischen Vespucci-Textes (Mundus Novus, Augsburg
1504) sowie dem Verlag gebühren aufrichtiger Dank, nicht nur
des Amerikanisten, sondern auch des interessierten Histori-
kers und Literaturwissenschaftlers. Zu erwähnen sind auch
Kurt Smolak, der den Autor zu dieser Publikation ermunterte,
sowie Martina Lehner und weitere Experten, die am Zustan-
dekommen des vorliegenden Bandes beteiligt waren.
Das Buch ist neben einer Einleitung und dem Literaturver-
zeichnis in insgesamt sieben nicht nummerierte Teile geglie-
dert. Hierin eingeschlossen sind eine „Tafel nautischer Daten
der Brasilienexpedition (des Florentiners Vespucci) von 1501-
1502“, die „Synopse der erhaltenen Briefe Vespuccis“ (zu sei-
ner zweiten und dritten Reise; erfasst ist außerdem der so ge-
nannte Soderini-Brief mit der Beschreibung aller vier Expedi-
tionsfahrten) und schließlich eine „biographische Tafel“ mit
Angaben zur Entdeckungsgeschichte des ausgehenden 15.
Jahrhunderts sowie den Lebensdaten Vespuccis, der ja nur ein
Jahr jünger als Christoph Kolumbus war und diesen über ein
Bankhaus der Medicis teilweise finanziell unterstützte. In der
Einleitung erläutert Wallisch kurz den Platz, den Vespuccis in
der Geschichte einnimmt, wobei er ihn bezüglich des Werkes
„Mundus Novus“ und des bekannten Vorwurfs, er hätte „Ko-
lumbus um dessen wohlverdienten Ruhm betrogen“ (10), in
Schutz nimmt und ihn in einem günstigeren Licht als bisher
dastehen lässt. Im nächsten Abschnitt wird der lateinische Ve-
spucci-Text „Mundus Novus“ mit deutscher Übersetzung
wiedergegeben (jeweils auf der gegenüberliegenden Seite; 11-
31). Auf den Seiten 32-103 kommentiert Wallisch diesen Text.
Ich werde auf einzelne Stellen später eingehen. Im dritten Teil
(104-113) trägt der Verfasser seine Ansichten „zur Rehabili-
tierung des Mundus Novus und seines Autors“ vor. Auf den
sich anschließenden Passagen (114-120) verbindet Wallisch
die Zeit der europäischen Entdeckung Amerikas und des sich
dadurch schnell wandelnden Weltbildes mit der literarischen
Neuorientierung, sei es im Hinblick auf Reiseberichte, die nun
____ ___TR1BUS 52, 2003
oftmals auf eigenen gefährlichen Erlebnissen beruhen, sei es
bei Romanen, in denen vor dem Hintergrund der rasant zu-
nehmenden Seefahrt und der sich entwickelnden Nautik Aben-
teuer in fremden Ländern und unter „Wilden“ thematisiert
werden. Nach den drei weiteren, bereits erwähnten Buchab-
schnitten wird die Publikation mit dem Quellenverzeichnis ab-
geschlossen.
Es soll nun, wie angekündigt, auf einige Punkte des Kom-
mentars zum Mundus Novus eingegangen werden, die hin-
sichtlich heutiger Veröffentlichungen zu Kolumbus und den
Ersten Amerikanern bedeutsam sind. Dabei erscheint mir zu-
nächst der Hinweis wichtig zu sein (Anm. 8, Seite 36), dass
Kolumbus in Bezug auf die „Neue Welt“ nicht so unwissend
war, wie er bis heute oft dargestellt wird. So vermutete er nach
seiner dritten Reise, „dass sich südlich des heutigen Venezue-
la ein otro mundo erstrecke“ (ebenda). Dennoch kommt Ve-
spucci das Verdienst zu, den Begriff „Neue Welt“ als Erster für
Südamerika geprägt zu haben. Noch 1501 war Vespucci wie
auch Kolumbus der Meinung, dass Mittelamerika und die ka-
ribische Region ein Teil Ostasiens seien und „Südamerika sei
jenes ‘Unbekannte Land’, das nach Ptolemaios den Indischen
Ozean im Osten abschließe“ (Anm. 29, Seite 43), „und dies
trotz seiner (des Vespuccis) frühen Einsicht in den kontinenta-
len Zusammenhang Brasiliens mit dem von den Spaniern be-
reits entdeckten Norden Südamerikas“ (43 f). Noch 1500 war
Pedro Älvares Cabral überzeugt, mit Brasilien eine Insel ent-
deckt zu haben. Dieses „Inseldenken“ kam den politischen
Absichten Portugals sehr gelegen, konnte es doch damit Land-
ansprüche gegenüber dem kastilischen Konkurrenten bis ins
17. Jahrhundert hinein begründen (Anm. 45, Seite 50 f). Nach-
dem Vespucci die „Neue Welt“ (Südamerika) als Kontinent er-
kannt hatte, vermied er bewusst, die dortigen Ureinwohner mit
dem seit Kolumbus eingeführten Begriff „Indios“ zu bezeich-
nen. Er sprach von ihnen vielmehr als gens, gentes, coloni
usw. Kolumbus, der die Antillen als Inseln vor China ansah
(Hinweis von mir: allerdings hatte er Kuba lange als Festland
betrachtet und dies sogar seine Besatzung [auf der zweiten
Reise] schwören lassen) und nie behauptet hat, in Indien ge-
landet zu sein, hatte die Taino und Kariben dennoch als „In-
der“ (span, indios) bezeichnet, wohl einfach deshalb, weil in
der Terminologie mittelalterlicher Kartographie die Bewohner
des Femen Ostens per se alle „Inder“ waren (Anm. 53, Seite
53). - Vespucci hat sich verschiedentlich zum Kannibalismus
brasilianischer Indianer geäußert, so im Bericht über seine
dritte Reise (1501 /02), dem so genannten Bartolozzi-Brief von
1502, in dem er die Erscheinung des Kannibalismus „mit dem
Mangel an anderen Fleischsorten aufgrund der Gefährlichkeit
der Jagd begründet“ (Anm. 84, Seite 68; s. aber Anm. 134,
Seite 83; „In Wahrheit waren die Tupi nämlich unerschrocke-
ne und überaus geschickte Jäger...“; zum Kannibalismus sei
auch auf Anm. 113/14, Seite 76 f. hingewiesen).
Das vorliegende Buch ist nicht nur deshalb von großer Bedeu-
tung, weil es Amcrigo Vespucci historische Gerechtigkeit
widerfahren lässt, sondern vor allem wegen seines enormen
Informationsgehaltes. Es ist für die Erforschung des frühen
Amerika eine unerlässliche Quelle und gehört daher in die Bi-
bliothek jedes ethnologischen, historischen und linguistischen
Instituts.
Axel Schulze-Thulin
Wieczorek, Alfred /
Tellenbach, Michael:
An Die Mächte Der Natur - Mythen der altperu-
anischen Nasca-Indianer. Ausstellungskatalog,
Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen. Bd.
5. Mainz; Philipp von Zabem, 2002.
Diese Arbeit ist ohne Zweifel ein bedeutender Beitrag zum
Verständnis der archäologischen Kultur von Nasca. Der Kata-
log zur Ausstellung, die in den Städten Oldenburg und Frei-
burg übernommen werden wird und weitgehend unpublizierte
Bestände des Reiss-Engelhom-Museums zeigt, ist ein Nach-
schlagewerk und erleichtert es, die in der Ausstellung präsen-
tierten Resultate noch einmal zu vertiefen. „An Die Mächte
Der Natur“ ist ein die Ausstellung begleitender Katalog, in
dem verschiedene Autoren, unter ihnen Michael Tellenbach
und Anne Paul, unterschiedliche Bereiche der Nasca-For-
schung thematisieren. Dabei gelingt es in überzeugender
Weise, konkrete Ergebnisse zur Nasca-Forschung in einem
mehr universell-informativen Rahmen zu präsentieren. Es ist
der Versuch, aus der reichen Bildwelt der schriftlosen Nasca-
Gesellschaft Altperus Mythen zu entziffern und die Bilder auf
Keramik, Textilien und sonstigen Artefakttypen zu lesen. Der
Ausgang der Deutung der Nasca-Bildwerke ist die Annahme,
dass die Tier- und Pflanzendarstellungen sowie die Darstel-
lungen von Gottheiten verschlüsselte Zeichen der Ausein-
andersetzung mit dem Lebensraum sind. Damit ist bereits ein
wichtiges Ziel der Arbeit formuliert: Die Autoren streben nicht
nur eine auf der Formanalyse beruhende Interpretation der
Darstellungen an, sondern es werden aus der präzisen Natur-
beobachtung der Nasca-Produzenten die Komponenten des
Bezugssystems der Auslegung gewonnen. Damit liegt ein
Interpretationsansatz vor, der nicht wie Panofkys’ Dreistufen-
modell einen hierarchischen Aufbau besitzt, sondern ein er-
weiterungsfähiges Interpretationssystem ist, das sich mit den
aus Grabungen gewonnenen Ergebnissen verbinden lässt. In-
dem die Abbildung des Naturraums als das den Bildwerken
primär zugrundeliegende Prinzip gedacht wird, ist es auch
möglich, die Geschichte der kulturellen Symptome zu rekons-
truieren.
Um die eingangs gestellte Frage, die Bildwelt der Nasca-Ge-
sellschaft zu entziffern, zu beantworten, versucht der Katalog
zunächst, einen kulturgeschichtlichen Überblick zu geben und
die chronologische Entwicklung andiner Kulturen sichtbar zu
machen. Es folgt ein Kapitel zu den technologischen Errun-
genschaften in Feldbau, Weberei und Keramik. Die Untersu-
chung einiger Nasca-Keramiken erbrachte ein überraschendes
Ergebnis. Für die Keramikanalyse wurden eigens Gefäße an-
gefertigt, die sowohl in der Wulstaufbautechnik als auch mit
Hilfe der langsam und schnell drehenden Töpferscheibe her-
gestellt wurden. Die Computertomographie einiger Gefäße of-
fenbarte nun eine Drehrillenstruktur, wie sie nur die Gefäße
zeigten, die durch den Einsatz der langsam drehenden Töpfer-
scheibe entstanden waren. Die Analyse der Gefäße liefert so-
mit den experimentellen Nachweis für die Existenz der Töp-
ferscheibe im vorspanischen Amerika. Sie bestätigt zudem die
Aussage T. Grieders, der bereits 1978 die Nutzung der Töp-
ferscheibe in der Recuay-Keramik feststellen konnte und
schon damals dem Klischee der vorspanischen Gesellschaften
mit einer wenig entwickelten technischen Kultur widersprach
(Grieder 1978). Es folgt eine Abhandlung zu dem reichhalti-
272
____________Buchbesprechungen Amerika
gen Spektrum von Musikinstrumenten in der Nasca-Kultur,
um danach - und das ist das Hauptanliegen der Arbeit - ge-
nauer auf die Analyse und Deutbarkeit der Nasca-Bilder ein-
zugehen.
Die Stärke der Arbeit liegt in der Interpretation der archäolo-
gischen Daten, die zur Kultur von Nasca vorhanden sind und
ihrer Korrelierung mit den Ergebnissen der ikonographischen
Forschung. Mythische Gestalten, Gottheiten, werden als Per-
sonifikationen der lebensbringenden und zerstörerischen Na-
turkräfte gedeutet. Unter den wichtigsten mythischen Charak-
teren werden das menschengestaltige mythische Wesen, der
„Zackenstab-Dämon“, der Killerwal und der Vogeldämon ge-
zählt. Die bedeutendste Gottheit, das menschengestaltige my-
thische Wesen, dessen charakteristische Merkmale ein Kat-
zenkopf, ein menschlicher Köpfer und der „Zackenschlangen-
Umhang“ ist - also ein realiter nicht mögliches Wesen - wird
aufgrund seiner Paraphemalia wie auch seines Kontextes bzw.
Wirkungskreises als Fruchtbarkeitsbringer interpretiert.
Bedeutsam sind auch die Ergebnisse in den beiden letzten
Themenblöcken, die der Kopfsymbolik in den Nasca-Bildwer-
ken und den frühen Nasca-Textilien gewidmet sind. Die im
siebten Kapitel behandelte Kopfsymbolik umfasst nicht nur
einen Überblick über die Darstellungsregeln, denen die Nasca
bei der Abbildung von vom Rumpf getrennten Häuptern fol-
gen, sondern es werden die Ergebnisse aus der ikonographi-
schen Analyse mit denen des archäologischen Befundes zu ei-
nem schlüssigen Gesamtbild verbunden. Daraus wird ge-
schlossen, dass die Nasca-Gesellschaft auf die einschneiden-
den Klimaveränderungen in der mittleren Nasca-Zeit (Phase
Nasca 5) mit dem Bau raffinierter Bewässerungsanlagen rea-
gierten und die in dieser Zeit verstärkte Darstellung abge-
schnittener Häupter nicht so sehr wachsende kriegerische Ak-
tivität denn ein erhöhtes Maß an Opferbereitschaft, die Köpfe
Enthaupteter weniger Kriegsbeute denn Opfergabe signalisie-
ren. ln diesem Zusammenhang steht auch die Interpretation je-
ner Häupter als visuelle Metapher für Stecklinge und Samen,
die sich mit der Feststellung J. Dwyer’s deckt (Dwyer 1973),
die Gleiches für die abgebildeten Kopftrophäen der im „Farb-
block-Stil“ gehaltenen Textilien der späten Paracas-Zeit (i.e.
Phase EIP 1 u. 2) diagnostiziert. Die Arbeit findet ihren Ab-
schluss in einem Artikel A. Pauls, die neuere Erkenntnisse zu
frühen Nasca-Textilien erarbeitet hat und diese im Vergleich
zu solchen der späten Paracas-Zeit diskutiert. A. Paul widmet
sich in diesem Kapitel einem äußerst schwierigen Thema, dem
sich in jüngster Zeit auch schon A. Sawyer angenommen hat
(Sawyer 1997). Sie unternimmt den Versuch, späte Paracas-
Textilien der Farbblock-Stil-Tradition anhand von Technik,
Form und Ikonographie von solchen der frühen Nasca-Textil-
ien zu trennen. Dabei scheint besonders erwähnenswert, dass
sich die späten Paracas-Textilien durch den Nachweis eines
organisatorisch kontrollierteren Arbeitsprozesses von denen
der nachfolgenden Nasca-Zeit unterscheiden lassen.
