TRIBUS
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)EN-MUSEUM STUTTGART JAHRBUCH
VTLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE BAND 56 - 2007
TRIBUS - Jahrbuch des Linden-Museums Stuttgart
TRIBUS
JAHRBUCH DES LINDEN-MUSEUMS
Nr. 56 - September 2007
LINDEN-MUSEUM STUTTGART
STAATLICHES MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE
Stuttgart 2007
Fachbezogene
Beratung: Abteilungsreferenten des Linden-Museums Stuttgart
Fotos des
Linden-Museums: Anatol Dreyer
Die Verfasser der Aufsätze und Buchbesprechungen sind für den Inhalt ihrer
Beiträge allein verantwortlich.
Redaktionsschluss jeweils 1. Mai
Helmmaske
FIolz und Naturfarben, Vitu-Inseln, Papua
Neuguinea, 1899. Inv.-Nr. S 4549.
Sammlung Hahl
Herstellung: VEBU Druck + Medien GmbH, Bad Schussenried
Inhaltsverzeichnis
Berichte
Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 2006
(Thomas Michel) 7
Jahresbericht 2006 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd-
und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. (Roland Hahn) 19
Berichte über Erwerbungen im Jahr 2006 des
Linden-Museums (Thomas Michel), Afrika-Referats (Hermann Forkl),
Orient-Referats (Annette Krämer), Südasien-Referats (Gerd Kreisel),
Ostasien-Referats (Uta Werlich), Südsee-Referats (Ingrid Heermann),
Nordamerika-Referats (Sonja Schiede) und Lateinamerika-Referats
(Doris Kurella) 21
Jahresbericht 2006 des Referats Museumspädagogik (Sonja Schiede) 35
Bericht des Referats Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2006
(Martin Otto-Hörbrand) 42
Organisationsplan 45
Aufsätze
Baier, Martin; The Development of a New Religion
in Central Borneo (Kalimantan) 47
Bhattacharya, Gouriswar:Two inscribed bronze ekamukha-linga.s
of the Devapäla period 55
Bourgois, Geert Gabriel: From sandpaper to chisel:
The ascension of the sculptress in Rhodesia (Zimbabwe) 61
Clados, Christiane: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
am Beispiel eines Männerhemdes der Inkazeit in der Altamerika-Sammlung
des Linden-Museums 71
Schlag, Claudia: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute 107
Buchbesprechungen
Allgemein
Antweiler, Christoph: Ethnologie. Ein Führer zu populären Medien.
Mit einem Beitrag von Michael Schönhuth (V. Harms) 135
Auffermann, Bärbel / Orschiedt, Jörg: Die Neandertaler -
Auf dem Weg zum modernen Menschen (A. Schulze-Thulin) 135
Brunner, Bernd; Eine kurze Geschichte der Bären (A. Schulze-Thulin) 137
Conard, Nicholas J. (Hg.): Woher kommt der Mensch?
Zweite, aktualisierte Auflage (A. Schulze-Thulin) 138
Dilger, Hansjörg / Wolf, Angelika / Frömming, Urte Undine / Volker-Saad,
Kerstin (Hg.): Moderne und postkoloniale Transformation. Ethnologische Schrift
zum 60. Geburtstag von Ute Luig (W. Creyaufmüller) 140
Fischer, Anton: Studien zum Denken von Claude Lévi-Strauss,
Bd. MV (M. Fischer) 141
Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung (V. Harms) 142
Harms, Volker: Völkerkunde. Fremde Kulturen verstehen. Eine Führung
durch die völkerkundliche Sammlung der Universität Tübingen (A. Keim) 143
Pastoors, Andreas / Weniger, Gerd-C: Sammlung Wendel -
Bildarchiv zur eiszeitlichen Höhlenkunst (A. Schulze-Thulin) 146
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TRIBUS 56,2007
■ -------------------
Afrika
■
Biasio, Elisabeth: Heilige und Helden - Äthiopiens zeitgenössische Malerei
im traditionellen Stil. Katalog des Völkerkundemuseums
I der Universität Zürich (R. Best) 147
Bliss, Frank: Oasenleben - Die ägyptischen Oasen Bahriya
und Farafra (W. Creyaufmüller) 148
Schäfer, Rita: Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisationen
und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika (T. Kirsch) 149
Amerika
Bucher, Corina: Christoph Kolumbus - Korsar und Kreuzfahrer
(A. Schulze-Thulin) 151
Fabrizii-Reuer, Susanne / Reuer, Egon (t): Die Gräber aus den
“shell-middens” der präkolumbianischen Siedlung von Pointe de Caille,
St. Lucia, West Indies (A. Schulze-Thulin) 153
Gewecke, Frauke: Christoph Kolumbus - Leben, Werk,
Wirkung (A. Schulze-Thulin) 151
Koch-Grünberg, Theodor: Die Xingu-Expedition (1898-1900).
Ein Forschungstagebuch. Hrsg, von Michael Kraus (K. Kobler) 154
Kohler, Alfred; Columbus und seine Zeit (A. Schulze-Thulin) 151
Siebelt, Dagmar: Die Winter Counts der Blackfoot (C. Kalka) 156
Taube, Karl A.: Olmec Art at Dumbarton Oaks (D. Kurella) 157
Taylor, Colin F. (t) / Dempsey, Hugh A. (Coordin. / Ed.):
The People of the Buffalo. Vol.2: The Plains Indians of North America -
The Silent Memorials: Artifacts as Cultural and Historical Documents.
Essays in Honor of John C. Ewers (A. Schulze-Thulin) 158
Orient
Rainer, Kurt / Tunis, Angelika: Marokko / Morocco mon amour.
Glanzvolle Textil-Tradition im Königreich Marokko.
Unique Textiles: A Tradition in the Kingdom of Morocco (W. Creyaufmüller) 159
Südsee
Ferro, Katarina / Wallner, Margot (Eds.):
Migration happens: reasons, effects and opportunities of migration
in the South Pacific (A. E. Schmidt) 160
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 56 162
6
Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im
Jahre 2006
1. Durchgeführte und aktuelle Sonderausstellungen
22.10.2005- 19.3.2006
Teehaus, Moschee und Garten - Schüler-Ausstellung im Wannersaal
27.11.2005- 17.9.2006
KinderSpiel. Erfahren - erfinden - gestalten (insgesamt 26.256 Besucher)
3.12.2005 - verlängert bis 9.7.2006
Kunst der Aborigines aus der Sammlung Peter W. Klein
14.12.2005- 12.1.2006
Unteilbare Eine Welt
14.1.-2.4.2006
Traditionelle Frauenkultur aus Südafrika
Anlässlich des Weltgebetstages der Frauen 2006 mit dem Thema Südafrika
25.5.-24.9.2006
Kunst lebt
Große Landesausstellung im Kunstgebäude am Schlossplatz. 86 Objekte davon aus
dem Linden-Museum
ab 10.9.2006
Korea im Linden-Museum. Teilbereich in der Dauerausstellung Ostasien.
25.11.2006- 25.3.2007
„...mehr als nur Gäste“ (Besucher 2006:2.287,insgesamt 14.100)
10.12.2006- 23.9.2007
El Chaco; Paraguay und die Europäer
Die sehr erfolgreiche Sonderausstellung „KinderSpiel. Erfahren - erfinden - gestal-
ten“ wurde bis 17. September 2006 verlängert und half uns wesentlich, das große
Sommerloch zu überstehen. Während der gesamten Laufzeit der Fußball-Weltmei-
sterschaft brachen die Besucherzahlen auch wegen des extrem heißen Sommers er-
heblich ein. Zwar hatten wir einige Veranstaltungen speziell für Fußballfans wie das
Tischfußballturnier organisiert, allerdings mit mäßigem Erfolg. Gleichfalls war eine
gemeinsame Ausstellung aller Landesmuseen unter dem Titel „Kunst lebt“ im Kunst-
gebäude Stuttgart von den Bürgern nicht angenommen worden.
Die beiden kleineren Sonderausstellungen „Kunst der Aborigines aus der Samm-
lung Peter W. Klein“ und „Traditionelle Frauenkultur aus Südafrika“ wurden von
Gruppen mit spezifischen thematischen Interessen sehr gut angenommen, wenn-
gleich ihre Anzahl überschaubar blieb.
EI Chaco. Parguay und die Europäer (10.12.2006-23.09.2007): Die Kabinett-Ausstel-
lung im Wannersaal anlässlich des Weltgebetstages der Frauen stieß auf reges Inter-
esse. Besucher äußerten Gefallen an dieser kleinen Kabinett-Ausstellung und beton-
ten, dass die kompakte Art der Präsentation einer Region gut dargestellt wurde. Dies
zeigt, dass man die Museumsbesucher nicht durchgängig mit abstrakten Themen aus
dem Bereich der Völkerkunde und insbesondere der Kunstgeschichte überfordern
darf, sondern auch konkrete und schlüssig aufgebaute Ausstellungsthemen anbieten
muss.
TRIBUS 56,2007
„...mehr als nur Gäste“. Demokratisches Zusammenleben mit Muslimen in Baden-
Württemberg (25.11.2006-25.03.2007): Diese Ausstellung wurde von der Landeszen-
trale für Politische Bildung Baden-Württemberg übernommen und durch einen ei-
genen Ausstellungsteil, der das Zusammenleben von Muslimen und Christen im
Raum Stuttgart thematisiert, ergänzt.
Besonders der letztgenannte Ausstellungsbereich zeigt, dass konkrete Lebenssitua-
tionen die Besucher wesentlich mehr interessieren, als eher abstrakte und an Persön-
lichkeiten orientierte Themen der Hauptausstellung. Überwiegend Schulklassen
waren an dem von einem Gymnasium in Bad Cannstatt erstellten Thema interes-
siert.
In diesem Bereich wurden vor allem Fragen von Jugendlichen dargestellt. Auch das
Leben in muslimischen Familien stieß bei Jugendlichen allgemein auf große Neugier.
Denn mit der Intensität und Offenheit, wie hier über zahlreiche Probleme verdichtet
berichtet wird, wird man selten konfrontiert.
Dieser Bereich stieß auch bei erwachsenen Besuchern auf stärkeres Interesse, da
viele Informationen, z. B. die Einführung des Islamunterrichtes an Schulen und die
Bestattungsriten auf deutschen Friedhöfen, in dieser Weise den meisten Besuchern
bisher nicht bekannt waren.
Die Hauptausstellung dagegen wurde besonders von erwachsenen Personen nur
sehr spärlich besucht und es ist zu vermuten, dass der Besuch noch geringer ausge-
fallen wäre, wenn hierfür Eintritt erhoben worden wäre.
2. Begleitende Veranstaltungen
Vor allem zu unserer KinderSpiel-Ausstellung gab es zahlreiche Aktivitäten, bei de-
nen die Kreativität gezeigt werden konnte. Große Mengen an Material wie Plastik-
becher, Eierkartons, Bettfedern forderten zu technischen Erfindungen heraus.
Für die Sonderausstellung „...mehr als nur Gäste“ gab es ein mehrseitiges Begleit-
programm, das alle Aspekte des Zusammenlebens von Christen und Muslimen be-
traf. Vor allem Schulklassen kamen reichlich.
3. Kooperationen mit Museen
Die Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Ethnographischen Museum St. Peters-
burg wurde auch 2006 weitergeführt in Form von gegenseitigem Austausch von Wis-
senschaftlern und Restauratoren. Schwerpunkt dieser Aktivitäten war die Vorberei-
tung der Ausstellung über Schamanismus in Sibirien.
Ein ganz besonderes Ereignis war für uns der Privatbesuch von H.H. Dr. Sultan Bin
Mohamed Al Qasimi im Linden-Museum. Er ist Staatsgründer und Oberhaupt von
Sharjah, einem der Staaten der Vereinigten Arabischen Emirate. Er hat Kunstge-
schichte in England studiert, bereits einige prachtvolle Museen in seinem Emirat
gegründet und wird Ende September 2007 ein großes Museum für islamische Kunst
eröffnen. Er zeigte sich an einer zukünftigen engen Zusammenarbeit unserer Häuser
interessiert.
Die begonnene Kooperation mit
dem Royal Ontario Museum in To-
ronto/Kanada erweist sich als
schwierig, da in Kanada offensicht-
lich die Museen unter starken Mit-
telkürzungen zu leiden haben.
H.H. Dr. Sultan Bin Mohamed AI
Qasimi mit Prof. Dr. Michel am
31.10.2006 in der Orient-Abteilung
des Linden-Museums.
Foto: Analol Dreyer.
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Leihgaben (alphabetisch nach Orten)
Ausstellungsdauer Referat Leihgeber
27.11.2005-17.09.2006 Museumspädagogik/ Referate übergreifend Herr Dr. Fritz Trupp, Attnang-Puchheim/Österreich Über 300 Objekte für die Ausstellung „Kinderspiel - erfahren, erfinden, gestalten“
04.12.2005-09.07.2006 Ozeanien Sammlung Peter W. Klein, Eberdingen 21 Objekte für die Ausstellung „Moderne Kunst der Ab- origines aus der Sammlung Peter W. Klein“
10.12.2006-25.03.2007 Lateinamerika Inocencia und Viktor Dehez, Neulingen 1 Objekt für die Ausstellung „El Chaco - Paraguay und die Europäer“
25.11.2006-25.03.2007 Orient Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württem- berg, Stuttgart 28 Module der Ausstellung „’... mehr als nur Gäste’ Demokratisches Zusammenleben mit Muslimen in Ba- den-Württemberg“ Modul Schulprojekt, Leihgeber für ca. 100 Objekte: Fa- milien Aksu, Bayram, Erkilic, Karakaya, Nassrat, Taspi- nar sowie Frau G. Tamer-Uzun, Stuttgart
Ausstellungsdauer Referat Leihnehnier
15.12.2006-13.05.2007 Nordamerika, Afrika, Ozeanien KIT Tropenmuseum, Amsterdam/NL 17 Objekte für die Ausstellung „Beauty and the Bead“
26.10.2006 Nordamerika SWR Südwestrundfunk, Baden-Baden 8 Objekte für die Fernsehsendung „Planet Wissen“
18.12.2001-21.06.2006 Ozeanien Adelhauser Museum, Freiburg 1 Objekt für Dauerausstellung
04.11.2005-13.08.2006 Südasien Museum der Arbeit, Hamburg 3 Objekte für die Ausstellung „Sexarbeit - Lebenswel- ten und Mythen“
18.09.2005-08.01.2006 Orient Völkerkundemuseum der v. Portheim-Stiftung, Heidelberg 43 Objekte für die Ausstellung „Die vollkommene Linie - islamische Kalligraphie“
05.10.2005-05.03.2006 Lateinamerika Staatliches Museum für Naturkunde, Karlsruhe 4 Objekte für die Ausstellung „Fledermäuse“
01.04.2006-01.11.2006 Orient Kunsthalle Museum, Leoben 23 Objekte für die Ausstellung „Die Welt des Orients - Kunst und Kultur im Islam“
11.11.2006-25.02.2007 Südasien Royal Academy of Arts, London/GB 2 Objekte für die Ausstellung „Divine Beauty, Bronzes of the Chola Dynasty of South India“
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TRIBUS 56,2007
26.10.2005-29.01.2006 Ostasien Staatliches Museum für Völkerkunde, München 5 Objekte für die Ausstellung „Dschingis Khan und seine Erben - das Weltreich der Mongolen“
05.11.2006-11.03.2007 Oslasien Museum für Lackkunst, Münster 107 Objekte für die Ausstellung „Im Zeichen des Dra- chen. Von der Schönheit chinesischer Lacke - Hommage an Fritz Löw-Beer“
02.09.2006-01.10.2006 Ostasien Nara National Museum, Nara/Japan 3 Objekte für die Ausstellung „Kitamura Shosai: techniques of laquer“
30.03.2006-08.10.2006 Ozeanien Veranstaltungs- und Kongress GmbH, Lokschuppen, Rosenheim 1 Objekt für die Ausstellung „Die Wüste“
13.10.2006-07.01.2007 Ozeanien Saint Louis Art Museum, Saint Louis, Missouri/USA 11 Objekte für die Ausstellung „Arts of New Ireland”
09.07.2006-29.10.2006 Orient Historisches Museum der Pfalz, Speyer 9 Objekte für die Ausstellung „Pracht und Prunk der Großkönige. Das persische Weltreich“
24.05.2006-24.09.2006 Afrika, Lateinamerika, Nordamerika, Orient, Ostasien, Ozeanien, Südasien Team „Kunst lebt“, Stuttgart 86 Objekte für die Große Landesausstellung „Kunst lebt! Die Welt mit anderen Augen sehen“
21.06.2006-17.09.2006 Orient, Ostasien, La- teinamerika Wilhelma Zoologisch-Botanischer Garten, Stuttgart 22 Objekte für die Ausstellung „Kaffee - Tee - Kakao. Muntermacher und Seelentröster aus den Tropen“
29.06.2006-15.10.2006 Südasien, Orient, Afrika Eberhard-Karls-Universität, Ethnologisches Institut, Tübingen 14 Objekte für die Ausstellung „Spiel und Spielzeug - ethnologisch“
08.03.2005-30.10.2007 Orient Vitra Design Stiftung, Weil am Rhein 27 Objekte für die Wander-Ausstellung „Leben unter dem Halbmond“
01.04.2006-01.11.2006 Ostasien Kunsthistorisches Museum, Wien/Österreich 3 Objekte für die Ausstellung „Dschingis Khan und sei- ne Erben - das Weltreich der Mongolen“ (Schloss Schallaburg)
26.11.2006-25.03.2007 Lateinamerika Museum Wiesbaden, Naturwissenschaftliche Sammlung, Wiesbaden 13 Objekte für die Ausstellung „Menschen Amazoniens - das indianische Gesicht Brasiliens“
05.11.2005-05.03.2006 Nordamerika, Latein- amerika, Afrika, Ozeanien, Orient Kantonales Museum für Urgeschichte, Zug/CH 17 Objekte für die Ausstellung „Schwanenflügelkno- chen-Flöte“
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4. Bau
Während des ganzen Jahres 2006 ging der Bau des benachbarten Versorgungszen-
trums weiter. Neben erheblicher Lärm- und Staubbelästigung war die Überwachung
von Erschütterungen notwendig. Die Belastungen für das Museum hielten sich im
tolerablen Bereich. Befürchtete Notmaßnahmen für die Sammlungen waren zum
Glück nicht erforderlich.
1. Unterführung im
Herdweg.
2. Herdweg nur noch
in einer Richtung be-
fahrbar.
3. Herdweg wieder in
beiden Richtungen
befahrbar, aber viele
Baufahrzeuge auf der
Straße.
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TRIBUS 56,2007
6. Ein Blick vom Hof
des Linden-Museums
zu den Neubauten in
der Hegelstraße.
7. Auch hier ein Blick
zu den Neubauten.
Im Vordergrund ist
das Dach des Linden-
Museums.
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4. Der Bau in der He-
gelstraße wächst.
5. In der Hegelstraße
steht ein Gasbehälter
direkt neben dem
Museumsbau.
5. Audioguide
Für alle Abteilungen wurden die Texte erstellt. Zunächst gibt es drei Fassungen;
Deutsch, Englisch und eine speziell für Kinder. Der Audioguide wird nach Verfüg-
barkeit an Einzelpersonen und Kleingruppen ausgegeben.
Wir danken der Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde e.V für die Unterstützung
der Audioguide-Produktion.
6. Personelle Veränderungen
Nach 24 Jahren scheidet Dr. Gerd Kreisel
aus dem Museumsdienst aus
Der Generationenwechsel am Linden-Museum fand
nun auch in Person von Dr. Kreisel seine Fortfüh-
rung.
In den Monaten davor hat er seine Abteilung in
einem perfekten Zustand geordnet und hinterlassen
- eine Wesensart, die Dr. Kreisel immer eigen war.
Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit sind Attri-
bute, die heute nicht mehr selbstverständlich sind,
Dr. Kreisel aber zugeschrieben werden dürfen. Fast
sind dies schon englische Werte oder aus der „alten
Museumslandschaft“ stammende. In einer auch uns
Museen betreffenden schnelllebigen Zeit, die
„Events“ vor langfristige Museumsstrategien stellt,
war Dr. Kreisel vornehmlich ein Wissenschaftler, der
seine umfassende Erfahrung konsequent im musealen Rahmen umsetzte und mit in
die Zukunft gerichteten Vorstellungen verband.
09.10.42 geboren in Berlin;
1962-66 Studium Architektur und Archäologie, TU Berlin;
1966—71 Teilnahme an der archäologischen Ausgrabung des Museums für Indische
Kunst Berlin in Sonkh/Indien;
1972-81 Studium Indische Kunstgeschichte und Ethnologie. Promotion an der FU
Berlin;
seit 1983 Referatsleiter Südasien-Abteilung, Linden-Museum Stuttgart;
Reisen in Indien, Nepal, Tibet, Thailand, Vietnam, Sri Lanka, Indonesien;
Lehraufträge Kunstakademie Stuttgart, Südasien-Institut der Universität
Heidelberg.
Noch zu jener Generation zugehörig, die nach vielen Jahren der Umbaumaßnahmen
an der Einrichtung der neuen Dauerausstellungen bis 1986 aktiv beteiligt war, hat er
wesentliche Veränderungen erfahren müssen, aber gleichfalls mitgestaltet.
Seine wichtigsten Ausstellungen zur Kunst und Kultur Süd- und Südostasiens waren:
1986 Eröffnung der Dauerausstellung Südasien;
1989 Sundari die Schöne - Indische Terrakottakunst (mit weiteren Stationen:
Engen, Bad Wimpfen u. Rottweil);
1991 Lotosmond und Löwenritt - Indische Miniaturmalerei aus der Sammlung
Horst Metzger;
1993 Betelschneider - Sammlung S. Eilenberg (Übernahme vom Völkerkun-
demuseum Zürich);
1995 Rajasthan - Land der Könige;
1999 Zeit der Buddhas;
2002 Eröffnung der neuen Dauerausstellung Südasien.
Zu den Ausstellungen erschienen Kataloge und Publikationen, die noch heute nach-
gefragt werden.
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Hierzu eine Auswahl:
■ Die Siva-Bildwerke der Mathura-Kunst, Stuttgart 1986;
■ Südasien-Abteilung, Ausstellungsführer Linden-Museum, Stuttgart 1987;
■ Sundari, Indische Terrakottakunst, Stuttgart 1989;
■ Lotosmond und Löwenritt - Indische Miniaturmalerei (Hrsg. u. Beitrag); Indien-
Festspiele in Deutschland, Stuttgart 1991;
■ Rajasthan - Land der Könige (Hrsg. u. Beiträge), Wechmar/Stuttgart 1995.
Aber noch so ästhetisch und gestalterisch ansprechende Ausstellungen, zu denen
zweifellos seine derzeitige Dauerausstellung gehört, sind ohne herausragende Ob-
jekte keine Weltklasse! Und da hatte Dr. Kreisel immer einen exklusiven Geschmack,
allerdings auch das Glück, über hohe Ankaufsetats zu verfügen. So konnte er mit
seiner ausgefeilten Sammlungsstrategie ein Konzept erarbeiten, das ungeteilte Auf-
merksamkeit erregte. Die zahlreichen Leihbegehren aus seinem Zuständigkeitsbe-
reich seitens international bedeutender Museen haben ihn sicherlich zusätzlich von
der Richtigkeit seiner Wege überzeugt und mit Recht stolz gemacht. Den Stolz hat
man Dr. Kreisel aber zum Glück nicht angemerkt. Auf den ersten Eindruck hin war
er eher ein Mensch, der sich schwer öffnete; wir, die ihn über viele Jahre kannten,
wussten, wie ausgelassen er bei unseren Feiern sein konnte und mit welchem Enga-
gement er sich für die Belange seiner Kollegen z. B. auch im Personalrat einsetzte.
Rückblickend hat Dr. Kreisel eine vorbildliche Abteilung hinterlassen, die uns Ver-
antwortliche verpflichtet, diese Ordnung zu bewahren und in entsprechend ausge-
wiesene neue Hände zu übergeben.
Mit gutem Gewissen, ohne Schaden an Leib und Seele genommen zu haben, kann
Dr. Kreisel in Zukunft seine ganze Energie weiterhin zu unserem Wohl einsetzen!
Wie das?
Kann er nicht vom Museum lassen?
Mitnichten.
Er wird als Wengerter an der Alten Weinsteige nun aufopferungsvoll zu unserem
Wohle Spitzenweine erzeugen und uns zu Proben einladen!
Personal 2006
Neu eingestellt:
Bohnet, Ulrike (Volontärin Orient)
Dis, Maria (Aufsicht)
Matseridu, Mirofora (Aufsicht)
Sietz, Michael (Volontär Restaurierung)
Stickel, Farida (Referat Orient)
Werlich, Dr. Uta (Ostasien-Referentin)
Wolf, Julia (Volontärin Öffentlichkeitsarbeit)
Ausgeschieden:
Alagöz, Hayrettin (Wachzentrale)
Cao, Hung (Aufsicht)
Frick, Patricia (Volontärin Ostasien)
Jandl, Angela (EDV)
Kiefer, Theres (Sektretariat)
Kreisel, Dr. Gerd (Südasien-Referent)
Küper, Katharina (Aufsicht)
Rapp, Hannelore (Verwaltung)
Ruhlig, Kathrin (Aufsicht)
Schlichenmaier, Doris (Aufsicht)
Schmidt, Andreas (Wachdienst)
Stifel, Florian (Volontär Südsee)
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Ehrenamtliche Mitarbeiter:
Bastian, Ilse
Cuesdeanu, Hilde
Emami, Gertrud
Heinz, Annemarie
Mohr, Frau
20-jähriges Jubiläum:
Forkl, Dr. Hermann
Hartung, Irmela
Klein, Beate
Kocaoglu, Ibrahim
Neitzel, Wolfgang
7. Betriebsausflug 2006 ins Zweigmuseum des Linden-Museums in Ettlingen bei
Karlsruhe
1. Eingang ins Schloss
Ettlingen.
Foto: Niku Saeidi.
2. Aufnahme aus dem Schloss zu
einem Turm des Schlosses.
Foto: Niku Saeidi.
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3. Im Festsaal des
Schlosses.
Foto: Uwe Hofmann.
4. Im Zweigmuseum
des Linden-Museums
sind ostasiatische Ob-
jekte zu sehen.
Foto: Uwe Hofmann.
5. Der Ausklang des Betriebsausfluges in der Gaststätte Lauerturmhof in Ettlingen.
Foto: Uwe Hofmann.
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8. Geld- und Sachspenden für das Linden-Museum Stuttgart bzw. die Gesellschaft
für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. im Jahre 2006
Ade, Herbert H., Stuttgart
Alvarez, Rita, Markgröningen
Baden-Württ. Bank, Stuttgart
Bader, Dr. Franz, Ludwigsburg
Balz, Lotte, Stuttgart
Baur, Dr. Ulrike, Stuttgart
Beha, Felicitas, Stuttgart
Berthold, Fritz und Felicitas, Pforzheim
Biedermann, Lilo, Sindelfingen
Billmann, Peter und Ingeborg, Stuttgart
Billo, Tudi, Witzenhausen
Birkhold von Oehsen, Astrid, Esslingen
Blum, Ilse, Stuttgart
Borcherdt, Renate, Bietigheim
Bosch, Irmgard, Gerlingen
Bosch, Robert GmbH, Stuttgart
Bradler, Dr. Günther und Elisabeth, Weil der Stadt
Bräuning, Prof. Dr. Achim, Stuttgart
Brandt, Dr. Klaus J., Stuttgart
Brösel, Ernst und Gisela, Stuttgart
Burwig, Bernd und Ingeborg, Weinstadt
Ciappetta-Roessler, Brunhilde, Schömberg
Clement, Charlotte, Stuttgart
Datz, Helga, Aichwald
Dommer Stuttgarter Fahnenfabrik GmbH, Stuttgart
Dorgerloh, Rotraud, Stuttgart
Eifert, Gerd und Margret, Stuttgart
Eigner, Magda, Stuttgart
Epple, Dr. Erich und Gertrud, Stuttgart
Fischer, Elfriede, Stuttgart
Frank, Wiltrud, Stuttgart
Geiger, Dr. Martin, Plochingen
Gemmrich, Herbert, Leinfelden-E.
Goertz, Ulf, Bad Vilbel
Grau, Hilde, Stuttgart
Habighorst, Prof. Dr. Ludwig, Koblenz
Hafner, Marianne, Stuttgart
Hall-Schwartze, Barbara, Musberg
Hartig, Dr. Susanne, Stuttgart
Hessischer Museumsverband
Hörrmann, Ingeborg, Sindelfingen
Holzinger, Johann und Louise, Stuttgart
Holzwarth, Ingrid, Marbach
Hotel Unger, Stuttgart
Josenhans, Gottlob, Aalen
Jourdan, Jens, München
Jung, Olaf, Nürtingen
Junghans, Renate, Stuttgart
Kaiser, Waltraud, Spraitbach
Knoelke, Berta, Stuttgart
Koch, Ulrich-Michael, Stuttgart
Kögler, Marlies, Stuttgart
Krais, Dr. Walter und Ingrid, Stuttgart
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TRIBUS 56,2007
Kreisel, Dr. Gerd, Stuttgart
Kröner, Ulrich, Backnang
Krüger, Olaf, Stuttgart
Kühn, Andreas
Kunzi, Hugo und Sibylle Sophie, Stuttgart
Landeshauptstadt Stuttgart
Leitz, Conrad und Inge, Stuttgart
Lerch, Carmen-Cornelia, Uhingen-Baiereck
Lutzius, Alexander, Stuttgart
Marquardt, Dr. Sigrid, Stuttgart
Marquardt-Eißler, Dr. Gisela, Stuttgart
Meinholt, Dora, Stuttgart
Merk, Siegfried, Leutenbach
Metzger, Elselore, Nürtingen
Müller-Arens, Hans-Jürgen und Sigrid, Stuttgart
Müller-Seitz, Bettina, Markgröningen
Nöth, Doris, Kirchheim/Teck
Nolte, Ruth, Stuttgart
Paul, Herbert, Asperg
Renz, Hanna, Stuttgart
Rodenacker, Machteid, Leonberg
Rueter, Carola, Stuttgart
Sapper, Dr. Helmut, Stuttgart
Schäuble, Ellen, Stuttgart
Schlipf, Thomas, Ilsfeld
Schmidt, Albert und Ursula, Stuttgart
Schmidlhals, Dr. Wolfgang, Hamburg
Schütz, Rainer und Ursula, Stuttgart
Schüler, Elisabeth, Ostfildern
Seitz, Dr. Konrad, Wachtberg
Stegmaier, Franziska, Plochingen
Stickforth, Peter, Göppingen
Stirm, Ilse, Stuttgart
Strohmaier, Helga, Mössingen
Szczepanski, Ina von, Stuttgart
1000SCHÖN, Stuttgart
Thiele, Prof. Dr. Peter, Stuttgart
Thierley, Martin / Grimm, Ursula, Stuttgart
Tijssen, Eckehart, Winnenden
Updike, John und Ellen, Waiblingen
Wagner, Josette, Stuttgart
Wanner, Xaver und Herta, Stuttgart
Weber, Wilfried, Pfullingen
Wilhelm, Dr. Peter-Raimond, Stuttgart
Wöhler, Jürgen, Stuttgart
Wolfangel. Dieter, Renningen
Zibulski, Katja, Ludwigsburg
Zöller-Unger, Susanne, Stuttgart
Allen Spendern und unseren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
danke ich an dieser Stelle nochmals ganz herzlich.
Thomas Michel
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Jahresbericht 2006 des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erd-
und Völkerkunde zu Stuttgart e.V
Die Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde zu Stuttgart e.V. (GEV) versteht sich als
ein Verein zur Förderung der Aktivitäten des Linden-Museums und der Forschungen
des Instituts für Geographie der Universität Stuttgart.
Das Linden-Museum richtet ein Audioguide-System ein zur Information der einzel-
nen Besucher. Individuelle Erläuterungen für Erwachsene und für Kinder sollen den
Zugang zu den Ausstellungen und den Objekten erleichtern. Die GEV leistet einen
Beitrag zur Finanzierung des Systems.
Aus der für die Geographie angesparten Fördersumme ist das Projekt „Klima- und
Lebensraumveränderungen in der Wüste Namib“ gefördert worden, ausgeführt wurde
das Projekt durch die Profs. Blümel, Hüser und AOR Dr.Eberle. Ergebnisse der Expe-
dition werden durch Vortrag und Filmbericht den GEV-Mitgliedern vorgestellt. Außer-
dem konnte eine wirtschaftsgeographische Studie über die Region „Sverdlovskaja Ob-
last'“ im Ural finanziert werden, die zur Vorbereitung eines größeren Projektes dient.
Damit kann auch die Mitfinanzierung durch das Wirtschaftsministerium ermöglicht
werden. Zwei hervorragende wissenschaftliche Arbeiten aus dem Institut für Geogra-
phie sind mit je € 400 gewürdigt worden: Staatsexamensarbeit Julia Ruess „Die ,kleine
Eiszeit’ - Auswirkungen auf die Auswanderung aus Mitteleuropa“ sowie die Disserta-
tion von Ralf Binder „Die Bedeutung des sozialen Kapitals für Unternehmensgründer
im Raum Tuttlingen“. Außerdem konnte der Studienaufenthalt von Herrn Prof. Dr.
Stepanow aus Ekaterinburg (Russland) vom 1.08.-29.08.2006 mitfinanziert werden.
Die Vorträge waren insgesamt mit fast 2400 Besuchern sehr gut besucht, zu einzel-
nen Themen kamen 5 bis 9 Schulklassen. Die Themen waren „Mythos Alpen“, Geo-
graphische Analyse unter Berücksichtigung aktueller Veränderungen der Natur- und
Kulturlandschaft (Dr. J. Eberle), Indien und die Globalisierung. Potentiale und He-
rausforderungen am Beispiel der Software-Metropole Bangalore (PD Dr. Ch. Dit-
trich), Singapur - „Kleiner Tiger“ mit Weltstadtambition (Prof. Dr. F. Kraas), Klima-
wandel auf dem „Dach der Welt“. Ergebnisse jahrringökologischer Forschungen in
Tibet (Prof. Dr. A. Bräuning), Sibirien: Reiches Land - armes Land? ( Prof. Dr. H.
Karrasch), 2000 Jahre Paris: vom antiken Lutetia zur modernen Weltstadt (Prof. Dr.
A. Pietsch), New Orleans vor und nach Hurrikan Katrina (Prof. Dr. B. Hahn). Nord-
korea (J. Wöhler), Beijing und Shanghai. Beispiele der dynamischen Stadt- und Wirt-
schaftsentwicklung Chinas (Prof. Dr. I. Liefner).
Die völkerkundlichen Themen waren: Myanmar. Schmelztiegel der Kulturen (Prof.
Dr. P. Thiele), Religiöse Skulpturen und Bauten Indiens zur Gupta-Zeit (Dr. G. Krei-
sel), Lokale Traditionen: Zu Heilritualen im südindischen Tamilnadu (Dr. B. Schü-
ler), Im Land des Schneelöwen. Eine Reise durch Kham und Zentraltibet (S. Loväsz),
Taiwan - die Insel der Terrassen mit chinesischem Kulturerbe (Prof. Dr. P. Thiele),
Indonesien - der größte Archipel der Erde (Prof. Dr. P. Thiele), Religion, Politik,
Ritual: Das Ganesha-Fest in Maharashtra, Indien (Dr. J. Beltz).
Großes Interesse fanden die von mir geleiteten Exkursionen „Allgäu: Kloster - Käse
- Kur - Natur“ (40 Teilnehmer), „Dresden: Kultur, Architektur, Städtebau und Wirt-
schaft - die attraktivste Region Ostdeutschlands“ (30 Teilnehmer).
Angesichts rückläufiger Mitgliederzahlen von 1640 auf 1600 Mitgliedern hat der
Vorstand das Thema „Aktivitäten der GEV, mögliche neue Adressatengruppen“
mehrfach diskutiert und unter Leitung von Frau Dr. Malburg-Graf einen „Zukunfts-
workshop“ organisiert. Die rund 25 Teilnehmer/innen (Vorstandsmitglieder, sonstige
GEV-Mitglieder, Interessenten der Völkerkunde bzw. der Geographie, einige Nicht-
Mitglieder) diskutierten die „Schwächen der GEV im Hinblick auf ihre Zukunftsfä-
higkeit“. Als Schwächen wurden u.a. festgestellt: Verhältnis der GEV zum Linden-
Museum, Zielgruppen, Leitbild, Außenwirkung. Die Diskussion soll im Rahmen von
Arbeitsgruppen und Projekten weitergeführt werden.
Roland Hahn
19
TRI BUS 56,2007
Allgäu-Exkursion am 29. Juli 2006. Fotos: loan Wagner
1. Wanderung zur
Schussenquelle.
2. In der Klosterkir-
che Ochsenhausen.
3. Besichtigung eines
Landwirtschaftsbe-
triebes „Allgäuer
Milchwirtschaft“.
Berichte über Erwerbungen im Jahre 2006
Im Jahr 2006 bereicherten 644 Objekte unsere Sammlungen. Dies ist eine erstaun-
liche Zahl, da die Ankaufsmittel 2006 im Vergleich zu früheren Jahren erheblich re-
duziert werden mussten. Anlass hierfür ist der Ankauf von Kunstwerken aus der
Sammlung des Markgrafen von Baden, für den unser zuständiges Ministerium für
Wissenschaft, Forschung und Kunst erhebliche Mittel bereitstellen musste.
Herausragend vertreten war das Südasien-Referat. Ausschlaggebend dafür waren
die Aktivitäten von Dr. Kreisel, der vor seinem Ruhestand noch einige seit längerer
Zeit laufende Verhandlungen abschließen konnte. Sehr erfreulich war die Fortfüh-
rung des Korea-Schwerpunktes. Eine Schenkung von Jung Do-Jun und seiner Gattin
wird uns in Zukunft einen eigenen Ausstellungsbereich Korea ermöglichen, da diese
Schenkung gezielt jene Objekte umfasst, die wir zuvor auf einer „Wunschliste“ auf-
geführt hatten.
Afrika-Referat
Orient-Referat
Südasien-Referat
Ostasien-Referat
Südsee-Referat
Nordamerika-Referat
Lateinamerika-Referat
60 Objekte
22 Objekte
318 Objekte
174 Objekte
10 Objekte
3 Objekte
57 Objekte
insgesamt 2006
644 Objekte
Thomas Michel
21
TRIBUS 56,2007
Afrika-Referat
Insgesamt konnten im Jahr 2006 für die Afrika-Sammlung 60 Objekte erworben wer-
den. Soweit es sich dabei um Geschenke handelt, sei den Spenderinnen und Spen-
dern herzlich gedankt.
Aus der kulturgeographischen Region Oberguinea gingen ein Lamellophon mit Re-
sonanzkörper aus einem Blechkanister mit aufmontierter Rassel aus Bo im Süden
Sierra Leones ein, ferner zwei von der Sammlerin in der ghanaischen Hauptstadt
Accra gekaufte Halsketten aus Glasperlen sowie eine Toga aus kente-Stoff von dem
Andangme-Stamm der Krobo ebenfalls in Ghana.
Wie schon zuvor im Jahr 2005, so fiel auch im letzten Jahr der Zuwachs für unsere
Sammlungen aus dem Südlichen Afrika besonders reichhaltig aus. Zum einen wurde
unsere herausragende Sammlung von Glasperlen-Schmuck der Zulu (Südafrika)
durch einige rezente Stücke bereichert, nämlich durch zwei Ohrringe von mit der
Rhombenform spielendem Dekor, eine Halskette, einen Armring und ein besonders
hübsches Armband mit Perlhuhn-Dekor. Hinzu kommen ein Anhänger aus Lesotho
und vier Ohrringe aus Zimbabwe von jeweils unterschiedlichen Materialien sowie ein
aus Baumrinden-Fasern gewebter kleiner Teppich der Shona (ebenfalls Zimbabwe).
Von erheblich größerer Bedeutung sind zum anderen sechs Skulpturen aus Afrika-
nischem Ebenholz, die der klassischen Moderne der tansanischen Makonde um 1970
angehören. Drei davon lassen sich Edward Vintana zuschreiben (oder seiner Schu-
le?) und stellen jeweils die folgenden dramatischen Motive dar:
1. Drei Trinker mit Bechern in den Händen und Flaschen, um die sie sich streiten.
2. Kind bittet Mann um Mais.
3. Engel mit Flügeln, in Gestalt einer ein Kind stillenden Schwangeren, die sich auf
eine Madonnenfigur stützt.
Edward Vintana (oder Schule?)
[Drei Trinker mit Bechern in den
Händen und Flaschen, um die sie
sich streiten.]
Afrikanisches Ebenholz, H 78 cm,
Makonde (Tansania), um 1970. Inv.-
Nr. F 55.947
Thomas Valentina (oder Schule?)
[Mann umarmt weiblichen Engel und
weibliche Naturdämonin shetani]
Afrikanisches Ebenholz, H 44 cm, B
74 cm, Makonde (Tansania), um
1970. Inv.-Nr. F 55.952
22
Öl (?) auf Sperrholz,
Eisenblech, 57 x 110
cm (ohne Griff), Ti-
gray, Stadt Wuqro
(Äthiopien), um 2000.
Inv.-Nr. F 55.923
Ladenschild für eine
Musikbar
Z.T. noch dramatischer sind die Motive der drei anderen Skulpturen, die sich Tho-
mas Valentino (oder seiner Schule?) zuschreiben lassen:
1. Ein Mann hat einem anderen, der von einem Kind gestützt wird, die Beine ampu-
tiert.
2. Frau mit Kind, unter dem Splintholz Engel.
3. Mann umarmt weiblichen Engel und Naturdämonin shetani.
Ostafrika ist diesmal mit zwei alten Armringen aus Elfenbein mit graviertem Dekor
von den Shilluk (Rep. Sudan) vertreten.
Die Nordost-Afrika betreffenden Zugänge stammen sämtlich aus Äthiopien. Zum
einen handelt es sich dabei um eine christliche Amulettrolle aus Pergament (20. Jahr-
hundert) und ein Körbchen. Von größerer Bedeutung ist, dass wir eine Sammlung
von moderner angewandter, im weitesten Sinne Propagandakunst erwerben konn-
ten. Im einzelnen handelt es sich dabei um drei amharische (Metzgerei, Computer-
spiele) und fünfTigray-Ladenschilder (Mode, Juweliere, Schönheitssalon, Musikbar),
die jeweils gemalt sind, ein Bild mit dem Motiv der Warnung vor der Ansteckung mit
AIDS, vier auf Stoff gemalte Wahlplakate von der Regierungs- wie der Oppositions-
partei (EPRDF und Qinidjit), 15 gedruckte Plakate (für diverse Handelswaren und
Dienstleistungs-Unternehmen, eines zur AIDS-Prävention) sowie eine gedruckte
Tabelle mit dem Schlüssel zur Umschrift des amharischen in das lateinische Alpha-
bet für ausländische Reisende.
Vermutlich dem kulturgeographischen Bereich Ostsudan (Rep. Sudan?) zuzuordnen
sind zwei alte lederne islamische Amulett-Etuis, eines davon noch mit (unbekanntem)
Inhalt.
Das Kameruner Grasland ist mit einer Tasche aus Gepardenfell und einer bestickten
Tobe, beides Hausa-Arbeiten, vertreten, die aus dem Nachlass des protestantischen
Missionars Philipp Hecklinger stammen, der sie auf seiner Reise in das Königreich
Bali im Jahr 1910 erworben haben dürfte. Material (Felidenfell!) und der ausgearbei-
tete Dekor weisen darauf hin, dass vermutlich beide Stücke aus königlichem Besitz
stammen.
Irgendwo in Guinea-Bissau hatte ferner ein Entwicklungshelfer 1987 einen Kinder-
Spielzeug-Satz, bestehend aus einem Gummitreibreifen und einem Holzhaken, er-
worben und im letzten Jahr dem Linden-Museum zum Geschenk gemacht.
In den Bereich der Afrikanischen Diaspora gehört schließlich ein gedrucktes Plakat,
das die Stuttgarter ivorische Gemeinschaft zu einem Fest anlässlich der Fußball-
Weltmeisterschaft 2006 einlädt.
Hermann Forkl
23
TR1BUS 56,2007
Orient-Referat
Die Zugänge der Orient-Abteilung im Berichtszeitraum betrugen 22 Nummern. Da-
bei handelte es sich mit zwei Ausnahmen um Geschenke, für die das Linden-Museum
den Spendern an dieser Stelle herzlich dankt.
Eine Mehrheit der Objekte (14 Nummern), erhalten von zwei Spendern, stammt aus
dem Jemen. Dabei handelt es sich vorwiegend um Silberschmuck aus den 1970er
Jahren.
Die Sammlung nordafrikanischer Keramik wurde durch ein bemaltes Tongefäß aus
Algerien erweitert, das von der Spenderin in den 60er Jahren erworben wurde. Die
übrigen Objekte stammen aus Iran, Mittelasien und Afghanistan und entsprechen
damit zentralen Sammlungsschwerpunkten der Abteilung.
Drei im letzten Jahr im Iran erworbene schiitische Gebetssteine aus Kerbela bzw.
Mashhad ergänzen unsere Sammlung schiitischer religiöser Objekte. Aus Mittelasien
stammen zwei bestickte Mützen, die bereits ca. Mitte des 19. Jahrhunderts in der
Region erworben wurden.
Im Zusammenhang mit der Sonderausstellung „...mehr als nur Gäste. Demokra-
tisches Zusammenleben mit Muslimen in Baden-Württemberg“ konnte das Linden-
Museum seinen Afghanistan-Beständen zwei weitere Objekte hinzufügen. Für das
museumspädagogische Projekt einer Schülerausstellung zum Thema „Muslime in
Stuttgart“ hatten muslimische Schülerinnen und Schüler aus der Projektgruppe des
Johannes-Kepler-Gymnasiums Ausstellungsstücke zur Verfügung gestellt. Darunter
befanden sich auch zwei jüngere afghanische Frauenkleider im traditionellen Stil, die
Hochzeitskleid
Grundmaterial: Seide, bro-
schiertes Jacquardgewebe,
goldfarbene Lahnfäden,
Afghanistan, um 2000.
Listen-Nr. Or 4758
24
/
Frauenkleid
Kunstsamt mit gold-
farbenen Stickereien
sowie kleinen Spie-
geln (geklebt), Kunst-
stoffknöpfe und Bor-
ten aus Glasperlen,
Afghanistan, um 2000.
Listen-Nr. Or 4758
von der Orient-Abteilung angekauft wurden: ein Hochzeitskleid (Grundmaterial:
Seide, broschiertes Jacquardgewebe, goldfarbene Lahnfäden) sowie ein traditio-
nelles afghanisches Kleid mit besonders langen Ärmeln, das zu festlichen Anlässen,
vor allem aber zum Volkstanz (Attan) getragen wird und aus Kunstsamt besteht. Das
Kleid ist mit goldfarbenen Stickereien sowie kleinen Spiegeln (geklebt), Kunststoff-
knöpfen und Borten aus Glasperlen verziert
Weitere Geschenke, z. B. neuere afghanische Mützen und Burkas, wurden der Muse-
umspädagogik übergeben und werden bei Führungen in der Orient-Abteilung ge-
nutzt.
Annette Krämer
25
TRIBUS 56,2007
Südasien-Referat
Im vergangenen Jahr konnte die Südasien-Abteilung einen Zugang von 318 Ob-
jekten verzeichnen. Der überwiegende Teil bestand aus Geschenken, die wir dank-
bar entgegennahmen und deren Besonderheiten unten noch ausgeführt werden. Aus
Erwerbungs-Eigenmitteln, die seit geraumer Zeit zugleich Bibliotheksmittel darstel-
len - was für diese beiden so wichtigen Bereiche leider nur zu bescheidenen Ergän-
zungen der jeweiligen Bestände hinreicht konnten zwei Objekte aus Indien zu-
sammen mit einem weiteren aus Spendenmitteln der Gesellschaft für Erd- und Völ-
kerkunde e.V. (GEV) erworben werden. Die beträchtliche Anzahl der Geschenke
ergibt sich vor allem aus drei Gruppen: die uns als Vermächtnis übermittelten in-
Vishnu mit seinen Gattinnen
Kultbronzen, H 14,2 und 12 cm, Süd-
indien, ca. 17.Jh. Inv.-Nr. SA 04.801
c-e
Eine Dame mit ihrem Geliebtem und
zwei Freundinnen
Sat Sai-Illustration, Deckfarben auf
Papier, 22,5 x 23,5 cm (Blatt), Datia,
Zentral-Indien, um 1770. Inv.-Nr. SA
04.937
Drei Damen auf einer Terrasse
Sat Sai-Illustration, Deckfarben auf
Papier, 22,1 x 23,9 cm (Blatt), Datia,
Zentral-Indien. um 1770. Inv.-Nr. SA
04.798
26
Padmapani
Bodhisattva
Thangka-Malerei auf
Leinwand, 61 x 40 cm
(Bild),Tibet, ca. Mitte
19. Jh. Inv.-Nr. SA
04.963
dischen Kultbronzen der Sammlung Dr. Corvinus mit 91 Objekten, des Weiteren die
Jahrzehnte alte Batak-Sammlung Walker, bestehend aus 68 Stücken, und schließlich
die Wayang-Kulit-Sammlung Schäuble mit 43 javanischen Figuren als zweitem von
drei Teilen (siehe Tribus Nr. 55).
Von diesen insgesamt 318 inventarisierten Objekten stammen insgesamt 124 aus
dem neuzeitlichen Indien, darunter als bedeutendste Zugänge neben der erwähnten
Gruppe der Bronzefiguren sechs Miniaturmalereien des 18. Jahrhunderts, darunter
wiederum zwei „Sat Sai“-Illustrationen aus der Mewar-Schule um 1719, vom selben
Satz stammend wie die in den Vorjahren erhaltenen fünf Malereien, ferner zwei wei-
tere „Sat Sai“-Illustrationen aus dem schon in der Sammlung vertretenen Satz der
Schule von Datia, um 1770 datierbar, dazu zwei reizvolle Srinathji-Bilder aus Kota
sowie als Vorausgabe auf das Jahr 2007 eine prachtvolle Miniatur der Patmanjari
Ragini, ein Blatt wie das bereits erhaltene der Gunakali Ragini von ca. 1750 u.Z. aus
der Schule von Hyderabad, Dekkhan (vgl. Tribus 55 mit Titelbild). Wie im Vorjahr
erwähnt, entstand dieser Ragamala-Satz parallel zum bekannten „Johnson-Set“ in
der India Office Library, London.
Aus dem Bereich Nepal-Tibet kamen 40 Objekte hinzu, darunter drei Thangka-Ma-
lereien auf Leinwand, montiert in Seidenbrokate, sowie zwei Möbelstücke mit be-
malten Holzpaneelen. Festland-Südostasien ist mit einer Gruppe archäologischer
Ausgrabungsobjekte aus Ban Chiang, Thailand, vertreten, Indonesien mit der Grup-
pe javanischer Wayang kulit-Figuren, sieben Textilien sowie den erwähnten Balak-
Objekten, darunter hölzerne Bauteile, Metallschmuck, Waffen, Bambusgefäße mit
Beschriftung und zwei Zauberstäbe, die unsere Altbestände bestens ergänzen.
Gerd Kreisel
27
TRIBUS 56,2007
Ostasien-Referat
Im zurückliegenden Jahr wurde der Bestand der Ostasienabteilung ausschließlich
durch Donationen und mit Hilfe von Spendenmitteln erweitert. Insgesamt konnten
174 Objekte inventarisiert werden, von denen der Großteil aus Korea stammt.
Unter den Neuzugängen aus Korea befinden sich Objekte aus den Bereichen Heil-
kunde, Ahnenkult, Musik. Textil und Bekleidung. Mehrere so genannte Doppeltru-
hen (kor.; nong) vermitteln eine Vorstellung von traditioneller koreanischer Wohn-
kultur, wie sie im späten 19. Jahrhundert in den Häusern einer wohlhabenden Bil-
dungselite üblich war. Verschiedene niedrige Holztischchen (kor.; sohan), die als
Esstische genutzt wurden, vervollständigen dieses Bild. Hinzu kommen zahlreiche
Alltagsgegenstände wie Tabakspfeifen und Aschenbecher, ein Essgeschirr aus Mes-
sing, Kuchenmodeln. Lampen, Wasch- und Kohlebecken. Ja selbst ein Nachttopf aus
Messing befindet sich unter den Objekten aus Korea, die 2006 ihren Weg in unser
Haus fanden. Diese großzügige, 138 Objekte umfassende Schenkung verdankt das
Museum dem Engagement des bekannten koreanischen Kalligraphen Jung Do-Jun
und seiner Familie. Seit der erfolgreichen Ausstellung „Jung Do-Jun - Schriftkunst
aus Korea“ (2004/2005) hat die Familie Jung in ihrer Heimat Alltagsgegenstände aus
dem späten 19. Jahrhundert gesammelt, um der koreanischen Kultur im Linden-
Doppeltruhe (kor.: nong) mit Metall-
beschlägen in Schmetterlingsform
und separater Standkonsole
Kaki-Holz mit Metallbeschlägen,
HxBxT 127 x 84,5 x 37,5 cm, Korea,
späte Joseon-Zeit (1392-1910),
19. Jh. Inv.-Nr. OA 25.540 a-c
Niedriger Holztisch (kor: soban) mit
Messinggeschirr
Holztisch: Holz, HxBxT 28 x 45,5 x
44,7 cm, Korea, späte Joseon-Zeit
(1392-1910), 19./20. Jh.
Inv.-Nr. OA 25.544
Messinggeschirr: Messing, Korea,
späte Joseon-Zeit (1392-1910),
19./20.Jh. Inv.-Nr. OA 25.584 a-ab
28
Hängerolle: Landschaftsmalerei
Huang Yue (1750-1841). Tusche auf
Papier, HxB 96,5 x 36,3 cm, China,
Qing-Zeil (1644-1911), datiert 1835.
Inv.-Nr. OA 25.498
Hängerolle: Blühender Pflaumen-
baumzweig mit Kalligraphie
Zhang Zhao (1691-1745). Tusche auf
Papier, HxB 105,7 x 36 cm, China,
Oing-Zeit (1644-1911), datiert 1734.
Inv.-Nr. OA 25.499
Picknickset
Holz mit Gold-makie. HxBxT 28,5 x
29,5 x 15,5 cm, Japan. Edo-Zeit
(1603-1867), 18. Jh.
Inv.-Nr. OA 25.612
29
TRIBUS 56,2007
Museum zu mehr Präsenz zu verhelfen. Die originäre Korea-Sammlung des Hauses,
die bis dato knapp 300 Objektnummern umfasste, sowie die koreanischen Neuer-
werbungen aus dem vergangenen Jahr konnten hierdurch wesentlich ergänzt wer-
den.
China ist unter den Neuerwerbungen des Jahres 2006 mit insgesamt 32 Objekten
vertreten, darunter verschiedene Keramiken und Lackgefäße, aber auch Metallar-
beiten aus dem frühen 7. und 13. Jahrhundert sowie zwei Malereien aus der Qing-
Zeit (1644-1911).
Daneben wurden zwei Objekte japanischer Provenienz gestiftet: Eine Sakeflasche
aus Arita-Porzellan mit blau-weißem Dekor und ein Picknickset in Goldlacktech-
nik.
Den großzügigen Donatoren sei auch in diesem Jahr für ihr Engagement wieder
herzlich gedankt!
Uta Werlich
Südsee-Referat
Im Jahr 2007 erweiterte sich die Ozeanien-Sammlung um 10 Objekte. Eines - bereits
2005 vorgestellt - ist eine so genannte Pfosten-Maske der Baining in Gestalt einer
überdimensionierten „Schlange“. Der Körper besteht aus Baumbaststoff, der über
ein Rotang-Gerüst gespannt und auf der Oberseite mit einem grafischen Muster
bemalt worden ist. Bis heute werden solche Pfostenmasken im nördlichen Baining-
Gebiet an Stangen vor der Festgemeinde auf den Tanzplatz getragen und eröffnen
sozusagen die Feierlichkeiten der Tagtänze.
Aus dem Sepik-Gebiet stammen zwei Wasserbretter, die während Initiationszeremo-
nien angefertigt wurden, die Hermann Schlenker in den späten 60er Jahren am Mit-
telsepik filmte. Mit einem Paar älterer und fein beschnitzter Stößel geschlagen, ver-
mittelt ihr Ton den Anwesenden die Gegenwart der Geistwesen, deren Stimme sie
verkörpern.
Zwei Trommelschlegel zum Anschlägen von Wasser-Klang-Brettern
Holz, H 72/73 cm, Mittelsepik, Papua Neuguinea, 1. Hälfte 20. Jh. Listen-Nr. S 4751
Zwischen 1976 und 1994 schließlich entstanden fünf T-Shirts, mit denen unterschied-
liche Institutionen aus Neuguinea, Palau und HawaPi Förderern, Freunden oder Be-
suchern ihr Selbstverständnis verdeutlichten. Berühmt geworden ist die Darstellung
des inzwischen verstorbenen Künstlers Jakupa aus dem BenaBena-Gebiet, der in
einem Vorratsglas eingeschlossen ist - und damit die schwierige Situation zeitgenös-
sischer Künstler zwischen Bewahren und Erneuern verdeutlicht. Im markanten Ge-
gensatz dazu stehen die T-Shirts aus HawaPi, die als Rückgriff auf die glorreiche
Geschichte des traditionellen HawaPi europäische Darstellungen von Adligen und
Kriegern aus dem 18. und 19. Jahrhundert verwenden und damit auf die Wehrhaftig-
keit und Stärke der HawaPier auch im heutigen Kampf um den Erhalt der eigenen
Sprache und Identität anspielen.
Ingrid Heermann
TRIBUS 56,2007
Nordamerika-Referat
Die im Jahr 2004 mit Mitteln der Museumsstiftung Baden-Württemberg erworbene
Privatsammlung, bestehend aus 72 Katsina-Figuren, konnte im Jahr 2006 durch den
Erwerb einer Soyal-Katsina ergänzt werden. Da mit dem Erscheinen der Soyal-Kat-
sina der Beginn des Hopi-Zeremonialzyklus markiert wird, sollte gerade diese Kat-
sina im breiten Repertoire der geschnitzten Katsinafiguren nicht fehlen.
Die Soyal-Katsinafigur wurde um 1988 von dem Hopi-Schnitzer Paul Myron aus
einem Stück Pappelwurzelholz gefertigt. Die 26 cm hohe Figur zeichnet sich durch
eine sehr feine, das Detail betonende Schnitzerei aus. Nur die Maske ist mit Pigment-
farben bemalt und einem Fellstreifen verziert.
Eine kunsthistorisch interessante Erwerbung stellt die Aquarellskizze von George
Catlin dar, die er von dem Mandan Mató Tópe und dessen Heldentaten angefertigt
hat. Nach Einschätzung der Smithsonian Institution entstand die aus einer Privat-
sammlung erworbene Skizze in den 1830er Jahren. Im Mittelpunkt stehen Strich-
zeichnungen der Heldentaten des berühmten Mandan-Kriegers Mató Tópe, der sei-
ne Erlebnisse selbst bildlich auf jener Bisonrobe festgehalten hat, die er George
Catlin als Geschenk vermachte hatte. Zudem befindet sich in der rechten unteren
Ecke ein Portrait von Mató Tópe, das als Detail dem Ölgemälde „Máh-to-tóh-pa,
Four Bears, Second Chief, in Full Dress“ von 1832 entspricht. Dieses Werk befindet
sich in der Sammlung des American Art Museum (Smithsonian Institution). Darstel-
lungen von Mató Tópe, im Original oder als Kopie, sind im Besitz etwa des Gilcrease
Museum Tulsa, der National Gallery of Art Washington oder dem Ethnologischen
Museum Berlin. George Catlin war tief beeindruckt von diesem Mandan-Häuptling
und beschreibt ihn als einen Mann, der durch Anmut und Würde besticht (Catlin,
George; Leiters and Notes on the Manners, Customs and Conditions of North Ame-
rican Indians. Yol. 1. New York, 1973:114).
Auf der Rückseite der Malerei befinden sich Notizen, die mit der Handschrift Cat-
lins übereinstimmen, deren inhaltliche Bedeutung aber noch nicht geklärt werden
konnte.
George Catlin (1796-1872) ist berühmt für seine zahlreichen Portraits indianischer
Persönlichkeiten und einzigartigen Darstellungen indigener Zeremonien, die er zwi-
schen 1830 und 1836 während seiner Reisen in den amerikanischen Westen anfertig-
te. Catlin war davon überzeugt, dass die Westwärtsbewegung der weißen Siedler in-
dianische Lebensweisen vernichten oder bis zur Unkenntlichkeit verändern werde.
Skizze der Heldentaten und Portrait des Mandan-Häuptlings Mato Töpe
Foto: George Catlin. Aquarell auf Papier, 56 x 31,5 cm, ca. 1830-1850.
Inv.-Nr. M 35.622
32
Als Künstler ein Autodidakt verfolgte er das Ziel, das kulturelle Leben der india-
nischen Bevölkerung in seiner „Ursprünglichkeit“ zu dokumentieren. Im Gegensatz
zu Karl Bodmer, der die Nordamerikareise des Prinzen Maximilian zu Wied von
1832-1834 visuell dokumentierte und großen Wert auf eine detailgetreue Darstel-
lung legte, sammelte Catlin möglichst viele bildliche Eindrücke, die er häufig nur
skizzierte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt auszuarbeiten. 1837 stellte er seine
zahlreichen Bildwerke in New York als „Catlin’s Indian Gallery“ aus. Neben Gemäl-
den zeigte er Skizzen sowie kulturrelevante Objekte und inhaltliche Notizen, die Teil
seiner Sammlung waren. Danach brachte er seine Ausstellung nach Europa, wo er sie
1842 in London und 1845 in Paris zeigte, ergänzt durch eine Indianergruppe mit
Schauauftritten. Sein wiederholtes Bestreben, die amerikanische Regierung zum Er-
werb seines Gesamtwerkes zu bewegen, sollte sich nicht realisieren und Schulden
begleiteten Catlin bis an sein Lebensende. Von zahlreichen Werken seiner „India-
nergalerie“ fertigte Catlin Kopien an, indem er zahlreiche Motive als Bleistiftzeich-
nung auf Karton übertrug, um sie danach mit Öl- oder Aquarellfarben auszumalen.
Nicht selten kombinierte er Motive aus verschiedenen Werken als neue künstlerische
Kompositionen.
Beide Erwerbungen ergänzen bereits bestehende Sammlungen und ermöglichen es,
in zukünftigen Ausstellungen neue Akzente zu setzen. Da die Bisonrobe aus der
Sammlung von George Catlin im Original nicht mehr existiert, sind seine Darstel-
lungen der einzelnen Motive in Verbindung mit den entsprechenden Überliefe-
rungen Mató Topes von unschätzbarem Wert. Sie sind der Schlüssel zur inhaltlichen
Bestimmung der Szenen, die Mató Tópe auf jene Bisonrobe gemalt hatte, die sich
aus der Sammlung des Prinzen Maximilian zu Wied heute im Linden-Museum befin-
det.
Sonja Schiede
33
TRIBUS 56,2007
Lateinamerika-Referat
Das Lateinamerika-Referat konnte seine hervorragende Amazonien-Sammlung
weiter ausbauen. Durch den Erwerb von fünf Federrädern, einer Federkrone und
einer Halskrause der Kaiapö-Xikrin aus Zentralbrasilien verfügt die Sammlung nun
über einen bemerkenswerten Bestand hochwertiger Federobjekte. Teilweise können
diese unseren Besuchern in der Südamerika-Dauerausstellung präsentiert werden.
Die Kaiapö-Xikrin sind eine Gruppe der Kaiapö, die in Zentralbrasilien in einem
Indianerschutzgebiet lebt das den Umfang Belgiens hat. Die Kaiapö stellen mit in-
zwischen ungefähr 8000 Stammesangehörigen die größte indigene Gruppe des brasi-
lianischen Amazonasgebietes. Bemerkenswert ist das nach wie vor sehr aktive ritu-
elle Leben dieser Gruppe. Für die Riten - unter anderem das Namensgebungsritual
- werden diese Federräder gefertigt. Sie gehören den Männern, die sie ihren Frauen
für den Abschlusstanz zur Verfügung stellen. Kaiapö Federarbeiten gehören zu den
spektakulärsten des Amazonasgebietes.
Die abgebildete Halskrause ist aus Baumwollfäden, Muschelplättchen und Glas-
und Porzellanperlen gearbeitet. Sie gehört zum Schmuck eines Mannes.
Darüber hinaus konnten wir unsere Guatemala-Sammlung um acht Karnevalsmas-
ken aus der Alta Verapaz erweitern. Sie entstammen der Sammlung Sapper und wur-
den dem Museum zusammen mit beschnitzten Kalebassen, Textilien und einem Rü-
ckenbandwebgerät überlassen. Teile dieser Sammlung werden im Sommer 2009 in
einer Sonderausstellung zum Thema Guatemala zu sehen sein.
Doris Kurella
Halskette eines
Kaiapö-Mannes vom
Stamm der Xikrin
Baumwolle, Muschel-
plättchen, Glas- und
Porzellanpcrlen, B 40
cm ; L 26 cm, Brasi-
lien, zentrales Ama-
zonasgebiet, um 1970.