Bei allen positiven Eigenschaften der Arbeit bleiben dem Re-
zensent einige wenige Punkte der Kritik. Dazu gehört, dass die
Vielzahl der Gottheiten in den Malereien des „üppigen Stils“
unbeachtet bleibt, da zwar, wie es schon Seler (1923) tat, dem
ohne Zweifel sehr genormten Kopftyp der mythischen Wesen
große Aufmerksamkeit geschenkt wird, jedoch der Rumpf vie-
ler Gestalten, der sich dann mit dem standardisierten Kopftyp
verbindet, unbeachtet bleibt. Hier lässt sich der gewinkelte
„Zackenstab“ des „Zackenstab-Dämons“ deutlich von einem
fisch- oder walgestaltigen Rumpf, aber auch vom schleppen-
artig bezackten „Umhang“ oder Rumpf des menschengestalti-
gen mythischen Wesens unterscheiden. Die relative Formali-
sierung der Kopftypen führt zu einem weiteren Punkt der Kri-
tik. Gesichtsdarstellungen, also Köpfe ohne Rumpf, werden
als Verkürzungen ganzgestaltiger Wesen interpretiert. So wäre
für einige Gesichtsdarstellungen, die als Verkürzung des
„Zeckenstab-Dämons“ gedacht werden, aber auch die Deu-
tung des vom Rumpf gelösten Walwesens, das ja mit demsel-
ben Kopftyp ausgestattet ist, oder die eines eigenständig agie-
rendes Wesens ähnlich dem als Rundgesicht dargestellten in-
kaischen Sonnengott, zulässig. Beide Kritikpunkte treten aber
angesichts der eindrucksvollen Ergebnisse zur Nasca-Kultur
in den Hintergrund. Zudem erbrachte die ikonographische
Analyse die Existenz des Stilmittels des pars pro toto. In die-
sem Sinne ist es auch schlüssig, die Darstellung von einzelnen
Köpfen als stellvertretend für komplexere Bildkompositionen
zu verstehen.
Die bibliographischen Hinweise, ein Glossar, sowie ein Lite-
raturverzeichnis unterstützen die Handhabung des Buches. In
seiner gut verständlichen Präsentation ist der Katalog als
Kompendium eine wertvolle Hilfe, die Kultur von Nasca bes-
ser zu verstehen.
Literatur
Dwyer, Jane / Dwyer, Edward
1973 “The Paracas Cemeteries: Mortuary Pattems in a
Peruvian South Coastal Tradition”. In Benson, E.P.:
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Seler, Eduard
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Peru und die Hauptclemente ihrer Verzierung“. Ge-
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Christiane Clados
273
TRIBUS 52, 2003
Wilson, Samuel M.:
The Indigenous People of the Caribbean. Orga-
nized by the Virgin Islands Humanities Council.
The Ripley P. Bullen Series. Gainesville u.a.;
University Press of Florida, 1997. 253 Seiten, et-
liche SW-Fotos, Karten.
ISBN 0-8130-1692-4
Die heutigen Indianer Nordamerikas, insbesondere in den
USA, bezeichnen sich mit Recht als die „Ersten Amerikaner“.
Als erste Indianer, aufgrund des bekannten historischen Irr-
tums (nicht nur von Christoph Kolumbus) solchermaßen be-
nannt, traten die Menschen der karibischen Region in die
Weltgeschichte ein. Von ihnen hört der Zeitgenosse kaum
noch etwas, ja trotz eines enormen Touristenstroms in die In-
selwelt zwischen Nord- und Südamerika ist die indigene einst-
malige Bevölkerung den meisten Reisenden, selbst interes-
sierten, ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb soll auf der
Grundlage einzelner Passagen der vorliegenden Publikation
zunächst ein allgemeiner Überblick vorgelegt werden. An-
schließend wird dann das Werk mit allen Beiträgen und ihren
Autor(inn)en insgesamt vorgestellt.
Erst nachdem es der Mensch gelernt hatte, Boote zu bauen,
konnte er Inseln im Meer erreichen, so auch in der Karibik.
Nach der nach wie vor herrschenden Lehrmeinung ging die in-
dianische Besiedelung der später von Europäern so genannten
Antillen hauptsächlich von Südamerika aus, insbesondere dem
östlichen Amazonien sowie dem Nordosten des heutigen Staa-
tes Venezuela. Noch ist vieles unsicher. Archäologisch erwiesen
scheinen die Einwanderungszeiten zu sein. Nach Louis Allaire
(21) setzte bereits vor 3600 v. Chr. die teilweise Inbesitznahme
der Großen Antillen durch Jäger/Sammler-Gruppen von Westen
her ein (frühestes archäologisch gesichertes 14C-Datum der Vig-
nier-Station auf Hispaniola; das sich daran anschließende l4C-
Datum der Levisa-Station auf Kuba liegt bei rund 3100 v. Chr.,
aus späterer Zeit, etwa ab 2500 v. Chr., nehmen dann die Fund-
plätze rapide zu und damit auch die vorliegenden 14C-Daten).
Es gab also offensichtlich keine Einbahnstraße in die Karibik,
vor allem wenn die Großen Antillen wie Kuba im Spiel sind.
Einzelne Ausgangspunkte hinsichtlich der letztgenannten Insel-
gruppe lagen auf dem westlichen Festland. Insbesondere Re-
gionen wie die des heutigen Belize und des nördlichen Kolum-
bien (Wanderrouten entlang der zentralamerikanischen Karibik-
küste nach Norden, dann nach Osten) werden hierbei angeführt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es bisher keine
präkeramischen Stationen - unter Umständen mit Ausnahme
von Martinique - auf den Windward Islands gibt (den südlichen
Kleinen Antillen bzw. den südlichen Eilanden unserer „Inseln
über dem Wind“ ab Dominica bis Grenada, ohne Barbados, Tri-
nidad und Tobago), was allerdings auch eine Forschungslücke
sein könnte, wohingegen die meisten solcher Fundorte auf den
Leeward Islands (den nördlichen Kleinen Antillen bzw. den
nordöstlichen „Inseln über dem Wind“ von Sint Maarten bis
Dominica) entdeckt wurden. Das allein kann jedoch nicht für
die früheste Einwanderung von West nach Ost sprechen. Ein
Faktum ist nämlich auch für eine frühe östliche Süd-Nord-Rou-
te gut. So wurden Steinbeile und Werkzeuge aus Muscheln und
Knochen mit einer Zeitstellung ab 2000 v. Chr. in den frühesten
Fundplätzen der Leeward- einschließlich der Jungfraueninseln
geborgen und ähnliche Geräte mit einer Datierung um 4000 v.
Chr. auf Trinidad im Süden.
Dies alles spielte sich in grauer amerikanischer Vorzeit ab, und
so gibt es vor allem hier noch sehr viel Forschungsbedarf, der
insbesondere - aber nicht nur - auf archäologischen Grundla-
gen beruht und benihen wird. Besser als über diese frühesten
Inselbevölkerungen und Einwanderungszeiten sind wir über
die Periode zwischen 500 v. und 1000 n. Chr. informiert. Die
letzten vorchristlichen Jahrhunderte waren - vornehmlich in
östlichen Teilen der karibischen Inselwelt - offenbar stark von
der so genannten Früh-Saladoid-Epoche geprägt, wie anhand
der dort ausgegrabenen Keramik festgestellt werden konnte.
Die Bezeichnung „Saladoid“ geht auf einen archäologischen
Fundplatz in der Region Saladero (Venezuela) zurück, der die
für die genannte Zeitspanne charakteristische Keramik liefer-
te. Die vor der erwähnten Periode auf die westindischen Inseln
eingewanderten Indigenen blieben einem karibischen Archai-
kum verhaftet, wurden von der neuen Bevölkerung jedoch
nicht aufgesogen. Wahrscheinlich liegt hier eine Überschich-
tung durch Saladoid, nicht aber eine Vertreibung oder gar Aus-
rottung der präkeramischen Autochthonen vor. In einer Post-
Saladoid-Phase (die letzten Jahrhunderte des ersten nach-
christlichen Jahrtausends) scheinen die ihr zuzurechnenden
Gruppen sogar vieles von der Lebensweise der alteingesesse-
nen Jäger/Sammler übernommen zu haben. Archäologen ge-
hen davon aus, dass im Laufe der ersten nachchristlichen Jahr-
hunderte infolge akkulturativer Prozesse und physischer Ver-
mischungen ein neuer Lebenstypus auf den Plan gerufen wur-
de - die Taino. Erkenntnisse über die sprachlichen Zu-
sammenhänge während der mittleren und späten Einwande-
rungsphasen sind zwar ebenfalls immer noch schwankend,
doch können die Taino mit Sicherheit der weit verbreiteten
Aruak-Sprachfamilie (Arawaken, Nu-Aruac) zugerechnet
werden. Kulturelle Unterschiede zwischen den arawakischen
Inselbewohnern und deren entfernten Verwandten im nordöst-
lichen Südamerika werden auf die präkeramischen Gruppie-
rungen der ersten karibischen Siedler zurückgeführt. Die Tai-
no stellten, und dies bis zur Konquista, den Hauptteil der
autochthonen Bevölkerung der Karibik einschließlich der sich
nördlich anschließenden Bahamas (dort mit dem Begriff
„Sub-Taino“ betitelt). Über alle Taino-Gruppierungen sind wir
vergleichsweise gut informiert, was neben archäologischen
Forschungsergebnissen auch auf historische Grundlagen wie
zeitgenössische Berichte zurückzuführen ist. So nimmt denn
in dem Buch das Kapitel über die Taino auf dem Gebiet der
Großen Antillen kurz vor den europäischen Eroberungen brei-
ten Raum ein. Zur Zeit des Kolumbus war die genannte Insel-
gruppe dicht besiedelt. Eine sesshafte Bevölkerung lebte in
größeren Dörfern mit jeweils bis zu mehreren Tausend Ein-
wohnern. Basis der Ernährung war vor allem Maniok. Dane-
ben gab es zahlreiche weitere Nutzpflanzen (s. hierzu auch die
Rezensionen Keegan 1992 und 1997 in diesem TRIBUS-
Band). Fischfang, die Jagd auf Seesäuger wie Seekühe und die
Kleintierjagd waren Grundlage der fleischlichen Ernährung.
Die politische Organisation bestand aus mehreren Dutzend Al-
lianzen mit bis zu jeweils hundert Dörfern unter der Führer-
schaft eines Notablen (in der Regel als Kazike bezeichnet)
oder einer angesehenen Familie. Geistiges Fundament des po-
litischen und gesellschaftlichen Lebens war eine kompliziert
anmutende Religion, verwoben mit Mythologien und noch
eingebunden in einen animistischen und animalistischen Geis-
terglauben. Entsprechende Idole in Form von in Holz und
Stein geschnitzten Darstellungen von Geistern, Heroen und
legendären Schöpfergestalten, die uns heute teilweise in
274
______ Buchbesprechungen Amerika / Südasien
Museen vorliegen, geben uns in der Regel nur mangelhafte
Einblicke in die Glaubenswelt der Taino. Orale Tradition und
Musik, so weit in frühesten Berichten einzelner Europäer fest-
gehalten, vermitteln nur eine unzureichende Vorstellung vom
reichhaltigen Geistesleben dieser indianischen Inselbewohner.
In einer einzigartig umfassenden und endgültigen und einma-
lig kurzen Zeit von rund fünfzig Jahren wurden die karibi-
schen Inselarawaken von den spanischen Eindringlingen aus-
gerottet, zum einen direkt durch einen intensiv vorangetriebe-
nen Holocaust, zum anderen indirekt durch eingeschleppte
Krankheiten Europas, denen diese durch vorangegangene
wirtschaftliche Ausbeutung und Versklavung geschwächten
Indianer weder physischen noch psychischen Widerstand ent-
gegensetzen konnten. Alle ethnologischen Arbeiten über die
karibischen Inselautochthonen müssen daher notwendiger-
weise historisch orientiert sein. Der stärkste wissenschaftliche
Pfeiler ist dabei die Archäologie. Gegenwärtig gibt es eine be-
achtliche Reihe von Forschern, die sich mit den kulturellen
Hinterlassenschaften dieser Indianer beschäftigen. Unter
ihnen steht Samuel M. Wilson mit an vorderster Stelle. Mit
seinem Buch ist es ihm gelungen, die bekanntesten Wissen-
schaftieft innen) unter den Karibikisten mit ihren Forschungs-
ergebnissen über „die ersten Indianer der europäisch-amerika-
nischen Geschichte“ zu vereinen.
Neben einer Aufzählung der in der Publikation enthaltenen
Abbildungen und Tabellen, zwei Vorworten und einer Einfüh-
rung in das Studium über die Urbevölkerung des karibischen
Raumes vom Herausgeber ist das Werk in sechs Kapitel mit -
einschließlich der erwähnten Einleitung - 22 Beiträgen ver-
schiedener Autor(inn)en gegliedert. Kapitel 1 „Hintergründe
der Archäologie und Ethnohistorie des karibischen Raumes“
enthält einen Abschnitt über die diversen Wege, die Kulturen
autochthoner Ethnien der Karibik zu studieren, verfasst von
Ricardo Alegria. ln einem weiteren Artikel beschäftigt sich
Louis Allaire mit den Kleinen Antillen und ihren Ureinwoh-
nern vor Kolumbus. Das nächste Kapitel „Der Zusammen-
stoß“ hat drei Abschnitte aufgenommen: (1) „Die biologische
Kollision von 1492“, bearbeitet von Richard L. Cunningham;
(2) „Die Salt River-Station auf der Antilleninsel St. Croix zur
Zeit des Zusammenstoßes“ (mit Beschreibung eines ehemali-
gen Ballspielplatzes, wahrscheinlich dem einzigen auf den
Kleinen Antillen), verfasst von Birgit Faber Morse; (3) „Euro-
päische Annahmen über die autochthone Bevölkerung“ (der
karibischen Inselwelt), geschrieben von Alissandra Cummins.