Inv.-Nr. M 35.580
34
Jahresbericht 2006 des Referats Museumspädagogik
Die Gesamtbesucherzahl stieg im Jahr 2006 um 10.605 auf 70.660 an, was vor allem
auf das erfreuliche Publikumsinteresse an der Sonderausstellung „KinderSpiel: er-
fahren - erfinden - gestalten“ zurückzuführen ist. Dieses gesteigerte Interesse zeigt
sich auch in der erhöhten Anzahl an Führungen, die 2006 bei 942 lag, eine Zunahme
um fast 100 Führungen. Die Steigerung ist eindeutig auf die Attraktivität der Sonder-
ausstellungen, insbesondere von „KinderSpiel“ zurückzuführen, da die Führungen
in den Dauerausstellungen 2006 deutlich rückläufig waren. Insbesondere Grund-
schulen nutzten das Angebot von „KinderSpiel“ mit seinen Spielstationen und den
gestalterischen Aktionen in der KinderSpielWerkstatt. Dies erklärt auch, dass sich
das Verhältnis der Schulen deutlich zugunsten der Grundschulen entwickelt hat.
Die beiden kleineren Sonderausstellungen „Kunst der Aborigines aus der Samm-
lung Peter W. Klein“ und „Traditionelle Frauenkultur aus Südafrika“ wurden von
Gruppen mit spezifischen thematischen Interessen sehr gut angenommen, wenn-
gleich ihre Anzahl überschaubar blieb.
Der Anteil der geführten Besucher konnte auch 2006 mit 40 % auf einem hohen
Niveau gehalten werden. Ebenfalls gab es eine hohe Nachfrage an Führungen, die 90
bzw. 120 Minuten dauerten. Insbesondere bei Kindergärten (40%), Grundschulen
(44 %) und Hauptschulen (45 %) war das Interesse besonders groß. Selbst bei Real-
schulen (25 %) und Gymnasien (20%) bestätigte sich diese Entwicklung. Besonders
deutlich zeigte sich diese Tendenz bei Kindergeburtstagen. Waren es 2005 bereits
83% der Kindergeburtstage, die über 60 Minuten dauerten und kreative Aktionen
umfassten, so lag der Anteil 2006 sogar bei 88 %. Die „KinderSpiel“-Ausstellung bot
dafür die besten Voraussetzungen, da diese Sonderausstellung Besucher jeden Alters
zu praktischen Aktivitäten einlud. Allerdings ist diese erfreuliche Entwicklung eine
große Herausforderung, da das praktische Gestalten insbesondere in den Daueraus-
stellungen aufgrund der räumlichen Enge nur begrenzt möglich ist. Sind Ausstel-
lungen durch längere Programme belegt, verschärft sich die Raumsituation, da keine
Parallelführungen möglich sind.
Führungen 2006 und 2005 im Überblick
2006 2006 2006 2005
Schulen Stuttgart auswärtig gesamt gesamt
Grundschulen 71 172 243 149
Hauptschulen 5 19 24 32
Realschulen 17 40 57 53
Gymnasien 30 64 94 126
Berufsschulen 7 10 17 7
Sonderschulen 7 11 18 18
Fremdsprachige Schulen 4 4 8 4
Gesamt 141 320 461 389
35
TRIBUS 56,2007
Außerschulische Kinder/Jugendliche 2006 2005
Kindergärten 62 64
Kindergeburtstage 26 33
Kinder/Jugendliche 50 44
Waldheime 0 4
Gesamt 138 145
Sonstige Gruppen 2006 2005
Behinderte 3 9
Kunst-Abo der Kulturgemeinschaft 3 12
Kirchliche Gruppen 9 10
Pädagogische Fortbildung 13 10
Private Gruppen 37 38
Senioren 9 12
Uni/PH/FH 6 7
VHS 1 7
Gesamt 81 105
Gruppenführungen gesamt 680 639
Öffentliche Führungen 2006 2005
Familienprogramme 6 6
Ferienprogramme 23 25
Kindernachmittage 35 5
Publikumsführungen in den Dauerausstellungen 96 93
Publikumsführungen in den Sonderausstellungen 51 55
Familienführung 26 10
Thementag 2 1
Workshop 14 4
Weite Welt der Worte 9 8
Sonntagsatelier 0 3
Öffentliche Führungen/gesamt 262 210
Gesamtzahl aller Führungen 942 849
36
Verteilung der Führungen auf die Dauerausstellungen 2006
Öffentliche Führungen Angemeldete Gruppen Gesamt Anteil in %
Afrika 26 109 135 22 %
Lateinamerika 20 43 63 10 %
Nordamerika 22 144 166 28 %
Orient 20 81 101 17 %
Ostasien 26 39 65 11 %
Ozeanien1 8 16 24 4 %
Südasien 20 27 47 8 %
Gesamt 142 459 6011 2 100 %
□ Afrika 22 %
□ Lateinamerika 10 %
□ Nordamerika 28 %
□ Orient 17 %
■ Ostasien 11 %
□ Ozeanien 4 %
■ Südasien 8 %
Verteilung der Führungen auf die Sonderausstellungen 2006
Öffentliche Führungen Angemeldete Gruppen Gesamt Anteil in %
KinderSpiel 27.11.05-17.09.06 72 191 263 77 %
Kunst der Aborigines 04.12.05-09.07.06 17 5 22 6 %
Südafrika 14.01.06-02.04.06 9 9 18 5 %
Muslime 25.11.06-25.03.07 20 18 38 11 %
El Chaco 10.12.06-15.04.07 2 0 2 1 %
Gesamt 120 223 343 100 %
Verteilung der Führungen auf
die Sonderausstellungen 2006
□ KinderSpiel 77 %
■ Kunst der Aborigines 6 %
□ Südafrika 5 %
□ Muslime 11 %
■ El Chaco 1 %
Verteilung der Führungen auf die
Dauerausstellungen 2006
1 Die Ozeanien-Dauerausstellung war ab 10.7.2006 geschlossen.
2 Die Differenz geht auf die Zählung der Thementage zurück, die in mehreren Dauerausstel-
lungen stattfinden.
37
TRIBUS 56,2007
Museumspädagogische Begleitprogramme
Ferienprogramme
Auch 2006 drehte sich in den Ferienprogrammen alles um ..Neue Abenteuer mit Nanu
Naseweis“, dessen Entdeckungsreisen ihn nach Nordamerika führten, wo er von der
Bedeutung von Krieg und Frieden in indianischen Kulturen erfuhr, in Südasien
tauchte er in die Welt von Sport und Spiel ein und in Australien lernte er die Jagdge-
räte der Aborigines kennen. Im Herbst fanden zwei Programme im Rahmen des
Markts der Völker statt. Mit Kindern ab 8 Jahren reiste Nanu Naseweis nach Süda-
sien, wo er den Hinduismus und dessen verwirrende Vielfalt an Göttern kennen lernte,
die jüngeren Kinder entführte er nach Ostasien zu Löwentanz und Neujahrsgöttern.
Unter dem Motto „Mehr als nur Worte“ lud das Sommerferienprogramm 2006 Kin-
der und Erwachsene ein, zu entdecken, wie sich Menschen in unterschiedlichen Kul-
turen verständigen. In der Ostasien-Ausstellung ging es um Klänge und Schriftzei-
chen, in Nordamerika wurden nicht nur Rauchzeichen entziffert, und in Afrika
lernten die jungen und erwachsenen Besucher versteckte Botschaften auf Kleidung
zu lesen. In der Südamerika-Ausstellung gaben sprechende Töpfe und Knotenschnü-
re Rätsel auf, in Südasien hingegen wurden Geschichten mit Händen erzählt, und im
Orient gab es die Bedeutung von Schreibrohr, Rosenwasser und Mohnkapsel zu ent-
decken. Die Resonanz auf alle Ferienprogramme war durchweg positiv und bestätigt
die gelungene Verbindung von inhaltlicher Vermittlung und kreativer Gestaltung.
Erfreulich war auch, dass das 3-stündige Sommerferienprogramm bei Erwachsenen
erneut großen Anklang fand.
Familienprogramme
Im Familienprogramm drehte sich im ersten Quartal 2006 alles um das Thema „In
den Topf geschaut: Esskulturen der Welt“. Während in Lateinamerika Kartoffel, Ma-
niok und Meerschweinchen als Leckerbissen lockten, ging es in Nordamerika um
Bisonfleisch und Maisbrot. Im Orient wurde Essen und Fasten bei Sonne und Mond
thematisiert. Mit „Die Sprache der Kleidung“ stand im Herbst und Winter erneut ein
zentrales kulturrelevantes Thema im Mittelpunkt. Familien hatten Gelegenheit,
Kleidung als Geheimcode in der Orient-Ausstellung kennen zu lernen, in Lateina-
merika nach Ponchos mit Gold und Federn Ausschau zu halten und in Afrika die
Botschaften von Kleidung zu entschlüsseln. Es war zu beobachten, dass an den Fami-
lienprogrammen zunehmend Kinder im Vorschulalter teilnahmen. Diese heterogene
Alters- und Interessenstruktur der Gruppen stellte für die Führenden eine beson-
ders große pädagogische Herausforderung dar.
Workshops und Thementage
Im Jahr 2006 wurden insgesamt 14 Workshops durchgeführt, davon über die Hälfte
in der Sonderausstellung „KinderSpiel“. Sei es die Herstellung von „Autos aus Blech
und Draht“, von „Taschen aus TetraPaks“ oder das Erzeugen von „Klängen aus der
Müllhalde“, fast alle Veranstaltungen waren mit 10-25 Teilnehmern ausgebucht.
Mit großem Erfolg fand wiederholt der zweitägige Workshop „Das Malen eines
Mandalas“ mit dem tibetischen Thangka-Maler Tashi Tsering Lama statt. Ein wei-
teres attraktives Angebot war der von zwei aus KwaZulu Natal und dem Ostkap
stammenden Flechterinnen geleitete Flechtworkshop.
Aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten und geringer Nachfrage musste der
Workshop „Weben auf dem afrikanischen Schmalbandwebstuhl“ leider ausfallen.
Im Rahmen des Ausstellungsprojektes „...mehr als nur Gäste“ wurden Workshops
zu „Orientalischen Märchen“. „Kalligrafie“ und „Orientalischem Tanz“ durchge-
führt, alle mit sehr großer Resonanz.
Als Folge der teilweise geringen Anmeldungen zu den ganztägigen und Ausstellungen
übergreifenden Thementagen wurde dieses Programmformat 2006 auf ein halbtägiges
38
Angebot reduziert. Während der Thementag „Tee - viel Geschmack in einem Blatt“
einen sehr großen Zuspruch fand, musste der Thementag „Schachmatt: Spiele aus
dem Orient und aus Asien“ ausfallen. Das Thema „Synkretismus“ wiederum konnte
in der Afrika-, Lateinamerika- und Nordamerika-Ausstellung durchgeführt werden.
Kooperationsveranstaltungen
Auch 2006 wurden erneut Kooperationsprojekte mit Schulen durchgeführt. So ent-
wickelte das Lateinamerika-Referat zusammen mit der Grund- und Hauptschule
Wendelsheim eine interaktive DVD zu Amazonien. Nach Fertigstellung wird diese
Kinder und Erwachsene ansprechende Produktion in die Südamerika-Ausstellung
integriert.
Mit dem Qtto-Hahn-Gymnasium Ostfildern wurde zum Projekt „Identities“ koope-
riert, das sich im Rahmen der Oberstufe Englisch mit postkolonialer Literatur in
Indien und Pakistan befasste. Die dabei entstandenen multimedialen Ergebnisse
wurden im Juli im Linden-Museum zusammen mit einer Lesung der aus Pakistan
stammenden und in England lebenden Autorin Qaisra Shahraz präsentiert.
Als Teil des Ausstellungsprojektes „...mehr als nur Gäste“ kooperierten Lehrerinnen
und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler des Johannes-Kepler-Gymnasiums in
Stuttgart-Bad Cannstatt mit dem Orient-Referat des Linden-Museums, um das The-
ma „Muslime in Stuttgart“ zu erarbeiten. Mit herausragendem Engagement wurden
inhaltliche Schwerpunkte entwickelt, Interviews geführt, religiöse Einrichtungen be-
sucht, gemeinsame Aktivitäten organisiert und auf dieser Grundlage Texte formu-
liert, Fotos produziert und Gegenstände ausgewählt, um die Ergebnisse in Form ei-
ner eigenständigen Ausstellung zu präsentieren. Diese von der Schülergruppe ent-
wickelte und gestaltete Ausstellung ist ein zentrales Modul der Sonderausstellung
„... mehr als nur Gäste“. In Zusammenarbeit mit der Stadtbücherei Stuttgart ent-
stand „KulturLiteratur im Museum“, ein literarisches Angebot für Schulklassen. Das
Programm „Veränderte Kinderwelt. Entdeckungsreise durch Afghanistan“ be-
schreibt die Geschichte eines Mädchens, wie sie von Deborah Ellis in dem Jugend-
buch „Sonne im Gesicht“ dargestellt wird und verbindet diese mittels interaktiver
Aktivitäten mit Inhalten der Orient-Dauerausstellung. „Das Geheimnis der ara-
bischen Schrift entdecken“ basiert auf dem Buch „Kaskul ar-rassam. Das Notizbuch
des Zeichners“ von Mohieddin Ellabad und stellt die arabische Sprache und die
Schriftkunst des Orient ins Zentrum der Vermittlung. Leider war die Nachfrage für
dieses anspruchsvolle Programm sehr gering.
Als Pirsch durch Museum und Wald war die Kooperationsveranstaltung „Jäger und
Sammler“ mit dem Haus des Waldes angelegt, das Anschauungspotential der Aus-
stellungen „Nordamerika“ und „Australien“ mit der kreativen Aktion im Haus des
Waldes verband.
„Quipus“ in der Süd-
amerika-Ausstellung
dienten als Vorlage für
„sprechende Knoten-
schnüre“ (Sommerfe-
rienprogramm 2006).
39
TRIBUS 56,2007
Mädchen und Jungen
testen ihre selbst ge-
bauten Holzroller -
nach Vorbildern in der
Sonderausstellung
„KinderSpiel“.
Veranstaltungen zu Ausstellungen
Im Rahmen der Sonderausstellung ..KinderSpiel“ wurden zum regulären Programm-
angebot eine Reihe neuer Formate ausgetestet: Lesenachmittag, KinderKino,
Spielenachmittag, Spielerische Weltreise, Bastelwettbewerb und KinderSpiel-Werk-
statt mit Anleitung. Die Resonanz auf diese neuen Angebote war sehr unterschied-
lich mit der Werkstatt als größter Attraktion. Auch die in die Ausstellung integrierten
interaktiven Spielstationen erfreuten sich großer Beliebtheit. Mit einem großen Ab-
schiedsfest ging die KinderSpiel“-Ausstellung zu Ende. Jung und alt ließen sich von
Spielen begeistern, beteiligten sich an kreativen Aktionen und erfreuten sich an in-
dianischen Erzählungen sowie afrikanischen Märchen. Es ist bedauerlich, dass das
Linden-Museum über keinen permanenten Werkstattbereich verfügt, in dem hand-
werkliche und künstlerische Aktivitäten praktisch ausgeführt werden können. Grup-
pen buchten zahlreiche anderthalb- oder zweistündige Programme, um die Führung
mit einem Spiel- und Bastelangebot zu verbinden.
Um die gegenwartsbezogene Sonderausstellung......mehr als nur Gäste - demokra-
tisches Zusammenleben mit Muslimen in Baden-Württemberg“ mit den Inhalten der
Dauerausstellung „Islamischer Orient - Annäherung an eine Weltkultur“ zu verknüp-
fen und Besuchern ein tieferes Verständnis für die islamische Welt ebenso wie für
„Muslime unter uns“ zu ermöglichen, wurde das Bildungsprogramm „DialogFüh-
ren“ entwickelt. Dieses neue Vermittlungsformat richtet sich an die interessierte Öf-
fentlichkeit und vor allem an Schulklassen (Fokus: Ethik- und Religionsunterricht),
kirchliche Gruppen, muslimische Vereinigungen sowie Dialoginitiativen. Das Ange-
bot umfasste Tandem-Führungen, die eineinhalb Stunden dauerten und von einer
Muslima/einem Muslim und einer Nicht-Muslima/einem Nicht-Muslim oder zwei
Musliminnen bzw. Muslimen durchgeführt wurden, die über einen unterschiedlichen
religiösen bzw. kulturellen Hintergrund verfügten.
Ein weiteres innovatives Angebot für das allgemeine Publikum waren ..Baukasten-
führungen“, die Besucher einluden, sich an verschiedenen thematischen Stationen in
der Dauer- und Sonderausstellung etwa über die Geschichte des Islams, religiöse
Quellen, politischer Islam, Lebenszyklus und Feste, Zusammenleben und Dialog,
Volksreligiosität, Islamismus, Lebenswelten von Muslimen in Deutschland zu infor-
mieren. Auch hier führten Musliminnen/Muslime und Nicht-Musliminnen/Nicht-
Muslime gemeinsam. An jeder Station erfolgte eine etwa 15-minütige auf die Aus-
stellung bezogene Einführung, an die sich ein vertiefendes Gespräch mit den Besu-
cherinnen und Besuchern anschloss. Nach einer halben Stunde wechselten die Besu-
cher die Station und ließen sich auf ein weiteres Thema ihrer Wahl ein.
Dieses sehr personalintensive und auf interreligiöse Kommunikation angelegte Bil-
dungsangebot war nur möglich, da im Rahmen der Vorbereitungen für das Projekt
„...mehr als nur Gäste“ neue freie Mitarbeiter rekrutiert wurden, die selbst Muslime
sind. Das erweiterte Team hat sich intensiv und mit großem Engagement mit den
40
Inhalten der Dauer- und Sonderausstellung befasst und Vermittlungskonzepte ent-
wickelt.
„DialogFühren“ beinhaltete auch Fortbildungen für Erzieher/innen, Lehrer/innen
sowie im interkulturellen Dialog engagierte Multiplikatoren, etwa Polizistinnen und
Polizisten. Für die finanzielle Förderung dieses Projekts durch das Bundesministeri-
um des Inneren sind wir sehr dankbar, da dieses innovative Angebot den Etat des
Museums überfordert hätte. Beide im Dezember angebotenen Lehrerfortbildungen
waren ausgebucht. Auch die pädagogischen Fortbildungen, die im Rahmen der Son-
derausstellung „Kinderspiel“ und in den Dauerausstellungen zum Thema „Woh-
nen“ angeboten wurden, fanden ein sehr positives Echo.
Im Oktober 2006 wurde ein Themenkatalog für die Hauptschulen entwickelt, der
dann im Gespräch mit Hauptschullehrerinnen und -lehrern eine Präzisierung erfuhr,
um sicherzustellen, dass das Angebot auf die Bedürfnisse der Hauptschulen sowie
den Lehrplanbezug abgestimmt ist. Es scheint notwendig. Lehrer/innen kontinuier-
lich auf das auch für Hauptschulen sehr attraktive Themenangebot des Linden-Mu-
seums aufmerksam zu machen. Es ist beabsichtigt diesen Themenkatalog im Rah-
men einer Fortbildungsveranstaltung mit dem Staatlichen Schulamt 2007 vorzustel-
len und weitere Möglichkeiten zu nutzen, ihn publik zu machen.
Programmreihen
Die eineinhalbstündigen Familienführungen haben auch im Jahr 2006 regen Zulauf
verbuchen können und sich als fester Bestandteil unseres Vermittlungsprogramms
etabliert. Dies kann auch für das Erzählprogramm „Die Weite Welt in Worten“ mit
der Geschichtenspielerin Uschi Erlewein bestätigt werden. Mit sehr positiver Reso-
nanz stellte sie 2006 neben Geschichten aus Nordamerika und Afrika auch die tradi-
tionelle Erzähltradition Ostasiens vor.
Unterschiedliche Resonanz fanden die Kurzführungen, die als „Kultur zur Mittags-
pause“ angeboten wurden. Im Jahr 2006 pausierte das Sonntagsatelier, da das For-
mat noch nicht ausgereift schien und ein neues Konzept zu entwickeln ist.
Wie die Jahre zuvor haben sich die Kurzführungen, die Besucher der „Langen Nacht
der Museen“ mit den Ausstellungen des Linden-Museums vertraut machen, als sehr
attraktives Angebot erwiesen. Zusammen mit dem chilenischen Liedermacher Ser-
gio Vesely präsentierte die „KinderSpiel“-Band während der „Langen Nacht“ die
klangvollen Ergebnisse, die Stunden zuvor im Workshop entstanden waren.
Zum Internationalen Museumstag am 21. Mai wurde erneut ein Detektivspiel in den
Ausstellungen ausgeführt, das sich großer Teilnahme und Begeisterung erfreute. Als
ergänzendes Programm gab das Gamelan-Orchester Kridha Budaya Sari ein Kon-
zert für Familien und das aus Java angereiste Jugendtheater Kejar thematisierte mit
seinen Tänzen und Gesängen die Problematik des weltweit anfallenden Mülls.
Die Vielfalt des museumspädagogischen Programms 2006 ist das Ergebnis der kon-
struktiven Zusammenarbeit des Referats Museumspädagogik mit dem Referenten
für Öffentlichkeitsarbeit, den Kuratorinnen und Kuratoren der Regionalreferate so-
wie allen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die meisten Aktivitäten ge-
stalteten. Für das große Engagement und die tatkräftige Unterstützung danke ich
allen Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich, insbesondere Marita Oltersdorf und
Katrin Kobler, die selbst bei großem Ansturm den Überblick behielten.
Sonja Schiede
41
TRIBUS 56,2007
Bericht des Referats Öffentlichkeitsarbeit für das Jahr 2006
Besucherzahlen
Der starke Besucherrückgang vom Vorjahr konnte 2006 zwar aufgefangen werden,
ohne jedoch mit 70.660 Besuchern eine zufrieden stellende Besucherzahl zu errei-
chen. Aufgrund der sehr spät beschlossenen Verschiebung der Sonderausstellung
„Im Zeichen des Drachen. Von der Schönheit chinesischer Lacke“, die auch medial
bereits für Frühjahr diesen Jahres angekündigt war, auf 2007, wurde die Sonderaus-
stellung „KinderSpiel. Erfahren - erfinden - gestalten“ bis 17.9.2006 verlängert. Die
Ausstellung für die Haupt-Zielgruppe Familien und Kinder war mit einer Resonanz
von 26.256 Besuchern erfolgreich; vor allem die Reaktionen der Besucher, die häufig
mehrfach kamen, waren durchwegs positiv. Dennoch hätten mit einer zweiten groß-
en Sonderausstellung von Frühjahr bis Herbst insgesamt sicherlich mehr Besucher
erreicht werden können. Die von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-
Württemberg konzipierte Sonderausstellung „... mehr als nur Gäste - demokra-
tisches Zusammenleben mit Muslimen in Baden-Württemberg“ startete am 25. No-
vember und verzeichnete bis Ende des Jahres 2287 Besucher. Die Fußball-Weltmei-
sterschaft brachte trotz spezieller Begleitangebote und gut positionierter Werbung
im Pressezentrum keinen Besucherzuwachs.
Deutlich höher als die Zahl der realen Besucher ist die Zahl der Besucher auf der
Website: 2006 wurden 248.930 Besucher verzeichnet, das entspricht täglich 682 Besu-
chern. Im Durchschnitt ruft jeder Website-User 4,5 Seiten auf.
2003 2004 2005 2006
Januar 6.053 8.129 4.086 7.408
Februar 4.793 12.111 3.785 6.882
März 15.242 14.283 9.785 11.782
April 4.052 6.428 3.829 5.525
Mai 3.867 3.738 4.501 5.673
Juni 2.559 3.629 3.467 3.470
Juli 5.119 5.854 4.400 3.183
August 4.014 4.296 4.650 5.704
September 2.964 3.632 2.558 2.284
Oktober 7.406 8.218 6.309 2.648
November 9.875 7.225 5.668 10.293
Dezember 5.977 3.644 4.732 5.808
Gesamt 71.921 81.187 57.770 69.318
Inkl. Vorträge GEV 70.660
Anstieg/Abstieg im Vergleich zum Vorjahr -15,7% +12,8% -28,8% +22,3%
42
Presseresonanz
2003 2004 2005 2006
Presseartikel gesamt 1.197 1.797 1.649 1.398
Anstieg/Abstieg im Ver- gleich zum Vorjahr + 5,7% + 50,1% -8,2% -15,2%
Gesamtauflagenhöhe al- ler Artikel 61,7 Mio. 61,2 Mio. 75,2 Mio. 44,0 Mio.
Anstieg/Abstieg im Ver- gleich zum Vorjahr -15% -0,8% +22,9% -41,5%
Die Presseresonanz 2006 blieb deutlich hinter den Vorjahren zurück. Die Hauptur-
sache ist darin zu sehen, dass im Berichtszeitraum im Vergleich zu den Vorjahren
lediglich die Ausstellung mehr als nur Gäste - demokratisches Zusammenleben
mit Muslimen in Baden-Württemberg“ eröffnet wurde. Die Ausstellung stieß medial
auf zwei Probleme: Durch die Nennung des Bundeslandes im Untertitel war sie für
überregionale Medien von wenig Interesse. Zudem hatte auch die Presse des Landes
bereits über die vorherigen Stationen Lörrach, Karlsruhe und Ulm berichtet, so dass
im Wesentlichen nur die Medien im Raum Stuttgart die Ausstellung rezensierten.
Die Ausstellung „KinderSpiel“ hingegen wurde sehr umfassend regional und über-
regional und dank vielfältiger Begleitprogramme auch über die lange zeitliche Di-
stanz in den Medien sehr gut begleitet.
Veranstaltungen
Besondere mediale Aufmerksamkeit findet mittlerweile der thematische Quartals-
schwerpunkt „Fokus“. 2005 wurden zu den Themen „Krieg und Frieden“, „Sport und
Spiel“, „Mehr als nur Worte“ sowie „Religionen“ vielfältige Programmangebote von
Führungen über Filme, Diskussionsveranstaltungen, Vorführungen, Mitmach-Akti-
onen bis hin zu Konzerten angeboten.
Lu Chunling, in China ehrfurchtsvoll
„Die Zauberflöte“ genannt, begeister-
te beim Konzert im Linden-Museum.
43
TRIBUS 56,2007
Veranstaltungshöhepunkt im Berichtsjahr war das von der Stiftung der Landesbank
Baden-Württemberg großzügig unterstützte Konzert „Drei Generationen chine-
sischer Musik“ (1. Mai) mit dem Bambusflötisten Lu Chunling und dem Sanxian-
Spieler Li Yi, die in China als Superstars gelten. Ihr Zusammenspiel mit ihren jün-
geren in Deutschland lebenden Schülerinnen Zhang Zhenfang und Xu Fengxia be-
geisterte das Publikum im ausverkauften Wannersaal. Auf ebenso großen Zuspruch
stieß das Sufi-Konzert mit dem Orug-Güven^-Ensemble Tümata aus Istanbul am 28.
Dezember, das vom Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart unterstützt wurde.
Auch mit den Auftritten des japanischen Duos Aki & Kuniko (7.10.)1, das Musik im
Grenzbereich zwischen japanischer Tradition, Blues, Jazz und Rock macht, sowie den
jugendlichen Maskentänzern der Bandu Wijesooriya School of Dance aus Sri Lanka
(8.10.)1 2 konnten den Besuchern besondere Veranstaltungen geboten werden, die im-
mer auch den Aspekt der (inter)kulturellen Begegnung betonen.
Vertiefendes zu den Veranstaltungsangeboten 2006 finden Sie im Bericht der Muse-
umspädagogik.
Audioguide in Planung
Ab 1.7.07 wird für die Dauerausstellungen eine 90-minütige Audio-Führung (erstellt
durch die Firma Tonwelt) auf deutsch, englisch sowie für Kinder angeboten. Das
Gerät soll jedem Besucher zur Verfügung gestellt werden und in einem ersten Modul
für Erstbesucher und Touristen einen Überblick über die wichtigsten Sammlungs-
stücke bzw. -elemente geben.
Dank
Besonderer Dank gilt Julia Wolf, die im November ein zweijähriges Volontariat an-
trat, und bereits nach wenigen Wochen durch kluge Ideen und sehr starkes Engage-
ment eine große Bereicherung für die Öffentlichkeitsarbeit darstellt. Katrin Kobler
übernahm im Oktober die Aufgaben von Theres Kiefer, die Ende September das
Museum verließ: Die Aktualisierung der Homepage und die Redaktion des Veran-
staltungskalenders liegt bei ihr in besten Händen. Dank gilt auch den Praktikan-
tinnen, ohne die die notwendige Arbeit nicht zu leisten gewesen wäre: 2006 unter-
stützten Melanie Becker, Kathrin Fromm, Manuela Gravius, Nicola Lörz und An-
drea Müller die Öffentlichkeitsarbeit.
Martin Otto-Hörbrand
1 In Zusammenarbeit mit dem Japanischen Honorarkonsulat
2 Gefördert durch das Honorarkonsulat von Sri Lanka
44
Organisationsplan
Stand: 1.5.2007
45
Martin Baier:The Deveolpment of a New Religion
MARTIN BAIER
The Development of a New Religion in Central Borneo
(Kalimantan)1
For the last forty-five years religious manifestations in Indonesian Borneo have been
intensely studied, described and explained by foreign observers and indigenous par-
ticipants alike. To understand them correctly reliable sources must be consulted. For
instance, the present-day situation should be assessed by Adat specialists, religious
functionaries or educated members of a community, and not be based on the obser-
vations of the ordinary villagers1 2. If an event is removed in time by more than one
generation, and living witnesses are no longer available, it is necessary to consult ar-
chives and scholarly sources and books3.
The religion of issue developed among the Ngaju-Dayak in what is today the Indone-
sian Province of Central Kalimantan. The Ngaju occupy areas along the southern
Barito, the Minor Kapuas, the Kahayan and the Katingan rivers, as well as in parts of
the Mentaya. Dutch explorers first came to Borneo in Banjarmasin, that is, to the
Barito-Delta of the south, during 1606. Only by 1817, however, were they able to occu-
py parts of the southern Barito, an area of the Bakumpai-Dayak, and Tanah Laut in
the Province of South Kalimantan. Why did it take so long to establish a colony?
Although the Dutch possessed iron cannons, they also needed motorised boats if
they wanted to control the interior. Southeast Asian Sultanates possessed cannons,
but they were cast of bronze or brass and overheated after only a few rounds. The
Dutch could fire their iron cannons up to a hundred times without overheating them4.
They began to use motorised boats in Southeast Asia early in the 19th century. Up
until then control was only possible in coastal regions. With motors, during the rainy
season, they could navigate up the Barito as far as Muara Teweh.
By 1830 security was established to the extent that Europeans could settle in Banjar-
masin. Protestant missionaries took advantage of this possibility. But since they had
practically no chance to make progress in Islamised areas, they proceeded two/three
days upriver into the vicinity of what is today Kuala Kapuas and established a missi-
on among the Ngaju-Dayak. By 1849, the missionaries began producing reports and
books describing the culture and religion of the Ngaju. Scientists, often German by
1 This statement was used on 10.03.06 in Tarakan (East Kalimantan) for an address to repre-
sentatives of sundry relidious communities. It was as part of a series of discussions which Presi-
dent Abdulrahman Wahid recommended in 2001 to be held in all provincial capitals of Indone-
sia as a means to prevent religious hatred (Forum Komunikasi Umat Antar Umat Beragama).
Tarakan has a liberal policy as regards religion.
The statement is also an abstract of a more detailed description of the Hindu Kaharingan Reli-
gion entitled “Dari Agama Politeisme ke Agama Ketuhanan Yang Esa”. Its text bases on litera-
ture in three European languages, as well as on modern Indonesian and Ngaju, and the ritual
language of Ngaju. It is primarily destined for higher education in Southeast Asia. The editor is
Professor Dr. Kumpiady Widen (Balai Penerbit Pontianak Amu Lanu).
1 thank Dr. Barbara Harrisson very much for translating this essay in English.
2 Apparently Professor Schiller took such unqualified informants to explain the etymology and
history of the word “basarah”, to conduct a religious worship (2005: 117, 118). According to
these informants the word “basarah” is derived from “basara”, to litigate. First. Schiller doesn't
notice, that basarah is written and in Malayan language spoken with “-h”, basara without “-h”!
Secondly, basara is derived from bicara, bichara, to talk (Hardeland 1859: 52 Bingan-Ibrahim
29; Schaerer 1946: 11; Wilkinson I 135), and bisarah is a loan-word from the Indonesian root
“serah”, thus “menyerahkan diri” (like the Arabic root and meaning of “Islam”).
3 For instance: Why was the Japanese occupation of 1942 especially cruel in Tarakan? Accord-
ing to van Heekeren, because the Dutch succeeded to sink a Japanese minesweeper there
(Heekcren 1969:41,42).
4 Pers. comm., Heeresmuseum in Leiden, 1983.
47
TRIBUS 56,2007
Fig. 1: Map of South-
east Borneo (eastern
Central Kalimantan
and South Kaliman-
tan). Adapted from
Knapen 2001: map.
Map 1. Map of Southeast Borneo, showing the geographical names mentioned in
the text (adapted from Scharer 1963:map)
Kn орел iaoiwsg
extraction5, followed close behind the missionaries. Two mountain ranges in Central
Kalimantan, the Schwaner and the Muller-Mountains, to this day carry the names of
German pioneers.
According to early reports the Ngaju-religion assigned cosmological or geographical
feature to different deities. For instance, the uppermost heavenly sphere is believed
controlled by the creator, Hatalla, who in interior areas was also called Hatara. The
name's etymology suggests a Hindu-derivation. “Mahatara”, also specified as “Bhat-
tara Guru” stands for the Hindu God Shiva6. Later, when Dutch control expanded
and Moslem influence grew, the name of the Creator God - and so also today the
name of the one High God - was islamised as “Hatalla”.
The earth's surface and what is underground belonged to the deity Kaloè, a female
monster in a shape of a one-breasted toad7. In the course of time Kaloè was replaced
by Jata, another riverine deity, who was also female and also in charge of water and
underground8. However, Jata also seems to have an Islamic flavour, for sacrifice in
her name may not include pork meat, only goat meal9. From 1935 until 1960 the Nga-
ju venerated two high and central deities in parallel: Hatalla, the deity of the sky, and
Jata, the deity of water and the “underworld”10.
5 Becker, J.F., 1849; Schwaner 1853/54.
6 Schaerer 1946:16; Zimmermann 318,365.
7 Baier 2006:6; see also the name of the town „Kluwa“ in South Kalimantan.
8 Perelaer 1870:5,6.
9 Zimmermann 1969:317-324.
10 Baier 2006:7,21 and Schaerer 1946:22.
48
Martin Baier; The Deveolpment of a New Religion
Dari Pertemuan Paguyuban Antar-umat Beragama
Kedatangan Pendeta Asal Jerman, Ceritakan S
ADA yang menarik dalam perte-
muan yang dilakukan oleh
paguyuban antar-umat beragama
Cota Tarakan, Jumat (10/3) kemarin.
Ini karena mereka kedatangan
seorang tamu asing yang berasal
dari Negara Jerman. Dia adalah Pdt
Dr Phil Marthin Baier, yang juga
seorang peneliti antropologi di
daerah pedalaman Kalimantan.
Hadir dalam pertemuan itu, sejumlah per-
akilan dari beberaga agama yang ada di
ota Tarakan. Seperti pastur, pendeta, Ke-
a MUI yang sekaligus selaku ketua pa-
yuban umat antar agama. pimpinan aga-
i Hindu dan Budha. serta beberapa peng-
JS MUI Kota Tarakan.
Kedatangannya ke Tarakan. selain berte-
i dengan para tokoh agama, Phil Marthin
Fig. 2: Press cutting from the daily paper „Radar Tarakan“ on my lecture of March
11,2006.
During the colonial era still other deities were venerated, for instance Pataho, foun-
der and protector of villages11. Especially during head-hunting one placed oneself
under his protection since Pataho was also in charge of war and defence. Even today
one may come up against traces of him in Central Kalimantan, in the form of model
houses placed on stilts in his name. Often inside such a hut exotic objects can be
found; for instance, a monkey-skull, a curiously shaped stone, or an objet from a ship-
wreck11 12. About twenty years ago I discovered the rusty replica of a cannon in such a
hut. Perhaps it was possible, so I thought, to see if it came from a Portuguese or a
Dutch ship? But suddenly an old woman stood behind me and suggested I offer a
bottle of beer to this cannon. Puzzled. I asked, why beer? This was an alcoholic beve-
rage, therefore “haram” to Islam? To this she replied that the cannon was “Western”;
and that it was her family's Pataho who wanted beer for it. just as any “Westerner”
would.
There are other deities, such as Sahor, Bapa Sangumang, Indu Sangumang, and
others, who watch over different aspects of human life, like health, or wealth and
well-being. Most important, however, is the mighty Tempon Telon, who watches over
the souls of the dead in the afterworld13. This deity was held in higher regard than the
Creator God, Mahatalla. So important is Tempon Telon that the religious community
of the tribal religion was called Babuhan (community) of Tempon Telon. Moreover,
today Tempon Telon is considered equal to Shiva, as the god of destruction and dis-
solution14. Likewise, the creator Mahatalla was not as almighty and unchanging a
century earlier as he is now. He had power only as long as he possessed “the water of
life”, Danum Kaharingan, which ensured rejuvenation15.
Throughout the Dutch era there was religious freedom for everyone; only headhun-
ting, slave sacrifice and cruelty to animals, as they occurred during death-feasts, were
forbidden. Later, during the Japanese occupation, it was policy to craze all remnants
of Western colonialism. For the first time native religion was taken seriously, on a par
with high religion. From 1943, a general movement towards “Japanization” took
11 Baier 2006; 17.
12 Kuehnle-Degeler 1924:111-114.
13 Lumholtz 1920/1:23; Schaerer without year: 131, Ugang 1983; 10.
14 Baier 2006:20,22.
13 Zimmermann 1969:317-324.
Pdt Phil Marthin saat bertatap muka dengan beberapa tokoh agama yang tergabung dalam
paguyuban antara umat agama Kota Tarakan di Ruang Imbaya, kemarin.
yang lernyata sudah puluhan tahun menja- distribusian buku-buku antropologi karan-
lani misi misionarisnya di pedalaman Kal- gannya ke perpustakaan UB.
teng ini, jugamelakukan kunjungan ke Uni- Secara terpisah Phil Marthin ketika
versitas Borneo (UB). terkait rencana pen- diwawancari Radar Tarakan. menjclaskan
49
TRIBUS 56,2007
place16. Native priests were encouraged to reintroduce or maintain their old rituals.
Educated Adat specialists and Christian Ngaju reverted back to animism, foremost
among them Tjilik Riwut. who later, in 1957, became the first Indonesian governor of
the new Province of Central Kalimantan. J. Salilah, a medical nurse during colonial
times and Christian employee of the Mission Hospital in Kuala Kapuas, became a
professing animist and practicing priest in the Japanese time. Already in 1945 the
Japanese had urged him to give his religion a new name.
Spontaneously he chose the name “Kaharingan”. Its etymology derived from ritual
language and the concept of “haring” which means “to exist by oneself, without foreign
influence”17. As the Hindu Kaharingan religion explains it today, Kaharingan means
“living”, “a source of life stemming from God”18.The new name spread throughout
Kalimantan after 1945. At present it is presumed to be the official name for all extant
Dayak religions of Indonesia, more exactly for what survives of them, specially in Cen-
tral Kalimantan, and along the borders to West and East Kalimantan (Tunjung-, Benu-
aq-Dayak), as well as in the Meratus Mountains of South Kalimantan.
Encouraged by developments during the Japanese occupation, adherents of Kaha-
ringan organized a conference. During 1950 they met in Central Kalimantan near
Palangka Raya where they resolved to maintain Kaharingan as the official name of
their faith. Simultaneously they established a political party, the Serikat Kaharingan
Dayak Indonesia19. But they still had a long way to go before the new religion beca-
me official. Before Indonesia was ready to grant formal approval, a number of con-
ditions had to be met. The state permitted only one ideology, namely “Pancasila”
which embraced one Almighty God. How can a world view, which believes in many
gods and spirits, satisfy this stipulation? Tjilik Riwut was aware of this problem. In a
publication locally distributed during 1953, he acknowledged that Kaharingan knew
only one God by name of Ranying20. However Ranying is only a honorific for the
creator God “Ranying Hatalla Langit”. This Ranying occupies the seventh, or high-
est, heavenly sphere, jointly with his “angels”, the “Dewas” and “Sangiang”. By way
of explanation, Riwut in this instance refers to the sister or wife of Hatalla. For the
first time he manipulates in writing the ranking of Ranying Hatalla Langit so that he
can appear similar in status as the God in Islam or Christianity; a God without fami-
ly, wife, or children. The original family members were degraded to angels.
Marked changes took place too in the cost of sacrifices, especially in the Tiwah
Feasts of the Dead. Before the Dutch occupation it was necessary, at least for the
leading families, to offer slaves (these were mostly bought at the slave market). In
1859 the Dutch forbade this practice and only buffaloes were allowed to be offered.
In the fifties and sixties the death rituals experienced competition from the much
cheaper rituals of Islam and Christianity. According to Dr. Sri Kuhnt-Saptodewo,
after the eighties only hens were required to be offered at the Tiwah Feast of the
Dead21.
Ever since Indonesia started its “Orde Baru”, every citizen was formally required to
belong to a recognised religious community. Five were permitted: Islam, Christianity,
Catholicism, Hinduism and Buddhism. Those adhering to Kaharingan had to adapt
further, for in 1979, when their faith last failed recognition, they were still unable to
conform to the following requirements laid down: 1. that their belief knew only one
God; 2. that a holy book or script was present; 3. that a special building for religious
services was present; and 4. that a set number of yearly feast-days were ordered.
16 Bigler 1947; Baier 1998:51.
17 Ugang 1983:10,11,12; cf. „Danum Kaharingan“.
18 „sumber kehidupan dengan kuasa Ranying Hatalla Langit“, Lembaga Pengembangan Tan-
dak. 2003; 1 (A.b. all).
19 Schiller 1997:117.
20 Riwut 1953:5 et al.
21 Maks 1861:494; Kuhnt-Saptodewo 1993:75,78: .After questioning and receiving inadequate
information, I find this doubtful; cf also Schiller 1997:124.
50
Martin Baier: The Deveolpment of a New Religion
The changes which Tjilik Riwut had begun to make the religion acceptable were
carried further and included these adaptations.
1. The Creator God, Ranying Hatalla Langit, was declared an almighty, most holy
and elevated deity. Naturally he was also all-knowing, mysterious and everlasting22.
He became more like the Hindu Trimurti, who is creator, and simultaneously suppor-
ter and destroyer of all life. Like Trimurti, Ranying Hatalla Langit penetrates, fills,
and completes the world and the cosmos and is one with them. Jata, the Ngaju deity
of water and the underworld, was degraded to become a manifestation of Ranying
Hatalla Langit. All other Dewas, spirits, spirit-like beings or “lords in heaven" were
similarly degraded, either as manifestations of the creator or else as angels, prophets
or “Jin”23. As far as comparison with Islam went, Ranying Hatalla Langit was equal
to Allah: owing to his everlasting, esoteric perfection; no human being can adequate-
ly describe him. The qualification “all-loving”, with which he was also endowed, may
have been modelled on Christianity.
2. A holy book. The Dutch scientist Mallinckrodt and the Swiss theologian Schaerer
before the Second World War proposed that genealogies of deities, spirits, spirit-like
beings, as well as of ancestral spirits and human ancestors were an integral part of the
Ngaju creation myth. The two scholars had compiled and interpreted this in accor-
dance with the recitals of Ngaju ritual specialists24. Their creation myth, available in
print before the colonial phase ended, was that of the Kapuas and lower Kahayan
area. However, the individuals who later promoted Kaharingan as a high religion
came from the middle reaches of the Kahayan. Therefore, in 1973, they readapted the
existing Middle-Kahayan myth to their own purposes. In 1996, at Palangka Raya,
where the final version of the myth was formally agreed upon by a committee of
leaders representing all Kaharingan communities, it was printed and made available
as a holy text entitled “Panaturan. Tamparan Taluh Handiai” viz. “The Origins. The
Source of All Being”. If one compares this with earlier versions, a number discre-
pancies and manipulations become apparent. For instance, the new text, among other
things, refers to confusion of languages and the building of a tower, just as the Koran
and the Bible have it (Genesis 11), a detail which is entirely missing in earlier Ngaju-
references25.
3. Up into the 1970s a building for religious services, which were held every week did
not exist in Central Kalimantan, and this is still so in the far interior, where a “hall”
(Balai) is built only for burial feasts. The first building for regular services (Balai
Basarah) was erected in Palangka Raya some thirty years ago. Every Thursday eve-
ning the community congregates for a short ritual with recitals and sermon, song and
collection26. The particular day of the week, however, for Kaharingan service may
vary. In Pendreh, close Muara Teweh on the Barito, the community meets on Friday
mornings. Women take part in meetings and also share ritual duties. Other services
are performed incidentally and on feast days. The Indonesian government subsidizes
the erection of a Balai Basarah.
4. Regular feast days.The curriculum for secondary schools recommends three feast
days per year27. First, the “agricultural day” after the May harvest is a thanksgiving
with rest, cleaning and blessing of agricultural tools. Deified ancestors are asked du-
ring a service to render their blessing for the coming season. Tire second is a “cultural
day”, when the gift of knowledge and culture is credited to Bawi Ayah, a deity similar
to Saraswati, the Hindu equivalent of Bawi Ayah in Bali. The third feast is a day of
“general thanksgiving” for the blessings the community received during the previous
year. Rituals in honour of Pataho, founder of communities, are performed at his
22 Baier 2006:18,19.
23 Baier 2006:20.
24 Mallinckrodt, J., and Mallinckrodt-Jata 1928; Schaerer 1946.
25 Majelis Besar Alim Ul. Kaharingan Indonesia 1996: 172.
26 cf. Schiller 2005:114-121.
27 Not yet (March 2006) adopted!
51
TRIBUS 56,2007
shrines. Complete rest from work is an important requirement. This practice was
apparently influenced by the Balinese Nyepi day28.
In March 1980, when the Kaharingan community obtained official recognition by the
state government, not as Indonesia's sixth religion but as a branch of Hinduism, the
name “Hindu Kaharingan” was formalized. Direction and competence of decision
was delegated to the “Great Council of the Hindu Kaharingan religion” in Palangka
Raya. A local Hindu Kaharingan academy became an official educational state insti-
tution. Hundreds of religious teachers are trained there. The state also formally sub-
sidizes this teaching via the leaders of the Hindu communities in Bali. So it was not
until the visit in 2001 of President Abdulrahman Wahid in Palangka Raya that money
was given to the Great Council of the Kaharingans. Only during the past few years
was it possible to formally employ teachers and to erect subsidized buildings for
Hindu Kaharingan service in Kalimantan.
It is remarkable to see how positive and self-conscious Kaharingans currently are in
the interior villages. “We are Hindus”, they proclaim. Likewise, people in Palangka
Raya are proud of being part of a Hindu world community. “In October (2004), when
a Krishna world-congress takes place in the USA, our people will be there!” The
Kaharingan curriculum for high schools claims that “The Hindu Kaharingan Religi-
on has no beginning. It has always been present, ever since there have been humans.
In fact,' Kaharingan' equals life. Together with the first human beings it came down
to earth...it gives direction and faith to all mankind.”29
Two passages of Ngaju death rituals may serve to explain the development which has
taken place. The first (Citation 1) was formulated some 80-100 years ago, written
down as cited by religious functionaries, some three months after the death of an
individual ready for burial30.The second (Citation 2) was formalized 30-40 years ago,
as recited by a Kaharingan representative of a local community, while the body to be
buried still remained at home31. Both quotations speak for themselves. Can the Nga-
ju prayers of a century ago be compared with the Kaharingan prayers of the present,
or does the new ritual appear closer to modern, monotheistic rituals as we know
them?
Citation 1: “You - the souls of the dead, as you rest by the stepping stone, close the
entrance door to the house of the hornbill; you - who lounge there like fallen leaves
by the stone, close to the anchorage, the place for boats and water snakes; you - pray
turn back, and lead us to the mountain home of the coffins, to the hill where the dead
reside... May our handfuls of rice quickly rise up to the dew-clouds and return from
there as a shower...”
These words and many more like them are addressed not to one almighty God, but
to spirit-like beings, whom one commands, rather than pleads, to respond. Such texts
can only be understood by individuals familiar with the ritual language and the my-
thology of the native community concerned.
Citation 2: “Ranying Hatalla Langit, with this prayer we commend unto you this soul
hoping it will be accepted. We pray asking you, the Almighty, to lend us your golden
boat for the Liau at the grave site of our village. Ranying Hatalla Langit, grant us
your forgiveness and love, forever, to us, your community, during lifetime the home
of the soul of this deceased. Let the water of life rain down on all of us, so that we
may continue to share a long life on earth, be wealthy and happy. Ranying Hatalla
Langit, protect us from sickness and grant us means (magic) to survive, for you are
almighty, you have more power than all kings together. Our prayer has only few
words; it is short so that its soul may return to us directly!”To conclude, three times
a “kurr” is uttered (as if calling chickens) for the soul of the prayers to return. The
final word “sahij” for “amen” marks the end.This second passage seems to bear simi-
28 Lembaga Pengembangan Tandak 2003, in Baier 2006:57; Zimmermann 1969:358.
29 Lembaga Pengembangan Tandak 2003:2 (in Baier 2006:13).
30 Schaerer 1966:495,507.
31 Majelis Besar 1974: 14-16 (shortened).
52
Martin Baier:The Deveolpment of a New Religion
larities to the Lord's prayer of Protestant Christians praising the Lord and asking for
assistance.
Although single elements, ways of expression, words, and names may derive from
ancient, native belief, Hindu Kaharingan deserves to be called a new religion, one
that was shaped by modern, educated individuals. They adapted to the demands of
their culture, to those of the state and to others elsewhere in the modern world. This
new religion takes its place in Indonesia. It developed from tribal religion into a high
religion. At the beginning of the 21st century it became Indonesia's largest, now mon-
otheistic tribal religion. Hindu Kaharingan is well respected, influental and progres-
sive now. It was a long way to achieve this.
Addendum: According to the Badan Pusat Statistics of the province of Kalimantan
Tengah from the end of the year 2004 there had been 1.913.788 inhabitants in the
province: 1.361.318 Muslims (71%), 384.698 Christians (Protestants and Catholics
18%), 198.339 Hindus (including thousands of Balinese transmigrants, 10 %).
During a period of 170 years (from about 1830 until 2006) the percentage of the
Dayak tribal Religion diminished from nearly 100% to 10%. Nevertheless nearly
200.000 believers of the Kaharingan Religion demonstrate, that this new religion is
the largest religious group in Indonesia that originate from a tribal religion. All other
animistic religions have vanished or constitute very unimportant minorities.
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TRIBUS 56,2007
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54
Gouriswar Bhattacharya:Two inscribed bronze
GOURISWAR BHATTACHARYA
Two inscribed bronze ekamukha-linga.s of the Devapala period
The general readers of the Indian art history when they encounter the names of the
well-known Pala rulers (8th—12th century CE) assume that, as they were Buddhists,
the religious art-objects produced and donated during their ruling period were inva-
riably Buddhist; but this is absolutely a wrong assumption. The Pala rulers, although
they were Buddhist in faith, all of them were tolerant towards other faiths, and sur-
prisingly most of the art-objects produced and donated in their ruling period were
not only Buddhist, but a majority of them were Brahmanical and some Jaina. It is
worth mentioning here that the Pala rulers themselves did not donate any art-object,
but it was their pious subjects, Buddhist, Brahmaijical and Jaina, who, as a meritori-
ous deed (deya-dharma), donated the images of different faiths. In the vast areas of
Magadha (South Bihar) and Varendra (North Bengal and Bangladesh), over which
the Pala dynasty had ruled, we encounter numerous stone and bronze images of a
unique style, may be generally called Pala style, of high artistic quality. Although the
second ruler, Dharmapala, was the most powerful ruler of the dynasty, it was the third
ruler, Devapala, in whose ruling period (c. 810-847 CE) a particular style in eastern
Indian art, called Pala art, grew up, evidenced by the production of numerous sculp-
tures, no doubt some of which record the ruling year of the monarch. Here we may
refer to the well-known stone image of the Buddhist goddess Tara from Hilsa, Patna
Dist. (see Ray et al. 1986, pi. 305), and the bronze images of Balarama (ibid., pis. 92
and 93). There are several images illustrated in the above volume, which are ascribed
to the 9th century or rather to the Devapala period.
The Linden-Museum Stuttgart has recently acquired two unique bronze objects of
Saivaite affiliation illustrating the lihgam with the head of Siva (i.e. ekamukha-linga)
of similar workmanship and both are inscribed, although one only directly refers to
the ruling period of the Pala ruler Devapala, son and successor of the famous ruler
Dharmapala (c. 775-810 CE).1 These two bronze objects are unique because so far no
image of Siva or of his lihgam has been found in the area under discussion.1 2
Description of the ekamukha-linga.s
Both the objects have the shape of a damaru, i.e. Siva’s musical instrument drum
(Fig.l).
Object A: Acc. No. SA 04567 L (left on Fig. 1).
Measurement: height 6.8 cm, diameter 10.5 cm.
There are two lines of writing on the circular side of the pedestal.
On top of the object an eight-petalled lotus is engraved, and out of the pericarp of
the lotus emerges the circular lihgam with the head of Siva attached to it (Fig. 2). This
head is a bit damaged in this object, but in object B it is distinct (see below). Siva has
a jatd-mukuta, perhaps attached with the crescent moon. It is difficult to say if there
is a third eye on the forehead. He wears circular rings in the ears, and perhaps a
1 Since the discovery of the copper plate inscription of the so far wrongly identified Pala ruler
Mahendrapala, son and successor of Devapala, at Jagjibanpur, Malda Dist., West Bengal, and of
the three copper plate inscriptions of Gopala II, son and successor of Surapala I. the Pala chro-
nology needs a radical change after Devapala. We have given the dates of Dharmapala and
Devapala as already given by D.C. Sircar; see Sircar 1982:179.
2 I am very thankful to Dr. Gerd Kreisel who kindly sent me several digital photographs of the
two bronze objects and asked me to write on the objects and decipher the inscriptions. I am
doing that gladly although I must admit frankly that I have not been able to decipher the care-
lessly written inscriptions correctly and completely.
55
TRIBUS 56,2007
Fig. 1: Ekamukha-linga A, cast bronze, h. 6,8 cm, Inv.No. SA 04567 L (left); ekamukha-
linga B, cast bronze, h. 5,0 cm, Inv. No. SA 04.568 L (right). Photo: Anatol Dreyer.
Fig. 2: Ekamukha-linga
A. Photo: Anatol Dreyer.
snake-hood is shown at the left side of his head. On the rim of the pedestal {pitha), in
front of the lihgam with Siva’s head, crouches his mount, the bull (vrsa), looking in-
tently towards the master.To the right of the bull there is a hollowed circular element
(drain or pranali) which was made to drain out the liquid offering, water or milk, to
the god. To the left of the bull sits a devotee with bent legs (kneel-down position) and
folded hands holding some offerings. He has his hair tied on top of his head. This
figure may represent the donor mentioned in the inscription engraved on the bronze
object. Below the bull on the lowest rim there is a flower-like object with three ele-
ments which is difficult to explain. At the back of the pedestal a handle is made per-
haps to hold the ekamukha-lihgam.
As mentioned above Object A contains two lines of writing in the Siddhamatrka
script and in Sanskrit. The second line is written very carelessly and it is difficult to
decipher, no doubt it records the name of the donor. It appears to us that the first line
of the writing starts below the drain or pranali (Figs. 3-6).
Text:
line 1: siddham (symbol) sri-devapdla-deva-pravarddhamdna-vijaya-rajya-
samvatsara-catu[rthyam/ sakyaseld[i]3
3 The reading and meaning of the last expression is doubtful.
56
Gouriswar Bhattacharya:Two inscribed bronze
Fig. 3: Inscription on A, starting
below the drain.
Photo: Anatol Dreyer.
Fig. 4: First line continuing; below:
end of second line.
Photo: Anatol Dreyer.
Fig. 5: In middle of first line: year 4
(of king Devapala); below: start of
second line.
Photo: Anatol Dreyer.
line 2: This line starts below the ligature tsa of samvatsara of the first line
(see Fig. 5) and has been very carelessly written, but it records the
name of the donor. It starts with the letters vibhu and ends with do-
vadhrasya krtasya (see Figs. 3 and 4).4
i.e.: Success! in the growing victorious ruling year 4 of the illustrious
Devapala-deva (the ekamukha-linga was) made (or rather donated)
by (a person whose name ends with) ...dovadhra.
Object B: Acc. No. SA 04568 L (right on Fig. 1; also Figs. 7 and 8).
Measurement: height 5 cm, diameter 10 cm.
There is one line of damaged writing on the upper rim of the pe-
destal {pitha).
The iconography of the ekamukha-lingam is quite similar to Object A, although the
condition of this object is much better than the other. On top of the circular pitha an
eight-petalled lotus is engraved and out of the pericarp of the lotus emerges the
lihgam with a face (eka-mukha) of Siva. This face is also similar to the other descri-
bed above. Perhaps there is the crescent moon on the matted hair of the god and a
This line requires a thorough re-reading.
57
TRIBUS 56,2007
Fig. 6: First and second lines con-
tinuing.
Photo: Anatol Dreyer.
Fig. 7: Ekamukha-liñga B.
Photo: Anatol Dreyer.
third eye on his forehead. He wears ear-rings and perhaps a snake-hood is shown on
his left. But here his rudraksa-mdla is quite prominent. His mount (vdhana), the
crouching bull (vrsa), is shown in front of him looking intently towards the master.
On the other side the drain or prandli is executed, but in this case it is open and not
closed like the previous one. There is, however, a uniqueness in this ekamukha-
lirigam, because here a female figure with a canopy of five(?) snake-hoods above her
head is shown. She is a Nagini. Siva’s association with Nagas and Naginis is well-
known, but the worship of an ekamukha-lingam by a Nagini is unique, and in that
respect Object B is more interesting than Object A. The Nagini sits on the lower rim
of the pedestal holding some indistinct object, or she is grinding some ingredient, and
in front of her there is some offering and incense-burner. Compare also the Object A
for this element. Opposite to the Nagini sits a corpulent male(?) figure whose head is
missing, holding some round object (fruit?) in the left hand while the right hand is
placed in front of the chest. It is quite difficult to identify this figure sitting in an
awkward position. Whether this was a figure of a Naga cannot be determined be-
cause the head (with a hood?) is missing.
As opposed to Object A, Object B contains only a one-line damaged inscription on
the upper rim of the pedestal. It appears that this object also belongs to the ruling
period of Devapala, although his name is not mentioned here. The inscription is writ-
ten in the Siddhamdtrkd script and Sanskrit (corrupt), and records the name of the
donor (damaged). It reads:
govinda-suta ...,
i.e...., son of Govinda (Fig. 8).5
5 We regret our inability to decipher the two carelessly written donative inscriptions of the
Devapala period. It is obvious that one has to devote more time and attention to do justice to
these two records mentioning the name of the donors.
58
Gouriswar BhattacharyaiTwo inscribed bronze
Fig. 8: Inscription on B.
Photo: Anatol Dreyer.
It need not be surprising that during the rule of the Buddhist king Devapala a Siva-
lirigam was donated by his subjects in Magadha or South Bihar, because we know
already that in the 26th regnal year of the Buddhist king Dharmapala a stone image
of a caturmukha-linga was donated by one Kesava, son of the mason Ujjvala, at Bod-
hgaya;see Chakravartti 1908; 101.
Literature
Chakravartti, Nilmani
1908 Pala Inscriptions in the Indian Museum, JPASB (= Journal and Proceed-
ings of the Asiatic Society of Bengal) IV, pp. 101-109, Calcutta.
Ray, Nihar Ranjan et al.
1986 Eastern Indian Bronzes, Lalit Kala Akademi, New Delhi.
Sircar, Dines Chandra
1982 Pal-Sen Yuger Vamsanucharit, Kalikata (in Bengali).
Geert Gabriel Bourgois: From sandpaper to chisel
Abstract.
The present article is an attempt at redressing the common view that contemporary
Zimbabwean stone sculpture somehow is taken up by the ongoing battle between
the sexes. There may indeed a lot of that be going on, but one should never forget
that any African art will be first-and-foremost produced for the culture from which it
emanates. Therefore, it goes without saying that any recalcitrations felt in the West
need not be felt in a similar way - or, indeed, at all - in Africa.
Especially with regard to its historical dimensions, Zimbabwean stone sculpture suf-
fers from a distorted view which attempts to place it solely amongst its contemporary
Western adversaries. In this way, a lot of information about the early days is either
not used, or it is indeed not looked for.
GEERT GABRIEL BOURGOIS
From sandpaper to chisel: The ascension of the sculptress in
Rhodesia (Zimbabwe)
Sculpture is certainly no exclusively male prerogative, as is amply proven in Western
art by such female coryphees as Camille Claudel, Louise Bourgeois and Barbara
Hepworth - to name but a few. Still, at least Claudel may have laboured under the
biased view that sculpting somehow did not behove a lady. Her African sisters, too,
have long suffered under unfavourable preconceptions as to what a female artist
could or should do. Again sculpture was considered not done - almost taboo in this
case. Still, when researching any art with a specific female perspective one should
bear in mind not to limit oneself to those objects that can readily be studied through
exhibition catalogues or gallery sales’ lists. Such works have, after all, been screened
in accordance with the (white) public’s expectations. More relevant - but harder to
trace - would be the kind of work the artist would have liked to produce.
With respect to the role and position of the female artist in Zimbabwean stone sculp-
ture, an earlier article in Tribus has, with reason, regretted the lack of information on
these issues.1 This problem is felt even more acutely when one researches the early
years of that new African art, i.e. the years 1958 to 1973. Still, the author of the pre-
sent article was fortunate enough to be able to cull the necessary data for his doctoral
research from the extant old archives of the National Gallery of Zimbabwe (Harare).
A veritable cornucopia of true primary data has been tabulated and collated from
these archives. This material provides the necessary basis for sound historiographical
studies on the subject. Schafer’s text, on the other hand, suffers from a methodologi-
cal handicap common to most previous writings on so-called Shona sculpture, i.e. an
extensive - if not exclusive - reliance on secondary sources - most of which are less
than reliable to boot. This accounts for two major problems in the current literature
on Zimbabwean stone sculpture, to wit a number of compounded factual errors and
an endemic misinterpretation of causes and effects.1 2 Any attempt at a proper histori-
1 Schäfer 2000.
2 One example of such a compounded factual error must suffice, but it is one that is most telling
in its concatenations. Schäfer (2000:176) refers to a Shona sculpture exhibition purportedly held
at the Museum of Modern Art (New York) in 1972 (sic). There is no independent confirmation
of such an exhibition - although there was a botched one at said location in 1968. In 1970, there
was however an exhibition at the Musée d’Art moderne de la Ville de Paris. In subsequent texts,
this becomes shortened as the Musée d’Art moderne and ultimately translated as the Museum
of Modern Art - of which there is apparently only one, i.e. in New York and dates have anyway
proven themselves to be most unfixed in the canonical ‘Shona’ story.
61
TRIBUS 56,2007
ography of this modern African art - or any other, for that matter - surely must first
come to terms with both these problems.
For the benefit of the interested reader, what follows will be a synoptical history of
the genesis and early years of what is commonly known as Shona stone sculpture.
This history will be partially - albeit selectively - known to many. It is after all a very
prolific phenomenon with a history dating back at least sixty years and covered ex-
tensively - if not always accurately - in many publications. There is an orthodox -
indeed, canonical - story going around and although - or, maybe, because - it is lar-
gely based on the oldest eulogies on this art, too many of its earliest protagonists
have been ostracized. Conversely, others have been unduly promoted with an unwar-
ranted primogeniture or with an inflated résumé. Forget about the historical soap-
stone birds of Great Zimbabwe. They have nothing to do whatsoever with the mo-
dern stone sculpture movement.3 The following account will surely ruffle some fea-
thers, but it is one that is borne out by documented facts. To all intents and purposes,
it all started in 1939 at Cyrene Mission - in what was then Rhodesia (now Zimbab-
we) - when Canon Paterson taught his boys how to carve in wood and stone. With a
subtle criticism on the canonical story of‘Shona’ stone sculpture, Paterson (1973:1)
writes that at the end of the 1940s he imported a ton of so-called wonderstone from
South Africa and “with this stone sculpture was revived in Rhodesia”. As noted by
Paterson (1942:2) in tempore non suspecta, some of the Cyrene mission boys carried
on their newly acquired craft when they returned to their villages. The beginning of
tourism in Africa has been a stimulating factor for the production of all manner of
handicrafts.4 In Bulawayo, the other major town in Rhodesia, the municipal social
services started craft workshops in the townships of Makokoba (1959) and Mzilikazi
(1963). Quite a few artists from Bulawayo - including some ex-Cyrene pupils - made
up the African sculpture section in the very first annual exhibitions held by the Nati-
onal Gallery of Rhodesia (Salisbury). After Paterson had retired from the mission in
1953, he started some craft workshops in the townships of the capital Salisbury
(Harare).5 By that time, in 1957, the new National Gallery of Rhodesia had opened
and its first director, Frank McEwen, was about to start an art workshop on its pre-
mises. This workshop will materialize in 1962 as the Workshop School and would
become one of the cradles from which, eventually, ‘Shona’ sculpture was to come
forth by the end of that decade. Also in 1962, another group of sculptors with Joram
Mariga from Nyanga in Eastern Zimbabwe joined the new movement. In 1966, Tom
Blomefield turned his redundant farmworkers to sculpting in stone and the Ten-
genenge group was born. All these different strands - and, no doubt, many more -
account for the many guises of‘Shona’ sculpture.