Das dritte Kapitel enthält fünf Abhandlungen. Die hier behan-
delten Themen reichen von Siedlungsstrategien während der
Fiühen Keramik-Periode (ca. 2500 bis ca. 1300 v. Chr. je nach
Fundort), verfasst von Jay B. Haviser, über materielle Kultur-
aspekte und Kunst auf den Karibikinseln mit der gleichen
Zeitstellung, erarbeitet von Elizabeth Righter, sowie über
Glaubensvorstellungen der Saladoid-Gruppienmgen (der Ver-
fasser schreibt „people“) von Miguel Rodriguez bis zu mariti-
mem Handel in der prähistorischen östlichen Karibik von Da-
vid R. Walters sowie Anmerkungen zur alten karibischen
Kunst und Mythologie von Henry Petitjean Roget. Es folgt das
Taino-Kapitel, wie oben erwähnt mit sechs Abschnitten das
umfangreichste: (1) William F. Keegan, Autorität unter den
Bahamas-Archäologen, schreibt über Elemente der sozialen
Organisation bei den Taino. (2) James B. Petersen folgt mit ei-
nem Beitrag über die wirtschaftlichen Grundlagen der Taino
und Antillen-Kariben unter verschiedenen Umweltbedingun-
gen. Abhandlungen über (3) Die materielle Kultur der Taino
von Ignacio Olazagasti und (4) Über den Taino-Kosmos von
José R. Oliver schließen sich an. Arnold R. Highfield legte sei-
ne Beobachtungen über die Taino-Sprache nieder (5), und
Henry Petitjean Roget erläutert unter der Wortwahl von der
„Taino-Vision“ eine Studie (6), in der er den ersten Eindrü-
cken der Eingeborenen über die außerirdische Herkunft der
„weißen Götter“ und den hieraus entstandenen Missverständ-
nissen nachgeht. Im fünften Kapitel über die Kariben der Klei-
nen Antillen wendet sich zum einen Louis Allaire dem kultu-
rellen Umfeld eben dieser Ureinwohner zu, die von etlichen
Wissenschaftlern als kulturelle und sprachliche Verwandte der
Taino angesehen werden (ihre Karibensprache sei nur ein
Handelsdialekt gewesen), von anderen als Spätankömmlinge
auf den Kleinen Antillen und Angehörige der weit verzweig-
ten Karibensprachfamilie eingruppiert werden. Zum anderen
beleuchtet Vincent O. Cooper gerade diesen letztgenannten
Punkt anhand der Kalinago auf St. Croix im 15. Jahrhundert
und legt die gegensätzlichen Standpunkte unter Hinweis auf
die kontroversen Theorien in der Literatur dar. Im sechsten
und letzten Kapitel „Indigener Widerstand und Überleben“
geht zunächst Nancie L. Gonzalez den Garifuna nach, den so
genannten Schwarzen Kariben in Zentralamerika. Der Her-
ausgeber schreibt im nächsten Abschnitt dieses Kapitels über
das Vermächtnis der karibischen Autochthonen, und Gamette
Joseph (sic) bringt dem Leser den 500jährigen Widerstand der
letzten Inselkariben auf der Insel Dominica (Kleine Antillen)
gegen wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Überfrem-
dung nahe. Eine Liste der zitierten Quellen, biografische An-
gaben über die Mitarbeiter(innen) und ein Index beschließen
das Buch.
Samuel M. Wilson ist es gelungen, ein thematisch umfassen-
des und fundiertes Werk über die indigène Bevölkerung der
karibischen Inseln vorzulegen, das noch lange als ein Buch
des Einstiegs in die vergangene Welt der „ersten Indianer“ gel-
ten wird. Es verdient, ins Deutsche übersetzt zu werden und
einen Platz in den Regalen sowohl ethnologischer und histori-
scher Universitätsinstitute als auch in den Buchhandlungen
neben den üblichen Reiseführern zu erhalten.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Südasien
Dominguez, Olga:
Der Gewürznelkenhandel in den Nord- und Zen-
tralmolukken. Kulturelle Auswirkungen des
Fremdeinflusses auf Temate, Ambon und den
Lease-Inseln. Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-
Ges., 1997 (Kulturen im Wandel; Bd. 2); 271 S„
5 Karten.
ISBN; 3-8255-805-8; ISSN 0943-0490
Spannend und interessant geschriebene Publikationen rezen-
siert man gewöhnlich gern und schnell. Bücher, die diese Qua-
litäten nicht besitzen, bleiben hingegen in der Warteschleife
hängen. Man schiebt den Zeitpunkt der intensiven Ausein-
andersetzung immer wieder hinaus, wird mehrfach von der
Redaktion gemahnt und macht sich dann doch irgendwann
275
____________TRIBUS 52, 2003
mal dran. Dies ist jedoch keine allgemein gültige Aussage, da
bekanntlich auch die Interessen von Rezensenten verschieden
sind und es sicher auch Kolleginnen und Kollegen gibt, die das
vorliegende Buch interessant finden.
Das zu besprechende Buch ist eine Doktorarbeit, die sich mit
der Geschichte des ostindonesischen Gewürznelkenhandels
und - wie der Untertitel sagt - den .kulturellen Auswirkungen
des Fremdeinflusses’ in den Nord- und Zentralmolukken be-
schäftigt. Die ethnohistorisch angelegte Studie basiert auf kei-
nen eigenen Felderfahrungen der Autorin sondern auf der Aus-
wertung von Schriftgut bis ca. 1990. Die Autorin versucht in
ihrer Darstellung, einen Zeitraum abzudecken, der vom Be-
ginn der Kolonialzeit bis in die Gegenwart reicht. Sie hat sich
damit ein hohes Ziel gesteckt, das bei einer intensiven Arbeit
mit den erforderlichen Quellen den Rahmen einer Monogra-
phie sprengt. Darunter leidet auch die vorliegende Arbeit,
denn diese „beinhaltet die zwei wichtigsten Themenbereiche
dieser Untersuchung, den Gewürznelkenhandel sowie den
durch ihn verursachten Fremdeinfluß auf die einheimische Be-
völkerung der Molukken " (S. 11). Allerdings beschränkt die
Autorin diesen „Fremdeinfluss“ räumlich auf die Inseln Ter-
natc, Ambon und Seram sowie die kleinen Lease-lnseln süd-
lich von Ambon. Zeitlich und in Bezug auf die handelnden
Personen geht sie auf die Portugiesen und Holländer vom 16.
bis 20. Jahrhundert ein und lässt die früheren Jahrhunderte au-
ßen vor. Erst auf Seite 209 lesen wir erstmalig, dass es wohl
auch einen voreuropäischen Fremdeinfluss gegeben hat. Hier
streift sie das indojavanische Reich von Majapahit, das vom
14. bis Anfang 16. Jahrhundert den interinsularen und interna-
tionalen Seehandel dominierte. Die Existenz lokaler Quellen,
wie das Nagarakertagama (1385 n. Chr. verfasst), sowie die
arabischen und chinesischen Quellen des ersten Jahrtausends
bis zum Beginn der europäischen Kolonialzeit scheinen der
Autorin unbekannt, denn sie finden keinen Eingang in die
Darstellung. Die Beschränkung auf westliche Literatur ab dem
17. Jh. ist schon deshalb ein grundlegendes Problem, da sich
aus diesen kein quellenmäßig abgesichertes Bild molukki-
scher Kulturen in voreuropäischer Zeit entwickeln lässt; und
so bleiben die Aussagen im Schlusskapitel (S. 223f.) über die-
se Zeit äußerst vage. Damit direkt verbunden ist natürlich auch
die sich dem Leser mehrfach aufwerfende Frage, welche Vor-
stellung von Tradition die Autorin hat, wenn sie von .Tradi-
tionen’ oder Traditioneller Religion’ etc. spricht.
Eine vergleichbare terminologische Unschärfe ergibt sich be-
reits im Titel der Arbeit durch die Verwendung „kulturelle
Auswirkungen“ im Untertitel, da sie in der Einleitung ein-
schränkend schreibt, es sei ihr Untersuchungsziel, „die umfas-
senden wirtschaftlichen, sozio-politischen und religiösen Ver-
änderungen aufzuzeigen .... “ (S. 12). Der Begriff .Kultur’ um-
fasst jedoch deutlich mehr als die hier angesprochenen Teilbe-
reiche. Von größerer Bedeutung ist jedoch der relativ unkriti-
sche Umgang mit dem europäischen Schriftgut seit 1600 n.
Chr. Eine vorwiegend ethnohistorische Arbeit sollte sich deut-
lich intensiver mit einer detaillierten Quellenkritik beschäfti-
gen, wie die Geschichtswissenschaft sie als Grundlage ent-
wickelt hat. Sechs Druckseiten zur Quellenlage und den ver-
wendeten Quellen (S. 13-19) reichen nicht zur Erklärung der
Quellenauswahl.
Für Leser höchst ärgerlich sind zahlreiche Layout- bzw. Satz-
fehler bei den Seitenumbrüchen, die sich in doppelten Zeilen
und vielfach sogar fehlenden Textteilen niederschlagen (z.B.
87-91, 175-177, 181,182). Der weitgehende Verzicht auf Fuß-
noten (es gibt insgesamt 24) ist bedauerlich, da durch ein Ver-
schieben eher nebensächlicher Infonnationen der Lesefluss
begünstigt worden wäre. Zudem wäre zumindest hier der Ort
gewesen, die Quellen zusätzlich zu kommentieren.
Erstaunlich in einer Arbeit über Gewürznelkenhandel ist die
offensichtliche Unkenntnis der Autorin über die Gewürznel-
ken an sich. Sie schreibt (S. 82); „Die Nelken mussten ge-
pflückt werden, sobald sie reif waren, denn sonst fielen sie auf
den Boden und wurden wertlos. “ Gewürznelken sind keine
Früchte, die reif werden!! Man pflückt die Blütenknospen, be-
vor diese sich zu einer weißen Blüte entfalten. Diese .unrei-
fen’ Knospen werden dann an der Sonne getrocknet und er-
halten dabei die typische Braunfärbung.
Die Autorin hat ihr Werk in zwölf unterschiedlich intensive
Kapitel gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung, einer geo-
graphischen Einführung und einer Darstellung der Bevölke-
rung stellt sie die portugiesische Expansion im 16. Jh. und die
holländische Expansion im 17. Jh. dar. Es schließt sich ein Ka-
pitel an zur Entwicklung des Gewürzhandels bis zum 20. Jh.
Schwerpunkt ist jedoch die in drei Regionalkapiteln darge-
stellten Veränderungen der Herrschaftsstruktur, der sozio-poli-
tischen Veränderungen vor allem unter dem Einfluss der
niederländischen Kolonialmacht. Die Darstellung schließt mit
einem knappen Kapitel über .traditionelle’ Religion, über Ge-
heimbünde und das adat. Die Schlussfolgerungen des letzten
Kapitels sind mit sieben Druckseiten ebenfalls etwas knapp
ausgefallen. Hier fasst die Autorin ihre zentralen Aussagen zu-
sammen, ohne jedoch die verschiedenen Einflüsse klar zu be-
nennen oder ihre Bedeutung für die lokale Bevölkerung nach-
vollziehbar darzustellen. Die Bewertungskriterien für ihre
Einschätzung, wann sie einen Einfluss für bedeutend und fol-
genschwer oder für untergeordnet empfindet, bleiben unge-
nannt und daher nicht nachvollziehbar. Leider lässt sie uns
auch darüber im Unklaren, in welchen Aspekten und Bewer-
tungen sie eine eigene Position einnimmt, wo sie eine eigene
wissenschaftliche Meinung den von ihr verwendeten Quellen
entgegensetzt. Bedingt durch die Quellenlage und die Tatsa-
che, dass die Autorin sich mit zeitgenössischen Entwicklun-
gen nach Erlangung der Unabhängigkeit kaum auseinanderge-
setzt hat und wohl auch nie Forschungen vor Ort betrieben hat,
bleibt diese Arbeit für Ethnologen eher unbefriedigend, wie
wohl die Auswertung der historischen Literatur sicher sehr
zeitaufwändig war.
Achim Sibeth
Drüke, Milda:
„Die Gabe der Seenomaden - Bei den Wasser-
menschen in Südostasien.“ Hamburg: Hoffmann
und Campe, 2002, 304 Seiten, Farbabbildungen.
ISBN 3-455-09355-8
Es gab im Jahr 2002 kaum eine relevante Talkshow, in der
Milda Drüke (Jg. 1949) nicht über ihre Erlebnisse bei den See-
nomaden in Indonesien berichtet hat. Seit die ehemalige Ma-
nagerin in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere
ausstieg und mit einem Freund vier Jahre um die Welt segelte,
führt sie selbst ein nomadisches Leben als freie Autorin und
Fotografin und verkauft ihre Geschichten aus aller Welt an
Zeitschriften und Life-Style-Magazine. Erstmals hat sie nun
___________Buchbesprechungen Südasien
einen ausführlichen Reisebericht vorgelegt, der eine unge-
wöhnlich große Presse- und Medienresonanz gefunden hat.
Das Buch verkauft sich laut Verlagsangaben gut und ging be-
reits in die zweite Auflage. Die Reise, auf der ihr Erlebnisbe-
richt basiert, liegt schon ein paar Jahre zurück, und das große
Interesse für dieses in Drükes Augen „bedrohte Volk“ sollte
auch Ethnologen aufmerksam machen.
Sicher ist ein Großteil der medialen Aufmerksamkeit auf die
ungewöhnliche Lebensform des von ihr besuchten „Stammes“
zurückzuführen: ein besitzloses Dasein fast vollständig auf
dem Wasser in relativ kleinen Wohnbooten (ca. 1,5 mal 5 Me-
ter) oder wackeligen Pfahlhütten in tropischer Küstennähe,
gepaart mit einem eher kargen Überleben durch Sammeln von
Strandgut und Jagen von Meeresgetier. Zudem sind diese zu-
rückgezogen lebenden Menschen schwer zu finden und zu be-
suchen. So besteht ein großer Teil des Berichtes zunächst aus
der ambitionierten Suche Milda Drükes nach diesen scheinbar
ungeliebten Seenomaden, den „Bajo“ vor den Küsten Sulawe-
sis, von deren Existenz ihr ein Ethnologe in Deutschland er-
zählte und der als stiller Gesprächspartner wie ein roter Faden
das Buch durchzieht (Er hat sicher seine Gründe, warum er in
dem Buch nicht genannt sein möchte). Erst auf S. 88 trifft sie
auf eine erste Bajo-Familie, die sie anspricht und welche sie
auch in ihr Wohnboot aufnimmt. Ansonsten haben wir hier ei-
nen in Aufbau und Inhalt eher klassischen Reisebericht vorlie-
gen mit differenzierten, aber auch sich wiederholenden Zu-
standsbeschreibungen der Licht-, Wasser- und Luftverhält-
nisse und finden zahlreiche Erinnerungen an frühere Reisen
nach Nordafrika, in den Orient und die Südsee. Unsere Auf-
merksamkeit bleibt letztlich nur erhalten durch das unermüd-
liche Warten auf den nach Ansicht der Autorin „echten“, ur-
sprünglichen Bajo, den sie in Person eines für indonesische
Verhältnisse etwas verschrobenen, aber von ihr idealisierten
Alten, „Om Lahali“, entdeckt hat. Insgesamt jedoch be-
schreibt sie auf sehr persönliche Art und Weise und durchaus
respektvoll ihre Annäherung an verschiedene Familien und ihr
„going native“, ihre Teilhabe am täglichen Leben dieses unge-
wöhnlichen Volkes.
So erfahren wir in einem auf detaillierten Beobachtungen ba-
sierenden und mit literarischen Ambitionen verfassten Bericht
(erklärte Vorbilder sind J.-J. Rousseau, H. Kipling, J. Conrad,
H. Hesse, B. Chatwin) von dem mühsamen Alltag des noma-
dischen und transhumanten Lebens, der sich bei Drüke einmal
als nackter Überlebenskampf gegen die Unwägbarkeiten der
Natur - die tropischen Naturgewalten Hitze, Unwetter und un-
heilbare Krankheiten - darstellt, dann wieder als selbst be-
stimmtes Vagabundieren in den seichten, klaren Gewässern
zwischen paradiesischen Tropeninseln und sternenklaren
Nachthimmeln. Die Tage einer Kleinfamilie, mit der sie ent-
weder auf dem bedachten Wohnboot per Ruder oder Segel
zwischen den kleinen Inseln und Mangrovenküsten umher-
streift oder saisonbedingt eine aus Bambus, Holz und Blättern
konstruierte Stelzenhütte bewohnt, sind in ihren Schilderun-
gen zum Großteil angefüllt mit der Erhaltung der Subsistenz.
Dazu gehört das Fangen von Fischen mit Speeren und Angel-
leinen, auch das Jagen von Seesäugetieren oder Wild an der
Küste, das Sammeln von Muscheln, Würmern und Schalentie-
ren im Uferschlick oder von Pflanzen und Früchten im ufer-
nahen Wald, wo die Seenomaden auch Süßwasser, Feuerholz
und Baumaterial für ihre Schlafmatten, Boote und „festen
Boote“ (Stclzcnhütten) finden. Über den täglichen, eigenen
Bedarf hinaus werden sie auch für den „Weltmarkt“ aktiv und
fangen Fisch, den sie trocknen, wilde Hähne, die später an
Land zu Kampfhähnen trainiert werden, Schildkröten, Mör-
dermuscheln und Lebendfische, manchmal auch Haie wegen
ihrer Flossen - letzteres allesamt Delikatessen für den chine-
sischen Markt. Seit Jahrhunderten sind sie zudem spezialisiert
auf den Handel mit „tripang“, den stachelhäutigen Seegurken,
die in China als Leckerbissen, Heilmittel und Aphrodisiakum
begehrt sind. Seegurken oder -walzen leben vor allem in Ko-
rallenriffen und werden einzeln von den Bajo auf dem Mee-
resgrund aufgesammelt, anschließend gesäubert, gekocht, ge-
räuchert und getrocknet. Die chinesischen Händler an Land,
die das Vermarktungsmonopol besitzen, nehmen ihnen die be-
gehrten maritimen Produkte ab und verkaufen ihnen dafür
Dinge des täglichen Bedarfs, zu denen sie durch ihr Leben auf
dem Meer keinen Zugang haben und die wie Luxusgüter
rationiert und oft mit anderen Familien geteilt werden: Reis,
Sagomehl, Zucker, Kaffee, Dosenmilch, Streichhölzer, Ziga-
retten, Kerosin und manchmal auch Kleidung.
Von Seiten der Medien wird Drükes Buch als ein „berühren-
des Porträt einer unbekannten Kultur“, den „Tuaregs Indone-
siens“ (Die Welt, 16.3.2002) geschätzt, als ein Buch „voller
Zärtlichkeit für die von der Zivilisation Vergessenen und
durchtränkt von intuitiver Philosophie“ (Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 8.8.2002). Tatsächlich begnügt sie sich nicht
mit einer deskriptiven Wiedergabe ihrer Erlebnisse, sondern
versucht, in vielen reflektierenden Passagen ihren historischen
Vorbildern des philosophischen Reiseberichtes nahe zu kom-
men - oft allerdings sehr modisch-esoterisch. Überraschen-
derweise fragt sie sich schließlich selbst nach dem Zweck sol-
cher Reisen zu „natürlich lebenden Völkern“, den sie nicht oh-
ne Selbstkritik als Seelensuche und „Sehnsucht nach uns
selbst“ (S. 248) bezeichnet.
So klingen manche Einsichten fast schon ethnologisch reflek-
tiert, etwa dass das Erkennen des Fremden nicht als distan-
zierte Bewunderung als „Edle Wilde“ stattfinden kann, son-
dern dass dies eine Konfrontation mit dem Eigenen mit ein-
schließt. Dennoch können wir ihrem Text deutlich entnehmen,
wie schwierig es auf der anderen Seite den Bajo fällt, sie in ihr
Leben zu integrieren, spricht sie doch kaum Indonesisch und
schon gar nicht die Bajo-Sprache. So ist sie oft nur die komi-
sche, bewunderte Fremde, die im Kolonialstil als „Misses“ an-
gesprochen und ausgefragt wird, dann wieder ist sie ein lästig-
überflüssiger oder bestenfalls Geld gebender Gast. Manchmal,
nicht sehr oft, ist sie ein adoptiertes Familienmitglied, die
„weiße Oma“ („nenek putih“), mit der man auch etwas Ein-
druck schinden kann. Sie hat für diese Annäherung viel ge
opfert, hat auf den gewohnten Lebensstandard verzichtet bis
hin zum physischen Zusammenbruch, da nicht zuletzt die Spei-
sekarte der Bajo (z.B. lebende Würmer) ihr deutlich ihre Gren-
zen der Anpassung offenbarten. Schließlich leidet sie massiv
unter Heimweh und gönnt sich eine Pause in der Zivilisation,
der sie dann allerdings sehr entfremdet gegenüber tritt.
Ehrlich und selbstkritisch ist sie auch in ihren Schilderungen
innerer Wertkonflikte. So ist sie deutlich irritiert von den un-
freundlichen Umgangsformen der Bajo, angeekelt von der
schamlosen Entsorgung von Schleim und Notdurft, genervt
von persönlicher Distanzlosigkeit und Neugier ihrer Ge-
sprächspartner. Sie zeigt sich zudem entsetzt über die unre-
flektierte Umweltzerstörung durch Bombenfischen und Koral-
lensammeln, über den unsensiblen Umgang mit lebenden Tie-
ren und die Skrupellosigkeit der internationalen Geschäftema-
cher. In einigen Fällen kann sie diese ambivalenten Gefühle
277
TR1BUS 52, 2003
aushalten und gelangt zu der relativierenden Einsicht, dass
vieles des uns Selbstverständlichen anerzogene Kulturerschei-
nungen sind wie die Vorstellungen von Sauberkeit, Höflichkeit
und Schönheit. Wie die Anderen sich schließlich oft auch über
sie wunderten, war willkommener Gesprächsstoff in den
Talkshows.
Doch ihre Reflexionsfähigkeit hat deutliche Grenzen und wird
dort sichtbar, wo sie am Ende doch das Bild einer zur eigenen
„verkehrten Welt“ zeichnet. Ihrer Ansicht nach akzeptieren die
Bajo keinen Boss, verweigern sich jeder Abhängigkeit von
Menschen und Dingen, wissen nicht, was Zeit und Geld ist.
Dort scheint die Kindheit noch glücklich, körperliche Anoma-
lien sind ein Glücksbringer und die Menschen altern respekt-
voll. In der Besitzlosigkeit, Mobilität und Solidarität finden al-
le Glück und Freiheit. Ein ideales Leben? Die Erinnerung an
den eigenen, „paradiesischen“ Ursprung, wie sie sich fragt?
Ein Blick in die Fachliteratur zu den Seenomaden im insula-
ren Südostasien (z.B. Sopher 1965, Sather 1978, 1995, Len-
hart 1997) - zugegebenermaßen etwa trockener zu lesen als
Milda Drükes Buch - lässt schnell erkennen, dass diese Idea-
lisierung wie so oft eine europäische Wunschproduktion ist
und wenig mit Geschichte und Realität der Bajo zu tun hat. Ih-
re Freiheit und Unabhängigkeit ist nur relativ, leben sie doch
seit Jahrhunderten in einer symbiotischen Tauschbeziehung zu
den Händlern und Bauern an Land und sind extrem abhängig
von demographischen und ökologischen Veränderungen ihrer
Umwelt. Sie existieren als zurückgezogene, aber oft auch mar-
ginalisierte Wildbeuter in losen Familienverbänden, die nicht
selten einen Anführer haben. Seit dem 8. Jahrhundert haben
chinesische und arabische, seit dem 16. Jahrhundert auch eu-
ropäische Reisende Dokumente über die „Wassermenschen“ -
neben den Bajo vor Sulawesi und Nord-Kalimantan unter-
scheidet man heute als weitere Großgruppen die Moken vor
Thailand und die Orang Laut im Riau Archipel hinterlassen
und belegen die frühe Faszination an ihrer Kultur. So erfahren
wir, dass die Seenomaden unter persönlicher Patronage der je-
weiligen Fürsten an Land standen, denen sie schließlich neben
den Seegurken noch andere „Exportschlager“ wie Perlen,
Schildpatt, Trockenfisch und Perlmutt lieferten. Aber auch als
Dienstleister anderer Art sind sie etwa im Sulu-Sultanat über-
liefert: neben Seefahrern und Fischern stellten sie auch Boots-
bauer, Schmiede, Künstler, Töpfer und Transporteure, manch-
mal auch - daher ihr schlechter Ruf - Piraten und Sklaven-
händler.
Cliffbrd Sather (1995) nimmt an, dass sich die seenomadi-
schen Völker wie die Wildbeuter der Regenwälder aus vor-
austronesischen Sammlern, Jägern und Kleingärtnern ent-
wickelt haben, die sich bei Ankunft austronesischer Pflanzer
aus Südchina (ab ca. 3.000 v.Chr.) allmählich an bisher unge-
nutzte Ökosysteme anpassten, nämlich entweder an den inne-
ren Regenwald oder die Küstengewässer mit ihren reichen
maritimen Nahrungsressourcen in Mangrovensümpfen und
Korallenriffen. Als Folge davon transformierte sich die Le-
bensweise der aufs Meer ausgerichteten Gruppen in Richtung
Nomadismus mit semipermanenten Siedlungen, die der Küste
vorgelagert ins seichte Gewässer gebaut und immer wieder
verlassen werden und die dem saisonalen Aufkommen mariti-
mer Ressourcen angepasst ist. Selten genug auf der Welt fin-
den sich die topographischen, klimatischen und ökologischen
Voraussetzungen, die eine nomadische Existenz auf dem Meer
überhaupt ermöglichen. Da die Küstengebiete um die südost-
asiatischen Länder Birma, Thailand, Malaysia und die Insel-
staaten Indonesien und die Philippinen zum einen über ein
immerfeuchtes Klima, zum anderen über reiche und vielfälti-
ge Flora und Fauna verfügen, konnte das Binnenmeer erfolg-
reich als Lebensraum und ökologische Nische genutzt werden,
boten sich Korallenriffe und Mangrovenküsten als Lebens-,
Schutz- und Rückzugsgebiet an. Landwirtschaftliche Fertig-
keiten wurden aufgegeben und lebensnotwendige Land-Pro-
dukte fortan im Tausch erworben, während andere für das
Überleben auf dem Meer notwendige Fertigkeiten entwickelt
wurden wie Schwimmen und Tauchen, Boots- und (Pfahl-)
Hausbau, aber auch nautische Fähigkeiten wie die Orientie-
rung an Gestirnen, Winden, Strömungen und Gezeiten. Milda
Drüke zollt ihnen dafür in ihrem Buch große Bewunderung,
staunt über ihre intensive Wahrnehmung der Natur und glaubt
gar an einen inneren Kompass. Das steckt hinter mit dem
Buchtitel „Die Gabe der Seenomaden“, doch damit gerät sie
nahe an naiv biologistisch-rassistische Argumentationen.
Tatsächlich begünstigten weniger die menschlichen Fähigkei-
ten als vielmehr die Entwicklung maritimer Handelsstaaten
unter indischem und arabischem Einfluss und die damit ver-
bundenen ökonomischen und kulturellen Stimuli das Fortdau-
ern und Überleben des diversifizierten und kommerziellen
Charakters der „Seezigeuner“ und stabilisierten dadurch auf
lange Sicht deren nomadische Wirtschaftsweise. Die durch
den Kontakt mit der Küstenbevölkerung genossenen sozialen,
ökonomischen und politischen Vorteile waren jedoch auch be-
gleitet von einem kontinuierlichen Prozess der Akkulturation
und Assimilation. Und immer dann, wenn an Land durch stei-
gende Bevölkerungsdichte (wie um die Inseln Java und Bali)
eine Konkurrenz um die gleichen Ressourcen entstand, kam es
verstärkt zu einer Landorientierung der Seenomaden und zu
einer Inkorporation in die Küstenbevölkerung und/oder zu ei-
ner Abwanderung in neue Gewässer.
Das Oszillieren dieser marginalisierten Gruppen zwischen
Nomadismus und Sesshaftigkeit besitzt demnach historische
Tiefe und ist kein - wie Drüke es sieht - Anzeichen des Unter-
gangs einer „ursprünglichen“ Lebensform. Dennoch werden
die Seenomaden in den letzten Jahren zunehmend mit den
Auswirkungen eines globalen Modernisierungsprozesses kon-
frontiert, der auch Indonesien mit seinen abgelegenen Inseln
nicht verschont hat. Eine Intensivierung der Ressourcenaus-
beutung, die Verschmutzung der Meere und das Bevölke-
rungswachstum hatte Folgen für die Bajo, deren ökologische
Nische nun auch für andere Bevölkerungsgruppen Indone-
siens interessant wurde, verstärkt natürlich seit der Wirt-
schaftskrise Ende der 1990er Jahre. Zum anderen hat sich
auch dort der politische Umgang mit Minderheiten geändert:
im Rahmen einer „nation-building“-Politik versucht Indone-
sien seit Jahren, alle Ethnien des Archipels zu einer nationalen
Einheit zu verschmelzen. So war die indonesische Regierung,
wie auch Milda Drüke in ihrem Buch beschreibt, bestrebt, die
Seenomaden an Land anzusiedeln (vgl. Lenhart 1997).
Man kann abschließend nur hoffen, dass die Zukunft der Bajo
nicht alleine in den romantisierenden Händen von zivilisa-
tionsmüden Europäern liegt, die in dem Volk lediglich eine
Gegenwelt zur eigenen konsumbesessenen und gestressten
Überflussgesellschaft sehen, sondern eigenbestimmt von ih-
nen selbst gestaltet wird. Manche Seenomaden erkämpfen
sich, ganz entgegen Drükes Vorstellung von „echtem“ Bajo-
Leben, bereits Zugang zu Bildung und anderen modernen
Ressourcen, um ihre Vorstellungen bezüglich ihrer Lebens-
weise selbst formulieren zu können. Nur dies führt zu einem
278
__________ Buchbesprechungen Südasien
„freiheitlichen Leben in Würde“, das auch Drüke für sich per-
sönlich beansprucht, das aber nicht in Reservaten für „bedroh-
te Völker“ zu finden ist.
Literatur
Lenhart, Lioba:
1997 Leben auf dem Meer: Seenomaden in Südostasien.
In: Thomas Hoffmann (Hg.); Wasser in Asien. Ele-
mentare Konflikte. Essen. S. 60-78.
Sather, Clifford:
1978 The Bajau Laut, ln: Victor King (Hg.): Essays on
Borneo Societies. University of Hull. S. 172-192.