And where do female sculptors fit into this picture? It shouldn’t come as a surprise
that no female sculptors are known to have originated from the mission-school at
Cyrene. This kind of institution catered for boys only. So it would follow that no fe-
male artists can have come forth from that first batch of sculptors. One should not
dismiss, however, the possibility that a later wife of a sculpting mission-school old
boy might first assist her husband in his new craft and eventually become herself
creatively independent. It is said, for instance, that Locardia Ndandarika already
3 And, according to one eminent scholar, they do not amount to very much aesthetically any-
way. Rather unapologetically, Garlake (2002:160-161) qualifies them as “stumbling, inarticu-
late, tentative, uncertain and unresolved; an unsuccessful experiment, a unassimilable alien
genre”. This can count as epitheton ornans.
4 Rhodesia (Zimbabwe) is no exception to the rule and it can be very instructive to look at
other instances of new African art. Examples that spring to mind are the Wakamba woodcarv-
ings from Kenya and the Makonde shetani carvings from Mozambique.The temporal spacing of
the respective popularity of these new African arts is, by the way, a good indicator of the fickle
altitude of the Western public.
5 From 1954 till 1961 Paterson runs an art class at Chirodzo School (Mbare Msika), subse-
quently he is working at Nyarutsetso Art School (Highfield) from 1961 till 1968 and, finally, he
starts the Farayi Arts Centre (Mbare) in 1968 (Walker 1985: passim).
62
Geert Gabriel Bourgois; From sandpaper to chisel
sculpted in 1964 (The Herald 2 May 1990).6 She had learned this from her ex-hus-
band (who is not named in that article, by the way) when she assisted him in the final
stages of his sculptures.7 She herself first exhibited with her own sculptures in 1971 at
the Musée Rodin (Paris), but afterwards her public career will show a hiatus until
1987. The municipal art workshops in Bulawayo, for their part, instructed both men
and women, and although most women here seem to have been involved in other
crafts one can’t exclude the possibility that some may very well have dabbled in
stone sculpture or woodcarving. In Nyanga and Tengenenge, on the other hand, there
have been female sculptors virtually from the start. As for McEwen’s Workshop
School, Mawdsley (1994:20) points out that only few women ever were part of it. But,
for that matter, neither were most male sculptors. Frank McEwen himself is quoted
as saying that during his years as director of the National Gallery he had seen about
one thousand sculptors pass through the Workshop School. Of these, he reckons only
about seventy to eighty to belong to the Workshop proper and ultimately only about
one dozen would qualify - according to him - as true artists (Cape Argus 9 Novem-
ber 1972).8 The fallacy in Mawdley’s statement is the assumption that said Workshop
School is synonymous with the stone sculpture movement in Rhodesia (Zimbabwe).
As has been shown above, there were many other networks through which sculptors
could market their output. Next to its Workshop School, the National Gallery of
Rhodesia itself also had a second and purely mercantile network - called the Work-
shop Sales. Hundreds of sculptors were involved in this network with - for the most
part - very limited or very sporadic sales.
In all those networks, many female sculptors must have been active but on average
the literature on Zimbabwean stone sculpture mentions only about five of them for
the years 1958-1973.9 Schafer is, of course, not wrong when she states that female
sculptors in Zimbabwe have been given far too little attention. Still, many male
sculptors from the first generation are also scantily documented and it would appear
that, indeed, most have been virtually forgotten. Especially, even amongst female
sculptors themselves there is a discrepancy with regard to their appearance in the
literature. More particularly - and in line with the historical focus of the present ar-
ticle - the very first female sculptors have been almost completely ousted from the
story by their later sisters-in-arts. According to one Zimbabwean art critic, already in
1966 - which date would seem to refer to the starting of Tengenenge - women were
involved in stone sculpture although their local recognition didn't come until the end
of the 1980s (Mhonda 1990:18). However, archival research has revealed that at least
as early as 1963 some women associated with Joram Mariga were already sculpting
in Nyanga. Three early works ascribed to a Nyanga sculptress are preserved in the
Permanent Collection of the National Gallery of Zimbabwe.10 But even locally most
of these facts seem to have been forgotten. One newspaper article, devoted exclusi-
vely to Agnes Nyanhongo, describes her as the first (sic) female sculptor in Zimbab-
we (The Herald 15 January 1985). Nyanhongo only started sculpting in 1981 under
the tutelage of her father Claud Nyanhongo and her first exhibition dates from 1984
(Annual Nedlaw 1984). The erroneous primogeniture accorded to Nyanhongo has
become commonplace in sundry gallery publications. But surely, one cannot, merely
on chronological grounds, argue that there is ipso facto a distinction between Rhode-
sian sculpture prior to independence and Zimbabwean sculpture after independence.
6 Mhonda (1990:18) gives the year 1969 as the start for Ndandarika’s sculpting career.
7 Locardia Ndandarika was the - later estranged - wife of Joseph Ndandarika, one of the early
big names in ‘Shona’ art during the 1960s.
8 Incidentally, this proves that McEwen based his absolute statements about ‘Shona’ stone
sculpture in toto on the production of about one percent of the artists' population.
9 These five sculptresses would be Joyce Manyandure, Ndakatsikuyi (= Mai) Manyandure,
Janet Manzi, Maud Mariga and Locardia Ndandarika.
10 Anna Mariga (a.k.a. Anna Jera): “Head" (PC-6300-0120), “Sitting figure” (PC-6300-0121)
and “Kneeling Figure” (PC-6400-0272).
63
TRIBUS 56,2007
At this point in time, recent research has already revealed the names of some forty-
odd sculptresses for the years 1962-73. Of these, twelve belong to the Nyanga group,
twenty-two are from Tengenenge and the rest come under the perifery of the Work-
shop School. For instance, on the occasion of an exhibition in the Goodman Gallery
(Johannesburg 1970), it is mentioned that Mrs. John Takawira is the only female
sculptor in the Vukutu group (H.E.W. 1970).11 The available primary sources - i.e. the
sales slips and other documents of the Workshop School Sales - show that the wo-
men sculptors in Nyanga, although presumed to be present since 1962 at the latest,
were active mainly between c.1965-70 and the ones in Tengenenge c.1968-70. Later
on, the Nyanga sculptresses disappear from the records of the Workshop School.
Still, this does not imply that they ceased sculpting altogether. They may very well
have found other outlets, such as the craft centres founded by Paterson in various
townships around Salisbury (Harare).The same goes for a lot of their male colleagues
and the reason for such a shift lies mainly in the fact that the sculptors were very
much conscious of the marketing of their work. There is more than sufficient docu-
mentary evidence that the Zimbabwean stone sculptors were active in different net-
works at the same time. Although the Tengenenge sculptors - both male and female
- also virtually disappear from the records of the Workshop School, their community
remains a prolific participant in the local sculpture scene. As for the female sculptors
at Tengenenge, they seem to have remained actively involved and in 1975 Blomefield
will even organize an exhibition, entitled Tengenenge Women Artists, in the Standard
Bank Gallery (Salisbury).11 12 It goes without saying that the situation pertaining to the
female sculptors as described here can only be considered a minimum minimorum.
The facts have been drawn from extant sources which must be taken as incomplete,
to say the least.
According to Jules-Rosette (1984:82), African women have only recently been allo-
wed to undertake commercial sculpture on a professional basis. This would infer that
traditional concepts of gender-specific work allocation are still in vogue when it co-
mes to non-traditional enterprises. Jules-Rosette’s statement is actually a little mis-
leading because commercial sculpture is itself a relatively recent phenomenon in
Africa - at least in its capacity as is meant here, i.e. tourist art. Most commentators
view the phenomenon of the female Zimbabwean sculptor in the general context of
the so-called gender studies and especially as a sign of the social evolution in Africa.
The titles of their publications are telling in their choice of words: “Women invade
the world of male sculptors” or “Women sculptors break male dominance” (Chihom-
bori 1993; The Herald 2 May 1990). It may very well be - the proverbial exceptions
nothwithstanding - that most expressions of woodsculpture and other figurative arts
always were an exclusively male prerogative in the traditional African context. In
Rhodesia (Zimbabwe), however, figurative woodsculpture in particular never has
had the kind of local importance as was the case in West or Central Africa. From this,
one has to conclude that there will not have been any pronounced traditional cultu-
ral matrix for the so-called Shona stone sculpture. It also appears that there would
never have been any explicit cultural restrictions on female participation in the new
stone sculpture scene. For most sculptors - male and female - their new art was initi-
ally - and later also, for that matter - nothing more than a purely economic activity.
Everything considered, the production of women sculptors in Zimbabwe will on ave-
rage show to have been much lower and more sporadic than that of their male col-
leagues. And although this situation may have changed for the better, even today the
11 Vukutu was the name of McEwen’s penultimate undertaking in the Rhodesian sculpture
scene.
12 An article in The Rhodesia Herald mentions five sculptresses, i.e. Dofe Khoreya, Mrs. Matern-
era. Loveness Phiri, Porina and Twelenda (Hamlyn 1975). Of these, only Dofe Khoreya is in-
cluded in a recent - and allegedly comprehensive - lexicon (Joosten 2001:212). According to
Schafer (2000:177), the first exhibition devoted exclusively to the work of female sculptors took
place in 1996.
64
Geert Gabriel Bourgois: From sandpaper to chisel
Zimbabwean sculptress is far too absent from the story. Only those who have been
schooled in the BAT Workshop or who, for example, have been selected for the Cha-
pungu Sculpture Park Resident Artist Scheme are mentioned in the texts. For in-
stance, an American artist-writer states explicitly that she will only focus on the work
of four autonomously active women instead of on all those who polish the sculptures
made by their fathers, husbands or brothers (LaDuke 1994;xiii).13 With regard to
gender studies, it is exactly the latter situation which would be more relevant.
One important thing to keep in mind, though, is that a woman artist should also be
considered in other respects than just her womanhood. Apart from gender, any indi-
vidual will have multiple and evolving identities of age, status, schooling, professional
background, religious adherence, ethnicity and so forth. So, any conclusions that
emerge from studies on the Zimbabwean stone sculptor would be more pertinent if
the researcher had also taken into account generational, religious and ethnic aspects,
to name but the most obvious. For instance, any stone sculptor in Zimbabwe - male
or female - would have been relatively young when embarking on that particular
career. In any gerontocratically structured society, this would have significant impli-
cations as to the cultural relevance of the art produced by such youngsters. In patri-
lineal Shona society, especially new brides would suffer the compounded setback of
being young, female and outsider as well. Still, the local patriarchy not only concer-
ned elder male control of young women but of young men as well. Therefore, both
age-sets often joined ranks across the boundaries of gender. Religious adherence was
often specific to gender and (my italics) generation. Protest against ruling elites often
took the form of a religious struggle waged by women and (idem) youth (Maxwell
1999:6). And anyway, youth eventually become old men and women themselves. Ac-
cording to Maxwell (1999:177), elderly women acted as guardians of the family histo-
ry. They also helped to reproduce the patriarchal social order, repeating the common
male slanders about younger women, that they were prostitutes, liars, unreliable and
impure. They derived their high status not so much from their gender as from their
age, which they went to great lengths to emphasise - dixit Maxwell. Apart from the
age-aspect, in Zimbabwe one would also have to consider a female artist’s member-
ship - if any, but one that would be very likely - of the vaPostori, the local branch of
the African Independent Churches.14 As a matter of fact, many scholarly studies on
the evolutions in contemporary Zimbabwean society point to the existence of a fac-
tual - if not explicit - alliance that is basically tripartite. It has been noted that the
constituent agents in most of these evolutions have been women, male youths and
migrants. For instance, a study on the Hwesa people in north-east Zimbabwe repea-
tedly mentions these three groups in one sentence.15 A breakdown of the sculptors’
population during the early years of Zimbabwean stone sculpture shows exactly such
a tripartite composition.
The biographies of the female sculptors from the so-called first generation have in-
deed been poorly documented. This situation cannot, however, solely be blamed on
the implied misogyny of male academics and art critics, as Schafer (2000:175, 177)
feels obliged to infer. Instead, one can point to a number of plausible other reasons
for the underexposure of the female sculptor in the story of Zimbabwean stone
sculpture. For a start, quite a few may not have been identified - or were not identi-
fiable at all - as women because only a surname has been recorded or just the initial
13 LaDuke has written the fifth chapter of her book Africa - Women’s Art, Women’s Lives on
“Shona Women Sculptors” (LaDuke 1994:85-116).
14 Reporting on the sculptors of the Mukayera community - the Guruve branch of the vaPos-
tori - Ruzvidzo (1999) mentions that women make up about half of this group which had been
active since 1971.
15 Women, male youths and migrants have appropriated or localised Christianity in order to
pursue their own agendas. They rapidly adhered to churches which legitimated themselves in
local terms. The Pentecostal missionaries in the area had strong allies in women, youth and
migrant people (Maxwell 1999:7,69,87).
65
TRIBUS 56,2007
of a first name. The situation is further complicated by the sometimes unruly ortho-
graphy with which their names are reproduced. It takes some reading between the
lines to decipher a name like Giresi (also known as Ngirazi) as meaning Grace. Less
difficult would be the rendering of Keti for Kate, or Zuze for Suzy. Also, because
most women never made it through the selections for an exhibition they hardly had
a chance of getting mentioned in the relevant literature. Where archives are extant, it
further shows that most women had only a poor sales record with limited or sporadic
sales and in some cases even with a blank sales ledger to their name. Often, they also
produced objects that were more craft - such as plates, candlesticks and sugar bowls
- than art. Finally, in so far that their career has been documented at all it often pro-
ves to have been a short one. Needless to say, all of the above problems again apply
to many male sculptors as well. One awkward - and, no doubt, highly controversial
- question that also needs to be asked is whether the omission of the female artist in
the story of Zimbabwean stone sculpture could not be linked to the quality of her
work or, more precisely, to the lack of it.16 After all, a lot of women only came to
sculpting because they were related or married to a male sculptor - who, very often,
also had entered that profession merely on the grounds of family ties. The wives, si-
sters, daughters and other female relatives of male sculptors were simply drafted into
the production process. Also, most sculptresses who ultimately came to a full-time
exercice of the profession did so merely for economic reasons - as did most of their
male counterparts, by the way. Again, this implies an attitude that is more craft than
art oriented. In other words, there is little or no proper artistic calling in these in-
stances and, again, that goes for quite a few male artists as well. The prospect of any
income, however frugal or insecure it may be, has for many women been the single
most important, if not the only reason why they turned to this new craft (Gemu 1999;
Ruzvidzo 1999). Being a cottage industry, for mothers with young children sculpting
also has the added benefit that it can be done at home.
When one looks at the career of an artist - male or female - several criteria can be
applied. There is the exposure through exhibitions, reviews in newspapers and arti-
cles in magazines, inclusion in monographs and museum collections, and so on. There
is also the less publicized market success an artist can enjoy - even against the judg-
ment of the professional commentators. In this respect, sales records are a good indi-
cator for the progress of an artist’s career. One can, for instance, ascertain the dura-
tion, regularity and level of his production. One can also compare the prices his
works fetch with those from his peers. One can even look into the subject matter of
his art as can be discerned from the given titles. Obviously, all this applies to female
sculptors as well and the lack of published information about their careers can, at
least partially, be compensated for when one disposes of such sales records and other
primary sources. For one thing, it may show from these sources that although the
husband has had more exhibitions and reviews to his credit, it is actually the wife who
has been the more prolific and (commercially) successful artist.17 According to Scha-
fer (2000:175), the position of Joram Mariga as acclaimed nestor of the Zimbabwean
stone sculpture obscures the fact that his wife Maud was also active as sculptress. She
regrets the lack of research on the work of this female artist, as well as on the, accor-
ding to her, reciprocal artistic exchange with her husband. Indeed, not that much has
been done so far on the contribution - both thematically and formally - by the fe-
16 However, there will be the proverbial exceptions. Commenting on the exhibition Tengenenge
Women Artists (Salisbury 1975), Hamlyn (1975) notes that the work by Dofe Khoreya “clearly
is the most inspired”.
17 Still, there are examples of exactly the opposite situation. Both Amah Malola and his wife
Kilala Malola had an early career in sculpting in Tengenenge c.1970. Whereas work by Kilala
was included in exhibitions by both the Tengenenge community and the Workshop School,
Amali’s first recorded ‘exhibition’ is The Great Stone Garden Permanent Exhibition (Pretoria
1973). However, this was not a proper exhibition as such but rather a mammoth sale by Tom
Blomefield of thousands of unsold sculptures that had accrued on his farm since 1966.
66
Geert Gabriel Bourgois: From sandpaper to chisel
male producer of Zimbabwean stone sculpture. But then, it would surely be too rash
to already draw the conclusion that there must {my underlining) have been recipro-
cal professional ties between such spouses. Still, Schäfers assumption is not com-
pletely unwarranted. Revealing primary sources have come to light when, in April
2004, the Funda^ao Berardo (Funchal, Madeira) disclosed its collection of historic
contemporary Zimbabwean stone sculptures.18 A dozen or so sculptures in this coll-
ection bear the signature of an artist called Erina.This woman was the then common-
law wife of the well-known sculptor Fanizani Akuda.19 What is striking, however, is
the fact that these early works by Erina already show the later signature style of her
husband. On the other hand, his own works from these early days as preserved in the
Berardo collection do not as yet bear witness to that style. One can only guess what
may have been the reason or occasion for this transfer of style. Such evidence de visu
of marital connections in the arts has warranted the inclusion of this particular in-
stance in the inaugural catalogue of the newly established Monte Palace Museum.20
The fact that, in the end, so few women seem to have participated in the early days of
the sculpture movement - let alone, made a name for themselves - surely cannot be
blamed on any kind of diffidence on their part. One should never assume that Afri-
can women will as a matter of fact refrain from embarking on any enterprise that is
not part of their customary world. For instance, it has been written that African wo-
men have assumed prominent positions within syncretistic churches to the point of
frequently even standing at the helm (Daneel 1987:59). The present author would
therefore beg to differ with the received opinion that contemporary Zimbabwean
stone sculpture depicts the traditional lore of the respective cultures of the artists
concerned. Even if that were so, one would have to make the reservation that female
artists would reasonably have to resort to another kind of lore - the kind they had
traditionally access to. As it happens, both female and male sculptors in Zimbabwe
labour under the same romantic expectations from their (exclusively) Western custo-
mers. It would be very instrumental to also look at other instances where women
have been involved in new art.
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2004 Paixäo Africana - African Passion (Inaugural catalogue). Funchal, Madei-
ra; Monte Palace Museum.
18 This collection, on permanent display in Monte Palace Museum (Funchal, Madeira), con-
tains 2000+Tengenenge sculptures all dating from between 1966 and 1972.
19 In his comprehensive {sic) lexicon, Joosten (2001:153) merely mentions that Erina and Fani-
zani marry in 1971, but does not give her a separate entry as artist in her own right.
20 Bourgois 2004:46.
67
TRIBUS 56,2007
2005 (not published) Twintigste-eeuwse Afrikaanse’ steensculptuur uit Zimbabwe.
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68
Geert Gabriel Bourgois: From sandpaper to chisel
Note on the author
Prof. Dr. Geert Gabriel Bourgois (°1957) is Guest-Professor in Ethnic Art at the
University of Ghent (Belgium) and Lecturer in History of Art and in Non-European
Art at the Association of the University Antwerp (Belgium). He is curator ad hoc for
the Africa collection in the Monte Palace Museum (Funchal, Madeira) which resorts
under the Fundagao Berardo.
In 1997, he curated Part Two of the exhibition Legacies of Stone. Zimbabwe Past and
Present at the Royal Museum for Central Africa (Tervuren, Belgium). In 2004, he was
involved with the permanent museum display of the Zimbabwe stone sculpture col-
lection of the Funda^ao Berardo in the Monte Palace Museum (Funchal, Madeira).
For the year 2000-2001, the Fund for Scientific Research - Flanders has awarded him
a Special Doctoral Grant.
The doctoral thesis which he presented in April 2005 is an art historical study on the
genesis and early years of Zimbabwe stone sculpture, commonly known as Shona
stone sculpture. This thesis is the first scholarly study to have made extensive use of
the old archives of the National Gallery of Zimbabwe.
69
Christiane CladosrNeue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
CHRISTIANE CLADOS
Neue Erkenntnisse zum TocapicSymbolsystem am Beispiel
eines Männerhemdes der Inkazeit in der Altamerika-
Sammlung des Linden-Museums
A Key Checkerboard Pattern Tunic of the Linden-Museum
Stuttgart: First Steps in Breaking the Tocapu Code?
Abstract
The tocapu symbol system of Wari and Inca cultures belongs to the most impressive
aspects of material culture of prehispanic South America. Although progress has
been done in the past years the meaning and function of the tocapus remain unclear.
This chapter presents new results about tocapus by analyzing a fragment of an Inca
key checkerboard pattern tunic of the Linden Museum Stuttgart (Linden-Museum
Stuttgart, Germany, 1167.771) which up to now never has been discussed in former
publications (fig. la, reconstruction in fig. lb). The results has been received by an
iconographic analysis focusing on form and context of two prominent tocapu motifs,
the so-called Inca key and the Inca diamond (Rowe 1979) (figs. 21a, 9). Discussion
begins with an analysis that focus on the description of the design of the Inca key
checkerboard pattern tunic of the Linden Museum under special consideration of the
Inca key. Only one half of the tunic is preserved. The measurements of the fragment
are about thirty-six centimeters by eighty-six centimeters. The pattern appears to be
executed in four colors. The design consists of thirty yellow squares with red keys
alternating with thirty purple squares with dark blue keys. The original tunic has
been completely covered with keys, there were no stripes in the lower panel. The
technique is interlocked tapestry. It is a Quompi weaving.
Using the method of the long term seriation that includes the analysis of form and
context of motifs which date to the Middle Horizon (550-1000 AD), Late Intermedi-
ate Period (1000-1475 AD) and Late Horizon (1475-1535 AD) it can be shown that
several tocapu design units of the Inca period can be tracked back to Wari anteced-
ents of the Middle Horizon. Some, notably a diamond motif, seems to be the direct
precursor of the Inca diamond and is called here the Middle Horizon diamond to-
capu (MH diamond tocapu). As in the Inca period it is used as waist band on tunics
(fig. 15a) and as horizontal (figs. 15b,c) and vertical bands on four-cornered hats (figs.
17, 29). Another group of motifs here called the percent sign group (fig. 24, types
IA,B) has strong ties to Sawyer’s Type I Paired Elements a and b (Sawyer 1963). Also
existing in the Late Intermediate Period (figs. 25,35) some of the percent signs seem
to be the antecedents of the Inka key. Most of Middle Horizon tocapus are forming
rows by repeating the same motif which is a common trait of tocapus in all periods.
Based on the fundamental observation that tocapu design units in the Wari culture of
the Middle Horizon are derived from motifs (pictorial signs) in Middle Horizon im-
ages a second step of analysis is concerned with motifs in multi-figured scenes which
are isolated from the image’s context and then used as tocapus. Tocapus of the Mid-
dle Horizon are here defined as figural and abstract design units without pictorial
context and set in frames. Some of them as the fleur-de-lys (Menzel 1964) occur in
scenes (figs. 10, 11, 13) and are also used as tocapus (fig. 14). According to its inter-
pretation as celestial body in multi-figured scenes the meaning of the fleur-de-lys
tocapu might be that of a star. Other Middle Horizon tocapus as the MH diamond
tocapu and the motifs of the percent sign group are of abstract form. Of special inter-
est is the fact that it are the spots of a serpent’s body (fig. 28) that served as a model
71
TRIBUS 56,2007
of the MH diamond tocapu (fig. 27). Also, some motifs of the percent sign group are
derived from the body of a serpent decorated with a zigzag line (fig. 33a). Both the
MH diamond tocapu and the percent sign group are constructed by using a section of
a serpent’s body reflecting not only the figurative origin of tocapus in the Middle
Horizon, but also the use of the convention of pars pro toto with which we are more
familiar in literary contexts.
In Middle Horizon epochs both percent signs and MH diamond tocapus are used to
compose “serpent staffs” (fig. 31, 32) and “serpent belts” (fig. 16), common power
symbols of prominent mythical beings as “staff gods” and “sacrificers”. According to
this an interpretation of both tocapu types as segments of serpents is suggested. Waist
bands on tunics consisting of MH diamond tocapus and percents signs are suggested
to imitate “serpent belts”.
Consistent with the results of the iconographic analysis the autor suggests an inter-
pretation of the Inca key checkerboard pattern tunic of the Linden Museum in rela-
tion to representations of (mythical) serpents.
1. Einleitung
Das Linden Museum Stuttgart beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen prä-
kolumbischer Textilien des Andenraums, darunter das Fragment eines Männerhem-
des (uncu) aus der Zeit des Späten Horizonts (1475-1535 n. Chr.), das mit bis heute
nicht deutbaren viereckigen Motiven, sogenannten Tocapu-Symbolen, verziert ist.
Das Textil (Linden-Museum Stuttgart, 1167.771) ist aufgrund von Material, Web-
technik (Kelim), Schnitt, Stil und Dekor der Inka-Kultur zuzurechnen, die von 1475-
1535 n. Chr. ganz Peru und weite Teile Boliviens, Chiles und Ekuadors beherrschte.
Das noch erhaltene Fragment misst ca. 36 cm x 86 cm. Die Maße des ehemals voll-
ständigen Hemdes können mit ca. 72 cm x 86 cm angegeben werden. Das Fragment
ist mit zwölf horizontalen Reihen von Tocapu-Symbolen bedeckt. Insgesamt ist das
Hemdfragment mit sechzig Tocapus bedeckt. Der Tocaputyp wird aufgrund einer
oberflächlichen Ähnlichkeit mit einem Schraubenschlüssel als Schraubenschlüssel-
Tocapu (Inca key) bezeichnet. Die einzelnen Vierecke sind ähnlich eines Schach-
brettmusters arrangiert, wobei hellgrundige gelbe Quadrate mit roten Schrauben-
schlüssel-Tocapus und dunkelgrundige purpurne Quadrate mit dunkelblauen
Schraubenschlüssel-Tocapus abwechseln. Ein farbiger Saum weist das Textil als dem
klassischen Inkastil zugehörig aus. Das noch erhaltene Fragment repräsentiert die
rechte Hälfte des Hemdes. Ursprünglich bedeckten je 120 Schraubenschlüssel-Toca-
pus Vorder- und Rückseite des Hemdes (Abb. la, 1b Rekonstruktion).
In Museumssammlungen in Europa (Deutschland), Peru und den Vereinigten
Staaten befinden sich insgesamt nur acht Tuniken dieser Art, davon sind zwei Texti-
lien Miniaturen, die einstmals kleine Gold- und Silberstatuetten bekleideten.1 Ein
weiteres Hemd des Textile Museum Washington zeigt eine ungewöhnliche Anord-
nung von Schraubenschlüssel-Tocapus in Verbindung mit einem weiteren Tocaputyp,
den ein sternartiges Motiv schmückt, und kann der Klasse dieser Männerhemden
nur schwer zugerechnet werden (Sawyer 1966, Fig. 3). Die Herkunft aller acht Texti-
lien wird in der Arbeit von Rowe (1979) zu den mit Tocapus verzierten Inkahemden
entweder mit dem Ica-Tal, dem Lima-Tal (Armatambo) oder dem Nazca-Tal (Los
Majuelos, Rio Grande de Nazca) angegeben. Rowe gibt ihnen die Bezeichnung Inca
Key Checkerboard Pattern Tunics (Inkatuniken mit schachbrettartig angeordnetem
Schraubenschlüssel-Motiv, abgekürzt IK-1 bis IK-7). Das Textil des Linden-Muse-
ums bleibt in der Arbeit von Rowe (1979) aber unerwähnt.
Um sich an die einstige Bedeutung und Funktion des Textils des Linden-Museums
anzunähern, ist es notwendig, im Voraus einige grundlegende Erkenntnisse zu Toca-
pus zu erläutern. Hierbei wird die Analyse des Schraubenschlüssel-Tocapus durch
1 Solche Statuetten sind Teil von Opfergräbern auf Berggipfeln. Siehe Reinhard (1996, 1999)
und die Forschungsergebnisse des Projektes, das auf dem Cerro Ampato durchgeführt wurde.
72
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb.la: Das inkaische Männerhemd
der Altamerika-Sammlung des Lin-
den-Museums und 1b: Rekonstrukti-
on der einstmals vollständigen
Hemdseite.
die Untersuchung eines weiteren Tocaputyps, dem als Inca diamond bezeichneten
Motiv (Rowe 1979, 251 ff.), ergänzt, da beide Tocaputypen in ihren wesentlichen
Verhaltensmerkmalen übereinstimmen.
2. Tocapus - ein figürlich-abstraktes Zeichensystem in den Zentralanden, Peru
Das Symbolsystem der Tocapus2 gehört zu den außergewöhnlichsten Zeichensyste-
men des Alten Amerika. Als gesichert gilt sein Vorkommen im Gebiet des heutigen
Peru und Bolivien (Abb. 2, Karte).
Als Tocapus werden heute gemeinhin gewebte oder gemalte Motive in Form von
Vierecken definiert, die im Kontrast mit farbig abgehobenen geometrischen Figuren
versehen sind (Abb. 3). Die strukturierte Fläche von Tocapus ist in verschiedene
geometrische Abschnitte von Dreiecken, konzentrischen Quadraten usw. unterteilt.
Zumeist sind Tocapus polychrom und erscheinen in leuchtenden Farben wie Schwarz,
Weiß, Rot, Gelb und Orange. Oft sind sie in der Mitte von Gewändern bandartig in
zwei oder drei Reihen platziert, oder sie bedecken das Textil vollständig („Viracocha-
2 tocapu: quechua: tocapo, tukapu, vestido finísimo del Inca (“inkaisches Kleidungsstück fein-
ster Art”); aymara: sabio (“ich weilB”), nach Valcarcel 1978, VI,191.
73
TRIBUS 56,2007
Abb. 2: Übersichts-
karte.
Abb. 3: Liste der von
Barthel (1970) zusam-
mengestellten Toca-
pus.
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 4: Hemd, das vollständig mit Tocapus bedeckt ist („Viracocha-Hemd“). Sche-
matische Zeichnung eines Textils der Robert Woods Bliss Collection, Dumbarton
Oaks, Washington.
Hemd“, Abb. 4). Sie werden stets in gleichen Vierecken nebeneinander gesetzt, wo-
bei jedes einzelne auf demselben Kleidungsstück mehrmals erscheint.
Bereits 1964 verwies Victoria de la Jara auf das Kriterium der Wiederholung als ein
Indiz dafür, dass es sich bei den Tocapus um einen visuellen Kode handeln könnte,
wobei ihrer Meinung nach jedes Tocapu möglicherweise für ein Wort steht. Zur Un-
termauerung ihrer Deutung zog sie spanische Texte aus dem 16. Jahrhundert heran,
in denen auf <Zeichen> und ^verschiedenfarbige Streifen> angespielt wird, die dazu
gedient haben, ganze <auf die Kleider geschriebene Geschichten> festzuhalten. Dass
es sich bei den Tocapus um Dekor oder Beiwerk mit rein schmückender Funktion
handelt, kann auch nach Meinung Thomas Barthels (1970) ausgeschlossen werden,
da Tocapus nicht symmetrisch angeordnet sind. Die Vermutung, es könnte sich um
einen visuellen Kode handeln, wird ferner durch die Aussagen verschiedener spa-
nischer Chronisten gestützt. Der spanische Chronist Cieza de León ([1550] 95 ff.)
berichtet, dass tocapu „königliches Gewand“ bedeutet, und bezeichnet Tocapus als
Schriftsystem der Inka. Seiner Aussage zufolge war die Leserichtung in inkaischer
Zeit vertikal, unter spanischem Einfluss wurde die Leserichtung horizontal.
Bildträger von Tocapus waren nach heutigem Wissensstand in der vorspanischen
Zeit v.a. Kleidungsstücke sowie Keramik-, Holz- und Metallgefäße, vornehmlich Be-
cher aus Holz {kern) sowie aus Keramik, Gold oder Silber (aquilla). In der Kolonial-
zeit und der Republikanischen Zeit finden sich Tocapus v.a. auf Holzbechern und
Wandbehängen, Altardecken, in Ölgemälden als Dekor von Kleidungsstücken des
Inka-Adels und auf christlichem Kirchengerät. Bei den Holzbechern der Kolonial-
zeit wurden die Tocapus auf die Oberfläche eingeschnitten, die man anschließend
mit kräftigen Harzfarben ausfüllte. Wie in der Inkazeit des Späten Horizonts be-
nutzte man sie für Trankopfer bei verschiedenen Ritualen. Besonders auf den Holz-
bechern verbanden sich Tocapus mit naturgetreuen Motiven religiöser und länd-
licher Art sowie mit Kriegsszenen. In der vorspanischen Zeit blieben Holzbecher in
der Regel unbemalt, wiesen aber häufig aufwendige Schnitzereien auf.
3. Die Entwicklung der Tocapus
Der Ursprung der Tocapus ist wahrscheinlich im südandinen Raum zu suchen, ln der
Kultur von Paracas (390-0 v. Chr.) des ausgehenden Frühen Horizonts begegnet man
75
TRIBUS 56,2007
Abb. 5:Textil der Para-
cas-Kultur. ln schach-
brettartiger Anord-
nung wechseln „Farb-
blöcke“ mit verdichte-
ten Szenen mit solchen
ohne Motive {block
color style). Staatliches
Museum für Völker-
kunde München.
Abb. 6: Würdenträger, der ein
Gewand mit einer stark verdich-
teten Szene trägt, die einen Jagu-
ar mit einer an einem (Schlan-
gen-)Seil hängenden Kopftro-
phäe zeigt. Die Szene erscheint
zweimal in einen Rahmen ge-
setzt. Dazwischen sind drei Kopf-
trophäen ohne Bildkontext zu
sehen, die ebenfalls in Rahmen
gesetzt wurden. Fundort Rio
Ocoña. Museo Nacional de An-
tropología, Arqueología y Histo-
ria del Peru, Lima.
z. B. Textilien, deren Dekor schachbrettartig angeordnet ist.3 Dabei wechseln sich
rechteckige dekorlose Felder mit solchen ab, die mythische Wesen innerhalb kleiner,
räumlich stark verdichteter Szenen zeigen (Abb. 5).
Die frühe Nasca-Kultur (0-400 n.Chr.) der Frühen Zwischenperiode tritt das Erbe
dieser Motivanordnung an und bringt Textilien hervor, deren Borten mit vielfigu-
rigen, aber komprimierten Szenen bestickt und in Blöcken angeordnet sind (Sawyer
1998, Abb. 70). ln der Zeit der Kultur von Wari (550-1000 n.Chr.) des Mittleren Ho-
rizonts folgt eine wahre Renaissance der schachbrettartig angeordneten, räumlich
verdichteten Miniaturszenen des ausgehenden Frühen Horizonts, und es ist vermut-
lich dieses besondere Umfeld, in dem Tocapus entstehen. Textilien und Keramiken
tendieren in dieser Zeit nicht nur zu stark verdichteten Szenen, die in kleinen Rah-
men oder Farbfeldern (schachbrettartig) angeordnet sind (Abb. 6), sondern man be-
ginnt damit, einzelne Motive aus den Szenen herauszulösen und sie in einem Rah-
men isoliert in Reihen nebeneinander zu setzen. Z. B. werden Kopftrophäen, die in
3 Paul (1991) benennt den Stil dieser Textilien als block color style.
76
Christiane Ciados; Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 7: Beispiel für eine Kopftro-
phäe (mit Helm) im Bildkontext. Sie
tritt in Verbindung mit der Darstel-
lung eines Kriegers (Frontalgestalt)
auf. Kopftrophäen dienen in Bild-
werken der südzentralen Anden ge-
meinhin als Indikatoren für ein
Schlachtfeld. Atarco-Stil. Museo de
Arqueología Regional, Ica, Peru.
Abb. 8: Beispiele für Felidenköpfe
außerhalb des Bildkontextes und in-
nerhalb eines Rahmens. Die ger-
ahmten Felidenköpfe bilden ein
Musterband auf dem Gewand eines
Felidenwesens (sacrificer). Museo
Nacional de Antropología, Arqueo-
logía y Historia del Peru, Lima.
Szenen in der Hand gehalten werden oder das Schlachtfeld im Hintergrund andeu-
ten, aus dem Bild genommen, in einen Rahmen gesetzt und aneinandergereiht (Abb.
7). Gleiches gilt für Köpfe von Fehden (Abb. 8) und für das von Menzel als „fleur-de-
lys“ bezeichnete Motiv (Menzel 1964) (Abb. 11).
Obgleich es bereits in der späten Nasca-Zeit der frühen Zwischenperiode Gefäße
mit aus dem Bildkontext isolierten Elementen gibt, ist die Entstehung des Tocapu-
Symbolsystems vermutlich erst in die Zeit des Mittleren Horizonts (550-900/1000 u.
Z.) zu datieren (Grube und Arellano Hoffmann 1998). Eine eingehende Sichtung
von Objekten der Wari- und Tiwanaku-Kultur lässt das Vorhandensein von Tocapus
bereits 800 Jahre vor den Inka vermuten. Eine extensive Nutzung dieses Notations-
systems lässt sich vor allem für die Inka-Zeit (1475-1535 n. Chr.) nachweisen. Neben
77
TRIBUS 56,2007
den Khipu, den farbigen Knotenschnüren4, waren Tocapus nach Aussagen der spa-
nischen Chronisten im Inka-Reich das wichtigste Instrument zum Transportieren
komplexer Information. Im Gegensatz zu anderen Kommunikationssystemen des
Alten Amerika (Maya-Hieroglyphen, aztekische und zapotekische Schriftsysteme)
aber überdauern Tocapus die spanische Invasion und erhalten sich bis in die Repu-
blikanische Zeit (nach 1822 u.Z.).
4. Forschungsgeschichte
„Altperu weiterhin als eine frühe Hochkultur ohne jegliche Schrift abzustempeln,
dürfte jedenfalls künftig schwieriger werden“.
Thomas Barthel auf dem Amerikanistenkongress 1968
Mit diesen Worten wies der Tübinger Ethnologe Thomas Barthel vor 39 Jahren nicht
nur auf die Bedeutung von Tocapus innerhalb der inkaischen Gesellschaft hin, son-
dern auch auf die wachsende Bedeutung der Tocapu-Forschung schlechthin. Tocapus
übten und üben eine große Faszination aus, sowohl auf Wissenschaftler wie auch auf
die breite Öffentlichkeit, da bestimmte Charakteristika wie hoher Abstraktionsgrad
und Standardisierung ein Notationssystem vermuten lassen. Diese Vermutung wird
außerdem durch verschiedene unabhängige Quellen der Kolonialzeit, die Tocapus
als Schrift bezeichnen, gestützt.
Die Tocapu-Forschung hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte erzielt,
steht bezüglich der konkreten Bedeutung der Tocapus aber erst am Anfang ihrer
Entwicklung. Außer der Erkenntnis, dass Tocapus einen kommunikativen Charakter
besaßen, sind die Aussagen zu ihrer ursprünglichen Bedeutung uneinheitlich und
widersprüchlich. Ein klares Forschungsdefizit besteht besonders bei der „Entziffe-
rung“ der einzelnen Tocapu-Zeichen. In den letzten Jahren war der Versuch, die Be-
deutung der Tocapus zu entschlüsseln, Gegenstand einer kleinen, aber wachsenden
Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen. Alle genannten Arbeiten, die ohne
Zweifel jede für sich einen bedeutenden Schritt in der Interpretation von Tocapus
darstellen, basieren jedoch auf einem kleinen und wenig systematisch erfassten Cor-
pus von Artefakten, die zudem fast alle der frühkolonialen Zeit entstammen und
weniger der vorspanischen Zeit zuzurechnen sind. Zu betonen ist, dass das Fehlen
eines umfänglichen Corpus von Darstellungen in allen genannten Arbeiten die Mög-
lichkeit, Tocapus zu deuten, stark einschränkte. Des Weiteren erfolgte die Analyse
mit Verfahrensweisen, die sich mehrheitlich aus dem Studium ethnohistorischer
Quellen ableiten. Studien zu Tocapus der Wari- und Tiwanaku-Kultur fehlen gänz-
lich, so dass Tocapus weder in ihrer Entstehung noch in ihrer stetigen Entwicklung
bis hin in die Inkazeit, geschweige denn in der frühen Kolonialzeit, verstanden wer-
den können.
In der Debatte um die Bedeutung der Tocapus erweisen sich die Arbeiten von An-
thropologen und Linguisten als besonders anregend. Die ersten Versuche, Tocapus
zu entschlüsseln, wurden von Thomas Barthel (1970,1971), Victoria de la Jara (1964,
1966,1967,1972,1974) und John H. Rowe (1979:219-41) in den sechziger und sieb-
ziger Jahren des 20. Jahrhunderts unternommen. Nach Untersuchungen der Perua-
nerin Victoria de la Jara und des Tübinger Ethnologen Thomas Barthel stellen die
einzelnen Tocapus Abstraktionen von Bildinhallen dar, deren senkrechte und waag-
rechte Kombinationen eines Tages als astronomische, religiös-magische oder poli-
tisch-soziologische Aussagen entziffert werden können. De la Jara sieht in den Toca-
pus auf den Holzbechern (keru) eine Bilderschrift, und jeder keru soll an eine Per-
son, an einen Ort oder ein Eposkapitel erinnern, um sie nicht in Vergessenheit gera-
ten zu lassen. Thomas Barthel hatte zunächst nahezu 300 unterschiedliche Tocapus
auf Textilien und weitere 70 auf bemalten Holzbechern {keru) identifiziert. Von die-
sen glaubte er 50 sinngemäß deuten und mehr als 20 sicher lesen zu können. Ihm
4 siehe zur Definition Salomon 2004, Arellano 2002, Ascher und Ascher 1997.
78
Christiane Clados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
zufolge ließen sich Tocapus mit den Anfängen der Schrift der I. Dynastie in Ägypten
vergleichen, indem sie in einer Art Telegrammstil Kernbegriffe bezeichneten. In ei-
ner darauf folgenden Studie reduzierte Barthel die Anzahl auf 24 Basistypen (Abb.
3),eine Zahl, die durch Rebecca Stone-Miller (1994) wiederum auf 23 reduziert wur-
de. Für die vorliegende Untersuchung des inkaischen Männerhemdes des Linden-
Museums ist die Bartheische Tocapu-Klassifikation insofern ein guter Ausgangs-
punkt, da sie einige der bedeutendsten Tocapus auflistet und sie systematisch be-
schreibt. Da Thomas Barthel aber nur Holzbecher (der kolonialen Zeit) und Textili-
en in seiner Analyse einschloss und Tocapus auf Metallgegenständen und figürlicher
Keramik unberücksichtig ließ, ist damit zu rechnen, dass die Anzahl der klassifizier-
baren Tocapus weit höher als die von Thomas Barthel vorgeschlagene ist.
1979 lieferte John H. Rowe5 ebenfalls ein bedeutendes Werk zur systematischen Be-
schreibung von Tocapus. Hervorgehoben wird die Beziehung von Männerhemden
(.uncu) der Inka-Zeit zu den auf ihnen erscheinenden Tocapu-Motiven. Auf der Basis
nur weniger Männertuniken erstellt Rowe eine Klassifikation einiger bedeutender
Tocapus und ihre Verteilung auf besagten Kleidungsstücken. Im Gegensatz zu Tho-
mas Barthel versucht John H. Rowe, Tocapus im Kontext zum Bildträger „Männer-
hemd“ zu verstehen (Rowe 1979: 245-60). Hierbei zieht er sowohl archäologische
wie auch ethnohistorische Quellen heran. Erstmals führt John H. Rowe eine für To-
capus spezifische Terminologie ein, die auch in rezenten Publikationen noch Ver-
wendung findet, in der vorliegenden Untersuchung aber nur bedingt Anwendung
finden soll, da die Benennung auf formaler Assoziation basiert.
Zu den jüngeren Untersuchungen zu Tocapus gehört die von Rebecca Stone-Miller
(1994, 1995: 211). Sie verfolgt einen Ansatz, der sich aus der Kunstgeschichte und
Textilkunde herleitet. Hervorgehoben wird der kommunikative Charakter von Toca-
pus und ihre binäre Struktur, die darin zum Ausdruck komme, dass ein und dasselbe
Tocapu in unterschiedlichem “Farbkleid” erscheinen könne.
ln der von Carmen Arellano und Nikolai Grube (1998: 27-58) besorgten Edition
werden Tocapus im Rahmen einer Reihe neuweltlicher Notationssysteme diskutiert.
Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass Tocapus möglicherweise ohne Bindung an
Sprache funktionieren und damit ähnlich den Moche-Vasenmalereien über die
Grenze von Sprache hinaus verstanden werden konnten. In einem anderen von Car-
men Arellano (1999) verfassten Beitrag zur Darstellung von Tocapus auf Holzbe-
chern (Kern) der Inka- und Kolonialzeit werden die rezenten Forschungsergebnisse
auch in die neueren Erkenntnisse zu Knotenschnüren (Khipus) eingebettet, der An-
nahme folgend, dass Khipus und Tocapus möglicherweise in einer engen Beziehung
gestanden haben könnten.
In neueren Untersuchungen werden Tocapus häufig in einem weiten gesellschaft-
lichen Kontext thematisiert (Allen 2002: 180-203; Young-Sanchez and W. Simpson
2001; Flores Ochoa 1998). Die semantische Funktion der einzelnen Tocapus wird in
den meisten Publikationen jedoch nur wenig berücksichtigt. Steht die Bedeutungser-
mittlung der Tocapus im Mittelpunkt, kommen meist strukluralistische Ansätze zur
Anwendung (Cummins 2002; Zuidema 1989: 151-202). Tom R. Zuidema versucht
nachzuweisen, dass Tocapus im Manuskript von Poma de Ayala ([1615] 1936) oft in
Verbindung mit kalendarischen Ereignissen stehen. Nach Meinung William Burns
(1981:1.32) stehen Tocapus für Sprachlaute wie Silben. Joanne Pillsbury (2002: 69-
103) streift das Thema der Tocapus in einer Untersuchung zu Inkatuniken und deren
Rolle bei der Konstruktion von Identität der indianischen Eliten der Kolonialzeit.
Pillsbury zufolge wurden Tocapus auf Tuniken dazu genutzt, den Status ihres Trägers
anzuzeigen. Regina Harrison (Harrison 1989, 60) bezeichnet Tocapus als inkaisches
Zeichensystem, während Angelika Gebhard-Sayer sie als mnemotechnischen Kode
(mnemonic code) sieht, um wichtige Information in Textilien festzuhalten (Gebhard-
Sayer 1985,158).
5 Siehe auch Anne Pollard Rowe / John H. Rowe 1994.
TRI BUS 56,2007
5. Theoretische Grundlagen zur Analyse von Tocapus
Bei der Diskussion um die Bedeutung der Tocapus fällt auf, dass keine der Diszipli-
nen (Schriftforschung, Ikonografie, Ethnohistorie) für sich in der Lage war und ist,
ein umfassendes Paket an Analyseverfahren zu liefern, um das Wesen der Tocapus zu
erfassen. Dies trifft insbesondere auf die Fachbereiche zu, die sich mit der Analyse
von Ikonografie und Schrift beschäftigen. Bei der Analyse von Tocapus ist zu beden-
ken, dass es sich um Motive handelt, die sich mit an Sicherheit grenzender Wahr-
scheinlichkeit aus Bildern abgeleitet haben. Diese Annahme ist schon deswegen be-
gründet, da dem Bild in allen Gesellschaften des andinen Raums eine besondere
Bedeutung zukommt. Ein Blick in das Bildrepertoire der Kulturen von Wari und
Tiwanaku zeigt klar, dass der Ursprung vieler Tocapu-Motive in zeitgleichen Bild-
werken zu suchen ist.6 Betrachtet man die letzten Jahrzehnte der Tocapu-Forschung,
so ist auffallend, dass der Analyse der Motive im Bildkontext, die auch als Tocapu
verwendet werden, bislang nur eine untergeordnete Funktion zukam, was letztlich
eine Einschränkung der Interpretationskapazität zur Folge hatte. Das geringe Inte-
resse an Tocapus innerhalb vielfiguriger Szenen hatte auch damit zu tun, dass die
Tocapu-Forschung stark durch die Schriftforschung geprägt war, die ausschließlich
die Analyse von Tocapus in nicht-szenischen Kontexten betrieb. Auch ist das Begriff -
sinventarium der Schriftforschung nicht immer ausreichend, um Motive zu erfassen,
die innerhalb von Bildern einen schrifthaften Charakter aufweisen, ohne aber Schrift
im herkömmlichen Sinne zu sein. Die ikonografische Forschung wiederum ist nur
wenig auf die Analyse von Motiven vorbereitet, die über ihre Funktion als Bildele-
ment hinausgehen. Die Ethnohistorie ihrerseits hat es bislang versäumt, das reiche
Bildmaterial der kolonialzeitlichen Quellen mit dem archäologischen Quellenmate-
rial der Inka- und Kolonialzeit systematisch abzugleichen. Auch gibt es bis heute
keine eigene Liste von Tocapus auf kolonialzeitlichen Inkatuniken, und dies, ob-
gleich seit langem bekannt ist, dass Tocapus in der Kolonialzeit einer starken forma-
len Vereinfachung unterzogen wurden.
Um sich der Bedeutung der Tocapus anzunähern, bedarf es verschiedener Analyse-
verfahren. Hier ist zum einen die Langzeit-Seriation zu nennen, mit der es möglich
ist, Form und „Verhalten“ von Tocapus über größere Zeiträume hinweg zu definie-
ren. Damit ist es beispielsweise möglich, mögliche Vorläufer inkazeitlicher Tocapus
in früheren Zeitperioden auszumachen, was von nicht geringer Bedeutung ist, da das
Tocapu-Symbolsystem keine alleinige Errungenschaft der Inka war. Zum anderen
muss eine umfassende Kontextanalyse der den Tocapus als Vorbild dienenden Mo-
tive in zeitgleichen Bildwerken vorgenommen werden, da es sehr wahrscheinlich ist,
dass das Tocapu die Bedeutung seines bildlichen Vorbilds in irgendeiner Weise kon-
serviert hat. Ferner bedarf es Verfahren, die die Beziehung von Tocapus zu ihren
Vorbildern im Bild genau bestimmen.
6. Begriffserweiterung
Bevor eine Deutung einzelner Tocapu-Motive gewagt werden kann, muss eine Er-
weiterung der Definition des Elementes Tocapu erfolgen. Zwar liefern Thomas Bar-
thel und John H. Rowe Definitionen für inkazeitliche Tocapus, doch können mit die-
ser Definition nur solche Tocapus erfasst werden, die rein abstrakter Form sind. Für
die Tiwanaku- und Wari-Zeit ist jedoch auch mit Tocapus zu rechnen, die eine stär-
kere bildmäßig gesteuerte Verknüpfung zeigen, ln jedem Fall muss die Bartheische
und Rowe’sche Definition erweitert und an Hand des neuen für den Mittleren Hori-
zont und für die Späte Zwischenperiode verfügbaren Datenmaterials neu formuliert
werden.
Die Definition von Tocapus beider Autoren erfasst zwar die wesentlichen (formalen)
Merkmale, berücksichtigt aber nicht, dass Tocapus desselben Typs oftmals ein fort-
6 Tocapu-Archiv Clados.
80
Christiane Ciados; Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 9: Tocapus des Typs „Inca diamond“, ein Musterband bildend.
laufendes Musterband bilden, wenn sie zu Reihen zusammengeschlossen werden,
selbst dann, wenn sie wie im Falle der Hemden mit Schraubenschlüssel-Tocapus
farblich variiert werden. So bilden z. B. rautenförmige Tocapus des Typs Inca dia-
mond (Rowe 1979) auf noch erhaltenen Textilien der vorspanischen Inkazeit ein
kontinuierliches Musterband (Abb. 9), während im Manuskript Guaman Pomas
gleichzeitig zu sehen ist, dass Tocapus desselben Typs auch einzeln Seite an Seite mit
anderen Tocapu-Typen existierten (Abb. Guaman Poma [1615] 1936, 36, siehe Abb.
19a). Gleiches gilt auch für das Schraubenschlüssel-Tocapu, das einzeln im Verbund
mit anderen Tocapu-Typen als auch Ketten bildend auftritt. Die Fähigkeit, Musterab-
folgen bzw. Ketten zu bilden, ist sowohl im Falle einiger inkazeitlicher Tocapus als
auch insbesondere für solche der Kulturen von Tiwanaku und Wari zu bemerken.
Dieses Verhaltensmerkmal ist bei der Identifikation von Tocapus in der vorin-
kaischen Zeit von besonderer Wichtigkeit.
Da viele Tocapu-Motive ihren Ursprung im Bild haben, muss ein Augenmerk auf
Objekte mit Darstellungen gelegt werden, aus deren Bildkontext die Tocapu-Motive
entnommen wurden. Da in diesen Darstellungen ein vielfältiges Beziehungsgeflecht
von solchen Motiven, die auch als Tocapus fungieren, zum restlichen Szenenumfeld
besteht, sind diese Darstellungen von besonderer Aussagekraft. Ein besonders gutes
Beispiel hierfür ist das von Menzel (1964) als fleur-de-lys bezeichnete Motiv, das so-
wohl Merkmale eines Bildelements als auch wesentliche Merkmale eines Tocapus
zeigt. Es ist in der späten Nasca-Periode (ca. 700 n. Chr.) der Frühen Zwischenperio-
de und der sich anschließenden Epoche des Mittleren Horizonts in mehrfigurigen
Szenen zu finden und kann innerhalb eines Bildes mit großer Wahrscheinlichkeit als
Himmelskörper (Sonne, Mond, Stern) gedeutet werden (Abb. 10,11).
Abb. 10: Das Motiv der fleur-de-lys in Verbindung mit dem Motiv des „Blutigen
Mauls“ innerhalb einer vielfigurigen Szene. Malerei, die als Mantelverzierung auf
einem Figurengefäß der späten Nasca-Zeit fungiert. Museo Nacional de Antropolo-
gía, Arqueología y Historia del Peru, Lima.
81
TRIBUS 56,2007
Abb. 11: Das Motiv der fleur-de-lys
innerhalb einer Szene, die es im oder
auf dem Körper eines fischgestal-
ligen Wesens (Orca-Killerwal?)
zeigt. Malerei, die als Hemdverzie-
rung auf einem Figurengefäß der
Wari-Kultur fungiert. Museo Nacio-
nal de Antropología, Arqueología y
Historia del Peru, Lima.
Abb. 12: Goldenes Diadem der frü-
hen Nasca-Zeit in Form eines „Strah-
lengesichts“, das vermutlich die Son-
ne darstellt. Banco Wiese, Peru.
Seine Deutung als Himmelskörper ergibt sich aus der Beobachtung, dass es nicht nur
eine starke anatomische Ähnlichkeit zu Strahlengesichtern (Abb. 12) und dem soge-
nannten „Blutigen Maul“ der Nasca-Kultur (Abb. 11) besitzt, beides Motive, die in
den südzentralen Anden weit verbreitet waren und ohne Zweifel ebenfalls als die
Darstellung von bedeutenden Himmelskörpern gedeutet werden können (Young
Sanchez 2004, Clados 2002), sondern auch häufig in Verbindung mit diesen auftritt.
Dies ist z. B. auf einer nascazeitlichen Figurine in Gestalt einer unbekleideten Frau
zu sehen, in deren Schambereich ein „Strahlengesicht“ und zwei fleur-de-lys-Motive
aufgemalt sind (Abb. 13).7 In der Kultur von Wari existiert das Motiv auch weiterhin
7 Siehe das fleur-de-lys-Motiv in Ochatoma 2000, „Canlaro Del Estilo Chakipampa“ in Verbin-
dung mit anderen, mehräugigen “Strahlengesichtern'’.
82
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Ahh. 13: Unbekleidete Frau der
späten Nasca-Zeit, die im Schambe-
reich mit einem „Strahlengesicht“
und zwei fleur-de-lys-Motiven be-
malt ist. Museo de Arqueología Re-
gional, Ica, Peru.
Ahh. 14: Mehrere fleur-de lys-Motive
sind aus dem Bildkontext gelöst und
zu einer Reihe zusammengeschlos-
sen. Malerei, die als Hemdmotiv auf
einem Figurengefäß der Wari-Kultur
fungiert. Fundort Río Ocoña. Museo
Nacional de Antropología, Arqueo-
logía y Historia del Peru, Lima.
in Szenen, wird aber darüber hinaus aus dem Bild herausgelöst und in einen Rahmen
gestellt. Mehrere dieser Motive werden zu Reihen zusammengeschlossen, die in ban-
dartigen Abfolgen auf Hemden hochrangiger Personen erscheinen (Abb. 14). Es
liegt nahe, dass sich die Bedeutung des fleur-de-lys als Himmelskörper im Bild gewis-
sermaßen auf das fleur-de-lys-Tocapu übertragen hat oder zumindest in irgendeiner
Beziehung zu diesem steht. Eine Deutung des in einen Rahmen gesetzten fleur-de-
/ys-Motivs als „Himmelskörper-Tocapu“ ist demnach durchaus naheliegend.
Bei der Bedeutungsfindung von inkazeitlichen Tocapus kommt der Identifikation
der wari- und tiwanakuzeitlichen Tocapus eine besondere Rolle zu, da sich mehrere
Tocapus der Inkazeit offensichtlich direkt von Vorbildern des Mittleren Horizonts
ableiten. Dies kann mit einer Langzeit-Seriation nachgewiesen werden, die die for-
male Veränderung eines Motivs und seiner Funktion über einen langen Zeitraum
hinweg verfolgt. Ein gutes Beispiel für das Fortleben warizeillicher Tocapus bis in die
83
TRI BUS 56,2007
Zeit der Inka ist das von Rowe als Inca diamond bezeichnete Rautenmotiv. Sein
warizeitliches Pendant soll in der vorliegenden Untersuchung als MH Rauten-Toca-
pu (MH für Mittleren Horizont, MH diamond) benannt werden. Nicht nur besitzt
das MH Rauten-Tocapu in der Kultur von Wari die gleiche Form wie das Inca dia-
mond', sondern es wird, wie auf einem Silberornament zu sehen ist, gleich dem Rau-
ten-Tocapu der Inkazeit in der Mitte von Gewändern bandartig in zwei oder drei
horizontalen Reihen platziert (Abb. 15a-c).
Abb. 15a: Ein horizontales Band von
MH Rauten-Tocapus in Hüfthöhe
auf dem Gewand eines Würdenträ-
gers mit viereckigem Hut. Silberpla-
kette der Wari-Kultur. Metropolitan
Museum New York.
Abb. 15b, c: Horizontale Bänder von MH Rauten-Tocapus (Basis) und Prozentzei-
chen-Motiven (darüber) auf viereckigen Hüten hoher Würdenträger. Figurengefäße
im Atarco-Stil. Museo Nacional de Antropología, Arqueología y Historia del Peru,
Lima.
84
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 16: Ein Band von MH
Rauten-Tocapus als Motiv auf
einem Gürtel. Malerei auf
einem Gefäß des Fundortes
Conchopata. Museo de la
Universidad Nacional de San
Christobal de Huamanga.
Abb. 17: Das MH Rauten-Tocapu als
vertikales Musterband auf einem
viereckigen Hut der Wari-Kultur,
Mittlerer Horizont. Riksmuseum.
Stockholm.
Auf Figurengefäßen der Kultur von Wari sind MH Rauten-Tocapus sehr oft als hori-
zontale Musterbänder auf viereckigen Hüten hoher Würdenträger zu sehen (Abb.
15b, c)8. Noch häufiger werden sie als Verzierung auf Gürteln gebraucht (Abb. 16).
Es ist zu vermuten, dass die MH Rauten-Tocapus in Hüfthöhe auf Hemden der Wari-
Kultur letztlich sogar Gürtel imitieren. Weiterhin erscheint das MH Rauten-Tocapu
als zentrales, vertikales Musterband auf viereckigen Hüten (Four-Cornered Hat) der
Kulturen von Tiwanaku und Wari (Abb. 17).9 Seine Existenz kann auch für die Späte
Zwischenperiode (1000-1475 n. Chr.), dem Zeitraum zwischen der Wari- und Inka-
kultur, nachgewiesen werden (Abb. 18). Hier und in der Zeit der Inka behält dieser
Tocapu-Typ das Merkmal bei, in Hüfthöhe auf Hemden platziert zu werden mit der
Absicht, einen Gürtel zu imitieren. Es muss zunächst dahingestellt bleiben, ob sich
das MH Rauten-Tocapu der Wari-Kultur vollständig in seiner Bedeutung mit dem
Inca diamond des Späten Horizonts (1475-1535 n. Chr.) deckt. Auf die Problematik
der Disjunktion, der inhaltlichen Divergenz bei gleichzeitiger formaler Übereinstim-
8 Siehe außerdem Lothrop 1980, 218; Ochatoma 2000, “Rostros De Guerreros”: Townsend
1992,338, Fig. 6; Young-Sanchez 2004,156, Fig. 6.6.
9 Siehe außerdem Anton 1984,Fig. 115;Eisleb 1980.Taf.235 für MH Rauten-Tocapus auf Kopf-
bedeckungen in der Kultur von Tiwanaku.
85
TRIBUS 56,2007
Abb. 18: Das MH Rauten-Tocapu
auf einem Gefäß der Ica-Chincha-
Kultur, Späte Zwischenperiode. Mu-
seo Nacional de Antropología, Ar-
queología y Historia del Peru, Lima.
mung, hat bereits Panofsky bei der Interpretation renaissancezeitlicher Skulpturen
hingewiesen, deren Themen sich aus der Antike ableiten (Panofsky 1960). Doch deu-
ten formale Übereinstimmung, die Art und Weise, wie das MH Rauten-Tocapu plat-
ziert wird bzw. die gleichbleibende Verwendung des MH Rauten-Tocapus in allen
Zeitphasen auf ein Tradieren inhaltlicher Konzepte beginnend vom Mittleren Hori-
zont bis zum Späten Horizont hin.
7. Das Männerhemd in der Altamerika-Sammlung des Linden-Museums und Toca-
pus des Typs „Schraubenschlüssel“
Die Anzahl der Textilien, die nahezu vollständig mit Tocapus des Typs „Schrauben-
schlüssel“ verziert sind, ist in Museen in aller Welt sehr begrenzt. In dieser Beziehung
ist das Hemd des Linden-Museums eine besondere Ausnahme, da das gesamte Hemd
mit Tocapus bedeckt ist. Die Entscheidung, Tocapu-Motive diesen Typs als „Schrau-
benschlüssel“ (Rowe 1979) zu benennen, bezieht sich allein auf eine oberflächliche
Ähnlichkeit des diagonalen Trennstreifens mit einem Schraubenschlüssel. Einige
wenige Hemden, wie das der Sammlung des Linden-Museums, sind vollständig bzw.
zu einem großen Teil mit diesem Tocapu-Typ bedeckt, andere Hemden, wie die soge-
nannten Viracocha-Hemden, besitzen einen flächendeckenden Besatz mit Tocapus
ganz unterschiedlicher Tocapu-Typen, unter welchen sich u.a. auch das Schrauben-
schlüssel-Tocapu befindet (Abb. 4).
Koloniale Quellen wie das von Guaman Poma de Ayala 1615 fertig gestellte Werk
Nueva Corönica y Buen Gobierno zeigen zwar hochrangige Inka-Beamte, die
Hemden mit Schraubenschlüssel-Tocapus tragen, jedoch handelt es sich bei den dar-
gestellten Gewändern nicht um die reine Form von Hemden mit Schraubenschlüs-
sel-Tocapus, wie der Artikel Rowes (1979) vermuten lässt. Die Darstellungen im
Werk Guaman Pomas zeigen ohne Ausnahme Gewänder, auf denen Schrauben-
schlüssel-Tocapus mit anderen Tocapu-Typen abwechseln. So z. B. ist der elfte Inka-
Herrscher Huayna Capac (1493-1525/27) mit einem Gewand abgebildet, auf wel-
chem die Schraubenschlüssel-Tocapus zusammen mit Tocapus des Typs Inca dia-
mond schachbrettartig angeordnet sind (Abb. 19a Guaman Poma de Ayala 1936
[1615], 36), während der achte Inkaherrscher Viracocha (vor 1438 n. Chr.) und der
zehnte InkaherrscherTopa Inca Yupanqui (1471-1493) ein Viracocha-Hemd (Rowe’s
all-t’ocapu tunk) tragen, auf dem das Schraubenschlüssel-Tocapu nur zehn- bzw.
sechsmal auftritt (Abb. 19b, 19c; Guaman Poma de Ayala 1936 [1615], 33,35).
86
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
EL0M3EMDÍI4GA
Abb. 19a: Inka Huayna Capac trägt
ein Hemd mit schachbrettartig ange-
ordneten (z-förmigen) Schrauben-
schlüssel-Tocapus, die mit Tocapus
des Typs inca diamond abwechseln.
Abb. 19h, c: Inka Viracocha und Inka Topa Inca Yupanqui tragen Hemden, die voll-
ständig mit verschiedenen Tocapu-Typen („Viracocha-Hemd“) bedeckt sind.