Sather, Clifford:
1995 The Sea Nomads and Rainforest Hunter-Gatherers:
oraging Adaptions in the Indo-Malaysian Archipela-
go. In: Peter Bellwood et al. (Hg.): The Austronesi-
ans: Historical and Comparative Perspectives. Can-
berra. S. 229-268.
Sopher, David E.:
1965 The Sea Nomads. A Study based on the Literature of
the Maritime Boat People of South East Asia. Singa-
pore.
Charlotte Brinkmann
Knapen, Han:
Forests of Fortune? The environmental history of
Southeast Borneo, 1600-1880. Verhandelingen
van het Koninklijk Instituut voor Taal-, Land- en
Volkenkunde 189. Leiden: KITLV Press, 2001.
487 Seiten, 26 Tabellen und Grafiken, 6 Karten,
viele Abbildungen und Schwarzweiß-Fotos, 1
Glossar, 1 Index.
ISBN 90 6718 158
Zu Beginn der neunziger Jahre wurden vom damaligen Direk-
tor des renommierten Leidener KITLV-Instituts, Prof. Dr. P.
Boomgaard, die Weichen gestellt: Umweltveränderungen der
wichtigsten Gebiete Indonesiens und ihr Einfluss auf Besied-
lung, Landwirtschaft und Ökonomie während der letzten Jahr-
hunderte sollten untersucht (Forschungsprojekt „EDEN“ des
KITLV) und in einer Reihe von Bänden über die einzelnen In-
seln veröffentlicht werden. Die ersten Jungen Doktoranden sa-
ßen an den Computern. Die Inseln Bomeo und Celebes hatten
ihre Bearbeiter. Jetzt endlich liegt ein größeres Werk in Buch-
form vor: großformatig und genau 500 Seiten stark. Minutiös
bis in verborgene Einzelheiten hinein wurden 380 Jahre der
entsprechenden Geschichte des südöstlichen Borneo, der größ-
ten Insel Asiens, unter die Lupe genommen. „Südostbomeo“
ist für das von KNAPEN untersuchte Gebiet nicht zutreffend,
dann müssten Pasir und Pulau Laut auch dazugehören. Exakter
wäre die rein geographische Abgrenzung: „das südöstliche
Bomeo zwischen Kahayan-Fluss und Meratus-Gebirge“.
Der Inhalt ist in elf Kapitel aufgeteilt; Nach einer einführen-
den Einleitung befasst sich Kapitel II mit der Beschreibung
der geographischen Gegebenheiten und den durch natürliche
Einflüsse bewirkten Eingriffen und Veränderungen in der Um-
welt. Kapitel III bis V behandelt mehr die durch „Humanwis-
senschaften“ hervorgerufenen Veränderungen; Demographie,
Wachstum und Abnahme der Bevölkerung, Migrationen; Epi-
demiologie, Ausbruch und Bekämpfung von Epidemien,
Sterblichkeit, Heiratsalter, Geburtenkontrolle, Abtreibung;
kulturbedingte Eingriffe (Kopfjagd u. ä.); Einfluss von Öko-
nomie, Landwirtschaft (besonders ausführlich!) und Naturkat-
astrophen auf die Bevölkerungszahl. Kapitel VI bis IX be-
schreibt die botanische und zoologische Seite: endemische
und eingeführte Nutzpflanzen, Viehzucht und Viehhaltung,
Jagd, Fischerei u.ä. Die beiden letzten Kapitel gehen auf un-
vorhersehbare Zufälle und Unwägbarkeiten (Krankheiten bei
Mensch und Pflanzen, ökonomische Risiken und politische
Instabilität) und deren Folgen ein, sowie auf die Wechselwir-
kung zwischen Bevölkerungszahl und Umwelt.
Wer das Buch zunächst durchblättert, kommt aus dem Staunen
nicht heraus: Sollte die Bomeologie mit HAN KNAPEN tat-
sächlich durch einen zweiten „ROBERT NICHOLL“ (1910-
1996) beglückt werden? ROBERT NICHOLL hat in den acht-
ziger Jahren Museen und Archive in Macao, Goa, Rom, Ma-
drid, Valladolid, Sevilla, Lissabon und Paris nach Quellenma-
terial für die Geschichte Bruneis durchsucht, es dann bearbei-
tet und in seinen (noch nicht veröffentlichten) „Sources for the
history of Brunei“ einen ersten Schritt in Richtung auf eine hi-
storisch bestens fundierte umfassende Brunei-Geschichte ge-
tan (KING/HORTON Seite 7, vgl. S. 2-10). Mir ist kein ande-
rer Borneologe bekannt, der sich so wie HAN KNAPEN in die
Archive Hollands und Jakartas vertieft hat, um Vergangenheit
und Entwicklung eines der wichtigsten Teile Borneos ans
Licht zu bringen. Und doch, wer Seite um Seite durcharbeitet,
stößt auch auf Ergänzungsbedürftigkeit: Schon auf Seite 25
beklagt der Autor das Fehlen geeigneter Quellen in holländi-
schen Archiven für die Zeit vor 1747. Warum hat sich KNA-
PEN nur auf die niederländischen Quellen beschränkt? Hätte
er sich nur die Primär- und Sekundärliteratur der Portugiesen,
Italiener und Briten ab 1690 vorgenommen! Jener „Porto de
Beagius“ (Hafen der Biaju/Ngaju; FERRO; 543 u.a.) hätte
aufschlussreich werden können: Direkthandel mit nichtmosle-
mischcn Dayak war durchaus möglich. Die Ngaju (nicht Bak-
umpai!) wollten den Portugiesenkönig als Verbündeten. Sie
baten die Portugiesen um Hilfe bei der Errichtung einer „be-
waffneten Fortezza“. Aber die Handels- und spätere Kolonial-
politik des „divide et impera“ europäischer Seemächte akzep-
tierte nur die Einflussnahme über die Moslemsultane. So ist
dieser wohl einmalige Versuch einer handelspolitischen Di-
rektaufnahme mit Dayaken vom Kapuas-Murong (bei der es
natürlich auch um Militärhilfe ging!) gescheitert. FERRO ist
zwar im Literaturverzeichnis aufgelistet; ein für die Provinz
Mittelkalimantan in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf-
schlussreicher Aufsatz PIJNAPPELs (S. 287, 305, 312 vgl.
auch PERELAER 1870: 182, 183; weitere unberücksichtigt
gebliebene wichtige Literatur für das Gesamtwerk: EISEN-
BERGER, ADAT-RECHTBUNDELS XIII, INDISCH GE-
NOOTSCHAP, RI WUT, STÖHR) hätten KNAPEN aufge-
klärt: Die Ngaju waren einst tüchtige Seefahrer, hätten bis in
die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich mit Singa-
pur Handel getrieben. Immerhin könnte die auf Seite 168 ge-
meldete Gegebenheit, dass 1691 die Ngaju die Kapuas- und
Kahayanmündung kontrollierten und in weitem Unkreis Han-
delsschiffe angreifen konnten, zu Rückschlüssen Anlass ge-
ben. Aber dass eine europäische Handelsmacht diese Span-
nungen zu Banjarmasin wenigstens einmal auszunützen ver-
suchte, wäre der Erwähnung wert gewesen.
Weiterhin hätte die Zahl von 1800 getauften Katholiken in nur
sechs Monaten (GEMELLI CARERI: 216) oder gar von 3 bis
279
____________TRIBUS 52, 2003
4000 Katholiken nach höchstens drei Jahren (VALENTIJN
Band III: 252 und ältere Quellen) Missionstätigkeit Rück-
schlüsse auf die Besiedlungsdichte der Ngaju am unteren Ka-
puas im 17. Jahrhundert erlaubt.
In niederländischen Quellen fällt auf, wie negativ über die
„Biaju“ geurteilt wird (z.B. „wilde Bergvolkeren“, VAN
HOHENDORFF: 211, oder gar „menscheters“, DAGH-REGIS-
TER 1891: 287), während die Banjaresen, welche im 17./18.
Jahrhundert die europäischen Handelsvertreter reihenweise
massakrierten, fast mit Samthandschuhen angefasst werden.
Wie angedeutet, als Ergänzung würden die Quellen aus Rom
usw. KNAPENs Superwerk bereichert und die Ausführungen
differenzierter dargestellt haben.
Ähnlich verhält es sich bei dem „Bekumpai-Komplex“ (die Li-
teratur spricht von „Bakumpai“, vgl. B1NGAN: 20; KNAPEN
wird banjaresische Informanten als Autoritäten genommen und
als Erstvokal das „e“ gewählt haben. Es liegt nahe, dass er in
seiner relativ kurzen Feldforschungszeit sich hauptsächlich an
Banjaresen als Informanten gewendet hat). Fraglich ist, ob es
wirklich die Bakumpaier waren, die vor 200 Jahren die Kapu-
asmündung „kontrollierten“ (S. 73). SCHWANER (1853/54
Band II: 4,5) berichtet, dass der natürliche Wasserweg Terusan
an der Kapuasmündung früher von Dayak dicht besiedelt war.
Später sind sie nach Norden ins Pulau Petak-Gebiet umgesie-
delt. Es waren also keineswegs Bakumpai-„Dayak“. Bei der
Abgrenzung der „Bekumpai“-Gruppe hat KNAPEN wahr-
scheinlich sich von WEINSTOCK (1983a: 89,9 2-95) bestim-
men lassen. Die Bezeichnung „Bekumpai-War“ (S. 177) ist ir-
reführend, zutreffender wären „Surapati-Einfälle“. Surapati
war kein Bakumpaier; er war „Dusun“-Dayak und Oberhäupt-
ling des nördlichen Barito-Gebiets. Zwischen 1821 und 1839
unternahm er verschiedene Beutezüge an den Kahayan und
Kapuas; der größte war 1825 mit 4000 Mann, worunter auch
einige „Bakumpaier“ waren. Am Terusan versammelte sich die
vereinigte Streitmacht der Ngaju vom Kahayan und unteren
Kapuas und rieben Surapatis Gefolgsleute völlig auf. Wäre der
untere Kapuas von Bakumpaiern „kontrolliert“, wäre dies
kaum denkbar! Übrigens als 1842 im Pulau Petak-Gebiet das
Gerücht von einem erneuten Einfall (mit ,,Pari“-Dayak) um-
ging, hielten es die deutschen protestantischen Missionare für
ihre Pflicht, die Ngaju militärisch darauf vorzubereiten und die
Verteidigung zu leiten (KRIELE; 33,34).
Von hier aus stoßen wir auf das Hauptproblem von KNAPENs
Forschungen: Warum ist Borneo so dünn besiedelt? Oder: Ist
Bomeo wirklich eines der fruchtbarsten Länder der Welt (so
Raffles, S. 275, ähnlich INDISCH GENOOTSCHAP: 141),
sind dort die „Wälder des Glücks“? Im Gegensatz zu Raffles
und Sundermann lehnt KNAPEN eine positive bzw. optimisti-
sche Antwort ab. Immerhin besitzt KNAPENs Beurteilung
durch seine unvorstellbar intensiven Studien (mindestens 2000
Quellendokumente durchgesehen!) ein kaum anzuzweifelndes
Gewicht. Und doch tauchen aufgrund oben angedeuteter „Er-
gänzungsbedürftigkeit“ und nicht berücksichtigter Literatur
Fragen auf. Ich greife heraus: 1. Gewaltanwendungen, 2. Stän-
de des Häuptlingsadels und der Sklaven.
1. Natürlich ist der Autor über Gewaltanwendung und Kriegs-
ereignisse zwischen Kahayan und Meratus-Gebirge gut infor-
miert (vgl. S. 176, 177, längste „Friedenszeit“ zwischen 1835
und 1858!). Zusammen mit der Kopijagd misst er diesen Er-
eignissen wenig Auswirkungen auf die Bevölkerungszahl zu.
Sie seien nur eine „small scale affair“ mit „little direct demo-
graphic consequences“ gewesen und von den Holländern in
ihren Auswirkungen übertrieben worden (S. 167, 177, 373);
entscheidend für die geringe Bevölkerungszahl seien endemi-
sche Krankheiten wie Pocken, Malaria u.a. (S. 391). Aufsätze
über dieses Thema in verschiedenen Sammelbänden (KNA-
PEN 1997a, 1998: „Lethal diseases in the history of Borneo;
Mortality and the interplay between disease environment and
human geography...”) zeigen, dass KNAPEN dies zu den
Hauptergebnissen seiner Studien zählt. Aber gerade hier muss
aufgrund der ganzen Fülle der Quellen und der Berichte von
Augenzeugen nachgeprüft, abgewogen und gefragt werden.
Nicht nur die niederländischen Behörden, auch Nichthollän-
der sehen das anders (Bock: S. 11; Rheinische Missionare MS
Heft 137: 2; INDISCH GENOOTSCHAP: 142, 143): Kopf-
jagd, politische Unruhen mit ständiger Gewaltanwendung för-
dern Emigration und halten die Bevölkerungszahl konstant
niedrig. Manche Landstriche waren total entvölkert (z.B. das
westliche Barito-Ufer nördlich Mengkatip wegen der Erb-
feindschaft zwischen Ngaju und Dusun/Lawangan, STÖHR:
60; oder das ganze obere Kapuasgebiet West-Kalimantans
(SELLATO 1994a: 25). Man lese nur bei PIJNAPPEL (S. 338,
339), wie Hunderte streitbarer Männer gegen Dörfer und
durch Palisaden geschützte Langhäuser zur Plünderung, Ein-
äscherung und Ausmordung gezogen sind. Ein bis zwei Wo-
chen lang wurden die Siedlungen belagert, dann im Sturman-
griff genommen; wenn machbar und opportun wurden Gefan-
gene gemacht und als Sklaven gehalten bzw. verkauft. Ganze
Dörfer wurden so ausradiert. SPAAN (1918: 784) berichtet,
dass durch Kopfjagden der Segai das früher dicht besiedelte
Sangkulirang-Gebiet Ostborneos gänzlich entvölkert wurde.
Wer Reiseberichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts liest (vor
allem MAKS und Braches MS Heft 137) bezweifelt KNA-
PENs Besiedlungsprinzip überwiegend durch verstreut und
versteckt liegende Feldhütten im Gegensatz zu befestigten
Langhausanlagen. Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts (Ab-
schaffung der Kopfjagd!) kamen Feldhütten als Dauerresiden-
zen in Mode.
2. Dieselbe Zeitepoche brachte auch für die Unterschiede und
die Trennung zwischen den Ständen den entscheidenden Wan-
del. Sämtliche Formen der Sklaverei (Schuldsklaven, von
Nachbarstämmen und Märkten erworbenen Sklaven, Sklaven
durch Kriegsgefangenschaft) wurden durch die Kolonialregie-
rung verboten. Wohlstand und Stellung der Häuptlinge hing
vom Sklavenbesitz und von der Sklavenarbeit ab. Hauptsäch-
lich durch diese Art Zwangsarbeit konnten die hohen und ge-
räumigen, von Eisenholzpalisaden umgebenen Langhaus-
festungen errichtet werden. T1CHELMAN (S. 231) berichtet,
dass jährlich 800 Sklaven aus dem Sulu-Sultanat noch Mitte
des 19. Jahrhunderts nach Ost-Bomeo eingefuhrt wurden, die
kräftigen zur Arbeit, die weniger arbeitsfähigen für die Da-
yakhäuptlinge im Landesinneren als Menschenopfer bei deren
großen Festen. Bei Häuptling Tundans Totenfest 1863 am obe-
ren Kahayan sollen 60 Sklaven geschlachtet worden sein
(MALLINCKRODT 1924/25; 258). Gewiss hat KNAPENs
Bemerkung (S. 392, 394,3 95): Sklavenhaltung aus Gründen
des Kinderersatzes und abnehmende Sklavenzahl bei höherem
Kinderzuwachs von dem Arbeitskrafteinsatz bei der Landwirt-
schaft her betrachtet seine Berechtigung, aber Sklavenhaltung
zur Wohlstandsbewahrung und für religiös bedingte Standes-
festlichkeiten und zu Prestigeritualen des Häuptlingsadels hät-
te genauso in einer Wirtschaftgeschichte angeführt werden
sollen. Auch seitens der Bevölkerungsstatistik hätte die Dar-
stellung des Sklaventums einen breiten Rahmen verdient:
280
____________Buchbesprechungen Südasien
nach BECKER (1849a: 427) waren ein Drittel, nach Rheini-
schen Missionaren (MS 197) sogar zwei Drittel der Pulau Pe-
tak-Bevölkerung Sklaven. PERELAER (1881: 33) bemerkt
sogar, dass die Kolonialverwaltung wenigstens zeitweise Skla-
ven in ihren Kohlebergwerken eingesetzt hat.
Soweit soll auf m.E. gravierende Ergänzungen zu KNAPENS
Darstellung hingewiesen werden. Unbedeutendere Berichtigun-
gen sollen schließlich noch zu drei Punkten erwähnt werden:
1. KNAPEN behauptet (S. 251), dass auf Bomeo vor allem
beim Nassreisanbau nirgends in historischer Zeit die Terras-
sentechnik angewandt wurde. Dies trifft nicht zu. Den frühes-
ten Forschungsreisenden im Kerayan-Gebiet fiel diese bereits
in vorkolonialer Zeit praktizierte Anbauart auf (SCHNEE-
BERGER: 49).
2. In Anlehnung an den etwas oberflächlich arbeitenden B. Sel-
lato wird behauptet, dass die wildbeuterischen Punan keine Tier-
haltung kennen (S. 283). TEHUPEIORIJ (S. 45) hat 1903 bei
den Kelai-Punan Schweine- und Hühnerhaltung festgestellt.
3. KNAPEN begründet den Misserfolg des Tabakanbaus im
nördlichen Hulu Sungai-Gebiet mit Pflanzenschmarotzer und
ungünstigem Wetter (S. 274, 275). Nach Sundermann (IN-
DISCH GENOOTSCHAP: 140) „behaupten die Unternehmer,
dass die Preise in Europa künstlich gedrückt würden, da man
den Borneotabak nicht aufkommen lassen wolle.“
KNAPEN hat aus der Sicht etablierter Kulturanthropologen
ein unentbehrliches Standardwerk, das für ganz Borneo be-
deutungsvoll ist, geschaffen. Wer geographisch und historisch
über Banjarmasin und sein Hinterland bis hin zum Müller-
und Schwanergebirge arbeiten will, muss auf dieses Werk zu-
rückgreifen. Die Grenzen, an die KNAPEN gestoßen ist, zei-
gen. dass ein einzelner Wissenschaftler bei dieser Fülle des
Quellen- und Literaturmaterials überfordert ist. Es wäre zu
überlegen gewesen, ob nicht dieses weit gespannte For-
schungsgebiet wenigstens auf zwei Fachleute hätte aufgeteilt
werden können. Abschließend möchte der Rezensent gerade
im Hinblick auf Südborneo auf den für beide Seiten fruchtba-
ren Dialog zwischen etablierten Ethnologen und Missions-
theologen (krasse Ausnahme: SCHÄRERS Gottesidee! 1963)
hinweisen und mit Missionar Sundermanns Bemerkung vor
versammelten Koryphäen der Leidener Indologen schließen
(INDISCH GENOOTSCHAP: 159):
„De resident te Bandjermasin krijgt zoo niet alles te hören,
maar wij missionarissen leven onder het volk en zien alzo zelf
wat het doet en wat het wenscht“ (Dem Gouverneur in Band-
jermasin kommt eben nicht alles zu Ohren, jedoch wir Mis-
sionare leben unter dem Volk und sehen mit eigenen Augen,
was es tut und was es wünscht).
Bei Knapen nicht verzeichnete Literatur:
Adatrechtbundels
1917 Adatrechtbundels XIII; Borneo. s-Gravenhage;
Martinus Nijhoff
Bingan, A. / Ibrahim, O.
1997 Kamus Dwibahasa Dayak Ngaju - Indonesia.
Palangka Raya: CV Primal Indah
Eisenberger, J.
1936 Kroniek der Zuider- en Oosterafdeeling van Borneo.
Bandjermasin: Eiern Hwatt Sing
Indisch Genootschap
1914 Vergadering van 23 Februari 1914. Seite 137-159:
Borneo voorheen en thans. 's-Gravenhage: Martinus
Nijhoff
King, V.T. / Horton, A.V.M.
1995 From Buckfast to Bomeo. Hull: Centre for South-
East Asian Studies at the University of Hull
Kriele, E.
1915 Das Evangelium bei den Dajak auf Borneo. Barmen :
Verlag des Missionshauses
Manuskripte;
Rheinische Missionare. Historische Documentatie KITLV
EP Coli. 2 Heft 137
Rheinische Missionare. Epple Nachlass in meinem Besitz.
Nr 197
Perelaer, M.T.H.
1881 Bomeo van Zuid naar Noord. Vol. 1. Rotterdam:
Elsevier
Pijnappel, J.
1859/60 Beschrijving van het westelijk gedeelte van de Zui-
der- en Oosterafdeeling van Bomeo. ln ; BTLV VIII
Riwut, Tjilik
1958 Kalimantan Memanggil. Jakarta; Endang
Schneeberger, W.
1979 Contributions to the Ethnology of Central Northeast
Bomeo. Berne: Institute of Ethnology
Spaan, A.H.
1918 De landstreek tusschen Sangkoelirang en Doemaring.
TKNAG, 2e s., XXXV, S. 781-790
Stöhr, W.
1959 Das Totenritual der Dajak. Köln: E.J. Brill
Tichelman, G.L.
1949 Blanken op Bomeo. Amsterdam: A.J.G. Strengholt
Martin Baier
(Gastdozent an der STT-GKE-Hochschule in Banjarmasin)
Tsing, Anna Lowenhaupt:
In the Realm of the Diamond Queen: Margina-
lity in an Out-of the way Place. Princeton:
Princeton University Press, 41 William Street,
Princeton, NJ 08540, 1993/94. 350 Seiten.
(Übersetzung ins Indonesische: Di bawah bay-
ang-bayang Ratu Intan: Proses Marjinalisasi pa-
da Masyarakat Terasing. Penerjemah: Achmad
Fedyani Saifuddin). Jakarta: Yayasan Obor Indo-
nesia, ed. 1, 1998. 521 Seiten, 6 Kartenskizzen,
5 Fotoreproduktionen, 3 Zeichnungen, 4 Tabel-
len, 1 Index.
ISBN 979-461-306-1
Radam, Noerid Haloei:
Religi Orang Bukit. Suatu Lukisan Struktur dan
Fungsi dalam Kehidupan Sosial-Ekonomi. Yogy-
akarta: Yayasan Semesta, Ambarrukmo IV R 25.
Cetakan Pertama, April 2001.
(Übersetzung aus dem Indonesischen: „Die Reli-
gion der Bukit-Leute. Eine Darstellung von
Struktur und Funktion im gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Leben. ... Erster Druck, April
2001“) 403 Seiten, 4 Kartenskizzen, 3 Zeichnun-
gen, 23 Tabellen, I Glossar
281
____________TRIBUS 52, 2003
Wer sind die Bukit-Dayak, die heute die abgelegensten Teile
des Meratus-Gebirges Süd-Kalimantans (Indonesisch-Bor-
neo) bewohnen? Nach HILDEBRAND (Die Wildbeutergrup-
pen Borneos, 1982) gibt es außer dieser Gruppe im Südosten
Kalimantans noch zwei weitere „Bukit“-Gruppen im west-
lichen und nördlichen Borneo, die nichts miteinander zu tun
haben. Trotz sehr früher europäischer Kenntnis der südborne-
sischen Dayakgruppe (1692; J.J. de ROY: Hachelijke reiys-
togt van Jacob Jansz de Roy na Bomeo en Achin... Leyden:
Pieter van de Aa, 1706; 1713 genauer; Kapitän BEECKMAN:
A Voyage to and from the Island of Borneo, 1718/1973) ge-
hörte sie bis TSlNGs Dissertation („Politics and Culture in the
Meratus Mountains“, Stanford University, Ph.D. thesis 1984)
zu den unerforschtesten Dayakstämmen. MALLINCKRODT
rechnet sie zu den Lawangan, SELLATO - völlig abwegig -
zu den „Malays“.
Sowohl TSINGs vorliegende Monographie als auch RADAMs
Dissertation rechnen sie zu den Dayak. Ob sie eine einheitli-
che Ethnie sind, bleibt unbeantwortet. Im Norden nennen sie
sich Dayak Hulu Banyu. Ob die wenigen Restdayak-Gemein-
den im Amuntai- und Balangan-Gebiet und die Samihim-Da-
yak im östlichen Meratus-Gebirge dazugehören, bleibt unge-
klärt. Beide Autoren gehen auf die Einheitlichkeit bzw. auf die
Abgrenzung der Bukit nicht ein. Offensichtlich haben sie die-
ses Problem gar nicht wahrgenommen. Hinweise in europäi-
schen Büchern bis zum Banjaresen-Krieg (1863) legen nahe,
dass die Bukit-Stämme bis etwa Negara beheimatet waren, mit
den Fürstentümern gründenden Banjaresen in Konflikt kamen
( BEECKMAN 44, 55), Aufstände erregten und im Laufe des
17. Jahrhunderts aus der Landschaft Hulu Sungei vertrieben
bzw. (mit Gewalt?) islamisiert und damit malayisiert wurden.
RADAMs Pantheon („Kariau“, „Pujut“) und Reisursprungs-
mythe (Baum N.N. - Erang-Baum, Anggau - Angoi) der Bu-
kit zeigen, dass zu der Riaju-Gruppe der Ngaju-Dayak enge
Verbindungen bestanden. Andrerseits soll das heute christliche
Dorf Labuhan oberhalb der Bezirkshauptstadt Barabai eine
„Maanyan-Enklave“ sein (H. WITSCHE Christus siegt, Seite
51). Die Bukit-Dayak (nach TSING 13.000 Mitglieder, nach
RADAM 17.000) scheinen versprengte Dayak-Reste in abge-
legenen Gebirgsgegenden zu sein. Seit Jahrhunderten von der
banjaresischen Islamkultur beeinflusst, scheinen sie (mit Aus-
nahme der nördlichen Gruppen), die ursprüngliche Sprache
verloren und einen „archaischen“ Banjaresen-Dialekt (Dr. W.
KERN, Tijdschrift voor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde
1948, S. 549) angenommen zu haben.
Beide Autoren haben die nichtenglische Literatur nicht gele-
sen; englische Übersetzungen werden erst ab 1921 (LUM-
HOLTZ und SCHÄRER bei TSING, ohne dass irgendein Be-
zug dazu erkennbar wäre) im Literaturverzeichnis aufgelistet.
RADAM nennt zwar im Text (S. 95) den Titel eines kleinen
GRABOWSKl-Aufsatzes. Ihm geht es dabei aber nur um die
Bezeichnung „Bergmenschen“: „bukit“ würde nicht
„Berg“/“HügeI“ bedeuten, sondern nach Auskunft älterer
Bukit-Autoritäten „der untere Teil eines Baumstammes“)!).
Übrigens ist GRABOWSKI für RADAM ein „Missionar“.
Natürlich trifft dies in keiner Weise zu, aber vom radikalen Is-
lam Banjarmasins aus, der alles Europäische mit dem Chris-
tentum gleichsetzt und Europäer der Kolonialzeit mit den
Missionaren unter einer Decke sieht, wenn nicht gar identifi-
ziert, ist dies verständlich und verzeihlich. Der Banjarese
RADAM ist bereits verstorben. Er war Dozent an der Lam-
bung Mangkurat-Universität in Banjarmasin. Beide Anthropo-
logen wissen voneinander, haben aber von den Forschungser-
gebnissen des anderen keine Notiz genommen.
TSING fehlt jegliches Gefühl für die historische Dimension.
Sie weist den sicher seit 200 Jahren gebräuchlichen Namen
„Bukit-Dayak“ als diskriminierend zurück und ersetzt ihn in
eigener Initiative durch die Bezeichnung „Meratus-Dayak“,
Aus demselben Grund hat zu Beginn der Sukamo-Zeit die
Vertretung der Dayakstudenten in Bandung die Zentralregie-
rung gedrängt, die Bezeichnung „Dayak“ durch „Sahawong“
zu ersetzen (S.KERTODIPOERO: Kaharingan 1963. Seite 7).
Zum Glück ohne Erfolg, denn heute sind die „Dayak Mittel-
kalimantans auf diesen Namen stolz“, da sie sich durch hohe
Bildung und Führungspositionen auszeichnen (E-Mail-Nach-
richt Dr. K. WIDENs/Palangkaraya vom 12.08.02). TSING
stammt aus Kalifornien, dem für den Westen maßgeblichen
Einfallstor fernöstlicher Esoterik. An der Stanford Universität
hat sie studiert und doziert. Sie ist Schamanin und hat sich bei
Bukit-Schamanen weiter ausbilden lassen. Sie setzt das scha-
manische Weltbild als legitime Grundlage wissenschaftlicher
Beweisführung ein. Natürlich beherrscht sie die amerikani-
sche Schul-Anthropologie (vgl. ihre umfangreiche Disserta-
tion). Umso offener kann sie in ihrem neuen, preisgekrönten
und in Fremdsprachen übersetzten Buch vom „Reich“ (indo-
nesisch: „Schattenbild“) „der Diamantkönigin“ von schamani-
schen Vorstellungen aus darstellen und argumentieren. Ausge-
hend von Mythen, Zaubersprüchen (Mantras), Parabeln, Epen,
magischem Denken, Seelenreise, Schutztieren, Geistfreunden
und nicht zuletzt von Träumen zeigt sie persönliche und ge-
sellschaftliche Problematik (Marginalisierung von Minderhei-
ten und Frauen) und ihre Überwindung auf: die Bukit und ih-
re Frauen stehen auf gleicher Stufe wie die Banjaresen und der
„Westen“, sind soziologisch und philosophisch autonom und
haben das Recht, dass ihre Identität aus den Elementen ihrer
Kultur bestimmt wird. Solidarität mit dem „unschuldigen Wil-
den“ ist unangebracht und wird von TSING vehement zurück-
gewiesen. Diese Perspektive entbehrt nicht einer gewissen
Faszination, zumal die Bukitproblematik ständig mit der
USA-Problematik der 80er Jahre parallelisiert wird. Ob diese
Schau sich auf die Dauer halten kann, ist mehr als fraglich. Ei-
ne abstruse Weltschau wird a priori absolut gesetzt, vom Zeit-
geist herausgefordert werden Themen und Probleme bestimmt
und anhand für den Schamanismus relevanter Phänomene (bis
hin zum oberflächlich bedeutungslosen Geschwätz) Thesen
untermauert und als wissenschaftliche Ergebnisse hingestellt.