Auffallend ist, dass Schraubenschlüssel-Tocapus im Werk Guaman Pomas weniger
die Form eines Prozentzeichens als die eines Z' mit zwei Punkten zu beiden Seiten
besitzen (Abb. 19b). Zu beachten ist auch, dass die Tocapus auf Viracocha-Hemden
der Inka-Zeit eine andere Anordnung zeigen als die der Kolonialzeit. Tocapus des
gleichen Typs sind in der Kolonialzeit auf diagonalen Linien angeordnet, was sich mit
87
TRIBUS 56,2007
Abb. 20: Inka-Hemd
der Kolonialzeit, auf
dem Tocapus in dia-
gonalen Reihen ange-
ordnet sind (man ver-
gleiche mit der Dar-
stellung von Guaman
Poma in Abb. 19b).
Schematische Zeich-
nung (Ausschnitt) ei-
nes Männerhemdes,
das in einer Höhle 30
Kilometer von Cuzco
entfernt gefunden
wurde.
den Darstellungen von „Viracocha-Hemden“ des Werkes von Guaman Poma deckt
und möglicherweise der Tradition der vorspanischen Küstengesellschaften folgt, die
verschiedene Motive in kleinen Farbfeldern auf Diagonalen angeordnet haben (Abb.
20, Koloniale Tunika und 19b, Guaman achter Inka). Dagegen erfolgt die Anordnung
von Tocapus auf „Viracocha-Hemden“ vor der Ankunft der Europäer keinesfalls auf
Diagonalen, sondern nach bislang nicht nachvollziehbaren Regeln. Schraubenschlüs-
sel-Tocapus der gleichen Farbgebung jedoch sind bereits in vorspanischer Zeit auf
einer Diagonalen angeordnet.
Ein interessanter Gesichtspunkt von Tocapus des Typs „Schraubenschlüssel“ ist die
bislang unbemerkte Tatsache, dass sie in einer Reihe nebeneinandergesetzt ein hori-
zontales bzw. vertikales Winkelband (Zickzack-Linie) ergeben (Abb. 21). Das
Schraubenschlüssel-Tocapu ist gelegentlich auf Keramikskulpturen zu finden, die
Gestalten wiedergeben, die mit einem Hemd bekleidet sind, auf dem in Hüfthöhe
ein, zwei oder drei Reihen dieses Tocapu-Typs platziert sind (Abb. 37). Da bei nur
einer Reihe eine logische Verkettung der Tocapus allein auf der horizontalen Ebene
erzeugt werden kann, ist damit zu rechnen, dass Tocapus, die z. B. auf Hüfthöhe in
zwei oder weniger Reihen angeordnet waren, nur horizontal sinngebend waren. Im
Falle der Hemden, die vollständig mit Schraubenschlüssel-Tocapus bedeckt waren,
ist dagegen auch eine vertikale „Lesung“ möglich.
In der den Inka vorangehenden Kulturen von Tiwanaku (200-1100 n. Chr.) und Wari
des Mittleren Horizonts (550-1000 n. Chr.) gibt es eine Gruppe von Motiven, die sich
ähnlich dem inkazeitlichen Schraubenschlüssel-Tocapu verhalten. Sie sind aus Vier-
ecken oder Rechtecken gebildet, deren strukturierte Fläche aus geometrischen Ab-
schnitten besteht, und sie werden ebenfalls in Reihen nebeneinander gesetzt, wobei
sie ein Musterband bilden. Auffallend ist, dass ihre strukturierte Fläche durch eine
Diagonale in zwei Hälften geteilt wird, weshalb Sawyer sie als paarig angeordnete
Elemente {paired elements, type la,b) bezeichnet (Abb. 22a,b ) (Sawyer 1974). Die
strukturierte Fläche dieser Motive kennzeichnet eine starke Punktsymmetrie, was
bedeutet, dass die rechte obere Ecke mit der linken unteren Ecke und die rechte
untere mit der linken oberen Ecke des Motivs identisch ist. Die triangulären Motiv-
hälften sind entweder mit der Darstellung von Kopftrophäen (mit Augenstreif und
Kappen) und/oder mit Voluten oder mit einer Kombination von beiden Motiven
gefüllt (Abb. 22b). Zumeist vertikal aneinandergereiht formen die diagonalenTrenn-
88
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 21: Mehrere Schraubenschlüssel-Tocapus ergeben ein Winkelband bzw. eine
Zickzack-Linie. Unten schematische Zeichnung.
Abb. 22a, b: Beispiele für paarig angeordnete Elemente
in der Kultur von Wari. 22a: Aus Voluten gebildet, 22b:
Aus Voluten und Kopftrophäen gebildet.
TRIBUS 56,2007
Abb. 23: Paarig angeordnete Elemente, eine Zickzack-Linie bildend.
Prozentzeichen-Motive Mittlerer Horizont
Typ 1 A
Wari
einzeln
in Reihe
Verhalten
Vorkommen
Vorbild im Bild
In Reihe entweder mit demselben Tocapu-
Typ oder in Verbund mit einem Tocapu, das
ebenfalls vom Vorbild einer Schlange
stammt
Hutband (vertikales Band,
obere Huthälfte)
Miniatur- Gürtelmotiv
Schlangenstäbe“,
„Schlangengürtel“
Schlange(nhaut)
Abb. 24: Liste der Prozentzeichen-Motive im Mittleren Horizont (Wari-Kultur).
Hnien eines jeden Motivs ein Winkelband bzw. eine Zickzack-Linie, worauf schon
William Conklin hingewiesen hat (Conklin 1996,377) (Abb. 23).
Innerhalb dieser Gruppe fallen mehrere Motive durch eine große formale Ähnlich-
keit zum inkazeitlichen Schraubenschiüssel-Tocapu auf. Sie sind von quadratischer
oder rechteckiger Lorm und erinnern in ihrer Grundstruktur an ein Prozentzeichen.
Ihre strukturierte Lläche wird durch eine (getreppte) diagonale Linie in zwei Hälf-
ten geteilt, in denen sich jeweils ein quadratisches oder dreieckiges Element befindet
(Abb. 24). Meistens schließen sie sich zu Reihen zusammen, die in horizontaler Rich-
tung ein Winkelband ergeben (siehe Abb. 24 unter Rubrik „Reihe“).
Diese Gruppe von Motiven tritt häufig auf viereckigen Hüten auf, entweder auf noch
erhaltenen Hüten oder aber in Darstellungen von hochrangigen Männern, die viere-
ckige Hüte tragen (Abb. 15a-c).10 Eine Langzeit-Seriation ergibt, dass zumindest
10 Siehe auch Schreiber 1992,244,7.21, für ein horizontales Band aus Prozentzeichen-Motiven
auf einem Hemd eines Würdenträgers.
90
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
einige der Motive auch in der darauffolgenden Späten Zwischenperiode existieren
(Abb. 25) und sich bis in die Zeit der Inka tradieren (Abb. 26). Zu ihnen zählen die
in Abbildung 24 aufgelisteten Motive, die an die Form moderner Prozentzeichen
erinnern (Typen 1 B, C). Um diese vom Schraubenschlüssel-Tocapu der Inka-Kultur
zu unterscheiden, sollen sie aufgrund einer oberflächlichen Ähnlichkeit zu Prozent-
zeichen im Folgenden als Gruppe der Prozentzeichen-Motive benannt werden.
Prozentzeichen-Schraubenschlüssel-Motiv Späte Zwischenperiode Rowe 1979 Inca key
Chancay
einzeln in Reihe Verhalten Vorkommen Vorbild im Bild
isi Fortlaufendes Band, Zick- zack-Band oder alternie- rend mit anderen Tocapu- Typen Keramiken mit Darstellung des Prozentzei- chens auf Kopf- bändem und Motivbändern in Hüfthöhe Möglicherweise Schlange, da als „Schlangen-Kopf- band“ und“Schlangengürtel“
Abb. 25: Liste mit den Prozentzeichen-Motiven der Späten Zwischenperiode (Kul-
turen Ica-Chincha und Chancay).
Schraubenschlüssel-Motiv Später Horizont Barthel 1970 Nr.22-24 Rowe 1979 Inca key
Inka
einzeln
in Reihe
Verhalten
Vorkommen
Vorbild im Bild
Einzeln im
Verbund mit
anderen
Tocapu-Typen
Bei Rcihen-
bildung Fort-
laufendes Band,
Zickzack-Band
Figurengefäße
mit Darstellung
von Hemden
(Musterband in
Hüfthöhe) und
Textilien kom-
plett oder alter-
nierend mit an-
deren Tocapu-
Typen bedeckt,
aiternierendes
Farbkleid bei
gleichem Toca-
pu-Typ
Schlange ?
Formal nahestehende Motive: Kero und Hemd mit Zickzack-Muster, Köpfe im Zickzack
Abb. 26: Liste mit dem Schraubenschlüssel-Tocapu des Späten Horizonts (Inka-Kul-
tur).
8. Das bildliche Vorbild von Tocapus und die Annäherung an die Bedeutung der
warizeitlichen Prozentzeichen-Motive
Um sich der Bedeutung der Prozentzeichen-Motive der Wari-Zeit anzunähern, ist es
unumgänglich, einen Blick auf den Bildkontext zu werfen, in dem die Motive inner-
halb vielfiguriger Szenen eingebunden sind.
Wie bereits erwähnt handelt es sich bei vielen Tocapus dieser Zeitperiode eigentlich
um Bildelemente, die aus dem Bildkontext herausgelöst und gewissermaßen in einen
Rahmen gesetzt werden. Isoliert vom Bildkontext und „gerahmt“ erhalten sie mög-
licherweise den Stellenwert eines Symbols, dessen Bedeutung vermutlich in einer
direkten Beziehung mit seiner ehemaligen Funktion als Bildelement steht. Umso
dringlicher ist ihre Untersuchung innerhalb ihres ursprünglichen Bildkontextes.
Dem Bildkontext kommt dabei eine besondere Rolle beim Verständnis der Motive
zu, da innerhalb eines Bildes die Beziehung der Elemente untereinander geregelt
und ihnen eine eindeutige Bedeutung zugewiesen wird, wie im Folgenden zu sehen
sein wird.
Das MH Rauten-Tocapu ist wie auch das Schraubenschlüssel-Tocapu ein besonders
gutes Beispiel für die enge Verquickung von Bild und Tocapu. Das Vorbild für das
MH Rauten-Tocapu der Kulturen von Wari und Tiwanaku lässt sich eindeutig be-
stimmen, da es eines der häufigsten Bildmotive dieser Zeit ist. Ein Blick auf Kera-
91
TRIBUS 56,2007
Abb. 27: Vertikales Band von zwei
MH Rauten-Tocapus auf einem vier-
eckigen Hut der Wari-Kultur. Metro-
politan Museum New York.
Abb. 28: Darstellung einer Schlange, deren Körpermaserung mit dem Band aus MH
Rauten-Tocapus in Abb. 27 identisch ist. Malerei auf einem Gefäß der Tiwanaku-
Kultur (Tiwanaku Phase IV). Slg. Posnansky.
miken und Textilien der Wari-Kultur zeigt, dass das MH Rauten-Tocapu auf vier-
eckigen Hüten (Abb. 27) mit der Darstellung von Flecken auf Schlangenkörpern in
Vasenmalereien der Wari-undTiwanaku-Kultur völlig deckungsgleich ist (Abb. 28).
Die Konvention für Schlangenhaut ist dabei stets dieselbe, nämlich in Reihe gesetzte
rautenförmige Flecken, die durch ein schmales Band verbunden sind. Dieses Rau-
tenband teilt den Schlangenkörper in zwei Hälften, die oft hell-dunkel kontrastie-
rend gefärbt sind. Zu beiden Seiten der Rauten erscheinen kleine Punkte oder Vier-
92
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 29: Viereckiger
Hut der Wari-Kultur
mit nur einem MH
Rauten-Tocapu. Me-
tropolitan Museum
New York.
ecke.11 Ein Ausschnitt ebendieses Motivs erscheint in identischer Form als vertikales
Band auf viereckigen Hüten (Abb. 27). Gut zu erkennen sind meist zwei oder drei
durch ein Band verbundene Rauten, an deren Seiten viereckige Elemente erschei-
nen. Auch teilt die Reihe von Rauten das vertikale Band in zwei kontrastierend ge-
färbte Hälften. Offensichtlich verzichtet man also auf die vollständige Wiedergabe
der Schlange und beschränkt sich nur auf einen Ausschnitt des Schlangenkörpers. Es
ist sehr wahrscheinlich, dass ähnlich dem Stilmittel des pars pro toto in der Literatur
nur ein Ausschnitt der Schlangenhaut die gesamte Gestalt der Schlange repräsen-
tierte, was dazu führt, dass man sich in vielen Fällen nur auf die Darstellung einer
einzelnen Raute beschränkte (Abb. 29). In diesem Sinne ist auch zu überlegen, ob
Gürtel mit dem MH Rauten-Tocapu letztlich nicht als „Schlangengürtel“ zu inter-
pretieren sind (Abb. 16). Viele Gottheiten der Pucara-,Tiwanaku-, und Wari-Kultur
tragen Schlangen als Gürtel, wie dies z. B. auf der Zentralgestalt des sogenannten
Sonnentores von Tiwanaku deutlich zu sehen ist, die einen Gürtel in Form einer
doppelköpfigen Schlange trägt (Abb. 30).11 12
Mehrere der Prozentzeichen-Motive (Typ 1 A und Varianten, Typ 1 B auf Liste in
Abb. 24), bei denen es sich möglicherweise um Varianten ein und desselben Motivs
handelt, dürften ein gemeinsames Vorbild haben. Wie das Vorbild für das MH Rau-
ten-Tocapu ist es in mehrfigurigen Szenen zu finden. Mehrere unterschiedliche my-
thische Gestalten in Bildwerken der Wari- undTiwanaku-Kultur halten Stäbe in den
Händen, bei denen es sich eigentlich um Schlangen mit einem Felidenkopf handelt
(Abb. 31). „Schlangenstäbe“ sind im Mittleren Horizont weit verbreitet und ein
Symbol für den gotthaften Rang ihres Besitzers. Sie sind keinesfalls nur auf die
11 Siehe auch Posnansky 1957, III-IV, pl. XXXII-c; Ochatoma 2000, „Rostros De Guerreros“
und „Deidades Mitológicas“, Eisleb 1980. Taf. 152; Young-Sanchez 2004, 163,6.11; Eisleb 1980,
Taf. 274; Eisleb 1980, Taf. 5 und 100 für Schlangenkörper, die als Ausschnitt dargestellt werden.
12 Siehe auch die Gottheit F des Lieskeschen Katalogs (1992) in der Ikonografie von Moche,
die eine doppelköpfige Schlange als Gürtel trägt.
93
TRIBUS 56,2007
Abb. 30: Zentrale Gestalt des sogenannten Sonnentores, die eine doppelköpfige
Schlange als Gürtel trägt. Fundort Tiwanaku.
Gruppe der frontal dargestellten anthropomorphen „Stabgötter“ beschränkt, son-
dern auch in den Händen tiergestaltiger Gottheiten zu sehen. In allen Fällen weist
der schlangengestallige Schaft ein Winkelband als Zeichnung auf, auf dem zu beiden
Seiten trianguläre Elemente erscheinen. In einigen Fällen ist zu sehen, wie der Schaft
in Gestalt einer Schlange durch einzelne viereckige Segmente gebildet wird (Abb.
32), in anderen Beispielen wiederum wird die Rahmung der einzelnen Motive aufge-
geben, so dass nur noch ein fortlaufendes Winkelband mit den zu beiden Seiten er-
scheinenden triangulären Elementen an die einstige Kette von einzelnen Prozentzei-
chen-Motiven erinnert. Auch in der Kultur von Tiwanaku gibt es Darstellungen von
Schlangen mit Felidenköpfen, deren Körper durch ein Winkelband gekennzeichnet
sind, wie dies die Darstellung eines Schlangenwesens in u-förmiger Haltung auf dem
sogenannten Sonnentor zeigt (Abb. 33a). Schlangenkörper mit Winkelbändern die-
nen im Mittleren Horizont aber nicht nur als Stäbe, sondern sind ebenfalls als Kopf-
schmuck- und Gürtelmotive anzutreffen (Fig. 33b). In einigen Darstellungen des
Stils von Conchopata (Wari) sind mythische Wesen mit ihren menschlichen Gefan-
genen zu sehen, die sowohl Gürtel mit dem MH Rauten-Tocapu als auch mit ande-
ren Motiven tragen, was darauf hinweist, dass es verschiedene Schlangengürtel und
zwischen diesen eine klare Unterscheidung gab (Abb. 16).
94
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
◄ Abb. 31: „Schlangenstab“ mit fortlaufender Zickzack-Linie. Detail
eines Hemdes der Wari-Kultur. Schweizer Privatsammlung.
.... f.......................
Abb. 33a: Feliden-Schlange mit u-
förmigem Leib, der eine fortlaufen-
de Zickzack-Linie als Maserung zeigt.
Sonnentor, Fundort Tiwanaku.
Abb. 33b: „Schlangen-
gürtel“ mit Winkel-
band. Detail einer
Goldplakette mit Vo-
gelwesen. Museo Nacional de Antropología, Arqueología y Historia del Peru, Lima.
&
95
TRIBUS 56,2007
9. Das Prozentzeichen-Motiv in der Ikonografie der Kulturen von Ica-Chincha und
Chancay
Innerhalb der Ikonografien der Späten Zwischenperiode (1000-1475 n. Chr.), in den
Bildwerken der Kulturen von Ica-Chincha und Chancay, gibt es ebenfalls Motive, die
das Vorhandensein von Tocapus vermuten lassen. Sie sind auf Keramiken und Texti-
lien nachweisbar. Hierzu zählen quadratische und rechteckige Motive, deren struk-
turierte Fläche oft ebenfalls von einer starken Punktsymmetrie gekennzeichnet ist.
Die Motive treten einzeln oder aber in Reihen zusammengeschlossen auf. Bilden sie
Reihen, so kann es wie im Falle des inkazeitlichen Schraubenschlüssel-Tocapus und
der warizeitlichen Prozentzeichen-Motive zur Bildung fortlaufender Musterbänder
kommen, was immer noch auf die einstige Verbindung zum Vorbild Schlangenkörper
hinweist. Sowohl Prozentzeichen-Motive als auch das MH Rauten-Tocapu sind auf
Keramiken dieser Zeit zu finden (Abb. 34).
Auf Keramikskulpturen ist zu sehen, dass besonders Prozentzeichen-Motive Reihen
ausbilden, die sich als Musterbänder um den Kopf oder um die Hüfte der Gestalt
ziehen und wahrscheinlich Textilbänder mit eingewebten Verzierungen andeuten
Abb. 34: Gefäß der Ica-Chincha-Kul-
tur in Form einer „Feldflasche“, des-
sen Ausguss Prozentzeichen-Motive
zeigt. Ethnologisches Museum Ber-
lin.
Abb. 35: Prozentzeichen-Motive auf
einem Musterband, das sich um den
Kopf einer Gestalt zieht. Chancay-
Kultur. Museo Nacional de Antro-
pología, Arqueología y Historia del
Peru. Lima.
96
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
(Abb. 35).13 Auch treten sie alternierend mit anderen viereckigen Motiven auf und
erinnern bereits sehr an die Tocapu-Reihen der darauffolgenden Inka-Zeit (Abb.
36). Hier deutet sich schon klar eine Verwendung des Prozentzeichen-Motivs an, wie
sie für das Schraubenschlüssel-Tocapu der Inkazeit so typisch ist.
Abb. 36: Prozentzeichen-Motive in
Verbindung mit anderen Tocapu-
Motiven auf einem Musterband, das
auf der Hüfte und dem Unterarm ei-
ner Gestalt aufgebracht ist. Chan-
cay-Kultur. Museo Nacional de An-
tropología, Arqueología y Historia
del Peru, Lima.
10. Hemden mit Schraubenschlüssel-Tocapus in der Zeit der Inka
Die wenigen erhaltenen Textilien aus der Zeit der Inka, die flächendeckend mit
Schraubenschlüssel-Tocapus verziert sind, stammen alle aus küstennahen Fundor-
ten. In den trockenen Küstenwüsten mit ihren salpeterhaltigen Böden sind die Er-
haltungsbedingungen für Textilen wesentlich günstiger als im regenreicheren und
feuchten Hochland. Alle Textilien dieses Typs zeigen einen hohen Grad an Standar-
disierung, sowohl in den Maßen als auch in der Form ihrer Musterung. In den Dar-
stellungen auf Keramiken lässt sich dieser Hemdtyp bislang nicht ausmachen. Zeit-
gleiche Inka-Keramiken von der peruanischen Zentralküste zeigen Personen, die
Textilen tragen, die in Hüfthöhe mehrere Reihen von (z-förmigen) Schraubenschlüs-
sel-Tocapus, nicht aber einen flächendeckenden Besatz dieses Tocapu-Typs aufwei-
sen (Abb. 37).
Dies gilt auch für Keramiken mit der Darstellung von Personen, die Hemden tragen,
die mit Tocapus des Typs Inca diamond verziert sind. In diesen Fällen ist auf den
13 Siehe auch Inka-Peru 1991, Bd. 2,174,216 als Beispiel für ein Kopfschmuckband mit Proz-
entzeichen-Motiven.
97
TRIBUS 56,2007
Abb. 37: Figurengefäß, das einen Mann
mit einem Hemd mit horizontalen
Bändern aus z-förmigen Schrauben-
schlüssel-Tocapus zeigt. Inka-Kultur.
Staatliches Museum für Völkerkunde
München, Slg. Posnansky.
Hemden der Personen analog zu noch erhaltenen Textilien mit demselben Tocapu-
Typ {diamond waist band tunk, DW Rowe 1979) nur eine Reihe von Tocapus zu se-
hen (Abb. 38a, b).
Interessant erscheint auch, dass es im Werk Guaman Pomas (1615) keine Darstel-
lung von Textilien mit einem flächendeckenden Besatz von Schraubenschlüssel-To-
capus gibt, jedoch von solchen, die Schraubenschlüssel-Tocapus auf diagonalen Rei-
hen abwechselnd mit Tocapus des Typs Inca diamond zeigen (Abb. 19a, b Guaman
Poma). Auch gibt es in den kolonialzeitlichen Ölgemälden der Cuzcoer Schule keine
Darstellung dieses Hemdtyps. Rowe erwähnt, dass eines der Hemden mit Schrau-
benschlüssel-Tocapus aus einem Grab in Los Majuelos stammt, in dem sich auch ein
Männerhemd mit schachbrettartig angeordneter Musterung in Schwarz und Weiss
{Black and White Checkerhoard tunk, BW-1) befand (Rowe 1979; 248). Dies ist ein
Hinweis darauf, dass eine Person verschiedene Hemdentypen tragen konnte, was
wiederum darauf hinweisen könnte, dass dies anlassbezogen, z. B. bei verschiedenen
politischen und religiösen Ereignissen, erfolgte. Von großer Bedeutung sind die von
Johann Reinhard auf dem Cerro Ampato ergrabenen Miniaturfiguren aus Gold
(Männergestalten) und Silber (Frauengestalten) (Reinhard 1999). Alle Figurinen
sind mit Miniaturtextilien- und Federschmuck bekleidet. Die Miniaturgewänder der
Frauen werden von silbernen Gewandnadeln auf der Brust zusammengehalten, wäh-
98
Christiane Ciados: Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abb. 38a, b: Figurengefäße in Form zweier Männer, die Hemden mit Bändern aus
Tocapus des Typs Inca diamond tragen. Inka-Kultur. 38a. Fundort Chulpaka, Ica-Tal,
Museum of Anthropology, University of California, Berkeley. 38b. Ethnologisches
Museum Berlin.
rend einige Männergestalten blaue Turbane aufweisen, die sie als Angehörige der
Inka-Elite ausweisen. Einige Gewänder der männlichen Statuetten zeigen eine Ver-
zierung mit Schraubenschlüssel-Tocapus und belegen damit eine klare Verbindung
dieses Tocapu- und Hemdtyps mit hochrangigen Mitgliedern der Inka-Gesellschaft.
Dass das Schlüsselloch-Tocapu im Kontext mit einer goldenen (männlichen) Statu-
ette auftritt, setzt diesen Tocapu-Typ auch in Verbindung mit der mythologischen
Dimension. Spanische Chronisten berichten von einer Mythe, derzufolge der Inka-
Adel einem goldenen Ei entstammt.
11. Das inkaische Männerhemd des Linden-Museums: Eine Annäherung an seine
Bedeutung
Der Langzeit-Seriation des Schraubenschlüssel-Tocapus kann entnommen werden,
dass seine Vorläufer im Mittleren Horizont zu suchen sind und es wie auch im Falle
des Tocapus-Typs Inca diamond eine enge Verbindung zur Darstellung von Schlangen
besitzt. Diese drückt sich einerseits in der identischen Darstellung von Schlangen-
körpern und Reihen von Prozentzeichen-Motiven im Mittleren Horizont als auch in
der Verwendung dieses Motivs auf Gürteln und Kopfbedeckungen aus. Mythisch
überhöhte Kleidungsstücke wie „Schlangengürtel“ oder Kopfschmuck mit „Schlan-
genband“ sind ganz generell ein gängiges Kleidungsmerkmal göttlicher Wesen. Auch
die Verwendung des Motivs in der Späten Zwischenperiode als Stirnband ist in die-
sem Kontext zu erklären, denn in den andinen Gesellschaften werden spätestens seit
Beginn des Frühen Horizonts mit dem Aufkommen der Chavin-Kultur (seit ca. 1000
99
TRIBUS 56,2007
v. Chr.) bandartige Bildelemente wie Gürtel, Stirnbänder und Haare immer wieder
durch die Darstellung von Schlangen substituiert. Für die inkazeitlichen Hemden
mit Schraubenschlüssel-Tocapus erhält sich das Merkmal Schlangengürtel zumin-
dest in der Form, als dass Schraubenschlüssel-Tocapus als gürtelartige Bänder von
„Hüftbandhemden“ (waist band tunics) auf Keramikfiguren in mehreren Reihen
platziert auftreten und vermutlich Schlangengürtel nachahmen. Auch ist das Winkel-
band, das sich durch den Zusammenschluss von Schraubenschlüssel-Tocapus ergibt,
noch ein Relikt der Prozentzeichen-Motive des Mittleren Horizonts und imitiert
wahrscheinlich die Maserung einer Schlangenhaut.
12. Diskussion und Fazit
Mehrere Faktoren lassen den begründeten Verdacht zu, dass die abstrakt wirkende
Musterung des Inkahemdes mit den Schraubenschlüssel-Tocapus des Linden-Mu-
seums eine enge Verbindung zu figürlichen Darstellungen mythischer Schlangen-
wesen besitzt. Die scheinbar abstrakte Musterung geht somit auf ein figürliches
Vorbild zurück, das sich der Langzeit-Seriation folgend im Mittleren Horizont ent-
wickelte und sich über die Späte Zwischenperiode mit Stilmodifikationen bis hin
zu den Inka tradierte. Es ist sicherlich zu fragen, ob das Schraubenschlüssel-Tocapu
über einen Zeitraum von nahezu 800 Jahren nicht auch einem stetigen Bedeu-
tungswandel unterzogen war. Jedoch weisen eine gleich bleibende Verwendung als
Gürtel- und Kopfbandmotiv in der Späten Zwischenperiode sowie als „Gürtelbän-
der“ auf Hemden im Späten Horizont auch auf eine Kontinuität der Grundbedeu-
tung hin.
Eine wichtige Schlussfolgerung der hier vorliegenden ikonografischen Analyse von
Tocapus ist, dass das Vorbild vieler Tocapus in figürlichen Szenen zu suchen ist. Eini-
ge Bildelemente erhalten ihre figürliche Form, wenn sie als Tocapus genutzt werden.
Andere, wie das MH Rauten-Tocapu und die Prozentzeichen-Motive des Mittleren
Horizonts dagegen, verlieren ihre figürliche Form durch die bewusste Anwendung
von Stilmitteln wie das des pars pro toto.
In der Kultur von Wari ist das figürliche Vorbild des MH Rauten-Tocapus und des
Prozentzeichen-Motivs in Schlangendarstellungen zu suchen. Diese Schlangenwesen
dürften sich in ihrer Bedeutung zueinander jedoch erheblich unterschieden haben
und nahmen in den kosmologischen Vorstellungen der Menschen dieser Zeit unter-
schiedliche Rollen ein. In dieser Zeit könnte man das MH Rauten-Tocapu wie auch
das Prozentzeichen-Motiv gewissermaßen als Schlangenhaut-Segmente bezeichnen,
wobei die unterschiedliche Funktion beider Schlangen innerhalb des Bildkontextes
noch zu ermitteln wäre. Im Falle der wari- und inkazeitlichen Hemden, die Rauten-
Tocapus in Hüfthöhe besitzen, kann zu Recht von Schlangengürtel-Hemden gespro-
chen werden. Für einige der Prozentzeichen-Motive der Wari-Kultur des Mittleren
Horizonts kann eine besondere Verbindung zu waffenartigen Stäben in Form von
Schlangen hergestellt werden. Da diese Waffenstäbe ausschließlich zur Ausrüstung
von Gottheiten gehören und in Verbindung mit der Darstellung von menschlichen
Gefangenen stehen, wäre dabei an göttliche Waffen zu denken, möglicherweise ei-
nen Blitz, der eventuell im metaphorischen Sinne durch die Schlange mit dem Win-
kelband zum Ausdruck gebracht wird.
Der einstige Träger des inkazeitlichen Hemdes der Sammlung des Linden-Museums
dürfte der Adelsschicht angehört haben. Hier ist dabei aber nicht auszuschließen,
dass es sich auch um einen lokalen Fürsten gehandelt haben kann, der nicht der In-
ka-Elite entstammte und der jedoch mit der Erlaubnis, ein solches Textil zu tragen,
dem Inka-Adel gleichgesetzt wurde.
Mit Sicherheit besaßen Hemden mit Schraubenschlüssel-Tocapus und Tocapus des
Typs Inca diamond in der Zeit der Inka unterschiedliche Bedeutung und waren un-
terschiedlichen Gruppen der Gesellschaft Vorbehalten. Dies und die Hemden mit
den hier vorgestelllen Tocapu-Typen in ihrer Bedeutung zu Schlangendarstellungen
zu konkretisieren wird Aufgabe künftiger Forschung sein.
100
Christiane Ciados; Neue Erkenntnisse zum Tocapu-Symbolsystem
Abbildungsverzeichnis
Wenn nicht anders vermerkt stammen alle Abbildungen von der Autorin.
All rollout drawings, illustrations and diagrams are by the author, unless otherwise
noted.
Fig. 1. Archiv Linden Museum-Stuttgart. Foto Dreyer.
Fig. 3. Barthel 1970.
Fig. 19a-c. Guarnan Poma [1615] 1936.
Das Foto von der inkazeitlichen Tunika des Linden-Museums wurde mit freund-
licher Genehmigung von Frau Dr. Doris Kurella zur Verfügung gestellt.
I wish to express my gratidute to curator Dr. Doris Kurella for granting permission
to use archival photographs.
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Biografie
Dr. Christiane Ciados, 2001-2003 Dozent an der Freien Universität Berlin, 2003-
2005 Forschungsprojekt an der University of Wisconsin-Madison im Rahmen eines
Posdoc-Programms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), seit
2005 Mitglied des Costa Rica Catalogue Project des Denver Art Museum, Colorado,
Habilitation in Vorbereitung.
Christiane Ciados, PhD, has been Research Associate of the Free University of Ber-
lin in 2001-2003, and a postdoctoral fellow at the University of Wisconsin-Madison,
under a fellowship of the German Academic Exchange Service (DAAD) in 2003-
2005. As a member of the Costa Rica Catalogue Project she also has been affiliated
with the Denver Art Museum, Colorado. Habilitation under preparation.
106
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
CLAUDIA SCHLAG
Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
In Gesellschaften rund um den Erdball nimmt Kleidung als materielles Gut einen
wichtigen Platz ein. Sie ist Teil einer größeren Ordnung und eingeflochten in ein
Netz, welches aus einer bestimmten Sozialstruktur, einer politischen Organisation,
verschiedensten Wirtschaftsformen, religiösen Vorstellungen, moralischen Überzeu-
gungen und bestimmten Werten besteht. Auch in Mittelasien war Kleidung zu keiner
Zeit ein isoliertes Phänomen, sondern stets eingebettet in ein größeres gesellschaft-
liches Umfeld, das sich auf das Erscheinungsbild der mittelasiatischen Bekleidung
auswirkte. Die Kleidung der Frauen, die auf dem Staatsgebiet des heutigen Usbeki-
stan lebten, stellte dabei keine Ausnahme dar. Wie schon Jahrhunderte lang spiegelt
sich auch heute noch die lebhafte Geschichte der Region in den einzelnen Klei-
dungsstücken der Usbekinnen wider. Doch wie sah die Kleidung dieser Frauen im
19. Jahrhundert aus? Was veränderte sich im Laufe der Geschichte? Und wie kleiden
sich Usbekinnen heute?
Der folgende Artikel gewährt einen Überblick über usbekische Frauenkleidung vom
19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Als Grundlage dieser Darstellung diente die
von mir angefertigte Magisterarbeit zum Thema „Usbekische Frauenkleidung als
Spiegel von gesellschaftlichen Veränderungen“, die im April 2005 am Institut für
Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien eingereicht wur-
de.
Bei meiner Darstellung der Thematik bis zum Zerfall der Sowjetunion stütze ich
mich vor allem auf Literatur, wobei neben Reiseberichten und Ausstellungskata-
logen im Besonderen Arbeiten von russischen Ethnographlnnen aus der Sowjetper-
iode relevante Informationen lieferten. Da die Quellenlage zu usbekischer Frauen-
kleidung seit 1991 nur sehr spärlich ist, stellt eine zweimonatige Feldforschung in
Usbekistan, die ich im Herbst 2004 durchführte, die Basis für meine Schilderung von
Kleidungsformen im unabhängigen Usbekistan dar.
Da Usbekistan als territoriales Gebilde in seiner jetzigen Form erst seit 1924 exi-
stiert, werde ich mich in der Betrachtung der Kleidung bis zu diesem Zeitpunkt vor
allem auf Oasenstädte, die auf dem Staatsgebiet des heutigen Usbekistan liegen,
konzentrieren. Außerdem würde eine Behandlung der Kleidung von Usbekinnen,
die heute außerhalb von Usbekistan leben (wie z. B. im nördlichen Afghanistan), den
Rahmen dieser Arbeit sprengen, so dass diese leider ausgeklammert bleiben muss.
Auch wird die Kleidung von anderen heute in Usbekistan lebenden ethnischen
Gruppen nicht behandelt, da die Fülle an Materialien auch hier eine eigene Darstel-
lung erforderlich machen würde.
Frauenkleidung im 19. Jahrhundert
Schon während früherer Jahrhunderte war die Kleidung der Bevölkerung Zentrala-
siens der Umgebung und dem Klima angepasst. Während die Bewohner der Steppen
und Berge sich in wollene und pelzgefütterte Mäntel und Hosen kleideten, forderten
die langen, heißen Sommer und die kurzen, kalten Winter in den Oasen leichte
Baumwoll- und Seidenkleidung. Die Frauen der Oasenstädte kleideten sich unab-
hängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit auf gleiche Art und Weise - Unterschiede
in der Kleidung waren lediglich aufgrund des sozialen Ranges der Trägerin und der
finanziellen Situation ihrer Familie gegeben.1 Die folgende Darstellung gibt einen
Überblick über Haupt-Typen der Kleidung und nimmt dabei auch auf ihren „Sitz im
Leben“ Bezug.
1 vgl. Knorr 1975:46
107
TRIBUS 56,2007
Wie schon in früheren Zeiten stellte das Kleid bzw. Hemd einen Hauptbestandteil
der Kleidung der mittelasiatischen Frauen im 19. Jahrhundert dar. Dieses Kleid,
„Kuilak“ genannt, war ähnlich einer Tunika geschnitten und reichte meist bis zu den
Fußknöcheln. Der Schnitt des Kuilaks war gerade, manchmal nach unten etwas brei-
ter werdend. Es besaß lange und gerade Ärmel. Der Halsausschnitt der Kleider von
unverheirateten Mädchen verlief horizontal entlang den Schultern. Im Unterschied
zu jungen Mädchen trugen verheiratete Frauen Kleider mit einem vertikalen Aus-
schnitt, der etwa 25 Zentimeter lang war und an der Vorderseite des Kuilaks entlang
des Brustbeines verlief. Diese Art der Öffnung erlaubte den Frauen das Stillen ihrer
Kinder. Der vertikale Ausschnitt wurde wie auch schon die horizontale Variante ent-
weder mit Bändern zugebunden oder mit einem Knopf zugeknöpft. Außerdem gab
es die Möglichkeit, ihn mit einer Brosche zu verschließen.2
Zuhause trugen Frauen üblicherweise ein Kleid, in der kalten Jahreszeit darüber
auch ein zweites. Gab es einen Feiertag oder verließ eine Usbekin das Haus, kleidete
sie sich ebenfalls in mehrere Kuilaks gleichzeitig. Die Ärmel der Kleider hatten zwar
alle die gleiche Breite, waren aber unterschiedlich lang. Der Grund dafür war die
Möglichkeit, durch die verschiedenen Längen die Stickereien an den Ärmeln jedes
einzelnen Kleides zeigen zu können. Wollte eine Frau noch bewusster den Reichtum
ihrer Garderobe zeigen, so nahm sie noch einige Kleider mit, wenn sie zu Besuch
ging. Während des Besuches zog sie sich nach einiger Zeit um, um die Pracht aller
ihrer Gewänder präsentieren zu können. Frauen aus wohlhabenden Familien in Bu-
chara oder Samarkand trugen bis zu sieben Kleider übereinander. Vor allem junge
Frauen kleideten sich nach ihrer Hochzeit in viele Gewänder gleichzeitig, um durch
diesen Überfluss den Reichtum ihrer neuen Familie zu zeigen. Dieser Brauch hat
sich bis heute in etwas veränderter Form erhalten. Manchmal trugen Frauen unter
dem Kleid auch noch ein Hemd aus weißem Baumwollstoff - „Itschki kuilak“. Im
Gegensatz dazu besaßen arme Frauen normalerweise nur ein einziges Kleid zum
Wechseln.3
Usbekische Frauen trugen keine Unterwäsche, so dass Hosen ein essentieller Be-
standteil ihrer Kleidung waren. Auch der usbekische Begriff „Lozim“ - er bedeutet
„notwendig“ - , zeugte von der Wichtigkeit dieses Kleidungsstücks. Frauenhosen
wurden aus zwei Stoffen hergestellt: Der Teil an der Hüfte war meist aus Baumwolle
oder einem anderen einfachen und billigen Material. Der untere Teil, der unter dem
Kleid gesehen werden konnte, bestand aus dem besten Stoff, den eine Frau sich lei-
sten konnte. Am unteren Ende der Hosenbeine wurde ein schmales gewebtes oder
besticktes Band als Dekoration angenäht. Oft waren daran zusätzlich noch Quasten
befestigt. Die Hosen waren meist sehr weit, wurden in der Taille mit einer Baumwoll-
schnur zusammengezogen und verjüngten sich nach unten hin.4
So genannte Chalate wurden im 19. Jahrhundert sowohl von mittelasiatischen Män-
nern als auch von den Frauen der Region über dem Kleid bzw. Hemd getragen. Die-
ser auch Tschapan genannte Mantel eignete sich lange Zeit gut zur Repräsentation
von Reichtum und Würde. Keine anderen Luxusgüter kamen dem Chalat als öffent-
liches Statussymbol und als Blickfang gleich. Es spielte nicht nur eine Rolle, ob ein
Tschapan aus grobem Wollstoff, billigem Baumwollstoff, Seide, Samt, Brokat, impor-
tierten Kaschmirgeweben oder anderen Materialen hergestellt wurde, sondern für
den Eindruck, den eine Person hinterließ, war es auch entscheidend, wie viele Cha-
late sie übereinander trug.5
Frauenmäntel unterschieden sich von Männerchalaten nur unwesentlich, waren sie
doch genau gleich geschnitten. Der Halsausschnitt der Frauenchalate war allerdings
offener und weiter als bei den Chalaten der Männer. Er war nicht bestickt, Borten
waren beim weiblichen Tschapan nur sehr selten vorhanden. Im Vergleich zu den
2 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:5
3 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:6, Fitz-Gibbon & Haie 1988: 15
4 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:6, Sucharewa 1982:57
5 vgl. Klimburg 1993:22
108
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Ärmeln der Männermäntel waren die Ärmel der weiblichen Variante etwas kürzer
und loser geschnitten. Wie auch die Chalate der Männer waren die meisten Frauen-
Tschapans gefüttert. Das Futter bestand meist aus einem Baumwollstoff, nur für die
sichtbaren Stellen wurde manchmal wertvollerer Halbseidenstoff verwendet. Im
Sommer wurden auch Chalate ohne Futter getragen, im Winter Mäntel, die mit di-
cken Schichten Watte gefüttert waren.6
Der gewöhnliche Mantel stellte im 19. Jahrhundert nicht die einzige Form der weib-
lichen Oberbekleidung dar. Neben dem Chalat gab es noch andere Typen von Ober-
gewand, welche spezifisch für Frauen waren. Dies waren der Munisak, eine besonde-
re Form des Mantels, und der Parandscha, ein Kleidungsstück, das von städtischen
Frauen auf der Straße getragen wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts war außerdem
noch ein weiteres Kleidungsstück zu finden, über das allerdings wenig bekannt ist:
der Pischwo.7
Beim Munisak (Abb.l) handelte es sich um einen an die weibliche Figur angepassten
Mantel. Er hatte keinen Kragen, dafür aber einen weiten Ausschnitt, um das darun-
ter getragene Kleid zu zeigen. Um dem Mantel Üppigkeit zu verleihen, wurde das
Material entweder unter den Ärmeln gerafft oder es wurden Zwickel eingenäht. Die
Form der Ärmel variierte von sehr eng bis weit. Man konnte sowohl gefütterte Mu-
nisaks als auch Varianten ohne Futter finden.8
Beim Pischwo handelt es sich möglicherweise um den Vorläufer des Munisak. Leider
gibt es über diese Art des Mantels aber nur sehr spärliche Informationen. Bekannt
ist nur, dass der Pischwo-Mantel aus einem Ikatstoff aus einer Mischung von Baum-
wolle und Seide hergestellt wurde. Er war nicht gefüttert und hatte denselben Schnitt
wie der Munisak.
Abb I: Frauenmantel,
leicht wattiert, Seide-
nikat, Futter aus
Baumwolldruckstoff,
Mantelschlag mit Ika-
treps besetzt, poly-
chrome Webbordüre.
Buchara um 1880.
Foto: Linden-Muse-
um Stuttgart.
6 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:6, Olufsen 1911:482
7 vgl. Sucharewa 1982:34
8 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978; 7, Fitz-Gibbon & Haie 1997:285
109
TRIBUS 56,2007
Abb 2: Parandscha,
Seidenstickerei auf
Seidenreps, Futter aus
Ikatreps. Wahrschein-
lich Buchara um 1900.
Foto: Linden-Muse-
um Stuttgart.
Sowohl Munisak als auch Pischwo wurden bei bedeutenden Übergangsriten im Le-
ben einer Frau getragen. Sie wurden als angemessene Kleidung für die Teilnahme an
Familienfesten und Begräbnissen betrachtet.9
Viel länger als Munisak und Pischwo war der Parandscha in Gebrauch, er war auch
im frühen 20. Jahrhundert noch zu finden (Abb. 2). Es handelte sich dabei um einen
Mantel, der über allen anderen Kleidungsstücken getragen wurde, wenn eine Frau
ihr Haus verließ. Der Parandscha wurde über den Kopf gelegt und fiel in schweren
Falten wie ein Umhang hinter dem Körper hinab. Er war sehr lang, reichte oft vom
Scheitel bis zum Boden und verhüllte die gesamte Figur der Trägerin. Da der Paran-
dscha als Umhang getragen wurde, waren die Ärmel funktionslos. Sie wurden im
Laufe der Zeit immer enger, sodass man in sie gar nicht mehr hineinschlüpfen konn-
te. Vielfach „verkümmerten“ sie sogar zu Bändern, die am Rücken nach unten hin-
gen. Bei den meisten Parandschas waren die Ärmel am Rücken des Mantels mit
einem bestickten Band oder mit einer gewebten Zierborte verbunden.10
Kleidete sich eine Frau in einen Parandscha, war sie vor fremden Blicken entspre-
chend den Normen des Islam abgeschottet. Das Tragen dieses Mantels wurde Mäd-
chen schon von Kindheit an beigebracht. Parandscha-Mäntel wurden auf der Straße
in Verbindung mit einem Gesichtsschleier, der als Tschatschwan bezeichnet wurde,
getragen. Der Tschatschwan war ein schwerer Schleier aus schwarzem Rosshaar. Er
hatte unten einen dichteren Streifen, der mit weißen Haaren als Schmuck verwoben
war. In prunkvollen Tschatschwans wurden in die schwarzen Haare zusätzlich hell-
blaue oder rosa Glasperlen eingeflochten, welche die Trägerin vor dem bösen Blick
schützen sollten. Die Kanten des Tschatschwan waren mit Stoff, z. B. Samt oder Sti-
ckereien eingefasst. Der Schleier reichte bis zur Taille oder bis zu den Knien und
verdeckte das Gesicht der Trägerin.
9 vgl. Fitz-Gibbon & Haie 1997:286f., Sodikova 2003; 128
10 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978: 8, Fitz-Gibbon & Haie 1997: 287, Landsdell 1885; 652,
Leix 1974:22
110
Claudia Schlag; Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Der schwarze Rosshaarschleier war in Mittelasien allerdings nicht sehr weit verbrei-
tet. Ein beachtlicher Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung auf dem Gebiet des
heutigen Usbekistan trug keinen Tschatschwan. Fast alle Bäuerinnen in den Regi-
onen, in denen die Abschottung der Frau verbreitet war, verdeckten ihre Gesichter
nicht. Sie trugen meist nur bei Begräbnissen oder anderen formellen Anlässen einen
Parandscha. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es auch in größeren Städ-
ten, wie z. B. Taschkent, nicht üblich, einen Schleier zu tragen. Erst im Laufe des 19.
Jahrhunderts tauchte er verstärkt in den urbanen Gebieten der Region auf.11
Der Parandscha stellte aber nicht nur die Ausgehkleidung von städtischen Frauen
dar, er erfüllte vielmehr auch soziale Zwecke. Eine Gastgeberin drückte ihre Ge-
fühle gegenüber dem Gast durch die Art aus, auf welche sie ihren Parandscha trug:
Ehrend, wenn sie ihn sehr weit oben platzierte, beleidigend, wenn er abgelegt wurde.
Eine Besucherin, die ihren Parandscha innerhalb eines Hauses trug, hinterließ einen
sehr schlechten Eindruck, da dies bedeutete, dass man einem Haushaltsmitglied den
Tod wünschte.11 12
Die Hochzeitskleidung war der gesellschaftlichen Stellung des Brautpaares ange-
passt. Arme Familien stellten Gewänder aus einfachen, in Heimindustrie hergestell-
ten Baumwollstoffen her, während sich reiche Personen Hochzeitskleidung aus
Halbseiden-, Seidenstoffen oder teuren importierten Textilien leisten konnten. Bei
der Hochzeit trug die Braut ein weißes Baumwollkleid, dass speziell für diesen An-
lass genäht worden war. Der Farbe weiß kam in diesem Zusammenhang eine beson-
dere Bedeutung zu, da sie ein Symbol des Glücks darstellte, das auf die neue Verbin-
dung zwischen Braut und Bräutigam übergehen sollte.
Wie bei Kuilaks, die im Alltag getragen wurden, ähnelte der Schnitt des Kleides nor-
malerweise einer Tunika. Das Hochzeitskleid war sehr lang und reichte bis zu den
Knöcheln. Es hatte sehr lange und breite Ärmel, die sogar die Hände verdeckten.
Auch die unter dem Kleid getragenen Hosen glichen dem sonst üblichen Typ. Sie
wurden aus Seiden- und Baumwollstoffen hergestellt, oft auch aus Ikatstoffen. Wäh-
rend der Hochzeitszeremonie verdeckte die Braut ihren Kopf mit einem weißen
Schal, der manchmal kunstvoll bestickt war. An den Füßen trug sie neue Itschigi
(Stiefel) oder Schuhe.13
In der Region von Samarkand und Buchara trug die Braut an ihrem Hochzeitstag zwei
Kleider übereinander. In den Gebieten Choresm und Surchandarya wurden diese bei-
den Kleider nacheinander getragen. Das erste Kleid war aus weißen oder zartrosafar-
benen Stoffen gefertigt, während das zweite aus roter Seide war. Die Ärmel des wei-
ßen Kleides waren länger und besaßen am Ende eine 20 bis 30 Zentimeter breite Sti-
ckerei. In Surchandarya wurde das weiße Kleid erst am zweiten oder dritten Tag der
Hochzeit durch ein rotes ersetzt. Dieser Übergang symbolisierte den Übergang einer
Frau in eine neue Statusgruppe und stellte gleichzeitig einen Hinweis auf ihre Frucht-
barkeit dar.14 Während des Besuches im Haus des Bräutigams trug die Braut einen
Munisak, einen Parandscha oder einen Chalat. In Samarkand und Buchara war es au-
ßerdem noch üblich das Gesicht mit einem leichten Schleier/Netz zu verdecken.15
War eine Frau gestorben, wurde ihr ein Kleid übergelegt und ihr Gesicht mit einem
Tuch bedeckt. Darüber wurde ein Munisak gelegt. Nachdem die Leiche gewaschen
worden war, kleidete man die Verstorbene in ein Totengewand, das aus Kleidern bzw.
Hemden, einer Hose und einem Tuch bestand. Tote Frauen bekamen zwei Hemden
angelegt, wobei das untere bis zu den Knien reichte. Das obere war länger und reichte
bis zu den Knöcheln. Der Schnitt dieser Kleider war gewöhnlich, also tunikaartig.
Der Halsausschnitt verlief entlang der Schultern, sodass man das Kleidungsstück
problemlos über den Körper ziehen konnte.
11 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978: 8, Sucharewa 1982:47
12 vgl. Fitz-Gibbon & Haie 1997:291
13 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978: 16, Sodikova 2003:70
14 vgl. Zerrnickel 1995:260
15 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978: 16, Sodikova 2003:70
111
TRIBUS 56,2007
Die „Hosen” waren ein Stück Stoff, der quer unter die Leiche gelegt wurde, sodass
die Enden um jedes Bein passten. Auf den Kopf einer verstorbenen Frau wurde ein
kleines quadratisches Kopftuch aus weißem Stoff platziert.
Während usbekische Männer bei Begräbnissen keine besondere Kleidung trugen,
war es für Frauen üblich, sich in spezielle Trauergewänder zu kleiden. Normalerwei-
se war es bei Frauen unüblich, Gürtel zu tragen. War allerdings ein Familienangehö-
riger, ein naher Verwandter oder ein Nachbar gestorben, dann trug auch die Frau als
Zeichen ihrer Trauer einen Gürtel. Ursprünglich banden sich Frauen spezielle Gür-
tel aus dickem, hellblauem oder grünem Seidenstoff, die zwei Meter lang und vierzig
Zentimeter breit waren, um ihr Kleid. Später dienten Winterkopftücher, nicht selten
mit Fransen, als Gürtel.
Auf dem Kopf trugen ältere Frauen große weiße Tücher aus Musselin oder weißer
Seide. In der kälteren Jahreszeit wurden auch warme Wolltücher getragen. Die En-
den dieser Tücher wurden entweder unter dem Kinn zusammengebunden oder hin-
gen lose über die Brust.
Weitere Symbole der Trauer waren das Ablegen des Schmuckes und das Austau-
schen von reicher Kleidung gegen einfachere und bescheidenere Gewänder. Auch
die Auflösung von Zöpfen, die normalerweise getragen wurden, symbolisierten die
Trauer einer Frau.'6
Ein wichtiger Teil der Kleidung der Usbekinnen im 19. Jahrhundert war die Kopfbe-
deckung. Die traditionellste Variante war dabei ein quadratisches oder rechteckiges
Tuch, welches man auf unterschiedliche Art und Weise binden konnte und in den
verschiedensten Größen zu finden war. Darüber hinausgehend waren auch noch
Turbane („Salla“),Tjubetejkas („Duppi“) und Mützen und Stirnbänder mit Goldbe-
stickung bei Frauen weit verbreitet.16 17
Die übliche Fußbekleidung der städtischen Bevölkerung Mittelasiens, sowohl von
Männern als auch von Frauen, waren Stiefel mit einer weichen Sohle, „Machsi“ oder
„Itschigi“. Sie hatten einen knapp unter die Knie reichenden Schaft, sodass die En-
den der Hosen in ihnen versteckt werden konnten.
Die Stiefel wurden immer mit robusten Ledergaloschen getragen, die mit Hilfe von
kleinen Eisenstacheln am Absatz beim Betreten eines Zimmers ausgezogen werden
konnten. Im 20. Jahrhundert wurden diese weitgehend durch in Russland produ-
zierte Galoschen aus Gummi ersetzt.
Außer Stiefeln und Galoschen trugen sowohl Männer als auch Frauen in den Oasen
Mittelasiens Fußlappen aus einem Stück Baumwollstoff. Im Winter wurden manch-
mal auch hölzerne Schuhe, die drei „Beinchen“ oder Stöckel hatten, getragen.18
Während es bei Nomadinnen üblich war, sich vor den Risiken der Nomadenwirt-
schaft durch den Besitz von jederzeit veräußerbarer, wertbeständiger und leicht
transportierbarer Kapitalreserven in Form von Schmuck abzusichern, bestand diese
Notwendigkeit bei der weiblichen Bevölkerung in den Städten Mittelasiens nicht.
Für die Bevölkerung der Oasen war der Grunderwerb oder die Beteiligung an aus-
sichtsreichen Handelsunternehmungen als Kapitalanlage weitaus attraktiver. Den-
noch war Schmuck in den urbanen Bereichen der Region keineswegs bedeutungslos.
Er stellte ein wichtiges Luxus- und Repräsentationsobjekt dar.19
Formen von Schmuck reichten von Kopf- und Stirnschmuck, wie dem „Tillakosch“-
Diadem, über Halsketten, Armreifen, Ringe, Ohr- und Nasenringe bis hin zu Schmuck
im Nacken und in den Haaren. Außerdem spielten Amulette, die vor Krankheiten,
bösen Geistern oder dem bösen Blick schützen sollten, eine sehr wichtige Rolle.
Viele Schmuckstücke wurden nur zu festlichen Anlässen getragen, da sie bei der
täglichen Arbeit hinderlich gewesen wären.
16 vgl. Rusiewa 1979:16911.
17 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:9ff.
18 vgl. Hedin 1892:283, Sodikova 2003:68, Sucharewa 1982:66ff.
19 vgl. Kalter 1983: 82
112
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Im Leben der Bevölkerung Mittelasiens spielte Schmuck eine große Rolle. Es zeigte
sowohl die Kunstfertigkeit des Handwerkers, vor allem aber auch den Gesellschafts-
status der Trägerin. Goldene Schmuckstücke mit Edelsteinen konnten sich lediglich
die reichsten Frauen leisten, nicht ganz so kostbar waren Schmuck aus Silber und
vergoldete Objekte mit bunten Steinen. Arme Frauen waren aus finanziellen Grün-
den auf einfache Stücke aus Kupfer, Bronze und Glas beschränkt. Außerdem konnte
man anhand des Schmuckes, den eine Frau trug, sowohl ihr Alter als auch ihren Fa-
milienstatus erkennen.20
Veränderungen während des 19. Jahrhunderts
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu großen Veränderungen in der Kleidung
der usbekischen Frauen. Dieser Wandel war mit den Prozessen und Veränderungen,
welche die Eingliederung Mittelasiens ins Russische Reich mit sich brachte, verbun-
den. Es blieben zwar viele alte Formen erhalten, vermehrt wurden nun aber auch
neue Elemente - oft in modifizierter Art und Weise - übernommen.
Schon Alexander Burnes - ein Reisender, der Zentralasien in den Jahren 1832 bis
1833 besuchte -, berichtet vom florierenden Textilhandel mit Russland und Indien,
deren Produkte in der Folge auch zur Herstellung von usbekischer Kleidung verwen-
det wurden.21 Er erzählt über den Import von Baumwollchintz, feinem englischen
Wollstoff und geblümtem Baumwollsamt („Manchester“) aus Russland und die Ein-
fuhr von Färbemitteln wie beispielsweise russische Koschenille und indisches Indigo.
Man erfährt, dass die jährliche Karawane, welche Waren von Russland nach Buchara
transportierte, etwa 1300 Kamele umfasste und dementsprechend viele Importgüter
mit sich nach Mittelasien brachte.22
Arminius Vämbery, der 1863 nach Buchara reiste, berichtet über die verschiedenen
Stoffe auf den Märkten Mittelasiens. Auch er hält fest, dass im Bazar von Buchara
neben den lokalen Textilien auch vielfach Produkte aus Russland und Großbritan-
nien zu finden waren.23
Schon während des gesamten 19. Jahrhunderts wurde die Kleidung von Frauen ein-
heitlicher. Da sich die industriell hergestellten Textilien über Händler schnell in ganz
Mittelasien verbreiteten, kleideten sich viele Frauen in ähnliche bzw. gleiche Stoffe.
Dies war vor allem bei wohlhabenden Oasenbewohnerinnen zu bemerken, konnten
sie es sich doch leisten, Stoffe, die aus anderen Regionen kamen, zu tragen. Ärmere
Frauen waren oft auf billige lokal hergestellte Baumwollstoffe beschränkt. Be-
stimmte Stoffe waren in einer Gegend üblich und allgemein verbreitet, doch konn-
ten sie nun auch anderswo gefunden werden, manchmal in einem anderen Typ von
Kleidung bzw. zu anderen Anlässen.24
20 vgl. Abdullaew & Chasanowa: 1978:11, Sodikova 2003; 69
21 Burnes 1835; 279f. „Die Stapelwaare russischer Fabrik, welch in dieses Land ausgeführt wird,
ist Nanking: er ist selten von weißer Farbe; denn die Russen haben die Muster hier zu Lande,
welche gestreift und dunkel sind, nachgeahmt. Der Artikel wird um die 1 ViTillas das Stück von
40 Yards verkauft, und wird von dem Volke im Allgemeinen zu seinen Pelzen oder „Tschup-
kuns“ gebraucht. Ich hatte mir anfangs eingebildet, es sey ein chinesischer Einfuhrartikel; allein
er wird durch die russischen Karavanen gebracht und bis Cabool und selbst nach Indien ver-
sandt. ... In Bokhara ist eine stete Nachfrage nach indischen Waaren. Dacca-Musseline, von der
breiteren Sorte, werden um 20 Tillas die Steige, und die schmälere Sorte um die Hälfte dieses
Preises verkauft. Von dem Benares-Brokat (Kincob), werden jährlich etwa 500 Stücke einge-
führt; der Brokat von Guzerat ist zu theuer. Die Gesammtheit der Bewohner Bokhara’s und
Toorkestan’s trägt Turbane von weißem, aus dem Punjab eingeführten Zeug von etwa 30 Yards
Länge, einem Fuß Breite und zu dem Preis von einem Tilla das Stück. Der Stoff ist in allgemei-
nem Gebrauch bei beiden Geschlechtern und könnte in Europa verfertigt und mit Vortheil
nach Toorkestan versandt werden.“
22 vgl. Burnes 1835:275, Scarce 1991:247
23 vgl. Vämbery 1864:17If.
24 vgl. Fitz-Gibbon & Haie 1997:285
113
TRIBUS 56,2007
War in Mittelasien zunächst nur maschinengesponnenes Garn aus russischen Spin-
nereien erhältlich und dieses mit handgesponnenem Garn kombiniert, gelangten im
Laufe des 19. Jahrhunderts auch immer mehr importierte Fertigstoffe in die Region.
Ende des 19. Jahrhunderts wurden viele lokal erzeugte Baumwolltextilien von fa-
brikbedruckten Baumwollstoffen aus dem Iran und vor allem aus Russland vom
Markt verdrängt. Zunächst weit verbreitet in den Städten der Region, gelangten sie
von dort aus auch in die ländlichen Gegenden. Diese bedruckten Stoffe waren meist
rot, gelb und schwarz und wurden oft als Futter für Ikat-Chalate und als Basisstoffe
für bestickte Mäntel, Taschen usw. verwendet.25
Auch die Produktion von Ikats innerhalb der Familie oder kleiner Handwerksbe-
triebe wurde im späten 19. Jahrhundert zunehmend von in Fabriken hergestellter
Seide bedroht. Unter dem Konkurrenzdruck von russischer Fabrikware entschieden
sich viele lokale Hersteller von Ikatstoffen für einfachere Muster, welche schneller
ausgeführt werden konnten, ohne dabei stark an Qualität zu verlieren. Während frü-
he Ikatdesigns noch sehr fein und außerordentlich komplex waren, stellten deshalb
Ende des 19. Jahrhunderts grobe und leuchtende geometrische Formen die Norm
dar.26
Im Laufe des 19. Jahrhundert veränderte sich das Färbehandwerk, das praktisch seit
dem Mittelalter wenige Veränderungen durchgemacht hatte, drastisch. Es kamen ver-
mehrt künstliche und synthetische Färbemittel sowohl aus Deutschland als auch aus
Großbritannien und Russland nach Mittelasien. Handwerker verzichteten zugunsten
von neuen leuchtenden Farben auf die Verwendung von alten Färbemitteln und tra-
ditionellen Techniken, bei denen sich die Künstler auskannten und auch wohl fühlten.
Gegen Ende des Jahrhunderts waren diese „Neuerungen“ in der Region schon weit
verbreitet, obwohl Gesetze, die ihren Gebrauch verboten, theoretisch bis ins 20. Jahr-
hundert gültig waren. Der Siebenfarben-Ikat, der den Gipfel der zentralasiatischen
Färberkunst repräsentierte, wurde nur von Beginn bis zur Mitte des 19. Jahrhundert
hergestellt. Später änderte sich die Farbpalette, sie umfasste nun ein deutlich kleineres
Spektrum. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendeten Weber vor
allem Fäden, welche in nur zwei oder drei Farbbädern koloriert wurden und dement-
sprechend aus weniger übereinander gefärbten Farben bestanden.27
Ab Beginn des 20. Jahrhunderts waren in Mittelasien Nähmaschinen in Gebrauch,
welche die Herstellung von Kleidung revolutionierten und zunehmend die Handar-
beit ersetzten. Der Wandel, der durch die Nähmaschine herbeigeführt wurde, kam
auch in der Veränderung der Bezeichnung für den Kleidung herstellenden Handwer-
ker zum Ausdruck. Wurde ein Näher in früheren Zeiten „Tukuntschi“ genannt, so
bezeichnete man ihn nach der Einführung der Nähmaschine als „Maschinatschi“.28
Nach der russischen Eroberung Zentralasiens waren Stil und Schnitt der Kleidung
immer mehr dem Einfluss der ausländischen Mode ausgesetzt. Innovationen im Be-
reich der Kleidung traten zunächst als Hinzufügung von dekorativen Elementen auf.
Taschen, Krägen, Knöpfe oder auch Zierleisten wurden der traditionellen Kleidung
hinzugefügt. Etwas später wurden Gewänder im westlichen Stil dem zentralasia-
tischen Geschmack angepasst. Die Kleidung wurde anliegend bzw. tailliert, mit
Schlitzen an den Seiten und am Rücken. Westen, Mieder und Kleider mit kurzen
Ärmeln wurden aus der westlichen Mode übernommen und aus Stoffen hergestellt,
die in der Region beliebt waren.
Durch ihr abgeschottetes Leben blieben viele Frauen zunächst von den Auswir-
kungen der Modernisierung weitgehend unberührt. Während Männer in den Städ-
ten schnell den russischen Stil annahmen, wurden Traditionen aller Art länger im
Bereich der Frauen beibehalten. Die Übernahme von westlicher Kleidung trat zuerst
in Bereichen mit großem russischen Bevölkerungsanteil auf. Neben der Vorbildwir-
25 vgl. Harvey 19%: 93, Sumner 1999:30
26 vgl. Sumner 1999:31
27 vgl. Fitz-Gibbon & Haie 1988: 13, Harvey 1996: 61
28 vgl. Lobatschewa 1989:5, Zerrnickel 1995:229
114
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
kung durch die neu ins Land gekommenen Russinnen war der Trend zu eng geschnit-
tenen Kleidungstücken sicherlich auch ein Ergebnis der wirtschaftlichen Engpässe
- zugeschnittene Kleider brauchten weniger Stoff und waren deshalb billiger in der
Herstellung.
Die gewöhnliche Alltagskleidung übernahm früher den westlichen Einfluss als die
Festtagskleidung.
Die ersten an den westlichen Stil angepassten Kleidungsstücke waren Kleider, die
ursprünglich kragenlos waren, nun aber mit Krägen ausgestattet wurden. In den frü-
hen 1890er Jahren tauchten Kuilaks mit stehenden Krägen auf, welche später mit
gefältelten Rüschen verziert waren. Ein hoher Stehkragen, der mit einem vertikalen
Ausschnitt verbunden war, kam zunächst in den Städten Turkestans, dann auch bald
auf dem Land in Mode. Gleichzeitig wurden Mäntel und Kleider an die Figur der
Trägerin angepasst und Taschen und Aufschläge hinzugefügt.