TSING hat die Bukitsituation der beginnenden 80er Jahre vor
Augen. Sie kennt noch nicht und bezieht noch nicht mit ein die
Hauptschulpräsenz bis in die abgelegensten Gebiete Indone-
siens seitens der Zentralregierung (die Bukit-Bergdörflein ha-
ben immens davon profitiert!), das Bemühen der Kaharingan-
Leitung von Palangkaraya um Integrierung und Zusammen-
schluss aller animistischen Gemeinschaften Indonesisch-Bor-
neos, Indonesiens Abdriften vom strengen diktatorischen Zen-
tralismus zum Föderalismus der Außengebiete, d.h. für die
Provinz Süd-Kalimantan schrittweise Einführung der islami-
schen Scharia (kein Nichtmoslem kommt in der Beamten- und
Lehrerlaufbahn mehr zum Zuge!), Abholzung der letzten Re-
genwaldreste, Nachdrängen der Islambevölkerung in die Ge-
birgstäler. TSINGs gesellschafts- und zeitkritische Analyse
und Darstellung erweist sich als überholt und nicht mehr zu-
treffend. Lobenswert sind gewisse globalkritische Ansätze,
aber Suhartos Indonesien gehört einer anderen Zeit an. Genau
so gehört TSINGs Buch der Vergangenheit an, wenn auch die
282
____________Buchbesprechungen Südasien / Ostasien
abschließende Beurteilung im Borneo Research Bulletin nicht
von der Hand zu weisen ist: „Bearing the fruit from the lively
Contemporary conversations between anthropology and cultu-
ral studies,Tn the Realm of the Diamond Queen' will prove to
be a model for thinking and writing about gender, power, and
the politics of identity“. Wer kritischer Forschung verpflichtet
ist, wird durch TSINGs „Diamantenkönigin“ keine Erweite-
rung seiner Kenntnisse in Dayakologie und Bukit-Kultur fest-
stellen können.
Im Jahr 1996 wurde in der Dayak-Ethnologie ein Meilenstein
gesetzt; zum ersten Mal erkannte eine nichtasiatische Univer-
sität eine indonesisch verfasste Dissertation als Voraussetzung
zur Erlangung des Doktorgrades an (Y.C. THAMBUN AN-
YANG : Daya Taman Kalimantan. Suatu studi etnografis sosi-
al dan kekerabatan dengan pendekatan antropologi hukum.
Nijmegen; University Press 1996). Seitdem muss jeder auf
Dayakologie spezialisierte Ethnologe das Indonesisch der hö-
heren Bildung beherrschen. Für die Bukit-Kultur unerlässlich
ist RADAMs Religion der Bukit-Leute. Hervorragend ist die
Darstellung und Erklärung der Ursprungsmythe in ihrer heuti-
gen, rezenten Fassung. Sie zeichnet sich aus durch genaue Be-
schreibung aus unterschiedlichem Blickwinkel. Urdayakele-
mente lassen sich relativ leicht aus den islamischen Überlage-
rungen herausfiltem und die Verwandtschaft zu benachbarten
Dayakethnien herstellen (vgl. oben). Nur aus ältesten Quellen
(A.L. WEDDIK: Beknopt Overzigt van het Rijk van Koetei.
Indische Archief 1849. Seite 156) geht hervor, dass solche
Verbindungen bis zu den Mahakam-Dayak aufspürbar sind.
Ähnliches gilt für die Auflistung der Gottheiten und Geister
im Bukit-Pantheon, für die Stellung und Funktion der ver-
schiedenen Priester, sowie ganz zentral für die Mythen zum
Reisursprung und die vielen Riten beim Reisanbauzyklus. Für
letzteres ist RADAM die unerlässliche Hauptquelle. Schade,
dass diese Mythen und Ritentexte nicht in der Bukit-Priester-
sprache schriftlich fixiert sind. Leider wird RADAM mit sei-
nem Titel „Religion der Bukit-Leute“ hochgespannten Erwar-
tungen nicht gerecht: Übergangs- bzw. Initiationsriten der per-
sonalen Dimension werden nur am Rande erwähnt, vom To-
tenkult berichtet er überhaupt nichts. Bedauerlicherweise kann
RADAMs Dissertation nur in den wissenschaftlichen Abtei-
lungen der großen Buchhandlungen Jakartas erworben wer-
den. RADAM eröffnet in hoffnungsvoller Weise die wissen-
schaftliche Erarbeitung einheimischer Stammeskulturen durch
Indonesier selber in deren an ethnologischen Unikaten so rei-
chen Heimat. In Zukunft können Indonesienspezialisten diese
Werke nicht mehr einfach links liegen lassen.
Martin Baier
Dozent in Banjarmasin/Indonesien
Buchbesprechungen Ostasien
Das Yunnan-Album Diansheng Yixi Yinan Yiren
Tushuo. Illustrierte Beschreibung der Yi-Stämme
im Westen und Süden der Provinz Dian der
Sammlung Hermann Freiherr Speck von Stern-
burg aus Lützschena. Leipzig: Museum für Völ-
kerkunde zu Leipzig, 2003. Italienisches Format.
Frontispiz, 90 S. Text & 46 Farbabbildungen.
ISBN 3-910031-30-7
Die vorliegende prächtig ausgestattete Edition verdankt sich
der finanziellen Unterstützung seitens der Familie des Samm-
lers, der seinerzeit Diplomat im Dienst des Deutschen Kaiser-
reiches in Peking (China) war und dort um 1895 das Miaotse-
Album (so die generische Fachbezeichnung für das edierte
Dokument) erwarb. Mit anderen Stücken seiner ostasiatischen
Sammlung kam es schon 1896 als Leihgabe ans Museum und
wurde 1909, ein Jahr nach dem Tod des Freiherrn von seiner
Witwe mit der gesamten etwa 500 Posten umfassenden
Sammlung „für einen eher symbolischen Betrag“ erworben.
Es hat alle Fährnisse des 20. Jahrhunderts offensichtlich un-
beschädigt überstanden.
Weltweit sind der Forschung etwa 100 ähnliche Bücher be-
kannt. Sie alle handeln in farbigen Bildern und meist kurzen
begleitenden Texten die nicht-han-chinesischen Bevölke-
rungsgruppen der südwestlichen Provinzen des chinesischen
Reiches ab. Die Forschung nimmt an. dass sie ihren Anlass in
Verwaltungserlassen des Kaisers, der sich einen Überblick
über die oft rebellischen Grenzvölker verschaffen wollte, hat-
ten. Ein solcher kaiserlicher Erlass aus dem Jahre 1751 ist in
der vorliegenden Edition dokumentiert. Obwohl bei dem Leip-
ziger Exemplar der Künstler selbst bekannt ist, gelang es
nicht, Genaueres über Auftrag, Ziel und Arbeitsweise dieses
Beamten namens He Changgeng zu erhellen. Vor allem die
Tatsache, dass das fertige Werk offenbar nicht ins kaiserliche
Archiv gelangte und, wie die meisten anderen auch, im späten
19. Jahrhundert in Privatbesitz war, zeigt, dass die Verwaltung
doch wohl kein nachhaltiges Interesse an diesen kleinen
Kunstwerken hatte.
Im vorliegenden Album, das He im Jahre 1788 fertig gestellt
hat, ist jeweils eine Buchöffnung mit dem farbigen Pinselbild
rechts und dem erläuternden Text links vom Betrachter die
ethnographische Beschreibungseinheit. So werden 42 Men-
schengruppen aus dem westlichen Yunnan abgehandelt. Zu ih-
nen berichtet der Text knapp und stereotyp meist über den
Wohnsitz, die Wirtschaftsgrundlage, Kleidung und Essge-
wohnheiten und gelegentlich auch über Heiratsbräuche und
die Nützlichkeit als Grenztruppen für die chinesische Militär-
verwaltung. Die Texte selbst sind bereits in den 1940er Jahren
von Wolfram Eberhard in zwei Veröffentlichungen übersetzt,
kommentiert und ethnographisch-geographisch situiert wor-
den. Die jetzt im Rahmen ihrer Magisterarbeit von Kathrin
Hirth neu vorgelegte Übersetzung konnte manchen Irrtum und
manches Missverständnis Eberhards korrigieren und wichtige
Zusammenhänge erstmals herausarbeiten. Sie stellt damit ei-
nen wirklichen Fortschritt in der Erschließung dieser Quelle
dar. Weniger sinnvoll scheinen mir ihre detaillierten Beschrei-
bungen des Bildgehaltes, der aufgrund des großen Realismus
und des guten Erhaltungszustandes aller Abbildungen un-
mittelbar erkennbar ist und keiner gesonderten Darlegung be-
darf. Ein Problem freilich, das schon Eberhards Buch über die
Kultur und Siedlung der Randvölker Chinas (1942) in seinem
Nutzen für den Ethnologen mindert, konnte auch hier nur an-
satzweise gelöst werden: Einheiten der Beschreibung im Al-
bum sind wohl stets lokale Gesellschaften oder auch nur be-
sonders markante religiöse Gruppen innerhalb der lokalen Be-
völkerung. Andererseits operiert die offizielle chinesische Eth-
nographie mit umfassenden „Stammesgruppen“, und diese
werden auch in der ethnographischen Einleitung von Ingo
Nentwig zur Grundlage seiner Beschreibung gemacht. Diese
beiden Pole zusammenzubringen und aufeinander zu bezie-
hen, fällt dem Außenstehenden schwer. Bevor die chinesische
283
____________TRIBUS 52, 2003
Ethnologie nicht ihre Grundbegriffe im Bereich der Gruppen,
Stämme und Völker geklärt und systematisch in Bezug gesetzt
und in Veröffentlichungen angewendet hat, bleibt die sachge-
rechte Nutzung von Quellen und Forschungsliteraturen, wie
z.B. das Leipziger Album, auf eine kleine Schar spezialisierter
Ethnographen beschränkt, da der Außenstehende meist nicht
weiß, was sich hinter einem Namen verbirgt und welche Na-
men Synonyma oder Teilsynonyma sind.
Unter vergleichenden Aspekten erscheinen mir an diesem Mi-
aotse-Album die große Sorgfalt und die hohe Qualität der Aus-
führung bemerkenswert: Fein kolorierte, oft meisterlich ausge-
führte Genrebilder und die in der Regel kalligraphisch gestal-
teten und sorgfältig in verschiedenen Schriftarten ausgeführten
Texte zeugen von der unübertroffen hohen Schrift- und Buch-
kultur des fernöstlichen Kulturareals. Vergleichbares finden
wir im Westen auf so unbedeutende Gegenstände kaum ange-
wandt. Leider haben sich die Kommentatoren der vorliegenden
Edition ganz auf die inhaltlichen, ethnographischen und ma-
nuskriptgeschichtlichen Aspekte des Albums konzentriert und
überlassen seine künstlerische Evaluierung dem Leser.
Berthold Riese2
Anmerkungen
1 Evans-Pritchard, E.E.: The Ethnie omposition of the Azan-
de of Central Africa, in; Anthropological Quarterly 31
(1958), S. 98 und ders.: The Origin of the Ruling Clan of
the Azande, in: Southwestem Journal of Anthropology 13
(1957), S. 322-243.
2 Für nützliche Hinweise danke ich Bruno Illius, Leipzig, und
Claudius Müller, München.
Buchbesprechungen Südsee
Wood-Ellem, Elizabeth:
Queen Sälote of Tonga. The Story of an Era.
1900 - 1965. Auckland: Auckland University
Press, 2001 (4. Auflage, Originalauflage 1999).
376 Seiten, 125 SW-Fotos, 27 Tabellen.
ISBN 1-86940-262-6
Queen Sälote Tupou III. stieg mit 18 Jahren, nach dem Tod ih-
res Vaters Tupou II., 1918 auf den Thron. Sie sollte mit mehr
als 47 Jahren Herrschaft über Tonga zum bis heute längst re-
gierenden Monarchen des Landes werden und reiht sich damit
in die Tradition der großen pazifischen Herrscherinnen wie
Salamäsina (Samoa) und Purea (Tahiti) ein.
Elizabeth Wood-Ellem zeichnet einen großen Unterschied
zwischen den „frühen Jahren“, in denen Queen Sälote erst ein-
mal in ihr Amt hineinwachsen musste, und den „späten Jah-
ren“ (nach 1924), als sich ihre Herrschaft gefestigt hatte.
Tonga war seit 1900 britisches Protektorat. Schon während ih-
rer schulischen Ausbildung in Auckland hatte Sälote positive
Erfahrungen mit England gesammelt. Zu den Briten, vertreten
durch einen Agent and Consul (A&C), hatte Queen Sälote von
Beginn an ein besseres Verhältnis als zu einigen beständig ge-
gen die Tupou-Dynastie agierenden eigenen Landsleuten. Die
Autorin geht im Detail auf die Schwierigkeiten ein, die die pa-
rallele Existenz von custom law und British law mit sich
bringt; man gewinnt den Eindruck eines Stückwerk-Gesetze-
skatalogs, dessen Zusätze zu Widersprüchen führen und der
auf den amtierenden A&C und den Chief Justice of Land
Court zugeschnitten war. Als äußerst hilfreich hat es sich stets
erwiesen, wenn der A&C eine juristische Ausbildung hatte.
Wood-Ellem hebt den A&C Islay McOwan als wichtigsten
Verhandlungspartner auf britischer Seite sehr hervor und stellt
das gegenseitige Vertrauen und die früchtetragende Zusammen-
arbeit - und gegenseitige Abhängigkeit - zwischen Sälote, ih-
rem Ehemann und späteren Premierminister (1923 - 1941)
Tungi und McOwan fast als eine Art Triumvirat dar.
Niemand allerdings konnte die Tonganer - ebensowenig wie
die Sämoaner und andere Insulaner, an deren Land die „Talu-
ne“ 1918 festmachte - vor der verheerenden Grippeepidemie
schützen. Doch Sälote reagierte prompt und sorgte mit dem
1919 gegründeten Department of Health für die kostenlose
medizinische Versorgung aller Tonganer. Ebenso legte sie
Wert auf ein Erziehungssystem, das auch den Mädchen offen
stand.
Bei Hofe war man fakapapälangi, d.h. man pflegte eine Mi-
schung aus tonganischen und westlichen (=britischen) kultu-
rellen Werten. Die Etikette betreffend waren der Reverend
Rodger Page und die Frau des Finanzministers, Lilla Bagnall,
Sälotes engste Berater und Vertraute. Als einzige papälangi
hatten sie relativ ungehinderten Zutritt zum Palast. Auch nach
seiner Pensionierung unterhielt Sälote weiterhin ein freund-
schaftliches Verhältnis zu Rodger Page; er war es auch gewe-
sen, der ihr Trost und Rat gegeben hatte, als Tungi 1941 plötz-
lich gestorben war.
Sälote Tupou III. hatte die schwierige Aufgabe, wieder gut zu
machen, was ihr Vater Tupou II. (von dessen Urgroßvater Tu-
pou I. zum König bestimmt, aber nur bedingt fähig, dieses
Amt auszuüben) versäumt hatte. Es galt vor allen Dingen, die
„Reactionary Party“ - eine Gruppe politischer Widersacher,
die sich als Reaktion auf Tupou II. Hochzeit mit der vermeint-
lich falschen Frau gebildet hatte - unter Kontrolle zu bringen.
Mit den Altlasten des Vaters schien Sälote zunächst überfor-
dert. Sie konnte seine Versprechen, bestimmte Aristokraten zu
„Noblen“ zu machen, nicht ausführen, ohne ihre eigene Linie
zu schwächen („rank is everything“). Wegen ihrer genealo-
gisch ohnehin „schwachen“ mütterlichen Linie musste Sälote
politisch ständig wachsam sein. Durch festen Charakter und
harte Arbeit, wie Wood-Ellem wiederholt betont, erhöhte Sälo-
te ihren persönlichen Status und erlangte damit die - zunächst
zögerliche - Anerkennung seitens der höher stehenden Aristo-
kraten.
Dazu trug auch ihr großer Einsatz für die Wiedervereinigung
der tonganischen Kirche 1924 bei. Die von ihrem Ururgroß-
vater 1885 eingerichtete Free Church und die bereits seit 1826
bestehende Wesleyanische Kirche führte sie wieder zusam-
men zur Free Wesleyan Church unter der Präsidentschaft
(1925-1946) von Rodger Page. Damit brachte sie gleichzeitig
viele abtrünnige chiefs in Ha’apai und Vava’u auf ihre Linie,
und fortan wiesen ungeprüfte Kirchenkonten keine „purchases
by Jehovah and loans to God“ mehr auf (S. 106).
Sälote legte ihrer Macht die tonganischc Verfassung und die
tonganischen Gesetze zugrunde, wie sie in jeder ihrer Reden
zur Parlamentseröffnung und -Schließung betonte. Sälotes Re-
dekunst war beeindruckend, ihre Reden wurden sogar mit de-
nen Caesars und Ciceros verglichen (S. 91). Sälote war außer-
dem sehr musikalisch, sie komponierte und dichtete u.a. für
284
___________Buchbesprechungen Südsee
TungT, und sie schrieb Choreographien für Tänze, die noch
heute aufgeführt werden. Sie besaß ganz genaue Kenntnis der
Genealogien ihrer Gefolgsleute und war von Beginn ihrer Re-
gentschaft an Gebieterin über Sitten und Gebräuche. Sie nutz-
te ihr esoterisches Wissen auch geschickt zur politischen Ma-
nipulation; Titelverleihungen und die Schaffung neuer Titel
wurden so begründet, dass die Tupou-Dynastie stets genealo-
gisch an mana gewann und Abstammungsschwerpunkte ver-
schoben wurden. Gelegentlich gingen Sälote und TungT sogar
so weit, dass sie Heiratspartner der Aristokraten bestimmten,
damit deren Kinder im Rang nicht höher standen als ihre ei-
genen drei Kinder, die Prinzen Tupouto’a-Tungi (geb. 1918),
Tuku’aho (1919-36) und Tu’ipelehake (geb. 1922). Und wenn
einer ihrer Untergebenen nicht in ihrem Sinne handelte, konn-
te es Vorkommen, dass Sälote ihn persönlich unangemeldet be-
suchte und umstimmte. Im Parlament hielt Sälote ihre Gegner
in Schach, indem sie mit Konsequenzen wie beispielsweise
Annexion durch Großbritannien drohte, und sie verwies stets
auf pazifische Nachbarstaaten, die durch innere Uneinigkeit
zu Kolonien geworden waren (S. 89 ff. u.a.).
Der Zweite Weltkrieg führte 1939 zur Gründung der Tonga
Defence Force; Tonga diente den amerikanischen Truppen als
Nachschublager für den Krieg im Pazifik. Sälote richtete Erste-
Hilfe-Schulungen ein und nahm selbst als eine der ersten
Schülerinnen daran teil. (Die urkomische Situation mit der
Königin im Klassenzimmer ist eine der vielen herrlich zu le-
senden Stellen (S. 193-195).) Die amerikanischen Soldaten
brachten einen bis dahin unbekannten Lebensstil nach Tonga,
inklusive seiner negativen Folgen: übermäßiger Alkohol- und
Zigarettenkonsum, steigende Kriminalität und die Entwick-
lung einer Art Cargo Cult. Auch auf Queen Sälote hinterließen
sie eine bleibende Veränderung: nach dem Zweiten Weltkrieg
trug sie bei offiziellen Anlässen nicht mehr ihre Krönungsro-
be und Krone - von den Amerikanern als unzeitgemäß und
britische Nachahmung verlacht -, sondern ein langes Kleid
mit einer kie hingoa (feinen Matte).
Es war jedoch ihr ältester Sohn, der seit 1965 amtierende Kö-
nig Tupou IV, der die Modernisierung Tongas massiv voran-
trieb. Ab Mitte der 40er Jahre trat der Kronprinz politisch zu-
nehmend in den Vordergrund. Er ist der erste Tonganer, der ei-
nen BA an einer Universität abgeschlossen hat, und er fühlt
und denkt laut Wood-Ellem wie ein Europäer. Er zeichnet sich
außerdem, anders als Sälote, durch Ungeduld und Vorliebe für
materiellen Besitz aus. Seine ersten Amtshandlungen betrafen
die Reform der tonganischen Buchstaben und die Herausgabe
eines Lexikons und einer Grammatik; auf sein Betreiben wur-
de Tonga zweisprachig.
Große Thronfeierlichkeiten fanden 1945 statt anlässlich der
1 OO-Jahr-Feier des Bestehens der Tupou-Dynastie, d.h. der Krö-
nung Tupou I. als Tu’i Kanokupolu, und 1947, als Sälote für ih-
re Söhne eine Doppelhochzeit arrangierte, damit ihr Volk weni-
ger Last mit der Bereitstellung von Nahrungsmitteln hatte.
Der christlichen Königin lag die langwierige Fertigstellung
der Centenary Church 1952 sehr am Herzen, die an die wes-
leyanischen 100-Jahr-Feiern von 1926 erinnern soll und zwei
Buntglasfenster besitzt: das eine ziert Sälotes Mutter, Queen
Lavinia, das andere die Mutter Tungis.
Nichts hat Tonga weltweit so bekannt gemacht wie Sälotes Be-
such in London 1953 zur Krönung von Queen Elizabeth II.
Ihre Kutschfahrt im Regen ohne Verdeck ist legendär. Hier
war Sälote auf dem Zenith ihrer Reputation. Ihre während die-
ser sechseinhalb Monate dauernden Weltreise (inklusive
Schiffsreise durch den Panamakanal und Audienz bei Papst
Pius XII.) festgehaltenen Tagebuchnotizen fließen über vor
Dankbarkeit für die Erfahrungen in England und Europa. (Sä
lote bemerkte auch, wie sehr in Europa - anders als in Tonga
- alles von Zeitplänen und der Einhaltung von Ordnung ab-
hängt.)
Seit 1954 zog Sälote sich kontinuierlich aus der Öffentlichkeit
zurück, sie erholte sich in den Sommermonaten auf ihrem
Landsitz ’Atalanga in Auckland, wo sie ihre Gewohnheit,
abends im Halbdunkeln spazieren zu gehen, beibehielt. Gele-
gentlich besuchte sie Theater und Konzerte.
Mehrere Auszeichnungen des British Empire wurden Sälote
zuerkannt: 1932 kam der High Commissioner persönlich aus
Fidschi, um sie zur DBE (Dame Commander of the Order of
the British Empire) zu schlagen. 1953 und 1965, noch kurz
vor ihrem Tod, wurden ihr zwei weitere Auszeichnungen ver-
liehen. Sie nutzte diese Gelegenheiten der Machtdemonstra-
tion u.a. auch zur Präsentation ihrer feinsten Matten aus dem
königlichen Schatz.
Sälote starb 1965 in Neuseeland als einer der Menschen, die
sie selbst immer bewundert und gesucht hatte: als eine weise
Frau. Sie hatte ihr Ziel erreicht, das Königreich Tonga zu ei-
nigen, sie war eine vorbildliche Herrscherin und im doppelten
Sinne des Wortes eine mächtige Königin gewesen,
ln 19 Kapiteln - man könnte auch sagen, in zwei Vorge-
schichten und 17 Kapiteln - hat Elizabeth Wood-Ellcm hier
ein ergreifendes Buch vorgelegt. Jedes der weitgehend chro-
nologisch aufgebauten Kapitel wird von einem Zitat aus der
tonganischen Zeitgeschichte eingeleitet; der letzte Absatz
dient stets als Überleitung zum nächsten Thema und nimmt
Rückbezug auf Sälotes Verhalten bzw. mögliche Folgen für
Tonga, wenn sie andere Entscheidungen getroffen hätte. Auf
den letzten zehn Seiten werden Sälotes Errungenschaften noch
einmal zusammengefasst. Die etwas trockeneren, aber sehr
aufschlussreichen, politischen Kapitel wie Kapitel zwei, sechs
und sieben stehen im Wechsel mit spannenden, unterhaltenden
Kapiteln, die „aus dem Nähkästchen plaudern” und auf die Fa-
miliengeschichte eingehen. Gelegentlich droht die viele Ge-
nealogie den Leser zu überfordern - bei den zahlreichen un-
ehelichen Kindern in der Aristokratie kann man den Überblick
verlieren -, da sind die Verwandtschaflstabellen hilfreich. Ka-
pitel elf, das Sälotes Ehemann TungT zum Thema hat, driftet
immer wieder von ihm ab, hin zu Sälotes Aufgaben und den
Söhnen, anscheinend, um die Chronologie nicht auseinander
zu reißen.
Die vor dem Leser lebendig ausgebreiteten Details ermög-
lichen ein direktes Teilhaben an einem wichtigen Stück tonga-
nischer Geschichte. Man spürt, wie spannend die über 25 Jah-
re dauernde fundierte Recherche gewesen sein muss. Dieses
Werk ist viel mehr als eine Biographie, es ist eine hochpoliti-
sche Geschichtsschreibung Tongas aus der Sicht einer in Ton-
ga geborenen Historikerin, die als Kind selbst zu Füßen Queen
Sälotes gesessen hat. Wood-Ellem hat kulturelle Hintergründe
geschickt eingewoben, denn scheinbar unwichtige Neben-
sächlichkeiten bestimmen nicht selten unbewusst das politi-
sche Geschehen in Tonga. Die gut ausgesuchten zeitgenössi-
schen Fotos und der sehr detaillierte Index machen das Buch
noch wertvoller für jede pazifische Bibliothek.
Susanne Fenske
285
__________TRIBUS 52, 2003
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 52, 2003
Amborn, Prof. Dr. Hermann, Institut für Völkerkunde und Afrikanistik der Universität, Ludwigstr. 27,
D-80539 München
Baier, Dr. Martin, Wilhelm-Friedrich-Laur-Weg 6, D-72379 Hechingen
Brandt, Dr. Klaus J., Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Brinkmann M.A., Charlotte, Eppendorfer Weg 116, D-20259 Hamburg
Bujok, Dr. Elke, Zasingerstr. 8, D-81547 München
Clados, Christiane, Kirchhofstr. 26, D-13585 Berlin
Creyaufmüller, Dr. Wolfgang, M.A., Melatener Str. 145a, D-52074 Aachen
Dreyer, Anatol, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Fenske M.A., Susanne, Preziosastr. 13a, D-81927 München
Fillitz, Prof. Dr. Thomas, Institut für Völkerkunde der Universität, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien
Forkl, Dr. Hermann, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Heermann, Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Herdin M.A., Doris, Mansteinstr. 16, D-10783 Berlin
Kalter, Prof. Dr. Johannes, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegeiplatz 1, D-70174 Stuttgart
Knüppel, Dr. Michael, Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde der Georg-August-Universität
Göttingen, Waldweg 26, D-37073 Göttingen
Kom, Dr. Lorenz, Biesingerstr. 14, D-72070 Tübingen
Kozok, Prof. Dr. Uli, Hawaiian and Indo-Pacific Languages and Literatures, The University of
Hawai’i at Manoa, Spalding 462, 2540 Maile Way, Honolulu, Hawai’i 96822 / USA
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kuebler, Dr. Hans, Stiftung Vergessene Kulturgüter (SVK), Dufourstr. 58, CH-8702 Zürich-Zollikon
Kurella, Dr. Doris, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Michel, Prof. Dr. Thomas, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Otto-Hörbrand, Martin, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Petersen, Dr. Imme, Oberer Kirchhaldenweg 77, D-70195 Stuttgart
Riederer, Prof. Dr. Josef, Rathgen-Forschungslabor, Schloßstr. 1 a, D-14059 Berlin
Riese, Prof. Dr. Berthold, Institut für Altamerikanistik und Ethnologie der Universität Bonn,
Römerstr. 164, D-53117 Bonn
Schiede, Dr. Sonja, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schulze-Thulin, Dr. Axel, Franz-Liszt-Str. 3, D-85391 Allershausen
Sibeth, Dr. Achim, Museum der Weltkulturen, Schaumainkai 29, D-60594 Frankfurt am Main
Thiele, Prof. Dr. Peter, Robert-Bosch-Str. 97, 70192 Stuttgart
Wachendorff, Dr. Elke, Stiftung Vergessene Kulturgüter (SVK), Dufourstr. 58,
CH-8702 Zürich-Zollikon
Witt, Jürgen, Tzaneen Museum, Agatha Street, P.O.Box 700, 0850 Tzaneen / R.S.A.
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