Ende des 19. Jahrhunderts tauchten Kleider mit abgeschnittener Kokette auf, die
auch in späterer Zeit noch die Grundform der Nationaltracht bildeten. Außerdem
wurden Kuilaks mit stehenden Krägen, deren Ärmel mit Manschetten verziert wa-
ren, populär. Nur ältere Frauen trugen Kleider mit vertikalem Ausschnitt oder mit
einfachen stehenden Krägen.29
Eine neue Form der Frauenkleidung in Mittelasien, die nach der russischen Erobe-
rung auftauchte, war der „Kamzol“, der auch unter den Namen „Kamzur“, „Kam-
zul“ oder „Peschmet“ bekannt war. Diese Mäntel stellten schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts die wichtigste Oberbekleidung der städtischen Frauen in Mittelasien
dar. Der Kamzol verdrängte sowohl den Chalat als auch den Munisak als eines der
verschiedenen Hauptkleidungsstücke städtischer Frauen jüngeren und mittleren Al-
ters. Nur ältere Frauen trugen nach wie vor Chalate. Das neue Kleidungsstück
schmiegte sich etwas enger an die Taille als ein gewöhnlicher Chalat. Die Ärmel
waren kurz und eng. Es war figurbetont geschnitten, hatte einen Umlegekragen und
besaß manchmal auch Taschen an den Seiten oder auf der Brust. Die frühen Kamzol-
Mäntel waren aus den gleichen Materialien wie Chalate und Munisak-Mäntel herge-
stellt. Zur Jahrhundertwende kamen aber immer mehr importierte Textilien in Mode.
Die neuen Hauptmaterialien zur Herstellung von Kamzol-Mäntel waren Samt- und
Plüschstoffe, die oft mit grellen Blütenmustern versehen waren.30
Da die Stadtbewohnerinnen in Mittelasien nicht von einem Tag auf den anderen zu
einer gänzlich neuen Silhouette der Kleidung übergehen wollten, trugen sie zunächst
einige Jahre lang eine Zwischenform zwischen Chalat und Kamzol. Diese Mäntel mit
neuem Schnitt hießen in Samarkand „Rumtscha“. Sie waren weit und noch sehr ähn-
lich einem traditionellen Chalat geschnitten. Die Schultern dieses neuen Kleidungs-
stückes waren allerdings zugeschnitten und beim Übergang zu den Ärmeln leicht
gerafft. Der Kragen entsprach entweder dem eines Chalats oder hatte die Form eines
Umlegekragens.31
Gemeinsam mit dem Kamzol tauchte Anfang des 20. Jahrhundert ein weiteres neues
Kleidungsstück in der Region auf, das als „Nimtscha“ bezeichnet wurde. Es reichte
bis zur Hüfte und hatte kurze bis zum Ellbogen reichende Ärmel, aus welchen die
langen Ärmel des Kleides hervorschauten. Das „Kamzultscha“, das etwas später in
Mode kam, war ein kurzes Kleidungsstück ohne Ärmel, das etwa bis zur Taille
reichte. Es ähnelte einem Gilet. Kamzol, Nimtscha und Kamzultscha waren oft aus
dem gleichen Material hergestellt und wurden meist gemeinsam getragen. Während
das Nimtscha bald aus der Mode kam, fand das Kamzultscha Eingang in die natio-
nale Frauenkleidung Usbekistans.32
Trugen zu Beginn des 19. Jahrhunderts längst nicht alle weiblichen Mitglieder der
muslimischen Bevölkerung Taschkents einen Parandscha, so setzte sich dieser im
29 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:5, Fitz-Fibbon & Haie 1997:297, Sucharewa 1982:51
30 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978; 7, Sucharewa 1982:56f.
31 Vgl. Sucharewa 1982:53ff.
32 vgl. Sucharewa 1982:57
115
TRIBUS 56,2007
Zuge der russischen Eroberung Mittelasiens zunehmend, vor allem in den Städten
durch.
Eugene Schuyler - ein amerikanischer Reisender, der im Jahr 1873 Turkestan be-
suchte - gab als Grund für die Verschleierung der Frauen von Taschkent die Tatsa-
che an, dass Frauen ihren Schleier als Unterscheidungsmerkmal zu Prostituierten
benützten. Möglicherweise wollten aber auch Männer ihre Frauen durch Verschlei-
erung und verstärkte Abschottung vor den Russen schützen, die durch die sich
verändernde politische Situation immer mehr im Land präsent waren. Ein weiterer
Grund für das zunehmende Tragen des Schleiers war außerdem die steigende An-
zahl von Koranschulen. Sie trugen zu größerem Wissen über islamische Normen
und in Folge auch zur Verbreitung der Verschleierung bei. Auch führte steigender
Wohlstand zu neuen bürgerlichen Werten. Und so kam es manchmal auch dazu,
dass der Parandscha als Klassensymbol oder als Ausdruck der religiösen Gesin-
nung betrachtet wurde.
Der Parandscha wurde somit fast zur universellen Kleidung von Frauen in der Stadt,
wann auch immer sie ihr Haus verließen. Mädchen erhielten in Mittelasien etwa ab
dem zehnten Lebensjahr ihren ersten Parandscha. Diese erste Verschleierung be-
deutete für das Mädchen den Eintritt in die geschlechterdifferenzierte Welt der Er-
wachsenen, in der für Frauen nur wenig Interaktion mit dem öffentlichen Leben
möglich war.33
Usbekische Frauenkleidung im 20. Jahrhundert
Die Veränderungen im Kleidungsstil von usbekischen Frauen, die noch während der
zaristischen Periode vor sich gingen, waren ein Prozess im Ergebnis des russischen
Einflusses in der Region. Nach der Oktoberrevolution veränderte sich allerdings die
Situation. Die neuen Machthaber wollten Kleidung nicht mehr zufälligem Wandel
aussetzen, sondern bewusst verändern. Sie sollte die neuen gesellschaftlichen Werte
demonstrieren.
Die Sowjetisierung Mittelasiens strebte Veränderungen in der Gesellschaftsordnung
an. Es sollte eine „klassenlose Gesellschaft“ geschaffen werden. Diese neuen Vor-
stellungen schlugen sich auch in der Kleidung nieder. So veränderte sich nach der
Oktoberrevolution 1917 bald die Lage der reichen Kaufleute und Industriellen, die,
wenn sie mit ihrer Familie weiterhin am gleichen Ort leben wollten, keinen Reich-
tum mehr demonstrieren durften. Die Kleidung und alle gemeinsam mit ihr getra-
genen Accessoires wurden bescheidener und einfacher. Luxuriöse Materialien wur-
den vermieden. Nicht betroffen von diesem Wandel waren allerdings die Art der
Kleidung, ihr Schnitt, ihre Funktion und Bedeutung. Sie blieben bis auf weiteres un-
verändert.34 Offiziell angestrebt wurde eine einheitliche nationale Kleidung ohne
soziale und lokale Unterschiede, die zuvor von großer Bedeutung gewesen waren.35
Im Prozess der Schaffung der einzelnen nationalen Identitäten in Zentralasien, der
in den Jahren ab 1924 forciert wurde, kam gerade der usbekischen Frau und ihrer
Kleidung große Bedeutung zu.
Ihr Schleier - Parandscha - galt den neuen Parteieliten als ein Symbol des usbe-
kischen Volkes - die usbekische Nation wurde zum Teil über die Verhaltensweise
ihrer Frauen definiert.36 Dabei wurde die Praxis der Verschleierung von den Sowjets
als primitiv und unterdrückend betrachtet. Aus diesem Grund konnte, ihrer Meinung
nach, die usbekische Nation nicht für Modernes empfänglich sein. Das Kleidungs-
verhalten der Frauen galt neben anderen kulturellen Phänomenen als Symbol für
die Rückständigkeit Turkestans. Die Lebensumstände der Usbekinnen, besonders
aber das Tragen des Schleiers sah man als schmutzig an. Viele sowjetische Ärzte ar-
33 vgl. Kamp 1998:44ff.&255ff., Northrop 2004:44
34 vgl Sucharewa 1982:6
35 vgl. Underova 1994:18
36 vgl. Northrop 2001:191 ff., Northrop 2004:19
116
Claudia Schlag; Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
gumentierten sogar, dass der Parandscha und der Tschatschwan an gesundheitlichen
Problemen schuld wären, weil sie zu wenig Bewegungsfreiheit gaben.37
Zusätzlich stand der Schleier im krassen Gegensatz zu all dem, was die Partei sym-
bolisierte. So wurden Gegensatzpaare wie Dunkelheit - Licht, Unterdrückung - Be-
freiung, Unwissenheit - Weisheit,.... damit assoziiert.38
Die bolschewistische Partei nahm die Verschleierung sowie andere Sitten, wie zum
Beispiel den Brautpreis, zum Anlass für eine „zivilisatorische Mission“ in den Gebie-
ten Mittelasiens.39
Noch vor den ersten groß angelegten Aktionen durch die Partei legten einige usbe-
kische Aktivistinnen schon Mitte der 1920er Jahre ihre Schleier ab. Sie sahen die
Entschleierung als Zeichen der Verpflichtung der Frauen zu Modernität. Die Hinter-
gründe dieser Entwicklung sind im jadidistisch-inspirierten Modernismus zu suchen.
Ein weiterer wichtiger Einfluss kam sicherlich auch über vorrevolutionäre tatarische
Diskurse zum Thema Schleier und tatarische Frauen, welche schon an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert ihre Kopfverhüllung ablegten. Die Aktivistinnen sahen
die Entschleierung als Definition der modernen usbekischen Frau und Nation. Zu-
nächst verlief das Ablegen des Parandscha und Tschatschwan individuell - nur ein-
zelne Usbekinnen entschleierten sich. Aber schon bald erfuhr diese Aktion Unter-
stützung von offizieller kommunistischer Seite her.40
Die Parteiführung war sich darin einig, dass die Entschleierung viele Vorteile mit
sich bringen würde. Musliminnen würden bis dahin unbekannte Vorstellungen und
eine neue Einstellung zu ihrer Umwelt erhalten. Eine völlig andersartige Welt von
sozialen Kontakten, Rollen und Funktionen würde sich für sie öffnen. Neben diesen
Theorien, spielten auch praktische Betrachtungen eine wichtige Rolle. Mit der Ent-
schleierung könnte sowohl die ökonomische Entwicklung und Industrialisierung als
auch die Bildung eines einheimischen Proletariats vorangetrieben werden, weil nach
sowjetischen Schätzungen zu dieser Zeit mindestens eine Million Frauen in Usbeki-
stan aufgrund ihres Schleiers und des damit verbundenen Lebensstils nicht produk-
tiv arbeiteten.41
Die Maßnahmen zur Veränderung von traditionellen Strukturen stellten auch einen
Versuch dar, eine unterstützende soziale Infrastruktur für muslimische Frauen zu
schaffen. Man schuf Schulen und förderte die Ausbildung von Frauen zu juristischem
Personal. Reisen, Delegiertentreffen, Handarbeitskooperativen und Alphabetisie-
rungskreise sowie Frauenclubs, die oft auch Unterstützung für Usbekinnen in recht-
lichen Angelegenheiten boten, erfuhren schon ab 1924 besondere Förderung. Es
wurde damit eine Stärkung der Frauenrechte und auch der politischen Organisation
der weiblichen Bevölkerung bezweckt. Man wollte einheimische weibliche Kommu-
nistinnen rekrutieren, wobei man auch versuchte, Handwerkerinnen und Bäuerinnen
anzusprechen. In diesem Zusammenhang wurde meist auch das Ablegen der Ver-
schleierung propagiert.42
Es wurde erwartet, dass Mädchen, welche in sowjetischen Schulen ausgebildet wur-
den, den Schleier automatisch ablehnen würden. Der 8. März wurde als „internatio-
naler Frauentag“ zu einem Hauptfesttag im sowjetischen Kalender. Dieser Tag wur-
de von kommunistischen Aktivistinnen zum Anlass genommen, über die Gleichheit
der beiden Geschlechter zu informieren. Insgesamt entschieden sich allerdings nur
wenige Usbekinnen vor Ende der 1920er Jahre, ihren Parandscha und Tschatschwan
aufzugeben.
Die meisten Frauen, die vor 1927 ihre Verschleierung aufgegeben hatten, waren Stu-
dentinnen, Lehrerinnen oder Familienangehörige eines Parteimitglieds. Auch viele
37 vgl. Northrop 2001:206f., Northrop 2004:59f.
38 vgl. Northrop 2001:208ff.
39 vgl. Kamp 1998 37f. & 77, Massell 1974:230f.
40 vgl. Kamp 1998:3,248f„ 256 ff. & 275. Roy 2000:35f.
41 vgl. Massell 1974:232
42 vgl. Aminova 1977:91. Massell 1974:227 & 259f.
117
TRIBUS 56,2007
Arbeiterinnen in staatlichen Unternehmen legten - möglicherweise im Rahmen ei-
ner öffentlichen Entschleierungszeremonie - ihre Schleier ab, wofür sie auch mit
offizieller Anerkennung belohnt wurden.43
Endgültig wurde die Entschleierung aber erst im Jahr 1927 ein offizielles Anliegen
der Partei. Damals wurden von staatlicher Seite erstmals Aktionen für die Ablegung
des Schleiers gesetzt. Die als „Hudschum“ (Attacke) bezeichnete kulturelle Revolu-
tion, die im Jahr 1926 begann und sich vor allem auf Usbekistan konzentrierte, stellte
einen Angriff auf die alten Strukturen, aber auch auf jene Leute, welche diese Mu-
ster aufrecht hielten, dar. Ihr Ziel war eine umfassende Eliminierung von traditio-
nellen Verhaltensmustern sowohl im Familienverband als auch in der gesamten Ge-
sellschaft. Diese Initiative umfasste zwar auch viele andere Bereiche des alltäglichen
Lebens in Usbekistan, wie beispielsweise die Schließung von Moscheen, die Festnah-
me von islamischen Klerikern, die Enteignung von reichen Landbesitzern und die
Schwächung von traditionellen autoritären Strukturen, konzentrierte sich aber vor
allem auf eine schnelle Veränderung des Status der Frauen in Mittelasien. So kam es
dazu, dass das Bild von tausenden Frauen, die ihren Parandscha und Tschatschwan
ablegten und verbrannten, das zentrale Symbol des Hudschum darstellte.44
Speziell in den letzten Wochen vor den großartig geplanten Entschleierungsaktionen
fand verstärkte Propaganda für das Abwerfen des Parandscha und Tschatschwan
statt. Am 8. März 1927 war es dann auch endlich so weit: die ersten Massenentschlei-
erungen fanden in Usbekistan statt. Das größte dieser Treffen am internationalen
Frauentag wurde in Taschkent abgehalten. Auch in anderen Landesteilen fanden
ähnliche Veranstaltungen statt, sodass alleine an diesem Tag insgesamt etwa 10 000
Frauen auf usbekischen Plätzen ihre Schleier verbrannten. Auch in den Folgemona-
ten konnte die Entschleierungskampagne große Erfolge verzeichnen: Allein in Us-
bekistan waren schon zu Aprilbeginn 1927 circa 70 000 Schleier verschwunden, im
Mai waren es bereits 90 000. In vielen Städten Usbekistans wurden in den Jahren
1927 und 1928 öffentliche Entschleierungstreffen abgehalten. Mancherorts fanden
derartige Versammlungen sogar bis in die 1940er Jahre statt.45
Das Ablegen des Schleiers fand in Usbekistan unabhängig von der Stellung der Frau
bzw. ihrer Familie in allen gesellschaftlichen Schichten statt. So gab es auch Usbe-
kinnen, die sich ohne das Einverständnis ihrer Verwandtschaft vom Schleier befrei-
ten und somit eine Aktion gegen ihre eigene Familie setzten. Wenige von ihnen gin-
gen so weit, dass sie ihre traditionelle Stellung durch eine Verletzung von Tabus he-
rausforderten. Man berichtete sogar von Frauen aus ärmeren Vierteln, die von Ver-
tretern der kommunistischen Frauenorganisation und dem Militär begleitet durch
die Straßen zogen und reicheren Damen ihre Schleier vom Kopf rissen. Andererseits
waren aber auch solche Frauen zu finden, welche verschleiert blieben, obwohl ihre
Verwandten ein Ablegen des Parandscha und Tschatschwan von ihnen verlangten.46
Durch die oft erzwungenen Reformen wurde jedoch auch ein Klima für gewaltsamen
Konflikt geschaffen, da sich viele Muslime gegen die heftigen Eingriffe in ihre Ge-
sellschaft wehren wollten. So kam es vor allem gegen Ende der 1920er Jahre auch zu
Morden an Frauen, die sich für die Ablegung ihres Schleiers entschieden hatten. Al-
lein in den Jahren 1927 und 1928 wurden mehrere hundert bzw. tausende Aktivi-
stinnen ermordet.47
Wurde in den ersten Jahren der Sowjetherrschaft die nationale Identität auch über
die Tatsache definiert, dass eine usbekische Frau einen Parandscha und einen
Tschatschwan trug, sollten nun gerade diese beiden Symbole verschwinden. Die so-
wjetische Macht stieß auf kulturellen, religiösen und auch nationalen Widerstand -
auch bei den Frauen selbst. Der fremde Aufruf, den Schleier abzulegen, galt für so
43 vgl. Kamp 1998:273ff.
44 vgl. Kamp 1998:252f.& 274ff., Massell 1974:229, Roy 2000:79
45 vgl. Kamp 1998:252,284 & 292, Massell 1974:243ff.
46 vgl. Massell 1974:259ff.
47 vgl. Kamp 1998: 301ff.
118
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
manche usbekische Frau als Zwang zur Aufgabe ihrer eigenen Identität. Somit er-
hielt der Schleier eine neue Bedeutung: Er stellte plötzlich ein Symbol des kultu-
rellen, religiösen aber auch nationalen Widerstandes der einheimischen Bevölkerung
gegen die Russifizierung und Interventionen der Partei dar.48
Trotz zahlreicher Berichte über einzelne Frauen gibt es über die Reaktion der Mehr-
heit der usbekischen Frauen auf den Hudschum keine Informationen. In Berichten
über die Entschleierungskampagne glänzten sie durch Abwesenheit. Viele mieden
sowjetische Institutionen, versuchten den Hudschum zu ignorieren und gingen ih-
rem täglichen Leben nach, wie sie es vor 1927 getan hatten.49
Die bolschewistischen Bemühungen die usbekische Kultur durchgreifend zu verän-
dern, scheiterten in den 1920er und 1930er Jahren also trotz öffentlichkeitswirksamer
Maßnahmen zunächst am Widerstand der Bevölkerung. Die Partei hatte ihr Ziel,
nämlich zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution alle Frauen in Usbekistan
entschleiert zu haben, deutlich verfehlt. Man erkannte, dass man nicht einmal in den
eigenen Reihen einen soziokulturellen Wandel in Mittelasien herbeizwingen konnte.
Ironischerweise führte erst der Umstand, dass man sich Jahre später anderen Priori-
täten zuwendete, zum Verschwinden des Schleiers: Die Hauptgründe, warum es
schließlich doch noch zu dieser Entwicklung kam, waren Veränderungen in der Re-
gion, die aufgrund des Zweiten Weltkrieges stattfanden. Während dieser Zeit kamen
einerseits zahlreiche nicht-muslimische Einwanderer in die usbekische Sowjetrepu-
blik, andererseits waren usbekische Frauen zunehmend in nach der Evakuierung
von der Westfront in Mittelasien angesiedelten Industriebetrieben tätig. Außerdem
schuf die Angst vor dem Kriegsfeind Deutschland erstmals eine usbekisch-sowje-
tische Identität.
Ein weiterer Grund für das Verschwinden des Schleiers war aber das Faktum, dass
eine neue Generation aufwuchs, die schon in Sowjetzeiten geboren wurde und deren
Eltern in kollektiven Betrieben arbeiteten. Die Präsenz von Traditionalisten wurde
im Laufe der Jahre geringer, da viele schon alt waren und starben. Die jüngere Ge-
neration, die in sowjetischen Schulen ausgebildet wurde und die gemeinsame Erfah-
rung von Leid und Triumph im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte und traditionalis-
tischen Vorstellungen weniger verbunden war, wurde in einer Art „sowjetisch“, die
ihre Großeltern wahrscheinlich nie für möglich gehalten hätten. Und obwohl eine
stattliche Anzahl an usbekischen Frauen weiterhin in verschiedenster Art der Seklu-
sion lebte, verteidigte in den 1960er Jahren niemand mehr öffentlich den Schleier.
Auf den Straßen Usbekistans konnten Parandscha und Tschatschwan nur noch in
den seltensten Fällen gesehen werden.50
Die nationale usbekische Frauenkleidung in der Sowjetzeit bestand, wie auch schon
in früheren Zeiten, aus einem Kleid mit Umlegekragen und darunter getragenen
Hosen, die wie auch schon in früheren Zeiten mit einem bestickten Band abschlos-
sen. Ältere Frauen trugen oft Kleider, die einen vertikalen Ausschnitt mit Stehkra-
gen oder ohne Kragen hatten. Die Wahl des Materials für die Kleidungsstücke war
abhängig von der Jahreszeit, dem Alter der Trägerin und dem Anlass, bei welchem
das Gewand getragen werden sollte. Oft waren die Kleider aus Ikatstoffen herge-
stellt, daneben spielten aber auch Viskosefasern, Plüsch und Samt (für die kältere
Jahreszeit) eine große Rolle. Während in den Städten auch immer mehr russische
Kleidung zu sehen war, wurden Kuilak und Lozim vor allem von der ländlichen Be-
völkerung getragen. Zusätzlich waren auch oft Kamzultschas aus dunklem Plüsch zu
finden, die über dem Kleid getragen wurden. Frauenmäntel traditioneller Art waren
hingegen immer seltener zu finden. Sie wurden nur bei besonderen Anlässen bzw.
von älteren Frauen getragen.
In den Wintermonaten wurde zusätzlich noch eine Jacke mit geradem Schnitt, ein
Kamzol oder Mantel aus Plüsch oder Wolle getragen. Während junge Frauen und
48 vgl. Northrop 2001:212f„ Northrop 2004:25
49 vgl. Northrop 2004:191f.
50 vgl. Northrop 2001:213, Northrop 2004: 349ff.
119
TR1BUS 56,2007
Mädchen oft in Fabriken hergestellte Mäntel trugen, die aus anderen Ländern im-
portiert worden waren, kleideten sich ältere Usbekinnnen bei kälteren Tempera-
turen in zwei Chalate gleichzeitig.
Konnte man früher anhand der Kleidung feststellen, ob eine junge Frau verheiratet
war oder nicht, so war dies in der Sowjetzeit nicht mehr möglich. Auch bei den Fri-
suren gab es keine Unterschiede mehr. Mädchen und Frauen bis 30 Jahre flochten
ihre Haare nicht unbedingt traditionsgemäß in eine Vielzahl von kleinen Zöpfen,
sondern trugen manchmal auch nur zwei Zöpfe, eine Frisur, die früher nur älteren
Frauen Vorbehalten war.
Auch die Kleidungsstücke Kuilak, Lozim und Kamzultscha stellten keineswegs mehr
unveränderliche Elemente dar. Sie wurden von bestimmten (meist russischen) Mo-
deerscheinungen der jeweiligen Zeit beeinflusst, ihr Schnitt und die Accessoires än-
derten sich. Als Beispiel dafür wäre die Mode der Sechziger Jahre zu nennen, die zur
Herstellung von knielangen Kleidern in Usbekistan führte, eine Sitte, die eine Gene-
ration früher völlig undenkbar gewesen wäre.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verbreitete sich zunehmend auch europäisches Schuh-
werk. Es wurde nicht nur gemeinsam mit europäisch-russischer Kleidung, sondern
auch in Kombination mit traditionellen Kleidungsstücken getragen. Die Schuhe wa-
ren oft dem Geschmack der Zeit entsprechend und unterlagen deshalb im Laufe der
Sowjetzeit einigen modischen Veränderungen.51 52
Traditionelle Formen des Kopfschmucks waren in den 1970er Jahren nur mehr selten
anzutreffen. Stattdessen war es üblich, Kopftücher aus den verschiedensten Materi-
alien in unterschiedlichen Farben und Größen zu tragen. Sehr häufig waren Kopftü-
cher in bunten Farben mit großem, grellem Blumenmuster anzutreffen. Im Laufe der
Zeit veränderte sich aber nicht nur die Beschaffenheit der Tücher, sondern auch die
Art diese zu tragen. Sie spiegelte nicht wie früher die Familien- und Gesellschafts-
stellung der Frau wider, der Kopfschmuck wurde vielmehr so getragen, dass er vor
allem schön und auch praktisch war. Nur die Frauen der alten Generation trugen
(Ende der 1970er Jahre) noch Tücher aus weißem Musselin. Unter Mädchen und
jungen Frauen war es üblich, reich bestickte Kappen, Tjubetejkas, zu tragen. Diese
hatten meist florale Muster auf weißem Hintergrund.32
Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen Usbekinnen nach wie vor
Schmuck in Form von Ringen, Armreifen, Broschen, Ohrringen, Medaillons und
Halsketten. Diese Schmuckstücke wurden nun aber industriell hergestellt, was zu
einer starken Standardisierung und Vereinheitlichung der Objekte führte. Diese
Entwicklung führte außerdem dazu, dass Schmuck zunehmend stilisiert und verein-
facht wurde. Bestimmte Herstellungstechniken, die nicht in das neue Schema passten,
verschwanden. Die Kontinuität der Handwerkstraditionen wurde gebrochen, viele
Gold- und Silberschmiede zogen sich aus dem Gewerbe zurück. Es wurde Handwer-
kern zum Teil verboten, mit wertvollen Metallen zu arbeiten. Ältere Schmuckstücke,
wie Halsketten aus Münzen, „Tillakosch“-Diademe oder andere aufwendig gearbei-
tete Objekte wurden in der Sowjetzeit zwar nicht mehr hergestellt, in einigen Fami-
lien jedoch von älteren weiblichen Verwandten übernommen, aufgehoben, und von
der Braut bei ihrer Hochzeit getragen.53
Durch die Erweiterung der Rolle der Frau und durch ihre Teilnahme am öffentlichen
Leben eröffnete sich ihr ein völlig neuer Bereich der Kleidung: die Arbeitskleidung.
Bei der Feldarbeit am Land wurde oft in traditioneller Kleidung, wie Kleid und Hose,
manchmal auch Mantel gearbeitet. Um die Kleidung aber bequemer für die Feldar-
beit und dadurch den Arbeitseinsatz effizienter zu machen, wurden lange Kleider
durch kürzere, die eigens für die landwirtschaftliche Arbeit hergestellt worden wa-
ren, ersetzt. Daneben tauchte aber auch erstmals spezielle weibliche Arbeitskleidung
auf, die ganz auf den Beruf der Trägerin abgestimmt war. So waren beispielsweise im
51 vgl. Karmyscheva 1969:183
52 vgl. Abdullaew & Chasanowa 1978:10
53 vgl. Karmyscheva 1969:190f„ http://www.uzdessert.zu/ver4/fashion/jewelry.html, 04.08.2004
120
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
medizinischen Bereich Frauen zu finden, die ihrem Beruf entsprechend Kleidung für
Krankenschwestern oder Ärztinnen trugen. Polizistinnen kleideten sich in Uni-
formen, Frauen, die mit Traktoren oder anderen landwirtschaftlichen Maschinen
fuhren, trugen praktische Overalls. Viele andere Frauen trugen während ihrer Ar-
beitszeit europäische Kleidung, da diese den Tätigkeiten in Ämtern, Banken oder
ähnlichen Institutionen angemessener schien. Vor allem in den Städten Usbekistans
oder in Bereichen, in denen sowjetischer Einfluss groß war, gewann russische bzw.
europäische Kleidung immer größeren Einfluss.
Viele der Usbekinnen, die am Arbeitsplatz Kleidung im westlichen Stil trugen, legten
diese zuhause ab und tauschten sie gegen traditionelle Kleidung. Diese war den ty-
pischen Alltagssituationen im Haus viel besser angepasst, beispielsweise ließ es sich
mit Kuilak und Hose viel bequemer am Boden sitzen.
Neben der Arbeitskleidung war die Freizeitkleidung, so z. B. speziell für den Sport,
ein neues Element, welches die Kleidungsvielfalt so mancher usbekischen Frau er-
weiterte. Diese Kleidungsstücke waren vorrangig bequem und mussten praktische
Aspekte erfüllen.
In den 1960er Jahren begann man in Usbekistan mit der Planung der Mode von
staatlicher Seite her. Es wurde ein einheitliches, die ganze Sowjetunion betreffendes
Zentrum mit dem Namen „Wialegprom“ geschaffen, das sich mit Mode beschäftigte
und Prognosen für die nächsten Jahre anstellte. Diese Institution kümmerte sich da-
rum, dass Mode aufgrund der besten Entwürfe von Künstlern aus allen Sowjetrepu-
bliken geschaffen wurde. Die einzelnen Kleidungsstücke sollten der Jahreszeit ent-
sprechend beschaffen sein, bequeme Arbeitskleidung sollte für die unterschied-
lichsten Berufe hergestellt werden. Neben ihrer Suche nach den neuen Bedingungen
angepasster Kleidung, behielten diese Modedesigner aber auch einige traditionelle
Formen der Kleidung bei, wenn diese ihnen zweckmäßig erschienen. Im Bereich der
modernen Kleidung dürfte dieses Zentrum keinen geringen Einfluss gehabt haben
und möglicherweise auch zu einer gewissen Vereinheitlichung geführt haben. Ob es
allerdings auch Auswirkungen auf die traditionelle Kleidung in Usbekistan hatte,
bleibt dahingestellt.54
Die Textilerzeugung in Usbekistan hatte schon vor, aber vor allem während der So-
wjetzeit zu leiden. Vor allem die Aufstände während und nach der Revolution brach-
ten den endgültigen Zusammenbruch von vielen ökonomischen Beziehungen. Hinzu
kam die Geringschätzung des einheimischen Handwerks im Allgemeinen. Große
Seidenweberei-Zentren, wie Samarkand, Buchara, Kitab, Karshi und andere verlo-
ren an Bedeutung.
Während der Zeit des Zweiten Weltkrieges setzte sich der Niedergang in der moder-
nen Textil- und Kleidungsherstellung fort. Die Belieferung mit russischen Waren, wie
z. B. mit Färbemitteln, Stoffen, Zwirn und anderen für die Herstellung von Kleidung,
Schuhen, Schmuck und anderem notwendigen Waren kam zum Erliegen. Der Man-
gel an importierter Fabrikware wurde jedoch durch die verstärkte Produktion von
lokalen, in Heimindustrie hergestellten Textilien ersetzt. Die Herstellung dieser
Stoffe hatte trotz der großen Konkurrenz durch russische Fabrikstoffe Ende des 19.
und Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gänzlich aufgehört. Viele Handwerksberufe,
wie z. B. der des Webers oder des Färbers, die in den Jahren zuvor deutlich an Bedeu-
tung verloren hatten, wurden wieder belebt. Im Ferghana-Tal blieben sogar noch
einige große Seidenweberei-Unternehmen erhalten, sodass wieder eine enorme
Menge an Ikatstoffen aus sowohl echter als auch künstlicher Seide hergestellt wer-
den konnte. Für so manche andere Techniken kam diese Wiederbelebung allerdings
zu spät. Das Bedrucken von Baumwollstoffen mit kunstvoll filigran geschnitzten
Holzstempeln, das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig anzutreffen war, kam
in der Sowjetzeit endgültig zum Erliegen.55
54 vgl. Fachretdinova 1981:431
55 vgl. Fitz-Gibbon & Haie 1997: 13, Klieber 1991:69, Sucharewa 1982:6
121
TRIBUS 56,2007
Trotz aller Neuerungen und Veränderungen, die in der Kleidung der usbekischen
Frauen Einzug gehalten hatten, war traditionelle Kleidung noch immer von zentraler
Bedeutung. In seiner Beschreibung zeigt der deutsche Schriftsteller Richard Christ,
der in den 1970er Jahren Usbekistan bereiste, dass während der Sowjetzeit traditio-
nelle Gewänder neben moderner Frauenkleidung in Usbekistan existierten. Wäh-
rend sich einige Frauen für den einen oder anderen Stil entschieden, kombinierte der
Großteil der Frauen des öfteren traditionelle mit modernen Elementen. Es wurden
beispielsweise kurze Kleider aus traditionellem Ikatstoff oder Stöckelschuhe zu
einem traditionell geschnittenen Kuilak und Hosen getragen. Es kam zu einer gegen-
seitigen Beeinflussung, so dass eine Art neuer Stil entstand, der sich selbst aber lau-
fend veränderte.56
Nach 1991
Wie auch schon in früheren Jahrzehnten unterscheidet sich die heutige Frauenklei-
dung hauptsächlich dem Alter und dem Berufsstand entsprechend. Weiter spielt die
Tatsache, ob eine Frau in ländlicher oder urbaner Umgebung lebt, eine wichtige Rol-
le in ihrem Kleidungsverhalten. Auch der Umstand, ob ein Kleidungsstück im Alltag
oder zu einem besonderen Anlass getragen wird, nimmt entscheidenden Einfluss.
Während meines Forschungsaufenthaltes im Herbst 2004 in Taschkent konnte ich
beobachten, dass viele Mädchen und junge Frauen im Zentrum oder in den moder-
nen Teilen der Stadt, Kleidung im westlichen Stil trugen. Herrschten in der warmen
Jahreszeit Röcke oder Kleider in den verschiedensten Längen vor, so übernahmen
im Kleidungsverhalten der modern gekleideten Usbekinnen, je kühler es wurde,
langsam aber sicher Hosen die Überhand. In Kombination mit Röcken oder Hosen
wurden oft Pullover,T-Shirts, Blusen oder Blazer getragen. Im Winter legten modern
gekleidete Frauen zusätzlich noch einen Mantel oder eine Jacke mit europäischem
Schnitt an. Das Outfit komplettierten Schuhe, Stiefel oder Pantoffel mit hohem Ab-
satz und spitzer Schuhspitze, die zu dieser Zeit gerade sehr „in“ waren. Die Farben
der Kleidung waren in den meisten Fällen eher gedeckt. Während Schwarz-, Braun-
und Grautöne bzw. allgemein dunkle Farben bei der Winterkleidung vorherrschten,
wurde im Sommer eher helle Kleidung getragen. Grelle Farben waren aber sowohl
bei der Sommer- als auch Wintermode nur sehr selten anzutreffen.
Mir fiel auf, dass Frauen diese Mode im westlichen Stil hauptsächlich auf den Ba-
zaren der Stadt oder manchmal in Kaufhäusern, wie dem „Tsum“ in Taschkent, kauf-
56 „Denn auf den Tjubeteikas der Frauen sind andere Muster zu finden, aus Perlen und gold-
nen Pailletten mit Goldfaden auf dunklem Samt gestickt, Kopfbedeckungen wie aus dem
Märchenbuch. Doch was uns märchenhaft dünkt, ist im sowjetischen Orient nicht selten über
hundert und hunderte Jahre überlieferte Selbstverständlichkeit. Frauen und Mädchen tragen
die kunstreichsten Samtstickereien auf dem schwarzen, zu vielen fingerdünnen Zöpfen geflo-
chtenen Haar. Ihre pechschwarzen Augen sind überdacht von dem schwarzen Strich, der die
Brauen gradlinig über der Nase verbindet. Sie bewegen sich mit Anmut in ihren Kleidern aus
geflammt gemusterten Stoffen, sie tragen bestickte Pantöffelchen und unterm Kleid die am
Knöchel anliegenden langen bunten Hosen. So kann man sie in der Straßenbahn sehen, im
Warenhaus, sogar auf ungesatteltem Esel reitend oder mit einer Last auf dem Kopf.“ (Christ
1979: 14) Gleichzeitig hielt er aber fest: „Aber da wäre gleich vor einem Trugschluß zu warnen:
Usbekistan ist kein Schutzgebiet modischer Folklore. Europäisch-Modernes ist eingedrungen
und hat Mischformen hervorgebracht: Straßenanzug und Tjubetcika. Sakko und Turban kom-
biniert, usbekischer Mantel mit europäischem Hut, europäischer Mantel und karakalpakische
wagenradgroße Fellmütze. Ähnlich bei den Frauen. Auf dem Dorf ist die Kleidung mehr der
Überlieferung verhaftet als in den Städten. Jeder und jede trägt sich, wie’s ihnen steht und wie
sie Tradition verstehen. Keine Modediktatur, nicht in jedem usbekischen Sommer der flinke
Blick auf die europäischen Winterkreationen. Das beste bei der zwanglosen Mode: Niemand
kommt auf den Einfall, hinter modisch Ungewohntem, das im usbekischen Straßenbild er-
scheint, den Kopf zu wenden und zu tuscheln: Sieh bloß mal den da! Kiek doch mal die!“
(Christ 1979:15)
122
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Ahb.3: Westliche Klei-
dung am Chorsu-
Markt in Taschkent,
Oktober 2004.
Foto: Claudia Schlag.
ten (Abb. 3). Kamen diese fertigen Kleidungsstücke vor dem Zerfall der Sowjetuni-
on vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien oder der ehemaligen Tschechoslo-
wakei, so werden heute zum größten Teil Kleider aus Südostasien, China und der
Türkei importiert. Nur selten werden diese Kleidungsstücke selbst genäht. Neben
Märkten und Kaufhäusern gibt es in der Flauptstadt auch noch einige teure Läden,
die westliche (Designer-)Markenkleidung verkaufen. Dort einzukaufen, können sich
nur die Angehörigen der reichen Oberschicht leisten. Für eine usbekische Frau mit
geringem Einkommen würde die Anschaffung eines Kleidungsstücks in einem dieser
Läden vermutlich einen ganzen Jahreslohn oder mehr verschlingen.57
Viele junge Frauen, die sich im Arbeitsleben und in der Öffentlichkeit modern klei-
den, ziehen sich zuhause um und legen traditionelle Kleidung an. Ich konnte dieses
Verhalten besonders deutlich bei einer jungen Frau beobachten, die erst vor kurzem
geheiratet hatte. Vor der Hochzeit hatte sie Medizin studiert. Die Familie ihres Ehe-
mannes, bei der das Brautpaar wohnte, erlaubte es ihr, ihr Studium auch nach der
Hochzeit weiterzuverfolgen. Tagsüber besuchte die junge Ehefrau die Universität
und kleidete sich sehr modern. Sobald sie aber abends nachhause kam, legte sie ihre
Jeans und Pullover ab, Kuilak und Lozim an und setzte ein Kopftuch auf, womit sie
ihre neue Rolle als Ehefrau und Schwiegertochter deutlich zum Ausdruck brachte.
Während in den modernen Teilen von Taschkent westliche Kleidung oft zu sehen ist,
sind die Stile in historischen Städten wie Samarkand und Buchara, in ländlichen Ge-
bieten und in der Altstadt und den Mahallas von Taschkent konservativer. Im Stra-
ßenbild sind nach wie vor viele Frauen mit traditioneller Kleidung, bestehend aus
57 vgl. Gespräch mit Maschchura Chakimshanowa am 6.10.2004, http://www.handelskammer-
bremen.ihk24.de/HBIHK24/produktmarken/international/investitionen/laenderinformatio-
nen/laenderberichte/Russland%2c_Gemeinschaft_Unabhaengiger_Staaten_(GUS)%2c_Us-
bekistan/Usbekistan.pdf 10.12.2004
123
TRIBUS 56,2007
Kuilak und Lozim, zu sehen. Die Schnitte der beiden Kleidungsstücke ähneln den
früheren Formen, wobei sich aber bei den Kleidern auffallend viele unterschiedliche
Flalsausschnittformen beobachten lassen. Diese reichen von einem gewöhnlichen
einfachen Rundhalsausschnitt über eckige Varianten bis hin zu komplizierten For-
men, die einen bortenähnlichen Eindruck hinterlassen.
Bis heute sind Hosen ein wesentlicher Bestandteil der usbekischen Frauenkleidung.
Sie werden nicht nur von traditionellen Frauen getragen, sondern gehören auch für
die meisten Usbekinnen, die sich in der Öffentlichkeit modern kleiden, zum fixen
Bestandteil des Hausgewandes. Ihre Form ist auch in den Jahren der großen gesell-
schaftlichen Umbrüche unverändert geblieben. Die Hosen werden nach wie vor aus
zwei verschiedenen Materialien gefertigt. Den Abschluss am unteren Ende der Ho-
senbeine bilden wie auch schon in früheren Zeiten gestickte Bänder, die manchmal
zusätzlich auch noch mit Quasten geschmückt sind. Diese Stickereien werden oft
von jungen Mädchen gefertigt. Die Motive reichen von Pflanzen und Tieren über
geometrische Muster bis hin zu Schriftzügen, wie z. B. „Baxt“ („Glück“) oder „Gul“
(„Blume“) (Abb. 4). Im „Brautpreis“, der auch in Form von Kleidung von der Fami-
lie des Bräutigams an die Braut gegeben wird, nehmen Lozim einen wichtigen Platz
ein. Diese Hosen sind aus teuren, jeweils zum Kleid passenden Stoffen gefertigt und
zeigen einerseits die Repräsentationsfunktion der neuen Schwiegertochter, anderer-
seits aber auch deren Häuslichkeit.58
Abb.4: Stickereien am Hosensaum, Samarkand, Oktober 2004. Foto; Claudia Schlag.
Waren vor einigen Jahren Kleider aus Ikatstoffen, die entweder in bunten Farben
oder in schwarz und weiß gehalten waren, noch sehr häufig auf den Straßen Taschk-
ents zu sehen, scheinen sie nun aus der Mode gekommen zu sein bzw. werden eher
als Festtagskleidung getragen. Nur vereinzelt lassen sich Frauen in Kleidern mit den
für Ikalstoffe so charakteristischen geflammten Mustern beobachten. Ich konnte
feststellen, dass auch in Samarkand sich heute nur relativ wenige Usbekinnen in die-
58 vgl. Sodikova 2003:75, Gespräch mit Shahlo Khamrokulova am 10.10.2004
124
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
sen für ihr Land so typischen Stoff kleiden. Die Mehrzahl der Frauen sowohl in
Taschkent und in den die Hauptstadt umgebenden Dörfern als auch in Samarkand
tragen an heißen aber auch an kühlen Tagen Kleider aus Samt, anderen schweren
Stoffen oder synthetischen Materialien. Diese Beobachtungen wurden mir auch in
Gesprächen mit usbekischen Frauen, welche selbst ebendiese Textilien bevorzugten,
bestätigt. Einfarbige Textilien sind die Seltenheit, es dominieren Stoffe mit großflä-
chigem Muster, wobei Blumenmotive sehr beliebt zu sein scheinen. Einige Frauen
tragen auch Kleider aus Stoffen, die mit Glitter, Pailletten, Schmuckfäden usw. ver-
ziert sind, wodurch auch die ursprünglich einfache Alltagskleidung einen edlen Ein-
druck hinterlässt. Während jüngere Frauen oft Gewänder in helleren oder grelleren
Farben tragen, kleiden sich Usbekinnen der älteren Generation in gedecktere
Schwarz-, Braun-, Blau- und Grautöne. In den Wintermonaten wird die traditionelle
Kleidung mit einem Mantel, einer Jacke oder - was am häufigsten zu beobachten ist
- mit einer dicken Wollweste kombiniert.59
Trägt eine Usbekin traditionelle Kleidung, so kombiniert sie diese oft mit einem
Kopftuch. Die Farbpalette dieser Tücher reicht von einfarbigen Stücken bis hin zu
grell gemusterten Exemplaren, die manchmal sogar mit Goldfäden verziert sind. Die
Materialien, aus denen die Kopfbedeckungen hergestellt sind, reichen von Baum-
wolle über synthetische Stoffe bis hin zu Wolle für die kalten Wintermonate. Aus
einem Gespräch mit der Usbekin Maschhura Chakimshanowa erfuhr ich, dass die
Größe der Tücher oft abhängig vom Anlass ist, zu dem sie getragen werden. Sind im
Alltag eher kleinere Kopftücher die Regel, so herrschen bei festlichen Anlässen eher
größere Exemplare vor. Genauso groß wie die Bandbreite im Aussehen und in der
Beschaffenheit der Kopftücher ist auch die Variationsmöglichkeit sie zu tragen. Die
häufigst vorkommende Art und Weise diese Tücher zu binden ist wohl ein Dreieck
zu bilden und dann die einander gegenüberliegenden Ecken miteinander im Nacken
zu verknoten. Bei dieser Variante scheint die islamische Vorschrift, das Haar zu be-
decken, keine Rolle zu spielen, kommt doch das Haar oft im vorderen Teil des Kopfes
zum Vorschein. Neben Kopftüchern spielen auch bestickte Tjubetejkas eine wichtige
Rolle. Diese sind Mädchen und unverheirateten jungen Frauen Vorbehalten. Wäh-
rend diese Kappen im Alltag heute allerdings eher selten zu sehen sind, nehmen die
mit gold- und silberfarbenen Fäden verzierten Kappen einen sehr wichtigen Platz in
der Festtagskleidung der jungen Usbekinnen ein.60
Bei der Fußbekleidung sieht man in Kombination mit traditioneller Kleidung so-
wohl Schuhe mit gespitzter Schuhspitze und hohem Absatz als auch traditionelle
schwarze Gummigaloschen in Lackoptik. Üblich scheinen im Moment auch noch
Plastiksandalen in pink oder violett und so genannte „Irinkas“, Halbschuhe aus Stoff
mit aufgestickten Blumenmotiven und Gummisohle, zu sein.
Die Stoffe für die Herstellung der traditionellen Kleidungsstücke werden meist auf
dem Bazar gekauft. Die angebotenen Textilien reichen von einfachen Baumwoll-
stoffen, die beispielsweise für den oberen Teil der Hosen verwendet werden, über
Ikats und Samte bis hin zu aufwendig mit Perlen und Pailletten besetzten Stoffen.
Eigens dafür geschaffene Läden bieten Nähzubehör, Kurzwaren und Dekorationse-
lemente wie Borten, Bänder, Perlen, Fransen usw. an. Mit Ausnahme der Ikats und
einfacher Baumwollstoffe werden die meisten der Textilien aus dem Ausland impor-
tiert. Dies mag verwundern, zählt doch Usbekistan nach wie vor zu einem der wich-
tigsten Baumwollproduzenten der Welt. Allerdings wird eine große Menge dieses
Rohstoffes exportiert. Einige Frauen stellen ihre Kleidung selbst her, andere wiede-
rum lassen ihre Gewänder von Verwandten. Bekannten oder professionellen Schnei-
derinnen nähen.61
59 vgl. Gespräch mit Iroda Darachanova am 02.10.2004
6Ü vgl. Scarce 1991:255, Gespräch mit Maschhura Chakimchanowa am 06.10.2004
61 vgl. http://www.handelskammer-bremen.ihk24.de/HBIHK24/produktmarken/international/
investitionen/laenderinformationen/laenderberichte/Russ]and%2c_Gemeinschaft_Unabhaen-
giger_Staaten_(GUS)%2c_Usbekistan/Usbekislan.pdf, 10.12.2004
125
TRIBUS 56,2007
Neben westlicher Kleidung und Stoffen für traditionelle Gewänder werden auf den
Bazaren Usbekistans auch Kleider im Stil anderer Länder zum Kauf angeboten. Das
Angebot umfasst dabei vor allem Kleidungsstücke aus Indien, Pakistan, dem Iran
und anderen muslimischen Ländern, die der jeweiligen landesüblichen Mode ent-
sprechen.
Auch heute werden zu festlichen Anlässen von usbekischen Frauen andere Gewän-
der als im Alltag angelegt. Diese werden anlässlich von Familienfeiern, einem Be-
such oder anderen besonderen Festivitäten getragen. Wie auch schon bei der All-
tagskleidung lassen sich zwei verschiedene Arten der Form erkennen: Festtagsklei-
dung im modernen und im traditionellen Stil.
Westlich inspirierte Festtagskleidung ähnelt sehr der Kleidung, die zu besonderen
Anlässen in Europa getragen wird. Die Palette reicht von der Kombination eines
schicken Blazers mit einer Hose bis hin zu pompösen Kleidern, die an aufwendige
Ballkleider erinnern. Die traditionelle Festtagskleidung hingegen unterscheidet sich
lediglich im Material von den im Alltag üblichen traditionellen Gewändern. Wäh-
rend die Alltagskleidung von Frauen in der Materialwahl etwas einfacher ausfällt
und durch den oftmaligen Gebrauch vermutlich in vielen Fällen auch schon etwas an
Glanz verloren hat, sieht man bei festlichen Anlässen Kleidungsstücke, deren prunk-
volle Materialien nur so schimmern und glitzern. Obwohl heute bei vielen festlichen
Anlässen Gewänder aus Ikatstoff noch häufiger als im Alltag zu sehen sind, nehmen
Kleider aus Samt und synthetischen Materialien doch den Großteil ein (Abb. 5).
Wie in früheren Zeiten nimmt auch heute noch Kleidung einen sehr wichtigen Platz
im „Brautpreis“ ein, der von der Familie des Bräutigams an die Braut gegeben wird.
Die Anzahl der dabei weitergegebenen Gewänder liegt so um die 20 bis 30 Stück und
ist von der finanziellen Lage der Familie des jungen Mannes abhängig. Ein solcher
„Brautpreis“ kann dabei sowohl traditionelle als auch moderne, fertig gekaufte,
selbst genähte, von professionellen Schneiderinnen angefertigte, sowohl für den
Hausgebrauch vorgesehene als auch festliche Kleider umfassen. Daneben werden
meist auch noch Tücher, Schuhe und andere Textilien verschenkt.
Abb.5: Ältere Frauen bei einer Hochzeit,Taschkent, September 2004.
Foto: Claudia Schlag.
126
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Wie auch schon im 19. Jahrhundert trägt die Braut an ihrem Hochzeitstag ein weißes
Kleid, das entweder modern oder nach traditioneller Fasson geschnitten ist. Am frü-
hen Morgen nach der Hochzeit wird das Ritual „Kelin Salom“ (= Brautgruß) durch-
geführt. Bei dieser Tradition wird die Braut in ihrer neuen Familie willkommen ge-
heißen. Oft wird die gesamte Kleidung, welche die „Kelin“ ( = „Braut“, „Schwieger-
tochter“) von der Familie ihres Gatten erhalten hat, in einem Raum an den Wänden
aufgehängt, sodass sie von den Gästen begutachtet werden kann. Die junge Ehefrau
trägt dabei neue Kleider. In Taschkent ist es Brauch, dass sie außerdem ihren Kopf
mit einem großen reich bestickten Tuch verdeckt. Die Braut trägt über ihrem rechten
Unterarm ein Tuch, das waagrecht vor dem Kopf gehalten wird und somit ihr Gesicht
verdeckt. Während der Begrüßung hat die Braut ihren Kopf zu Boden gesenkt und
verbeugt sich wiederholt langsam vor ihren Gästen (Abb. 6). Die Frauen bringen
Geschenke, was wiederum von der jungen Ehefrau mit Gaben an ihre Gäste erwi-
dert wird. Von nun an heißt es für die frischgebackene Gattin 40 Tage lang ihr Tuch
bereitzuhalten, da sie, wann immer in dieser Zeit Gäste kommen, nicht nur Tee ko-
chen, sondern auch das Tuch anlegen und sich damit verbeugen muss. Dieses Ritual
dient dazu, die junge Frau in ihrer Rolle als brave, bescheidene Schwiegertochter zu
präsentieren. Stattet die Braut in diesen ersten vierzig Tagen nach der Hochzeit je-
mandem einen Besuch ab oder nimmt sie an Festen teil, präsentiert sie sich in den
schönsten ihrer neuen Kleider unter ständigem Verbeugen. Die junge Frau behält
bei diesen Anlässen aber nicht immer die gleiche Kleiderkombination an, sondern
zieht sich mehrmals um, sodass die anderen Gäste und auch die Gastgeber die volle
Pracht ihrer Gewänder, die meist aus farblich aufeinander abgestimmten Tjubetej-
kas, Tüchern, Kleider usw. bestehen, bewundern können (Abb. 7). Auch in anderen
Landesteilen findet das „Kelin-Salom“-Ritual statt, wobei es aber sowohl bei den
Gesten als auch bei der Kleidung lokale Unterschiede gibt.
A hb.6: Frischvermähl-
te Ehefrau beim Ke-
lin-Salom-Ritual,
Taschkent, September
2004.
Foto; Claudia Schlag.
127
TRIBUS 56,2007
Abb.7: Junge „Kelins“
zeigen auf einem Fest
die Pracht ihrer
Kleider, Samarkand,
Oktober 2004.
Foto: Claudia Schlag.
Bei einer solchen Gelegenheit werden auch Schmuckstücke, welche die junge Ehe-
frau anlässlich ihrer Hochzeit geschenkt bekam, präsentiert. Dabei dominieren heu-
te zartere und filigranere Halsketten, Ohrringe, Ringe und Armreifen aus Gold oder
vergoldeten Materialien, wie sie auch in einem europäischen Juwelierladen zu finden
sind. Eher selten trägt eine Braut bei ihrer Hochzeit oder in der Zeit danach traditi-
onellen Schmuck. Tut sie das, so handelt es sich bei diesen Schmuckstücken vermut-
lich um Erbstücke.62
Spezielle Trauerkleidung hat im Laufe der Zeit sehr an Bedeutung verloren. Wurde
sie in früheren Zeiten bis zu einem Jahr lang getragen, so wird sie gerade in Tasch-
kent heutzutage oft nur mehr einige Tage getragen. Wichtig bei der Trauerkleidung
der Frauen von Taschkent ist, dass sie vor allem in dunkleren Farben gehalten ist. Rot
ist in der Zeit nach dem Tod eines Verwandten als Farbe für Kleidung tabu.63
Im Gegensatz zu europäischen Ländern scheint es in Usbekistan keine Peinlichkeit
zu sein, bei einem Fest das offensichtlich gleiche Modell eines Kleides wie eine ande-
re Dame zu tragen. Im Gegenteil, es kommt sogar vor, dass sich erwachsene Schwe-
stern oder andere Verwandte für einen festlichen Anlass völlig identische Gewänder
schneidern lassen. Der Drang, sich in einer Gruppe von anderen in einem gewissen
Maße zu unterscheiden, scheint in der usbekischen Gesellschaft nicht so sehr veran-
kert zu sein.
Ein weiteres Phänomen, das ich beobachten konnte, war die Tatsache, dass usbe-
kische Frauen sehr viel Wert darauf legten, ihren Wohlstand durch dementspre-
chende Kleidung zum Ausdruck zu bringen. Auffällig war dies vor allem bei ärmeren
62 vgl. Gespräch mit Gulzoda Gaziyeva am 19.10.2004
63 vgl. Gespräch mit Maschhura Chakimshanowa am 6.10.2004
128
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Frauen, die trotz finanzieller Engpässe darauf achteten, beispielsweise bei Familien-
festen ein neues Kleid zu tragen, und sei dies auch mit vielen Verzichten in anderen
Bereichen verbunden.
Von ganz neuer Aktualität ist seit dem Zerfall der Sowjetunion auch die gesellschaft-
lich-politische Bedeutung von Kleidung, insbesondere im Spannungsfeld von natio-
naler und religiöser Identität. Der Schleier, von den Straßen Usbekistans seit den
60er Jahren verschwunden, tauchte seit der Perestroika, vor allem aber nach der
Unabhängigkeit wieder auf und gewann abermals an symbolischer Bedeutung. Auch
in Taschkent konnten noch Mitte der 1990er Jahre manchmal verschleierte Frauen in
den Straßen, besonders in den Mahallas und Teilen der Altstadt gesehen werden.
Noch üblicher als in der Hauptstadt waren diese Kleidungsstücke allerdings in Na-
mangan und anderen Städten des Ferghana-Tales. Für viele Frauen, die sich in Ko-
rankursen neu mit dem Islam zu beschäftigen begannen, war der Schleier insbeson-
dere Ausdruck eines neuen Bewusstseins von der Rolle der „islamischen Frau“, er
wurde in den ersten Jahren der Unabhängigkeit von manchen aber durchaus auch
als Symbol sowohl der nationalen Autonomie als auch der religiösen Freiheit ver-
standen,
Die meisten Schleier, die in den 1990er Jahren in Usbekistan zu finden waren, waren
allerdings nicht die gleichen Parandschas und Tschatschwans, die in den 1920er,
1930er und 1940er Jahren getragen wurden. Die Mode hatte sich verändert und die
Fähigkeit, Gesichtsschleier aus Rosshaar herzustellen, war schon weitgehend in Ver-
gessenheit geraten. Stattdessen übernahmen die Frauen in Usbekistan jetzt Formen
des Schleiers, die in anderen muslimischen Ländern üblich waren. Statt des Parand-
scha wurde oft ein Hidschab (= Körperbedeckung, die der Islam für Frauen vor-
schreibt und den ganzen Körper mit Ausnahme von Gesicht und Händen bedeckt)
aus Baumwolle getragen, statt des Tschatschwan manchmal ein Gesichtsschleier, der
die Augen unverdeckt lässt. Die Wiederentdeckung des Schleiers stellte somit keine
Rückkehr zu einer primordialen Vergangenheit, sondern vielmehr eine Übernahme
eines traditionellen kulturellen Musters in einen neuen postkolonialen Kontext
dar.64
Diese Wiederentdeckung des Schleiers stand Anfang der neunziger Jahre noch nicht
in offenem Widerspruch zur Politik der usbekischen Führung, die nationale Identität
durchaus unter Einbeziehung von Religion definierte. Allerdings wurden ein poli-
tischer Islam und „extreme“ Religiosität von offizieller Seite zunehmend als Bedro-
hung der nationalen Entwicklung und potentiell destabilisierend identifiziert - nicht
zuletzt im Zuge einer gleichzeitig zunehmenden autoritären Regierungsweise. Gera-
de der Schleier wurde in diesem Kontext zunehmend bekämpft. Das Tragen sowohl
des Schleiers als auch von Bärten oder anderem religiösen Schmuck wurde verboten
und mit dem Religionsgesetz von 1998 schließlich sogar auf gesetzlicher Grundlage
unter Strafe gestellt.65
Der Paragraph 5 des Artikels 14 des „Gesetzes der Republik Usbekistan über die
Freiheit von Denken und religiösen Organisationen“ besagt, dass es mit Ausnahme
jener Personen, die in religiösen Organisationen arbeiten, usbekischen Bürgern nicht
erlaubt ist, „rituelle“ Kleidung in der Öffentlichkeit zu tragen. Personen, die dieses
Gesetz übertreten, droht eine Buße von bis zur zehnfachen Summe des Mindestmo-
natslohnes oder eine Haftstrafe von bis zu fünfzehn Tagen. Es wird nicht genauer
definiert, was man unter „ritueller“ Kleidung versteht, wodurch eine willkürliche
Interpretation der gesetzlichen Bestimmungen ermöglicht wird.66 Diese Etikettie-
rung des Tragens eines nicht traditionell usbekischen Kopftuches als potentiell
staatsfeindlich ignoriert jedoch die verschiedenen Gründe, warum Frauen diese
Kleidungsstücke tragen - es ist wohl nur ein sehr kleiner Teil der Schleierträgerinnen,
der tatsächlich mit radikal-islamistischen Strömungen sympathisiert.
64 vgl. Northrop 2001:213f„ Northrop 2004:355f.
65 vgl. Northrop 2004:353
66 vgl. http://www.hrw.org/reports/1999/uzbekistan/uzbek-03.htm, 12.08.2004
129
TRIBUS 56,2007
Traditionelle Kleidung stellt im Allgemeinen jedoch ein wichtiges Zeichen natio-
naler Identität dar. Sehr deutlich lässt sich dies an offiziellen Feiertagen wie dem
traditionellen Neujahrsfest Nawruz im März oder auch am Unabhängigkeitstag Us-
bekistans am 1. September erkennen. An diesem Tag tragen Frauen auf der Straße
vermehrt traditionelle Kleidung in leuchtenden und für Usbekistan sehr typischen
Ikatstoffen. In einigen größeren Städten werden große Feiern veranstaltet, bei denen
Frauen in nationaler Kleidung auftreten. Das größte dieser Feste findet jedes Jahr
anlässlich der Feier des Unabhängigkeitstages in Taschkent statt. Einen wichtigen
Programmpunkt im Zuge dieser Feierlichkeiten nehmen Frauen aus allen Regionen
Usbekistans ein, die sich in der jeweils für ihre Herkunftsregion typischen Tracht
präsentieren. Es soll dadurch ein Bild von einem Land gegeben werden, das reich an
nationaler Kultur, aber auch an lokalen Besonderheiten ist.
In einer Zeit, in der Zeitungen, Radio, Fernsehen, manchmal sogar auch das Internet
in weiten Teilen Usbekistans verbreitet sind, nehmen nicht zuletzt die modernen Me-
dien einen bedeutenden Einfluss auf das Leben der einheimischen Bevölkerung. Di-
ese Beeinflussung findet man auch im Bereich der Kleidung. Die größte Bedeutung
kommt hier wohl dem Fernsehen zu, da dieses nicht nur sehr weit verbreitet ist, son-
dern in seiner Funktion als optisches Medium Bilder von Kleidung aus aller Welt
übermitteln kann. Europäische Werbung, US-amerikanische Filme, lateinamerika-
nische Telenovelas, türkische Serien, russische Dokumentationen,... - sie alle vermit-
teln Bilder, die mehr oder weniger große Auswirkungen auf das Kleidungsverhalten
von usbekischen Frauen haben. Allerdings bietet das Fernsehen auch dem usbe-
kischen Staat die Möglichkeit, das offizielle Ideal der usbekischen Frau zu vermit-
teln. Oft begegnet man Sendungen, die nationales Handwerk,Traditionen und Sym-
bole thematisieren. Nicht selten stellen diese Dokumentationen auch Kleidung als
nationales Gut in den Vordergrund.
Neben dem Fernsehen nimmt sicherlich auch Werbung in Form von Plakaten oder
Zeitungsannoncen einen Einfluss auf die Kleidungspraktiken von usbekischen
Frauen. In sehr begrenztem Maß wirken sich auch Frauenzeitschriften auf den weib-
lichen Modegeschmack aus. Das russische Journal „Bella Terra“ und seine usbe-
kische Variante „Jannat Makon“ wendet sich an Frauen der usbekischen Oberschicht:
Auf Hochglanzpapier erfährt man nicht nur mehr oder weniger Wissenswertes über
berühmte Persönlichkeiten. Reisen, Wissenschaft, Kosmetik, Fitnessübungen, Re-
zepte und Ähnliches, sondern wird auch mit den neuesten Modeerscheinungen in
der Kleidung der usbekischen „High Society“ konfrontiert. Obwohl es scheint, als
würde sich die Zeitschrift ganz der Förderung westlicher Mode verschrieben haben,
tauchen auch Beiträge auf, die mit Stolz auf die Schönheit von traditioneller natio-
naler Kleidung verweisen. Weniger luxuriös aufgemachte und daher vermutlich auch
weiter verbreitete Frauenzeitschriften, wie z. B. „Saodat“, beschäftigen sich weit we-
niger mit dem Phänomen Mode. Diese Tatsache spiegelt vermutlich den Umstand
wider, dass es sich nur die reichsten Frauen der Gesellschaft finanziell und zeitlich
leisten können, sich intensiv mit ihrer äußerlichen Schönheit und mit Kleidung zu
beschäftigen.
Sicherlich gesamtgesellschaftlich von marginaler Bedeutung, aber dennoch als ein
Bereich von bemerkenswerter Dynamik zeigt sich heute das usbekische Mode-
design: Vor 1991 war es die Aufgabe von Designern, Mode zu entwerfen, die der
„sozialen Ordnung“ der sowjetischen Gesellschaft entsprach. Bei diesen Modellen
handelte es sich vorrangig um funktionelle und praktische Kleidungsstücke, die in
Massenproduktion vervielfältigt wurden und dementsprechend einheitlich ausfielen.
Sie spiegelten den kollektiven Gedanken wider und ließen dem Modeschöpfer kei-
nen Platz für die Entwicklung eines individuellen Stils.
Seil der Unabhängigkeit tauchten in Usbekistan nun aber immer mehr junge Desi-
gner auf. die es sich zum Ziel setzten, mit der sowjetischen Tradition der Vereinheit-
lichung der Mode zu brechen. Sie wollten ihren eigenen Stil kreieren, gleichzeitig
aber auch alte Traditionen wieder beleben. Modeschauen und andere Veranstal-
tungen, die Kleidung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, werden vor allem in
130
Claudia Schlag: Usbekische Frauenkleidung vom 19. Jahrhundert bis heute
Taschkent zu einem immer häufigeren Ereignis. In weiterer Zukunft wollen diese
jungen Künstler erreichen, dass Usbekistan einmal auch auf der internationalen Mo-
debühne Anerkennung findet. Im Moment scheint diese Entwicklung allerdings
noch in den Kinderschuhen zu stecken.67
Während sich einige usbekische Modeschöpfer vor allem an der internationalen
„Haute Couture“ orientieren, greifen andere Designer auf traditionelle Formen,
Materialien und Konzepte zurück. Wieder andere kombinieren Elemente aus der
Vergangenheit mit modernen Formen. Als Beispiel dafür wäre eine Gruppe von De-
signern, die sich unter dem Namen „Human Wear“ zusammenschloss, zu nennen. Sie
versucht sowohl durch den Gebrauch von traditionellen Materialien, wie z. B. Ikat,
für Kleidungsstücke mit neuartigen Schnitten, aber auch durch die Verwendung von
ungewöhnlichen Materialien für traditionelle Gewänder eine Synthese zwischen alt
und neu zu schaffen.68
In den letzten beiden Jahrhunderten kam es zu zahlreichen Veränderungen in der
Kleidung usbekischer Frauen. Bis heute diente sie nicht nur dem Schutz des Körpers,
sondern hatte vielfach soziale und politische Bedeutung. Über Jahrhunderte hinweg
blieben bestimmte traditionelle Kleidungsformen erhalten, hinzu kamen europä-
ische bzw. westliche Kleidungsstücke. Gemeinsam prägen sie heute das Erschei-
nungsbild von Frauen in Usbekistan. Ob nun in Zukunft westliche oder traditionelle
usbekische Kleidung die Überhand gewinnen wird, oder ob beide Stile nach wie vor
nebeneinander bzw. in Kombination miteinander existieren werden, wird die Zu-
kunft zeigen. Vielleicht gewinnen aber auch völlig andere Stile an Bedeutung oder es
entstehen neuartige Synthesen verschiedenster Einflüsse. Gerade in dieser Richtung
hat sich die usbekische Frauenkleidung in den letzten Jahrzehnten sowohl in der
Alltagskultur und im täglichen Leben der Frauen als auch im professionellen Be-
reich als durchaus kreativ und wandlungsfähig gezeigt. Es bleibt abzuwarten, in wel-
che Richtung sich die usbekische Gesellschaft und mit ihr auch die Kleidung der
Frauen entwickeln wird.
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http://www.uzdessert.zu/ver4/fashion/jewelry.html 04.08.2004
133
TRIBUS 56,2007
Feldprotokolle
Gespräch mit Iroda Darachanova, Samarkand am 2.10.2004
Gespräch mit Maschhura Chakimchanowa, Taschkent am 6.10.2004
Gespräch mit Shahlo Khamrakulova, Taschkent am 10.10.2004
Gespräch mit Gulzoda Gaziyeva, Taschkent am 19.10.2004
134
Buchbesprechungen Allgemein
Antweiler, Christoph:
Ethnologie. Ein Führer zu populären Medien.
Mit einem Beitrag von Michael Schönhuth.
Berlin: Reimer Verlag, 2005. 312 Seiten.
ISBN 3-496-02782-7.
Seitdem die Suchmaschine „Google“ auf nahezu jedes
eingegebene Stichwort Hunderte von Antworten auch in
der Form von Literaturtiteln geben kann, scheint die Aus-
arbeitung von Bibliographien obsolet. Aber wie nicht nur
der Rezensent, sondern auch andere leidgeprüfte Semi-
narleiter/innen entnervt feststellen müssen, ist das Gegen-
teil der Fall. Die wirklich wichtige Seminarliteratur wird
- wenn sie nicht streng überprüfend eingefordert wird -
nicht gelesen, sondern stattdessen wird ohne Qualitäts-
prüfung „gegoogelt.“ Das vorliegende Buch von Chri-
stoph Antweiler ist daher wie schon eine davor von ihm
verfasste Bibliographie (Antweiler 1002) hochwillkom-
men.
Dieses Mal ist der Autor darum bemüht, die populären
Medien, in denen spezifisch ethnologische Themen ver-
mittelt werden, zu systematisieren und durch einen analy-
sierenden Essay, den er voranstellt, einem breiteren Pu-
blikum zu erschließen. Neben der dank immer noch
starken studentischen Nachfrage kontinuierlich breiter
werdenden Fachöffentlichkeit sind als weitere Zielgruppe
des Buches diejenigen Journalisten anzunehmen, die als
ausreichend (selbst)kritisch gelten können und die auch
in dem vorangestellten Essay direkt angesprochen wer-
den. Es bleibt zu hoffen, dass diese Zielgruppenerwartung
sich dank Internet-Verweis auf dieses Buch in möglichst
breiter Form erfüllt. In jedem Fall müssten sich manche
der häufig überfallartig an Fachethnologen/innen heran-
getragenen journalistischen Telefonanfragen mit dem
Verweis auf diese Bibliographie verkürzen und zugleich
fruchtbarer beenden lassen.
Den Hauptteil (zwei Drittel) des Buches nimmt die Bi-
bliographie ein. Diese umfasst dort, wo es sinnvoll und
teilweise auch notwendig ist, neben den einschlägigen Ti-
teln in deutscher Sprache auch nicht übersetzte englisch-
sprachige Titel auf. Gegliedert ist sie in drei Teile. Dabei
entsprechen die beiden ersten Teile „1. Popularisierung
der Ethnologie“ und „2. Medien und Ethnologie“ der
zentralen Absicht des gesamten Buches. Der letzte und
bei weitem umfangreichste Teil „3. Populäre Medien mit
ethnologischen Inhalten“ enthält in sich drei wesentliche
Unterabschnitte, nämlich a) Überblickswerke wie Lexika
und Atlanten sowie Populärliteratur im eigentlichen Sin-
ne, b) eine alphabetische Sammlung von Sachthemen, die
mit „Arbeit und Wirtschaft“ beginnt und mit „Zeit-Kon-
zepte und Raum-Vorstellungen“ endet sowie c) einem
Überblick über alle „Kulturregionen der Welt“. In diese
„populären Medien“ sind auf sinnvolle Weise zusätzlich
zu den Literalurtileln (hier weit überwiegend in deutscher
Sprache) auch gut zugängliche Filme eingeschlossen.
Das Buch von Christoph Antweiler wird durch einen zu-
sätzlichen Beitrag von Michael Schönhuth ergänzt, mit
dem dieser in der Hauptsache zwei Ziele verfolgt. Zum
einen nimmt er die von Antweiler bereits seinem einlei-
tenden Essay vorangestellle Forderung auf, dass die Eth-
nologen/innen stärker zu den ihre Fachkorapetenzen be-
rührenden großen politischen Themen bzw. Ereignissen
Stellung nehmen sollen. Antweiler tut dies mit der Forde-
rung nach einer entemotionalisierten und kulturrelativi-
schen Sicht auf das Ereignis „11. September“, die der Re-
zensent für sehr begrüßens- und empfehlenswert hält.
Michael Schönhuth exemplifiziert seine mit dieser Forde-
rung übereinstimmende Stellungnahme an einer in der
politischen Öffentlichkeit heftig angegriffenen kritischen
Sicht auf die Politik und das Verhalten des US-Präsiden-
ten George W. Bush, die der ehemalige „Tagesthemen“-
Moderator Ulrich Wickert publiziert hatte. Schönblick
ergreift dabei in ebenso überzeugender wie begrüßens-
werter Weise Partei für Wickert.
Das zweite Ziel des Beitrags von Michael Schönhuth be-
trifft die kritische Auseinandersetzung von Fachethnolo-
gen/innen mit der immer wieder erfolgreichen und popu-
lären pseudoethnographischen Bekehrungsliteratur im
Stil des „Papalangi“ von Erich Scheurmann. Dass Schön-
huth dies anhand des Buches „Traumfänger“ von Mario
Morgan tut, zeigt dem Rezensenten allerdings auch die
Berechtigung seiner Skepsis gegenüber den Erfolgsaus-
sichten einer fachlich fundierten Bekämpfung dieser Art
von unerwünschter „Science Fiction“ der Ethnologie.
Denn der „Traumfänger“ aus der heutigen Zeit repräsen-
tiert wohl in etwa die fünfzigste Folge der Erfolgsbücher
im Stil des „Papalangi“ aus den 20er Jahren des vorigen
Jahrhunderts. Dennoch bleibt selbstverständlich auch die-
se Forderung von Schönblick berechtigt.
Insgesamt war hier ein ebenso begrüßenswertes wie nütz-
liches Buch anzuzeigen. Seine Nützlichkeit könnte aller-
dings bei einer schon bald zu wünschenden Neuauflage
durch die Anfügung eines Autoren-Indexes gesteigert
werden, weil durch die Aufgliederung der verschiedenen
bibliographischen Teile für manche Passagen der einzel-
nen Texte der bibliographische Überblick etwas verloren
geht. Im Vergleich zu den Verdiensten des Buches ist dies
jedoch nur ein kleines Manko.
Volker Harms
Auffermann, Bärbel / Orschiedt, Jörg:
Die Neandertaler - Auf dem Weg zum mo-
dernen Menschen. Stuttgart: Theiss, 2006. 160
Seiten, zahlreiche Färb- und SW-Abbildungen,
Glossar, Literatur, Bildnachweis, Internet-
Tipps.
ISBN-10:3-8062-2016-6,
1SBN-13:978-3-8062-2016-2
Zum 150. Jahr der Entdeckung des namengebenden Alt-
menschen aus dem Neandertal bei Düsseldorf und Mett-
mann waren etliche Autor(inn)en recht fleißig. Mehrere
Verlage brachten 2006 Bücher zum Thema „Neanderta-
ler“ heraus. Bei Auffermann / Orschiedt handelt es sich
allerdings, ohne Hinweis darauf, um eine Neuauflage des
2002 von Theiss herausgebrachten „Die Neandertaler -
Eine Spurensuche“ (Rezension S.TRIBUS Bd. 52,2003, S.
250 ff) mit einigen Ergänzungen. Welche, wird nachfol-
135
___________TRIBUS 56,2007
gend aufgezeigt. Ich gehe davon aus, dass die Verfasser
der vorliegenden Publikation die erwähnte Buchbespre-
chung nicht zu Gesicht bekommen haben, obwohl solche
Texte unter anderem grundsätzlich dazu da sind, manchen
Lapsus in einer Neuauflage zu vermeiden.
Wer könnte besser über eine Materie Bescheid wissen als
Wissenschaftler eines Museums, das eigens für deren
Fachbereich zuständig ist - so auch das Neanderthal Mu-
seum in Mettmann, das nicht nur in der Nähe der be-
rühmten Fundstelle liegt (hierauf soll die altertümliche
Schreibweise des Tals vor der damaligen Schreibreform
von 1906 verweisen), sondern das auch auf die uns Heu-
tigen vorausgegangene Menschenart spezialisiert ist.
Apropos Spezies - es wird sich herausstellen, ob der Hin-
weis auf einer Pressemitteilung des Verlages zu dem Buch
sowie gleich lautend im Klappentext wirklich stimmt, dass
wir nämlich „alle vom Neandertaler abstammen“. Im An-
gebotstext zu dem Buch wird von einer Versandbuch-
handlung gar gefragt: „Doch sind die Neandertaler wirk-
lich ausgestorben?“ Aber zurück zur Wissenschaft:
Auffermann arbeitet im Neanderthal Museum und ist
stellvertretende Direktorin, Orschiedt ist wissenschaft-
lich-beruflich an das Institut für Archäologie der Univer-
sität Hamburg gebunden.
In dem Begleitschreiben zu der erwähnten Pressemittei-
lung weist der Verlag auf das „neueste Wissen“ von Auf-
fermann und Orschiedt zum Thema Neandertaler hin. Es
ist sicherlich interessant festzustellen, wie viel neues Wis-
sen sich innerhalb von vier Jahren (2002 bis 2006) ansam-
meln kann. Sensationell wäre in der Tat, wenn uns - wie
vom Verlag angekündigt - die Gentechnik mittlerweile
solche Daten liefern könnte, die zu der Annahme einer
Vermischung beider Spezies berechtigten, das heißt des so
genannten modernen Menschen mit dem Neandertaler.
Dazu gleich mehr. Zunächst bleibt festzustellen, dass die
ersten Kapitel der vorliegenden Buchausgabe wortwört-
lich denjenigen der Publikation von 2002 entsprechen
(diese 2002-Auflage wird seit Herbst 2006 im Versand-
buchhandel verramscht). Das betrifft sowohl den ersten
Hauptabschnitt „Neandertaler: Die Geschichte ihrer Ent-
deckung“ mit drei in beiden Büchern gleich lautenden
Untertiteln als auch das zweite Kapitel „Ein kurzer Ab-
riss der Menschheitsgeschichte“ mit vier ebenfalls wort-
wörtlich gleichen Teilen. Selbst das dritte Kapitel „Das
Aussehen der Neandertaler“ ist dem der 2002-Ausgabe
mit derselben Überschrift gleich, nur ist hier ein neuer
Teil „Neandertaler versus moderner Mensch: Anatomie
im Überblick“ vor die folgenden Passagen eingeschoben,
die sich jedoch in beiden Büchern wiederum gleichen wie
ein Ei dem anderen. Der Teil „Sprachfähigkeit“ in der Pu-
blikation von 2002 fehlt in der vorliegenden, wahrschein-
lich deshalb, weil mittlerweile jeder am Thema Interes-
sierte - spätestens seit dem Fund des neandertaloiden
Zungenbeins von Kebara (Israel) - weiß, dass sich die Ne-
andertaler sprachlich gut miteinander verständigen konn-
ten.
Das vierte Kapitel „Wie lebten die Neandertaler?“ ist bis
auf das im jetzigen Buch für solche Fragen vorgesehene
Zeichen am Schluss dieser Frage ebenfalls völlig von der
2002-Ausgabe übernommen worden. Hier wird auch ein
Blick in Zeitalter Jahrhunderttausende vor dem Neander-
taler geworfen. Der berühmte Speer von Schöningen ist,
nebenbei bemerkt, nicht „einer der ältesten Holzspeere
der Welt“ (85), sondern der älteste (der aufgefundenen).
In das nächste Kapitel „Das Ende der Neandertaler“ ist
gegenüber 2002 ein Abschnitt „Ein Thema - viele Fragen“
eingefügt worden. Außerdem wurden einige Wortumstel-
lungen vorgenommen. Das einzig Neue im Buch von 2006
ist in diesem Kapitel „Der Fund von Pe§tera cu Oase“,
doch sind hier die gleichen Argumente anzubringen wie
bei dem noch zu erläuternden Fund von Lagar Velho in
Portugal. Im Anhang des vorliegenden Buches ist neben
einer gewissen Umstellung der einzelnen Passagen nur
noch ein Teil „Das Landesmuseum für Vorgeschichte Hal-
le“ eingefügt worden. Alles zusammengenommen, kann
bei der vorliegenden Rezension ruhigen Gewissens auf
die Besprechung des Titels von 2002 in TRIBUS von 2003
verwiesen werden.
Was bleibt, ist die Frage, ob wir - wie in die Werbung für
das jetzige Buch aufgenommen - alle vom Neandertaler
abstammen. Natürlich ist das, großzügig betrachtet, nur
ein unter dem Gesichtspunkt der Verkaufsförderung ak-
zeptabler Ausspruch, denn die Wahrheit sieht anders aus.
In der Neandertalerforschung gibt es da zum einen das
bekannte „Kind von Lagar Velho“ in Portugal, das vor
rund 24.500 Jahren beerdigt wurde und dessen Beinkno-
chen „Übereinstimmungen mit den Proportionen der Ne-
andertaler“ (135) zeigen. Da auch der Körperbau des eis-
zeitlichen Jetztmenschen (aus Afrika eingewandert;
Beginn etwa zwischen 40.000 und 50.000 Jahren) als Folge
der extremen Kälte der vorerst letzten Eiszeit Anpassun-
gen an das glaziale Klima zeigte, das heißt im Laufe der
Zeit neandertaloid wirkte, könnte das Kind von Lagar
Velho wenn auch nicht einer Mischehe (letzte Neanderta-
ler in Südspanien um 30.000 v. h.), so doch immerhin einer
Ehe zwischen Mischlingen - vorausgesetzt diese sind
nicht unfruchtbar - entsprungen sein. Doch letzten Endes
wirkt das „neandertaloide“ Kind von Lagar Velho wie
eine fantasievolle Konstruktion - und ist es in meinen Au-
gen auch. Entsprechend ist der Fund von Pegtera cu Oase
in Rumänien nicht aussagekräftig, denn die archaisch wir-
kenden Merkmale dieser Skelettreste können durchaus
mit frühen Neanthropini in Verbindung gebracht werden.
Eine Vermischung mit Palaeanthropini ist auch hier eher
unwahrscheinlich.
Ist nun vielleicht die Paläogenetik mit der so genannten
Mitochondrien-DNA.kurz mtDNA.die Rettung? Weniger,
denn sie stellt „nur einen winzigen Ausschnitt aus der Erb-
substanz dar“ (137). Für eine endgültige Gewissheit wird
der Zellkern benötigt, der aber aus diesen frühen Zeiten
nirgends erhalten geblieben ist. Trotz gewisser Unsicher-
heiten und den daraus resultierenden Diskussionen muss
wohl der Autorin zugestimmt werden, wenn sie schreibt,
„dass die Neandertaler keinen heute noch nachweisbaren
wesentlichen Beitrag zum Genpool des modernen Homo
sapiens sapiens geliefert haben (140). Zu diesem Ergebnis
sind natürlich bereits viele Paläo-Anthropologen gekom-
men, so etwa lan Tattersal (2000, insbesondere S. 52 f). So-
mit ist der erwähnte Hinweis des Verlages mit unserer Ab-
stammung vom Neandertaler als „Ente“ zu werten.
Dennoch - die Suche geht weiter.
In einem anderen Punkt, für den er zuständig ist, darf der
Verlag sehr gelobt werden. Das Bildmaterial ist ausge-
zeichnet. Selbst für den Kenner der Materie gibt es Abbil-
136
Buchbesprechungen Allgemein
düngen zu sehen (auch solche aus der Ausgabe von 2002),
die er noch nicht vorher zu Gesicht bekommen hat. So
haben mir besonders die Aquarelle aus der Mitte des 19.
Jahrhunderts von Ansichten des Neandertals und seinen
Höhlen gefallen, bevor diese Opfer der Zementindustrie
wurden. Ebenso sind Wiedergaben von alten Zeitungs-
ausschnitten und Publikationen erwähnenswert. Auch die
Abbildungen aus den Anfängen der Fotografie von Ge-
genden, wo sich Neandertaler einst aufhielten, sind sicher-
lich eine Rarität. Schon aus diesem Grund gehört auch
dieses Neandertaler-Buch nicht nur in Privathände für hi-
storisch Interessierte, sondern auch in öffentliche Biblio-
theken.
Literatur
Auffermann, Bärbel / Orschiedt, Jörg
2002 Die Neandertaler - Eine Spurensuche. Stuttg-
art: Konrad Theiss.
Schulze-Thulin, Axel
2003 Rezension von Auffermann / Orschiedt 2002.
In TRIBUS Bd. 52. Stuttgart.
Tattersall, Jan
2000 Wir waren nicht die Einzigen - Warum von al-
len Menschenarten nur der Homo sapiens
überlebte. In: Spektrum der Wissenschaft
3/2000, S. 46 ff. Heidelberg.
Axel Schulze-Thulin
Brunner, Bernd;
Eine kurze Geschichte der Bären. Berlin: Ull-
stein Buchverlag, 2005. 224 Seiten, zahlreiche
Färb- und SW-Fotos, Zeichnungen, Grafiken.
ISBN-13:978-3-546-00395-7,
ISBN-lü: 3-546-00395-0
Der Buchtitel ist untertrieben. Treffender wäre „Mensch
und Bär - Eine Kulturgeschichte“. Tatsächlich handelt es
sich bei der vorliegenden Publikation um die Geschichte
des Menschen in seiner Beziehung zu Bären über rund
100.000 Jahre, naturbedingt insbesondere auf der nörd-
lichen Hemisphäre. Der Leser sollte sich auch nicht von
den ersten drei Seiten abhalten lassen weiterzulesen. Die-
ser Anfang des Buches soll lustig sein, wirkt aber tatsäch-
lich wie ein „schlimmer Traum“, so die Überschrift dieser
Einleitung. Zum Lachen gibt es dann später noch Etliches,
allerdings weniger vom Autor beabsichtigt.
Insgesamt ist die Publikation in 20 Abschnitte und einen
Anhang gegliedert. Immerhin sind in Letzterem etliche
Wissenschaftler aufgeführt, die der Verfasser um Rat ge-
fragt hatte, neben Biologen auch Archäologen. Das ge-
nügte jedoch leider nicht, um beim Leser den Eindruck zu
verwischen, Brunner hätte beim Schreiben überall die
Einsicht und das Verständnis, ja selbst das Einfühlungs-
vermögen in den jeweiligen wissenschaftlichen Hinter-
grund gehabt. So berichtet er beispielsweise im zweiten
Abschnitt staunend von der Rolle des Bären in etlichen
Kulten nordamerikanischer und nordasiatischer Ethnien.
Ein Blick in eine ethnologische Zeitschrift, wie etwa auch
der vorliegenden, hätte ihm beim Verständnis völker-
kundlicher Zusammenhänge entscheidend geholfen
(Schulze-Thulin 1984,1987). Selbst Berühmtheiten unter
den Ethnologen hat er links liegen gelassen (Lévi-Strauss
1968; Zerries 1950/54). Literatur zu Bären in Nordameri-
ka kannte er offenbar nicht, wie zum Beispiel Brown /
Murray 1988. Da gerät nun wiederum der Ethnologe in
Staunen, wie oft ein Autor doch an der Oberfläche bleibt
bei einer Materie, die er an sich bis ins Innerste beherr-
schen sollte. Brunner springt von der Nordwestküste Nord-
amerikas zu den antiken Sagen der alten Griechen, dann
wieder zurück nach Nordamerika zu den Cherokee und
anderen indianischen Autochthonen und landet schließ-
lich bei den Germanen (gerade zu Bärenkulten in Nord-
amerika, sogar bei Levi-Strauss und solchen selbst in
Meso- und Südamerika gibt es Etliches an völkerkund-
licher Literatur; s. eine Auswahl am Schluss der Rezensi-
on). Dabei verbindet der Verfasser, im kopfschüttelnden
Unverständnis befangen, wissenschaftliche Erkenntnisse
mit Bruchstücken aus älterer Literatur vor dem Hinter-
grund von Sagen und Märchen und „gar schrecklichen
Erzählungen aus alter Zeit“, die sich rund um den Bären
in einigen Gegenden Europas bis in das 20. Jahrhundert
erhalten haben.
So kommt er auch im zweiten Abschnitt seines Buches
(von Menschenbären und Bärenmenschen) über „wun-
derbare Erzählungen“ nicht hinaus. Schaudernd berichtet
er von Schweizer Sennern und deren Begegnungen mit
Bären oder gibt Geschichten um Bärenmenschen in Est-
land und entsprechende Gerüchte aus England und
Frankreich sowie Russland und Sibirien wieder. Sympto-
matisch für das Staunen des Verfassers ist auch das vierte
Kapitel „Errata“. In diesem hat er verschiedene Darstel-
lungen von Bären aus unterschiedlicher Literatur zusam-
mengestellt, die nicht mit der realen Bärenanatomie, wel-
cher Subspezies auch immer, übereinstimmen. Ist das
nicht schrecklich? Hat doch Albrecht Dürer in seinen
Sternbildern des Kleinen und Großen Bären den Tieren
tatsächlich einen Schwanz verpasst. Da lässt sich sicher-
lich noch Weiteres aus alter Zeit finden! Und richtig. Bei
den Römern (hier Plinius dem Älteren) und den Grie-
chen (hier Aristoteles) gibt’s auch Fehler über Bären an-
zukreiden. Spätestens an dieser Stelle ist der Leser vor
Ehrfurcht erstarrt, wo Brunner überall in der Literatur
fündig geworden ist. Das Buch ist eine echte Fleißarbeit,
ein Literaturstudium ohnegleichen,
ln den folgenden Abschnitten geht Brunner der „Seele
des Bären“, dem „Haustier Bär“ und weiterhin dem Miss-
brauch des Bären durch den Menschen in „Kämpfen,Tan-
zen, Stillstehen“ nach. Beobachtungen aus Sibirien (mit
Leopold v. Schrenck bei den Giljaken) und China (Panda)
folgen. Anschließend frönt der Verfasser wieder seiner
besonderen Leidenschaft - er springt wieder einmal über
Jahrzehntausende, dieses Mal in die europäische Urzeit
und landet beim Höhlenbären. Mit seiner Ablehnung des
so genannten Höhlenbärenkultes folgt Brunner der aktu-
ellen wissenschaftlichen Meinung, von Ausnahmen abge-
sehen. Und wieder erkennt der Eingeweihte, dass hier nur
oberflächlich nachgelesen wurde. So ist das Alter von
Chauvet (Brunner nennt hier die längst angezweifclten
137
___________TRIBUS 56,2007
35.000 Jahre; auf ein paar Tausender kommt es ja nicht an)
aus guten Gründen verworfen worden (Züchner 2004).
Abgesehen davon sind jungpaläolithische Abbildungen
von Bären in Höhlen keineswegs selten, wie der Autor
meint. Auch Chauvet ist überhaupt keine Ausnahme und
reiht sich in etliche andere Bilderhöhlen ein. Nach Hin-
weisen auf die üblichen Tierbilder in Höhlen der Altstein-
zeit erübrigt sich jedes weitere Wort, wenn Brunner meint,
„weiter gehende (Schreibfehler sic!) Aufschlüsse für das
Verhältnis der Menschen zu diesen Tieren ergeben sich
daraus jedoch nicht“ (118). Gab es hier eine Telefonstö-
rung bei der Auskunftserteilung durch einen „Altpaläoli-
thiker“?
In den folgenden Abschnitten greift der Verfasser weitere
Themen auf, wie die Ausrottung des Bären in Mitteleuro-
pa und die Verfolgung von Bären in Sibirien und Nord-
amerika - selbst das Internet wird für diese tierverachten-
den Zwecke eingesetzt und die Bärentötung von Jägern
weltweit als ..herrlicher Jagderfolg“ gepriesen. Dass eine
Bärenjagd sogar mit modernen Gewehren gefährlich sein
kann, zeigt die Buchpassage „Aug in Aug“. In diesem Zu-
sammenhang stellt Brunner einen anderen Caniden dem
Bären gegenüber - den Wolf. Neben ernsten Themen er-
zählt der Autor ebenfalls von Kuriosem, wie dem „Grizzly
Adams - dem Seltsamsten von allen“. Und selbst die
„Stoffbären“ werden gewürdigt, wie auch den Lauten
nachgegangen wird, die Bären von sich geben, oder der
Frage, ob es in Afrika je Bären gab. Ja, es gab sie, und zwar
in Nordafrika, was Brunner mit entsprechender Literatur
belegt. Eines muss dem Verfasser gelassen werden: er hat
kein Thema rund um den Bären ausgelassen, selbst der
„bear Step“, ein Gesellschaftstanz in den USA der golde-
nen 1920er Jahre, wird mit Text und Bild festgehalten.
Fazit: Bei allen erwähnten kritischen Vorbehalten - die
Fülle an Informationen, die Brunner aus der Literatur zu-
sammengetragen hat, gibt dem Buch den Charakter eines
Nachschlagewerkes. Doch leider fehlt das hierfür unent-
behrliche Sachregister. Das vorhandene Personenregister
reicht nicht aus.
Literatur
Europa
Rabeder, Gernot / Nagel, Doris / Pacher, Martina
2000 Der Höhlenbär. Hg. u. m. Geleitwort v. Wighart
v. Koenigswald. thorbeckeSPECIES 4. Stutt-
gart.
Züchner, Christian
2004 Die Grotte Chauvet - Das älteste Höhlenheilig-
tum Europas? Mettmann.
Nordamerika
Brown. David E. / Murray, John A.
1988 The Last Grizzly and Other Southwestern Bear
Stories. S.2. Tucson, AZ.
Lévi-Strauss, Claude
1968 Das wilde Denken. S. 64. Frankfurt/M.
Schulze-Thulin, Axel
1984 Von Dallas bis Arapaho - Vier indianische Bä-
renskulpturen aus Nordamerika im Linden-
Museum Stuttgart sowie einige Anmerkungen
zur indianischen Bärenverehrung. ImTRIBUS,
Bd. 33, S. 169-182. Stuttgart.
1987 Geschenke für den Bären - Fünf Bärenskulp-
turen aus Nordamerika im Linden-Museum
Stuttgart sowie einige Anmerkungen zu urge-
schichtlichen Befunden. In: TRIBUS, Bd. 36, S.
89-104. Stuttgart.
Speck, F. G. / Moses, Jesse
1945 The Celestial Bear Comes down to Earth. In:
Read. Publ. Mus. Art. Gail. Publ. Nr.7. Reading,
PA.
Nord-, Meso- und Südamerika
Krickeberg, Walter
1949 Das mittelamerikanische Ballspiel und seine
religiöse Symbolik. In: Paideuma Heft 6/7,118
ff. Leipzig.
Zerries, Otto
1950/54 Sternbilder als Ausdruck jägerischer Geistes-
haltung in Südamerika. In: Paideuma, Bd. 5.
S.220,227 f. Bamberg.
Südamerika
Schindler, Helmut
2000 Die Kunstsammlung Norbert Mayrock aus Alt-
Peru. S. 24,157. München.
Axel Schulze-Thulin
Conard, Nicholas J. (Hg.):
Woher kommt der Mensch? Zweite, aktua-
lisierte Auflage. Tübingen: Narr Francke At-
tempto, 2006. 331 Seiten, zahlreiche SW-Fotos,
Zeichnungen. Grafiken, Karten.
ISBN 3-89308-381-2
Gute Frage. Ja, woher kommt er? Natürlich ist die Frage
nur rhetorisch, denn der Anthropologe weiß es seit Dar-
win und nach über 150 Jahren mehr oder weniger exakter
Urgeschichtsforschung natürlich. Und die sich in diesem
Buch zu Wort meiden, wissen es erst recht. Sie sind
schließlich alle namhafte Autoren (eine Autorin).
Im Volksmund heißt es etwas flapsig, der Mensch stamme
„vom Affen“ ab. Und demjenigen, der schon einmal im
Zoo etwas länger vor dem Schimpansengehege ausharrte,
hatte vielleicht beim Verlassen des Tierparks nach man-
chem Lacher einen nachdenklichen Zug um die Mund-
winkel. Natürlich wissen die Leser dieser Rezension alle,
dass das mit der Affenabstammung so nicht stimmt, denn
es muss ja schließlich berücksichtigt werden ... Und das ist
der Ausgangspunkt der Beiträge in der vorliegenden Pu-
blikation. Tatsache ist, dass sich irgendwo imTier-Mensch-
Übergangsfeld zwischen 14 und 10 Millionen Jahren die
Ahnenreihe der Uraffen teilte. Ein Zweig blieb Affe, ein
anderer führte zu den Menschenaffen, und ein dritter ge-
langte nach weiteren rund 8 Millionen Jahren zum Men-
schen in einer sich ablösenden Speziesreihe mit Fragen
über Fragen. Auch hiervon handelt das Buch.
Inhaltlich geht der Band aus einer Ringvorlesung im Win-
tersemester 2000/01 hervor, „die anlässlich der Gründung
138
Buchbesprechungen Allgemein
des Studiengangs Paläoanthropologie an der Eberhard-
Karls-Universität Tübingen gehalten wurde“ (7). Die Bei-
träge wurden für die erste Auflage der Publikation über-
arbeitet und erweitert, so dass sich der Leser „nicht nur
über die Fossilgeschichte und Kulturevolution des Men-
schen informieren, sondern auch über Primatologie, Pa-
läo-DNA, Funktionsmorphologie und prähistorische An-
thropologie“ (8) unterrichten kann. Die Autorenschaft
setzt sich sowohl aus weltbekannten Anthropologen als
auch aus Nachwuchswissenschaftlern zusammen. Die ein-
zelnen Beiträge sind mit anschaulichem Bildmaterial
(SW-Fotos, insbesondere meist ausgezeichneten Zeich-
nungen) und Karten ausgestattet worden. Jeder Beitrag
schließt mit einem Verzeichnis ausgesuchter Literatur. Ei-
nige stilistische und orthografische Ungenauigkeiten sind
auf die ungewisse Lage in der deutschen Rechtschreibung
am und seit Ende des 2. Jahrtausends zurückzuführen und
halten sich im Rahmen ähnlicher Veröffentlichungen an-
derer Verlage.
Zunächst begibt sich Friedemann Schrenk (Frankfurt/M.)
auf die „Spuren der ersten Menschen“, zur Wiege in Ost-
Afrika, wobei er das „Resultat Mensch“ auf die klima-
tischen Veränderungen seit rund 9 Millionen Jahren zu-
rückführt. Es folgt Holger Preuschoft (Bochum) mit
einem Bericht über die Biomechanik des aufrechten
Gangs und ihre Konsequenzen für die Evolution des
Menschen. Als Ergebnis ist u. a. festzuhalten, dass der
Körperbau von Homo „optimal geeignet für ausdau-
erndes Gehen, aber nicht für schnelles Laufen“ (36) ist.
Die diesem Artikel beigefügte Literatur kann um Henke /
Rothe 1994 ergänzt werden. Beide haben sich intensiv
über die Adaptationen des postkranialen Skeletts mit
ähnlichen Überlegungen und Ergebnissen ausgelassen.
Miriam Noel Haidle (Tübingen) geht der interessanten
Frage nach, was den Menschen vom Menschenaffen und
Affenmenschen unterscheidet, und untersucht hierzu Ko-
gnition sowie Sprache im Altpaläolithikum. Es folgen die
Ausführungen von Winfried Henke (Mainz) zur Evoluti-
on und Verbreitung von Flomo nach Eurasien, wobei er
aktuelle Befunde aus „evolutionsökologischer Sicht“ her-
anzieht. Ob allerdings diese lediglich dazu führt, die Palä-
oanthropologie so zu definieren wie hier (104), das heißt
dann eine Auslegung, die auf jede andere Wissenschaft in
mehr oder weniger ausgeprägter Weise ebenfalls zutrifft,
sollte - positiv beurteilt - nur ein mildes Lächeln hervor-
rufen. Als Nächster meldet sich Michael Bolus (Tübin-
gen) zu Wort. Er überschreibt seinen Aufsatz mit der Fra-
ge „Wer war der Neandertaler?“ und weist bei seiner
Antwort darauf hin, dass „keine andere Menschenform
hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes und ihres ,Mensch-
seins’ so entgegengesetzten Sichtweisen ausgesetzt war
wie der Neandertaler seit seiner Entdeckung vor 150 Jah-
ren“ (143). Vor diesem Hintergrund erläutert er den der-
zeitigen Wissensstand der Anthropologie, der bis zur „so-
zialen Organisation und auch der Gedankenwelt des
Neandertalers“ (ebenda) reicht.
Sinnvoll schließen sich hieran die Ausführungen von
Günter Bräuer (Hamburg) an, der „das Out-of-Africa-
Modell und die Kontroverse um den Ursprung des mo-
dernen Menschen“ (171) beleuchtet. Dabei scheinen mir
insbesondere die Arbeiten „über die mitochondriale
DNA, die Dokumentation des anatomischen Moderni-
sierungsprozesses in Afrika, die Ablösungsphase der Ne-
andertaler und die Problematik von Vermischungen so-
wie die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität in
China und Australien“ (ebendort) besonders erfolgver-
sprechend zu sein. Als Ergebnis verschiedener Untersu-
chungen kann - zunächst immer noch vorläufig, wenn
auch immer sicherer - festgehalten werden, dass es keine
Vermischung zwischen Neandertalern und modernen
Menschen gab. Der sich auch hier aufdrängenden Frage
nach der „Entstehung der kulturellen Modernität“ (197)
stellt sich der Herausgeber Nicholas J. Conard (Tübin-
gen), In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt er
menschliche Verhaltensformen und geistige Fähigkeiten
im Vergleich zwischen uns Heutigen und unseren Ahnen.
Anhand bestimmter Kriterien, wie archäologisch sicht-
barer Daten, meint er. dass „spät-archaische und frühe
anatomisch moderne Hominiden bereits sehr ausgegli-
chene Fähigkeiten besaßen“ (ebenda). Nennenswerte
Belege dafür findet er allerdings erst ab dem frühen
Jungpaläolithikum (mit einem in der Schlussphase aus-
laufenden Miltelpaläolithikum), wodurch sich seine
Überlegungen nahezu vollkommen innerhalb einer Spe-
zies bewegen. Darüber gibt es sicherlich auch in den un-
terschiedlichen Forschungsrichtungen keine gegensätz-
lichen Meinungen.
Einem seit Jahren immer wichtiger werdenden Bereich
der Archäologie wenden sich Nikolaus Blin und Carsten
M. Pusch (Tübingen) zu, das heißt den Methoden um die
DNA und ihrer Bedeutung für die Stammesgeschichte
des Menschen (229). Dabei sprechen sie sowohl die im-
mense Bedeutung der molekulargenetischen Methoden
als auch mögliche und bereits vorgekommene Fehlein-
schätzungen an. Wem diese doch recht schwierig zu er-
fassende Materie weniger zusagt, wird Erholung beim
„Kampf ums Dasein“ unserer steinzeitlichen Vorfahren
finden (241). Hier sieht Joachim Wahl als „Kernpunkt“
das jungsteinzeitliche Massengrab von Talheim (242; s.
dazu die Buchbesprechung des Rezensenten von Huse-
mann 2005). Hervorzuheben ist insbesondere das Einge-
hen auf die spätestens seit der Jungsteinzeit zuneh-
menden medizinischen Kenntnisse. Damit in
Zusammenhang - wenigstens bei Versagen der Medizin
- stehen die jeweiligen Bestatlungssitten als „ein ge-
wichtiger Teil der Gedankenwelt unserer Vorfahren“
(241).
Zum Schluss kommt der Herausgeber mit den Abhand-
lungen von Wolfgang Maier und Hans-Ulrich Pfretzsch-
ner (beide Tübingen) auf die eingangs erwähnten Affen
zu sprechen. Der erstgenannte Autor beschreibt hier im
Zusammenhang mit den biologischen Grundlagen der
Menschwerdung die Evolution der Halbaffen und Affen,
der zweitgenannte die Evolution der Menschenaffen. An-
gaben über „die Autorinnen und Autoren“ (es ist, wie er-
wähnt. nur eine Autorin) beschließen den Band.
Ein Stichwortverzeichnis hätte das Buch zu einem vor-
trefflichen Nachschlagewerk gemacht. Dazu fehlte offen-
bar leider ein(e) Bearbeiter(in). So muss sich der Interes-
sierte mit dem Inhaltsverzeichnis behelfen. Dennoch ist
hervorzuheben, dass es sich bei der Publikation um ein
umfassendes Werk auf dem derzeitigen Stand der anthro-
pologischen und archäologischen Forschung handelt - bis
zur 3. Auflage wenigstens.
139
____________TRIBUS 56,2007
Literatur
Henke, Winfried / Hartmut Rothe
1994 Paläoanthropologie. Berlin u. a., S. 148-184.
Schulze-Thulin, Axel
2006 Rezension von Husemann, Dirk: Als der
Mensch den Krieg erfand, 2005. Ostfildern. In;
TRIBUS. Bd. 55,2006:249.
Axel Schulze-Thulin
Dilger, Hansjörg / Wolf, Angelika / Fröm-
ming, Urte Undine / Volker-Saad, Kerstin
(Hg.):
Moderne und postkoloniale Transformation.
Ethnologische Schrift zum 60. Geburtstag von
Ute Luig (Berliner Beiträge zur Ethnologie,
Bd. 6). Berlin: Weißensee Verlag, 2004. 293
Seiten.
ISBN 3-89998-042-5
Der vorliegende Sammelband umfasst insgesamt 16 Auf-
sätze zu vier Themenschwerpunklen: Körper und Ge-
schlecht, Gewalt, gesellschaftliche und religiöse Dimensi-
on von Krankheit und Leid sowie transnationale Räume,
Natur und Landschaft. Dazu kommen ein Vorwort, eine
längere Einleitung und ein Epilog, das Werkverzeichnis
von Ute Luig und das Autorenverzeichnis.
Alle Beiträge stammen von Menschen, die das Magistran-
den- und Doktorandenkolloquium durchlaufen hatten
oder an der EU Berlin tätig waren.
Die Einleitung ist titelgebend und reflektiert den Begriff
„Moderne“ relativ umfassend, andererseits aber auch ab-
strakt und mit unnötigen Worthülsen. Trotz dieser Kritik
wird auf entsprechendem Abstraktionsniveau die Grund-
problematik vieler Kulturen deutlich trotz aller Unter-
schiede über die Kontinente hinweg.
Zwei Beiträge im ersten Teil beschäftigen sich mit dem
Komplex der Speisezubereitung. Von den Fiji-Inseln wird
deutlich, wie traditionelle und konventionelle Nahrungs-
mittel und ihre Zubereitung tief in die althergebrachte
Sozialstruktur eingreifen. Von den Dagara in Ghana er-
fahren wir über die Analyse der Hirsemahllieder - heute
entfallen sie aufgrund dieselmotorgetriebener Mühlen -
viel über das Leid der Frauen, die in der Vergangenheit
über die Gesänge ihren Seelenregungen Ausdruck verlei-
hen konnten. Liest man jedoch die Bücher des Dagara
Malidoma Some, so gewinnt man ein absolut konträres
Bild einer spirituell durchdrungenen Dorfkultur.
Im zweiten Abschnitt finden sich durchaus interessante
Artikel zum Thema Gewalt, aber mit „Theoretische Über-
legungen zu physischer Alltagsgewalt in Samburu“ konn-
te ich mich einfach nicht verbinden. Die Analyse ist tro-
cken und abgehoben. Als Schlusskapitel nach vielen
Fallstudien wäre sie vielleicht exzellent. Ähnlich ging es
mir bei „Frauenrechte und geschlechtsspezifische Gewalt
in Südafrika“. Ein dritter Artikel greift die Situation von
Kämpferinnen in Eritrea heraus - Frauen in der Armee
der Befreiungsfront, die völlig aus dem ethnischen und
kulturellen Kontext herausgerissen wurden und nach dem
langen bewaffneten Konflikt kaum in die alten Zusam-
menhänge integrierbar sind. Eine völlig neue Bevölke-
rungsgruppe ist entstanden. Nur: Warum erinnert mich so
viel an Fidel Castro und Che Guevara, die die Revolution
in alle Welt tragen wollten, ohne auf Kulturunterschiede
Rücksicht zu nehmen?
Tiefere Spuren hat der dritte Teil hinterlassen, der mit ei-
ner Besessenheitsanalyse in der Ashanti-Region (Ghana)
beginnt.
Grundlegend für das Verständnis sprechender und tan-
zender Gottheiten ist die Kenntnis der gegliederten spiri-
tuellen Welt, wobei die Geistseele zweigegliedert ist. Ein
Teil wird vom Schöpfergott verliehen, kehrt nach dem
Tod der Person zu ihm zurück und kann reinkarniert wer-
den (Seebode, S. 150). Ein zweiter Teil kann während des
Lebens trainiert werden, ist aber auch Objekt von Anfein-
dungen, Krankheit, Hexerei. Hier setzen die Abisa-Ritua-
le an, während Rituale mit Tanz und Musik eher wichtig
für die Stellung der Priester (oder Schamanen) unterei-
nander sind.
Ein weiterer Artikel hat die Veränderung des Witwenrei-
nigungsrituals in Sambia im Blickfeld. Tradition in vielen
Ethnien des südlichen und östlichen Afrika ist ein ritu-
eller Geschlechtsverkehr der Witwe, um den Geist des
verstorbenen Mannes in den Clan zurückzuführen. Ein
verändertes Ritual überführt den Geist in weiße Perlen,
die die Witwe trägt, und umgeht in Zeiten von AIDS die
Pflicht zum gefährlich gewordenen Sexualverkehr.
Die Studie von A. Wolf beschäftigt sich mit Kinderhaus-
halten in Malawi - ausgehend von einer Fallschilderung
eine zunehmend abstrakt werdende Abhandlung, die sich
zu einer generellen Kindheitsdebatte mit durchaus frag-
würdigen Aussagen entwickelt. Der letzte Aufsatz von H.
Dilger hat die Arbeitsmigration und ihre Veränderung in-
folge AIDS in Tansania zum Thema. Erbkonflikte verän-
dern die Gesellschaft in nicht unbeträchtlichem Ausmaß
und auch hier wird die rituelle Reinigung von Witwen ein
schweres Problem mit weitreichenden Auswirkungen auf
die traditionellen Sozialformen.
„What am I doing here.“ Sabine Boomers reflektiert
grundlegend über die Rolle des Ethnologen (und auch
Reiseschriftstellers) und sein Selbstverständnis in der
Ferne, Fremde und die Rückkopplung in die eigene Kul-
tur durch Schreiben. Diese Zeilen stimmen den Leser
durchaus nachdenklich.
Einen tieferen Eindruck hinterließ die Beschreibung und
Reflexion über Cape Coast Castle in Ghana, Handels-
stützpunkt und Zwingburg gleichermaßen und vor allem
Ausgangspunkt für den Sklaventransport nach Amerika.
Die Schilderung der Örtlichkeit ist plastisch und farbig
und vermittelt die heutige Situation, lässt aber auch die
grausamen Aspekte der Versklavung Hunderttausender
als Gefühl aufdämmern. Die theoretischen Schlussbe-
trachtungen ergänzen hier den darstellenden Teil und
überwiegen ihn nicht.
„Schneeschmelze am Kilimandjaro“ ist ein direkter, un-
ausgesprochener Anklang an Hemingway. In diesem letz-
ten Beitrag wird die aktuelle Situation der Naturaneig-
nung - man könnte auch sagen, es ist ein Tourismusreport
- um den Kilimandjaro herum thematisiert, dazu die Hi-
storie dieses Themas. Ich fand erstaunlich, was seit Anfang
140
Buchbesprechungen Allgemein
der 70er Jahre konstant geblieben war. Die Verände-
rungen sind genau dort eingetreten, wo ich sie infolge der
Globalisierung erwartet hätte. Bezüglich der Einordnung
hätte ich diesen Aufsatz in der Rubrik „Geographie“ un-
tergebracht.
Im Epilog wird die Seminarsituation reflektiert als eine
Art kritische Selbstreflektion der Ethnologie. Ich denke,
die tut not! Einerseits ist die Führung des Kolloquiums
sicherlich gut, andererseits ist der Output, als den ich die
gesammelten Aufsätze stellvertretend werte, so maßge-
schneidert, dass der individuelle Stil der Autoren fast voll-
ständig verloren ging.
Wenn ich einen Elfenbeinturm suchen würde, hier wäre
ein möglicher Favorit. Der eigentliche Kern der Ethnolo-
gie ist bis auf Rudimente verschwunden, die meisten Auf-
sätze verlieren sich in Abstraktionshöhen, die so nur in
geschlossenen Insidergruppen entstehen können. Von
den Aachener Mineralquellen inspiriert wünscht man sich
für ein Kolloquium eigentlich „Sprudelnde Vielfalt“ - dies
würde ich dem Seminar gönnen.
Wolfgang Creyaufmüller
Fischer, Anton:
Studien zum Denken von Claude Lévi-Strauss.
Norderstedt: Anne Fischer-Verlag / Leipzig:
Leipziger Universitätsverlag.
Bd. I: Claude Lévi-Strauss und die Philosophie,
2002. 94 Seiten.
ISBN 3-926049-37-5
Bd. II: Natur und Kultur bei Claude Lévi-
Strauss, 2003.114 Seiten.
ISBN 3-926049-42-1
Bd. III: Claude Lévi-Strauss - Mythen, 2004.96
Seiten.
ISBN 3-926049-45-6
Bd. IV: Claude Lévi-Strauss-Verwandtschafts-
systeme, 2005.140 Seiten.
ISBN 3-926049-48-0
Auf fünf Bände sind diese Studien zum Gesamtwerk von
Claude Lévi-Strauss (geb. 1908) angelegt. Vom Autor (Dr.
Anton Fischer, Literaturwissenschaftler und Philosoph)
werden sie bewusst als Serie bezeichnet, da jeder Band die
Fortsetzung von logisch aufeinander folgenden Gedan-
kenschritten ist. Bisher sind die Bände I bis IV erschie-
nen. Hiermit legt Fischer eine informative Relektüre zu
Lévi-Strauss vor, dessen forscherisches und denkerisches
Schaffen den Geist des 20. Jahrhunderts paradigmatisch
beeinflusst hat.
Bekannt durch sein Diktum „Ich bin Anthropologe ge-
worden, weil ich versucht habe, der Philosophie zu ent-
kommen“ hat Lévi-Strauss immer auf die engen struktu-
rellen inhaltlichen Bezüge zwischen Literatur, Mythos
und Gesellschaft hingewiesen. Seine Gabe ist es, wissen-
schaftliche Literatur auf hohem ästhetischem Niveau ge-
schaffen zu haben, die nicht nur der Befriedigung einer
intellektuellen, auf Erbauung hin angelegten Leselust
dient, sondern dem Denken zu weiterhin im interdiszipli-
nären Diskurs der Wissenschaften und in der Lebenspra-
xis anwendbaren Erkenntnissen verhelfen will, die sich
auf das gesellschaftliche Leben und seine Strukturen be-
ziehen. Bei ihm handelt es sich um den wichtigsten Vertre-
ter des nicht zuletzt in der Philosophie einflussreichen
Strukturalismus.
Der Strukturalismus steht und fällt in der Prägung, die er
durch Lévi-Strauss erhalten hat, als Disziplin mit der An-
nahme oder mit der Ablehnung folgender Prämisse: Be-
wusste, empirische und ethnographische Phänomene wer-
den betrachtet in ihrer Entsprechung zu unbewussten,
strukturellen und ethnologischen Systemen. Letztere
werden auf ihre indirekte Abhängigkeit von neurolo-
gischen, kybernetischen und psycho-chemischen Univer-
salien hin untersucht. Diese aktualisierende Erarbeitung
der Theorien von Lévi-Strauss durch Fischer geschieht
nicht zuletzt, um - ausgehend vom strukturalistischen
Denken - weitergehende Fragen an andere Wissenschafts-
disziplinen zu stellen. Ließe sich sein Grundansatz, mit
dem er lokale Wirklichkeiten im Spiegel global bedeut-
samer Abhängigkeiten einsichtig macht, nicht für die ge-
genwärtige Globalisierungsdebatte fruchtbar machen, in
der der Strukturalismus keine prominente Rolle (mehr)
spielt? Erinnern wir uns: Lévi-Strauss versuchte sich an
keiner geringeren Aufgabe, als nach allgemein gültigen
menschlichen Prozessen und Mechanismen zu forschen.
Damit ging er ausgehend von ethnologischer Feldfor-
schung mittels der Verallgemeinerung seiner Ergebnisse
über zu einem neuen Verständnis von Kulturanthropolo-
gie, nämlich dem als einer eigenständigen geisteswissen-
schaftlichen Disziplin. Letztere etablierte sich mit ihrer
Theoriebildung mit dem Anspruch, nicht nur einen ent-
scheidenden Schritt über die bisherigen Theorien von
Ethnologie, Soziologie und Philosophie hinauszugehen,
sondern als Metawissenschaft universale gültige Erkennt-
nisse zu liefern. Brillant stellt er immer wieder an Beispie-
len die Differenzen und die gegenseitigen Abhängigkeiten
heraus, die zwischen Komplexität und Elementarität
herrschten. Es geht ihm nicht nur um Detailwissen. Ihn
interessiert, wie einzelne Phänomene der Natur und der
Kultur, die auf Tiefenschichten liegen und nur dem ethno-
graphisch geschulten Blick erkennbar sind, miteinander
in Beziehung stehen.
Mit seinem diskursiven, gut lesbaren Stil geht Anton Fi-
scher wesentlichen Fragen nach, die er an das vielbändige
Gesamtwerk Claude Lévi-Strauss’ stellt. Wie ein roter Fa-
den gibt jede dieser Fragen das Grundthema für das je-
weilige Bändchen vor. Es handelt sich bei diesen Studien
weniger um eine biographische Einführung oder um eine
kritische Würdigung des Oeuvres des französischen Eth-
nologen, Sozialanthropologen, Philosophen, Soziologen
und Kulturwissenschaftlers. Vielmehr liegt hier eine werk-
immanente Aufarbeitung seiner zentralen Gedanken
vor zur Philosophie, zur Dialektik von Natur und Kultur,
zum Mythos und zu den sozialen Strukturen. Sein Denk-
gebäude wird somit auf seine Konsistenz hin geprüft, was
die jeweilige Fragestellung betrifft, und weniger diskursiv
als narrativ zusammengefassl. Dadurch kommt Lévi-
Strauss selbst zu Wort. Sein Werk wird lebendig. Es wird
auf diese Weise auch für den interessierten Neuling oder
aufs Neue zu Begeisternden in Sachen französischer
141
____________TRIBUS 56,2007
Strukturalismus, Kulturanthropologie, Religionswissen-
schaft, Soziologie und Metatheorie erfreulich leicht zu-
gänglich gemacht. Die Bände im Einzelnen:
Band I (Claude Lévi-Strauss und die Philosophie) ist eine
Sammlung der im Gesamtwerk verstreuten Gedanken
zur Philosophie. Deutlich wird die bestürzende Erfahrung
herausgestellt, dass der Fortschritt der westlichen Ge-
schichte das lebensnahe Philosophieren der so genannten
.primitiven’ Kulturen unaufhaltsam zerstört. Zugleich
vernichtet er die Lebensgrundlage der westlichen Völker,
die er in seiner inneren Dialektik im Vollzug des Erkennt-
nisgewinnes, den die Sozialanthropologie ermöglicht, ei-
nerseits erhalten will und die er anderseits gerade dadurch
zerstört, dass er das Gleichgewicht von Natur und Kultur
aufhebt.
In Band II (Natur und Kultur bei Claude Lévi-Strauss)
wird mit Lévi-Strauss anschaulich gemacht, worin die Lei-
stung der indigenen Kulturen beim Übergang von der Na-
tur in die Kultur liegt. Strukturen werden aufgedeckl, die
das westliche Denken in seiner Blindheit als .primitiv’ dif-
famiert und missachtet. Da solche Wurzeln auch westliche
Kultur unerkannt bestimmen, ist es sinnvoll, ihnen nach-
zugehen: „Das wilde Denken und seine Strukturen macht
eine Anwendung auf die Literatur und alle anderen Gat-
tungen der abendländischen Kunst wie z. B. Malerei und
Musik möglich. Ist es uns in unserem Alltag unbewusst,
können wir es bei den so genannten primitiven Kulturen
objektiv anschauen.“(110f).
Mit Band III (Claude Lévi-Strauss - Mythen) wird durch
Fischer ein weiterer Pfad in das Denken des Belgiers hi-
nein markiert: „Der Mythos hat für uns Relevanz. Die
Psychoanalyse kann vom Schamanen lernen, der zum my-
thischen Helden wird. Der Mythos antizipiert die Wissen-
schaft (...). Es gibt nicht nur eine historische Vergangen-
heit, sondern auch eine mythische, so auch eine mythische
Geschichte.“(92) Lévi-Strauss’ Untersuchungen münden
in die Haupterkenntnis: Wenn wir blind sind für den My-
thos, dann sind wir es auch für die Kundgebungen unseres
menschlichen Geistes, in denen jener mit all seinem
Reichtum anwesend ist.
Band IV (Claude Lévi-Strauss-Verwandtschaftssysteme)
ist eine Einführung in die höchst komplizierten Struk-
turen der Heiratssysteme bei indigenen Ethnien. Mit den
auf Feldforschung bei den Nambikwara-Indiancrn/Brasi-
lien in den 40er Jahren aufbauenden Erkenntnissen be-
gründete Lévi-Strauss seinen Ruhm als Ethnologe. In den
daraus ableitbaren Strukturen sieht er eine Äußerung des
menschlichen Geistes, die sich ähnlich in den Gesetzen
der Sprache zeigt. Die Ahnung eines solchen elementaren
Vorganges lebt A. Fischer zufolge auch in unserer west-
lichen Form der Zivilisation fort.
Band V (Claude Lévi-Strauss - die strukturale Analyse)
ist noch in Vorbereitung.
Mit diesen Bänden erarbeitet sich der Autor eine litera-
turwissenschaftlich interessante Position, von der aus er in
weiteren Fortsetzungen der Serie demnächst Robert
Walsers „Räuber“-Roman (Band VI) und später „Die
Geschichten aus dem Wienerwald“ von Ödön von Hor-
vath (Band VH) beleuchten möchte. Anton Fischers Ver-
dienst ist es, solche Offenheit dem Mythischen gegenüber
fruchtbar zu machen für neue Perspektiven zum Verste-
hen von literarischen Texten. In diesem Sinne sei diese
Lektüre des auf sehr einfühlsame werkimmanente Weise
aufbereiteten Werkes von Lévi-Strauss einer Leserschaft
unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen empfohlen.
Spannend wäre die Anwendung von Lévi-Strauss’ My-
thentheorie auf die Frage, warum sich Religionen einer-
seits gegenseitig so stark anziehen können - bis hin zur
gegenseitigen spontanen Erkenntnis ihres gemeinsamen
Urgrundes infolge ein und derselben Grundstrukturen -
und warum sie sich andererseits im nächsten Moment
zum Vorwand und zum Motor eines inszenierten, so ge-
nannten „Kampfes der Kulturen“ missbrauchen lassen.
Damit wären wir bei der Notwendigkeit einer Theorie der
interkulturellen Theologie, ja bei der Frage nach der An-
wendbarkeit des Lévi-Strauss’schen Denkens auf die Be-
schreibung interreligiöser Strukturen.
Moritz Fischer
Hahn, Hans Peter:
Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin:
Reimer Verlag, 2005.260 Seiten.
ISBN: 3 496-02786-X.
Das Interesse, sich mit „den Dingen“ - vulgo: der „mate-
riellen Kultur“ - zu beschäftigen, hat in den letzten beiden
Jahrzehnten in der Ethnologie kontinuierlich und sehr
stark zugenommen. Aber nicht nur in der allgemeinen
und vergleichenden Ethnologie (vormals: „Völkerkun-
de“, „social/cultural anthropology“) wurden zum Thema
immer mehr Publikationen vorgelegt und vor allem neue
Dimensionen erschlossen (Stichwort: „Konsum“), son-
dern auch aus anderen Fächern kamen wesentliche, die
Thematik befruchtende Beiträge. Unmittelbar benach-
bart spielte die Europäische Ethnologie (vormals Volks-
kunde) eine deutliche Vorreiterrolle. Aber auch die Sozi-
ologie, die Museologie, die Technikgeschichte und in den
letzten Jahren die allgemeine Wissenschaftsgeschichte
(z. B. J.-J. Rheinberger: „epistemische Dinge“, 2001) dis-
kutierten Fragen, die die Ethnologie durchaus etwas an-
gehen.
Hans Peter Hahn, ein an der Afrikanistik orientierter
Ethnologe, hat sich nun vorgenommen, einen Überblick
über dieses enorm ausgeweitetc Gebiet zu geben und dies
vor allem mit einer Erschließung seiner historischen me-
thodologischen Wurzeln zu verknüpfen. Hierzu gehört
der Rekurs auf den Philosophen Martin Heidegger eben-
so wie auf die Soziologen Georg Simmel,Thorsten Veblen
und Pierre Bourdieu. Die zentrale Absicht des Autors lau-
tet in seinen eigenen Worten im „Epilog“ zum Buch, des-
sen vorherige Lektüre der Rezensent allen potentiellen
Leserinnen und Lesern dringend anrät, folgendermaßen
(S. 162): „Es geht (in dieser Einführung) um die notwen-
dige Komplementarität der drei erläuterten Perspektiven
auf materielle Kultur. Jedes der drei Hauptkapitel hat
eine andere Perspektive aufgegriffen und - ohne in dieser
Hinsicht Vollständigkeit zu beanspruchen - wichtige As-
pekte näher ausgeführt. Jede einzelne Perspektive für sich
genommen, also: nur die Wahrnehmung der Dinge, oder
nur die Bedeutungen oder nur der Umgang mit Dingen,
142
Buchbesprechungen Allgemein
wäre nicht ausreichend, um materielle Kultur zu beschrei-
ben. Die drei Perspektiven ergänzen einander und ver-
weisen aufeinander. Dies wird besonders deutlich im Ka-
pitel über den Umgang. Jede ernsthafte Beschäftigung
damit, wie sich der Umgang mit Dingen im Alltag gestal-
tet, muss gleichzeitig ihre Wahrnehmung und ihre Bedeu-
tungen berücksichtigen. Die beiden anderen Perspektiven
sind dabei als gleichberechtigte Herangehensweisen zu
verstehen.“ (Kursivsetzungen durch den Rezensenten.)
Diesen Kern seines Programms führt der Autor in ebenso
konziser wie stringenter Weise aus. Was er dabei aller-
dings nicht einlöst, ist das mit dem Untertitel des Buches
gegebene Versprechen, eine Einführung in das Thema
vorzulegen Dies zumindest dann nicht, wenn unter einer
Einführung eine Art Lehrbuch für Anfänger zu einem
Teilbereich der Ethnologie verstanden wird. Was der Au-
tor vielmehr leistet - und dies auf einem sehr hohen Ni-
veau - ist eine Heranführung der deutschsprachigen Eth-
nologie an die internationale Diskussion auf dem von ihm
bearbeiteten - und übrigens auch von ihm selbst mitge-
stalteten - Feld. Als ein Lehrbuch würde der Rezensent
- und dies dann mit großem Nachdruck und bestem Ge-
wissen - das Werk von Hahn erst denjenigen Studieren-
den empfehlen, die sich auf ihr Examen vorbereiten wol-
len und sich für die Rekapitulation des Stoffes ein ebenso
umfassendes wie komprimiertes Kompendium wünschen.
Um als Lehrbuch im oben genannten Sinne auch in einem
Proseminar Verwendung zu finden, müsste das Buch (der
reine Text umfasst nicht einmal 160 Seiten) wohl ungefähr
den doppelten Umfang haben. Die große Fülle von in sich
zumeist sehr komplexen Themen und Theorien, die der
Autor auf der Basis eines stupenden Wissens diskutiert,
bedürften jeweils der Illustration durch angemessen aus-
gewählte Beispiele. Dabei wäre gewiss am besten nach
der Maxime „Exemplum docet, exampla obscurant“ zu
verfahren, auch wenn selbst diese Einschränkung bei Ein-
haltung des vom Autor selbst gestellten Anspruchs noch
seine Tücken hätte.
Eine umfassende Beschreibung materieller Kultur im
Sinne der Forderung von Hahn müsste auch bei der An-
führung kleiner Ausschnitte in der Regel sehr weit ausho-
len. Hierzu ein Beispiel aus dem noch immer sehr wich-
tigen Themenbereich Recycling von importierten
Materialien in außereuropäischen Gesellschaften. Zu
einem vom Rezensenten im Jahre 1987 für die Sammlung
des Tübinger Instituts für Ethnologie beschafften Ausle-
gerboot in Originalgröße aus dem Atoll-Staat „Tuvalu“
im Zentral-Pazifik gehört u.a. ein an seinen Spreizbäu-
men befestigtes Segel aus Baumwollluch (Inv.-Nr. A
1250k). Für das Segel selbst und seine Befestigung an den
Spreizbäumen wurden insgesamt fünf unterschiedliche
Schnurformen verwendet, von denen vier den Charakter
von Verpackungsschnurresten haben. Im Einzelnen sind
dies: gedrehte Hanfschnur, gedrehte Baumwollschnur,
schwarze gedrehte Schnur aus einheimischen Fasern, aus
dünnen Kunststoff(Nylon-)fasern gedrehte Schnur sowie
für längere Teile der benötigten Schnur aus Nylon-Angel-
sehne geflochtene Schnüre.
Die Meinung von Tuvaluanern auf dem Atoll Nukufetau,
wo das Boot angefertigt wurde, zu dem krausen Erschei-
nungsbild des Segels war, dass man sparsam und sorgfältig
mit den Materialien umginge, die auf dem Atoll zur Verfü-
gung stünden. Im Jahre 1987 bei häufig nur sporadischer
Versorgung des Atolls mit Waren aus Übersee eine sehr
plausible Erklärung. Die Meinung anderer Tuvaluaner -
nicht von Nukufetau, sondern vom Atoll Nukulaelae
stammend - lautete beim Anblick des Segels, das mit dem
Boot zusammen auf das Hauptatoll des Staates, Funafuti.
gebracht worden war: „Sehr nachlässige und unprofessio-
nelle Handwerksarbeit.“ Plausibel ist auch diese Meinung
zu machen, denn die einzelnen Atolle des Staates Tuvalu
standen durchaus in einem Konkurrenzverhältnis zuei-
nander.
Das Beispiel wurde aus zwei Gründen angeführt. Zum
einen sollte gezeigt werden, dass zur Perspektive „Bedeu-
tungen“ unvermeidlich die Problematik der Meinungen
der Personen gehört, bei denen ethnographische For-
schungen stattfinden. Zum anderen ist aber gerade daran
abzulesen, wie schnell die angemessene Darstellung eines
Beispielfalles einen zu großen Umfang annehmen kann.
Die Zurückhaltung des Autors gegenüber der Anführung
ethnographischer Beispiele erscheint deshalb durchaus
verständlich, und innerhalb der vom Autor selbst gesetz-
ten Grenzen bleibt die Qualität des Buches absolut beste-
hen und dieses selbst im Sinne der Heranführung an die
internationale Diskussion des Themas „materielle Kul-
tur“ mit Nachdruck zu empfehlen.
Volker Harms
Harms, Volker:
Völkerkunde. Fremde Kulturen verstehen. Eine
Führung durch die völkerkundliche Sammlung
der UniversitätTübingen. Tübingen: Eberhard-
Karls-Universität, 2005. 165 Seiten, zahlreiche
Färb- u. Schwarz-Weiss-Abbildungen, 1 Karte,
2 Grundrisse
Die Universität Tübingen beherbergt in ihren Räumen
auf Schloss Hohentübingen bedeutende kulturhistorische
Sammlungen, die mit Exponaten von der Klassischen An-
tike über die Hochkulturen des Orients, des Alten Ägyp-
ten bis hin zur europäischen Vor- und Frühgeschichte und
von Kulturen aus der Südsee und Amerika greifbare Be-
lege für die kulturellen Leistungen der ihnen zuzuord-
nenden Fächer liefern. Unter diesen Sammlungen nimmt
die völkerkundliche einen besonderen Rang ein. Inner-
halb dieser Abteilung wiederum bilden, und das hat
sammlungsgeschichtliche Gründe, die Kulturen der Süd-
see einen bemerkenswerten Schwerpunkt.
Volker Harms, langjähriger Leiter der Tübinger völker-
kundlichen Sammlung, hat in den letzten Jahren ein mit
umfassenden architektonischen Neugestaltungen verbun-
denes Ausstellungskonzept umgesetzt und dazu einen
Führer verfasst, der sich sowohl an interessierte Laien als
auch an Fachkollegen richtet. Reich bebildert und einem
ansprechenden modernen Layout folgend, reicht dieser
Band weit über eine der üblichen Begleitpublikationen zu
einer Ausstellung hinaus und wird auch noch Gültigkeit
besitzen, wenn die Schau selbst einmal nicht mehr existie-
ren sollte.
143
___________TRIBUS 56,2007
Denn diese Veröffentlichung stellt zugleich, knapp und
treffend formuliert, eine Einführung in das Fach Völker-
kunde dar, eine Ausgangsbasis für die kleine Publikation,
zu der der Autor schon deshalb besonders befähigt scheint,
weil er, neben seinerTätigkeit als Kustos des Universitäts-
museums, langjährig dieses Fach im Rahmen seiner Do-
zententätigkeit an der Eberhard-Karls-Universität unter-
richtet hat. Freilich kann es dabei, da diese Publikation
immer wieder eine Anknüpfung an die Gegenstände im
Museum und vornehmlich die in der Ausstellung ge-
zeigten Exponate vornimmt, nicht darum gehen, alle ein-
zelnen Zweige der Völkerkunde, für die der Autor übri-
gens gleich am Anfang auch die Bezeichnung „Ethnologie“
einführt, vorzustellen. Vielmehr wird für Harms die Kunst,
und insbesondere die Bildende Kunst, zum Leitmotiv, un-
ter dem er einzelne Objektgruppen wie melanesische
Masken, Rindenbaststoffe aus Polynesien oder abstrakt
bemalte Gefäße und Stoffe der Shipibo aus dem Amazo-
nasgebiet vorstellt. Dass er dabei immer wieder Rückver-
knüpfungen zur europäischen Kunst vornimmt, macht
den ganz besonderen Reiz dieses Werkes aus und bringt
seinen Inhalt vor allem auch jenen Lesern nahe, die sich
noch nicht näher mit der Ethnologie beschäftigt haben.
In seinem einleitenden Kapitel „Fremde Kulturen und die
völkerkundliche Sammlung der Universität Tübingen“
definiert der Autor, was für ihn die Völkerkunde ist, näm-
lich „die Wissenschaft vom Verstehen fremder Kulturen“
(S.5), und als „Kultur“ begreift er in diesem Zusammen-
hang „die jeweils besondere Lebensweise einer be-
stimmten Gesellschaft“ (l.c.). Einer Erläuterung des In-
halts von Völkerkunde-Museen als Teilen der materiellen
Ausstattung fremder Gesellschaften folgt als Begründung
für die Auswahl der Objekte für ethnologische Ausstel-
lungen die Einsicht der Mehrzahl der Ausstellungsmacher,
dass für die Besucher das Museum neben der „Faszinati-
on des Fremden und Unbekannten“ (S. 6) auch das „äs-
thetisch Ansprechende“ (l.c.) bieten muss, um attraktiv zu
sein. Das birgt allerdings, so der Autor, als Nebeneffekt
das Problem, dass alle Objekte auf ihrem Wege vom Ge-
brauchsgegenstand in der Herkunftskultur zum Exponat
in einem dieser fremden Museen einem mehr oder weni-
ger krassen Bedeutungswandel unterworfen sein werden.
Erläutert wird das am Beispiel von außereuropäischen
Masken, wo aus dem Zubehör zum Darstellenden Spiel in
der Herkunftskultur Kunstobjekte bei uns werden.
In diesem Zusammenhang macht Harms auch auf das
viele Ausstellungsmacher beschäftigende Problem auf-
merksam, das mit dem Vermitteln des gesellschaftlichen
Kontextes eines Gegenstandes verbunden ist, dem das
Medium Museum mit seinen Hilfsmedien ganz klare
Grenzen setzt. Das Ausstellen von Südsee-Masken scheint
ihm dennoch insofern gerechtfertigt, als es z. B. in Neuir-
land, im Zusammenhang mit dem als „Malanggan“ ge-
kennzeichneten Kult- und Kunstkomplex, auch die Prä-
sentation von Schnitzwerken gibt, mag sie auch im Detail
anderen Überlegungen folgen als die Zurschaustellung
europäischer Kunstwerke.
Schließlich diskutiert der Autor in seinem einleitenden
Kapitel den Einfluss, den die Südsee-Kunst auf die Klas-
sische Moderne gehabt hat. Ausführlich setzt er sich mit
den Reaktionen der europäischen Kunstwelt auf die au-
ßereuropäischen Kunstwerke auseinander, denen jene
Künstler vornehmlich in den damaligen Völkerkunde-
Museen begegnet waren. Harms stellt dabei heraus, dass
die Vertreter der Klassischen Moderne sich häufig eigent-
lich gar nicht unmittelbar von den außereuropäischen
Künstlern anregen ließen, sondern dass sie vielmehr in
der fremden Kunst Formen entdeckten, die ihre eigene,
schon entwickelte Formensprache nur bestätigten. In sei-
ner Argumentation folgt der Autor dabei dem amerika-
nischen Kunsthistoriker William Rubin, der mit einer
1984 in New York gezeigten Ausstellung „ ,Primitivism’ in
20th Century Art; Affinities of theTribal and the Modern“
und der dazugehörigen Publikation deutlich gemacht hat,
dass es in der Frage des Einflusses der außereuropäischen
Kunst auf Künstler der Klassischen Moderne häufig Fehl-
interpretationen der Äußerungen europäischer Künstler
gegeben hat. So sei auch „Primitivismus“ ausschließlich
„als eine bestimmte Ausrichtung in der europäischen
Kunst der Moderne“ (S. 11) zu definieren.
Im weiteren Verlauf der Diskussion dieses Fragenkom-
plexes folgt Harms weiterhin Rubin, der die „tribal art“
einer „court art“ gegenüberstellt, und wie Rubin verwen-
det Harms fortan den Begriff „Stammeskunst“ vor allem
auch deshalb, weil damit „die im Begriff der primitiven
Kunst’ fest verwurzelte Abwertung vermieden wird“ (S.
12). In dieser Argumentation wird auch der innere Zu-
sammenhang deutlich, den die späteren Kapitel des
Bandes bzw. die einzelnen Abschnitte der Ausstellung
aufweisen, die zunächst einmal scheinbar nur zufällig ne-
beneinander gestellt zu sein scheinen. So werden Publika-
tion und Ausstellung ein reiches Lehrstück zum Thema
„tribal art“, greifbare Beispiele, mit denen Harms vor
allem auch gegen die frühe, auf dem Evolutionismus fu-
ßende Vorstellung in der Ethnologie und Kunstgeschichte
antritt, die Ornamentik in der außereuropäischen Kunst
sei als eine Art „Frühform der Kunst“ (S. 13) zu sehen.
Vor allem im letzten Kapitel dieses Werkes, das sich mit
Ornamenten auf Keramiken und Textilien der Shipibo-
Conibo-Indianer auseinandersetzt, wird für jeden Leser
bzw. Betrachter der Objekte in der Ausstellung deutlich,
wie irreführend diese Vorstellung ist.
Im weiteren Verlauf seines einleitenden Kapitels „Frem-
de Kulturen“ geht Harms auf die Geschichte der Tübin-
ger Völkerkunde-Sammlung ein, deren ausgesprochener
Schwerpunkt bei Objekten aus der Südsee insbesondere
durch die Sammlertätigkeit des Ehepaars Augustin Krä-
mer und Elisabeth Krämer-Bannow zu erklären ist.
Den Einstieg in die eigentliche Vorstellung von Beispie-
len von „tribal art“ stellt das ausführliche Kapitel „Ma-
langgane“ dar, in dem Südsee-Kunst ganz allgemein an
drei Beispielen erläutert wird, an dem in Neuirland behei-
mateten Malanggan-Komplex, an Kunstwerken von den
Palau-Inseln und von den Marquesas. Dabei nimmt
Harms auch immer wieder Rückbezüge zu Werken be-
deutender Künstler der Klassischen Moderne auf, ein
Vorgehen, mit dem er den Ausstellungsbesuchern bzw.
den Lesern seines Begleitbandes den Zugang zur Südsee-
Kunst erleichtern möchte und sicherlich auch erleichtert.
So werden im Zusammenhang mit der Malanggan-Kunst
Verbindungen erörtert, die europäische Künstler wie z. B.
Henry Moore oder Emil Nolde zur Südsee-Kunst herge-
stellt haben. Den Malangganen widmet er vor allen Din-
gen deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er bei der
144
Buchbesprechungen Allgemein
Beschreibung ihrer Herstellung und Verwendung inner-
halb des entsprechenden Kultes auf genaue Beschrei-
bungen des Ehepaars Krämer zurückgreifen kann. Das ist
umso wertvoller, als in den europäischen Museen zwar
häufig exquisite Beispiele außereuropäischer Kunst anzu-
treffen sind und vorgestellt werden, weil aber die Einbin-
dung der Kunstwerke in das soziale und kultische Leben
ihrer Hersteller meist beim Erwerb der Kunstwerke nicht
mit vermittelt wurde und somit häufig unerklärt bleibt.
Die Darstellung der Palau-Kunst knüpft Harms an den
Eindruck, den beschnitzte Dachbalken von Männerhäu-
sern aus Palau bei Mitgliedern der Dresdner Künstler-
gruppe der „Brücke“ hinterlassen haben. Diese sahen bei
der Betrachtung der palauischen Kunst ihre eigene Kunst-
auffassung bestätigt, ohne dass sie sich intensiver mit dem
eigentlichen Sinn des kunsthandwerklichen Schaffens der
Menschen aus Palau auseinandergesetzt hätten. So muss-
te ihre Einschätzung der Palau-Kunst eher selektiv blei-
ben. Dieser Sichtweise wirkt Harms dadurch entgegen,
dass er neben den beschnitzten Hausbalken, die er in der
Ausstellung in Form von farbig gefassten Gipsabdrücken
vorstellt, auch den in der Tübinger Sammlung im Original
vorhandenen Torso einer so genannten Dilukai-Figur, der
Giebel-Figur an einem Männerhaus aus Palau, und Holz-
schalen mit Perlmutt-Einlagen präsentiert. Auf diese Wei-
se möchte er die Leser bzw. Ausstellungsbesucher vor
allem auch auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die
Unterteilung in eine „kunsthandwerkliche“ und eine „ei-
gentliche“ Kunst eine typisch europäische Betrachtungs-
weise ist, mit der bei uns eine in anderen Teilen der Welt
nicht vorgenommene Wertung verbunden ist.
Nach der ausführlichen Erörterung von Sinn und Bedeu-
tung der Dilukai-Figuren ganz allgemein und der Erklä-
rungsversuche der spezifischen Körperhaltung dieser
Frauendarstellungen durch europäische Betrachter wen-
det sich Harms im Zusammenhang mit dem Beispiel Palau
schließlich Max Pechstein zu, dessen Rezeption der Süd-
see-Kunst nach seinem persönlichen Aufenthalt auf Palau
im Jahre 1914 sich deutlich von jener unterscheidet, wel-
che für die Vertreter der „Brücke“ nach dem Kennenler-
nen der beschnitzten Dachbalken in Dresden typisch war.
Objekte von den Marquesas-Inseln schließlich nimmt
Harms einerseits zum Anlass, ein Phänomen zu beleuch-
ten, das heute mit dem Ausdruck „Airport-Art“ bezeich-
net wird, das aber auf vielen Südsee-Inseln bereits im 19.
Jh. anzutreffen war, nämlich dass Kunstwerke außerhalb
Europas zunehmend im Hinblick auf die Möglichkeit des
Verkaufs an Fremde hergestellt wurden und dadurch Ver-
änderungen ihrer ursprünglichen Form und Ausgestaltung
erfuhren. Gleichzeitig spannt Harms von der Kunst der
Marquesas-Insulaner wiederum einen weiten Bogen nach
Europa, indem er sich mit dem Schaffen Paul Gauguins
auseinandersetzt, der seine letzten Lebensjahre ja auf den
Marquesas verbracht hatte. Entgegen der von der Mehr-
zahl der Kunsthistoriker und Künstler, die sich mit dem
Werk Gauguins beschäftigen, vertretenen Meinung, der
französische „Aussteiger“ habe als erster eine Verbindung
der modernen europäischen Kunst mit der außereuropä-
ischen Kunst hergestellt, weist Harms auf die Wurzeln von
Gauguins Kunstschaffen im europäischen Impressionis-
mus hin. Dem amerikanischen Kunsthistoriker Kirk Var-
nedoe folgend, der zusammen mit Rubin 1984 die schon
erwähnte Ausstellung über Primitivismus in der Kunst des
20. Jh. in New York erarbeitet hatte, betont Harms, dass es
nicht angehe, „Paul Gauguin eine alles überragende In-
spiration durch die außereuropäische Kunst zuzuschrei-
ben, nur weil seine Gemälde besonders exotische Land-
schaften in der Kombination mit exotischen Menschen
zeigen“ (S. 61).
In einem zweiten wichtigen Kapitel von Harms’ Werk
geht es um „die europäische Wahrnehmung“, d.h. „die au-
ßereuropäische Kunst im Blick der letzten fünf Jahrhun-
derte“. Dabei ist es dem Autor wichtig, darauf hinzuwei-
sen, wie, seit der Entdeckung Amerikas und der damit
verbundenen Überflutung Europas mit Bildern aus der
Neuen Welt und später auch aus anderen Teilen der Erde,
die vor Ort von einzelnen Augenzeugen aufgenommenen
Bilder bei der Vermittlung nach Europa immer wieder
Änderungen unterworfen waren, so dass es hier nicht um
wirklich authentische Darstellungen, sondern um Inter-
pretationen durch Europäer geht. Nacheinander disku-
tiert Harms unter diesem Vorzeichen als Beispiele für das
16. Jh. die Aquarelle des Zeichners John White, der Aqua-
relle von nordamerikanischen Indianern in Festkleidung
angefertigt hat, und ein Bild des bekannten holländischen
Malers Albert Eckhout aus Brasilien, das für das 17. Jh.
stehen soll. Das 18. Jh. wird vertreten durch ein Gemälde
eines vermutlich chinesischen Künstlers, der Menschen
aus Palau in Macao porträtiert hat. Für das 19. Jh. steht
eine Tafel mit Ornamenten von Schnitzwerken aus der
Südsee, die in dem Werk „Grammar of Ornaments“ von
Owen Jones 1856 publiziert wurde. Für das 20. Jh schließ-
lich hat Harms eine Arbeit des franzöisch-amerikanischen
Künstlers Arman mit dem Titel „Anhäufung der Seelen“
ausgewählt, in der der Künstler, selber ein Sammler afri-
kanischer Kunst, eine Reihe von Masken der Dan in Poly-
ester eingebettet hat.
Leicht wird Harms’ Sichtweise auf das Vorgehen Armans
als eine besondere Art kolonialistischer Vereinnahmung
der außereuropäischen Kunst verständlich, die eigentlich
in der zweiten Hälfte des 20. Jh. längst hätte überholt sein
sollen. Auch bei den übrigen Beispielen weist Harms
glaubhaft auf „Verfälschungen der Realität“ (S. 79) hin,
die sich etwa bei dem Holländer Eckhout dadurch erge-
ben, dass sich in seine Werke die Sichtweise seiner Lands-
leute auf die Eigenheiten der portugiesischen Kolonie und
der dort lebenden Menschen einschliche. Die dem Künst-
ler Eckhout zugeschriebene „ethnologische Gültigkeit“
muss deshalb mit einiger Vorsicht verstanden werden.
Die beiden letzten Kapitel „ ,Tapa’ - Rindenbaststoffe“
und „Shipibo - Musterkunst von Indianerinnen im Ama-
zonas-Gebiet von Peru“ setzen sich beide mit hoch ver-
feinerten „kunsthandwerklichen“ Techniken auseinander.
Da in beiden Beispielen auf Ornamentierungen zurück-
gegriffen wird, die auf komplexe und für das europäische
Auge nicht ohne weiteres identifizierbare Bedeutungsin-
halte verweisen, können sie als ein weiterer Beleg für die
von Harms vertretene Meinung angesehen werden, dass
auch diese gemäß europäischer Sichtweise als handwerk-
liche Produkte einzustufenden Objekte echte Kunstwerke
darstellen.
In den Zusammenhang mit der Diskussion der Tapa-
Stoffe flicht Harms eine Geschichte der Besiedlung der
Südsee mit ein, um dann zum europäischen Einfluss auf
145
___________TRIBUS 56,2007
diese Region zu gelangen, da, wie er zutreffend anmerkt,
sich „anhand der Rindenbaststoffe besonders gut wesent-
liche historische Veränderungsprozesse veranschauli-
chen“ lassen (S. 106). Im weiteren Verlauf weist er auf die
von ihm während einer Feldforschung auf Wallis und Fu-
tuna auch selbst beobachtete Unterscheidung der Einhei-
mischen zwischen Tapastoffen, die für den Eigenbedarf
hergestellt und solchen, die für Fremde produziert wer-
den, hin. Schließlich lässt er, und das scheint mir wichtig,
die in jüngerer Zeit zu beobachtende Verwendung der Ta-
pastoffe als Ausdruck der eigenen, der westlichen entge-
gengesetzten Identität der Menschen auf vielen Inselgrup-
pen nicht unerwähnt, vor allem auf Hawai’i und Tahiti.
Das Kapitel über die Shipibo-Conibo erfährt seinen be-
sonderen Reiz durch die Einbeziehung der Ergebnisse
verschiedener Arbeiten der Ethnologin Angelika Geb-
hart-Sayer, deren Sammlertätigkeit eine Reihe der Ge-
genstände in der Tübinger Ausstellung zu verdanken ist.
Auch wenn heute nicht mehr alle Bedeutungsinhalte der
komplizierten Ornamentik der Shipibo-Conibo-Kunst in
Erfahrung zu bringen sind, so konnte Gebhart-Sayer in
ihren Untersuchungen dennoch nachweisen. dass die Mu-
ster keine inhaltslosen Verzierungen darstellen, sondern
Bilder sind, von denen einige heute noch erklärt werden
können. Die übrigen haben aber auch, so scheint es, in der
Vergangenheit eine für alle Mitglieder der Shipibo-Coni-
bo-Gesellschaft erkennbare Bedeutung besessen. So ist es
auch nur logisch, wenn hier ebenfalls, wie im Falle der
Tapa-Stoffe in Ozeanien, die für die Shipibo-Conibo ty-
pischen und unverwechselbaren Ornamente zum Aus-
druck der Identität dieser Menschen im Rahmen der pe-
ruanischen Völkergemeinschaft werden, ganz gleich, ob
die Muster jetzt auf Objekten für den Eigenbedarf oder
für Touristen angebracht werden.
Nicht zuletzt die ausführlichen Anmerkungen zu jedem
Kapitel mit Verweisen auf zahlreiche weiterführende Ver-
öffentlichungen verleihen der Publikation die Wissen-
schaftlichkeit einer Fachveröffentlichung, während der
auch für Nicht-Ethnologen verständliche, leicht lesbare
Text, der Wechsel von modernen und zahlreichen histo-
rischen Abbildungen und das schon erwähnte ausgezeich-
nete Layout diesen Band auch zu einer Lektüre für Ein-
steiger und interessierte Laien werden lässt, zu der man
gern immer wieder greifen wird.
Antje Keim
Pastoors, Andreas / Weniger, Gerd-C.:
Sammlung Wendel - Bildarchiv zur eiszeit-
lichen Höhlenkunst. Mettmann: Neanderthal
Museum, Stuttgart: Theiss Verlag, 2004. CD-
ROM - Für Windows 98/2000/XP, CD-Ein-
band.
ISBN 3-935674-06-9 und 3-8062-1656-8
Die jungpaläolithische Höhlenmalerei Frankreichs und
Spaniens ist weltberühmt. Wer kennt sie nicht, die Wisen-
te von Altamira oder die Auerochsen von Lascaux! Mehr
als zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Bühnenbildners
(an der Düsseldorfer Oper) und Fotografen Heinrich
Wendel (1915-1980) war sein Bildarchiv dem Neander-
thal Museum in Mettmann zur wissenschaftlichen Betreu-
ung übergeben worden. Kurios ist, dass die Arbeiten Wen-
dels bis dahin weder der Fachwelt noch einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt waren. Von 1964 bis 1977 hatte
Wendel, der keine wissenschaftlichen oder kommerziel-
len Zwecke verfolgte, auf Vermittlung von Herbert Kühn
50 französische und spanische Höhlen mit eiszeitlicher
Kunst besucht. Von seinem umfangreichen Fotomaterial
werden Bilder aus 45 Höhlen hier vorgelegt. Im Jahr 2004
hatte das Neanderthal Museum die Bilder in einer Son-
derausstellung gezeigt. Mit der Herausgabe des vorliegen-
den digitalen Katalogs auf CD-ROM, der eine Auswahl
der Wendel-Fotos zeigt, hat es sich darüber hinaus über-
aus verdient gemacht.
In Europa sind rund 300 Höhlen mit eiszeitlicher Höhlen-
kunst bekannt. Das heißt, dass nur 17 Prozent von Wendel
erfasst wurden. Dennoch zeigt sein Werk einen repräsen-
tativen Querschnitt, auch wenn er es nicht mehr geschafft
hatte, beispielsweise Lascaux und Tito Bustillo zu besu-
chen. Der den Fotografien beigegebene Text beginnt mit
einem ausführlichen und kenntnisreichen Vorwort von
Paul G. Bahn, der jedoch die „erste Entdeckung und Wür-
digung der eiszeitlichen Kunst in Europa“ ziemlich groß-
zügig auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert. Tatsäch-
lich beginnt die neuzeitliche Beschäftigung mit der
Eiszeitkunst erst 1879 mit Altamira und der tragischen
Geschichte um Marcelino Sanz de Sautuola, auf dessen
Ländereien die Höhle lag und der als Laie in der Fachwelt
jahrelang kein Gehör erhielt bzw. sogar verlacht wurde.
Bis zur Würdigung der großartigen Kunst steinzeitlicher
„Primitiver“ vergingen noch drei Jahrzehnte, wobei Emile
Rivière (1898 La Mouthe) ebenso zu nennen ist wie Emile
Cartailhac mit seinem berühmten „mea culpa“ von 1902
sowie Henri Breuil und der Regensburger Hugo Ober-
maier (Letzterer von Bahn nicht erwähnt). Wegen der
weltberühmten Abzeichnungen zahlreicher Höhlenbilder
durch Breuil wurde dem Fotografieren von Felsbildkunst
zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erste Versu-
che gab es jedoch nach Bahn bereits 1880 in Altamira.
Doch Sautuola nutzten sie nichts. Einige Jahrzehnte spä-
ter hat sich Max Bégouèn, der älteste der Bégouèn-Brìi-
der (berühmt die Höhle ,,LesTrois-Frères“),um das Foto-
grafieren eiszeitlicher Höhlenbilder und Plastiken
gekümmert. So entstanden zum Beispiel kontrastreiche
Bilder der bekannten Lehmwisente von Tue d’Audoubert.
Mil den fotografischen Fortschritten verbesserte sich auch
die Technik der Aufnahmen im Inneren von Höhlen. Doch
das Umzeichnen der Höhlenmalereien und -gravierungen
wurde nicht überflüssig. Insbesondere Letztere sind oft
nur schwer zu erkennen. Schon seit langem war dazu
übergegangen worden, geschlossene Serien der Einzel-
darstellungen mittels unterschiedlicher Methoden anzu-
fertigen, um auch kaum zu erkennende Details entziffern
zu können. Seit rund 30 Jahren wird darüber hinaus mit
infrarotem und ultraviolettem Licht gearbeitet, um damit
auch den Zerstörungsgrad der Höhlenbildcr festhalten zu
können. Die neuen Methoden helfen ebenfalls bei der
Revidierung von Fehlurteilen zur Höhlenkunst. Apropos;
eigentlich erübrigt es sich, darauf extra einzugehen. Die
Höhlenmalerei diente nie dazu, die Wände der „Bchau-
146
Buchbesprechungen Allgemein
sungen“ der steinzeitlichen Jäger und Sammler zu schmük-
ken, wie ein der CD beigegebenes Presseblatt glauben
machen möchte. Sie war immer sakrale Kunst, über deren
Einordnung und Erklärung trotz zahlreicher Versuche
noch immer nichts Näheres bekannt ist.
Es soll an dieser Stelle besonders darauf hingewiesen wer-
den, dass die eiszeitliche Höhlenkunst die bis zu ihrer Ent-
deckung verflossenen 15-20 000 Jahre bestens überstand,
aber nicht die zurückliegenden 125 Jahre seit ihrer Ent-
deckung. In Font de Gaume konnte ich selbst Anfang der
1980er Jahre einen Qualitätsverlust innerhalb weniger
Jahre feststellen. Erst recht spät wurde die Notbremse ge-
zogen. Felsbildhöhlen, die ich in den 1970er Jahren aufsu-
chen konnte, sind bereits seit langem für die Öffentlichkeit
geschlossen. Das hindert Tourismus-Unternehmen leider
nicht daran, in ihren Katalogen, so für 2007 und 2008, Be-
sichtigungen von berühmten magdalenienzeitlichen
Wandmalereien in französischen Höhlen anzubieten, wie
beispielsweise Pech Merle (wenn auch hier als „jungstein-
zeitlich“ bezeichnet). Der Gefährdung der weltweit älte-
sten gegenständlichen Malerei wird auch im CD-ROM-
Text Platz eingeräumt. Zum Schluss seines Überblicks
kommt Bahn auf seine Zusammenarbeit mit dem Foto-
grafen Jean Vertut und damit auf die fotografischen Ar-
beiten Heinrich Wendeis zu sprechen, der etwa zu gleicher
Zeit und in gleichen Gegenden wie Vertut arbeitete, ohne
dass sie sich je begegnet wären. Das wird zeitlich nicht ein-
gegrenzt, muss jedoch in den frühen 1970er Jahren ange-
fangen haben, wie sich aus dem Zusammenhang erschlie-
ßen lässt. Doch während Vertut zu einer bekannten Größe
in der Dokumentation von Höhlenkunst wurde (seine Bil-
der gingen insbesondere in Publikationen von André Le-
roi-Gourhan ein), blieb Heinrich Wendel unbekannt.
Das sich an die Ausführungen Bahns anschließende
Hauptmenü der CD-ROM enthält eine Biografie Wen-
dels, sodann die in 13 Jahren geschaffene Fotodokumen-
tation mit einer Auswahl aus fast 3000 Aufnahmen sowie
einen Abschnitt mit dem Titel „Die Höhlen“ und schließ-
lich eine Bibliografie zur jungpaläolithischen Höhlen-
kunst insgesamt. Nebenbei darf auch mal kurz aufgelacht
werden: In dem Abschnitt „Heinrich Wendel und die
Höhlenkunst“ wird - dem heutigen Zeitgeist entspre-
chend - auch von „eiszeitlichen Künstlerinnen“ gespro-
chen. Das ist natürlich - Entschuldigung an die Damen -
Unsinn, denn kein Mensch kann sagen, ob Frauen an der
Schaffung der eiszeitlichen Höhlenkunst beteiligt waren.
Unter Berücksichtigung des prähistorischen Umfeldes
und ethnologischer Beispiele im Hinterkopf ist nicht da-
von auszugehen. Interessant sind Hinweise auf die Begeg-
nung mit dem aufgeschlossenen Robert Bcrgouen. dem
auch der Rezensent durch Vermittlung der Tübinger Uni-
versität (G. Albrecht) begegnen durfte.
Wendel erkannte die Bedeutung des räumlichen Kontex-
tes der Höhlenbilder, was erst in jüngster Zeit in den Blick
von Archäologen gelangte. Der Leser sieht, dass mit einer
gelungenen Gliederung der aufrufbaren Informationen,
mit einer Karte der Höhlen, die alphabetisch angeordnet
sind, mit Höhlenplänen und natürlich mit den ausdrucks-
starken Fotografien der Höhlenbilder selbst auch dem
Menschen Heinrich Wendel ein kleines Denkmal gesetzt
wurde.
Axel Schulze-Thulin
Buchbesprechungen Afrika
Biasio, Elisabeth:
Heilige und Helden - Äthiopiens zeitgenös-
sische Malerei im traditionellen Stil.
Katalog des Völkerkundemuseums der Uni-
versität Zürich. Zürich; Verlag Neue Züricher
Zeitung, 2006. 194 Seiten, eine s/w und 84 far-
bige Abbildungen, eine Karte.
ISBN 10:3-03823-223-0,
ISBN 13:978-3-03823-223-0.
„Heilige und Helden“ erschien begleitend zur gleichna-
migen Ausstellung, die eine Auswahl der Sammlung von
insgesamt 88 Bildern zeitgenössischer äthiopischer Male-
rei präsentierte und vom 12. Juli 2006 bis zum 11. März
2007 im Völkerkundemuseum der Universität Zürich ge-
zeigt wurde. Hier wird nicht nur das Leben der christ-
lichen Heiligen, der Adligen und Herrscher dargestellt,
sondern auch das Leben des Volkes, das Bearbeiten der
Felder, Marktszenen und die Tätigkeiten der Frauen.
Biasio beginnt mit einer einführenden Beschreibung des
Wandels von der traditionellen Malerei zur Touristen-
kunst. Die äthiopische Malerei reicht bis ins 4. Jahrhun-
dert zurück und ist eng mit der Etablierung des Christen-
tums als Staatsreligion verbunden. „Kaiser, Könige,
Adlige und Kleriker waren die wichtigsten Auftraggeber
für die den Klöstern angeschlossenen Skriptorien“ (S. 14).
Die Maler griffen nicht direkt auf schriftliche Quellen für
ihre Illustrationen zurück, sondern auf Modelle. So spie-
gelt die Entwicklung der christlichen Malerei die ver-
schiedenen Kontakte des Landes mit der ost- und west-
christlichen, der islamischen und fernöstlichen Welt wider.
Es entwickelte sich jedoch ein ganz eigener Stil, der durch
inneräthiopische, soziale, politische und religiöse Ent-
wicklungen geprägt war. In dem Zusammenhang ist be-
sonders interessant, wie die Modelle in Äthiopien assimi-
liert und transformiert wurden. Diesem Aspekt wurde
bisher zu wenig Beachtung geschenkt, auch gibt es über
jene frühe Zeit leider nur wenig Informationen.
Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts wurde die äthiopische
Malerei hauptsächlich von byzantinischen Elementen be-
stimmt. Der äthiopische Stil war dominiert von der hierar-
chischen Frontalität der dargestellten Figuren, der ohne
Perspektive auskommt, denn die Künstler haben nie ver-
sucht, eine Raumillusion zu schaffen. Die Größe der dar-
gestellten Figuren richtete sich nicht nach den Regeln der
Perspektive, sondern nach Rang und Bedeutung der Per-
sonen (S. 16).
Mit dem 18. Jahrhundert wurden auch Herrscher als Stif-
terfiguren in den Heiligenbildern dargestellt und später,
im 19. Jahrhundert, wurden auch szenische Darstellungen
nicht religiösen Inhalts gemalt. Im Zentrum stand dabei
die göttliche Legitimation der irdischen Herrscher (S. 18).
„Die Regierungszeit Meneliks II gab auch Anlaß zur Dar-
stellung von zwei neuen Bildthemen, die noch bis heute
gemalt werden: der Besuch der Königin von Saba bei Kö-
nig Salomon und die Schlacht von Adwa“ (S. 20).
Der Wandel der traditionellen zur zeitgenössischen Male-
rei war eng mit der Kommerzialisierung der Kunst ver-
147
___________TRIBUS 56,2007
bunden und begann mit einzelnen Reisenden, die meist
direkt von den Malern Bilder erwerben konnten. Durch
die Einführung synthetischer Farben in der zweiten Hälf-
te des 19. Jahrhundert wurde eine Massenproduktion ge-
fördert, die mit einem Qualitätsverlust einherging. Mit
der fortschreitenden Kommerzialisierung der Kunst ging
der Vertrieb der Bilder nicht mehr direkt von den Künst-
lern aus, sondern es gab Geschäfte, Märkte und Galerien,
die den Verkauf übernahmen (S. 23). Während der Män-
gestu-Zeit (1974-1991) war die äthiopische Malerei neu-
en politischen Einflüssen ausgesetzt und die Bildthemen
bewegten sich etwas weg von dem religiösen Schwer-
punkt. Die politischen Realitäten wurden jedoch nicht in
den Bildthemen verarbeitet (S. 28).
Insgesamt ist festzustellen, dass die äthiopische Malerei
im traditionellen Stil im Niedergang begriffen ist. Dies
vermag der wieder aufkeimende Tourismus auch nicht
aufzuhalten, eher im Gegenteil trägt er dazu bei, dass klei-
ne billige Bilder von Touristen erworben werden, die sich
leicht transportieren lassen und nichts mehr mit der tradi-
tionellen Malerei zu tun haben (S.37).
Im Katalog stellt Biasio 59 Bilder der Sammlung, unter-
teilt in religiöse Themen, Legenden und Riten, Herrscher,
Bankette, Gericht, Schlachten, Jagd und Arbeit des Volkes,
vor. Sie erklärt die einzelnen Bildthemen genau und setzt
sie in den entsprechenden geschichtlichen Kontext. Der
Leser wird dadurch mit den äthiopischen Legenden und
Heiligen vertraut gemacht und bekommt einen sehr guten
Einblick in die äthiopische Bildthematik.
Mit „Heilige und Helden“ gelingt Biasio nicht nur eine aus-
gezeichnete Dokumentation der Sammlung äthiopischer
Malerei des Völkerkundemuseums der Universität Zürich,
sondern sie gibt auch einen fundierten Überblick der Ge-
schichte der äthiopischen Malerei. Biasio beschreibt nicht
nur den künstlerischen Aspekt der Bilder und die ge-
schichtlichen Ursachen dafür, sie geht auch auf die poli-
tischen Einflüsse und die dadurch bedingten Verände-
rungen ein. Damit eng verbunden ist der zu erwartende
Niedergang der äthiopischen Malerei im traditionellen Stil.
Es ist daher von besonderem Interesse, die noch vorhan-
denen Malereien gut aufzuarbeiten und zu dokumentieren.
Damit leistet Elisabeth Biasio einen wertvollen Beitrag zur
kunsthistorischen Forschung über Äthiopien.
Renate Best
Buss, Frank:
Oasenleben - Die ägyptischen Oasen Bahriya
und Farafra (Beiträge zur Kulturkunde, Bd. 23).
Bonn; Politischer Arbeitskreis Schulen (PAS)
e.V.,2006.496 Seiten mit 110 SW-Fotos.
ISBN 3-921876-27-3
Der vorliegende Band ist eine Monographie im besten
Sinne und deckt alle wesentlichen Aspekte ab.
Im Vorwort schildert Bliss die Hintergründe, wie es zur
Entstehung dieses Buches kam in persönlicher Weise, d.h.
im Zusammenhang mit der eigenen Biographie und den
zeitgebundenen, unterschiedlichen Forschungsobjekten
der letzten 25 Jahre. In dieser Zeit wurden die Oasen, ins-
besondere Farafra, einem starken Wechsel unterzogen.
Da sich Bliss in den 80er Jahren lange in der Region auf-
gehalten hatte, gab es naturgemäß (wobei sich dies ein-
facher anhört, als es ist) viele Freundschaften, an die wie-
der angeknüpft werden konnte.
Die früher relativ abgeschotteten Oasen wurden vermehrt
in staatliche Entwicklungsprogramme eingebunden, was
zu einer erheblichen Zuwanderung aus dem Niltal führte.
Grundlage dafür waren Tiefbrunnen, die fossiles Grund-
wasser fördern, sowie Eisenerzabbau bei Bahriya.
Das erste Kapitel ist als Einführung ein Überblick mit
deutlicher persönlicher Stellungnahme z. B. über die Or-
ganisation und Finanzierung des Aufenthaltes, die Doku-
mentationstechniken, Begründung, warum wo bzw. wo
nicht fotografiert wurde usw. Hier erfährt man zwischen
den Zeilen sehr viel davon, wie subtil der europäische
Gast sich in die fremde Kultur eingefühlt hat und nicht ein
abstraktes ethnologisches Schema favorisiert.
Das zweite Kapitel behandelt die geographische Lage, das
Klima, die Flora und Fauna der Oasen, die alle in einer
großen Depression liegen und infolge der Schichtung der
Gesteine artesisches Wasser haben bzw. hatten, denn in-
folge der vielen Bohrungen sind fast alle natürlichen bzw.
traditionell gebohrten Quellen versiegt. Die Siedlungen
werden charakterisiert und bei allen Beschreibungen
werden, so weit es geht, die historischen Bezüge eingear-
beitet. Dazu gehören insbesondere die Reiseberichte von
Gerhard Rohlfs von 1875. Für die statistischen Angaben
verwendet Bliss außer den ausführlichen eigenen Erhe-
bungen die amtlichen Quellen, wozu letztlich auch die
Brunnenbücher gehören, die von den Scheichs geführt
werden. Der erfasste Zeithorizont umfasst die letzten 180
Jahre mit gelegentlichen Ergänzungen aus der Antike.
Der Geschichte widmet sich verstärkt das dritte Kapitel,
wobei auch die pharaonische Zeit aufgearbeitet wird, so-
wie die römische und christliche Epoche bis zum Mittelal-
ter. Im Zusammenhang mit der jüngsten Geschichte gibt
Bliss auch einen Überblick über die Forschungsgeschich-
te, wobei insbesondere auch die Arbeiten von Wolfgang
Meckelein erwähnt werdender als Geograph lange in der
Region gearbeitet hat.
Ein geographisches Kernkapitel (4) widmet sich der Oa-
senwirlschaft auf 63 Seiten. Der Slockwerksanbau wird
nicht nur beschrieben, sondern auch nach Jahreszeiten
bzw. Monaten, nach Wasserzufuhr, Verkehrswegen und
Feldfrüchten differenziert. Bis ins Detail werden die Ar-
beiten geschildert z. B. bei den Dattelpalmen (Düngung,
Schnitt, Bestäubung, Ernte), bei den Oliven (inklusive
Pressung und Ölgewinnung), bei den Getreide- und Ge-
müsesorten. Deutlich wird, dass der Boden bzw. die Flä-
che kaum ein Wirtschaftsfaktor war, sondern ausschließ-
lich die zur Verfügung stehende Wassermenge.
Das Wasser steht im Zentrum des fünften Kapitels, wobei
die besonders detaillierte Schilderung einer traditionellen
Bohrung erwähnenswert ist unter Leitung eines usta
(Bohrmeister). Deren Hauptarbeit war der Durchstoß ei-
ner Felsschicht in 25-40 m Tiefe. Besonders erwähnens-
wert ist der Fund einer antiken foggara aus dem 6. Jh. v.
Chr., der belegt, dass diese Technik schon vor der Perser-
zeit existierte (S. 172). Interessant ist auch die Tatsache,
dass die offizielle Wasserbehörde keinen Überblick über
die Wasservergabe hat (S. 188).
Buchbesprechungen Afrika
Das sechste Kapitel zum Thema Handel und Märkte gibt
einen sehr guten Überblick insbesondere auch über die
Situation in der Gegenwart und leitet fließend über zur
materiellen Kultur (Kapitel 7 und 8). Die eigenständige
Töpferei ging um 1980 zu Ende, die traditionelle Flechtar-
beit wurde weitgehend aufgegeben bzw. wechselte zu tou-
ristisch absetzbaren Produkten. Weberei und Stickerei
wurden ebenfalls vor ca. 25 Jahren praktisch eingestellt.
Ausführlich wird der Haus- und Siedlungsbau beschrie-
ben, wobei Bliss zugute kam, dass er als Freund in vielen
Haushalten zu Gast sein konnte. Ein Gehöft spiegelt un-
mittelbar die Sozialstruktur der erweiterten Familie wie-
der.
Beim Frauenschmuck ist die Dokumentationslage dünn,
was die Vergangenheit angeht. Die erste Gesamtaufnah-
me stammt von 1981 vom Autor selbst. An dieser Stelle ist
auch einer der ganz wenigen Kritikpunkte anzumerken.
Der Nasenschmuck, die quÖÖra, wird ausschließlich im
rechten Nasenflügel getragen - so die Beschreibung auf S.
270. Ausgerechnet die zugeordnete Abbildung auf der
Gegenseite zeigt sie im linken, was durch drei andere Fo-
tos (S. 290,327,371) ins rechte Licht gerückt wird. Da die-
se Seite eine von dreien ist (S. 255, 257, 271), in der die
Abbildungsreihenfolge verdreht wurde, gehe ich davon
aus, dass das Foto vom Verlag her seitenverkehrt einge-
fügt worden war. Etwas ausführlicher werden scheiben-
förmige Anhänger behandelt, die wohl Amulettcharakter
haben. Hier auf den Seiten 276-280 wird zwar der zär-
Kult erwähnt, Aufschluss darüber findet sich erst im Kapi-
tel über den Volksglauben (S. 403f.). Auch zum abgebil-
deten Thronvers (S. 279) hätte ich mir etwas mehr Details
gewünscht bei der ansonsten sehr ausführlichen Darstel-
lung. Vermutlich muss man dafür die diesem Thema ge-
widmeten Werke des Autors heranziehen, aber ein Hin-
weis (wenigstens die Nennung der Sure 2, Vers 255) hätte
nicht geschadet. Die gesamte Schmuckproduktion lässt
sich auf wenige Individuen zurückführen, die vor allem in
der 1. Hälfte des 20. Jh. in den Oasen ansässig waren, an-
sonsten ist Schmuck Importware. Einen Zeithorizont ge-
ben ägyptische Punzen und Stempel.
Das neunte Kapitel „Das politische System im Wandel“
setzt sich hauptsächlich mit den gewachsenen Strukturen
auseinander und deren langsame Veränderung unter
ägyptischer Verwaltung und wird weitergeführt durch die
Analyse der Gesellschaftsform in der Oase inklusive di-
verser Sozialkonflikte, die durch stärkere Migration (hier
wären Grafiken wünschenswert) völlig neue Formen an-
nchmen. Hierzu schließt das elfte Kapitel mit dem „Le-
ben in der Großfamilie“ an, wobei auch sehr empfindliche
Aspekte wie die Mädchenbeschneidung diskutiert wer-
den (S. 367ff.). Immer wieder kommt die berberisch ge-
prägte Rechtsauffassung zum Vorschein, in der das Prin-
zip der Wiedergutmachung (Restitution) im Vordergrund
steht und nicht das der Vergeltung, der Rache. Dies be-
trifft Tötungsdelikte genauso wie innerfamiliäre Konflikte
oder Wasserdiebstahl, der selten ist.
Für Pädagogen hoch interessant ist die Auswirkung guter
Schulbildung und inzwischen flächendeckend des verfüg-
baren Fernsehens. Gehobene Schulbildung führt fast aus-
schließlich zur Einbahnstraße Verwaltungstätigkeit, aber
dort sind kaum neue Stellen verfügbar. Andererseits feh-
len wichtige Jugendjahre zum Erlernen der praktischen
bäuerlichen Tätigkeiten, denn Maschineneinsatz geht we-
gen der kleinen Felder nicht und Kleinmaschinen wie
Gartenfräsen kommen erstaunlicherweise nicht zum Ein-
satz. Hier wird fehlgeleitete Entwicklungspolitik wie —hil-
fe überdeutlich. Weiterhin ziehen Endlos-Soap-Operas
viele Jugendliche jeden Nachmittag vor den Bildschirm
(drei Sendungen täglich), Satellitenantennen ermöglichen
seit einigen Jahren Zugriff auf viele Programme anderer
Kulturkreise bis hin zu harter Pornographie. Die Auswir-
kungen dieser Aspekte werden erst in den Folgejahren
deutlich, zeichnen sich aber bereits ab.
Das vorletzte Kapitel widmet sich der Religion, auch dem
Volksglauben, den Geistern und üblen Mächten, dem bö-
sen Blick, um nur Schwerpunkte zu nennen. Auch der syl-
Kult (Heiligenverehrung) wird ausführlich abgehandelt
genau wie die Veränderungen in jüngster Vergangenheit,
wobei die Islamisten mit fundamentalistischer Gesinnung
hier eine tragende Rolle spielen.
Hochinteressant fand ich auch die Volksheilkunde, die
immer im Konflikt zur modernen Medizin steht. Auch auf
diesem Gebiet sind viele Informationen der einfühlsamen
Unlersuchungsmethode des Autors zu verdanken, der an-
fängliche Feldforschungen im Team mit Ethnologinnen
machte, die eher Einblick in die Frauenseite der Gesell-
schaft erhielten.
Das letzte Kapitel schildert die neuen Trends, von denen
ich wichtige Aspekte weiter oben schon erwähnte.
Das Literaturverzeichnis umfasst 23 Seiten, 7 Seiten ein
Glossar mit den wichtigsten arabischen Ausdrücken und 2
Seiten lang ist das geographische Verzeichnis.
Einiges an Urteilsaspekten floss schon im Text ein. Zu-
sammenfassend kann ich sagen, dass hier eine exzellente
Monographie vorliegt, die vielleicht bei den gesellschaft-
lich-sozialen und geographischen Kapiteln ein deutliches
Schwergewicht hat, was andererseits bei relativ geringer
autochthoner materieller Kultur verständlich ist. Ich habe
seit Jahren keine derartig gute Arbeit mehr gelesen.
Wolfgang Creyaufmüller
Schäfer, Rita:
Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechts-
organisationen und geschlechtsspezifische
Gewalt in Südafrika. Münster: LIT, 2005. 480
Seiten.
ISBN 3-8258-8676-x
In der Einleitung eines im März 2006 erschienenen Son-
derbands der Zeitschrift Journal of Southern African Stu-
dies zum Thema “Women and the Politics of Gender in
Southern Africa" schreiben Denise Walsh und Pamela
Scully: “Throughout southern Africa, the complex pro-
cesses among individual women and men, institutions,
structures and cultural norms that create and reproduce
gender are in crisis, and are producing dramatic innova-
tions, controversy, violence and resistance. This crisis is
one of the defining characteristics of transformation in
the region" (2006: 1).
Rita Schäfers Buch “Im Schatten der Apartheid. Frauen-
Rechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt
____________TRIBUS 56,2007
in Südafrika’- ist eine empirisch umfassende, interdiszipli-
när verankerte und theoretisch fundierte Bestandsauf-
nahme dieser Krise im Geschlechterverhältnis und der
damit verbundenen Konflikte und Lösungsversuche in
Südafrika. Der Diagnose von Walsh und Scully vorweg-
greifend, legt Schäfer ihrem Buch die Feststellung zugrun-
de, dass geschlechtsspezifische Gewalt eine zentrale Pro-
blemlage für das gegenwärtige Südafrika darstellt, die mit
notwendigen Transformationsprozessen nach dem Ende
der Apartheid konfligiert. Doch zugleich, wie Schäfer in
einem wichtigen Argument betont, ist die öffentliche Dis-
kussion um geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika
oftmals durch einen (moralpolitischen) Druck zu “poli-
tisch korrekter” Rede verstellt, indem beispielsweise die
“Vision eines über alle sozialen Grenzen hinweg verein-
ten Südafrikas” (S. 3) in manchen Fällen dazu führt, dass
Frauen-Rechtsorganisationen die Heterogenität weib-
licher Erfahrungswelten in Südafrika missachten und
stattdessen von einer einheitlichen, von Frauen kollektiv
geteilten, weiblichen Identität ausgehen. Vor dem Hinter-
grund dieses Spannungsfeldes situiert Schäfer ihr Buch
zwischen dem Anliegen, geschlechtsspezifische Gewalt
als einen gesellschaftlich in Südafrika höchst relevanten
Phänomenbereich zu erfassen und zu erklären, und dem
Bewusstsein, dass Repräsentationen und Analysen dieses
Phänomenbereichs unweigerlich (mehr oder weniger ex-
plizite) gesellschaftspolitische Positionierung mit sich füh-
ren.
Im Sinne einer sich zur Anthropology of Public Policy
(Wedel et al. 2005) hin öffnenden und den Gender Studies
verpflichteten Rechtsethnologie werden in Rita Schäfers
Buch also geschlechtsspezifische Lebens- und Rechtsrea-
litäten mit staatlichen Gesetzesgrundlagen in Bezug ge-
setzt, um mit kritisch-analytischem Blick einerseits die
Verbindung von geschlechtsspezifischer Gewalt und pa-
triarchalen Geschlechterverhältnissen herauszuarbeiten
und andererseits auf Probleme und Chancen in der Um-
setzung von Rechts- und Gerechtigkeitsidealen hinzuwei-
sen.
Dies geschieht zum einen anhand einer detail- und auf-
schlussreichen Diskussion der historischen Entwick-
lungen, die seit dem frühen Kolonialismus und während
der Apartheidszeit zu denjenigen strukturellen Formen
geschlechtsspezifischer Gewalt beigetragen haben, die
“bis heute unter veränderten Vorzeichen die Gewaltbe-
reitschaft gegen Frauen und deren kulturelle Legitimie-
rung in der südafrikanischen Gesellschaft mitprägen” (S.
45). Wie Rita Schäfers Buch insgesamt, beschränkt sich
diese historische Analyse nicht auf eine spezifische Grup-
pierung des soziokulturell ja sehr vielfältigen Südafrikas,
sondern arbeitet mit Bezug auf Belinda Bozzoli (1983)
heraus, wie es - trotz bemerkenswerter Unterschiede in
Geschlechterbeziehungen und Gewaltphänomenen - zu
einer “Überschneidung und wechselseitigen Verstärkung
unterschiedlicher patriarchaler Strukturen” (S. 15) kam,
durch welche die Ausgrenzung und Unterdrückung von
Frauen zementiert wurde. Der historische Rückblick zeigt
also unter anderem, wie sich Geschlechterideologicn,
rechtliche Setzungen, ökonomische Abhängigkeiten (z. B.
im Zusammenhang mit Arbeitsmigration) und politische
Maßnahmen (z. B. räumliche Segregation und Zugangs-
kontrollen) zu einer Konstellation verdichten, in der
Frauen nicht nur Beschränkungen ihrer Handlungsspiel-
räume und männliches Gewalthandeln erfahren, sondern
die den südafrikanischen Frauen auch das Deutungssche-
ma nahe legt, diese Erfahrungen als Bestandteil der eige-
nen geschlechtsspezifischen Identität zu verstehen und in
gewissem Maße zu dulden. Es ist im letztgenannten Sinne,
dass Rita Schäfer von der “Interdependenz von Ge-
schlechterkonstrukten und geschlechtsspezifischer Ge-
walt” (S. 4) ausgeht, wobei sie sich für die These einsetzt,
dass körperliche Gewalt gegen Frauen für die afrikanische
männliche Bevölkerung ein (zum Teil identitätsbildendes)
Ventil darstellt, die im Apartheidssystem “erlittenen
Kränkungen der Männlichkeitszuschreibungen zu kom-
pensieren” (S. 59).
Der zweite Teil des Buches dient der Untersuchung ge-
schlechtsspezifischer Gewalt in kontemporären Lebens-
zusammenhängen und zeigt dabei auf, in welche vieldi-
mensionalen “Bedeutungs- und Begründungszusammen-
hänge” (S. 107) die Gewaltphänomene eingebettet sind.
Zum einen geht es dabei in eindrücklicher Weise um spe-
zifische Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt, wie
beispielsweise um die Vergewaltigung von Frauen, wobei
die Gewaltkontexte, die Handlungslogiken von Tätern
und (potentiellen) Opfern, die Folgen der Gewalterfah-
rung und die (oftmals nicht hinreichenden) rechtlich-in-
stitutionellen Maßnahmen der Gewaltsanktion in den
Blick genommen werden. Zum anderen wird hier analy-
siert, welche Erscheinungsformen geschlechtsspezifischer
Gewalt in spezifischen sozialen Kontexten zu beobachten
sind. Diese Kontexte betreffen einerseits soziale und insti-
tutioneile Vergemeinschaftungsformen (z. B. Ehe, Part-
nerschaft, Familie, Schule), andererseits räumliche Ein-
heiten wie beispielsweise “städtische” und “ländliche
Räume”, “Squattercamps” und “Hostels”. Für diese Kon-
texte zeigt Rita Schäfer in einer analytischen Kompilation
der Ergebnisse interdisziplinärer Studien auf, durch wel-
che Faktoren geschlechtsspezifische Gewaltphänomene
verursacht und geprägt werden, wie Gewalthandeln kul-
turell und vor allem religiös legitimiert wird, und in wel-
chem Zusammenhang diese Gewalt mit Dimensionen wie
Gesundheit, Heiratsstrategien, “customary law”, Bildung
und Hexerei steht.
Im dritten und vierten Teil des Buches werden zum einen
die gesetzlichen Grundlagen behandelt, mit denen die
südafrikanische Regierung versucht, geschlechtsspezi-
fischer Gewalt vorzubeugen bzw. diese zu sanktionieren.
Zum anderen wird hier eine Reihe von historischen und
kontemporären Frauen-Rechtsorganisationen, wie bei-
spielsweise die Federation of South African Women und
MICRO Women’s Support Centre, vorgestellt und anhand
einer Darstellung ihrer Zielsetzungen und vielfältigen
Konfliktlagen diskutiert.
Zusammenfassend handelt es sich bei Rita Schäfers Buch
um eine auch außerhalb des deutschen Sprachraums ein-
zigartige ethnologische Zusammenschau interdiszipli-
närer Untersuchungsergebnisse zu einem in Südafrika
höchst brisantcnThcma. Und so steht der Titel des Buches
(‘Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisati-
onen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika’) im
Schatten dessen, was das Buch tatsächlich leistet. Man
kann sich sicherlich fragen, ob die politisch engagierte
Weise, wie an manchen Stellen des Buches auf staatliche
150
Buchbesprechungen Afrika
Steuerungsleistung gebaut wird, der staatspolitischen
Handlungsrationalität im gegenwärtigen Südafrika, die ja
in mehrerer Hinsicht dem neoliberalen Modell des “go-
vernment through freedom” (Rose 1999) verpflichtet ist,
analytisch gerecht wird. Auch tritt bei der Lektüre eine
gewisse Dissonanz auf, wenn geschlechtsspezifische Ge-
walt in Südafrika einerseits als „interessengeleitetes
Machthandeln“ (S. 4) bezeichnet wird, andererseits aber
immer wieder davon die Rede ist, dass diese Gewalt für
die Männer eine kompensatorische Funktion hat (z. B.: S.
59). Die im Text öfters wiederkehrende Formulierung,
dass es Männer nicht “ertragen” können, wenn ihre
Frauen über ihr eigenes Einkommen verfügen (z. B.: S. 67
und S. 75), und dass sie deshalb mit häuslicher Gewalt re-
agieren, greift dabei zu kurz und schließt die Analyse an
einer Stelle, wo sie besonders beunruhigend wird: Wenn
es hier um die Aufrechterhaltung männlicher Macht geht,
warum nicht mehr ‘Finesse’ im Machterhalt, warum diese
schlichte und zerstörerische Brutalität? Doch dieser of-
fene Punkt stellt insgesamt nicht in Frage, dass Rita Schä-
fer in ihrem Buch eine perspektivierte Untersuchung ent-
faltet, in der die vielschichtigen Problemlagen des sich
weiterhin in Transformation befindlichen Südafrikas in
erhellender Weise zusammengeführt werden.
Literatur
Bozzoli, Belinda
1983 Marxism, feminism and South African studies.
Journal of Southern African Studies 9 (2): 139—
171.
Rose, Nikolas
1999 Powers of freedom: reframing political thought.
Cambridge: Cambridge University Press.
Walsh, Denise / Scully, Pamela
2006 Altering politics, contesting gender. Journal of
Southern African Studies 32 (1): 1-12.
Wedel, Janine R., et al.
2005 Toward an anthropology of public policy. The
Annals of the American Academy of Political
and Social Science 600:30-51.
Thomas Kirsch
Buchbesprechungen Amerika
In den zurückliegenden Jahren, insbesondere 1992 anläss-
lich der 500-Jahr-Feiern zur „Entdeckung“ Amerikas so-
wie 2006, dem 500. Todesjahr von Christoph Kolumbus,
sind etliche Publikationen über den Genuesen, sein Le-
ben und seine Tat auf dem Büchermarkt erschienen. Von
diesen seien die drei folgenden Titel hier besprochen.
Bucher, Corina:
Christoph Kolumbus - Korsar und Kreuzfah-
rer. Darmstadt: Primus Verlag, 2006.288 Seiten,
zahlreiche SW-Abb., Karten, Literatur, Perso-
nenregister.
ISBN-10; 3-89678-274-6
ISBN-13; 978-3-89678-274-8
Gewecke, Frauke:
Christoph Kolumbus - Leben, Werk, Wirkung.
Suhrkamp BasisBiographie 14. Frankfurt/M.;
Suhrkamp Verlag, 2006. 153 Seiten, mehrere
SW-Abb., Karten, Literatur, Personenregister.
ISBN 3-518-18214-5
Köhler, Alfred:
Columbus und seine Zeit. München: C. H. Beck
Verlag, 2006. 221 Seiten, einige SW-Abb., Kar-
ten. Literatur, Personen- und Ortsregister.
ISBN-10:3-406-54212-3
ISBN-13:978-3-406-54212-1
Alle drei Publikationen sind nicht auswechselbar, jede ist
für die Erforschung der Epoche „ausgehendes Mittelaller
- beginnende Neuzeit“ sowie für die Kolumbusforschung
allgemein gleich wichtig. Während Corina Bücher drei
von insgesamt sechs Kapiteln dem Leben des Christoph
Kolumbus vor 1492 widmet und dabei am Anfang dem
tatsächlich etwas ungewissen Geburtsjahr des Seefahrers
nachspürt (auf einer Zeittafel [12] verlegt sie das seit Ugo
Asserto 1904 weitgehend akzeptierte Jahr 1451 [und zwar
zwischen dem 25. August und 31. Oktober; vgl. Gold-
schmit-Jentner 1946:345, Anm. 30] um gut zehn Jahre zu-
rück), beginnt Frauke Gewecke nach einer Vorbemer-
kung „Das Rätsel Kolumbus“ ihr in drei Abschnitte
gegliedertes Buch zwar ebenfalls mit der Herkunft des
Navigators, wobei sie 1451 als Jahr seiner Geburt und Ge-
nua als Geburtsort im Grunde bestätigt, kommt dann al-
lerdings schnell auf den Mittelpunkt aller Biografien über
Kolumbus zu sprechen, das heißt natürlich seine erste
Reise über den Atlantik, wobei der Erläuterung der kö-
niglichen Häuser Kastilien und Aragon etlicher Raum
gegeben wird. Dabei sind die gelegentlichen Seitenver-
weise außerhalb des Satzspiegels auf früher gemachte
Feststellungen besonders hilfreich. Alfred Köhler, der die
151
____________TRIBUS 56,2007
ursprünglich latinisierte Namensgebung Columbus und
nicht die eingedeutschte Schreibweise wählte, kommt
zwar am Beginn seiner Ausführungen ebenfalls auf Ge-
burtsjahr und -ort zu sprechen (19), allerdings in einem
weit gefassten historisch-geografischen Rahmen, der be-
reits die Einbettung der „Kolumbus-Geschichte“ in das
politisch-gesellschaftliche Umfeld des Übergangs vom
ausklingenden Mittelalter zur frühen Neuzeit erahnen
lässt. Keine(r) der Verfasser(innen) geht auf den damals
geltenden, auf Julius Cäsar zurückzuführenden Julia-
nischen Kalender ein. Papst Gregor XIII. hatte diesen
durch päpstliche Bulle vom 24.2.1582 abgelöst und den
nach ihm später so genannten Gregorianischen Kalender
eingeführt. Da sich nach letzterem und seither gültigem
alle Daten um zehn Tage weiter verschieben, hat nach
heutiger kalendarischer Rechnung Kolumbus erst am
21.10.1492 Guanahani erreicht.
Auch Bücher befasst sich intensiv mit der Zeitperiode des
Kolumbus, wobei sie den Entdecker allerdings mehr in
den Mittelpunkt ihrer Darlegungen stellt als Köhler. So
beschreibt sie vor allem die so genannten Korsaren-Jahre
des Seemannes Kolumbus, immer im historischen Kontext
und - besonders interessant - unter Einbeziehung der
Äußerungen späterer Autoren, deren Schriften noch voll
der wildesten Spekulationen über den Genuesen sind.
Ebenfalls zieht diese Verfasserin die Aussagen des zweit-
geborenen Sohnes Ferdinand Kolumbus heran, den sie
unter seinem spanischen Namen Hernando Colon zu
Wort kommen lässt. Angemerkt sei, dass die Aussagen
dieses Kolumbus-Sohnes immer hinterfragt werden müs-
sen, da ihm innerhalb der Kolumbus-Forschung manche
Ungenauigkeil nachgewiesen werden konnte. Dennoch
ist er natürlich ein besonders wichtiger Zeitzeuge, der die
schriftliche Hinterlassenschaft seines Vaters auswerten
bzw. heranziehen konnte. Trotz zahlreicher Forschungsar-
beiten, insbesondere auch aus dem 19. Jahrhundert, ist das
Kolumbus-Bild nach wie vor nicht zuletzt hinter den oft
politisch motivierten Schleiern der bewussten und unbe-
wussten Unwissenheit verborgen. Auch Bücher kann nur
darlegen und hinweisen. Eine endgültige Lösung weiter
Teile des „Rätsels Kolumbus“ wird es wohl nie geben.
Wohl aus diesem Grund lässt Köhler die 1470er Jahre au-
ßen vor und hält sich an den weitgehend gesicherten ge-
schichtlichen Hintergrund, in dem die Person Christoph
Kolumbus zunächst keine Rolle spielte. Ähnliche Überle-
gungen hat vermutlich auch Gewecke angestellt, die sich
ja bereits seit vielen Jahren mit der Kolumbus-Zeit und
insbesondere der Karibik-Region beschäftigt. Sie stellt
daher ihrem Buch nur knapp drei Seiten zu den ungelö-
sten Kolumbus-Fragen voran und meint, Kolumbus sei
„der Nachwelt noch heute, fünf Jahrhunderte nach sei-
nem Tod, ein Rätsel“(7). Von allen drei Autor(inn)en be-
schäftigte sich besonders Bücher mit diesen ungelösten
Fragen um die Person Kolumbus, erläutert sie doch auch
die Literaturgeschichte hierzu insgesamt (insbesondere
68-70). Weniger rätselhaft sind dann die Jahre ab 1483,
nachdem sich Kolumbus mit seinem Westindien-Projekt
an den portugiesischen König Johann II. gewandt hatte.
Diese Zeitspanne bis 1492 und natürlich darüber hinaus
wird von allen drei Verfasser(inne)n beschrieben, wobei
bei Köhler der historische Hintergrund immer deutlich im
Mittelpunkt seines Interesses steht. Gewecke hat sich ins-
besondere mit dem erwähnten „Darüber hinaus“ befasst,
ja der Inhalt ihres Buches besteht eigentlich fast aus-
schließlich aus der Wiedergabe und der Beurteilung der
Jahre ab 1492, wobei bereits der zweite Abschnitt des er-
sten Kapitels ihres Buches, abgesehen von der erwähnten
Einführung in das „Rätsel Kolumbus“, „die erste Jndien-
fahrt’ (1492-1493)“ aufgenommen hat.
Alle drei Autor(inn)en widmen sich den schriftlichen
Hinterlassenschaften von Kolumbus und weisen darauf
hin, dass das so genannte Bordbuch nur bruchstückhaft in
der Abschrift von Las Casas erhalten geblieben ist (aus-
führlicher hierzu Schulze-Thulin 2005:150). Gegenüber
Gewecke hat das Buch von Köhler den Vorteil (mit 221
Seiten gegenüber den 153 der Genannten ist es auch um-
fangreicher), dass in ihm die christlich geprägten Zeiten
Europas um 1500 sowie das damalige Asienbild der Euro-
päer sowie „die muslimische Welt“ ausgiebig geschildert
werden. Außerdem beleuchtet dieser Verfasser die An-
fänge des Kolonialismus, insbesondere auf dem afrika-
nischen Kontinent. Mehr auf die Person und damit auf die
Charaktereigenschaften des Navigators gerichtet ist
Buchers Kolumbus, geht sie doch nicht nur auf alle vier
Reisen des Seefahrers in die „Neue“ Welt ein, sondern
ebenfalls auf dessen psychischen Hintergrund und auf die
Zeit danach, für die das Gerangel um seine letzte Ruhe-
stätte symptomatisch ist. Nebenbei sei angemerkt, dass
inzwischen Sevilla eindeutig (anhand DNA-Analysen der
sterblichen Reste von Kolumbus) als Begräbnisort festge-
stellt wurde. Wichtig scheint mir bei aller Diskussion um
den „Entdecker“ zu sein, wie sich anhand des Schicksals
von Christoph Kolumbus die Höhen und Tiefen eines im
historischen Rampenlicht stehenden Menschenlebens
aufzeigen lassen und wie dieser umstrittene Mann Gene-
rationen von Schriftsteller(inne)n immer wieder in seinen
Bann zog, dabei Pro und Contra über fünf Jahrhunderte
aufeinander stoßen ließ.
Bei allem Lob, das sicherlich alle drei Publikationen ver-
dienen, muss in einer ethnologischen Zeitschrift natürlich
auch auf die Menschen zumindest hingewiesen werden,
die von der „Entdeckung“ (zu der Berechtigung dieser
Wortwahl s. Schulze-Thulin a.a.O.:137 f) am meisten be-
troffen waren, und dies nicht nur in ihrer Lebensgestal-
tung ab 1492, sondern die mit ihren eigenen Leben millio-
nenfach den Reichtum, den sie Europa und der übrigen
Welt gaben, bezahlen mussten. Bei Bücher tauchen die
„Indios“ erst im letzten Abschnitt des das Buch been-
denden Kapitels in Zusammenhang mit Las Casas auf. Zu
„Indios“: Bezüglich der „Indianer“ besitzen wir im Deut-
schen den deutlichen sprachlichen Unterschied zu den
Indern und müssen in keinster Weise das die Ureinwoh-
ner Lateinamerikas diskriminierende Wort „Indios“ ver-
wenden! Dies an alle drei Schreiber(innen)! Gewecke
widmete wenigsten sechs Seiten ihres Buches den ameri-
kanischen Aulochthonen, wobei diese in einen politischen,
religionsbezogenen und gesellschaftskritischen Zusam-
menhang und Hintergrund gestellt werden. Bei Köhler
werden den Indianern drei Seiten zugestanden, wobei
sich alle sie betreffenden Anmerkungen lediglich auf die
Bordbuchreste beziehen. Nun kann natürlich mit einer
gewissen Berechtigung gesagt werden, der Bereich mit
den Ureinwohnern Amerikas sei nicht das Thema aller
drei Schreiber(innen) gewesen. Die vorliegenden Publi-
152
Buchbesprechungen Amerika
kationen ranken sich aus Anlass des erwähnten Todes-
jahres um die teils schillernde, teils konkrete Gestalt des
Kolumbus, der zwar bei den Ersten Amerikanern ankam,
doch stehen diese deshalb noch längst nicht im Mittel-
punkt des Geschehens, sondern die Welt des endenden
Mittelalters mit der in dieser Zeit zentralen Person. Es
sind geschichtsorientierte Bücher mit unterschiedlichen
Blickrichtungen. Darin liegt ihre Bedeutung und somit
sind alle drei ein Muss sowohl für den interessierten Hi-
storiker als auch für Institutsbibliotheken der Geschichts-
wissenschaften. Das Buch, das den Genuesen in einen
Zusammenhang mit den Menschen stellt, bei denen er zu-
fällig landete (weil auf dem Westweg nach Ostasien Ame-
rika nun einmal zwischen Europa und „Indien“ liegt),
muss noch geschrieben werden.
Literatur
Goldschmit-Jentner, Rudolf K.
1946 Christoph Columbus - Der Mensch, die Tat,
die Wirkung. Hamburg.
Schulze-Thulin, Axel
2005 Anmerkungen zur ethnologischen Grundla-
generforschung der Indianer des Christoph
Kolumbus (der ersten und zweiten Reise) -
Überblick und materielles Substrat. In: TRI-
BUS 54. Linden-Museum Stuttgart.
Axel Schulze-Thulin
Fabrizii-Reuer, Susanne / Reuer, Egon (t):
Die Gräber aus den „shell-middens“ der prä-
kolumbianischen Siedlung von Pointe de Cail-
le. St.Lucia, West Indies. Wien: Verlag der Ös-
terreichischen Akademie der Wissenschaften,
2005. 74 Seiten, 16 Tafeln mit SW-Fotos und
Zeichnungen, Grafiken und Tabellen im Text.
ISBN 3-510-61377-5
Nein, nein, es handelt sich nicht um präkolumbianische
Muschelhaufen, hier auf Englisch „shell-middens“ ge-
nannten Kolumbien, sondern um solche außerhalb dieses
Staates und damit um präkolumbische Gräber. Die Kari-
bik-Insel St.Lucia liegt vom nordöstlichen Grenzpunkt
Kolumbiens rund 1100 km Luftlinie entfernt. Sie gehört
zu den südlichen Kleinen Antillen Westindiens (hier: West
Indies) und damit zu den Windward-lnseln dieser Region
(Näheres Schulze-Thulin 2005: 143). Eine Karte in der
vorliegenden Publikation hätte diese Erklärung entbehr-
lich gemacht. Hier wird nur ein Lageplan der archäolo-
gischen Grabungen in N-S-Richtung von knapp 80 m
Breite und 120 m Länge bei Pointe Caille (?) auf St. Lucia
gezeigt (2). Zunächst vermutete ich, dass nach den auf der
Karle abgebildeten kleinen Atlantikteilstückchen die
Grabungsstellen irgendwo an der 43 km (Luftlinie) lan-
gen Ostküste der Insel liegen müssten. Die beste der mir
vorliegenden Karten von St. Lucia befindet sich in Prager
/ Liedtke 1991: 15 (dort ist Pointe Caille allerdings nicht
verzeichnet, obwohl die Karte sogar Bananenplantagen
aufweist). Nach einer Literaturangabe (F. F. Steininger)
der Autorin mit der Bezeichnung „View Fort“ in Verbin-
dung mit Pointe Caille ist davon auszugehen, dass sich die
Grabungsörtlichkeiten auf der südlichsten Halbinsel von
St. Lucia befinden müssen. Der erwähnte Plan der vorlie-
genden Veröffentlichung zeigt drei Grabungsstellen, zwei
im Norden und eine im Süden.
Die fünfjährigen Grabungen waren von H. Friesinger
(Universität Wien) initiiert worden, beginnend mit dem
Jahr 1983. Die Grablegungen gehen wahrscheinlich auf
die Zeit zwischen 700 und 750 n. Chr. zurück. Das wäre
das Ende der Saladoid-Phase. Laut Angaben der Autoren
waren die auf St. Lucia einst lebenden Indianer Arawa-
ken. Zu der angegebenen Zeit hatten sich aber auch be-
reits Kariben-Gruppen aus dem nordöstlichen Südameri-
ka in ihren Kanus auf den Weg in Richtung Norden
gemacht. Anthropologisch festzustellende Unterschiede
zwischen Arawaken und Kariben werden hier nicht dar-
gelegt. Wahrscheinlich gibt es sie nicht, sondern nur die
bekannten kulturellen (s. Schulze-Thulin a.a.O.: 164 ff).
Die künstliche Stirnabflachung, die bei den Skeletten auf
St. Lucia mehrmals festgestellt wurde, kann bei der eth-
nischen Festlegung nicht helfen, da diese Schädeldefor-
mierung bei vielen zirkumkaribischen Autochthonen ein-
schließlich derjenigen Meso-Amerikas verbreitet war. Die
breite Stirn beispielsweise der Lucayo auf den Bahamas,
die schon Christoph Kolumbus aufgefallen war (Morison
1942: 230), war ebenfalls durch künstliche Deformierung
des Schädels hervorgerufen worden, wobei hier durch
Einpressen der Schädelfront mittels eines Bretts im Säug-
lingsalter eine flache Stirn hervorgerufen wurde. Bei den
Maya etwa war eine fliehende Stirn ein Zeichen vorneh-
mer Abstammung. Bei den Insel-Kariben wurde als Er-
klärung für diesen Brauch angegeben, dass sich die Defor-
mierung positiv auf die Treffsicherheit mit Pfeil und Bogen
auswirke (Walker 1992; 54). Wir kennen die geschilderte
Sitte auch von manchen nordamerikanischen Gruppen.
Da nichts über die bei den Indianern der Großen und
Kleinen Antillen sowie weiten Regionen des karibischen
Festlandes verbreitete Sitte der künstlichen Schädelde-
formierung gesagt wird, ist zu vermuten, dass den Verfas-
sern die erforderliche Literatur fehlte. So wird in entspre-
chenden Publikationen immer wieder diskutiert, ob und
wenn ja wie weit es zwischen den westindischen Urein-
wohnern und Mesoamerika, speziell Maya, Verbindungen
gab. An seetüchtigen Fahrzeugen fehlte es nicht. Der For-
schung mangelt es jedoch an archäologisch eindeutigen
Hinweisen. Interessanterweise weisen nur die weiblichen
Schädel von Pointe de Caille, und zwar nahezu alle Frau-
enkalotten, die Stirnabflachung auf. Beispiele sind in
Zeichnungen von L. Leitner im Abbildungsteil wiederge-
geben. Auf ihnen ist die künstliche Deformierung eindeu-
tig zu sehen. Eigentlich ist diese Sitte nicht so verwunder-
lich, wie in der Veröffentlichung behauptet (51), sind doch
Verbindungen von St.Lucia zu Südamerika allein schon
aus geografischen Gründen nahe liegend. Schließlich er-
folgte auch die Einwanderung auf die Antillen vom süd-
amerikanischen Kontinent aus. Eine kulturelle Beeinflus-
sung in der Linie Peru - Kolumbien - nordöstliche Küste
Südamerikas ist denkbar, wenn nicht sogar naheliegend.
Auch wenn bei den Taino Hockerbestattungen nicht selten
vorgekommen zu sein scheinen (s. zum Beispiel Rouse
1948: 532), ist es nicht eindeutig, ob es sich bei den Skelet-
153
TRIBUS 56,2007
ten von St. Lucia tatsächlich um Indianer dieser ethnischen
Herkunft handelt, zumal Hockergräber in Südamerika weit
verbreitet und nicht nur auf arawakische Bevölkerungen
beschränkt waren (vgl. beispielsweise Loven 1924; 289).
Ein Ansatzpunkt für eine detailliertere Beschreibung der
indianischen Kultur auf St. Lucia wären weitere Gräber
und ihre Skelettfunde vieler autochthoner Ethnien in der
Karibik aus jener Zeit, insbesondere ob Hocker, wie in den
Gräbern auf St. Lucia gefunden, allein auf Arawaken zu-
rückzuführen sind. Wie aus dem einleitenden Abschnitt
„Ausgangssituation und Zielsetzung“ zu ersehen ist, war
beabsichtigt, die Lebenssituation der vorgestellten Bevöl-
kerung auf der Grundlage verschiedener Disziplinen wei-
ter zu untersuchen. Dass es nicht dazu kam, lag an den feh-
lenden technischen Mitteln auf St. Lucia. Selbstverständlich
blieben die Skelette selbst auch auf der Insel.
Im weiteren Verlauf der vorliegenden Publikation werden
die einzelnen Gräber mit ihren Skelettresten eingehend
beschrieben. Die Verstorbenen waren zwischen zwei und
fünfzig Jahre alt geworden. Einschließlich weniger Streu-
funde wurden 59 Gräber untersucht, davon konnten 58
geborgen werden. Wegen des schlechten Bodenchemis-
mus war der Erhaltungszustand der Skelette nicht opti-
mal. Der Anteil der Kinder, gemessen an dem der Er-
wachsenen. betrug 38 Prozent. Die Bestimmung der
Geschlechter erbrachte ein Verhältnis von 1 :1. Die Kin-
dersterblichkeit auf St. Lucia und wahrscheinlich über-
haupt im autochthonen Westindien war im Vergleich zu
Mitteleuropa ungefähr derselben Zeitstufe niedriger, was
die Autoren auf das günstige subtropische Klima zurück-
führen. Unter Hinzuziehung anthropologischer Literatur
wurden Überlegungen zur Gruppengröße (60 bis 70 Per-
sonen), Altersklassen und Lebenserwartung (Männer
konnten teilweise fast 70 Jahre erreichen) sowie der Mor-
talitätsrate angestellt, wobei betont wird, dass es sich hier-
bei nur um Richtwerte handeln kann.
In weiteren Abschnitten des Buches werden rein anthro-
pologische Daten vorgelegt, wie metrische Angaben zu
Skelettteilen, epigenetischen Merkmalen und darüber hin-
aus allgemein biologische Hinweise.
Eine Zusammenfassung der anthropologischen Ergeb-
nisse und ein kurzes „Summary“ sowie ein Literaturver-
zeichnis und der erwähnte Abbildungsteil beschließen die
Publikation. Nicht nur der am Thema Interessierte darf
gespannt sein, welche der angekündigten Folgearbeiten
demnächst erscheinen wird oder nach Fertigstellung die-
ser Rezension erschienen ist.
Literatur
Loven, Sven
1924 Über die Wurzeln der tainischen Kultur. Teil I:
Materielle Kultur. Göteborg.
Morison, Samuel Eliot
1942 Admiral of the Ocean Sea - A Life of Christo-
pher Columbus. Oxford.
Prager, Christian / Liedtke, Christian
1991 St. Lucia - Paradiesische Insel in der Karibik.
Hamm.
Rouse, Irving B.
1948 The Arawak. In: Handbook of South American
Indians, ed. by Julian H. Steward. Bulletin 143
des Bureau of American Ethnology, Vol. 4.
Smithsonian Institution. Washington, DC.
Schulze-Thulin, Axel
2005 Anmerkungen zur ethnologischen Grundla-
generforschung der Indianer des Christoph
Kolumbus (der ersten und zweiten Reise) -
Überblick und materielles Substrat. In: TRI-
BUS 54. Linden-Museum Stuttgart.
Walker, D. J. R.
1992 Columbus and the Golden World of the Island
Arawaks. Kingston, Jamaika.
Axel Schulze-Thulin
Koch-Grünberg, Theodor;
Die Xingu-Expedition (1898-1900). Ein For-
schungstagebuch. Hrsg, von Michael Kraus.
Köln: Böhlau Verlag, 2004.507 Seiten, SW-Ab-
bildungen und Skizzen.
ISBN: 3-412-08204-X
Theodor Koch-Grünberg wurde eigentlich mit seinen spä-
teren Forschungsreisen in Nordwest- und Nord-Amazo-
nien und den dazugehörigen Veröffentlichungen als be-
deutender Amazonien-Forscher bekannt. Michael Kraus
zeigt uns jedoch durch die Herausgabe der - bis dato un-
veröffentlichten - Forschungstagebücher von Koch-
Grünbergs erster Teilnahme an einer Reise ins südliche
Amazonien die Bedeutung dieser Reise auch als ,Lehr-
stück’ für weitere Unternehmungen. Ergänzt wird die Ta-
gebuchedition von drei Artikeln, die der besseren Einord-
nung dienen.
Koch-Grünberg, Lehramtsassessor und gerade einmal 27
Jahre alt, begleitete 1899 die sogenannte ,zweite Schingü-
Expedition des Dr. Herrmann Meyer’ ins Quellgebiet des
Xingu unter Leitung des wohlhabenden Verlegersohnes
Herrmann Meyer aus Leipzig; ihm war vor allem die Auf-
gabe fotografischer Aufnahmen zugedachl. Aufgrund sei-
nes schon früh bestehenden Interesses an Indianern
machte Koch-Grünberg jedoch auch einige ethnogra-
fische Notizen, die später in kleineren Schriften publiziert
wurden1. An dem eigentlichen Ziel, den noch unbe-
1 Eine knappe Rcisebeschreibung Kochs 1902: Reise in
Mato Grosso (Brasilien). Expedition in das Quellgebiet
des Schingü, 1899, in Mitteilungen der K. u. k. geogra-
phischen Gesellschaft in Wien.
Weitere Schriften: Koch 1900: „Die Lenguas-Indianer in
Paraguay“, in Globus 78, basierend auf Angaben von
Bernhard Guppy. Koch 1902: „Die Apiakä-Indianer
(RioTapajoz, Mato Grosso)“, in Zeitschrift für Ethnolo-
gie 34. Koch 1903 [1902]: Die Guaikurü-Gruppe, gleich-
zeitig auch seine Doktorarbeit an der Universität Würz-
burg. Koch 1902: „Die Guaikurüstämme“ in Globus 81.
Koch 1903: „Ethnographie der Paraguay Gebiete und
Mato Grosses“, in Mitteilungen der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien. Sowie einige gesammelte Skizzen
von Indianerhand in Koch-Grünberg 1905: Anfänge der
Kunst im Urwald.
154
Buchbesprechungen Amerika
kannten westlichsten Zufluss des Rio Xingu und dabei
neue Indianer-Ethnien zu erforschen, scheitert die Expe-
dition und muss ohne größere Ergebnisse nach zahl-
reichen Schiffbrüchen, Krankheit und sozialen Span-
nungen innerhalb der Expeditionsgruppe aufgeben. Eine
ausführliche wissenschaftliche Publikation über diese
Reise erscheint daher auch weder von Meyer noch Koch-
Grünberg oder einem anderen Reisegefährten.
Schon in der Einführung macht Michael Kraus deutlich,
dass sich Koch-Grünberg selbst bei seinen späteren Rei-
sen immer wieder in bestimmten (oft ähnlichen) Situati-
onen auf die Erlebnisse der vom Pech verfolgten Xingu-
Expedition besinnt (S. 11 f.), obwohl er selbst angibt, seine
alten Tagebuchaufzeichnungen nicht mehr zur Hand zu
nehmen. Trotzdem oder gerade deswegen kann man
Kraus zustimmen, der in der Herausgabe des Tagebuches
einen wichtigen Schritt im Verständnis der Entwicklung
von Theodor Koch-Grünberg sieht.
Die Edition des in sechs Heften verfassten Tagebuches
hält sich eng ans Original, es werden lediglich um der bes-
seren Lesbarkeit willen - der Leser dankt - eindeutige
Abkürzungen aufgelöst. Außerdem fügt Kraus zu Beginn
des dritten Heftes einige Loseblatt-Notizen ein, die feh-
lende Tagebucheinträge nach einem Schiffsuntergang zu-
sammenfassen. Ebenso werden an diese Stelle einige Sei-
ten vom Ende desselben Heftes vorgezogen, die ebenfalls
eine Rekonstruktion der verlorenen Erlebnisse darstel-
len.
So kann sich der Leser voll einlassen auf die Schilderung
einer transatlantischen Schiffspassage, der Anreise ins
Forschungsgebiet über den Rio Paraguay und durch Mato
Grosso und Vorbereitungen auf die Expedition (Heft 1
und 2) sowie die eigentlichen Schilderungen der Expediti-
on im Zielgebiet, der beschwerlichen aber auch eindrucks-
vollen Reise auf dem Oberlauf des Xingu, der sich häu-
fenden Unglücksfälle (Bootsuntergänge, Verlust von
Ausrüstung, Tropenkrankheiten, Essensmangel, Erschöp-
fung etc.), zunehmende Spannungen innerhalb der Grup-
pe und letztlich Änderung des Reiseverlaufes, um wenig-
stens noch einige - wenn auch keine ,nicht kontaktierten’
- Indianer besuchen zu können (Heft 3 bis Heft 5 Mitte)
und der anschließenden Rückreise wieder über Mato
Grosso und Argentinien nach Europa (Heft 5 und 6). Er-
gänzt werden die Notizen durch einige Reproduktionen
von Koch-Grünbergs Skizzen und Fotos.
Da ja die ursprünglichen Forschungsziele der Reise nicht
erreicht wurden, liegt die eigentliche Bedeutung dieses
Tagebuches darin, das Expeditionswesen und die Wahr-
nehmung der Lebensverhältnisse kurz vor Beginn des 20.
Jahrhunderts von Städtern in Südamerika, brasilianischen
Siedlern, Expeditionsteilnehmern und zum Teil auch Indi-
anern zu beleuchten. Persönliche Reflexionen, Unsicher-
heiten und Ängste, spontane Unmulsäußerungen und
Spekulationen etc. werden darin deutlicher als in den mei-
sten, später noch einmal in der sicheren Heimat überar-
beiteten Veröffentlichungen von Forschungsreisen - was
natürlich auch in der Sache eines Forschungstagebuches
liegt. Insbesondere die sozialen Spannungen zwischen
den verschiedenen Expeditionsteilnchmern. die verstärkt
in den kritischen Situationen aufbrachen und letztlich mit
verantwortlich für das Scheitern der Reise waren, treten
deutlich zu Tage.
Die drei begleitenden Aufsätze betten die Tagebuchediti-
on noch in verschiedene Kontexte ein. Anita Hermann-
städter bietet in ihrem Artikel „Herrmann Meyer. Der
Sertäo als schwieriger sozialer Geltungsraum“ einen Ein-
blick in die Persönlichkeit des Expeditionsleiters Herr-
mann Meyer. Sie arbeitet heraus, was für einen Einfluss
sein familiärer und großbürgerlicher Hintergrund sowie
ein sehr hierarchisches Selbst-Verständnis auf den Verlauf
der Expedition nahmen. Außerdem kann sie durch eigene
Einblicknahme in Meyers (bislang ebenso unveröffent-
lichte) Original-Tagebuchaufzeichnungen eine Ergänzung
und Grundlage zur bedingten Gegenüberstellung zu
Koch-Grünbergs Notizen bieten.
Mark Münzel wertet in seinem Artikel „Die ethnolo-
gische Erforschung des Alto Xingu“ die Forschungsge-
schichte um das Quellgebiet des Xingu aus. Dabei ordnet
er auch die deutschen Expeditionen im ausgehenden 19.
und beginnenden 20. Jahrhundert in den Gesamtkontext
ein. Außerdem geht er auf rezente Forschungsprojekte
und -entwicklungen ein.
Zum Abschluss nimmt Michael Kraus selbst noch einmal
in dem Artikel „Am Anfang war das Scheitern. Theodor
Koch-Grünberg und die .zweite Meyer’sche Schingü-Ex-
pedition’“ eine Einordnung der Tagebücher und der Xin-
gu-Expedition in Koch-Grünbergs gesamtes Leben und
Werk vor. Deutlich wird, dass einige der Eigenschaften,
die Koch-Grünberg später als Amazonienforscher und
überhaupt als Ethnologe seiner Generation auszeichnen,
wie der Wille zur teilnehmenden Beobachtung, auf seiner
früheren Reise noch nicht spürbar sind. Dies könnte auch
durch die Konstellation bedingt sein, denn er war nur als
untergeordneter Wissenschaftler an der Reise beteiligt,
während ihm bei späteren Expeditionen als Leiter die
Entscheidung selbst Vorbehalten war. So lässt sich die
Xingu-Reise für Koch-Grünberg im Wesentlichen als
„schmerzhafte Initiation in das Reisen im Amazonasge-
biet“ (S. 483) werten, v.a. da sie von ihm selbst auch als
Lernprozess verstanden wurde.
Auch der Vergleich mit Herrmann Meyers Wahrnehmung
und Anspruch wird noch einmal vollzogen, wobei die Un-
terschiede der Meyerschen zu anderen Xingu-Expediti-
onen v.a. in der Ausrüstung und dem Aufrechterhalten
von Hierarchie, Distanz und fast militärischem Auftreten
besonders deutlich werden; bedingt auch durch Meyers
latentes Hauptziel der Expedition, in der Heimat analog
zu seinem als Afrikaforscher bekannten Bruder Hans
Prestige zu erlangen.
Wer sich für Forschungsgeschichte und Wissenschaftsge-
schichte allgemein oder die Xingu-Forschung und das Le-
ben Koch-Grünbergs im Speziellen interessiert, wird in
diesem Buch eine gute Ergänzung bisheriger Veröffentli-
chungen finden.
Katrin Kobler
155
TRIBUS 56,2007
Siebelt, Dagmar:
Die Winter Counts der Blackfoot. (Ethnologie,
Band 6). Münster: LIT-Verlag, 2005.470 Seiten,
32 SW-Abbildungen, 9 Tabellen, 2 Karten.
ISBN 3-8258-8240-3
Obwohl die Blackfoot-Indianer, die in den nördlichen
USA und im südlichen Kanada leben, ethnologisch gut
erforscht sind und auch wichtige Forscher und Autoren
aus den eigenen Reihen stellen, gab es bislang eine Lücke
in der Forschung. Denn was die Geschichte der unter dem
Namen Blackfoot zusammengefassten lockeren Verbin-
dung von Blood (Eigenbezeichnung Kainaiwa), Northern
Piegan (nördliche Pikani), Southern Piegan (südliche Pi-
kani) und Northern Blackfoot ( Siksika) anbetraf, über-
wog die euro-amerikanische Geschichtsschreibung. Im
Unterschied zu anderen Prärie-Indianern, wie den Lako-
ta, Nakota und Kiowa, die für ihre reichen Annalen be-
kannt sind, war von den Blackfoot nur die Elk-Horn-Jah-
reszählung (South Piegan) bekannt, die Clark Wissler
1911 veröffentlichte, deren Original aber nicht mehr zu
existieren scheint.
Mit der vorliegenden Arbeit von Dagmar Siebelt wird die
Lücke nun geschlossen. Denn die Autorin hat sich in Mu-
seen und Archiven in den USA, in Kanada, Russland,
England, Schottland und Dänemark auf die Suche nach
Blackfoot-Chroniken begeben und ist in verschiedenen
Museen und Archiven in Kanada und den USA fündig
geworden. Zu den erwähnten Chroniken von Wissler
kommen nun von den Blood der Bad Head-Winter Count
(zwei Varianten), der Percy Creighton-Winter Count und
der Jim White Bull-Winter Count dazu. Von den North
Blackfoot stammen der Joe Little Chief-Winter Count
(zwei Varianten), der Many Guns-Winter Count (sechs
Varianten), der Houghton Running Rabbit-Winter Count
und der Teddy Yellow Fly-Winler Count. Von den North
Piegan stammen der Bull Plume-Winter Count und der
Piegan Indian Agency-Winter Count, von den South Pie-
gan der Big Brave-Winter Count und der Mrs. Big Nose-
Winter Count. Diese Winter-Counts macht die Autorin
erstmals zugänglich und veröffentlicht sie im umfang-
reichen Anhang ihrer Arbeit zusammenhängend. Damit
steigt die Zahl der bekannten Jahreszählungen von zwei
auf 14 (dazu kommen noch die Varianten). Insgesamt de-
cken sie einen Zeitraum von fast 200 Jahren emischer Ge-
schichtsschreibung ab, nämlich von 1764 bis 1964.
Die Arbeit von Dagmar Siebelt gliedert sich in fünfTeile.
Im ersten Teil (S. 10-56) skizziert sie kurz die ethnogra-
phischen Aspekte der Blackfoot, die zum Verständnis
der Jahreszählungen relevant sind bzw. in ihnen ange-
sprochen werden. In einem zweiten Teil (S. 57-88) er-
fährt der Leser allgemeine Angaben zu Jahreszählungen
verschiedener Ethnien und deren Forschungsgeschichte
und im dritten Teil (S. 89-104) gibt die Autorin Hinter-
grundinformationen zu den einzelnen Jahreszählungen
der Blackfoot.
Im vierten Teil (S. 11105-313) werden die Ereignisse, die
die jeweiligen Blackfoot in ihre Jahreszählungen aufge-
nommen haben, chronologisch dargestellt.
Um dies aber leisten zu können, mussten die Chroniken
erst ins Englische übersetzt bzw. vorhandene Überset-
zungen mussten geprüft werden, wobei nur “einige weni-
ge Einträge [...] allen Übertragungsversuchen [widerstan-
den]” (S. 321). Auch mussten die Jahresvermerke der
einzelnen Chroniken untereinander inhaltlich geklärt
werden, was nicht immer einfach war. Denn ein und die-
selbe Person taucht gelegentlich unter verschiedenen Na-
men auf, manche Ereignisse werden in unterschiedlicher
Reihenfolge genannt, während bei anderen wiederum
eine inhaltliche Uminterpretation stattfand, und etwa aus
der als “dry wood ration” bezeichneten Treibjagd eine
Holzrationierung wurde. Über die Blackfoot-Quellen hi-
naus hat die Autorin noch euro-amerikanische Quellen
hinzugezogen. Mit ihrer Hilfe kann sie so genannte “Index-
ereignisse” ermitteln, das sind Ereignisse, die von den eu-
ro-amerikanischen Quellen bestätigt werden und die zu-
sätzlich auf ein bestimmtes Jahr datiert werden können.
Durch die Verknüpfung der Jahreszählungen der Black-
foot mit den Angaben aus den euro-amerikanischen
Quellen gelingt es, wie die Autorin sagt, zwar kein voll-
ständiges Bild der Geschichte der Blackfoot zu zeichnen,
aber auf jeden Fall ein äußerst interessantes und auf-
schlussreiches (S. 88).
Im sechsten Teil (S. 314-335) wertet Siebelt die Chroniken
aus. Sie betrachtet die inhaltlichen Gemeinsamkeiten, die
überlieferten Themen und den von ihnen dokumentierten
kulturellen Wandel. So kann sie festhalten, dass verschie-
dene Jahreszählungen innerhalb eines „Stammes“ (Blood,
Northern Piegan, Southern Piegan, Northern Blackfoot)
größere Homogenität aufweisen als zwischen zwei Stäm-
men, wohingegen Begebenheiten von stammesübergrei-
fender Tragweite mit geringen Ausnahmen in fast allen
Jahreszählungen tradiert werden, so zum Beispiel Verträ-
ge, Epidemien oder Naturphänomene größerer Reich-
und Sichtweite, der Tod herausragender Persönlichkeiten
oder auch spektakuläre Morde während der „Reserva-
t(ion)szeit“ (S. 319). Inhaltlich dominiert zumeist die Wie-
dergabe von Außenbeziehungen, (das sind: kriegerische
Auseinandersetzungen [ohne ethnische Differenzierung],
Beziehungen zwischen den Blackfoot und den Weißen,
Friedensschlüsse [ohne ethnische Differenzierung] und
Pferdediebstähle) gefolgt von der Darstellung innerer
Angelegenheiten (Todesfälle. Selbstmorde, Zeremonien,
„besondere innere Angelegenheiten“) und den Umwelt-
beziehungen (Jagd, Nahrungssicherung, Umweltkatastro-
phen), wobei individuelle Abweichungen Vorkommen.
Bei dieser Einteilung richtet sich die Autorin nach einer
Arbeit über die Oglala-Winter Counts und kann so auch
einen Vergleich zwischen den Jahreszählungen der Black-
foot und der Oglala zwischen 1814 und 1896 bieten (S.
324-327). Dominierte bis 1896 in den Jahreszählungen
der Blackfoot die Darstellung der Außenbeziehungen, so
ist für die Zeit nach 1896 eine deutliche Themenverschie-
bung zugunsten des Komplexes der inneren Angelegen-
heiten bemerkbar.
Im abschließenden Kapitel “Dokumentierter Wandel” (S.
329-335) zeigt Siebell auf, was sich innerhalb der oben ge-
nannten Bereiche im Laufe der dokumentierten Zeit ver-
ändert hat.
Mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick (S. 336-
340) schließt die Arbeit ab, gefolgt von einer fast 240 Titel
umfassenden Bibliographie. Im umfangreichen Anhang
(S. 359^167) werden alle Jahreszählungen und ihre Vari-
156
Buchbesprechungen Amerika
anten im Original wiedergegeben, wodurch auch nicht
Deutsch sprechenden Forschern der Zugang zu den Win-
ter Counts möglich ist.
Insgesamt liegt mit dem Buch die mehr als solide Arbeit
einer Autorin vor, die ihr Licht ein wenig unter den Schef-
fel gestellt hat.
Claudia Kalka
Taube, Karl A.:
Olmec Art at Dumbarton Oaks. Pre-Columbi-
an Art at Dumbarton Oaks, No. 2. Washington
D.C.: Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard
University, 2004. 228 Seiten mit Färb- und SW-
Abbildungen.
ISBN 0-88402-275-7
Der vorliegende zweite Band aus der Reihe „Pre-Colum-
bian Art at Dumbarton Oaks“ präsentiert den olme-
kischen Teil der Robert Wood Bliss Sammlungen in Dum-
barton Oaks. Die umfangreiche Einführung, versehen mit
einer Chronologie-Tafel, drei Karten und zahlreichen
Umzeichnungen ikonographischer Elemente bietet fun-
dierte Einblicke in die Forschungsgeschichte, in die olme-
kische Kultur an sich und auch in die unterschiedlichen
Sichtweisen der Stellung „der Olmeken“ innerhalb des
mesoamerikanischen Kulturareals. Im Appendix wird auf
den Abbau mesoamerikanischer Jade in Motagua, Guate-
mala, eingegangen. Zwei ausführliche Literaturlisten, eine
für den Katalog, die zweite für den Appendix, runden die
Publikation ab.
Entgegen der von Caso 1942 vorgestellten Theorie einer
„Mutterkultur“ Mesoamerikas, aus der alle darauf fol-
genden entstanden seien, sieht man die olmekische Kultur
heute als eine aus dem Formativum Mesoamerikas her-
vorgegangene, die, ähnlich wie Chavin im zentralen An-
denraum, eine Vielzahl mesoamerikanischer Charakteri-
stika erstmals auf sich vereint. Dies gilt insbesondere für
San Lorenzo, das wohl das bedeutendste kulturell-religi-
öse Zentrum Mesoamerikas im Formativum gewesen ist.
Bälle aus Kautschuk und Opfergaben aus Jadeit sind be-
reits für diese frühe Zeit (1500-1350 v.Chr.) nachgewie-
sen. Schon 100 Jahre später (1250-1150 v.Chr.), in der so
genannten Chicharras-Phase, kommt die Kultur der Ol-
meken erstmals zur vollen Blüte. Sie gilt als Beginn der
olmekischen Zivilisation. Die Pyramide von San Lorenzo
wird umgestaltet, es erscheinen erstmals Jadestatuetten
mit den typisch olmekischen Attributen und Ballspieler
mit breiten Gürteln. Der Fernhandel mit Basaltblöcken
und die Herstellung großer Steinskulpturen beginnen.
Den Höhepunkt der Entwicklung stellt die San Lorenzo
Phase (1150-900 v.Chr.) dar. Die berühmten Kolossal-
köpfe, Herrscherportraits darstellend, werden geschaffen.
Es beginnt der Kult um Fruchtbarkeit, Wasser und Mais,
der während des Mittleren Formativums in La Venta
(900-500 v.Chr.), nach der Aufgabe von San Lorenzo, die
olmekische Kultur prägt.
In der La Venta Phase sind Elemente in der religiösen
Ikonographie tragend, die später während der Entstehung
und Blüte der Maya-Kultur von zentraler Bedeutung blei-
ben. Die Darstellung des Weltenbaums als axis mundi,
personalisierte Herrscherportraits, der Jaguar als domi-
nierende Gottheit, das rituelle Ballspiel, Masken aus Jade
für die Herrscher sowie zahlreiche ikonographische Ele-
mente (Darstellung von Mais, Atem, Maisgott, Regengott,
Alter Feuergott) erscheinen in vollendeter Form und er-
fahren letztendlich in der weiteren Geschichte nur stili-
stische Änderungen. Taube belegt hier nicht nur die Kor-
rektheit des Covarrubias-Diagramms, sondern ergänzt es
durch weitere Gottheiten, die auf olmekische „Proto-
typen“ zurückgeführt werden können.
Die Prinzipien der olmekischen Ikonographie lassen auch
die Grundzüge der Religion erkennen: die Weltenachse
ist der bedeutendste „Kanal“ für die Kommunikation zwi-
schen den drei kosmischen Ebenen Himmel, Ist-Welt, Un-
terwelt. Auch die wachsende Maispflanze, häufig als per-
sonifizierter olmekischer Maisgott dargestellt, steht für
den Weltenbaum. Maiskeimlinge oder Jadebeile stellen
meist die vier Himmelsrichtungen dar. Dies könnte als
Grundlage für die kosmische Ordnung der Maya-Kultur
gedient haben, deren Weltmodell ein vierseitiges Maisfeld
war.
Der Katalogteil stellt neben einer Keramik nur Steinob-
jekte (Jadeit, Serpentin) vor. Statuetten und Masken so-
wie einige Beile bilden die Mehrheit der Objekte. Taube
nutzt die ikonographischen Beschreibungen, um ein um-
fassendes Bild der olmekischen Kunst und Kultur zu ver-
mitteln. Eine sitzende Figur aus Jadeit, dem mittleren For-
mativum zugeordnet, steht hierbei im Zentrum seiner
Betrachtungen. An dieser ikonographisch komplexen Fi-
gur, die nach Bensons und Taubes Ansicht eine Herr-
scherpersönlichkeit abbildet, lassen sich der olmekische
Kosmos sowie die Grundzüge der olmekischen religiösen
Kunst hervorragend aufzeigen. Benson sieht zahlreiche
Elemente eines Vogels: der flügelartige Umhang mit ge-
fiedertem Rückenteil und vielen Vogelköpfen, die an ver-
schiedenen Stellen der Figur eingeritzt sind. Auf dem
Kopfschmuck befindet sich ein Abbild des olmekischen
Maisgottes, eine Maispflanze wächst aus der Kopfbede-
ckung. Insgesamt scheint die aus der Region des Rio
Pesquero stammende Figur einen Schamanenflug entlang
der aufgerichteten Weltenachse darzustellen. Was Vogel-
darstellungen in der olmekischen Kunst betrifft, so scheint
der Quetzal von wesentlich größerer Bedeutung gewesen
zu sein als die Harpye - im Gegensatz zur zentral- oder
südamerikanischen religiösen Kunst.
Einen weiteren Sammlungsschwerpunkt stellen die Mas-
ken aus Jadeit dar. Taubes Erläuterungen folgend, ist die
Verwendung dieser Masken noch nicht völlig geklärt.Teil-
weise mögen sie als Masken auf Totenbündeln fungiert
haben, teilweise auch während zeremonieller Handlungen
getragen worden sein.
Alles in allem ist der zweite Band der „Pre-Columbian
Art at Dumbarton Oaks“ ein sehr empfehlenswertes
Buch. Besonders ikonographisch Interessierte finden ei-
nen reichen Fundus hervorragender Umzeichnungen.
Doris Kurelia
157
___________TRIBUS 56,2007
Taylor, Colin F. (t) / Dempsey, Hugh A. (Co-
ORDIN. / ED.):
The People of the Buffalo. Vol. 2: The Plains
Indians of North America - The Silent Memo-
rials: Artifacts as Cultural and Historical Docu-
ments. Essays in Honor of John C. Ewers. Wyk
a. E: Tatanka Press (Dietmar Kuegler), 2005.
253 Seiten, zahlr. SW- und Farb-Abbildungen,
Karten, Zeichnungen.
ISBN 3-89510-102-8
Wie bereits der erste Band dieser Publikation (s.TRIBUS
Bd. 55, 2006, S. 272) enthält auch das vorliegende Buch
wertvolle und interessante Beiträge aus der Hand renom-
mierter Amerikanisten. Gewidmet ist die Veröffentli-
chung dem überraschend verstorbenen Colin F. Taylor
(1937-2004), der zusammen mit Hugh A. Dempsey auch
hier als Koordinator und Herausgeber fungiert.
Der erste Beitrag aus der Feder von David F. Haiaas und
Andrew E. Masich ist dem verstorbenen Colin F. Taylor
dediziert. Das sich anschließende Vorwort hat noch Taylor
verfasst. Es trägt den vorausschauenden Titel „See you in
God’s country, young fellow!“ In ihm behandelt der Autor
insbesondere den Einfluss von John C. Ewers, den dieser
auf zahllose Studien über die Plainsindianer ausübte. Ab-
gesehen von dieser Würdigung der Arbeit Ewers’ und
einem Anhang, in dem Winfield Coleman das Titelbild,
das heißt seine Darstellung der Issiwun, der Heiligen Bi-
sonhornhaube der Cheyenne, beschreibt, ist das Buch in
sechs Hauptabschnitte bzw. Kapitel gegliedert. Im ersten
„Sacred Silhouettes“ befasste sich Ewers mit den (gegen-
ständlichen) Rohhaut-Bildnissen in der religiösen Kunst
der Plainsindianer. Der englischsprachige Ausdruck „effi-
gies“, wörtlich „Bildnisse“, trifft die Sache im Deutschen
nur grob; es handelt sich um Tierbilder (meist Pferde), aus
Rohhaut ausgeschnitten oder geflochten, oder um mit Le-
der umwickelte Gegenstände. Dieser Beitrag wurde von
den Herausgebern leicht geändert.
Der zweite Abschnitt ist in zwei Untertitel gegliedert, von
denen wiederum der erstere drei Artikel enthält: zum ei-
nen von L. James Dempsey über die indianischen Male-
reien auf Papier und Leinwand (zum Beispiel Zeltlein-
wand, nachdem es keine Bisons und damit keine
Bisonhäute für die Tipi-Abdeckung mehr gab; s. etwa
Schulze-Thulin 1973, S. 29 ff). Zum anderen beschäftigt
sich Candace S. Greene in seinem Artikel „Fort Marion
and the Florida Boys“ (insbesondere Kiowa, Cheyenne
und Arapaho, die von 1875-78 in Fort Marion, St. Augu-
stin, Florida nach den Plains-Kriegen gefangengehalten
wurden) mit indianischen Malereien auf Papier, und zum
Dritten stellt Arni Brownstone die farbige Darstellung
„Kriegstaten-Tipi des Bärenhäuptlings“ vor, die Clark
Wissler 1903 für das American Museum of Natural Histo-
ry in New York erworben hatte. Im zweiten Untertitel des
zweiten Kapitels mit der Überschrift „Images by Others:
Artists and Photography“ schreibt Ted J. Brasser über
Paul Kane „unmasked“, während Paula Richardson Fle-
ming das Fotografieren von Plainsindianern sowie ihrer
Gegner und weiterer Weißer am Beispiel der Arbeiten
von Ridgway Glover und Phil Kearny unter die Lupe
nimmt.
Im dritten Hauptabschnitt „Contrasting Perspectives:
Museum and Field Studies“ mit drei Untertiteln be-
schreibt zunächst George P. Horse Capture seinen eige-
nen Werdegang von einem „Gros Ventre“-Jungen (die
weitgehend gebräuchliche Bezeichnung dieser Ethnie
wird von Horse Capture dahingehend korrigiert, als er
diese Gruppierung mit A’aninin [Weißes-Lehm-Volk] be-
zeichnet) zu einem „Native American Ethnographer“ des
National Museum of American Indian in New York be-
schreibt. Zusammen mit Vicki Simon geht Joanna C.
Scherer der Frage nach, inwieweit Museumsstücke tat-
sächlich auf die ehemaligen indianischen Besitzer zurück-
gehen, als die sie bezeichnet werden. Als dritten Artikel
dieses Abschnitts präsentiert Mary Arnoux Heiland die
Hintergründe von Ewers' Reise zu den Assiniboin der
Fort Peck Reservation.
Im vierten Kapitel wenden sich vier Autor(inn)en der
Rolle und Bedeutung europäischer Handelswaren für das
„indianische Outfit“ zu. Es ist ja bekannt, dass solche Gü-
ter sehr entscheidend zu unseren eigenen Vorstellungen
nordamerikanischer Indianer beigetragen haben. Insbe-
sondere sind es Glas- bzw. Porzellanperlen sowie alle Ar-
ten von Stoffen aus europäischer Textilherstellung, die
hier entscheidend waren. Dabei darf nicht vergessen wer-
den, dass auch „indianische“ Produkte, wie zum Beispiel
Dentalium, weite Handelswege in das Innere Nordameri-
kas zurücklegten. Das beleuchtet Fraser J. Pakes. Neben
Carolyn Corey sind hier noch James A. Hanson und W. R.
Swagerty zu erwähnen.
Damit sind wir bei der sehr brisanten Frage angelangt
(fünftes Kapitel), inwiefern Artefakte als „kulturelle Do-
kumente“ angesehen werden dürfen. Colin F. Taylor hatte
sich in diese Diskussion mit seinem hier wiedergegebenen
Beitrag „Certainly Not Mandan!“ kenntnisreich einge-
mischt. Michael G. Johnson hat in dieser Beziehung bei
einem Zeremonialhemd der Yanktonai im National Mu-
seum of Scotland in Edinburgh ebenfalls Bedenken. Ent-
sprechende Fragen stellen auch John Painter, Joyce He-
rold, Allen Chronister und Laura Peers. Noch längst ist
nicht alles beantwortet. Viele Fragen stellen sich nach wie
vor, nach Antworten auf zahlreichen Feldern der „Plains
Indian Studies“ (sechster Abschnitt) wird auch in Zukunft
gesucht. Beispiele, was noch zu tun ist und wo sich immer
wieder Neues auftut, liefern Nancy Ann Fonicello, Neil
Gilbert, Riku Hämäläinen, Alessio Martelia und Lea Zu-
yderhoudt.
Jedem Artikel ist eine Bibliografie mit ausgesuchten Wer-
ken beigegeben. Ein Orts- und Namensregister trägt zu
der Benutzung als Nachschlagewerk bei. Alles in allem -
ein Werk, das in keiner Bibliothek völkerkundlicher Mu-
seen und Institute fehlen darf.
Literatur
Schulze-Thulin, Axel
1973 Indianische Malerei in Nordamerika 1830—
1970. Linden-Museum Stuttgart.
Axel Schulze-Thulin
158
Buchbesprechungen Orient
Buchbesprechungen Orient
Rainer, Kurt / Tunis, Angelika:
Marokko / Morocco - mon amour. Glanzvol-
le Textil-Tradition im Königreich Marokko.
Unique Textiles: A Tradition in the Kingdom of
Morocco. Graz: Culture and more, Eigenverlag,
2005.177 Seiten mit vielen Farbfotos.
ISBN 3-200-00209-3
Der Titel allein gibt keinen Hinweis darauf, dass inhaltlich
eigentlich ein recht spezielles Thema abgehandelt wird -
Gewebe aus überwiegend berberischen Siedlungsgebie-
ten Marokkos. Auch der klein gedruckte Untertitel auf S.
3 „Glanzvolle Textil-Tradition im Königreich Marokko“
trifft so nicht den Kern.
Aber erst mal zum Äußeren. Die Verarbeitung ist hoch-
wertig, Leinenbindung und Fadenheftung. Der Vorsatz
enthält ein Satellitenbild mit den Grenzen der Berberge-
biete, der Nachsatz eine Stammeskarte mit weiteren De-
tails im gleichen Maßstab. Angelegt wurden diese Berei-
che vom Autor, wobei die Quellenlage der Detail-
information unklar bleibt.
Der Text ist durchgängig zweispaltig deutsch-englisch.
Die meisten Kapitel (11) stammen vom Autor Kurt Rai-
ner, vier von der Koautorin Angelika Tunis, der Prolog
von Claus-Peter Haase. Tunis stellt kurz die Marokko-
Sammlungen des Ethnologischen Museums Berlin vor
und damit auch die Lücken im Textilbestand. Daraus re-
sultierte letztlich die Zusammenarbeit beider Autoren:
Rainer reist und sammelt, Tunis und das Museum haben
knappe Etats. Ergänzend zur Fotodokumentation Rainers
steuert Berlin fünf Bilder älterer Textilien bei.
Zwei ICOC-Konferenzen (International Conference on
Oriental Carpets) wurden 1995 und 2001 in Marrakesch
abgehalten. Als Folge davon rückten marokkanische Tex-
tilien ins Blickfeld der Aufkäufer, die in den vergangenen
Jahren „nahezu jeden Winkel Marokkos durchsuchten“
(S-15).
Die Bebilderung gehorcht einem interessanten Schema.
Die Textspalten nehmen etwa % der Seite in Anspruch.
Durch einen grauen Balken ist davon die Randspalte ab-
getrennt. In ihr stehen die stets zweisprachigen Bildle-
genden. Bei langen Geweben ist hier oft eine stark ver-
kleinerte Ansicht des Gesamtobjekts. Auf der Gegenseite,
bei reinen Bildseiten auch direkt daneben, ist eine Detail-
aufnahme in meist deutlicher Vergrößerung, die oft die
einzelnen Fäden erkennen lässt. In einigen Fällen ist es
auch umgekehrt: Gesamtansicht großformatig, Detail in
der Randspalte. Das Buch ist vom graphischen und son-
stigen gestalterischen Aufbau ein Genuss.
Ein besonderes Kapitel widmet sich den Seidengeweben,
teils aus Importseide, teils aus Seide einer mittelmee-
rischen Steckmuschel mit ihren bräunlichen oder grün-
lichen Befestigungsfäden. Diese Stoffe sind genauso ver-
schwunden, wie Brokate, die ebenfalls nur kurz
angesprochen werden.
Nicht alle zitierte Literatur steht in der Bibliographie. Da-
mit beginnt auch die eher kritische Betrachtung. Ein mehr
ergänzendes Kapitel widmet sich dem Schmuck, wobei
typisch westsaharische Knöchelspangen als „vorsaha-
risch“ (was immer das sein soll - die Übersetzung aus dem
Französischen ist hier doch irreführend) eingestuft wer-
den. Der Kenner wird unangenehm berührt, zumal es seit
Jahrzehnten ausreichend Literatur zum Thema gibt.
Das Kapitel über die Textilien in Tazenakht liest sich mit
Gewinn, auch wenn der Vergleich: „So regnet es im Ge-
biet der Zenaga im Schnitt nur alle 5 Jahre in einem grö-
ßeren Ausmaß, was die gelegentlich farbenfrohen Tep-
piche dieser Gruppe erklärt.“ (S. 63) ziemlich unmotiviert
im Textzusammenhang erscheint. Derartige sprachliche
oder logische Versatzstücke finden sich öfters. So S. 166:
„Die Ziz-Schlucht... bildet eine Wetterscheide“. Es würde
mich interessieren, wie das physikalisch funktionieren
soll. Wird es durch die langjährige Beobachtung erhärtet,
durch Vegetationsunterschiede, Pflanzenareale usw. wäre
es eine entsprechende Bemerkung wert, denn bekanntlich
bilden zwar Gebirge Wetterscheiden, aber nicht
Schluchten. Oder S. 14: „... Kupfer oder verschiedenen
Steinen (Bernstein, Koralle,...) verwendet.“ - nun ja, aus-
gerechnet sind beides keine Steine, sondern organische
Materialien. Auf S. 121 und 143 wird in fast gleich lau-
tenden Absätzen die Ankunft der Sanhadja im 17. Jahr-
hundert in Marokko geschildert. In Wirklichkeit waren
die Sanhadja unter dem Namen Almoraviden bereits als
die den westlichen Maghreb dominierende Gruppe im 11.
Jahrhundert vor Ort. Es wäre besser, den Text auf die Tex-
tilien zu beschränken, als durch derartige und eigentlich
überflüssige Bemerkungen Ungenauigkeiten zu provo-
zieren.
Nicht alle im Text erwähnten Stammesgruppen finden
sich in der Karte wieder. Dies hätte ich eigentlich erwar-
tet. Alternativ dazu wäre auch bei den Bildlegenden zur
Detailangabe die Nennung der Konföderation respektive
Obergruppierung möglich und sei es nur als Ergänzung.
Oder bei der Beschreibung der Textilien im Text der ex-
akte Hinweis auf abgebildete Beispiele. Dies sind doch
Mängel, die das Buch im Wert als Nachschlagewerk deut-
lich herabsetzen und die mit kleinem Aufwand vermeid-
bar gewesen wären.
Positiv ist zu vermerken, dass die Landschaftsbilder weit-
gehend zum jeweiligen Kapitel passen: Diese Liebe zum
Detail auf allen Ebenen und es wäre keine Kritik übrig.
Wolfgang Creyaufmüller
159
___________TRI BUS 56,2007
Buchbesprechungen Südsee
Ferro, Katarina / Wallner. Margot (eds.):
Migration happens: reasons, effects and op-
portunities of migration in the South Pacific.
NOVARA - Beiträge zur Pazifik-Forschung
/ Contributions to Research on the Pacific 4.
Wien: LIT Verlag, 2006.194 Seiten.
ISBN 3-8258-6998-9.
Die gute Nachricht zuerst: Migration happens möchte ei-
nen Beitrag zur aktuellen Diskussion über Migration im
Pazifik liefern - und diesem Anspruch wird das Buch voll
gerecht. In neun Artikeln wird der Forschungsgegenstand
Migration im Pazifik aus verschiedenen thematischen
Blickwinkeln betrachtet und mit Fallbeispielen veran-
schaulicht. Diese konzentrieren sich geographisch auf we-
nige Länder der Region, Samoa ist mit drei, Fidschi und
Neuseeland mit jeweils zwei Abhandlungen, Australien
mit einem Aufsatz vertreten. Manchem Artikel steht eine
Karte vor, jeder endet mit einer eigenen Bibliographie.
Am Ende des Buches werden die Beiträge kurz zusam-
mengefasst, Informationen zu den Autoren folgen. Da
sich kein Beitrag auf einen anderen bezieht, ist jeder für
sich lesbar.
Als theoretische Einleitung in das Thema Migration
schreibt Parvati Raghuram über Dis/Placing migration
theories. Ihr Anliegen ist es, im „Zeitalter der Migration“
dem Umgang mit diesem Thema einen theoretischen Un-
terbau zu geben, der die verschiedenen theoretischen
Hintergründe, die die Wissenschaftler, die über Migration
arbeiten, aus ihren sehr unterschiedlichen Arbeitsbe-
reichen mitbringen, systematisiert. Diese Diversität re-
flektiert sich auch in der vorliegenden Publikation: fünf
Wissenschaftler/innen kommen aus der Kultur- bzw. Hu-
mangeographie, drei aus der Soziologie, zwei aus der Eth-
nologie und jeweils eine/r aus Psychologie, Entwicklungs-
ökonomie und Wirtschaftsgeschichte.
Es wäre durchaus möglich gewesen, diese Theoriediskus-
sion an den zweiten Beitrag, Migration in Oceaniata quick
overview of the Settlement and continuing occupation of an
aquatic continent, anzuschließen, in dem Grant McCall
ganz allgemein in Aspekte der Migration im Pazifik ein-
führt. Hier werden die konkreten Problematiken angeris-
sen, die mit Hilfe der Theorie systematisiert werden
könnten. McCall betont in seiner Darstellung die Konti-
nuität der Migrationsbewegungen im Pazifik von Beginn
der ersten Besiedlung an. Er entwickelt diese über die Be-
schreibung des Jetztzustands hinaus weiter bis zu mög-
lichen Zukunftsszenarien (Klima-Flüchtlinge), ln seiner
Beschreibung der verschiedenen Bewegungsrichtungen
im pazifischen Raum stellt McCall die an und von den Pa-
zifikrandstaaten Neuseeland, Australien, USA und Kana-
da besonders heraus.
Diese erstrangige Rolle der Pazifikrandstaaten als Ziel-
länder reflektiert sich auch in der Darstellung von John
Connell und Carmen Voigt-Graf, Towards autonomy? Gen-
dered migration in Pacific island countries. Bei ihrer Un-
tersuchung zeitgenössischer Migrations-Trends und der
Beschreibung der Veränderungen über die letzten zwei
Jahrzehnte vor dem Gender-Aspekt heben die Autoren
am Beispiel von Fidschi auf die Gründe und Folgen ab, die
die push-pull-Faktoren auf die Geschlechter haben. War
die Migration bis in die 1980er Jahre hinein vor allem ein
„männliches Phänomen“, herrscht im Moment ein unge-
fähres Gleichgewicht der Geschlechter, es scheint sogar
eine Tendenz in Richtung Frauenmigration zu geben. Da
Migration generell als Strategie für die Haushalte wahr-
genommen wird, die Einkommen zu vergrößern, werden
zunehmend Ausbildungen bevorzugt, die eine Migrati-
onsmöglichkeit bieten. Frauen gelten als zuverlässiger in
ihrer finanziellen Unterstützung und werden daher offen-
sichtlich besonders zur Migration ermutigt.
Im Gegensatz zu den starken Migrationsströmen aus Fid-
schi in die Pazifikrand-Staaten beschäftigt sich Hermann
Mückler in Unwanted neighbours: implications, burdens
and the instrumentalization of migration: relations between
American Samoa and the Republic of Samoa mit der
kleinräumigen Migration zwischen Samoa und American
Samoa und den damit zusammenhängenden Problema-
tiken. Bevor er sich diesem speziellen Thema zuwendet,
umreißt Mückler aber nochmals die groben Züge der Mi-
gration im Pazifik. Er identifiziert als deren Matrix die
(ehemaligen) kolonialen Ordnungen, die a) die geogra-
phische Richtung vorgeben und b) die Struktur. Hier
führt er nun den Begriff MIRAB (migration, remittances,
aid, bureaucracy) in diese Publikation ein, für Gesell-
schaften bzw. Wirtschaften, die in hohem Maße auf Geld-
überweisungen und Hilfe von außen angewiesen sind und
somit fortlaufend seit der Kolonialzeit abhängig und ohne
diese Unterstützung nicht aufrechtzuerhalten wären. In
der unterschiedlichen kolonialen Situation liegt auch die
problematische Beziehung zwischen Samoa und Ameri-
can Samoa begründet, die trotz gemeinsamer Grundlagen
von großer Konkurrenz geprägt ist, die heute zu fortwäh-
renden gegenseitigen Restriktionen führt.
Ebenfalls einen Blick auf Samoa, aber aus großräumiger
Perspektive, wirft Deborah Gough mit Mobility, tradition
and adaptation: Samoa's comparative advantage in the glo-
bal market place. Sie interpretiert die Migrations-Situati-
on in Samoa als Strategie: In einer (globalen) wirtschaft-
lichen Umgebung, die stark von neoliberaler Politik
geprägt ist, hat sich Samoa mit der Bereitstellung von Ar-
beitskraft im Rahmen einer großen samoanischen Dia-
spora eine Nische geschaffen. Die traditionellen engen
und verpflichtenden gesellschaftlichen Strukturen haben
die Entwicklung einer starken transnationalen Gemein-
schaft gefördert, ein sogenanntes meta-Samoa, wodurch
die Migration nicht als Schwächung, sondern als Stärkung
angenommen werden konnte.
Ein Hauptziel der Migration für die Samoaner ist Neusee-
land. Hier bilden sie die größte Bevölkerungsgruppe un-
ter den Pazifik-Insulanern. In Pacificpeoples in Aotearoa/
New Zealand: Front sojourn to settlement beschreibt Clu-
ny Macpherson die verschiedenen Phasen der Migration
aus dem Pazifik nach Neuseeland seit dem Zweiten Welt-
krieg und die unterschiedlichen geographischen Schwer-
punkte durch die besonders enge politische Beziehung
einiger Pazifik-Inseln zu Neuseeland: Cook-Insulaner, Ni-
uer und Tokelauer haben neuseeländische Pässe, und be-
reits heule lebt der größte Teil dieser Bevölkerungen in
Neuseeland. Die Anzahl der Immigration aus den unab-
hängigen Pazifikstaaten geht allerdings zurück (siehe den
160
Buchbesprechungen Südsee
folgenden Artikel von Bedford und Ho). Zwar konzen-
triert sich MacPherson in Ihrem Fallbeispiel auf die Ein-
wanderer aus Samoa, reißt damit aber eine Problematik
an, die in den Migrations-Diskussionen bereits breit ge-
führt wird: die Herausbildung „neuer“ Identitäten im
Land der Elternmigration, im Fall der Pazifik-Insulaner
einer pazifischen Identität oder Poly-Identität.
Ebenfalls Neuseeland im Fokus haben Richard Bedford
und Elsie Ho in New Zealand: a country of immigration
and émigration, jedoch nicht einseitig als Zielland für Mi-
gration aus dem Pazifik, sondern als Drehpunkt von Im-
migration und Emigration aus verschiedenen Richtungen.
Die Hauptbetrachtungen liegen auf dem neuseelän-
dischen Migrationssystem seit dessen Reformierung 1986.
Charakteristisch für das neuseeländische System ist eine
enorme Bevölkerungsbewegung in und aus Neuseeland
von Menschen, die für einen längeren Zeitraum (über ein
Jahr) ein- oder ausreisen. Waren die traditionellen Quel-
lenländer für die Immigration nach Neuseeland die Pazi-
fik-, europäischen und nordamerikanischen Staaten, än-
derte sich dies 1986, als diese Bevorzugung aufgegeben
wurde zu Gunsten von Einwanderern aus Asien, aber
auch Afrika, dem Mittleren Osten, Süd- und Osteuropa
und Lateinamerika. Seit aber ab 1991 im Rahmen eines
Punktesystems mehr Wert auf gute Ausbildung und
Sprachkenntnisse der Immigranten gelegt wird, steigt die
Zahl der Antragsteller aus den traditionellen Quellenlän-
dern wieder, hinzu kommt jedoch ein großer Anteil aus
dem nordostasiatischen Raum, der dazu führte, dass der
asiatische Bevölkerungsanteil 2001 erstmals den aus den
pazifischen Inseln (außer Maori) übertraf.
Einer problematischen Migrationsfolge, der man in Neu-
seeland durch dieses Punktesystem entgegenarbeiten
wollte, widmen sich Manoranjan Mohanty, Mahendra
Reddy und Vijay Naidu, International migration, human
Capital lass and development in the South Pacific: the case
ofFiji. Nach den Militärputschen 1987 und 2000 verließen
zahlreiche Fidschianer das Land in Richtung der Metro-
polen der Pazifikrand-Staaten. 87% der Emigranten ge-
hören zur Gruppe der Fidschianer indischer Abstammung,
nur 8 % sind indigène Fidschianer, doch ihr Anteil steigt.
Die Hauptmotive für eine Emigration sind hier weniger
in den pull-Faktoren zu suchen, sondern im Druck von
innen: ethnische Spannungen und vor allem unsichere
Landbesitzfragen. Anders als z. B. im Falle der Emigrati-
on aus polynesischen Staaten wie Tonga und Samoa, die
durch eine enge Herkunftsbindung von der Emigration
ihres ,Humankapitals’ profitiert haben (siehe MIRAB-
Wirtschaften), überwiegen in Fidschi die Nachteile durch
dessen Verlust: Die Abwanderung ausgebildeter Arbeits-
kräfte untergräbt in Fidschi in großem Ausmaß die Ent-
wicklung des Landes.
Ein historischer Exkurs ist Debora Oxeleys Beschreibung
Peopling the Pacific with prisoners: the transportation of
women to Australia. Hierin beschreibt Oxeley die Rolle
von Gefangenentransporten aus dem ehemaligen Mutter-
land Großbritannien und seinen anderen Kolonien nach
Australien für die Gründung des “Weißen Australiens”.
Nun aber auch die schlechte Nachricht: Die Redaktion
des Buches ist äußerst mangelhaft: Offensichtlich wurde
auf das Redigieren nach dem Einfügen der individuellen
Textdateien verzichtet, so dass durch Übertragungspro-
bleme z. T. sogar die Lesbarkeit leidet. So fielen leider
auch fehlende Textteile oder doppelte Tabellen nicht auf.
Unnötig erscheinen darüber hinaus die Karten in teils
schlechter Druckqualität. Eine gute Karte des Pazifiks
mit den für den Text relevanten Staaten, auch den häufig
erwähnten Pazifikrand-Staaten, hätte dagegen gute Dien-
ste geleistet. Ein zwar originelles, aber irreführendes Titel-
bild (eine Karikatur zur Flüchtlingsproblematik) weckt
obendrein falsche Erwartungen an den Inhalt.
All diese Faktoren lenken leider ab von einem Sammel-
band, der durch seine diversen Beiträge selbst aufzeigt,
wie vielgestaltig die Diskussion und Arbeit über Migrati-
on im Südpazifik ist. Zahlreiche Themen werden in den
Beiträgen angerissen (u.a. illegale Arbeit, Klimawandel),
die in Zukunft noch mehr Beachtung finden werden. An-
dere Fragestellungen, die mittlerweile in der Forschung
diskutiert werden, reflektieren sich noch nicht (z. B. Rück-
kehrmigration). Man wünscht sich daher eine Fortsetzung
des Buches mit eben jenen Themen, die in diesem Band
keinen Platz mehr gefunden haben.
Andrea E. Schmidt
161
TRIBUS 56,2007
Anschriften der Mitarbeiter von TRIBUS 56, 2007
Baier, Dr. Martin, Wilh.-Friedr.-Laur-Weg 6, D-72379 Hechingen
Best, Renate, M.A., Niedenau 50, D-60325 Frankfurt am Main
Bhattacharya, Dr. Gouriswar, Zillestr. 113, D-10585 Berlin
Bourgois, Prof. Dr. Geert Gabriel, Jos Verdegemstraat 170, B-9040 Sint-Amandsberg
Clados, Dr. Christiane, University of Wisconsin-Madison, 5240 Social Science, 1180
Observatory Dr, Madison, WI 53706 / USA
Creyaufmüller, Dr. Wolfgang, M.A., Melatener Str. 145 a, D-52074 Aachen
Dreyer, Anatol, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Fischer, Pfr. Dr. Moritz, Mittlere Holzberstr. 10, D-91560 Heilsbronn-Böllinsdorf
Forkl, Dr. Hermann, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Hahn, Prof. Prof.E. Dr. Dr.h.c. Roland, Universität Stuttgart, Institut für Geogra-
phie, Azenbergstr. 12, D-70174 Stuttgart
Harms, Dr. Volker, Universität Tübingen, Institut für Ethnologie,
Schlossburgsteige 11, D-72070 Tübingen
Heermann, Dr. Ingrid, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kalka, Dr. Claudia, Manhagener Allee 64, D-22926 Ahrensburg
Keim, Dr. Antje, Hamburgisches Museum für Völkerkunde, Binderstr. 14,
D-20148 Hamburg
Kirsch, Dr. Thomas, Universität Halle-Wittenberg, Institut für Ethnologie,
D-06099 Halle (Saale)
Knöpfle, Ursula, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kobler, Katrin, M.A., Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Krämer, Dr. Annette, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kreisel, Dr. Gerd, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Kurelia, Dr. Doris, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Michel, Prof. Dr. Thomas, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1,
D-70174 Stuttgart
Otto-Hörbrand, Martin, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schiede, Dr. Sonja, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
Schlag, Claudia, M.A., Zinzendorfstr. 8, D-10555 Berlin
Schmidt, Dr. Andrea E., Abteilung Kulturanthropologie am Universitätsklinikum Ulm,
Am Hochsträß 8, D-89081 Ulm
Schulze-Thulin, Dr. Axel, Franz-Liszt-Str. 3, D-85391 Allershausen
Werlich, Dr. Uta, Linden-Museum Stuttgart, Hegelplatz 1, D-70174 Stuttgart
162
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